Ralf Blasius · Nadja Podbregar
Armageddon
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Ralf Blasius · Nadja Podbregar
Armageddon
Ralf Blasius · Nadja Podbregar Unter Mitwirkung von Harald Frater und Stefan Schneider
Armageddon Der Einschlag
Autoren: Ralf Blasius Kaiser Friedrich Ring 55 65185 Wiesbaden Nadja Podbregar Hoffeldstraße 60 40235 Düsseldorf Mitwirkende: Harald Frater Stefan Schneider
ISBN 978-3-540-37656-9 Springer Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de Lizenz durch: ZDF Enterprises GmbH © ZDFE 2007 - Alle Rechte vorbehalten Layout und Satz: Bettina Wieneck, MMCD GmbH, Düsseldorf Druck und Bindung: Stürtz GmbH, Würzburg Umschlaggestaltung: WMXDesign, Heidelberg Herstellung: Christine Adolph Gedruckt auf säurefreiem Papier 30/2133 CA 5 4 3 2 1 0
Inhalt Einleitung
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Gefahr aus dem All
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Die Abwehr
39
Vor dem Impakt
61
Auf der Suche nach dem Dinokiller
87
Der Einschlag
103
Wasser und Feuer
125
Die Dunkelheit
151
Die Kälte
169
Herrschaft der Pilze
189
Die Pflanzen
201
Die Tiere
221
Der Mensch
239
Das Making Of
259
Index
266
Einleitung
Wir wissen nicht, wann oder wo der Meteorit einschlägt. Alles was wir wissen ist, dass es passieren wird – vielleicht in einer Million Jahren, vielleicht schon morgen. Kann es das Ende der Menschheit bedeuten?
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Einleitung Ein gigantischer Komet aus den Tiefen des Alls ist auf Kollisionskurs mit der Erde. Er wird zu einem denkbar späten Zeitpunkt entdeckt. Nur wenig Zeit verbleibt der Menschheit, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Unter dem enormen Zeitdruck ist die Abwehr zum Scheitern verurteilt, die benötigte Technik ist noch nicht ausgereift. Es kommt, was kommen muss: Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Mit der Kraft von 100 Millionen Megatonnen TNT schlägt das Himmelsgeschoss auf der Erde ein. Ganze Kontinente werden verwüstet, weltweite Feuersbrünste entfacht. Monatelang wird die Erde in eine dunkle Wolke aus Schutt und Asche gehüllt, eine globale Eiszeit folgt. Zahlreiche Tier und Pflanzenarten sterben für immer aus und auch die Menschheit kämpft ums Überleben. Es handelt sich hier nicht um die Geschichte aus einem Hollywoodfilm, sondern um ein Szenario, dessen Wahrscheinlichkeit ernsthaft diskutiert wird. Dass die Möglichkeit besteht, zeigt uns die Vergangenheit. Der große Komet von 1997 – Hale-Bopp – wurde nur 18 Monate vor seinem erdnächsten Punkt entdeckt. In der unglaublichen Größe des Alls sind solche Objekte nur schwer ausfindig zu machen, auch wenn es sich wie bei Hale-Bopp um einen sehr hellen und großen Kometen handelt. Eine Entdeckung eineinhalb Jahre vor einem möglichen Einschlag würde jedoch selbst für eine gut vorbereitete Abwehrmission nicht annähernd genug Zeit lassen. Noch entscheidender ist jedoch, dass Einschläge in der Erdgeschichte tatsächlich immer wieder stattgefunden haben. Der letzte wirklich große und gleichzeitig relativ berühmte Asteroideneinschlag fand vor 65 Millionen Jahren statt, am Ende der Kreidezeit. Dass dieses Ereignis mit dem Ende eines Erdzeitalters zusammenfällt ist kein Zufall. Wahrscheinlich ist der Brocken aus dem All der ausschlaggebende Faktor, der eine Ära zu Ende gehen ließ. Viele Tierarten, darunter die prominenten Saurier starben zu dieser Zeit aus. Über den mutmaßlichen „Dinokiller“ wurde unter Wissenschaftlern ausgiebig diskutiert. Noch heute streiten sich die Experten, ob tatsächlich ein Einschlagsereignis die Ursache eines Massensterbens sein kann. Im Zuge dieser Diskussion wurden viele wissenschaftliche Fakten mit unglaublich interessanten Details zusammengetragen. Fügt man sie zusammen, so ergibt sich ein Mosaik, ein spannendes und faszinierendes Bild eines kleinen Ausschnittes unserer Erdgeschichte. Wenn man nun mit einbezieht, dass im Wiederholungsfalle wir und nicht die legen-
Schon ein Objekt mit
einem Durchmesser von ein- oder zweihundert Metern könnte eine Großstadt zerstören oder sogar ein kleines Land. Alan Harris
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Einleitung
dären Urzeitmonster die Opfer wären, so stößt man auf das Szenario, das die Grundlage des vorliegenden Buches und des gleichnamigen ZDF Doku-Dramas ist.
Urzeitliche Katastrophe – versetzt in die Gegenwart
Damals, vor 65 Millionen Jahren, starben die Dinosaurier aus – würde die heutige Menschheit eine ähnliche Katastrophe überleben?
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Warum haben wir dabei nicht einfach die Dinosaurierkatastrophe nacherzählt? Nun, die Katastrophe der Vergangenheit ist wissenschaftlich äußerst interessant, aber sie betrifft Tiere, die lange ausgestorben sind. Um die Relevanz dieses Themas gerade in der heutigen Zeit, in der fast sieben Milliarden Menschen den Planeten bevölkern, vor Augen zu führen, haben wir uns einen kleinen Trick erlaubt: Wir erzählen die Katastrophe der Vergangenheit so detailgetreu wie möglich nach, aber wir versetzen sie in die heutige Zeit, lassen sie unter heutigen Bedingungen stattfinden. Damit wollen wir etwas Entscheidendes erreichen. Es handelt sich nicht um eine Geschichte über längst ausgestorbene Tiere, die heute wie Fabelwesen wirken. Die Katastrophe ist stattdessen greifbar und real, kein abstraktes Ereignis in einer weit zurückliegenden, fantastisch anmutenden Vergangenheit, sondern etwas, das uns direkt betrifft und deshalb auch viel klarer nachzuvollziehen ist. Das Thema regte schon oft die Fantasie von Geschichtenerzählern an. Wenn man Begriffe wie Einschlag, Asteroid oder Komet in die InternetSuchmaschinen eingibt, so hat man normalerweise eine Trefferquote im Millionenbereich. Es gibt jede Menge Fans von apokalyptischen Szenarien, die sich mehr oder weniger wissenschaftlich mit der Frage auseinandersetzen. So herrscht oft eine verwirrende Vielfalt von Darstellungen, die Spanne ist breit, man findet unterschiedlichste Thesen zu Herkunft, Wahrscheinlichkeit und den Folgen eines Einschlags. Dies liegt auch an dem sehr großen Interpretationsspielraum, den uns die Hinweise aus der Vergangenheit lassen. Geologen lesen das, was wir heute wissen, aus den Schichten des Untergrunds in aller Welt. Oft sind nur ungefähre Zeitangaben möglich und je weiter man in der Zeit zurückgeht, desto gröber wird die Darstellung. Andererseits ist es schon eine ganze Menge, was wir gerade über diese Katastrophe von vor 65 Millionen Jahren wissen: dass ein Einschlag stattgefunden hat, der Erdbeben, Tsunami, Feuerstürme und letztendlich auch langwierige Klimaveränderungen auslöste. Die detailreiche Faktensammlung schreit geradezu nach einem sinnvollen Aufbereiten, einem Zusammentragen und Einordnen. Und zwar nicht in der fantastischen Art eines Hollywoodfilmes. Sondern mit der größtmöglichen Genauigkeit. Um dem Thema
und seinem stofflichen Anspruch gerecht zu werden. Wenn man sich nach dem Sehen des Films und der Lektüre dieses Buches der Antwort auf die Frage „Kann ein Impakt zahlreiche Tier- und Pflanzenarten auf der Erde ausgelöscht haben?“ ein Stück weit genähert hat, dann haben wir einen guten Teil unserer Mission erfüllt. Wenn wir nebenbei noch ein wenig Bewusstsein für mögliche Gefahren, die uns von jenseits unseres gewohnten Horizonts drohen, schaffen, dann ist das ein weiterer Schritt. Schließlich ist der Himmel über uns noch immer nicht vollständig und systematisch untersucht. Es fehlt noch immer in großem Maße an einer systematischen Aufarbeitung und Einschätzung der Impaktrisiken und damit zusammenhängend an einer Strategie für den Fall der Fälle. Letztendlich hat ein Einschlag von der Größe des Dinokillers eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit. Ein Einschlag eines Brockens von wenigen 100 Metern Durchmesser ist da – auch in den nächsten 100 Jahren– schon wahrscheinlicher. Und beretis dieser könnte bei der heute herrschenden Bevölkerungsdichte eine große Katastrophe nach sich ziehen. Wir haben bewusst für einen Teil des FIlms und des Buchs die Form der Erzählung gewählt, ohne dabei zu reißerisch werden zu wollen. Ein gewisses Maß an Spekulation und erzählerische Freiheit haben wir dabei uns erlaubt. Alles andere sind wissenschaftliche Fakten oder zumindest Theorien, die von den weltweit führenden Wissenschaftlern auf diesem Gebiet aufgestellt worden sind. Besonders hilfreich war dabei eine exklusiv für „Armageddon – Der Einschlag“ ins Leben gerufene Wissenschaftskonferenz mit zehn weltweit führenden Spezialisten auf dem Gebiet der Astronomie, der Klimaund der Katastrophenforschung. Dieses Treffen, das es uns ermöglichte, die Konfrontation verschiedener wissenschaftlicher Ansätze mitzuerleben, hat sehr viel zu der Stichhaltigkeit und zur Brisanz des vorliegenden Buches beigetragen. So haben wir einerseits versucht mit unseren fiktionalen Handlungsteilen möglichst eng an der wissenschaftlichen Faktenlage zu bleiben und zum anderen den wissenschaftlichen Teil leicht verständlich und spannend aufzubereiten. Die kurzen Erzählteile am Anfang der einzelnen Kapitel sind bewusst so gewählt, dass sie ergänzend zu den wissenschaftlichen Fakten eine gewisse Betroffenheit schaffen und die Perspektive öffnen. Es geht um ein Ereignis, dass Jahrmillionen vor unserer Zeit stattfand. Es geht aber auch darum, dass es tatsächlich auf unserem Planeten stattgefunden hat. Da wo wir heute leben waren vor 65 Millionen die Dinosaurier. Heute gibt es sie nicht mehr. Bleibt zu hoffen, dass uns ein ähnliches Schicksal vorerst erspart bleibt.
Zehn hochrangige Wissenschaftler verschiedenster Fachdisziplinen diskuierten auf der anlässlich des Films initiierten Konferenz miteinander. © Nadja Podbregar
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Gefahr aus dem All
Kaum jemand würde ein Flugzeug
besteigen, wenn ihm klar wäre, das alle paar tausend Flüge ein Absturz passiert. Dennoch unternehmen wir nichts, um das gleich große Risiko eines Meteoriteneinschlags zu verringern. Clark Chapman
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Nur 21 Monate vor einer möglichen Kollision mit der Erde wird der 12 Kilometer große Komet entdeckt.
Gefahr aus dem All Mauna Kea, Hawaii 06.11.2008
Noah Boyle wirft einen nervösen Blick Richtung Himmel. Eigentlich ist ihm klar, dass es dort nichts Besonderes zu sehen gibt. Aber seit er weiß, dass der Komet auf die Erde zusteuert, ist es ihm eine seltsame Gewohnheit geworden. Immer dann, wenn ihm einfällt, dass der Brocken irgendwo da oben sein muss. Auch in der Nacht ist dieser eher unscheinbar, für das bloße Auge nur mit Mühe zu erkennen. Dabei ist er nur noch etwa 100 Millionen Kilometer von der Erde entfernt, ungefähr auf der Höhe des Mars. In den unendlichen Dimensionen des Weltalls sozusagen direkt nebenan. Hale-Bopp hatte 1996 bei einer ähnlichen Entfernung ein beeindruckendes Schauspiel am Nachthimmel geliefert. Er schien damals heller als jeder Stern und sein Schweif erstreckte sich weit über das Firmament. Aber Hale-Bopp war auch mehr als viermal so groß wie der Killerkomet. Der hatte sich nur ganz unauffällig genähert. Noah geht zurück zum Wagen. Er hat nur wenig Zeit, um ein paar dringende Reparaturen an einer der weit draußen liegenden Messstationen vorzunehmen. Auf dem trockenen, vulkanischen Untergrund des Mauna
Auf unserer Erde leben fast 7 Milliarden Menschen. Ein Komet so groß wie der Dinosaurierkiller bedroht jeden einzelnen.
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Gefahr aus dem All
Der junge amerikanische Astronom Noah Boyle vom Observatorium in Hawaii war einer der ersten, die den Kometen nach seiner Entdeckung genau unter die Lupe nahmen.
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Kea drehen die Reifen beim Start leicht durch. Und Noah ist unter Hochspannung. Der Wagen steht in einer dichten Staubwolke, bevor er dem Gipfel des Berges entgegen rast. Die mondähnliche Felslandschaft des hawaiianischen Vulkangebirges fliegt an ihm vorbei. Noahs Ziel, das NASA-Observatorium, liegt auf fast 4.100 Metern Höhe. Aber die „Mauna Kea Observatory Access Road“ zieht sich in endlosen Schleifen bergauf. Der Motor des Wagens keucht, er hat seine Leistungsgrenze erreicht. Tausend Gedanken rasen Noah gleichzeitig durch den Kopf. Ein Komet auf Kollisionskurs mit der Erde, niemals hätte er damit gerechnet. Was der Menschheit bevorsteht, ist nichts weniger als die schlimmste Katastrophe ihrer Geschichte. Kein Astronom vor ihm hatte jemals die Gelegenheit, so ein unglaubliches Ereignis hautnah mitverfolgen zu können. Seine Stimmung schwankt zwischen panischer Angst und der neugierigen Erwartung eines Wissenschaftlers. Aber noch ist es nicht soweit. Noch besteht die geringe Chance, dass die Katastrophe abgewendet werden kann. Überstürzt haben die internationalen Raumfahrtagenturen in einer beispiellosen Gemeinschaftsaktion ein Abwehrprojekt auf die Beine gestellt. Zugegeben – die Chancen auf Erfolg sind minimal. Aber so konnte man den Menschen ein Ziel geben. Das war wichtig. Heute ist nun der entscheidende Tag. Die Raumsonde hat den Kometen erreicht. Sie soll mit dem Brocken kollidieren und dabei eine atomare Sprengladung zünden. Auf eine vollständige Zerstörung des zwölf Kilometer großen Riesen wagt niemand zu hoffen. Aber vielleicht kann er durch die Explosion um wenige Grad abgelenkt werden. Wenige entscheidende Grad in seinem Kurs, die ihn in letzter Sekunde doch noch an der Erde vorbei ziehen lassen. Noah weiß, dass die Mission zu diesem späten Zeitpunkt eigentlich zum Scheitern verurteilt ist. Und doch hofft er, so wie alle anderen. „Noah, es geht los!“ Aus dem gleichförmigen Rauschen des Walkie-Talkies tönt die vertraute Stimme
von Shiang, Noahs engster Mitarbeiterin. Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. „Ja. in zehn Minuten. Keine Sorge, bin gleich da.“ Aus den Unterlagen auf dem Beifahrersitz greift er einige Computerausdrucke mit Zahlenkolonnen heraus, klammert sie auf dem Lenkrad fest und liest sie während der Fahrt. Nur etwas mehr als 600 Tage ist es her, dass ein Amateurastronom mit einem relativ kleinen Teleskop den Kometen entdeckt hat. Eigentlich schon fast ein Wunder. Damals war er noch fast zwei Milliarden Kilometer von der Erde entfernt, seine Helligkeit äußerst schwach. Und dabei nähert sich der seltsame Brocken, bereits seit langem der Erde – unaufhaltsam. Das Risiko eines solchen Ereignisses wurde unter Fachleuten immer als gering eingeschätzt. So war die Überwachung des Himmels von je her ziemlich lückenhaft und nicht besonders gut organisiert. „Es musste ja so kommen“, Noah schüttelt in Gedanken den Kopf. Astronomen wie er, die sich mit einem möglichen kosmischen Unfall beschäftigen, galten immer als Außenseiter. Keiner nahm sie wirklich ernst, schon gar nicht die Politiker. Für die war die nächste Wahl immer wichtiger als ein Brocken aus dem All, der vielleicht in hundert oder auch in tausend Jahren einmal auf die Erde fallen könnte. Und dann kam der Komet tatsächlich aus einer Richtung mit der niemand gerechnet hatte. Die Straße ist zu Ende. Noah hat die Kuppeln der Sternwarte erreicht und keine Zeit zu verlieren. Er springt aus dem Wagen und hastet die Treppen zum Eingang hinauf. Als er die dunklen Räume betritt, ist er zunächst fast blind. Auf einem Monitor schwebt das thermographische Bild des Kometen vorbei. Ein paar Frauen und Männer starren angespannt auf eine improvisierte Wand aus Fernsehern, die auf einem Tisch übereinander gestapelt sind. Bilder aus allen Regionen der Welt flimmern über die Schirme. Zurzeit zeigen sie fast alle die gleichen Szenen: Computeranimationen von einer Sonde, die durchs All fliegt,
Auf dem legendären Mauna Kea, dem höchsten Berg von Hawaii, steht das größte Observatorium der Welt. Die Wissenschaftler hier sind zwar nicht mit der Abwehrmission betraut, sie können aber Daten sammeln und nützliche Hinweise liefern. Astronom Noah Boyle muss sich beeilen, um rechtzeitig zur Abwehrmission im Observatorium zu sein.
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Gefahr aus dem All
„Normalerweise setze ich lieber auf die Wissenschaft als auf Gott. Aber in diesem Fall sollten wir beten, dass es klappt!“ Shiang, Noahs engste Mitarbeiterin, zweifelt am Gelingen der notdürftig organisierten Abwehrmission.
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und nervöse Menschen im Kontrollzentrum der ESA in Darmstadt. Aus dem allgemeinen Lärm dringt die bekannte Stimme eines Nachrichtenmoderators an Noahs Ohr: „.... Vor sechs Monaten ist die Sonde gestartet, die unseren Planeten retten soll. Zwölf Monate nach der Entdeckung des Kometen.“ Vor einem der Computermonitore sitzt Shiang. Die Anspannung steht ihr ins Gesicht geschrieben. Als Noah erscheint, lächelt sie gedankenverloren. Schnell räumt sie ihre Tasche und das Walkie-Talkie von dem Stuhl neben sich. „Danke Shiang.“ Noah erwidert das Lächeln, setzt sich und kontrolliert die Einstellung einiger Geräte. Mit leiser, konzentrierter Stimme flüstert Shiang: „Ich hab die Daten noch mal genau überprüft...“ Beide schauen auf. Die Stimme des Nachrichtensprechers ist wieder lauter geworden: „“... den Klumpen aus Eis und Geröll zu zerstören. Der Sprengkörper an Bord der Ariane hat die 800fache Kraft einer Hiroshima-Bombe. Das Projekt, das unter enormem Druck auf die Beine gestellt wurde, ist das Resultat einer gemeinsamen Kraftanstrengung der weltweit besten Wissenschaftler...“ Shiang nickt: „Und trotzdem reicht es nicht.“ Sie wendet sich zu Noah. „Gut ein Zehntel des Kometen müssten sie absprengen, um ihn von seinem Weg abzubringen. Normalerweise setze ich eher auf wissenschaftliche Fakten als auf Gott. Aber in diesem Fall sollten wir beten, dass es klappt...“
Der Halleysche Komet ist wegen seiner regelmäßigen Wiederkehr und seines ausgeprägten Schweifs der bekannteste unter den periodischen Kometen. © NASA
Gefahr aus dem All Was sagt die Wissenschaft? „Die Wahrscheinlichkeit durch einen Asteroideneinschlag zu sterben, ist erheblich höher als die, im Lotto zu gewinnen“. Diese Einschätzung stammt nicht aus einem HoIlywood-Spielfilm, sondern von dem Astronomen Clark Chapman vom amerikanischen Southwest Research Institute. Er wurde 1994 von der NASA und dem amerikanischen Repräsentantenhaus gebeten, ihnen die potenzielle Bedrohung durch Meteoriten zu erläutern. Seine Argumente waren damals immerhin so überzeugend, dass die NASA wenig später Gelder für das Such- und Überwachungsprogramm „Spaceguard“ bewilligte. Die Angst vor Meteoriteneinschlägen ist jedoch keine Erfindung der Neuzeit. Eine diffuse Befürchtung, dass ihnen der „Himmel auf den Kopf“ oder „Feuer vom Himmel“ fallen könnte, hatten wahrscheinlich schon unsere frühen Vorfahren. Doch den Zusammenhang zwischen dem Einschlag eines Himmelskörpers und einer regionalen oder globalen Katastrophe erkannten erst die Gelehrten des 17. Jahrhunderts. Der Astronom und Kometenforscher Edmond Halley soll in einer Rede vor der
In der Vergangenheit galten Kometen oft als Warnzeichen und Unglücksboten. © Historische Zeichnung
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Gefahr aus dem All
Der Asteroid Ida mit seinem Trabanten Dactyl kreist im Asteroidengürtel zwischen zwischen Mars und Jupiter. © NASA/JPL-Caltech
Die Wahrscheinlich-
keit, durch einen Asteroideneinschlag zu sterben, ist erheblich höher als die, im Lotto zu gewinnen. Clark Chapman
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Royal Society in London als erster darüber spekuliert haben, ob nicht das Kaspische Meer auf einen Einschlagskrater zurückgehen könnte. Die ersten handfesten Belege für die möglichen Folgen von Meteoriteneinschlägen, aber auch für die Existenz von potenziell gefährlichen Himmelskörpern, sollte allerdings noch hunderte von Jahren auf sich warten lassen: Erst in den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurden die ersten Erdbahn kreuzenden Asteroiden entdeckt und noch später, Anfang der 1980er, brachten Wissenschaftler einen neu entdeckten Krater auf der Halbinsel Yucatan und den Einschlag, der ihn verursacht hatte, erstmals mit dem Untergang der Dinosaurier in Verbindung. Etwa um diese Zeit begann auch Hollywood, das Thema für sich zu entdecken. Noch bevor nennenswerte Gelder für eine wissenschaftliche Erforschung des Impaktrisikos flossen, hatten die Drehbuchschreiber der Filmindustrie bereits allerlei dramatische Szenarien parat – heldenhafte Abwehr- und Überlebensstrategien inklusive. Die bekanntesten und erfolgreichsten Beispiele dafür sind die Spielfilme „Deep Impact“ und „Armageddon“. Ganz aus der Luft gegriffen sind solche Szenarien allerdings nicht: Immerhin gibt es gleich mehrere Himmelskörper, bei denen zurzeit zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft die Erde treffen könnten. Einer davon, der Asteroid Apophis, erklomm vor zwei Jahren auf der offiziellen Risikoskala einen noch nie dagewesenen Wert. Inzwischen ist seine für das Jahr 2036 kalkulierte Einschlagswahrscheinlichkeit zwar deutlich geringer, aber nicht gleich Null… Doch wie groß ist das Risiko eines Meteoriteneinschlags wirklich? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst ein wenig zurück in die Vergangenheit gehen.
Erbe des Sonnensystems „Die Erde gleicht einer kosmischen Schießbude: Katastrophen, die von Einschlägen ausgelöst wurden, sind über Jahrmilliarden hinweg Teil unserer Naturgeschichte“, so fassen Wissenschaftler die Bedrohung der Erde durch „himmlische Geschosse“ zusammen. Krater wie der Chicxulub auf der Halbinsel Yucatan oder große Massenaussterben in der Erdgeschichte wie das Ende der Dinosaurier vor 65 Millionen Jahren belegen, dass die Erde vor Einschlägen auch großer Himmelskörper keineswegs gefeit ist. Ganz im Gegenteil. Die Geschichte unseres Planeten und des gesamten Sonnensystems ist von Beginn an geprägt durch ein Bombardement aus
dem Weltall: Schon in der wirbelnden Staubscheibe, aus der sich nach und nach die Planeten bildeten, kam es ständig zu Zusammenstößen: Gesteinsbrocken unterschiedlicher Größe krachten ineinander und zerbrachen, andere stürzten auf die jungen Planeten herab und ließen diese weiter anwachsen. Die kosmischen Kollisionen waren damit gewissermaßen der Motor für die Planetenentstehung. Nachdem die Staubscheibe sich langsam auflöste und die Planetenbildung abgeschlossen war, ließ die Häufigkeit der Einschläge zwar nach, hörte aber nicht auf. Denn aus der Anfangszeit des Sonnensystems blieben zahlreiche Gesteinsbrocken übrig, die bis heute auf mehr oder weniger chaotischen Bahnen zwischen den Planeten kreisen. Eine leichte Ablenkung reicht aus, um sie auf Kollisionskurs mit einem anderen Himmelskörper zu bringen. Die kraterübersäte Oberfläche des Mondes zeugt von der Menge solcher Treffer. Da unser atmosphäreloser Trabant solchen Einschlägen schutzlos ausgeliefert ist, hinterlassen selbst kleinere Brocken sichtbare Krater. Vermessungen und Altersbestimmungen dieser Mondkrater zeigen, dass die Meteoritenhäufigkeit in unserem Teil des Sonnensystems in den letzten Milliarden Jahren relativ stabil geblieben ist. Auf der Erde hat man bisher nur rund 170 Krater – nach einigen Quellen möglicherweise auch etwa doppelt so viele – eindeutig als durch kosmische Einschläge verursacht identifiziert. Ihre Größe reicht von wenigen Metern bis zu mehreren hundert Kilometern Durchmesser. In den meisten Fällen allerdings sind sie durch Erosion so abgetragen und verändert, dass es sogar schwierig ist, ihr Alter genau zu ermitteln. Dennoch zeigen auch sie, dass die Geschichte des „himmlischen Bombardements“ noch lange nicht abgeschlossen ist. Zu diesem Schluss kommt auch die Europäische Weltraumagentur ESA. In einem 2004 veröffentlichten Bericht zur Aus kosmische Geröllmassen bildete sich unser heutiges Sonnensystem. © MMCD
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Gefahr aus dem All
Die Krateroberfläche des Mondes zeugt von Zusammenstößen mit kosmischen Brocken. © NASA
Die meisten Himmelskörper verglühen in der Atmsophäre oder verfehlen die Erde. © SXC
Abschätzung des Risikos und der möglichen Abwehrmaßnahmen gegen erdnahe Asteroiden („NEOMAP“) erklären die mit der Untersuchung beauftragten Forscher: „Das Problem, das wir heute haben, entsteht, weil dieser natürliche Prozess nicht aufgehört hat. Angesichts unserer dicht besiedelten Welt und hochgradig vernetzten Gesellschaft würde der Einschlag eines Asteroiden oder Kometen auf der Erde eine Katastrophe auslösen, die für die Zivilisation weitaus schädlicher wäre, als jede andere in der Geschichte der Menschheit.“ Fest steht damit: Das grundsätzliche Risiko eines Impakts ist keine Science-Fiction, sondern Realität. Aber bedeutet das auch, dass deswegen morgen ein „Dinokiller“ einschlagen könnte?
Von Weltraumstaub bis Riesenbrocken Doch längst nicht jeder auf die Erde treffende Himmelskörper löst gleich eine regionale oder gar globale Katastrophe aus. Die allermeisten von ihnen sind sogar absolut harmlos, denn sie sind winzig klein – noch nicht einmal sandkorngroß. Obwohl ein Großteil von ihnen schon von der Atmosphäre abgefangen wird, rieselt dieser „Weltraumstaub“ dennoch ständig auf die Erde hernieder. Hunderte von winzigen Einschlagspuren auf Sonnensegeln von Satelliten zeugen von der Häufigkeit dieser Mikro-
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meteoriten. Wissenschaftler der Universität von Washington errechneten, dass die Erde allein durch Materieteilchen von weniger als einem Millimeter Größe pro Jahr um rund 40.000 Tonnen an Masse zunimmt. Von Meteoriten von wenigen Millimetern bis einigen Zentimetern Größe wird die Erde jedes Jahr immerhin noch etwa 19.000-mal getroffen. Beobachtungen der Meteoritenbeobachtungsstation im kanair können das Risiko für solche Einschläge auf dischen Alberta gehen sogar von rund eins zu einer Million pro Jahr berechnen. 26.000 Meteoriteneinschlägen Das entspricht dem Risiko eines Flugzeugabsturzes dieser Größenordnung aus. Die dichte Atmosphäre der Erde verbei einem längeren Linienflug. David Morrison hindert, dass diese Kleinstmeteoriten den Erdboden erreichen – sie verglühen restlos in der Atmosphäre. Wie häufig die irdische Schutzhülle getroffen wird, zeigen die Leuchtspuren der Sternschnuppen am Sommerhimmel oder der glühende Regen eines Meteoritenschauers. Die schützende Wirkung der irdischen Lufthülle reicht immerhin aus, um Objekte von bis zu zehn Metern Größe bereits in den oberen Luftschichten zerplatzen zu lassen. Deren Fragmente allerdings erreichen häufig trotzdem den Erdboden und können dann beträchtlichen Schaden anrichten. 1947 zerplatzte ein Eisenmeteorit von wenigen Metern Größe über den Sikhote-Alin Bergen im Osten Sibiriens und verursachte einen Schauer von geschätzten 100 Tonnen von Fragmenten. Diese verteilten sich über eine Einschlagshäufigkeit und die Folgen © MMCD Fläche von eineinhalb Quadratkilometern und hinterließen rund zweihundert Krater. Ein Meteorit dieser Größenordnung trifft nach Schätzungen von Experten nur rund einmal alle zehn Jahre die Erde, in den meisten Fällen gehen solche Objekte aber weitgehend folgenlos über den Ozeanen oder unbewohntem Gebiet nieder. Immerhin noch alle paar hundert Jahre müssen wir mit einem Treffer durch einen Meteoriten von 30 bis 100 Metern Größe rechnen. Ein Einschlag eines solchen Brockens würde eine gewaltige, rund zwei Megatonnen TNT entspre-
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chende Explosion in der oberen Atmosphäre erzeugen, die Zerstörungen am Boden im Umkreis von mehr als zehn Kilometern nach sich ziehen könnte. 1908 explodierte ein wahrscheinlich rund 80 Meter großer Asteroid in der Atmosphäre über dem Fluss Tunguska in Zentralsibirien. Die Schockwellen der Explosion verwüsteten am Boden eine Fläche von gut 2.000 Quadratmetern. Bäume knickten um wie Streichhölzer, Häuserwände wurde eingedrückt. Ein heller Feuerschein soll sogar noch in 500 Kilometern Entfernung sichtbar gewesen sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Impakt noch in diesem Jahrhundert irgendwo auf der Erde stattfindet, liegt nach Berechnungen des Meteoritenexperten David Morrison vom Ames Forschungszentrum der NASA bei immerhin rund 40 Asteroid Eros war der erste bekannte Prozent. Allerdings gilt diese Kalkulation für die gesamte Erdoberfläche, erdnahe Asteroid. Er ist 33 Kilometer die Wahrscheinlichkeit, dass es dabei ausgerechnet dicht besiedelte lang und ungefähr 13 Kilometer dick. © NASA Gebiete oder Städte trifft, ist daher entsprechend geringer. Noch seltener sind Einschläge von Meteoriten in der Größenordnung von mehreren hundert bis 1.000 Metern. Hier rechnen die Experten mit einer Wahrscheinlichkeit von zwischen einem und 0,02 Prozent, dass es noch in diesem Jahrhundert einen Einschlag enn die Folgen groß sind, müssen wir geben wird. Wenn es allerdings tatsächlich krachen sollte, dann richtig: Die Explosion schon uns auch mit den geringen Wahrscheineines 200 Meter-Boliden würde mehr Energie lichkeiten auseinander setzen. Clark Chapman freisetzen als die stärkste existierende thermonukleare Waffe. Ein einen Kilometer großes Objekt könnte genug Zerstörung anrichten, um ein kleineres Land komplett auszulöschen. Eine Katastrophe globalen Ausmaßes – wie sie in „Armageddon – Der Einschlag“ dargestellt wird, droht nach Ansicht der Astronomen bei allen Treffern ab einer Größe von einem Kilometer. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Einschlags ist jedoch in absehbarer Zukunft eher Der Einschlag eines Zehn-Kilometer gering: Für ein Objekt eines Durchmessers von drei Kilometer kalkulieren Asteroiden, wie vor 65 Millionen Jahren, die Experten nur eine Chance von weniger als 1:50.000, dass sich ein ist extrem selten. © NASA solcher Einschlag in diesem Jahrhundert ereignen könnte. Andererseits handelt es sich dabei, wie Asteroidenforscher David Morrison vom Ames Forschungszentrum der NASA anmerkt, „um ein extremes Beispiel eines Risikos mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit, aber dafür potenziell katastrophalen Folgen.“ Aber was heißt das konkret? Was bedeuten diese Wahrscheinlichkeiten für das reale Risiko? Könnte theoretisch trotzdem morgen ein großer Meteorit einschlagen? Um das zu beantworten, muss erstmal eine weitere Frage geklärt werden: Woher kommen die kosmischen Boliden? Denn ihre Herkunft und Beschaffenheit entscheidet darüber, ob und wann ein solches Objekt auf Erdkurs entdeckt werden kann.
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Gefahrenobjekt Erdbahnkreuzer Potenziell gefährlich sind alle Objekte, deren Flugbahn sie in Erdnähe bringt oder die die Umlaufbahn der Erde kreuzen. Diese so genannten Erdbahnkreuzer oder erdnahen Objekte (Near Earth Objects, NEOs) sind im Prinzip Überreste aus der Frühzeit des Sonnensystems, unterschiedlich große Himmelskörper, die bei der Planetenbildung übrig geblieben sind und durch spätere Kollisionen weiter zerkleinert oder verändert worden sind. Grundsätzlich gehören alle Objekte, die die Erde Der Kern eines Kometen besteht meist aus einem Gemisch von Eis und Gestein. © NASA/JPL-Caltech treffen könnten, zu einer von zwei Sorten: Sie sind entweder Asteroiden oder Kometen. Erst wenn sie eingeschlagen sind, werden sie als Meteoriten bezeichnet. Die Asteroiden haben ihren Ursprung im inneren Sonnensystem – dort, wo die Hitze der Sonne jede Eisbildung verhinderte und so nur feste, steinige Körper entstehen konnten. Die Kometen dagegen sind Reste von Materiehaufen, die sich im äußeren Sonnensystem, jenseits der Umlaufbahn des Jupiter bildeten. Hier sorgte die große Entfernung zur Sonne dafür, dass Flüssigkeiten wie Wasser und selbst Gase wie Methan oder Kohlendioxid zu Eis wurden. Kometen gleichen daher eher gefrorenen Schneebällen: viel Eis, durchmischt mit Staub und unter- Die Oortsche Wolke umgibt das Sonnensystem wie eine Kometengefüllte Kugel. schiedlich großen Gesteinsbrocken. © NASA Entscheidend für die Einschätzung des Risikos durch diese potenziellen Erdbahnkreuzer ist jedoch noch ein weiterer Unterschied zwischen Asteroiden und Kometen: Ihr Flugverhalten und die „Reservoire“, von denen aus sie Kurs auf die Erde nehmen können.
Kometen – eisige Vagabunden auf Erdkurs Lange Zeit galt die Oortsche Wolke als alleiniger Ursprungsort aller Kometen. Diese, nach dem Astronomen Jan Hendrik Oort benannte Hülle aus Eis, Staub und Gesteinsbrocken umgibt das Sonnensystem jenseits
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der äußersten Planeten wie eine gewaltige Kugelschale. In ihr bewegen sich die Kometen normalerweise langsam in ihren Bahnen, bis sie durch äußere Einflüsse gestört werden. Mögliche Störenfriede wären interstellare Gaswolken oder auch die Bewegungen benachbarter Sterne. Wandern sie nahe genug an der Oortschen Wolke vorbei, könnten einige der Kometen durch Schwerkrafteinflüsse so stark abgelenkt werden, dass ihre neue Bahn sie durch das innere Sonnensystem führt und sie so zu Erdbahn-kreuzenden Kometen werden. Inzwischen ist klar, dass zumindest eine Art von Kometen, die so genannten langperiodischen Kometen, tatsächlich aus dieser Wolke stammen. Sie tauchen nur in sehr großen Zeitabständen – in Perioden zwischen 200 Jahren und mehreren Jahrmillionen – im inneren Sonnensystem auf. Zu diesem Typ gehört beispielsweise der Komet Hale-Bopp, der als der „Große Komet von 1997“ für Aufsehen sorgte. Er war einer der eindrucksvollsten Kometen des 20. Jahrhunderts und konnte über 18 Monate lang sogar mit bloßem Auge gesehen werden. 1996, nur ein Jahr zuvor, hatte ein anderer langperiodischer Komet, Hale-Bopp war der „große Komet Hyakutake, die Erde in dem nach kosmische Maßstäben extrem gerinvon 1997“ (oben). Komet Hyakutake gen Abstand von nur 0,109 Astronomischen Einheiten, also rund einem passierte die Erde 1996 in einer Entfernung von „nur“ 15 Millionen Kilometern Zehntel des Abstands Erde-Sonne, passiert. Während seines Flugs durch (unten). © NASA/JPL-Caltech das Sonnensystem veränderten die Anziehungskräfte der Gasriesen Jupiter und Saturn seine Bahn so stark, dass sich seine Umlaufzeit von rund 8.000 Jahren auf 114.000 Jahre verlängerte. Doch neben diesen langperiodischen Kometen existiert noch eine andere Gruppe von „kosmischen Vagabunden“, die so genannten kurzperiodischen Kometen. Sie kehren typischerweise in sehr viel kürzeren Abständen in Sonnennähe zurück. Drei bis maximal 200 Jahre benötigen sie für einen Umlauf, ihre Bahn liegt dabei meist komplett innerhalb des Sonnensystems. Einige von ihnen tauchen sogar Der Kuipergürtel beherbergt wahrscheinlich mehr als 100 alle fünf bis sieben Jahre in Sonnennähe auf, ihr sonMillionen Himmelskörper verschiedener Größen. © MMCD nenfernster Punkt (Aphel) liegt dann meist nahe der Jupiterbahn. Zu diesen gehört beispielsweise auch der Komet Wild-2, den die NASA-Sonde „Stardust“ im Januar 2004 besuchte. Andere, darunter auch der Halleysche Komet, brauchen mehrere Jahrzehnte für einen Umlauf und haben ihren sonnenfernsten Punkt jenseits der Neptunbahn. Doch woher kommen Halley und Co.? Die Oortsche Wolke scheidet bei diesen kurzperiodischen Kometen aus, da sie viel zu weit außen liegt, um deren häufige Wiederkehrzeiten erklären zu können. Eine Lösung
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Einige der größten bekannten transneptunischen Objekte des Kuipergürtels im Vergleich – auch Pluto und sein Mond Charon gehören heute dazu. © GFDL
schlug schon 1951 der amerikanische Astronom Gerard Kuiper für diese Kometengruppe vor: Seiner Ansicht nach musste es ein zweites, näher an der Sonne liegendes Kometenreservoir geben, das sich wie ein Ring aus eisigen Materietrümmern nahe der Neptunbahn erstreckt. Da die Auflösung auch der stärksten Teleskope lange Zeit nicht ausreichte, um die lichtschwachen Objekte in einer solchen Entfernung auszumachen, blieb es zunächst bei der Theorie. 1988 jedoch konnten kanadische Astronomen mithilfe von Computerberechnungen zeigen, dass die Bahnen der kurzperiodischen Kometen tatsächlich gut mit der Existenz eines solchen „Kuipergürtels“ zu erklären wären. Ihren Berechnungen zufolge könnten sich 100 Millionen bis zehn Milliarden Kometenkerne in diesem Ring aufhalten. Erst in den 1990er Jahren konnten leistungsstärkere Teleskope erstmals bis ins Kuipergürtelgebiet blicken und entdeckten im vorher als leer geltenden Raum tatsächlich Himmelskörper – Kuipers Theorie war damit bestätigt. Inzwischen sind zahlreiche weitere dieser so genannten transneptunischen Objekte (TNO), eisige Weltraumbrocken von mehr als 100 Kilometern Durchmesser, beobachtetet worden. Astronomen schätzen ihre Zahl in dem Areal zwischen 30 und 50 astronomischen Einheiten von der Sonne entfernt auf mindestens 70.000. Kleinere Kometenkerne lassen sich zwar nach wie vor nicht direkt beobachten, doch es scheint kaum mehr Zweifel darüber zu geben, dass sie dort in großer Zahl vorhanden sein müssen.
Die einzigen Objekte,
die sozusagen aus dem Nichts auf uns zukommen können, sind Kometen. Alan Harris
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Heute bekannte Meteoriten-Einschlagskrater auf der Erde (rote Punkte). Die Textfelder charakterisieren die 15 größten. © NASA
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Ein Impakt kann bisher nur auf nicht-perfekte Art und Weise vorhergesagt werden, aber diese ist immerhin weitaus verlässlicher als die Prognosen von Erdbeben oder sogar Stürmen. Clark Chapman
Diese Falschfarbenaufnahme zeigt den Kern des Kometen Borrelly (grau) und die ihn umgebenden „Koma“ aus Gas und Staub. Die Farben stehen für Helligkeit (rot: am hellsten; violett: am dunkelsten). © NASA/JPL-Caltech
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Sogar der Pluto mit seinem Mond Charon könnte angesichts der neuen Funde im Kuipergürtel in einem ganz neuen Licht erscheinen: Schon lange rätseln Astronomen über den Ursprung dieses eisigen Doppelgespanns. Möglicherweise, so nun die Theorie, ist Pluto ein ursprünglich zum Kuipergürtel gehörender und jetzt in eine Planetenbahn eingeschwungener ruhender Riesenkomet.
Wie gefährlich sind Kometen? Wie groß ist das Risiko, dass ein Komet auf der Erde einschlägt? Das hängt davon ab, um welchen Kometentyp es sich handelt: Innerhalb der Kometen gelten die bisher bekannten gut 150 kurzperiodischen Kometen als eher berechenbar: Sie machen zwar rund sechs Prozent aller erdnahen Objekte aus. Ihre Umlaufbahnen sind jedoch kartiert, ihre Größen bekannt und viele von ihnen sind eher kleinere Objekte. Anders dagegen sieht es bei den langperiodischen Kometen aus: Durch ihre langen Umlaufzeiten können sie völlig überraschend in Erdnähe auftauchen, da es meist keine historische Aufzeichnungen über ihr Erscheinen gibt und erst recht keine Bahnberechnungen. „Das bedeutet, dass sie aus dem Nichts auftauchen können. Denn wir waren vor tausend, zweitausend oder mehr Jahren nicht dabei, um die Umlaufbahn auszurechnen und zu sagen: ‚Aha, im Jahr 2007 wird er wieder vorbei kommen’“, erklärt der Astronom Alan Harris in der ZDF-Dokumentation. „Deswegen ist es wie mit Hale-Bopp: Sie sind plötzlich da.“ Und genau das ist das Problem: Denn die Kometen fliegen vergleichsweise schnell: Mit rund 70 Kilometern pro Sekunde rasen sie durch das innere Sonnensystem – und sind damit zwei- bis dreimal so schnell wie Asteroiden. Gleichzeitig fangen sie meist erst dann an, sichtbar zu werden, wenn die zunehmende Wärme in Sonnennähe ihren Eisanteil schmilzt. Sie beginnen „auszugasen“ – ehemals gefrorene feste Bestandteile werden wieder gasförmig und bilden eine leuchtende Hülle um den Kometenkern, die Koma. Auch der typische Schweif des Kometen, bestehend aus Gasen und Staub, wird dann erst sichtbar. Für die Überwachungsprogramme der Astronomen bedeutet dies, dass ein unbekannter, weil extrem langperiodischer Komet erst sehr spät entdeckt werden kann. „Hale-Bopp, das letzte große Beispiel dafür, hatte einen Durchmesser, soweit wir wissen, von etwa 50 Kilometern. Er war damit vergleichsweise riesengroß. Und er wurde zwei Jahre vor seinem Vorbeiflug entdeckt. Das ist nicht viel“, so Alan Harris. „Wir sind inzwischen ein bisschen weiter, da wir jetzt verbesserte Teleskope und
Detektoren mit automatischen, Computer gesteuerten Verfahren für die Entdeckung beweglicher Objekte haben. Aber auch heute wäre es nicht möglich, eine Vorwarnzeit von mehr als 20 Monaten zu erreichen. Das ist einfach nicht machbar.“ Nach Ansicht des Experten besteht auch kaum Aussicht, dass sich diese Vorwarnzeit in der näheren Zukunft deutlich verlängern könnte, da die technischen Voraussetzungen dafür fehlen, Objekte unterhalb einer gewissen Helligkeitsstufe – die Astronomen sprechen hier von Größenklassen oder Magnituden – zu entdecken: „Wir haben jetzt Teleskope, die runter bis 22 oder 23 Größenklassen gehen können. Und das ist heute und bleibt wahrscheinlich noch für einige Jahre die Grenze.“
Der „Armageddon“-Komet
Schon die Babylonier beobachteten den Halleyschen Kometen, wie diese Tontafel aus dem Jahr 164 vor Christus bezeugt. Er gehört zu den kurzperiodischen und damit relativ „berechenbaren“ Kometen. © unbekannt
Einen langperiodischen Kometen von rund zwölf Kilometern Durchmesser – wie es das Szenario in „Armageddon – Der Einschlag“ vorsieht – könnte man nach Harris Berechnungen frühestens in einer Entfernung von acht astronomischen Einheiten von der Erde entdecken – dem achtfachen Abstand der Erde von der Sonne. Das klingt zwar zunächst viel, aber wegen seiner hohen Geschwindigkeit würde der Komet diese Entfernung in noch nicht einmal zwei Jahren zurücklegen. Harris: „Mehr Zeit würden wir in diesem Fall nicht haben. Wir bekommen nur dann mehr Zeit, wenn wir ein Objekt in seiner Umlaufbahn ständig beobachten können. Diese langperiodischen Kometen tauchen aber plötzlich auf.“ Für genauere Bahnberechnungen und Abwehrmaßnahmen bliebe da kaum eine Chance. Panik ist jedoch deswegen nicht nötig, denn nach Ansicht der Astronomen gehen rund 99 Prozent des Einschlagsrisikos auf der Erde nicht auf Kometen zurück, sondern auf das Konto von Asteroiden. Langperiodische Kometen tauchen im Vergleich einfach zu selten in Erdnähe auf. Auch die Überwachungsprogramme der Astronomen konzentrieren sich daher vor allem auf die Asteroiden.
Asteroiden – Irrläufer im Sonnensystem Weit mehr als zwei Drittel aller bekannten Meteoriteneinschläge auf der Erde wurden von Asteroiden verursacht. Diese Himmelskörper stammen ursprünglich fast alle aus dem Asteroidengürtel zwischen den Umlaufbahnen von Mars und Jupiter. Mehr als 100.000 Objekte, so die Schät-
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Dieses Bild simuliert den Blick von der Oberfläche des Asteroiden Toutatis auf die Erde. Er passierte sie im September 2004 in nur 1,6 Millionen Kilometer Entfernung. © NASA/JPL-Caltech
zungen der Astronomen, kreisen hier um die Sonne. Ihre Größe rangiert zwischen nur wenigen Meter kleinen Gesteinsbrocken bis hin zu ausgewachsenen Planetoiden wie dem 945 Kilometer großen Ceres. „Es gibt eine sehr, sehr steile Größenverteilung dieser Objekte, es gibt sehr viel mehr kleine als große. Denn sie werden im as Einschlagsrisiko durch Asteroiden ist ein Hauptgürtel zermahlen“, so Harris. Gefährlich werden diese Objekte der extremes Beispiel für ein Risiko mit einer sehr Erde in der Regel nicht – solange sie im geringen Wahrscheinlichkeit, aber potenziell Asteroidengürtel bleiben. Doch das ist katastrophalen Folgen. David Morrison nicht immer so: „Über lange Zeitperioden von Millionen von Jahren kann es zu einer Wanderung von Objekten von diesem Hauptgürtel auf erdnahe Umlaufbahnen kommen“, erklärt Harris. „Es gibt dynamische Prozesse, durch die diese Körper ihre Umlaufbahnen langsam ändern können.“ Der wichtigste dieser „Störenfriede“ ist der Jupiter. Die gewaltige Anziehungskraft des Gasriesen beeinflusst die Flugbahnen nahezu aller Objekte im Hauptgürtel. In bestimmten
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Bereichen ihrer Umlaufbahn können diese in eine instabile Region geraten, in der schon kleinste Einflüsse genügen, um sie abzulenken. Auch bei Kollisionen zwischen Asteroiden werden die Trümmer dieser Zusammenstöße häufig aus dem Planetoidengürtel hinausgeschleudert. Harris: „Es gibt dort viele Kollisionen und jede Kollision produziert sehr viel mehr Die meisten Erdbahnkreuzer gehören zu einer der drei „Hauptfamilien“ – Amor, Aten oder Apollo. © MMCD kleine Stücke. Deswegen wird der nächste Impaktor auf der Erde wahrscheinlich ziemlich klein sein. Klein auf jeden Fall im Vergleich zu dem Objekt, das wir hier diskutieren.“ Genau diese „Exilanten“ aus dem Hauptgürtel sind es, die als Meteoriten auf der Erde einschlagen könnten. „Diese Objekte können in das innere Sonnensystem hineinkommen, der Perihelabstand zur Sonne verringert sich, und sie werden dann so genannte erdnahe Objekte. Und das sind die Objekte, die gefährlich für die Erde sein können“, so Harris. Je nachdem, wie stark sie ausgelenkt wurden und wo sie sich in einer neuen Umlaufbahn stabilisieren, ordnen die Astronomen diese erdnahen Asteroiden (Near Earth Raumsonde „Dawn“ soll ab 2011 den Asteroidengürtel näher erforschen. Asteroids, NEAs) drei „Hauptfa- © NASA/JPL milien“ zu: Die „Amor“-Familie besteht aus Asteroiden, die unter normalen Umständen zwar die Marsumlaufbahn, nicht aber die der Erde kreuzen. Zum „Aten“-Typ dagegen gehören Boliden, deren Orbit größtenteils innerhalb der Erdumlaufbahn bleibt. Wenn überhaupt, kreuzen sie die Erdbahn daher von innen nach außen. Die meisten erdnahen Asteroiden jedoch gehören zum so genannten „Apollo“-Typ, benannt nach einem 1932 entdeckten gleichnamigen Asteroiden. Seine hochgradig exzentrische Umlaufbahn reicht
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Die wichtigste Sache
ist die Entdeckung: Man muss erst versuchen, möglichst viel von diesen gefährlichen oder potenziell gefährlichen Objekten zu finden. Alan Harris
Kollisionen von Kometen mit Planeten sind keine Seltenheit, das zeigte der Einschlag des Kometen ShoemakerLevy auf dem Jupiter im Jahr 1994. © NASA
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von innerhalb der Venusbahn bis über den Orbit des Mars hinaus nach außen. Im Laufe dieser 650 Tage dauernden Reise kreuzt der 1,4 Kilometer große Brocken auch die Erdbahn. Egal ob „Amor“ oder „Apollo“ – genau diese Erdbahnkreuzer sind es, von denen eine relativ große potenzielle Gefahr für die Erde ausgehen könnte. Allerdings nur dann, wenn ihre Flugbahn und damit auch Abweichungen ihres Fluges nicht rechtzeitig bemerkt werden.
Die Überwachung – von der Science Fiction zur Wirklichkeit Die Idee einer „Wache“ gegen Himmelskörper auf Erdkurs ist nicht neu: Schon in den 1970er Jahren beschrieb der Science Fiction Autor Arthur C. Clarke in seinem Buch „Spaceguard Survey“ ein Projekt, das den Himmel nach Asteroiden absuchte. Zur damaligen Zeit noch als Spielerei und unrealistisch verspottet, wandelte sich diese Einschätzung innerhalb der nächsten 20 Jahre allmählich – zunächst allerdings nur unter den Wissenschaftlern. Bereits 1992 hatten amerikanische Astronomen ein Programm zur systematischen Erfassung und Suche nach Erdbahnkreuzern und anderen erdnahen Objekten vorgeschlagen. Ihr nach Clarkes Roman „Spaceguard Survey“ genannter Vorschlag sah die Nutzung von sechs weltweit verteilten Spiegelteleskopen der Zwei-Meter Klasse vor. Obwohl die Kosten dafür mit 50 Millionen Dollar vergleichsweise gering gewesen wären, wurde die Finanzierung nicht bewilligt. Doch schon kurz darauf brachte ein kosmisches Ereignis die Wende: Bruchstücke des Kometen Shoemaker-Levy-9 schossen aus dem All auf dem Jupiter hinab und lösten Feuerfontänen aus, die selbst auf der Erde noch gut zu beobachten waren. Der spektakuläre Einschlag sorgte nicht nur für großen Medienrummel, er rüttelte ganz offensichtlich auch diejenigen wach, die über die Forschungsgelder für Überwachungsprojekte zu entscheiden hatten. Im Jahr 1998 gab der amerikanische Kongress der Weltraumbehörde NASA den offiziellen Auftrag, innerhalb der nächsten zehn Jahre mindestens 90 Prozent aller Erdbahnkreuzer zu identifizieren und zu katalogisieren, die mehr als einen Kilometer im Durchmesser besaßen. Ein Anfang war gemacht. Gleichzeitig gehört die amerikanische Regierung damit auch zu den größten Geldgebern für Projekte, die exklusiv mit der Untersuchung von Erdbahnkreuzern beschäftigt sind. Zwar beteiligen sich Teleskope weltweit an der Suche und Berechnungen von Umlaufbahnen, Modellierun-
gen und Datenauswertung finden auch in anderen Staaten statt, die Basis dieses internationalen Netzwerks bildet jedoch noch immer das amerikanische SpaceguardProgramm. „Wir hatten in Europa ein Programm, vom DLR in Zusammenarbeit mit den Franzosen, am Observatoire de la Cote d’Azur, aber das Geld ging aus und das Programm läuft heute nicht mehr, leider“, kommentiert Harris. Alle neu entdeckten erdnahen Asteroiden werden heute in zentralen Datenbanken, unter anderem im „Minor Planet Center“ der Internationalen Astronomischen Union (IAU) in Cambridge, USA Auch die Teleskope der Europäischen Südsternwarte (ESO) auf dem Paranal in Chile haben bereits Asteroiden entdeckt den zentralen Datenbanken gemeldet. © ESO und im System „NEODys“ in Italien, erfasst. Im Dezember 2006 waren in diesen Zentralregistern immerhin 4.395 Objekte eingetragen – das Ergebnis von Beobachtungen durch gut 1.200 Observatorien, Teleskopen und Amateurastronomen rund um den Erdball.
Ein Lichtpunkt unter vielen…. In der Praxis ist die Suche nach potenziell gefährlichen erdnahen Asteroiden jedoch alles andere als einfach. Als erstes müssen die Erdbahnkreuzer überhaupt erst einmal entdeckt werden. Keine einfache Aufgabe, denn sie gehören nicht gerade zu den auffälligsten Himmelsobjekten. Sie unterscheiden sich im Prinzip nur in einer Eigenschaft von den zahllosen Sternen am Nachthimmel: Sie bewegen sich – von der Erde aus betrachtet – sehr schnell. Die mit optischen Teleskopen gekoppelten Suchprogramme für erdnahe Asteroiden erstellen deshalb in kurzem Abstand Bilder der gleichen Himmelsregionen und vergleichen diese miteinander. Die Aufnahmen werden heute meist mithilfe von digitalen Bildsensoren wie sie auch in Digitalkameras üblich sind, erstellt und über spezielle Software ausgewertet. Bewegt sich ein Objekt sehr schnell, erscheint es in diesen zeitlich versetzten Aufnahmen an einer jeweils anderen Stelle des abgebildeten
Oft verrät erst die schnelle Veränderung in aufeinander folgenden Himmelsaufnahmen, hier durch farbige Bögen dargestellt, einen Asteroiden. © NASA, ESA, and Y. Momany (University of Padua)
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Himmelsausschnitts. Treten dabei Unterschiede auf, die nicht durch normale Sternen- oder Planetenbewegungen erklärbar sind, schlagen die Programme Alarm. Dann werden die Astronomen aktiv. Sie bewerten die Daten und führen weitere Beobachtungen des verdächtigen Objekts durch. Da die einzelnen Überwachungsprojekte miteinander vernetzt sind, beteiligen sich dabei meist gleich mehrere Teleskope und Observatorien. Doch nicht immer sind es nur die Suchprogramme der staatlichen oder universitären Observatorien, die neue Objekte entdecken, oft melDas Keck-Observatorium auf dem Gipfel des Mauna Kea auf den auch Amateurastronomen potenzielle ErdbahnHawaii ist auf die Beobachtung sehr lichtschwacher, weit kreuzer oder steuern wertvolle Beobachtungsdaten entfernter Objekte spezialisiert. © NASA/JPL-Caltech für die Bahnberechnung bei. Allerdings ist längst nicht jedes Teleskop für die Suche nach Erdbahnkreuzern geeignet. Viele Oberservatorien sind heute darauf spezialisiert, einen winzigen Ausschnitt des Himmels mit hoher Auflösung bis in die tiefsten Tiefen auszuloten. Für die Beobachtung von erdnahen Asteroiden benötigt man jedoch kleinere Teleskope, die zwar eine geringere Auflösung besitzen, dafür aber einen größeren Himmelsbereich „auf einen Blick“ erfassen können. Oft setzen die Überwachungsprojekte daher Teleskope mit Durchmessern von 50 Zentimetern bis etwa zwei Metern ein. Eines der erfolgreichsten Überwachungsprojekte, das „Lincoln Near Earth Asteroid Project“ (LINEAR) nutzt beispielsweise seit 1998 ein altes, quasi ausgemustertes Ein-Meter-Telekop der US-Luftwaffe. Bis Ende 2004 haben die auf der White Sands Missile Range in New Mexico stationierten Astronomen damit immerhin 1.622 neue Erdbahnkreuzer identifiziert und 142 Kometen entdeckt.
Es gibt ein Restrisiko
durch die Objekte, die wir noch nicht entdeckt haben. Alan Harris
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Ein Restrisiko bleibt… Im Jahr 2008 läuft die NASA-Förderung für die Spaceguard-Projekte offiziell aus. Aber wie ist die Bilanz bisher? „Alle Objekte größer als fünf Kilometer sind jetzt wahrscheinlich entdeckt. Wir kennen die großen Objekte und wir wissen, dass sie die Erde in den nächsten hundert oder mehr Jahren nicht treffen werden“, erklärt Allan Harris, Astronom am DLR Institut für Planetenforschung in Berlin. Etwas weniger vollständig ist die Bestandsaufnahme bei den etwas kleineren Asteroiden von etwa einem Kilometer Durchmesser. „Schät-
zungsweise gibt es in der erdnahen Population insgesamt 1.100 von diesen Objekten“, so Harris. „Wir haben bis jetzt knapp 700 oder 800 gefunden. Das bedeutet: Es gibt ein Restrisiko durch die Objekte, die wir noch nicht entdeckt haben. Wir wissen nicht, wo diese sind. Und das bedeutet: Aus dieser Restpopulation könnte es morgen einen ie Suche nach Erdbahnkreuzern ist ein wenig Einschlag geben.“ Statistisch wie die Feuerversicherung unseres Hauses: gesehen allerdings ist das Risiko Wir erwarten nicht, dass unser Haus eher gering, dass dies tatsächlich eintritt: Denn die Wahrscheinlich- niederbrennt. Aber dennoch schließen wir eine keit für Meteoriten dieser Größen- Versicherung ab. David Morrison ordnung liegt bei einem Einschlag alle 600.000 Jahre. Andererseits aber muss dies nicht bedeuten, dass wir noch mehrere hunderttausend Jahre Zeit haben: „Zum einen ist die Chance, dass es morgen passiert genauso groß wie die, dass es erst in einer Million Jahre stattfindet. Zum anderen sind die Konsequenzen beängstigend: Modelle zeigen uns, dass die Gesellschaft, wie wir sie kennen, dadurch zerstört würde“, so Thomas Gehrels, Astronom der Universität von Arizona und seit 1984 in der NEO-Forschung aktiv. Noch nicht sehr rosig sieht auch der Kartierungsstatus für die erdnahen Objekte von nur mehreren hundert Metern Größe aus. Zu diesem Fazit kam jedenfalls 2004 das von der ESA beauftragte Wissenschaftler-Gremium unter Leitung von Harris: „Die Population der NEOs in der Hunderte-Meter-Größe ist noch Status der Entdeckungen erdnaher Asteroiden. © MMCD größtenteils unentdeckt. Solche Objekte schlagen weitaus häufiger ein und können Schäden von nationalem Ausmaß oder schlimmer nach sich ziehen und zu Millionen von Toten führen“, so der „NEOMAP“-Report. Wie hoch das Risiko und die resultierenden Schäden tatsächlich sein könnten, hat die NASA 2004 im Rahmen eines so genannten NEA Science Definition Teams (SDT) untersuchen lassen. Die Experten stellten eine Art Kosten-Nutzen Rechnung für verschiedene Überwachungsszenarios auf. Das Ergebnis: Ohne
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Auch das Kitt Peak Observatorium nahe Tucson, Arizona, beteiligt sich am Spaceguard-Programm. © Drax Felton
eine weitergehende Kartierung und Überwachung könnten Einschläge durch Asteroiden der Größe ab 150 Meter aufwärts zwischen hundert und 800 Menschenleben fordern – im Durchschnitt auf das Jahr umgerechnet. Konkret rechnen die Experten mit einer Chance von immerhin einem Prozent, dass noch in diesem Jahrhundert ein Himmelskörper von 70 bis 200 Metern Durchmesser so trifft, dass sogar hunderttausend Menschen sterben könnten. Dieses Risiko ließe sich jedoch minimieren, wenn die Überwachung durch „Spaceguard“-Teleskope ab 2008 weitergeführt und ausgedehnt würde. Dann, so die Kalkulation, ließen sich 90 Prozent der möglichen Impaktfolgen innerhalb der nächsten zwei Dekaden vermeiden. Ein solches mehrjähriges Programm würde jedoch zwischen 236 und 397 Millionen US-Dollar kosten. Die Entscheidung über eine Weiterführung des „Spaceguard“-Programms steht bisher allerdings noch aus. „Die Suche nach Erdbahnkreuzern ist ein wenig wie die Feuerversicherung unseres Hauses: Wir erwarten nicht, dass unser Haus niederbrennt. Die große Mehrheit von uns wird niemals ein Feuer erleben. Aber dennoch schließen wir eine Versicherung ab, weil uns unsere Wohnungen zu kostbar sind, um sie zu verlieren“, erklärte der Astronom und NEO-Forscher David Morrison vom Ames Forschungszentrum der NASA 2002 vor Vertretern des amerikanischen Repräsentantenhauses. „In ähnlicher Weise führen wir die Spaceguard-Überwachung durch – nicht weil wir einen Einschlag zu unseren Lebzeiten erwarten, sondern weil die Konsequenzen zu schrecklich wären, um akzeptabel zu sein.“
Was wäre wenn? Kurz nach der Entdeckung ist der potenzielle Weg des Objekts nur sehr ungenau zu bestimmen. © MMCD
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Gesetzt den Fall, die Überwachungsprogramme – oder vielleicht ja sogar ein Amateurastronom – entdecken ein verdächtiges Objekt am Nachthimmel. Was geschieht dann? Alan Harris erklärt: „Normalerweise läuft das so ab: Man entdeckt ein Objekt. Und man hat zunächst keine Ahnung, wie seine Umlaufbahn aussieht. Das muss man mithilfe von Messungen über mehrere Wochen hinweg erst aus den vielen Daten, die man dann aus optischen Beobachtungen sammelt, ausrechnen.“ Konkret bedeutet das, dass das verdächtige Objekt von so vielen Teleskopen und Observatorien aus wie möglich beobachtet wird. Aus der Veränderung seiner
Position von einer Beobachtung zu nächsten schließen die Astronomen auf seine Flugbahn und Geschwindigkeit. Aus diesen Kalkulationen ergibt sich zunächst eine große Ellipse auf Höhe der Erdbahn, die den Bereich kennzeichnet, den der Asteroid oder Komet durchfliegen wird. Je genauer die Daten zur Flugbahn des Objekts werden, desto kleiner wird diese Ellipse. Liegt die Erde schon bei den ersten Berechnungen außerhalb dieses Bereichs, besteht kein Grund zur Sorge: Ein Treffer ist mehr als unwahrscheinlich. In vielen Fällen jedoch wandert die Erde erst nach einiger Zeit langsam aus diesem potenziellen Zielgebiet heraus. „Wenn das passiert, kollabiert die Einschlagswahrscheinlichkeit“, erklärt Harris. „Man spricht dann von einer Hintergrundwahrscheinlichkeit und diese Mit steigender Beobachtungsdauer und angesammelter Datenmenge engt sich entspricht der Wahrscheinlichkeit, dass irgendein anderes Objekt aus der potenzielle Trefferbereich eines Objekts immer weiter ein. © MMCD der Population über diesen Zeitraum die Erde treffen könnte.“ Anders sieht es allerdings aus, wenn die Erde auch bei immer kleiner werdender Ellipse beharrlich im potenziellen Zielgebiet bleibt. Denn dann beginnt die Einschlagswahrscheinlichkeit langsam aber sicher zu steigen. „Es fängt an bei eins zu einigen Millionen, wird dann zu eins zu ein paar Tausend, und dann langsam bis zu eins zu zehn oder so. Und dann hat man ein Problem“, so der NEO-Fachmann Harris. Sobald sich eine steigende Wahrscheinlichkeit abzeichnet, versuchen die Astronomen, zusätzlich zu den Beobachtungen mit optischen Teleskopen, Das Arecibo-Teleskop in Puerto Rico ist das zweitgrößte Radioteleskop der Welt. Mit seiner Hilfe könnten Radarmessungen an einem herannahenden Objekt durchauch Radarmessungen des poten- geführt werden. © NAIC – Arecibo Observatory, a facility of the NSF ziellen Meteoriten vorzunehmen. Dabei wird ein Radarsignal in Richtung des Objekts gestrahlt. Dieses reflektiert die Wellen, verändert sie dabei jedoch. Die Frequenzveränderung der wieder ankommenden Wellen gegenüber den ausgestrahlten gibt wertvolle Hinweise auf die Fluggeschwindigkeit des Objekts, die Zeitverzögerung zwischen Echo und Ausstrahlung zeigt die Entfernung. Harris: „Und mit dieser Information, zusammen mit den optischen Informationen, kann man ganz genau die Umlaufbahn feststellen. Und das ist maßgebend.
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Dann müssen wir den
Politikern klarmachen, das wir ein riesiges Problem haben. Die müssen uns ernst nehmen. Alan Harris
Wenn die Radardaten auch zeigen, dass es zu einer Kollision kommen könnte, dann haben wir echte Probleme. Dann müssen wir zittern. Das ist aber noch nicht passiert.“
Der Fall Apophis Einem solchen Szenario sehr nahe kam allerdings der Fall des Asteroiden Apophis. Alles begann im März 2004, als die Astronomen David J. Tholen und Fabrizio Bernardi vom Observatorium der Universität Hawaii und ihr Kollege Roy Tucker von der Universität von Arizona bei der Auswertung von Teleskopbildern ein bisher unbekanntes, sich schnell bewegendes
Die Torinoskala dient als Hilfsmittel, um das Einschlagsrisiko zu beurteilen. Dafür fasst sie die Trefferwahrscheinlichkeit und das Ausmaß der Einschlagsfolgen zu einem Wert zusammen. Einstufung
Stufe
Beschreibung
Ereignisse, die höchstwahrscheinlich keine Konsequenzen haben
0
Die Kollisionsgeschwindigkeit ist Null oder geringer als die Wahrscheinlichkeit, dass ein beliebiges Objekt vergleichbarer Größe die Erde in den nächsten Jahrzehnten trifft. Diese Einstufung gilt gleichfalls für jedes kleine Objekt, das im Kollisionsfall die Erdoberfläche nicht als Ganzes erreicht.
Ereignisse, die sehr unwahrscheinlich sind
1
Die Kollisionswahrscheinlichkeit ist sehr gering und vergleichbar damit, dass ein beliebiges Objekt vergleichbarer Größe die Erde in den nächsten Jahrzehnten trifft.
2
Eine nahe, aber keine ungewöhnliche Annäherung. Eine Kollision ist sehr unwahrscheinlich.
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Eine Annäherung, für die die Kollisionswahrscheinlichkeit über 1% liegt. Die Kollision würde lokale Zerstörung verursachen.
4
Eine Annäherung, für die die Kollisionswahrscheinlichkeit über 1% liegt. Die Kollision würde regionale Zerstörung verursachen.
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Eine große Annäherung mit einer großen Kollisionswahrscheinlichkeit, die regionale Zerstörung verursachen kann.
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Eine große Annäherung mit einer großen Kollisionswahrscheinlichkeit, die globale Zerstörung verursachen kann.
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Eine große Annäherung mit einer sehr großen Kollisionswahrscheinlichkeit, die globale Zerstörung verursachen kann.
8
Eine Kollision, die lokale Zerstörung verursacht. Solche Ereignisse finden alle 50 bis 1.000 Jahre statt.
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Eine Kollision, die regionale Zerstörung verursacht. Solche Ereignisse finden alle 1.000 bis 100.000 Jahre statt.
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Eine Kollision, die globale Zerstörung verursacht. Solche Ereignisse finden alle 100.000 Jahre oder seltener statt.
Ereignisse, die eine genaue Beobachtung von Astronomen erfordern
bedrohliche Ereignisse
sichere Kollision
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Objekt entdeckten. Unter der Bezeichnung 2004 MN4 wurde der Himmelskörper in die Kartei der erdnahen Asteroiden aufgenommen und weiter beobachtet. Sehr schnell stellte sich heraus, dass die Umlaufbahn von „Apophis“, wie er genannt wurde, direkt in Richtung Erde zeigte. Im Jahr 2029, so die Berechnungen, könnte der rund 300 Meter große Asteroid entweder ganz dicht an der Erde vorbei fliegen, oder aber auf ihr einschlagen. In jedem Falle lag die Erde in den Modellen eindeutig innerhalb der Ellipse der Trefferwahrscheinlichkeit. „Was ist dann passiert? Mit mehr Beobachtungen hat sich dieser Fleck immer weiter verkleinert. Aber die Fläche der Erde bleibt ja gleich. Deswegen steigt die Wahrscheinlichkeit. Und diese Wahrscheinlichkeit ist gestiegen über eine Periode von einigen Wochen“, erzählt Harris über diese „heiße Phase“. Im Dezember 2004 gipfelte das ganze in einer Wahrscheinlichkeit von 2,7 Prozent, dass Apophis am Freitag, dem 13. April 2029 auf der Erde einschlagen würde. Damit war Apophis das erste Objekt, das jemals über einen Wert von 1 auf der Torinoskala der Einschlagsrisiken hinaus gelangte. Diese Skala mit Werten zwischen 1 und 10 dient seit 1999 als eine Art „Richterskala“ für potenzielle Impakte. Sie fasst die Einschlagswahrscheinlichkeit und die potenziellen Folgen in einem Wert zusammen. Stufe 1 entspricht dabei der „kosmischen Hintergrundwahrscheinlichkeit“: Die Kollisionswahrscheinlichkeit eines so eingestuften Himmelskörpers ist sehr gering und vergleichbar damit, dass ein beliebiges Objekt vergleichbarer Größe die Erde in den nächsten Jahrzehnten trifft. Stufe 4, der Wert, den Apophis für kurze Zeit innehatte, gilt bei Objekten, die regional schwere Verwüstungen anrichten und Trefferwahrscheinlichkeiten mehr als einem Prozent aufweisen. Sogar ein mutmaßliches Zielgebiet für Apophis hatte ein NEO-Forscher bereits errechnet: Der Asteroid würde, so seine Kalkulation, irgendwo auf einer Linie von Mitteleuropa, über den Nahen Osten, dem Ganges-Gebiet in Indien und den Philippinen niedergehen – damit lagen einige der am dichtesten besiedelten Gebiete unseres Planeten im potenziellen Einschlagsgebiet.
Wann kommuniziert man eine Einschlagswahrscheinlichkeit?
Umlaufbahn des Asteroiden Apophis © MMCD
Kommuniziere früh
und oft: Dies nicht zu tun erzeugt Misstrauen und gibt anderen die Gelegenheit, das Thema zu besetzen. Offizielle Richtlinien für die Risikokommunikation der US Centers for Disease Control
Doch genau an diesem Punkt begann – und beginnt noch heute – das eigentliche Problem: Wem teilt man diese Erkenntnisse mit? Wann informiert man die Öffentlichkeit? Bis heute gibt es weder festgelegte Proze-
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Wann und wie kommuniziert man ein Einschlagsrisiko? Vor dieser Frage stehen Astronomen und Politiker im Ernstfall. © Filmszene
Ein zu frühes Informieren der Öffentlichkeit könnte eine unbegründete Panik auslösen – so die Befürchtung vieler Wissenschaftler. © Filmszene
duren für den „Ernstfall“ noch eine zentrale Zuständigkeit. „Im Falle von Apophis gibt es die Geschichte, dass ein anerkannter Wissenschaftler fast die NASA direkt angerufen hätte und gesagt: „Hallo, Jungs, wir haben hier ein nicht vorher bekanntes Problem“. Es ist nicht soweit gekommen, aber man hat schon überlegt, wann man etwas unternehmen soll“, so Harris. Gefragt, an wen man sich denn überhaupt wenden würde, antwortet er: „Wahrscheinlich wären es die Amerikaner, da sie schon etwas mehr in diese Richtung überlegt haben als andere. In Europa gibt es nichts dergleichen, kein Programm, überhaupt kein koordiniertes Arrangement.“ Der Forscher, der das Zielgebiet kalkuliert hatte, entschied sich zum damaligen Zeitpunkt dafür, erst einmal niemanden, noch nicht einmal seinen Kollegen, zu verraten, wo der Einschlag liegen könnte. Viele Wissenschaftler neigten und neigen zu ähnlicher Zurückhaltung. Dies allerdings widerspricht eklatant den von Katastrophenschutzbehörden herausgegebenen Richtlinien, die auf maximale Transparenz – auch gegenüber den Medien – setzen: „Kommuniziere früh und oft: Dies nicht zu tun erzeugt Misstrauen und gibt anderen die Gelegenheit, das Thema zu besetzen“, so der Leitsatz. Allerdings ist diese Strategie in der Meteoriten-„Vorhersage“ nicht ganz so einfach. Denn das Problem beginnt schon bei der Entscheidung, wann eine Entdeckung oder Bahnberechnung abgesichert genug ist, um sie zu veröffentlichen. Da die Impaktprognose gerade im Anfangsstadium immer mit Wahrscheinlichkeiten und relativ großen Unsicherheitsfaktoren und Fehlerspannbreiten verbunden ist, gibt es auch ein relativ großes Risiko, durch eine vorschnelle Veröffentlichung unnötig Panik auszulösen.
Der „Bush“-Asteroid Wie schnell so etwas geschehen kann, mussten die Astronomen im Januar 2004 feststellen. Am 13. Januar 2004, einen Tag vor der großen Rede des amerikanischen Präsidenten George W. Bush zur Zukunft der Raumfahrt, meldete der deutsche Amateurastronom Reiner Stoß dem „Minor Planets Center” in Cambridge einen Asteroiden, der sich extrem schnell der Erde zu nähern schien. AL00667, so der offzielle Name des Objekts, schien bereits so dicht herangekommen, dass er schon am nächsten Tag einschlagen könnte. Noch am gleichen Abend und in entsprechender Eile analysierten Alan Harris, damals noch am Jet Propulsion Laboratory der NASA, sowie ein weiterer erfahrener NEO-Forscher
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die Flugbahn des Asteroiden und bestätigten die Befürchtungen: Die Wahrscheinlichkeit lag zwischen 20 und 40 Prozent. Dummerweise war die Nacht über einem Großteil der nördlichen Halbkugel bewölkt, so dass über Stunden jede weitere Beobachtung des heranrasenden Boliden unmöglich war. Trotz angestrengter Suche konnte kein Teleskop den Asteroiden ausmachen. Was war zu tun? Sollte man die US-Regierung verständigen? Die NASA? Die Öffentlichkeit? Oder auf den Rat einiger erfahrener Metoritenforscher hören, deren Bauchgefühl einen solchen Impakt „aus dem Nichts“ für unwahrscheinlich hielt? Mittlerweile wurde die Größe von AL00667 als etwa 30 Meter kalkuliert – zu klein, um eine regionale Katastrophe zu verursachen, aber groß genug, um schwerwiegende Schäden direkt am Einschlagsort anzurichten. Brian Marsden, der Direktor des Minor Planet Center entschied sich, noch ein wenig abzu- Der 3 x 2 Meter große Willamette-Meteorit ist der sechstgrößte geborgene Meteorit der Erde. © GFDL warten und hoffte auf klaren Himmel und weitere Daten. Diese Strategie zahlte sich aus: Wenige Stunden später, kurz vor der Morgendämmerung, schickte ein Amateurastronomen aus Colorado per E-Mail neue Beobachtungsdaten, wenig später kamen weitere hinzu. Sie alle zeigten eindeutig: Der vermeintliche „Killer-Asteroid“ würde den Planeten nicht nur nicht treffen, er war auch 20 Millionen Kilometer von der Erde entfernt – und damit noch nicht einmal ansatzweise in der Nähe. Von einem Einschlag am nächsten Tag konnte demnach keine Rede sein. Es war noch einmal gut gegangen. Wäre noch in der gleichen Nacht eine Nachricht an Öffentlichkeit und Regierungen herausgegeben worden, hätte dies völlig unbegründete Ängste ausgelöst. Das dies nicht este Prozeduren gibt geschah, ist allerdings keiner offiziellen Regelung oder einem vorher vereinbarten Protokoll zuzuschreiben, sondern allein den durch zahlreiche es nicht. Alan Harris Telefonate koordinierten Entscheidungen der zufällig greifbaren Astronomen. Eine offizielle Richtlinie für das Vorgehen in solche Fällen gibt es bis heute nicht – weder in den USA noch in Europa.
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Restrisiko für 2036 Auch im Fall des Asteroiden Apophis sorgten weitere Beobachtungen dafür, dass das Einschlagsrisiko – zumindest für das Jahr 2029 – sehr schnell wieder absank: „Dann kam eine neue Beobachtung von jeman-
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Gefahr aus dem All
Standort von Apophis bei seiner nächsten Annäherung 2029 © NASA/JPL
Modelle zeigen uns,
dass die Gesellschaft, wie wir sie kennen, dadurch zerstört würde.
Thomas Gehrels
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dem in Amerika, und die hat gezeigt, dass die Erde an der Grenze dieses potenziellen Zielbereichs liegt. Man muss sich vorstellen, dass das kein ganz sauber ausgeschnittenes Gebiet ist, es ist ein bisschen diffus, wir haben Fehlerbalken an den Grenzen“, erzählt Harris. „Aber die Erde ist sozusagen immer weiter in die Grauzone gerückt und dann ist die Wahrscheinlichkeit natürlich plötzlich gefallen.“ Nach heutigen Berechnungen gehen Astronomen davon aus, dass Apophis 2029 die Erde knapp verfehlt und in einer Höhe von gerade einmal rund 30.000 Kilometern über dem Erdboden vorüberrasen wird. Seine Flughöhe liegt damit noch unterhalb der Flugbahnen der GPSSatelliten. Aber einen Pferdefuß gibt es noch: Denn falls der Asteroid bei diesem Vorbeiflug einen bestimmten, nur rund 600 Kilometer großen Bereich im Weltraum durchfliegt, ist die Gefahr noch nicht gebannt, ganz im Gegenteil. Denn die leichte Auslenkung durch die Erdanziehungskraft würde dann dazu führen, dass Apophis bei seiner nächsten Erdbahnkreuzung im Jahr 2036 dann genau auf Erdkurs liegen würde. „Wenn der Asteroid Apophis durch dieses Schlüsselloch fliegt, dann ist es sicher, dass er im Jahr 2036 die Erde treffen wird. Das ist das Besondere daran. Eine ganz interessante Situation. Denn wir meinen, dass eine ähnliche Situation auch in der Zukunft vorkommen könnte, bei anderen Objekten.“ Weil Apophis zu den Asteroiden vom „Aten“-Typ gehört, liegt ein großer Teil seiner Umlaufbahn von uns aus gesehen jenseits der Sonne – und damit außerhalb des Sichtbereichs der irdischen Teleskope. Nur etwa alle sieben Jahre haben die Astronomen die Chance, das Verhalten des Himmelskörpers mithilfe von optischen Messungen und Radarbeobachtungen zu kartieren. Bis heute sind die Bahndaten von Apophis daher nicht genau genug, um mit Sicherheit ausschließen zu können, dass der Asteroid das Schlüsselloch trifft. Im Sommer 2006, nach der letzten Sichtbarkeitsphase, kalkulierten die Astronomen die Wahrscheinlichkeit eines Treffers im Jahr 2036 auf noch 1: 38.000. Auf der Torinoskala liegt der Asteroid daher zurzeit wieder auf Stufe 1, gilt also eher als ungefährlich. Die nächste Chance, genauere Daten zu gewinnen, gibt es allerdings erst wieder im Jahr 2012 oder 2013. Dann, so erwartet der NEO-Forscher Clark Chapman, müsste die Wahrscheinlichkeit entweder deutlich steigen, oder aber ganz absinken. In der zentralen Datenbank „NEODys“ wird Apophis bis dahin als zumindest möglicher Impaktor geführt. Wörtlich heißt es dort: „Bei diesem Objekt besteht die Möglichkeit, dass es die Erde trifft – mit einer geringen, aber nicht Null entsprechenden Wahrscheinlichkeit.“
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Fragen an: Alan Harris Der Physiker und Astronom arbeitet am Institut für Planetenforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Berlin. Als Spezialist für Asteroiden und Kometen ist er zudem Vorsitzender des Komitees für „Near Earth Objects“ der europäischen Weltraumbehörde ESA.
Ist es denkbar, dass – wie im Film – ein Objekt von 20 Kilometern Größe aus dem Nichts auftaucht und ein Jahr später die Erde bedroht? Wenn wir bei den Asteroiden bleiben, ist das ausgeschlossen. Die einzigen Objekte, die sozusagen aus dem Nichts auf uns zukommen können, sind langperiodische Kometen. Hale-Bopp, das letzte große Beispiel dafür, hatte einen Durchmesser von um die 50 Kilometer. Er wurde zwei Jahre vorher entdeckt. Das ist nicht viel. Wir sind inzwischen ein bisschen besser – Hale-Bopp war 1995. Wir haben jetzt auch verbesserte Teleskope und Detektoren mit automatischen, computergesteuerten Verfahren für die Entdeckung beweglicher Objekte. Aber auch heute wäre es nicht mögllich, eine Vorwarnzeit von mehr als zwei Jahren zu erreichen. Das ist einfach nicht machbar. Was passiert im Ernstfall? Man würde erwarten, wenn so was wirklich auf die Erde zukommen würde, dass wir wahrscheinlich Jahrzehnte im voraus dieses Ojekt entdecken, sehen: „Aha, diese Umlaufbahn ist merkwürdig, es könnte vielleicht in 30 Jahren die Erde treffen.“ Und man beobachtet das Objekt dann über Wochen, über Monate. Je mehr Daten man hat, desto genauer kennt man die Umlaufbahn, und dann irgendwann kann man eine Wahrscheinlichkeit, ein Risiko von, sagen wir, fünf oder zehn Prozent aussprechen, dass das Objekt die Erde in 25 Jahren treffen wird.
Das ist allerdings noch nie vorgekommen. So eine hohe Warhscheinlichkeit würde große Aufmerksamkeit hervorrufen und dann wahrscheinlich Diskussionen über eine mögliche Abwehrmission auslösen. Ich schätze ab einem Prozent oder ein paar Prozent würde es für die Politiker interessant werden. Das ist umstritten, wo genau das Niveau ist. Gibt es fest Regeln, angenommen wir haben einen Fall, bei dem Radarmessungen bestätigt haben, dass die Erde im Zielgebiet liegt. Oder bricht dann Chaos aus? Niemand weiß genau was passieren wird. Nehmen wir an, dass ein Objekt vielleicht 20, 30 Jahre vor dem prognostizierten Impakt entdeckt wird, dann müssen wir den Politikern klarmachen, das wir ein gewaltiges Problem haben. Die müssen uns ernst nehmen. Ich schätze, das würde der Fall sein. Wen würden Sie im Ernstfall anrufen? Gute Frage. Ich habe glücklicherweise das Problem nicht, weil ich nicht direkt an solchen Beoachtungen beteiligt bin. Man muss wirklich ein regelmäßiger Beobachter sein oder man musss der Leiter von einem dieser Suchprogramme sein. Die sind sehr erfolgreich, entdecken sehr viele Objekte. Und ich nehme an, dass sich diese Leute schon überlegt haben, was sie tun. Aber es wird eine internationale Sache sein.
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Die Abwehr
Deswegen ist es fraglich, ob man überhaupt in
der Lage sein würde, eine Abwehrmission zu versuchen oder so schnell eine Entscheidung zu treffen. Alan Harris
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12 Monate ist die Trägersonde unterwegs, um auf der Höhe des Planeten Mars den Kometen zu treffen.
Die Abwehr Paris, 28. Juli, 19:58 Uhr
„Nimmst du auch einen Cognac?“ – Mit zwei Gläsern in der Hand kommt Catherine zum Sofa, wo ihr Mann bereits Platz genommen hat. Schweigend reicht sie eines weiter an Henri. Er trägt noch seinen Anzug, die Krawatte hat er etwas geöffnet. Beide sind heute früher aus dem Büro nach Hause gekommen. Sie wollten zusammen sein, wenn die Abwehrmission übertragen wird. Seit ein paar Jahren leben sie mit ihrer Tochter im 10. Arrondissement. Henri ist Ingenieur und gemeinsam verdienen sie gut. Die schöne Wohnung mitten in Paris können sie sich leisten, und eigentlich wollten sie sich schon nach einem eigenen Haus umschauen. Aber dann kam plötzlich der Komet dazwischen. Catherine wusste gar nicht, was das sein sollte: „Ein Brocken aus dem All, der die Erde bedroht...“ Es dauerte eine ganze Weile, bis sie es begriff. Der Alltag ging zunächst so weiter wie zuvor. Aber dann begann der seltsame Eindringling aus dem All, langsam von ihrem Leben Besitz zu ergreifen. Schleichend machte sich Angst breit – überall. Keiner wusste genau was geschehen würde, aber alle redeten davon. Auf der
Der drohende Komet versetzt die Bevölkerung in Angst. Auch bei Familie Vaton ist die Stimmung gedrückt.
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Die Abwehr
Arbeit, in der U-Bahn und im Fernsehen gab es schon seit Wochen kein anderes Thema mehr. Es schien, als ob die Zeit stehen geblieben war. Alle Pläne, Hoffnungen, Wünsche waren plötzlich unwichtig. Nur noch der Komet zählte und machte alles andere zur Nebensache. Ein paar ihrer Freunde hatten den Job aufgegeben, um die verbleibende Zeit jetzt noch mal zu genießen. Aber die meisten machten doch einfach so weiter wie zuvor. Viele ihrer Bekannten hatten wie sie eine Familie und konnten oder wollten an ihrem Leben nichts ändern. Die Stimmung war seit Wochen ziemlich gedrückt. Man konnte das Näherkommen des Kometen direkt spüren. Letztendlich hatten sie alle die Hoffnung, dass der heutige Tag die Wende bringen könnte. Das alles so würde wie vorher und sie endlich wieder ein normales Leben führen konnten. Die Haustüre öffnet sich. Michelle ist mit dem Hund von der Straße zurück. Mit ihren zwölf Jahren versteht sie schon ziemlich gut, dass die Situation ernst ist. „Hat es geklappt, Mama?“ Catherine nimmt ihre Tochter in den Arm. „Es wird schon klappen – keine Angst.“ „Schhhh...!“ Henri zischt nervös. Carole Gaessler, die Nachrichtensprecherin von France 2 berichtet von den letzten Vorbereitungen. „Wir werden jetzt live zur Übertragung der Weltraumission schalten. ...“ Mauna Kea, Hawaii, 08:15Uhr
Im Observatorium von Hawaii hat sich die gesamte Mannschaft vor den Bildschirmen versammelt. Auch die Wissenschaftler hoffen, dass es vielleicht doch noch eine Chance gibt, den Einschlag zu verhindern.
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Die gesamte Crew hat sich im Observatorium vor den Fernsehmonitoren versammelt. Einige bekreuzigen sich, als der Nachrichtensprecher seine Ankündigung beendet: „Das ist der Augenblick der Wahrheit. Möge Gott mit uns sein.“ Ihm ist die Aufregung anzusehen. Noah starrt gebannt auf den Monitor. Der Bericht beginnt mit einer Übertragung aus den Kontrollstationen in Houston und Darmstadt. Dann wird live direkt zur Sonde geschaltet. Sprecher kommentieren das Geschehen.
Noch einmal schießen Noah all die Probleme durch den Kopf, die mit dieser Mission verbunden sind. Unglaubliche hohe Anforderungen werden an Team und Ausrüstung gestellt. Da die Sonde mit einem Atomsprengkopf beladen ist, hat sie ein Gewicht von fast vier Tonnen. Damit ist sie ungeheuer schwer und träge zu manövrieren. Bereits gestern Abend hat die große Muttersonde die kleinere Impaktorsonde ausgekoppelt. Sie nahm direkten Kurs auf den Kometen, um bei der geplanten Kollision den Sprengsatz zu zünden. Seit der Abtrennung arbeitet die kleinere Sonde selbstständig. Nur noch wenige Kurskorrekturen sind möglich. Weltraummissionen dieser Art erfordern Präzisionsarbeit vom Team, bereits kleinste Fehler werden bestraft. „Wenn es nicht klappt, dann haben wir wenigstens die genauen Daten von der momentanen Position des Kometen im All.“ Fragend blickt Noah zu Shiang, sie scheint die gleichen Gedanken zu haben wie er. Aber es dauert eine Weile, bis er den Sinn ihrer Worte wirklich versteht. „Ja, sie hat Recht, und mit den Angaben zur Position könnte man eventuell Genaueres zum Einschlag auf der Erde berechnen.“ Er nickt und wendet sich wieder dem Bildschirm zu. Die Bilder, die sie nun sehen, sind von erstaunlicher Qualität. Sie stammen von der Muttersonde und von einer kleinen Kamera auf dem Impaktor selbst. Völlig geräuschlos nähert sich die Sonde mit dem Sprengkopf ihrem Ziel. Eine kleine Uhr im Bild des Fernsehers zählt die Sekunden herunter. 3, 2, 1... Der helle Lichtblitz der Atomexplosion lässt die Chips der Kamera für einige Zeit erblinden. Als das Bild zurückkehrt, ist der Komet nicht mehr zu sehen. Staub, der durch die Explosion aufgewirbelt wurde, versperrt die Sicht. Es sind kleinste Teilchen von Wasser, Kohlendioxid und Kohlenwasserstoffverbindungen. Erst langsam, dann immer deutlicher, kehrt schemenhaft das dunkle Bild des gigantischen Brockens zurück. Noah kann keine Veränderungen sehen. Und er weiß sofort, was das bedeutet. Der Komet wird vor
Die Sonde, beladen mit einem nuklearen Sprengsatz, wird in einem Abstand von wenigen hundert Kilometern zum Kometen von der Trägersonde abgekoppelt. Der Impaktor hat eine Batterie an Bord, deren Energie für ein paar Stunden und wenige Kurskorrekturen ausreicht.
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allem von seiner eigenen Schwerkraft zusammen gehalten. Weil er nicht besonders groß ist, ist er ungeheuer weich – weicher als Schnee. Offensichtlich ist die enorme Explosion einfach von der lockeren Masse des Kometen geschluckt worden. Seine Bahn hatte sich nicht verändert. Und Noahs Ahnung wird kurz darauf von den Live-Kommentatoren bestätigt. Paris, 20:17 Uhr
Die kleine Michelle findet als erstes ihre Stimme wieder. „Was passiert denn jetzt, Papa?“ Catherine und Henri schauen sich ratlos an. Immer und immer wieder werden die Bilder von der missglückten Abwehrmission im Fernsehen gezeigt.
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Im Wohnzimmer der Vatons ist es ruhig. Nur der Fernseher läuft. „Was passiert denn jetzt – Papa?“ Die kleine Michelle hat als erstes ihre Stimme wieder gefunden. Ratlos blicken Catherine und Henri einander an. Sie wissen es nicht und doch, auch sie ahnen bereits, dass etwas schief gegangen sein muss. Catherines Augen schauen ins Leere. Sie ist nicht einmal fähig zu weinen. War das alles? Ein lautloser Blitz im Weltall? Was wird jetzt sein? Was wird aus ihnen? Henri zieht nervös an seiner Zigarette und schaltet von einem Kanal zum nächsten. Überall sieht man das Gleiche. Aufgeregte, traurige und entsetzte Gesichter. Nach und nach hört man aus den Gesprächsfetzen der Moderatoren und der Wissenschaftler erste Erklärungsversuche. „Die Bedingungen im Weltall sind noch weitgehend unerforscht... die Sonde hat das angepeilte Ziel nicht genau getroffen... die Explosion war scheinbar wirkungslos... über die Zusammensetzung des Kometen weiß man noch sehr wenig... nur ein winziger Teil konnte abgesprengt werden... die Flugbahn hat das nicht im geringsten verändert.“ Die Zeit scheint still zu stehen und die letzte Hoffnung ist im Weltall verpufft.
Kurz vor dem Ziel: Der Impaktor Hidalgo auf dem Weg zu seinem Zielasteroiden. © ESA — AOES Medialab
Die Abwehr Was sagt die Wissenschaft? Ein Himmelskörper fliegt auf die Erde zu, eine Kollision scheint, so haben alle Messungen bestätigt, so gut wie sicher. Was dann? „Wir sind die erste Generation der Menschheit, die sowohl die Langzeit-Bedrohung kosmischer Einschläge erkennt, als auch die technologische Möglichkeit hat, etwas dagegen zu tun“, erklärt dazu David Morrison vom Ames Forschungszentrum der NASA. Könnten wir eine Katastrophe wirklich abwenden? Welche Möglichkeiten der „Verteidigung“ haben wir? Oder wären wir dem heranrasenden Desaster doch hilflos ausgeliefert? Die Antwort darauf hängt sehr stark davon ab, wann ein solches Objekt entdeckt wird und welche Eigenschaften es besitzt. Denn einig sind sich die Experten darin, dass es keine allgemeingültige Abwehrmethode gegen die kosmischen Boliden geben kann. So verschieden wie die Objekte sind, so unterschiedlich müssten auch die eingesetzten Strategien sein. Prinzipiell kommen zwei grundsätzliche Ansätze in Frage, um eine drohende Kollision zu verhindern: Zerstören oder Ablenken.
In den 1970er Jahren plante man, Asteroidensonden auf Konstruktionsplattformen in der Erdumlaufbahn zu bauen. © NOAA
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Die Abwehr
Eine misslungene Sprengung könnte einen Kometen in mehrere Stücke zerbrechen, anstatt ihn zu zerstören oder abzulenken. Der Komet 73P/Schwassman-Wachmann 3 zersprang allerdings durch die Sonnenhitze. © NASA/JPL-Caltech
Zersprengen: Hollywood lässt grüßen
In der Praxis ist es
sehr schwer, einen großen Felsbrocken zu zerstören. Alan Harris
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In den gängigen Hollywood-Spielfilmen geht es meist darum, den heranrasenden Asteroiden in letzter Sekunde noch zu zerstören, um die Erde zu retten. Im Film geschieht dies meist durch Atombomben, die von Astronauten zum Asteroiden und dann gezielt zur Explosion gebracht werden. In der Realität sähe ein solches Szenario allerdings ein wenig anders aus, denn für eine bemannte Mission zu einem Asteroiden oder Kometen existieren zurzeit weder die technischen noch die finanziellen Möglichkeiten. Methode der Wahl wäre daher eher eine unbemannte Sonde mit einer atomaren Sprengladung, die dann – am Asteroiden angekommen – automatisch gezündet wird. Eine solche Sprengung ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn es gelingt, das Objekt in so kleine Bruchteile zu zertrümmern, dass diese vollstän-
dig in der Erdatmosphäre verglühen. Sind die entstehenden Teilstücke größer, hätte der resultierende Trümmerregen fast ebenso verheerende Folgen wie der Einschlag des ursprünglichen Meteoriten. Grenzen sind dieser Methode auch durch die Größe des Objekts gesetzt. Ist es größer als einen Kilometer oder sogar zehn bis zwölf Kilometer groß, wie im Szenario der ZDF-Dokumentation, dann ist eine vollständige Zerstörung nahezu unmöglich – zumindest mit unseren heutigen Mitteln. „Man kann alles versuchen, aber ich halte die Erfolgschancen für gleich Null“, erklärt Alan Harris vom Institut für Planetenforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). „In der Praxis ist es sehr schwer, einen großen Felsbrocken zu zerstören. Wahrscheinlich würde er in einige große Teile auseinander fallen und dann haben wir mehrere Einschläge und das könnte vielleicht viel schlimmer sein oder mindestens so schlimm sein wie ein einziges Objekt.“ Diese Option wird daher von der Mehrheit der Experten heute als zu unsicher abgelehnt.
Eine Sprengung mit einer Atomrakete gilt unter Experten als zu riskant. © US Air Force
Ablenken: Je früher desto besser Weitaus sicherer und Erfolg versprechender ist dagegen die Ablenkung eines Einschlagskandidaten. Ablenkung heißt im Prinzip nichts anderes, als das Objekt so zu bewegen, dass es entweder zu früh oder zu spät am ursprünglichen Kollisionspunkt Einsatzbereiche verschiedener Abwehrtechniken © MMCD eintrifft, oder aber seitlich daran vorbei fliegt. Je weiter das Objekt dabei von der Erde entfernt ist, desto geringer muss diese Bewegung ausfallen, denn die Veränderungen in seinem Kurs addieren sich im Laufe der Zeit. Einen rund 300 Meter großen Asteroiden, der die Erde genau in der Mitte treffen würde, müssten wir beispielsweise um mindestens 7.000 Kilometer auslenken – entsprechend dem Erdradius von 6.400 Kilometern plus einem Sicherheitsabstand – damit eine Kollision verhindert werden kann. Hätten wir dafür nur noch ein Jahr
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Zeit, bräuchten wir eine Masse von rund 10.000 Kilogramm, die mit einer Geschwindigkeit von rund 40 Kilometern pro Sekunde auf den Asteroiden prallt, um diese Auslenkung zu erreichen. Das haben Experten der NASA ausgerechnet. Ganz anders jedoch sieht es aus, wenn die Vorlaufzeit zehn oder sogar zwanzig Jahre beträgt: „Alles was es dann braucht, ein Jahrzehnt oder mehr vor einem Impakt, ist die Verringerung oder Steigerung der Geschwindigkeit des Asteroiden um rund einen Zentimeter pro Sekunde, das entspricht rund 0,035 Kilometern pro Stunde“, erklärt Rusty Schweickart, ehemaliger Astronaut der NASA und heute Leiter der B612 Foundation, einer nicht-staatlichen Organisation zur Erforschung von Erdbahnkreuzern in einem Interview mit dem Magazin Space.com.
Impaktoren: Aus der Bahn werfen durch Rammen
Einschlag eines „Impaktors“ auf dem Kometen Tempel 1 im Sommer 2005. Das 372 Kilogramm schwere, kühlschrankgroße Projektil erzeugt zuerst einen Lichtlitz, dann eine sich ausbreitende Einschlagswolke aus Staub und Gas. © NASA/JPL-Caltech
Für solche eher kleineren Kurskorrekturen ist die Methode des „kinetischen Impaktors“ optimal geeignet. Das Prinzip eines solchen Impaktors ist einfach: „Man trifft das Objekt mit einer großen Masse und versucht, seine Umlaufbahn etwas zu ändern, damit es dann an der Erde vorbei fliegt,“ so Harris. Eine für dieses „Rammen“ geeignete Sonde wäre im Prinzip nichts anderes als ein möglichst schweres Gewicht mit Navigationscomputer und Antrieb. Das Problem dabei: Die Sonde muss nicht nur schnell genug und schwer genug sein, um ausreichend Auslenkung zu erzielen, sie muss auch äußerst genau treffen. Denn schlägt sie nicht über dem Zentrum der Masse des Objekts ein, sondern seitlich oder weit am Rand, dann bleibt sie nahezu wirkungslos. Die gesamte Energie ihres Impakts schiebt dann nicht das Objekt aus seiner Bahn, sondern ändert nur seine Rotation. Ähnlich dem Anschieben eines Karussells beschleunigt ihr Impuls dann nur die Drehung des Asteroiden um seine eigene Achse oder bremst sie ab.
Die Exoten: Laser, Sonnensegel und Schwerkrafttraktoren Wird ein Himmelskörper auf Kollisionskurs schon Jahrzehnte im Vorhinein entdeckt, könnten auch noch andere, so genannte „sanfte“ Methoden zur Ablenkung eingesetzt werden. Eine der in diesem Zusammenhang diskutierten Möglichkeiten ist die allmähliche Ablenkung des Objekts durch ein riesiges Sonnensegel. Am Asteroiden befestigt, wird
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dieses durch den Sonnenwind – Ströme energiereicher Teilchen – aufgebläht und erzeugt so einen zwar relativ geringen, aber konstanten Schub von der Sonne weg. Rein theoretisch könnte das Segel so den Flug eines Asteroiden im Laufe mehrerer Jahre um ein Weniges abbremsen. Bisher ist es jedoch nicht einmal gelungen, diese Technologie als Antrieb für Raumsonden zu nutzen. Auch Vorstellungen darüber, wie das gewaltige Segel überhaupt am Asteroiden befestigt werden könnte, existieren nicht. Asteroidenexperte in mechanischer Alptraum, Jay Melosh von der Universität von Arizona ist entder geradezu nach einer sprechend skeptisch: „Der Asteroid rotiert und taumelt vielleicht, das macht es schwer, irgendetwas Katastrophe schreit. Jay Melosh über Sonnensegel daran festzubinden. Wahrscheinlich müsste man das Ganze mit einem System von kardanischen Aufhängungen am Asteroiden befestigen – ein mechanischer Alptraum, der geradezu nach einer Katastrophe schreit.“ Denn die Haltekonstruktion müsste dann über mehrere Achsen so angebracht werden, dass sie zwar die Zugkräfte auf den Astreoiden überträgt, aber gleichzeitig dessen Theoretisch könnte auch ein Laserstrahl für Rückstoß sorgen Rotation nicht zu einer heillosen Verknotung der Hal- und einen Asteroiden ablenken. © Harald Frater teleinen führt. Eine weitere, unter anderem von Jay Melosh Mitte der 1990er Jahre vorgeschlagene neuartige Strategie beruht auf der Wirkung von Laser oder Sonnenlicht auf das Objekt: Ein ausreichend starker, fokussierter Strahl könnte Teile der Oberfläche verdampfen und so nach dem Rückstoßprinzip das Objekt allmählich aus seiner Bahn schieben. Bisher allerdings existiert keine Lasertechnologie, die einen genügend starken Strahl erzeugen könnte – ganz zu schweigen von dem Energiebedarf einer solchen Laserkanone. Und einen Konstruktionsplan für einen ausreichend großen Sonnenkollektor, der zudem noch nahe dem Asteroiden im All schweben müsste, gibt es ebenfalls noch nicht. Die Kraft der gegenseitigen Anziehung macht sich dagegen eine andere, bisher ebenfalls eher theoretische Methode zunutze. Harris erklärt: „Es gibt noch eine sehr interessante andere Idee, einen so genannten „gravity tractor“. Das Prinzip ist ziemlich einfach: Man bringt eine Raumsonde mit großer Masse in die Nähe des Objekts. Dabei entsteht eine Schwerkraftwechselwirkung, die beiden Körper ziehen sich
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Die Abwehr
gegenseitig an. Die Raumsonde hat jedoch einen starken Antrieb. Durch diese starken Motoren hält man die Sonde in einem immer gleichen Abstand vom Asteroiden. Langsam aber sicher würde es so zu einer Ablenkung des Asteroiden kommen.“ Der Vorteil eines solchen Verfahrens wäre, dass es selbst bei sich schnell drehenden oder aus losen Geröllstücken bestehenden Asteroiden funktionieren könnte. Der Haken daran: Die Rakete bräuchte gerade bei größeren Himmelskörpern einen sehr starken und vor allem effizienten Neue, stärkere und effektivere Antriebstechniken sind die Voraussetzung für viele Antrieb. Und auch hier ist die Abwehrstrategien. Hier der innovative, mit dem Edelgas Xenon betriebene IonenanRaumfahrttechnologie noch nicht trieb der NASA-Sonde Deep Space 1. © NASA/JPL-Caltech so weit entwickelt. All diese Strategien sind daher zurzeit kaum mehr als theoretische Gedankenspiele, und meilenweit von jeder Art der Anwendung entfernt. „Diese Methoden existieren bisher nur auf Papier, es ist nichts getestet, nichts weiterentwickelt worden“, kommentiert Harris.
Die letzte Wahl: Wegbomben
Man muss das Objekt richtig treffen. Alan Harris
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Als Mittel der „letzen Rettung“ gilt häufig die Ablenkung durch einen Atomsprengsatz. Auch hier geht es primär darum, den Asteroiden oder Kometen durch einen gezielten Treffer aus seiner Bahn zu bewegen, nur diesmal durch den von der Explosion erzeugten Impuls. Trotz aller Vorbehalte gegen Atomwaffen gilt diese Methode unter Experten bisher als die einzige, die nach dem jetzigen Stand der Technik natürlich genügend Energie pro Masse freisetzen kann, um den gewünschten Effekt auch bei einem größeren Asteroiden oder wenig verbleibender Zeit zu erzielen. Denn nach wie vor ist jedes Kilogramm, das mit einer Rakete ins All befördert werden muss, ein Hemmschuh. Je schwerer die Nutzlast einer Rakete, desto stärker und leistungsfähiger muss ihr Antrieb sein und umso mehr Treibstoff wird gebraucht, um der Schwerkraft der Erde zu entfliehen.
Prinzipiell könnte eine Sprengladung auf drei Arten für eine Ablenkung eingesetzt und gezündet werden: entweder nahe bei einem Himmelskörper, direkt an seiner Oberfläche oder aber unter der Oberfläche. Erfolgt die Explosion in unmittelbarer Nähe des Asteroiden enn wir sehr, sehr lange Zeit hätten, oder Kometen, kann die Druck- und Hitzewelle Teile des Objekts zerstören oder schmelzen und dadurch vielleicht. Man könnte zum Beispiel sein Flugverhalten verändern. Das Problem bei diedas Objekt mehrfach treffen. Alan Harris sem Ansatz ist allerdings seine Unberechenbarkeit: Es ist kaum vorherzusagen, wie viel Schub eine solche Explosion dem Asteroiden oder Kometen tatsächlich verleiht und auch die Richtung der Ablenkung ist nicht genau kontrollierbar. Bei der zweiten Variante landet die Abwehrsonde zunächst auf dem Objekt und zündet dann erst die Sprengladung. Die Explosion reißt einen Krater in die Oberfläche und schleudert Gestein und Gas weit ins All hinaus. Dieser „Auswurf“ wirkt wie eine Art Düsenantrieb: Das Rückstoßprinzip schiebt das Objekt quasi aus der Bahn. Wird eine
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Eine Sprengung auf einem Kometen ist unberechenbar – ebenso wie die Bombardierung mit einem Projektil. © NASA/JPL/Caltech
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Die Abwehr
Was passiert, wenn die Sonde mittendrin ihren Geist aufgibt und das Ground Zero bleibt plötzlich über Russland stehen? Alan Harris
solche Sprengladung dem Asteroiden direkt „vor den Bug“ gesetzt, könnte dieser Effekt seinen Flug auch verlangsamen. Er fliegt dann zwar in der gleichen Richtung weiter, trifft aber wegen seiner verminderten Geschwindigkeit später auf die Erdbahn – zu einem Zeitpunkt, an dem die Erde längst weitergewandert ist. Die dritte Variante sieht eine Zündung der Sprengladung unter der Oberfläche des Asteroiden vor, die einen großen Krater und damit auch viel „Rückstoß“ durch ausgeschleudertes Material erzeugt. Dies birgt jedoch die Gefahr, dass die Explosion den Himmelskörper unbeabsichtigt spaltet und dann statt einem gleich zwei oder mehrere Objekte Kurs auf die Erde nehmen.
Ungeplantes Politikum
Egal, ob durch Atombombe, Impaktor oder exotische Methoden – wenn eine Ablenkung funktioniert, ist sie die beste Abwehr gegen einen Asteroiden oder Kometen auf Erdkurs. Aber was, wenn dabei etwas schief geht? Ein interessantes Gedankenexperiment stellt in diesem Zusammenhang Harris auf: „Nehmen wir an, der Ground Zero eines Einschlags soll irgendwo über den USA sein. Und die USA startet eine Raumsonde und versucht, das Objekt langsam aus seiner Umlaufbahn zu bringen. Wenn man jetzt das Ganze Wer verantwortet eine Abwehrmission? Blick in den Kontrollraum im Mission auf einer Weltkarte betrachtet, Control Center der NASA in Houston, Texas während eines Shuttlestarts. © NASA dann haben wir ein Ground Zero irgendwo in den USA – aber dieses Ground Zero fängt mit zunehmender Ablenkung an sich zu bewegen. Es bewegt sich über die USA hinaus, über den Atlantischen Ozean, kommt nach Europa, geht über Russland, Sibirien hinweg und verschwindet irgendwann von der Erdoberfläche, wandert gewissermaßen über die ‚Erdscheibe‘ hinaus.“ Das, so Harris, wäre der Idealfall. Läuft es aber anders, könnte es kompliziert werden: „Was passiert, wenn die Sonde mittendrin ihren Geist aufgibt und das
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Ground Zero bleibt plötzlich über Russland stehen? Was würden die Russen dazu sagen?“ Seiner Ansicht müsste deshalb alles zunächst auf einer internationalen Basis ausdiskutiert werden. Im Ernstfall wären es wahrscheinlich die USA, die eine solche Mission durchführen würden, da sie über die am weitesten entwickelten Trägerraketen und sonstige Technologie verfügen. „Ich finde das ein sehr interessantes politisches Problem. So etwas entdeckt man aber erst, wenn man ins Detail geht.“
Ein „Plan für alle Fälle“ existiert nicht Schief gehen kann allerdings noch weitaus mehr. Denn nicht nur die Funktionstüchtigkeit einer Sonde oder Sprengladung ist entscheidend, sondern vor allem auch die Beschaffenheit des heranrasenden Objekts. Sie bestimmt letztlich, welche Abwehrstrategie die vielversprechendste ist. Denn eine Mission für alle Fälle gibt es nicht. „Die Objekte sind so bizarr. Man hat Kometenkerne, lose Gesteinstrümmer, Stücke massiven Eisens“, erklärt Donald Yeomans, Forscher am Near-Earth Object Programm des Jet Propulsion Laboratory (JPL) der NASA. „Die Abwehrmechanismen müssten für all diese Objekte jeweils völlig unterschiedlich aussehen.“ „Ein wichtiger Punkt ist zum Beispiel die Porosität. Wenn man ein poröses Objekt, eine Art kosmischen Geröllhaufen, hat, und dieses trifft mit einer Rakete oder einer Abwehrsonde zusammen, würde der Impakt das Objekt komprimieren und man verliert dadurch Energie, die man eigentlich in eine Bewegung des Objekts umsetzen wollte“, so ESAExperte Harris. Entsprechend wichtig ist es daher, schon im Vorfeld möglichst viel über das herannahende Objekt zu wissen. Ähnlich sieht das auch Harris: „Wenn ein solches Objekt entdeckt wird, dann wird es absolut essenziell für jeden Abwehrplan sein, zunächst seine physikalischen Eigenschaften herauszufinden – auch, um zu bestätigen, dass es sich wirklich auf Kollisionskurs befindet. Wir würden daher wahrscheinlich ein, zwei, oder mehrere Erkundungsmissionen starten, wenn wir die Zeit hätten.“ Den Ablauf solcher Vorbereitungsmissionen schildert Harris so: „Nehmen wir an, wir haben ziemlich viel Geld zur Verfügung, dann könnte man wahrscheinlich in einigen Jahren eine solche Vorbereitungsmission bis zum Start bringen. Die Flugzeit wäre, je nachdem, vielleicht ein Jahr oder weniger. Wir hätten wahrscheinlich Geld genug für eine starke Rakete, so dass wir direkt hinfliegen könnten, anstatt mehrere Umwege zum ‚Schwung holen‘ machen zu müssen. Wir bekämen dann sofort die
NASA-Raumsonde Deep Space 1 erkundet den Kometen 19P/Borrelly im September 2001. © NASA/JPL-Caltech
Wissenschaftler am Johnson Space Center der NASA untersuchen Kometenstaub-Proben, die die Sonde Stardust eingesammelt und zur Erde zurück gebracht hat. © NASA/JPL-Caltech
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Die Abwehr
Mission
Start Ankunft
Zielobjekt
Aufgabe
Dawn (NASA)
Juni 2007 2011 / 2012
Asteroiden Vesta und Ceres
Das Ziel dieser Sonde ist kein Komet, sondern zwei der größten Asteroiden aus dem Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter. Für Schub sorgt ein neuer Ionenantrieb.
Deep Impact (NASA)
Dez. 2004 Juli 2005
Komet Tempel 1
Deep Impact schoss erstmals ein Projektil in einen Kometenkern. Anschließende Messungen gaben Hinweise auf die Zusammensetzung des Kometen.
Rosetta (ESA)
Feb.2004 Aug. 2014
Komet 67P/ Churyumov-Gerasimenko
Rosetta soll 2014 seinen Zielkometen erreichen und dort zum ersten Mal eine Landesonde auf einem Kometen absetzen.
Hayabusa (Japan)
Mai 2003 Sept. 2005
Asteroid Itokawa
Erste Sonde, die Bodenproben eines Asteroiden entnehmen und zur Erde zurückbringen sollte. Ob die Probennahme tatsächlich gelang, ist bisher noch nicht klar.
Stardust (NASA)
Feb. 1999 Jan 2004
Komet Wild 2
Stardust war die erste Sonde, die mithilfe eines speziellen Aerogels Kometenstaub einsammelte und die Proben zur Analyse zurück zur Erde brachte.
Deep Space 1 (NASA)
Okt. 1998 Sept. 2001
Komet Borelly
DS 1 testete eine Reihe innovativer Technologien, darunter einen Ionenantrieb und erkundete Borrelly aus der Nähe.
NEAR (NASA)
Feb. 1996 Feb. 2000
Asteroid Eros
NEAR war die erste Sonde, die einen Asteroiden umkreiste und zugleich die erste, die auch auf ihm landete.
Giotto (ESA)
Juli 1985 März 1986 / Juli 1995
Kometen Halley und Grigg-Skjellerup
Giotto ist die erste Sonde, die gleich zwei Kometen ansteuerte. Sie machte die ersten Aufnahmen eines Kometenkerns.
Sakigake (Japan)
Jan.1985 März 1986
Komet Halley
Sakigake entdeckte, dass der Sonnenwind durch den Vorbeiflug des Kometen Halley beeinflusst wird.
Vega 1 und 2 (UDSSR)
Dez. 1984 März 1986
Komet Halley
Nach ihrem Besuch an der Venus war Vega 1 die erste Sonde, die nahe an Halley vorbeiflog. Ihre Schwestersonde folgte wenig später.
ISEE-3/ICE (NASA)
Aug. 1978 Sept. 1985 / März 1986
Kometen GiacobiniZinner und Halley
Der Sonde gelang das erste Rendezvous mit einem Kometen. Außerdem machte sie aus der Ferne Beobachtungen von Halley.
Erkundungsmissionen zu Kometen und Asteroiden
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Ergebnisse und in der Zwischenzeit haben wir schon mit der Vorbereitung der nächsten Erkundungsmission angefangen – noch mal ein Jahr. Bis wir die benötigten Informationen haben, sind wir immer noch nur bei vier bis sechs Jahren. Dann bleiben immer noch fünf oder sechs Jahre, um die tatsächliche Abwehrmission zu planen.“
„Don Quijote“ gegen Asteroiden Die europäische Weltraumagentur ESA hat seit Mitte 2006 tatsächlich Pläne für eine solche „Mitigation Precursor Mission“ – eine Mission zur Vorbereitung einer Abwehrmaßnahme – in der Schublade. „Don Quijote“, so der Name des Unternehmens, besteht aus zwei Sonden: „Sancho“, einem Orbiter, und „Hidalgo“, einer Einschlags-Sonde. Beide starten gleichzeitig, fliegen aber auf unterschiedlichen Wegen und mit unterschiedlichen Aufgaben zu ihrem Ziel. Der Orbiter Sancho soll etwa vier Jahre nach dem Start als erster den Asteroiden erreichen und in eine Umlaufbahn einschwenken. Ein riskantes Manöver, denn es wird ohne viel Vorwissen über die genaue Anziehungskraft, Dichte und das Rotationsverhalten des Zielasteroiden durchgeführt werden müssen. Glückt der Schwenk in die Umlaufbahn, ist es nun Sanchos Aufgabe, möglichst viele Daten über Position und Flugbahn, Zusammensetzung, Oberflächenbeschaffenheit und Dichte des Asteroiden zu sammeln. Der später eintreffende Impaktor hat dagegen nur einen einzigen Daseinszweck: den Asteroiden mit möglichst hoher Geschwindigkeit frontal und mittig zu treffen. Hidalgo ist dabei so konzipiert, dass sein Gewicht ausreicht, um einen, wenn auch extrem kleinen Effekt auf einen Asteroiden von mehreren hundert Metern Durchmesser zu haben. Gleichzeitig ist die Sonde aber gerade noch leicht genug, um beim Start mit normalem Antrieb ins All befördert werden zu können. Punktgenau auf dem Asteroiden „abzustürzen“ ist eine Aufgabe, die bei weitem nicht so leicht ist, wie es vielleicht klingt. Denn um das zu bewerkstelligen, muss die Bahn der Einschlagssonde über die große Entfernung hinweg so genau berechnet sein, dass sie das Ziel genau im Zentrum seiner Masse trifft. Bis auf 50 Meter genau, so die Vorgabe der ESA, muss der Treffer sitzen. Und kurz vor dem Ziel kommt noch eine Schwierigkeit hinzu: Den größten Teil seines Fluges dürfen die Systeme der Hidalgo-Sonde in einer Art Ruhezustand „verschlafen“, doch kurz vor dem Impakt ist höchste Aktivität angesagt. Dann muss der Bordcomputer die Sonde punktgenau
Die Abwehrmechanis-
men müssten für all diese Objekte jeweils völlig unterschiedlich aussehen. Donald Yeomans
Der Impaktor Hidalgo (oben) hat nur eine Aufgabe: den gezielten Absturz auf einem Asteroiden. Der Orbiter Sancho (unten) sammelt während des Impakts die entscheidenden Daten. © ESA – AOES Medialab
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Die Abwehr
in das geplante Einschlagsgebiet dirigieren – und dies ohne Hilfe der Bodenstation. Harris erklärt: „Wir sind in den letzten Minuten von autonomen Systemen abhängig, weil man nicht warten kann, bis ein Signal bei der Erde ankommt und dann erst wieder ein Kommando zurückgeschickt wird. Es muss daher alles automatisch ablaufen.“ Die ESA will dieses Problem mithilfe von moderner, mit dem Bordcomputer verbundender Kameratechnik lösen. Durch die Kombination von automatischer Bildauswertung und Navigationssystem soll Hidalgo sein Zielgebiet quasi selbst identifizieren können. Ist der Einschlag einmal erfolgt, hat Hidalgo ausgedient. Der Orbiter Sancho dagegen wird jetzt dringender gebraucht denn je. Denn jetzt gilt es, die Auswirkungen des Einschlags genau zu analysieren: Hat der Impaktor die Flugbahn des Asteroiden verändert? Und wenn ja, wie stark? Wie tief ist die Sonde in die AsteroiNach dem Einschlag des Impaktor Hidalgo sieht die Don Quijote-Mission das denoberfläche eingedrungen? Wie Absetzen einer automatischen Messsonde am Einschlagskrater auf dem Asteroiden viel und welches Material wurde vor. © ESA – AOES Medialab beim Einschlag weg geschleudert? Die Antworten auf diese Fragen sind es, die die Don Quijote Mission erst zu einer echten Vorbereitungsmission für eine Abwehr machen. „Wenn wir tatsächlich einen bedrohlichen Asteroiden entdecken, dann lässt sich eine Mission vom Typ Don Quijote als Vorläufermission vorstellen“, erklärt Harris. „Sie wird uns verraten, wie das Ziel auf einen Treffer reagiert und uns so helfen, eine sehr viel effektivere Abwehrmission zu entwickeln.“ „Dieses Vorwissen erlaubt es uns, bei unserem Ablenkungsversuch viel subtiler vorzugehen und uns über das Ergebnis viel sicherer zu sein“,
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konstatiert auch der Ex-NASA-Astronaut Rusty Schweickart zu solchen Missionen. „Dann bräuchten wir auch keine Atombombe.“
Können wir uns vorbereiten? Was aber könnte jetzt schon, im Vorfeld einer realen Bedrohung, getan werden, um im Falle eines Falles möglichst schnell und effektiv reagieren zu können? Müssen wir einen fertigen Plan in der Schublade haben? ir sind die erste Generation der Tatsächlich existieren für einige Erdbahnkreuzer Menschheit, die sowohl die Bedrohung schon konkrete Berechnungen, wie und wann eine Ablenkung stattfinden könnte. So auch für den gut kosmischer Einschläge erkennt, als 300 Meter großen Asteroiden Apophis, der im Jahr auch die technologische Möglichkeit 2036 die Erde entweder sehr nah passieren wird, hat, etwas dagegen zu tun. David Morrison oder sie vielleicht doch trifft. Mehr Klarheit über das Einschlagsrisiko wird es frühestens im Jahr 2014 geben, möglicherweise aber auch erst 2029. Bis dahin wird die Flugbahn den Asteroiden noch mehrfach relativ nah an der Erde vorbeiführen. Dies bietet beste Gelegenheit, ihn näher zu erforschen, aber auch, eine Abwehrmission zu starten. Der Astronom Donald Gennery vom Ames Forschungszentrum der NASA hat Mitte 2006 verschiedene Anforderungen für eine Ablenkung von Apophis berechnet. Sollte sich bei Beobachtungen eine Wahrscheinlichkeit für einen Treffer im Jahr 2036 auf mehr als 0,001 erhöhen, dann empfiehlt er auf jeden Fall den Start einer Abwehrmission noch vor dem Jahr 2029. Denn dann sei diese noch mit bestehender Trägerraketentechnologie und nach dem Prinzip des kinetischen Impaktors möglich, danach jedoch nicht mehr. Startet die Sonde zwischen 2020 und 2023, könnten zwischen rund 3.000 und knapp 5.000 Kilo- Voraussichtliche Position von Apophis Anfang 2036 © MMCD gramm Masse ausreichen, um den Asteroiden ausreichend abzulenken. Die benötigte Masse könnte nach Berechnungen des Forschers mit der „Delta IV Heavy Launch“, der stärksten zurzeit existierenden Trägerrakete, ohne Probleme ins All katapultiert werden. Die gesamte Mission würde allerdings von der Planung bis zum Start wahrscheinlich trotzdem noch rund fünf Jahre Vorbereitungszeit erfordern – möglicherweise ein bisschen weniger, wenn ausreichend Geld zur Verfügung steht. Gebraucht wird die Zeit unter anderem für
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Die Abwehr
die Vorbereitung der Rakete, die Konstruktion einer passenden Sonde und die Entwicklung der entsprechenden Steuersoftware. Aber was heißt das für die Vorbereitung? Ließe sich die Zeit verkürzen, wenn wir die „Zutaten“ einer solchen Mission schon komplett auf Lager hätten? Nur zum Teil. Für den ESA-Experten Harris sind vor allem drei Dinge wichtig: Zum einen die Existenz von ausreichend starken Transportraketen, um auch schwerere Test- oder ehn Kilometer? Beten... Also im Abwehrsonden ins All zu bringen. Zum anderen die Augenblick sehe ich da keine wirksame Entwicklung von effektiven Antriebssystemen für eine treibstoffarme und kurze Flugzeit zum potenMethode. Alan Harris ziellen Impaktor. Und zu Guterletzt eine bereits durchgeführte und gut dokumentierte Testmission vom Typ „Don Quijote“. Als wenig hilfreich bewertet der Astronom und Physiker dagegen das „Horten von übrig gebliebenen Atomraketensprengköpfen“ oder gar Atomwaffentests im All. Eher optimistisch sieht auch der NASA-Forscher Clark Chapman unsere Ausgangsposition: „Die Komponenten einer Technologie, um ein solches bedrohliches Objekt aus dem Weg zu räumen und so ein Desaster zu verhindern, existieren – zu erschwinglichen Kosten im Verhältnis zu den Auswirkungen eines globalen Einschlags. Im Gegensatz zu den Eine Delta IV startet in Cape Canavaral, Dinosauriern hat der Mensch die Einsicht und die Fähigkeit, ein MassenFlorida. Sie ist die stärkste zurzeit sterben durch Impakte zu vermeiden.“ existierende Trägerrakete und könnte
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möglicherweise auch eine Abwehrmission ins All bringen. © U.S. Air Force/Carleton Bailie
Abwehrmission wider besseres Wissen? Doch trotz aller Vorbereitung und theoretischen Möglichkeiten: Eine Abwehr – sei es durch Zerstören oder durch Ablenken – funktioniert nur bis zu einer gewissen Größe oder mit ausreichend Vorwarnzeit. Ist der auf die Erde zu rasende Himmelskörper ein Komet mit mehr als zehn Kilometern Durchmesser, wie im Szenario der ZDF-Dokumentation, haben wir ein Problem: „Was bleibt bei einer Größe von zehn Kilometern? Beten... Also im Augenblick sehe ich da keine wirksame Methode. Zehn Kilometer ist einfach zu groß“, erklärt Harris. Doch gesetzt den Fall, genau dieses Szenario tritt ein: Was wird passieren? Würde man tatsächlich, wohl wissend, dass eigentlich nichts mehr hilft, eine Abwehrmission losschicken? Diese Frage beantworten sowohl der Psychologe David Sattler von der Western Washington Universität in Bellingham, USA, als auch der Soziologe Wolf Dombrowsky, Leiter der Katastrophenforschungsstelle der Universität Kiel, mit einem eindeutigen „Ja“. Denn in diesem Moment, so die übereinstimmende
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Meinung beider, geht es nicht mehr um technische Machbarkeiten, sondern um den rein psychologischen Effekt. „Es ist wie in einem Krieg: ‚Wir werden gewinnen!‘. Die Regierungen müssen einfach optimistisch sein“, erklärt Sattler. Seiner Ansicht nach werden die Menschen eine solche Maßnahme – irgendeine Maßnahme – von den Verantwortlichen geradezu einfordern: „Viele Leute werden sich an die Regierungen wenden und fragen: ‚Was tut ihr, um uns zu helfen?‘ Und wenn dann die Regierung nicht handelt, könnte es Aufstände und „Was tut ihr?“ Dieser Frage müssen sich Politiker im Katastrophenfall stellen. Unruhen geben.“ © FEMA/Marvin Nauman Ähnlich sieht es auch Dombrowsky: „Wir sind es uns schuldig, als Menschen alles zu tun, was uns am Leben hält, selbst wenn wir glauben, dass es nicht wirklich Erfolg bringt – aber wir haben alles getan. Damit uns hinterher auch niemand einen Vorwurf machen kann.“ Für ihn stellt eine solche Aktion auch eine wichtige Komponente der Stabilisierung der s muss getan werden. Ob es Erfolg Gesellschaft und sozialen Ordnung dar: „Das ist eine ethisch ganz zerbrechliche Situation und sie wird hat oder nicht. Wolf Dombrowsky instrumentalisiert im Sinne von ‚Wir tun alles was wir können. Jeder ist so viel Wert, dass für ihn alles gegeben wird.‘ Das macht Gesellschaft aus. Und das ist das Grundprinzip des sozialen Friedenstiftens“, so der Forscher. Und die gewaltigen Kosten für so eine möglicherweise von vornherein zum Scheitern verdammte Mission wären dann nur zweitrangig: „Wenn Sie so wollen, ist jede Bedrohungssituation eine ethische Ausnahmesituation, die besagt, dass um des Lebens willen nicht auf das Geld geschaut werden darf. Das haben Sie in jeder Katastrophe. Nehmen Sie an, im Ruhrgebiet fällt ein Kind in einen stillgelegten Grubenschacht. Dann kann man nicht hingehen und sagen: ‚Kinder, hört mal zu, rausbuddeln, einen Stollen vortreiben und so weiter, das kostet 18 Millionen. Das ist das Kind gar nicht wert. Macht ein Neues.‘ Das geht nicht.“
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Die Abwehr
Fragen an: Alan Harris Der Physiker und Astronom arbeitet am Institut für Planetenforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Berlin. Als Spezialist für Asteroiden und Kometen ist er zudem Vorsitzender des Komitees für „Near Earth Objects“ der europäischen Weltraumbehörde ESA.
Gehen wir mal davon aus, so ein Objekt fliegt in Richtung Erde und wir haben noch genügend Zeit. Was würden denn die Verantwortlichen von der ESA und NASA für Abwehrmaßnahmen ergreifen? Die wichtigste Sache ist die Entdeckung: Man muss erst versuchen möglichst viel von diesen gefährlichen oder potenziell gefährlichen Objekten zu finden. Die Tatsache, dass man das jetzt macht, bedeutet, dass wir gute Chancen haben, ein Objekt Jahrzehnte im voraus zu entdecken. Wenn das der Fall wäre, könnte man sagen: ‚Ok, wir können ein bisschen entspannter vorgehen und zunächst eine Erkundungsmission starten.‘ Erkundungsmissionen haben wir schon zu Asteroiden gestartet, auch zu Kometen. Keine große Sache: Wir haben die Instrumentation die wir brauchen. Wir würden uns natürlich für die Struktur interessieren. Es gibt Methoden wie Tomographie, Radartomographie, es gibt Methoden über die man Strukturinformationen bekommen kann. Wir würden gerne die Zusammensetzung, Dichte und Porosität herausbekommen. Es wäre natürlich auch gut zu wissen, wie weit es sich bewegen würde, wenn man das Objekt trifft. Gibt es dafür bereits konkrete Pläne? Die ESA hat schon eine mögliche „Mitigation Precursor Mission“ geplant. Es ist selbst keine Abwehrmission, dient aber der Vorbereitung. Die Idee ist es, zu versuchen, einen Asteroiden ein bisschen zu bewegen. Damit wir sehen
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können: ‚Aha, es hat sich bewegt.‘ Wir sehen dann genau, wie viel Momentum wir brauchen, um eine größere Ablenkung zu erreichen. Man würde gerne eine solche Mission in der Schublade haben, damit man sie einsetzen kann, wenn ein solches Objekt vorbei kommt. Mit den Daten können wir dann eine effektive tatsächliche Abwehrmission durchführen. Was auch immer zu dem Objekt hingeschickt wird, es braucht seine Zeit bis es dort angekommen ist. Wie viel Zeit vergeht für die Vorbereitungsmission? Ist dann noch Zeit genug für die eigentliche Abwehrmission? Nehmen wir an, dass es ziemlich ernst aussieht. Nehmen wir weiter an, wir haben ziemlich viel Geld zur Verfügung, mehr als normalerweise in der Planetenforschung. Dann könnte man wahrscheinlich in einigen Jahren eine solche Mission bis zum Start bringen. Die Flugzeit wäre vielleicht ein Jahr oder weniger. Wir hätten wahrscheinlich Geld genug für eine starke Rakete, so dass wir direkt dort hinfliegen könnten, anstatt mehrere Gravity Assists machen zu müssen. Wir bekämen dann sofort die Ergebnisse und inzwischen hätten wir schon mit der Vorbereitung der nächsten Erkundungsmission angefangen – noch einmal ein Jahr. Also sind wir immer noch nur bei vier, fünf, sechs Jahren, dann hätten wir die Information. Dann haben wir immer noch fünf oder sechs Jahre um die tatsächliche Abwehrmission zu planen. Wir hätten wahrscheinlich Zeit genug für all diese Dinge.
Was halten sie im Moment für die beste Abwehrmaßnahme? Ich bin wirklich für den kinetischen Impaktor. Denn das ist sehr, sehr einfach. Es gibt aber noch ein paar kritische Sachen, die erforscht werden müssen. Es geht dabei um die Technologie, mit der man hinkommen kann. Man muss natürlich das Objekt auch richtig treffen. Wir sind in den letzten Minuten natürlich auch von autonomen Systemen abhängig, weil man nicht warten kann, bis ein Signal bei der Erde ankommt, und dann erst wieder ein Kommando hinschicken. Es muss daher alles automatisch ablaufen. Aber ich glaube es ist wirklich machbar. Für kleine Objekte wäre das vielleicht die beste Methode. Es kommt natürlich auf die Umstände an, aber ich glaube, es wäre auf jeden Fall effektiv. Bis zu welcher Größe? Wahrscheinlich höchstens einem Kilometer. Aber wir würden es wahrscheinlich mit einem relativ kleinen Impaktor zu tun haben über die nächsten tausend, zehntausend Jahre hinweg. Einen ganz großen Impaktor von 300-400 Metern würde man statistisch gesehen nur einmal alle 30.000 – 40.000 Jahre erwarten. Wie habe ich mir diesen kinetischen impaktor, den ich dann hochschicke vorzustellen? Ist es einfach eine Rakete, die besonders schwer ist, ist es eine normale Rakete? Es wäre eine Sonde, eine Raummission. Aber ja, es wäre im Prinzip bloß eine große Masse. Man muss sie natürlich steuern können, man braucht ein Teleskop oder einen Detektor, man braucht einen Rechner für das automatische Steuersystem an Bord – solche Dinge. – aber das Hauptziel ist es, dieses Objekt so hart wie möglich zu treffen, mit einer hohen Geschwindigkeit.
Nun ist in unserem Fall der Asteroid ja sehr groß, zehn Kilometer oder größer: Was würde man denn in einem solchen Fall tun? Zehn Kilometer? Beten... Also im Augenblick sehe ich da keine wirksame Methode. Zehn Kilometer ist einfach zu groß. Wenn wir sehr, sehr lange Zeit hätten, vielleicht. Man könnte zum Beispiel das Objekt mehrfach treffen. Es gibt ja auch ideen, mit einem Laserstrahl eine Seite zu beschießen, damit dort etwas wegdampft, oder eine Rakete einzusetzen, damit es eine Detonation gibt. Das würde also in diesem Falle ncihts helfen? Man kann alles versuchen, aber ich halte die Erfolgschancen für gleich Null. Diese anderen Methoden existieren bisher nur auf Papier, es ist nichts getestet, nichts weiterentwickelt worden. Es gibt eine sehr interessante andere Idee, einen so genannten „gravity tractor“. Das Prinzip ist ziemlich einfach: Man braucht wieder eine große Masse dafür. Man bringt eine solche Raumsonde in die Nähe des Objekts. Dabei gibt es eine Schwerkraftwechselwirkung, sie ziehen sich gegenseitig an. Aber diese Raumsonde hat einen starken Antrieb. Durch diese starken Motoren hält man die Sonde immer in einem gleichen Abstand vom Asteroiden und langsam aber sicher würde es dadurch zu einer Ablenkung des Asteroiden kommen. Aber man braucht sehr lange dafür. Oder man braucht eine sehr, sehr große Masse. Und wenn man schon so viel Masse braucht, warum dann nicht gleich kinetisch, das würde dann genauso gut funktionieren.
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Vor dem Impakt
In solchen Visionen von Panik verwandeln sich
gut sozialisierte Dr. Jekylls plötzlich zu rasenden Mr. Hydes. Die Katastrophenfilme suggerieren, es gäbe einen kritischen Punkt, oberhalb dessen Menschen so von Angst überwältigt sind, dass sie ihr Eigeninteresse über die Rücksicht auf andere stellen. Lee Clarke
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Der Einschlagsort liegt an der Küste Mexikos. Für die Menschen, die in diesem dünn besiedelten Gebiet leben, stehen die Chancen schlecht.
Vor dem Impakt Zwei Wochen vor dem Einschlag, Djoum, Elfenbeinküste
Zweige biegen sich im Dickicht des Regenwaldes auseinander. Ein kleiner, aber kräftiger Jäger schiebt sich zwischen den Blättern hervor. Lautlos folgen ihm weitere mit Speeren bewaffnete Männer. Lomama und sein Clan sind Pygmäen vom Stamm der Baka. Seit Urzeiten leben sie in diesem Gebiet und ernähren sich von dem, was sie jagen und sammeln. Die Bantufarmer am Rande ihres Territoriums sind die einzigen Fremden, mit denen sie ab und zu ein Tauschgeschäft machen. Aber auch denen gehen sie lieber aus dem Weg. Der kleine Trupp ist einer Gruppe Situngas auf der Spur. Lomama ist angespannt. In den letzten Tagen hatten sie kein Glück. Die Frauen und Kinder sind hungrig. Heute müssen sie Beute machen. Er hält inne, direkt vor ihm im Gebüsch steht eine kleine Antilope. Langsam und vorsichtig bereitet er sich auf den tödlichen Wurf vor. Die Eingeborenen um Lomama gehören zu einer besonderen Minderheit: Sie wissen nichts von der kommenden Katastrophe.
Immer noch gibt es Menschen auf der Welt, die von der nahenden Katastrophe nichts wissen. Lomama und sein Clan leben abgeschnitten von der Außenwelt im Dschungel Zentralafrikas.
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Vor dem Impakt
Zehn Tage vor dem Einschlag, Houston, Texas
Erst sehr spät beschließt Fernando, zu seiner Familie nach Mexiko zu fahren. Vorher versucht er in einem Supermarkt noch ein paar Lebensmittel zu organisieren. Aber es gibt kaum noch etwas zu kaufen. Die Regale sind leer, die Ordnungskräfte haben alle Hände voll zu tun.
Mit einem voll beladenen Wagen verlässt Fernando Martinez den Supermarkt. Während er sich im Durcheinander zahlloser Panikkäufer seinen Weg bahnt, telefoniert er mit seiner Frau. „Was macht das Baby? Geht es ihm gut? Und Luisa..? Mach dir keine Sorgen, Maria. Ich werde schon durchkommen. In drei Tagen bin ich da. Ich liebe dich.“ Fernando lebt in Houston als einer von vielen Gastarbeitern. Seine Frau und die beiden Kinder sind zu Hause in Mexiko. Eigentlich hat er versucht, den Kometen und den ganzen Trubel, der darum gemacht wurde, zu ignorieren. Er muss hart arbeiten, um genug Geld für seine Familie zu verdienen. Aber schließlich hat auch er einsehen müssen, dass sie alle von der Katastrophe betroffen sein werden. In den letzten Tagen kam kaum noch jemand zur Arbeit. Als er ging, war noch nicht mal mehr ein Vorgesetzter da, dem er hätte Bescheid sagen können. Auf den Straßen Houstons finden zahlreiche Demonstrationen statt. Auf dem Weg hierher wollten ihn ein paar religiöse Eiferer überreden mitzukommen. Der Tag des Herrn sei da und sie alle müssten Reue zeigen. Natürlich ist Fernando gläubig, aber dass Gott diesen Brocken gesandt hat, glaubt er nicht. Auf dem Parkplatz ist die Hölle los. Wie verrückt versuchen die Leute, alles aufzukaufen. Die wenigen Lebensmittel, die er noch ergattern konnte, packt er in den Laderaum seines Kleintransporters. Er macht sich Vorwürfe. Er hätte schon früher aufbrechen sollen. Hoffentlich reichen zehn Tage, um zu seiner Familie zu kommen. Drei Tage vor dem Impakt, Mauna Kea, Hawaii
Noah betritt das verlassene Observatorium. Nach der missglückten Abwehrmission sind die Mitglieder seiner Crew abgereist. Alle wollten nach Hause. Noah hat keine Familie. Seine Eltern sind vor einigen Jahren gestorben und verheiratet ist er nicht. Wohin sollte er gehen? Bleiben erscheint ihm die bessere Alternative. Allein kann er die Ankunft des Asteroiden vom Observatorium aus beobachten. Von so einer Gelegenheit
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hatte er schon als Kind geträumt. Vor einer Woche hatten sie von den Kollegen vom Radioteleskop in Arecibo noch einmal genauere Daten bekommen. Von dort hatte man den Brocken mit einem hochenergetischen Radarstrahl vermessen. Leider war das überhaupt erst zu diesem späten Zeitpunkt möglich, das Radar reichte nicht weit. Dafür lieferte es viel genauere Daten als jedes optische Teleskop. Damit konnte man endlich den Einschlagsort präzise vorhersagen. Er lag voraussichtlich im Golf von Mexiko, im Bereich von Yucatan, einer Halbinsel zwischen der Golfregion und der karibischen See. Alle hatten aufgeatmet. Der Golf lag über 7.000 Kilometer weit weg und es bestand keine direkte Bedrohung für Hawaii. Die Bevölkerung dort tat ihm leid. Es war fraglich, ob sie so spät noch eine Chance hatten, der Gefahr zu entkommen. Wenigstens war die Gegend nicht dicht besiedelt – vor allem Rinderfarmen mit großen Weideflächen. Was Noah aber viel mehr Sorgen bereitete, war eine andere Sache: Die Halbinsel war bekannt für ihre Kalksteinformationen. Schlug der Brocken dort ein, konnte das bittere Konsequenzen für das Weltklima haben. Die aufgewirbelten chemischen Bestandteile konnten in der Atmosphäre für einen globalen Temperatursturz sorgen. Das würde viele Menschen weltweit das Leben kosten. Irgendwie fühlt Noah sich plötzlich einsam. Seltsam ruhig ist es in den verlassenen Räumen des Observatoriums. Hier, wo in den letzten Wochen die Hölle los war. Ein plötzliches Rascheln im hinteren Bereich des Raumes lässt ihn aufschrecken. Im Dunkeln sieht er ein paar Umrisse. Aber das kann doch nicht sein... „Hallo, wer ist da? ... Shiang?“ Tatsächlich – seine Kollegin steht an einem der Computer und kontrolliert ein paar Ausdrucke. „Glaubst du, wir werden während des Einschlags noch mehr Daten von den anderen Stationen bekommen?“ Noah ist verblüfft: „Solltest du nicht längst im Flugzeug sitzen – auf dem Heimweg?“ „Und mich mit anderen um die letzten Plätze
Noah ist überrascht, als er bemerkt, dass auch Shiang im Observatorium zurückgeblieben ist. Aber sie hat recht. Highways, Flugpätze und Züge sind hoffnungslos überfüllt. An Flucht ist gar nicht zu denken.
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Vor dem Impakt
streiten? Hier haben wir wenigstens etwas zu tun... oder etwa nicht?“ Ja, sie hat Recht. Auf der Videoleinwand laufen stumm die Nachrichtenbilder von überfüllten Autobahnen, Flugplätzen, auf denen keine Maschinen mehr starten, liegen gebliebenen Zügen. Der Verkehr ist vor allem in den Großstädten zum Stillstand gekommen. Abreisen ist sinnlos. Der Tag vor dem Einschlag, Paris, Frankreich
Als letzte schaffen es die Vatons vor der entscheidenden Nacht in einem der Schutzkeller unterzukommen. Für viele andere gibt es keinen Platz.
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Laut krachend schlägt vor ihnen auf der Straße etwas auf. Henri schaut nach oben. Von einem der Balkons hat ein Mann eine leere Champagnerflasche auf die Straße geworfen. Grinsend hängt er über dem Geländer, offensichtlich ist er betrunken. Henri wird wütend. Fast hätte Michelle etwas abbekommen. „Du hättest sie töten können, du verdammter Idiot!“ Es gibt einige Leute, die den Einschlag nicht wirklich ernst nehmen oder sich einfach in ihr Schicksal ergeben. Nicht jeder versucht sich in Sicherheit zu bringen. Henri ist mit den Nerven am Ende. Sie hatten angefangen, die wichtigsten Sachen zu packen. Dreimal hat Catherine alles wieder ausgepackt und neu geordnet. Jedes Mal, wenn die Koffer voll waren, wurde ihr klar, dass sie eigentlich viel zu viel mitgenommen hatten. Erst sehr spät konnten sie sich auf den Weg in die von der Stadt zugewiesenen Schutzräume machen. „Gott sei Dank ist es nicht weit. Gleich da vorne um die Ecke.“ Eine geöffnete Tür, in die Menschen drängen, ist bereits zu sehen. „Dort müssen wir hinein“, ruft er Catherine zu, die ein paar Schritte vor ihm geht. Er nimmt Michelle bei der Hand. Tatsächlich, ein Mann will gerade die Türen schließen, obwohl noch einige draußen stehen. „Hey warte, ich habe Frau und Kind.“ Noah schiebt die anderen beiden vor. Der Türsteher reagiert tatsächlich und lässt sie noch herein. Dann schließt er die Tür vor den Nachdrängenden. „Tut mir leid, hier ist es voll!“
Wie bereitet sich die Welt auf eine globale Katastrophe vor? Wer ist zuständig? Wer übernimmt die Koordination der Vorbereitungsmaßnahmen? © FEMA/Bill Koplitz
Vor dem Impakt Was sagt die Wissenschaft? Die Abwehrmission ist fehlgeschlagen, die Kollision des Kometen mit der Erde ist nicht mehr zu verhindern. Bis zum Impakt bleiben nur noch wenige Monate, vielleicht ein Jahr. Noch weiß niemand genau, wo der Einschlagsort liegen wird – wird es das Meer treffen? Das Land? Welche Region der Erde? Auch die Astronomen werden dies wahrscheinlich erst kurz vor dem Einschlag herausfinden können. Wie aber gehen wir Menschen mit dieser unaufhaltsam herannahenden Bedrohung um? Wie mit der Gewissheit, vor einer Katastrophe globalen Ausmaßes zu stehen?
„Wird schon nicht so schlimm werden“ Die Meldung von der gescheiterten Mission wird um die Welt gehen. Und dann? Schock? Abwehr? Verzweiflung? Panik? Oder doch Ungläubigkeit? Was werden unsere ersten Reaktionen sein? Nach Ansicht von Experten ist es am Anfang vor allem eine Ungläubigkeit, eine instinktive Verleug-
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Vor dem Impakt
Die meisten müssen auf der Flucht vor der Katastrophe ihr Hab und Gut zurücklassen. © FEMA/Robert Kaufmann
nung der Gefahr: Wird schon nicht so schlimm sein, vielleicht trifft er ja doch nicht und fliegt vorbei. „Wir haben alle ganz langfristig eingelebte Entschleunigungsroutinen. ‚Den Ball flach halten‘ und so weiter. Bis man sagt: ‚Oh, es ist das Schlimmste‘ – das muss erst mal durchkommen“, erklärt Wolf Dombrowsky, Leiter der Katastrophenir wehren uns in gewisser Weise forschungsstelle der Universität Kiel. Der Soziologe erforscht bereits seit vielen Jahren die Auswirkungen gegen das Schlimmste. Wolf Dombrowsky von Katastrophen auf Menschen und Gesellschaften und entwickelt daraus Modelle, aber gewinnt auch konkrete Hinweise darauf, wie wir uns besser auf solche Ereignisse vorbereiten können. Die Beobachtungen von Dombrowsky, aber auch anderen Forschern, zeigen immer wieder, dass dieses „Nicht wahr haben wollen“ eine ganz typische Reaktion auf Naturkatastrophen ist. „Die erste Reaktion ist Ungläubigkeit. Selbst wenn die Warnung glaubwürdig erscheint, versuchen die Menschen trotzdem erst einmal, die Korrektheit der Information zu überprüfen. Sie hören die Radiomeldungen, sehen Fernsehen oder
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Ärmeren Staaten fehlen oft die Ressourcen, um sich auf Katastrophen vorbereiten zu können. © FEMA/Manual Broussard
reden mit Freunden und Nachbarn. Wenn es dabei sich widersprechende Aussagen gibt oder Unklarheiten über die Art der Bedrohung, neigen die Empfänger der Warnungen dazu, die Gefahr herunterzuspielen“, erklärt auch Erik auf der Heide, Katastrophenforscher am US-Ministerium für Gesundheit und Soziales. Bis die Tragweite des Geschehens wirklich allen klar ist, dauert es einige Zeit. „Sagen Sie mal Leuten: ‚Sie werden in drei Stunden evakuiert, packen Sie das Wichtigste zusammen!‘ Die meisten Leute, das zeigen alle Untersuchungen, packen dann mehrfach“, so Dombrowsky. Der Grund: Erst im Laufe des Packens sickert die Bedeutung des Ereignisses so langsam durch. Und entsprechend verändern sich auch die Prioritäten. Vieles, was man zuerst eingepackt hatte, ist dann doch nicht mehr so wichtig, wenn klar ist, dass es um das nackte Überleben geht. Doch genau diese Umstellung, dieses „Kippen der Wichtigkeiten“ wie Dombrowsky es nennt, braucht eben eine gewisse Zeit – im Extremfall vielleicht sogar Tage oder Wochen.
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Vor dem Impakt
Nur vordergründig international „Eine uniforme Reaktion gibt es nur in dem Sinne, als dass alle gleichermaßen erschrecken, danach aber fragen: ‚Kann uns das betreffen?‘“ erklärt Dombrowsky. „Das ist auch ganz typisch. Zum Beispiel bei einem Flugzeugabsturz: ‚Waren Deutsche dabei?‘, ‚Könnte das auch in unserem Land passieren?‘ Stereotyp überall.“ Diese Abstufung nach Zugehörigkeit, nach gefühlter Verbundenheit zu den Opfern oder potenziellen Opfern findet sich in nahezu jeder Katastrophe. Doch was, wenn dieses Muster nicht mehr funktioniert? Wenn plötzlich alle gleichermaßen betroffen sind, weil der Einschlag eine Katastrophe globalen Ausmaßes auslösen wird? Dann, so vermutet Dobrowsky, könnte tatsächlich so etwas wie eine internationale Allianz entstehen. Ein koordiniertes Handeln über die Nationen hinweg, sogar trotz aller bestehenden Unstimmigkeiten und Gegnerschaften. Geleitet von der Frage: „Was können wir gemeinsam tun?“. Eine globale Katastrophe erfordert staatenübergreifende Maßnahmen. Erste Anfänge von vorbereitender Zusammenarbeit gibt es beispielsweise zwischen den USA und Japan. © FEMA/Bill Koplitz
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Dieses Bild der harmonischen Weltgemeinschaft trifft allerdings nur bedingt zu, wie der Pschologe David Sattler erklärt: „Wir reden hier von einer begrenzten Anzahl von Staaten. Wir reden beispielsweise nicht über die Dominikanische Republik, die in keiner Weise fähig wäre, vergleichbare Ressourcen beizusteuern wie beispielsweise Deutschland“, so Sattler, der seit Jahren die Reaktionen von Menschen und auch verantwortlichen Behörden auf Naturkatastrophen untersucht. Zudem, so schränkt auch Dombrowsky ein, wäre diese internationale Kooperation nur eine Seite der Einige werden nicht gewarnt sein. © IMSI MasterClips Medaille: „Ich glaube, dass hinter den Kulissen auch bei jeder kleineren Katastrophe sofort geguckt wird: Wo müssen wir aufpassen? Tamiflu ist genug verfügbar – wer bunkert am schnellsten? Es gibt so etwas wie Vordergrund und Hintergrund. Vordergrund ist natürlich das Normative: Alle Menschen sind Brüder, jeder hilft jedem. Doch Hintergrund ist: Können wir uns nicht schneller helfen? Wer sind die bevorrechtigten Personale? Wer ist sozusagen kriegswichtig?“ Nach Ansicht des Soziologen wird es unter der harmonischen Oberfläche immer auch einen gewissen Eigennutz geben. Jeder ist nach wie vor darauf bedacht, zumindest nicht ins Hintertreffen zu geraten. Und aus diesem Gefühl heraus könnten emand der in der afrikanischen dann auch Koalitionen entstehen: Bündnisse von Wüste lebt – was kann er schon tun? Gruppen oder auch Staaten, die ähnliche Ziele haben oder die sich einen Vorteil davon versprechen, genau Oder jemand, der in Indien einen diese Partner für ihre Zwecke zu gewinnen. Und diese Dollar am Tag verdient – was bleibt „Koalitionsbildung“ – im Kleinen wie im Großen ihm schon übrig? David Sattler – wäre dann keineswegs auf konkrete Katastrophenpläne oder Maßnahmen beschränkt. Genauso können auch einfach nur gemeinsame Ansichten oder Emotionen die Basis solcher Bündnisse sein: „Die Leute finden sich. Sie finden sich in ihren Ängsten und sie finden sich in ihren Befürchtungen“, so Dombrowsky.
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Globale Endzeitstimmung? Eine dieser „klassischen“ Reaktionen auf diese Ängste ist dabei beispielsweise die religiös-endzeitliche Interpretation einer solchen Katastrophe. Nicht umsonst heißt einer der beiden erfolgreichsten Hollywoodfilme zu dem Thema „Armageddon“. Angelehnt ist er an die
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Die bevorstehende Katastrophe stärkt religiöse Strömungen. © Filmszene
Niemand ist davor
zu instrumentieren.
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biblische Bezeichnung für den Ort des letzten apokalyptischen Kampfes. Gut gegen Böse, aufständischer Mensch gegen Gott. In unserer Zivilisation ist der Begriff Armageddon nahezu gleichbedeutend mit der Endzeit und dem Jüngsten Gericht. Und genau solche Strömungen erwarten die Experten auch im Vorfeld eines Impaktszenarios. „Ich habe bis jetzt keine Katastrophe gesehen, die nicht auch instrumentalisiert worden ist zu einer Straf- und Drohkatastrophe“, erklärt Dombrowsky. „Der Tsunami beispielsgefeit, die Dinge weise hat in Südostasien Zeitungsmeldungen wie ‚Das war eine Strafe Allahs für eine sündige Touristenwelt‘ Wolf Dombrowsky ausgelöst, bis hin zu europäischen Pendants: ‚Dies ist eine Sintflut und sie zeigt die Sündhaftigkeit von Menschen‘, wie die Bischöfin Jepsen in Hamburg auf ihrer Neujahrspredigt gesagt hat.“ Und nicht nur im Nachhinein, auch im Vorfeld einer Katastrophe suchen Menschen häufig im Überirdischen nach einem Sinn für das Ereignis. Ähnlich wie im Falle einer tödlichen Krankheit ist eine der ers-
ten Fragen in diesem Zusammenhang immer auch das „Warum?“ Oder noch stärker das „Warum ich?“. „Immer wenn es sozusagen unsicher wird, sucht man sinnhafte Orientierung. Sie wird weltlich erbracht durch starke Führung: Leute suchen dann welche, die wissen wo es lang geht, Leute, die die Gewissheit spenden, es wird nicht so schlimm. Aber das trägt ja nur bis zu einem gewissen Teil. Und dann braucht man sozusagen höhere Stufen der Glaubwürdigkeit. Dann ist man sehr schnell bei transzendenten Elementen“, erklärt Dombrowsky. Solche Entwicklungen haben sich beispielsweise auch vor dem Jahrtausendwechsel gezeigt. Ausgelöst durch die Unsicherheit, ob der „Millennium-Bug“ möglicherweise weltweit alle Rechner und damit viele Grundfunktionen der modernen Zivilisation lahm legt, erhielten er Großteil der Belege zeigt, dass Menschen sich damals Sekten mit Endzeit-Ideoselbst unter sehr bedrohlichen Umständen rücksichtslogien regen Zulauf. Entscheidend für solche Entwicklungen ist nach voll und vernünftig verhalten. Lee Clarke Ansicht des Soziologen vor allem die Unentscheidbarkeit der Situation: Egal für welche Handlung oder Reaktion ich mich jetzt entscheide, ich kann nicht vorhersagen, ob ich zu den Überlebenden der Katastrophe gehören werde oder nicht. In dieser Zwickmühle ist es für viele ein Ausweg, die Verantwortung gewissermaßen „abzuwälzen“ auf das Schicksal oder eine höhere Macht. Auch wenn man im Prinzip genauso gut eine Münze werfen könnte, wie Dombrowsky erklärt, das Vertrauen auf eine höhere Macht ist dann erhabener, tröstlicher. Diese Flucht zu einer „Höheren Macht“ hält auch der Psychologe Sattler für wahrscheinlich. „In vielen Ländern sagt bis zu einem Viertel der Bevölkerung nach einer Katastrophe: Ja, das war Gottes Wille. Auch in den USA wird ein Teil der Menschen Ähnliches sagen“, so Sattler. „Es Der „Millennium-Bug“ und die Jahrtausendwende 1999/2000 weckten bei gibt einen Fatalismus, der sagt: Das geschah aus Ursachen außerhalb einigen irrationale Ängste. © H. Frater unserer Macht, über die wir keine Kontrolle haben. Und – und das ist der wichtige Teil daran – wir müssen es deshalb akzeptieren. Es ist Gottes Wille.“
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Feiern bis zum Umfallen Umgekehrt wird es auch die vollkommen entgegengesetzte Reaktion geben: Menschen, die die wenige verbleibende Zeit noch in vollen Zügen ausnutzen wollen: „‚Jetzt erst recht!‘ So was wie Entregelungen, Feiern bis zum Orgasmus – das finden Sie in allen Katastrophen, aber das ist
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kein gesellschaftlich durchgehendes Element. Und sie finden es umso häufiger, je länger die Todesdrohung dauert. Kriege, Soldaten, und zwar nicht aus der Truppe, sondern aus dem Einsatz, die entregeln bis zum Umfallen“, erklärt Dombrowsky. „Diese Art Entregelung gibt es in allen Gesellschaften, so rigide sie sein mögen. Und das ist nicht Verdrängung, sondern eher ein Zulassen der letzten Lebendigkeit: Es is zu 24 Prozent der Bevölkerung könnte das letzte Mal sein. Ich möchte noch einmal.“ Generell ist nach Ansicht der Experten eine eindeutige in einigen Ländern sagt nach einer Aussage „So und nicht anders reagiert die Gesellschaft“ Katastrophe: Ja, das war Gottes nicht möglich. Denn nicht nur die Religion oder Kultur Wille. David Sattler bestimmt in hohem Maße die Reaktion auf eine angekündigte Katastrophe, auch Bildungsniveau, individuelle Prägung und nicht zuletzt auch schlicht und einfach das Geld spielen mit eine Rolle. „Tschernobyl zum Beispiel hat gezeigt, dass Leute, die im Beruf flexibler sind, die eine höhere Bildung und höheres Einkommen haben, sehr viel schneller und sehr viel radikaler reagiert haben. Im Sinne von einer
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Feiern bis zum Abwinken – auch eine typische Reaktion auf Katastrophen. © SXC
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Umstellung von Lebensmitteln, die Kinder in Urlaub zu schicken, Familie in Urlaub schicken. Da findet sofort eine Differenzierung statt.“ Ähnlich sieht das auch Sattler: „Es wird eine Gruppe von Menschen geben, die aktiv nach Wegen zum Überleben suchen. Sie bauen Schutzräume, buddeln in den Boden, überlegen, wohin sie gehen könnten. Wenn der Asteroid in einem bestimmten Teil der Welt einschlagen soll, könnten sie vielleicht ans andere Ende der Erde fliegen? Oder sie könnten jemanden bezahlen, der bereits einen Schutzraum besitzt? Die Reaktion auf eine Katastrophe ist individuell unterschiedlich, aber auch von Bildungsstand und Alter abhängig. © FEMA/Andrea Booher Was auch immer sie tun, es erfordert Ressourcen, es erfordert Geld. Es erfordert Energie. Wohlstand ist nicht gleichmäßig auf der Welt verteilt. Menschen, die diese Ressourcen haben, werden mit größerer Wahrscheinlichkeit Schutzräume bauen können als diejenigen, die diese Ressourcen nicht haben. Jemand der in der afrikanischen Wüste lebt – was kann er schon tun? Oder jemand, der in Indien einen Dollar am Tag verdient – was bleibt ihm schon übrig?“
Eine Frage der Information Unterschiede wird es nicht nur im persönlichen Reagieren und Handeln, sondern höchstwahrscheinlich auch von vornherein im Grad der Informiertheit geben. Denn auch wenn in Zeiten des Internets kaum zu verhindern ist, dass sich bestimmte Informationen wie ein Lauffeuer ch kann mir vorstellen, dass einige Regierungen ihre ausbreiten – es existieren noch Bürger am liebsten nicht informieren würden. David Sattler immer viele Gebiete auf der Erde, in denen ein Webzugang keine Selbstverständlichkeit ist, in denen viele Menschen nicht einmal Fernsehen und Radio haben. Wer in einem solchen „Tal der Ahnungslosen“ lebt, wird möglicherweise selbst eine so globale Bedrohung zunächst überhaupt nicht mitbekommen. Denn anders als bei uns sind die Menschen in diesen Regionen weitaus stär-
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Nicht alle Menschen der Erde haben Zugang zu Medien wie Fernsehen oder Radio. © FEMA/Bill Koplitz
Traf die meisten Bewohner Puerto Ricos ohne Vorwarnung: Hurrikan Georges am 21. September 1998. © NASA
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ker auf die „offiziellen“ Kanäle der Information, wie beispielsweise Lautsprecherdurchsagen, Bekanntmachungen in Schulen oder den direkten Besuch durch Behördenvertreter angewiesen. Es wäre keineswegs ausgeschlossen, dass die offiziellen Stellen in solchen Ländern versuchen würden, beispielsweise die konkrete Information über den Einschlagsort so lange wie möglich zurückzuhalten. „Ich kann mir vorstellen, dass einige Regierungen ihre Bürger am liebsten nicht informieren würden, weil sie befürchten, eine Massenhysterie auszulösen. Menschen in Panik. Menschen, die so verängstigt sind, dass die Gesellschaft für die verbleibende Zeit völlig zusammenbrechen würde. Und sie hoffen vielleicht noch, dass es eine Chance gibt, dass, aus welchem Grund auch immer, der Asteroid vielleicht doch die Erde verfehlt“, so Sattler. „1998 beispielsweise raste Hurrikan Georges über die Karibik hinweg. Insel für Insel. Seine Zugbahn führte ihn quer über die Virgin Islands hinweg, über Puerto Rico und mit direktem Kurs auf die Dominikanische Republik. Es gab keinen Zweifel darüber, nicht in den USA, nicht in Puerto Rico. Aber in der Dominikanischen Republik hat die Regierung die Information darüber, dass ein Hurrikan der Kategorie 3, möglicherweise sogar 4 kommt, nicht freigegeben. Die Medien durften die Bevölkerung nicht informieren. Als Folge konnten die Menschen sich nicht vorbereiten und wurden in Gefahr gebracht. Und es ist ein armes Land, die Möglichkeiten sich vorzubereiten sind ohnehin begrenzt, aber vielleicht hätten sie doch etwas tun können. Doch diese Chance erhielten sie nicht.“ Auch für einen Impakt mit potenziell globalen Folgen könnte dies bedeuten, dass es einige Leute geben wird, die nicht Bescheid wissen. Die Konsequenz: Für sie kommt die Katastrophe aus heiterem Himmel – in diesem Falle sogar buchstäblich. Nach Ansicht des Forschers sind daher der im Film gezeigte Pygmäe Lomama in Afrika oder auch der unwissentlich mitten im Einschlagsgebiet Mittelamerikas
Die Information der Öffentlichkeit ist ein kritischer Faktor. Auf einer Pressekonferenz beantwortet der Leiter der US-Katastrophenschutzbehörde FEMA Fragen von Medienvertretern. © FEMA/Andrea Booher
herumirrende Fernando keineswegs aus der Luft gegriffen, sondern durchaus wahrscheinlich. Selbst wenn die technischen Möglichkeiten zur Information da sind, könnte es jedoch sein, dass Regierungen zunächst zögern, mit bestimmten Erkenntnissen an die Öffentlichkeit zu gehen. So zum Beispiel mit den Koordinaten des Einschlagsorts – eine der ersten und wichtigsten Fragen, die sich in einem Impaktszenario stellen. Denn trotz aller globalen Auswirkungen könnte es wenigstens für das kurzfristige Überleben von Millionen Menschen entscheidend sein, ob der Komet ins Meer stürzt oder aber auf dem Land einschlägt. Müssen wir uns auf Tsunamis vorbereiten? Und wenn ja, an welchen Küsten? Bleiben diese aus, weil der Einschlag auf dem Land stattfindet? Welche Region der Erde ist am stärksten betroffen? Welche könnte ein Minimum an Sicherheit bieten? Der gesunde Menschenverstand sagt uns: Je früher wir gewarnt werden, desto mehr Zeit bleibt für die Vorbereitung. Doch für die Behörden spielen bei solchen Entscheidungen noch andere Überlegungen eine
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Das Problem mit dem
Panik-Missverständnis ist, dass alle daran glauben: die Öffentlichkeit, die Medien und selbst Katastrophenschützer und Behördenvertreter. Erik auf der Heide
Um gegen Unruhen und Panik gewappnet zu sein, wird oft Militär an kritischen Punkten eingesetzt. Hier die National Guard der USA im Katastropheneinsatz. © FEMA/Dave Gatley
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Rolle. Ein Faktor ist die Unsicherheit: Einerseits werden die Daten und die daraus resultierenden Berechnungen erst relativ kurz vor dem Einschlag genau genug sein, um diese Information überhaupt zu haben, zum anderen haben auch die besten Modelle noch immer einen relativ großen Unsicherheitsfaktor: „Obwohl bisher ein Großteil der Unsicherheit in der Entdeckung und Bahnberechnung im All vermindert worden sind, habe ich noch keine entsprechende Möglichkeit gefunden, um eine ähnlich präzise Vorwarnung für die Bahn des Objekts durch die Erdatmosphäre, das Gebiet des Impakts, sowie die Form und das Ausmaß der Sekundäreffekte zu erstellen. Was ich dagegen gesehen habe, deutet auf ein hohes Maß an Unsicherheit hin. Wenn das so ist, gibt es große Probleme für die Katastrophenvorbereitung“, erklärt der kanadische Geo- und Umweltwissenschaftler Kenneth Hewitt.
Panik und Chaos allerorten? Die Hauptmotivation jedoch, wichtige Informationen entweder gar nicht oder erst sehr spät zu veröffentlichen, ist eine andere: Die Furcht vor der Reaktion der Bevölkerung. Chaos, Menschen in Panik, Plünderungen und Verzweiflungstaten – genau das ist die stereotype Vorstellung, die bei Verantwortlichen im Katastrophenschutz, aber auch in der Öffentlichkeit vorherrscht. Panik ist, so die offizielle medizinische Definition, ein Zustand extremer Angst, der rationales Handeln und Reagieren unmöglich macht. Die Betroffenen verhalten sich irrational, flüchten grundlos und hysterisch und vor allem ohne Rücksicht auf andere – sie gehen buchstäblich über Leichen. „Es dominiert die Vorstellung eines ‚sozialen Dschungels‘“, beschreibt Erik auf der Heide, Katastrophenforscher am US-Ministerium für Gesundheit und Soziales. „Menschen, hysterisch und hilflos, verlieren nach und nach den dünnen Lacküberzug der Zivilisation und beginnen, andere auszubeuten. Plünderungen sind an der Tagesordnung und starke Eingriffe von außen sind nötig, um diese aufkommenden primitiven Bedürfnisse in Schach zu halten.“ Die Hollywood-Spielfime zementieren genau dieses Bild: „Als in den Spielfilmen ‚Armageddon‘ und ‚Deep Impact‘ kleinere Asteroidentrümmer in das Chrysler Building stürzten, rannten die Menschen hysterisch durch die Straßen, schubsten andere rücksichtslos zur Seite, um sich selbst zu retten“, schreibt der Soziologe und Katastrophenforscher Lee Clarke. „In solchen Visionen von Panik verwandeln sich gut sozialisierte Dr. Jekylls plötzlich in rasende Mr. Hydes. Die Katastrophenfilme sugge-
Die Ruhe vor dem Ansturm: Solche geordneten Zeltstädte sollen Evakuierte aufnehmen. Wie lange diese Ordnung dann erhalten bleibt, muss sich zeigen... © FEMA/Mark Wolfe
rieren, es gäbe einen kritischen Punkt, oberhalb dessen Menschen so von Angst überwältigt sind, dass sie ihr Eigeninteresse über die Rücksicht auf andere stellen.“ Doch auch die Medien sind an diesem Bild nicht ganz unschuldig. Der Begriff „Panik“ ist griffig und macht sich in den Schlagzeilen gut, entsprechend gerne und häufig wird er verwendet – egal ob es sich bei den beschriebenen Ereignissen tatsächlich um eine echte Panik handelt oder nicht. So titelten britische Zeitungen 1977 nach dem katastrophalen Feuer im „Beverly Hills Supper Club“, einem Restaurant in Kentucky, bei dem mehrere hundert Menschen getötet wurden: „Panik, 300 zu Tode getrampelt“, oder: „Ein Killer namens Panik“. Spätere Untersuchungen der Brandschutzbehörden ergaben jedoch keinerlei Hinweise auf eine Massenpanik. Im Gegenteil: Angestellte, aber auch Gäste halfen sich gegenseitig, die Evakuierung lief verhältnismäßig ruhig und geordnet ab. Auch die Todesfälle waren keine Folge von Trampeleien, sondern in den meisten Fällen eine Folge von Rauchvergiftungen. Die Gäste kolla-
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Die Berichte von Betroffenen tragen manchmal zu falschen Vorstellungen bei. Ein Mitarbeiter der amerikanischen Katastrophenschutzbehörde FEMA interviewt einen Evakuierten. © FEMA/Greg Henshall
Die während des Hurrikans Katrina in New Orleans Evakuierten fanden Momente der Ruhe, aber auch Beistand. © FEMA/Andrea Booher
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bierten, bevor sie die rettenden Ausgänge erreichen konnten. Ein ähnliches, geradezu klassisches Beispiel ist die „Panik“, die angeblich entstand, als im Oktober 1938 das Hörspiel „Krieg der Welten“ von Orson Welles im amerikanischen Radio ausgestrahlt wurde. Das Hörspiel war so konzipiert, dass es eine tatsächliche Invasion der Erde durch Marsianer suggerierte. Diese Wirkung wurde erreicht durch fingierte Nachrichtensendungen, angebliche Live-Schaltungen zu Reportern vor Ort und entsprechende Geräuscheffekte. Ein großer Teil der Hörer nahm das Spektakel tatsächlich für bare Münze und reagierte entsprechend: Die Hotlines der Behörden und Polizei brachen unter dem Ansturm der Anrufe zusammen, an Polizeistationen sammelten sich Menschentrauben mit gepackten Koffern, die nach Evakuierungshinweisen fragten, in den Kirchen wurde für eine erfolgreiche Abwehr des Angriffs gebetet und auf einigen Straßen brach sogar ein Verkehrschaos aus. Alle diese Reaktionen waren zwar von Angst geprägt, aber durchaus zielgerichtet und sinnvoll, wenn es tatsächlich eine solche Katastrophe gegeben hätte. Von blinder Panik keine Spur. Dennoch erschien die New York Times am nächsten Tag mit der Überschrift: „Radiohörer in Panik, Tausende halten Kriegsdrama für wahr.“ Manchmal allerdings tragen auch die Betroffenen selbst zu falschen Vorstellungen bei: Nach dem Giftgas-Attentat in der Tokioter U-Bahn im Jahr 1995 nutzten einige der Opfer später den Begriff „Panik“, um zu beschreiben, was passierte. Doch als sie dann schilderten, was genau sie beobachtet und erlebt hatten, zeigte sich schnell, dass das tatsächliche Verhalten von einer Panik im eigentlichen Sinne weit entfernt war: „Ich fühlte mich schrecklich. Meine Augen zuckten, obwohl sie nicht wehtaten und alles war gelb. Als ich die U-Bahn verließ dachte ich, das muss Sarin sein. Meine Pupillen sind schließlich verengt. ... Seltsamerweise war ich extrem ruhig. Ich wusste es war Sarin.“ Diese Beschreibung gab eine Frau dem Schriftsteller Haruki Murakami, der 40 Opfer des von
der Aum-Sekte verübten Anschlags interviewte und ihre Erlebnisse später in einem Buch zusammenstellte. Noch gibt es zwar kaum Erkenntnisse darüber, wie sich Menschen nach der Ankündigung einer globalen Katastrophe verhalten würden. Dafür existieren umso mehr Beobachtungen und Erfahrungen aus bereits stattgefundenen katastrophalen Ereignissen. Und sie belegen relativ deutlich, dass der Zustand der Panik weitaus seltener ist als landläufig angenommen. Nach Ansicht ie Katastrophenfilme suggerieren, von Katastrophenforschern könnte diese Erkenntnis dass Menschen ab einem bestimmten auch durchaus einen Eindruck dessen vermitteln, Punkt aus lauter Angst ihr was uns im Ernstfall erwarten würde. Eines der übereinstimmenden Ergebnisse solcher Eigeninteresse über die Rücksicht für Studien war immer wieder, dass Menschen nur selten andere stellen. Lee Clarke die Kontrolle verloren. Im Gegenteil. Das weitaus häufigere Verhaltensmuster war ein starker Zusammenhalt der Betroffenen untereinander. So waren beim dramatischen Absturz einer Passagiermaschine in Sioux City, Iowa, im Jahr 1989 selbst die Rettungskräfte und Feuerwehrleute erstaunt darüber, wie gefasst die Opfer reagierten. „Es gab kein Chaos, keine Massenkonfusion. Sie waren ruhig und organisiert, viele der Überlebenden blieben, nachdem sie einmal herausgekommen waren, vor Ort und halfen anderen.“ „Ich sage damit nicht, dass Menschen niemals in Panik aus- Selbst beim Attentat auf das World Trade Center in New York im September 2001 verhielten sich die meisten Menschen trotz Todesangst hilfsbereit, statt in Panik zu brechen“, erklärt Clarke. „Es gibt verfallen. © FEMA/Michael Rieger Krawalle in Fußballstadien und zu Tode Getrampelte. Das zeigt, dass das Phänomen durchaus real ist. Aber der Großteil der verfügbaren Belege zeigt, dass Menschen sich selbst unter sehr bedrohlichen Umständen rücksichtsvoll und vernünftig verhalten.“ Und dies manchmal sogar in einem Maß, das jedem gesunden Selbstschutz oder Eigennutz zu widersprechen scheint. „Als das World Trade Center brannte, lösten sich die Standards des Umgangs miteinander nicht plötzlich auf. Die Verhaltensregeln in Extremsituationen unter-
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scheiden sich offensichtlich nicht sehr von den Regeln des alltäglichen Lebens“, so Clarke. „Und wenn eine Gefahr auftritt, besteht die Regel für normale Situationen darin, dass Menschen ihren Nächsten helfen, bevor sie sich selbst helfen. Wie wir gesehen haben, helfen Menschen sogar Fremden. Das ist eine der Lektionen, die wir am World Trade Center gelernt haben.“ Eine äußere Gefahr kann sogar, so die Erkenntnis, ein verstärktes „Wir-Gefühl“ unter denen hervorrufen, die gemeinsam der gleichen Bedrohung ausgesetzt sind.
Plündern, Gangs und Aggression Eine der ebenfalls umstrittenen Fragen ist allerdings, wieweit ein solches „Wir-Gefühl“ reicht – und wer daran teilhat. Denn neben der Panik sind auch das Plündern und eine steigende Kriminalität typische, immer wieder im Zusammenhang mit KatastroAuch nach Hurrikan Katrina in New phen erwartete Phänomene. Gerade wenn es darum geht, ein Gebiet zu Orleans waren Plünderungen eher evakuieren, weigern sich viele Einwohner, weil sie Angst um ihren Besitz die Ausnahme. Die Markierungen an diesem Haus stammen von Helfern auf haben. der Suche nach Überlebenden. Aber auch hier scheint die Realität längst nicht so „barbarisch“ wie © FEMA/Andrea Booher die landläufige Vorstellung: 1989, nach einem schweren Erdbeben in der Region San Francisco wurden nur ein paar Dutzend vereinzelte Plünderungen in der Bay Area gemeldet. Die meisten davon ereigneten sich in Gebieten, die schon vorher eine extrem hohe Kriminalitätsrate aufwiesen. Insgesamt gesehen sank die Verbrechensrate während dieser Zeit sogar. Ähnliches berichtet Dombrowsky über die Reaktionen nach dem Hurrikan Katrina in New Orleans. Hier gab es zwar vereinzelt Gangs und auch Plünderungen, die sich jedoch s dominiert die Vorstellung eines nicht ausbreiteten: „Es sind nicht Gegengangs gegrünsozialen Dschungels. Erik auf der Heide det worden, sondern die Leute haben es sich mehr oder weniger gefallen lassen, und haben hinterher dann diejenigen, die es getroffen hat, wieder aufgefangen und getröstet.“ Offenbar gilt auch hier, ähnlich wie im Fall der Panik, dass die zuvor fest etablierten Werte und Normen einer Gesellschaft – oder einer gesellschaftlichen Gruppierung – auch im Katastrophenfall intakt bleiben. Das bedeutet allerdings auch, dass Gruppen, die schon heute außerhalb dieser Normen stehen, wie beispielsweise Street-Gangs oder Kriminelle, wahrscheinlich auch durch eine solche Katastrophe nicht plötzlich zu besseren Menschen werden: „Die Menschen, die heute prädisponiert sind, ein Verbrechen zu begehen, fühlen sich unbenommen, das dann
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zu tun, wenn sie Gesetze und die Regeln der Gesellschaft zusammenbrechen sehen“, so der Psychologe Sattler. Dombrowsky ergänzt: „Es gibt ganz hervorragende Beispiele dafür, wo in einer Katastrophe große Schweinereien passiert sind, aber nur deswegen, weil schon vor der Katastrophe alles erodiert war. Beispielsweise in Nicaragua, als das Somoza-Regime noch da war, haben deren Truppen internationale Hilfsgüter geklaut und auf dem Schwarzmarkt verkauft, das hat die Revolution ungeheuer beschleunigt. Da hatte es aber vorher schon, sozusagen unter der Decke, gebrodelt.“
Koordinierte Maßnahmen oder Selbsthilfe?
Die Kommunikation der einzelnen Behörden untereinander ist im Katastrophenfall entscheidend. © FEMA/Andrea Booher
Im Gegensatz zu vielen Naturkatastrophen, die sich scheinbar aus heiterem Himmel ereignen, wird es im Falle eines Meteoriteneinschlags Zeit für konkrete Vorbereitungen auf den Impakt geben. Was aber würde tatsächlich unternommen werden – und wie? Für jedes Katastrophenschutz-Programm ist die Planung entscheidend. Denn eine gute Planung kann die schlimmsten Folgen verhindern und schnelle Hilfe gewährleisten. Doch nach Ansicht einiger Experten ist eine effektive Vorbereitung auf eine Impakt-Katastrophe mit globalen Auswirkungen kaum möglich. „Funktionelle Pläne beruhen normalerweise auf umfangreiTrauer um verlorene Angehörige und zerstörte Lebensträume: Überlebende des chen Erfahrungen. Sie entstehen Hurrikan Katrina im Astrodome in New Orleans 2005. © FEMA/Andrea Booher auf der Basis anderer, ähnlicher Ereignisse. Aber welche Erfahrung können wir vorweisen, wenn es darum geht, adäquate Maßnahmen beispielsweise für die totale Auslöschung der Energieressourcen einer Gesellschaft zu planen?“, fragt der Soziologe und Katastrophenforscher Lee Clarke von der amerikanischen Rutgers Universität in einem Aufsatz zu Impaktszenarien. Die Katastrophen, auf die sich unsere Erfahrungen gründen, sind lokal begrenzt, alle Maßnahmen und vor allem die Zuständigkeiten im Katastrophenschutz sind daher
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Viele suchen instinktiv ihr Heil in der Flucht – ob dies nun von den Behörden angeordnet wird oder nicht. In einigen Küstengebieten der USA sind Evakuierungen vor Hurrikans häufig. Behörden, aber auch Bewohner sind daher mit den Schutzmaßnahmen vertraut. © FEMA/Dave Gatley, FEMA/Lauren Hobart
meist regional und lokal strukturiert. Feste Kommunikationsroutinen oder gar Zuständigkeiten für eine internationale Katastrophe gibt es nicht. „Es existieren im Prinzip keine Analysen darüber, wie man die Auswirkungen von Impaktvorhersagen vermeiden kann, keine Pläne für andere Arten der Vorbereitung neben der Ablenkung, wie beispielsweise die Evakuierung von Ground Zero, eine Lagerung von lle Menschen sind Brüder, jeder hilft Lebensmittelvorräten im Falle eines weltweiten jedem. Doch Hintergrund ist: Können wir Zusammenbruchs der Landwirtschaft und so weiter“, erklärt Clark Chapman, NASA-Astronom und uns nicht schneller helfen? Wolf Dombrowsky Experte für Impaktszenarien. „Auch die Frage, wie die Reaktionen einzelner Behörden eines Landes oder zwischen den Ländern koordiniert werden könnten, ist bisher ungeklärt.“ Solche Planungslücken werden allerdings höchstwahrscheinlich auch in naher Zukunft nicht geschlossen werden. Denn das Risiko einer solchen globalen Katastrophe ist – gemessen an anderen Ereignissen und den „normalen“ Problemen gerade des politischen Alltags – extrem gering. Und auch die Frage der Zeit kommt hier zum Tragen: Passiert es nächstes Jahr? In hundert Jahren? In hunderttausend Jahren? Jede Art der Vorbereitung, die ja immer auch eine Investition, einen Aufwand an Geld und Ressourcen bedeutet, muss sich gegenüber näher liegenden, drän-
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genderen Problemen rechtfertigen. Und noch ein Aspekt kommt hinzu: „Es ist nahezu unvermeidlich, dass es in diesem Zusammenhang eine Menge Endzeitgerede geben wird. Politiker, die allen Ernstes vorschlagen, große Geldsummen für die Vorbereitung auf eine solche ‚Endzeit‘ auszugeben, würden sich damit auch der Lächerlichkeit preisgeben. Mit Sicherheit aber würden sie sich damit selbst zu Zielen von Hohn und Spott durch politische Gegner machen“, vermutet Lee Clarke. Höchstwahrscheinlich wird es daher zu lokal sehr unterschiedlichen Reaktionen und Maßnahmen kommen. Sollte der Einschlagsort im Meer liegen, ist gut vorstellbar, dass ein Teil der Küstenstaaten relativ effektive Evakuierungsmaßnahmen durchführt – vor allem diejenigen, die über die Mittel, aber auch die Erfahrungen verfügen. Dazu gehören beispielsweise Länder wie die USA, bei denen Evakuierungen von Küstengebieten im Vorfeld von Hurrikans häufig sind und daher entsprechende Pläne existieren. Auch der Bau von Schutzräumen und das Beschaffen und Einbunkern von Lebensmitteln wird wahrscheinlich den wohlhabenderen Regionen vorbehalten bleiben. In anderen Regionen dagegen, insbesondere in den Entwicklungsländern, könnten ohne Hilfe von außen solche Vorbereitungen kaum koordiniert und bewältigt werden. Ob eine internationale Hilfe tatsächlich geleistet werden würde und in welchem Ausmaß, ist offen. Auch die Experten können hier nur spekulieren. Was sie allerdings vermuten, ist, dass gerade in der letzen Phase vor dem Einschlag wahrscheinlich die meisten Menschen zu irgendeiner Art von Selbsthilfe greifen würden – und wenn es nur eine verzweifelte Flucht in vermeintlich sichere Gebiete ist. So verließen 1979 nach der Kernschmelze im Atomkraftwerk auf Three Mile Island 150.000 Menschen die Gegend, zunächst gegen den Rat der Behörden. Die Besonnenheit und das „Sich-Selbst-Retten“ rettete auch nach dem Anschlag auf das World Trade Center viele Menschenleben: Im Südturm, der als zweites getroffen wurde, ignorierten die Leute den Offiziellen, der durch ein Megaphon verkündete, sie wären am sichersten, wenn sie hinter ihren Schreibtischen sitzen bleiben würden. Stattdessen verließen sie das Gebäude. Inwieweit allerdings solche Handlungen auch bei einer globalen, jenseits jedes Erfahrungshorizonts liegenden Katastrophe eine Chance bieten würden, weiß heute niemand. Sollte eines Tages wirklich ein Impakt mit relativ kurzer Vorwarnzeit eintreten, wäre die Menschheit wahrscheinlich nahezu unvorbereitet.
Generatorenlager der amerikanischen Katastrophenschutzbehörde FEMA (oben). Austeilung von Lebensmittelvorräten im Astrodome in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina im September 2005 (unten). © FEMA/ George Armstrong (o.), FEMA/Ed Edahl (u.)
World Trade Center, 2001: Eigeninitiative – auch entgegen offiziellen Anweisungen – rettete hier Menschenleben. © FEMA/ Brian Rodriguez
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Fragen an: Wolf Dombrowsky Dombrowsky ist Leiter der Katastrophenforschungsstelle der Universität Kiel und Professor für Soziologie und Katastrophenmanagement. Er erforscht unter anderem, wie Gesellschaften und Individuen sich unter Extrembedingungen, wie beispielsweise vor und nach einer Katastrophe, verhalten.
Was würde geschehen, wenn jetzt die Nachricht von einem Kometeneinschlag in maximal zwei Jahren käme. Was wäre die erste Reaktion der Menschen? Wir wehren uns in gewisser Weise gegen das Schlimmste: „Wird schon nicht so schlimm kommen. Wird nicht so heiß gegessen wie es gekocht wird.“ Wir haben auch alle so ganz langfristig eingelebte Entschleunigungsroutinen. „Ball flach halten“ und so. Bis man sagt: „Oh, es ist das Schlimmste“ – das muss erstmal durchkommen. Und dann muss man seine Routinen umstellen. Dann muss man sich auf neuem Niveau so rekonstituieren, dass man sagt: „Was ist denn danach?“ Und das Interessante ist: Sie erkennen so was an vielen Ereignissen. Sagen Sie mal Leuten: „Sie werden in drei Stunden evakuiert, packen Sie das Wichtigste zusammen!“ Die meisten Leute, das zeigen alle Untersuchungen, packen mehrfach. Weil im Zuge ihres Durchdringungsprozesses – „Es ist schlimm“ – die Wichtigkeiten kippen. Bis man sich soweit reduziert hat auf das, was danach wirklich wichtig sein könnte, das hat eine lange Umstellungszeit. Wie würde die Öffentlichkeit reagieren? Meine Vermutung wäre, dass sich das nicht von den Reaktionsmustern bei gegenwärtig landläufigen Katastrophen unterschiede. Es gibt nationale, kulturelle, religiöse, soziale, bildungsmäßige Unterschiede und es gibt natürlich Stakeholder-Unterschiede – Stakeholder
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in dem Sinne: Wem passt welches Ereignis zu welcher Zeit positiv oder negativ ins Konzept? Und niemand ist davor gefeit, die Dinge zu instrumentalisieren. Und daraus ergeben sich ganz schnell Koalitionen. Das heißt es entstehen Tableaus von Konstellationen. Die Leute finden sich. Sie finden sich in ihren Ängsten und sie finden sich in ihren Befürchtungen. Ich habe bis jetzt keine Katastrophe gesehen, die nicht auch instrumentalisiert worden ist zu einer Straf- und Drohkatastrophe. Im Sinne von: „Wir haben immer gesagt, dass Kernkraft schädlich ist – jetzt habt ihr euern Schaden.“ Wie sieht es mit der internationalen Kooperation aus? Im Moment gibt es ja einige verhärtete Fronten und reichlich Misstrauen zwischen den Staaten. Wird man dies überwinden können? Das ist eine Katastrophe, die global wirkt. Und in dem Moment, wo man nicht die Betroffenheit differenzieren kann und sagen kann: „Wir überleben das ganz bestimmt“, da dürfte so etwas wie eine internationale Allianz, ein über die Vereinten Nationen koordiniertes Handeln entstehen: „Was können wir gemeinsam tun?“ Wird das denn schnell genug geschehen? Es gibt in jeder Katastrophe mehrere Umschaltphasen. Eine Administration muss auf Befehlsund Führungshandeln umschalten, was den meisten schwer fällt. Administration ist ja sozusagen strukturelle Verlangsamung von
Prozessen: Aktensicherheit, Revisionspflichten, Gegenzeichnen – das sind ja alles Verlangsamungselemente, die es erlauben, die Ressourcen optimal zu nutzen. Eigentlich ganz klug. In der Katastrophe kann man das überhaupt nicht gebrauchen, weil man alle diese Elemente lassen müsste, um Beschleunigung nutzen zu können. Das fällt den Leuten sehr, sehr schwer. Ihre Frage ist deswegen ziemlich tricky, weil in den seltensten Fällen böser Wille oder Unfähigkeit vorliegen, sondern es braucht eine Zeit der mentalen Adaption im Sinne von „Es ist wirklich wichtig“. Dann braucht es eine Zeit der Handlungsroutinenumstellung, und dann braucht es eine Zeit der Reorganisation im Angesicht der neuen Lage: „Was sind dann die Ressourcen, die mir wirklich nützen? Was sind dann die Handlungsoptionen, die positiv sein könnten?“ Würde es vor einem solchen Impakt Panik und Chaos geben? Werden die gesellschaftlichen Strukturen zusammenbrechen? Einer der empirisch gesicherten Grundsätze ist: Es passiert das, was vor dem Ereignis verbindlich war. Konkret gesprochen: Gesellschaften mit intakten Wertestrukturen werden auch durch einen solchen Schlag nicht in ihren Wertestrukturen verunsichert. Unter dem Gesichtspunkt von Werten und Normen sind Katastrophen kein Katalysator. Es gibt ganz hervorragende Beispiele, wo in einer Katastrophe große Schweinereien passiert sind, aber nur deswegen, weil schon vor der Katastrophe alles erodiert war. Beispielsweise in Nicaragua, als das Somoza-Regime noch da war, haben deren Truppen internationale Hilfsgüter weggeklaut und auf dem Schwarzmarkt verkauft, das hat die Revolution ungeheuer beschleunigt. Da hat es aber vorher schon, sozusagen unter der Decke, gebrodelt. Das heißt, wenn es in einer Gesellschaft unter der Decke nicht brodelt, ver-
ändert die Katastrophe das nicht. Sondern die Leute werden genau das machen, was sie für gut und richtig halten. Aber wie kooperativ sind denn unsere westlichen Gesellschaften? Extrem kooperativ. Schauen sie sich das Zugunglück in Eschede an. Das war natürlich keine Katastrophe im engeren Sinne, aber die Leute kamen alle aus ihren Häusern, die haben die Kleiderschränke aufgemacht, haben ihre Bettwäsche, Tafelwäsche rausgeholt zum Verbinden, haben den Leuten ihre Mobiltelefone gegeben und gesagt: „Ruft zuhause an“. Die Hilfe ist riesenhaft. Das, was sie in den Medien gelegentlich lesen: „Alle haben geguckt und keiner hat geholfen“, das steht deswegen in den Medien, weil es die Ausnahme ist. Aber was ist, wenn doch einige aus diesen Normen ausbrechen und Plündern oder Aufruhr veranstalten? Die Frage ist: Können Sie gegen eine Abweichung so vorgehen, dass Sie Ihre Werte durchsetzen? Das ist auch ein Problem unserer heutigen Gesellschaft. Wie reagieren wir, wenn in einer U-Bahn jemand angemacht wird? Das ist genau dieses Problem. Das wird nicht aus dem Stand entwickelt, sondern das muss gelernt und geübt werden und man muss sich organisieren, damit man das hinkriegt. Das wird das Problem sein eines solchen Impakts: „Sind die Leute in der Lage, sich spontan so zu organisieren, dass es eine angemessene Antwort ergibt?“
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Die K/T-Grenze sticht immer heraus. Man
kann mit einer Messerspitze darauf zeigen und sagen: ‚Das ist die Grenze‘ – und das ist einzigartig, denn in keinem anderen Fall früher oder später in der Erdgeschichte kann man wirklich sagen: ‚OK, das ist es‘. Jan Smit
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Dinosaurier existieren heute nur noch als Modell – was aber war die Ursache für ihr plötzliches Aussterben?
Auf der Suche nach dem Dinokiller Der gewaltige Einschlag eines Meteoriten vor 65 Millionen Jahren ist nicht nur der „populärste“ und bekannteste überhaupt, er ist auch der einzige, der uns überhaupt Daten darüber liefert, wie die Folgen eines ie Dinosaurier sind kosmischen Impakts aussehen könnten. Inzwischen deutet alles darauf hin, dass dieser Impakt tatsächlich für das Massenaussterben am ausgestorben, ohne Ende der Kreidezeit verantwortlich war. Unumstritten jedoch ist dieser Grund, aber das sehr Zusammenhang bis heute nicht. Von den ersten Hinweisen auf einen plötzlich. Bill Russel „kosmischen Einfluss“ auf die Erdgeschichte, über die Entdeckung des Chicxulub-Kraters in Yucatan bis hin zu den neuesten Bohrungen im Krater – jeder Schritt auf der Löschte der Einschlag eines gewaltigen Meteoriten vor 65 Millionen Jahren die Suche nach dem „Dinokiller“ war Dinosaurier aus? © SXC und ist von heftigen Debatten und Diskussionen begleitet. Für Geologen und Paläontologen sind die Schichten des Untergrunds wichtigstes Forschungsinstrument und Archiv zugleich. Die Abfolge, Dicke und Beschaffenheit der Gesteinsschichten und die in ihnen abgelagerten und konservierten Fossilien verraten ihnen, was wann in der irdischen Vergangenheit geschah. Mit ihrer
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Der Dinokiller
Die Abfolge der geologischen Schichten und die in ihnen enthaltenen Fossilien ermöglichen uns einen Blick zurück in die Erdgeschichte. © GFDL/Glenlarson
Die Ammoniten gehören zu den Tiergruppen, die am Ende der Kreidezeit , nach Millionen Jahr elanger Blütezeit, plötzlich verschwanden. © MMCD
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Hilfe blicken sie weit in die Erdgeschichte zurück und lesen in den fossilen Ablagerungen wie in den Seiten eines Geschichtsbuchs – im Idealfall. Denn dieses „Buch“ ist leider bei Weitem nicht immer so vollständig und so geordnet, wie sich die Forscher das wünschen. Im Laufe der Jahrmillionen wurden ganze Gebirge aufgetürmt, andere abgetragen und die Abfolge von Schichten durcheinander gebracht, manchmal sogar komplett auf den Kopf gestellt. Doch trotz dieser stellenweisen „Unordnung“ und manchen Interpretationsschwierigkeiten fiel den Geologen schon im frühen 19. Jahrhundert ein ungewöhnliches Phänomen auf: Während normalerweise benachbarte Schichten nur allmähliche Unterschiede aufwiesen, gab es zu bestimmten Zeiten deutliche Brüche in der Fossilienzusammensetzung. Urplötzlich – zumindest nach geologischen Maßstäben – verschwanden ganze Tiergruppen, um kurz darauf durch komplett andere ersetzt zu werden. Von graduellen Übergängen keine Spur.
Mehr als hundert Jahre blieben diese seltsamen Brüche in den Fossilienablagerungen weitestgehend unerklärt. Immer noch hoffte man, irgendwo auf der Erde für diese Zeitabschnitte entsprechende Übergangsformationen zu entdecken. Doch das Gegenteil war der Fall. Besonders einer dieser auffälligen Brüche, in Gestein, das vor 65 Millionen Jahren entstanden war, fand sich immer wieder rund um den Globus: Während davor die Gruppe der Saurier zu Land, zu Wasser und in der Luft absolut dominiert hatte, schienen die Riesenechsen danach wie von Erdboden verschluckt. Nicht der kleinste Knochen oder Fußabdruck war nach dem Ende der Kreidezeit, vor 65 Millionen Jahren, noch zu finden.
Der Grenzton und die Foraminiferen Und noch etwas war auffällig: In mehr als hundert Fundstellen weltweit markierte eine dünne Tonschicht genau den Übergang zwischen den beiden Epochen. Wie ein dunkler Schnitt erstreckte sie sich zwischen den darüber und darunter liegenden hellen Kalksteinschichten. „Die K/T-Grenze sticht immer heraus. Man kann mit einer Messerspitze darauf zeigen und sagen: ‚Das ist die Grenze‘ – und das ist einzigartig, denn in keinem anderen Fall früher oder später in der Erdgeschichte kann man wirklich sagen: ‚OK, das ist es‘,“ erklärt der Geologe Jan Smit von der Freien Universität Amsterdam. Seit Jahrzehnten untersucht er die in Ablagerungen sichtbaren Spuren von Aussterbeereignissen und ihre möglichen Ursachen. Er gilt zudem als einer der renommiertesten Experten des so genannten K/T-Ereignisses – des Bruchs zwischen Kreidezeit und Tertiär. Er stieß bereits Mitte der 1970er-Jahre, damals noch im Rahmen seiner Diplomarbeit, auf eine besonders deutliche Ausprägung dieses Grenztons in einem Aufschluss in Südspanien. Diese Stelle bildete am Ende der Kreidezeit den Boden des Tethys-Meeres, dem Vorläufer des heutigen Mittelmeeres. Die Sedimentationsrate war hier besonders hoch und die dicken, abgelagerten Schichten sind bis heute sehr gut erhalten. Während an anderen geologischen Aufschlüssen Schichten von 5.000 Jahren oft auf wenige Millimeter zusammengepresst wurden, umfassen hier 500 Jahre – nach geologischen Maßstäben nur ein Augenblick – gleich mehrere Zentimeter Gestein. „Und trotzdem ist hier diese scharfe Linie im Gestein, genau zwischen der Kreidezeit und dem Tertiär.“ Dass es sich hier um einen deutlichen Einschnitt auch in biologischer Hinsicht gehandelt haben muss, bestätigte sich bei einem näheren Blick
Dinosaurierfossilien, wie hier der Wirbelknochen eines kreidezeitlichen Plesiosaurus, sind in Ablagerungen jünger als 65 Millionen Jahren nicht mehr zu finden. © Vivi Vajda
Es gibt diese Linie im
Gestein: Diesseits ist die Kreidezeit, jenseits das Tertiär. Jan Smit
Die K/T-Grenze sticht auch in diesem Bohrkern deutlich heraus. © Frater
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auf die vor und nach dem Grenzton abgelagerten Schichten: Denn ein Großteil dieses kalkhaltigen Gesteins bestand aus den Schalen von Foraminiferen, winzigen Einzellern, die millionenfach im Plankton der damaligen Meere schwebten. Und auch ihre Zusammensetzung änderte sich radikal und sehr plötzlich mit dem Grenzton. „Man konnte deutlich drei Phasen erkennen: Erst ändert sich nicht viel außer den normalen, allmählichen Variationen. Dann – zack – alles weg. Die Tonschicht ist schwarz, kohlenstoffreich und sehr sauerstoffarm. Erst danach kehren langsam wieder Foraminiferen zurück – aber andere als zuvor“, erklärt Smit.
Gubbio und das Iridium-Rätsel
Foraminiferenschalen aus der Kreidezeit (oben). Millionen von kreidezeitlichen Foraminiferenschalen bilden die dicke weiße Kalkschicht unterhalb des Grenztons (unten). © Jan Smit, Nadja Podbregar
Walter Alvarez und sein Vater Luis untersuchen die K/T-Grenzschicht in einem Aufschluss nahe Gubbio, Italien. © Lawrence Berkeley National Laboratory
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Wie aber war dieser plötzliche Wechsel zu erklären? War er wirklich das Ergebnis eines kurzzeitigen, dramatischen Ereignisses, wie es auf den ersten Blick schien? Oder war die Grenzschicht vielleicht doch langsam im Laufe von Jahrmillionen entstanden und dann erst später so stark zusammengedrückt worden? Genau das wollte auch der Geologe Walter Alvarez herausfinden – mit „kosmischer Hilfe“. Er untersuchte Ende der 1970er Jahre Proben dieses Grenztons aus einem geologischen Aufschluss nahe der mittelitalienischen Stadt Gubbio auf den Gehalt eines bestimmten Edelmetalls, Iridium. Dieses Metall kommt auf der Erde extrem selten vor, ist aber im Weltall wesentlich häufiger. Es findet sich in vielen Asteroiden, aber auch in dem feinen Weltraumstaub, der ständig auf die Erde rieselt. Alvarez Idee war es nun, aus der Konzentration dieses Iridiums in der Grenzschicht zu ermitteln, wie lange der Ton gebraucht hatte, um sich abzusetzen. „Da wir die Rate kennen, mit der extraterrestrisches Material jedes Jahr auf die Erde regnet, dachte ich, dass wir über die Konzentration des Iridiums in den Sedimentablagerungen auch feststellen könnten, welche Zeitperiode diese Tonschicht repräsentierte“, erklärte Alvarez in einer Presseerklärung im Herbst 1979. Denn, so seine Theorie, wenn man von einer konstanten Berieselung mit iridiumhaltigem Staub ausgeht, muss in einer über lange Zeiträume abgelagerten Schicht mehr Iridium vorhanden sein als in einer sehr schnell entstandenen. Doch als er die Proben gemeinsam mit seinem Vater, dem Physiker und Nobelpreisträger Louis Alvarez, im Labor untersuchte, erlebte er eine Überraschung: Die Iridiumkonzentrationen waren so hoch, dass sie unmöglich allein durch den Weltraumstaub hätten entstanden sein können. Und auch das Muster war seltsam: Am Anfang der Schicht
Fundorte einer auf einen EInschlag hinweisenden Iridiumanomalie © NASA
schnellten die Werte sehr abrupt auf das 25-fache hoch, fielen dann aber exponentiell bis auf den normalen Hintergrundwert ab. Zunächst zweifelten die Forscher an ihren Messungen, doch auch eine Wiederholung der Analysen änderte nichts. Die Werte blieben zu hoch. Und dessen nicht genug, ergaben auch die Messungen an Proben weiterer Grenztonschichten aus Fundorten in Dänemark und Neuseeland die gleichen Anomalien. Auch Jan Smit hatte seine spanischen Grenzton-Proben zuvor schon einmal nach Iridium durchsucht, aber zunächst außer jeder Menge anderer metallischer Elemente wie Chrom, Arsen, Kobalt, Nickel, Zink und Eisen nichts enn es einen Anstieg in der Extraterrestrisches gefunden. Nun unternahm auch Iridium-Ablagerung gibt, ist eine er einen zweiten Versuch und schickte Proben des Grenztons inklusive der jeweils der angrenzenden irdische Quelle unwahrscheinlich, Schichten an einen belgischen Chemiker, der eben- denn Iridium gehört zu den seltensten falls die neue Methode der Neutronenaktivierung Elementen der Erdkruste. Frank Asaro beherrschte. Er fragte ihn: „Ich habe eine zeitliche Auflösung in meinen Sedimenten, die um das Zehnfache höher ist als in Gubbio. Wie kann das sein, dass ich 35 Elemente darin finde, darunter Nickel, Kobalt und alles Mögliche, aber kein Iridium?“ Die Antwort erhielt er einen Monat später mit den Untersuchungsergebnissen: Sie zeigten, dass Smits Proben sogar noch eine zehnfach höhere Konzentration von Iridium enthielten als der Gubbio-Grenzton.
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Auch eine Supernova, eine Sternenexplosion, kann theoretisch zu einer Iridiumanreicherung in den Ablagerungen führen. © NASA/JPL-Caltech/R.Gehrz (Univ. Minn.)
Supernova oder Meteorit? Der Einschlag eines Iridium-reichen Asteroiden könnte die anormale Anreicherung dieses Elements in den Ablagerungen erklären. © NASA
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Was aber konnte die Quelle dieser Iridium-Anreichungen sein? Eine irdische Quelle kam eigentlich kaum in Frage, denn das Metall war eines der seltensten Elemente überhaupt in der Erdkruste. „Wenn aber, auf der anderen Seite, die Quelle extraterrestrisch ist, dann wäre sie von Natur aus reich an Iridium und könnte unsere Messungen erklären“, erklärt Frank Asaro, ein Nuklearchemiker des Lawrence Berkeley National-Laboratoriums, der Untersuchungen dort gemeinsam mit Vater und Sohn Alvarez durchgeführt hatte. „Wir hielten daher die extraterrestrische Hypothese für wahrscheinlicher.“ Aber welche Quelle im Weltraum kam für diese großen IridiumMengen in Frage? Eine der zunächst von vielen Forschern favorisierten Erklärungen war eine Supernova, eine gewaltige Sternenexplosion. Auch Smit verfolgte anfangs diesen Ansatz und wandte sich mit seinen
Iridium-Werten an eine Gruppe von Astronomen, die auf ungewöhnliche Weltraumphänomene spezialisiert war. „Sie begannen zu kalkulieren, welche Mengen man durch eine Supernova erhalten könnte. Aber selbst unter Annahme eines extrem ungewöhnlichen Typs von Supernova lagen ihre Berechnungen noch immer um fünf Größenordnungen unter meinen Werten“, so Smit. „Das war dann das Aus für die Supernova-Theorie.“ Die amerikanischen Forscher um Walter Alvarez gingen dagegen noch einmal mithilfe der Neutronenaktivierung auf Spurensuche. Dies- Das Forscherteam um Walter Alvarez veröffentlichte als erstes die Einschlagsmal analysierten sie das Verhältnis zweier Isotope – Variationen in der hypothese. (von links nach rechts: Helen atomaren Zusammensetzung – des Iridiums in ihren Proben. Dieses Ver- Michel, Frank Asaro, Walter Alvarez und Luis Alvarez.) © Lawrence Berkeley Natihältnis ist für alle Objekte in unserem Sonnensystem gleich, variiert aber onal Laboratory für andere extrasolare Quellen. Und auch ihre Ergebnisse sprachen eindeutig gegen eine Supernova, denn das Isotopenverhältnis entsprach exakt dem für unser Sonnensystem typischen. Damit blieb ihrer Meinung nach nur noch eine logische Erklärung für die Iridiumanomalie übrig: der Einschlag eines Asteroiden – eines Himmelskörpers aus unserem Sons scheint klar, dass nensystem. Und genau dies postulierten sie dann auch in einem Artikel, der am das Iridium von einer 6. Juni 1980 in der Fachzeitschrift Science erschien. Aus den Iridium- extraterrestrischen Quelle Konzentrationen ergibt sich, so schrieben sie, dass vor 65 Millionen innerhalb des Jahren ein mindestens zehn Kilometer großer Himmelskörper auf die Erde gestürzt sein muss. Dabei verdampfte der Asteroid oder Komet Sonnensystems stammen vermutlich komplett und verteilte das in ihm enthaltene Iridium über die muss. Walter Alvarez gesamte Erde. Die Sensation war perfekt: „Die Leute dachten damals, das ist verrückt. Da hat einer eine blühende Fantasie und versucht jetzt, dafür Beweise herbeizuziehen“, erzählt Smit. Doch trotz anfänglicher Skepsis und heftiger Diskussion begannen bald immer mehr Forscher, Belege für einen Einschlag zu finden. „Ich hatte bereits zuvor Diese weißlichen Sphärulen aus Impaktglas entdeckte Jan kleine, kartoffelförmige Objekte unter dem Mikros- Smit in seiner Probe der K/T-Grenzschicht. © Jan Smit kop entdeckt, hielt sie aber zunächst für Gipskügelchen, wie sie für marine Ablagerungen typisch sind“, erzählt Smit. „Doch jetzt war diese Schicht sehr wichtig geworden und ich ließ sie noch einmal untersuchen. Und es zeigte sich, dass sie den Mikrotektiten glichen, die kurz zuvor entdeckt worden waren.“ Tektite gelten als relativ deutliche Indizien vergangener Einschläge. Sie entstehen, wenn Gestein durch den Impakt geschmolzen und in die Atmosphäre hinaufgeschleudert wird. Hier werden die Tropfen dann so schnell abgekühlt, dass sich keine Kristall-
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damals, das ist verrückt. Da hat einer eine blühende Fantasie und versucht jetzt, dafür Beweise herbeizuziehen. Jan Smit
struktur ausbilden kann und sie stattdessen zu „Impaktglas“ erstarren. Nach Modellrechnungen von Wissenschaftlern der Universität von Arizona wird gut die Hälfte des bei einem Einschlag hochgeschleuderten Gesteinsmaterials zu solchen winzigen runden, tropfen- oder hantelförmigen Körnern aus Glas. Im Laufe der Zeit wurden diese Tektite und ähnliche, als Ejekta-Sphärulen bezeichnete, 0,5 bis 2 Millimeter große Partikel, in immer mehr Proben gefunden. Die Indizien für einen Einschlag mit globalen Folgen mehrten sich. Aber eine entscheidende Frage blieb noch offen: Wo auf der Erde hatte sich der Impakt ereignet?
Die Suche nach dem Krater Ein Einschlag dieser Größe hätte eigentlich zumindest eine deutlich sichtbare Spur hinterlassen müssen – einen Krater. Forscher schätzten seinen Durchmesser auf mindestens hundert Kilometer. Ihn jedoch zu finden war gar nicht so einfach. Denn im Gegensatz zum Mond oder anderen „toten“ Himmelskörpern, sorgen auf der Erde Eis, Wind, Wasser und Vegetation dafür, dass die Form der Landschaft sich fortwährend ändert. Gebirge wachsen empor, Täler und Schluchten kerben sich ein, Hügel werden eingeebnet. Innerhalb von 65 Millionen Jahren konnte
Durch Erosion sind viele Krater auf der Erde kaum mehr zu erkennen. Einer der wenigen gut sichtbaren Krater ist der rund 24 Kilometer breite Gosses Bluff Krater in Australien (links). Der Manicouagan-Krater in Kanada ist heute nur noch an der Form des ihn bedeckenden Sees erkennbar (rechts). © NASA, NASA/Landsat 7
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daher ein Einschlagskrater bis zur Unkenntlichkeit verändert oder sogar völlig abgetragen und überdeckt worden sein. Den entscheidenden Hinweis gaben Geophysiker einer Ölgesellschaft, die schon in den 1950er Jahren eine geophysikalische Anomalie in Mexiko, im Norden der Halbinsel Yucatan entdeckt hatten. Messungen des Magnetfelds und der Schwerkraft enthüllten hier eine kreisförmige, unter der Erde verborgene Struktur, die sie aber zunächst für Reste eines Vulkanschlots hielten. An der Erdoberfläche war von alledem nichts sichtbar, die seltsame Anomalie lag halb an Land, halb unter Wasser und war zudem unter 300 bis 1.000 Meter mächtigen Sedimentschichten begraben. Ihr Zentrum befand sich unter dem Ort Chicxulub Puerto, nördlich der Provinzhauptstadt Mérida. 1981 trugen Antonio Camargo-Zanoguera und Glen Penfield auf einer geophysikalischen Tagung neuere Ergebnisse ihrer Messungen vor und vermuteten dabei bereits, es könne sich auch um einen Einschlagskrater handeln. Doch dies fand zunächst keine Beachtung. Es sollte sogar noch zehn weitere Jahre dauern, bis ein Wissenschaftlerteam unter Leitung von Alan Hildebrand von der Universität von Arizona sich erneut der rätselhaften Struktur annahm. Sie sammelten nicht nur genauere Daten zu den Magnetfeld- und Schwereanomalien in diesem Gebiet, sondern untersuchten auch Proben aus alten Ölbohrungen und fanden dabei Mineralien, die eindeutig auf eine starke Druck- und Hitzeeinwirkung schließen ließen. Eine Datierung dieser Proben ergab ein Alter von rund 65 Millionen Jahren – und stimmt damit genau mit dem Zeitpunkt überein, zu dem weltweit sowohl die Iridiumanomalie als auch das Massenaussterben aufgetreten waren.
Chicxulub – der „Dinokiller“?
Dieses Schwerkraftmodell zeigt deutlich eine ringförmige Anomalie unter der Oberfläche Yucatans. © NASA/LPI
Schon die ersten Bohrkerne aus dem Chicxulub-Gebiet zeigen Schichten charakteristischen Impaktgesteins. © Jan Smit
Hatte man endlich den Krater des „Dinokillers“ gefunden? Alle Indizien sprachen dafür. Chicxulub, Maya-Bezeichnung für „Schwanz des Teufels“, wie der Krater nach der über ihm liegenden Stadt genannt wurde, schien tatsächlich als ernsthafter – und bis heute einziger – Kandidat für den K/T-Einschlag in Frage zu kommen. 1993 ergab sich aus weiteren Untersuchungen auch erstmals ein genaueres Bild der Form und Größe des Chicxulub-Kraters: Er gehört eindeutig zu den komplexen, für größere Einschläge typischen Kratern mit einem Zentralberg und einer, möglicherweise auch mehreren, ringförmigen Erhebung. Der Durchmesser wird bis heute unterschiedlich angegeben, liegt aber nach Ansicht der Mehrheit der Geoforscher bei rund 180 Kilometern. Damit ist Chic-
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xulub der drittgrößte Krater der Erde, nach Vredefort in Südafrika und dem Sudbury-Becken in Kanada, die jedoch beide mehr als zwei Milliarden Jahre alt sind. Aber war er auch der „Dinokiller“? Genau darüber streiten sich die Experten bis zum heutigen Tag. Klar ist, dass sich der Einschlag des Asteroiden auf Yucatan vor 65 Millionen wahrscheinlich global ausgewirkt haben muss: Die Iridiumanomalie, Mikrotektite und andere über die Atmosphäre weltweit verbreitete Ejekta werden in allen Gegenden der Erde gefunden und zeugen davon. Aber reichten die in diesen Spuren dokumentierten Effekte aus, um ein Massensterben nahezu aller größeren Landtiere und vieler planktischer Meeresorganismen auszulösen? Genau diese Frage sollte, so die Hoffnung der Forscher weltweit, das „Chicxulub Scientific Drilling Project“ beantworten. Am 3. Dezember 2001 begann Bohrstellen der mexikanischen Erdölgesellschaft PEMEX und bei der Stadt Yaxcopoil, 60 Kilometer vom Zentrum der Universität von Mexico (UNAM) und Lage der neuen, 2001 des Chicxulub-Kraters entfernt, die im Rahmen des begonnenen Bohrung Yaxcopoil-1. © MMCD internationalen Kontinentalen Tiefbohrprogramms durchgeführte Kernbohrung Yax-1. 795 Meter fraß sich der Bohrmeißel dabei zunächst durch die mächtigen Sedimentschichten, die sich in den letzten 65 Millionen Jahren über dem Krater abgelagert hatten. Dann begann es spannend zu werden: In den Bohrkernen tauchte eine gut hundert Meter dicke Schicht auf, deren Gesteine deutliche Spuren von extremer Druck- und Hitzeeinwirkung zeigten. Dieses so genannte Impaktit, eine durcheinander geworfene ch hatte das ganze Szenario für ein Mischung aus geschmolzenem und wieder erstarrtem plötzliches, katastrophales Ereignis Impaktglas, durch Schockeinwirkung in ihrer Kristallvorliegen. Jan Smit struktur veränderten Mineralien und sonstigen Trümmern zeigte an, dass die Ebene des Einschlags erreicht sein musste. Tatsächlich förderte die Bohrung danach bis zu ihrem Endpunkt bei 1.511 Metern Tiefe vor allem charakteristische Kreidezeitablagerungen an die Oberfläche. Kaum waren die Bohrkerne geborgen, stürzten sich Wissenschaftler aus aller Welt mit Feuereifer auf die Proben. Im Fokus des Interesses stand dabei nicht nur das Impaktit, sondern auch die Kreidezeitrelikte. Denn genau dieser Übergang, zwischen der Ära der Dinosaurier und dem Moment des Impakts, barg wertvolle Hinweise auf die dramatischen Ereignisse der damaligen Zeit.
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Der Streit dauert an... Im Jahr 2004 war es dann soweit: Die ersten mit Spannung erwarteten Auswertungen der Bohrungen erschienen. Doch sie trugen nicht gerade dazu bei, die nach wie vor vorhandenen Unklarheiten über die Rolle des Chicxulub-Einschlags als „Dinokiller“ zu beseitigen. Ganz im Gegenteil: Sie heizten die Diskussionen noch weiter an. Bohrkernstücke der Yax-1 Bohrung. Die Grenzschicht liegt etwa in der Mitte der fünften Reihe, links davon Ejekta, rechts die Kalksteinschicht. © Jan Smit Stein des Anstoßes dabei: Eine rund 50 Zentimeter dicke Kalksteinschicht mit Fossilien aus der Kreidezeit, die seltsamerweise nicht unter, sondern über der Einschlagsschicht lag. Erst darüber glaubten einige Forscher eine Schicht zu erkennen, die möglicherweise dem K/T- Grenzton in anderen Aufschlüssen entsprach. Wie war das zu erklären? Im Prinzip gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder waren alle bisherigen Datierungen falsch und der ChicxulubEinschlag hatte sich nicht direkt an der K/T-Grenze, sondern einige hunderttausend Jahre früher, noch in der Kreidezeit ereignet, oder aber die darüberliegenden Kreidezeit-Ablagerungen waren ein Artefakt, ein Resultat heftiger Umwälzungen und Einbrüche nach Bohrkernlager: Hier werden zahlreiche Proben der K/T-Grenzdem Impakt. schicht aus aller Welt gelagert. © Harald Frater Aber welche Erklärung war die richtige? Genau darüber entbrannte ein heftiger und bis heute anhaltender Streit zwischen Gerta Keller, einer Paläontologin der Princeton Universität und Jan Smit, dem K/TExperten der Freien Universität Amsterdam. Keller sprach – und spricht noch immer – dem ChicxulubImpakt hartnäckig den Status als „Dinokiller“ ab. Ihre Begründung: Die Bohrung zeige eindeutig, dass er sich bereits 300.000 Jahre vor dem Ende der Kreidezeit und damit auch vor dem Ende der Dinosaurier ereignet habe. Das Massensterben am Ende der Kreidezeit aber sei zum einen allmählich geschehen, zum anderen ein Ergebnis des Zusammenwirkens vieler Faktoren. In jedem Fall aber müsse es nach Chicxulub noch einen weiteren Einschlag gegeben haben und dieser sei für die K/T-Grenze entscheidend gewesen.
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Demgegenüber vertritt Smit – und mit ihm die Mehrheit der Impaktforscher – die Ansicht, dass Chicxulub nach wie vor der überzeugendste und einzige Kandidat für den „Dinokiller“ sei. Die in der Yax-1 Bohrung entdeckte Kreidezeitschicht, so seine Argumentation, liege nur deshalb über dem Impaktgestein, weil eine gewaltige Scholle des durch den Impakt aufgestellten und aufgetürmten Sediments abgekippt und über das Impaktgestein gerutscht sei. Ein Verhalten, dass auch bei anderen Kratern vielfach beobachtet worden sei. Zudem fehle jeder Hinweis auf einen weiteren, zweiten Einschlag nach Chicxulub. Smit dazu: „300.000 Jahre vor oder nach den Impakt-Ablagerungen von Chicxulub habe ich niemals irgendetwas derartiges gefunden, keine Schichten, die Sphärulen oder Ejekta oder ähnliches enthielten. Und ich mache das nicht erst seit den letzten Jahren und auf die Schnelle, nur weil es jetzt modern geworden ist. Ich weiß, wovon ich rede.“ Keller hat ihre Argumentation inzwischen mit Daten aus weiteren Aufschlüssen unter anderem in New Mexico unterfüttert, wo sie mehrere Lagen von Mikrotektiten unterhalb der K/T-Grenze – also noch in KreideJan Smit (links), hier neben seinem zeitablagerungen – fand. Doch nach Ansicht gleich mehrerer Berufskolamerikanischen Kollegen Kevin Pope, legen hat die Forscherin zwar nicht die Mikrotektite, wohl aber die Lage gehört zu den langjährigen Verfechtern der Chicxulub-Hypothese. © NASA/JPL der K/T- Grenze falsch interpretiert. Offiziell ist die K/T-Grenze als die Basis der nur wenige Millimeter dicken Iridiumanomalie definiert. Die Princeton-Geologin jedoch setzt die Grenze in ihren Bohrkernen erst dort, wo die ersten Foraie Linie war nicht umsonst da. Sie miniferen-Fossilien des Tertiär beginnen – viel bedeutet, dass etwas aufgehört hatte und zu spät und zu willkürlich, so die Kritik. Und etwas Neues sehr plötzlich anfing. Jan Smit auch Smit wendet ein: „Ihre einzigen Belege stammen aus dem Gebiet des Golf von Mexiko. Aber das ist eine Region, die komplett durcheinander geworfen wurde: Der Aufschluss am Brazos River in Texas von Erdbeben geschüttelt, überall Erdrutsche, jede Menge Tsunamiablaspricht eher gegen die „Zwei-Impaktegerungen, Massenbewegungen – alles Mögliche. Die gesamte Region ist Theorie“ von Greta Keller. © Jan Smit extrem instabil – und ausgerechnet daher stammen alle ihre Beweise.“ Inzwischen haben sich längst noch weitere Forscher in die Debatte eingeschaltet und präsentieren nun ihrerseits Belege für die eine oder andere Fraktion. Sogar der „Vater“ der Impakttheorie, Walter Alvarez, nahm sich gemeinsam mit einer Doktorandin noch einmal die italienischen Ablagerungen vor und analysierte Millimeter für Millimeter die Iridiumgehalte der gesamten fünf Millionen Jahre vor und nach dem K/TGrenzton. Wenn sich irgendwo die Spur eines weiteren großen Impakts verbarg, musste sie hier zu finden sein. Doch dem war nicht so: „Außer der K/T-Grenze gab es in den hunderten und hunderten von Proben nicht einen einzigen Ausschlag“, berichtet Smit.
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Anfang 2006 wurde die Argumentation von Smit und der „Pro-Chicxulub“-Fraktion erneut gestärkt: Ein deutsch-belgisches Wissenschaftlerteam unter Leitung von Peter Schulte von der Universität Erlangen-Nürnberg hatte zwei Bohrkerne aus der Gegend am Brazos River in Texas ausgewertet. In ihrer Veröffentlichung zogen die Forscher ein eindeutiges Fazit: „Die ausgezeichnete Korrelation der in Brazos gefundenen Chicxulub-Ejekta mit den K/T-Ejekta weltweit liefern keinerlei Belege dafür, dass Chicxulub sich vor der K/T-Grenze ereignet hat. Sie lässt stattdessen eine eindeutige Positionierung der K/T-Grenze genau auf dem Horizont der Ereignisablagerungen zu.“ Auch diese Feststellung hat die Debatte um das Für und Wider Auch deutsche Wissenschaftler sind an der Erforschung des Chicxulub-Einschlags beteiligt. Hier eine 2D- und 3D-Darstellung der magnetischen Anomalien des von Chicxulub als „Dinokiller“ inneren Chicxulub-Kraterringes, ermittelt im Rahmen von „MEXAGE“ (Mexico Aeronicht beendet. Nach Einschät- geophysical Experiment). © U. Meyer, GFZ Potsdam zungen von Forschern wird dies auch noch eine ganze Weile so weiter gehen – was jedoch keineswegs schaden muss: „Es gibt nichts Besseres für einen Wissenschaftler, als jemanden zu haben, der deine Ergebnisse anzweifelt. Es hält dich lebendig“, erklärt Smit. Und immerhin gelten die Ablagerungen der K/ T-Grenze nicht zuletzt aufgrund dieses Streits als die heute am besten untersuchten Impaktspuren überhaupt. Über keinen Einschlag wurde so viel geforscht wie über diesen. Bis heute sind es deshalb vor allem die Erkenntnisse aus dem Chicxulub-Impakt, die unsere Vorstellung von möglichen Auswirkungen eines katastrophalen Meteoriteneinschlags auf der Erde bestimmen. Ob Klimaforscher, Geophysiker, Zoologen oder Botaniker – sie alle stützen sich bei ihren Prognosen über die Folgen eines „Big One“ auf Chicxulub und das Massenaussterben am Ende der Kreidezeit. Auch die Experten, die in der Dokumentation „Armageddon – Der Einschlag“ mitwirkten, gehören dazu.
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Fragen an: Jan Smit Der Geologe ist Professor an der Freien Universität Amsterdam in den Niederlanden. Sein Schwerpunkt ist die so genannte „Eventstratigrafie“, die Auswertung von geologischen Ablagerungen, die zu Zeiten besonderer Ereignisse und Umbruchsphasen in der Erdgeschichte entstanden sind. Die Erforschung der K/T-Grenze begleitet ihn bereits fast sein gesamtes Forscherleben.
Was waren ihre ersten Hinweise darauf, dass vor 65 Millionen Jahren etwas Katastrophales geschehen sein muss? Als ich in den frühen 1970er Jahren ins Feld ging, untersuchte ich den Übergang der Kreidezeit zum Tertiär, oder genauer, meine Aufgabe war es, den genauen Beginn des Tertärs zu bestimmen. In dieser Gegend, im südlichen Teil von Spanien, ist der ehemalige Meeresboden durch Gebirgsbildung angehoben und liegt nun an Land. Man muss nicht bohren, man geht einfach dahin, wo die Schichten gefaltet sind und folgt ihnen. Ich musste die ganze Zeitperiode von 65 Millionen bis hoch auf 35 oder so untersuchen. Aber der Anfang war immer leicht, denn es gab da diese Linie im Gestein. Und das war es: Ich versuchte ursprünglich, die Geschichte des südlichen Spanien herauszufinden, interessierte mich aber dann mehr und mehr für diese Linie, die eigentlich dort nicht sein sollte. Denn sie ist ja nicht umsonst da. Sie bedeutet, dass etwas sehr plötzlich aufhörte und dann etwas anderes begann. Im Rahmen ihrer Arbeiten untersuchten Sie ja besonders die Foraminiferen, winzige marine Einzeller. Was stellten Sie da fest? Ich begann die Veränderungen in der Population der Einzeller vor der K/T-Grenze anzuschauen, um zu sehen, ob es irgendetwas vor dieser Linie gibt, das mir sagt, was geschehen sein könnte. Ich wusste, dass planktische Foraminiferen auf
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bestimmte Veränderungen in ihrer Umwelt reagieren: Wenn man die Chemie und Schichtung des Ozeans ändert, ändern sie sich auch. Wenn es beispielsweise mehr Vulkanismus gibt, werden mehr giftige Stoffe ins Meer gespült und sie reagieren. Aber sie taten es nicht! Den ganzen Weg bis hin zur Linie – nichts. Und dann – zack – sind sie weg. Immer das gleiche Bild: Nichts passiert, dann kommt darüber diese fünf bis zehn Zentimeter dicke, schwarze Tonschicht. Und darüber sieht man langsam neue Arten erscheinen, die es vorher dort nicht gegeben hat. Eine Art nach der anderen. Ich habe das dann mit Proben aus Tunesien und anderen Orten in Spanien und auch im Pazifik verglichen und man sieht das gleiche Verhalten, aber mit anderen Arten und an anderen Orten. Gab es zu dieser Zeit bereits in anderen Forschungsrichtungen Indizien für ein Ereignis vor 65 Millionen Jahren? Es gab ein paar isolierte Publikationen. Einige berichteten von einer Readaptation neuer Faunen, andere dokumentierten, dass davor sehr wenig Veränderungen auftraten. Ich stieß auf eine Veröffentlichung eines neuseeländischen Forschers, der ebenfalls das Gleiche berichtete: Nichts passiert, dann zack, eine Linie im Gestein. Woher wussten Sie, dass das ein globales Phänomen war? Sie hatten ja vor allem in Spanien
geforscht, andere Wissenschaftler in anderen ebenfalls vereinzelten Orten. Der Bestand an Foraminiferen ist ein globaler. Wenn man nur den Bestand einer Hemisphäre auslöscht, wären sie noch immer da. Sie würden einfach in die entstandene Lücke zurück wandern. Wenn man daher die Foraminiferen loswerden will, ist das wie mit Malariamücken: Man muss sie alle ausrotten, was sehr schwer ist. Aber sie starben aus, fast vollständig. Daher dachte ich mir: Wenn schon so etwas mit den Foraminiferen passiert, dann ist es ein Leichtes, die Dinosaurier ebenfalls zu töten. Denn es ist sehr viel leichter, Dinosaurier auszurotten als planktische Foraminiferen.
strophen.“ Das gefiel mir. Und darin sah ich dann zum ersten Mal ein Diagramm, dass die statistische Häufigkeit von Einschlägen zeigte. Die Wissenschaftler hatten dies auf der Basis der Anzahl der Krater auf dem Mond kalkuliert. Selbst nach 30 oder 40 Jahren sind die Grundzüge ihrer Kalkulation noch korrekt. Und sie hatten berechnet, dass einmal alle hundert Millionen Jahre ein Objekt von rund zehn Kilometern Größe die Erde treffen würde. Und das ist genau die Wahrscheinlichkeit, nach der man suchen würde, wenn es um ein Ereignis vor 65 Millionen Jahren geht. Ich hatte mich aber noch nicht entschieden. Und dann stieß ich auf den Artikel von Walter Alvarez.
Hatten Sie denn damals schon eine Idee, was die Ursache dieses Massenaussterbens sein könnte? Nein. Ich vermutete, dass vielleicht kosmische Strahlung oder so etwas im Spiel sein könnte, und dachte auch schon an einen Meteoroiteneinschlag. Ich begann mir die Häufigkeit solcher Ereignisse anzuschauen – etwas was zu dieser Zeit noch nicht gut untersucht war. Ich erinnere mich daran, wie ich auf dem Weg zu einer Exkursion in den Harz mit einigen meiner Studenten im Exkursionsbus saß und einen Artikel las, in dem es hieß: „Meteoriteneinschläge – kleine Sternschnuppen und erderschütternde Kata-
Das muss ihnen gefallen haben. Ich war aus dem Häuschen! Ich meine die Leute hielten es für verrückt, damals. Als ich Anfang der 1970er-Jahre die Ergebnisse meiner Dünnschnitte zum ersten Mal meinem damaligen Professor zeigte und ihm erklärte, dass selbst in diesen die K/T-Grenze eine dünne Linie war, die gerade mal zehn Jahre ausmachte, sagte ich ihm: „Ich muss das veröffentlichen, das sind weniger als zehn Jahre!“ Er sagte: „Das ist lächerlich, das kannst Du nicht tun.“ Ich kam davon, indem ich einige Dutzend Jahre daraus machte.
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Ein Einschlag eines Asteroiden von mehr als eineinhalb Kilometern Größe wäre eine globale Katastrophe. Es würde Ihnen den Tag vermiesen, wahrscheinlich sogar das ganze Leben – egal wo Sie leben oder wo er einschlägt. Alan Harris
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Mit der unvorstellbaren Sprengkraft von 100 Mio. Megatonnen TNT explodiert der 12 Kilometer große Bolide bei seinem Aufprall im Golf von Mexiko.
Der Einschlag Die Nacht vor dem Einschlag, New York, USA
Durch die Straßen der Metropole weht ein leichter Wind aus südlicher Richtung. Es ist Mitte Juli, die Hitze des Tages weicht den angenehm lauen Temperaturen der kommenden Nacht. Ein friedlicher Abend, seltsam friedlich: In den Häuserschluchten Manhattans ist es stockdunkel. Die elektronischen Anzeigetafeln auf dem Times Square sind ausgeschaltet. Am Broadway, wo die Stadt normalerweise Tag und Nacht im Rhythmus des Verkehrs pulsiert, herrscht Totenstille. Kein Mensch ist auf den Straßen zu sehen, und auch der benachbarte Financial District ist wie leergefegt. Schon vor einiger Zeit wurde das Geschäft an der Börse ausgesetzt, Handel war nicht mehr möglich. Seitdem der Einschlagsort im Golf von Mexiko bekannt ist, wissen die New Yorker, dass es auch sie betreffen wird. Nur 3.000 Kilometer Luftlinie trennt sie von der mexikanischen Golfküste. Die eigentliche Einschlagsexplosion wird voraussichtlich nicht soweit reichen, wohl aber nachfolgende Erdbeben und Tsunamis, die sich aus der Golfregion ausbreiten. Eine geordnete Evakuierung war auch in der wichtigsten Metropole der Welt kaum möglich. Die acht
Seltsam ruhig ist es in der Megametropole New York in der Nacht vor dem Einschlag. In der „Stadt, die niemals schläft“, gehen die Lichter aus.
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Millionen Einwohner mussten größtenteils selbst für ihre Sicherheit sorgen. Und doch ist es den meisten trotz völlig verstopfter Straßen und Flughäfen gelungen, sich ins Hinterland abzusetzen. Nur wenige sind zurückgeblieben, die sich in den Straßenschluchten der Stadt verlieren. Vor den Toren des Bronx Zoo, einem der größten zoologischen Gärten der Welt, sind in der Stille vereinzelt die Rufe der Tiere zu hören. Der Tag des Einschlags, Djoum, Elfenbeinküste
In der Nähe des Flusses wurden Wasserbüffel gesichtet. Die Baka wollen gerade zur Jagd aufbrechen, als ein leuchtend heller Meteorit über das Gebiet zieht. Es ist ein kleinerer Brocken im Geleit des Kometen, der über Afrika in die Atmospäre eindringt und verglüht.
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Der Clan der Baka hat sich versammelt um zu diskutieren. Lomama und die anderen Stammesmitglieder versuchen, eine Lösung für die Situation zu finden. Sie haben einfach kein Jagdglück. Ein paar kleinere Tiere reichen nicht aus, um die Mägen ihrer Kinder zu füllen. In den früher tierreichen Regenwäldern gibt es immer weniger Beutetiere. Für die Baka einfach unerklärlich. Aber was können sie tun? Ein Späher kehrt in das Dorf zurück. Er kommt vom Fluss und hat gute Nachrichten – eine größere Gruppe Wasserbüffel zieht ganz in der Nähe vorbei. Schnell unterbrechen sie ihre Versammlung. Lomama verabschiedet sich von seiner Familie, als es im Dämmerlicht des Waldes plötzlich taghell wird. Alle blicken erstaunt nach oben. Donner hallt über die Lichtung und ein riesiges Feuer zieht weit oben über die Wipfel am Himmel hinweg. Dann ist der Spuk vorbei. Es sind kleinere Vorboten, die über Afrika in die Erdatmosphäre eindringen und dort verglühen. Zur gleichen Zeit, Merida, Mexiko
In Yucatan ist die Luft bereits am frühen Morgen drückend und schwül. Der Himmel ist wolkenverhangen und trotzdem herrschen fast 30 Grad Celsius. Die Gegend liegt in der Hurrikanregion des Atlantik. Zu dieser Jahreszeit muss fast täglich mit Stürmen gerechnet werden. Als die Wolkendecke aufreißt und ein leuchtender Feuerball auf die Küste zurast, ist das Land in gleißendes Licht getaucht.
Bergland von Vera Cruz, Mexiko
Fernando Martinez ist müde. Kraftlos klammert er sich an einem Zaun fest. Er steht vor den Baracken eines kleinen Militärstützpunktes. Aber auch hier ist kein Mensch. Als sich auf sein Rufen niemand meldet, geht er durch die geöffnete Schranke. Vor drei Tagen ist ihm das Benzin ausgegangen. Die Tankstellen am Straßenrand waren verlassen, kein Sprit in den Zapfsäulen. Auf den Nebenstraßen begegnete ihm niemand, der ihm hätte sagen können, dass er sich mitten in der Hauptgefahrenzone befindet. Er hatte gesehen, dass militärische Hubschrauber über dem Gebiet kreisten. Aber in dieser Situation stellt er sich keine Fragen. Er sehnt sich danach, Frau und Kinder in die Arme zu schließen. Noch immer trennen ihn mehr als 900 Kilometer von zu Hause. „Das könnte die Rettung sein, vielleicht finde ich einen Wagen...“, Fernando schaut sich vorsichtig um. Nur ein paar Hunde rennen über das Gelände, sie sind friedlich. Es macht den Eindruck, als ob die Soldaten alles Hals über Kopf verlassen haben. Teilweise brennt noch Licht, die Türen sind nicht verschlossen und in den Schränken liegen Kleidung und Lebensmittel. Unterhalb der normalen Räume findet Fernando sogar eine Art Schutzkeller. Er ruht sich kurz aus und packt ein paar Sachen ein, die er gebrauchen kann. Die Leute haben es zurückgelassen, niemand wird ihn später danach fragen. Alles was jetzt zählt, ist nach Hause zu kommen. Am Eingang der Baracke hängt ein Telefon. „Vielleicht funktioniert es ja noch...“ Fernando nimmt den Hörer ab. Draußen ist es seltsam still. Als er zu wählen beginnt, wirft er einen Blick in den Hof. Loses Gestrüpp wird vom Wind über den vertrockneten Boden geweht. Und dann wird es hell. Ein weißer Ball, um vieles größer als die Sonne, erleuchtet den Horizont. Eine riesige Feuerkugel rast direkt auf die Baracken zu. Er stürzt die Treppen hinunter in den Keller. Die Hunde folgen ihm. Hinter sich wirft er die schwere Stahltür ins Schloss. Es ist vollkommen dunkel, als er hört, wie über ihm die Hölle losbricht.
Auf der Suche nach seiner Familie ist Fernando Martinez in der Golfregion hängen geblieben. Ohne es zu wissen, befindet er sich in der direkten Gefahrenzone.
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Der Einschlag
Was Fernando nicht weiß: Er ist nur 700 Kilometer von der Einschlagsstelle entfernt. Innerhalb von vier Sekunden hat die Hitzestrahlung den Stützpunkt erreicht. Sie ist fast 500-mal stärker als normales Sonnenlicht. Binnen Sekunden geht alles in Flammen auf. Voller Angst steigt er immer weiter hinunter in die Kellergewölbe, als plötzlich die schweren Stahlschränke an den Wänden wie Spielzeugmöbel zu wackeln beginnen und umfallen. Starke Erdbeben erschüttern den Boden. Fernando sucht unter einem der Tische Schutz. Kurze Zeit bleibt es ruhig. Er schaut auf seine Uhr. Weitere fünf Minuten verstreichen, als von oben lautes Heulen und Einschläge zu hören sind. Das heiße, aus dem Krater herausgeschleuderte Material geht auf dem Gebäude nieder. Im Keller wird es unerträglich heiß. Fernando wird fast ohnmächtig, die Hitze brennt auf der Haut. Als es wieder still wird, schläft er erschöpft ein. Eine halbe Stunde später weckt ihn noch einmal lautes Stürmen von oben. Erst jetzt, 35 Minuten nach dem Einschlag, hat die Druckwelle die Kaserne erreicht. Mit Windgeschwindigkeiten, die selbst einen Tornado bei weitem übertreffen, fegt sie über das hinweg, was vom Gebäude noch übrig ist. Bäume werden entwurzelt, Häuser einfach umgeblasen. Mauna Kea, Hawaii
Houston, der größte Hafen im Golf von Mexiko, liegt nur etwa 1.100 Kilometer von der Einschlagstelle entfernt. Innerhalb weniger Sekunden wird die Stadt ein Opfer der Flammen.
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Auf einen Schlag gehen im Kontrollraum alle Lichter aus. Noah und Shiang sitzen im Dunkeln. Für wenige Sekunden sieht Shiang überhaupt nichts. Dann hört sie Noahs Stimme: „Impakt – es ist soweit. Das muss die EMP-Welle sein.“ Stimmt, Shiang hatte davon gehört. Eine starke Explosion wie bei einer Atombombe konnte einen elektromagnetischen Puls auslösen. Alle elektronischen Geräte werden dadurch auf einen Schlag lahm gelegt. Wer hätte gedacht, dass die Auswirkungen bis Hawaii reichen würden? Fast 7.000 Kilometer! „Es muss eine gewaltige Explosion gewesen sein.“
Impakt: Der Meteorit kollidiert nahezu ungebremst mit der Erdoberfläche (Simulation). © DLR
Der Einschlag Was sagt die Wissenschaft? Der Komet nähert sich dem Einschlagsort. Noch 500 Kilometer, 100, 50 – rasend schnell tritt er in die Erdatmosphäre ein – ohne große Konsequenzen. Die Schutzhülle unseres Planeten, die uns sonst so zuverlässig vor kosmischer Strahlung und kleineren Meteoriten bewahrt, hat gegen ihn keine Chance. Kein Verglühen, kein Bremseffekt, nichts. Viel zu gewaltig ist der kosmische Bolide. hicxulub hat ein Riesenloch Wenn seine Vorderseite schon den Untergrund Atmosphäre gerissen. Jay Melosh erreicht hat, ist seine Rückseite noch nicht einmal in den innersten, dichten Bereich der Lufthülle eingedrungen. Denn in einigen Regionen der Erde liegt die Obergrenze für diese Zone bei nur acht Kilometern – gerade einmal gut der Hälfte des Kometendurchmessers. „Im Prinzip schlägt das Projektil einfach nur ein Loch durch die Atmosphäre und drückt die vor ihm liegende Luft direkt in den Untergrund“, erklärt Jay Melosh, Physiker an der Universität von Arizona und Spezialist für die Simulation solcher Einschläge. „Die Atmosphäre wird an der Vorderseite des Objekts zwar zusammengepresst, hat aber noch nicht
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Der Einschlag
Das Meer im Golf von Mexiko ist nur wenige hundert Meter tief. © SXC
einmal Zeit, eine Druckwelle einmal ganz durch das Projektil hindurchzuschicken, bevor schon der Boden erreicht ist.“ Die Passage durch die Luft geht nahezu spurlos an dem Kometen vorüber. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hat er sie durchstoßen. Ähnlich ergeht es auch der im Verhältnis zur Atmosphäre geradezu erbärmlich dünnen Wasserschicht der karibischen See: Das Meer vor der Halbinsel Yucatan ist nur wenige hundert Meter tief, in Küstennähe noch flacher. Für den mehr als zehn Kilometer großen Gesteinsbrocken ist dies nicht viel mehr als ein dünnes Häutchen. „Für den Einschlagsprozess selbst ist das Wasser in diesem Fall absolut unwichtig“, erklärt auch Robert Weiss, Tsunamiforscher der amerikanischen Behörde für Ozeanographie und Atmosphärenforschung (NOAA). Der Komet rast weiter, als gäbe es die Wasserschicht nicht.
Der Feuerball
Der Feuerball des Einschlags gleicht dem einer Atombombenexplosion. © DOE
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Der erste Kontakt: Die Vorderseite des Kometen berührt den Boden. Doch dieser kann der Wucht des Einschlags nicht standhalten und wird schlagartig nach unten gedrückt. „Es entsteht eine Zone extrem hohen Drucks zwischen dem Kometen und der Bodenoberfläche. Während sich der Komet weiter abwärts bewegt, weitet sich diese Druckzone blitzartig aus. Sie umfasst nahezu sofort den gesamten Kometen und einen ungefähr ebenso großen Teil des Untergrunds“, so Melosh. Im Fall des „Dinokillers“ dauerte dieser Prozess gerade einmal zwei Sekunden. Noch während die Schockwelle mit Überschallgeschwindigkeit durch das Gestein rast, sorgt ihre gewaltige Energie dafür, dass die gesamte Masse des Kometen buchstäblich in Rauch aufgeht: Das Gestein verdampft und bildet eine Wolke von extrem heißem Gas und Plasma. Bis zu 10.000 Grad erreicht der Feuerball. Das Prinzip dahinter hat fast jeder schon einmal beim Aufpumpen eines Fahrradreifens erlebt: Die Pumpe wird allmählich warm, weil die Luft in ihrem Inneren zusammengepresst wird. Während die Handpumpe allerdings noch nicht einmal zum Braten eines Spiegeleis reichen würde, setzt der Komet in Sekundenbruchteilen die Energie von mehreren Millionen bis Milliarden Tonnen TNT frei. Der entstehende Feuerball explodiert förmlich aus dem Einschlagskrater heraus. Mit 25 Kilometern pro Sekunde – das entspricht 90.000 Kilometern pro Stunde – türmt er sich bis zu 40 Kilometer weit in die Höhe. In ihm mischen sich heiße Gase und supererhitztes geschmolzenes Gestein. Nach und nach kondensiert immer mehr Gas zu glühendheißen Gesteinstropfen. Dabei wird Wärmestrahlung frei, die alles Leben
in Sichtweite des Feuerballs vernichtet. „Es würde aussehen wie eine Atombombenexplosion. Oder wie ein Sonnenaufgang – nur viel größer als die normale Sonne und ungleich heißer“, beschreibt Melosh den Anblick. „Wer den Feuerball über dem Horizont sehen kann, wird wahrscheinlich sterben, tödlich verbrannt durch seine Hitzestrahlung.“
Wer den Feuerball über
dem Horizont sehen Schneller als ein Blitz kann, wird wahrscheinlich sterben. Jay Melosh
Die extremsten Bedingungen im Inneren des Feuerballs verändern selbst die Struktur der Atome und Moleküle: Die Energie reißt Elektronen aus der Hülle der Luftmoleküle heraus, das Ladungsgleichgewicht geht verloren und es entsteht eine Mischung aus positiv geladenen Ionen und freien Elektronen. „Diese werden durch verschiedene Prozesse beschleunigt. Sie erreichen sehr, sehr große Geschwindigkeiten. Und diese beschleunigten, geladenen Teilchen erzeugen elektromagnetische Strahlung“, erklärt der Astronom und Physiker Alan Harris das Geschehen. Es entsteht ein elektromagnetischer Puls, der zwar nur Sekundenbruchteile andauert, aber enorme Energie freisetzt. Unsichtbar, lautlos und 50-mal schneller als ein Blitz rast dieser Puls vom Einschlagsort aus gleichzeitig durch Luft und Boden. Trifft er auf einen metallischen Gegenstand oder einen Stromkreis, erzeugt dies in einem Milliardstel Teil einer Die beim Einschlag freigesetzte Energie ionisiert die Atome der Luft und lässt PolarSekunde eine extreme Hochspan- lichter entstehen. © US Airforce nung von mehreren Kilovolt und Stromstärken im KiloampereBereich. Zuviel für jedes normale Elektrogerät oder Stromkabel. Computer, Fernseher, elektrische Anlasser von Motoren – sie alle fallen abrupt aus oder brennen gleich ganz durch. An weiter entfernten Orten geschieht dies wie von Geisterhand und scheinbar ohne Grund, denn alle anderen Anzeichen für den Einschlag sind dort noch längst nicht zu spüren. Im Gegensatz zu den auf einen engen Frequenzbereich beschränkten Radio- oder Mobilfunkwellen deckt der elektromagnetische
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Der Einschlag
Puls einen breiten Wellenbereich ab – gewissermaßen „Hochspannung auf allen Kanälen“. Auch größere metallische Objekte wie Eisenplatten, Drahtzäune, Stahlträger oder Eisenbahnschienen wirken dadurch plötzlich wie überdimensionale Antennen und werden aufgeladen. Nicht einmal Blitzableiter oder Überspannungschutze sind dem gewachsen. Auch sie haben den extremen Stromstärken nichts entgegen zu setzen und reagieren bei weitem nicht schnell genug, um den enormen Spannungsanstieg in nur Sekundenbruchteilen abzufangen. Satelliten in der Erdumlaufbahn sind ebenfalls chancenlos: Ihre Elektronik verschmort, Navigation und Antriebssteuerung versagen. Jegliche Form von satellitengestützter Kommunikation wäre Der elektromagnetische Puls des Einschlags ist schneller und stärker als der Blitz. damit völlig unterbrochen oder © NPS zumindest stark eingeschränkt. Doch wie weit reicht dieser Effekt? Wird der von Yucatan ausgehende Puls New Yorks Wall Street lahm legen? Was ist mit Tokio, Hongkong, Paris oder Berlin? Bei dieser Frage müssen bisher selbst die Experten passen: „Ich glaube niemand kann die Frage beantworten. Wir haben keine Erfahrungen mit einem solchen Phänomen, mit diesen Maßstäben. Es ist bisher nur im Zusammenhang mit nuklearen Testexplosionen erforscht worden“, erklärt Harris. as bedeutet, dass ein Plasma entstehen wird. Eine dieser Explosionen ereignete sich im Sommer 1962 auf dem Tausende von Grad heiß. Es wird zur Trennung der Johnston Atoll, einer Koralleninsel Elektronen von den Atomkernen kommen. Alan Harris im Nordpazifik. Auf der seit dem Zweiten Weltkrieg von den USA als Atomwaffen-Testgebiet genutzten Insel fand am 9. Juli 1962 ein spezieller Test im Rahmen der „Operation Fishbowl“ statt. Er sollte die Auswirkungen einer Atombombenexplosion in großer Höhe zeigen. Eine Trägerrakete transportierte dafür den 1,4 Megatonnen Sprengkopf „Starfish Prime“ über die Atmosphäre hinaus
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und warf ihn dann ab. In gut 400 Metern Höhe detonierte die Atomladung. Die Explosion war weithin sichtbar, ihre Druckwelle ereichte nicht nur den Boden sondern beschädigte auch eine Reihe von Satelliten im niedrigen Erdorbit. Doch das war längst nicht alles: Noch im Moment der Explosion gingen plötzlich im knapp 1.300 Kilometer entfernten Honolulu alle Lichter aus, Alarmanlagen begannen loszuheulen und sämtliche Sicherungen sprangen heraus. Gleichzeitig mussten die den Test beobachtenden Militärangehörigen feststellen, dass sie vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten waren: Im Umkreis von fast 1.000 Kilometern war der gesamte Funkverkehr zusammengebrochen. Der elektromagnetische Puls hatte nicht nur alle elektronischen Geräte und Stromleiter am Boden lahm gelegt, er hatte auch die Ionosphäre, die für die Reflektion und Verbreitung der Funkwellen entscheidende Atmosphärenschicht, so stark gestört, dass noch Stunden später kein Funkkontakt aufgebaut werden konnte. Die bei diesem Test eingesetzte Bombe hatte immerhin die nicht unbeträchtliche Sprengkraft von 1,4 Megatonnen, aber im Vergleich zu den Millionen von Megatonnen des Einschlags sind dies gerade mal die sprichwörtlichen „Peanuts“. Entsprechend schwer ist es selbst für die Forscher abzuschätzen, wie weit der elektromagnetische Puls nach einem solchen Impakt reichen würde. „Innerhalb eines Radius von mehreren tausend Kilometern würde es sowieso eine gewaltige Schockwelle geben. Sie zerstört alle Gebäude, Leute sterben – hier ist es im Prinzip egal, denn die Menschen sind ohnehin alle tot“, so Harris. Seiner Ansicht nach könnte es aber durchaus sein, dass der Puls über diesen Bereich hinaus geht und dann tatsächlich nur die elektrischen und metallischen Objekte betroffen wären. „Welche Ausmaße das genau hätte, kann man wirklich nicht sagen. Es ist nur einer von vielen verschiedenen Effekten, die unter diesen Umständen auftreten würden.“
Bei einem Atomwaffentest auf dem Johnston Atoll im Jahr 1962 reichte der elektromagnetische Puls bis nach Hawaii. © NASA/Landsat 7
Geschmolzenes Gestein regnet in die Erdatmosphäre hinein. © Filmszene
Der Himmel wird zum Glutofen Zurück zum Einschlagsort: Hier überschlagen sich jetzt die Ereignisse: Binnen Sekunden durchstößt die Oberseite des Feuerballs die Atmosphäre. Er breitet sich aus und hüllt bald die gesamte Erde ein – wahrscheinlich innerhalb von wenigen Stunden. Gleichzeitig beginnt durch die Kälte das verdampfte Gestein in der über der Atmosphäre liegenden Wolke zu kondensieren. Immer mehr Gesteinstropfen bilden sich – und fallen von oben wieder in die Atmosphäre hinein. Hier jedoch, in rund 50 Kilometern Höhe, wird ihr Fall zunächst abgebremst, die Lufthülle wird
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dichter. Doch genau diese „Luftbremse“ hat fatale Folgen, denn die noch immer enorm hohe Geschwindigkeit und Wärme der Partikel wird jetzt in Hitzestrahlung umgewandelt. „Wir können berechnen, wie viel Energie dabei freigesetzt wird: Es sind Milliarden von Millionen von Joule – so viel, dass weltweit überall die obersten zehn bis zwanzig Zentimeter der Ozeane verdampfen““, erklärt Melosh. Wie ein gigantischer atmosphärischer Grillofen strahlt die Hitze vom Himmel herab auf die Erde. Die gesamte Erdoberfläche und alles, was sich auf ihr befindet, werden auf bis zu 400 Grad aufgeheizt. Zu viel für alle Lebewesen, die dieser thermischen Strahlung ungeschützt ausgesetzt sind. Wer sich nicht unter der Erde oder im Wasser in SicherDie Hitzestrahlung verwandelt den heit bringen kann, wird unweigerlich verbrennen oder bei lebendigem Himmel in einen Glutofen © NPS Leibe geröstet. Selbst dichte Wolken bieten vor dieser Strahlung keinen Schutz: „Die Daten, die wir für tropische Gewitterwolken bekommen haben, zeigen, dass die gesamte in ihnen gespeicherte Wassermenge gerade einmal den zehn Zentimetern entspricht, die beispielsweise von der Meeresoberfläche sofort verdampfen würden“, erklärt Melosh. „Die Wolke würde verdampfen bevor die Strahlung aufhört – zumindest bei einem Einschlag der Größe von Chicxulub.“ Ein bis zwei Stunden lang wird nach Ansicht der Forscher diese tödliche Strahlung in voller Intensität anhalten, erst dann lässt sie allmählich, über mehrere Tage hinweg nach. Nach dem Impakt des Fragments A des Kometen ShoemakerLevy-9 auf dem Jupiter. Die Einschlagswolke steigt 1.000 bis In viel kleinerem Maßstab haben Wissenschaftler 1.500 Kilometer über die Atmosphäre des Planeten hinaus. einen solchen Hitzestrahlungs-Effekt bereits 1994 © STScI/HST Jupiter Imaging Science Team bei dem Einschlag der Bruchstücke des Kometen Shoemaker-Levy-9 auf dem Jupiter beobachtet: „Der Einschlag war klein, nicht mehr als 200 Meter im Durchmesser. Aber die Explosionswolke stieg über die Atmosphäre hinaus und fiel dann wieder in sie hinein. Dabei erzeugte sie thermische Strahlung, die so stark war, dass sogar ein Messinstrument auf der Erde, in Australien, durchschmorte“, erzählt Melosh, der damals auch zum internationalen Beobachterteam gehörte. „Nahezu die Hälfte der gesamten kinetischen Energie des Kometenbrockens hatte sich in Wärmestrahlung umgewandelt. Und selbst bei diesem kleinen Impaktor regneten die Gesteinstropfen über eine Fläche hinab, die größer war als der Querschnitt der Erde. Das Ganze ist daher nicht hypothetisch – wir haben es in unserem Sonnensystem, quasi direkt gegenüber, gesehen.“
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Die Schockwelle Noch während die Hitzestrahlung die gesamte Erdoberfläche in einen gigantischen Grill verwandelt, bleibt auch der Untergrund nicht ungeschoren: Denn er wird nun von der sich mit Überschallgeschwindigkeit ausbreitenden Schockwelle des Einschlags erfasst. Sie verdampft unmittelbar um den Einschlagsort herum einen Teil des Gesteins. Doch mit jedem Kilometer Boden, den die Schockwelle durchdringt, verer Schock entspricht einem Erdbeben der teilt sich auch ihre Energie auf eine größere Fläche – und sie schwächt Magnitude 11,5. Man würde die Erschütterung sich dadurch allmählich ab: vermutlich auf der gesamten Erde spüren. Jay Melosh „Direkt am Einschlagsort haben wir sehr, sehr hohe Temperaturen und Drücke. Diese werden immer niedriger, je weiter man sich vom Kometen entfernt, bis die Schockwelle sich so weit verlangsamt und abgeschwächt hat, dass sie nicht mehr mit Überschallgeschwindigkeit dahin rast, sondern sich in eine elastische Welle, ähnlich einer Erdbebenwelle, umwandelt. Das geschieht in einer Entfernung von vielleicht dem Zehnfachen des Kometendurchmessers“, so Melosh. Die jetzt zu einer Erdbebenwelle gewordene Energie breitet sich weiter aus – und ist mit acht Kilometern pro Sekunde dabei immerhin noch 28.000 Kilometer pro Stunde Nach 23 Minuten hat die Schockwelle das 6.900 Kilometer entfernte Hawaii schnell. Um einmal die Erde zu erreicht. © USGS durchqueren, braucht diese Welle daher noch nicht einmal eine halbe Stunde. „Die Erschütterung durch diese Welle ist weltweit spürbar“, erklärt Melosh. „Wahrscheinlich würde man das Beben bemerken und ungefähr zur gleichen Zeit beginnt die Hitzestrahlung durch die in die Atmosphäre zurückfallenden Ejekta.“ Nach Meloshs Kalkulationen kommen die ersten Bebenwellen in New York – 2.700 Kilometer vom Einschlagsort entfernt – bereits nach neun Minuten an. Die Erschütterung reißt Menschen aus dem Schlaf, zerbricht Schei-
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Die Schockwelle lässt Gebäude einstürzen wie Kartenhäuser. Im Umkreis von 1.000 Kilometern zerstört die Erschütterung Brücken, Straßen und Schienen. © FEMA
In New York, 2.700 Kilometer vom Einschlagsort entfernt, ist die Schockwelle noch immer stärker als ein Hurrikan der Kategorie 5 © Kerstin Fels
ben und wirft ungesicherte Gegenstände zu Boden. Ähnliches wäre auch in Hawaii, 6.900 Kilometer vom Einschlagsort entfernt zu spüren – allerdings erst nach 23 Minuten. Selbst im 16.000 Kilometer entfernten Hongkong, nahezu am anderen Ende der Erde, fühlen die Menschen gut 50 Minuten nach dem Impakt eine leichte Erschütterung, Fenster klirren, Geschirr wackelt, die oberen Etagen der Hochhäuser schwanken leicht. Im Fall des Chicxulub-Einschlags haben die Wissenschaftler kalkuliert, dass das durch die Schockwellen ausgelöste Beben in etwa einer Stärke von 11,5 entsprach. Es war damit mehr als tausendmal so stark wie die schwersten jemals registrierten natürlichen Erdbeben. Die Erdbebenwellen hatten so viel Kraft, dass sie noch in der Baha California – mehr als 1.000 Kilometer vom Einschlagsort entfernt – großflächige Erdrutsche auslösten. Noch heute sieht man dort in einem Canyon gewaltige Ablagerungen einer solchen durch Chicxulub hervorgerufenen Rutschung. Kaum sind die ersten Beben vorbei, folgt eine zweite, noch verheerendere Schockwelle. Diesmal jedoch durch die Luft. Denn die Energie des Einschlags breitet sich nicht nur im Untergrund aus, sie rast auch durch die Atmosphäre, wenn auch etwas langsamer. Im Umkreis von 1.000 Kilometern um den Einschlagsort walzt die Druckfront alles nieder, was sich ihr in den Weg stellt: Gebäude fallen zusammen wie Kartenhäuser, Brücken stürzen ein, Bäume knicken um wie Streichhölzer. Mit mehr als 1.500 Kilometern pro Stunde bewegt sich die Schockwelle mit Überschall durch die Luft. Sie bricht daher ohne Vorwarnung über Städte und Dörfer herein. In New York, 2.700 Kilometer vom Einschlagsort entfernt, hat die Schockwelle noch immer eine Geschwindigkeit von mehr als 300 Kilometern pro Stunde – und ist damit stärker als die stärksten bisher beobachteten Kategorie 5 Hurrikans. Entsprechend gewaltig ist ihre Zerstörungskraft: Auch hier bricht ein Teil der Hochhäuser zusammen, andere werden schwer beschädigt. Doch allmählich schwächt sich die Schockwelle ab. Als sie nach rund fünf Stunden Hawaii erreicht, ist sie zu einer starken Windböe abgeklungen, die immerhin noch einzelne Fenster zerbersten lässt.
Der Krater Innerhalb der ersten hundert Sekunden reißt der Komet einen gewaltigen Krater in den Untergrund. Der Boden wird durch den Impakt mit gewaltiger Kraft nach unten gedrückt, das Gestein einfach verdampft
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Einfache und komplexe Krater Ein Krater entsteht zunächst als einfacher Trichter mit hohen Rändern, die von herabstürzenden Gesteinsbrocken jedoch zum größten Teil wieder abgetragen werden. Die weitere Ausformung des Kraters hängt direkt von seiner Größe ab: Kleinere Krater behalten die einfache, schüsselartige Form, bei der das Verhältnis von Tiefe zu Durchmesser typischerweise bei 1:5 bis 1:7 liegt. Der BarringerKrater in Arizona ist mit 1,2 Kilometern Durchmesser und rund 170 Metern Tiefe ein typisches Beispiel für einen einfachen Krater ohne Zentralerhebung oder mehrfache Ringe. Krater ab etwa zwei bis vier Kilometern Größe sind komplexe Krater mit Zentralerhebung und zum Teil zwei oder mehr zusätzlichen Ringen. Im Vergleich zu den einfachen Kratern sind sie deutlich flacher, das Verhältnis Tiefe zu Durchmesser liegt bei ihnen bei 1:10 bis 1:20. Ein Beispiel für so einen komplexen Krater mit Zentralberg ist der 100 Kilometer breite Manicouagan-Krater im kanadischen Quebec. Nach dem Impakt eines Meteoriten vor rund 212 Millionen Jahren soll dort der Untergrund in der Kratermitte sogar zehn Kilometer weit hochgefedert sein. Impaktforscher entwickelten aus Berechnungen und theoretischen Modellen eine allgemeine Beziehung zwischen Meteoritengröße, Aufprallgeschwindigkeit und Kratergröße. Als Faustregel gilt, dass ein Krater in felsigem Untergrund einen etwa 20-mal größeren Durchmesser hat, als der Meteorit, der ihn erzeugte. Bei sandigem Untergrund wird ein Teil der Aufschlagsenergie absorbiert, der Krater hat daher nur das Zwölffache der Meteoritengröße.
oder verdrängt. Ein Loch, 30 Kilometer tief und 100 Kilometer breit, öffnet sich. Doch es hält sich nur für kurze Zeit. Dann aber federt der Untergrund zurück, die Mitte hebt sich, während die Ränder des Lochs in sich zusammenfallen. Erst jetzt entsteht der eigentliche, der endgültige Einschlagskrater. Auf einer Fläche von 175 Kilometern ist der gesamte Untergrund eingesenkt, kilometergroße Gesteinsplatten sind wie das Spielzeug eines Riesen durcheinander geworfen und zerbrochen. „Der Einschlag ist im Prinzip eine gigantische Explosion. In ihr gehen alle Details des Projektils, seine Form, Zusammensetzung, Dichte oder sein Einschlagswinkel verloren – nichts davon spielt eine Rolle“, erklärt Impaktspezialist Melosh. „Das er Einschlag ist im Grunde Einzige, was zählt, ist die große Menge an Energie, gigantische Explosion. Jay Melosh die auf kleinstem Raum freigesetzt wird.“ Auch der Einschlagskrater gleicht daher eher einem Explosionskrater als einem Krater, wie er bei Kollisionen entsteht, wie wir sie aus dem Alltag kennen: Wenn wir einen Stein in einen Tümpel mit zähem Schlamm oder einen Sandkasten mit nassem Sand werfen, erzeugt er eine meist ovale Vertiefung. Und die Größe und Form dieses „Kraters“ wiederum zeigen uns, wie groß der Stein war, den wir geworfen haben. Fällt der Stein zudem
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senkrecht von oben in den Schlamm, gibt es einen runden Krater und, trifft er seitlich auf, bleibt eine elliptische Senke im Boden zurück. Doch genau diese eins-zu-eins- Abbildung der Eigenschaften des Projektils oder des Impakts fallen bei einem kosmischen Einschlag komplett weg. Im Gegensatz zu den langsameren, weniger energiereichen Alltagserfahrungen gelten hier andere Regeln: „Ein Einschlag eines Objekts mit rund drei Kilometern pro Sekunde setzt schon die gleiche Energie frei wie die Explosion der gleichen Menge TNT“, erklärt Melosh. „In diesem Stadium wird die kinetische Energie in interne Energie umgewandelt und der Impaktkrater ist im Prinzip nichts anderes als ein Explosionskrater.“ Unter anderem deshalb würde es auch absolut keinen Unterschied machen, wenn der Komet bis obenhin mit Sprengstoff gefüllt wäre: Allein seine Bewegungsenergie reicht aus, um eine gewaltige Explosion zu verursachen. Auch die Frage, ob es sich bei dem Impaktor um einen Kometen oder Asteroiden handelt, ist völlig irrelevant – denn die Folgen wären gleichermaßen verheerend.
Ein Erdrutsch aus Gesteinstrümmern Zurück zum Einschlagsszenario: Hier hat die Hitze- und Druckwelle inzwischen auch außerhalb des Kraters einen Großteil des Untergrunds einfach weggeschleudert. Die meisten dieser teilweise geschmolzenen, teilweise aber einfach nur zerbrochenen Gesteinstrümmer fliegen nicht sehr weit und fallen nahe dem Einschlagskrater wieder zu Boden. „Wenn man sich dem Chicxulub-Krater nähert, erreicht die Dicke dieser Ejekta fast einen Kilometer. Ein bisschen geschmolzenes Material ist darunter, den größten Teil aber besteht aus zerbrochenem Gestein, das aus dem Krater geworfen wurde“, erklärt Melosh. Die Landschaft in einem Umkreis von mehreren hundert Kilometern um den Einschlagsort herum gleicht zu diesem Zeitpunkt einer dampfenden Fels- und Trümmerwüste. Denn das Geröll ist noch immer heiß. Und es liegt nicht einfach still herum – es bewegt sich, und dies ziemlich schnell: „An der Oberfläche fließt es mit vielleicht hundert Metern pro Sekunde, so schnell wie ein Erdrutsch. Jeder, der sich in dieser Gegend aufhält, ist verloren, wird nicht überleben.“ Geologen haben in Belize – immerhin 300 Kilometer vom Chicxulub-Krater entfernt – Ablagerungen eines solchen Trümmer-Erdrutsches gefunden, der allein eine Dicke von zehn Kilometern erreicht. Die Kraterbildung läuft in mehreren Phasen ab. © Jay Melosh
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Doch selbst außerhalb dieses unmittelbaren Trümmerkegels ist man vor den herabregnenden Trümmern nicht gefeit. Denn auch wenn 90 Prozent im Nahbereich des Einschlagskraters niedergehen, der Rest verteilt sich über einen viel größeren Bereich. Und bei einem Impakt dieses Ausmaßes entspricht dies fast der halben Erdoberfläche, wie Melosh erklärt: „Im Falle von Chicxulub jedoch ist Die Gesteinstrümmer regneten beim Chicxulub-Einschlag über die halbe Erde nieder. Die Punkte kennzeichnen Fundorte von K/T-Ejekta. © MMCD dieser Bereich so groß, dass selbst diese dünne, weiter als einen Kraterdurchmesser entfernte Schicht noch immer relativ große Stärke erreicht. In Houston, Texas, macht sie noch etwa einen Meter aus, und selbst im kanadischen Bundesstaat Alberta hat sie noch immer eine Dicke von rund einem Zentimeter.“ So weit allerdings fliegen vor allem kleinere, geschmolzene Teilchen in Sandkorn- oder Staubgröße. Melosh hat berechnet, dass bei einem Einschlag wie in unserem Szenario auch in New York noch winzige Gesteinspartikel von rund 200 Mikrometern Größe herabregnen würden – immerhin bereits eine Viertelstunde nach dem Einschlag.
Es regnet Glas Doch diese weit verteilten Einschlagstrümmer sind bei Weitem nicht das einzige Material, das durch den Einschlag verteilt wird. Während der Auswurf am Boden langsam in seine endgültige Position fließt und die tödliche Hitzestrahlung in der Atmosphäre allmählich abflaut, folgt wenige Stunden nach dem Impakt der ir sehen die Ablagerungen in nächste Akt. Denn noch immer schwebt ein Großteil des beim Einschlag verdampften Gesteins in Form gleichen Dicke überall. In der winziger Partikel und erstarrter Tropfen in der oberen ganzen Welt. Jay Melosh Atmosphäre. Sie waren zunächst durch die Lufthülle abgebremst worden, fallen jetzt jedoch allmählich weiter hinab in Richtung Erdoberfläche. Ein Hagelschauer winziger Glaskügelchen auf der gesamten Erde ist die Folge – geradezu harmlos im Vergleich zu den vorangegangenen tödlichen Ereignissen. Die nur Millimeter großen, meist sogar noch kleineren glasartigen Gebilde sinken vergleichsweise langsam zu Boden und bilden hier eine dichte, knirschende Schicht.
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Diese Impaktglas-Kügelchen bestehen aus dem bei dem Einschlag geschmolzenem und dann wiedererstarrtem Gestein. © Smit/Podbregar
Auch der Chicxulub-Einschlag vor 65 Millionen Jahren hat solche als „magic layer“ oder „Feuerballschicht“ bezeichneten Ablagerungen hinterlassen. Mehr als zehn Kilogramm solcher Ejekta kommen dabei auf jeden Quadratmeter – das zeigen die Forschungen zum Chicxulub-Einschlag und Impakt-Simulationen. Die winzigen Kügelchen aus Impaktglas sind bis heute in Bohrkernen und geologischen Aufschlüssen rund um den Globus nachweisbar. Da sie zum großen Teil aus dem verdampften Material des Meteoriten entstanden sind, tragen sie besonders hohe Konzentrationen des in Kometen und Asteroiden häufigen Elements Iridium in sich. Es ist diese „Iridiumanomalie“ in der nach dem Impakt abgelagerten Schicht, die letztendlich auch zur Entdeckung des Chicxulub-Einschlags führte. Dass der Gesteinsregen keine spezielle Eigenheit des „Dinokillers“ war, zeigen auch Untersuchungen anderer, kleinerer Meteoriteneinschläge. „Wir wissen zum Beispiel, dass der Popigai-Krater in Sibirien, der bei einem Einschlag vor rund 39 Millionen Jahren entstand, ebenfalls solche Glaspartikel ausschleuderte. Der Krater hat rund 100 Kilometer Durchmesser, ist also kleiner als der Chicxulub, trotzdem finden wir Ejekta in einem Bohrkern aus dem Südatlantik – tausende von Kilometern vom Einschlagsort entfernt“, erklärt Melosh.
Woher kommen die Fakten?
Die rötlich gefärbte K/T-Grenze hebt sich in diesem Bohrkern aus dem Meeresgrund deutlich von dem weißlichen Kalkstein der Kreidezeitablagerungen ab. © Harald Frater
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Verdampfendes Gestein, tödliche Hitzestrahlung, ein weltweiter Regen aus Impaktglas – schon die ersten, ganz unmittelbaren Folgen eines solchen Einschlags sind an Dramatik kaum mehr zu überbieten. Noch ist die Palette der Auswirkungen längst nicht erschöpft, die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt. Doch schon jetzt drängt sich die Frage auf: Woher weiß man das alles? Schließlich hat kein Mensch jemals einen Einschlag dieser Größe erlebt. Ist letztlich alles ein Fantasiegebilde, Hollywood mit wissenschaftlichem Anstrich? Wie gesichert sind die Erkenntnisse, aus denen sich diese Beschreibung der Abläufe und Ereignisse speist? Viele der Prozesse bei einem solchen Einschlag sind tatsächlich bis heute noch weitgehend unerforscht. Aber immerhin einige Anhaltspunkte gibt es. Das meiste Wissen der Forscher über Einschläge solcher Größenordnungen stammt aus den Spuren des Chicxulub-Impakts vor 65 Millionen Jahren: „Das ist das Einzige, das wir im Gegensatz zu reiner Fiktion haben“, kommentiert Melosh nicht ganz unironisch. Der Chicxulub hat nicht nur mehr „Indizien“ hinterlassen als jeder anderer größere
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Einschlag auf der Erde, er ist auch der einzige, der sich – zumindest nach Ansicht der Mehrheit der Forscher – direkt mit einem Massenaussterben in Verbindung bringen lässt. Das Wissen darum, wer damals überlebte und wer nicht, bringt weitere wertvolle Einblicke in die Folgen der globalen Katastrophe.
Simulationen – mehr als nur bunte Bilder Aber längst nicht alle Erkenntnisse basieren auf den Hinweisen aus der Vergangenheit, auch die moderne Hightech-Forschung hat ihren Teil beigetragen, beispielsweise in Form von Simulationen. In bunten, bewegten Bilder flimmern sie über die Bildschirme der Wissenschaftler und zeigen in Zeitlupe und aus allen gewünschten Richtungen was wann wie bei einem Impakt geschieht. Mit dem dramatischen „Augenfutter“ der Hollywoodspielfime haben diese bunten Bilder allerdings nichts gemeinsam. Denn hinter den Simulationen der Impaktforscher steckt geballte Wissenschaft: Eine ganze Reihe von komplizierten Formeln und Rechenoperationen sorgt dafür, dass alles nach den Regeln der Physik abläuft, dass Temperaturen, die Dichten von Wasser, Land und Einschlagsobjekt, Schwerkraft, Zeit und Dutzende von anderen Parametern mit berücksichtigt werden. „Es ist wie ein Experiment – allerdings eines, das man niemals durchführen könnte. Und dass man auch niemals durchführen wollte“, erklärt Mark Boslough vom Sandia National Laboratory der USA. In diesem, dem amerikanischen Energieministerium unterstellten Labor sind einige der leistungsfähigsten Supercomputer der Erde versammelt. Und die werden auch dringend gebraucht. Denn die Modellierung eines Einschlags benötigt enorme Rechenkraft. Impaktsimulation: Der Meteorit kollidiert nahezu ungebremst mit der Erdoberfläche. © Jay Melosh
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Der Einschlag
In den Supercomputern wird die komplexe Simulation zunächst in tausende von kleinen, einzeln berechenbaren Schritten zerlegt und diese dann auf hunderte von parallel arbeitenden Computerprozessoren ir haben keine Erfah- verteilt. Auf diese Weise werden die Einzelschritte nicht wie in einem rungen mit einem solchen normalen Rechner nacheinander erledigt, sondern gleichzeitig. Erst am Ende werden die Ergebnisse aller dieser Parallelkalkulationen zu einem Phänomen, mit diesen Ergebnis und damit zur eigentlichen Simulation zusammengefügt. Maßstäben. Alan Harris Aber selbst mithilfe dieses parallelen Rechnens ist schon eine vermeintlich „kleine“ Einschlagssimulation keineswegs mal eben gemacht, ganz im Gegenteil: 2004 simulierten die Wissenschaftler am Sandia National Laboratory ein Szenario, bei dem ein 1,4 Kilometer großer Asteroid rund 40 Kilometer südlich von New York in den Atlantik einschlägt. Um die Auswirkungen des Einschlags auf seine unmittelbare Umgebung so genau wie möglich zu abzubilden, umfasste das Modell alle Vorgänge innerhalb eines gedachten Würfels von knapp 200 Kilometer Kantenlänge, der das Land, das Wasser bis hinab zum Meeresgrund und die Atmosphäre beinhaltete. Diesen Würfel zerlegten die Forscher wiederum in hundert Millionen kleine Miniwürfelchen, die das eigentliche Auflösungsraster der Simulation bildeten. Die knapp 9.000 Prozessoren des Sandia Supercomputers berechneten anschließend für jede dieser Einheiten die jeweiligen Ereignisse während des Einschlags. 18 Stunden dauerte die gesamte Kalkulation – und das, obwohl der Hochleistungsrechner bereits mehr als eine Milliarde Rechenoperationen pro Sekunde durchführte. Noch mehr Rechenzeit brauchte eine Einschlags-Simulation des Kometen Shoemaker-Levy-9 auf dem Jupiter: Die Modelle, die die Auswirkungen der herabstürzenden Kometen-Bruchstücke vorhersagen sollten, wurden mehr als ein Jahr vor dem für Mitte Der Supercomputer Red-Storm galt Ende 2006 als der zweitschnellste der Welt. Doch selbst seine Leistung reicht nicht 1994 prognostizierten Impakt gestartet. Als die Trümaus, um die Einschlagsprozesse vollständig zu modellieren. mer dann auf dem Gasriesen einschlugen, rechneten © Sandia National Laboratory die Computer noch immer – die Realität hatte die Modellierer längst eingeholt. Auch heute sind die Wissenschaftler von der Simulation eines Einschlags vom Ausmaß des „Dinokillers“ noch weit entfernt. Die Rechnerleistung selbst der besten Supercomputer der Erde reicht einfach nicht aus, die globalen Auswirkungen eines solchen Impakts ausreichend genau zu modellieren. Doch nicht nur mit der räumlichen und zeitlichen Auflösung hapert es noch, auch die Daten, mit denen die Modelle gefüttert werden müssen, sind noch reich-
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lich lückenhaft. „Prozesse, die nicht in den Computercode aufgenommen werden, können nicht kalkuliert werden“, erklärt Melosh. „Daher kann bisher kein Computermodell die chemischen Reaktionen und Isotopeninteraktionen beschreiben, die bei einem Einschlag stattfinden. Das bedeutet nicht, dass dies grundsätzlich nicht möglich ist, sondern nur, dass die entsprechenden Codes basierend auf der korrekten Physik erst noch entwickelt werden müssen.“
Explosive Sandkastenspiele Woher aber stammen dann die Erkenntnisse über die Abläufe bei einem so gewaltigen Einschlag? Sind sie einfach aus der Luft gegriffen? Keineswegs. Stattdessen behelfen sich die Impaktforscher mit einem Trick: Sie schließen vom ganz Kleinen auf das ganz Große. Das klingt zunächst verdächtig nach unsicheren Hochrechnungen und Schätzungen, ist jedoch in Wirklichkeit eine durchaus wissenschaftlich abgesicherte Methode. „Die so genannten ‚scaling relations‘, die wir einsetzen, basieren auf der Physik. Wenn wir die physikalischen Prozesse richtig hinbekommen, funktioniert auch die Skalierung“, erklärt Melosh. In diesen Versuchen reproduzieren die Forscher gezielt bestimmte Einschlagsprozesse anhand von meist nur zentimetergroßen Mini-Objekten, die auf ein Ziel geschossen werden. Bei diesen „Sandkastenspielen“ manipulieren sie gezielt die Geschwindigkeit, die Beschaffenheit des Projektils und des Untergrunds so, dass die physikalischen Parameter auf größere Ereignisse übertragbar sind. Der Anfang solcher Scaling-Experimente war ziemlich ungewöhnlich, denn die Hauptrollen spielten der Panama-Kanal, ein Labor und einige Kilo TNT. In den 1950er Jahren – der kalte Krieg war bereits in vollem Gange – wollte die Panama-Kanal-Gesellschaft wissen, wie gefährdet die wichtige Wasserstraße im Falle eines Atomangriffs wäre. Sie erteilten daher dem Wissenschaftler Butler Lampson von der Princeton Universität den Auftrag, die Größe der Krater und Schäden bei der Explosion verschiedener Atombomben herauszufinden. Aber wie? Klar war, dass echte Atomexplosionen nicht in Frage kamen – viel zu gefährlich und zudem lagen die entsprechenden Materialien ja nicht gerade auf der Straße. Aber Lampson wusste sich zu helfen: Er organisierte sich einige Kilogramm TNT und führte damit Explosionsversuche im Minimaßstab durch. Ziel war es dabei, eine Gesetzmäßigkeit zu finden, die den Zusammenhang zwischen der Explosionsstärke und dem Ausmaß der Schäden beschrieb. Und tatsächlich würde er fündig: Der Durchmesser der entste-
Forscher nutzen Experimente mit winzigen Projektilen, um die Mechanismen eines Einschlags zu untersuchen. © NASA
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Der Einschlag
henden Krater war genau proportional zur Kubikwurzel der freigesetzten Energie. Diese Gesetzmäßigkeit verhalf nicht nur seinem Auftraggeber zu den gewünschten Daten, sondern bildet auch heute noch die Basis für viele Scaling-Experimente – wenn auch mit kleineren Anpassungen. Entscheidend für diese, aber auch andere Experimente ist dabei jedoch immer, dass die Gesetzmäßigkeiten universal gültig und damit übertragbar sein müssen – im Kleinen wie im Großen. „Solche Experimente sind nicht einfach eins-zu-eins Vergleiche zwischen den Ergebnissen im Labor und Beispielen, die wir auf den Planeten finden. Stattdessen sollten sie so angelegt sein, dass sie bestimmte Variablen isoliert betrachten, um daraus extrapolieren zu können“, erklärt auch der Geologe Peter H. Schultz von der amerikanischen Brown Universität. Die meisten Scaling-Experimente finden nur im Zentimeter-Maßstab statt: Ein kleines Stein- oder Metallprojektil wird mit hoher Geschwindigkeit auf ein Sand-, Stein- oder Wasserziel geschossen. Eine Ausnahme gibt es allerdings: die NASA-Mission Deep Impact. Sie erlaubte zum ersBlick auf die Gatun-Schleuse des ten Mal die Beobachtung eines von Menschen ausgelösten Einschlags Panama-Kanals. Die potenzielle in größerem Maßstab: Die im Januar 2005 gestartete Raumsonde flog Gefährdung der Wasserstraße gab den Anstoß zu Scaling-Experimenten. zum Kometen Tempel-1 und ließ dann einen Impaktor mit dem Kometen © GFDL/Stan Shebs kollidieren. Das ungefähr couchtischgroße Projektil prallte mit einer Geschwindigkeit von rund zehn Kilometern pro Sekunde auf der Oberfläche auf, Massen von Staub, Gestein und Eis wurden in den Weltraum hinaus geschleudert und vernebelten selbst den Kameras der Raumsonde die Sicht. „Wie groß der Krater war, wissen wir deshalb leider nicht ganz genau“, erklärt Melosh, der an der wissenschaftlichen Vorbereitung und Auswertung der Mission beteiligt war. „Aber aus der Masse der Ejekta war klar, dass es etwas in der Größenordnung von isher kann kein Computermodell die hundert Kilometern sein musste – was genau den Prognosen nach den Scaling relations entspricht.“ chemischen Reaktionen und atomaren Spuren aus der Vergangenheit, hochkomplexe Interaktionen beschreiben, die bei Simulationen, „Sandkasten“-Experimente – erst zusammen ergeben diese ganz unterschiedlichen einem Einschlag stattfinden. Jay Melosh Ansätze und Methoden ein Ganzes. Sie füllen die Lücken in unserem Wissen und ermöglichen es den Forschern, zumindest in etwa vorherzusagen, was uns bei dem Einschlag eines „Dinokillers“ heute bevorstehen würde. Das bisher beschriebene Szenario ist allerdings längst nicht vollständig, der größte Teil der Auswirkungen steht uns noch bevor...
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Fragen an: Jay Melosh Der Geologe und Physiker arbeitet am Lunar and Planetary Laboratory der Universität von Arizona in Tucson, USA. Seit mehr als 20 Jahren erforscht er die Physik von Einschlagsereignissen und die Mechanismen der Kraterentstehung. Er entwickelte unter anderem ein Modell, mit dem sich die Folgen unterschiedlicher Meteoriteneinschläge berechnen lassen.
Was passiert in dem Moment, in dem der Komet einschlägt? Das Projektil stoppt nicht sofort. Die Vorderseite berührt den Boden und in diesem Stadium „realisiert“ das Objekt, dass etwas im Weg ist. Der Boden realisiert, dass etwas von oben kommt. Was im Prinzip passiert ist, dass der Untergrund nach unten beschleunigt und das Projektil gebremst wird. Verbunden damit ist eine Zone sehr hohen Drucks zwischen dem Projektil und der Bodenoberfläche. Während das Projektil sich weiter bewegt, dehnt sich diese Hochdruckzone aus und umfasst nach und nach das ganze Projektil und ein etwa gleich großes Volumen des Bodens. Wenn diese Druckwelle durch das Projektil durchgelaufen ist und sein Hinterende erreicht hat, wird sie reflektiert. Der Druck nimmt langsam ab. Bei diesem Prozess wird eine Menge Energie als Hitze abgegeben. Wie wirkt sich dies aus? Im Moment des Schocks steigen die Temperaturen im Kometen bis auf 10.000 Grad an. Selbst nachdem der Druck wieder auf normale Werte zurückgegangen ist, bleiben sie immer noch bei 4.000 bis 5.000 Grad – ausreichend, um das meiste Gesteinsmaterial zu verdampfen. Die Wolke verdampften Gesteins dehnt sich sehr schnell aus und erzeugt sehr starke thermische Strahlung. Wenn man in Sichtweite dieses Feuerballs ist, der im Fall von Chicxulub wahrscheinlich rund 20 bis 40 Kilometer hoch
war, wenn man ihn über dem Horizont sehen kann, dann wird man wahrscheinlich durch die Strahlung tödlich verbrannt. Wie würde der Feuerball aussehen? Wie eine Atombombenexplosion? Ja, es würde so ähnlich aussehen. Wie ein Sonnenaufgang, nur eben größer als die normale Sonne und sehr viel heißer. Was wäre der Unterschied zwischen einem Einschlag an Land und im Wasser? Das hängt davon ab, wie groß der Einschlag ist. Der durchschnittliche Ozean ist vielleicht fünf Kilometer tief, das ist gerade einmal ein Drittel des Durchmessers, den das Objekt, das in Chicxulub einschlug, hatte. Wenn wir also wieder einen solchen Einschlag hätten, würde es kaum einen Unterschied machen ob Land oder Meer. Was wäre das erste, was ich weiter entfernt vom Einschlag spüren würde? Die Erschütterung durch die Schockwelle im Untergrund. Ich denke, am anderen Ende der Erde wären die Ejekta nicht viel früher dran. Die durchschnittliche Geschwindigkeit der ballistischen Ejekta liegt bei acht Metern pro Sekunde, die durchschnittliche Geschwindigkeit einer Erdbebenwelle bei 8,1 Meter pro Sekunde. Wahrscheinlich würden Sie das Beben spüren und fast gleichzeitig beginnen die Ejekta in die Atmosphäre zu regnen.
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Wasser und Feuer
Es könnte sein wie in Lissabon nach dem
Erdbeben von 1755: Die Stadt hat gebrannt und die Leute sind zum Fluss gelaufen, weil sie glaubten, dort sicher zu sein. Robert Weiss
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Nach dem Einschlag erreicht eine gigantische Flutwelle die Küsten Nordamerikas, später auch die Europas und Nordafrikas.
Wasser und Feuer Minuten nach dem Einschlag, Mauna Kea, Hawaii
Shiang ist ein wenig ratlos. Seitdem die Elektronik im Observatorium ausgefallen ist, sitzt sie mit Noah im Kontrollraum und wartet ab. Es ist stockdunkel. Ein unheimliches Gefühl, nicht zu wissen, was passieren wird. Aber sie hat keine Angst. Noahs Nähe gibt ihr ein Gefühl der Sicherheit. So hängt sie ihren Gedanken nach. Die Erdbeben sollten sich bis hierher schon deutlich abgeschwächt haben. Am ehesten rechnet sie mit heftigen Stürmen als Folge auf die Explosion und die Verwirbelungen in der Atmosphäre. Kein Wissenschaftler weiß das wirklich genau. Alles Wissen darüber beruht streng genommen auf Annahmen. „Vielleicht sollten wir einfach mal nachschauen, was draußen los ist.“ Noahs Stimme klingt so als wolle er sie auf muntern. Einen Moment lang fragt sie sich, ob das zu unvorsichtig ist, aber dann entscheidet sie: “Ja, dann haben wir wenigstens etwas zu tun.“ Vorsichtig tasten sich die beiden im Dunkeln bis zum Ausgang vor und betreten den kleinen Steg, der vom Gebäude wegführt. Noah hat sein Fernglas dabei. Noch immer ist die Sicht zum Horizont frei. Das
Noah und Shiang beobachten kurz nach dem Einschlag Polarlichter am Himmel.
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Wasser und Feuer
Kurze Zeit später ziehen riesige Vogelschwärme über das Observatorium hinweg.
Observatorium liegt auf 4.200 Metern Höhe und die Wolken hängen an diesem Tag tief in den Tälern. Es dauert nicht lange, da entdeckt Noah die ersten Anzeichen. Er reicht ihr das Fernglas und zeigt Richtung Osten. Shiang ist fasziniert. Schillernd bunte Leuchterscheinungen sind dort am Himmel zu sehen. Polarlichter, ein Phänomen, das man in Hawaii normalerweise nicht beobachten kann und schon gar nicht am Osthimmel. „Das kann mit dem elektromagnetischen Puls zusammenhängen, der von der Explosion ausgelöst wurde.“ Noah nickt. „Die geladenen Teilchen regen die Luftmoleküle an. Das führt zu Leuchteffekten.“ „Es ist wunderschön....“, fast vergisst Shiang einen Augenblick lang in welcher Situation sie sich befinden. Doch dann wird ihr klar, was sie sieht. Es ist der Beweis, dass 7.000 Kilometer entfernt eine unglaubliche Katastrophe stattfindet. Als sie plötzlich Vogelschreie hört, nimmt sie das Fernglas von den Augen. Ein riesiger, schier endloser Schwarm zieht über das Observatorium hinweg. Die bizarre Erscheinung jagt ihr einen Schauer über den Rücken. Sie will wieder hinein ins Gebäude, aber Noah hält sie zurück. Im Minutentakt kann man jetzt mit ansehen, wie sich der Himmel zuzieht. Eine halbe Stunde ist es in etwa her, seit das Licht ausging. Das war im Augenblick der Explosion. Jetzt, dreißig Minuten später erreichen die ersten direkten Auswirkungen der Katastrophe die Pazifikinsel. Wolken rasen mit ungeheurer Geschwindigkeit auf das Observatorium zu. Es wird dunkel, und dann beginnt es zu regnen. Schwarzer, schmutziger Regen, der auf der Haut und in den Augen brennt. Schnell schlüpfen die beiden durch die Eingangstür nach drinnen. Später muss sie noch oft an diesen Augenblick zurück denken. Es ist das letzte Mal für eine lange Zeit, dass sie das Licht der Sonne gesehen haben. 50 Minuten nach dem Einschlag, New York
Auch New York ist von Wolken verhüllt. Es regnet Staub auf die Skyline von Manhattan, kleine Schuttund Trümmerteilchen, die vom Golf bis hierher
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getragen werden. Die starken Erdbeben konnten den modernen Wolkenkratzern wenig anhaben. Die Druckwelle der Explosion, die zwei Stunden später folgte, hat viele Fensterscheiben zerschlagen. Wie Schnee legt sich der Schuttregen auf Häuserdächer und Straßen. Wer bisher überleben konnte und noch in den Häuserschluchten umherirrt, hat keine Chance. Der dichte Staub verklebt die Atemwege. Überall liegen tote Vögel und Tiere. Eine weitere Zerstörungswelle ist von der Golfregion hierher unterwegs. Der Einschlag hat einen Tsunami ausgelöst. Mehrere gigantische Wellenberge rollen über die karibischen Inseln und die Küste von Florida hinweg, um sich dann im Atlantik weiter auszubreiten. Nach nur vier Stunden erreichen sie New York. Viele hundert Meter weit rasen die Wassermassen durch Manhattan Downtown und hinterlassen eine Spur der Verwüstung. Stunden nach dem Einschlag, Paris, Frankreich
Die Luft im Schutzkeller ist stickig. Schon vor langer Zeit ist das Licht ausgegangen. Vereinzelt wurden Kerzen angezündet. Aber die Luft ist so schlecht, dass viele sie wieder ausmachen. Henri fühlt sich hilflos. Seiner Tochter geht es nicht gut. Er wechselt einen ratlosen Blick mit Catherine. Was kann er schon tun, in dieser Situation? Der Hund ist unruhig. Ängstlich hatte er sich unter ihren Beinen verkrochen, als die ersten Explosionen zu hören waren. Teilweise sind sie weiter weg, dann wieder ganz in der Nähe und erschüttern den Raum. Davor hatten die Nachrichten gewarnt. Auch wenn es hier unangenehm wird, sollten sie den Keller auf keinen Fall verlassen. Durch die herabfallenden Trümmerteile war es draußen ähnlich gefährlich wie bei einem Bombenangriff. Plötzlich sind Stimmen vom Eingang zu hören. In der Dunkelheit kann Henri jedoch nicht erkennen, was vor sich geht. Immer wieder während der letzten Stunden mussten Einzelne beruhigt werden. Diesmal aber wird heftig gestritten. Dann hört man das Quietschen einer Tür. Jemand muss den Eingang geöffnet
Zunächst wird New York von schweren Erdbeben erschüttert und dann ist die ganze Stadt in Staubwolken gehüllt. Es sind winzige Trümmerteilchen, die aus dem Einschlagsgebiet stammen.
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haben. Die heiße Luft von der Straße strömt durch den ganzen Raum. Die Leute stöhnen auf. Henri fühlt sich benommen. In der Aufregung reißt sich der Hund los und rennt Richtung Tür. Schneller als Henri reagieren kann, ist auch Michelle auf den Beinen und stürmt dem Hund hinterher. Catherine ruft, er selbst springt auf und kämpft sich durch die Sitzenden Richtung Eingang. Als er draußen auf der Straße ankommt, trifft ihn die Hitze, wie ein Schlag. Die Szenerie ist unwirklich rot im Licht der Flammen. „Michelle!“ – Der Ruf erstickt im Donner einer nahen Explosion. Seine Tochter ist schon ein ganzes Stück die Straße hinab gerannt. Sie ist sich der Gefahr, in der sie schwebt, offensichtlich nicht bewusst. Er wirft einen kurzen Blick zurück, sieht Catherine und rennt los. Auf der Straße herrscht Chaos. Erst jetzt wird im klar, wie viele Menschen draußen geblieben sind. Überall explodieren Geschosse, Menschen schreien. Viele springen verzweifelt ins Wasser des Kanals Saint Martin, der hier vorbeiführt. Endlich sieht er seine Tochter. Sie ist stehen geblieben und schaut sich verwirrt um. Es scheint, als ob ihr erst jetzt klar wird, was passiert ist. Noch wenige Schritte. Er nimmt Michelle in den Arm und drückt sie an sich. Da ist auch Catherine bei ihnen. Zurück in den Keller zu gehen macht nun keinen Sinn mehr. Henri sieht am Ufer des Kanals ein Ruderboot liegen. Geistesgegenwärtig nimmt er Frau und Kind bei der Hand. Der Kanal fließt hier in einen Tunnel. Die Luft glüht in seinen Lungen, das Wasser dampft, und zischt von den Einschlägen. Als sie in den Tunnel des Kanals treiben, wird der Lärm von der Straße langsam leiser. Aus der Ferne sehen sie noch immer das rote Licht der Flammen – Paris brennt. Als im Schutzkeller die Tür geöffnet wird, rennt Michelles Hund Sarah nach draußen. Panisch stürzt sie hinterher. Im Chaos, das auf der Straße herrscht, sucht Henri verzweifelt nach seiner Tochter. Schließlich retten sie sich in den unterirdischen Teil des Kanals Saint Martin, während überall in Paris Feuer ausbrechen.
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„Hinter der großen Welle in Okinawa“ – der Begriff Tsunami stammt aus dem Japanischen und bedeutet „große Hafenwelle“. © Holzschnitt von Hokusai
Wasser und Feuer Was sagt die Wissenschaft? Der Einschlag reißt nicht nur einen gewaltigen Krater in den Untergrund und verdampft Gestein ringsum, er beeinflusst das angrenzende Meer, den Golf von Mexiko. Innerhalb von Sekundenbruchteilen verdrängen die Explosion und die Schockwelle eine gewaltige Wassermenge. Eine ringförmige Wasserwand, mehrere Kilometer hoch, schießt in die Höhe. Nur wenige Augenblicke später jedoch fällt sie wieder in sich zusammen. Die Energie der einstürzenden Wasserwand überträgt sich auf das Meer und löst damit, wenige Sekunden nach dem Einschlag, eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen aus: Das Wasser setzt sich in Bewegung, ein Tsunami entsteht. 50 Meter ragen die Wellen in die Höhe, während sie sich im flachen Wasser des Golfs von Mexiko ausbreiten. Dabei wandert jedoch nicht das Wasser selbst, sondern nur die Energie der Welle. Sie wird von Wasserteilchen zu Wasserteilchen übertragen – blitzschnell und fast ohne Verluste. Der Prozess gleicht dem bekannten Mini-Experiment mit mehreren, in einer Reihe hängenden, sich berührenden Kugeln: Wird die
Tsunami: eine tödliche Wand aus Wasser. © NOAA
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Wasser und Feuer
Eine gewaltige Wasserwand rast auf die Küste zu. © Filmszene
erste angehoben und fällt dann wieder zurück, wandert die Stoßenergie durch alle Kugeln durch, ohne dass diese sich von der Stelle rühren. Nur die letzte in der Reihe wird wie von Geisterhand abgestoßen und hebt sich ihrerseits. Ähnliches sunamiwellen können im tiefen Ozean tausende geschieht jetzt im Wasser der Karibik: Wasserteilchen geraten in von Kilometern mit hoher Geschwindigkeit zurückBewegung, wandern aber nur ein legen und dabei kaum Energie verlieren. NOAA kurzes Stück, bis sie mit benachbarten Molekülen kollidieren und ihre Bewegungsenergie an diese abgeben. Das Ganze geschieht extrem effektiv und sehr schnell. Wie jeder Tsunami besteht auch dieser Impakt-Tsunami nicht nur aus einer einzigen Welle, sondern aus mehreren aufeinander folgenden. Im flachen Wasser der Karibik liegen die einzelnen Wasserberge relativ nahe beieinander, zwischen zehn Minuten und einer Stunde kann der zeitliche Abstand liegen. Die Wellen erreichen nicht ihre volle Geschwindigkeit, der flache Untergrund bremst ihre Bewegung. Doch die Küsten sind hier
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in der Karibik nicht weit entfernt. Von Yucatan, dem Einschlagsort aus, sind es nur wenige hundert Kilometer bis zur gegenüberliegenden Küste Mexikos, und auch Florida liegt ähnlich nah.
Wasserberge türmen sich auf Schon kurze Zeit nach dem Einschlag, fast gleichzeitig mit der Schockwelle und dem ersten Regen von Gesteinstrümmern, nähert sich der Tsunami dem Land. Der ansteigende Meeresboden bremst die Front der einzelnen Welle, der Rest des Wassers drückt jedoch nach. Der Wasserberg türmt sich dadurch noch höher auf, wird steiler. Im flachen Wasser in Küstennähe schieben sich die einzelnen Wellen des Tsunami noch dichter zusammen. Jede von ihnen bewegt sich jetzt nur noch mit dem Tempo eines Radfahrers oder langsam fahrenden Autos vorwärts, ist aber auf eine gewaltige Höhe angewachsen. Wie hoch diese Wasserwand allerdings tatsächlich sein würde, kann heute niemand genau vorhersagen. Zu vielfältig sind die Einflussgrößen, die auf das Wasser wirken. Selbst Modellrechnungen mit relativ gleichen Ausgangsbedingungen variieren hier teilweise um das Zehnfache. Wissenschaftler des russischen Tsunami Laboratoriums in Novosibirsk haben Einschläge von Asteroiden und Kometen verschiedener Größe simuliert und berechnet, wie hoch die resultierenden Wellen 1.000 Kilometer vom Einschlagsort entfernt wären. Das Ergebnis: Selbst bei einem Einschlag eines nur einen Kilometer großen Objekts – immerhin um das mehr als Zehnfache kleiner als der Komet in unserem Szenario – erreichte der Tsunami noch immer gut 17 Meter Höhe an den Küsten. Und das, obwohl die Forscher dabei von einer Ausbreitung in flachem Wasser ausgingen, einer Bedingung, die normalerweise die Energie eines Tsunamis mit steigender Entfernung schnell absinken lässt. Andere Modelle und Schätzungen variieren für Einschläge der Chicxulub-Größe zwischen 50 und 300 Metern. Diese Wellenhöhe überträfe auch bei Weitem die des katastrophalen Tsunami, der 1755 Lissabon und große Teile der südspanischen Küste zerstörte. Ein Erdbeben im Ostatlantik erschütterte damals die gesamte Küstenregion und löste den Tsunami aus. Zwischen 20.000 und 60.000 Menschen verloren ihr Leben. Viele von ihnen hatten an den Ufern des Flusses Tejo Schutz vor den in der Stadt wütenden Bränden gesucht und wurden dort von den zwölf bis 15 Meter hohen Fluten überrascht. Bis heute gilt die Katastrophe von Lissabon als das schwerste neuzeitliche Tsunamiereignis an der Atlantikküste.
Dem Tsunami 2004 auf Thailand fielen tausende von Menschen zum Opfer. © David Rydevik
Der Tsunami nach dem Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 gilt als der schwerste neuzeitliche Tsunami der Atlantikküste. © historisch
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Land unter an den karibischen Küsten Zurück zum Szenario: Im Golf von Mexiko hat jetzt die erste Welle die Küste erreicht. Überall dort, wo die Landschaft sanft zum Wasser hin abfällt, steht dem Tsunami nichts im Wege: Die Wassermassen laufen die flache Küste hinauf und begraben noch Kilometer weit im Landesinneren alles unter sich. Bäume, Häuser, Autos e flacher das Wasser, um so kürzer die – die Welle reißt alles mit und verwandelt Gegenstände in tödliche Rammböcke. Menschen haben Abstände zwischen den Wellen und um gegen diese Gewalt keine Chance: Sie ertrinken so größer ihre Amplituden. Peter Bormann oder werden von Trümmern erschlagen. Städte wie New Orleans, Houston, Havanna auf Cuba oder Tampico in Mexiko sind wahrscheinlich als erste dem Untergang geweiht. Nur wenig später haben sich die Wellen auch in die südliche Hälfte der Karibik ausgebreitet und erreichen die Küsten von Belize, Honduras, Jamaika und Haiti, aber auch Venezuela. Zwischen hunderten von Metern und hunderten von Kilometern landeinwärts reicht die Spannbreite der überschwemmten Gebiete. Der Tsunami, der durch den Ausbruch des Vulkan Krakatau im Jahr 1883 ausgelöst wurde, ließ auf Java einen bis zu zehn Kilometer breiten Küstenstreifen unter Wasser verschwinden. Noch weiter ins Landesinnere dringt das Wasser dort vor, wo ihm große Flussmündungen perfekte
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In tiefem Wasser ist die Tsunami-Wellenhöhe niedrig. Doch wenn sich der Tsunami der Küste nähert, staut der ansteigende Untergrund das Wasser auf. © MMCD
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Einfallstore bieten. 1960, nach einem Erdbeben im Pazifik, reichte das Überschwemmungsgebiet entlang des Imperial River beispielsweise bis zu 30 Kilometer weit ins Land. Wie weit der Tsunami tatsächlich ins Land vordringt, hängt jedoch zum größten Teil von der Küstenform und auch dem Untergrund ab. Eine einfache Faustregel – und damit eine effektive Vorhersage – gibt es nicht. „Das ist ein Resultat von so vielen kleinen Änderungen“, erklärt Robert Weiss, Tsunamiforscher am NOAA Center for Tsunami Research in den USA und Experte für Tsunami-Simulationen. „Im Extremfall haben Sie drei Häuser nebeneinander und wenn man Pech hat, sind hinterher zwei davon weg, das Dritte steht noch.“ Wie unberechenbar Tsunamis sind, zeigte sich auch im Dezember 2004 nach dem Erdbeben vor Sumatra: Obwohl die Wellenhöhe unmittelbar an der Küste meist bei acht oder neun Metern lag, überwanden die Wassermassen an einigen Stellen problemlos Anstiege von mehr als 30 Metern. Unter anderem deshalb wird es auch im Vorfeld des Einschlags kaum möglich sein, genau vorherzusagen, welche Gebiete betroffen sein werden und welche nicht. Hinzu kommt, dass die Wissenschaftler sich in ihren Daten und Berechnungen fast nur auf Tsunamis stützen können, die von Erdbeben ausgelöst werden. Sie gehören zum häufigsten Tsunamityp, kaum ein Jahr vergeht, ohne dass sich eine größere Überflutung dieser Art ereignet. Deshalb existieren für diese Tsunamis detaillierte Daten über Erdbebenstärke, freigesetzte Energie und die genaue Form und Stärke der entstehenden Flutwellen. Für Tsunamis als Folge eines Einschlags jedoch gibt es keine einzige Beobachtung oder gar Messdaten – denn aus der unmittelbaren Vergangenheit ist kein solcher Tsunami bekannt. Da sich Erdbeben-Tsunamis und Impakt-Tsunamis sowohl in ihrer Wellenform als auch Wellenhöhe und Ausbreitung unterscheiden, sind hier die Forscher vor allem auf Modelle angewiesen. Diese jedoch gibt es bisher auch fast nur für Erdbeben-Tsunamis. „Man kann nicht einfach die Modelle nehmen, die wir bei der NOAA nutzen, um die Frühwarnsysteme damit zu füttern. Man würde in diesem Fall die Wellen überschätzen“, erklärt Weiss. „Stattdessen muss man spezielle Programme dafür verwenden, die wesentlich komplizierter sind. Die dahinter stehenden Gleichungen sind komplexer als die Gleichungen, die man für Erdbebenwellen nimmt.“ Und diese Komplexität verhindert bis jetzt, dass Wissenschaftler die potenziellen Tsunamis nach einem Einschlag wie dem Chicxulub in Modell des Tsunami vom 26. Dezember 2004 vor Sumatra. Zu sehen ist die Wellenausbreitung und -höhe in den ersten Minuten nach dem Beben. © NOAA
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vollem Umfang modellieren können: „Das liegt nicht am Modell oder daran wie das Modell geschrieben ist, sondern einzig und allein an der Tatsache, dass die Computer heute noch nicht schnell genug sind“, so Weiss. „Was wir machen können, ist, kleinere Einschlagsgrößen zu nehmen, geringere Wassertiefen und eine s gab eine Faustregel. Doch der Sumatrageringere Rastergröße. Das kann man dann Tsunami hat alles zunichte gemacht. Robert Weiss skalieren. Das ist so ähnlich, als wenn man ein Schiff baut: Man baut zuerst ein kleines Modell und dann erst den 180 Meter Frachter.“ Und selbst diese kleinen Modelle sind keineswegs „mal eben so“ gerechnet. Die aktuellste Simulation von Weiss hat trotz der Reduktion noch immer drei Wochen Rechenzeit gebraucht. Doch der Wissenschaftler ist optimistisch, dass angesichts der rasanten Fortschritte in der Computertechnik auch die Tsunamiforschung bald davon profitieren wird: „Wenn es in zwei oder drei Jahren bessere Computer gibt, dann bin ich auch sehr zuversichtlich, dass wir anfangen können, auch den Chicxulub-Einschlag so zu reproduzieren wie er war.“ Bessere Modellierung könnte dann bedeuten, dass auch die Vorhersagen präziser werden.
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Ohne Warnung? Ob dies allerdings dann auch den potenziell betroffenen Gebieten zugute kommt, ist fraglich. Denn für die Vorbeugungsmaßnahmen vor Ort sind die jeweiligen lokalen Entscheidungsträger verantwortlich. Nicht die nationalen oder gar internationalen Überwachungs- und Forschungseinrichtungen wie die NOAA entscheiden, wo und wann evaDieses Panorama zeigt die Zerstörungen an der Ostküste Sri Lankas nach dem Tsunami vom
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kuiert wird, sondern die Behörden der jeweiligen Regionen. Und diese sind oft nur unzureichend auf eine solche Situation vorbereitet – und die Informationen, die sie bekommen, helfen ihnen unter Umständen nur wenig. „Ihnen wird nicht gesagt, bis zu 350 Meter landeinwärts müssen Sie alles evakuieren“, erklärt Weiss. Doch ohne solche konkreten Hinweise werden Gebiete, die nicht bereits „Tsunami-erprobt“ sind, kaum rechtzeitig Maßnahmen ergreifen können. Teils aus Unkenntnis, teils vielleicht auch aus Unfähigkeit könnte das bedeuten, dass gerade an den Küsten Mexikos und der Karibikinseln viele Bewohner im Vorfeld nur unzureichend gewarnt werden und Evakuierungen zu spät oder gar nicht stattfinden. Andererseits liegen diese Gebiete so dicht am Einschlagsort, dass nach Ansicht der meisten Forscher der Tsunami ohnehin nur eine tödliche Impaktfolge unter vielen ist: Wer nicht schon zuvor von der Hitzestrahlung, der Schockwelle oder den herabfallenden Trümmern getötet wurde, der fällt dem Wasser zum Opfer. „Es könnte sein wie in Lissabon nach dem Erdbeben: Die Stadt hat gebrannt und die Leute sind zum Fluss gelaufen, weil sie dachten, dort sicher zu sein“, erklärt Weiss. „So etwas Ähnliches kann ich mir auch dann vorstellen: Die Menschen sind desorganisiert, haben keine Ahnung, was sie zu tun haben. Sie wollen von den Bränden weg. Weiter landeinwärts können sie nicht, weil es auch dort brennt. Also gehen sie zum Wasser.“
Warnschilder wie diese weisen heute in vielen Tsunami-gefährdeten Regionen auf die Gefahr und auf Rettungswege hin. © ITSU
Nach den ersten Wellen Die erste Tsunamiwelle ist vorüber, das Wasser beginnt wieder abzufließen. Jetzt saugt das Meer mit der zurückströmenden Welle wahllos 26. Dezember 2004 – rund 100 Meter landeinwärts. © NOAA
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Trümmer, Leichen von Menschen und Tieren, aber auch große Mengen Geröll und Erde mit sich. Auf dem Weg setzt sich ein Teil des Sediments direkt wieder ab und hinterlässt eine dicke Schlammschicht. Doch die erste Tsunamiwelle ist kaum abgelaufen, da naht schon die zweite Woge. Erneut wälzt sich die Wasserflut über das Land – wahrscheinlich sogar noch weiter als beim ersten Mal. Erfahrungen mit vergangenen Tsunamis haben gezeigt, dass oft erst die späteren Wogen die größte Höhe und Gewalt ie erste Tsunamiwoge ist meistens erreichen. Die fünfte oder sechste Welle kann daher nicht die größte. Spätere Wogen, noch um ein Vielfaches höher sein als die erste. Der manchmal sogar erst die fünfte oder Wechsel von Überschwemmung und Rückzug, von sechste, können um ein Vielfaches Zerstörung und Ablagerung wiederholt sich bis zu zehn Mal. Erst dann kehrt allmählich Ruhe ein. Zurück stärker sein. Peter Bormann bleibt eine Trümmerlandschaft: In den Senken sammelt sich eine giftige Brühe aus salzigem Wasser, Schlamm, Fäkalien und Chemikalien. Straßen, Brücken und Eisenbahngleise sind unterspült oder weggeschwemmt, die gesamte Infrastruktur ist zerstört. Über allem aber liegt eine Schicht aus Schlamm und Geröll. Belege für eine solche Ablagerung haben Forscher auch in den vor 65 Millionen Jahren gebildeten Gesteinen gefunden. Im gesamten Gebiet des Golf von Mexiko gibt es eine zwischen 40 und 170 Meter dicke Schicht im Gestein, in der Kalksteinkörnchen, Trümmer und anderes Sediment durcheinander geworfen sind. Aber stammen diese Ablagerungen auch tatsächlich von Tsunamis? Nach Ansicht vieler Forscher ist eine eindeutige Antwort darauf extrem schwierig, besonders in der Golfregion. Denn etwa zur gleichen Zeit wie die Tsunamis erreichten auch die vom Impakt ausgeschleuderten Gesteinstrümmer das Gebiet, die Schockwelle ebnete die Landschaft ein – und alle Trümmer davon landeten letztlich in der heute sichtbaren Sedimentschicht. „Die sedimentären Systeme, die entstehen, geben uns nicht genügend Informationen aus sich selbst
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Vor einem Tsunami zieht sich das Wasser besonders stark zurück, wie hier beim Tsunami vom 26. Dezember 2004 im thailändischen Kata Noi. (links: normal, Mitte: extremer Rückzug, rechts: Hochwasser während der Tsunamiwelle) © GFDL
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heraus, um sagen zu können: Das ist eine Tsunami-Ablagerung und das nicht“, erklärt Weiss das Dilemma. „Das können sie an keinem Strand der Welt so feststellen.“ Ein paar charakteristische Indizien für einen Tsunami gibt es allerdings schon: So nimmt typischerweise die Größe der abgelagerten Sedimente mit steigender Entfernung von der Küste ab. „Man kann zum Beispiel sehen, dass sich gröbere Sande viel näher an der Küste ablagern als feine Sande“, so Weiss. Ein Forscherteam um den Geologen Philippe Claeys hat im Jahr 2002 zusammengetragen, wo bisher überall potenzielle Tsunami-Ablagerungen des „Dinokillers“ gefunden wurden. Die charakteristischen Störungen und Turbulenzen im Sediment fanden sich dabei keineswegs nur in der Karibik, im Nahbereich des Einschlags, sondern auch an der Ostküste der USA und in Brasilien. Für ihre Entstehung kommt jedoch nicht nur der direkt durch den Impakt ausgelöste Tsunami in Frage – es gibt noch eine andere Möglichkeit:
Der Tsunami hinterlässt eine dicke Schlammschicht, die Trümmer und Leichen überdeckt. © FEMA
Drama am Meeresgrund Die ersten Tsunamiwellen sind abgeflaut, die Meeresoberfläche hat sich langsam wieder beruhigt. Doch tief unten, am Meeresgrund, beginnt bereits die nächste Katastrophe: Die Schockwellen des Einschlags haben den gesamten MeeresboFundstellen von Tsunamiablagerungen aus der Zeit des Einschlags vor 65 Millionen den durchgeschüttelt. Das Konti- Jahren © MMCD nentalschelf, der Sockel, auf dem die Landmasse Mittelamerikas sitzt, hat dies relativ unbeschadet überstanden – nicht aber seine Ränder. Hier, wo der Meeresboden plötzlich von der Flachwasserzone in tiefere Bereiche abfällt, gerät der Untergrund in Bewegung: Kilometerlange Bereiche der Schelfkante brechen ab und rutschen in die Tiefe. Wie katastrophal die Folgen einer solchen Rutschung sein können, zeigte sich unter anderem vor rund 8.000 Jahren: Vor der Küste Norwegens brachen damals Gesteinsmassen von der
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Größe Islands vom Kontinentalschelf ab und rutschten 2.000 Meter weit in die Tiefe. Das Meerwasser, plötzlich durch die Tonnen von Gestein verdrängt, reagierte mit Wellen – Tsunamiwellen. Bis zu 30 Meter hoch, so die Schätzungen von Geowissenschaftlern, war die Flutwelle, die damals große Teile Großbritanniens, Norwegens und Islands unter Wasser setzte. Auch der Tsunami nach dem Ausbruch des Vulkans Krakatau in Indonesien im Jahr 1883 entstand hauptsächlich durch eine Rutschung: Ursache war das Einstürzen der 900 Meter s gibt deutliche Hinweise auf starke hohen Vulkaninsel nach der Eruption. Die resultierenden Tsunamiwellen waren in Java und Sumatra bis Tsunamiwellen in der Karibik zum zu 35 Meter hoch und löschten dort 165 Küstenorte Zeitpunkt des Impakts. Clark Chapman komplett aus. 36.000 Menschen starben. Höhere Flutwellen wurden sogar noch an der Südküste der Arabischen Halbinsel beobachtet – mehr als 7.000 Kilometer von Krakatau entfernt. Auch für das Szenario nach einem Einschlag auf Yucatan sind solche Erdrutsch-Tsunamis extrem wahrscheinlich. Die Ablagerungen nach dem Chicxulub-Impakt vor 65 Millionen Jahren belegen, wie sensibel die Ränder des amerikanischen Festlandssockels damals auf die gewaltigen Erschütterungen reagierten. Auf Kuba hat ein gigantischer unterseeischer Erdrutsch nach dem Einschlag die 500 Meter dicke Cacarajicara-Formation abgelagert. Auch in New Jersey, mehr als 2.500 Kilometer von Yucatan entfernt, zeugen die Sedimente noch von größeren Störungen und Rutschungen am Kontinentalrand. Und selbst in Kontinentalränder bilden den Übergang vom flacheren Festder Tiefseeebene vor der Küste Portugals fanden Wislandssockel (hellblau) zur Tiefsee (dunkelblau). © NOAA senschaftler bei der Analyse von Bohrkernen eine 70 Zentimeter dicke Schicht von Erdrutschablagerungen direkt unterhalb der K/T-Grenze. Sie vermuten, dass diese Rutschung entweder durch einen Tsunami oder direkt durch die Schockwellen des Einschlags ausgelöst worden ist. Seither hat sich an dem grundsätzlichen Aufbau der Kontinentalhänge nur wenig verändert. Auch heute noch kann daher eine entsprechend starke Schockwelle hier Millionen Tonnen von Gestein ins Rutschen bringen. „Wir sehen Spuren von solchen Erdrutschen entlang der gesamten nordamerikanischen Küste bis hinauf nach Nova Scotia. Gewaltige Rutschungen, die vom kontinentalen Schelf abgingen und die Tsunamis ausgelöst haben können“, erklärt Impakt-Experte Jay Melosh. „Und diese waren es möglicherweise vor allem, die auch die andere Seite
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Ausbreitung des Tsunami nach dem Ausbruch des Krakatau im Jahr 1883 © MMCD
des Ozeans, die europäische und afrikanische Seite, erreicht haben.“
Über den Atlantik – und zurück Zwar bleiben die meisten Tsunamiwellen wahrscheinlich auf die Karibik und die unmittelbar umliegenden Küsten beschränkt, aber mindestens ein Teil der Tsunamis findet seinen er Atlantik ist supereffektiv Weg auch in den Atlantik. Hier, in dem bis zu 5.500 auf Tsunamis. Robert Weiss Meter tiefen Wasser dieses großen Meeresbeckens können sich die Wellen nahezu ungebremst ausbreiten. Wie effektiv eine Tsunamiausbreitung in tieferem Wasser sein kann, zeigte sich im April 1946. Vor den Aleuten lösten ein starkes Erdbeben und folgende große Erdrutsche einen Tsumani aus, der einmal um den halben Globus raste: Noch 15.600 Kilometer entfernt, in der Antarktis, beschädigte die hier
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in Bezug
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immerhin noch zwei Meter hohe Flutwelle eine Forschungshütte einer britischen Antarktisexpedition. Der Einschlags-Tsunami rast jetzt mit mehr als 800 Kilometern pro Stunde – genauso schnell wie ein Düsenjäger – über den Atlantik. Seine Wellen sind nur noch ein oder zwei Meter hoch – kaum fühlbar auf dem offenen Meer – aber mehr als hundert er Tsunami ist ohne Kilometer lang. Ihre tödliche Energie bleibt dabei fast unvermindert Frage fähig, zur erhalten. Nur auf halbem Wege nach Europa schrammt die Wellenunterafrikanischen Küste zu seite über ein unterseeisches Gebirge – den Mittelatlantischen Rücken. laufen und wieder Wie eine gigantische Nahtstelle zwischen alter und neuer Welt zieht sich dieser S-förmige Höhenrücken unter der Meeresoberfläche einmal längs zurück. Robert Weiss durch den Atlantik. Für den Tsunami aber kein echtes Hindernis: Rund 90 Prozent der Energie passiert den Rücken ungehindert. Zehn Prozent allerdings werden durch den hier teilweise recht steil ansteigenden Ozeanboden reflektiert. Sie rasen als kleine Welle wieder zurück in Richtung Ausgangsort – in diesem Falle zurück nach Westen. Der große Rest des Tsunami aber bewegt sich weiter in Richtung Afrika und Europa. Nach sechs bis zwölf Stunden sind auch hier die ersten Küsten erreicht. Mit nahezu unverminderter Energie läuft der Tsunami in das flachere Wasser der Küstengebiete, die Wassermassen türmen sich auf. Die im offenen Ozean nur rund einen Meter hohen Wellen wachsen bis auf sechs oder sieben Meter Höhe an – je nachdem, wie steil der Meeresboden ansteigt. Für die Küstenregionen WestafriTsunamiwellen können sich um den halben Globus ausbreiten. kas und Westeuropas eine tödliche Gefahr: „Dieser 1946 erreichten die Ausläufer eines Tsunamis vor den Aleuten Tsunami wäre definitiv vergleichbar oder zumindest sogar die Antarktis. © NOAA in der gleichen Liga mit dem Sumatra-Tsunami von 2004“, erklärt Weiss. Tsunami-Experten des GeoForschungsZentrum Potsdam gehen davon aus, dass bereits drei Meter hohe Wellen Bauten aus Betonblocksteinen total zerstören können, bei Wellenhöhen von mehr als fünf Metern bieten auch Stahlbetongebäude keinen Widerstand mehr. Exponierte Küstenregionen und Städte wie Lissabon, das südspanische Cadiz oder das nordafrikanische Dakar sind dem Tsunami nahezu schutzlos ausgesetzt. Das Wasser lässt Gasleitungen bersten und löst elektrische Kurzschlüsse aus. Feuer brechen aus. Treibstoff aus Fahrzeugen und leckgeschlagenen Tanks nährt die Flammen noch. An Flussmündungen der europäischen und afrikanischen Westküsten können die Fluten bis weit in das Land hinein vorstoßen. Hier stehen auch weit
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Die Küstenregionen Nordamerikas, aber auch des Atlantiks, sind dem Ansturm des Wasser nahezu schutzlos ausgesetzt. Die meisten Häfen würden zerstört. © NOAA
hinter der Küste noch große Landflächen unter Wasser. Doch längst nicht alle Energie des Tsunami erschöpft sich an den Küsten Afrikas und Europas. Denn die relativ steil ansteigenden Schelfhänge der „alten Welt“ lassen einen Teil der Tsunamienergie abprallen und werfen sie wieder zurück Richtung Westen. In einem Simulationsexperiment haben Weiss und seine Kollegen untersucht, wie sich ein in der Karibik ausgelöster Tsunami im Atlantik auswirkt. Zu ihrer großen Überraschung registrierten sie dabei nicht nur deutliche Flutwellen beiderseits des Atlantik, sondern auch – rund zwölf Stunden später – eine Art „Echo“ des ursprünglichen Tsunami: „Der Atlantik ist super effektiv: Wir lassen Erdbeben in der Karibik stattfinden und die Wellen kommen fast mit derselben Höhe zurück“, so Weiss. „Wir haben 80 Zentimeter in New York gemessen, dann nach zwölf Stunden wieder 70 Zentimeter in New York. Wir hatten erwartet, dass da nichts mehr rüberkommt.“ Ähnliches könnte auch bei einem Tsunami durch den Einschlag oder die darauf folgenden Erdrutsche eintreten – nur dann wahrscheinlich in deutlich größerem Maßstab. Für die Ostküste des amerikanischen Kontinents, für Millionenmetropolen wie New York, Miami, oder Philadelphia bedeutet dies einen Doppelschlag mit Zeitverzögerung: Das „Echo“ des
Tsunami in den Straßen New Yorks, Abfließendes Wasser nach der Überflutung. © Filmszene
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Wasser und Feuer
Die Hitzestrahlung nach dem Einschlag löst weltweit Waldbrände aus. © FEMA/Bryan Dahlberg
Tsunamis trifft genau dann ein, wenn die Katastrophe vielleicht schon als überstanden gilt. Wenn zumindest von der Wasserseite her niemand mehr eine Gefahr vermutet.
Sie wollen von den Bränden weg. Also
Das Feuer
Knapp einen Tag nach dem Einschlag sind Schockwelle, Erdbeben und die schlimmste Hitzestrahlung vorüber. Abseits der Küsten stellen die Tsunamis keine Bedrohung dar. Doch schon beginnt die nächste Welle der Einschlagsfolgen: Denn die Hitzestrahlung hat nicht nur alles Leben an der Erdoberfläche sofort „gegrillt“, sie hat auch alles auf mehrere hundert Grad aufgeheizt. Nach den Modellen der Wissenschaftler könnten in den ersten 15 Minuten nach dem Impakt Temperaturen von bis zu 600 Grad
gehen sie zum Wasser, denn Wasser brennt nicht. Robert Weiss
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Celsius erreicht worden sein, danach für mehrere Stunden immerhin noch zwischen 200 und 400 Grad. Diese Hitze reicht aus, um trockene Pflanzenteile spontan in Flammen aufgehen zu lassen. Die Folge: An vielen Orten der Erde brechen Wald- und Buschbrände aus. In den Städten oder in Industrieanlagen entzünden sich brennbare Gase, Explosionen werden ausgelöst. Rauchwolken verdunkeln den Himmel. Sogar die feuchteren Regionen könnten nach Ansicht einiger Forscher, darunter auch Impaktexperte Jay Melosh, in Flammen aufgehen, wenn die Hitzestrahlung länger anhält: „Ein Regenwald wird nicht spontan in Flammen ausbrechen“, erklärt Melosh. „Aber es gibt eine andere Form der Verbrennung, das Schwelen. Hierbei passiert Folgendes: Wenn genügend thermische Strahlung einfällt, trocknen die grünen, wasserhaltigen Blätter langsam, beginnen sich aufzurollen und werden braun, während das Wasser aus ihnen herauskocht. Dann, nach etwa 20 Minuten bis einer Stunde, beginnen auch sie zu brennen.“ Auch vor 65 Millionen Jahren löste der Einschlag höchstwahrscheinlich gewaltige Feuer aus. Spuren solcher Brände finden sich in vielen Ablagerungen aus der damaligen Zeit. „Wir sehen Belege dafür. Wir sehen den Ruß vermischt mit den Ejekta“, erklärt Jay Melosh. Ob es sich dabei allerdings um eine globale Feuersbrunst gehandelt hat, wie einige Forscher meinen, oder aber um zahlreiche, jeweils lokal begrenzte Brände, ist bis heute strittig. In einigen Proben, die im Rahmen des internationalen Kontinentalen Tiefbohrprogramms (KTB) in mehreren Ländern Europas, sowie in New Mexico und Neuseeland genommen wurden, finden sich Ruß und andere Hinweise auf Brände, in anderen Bohrkernen dagegen fehlt eine solche Rußschicht. Doch trotz aller Uneindeutigkeit der Indizien: Dass es auf dem Land heiß war und zumindest in einigen Gebieten zu großflächigen Bränden gekommen ist, scheint unstrittig.
Selbst feuchte Wälder könnten in Flammen aufgehen. Nach den Bränden sind ganze Gebiete verkohlt. © FEMA/ Andrea Booher (o.), NPS/John Good (u.)
Die Stürme
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Die thermische Strahlung könnte jedoch nicht nur ie Winde werden so stark, dass sie die Feuer, sondern auch noch andere verheerende Kata- Schallmauer durchbrechen. Matthew Huber strophen auslösen: gewaltige Hypercanes, Wirbelstürme stärker als alles, was unter normalen Bedingungen entstehen könnte. „Sie beginnen wie ein ordinärer Hurrikan, aber dann werden sie einfach immer schneller und schneller“, erklärt Matthew Huber, Professor für Klimaforschung an der Purdue Universität in Indiana und einer der an der ZDF-Produktion beteiligten Wissenschaftler. „Die Druckwellen dieses Sturms werden so schnell, dass sie sogar die Schallgeschwindig-
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Wasser und Feuer
Luftdruck, Windgeschwindigkeiten und Luftbewegungen an unterschiedlichen Stellen im Inneren eines Hurrikans. © MMCD
Es beginnt wie ein normaler Hurrikan und dann wird es einfach immer schneller und schneller. Matthew Huber
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keit übertreffen, sie brechen die Schallmauer.“ Schon die „normalen“ tropischen Wirbelstürme sind riesige atmosphärische Wärmekraftmaschinen, angetrieben durch die Energie des verdunstenden Wassers über dem Meer. Überall dort, wo die Temperatur des Oberflächenwassers 27 Grad Celsius erreicht, kann sich diese „Maschine“ in Gang setzen. Denn dann entsteht ausreichend Wasserdampf, um dem Wirbelsturm als Motor und Treibstoff zu dienen. Dabei steigt feuchte, warme Luft bis in höhere, deutlich kältere Schichten der Atmosphäre auf. Hier kondensiert der Wasserdampf, den sie in sich trägt, es bilden sich Wolken, gleichzeitig wird Energie frei. Die abgekühlte Luft wird nach außen abgedrängt und sinkt hier wieder in die Tiefe. Unten, über der Wasseroberfläche, wirkt das von der aufsteigenden Luft hinterlassende Tiefdruckgebiet wie ein Staubsauger: Immer mehr feuchte und warme Luft aus der Umgebung strömt heran und wird ebenfalls in die Höhe gesaugt. Der Kreis ist geschlossen. Wenn jetzt noch die kombinierten Effekte der Erddrehung und seitlicher Winde hinzukommen, setzt sich das ganze System in Bewegung, es gerät in Rotation – ein Wirbelsturm ist geboren. Normalerweise erreichen die Windgeschwindigkeiten in einem solchen Wirbelsturm kaum mehr als 350 Kilometer pro Stunde. Unebenheiten und Turbulenzen der Meeresoberfläche sorgen für Reibung und bremsen den Sturm. Anders dagegen in einem Hypercane: „Die Wärmemaschine des Wirbelsturms gerät außer Kontrolle“, so Kerry Emanuel, Atmosphärenforscher am Massachusetts Institute of Technology (MIT). „Die Reibung kann da nicht mehr mithalten.“
Ausnahmezustand in der Atmosphäre Wie so etwas möglich ist und dass es überhaupt Hypercanes gibt, haben er und seine Kollegen mehr oder weniger durch Zufall entdeckt: „Wir haben versucht vorherzusagen, wo die höchste Intensität liegt,
die normale Hurrikans erreichen können“, erklärt Emanuel. „Und wir bemerkten, wenn wir den Ozean zu warm machten und die Atmosphäre zu kalt, dass dann die Gleichungen keine sinnvolle Lösung mehr brachten – sie flogen uns sozusagen um die Ohren.“ Damit hatten die Forscher ein ähnliches Problem wie sonst nur Astrophysiker bei der Erforschung Schwarzer Löcher: Sie waren auf eine Singularität gestoßen, ein Phänomen, das sich nicht mehr mit an muss es sich als eine Singularität den gültigen Gesetzmäßigkeiten und Gleichungen vorstellen, wie ein Schwarzes Loch. Matthew Huber erklären lässt – aber dennoch offensichtlich vorhanden ist. „Wenn tropische Zyklone die Hypercane-Phase erreichen, ist das im Grunde das gleiche Prinzip. Sie sind eine Singularität“, erklärt auch Huber. Damit dieser Ausnahmezustand erreicht wird, muss zwischen Meeresoberfläche und der oberen Atmosphäre ein Temperaturunterschied von mindestens 60 bis 80 Grad herrschen, so die Kalkulation von Huber anhand des Einschlags vor 65 Millionen Jahren. Damals lagen die glo-
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Hurrikan Floyd (1999) wäre gegen einen echten Hypercane nur ein laues Lüftchen. © NASA
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Wenn die Stürme
länger als eine Woche anhalten, könnte dies dramatische globale Effekte haben. Kerry Emanuel
balen Meerestemperaturen auch schon vor dem Impakt fünf bis sieben Grad höher als heute. Die Stratosphäre dagegen war und ist eine sehr kalte Atmosphärenschicht, die Temperaturen reichen hier von minus 15 Grad an ihrer Obergrenze bis minus 60 Grad an ihrem unteren Rand. Um die kritische Differenz zu erreichen, so Huber, hätte damals schon eine Erwärmung der Meeresoberfläche um zehn Grad völlig ausgereicht. Heute bräuchte man ein paar Grad mehr – aber die gewaltige Hitze des Einschlags könnte das problemlos liefern. Die Folge sind katastrophale Hypercanes. „Das System treibt sich selbst an. Es wird stärker und stärker. Das Tief in seinem Inneren wird tiefer und tiefer und die Winde werden schneller und schneller“, erklärt der Wissenschaftler. In einer Computersimulation des MIT-Forschers Emanuel erreichte ein solcher Hypercane Höhen von bis zu 32 Kilometern und Windgeschwindigkeiten von knapp 800 Kilometern pro Stunde. Mit schier unvorstellbarer Gewalt walzt ein solcher Supersturm alles
Ein Hypercane kann sogar das Klimasystem aus dem Gleichgewicht bringen. Denn er saugt Wasserdampf und andere Gase bis weit in die Stratopshäre hinauf. © NASA/GSFC
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nieder, was sich ihm in den Weg stellt. Dort, wo die Küsten nicht ohnehin schon durch Tsunamiwellen verwüstet sind, oder die großen Brände alles in Asche verwandelt haben, bedeutet ein solcher Hypercane das endgültige Aus. Denn die Überlebenschance in einem solchen Sturm ist für ungeschützte Lebewesen gleich Null. Und bei dem einen würde es höchstwahrscheinlich nicht bleiben, wie Emanuel herausgefunden hat. „Man könnte eine ganze Reihe von diesen Dingern bekommen – einer entwickelt sich und bewegt sich weiter, dann entsteht ein anderer über dem heißen Überschwemmung in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina im September 2005. © NOAA Wasser. Wenn diese Serie länger als eine Woche anhalten würde, hätte das dramatische globale Effekte.“ Und diese beschränken sich keineswegs auf die unmittelbaren Zerstörungen durch den Sturm. Ein Hypercane hat auch das Potenzial, die Atmosphäre und damit das gesamte sensible Klimasystem nachhaltig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Denn wie eine gigantische Pumpe schleudert der vom Boden bis in die Stratosphäre reichende Wirbelsturm enorme Mengen von Material nach oben: „Sie pumpen alles in die Höhe, dass sich in der Troposphäre befindet: Wasserdampf, Ruß, alles was sich hier unten befindet, landet in der oberen Atmosphäre“, so Huber. Und das hat fatale Folgen: Zum einen wirkt Wasserdampf in der normalerweise knochentrockenen Stratosphäre wie eine globale Heizdecke. Die von der Erdoberfläche abstrahlende Wärme bleibt gefangen, kann nicht in den Weltraum entweichen und allmählich setzt eine Erwärmung ein. Zum anderen aber setzt der Wasserdampf eine Kettenreaktion in Gang, die die Ozonschicht zersetzt. Geht jedoch dieser wichtige Schutzfilter der Atmosphäre verloren, sind alle Lebewesen auf der Erde ungeschützt den tödlichen UV-Strahlen der Sonne ausgesetzt. Im Gegensatz zu ihren Folgen sind die Hypercanes selbst wahrscheinlich nur ein kurzes Zwischenspiel in der Abfolge der Katastrophen nach dem Einschlag. Denn sobald die Hitzeperiode vorbei ist und die Temperaturen wieder absinken, endet auch die Phase der Hypercanes.
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Fragen an: Robert Weiss Der Tsunamiforscher arbeitet am Center for Tsunami Research der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) in Seattle, USA. Er untersucht unter anderem, wie sich die durch einen Impakt ausgelösten Tsunamiwellen von den typischen Erdbeben-generierten Tsunamis unterscheiden.
Was geschah vor vor 65 Millionen Jahren? Was für einen Tsunami erzeugte der Einschlag damals? Ich kann sagen, dass der Tsunami im flachen Wasser entstanden ist, vielleicht mit einer Länge von 20 bis 30 Kilometern und einer Wellenhöhe, die man sehr schlecht abschätzen kann, aber die zumindest definitiv nicht höher war als die Wassertiefe, denn sonst könnte er sich nicht fortpflanzen. Der damalige Einschlagsort lag ja in sehr fl achem Wasser. Welche Auswirkungen hatte das? Wenn der Tsunami vom flachen Wasser ins tiefe Wasser läuft wird er flacher, die Wellenlänge länger. Aber er wird die Energie beehalten. Das heißt die selbe Energie, die drin war, bevor die Welle in tiefes Wasser gelaufen ist, bleibt auch in der Welle, die im tiefen Wasser läuft. Nur besser verpackt. Denn die Welle im flachen Wasser würde ihre Energie verlieren, weil sie zu hoch ist. Kräfte an der Oberfläche und Kräfte am Boden würden dafür sorgen, dass sie schwächer wird. Durch die geringe Wellenhöhe im tiefen Wasser ist sie dagegen sehr effektiv in der Fortpflanzung und verliert fast keine Energie. Wie weit breitet sich ein solcher Tsunami aus? Erreicht er den Atlantik? Wenn die Welle 1.000 Kilometer in flachem Wasser laufen müsste, würde sie keine 1.000 Kilometer weit kommen, weil sie viel zu hoch ist. Aber wenn sie in tiefes Wasser hineinläuft,
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ist sie ohne Frage fähig, bis zur afrikanischen Küste zu laufen und wieder zurück. Problemlos. Müssten sich die Menschen an der westafrikanischen Küste in Sicherheit bringen? Ich würde schon sagen, dass sie besser weggehen sollten. Denn der Tsunami wäre definitiv vergleichbar oder zumindest in der gleichen Liga wie der Sumatra-Tsunami – auch wenn vielleicht viele Leute nicht der gleichen Ansicht wären. Der Atlantik ist sehr faszinierend. Wir arbeiten ja gerade sehr aktiv daran. Wir lassen Erdbeben in der Karibik stattfinden und die kommen mit der selben Höhe zurück, wie wir sie ausgesendet haben. Der Atlantik ist in dieser Hinsicht sehr effektiv. Da geht ein bisschen was weg am Mittelatlantischen Rücken und der Rest kommt genauso wieder zurück, wie er ausgesendet wurde. Das hängt davon ab, wo der Rücken ist und wie schnell er sich aufsteilt. Sein Gradient sorgt dafür, dass ein gewisser Teil, zehn Prozent der Energie, wieder zurück reflektiert werden. Die können dann diesen höchsten Punkt nicht passieren. Wir haben im Modell 80 Zentimeter in New York gemessen und dann nach zwölf Stunden wieder 70 Zentimeter in New York. Und das bei einem Erdbeben im karibischen Meer. Wir hätten erwartet, dass da nichts mehr zurückkommt. Im pazifischen Raum wäre das auch nicht möglich, denn dieser ist zu groß und es gibt zu viele Höhenunterschiede. Der Atlantik ist auch weniger tief.
Das heißt ein Dopppelschlag an der amerikanischen Küste? Ja genau. Etwa zehn Stunden später kommt das wieder zurück. Oder zwölf Stunden. Kommen wir noch einmal zurück zu den Größenordnungen. Wie viel käme nach einem solchen Tsunami denn nun tatsächlich an der Küste an? Die Welle entsteht, wird vielleicht 50 Meter hoch, läuft in tieferes Wasser, wird dann plötzlich 100 Kilometer lang, vielleicht mehr und ist dann nur noch zwei Meter hoch. Oder ein Meter, reicht ja auch. Dann kommt sie zum atlantischen Rücken, zehn Zentimeter gehen weg, bleiben 90 Zentimeter. Dann läuft sie weiter zur afrikanischen Küste. Hier kann sie sich auftürmen. Je nachdem, wie steil es ist, entsteht eine fünf, sechs, sieben Meter hohe Welle am Strand. Und die läuft dann rein. Jetzt hängt es stark davon ab, wie die Topographie sich entwickelt. Wenn ich direkt an der Küste ein Kliff habe, dann ist das natürlich schön für Leute, die oben auf dem Kliff wohnen, weil die Welle einfach dagegen klatscht und dann wieder zurück geht. Aber wenn ich zum Beispiel in der Ebene bin, da geht es ja kaum hoch, dann dringt das Wasser richtig weit ein. Natürlich wird es abgebremst aufgrund von Bodenreibungen, aber auf jeden Fall läuft es weiter rein als an einer steilen Küste. Wie berechne ich das denn? Wenn ich eine fünf Meter hohe Welle habe, heißt das dann automatisch, dass alles unterhalb von fünf Metern unter Wasser steht? Es gab diese Daumenregel tatsächlich. 2004 haben das noch einige Leute geglaubt. Aber der Sumatra-Tsunami hat alles zunichte gemacht. Er hat Topographien von 30 Metern überwunden. Und die Welle an der Küste war nur acht oder neun Meter hoch. Das hängt einfach stark davon ab, was auf dem Weg liegt, beispiels-
weise ob das Grasland ist oder ob da Bäume stehen. Das heißt, wenn ich höre, dass fünf Meter hohe Wellen kommen, dann kann ich mich nicht in Sicherheit wiegen, weil es sein kann, dass ich trotzdem erwischt werde, wenn ich gerade auf einer ungünstigen Geländeformation sitze? Wenn es ganz extrem kommt ja: Sie haben drei Häuser und ich würde sagen, wenn man Pech hat sind die beiden nebendran weg und nur eines steht noch. Gerade der Überlandfluss dieses Wassers ist extrem sensitiv gegenüber sämtlichen Änderungen am Untergrund. Das ist bisher auch noch nicht gut genug in den Modellen ausgearbeitet. Und im Falle unseres Szenarios: Gäbe es genügend Vorwarnung oder würden die Küstenländer überrascht? Denken Sie an Lissabon nach dem Erdbeben im Jahr 1755: Die Stadt hat gebrannt und die Leute liefen zum Fluss, weil sie dachten, hier sind wir sicher, denn hier sind keine Flammen. Und plötzlich kam der Tsunami und hat 60.000 Leute umgebracht. Und so etwas ähnliches kann ich mir auch für das Szenario nach dem Einschlag vorstellen. Das ist einfach so desorganisiert, dass sie keine Ahnung haben, was sie zu tun haben. Sie wollen von den Bränden weg. Sie können nicht weiter ins Landesinnere, weil es da auch Brände gibt. Also geht man zum Wasser, denn Wasser brennt nicht. Und wo will man dann hin, das geht dann einfach zu schnell. Solche Szenarien kann ich mir vorstellen.
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Die Dunkelheit
Blockiere die Sonne und das Ökosystem
kollabiert. 99 Prozent allen Lebens auf der Erde ist vom Sonnenlicht abhängig. Ein Ausschalten der Sonne beseitigt die gesamte erste Stufe des Lebens, die Pflanzenwelt. Kevin Pope
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Der Ausbruch des Mount St. Helens verdunkelte noch in 135 Kilometern Entfernung den Himmel. © NPS/Dave Olson
48 Stunden nach dem Einschlag ist die gesamte Erde in eine Wolke aus Rauch und Staub gehüllt. Der Beginn einer monatelangen Dunkelheit.
Die Dunkelheit weltweit
Achtundvierzig Stunden ist es her, dass der Feuerregen begann. Überall sind Brände ausgebrochen, die noch Wochen anhalten werden. Am stärksten sind die amerikanischen Kontinente betroffen. Tausende von Kilometer um die Einschlagsstelle steht kein Stein mehr auf dem anderen. Der Boden ist meterhoch mit Schutt und Asche bedeckt, überlebt haben hier nur wenige. Auch die unterirdischen Schutzräume, in denen viele Zuflucht gesucht haben sind keine Garantie. Der ganze Planet ist von einer dunklen Wolkendecke verhüllt. Kein Sonnenstrahl dringt zum Boden vor. 40 Stunden nach dem Einschlag, Djoum
Die Baka haben sich in einer Höhle am Feuer versammelt. Hier suchten sie auch in der Vergangenheit oft Schutz, wenn über dem Wald schwere Stürme aufzogen. Diesmal ist es schlimmer als ein Sturm. Als die Feuer vom Himmel fielen, hatten sie versucht die Götter zu beschwichtigen. Gemeinsam mit den Geistern des Waldes haben sie getanzt und gesungen. Aber schon bald mussten sie einsehen, dass es nichts half. Die Hitze und die vom Himmel stürzenden Flammen fanden kein Ende. Sie mussten sich vor den
In den Wäldern von Kamerun werden die Eingeborenen von der Katastrophe überrascht. Als die Feuer um sich greifen, suchen sie in einer in der Nähe gelegenen Höhle Unterschlupf. Von dort müssen sie hilflos zusehen, wie ihre Wälder brennen.
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Die Dunkelheit
Feuern in Sicherheit bringen. Jetzt sitzen sie zusammen und reden aufgeregt über das, was passiert ist. So etwas haben selbst die Ältesten unter ihnen noch nicht erlebt. Lomama steht auf und geht zum Eingang der Höhle. Er kann einfach nicht glauben, dass der Regenwald brennt. Dunkle Rauchwolken steigen zum Himmel auf. Ihr Zuhause steht in Flammen. Vier Tage nach dem Einschlag, Paris
Die Überlebenden von Paris versammeln sich in der Dunkelheit nach der Katastrophe an Lagerfeuern. Viele von ihnen sind traumatisiert.
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Zum ersten Mal seit Tagen machen Henri und seine Tochter Michelle eine längere Ruhepause. Einige Kilometer außerhalb von Paris haben sie andere Menschen getroffen, die sich an Lagerfeuern versammeln. Michelle braucht dringend Schlaf und eigentlich wissen sie ohnehin nicht, wohin sie gehen sollen. Henri ist immer noch ruhelos. Etwas Furchtbares ist geschehen. Im Chaos der Einschlagsnacht wurden sie von Catherine getrennt. Er ist verzweifelt und kann immer noch nicht begreifen, wie das passieren konnte. Am Anfang war er zuversichtlich, sie wieder zu finden. Aber inzwischen ist ihm klar geworden wie schwierig die Situation ist. Sie haben überhaupt keine Möglichkeit zu kommunizieren. Telefone gibt es nicht mehr und auch keine offizielle Stelle, bei der man Vermisste melden könnte. Innerhalb von nur wenigen Tagen, hat sich die Welt mit all ihren Regeln grundlegend verändert. Noch vor einer Woche hätte er sich das nicht vorstellen können. Lange sträubte er sich dagegen, eine Pause zu machen. Aber jetzt kann er nicht mehr. Ihnen bleibt nur die Hoffnung, dass Catherine es auch aus dem Chaos geschafft hat. Paris steht noch immer in Flammen. Und es ist nicht klar, wie viele Menschen in den letzten Tagen umgekommen sind. Es müssen unglaublich viele sein. Für Michelle hat er einen kleinen Schlafplatz eingerichtet. Sie ist so müde, dass sie bereits nach wenigen Minuten einschläft. Noch einmal geht er in Gedanken zurück und ihm wird klar, dass er gar nicht weiß, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist. Die Sonne ist seit der Einschlagsnacht nicht mehr aufgegangen. Seine Uhr zeigt sieben
an – Henri kann nur raten, ob morgens oder abends. Hinter der dichten Wolkendecke über ihnen muss irgendwo die Sonne sein. Das einzige Licht auf der Erde kommt momentan von den Feuern. Am Lagerfeuer teilt sich ein älteres Paar den Inhalt einer Konservendose. Davon gibt es im Moment noch genug. Jeder hat etwas dabei. Viele sind froh, wenn sie mit jemandem teilen können. Die Leute suchen Trost und Unterstützung beieinander. Solidarität – noch ist sie da. Er hat viele Menschen vergeblich nach seiner Frau gefragt. Die meisten hörten kurz zu und winkten dann ab. Einige sind durcheinander oder traumatisiert. Und fast jeder ist auf der Suche nach Angehörigen. Sieben Tage nach dem Einschlag, Hawaii
Noah kämpft mit Händen und Füßen um den richtigen Halt. Sie haben einen steilen Abhang erreicht und in der Dunkelheit ist der Abstieg nicht einfach. Als er eine sichere Stelle gefunden hat, dreht er sich um und hilft Shiang nachzukommen. „Sei vorsichtig, hier ist meine Hand.“ Seit vier Tagen wandern sie zur Ostküste der Insel. Ganz ohne Sonnenlicht oder Sterne ist es schwer, die Richtung genau festzulegen. So folgen sie einfach dem Verlauf des Berges. Unten müssen sie irgendwann auf die Küste stoßen. Drei Tage hatten sie im Observatorium abgewartet, bevor sie beschlossen abzusteigen. Sie hoffen darauf andere Menschen zu treffen. Die Temperaturen am Gipfel wurden bereits nach nur einem Tag ohne Sonne empfindlich kalt. Leichte Erdbeben haben nach der Katastrophe die Insel erschüttert. Noah fürchtete einen Ausbruch des Mauna Loa, der ohnehin immer noch aktiv war. Über kurz oder lang sind sie unten an der Küste sicherer. Dort können sie im Notfall auch die Insel verlassen. Immer wieder denkt Noah über das Ausmaß der Zerstörung nach. Vom Observatorium aus hatten sie gesehen, dass es vielerorts brannte. Aber auf den steil aufragenden Bergen von Hawaii gibt es eine große Variationsbreite von Lebensräumen: von alpinen
Viele Pflanzen keimen auch in der Dunkelheit, aber schon nach wenigen Tagen ohne Sonnenlicht gehen sie zugrunde.
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Die Dunkelheit
Bereichen in den Bergen, über wüstenartige Trockenzonen bis hin zu tropisch feuchten Wäldern mit hohen Niederschlägen. Die Landschaft hier ist so abwechslungsreich, dass es sicher Plätze gibt, die die extremen Bedingungen bisher mit geringen Schäden überstanden haben. Aber die Katastrophe ist noch nicht zu Ende. Auch die Dunkelheit und die Kälte werden sich bemerkbar machen. Nebelschwaden durchziehen das kleine Wäldchen, das sie gerade durchschreiten. Hier stehen noch Bäume und Sträucher. An einem kleinen Wasserfall legen die beiden einen Stop ein. Sie brauchen Trinkwasser. Noah untersucht einen kleinen Strauch, der die Blätter hängen lässt, aus der Nähe. „Die Pflanzen werden es ohne Sonnenlicht nicht mehr lange machen,“ sagt er etwas resignierend. Shiang untersucht das Trinkwasser. „pH 4,2“, sie zeigt ihm das Indikatorpapier. Noah nickt, der Regen ist sauer. Er wird den Säuregehalt des Trinkwassers für einige Zeit verändern. Shiang füllt ihren Wasserbeutel und reicht ihn weiter an Noah. Das Wasser sollte noch genießbar sein. Er nimmt einen Schluck und verzieht das Gesicht. Es schmeckt fürchterlich, aber sie müssen etwas trinken. Langfristig wird die Säure Schwermetalle aus dem Boden lösen. Das kann zu schleichenden Vergiftungen führen. „Wir sollten das nicht allzu lange trinken.“ Auch Shiang nimmt einen Schluck. „Nein, wir sollten überhaupt nicht mehr allzu lange auf dieser Insel bleiben.“
Noah und Shiang kämpfen sich durch die gespenstische Landschaft Hawaiis. Das ausbleibende Licht macht sich bereits bemerkbar, die Pflanzen welken.
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Ein feiner Schleier aus Staub, Ruß und Dunst breitet sich nach und nach über die gesamte Erde aus. © NPS/Ed Austin, Herb Jones
Die Dunkelheit Was sagt die Wissenschaft? Nach Feuer, Wasser und Stürmen kündigt sich jetzt, etwa zwei Tage nach dem Impakt, eine neue Katastrophe an: die Dunkelheit. Langsam breitet sich ein dichter Schleier aus feinem Staub, Ruß und winzigen Schwefelsäuretröpfchen in der Atmosphäre aus. Von Yucatan ausgehend verhüllt diese Dunstglocke nach und nach immer größere Gebiete. Nach etwa drei Tagen hat sich der trübe, dunkle Schleier über die gesamte Erde ausgebreitet. Das Sonnenlicht dringt kaum mehr durch, der Tag wird zur Nacht.
Der Ruß
Es wird so dunkel sein
wie in einer mondlosen Nacht. Matthew Huber
Eine Ursache dieses Schleiers sind die durch die Hitzestrahlung ausgelösten, ausgedehnten Brände. Sie erzeugen feine Rußpartikel, die in der Atmosphäre aufsteigen und hier theoretisch bis zu mehreren Monaten
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Die Dunkelheit
Große Mengen Ruß gelangten durch die brennenden Ölfelder der beiden Golfkriege in die Atmosphäre. Doch nach einigen Monaten hatte sich der Ruß wieder gesetzt. © NOAA/ORR
verweilen können – wenn sie nicht vorher herausgewaschen werden. Genau das trat beispielsweise 1991 in Kuweit nach dem Golfkrieg ein: Acht Monate lang brannten hier Ölquellen, Lagertanks und das aus Lecks ausgetretene Öl. Ruß und Rauch bildeten einen dichten Teppich, der sich bis zu 1.000 Kilometer weit erstreckte und in großen Teilen der Arabischen Halbinsel den Himmel verdunkelte. Entgegen vorherigen Befürchtungen blieb der Teppich aber auf die untere Atmosphärenschicht, die Troposphäre, beschränkt. Hier spielt sich das Wettergeschehen ab, hier entstehen die meisten Wolken, Stürme und vor allem der Regen. Entsprechend begrenzt war dann auch die Lebensdauer der Rauchfahne: Schon kurze Zeit nach dem Erlöschen der Brände war der Himmel wieder „sauber gewischt“. Regentropfen und Sandkörner hatten die Rußpartikel an sich gebunden und mit sich hinunter zur Erde transportiert.
Der Staub Ein weiterer – größerer – Bestandteil des Schleiers sind winzige Staubteilchen. Weniger als einen Mikrometer groß sind viele dieser Partikel, die beim Einschlag in die Atmosphäre geschleudert werden. Bei kleineren Einschlägen oder Vulkanausbrüchen ist diese Staubwolke nicht sehr groß und sinkt meist sehr schnell wieder zu Boden. Für eine zumindest kurze und regionale Dunkelheit reicht es aber allemal: Beim Ausbruch des Mount St. Helens im Mai 1980 erstreckte sich die Aschenwolke bis nach Yakima, einem Ort in 135 Kilometer Entfernung vom Vulkan. Hier wurde es dadurch immerhin so dunkel, dass mitten am Tag die automatische Straßenbeleuchtung anging. Ein Einschlag eines Zehn-Kilometer-Meteoriten oder auch ein großer Vulkanausbruch transportiert die Staubteilchen jedoch bis in die Stratosphäre, das nächsthöhere Atmosphärenstockwerk und kann zu einer globalen Staubhülle führen. Beobachtungen bei Vulkanausbrüchen er Staub als solches ist eher wie dem des Pinatubo im Jahr 1991 zeigen, dass gutmütig. Er verursacht nur selten der Staub dabei nicht gleich eine einheitlich dicke fundamentale, lang anhaltende Schicht bildet. Stattdessen breitet er sich zunächst in mehreren parallelen Staubbändern aus. Diese entKlimaumschwünge. Buck Sharpton stehen, weil die Luftströmungen in der Atmosphäre in einer Art von Ringsystem organisiert sind. Dann erst verschwimmen die Grenzen dieser Bänder und der Staubschirm ist komplett. Aber wie dicht und ausgedehnt wäre dieser Staubschirm im Falle eines Zehn-Kilometer-Meteoriten? Wie viel Staub steigt auf? Genau
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darüber streiten sich die Experten bis heute. Denn leider geben auch die Ablagerungen des Chicxulub-Einschlags von vor 65 Millionen Jahren hier keine klare Auskunft. In der K/T-Grenzschicht findet sich nur ein bisschen feiner Schlamm, der im Prinzip alles Möger feine Staub ist nur eine von drei liche sein könnte. Rückschlüsse auf irgendwelche Mengen erlaubt er jedoch nicht. „Keiner hat es bis wichtigen Quellen für die Lichtundurchheute geschafft, den feinen Submikrometer- und lässigkeit der Stratosphäre. Kevin Zahnle Mikrometerstaub in der Grenzschicht zu messen“, erklärt David Morrison, Impakt-Experte der NASA. „Angesichts der geringen Größe dieser Partikel und der geringen Dicke dieser Schicht ist das aber auch nicht überraschend.“ Im Prinzip müssen sich die Forscher deshalb in der Staubfrage weitestgehend auf Modelle und Berechnungen verlassen – und die fallen reichlich unterschiedlich aus: Thomas Luder von der Universität Bern geht beispielsweise von bis zu 30 Prozent der Masse des ursprünglichen Meteoriten aus. Sein Kollege Brian Toon von der Universität von Colo-
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Dunkle Wolken ziehen auf. Nach dem Einschlag wäre es unter dem Staubschirm stockfinster. © NPS/E. Bovy
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rado hat berechnet, dass beim Chicxulub-Impakt rund 300 Milliarden Tonnen Submikrometer-Staub in die Stratosphäre geschleudert wurden – eine gewaltige Menge. Aber genau das ist das Problem: Denn wo ist sie geblieben? Sicher nicht in der im Durchschnitt nur drei Millimeter dicken K/T-Grenzschicht. Eine mögliche Erklärung liefert hier allerdings Andrew Glikson von der Australischen Universität in Canberra. Er erinnert daran, dass der feine Staub ja nicht auf einmal „vom Himmel gefallen“ ist, sondern sich nur allmählich abgesetzt hat. Deshalb, so seine Vermutung, sind die Partikel durchaus vorhanden, aber fein verteilt in den Sedimenten oberhalb der Grenzschicht – und deswegen kaum mehr nachweisbar. Kevin Pope, früherer NASA-Geologe und heute Leiter des Geo Arc Forschungszentrums, sieht das jedoch ganz anders. Seiner Ansicht nach gab es viel weniger Staub als ursprünglich angenommen. Nach seinen Berechnungen machen die Submikrometer-Teilchen maximal 0,1 Prozent des gesamten ausgeworfenen Impaktmaterials aus. Aber ob nun 30 oder 0,1 Prozent – die entscheidende Frage ist letztlich eine andere: Reicht die Menge aus, um die gesamte Erde in Dunkelheit versinken zu lassen? „Es wird sehr dunkel sein. Der größte Teil des Sonnenlichts wird es nicht bis zur Erdoberfläche schaffen“, erklärt Matthew Huber, Klimaforscher an der Purdue Universität in Indiana. „Es wird so dunkel sein wie in einer mondlosen Nacht.“ Und das wahrscheinlich weltweit: Wissenschaftler der Universität Bern um Thomas Luder haben in Modellrechnungen festgestellt, dass der Staubschirm nach einem Einschlag eines Zehn-Kilometer-Meteoriten auf der ganzen Erde nahezu gleich dick wäre. Das heißt, wenn es dunkel wird, dann überall. Außerdem hält der Schirm – auch das zeigt das Modell – tatsächlich nahezu das gesamte sichtbare Licht ab. Mit anderen Worten: Es wird stockfinster.
Leben ohne Licht
Der Ausbruch des Pinatubo auf den Philippinen schleuderte Schwefelhaltige Gase in die Stratosphäre. Sie verbanden sich mit Wasser zu Aerosolen und breiteten sich über die gesamte Erde aus. (rot= höchste Aerosolkonzentration, blau= normale, niedrige Werte) © NASA/Langley Research Center
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Für uns Menschen ist das zunächst eher lästig denn lebensbedrohend. Wir können uns mit künstlicher Beleuchtung behelfen: Feuer anzünden, Kerzen abbrennen, Petroleumlampen basteln. Als „Allesfresser“ sind wir zudem nicht auf lebende Pflanzen als Nahrung angewiesen. Wir können auf Wurzeln, Knollen oder tierische Nahrung ausweichen. Problematischer ist es schon für die spezialisierteren Pflanzenfresser unter den Tieren. Wenn den Rehen oder Schafen das Gras ausgeht, oder der Koala keine Eukalyptusblätter mehr findet, haben sie kaum Möglichkeiten, auf alternative Nahrung zurück zu greifen. Noch extremer aller-
24. Juni 1991: Dunkelheit auf den Philippinen nach der Eruption des Pinatubo. © USGS/E. Wolfe
dings sieht dies für die Pflanzenwelt aus. Denn ihre Energieversorgung hängt direkt vom Sonnenlicht ab. Ohne Licht keine Fotosynthese und ohne diese kein normales Wachstum. Versuche mit künstlich im Dunkeln gehaltenen Pflanzen zeigen, dass die Lichtlosigkeit bei vielen eine Art beschleunigtes Altern hervorruft: Die Blätter werden gelb, welken, färben sich später bräunlich und fallen schließlich zu Boden. Wenig später greift dieser Prozess auch auf die Stängel über, sie werden schlaff, sinken zu Boden und sterben schließlich auch ab. Damit jedoch muss noch nicht die ganze Pflanze unwiderruflich tot sein. Denn die meisten Landpflanzen können mithilfe ihrer Wurzeln und Samen auch ungünstige Umweltbedingungen überdauern. Die in diesen Organen gespeicherten Energiereserven können – für eine gewisse Zeit – sogar über den Verlust des Sonnenlichts hinweg helfen. Doch sind diese Reserven aufgebraucht, bedeutet dies den Tod. Was dann passiert, beschreibt Vivi Vajda, Paläontologin und Expertin für fossile Pflanzen der Universität Lund: „Selbst im Dunkeln werden die
Pflanzen sind für ihr Überleben und Wachstum vom Sonnenlicht abhängig. © IMSI MasterClips
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Samen austreiben. Sie versuchen, die Oberfläche, das Sonnenlicht zu erreichen. Aber was, wenn die Sonne nicht mehr scheint?“ Am Anfang reichen die in den Samen und Knollen gespeicherten Nährstoffe noch aus: Der junge Trieb wächst, bleibt aber weißlich-blass, denn ohne Sonnenlicht verkümmern auch die Fotosynthesepigmente. So lange wie der Nährstoffvorrat reicht, hält auch der Trieb sein Wachstum aufrecht. Das Ergebnis sind lange, bleiche Ranken, die über den Boden kriechen und nach einer Lichtquelle suchen. Der gleiche Effekt lässt sich an Kartoffeln beobachten, die im Dunkeln austreiben. Genau das könnte auch während der ersten Phase der globalen Dunkelheit auftreten. Denn für die im Boden ruhenden Samen und Knollen zählen die oberirdischen Ereignisse nicht: Sie haben von der Erde geschützt die Hitzewelle und die anderen Katastrophen überdauert und beginnen dann zu keimen, wenn ihre innere Uhr ihnen den Befehl dazu Ohne Licht bleiben Pflanzentriebe, wie gibt – egal, ob an der Oberfläche die Sonne scheint oder nicht. Ein Nachhier der Kartoffel, bleich und dünn. teil für diejenigen, deren Uhr zu früh – nämlich noch inmitten der Dun© USDA kelheit – das Signal gibt. Vivi Vajda: „Für einige Zeit nach dem Impakt wird der Boden mit weißen Trieben bedeckt sein. Von allen möglichen Pflanzenarten.“ Nach einer ir, die wir in der Arktis leben, wissen, dass Pflanzen Weile jedoch ist der Vorrat der Nährstoffe aufgebraucht und und Tiere mehrere Monate Dunkelheit durchaus gut ohne Licht können die Pflanzen tolerieren können. Buck Sharpton keinen Nachschub produzieren. Das Wachstum stockt, die Triebe werden immer schwächer und sterben letztlich ab. Während jedoch die Landpflanzen zumindest eine Zeit ohne Licht als Samen oder Knollen überdauern können, haben die einzelligen Algen des Meeres keine Chance: Für sie wirkt sich eine lichtlose Zeit besonders Die Eisalgen an der Unterseite des fatal aus. „Diese Organismen leben in den obersten 30 bis 100 Metern antarktischen Meereises überleben des Ozeans, dort, wo Sonnenlicht hinein scheint“, erklärt Kevin Pope, auch den dunklen Polarwinter. © NOAA NASA-Geologe und lange Jahre an der Erforschung des Chicxulub-Einschlags beteiligt. „Es gibt keine Energiereserve: Wenn das Sonnenlicht ausbleibt, sterben sie und damit auch alle Organismen, die von ihnen abhängen. 99 Prozent alles Lebens auf der Erde hängt von der Sonne ab. Schalte die Sonne aus und du beseitigst die gesamte erste Stufe des Lebens.“ Allerdings sehen nicht alle Experten die Folgen so schwarz wie Pope. Nach Ansicht von Buck Sharpton, Geologe an der Universität von Alaska in Fairbanks, würde es auch unter den Algen durchaus Überlebende geben – zumindest, wenn die Dunkelheit nicht zu lange andauert. „Wir, die wir in der Arktis leben, wissen, dass Pflanzen und Tiere mehrere
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Monate Dunkelheit durchaus gut tolerieren können“, so Sharpton. „Die Arktische See und ein Großteil des Südpolarmeeres sind jedes Jahr sechs Monate lang dunkel und trotzdem wimmelt es dort von Plankton.“
Eine Frage der Dauer... Die entscheidende Frage ist daher: Wie lange bleibt es nach einem Einschlag dunkel? Ist die Zeit kurz genug, als dass Pflanzen mittels Samen, Knollen oder durch bestehende Anpassungen überleben können? Oder bleibt es doch so lange Nacht, dass ein Großteil der jetzigen Flora ausstirbt? Eine Möglichkeit, dies herauszufinden, ist es, nachzuschauen, wer den letzten großen Einschlag dieser Art überlebt hat und wer nicht. Denn wenn beispielsweise Pflanzen überlebt haben, von denen man weiß, dass sie nur kurz ohne Licht überdauern können, dann kann die Dunkelheit nicht lange angehalten haben. Umgekehrt deutet das Aussterben von sehr lichtabhängigen Pflanzen auf eine längere Dunkelheit hin. Jan Smit, Geologe und K/T-Experte der Universität von Amsterdam hat genau dies getan. Er untersucht bereits seit Jahrzehnten die Spuren von winzigen einzelligen Algen, den Foraminiferen, in den Ablagerungen vor und nach dem Chicxulub-Einschlag vor 65 Millionen Jahren. Seine Beobachtung dabei: Oberhalb der Grenzschicht scheint das Meer erst einmal wie leergefegt – von der vorherigen Fülle der Foraminiferen keine Spur mehr. Erst nach einiger Zeit tauchen vereinzelt wieder die Kalkskelette der Einzeller in den Sedimenten auf. Diese allerdings gehören nicht zu den gleichen Arten wie zuvor. Andere Einzeller im Plankton dagegen, die Dinoflagellaten, scheinen nach kurzer Pause relativ „unbeeindruckt“ wieder zu erscheinen. Smits Schlussfolgerung daraus: „Man muss die Fotosynthese lange genug blockieren, um mehrere Lebenszyklen der planktischen Foraminiferen zu unterbrechen, also etwa ein paar Monate. Das wäre ausreichend, um den gesamten planktischen Zyklus zu beseitigen, nicht aber die Dinoflagellaten, die für mehrere Jahre am Meeresboden ohne Sonne überleben können. Die Spannbreite läge daher innerhalb eines halben Jahres bis zu Jahrzehnten“, so Smit weiter. Andere Forscher wiederum blicken nicht auf die Pflanzen, sondern suchen nach Antworten beim Staub selbst: Sie nehmen Modelle und Berechnungen zu Hilfe, um zu klären, wie lange der Staub nach so einem Einschlag in der Atmosphäre verbleibt. Das Team um Thomas Luder von der Universität Bern berechnete beispielsweise detailliert,
Staub- und Ascheteilchen werden relativ schnell wieder durch Regen aus der Atmosphäre ausgewaschen. Hier eine rasterlektronenmikroskopische Aufnahme eines vulkanischen Aschepartikels. © USGS/A.M. Sarna-Wojcicki
Was die tatsächlichen
Gründe für das Massenaussterben angeht, sei es Staub, Schwefel, CO2 oder Ruß – wir wissen es nicht. Buck Sharpton
Schalen einer neuzeitlichen benthischen Foraminifere aus Nordamerika, hier Elphidium excavatum clavatum © USGS
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Anhaltende Dunkelheit lässt die Pflanzen ihre Blätter verlieren und sterben. Nur kahle Stämme bleiben übrig. © NPS/D. Arceneaux
wie schnell der Staub aus den verschiedenen Atmosphärenschichten wieder entfernt wird – denn hier gibt es entscheidende Unterschiede zwischen den oberen und den unteren „Stockwerken“ unserer Lufthülle. Das Ergebnis: In der untersten Atmosphärenschicht verschwindet der Staub extrem schnell. Regen und Turbulenzen sorgen dafür, dass die Luft innerhalb von Tagen, maximal s gibt keine Energiereserve: Wenn das Sonnenlicht Wochen wieder klar wird. Anders dagegen sieht es weiter oben, ausbleibt, sterben die Algen und damit auch alle in den Atmosphärenschichten Organismen, die von ihnen abhängen. Kevin Pope zwischen 20 und 100 Kilometern Höhe aus. Hier können sich die Staubteilchen deutlich länger halten. Im Modell dauerte es immerhin rund 120 Tage, bis sich die Durchlässigkeit des Staubschirms allmählich wieder bis auf zehn Prozent erhöht hatte. Nach einem halben bis dreiviertel Jahr drang dann schon wieder rund drei Viertel des sichtbaren Lichts durch, nach einem Jahr waren es rund 90 Prozent.
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Für einen potenziellen Einschlag heute hieße das: Nach dem Impakt bleibt es wahrscheinlich erst einmal für mehrere Wochen bis Monate stockfinster, erst dann beginnt sich der Himmel allmählich wieder aufzuhellen. Es folgt eine längere Phase dämmrigen Zwielichts, in dem noch immer eine Smog-artige Dunstglocke einen Teil des Sonnenlichts schluckt. Damit scheinen sich Staubforscher und Planktonspezialisten zumindest über die Größenordnung der „dunklen Ära“ weitgehend einig. „Der Staub als solches ist eher gutmütig“, fasst Sharpton die Erkenntnisse zusammen. „Er verursacht nur selten fundamentale, lang anhaltende Klimaumschwünge, da er innerhalb von wenigen Wochen oder höchstens Jahren aus der Atmosphäre wieder entfernt wird.“
Die Aerosole „Der Staub wird sich legen“, bekräftigt auch Matthew Huber, Klimaforscher der Purdue Universität und an der ZDF-Dokumentation beteiligter Experte. „Aber die Neuigkeiten sind nicht so gut, wie es auf den ersten Blick scheint.“ Denn noch etwas anderes ist mit im Spiel: Etwas, das weitaus nachhaltiger wirkt als der Staub. „Das Besondere am Einschlag auf Yucatan ist die Tatsache, dass der Meteorit beim Aufprall auf Gestein mit einem hohen Schwefelgehalt traf. Dieser so genannte Anhydrit besteht im Prinzip aus Calciumsulfat, das sich bei der Verdunstung von Meerwasser abgelagert hat“, erklärt Impaktexperte Jay Melosh. „Dieses Gestein ist auf der Erde nicht gerade häufig. Nur unter gerade einmal fünf Prozent der Erdoberfläche befinden sich größere Mengen an Anhydrit. Doch der Chicxulub-Einschlag hat genau eine dieser wenigen ungewöhnlichen Stellen getroffen und dabei eine Menge Sulfate und Carbonate verdampft. Wenn man jetzt eine Menge Sulfatgas und Wasserdampf in die Atmosphäre hineinbringt, verbindet sich das Sulfat mit dem Wasser zu Schwefelsäure. Und diese bildet winzige Tröpfchen, Aerosole, die in der Stratosphäre extrem stabil sind“, so Melosh.
Anhydrit, hier ein Stück aus Chihuahua, Mexiko, ist ein Sulfatgestein. Verdampft es, werden Schwefelgase frei. © USGS
Eine globale Säuredusche Der dunstige Aerosolschleier hoch in der Lufthülle der Erde schluckt einen Teil des Sonnenlichts. Doch in den ersten Wochen und Monaten nach dem Impakt sorgen Staub und Ruß ohnehin für globale Dunkelheit. Ein bisschen Dunst mehr oder weniger macht da keinen großen Unter-
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Süßwasserseen und Flüsse wären vom sauren Regen am stärksten betroffen. Viele Algen sind säureempfindlich und sterben ab. © NPS
In den Böden löst der saure Regen giftige Schwermetalle. © Tobias Schulze
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schied – könnte man glauben. Doch die Wirkung der Aerosole geht über das bloße Abdunkeln hinaus. Eine der Auswirkungen zeigt sich spätestens dann, wenn ein Teil der Aerosole beginnt, sich zu größeren Tröpfchen zusammenzulagern und als saurer Regen hinunter auf die Erdoberfläche fällt. Gegen diese Säuredusche wäre das, was heute als saurer Regen gilt, geradezu paradiesisch harmlos: Wissenschaftler haben ausgerechnet, dass nach dem Einschlag vor 65 Millionen Jahren rund ein Kilogramm konzentrierter Schwefelsäure auf jeden Quadratmeter der Erdoberfläche herunterregnete. Am stärksten betroffen sind Süßwasserseen und Flüsse: Ihr normalerweise eher neutrales Wasser wird allmählich immer saurer, der pHWert sinkt. Ist ein pH-Wert von 5 erreicht, wird es langsam kritisch: Ab diesem Wert lösen sich die kalkhaltigen Schalen vieler einzelliger Algen langsam auf. Das Plankton dünnt aus. „Die Mikroorganismen mit einer Schale aus Calciumcarbonat bekamen Probleme, als es Schwefelsäure zu regnen begann“, beschreibt Sharpton die möglichen Auswirkungen des sauren Regens nach dem Chicxulub-Einschlag. „Denn die Säure zersetzt Kalkstein. Diese Organismen gingen zugrunde.“ Als Folge des massenhaften Algensterbens sinkt die Sauerstoffproduktion im Wasser, abgestorbene Pflanzenteile zehren zusätzlich Sauerstoff – der See oder Fluss wird immer lebensfeindlicher. Fehlen die Algen und größeren Pflanzen, wirkt sich dies auch auf die nächste Stufe des komplexen Ökosystems See aus: Die winzigen Einzeller, Krebse und Insektenlarven, die sich von den Algen ernähren, finden keine Nahrung mehr und verhungern – wenn sie nicht vorher schon selbst an der Säure zugrunde gegangen sind. Für Fische wird es in diesem Bereich ebenfalls ungemütlich: Die Säure greift Haut und Kiemen der Tiere an, der Laich geht zugrunde. Für Forellen gilt schon ein pH-Wert von 5,5 als tödlich, Karpfen und Hechte halten immerhin bis zu pH 4,4 durch. Über kurz oder lang bedecken sich besonders kleinere Tümpel und Seen dicht an dicht mit bauchoben schwimmenden Fischleichen. Gleichzeitig löst das saure Wasser immer mehr Schwermetalle aus dem Untergrund, Blei, Aluminium und andere Giftstoffe werden frei und verseuchen das Wasser zusätzlich. Dieser Effekt zeigt sich schon heute in vielen Seen, die durch den menschengemachten sauren Regen versauert sind: In Schweden gelten bereits mehr als tausend Seen als so Schwermetall belastet, dass vor einem Verzehr der dort gefangenen Fische gewarnt wird. Auch in anderen Regionen Europas und Nordamerikas liegen die pH-Werte vieler Gewässer auch ohne Impakt bereits knapp über den kritischen Werten. Eine zusätzliche
Säurezufuhr wie durch einen Einschlag können sie nicht überleben. Gerade die Lebensgemeinschaften kleinerer Gewässer gehen zugrunde – die Seen verwandeln sich in tote, lebensfeindliche Säuresenken. Nicht nur die Gewässer, auch die Böden leiden unter der Säuredusche: Bis zu einem gewissen Grad kann der Untergrund die Säurewirkung des Regens zwar abpuffern – besonders kalkhaltige und sehr tiefe Böden halten lange durch – doch ist die Pufferkapazität erschöpft, machen sich auch hier die ersten Auswirkungen bemerkbar. Die Säure bindet einen Teil der von den Pflanzen dringend gebrauchten Forellen gehen bereits ab einem pH niedriger als 5,5 zugrunde. Andere Fischarten wie Karpfen und Hechte halten Nährstoffe wie Kalzium, Magnesium oder Kalium. Die immerhin bis pH 4,4 durch. © NPS Ionen sind damit für die Pflanzen nicht mehr verfügbar. Sinkt der pH-Wert des Bodens unter 5, beginnen sich die normalerweise gebundenen und damit „aus dem Weg geschafften“ Schwermetalle im Bodenwasser zu lösen. Für die Pflanzen, aber auch für die wertvollen Mikroorganismen des Bodens, ist dies fatal. Aluminium, das erste Metall, das sich löst, hemmt das Wachstum von Pflanzenwurzeln und verhindert die Aufnahme von Calcium. Für die Bodenbakterien, die dafür sorgen, dass Pflanzenmaterial verrottet und Humus entsteht, ist Aluminium giftig. Sie sterben ab und als Folge kommt der Nährstoffkreislauf im Boden nahezu zum Erliegen. Schwefelgase verbinden sich mit Wasserdampf zu Aerosolen. Sie verdunkeln nicht Sinkt der pH-Wert unter 4,2, lösen nur den Himmel, sondern verursachen auch sauren Regen. © NOAA sich weitere giftige Schwermetalle wie Blei, Quecksilber, Zink, Cadmium, Chrom oder Kupfer. Auch sie greifen die Pflanzenwurzeln an und vergiften die Bodenfauna. Am stärksten betroffen vom sauren Regen – das hat nicht zuletzt der menschengemachte saure Regen im 20. Jahrhundert deutlich gezeigt – sind die Nadelwälder der Mittelgebirge. Sie wurzeln meist in einer nur dünnen Humusschicht und haben der Säure nur wenig entgegenzusetzen. Besser ergeht es dagegen wahrscheinlich den Ackerbaugebieten: Denn hier sind die Böden
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tiefgründig und können die Säureattacke weitestgehend abpuffern. Am glimpflichsten kommt wahrscheinlich das Meer bei einem sauren Regen weg: Denn die enormen Wassermengen der Ozeane wirken als effektiver Puffer. Das zeigen auch die Spuren des ChicxulubEinschlags vor 65 Millionen Jahren: „Ich werde immer gefragt: ‚Sehen Sie denn keine Hinweise auf eine vor Säure zischende Meeresoberfläche?‘“, erklärt Jan Smit. „Nein, genau das sehe ich nicht. Es ist keine Veränderung der Meereschemie in der K/T-Schicht Die Nadelwälder der Mittelgebirge haben der Säure kaum oder den Schichten darüber festzustellen.“ Das etwas entgegenzusetzen. © NPS allerdings, so betont Smit, muss nicht heißen, dass es keinen sauren Regen gab. Es bedeutet zunächst einmal nur, dass die Säure offenbar nicht ausreichte, um das Meer so stark zu verändern. Dem stimmt auch Smits Kollege Pope zu: „Es gab definitiv sauren Regen und offensichtlich hat er einer Menge Mikroorganismen auch geschadet. Die Säure hat Seen und Flüsse versauern lassen und ch werde immer gefragt: Sehen Sie denn keine Hinweise auf eine vor Säure zischende Meeresober- auch den Boden und die Pflanzen betroffen. Aber es war einfach nicht fläche? Nein, genau das sehe ich nicht. Jan Smit genügend Säure, um auch die oberen Schichten der Ozeane versauern zu lassen.“ Was aber hat dann die Lebenswelt der Ozeane vor 65 Millionen Jahre so nachhaltig verändert? Die Antwort darauf könnte eine weitere dramatische Phase in unserem Einschlagsszenario geben – denn noch immer ist längst nicht alles überstanden...
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Wie stark der saure Regen die Meereschemie beeinflusste, ist noch strittig. An Land verursachte er wohl einige Schäden. © NPS
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Fragen an: Jay Melosh Der Physiker und Geologe arbeitet am Lunar and Planetary Laboratory der Universität von Arizona in Tucson, USA. Seit mehr als 20 Jahren erforscht er die Physik von Einschlagsereignissen und die Mechanismen der Kraterentstehung. Er entwickelte unter anderem ein Modell, mit dem sich die Folgen unterschiedlicher Meteoriteneinschläge berechnen lassen.
Der Einschlag eines Meteoriten auf Yucatan hat nicht nur unmittelbare Folgen, er wirkt sich auch indirekt aus, beispielsweise auf das Klima. Wie haben wir uns das vorzustellen? Das Besondere am Chicxulub-Einschlag ist die Tatsache, dass er Gesteine traf, die eine große Menge Schwefel enthielten. Ein Gestein namens Anhydrit, das im Prinzip aus Calciumsulfat besteht, das aus dem Meerwasser abgelagert wurde. Dieser Anhydrit ist nicht sehr häufig, nur rund fünf Prozent der Erdoberfläche überdecken größere Anhydritvorkommen. Der Chicxulub-Einschlag hat ausgerechnet einen dieser ungewöhnlichen Orte getroffen und eine Menge dieses Gesteins zusammen mit Carbonaten verdampft. Carbonate sind kohlenstoffhaltige Gesteine. Gibt es da nicht die Theorie, dass ihr Verdampfen eine Klimaerwärmung Ausgelöst haben könnte? Eine Zeitlang hat man tatsächlich gedacht, dass die Carbonate durch den Impakt das in ihnen gebundene Kohlendioxid abgeben und damit die CO2-Konzentration in der Atmosphäre erhöhen würden – und wir kennen ja alle die Auswirkungen auf die globale Erwärmung. Aber es hat sich inzwischen herausgestellt, dass das Klima in der späten Kreidezeit ohnehin ungewöhnlich warm war. Man nimmt an, dass der CO2-Gehalt der Atmosphäre damals zwei bis dreimal höher lag als heute. Wenn man kalkuliert, wie viel CO2 durch den Einschlag freigesetzt wurde, zeigt es sich, dass selbst diese Menge nicht ausrei-
chend wäre, um den Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre nennenswert zu verändern. Viele Diskussionen kommen zu dem Schluss, dass dieses zusätzliche CO2 das Klima daher nicht viel geändert haben kann. Und was ist mit dem Schwefel? Das wiederum ist eine ganz andere Geschichte. Der Schwefel wurde damals nicht nur bis in die Stratosphäre geschleudert, wie dies beispielsweise auch Vulkanausbrüche tun, sondern weit darüber hinaus. Mit ihm zusammen wurde auch Wasserdampf hochgeschleudert. Die Stratosphäre aber ist normalerweise extrem trocken. Wenn nun eine Menge Schwefelgas und Wasserdampf hineinkommen, verbindet sich das Sulfat mit Wasser und es entsteht Schwefelsäure. Diese bildet in der Atmosphäre winzige Aerosole, kleine Partikel, die in der Stratosphäre sehr stabil sind und das Sonnenlicht blockieren können. Das heißt es wird dunkel? Ja. Vulkanausbrüche, die bis in diese Bereiche der Atmosphäre hinaufreichen, wie die Eruption des El Chichon oder des Pinatubo, der sehr schwefelreich war, sind dafür bekannt, dass sie Schleier gebildet haben, die für einige Jahre die Menge des Sonnenlichts reduzierten, das die Erdoberfläche erreichte. Im Falle von Chicxulub muss dieser Effekt noch rund zehn Mal stärker gewesen sein als die für die Eruption des Toba geschätzte Menge.
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Die Kälte
Für die heutige Welt wäre es sehr ungünstig,
wenn ein Impaktwinter einträte. In der Kreidezeit kehrte das Klima nach dem Einschlag wieder zu einem einigermaßen normalen Klima zurück. Die moderne Welt befindet sich jedoch in einem Zustand, bei dem es eine echte Gefahr einer permanenten Vergletscherung gibt. Matthew Huber
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In den Monaten nach dem Einschlag fallen die Temperaturen auf der Erde drastisch. Die Vereisung nimmt zu.
Die Kälte Zehn Tage nach dem Einschlag, Vera Cruz, Mexiko
Fernando Martinez hat einen Entschluss gefasst. Er muss aufbrechen, er muss weg von diesem Ort. Aus einem kleinen Tisch hat er sich eine Art Schlitten gebaut, auf dem er Lebensmittel und ein paar notwendige Utensilien zusammenpackt. Die Hunde sollen ihm beim Ziehen helfen. „Es kann nicht überall so schlimm gewesen sein. Ich habe den Feuerball gesehen, wahrscheinlich bin ich ganz in der Nähe der Einschlagstelle. Ich muss weg von hier, andere Menschen finden. Vielleicht erfahre ich sogar etwas über meine Familie.“ Er redet mit sich selbst und mit den Hunden. Das hat er sich in den vergangenen Tagen so angewöhnt. Es ist tröstlich, dann fühlt er sich nicht ganz so allein. Das Ausmaß der Zerstörung hat ihm schwer zugesetzt. Fünf Tage hat er nach der Katastrophe in der Sicherheit des unterirdischen Schutzkellers abgewartet, bevor er sich daran macht, die Tür nach oben zu öffnen. Es ist ein Schock. Häuser gibt es nicht mehr, keine Pflanzen und keine Tiere. Überall ist es totenstill. Was er ansehen muss, übertrifft seine schlimmsten Erwartungen. Es ist, als ob er einen fremden Planeten
Fernando Martinez hat den Einschlag mit viel Glück überlebt. Er befindet sich nur rund 700 Kilometer vom Einschlagskrater entfernt. In dieser Region hat sich die Erde völlig verwandelt, sie erscheint wie ein fremder Planet.
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Die Kälte
Fernando macht sich auf die Suche nach anderen Überlebenden.
betritt. Es ist dunkel, obwohl es nach seiner Uhr Tag sein müsste. Die Luft ist heiß, sie hat einen stechenden Geruch, der in der Lunge brennt. In der Dunkelheit leuchtet der Boden, als ob er glüht. Tatsächlich steigt Hitze durch seine Schuhsohlen und verbrennt ihm die Füße. Die Landschaft ist meterhoch mit unterschiedlich großen, wie aus einer Flüssigkeit erstarrten Brocken übersät. Fernando braucht Zeit, um das alles zu verarbeiten. Es kommt einem Wunder gleich, dass er die Katastrophe überhaupt überlebt hat. Aber jetzt fragt er sich, ob er in einer solchen Welt existieren will. Eine warme Jacke hat er sich angezogen. Es ist immer noch angenehm warm, aber die Wärme kommt ausschließlich vom Boden. Ab und zu lässt ein kalter Windstoß ahnen, dass sich die Temperaturen abkühlen werden. Als er schließlich alles zusammengepackt hat, steht er vor seinem Schlitten und schaut sich in der Dunkelheit fragend um. Erst jetzt fällt ihm auf, dass es keinerlei Anhaltspunkte zur Orientierung gibt. Der Himmel ist einfach nur dunkel, ohne Konturen, ohne Sonne oder Sterne. Und die Landschaft sieht in allen Richtungen gleich aus. Überall Geröll und Brocken unterschiedlichster Größe. Fernando schüttelt resigniert den Kopf und entscheidet sich schließlich für eine Richtung. „Los geht’s!“ Er beginnt die Hunde anzutreiben. Tatsächlich gleitet der Schlitten sehr gut über das seltsame, glasartige Geröll. Fernando rennt hinterher. Er will die Tiere nicht zu sehr belasten. Zwölf Tage nach dem Einschlag, Hawaii
Auch auf Hawaii verändert sich das Klima. Tagelang wandern Noah und Shiang durch Kälte und Regen. Als sie zum ersten Mal auf andere Menschen treffen, verläuft die Begegnung enttäuschend.
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Es regnet ohne Unterbrechung. Noah und Shiang wandern durch eine bewaldete Gegend Richtung Ostküste. Hier hat es auch früher viel geregnet, aber nicht in diesen Mengen. Die Tropfen sind schwer und kalt, so dass es in der ehemals tropisch feuchten Region Hawaiis empfindlich kühl geworden ist. Die beiden machen häufig Rast und suchen unter Bäumen oder Felsbrocken einen trockenen Platz, wo sie Feuer machen können. „Bei dieser Kälte müssen wir höllisch aufpassen, dass wir nicht krank werden. Und dabei
haben wir eigentlich noch Glück“, denkt Noah. Das Land kühlt schnell ab, seit die Sonne ausbleibt. Aber Hawaii ist nur eine relativ kleine Landmasse, umgeben von Wasser, das die Temperatur speichert und nur allmählich abgibt. Der nahe Ozean ist in dieser Situation ihre Rettung. Die tropischen Gewässer werden sie noch lange Zeit wie eine Heizung vor der Kälte schützen. Schweigend gehen sie nebeneinander her, langsam und sehr vorsichtig. Auf dem Weg läuft fast knöchelhoch das Wasser, der Boden ist glitschig. Entgegen all ihrer Hoffnung haben sie in den letzten Tagen keine Menschen getroffen. „Wer weiß, wie viele bei den Feuern und Stürmen ums Leben gekommen sind.“ Noah ist nachdenklich, als ihn Shiang am Arm packt. Direkt vor ihnen sitzt jemand auf dem Weg. Es sind zwei Männer, ein älterer und ein junger, möglicherweise Vater und Sohn. Sie wirken entkräftet, der jüngere scheint verletzt zu sein. Freundlich geht Noah auf die Fremden zu. “Hallo, wie geht es ihnen?“ Erschrocken blicken die beiden auf, der Ältere nimmt den Jungen bei der Hand und zieht ihn mit. Sie nehmen Reißaus. Noah rennt noch ein paar Schritte hinter ihnen her, aber in der Dunkelheit sind sie schnell außer Sichtweite. Kopfschüttelnd macht er kehrt und setzt sich an den Wegesrand. „Mach dir nichts draus, sie werden zurückkommen.“ Shiang versucht ihn zu trösten. Aber Noah ist frustriert. Langsam beginnt er zu verstehen, dass die Katastrophe nicht nur hier draußen stattgefunden hat, sondern vor allem auch in den Köpfen der Menschen. Sie hat vieles verändert.
Nach über 60 Tagen dringt erstmals wieder Sonnenlicht durch die dichte Wolkendecke.
Zwei Monate nach dem Einschlag, Frankreich
Michelle spürt ein helles Licht in den Augen. Sie räkelt sich auf dem notdürftig hergerichteten Schlafplatz. In Jacken und Decken gehüllt, liegen die Flüchtlinge in einer großen Gruppe zusammen. Es ist empfindlich kalt. Schon wenige Tage nach dem Einschlag begannen die Temperaturen zu fallen. Bald war die Kälte nicht mehr zu ertragen, minus
Auch nachdem die Sonne wieder zurückkehrt, bleiben die Temperaturen eisig. In Paris ist es bis zu 40 Grad kälter als normalerweise um diese Jahreszeit. In Küstenstädten wie New York wird es nicht ganz so kalt.
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Die Kälte
Die Kälte hat zahlreiche Opfer gefordert. Henri und Michelle wandern gemeinsam mit anderen Richtung Süden.
zwanzig Grad, teilweise noch kälter. Der Aufenthalt im Freien wurde zur Qual. So begannen viele der Heimatlosen Richtung Süden zu wandern. Sie müssen den Weg durch den meterhohen Schnee zu Fuß zurücklegen. In den ersten Wochen schneite es häufig, dann gingen die Niederschläge zurück. Die Luft wurde trocken und unglaublich kalt. Beim Wandern blieben die Gruppen immer dicht beisammen. In einer alten Ruine haben sie nun für ein paar Tage halt gemacht. Hier ist es zu ertragen. Die Wände halten den Wind ab und gemeinsam haben sie sich eine Feuerstelle eingerichtet. Aber Michelle schaudert, wenn sie an die Kälte draußen denkt. Es muss früher Morgen sein. Sie ist noch immer im Halbschlaf. Und plötzlich beginnt sie sich zu wundern: „Warum ist es so hell?“ Sie öffnet die Augen und sieht, dass Licht von den Fenstern kommt. Licht? Ja, es wirkt so, als ob draußen die Sonne scheint. Aufgeregt weckt sie ihren Vater. Gemeinsam gehen sie hinüber zu den zugenagelten Fenstern. Mit ein paar Handgriffen reißt Henri die Bretter weg und tatsächlich: Ein unbeschreibliches Glücksgefühl bemächtigt sich aller. Endlose 60 Tage haben sie auf diesen Moment gewartet. Und jetzt kehrt die Sonne zurück. Zwei Monate nach dem Einschlag, weltweit
Während der Dunkelheit sind die Temperaturen weltweit ins Bodenlose gefallen. Aber auch jetzt, wo das Licht zurückkehrt, wird es nicht entscheidend wärmer. An den Polen wachsen die Eismassen. Sie entziehen der Luft Feuchtigkeit und das Weltklima wird insgesamt trockener. In Paris herrschen Temperaturen, die bis zu 40 Grad unter dem liegen, was zu dieser Jahreszeit normal ist. Nur in der Nähe des Meeres ist das Klima erträglich. In der Küstenstadt New York liegen die Temperaturen nur etwas unter dem Gefrierpunkt.
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Nach dem Einschlag könnte eine neue „Eiszeit“ folgen. © NOAA
Die Kälte Was sagt die Wissenschaft? „Schwerer Schnee treibt und fällt aus den vier Ecken der Erde, der mörderische Frost herrscht. Die Sonne ist am Mittag verdunkelt, sie bringt kein Glück; allesverschlingende Stürme toben und enden nie. Vergeblich erwarten die Menschen das Kommen des Sommers. Dreimal folgt Winter auf Winter in einer Welt, die schneeerstickt, von Frost gefesselt und in eisigen Ketten liegt.“ „Götterdämmerung“ aus dem nordischen Sagenzyklus der Edda
Aus dem All betrachtet ist die Erde jetzt – rund zwei Wochen nach dem Impakt – kaum mehr wieder zu erkennen: Verschwunden ist der leuchtend blaue Planet, an seiner Stelle schwebt ein schmutzig-graues Etwas im Weltraum. Eine dunkle, trübe Dunstglocke verbirgt die Erdoberfläche, Sonnenlicht dringt kaum hindurch. Doch die dadurch ausgelöste Dunkelheit ist bei Weitem nicht die einzige und schon gar nicht die schwerwiegendste Folge der Dunstglocke. Es kommt noch schlimmer: Denn der Aerosolschirm schluckt nicht nur
Es besteht die
unglückselige Möglichkeit, dass die Erde in ein Eisball-Stadium abrutscht, in eine permanente Vergletscherung. Matthew Huber
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das sichtbare Licht, er blockiert auch die Wärme, die durch die Sonnenstrahlen übertragen wird. Ohne diese Wärmestrahlung von außen ist die Erde ihrer wichtigsten Heizung beraubt. Als hätte jemand den Thermostat herunter gedreht, beginnen die Temperaturen auf der Erdoberfläche zu sinken – es wird kalt, sehr kalt.
Die Simulation Wie kalt, das zeigt eine Simulation, die Matthew Huber, Klimaforscher der Purdue Universität, speziell für ein Einschlags-Szenario wie das unsrige erstellt hat. Es geht davon aus, dass der Himmel nach einem Impakt durch Staub, Ruß und Aerosole fast völlig verdunkelt ist. „Wir haben hier den extremsten Fall eines Impaktwinter-Szenarios simuliert. Im Prinzip habe ich die Sonne nahezu bis auf Null runtergedreht“, so der Forscher. „Das Modell beginnt nach der Hitzephase“, erklärt Huber. „Wie lange auch immer diese dauern wird – wir beginnen danach. Auch wenn es am Anfang vielleicht noch wärmer war als hier berücksichtigt, wird dies den grundlegenden Prozess nicht verändern, es verschiebt die Ereignisse höchstens um ein paar Tage.“ Die Wärme, die in den ersten Tagen nach dem Einschlag durch die ausgeschleuderten Ejekta freigesetzt wird, kann nur aufschieben, verhindern kann sie den Lauf der Dinge nicht mehr. Denn ist das Sonnenlicht einmal ausgesperrt und jede andere Wärmequelle erschöpft, dann kommt die Abkühlung – unabwendbar. Der Klimaforscher startet sein Modell: „Sechs Stunden nachdem wir die Sonne ausgeschaltet haben, ist noch alles einigermaßen normal, die Tropen sind warm, auf der Nordhalbkugel haben wir einen ganz normalen Wintertag“, erklärt er. Das Modell läuft weiter, der zweite Tag: Langsam verändern sich die Farben des Modell-Globus – vor allem in den Tropen. Während in den gemäßigten Regionen noch nicht viel passiert, sinken die Temperaturen in den heißen Regionen beiderseits des Äquators rapide. Statt in warmem Rot leuchten die Flächen im Modell jetzt in kühlem Grün. Die Abkühlung erfolgt sehr schnell, betont auch Huber: „Auf dem Land kann die Temperatur schon am ersten Tag um 20 Grad absinken.“ Nach zehn Tagen ist die rasante Veränderung nicht mehr zu übersehen: Der tropische Regenwald hat sich in eine Winterlandschaft verwandelt, die Temperaturen sind von nahe 30 Grad auf knapp null Grad abgesackt. Das Modell zeigt die allmähliche Abkühlung einer Erde ohne Sonne © Matthew Huber
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Noch frostiger geht es weiter im Norden zu: Paris, Berlin oder Washington sind schneebedeckt, hier herrschen Bedingungen wie sonst am Polarkreis. Minusgrade sind Alltag – mit null Grad gilt ein Tag hier schon als „warm“. Noch extremer sieht es nach gut einem Vierteljahr aus: 130 Tage nach Beginn der „Eiszeit“ sind selbst die Tropen „tiefgefroren“: Minus 20 Grad sind hier die Regel. Einzige Ausnahme: Die Küstengebiete. Denn sie profitieren davon, dass das Meer sich sehr viel langsamer abkühlt als die Landflächen. Die enormen Wassermassen behalten auch noch nach Wochen und Monaten der Kälte fast ihre ursprüngliche Temperatur. Die gespeicherte Wärme geben sie an die Luft und das angrenzende Land ab. „Ich war tatsächlich sehr überrascht festzustellen, wie lange der Ozean braucht um seine Wärme zu verlieren. Er speichert die Wärme für eine sehr lange Zeit“, erklärt Huber. „Wenn man in Japan ist, geht es einem noch gut – und das mehr als ein Jahr nach dem Kälteeinbruch. An einem kalten Tag kann es hier ahe der Küste wirkt das warme zwar auch bis auf 20 Grad unter Null runtergehen, Meer als Puffer. Matthew Huber aber im Prinzip hält der vom Meer wehende Wind warm.“ Ähnlich ergeht es auch anderen Regionen an den Küsten und vor allem Inseln: Gebiete wie Neuseeland oder Indonesien werden höchstwahrscheinlich weitaus weniger unter der Kälte zu leiden haben, als beispielsweise die weiten Landflächen Innerafrikas oder Asiens. Auch die Küsten des Mittelmeers und des Atlantiks profitieren vom flüssigen Wärmespeicher Ozean. „Das ist aus meiner Sicht der Schlüsselaspekt: Die Temperaturen liegen zwar im Inneren der Kontinente mehr als 20 Grad unter Null, aber nahe der Küste wirkt das warme Erst nach einigen Jahren beginnen auch die Meere zuzuMeer als Puffer und es ist deshalb wärmer.“ frieren. © NOAA Erst rund zwei oder drei Jahre nach Beginn der „Eiszeit“ trifft es auch die Meere: Dann ist auch das Wärmereservoir der Wassermassen erschöpft und langsam beginnen die Ozeane von den Küsten her zuzufrieren. Soweit das Szenario. Aber könnte das Ganze auch wirklich so ablaufen? Wie sicher sind solche Prognosen? Mit dieser Frage konfrontiert antwortet Huber: „Ist das ein korrektes Szenario? Meine Einstellung bei seiner Erstellung war: Ich weiß nicht, ob es korrekt ist, lasst uns testbare Vorhersagen machen. Dann kann sich jemand die Daten anschauen und wir sehen, ob das Modell mit den Daten übereinstimmt.“
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Vulkanausbrüche als Modellvorlage Eine der wichtigsten Quellen für Daten, die die Modelle bestätigen könnten, sind große Vulkanausbrüche. Denn auch sie schleudern schwefelhaltige Gase bis weit hinauf in die Stratosphäre und lösen damit die Entstehung von Aerosolen aus. Aber verändern sie damit auch das Klima? Die Vermutung, dass es einen Zusammenhang zwischen Vulkanausbrüchen und Klima-„Ausrutschern“ gibt, hatten schon die Römer vor 2.000 Jahren: Plutarch Der Gletschervulkan Grimsvötn auf Island heute. © Matthew J. Roberts wies darauf hin, dass die Eruption des Ätna 44 vor Christus die Sonne verdunkelt habe und führte auch die schlechten Ernten und folgenden Hungersnöte in Rom und Ägypten auf den Ausbruch zurück. In der Neuzeit war es dann der Universalgelehrte Benjamin Franklin, der den anormal kalten Winter des Jahres 1783 in Europa dem Ausbruch der Vulkane Laki und Grimsvötn auf Island zuschrieb. Acht Monate lang spien die Gletschervulkane damals heiße Lava und schleuderten vulkanische Gase 15 Kilometer hoch in die Atmosphäre. Heute weiß man, dass die dabei entstandenen Aerosole die Durchschnittstemperaturen auf der Nordhalbkugel der Erde um etwa ein Grad absinken ließen – und damit mehr als jede andere Eruption der Neuzeit. Auf Island starb knapp ein Viertel der Bevölkerung und 75 Prozent allen Viehs ging an Kälte und Hunger zugrunde.
Der Tambora und das „Jahr ohne Sommer“ Nicht mehr zu übersehen sind die potenziellen Klimafolgen einer Eruption spätestens seit dem Jahr 1815, nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora auf Indonesien: Denn der stärkste Ausbruch seit Beginn der geschichtlichen Aufzeichnungen verursachte weltweite Klimakapriolen, die als das „Jahr ohne Sommer“ in die Geschichte eingehen sollten.
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Den Anfang nahm das Ganze am Morgen des 10. April 1815: Auf der Insel Sumbawa in Indonesien brach der seit längerer Zeit bereits ungewöhnlich aktive Tambora endgültig aus. Heiße Aschen- und Lavaströme verwandelten den gesamten Berg in eine glühende Masse, die Aschenströme rasten bis zu 20 Kilometer eltweite Ernteausfälle und Hungersweit ins umliegende Land hinaus. 140 Gigatonnen nöte wären die Folge, die unausweichLava spie der Vulkanschlot, die Explosion des Feulich zu einer Milliarde oder mehr erbergs war noch 2.600 Kilometer entfernt zu hören. Der Ausbruch riss einen gewaltigen Krater von sechs Toten führen würden. Alan Harris Kilometern Durchmesser und fast 700 Metern Tiefe auf. Die Eruptionssäule reichte mehr als 43 Kilometer in die Höhe, sie schleuderte gewaltige Mengen von Aschen und vulkanischen Gasen bis in die Stratosphäre. Forscher schätzen allein die Menge der Schwefelgase auf rund 60 Megatonnen. Die gröberen Aschepartikel regneten noch zwei Wochen später auch auf Borneo und Java als Aschenschauer hinunter. Die feineren Partikel jedoch verteilten sich gemeinsam mit den aus den Schwefelgasen gebildeten Aerosolen rund um den Globus. Die ersten globalen Auswirkungen der Eruption zeigten sich bereits ab Juni 1815: Selbst im viele tausend Kilometer entfernten London sorgten die Aerosole hoch in der Atmosphäre für ungewöhnlich rote und leuchtende Sonnenuntergänge. Doch die weitaus gravierenderen Folgen sollten noch kommen: Die DunstDas Infrarotbild zeigt den Krater des Vulkan Tambora – fast 200 Jahre nach seiner glocke schluckte das Sonnenlicht großen Eruption. © NASA/JSC und senkte die globalen Durchschnittstemperaturen um rund 0,5 Grad – was zunächst nach wenig klingt, sich aber im einzelnen fatal auswirkte. In Nordamerika und Europa ließen Frosteinbrüche im Mai und Juni einen Großteil der Ernten erfrieren. Mitten im Sommer fiel Schnee. Die Zeitung „North Star“ im amerikanischen Bundesstaat Vermont berichtete am 15. Juni 1816: „Es dauerte vom 6. bis zum 10. Juni: Frost in fünf aufeinander folgenden Nächten, ein Phänomen, das es sonst nur im Dezember gibt. Am Samstagmorgen war das Wetter schlimmer
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Auch der Ausbruch des Pinatubo zog besonders farbenfrohe Sonnenuntergänge nach sich. © GFDL
als es während der Winterstürme üblich ist. In der Tat eine dunkle und harte Zeit.“ Im nahe gelegenen Quebec meldeten die Wetterstationen zur gleichen Zeit bis zu 30 Zentimeter Neuschnee. Auch in Europa lief das Wetter Amok: Neben Frosteinbrüchen im August sorgten starke Stürme, extreme Regenfälle und Überschwemmungen dafür, dass auch hier ein Großteil der Ernten vernichtet wurde. Die Missernten führten zur Nahrungsknappheit und Hungersnöten auf fast der gesamten Nordhalbkugel der Erde. In China wurden die Reisvorräte knapp, in Europa und Nordamerika waren vor allem Getreide und Kartoffeln betroffen. Hunger und Elend schürten soziale Unruhen und Aufstände, besonders in den Städten nahmen Krankheiten und Epidemien zu. Das „Jahr ohne Sommer“ forderte, so die Schätzungen der Forscher, wahrscheinlich 49.000 Todesopfer allein durch diese klimabedingten Folgen der Eruption. Wenn schon diese Eruption solche dramatischen Klimafolgen nach sich zog, lässt sich vorstellen, wie katastrophal dann erst die Folgen eines Einschlags der Chicxulub-Größenordnung wären. Denn bei einem Einschlag eines zehn Kilometer großen Meteoriten in das schwefelhaltige Anhydritgestein unter Yucatan würden Schwefelgase im Gigatonnenmaßstab freigesetzt – und damit um ein Vielfaches mehr als beim Tambora-Ausbruch.
Klimafolgen durch große Vulkanausbrüche (nach Oppenheim 2003, Thodarson und Stephen 2003) Vulkan
Ausbruchsjahr
Abkühlung auf der Nordhalbkugel
Höhe der Eruptionssäule
Huaynaputina (Peru)
1600
-0,8°C (Sommer)
46 km
Laki/Grimsvötn (Island)
1783/84
~1,3°C (Winter)
15 km
Tambora (Indonesien)
1815
-0,5°C (Sommer)
43 km
Krakatau (Indonesien)
1883
-0,3°C (Sommer)
25 km
Mount Katmai (Alaska)
1912
-0,4°C (Sommer)
32 km
Mount St. Helens
1980
Keine Abkühlung
19 km
Pinatubo
1991
-0,5°C (Sommer)
34 km
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Die „Fast-Ausrottung“: Die Eruption des Toba Und selbst die größte Katastrophe der letzten 500.000 Jahre, der Ausbruch des Vulkans Toba vor 70.000 Jahren, reicht nicht an die Folgen eines solchen Einschlags heran. Der im Norden der indonesischen Insel Sumatra liegende Supervulkan brachte bei seiner Eruption vermutlich sogar die Menschheit an den Rand des Aussterbens. Nur rund 15.000 Menschen, so die Schätzungen des Anthropologen Stanley Ambrose von der Universität von Illinois, haben die Katastrophe damals
weltweit überlebt. Die Temperaturen sanken so stark ab, dass die Bevölkerung der Nordhalbkugel außerhalb der Äquatorregionen kaum eine Chance hatte. Aber selbst diese globale Katastrophe würde möglicherweise von den Klimafolgen eines Meteoriten-Impakts noch übertroffen: „Im Falle von Chicxulub war dies um den Faktor zehn größer als der größte Ausstoß der Eruption des Vulkans Toba“, erklärt Melosh.
„Dänen“ in Tunesien Ein weiteres wichtiges Indiz, dass Hubers Modell-Szenario stimmt, erhielten die Forscher 2004: Huber untersuchte damals gemeinsam mit italienischen und niederländischen Kollegen Ablagerungen in El Kef in Tunesien. Schwerpunkt war dabei natürlich wieder einmal die K/T-Grenze, die Zeit des Chicxulub-Einschlags. Vor 65 Millionen Jahren war El Kef Teil des warmen, flachen Tethys-Meeres, einem Paradies für Wärme liebendes Plankton. Einzellige Algen wie die Foraminiferen tummelten sich in den lichtdurchfluteten oberen Wasserschichten. Ent- El Kef, im Westen Tunesiens, war vor 65 Millionen Jahren Teil des Tethyssprechend reichhaltig sind auch bis heute die Spuren ihrer Existenz: Die Meeres. © MMCD Reste ihrer Kalkschalen bilden das Sediment aus jener Zeit. Mit der K/TGrenze, zeitgleich mit dem Einschlag des Meteoriten, änderte sich dies schlagartig: Die Artenvielfalt nahm ab, zunächst war das Meer sogar wie leergefegt. Doch die eigentliche Sensation versteckte sich in der Schicht unmittelbar darüber: Die Forscher um Huber entdeckten in den nach dem Einschlag abgelagerten Gesteinen die Überreste von zwei Foraminiferenarten, die auf den ersten Blick hier nichts zu suchen hatten. Denn beide Arten kamen zu dieser Zeit eigentlich nur sehr viel weiter nördlich, in deutlich kälteren Gewässern vor. „Da waren im Prinzip Dänen nach Tunesien ausgewandert“, erklärt der Wenn die Meersoberfläche zu gefrieren beginnt, bildet sich das typische „EierkuForaminiferen-Spezialist Jan Smit. chen-Eis“. © NOAA Die Tethys war eigentlich für sie viel zu warm – oder doch nicht? Der Verdacht, hier auf etwas Besonderes gestoßen zu sein, erhärtete sich wenig später. Denn jetzt stießen die Forscher auf eine winzige, auf den ersten Blick eher unscheinbare Foraminifere, Cibicidoides pseudoacutus, mit einem nach links gedrehten Kalkgehäuse. Das Besondere daran:
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Cibicidoides pseudoacutus © Jan Smit
Die Häufigkeit der einen oder anderen Windungsrichtung des Hauses ist bei diesen Foraminiferen durch die Umweltbedingungen beeinflusst. In wärmeren Gewässern finden sich im Verhältnis mehr Formen mit rechts gewundenem Haus, in kälteren dagegen dominieren „linksdrehende“ Foraminiferen. Für El Kef und das kreidezeitliche Tethys-Meer war daher klar, dass die rechtshäusigen Foraminiferen überwiegen mussten. Genau das war auch der Fall – aber nur bis kurz nach der K/T-Grenze. Dann jedoch stieg der Anteil der linkshäusigen Tiere deutlich an. Für die Forscher war damit die Botschaft klar: Es musste vor rund 65 Millionen Jahren einen deutlichen Kälteeinbruch gegeben haben. Ein Beleg für die Impaktwinter-Theorie? „Das ist das erste Mal, das jemand fossile Belege entdeckt hat, die tatsächlich zeigen, dass sich die Erde zur damaligen Zeit abgekühlt hat“, erklärt Huber. „Das hat nicht nur Relevanz für die Theorien zu den Ursachen des Massenaussterbens, sondern auch, weil es unser Computermodell bestätigt – es sagt voraus, dass sich das irdische Klima unter solchen Bedingungen genau so verhält.“
Kurzzeitwinter oder eine kleine Ewigkeit? Ungeklärt ist bisher allerdings noch, wie lange die globale Kältephase nach einem Einschlag dieser Größenordnung anhalten würde. Entscheidend dafür ist, wie schnell die Aerosole wieder aus der Atmosphäre verschwinden. Erste Hinweise liefern auch hier wieder geologische Daten: „Es muss lange genug kalt gewesen sein, um die Meere abzukühlen, aber nicht so lange, dass der ganze Planet mit Eis überzogen war – denn das spiegelt sich nicht in den Fossilien wieder“, erklärt Huber. Das ir sind auf indirekte Belege ist auch die Schlussfolgerung der Paläoklimatologin Elisabetta Pierazzo vom Institut für Planetenforangewiesen. Keiner hatte damals ein schung in Tucson, Arizona: „Das Klimasignal der Thermometer und notierte die K/T-Grenze aus den geologischen Belegen deutet Temperaturen. Jay Melosh nicht auf einen langfristigen, also Millionen von Jahren anhaltenden starken Klimawandel hin“, erklärt Piezarro. „Allerdings muss man im Hinterkopf behalten, dass die Auflösung der geologischen Schichten in dieser Zeit sehr gering ist, bestenfalls ein paar tausend Jahre. Klimaveränderungen am Ende der Kreidezeit von nur wenigen hundert Jahren Dauer sind daher schwer belegen.“ Die auf das Klima der Vergangenheit spezialisierte Wissenschaftlerin gab sich damit jedoch nicht zufrieden. Sie hat zusätzlich in einem
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Modell kalkuliert, wie stark sich die bei dem Chicxulub-Einschlag freigesetzten Schwefel-Aerosole auf das Klima ausgewirkt haben könnten. Das Ergebnis: Zwischen 30 und 300 Gigatonnen schwefelhaltige Gase schleuderte der Impakt vor 65 Millionen Jahren in die Atmosphäre. Die dadurch entstehende Aerosolglocke brachte das Klima wahrscheinlich für mindestens fünf Jahre durcheinander. Die Klimafolgen dieser Lichtblockade waren vermutlich mehr als hundertfach stärker als die 1991 nach dem Ausbruch des Vulkans Pinatubo beobachteten. Nach Ansicht der Forscherin hielt die Kälteperiode auf jeden Fall lange genug an, um die oberen Schichten des Ozeans abzukühlen. Das Wasser in der Tiefe der Meere allerdings blieb wahrscheinlich relativ unbeeinflusst. Auch andere Wissenschaftler haben ähnliche Modelle entwickelt. Und sie liegen mit ihren Ergebnissen immerhin in der gleichen Größenordnung: Zwischen drei und zwölf Jahren reicht die Spannbreite ihrer Ergebnisse. Die in ihren Simulationen ermittelten Abkühlungsraten unterschieden sich allerdings schon deutlicher: Hier reicht das Spek-
Aerosolwolke aus Schwefelgas und Wasserdampf nach einem Ausbruch des Kilauea auf Hawaii. © USGS/J.D. Griggs
Wie weit die Gletscher vorrücken und wie kalt es werden könnte, darüber sind sich die Wissenschaftler noch uneins. © NPS
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Große Eismassen, wie hier am antarktischen Ross Eisschelf, reflektieren die Sonne und fördern so die Abkühlung. © NOAA
trum von einer Reduktion der globalen Durchschnittstemperatur um fünf Grad bis hin zu 31 Grad. Doch egal wie kalt es damals tatsächlich gewesen sein mag: In jedem Falle, darin sind sich Geologen und Klimaforscher einig, hat der Impaktwinter nach dem Chicxulub-Einschlag den Thermostat der Erde nicht unumkehrbar heruntergeregelt. Nach dem Auflösen der Aerosolglocke pendelte sich das Klima in ein neues Gleichgewicht ein und die Bedingungen näherten sich wieder den Verhältnissen vor dem Einschlag an.
Eine neue Eiszeit?
Das Klima hat kein
Gedächtnis dessen, wie es vorher war. Matthew Huber
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Würde sich der gleiche Einschlag allerdings heute ereignen, wäre dies keineswegs so sicher. Denn die Ausgangsbedingungen sind ganz andere: „In jedem Fall würde die Kälte die Meerestemperatur bis auf rund null Grad herunterkühlen. Der Startpunkt für eine allmähliche Wiedererwärmung wäre der gleiche wie damals. Aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es sich dann auf dem gleichen Niveau wieder einpendelt wie zuvor. Das Klima hat kein Gedächtnis dessen, wie es vorher war. Es wird zu einem neuen Gleichgewicht kommen.“ Und dieses könnte nach Ansicht von Huber fatal niedrig liegen: „Es gibt eine interessante Asymmetrie zwischen beiden Szenarien, die bewirkt, dass in der Kreidezeit das Klima wieder auf relativ normale Werte zurückkehrte, die moderne Welt sich jedoch in einem Zustand befindet, bei dem es eine echte Gefahr einer globalen Vereisung gibt. Es besteht die unglückselige Möglichkeit in das Eisball-Stadium abzurutschen, in eine permanente Vergletscherung.“ Im Klartext bedeutet das: Nach dem Impakt droht möglicherweise eine echte Eiszeit.
Ursache dafür ist eine positive Rückkopplung, eine Art „Kettenreaktion“: Die Landmassen der Erde überziehen sich in der Kälteperiode nach und nach mit Eis und Schnee. Wenn nun allmählich der Himmel aufklart und das Sonnenlicht wieder einfallen kann, reflektieren diese hellen, glitzernden Flächen einen Großteil dieses Lichtes gleich wieder zurück in den Weltraum. Folge: Die Sonnenstrahlen können nicht von der Erdoberfläche absorbiert werden und geben damit ihre Wärmeenergie auch nicht an den Boden ab. Stattdessen geht die wertvolle und dringend benötigte Wärmeenergie quasi ungenutzt wieder verloren. Es gibt noch einen weiteren Faktor, der die Gegenwart potenziell anfälliger für das „Hineinrutschen“ in eine Eiszeit macht: In der Kreidezeit lagen nicht nur die Lufttemperaturen höher als heute, auch die Meere waren wärmer. „Das Wasser in der Tiefsee ist heute maximal einen Grad warm, meist jedoch um null Grad. In der Kreidezeit dagegen hatte das Tiefenwasser rund zehn Grad“, erklärt Huber. Damals gab es keine eisbedeckten Polarregionen, von denen aus Schmelzwasser ins Meer strömte und in die Tiefe absank. Stattdessen herrschten überall relativ gleichmäßig warme Bedingungen und selbst in den polaren Gewässern tummelten sich Krokodile. Bohrkerne aus dem Meeresboden der Arktis zeigen, dass das polare Oberflächenwasser in der Kreidezeit selbst in den hohen Breiten mehr als 15 Grad warm gewesen Sturmtief über dem Pazifik. Deutlich ist die charakteristische sein muss. Heute dagegen ist ein Teil des arktischen Wirbelform zu erkennen. © NASA/JSC Meeres permanent unter einer Eisdecke verborgen, ein weiterer Teil friert regelmäßig zu, wenn es Winter wird. Diese Unterschiede wirken sich nicht nur auf die Meeresbewohner und die unmittelbar umgebenden Küstenregionen aus, sie haben auch eine globale Bedeutung: Denn klimatisch gesehen besitzt damit das heutige Meer einen sehr viel geringeren Wärmevorrat als damals. Damit ist auch der „Puffer“, der für ein stabiles Klima sorgt und kleinere Schwankungen abfangen kann, heute sehr viel geringer als im Zeitalter der Dinosaurier.
Stürmische Zeiten Und als wären Eis und Kälte nicht ohnehin schon katastrophal genug, droht besonders in der Phase der Abkühlung noch eine weitere Gefahr: Denn dann ist das Meer noch relativ warm, die Landmassen aber
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schon kalt – und genau das bildet die optimale Brutstätte für gewaltige Stürme. Schuld daran ist ein Aufeinandertreffen der Gegensätze: Kaltluft gegen Warmluft, Hochdruck gegen Tiefdruck. Wie eine klamme, kalte Decke liegt die Kaltluft über den Kontinenten, über den Meeren dagegen steigt wärmere, leichtere Luft auf. Durch die Winde und vorherrschenden Luftströmungen werden beide Luftmassen aufeinander zu getrieben. Das Resultat ist vorprogrammiert: Die Luftmassen prallen aufeinander, eine Front entsteht. Da keiner ausweichen kann, schiebt sich die leichtere Warmluft über die dichtere, kalte Polarluft. Unter dem Einfluss der Erddrehung beginnt sich dann das Luftmassenkarussell langsam zu drehen und der Luftdruck sinkt. Aus dem All wären jetzt bereits erste Anzeichen erkennbar: Ein riesiger, kommaförmiger Wolkenwirbel bildet sich und nimmt immer mehr an Größe zu. In seinem Zentrum sinkt der Luftdruck weiter ab. Der Tiefdruckkern saugt noch mehr kalte Luft an, immer schneller strömen jetzt die Luftmassen, die Windgeschwindigkeiten nehmen zu. Auf mehrere tausend Kilometer Durchmesser kann dieser Wolkenwirbel anwachsen. Und jetzt beginnt er zu wandern: Im wahrsten Sinne des Wortes im „Sturmschritt“ rasen die wirbelnden Luftmassen über Küsten und Land hinweg – mit entsprechend zerstörerischen Folgen. Und zu allem Überfluss sind Stürme auch noch durchaus gesellig: Solange die günstigen Bedingungen anhalten, entstehen immer neue Tiefdruckwirbel. Kaum ist ein Sturm überstanden, droht daher schon der nächste. Ein Ende dieser Sturmphase ist erst dann in Sicht, wenn sich die Temperaturen von Land und Meer langsam aneinander angleichen – sei es auf dem Höhepunkt der Kälte oder aber dann, wenn allmählich die Wärme wiederkehrt. Polare Stratosphärenwolken spielen eine entscheidende Rolle als Katalysatoren für die ozonabbauenden Reaktionen. © NASA/GSFC
Ein „strahlender“ Frühling Ein paar Jahre nach dem Einschlag gewinnt die Sonne langsam wieder an Kraft, die Aerosolglocke dünnt immer weiter aus. Auch die schlimmsten Stürme sind vorüber. Ist damit endlich alles überstanden? Möglicherweise noch nicht ganz. Denn eine letzte „Nachwehe“ der Katastrophe könnte jetzt zum Tragen kommen: Der Ozonschwund. Ende 2006 entdeckten Wissenschaftler um Genevieve Millard von der Universität von Cambridge einen Mechanismus, durch den sich selbst kleinere Vulkanausbrüche fatal auf die irdische Ozonschicht auswirken können. Zu Hilfe kamen ihnen dabei Daten über die Eruption des Vulkans Hekla auf Island im Jahr 2000. Die Wissenschaftler stellten fest, dass die vom Ausbruch ausgeschleuderten schwefelhaltigen
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Gase in der Stratosphäre nicht nur Schwefelsäure-Aerosole erzeugen, sondern auch die Bildung von winzigen Eiskristallen fördern. Gemeinsam wirken diese Partikel wie ein Katalysator: Sie „schalten“ die zerstörerische Kettenreaktion an, in deren Verlauf das Ozon zersetzt wird. Hauptakteure sind dabei chlorhaltige Verbindungen, die sich besonders an der Oberfläche bestimmter stratosphärischer Wolken sammeln und sich an die Ozonmoleküle anlagern. Sie sind – meist in Form von Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) erst durch die Aktivitäten des Menschen in die Atmosphäre gelangt. Abbau des Ozons durch Chlorverbindungen © MMCD Als Folge der Reaktion mit den Chlorgasen zerfällt das dreiatomige Molekül Ozon und seine Bruchteile können ihrerseits weitere Ozonzerstörungen auslösen. Nach und nach dünnt so diese Kettenreaktion die Ozonschicht immer weiter aus. „Wir haben zum ersten Mal gezeigt, dass vulkanische Eruptionen, die bis in die Stratosphäre reichen, zur Bildung eines Wolkentyps führen, der die Reaktionen mit vulkanischen Chlorgasen fördert“, so Millard. „Das sind genau die Gase, die das Ozon zerstören und zur Bildung von MiniOzonlöchern führen.“ Im Falle der Hekla-Eruption dauerte dieser lokal begrenzte Ozonschwund immerhin rund zwei Wochen an und schwächte sich dann langsam wieder ab. Noch ist nicht klar, wie sich dieser Mechanismus bei einer sehr viel größeren Eruption auswirkt. „Gibt es nach starken explosiven Eruptionen einen deutlichen Verlust von Ozon und erhöhte ultraviolette Strahlung in niedrigen Breiten?“, fragt Millard. „Das müssen wir herausfinden, damit wir uns ein besseres Bild darüber machen können, was in der Vergangenheit geschah und was uns in der Zukunft bevorstehen könnte.“ Erste Schätzungen für andere Vulkanausbrüche gibt es inzwischen schon: Nach der Eruption des Vulkans Pinatubo auf den Philippinen im Jahr 1991 soll die Ozonkonzentration in den mittleren Breiten immerhin um bis zu sieben Prozent abgesackt sein. In der vom Vulkan erzeugten Aerosolwolke war der Ozonschwund noch dramatischer, hier erreichte er rund 20 Prozent.
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Ozonloch in einem 3-D-Modell der NASA. Die Ozonkonzentration ist durch die Farben kodiert: blau und rot stehen für Stellen mit niedriger, gelb für Bereiche höherer Ozondichte. © NASA
Was aber bedeutet das für unser Szenario? Kündigt die nach Dunkelheit und Kälte wiederkehrende Sonne nicht nur wohltuende Wärme sondern auch eine potenziell tödliche Strahlendusche an? Vielleicht. „Es gibt eine ernstzunehmende Veröffentlichung darüber, dass nach einem Impaktwinter ein so genannter UV-Frühling folgen könnte“, erklärt Huber. „Alles was bis dahin überlebt hat, könnte dann der starken ultravioletten Strahlung ausgesetzt sein.“ Wie stark allerdings die UVDusche wirklich ausfallen würde, darüber lässt sich heute allenfalls spekulieren.
Das Ende der Katastrophenserie Hitze, Dunkelheit, saurer Regen, Kälte, Stürme, Ozon – die Folgen eines Einschlags vom Kaliber des „Dinokillers“ gleichen den biblischen Plagen: Kaum ist die eine überstanden, droht bereits das nächste Übel. Und alle fordern sie Opfer unter den Bewohnern der Erde. Beim ChicxulubEinschlag vor 65 Millionen Jahren starben immerhin mehr als 75 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten aus. „Wenn man alle Dinge zusammen 75 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten starben durch die verschiedenen Folgen nimmt, ist es ein Wunder, dass des Chicxulub-Einschlags © NPS irgendetwas auf dem Planeten überlebte“, erklärt Sharpton. „Die Erde ist eine so komplexe und fragile Struktur, aber sie schaffte es trotzdem, das Chicxulub-Ereignis zu überstehen. Das Leben erholte sich. Diese Einschläge zerstören Leben, aber sie können auch die Evolution fördern. Wenn es den Chicxulub-Impakt nicht gegeben hätte, wo wären wir dann heute?“
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Fragen an: Matthew Huber Der Klimaforscher arbeitet am Atmospheric Research Center der Purdue Universität in Boulder, USA. Sein Forschungsschwerpunkt sind Klimaveränderungen in den unterschiedlichsten Zeitperioden. Er entwickelte unter anderem ein Modell, das die Abkühlung der Erde bei einer Blockade der Sonneneinstrahlung simuliert.
Wie verlässlich ist ihr Modell für einen Impaktwinter? Was ich hier in dieser Simulation gemacht habe, ist die extremstmögliche Repräsentation eines Impaktwinters. Im Prinzip habe ich die Sonne dafür fast bis auf Null heruntergedreht. Das entspricht ja auch unserem Szenario im Film. Aber ist das auch ein realistisches Szenario? Woher weiß man das? Meine Einstellung, als ich diese Simulation erstellte, war: ‚Zunächst einmal weiß ich nicht genau, ob es korrekt ist. Also lasst uns testbare Vorhersagen machen.‘ Und dann können andere auf die Daten schauen und wir können vielleicht feststellen, ob das Modell mit den Daten übereinstimmt und so das Modell verbessern. Es ist ja sehr umstritten wie kalt es nach dem Einschlag vor 65 Millionen Jahren gewesen ist. Was sagt ihr Modell? Aus meiner Sicht ist die Schlüsselerkenntnis folgende: Im Inneren der Kontinente liegen die Temperaturen noch tiefer als 20 Grad unter Null. Aber wenn man sich nahe der Küste aufhält wird man immer noch durch die wärmeren Wassertemperaturen des Meeres gepuffert. Und das ist auch der Grund warum ich der Meinung bin, man kann nicht einfach blind verschiedene Veröffentlichungen anschauen und dann sagen: Oh, es wurde so kalt oder es wurde nicht kalt, zumal ein großer Teil der untersuchten Regionen Küstengebiete sind.
Und wenn ein solcher impaktwinter heute eintreten würde? Was wäre der Unterschied zu den Entwicklungen von vor 65 Millionen Jahren? Das Szenario würde im Prinzip das Gleiche bleiben. Die Abkühlung würde in jedem Fall die tiefen Schichten der Weltmeere auf rund Null Grad abkühlen, der Ausgangspunkt für eine Wiedererwärmung wäre der gleiche. Aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass das Klima zum selben Niveau zurückkehrt wie zuvor. Denn an diesem Punkt hat es kein Gedächtnis dessen, wie es vorher war. Es wird zu einem ganz neuen Gleichgewicht zurückkehren. Auch nach dem K/T-Einschlag herrschte im folgenden Paläozän ein ganz anderes Klima als in der Kreidezeit. In der heutigen Welt wäre es eine ziemlich üble Sache, wenn wir einen Impaktwinter hätten. Denn es gibt hier eine ganz interessante Asymmetrie. In der Kreidezeit konnten wir einen großen Einschlag haben und trotzdem zu einem relativ normalen Klima zurückkehren. Aber ich glaube, die moderne Welt befindet sich in einem Klimabereich, in dem es nach einem Impaktwinter die Gefahr gäbe, in den Zustand eines globalen Schneeballs zu kommen, also eine permanente Vergletscherung. Und was ist heute anders? Woher kommt der Unterschied? Die Albedo des Planeten ist anders. In der Kreidezeit gab es keine Eisschilde, die Reflexion des Sonnenlichts verstärkt hätten. Heute aber schon.
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Herrschaft der Pilze
Für einige Zeit nach dem Impakt regierten die
Pilze die Erde. Wir können uns ein Szenario vorstellen mit umgefallenen Baumstämmen, toten Tieren und abgestorbenen Pflanzen. Und darauf wachsend Pilze. Vivi Vajda
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Die in der Dunkelheit absterbenden Pflanzen und Tiere bieten Pilzen optimale Lebensbedingungen.
Herrschaft der Pilze Zwei Monate nach dem Einschlag, Küste von Hawaii
Noah sammelt am Strand angeschwemmte Holzplanken und überlegt, wie er daraus ein Floß bauen kann. Nach wochenlangem Fußmarsch sind er und Shiang endlich an der Küste von Hawaii angekommen. Das Licht kehrt langsam wieder zurück, aber die Tage sind trübe und dunkel. Menschen haben sie immer noch nicht getroffen. Die Insel war allerdings auch vor der Katastrophe nur dünn besiedelt. Mehr und mehr stellt sich heraus, dass sie hier nicht bleiben können. Immer wieder erschüttern Beben die Erde. Breite Lavaströme kriechen von den Bergen herunter und ergießen sich ins Meer. Der Kilauea gilt als der aktivste Vulkan der Erde. Und seine Aktivität hat sich in den letzten Tagen deutlich verstärkt. Mit dem Einschlag sollte das nichts zu tun haben. Im Vorfeld der Katastrophe waren sich die meisten Wissenschaftler einig: Ein Meteoriteneinschlag löst keine zusätzliche vulkanische Aktivität aus. Aber unabhängig von der Ursache wird die Situation für Noah und Shiang brenzlig. So haben die beiden beschlossen, sofort mit dem Floßbau zu beginnen. Falls es gefährlich wird, sollten
Hawaii wird seit Tagen immer wieder von Erdbeben erschüttert.Der Kilauea ist äußerst aktiv. Lava kriecht langsam die Berge herunter und ergießt sich ins Meer. Noah und Shiang beschließen, die Insel zu verlassen.
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Herrschaft der Pilze
sie die Möglichkeit zur Flucht haben. Während Noah mit kräftigen Schlägen einen Nagel nach dem anderen in die Planken schlägt, denkt er darüber nach, wie sehr sich die Insel verändert hat. Hier, in der Nähe des Meeres, sind die Temperaturen immer noch gut zu ertragen, es ist frisch, aber nicht unangenehm. Während der letzten Tage ihrer Wanderung im Landesinneren war das anders. Die Luft lag schwer in den Tälern. Ein modrig fauler Geruch breitete sich aus. Es war der Geruch des Todes, der leise über die Insel zog. Das Grün welkte und die Pflanzen ließen ihre Blätter hängen, bevor sie langsam starben. Unter normalen Umständen herrscht auf Hawaii fast das ganze Jahr über ein gleichmäßiger Rhythmus von zwölf Stunden Tag und zwölf Stunden Nacht. Die anhaltende Dunkelheit machte der Pflanzenwelt schwer zu schaffen. Aber es gibt auch Lebewesen, die von dieser Situation profitieren. Überall sprießen Pilze aus dem Boden, unglaublich viele von ihnen und in den schillerndsten Farben. Pilze, die Noah noch nie gesehen hat. Als er sich die nächste Holzplanke vornimmt, fällt ihm auf, dass auch die Hölzer von Pilzen befallen sind. Es sind blaugrün schimmernde, handtellergroße Flecken. Er geht hinüber zu Shiang. „Schau mal, was ich hier gefunden habe. Es ist wirklich unglaublich, aber diese Pilze wachsen überall. Ein hübsches Exemplar!“ Shiang wirft nur einen kurzen Blick darauf. „Wunderschön und mit ziemlicher Sicherheit auch äußerst giftig. Wirf es besser weg!“ Sie hat Recht, aber irgendwie ist Noah fasziniert. Die Katastrophe hat zu unglaublicher Zerstörung und Tod geführt und gleichzeitig hat sie neues Leben geschaffen. „Fremde neue Welt!“ sagt er leise und schüttelt den Kopf. Noah zeigt Shiang einen der seltsamen Pilze, die das Holz am Strand befallen haben. Die sterbenden Pflanzen und Tiere bereiten den Nährboden für diese Lebewesen, die sich nach dem Einschlag extrem ausbreiten.
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Pilze zählen – zumindest temporär – zu den Gewinnern der Katastrophe . © SXC
Herrschaft der Pilze Was sagt die Wissenschaft? Es ist dunkel, Staub und Ruß schlucken seit dem Impakt alles Licht. Die Erde wird immer kälter. Noch ist die Katastrophe nicht ausgestanden, die Überlebenden des Einschlags können sich noch lange nicht in Sicherheit wiegen. Doch ungeachtet dessen beginnt an einigen Stellen des Planeten bereits etwas Neues, beginnt sich das Leben bereits wieder zu erholen. In den Wäldern, aber auch im offenen Gelände, ist die ehemals grüne Pflanzendecke verblasst, wirkt wie ausgebleicht. Die welken, braunen Blätter, wenn sie denn überhaupt noch an den Ästen hängen, sind immer häufiger von einem seltsamen pelzigen Überzug aus weißlichen, rötlichen oder orangefarbenen Härchen bedeckt – Pilze. Auch am Boden breitet sich dieser Bewuchs aus: Allmählich überwuchert er herabgefallene Äste und Blätter, umgestürzte Baumstämme und Holzteile, die Kadaver von toten Tieren. Bei näherem Hinsehen lassen sich bei vielen dieser Polster winzige Kügelchen an den Fadenspitzen erkennen – die Fruchtkörper der Schimmel- und Schleimpilze. An anderen Stellen sprie-
Holzpilze breiten sich aus. © NPS/Harlan Kredit
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Ganze Büschel von Pilzen erobern den Untergrund. © SXC
ßen ganze Nester der vertrauten Hutpilze aus der Erde. Giftige, ungiftige – ihre braunen, gelben oder auch farbigen Schirme prägen das Bild. Und dieses Bild bietet sich nahezu überall auf der Erde. Zwar eher in verstreuten Inseln als flächendeckend, aber überall dort, wo einigermaßen günstige Bedingungen herrschen, entwickeln sich die Pilze zur dominierenden Organismengruppe. Sie sind in dieser Phase, in den ersten Monaten nach dem Einschlag, die ersten „Wiederkehrer“. Die ersten Lebewesen, die den Impakt nicht nur überlebt haben, sondern sich jetzt auch rasant vermehren. In gewisser Weise sind sie sogar die ersten „Nutznießer“ der Katastrophe, denn sie profitieren vom Tod und Untergang der vielen anderen. Aber woher weiß man das? Warum sind es gerade die Pilze, die von dieser Situation profitieren?
Das Geheimnis der Kohlenschichten
Die von der Forscherin Vivi Vajda untersuchten Ablagerungen in Neuseeland. Die K/T-Grenze ist deutlich als dunkles Band zu erkennen. © Vivi Vajda
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Die Grundlage dieses Szenarios sind auch hier wieder Spuren, die der Einschlag vor 65 Millionen Jahren hinterlassen hat. Denn die zu dieser Zeit abgelagerten geologischen Schichten geben nicht nur Aufschluss über die unmittelbaren Impaktfolgen, sie zeigen auch, welche Organismen überlebten und vielleicht sogar von der Katastrophe profitieren konnten. Vivi Vajda, Professorin für Geologie an der Universität von Lund in Schweden, hat sich genau auf diese Indizien aus der Urzeit spezialisiert. Im Mittelpunkt ihrer Forschungsrichtung, der so genannten Palynologie, stehen Pollen und Sporen von urzeitlichen Pilzen und Pflanzen. „Wenn man die großen Fossilien untersucht, ist die Statistik schwierig, denn sie sind nicht häufig und die Wahrscheinlichkeit, ein solches Fossil, beispielsweise eines Dinosauriers, genau unterhalb der Grenzschicht zu finden, ist sehr gering“, erklärt Vajda. „Aber für die Palynologie brauche ich nur ein paar Gramm Sediment und ich finde darin im Durchschnitt gleich Tausende von fossilen Pollen und Sporen, meist zähle ich um die 500 Stück in nur einer Probe.“ Um herauszufinden, wie sich der Einschlag am Ende der Kreidezeit auf die Pflanzenwelt auswirkte, untersuchte die Forscherin Kohlenschichten, die vor 65 Millionen Jahren entstanden waren. Sie treten heute an einem Flussufer an der Westküste Neuseelands zutage. Der Zeitpunkt des Chicxulub-Einschlags war auch in diesen Schichten leicht anhand der Iridiumanomalie, der ungewöhnlichen Anreicherung dieses in der Erdkruste seltenen Elements, zu identifizieren. „Ein gute Sache an der K/T-Grenze ist, dass sie durch diese geochemische Linie gekennzeichnet
ist“, erklärt Vajda. „Wenn man dann einen großen Bruch, dramatische Unterschiede zwischen den Schichten feststellt, kann niemand sagen: ‚Vielleicht geschah das ja schon davor‘. Denn aufgrund der Iridiumanomalie können wir genau sehen, wo wir zeitlich sind.“
Vier Millimeter Pilze pur ... In mühsamer Kleinarbeit durchmusterte die Forscherin jeden Millimeter der Gesteinsschichten oberhalb und unterhalb dieser Grenze. Das Ergebnis: Die acht Zentimeter unterhalb der K/T-Grenze waren prall gefüllt mit Pollen und Sporen von Pflanzen der späten Kreidezeit. Sie entsprachen mehr als 80 verschiedenen Gruppen von Nadelbäumen, Farnen und Blütenpflanzen, wie sie für eine komplexe Waldgemeinschaft gemäßigter Breiten typisch ist. Doch dann folgte der Einschnitt: Unmittelbar mit Beginn der Iridiumanomalie waren alle diese Pollen und Sporen verschwunden. Übrig blieb eine vier Millimeter dicke Schicht, in der nur noch Pilzsporen und zerbrochene Relikte von Pilzfäden zu finden waren. „Für einige Zeit nach dem Impakt regierten die Pilze die Erde“, so Vajdas Schlussfolgerung. „Wir können uns ein Szenario vorstellen mit umgefallenen Baumstämmen, toten Tieren und abgestorbenen Pflanzen.
Man findet plötzlich
nur noch Pilzsporen, keine Pflanzenpollen und -sporen mehr. Vivi Vajda
Pilzsporen aus der Zeit unmittelbar nach dem K/T-Einschlag vor 65 Millionen Jahren © Vivi Vajda
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Und darauf wachsend Pilze“, erklärt Vajda. „Der Grund dafür ist, dass sie keine Fotosynthese durchführen, sie brauchen kein Sonnenlicht zum Wachsen.“
Allgegenwärtige Überlebenskünstler Stattdessen gewinnen die Pilze ihre Energie und Nährstoffe aus organischem Material. Sie zehren quasi von dem, was andere Organismen – seien es Pflanzen oder Tiere – bereits vorbereitet haben. Ihr Vorteil dabei: Sie sind extrem vielseitig und anpassungsfähig. Denn im GegenPilze sind nahezu allgegenwärtig – wie satz zur landläufigen Meinung sind Pilze keineswegs auf feuchte Waldhier als Schimmel auf Obst. oder Wiesenböden angewiesen. © Roger McLassus Im Gegenteil: Selbst in Trockengebieten und sogar in Wüsten finden sich Vertreter dieser Organismengruppe. Im botanischen Museum in Canberra, Australien, sprossen Pilze sogar in einem tiefgekühlten Ausstellungsraum für subantarktische Pflanzen ie Pilze konnten wachsen, weil sie – nicht gerade zur Freude der Ausstellungsmacher. Im Prinzip finden sich Pilze überall dort, wo es etwas keine Photosynthese betreiben. Vivi Vajda Organisches zu zersetzen gibt – egal, wo, wie und in welcher Form. Die nur allzu häufig auftretenden Schimmelpilze an der Badezimmerwand oder auf der Brotscheibe zeugen von ihrer enormen Anpassungsfähigkeit und Überlebenskunst. Um das zu erreichen, kommen ihnen gleich zwei Eigenschaften zugute: zum einen die Vielfalt ihrer Nahrungsstrategien, zum anderen ihre flexible Methode der Ausbreitung und Fortpflanzung.
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Einige Pilzarten lösen Krankheiten aus. Exophiala salmonis beispielweise kann unter anderem Lunge und Gehirn schädigen. © CDC
Holz und Pflanzenteile als „Leibspeise“ In Bezug auf ihre Ernährung sind Pilze quasi „Allesfresser“: Sie besiedeln lebende und tote Pflanzenteile, leben als Flechten in enger Lebensgemeinschaft mit Algen, profitieren als Parasiten von den Stoffwechselprodukten verschiedenster Tiere und machen auch vor dem Menschen nicht halt, wie der leidige Fußpilz oder auch gefährliche, durch Pilze verursachte Formen der Lungenentzündung zeigen. Doch ein großer Teil auch der bei uns heimischen Pilze nutzt Holz – sei es in toter oder lebender Form – als Nahrungsgrundlage. Und das ist auch gut so, denn ohne ihre zum größten Teil unsichtbare Tätigkeit sähen unsere Wälder und Böden deutlich anders aus. Die Pilze sind es, die, gemeinsam mit Bodenbakterien, die herabgefallenen Holz- und
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Pflanzenreste in Humus umwandeln und damit erst wichtige Nährstoffe wie Stickstoff wieder für die lebenden Pflanzen verfügbar machen. Und das ist gar nicht so einfach. Denn Holz ist ein sehr haltbares, zähes Material, nicht umsonst wird es auch als Baustoff genutzt. Schuld daran ist seine chemische Struktur: Es besteht aus verschiedenen langen Molekülketten, wie beispielsweise Zellulose, die den Pflanzen ihre Stabilität verleihen. Besonders haltbar sind die so genannten Lignine. Sie schützen das Holz vor Angriffen zersetzender Mikroben. Gegen die zerstörerischen Enzyme der Pilze aber sind auch diese natürlichen Konservierungsmittel machtlos. Sie zerbrechen die langen Ketten und zerlegen langsam, aber gnadenlos das Holz in seine Grundbestandteile. Der typische weißliche oder gelbliche Überzug vermodernder Äste und Stümpfe gibt Zeugnis von der Tätigkeit dieser Pilze. Eine Katastrophe wie der Meteoriteneinschlag hinterlässt diesem „Räumkommando“ der Natur mehr als reichlich Rohmaterial: Von Schockwellen, Tsunamis und Stürmen umgemähte Wälder, durch Erdbeben und Gesteinsregen verwüstete Buschlandschaften und Felder, Unmengen toter Tiere – für die Pilze ist der Tisch nach einem solchen Ereignis reich gedeckt. Und das Beste: Dank der Dunkelheit und weiterer Faktoren wie dem sauren Regen, ist auch die Konkurrenz zu großen Teilen ausgeschaltet.
Feuer als „Anheizer“
Holzpilze finden nach einer Katastrophe reiche Nahrung © NPS
Gefundenes „Fressen“ für Feuerpilze: Verkohlte und umgestürzte Bäume nach einem Waldbrand. © NPS/ J. Schmidt
Einige Pilzarten werden sogar erst durch die Katastrophe richtig munter: Diese so genannten Feuerpilze wachsen besonders gut nach Busch- und Waldbränden. Nach dem legendären Phönix, dem Vogel, der aus der Asche seines verbrannten Nests aufersteht, werden sie auch als phoenikoide Pilze bezeichnet. Einige dieser Pilze brauchen sogar den Reiz der Hitze, damit ihre im Boden ruhenden Sporen aktiv werden, andere profitieren von der Tatsache, dass das Feuer die obersten Bodenschichten
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quasi sterilisiert und damit einen Großteil der lästigen bakteriellen Konkurrenten beseitigt. Beobachtungen nach Waldbränden in den USA und in Australien zeigen, dass sich beispielsweise Arten der Gattung Pyronema nach einem Feuer sehr schnell ausbreiten und die verbrannten Flächen dann über und über mit den winzigen, nur rund einen Millimeter großen, häufig leuchtend pinkfarbenen Fruchtkörpern dieser Pilze bedeckt sind. Da die meisten Szenarien der Forscher von ausgedehnten Buschbränden nach einem Meteoriteneinschlag wie dem vor 65 Millionen Jahren ausgehen, dürfte diesen Pilzen dann ein wahres Schlaraffenland bevorstehen.
Wachstum durch Fäden
Pilze wachsen über ihre Hyphen (Pilzfäden), produzieren aber auch Sporen. © CDC
Die Kreisform der Schimmelpilzkolonien (hier auf Kaffee) zeigt wie die Hyphen in alle Richtungen wachsen. © SXC
Doch die vielseitigen Nahrungs- und Anpassungsstrategien der Pilze sind nur ein Teil ihres Erfolgsrezepts. Mindestens ebenso entscheidend ist die flexible Art ihrer Fortpflanzung und Ausbreitung. Denn viele Pilze können – je nach Situation – zwischen einer sexuellen und einer nichtsexuellen Fortpflanzung wählen. Eine Art der nicht-sexuellen Fortpflanzung ist das simple Wachsen durch Knospung und Abteilung immer neuer Pilzzellen und -fäden. Im Prinzip findet diese Art des Wachstums bei allen Pilzen nahezu kontinuierlich statt. Denn selbst bei den vermeintlich einzeln stehenden Steinpilzen, Champignons oder Fliegenpilzen sind die sichtbaren hutförmigen Pilze nichts weiter als die Fruchtkörper des eigentlichen Pilzgewächses im Untergrund. Und dieses besteht aus einem kreisförmig nach außen wuchernden Geflecht von Millionen extrem feiner, nur Bruchteile eines Millimeters dicker, sich verzweigenden Fäden, den Pilzhyphen. Bei Schimmelpilzen, beispielsweise auf einer Brotscheibe, ist diese kreisförmige Art der Ausbreitung besonders gut zu erkennen. Diese Hyphen sind es auch, die die Holz und anderes Material zersetzenden Enzyme freisetzen und die Nährstoffe aufnehmen.
Blauwal im Untergrund: der Riesenpilz Wie erfolgreich diese Ausbreitungsstrategie der Pilze sein kann, zeigt auch das Beispiel des berühmten Riesen-Fungus in der Nähe des amerikanischen Städtchens Crystal Falls. Hier, an der Grenze zwischen den Bundesstaaten Michigan und Wisconsin, stießen Biologen im Jahr 1992
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durch Zufall auf einen zunächst alltäglich erscheinenden Holzpilz. Armillaria bulbosa, so die Fachbezeichnung für diese Hallimasch-Art, ernährt sich normalerweise von organischem Material, „Leibspeise“ sind dabei Baumwurzeln, Stümpfe und Totholz. Während gesunde, ungestresste Bäume den Pilzbefall ihrer Wurzeln in der Regel gut verkraften, kann er für schwache oder sehr junge Bäume fatal sein: Sie bekommen nicht genügend Nährstoffe und sterben ab. Für viele Bewohner der Gegend war der Pilz durchaus nicht unwillkommen, denn die braunen, Lamellenbesetzten Fruchtkörper des „Honigpilzes“ sind essbar. Die Waldbesitzer allerdings konnten sich daran nur bedingt freuen, denn in ihren Forsten fielen immer wieder junge Kiefernschösslinge dem Pilz zum Opfer. Die Biologen, einmal auf den Pilz aufmerksam geworden, entnahmen in weitem Umkreis verschiedene Proben der Pilzhyphen, um anhand von genetischen Analysen feststellen zu können, um wie viele Befallsherde es sich hier handelte. Und die Auswertung dieser Daten ergab Verblüffendes: Alle Proben aus einem Bereich von 150 Quadratmetern stammEin Verwandter des Hallimasch (Armillaria mellea) wurde zum Riesenpilz. Sein unterirdisches Pilzgeflecht erstreckt sich über neun Quadratkilometer. © Public domain
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ten eindeutig von nur einem Individuum! Nur ein einzelner Pilz hatte die gesamte Fläche mit seinen Hyphen unterwandert und kolonisiert. Die Masse der Pilzfäden im Untergrund entsprach damit mehr als hundert Tonnen und reichte an das Gewicht eines ausgewachsenen Blauwals heran. In weiteren Laborversuchen erkundeten die Biologen die WachstumsgePilzfäden: Extrem dünn und durchscheinend, aber zäh und unaufhaltsam wachschwindigkeit von Armillaria und send. © SXC kalkulierten, dass der Riesen-Pilz von Crytstal Falls mindestens 1.500 Jahre alt sein musste. Seither sind noch weitaus größere Vertreter solcher Riesenpilze entdeckt worden. Einer davon, in den Blue Mountains im östlichen Oregon gelegen, erstreckt sich über gut neun Quadratkilometer – eine Fläche so groß wie 1.665 Fußballfelder.
Die Herrschaft der
Pilze hat allerhöchstens ein paar Jahre angehalten. Vivi Vajda
Fossile Pilzspore aus den K/T-Ablagerungen. © Vivi Vajda
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Überdauerung durch Sporen Doch mit dem Wachstum über Hyphen sind die asexuellen Ausbreitungsmöglichkeiten der Pilze noch lange nicht erschöpft. Gerade im Falle einer Katastrophe wie in unserem Szenario, garantiert eine weitere Möglichkeit ihr Überleben: Viele Pilzarten können spezielle Überdauerungs- und Ausbreitungsformen, die Sporen, erzeugen – und dies ohne eine vorherige Paarung oder die sonstige Mitwirkung eines Partners. Die Sporen sind meist extrem widerstandsfähig, können Austrocknung, Hitze und Kälte problemlos überstehen und jahrelang im Boden überdauern. Ein Meteoriteneinschlag mit allen seinen Auswirkungen ist für diese Pilze daher gerade einmal ein „kleiner Zwischenfall“, überleben würden sie ihn wahrscheinlich ohne große Probleme. Nach Feuer, Sturm und Wasser können sie sofort auskeimen und direkt mit dem Wachsen beginnen – und das ohne Licht. Nach Schätzungen von Vajda und anderen Wissenschaftlern könnte die Herrschaft der Pilze daher zumindest während der Zeit der globalen Verdunklung durch Staub, Ruß und Aerosole anhalten. Ein paar Monate, allerhöchstens Jahre – so lange währte die Pilzphase auch nach dem Einschlag des „Dinokillers“ vor 65 Millionen Jahren.
Fragen an: Vivi Vajda Die Geologin forscht am GeoBiosphere Science Centre der Universität Lund in Schweden. Ihr Schwerpunkt ist die Palynologie, die Identifikation und Auswertung von fossilen Pollen und Sporen aus geologischen Proben. Aus können wertvolle Rückschlüsse über die Umwelt- und Klimabedingungen vergangener Epochen gewonnen werden.
Wie lange dauerte die „Herrschaft der Pilze“? Es ist nicht ganz einfach, dies aus der Sedimentationsrate abzulesen. Aber wahrscheinlich war es nicht länger als ein paar Monate. Wir stützen uns hier auch auf die Modelle, da wir glauben dass sich dies während der Periode der Dunkelheit abspielte. Und auch damit kommen wir auf ein paar Monate. Weiß man denn, welche Pilze damals dominierten? Wie sie aussahen? Das ist ein Problem. Denn die Pilzsporen gleichen sich bei vielen Pilzarten sehr. Zudem sind es in den Sedimenten größtenteils ganz andere als diejenigen, die wir heute kennen. Viele dieser Arten sind heute ausgestorben. Aber wir können feststellen, dass sowohl Schimmelpilzähnliche als auch Hutpilze vertreten waren. Wie haben wir uns das denn vorzustellen? Gab es ganze Wälder von Pilzen? Nein, es waren eher bestimmte Gebiete, deren Untergrund mit Hutpilzen und Schimmel in verschiedenen Farben bedeckt war.
Weiß man etwas über ihre mögliche Nahrung? Viele von ihnen gehörten zu den Formen, die auf Holz oder Bäumen wachsen. Und ich denke, sie waren deshalb sehr wichtig für den globalen Kohlenstoffkreislauf. Denn damals war ja sehr viel Kohlenstoff in Pflanzen und totem Material gebunden. Gemeinsam mit Bakterien tragen die Pilze sehr effektiv dazu bei, dass dieser Kohlenstoff wieder in die Atmosphäre freigesetzt wird. Ohne die Pilze würde es für ein Ökosystem sehr viele länger dauern sich wieder zu regenerieren. Zudem haben sie nicht nur den Kohlenstoff wieder freigesetzt, sie machten auch den in dem Material gebundenen Stickstoff wieder für Pflanzen als Nährstoff verfügbar. Begannen denn die Pfl anzen bereits während der Pilzphase wieder zu wachsen? Nein, erst danach. Wir haben erst die Brände, die Druckwelle und all das. Dann wird es dunkel, kalt und feucht und die Pilze beginnen zu wachsen. Sie wachsen für sagen wir einmal sechs Monate. Und dann erst beginnen auch die ersten Pflanzen wieder zu wachsen.
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Die Pflanzen
Die Pflanzen kommen zurück. Wenn man
mit einer Kettensäge in einen botanischen Garten geht oder alles niederbrennt, hat man in zehn Jahren trotzdem wieder einen botanischen Garten. Vivi Vajda
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Für lange Zeit sind die Ozeane zum größten Teil tot. Besonders hart betroffen sind die tropischen Korallenriffe.
Die Pflanzen Vier Monate nach dem Einschlag, Pazifik
Ein kleines Segelschiff liegt verloren in der endlosen Weite des Pazifik. Die See ist fast spiegelglatt, nicht das geringste Kräuseln auf den Wellen. Es herrscht Flaute, nichts geht voran. Seit ein paar Wochen dringt die Sonne immer stärker durch den wolkenvergangenen Himmel. Aber sie wärmt nicht, die Luft über dem Wasser ist kalt. Die Mannschaft sitzt an Bord über das ganze Deck verteilt. Es gibt wenig zu tun. Noah und Shiang sind unter ihnen. An der Küste haben sie schließlich doch eine Gruppe von Hawaiianern getroffen, der sie sich anschließen konnten. Gemeinsam reparierten sie ein zerstörtes Boot. Langsam werden ihre Vorräte knapp. Im Meer gibt es keine Nahrung. Ein paar Wochen sind sie schon Richtung Westen unterwegs. Auf ihrem Weg sind sie zunächst an den Nachbarinseln Hawaiis vorbeigefahren. An manchen seichten Stellen ist Noah mit ein paar anderen ins Wasser gesprungen, um die Unterwasserwelt zu untersuchen. Meist sind sie mit hängenden Köpfen schon nach kurzer Zeit wieder an Bord zurückgekehrt. Hier, wo einst dicht bevölkerte
Mitten auf dem Pazifischen Ozean liegt das Flüchtlingsschiff in einer Flaute. Ihre Nahrungsvorräte gehen zur Neige. Im Meer gibt es nichts zu fangen.
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Die Pflanzen
tropische Korallenriffe lagen, gab es nichts mehr. Die Dunkelheit hat das Leben getötet. Das pflanzliche Plankton, das im Meer fast ausschließlich die Basis der Nahrungskette bildet, ist schon nach kurzer Zeit abgestorben und mit ihm stirbt nach und nach auch der Rest des Meeres. Eine weitere Katastrophe mit ungeahnten Folgen. Alle an Bord sind matt und hungrig. Nur Shiang zeigt noch Initiative. Sie ist unermüdlich und hat aus einer Leine und einem Haken eine Angel gebastelt. Hartnäckig ist sie davon überzeugt, dass sie früher oder später etwas fängt. Zur gleichen Zeit in Südfrankreich
Henri und seine Tochter Michelle konnten vor der Kälte, die in Nordeuropa herrscht, fliehen. An der Küste des Mittelmeeres sind die Temperaturen erträglich, aber grüne Bäume und Sträucher gibt es auch hier keine mehr.
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Eine kleine Gruppe von Wanderern macht Rast. Die Pause ist wohlverdient. Henri und seine Tochter haben es endlich geschafft. Gemeinsam mit ein paar anderen sind sie der schlimmsten Kälte entkommen. Hier an der Küste des Mittelmeers sind die Temperaturen einigermaßen erträglich. Zum ersten Mal seit Wochen haben sie sogar einen richtigen Sonnentag erwischt. Und trotzdem will bei Vater und Tochter keine rechte Freude aufkommen. Der lange, entbehrungsreiche Marsch hat sie zwar aus der Kälte geführt, aber gleichzeitig auch die Chancen verringert, ihre Mutter jemals wieder zu finden. Sie haben sich in der Nacht der Katastrophe verloren und inzwischen schon fast die Hoffnung aufgegeben. So sitzen sie gemeinsam am Fuße der Berge. Hier im Süden liegt kein Schnee. Auf den Hängen stehen die Überreste verbrannter Bäume. Ehemals gab es hier am Rand der Pyrenäen eine üppige Vegetation. Davon ist nicht viel übrig geblieben. Seit Monaten hat Michelle keine lebenden Tiere oder Pflanzen mehr gesehen. Der Blick in die verbrannten Wälder ist deprimierend. Sie hofft so sehr, einmal wieder im Schatten eines grünen Baumes liegen zu dürfen. Im Moment erscheint es ihr, als ob das niemals mehr der Fall sein wird.
Kiefern-Keimling ein Jahr nach einem Waldbrand © NPS
Die Pflanzen Was sagt die Wissenschaft? Einige Monate nach dem Einschlag. Die schlimmsten Auswirkungen sind vorüber, die Dunkelheit lässt nach, ebenso die Kälte. Langsam beginnt das Leben sich wieder zu regen. Allmählich kristallisiert sich heraus, wer überlebt hat und wer nicht, wer zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern nach einem solchen Impakt gehört. Werfen wir als erstes einen Blick in das Pflanzenreich: Was bedeutete die Katastrophe für das zuvor allgegenwärtige Grün? Welche der zahlreichen fatalen Ereignisse hat die Pflanzen am meisten getroffen? Und wie entwickelt sich die Vegetation jetzt, nachdem alles vorüber ist?
Im Meer: das große Algensterben
Im Unterschied zu Tieren
leben die Pflanzen in ihren Samen weiter. Vivi Vajda
Im Meer hat es die kleinsten unter den pflanzlichen Lebewesen am stärksten getroffen: In den Ozeanen weltweit wimmelt es in den obersten, lichtdurchfluteten Wasserschichten normalerweise förmlich von
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Die Pflanzen
Die vielgestaltigen Schalen der Kieselalgen bestehen nicht aus Kalk. Sie wären daher durch eine Versauerung weniger betroffen. © Mary Ann Tiffany, San Diego State University
Neunzig Prozent starben auf der Stelle. Vivi Vajda
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einzelligen Algen verschiedenster Gestalt. Sie „tanken“ das reichlich vorhandene Sonnenlicht und versorgen sich so mit Energie für Wachstum und Vermehrung. Das nur zwischen zwei und 40 Mikrometern große Nanoplankton wiederum dient anderen Bewohnern der obersten Meeresschichten als Nahrung. Selbst in der Tiefe sorgen die herabsinkenden Algenreste noch für einen reich gedeckten Tisch. Entsprechend wichtig sind diese pflanzlichen Winzlinge für das gesamte Ökosystem Ozean. Doch so zahlreich und vielfältig sie auch sind, allen diesen Nanoplanktonarten gemeinsam ist eine fatale Achillesferse: Sie lagern winzige Kalkplättchen ein, um ihre Zellen zu stabilisieren. Und genau das wird ihnen zum Verhängnis. Denn die Kalkskelette machen die Nanoalgen sensibel gegenüber jeder Änderung der Meereschemie hin zu einem saureren Milieu. Sobald der pH-Wert unter einen bestimmten Wert sinkt, löst sich der Kalk einfach auf. Den Algen fehlt damit ihr stabilisierendes Skelett – ein Überleben ist so nicht möglich. Genau das könnte sich auch vor 65 Millionen Jahren abgespielt haben: Damals machte der Einschlag des „Dinokillers“ knapp 90 Prozent aller kalkhaltigen Nanoplanktonarten den Garaus. Fast die Hälfte aller stammesgeschichtlichen Familien dieser Algengruppe verschwand damals für immer aus den Meeren der Erde. Das große Sterben machte dabei keinen Unterschied zwischen hohen und niedrigen Breiten, Tropen und Polargebieten – der Impakt hinterließ im Wasser eine große Leere. In den zu dieser Zeit abgelagerten Sedimenten ist dieser Einschnitt nicht zu übersehen. Ob es allerdings tatsächlich eine starke Versauerung der obersten Meeresschichten war, wie es angesichts der bekannten Achillesferse des Nanoplanktons nahe liegend scheint, kann bisher niemand eindeutig belegen. Die geochemischen Daten liefern hier nicht genügend und vor allem eher widersprüchliche Information. Auffällig ist allerdings, dass viele andere Algengruppen durch den Einschlag am Ende der Kreidezeit deutlich geringere Verluste erlitten. Die Kieselalgen oder Diatomeen beispielsweise, die noch heute in jedem Wassertropfen in millionenfacher Stückzahl vorkommen, besitzen ebenfalls feste, mineralische Schalen. Im Gegensatz zum Nanoplankton lagern sie allerdings kein Calciumcarbonat ein, sondern das wesentlich säurebeständigere Siliziumdioxid. Aber auch an ihnen ist der Einschlag keineswegs spurlos vorüber gegangen, denn die Ablagerungen der K/T-Grenze zeigen auch für die Diatomeen deutliche Hinweise auf einen dramatischen Wechsel der Umweltbedingungen. In Bohrkernen aus der Antarktis beispielsweise fanden Forscher kaum Fossilien von aktiven Kieselalgen, dafür aber zahlreiche Skelettreste ihrer Überdauerungsstadien. Diese Ruhesporen werden immer dann gebildet,
wenn die Bedingungen nahe der Wasseroberfläche schlechter werden. Im Falle des Einschlagsszenarios könnten sowohl die Dunkelheit, als auch ungünstige Temperaturen oder ein Nährstoffmangel die Sporenbildung ausgelöst haben. Da die Sporen schwerer sind als die aktiven Algen, sinken sie in tiefere Wasserschichten ab – und sind damit effektiv vor allen widrigen Veränderungen geschützt. Signalisieren die Umweltbedingungen eine Besserung, entwickeln sich aus diesen Sporen wieder aktive Algen, die an die Oberfläche aufsteigen.
Isotope verraten Aussterben Und nicht nur die Fossilien im Sediment zeugen von einer plötzlichen und radikalen Auslöschung nahezu allen pflanzlichen Lebens in den oberen Meeresschichten. Die Vernichtung hinterließ auch chemische Fingerabdrücke im Gestein: Sie veränderte die Isotopenverhältnisse des im Sediment abgelagerten Kohlenstoffs. Das Element Kohlenstoff, das von den Pflanzen für die Produktion von Biomolekülen gebraucht und eingebaut wird, kommt in der Natur in unterschiedlichen Formen vor. Die mit Abstand häufigste und „normale“ Form ist der Kohlenstoff C12, ein Atom mit zwölf Neutronen im Atomkern. Gut ein Prozent des natürlich vorkommenden Kohlenstoffs hat jedoch ein Neutron mehr, er liegt als C13 vor. Die Pflanzen bevorzugen bei der Fotosynthese das leichtere C12 und bauen es vermehrt ein. Als Folge bleibt in den oberen Wasserschichten, dort, wo die Algen aktiv sind, immer wieder C13 übrig, der C12 Anteil sinkt im Verhältnis. In der Tiefe dagegen sieht es genau umgekehrt aus: Von der Wasseroberfläche rieseln fortwährend tote Algen und Reste anderer Planktonbewohner hinab, in deren Molekülen nahezu ausschließlich C12 verbaut wurde. Dadurch reichert sich die Tiefe im Laufe der Zeit mit C12 an – es entsteht ein Unterschied in der Isotopenkonzentration zwischen „oben“ und „unten“. Genau das spiegelt sich auch in den Ablagerungen wieder: Ist der C12-Gehalt im Sediment erhöht, weist dies auf aktive Fotosyntese hin, entspricht er dem „normalen“ Isotopenverhältnis, ist dies nicht der Fall. „In einem Ozean mit aktiver Fotosynthese kann man daraus eine Kurve errechnen, die in der Tiefe niedrig ist und nahe der Oberfläche stark ansteigt“, erklärt Jan Smit von der Freien Universität Amsterdam. „Aber direkt nach der K/T-Grenze bricht diese ganze Kurve zusammen und es bleibt nur eine gerade Linie. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen der Tiefsee und den oberen Wasserschichten des Meeres.“ Für den Forscher ist das ein deutliches Signal dafür, dass zu dieser Zeit die
Algenblüte im Golf von Biskaya. Die bläulichen Flächen werden durch Kalkalgen hervorgerufen. © NASA GSFC
Die berühmten Kreidefelsen auf Rügen sind nichts anderes als Meeressedimente, die während der Kreidezeit abgelagert worden sind. © Nadja Podbregar
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Die Pflanzen
Fotosynthese in den Meeren nahezu vollständig zum Erliegen gekommen sein muss. Und dies für eine ziemlich lange Zeit: „Das dauerte mindestens zehntausend Jahre und wir sehen die Auswirkungen sogar noch nach zwei Millionen Jahren“, schätzt der Wissenschaftler.
Heute ähnlich dramatisch?
Die Algengruppe der Dinoflagellaten hat den Einschlag vor 65 Millionen Jahren zum größten Teil überlebt. © NOAA
In vielen Landschaften der Kreidezeit teilten sich Farne und Koniferen die Vorherrschaft. Hier eine fossile Farnspore. © Vivi Vajda
Und auch heute wären die Folgen vermutlich nicht viel anders. Denn die Fotosyntheseaktivität der Milliarden winziger Meeresalgen und auch die Unterschiede zwischen Oberflächenwasser und Tiefsee entsprechen fast genau denen des Meeres von vor 65 Millionen Jahren. „Die Planktonmenge ist in etwa die gleiche“, so Smit. „Die Arten sind andere, aber als Masse sind es die gleichen Formen.“ Und das bedeutet, dass auch nach einem Einschlag in der Gegenwart wahrscheinlich ein Großteil der Algen absterben würde. Dieser Verlust erscheint auf den ersten Blick nicht dramatisch – ein paar winzige Algen mehr oder weniger. Doch wenn man sich klarmacht, dass diese schwimmenden Winzlinge nicht nur die Basis der gesamten Nahrungspyramide im Meer bilden, sondern auch für das globale Klimasystem und den Kohlenstoffhaushalt in Meer und Atmosphäre entscheidend sind, sieht das Ganze schon bedenklicher aus. Ohne sie verhungern nicht nur alle Krebse, Fische und Vögel, die sich direkt von ihnen ernähren, sondern auch die Tiere, die wiederum auf diese Algenfresser als Beute angewiesen sind. Selbst die gewaltigen Blau- und Buckelwale wären bei einem Verschwinden der Planktonalgen zum Tode verurteilt, denn der Krill, ihre Hauptnahrung, besteht aus winzigen Krebschen, die Algen fressen. „Alles was ich dazu brauche, ist ein Abschalten der Fotosynthese durch eine längere Dunkelheit“, erklärt Smit.
An Land: Blütenpflanzen am stärksten getroffen Aber wie sieht es auf dem Land aus? Haben Bäume, Gräser und Co. vielleicht bessere Chancen, den Einschlag und seine Folgen zu überstehen? Die Antwort der meisten Experten ist ein klares „Jein“. Denn Untersuchungen unter anderem der Pollenexpertin Vivi Vajda deuten darauf hin, dass vor 65 Millionen Jahren auch die Landpflanzen weltweit dramatisch unter der Katastrophe gelitten haben. Wie aber sah die Vegetation damals aus? War sie überhaupt mit der heutigen vergleichbar? In mancher Hinsicht schon. Denn mit dem Beginn
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der Kreidezeit begann auch die Blüte der Angiospermen, der Blütenpflanzen, der heute größten und vielfältigsten Pflanzengruppe überhaupt. In mehr als 260.000 Arten haben sie nahezu alle Lebensräume der Erde besiedelt, von den kalten Tundren der Polargebiete über die Wälder und Wiesen unserer Breiten bis in die heißen Trockengebiete Afrikas und Asiens hinein. Laubbäume, Gräser und Gartenblumen wie Rose, Tulpe und Nelke gehören ebenso zu den Angiospermen, wie auch nahezu alle unsere Nutzpflanzen, von der Aubergine über Getreide bis zur Zucchini. Ihnen allen gemeinsam ist die „Verpackung“ ihrer Samenanlagen in einem Fruchtknoten und damit auch die Entwicklung des Pflanzenkeimlings in einem schützenden und nährenden Fruchtkörper. Diese neue „Strategie“, vor mindestens 110 Millionen Jahren von den Blütenpflanzen entwickelt, machte sich bezahlt. Während die Dinosaurier ihre Herrschaft im Tierreich ausbauten, kündigte sich in der Pflanzenwelt ein „Machtwechsel“ an: Dominierten zu Beginn der Kreidezeit noch Farne und Nadelholzgewächse, darunter die Vorläufer der heutigen Palmfarne und Nadelbäume, breiteten sich die Blütenpflanzen allmählich, aber deutlich, immer weiter aus. Die ehemals ausgedehnten Farnwälder wurden von Laubwäldern abgelöst, im Unterholz der Koniferenwälder machten sich Blütenpflanzen breit. Doch ihr Siegeszug erlitt vor 65 Millionen Jahren einen herben Rückschlag, da die sonst so erfolgreichen Blütenpflanzen dem Impakt des Meteoriten und seinen Folgen nicht viel entgegenzusetzen hatten. Die Ablagerungen aus dieser Zeit belegen, dass die Katastrophe diese Pflanzengruppe besonders hart getroffen hat. In Gebieten mit vornehmlich Blütenpflanzen vernichtete der Einschlag teilweise mehr als die Hälfte aller Arten. Die Ursachen dieser höheren Empfindlichkeit sind bisher nur in Teilen bekannt. Viele Angiospermen brauchen viel Licht zum Überleben, in Dunkelheit sterben sie schneller ab als Nadelbäume oder Farne. Einige von ihnen sind zudem für ihre Bestäubung auf Insekten angewiesen – werden diese durch die Katastrophe vernichtet, können sich auch die Pflanzen nicht mehr vermehren. In der späten Kreidezeit waren solche, oft hoch spezialisierten Beziehungen zwischen Blütenpflanzen und ihren Bestäuberinsekten weit verbreitet und variantenreich. Die Pflanzen bilden – damals wie heute – dafür oft spezielle Blütenfarben, Düfte und zuckerhaltigen Nektar aus, die ganz bestimmte Insektenarten anlocken. Landen diese dann auf der Blüte, können sie zwar den begehrten Pollen oder Nektar ernten, tragen aber gleichzeitig auch einen Teil des Pollens mit sich zur nächsten Blüte. Manche Orchideenarten geben beispielsweise Duftstoffe ab, die denen paarungsbereiter Insektenweibchen sehr stark ähneln. So kann die Orchidee Ophris sphenodes perfekt
Die meisten unserer Nahrungspflanzen, wie Getreide oder Obst, gehören zu den Blütenpflanzen. Viele von ihnen sind zudem von Insektenbestäubung abhängig. © IMSI (o.), USDA (m./u.)
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Die Pflanzen
Die Blüten der Orchidee Ophrys bombyliflora imitieren ein Hummelweibchen und locken so männliche Hummeln zur bestäubung an. © Gunnar Norman
Verkohltes Holz nach einem Waldbrand. © NPS/J. Schmidt
das Aphrodisiakum einer seltenen Bienenart imitieren. Verirrt sich dann ein Männchen in die Blüte, in der Hoffnung dort sein weibliches Pendant zu entdecken, hat die Pflanze ihr Ziel erreicht: Sie wird bestäubt oder kann ihre Pollen zur Verbreitung auf die Reise schicken. Andere Orchideenarten haben es beispielsweise im Rahmen der Evolution geschafft, die Gestalt von Insektenweibchen perfekt zu imitieren, um die Bestäubung der Blüten sicherzustellen. Diese Form von Nachahmung hat jedoch auch Nachteile, denn sie wirkt nur auf ein ganz bestimmtes Vorbild im Tierreich, alle anderen Insektenarten lassen das „Pseudoweibchen“ links liegen. Eine Untersuchung amerikanischer Forscher an mehr als 13.000 fossilen Pflanzenproben aus der Ära des Chicxulub-Einschlags zeigt denn auch, dass die am stärksten spezialisierten durch Insekten bestäubten Pflanzen der Kreidezeit mit der K/T-Grenze nahezu vollständig verschwinden und erst sehr lange nach dem Einschlag allmählich wieder auftauchen. Was allerdings vor 65 Milionen Jahren den Pflanzen genau den Garaus machte, ist bis heute unklar. Denn Kandidaten für den Posten des „Hauptkillers“ gäbe es gleich mehrere: Feuer, Dunkelheit, Kälte, saurer Regen. In der engeren Wahl sind jedoch bei den meisten Forschern zwei Impaktfolgen: „Es ist beides: Feuer – wir finden Holzkohle in der Grenzschicht – und natürlich die Dunkelheit“, erklärt Vivi Vajda. „Aber ich denke, dass es nicht überall gebrannt hat, so dass die Dunkelheit der Hauptmechanismus für das Aussterben war.“ Heute dominieren die Blütenpflanzen noch stärker als zur späten Kreidezeit. Im Falle eines erneuten Einschlags wären daher die Aussichten für sie vermutlich nicht sehr günstig. Zudem sind beispielsweise die meisten unserer Obstbäume auf Insekten, in diesem Falle Bienen, für ihre Bestäubung angewiesen. Rafft die Katastrophe die Insekten hinweg, wäre daher auch ihre Fortpflanzung und damit ihr Überleben gefährdet. Doch für die Frage des Überlebens spielt noch ein weiterer Faktor eine wichtige Rolle.
Standort entscheidet über Leben und Tod Im Gegensatz beispielsweise zu den Dinosauriern, die überall auf der Erde ausgerottet worden sind, hat der Chicxulub-Einschlag auf die Pflanzen offenbar regional unterschiedliche Auswirkungen gehabt. Auf der Nordhalbkugel und besonders in Nordamerika schlug er besonders nachhaltige und starke Schneisen in die Vegetation. Das zeigt sich
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unter anderem in Ablagerungen im Williston Basin im Westen des amerikanischen Bundesstaates South Dakota. Forscher fanden hier von insgesamt 130 verschiedenen Pflanzenarten der Kreidezeit nur 29 nach der K/T-Grenze wieder – offensichtlich hatte weniger als ein Viertel die Katastrophe an dieser Stelle überlebt. Ihre anhand von versteinerten Blättern, Stängeln und anderen fossilen Pflanzenresten durchgeführte Untersuchung ergab deutliche Hinweise auf einen plötzlichen und außergewöhnlichen Artenverlust. „Diese Arten tauchen danach nicht wieder auf, weder lokal noch sonst wo“, erklären die Wissenschaftler in ihrer 2001 veröffentlichten Studie. „Es ist sehr unwahrscheinlich, dass diese 130 kreidezeitlichen Arten jemals in den Ablagerungen aus dem dann folgenden Paläozän entdeckt werden.“ Auch in anderen Regionen Nordamerikas sind ähnlich deutliche Hinweise auf ein Massenaussterben in der Vegetation entdeckt worden. Insgesamt geht man davon aus, dass in Nordamerika bis zu 57 Prozent aller Landpflanzenarten der Kreidezeit durch den Einschlag für immer von der Bildfläche verschwunden sind. Aber warum gerade dort? Warum hat der Einschlag in Europa oder Asien deutlich weniger gewütet? Hier gibt es zwei Gründe. Der erste ist ein ganz einfacher: Während Nordamerika auch zur Kreidezeit schon vorwiegend Festland war, lag das Gebiet des heutigen Europa vor 65 Millionen Jahren größtenteils unter Wasser. Reste von Landpflanzen sind hier daher in den Ablagerungen nicht zu finden – und damit auch keine Hinweise auf das Ausmaß eines möglichen Aussterbens. Heute allerdings
Nordamerika erlitt nach dem Einschlag die größten Verwüstungen. © NASA
Das Gebiet des heutigen Europa lag in der späten Kreidezeit größtenteils unter Wasser. © MMCD
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Die Pflanzen
Was wir hier sehen ist
ein Massensterben, nicht aber ein Massenaussterben. Vivi Vajda
sähe das ganz anders aus. Europas Landpflanzen wären einer globalen Katastrophe ebenso ungeschützt ausgesetzt wie ihre Verwandten in Übersee. Asien dagegen lag damals wie heute auf der dem Einschlagsort gegenüberliegenden Seite der Erde und ist daher vor den eher regional wirkenden Folgen besser geschützt. Der zweite Grund könnte nach Ansicht einiger Forscher mit dem Einschlagswinkel des Meteoriten zusammenhängen: Wenn dieser schräg aus Südwesten aufgeschlagen ist, befand sich Nordamerika direkt in „Schusslinie“ für die schlimmsten Einschlagsfolgen: Ausgeschleuderte Trümmer, Staub und Hitze hatten von Yucatan aus freie Bahn weit ins Innere des Kontinents hinein.
Massensterben statt Massenaussterben?
Lage des Untersuchungsgebiets Greymouth Coalfield auf Neuseeland. © MMCD
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Anders dagegen sieht es auf der Südhalbkugel der Erde aus: In Neuseeland beispielsweise, weit entfernt vom Einschlagsort, scheinen die Pflanzen deutlich weniger gelitten zu haben. Lange Zeit glaubte man sogar, der Impakt sei nahezu spurlos an der Vegetation vorüber gegangen. Doch Vivi Vajda und ihr Forscherteam haben jetzt Beweise für das Gegenteil: „Ich war die erste, die den großen Wandel in der Flora der Südhalbkugel erkannt hat. Vorher hatte man vielleicht 20 Zentimeter unter oder über der K/T-Grenze gesucht oder sogar erst einen Meter darüber und gesagt: ‚Na ja, es gibt keinen großen Unterschied. Es ist nicht so viel passiert.‘“, erklärt Vajda. Erst ihre genaue Analyse der Ablagerungen unmittelbar vor und nach der K/T-Grenze hat enthüllt, dass der Einschlag sehr wohl drastische Spuren auch in der Pflanzenwelt hinterließ. Vajdas Untersuchungsgebiet, das Greymouth Coalfield, liegt an der Westküste der Südinsel Neuseelands. Vor 65 Millionen Jahren befand sich hier ein ausgedehntes Sumpfgebiet, durchströmt von träge dahinfließenden, verzweigten Flussarmen. Der schlammige Untergrund war von einem typischen, artenreichen kreidezeitlichen Sumpfwald bedeckt, Koniferen dominierten, aber auch Blütenpflanzen und Farne kamen häufig vor. Dicht an dicht lagen die Pollen dieser verschiedenen Pflanzenarten in den Proben Vajdas. Doch dann plötzlich der Einschnitt: Unmittelbar an der K/T-Grenze verschwinden die Blütenpflanzenpollen vollständig. Die Forscher analysierten 30 Proben und bestimmten insgesamt mehr als 2.000 Pollenarten, doch so sehr sie auch suchten – die Angiospermen blieben verschwunden. Über fast eineinhalb Meter Gestein erstreckte sich diese Blütenpflanzenlücke – eine Spanne, die wahrscheinlich mehreren Millionen Jahren entspricht. Doch die Blüten-
pflanzen traf es nicht allein: Auch Koniferen, zuvor die dominierende Pflanzengruppe, sind unmittelbar nach dem Einschlag nur noch vereinzelt nachzuweisen. Was aber bedeutet das? Sind die fehlenden Pollen ein Hinweis auf ein Aussterben der betroffenen Pflanzenarten? Hat die Katastrophe wirklich so viele Pflanzen komplett aus dem „Katalog“ der irdischen Flora gelöscht? Nicht unbedingt. Denn nach Ansicht von Vajda handelte es sich auf der Südhalbkugel vorwiegend um eine Vernichtung der zu dieser Zeit wachsenden einzelnen Pflanzen und Pflanzengesellschaften, Deutlich sichtbar: Die K/T-Grenze in den Ablagerungen des Greymouth Coalfield. © Vivi Vajda nicht aber um die Auslöschung der jeweiligen Arten – wie es bei einem echten Aussterben der Fall wäre. „Es ist ein großer Unterschied, ob man von einem Massenaussterben oder einem Massensterben spricht. Was wir hier sehen, ist eindeutig ein Massensterben“, erklärt Vivi Vaja. Und genau das machte es auch so schwer, diesen auf der Nordhalbkugel so deutlichen Einschnitt in der Vegetation des Neuseelands nachzuweisen. Denn in einigen Ablagerungen zeigten die Pollenfunde schon 20 Zentimeter oberhalb der K/T-Grenze scheinbar keine großen Abweichungen mehr gegenüber denen der späten Kreidezeit. Viele durch den Einschlag von der Erdoberfläche verschwundenen Pflanzenarten waren im Laufe der Zeit wieder aufgetaucht, dauerhaft Flechten sind nach einer Katastrophe ausgelöscht blieben nach Schätzungen von Vajda nur rund zehn Pro- oft die ersten Wiederbesiedler. © NPS zent.
Pflanzen als „Stehaufmännchen“ Insgesamt erholt sich die Pflanzenwelt nach einem solchen Ereignis ohnehin deutlich schneller und effektiver, als es die Tiere vermögen. Elisabeth McIver, eine Paläobotanikerin an der Universität von Saskatchewan in Kanada drückt dies drastisch, aber deutlich so aus: „Wenn Sie mit einer Kettensäge in den Zoo gehen und alle Tiere töten, ist kein Zoo mehr übrig. Wenn Sie aber mit der Kettensäge in einem botanischen
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Die Pflanzen
Garten gehen oder sogar alles niederbrennen, haben sie in zehn Jahren ihren botanischen Garten wieder.“ Die Erholung nach einem globalen Kettensägenmassaker wie dem Meteoriteneinschlag würde allerdings weitaus länger dauern als zehn Jahre, darin sind sich die Experten einig. Denn die Katastrophe vor 65 Millionen Jahren warf die gesamte Pflanzenwelt sogar für mehrere Millionen Jahre in ihrer Entwicklung zurück. Komplett ausgelöscht wurden nur zwischen zehn und 50 Prozent und damit weitaus weniger als in vielen Tiergruppen. „Der Unterschied ist, dass sie Die Symbiose zwischen Pilz und Algen erlaubt es Flechten, in ihren Samen weiterleben. Selbst Jahrtausende fast auf allen Untergründen zu wachsen. © NPS alte Samen aus den ägyptischen Pyramiden keimen wieder aus, das ist ein großer Unterschied zu den Tieren“, erklärt Vajda. Dass allerdings die Vegetation nach einer globalen Katastrophe exakt wieder zu ihrem Ausgangszustand zurückkehrt, ist mehr als unwahrscheinlich. Denn nach dem Einschlag herrschen andere Klima- und Umweltbedingungen, die wiederum jeweils anderen Pflanzenarten und -gruppen einen Vorteil verschaffen. Der „botanische Garten“ wird hinterher ein anderer sein als vorher. Ähnliches war auch schon vor 65 Millionen Jahren der Fall. In ihren Proben aus Neuseeland kann Vajda genau ablesen, wie und in welcher Reihenfolge sich die Vegetation Feuer und giftige Gase töteten diese Bäume im Yellowstone Nationalpark ab. Nach damals von der Katastrophe einer Einschlagskatastrophe könnte es ähnlich aussehen – weltweit. © NPS erholte: Zum Zeitpunkt Null, unmittelbar nach dem Einschlag, herrscht zunächst eine große Leere: Die gesamte Pflanzendecke ist verschwunden, der Boden kahl oder allenfalls von verkohlten Holzresten oder toten Pflanzenteilen bedeckt. In manchen Gebieten oder besonders geschützten Standorten könnten noch einige besonders widerstandsfähige Stümpfe stehen geblieben sein, aber im Großen und Ganzen haben Waldbrände, Dunkelheit, Kälte und saurer Regen ganze Arbeit geleistet. Im Untergrund allerdings ist die Vernichtung
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nicht ganz so vollständig: Hier haben – in einigen Regionen mehr als in anderen – Knollen, Wurzeln und widerstandsfähige Samen, Sporen und andere Dauerstadien überlebt. Sie bilden jetzt den Ausgangspunkt für die Neubesiedelung der kahlen Landschaft.
Farne sind die ersten Wiederkehrer
Die Pflanzen kommen
Noch bevor die ersten Überlebenden unter den höheren Pflanzen wieder zurück. Vivi Vajda auskeimen können, machen sich für eine kurze Zeit die Flechten breit. Eine dünne Schicht aus Pilzsporen in den Ablagerungen belegt dies auch für den letzten großen Einschlag. Diese Lebensgemeinschaften zwischen Pilz und einem Partner aus dem Reich der Grün- oder Blaualgen eignen sich aufgrund ihrer bescheidenen Ernährungsansprüche hervorragend als Erstbesiedler auf kargen, kahlen Untergründen, selbst vor nacktem Fels schrecken sie nicht zurück. Der Pilz erhält dabei die notwendigen Nährstoffe von seinem Partner, der diese durch Fotosynthese bildet. Im Gegenzug schützt das stabile und dichte Pilzgewebe die in ihm lebenden Algen vor Austrocknung und anderen Widrigkeiten. Sie waren auch nach der letzten Eiszeit die ersten, die sich auf den von den Gletschern frisch freigelegten Untergründen ansiedelten. Doch kehren wir zurück zu unserem Erholungsszenario nach einer Impakt-Katastrophe. Als erste Der moderne Farn Gleichenia ähnelt den krautigen Farnen, die sich nach dem K/TPflanzen im engeren Sinne am Impakt ausbreiteten. © Vivi Vajda Start sind hier zunächst die Farne. „Sobald das Licht langsam zurückkehrt, kommen die Farne. Sie sind an wenig Licht angepasst“, erklärt Vajda. „Sie sind wahrscheinlich auch deshalb die ersten, weil sie direkt aus ihren Rhizomen aussprießen, sie brauchen sich nicht erst sexuell fortzupflanzen.“ Viele dieser Farne gedeihen zudem problemlos auf offenem, ungeschütztem Gelände und kommen gut mit sehr sauren, nassen Böden klar. Allmählich beginnt sich die kühle, noch kahle Landschaft wieder mit einer grünen Schicht zu bedecken. Auch die an Schatten und Feuch-
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Die Pflanzen
tigkeit gewöhnten Moose gehören in dieser ersten Phase zu den Gewinnern. In den Pollen-Ablagerungen der K/T-Grenze spiegelt sich diese Phase deutlich als „Farnspitze“ wieder: Unmittelbar nach dem Einschlag machen die Farne plötzlich 90 Prozent aller Pollen aus, der Rest sind Moose und vereinzelte Nadelbäume. Ähnliche Abfolgen findet man aber auch in Gebieten, die nach einem Vulkanausbruch wiederbesiedelt werden, oder aber nach Waldbränden. Der Ausbruch des Vulkans Mount St. Helens im Nordwesten der USA im Jahr Auch Moos gehört zu den Pionierpflanzen. © NPS 1981 beispielsweise hinterließ eine große Fläche mit von Lava und Asche bedecktem, verbranntem Untergrund. Und auch hier waren es Farne, aber auch Flechten, Moose und anspruchslose Kräuter, die als Pioniere schon im ersten Jahr nach der Eruption den Untergrund neu besiedelten. „Die ersten, die zurückkehren, sind meist die Farne, das ist eine ganz normale Sukzession“, so Vajda. „Der Unterschied ist allerdings, dass in solchen Gebieten Samen aus benachbarten, unzerstörten Gebieten einfliegen können, der K/TEinschlag aber war deutlich folgenschwerer und globaler, daher liegt der Farnanteil bei 90 Prozent und höher.“ Und auch die Dauer der Farnphase ist nach Schätzungen der Wissenschaftlerin deutlich länger: „In den Nach der K/T-Grenze finden sich für einige Zeit fast auschließlich Farnsporen Ablagerungen sind es zwischen 20 und 40 Zentimeter, das ist eine lange wie diese in den Ablagerungen. Zeit, mehr als ein paar Jahrhunderte. Aber man kann das auch nicht mit © Vivi Vajda normalen Bedingungen vergleichen, denn man hat ja keine überlebenden normalen Pflanzen drumherum.“ Die normale Regeneration durch das Einschleppen von Samen findet im Falle eines Einschlags nicht statt, denn es wird kaum noch Gebiete mit intakter Vegetation geben. Einzelne Vertreter auch höherer Pflanzenarten allerdings könnten schon überlebt haben, glaubt auch Vajda: „In diesem Falle hat man vielleicht sogar ein paar Blütenpflanzen, die hier und da wieder wachsen.“ Generell jedoch sind es vor allem schnell wachsende, krautige Pflanzen, die sich jetzt ausbreiten.
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Nadelbäume lösen Laubbäume ab Auf die Farnphase folgt zumindest in den meisten Regionen wahrscheinlich eine Übergangszeit der Nadelbäume. Auch vor 65 Millionen Jahren war dies der Fall. Die Koniferen profitieren vor allem von dem nach der Dunkelheit und Kältephase noch sehr kühlen Klima. Auch in unserer heutigen Welt liegt ihr Reich überall dort, wo es eher kalt, karg und rau ist, in den Höhenlagen der Berge enn ich ein Dinosaurier wäre, würde oder der Taiga der höheren Breiten. Hier haben Laubmir das nicht gefallen. Jan Smit bäume kaum eine Chance, Fichte, Tanne und Kiefer bestimmen das Bild. Ähnlich könnte es auch nach einem Einschlag aussehen: Im Farnkraut beginnen allmählich die ersten Nadelbäume wieder zu sprießen. Ihre Samen haben im Boden, geschützt vor Feuer und Kälte, überlebt und keimen jetzt aus. Jan Smit erklärt: „Man sieht eine schnelle, regionale Reaktion und einen Wechsel der Vegetation von einem Wald mit Laubbäumen hin zu einem Wald fast nur aus Nadelbäumen. Wenn ich ein Dinosaurier wäre, würde mir das nicht gefallen.“ In Neuseeland dominierte nach dem Einschlag eine Nadelbaumart, die der heute in Tasmanien beheimateten Huon-Pinie ähnelt. Diese bis zu 30 Meter hohen Koniferen wachsen sehr langsam, werden aber dafür sehr alt. Ein Wurzelstock dieser HuonPinien in Westen Tasmaniens wurde auf ein Alter von Die tasmanische Huon-Pinie, Lagarostrobos franklinii, ähnelt mehr als 10.000 Jahren datiert. den Nadelbäumen, die nach dem Chicxulub-Einschlag in Eine so klare Vorherrschaft der Nadelbäume wie Neuseeland wuchsen. © GFDL in Neuseeland muss sich allerdings nach einem Einschlag nicht überall etablieren. Im kanadischen Saskatchewan beispielsweise stießen Forscher auf Ablagerungen, die eher auf eine entgegengesetzte Entwicklung der Flora in dieser Region hindeuten. In der Kreidezeit befand sich hier ein ausgedehntes Sumpfgebiet, in dem Koniferen dominierten. Nach dem Chicxulub-Einschlag wurde dieser Zypressenwald jedoch durch ein vorwiegend mit krautigen Blütenpflanzen überwachsenes Feuchtgebiet abgelöst. In den meisten Regionen allerdings begannen die Blütenpflanzen sehr viel später, erst nach mehreren Millionen von Jahren, wieder richtig Fuß zu fassen. Erst dann etablierte sich langsam eine artenreiche Mischung von Kräutern, Nadel- und Laubbäumen, wie wir sie auch heute aus den unterschiedlichen Regionen der Erde kennen.
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Die Pflanzen
Nach einiger Zeit kehren auch die ersten Blütenpfllanzen zurück, z.B. Arnika (li.) und Weide (re.). © NPS
Gewinner und Verlierer
Das schmalblättrige Weidenröschen, auch „Fireweed“ genannt, ist ein typischer „Pionier“ nach einem Brand. © NPS
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Ausnahmen von der „klassischen“ Abfolge nach dem Chicxulub-Einschlag zeigen zwar, dass die Gewinner und Verlierer in der Pflanzenwelt nach der Katastrophe weitaus weniger eindeutig verteilt sind als in der Tierwelt. Ein paar Faktoren gibt es jedoch, die eine Pflanze für die Rolle als Überlebende und „Katastrophengewinnler“ zu prädestinieren scheinen. So ist es beispielsweise von Vorteil, geographisch möglichst weit verbreitet zu sein. Eine Art, die weltweit vorkommt, hat eine größere Chance, in einer weniger betroffenen Region zu überdauern, als eine Art, die möglicherweise nur an einem Standort nahe des Einschlagsortes lebt. Ein weiteres Plus besitzen Pflanzen, die Überdauerungsorgane ausbilden, wie beispielsweise Sporen und andere Ruhestadien, oder aber direkt aus Knollen oder ihren Wurzeln neu ausschlagen können. Sie bleiben dann so lange geschützt im Untergrund inaktiv, bis „das Gröbste“ überstanden ist und die Bedingungen wieder besser werden. Erst dann keimen sie aus und leben weiter. Einige Farne, aber auch mehrjährige Blütenpflanzen gehören zu dieser Gruppe. Ebenfalls Vorteile haben die Arten, die einen sehr breiten Toleranzbereich gegenüber Umweltveränderungen besitzen oder sehr geringe Ansprüche an Boden und Klima stellen. Die klassischen Pionierpflanzen hätten daher auch nach einem Einschlag ganz gute Chancen. Sie stellen heute beispielsweise nach ausgedehnten Waldbränden die ersten Wiederbesiedler unter den Blütenpflanzen und könnten daher auch nach einem Einschlag die Rückkehr der Angiospermen einläuten – nach Farnphase und Nadelholzgewächsen. Tausende Quadratkilometer brennen beispielsweise jeden Sommer im Yukon Territorium, Alaska und in Sibirien auf natürliche Weise nieder. Dies ist die Chance für die Pionier-
arten, die verbrannte Fläche neu zu besiedeln. Darunter sind vor allem solche Pflanzen, die viel Sonnenlicht vertragen und vorher im Schatten der großen Riesen keine Chance hatten. Eine der ersten Blütenpflanzen ist oft das schmalblättrige Weidenröschen, im Amerikanischen „Fireweed“ – Feuerunkraut – genannt. Es liebt kalkreiche, leicht saure Böden und offene Steppen, insbesondere verbranntes Erdreich, wo es sich mit seinem verzweigten Wurzelsystem schnell ausbreitet und fest verankert. Wie bei allen Pionierarten üblich, verfügt es über reichlich Samen, um seinen Fortbestand zu sichern. In einer Samenkapsel befinden sich zwischen 300 und 400 Samen, pro Pflanze sogar bis zu 80.000. Seidige Härchen sorgen dafür, dass sie vom Wind perfekt umhergewirbelt werden. Auf diese Weise hat das Weidenröschen schon in kürzester Zeit ganze Flächen mit einem Teppich überzogen. Auch Kiefern, Espen und Weiden können nur bei voller Sonneneinstrahlung wachsen. Daher sind sie die ersten Gehölze, die die abgebrannten Gebiete neu besiedeln. Einen Haken hat das Ganze aber auch für diese Pioniere: Ihre Hochphase ist in der Regel zeitlich begrenzt. Das Ende ihrer Herrschaft führen sie ironischerweise selbst herbei. Denn erst sie sind es, die ihren langsamer wachsenden und etwas anspruchvolleren Nachfolgern den Boden bereiten – im wahrsten Sinne des Wortes. Typischerweise wird daher die artenarme, aber durchaus zahlreiche „Krisenflora“ nach einer bestimmten Zeit durch eine andere, artenreichere und vielfältigere Vegetation abgelöst. Das allerdings geht im Falle einer globalen Katastrophe nicht von heute auf morgen. Pflanzenfossilien aus dem Williston Basin im westlichen South Dakota zeigen, dass es nach dem Einschlag mehr als fünf Millionen Jahre dauerte, bis die Artenvielfalt in diesem Gebiet wieder zunahm und die verarmte Krisenflora allmählich durch typische neuzeitliche Pflanzen abgelöst wurde. Würde sich ein solcher Einschlag heute ereignen, wäre auch das für die Pflanzenwelt kein großes Drama – wohl aber für den Menschen. Denn wir sind darauf angewiesen, genügend pflanzliche Nahrung zu finden – insbesondere dann, wenn auch die Tiere durch eine Katastrophe dezimiert werden. Da die meisten unserer heutigen Nutzpflanzen zu den Blütenpflanzen gehören, könnte die Prognose für sie nicht gut aussehen. Andererseits sind Klima und Pflanzenwelt heute viel variantenreicher als in der Kreidezeit. Die Chance, dass einige Arten, beispielsweise aus den Polargebieten, ohnehin an Kälte und Dunkelheit oder aber saure Böden angepasst sind und deshalb überleben, ist daher möglicherweise größer als damals. Dennoch, eine Rückkehr zum Business as usual mit Feldern voller Weizen, Reis, Kartoffeln oder Mais würde es erstmal für die Menschheit nicht geben...
Eine Rückkehr zur gewohnten Landwirtschaft, hier eine Reisernte, wird es wohl erstmal nicht geben. © USDA/ David Nance
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Die Pflanzen
Fragen an: Vivi Vajda Die Geologin forscht am GeoBiosphere Science Centre der Universität Lund in Schweden. Ihr Schwerpunkt ist die Palynologie, die Identifikation und Auswertung von fossilen Pollen und Sporen aus geologischen Proben. Aus können wertvolle Rückschlüsse über die Umwelt- und Klimabedingungen vergangener Epochen gewonnen werden.
Was verrät die Geologie über das Ausmaß der Katastrophe für die Pfl anzen? Wir kannten die Ergebnisse aus Nordamerika, wussten dass es dort einen großen Bruch in der Pflanzenwelt gab, dass etwas Dramatisches geschehen sein musste. Aber wir wussten nicht, ob das global war oder nicht. Deshalb machte ich meine Studien in Neuseeland. Das ist einer der wenigen Orte auf der Erde, an denen man untersuchen kann, was damals an Land, in der terrestrischen Umwelt geschehen ist. Ich erhielt Zugang zu diesen Proben dort und untersuchte sie mit sehr hoher Auflösung. Erst Zentimeter für Zentimeter und als ich wusste, wo die K/TGrenze genau lag, sogar Millimeterweise. was zeigen die Analysen der Sedimentschichten? In allen Proben aus den Kreidezeitschichten finden wir Pollen und Sporen von hunderten von verschiedenen Pflanzenarten. Wenn man aber an die K/T-Grenze kommt, haben wir erst die Iridium-Schicht und dann kommt eine sehr dünne Schicht von Pilzsporen, die aber nicht überall erhalten geblieben ist. Dann – je nachdem wo man sich befindet – folgen 20 bis 40 Zentimeter, in denen wir zu 90 bis 100 Prozent nur Farnsporen finden. Es gibt hier also durchaus einen großen Einschnitt.“ Und wie lange dauerte der Einschnitt? Welche zeitliche Auflösung haben die Ablagerungen? Das kommt darauf an. Direkt an der K/T-Grenze kann ein Zentimeter in einer Nacht abgelagert
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werden. Aber ein bisschen davor entspricht ein Zentimeter vielleicht hundert oder sogar tausend Jahren. Vorher hatte man rund 20 Zentimeter unterhalb und oberhalb der Grenze geschaut. Und dort ist an einigen Stellen alles schon wieder normal. Oder sie schauten sogar einen Meter darüber und sagten dann: ‚Es ist kein großer Unterschied, es sind nur zehn Arten, da ist nicht viel passiert.‘ Es passierte eine Menge, aber die Pflanzen kommen eben zurück. Was ist der Unterschied zwischen Pfl anzen und Tieren? Hatten die Pfl anzen die bessere Überlebensstrategie? Ja. Tatsächlich war es auch für die Pflanzen, die zum Zeitpunkt des Einschlags wuchsen, absolut verheerend. Wahrscheinlich starben dabei 90 Prozent von ihnen, vielleicht sogar mehr, wegen der Dunkelheit. Der Unterschied ist, dass sie in ihren Samen weiterleben. Selbst Jahrtausende alte Samen aus den ägyptischen Pyramiden keimen wieder aus, das ist ein großer Unterschied zu den Tieren.“ Wer kehrte zuerst wieder zurück? Wie war die Reihenfolge? Zunächst war es noch dunkel – so interpretieren wir das – Pilze konnten hier wachsen, weil sie keine Fotosynthese betreiben. Sobald aber das Licht zurückkehrte, kamen die Farne. Sie sind an relative Dunkelheit vorangepasst, sie leben oft an Standorten mit wenig Licht. Zuerst
kommen die Krautfarne. Auch nach Waldbränden heute sind sie die ersten. Andere Forscher haben Untersuchungen in vulkanischen Gebieten durchgeführt und auch dort waren die ersten Rückkehrer die Farne. Es ist also eine relativ normale Abfolge. Der Unterschied ist allerdings, dass in solchen Gebieten Samen aus benachbarten, unzerstörten Gebieten einfliegen können, der K/T-Einschlag aber war deutlich folgenschwerer und globaler, daher liegt der Farnanteil bei 90 Prozent und höher. Aber man kann das auch nicht mit normalen Bedingungen vergleichen, denn man hat ja keine überlebenden normalen Pflanzen drumherum. Nach dem Einschlag folgten auf die Krautfarne Baumfarne, wie es sie noch heute in Neuseeland gibt. Dann die Koniferen, die Nadelbäume. Aber was ist mit den Blütenpfl anzen? Sie kommen erst am Ende wieder, denn sie waren am stärksten betroffen. Wir hatten wahr-
scheinlich einige Gebiete mit Angiospermen auch nach dem K/T-Einschlag. Es ist nicht so, dass sie 10.000 Jahre warten mussten. Sie waren da, aber in sehr geringen Mengen und nur in einigen begrenzten Gebieten, als sie wieder anfingen zu wachsen. Zudem braucht man eine gewisse Pollenmenge, um sie in den Ablagerungen nachweisen zu können. Und Farne produzieren auch weitaus mehr Sporen als die Blütenplanzen ihren Pollen. Letztere brauchen nicht so viele, da sie ein besseres, sichereres Reproduktionssystem haben. Beispielsweise nutzen sie Insekten zur Bestäubung – was allerdings im Falle des Einschlags nicht mehr funktionierte, da die Insekten weg waren. In Neuseeland haben wir rund zehn Prozent Pflanzenarten, die damals ausstarben. Die meisten von diesen waren Blütenpflanzen. Es gab zwar auch einige Farne unter ihnen, aber die Mehrheit waren Angiospermen.“
Flechten – eine Symbiose aus Algen und Pilz – gedeihen auch unter sehr lebensfeindlichen Bedingungen. © NPS
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Die Tiere
Es ist wie der Dosenstapel im Supermarkt:
Nimm einige der obersten Dosen weg und die Struktur bleibt stabil. Aber entferne eine Dose aus der Basis, eine, die das Gewicht trägt, dann wird das ganze Gebilde in sich zusammenstürzen. Buck Sharpton
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Die Natur hat auf vieles eine Antwort. Kanadische Laubfrösche beispielsweise können monatelangen Frost überstehen.
Die Tiere 50 Tage nach dem Einschlag, Djoum
Das Feuer in der Höhle glimmt noch etwas. Aber am frühen Morgen ist es sehr kalt geworden. Die Baka liegen eng beieinander. Vielen geht es nicht gut, in den vergangen Wochen hatten sie auch Todesfälle zu beklagen. Mangelerscheinungen machen ihnen zu schaffen, weil sie nicht ausreichend Nahrung finden. Während die meisten noch schlafen, sind Lomama und der Häuptling bereits wach. Das große Feuer, die Dunkelheit und die Kälte haben den Wald zerstört. Und mit dem Wald sind auch die Tiere verschwunden. Die beiden beraten, was zu tun ist. Der Häuptling bittet Lomama, die Umgebung zu erkunden, vielleicht gibt es woanders mehr Nahrung oder einen besseren Unterschlupf für die Gruppe. Der junge Jäger gehorcht, doch als er vor die Höhle tritt, ist er geschockt. Die Landschaft ist in ein weißes Kleid gehüllt. Er untersucht den Stoff, der aussieht wie Maniokmehl und nach gar nichts schmeckt. So etwas hat er noch nie zuvor gesehen. Unter der dünnen Schneedecke sieht die Landschaft noch einförmiger aus. Ihr Lebensraum, der tropische
Lomama vom Stamm der Baka-Pygmäen ist geschockt, als er vor die Höhle tritt. Schnee hat sich auf die zerstörte Landschaft gelegt, die einst ihr Regenwald war.
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Die Tiere
Regenwald, früher einer der vielfältigsten auf dem Planeten, ist zum größten Teil zerstört. Alles in der näheren Umgebung scheint tot zu sein. Wohin soll Lomama jetzt gehen? Wo soll es hier noch Tiere und Nahrung geben? Er nimmt seine Waffen und wandert los. Vier Monate nach dem Einschlag, Pazifik
Beim Versuch etwas zu angeln wird Shiang über Bord gezogen. Verzweifelt kämpft sie um ihr Leben, als der Hai sie attackiert.
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Ein Schwarm Vögel zieht weit oben in der endlosen Weite des Himmels über das Schiff. „Unglaublich“ denkt Noah. Er hatte sich am Deck etwas hingelegt, um sich auszuruhen. Jetzt setzt er sich auf und blickt den Tieren nach. Er ist kein Experte für Vögel, aber allein die Tatsache, dass sie offensichtlich die Katastrophe und die Zeit danach überstanden haben, ist ein Wunder. Während Noah seinen Gedanken nachhängt, hört er Stimmen vom Bug. Dort scheint irgendetwas los zu sein. „Ich habe was am Haken.“ Er erkennt Shiangs Stimme. „Das glaube ich kaum“, murmelt er leise vor sich hin. Shiang versucht schon seit Tagen, etwas aus dem Wasser zu holen – bisher vergebens. Gerade als er sich wieder zurücklehnen will, hört er einen Schrei und dann, wie etwas aufs Wasser klatscht. In Bruchteilen einer Sekunde ist Noah auf den Beinen und steht an der Reling, wo Shiang panisch im Wasser zappelt. Nur wenige Meter entfernt taucht die Rückenflosse eines Haies auf. Geistesgegenwärtig greift er einen der langen Bootshaken, schlägt mit aller Kraft ins Wasser und schreit so laut er kann. Er hat Glück, der Räuber ist vorsichtig und dreht noch einmal ab. Sofort packt er Shiang und zieht sie mit einem kräftigen Ruck an Deck. Er nimmt sie in den Arm, und redet beruhigend auf sie ein. In ihren Augen sieht er die Todesangst. „Ist ja schon gut...“ Jetzt merkt er, dass ihm selbst das Herz bis zum Hals schlägt. Es war wohl ein junger Weißer Hai. Noah weiß, dass sie schon mal wochenlang ohne Essen auskommen können. Aber inzwischen muss er sehr hungrig geworden sein.
Abguss eines Microraptor-Fossils – auch diese vogelähnlichen Dinosaurier haben die Kreidezeit nicht überlebt. © GDFL
Die Tiere Was sagt die Wissenschaft? Hitze, Dunkelheit, Kälte, saurer Regen – eine ganze Abfolge von zerstörerischen Ereignissen liegt hinter uns. Die lebensfeindlichen Umweltbedingungen machen jedes einzelne zu einem potenziellen Killer. Für viele Tierarten könnte eine solche Katastrophe tatsächlich das endgültige Aus bedeuten. Aber für wen? Gibt es eine „Goldene Regel“ des Überlebens? Wertvolle Hinweise gibt uns auch hier wieder der Einschlag vor 65 Millionen Jahren. Aber auch die Anpassungen und „Tricks“, die die heutigen Tiere in ihrer Umwelt überleben lassen, sind wichtige Indizien dafür, wer bei einer neuerlichen Katastrophe zu den Gewinnern gehören könnte.
Dinosaurier: Größe als Todesurteil? Die prominentesten Opfer des Einschlags vor 65 Millionen Jahren waren ohne Zweifel die Dinosaurier. Millionen von Jahren bildeten sie die dominierende Tiergruppe, doch dann war es für Tyrannosaurus rex, Veloci-
Tyrannnosaurus rex war einer der erfolreichsten Raubsaurier seiner Zeit – doch auch er starb aus. © SXC
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raptor und Co. plötzlich vorbei. Mit dem Einschlag sind sie spurlos verschwunden. Weder die großen Pflanzenfresser, noch die auf zwei Beinen rennenden, agilen Fleischfresser überlebten den Einschlag. Nach der K/T-Grenze finden sich nirgendwo mehr Spuren ihrer lle Tiere, die keinen Schutz suchen Knochen oder Zähne. „Man findet keine Dinosaurier mehr. Man findet nichts als Säugetierzähne und -kiekonnten, starben. Die Dinosaurier fer, sehr klein, millionenfach“, erklärt der Geologe Jan wurden buchstäblich bei lebendigem Smit. Ganz offensichtlich wurden die Dinosaurier so Leibe geröstet. Jay Melosh vollständig vernichtet wie kaum eine andere Gruppe von Landtieren. Aber warum? Was machte gerade sie, die über so lange Zeit erfolgreich die Erde beherrschten, so anfällig gegenüber der Katastrophe? Genau darüber herrscht bis heute noch Unklarheit. Noch wird darüber gestritten, ob die Dinos den dramatischen Ereignissen direkt nach dem Einschlag des Chicxulub-Meteoriten zum Opfer fielen, oder aber ob sie eher langsam zugrunde gingen, ausgerottet beispielsweise durch feh-
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Riesen waren bei den Dinosauriern das „Normale“, ihr Durchschnittgewicht lag bei mehreren Tonnen. © SXC
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lende Nahrung und das sich ändernde Klima. Aussterbe-Szenarien für die Dinosaurier gibt es daher heute fast so viele, wie es Forscher auf diesem Gebiet gibt. Ausgehend von dem, was wir bisher über die Ereignisse nach einer solchen globalen Einschlagskatastrophe wissen, lassen sich aber zumindest einige Gründe identifizieren, die die Dinosaurier für ein Aussterben prädestinierten. Ein Faktor war dabei ihre Größe. Die Aussterbestatistik zeigt, dass kein rein landlebendes Tier von mehr als 25 Kilogramm Gewicht die Katastrophe überlebt hat. Nach Ansicht von Impaktspezialist Jay Melosh liegt dies daran, dass die Hitzestrahlung des Einschlags die gesamte Erdoberfläche bis auf mehrere hundert Grad aufgeheizt hat. „Die Landtiere, die überlebten, waren solche, die sich verstecken konnten. Jeder, der in eine Höhle oder ein Loch im Boden kriechen konnte, hätte die Hitzestrahlung überlebt“, erklärt Melosh. „Unsere Urahnen, die ersten Säuger, waren daran angepasst. Sie waren gerade einmal so groß wie eine Ratte oder maximal ein Dachs, wogen nur ein paar Kilo.“ Die Dinosaurier dagegen waren zum Großteil wahre Riesen. Ihr Durchschnittsgewicht lag bei rund zwei Tonnen, ihre Größe meist bei mehreren Metern. Selbst die kleineren von ihnen waren vermutlich immer noch größer als zwei Drittel aller heutigen Säugetiere. Keine guten Voraussetzungen also, um sich vor der tödlichen Hitzestrahlung in ein Erdloch oder eine Höhle zu flüchten. „Die Dinosaurier wurden buchstäblich bei lebendigem Leibe geröstet“, so Melosh. Doch es gab Ausnahmen: In der Mongolei entdeckten Wissenschaftler in den 1990er-Jahren mehrere Vertreter von relativ zierlichen, gefiederten Dinosauriern aus der Gruppe der so genannten Alvarezsaurier. Diese nahen Verwandten der heutigen Vögel erreichten Größen zwischen 50 Zentimetern und zwei Metern und waren damit nach Dinosauriermaßstab absolute Winzlinge. Die auf zwei Beinen laufenden Insektenfresser waren wahrscheinlich darauf spezialisiert, die Bauten von Termiten oder anderen staatenbildenden Insekten aufzugraben. Trotz ihrer geringen Größe und den praktischen Grabbeinen haben jedoch auch sie nicht überlebt – obwohl sie sich theoretisch durchaus in Höhlen verkriechen konnten. Was aber brachte ihnen den Tod?
Die gefiederten Microraptoren gehörten zu den kleinsten Dinosauriern der Kreidezeit. (Modell aus dem Naturkundemuseum in New York). © Public domain
Igel gehören zu den bekanntesten Winterschläfern der heimischen Tierwelt. © GFDL
„Pause vom Leben“ als Rettungsstrategie Eine Antwort darauf hat Kenneth Storey parat. Der Biochemiker der Universität von Carleton im kanadischen Ottawa ist Spezialist für Tiere, die auch extremste Bedingungen wie Frost oder Dürre überstehen. Ihr Trick
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dabei: Sie fallen in eine Art Winterschlaf, einen Zustand, in dem sie alle ihre Lebensfunktionen fast bis auf Null herunterregeln. Die Körpertemperatur sinkt fast auf die Außentemperatur ab, der Verdauungstrakt hört auf zu arbeiten, das Herz schlägt sehr, sehr langsam, in Extremfällen bleibt es sogar komplett stehen. „Alle ihre Stoffwechselfunktionen hören auf. Sie schrauben sich herunter bis zu einem Punkt, an dem man denkt, sie sind tot“, erklärt der Forscher. „Doch dann, Wochen, Monate, Jahre oder Jahrzehnte später, werden sie plötzlich wieKolibris haben einen so hohen Energieverbrauch, dass sie in kalten Nächten in der lebendig.“ Eine solche „Pause einen Kälteschlaf fallen müssen, um nicht zu verhungern. © GFDL/ Jonathan Rodgers vom Leben“ bringt den Tieren gleich mehrere Vorteile: Sie verbrauchen so gut wie keine Energie und müssen daher auch nichts fressen. Damit entfällt auch die mühsame und potenziell gefährliche Nahrungssuche. Die Tiere können daher ungestört über lange Zeit in Höhlen, Erdlöchern, dem Grund eines Sees oder sonstigen geschützten Standorten bleiben. Weil der Stoffwechsel so gut wie still steht, ist auch die Atmung und damit der Sauerstoffbedarf reduziert: Die Spanne reicht dabei vom Igel, der immerhin noch drei bis vier mal in der Minute Luft holt, bis hin zu einigen Echsen und Schildkröten, die nur einmal am Tag oder sogar noch seltener atmen müssen. Im Falle einer globalen Katastrophe ist die Fähigkeit, in einen solchen Überdauerungszustand zu verfallen, eine echte Chance: „Verstecken allein hilft Ihnen nichts. Dann sind Sie nach spätestens zwei Wochen Die Winternachtschwalbe Phalaenoptilus nuttallii ist der einzige Vogel, der verhungert“, erklärt Storey. Und genau das könnte auch den meisten einen echten Winterschlaf hält. Dinosauriern passiert sein. Denn die große Mehrheit von ihnen hatte © Louis Agassiz Fuertes offensichtlich nicht die Fähigkeit, ihren Stoffwechsel bei ungünstigen Umweltbedingungen herunterzuregeln. Selbst diejenigen, die sich in Höhlen versteckten und nicht sofort durch die Hitzestrahlung verbrannt sind, wären demnach spätestens mit Anbruch der großen Finsternis und dem Sterben der Pflanzen an Nahrungsmangel zugrunde gegangen. Auch die Fleischfresser hätten vermutlich nicht lange durchgehalten, obwohl sie anfangs noch vom reichlich vorhandenen Aas profitiert haben könnten.
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Ähnlich ging es damals wahrscheinlich den MiniDinosauriern, aber auch einem Großteil der ersten Vögel. „Jeder Vogel, der in der Luft fliegt – Barbecue. Ebenso jeder Vogel, der auf dem Erdboden herumspaziert“, erklärt Storey. Aber von den mehreren in der späten Kreidezeit existierenden Urvogel-Varianten haben immerhin eine oder zwei Arten das große Massensterben überlebt. Sie wurden die Vorfahren aller heute existierenden Vögel. „Wie haben sie es geschafft? Indem sie sich versteckt haben. Es handelte sich dabei um Vögel, die in den Ufern von Flüssen lebten“, erklärt Storey. Hier, in Wassernähe, Die zu den Erdhörnchen gehörenden Ziesel verbringen die Wintermonate schlafend und überbrücken so erfolgreich die waren sie vor dem Feuer unter überhängenden Ufern nahrungsarme und kalte Zeit. © GFDL geschützt. Gleichzeitig aber gehörten sie offensichtlich zu den Vogelarten, die die Fähigkeit zu einer Winter- oder „Hungerstarre“ entwickelt hatten. „Es muss ein Vogel sein, der seinen Stoffwechsel absenken kann, davon gibt es auch heute nur wenige“, so Storey. Zu diesen gehören unter anderem einige Schwalben- und Seglerarten, aber auch der Kolibri. Sie verfallen in eine Art Schlaf, wenn es zu kalt wird oder aber, wenn sie unter ie Dinosaurier waren an Nahrungsmangel leiden. Für Kolibris, die in Regionen Erwärmungen und Abkühlungen leben, in denen es nachts regelmäßig friert, ist eine solche nächtliche „Pause“ essenziell. Denn mit ihrer angepasst, aber nicht an gigantische, extrem hohen Stoffwechselrate würden sie sonst aus dem All hereinstürzende innerhalb von nur einer Nacht ohne Nahrung schlicht Felsbrocken. Peter Wilf verhungern. Noch extremer „pausiert“ die Winternachtschwalbe, ein amerikanischer Verwandter des heimischen Ziegenmelkers. Von den Hopi-Indianern Hoelchko – der Schlafende – genannt, verbringt dieser etwa 20 Zentimeter große Vogel im Winter bis zu mehreren Wochen in tiefem Winterschlaf. „Manchmal findet man sie auf dem Feld, hebt sie auf und sie sind ganz kalt, wie tot“, erzählt Storey.
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Die Goldene Regel – und ein Portion Glück Für Storey und seine Kollegen sind genau dies die Eigenschaften, die nahezu alle die Kreidezeit überlebenden Landtiere gemeinsam hatten: „Du musst Dich verstecken können und deinen Stoffwechsel absenken und am besten kaum atmen“, so der Forscher. „Es ist die Kombination von Fossiliendaten und gesundem Menschenverstand, die uns das belegen.“ Denn nicht nur die Vögel schafften mithilfe dieser Strategie
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den Sprung in die Neuzeit, auch Amphibien, Reptilien und nicht zuletzt auch unsere Vorfahren, die Ur-Säuger, gehörten zu den „Gewinnern“ der Impakt-Katastrophe. So wie heute noch viele ihrer modernen Nachkommen konnten sie in Winterschlaf fallen. „Dazu gehören Fledermäuse, Hörnchen, Bären, Beuteltiere – fast alle Arten von Säugetieren sind zum Winterschlaf fähig“, erklärt Storey. „Selbst Lemuren auf Madagaskar können es. Dort wird es zwar niemals kalt, wohl aber sehr trocken. Und trocken bedeutet keine Nahrung für die Tiere. Die Lemuren wachen erst wieder auf, wenn es wieder Nahrung gibt.“ Auch die Krokodile und Schildkröten – als Reptilien immerhin nahe Verwandte der Dinosaurier, haben wahrscheinlich genau deswegen überlebt. „Zum einen können sie sich verstecken und tief ins Wasser abtauchen. Zum anderen können sie ihren Stoffwechsel auf fast Null absenken und für Tage, Monate und Jahre in diesem Zustand bleiben. Und zum Dritten müssen sie nur einmal pro Tag auftauchen um zu atmen.“ Krokodile und Schildkröten gehören zu den Dinosaurier-Verwandten, die den Einschlag vor 65 Millionen Jahren überlebten. © SXC
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„Viele sagen, es gibt keine Goldene Regel – aber ich glaube es gibt sie. Denn es ist der einzige Weg, wie alle diese Tierarten überlebt haben können“, erklärt Storey. Seiner Ansicht nach liegt das Geheimnis in genau der richtigen Kombination von Anpassungen – und einer Portion Glück. „Darwin sagt: Die Evolution gehört nicht den Starken. Sie gehört auch nicht den Widerstandsfähigsten, sie gehört denen, die am besten angepasst waren. Das ist die Goldene Regel für mich“, so der Forscher. Die nötige Portion Glück kann in diesem Zusammenhang bedeuten, die richtige Anpassung für die Die Bewohner der Tropen träfe es am schlimmsten. © SXC neuen Umweltbedingungen zu haben. So gehörten und gehören viele Tiere, die auf ein gleichmäßig warmes Klima eingestellt sind, wahrscheinlich zu den Verlierern. Ihnen fehlen die Anpassungen, die es ihnen ermöglichen, auch Extrembedingungen wie Kälte, Hitze oder Trockenheit zu überstehen. „Am schlimmsten betroffen sind die Tiere überall dort, wo das Klima heute tropisch oder subtropisch arwin sagte nicht, die Evolution begünstigte die ist, überall wo es gleichmäßig Starken. Sie begünstigte auch nicht die widerstandswarm ist“, erklärt Storey. „Denn sie sind nicht an plötzliche Tem- fähigsten. Sie begünstigte diejenigen, die am besten peraturumschwünge gewöhnt. angepasst waren. Ken Storey Diese Tiere würden zum größten Teil ausgelöscht. Große Gebiete in den Tropen wären völlig entvölkert.“ Weitaus bessere Chancen dagegen hätten Tiere, die heute in arktischen Regionen leben, dort, wo es sechs Monate im Jahr stockfinster wird. Das Glück kann aber auch darin bestehen, einfach nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Tiefseefische, die tausend Meter unter der Meeresoberfläche leben, interessiert es im Prinzip gar nicht, ob und wann oben ein Meteorit einschlägt: „Diese Abfolge von Hitze, Kälte, Dunkelheit hätte keinerlei Auswirkungen auf sie. Für sie wäre es ein ganz normaler Tag. Tatsächlich wäre es wahrscheinlich sogar eine Folge von Tiefseefische, wie dieser Fangzahnbesonders guten Tagen. Denn sie sind Fleischfresser und leben von toten fisch, würden die Katastrophe vermutTieren, die aus den oberen Wasserschichten auf sie hinunterregnen“, so lich nicht einmal bemerken. © Brauer Storey. Bei Reptilien, Amphibien und anderen Winterschläfern wiederum hängt es davon ab, wo sie sich zum Zeitpunkt des Einschlags befinden: Sind sie bereits im Winterschlaf und das möglichst tief im Boden oder unter Wasser, haben sie gute Überlebenschancen, wandern sie jedoch noch putzmunter an der Oberfläche herum, fallen sie wie alle anderen Tiere der Hitzestrahlung zum Opfer.
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Schwefelhaltige, mehrere hundert Grad heiße Flüssigkeit speien diese Unterwasser-Schlote. Doch selbst in dieser „höllischen“ Umgebung gedeihen Bakterien. © NOAA
Gewinner und Verlierer
Auf jeden Falle finde
ich, dass wir vermeiden sollten, die nächsten Dinosaurier zu werden. Clark Chapman
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Aber was heißt diese Goldene Regel für die Gegenwart? Welche Tiere würden bei einem erneuten Einschlag zu den Gewinnern, welche zu den Verlierern zählen? Für Storey, aber auch für viele andere Experten, gehören die Mikroben definitiv zu den potenziellen Gewinnern einer solchen Katastrophe. Schon heute gibt es kaum einen Ort ohne Bakterien, egal ob Tiefsee, Hochgebirge, Polareis oder das kochende Wasser der Geysire – sie leben überall. Und die scheinbar so primitiven Einzeller haben gegenüber den meisten Tieren einen großen Vorteil: Viele von ihnen brauchen weder Licht noch Sauerstoff zum Überleben. Sie nutzen stattdessen Wasserstoff, Methan oder Schwefel als Energiequelle und können so auch weitab von der Erdoberfläche existieren – und damit in sicherer Entfernung vom dort herrschenden Inferno.
Für viele Insekten stehen die Chancen ebenfalls recht gut, denn sie haben gleich mehrere Überlebensstrategien zur Auswahl: Einige beherrschen die Kunst des Überdauerungsschlafs, wie beispielsweise Fliegen oder die allseits beliebten Küchenschaben. „Wenn man sie in reines Stickstoffgas setzt, senken sie ihre Stoffwechselrate und ihr Gehirn ist komplett abgeschaltet. Sie sitzen einfach nur da, unbeweglich, und sitzen, sitzen... Aber wenn man wieder Sauerstoff zuführt, laufen sie los – offensichtlich unbeschadet“, erklärt Storey. Andere Insekten lassen sich sogar komplett einfrieren, verwandeln sich in einen Eisblock und überdauern so selbst Temperaturen von minus 40 Grad. Und selbst die Arten, die diese Fähigkeit als ausgewachsene Tiere nicht mehr besitzen, haben noch ein As im Ärmel: ihre Eier. Denn viele Insekteneier sind noch Schaben beherrschen die Kunst des Überdauerungsschlafs. © SXC widerstandsfähiger als andere Lebensstadien. „Ein Forscher namens Hinton hat die Eier einer afrikanischen Art von Kollembolen, im Boden lebenden Springschwänzen, untersucht. Er fand sie trocken auf einem Stein und hat sie im Labor in flüssigen Stickstoff von minus 196 Grad getaucht. Danach brütete er sie aus und sie waren absolut in Ordnung. Andere kochte er bei 110 Grad und auch aus ihnen schlüpften Larven. Und völlig ausgetrocknet waren sie ohnehin“, so Storey. Seiner Ansicht nach werden Insekten als Gruppe daher auf jeden Fall überleben – wenn auch zunächst in dezimierter Artenzahl und Vielfalt. Doch ihre große Anpassungsfähigkeit und schnelle Fortpflanzung würde sie vermutlich schon nach kurzer Zeit wieder zu Die Korallen der tropischen Gewässer und ihre gesamte Lebenswelt sind bei einer einer der erfolgreichsten Tiergrup- Erwärmung und Versauerung des Meeres gefährdet. © NOAA pen überhaupt machen. Wasserlebende Insekten und Krebstiere dagegen könnten im Falle eines Einschlags ernsthafte Probleme bekommen. Denn die obersten Wasserschichten von Meeren und Binnengewässern bieten nicht ausreichend Schutz gegen Hitze und Säuredusche. Zudem nimmt ihnen die Dunkelheit eine ihrer Hauptnahrungsquellen, die einzelligen Algen des Phytoplanktons. Gleiches gilt auch für viele Fischarten. Eine Überlebenschance hätten hier nur die Arten, die sich auf den Grund sinken lassen und dort in einem
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Überdauerungszustand „abwarten“, bis die Bedingungen sich wieder verbessern. Salzwasserkrebse der Gattung Artemia können immerhin bis zu 120 Jahren in diesem Zustand der „Dormanz“ bleiben, ohne Schaden zu nehmen.
Gefrieren oder nicht – das ist die Frage Bei den Amphibien und Reptilien wiederum ist sehr viel Glück im Spiel: „Bei diesen hängt es zum einen stark davon ab, wo sie sich gerade befinden“, erklärt Storey. „Zum anderen ist es aber auch abhängig davon, wie sehr sie ihren Stoffwechsel senken und wie lange sie in diesem Zustand bleiben können.“ Denn viele Fröiere, die normalerweise in der Kälte leben, dort, sche, Kröten und Echsen „verschlawo es jedes Jahr für sechs Monate stockdunkel wird fen“ ungünstige Umweltbedingungen zwar regelmäßig, sie überleben – sie könnten überleben. Ken Storey dies aber nur, wenn ihr Blut nicht kälter als minus 0,5 Grad wird, denn dann beginnt es zu gefrieren und zerstört die empfindlichen Gewebe. Die Kältephase nach dem Einschlag könnten diese Tiere daher nur an frostgeschützten Orten überstehen, entweder unter Wasser, wie Ochsenfrösche und viele Schildkröten, oder aber in tiefen Erdhöhlen, wie beispielsweise Salamander, Kröten und einige Schlangen. Der afrikanische Krallenfrosch überdauert Zeiten großer Trockenheit eingegraben im Es geht aber auch anders: Untergrund. Sein Organismus läuft dabei auf „Sparflamme“. © GFDL/Peter Halasz Einige Frösche und Reptilien verkriechen sich nicht vor dem Frost, sondern führen das Gefrieren sogar bewusst herbei. Zu diesen gehören auch die bei uns heimischen Laubfrösche und Waldeidechsen. Wenn der Winter naht, verkriechen sie sich unter Laub oder Streu, ziehen sie ihre Beine eng an den Körper und beginnen ein körpereigenes Frostschutzmittel zu erzeugen. Dieses reichert sich in den Zellen an und schützt diese vor dem Gefrieren. Gleichzeitig aber fördert es das Entstehen von Eiskristallen in den Blutadern, dem Verdauungstrakt
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und anderen extrazellulären Geweben. Es erscheint paradox, doch genau das rettet ihnen das Leben: Denn durch dieses langsame, kontrollierte Einfrieren verhindern die Frösche, dass große, scharfkantige Eiskristalle entstehen, die die zarten Membranen der Gewebe zerreißen könnten. Stattdessen sind die Kristalle klein und abgerundet und bleiben vor allem auf die Bereiche außerhalb der Zellen beschränkt. Bis zu 65 Prozent des gesamten Körperwassers kann auf diese Weise gefrieren ohne dass die Tiere schaden erleiden. Während dieser Zeit steht ihr Herz still, das Blut hört auf zu fließen und die Gehirnaktivität sinkt bis auf Null ab. Taut man sie jedoch vorsichtig wieder auf, erwachen sie nach ein bis zwei Stunden als wenn nichts gewesen wäre – selbst wenn sie zuvor mehrere Wochen lang als Eisblock verbracht haben. Für ein Überleben der Kältephase nach einem Einschlag wären zumindest diese Arten daher ganz gut gerüstet – vorausgesetzt, sie haben zuvor die Hitzestrahlung überlebt.
Keine Chance für die Affen? Wie aber sieht es bei „unserer“ Tiergruppe, den Säugetieren, aus? Immerhin waren wir vor 65 Millionen Jahren die eindeutigen „Gewinner“ der Einschlagskatastrophe. Unsere frühesten Vorfahren profitierten davon, dass damals die alles beherrschenden Dinosaurier ausstarben und damit zahlreiche ökologische Nischen frei wurden. Für die Säuger war dies der Beginn „ihrer“ Ära, sie breiteten sich aus und entwickelten nach und nach die große Vielfalt, die wir heute kennen. „Wir Säugetiere haben definitiv von dem evolutionären Wettbewerb profitiert, der vor 65 Millionen Jahren begann“, erklärt NASA-Forscher Clark Chapman. „Wir sollten aber auf jeden Fall vermeiden, die neuen Dinosaurier zu werden.“ „Wir Menschen könnten überleben, wir können in Höhlen gehen und Nahrungsmittelvorräte anlegen. Aber alle unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen und Affen – keine Chance“, erklärt Storey. Ausgerechnet für unsere engsten Verwandten, die Affen und Menschenaffen, sähe es denkbar schlecht aus. Zum einen haben sie im Laufe ihrer Entwicklung die Fähigkeit zum Winterschlaf verloren – die Option, die schlechten Zeiten einfach zu „verschlafen“ steht ihnen damit nicht mehr offen. Zum anderen leben nahezu alle von ihnen in tropischen, gleichmäßig warmen Regionen. Sie sind daher weder an schnelle Klimawechsel noch an ein Ausbleiben ihrer normalerweise reichlich vorhandenen Nahrung gewöhnt. Auch der Geologe Jan Smit sieht da eher schwarz:
Laubfrösche (Rana sylvatica) überleben sogar das Gefrieren. Ihr Herz und Gehirn sind in dieser Zeit wie tot und dennoch wachen sie wieder auf. © Jan Storey
Morganucodon oehleri lebte vor 210 Millionen Jahren und gilt als einer der ersten Säugetiere der Erde © Creative Commons License
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„Für die spezialisierten Arten, zu denen die Primaten gehören, ist das extrem ungünstig. Das sehen wir auch an der K/T-Grenze: Die spezialisierten Arten verschwinden einfach“, erklärt er. Dieses Schicksal könnte auch all die Säuger treffen, die auf eine bestimmte Nahrung oder eine bestimmte Umwelt angewiesen sind, die reinen Grasfresser unter den Huftieren, die von Früchten lebenden Lemuren oder die auf Eukalyptus spezialisierten Koalas. Ihre Nahrung wird nach der Katastrophe möglicherweise erst einmal verschwunden sein Gorillas und andere Menschenaffen haben kaum eine Chance, die Katastrophe zu – verbrannt in den Flammen der überleben. © SXC/Erik Jager Waldbrände oder eingegangen durch Dunkelheit oder sauren Regen. Bis sich die Pflanzenwelt regeneriert hat, könnte für diese Arten zu viel Zeit vergehen, Zeit, in der sie sich entweder auf andere Nahrung umstellen müssen oder aber einfach verhungern. ir Säugetiere haben von dem evolutio- Die Koalas und andere Beuteltiere hätten allerdings vielleicht noch eine Chance. Denn sie leben nären Wettbewerb profitiert, der vor 65 vorwiegend auf der Südhalbkugel und damit in Millionen Jahren begann. Clark Chapman einem Bereich, der auch beim letzten Einschlag deutlich weniger stark betroffen war als die Nordhabkugel der Erde. „Wer weiß, wenn nach dem Impakt die gesamte Nordhalbkugel ausKoalabären sind Nahrungsspezialisten stirbt, wären die neuen Tiere vielleicht alles Beuteltiere. Oder umgeund daher wenig flexibel. © SXC kehrt“, so Storey. Auch hier kommt wieder der Faktor Glück ins Spiel. Er bestimmt letztlich auch, ob und in welchem Ausmaß die Nahrungsketten in den verschiedenen Regionen zusammenbrechen und welche Alternativen den Tieren dann noch bleiben. „Es ist wie der Dosenstapel im Supermarkt: Nimm einige der obersten Dosen weg und die Struktur bleibt stabil. Aber entferne eine Dose aus der Basis, eine, die das Gewicht trägt, dann wird das ganze Gebilde in sich zusammenstürzen“, erklärt Buck Sharpton von der Universität von Alaska in Fairbanks. „Es könnte sein, dass die Vernetzung der Organismen so absolut und doch so subtil ist, dass schon das Wegfallen von nur wenigen Lebensformen die ganze Biosphäre zum Kollabieren bringen kann.“
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Nur ein Flaschenhals der Evolution Im Großen und Ganzen aber, da sind sich die Wissenschaftler weitgehend einig, hätte die heutige Tierwelt wahrscheinlich erheblich bessere Chancen, eine Einschlagskatastrophe zu überleben, als ihre kreidezeitlichen Vorläufer. „Wenn man sich die großen Massenaussterben anschaut, stellt man fest, dass ihnen immer ein sehr gleichmäßiges Klima vorangeht, keine Eiskappen an den Polen, sehr einheitlich, nur enn man alles zusammennimmt, ist ein oder zwei Klimazonen“, erklärt es eher ein Wunder, dass überhaupt Smit. „Und genau das macht die Erde anfällig, denn wenn man irgendwas auf diesem Planeten an eine geregelte Welt mit wenig überlebt hat. Buck Sharpton Schwankungen angepasst ist, entwickelt man eine Art von evolutionärer Faulheit: Wenn ich mich nicht verändern muss, warum sollte ich das tun.“ Heute dagegen besteht unsere Welt aus einer Vielzahl von ganz unterschiedlichen Klimazonen, von den schwülwarmen Tropen über die Wüsten und Steppen und die gemäßigten Breiten bis hin zu den Kältewüsten der Pole. Und in jeder Region leben Tiere, die mit jeweils anderen Überlebensstrategien und Anpassungen auf ihre spezielle Umwelt reagieren. Das Spektrum der Tierwelt ist daher heute deutlich größer als in der Ära der Dinosaurier. Und selbst damals bedeutete der In der Vielfalt liegt die Chance: Im Gegensatz zur Kreidezeit existieren heute zahlEinschlag längst nicht das Ende: reiche unterschiedliche Klimazonen und Lebenswelten. © NOAA „Es war ja nicht die Ausrottung allen Lebens. Es war nur ein Engpass, eine Art Flaschenhals der Evolution“, erklärt Storey. „Danach blühte die Artenvielfalt wieder auf.“ Und wer weiß, welche Überraschungen und neuen Chancen ein Einschlag heute nach sich ziehen würde. Gerade die „Extremisten“ unter den heutigen Tieren, die der klirrenden Kälte, sengenden Hitze oder tödlichen Dürre ihrer Lebensräume trotzen, gerade sie könnten sich dann vielleicht als die „Säugetiere“ der Zukunft, die Gewinner der Ära nach einem erneuten Impakt erweisen.
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Fragen an: Kenneth Storey Storey ist Professor für Biochemie an der Universität von Carleton in Ottawa, Kanada. Er erforscht die physiologischen „Tricks“, mit deren Hilfe viele Tiere Minustemperaturen schadlos überstehen und sogar komplett einfrieren können.
Was wäre die beste Strategie, um die Einschlagskatastrophe zu überleben? Die beste Strategie um die Hitzestrahlung zu überstehen wäre, Schutz zu suchen. Es ist die einzige Chance bei mehreren hundert Grad Hitze. Aber abgesehen davon: Das Verstecken allein würde uns Menschen nichts nützen. Wenn wir uns verstecken, wären wir in zwei Wochen verhungert. Um zu überleben, muss man sich verstecken und seinen Stoffwechsel drosseln können und außerdem ohne Sauerstoff auskommen. Die Tiere wie Krokodile oder Schildkröten, die den Einschlag vor 65 Millionen Jahren überlebten, hatten das gemeinsam: Zum einen können sie tief unter Wasser Schutz suchen. Zum anderen können sie ihren Stoffwechsel auf nahezu Null herunterschrauben und für Tage, Wochen, Monate, Jahre in diesem Ruhezustand verharren. Und zum Dritten müssen sie nur einmal pro Tag atmen. Diese Tiere überlebten. Das heißt, die Tiere, die überleben, müssen diese Kombination von Fähigkeiten besitzen? Ja. Die Kombination ist das Entscheidende. Viele sagen, es gäbe keine goldene Regel. Aber ich glaube, es gibt eine. Denn es gibt nur eine Möglichkeit, wie sie überlebt haben können. Für mich ist das die goldene Regel. Würde die heutige Tierwelt einen Einschlag besser überstehen als die Tierwelt der Kreidezeit? Natürlich. Vor allem weil die Welt zu dieser Zeit
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fast vollständig tropisch war. Aber heute sind die tropischen Klimazonen geschrumpft, wir haben jetzt auch gemäßigte Zonen und andere. Es gibt heute Frösche, die regelmäßig 40 Grad minus überstehen und Insekten sogar bis minus 60 Grad. Ich denke, dass viele Tiergruppen mit Anpassungen an Trockenheit und Kälte, mit der Fähigkeit zum Winterschlaf oder anderen Ruhestadien, ein solches Einschlagsereignis heute überleben würden. Wer wären denn ihre Favoriten bei einem Einschlag? Auf jeden Fall die Mikroben. Denn viele Mikroorganismen sind schon jetzt an extreme Umweltbedingungen angepasst. Sie leben am Grunde des Meeres, ernähren sich von Methan oder Wasserstoff. Die mikrobielle Gemeinschaft würde vielleicht etwas reduziert, aber insgesamt ergeht es ihnen prima. Außerdem auch die Tiere der gemäßigten Zonen – dort, wo es im Winter ohnehin kalt wird. Wenn sie sich verstecken und ihren Stoffwechsel herunterregeln, ginge es ihnen prima. Tiere wie Bären oder Mäuse und Fledermäuse, die in Winterschlaf gehen, hätten auch damals überlebt. Es ist allerdings abhängig davon, wann der Meteorit einschlägt. Wenn es im Winter ist und sie schon im Winterschlaf sind, dann könnten sie bis zu einem ganzen Jahr in diesem Ruhestadium bleiben. Das Ganze würde für sie kaum Folgen haben – es sei denn ihre Nahrung wäre vernichtet.
Aber es gibt auch andere Tiere, die über lange Perioden so überdauern können. Tiere, die in den Wüsten Afrikas, Südamerikas und Australiens leben, können teilweise 15 Jahre lang heiße und trockene Phasen eingegraben im Untergrund überstehen. Die Hitzestrahlung wäre daher kein Problem für sie. Dazu gehören auch Lungenfische, Kröten und einige Echsenarten. Wenn es die Zeit im Jahr wäre, in der sie ohnehin im Untergrund sind, ginge es ihnen gut. Sie würden einfach Jahre später wieder an die Oberfläche zurückkommen, wenn die Kaltphase vorbei ist. Auch unter den Insekten und Krebstieren gibt es Arten, die für lange Zeit ihren Stoffwechsel herunterdrehen können. Ein Extrem ist beispielsweise der Salinenkrebs Artemia. Im Labor sind einige von ihnen unbeschadet für 120 Jahre in diesem Zustand geblieben. Viele Tiere beherrschen diesen Trick, ihren Stoffwechsel zu drosseln und in eine Art Winterschlaf zu verfallen – alle diese werden wahrscheinlich keine großen Probleme haben. Wenn sie erwachen und sie finden noch Nahrung, wenn es beispielsweise wieder Pflanzen gibt, dann geht es ihnen gut. Und der Mensch und seine nächsten Verwandten? Die Primaten hätten eine wirklich harte Zeit. Ich glaube, die Menschen würden überleben, denn wir können in tiefen Höhlen oder Bunkern Schutz suchen und die Zeit mit Kartenspielen oder ähnlichem verbringen und von Nahrungsvorräten leben. Aber alle unsere Verwandten, alle Menschenaffen und Affen – keine Chance. Primaten brauchen eine organisierte Zivilisation um zu überleben. Was ist mit den Ratten? Nein, sie würden nicht überleben, denn sie
können ihren Stoffwechsel nicht drosseln. Auch die Hausmäuse nicht. Das könnte ein Beleg für meine goldene Regel sein, nicht wahr? Wenn Du klein bist und dich verstecken kannst, aber schon am nächsten Tag zum Fressen herauskommen musst – keine gute Idee. Und die allseits beliebten Küchenschaben? Ihnen sagt man ja auch eine gewisse Unverwüstlichkeit nach. Insekten sind sehr anpassungsfähig. Wenn man eine Küchenschabe oder eine Fliege nimmt und sie in reines Stickstoffgas setzt, senken sie ihre Stoffwechselrate und ihr Gehirn ist komplett abgeschaltet. Sie sitzen einfach nur da, unbeweglich, und sitzen, sitzen… Aber wenn man wieder Sauerstoff zuführt, laufen sie los – offensichtlich unbeschadet. Und Küchenschaben neigen dazu, abwärts zu laufen und Licht zu meiden. Daher könnte man beispielsweise vermuten, dass vor 65 Millionen Jahren irgendwo auf der Welt in einer Höhle Schaben überlebten und die Urahnen der heutigen Küchenschaben wurden. Insekten hätten wahrscheinlich fast keine Probleme, sie würden allerdings von einer Milliarde auf nur noch sehr wenige reduziert werden. Insgesamt aber würde auch die heutige Tierwelt nach einem Einschlag stark dezimiert werden? Ja, danach gibt es sehr viel weniger Tiere, aber es gibt auch sehr viel weniger Räuber und viel weniger Konkurrenz. Tiere sind sehr viel flexibler als man denkt. Das erste Ereignis vor 65 Millionen Jahren haben viele Tiere überlebt. Und die Artenvielfalt explodierte danach. Es war nur ein Flaschenhals. Es war keine Ausrottung von allem, es war nur ein Engpass der Evolution. Es ist wie das chinesische Symbol für Krise: Ein Teil davon steht für Gefahr, ein anderer für Chance.
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Wie vermittelt man, wie ein Leben danach sein
würde? Woher werden wir Nahrung bekommen? Wir sind inzwischen so verweichlicht, dass wir die Fähigkeiten gar nicht mehr besitzen, um Nahrung anzubauen, trinkbares Wasser zu gewinnen oder Energie zu erzeugen. David Sattler
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Fernando Martinez ist verzweifelt. Er ist schon seit Wochen unterwegs, aber die Kraterlandschaft nimmt kein Ende.
Der Mensch 4 Monate nach de Einschlag, Yucatan, Mexiko
Fernando ist verzweifelt. Seit Tagen schleppt er sich nur noch mühsam voran. Nur sein Überlebenswille treibt ihn weiter, es ist die Hoffnung, endlich andere Menschen zu treffen. Hunderte von Kilometern hat er zu Fuß zurückgelegt. Aber die Kraterlandschaft will kein Ende nehmen. Langsam gehen seine Vorräte und das Wasser zur Neige. Und jetzt liegt vor ihm dieser unglaubliche Anstieg, der wie eine Wand steil in den Himmel ragt. Er sitzt auf dem Boden und ringt mit sich selbst. Erschöpft und unendlich müde möchte er einfach bleiben, wo er ist. Noch einmal rafft er sich auf und nimmt all seine Kräfte zusammen. So beginnt er auf allen Vieren langsam den Hang hinauf zu klettern. Das lose Geröll gewährt ihm keinen festen Halt. Es gibt unter seinen Füßen nach und manchmal rutscht er nach einem Schritt wieder einen, zwei Meter nach unten. So kämpft er sich Stunde um Stunde weiter. Er hofft, dass er von oben etwas sehen kann. Vielleicht findet er doch noch einen Ausweg aus dieser Situation. Eine endlos lange Zeit vergeht. Schließlich ist er nur noch ein kleines Stück vom Grat des Berges entfernt.
Als Fernando den Grat des Berges erreicht, macht er eine schockierende Feststellung: Er ist am Einschlagsort, dort wo die Katastrophe begann.
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Noch eine kleine Anstrengung und dann hat er es geschafft. Was er hier sieht, lässt seinen Atem stocken. Vor ihm öffnet sich ein riesiger, schier endloser Schlund. Er ist mit dichtem Rauch gefüllt, langsam steigen Schwaden auf. Fernando blickt in den Einschlagskrater. Vom Rand kann man innen den dampfenden Boden erkennen. Die gegenüberliegende Seite ist nicht zu sehen. Fernando kann nur ahnen, dass der Krater riesig sein muss – hunderte von Kilometern. Ein stechender Geruch lässt ihm den Atem stocken. Fernando befindet sich im Zentrum der verwüsteten Landschaft. Erschöpft lässt er den Kopf sinken, langsam verschwimmt alles vor seinen Augen. Sein Weg ist hier zu Ende. Er ist der einzige Mensch im Umkreis von 5.000 Kilometern. Pyrenäen, Südfrankreich
Als Henris Gruppe einen abgebrannten Wald durchquert, treffen sie auf Fremde. Beide Seiten sind mißtrauisch und äußerst vorsichtig. Henri gelingt es die Spannung aus der Situation zu nehmen und mit den Fremden ins Gespräch zu kommen.
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Mit seiner Tochter an der Hand folgt Henri zwei hageren jungen Männern. Sie zeigen ihnen den Weg zu ihrem Camp. Seit Tagen ist Henris Gruppe durch verbrannte Wälder gewandert und dann stießen sie auf diese Fremden. Es war ein kritischer Augenblick, beide Seiten waren vorsichtig. Es war schwer einzuschätzen, ob man einander vertrauen konnte. Aber Henri überwand seine Angst und tat das einzig Richtige. In seiner Hosentasche hatte er noch ein paar Zigaretten. Die bot er den beiden jungen Männern an. Schnell war der Bann gebrochen. Sie kamen ins Gespräch. Die Männer erzählten ihnen, dass immer wieder Flüchtlinge aus dem Norden ankommen. Gerade letzte Woche hatte schon eine andere Gruppe aus Paris die Gegend erreicht. Sie gehören zu einer Handvoll Menschen, die sich hier zu einer kleinen Dorfgemeinschaft zusammengeschlossen haben. Gemeinsam versuchen sie etwas aufzubauen. Sie teilen sich die Arbeit und helfen einander. Irgendwie ist allen klar, dass sie es nur gemeinsam schaffen können. Ein paar leerstehende Berghütten haben sie für ihre Zwecke hergerichtet. Von Ackerbau haben die wenigsten eine Idee. So streifen sie vorerst durch
die Gegend und versuchen von dem zu leben, was sie finden. Sie graben Wurzeln aus und manchmal fangen sie auch ein Tier. Außerdem tragen sie alles zusammen, was sie noch aus der Zeit vor der Katastrophe retten können. Daraus versuchen sie neue Werkzeuge und Geräte zu bauen. Henri ist neugierig und stellt dem Fremden viele Fragen. Schließlich erreichen sie das Dorf in den Bergen. Die meisten sind bei der Arbeit, aber fast alle versammeln sich im Freien, als sie ankommen und begrüßen sie freundlich. Aus einer der Haustüren tritt eine junge blonde Frau. Als sich ihre Blicke treffen, beginnt sie zu lächeln. Noch bevor Henri reagieren kann, schreit seine Tochter auf und rennt los. „Mama!“ Tatsächlich – es ist seine Frau, die sie in der Nacht der Katastrophe verloren haben. Schweigend gehen sie aufeinander zu und schließen sich in die Arme. Weltweit
Viele Menschen, Tiere und Pflanzen mussten im Verlauf der Katastrophe sterben. Wie viele genau, lässt sich kaum abschätzen. Vielleicht hat einer von Tausend überlebt, vielleicht mehr oder weniger. Ob die Menschen um die knapp werdenden Ressourcen kämpfen oder einander helfen, hängt vor allem von der Anzahl der Überlebenden und vom Ausmaß der Zerstörung ab. Es ist nicht die erste Katastrophe, die die Menschheit in ihrer Geschichte zu überstehen hatte, wenn auch wahrscheinlich die größte. Je weniger Menschen überleben, desto nötiger brauchen sie einander. Einzelne, die auf sich selbst gestellt sind, wie Fernando Martinez haben nur wenig Überlebenschancen. Auch Volksstämme wie die Baka, die noch heute als Jäger und Sammler leben, können die Zeit danach überstehen. Sie haben sogar gewisse Vorteile, weil sie wissen, wie man in einer Welt ohne technische Hilfsmittel überlebt. Für die Menschen aus unserer zivilisierten Welt wird es schwer. Viel Wissen fehlt uns heute. Wissen, das wir nicht mehr brauchen oder nicht mehr zu brauchen glauben. Wir wissen nicht wie man jagt, essbare Pflanzen findet oder ein Nachtlager baut.
Die beiden jungen Männer nehmen sie mit in ihr Dorf. Es sind ein paar ehemalige Berghütten, in denen eine Handvoll Menschen ein neues Leben beginnt. Hier gibt es ein unverhofftes Wiedersehen mit Henris Frau Catherine.
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So werden die Überlebenden ein hohes Maß and Flexibilität und Einfallsreichtum brauchen. Eines sollte man jedoch nicht unterschätzen: Der Mensch ist ein Überlebenskämpfer, der sich in Jahrmillionen der Evolution als Erfolgsmodell herausgestellt hat. Er hätte auch bei einer solchen Megakatastrophe eine Überlebenschance. Überall auf der Erde werden Menschen überleben. Auch wenn die eigentliche Katastrophe nur der Anfang eines mühsamen Weges ist, der lange nicht in einer Art Normalität enden wird. Erst langsam entstehen wieder Siedlungen, werden sich eine neue Kultur und neue Gesellschaftssysteme entwickeln. Auch dann haben die Menschen noch ihr Wissen und ihre Erinnerung an die Zeit vor der Katastrophe. Vieles, was es heute gibt, wird nicht auf Dauer verloren gehen. Die Menschen werden es schneller wieder entwickeln können, weil sie sich noch daran erinnern können. So wird es vermutlich keine neue Steinzeit geben und wenn doch, dann wohl nur vorübergehend. Schon bald werden sich die Menschen an die neuen Bedingungen gewöhnen und eine neue, andere, aber wahrscheinlich doch ähnliche Welt erschaffen. Eine Welt, in der die Überlebenden ihren Platz finden, wie auch immer sie heißen: Henri, Catherine und Michelle Vaton, Shiang Yatang, Noah Boyle oder Lomama. Die wenigen Überlebenden der Katastrophe stehen erst am Anfang. Erst in den kommenden Jahren wird sich zeigen, ob sie mit den neuen, schwierigen Lebensbedingungen zurecht kommen.
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Nichts ist mehr, wie es war – unsere bisherige Welt ist zerstört. © FEMA/Leif Skoogfors
Der Mensch Was sagt die Wissenschaft? Für die Menschheit ist es eine Katastrophe, wie es sie noch niemals gab: Auf der ganzen Welt hat der Einschlag Millionen, vielleicht sogar Milliarden von Todesopfern gefordert. Kleine Gruppen von Überlebenden irren durch verwüstete Landschaften, suchen nach Wasser, Nahrung und nach einem Weg, der plötzlich so lebensfeindlichen Umwelt standzuhalten. „Ich glaube, dass die Menschen von dem Ausmaß der Katastrophe völlig überwältigt sein werden. Wenn man so etwas nicht schon erlebt hat, kann man sich nicht vorstellen, was ein Ereignis dieser Größenordnung anrichten kann“, erklärt der Psychologe und Katastrophenexperte David Sattler. „2004, nach dem Tsunami im Indischen Ozean, starben mehr als 230.000 Menschen. Die Strände waren mit bewegungslosen Körpern übersäht. Viele von ihnen bereits tot, andere lagen einfach da und es gab kein Wasser, keine Versorgung. Nach einem oder zwei Tagen waren auch sie tot. Das sind die Bilder, mit denen man im Falle der Katastrophe täglich, kontinuierlich konfrontiert wäre.“
Die Menschen werden vom Ausmaß der Katastrophe völlig überwältigt sein. © IMSI MasterClips
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Der Mensch
Alles Technische wird
uns aus den Händen geschlagen. Wolf Dombrowsky
Ereignisse dieser Art verwüsten nicht nur die Welt um uns herum, sie erschüttern auch unser Innerstes: Sie nehmen uns das Gefühl, unser Leben in der Hand zu haben und „Herr der Lage“ zu sein. Die Katastrophe bricht über uns herein, ohne dass wir sie beeinflussen können. Plötzlich sind wir hilflos, unserer Sicherheit und unserer gewohnten Routinen beraubt. Jetzt geht es um das nackte Überleben, um ganz existenzielle Fragen: Wo bekomme ich etwas zu trinken, Nahrung, medizinische Hilfe für meine Wunden und einen geschützten Ort für die Nacht? Wo sind meine Angehörigen und Freunde? Haben sie überlebt?
Zurück in die Steinzeit
„Die Welt, wie wir sie kennen, ist verschwunden“, so Sattler. Das gilt in besonderem Maße für uns Angehörige der hochtechnisierten Industrieländer. Denn im Gegensatz zu Menschen in weniger entwickelten Ländern sind wir es gewohnt, dass uns die Technik fast alles abnimmt. Das fließende Wasser kommt aus der Leitung, der Strom aus der Steckdose und das Essen aus der Tiefkühltruhe. Was aber, wenn das nicht mehr funktioniert? „Ich habe nicht mehr die Fertigkeiten, um Nahrung anzubauen, klares, trinkbares Wasser zu gewinnen oder Energie zu erzeugen“, so Sattler. Doch genau das Ein Großteil unserer modernen Technik ist nach der Katastrophe zerstört oder könnte im Falle eines Einschlags nutzlos. © FEMA/Ed Edahl gefordert sein. Denn die Katastrophe katapultiert die Menschheit quasi zurück in die Steinzeit. Zurück in eine Welt, in der es nur die grundlegendsten Hilfsmittel gibt und in der Muskelkraft und Erfindungsreichtum Motoren und Elektrizität ersetzen müssen. „Dann sind Menschen gefragt, die einen Türknauf aus den Trümmern ragen sehen und sagen: ‚Den kann ich für dies oder jenes einsetzen.‘ Oder die eine Kamera finden und sagen: ‚Dieses Teil daraus kann ich gebrauchen, um diese Aufgabe zu erledigen.‘ Menschen, die in dieser Hinsicht
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einfallsreich sind, sich anpassen können, die werden überleben“, erklärt der Psychologe. Katastrophenforscher Wolf Dombrowsky ergänzt: „Die Leute, die sich durchtricksen können, die werden das Rennen machen.“ Für einen technischen Ausfall aber wird vermutlich auch der Erfindungsreichtum in der ersten Zeit nicht so schnell Ersatz finden können: die moderne Telekommunikation. Handys, Telefone, das Internet – all die weltumspannenden Netze, die uns jederzeit und überall mit dem Rest der Welt verbinden, funktionieren nicht mehr. Plötzlich sind wir auf uns selbst Wenn die moderne Technik ausfällt, bleibt nur die Zettelwand als Nachrichtenforum, wie hier nach dem Hurrikan Katrina in New Orleans. © FEMA/Andrea Booher angewiesen, haben das Gefühl, isoliert und von der Welt abgeschnitten zu sein. „Wissen Sie, was nach dem Hurrikan Katrina in New Orleans passierte, als Menschen ohne Telefon und Handy dastanden? Sie waren komplett hilflos und verzweifelt. Wir sind es so gewöhnt, jederzeit jemanden zu erreichen, uns mitteilen zu können“, erklärt Sattler. Der Griff zum Handy ist für viele von uns geradezu reflexhaft, um so mehr in Situationen, in denen Unvorhergesehenes geschieht und wir dringend Informationen oder Hilfe benötigen. Nach dem Angriff auf das World Trade Center in New York im September 2001 waren sowohl Fest- Nach dem Attentat auf das World Trade netz als auch Mobilfunknetze völlig überlastet: „Die Anrufer in Manhat- Center legte die Menge der Anrufe fast das gesamte Telefonnetz der Stadt tan bekamen das Besetzt-Zeichen und den Hinweis ‚Bitte versuchen Sie lahm. © FEMA/Andrea Booher es später noch einmal‘ oder erhielten noch nicht einmal einen Rufton“, beschreibt Erik auf der Heide vom U.S. Ministerium für Gesundheit und Soziales die damalige Situation. „Menschen versuchten verzweifelt, Familienangehörige zu erreichen, Krankenhäuser klingelten Reservemitarbeiter aus den Betten und die Behörden mussten ihre Maßnahmen koordinieren.“ Wenn Kommunikation und moderne Technik wegfallen, muss sich der „Homo technicus“ an völlig veränderte Bedingungen anpassen. Die meisten seiner im Alltag so erfolgreichen Überlebensstrategien greifen nicht mehr. Ganz anders sieht dies dagegen für die Menschen aus, die ohnehin viel weniger technisiert leben als wir. Naturvölker wie die Viehzüchterno-
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maden in Afrika oder einige Indianerstämme des Amazonasgebiets sind es gewöhnt, ohne Strom oder Hightech-Produkte in einer „ungezähmten“ Umwelt auszukommen. Sie wissen, wo sie in schwierigen Zeiten Wasser finden und wie sie auch mit einfachsten Hilfsmitteln Tiere erlegen oder Nahrung anbauen können. Und auch körperlich hätten sie vermutlich deutOhne funktionierende Kommunikationselektronik ist die Koordination von Hilfslich bessere Voraussetzungen maßnahmen kaum möglich. © FEMA/Robert Kaufmann als ein „Schreibtischtäter“ aus einer Industriegesellschaft. „Wenn wir mit denen einen Tag durch den Urwald laufen müssten, würden uns schon die Füße bluten. Einfach, weil wir kaum mehr Hornhaut haben“, so Dombrowsky. „Und das Physische würde noch härter wenn beispielsweise eine Eiszeit kommt.“ Dann, so glaubt auch David Sattler, wären die Eskimos als „Gewinner“ der Katastrophe prädestiniert: „Sie wissen, wie man sich vom Land ernährt und auch unter sehr harten und lebensfeindlichen Bedingungen überlebt. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass sie überleben, als dass ich es tue, gar keine Frage.“
Zwischen Trauma und Bewältigung
Viele Überlebende des Hurrikan Katrina litten später unter einem posttraumatischen Stresssyndrom. © FEMA/ Andrea Booher
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Gesetzt den Fall wir überleben – zumindest erst einmal. Wie gehen wir dann mit der traumatischen Situation nach einer globalen Katastrophe um? Wie verarbeiten und verkraften wir die schrecklichen Anblicke und verstörenden Erfahrungen? Wahrscheinlich sehr unterschiedlich – so lautet jedenfalls die Antwort der meisten Psychologen. Denn jeder Mensch hat, geprägt durch seine vergangenen Erfahrungen und seine Persönlichkeit, eine andere Art, mit extremem psychischen und physischen Stress umzugehen. „Die einen gehen problem-orientiert an die Sache ran: Wir haben ein Problem, wir müssen es angehen und lösen“, erklärt Sattler. „Diese Bewältigungsstrategie ist sehr aktiv und sehr positiv.“ Menschen mit dieser Grundhaltung gehören oft zu denjenigen, die nach einer Katastrophe sofort mit anpacken und anderen helfen, die schnell konkrete Pläne entwickeln, um ihre augenblickliche Situation zu ändern. Nach dem Motto: „Es ist passiert und jetzt müssen wir das Beste daraus machen“ steht das pragmatische Handeln im Vordergrund.
Nach einem Tornado in Wichita Falls im amerikanischen Bundesstaat Texas halfen mehr als die Hälfte aller unverletzten Überlebenden noch innerhalb der ersten Minuten nach der Katastrophe anderen Opfern. Insgesamt beteiligten sich mehr als 10.000 freiwillige Helfer an der Rettung und Bergung der Verletzten. Noch größer war der Anteil der aktiven Helfer 1976 beim schweren Erdbeben in der chinesischen Provinz Tangshan, das mehr als 250.000 Menschenleben forderte: 80 Prozent aller Überlebenden verdankten ihre Rettung der Eigeninitiative und der Hilfe anderer Betroffener. Eine solche aktive Bewältigung hat jedoch nicht nur einen unmittelbaren Nutzen, sie trägt auch dazu bei, psychische Spätfolgen wie das „posttraumatische Stresssyndrom“, Depressionen oder auch psychosomatische Erkrankungen zu vermeiden. Untersuchungen zeigen, dass ein Drittel bis ein Viertel aller Überlebenden von schweren Katastrophen wie beispielsweise dem Hurrikan Katrina oder dem Attentat auf das World Trade Center mehrere Monate nach dem Ereignis unter deutlichen psychischen, aber auch körperlichen Problemen litten. Die Spannbreite reichte dabei von Schlaflosigkeit und Stimmungsschwankungen über Essstörungen, Angstanfälle, Konzentrationsschwächen bis hin zu schweren Depressionen und ausgeprägtem Suchtverhalten. Wer mit den traumatischen Ereignissen aktiv umgeht, oder auch das Geschehene akzeptiert und versucht, es positiv zu bewältigen, hat nach Ansicht der Psychologen gute Chancen, solche Spätfolgen zu verhindern. Anders dagegen sieht dies beispielsweise bei Menschen mit einer so genannten „Emotions-fokussierten“ Bewältigungsstrategie aus. Sie reagieren sehr emotional auf die Ereignisse und müssen sich erst einmal darüber klar werden, wie sich ihre Situation verändert hat, was die Katastrophe konkret für sie bedeutet. Diese Menschen konzentrieren sich eher auf ihre Gefühle als auf konkrete Handlungen. Eng verwandt damit ist auch die Verdrängungs-Strategie: Die Menschen wollen das Geschehene nicht wahrhaben, versuchen, nicht daran zu denken und sich abzulenken. Beide Ansätze tragen allerdings nicht unbedingt dazu bei, ihre konkrete Situation zu verbessern.
Schrecken ohne Ende
Feuerwehrleute und Katastrophenhelfer reagieren aktiv, verdrängen aber oft die schrecklichen Erfahrungen. © FEMA/Andrea Booher (o.), FEMA/ Michael Raphael (u.)
Es wird nicht vorüber-
gehen. Jeder Tag ist neu schrecklich. Wolf Dombrowsky
Neben den persönlichen Bewältigungsstrategien gibt es noch einen Faktor, der entscheidend beeinflusst, wie wir in einer Katastrophe reagieren: die Aussicht auf Besserung der Umstände, auf ein Ende des Schreckens. Bei einer lokal begrenzten Katastrophe, wie beispielsweise
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Organisierte Hilfe durch Behörden und Katastrophenschutzorganisationen wird es nach einem globalen Einschlag wahrscheinlich kaum mehr geben. © FEMA/George Armstrong
einem Tsunami, einem Erdbeben oder einem Hurrikan, ist Hilfe meist schnell vor Ort oder steht zumindest in Aussicht: Nationale und internationale Hilfsorganisationen sind meist schon wenige Stunden nach einem solchen Ereignis mit den ersten Helfern vor Ort. Sie suchen in den Trümmern nach Vermissten, räumen Zufahrtwege, teilen Essen, Wasser und Decken aus und bergen die Toten. Auch wenn diese Maßnahmen den Betroffenen den Schrecken und die traumatischen Erfahrungen nicht ersparen oder nehmen können, geben sie den Opfern aber zumindest das Gefühl, dass sich jemand um sie kümmert. Bei einer Einschlagskatastrophe globalen Ausmaßes allerdings sähe das ganz anders aus: „Hier haben wir ein ganz großes Problem bei diesem Szenario: Es wird nicht vorbei gehen, ein Schrecken ohne Ende. Das können die Menschen ganz schwer ab“, so Katastrophenforscher Wolf Dombrowsky. „Das ist auch eines der Grundprinzipien gelungener Folter: Den Menschen alle Strukturen nehmen. Sie wissen nicht mehr, wie spät es ist, sie wissen nicht, wie lange es dauert – das macht Menschen fertig.“ Und genau diese Perspektivlosigkeit, diese Ungewissheit darüber, wie und ob es weitergeht, könnte zumindest in der ersten Phase nach dem Einschlag das prägende Gefühl bei vielen Überlebenden sein. „Die Menschen hoffen wahrscheinlich, dass die Regierung ihnen Hilfe schickt – aber es wird keiner kommen. Weil es einfach keine Regierung mehr gibt oder zumindest keine funktionierende“, so Sattler.
Gangs oder friedliches Miteinander? In dieser Situation, in der zunehmend klar ist, dass es keine Hilfe von außen gibt, werden sich nach Ansicht der Experten neue Verhaltensweisen und soziale Strukturen bilden. Die kleinen Gruppen von Überlebenden müssen nun einen Weg finden, effektiv mit sich und der Situation klarzukommen – ohne das Gerüst der Gesellenn die Ressourcen knapper werden, wird schaft, denn diese existiert zumindest in ihrer bisherigen Form nicht mehr. Was wird auch das Trittbrett schmaler. Wolf Dombrowsky geschehen? Schweißt die Katastrophe die Überlebenden enger zusammen und lässt sie alle bisherigen Animositäten und Unterschiede vergessen? Oder bilden sich feindselige, pseudomilitaristische Gangs, die einander bis aufs Blut um Nahrung, Wasser und andere Ressourcen bekämpfen? Im Prinzip sind beide Szenarien möglich. Denn entscheidend ist, welche Erfahrungen die Überlebenden zuvor gemacht haben, aus welchem gesellschaftlichen Umfeld sie stammen. „Es passiert das, was vor einem
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Ereignis verbindlich war. Konkret gesprochen: Gesellschaften mit intakten Wertestrukturen werden auch nach einem solchen Schlag nicht in ihren Werten verunsichert“, erklärt Dombrowsky. Im Klartext heißt das: Wenn ich von Kindheit an gelernt habe, dass Kooperation, Gleichberechtigung und Gemeinschaftssinn wichtig und gut sind, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich auch nach der Katastrophe eher zu denen gehöre, die kooperieren, die sich für die Gruppe einsetzen. Wenn ich jedoch aus einem Land oder einem Milieu komme, in dem Krieg, Kampf und Aggression Alltag sind, dann werde ich daran angepasste Ver- Wenn Kooperation in einer Gesellschaft als positiv gilt, ist die Chance groß, dass die Menschen auch in einer Katastrophe haltensweisen auch weiterhin zeigen. „Wenn Sie auf sozial handeln. © SXC unsere Welt schauen, leben wir hier in Deutschland in einer absoluten Minderheit“, erklärt Dombrowsky. „Von den 196 Staaten auf dieser Erde sind vielleicht 30 reich, stabil, mit relativ wenig Korruption. Aber fahren Sie mal nach Südamerika oder Südafrika und gehen dort in einen Slum, dahin, wo Sie die Ressource sind und wo ihr Leben keinen Pfifferling wert ist. Wo das ie Unbeweglichsten werden die Töten sozusagen den Überlebensvorteil für eine Verlierer sein. Wolf Dombrowsky ganze Familie darstellt.“ Sattler ergänzt: „Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir in einer Welt leben, in der Gruppen von Menschen einander feindlich gesinnt sind oder gegen andere Gruppierungen kämpfen. Das ist die Realität.“ Und diese Realität muss für die Betroffenen nicht immer nur von Nachteil sein: Denn auch die Gangs der Großstädte – gefährlich für jeden, der sich ihnen entgegenstellt – bieten für ihre Mitglieder zahlreiche Vorteile und auch ein gewisses Gerüst der Stabilität. „Was tun Gangs? Sie bieten Sicherheit. Sie bieten sozialen Ein Leben in Wohlstand, Frieden und Halt. Sie bieten Freundschaft“, so Sattler. Stabilität ist weltweit eher die Ausnahme Die Frage ist allerdings, welche dieser Verhaltensweisen sich durch- als die Regel. © IMSI MasterClips setzen wird. „Wir werden es vielleicht am Anfang aufgrund unserer Ordnung und Normen besser durch die Katastrophe schaffen“, so die Einschätzung von Dombrowsky. „Aber hinterher, im Chaos, wo es auf die Kreativität und Flexibilität ankommt, werden die Leute, die ohnehin schon im Chaos gelebt haben, vielleicht einen Vorteil besitzen. Weil wir keinerlei Vorstellung haben, wie wir umschalten könnten. Wir sind zu harmlos.“ Wer sich nicht schnell genug an die veränderten Bedingungen anpassen kann, bleibt auf der Strecke, so der Konsens aller drei Experten. Relativ gute Chancen räumt Dombrowsky dabei jedoch den Kindern und Jugendlichen ein – selbst aus den eher starren westlichen Gesell-
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schaften. Denn sie sind seiner Ansicht nach noch weitaus flexibler und spontaner, weniger durch feste Regeln und Normen belastet als die Erwachsenen. „Die Unbeweglichsten werden die Verlierer sein, sie werden am ehesten untergehen“, so der Forscher. „Eines der weltweit interessantesten, fast erschreckenden Ergebnisse der Katastrophenforschung ist, dass die Männer dabei die schlechtesten Bilder abgeben. Weil sie am unbeweglichsten sind. Sie wollen zwar basteln, schrauben und hämmern, aber sie sind relative Sozialkrüppel und sehr häufig sitzen sie nur in ihren Cliquen herum und die Frauen reorganisieren das soziale Leben, oder die Kinder tun es. In der Zeit zwischen 1945 und 1947, nach dem Zweiten Weltkrieg, haben beispielsweise in den meisten Fällen die Kinder ihre Familien durchgebracht.“
Wer gewinnt? Wir brauchen andere zum Überleben. So viel scheint klar. Aber wie sieht unser Zusammenleben konkret aus? Gibt es vielleicht eine Art des Sozialverhaltens, die bestimmte Menschen zu „Gewinnern“ macht? Die ihnen das Überleben erleichtert? Nach Ansicht von Stanley Ambrose, Anthropologe und Archäologe an der Universität von Illinois, gibt es das durchaus. „Unter den Bedingungen von hohem Risiko und großer Unsicherheit gewinnen diejenigen, die kooperieren. Das zeigen Untersuchungen verschiedenster Forscher in Modellen und Experimenten. Und je schlimmer es wird, desto wahrscheinlicher ist es, mit einer kooperativen Strategie zu gewinnen.“ In einem Experiment an der Universität von Arizona in Tucson wurden beispielsweise freiwillige Versuchspersonen vor die Entscheidung gestellt, eine bestimmte Geldsumme entweder mit einem – für sie nicht sichtbaren – Mitspieler zu teilen oder aber die ganze Summe für sich zu behalten. In der zweiten Runde konnte dann der Mitspieler seinerseits entscheiatürlich kann man nicht jedem vertrauen. den, ob er kooperieren oder aber egoisAuf einige kann ich mich mehr verlassen als tisch handeln wollte. Das Ergebnis zeigte: auf andere. Stanley Ambrose Mehr als die Hälfte aller Versuchspersonen handelte kooperativ – aber nur dann, wenn sie in dem Glauben waren, eine reale Person als Gegenüber zu haben. Sagten ihnen die Forscher, sie sollten gegen einen Computer spielen, dessen Entscheidung rein zufallsgesteuert sei, fielen die Entscheidungen deutlich unkooperativer aus. Für den Anthropologen Ambrose ist dieses Ergebnis absolut einleuchtend: „Wenn ich alles für mich behalte, profitiere ich sofort, ich Frauen und Kinder erweisen sich bei vielen Katastrophen als sehr aktiv und flexibel. © FEMA/ Andrea Booher
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bekomme den gesamten Gewinn. Aber wenn dann die andere Person dran ist, handelt sie genauso und ich bekomme in dieser Runde nichts. Das Spiel ist vorbei. Man muss sich das mal praktisch vorstellen: Wenn ich meinem Gegenüber etwas Böses tue, wird er sich daran erinnern und ebenso handeln.“ Inzwischen haben zahlreiche Spielexperimente solcher und ähnlicher Form gezeigt, dass es dabei zumindest in den westlichen Industrieländern eine typische Verteilung zwischen kooperativen und anderen Verhaltensstrategien zu geben scheint: Vor die Wahl gestellt, kooperieren rund 20 Prozent der Menschen regelmäßig, zwei bis drei Prozent sind reine Altruisten. Der Rest verteilt sich mehr oder weniger gleichmäßig auf eher egoistisch handelnde Individualisten und Wettbewerbsorientierte.
Teilen und kooperieren oder alles für sich behalten? Diese Frage stellen viele Spielexperimente. © SXC
Zwischen Kampf und Kooperation Wenn sich jedoch die äußeren Bedingungen dramatisch ändern, wie im Falle einer globalen Katastrophe, könnte sich dieses Gleichgewicht der Kooperierenden und Nicht-Kooperierenden sehr schnell verschieben. Denn die Erfolgschancen der unterschiedlichen Verhaltensstrategien werden offenbar sehr stark von den Bedingungen beeinflusst, unter der Menschen leben. Diese Beobachtung machte Ambrose, als er das Verhalten zweier afrikanischer Stämme erforschte. Die Kikuyu, eine der dominanten Volksgruppen in Kenia, leben als Bauern in fruchtbaren, feuchten Gebieten. „Sie können sogar zweimal jährlich ernten, weil es zwei Regenzeiten im Jahr gibt. Sie können Vorräte anlegen und ihre Nahrung nahe an ihren Dörfern anbauen“, erklärt Ambrose. Gleichzeitig jedoch leben sie in stark befestigten, eingezäunten Dörfern, verteidigen ihre Territorien und vertragen sich nicht gerade gut mit ihren Nachbarn. Nach Ansicht des Wissenschaftlers ist dies ein typisches Verhalten für Populationen in stabilen, ressourcenreichen Umwelten. „Ihre sozialen Netzwerke sind meist sehr klein und begrenzt. Und Interaktionen zwischen den Gruppen sind eher selten.“ Die Massai dagegen, nomadische Viehzüchter, die die eher trockenen Grassteppen Kenias bewohnen, legen ein völlig anderes Verhalten an den Tag. „Sie geben einander freien Zutritt auf riesige Bereiche ihres Territoriums und teilen in einem Ausmaß, das für die Kikuyu unvorstellbar wäre“, so Ambrose. Sie leben jedoch auch in einem Gebiet, in dem es sehr häufig Dürren gibt. Diese zwingen sie, mit ihren Herden in andere Gebiete auszuweichen – und dabei auch Territorien anderer Massaigruppen zu durchqueren. Und genau diese Kooperation, dieses sich gegen-
Viele Kikuyu leben als Bauern in den fruchtbareren Gebieten Kenias, hier eine Frau im traditionellen Schmuckgewand. © Creative Commons Attribution 2.0
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seitig in einer Notlage aushelfen, weil langfristig gesehen beide profitieren, scheint für viele Völker und Populationen in eher unberechenbaren Umgebungen typisch zu sein: „Ob man sich die Eskimos in der Arktis anschaut, die unter sehr riskanten Bedingungen auf dem Eis leben, oder aber die Viehzüchter in der Kalahariwüste: Alle tun das gleiche. Sie entwickeln auch über große Entfernungen hinweg gute Beziehungen mit anderen, sie kooperieren.“ Und so ähnlich könnte sich nach Meinung von Ambrose auch die Situation nach einem Einschlag entwickeln: „Wenn nur ein paar Tausend Menschen übrig sind, was tut man dann? Ich kann sie nicht beim ersten Mal schlecht behandeln, denn sie werden sich das merken und mir nicht Maissaifrau mit Kind © SXC mehr vertrauen. Und wenn ich dann ihre Hilfe brauche, werden sie sagen: ‚Letztes Mal bist Du uns in den Rücken gefallen, wir helfen dir nicht.‘“ Stattdessen könnten sich diejenigen durchsetzen, die es schaffen, sich Freunde zu machen, die mit anderen Gruppen von Überlebenden zusammenarbeiten oder sich sogar zusammenschließen. Denn diese Strategie ist nicht nur erheblich friedlicher, sie erhöht auch die Überlebenschancen beider beteiligten Gruppen unter schwierigen Bedingungen – dann nämlich, wenn sich die Fähigkeiten und Ressourcen beider optimal ergänzen. „Wir ie Überlebenden werden die Menschen haben ein ganz großes Problem, wenn die sein, die fähig sind, mit anderen zusammenVerhältnisse schneller wechseln, als wir uns zuarbeiten. David Sattler anpassen können. Dann bin ich total aufgeschmissen. Entweder finde ich dann Leute, die für mich eine Offerte sind, die mein Ressourcenreservoir vergrößern, oder ich stehe buchstäblich auf dem Schlauch“, erklärt Dombrowsky. Auch Ambrose sieht die „Gewinner“ unter den Kooperierenden und prophezeit den weniger sozialen Verhaltenstypen eine eher düstere
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Zukunft: „In einer riskanten Umwelt wird die egoistische Strategie aussterben. Und in einer Gruppe, die aus einer Mischung von Kooperierenden, Altruisten, Egoisten und faulen Trittbrettfahrern besteht, wird der Anteil der Schmarotzer und Faulenzer abnehmen. Die Gruppen, die den höchsten Anteil von Kooperierenden haben, werden überleben, werden am schnellsten auf eine Katastrophe reagieren können.“
Knapp am Aussterben vorbei Schon einmal, vor rund 70.000 Jahren, wurde die Menschheit von einer globalen Katastrophe heimgesucht, die sie an den Rand des Aussterbens brachte. Und schon einmal könnte die Fähigkeit zur Kooperation die entscheidende Rolle für das Überleben gespielt haben. Die Ursache für die Katastrophe war der Ausbruch des Supervulkans Toba auf der Insel Sumatra in Indonesien. Die Eruption schleuderte so große Mengen Asche und Staub in die Atmosphäre, dass sich die Sonne für Jahre verdunkelte. Das in dieser Phase ohnehin sehr kühle Klima verschärfte sich, es wurde sehr kalt und trocken. Bis zu sechs Jahre könnte dieser vulkanische Winter angehalten haben – mit fatalen Folgen für die Menschheit. „Viele lokale Populationen starben aus. Die Menschen, die überlebten, lebten alle in Afrika, nahe am Äquator, in drei noch relativ warmen und feuchten Regionen“, erklärt Ambrose. „Alle heutigen Menschen lassen sich genetisch bis zu diesen drei Linien zurückverfolgen.“ Die gesamte Population bestand damals aus nur noch rund 30.000 Menschen, so schätzt der Forscher. Aus dieser Zeit gibt es kaum archäologische Spuren, die Menschheit sank gewissermaßen fast unter die Nachweisgrenze. Selbst als die schlimmste Kälte bereits wieder nachge-
In großen Menschengruppen gibt es immer auch „Trittbrettfahrer“ und Egoisten. Unter gefährlichen Bedingungen und in kleinen Gruppen werden sie jedoch nicht mehr toleriert. © SXC
Namibwüste in Südafrika: Wer hier überleben will, muss kooperieren. © SXC
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lassen hatte, dauerte es noch sehr lange, bis die kleinen Gruppen langsam wieder anwuchsen. Erst rund 10.000 Jahre später finden sich wieder Relikte von urzeitlichen Menschengruppen. Sie breiteten sich dann ganz allmählich wieder aus, ausgehend von den drei Hauptrefugien am Äquator, und besiedelten nach und nach auch Gebiete außerhalb Afrikas. „Eine dieser Linien ist der Ursprung der Völker, die heute im Gebiet des Indischen Ozeans leben. Die zweite Linie, die Vorfahren der südlichen Australasischen Völkergruppe, könnte Afrika vor rund 60.000 Jahren verlassen haben“, erklärt Ambrose. „Und die dritte Gruppe, die ich als die nördlichen Eurasier bezeichne, wählte wahrscheinlich vor 50.000 Jahren eine Route über Nordafrika und das Horn von Afrika nach Norden.“ Diese Gruppe war es auch, die sich einige tausend Jahre später gegen den Neandertaler durchsetzte, Heute zeugt nur noch ein See vom 100 Kilometer breiten und einen „Vetter“ der heutigen Menschen, der vor rund 30 Meter langen Krater des Supervulkans Toba auf Sumatra, 35.000 Jahren ausstarb. Nach Ansicht von Ambrose der vor 70.000 Jahren die Menschheit bedrohte. © NASA spielte hierbei, ebenso wie beim generellen Überleben des vorzeitlichen, modernen Homo sapiens, auch wieder die Kooperation eine entscheidende Rolle. „Die Cro-Magon-Menschen lebten anfangs in den offenen Savannen und Wüsten Afrikas, in Gebieten, in denen die Ressourcen sehr unberechenbar und unregelmäßig verteilt waren. Sie überlebten, weil sie kooperierten. Die Neandertaler dagegen lebten in Gruppen mit hoher Solidarität untereinander, aber einer sehr feindseligen, territorialen Haltung gegenüber anderen Gruppen.“ Sie waren damit letztlich der Konkurrenz durch den modernen, effektiv kooperierenden Menschen nicht gewachsen – und Nach der Toba-Eruption hielt der vulkanische Winter sechs starben aus. Jahre an, eine Eiszeit von 1.500 Jahren folgte. © NOAA
Das Leben „danach“ Auch im Falle einer neuen Einschlagskatastrophe könnte sich die Fähigkeit zu kooperieren für die Menschen mehr denn je zu einer der wichtigsten Eigenschaften entwickeln. Möglicherweise hängt dann sogar das Überleben unserer Spezies davon ab. „Wenn ich eine Population habe, die mit dieser Katastrophe konfrontiert wird, würde ich auf den Teil
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wetten, der bereits von vornherein eine Kultur der Kooperation besitzt“, erklärt Ambrose. Dass wir Menschen aber überleben werden, dafür sehen alle Experten recht gute Chancen. Zum einen, weil wir das Wissen und die Möglichkeiten haben, uns auf eine Katastrophe vorzubereiten. Zum anderen aber, weil wir ein großes Repertoire von Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Anpassungen besitzen, von denen uns zumindest einige im Katastrophenfall nützlich sein werden. Wer n einer gefährlichen Umwelt werden dabei mit den schwierigen Bedingungen am besten die Egoisten aussterben. Stanley Ambrose zurechtkommen wird, ob Männer, Frauen oder Kinder, ob die kälteangepassten Völker des hohen Nordens, die Bewohner der Steppen und Wüsten oder aber Vertreter der hochtechnisierten Industriegesellschaften – das weiß heute niemand. Vielleicht ist es auch erst die Kombination aller unserer verschiedenen Fähigkeiten und Erfahrungen, die der Menschheit als Ganzes eine Zukunft ermöglicht. Wie diese „neue“ Menschheit aussehen wird, wie und wo die Menschen leben werden – auch das sind Fragen, die heute niemand beantworten kann. Klar scheint aber zu sein, das lehren die Erfahrungen von Katastrophenforschern und Anthropologen gleichermaßen, dass die Spezies Mensch als solches offenbar weitaus zäher und anpassungsfähiger ist, als man es oft annimmt. Im Gegensatz zu den Dinosauriern vor 65 Millionen Jahren sind wir daher vermutlich nicht dem Untergang geweiht. Immerhin wäre dies nicht die erste große Katastrophe, die unsere Der Einschlag wäre für die Menschheit wahrscheinlich nicht das Ende. © SXC Gattung überlebt hat. Sie hat dramatische Klimaschwankungen wie die letzte Eiszeit, den Untergang ganzer Landstriche oder Eruptionen von Supervulkanen erlebt und überstanden. Solche Katastrophen haben immer viel Leid, aber auch neue Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Lebensformen mit sich gebracht – von denen wir bis heute profitieren. Auch der Einschlag eines erneuten „Dinokillers“ wird daher vermutlich nicht das Ende der Menschheit bedeuten, sondern nur ein neues Kapitel in ihrer der wechselvollen Geschichte eröffnen.
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Fragen an: Stanley Ambrose Der Archäologe arbeitet als Professor für Anthropologie an der Universität von Illinois in Urbana, USA. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Entwicklung des modernen menschlichen Verhaltens in den letzten 300.00 Jahren und die Rolle, die große Katastrophen dabei spielten.
Sie haben die Katastrophe vor 70.000 Jahren, nach dem Ausbruch des Vulkan Toba untersucht. Was wissen wir über diejenigen, die die folgende Kaltzeit überlebten? Was machte sie zu Überlebenden? Ich glaube, dass die Menschen, die überlebten, sich in Gebieten aufhielten, die den meisten Regen hatten und am wärmsten waren, nahe am Äquator. Sie lebten in der geeignetsten Umwelt, aber zusätzlich erhöhten sie ihre Chance dadurch, dass sie auf eine Weise miteinander kooperierten, die davor nicht üblich war. Ich denke, was passierte war, dass die Menschen aufeinander zu gegangen sind. Das scheint ein generelles Prinzip zu sein, dass auch in Modellen und Experimenten belegt ist: Wenn Menschen die Wahl haben, sich kooperativ zu verhalten oder nicht, wie in den Spielexperimenten, dann setzt sich unter risikoreichen und unsicheren Bedingungen die kooperative Strategie durch. Und je schlimmer es wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass man profitiert, wenn man kooperiert. Aber kann es nicht auch erfolgreich sein, wenn ich mir einfach das nehme, was ich brauche – notfalls mit Gewalt? Das stimmt. Aber man muss sich das mal praktisch vorstellen: Es sind nur noch ein paar Menschen übrig. Und wenn ich meinem Gegenüber etwas Böses tue, wird er sich daran erinnern und ebenso handeln. Es ist eine Sache der Erwartung und des Rufs. Wenn mein Gegenüber
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eine Maschine ohne Gedächtnis wäre, wäre die lohnendste Strategie: Sie töten und die Beute einheimsen. Aber wenn es ein Mensch ist und ich beraube ihn und lasse ihn leben, dann wird er sich daran erinnern und es mir heimzahlen – nach dem „Wie du mir so ich dir“-Prinzip. Dass dieses Prinzip gültig ist, haben auch die Spielexperimente gezeigt. So lange jeder kooperierte funktionierte alles bestens. Aber sobald einer der Mitspieler anfing, seinen Spielpartner zu übervorteilen, brach das Kooperationssystem völlig zusammen. Wenn es aber nur noch ein paar tausend Menschen auf der Erde gibt, was tue ich dann in Zeiten der Not? Ich kann sie nicht beim ersten Mal betrügen, weil sie sich daran erinnern werden und mir dann nicht mehr vertrauen. Wenn ich dann ihre Hilfe brauche, werden sie sagen: ‚Ja, das letzte Mal bist du mir in den Rücken gefallen, ich helfe dir nicht mehr!’. Dann bin ich der Verlierer. Wenn man sich in der Welt umschaut und verschiedene Gesellschaften im ökologischen Kontext betrachtet, dann findet man, dass Populationen, die in stabilen Umwelten leben, wo sie autark und unabhängig sind, nur selten ausgedehnte soziale Netzwerke besitzen. Sie verteidigen oft ihre Territorien. In trockenen, risikoreichen Umgebungen wie in der Kalahariwüste oder dem Eis der Polargebiete ist es dagegen immer das gleiche Bild: Die Menschen dort entwickeln weitreichende, kooperative Beziehungen zu Menschen in anderen Gruppen
und unterstützen dies sogar oft noch durch den regen Austausch von Geschenken. Wie sieht es mit uns aus? Würden wir im Falle einer globalen Katastrophe kooperativ handeln? Denken Sie an eine beliebige Gruppe und ihre Zusammensetzung: Es gibt immer diejenigen, die Verantwortung als Leiter, Vermittler oder Berater übernehmen, dann gibt es diejenigen, die einfach mitlaufen und dann gibt es noch die Schmarotzer. In jeder Population gibt es ein sich ständig veränderndes Gleichgewicht dieser unterschiedlichen Strategien. Die große Frage ist jetzt, welche dieser alternativen Strategien sich in einer bestimmten Umwelt am besten bewähren in Bezug auf Überleben und Fortpflanzung. In einer risikoreichen Umgebung wird die egoistische Strategie aussterben. Und in einer Gruppe, die aus einer Mischung von Kooperierenden, Altruisten, Egoisten und Schmarotzern besteht, wird sich der Anteil der Schmarotzer und Betrüger verringern. Ich würde sagen, dass die Gruppen, die den höchsten Anteil von Kooperierenden aufweisen oder effektive Mechanismen haben, um Nicht-Kooperierende zu kontrollieren, diejenigen sind, die überleben. Sie können am schnellsten auf eine solche Katastrophe reagieren. Was aber ist, wenn Gemeinschaften, die keine Tradition der Kooperation haben, plötzlich gezwungen sind, ihr Verhalten zu ändern? Wie kann ein solches Umschalten funktionieren? Man muss sich verändern oder man stirbt. Das war auch bei der Eruption des Vulkans Toba so: Ich glaube, dass diejenigen, die die Kooperation entwickelten, überlebten, die anderen, die nicht adäquat reagieren konnten, überlebten nicht. Sie müssen lernen zu kooperieren.
Wenn ich einen Menschen zum allerersten Mal treffe, woher weiß ich, dass er mir nichts Böses tun will? Es gibt Möglichkeiten, Vertrauen zu erzeugen. Sie könnten zum Beispiel eine Geste machen, die um Vertrauen wirbt. Und dann schauen, ob sie in einer positiven Art und Weise darauf reagieren. Wenn Sie sagen: ‚Hier, ich gebe euch eine Zigarette.’ Und sie nehmen sie, bedanken sich und zünden sie an, dann ist das schon ein Anfang. Dann beginnt man mit ein bisschen Smalltalk und das ist dann schon die halbe Miete. Eine Sache ist in diesem Zusammenhang interessant: Es könnte in dieser Beziehung auch einen Unterschied zwischen den Neandertalern und den frühen modernen Menschen gegeben haben in der Art, wie sie miteinander umgingen. Ich glaube, dass die Neandertaler einander herumkommandierten. Sie sprachen in der Befehlsform: ‚Komm’ mit, hol Feuerholz, tue dies, sonst…’ Wenn wir modernen Menschen dagegen einen unserer Nachbarn dazu bringen wollen, uns zu helfen, würden wir vielleicht sagen: ‚Ich habe eine Herde Hirsche gesehen, möchtest Du mir nicht helfen, einen davon zu erlegen?’ Oder es sogar ganz abstrakt formulieren: ‚Hmm, wenn wir jetzt zu zweit wären, hätten wir viel bessere Chancen, diesen Hirsch zu jagen’. Das ist das, was man als die Sprache der Diplomatie bezeichnen würde. Ich glaube, dass der Unterschied zwischen den Neandertalern und unseren direkten Vorfahren in der Art und Weise lag, wie sie Sprache nutzten um Vertrauen herzustellen.
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Das Making Of
Ihr seid verrückt! So der wohlgemeinte Rat vieler Kollegen angesichts unseres ambitionierten Filmprojektes. Stefan Schneider
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In Kribi, Kamerun, erhält das Team tatkräftige Unterstützung beim Verladen des Equipments durch die einheimischen Pygmäen.
Das Making Of von Stefan Schneider
Ihr seid verrückt! So der wohlgemeinte Rat vieler Kollegen angesichts unseres ambitionierten Filmprojektes: Ein Komet soll auf die Erde stürzen und die Welt in Schutt und Asche legen. Wir begleiten die wenigen Überlebenden durch die veränderte, fremde Welt. In den Pyrenäen bereitet Helena Lindemann (Michelle) sich Und diese Welt wollen wir zeigen. Auf dem Weg zum für eine „Schneeszene“ vor. © Xavier Lavant fertigen Film machten wir uns auf eine lange Reise mit sehr unterschiedlichen Etappen. Hier ein paar Ausschnitte aus dem Drehtagebuch. 26.4.2006 Pyrenäen, Frankreich
Ende April. Lange Koproduktionsverhandlungen haben den Drehbeginn immer weiter herausgezögert: Jetzt wird es höchste Zeit für die Aufnahmen, die Frankreich im Griff einer plötzlichen Eiszeit darstellen sollen. Da der sehr strenge Winter fast überall schon zu Ende ist, müssen wir bis in die Pyrenäen für unsere Szenen. Bei der Vorbesichtigung vor zwei Wochen lag die Landschaft noch unter einer dichten weißen Schicht. Doch der Mann, der vor Ort den Schnee im Auge haben sollte, hat wohl geschlafen. Als wir ankamen, mit großem Team, verschlug uns der Anblick die Sprache. Ein bisschen Schnee hier und da, von eiszeitli-
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Das Making Of
chen Verhältnissen keine Rede. Der erste Drehtag fiel aus. Und es sollte sehr lange dauern, bis wir ihn nachholen konnten. Zum Glück waren wir mit Kunstschnee ausgerüstet, denn wir wussten, dass wir an den tiefer gelegenen Orten nachhelfen mussten. So war die Reise wenigstens nicht ganz umsonst. 17.5 2006 Südküste von La Palma, Kanarische Inseln
Nina Liu und Pascale Langdale während eine Drehpause an Bord der Makali. © Stefan Schneider
Erst stehen die Schiffbrüchigen Noah (Pascal Langdale) und Shiang (Nina Liu) auf ihrem Floß auf dem Programm, dann die Szene, in der sie in „China“ zu ersten Mal wieder Radio hören. Schon morgens früh prallen unterschiedliche Kulturen aufeinander. Aus den „kanarischen“ zehn Minuten, die wir auf das Kameraboot warten müssen, werden drei Stunden, die an unseren Nerven zerren. Es ist schon mittags, bis wir endlich Shiang und Noah auf der zerfetzten Schiffsplanke drehen können, auf der sie nach dem Sturm das chinesische Festland erreichen. Stunden und viele Serpentinenkurven später, schaffen wir es noch gerade noch rechtzeitig vor dem Sonnenuntergang nach La Bombilla, einem kleinen, wild gewachsenen Dorf. Stefan Schönberg, der Szenenbildner, hat es schon auf China getrimmt. Die China-Restaurants auf allen Kanarischen Inseln sind an diesem Tag geschlossen. „Chinatown“ liegt heute in La Bombilla. 20.5. 2006 Santa Cruz, Teneriffa, Kanarische Inseln
Drehvorbereitung am Ersatz-Set in Santa Cruz © Stefan Schneider
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Die Weltpolitik erreicht den Dreh. Während wir die Schlussszene des Filmes drehen, kommt plötzlich die Nachricht, dass wir übermorgen nicht in der Kaserne drehen dürfen, in der Fernando (Dennis Cubic) auf die Hunde treffen und den Bunker finden wird. Seit Wochen kommen täglich Boatpeople aus Afrika an. Viele von ihnen wurden in „unserer“ Kaserne untergebracht. Seltsame Gefühle, die uns da beschleichen: Wir sind entsetzt, dass unser Drehplan so bitter durchkreuzt wird. Aber keiner will es aussprechen, denn niemand will mit den armen Leuten tauschen. Also heißt es, auf die Schnelle einen neuen Drehort finden, umgestalten und die Szene neu auflösen. Das Glück beschert uns eine stillgelegte Kneipe vor einer
verlassenen Radarstation. Schon nach wenigen Stunden ist sie mit ein paar Pinselstrichen, einer Flagge und einigen Aufschriften zur Kaserne umgerüstet. Unsere Szene ist gerettet. Der Strom der Boatpeople jedoch hält weiter an. 25.5. 2006 Teide National Park, Kanarische Inseln
In der kargen Vulkanlandschaft des Teide sollen die Szenen gedreht werden, in denen Fernando mit seinen Hunden aus dem Bunker kommt und sich auf den Weg macht, der ihn schließlich zum Einschlagskrater führt. In der Nacht vorher haben wir die Bunker-Innenszenen im Keller der Seilbahn nebenan gedreht. Währenddessen hat Stefan Schönberg mit seinem Team heimlich die Szene vorbereitet. Heimlich deshalb, weil wir erst ab 9 Uhr morgens die Erlaubnis hatten zu bauen. Das hätten wir aber nie geschafft, denn eine gewaltige Holzkonstruktion musste in einen kleinen Krater eingebaut werden, damit Fernando im Film über eine Falltür aus dem Boden herauskommen kann. Im fahlen Mondlicht wurden die Holzplanken von der Straße bis zum Drehort geschleppt und aufgebaut. Am späten Nachmittag, unter der Aufsicht der strengen ParkRanger, konnten wir endlich drehen. 8.7.2006 Houston, Texas
Das Team beim „Bunker-Dreh“ im Teide Nationalpark auf den Kanarischen Inseln © Stefan Schneider/unbekannt
Auf Wunsch der amerikanischen Partner musste die Reise Fernandos in den USA beginnen. Kurzfristig haben wir deshalb Houston ins Buch geschrieben. Und jetzt stehen wir da bei 45 Grad Celsius und 90 Prozent Luftfeuchtigkeit, japsen nach Luft Die Kamera wird ins Cabrio eingebaut, um die „subjektive“ Sicht der Feuerwalze zu und rätseln, wie wir die Szene auf drehen © Michael Löseke der viel befahrenen Straße hinbekommen. Aber wie immer hat Susan Elkins, unsere Aufnahmeleiterin, eine Lösung. Zwei Anrufe, und drei freundliche Polizisten kommen vorgefahren und sperren die Strasse mit ein paar Fackeln ab. Wir staunen und drehen. Susans erster großer Film war „Paris, Texas“, für den sie einen Monat lang im Wohnmobil mit Wim Wenders und Robby Müller durch Texas reiste, um die wunderbaren Drehorte zu finden. Aber jetzt wird es noch mal spannend. Um genau die Einstellung der Stadt zu bekommen, die
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Das Making Of
wir über Google Earth ausgesucht haben, müssen wir in ein Altersheim. Kein Problem, Susan kennt eine alte Dame, die uns ihren Balkon vermieten will. Unter dem Vorwand, dass wir ein Interview machen, lässt uns die Heimleitung in ihre Wohnung. Aber der Blick vom Balkon bietet nicht das, was wir suchen. Also rauf aufs Dach. Wie im Krimi schleiche ich mich mit Michael Kern, der diesen Teil des Filmes dreht, durch Gänge und Treppenhäuser nach oben. Zehn Minuten später sind wir froh, wieder im klimatisierten Wagen zu sitzen. Kameramann Michael Kern auf dem Kran © Stefan Schneider
Fernando (Dennis Cubic) hilft bei der Ausstattung, während Stefan Schneider und Kameraman Michael Kern eine Einstellung besprechen © Stefan Schneider/Michael Löseke
12.7.2006 Autobahn, Cuernavaca, Mexiko
Ich bin krank, muss irgendetwas Falsches gegessen haben und in der Nacht zuvor hat es geregnet, wie ich es noch nie erlebt habe. Ein tropischer Sturm wie ein Weltuntergang. Am frühen Morgen ist die Luft dann so klar, die Sonne so grell, dass es in den Augen schmerzt. Wir wollen die Szene drehen, in der Fernando an einer verlassenen Tankstelle zum letzten Mal auf Menschen trifft. Die Location ist ein Traum. Nur mit der Einsamkeit ist es nicht weit her. Es handelt sich um eine Autobahntankstelle. Schreiend kämpfen wir uns durch den Lärm der vorbeirasenden Autos. Und die Mexikaner scheren sich nicht groß um Absperrungen. Immer wieder passiert es, dass plötzlich ein riesiger LKW im Bild steht, mit einem verdutzten Fahrer, der dann fröhlich in die Kamera lacht. Stunden später sind wir froh, zu unserem nächsten Drehort, einer wirklich einsamen Landstraße aufzubrechen. 10.8 2006 Repory, bei Prag, Tschechien
Heute ist die zweite Nacht, in der wir die brennende Pariser Vorstadt drehen. Gestern hat alles wunderbar geklappt. Die Pyrotechniker haben ganze Arbeit geleistet und die Schauspieler haben sich überzeugend durch die brennenden Straßen gekämpft. Über 150 Personen waren im Einsatz. Die Bilder allesamt eine große Freude. Aber heute drohen tief hängende Regenwolken den Dreh zu verhindern. Immer wieder dränge ich Martin, ob die Dunkelheit nicht schon reicht, ob wir nicht endlich anfangen können. Ein paar
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Stunden später, die ersten Szenen sind im Kasten, die nervöse Spannung hat sich etwas gelegt, fängt es plötzlich an zu regnen. Und so soll es für den Rest der Nacht weitergehen. Zwischen den Regenpausen drehen wir. Und immer wieder müssen wir die Szenen umdenken, da es sich um die Stunden direkt nach dem Feuersturm handelt. Nasse Strassen dürfen da nicht ins Bild. Immer wieder wird trockengewischt und Staub verteilt. Erst als es fast taghell ist, schlagen wir die letzte Klappe. 15.8.2006 Canal St. Martin, Frankreich
Den Anfang des Pariser Feuersturms haben wir im kostengünstigen Prag gedreht, wo es viele Ecken gibt, die so aussehen wie Paris. Um so authentisch wie möglich zu sein, wollen wir die Flucht der Familie Vaton in den Tunnel des Canal St. Martin aber am Originalschauplatz filmen. Während ein Taucher der Polizei den Canal absucht, um zu verhindern, dass sich ein Stuntman beim Sprung ins flache Wasser verletzt, proben wir mit Schauspielern und Statisten. Die Passanten auf dem Weg zur Arbeit wundern sich über die Verrückten, die laut schreiend durch die Straßen laufen und imaginären Meteoriten ausweichen (die dann später ins Bild animiert werden). Hier passiert der einzige Unfall. Eine Statistin knickt um. Was zuerst harmlos aussieht, wird später als Knöchelbruch diagnostiziert.
Auf dem Tieflader durchs Feuer © Milos Vendlek
Dreharbeiten zum Feuersturm am Canal St. Martin © Xavier Lavant
27.8.2006 Forschungsinstitut Caesar, Bonn
Heute ist der letzte von vier Tagen mit unseren Wissenschaftlern. Das Herzstück des Films. Lange hatte ich darum gekämpft, dass die inszenierte Konferenz mit echten Wissenschaftlern für den dokumentarischen Teil des Filmes stehen soll. Wir haben zehn Wissenschaftler aus fünf Ländern und unterschiedlichen Fachrichtungen zum Interview und Dreh geladen. Aussehen soll es wie eine Konferenz, in der sie miteinander über die Folgen des Einschlags diskutieren. Die Aussicht, mit Kollegen diskutieren zu können, hat die Wissenschaftler dazu gebracht, die zum Teil sehr lange Reise auf sich zu nehmen. Während ich die Einzelinterviews drehte, saßen die übrigen Forscher zusammen und stritten unermüdlich über ihre Forschungsansätze und zum Teil sich widersprechenden Theorien. Am Rande der Veranstaltung führten Nadja Podbregar und Ralf Blasius die Interviews für dieses Buch. Eine unglaubliche Atmosphäre. Aber vermutlich auch die anstrengendsten Tage des gesamten Drehs. Nach vier Tagen mit jeweils zehn Stunden Interview über Geophysik, Biologie, Psychologie und all die anderen Fächer, war ich froh, die sympathischen Forscher wieder nach Hause zu verabschieden. 11.10.2006 Douala, Kamerun
Jetzt wird es wirklich exotisch. Mit Säcken voller Kunstschnee aus Zellulose kommen wir am Flughafen in Douala, Kamerun an. Wir wollen das
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Das Making Of
Schicksal der Pygmäen vor und nach dem Einschlag drehen. Aber erstmal müssen wir mit unserem Gepäck durch den Zoll. lange und lustige Diskussionen, bis wir die völlig fiktiven Zollgebühren von mehreren tausend Euro schließlich auf Null brachten. Mit den besten Wünschen schickte die freundliche Zollbeamtin uns auf unsere Reise in den Urwald. 16.10. 2006 Kribi, Kamerun
Nach Tagen der Vorbereitung wird es heute ernst. Unter lautem Geschrei der vielen Helfer verstauen wir unser Equipment in etwas größeren Einbäumen und treten die Fahrt zum Pygmäendorf an. Eine Stunde lang geht es flussaufwärts, vorbei an einer unfassbar schönen Kulisse. Das sind die Momente, in denen uns wieder klar wird, warum wir all die Strapazen auf uns nehmen. An der Landungsstelle erwarten uns schon die Pygmäen. Mit unglaublichem Geschick packen sie sich die schweren Kisten auf die Köpfe und ziehen in einer singenden Karawane durch den Urwald zu ihrem Dorf. Wir haben uns extra einen Stamm ausgesucht, der zwar mitten im Wald lebt, aber trotzdem Kontakt zur Außenwelt pflegt. Die wirklich ursprünglich lebenden Stämme wollten wir nicht in ihrer Ruhe stören. Unsere Befürchtungen, was die Verständigung angeht, waren schnell ausgeräumt. In einem Gemisch aus französisch, Gestikulieren und den Übersetzungen durch unseren Führer Thomas inszenieren wir die erst ahnungslosen, dann Not leidenden und schließlich überlebenden Pygmäen. Wie Profis wiederholen die Darsteller die Szenen so oft, bis sie perfekt im Kasten sind. 18.10. 2006 Kribi, Kamerun
Dann kam die Kälte. Unser Drehbuch verlangt ein verschneites Afrika. Dafür hatte mein Assistent Michael Löseke auf der Vorbereitungsreise eine Höhle am Strand ausgesucht. Sie waren schon einiges gewöhnt, aber heute staunen die Pygmäen wirklich. Auf den Knien haben wir den Sand und die Zehn Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen diskutieren vier Tage lang vor laufender Kamera die Folgen des Einschlags. © Stefan Schneider
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Mit Kunstschnee in Afrika © Stefan Schneider
Felsen vor der Höhle mit Zellulose „eingeschneit“. Die Zeit drängt, denn die Flut kommt und wird bald die ganze Pracht wegspülen. Der Generator streikt und das Licht funktioniert erst im letzten Moment. Inzwischen haben sich viele Dutzend Schaulustige versammelt, die sich an unseren Vorräten erfreuen. Da das halbe Team unter Übelkeit und Fieber leidet, überlassen wir ihnen gerne unsere Rationen. Als wir in der Nacht fertig werden, sind wir froh über die vielen Hände, die uns helfen, das schwere Equipment über dunkle Wege zur Straße zu tragen. 29. 02. 2007 Region um Holmavik, Island
Der letzte Drehtag. Bis nach Island mussten wir reisen, um den verpassten ersten Tag in den Pyrenäen nachholen zu können. Unsere Hoffnung auf einen kalten Winter in der Eifel hat sich nicht erfüllt. Hier in Island ist es wirklich kalt und wild. In Ermangelung von Hotels wohnen wir bei einem Schafsbauern. Gestern vor dem Dreh haben wir einige Tonnen Schafswolle in einen LKW geladen. In der einsamen Welt hier hilft man sich eben. Ganz so, wie wir es im Film erzählen. Der Geruch steckt uns noch in den Kleidern und erinnert uns an die gemütliche Wärme in der Scheune, während wir hier auf dem Hochplateau im eiskalten Wind stehen. Aber auch dieser Tag geht einmal zu Ende und die letzten Klappe nach fast einem Jahr Drehzeit fällt. Abends stoßen wir bei minus 10 Grad im heißen Naturpool auf den gelungen Abschluss an.
Die französische Eiszeit wird in Island gedreht © Stefan Schneider
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Index
Index A Abkühlung 174, 187 Ablagerungen 89, 136, 204, 209 Ablenkung 45, 48, 54, 56 Abwehrmaßnahmen 14, 43, 51 Abwehrmission 55, 56 Aerosole 163, 173, 176, 180, 181, 185 Afrika 140, 253 Aggression 249 AL00667 35 Algen 204 Altruisten 251 Alvarez, Walter 90 Amor 25 Amphibien 228 Angiospermen 207 Angst 69, 77 Anhydrit 163, 167, 178 Anpassungen 223, 229 Anpassungsstrategien 196 Aphel 18 Apollo 25 Apophis 32, 35, 55 Arktis 160 Armageddon 69, 76 Artenvielfalt 179 Asteroiden 17, 23, 44, 93 Asteroidengürtel 24 Aten 25, 36 Atlantik 139, 175 Atlantikküste 131 Atmosphäre 15, 93, 111, 117, 144, 155, 161, 177, 185, 253 Ätna 176 Atombombe 44, 110 Atomsprengsatz 48 Ausbreitung 194 Aussterben 161
B Bakterien 230 Barringer-Krater 115 bemannte Mission 44 Beuteltiere 228, 234
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Bewältigung 246 Blütenpflanzen 207, 214, 215, 219 Bohrkern 97, 99, 138, 204 Bohrung 97 Borelly 52 Buschbrände 143, 195
C Ceres 24 Charon 22 Chicxulub 95, 99, 116, 157, 163, 167, 179, 186, 224 Chicxulub Scientific Drilling Project 96
D Dawn 52 Deep Impact 52 Deep Space 1 52 Diatomeen 204 Dinoflagellaten 161 Dinosaurier 89, 96, 101, 223 Don Quijote 53 Druck 108 Dunkelheit 155, 160, 173, 198, 208, 231
E Eigennutz 69 Einschlag 87, 94, 116, 123, 212 Einschlagskrater 20, 115 Einschlagsrisiko 55 Einschlagswahrscheinlichkeit 31 Eiszeit 175, 182, 213, 246 Ejekta 116, 123 elektromagnetischer Puls 109, 111 El Kef 180 Emotionen 244, 247 Endzeit 70 Entdeckung 58 Enzyme 196 Erdatmosphäre 107 Erdbahnkreuzer 17, 26, 55 Erdbeben 113, 123, 133
Erdgeschichte 88 Erdrutsch 116, 137, 141 Erkundungsmission 51, 58 Eros 52 ESA 13, 53 Europa 140, 177 Evakuierung 78, 82, 135 Experiment 119, 122, 250 Explosion 48, 110, 115, 121
F Farnspitze 214 Farne 207, 213 Fatalismus 71 Feuer 143, 195 Feuerball 108, 123 Fische 164 Flechten 194, 213 Fleischfresser 224 Flugbahn 31 Foraminiferen 90, 101, 161, 179 Fortpflanzung 196 Fossilien 87, 88, 192, 205 Fotosynthese 159, 194, 205 Frost 225 Frühwarnsysteme 133
G Gangs 80, 248 GeoForschungsZentrum Potsdam 140 Geologen 88 Gesellschaft 57, 72, 81, 248 Gestein 108, 163 Gesteinsschichten 87, 193 Gesteinstropfen 111 Giotto 52 Goldene Regel 223, 229, 230 Golf von Mexiko 98, 129 Gravity Tractor 47, 59 Grenzton 89, 97 Grimsvötn 176 Ground Zero 50 Gubbio 90
H Hale-Bopp 7, 18, 22, 37 Halleyscher Komet 18, 52 Hayabusa 52 Helfer 247 Hidalgo 53 Himmelskörper 14 Hintergrundwahrscheinlichkeit 33 Hitzestrahlung 109, 112, 113, 142, 155, 225, 236 Holz 195 Hurrikan Katrina 80, 247 Hyakutake 18 Hypercanes 143
I Igel 226 Impakt-Tsunami 130 Impaktglas 94, 118 Impaktit 96 Impaktwinter 180, 186 Informiertheit 73 Insekten 207, 231, 237 internationale Hilfe 83 Iridium 90, 93 Iridiumanomalie 91, 95, 118, 192 ISEE-3 52 Isotope 93
kinetischer impaktor 46, 59 Klima 147, 167, 180, 187, 217, 236, 253 Kohlenstoff 205 Kolibri 227 Kollisionen 25 Kometen 17, 107 Kommunikation 245 Konkurrenz 195, 237 Kontinentalschelf 138 Kooperation 69, 250 Krakatau 132, 138 Einschlagskrater 20 Krater 13, 94, 114, 115, 121 Krebstiere 231 Kreidezeit 87, 89, 97, 167, 183, 187, 192, 207 Kriminalität 80 Krokodile 228 Kuipergürtel 19 kurzperiodische Kometen 18
L
Jupiter 24
Landpflanzen 206 langperiodische Kometen 18, 37 Laser 47 Laubfrösche 232 Licht 159 Lincoln Near Earth Asteroid Project 28 Lissabon 131, 149
K
M
K/T-Grenze 89, 98, 100, 158, 180, 193, 204, 209 Kalk 204 Kälte 175, 180, 212 Karibik 132, 139 Katastrophenfilm 76 Katastrophenschutz-Programm 81 Gerta Keller 97 Kieselalgen 204 Kikuyu 251 Kinder 250
Magnitude 23 Manicouagan-Krater 115 Massai 251 Masse 47 Massenaussterben 96, 209 Massenhysterie 74 Massensterben 211 Maßnahmen 248 Medien 74, 77 Meer 129, 144, 166, 175, 180, 181, 203
J
Menschen 233, 243 Menschenaffen 233 Meteoriten 15 Mikrotektite 93, 98 Minor Planet Center 27, 35 Mitigation Precursor Mission 53, 58 Mittelmeer 175 Modelle 142, 148, 157, 161, 179, 181 Modellierung 119, 131, 133, 134 Moose 214 Mount St. Helens 214
N Nadelbäume 165, 207, 215 Nährstoffe 160 Nahrung 217, 227, 233 Nahrungspyramide 206 NASA 26, 35 Nationen 68 NEAR 52 Near Earth Asteroids 25 Near Earth Objects 17 NEODys 27 Neuseeland 210 Neutronenaktivierung 91 New York 141 Nordamerika 208
O Öffentlichkeit 75 Oortsche Wolke 17 Orbiter 54 Orson Welles 78 Ozonschicht 147, 184
P Panik 76 Perspektivlosigkeit 248 Pflanzen 159, 193, 203 Pflanzenfresser 158 pH-Wert 165, 204 Pilze 191, 218 Pilzsporen 193
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Index
U Pinatubo 156, 167, 181, 185 Planetenbildung 13 Planetoiden 24 Plankton 160, 164, 179, 204, 231 Plasma 108 Plündern 80 Pluto 22 Pollen 192, 210, 218 Popigai-Krater 118 Porosität 51 posttraumatisches Stresssyndrom 247
R Radarmessungen 31 Reaktionen 65, 83 Regierung 57, 248 Reptilien 228 Ressource 249 Restrisiko 29 Risiko 16, 22 Rosetta 52 Rückstoßprinzip 47, 49 Ruß 143, 155
S Sakigake 52 Samen 212 Sancho 53 Säugetiere 225, 233 saurer Regen 164, 212, 234 Scaling-Experimente 122 scaling relations 121 Schelf 137, 141 Schildkröten 228 Schockwelle 108, 111, 113, 138 Schwefelgase 163, 177, 178 Schwermetalle 164 Sediment 136, 161, 192 Sekten 71 Selbsthilfe 83 Shoemaker-Levy-9 26 Sikhote-Alin 15
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Simulationen 119, 120, 141, 146, 174, 187 Singularität 145 Jan Smit 97 Sonde 46 Sonne 160, 174 Sonnensegel 46 Sonnensystem 12 Spaceguard Survey 26 Sphärulen 94 Sporen 192, 198, 218 Sprengladung 44, 49 Stardust 18, 52 Staub 155, 156 Stoffwechsel 226, 227, 236 Stratosphäre 147, 156, 163, 167, 177, 185 Street-Gangs 80 Sturm 144, 184 Sudbury 96 Supercomputer 120, 134 Supernova 92
T Tambora 177 Technik 244 Tektite 93 Teleskope 28 Tempel 1 52 Temperaturen 174, 179, 187, 231 Tethys 89, 179 thermische Strahlung 112 Tiefsee 229 Tiere 223 TNT 121 Toba 178, 253 Torinoskala 32, 36 Trägerrakete 55 transneptunische Objekte (TNO) 19 Trefferwahrscheinlichkeit 32 Tropen 174, 229, 235 Tsunami 129, 135, 139, 148, 243 Tunguska 16
Überlebende 79, 244, 248 Überlebenschance 147, 229, 231, 252 Überschwemmung 133 Überwachungsprogramm 27, 28, 30 Umlaufbahn 22, 25, 37 Unentscheidbarkeit 71 Ungläubigkeit 65
V Vega 1 52 Vegetation 206, 211, 215 Verbrechen 80 Vesta 52 Vögel 227 Vorbereitungsmission 54 Vorhersage 34, 133 Vorwarnung 23, 76 Vredefort 96 Vulkanausbruch 176, 178, 184
W Wahrscheinlichkeit 29 Walter Alvarez 98 Wasserdampf 167 Weltraumstaub 14 Wertestrukturen 85, 249 Wichtigkeiten 67 Wild 2 52 Winterschlaf 226 Wir-Gefühl 80 Wirbelsturm 143 Wohlstand 73 World Trade Center 79, 247
Y Yaxcopoil 96 Yucatan 95, 108, 138
Z Zentralberg 95, 115 Zerstören 44, 56 Zielgebiet 31, 34 Zusammenhalt 79