Anatomie
Haut, nackte Haut. Hungrig glitten seine Finger darüber hinweg. Die Haut war erregend kühl. Was für eine schö...
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Anatomie
Haut, nackte Haut. Hungrig glitten seine Finger darüber hinweg. Die Haut war erregend kühl. Was für eine schöne Frau! Der junge Mann schaute hinunter auf seine Hände. Er hatte feingliedrige Finger; die Nägel waren kurz geschnitten, die Fingerkuppen sanft gerundet. Keine Deformationen, keine Verletzungen. Er achtete immer sehr auf seine Hände, er liebte seine Finger. Kein Schmutz unter den Nägeln, nicht wie bei den anderen. Es gab Menschen, wenn er denen auf die Finger schaute, da wurde ihm übel. Er mußte an den letzten Körper denken, der so vor ihm gelegen hatte wie die junge Frau jetzt. Widerlich war der gewesen, besonders die Hände, die Finger: gerillte Nägel, lang und ungepflegt, und einige sogar eingerissen und abgebrochen. Er achtete auf seine Hände. Sie waren sein Werkzeug. Erfreut strich er nun mit den Fingerkuppen der linken Hand über die Haut der Frau, die nackte Haut der nackten Frau. Sie lag einfach so da. Sie lag vor ihm, und er genoß das prickelnde Kribbeln. Diese Vorfreude. Es war lange her, daß er eine Frau gehabt hatte. Die Haut einer Frau gestreichelt hatte. Viel zu lange her. Seine Finger glitten über ihre Wangen, über die geschlossenen Augenlider. Sie zuckte nicht einmal. Er fuhr über ihre Schläfen, schob eine dunkle Haarsträhne hinter ihr rechtes Ohr. Dann glitten seine Finger weiter herunter, seitlich am Kinn entlang, den Hals hinab. Für einen wunderbaren, köstlichen Moment verharrte er am Schlüsselbein. Seine Finger ruhten in der kühlen Mulde ihrer Schulter. Sie war so fein gebaut. Er hätte ihre ganze Schulter mit einer Hand umfassen können ... Er könnte ihre Schulter umfassen und den Oberarmknochen mit einem einzigen Ruck aus der Gelenkpfanne reißen. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als ihm bewusst wurde, daß er die vollkommene Macht über diese Frau hatte. Und sie konnte nichts dagegen tun. Ein Schauder überkam ihn, sein Atem ging schneller, seine Hand nahm ihre Reise wieder auf; tiefer, tiefer. Er bekam Gänsehaut Auch seine rechte Hand wollte nun auf Wanderschaft gehen; ruhig, fast ehrfürchtig, glitt sie über den Körper der Frau, ohne ihn dabei aber zu berühren, unschlüssig, welche Stelle die richtige sein könnte ... Schließlich sanken die rechte Hand knapp oberhalb der Schambehaarung nieder, zwischen Scham und Bauchnabel. Er schaute hinunter auf ihren Bauch. Ein süßer Bauchnabel, so wohlgeformt. Klein und niedlich. Kein Schmutz, kein Dreck, keine Fusseln. Sie war rein, makellos rein. Es war eine Schande, daß nach ihm niemals mehr jemand diesen Bauchnabel dieser schönen Frau sehen würde. Der kleine Bauchnabel, diese längst vergessene Brücke in den Mutterleib. Hier hatte ihr Leben begonnen, und nun ...
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Anatomie
Wieder diese Gänsehaut. Seine linke Hand glitt nun ebenfalls hinab, seitlich am Busen vorbei, er spürte gerade eben noch die Ausläufer ihrer Rundungen. Was für ein schöner Leib! Langsam beschrieben seine Finger einen Halbkreis um die Brust herum, wanderten zärtlich zum Sternum, dem Brustbein. Obwohl es unnötig war, berührte er nach kurzem Zögern doch ihre Brust, ihre Brustwarze, diese hellbraune Knospe, die nie mehr erblühen würde. Tiefer wanderten seine Finger, tiefer hinab. Sie glitten ganz leicht dahin, er berührte die Haut kaum. Er hätte die Augen schließen können, dann wäre er geflogen. Dahingeflogen über ihre milchweiße Haut. In rasender Geschwindigkeit, wie ein Kampfflieger über winterweiße Felder. Er glaubte, die feinen hellen Härchen auf ihrer Haut spüren zu können. Sie war so rein, so sauber. Ihre Haut war glatt und ohne Makel. Die kleinen, feinen Härchen schienen ihn zu kitzeln. Seine Hände trafen sich nicht. Kurz bevor die linke den Bauchnabel erreichte, nahm er die rechte von ihrem Unter-bauch und griff nach dem Skalpell, warf einen kurzen, prüfenden Blick auf das Gerät. Er hielt es schräg und betrachtete die metallene Klinge, die im grellen Neonlicht blitzte. Ja, es war neu, es war scharf. Dieses medizinische Gerät durchtrennte die Hautschichten mühelos und mit geringstem Druck. Er widerstand der Versuchung, die Schärfe des Skalpells mit einem Daumendruck zu prüfen, so wie man es mit einem Taschenmesser machte. So dumm waren nur Leute, die das hier zum ersten Mal machten; so ein Skalpell war scharf, und er würde sich einen tiefen Schnitt zufügen, der wie verrückt blutete. Er schaute die blitzende Klinge an und lächelte. Dann hob er die Hand mit dem Skalpell. Er hielt die Klinge quer und strich damit über die Haut der jungen Frau. Er bildete sich ein, das leise Schaben, das leise Kratzen zu hören, mit dem das Metall über die Hautschuppen glitt. Die Klinge quer, die scharfe Rundung des Skalpells wie ein mörderischer Halbmond eiskalt auf weißer Haut. Er zog das Werkzeug über ihren Bauch, strich damit unter ihren Brüsten entlang. Die bisher stummen Zuschauer dieses Schauspiels wurden langsam unruhig. Fang endlich an, schienen ihre ausdruckslosen Gesichter zu rufen. Er deutete einen Schnitt quer über den Torso der nackten Frau an. Beginnend am linken Brustansatz, über das Brustbein, unter der rechten Brust hindurch. Er folgte der faszinierenden Kurve des Busens. Sie hatte schöne Brüste, nicht zu groß, aber auch nicht zu klein. Er mochte Frauen. Er schaute sie gerne an. Er faßte sie gerne an. Und er hatte lange keine Frau mehr gehabt, deshalb war seine Vorfreude um so größer. Frauen waren viel spannender als Männer. Schönere Formen, einfach mehr fürs Auge. Er wußte bereits, was er tun würde. Er hatte es auswendig gelernt. Er wußte alles ganz genau. Aber es war etwas ganz anderes, wenn der sehnsüchtig erwartete Augenblick endlich kam. Wenn es endlich soweit war. Selig schloß er für einen winzig kurzen Moment die Augen. Er sog die Luft ein. Sie war kalt und roch nach Chlor. Metallisch. Er stellte sich vor, daß ein Skalpell so röche.
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Dabei roch ein Skalpell überhaupt nicht. Ein Skalpell hatte keinerlei Eigenschaften. Es war nichts ohne ihn. Bloß ein Stück Metall. Es erwachte erst in der Hand eines Fachmannes zum Leben.
Man konnte Menschen aufschneiden und aus ihnen herausoperieren, was sie bedrohte. Aber das wollte er jetzt nicht tun. Mit Hilfe eines Skalpells konnte man Leben retten. Auch das würde er nicht tun. Diesmal nicht. Vielleicht später einmal. Er öffnete die Augen, es war gleißend hell. Die Neonröhren taten ihren Dienst. Haut, nackte Haut, grellweiß beleuchtet. Er strich der Frau ein letztes Mal mit dem Skalpell über die Wange, fuhr die energischen Linien ihres Kinns nach, den Hals. Dann wieder über die Brust, direkt über die Brust diesmal, für einen kurzen Augenblick verdeckte die silberscharfe Klinge die Brustwarze. Er hob wieder die linke Hand. Tastete vorsichtig zwischen den Brüsten nach dem Sternum, dem Knochen. Dort wo der Knochen endete, setzte er jetzt das Skalpell an. Er atmete noch einmal tief durch. Ein letztes Mal flutete eine Gänsehaut über seinen ganzen Körper, selbst die Haut auf seinem Kopf prickelte, auf seinem Handrücken und an der Rückseite seiner Unterschenkel schien es erregt zu kribbeln. Endlich war es soweit. Er hatte sich so danach gesehnt.
1
Er setzte das Skalpell an und erhöhte den Druck, die gleißende Klinge schnitt mühelos durch die Epidermis, durchtrennte die oberste Hautschicht. Ruhig und ohne zu zittern führte er die Klinge mit gleichmäßigem Druck weiter in Richtung Bauchnabel, in Richtung Schamhaar. Ob ich einmal quer durch den Bauchnabel schneiden soll? Das war bestimmt sehr interessant. Aber diesmal lieber nicht. Solche experimentellen Scherze waren hier nicht gern gesehen. Die anderen sahen neugierig zu. Der junge Mann schaute gerade fasziniert auf seine
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eigenen Hände, der Schnitt war noch keine zehn Zentimeterlang, da zuckte er erschrocken zusammen. Er hatte einen Fehler gemacht! Die Klinge glitt seitlich ab und schrammte gegen den untersten Rippenbogen. »Kaminski! Handschuhe!« Die Stimme des Professors zerriß die Stille des Anatomiesaals. »Die Dame ist ein Lehrmittel und keine Kommilitonin! « Kaminski atmete tief durch, dann zog er das Skalpell heraus, legte es auf den festen Bauch der schönen Frauenleiche, lächelte den Professor entschuldigend an und griff nach seinen Handschuhen. Natürlich, natürlich! Wo war er nur mit seinen Gedanken gewesen? Paula atmete einmal tief ein, dann packte sie den Penis entschlossen mit der linken Hand. Sie setzte ihr chromblitzendes Skalpell in die kleine Kuhle oberhalb des männlichen Geschlechtsteils und schnitt es dann kreisförmig - mitsamt Hoden - zwischen den Beinen der Leiche heraus, fast so, als würde sie den grünen Strunk einer Tomate entfernen. Sie war ziemlich sicher, daß dem Kommilitonen, der vom Nebentisch zu ihr herüberstarrte, ziemlich schlecht werden würde. Paula legte das Skalpell beiseite und hob den Penis breit grinsend auf Augenhöhe. Er hing vorne über ihre Fingerspitzen schlaff herunter. Die beiden Hoden ruhten fest und schwer auf ihrem Handteller. Hinter ihr hörte sie Professor Huber, der gerade Kaminski zurechtwies; hatte der etwa schon wieder ohne Handschuhe ...? Paula schüttelte ungläubig den Kopf. So dämlich konnte sich wirklich nur einer anstellen ... »Wenn ich Ihnen einmal junges Fleisch besorge!« Professor Hubers tiefe Stimme dröhnte durch den ganzen Anatomiesaal. Durch die großen Panoramafenster flutete helles Frühlingslicht herein. Trotzdem brannten natürlich die Neonleuchten an der Decke. »Morgen«, drohte Huber schelmisch, »gibt's wieder Wasserleichen!« Die Studenten lachten. Einer rief Kaminski zu: »Alter Grabscher! Versuch's doch mal mit lebenden Frauen, die sind steif genug!« Die anderen lachten. Auch der Professor konnte sich ein breites Lächeln nicht verkneifen. Ja, er konnte sich noch sehr gut an seine eigene Studentenzeit erinnern; ein bißchen Spaß konnte nicht schaden. Gerade in der Anatomie. Leichen zerschneiden, das war für die jungen Leute nicht gerade angenehm. Warum also nicht ein wenig lachen, um das Elend und Unglück zu vergessen, das die Leichen auf die Seziertische befördert hatte? Krebs, Selbstmorde, Autounfälle, Wasserleichen, Raubüberfälle, Herzinfarkte ... Wenn man darüber nachdachte, lief es einem kalt über den Rücken. Immer noch, nach all den Jahren. Aber sie mußten lernen, damit umzugehen. Also verdrängte Huber, wie schon so oft zuvor, den unangenehmen Gedanken und lachte jovial mit. Daß die Studentinnen auch ihn als »Grabscher« bezeichneten, auf diese Idee wäre er gar nicht gekommen. Denn immerhin - da konnte er diesem jungen Kaminski nur zustimmen - waren die weiblichen Formen ja doch ganz wunderbar! Paula hielt immer noch den abgeschnittenen Penis in der Hand und betrachtete ihn aufmerksam. Ein amüsiertes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen - das sind aber auch wirklich komische Dinger! Sie bewegte die Hand ein
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wenig hin und her. Die Eichel schwankte von rechts nach links. Es sah ein wenig aus, als ob der tote Schwanz den Kopf schüttelte. Die Hoden waren riesige Augen, der Penis samt Vorhaut ein überdimensionierter Nasenzipfel. »Herr Professor?« Professor Huber ließ den armen Kaminski stehen, der sich mit hochrotem Kopf seine Gummihandschuhe überstreifte, und kam zu Paula herüber. »Herr Professor, wir haben hier eine Anomalie im Lendenbereich!« Sie grinste frech. Die Kommilitonen an ihrem Seziertisch fingen an zu kichern. Nur ein junges Mädchen hielt sich die Hand vor den Mund und wandte sich ab. Sie war ganz weiß geworden. Innerlich zuckte Paula ungerührt mit den Achseln. Mensch, Lisa, schalt sie die andere Studentin in Gedanken, wer jetzt schon schlappmacht, wird nie ein guter Arzt. Paula reckte ihre Hand mit dem blutigen Penis in die Luft. Dort wo sie ihn abgeschnitten hatte, hingen Adern und Gefäßreste heraus; das Gewebe war zu weich, um in Form zu bleiben. Der Professor dröhnte: »Eine Anomalie?« Scherzhaft tadelnd schüttelte er den Kopf. »Ein Penis ist doch keine Anomalie! Das ist bei Männern anders als bei Frauen, Kollegin!« Paula fing an zu lachen, und das glibberige Leichenteil rutschte ihr von der Hand und fiel direkt in die bereits geöffnete Bauchhöhle der Leiche. Die Studenten um sie herum fingen laut an zu lachen – mit einer Ausnahme: Lisa hatte nun endgültig genug. Sie drehte sich auf dem Absatz um und stürmte in Richtung Ausgang. Die anderen schauten ihr zum Teil verdutzt hinterher, doch die meisten hatten so etwas schon lange kommen sehen. Wenn man in der Medizin weiterkommen wollte, mußte man seine eigenen Gefühle einfach ausblenden können. Auch der Professor verdrehte amüsiert die Augen und wandte sich ab. Derartige Späße waren hier an der Tagesordnung und würden dem Lernziel sicherlich eher förderlich sein. Zugegeben, auf einen »normalen« Menschen hätte die Situation wahrscheinlich eher abstoßend gewirkt. Aber sie waren keine normalen Mensch. Sie waren Mediziner. Oder würden es zumindest eines Tages werden. Paula wühlte mittlerweile ungerührt mit ihren behandschuhten Fingern zwischen den Darmwindungen nach dem Geschlechtsteil und murmelte ärgerlich: »Die sind aber auch zu glitschig, die Dinger.« Die anderen lachten lauter. Paula fand ihren eigenen Scherz inzwischen nicht mehr ganz so lustig. Sie entfernte den Penis aus der Bauchhöhle und klatschte ihn etwas achtlos wieder zwischen die Beine der Leiche. Das Lachen verebbte, und die Studenten wandten sich wieder ihrer Arbeit zu. Der Professor sah sich nach Lisa um. Ah, da war sie ja - schwer atmend und kalkweiß stand sie neben der Ausgangstür. Immerhin, dachte Huber, hat sie den Saal dann doch nicht verlassen. Trotzdem, aus dem Mädchen würde niemals eine gute Ärztin werden. Zu schade, denn ihre theoretischen Kenntnisse waren hervorragend. Schade, sehr schade ... Andererseits, und der Professor vergewisserte sich mit einem weiteren Blick, daß file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (5 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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er sich nicht vertan hatte, sieht sie wirklich nett aus in diesem etwas zu engen Sezierkittel ... Er lächelte. Da würde sich doch sicher etwas machen lassen. Im Zweifel ließ sich eigentlich immer etwas machen. »Frau Habenstadt«, rief er Lisa gutmütig zu, »gehen Sie am besten für einen Moment an die frische Luft. Und kommen Sie später zu mir in die Sprechstunde. Wir sollten uns mal in Ruhe über Ihre Motivation unterhalten. « Lisa lächelte den Professor dankbar an und verschwand dann. Na dann, bis später, meine Liebe! Huber schaute sich zufrieden um. Es war der letzte Kurs vor den Semesterferien, und die Studenten waren gut gelaunt und unaufmerksam. Aber das gehörte eben alles dazu. Paula schaute sich vorsichtig um, und als gerade niemand hinsah, packte sie den abgeschnittenen Penis mit fester Hand, hob ihn zwischen den Beinen der Leiche heraus und ließ ihn mitsamt den beiden daran hängenden Hoden unauffällig zu den übrigen Geweberesten in den Eimer unter dem Seziertisch fallen. Besser auf die Wunde starren, als diesen Schwanz dauernd hin und her schieben zu müssen wie ein überzähliges Puzzleteil. Heute waren schließlich Innereien dran - Magen, Darm, Milz, Galle und die übrigen Verdauungsorgane. Sexualkunde kam später. Und außerdem waren diese Dinger sowieso immer nur im Weg.
2
Paulas Magen krampfte sich zusammen. Aufgeregt stand sie vor der Tür von Professor Huber. Sprechstunde, es war gerammelt voll. Warten, warten. Sie wartete jetzt schon seit über zehn Minuten. Nervös drehte sie einen kleinen Kreis, blieb dann wieder neben der Tür stehen und horchte. Wann waren die denn endlich fertig? Was hatten die da drin denn noch zu besprechen? Jedenfalls war sie die nächste! Sobald die Tür aufging und der Student herauskam, der vor ihr hineingegangen war. Himmel, was machte der denn bloß so lange da drin? Paula hatte noch nie zu den Geduldigsten gehört. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie ihr Vater ihr abends im Bett ein Märchen vorlesen wollte und sie, gerade fünf Jahre alt, ihm das Buch aus der Hand genommen und ihm vorgelesen hatte! Immer darauf warten, daß sich jemand bequemte, ihr ein Märchen vorzulesen - nein, das war schon damals nicht ihr Ding. Allerdings war sie kein Wunderkind gewesen; das Lesen hatte ihr Großvater Paula beigebracht. Wissen ist Macht. Das war sein Leitspruch gewesen. Also hatte Paula auf seinem Schoß gesessen und gelernt. Klar, ihr Opa liebte sie auch so. Aber damals, gerade mal fünf Jahre alt, war Paula bewußt geworden, daß er sie nicht nur lieben sollte. Er sollte sie ernst nehmen. Er sollte sie respektieren. Er sollte stolz auf sie sein. Und, verdammt noch mal, das konnte er auch! Wenn nur endlich diese verdammte Tür aufgehen und der file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (6 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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Professor ihr bestätigen würde, daß es auch wirklich Grund zum Stolzsein gab! Paulas Blick schweifte über die zahllosen Zettel am Schwarzen Brett. WG gesucht. Mitfahrgelegenheit, Ausflüge, Flohmärkte, Zimmer zu vermieten ... Die Zettel waren alle schon zerfleddert und vergilbt, an kaum einem hingen mehr irgendwelche Telefonnummern zum Abreißen - das Semester ging zu Ende, die Zettel waren noch aus den ersten Wochen. Kümmerte sich eigentlich nie jemand darum? Wurden die Angebote und Gesuche einfach in den Semesterferien vom Hausmeister ungerührt abgerissen und in den Müllsack gestopft? Und im nächsten Semester ging alles wieder von vorne los? Paula kratzte sich am Kopf. Dann schob sie ihre Haare hinter die Ohren. Zupfte ihre grau gemusterte Bluse zurecht. Trat von einem Fuß auf den anderen, ungeduldig, nervös, aufgeregt. Dabei war es ja gar nicht die Frage, ob sie bestanden hatte. Das war klar! Daran hatte sie nie gezweifelt. Na ja, nie wirklich gezweifelt. Nicht so richtig. Eigentlich ging es nur um eins: Wie gut war sie, wie gut? Gehörte sie zu den Besten? Sie mußte einfach zu den Besten gehören! Endlich ging die Tür auf, und ein Kommilitone kam heraus. Paula hatte das Gefühl, ihn schon irgendwo und irgendwann einmal gesehen zu haben. Das passierte ihr dauernd - in der Mensa, in der Fußgängerzone, wo auch immer, plötzlich sprachen sie vermeintlich wildfremde Leute an und stellten sich als Kommilitonen vor. Zugegeben, so groß war die Uni nicht, aber Paula achtete nicht besonders auf die anderen Studenten. Wieso auch? Ihr Vorbild war ihr Großvater, und der war auch nie einer wie die anderen gewesen, sondern von Anfang an ein primus inter pares - Erster unter Gleichen! Andere sahen das allerdings etwas anders. Eine schusselige Professorin, hatte Paulas Mutter sie einmal genannt, und das noch vor dem Staatsexamen! Ihr Großvater war ausgerastet, als er das gehört hatte. Paula muß sich nicht jedes langweilige Gesicht merken, hatte er gewütet. Es reicht vollkommen, wenn sie sich die merkt, die besser sind als sie. Und das auch nur so lange, bis sie die überholt hat. Na ja, so schlimm nun auch wieder nicht. Paula hatte schließlich Freunde hier, Ines, Steffi und die eine, die immer mit beim Essen war, wie hieß die noch mal... Ärgerlich schüttelte Paula kurz den Kopf. Der Typ da interessierte sie nun wirklich überhaupt nicht, ganz egal wer er war, wie er hieß, was auch immer. Der sollte jetzt nur endlich verschwinden! Wie in Zeitlupe entfernte sich der Student von der Tür. Einen Moment mußte sie nun noch warten, sonst dachte der Professor vielleicht, sie würde auf glühenden Kohlen sitzen. Ich und nervös? Kann ja nur eine Verwechslung sein! Paula sah den Studenten mit gesenktem Haupt davonschleichen. Tja, es konnten nicht alle so gut sein wie sie ... Vorsicht, Henning, Hochmut kommt vor dem ... Ach, so ein Unsinn. Wie kam sie jetzt eigentlich auf so was? Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig - und los! file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (7 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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Paula preßte ihre Bücher an sich und betrat das Professorenzimmer. Professor Huber saß an seinem übervollen Schreibtisch und kaute eilig vor sich hin. Ein paar Krümel fielen auf die Tischplatte, als er mit vollem Mund murmelte: »Ah ja, ah ja.« Dann würgte er den Rest seines Brotes herunter. Paula sah sich um. Was für ein Durcheinander! Wie sollte man denn hier arbeiten? Wissenschaftlich arbeiten? Auf dem Schreibtisch allein lagen zahllose Bücher, viele davon aufgeschlagen, dazu Unterlagen, präparierte Leichenteile und Brotreste - nicht nur von heute. Also, sie könnte so nicht arbeiten. Ihr Großvater hatte ihr beigebracht, daß nur ein aufgeräumtes Umfeld dem Geist die Möglichkeit bot, sich frei zu entfalten, und selbst ihr Vater, der sich sonst so bemühte, alles anders zu machen als ihr Großvater, hielt sich in seiner kleinen Praxis und seinem noch kleineren Arbeitszimmer an diesen eisernen Grundsatz. Die Vorhänge waren halb zugezogen, das warme Sommerlicht war ausgesperrt. An den Wänden wucherten Regale hoch; die Bretter bogen sich schon unter Büchern, Papierstapeln und weiteren präparierten Körperteilen und Innereien. Der Professor schob sein leeres Butterbrotpapier achtlos beiseite, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und griff nach einer Urkunde. Paula zog sich der Magen zusammen: Der macht da jetzt bestimmt Fettflecke drauf, Scheiße, das kann ich dann ja keinem zeigen! »Paula Henning«, las der Professor stolz vor und erhob sich dabei. Er kam um den Schreibtisch herum auf Paula zu, die erwartungsvoll lauschte. »783 Punkte, Robert- Koch-Wettbewerb '99«, las er weiter. »Das zweitbeste Ergebnis bundesweit. Gratuliere!« Dann schaute er auf. Paula hatte das Gefühl, als würde ihr Herz stehen bleiben. Der Professor lächelte. Er meinte es ernst! Das zweitbeste Ergebnis, bundesweit! Nun fing auch Paula an zu lächeln. Also mußte sie sich nur noch einen einzigen Namen merken! Nur ein Student war besser als sie. Der Professor nahm die Urkunde in die linke Hand, dann legte er sie zurück auf seinen Schreibtisch. Er griff nach Paulas Hand, schüttelte sie, strahlte. »Gratuliere!« wiederholte er und ließ seine linke Hand wie zufällig auf ihrem Oberarm landen. Das genoß er sichtlich. »Echt?« Paula ignorierte Hubers Hand an ihrem Oberarm und starrte den Professor an. »Das heißt, ich bin für Heidelberg zugelassen?« Bestätigend nickte der Professor und tätschelte Paulas Arm. »Wenn Sie den Sommer lieber mit Leichen verbringen als mit jungen Männern«, lächelte er anzüglich und trat noch einen kleinen Schritt näher an Paula heran. Noch immer hielt er ihre Hand in seiner. Dann setzte er ganz ernst hinzu: »Aber nein - der Anatomiekurs bei Grombek ist der beste! Ein Härtetest. Ganz ...«, er schaute Paula tief in die Augen, ».. .intensiv!« Sie konnte seinen Käseatem riechen. Der Professor ließ ihre Hand los und packte nun auch ihren rechten Oberarm. »Ganz konzentriert!« schwärmte er weiter von dem legendären Heidelberger Anatomiekurs, für den Paula sich qualifiziert hatte. Dabei glitt seine Hand auf Paulas Schulter, und
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diesmal bemühte er sich nicht wirklich darum, es unauffällig zu tun. »Ich wäre sonst nach Italien in Urlaub«, gab Paula zu und schielte auf die Professorenhand. »Aber das ist natürlich ...!« Was sollte das denn jetzt? Was machst du alter Sack da mit deiner Hand? Paula wußte nicht, was sie sagen oder wie sie reagieren sollte. Sie hatte die Zulassung nach Heidelberg! Heidelberg'. Was war da schon die Grapscherei eines alten Profs? Unglücklicherweise schien der Professor Paulas stille Duldung als Zustimmung zu interpretieren und packte fester zu. »So eine Chance!« dröhnte er. »Bei Ihrer Begabung!« Paula kam sich vor wie in einem schleimigen Schraubstock. Heidelberg hin oder her, das ging nun wirklich einen Schritt zu weit. »Italien«, sagte sie daher mit spitzem Unterton und schaute auf die Hände des Professors, »ist eh nicht so toll. Da wird man dauernd angemacht.« Sie hob den Blick und schaute dem Professor herausfordernd in die Augen. »Und begrapscht.« Zonk! Das hatte gesessen! Der Professor ließ sie augenblicklich los und trat einen Schritt zurück, als wäre ihm gerade erst bewußt geworden, was er da eigentlich tat. Er lächelte peinlich berührt und nickte dann. »Genau«, sagte er und nickte noch einmal. »Genau.« Hastig nahm er die Urkunde wieder vom Schreibtisch und hielt sie Paula hin. »Noch einmal meinen herzlichen Glückwunsch. Und, äh ... vergessen Sie uns nicht, da in Heidelberg.« »Keine Sorge, Herr Professor, nächstes Semester sehen wir uns wieder. Ich habe ein ziemlich gutes Gedächtnis ...« Mit diesen vielsagenden Worten steckte Paula die Urkunde sorgfältig in ihre Mappe mit den Studienunterlagen, verabschiedete sich freundlich und verließ das Zimmer des gierigen Professors. In der Tür drehte sie sich noch einmal halb um und sagte: »Also, vielen Dank noch mal!« Der Professor war bereits wieder hinter seinen Schreibtisch zurückgekehrt und nickte. Jetzt sieh sich einer diesen alten Bock an, grinste Paula in sich hinein, ist nicht zum Zug gekommen und weiß jetzt nicht, was er machen soll. Dann wandte sie sich endgültig zum Gehen ... ... und prallte überraschend mit einer anderen Studentin zusammen. Die trug - obwohl das zur Sprechzeit weder nötig noch sinnvoll war - einen weißen Arbeitskittel, der ihr auch noch ein wenig zu eng war. Den obersten Knopf hatte sie offengelassen. Sie hatte gleißend blondes Haar und einen kirschroten Mund. Paula zuckte zurück und murmelte: »'tschuldigung.« Die Kommilitonin nickte nur lächelnd, zupfte ihren Kittel noch ein letztes Mal zurecht und verschwand dann im Arbeitszimmer des Professors. Paula schaute ihr mit offenem Mund nach, bis die Tür zugefallen war. »Da wird sich aber wer freuen«, murmelte sie sarkastisch und schüttelte den Kopf. Manche scheinen es ja wirklich nötig zu haben! Na ja, ihr Problem sollte das nicht sein. Paula schüttelte sich einmal. Brrr, furchtbar, der alte Bock hat sein nächstes Opfer gefunden! Na ja, deren Namen mußte sie sich bestimmt nicht merken. Aber bevor sie noch länger Gedanken darüber nachdenken konnte, stürmten auch schon Iris und Steffi auf sie zu, die im Flur gewartet hatten: »Und? Wie ist es gelaufen?« Auf file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (9 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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Paulas Gesicht breitete sich ein fettes Grinsen aus, und sie verkündete stolz: »Hei-del-berg!« Quietschend und juchzend fielen die beiden Freundinnen ihr um den Hals, dann faßten die drei sich an den Händen und hopsten einmal fröhlich im Kreis. Zweitbestes Testergebnis bundesweit, das war Schon was. Und Heidelberg! Der Hammer! Sie konnte gar nicht erwarten, es ihrem Großvater zu erzählen.
3
»Heidelberg?« Dr. Henning zog skeptisch die Augenbrauen in die Höhe. Paula hätte schreien können. Das darf doch echt nicht wahr sein! Warum war sie nicht erst zu ihrem Großvater gefahren? Daß ihr Vater mal wieder nichts, aber auch wirklich gar nichts begreifen würde, war doch so was von klar gewesen! Paula war gleich nach der Uni nach Hause gefahren und stand nun im einzigen Behandlungsraum der kleinen Praxis. Es war ein reines Familienunternehmen – ihr Vater praktizierte, ihre Mutter saß am Empfang und sprang als Krankenschwester ein, wenn Not am Mann war, und wenn Paula Zeit und Lust hatte, half sie auch mal aus. Nur hatte sie in letzter Zeit wenig Zeit, und mit der Lust war es schon lange vorbei. Dr. Henning verarztete gerade ein Mädchen mit zersto-chenen Armen und zotteligen Haaren. Sie war nicht zum ersten Mal da, selbst Paula kannte sie schon. Nelly war Junkie, und um den Stoff zu bezahlen, ging sie anschaffen. Ihr Freund, der ebenso abgerissen aussah wie sie - und auch genauso übel roch -, pennte den ganzen Tag auf alten Matratzen in einem Abbruchhaus und erwachte erst abends zum Leben, wenn die Kneipen aufmachten. Nur wenn Nelly zum Arzt mußte, raffte er sich früher auf. Dann markierte er den Kavalier und kam mit. Wahrscheinlich will er sichergehen, daß sie bald wieder einsatzbereit ist, dachte Paula und vergaß darüber fast den Zorn auf ihren Vater. Sie schaute sich im Behandlungszimmer um. Kiefernholzregale von Ikea, die so out waren, daß nicht mal mehr das schwedische Möbelhaus sie im Programm hatte - nur hier standen sie noch. Vor dem Fenster ein klimperndes Windspiel, das die Patienten beruhigen sollte (und sie langsam, aber sicher in den Wahnsinn
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trieb). Auf dem Schreibtisch stand eine Duftlampe, die ihr Vater allerdings nur in den Wintermonaten anzündete, und an der Wand hing die Anti-Atom-Sonnenblume aus den Siebzigern. Allerdings ein nagelneuer Druck, den Dr. Henning erst vor zwei Jahren von seinem Bruder zum Fünfzigsten bekommen hatte. Paula seufzte. Kein Wunder, daß ihr Vater sie nie verstand - sie verstand ihn ja auch nicht. Fürsorglich beugte sich Dr. Henning über seine Patientin. »Die roten Punkte hier, das sind nur Filzläuse. Mußt dir keine Sorgen machen, Nelly.« Nelly starrte mit leeren Blick geradeaus und kratzte sich zwischen den Beinen. »Paps, das ist die Chance meines Lebens!« erklärte Paula. Doch ihr Vater hörte überhaupt nicht zu. Na, dann eben nicht. Seufzend griff Paula in das Arzneimittelschränkchen und holte eine Dose mit Pulver heraus, die sie Nelly in die Hand drückte. »Da«, erklärte sie der Patientin, »dreimal täglich feste drauf! Dann sind die Dinger bald tot. Aber laß bis dahin niemanden an dich ran.« Nelly schaute sie ausdruckslos an. Am liebsten hätte Paula sie geschüttelt. Aber da das wahrscheinlich sowieso nichts gebracht hätte, beugte sich Paula vor und sagte so leise, daß ihr Vater es nicht mitbekommen würde: »Okay, besserer Vorschlag: Laß niemanden an dich ran, an dem dir was liegt. Merkst ja, wie unangenehm die kleinen Biester sein können.« Harte Zeiten, harte Maßnahmen, und da Nelly nun nickte, konnte Paula davon ausgehen, daß sie wenigstens etwas verstanden hatte. Okay, das wäre geklärt. Nun wieder zum wirklichen Problem. Paula wandte sich ihrem Vater zu, der bereits an seinen Schreibtisch zurückgekehrt war, um das Krankenblatt auszufüllen. »Du könntest dich echt ausnahmsweise mal mit mir freuen!« Hallo, Erde an Papa! Und tatsächlich schien ihr Vater mitbekommen zu haben, daß sie langsam sauer wurde - denn nun war er plötzlich beleidigt! »Ich hatte gedacht, du hilfst mir in der Praxis« sagte er vorwurfsvoll. »War ja mal so besprochen.« Er schaute auf und wies Nellys Freund, der an der Eingangstür zum Behandlungsraum lehnte, an: »Und mit Anschaffen ist zwei Wochen Pause!« »Wat? Ey, Doc, ey, ich brauch das Geld!« beschwerte der sich sofort. Auf dir krabbeln die Viecher ja auch nicht rum, du Arsch! Paula mußte tief durchatmen und ganz fest die Zähne aufeinanderbeißen, um nicht loszuschreien. Vielleicht sollte Nelly ihm doch Filzläuse anhängen, und wenn es einen Gott gab, würden sie mutieren und kurzen Prozeß mit dieser menschlichen Laus machen. Aber egal, es gab jetzt Wichtigeres. »Das ist dieser Forschungslehrgang bei Grombek, von dem ich dir erzählt habe.« Keine Reaktion von ihrem Vater. Genausogut konnte sie mit einer Wand reden! Oder aber mit dem Traumpaar hinter ihr. »Versicherungskarte?« fragte sie, rechnete aber natürlich nicht im Ernst damit, daß einer der beiden eine Krankenversicherungskarte hätte. Der Form halber klopfte sich Nellys Freund auf die Taschen seiner kaputten Jeans und murmelte: »Hatte ich doch neulich noch ... muß einer gestohlen haben ...« Paula hörte gar nicht zu. Solche Patienten hatte ihr Vater öfter. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (11 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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»Wenn man das schafft«, erklärte sie statt dessen, »kann man danach bei jedem Forschungsinstitut ...« »... und in jeder schicken Privatklinik unterkommen«, unterbrach Dr. Henning seine Tochter bitter. »Privatklinik und Geld und Ruhm. Der Sinn und Zweck allen menschlichen Leides.« 0 Gott! Paula verdrehte die Augen. »Jetzt geht das wieder los! Nur weil ich eine optimale Ausbildung ...« In diesem Augenblick flog die Tür zum Behandlungszimmer auf, und die dicke Frau Freisinger platzte herein. Sie trug knallenge Leggins, ein kunterbuntes T-Shirt und einen fliederfarbenen Strohhut. Sie zerrte zwei Kinder an einer Hand hinter sich her und trug ein Baby auf dem anderen Arm. »Herr Doktor!« plapperte sie sofort los, »Herr Doktor, schaun S' da, der Kevin! So an Husten! I hob schon Eana Frau g'sagt...« Dr. Henning hob beschwichtigend die Hände, um die Patientin zu beruhigen. Paulas Mutter, die am Empfang gesessen hatte, als Frau Freisinger einfach arrogant vorbeigewalzt war, versuchte bereits, die Patientin wieder hinauszubefördern: »Frau Freisinger! Ich habe gesagt: draußen warten! Raus aus dem Behandlungszimmer! « Nelly hatte das Durcheinander genützt und sich halb umgedreht. Sie saß immer noch auf der Patientenliege, streckte aber nun den dürren Arm in Richtung des Arzneimittelschränkchens aus. Paula sah das und brüllte wütend: »Nelly! Nimm sofort die Finger da weg!« Nelly schreckte zurück. Frau Freisinger, Dr. Henning, Frau Henning und Nellys Junkie-Freund schauten alle zu Paula hinüber, und die konnte nun nicht mehr an sich halten und schrie ihren Vater an: »Ja! Ich will Karriere machen, auch wenn du das scheiße findest! Ich will ganz sicher nicht so enden, in so einer ...« Hilflos hob Paula die Arme und beschrieb einen Kreis, der die Praxis, das Leben ihres Vaters und den ganzen Rest, der ihr spontan nicht einfiel, mit einschloß. Alle erstarrten. Selbst Nelly und ihr Freund hatten kapiert, daß hier irgend etwas Unangenehmes abging. »Ja?« fragte Dr. Henning seine Tochter mit eisiger Stimme. »Sprich ruhig weiter!« Paula schwieg. Sie preßte die Lippen fest aufeinander und sagte kein Wort mehr. Wozu auch? Es war ja schon alles gesagt. Nellys Junkie-Freund nutzte die Gelegenheit und fragte den offenbar gerade emotional verwundbaren Arzt leise: »Sag mal, ey, Doc, hastu 'n Fuffi? Bis Montag? Voll ehrlich!« Aber Dr. Henning schüttelte nur nachdenklich den Kopf. Ob er abwehren wollte, was Paula ihm vorgeworfen hatte, oder ob er bloß keinen Fünfziger zur Hand hatte, blieb unklar. Paulas Mutter hatte die Hände erschrocken vor den Mund geschlagen, und selbst Frau Freisinger war zur Abwechslung mal still. Paula zerrte ihren Arztkittel von den Schultern, warf ihn in die Ecke des Behandlungszimmers und stürmte zur Tür hinaus. Im Gehen blaffte sie die dicke Freisinger noch an: »Und hier drin hat's Filzläuse!« Dann war sie verschwunden. Paulas Mutter sah erst ihrer Tochter nach, dann stemmte sie die Hände in die Hüften und drehte sich zu ihrem Mann um. »Und?« fragte sie vorwurfsvoll. Dr. Henning sah sie lange an. »Sie hat den Platz in diesem Anatomieseminar«, sagte er dann tonlos, und als seine Frau nicht sofort zu verstehen schien, was das bedeutete, fügte er hinzu: »In Heidelberg.« Seine Frau verstand sofort. Wortlos scheuchte sie Nelly und ihren Freund aus dem Behandlungszimmer und zog Frau
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Freisinger hinter sich her, die ihren Hausarzt nur erstaunt ansah. Was war denn bloß so schlimm an Heidelberg? Ihre Tante wohnte da, hin und wieder fuhr sie die mit Kevin besuchen, und das war doch eigentlich immer ganz nett... Na, versteht einer die Studierten! Dr. Henning vergrub das Gesicht in beiden Händen. »Paula«, murmelte er, »Paula.« Warum konnte sie ihn nicht einfach verstehen? Und warum konnte er ihr nicht die Wahrheit sagen? Heidelberg! Sie durfte das alles nie erfahren. Er hatte die Pflicht, sie davor zu schützen.
4
Wütend zerrte Paula am Schloß ihres Fahrrades. So ein verdammter Idiot! Und fetzt auch noch so was! Schließlich bekam sie das dumme Ding auf, schlang es um die Sattelrohrstütze, packte den Lenker und sprang auf den Sattel. Sie trat in die Pedale und ließ die spießige, kleinbürgerliche Enge der Arztpraxis ihres Vaters hinter sich. Nur weg! Zornig und erleichtert gleichermaßen sog sie die frische Luft ein und trat immer schneller. Warum konnte er sich nicht einfach für sie freuen? Warum machte er sich überhaupt keine Mühe, sie auch nur einmal zu verstehen? Warum, warum, warum ... Die Straßen waren leer. Paula brauchte keine zehn Minuten, um die Privatklinik zu erreichen, in der ihr Großvater lag. Eilig bog sie von der Straße auf den Parkplatz ein und wäre fast mit einem Mercedes zusammengestoßen, der das Gelände gerade verlassen wollte. Paula wich aus und kurvte um die silberne S-Klasse herum. Als sie schon zwanzig Meter weiter war, hupte der greise Fahrer ihr noch zornig hinterher. Paula drehte sich nicht einmal um. Jetzt mal Ruhe da hinten, is' ja nichts passiert. Der Parkplatz stand voll mit fetten Benzen und anderen Nobelkarossen. Paula dachte bei sich: Siehst du, Papa, es zahlt sich eben doch aus, es im Leben zu etwas zu bringen. So wie ihr Großvater, der hier betreut wurde. Seine Gesundheit konnte ihm niemand wiedergeben, aber zumindest hatte er es gut und bekam jeden Wunsch erfüllt! Im Eingangsbereich kaufte Paula einen kleinen Blumenstrauß für die Stationsschwestern, die sich so gut um ihren Opa kümmerten. Auch das war ein deutlicher Unterschied zu den staatlich geführten Kliniken: Dort gab es zwar meist auch einen Blumenhöker, der überteuerte Nelken in Plastikfolie feilbot, aber an den Sträußen hier war nur das Preisschild häßlich, und man wurde nicht gleich wieder krank, wenn man sie auf den Nachttisch gestellt bekam. Die Blumenverkäuferin brauchte ewig, bis sie das Wechselgeld beisammen hatte. Paula hüpfte nervös und voller Vorfreude von einem Fuß auf den anderen - Nee, Henning, den Preis für Geduld bekommst du file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (13 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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in diesem Leben auch nicht mehr! -, bedankte sich und eilte weiter. Sie wollte ihrem Großvater endlich die gute Nachricht überbringen! Wenigstens er würde sich freuen, da war sie sicher. Wenigstens einer in der Familie, der sie verstand! Im Flur traf sie zwei Ärzte, mit denen sie schon öfter zu tun gehabt hatte, und nickte ihnen grüßend zu. Dann fuhr sie mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Von hier, aus den Fenstern der Intensivstation, hatte man einen überraschend schönen Blick auf die grünen Hügel der Umgebung. Paula ging zum Schwesternzimmer und überreichte der diensthabenden Schwester die Blumen. »Da. Ich denke, das haben Sie sich verdient im Kampf mit dem alten Löwen!« Schwester Anne bedankte sich im Namen des ganzen Teams. »Ach, er ist ein Schatz«, lachte sie und wickelte die Blumen aus dem Papier. »Sie kennen ihn ja.« Dann drehte sich die Schwester demonstrativ um und begann, nach einer Vase zu suchen. Sie wusste schließlich genau, was Paula wirklich wollte, und da sie es ihr nicht offiziell erlauben konnte, mußte sie eben so ein Auge zudrücken. Wie der Großvater, so die Enkelin, dachte Anne. Ein tolles Gespann, die beiden. Kaum hatte sich die Schwester umgedreht, begann Paula auch schon in einem Stapel mit Krankenblättern und Fieberkurven zu blättern. Wo ... ah, hier! Die Unterlagen ihres Großvaters. Hastig überflog sie die Aufzeichnungen, aber dann kehrte die Schwester schon lächelnd zurück, stellte die Vase mit dem kleinen Strauß auf den Tisch und griff wie nebenbei nach dem Stapel, den Paula gerade am Wickel hatte, als wollte sie damit arbeiten. Keine der beiden Frauen sagte etwas, dazu hatten sie dieses Spiel schon zu oft gespielt. Paula wollte immer ganz genau wissen, was mit ihrem Großvater war, wie er behandelt wurde, welche Medikamente er in welchen Dosen bekam. Und weil alle hier in der Privatklinik ihren Großvater kannten und respektierten, wurde das auch geduldet - bis zu einem gewissen Punkt. Aber letztlich waren es eben doch die Ärzte, und nicht die Angehörigen, die hier die Entscheidungen trafen. Paula lächelte die Schwester zum Abschied noch einmal an und ging dann den breiten Krankenhausgang herunter zum Zimmer ihres Großvaters. Als geschätzter Privatpatient hatte er natürlich ein besonders großes Einzelzimmer mit einem besonders schönen Blick. Aber lieber wäre er gesund gewesen. Oder endlich tot. Auf Paulas Gesicht breitete sich ein Strahlen aus, als sie das Zimmer ihres Großvaters betrat, und der alte Herr lachte sie so fröhlich an, daß man für einen kurzen Moment fast die vielen Schläuche vergaß, die aus seinem Körper ragten und ihn mit allerhand lebensverlängernden Maschinen verbanden. »Hi, Großvater!« sagte Paula und gab ihrem Opa einen Begrüßungskuß. »Also, hör zu, deine Leberwerte sind auf 1200 gestiegen, Blut 120 zu 80, Herz 70 Prozent. Und daß ich vorgestern mitbekommen habe, daß sie den Seitenausgang doch nicht rückoperieren wollen, hatte ich dir schon gesagt, oder?« Der 5Ojährige Dr. Ewald Henning hob ergeben eine Hand und verdrehte die Augen. »... und mit dem Morphium wollen sie rauf auf 5 Milliliter, müssen aber noch den Schützenberger fragen«, fuhr Paula fort. Dann runzelte sie besorgt die Stirn und schaute ihren Großvater fragend an. »Hast du solche Schmerzen?« Henning grunzte und winkte verächtlich ab. Dabei wackelten die ganzen Schläuche, und die grüne Kurve auf einem der kleinen Monitore hinter seinem Bett zuckte himmelwärts. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (14 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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»Ach, Mäuslein«, raspelte er mit tiefer Stimme, »ich bin ja schon seit Weihnachten tot!« Paula öffnete den Mund, um ihrem Großvater zu widersprechen, aber der hob nur eine Hand, um sie zu stoppen. »Die wollen mich doch nur mit den Maschinen foltern, die ich noch selbst angeschafft habe. Das ist die Rache des Schicksals.« Er hustete einmal und legte sein altes Gesicht in strenge Falten. Los, Mädchen, sag es mir! Seine Augen brannten intensiv. »Testergebnis Robert Koch?« fragte er dann gierig. Was hielt Paula sich an solch einem Tag mit seiner Krankengeschichte auf? »Über 700«, sagte Paula und konnte das stolze Strahlen nicht zurückhalten, so bescheiden sie auch auftreten wollte. »Zweitbeste Arbeit bundesweit.« »Sehr gut!« Ihr Großvater war mehr als zufrieden. Sie ist wirklich meine wahre Erbin! »Und?« Er sah Paula erwartungsvoll an, obwohl er schon wußte, was nun kommen würde. »Heidelberg?« »Na ja«, druckste Paula, »ich will dich auf keinen Fall allein lassen ...« Aber sie wußten beide, wie der Satz zu Ende ging. Wohin sie wollte, wohin sie mußte. »Ha!« rief Ewald Henning empört. »Ich brauche doch kein Klageweib!« Wieder legte sich sein kauziges Gesicht in zahllose Falten, als er Paula näher zu sich heranwinkte und mit rauher Stimme klarstellte: »Mich würde nichts glücklicher machen, als zu sehen, daß meine Paula Mediziner wird. Nicht so ein Pflasterkleber und Krankenscheinausfüller.« So wie mein Sohn, dein Vater, schwang unausgesprochen mit seinen Worten mit. Nach einer kurzen, betrübten Pause fuhr er fort: »Mediziner! Meine Nachfolgerin!« Gerührt streckte er die Hand aus und zog Paulas Gesicht an sich heran. »Du bist doch mein ganzer Stolz, Mäuslein!« sagte er und küßte sie auf die Stirn. Paula standen Tränen in den Augen, so selig war sie. Natürlich hatte sie gewußt, wie ihr Großvater reagieren würde. Daß er sie lieber in Grombeks Anatomiesaal in Heidelberg sah als an seinem Krankenbett. Trotzdem rührte es sie. Und sie würde ihn vermissen! Großvater und Enkelin sahen sich einen langen Moment fest in die Augen, ein Spiel, das sie schon gespielt hatten, als Paula noch ein kleines Mädchen gewesen war. Wenn dich jemand ansieht, wende niemals die Augen ab, hatte er ihr damals immer gesagt. Schau immer nach vorne. Zeig immer, wie stolz du bist. Zeig allen, wie stark du bist. Vieler Worte bedurfte es da nicht mehr. Ihr Großvater wußte, daß sie am nächsten Tag bereits auf dem Weg nach Heidelberg sein würde und vorher noch viel zu erledigen hatte. Paula drückte ihn noch einmal ganz fest, dann löste sie sich aus seiner Umarmung und stand auf. »Ach, und wenn du rausgehst«, bat ihr Großvater Paula beiläufig, »kannst du dann bitte den Stecker rausziehen?« Er hob die Hand und deutete über seine Schulter auf die zahllosen Maschinen, mit denen er verbunden war. Paula blieb stehen und schaute ihren Opa streng an. »Mensch! Großvater!« wies sie ihn zurecht. Dr. Ewald Henning grinste und begann dann zu lachen. Paula stimmte ein, winkte zum Abschied und ging. Das Lachen ihres Großvaters hallte ihr durch den Krankenhausflur hinterher. Nach einer Weile kippte es um und verwandelte sich in ein röchelndes Husten. Eine fachlich weniger kompetente Enkelin wäre sicher umgekehrt und zurückgeeilt, um zu helfen. Aber Paula kannte sich aus und wußte, daß ihr Großvater Atemschwierigkeiten hatte. Und Hustenanfälle. Daß
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man dagegen nichts machen konnte. Und vor allem: daß sie vorbeigingen. Deshalb hörte sie gar nicht wirklich das Husten, sondern das Lachen, das immer noch darin steckte. Zufrieden stieg sie in den Fahrstuhl. Wenigstens er hatte sich mit ihr gefreut, wenigstens er. Nun konnte sie beruhigt nach Heidelberg fahren.
In seinem Zimmer begann Dr. Ewald Henning wieder ruhiger zu atmen. »Paula«, flüsterte er, »meine Paula in Heidelberg!« Ein triumphierendes Lächeln lag auf seinen Lippen.
5
»Jetzt nimm doch wenigstens das Blaue mit!« drängte Paulas Mutter, als sie am Abend die Koffer packten. »Vielleicht geht ihr ja mal aus oder so.« Hoffnungsvoll hielt sie ihrer einzigen Tochter das blaue Kleid hin. Das stand ihr so gut. Und Paula war ein so ernstes Kind. Immer nur studieren, das war doch nichts. Aber Paula wollte davon nichts hören. »Mama! Ich fahre zum Arbeiten nach Heidelberg«, wehrte sie ab und schob das blaue Kleid beiseite, um einen Stapel T-Shirts in den Koffer legen zu können. Seufzend ließ Paulas Mutter sich auf das Bett ihrer Tochter sinken. Sie faltete das blaue Kleid in der Mitte und legte es auf ihren Schoß. Eigentlich hätte sie es sich schon vorher denken können. Paula war so vollkommen anders als sie in ihrem Alter; sicher, sie hatte damals ebenfalls studiert, und die schlechteste Studentin war sie auch nicht gewesen, aber trotzdem war sie gerne tanzen gegangen, besonders natürlich mit Paulas Vater. Und sie hatte sich dafür immer gerne schön angezogen. Aber jedem, der sich in Paulas Zimmer umsah, wurde schnell klar, daß sie mit so etwas nicht viel im Sinn hatte. Dort, wo ihre Mutter den Starschnitt von Elvis Presley an die Wand geklebt hatte, hing bei Paula ein anatomisches Poster, auf dem ein Bodybuilder ohne Haut zu sehen war; auf dem Regal standen kleine medizinische Modelle und sogar einige Präparate in Formaldehyd. Gut, da waren auch noch die Rosentapete und der fröhlich gemusterte Vorhang, aber die hatte Paula ja auch nicht selbst ausgesucht. Immerhin hatte sie sich damals durchsetzen können; vielleicht sollte sie heute auch etwas hartnäckiger sein? »Nur weil du ein Kleid mitnimmst, heißt das doch noch lange nicht ...« Ungerührt fiel Paula ihr ins Wort: »Also, ich lass mich sicher nicht schwängern und versau mir dadurch die Karriere.« Sie legte zwei Hosen in den Koffer, dann sah sie auf. Erst jetzt schien sie zu begreifen, was sie da gesagt hatte. Sie erstarrte. »Danke«, sagte ihre Mutter eisig. »Sehr charmant.« Paula stand auf und ging zu ihrer Mutter hinüber. Sie setzte sich neben sie aufs Bett und legte den Arm um ihre Schultern. »Ach, Mami, das war doch nicht so gemeint, du weißt schon.« Ja, dachte Paulas Mutter, ich weiß schon. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (16 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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Ihre Tochter, das war schon seit langer Zeit klar, hatte überhaupt kein Verständnis dafür, daß ihre Mutter damals das Studium abgebrochen hatte, weil sie schwanger geworden war. Einmal hatte sie ihr im Streit sogar an den Kopf geworden, daß sie, Paula, nie so enden wollte. Das ist alles die Schuld von diesem furchtbaren alten Mann, schoß es Paulas Mutter durch den Kopf. Wenn Paula doch nur ... Nein, sie hatte versprochen, sich daraus herauszuhalten. Schnell wechselte sie das Thema. »Hast du dich bei Papa entschuldigt?« »Ich bemühe mich ja echt!« verteidigte sich Paula. »Aber immer diese Tour, daß alle, die Erfolg haben, Verbrecher sind, nur weil er ...« Ihre Mutter hob mahnend den Zeigefinger, und Paula verstummte. Sie hatten dieses Gespräch schon zu oft geführt. Hatten sich zu oft gestritten. Noch einmal mehr mußte nicht sein. Paula seufzte - und ging zum Gegenangriff über. »Übrigens: Auch wenn er seinen Vater nicht leiden kann - Papa könnte Großvater wenigstens mal besuchen gehen.« Und um ihrer Forderung noch etwas mehr Nachdruck zu verleihen, setzte sie noch hinzu: »Dem geht's echt nicht so gut.« Nachdenklich nickte Paulas Mutter. Aber auch da würde sie nicht viel ausrichten können. »Ja, ich weiß«, murmelte sie und sah ihre Tochter hilfesuchend an. Ich werde ganz schön einsam hier ohne dich sein, wollte sie sagen. Dein Vater vergräbt sich immer mehr in seiner Praxis, dein Großvater ist ein verbitterter alter Mann, der mir immer noch die Schuld daran gibt, daß sein Sohn nie in seine Fußstapfen getreten ist, und nun gehst du auch noch weg und läßt mich allein. Natürlich schob sie diese Gedanken schnell wieder beiseite, aber Paula, die ihre Mutter gut kannte, wußte auch so, was in ihr vorging. Ohne große Worte zog sie ihre Mutter in ihre Arme und drückte sie fest an sich. Ich weiß ja, Mama, dachte sie. Aber bleiben kann ich einfach nicht. Heidelberg! Das ist alles, was ich mir immer gewünscht habe! Schließlich machte sich Paulas Mutter los, sah ihre Tochter ernst an und fragte besorgt: »Schreibst du mir auch mal?« Paula nickte und sagte voll inbrünstiger Vorfreude: »Das wird so geil, so geil, so geil!« Sie freute sich wirklich sehr auf die Reise nach Heidelberg. Es würde harte Arbeit werden, natürlich, von Semesterferien keine Spur. Aber es war wirklich eine einmalige Chance. So etwas würde sie nie wieder erleben!
6
Die Musik klang wie im Kaufhaus, oder im Fahrstuhl. Gefälliges Gedudel. So etwas würde er sich nie freiwillig anhören. Er versuchte, die Augen zu öffnen. Aber die Lider klebten zusammen. Er fühlte sich schwer, so schwer. Und doch schien er zu schweben.
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Er war ein wenig benommen. Wo war er? Wieso lief diese Musik? Wieso bekam er die Augen nicht auf? Was um Gottes willen hatte er gestern Abend getrunken, und vor allem: wieviel? Teufel. Er mußte die Augen aufbekommen. Es war bestimmt schon heller Tag. Mit dem Saufen aufhören, nahm er sich vor. Nahm er sich ganz fest vor. Nie wieder Alkohol. Seine Zunge lag wie ein pelziger, fauliger Klumpen in seinem Mund. Sie füllte seine Mundhöhle fast vollständig aus. Als hätte jemand ihm eine tote Maus in den Mund gesteckt, von der nur noch das Schwänzchen zwischen seinen Lippen hervorschaute. Uh, wie eklig. Was für ein abscheulicher Gedanke. Wieder versuchte er, die Augen zu öffnen. Er wuchtete seine tonnenschweren Lider einen Millimeter auseinander, kniff die Augen aber sofort wieder zu. Es war so hell dort draußen! Wieso war es so hell? Als ob ihm jemand mit einer Taschenlampe direkt ins Gesicht leuchtete. Wahnsinn! Was war das nur wieder für ein beschissener Traum? Hatte er etwa gestern schlechtes Kraut geraucht? Verdammter Mist! Er wollte seine Arme recken und strecken, seine Beine anziehen, wollte sich dehnen und biegen wie ein verschlafenes Kätzchen. Aber er konnte sich nicht bewegen. Er war wie gelähmt. Konnte sich nicht rühren. Und diese Musik! Die Musik machte ihn wahnsinnig! Dieses belanglose, sinnlose Gedudel. Schrecklich! Er mußte die Musik ausschalten. Er mußte die Augen aufmachen und sich auf die Seite drehen und den Arm ausstrecken und die STOP-Taste drücken und die gottverfluchte Musik ausschalten, er mußte ... Er machte die Augen auf. Es war hell, gleißend hell. Er schaute in eine dreistrahlige Lampe, wie beim Zahnarzt. Er runzelte die Stirn. Wo war er? Wie war er hierhergekommen? Was ... Ein Kopf schob sich zwischen ihn und die Operations-
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lampe. Er konnte nicht erkennen, ob das ein Mann oder eine Frau war. Das Wesen trug einen Mundschutz, eine Operationskappe und etwas, was ihn an eine TechnoBrille erinnerte. Ein Glas war durch eine kreisrunde Lupe ersetzt worden, wie die eines Uhrmachers. An den Seiten der Brille leuchteten zwei kleine Punktstrahler. Was war das nur für ein beschissener Traum? Unheimliehe Begegnung der dritten Art, oder was? Und warum fühlte sich das alles hier eigentlich nicht wie ein Traum an? Plötzlich spürte er, wie die Lider seines linken Auges auseinandergezogen wurden. Das seltsame Wesen beugte sich vor und starrte ihm mit seinem unheimlichen Lupenauge direkt bis ins Gehirn, oder zumindest kam es ihm so vor. »Wo... wo...?« murmelte er mit fetter, haariger Zunge. Er war kaum zu verstehen.»Testat erwacht«, bemerkte das Wesen tonlos und nahm die Hand wieder weg. Seine Lider zogen sich zusammen. Sie wollten sich wieder schließen. Wollten den unheimlichen Anblick auslöschen. Wollten diesen beängstigenden Traum beenden. Er wollte sich in den Arm kneifen, mit einem üblen Kater aufwachen und grimmig über sein durchgedrehtes Unterbewußtsein lachen. Aber er hatte so ein komisches Gefühl. Als würde er aus diesem Traum nie mehr erwachen ... »Anästhesieren?« fragte jetzt ein zweites Wesen im Schutzanzug, dessen Kopf neben dem des ersten auftauchte. Was zum Teufel war hier los? »Bißchen Kreislauf ist ganz gut«, murmelte das erste Wesen. »Zwei Milligramm Promidal intravenös!« Die beiden Köpfe verschwanden aus seinem Blickfeld. Das Licht der dreistrahligen Operationsleuchte knallte ihm wieder voll ins Gesicht. Erschöpft schloß er die Augen. »W-wo ... b-bin ich ...?« fragte er mühsam. »Ich file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (19 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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dachte ... Was m-machen ... S-sie ...?« Aber niemand hörte auf ihn. Die Musik dudelte immer weiter. Jetzt waren auch andere Geräusche zu hören. Klickendes und klapperndes Metall, ein leises Zischen. Angestrengt öffnete er wieder seine Augen. Er starrte in das helle Licht. Mühsam drehte er den Kopf zur Seite. Warum nur konnte er den Rest seines Körpers nicht bewegen, seine Arme, seine Beine? Oder kam ihm das nur so vor? Und wo war er hier eigentlich? Die beiden Menschen in den Schutzanzügen waren nicht zu sehen, sie standen gerade zu seinen Füßen. Was taten sie dort? Wer waren diese Leute? Hatte er einen Unfall gehabt? Lag er im Operationssaal? Ja, das mußte es sein! Bestimmt war er betrunken vor ein Auto gelaufen, er war angefahren worden, schwere innere Verletzungen, und nun retteten sie ihm das Leben! Aber wieso war er dann aufgewacht? Wieso war er bei Bewußtsein? Und warum verspürte er keinen Schmerz? Er schaute sich um. Es konnte tatsächlich ein Operationssaal sein. Die Leuchte über ihm. An den Wänden mattgestrahlte Metallschränke, Chrom oder Stahl. Auf den Tischen Glasschälchen. Er schien sich auf einer Liege zu befinden, die etwa einen Meter über den Boden aufragte. Neben ihm stand ein metallener Rollwagen. Darauf lagen einige medizinische Instrumente. Klammern, Tupfer, rasiermesserscharfe Skalpelle. Dahinter ein Metalltablett, auf dem ... Nein. NEIN! Eine Welle der Übelkeit rollte über ihn hinweg. Was war das denn? Auf dem Tablett lagen irgendwelche glibberigen Innereien. Ein ganzer Haufen davon. Als würde gleich eine hungrige Wolfsmeute hereinstürzen und ein reichhaltiges Abendmahl fordern. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (20 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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Und woher zum Teufel kam dieses Zeug? Das verschiedenfarbige Fleisch, die gewellten Darmwände und dieser ... dieser Geruch? Ihm war schlecht, am liebsten hätte er sich übergeben, aber er hatte seinen Körper nicht unter Kontrolle. Sein Blick zuckte unruhig. Wo war er hier? Was geschah mit ihm? Er hob mühsam den Kopf und schaute an sich herunter. Er wollte wissen, wo die beiden Wesen hin waren. Wo er sich befand. Er schien tatsächlich auf irgend etwas zu liegen. Das eine Wesen stand zu seinen Füßen und zog eine Spritze auf. Das andere Wesen streckte gerade eine Hand in Richtung seines Bauches aus ... Sein Bauch! Er riß entsetzt die Augen auf. Sein Bauch war verschwunden. Wo sich seine Bauchdecke befunden hatte, klaffte ein riesiges, tiefes Loch. Darin steckte ein chromblitzendes Operationsbesteck, und Chromklammern hielten die Überreste seiner Haut weiträumig zurück. Eines der beiden bekittelten Wesen fragte leise das andere: »Hast du dir schon die Liste angesehen? Was Interessantes dabei?« Das andere Wesen sagte: »Mmh ... vielleicht der Typ aus Berlin. Ah ja! Und: Henning!« »Henning?« fragte das erste Wesen. »Echt? Wie: >Henning