R,ai ner Krause
Allgemeine Psychoanalytische Krankheitslehre . .
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R,ai ner Krause
Allgemeine Psychoanalytische Krankheitslehre . .
CU
2000 K91
-1
Band 1: Grundlagen ·~
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LEHRBÜCHER IM W KOHLHAMMER VERLAG Alfermann , Geschlechterrollen und geschlecht typisches Verhalten Bierhoff, Sozialpsychologie, 3. Aufl. Dörner/SeJg, Psychologie, 2. Aufl . Guski, Wahrnehmen - ein Lehrbuch Köhler, Freuds Psychoanalyse. Eine Einf"Lihrung Köhler, Psychosomatische Krankheiten , 3. Aufl. Laux/Weber, Emotionsbewältigung und Selb tdarstellung Saup, Alter und Umwelt Schmidt-Atzert, Lehrbuch der Emotionspsychologie Schneewind, Familienpsychologie chwarzer, Streß, Angst und Handlungsregulation, 3. Autl . Wendt, Allgemeine Psychologie
KOHLHAMMER STANDARDS PSYCHOLOGIE (Hrsg. von T. W Hernnann I W H. Tack I F. E. Weinert)
Arnelang/Bartu ek, Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung, 3. Aufl. Basbne, Klinische Psychologie I, 2. Aufl z. Zt. vcrgr. Bastine, Klinische P ychologie Il Dörner, Problemlösen als Inforrnationsverarbeitung, 3. Aufl. z.Zt. vergr. Eckes/Roßbach, Clusteranalysen Friederici, Neuropsychologie der Sprache Gebert/Rosenstiel , Organisationspsychologie, 4. Aufl. Keller/Meyer, Psychologie der frühesten Kindheit Schneider/Schmalt, Motivation, 2. Autl . Six/Schäfer, Einstellungsänderung Toman, Tiefenpsychologie Upmeyer, Soziale Urteilsbildung Zielinski, Lernschwierigkeiten, 2. Autl.
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Rainer Krause
Allgemeine psychoanalytische Krankheitslehre Band 1: Grundlagen unter Mitarbeit von Thomas Anstadt, Jörg Merten, Evelyne Steimer-Krause, Burkhard UHrich und Joachim Wuttke Mit einem Vorwort von
Otto F. Kernberg
Verlag W Kohlhammer Stuttgart Berlin Köln
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Krause, Rainer: AJigemeine psychoanalytische Krankhe itslehre I Rain er Krause. Mit e inem Vorw. von Otto F. Kernberg.- Stuttgart; Berlin; Köln : Kohlhammer Bd.l. Grundlagen I [unter Mitarb. von Thomas Anstadt .. .]. 1997 ISBN 3-17-014542-8
Dieses Werk einsch ließl ich all er seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmun.~ des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen oder sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme , daß diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeiche n oder sonstige gesetzlich geschü tzte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichner sind.
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Alle Rechte vorbehalten © 1997 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Berlin Köln Verlagsort Stuttgart Gesam therstellung: Druckerei W. Kohlhammer GmbH Printed in Germany 4
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Co. Stuttgart
Inhalt
Geleitwort von 0. F. Kernberg Vonvort
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7
13
Allgemeine Einführung in den Gegenstand und die Absicht des Buches.
17
1.1
Einleitung . . . . . . . .
17
1.2
Gesund und krank, psychisch und körperlich .
20
1.3
Begriffliche Klärungen . . . . . . . . . . . . . . Begriffe aus der differentiellen Neurosenlehre. Vergleich psychoanalytischer und psychiatrischer Beschreibungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
32
1.4
Historisch kulturelle Bedingtheiten der Modellvorstellungen
37
1.5
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
2
Die therapeutische Situation als Erfahrungsgrundlage für die Theoriebildung .
45
2.1
Einleitung . . . . . . . .
45
2.2
53
2.2.2
Was ist eine Beziehung? Beziehungsverhalten .. 2.2.1.1 Körperbewegungen 2.2.1.2 Die Körpermanipulatoren. 2.2.1.3 Regulatoren 2.2.1.4 Illustratoren 2.2.1.5 Embleme .. 2.2.1.6 Affekte . . . Andere klinische relevante Klassifikationen .
2.3
Was ist eine "gute" Beziehung? . . . . . . . .
69
2.4
Was ist eine psychotherapeutisch psychoanalytische Beziehung? Das Übertragungsgeschehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.1 Das Ubertragungsgeschehen im Alltag . . . . . . . . 2.4.1.2 Das Übertragungsgeschehen in der Psychotherapie. 2.4.1.2.1 Die Fälle A und H . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
1
1.3.1 1.3.2
2.2.1
2.4.1
29
56 58 59 59 60 60 61 65
79 80 87 88 5
2.5 2.5.1 2.6
2. 7
2.7.1
2.8 2.9 2.9.1 2.10
2.11
Alltagsbeziehung und psychotherapeutische Beziehung im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D as Couchsetting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99 101
Zusammenfassende Betrachtung der therapeutischen Situation als regelgeleitete und dennoch kreative Handhabung von Inszenierungen anband der Fälle und der Forschung . . . . . . .
102
Die therapeutische Situation aus der Sicht des Psychoanalytikers als "On-fine-Forscher" . . . . Der FallS. . . . . . . . . . . . . 2.7.1.1 Das offene Verhalten . . 2.7.1.2 Das Intentionsverstehen . 2.7.1.3 Das Aufhellen von Bedeutungen
105 106 126 129 131
Der Analytiker als "On-line-Forscher": Verallgemeinernde Auswertung des Falles S..
132
Brauchen wir eine allgemeine Psychotherapietheorie und Praxis? . Psychotherapie als soziologische Kategorie und sozialpsychologische Rolle: Die Folgen für die Theoriebildung. . . . . . . . . .
155
Empirische Gründe, die für die Erarbeitung einer Dachtheorie sprechen . . . . . . . . . . . . . . . .
163
Ethische Gründe für das Festhalten an einer Dachtheorie .
165
144
Literatur .. . ..
173
Sachwortregister
185
Personenregister
189
Inhalt von Band 2
193
6
Geleitwort von Otto F. Kernberg
Die vorliegende Arbeit ist eine orginelle Erkundung unseres gegenwärtigen Wissens über die Ätiologie, Psychopathologie, Diagnose und psychotherapeutische Behandlung von neurotischen Syndromen und dazugehörigen Persönlichkeitsstörungen, so wie wir sie in der klinischen Praxis sehen. Die Arbeit untersucht dieses weite Feld aus der Perspektive des Wissensgebietes der modernen Affekttheorie, in dem der Autor Rainer Krause in den letzten Jahren Pionierarbeit geleistet hat. Er legt eine komplexe und bahnbrechende Verbindung seiner Konzeption der Bedeutung der Affekte als relativ rezentes, phylogenetisches Kommunikationssystem, das unter anderem entwickelt wurde, um die frühen Bindungen der Säugetierspezies Mensch zu entwickeln und zu schützen, mit der gegenwärtigen psychoanalytischen Triebtheorie vor. Er untersucht die faszinierenden Beziehungen zwischen den ethologischen Instinktvorstellungen, den psychischen Motivationssystemen und Freuds dualer Triebtheorie. Er liefert dem Leser auf der Grundlage seiner empirischen Forschungen überzeugende Argumente für die Funktion der Affekte als Ausdruck von Trieben im interpersonellen Interaktionsbereich und dafür, daß diese affektiven, interpersonellen Interaktionen als Niederschlag früher, internalisierter Objektbeziehungen gesehen werden können. Seine Forschungen erhellen einen zentralen Aspekt des Übertragungsvorganges, und damit der Grundlage der psychoanalytischen Theoriebildung, nämlich die zeitgleiche Mobilisierung einer realen "Beziehung", die durch den formalen Rahmen der psychotherapeutischen, aber auch anderer Beziehungstypen bestimmt ist und, innerhalb dieser, einer unerwarteten, unbewußten Aktualisierung von verinnerlichten Objektbeziehungen der Patienten, die in der interpersonellen Transaktion Gestalt annehmen und durch die affektive Kommunikation, die ein grundlegender Teil dieser Interaktion ist, in wesentlichen Bereichen "lesbar" werden. Mit anderen Worten: unbewußte affektive Botschaften, die frühe pathogene internalisierte Objektbeziehungen reflektieren, können mit objektiven Methoden erfaßt werden, wenn man auf das affektive Ausdrucksverhalten in der Interaktion zurückgreift, das im Zusammenwirken mit der Analyse des inneren subjektiven Erlebens der Interaktion der beiden Partner eine außerordentliche Klarheit und Tiefe des Verständnisses bezüglich der verschiedenen Niveaus von internalisierten Objektbeziehungen erlaubt, so wie sie sich in der dominanten ÜbertragungsGegenübertragungsbeziehung abbilden. Rainer Krause zeigt vor allem im zweiten Band, wie durch die psychobiologische Natur der affektiven Strukturen (die hochspezifischen mimischen Ausdrucksmuster, die subjektive Erfahrungen von Lust und Schmerz, die kognitive Bewertung der Situation zusammen mit neurovegetativen Manifestationen und psychomotorischen Phänomenen) die biologische Disposition der Affektaktivierung mit den Schicksalen der frühen Objektbeziehungen, so wie sie in der Mutter-Kind-Dyade beginnen, verbunden ist. Durch den Rückgriff auf den sozialen Rahmen der frü hen Objektbeziehungen, einschließlich der psychologischen und sozialen Einflüs7
se auf die affektive Evaluierung der Realität, führt er die sozialen und kulturellen Determinanten des Affektaustausches mit ihren intrapsychischen Prädispositionen und ihren biologischen Ursprüngen zusammen. Auf diese Art und Weise schafft die allgemeine Theorie, die in dieser Arbeit entwickelt wird, einen wissenschaftlich fundierten , biopsychesoziologischen Rahmen für das Verständnis von Persönlichkeitsstrukturen, deren normale Entwicklung und Pathologie. Die theoretischen Weiterungen, die sich daraus ergeben, daß Rainer Krause das Studium der Persönlichkeitsstörungen, Psychosomatosen, der Perversionen sowie der schizophrenen Psychosen auf die Affekte und ihre Entwicklung und Aktualisierung in Beziehungen stützt, sind grundlegend. Er liefert, wie ich glaube, gewichtige Argumente für eine neue Auffassung der Triebe als hierarchisch organisierte motivationale Systeme, die sich durch die in ihrem Rahmen aktualisierten Affekte konstituieren bzw. sieht- und erlebbar werden. Affekte sind die Elemente, die die genetisch-konstitutionellen Prädispositionen mit der psychologischen Organisation der Triebe verbinden. Diese Verbindung wird in konkreten affektiven Interaktionen zwischen Selbst und Objekt hergestellt und als bewußte wie unbewußte Repräsentanzen von Subjekt, Objekt und ihrer Interaktionen dauerhaft gespeichert. Auf dieser Grundlage könnte nun endlich die Verbindung zwischen dem biologischen und psychologischen Determinismus, nach der Freud wegen des feh lenden Wissens der Biologie seiner Zeit letztendlich vergeblich suchte, auf einem neuen wissenschaftlichen Fundament hergestellt werden. Die Lösung dieser Aufgabe wird, wie ich meine, durch Krauses aufregende Forschungen und Formulierungen erle ichtert, kann er doch auf ihrer Grundlage Freuds theoretische Aussagen ebenso sorgfältig und kritisch wie sympathetisch und konstruktiv Revue passieren lassen, um sie auf die mutmaßlichen Verbindung von Trieben, Instinkten, Affekten und Objektbeziehungen zu prüfen. Wie vor allem im ersten Band deutlich wird, kann man unter Rückgriff auf das kontinuierliche, präzise "Lesen" des zeitlich hochaufgelösten, mimischen Affektausdruckes in interpersonellen Interaktionen bei gleichzeitiger Analyse der kognitiven Bedeutungen, die in der gesprochenen Sprache enthalten sind, ein außerordentlich weitreichendes Instrument entwickeln, die grundlegenden Prozesse dyadischer und speziell psychoanalytischer und psychotherapeutischer Beziehungen zu verstehen. Anhand ausführlicher, empirisch untersuchter Beispielsitzungen aus psychedynamischen Fokaltherapien kann Rainer Krause überzeugend darstellen, wie drei Beziehungstypen, die nicht ineinander überführbar sind, im therapeutischen Prozeß gleichwohl zusammenwirken und auch in der Forschung erfaßt werden müssen. Da ist einmal die extern beobachtbare manifeste Oberfläch enstruktur der Interaktion, die unter anderem aus der formalen Natur des Behandlungskontraktes abgeleitet wird. Da ist zum zweiten das durch die unbewußt aktivierte Übertragungsdisposition gesteuerte "empathische" Intentionsverstehen, das die verdrängten und dissoziierten, konfliktuösen, verinnerlichten Objektbeziehungen in der Übertragung und vor allem der Gegenübertragung aktiviert. Und da ist zum dritten die reflexive interpretative Kommunikation des Therapeuten, die die Wahrnehmung des Zusammenspiels von Übertragung und Gegenübertragung abbildet. Ausgehend von der Analyse der Verflechtungen dieser drei Interaktionsbeschreibungen nimmt Rain er Krause eine kritische Haltung gegenüber Theorien der therapeutischen Interaktion und aUgemeinen Krankheitslehren ein, die sich aus-
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T
schließlich oder vor allem auf einen der Beschreibungsmodi verlassen. Eine ausschließlich verhaltensorientierte Analyse muß die unbewußte Intentionalität, triebgebundene Konflikte und die vielfältigen Bedeutungen des Verhaltens in verschiedenen Motivationskontexten außer acht lassen. Ein ausschließlich "empathischer", intentionsverstehender, interpersoneller Zugriff auf die Übertragung/ Gegenübertragung verpaßt nur zu oft die "dritte Dimension" des intersubjektiven Feldes, die offen beobachtbares Verhalten und "empathisches" Intentionsverstehen integrieren muß. Und ein ausschließlich kognitiver hermeneutischer Ansatz verpaßt nur zu leicht den mächtigen Zugang über die subliminale affektive Kommunikation und der von ihr mobilisierten unbewußten Intentionalität des Therapeuten. Eine Beschränkung auf das manifeste Verhalten und das empathische Intentionsverstehen riskiert, die ideosynkratische Bedeutung einzelner Elemente der therapeutischen Situation zu verpassen. Durch Konzentrationen auf die ursprüngliche Stabilität der pathologischen Beziehungsmuster, die der Patient unbewußt in der Behandlungs-, aber auch in Alltagssituationen reproduziert, untersucht Rainer Krause die Grundlagen von in psychotherapeutischen Behandlungen möglichen Veränderungen. Die konfliktuöse Paradoxie der therapeutischen Si~uation sieht er darin, daß zeitgleich zur bewußten Nachfrage nach Hilfe bei der Uberwindung der Folgen dieser Muster, das Muster selbst repliziert wird. Die zu Beginn aktiven unbewußten Widerstände in allen Behandlungssituationen haben die Funktion, der pathologischen Impulsabwehrkonfiguration, die die Krankheit des Patienten ist und sie charakterisiert, Stabilität zu verleihen. Der Therapeut kann nicht vermeiden, zumindest zu Beginn in die defensiven interaktiv-affektiven Systeme der Patienten hineingezogen zu werden, die in der therapeutischen Interaktion die unbewußte verdrängte und dissoziierte Objektwelt des Patienten rekonstituieren. Der Vorgang des Intentionsverstehens ist an diese Verführung gebunden. In Behandlungen mit gutem Ausgang reagieren die Therapeuten aber nicht wie empathische Laien "reziprok", sondern nehmen eine dritte Position ein, die darauf beruht, daß er die Bedeutungen dieser affektiven Interaktionen und der in ihm induzierten Gegenübertragungsgefühle sprachlich reflektierend zurückgibt. Sein Verzicht auf die alten erwarteten reziproken Reaktionen, die technische Neutralität des Therapeuten, destabilisiert zuerst das pathologische interaktiv-affektive System. Diese Destabilisierung bringt charakteristische innere Krisen im psychotherapeutischen Prozeß zustande, die nun über das kognitiv-affektive Durcharbeitung ohne neue Inszenierungen dem Patienten erlauben, eine neue Stabilität von möglicherweise integrierteren, unbewußten Wünschen und bewußten Erwartungen zu erarbeiten. Strukturelle Veränderungen in einem psychoanalytischen Si.~ne bedeuten vor allem Änderungen in der Implantierung des vorherrschenden Ubertragungsmusters in der Beziehung und die Generalisierung dieser Veränderungen auf die Situation außerhalb des therapeutischen Settings. Für Psychoanalytiker, die an neuesten Entwicklungen der psychoanalytischen Theorie und Technik, ebenso für Psychiater und Psychologen, die an der modernen Entwicklungspsychologie und Persönlichkeitstheorie interessiert sind, haben Krauses Arbeiten eine aufregende Qualität, die von einer innovativen empirischen Basis ausgehend neue Verstehensweisen und Zugänge im Umfeld der Psychoanalyse und der psychoanalytischen Psychotherapie ermöglichen, aber auch alte endlich empirisch hart bestätigen. Die immer größere Bedeutung der Intersubjektivität im psychoanalytischen Prozeß, die Unvermeidbarkeit, ja sogar 9
Wünschbarkeil von partiellen affektiven interaktiven Implantierungen, stellen das lebendige Material für die Übertragung-Gegenübertragungsanalyse im einzelnen und die psychoanalytische Krankheitslehre im ganzen dar, die durch die affektzentrierte Untersuchung der psychotherapeutischen und von Alltagssituationen, so wie sie Krause entwickelt hat, endlich einen empirischen Zugang und damit auch eine bestätigende Fortentwicklung gefunden haben. Seine Warnungen über die Gefahren eines zu ausschließlichen Zugriffs über Verhaltens-, interpersonelle oder hermeneutische Perspektiven, aber auch seine Betonung der Wichtigkeit des hermeneutischen Zugriffs für das Verständnis individueller, ideosynkratischer Bedeutungen von Entwicklungen in den Stunden weisen zusammen darauf hin, sich in Kenntnis des Verhaltens gleichwohl nicht in die Oberflächenphänomene intersubjektiver Interaktionen hineinziehen zu lassen, sondern Kontakt zu den tieferen Bedeutungsstrukturen unbewußter Phantasien, wie sie sich im Patientenverhalten aktualisieren, zu behalten. Für den psychoanalytischen Forscher und Theoretiker sind die neuen Sichtweisen, die Rainer Krauses Arbeiten eröffnen, aufregend und fordernd. Freuds duale Triebtheorie wurde vor allem in der Theorieentwicklung der Vereinigten Staaten heftig kritisiert und vor allem in Frankreich und Großbritannien ebenso heftig verteidigt. Krauses systematische Analyse der Entwicklung der psychoanalytischen Theorie von Trieben und der biologischen Theorien von Instinkten kulminiert natürlicherweise in der Erforschung der Affekte als Brückenkonzept, das die biologischen Instinkte mit der dualen Triebtheorien verbindet, also den hierarchisch organisierten unbewußten Motiven, die die Natur der unbewußten Konflikte bestimmen und und organisieren. Der Zugang über die Erforschung der Affekte eröffnet Wege zur Erweiterung und Neugliederung unseres Wissens über die Wechselwirkungen von biologischen Dispositionen und frühen psychischen Erfahrungen. Die parallele Analyse affektiver und kognitiv-sprachlicher Kommunikation in der psychotherapeutischen und Alltagssituation weist uns darauf hin, wie wichtig es ist, empirisch beobachtende mit hermeneutischen Zugriffen zu verbinden, sowohl in der klinischen Situation als auch der Forschung; Ansätze, die ja als weit von einander, wenn nicht gar als gegensätzlich dargestellt wurden. Eine weitere faszinierende Folge von Rain er Krauses Forschungszugang über die affektive Kommunikation liegt in der Vertiefung unseres Verständnisses von Abwehrvorgängen, die im zweiten Band ausführlich dargestellt wird. Im ersten zeigt er auf, wie eng das Affektmanagement mit der klinischen Situation, aber auch der Perpetuierung der Störungen verknüpft sind. So hat z. B. seine Erforschung der affektiven Kommunikation zwischen psychisch gesunden und kranken Personen den Mechanismus der projektiven Identifikation empirisch aufgewiesen: zugrunde liegt eine körperliche, beispielsweise mimischaffektive Signalsierung von entwertenden Affekten, die von den Patienten selbst nicht, von ihren Partnern aber sehr wohl wahrgenommen werden. Letztere, die selbst nichts ausdrücken, registrieren in sich den unerträglichen Affekt, den die Patienten nicht tolerieren konnten und in ihre Partner "projiziert" haben. Die bloße Tatsache, daß solche zentralen psychodynamischen Mechanismen in ihrem Funktionieren geklärt und bestätigt werden können, sollte die Erforschung der psychoanalytischen Situation selbst bereichern. Krauses gegenwärtige Arbeit stellt, um es kurz zu fassen , einen hochbedeutsamen Beitrag zur psychoanalytischen Wissenschaft und Praxis dar sowie einen gewaltigen Anstoß für die weitere 10
Forschung entlang der neuen Blickwinkel und Wege, die er eröffnet hat. Den psychoanalytischen, aber auch den kognitiv-verhaltenstherapeutischen oder humanistisch orientierten Therapeuten werden Instrumente zur Verfügung gesteHt, die Dynamik, die ihren Techniken zugrunde liegt, zu untersuchen und besser zu verstehen. Die Arbeiten werfen ein neues Licht auf die PersönJichkeitstheorien, die sie ihren Techniken unterlegten. Schließlich sollten diese beiden Bücher das Zusammenspiel zwischen Psychoanalyse und den Nachbarwissenschaften Im sozialpsychologischen und biologischen Umfeld starken .
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Vorwort
Das Werk besteht aus zwei Bänden. Im ersten werde ich mich mit den Grundlagen der psychoanalytischen Theoriebildung beschäftigen. Darunter verstehe ich ein genaues Verständnis der Situation, aus der die Theorie entstanden ist. Diese Situation ist die Psychotherapie bzw. die Psychoanalyse als eine sehr spezielle Beziehung zwischen zwei, manchmal auch mehr Menschen. Im wesentlichen ist der erste Band um das Verständnis dieser Situation zentriert. Wir werden uns fort laufend fragen, welche Arten von Theorien man aus dieser Situation heraus entwickeln kann, welche Beobachtungs- und Verstehensmethoden in ihr implizit enthalten sind und wie sich deren Anwendung von Alltagssituationen einerseits und von der Forschung andererseits unterscheidet. Wir werden uns mit der experimentellen und teilnehmenden Beobachtung sowie der Hermeneutik beschäftigen. All dies geschieht an Fällen, die wir in Längsschnittuntersuchungen so genau wie möglich mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft erforscht haben. Ich trete selbst als untersuchter Analytiker auf, um zu erklären, wie man sich die Verbindung der Innensicht mit der d~s experimentell arbeitenden Forschers vorstellen kann. Ein großer Teil unserer Uberlegungen wird sich damit beschäftigen, welche Aussagen man von der analytischen Situation ausgehend nicht machen kann. Die meisten Modelle der Metatheorie sind aus der psychoanalytischen Situation alleine heraus nicht zu entwickeln. Wenn dies geschieht, sind sie Metaphysik. Freud hatte den Titel Metatheorie sehr bewußt zur Kennzeichnung des Spekulativen dieses Teils seiner Überlegungen gewählt. Im zweiten Band werden wir uns dann mit diesen Spekulationen, immer unter diesem Vorbehalt, beschäftigen. Dies soll exemplarisch an vier Teilmodellen geschehen. Im ersten geht es um Triebe und Affekte, mein eigentliches Forschungsgebiet. Hier können wir relativ direkt am ersten Band und der dort besprochenen Psychotherapieprozeßforschung anknüpfen. Da geht es um sehr grundlegende Fragen unserer Natur und Kultur, die ohne Rückgriff auf die Biologie nicht zu beantworten sind. Das soll dort versucht werden. Im zweiten Kapitel geht es um die Entwicklungspsychologie. Ich habe die klassische Theorie der Sexualentwicklung noch einmal genau aufgerollt, weil sie m. E. zu Unrecht nicht mehr gelehrt und verstanden wird. Dann werden wir uns mit den Babyforschern auseinandersetzen und den in ihren Arbeiten enthaltenen epistemologischen Problemen. Im dritten Kapitel geht es um die Neukonzeption der Abwehrlehre und der Gegenüberstellung der Affektabwehr, Besetzungsabwehr und der klassischen Abwehrmechanismen. Im letzten Kapitel werden wir uns schließlich mit dem Unbewußten, oder weniger literarisch ausgedrückt, dem Gedächtnis beschäftigen. Dabei geht es um sehr aktuelle Dinge, wie Trauma und Erinnerung, oder akademisch psychologisch, um das Verhältnis von En- und Decodierung, um die Affekte und die Erinnerung, und um so schwierige Dinge wie die Unterscheidung der Auswirkung verdrängter Realtraumata und unbewußter Phantasmen. Mit zwei synoptischen Modellen wird dieses Kapitel abgeschlossen werden. Dann werde ich noch ein wenig spekulieren, wohin sich die
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Psychoanalyse entwickeln sollte, wohin sie sich wahrscheinlich entwickeln wird, und was wohl aus der deutschen Psychoanalyse nach der Vereinigung werden wird. Das schließt den Versuch einer Beantwortung der Fragen ein, warum wir unsere so großen Potentiale kaum genutzt haben . Schwere, wenn auch hoffentlich professionell abgesicherte Zweifel durchzogen die Entstehung dieses Buches. Sie sind hoffentlich im Text noch erkennbar, denn sowohl als Wissenschaftler wie auch als Analytiker fühle ich mich dem Zweifeln und Hinterfragen verpflichtet. Als Analytiker haben wir es mit den Auswirkungen der teilweise unbewußten psychischen Realität unserer Patienten auf ihr Selbstverständnis und ihre Symptombildung zu tun. Wir selbst sind von ihnen nicht nur in der Behandlungsführung, sondern auch in der Theoriebildung ebenso davon betroffen. Die jüngere Geschichte der psychosomatischen Medizin läßt deutlich werden, daß die unbewußten Phantasmen der votwiegend männlichen Forscher/Therapeuten nicht weniger Einfluß auf die Theoriebildung und Epidemiologie hatten als die ebenfalls historisch wechselnden Lebensbedingungen und Traumata (Shorter 1994). Wenngleich die Psychoanalyse geltend machen kann, eben diese Zusammenhänge aufgerollt zu haben, unterliegt sie ihnen doch selbst. Aus diesem Grund habe ich im zweiten Teil des Buches -von Freuds Texten ausgehend - eine wissenschaftsgeschichtliche Einbettung unserer Theorien versucht. Dies geschah unter anderem in der Absicht, der Hybris eines Modernismus vorzubeugen. Die "moderne" Psychoanalyse, ebenso wie die "moderne" Forschung, läßt sich vor allem dadurch kennzeichnen, daß die nachfolgende Generation ihre Irtwege noch nicht aufgedeckt hat. Aus diesem Grunde möchte ich hier nicht ex cathedra als moderner Wissender schreiben, sondern als ein um Wissen Bemühter, der versucht, in einer bestimmten historischen Epoche Klarheit zu finden. Zu dieser Klarheit gehört es, die psychoanalytischen Theorien, seien sie nun Freudianischer, K.Jeinianischer oder Schultz-Henkeschianer Prägung, auch als Ausflüsse der unbewußten psychischen Realität ihrer Autoren zu sehen, d. h. man sollte sie so wenig glauben, wie man die von der psychischen Realität geformten Mitteilungen unserer Patienten so nehmen muß, wie sie getextet werden. Verstehen und Mitfühlen ist angezeigt, nicht Glauben. Unsere Theorien sind Abschnitte aus der Schöpfungsgeschichte unserer Wissenschaft und nur für bestimmte Perioden "stimmig". Dann verlieren sie ihre integrative und heuristische Kraft und werden, sofern sie "geglaubt" werden müssen, zu antiaufklärerischen toten Texten. Welchen Status unsere Theorien haben, steht nicht im Votwort der Texte. Das mühsame Ringen, das die Entstehung dieses Buches für mich bedeutet hat, ist kennzeichnend für meine Vorgehensweise. Die kann man in etwa so beschreiben: Ich finde fast alle Theorien interessant und anregend und bewege mich gerne in ihnen, wenn sie nicht gar zu trivial oder abwegig sind. Für die Abschätzung ihrer Geltungsbereiche ziehe ich allerdings die Methoden empirischer Forschung in all ihrer Begrenztheit vor und heran, wohl wissend, daß diese Methoden auch Mythen darstellen, aber, als Gegengift gegen die analytischen angewandt, erlauben sie manchmal eine vernünftige Synthese und Fortentwicklung. Gleichwohl sind meine Zweifel gegenüber der Praxis der empirischen Wissenschaft nicht geringer als die gegenüber der praktizierten Analyse. Die Neigung der ersteren, den Gegenstand mit der bevorzugten Methode zu identifizieren, hat zu galoppierenden Realitätsverlusten geführt. Man findet "moderne" Lehrbücher der Allgemeinen Psy14
chologie, in denen sich die Affekte, die Sexualität und was es da sonst noch methodisch Unsauberes gibt, aus dem Stichwortverzeichnis hinausgestohlen haben (Spada 1990). Der das Buch durchwehende kognitive Zeitgeist ist wenig geneigt, die Hardware der Symbolverarbeitung, also unsere biologische Natur, zu würdigen. Die eigentliche Grundlage stellen Computermodelle der Infomationsverarbeitung, bei denen "auf der Rechnerseite die Hardware-Ebene auch nicht direkt ins Blickfeld kommt", dar (Spada 1990, S. 12). Diese Modellbildung jenseits des Biologischen, zusammen mit ein er Methode der Wissensakkumulierung durch Aggregierung von Parametern über viele Versuchspersonen hinweg, ohne Berücksichtigung des diachronen und synchronen Kontextes der Individuen, halte ich dem Gegenstand unserer Wissenschaft, nämlich dem Menschen, kaum oder gar nicht angemessen. Durch Statistiken hat man selten Neues entdeckt. Ihre Methoden stehen im Kontext der Verifikation, nicht der Entdeckung. Dort haben sie auch ihren Platz. Meine eigenen Forschungen stammen samt und sonders aus meiner klinischen Praxis. Dort ist die Quelle der Inspiration, der Theoriebildung, aber auch des Nichtwissens. Ab einem bestimmten Punkt mußte ich immer die klinische Praxis verlassen und eine zu den Fragen der Praxis passende Methodologie und dann noch die zur Durchführung notwendigen Mittel beschaffen. Das war eigentlich die Hauptarbeit. Selten paßten die existierenden Verfahren zu meinen Fragen, und wenn es um Finanzen ging, tat man gut daran, sich eine zweite nichtanalytische Denkweise anzugewöhnen. Das hat mir keineswegs geschadet. Die analytische Sprache ist eine klinische und in ihrem Metaphernreichtum und ihrer Verwilderung keineswegs wissenschaftlich. Da ich nun selbst seit Jahren lange und kurze Analysen praktiziere, habe ich immer in dieser Spannung zwischen "Wissen" und seiner "Verifikation" gelebt. Meist hat mich diese Position bereichert, aber oft war es auch ziemlich einsam, auf jeden Fall immer ein Kraftakt. In meiner eigenen Analyse habe ich verstehen gelernt, wie intensiv diese Lebenskonstellation in meiner Kindheit und Jugend wurzelt, in der meine Eltern, beide Ärzte, mir dieses äußerst spannungsvolle Verhältnis zwischen Forschung und Praxis vorlebten. Der Vater, ein Wissenschaftler von ganzem Herzen, der der politischen Wetterlage wegen Landarzt wurde, experimentierte mit allem möglichen und unmöglichem, studierte alle ihm zugänglichen sogenannt "harten" Sachen und piesackte uns Kinder nicht gerade selten mit deren Vortrag. Meine Mutter, die Frau Doktor des Dorfes, war eine herausragende Persönlichkeit, die den Placeboeffekt fast aller wissenschaftlichen Neuerungen für überwältigend hielt, und sie eben deshalb nicht verschrieb. "Da machen wir am beschten gar nichts", war ihre Devise, wobei gar nichts natürlich ein intensives Gespräch und die Aufdeckung der seelischen Untergründe bedeutete. Ihnen beiden habe ich dieses Buch gewidmet. Ihre Beziehung, dietrotzihrer Spannungen über 60 Jahre bis zum Tode der Mutter gehalten hat, und mir fünf außerordentlich interessante, fordernde und liebenswerte Geschwister geschenkt hat, mußte ich in meinem Leben in der oben geschilderten Konstellation nachspielen, oft ungern, aber doch mit wachsendem Stolz und nie versiegender Neugier. Das viele Elend, das ich in einer so langen Laufbahn wahrnehmen mußte und in mir herumtrug, war mir immer Ansporn, uns als die Urheber eben dieses Elends besser zu verstehen, anzunehmen und zu verändern. Ich hatte das Glück, immer Menschen zu finden, die mit mir ähnliche Ziele verfolgt haben. An erster Stelle steht, wie sollte es anders sein, meine Frau, Kontorseherin und -therapeutin Dr. Evelyne Steimer-Krause. Es ist mir noch heute
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ein Rätsel, wie es sein kann, daß man mit einem soJchen Menschen beschenkt wird. Ich gedenke es nicht zu lösen, sondern dankbar anzunehmen. Die Professo ren Mühle und Maser, meine geliebten Doktorväter, die Professoren Kaminski und Bischof, deren Arbeiten und Denkweise mich tief geprägt hat, und dann meine Saarbrücker Kolleginnen und Kollegen Boesch, Eckensberger, beides Universalgelehrte, Tack und Engelkamp, scharfe Denker und harte Experimentatoren. Eine bessere Schulung und Feuertaufe als die Diskurse mit ihnen kann man sich nicht denken. Schließlich die Freunde und Kolleginnen Dr. Kessler und Dr. Schneider-Düker, die mit mir die klinische Praxis teilten und mich in den Stunden der Niederlagen aufbauten. Die vielen anglo-amerikanischen Kollegen Buck, Ekman, Emde, Feldstein, Fonagy, Friesen, Kernberg, Luborsky und Sandler haben mir ihre Methoden und Denkweisen nahegebracht, pragmatisch effizient und freigiebig, wie es dort eben so die Art ist. Von den hiesigen Kollegen, die mich beraten oder geschult haben, seien besonders erwähnt Prof. Rain er Bastine, Birgit Barth, Dr. Karin Bell, Dr. Arno von Blahrer, Prof. Peter Buchheim, Dr. Martha Eicke, Prof. Peter Fiedler, Prof. Michael Geyer, Prof. Anneliese Heigl-Evers, Prof. Franz Heigl, Prof. Horst Kächele, Prof. Fritz Meerwein, Prof. Adolf-Ernst Meyer, Dr. Berthold Rothschild, Dr. Rainer Sandweg, Prof. Siegtried Zepf, Prof. Helmuth Thomä, Prof. Klaus Wanke, Prof. Andre Haynal, Prof. Eva J aeggi, Prof. Christa Rhode-Dachser. Allen meinen Mitarbeitern, die an unseren Projekten mitgearbeitet, mich beraten, Korrektur gelesen und geschrieben haben, sei herzlich gedankt. Es sind dies die Damen und Herren Thomas Anstadt, Cord Benecke, Barabara Haack, Ute Mengele, Dr. Jörg Merten, Burkhard Ullrich, Dr. Evelyne Steimer-Krause, Joachim Wutke und vor allem meine Sekretärin Frau Elisabeth Hassankhani, die meine Neigung zu verzweifelten Wutanfällen angesichtsder Situation unserer deutschen Universitäten mütterlich wohlwollend abgefedert hat.
Rainer Krause im Winter 1996/1997
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1 Allgemeine Einführung in den Gegenstand und die Absicht des Buches
1.1 Einleitung Die allgemeine Krankheitslehre beschäftigt sich mit grundlegenden Fragen psychischer Erkrankungen. Sie stellt den Versuch von Psychoanalytikern dar, eine allgemeine Krankheitslehre psychischer und psychosomatischer Störungen aufzubauen. Ein solches Vorhaben kann, sofern es wissenschaftlich sein soll, nur vorläufig und unvollkommen sein, denn es muß stets die Befunde der sich rasch ändernden Nachbarwissenschaften integrieren, als da sind Psychologie, Soziologie, Biologie und die vielen Teildisziplinen der Medizin. Von den Nachbarwissenschaften aus betrachtet, kann man soziologische oder medizinisch-somatische Krankheitslehren aufstellen, die den psychoanalytischen Vorstellungen nicht entsprechen müssen. Im besten Fall sind die Befunde des einen Systembereiches Eingangs- oder Ausgangsgrößen für den anderen. Eine somatische Theorie des Alkoholismus z. B. kann als Eingangsgröße bestimmte psychologisch zu definierende Persönlichkeitstypen haben, die sich auch in bestimmten Bereichen ihres physiologischen Reagierens unterscheiden (Rost 1987). Trinkt der eine zur Sedierung unerträglicher Affekte, tut der andere das gleiche, um ohnehin vorhandende positive Gefühle zu steigern (Tomkins 1962, Tomkins 1991, Voigtel1996). Die psychoanalytische Behandlung Drogensüchtiger zeigt, daß die spezifische pharmakologische Wirkung und die mit ihr verbundenen spezifischen Rituale der Anwendung der Drogen selektiv benutzt werden, um ebenso spezifische Phantasien zu induzieren, aufrechtzuerhalten und gleichzeitig zu kontrollieren (Hopper 1995). So werden Aufputschmittel zur Stabilisierung und Kontrolle gewalttätiger Herrschaftsphantasmen, Heroin jedoch eher zur Herstellung symbiotischer Phantasmen benutzt. Es wäre naiv anzunehmen, die pharmakologische Wirkung sei von den Phantasien, zu deren Handhabung sie eingesetzt wird, unabhängig. Sie ist ein kompliziertes Mischungsverhältnis der Wirkung der Phantasien und des mit ihnen verbundenen Affektes und des Giftes. Der Persönlichkeitstyp als Moderatorvariable ist wiederum auf soziologische Eingangsgrößen angewiesen, denn die unerträglichen Affekte, die durch das "Gift" sediert werden müssen, können aus typischen verinnerlichten sozialen Beziehungen und Normen stammen. Der eine mag trinken, um den unerträglichen Anforderungen seines Gewissens zu entkommen, das sich als Schuld und Versagensgefühl niederschlägt, der andere, um unerträglichen Leeregefühlen etwas entgegenzusetzen, welche der verinnerlichte Niederschlag fehlender Beziehungserfahrungen sein können (Wanke & Bühringer 1991). Solche überdauernden Zustände als Eingangsgrößen von Erkrankungsprozeßen kann man als den Niederschlag von Strukturen, wie Gewissen, Überich, lchideal, oder von emotional scripts verstehen (Tomkins 1991). Wichtig ist an dieser Stelle nur, daß diese Begriffe ohne eine soziologische Theorie der Verinnerlichungen keinen Sinn machen. Das gleiche gilt für die Identifizierungen genann17
ten Formen der Verinnerlichungen sozialer Geschehnisse. Man kann nicht über Transvestitismus, Perversion und Sexualität reden, ohne die kulturell definierten identifikatorischen Muster - in die die Phantasien und Handlungen eingebettet sind -zu kennen (Stoller 1991). Dies wird hier eingeführt, um dem Irrtum vorzubeugen, es gebe nur eine und dann noch eine richtige Krankheitslehre. Die Krankheitslehre muß partiell immer neu geschrieben werden, einmal wegen der neuen Erkenntnisse der Nachbarwissenschaften, zum anderen wegen der sich verändernden Sozietät. Der Ansatz kann ebenso wie das biopsychosoziale Rahmenmodell (Engel1980) aus der allgemeinen Systemtheorie abgeleitet werden. Systeme sind demnach Ausschnitte der Realität, die einerseits durch das Erkenntnisinteresse ausgewählt werden und sich andererseits durch ihre Selbstorganisation von ihren Nachbarsystemen unterscheiden. Wie später zu zeigen sein wird, ist das Spezifische der psychoanalytischen Krankbeitslehre, daß sie sich mit dem Systembereich der bewußten und unbewußten inneren Abbildungen somatischen, psychischen und vor allem sozialen Geschehens und deren Auswirkung auf das Fühlen, Handeln und Interagieren, beschäftigt. Es handelt sich also in wesentlichen Bereichen um eine kognitive oder- in analytischen Begriffen - um eine Theorie der mentalen Innenwelt, die zwar im Umfeld von Erkrankungen entstanden ist, aber trotzdem Allgemeingültigkeit beansprucht. Es wird in ihr auch kein qualitativer Unterschied zwischen gesund und krank postuliert, vielmehr werden die Erkrankungen aus den Gesetzmäßigkeiten der "normalen Seelentätigkeit" abgeleitet. Am nächsten verwandt ist die Modellbildung m. E. mit derjenigen der personalen Konstrukte von Kelly (1963) einerseits und den interpersonellen Modellen andererseits (Anuchin & Kiesler 1982), die eher zirkuläre Netzwerke als lineare Kausalität beanspruchen. An zwei Formen kausaler Beeinflussung wird festgehalten. Einmal wird angenommen, daß das von Phantasien gesteuerte Verhalten der Elterngeneration in Form eines noch zu besprechenden Verinnerlichungsprozesses neben vielem anderen die Phantasien und Verhaltensweisen der nachfolgenden Generation bestimmt. Das heißt, die interpersonalen Beziehungen mit der Elterngeneration einer bestimmten Entwicklungsperiode kehren als intrapsychische Konfliktbereitschaften und damit als handlungssteuernde Phantasmen und gleichzeitig als interpersonelle Störungen wieder. Somit wäre jede psychische Störung anteilmäßig als Beziehungsstörung zu definieren, was der Theorie eine Integration der modernen Familien- und Interaktionsforschung erlauben sollte (Emde 1991, 1992, Hahlweg et al. 1988). Die zweite Kausalvorstellung geht davon aus, daß es bestimmte Typen von Konflikten im mentalen Bereich gibt, die das Erleben und Verbalten der von ihnen Betroffenen in spezifischer Weise festlegen und damit auch die Symptome beeinflussen. In diesem Sinne ist das psychoanalytische ModelJ ein "medizinisches" Modell. Die Symptome sind Folgeerscheinungen anderer Prozesse und nur beschränkt aus sich selbst heraus versteh- und vorhersagbar. Sie sind auch durch diese dahinterliegenden Prozesse determiniert. Damit ist aber nicht gesagt, daß alles Verhalten determiniert sei. Die deterministische Annahme beschränkt sich auf den pathologischen Bereich des Menschen, wobei die folgende Gesetzmäßigkeit gilt: Je schwerer die Erkrankung, desto höher ist die Vorhersagbarkeit und Determiniertheit des Geschehens. Wenn man die Theorie der personalen Konstrukte, die davon ausgeht, daß eine Person psychologisch
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dadurch, wie sie Ereignisse vorwegnimmt, gesteuert wird, als Modell nimmt, könnte man die psychoanalytischen Erklärungen von Pathologien als unbewußte Vorwegnahme von als absolut sicher eingeschätzten Ereignisabfolgen betrachten. In einem solchen Sinne funktionieren unsere Patienten streng deterministisch. In bestimmten Bereichen ihres Seelenleben gibt es 100 Prozent Gewißheiten, daß, wenn sie x tun, y passieren wird, zum Beispiel, wenn sie sich auf eine Liebe einlassen, sie unabweislich früher oder später fallengelassen werden. Die Liste dieser Gewißheiten ist nicht unendlich. Sie ist durch die Anzahl möglicher menschlicher Wünsche und deren Behandlung durch die anderen und den Kranken selbst begrenzt. Barber, Crits-Christoph & Luborsky (1990) haben unter Verwendung der üblichen clusteranalytischen Verfahren eine Liste von acht Wünschen, acht Reaktionen anderer und acht Reaktionen der Person selbst erstellt. Diese Wünsche und die möglichen Reaktionen sind wenig geheimnisvoll und originell, demzufolge sind die psychischen Störungen in ihren Gesetzmäßigkeiten auch relativ trivial. Für die Patienten bedeutet das Herausfinden der lehrbuchhaften Anteile ihrer scheinbar so chaotischen Lebensprozesse eine Entlastung und narzißtische Kränkung zugleich. In Rahmen anderer, verwandter Theorien wird an dieser Stelle mit Rollenbeziehungsmodellen (L. M. Horawitz 1994), Plänen (Curtiss, Silberschatz, Sampson & Weiss 1994) oder Schemata (Grawe 1987) operiert. Der sogenannte Wiederholungszwang ist die psychoanalytische Ausformulierung solcher Konstrukte. Eine zweite affine Modellbildung findet man in denjenigen Handlungstheorien, in denen die Handlungen selbst symbolische bewußte und unbewußte Bedeutungen haben können, die als Phantasmen beschreibbar sind. Solche Phantasmen strukturieren die Handlungsfelder nicht nach sachlichen Gesichtspunkten, sondern nach einer unbewußten, subjektiv begründeten Valenz-Topographie. Desgleichen gewinnen sogenannte Reize, seien sie äußerlich perzeptiver oder innerlich interozeptiver Art (Vaitl 1995), ihre Wirkungsmacht durch die Natur des unbewußt phantasierten Handlungsfeldes, in das sie eingebettet werden (Kaminski 1970, 1978; Boesch 1976, 1991). Um beim oben eingeführten Beispiel der Drogensucht zu bleiben, kann man feststellen, daß das Ritual der Applikation der Drogen in solche unbewußten Handlungstopographien eingebettet ist. Schnupfen, Spritzen, Trinken sind als rituelle Handlungen in ihrer unbewußten Valenz höchst unterschiedlich. Die metaphorische Gleichsetzung von "Schießen" und "Spritzen" mag dies deutlich machen. Das schließt Konditionierungsprozesse ein, in deren Verlauf ein Reiz eine solche unbewußte subjektive Valenz bekommt. Beispielsweise hatten 70 Prozent der 223 heroinabhängigen Patienten des Nordrheinwestfälischen Methadonsubstitutionsvorhabens eine weitere psychiatrische Störung aufzuweisen, die dazu führte, daß sie auf die sozialpsychologischen Rahmenbedingungen des Programms sehr stark und unterschiedlich ansprachen. Eine rein metabolische Theorie der Opiatabhängigkeit ist vor diesem Hintergrund stets reduktionistisch (Scherbaum & Heigl-Evers 1996). Wir betrachten experimentelle Ansätze, die diese von jeder Person neugeschaffene Situationsdefinition nicht berücksichtigen, als dem Gegenstand der zwischenmenschlichen Beziehung und dem der Behandlung von Erkrankungen nicht angemessen. Patienten mit somataformen und hypochondrischen Störungen scheinen mehrdeutige Körpersignale rasch als Zeichen allgemeiner körperlicher Schwäche und Krankheit zu interpretieren (Rief 1996). Man kann also in dieser spezifischen 19
Interpretationsneigung und einer erhöhten somatosensorischen Wahrnehmungsbereitschaft einen möglichen Faktor zur Verstärkung, Entstehung oder Aufrechterhaltung von hypochondrischem und somatoformem Verhalten sehen (Margraf 1989). Man kann dies möglicherweise auch als eine automatisierte erhöhte Selbstbeobachtung verstehen (Lieb und Margraf 1994). Die psychoanalytische Theorie würde sich darüber hinausgehend dafür interessieren, wie diese Neigung zu erhöhter Selbstbeobachtung mit den unbewußten und bewußten Phantasien, z. B. narzißtischer oder posttraumatischer Herkunft der Personen verbunden ist (Barsky & Wischak 1990, Rosenfeld 1984). Es ist also nicht so, daß sich die Psychoanalyse für den Zusammenhang von Hypochondrie und veränderter Introzeption nicht interessieren würde, aber sie würde den möglichen Zusammenhang zwischen Selbstwertregulation und Selbstbeobachtung zusätzlich zum Gegenstand ihrer Forschung machen.
1.2 Gesund und krank, psychisch und körperlich Ich strebe in diesem Buch nicht an, die Bedeutung von psychisch vs. somatisch einerseits und Krankheit vs. Gesundheit andererseits definitorisch festzulegen. Häufig werden Gesundheitsbegriffe angeführt, die sich an statistischen, funktionalen oder sozialen Normen orientieren. Jedes dieser Verfahren für sich ist notwendig, aber keineswegs ausreichend zum Verständnis von Krankheitsprozessen (Bastine 1990). Statistische, an Normen orientierte Krankheitsbegriffe findet man allenfalls bei geistigen Behinderungen, die manche Autoren nach dem Intelligenzquotienten in leicht (50 bis etwa 70), mäßig (35-50), schwer (20-40) und schwerst (unter 20) einteilen (Dilling, Mornbour & Schmidt 1992). Es läßt sich zeigen, daß statistische Normabweichungen allein als Bezugssystem für Erkrankungen nicht taugen. Die extreme Abweichung eines Merkmales, wie zum Beispiel der Intelligenz, um einen als Zentraltendenz definierten Wert per se ist kein Merkmal einer Erkrankung, sondern Ausfluß der natürlichen Streuung, die man bei sozialen und vielen biologischen Merkmalen findet. Vor diesem Hintergrund ist eine Intelligenzminderung ebenso wenig eine Erkrankung wie eine Hochbegabung. Aus pragmatischen Gründen mag es geeignet sein, solche Erscheinungen als psychische Störungen oder als Erkrankung zu definieren, aber solche Definitionen sind an die Rolle des Gesunden gebunden. Wenn die betreffenden Personen die "Kulturtechniken" Lesen, Schreiben und Sich-anständig-Ausdrücken beherrschen sollen, muß man die Grenze anders legen, als wenn der Umgang mit Tieren, wie z. B. bei Sennen, die wesentliche Kulturtechnik darstellt. Eine Definition von Erkrankung als Abweichung von einer wie auch immer empirisch gefundenen oder gedachten optimalen Funktion allein ist ebensowenig tragfähig wie eine Ori entierung an statistischen Nonnen. Auch bei funktional abweichendem Verh alten muß definiert werden, welche Funktionsabweichungen als gestört und welche als normal zu gelten haben. Offensichtlich sind die jeweiligen Definitionen sehr eng mit dem aktuellen Wissen in der Medizin und der Psychologie verbunden. Wenn man die Ursachen einer Funktionsabweichung einmal kennt, wird man nicht mehr bereit sein, sie als Variante des Lebens hinzunehmen. So betrachtet, sind alle für 20
unser Fach zentralen Begriffe dauernd im Fluß. Krank- und Gesundsein ist also ein biopsychosoziales Phänomen und in diesem Rahmen u. a. eine bewußte und unbewußt definierte Rolle, die in Teilen normativ gefaßt wird. Jede historische Epoche modelliert sich ihre eigenen Krankheitstheorien und Symptome, die wiederum mit den Phantasmen der Forscher und Theorienbauer zusammenhängen. Shorter (1994) zeigt dies anband der Geschichte der psychosomatischen Medizin auf. Man ist tief beeindruckt von der Abstrusität und Verrücktheit der wissenschaftlichen Theorien und entsetzt über die aus ihnen abgeleiteten weit verbreiteten Behandlungsformen. Was soll man von männlichen Wissenschaftlern halten, die entdeckt hatten, daß überreizte weibliche Geschlechtsorgane reflektorisch das Gehirn der Frauen affizieren würden und in der Folge dieser "Entdeckung" die operative Gynäkologie als psychiatrisches Behandlungsmittel einführten, um zahllose Patientinnen an Klitoris, Schamlippen oder der Gebärmutter chirurgisch oder mit Brenneisen zu verstümmeln. Solche sich wissenschaftlich gebärdende Formen kollektiven Wahnsinns sind keineswegs auf die somatischen Behandlungen beschränkt. In einem völlig überbordenden esoterischen Psychomarkt werden immer mehr Kranke und psychisch gestörte Menschen zu "Therapeuten" ausgebildet, die dann beispielsweise sexuelle Beziehungen mehr oder weniger offen als psychotherapeutisch begreifen und anbieten und eben dafür wiederum gestörte Menschen gewinnen können. Allein in einem Heft der Zeitschrift "Psychologie heute" von 1994 wurden in 99 Annoncen 219 Ausbildungsangebote für Behandlungsformen wie sky dancing tantrafür Ekstase und Liebe, die teilweise im redaktionellen Teil als Unsinn decouvriert werden, angeboten (Asmus & Hoffmann-Richter 1996). Normative Setzungen von Krankheit sind zwar manchmal aus administrativen und rechtlichen Gründen notwendig, aber sie sind selten wissenschaftlich ohne Zweifel. Für den Psychoanalytiker und den klinischen Psychologen ist diese bewußte und vor allem die unbewußte unspezifische und krankheitsspezifische Rolle von ebenso großem Interesse wie der pathogene Prozeß, so es denn einen gibt, selbst. In manchen Fällen schafft sich die Rolle ihre je eigene Pathologie, ohne daß man ein Substrat finden könnte. Darauf haben Theoretiker wie Szasz (1979) hingewiesen, die meinten, die Kategorisierung, Benennung und Behandlung von Verhalten schaffe sich erst die Erkrankungen, die sie dann später behandle. Das Problem ist zweifellos vorhanden, aber wie wir später sehen werden, haben wir Grund zu der Annahme, daß sich auch die Gesunden und die Ärzte an die psychisch Erkrankten ganz unbemerkt anpassen. Der individueUe Leidensdruck ist, wie wir später sehen werden, auch kein ausreichendes Merkmal für die Definition einer psychischen Erkrankung, weil manche Erkrankte andere leiden machen, aber selbst dabei nicht leiden, ohne sich gegen beides wehren zu können. Im Umfeld von Soziopathien findet man zweifellos solche Phänomene. Andere Patienten, wie die an einer manischen Episode erkrankten, zeichnen sich durch einen scheinbaren Exzeß an subjektivem Wohlbefinden aus, der allerdings in eine Form von sehr zerstörerischer Intentionalität einmündet. Wegenall dieser Einschränkungen scheint es sinnvoll, die bewußte und unbewußte Rolle des Krankseins einer je einzelnen Person in einer gegebenen Kultur mit dem Wissen der Experten dieser Kultur als Rahmen zu wählen. Der Soziologe Parsans (1968) z. B. definiert die Rolle des Kranken wie folgt: 21
"Eine offiziell, anerkannte verallgemeinerte Störung der Fähigkeit des Individuums zur normalerweise erwarteten Aufgaben- und Rollenerfüllung, deren Überwindung nicht durch einen Willensakt geschehen kann, und die als Grundlage zur Befreiung des kranken Individuums von seinen normalen Verpflichtungen gilt, unter der Voraussetzung, daß der Kranke den Zustand als unnatürlich ansieht und kompetente Hilfe sucht." (S.l41)
Die Legitimation der Rolle hängt daran, daß der Kranke den eigenen Zustand als nicht wünschenswert ansieht. Daraus ergeben sich eine ganze Reihe von Problemen im sslzialpsychologischen Umfeld, wie die Diskussion um die höheren Beiträge der Ubergewichtigen und Risikosportler zur Krankenversicherung gezeigt haben. Diese kulturelle RoHendefinition als legitimer Zustand der Befreiung von den normalen Rollen verkoppelt den Erkrankungszustand sehr eng mit dem der "normalen" Rolle der Arbeitswelt. So übersteigen die Krankheitsabsenzen der Prüfungskandidaten der Psychologie meiner Universität den allgemeinen Krankenstand der Bevölkerung um nahezu 40 Prozent. Dies liegt- wie die Studenten selbst versichern- nicht unmittelbar an dem erkrankungsfördernden Umfeld einer Prüfung, sondern daran, daß eine vom Studenten als mangelhaft angesehene Vorbereitung vor der Prüfung nur durch die Rolle des Kranken während der Prüfung egalisiert werden kann. Daß viele dann pflichtschuldigst auch noch wirklich krank werden, läßt einen Zusammenhang zwischen Schuld/Sühne und Krankenrolle vermuten. Was die unbewußte Rolle des Krankseins betrifft, gibt es ganz unterschiedliche Möglichkeiten. Viele Personen erleben Krankheit unbewußt als schuldhaft und eine wie auch immer geartete Vergeltung, andere als Zugang zu einer ansonsten verwehrten Regression und Hingabe (Hinderling 1981). Es gibt eine Gruppe von Patienten, ,Artefakt'- oder Münchhausenpatienten genannt, die sich aktiv selbst verletzen, um in die Rolle des Kranken zu geraten. Diese Gruppe von Patienten war in der Kindheit oftmals sexuellen und anderen körperlichen Mißhandlungen ausgesetzt, so daß ihr selbstzerstörerisches Verhalten auch als Fortsetzungs- und Bewältigungsversuch dieser traumatischen Erfahrungen zu sehen ist, wobei rollenwidrig dem Arzt die Rolle des körperlich besitzergreifenden Taters zukommt. Deshalb kommen die Behandler mit diesen Patienten selten klar (Nordmeyer, Freyberger & Nordmeyer 1994). Diese soziale und kulturelle Relativierung der Krankenrolle heißt nicht, daß notwendigerweise die Krankheitsbilder mit den unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften komplett wechseln müssen und wir eine unübersehbar große und schwer vergleichbare Menge jeweils neuer Krankheitsbilder hätten. Das ist gewiß nicht so, aber es macht einen großen Unterschied für Verlauf und Behandlung aus, ob ich z. B. das, was wir "psychotisch" nennen, als besonders seherisch oder als somatisch bedingte Minusvariante ansehe. Möglich ist offensichtlich beides. So kann man die Schizophrenien - ausgehend von sogenannten Basisstörungen kognitiv affektiver Art (Süllwold 1995) beschreiben, und tatsächlich schneiden die Schizophrenen in vielen kognitiv und affektiv bestimmten Wahrnehmungsfunktionen schlechter ab als die Gesunden. Geht es aber um die Wahrnehmung zwischenmenschlicher Prozesse im Bereich der negativen Emotionen, scheinen sie besonders sensibel (Lempa 1992, Larusso 1978). Wenn man also jemanden als Seher und Wahrsager haben will, der die eigenen negativen unbewußten Anteile zur Grundlage seiner Pro22
gnosen macht, sind Personen aus dem Schizophrenie-Spektrum möglicherweise überlegen (Becker 1992). Allein was das Verhältnis von Kultur, Gesellschaft und Krankheit betrifft, haben wir mindestens drei verschiedene Gesichtspunkte zu berücksichtigen, nämlich einen soziologischen im Sinne einer Rollenkonzeption, den zweiten mit dem ebenfalls durch die Kultur, aber auch die Person definierten möglichen sekundären Krankheitsgewinn durch die Übernahme der Krankenrolle und drittens die unbewußten Phantasien des je einzelnen Patienten über diese Rolle und die Erkrankung. Wie wir später sehen werden, sind die biologischen Vorgaben für Erkrankungen in weiten Bereichen als spezifische Formen von Verletzlichkeiten zu sehen, die von den familiären und/oder gesellschaftlichen Randbedingungen durch die Schaffung spezifischer zur Verletzlichkeit passender Konflikte abgerufen oder auch gegengesteuert werden (Nuechterlein 1987). So wie es Seelisches ohne körperliche Grundlage nicht gibt, kann es eine körperliche Erkrankung ohne psychische "Beteiligung" nicht geben. Schließt man in den Prozeß der Erkrankung auch die Verarbeitung des Leidens und des Schmerzes ein, wird man nicht umhin können , auch die von der Entstehung her "rein somatischen" Erkrankungen als psychosomatisch im weiteren Sinne anzusehen. Die starke Bevorzugung körperlicher Verursachungsmodelle ist durch die meßmethodischen Zugangsweisen, die im letzten Jahrhundert entwickelt wurden, bedingt. Theoretisch ist sie nicht gerechtfertigt, und es hat sie weder in der älteren europäischen Medizin noch in den nichtwestlichen Medizinsystemen je gegeben, und sie entspricht auch nicht modernen medizinischen Kriterien. Wie wir später sehen werden, gibt es leib-seelische Phänomene sui generis, wie z. B. die Gefühle und Affekte, die sehr direkt mit Beziehungen einerseits und Erkrankungen andererseits zusammenhängen (Krause 1996). Die Art der Diagnostik und Theoriebildung hängt allerdings sehr eng mit der bevorzugten Behandlung und der in einer Kultur vorgegebenen Mythologie und Abwehrstruktur, die sich um Krankheiten herum ansiedelten, zusammen. Erst in jüngster Zeit wird bemerkt, wie wenig weite Teile der Bevölkerung eigentlich bereit sind, sich auf das bevorzugte Krankheits-und Behandlungsmodell unserer Kultur einzulassen. Hielt man es für verständlich, daß z. B. 90 Prozent der brasilianischen Bevölkerung Voodooähnliche Kulte zur Heilung psychischer Gebrechen aufsuchen, scheint es doch gewöhnungsbedürftig, sich mit einer dezidiert antiwissenschaftlichen, esoterischen Massenpsychotherapiebewegung, welche die sich wissenschaftlich verstehenden Behandlungsverfahren verachtet, auseinanderzusetzen. Ganz unabhängig von jeder Krankenkassenfinanzierung spielen hier die Gesetze von Angebot und Nachfrage eine Rolle. Wie groß dieselbe ist, zeigt die Untersuchung von Asmus & Hoffmann-Richter (1996). Die mangelnde Akzeptanz der sich als wissenschaftlich verstehenden Ansätze hängt zweifellos damit zusammen, daß im Bestreben nach Objektivierung leicht übersehen wird, daß Lebewesen ihre Umgebung nach ihrem inneren Zustand als Bühne für ihr Verhalten interpretieren (Uexküll & Wesiack 1996). Ein solche Gegebenheiten einschließendes biopsychosoziales Modell wird erst langsam entwickelt und von der Fachwelt akzeptiert (Engel 1996). Die Berufsgruppe der Heilpraktiker hatte seit Beginn der modernen Medizin eine ganz andere Form von Modellbildung weitergeführt. Innerhalb der Medizin beschäftigt sich die "Compliance-Forschung" damit, ob und warum die Kranken die vorgesehene Hilfe überhaupt zu sich nehmen. Compliance
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heißt Einwilligung, Willfähigkeit Man versteht darunter den Grad, in dem das Verhalten einer Person in bezug auf die Einnahme eines Medikamentes, das Befolgen einer Diät oder die Veränderung des Lebensstils mit dem ärztlichen und gesundheitlichen Rat korrespondiert. Waren die Psychoanalytiker von Anfang an gewöhnt, mit dem Widerstand der Patienten zu rechnen, ist dies in der somatischen Medizin und in den Therapieformen, die kein befriedigendes Konfliktmodell haben, unbefriedigend axiomatisiert und praktisch kaum gelöst. So ist in der somatischen Medizin der Prozentsatz der tatsächlich angewandten Heilverfahren in Relation zu den Verschriebenen manchmal sehr gering, was vieHeicht deutlich macht, daß viele Patienten zumindest unbewußt eine andere Vorstellung von der "Rolle" des Krankseins als die Ärzte haben. Untersuchungen an diabetischen Kindern und Jugendlichen haben zum Beispiel ergeben, daß 40 Prozent in bezug auf ihre diätetischen Maßnahmen und Behandlungspraktiken schwindelten. Für bestimmte Praxeologien der Verhaltenstherapie und der humanistischen Therapien läßt sich das Fehlen eines Konfliktmodells an spezifischen Formen des Mißlingens aufzeigen. So kritisieren Grawe et al. (1994) das Fehlen des motivationalen Aspektes in der Behandlungstheorie der self-efficacy und meinen, daß die auftretenden Mißerfolge der auf Problemlösung und Bewältigung ausgerichteten Behandlungen durch die mangelnde Berücksichtigung der motivationalen Voraussetzungen zustande kämen. Implizit heißt dies die Wahrnehmung der Existenz eines Konfliktes zwischen der offiziellen Therapiemotivation, der Patient ist ja schließlich mit einem Behandlungswunsch gegenwärtig, und einer gegenläufigen, meist unerkannten Motivstruktur. (So berichtet mir ein 22jähriger Patient mit schweren sozialen Ängsten, er habe auf Kosten der Krankenkasse 1 1/ 2 Jahre ein self-assertive-training gemacht, in dessen Rahmen er unter anderem von der Therapeutin in Diskotheken begleitet wurde, um seine Ängste vor Frauen anzugehen. Weder während der Verhaltensanalyse noch während der Behandlungszeit hatte der Patient ihr seine masochistisch homosexuelle Orientierung mitgeteilt. Er hätte dies nicht für wichtig gehalten, und sie hätte nicht gefragt.) Ein solches Vorgehen ist sicher auch im Rahmen einer Verhaltenstherapie ein Kunstfehler, aber das Fehlen des Konfliktmodelles läßt diese Art von Fehlern wahrscheinlich werden. Das jahrelange "Analysieren" von manifesten Angstattacken ohne den Versuch einer Reizkonfrontationstherapie ist ebenfalls ein Kunstfehler, der sich aus der Überdehnung der Bedeutsamkeit des mentalen Modellbereiches herleitet. Auf das Problem der therapeutischen Bedeutung der Beziehung und der Behandlungstechnik in den verschiedenen Modellen komme ich noch genauer zu sprechen (Rudolf 1991, Schindler 1991). Schließt man dieneueren Kenntnisse über das "Immunsystem" in solche Betrachtungen ein, sind Gesundheit und Erkrankung in einem noch viel weiteren Sinne psychosomatisch. Man kann sich nämlich fragen, warum bestimmte Personen gesund bleiben, obgleich sie - rein äußerlich - die gleichen, ja wenn nicht gar schwerere, Erkrankungsgefährdungen in ihren Lebensgeschichten aufzuweisen haben wie die Erkrankten. Daß dies in einem, wenn auch begrenzten Rahmen auch auf die psychischen Erkrankungen und deren Entstehung zutrifft, zeigen die epidemiologischen Studien von Tress (1986). Zusätzlich deuten viele Befunde darauf hin, daß langandauernde affektive Belastungen, aber auch positive Gefühlslagen zu Veränderungen der Immunlage führen.
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Zwar sind die vielfältigen Ursachen- Wirkungsverkettungen zwischen Verhalten, psychischer Repräsentanz, Zentralnervensystem, Immunsystem und Krankheit kaum aufgedeckt, aber an der Existenz einer solchen Verbindung kann heute kein Zweifel mehr bestehen (Adler 1986, Klosterhalfen & Klosterhalfen 1996, Birbaumer & Schmidt 1996). Die beiden letzteren machen geltend, daß Immunreaktionen auf den folgenden vier Wegen zur Erkrankung führen können:
Immunreaktion zu schwach
zu stark
Pathologischer Einfluß von Außen
Infektionskrankheiten Aids
Allergien
Pathologischer Einfluß von Innen
Krebs
Autoimmunkrankheiten z. B. Multiple Sklerose
Alle vier pathogenen Vorgänge nehmen auf das ZNS und das Hormonsystem Einfluß. Da jedem psychologischen Vorgang ein Hirnprozeß zu Grunde liegt, werden solche Hirnvorgänge, die mit dem Immunsystem in Verbindung stehen, psychologisch ausgelöste Immunreaktionen bewirken. Da die Beziehungen zwischen den psychologischen und den immunologischen Prozessen in der Regel nicht linear sind, sondern das Überschreiten eines Grenzwertes schlagartig zu pathologischen Entwicklungen, z. B. Tumoren führt, müssen wohl, wie bei der Beschreibung des psychotherapeutischen Prozesses, mathematische Modelle aus dem Umfeld der deterministisch chaotischen dynamischen Systemtheorie verwendet werden (Schiepek 1994 a). Sollte diese Modellannahme für die pathogene Entwicklung gelten, kann man sie möglicherweise auch auf die Gesundung anwenden. Um nur ein eher anekdotisches Beispiel zu erwähnen, betreffen die 40 "anerkannten" Wunderheilungen von Lourdes, die aus 6000 Anträgen ausgelesen wurden, besonders häufig Krebs-, Autoimmunerkrankungen und Infektionen (Miketta 1992, S. 162). Sie folgert: "Wenn die engen Verbindungen zwischen Nerven-, Hormon- und Immunsystem in der Tat so existieren, wie es der derzeitige Stand der Wissenschaft als wahrscheinlich erscheinen läßt, .. ., dann muß sich de r gegenseitige Informationsaustausch zwischen den Systemen auch beim Heilungsprozeß einer Krankheit nutzbar machen lassen" (Miketta 1992, S. 164).
Wir haben nun bereits drei zusammenwirkende Beeinflussungsfaktoren, nämlich erstens die objektive Gefährdung bzw. Noxe, zweitens deren psychische Verarbeitung und drittens die mögliche Veränderung der Immunlage in Folge beider Einflußgrößen. Für wenige psychische Störungen und deren Ätiologie ist das Zusammenwirken dieser drei Einflußfaktoren bekannt, und es spricht sogar viel dafür, daß eben dieses Zusammenwirken von einem Kranken zum anderen hochgradig individualisiert betrachtet werden muß. Eine weitere Relativierung aller Krankheitslehren ist notwendig, weil sie jeweils auf das Tätigkeitsfeld bezogen werden müssen, in dem sie entwickelt wurden. Die psychoanalytische Krankheitstheorie ist aus einer meist langandauernden zwischenmenschlichen Form der psychotherapeutischen Begegnung entstanden, und 25
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damit sind teilweise auch ihre Schwächen und Stärken erklärbar. Die daraus folgende meßmethodische Schwierigkeit, über die einzelne Dyade hinaus zu verallgemeinern, wird uns noch beschäftigen. Auf der anderen Seite besteht so die Möglichkeit, über dynamische innere Abläufe in der Zeit Aussagen zu machen, die anderen Verfahren verwehrt ist (Haynal1994). Damit kann man Anschluß an die Theorien dynamischer selbstorganisierter Systeme gewinnen (Höger 1992, Schiepek 1994 a). Natürlich kann und muß man verhaltensorientierte und/oder psychiatrische Krankheitslehren aufstellen. Die müssen den psychoanalytischen Vorstellungen auch nicht notwendigerweise entsprechen, ohne daß deshalb eine der Aussagengruppen "falsch" sein müßte, denn möglicherweise bilden sie andere Bereiche ab. Das begriffliche Durcheinander in der klinischen Praxis ist nicht nur der Folge unserer mangelnden denkerischen und forscherischen Bemühungen und Fähigkeiten sowie der Abbildung unterschiedlicher Systembereiche und der Benutzung unterschiedlicher Begrifflichkeiten zu verdanken, sondern ebenso der Tatsache, daß eine jede Theorie von psychischen Störungen "integrativ" sein und die jeweils eigenen Gesetzmäßigkeiten körperlichen, seelischen sowie sozialen Geschehens verbinden muß. Sie muß also im besten Sinne ganzheitlich sein. "Der Psychophysiologe neigt dazu, den lebendigen Organismus auf das NefVensystem und das Verhalten aufzerebrale Aktivitäten zu reduzieren" (Anzieu 1985, S. 13).
Das kann man den Fachleuten nicht übelnehmen, aber die forcierte Anwendung solcher in sich sinnvollen Modellvorstellungen auf das Gesamtgebiet der Psychologie ist therapietechnisch und für die Forschung hinderlich. Der Körper ist eine physiologische und eine imaginäre Gegebenheit. Er ist auch Instrument und Ort des Austausches mit dem anderen. Auf die Beziehung zwischen "hardware" und Programm, um eine ganz andere Metaphorik zu verwenden, werden wir später noch eingehen müssen. Im folgenden will ich versuchen, als jemand, der sowohl in der empirisch forschenden Psychologie als auch in der psychoanalytischen Praxis tätig ist, die Grundlagenforschung mit der klinischen Praxis so weit zu verbinden, als es mir zum jetzigen Zeitpunkt möglich ist. Ein solches Vorhaben setzt zweierlei Einstellungen voraus, die deutlich gemacht werden müssen, ehe wir uns den eigentlichen Fragen zuwenden können. Die erste ist, daß die psychologische Grundlagenforschung von Relevanz für die klinische Praxis ist, und die zweite, daß "klinische Erfahrung mit Patienten" eine Form der empitischen Forschung ist, die die gleiche Dignität wie die experimentelle Bedingungsvariation hat. Beide Postulate sind keineswegs selbstverständlich. So spricht Kaiser (1993) der quantitativen Psychotherapieforschung jedwede Relevanz für die klinische Praxis ab. Grünbaum (1991) und andere meinen, die klinische Erfahrung sei so "kontaminiert", daß man sie nicht als Empirie betrachten könne, und Birbaurner (1991) hält die Psychoanalytiker für immun gegenüber jedweder Forschung. . ' All dem will ich nicht grundsätzlich widersprechen, natürlich gibt es diese Probleme, aber aus solchen Statements sprechen Haltungen, die der Fortentwicklung des Wissens über den Menschen und seiner Behandlung abträglich sind . Das klassische Verständnis des Wissenschaftlers und des Psychoanalytikers schloß ein, daß er stets auch deutlich werden ließ, was er nicht weiß. Aus diesem Nicht-
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wissen heraus entstanden ja schließlich seine Fragen. Diese Tugend scheint aus der Mode zu kommen. Viele Grundlagenforscher halten ihren Gegenstand für die Welt und können die Grenzen der Wissenschaft nicht sehen, ebenso wenig wie die Größe des Abstandes zwischen klinischer Praxis und Forschung. Manche Psychoanalytiker sondern zu allem und jedem Geschehen, sei es im sozialen, politischen, familiären oder ästhetischen Raum, öffentliche pseudoanalytische Statements ab, ohne auch nur zu reflektieren, ob denn die Übertragbarkeit aus dem Gegenstandsbereich "Psychoanalyse als Behandlung" auf andere Analyseeinheiten überhaupt gegeben ist (Reiche 1995). Mit solchen Apodiktikern, aus welchen Feldern auch immer, will ich mich also nicht gemein machen. Ich will allerdings auch die Unvereinbarkeit der Zugangsweisen nicht verleugnen, sondern sie im Kapitel über die verschiedenen Modi des Verstehens explizit behandeln. Fürs erste genügt die Absichtserklärung, daß der Leser nach der Lektüre in der Lage sein sollte, zentrale Modelle psychoanalytischen Denkens kritisch zu verstehen, um sie mit psychologischen integrieren bzw. sie gegeneinander abwägen zu können. Es hat 1960 einen ähnlichen Versuch von Rapaport gegeben, der den englischen Titel "The structure of psychoanalytic theory: A systematizing attempt" hatte. 1973 erschien es in deutscher Übersetzung und hat Generationen von Studenten als Versuch, die akademische Psychologie mit der Psychoanalyse zu verbinden, beeindruckt. Aber die akademische Psychologie und die Psychoanalyse von heute sind kaum noch mit denjenigen, auf die sich Rapaport stützte, identisch. In der akademischen Psychologie führen damals tragende Theoriebestandteile heute eher Randexistenzen, ich erwähne nur die nichtkognitiven Lerntheorien sensu Skinner, Hull etc. Je nach dem Blickwinkel mag man dies als den rasanten Fortschritt der akademischen Psychologie ansehen oder als eine gewisse Beliebigkeit in der Interessenlage und der Modellierung der psychologischen Grundlagenforschung. Desweiteren durfte Rapaport wegen des Ärztemonopols in der USamerikanischen psychoanalytischen Gesellschaft zwar eine Lehranalyse machen, aber nie Patienten behandeln, was ihm die Integrationsaufgabe sehr erschwert hat. Ich selbst habe seit 1973 regelmäßig Patienten behandelt. Zu Beginn meiner Tätigkeit als Leiter einer Universitätsberatungsstelle verhaltens-und gesprächstherapeutisch, dann habe ich mich auf analytische Behandlungen konzentriert, ohne den Kontakt zu den anderen Verfahren zu verlieren.
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Begriffiiche Klärungen
Die erste große Synopsis der psychoanalytischen Krankheitsvorstellungen erschien 1945 in England und stammte von dem vertriebenen österreichisch-jüdischen Analytiker Otto Fenichel. Sie hatte den Titel "The psychoanalytic theory of neurosis". Dieses Buch ist, obwohl in vielen Bereichen veraltet, bis heute als Nachschlagewerk der differentiellen Krankheitslehre unverzichtbar, aber, zumindest im deutschsprachigen Raum, leider vergriffen. Wie ich später zeigen werde, ist es in dem Bereich der traumatischen Neurosen m. E. wieder brandaktuell. Ich benutze es als Einstieg in eine historisierende Sichtweise, weil ich den Eindruck vermei27
den möcht_e, was wir heute anzubieten haben, sei -:. weiJ modern - auch richtig. Man kann 1m besten Fal1 hoffen, daß es richtiger ist. Uber das Verhältnis von Fortund Rückschritt des je gegenwärtigen Verständnisses können eigentlich erst kommende Generationen befinden. Wenn man unter Neurose mit Laplanche und Pontalis (1972, S. 325) "psychogene Affektionen, deren Ausdruck symbolischer Ausdruck eines psychischen Konfliktes sind, der seine Wurzeln in der Kindheitsgeschichte des Subjektes hat ... " versteht, kann man Fenichels Titel nicht mehr benutzen, da wir auch Krankheitsbilder abdecken soJlten, deren Symptome nicht notwendigerweise symbolischen Ausdruckswert haben, wie z. B. die somatapsychischen Erkrankungen. Desweiteren werden wir uns mit Krankheitsbildern befassen müssen, in denen die entwicklungspsychologische Herleitung aus Konflikten als Erklärungsursache nicht ausreicht, wie z. B. die Psychosen. Deshalb verwenden wir den Begriff "Allgemeine psychoanalytische Krankheitslehre". Ein neueres deutschsprachiges Buch zu diesem Gebiet ist die "Krankheitslehre der Psychoanalyse", das von Wolfgang Loch (1989) herausgegeben wurde. Obgleich als Einführung gekennzeichnet, scheint es mir für eine psychologische Leserschaft einerseits zu voraussetzungsvoLJ, weil es praktische Erfahrungen mit der eigenen Analyse, wenn auch nur implizit, erfordert, andererseits zu bescheiden, weil es die Anknüpfung an die allgemeinpsychologische Grundlagenforschung nicht versucht. Mentzos (1992) Buch "Neurotische Konfliktverarbeitung" kann man als Einführung in die Neurosenlehre verstehen. Seine Vorstellungen über den neurotischen Konflikt und dessen Verarbeitungsmodi werden in unserem Buch wieder auftauchen. Sie passen sehr gut zu unserer Theorie der epigenetischen Landschaften und ihrer diagnostischen Beschreibung. Auf der anderen Seite konnte Mentzos die Anhindung an die Psychologie von seiner Schulung und Herkunft her nicht leisten. 1985 sowie 1989 erschienen die beiden Bände des "Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie", von Thomä und Kächele. Das Werk ist mittlerweile in Englisch, Ungarisch, Portugiesisch, Spanisch und Italienisch übersetzt, eine russische Fassung ist in Vorbereitung. Der Theorieteil des Buches ist mit dem hier vorgestellten Vorhaben innerlich sehr verwandt. Das von Mertens (1996) im Kohlhammer Verlag in fünfter aktualisierter Auflage vorliegende Buch "Psychoanalyse" ist ebenfalls in gewissen Bereichen von der Intention her deckungsgleich. Die Kernbereiche der Aussagen stammen aber aus der Behandlungstechnik und der Entwicklungspsychologie psychoanalytischer Provenienz, wohingegen das vorliegende Buch versucht, sich aus der Psychotherapieforschung, der Allgemeinen Psychologie und neueren, auch eigenen Forschungen über die Affekte an die Metatheorie anzunähern. Die allgemeine Neurosen- und Krankheitslehre beschäftigt sich nicht vordringlich mit einzelnen Störungsbildern, sondern mit grundlegenden Fragen zu der Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung aller psychischen Störungen. Sie muß, wie gesagt, soziologische, sozial-, allgemein- und entwicklungspsychologische sowie neurophysiologische Forschungen heranziehen. Die differentielle Neurosenlehre beschäftigt sich mit der Beschreibung und der Ätiopathogenese einzelner Störungsbilder. Sie werden wir nur streifen können. Obwohl die Vorstellungen über psychische Erkran.~ungen aus den verschiedenen Forschungskontexten noch keine befriedigende Ubereinstimmung aufzuweisen haben, können wir auf dem Gebiet der Psychotherapieforschung und der psycho-
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therapeutischen Praxis gewisse Annäherungen beobachten (Caspar 1987, Krause
1986). Da der Entstehungsort der psychoanalytischen Krankheitslehre - und wie ich meine, aller wichtigen Vorstellungen psychischer Erkrankungen- die Behandlungssituation ist, kommt dieser Annäherung große Bedeutung für die allgemeine Krankheitslehre zu. Deshalbwerden wir auf diese Bestrebungen in den nächsten Kapiteln näher eingehen. Im Vorfeld sind allerdings einige Begriffe aus der differentiellen Neurosenlehre, die immer wieder auftauchen, zu klären. Wir werden von der ersten Systematik, die von FenicheJ (1946) stammt, ausgehen.
1.3.1 Begriffe aus der differentiellen Neurosenlehre Innerhalb dieses Nosologieschemas werden drei große Gruppen, nämlich die traumatischen, Psycho- und Charakterneurosen unterschieden. Neben den in Abbildung 1 aufgeführten vier Unterformen der Psychoneurosen wird noch einAktualneurose bzw. Neurasthenie genanntes Zustandsbild beschrieben. In ihm sind die unspezifischen Folgeerscheinungen neurotischer Konflikte wie Müdigkeit, hypochondrische Beschwerden, Ängstlichkeit, Hemmungen etc. ausformuliert. Sie gehören einerseits als Begleitsymptome zu allen vier Psychoneurosen, treten aber unter ungeklärten Bedingungen auch als relativ dauerhaftes eigenes Zustandsbild auf. Im klassischen Modell Fenichels sind die traumatischen Neurosen diejenigen Zustände, in denen unter dem Einfluß von Reizen überwältigender Intensität relativ unabhängig von der Verursachung ein Zustand auftritt, in dem die Ichfunktionen blockiert und eingeschränkt sind. Es kommt zu unkontrollierbaren Gefühlsausbrüchen, insbesondere Angst, und häufig Wutanfällen, gelegentlich Krämpfen, Schlaflosigkeit oder schweren Schlafstörungen und der Wiederholung des traumatischen Ereignisses im Traum oder als Flashback. Nach Fenichel könnTRAUMATISCHE NEUROSEN Einschränkung der Ichfunktion Affektausbrüche Schlafstörungen Wiederholungssyndrome
I
CHARAKTERNEUROSEN narzißtischer Charakter Zwangscharakter phobischer Charakter hysterischer Charakter schizoider Charakter
PSYCHONEUROSEN neurotischer Konflikt: Hemmungen, Vermeidungen (Sex .• Aggress.). Müdigkeit, Minderwertigkeltsgefühle
s
ÜBERTRAGUNGSNEUROSEN (objektgebunden) Angsthysterie Konversionshysterie Zwangsneurosen L---------------~
PERVERSIONEN u. IMPULSNEUROSEN Sadismus, Masochismus, Fetischismus etc. Spielsucht, Kleptomanie etc.
0
~--~----------~
"NARZIBTISCHE"NEUROSEN (ohne Objektbindung) Schizophrenie affektive Störungen (Depression u. Manie)
ORGANNEUROSEN Muskulatur Atmung Herz-Kreislauf etc.
L_
Abbildung 1: Nosologie nach Otto Fenichel
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I
te man in der Mehrzahl der traumatischen Neurosen dann "Heilungen" erwarten, wenn eine nachträgliche Bewältigung durch Abfuhr, Reden, aber auch durch Gefühlsausbrüche oder motorische Wiederholungen unter sicheren Bedingungen gefördert werde. Gelänge dies nicht, könnte unter bestimmten Randbedingungen die traumatische Neurose in eine sekundäre Psychoneurose, Neurasthenie oder einer Charakterneurose übergehen. Diese Vorgänge sind in unserer Abbildung durch die Pfeile angedeutet. Die Psychoneurosen werden in Übettragungsneurosen, Petversionen und Impulsneurosen sowie narzißtische- und Organneurosen unterteilt. Die gesündesten seien die sogenannten Übertragungsneurosen, die wiederum in drei relativ abgrenzbare Zustandsbilder, nämlich dieAngsthysterie, die Konversion und die Zwangsneurosen aufgeteilt wurden . In der Angsthysterie wird die diffuse Angst der Aktualneurose sekundär an bestimmte Situationen und Objekte gebunden, was es erlaubt, die Angstanfälle unter Kontrolle zu behalten, solange das sekundäre Bindungsobjekt vermieden werden kann. Die Konversion benutzt symptomatische Veränderungen physischer Funktionen, um unbewußt gewordenen Intentionen und deren Abwehr Ausdruck zu verleihen. Ein klassisches Beispiel wäre der Verlust der Stimme nach einer abgewehrten Intention, eine Person zu beschimpfen (hysterische Aphonie). Bei der Zwangsneurose würde in einer Zwangshandlung oder Zwangsvorstellung die Ursprungsintention oder der Affekt oder die Triebhandlung zusammen mit der Abwehr gegen ihn verdichtet. Je nach vorherrschenden Anteilen von Abwehr und Ursprungsintention müßten die Handlungen mehrfach wiederholt werden. Diese drei Gruppen wurden Übertragungsneurosen genannt, weil die Personen, an denen das konfliktive neurotische Geschehen reaktiviert wird, im Erleben der Patienten zwar verkannte, aber doch immerhin eigenständige Wesen seien, wohingegen die Handlungspartner der narzißtischen Neurosen als Extensionen des eigenen Selbst der Patienten funktionalisiert würden, was nur mit ganz anderen Abwehrformationen, wie z. B. Projektion, Verleugnung und Spaltung, zu bewerkstelligen sei und dementsprechend auch zu anderen Zustandsbildern führe. Diese Störungen wurden im Gegensatz zu den Übertragungsneurosen als narzißtisch bezeichnet, weil ein Teil der mißlungenen Regulation mit realen anderen Personen oder durch eine Fixierung auf die eigene Person, sei es als Körper- oder als Handlungss~_lbst, kompensiert würde (Mentzos 1992). Der Begriff Ubertragungsneurosen ist nach Sandler et al. (1992) aus heutiger theoretischer Sicht in mehrfacher Weise irreführend. Einmal "übertragen" die Patienten mit narzißtischen Störungen ebenfalls, und zum anderen ist der Vorgang der Übertragung keine Replikation des historischen Geschehens. Am angemessensten scheint - mit aus heutiger Sicht - eine Zweiteilung in Neurosen im engeren Sinne und in Selbststörungen, wobei, wie wir später sehen werden, beides natürlich kombinierbar ist. Die sogenannten Organneurosen sollten das weite Feld organischer Störungen zwischen den Konversionen und den durch physikalische und chemische Ursachen hervorgerufenen Erkrankungen umfassen (Fenichel1975, S. 66). Sie wurden nach den betroffenen Körperregionen, wie dem Gastrointestinaltrakt, der Muskulatur, dem Atmungs- und Herzkreislaufsystem, der Haut gegliedert und umfaßten beispielsweise Asthma, Bluthochdruck, Neurodermitis und vieles andere. Der von Fenichel abgelehnte Begriff der "psychosomatischen Störungen", der seiner Mei 30
nung nach einen nicht vorhandenen Dualismus unterstelle, hat sich auch innerhalb der psychoanalytischen Krankheitsmodelle durchgesetzt. Die zwingend notwendige Anhindung an das noch zu besprechende Modell des neurotischen Konfliktes wurde aufgegeben. Unter den narzißtischen Neurosen wurden alle psychotischen Erkrankungen, wie die Schizophrenien und affektive Psychosen, erfaßt. Auch bei ihnen ist aus heutiger psychoanalytischer Sicht die Unterordnung unter die Psychoneurosen und die Anhindung an einen neurotischen Konflikt herausgenommen worden. Es wird angenommen, daß relativ unabhängig von den neurotischen konfliktiven Zustandsbildern, die die Kranken auch haben können, bestimmte sog. Ich-Funktionen, die mit der Konstituierung und Wahrnehmung von Realität zu tun haben, verändert sind (Frosch 1983). Unter Charakterneurosen verstand man Personen, die, obwohl sie unter einem neurotischen Konflikt leiden, ohne manifeste Symptomatik existieren können, solange sie eine hochspezifische, zu ihrer Struktur passende Umgebung haben. Sie würden sich allerdings durch eine spezifische, sehr eingeengte Persönlichkeit auszeichnen, die beim Zusammenbruch der komplementären Sozialstruktur in eine der vier Formen der Psychoneurosen oder in eine andere schwere Störung übergingen. Der Begriff hat sich nicht halten können. Auch im analytischenUmfeldwird heute von Persönlichkeitsstörungen gesprochen, wiederum, weil die Anhindung an den neurotischen Konflikt nicht mehr so eng gesehen wird. Im Unterschied zu anderen Krankheitsmodellen ist das psychoanalytische ein dynamisches Regulierungsmodell, in dessen Rahmen das scheinbar statische Verhalten bzw. die überdauernden Symptome und Eigenschaften als Folge eines fortlaufenden Optimierungsprozesses zwischen verschiedenen Führungsgrößen in der Zeit verstanden wird. Das grundlegende Schema zeigt Abbildung 2.
Intention und/oder Impuls (Trias: Affekt-Impuls-Handlung)
t2 Abwehr
tl Affektsignal
a. Veränderung der kognitiven Repräsentation der Intention und des Impulses, z. B. Verleugnung, Projektion, Verdrängung
Schuld-Angst Scham-Angst Verletzungs-Angst
b. Veränderung des Affektsignals unter Beibehaltung der kognitiven Repräsentation, z. B. Erotisierung der Angst (kontraphobische Angstlust)
Schmerz-Angst Übelkeits-Angst
c. Hemmung des Impulses, temporärer Abbruch
Abbildung 2: Grundlegendes Schema des neurotischen Konfliktes
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Dieses Modell setzt voraus, daß der Impuls nicht aufgegeben werden kann. Für Fälle, in denen die Impulse und Intentionen, vor allem aus dem Trieb- und Affektbereich, aufgegeben werden, ist das Modell nicht mehr zutreffend. Dann kommt es zu einem Regulierungsgeschehen, das später unter Besetzungsregulierung und -abwehr dargestellt werden wird. · Das grundlegende Schema einer (neurotischen) Konfliktoptimierung ist, daß eine bewußte Intention- es kann sich dabei um die Folge eines Affekts, eines Triebprozesses oder eines anders entstandenen Wunsches handeln - , die im Verlaufe einer Lerngeschichte mit einem traumatischen neurotischen Zustand verbunden war, mobilisiert wird. Aus dieser Mobilisierung heraus wird ein Affektsignal entwikkelt, das eine weitere Verfolgung des Wunsches als indikativ für einen erneuten Zusammenbruch überprüft. Aus dieser Rückmeldung heraus werden sog. Abwehrmechanismen mobilisiert, die nun wiederum die Ursprungsintention so verändern, daß eine weitere Form einer- wenn auch pathologisch- veränderten Verfolgung des Zieles möglich ist. Die Symptomatik des Zustandsbildes wird einerseits durch die Art des Wunsches, der dem konfliktiven Geschehen unterliegt, und andererseits durch die Art der Abwehrmechanismen bestimmt, wobei die Abwehrmechanismen im allgemeinen dasjenige sind, was nach außen hin als Persönlichkeitsei.g enschaften leichter sieht- und erlaßbar ist als die Wunschstruktur selbst. Im aUgemeinen wählen die Kranken diejenigen kogniti':~affektiven Funktionen, die sie gut beherrschen, in Form einer pathologischen Obersteigerung als bevorzugte Abwehrform (Haan 1977). Es gibt keine feste Verkoppelung zwischen Wünschen und Abwehrmechanismen. Statistisch betrachtet kann man aber davon ausgehen, daß sog. ,archaische' frühe Wünsche auch mit Abwehrmechanismen, die eine primitive Form kognitiv-affektiver Regulierung beinhalten, verkoppelt sind. So wird man im allgemeinen davon ausgehen, daß die Abwehr von oraler Gier eher projektiv erfolgt, indem der Abwehrende einfach seinem Handlungspartner die Wünsche unterstellt, die er selbst hat, aber an sich nicht to.lerieren kann (Moser, von Zeppelin & Schneider 1991). Dieses einfache Regulierungsmodell des neurotischen Konfliktes, das natürlich in der klinischen Praxis außerordentlich elaboriert und im Einzelfall sehr individuell ausgestaltet sein muß, wird für die Psychosen, Charakterneurosen und die Psychosomatosen in der bestehenden Form nicht angewendet werden können. Desweiteren gibt es eine Kategorie von sog. kumulativen Traumata, in denen die Überlastung des psychischen Systems nicht die Hauptursache der dauerhaften Persönlichkeitsveränderungen ist. Wahrscheinlich kann man darunter repetitive pathologische Beziehungserfahrungen verstehen. Der Weg in die Persönlichkeitsstörung und die Organneurosen wird wohl eher über kumulative Traumata als über die traumatische Neurose im klassischen Sinne erfolgen. Doch das wird in Band 2 im Kapitel über das entwickJungspsychologische Modell näher besprochen werden (Khan 1963, Sandler 1988).
1.3.2 Vergleich psychoanalytischer und psychiatrischer Beschreibungssysteme Das psychoanalytische Modell beruht auf einer Mischung aus syndromarischer und ätiologischer Beschreibung. So wird die Schwere der Störung unter ~nderem am Zeitpunkt der vermuteten Traumatisierung festgemacht. Da die Atiologie
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nicht unmittelbar beobachtbar ist, hat dies zu einer Verringerung der Reliabilität der Diagnosen geführt, so daß die modernen psychiatrischen Systeme die Bindung an die psychoanalytische Nosologie aufgegeben haben und versuchen, jede Form ätiologischer Vorstellungen außen vor zu halten, was für die Reliabilität der Diagnosen auf symptomatischer Ebene gewiß vernünftig ist. Zwei Systeme sollen kurz erwähnt, gewürdigt und verglichen werden. Das eine ist die 10. Version der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen, das von der Weltgesundheitsorganisation in Auftrag gegeben wurde (ICD 10). Die deutsche Bearbeitung wurde von Dilling, Mombour & Schmidt 1992 herausgegeben. Das andere ist die 4. Version des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen, das von der American Psychiatrie Association in Auftrag gegeben und von Saß, Wittchen & Zaudig (1996) in Deutsch herausgegeben wurde (DSM IV). In der Abbil-
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e
e e
e
Achse I
Achse II
Klinische Störungen
Persönlichkeitsstörungen
Andere klinisch relevante Störungen
Geistige Behinderung
Störungen, die gewöhnlich zuerst im Kleinkindalter, in der Kindheit oder Adoleszenz diagnostiziert werden (außer geistiger Behinderung, die auf Achse li codiert wird) Delirium, Demenz, amnestische und andere kognitive Störungen Psychische Störungen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen Schizophrenie und andere psychotische Störungen
e Affektive Störungen
e e e e e
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Angststörungen Somataforme Störungen
e e e e e
Paranoide Persönlichkeitsstörung Schizoide Persönlichkeitsstörung Schizotypische Persönlichkeitsstörung Antisoziale Persönlichkeitsstörung Borderline Persönlichkeitsstörung Histrionische Persönlichkeitsstörung
e e Narzißtische Persönlichkeitsstörung e Vermeidend-selbstunsichere Persön-
e
lichkeitsstörung Dependente Persönlichkeitsstörung
e Zwanghafte Persönlichkeitsstörung
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Nicht näher bezeichnete Persönlichkeitsstörung Geistige Behinderung
Vorgetäuschte Störungen Dissoziative Störungen Sexuelle und Geschlechtsidentitätsstörungen Eßstörungen Schlafstörungen Störungen der Impulskontrolle, nicht andernorts klassifiziert Anpassungsstörungen Andere klinisch relevante Probleme
Abbildung 3: Taxonomie nach dem Diagnostischen und Statistischen Manual IV der APA (ohne organisch bedingte psychische Störungen) 33
dung 3 findet man auf der 1. Achse die klinischen Störungen und auf der Achse 2 die Persönlichkeitsstörungen des amerikanischen Systems, das in einer früheren Version auch stilbildend für das ICD 10 war. So unterscheidet das Diagnostische und Statistische Manual IV die in der Abbildung 3 aufgeführten klinischen Störungen auf einer 1. Achse und die Persön.lichkeitsstörungen sowie geistige Behinderungen auf einer zweiten (siehe Abbildung 3). Auf e.i ner dritten Achse werden andere nicht psychische, medizinische Krankheitsfaktoren, auf einer vierten psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme aufgeführt. Auf einer fünften kann das psychosoziale Funktionsniveau klassifiziert werden. Das System versucht, zumindest auf der Ebene der klinischen Syndrome (Achse 1), rein beschreibend vorzugehen und unterscheidet dort, die in Abbildung 3 aufgeführten Störungen. In den Persönlichkeitsstörungen werden drei Cluster unterschieden, die nach der Exzentrizität (z. B. Schizoide Persönlichkeitsstörung), Emotionalen Wechselhaftigkeit (z. B. Borderline-Störungen) und Ängstlichkeit, Furchtsamkeit (z. B. Dependente Persönlichkeit) klassifiziert wurden. Im ICD 10 (Dilling, Mombour & Schmidt 1992) werden unter der Überschrift ,Neurotische Belastungs- und somataforme Störungen' die Angststörungen (phobische Störung und andere Angststörungen), die Zwangsstörung, die Dissoziation oder Konversionsstörung und die somataformen Störungen besprochen. Reaktionen auf schwere Belastungen sind mit der traumatischen Neurose Fenichels von der Symptomatik ebenfalls deckungsgleich. Die Schizophrenie bildet eine eigene Kategorie, ebenso die affektiven Störungen, die die Depressionen und die Manie einschließen. Die Persönlichkeitsstörungen sind ebenfalls vorhanden, allerdings nun nicht mehr zentriert um Fixierungen auf dem Entwicklungsniveau, sondern um bestimmte Arten von Symptomatiken herum. Die Impulsneurosen und Perversionen sind bei weitem stärker ausdifferenziert als im DSM IV und unter den Persönlichkeitsstörungen rubrifiziert. Bei den Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen wird die Trennung von Ätiologie und Symptomatik aufgegeben. Die aus meßmethodischen Gründen durchaus angemessene Trennung zwischen Ätiologie und Symptomatik ist bei näherer Betrachtung der Störungsbilder allerdings künstlich. Das Herausgreifen bzw. die Schaffung reliabler, symptomatischer Merkmalsverbindungen beantwortet die Frage nach den Krankheitseinheiten nicht. Möglicherweise sind z. B. die modernen Somatisierungsstörungen (F 45.0) des ICD 10 die unspezifischen Begleitsymptome eines neurotischen Konfliktes (Rief1996). Manche Bemühungen muten wie Zauberei an, die etwas Vages mit methodischen Verfahren päzise machen sollen. Diese Vorgehensweise kann man dann vertreten, wenn gleichzeitig ein Bewußtsein bleibt, daß es sich dabei um relativ willkürliche Gruppierungen handelt. Dies ist allerdings häufig nicht mehr der Fall. Wie beliebig oder politisch gewollt viele der Einteilungen sind, mag man daran sehen, daß in der dritten Version des DSM die Entwicklungsstörungen auf der Achse 2 zu verzeichnen waren. Das machte irgendwie Sinn, weil man bei ihnen, wie bei den Persönlichkeitsstörungen, die Trennung von Ätiologie und Symptomatik beim besten Willen nicht aufrechterhalten konnte. Dafür waren und sind die Achse-2-Diagnosen auch immer chronisch unreliabel, weil die Methodik der artifiziellen Scheinpräzision durch einen Gruppenkonsens nicht griff. Nun findet 34
man aus forschungspolitischen Gründen die Entwicklungsstörungen auf der Achse 1wieder, und hat damit die ganze Logik des Systems über den Haufen geworfen. Wenn man bedenkt, daß beispielsweise die narzißtische Persönlichkeitsstörung 1952 aufgenommen, 1968 gestrichen, 1980 bis heute wieder aufgenommen, dafür aber im ICD 10 1992 gestrichen wurde, muß man in bezug auf die Zeitgeist- und Kulturabhängigkeit dieser Ordnungssysteme Bedenken anmelden. Die Annahme, daß man durch diese Vorgehensweise die Forschung fördere, ist auch nicht a priori gerechtfertigt. Zum einen ist es denkbar unwahrscheinlich, daß man durch die einfach und reliabel feststellbaren Merkmale zu psycho- und äthiopathologisch relevanten Forschungen kommt. Wenn dem so wäre, wären auch die wichtigen Forschungsfragen längst gelöst. Die pathogenetisch relevanten Ordnungsfaktoren haben sich noch nie an der Oberfläche gezeigt, damit der Forscher sie dann mit seinem statistischen Netz nur einzusammeln brauchte. Das, was die Erkrankungen zusammenhält, ist sicher nicht ihre sichtbare Phänomenologie, die wichtig genug ist, sondern etwas bis anhin Unbekanntes. Implizit nehmen dies auch die Autoren der diagnostischen Systeme an, in dem sie erwarten, daß die Forschung beweisen wird, daß alle psychischen Störungen eine organische Ursache haben werden (Herrman, Holzammer-Herrmann und Stiels 1996). Die hinter dieser Vorgehensweise stehende Annahme ist, daß man durch empirisch-phänomenologische Beobachtung zu sinnvollen Krankheitseinheiten kommen könne, deren unbekannte somatische Ursache noch zu finden wäre. Diese Denkweise steht in markantem Gegensatz zu der Auffassung, daß psychische Störungen die Reaktionen der Persönlichkeit auf psychische, soziale und biologische Faktoren darstellen, wie wir sie hier in der psychoanalytischen Tradition vertreten (Weiner 1996). Ganz unabhängig von diesen Vorbehalten ist, wie später zu zeigen sein wird, eine Reliabilitätssteigerung durch eine restriktive Vereinheitlichung der Sprache, die zu allem Überfluß noch um das amerikanische Englisch zentriert ist, dem Grundgedanken einer Phänomenologie entgegengesetzt. Eine Phänomenologie seelischer Phänomene sollte auch in der verwendeten Sprache so dicht wie möglich an der Subjektivität der zu beschreibenden Personen bleiben. Unsere Patienten sprechen im allgemeinen nicht englisch, wenn es um ihre Gefühle und Probleme geht, und ihre Sprachwahl ist keineswegs a priori korrektur- und ordnungsbedürftig. Die Übersetzung der subjektiven Phänomene in den reliabel erscheinenden Sprachcode der diagnostischen Systeme ist so betrachtet ein Verlust. Viele Psychiater und Forscher, die vorwiegend mit diesen Systemen arbeiten, sind deshalb auch nicht mehr in der Lage, ihre Patienten psychopathalogisch zu explorieren, weil nämlich eine systematische Exploration, ebenso wie ein psychodynamisches Interview, zur Voraussetzung hat, daß sich der Interviewende in den kognitivaffektiven und sprachlichen Systemen des Interviewten in einem Wechselspiel von Fremdwahrnehmung und Erleben bewegen können muß. All dies geht durch die einseitige Fokussierung auf der operationalisierten, scheinreliablen Diagnostik verloren (Saß 1996). Wenn man die psychoanalytische und die deskriptiv-psychiatrische Vorgehensweise vergleicht, kann man in etwa folgende Aussagen machen: 1. Es werden keine grundsätzlich verschiedenen Störungsbilder beschrieben. Wenn neue Begriffe auftauchen, sind sie Folge der besseren Kenntnis der Krankheitsbilder, aber nicht Folge der unterschiedlichen Taxonomien. 2. In den psychiatrischen Manualen 35
wird nicht ausgeschlossen, daß es eine Ätiologiespezifizität von manchen oder gar vielen Störungen gibt. Sie wird aber der Verwendbarkeit und der Reliabilität ~.uliebe in den deskriptiven Teil der Beschreibung nicht aufgenommen. 3. Die Atiologie kann sekundär wieder eingeführt werden durch die empirisch beobachtbare, Komorbidität genannte, vorfindbare Verkoppelung von Persönlichkeitsstörungen, Entwicklungsstörungen und klinischen Syndromen. Für manche Störungen ist dies explizit ausformuliert. So werden bestimmte Persönlichkeitsstörungen zu den korrespondierenden diagnostischen Kategorien des Kindesalters in Beziehung gesetzt. So die schizoide Störung der Kindheit oder der Adoleszenz und die schizoide Persönlichkeitsstörung oder Vermeidungsverhalten in Kindheit oder Adoleszenz und hypersensitive Persönlichkeitsstörungen, Identitätsstörung und Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Bei den phobischen Neurosen heißt es unter den prädisponierenden Faktoren: Trennungsangst in der Kindheit und plötzlicher _Objektverlust prädisponie ~~n offensich.tlich zur Entwicklung einer Agoraphobie. Als Nebenmerkmale werden DepressiOn, Angst, Rituale, leichtere Kontrollzwänge und Grübeleien erwähnt. Es bleibt natürlich offen, wie diese Art von Merkmal in die Störung selbst einge~ettet ist. Unter ,Komplikationen' heißt es: "Manche Patienten versuchen, ihre Angstlichkeit mit Alkohol, Barbituraten oder Anxiolytika zu bekämpfen, sogar so intensiv, daß sie davon abhängig werden." Auch hier kann man die Frage stellen, ob nicht eine Abhängigkeitsstruktur in manchen Fällen bereits prämorbid vorhanden ist, die wieder mit der Trennungsa ngst in der Kindheit und plötzlichen:t Objektverlust in Verbindurig steht. Das gleiche gilt für die Paniksyndrome. Be1 den Zwangssymptomen werden als Neben merkmale Depression und Angst häufig erwähnt. Desweiteren ein phobisches Vermeiden von Situationen, die den Inhalt des Zwangsgedankens betreffen Auch hier ist die Frage der Vernetzung von Depression und Zwang im Rahme~ der deskriptiven Beschreibung nicht d_iskutier~ar. Man kann die gleiche ~etrach tungsweise für die anderen Störungsbilder welterverfol~en. J?urch den Embezug der psychosozialen Belastungsfaktoren und des Fun~tJO!lsmveaus besteht auch di e Möglichkeit, prognostische Aussagen zu mache?, dte s1~h auf ~as Passun~s~er hältnis vom Patienten und seiner Umgebung beztehen. Uber d1e Komorb1d1tät und die empirisch-statistische Beobachtung de r Verclusterung verschiedener Syndrome und ihre Änderung in der Zeit sowie die psychosozialen Faktoren könnte ein Zugang gefunden werden, der in sich wiederum ein dynamisches Krankheitsmodell erfordert, das die beobachtbaren syn- und diachronen Zusammenhänge interpretiert. Die psychoanalytische Neurosenlehre hat dies immer versucht, ist aber dringend auf die empirische Überprüfung an großen Stichproben angewiesen. Freilich sind die Persönlichkeitsstörungen im allgemeinen wenig rel.iabel festzustellen und bedürfen selbst einer meßmethodischen Präzisierung. Di es geschieht im Moment auf breiter Front durch Untersuchungen der Frage, wie sich die vermeintlichen Persönlichkeitsstörungen selbst aus übergeordneten Faktoren der Persönlichkeit wie Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus, Offenheit für Erfahrung zusammensetzen. Diese fünf Faktoren haben sich als relativ stabil erwiesen. Das Zusammenführen dieser dimensionalen Persönlichkeitsbeschreibung mit den Persönlichkeitsstörungen als Krankheitseinheiten ist sehr vielversprechend (Fiedler 1994, Loranger 1994, Wiggins & Pincus 1992, Arbeitskreis OPD 1996, Wittchen, Schramm, Zaudig & Unland 1993). 36
Die psychoanalytische Einteilung nach Übertragungsneurosen und narzißtischen Neurosen und die Anlehnung an den Zeitpunkt der Schädigung bzw. Fixierung ist aus vielen Gründen nicht unproblematisch. Es ist schwerlich möglich, die ganze menschliche Persönlichkeit durch Rekurs auf bestimmte fixierende Entwicklungsperioden darzustellen. Auch wer eine schwere narzißtische Schädigung erfahren hat, muß die weiteren Entwicklungsperioden und die damit verbundenen Probleme durchleben. Eine- im psychoanalytischen Sinne- "richtige" Entwicklungsdiagnose sollte deshalb die Beschreibung des gesamten Entwicklungsweges beinhalten. Eine solche Beschreibung kann man durch die Angabe des Fixierungs-bzw. Schädigungszeitpunktes nicht gewinnen. In den Kapiteln in Band 2 über die Triebe und Affekte sowie der Entwicklungspsychologie soll dies in Form einer Entwicklungsdiagnose, die vom Fixierungsmodell wegkommt, versucht werden (Krause, Ullrich & Steimer-Krause 1992).
1.4 Historisch kulturelle Bedingtheiten der Modellvorstellungen Bestimmte Störungsbilder nehmen in historischen Perioden in der Aufmerksamkeit und auch in der Häufigkeit den gesellschaftlichen Problemen folgend zu oder ab. Dies mag einerseits damit zusammenhängen, daß die mit ihm verbundenen Konflikte in bestimmten Sozietäten häufiger abgerufen werden als in anderen oder es mag d~ran ~ängen, daß die Experten die Wichtigkeit bestimmter Arte~ von Syndroma~Iken .~b~rsehe~ bzw. überdehnen. Im ersten Fall würde eine immer mehr ?der gletch hauflg vorhegende .latente Vulnerabilität, die man im psychoanalytischen J.a~gon als Struktur bezeichnen könnte, in unterschiedlichen historischen und pohti~c~en Epoch~n ~uch unterschiedlich häufig reaktiviert und unterschiedlich k~n~hs~ert. Als Bets~tel für diesen ersten Fall kann man die Verteilung der sog. Buhmt~n tn der ehemahgen DJ?R, der alten Bundesrepublik und den heutigen neuen La~dern betrachten. "Die BuJimie Nervosa ist durch wiederholte Anfälle von Heißhunger (~reßattac~en) und einer übertriebenen Beschäftigung mit der Kontrolle des Korpergewichts charakterisierbar. Dies veranlaßt die Patientinnen mit extr~men ,~aß.n~hmen, den dickmachenden Effekt der zugeführten Nahrung zu mildern (Dllhng et al. 1992). Eine davon ist das wiederholte Erbrechen, das dann sekundär zu schweren Störungen führen kann. Die in der ehemaligen DDR vormals wenig verbreiteten Bulimien haben mittlerweile den gleichen Stan? a~ Hä~fi~keit .erreicht wie in den alten Ländern, was wohl heißen muß, daß, weil d1e prad1spomerenden Faktoren für die Störung vor der Adoleszenz liegen, die dafür notwendige Struktur bereits in Vorvereinigungszeiten entwickelt wurde. Sie ist aber durch die gesellschaftlichen Randbedingungen in der nun vorliegenden Form nicht abgerufen worden. Eine sehr beeindruckende Schilderung über den Umgang mit dieser Störung in der Vorvereinigungszeit der ehemaligen DDR findet man in dem Buch von Muthesius (1981), das eine Mutter nach dem Tod ihrer Tochter geschrieben hatte. Es zeigt auf, daß das politische und soziale Umfeld in keiner Weise geneigt war, auf die Botschaft dieser Erkrankung einzutreten. Im Falle der zweiten Form der Eßstörung, der Anorexia nervosa, 37
kann man eine Kulturgeschichte bis zu den frühmittelalterlichen verhungernden Nonnen, die aber, wenn auch nicht immer, als Heilige galten, verfolgen (von Braun 1993). Das über die historischen Perioden hinweg Gemeinsame scheint die Auflehnung gegen die nicht hinterfragten jeweiligen Identitätserwartungen am Agierfeld des Körperschemas zu sein. Man sollte also die bewußte und unbewußte Einbettung der jeweils spezifischen Erkrankung in die jeweilige Kultur und ihre Geschichte berücksichtigen. Ein anderes Beispiel dieser Art, das uns unmittelbar beschäftigt, ist der rapide Anstieg der sog. schweren Persönlichkeitsstörungen in den neuen Bundesländern, die vorher in einem Leipziger Kollektiv 2 Prozent ausmachten und nun auf fast 10 Prozent angestiegen sind (Geyer 1994). "Spätestens seit der staatlichen Vereinigung im Herbst 1990 sehen meine Kollegen und ich in den psychosomatischen Kliniken ein merkwürdiges Phänomen, nämlich die Erstmanifestation einer sog. frühen strukturellen, d. h. schweren Persönlichkeitsstörung, jenseits des 40. Lebensjahres. Es handelt sich um Menschen mit häufig schweren traumatischen, oft gewalttätigen, mitunter blutrünstigen Erfahrungen in der Kindheit, die kaum die Chance hatten, verläßliche Beziehungen zu erfahren, und die unter dem Eindruck permanenter Unsicherheit einen Zugang zu eigenen aggressiven und sinnlichen Bedürfnissen nicht finden konnten. Sie funktionierten in den alten gesellschaftlichen Strukturen gut und problemlos, waren häufig sehr identifiziert mit der Partei oder dem System, konnten häufig jedoch auch in permanenter Gegnerschaft zum Regime eine zum Teil sozial wenig attraktive Nischenposition verteidigen. Ihr Umgang mit eigenen Aggressionen beschränkte sich im ersteren Fall auf die Identifikation mit staatlicher Gewalt und identifikatorischer Teilhabe an repressiver Machtausübung. Im anderen Fall gelang es, durch Einnahme einer Opferhaltung aggressive Impulse außerhalb der eigenen Person an der Gesellschaft festzumachen. Beinahe in allen Fällen führte ein äußerer Einschnitt, entweder der vertust des Arbeitsplatzes oder aber der Nische, zur Konfrontation mit eigener Wirklichkeit, die nur mit schweren sog. narzißtischen Depressionen, körperlichen- sog. psychosomatischen Krankheitsbildern- oder psychoseähnlichen Verhaltensauffälligkeiten beantwortet werden konnte. Auf einen kurzen Nenner gebracht: , Unter den jetzigen gesellschaftlichen Umständen wären diese Störungen bereits vor zwanzig Jahren manifest geworden. Daß sie es nicht getan haben, scheint etwas mit der Gesellschaftsform zu tun zu haben ' " (Geyer 1994, Seite 233).
Diese Erkrankungen können wir in den verschiedensten Epochen und Gesellschaftssystemen beobachten. Nun berichten die Ethnologen allerdings über Krankheitsbilder, die auf den ersten Blick keinerlei Äquivalente in unseren Kulturen aufzuweisen haben, wie z. B. "Koro" in der chinesischen und afrikanischen Landbevölkerung, "Malgri" bei den australischen Ureinwohnern auf den Mornington Islands, "Amok" bei den Malayen oder, um bei unserer eigenen Geschichte zu bleiben, Berserker bei unseren Vorfahren. Koro ist die von ganzen Gruppen geteilte endemisch auftretende "Wahnvorstellung", der Penis der männlichen Patienten oder seltener die Schamlippen und Brustwarzen der Frauen verkleinerten sich. Der halluzinierte Vorgang wird mit teilweise drastischen Mitteln, wie das Winden von Seilen um den Penis, bekämpft. Malgri stellt sich als heftige Übelkeit, Kopfschmerzen und Blähungen dar, wenn der spätere Patient den Übergang vom Land ins Meer ohne ausreichende Vorsichtsmaßnahmen bewerkstelligt hat. Das vom maJayisch Amok gleich Wut stammende Amoklaufen hat sich bei uns als Wort und als Zustandsbild eingebürgert. Der Amokläufer schwingt im allgemeinen nicht mehr den Kris, also den malayischen Dolch, sondern ein Schnellfeuer38
gewehr. Der Berserker, eigentlich der Bärenhäuter, war ein Mensch, der sich in einen Bären verwandelte und identifikatorisch als solcher agierte. Später waren dies Menschen, die im Zustand der Wut Bärenkräfte entwickelten. Die identifikatorische Anhindung an nichtmenschliche Wesen, wie z. B. Tiere, im Zustand einer bestimmten Emotion , z. B. Wut, ist auch unserer Kultur keineswegs fremd. Im pathologischen Rausch finden wir z. B., daß ganz geringe Mengen von Alkohol, die kaum einen gewöhnlichen Rausch auslösen können, die Menschen zum Toben gegen Personen ihrer Umgebung bringen. In diesem Zustand entwickeln sie ungeheure Kräfte. Ich selbst habe einmal erlebt, wie ein an sich nicht sehr kräftiger Mensch einen schweren Eichentisch durch einen Raum schleuderte. Die Umgebung wird unter dem Einfluß von Wut und Angst und von Illusionen des Gesichts, seltener des Gehörs, in bezug auf den Affekt verkannt. Fast immer findet man einen Kern einer reaktivierten Szene, der im pathologischen Rausch nachgesteHt wird, in dem mir bekannten Fall die Szene der Erschießung eines Freundes durch den eigenen Vater. Fast immer wird die Szene durch einen narkoseartigen Schlaf beendet, aus dem der Patient völlig zerschlagen, aber ohne Erinnerung aufwacht. Pathologische Räusche legen forensisch die Unzurechnungsfähigkeit nahe. Da man aber keine neurologischen Zeichen für den Rausch findet, was bei zwei Glas Bier auch schwerlich möglich ist, ist die Einbettung unter die alkoholischen Schäden relativ beliebig. Man könnte das Zustandsbild als identisch mit dem der Berserkerwut oder des Amoklaufs ansehen, aber es gibt keine gesellschaftlichen identifikatorischen Vorlagen wie die Bären. Die Germanen hatten diese Identifikationen benutzt, um ihre Krieger in einen gewollten aggressiven Ausnahmezustand zu bringen. Daß man den Zustand im Alkoholumfeld ansiedelt, wie dies z. B. bei Bleuler in seinem Lehrbuch der Psychiatrie getan wird (Bleuler 1969), ist sicher unsere gesellschaftliche Vorgabe, d. h., wir dürfen ein Stück weit unter der Vorgabe eines gesellschaftlich tolerierten Rauschmittels uns in solche Zustände bringen, und können dann eventuell sogar mit Straffreiheit rechnen. Bei diesen Krankheitsbildern, so fremd sie auch erscheinen mögen, kann man durch die ethnopsychoanalytischen und ideographischen Analysen doch Erklärungs- und Behandlungsansätze finden, die von den uns bekannten nicht fundamental verschieden sind (Gerlach 1995). Im DSM IV werden 25 kulturabhängige Syndrome, die auf spezifischen Gemeinschaften und/oder kulturelle Gebiete beschränkt seien, aufgeführt. Die Mehrzahl von ihnen hat aber entweder dissoziative Vorgänge mit wechselnden Identifikationen oder depressive Entwicklungen zur Grundlage (Saß, Wittchen & Zaudig 1996). Die zweite Gruppe des " Übersehens von Phänomenen durch Experten ist mit der posttraumatischen und der traumatischen Neurose recht gut zu beschreiben. Obgleich die traumatische Neurose eine zentrale Bedeutung innerhalb der psychoanalytischen Neurosenlehre hätte haben müssen, und von Fenichel in, wie ich meine, sehr moderner Weise dargestellt wurde, ist sie sehr selten diagnostiziert worden. In die psychiatrischen Krankheitsvorstellungen wurde die posttraumatische Belastungsreaktion erst unter massivem Druck der Vietnamveteranen gegen den Krieg aufgenommen. Dieselben wurden dafür geheimdienstlich überwacht und zu Beginn des Vietnamkrieges war die offizielle Lesart der Militärpsychiatrie, daß es noch nie so niedrige psychiatrische Fallzahlen in einem psychiatrisch dokumentierten Krieg gegeben habe (Tiffany 1967). Bei näherem Hinsehen stellt sich dann aber heraus, daß von Beginn an eine hohe Zahl von Vorfällen wie SchlafwanH
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dein , Angstzustände aber auch "wildes Herumschießen in Rauschzuständen" als Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, die disziplinarische Maßnahmen erforderten, eingestuft wurden (Bomann 1982). In der Version 2 des Diagnostischen und Statistischen Manuals der American Psychiatrie Association von 1968, also zeitgleich zu de n Arbeiten von Tiffany, befand sich in "bezug auf dieses Störungsbild ein blinder Fleck" (Shatan 1981). Mittlerweile wissen wir, daß ein großer Prozentsatz der rückkehrenden deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges an genau dem gleichen Syndrom litt. Es wurde aber selten auch nur ansatzweise als diagnostische Kategorie systematisiert. In der 11. Ausgabe des Lehrbuchs der Psychiatrie von Bleuler (1969) findet man weder Kriegs- noch traumatische Neurosen, wohl aber die "traumatische Begehrensneurose" (Bleuler 1969, S. 515) mit den unmittelbaren Ursachen Schreck beim Unfallereignis, Angst vor den Folgen des Unfalls, Begehren von Entschädigung oder Befreiung aus Schwierigkeiten (z. B. im Frontdienst- Begehrensneurosen). Die Prädispostition liegt in angeborenen oder e rworbenen Persönlichkeitszügen (S. 514). Begutachtungen als Begehrensneurasen erfuhren auch viele ehemalige KZ-Opfer (Niederland 1980). Desweiteren wissen wir heute, daß viele Persönlichkeitsstörungen, vor allem die sogenannten Borderline-Störungen, bei denen im DSM-111-R als prädisponierende r Faktor und familiäre Häufung "Keine Information" angegeben wird, in fast 90 Prozent der Fälle Biographien schwerster Traumatisierungen aus der Kindheit vorzuweisen haben: Mißhandlungen, Prügel, sexueller Mißbrauch, etc. (Putnam 1992, Herrmann, Perry & van der Kolk 1989, Sachsse 1987, 1995). Für die Diagnose ,Traumatische Neurose' wird im DSM-111-R vorausgesetzt, daß die traumatisierenden Erfahrungen außerhalb der üblichen menschlichen Erfahrung (S. 304) liegen. Man kann aber davon ausgehen, daß Mißhandlungen und Mißbrauch durch die Eltern für ei n J(jnd in der traumatischen Bedeutung und in der Pathogenität der Wirkungen durchaus einer Fronterfahrung entsprechen können. Leider sind die entsprechenden Vorkommnisse aber keineswegs außerhalb unserer alltäglich en Erfahrung. Sowohl die traumatische Neurose in ihrer Syndromatik- nämlich durch Wiederholung- als auch die Verursachung in der Mißhandlung und in der Schwersttraumatisierung sind trotzdem jahrelang übersehen worden (Eggers 1990). Im allgemeinen gibt es in diesen Bereichen eine Koalition der Opfer und der Experten, die durchaus halb bewußt ist. Die Opfer wollen selbst nichts mehr wisse n, von den Dingen hören oder verfallen einer Art von Amnesie mit Spaltungen , und die Experten halten lieber an der weniger pathologischen Variante ihrer Weltsicht fest oder gehen eine Liason mit den jeweiligen Herrschaftssystemen ein. D as heißt aber nicht, daß es die ,traumatische Neurose' nicht gegeben hätte und daß sie nicht ein häufiges, sehr verbreitetes Phänomen gewesen sei. In bezug auf das Übe rdehnen könnte man versuchen, die "neuen" Zustandsbilder, wie Rükkenschmerzen sowie das chronique-fatigue-Syndrom (Shorter 1994), als moderne Wiedergeburt der Hysterie zu untersuchen.
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1.5 Zusammenfassung Die psychoanalytische Krankheitslehre beruht auf einem Integrationsversuch verschied ener Teilmodelle, die wir später eingehend besprechen werden. Man sollte jedes Krankheitsbild in den Termini dieser verschiedenen Teilmodelle beschreiben. Es sind dies das Entwicklungs-, Trieb-, Struktur- und Abwehrmodell sowie die Beschreibung der Ich-Funktionen des Patienten. Wenn man diese verschiedenen Teilmodelle zu den Achsen des DSM-IV in Verbindung bringt, wird man sehen, daß die Unterschiede zwischen den Systemen nicht so groß sind, wie sie erscheinen. Leider werden aber die letzten drei Achsen des DSM-IV, die die Körperlichkeit und das psychosoziale Funktionieren abbilden so11ten, selten benutzt. Eines der Probleme des nosalogischen Schemas von Fenichel besteht darin, daß man nur im statistischen Sinne davon ausgehen kann, daß die verschiedenen Teilmodelle miteinander übereinstimmen. Man wird also- um ein Beispiel zu machen - im allgemeinen davon ausgehen, daß eine sogenannt frühe Störung im Sinne einer EntwickJungsdiagnose, also z. B. eine narzißtische Neurose mit primitiven Abwehrformationen, undifferenzierten Affekten, einer Einschränkung der IchFunktionen sowie einer mangelnden Strukturbildung einhergeht. Es gibt aber recht häufig Fälle, in denen ein oder zwei Gebiete, z. B. bestimmte Formen der Ich -Funktionen, kompensatorisch überentwickelt werden, so daß ein wirkliches Verständnis des Patienten gerade aus der Nichtübereinstimmung der verschiedenen Teilmodelle stammt. Als übergeordnete Klassifikationsgesichtspunkte haben sich Begriffe eingebürgert, die aus den untergeordneten Teilmodellen stammen. So stößt man immer wieder auf das Wort "frühe Störung", was bedeuten soll, daß der Zeitpunkt der zentralen Schädigung im a1lgemeinen, "bezogen auf die psychosexuelle Entwicklung, mehr mit prägenitalen als mit ödipalen Stadien zu tun hat, sie eher dyadischen als triadischen Störungsfeldern entstammt, bei ihrer Entstehung eher Schädigungen und reale Überforderungen als innere Konflikte des Kleinkindes eine Rolle spielten, ihre klinischen Erscheinungen eher in emotionalen Defizienzen, Fehlhaltungen, Störungen des Selbstbildes und der Identität, Charakterverzerrungen und Beziehungsstörungen als in zirkumskripten, ich-fremden Symptomen mit ausgeprägtem Leidensgefühl bestehen" (Hoffmann 1986).
Solche Begriffe sind für den klinischen Alltag entstanden und entbehren einer exakten wissenschaftlichen Einteilung. Aussagen über den Zeitpunkt von Schädigungen legen nicht unbedingt eine psychogenetische Entstehung nahe, denn Traumen sind immer Folge der Wechselwirkungen von Verarbeitungskapazität d~s lernenden Organismus und den Umgebungsbedingungen. Wenn also von emer Psychose als "früher" Störung gesprochen wird, heißt dies nicht, daß erbliche Momen:e ausgeschlossen sind. Dies gilt für alle psychischen Störungen. Der Zeitpunkt der Noxe allein kann die Symptomatik nicht determinieren. Die Vielfalt der "früh gestörten" Zustandsbilder- Sucht, Perversion, narzißtische Persönlichkeitsstörungen etc. - machen deutlich, daß die Aussage ,früh' möglicherweise deckungsgleich ist mit dem Postulat, daß die Patienten ,schwer' geschädigt sind. Welche Art der Symptome sie dann aus dieser schweren Schädigung heraus entwickeln, ist aus einem entwicklungspsychologischem Modell mit den Parametern Traumatisierung und Fixierung kaum ableitbar (Krause 1994). 41
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Andere klassifikatorische Begriffe sind ödipal und präödipal sowie prägenital und genital. Präödipal bedeutet, daß von der Beziehungsstruktur der Familie her die innere Repräsentanz der Beziehungen im Kopf des Kindes noch nicht richtig triangulär ist. Das soll heißen, daß der Patient ebenfalls in einer dyadischen Welt lebt. In den ödipalen Entwicklungen kommt eine dritte Person ins Spiel. Prägenital ist eine Aussage über die psychosexueJle Entwicklung dergestalt, daß die kindliche Sexualität noch auf einem Niveau funktioniert, in dem die sogenannten Partialtriebe, also das Spielen mit dem eigenen Körper, den Faeces, das Küssen und Saugen noch nicht in ein im eigentlichen Sinne sexuell zu nennendes Organisationsprinzip eingebaut worden sind. All diese Begriffe werden auch zur Kennzeichnung von Störungsbildern benutzt. Wie wir sehen werden, sind Diagnosen, die sich vorwiegend an Fixierung und Partialtrieb orientieren, ebenfalls nicht unproblematisch. Ob dem sogenannten ödipalen Konflikt tatsächlich die Bedeutung zukommt, die Freud ihm aus verschiedenen Gründen gegeben hat, werden wir hinterfragen müssen. Freud hatte in einer Fußnote seiner Arbeit ,Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie' geschrieben: "Man sagt mit Recht, daß der Ödipuskomplex der Kernkomplex de~ Neurosen ist, ... Jedem menschlichen Neuankömmling ist die Aufgabe gestellt, den Odipuskomplex zu bewältigen . . .. der Fortschritt der psychoanalytischen Arbeit hat diese Bedeutung des Ödipuskomlexes immer schärfer gezeichnet; seine Anerkennung ist das Schiboleth geworden, welches die Anhänger der Psychonalyse von ihren Gegnern scheidet" (Freud 1905, Seite 128). "Er wird begrifflich häufig als die Hauptbezugsachse der Psychopathologie verwendet und für jeden pathologischen Typus seine Position zum Ödipuskomplex und dessen Lösungsversuch zu bestimmen versucht" (Simon 1991).
Wie wir später im entwicklungspsychologischen Kapitel sehen werden, bedarf diese Begrifflichkeit einer genaueren Präzisierung, einmal, weil die Kultur- und Geschlechtsabhängigkeit des Konfliktes nicht eindeutig geklärt ist (Rohde-Dachser 1991), zum anderen, weil noch eine ganze Reihe definitorischer Fragen- z. B. negativer und positiver ödipaler Konflikt und das Verhältnis der präödipalen und antiödipalen Konstellationen - aufgeklärt werden muß. Fürs erste tut man gut daran, den mit der Entwicklungspsychologie mitgedachten Begriffsapparat nicht zum "Schiboleth" zu machen, sondern sich damit zufrieden zu geben, daß es nach der Schwere von Erkrankungen vernünftig ist, eine Zweiteilung in Neurosen und schwerer oder unterhalb der Neurosen zu benutzen, und daß dieselbe in entwicklungspsychol.ogischen Termini ausgedrückt wird. Schwerer bedeutet allerdings keine Gradierung in bezugauf den Leidensdruck und auch nicht immer auf die Dramatik der offenen Symptomatik, sondern beinhaltet wohl eher eine Vorstellung über die noch vorhandene Entwicklungsfähigkeit der betroffenen Personen. Im Rahmen einer psychoanalytischen Krankheitslehre kann es in Abweichung von der Psychopathologie keine feste Zuordnung von Symptomen und Syndromen zur Ätiologie geben, weil ein und dieselbe Symptomatik, z. B. ein Waschzwang, in seiner Persönlichkeitsstruktur betrachtet, einmal das höchst erreichbare Niveau eines Patienten ist - er "rettet" sich also mit einem Zwang vor der Psychose -ein andermal ist das zwanghafte Verhalten ein temporäres Regredieren von einem viel höheren Niveau, wie dies von der Zwangsneurose im engeren Sinne angenom-
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men wird. Indikation und Behandlungstechnik richten sich dementsprechend nicht nach der Symptomatik allein, sondern vor allem nach der Einordnung der Symptomatik in die vorher erwähnten übergeordneten diagnostischen Teilmodelle (genetisch, strukturell, Abwehr). Aus diesem Grunde kann man weder diagnostizieren noch behandeln, wenn man die grundlegenden Modellvorstellungen nicht kennt. Die psychodynamische Diagnose muß verständlich machen, inwieweit ein Lebensereignis, z. B. ein interpersoneller Konflikt, einen intrapsychischen Konflikt und die ihn begleitenden Affekte und Abwehrmechanismen hervorruft und steuert. In der genetischen Diagnose soll versucht werden, die gegenwärtigen Konflikte in das kognitiv-affektive Entwicklungsniveau während der Traumatisierung einzubetten. Die strukturelle Diagnose muß Aussagen machen über das Wirken oder Fehlen intrapsychischer Instanzen wie Ichideal, Überich, im Wechselspiel mit den Triebwünschen und Affekten. Dazu muß man Modelle über innere Instanzen und Repräsentanzen haben. Die Abwehrdiagnose sollte Aussagen machen über das Funktionieren der verschiedenen Abwehrmechanismen, die zur Konfliktoptimierung verwendet werden, und die Ich-Diagnose über die konfliktunabhängigen Formen der Möglichkeiten des Denkens, Wahrnehmens, Handeins einer Person. All diese Modelle sollten wissenschaftlich gesichert sein und über die Grenzen der Psychotherapiesituation hinaus Geltung haben. Nur dann könnte sich die Theorie und die Behandlung wissenschaftlich fundiert nennen. Inwieweit dies tatsächlich der Fall ist, soll uns noch beschäftigen. Die historische Entwicklung der psychoanalytischen Krankheitslehre ist den umgekehrten Weg gegangen. Die psychoanalytischen Modelle sind letztendlich der Behandlungssituation abgerungen worden (Haynal 1994). Dies geschah freilich unter Rückgriff auf die Nachbarwissenschaften als Denk- und Suchheuristiken. Wie wir sehen werden, war dieses Prozedere häufig irreführend, weil die Modelle dem Gegenstandsbereich nicht angemessen waren. Aber das weiß man immer erst hinterher. So hat es sich als recht störend erwiesen, soziale Beziehungen in Begrifflichkeiten der Physiologie zu konzipieren. Auf der anderen Seite ist die soziale Situation der Psychoanalyse und ihre mentale Repräsentanz in mancher Hinsicht von Alltagssituationen einerseits und denen anderer Behandlungsformen sehr verschieden. Sie stellt aber die Empiri.e dar, aus der die Theorie entwickelt wurde. Deshalb müssen wir uns vorweg recht ausführlich mit der "Natur" solcher Beziehungen auseinandersetzen. Dies soll in mehreren Schritten geschehen. Zuerst wird die therapeutische Situation als Erfahrungsgrundlage für Theoriebildungsprozesse diskutiert werden. Dort sollen Fragen angegangen werden, was für eine Art von Beziehung dies ist, wie sie mit dem Suggestionsproblem und der daraus folgenden Beliebigkeit der Theorien verknüpft ist. Dann wollen wir die therapeutische Situation anhand von 15 Fällen kennenlernen. Diese 15 Fälle stammen teilweise aus einem Forschungsprojekt, das wir zur Untersuchung psychotherapeutischer Prozesse von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert bekamen1. Den Einstieg wollen wir dabei nicht über die klinische Fallvignette, die ich mit
1 DFG-Projekt Kr 843/4-1/4-3 Multikanale Psychotherapieforschung.
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Meyer (1994) zur klinischen Darstellung psychoanalytischer Prozesse für unverzichtbar, für die Forschung und Supervision aber für ganz ungenügend halte, machen. Wir werden dann drei Prozeßverläufe psychoanalytischer Kurztherapien, von denen zwei im Rahmen des Forschungsprojektes mit allen Regeln "der Empirie" untersucht wurden, näher betrachten. In zwei der Verfahren war ich elb t als Therapeut Gegenstand der Forschung und werde in der Doppelrolle als psychoanalytischer "On-line"-Forscher und Therapeut (Moser 1991) und späterer Beobachter und Kommentator das Geschehen darstell en. Ich schreibe dies bereits hier, um dem Leser nicht den Eindruck zu vermitteln- oder ihn zu erschreckenich sei der Meinung, man könne Beziehungen oder gar psychoanalytisch-psychotherapeutische Beziehungen durch externe Daten vollständig abbilden. Das wäre sicher irrig. Das Verhältnis von äußerer Beschreibung und der inneren Abbildung der äußeren D aten ist aber eines der wesentlichen Probleme der Theoriebildung und der Behandlungstechnik. Dann werden wir die strnkturellen überindividuellen Rahmenbedingungen der Psychotherapie als soziologisches und sozialpsychologisches G eschehen besprechen und versuchen, die im engeren Sinne psychoanalytischen Vorstellungen von anderen Handlungsmodellen abzugrenzen. D ann erst werden wir zu den Modellen selbst kommen, und sie daraufhin abprüfen, inwieweit sie über die Rahmenbedingen, in denen sie entwickelt wurden, hinaus Gültigkeit beanspruchen können. Die Übertragung auf andere Situationen ist nämlich eine heuristisch vernünftigere Strategie, aber die Zulässigkeit der Anwendung bedarf eines zusätzlichen Nachweises, der nicht aus der psychoanalytischen Situation selbst kommen kann.
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2 Die therapeutische Situation als Erfahrungsgrundlage für die Theoriebildung
2.1 Einleitung Psychotherapie im allgemeinen und speziell Psychoanalyse findet im Rahmen einer Beziehung statt. Es können zwei oder mehrere Personen anwesend sein, aber das sine qua non von Psychotherapie scheint zumindest auf den ersten Blick die Gegenwart eines Therapeuten. Man kann sich heilsame therapeutische Settings ohne Menschen vorstellen. So mag sich ein seelisch Verletzter in die Einsamkeit der Natur zurückziehen und dort in der Beziehung zu den Pflanzen und Tieren Gesundung suchen. Diese Vorstellung ist sehr alt und gleichzeitig modern. Hildegard von Bingen, die im 11. und 12. Jahrhundert lebte, hatte für diese Form der heilsamen Beziehung zur Natur den Begriff ,viriditas' geschaffen (Ahlert & Enke 1993). Anfang des 19. Jahrhunderts verschrieb man Reisen als Mittel gegen die Melancholie. Es ist nachgewiesen, daß Haustierhaltung in mancher Hinsicht psychophysisch benevolente Wirkungen aufzuweisen hat. Gegenwärtig gibt es therapeutisches Reiten für Behinderte und Schizophrene. Die bei uns praktizierten und bezahlten Psychotherapieformen sind allerdings auf menschliche Beziehungen angelegt. In einer Überblicksarbeit haben Orlinsky und Howard (1986) 1100 Psychotherapie-Forschungsarbeiten aus einer Zeitspanne von 35 Jahren auf die Möglichkeiten der Zusammenhänge zwischen den Ergebnissen und Prozeßvariablen untersucht. Eines der robustesten Resultate war, daß die Qualität der therapeutischen Beziehung über alle Prozeßperspektiven hinweg durchgängig mit guten Ergebnissen verbunden ist (Orlinsky & Howard 1986). In neuererZeithaben Schindler (1991) und Grawe (1992) diesen Befund auch für die Verhaltenstherapie geltend gemacht. Die Begründung dafür ist vielfältig. Viele psychische Störungen entstehen in Beziehungen, dort werden sie perpetuiert, aber dort sind sie auch behandelbar (Hahlweg, Müller, Feinstein & Dose 1988). Die Frage nach dem, was eine therapeutisch wirksame Beziehung ausmacht, ist keineswegs geklärt, und die Frage danach ist nicht trivial, wie viele Laien, aber auch manche ältere, kognitive und problemlösungsorientierte Therapeuten meinen (Caspar 1987 a, b, 1989). Wir haben immerhin einige Hinweise darauf, was es nicht ist. Aus der ersten Metaanalyse von Orlinsky & Howard (1986) kann man, wenn auch \ mit einiger methodischer Vorsicht, entnehmen, daß es sich dabei keineswegs um . eine im landläufigen Sinne angenehme Beziehung handeln muß, denn das Erleben negativen Affektes durch den Patienten, vor allem zu Beginn der Behandlung, ist sehr oft mit positiven Ergebniswerten verbunden und Konfrontationen auf seiten des Therapeuten ebenfalls, wohingegen Unterstützung, Ratgeben und Selbstöffnungen des Therapeuten keine Korrelationen zu irgendwelchen Erfolgsmaßen haben (S . 364). Gute alltägliche Arbeitsbeziehungen hingegen können im allgemeinen durch ein recht niedriges Niveau an negativem Affekt gekennzeichnet 45
werden. In außertherapeutischen Liebesbeziehungen gibt es eine Neigung, die Beziehung emotional symmetrisch zu gestalten und sich gegenseitig ganz praktisch zu unterstützen. Für die psychotherapeutische Beziehung gilt dies nicht. Sie sind emotional sehr asymmetrisch, mit einer hohen emotionalen Offenheit aufseitendes Patienten und ei ner sehr geringen emotionalen Selbstöffnung des Therapeuten. Daraus fol.gt im allgemeinen auch eine Macht- und lnterpretationsdifferenz, die uns im Zusammenhang mit der Theoriebildung noch beschäftigen wird. Nun will ich damit nicht sagen, daß man seinen Patienten gegenüber grob, verschlossen und trotzdem erfolgreich sein könnte. Aber es ist ganz zweifellos so, daß elementare Regeln von Alltagsbeziehungen in allen Psychetherapien außer Kraft gesetzt werden müssen. Unsere Anfängerstudenten haben große Mühe, das zu lernen , weil sie Gott sei Dank gelernt haben, "nett und höflich" zu sein. In Alltagsbeziehungen ist es zum Beispiel grob unhöflich, nichts selbst dazu beizutragen, ein Gespräch am Laufen zu halten. Wenn sich unsere Patienten nicht äußern, ist es abe r in den meisten Fällen angebracht, ebenfalls den Mund zu halten. Auf keinen Fall können wir einen netten Schwatz über die Kinder oder das Wetter anbieten. Psychotherapeuten, die nicht schweigen können , mögen nette Menschen sein, aber ihr Handwerk beherrschen sie nicht. Wenn vieles an der psychotherapeutischen Situation so unangenehm ist, taucht natürlich die Frage auf, warum so viele Personen einen so großen G ewinn aus ihr ziehen können, und meist ihre Psychotherapeuten rückwirkend als beeindruckende Personen in guter Erinnerung haben. Um sich der Lösung dieses Problems anzunähern, mag eine Einteilung aus der Fachliteratur von Nutzen sein. Dort hat man, wenn auch mit einer gewissen Willkür, das Geschehen zwischen Patient und Therapeut in eine mehr am Alltag orientierte therapeutische Arbeitsbeziehung, die eine Form von Bindung und Engagement voraussetzt, und in einen davon getrennten durch eine spezifische Behandlungstechnik gesteuerten Problemlösungsante il aufgespalten. Diese Einteilung gilt me hr oder weniger für alle Behandlungsfo rmen. Wenn man mittels Manualen, Video oder Tonbandaufnahmen überprüft, inwieweit die Therapeuten der verschiedenen behandlungstechnischen Ausrichtungen auch tatsächlich das tun, was sie gelernt haben, also z. B. "kognitive Verhaltenstherapie" oder "aufdeckende Psychoanalyse", dann schneiden diejenigen am besten ab, die auch am reinsten ihre gelernte Technik realisieren (Crits-Christoph 1992, Luborsky, Chandler, Auersbach, Cohen & Bachran 1971, Luborsky, McClelland. Woody, O 'Brien, Auersbach 1985, Schulte & Künzel , 1989). Auch das ist auf den e rsten Blick nicht unmittelbar einleuchtend, denn erstens könnte man sagen, am besten schnitte de r ab, der aus allen Verfahren die wirksamsten Bausteine herausgreifen würde, wie dies häufig in einer allgemeinen Theorie der Psychotherapie gefordert wird (Grawe, Donati & Bernauer 1994), und zweitens ist für einen Laien die Gestaltung einer Beziehung unter dem Verdikt einer Technik im allgemeinen wenig authentisch und spontan, also im Alltagssinne wiederum wenig "gut". So ist z. B. die therapietechnische Regel der Psychoanalyse, nach der der Patient alles mitteilen soiJ, was ihm durch den Kopf geht, ohne vorweg zu entscheiden, was er für irrelevant oder peinlich hält, für viele Patienten recht befremdlich und mündet in einen Konflikt ein, den man in etwa so umschreiben kann: Teile ich die pe inlichen Phantasmen nicht mit, mache ich mich schuldig, teile ich sie mit, beschäme ich mich. Vielleicht ist es so, daß die sogenannt gute Arbeitsbeziehung zwischen Psychotherapeut und Patient ein Stück weit die Voraussetzung für das
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Ertragen der unangenehmen Anteile dieser Beziehung ist. Das gilt wahrscheinlich für alle Behandlungsformen-auch für diejenigen, die sich darum im ersten Durchlauf theoretisch nicht gekümmert haben. Tatsächlich stehen und fallen auch die verhaltenstherapeutischen Erfolge, die ja häufig mit 60-80 Prozent angegeben werden, mit der ausreichenden Motivierung der Patienten, sich die Behandlungsprogramme überhaupt zuzumuten (Kanfer, Reinecker & Schmelzer 1991). Die Erfolgsziffern beziehen sich häufig auf die Klientel, die nach einem langen informellen und formellen Ausleseverfahren die Behandlungstechniken absolviert haben. Wenn wir, dem Jahresbericht der Dornier-Klinik in Münster folgend, annehmen, daß sich ca. 1000 Patienten auf Grund von Prospekten bzw. Überweisungen für eine Behandlung interessiert haben, davon ca. 300 genommen wurden und von diesen 300 im wesentlichen diejenigen 60 Prozent, die ein Motivationsprogramm, die Behandlung zu machen, überstehen, behandelt werden, kann man die Bedeutung der motivierenden Beziehung auch für die Verhaltenstherapie deutlich abschätzen. Wir können dazuhin davon ausgehen, daß die 1000 Interessierten bereits eine hoch selektierte Gruppe darstellen, die auf Grund Prospektmaterials oder Hinweisen von niedergelassenen Verhaltenstherapeuten auf die Klinik hingewiesen wurden, so daß der Anteil der durch das Verfahren wirklich erfolgreich behandelten an der Grundgesamtheit von Patienten absinken dürfte. Mir selbst ist es in zwei Fällen nicht gelungen, Angstpatienten in verhaltenstherapeutische Spezialkliniken zu überweisen, obgleich ich mir alle Mühe gegeben hatte, sie dazu zu motivieren. Auch die Verhaltenstherapeuten brauchen also eine exzellente Beziehung, damit die Patienten die Therapietechniken an sich zuzulassen. Die Notwendigkeit einer Einteilung in Beziehung und Technik legt es nahe, daß es sich bei der Integration dieser beiden Bereiche wahrscheinlich um das Grundproblem aller Psychetherapien handelt. Auf jeden Fall haben wir ein Optimierungsproblem vorliegen, das man ansatzweise so beschreiben kann: Zu viel Beziehung stört und behindert die Technik. Wenn wir mit unseren Patienten Tee trinken oder ausgehen, wird die Behandlungstechnik außer Kraft gesetzt. Tatsächlich geschehen solche Dinge nur zu häufig. Im Zwischenbericht für das Bundesministerium für Frauen und Jugend zum Forschungsprojekt "Sexuelle Übergriffe in Psychotherapie und Psychiatrie" (Hecker-Fischer, Fischer, Heyne & Jerouschek 1994) wird von einem Minimalwert von 300 Betroffenen pro Jahr in der Bundesrepublik, bezogen auf die Grundgesamtheit der ca. 100 000 Patienten und Patientinnen, die eine kassenfinanzierte, psychotherapeutische Behandlung erhalten. Unter Einbeziehung der nicht von den Kassen anerkannten Therapieformen ergeben sich mindestens 600 Betroffene. Da eine mangelhafte klinische-therapeutische Ausbildung einer der Risikofaktoren aufseitender Therapeuten darstellt, dürfte die Prävalenzrate in der letzten Gruppe noch weit größer sein. Von den pseudoreligiösen Behandlungsgruppen spreche ich gar nicht. Läßt man allerdings die gute Beziehung außer acht und versucht, sich auf die Applikation einer Technik zu beschränken, gibt es erst recht keine Behandlungserfolge (Schind] er 1991, von Zeppelin 1991). Die Angstpatienten, die sich verhaltenstherapeutisch behandeln Jassen, müssen in Aufzüge steigen und von oben herunterschauen, sie finden das im allgemeinen wenig erfreulich, tun es aber auch ein stückweit ihren Therapeuten zu Liebe oder zu Gefallen. Auch die oben erwähnte psychoanalytische Grundregel, alles mitzuteilen, was einem durch den Kopf geht, macht natür47
lieh nur Sinn, wenn der Patient das Gefühl hat, vom Therapeuten so akzeptiert und gemocht zu werden, daß alle seine Ideen- und seien sie noch so "verrückt" -beim Anderen gut aufgehoben sind. Eine solche innere Haltung setzt natürlich ein großes Ausmaß an Zuneigung, Respekt und Liebe voraus. Aus dem bisherigen kann man ableiten, daß die unangenehmen und systematischen Teile einer Psychotherapie im aUgemeinen in der Technik axiomatisiert und realisiert werden, die angenehmen und bindenden .in der Arbeitsbeziehung. Spätestens jetzt sollte es klar geworden sein, daß dieUnterscheidungvon Behandlungstechnik und Arbeitsbeziehung der Komplexität des psychotherapeutischen Geschehens in keiner Weise gerecht wird, denn es scheint ja das Problem der meisten - wenn nicht gar aller Patienten- zu sein, daß sie eine jeweils spezifische Neigung haben, ihre Beziehungen nach Maßgabe ihrer psychischen Probleme zu gestalten, d. h., daß viele Patienten von ihrer Problematik her dazu gezwungen sind, solche guten Beziehungen gar nicht zuzulassen, oder so sie sich denn entwikkeln, zu konterkarieren. So haben viele Patienten mit Störungen der Selbstwertregulation eine Neigung, sehr intensive heftige, unrealistische "Beziehungen" nach dem Typus einer Idealisierung, die gleichzeitig eine vermeintliche Selbstaufgabe beeinhaltet, einzugehen. Da sie die Intensität dieser idealisierenden Beziehung gar nicht ertragen können, muß eine der wesentlichen Beziehungsregeln darin bestehen, die Intensität auf ein für den Patienten eben noch erträgliches Niveau herunterzufahren, obgleich der Patient selbst eine viel intensivere Form von Begegnung wünscht und sich bitter darüber beschwert, daß er sie nicht bekommt. Einer meiner narzißtisch gestörten Patienten, der neben vielem anderen unter schweren Wochenenddepressionen litt und sich intensiv wünschte, bei mir sein zu können, half sich so, daß er eines meiner Bücher auf den Schreibtisch stellte und sich so ein Stück idealisierte Gegenwart schuf. Das Arrangement war wie ein Altar. Er hütete sich allerdings wohlweislich davor, hineinzuschauen, weil er ahnte, daß der erste Fehler, den er entdeckte, die Idealisierung zum Einsturz bringen würde. Eine BorderlinePatientin mit ähnlicher Problematik hörte sich am Wochenende meine Stimme, die sie aus einem Radiovortrag gespeichert hatte, wieder und wieder an, ohne daß der Inhalt für sie eine Bedeutung gehabt hätte. Die Stimme der idealisierten Person konnte sie beruhigen. Es ist eines der störungsspezifischen Leiden der Psychotherapeuten, solch intensiven Idealisierungen, sogar wenn sie sie selbst gern haben, nicht nachzugeben. In der Tätertypologie der sexuellen Übergriffe findet man nicht eben selten männliche Therapeuten, die eine Idealisierung ihrer Beziehung und ihrer Sexualität mit den Patientinnen teilen und fördern. Die Probleme der Patientinnen, die das Gefühl vermittelt bekommen, sie selbst nicht mehr lösen zu können, werden über die Realisierung dieser idealisierten Sexualität scheinbar behandelt. Auf einem Niveau darunter findet man freilich intensiven Haß und Neidgefühle den Patientinnen gegenüber, die von der Phantasie gespeist werden, man bekomme nicht genügend von der Welt und den Patientinnen. Andere leiden schon an dem Vorgang der Idealisierung selbst. Es ist nicht jedermanns Sache, als Guru durch die Köpfe anderer Menschen zu wandern. Patienten mit Zwangsstörungen haben im allgemeinen große Angst vor Gefühlen und Trieben und müssen Beziehungen, in denen solches droht, abbrechen. Gleichzeitig haben sie aber eine Neigung, ganz unter der Hand bei anderen eben solche teilweise sehr heftigen Gefühle zu provozieren, so daß sie hinterher als Opfer der 48
von ihnen selbst provozierten Affekte die Beziehung abbrechen müssen. Einer meiner Patienten mit einer Zwangsstörung brachjeden Kontakt mit seinem Platznachbar in einem Chemielabor ab, nachdem dieser mehrfach Utensilien in seinen Arbeitsplatz hineingesetzt hatte. Da er ihm nicht sagen konnte, wie sehr ihn dies beschränkte, ging_er zum Institutsleiter und verlangte eine Hausordnung, nach der solche schweren Ubergriffe des Kollegen unmöglich gemacht werden sollten. Dieses neu zu schaffende Recht sollte, so seine Forderung an den Direktor, sofort und mitleidlos an seinem Nachbarn vollzogen werden. Nachdem der Direktor denselben angesprochen hatte, fragte er meinen Patienten, sehr verärgert, ob er denn verrückt sei, so einen Aufstand zu machen. Von da an brach mein Patient den Kontakt ab. Auch bei diesen Patienten ist eine spezifische Beziehungsregel notwendig, die man in etwa so formulieren könnte: Auch wenn der Patient fortlaufend Arger provoziert, gebe man dieser Tendenz im offenen Verhalten in der Beziehung nicht nach. Vielmehr arbeite man mit ihm an der Angst, selbst offenen Ärger zu empfinden und zu äußern. Daß man bei einem solchen Vorgeben teilweise außerordentliche Provokationen ertragen muß, ohne ihnen nachgeben zu können und zu dürfen, ist eines der anderen spezifischen Leiden, die diesen Beruf schwierig machen. Manche Angstpatienten lassen sich nur zu gerne führen (König 1991), andere, wie die Borderline-Patienten, "benehmen" sich ungewöhnlich abstoßend (Kernberg, Selzer, Koenigsberg, Carr & Appelbaum 1989). Wir sehen, daß eine vernünftige Indikationsstellung und die dazugehörige Behandlungstechnik auch Aussagen darüber machen muß, wie ein spezifischer Psychotherapeut mit einem spezifischen Patienten mit einem spezifischen Störungsbild die Beziehung gestalten sollte, und zwar ganz unabhängig von der angewandten Behandlungstechnik Manche Behandlungsformen, z. B. die Gesprächspsychotherapie, haben versucht, ohne solche störungsspezifische Beziehungsmodelle auszukommen, um feststellen zu müssen, daß bei Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung, z. B. Borderline-Persönlichkeitsstörungen, die Erfolgsrate niedriger liegt als bei der Gruppe der ICD-9-Diagnosen aus dem Umfeld der Neurosen (Biermann-Ratjen, Eckert & Schwartz 1995, S. 157). Dies muß nicht weiter verwundern, weil das geforderte Ausmaß von Beziehungsfähigkeit zu sich selbst und zum gesprächspsychotherapeutischen Beziehungsangebot durch die spezifische Abwehrform nicht gegeben ist. Wenn man diese komplizierten Verhältnisse in Rechnung stellt, hilft die Unterscheidung von therapeutischer Arbeitsbeziehung und Behandlungstechnik nicht sehr viel weiter. Wir müssen die Voraussetzung für eine qualitativ gute Beziehung zwischen Psychotherapeut und Patient präziser definieren. Wiederum technikübergreifend ist m. E. die zentrale Voraussetzung dafür die, daß der Therapeut den Patienten aus dessen inneren Bezugsrahmen, den derselbe allerdings nicht notwendigerweise selbst kennen muß, heraus versteht. Dieser Verstehensvorgang schließt ein, sich selbst mit den Augen des Patienten sehen zu können, und dieses noch gar nicht ausformulierte innere Bild in bezug auf die Kompatibilität mit dem Entwurf der eigenen Person zu prüfen. Dieser Vorgang ist schwerlich nur durch Nachdenken zu bewältigen, sondern setzt eine Teilhabe an der Gefühlswelt des Patienten und der mit ihr verbundenen Phantasien und Kognitionen voraus. Diesen Vorgang kann man dann Empathie nennen, wenn er gleichzeitig ein Wissen einschließt, daß in mir die entstandenen Gefühle vom anderen stammen, und 49
dies ist mehr ein definitorisches Erfordernis, daß das eigene Gefühl tatsächlich in systematischer mir bekannter Weise mit der inneren Welt des Anderen verknüpft ist. Ich meine, daß es definitionsgemäß keine "falsche" Empathie geben sollte. Es gibt alle möglichen fa lschen Annahmen, die wir mit dem anderen verknüpfen können, aber dann solJte man den Begriff Empathie nicht benutzen. Empathie schli eßt eine Form von Mitfühlen und meistens auch Mitleiden ein. Empathie hat aber auch einen kognitiven und einen prosozialen Handlungsanteil, der mindestens ebenso bedeutend wie der affektive ist. Das Zusammenspiel dieser kognitiv, affektiven Handlungsprozesse in einer Beziehung können wir als den Kern des psychotherapeutischen Geschehens betrachten. Der affektive Anteil besteht darin, eine emotionale Erlebnisfähigkeit, oder wenn man so wm, eine Resonanzfähigkeit aufzuweisen, die es überhaupt gestattet, die Gefühle des Patienten wahrzunehmen und even tuell zu teilen. Das muß nicht notwendigerweise das gleiche Gefühl sein, sondern kann auch die Fähigkeit sein, sich in jeweils spezifischer Weise zu ganz anderen Affekten, die der Patient eben selbst nicht haben kann, provozieren zu lassen, wie ich dies oben bei den Zwangspersönlichkeiten aufgezeigt habe. Davon unabhängig besteht die kognitive Fähigkeit darin, die Perspektive und RoHe des anderen zu übernehmen. Sie ist auch die Voraussetzung dafür, daß der empathisch miterlebende Therapeut in die Lage versetzt wird, ein in ihm induziertes Gefühl als nicht von ihm selber stammend zu erkennen. Der empathische Vorgang ist also bei weitem voraussetzungsreicher als das einfache Mitleiden. Das unterste Niveau des Mitleidens beruht wahrscheinlich auf Vorgängen der Affektansteckung (Bischof-Koehler, 1989). Die Wahrnehmung affektiver Ausdrucksmerkmale von Artgenossen wirkt nach der Art eines angeborenen auslösenden Mechanismus, so daß die entsprechenden Emotionen im Beobachter direkt induziert werden können. In diesem Sinne sind alle geäußerten Affekte wie Wut, Trauer, Freude, Angst prinzipiell hochgradig ansteckend. Dieser Prozeß setzt keinerlei kognitive Fähigkeiten voraus, außer, daß der Affekt des anderen als Schlüssel.reiz wirken kann. Das ist schon bei Kleinkindern ab dem dritten Monat nachweisbar, und dementsprechend finden wir in diesem Alter intensive Formen von zirkulären kreisförmigen Affektansteckungsprozessen. Eine meiner Patientinnen mußte ihr Haus heimlich durch die Garage verlassen, weil ihre 4jährige Tochter den Haupteingang bewachte, und die Mutter sofort durch ihr Weinen in einen (wie sie meinte) identischen Zustand bringen konnte. Auch bei Erwachsenen führen Affektansteckungsprozesse, vor allem solche von hoher Intensität, zu einem regressiven kognitiven Zustand, in dem im allgemeinen die Grenzen zwischen dem Selbst und dem Andern verschwindet. Freilich ist die Bereitschaft, solche regressiven Zustände zu ertragen, auch Voraussetzung für empathische Vorgänge. Wer sich also in diesem Bereich stets abgrenzen muß, dem fehlt die verhaltensmäßige Grundlage, sich mit dem Patienten gefühlsmäßig identifizieren und über diesen Weg vielleicht empathisch verstehen zu können. Gleichzeitig ist dieser regressive Zustand des Mitleidens für den psychotherapeutischen Prozeß hinderlich. Es bringt dem Patienten nicht viel, wenn zwei Leute traurig sind und weinen und dann möglicherweise nicht einmal wissen, warum. Im Gegenteil, solche Formen von Affektansteckung perpetuieren im allgerneinen die Leidensgeschichte der Patienten. Auch in Mutter-Kind-Interaktionen läßt sich zeigen, daß die "empathischen Mütter" zwar den Affekt des Kindes intensiv erle-
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ben, ihn aber nicht einfa
->
Geruch
1 Wärme
Affektdisplay
Abbildung 4: Linsenmodell des Beziehungsgeschehens
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Gehör
Sprache
Gesicht
Position
bewegungen
Kanäle
I
könnte einen Affekt, wenn auch mit sehr unterschiedlicher Genauigkeit aus der Stimme, aus den Gesichtsbewegungen, aus den Handbewegungen erschließen. Ebenso scheint es denkbar, Triebzustände aus den Atemmustern, der Weite der Pupillen, der Hautfarbe etc. zu erspüren. Der Empfänger hat nun sensorische Kanäle, die das vielfältig in der Linse des Verhaltens gebrochene Muster wieder aufnehmen. Auf Grund seiner Erfahrung, der Einschätzung des situativen Kontextes und Rahmens "schließt" er auf die von A gemeinten Intentionen, Eigenschaften, Affekte und Triebzustände. Er kann dazu sei n Gehör, sein Gesicht, seinen Geruch, seine taktilen und Wärmesinne benutzen. Beziehungen sind vor diesem Hintergrund eine sehr sinnliche, sensorische Sache. Schließen ist also als Metapher für den kognitiven letzten Teil eines sinnlichen Prozesses zu verstehen. Dieser kognitive Prozeß muß allerdings keine höheren Funktionen beanspruchen. Das Kleinkind "weiß", was "Komplementarität" ist (Gergely 1995). Es weiß wohl auch, wie Angst aussieht (z. B. im Gesicht) und wie sie sich anfühlt, wenn der Körper steif wird. Das liegt darin begründet, daß die körperlichen Verhaltensweisen Teil der Affekte und Intentionen sind. Es ist also nicht so, wie das Mode]] es nahelegt, daß sich etwas Mentales ausdrückt, das selbst kein körperliches Substrat hat; vielmehr sind die körperlichen Verhaltensweisen wenigstens partiell die Affekte selber, damit ist diese Art von Informationsübermittlung nicht nur kalt und kognitiv, wie es die Metapher von Sender und Empfänger nahelegt, sondern heiß und affektiv, wie wir es für Menschen für eher zutreffend halten. Wieviel an peripherer "Ausdruckshitze" ein Mensch braucht, um etwas zu "erleben" , wird seit langem heiß diskutiert. Die Unterscheidung zwischen Sender und Empfänger ist nur für die Sprache sinnvoll. In den anderen Kanälen produzieren beide synchron eine ungeheure Menge kommunikativen Verhaltens. ·"Attunement" z. B. bedeutet die Aufhebung von Sender und Empfänger, weil die Abstimmung der Bewegungen in einer zeitlichen Auflösung stattfindet, die die Suche nach dem Verursacher nicht mehr gestattet. Schließlich bestimmt der Zustand des Empfängers ein Stück weit die Regeln, nach denen er das Verhalten seines Partners "verrechnet". Nicht nur der situative Rahmen bestimmt die Interpretationsregeln, sondern auch die Affekte selbst. Es gibt affektspezifische Entschlüsselungsregelungen für soziale Interaktionen: So kommt eine Person im Zustand der Angst, auf der Grundlage des gleichen Verhaltens seines Partners, zu anderen Folgerungen über dessen Motive und innere Zustände als im Zustand der Freude (Isen 1993, Schwartz 1993). Man kann die affektspezifischen Entschlüsselungen auch aus den Gesetzen der Emotionen ableiten. Frijda (1988) kann zeigen, daß, wenn eine Emotion einmal entwickelt ist, derjenige, der sie hat, zwangsnotwendig in eine bestimmte kognitive Struktur hine.ingezwungen wird, ein ärgerlicher Therapeut z. B. das Geschehen a priori in einen Kampfrahmen interpretieren muß. Ob er ihnen dann auf der Handlungsebene folgt, ist eine andere Frage. Wie man das Geschehen "inhaltlich" gliedert, hängt sehr von der Interessenlage des Forschers ab. Da wir als Psychotherapeuten unter anderem nach unbewußten Intentionen suchen, empfiehlt es sich, auf sogenannte "natürliche" Beobachtungseinheiten zurückzugreifen. Darunter seien solche zu verstehen, die unter Alltagsbedingungen von fast allen Personen benutzt und verstanden werden. Die in der Abbildung 4 benutzte Gliederung nach Verhaltensklassen ist eine solche. Sie geht auf Arbeiten von Ekman & Friesen (1969) zurück und unterscheidet den Sprach-
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produktionsprozeß im engeren Sinne von Emblemen, Regulatoren, Illustratoren, Körpermanipulatoren und Affekten. Indem ich nun diese Verhaltensgruppen definiere, werde ich auch die Vergleiche zwischen den oben eingeführten Beziehungstypen "Alltagssituationen zweier Gesunder", "Alltagssituationen, bei der einer der Interaktionspartner psychisch krank ist, der andere ein gesunder Laie, der aber von der Erkrankung nichts weiß", "Psychotherapie im Sitzen und große Psychoanalyse im Liegen" anstellen. Wir werden die einzelnen Funktionssysteme durchgehen und sie kursorisch besprechen. Die Affekte werden wir wegen der großen Bedeutung gesondert herausgreifen. Die Sprache soll vorläufig ausgeklammert werden.
2. 2.1.1 Körperbewegungen Körperbewegungen ohne nähere Spezifikation sind natürlich keine Funktionseinheit. Allerdings unterliegen Körperbewegungen in der Dyade - vor allem von Gesunden- einer unbemerkten wechselseitigen Feinsynchronisierung, die sich in einem zeitlichen Rahmen abspielt, der unter der üblichen Reaktionszeit Jiegt. Solche dyadischen Körperbewegungen haben sehr wohl eine Funktion, nämlich die der Steuerung von gemeinsamer Erregung und Intimität. Die zeitliche Reziprozität, in der eine Person unmittelbar mit demselben Verhalten antwortet, ist von hoher Bedeutung für viele Dimensionen der Beziehungsregulierung. Ein anderer Organisationsrahmen für diese dyadischen Bewegungsphänomene ist der Hörer-/ SprecherwechseL Bei den verschiedenen Krankheitsgruppen ist die Synchronisierung der Körperbewegungen mit dem anderen auf eine je spezifische Art und Weise gestört, am gewichtigsten bei den an Schizophrenie Erkrankten (Steimer-Krause 1994). Manchmal. sind nur bestimmte Partien des Körpers desynchronisiert, wie bei den Stotterern und ihren Partnern, manchmal scheint das Organisationsschema für Körperbewegungen schon auf der Ebene des Individuums desynchronisiert, so daß sich die fehlende Selbstsynchronisierung in der fehlenden dyadischen Synchronisierung fortpflanzt (Scheflen 1981). Es handelt sich dabei möglicherweise um die Fortschreibung des von Stern (1992), Schellen (1981) und anderen beschriebenen basalen Beziehungsverhaltens, das mit geglückten Bindungserlebnissen zu tun hat (Steimer-Krause 1994). Die Synchronisationsphänomene und ihre kinesthätisch visuelle Rückmeldung in der Dyade entfallen auf der Couch, zumindest für den Patienten. Er kann nicht sehen, wie der Therapeut im weitesten Sinne mitschwingt. Desweiteren fehlen die aus dem Körper stammenden Hörer-/Sprecher.ignale. Da die Feinsynchronisierung der Körperbewegungen sehr eng mit der wechselseitigen Bindungsversicherung zu tun haben, dürfte es schwierig sein, ein holding environment interaktiv auf der Couch herzustellen. Möglicherweise ist dies einer der Gründe dafür, daß schwergestörte Patienten, die eine stützende, fortlaufende Bestätigung des Gehaltenwerdens benötigen, im Couchsetting ins Leere fallen. Wie wir später sehen werden, unterscheiden sich die sitzenden Behandlungen nicht wesentlich von den Laieninteraktionen in bezug auf diese Synchronisationen und Abstimmungen von Körperbewegungen.
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2.2.1.2 Die Körpermanipulatoren Die Körpermanipulatoren sind Bewegungen eines Körperteils an einem anderen, wie streicheln, kratzen etc., die manchmal die ursprüngliche Herkunft aus einer Selbstpflege-oder Schädigungsreaktion erkennen lassen. Bei Gesunden treten sie einerseits als Indikatoren für Streß und Unwohlsein, als verhaltensmäßige Äquivalente von Kontrolle bei Täuschungsversuchen und falschem Affekt, aber auch andererseits als Teil des Werbeverhaltens in einem erotisierten Kontext auf. Scheflen (1981) nennt diese Verhaltensweisen "quasicourtship" behavior. Die Person fährt sich selbst durchs Haar, streichelt sich den Bart, leckt die Lippen ab etc. Innerhalb der Therapien spielen sie für die Erotisierung und Bindung eine große Rolle. Sie unterliegen im allgemeinen keiner bewußten Kontrolle und sind nur bei Aufmerksamkeitswechsel der bewußten Steuerung zugänglich. Das Bewußtwerden ist häufig schambesetzt Im deutschen Sprachraum hat Grammer (1988) solche Signale der Liebe sehr genau untersucht. Im liegenden settinghat der Patient natürlich wenig Möglichkeiten, solches Werbeverhalten an den Mann bzw. an die Frau zu bringen, wohingegen in den sitzenden Psychotherapien wie den Alltagsdialogen man eine Fülle solcher Verhaltensweisen registrieren kann. Die Indikatoren für Streß und Unwohlsein findet man im Couchsetting allerdings mit der üblichen Häufigkeit. Patienten, deren Verhaltensregulation sehr stark um die Erotisierung angesiedelt ist, wie die Hysterie, aber auch bei narzißtischen Selbstdarstellungen, beklagen sich häufig über das Fehlen dieser Möglichkeiten auf der Couch.
2.2.1.3 Regulatoren Dabei handelt es sich um Verhaltensgestalten des ganzen Körpers, des gestisch mimischen und vokalen Systems sowie des Kopfes, die die Hörer-/Sprechenustände in einer Dyade steuern. Bis zu 80 Prozent der Varianz der Hörer-/Sprecherregulation wird durch dieses nonverbale System geregelt. Es besteht aus zwei Regulationskontexten, den Zuhörersignalen und den Sprechersignalen (Duncan 1977). Der Vorgang des Sprechens bzw. Schweigens ist in Alltagssituationen mit der Autonomieregulierung verknüpft, weil zwei Personen nicht,gleichzeitig sprechen können, aber auch nicht gleichzeitig schweigen sollten. Mutuelle Schweigeperioden von über einer Sekunde werden in den Alltagsdyaden als emotionale Pausen codiert (Siegman 1978). Werden sie noch länger, gilt dies als indikativ für den Zusammenbruch der Kommunikation und wird im allgemeinen als aversiv erlebt. Wie wir später zeigen werden, sind solche "Zusammenbrüche" in Dyaden mit schwerstgestörten Patienten, z. B. mit Depressionen und Schizophrenien, auch in Gesprächen mit Gesunden recht häufig. Die affektive Vokalisierung erfordert keinen Hörer-/Sprecherwechsel, sondern Synchronizität. Man weint gemeinsam und nicht hintereinander. Wiederum erlaubt das Couchsetting die Benutzung der üblichen Regulatoren für den Hörer-/ Sprecherwechsel nicht, da der Patient die Zuhörer- und Sprechersignale nicht registrieren kann und der Therapeut nur einen Teil derjenigen des Patienten. Eine Folge dieser Einschränkung ist, daß die Dialogstruktur weniger um die intellektu-
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ellen Diskursebenen organisiert werden kann, denn die benötigt die geordnete Hörer-/Sprecherregul.ation. Im sitzenden Setting benutzen erfahrene Therapeuten die üblichen Hörer-/Sprecherregulationen von Laien nicht. Dies muß schon deshalb so sein, weil im allgemeinen die Redebeiträge des Patienten bei weitem höher sind als die der Therapeuten. Dies gilt zumindest für die aufdeckenden Psychotherapieformen. Von vielen Patienten werden die Nichtbeachtung ihrer Hörer-/Sprechersignale durch die Therapeuten im ersten Durchlauf als Mißachtung erlebt, o daß alle Patienten Erklärungen dafür benötigen, daß diese Art der Hörer-/Sprechergestaltung typisch für die Situation Psychotherapie ist.
2. 2.1. 4 Illustratoren Bei den Illustratoren handelt es sich um eine Kategorie von mimisch-gestischen Verhaltensweisen, die das, was zeitlich parallel gesagt wird, illustrieren, strukturieren und affektiv untermalen. Bewegung und Sprechakt sind Teil des gleichen Verhaltenssystems. Illustratoren sind ebenfalls sensible Indikatoren für den Schweregrad einer Störung: Bei den Krankheitsgruppen Schizophrenie, Depression, c.hwere somatapsychische Störungen sind die Illustratoren reduziert. Auf da Wort "Besitz", dessen Bedeutung ein Sprecher akzentuieren möchte, reißt er kurz die Augen auf und zieht die Brauen hoch. Im allgemeinen findet man dabei zusätzl ich eine Handgestik. Im allgemeinen werden die Illustratoren im Couchsetting weniger benutzt als im sitzenden. Weder der Analytiker noch der Patient gestikulieren im gleichen Ausmaß wie im sitzenden Setting. Auch dies hat wahrscheinlich damit zu tun, daß die Redebeiträge in der großen Analyse weniger intensiv um die kognitiven Prozesse des Diskurses herum organisiert sind, sondern um Aussagen über das Selbst, ergo fehlt der Rahmen für den Einsatz der IIJustratoren. Freedman (1977) konnte zeigen, daß die Kapazität für sprachlich gebundene Objektrepräsentationen sehr eng mit der Strukturierung des Denk- und Kommunikationsprozesses durch die Körperbewegungen, speziell der Hände, korreliert ist. Speziell die schizophrenen Patienten verlieren in Abhängigkeit von den Schüben diese objektbezogene strukturierende Gestik.
2.2.1.5 Embleme Bei den Emblemen handelt es sich um eine Klasse von gestischen oder mimischen Verhaltensweisen, die anstelle der Sprache benutzt werden, z. B. das Vogelzeigen, Daumendrücken etc. Diese Verhaltensweisen sind stark kultur-, geschlechts- und schichtabhängig und sind vor allem um tabuierte Themen, wie Verhöhnung, Aggressivität und Sexualität, zentriert (Niederer 1975). Ihre Benutzung ist oft mit Angst und Scham verknüpft. Eine spezielle Klasse vo n Em~_lemen sind solche, in denen ein Affekt simuliert wird, um eine verbalsprachliche Außerung zu ersetzen. Am häufigsten ist dies der Fall, um Verachtung und Indifferenz, aber auch Ratlosigkeit einem Gegenstand gegenüber zu zeigen. Die emblematische Darstellung eines Affekt~s ist nicht immer leicht vom echten Affekt zu trennen, und es gibt auch fließende Ubergänge. Die Bezeichnung eines Menschen oder einer Kultur als expressiv hängt im allgemeinen an der Größe des Repertoires solcher emblematischer Zeichen. Sie
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haben aber nur mittelbar mit den Affekten zu tun (Johnson, Ekman & Friesen 1981). Emblematische Beziehungsregulierung ist in psychotherapeutischen Situationen sehr selten zu beobachten, da ja die tabuierten Themen über den verbal sprachlichen Bereich gewissermaßen offiziell verhandelt werden und zudem psychisch ein Statusunterschied zwischen Patient und Therapeut konstruiert wird, der die emblematischen Zeichen hemmt. In den großen Psychoanalysen kann ich mich nicht erinnern, emblematische Darstellungen beobachtet zu haben.
2.2.1.6 Affekte Sie werden später genauer besprochen werden (Krause 1996). Fürs erste benötigen wir eine Kurzcharakterisierung zur Diskussion unserer Fälle. Unter Affekt verstehen wir den Prozeß, der die Motorik, Physiologie, das Denken und das kommunikative Handeln geordnet ansteuert. Ein Affekt ist so gesehen der Prozeß, ein und dieselbe Sache in verschiedenen "Readouts" darzustellen. "OCCURJNG EMOTION"
"EXPERIENCED EMOTION"
1. Motorisch-expressive Komponente
4. Die Wahrnehmung der körperlichen Korrelate
2. Physiologische Komponente 3. Motivatiot1ale Komponente (Handlungsbereitschaft in Willkürmotorik)
5. Die Benennung und Erklärung der Wahrnehmungen 6. Die Wahrnehmung der situativen Bedeutung Erlebtes Gefühl Wahrnehmung der Bedeutungsstruktur
Abbildung 5: Die sechs Komponenten des Affektsystems Ein Affekt, als Prozeß betrachtet, besteht aus wenigstens sechs unterscheidbaren Komponenten. Da gibt es erstens eine expressive Komponente innerhalb des mimischen und des Vokalisierungssystems, das dem Sozialpartner signalisiert, welches Verhalten gewünscht wird, und im gleichen Atemzug, welches folgen wird. Das Wutsignal reflektiert den Wunsch, daß der andere das Feld räumen möge, und die Ankündigung der Angriffshandlung bei Nichtbeachtung des Wunsches. In 90 Prozent der Fälle genügt die Ankündigung. So gesehen sind Affekte Zeichen für Wünsche nach veränderten Objektbeziehungen. Da gibt es zweitens eine physiologisch-hormonale Komponente, die eine Form der internen Bereitschaft zu handeln herstellt. Lange Zeit war man der Meinung, dieses physiologische Muster sei unspezifisch in bezugauf die Affekte. Diese Meinung ist umstritten (Levenson, Ekrnan & Friesen 1990). Drittens gibt es eine mehr oder weniger subliminale spezifische Innervation der Skelettmuskulatur, die eine Bereitschaft erstellt, nach außen zu handeln. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, daß das Zeichen von der Ausführungshandlung zu trennen ist. Wie oben dargestellt, verringert die Verwendung des Zeichens die Wahrscheinlichkeit einer Angriffshand61
lung. Diese drei Komponenten entwickeln sich weder in der Onto- noch in der Phylogenese zeitlich synchron (Krause 1983). Alle drei genannten Prozesse können ohne kognitive Repräsentation ablaufen. Deshalb beinhaltet der oben verwendete Begriff "Wunsch" keine Kognition im engeren Sinne. Es mag viertens eine Wahrnehmung dieser drei körperlichen Prozesse geben. Wie diese Wahrnehmung zustande kommt, ist unklar. Diese körperliche begründete Wahrnehmung von Affekten ist zu trennen von der wahrgenommenen situativen Bedeutungsstruktur (6), die eng mit den spezifischen Affekten verbunden ist. So hat z. B. Wut eine spezifische wahrgenommene Bedeutungsstruktur, in der ein frustierendes Obj e kt wichtige Ziele des Subjekts verhindert und von diesem Subjekt nicht gefürchtet wird. Fünftens kann es einen Namen und eine Bewertung dieser Wahrnehmung geben. Neben dieser Taxonomie, die sich am internen Aufbau des gesamten Affektsystems orientiert, ist eine weitere von Bedeutung, die sich an den sozialen Dimensionierungen der Affekte orientiert. Auf der Grundlage einer ganzen Reihe von Untersuchungen hat sich mittlerweile die Ansicht durchgesetzt, daß, ausgehend von bestimmten motorisch-expressiven Konfigurationen, eine begrenzte Anzahl von Affekten in allen Kulturen auftritt und daß dieselben teilweise mit denen unserer tierischen Verwandten übereinstimmen. Gesichert ist dies für die mimischen Konfi.g urationen Glück, Trauer, Wut, Ekel, Angst, Überraschung, Interesse (Ekman & Friesen 1986, Russel1994, Ekrnan 1994). Verachtung ist umstritten. Affekte haben eine jeweils spezifische Bedeutungsstruktur in der Form einer Proposition, in der es ein Selbst, ein Objekt und eine gewünschte Interaktion zwischen dem Selbst und dem Objekt gibt (De Rivera 1977, Krause 1990, Frijda 1996). Negative Affekte sind Wünsche nach veränderter Objektbeziehung, positive nach der
Abbildung 6: Freude 62
Abbildung 7: Trauer
Abbildung 8. Ärger
Abbildung 10: Angst
Abbildung 9: Ekel
Abbildung 11: Überraschung
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Abbildung 12: Verachtung
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Fortführung einer gerade bestehenden. Man kann darin die interaktiven Komponenten von negativen und positiven Rückkopplungen sehen (Frijda 1986). So kann Freude als Wunsch, dem Objekt dadurch näher zu kommen, daß die Distanz zwischen dem Objekt und dem Selbst durch eine Lokomotion des Selbst zum Objekt verringert wird, charakterisiert werden. Im weiteren signalisiert Freude den Wunsch nach der Fortsetzung einer aktuellen Aktivität und ist demgemäß eines der mächtigsten Belohnungssysteme für andere, die wir haben. Grundsätzlich kann man zeigen, daß der motorisch-expressive Anteil aller Primäraffekte zur Konditionierung benutzt werden kann (Lanzetta & Orr 1981). Ihr Ausfall bedeutet, daß wir ein wesentliches Steuerungs- und Verführungsmittel verloren haben. Trauer repräsentiert den Wunsch, das Objekt dem Selbst näher zu bringen, ohne daß das Selbst die Lokomotion ausführt und unter der Bedingung, daß das Objekt entfernt ist. Sie setzt mentale Repräsentanz voraus. Furcht reflektiert den Wunsch, die Distanz zwischen dem Objekt und dem Selbst durch eine Lokomotion des Selbst weg vom Objekt zu vergrößern, wohingegen Wut eine Lokomotion des Objekts weg vom Selbst herbeiführen soll, indem das Objekt sich entfernt. Ekel ist der Wunsch, die Distanz zwischen dem Objekt und dem Selbst zu vergrößern, unter der Voraussetzung, daß das Objekt bereits im Selbst zu lokalisieren ist. So können die Primäraffekte als Lokomotionswünsche zwischen dem Selbst und dem Objekt beschrieben werden, wobei die physikalische Klassifikation von Selbst und Objekt sich nicht notwendigerweise mit der mentalen Klassifikation decken muß. Auf die inneren Korrelate von Affektausdruck in einer Beziehung gehen wir bei der Besprechung der Fälle sowie der sogenannt guten Beziehung ein. Hier soll die funktionale Verhaltensbeschreibung fürs erste beendet werden.
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2.2.2 Andere klinische relevante Klassifikationen Je nach diagnostischem, therapeutischem und/oder Forschungszweck kann man freilic~. auch ganz andere Arten von Klassifikationen benutzen. Einen systematischen Uberblick dazu gibt Faßnacht (1995). Für die klinische Praxis sind zwei Klassifikationen von Bedeutung, die noch kurz besprochen werden sollen. Die eine bezieht sich auf den InfOimationsgehalt von Verhaltensweisen, die andere auf die Stellung eines Segmentes in der gesamten Organisation des Verhaltens. Was den Informationsgehalt betrifft, mag das Segment bedeutunglos sein, eine Art weißes Rauschen des Nervensystems. Es mag eine ideosynkratische Bedeutung haben, die aber dem Sender selbst nicht zugänglich ist, aber durch die Regelmäßigkeit der Plazierung von einem Empfänger prinzipiell erschlossen werden kann, obgleich er ohne diesen Aufwand das Segment auch nicht versteht. Innerhalb der Behandlungen gibt es viele solcher Verhaltensweisen. Ein Patient mit einer narzißtischen Persönlichkeitsstörung, die in eine homosexuelle Partnerwahl eingemündet war, pfl~gte zu Beginn seiner Behandlung in rot-braunen Schnürstiefeln mit ca. 20 Osen zu kommen. Er betrat das Zimmer, setzte sich auf die Couch und zog die Stiefel aus, legte sich hin, um sich einmal um die Längsachse zu drehen. Der Eindruck, er sei zu Bett gegangen, wurde von Mal zu Mal zwingender. Ihm selbst fiel das Verhalten nicht auf, es war für ihn bedeutungslos. Für die unbewußte Bedeutung des analytischen Rahmens war die Beobachtung dieses Verhaltens und seine Aufdeckung und Interpretation zentral. Der handelnde "Sender" kann diese Strategie auf sich selbst anwenden und so eine bedeutungsverleihende Selbstbeobachtung versuchen. Schließlich kann der Sender sein Verhalten selbst verstehen, aber niemand sonst. Ein psychotischer Patient, der während seines Zivildienstes einen Schub bekommen hatte, drehte sich nackt vor einem Spiegel und ängstigte seine Kollegen durch dieses bizarre Verhalten. Später erzählte er mir, er habe nach den Merkmalen für das Karposisyndrom gesucht, da er nach einer Umarmung durch seinen Freund sicher war, HIV-infiziert zu sein. Ist das Verhalten für beide Handlungsprotagonisten verstehbar, dann kann man es als bedeutungsvoll bezeichnen, es muß aber insofern nicht kommunikativ sein, als eine Mitteilung vom Sender nicht beabsichtigt wurde. So mögen Patient und Therapeut wissen, was es bedeutet, wenn der erstere sein Gesicht mit den Händen bedeckt, obgleich dies ganz unwillkürlich geschieht. Ist die Handlung bedeutungsvoll und intendiert, kann man von Kommunikation im engeren Sinne sprechen. Unseren eigenen Arbeiten zufolge ist wohl nur ein kleiner Prozentsatz des gesamten interaktiven Verhaltensstroms in diesem Sinne kommunikativ. Offensichtlich ist es eine Aufgabe psychotherapeutischen Handelns, den Informationswert solcher Verhaltensweisen zu verändern. Einmal ist es ein Behandlungsziel, möglichst viele bedeutungsvolle, aber nicht intendierte Akte einer kommunikativen Handlung zu unterstellen. Damit wird die Person in die Lage versetzt, nicht fortlaufend ungewollt bedeutungsvolle Akte auszuführen, die möglicherweise ihre bewußten Intentionen konterkarieren. Schließlich könnte man sich vorstellen, daß die für den Sender ideosynkratischen Akte zumindest in dem Sinne bedeutsam werden, daß er erfährt, wie sie auf andere wirken. Große Teile der sogenannten Selbsterfahrungen beziehen sich auf solche Verstehensakte. Schließlich könnte man sich noch vorstellen, daß scheinbar zufäJlige Verhaltenssegmente in eine wenn auch ideosynkratische Bedeutung verwandelt werden, dergestalt, daß
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eine Person lernen muß, daß Herzklopfen und Gänsehaut Schaudern und Angst bedeutet. Di.e "as-if-personalities" zeichen sich durch solche Bedeutungsschwächen aus. Im Grimmsehen Märchen "Von einem, der auszog, das Gruseln zu lernen" wird darauf Bezug genommen. Auf der anderen Seite zeigen die Forschungen aus dem Bereich der Interozeption, daß vor allem Panikpatienten physiologischen Körperprozessen einen Exzeß an Bedeutung verleihen. Sie hören den eigenen Herzschlag und interpretieren ihn als Vorboten der Katastrophe (Margraf 1989). Im Zusammenhang mit dieser sich an der Beziehung zwischen Bezeichnetem, Zeichen und Mitteilungsintention orientierenden Klassifikation steht eine andere, die sich an der Stellung des Verhaltenssegmentes in der Hierarchie des Verhaltensstromes orientiert (Birdwhistell 1971, Scheflen 1973). Beispielweise kann es eine hierarchisch hochliegende Verhaltensintention sein, dem Therapeuten etwas mitzuteilen; dieses hochrangige Ziel benötigt einen Sprechvorgang, der eine bestimmte Sitzposition und -Orientierung dem Zuhörer gegenüber und eine Gliederung des Verhaltens in Zuhörer- und Sprechersegmente verlangt. Spricht der Patient, muß er seine verschiedenen Körperbewegungen und Prozesse koordinieren. Man spricht beim Ausatmen und nicht beim Einatmen. Der Sprechvorgang per se verlangt eine Koordination der Atmung und Phonation mit der eigenen Gestik und den Körperbewegungen des anderen. Schließlich muß es zu einer Stimmritzen-, Atmungs- und Zungenkoordination kommen. Je nachdem, aufwelcher Ebene das Verhalten lokalisiert wird, kann man von einem Makro-, einem molaren oder einem Mikroverhaltenssegment sprechen. In unserem Fall wäre die "molare Ebene" die bewußte Mitteilungsintention. Wenn nun dieser Mitteilungsintention eine vom Sender selbst nicht gewünschte und nicht bewußte zusätzliche Motivik beigefügt wird, z. B. als besonders bewundernswert und vollkommen zu erscheinen, werden die untergeordneten Verhaltenssegmente diesem Wunsch entsprechend verändert. Dann mag der Sprecher auf der untersten Ebene den Blickkontakt während des Sprechens so verändern, daß er den Zuhörer anschaut, obgleich dies für den Denkprozeß und seine sprachliche Formulierung eher hinderlich ist. Er "fesselt " ihn aber dadurch. Ein anderes Beispiel ist ein Patient, der aus Mitteilungen interaktiv regelmäßig Fragen macht, indem er auf der untersten phonetischen Ebene auf das Satzende hin die Stimmlagenhöhe jeweils ein klein wenig anhebt, so wie es bei Fragen im allgemeinen geschieht. Regeln für die Kontextverarbeitung solcher Zeichen findet man bei Merten (1996). Interessante klinische Beispiele findet man in Streeck (1994). Der unbewußte Makroplan wird die untergeordneten Verhaltensmuster so einfärben, daß die anderen Personen diesem Plan folgen müssen. Der Sprachproduktionsprozeß selbst liegt im allgemeinen auf dem molaren, also mittleren, Niveau und läßt die unbewußte Mitteilungsintention nicht direkt erkennen. Ein narzißtisch bedürftiger Patient wird selten sprachlich mitteilen, er brauche dringend und sofort Bewunderung. Wenn dies geschieht, ist der Patient dabei, e~nen Kindheitsimpuls unmittelbar in der Gegenwart zu implantieren, was man "Ubertragung im engeren Sinne" nennen könnte. Die offene Implantierung eines solchen Wunsches wird jedoch zu Schamgefühlen und Erniedrigung führen, so daß sie dem Konfliktmodell folgend so verändert wird, daß die Weiterverfolgung ichsynton geschehen kann. Eine dieser Veränderung ist die Verlagerung auf die Mikroebene, was bedeutet, daß der Wunsch heimlich weiterverfolgt werden kann. "Heim-
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lieh" bezieht sich einerseits darauf, daß der Patient die eigenen Implantierungsversuche nicht bemerkt und andererseits damit zusammenhängend, daß der Empfänger, ohne grob unhöflich zu sein, den bemerkten Wunsch nicht metakommunikativ aufgreifen kann. Geht er unbewußt darauf ein, kann man von "Agieren" s~rec~en. Diese intentionsspezifischen Veränderungen der Mikrohandlungen, wt.e w1r uns bewegen, was für Arten von Ausdrucksphänomenen wir verwenden, k~nn man für das sogenannte "szenische Verstehen" benutzen (Argelander 1987). D1e Wahrnehmungsprozesse, die bei der Prozessierung solcher Mikroverhaltensweisen ablaufen, sind größenteils vor- oderunbewußt und vom Therapeuten rückblickend schwer objektivierbar, obgleich sie das empirische Fundament der Übertragungsprozesse, des Wiederholungszwanges und der repetitiven Geschehnisse psychischer Erkrankungen sind. Der Therapeut weiß also mehr, als er objektivieren kann (Argelander 1987, S. 62). Das ist für die Forschung und Theoriebildung fatal, weil die Schlußfolgerungen auf Grund dieses Wissens ohne objektivierende Hilfsmittel für Außenstehende recht beliebig sind. Wir werden im folgenden deshalb auf die Objektivierung solcher Prozesse eingehen, weil sie Ausgangslage jeder Behandlung, aber auch jeder Theoriebildung sein müssen. Fürs erste wollen wir festhalten, daß es eine schwer zu objektivierende Beziehung zwischen verpönten Makroplänen und deren versteckte Realisierung auf der Mikrobene des Verhaltens gibt. Die molare sprachliche Mitteilungsebene ist im allgemeinen besser kontrolliert und von der Realisierung der unbewußten Makropläne eher ausgeschlossen, obgleich es möglich scheint, aus bestimmten Strukturelementen von Erzählungen sol.che Makropläne zu erschließen (Luborsky 1977). Von diesem Blickwinkel ausgehend, sind viele unserer langfristigen unbewußten Pläne, z. B. die Gesetzmäßigkeiten der Beziehungsgestaltung hinsichtlich der oben erwähnten Dimensionen Macht, Nähe, Aktivität, Passivität, zwar deskriptiv unbewußt, aber dennoch objektivierbar und handlungswirksam. Es gibt eine lange auf Leary (1957) zurückgehende Tradition, solche meßbaren interpersonellen Vorgänge zur Persönlichkeitsdiagnose und für die Behandlungstechnik zu verwenden. Als modernere Varianten kann man das sogenannte SASB von Benjamin (1993) bezeichnen. SASB bedeutet structural analysis of social behaviour. All diese Verfahren sollen die im intersubjektiven Raum wirksamen Verhaltensweisen auf Grund von objektiven Charakteristika beschreiben. Man kann, Sandler und Sandler (1984) folgend , diese Prozesse als das "Gegenwartsunbewußte" bezeichnen. Man kann und sollte die Wahrnehmung dieses Gegenwartsunbewußten schulen, und man kann auch seine Indikatorfunktion für übergeordnete Makropläne systematisieren, wie dies Bänninger-Huber, Maser & Steiner (1990) durch die Analyse sogenannter prototypischer Mikrosequenzen versucht hat. In Alltagssituationen stellt diese Vorgehensweise jedoch eine Regelverletzung hinsichtlich der Höflichkeit und der Konvention, welches Verhalten bindend sein soll, dar. Hier hat man sich auf das gesprochene Wort zu beziehen. Vie!e der beha~dlu~gstechnischen Empfehlungen sowohl für Therapeut als auch P~tlent gehen m Richtung auf einen Wechsel der inneren Monitorierung des etgenen Verhaltens entlang dieser Hierarchie. Sowohl die freischwebende Auf?1erksamkeit,_ da~ freie Assoziieren als auch die Anweisung einer begleitenden mneren Momtonerung der Beziehung durch den Therapeuten sind solche Formen des Aufmerksamkeitswechsels innerhalb des Verhaltens- und Denkstromes ' meist nach unten. Die psychoanalytische Grundregellautet unter anderem:
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" Sie werden beobachten, daß Ihnen während Ihrer Erzählungverschiedene Gedanken kommen, welche Sie mit gewissen kritischen Einwänden zurückweisen möchten. Sie werden versucht sein, sich zu sagen: Dies oder jenes gehört jetzt nicht hierher, oder es ist ganz unwichtig, oder es ist unsinnig, man braucht es darum nicht zu sagen. Geben Sie dieser Kritik niemals nach, und sagen Sie es trotzdem, ja gerade darum, weil Sie eine Abneigung dagegen verspüren " (Freud 1913, S. 468).
Es sei auch an das Beispiel des rational-emotiven Therapeuten erinnert, der die Fokussierung von der vermeintlichen Wahrnehmung des eigenen Körpers auf die Beziehungsebene zur Mutter erreicht hatte. Wir gehen also davon aus, daß die menta le Repräsentation von Beziehungen immer nur einen geringen Ausschnitt des realen Beziehungsgeschehens abbildet. Umgekehrt wird immer nur ein Teil der Beziehungswünsche und Intentionen in einer spezifischen sozialen Situation realisiert. Die Frage, welcher zum Vorschein kommt, ist auch durch den situativen Rahmen bestimmt. Schließlich gehen wir davon aus, daß in den meisten Interaktionen mehrere Intentionen gleichzeitig implantiert und zu realisieren versucht werden. Dies geht aus der oben eingeführten Hierarchisierung bereits heiVor. Man kann also gleichzeitig über Politik sprechen, sich narzißtisch aufblähen, seinen Partner erotisierend verführen etc. Die Intentionen können konfliktfrei parallel verfolgt werden, und dies wird der Regelfall sein. Hilfreicher für den Kliniker ist das Modell des parallelen Prozessierens, wenn die Umsetzung der verschiedenen Intentionen im Handlungsraum nicht so harmonisch gelingen oder gar konfligieren. Ich will dies am Beispiel der Stotterer diskutieren, die wir recht gut untersucht haben. Da für die Stotterer Nichtsprechen a priori eine Niederlage und Beschämung bedeutet, Sprechen aber Macht und Triumph, ist der Vorgang des Sprechens auch bei ganz alltäglichen Mitteilungsintentionen von diesen Macht- und Schamvermeidungsmotiven durchsättigt Es fällt offensichtlich schwer, diese Intentionen in einer parallel prozessierten Handlung zu integrieren. Da die gesprochene Sprache sich hinsichtlich Prosodie, Atmung auf die affektive Mitteilungsintention auflagert, kommt das paradoxe Phänomen zustande, daß eine höchst gewöhnliche, wenn nicht triviale sprachliche Mitteilung vorgetragen wird, als ginge es um Leben und Tod. In Extremfällen gibt es gar keine Mitteilung mehr, und das Verhalten stellt sich nur noch als Mfekt dar, so daß es unter manchen Umständen die Stotterer schaffen, ohne irgendetwas zu sagen, das Gespräch affektiv gänzlich an sich zu reißen, obgleich sie eben diese Situation bewußt nicht wünschen und hinterher außerordentlich beschämend finden . Fast alle Selbsthilfeorganisationen schlagen den Stotterern vor, die Relevanz des Sprechaktes innerlich zu verringern (Krause 1981). Eine andere Möglichkeit, die seltener vorkommt, ist, daß sich die affektive Mitteilungsintention, die um Macht zentriert ist, durchsetzt, daß sie dann auch etwas sagen, aber es ist im allgemeinen nicht mehr das, was sie intendiert hatten, so daß der Sprecher am Ende seines affektiv modulierten flüssigen Beitrages das Gefühl hat, ein anderer hätte gesprochen. Es ist ja bekannt, daß der partielle Wechsel des Selbst, z. B. beim Theaterspielen, viele der Stotterer symptomfrei werden läßt.
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2.3 Was ist eine "gute" Beziehung? Eine solche Frage ist ohne Rekurs auf die Ziele einer Beziehung nicht zu beantworten. Die Ziele einer Psychotherapie sind gewiß anders als die einer Ehe oder eines Teams am Arbeitsplatz. Man kann, Grawe, Donati und Bernauer (1995) folgend, eine Problemlösungs- und Klärungsperspektive von Psychotherapien beschreiben. Bei der Klärung geht es um "die Frage nach dem Warum oder Wozu, um motivationale Klärung, nicht um die Frage von Können oder Nichtkönnen wie unter der Problembewältigungsperspektive (Grawe, Donati & Bernauer 1995, S. 752). Bei der Problembewältigung nimmt der Therapeut die Schwierigkeiten des Patienten als ein Nichtkönnen wahr und hilft ihm aktiv, sie besser bewältigen zu können, ohne ihnen irgendwelche Bedeutungen zu unterstellen. Grawe et al. sind der Meinung, die Problembewältigung sei zugunsten der Klärung in ihrer Bedeutung bis anhin unterschätzt worden. Ob eine solche Klassifikation vom faktischen Verhalten der Therapeuten abgedeckt wird, halte ich für fragwürdig. Selbstverständlich wird auch in Problemlösungstherapien Bedeutung vermittelt, nur geschieht dies gewissermaßen unsystematisch, so wie bei Klärungstherapien die Problemlösung, aber eben nicht systematisch, eingeübt wird. Sicher ist diese Einteilung vernünftiger als die frühere in aufdeckende und zudeckende Verfahren. l!nabhängig davon, ob es nun um Klärung im Sinne des besseren Verslehens des etgenen Erlebens und Verhaltens oder um Problemlösen im Sinne von ganz konkreter Angstbewältigung geht (Kanfer, Reinecker & Sehruelzer 1991), die Sac~ver~alte, die i.n solchen Beziehungen angegangen werden müssen, sind zu ~.egmn .Im allgememen für den Patienten unangenehm, so daß, wie schon ausgefu~rt, d1e. so~enannt "gute" Beziehung zwischen Psychotherapeut und Patient ein Stuck wett dte Voraussetzung für das Ertragen der unangenehmen Anteile dieser Aufgab~n ist. In der klientenzentrierten Psychotherapie ist die "gute" Beziehung theoretisch und handlungspraxeologisch ein Stück weit axiomatisiert und operationalisiert worden. Einfühlendes Verstehen kennzeichne eine Beziehung, in deren Rahmen der Therapeut versucht, den Klienten aus dessen innerem Bezugsrahmen empathisch zu verstehen und ihm das Ergebnis dieses Vestehensaktes wiederum ernpathisch mitzuteilen (Bierrnann-Ratjen, Eckert & Schwartz 1995). Operationalisiert ist dies in Form des Ausmaßes von "Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte". Die zweite rahmenhafte Beziehungsvorgabe ist die der unbedingten positiven Wertschätzung, auch wenn die Einstellungen des Patienten nicht geteilt werden, und schließlich die Echtheit des Therapeuten als Verzicht auf Abwehrhaltungen oder Ängste. Im Rahmen dieses Verfahrens wird die spezifische Gestaltung der Beziehung per se als heilsam für den Patienten und gleichzeitig als implizit modellhaftes Angebot an den Patienten verstanden, mit sich selbst ebenso "gut" umzugehen. Voraussetzung ist, daß dem Patienten das so definierte Beziehungsangebot "gefällt", was bei Personen mit starken Führungswünschen nicht unbedingt der Fall sein muß. Dazuhin ist das einfühlende Verstehen und seine Operationalisierung als Verbalisierung emotionaler Inhalte theoretisch und therapietechnisch recht unbefriedigend, denn eine reine Paraphrasierung des Gerneinten setzt ja voraus, der Patient "wisse", während er kommuniziert, schon, was er meint. Von der paraphrasierenden Verstehenshaltung grenzt Sachse und Maus (1991) deshalb ein Verstehen des "Kerns des Gemeinten" ab. Dieser Kern
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muß von der Peripherie her erschlossen werden. Die Güte dieser Schlußfolgerungsart ist mit den Kernvariablen nicht zu erfassen. Generell kann man sagen, daß auch die Gesprächstherapie die Vorstellung aufgegeben hat, man könne eine gute Beziehung unabhängig vom Patiente n oder vom Prozeß der Erkrankung auf Grund von operationalisierten Techniken definieren. Behandlungstechnisch heißt dies auch in der Gesprächstherapie, daß aus der Forderung nach empathischen Verstehen nicht notwendigerweise abgeleitet werden kann, daß vom Therapeuten die Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte generiert werden muß. Manchmal müssen auch Gesprächstherapeuten schweigen, konfrontieren und vieles andere mehr. Wann aber was geboten ist, könnte man nur auf der Grundlage eines Prozeßmodelles entscheiden. Das scheint allerdings noch nicht ausformuliert (Biermann-Ratjen, Eckert & Schwartz 1995). Im analytischen Rahmen sprechen Enke & Czogalik (1990) von einer "tragfähigen" Therapeut-Patient-Beziehung als Fundament für die Integration der neuen Erfahrungen, ohne daß Tragfähigkeit genauer definiert würde (Czogalik 1990). Tragfähigkeit orientiert sich wohl stärker an einer unterlegten prinzipiellen Konflikthaftigkeit therapeutischer Beziehungen, die die psychoanalytische Beziehungsgestaltung kennzeichnen. Tatsächlich profitierten Patienten psychoanalytischer Behandlungen, die retrospektiv angaben, daß sie auch bei Differenzen und in Klisen den Therapeuten als Partner bei der gemeinsamen therapeutischen Aufgabe sehen konnten, bei weitem mehr als die, die diese Frage verneinten (Senf & Schneider-Gramall 1990). Auf der anderen Seite wird geltend gemacht, daß regressive Beziehungserfahrungen, also solche, in denen intensive kindliche Abhängigkeiten und emotionale Erlebensweisen repliziert werden, günstig für einen Therapieverlauf wären. Solche regressiven Beziehungformen setzen aber auf der Ebene der Beziehungsgestaltung ein "Versagen in der Intimität" voraus, denn es geht ja nicht darum, defizitäre Entwicklungen rückwirkend wieder ungeschehen zu machen, sondern sie durch emotionales Verstehen von der Handlungswirksamkeit auszuschalten (Stone 1973). Die korrespondierende Beziehungssituation, z. B. das Liegen auf der Couch, würde man im Alltag nicht unbedingt als "gut" bezeichnen. "Alle Analytiker erkennen die Notwendigkeit von Entbehrungen im Verfahren der Psychoanalyse an, im Prinzip sind sie sich auch einig darin, daß der Analytiker menschlich [von mir hervorgehoben, R. K.J sein sollte. Das Problem stellt sich jedoch, wenn man definieren soll, was mit Menschlichkeit in der analytischen Situation gemeint ist und wie man dies mit dem Prinzip der Entbehrung vereinbaren soll" (Greenson 1975, 224).
Stone verlangt Höflichkeit, Bildung und Takt als beziehungsgestaltende Merkmale. Offensichtlich gibt es recht komplizierte Wechselwirkungen zwischen zum Beispiel problemlösungs- vs. klärungsorientierten Behandlungstypen, Störungsbildern der Patienten und Wertorientierungen der Therapeuten. Im allgemeinen sin.d The~apeuten , ?ie vorw.iegend im Umfeld von Klärung bzw. Aufdeckung tätig smd, mcht.. genetgt, Bez1ehungsgestaltungen, in denen sie Gewissens-, Autoritäts- und Uberichfunktionen übernehmen, für "gut" zu befinden. Solche Funktionsüb~rnahmen sind für di~ zur "Aufdeckung" notwendigen Spontanität eher hinderhch. Im psychoanalytischen Umfeld übernimmt die Stabilität des Beziehungsrahmens hinsichtlich Zeit und Ort eine wichtige Funktion (Körner 1995). 70
Die problemlösungsorientierten Therapeuten haben im allgerneinen wenig Mühe mit der Schaffung von Beziehungsgestaltungen, in denen sie ordnend und kontrollierend (bis in die Schränke der Patienten) tätig werden. Viele Patienten wünschen dies auch. Dies impliziert keine Wertung, weil es angezeigt sein kann, fehlende innere Regulierungen, sei es im Gewissens- oder ichstrukturellen Bereich, z. B. der Affektivität oder des Denkens, gestörte oder fehlende Funktionen durch die soziale Regulierung temporär, oder, wo nötig, dauerhaft zu ersetzen. Ohne Kenntnis der Störungen, der Ziele und der Wertstrukturen beider Protagonisten kann es keine übergreifende Definition von "guter" Beziehung geben. Es gibt aber einen Konsens darüber, was auf jeden Fall eine schlechte Beziehung ist, und diese Dimensionierung geht auch über den Problemlösungs- vs. Klärungsbereich hinaus. Schlecht ist, wenn der Therapeut die Wünsche und Beziehungsangebote des Patienten nicht wahrnimmt, oder wahrnimmt, aber falsch interpretiert. Da diese Art von Prozessen in allen Therapieformen auftreten, werden wir uns im folgenden mit einer elementaren Systematik der dyadischen Beziehungsregulierung beschäftigen, die wir aus unseren Forschungen heraus entwickelt haben. Aus ihr läßt sich teilweise ableiten, welche Arten von Regulierungen "gut" oder "schlecht" sind. Um die weiteren Ausführungen zu verstehen, möchte ich die Situation, auf die wir im folgenden Bezug nehmen, genauer beschreiben. Zwei Personen, ein Patient und ein Therapeut oder zwei Freunde oder zwei sich Unbekannte, sitzen einander gegenüber und unterhalten sich . Sie machen entweder psychotherapeutische Gespräche, Small-talk oder diskutieren etwas Sachliches. Während dieser Begegnung werden sie mit zwei ferngesteuerten Videokameras in ihrem affektiv mimischen und ihrem Körperverhalten registriert. Dieses Verhalten werten wir später aus und untersuchen es in bezug auf die in ihm sichtbar werdende Affektivität. Nach Ende der Begegnung bitten wir beide separat, einen Fragebogen auszufüllen, in unserem Falle die "Differentielle Affekt-Skala" (Merten & Krause 1993) mit der Aufgabe, anzugeben, wie sie sich während der Begegnung gefühlt haben und wie sie glauben, daß ihr Partner sich gefühlt hat. Dieser Fragebogen wird ausgewertet und die Ausprägung der einzelnen Emotionen, also z. B. Angst, Ekel, Überraschung, Freude, Verachtung, Trauer und Ärger wird mit dem Gesichtsausdruck des anderen und dem eigenen Gesichtsausdruck in eine rechnerische, in unserem Falle Spearman-Korrelationsmatrix, eingegeben. Diese Matrix ist sehr groß, denn im Prinzip kann jeder Wert, d. h. jeder mimische Ausdruck beider Personen mit jedem Urteilsakt über das innere Erleben, sowie das Erleben des anderen miteinander in Beziehung treten. Tatsächlich erwarten wir nicht, daß alle Werte der Matrix mit Werten, die vom Zufall signifikant abweichen, besetzt sind. Desweiteren können wir erwarten, daß manche Werte auch durch Zufall signifikant werden. Deshalb werden wir nur solche Werte interpretieren, die gesamthaft mit anderen zusammen ein sinnvolles und signifikantes Bild abgeben. Welche Arten von Zusammenhängen zwischen Erleben und Ausdruck könnte man in einer gut funktionierenden Dyade nun erwarten? Eine naheliegende, fast triviale Annahme wäre z. B., daß man zwischen dem gezeigten Affekt und der Selbsteinschätzung hinsichtlich des gleichen Affe~tes vom !-ufallswert signifikant abweichende Zusammenhänge fä~den. Das wurde vom mn~ren P~ozeß her bedeuten, daß z. B. Personen, die viel Arger während de~ Gesprachs ze1~en, ~m Ende auch angeben würden, sie hätten sich geärgert. Die Person verhielt sich selbstkongruent 71
In der Abbildung 13 haben wir einige mögliche Zusammenhänge zwischen den folgenden verschiedenen für die dyadische Regulierung relevanten Bereichen abgebildet. e Mimik der PersonA, Mimik der Person B • Selbstgefühl der PersonA • Von der Person A der Person B zugeschriebene Gefühlswelt (Fremdmodell A-B) • Selbstgefühl der Person B • Von der Person B der Person A zugeschriebene Gefühlswelt (Fremdmodell B-A) Die Abbildung 14 mit dem Beispiel des Freudenetzwerks bei Gesunden mag behilflich sein, die Vergehensweise besser zu verstehen. 1. MimikA 2. MimikA 3. MimikA 4. MimikA 5. MimikA
Mimik B Rating As Rating Ao Rating Bs Rating Bo
Ansteckung Selbstkongruenz Projektion Identifikation Empathie
6. Mimik B 7. MimikB 8. MimikB 9. Mimik B
Rating Bs Rating Bo Rating As Rating Ao
Selbstkongruenz Projektion Identifikation Empathie
Rating Ao Rating Bo Rating Bs Rating Bo
Ähnlichkeit A Ähnlichkeit B Urteilsgültigkeit A Urteilsgültigkeit B
10. 11. 12. 13.
Rating As Rating Bs Rating Ao RatiogAs
Erklärungen: s
= Selbst; o = Objekt; A = Interaktionspartner I; B = Interaktionspartner IJ
Abbildung 13: Zusammenhänge zwischen den Systembereichen Ausdruck und innerem Modell in dyadischen Regulierungen Im folgenden soll diese Systematik beschrieben werden. Enge Zusammenhänge zwischen Selbstmodell und dem Modell über den anderen kann man als subjektiv att1ibuiefteÄhnlichkeit definieren. Dies ist ein rein intrapersonaler Urteilsakt, der keinerlei Validität haben muß. Ich kann z.B der Meinung sein, ich und mein Partner hätten uns während der Begegnung beide unheimlich gefreut, wohingegen der Partner sich jegliches Freudegefühl abspricht, aber wohl erkennen mag, daß ich mich gefreut habe. Wie wir später sehen werden, taucht dies bei psychosomatischen Patienten z. B. recht häufig auf (10 und 11 in Abbildung 13). Enge Zusammenhänge zwischen dem Fremdmodell derPersonAüber Bund dem Selbstmodell des Partners B kann man als eine Art von Validitätsindex für die Modellbildung von A betrachten (12 und 13 in Abbildung 13). Ein valides Urteil über den Partner würde z. B. bedeuten, daß A angibt, B habe sich gefreut, ~.nd B "bestätigt" diesen Urteilsvorgang in seiner Selbstbeschreibung. Eine hohe Uber-
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einstimmungsetzt eine Art von Übertragung von Information voraus, weil die beiden mentalen Modelle nicht direkt kornmunizieren können. Enge Zusammenhänge zwischen den beiden Ausdruckskonfigurationen der beiden Partner ohne notwendigerweise damit zusammenhängende innere Modelle kann man alsAffektansteckung oder ideomotorische Reaktion verstehen (1 in Abbildung 13). So stecken sich Kinder beim Weinen an, Stottern als affektiver Ausdruck ist für manche Personen nur vom Zuschauen ansteckend. Wie wir später sehen werden, gibt es in Dyaden mit schizophrenen Patienten besonders intensive Ansteckungen beim Ärgerausdruck. Enge Zusammenhänge zwischen dem Ausdruckssystem der PersonA bzw. B und ihren eigenen Selbstmodellen kann man als Echtheit, Kongruenz bezeichnen (2, 6 in Abbildung 13). Dies würde der oben eingeführten trivialen Annahme entsprechen, daß man das ausdrückt, was man innerlich fühlt. Generell hohe Zusammenhänge zwischen den Ausdrucksgestalten von A und dem Selbstmodell von B kann man einerseits als Wirkungsmacht von A oder Beeindrnckbarkeit und Empathie von B betrachten. Beide Prozesse setzen eine hohe Aufmerksamkeit auf seiten von B voraus. Wie wir später sehen werden, kann man z. B. 60 Prozent der Varianz des Erlebens der schizophrenen Patienten aus der Mimik ihrer Partner vorhersagen. Freilich würde man einen solchen Prozeß kaum als empathisch ansehen wollen, weil die Patienten gar nicht in der Lage sind, die Herkunft ihres eigenen Gefühls im Partner zu lokalisieren. Deshalb erfordert Empathie über die Affektansteckung hinaus eine Art von richtigem Wissen über die Herkunft des Urteilsaktes und des Gefühls. So würde man enge Zusammenhänge zwischen der Ausdrucksgestaltvon B und dem Fremdmodell von A über B eher als Empathie bezeichnen (5, 9 in Abbildung 13), wenngleich es durchaus möglich ist, daß diese Art von Empathie die Affektansteckung in irgendeiner Art und Weise als notwendig voraussetzt. Es könnte z. B. eine Form von "Mitleiden" im Sinne (Wallbott, Lechner & Batinic 1995) der Affektansteckung und einer hohen Beeindruckbarkeit geben, die aber gleichzeitig ein Wissen voraussetzt, daß das Gefühl von der anderen Person stammt. Hohe Übereinstimmung zwischen der Ausdrucksgestalt von Person A und dem Fremdmodell der gleichen Person bei gleichzeitig niedriger Übereinstimmung mit dem Selbstmodell kann man als projektiven Vorgang bezeichnen. A ist sicher, daß der andere das fühlt, was er selbst zeigt, aber nicht fühlt (3, 7). Über die in Abbildung 13 schematisch aufgeführten Zusammenhänge hinausgehend gibt es vielfältige Kombinationsmöglichkeiten, von denen ich nur vier kurz erwähnen möchte. Auf diejenigen Prozesse, die einen zeitlich organisierten Austauschprozeß zwischen beiden Personen voraussetzen, kommen wir später zu sprechen. Ich meine z. B. die projektive Identifikation, die eigentlich korrekterweise projektive Introjektion heißen müßte. Eine hohe systematische Nichtübereinstimmung zwischen dem Ausdruck von B und dem Modell von A über B könnte man als Abwehr verstehen. Z. B. attribuieren unsere schizophrenen Patienten immer dann, wenn ihre Partner echte Freude zeigen, besonders hohe Ausmaße von Verachtung. Wie ein solcher Prozeß zustande kommt, ist aus der Korrelationsstruktur natürlich nicht festzustellen. Es könnte sein, daß die Patienten die Gesichter ihrer Partner anders wahrnehmen, z.B halluzinatorisch in Grimassen verzerren oder daß sie anders attribuieren, nämlich daß sich die Partner im Sinne der Schadenfreude über das das Unglück der Patienten freuen würden. 73
Eine systematische hohe Differenz zwischen den attribuierten Ähnlichkeiten von A und von B könnte man als Verleugnung in der Kognition bezeichnen. Wenn A annimmt, B fühle ganz ähnlich wie er selbst, B aber der Ansicht ist, er habe ganz andere Gefühle als A, könnte es sein, daß A die Unterschiede verleugnet oder B die Ähnlichkeit. Diesen Vorgang hatten wir bereits als typisch für die Colitispatienten und ihre Partner beschrieben. Wenn J!(s Selbstmodell das abbildet, was B in seiner Ausdruckskonfiguration anzeigt und wenn A B nicht gleichzeitig ähnliche Gefühle attribuiert, kann man dies als Introjektion bezeichnen. A attribuiert das, was der andere zeigt, als Gefühl zum Selbstbereich unter Verleugnung der Herkunft aus dem Signalsystem von B. Eine Zufallsvariation zwischen den Ausdrucksgestalten von B und der Modellbildung von A über B kann man als Empathieausfall bezeichnen. DerUnterschied zur Verleugnung in der Wahrnehmung ist die fehlende, wenn auch falsche, Systematik. In den Abbildungen 14 und 15 sind typische Netzwerke von gesunden männlichen Interaktionspartnern während einer zwanzigminütigen Diskussion dargestellt. Die Korrelationswerte beruhen auf den Angaben von 20 Personen. PersonA
Person
8 F
Ekel
s
DD DCT-.40,
ü~ oo
------
F Angst
EKel
Ffeude
Ffeuda
Verachtung
Verachii.Jng
Trauer
D ~-35 l__j ~
Trauer
Atgar
-.49
S = Selbstbereich; F = Fremdbereich
Abbildung 14: Freudenetzwerk bei Gesunden
Zum Ausgangspunkt unserer A_bbildung haben wir den echten Freudeausdruck genommen (Abb.14) und den Argerausdruck (Abb. 15) beider Interaktionspartner. Links und rechts sind die über die Fragebögen gewonnenen introspektiven Anteile des Gefühlsbereiches zu finden. In bezugauf die Häufigkeit der gezeigten Affekte unter den gesunden Männern liegt Freude an erster Stelle (23 % ). In der Tabelle 1 sind die Häufigkeitsverteilungen des mimischen Ausdrucks von gesunden Frauen und Männern in der oben beschriebenen Situation dargestellt.
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Tabelle 1: Affektives Verhalten von Männern und Frauen während einer Diskussion Frauen
Männer
Kategorien
M
MD
SD
M
MD
SD
p
Ärger
0.6
0.0
0.84
4.1
2.0
4.98
0
Verachtung
19.1
9.0
25 .75
5.2
3.5
5.59
Ekel
12.2
13.0
10.47
6.7
1.0
11.83
Angst
0.1
0.0
0.32
0.2
0.0
0.63
Trauer
3.8
1.5
4.96
2.1
0.0
4.36
Überraschung
0.2
0.0
0.42
0.2
0.0
0.63
echte Freude
35.6
33.0
20.53
11.9
12.5
7.88
**
unechte Freude
12.9
4.5
27.62
27.4
26.0
15.94
**
Bl e nden
4.6
1.5
5.13
4.1
0.5
7.87
möglicher Ärger
2.5
0.5
5.86
5.8
2.5
7.05
*
*
< .05 , ** = p < .01 Mittelwert (M), Median (MD), Standardabweichungen (SD) und signifikante Differenzen (p) zwischen den Geschlechtern der Interpretationsketegorien nach EMFACS (U-Tests nach Mann -Withney).
Anmerkung: 0 = p = .1,
= p
Wie ersichtlich, ist das Ausdrucksverhalten affektiver Art der Männer insgesamt sehr viel niedriger. Unabhängig von der Gesamthäufigkeit unterscheiden sich Männer und Frauen in der Häufigkeit echter Freude, des sozialen Lächelns und des Ärgers signifikant. Diese unterschiedlichen Häufigkeitsverteilungen reflektieren keine naturgegebenen biologischen Größen, da sie in gemischtgeschlechtlichen Dyaden recht anders verlaufen (Frisch et al. 1995). Die Männer reichem in Gesprächen mit Frauen ihr affektives mimisches Repertoir an, so daß es dann kaum Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt. Man kann die Daten wohl eher so interpretieren , daß in der sozialen Situation "Diskutieren" dieMännerunter sich eine Interaktionsform, die um Kontroversen und deren Handhabung zentriert ist, wählen. Im folgenden gehe ich auf die Netzwerke der Männer ein, für diejenigen der Frauen haben wir noch nicht genügend Daten. Die so häufig gezeigte echte Freude korreliert nicht mit dem Selbstrating Freude, es gibt also keine Kongtuenz. Die gezeigte eigene Freude und die des Partners hat aber trotzdem eine sehr hohe Wirkungsmacht auf das Selbst- und Partnererleben. Wir finden zwölf substantielle negative Korrelationen zwischen der gezeigten Freude beider Personen und anhedonischen Gefühlserlebnissen der Handungspartner. Obwohl es also keine Kongruenz gibt, hat die gezeigte echte Freude eine außerordentlich mächtige Wirkung auf die Unterdrückung negativer Modellbilder über sich selbst und den Partner. Die Ähnlichkeitseinschätzung hinsichtlich der Freude bei den Gesunden ist hoch (.78). Es gibt eine leichte Ansteckung (.30).
75
Man kann zwe i sich ergänzende Formen der wechselseitigen Regulierung konstatieren: Auf der einen Seite könnten sich die beiden Interaktionspartner unter dem Einfluß der wechselseiteigen Freudesignale "gutartige" Motive unterstellen, auch wenn sie unangenehme Dinge vortragen und sich streiten, auf der anderen könnte das Lachen als ein gewissermaßen kognitionsfreies, "physiologisches" Gegengift gegen "Unfreude" wirken (Schwartz 1988). Emde (1992) folgend halten wir fest, daß eine "gute Beziehung" durch eingut wirkendes Freuderegulationsystem gekennzeichnet werden kann. Wie wir später sehen werden, sind die Beziehungsregulierungen der schwer Erkrankten, z. B. der Schizophrenen, ab~r auch der Colitispatienten, in bezugauf dieses System nicht funktionsfähig. Daß die Freuderegulierung von der negativen Affektregulierung weitgehend unabhängig ist, erfährt eine gewisse Bestätigung (Emde 1992). Ehe wir eine G_~samtwürdigung der " guten" Regulierung bei Gesunden versuchen, soll nun die Argerregulierung besprochen werden. Ärger ist interkulturell der häufigst erlebte negative Affekt (Scherer & Tannenbaum 1986). Nach unseren Untersuchung,en \st fugerausdruck eher selteJ?.. (siehe Tabelle 1). Dies haben auch andere Untersuchungen bestätigt. Vor dem Arger kommen die negativen Affekte Veracht'-!_ng, Ekel und Trauer. In der Abbildung 20 ist das Argernetzwerk von zwei gesunden Männern dargestellt. Es gibt wieder keine Kongruenz zwi~_chen Ausdruck und Erleben, ebenfalls gibt es keine Ansteckung. Das Zeigen von Arger korreliert negativ mit der Zuschreibung von Angst zum Partner, positiv mit Freudeerleben beim Partner und beim Selbst. Wiederum finden wir hohe Ähnlichkeit. Person
PersonA
B
F
s
s
F
[;]GJ
DD DD GJ
Angst
Ekel
Überraschu"og
Freude Verachtung
Trauer
Arger
S = Selbstbereich; F = Fremdbereich
Abbildung 15: Ärgernetzwerk bei Gesunden
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Wenn wir die bisherigen Befunde zusammenfassen, könnte man das Grundmuster der Regulierung bei den Gesunden wie folgt charakterisieren: Wir ~aben hohe wechselseitige Attribuierungen bzw. Wahrnehmung hinsichtlich der Ahnlichkeit, aber einen niedrigen direkten Einfluß über den eigenen Affekt. Dieses merkwürdig erscheinende Ergebnis liegt darin begründet, daß die Generierung von negativem mimischem und erlebtem Affekt bei den Gesunden weniger mit der Regulierung des Selbst und der Beziehung zu tun hat als mit der affektiven Valenz der kognitiven Prozesse, über die die Personen sprechen. Aus dieser Themenzentrierung des negativen Affektes folgt, daß unter normalen Umständen der negative Affekt eine gemeinsame Form der Weltsicht reflektiert, deshalb auch der enge positive Zusammenhang zwischen Freudeerleben und Ärgerausdruck Das sind also zwei Personen, die froh und einig schimpfen und sich dabei keinen Zwang antun. Umgekehrt ist der echte Freudeausdruck nicht objektbezogen, sondern explizit beziehungsregulierend, so daß zwischen die vielen objektbezogenen Ärgerausdrücke die noch häufigeren Freudesignale gesetzt werden, die gleichzeitig signalisieren, daß der gezeigte negative Affekt nicht der anderen Person gilt, sondern dem kognitiven Objekt. Diese Art von Zuordnung verändert sich, wenn die Beziehung selbst das Problem wird, in dem zum Beispiel eine Form der Feindseligkeit auftritt, es also "Ernst" wird. Dies geschah in einer Dyade unter den Gesunden. Nun werden die affektiven Zeichen alsindikativfür den Zustand des Senders genommen, und die Kongruenz und Validität erhöht sich. Generell scheint es so zu sein, daß die Reservierung des negativen Affektes für den Selbstbereich und den Zustand der Beziehung eher selten vorkommt und auch hochgradig normiert ist. Wie wir später sehen werden, gilt dies für die psychisch Kranken nicht. Sie scheinen generell diese Form der "guten " Beziehung verloren zu haben, einmal durch die verlorene Freude und zum anderen durch die "Verernstung" der Beziehung, die eine Attachierung an die gemeinsame Objektwelt eher unwahrscheinlich macht, dafür geht es für sie immer um das Selbst und die Beziehung. Das mag damit zusammenhängen, daß jede psychische Erkrankung letztendlich mit einer negativen Einfärbung des Selbstwertes und dessen dauernder Bedrohung korreliert ist. In einer Arbeit zu Sprachpsychologie hat Bühler (1982) die drei möglichen Beziehungen des Sprachzeichens zum zu Bezeichnenden dargestellt, nämlich 1. als Indikativ für den Zustand des Senders des Zeichens, 2. als Appell für Handlungen des Empfängers und 3. als symbolische oder metaphorische Abbildung von etwas Gemeintem. Diese gleiche Einteilung muß auch für das mimische und andere Affektzeichen gelten, und wir haben aus dem Zeichen selbst keine direkten Hinweise, welche der drei Möglichkeiten gültig ist. Wie wir später zeigen werden, kann man aus dem Kontext des nonverbalen Verhaltens allerdings Regeln ableiten, welcher der drei Modi nun Gültigkeit hat. Diese Regeln sind aber nicht eindeutig und dazu noch kultur- und krankheitsabhängig, denn wie wir später sehen werden, gelten für die psychisch Kranken 1. andere Häufigkeitsverteilungen, 2. andere Kontextzeichenregeln. Fürs erste scheinen die psychisch Kranken die Form der guten Beziehungsregulierung verloren zu haben. Einmal durch die verlorene Freude und zum anderen
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durch die Verernstung der Beziehung, die eine Anhindung an die gemeinsame Objektwelt, also diese 3. Variante Bühlers eher unwahrscheinlich macht. Dafür geht es immer um das Selbst und den Appell an den Andern. Wir werden später unter Trieb und Affekt und unter den Abwehrmechanismen verschiedene solcher pathologischen dyadischen Reglierungen besprechen, z. B. die für die Schizophrenie typische Form der projektiven Identifikation oder die für die Psychosomatik typische Form der Verleugnung. Fürs erste wollen wir die Frage, was eine gute Beziehung unter psychisch Gesunden sei, wie folgt zusammenfassen: Erstens ist die Freuderegulierung von Einfluß auf die Sedierung negativen Affektes. Zweitens ist der negative Affekt im allgemeinen an die Objektwelt gebunden und damit ein Zeichen der gemeinsamen oder verschiedenen Sichtweise der Objekte, über die man sich auseinandersetzt, aber nicht der Selbststruktur bzw. der Beziehung. Drittens: Kongmenz im Sinne der Echtheit als Übereinstimmung von Ausdruck und Erleben ist selten zu erwarten und bleibt eher ernsten Situationen vorbehalten. Viertens: die verschiedenen Formen von Projektion, Verleugnung, Introjektion, auf deren Funktionen und Wirkunsgweise wir noch zu sprechen kommen, sind im allgemeinen für eine gute Beziehung wenig günstig, weil sie eine Wahrnehmung der Intentionalität des Partners sehr erschwert. Solche Fehlwahrnehmungen als Grundlage des Scheiteros von Behandlungen scheinen therapieübergreifend. Da wir davon ausgehen können, daß viele Patienten die von ihnen initiierten Beziehungsangebote auch nicht kennen, könnte es sein, daß eines der Behandlungsziele in der Möglichkeit der inneren Monitortierung der eigenen Verhaltens- und Beziehungsangebote und ihrer Motivierung bestünde. Mit diesem Phänomen werden wir uns nun näher auseinandersetzen.
2.4 Was ist eine psychotherapeutisch psychoanalytische Beziehung? Was unterscheidet eine therapeutische von einer Alltagsbeziehung? Wo steckt das kurative Moment der ersteren? Da so viele Methoden etwas bringen, kann es an der jeweiligen Behandlungstechnik alleine nicht liegen. Irgendetwas muß an der therapeutischen Beziehung sein, das über eine empathische Alltagsbeziehung e inerseits und die bloße Applikation einer Behandlungstechnik andererseits hinausgeht. Was aber ist kurativ an der therapeutischen Beziehung? Deutungen und die mit ihnen verbundenen Einsichten sind gewiß von großer Bedeutung, aber wir wissen mittlerweile, daß unsere Patienten unsere Deutungen nicht glauben können, solange sie nicht wenigstens ansatzweise sicher sind, daß wir anders reagieren als die Objekte ihrer bisherigen Inszenierungen. Worin liegt nun diese Andersartigkeit des Reagierens? Eine einfache Antwort finden wir darin, daß wir die Beziehungen zu den Patienten aufrechterhalten, obgleich sie alles mögliche tun , um sie abzubrechen. Demnach ist auch die häufigste empathische Reaktion von gesunden Laien auf psychisch Gestörte, sie alleine zu lassen und die Beziehung abzubrechen. Das tun wir also nicht, aber was tun wir dann "anders", wenn wir die Beziehung aufrechterhalten?
78
2.4.1 Das Ubertragungsgeschehen An dieser Stelle wird zumindest vo~ psychoanalytischer Seite im allgemeinen argumentiert, wir würden auf die "Ubertragung" des Patienten anders als die ~_istorischen Figuren und die rezenten Interaktionspartner reagier~n. Was aber ist Ube rtragung und was ist anders? Die klassische Auffassung von Ubertragung ist das Auftauchen kindlicher Gefühle und Einstellungen, die nun an den Analytiker anstelle der elterlichen Figuren angeheftet werden. Diese Konzeption, die Freud aufgestellt hat, ist aber nicht unwidersprochen geblieben. Sandler, Dare und Holder (1992) finden sechs verschiedene Vorstellungen von Übertragung, die man aus der psychoanalytischen Literatur exzerpieren kann. Nicht alle sind vereinbar. Da die Konzeption der Behandlungsbeziehung sehr eng mit derjenigen von der Übertragung verbunden ist, müssen wir davon ausgehen, daß wir auch innerhalb der Psychoanalyse verschiedene Auffassungen von dem, was eine Beziehung, was eine kurative therapeutische Beziehung, was Übertragung und was Gegenübertragung ist, haben. Wenn man versucht, eine Art von Tiefenstruktur der verschiedenen Konzeptionen der Übertragung herauszuarbeiten, kann man die folgenden Linien finden: Einmal gibt es einen Dissens über die Generalität bzw. Spezifizität der Übertragungsneigung. Man kann mit Sarnpson und Weiss (1986) der Meinung sein, daß die Patientenjedes Objekt darauf abtesten, ob es einem ihnen vertrauten und gefürchteten Schema folge. Die Art der Testung sei im allgerneinen so angelegt, daß unter natürlichen Randbedingungen niemand diesen Test bestehen könne. Man kann aber auch der Meinung sein, daß die Übertragung im regressiven Setting der Psychotherapie, speziell der Analyse, erst hergestellt werde, um durch diese künstliche, therapietechnisch bedingte Ubenragungsneurose die historischen Beziehungserfahrungen wieder zugänglich zu machen. Die Antwort auf diese Frage ist behandlungstechnisch nicht unbedeutend und empirisch bis anhin unbeantwortet. Auf der einen Seite kritisieren Autoren wie Thomae und Kächele (1988) Freuds Vorstellung von der Naturwüchsigkeit und Spontaneität der Übertragungsprozesse, auf der anderen Seite argumentieren Autoren wie Argelander (1979), daß das szenische Verstehen, etwas, das ja ein Inszenieren voraussetzt, fast automatisch in der ersten Interviewbegegnung schon ablaufe. Zum zweiten ist die Frage ungeklärt, wie man sich den Vorgang der Übertragung eigentlich vorstellen soll. Wie wird eigentlich übertragen? Eine Gruppe von Analytikern sieht den Vorgang als eine Form von illusionärer Verkennung und bleibt damit relativ dicht an den Wahrnehmungs- und Denkfunktionen, die andere sieht Übertragung als eine Form von Inszenierung und geht damit eher auf die Handlungsseite und den Patienten, als wenn auch unbewußten Regisseur seines Leidens über. Es ist leicht zu erkennen, daß die Vermutung der Ubiquität von Übertragungsprozessen eng mit der Vorstellung von Insenzierungen verbunden ist. Behandlungstechnisch folgt aus der Präferenz der illusionären Wahrnehmungstheorie eine Bevorzugung von Deutungen und Einsicht, aus der Inszenierung eine solche für korrigierende emotionale Erfahrungen. Die dritte Frage ist schließlich, was übertragen wird. Infantile Gefühle und Einstellungen zu vergangenen Objekten allein können das Verhalten unserer Patienten nicht bestimmen. Sowohl im Verhalten als auch im inneren Erleben sind unsere Patienten nur in Teilen kindlich, also muß die Übertragung, ehe sie wirksam wird, getarnt werden.
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Manche dieser Hypothesen sind testbar, andere nicht. Man kann zum Beispiel die Ubiquität von Übertragungsneigung überprüfen. Ich meine auch, man könne die Frage des Wie überprüfen. Was nicht gelingen kann, ist die Frage, zu beantworten, was übertragen wird. Da wir prinzipiell die Kindheit der Patienten nur aus ihren eigenen Berichten und Inszenierungen kennen, ist uns die Vorlage für ihre Drehbücher nur in Teilen zugänglich. Desweiteren richten sich die Drehbücher häufig nicht nach realen Objekten und deren Handlungen, sondern bilden die Beziehungen zwischen inneren Strukturen, z. B. Überich und Ich, ab, die auf die gegenwärtige Beziehung "übertragen" werden. Hier wäre Übertragung eine Form der Externalisierung. Gleichwohl muß man sich als Therapeut Gedanken darüber machen, welche Anteile am Denk- und Verhaltensstrom unserer Patienten regressiv und welche erwachsen sind. Die Fragen, die wir im folgenden diskutieren werden und unter Rückgriff auf unsere verschiedenen Forschungsprojekte zu lösen versucht haben, lauten also schärfer ausformuliert wie folgt: 1. Gibt es spezifische Beziehu ngsm uster, die für Patienten mit spezifischen psychischen Störungen charakteristisch sind, die sie, mit wem auch immer, realisieren? 2. Wenn dem so ist, welche Charakteristika der Patienten bestimmen die Beziehungsmuster? Es könnte z. B. die Schwere einer Erkrankung- ganz unabhängig von der inhaltlichen Diagnose - sein, es könnten strukturelle Muster, wie die Unterscheidung von narzißtischer vs. neurotischer Persönlichkeitsorganisation, sein, oder es könnte die Symptomatologie oder möglicherweise eine Kombination der verschiedenen Merkmale sein oder etwas, das wir noch gar nicht kennen. 3. Reagieren gesunde Handlungspartner in spezifischer Weise in ihrem Verhalten und in ihrem Empfinden und ihren Phantasien auf diese Angebote, wenn sie mit den Patienten interagieren, ohne zu wissen, daß es sich um solche handelt? 4. Wenn dem so wäre, wie kriegen die Patienten es hin, das Verhalten und die Phantasien der Gesunden zu beeinflussen? 5. Welc~e Teile der spezifischen Muster kann man als Wiederholung im Sinne von regressiven Ubertragungsphänomenen definieren?
Nachdem wir die Fragen beantwortet haben, werden wir uns wieder den Spezifika der psychoanalytischen, psychotherapeutischen Situation zuwenden.
2. 4.1.1 Das Übertragungsgeschehen im Alltag Für die Untersuchung der ersten vier Fragen haben wir das auf Seite 71 bereits beschriebene Setting benutzt: Zwei Personen des gleichen Alters, Geschlechtes und in etwa gleichen Bildungsgrades, die einander nicht kannten, trafen sich in unserer Forschungseinrichtung und diskutierten miteinander 20 Minuten über Politik, speziell sollten sie sich darauf einigen, welche der vier wichtigsten Probleme im nächsten Jahr in Deutschland gelöst werden sollten. Einer der Partner war entweder gesund oder litt an Schizophrenie, an Colitis ulcero.~a oder einer funktionellen Wirbelsäulenbeschwerde mit einer neurotischen Atiologie im Sinne einer Konversion. Die Kontrollgruppe bestand aus Gesunden, die miteinander interagierten. Da die Patienten einschließlich der Schizophrenen nicht offen psychotisch agierten, realisierten ihre Partner tatsächlich nicht, daß sie mit jemand krankem sprachen. Im ersten Durchlauf werde ich hier als Meßgröße für die Beziehungs- und Interaktionsmuster die Affekte, so wie sie sich im Gesichtsaus-
80
druck äußerten, wählen. Tatsächlich haben wir natürlich viele andere Meßgrößen vetwendet, aber als Einstieg sind die Affekte wegen ihrer Sichtbarkeit günstig. In der Abbildung 16 finden Sie die Mimikwerte der verschiedenen Patientengruppen.
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Abbildung 16: Summen aller Affektausdrücke: Klinische Gruppen und Kontrollgruppen
Die erste Frage nach der Spezifizität kann man wie folgt beantworten: Die Männer, die an Schizophrenie paranoid-halluzinatorisch ohne offene Exarzerbation und an Colitis ulcerosa leiden, haben eine schwere Reduktion der mimischen Affektivität aufzuweisen, wenn man sie mit neurotischen Patienten auf der einen Seite und mit gesunden Personen, die mit Gesunden sprechen, auf der anderen Seite vergleicht (Krause, Sänger-Alt & Wagner 1989; Steimer-Krause, Krause & Wagner 1990, Frisch, Schwab & Krause 1995). Diese Reduktion ist hauptsächlich die Folge des Verschwindens der echten Freude, des sozialen Lachens wie auch von sprechbegleitenden Frontalisbewegungen, die im allgemeinen als Zeichen intensiver Besetzung betrachtet werden können. Wahrscheinlich sind all diese Merkmale indikativ für Anhedonie, also ein Leben ohne Freude und Besetzung. Für die schizophrenen Patienten ist dies nur teilweise Folge der neuroleptischen Medikation.
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Freude Verachtung Ekel
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