Unter dem matten Firmament erstreckt sich eine Ebene. Sie ist voller sanfter Rundungen und Wölbungen, die aus der Ferne...
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Unter dem matten Firmament erstreckt sich eine Ebene. Sie ist voller sanfter Rundungen und Wölbungen, die aus der Ferne betrachtet gewisse Vorstellungen wecken könnten. Aber wenn man sie aus der Ferne betrachtet, so hat man allen Grund, sich über die große Distanz zu freuen. Drei graue Gestalten schwebten dicht darüber. Normale Sprache bot kein geeignetes Mittel, um sie zu beschreiben. Manche Leute hätten sie vielleicht als Cherubim bezeichnet, obgleich es ihnen an Pausbäckigkeit mangelte. Sie gehörten zu jenen speziellen Wesen, die dafür sorgen, daß die Schwerkraft funktioniert und die Zeit vom Raum getrennt bleibt. So etwas wie Revisoren. Revisoren der Realität. Sie unterhielten sich, ohne miteinander zu sprechen. Es bestand gar keine Notwendigkeit, Worte zu formulieren. Sie veränderten einfach die Realität, so daß sie bereits gesprochen hatten. Einer sagte: So etwas ist noch nie zuvor geschehen. Läßt es sich bewerkstelligen? Einer sagte: Es muß geschehen. Immerhin handelt es sich um eine Person, und Personen finden früher oder später ein Ende. Nur Kräfte überdauern. Die Nicht-Worte brachten Zufriedenheit zum Ausdruck. Einer sagte: Außerdem kam es zu ... Unregelmäßigkeiten. Wo Personen im Spiel sind, bleiben Unregelmäßigkeiten nicht aus. Das ist eine allgemein bekannte Tatsache. Einer fragte: Hat er schlechte Arbeit geleistet? Einer sagte: Nein. In dieser Hinsicht können wir ihn nicht festnageln. Einer sagte: Genau darum geht's - um das Er und Ihn und so weiter. Wer zu einer Person wird, ist auf dem besten Wege zur Inkompetenz. Wir dürfen nicht zulassen, daß so etwas um sich greift. Angenommen, die Schwerkraft entwickelt eine eigene Persönlichkeit. Angenommen, sie beschließt plötzlich, die Leute zu mögen... Einer fragte: Will sie sich ihnen etwa an den Hals werfen? Einer sagte mit einer Stimme, die noch kälter geworden wäre, wenn sie nicht schon den absoluten Nullpunkt erreicht hätte: Nein. Einer sagte: Entschuldigt. Nur ein kleiner Scherz von mir. Einer sagte: Außerdem denkt er über seine Arbeit nach. Solche Überlegungen könnten gefährlich werden. Einer sagte: Das stimmt. Einer fragte: Dann sind wir uns also einig? Einer hatte über etwas nachgedacht und sagte nun: Moment mal. Hast du eben das Wörtchen "mir" benutzt? Entwickelst du etwa eine Persönlichkeit? Einer erwiderte erschrocken: Wer? Wir? Einer sagte: Wo es Persönlichkeit gibt, ist Uneinigkeit nicht weit. Einer sagte: Wie wahr. Wie wahr. Einer sagte: Na schön. Aber paß demnächst auf. Einer wiederholte: Dann sind wir uns also einig? Sie sahen zu Azrael auf, dessen Gesicht sich am Himmel zeigte. Eigentlich war es der Himmel. Azrael nickte langsam. Einer fragte: Nun gut. Wie heißt der Ort? Einer antwortete: Scheibenwelt. Wird auf dem Rücken einer riesigen Schildkröte durchs All getragen. Einer sagte: Ach, eine Welt von der Sorte. Ich verabscheue sie. Einer stellte fest: Schon wieder. Du hast schon wieder "ich" gesagt. Einer widersprach: Nein! Nein! Ausgeschlossen! Ich habe nicht "ich" gesagt. Oh, Mist...
Das Wesen wurde zu einer Flamme und verbrannte auf die gleiche Weise wie eine Gaswolke: schnell und ohne häßliche Überbleibsel. Fast sofort nahm ein anderes Geschöpf seinen Platz ein, und es sah genauso aus wie sein Vorgänger. Einer sagte: Laßt uns das eine Lehre sein. Die Entwicklung einer Persönlichkeit bedeutet das Ende. Und nun... Brechen wir auf. Azrael beobachtete, wie sie fortflogen. Man kann kaum die Gedanken einer Entität erraten, die so gewaltig ist, daß man auf der Lichtgeschwindigkeit basierende Maßstäbe nutzen muß, um einen Eindruck von ihrer Größe zu bekommen. Wie dem auch sei: Azrael drehte seine enorme Masse, und mit Augen, die ganze Sterne aufnehmen konnten, hielt er inmitten von Myriaden Welten nach einer flachen Ausschau. Auf dem Rücken einer Schildkröte. Eine Scheibe - Welt und Spiegel der Welten. Es klang interessant. Und Azrael langweilte sich in seinem Kerker aus Jahrmilliarden.
In diesem Zimmer fließt die Zukunft zur Vergangenheit und quetscht sich dabei durch das Nadelöhr des Jetzt. An den Wänden bilden Lebensuhren lange Reihen. Es sind keine Stundengläser, obwohl sie die gleiche Form haben. Es handelt sich auch nicht um Eieruhren von der Art, wie man sie von jedem beliebigen Urlaubsort als Souvenir heimbringen kann. Für gewöhnlich stammen sie von jemandem, der ebensowenig guten Geschmack hat wie ein Pfannkuchen aus Sülze. Sie enthalten nicht den üblichen Sand, sondern Sekunden, die das Vielleicht unablässig ins War verwandeln. Jede Lebensuhr hat einen Namen. Und das Zimmer ist voll vom leisen Zischen gelebter Leben. Man stelle sich diese Szene vor ... Und dann denke man sich das langsam näher kommende Klacken von Knochen auf Stein hinzu. Eine dunkle Gestalt schreitet durchs Blickfeld des Beobachters und geht an den endlosen Regalen mit flüsternden Gläsern vorbei. Klick, klack. Hier steht ein Glas, dessen obere Hälfte fast leer ist. Knochenfinger greifen danach. Und nach einem anderen. Und nach einem weiteren. Und nach vielen mehr. Auswählen, auswählen. Ein ganz normaler Arbeitstag. Das heißt... Es wäre ein ganz normaler Arbeitstag, wenn es hier Tage gäbe. Es klickt und klackt, als die dunkle Gestalt ruhig und gelassen an den Regalen entlangwandert. Und dann bleibt sie stehen. Und zögert. Sie bemerkt eine kleine goldene Lebensuhr, die zwischen den übrigen kaum auffällt. Gestern hat sie noch nicht hier gestanden. Besser gesagt: Gestern hätte sie noch nicht hier gestanden, wenn die Realität dieses Ortes Platz fürs Gestern ließe. Knöcherne Finger greifen zu und halten die Lebensuhr ins Licht. Kleine Großbuchstaben kennzeichnen den Gegenstand mit einem Namen. Der Name lautet TOD. Tod stellte die Lebensuhr beiseite - und nahm sie erneut zur Hand. Der Sand der Zeit rieselte von der oberen Hälfte in die untere. Er drehte das Gefäß, um ganz sicher zu sein. Der Sand rieselte auch weiterhin, jetzt von unten nach oben. Tod hatte es nicht anders erwartet. Es bedeutete: Selbst wenn es hier Tage gegeben hätte - ihre Anzahl war plötzlich begrenzt. Weiter hinten bewegte sich etwas in der Luft. Tod drehte sich langsam zu einem Wesen um, das in der Düsternis undeutliche Konturen offenbarte. WARUM?
Das Geschöpf antwortete. ABER ES SCHEINT . . . NICHT RICHTIG ZU SEIN. Das Wesen wies darauf hin, eine andere Absicht zu vertreten. Tods Gesicht blieb völlig unbewegt, ein Umstand, der nicht zuletzt auf die geringe Flexibilität von Knochen zurückzuführen war. ICH WERDE EINSPRUCH ERHEBEN. Der Besucher erwiderte: Gerade er sollte wissen, daß es in solchen Fällen nie irgendeine Art von Berufung gab. Tod dachte darüber nach und meinte: ICH HABE MEINE PFLICHT IMMER SO ERFÜLLT, WIE ICH ES FÜR RICHTIG HIELT. Das Wesen schwebte etwas näher. Es erinnerte vage an einen Mönch in einem grauen Kapuzenmantel. Das wissen wir, sagte es. Deshalb darfst du das Pferd behalten.
Die Sonne stand dicht über dem Horizont. Die kurzlebigsten Geschöpfe auf der Scheibenwelt waren Eintagsfliegen: Ihre Existenz dauerte kaum vierundzwanzig Stunden. Zwei der ältesten Exemplare flogen im ziellosen Zickzack über einem Forellenbach und sprachen mit einigen jungen Fliegen aus der Abendbrut. "Heute ist die Sonne nicht mehr so wie damals", klagte einer der beiden Alten. "Das stimmt. In den guten alten Stunden gab's eine richtige Sonne. War ganz gelb und nicht so rot wie jetzt." "Und sie stand höher am Himmel." "Läßt sich nicht leugnen." "Und Nymphen und Larven zeigten einem mehr Respekt." "Und ob, und ob", bestätigte die andere alte Eintagsfliege. "Wenn sich die jungen Burschen anständig benehmen würden, hätten wir bestimmt eine bessere Sonne." Die jungen Eintagsfliegen hörten geduldig zu. "In meiner Jugend erstreckten sich hier überall Felder, so weit das Auge reichte", ließ sich eine andere alte Eintagsfliege vernehmen. Die jüngeren blickten sich um. "Die Felder existieren noch immer", erklang es nach einer höflichen Pause. "Aber früher waren sie besser", betonte die alte Fliege scharf. "Ja", summte die zweite Alte. "Und ich erinnere mich an eine Kuh." "Stimmt! Stimmt! Ich erinnere mich ebenfalls an sie. Sie fraß dort drüben Gras, und zwar, äh, vierzig Minuten lang. War braun." "Solche Kühe gibt es in den jetzigen Stunden nicht mehr." "Es gibt überhaupt keine mehr." "Was sind Kühe?" fragte eine der jungen Eintagsfliegen. "Ich wußte es!" triumphierte die älteste Fliege. "Die modernen Ephemeriden haben von nichts eine Ahnung." Sie zögerte. "Womit haben wir uns vor unserem Gespräch über die Sonne beschäftigt?" "Wir sind ziellos und im Zickzack überm Wasser herumgeflogen", erwiderte eins der jungen Exemplare. Diese Antwort war praktisch immer richtig. "Und davor?" "Äh... Du hast uns von der Großen Forelle erzählt." "Ja. Ja, genau. Die Forelle. Nun, wenn man eine gute Eintagsfliege gewesen ist und immer auf die richtige Weise im Zickzack überm Bach flog..." "... und wenn man außerdem immer Respekt vor älteren hatte..."
"Ja, und wenn man außerdem immer Respekt vor älteren hatte, dann kommt die Große Forelle und..." Plitsch. Platsch. "Ja?" fragte eine der jungen Eintagsfliegen. Keine Antwort. "Dann kommt die Große Forelle und was?" ertönte die nervöse Stimme einer anderen Fliege. Sie blickten aufs Wasser hinab und sahen mehrere sich ausdehnende konzentrische Kreise. "Das heilige Zeichen!" entfuhr es einer Eintagsfliege. "Man hat mir davon erzählt! Ein Großer Kreis im Wasser! Es ist das Zeichen der Großen Forelle!" Die älteste der jungen Eintagsfliegen starrte nachdenklich auf den Bach hinab: Als Senior hatte sie das Recht, besonders dicht an der Wasseroberfläche zu fliegen. "Wenn man von der Großen Forelle geholt wird...", begann jene Eintagsfliege, die über allen anderen im Zickzack flog. "Es heißt, sie bringt einen in ein Land, wo... wo..." Eintagsfliegen können mit Milch und Honig nichts anfangen, und deshalb fügte sie unsicher hinzu: "Wo Wasser fließt." "Glaubst du?" fragte die älteste Fliege. "Dort muß es herrlich sein", sagte die jüngste. "Ach? Warum denn?" "Es kehrt nie jemand zurück." Die ältesten Lebewesen der Scheibenwelt sind die berühmten Zählenden Kiefern, die an der Schneegrenze in den Spitzhornbergen wachsen. Sie bieten eins der wenigen bekannten Beispiele für geliehene Evolution. Die meisten Spezies beschreiten einen eigenen Evolutionspfad und improvisieren unterwegs, womit sie dem Gebot der Natur gerecht werden. So etwas mag mit geheimnisvollen kosmischen Zyklen in Einklang stehen, die der Meinung sind, jahrmillionenlanges Probierverfahren sei bestens geeignet, um moralische Festigkeit und in einigen Fällen sogar Rückgrat zu verleihen. Wenn man die Sache aus dem Blickwinkel der Spezies betrachtet, gibt es nichts dagegen einzuwenden. Doch ganz anders sieht die Sache aus, sobald man sich die Perspektive der betreffenden Individuen zu eigen macht. Dann kann einem diese ganze Evolutionsgeschichte schon bald zum Halse heraushängen. Oder aus den Wurzeln... Aus diesem Grund überließen die Zählenden Kiefern ihre Entwicklung anderen Pflanzen. Wenn ein entsprechender Same irgendwo auf der Scheibenwelt auf den Boden fällt, so verwendet er das Mittel der morphischen Resonanz, um den besten genetischen Code in der Nähe zu finden, und anschließend wächst er zu etwas heran, das besonders gut an Boden und Klima angepaßt ist - so gut, daß dieses Etwas die einheimischen Arten schon nach kurzer Zeit verdrängt. Aber eigentlich sind die Zählenden Kiefern deshalb so bemerkenswert, weil sie... zählen. Auf eine eher vage Weise waren sie sich bewußt, daß die Menschen die Ringe eines Baums zählten, um das Alter festzustellen, und daraus zogen sie den Schluß: Aus diesem Grund werden Bäume gefällt. Die Zählenden Kiefern nahmen diese Erkenntnis zum Anlaß, sofort den eigenen genetischen Code zu verändern, um in Augenhöhe und gut lesbar ihr exaktes Alter anzugeben. Innerhalb eines Jahres waren sie daraufhin fast ganz ausgestorben, was sie einer Hochkonjunktur in der Industrie für schmuckvolle Hausnummern-Schilder verdankten. Nur in äußerst abgelegenen Regionen gab es einige wenige Überlebende. Die sechs Zählenden Kiefern lauschten der ältesten Kiefer weit und breit: Der knorrige Stamm verkündete ein Alter von einunddreißigtausendsiebenhundertvierunddreißig Jahren. Das Gespräch dauerte siebzehn Jahre und wird hier im Zeitraffer wiedergegeben. "Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als es hier nicht nur Felder gab."
Die Kiefern blickten über die mehr als anderthalbtausend Kilometer freies Land vor ihnen hinweg. Das Firmament flackerte wie der schlechte Spezialeffekt eines Zeitreisefilms. Schnee erschien, verweilte kurz und schien sich einfach in Luft aufzulösen. "Und was gab es statt dessen?" fragte die nächste Kiefer. "Eis. Wenn diese Bezeichnung angemessen ist. Damals hatten wir richtige Gletscher. Nicht so ein Eis wie heute: plötzlich da und schon wieder weg. Es blieb eine Ewigkeit lang." "Was ist damit passiert?" "Es verschwand." "Wohin?" "Was weiß ich? Wohin die Dinge eben verschwinden. Alles hat's so eilig..." "Potzblitz! Der hatte es in sich." "Was meinst du?" "Den letzten Winter. War ziemlich streng." "So etwas hältst du für einen strengen Winter? Als ich ein junger Baum war - da hatten wir richtige Winter. Aber heute..." Die Kiefer verschwand. Nach einer schockierten Pause, die mehrere Jahre dauerte, sagte ein anderer Baum der Gruppe: "An einem Tag war er noch da, und am nächsten nicht mehr! Wie ist so etwas möglich?" Wenn die übrigen Bäume Menschen gewesen wären, hätten sie jetzt mit den Füßen gescharrt. "So was kommt vor, Junge", erwiderte einer von ihnen behutsam. "Bestimmt ist er jetzt an einem besseren Ort1 . Da kannst du sicher sein. Immerhin war er ein guter Baum." Der jüngere Baum - er hatte erst fünftausendeinhundertelf Jahre hinter sich - fragte: "Was für ein >besserer Ort