1513 — Im Wald von Belloncombre »Ich wünschte, wir hätten nicht den Weg durch den Wald gewählt...« Baptiste warf seinem...
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1513 — Im Wald von Belloncombre »Ich wünschte, wir hätten nicht den Weg durch den Wald gewählt...« Baptiste warf seinem Herrn einen schrägen Blick zu, aber er erhielt keine Antwort von ihm. Sein nächster, unbehaglicher Blick galt den uralten Eichen und Buchen, die den Weg beschatteten. Das dichte Blätterdach sperrte Sonnenlicht und Wärme so weitgehend aus, und der Weg erschien wie ein geheimnisvoller grüner Tunnel, der die Beklommenheit des einfachen Knechtes nur noch verstärkte. »Man sagt, es gibt Feen und böse Geister im Wald von Belloncombre...« Abermals bekam Baptiste keine Antwort. Jacques Malivet war es leid, diesem Angsthasen zu erklären, daß er nicht um seiner Bedenken willen auf eine nützliche Abkürzung verzichten wollte. Der Weg nach Dieppe war weit genug, und er gedachte die seit langem ersehnte Heimkehr nicht durch unnötige Bummelei zu verzögern. Er wollte endlich wieder nach Hause. »Man sagt...«, begann Baptiste hartnäckig von neuem, und schließlich platzte dem ehrenwerten Monsieur Malivet doch noch der spitzenverzierte Leinenkragen seines dunklen Tuchwamses. »Zum Henker! Noch eine Silbe, du Narr, und ich werde Der massige, schwere Mann mittleren Alters, dessen Kleidung ihn als wohlhabenden Kaufmann auswies, brach mitten im Satz ab und verstummte. Er riß an den Zügeln seines Pferdes und gebot seinem furchtsamen Diener mit einer knappen Geste ebenfalls Schweigen. Da war es wieder. Ein verzweifelter Aufschrei, der unvermittelt abbrach. Der Ruf einer Frau in höchster Not! Ehe Baptiste begriffen hatte, was das bedeuten sollte, lenkte sein Herr bereits das Pferd in Richtung dieses Hilferufs. Hufspuren und frisch abgebrochene Zweige bewiesen, daß sie nicht die ersten waren, die an dieser Stelle den Weg durch den Wald von Belloncombre verließen und geradewegs in das geheimnisvolle grüne Dunkel einbrachen. Bei genauerem Hinhorchen vernahmen sie nun auch andere Laute: Mürrische Stimmen, knappe Befehle, das Klirren von Waffen. Jacques Malivet war nicht umsonst ein erfolgreicher Kaufmann und Reeder. Er verband einen klaren Verstand mit guter Auffassungsgabe, zudem besaß er die Begabung, das Richtige im richtigen Moment zu tun, und verfügte über einen gesunden Sinn für das Machbare, der ihn daran hinderte, ein überflüssiges Wagnis einzugehen und den eigenen Kopf zu riskieren. Auch in diesem Moment entschied er sich für Vorsicht. »Du wartest hier mit den Pferden, Baptiste!« raunte er seinem blassen und erschrockenen Begleiter zu. »Ich möchte erst sehen, was dort vor sich geht. So, wie es sich anhört, sind wir ohnehin in der Unterzahl!« »Wir sollten weiterreiten und uns nicht darum kümmern«, riet Baptiste heiser. »Es ist nicht gut, sich in fremde Angelegenheiten zu mischen!« Malivet hätte ihm recht gegeben, wäre da nicht der Schrei der Frau gewesen. Er vermochte eine Auseinandersetzung zwischen Männern aus Vernunftgründen zu ignorieren, allein der Hilferuf einer Frau erforderte in jedem Falle zumindest den Versuch zu helfen. »Warte!« wiederholte er knapp und verschwand mit dem Geschick eines Mannes zwischen den Büschen, der daran gewöhnt war, sich im Gewimmel eines überfüllten Hafens zielstrebig zu bewegen. Der tiefe Moosteppich, in dem seine Schritte einsanken, sicherte ihm die gewünschte Lautlosigkeit. Aber die Gruppe von Menschen, die er schließlich auf einer unerwarteten Waldlichtung vor den zerfallenen Ruinen einer alten Einsiedelei entdeckte, war so sehr in ihr hinterhältiges Tun vertieft, daß sie ihn ohnehin nicht gehört hätte. Neben der Kapelle mit dem eingefallenen Gewölbe standen zwei Pferde mit einer reich verzierten Reisesänfte. Ein höchst luxuriöses Gehäuse, hinter dessen zurückgeschlagenen Vorhängen bestickte Kissen und seidene Decken glänzten. In respektvollem Abstand davon hielt ein halbes Dutzend Bewaffneter, Pferde und Waffen bereit. Söldner,
deren harte, mitleidlose Gesichter durch die Schatten ihrer zerbeulten mailändischen Helme noch bedrohlicher wirkten. Die kämpferische Eskorte einer höchst noblen Dame. Ein zwar beunruhigender Anblick, aber... Gütiger Himmel! Da war diese Dame! Sie lag mit ausgestreckten Armen mitten auf der Lichtung, und soeben richtete sich der schwarz gekleidete Mann auf, der sich an einem dieser Arme zu schaffen gemacht hatte. Sein Messer blitzte auf. Es fiel dem Reeder schwer, einen Aufschrei zu unterdrücken. Er starrte wie gelähmt auf das entsetzliche Bild, das sich ihm bot, ohne daß sein Verstand zu begreifen vermochte, daß es sich um Wirklichkeit handelte, was er da sah. Er hörte die Worte und weigerte sich gleichzeitig, ihren Sinn zu erfassen. »Es tut nicht weh, ich habe es Euch versprochen. Der Bader hat seine Arbeit mit Geschick verrichtet. Ich muß verrückt sein, einer Ehebrecherin und Verräterin auch noch die Gnade eines schmerzlosen Todes zu gönnen! Nehmt es als letzten Tribut an die Liebe, die ich einmal für Euch empfunden habe, ehe Ihr meine Ehre und meinen Stolz mit Füßen getreten habt!« »Aimee... Floralie... Wollt Ihr sie auch töten? Gottloser Mörder, der Ihr seid...« »Soll der Himmel über Eure Bastarde richten, Madame! Ich mache mir die Finger nicht schmutzig an diesem Auswurf einer Hure...« »Gott wird über Euch richten und Euch strafen, Seigneur...« Die Sterbende bäumte sich auf, ihre Finger krallten sich in das Wams des Mannes, der sich über sie beugte. Er machte keinen Versuch, diese Hand zu lösen. Im Gegenteil, er verharrte wie eine Statue, den Blick auf jene Frau gerichtet, die ihn mit schwacher Stimme verfluchte. Wie gebannt starrte der heimliche Beobachter auf den unaufhaltsamen Strom von Blut, der über die weißen, schmalen Handgelenke der Edeldame rann und unsichtbar im Waldboden versickerte. »Das genügt! Verbindet sie und legt sie in die Sänfte! Dame Elise möchte schließlich nach Hause. Ihr werdet in allen Ehren in der Familiengruft zu Grabe getragen, meine Liebe. Ich hoffe, das erleichtert Euch den Abschied von dieser Welt...« Sein kaltes Lachen entlockte der sterbenden Frau ein letztes Schluchzen. Sie sank in hilfloser Schwäche zusammen, schon gezeichnet von der tragischen Blässe im Angesicht des Todes. Jacques Malivet fühlte einen eisigen Schauer über seinen Rücken laufen. Ein Laut zuviel, und es wäre auch um sein Leben geschehen. Er war Zeuge eines ruchlosen Mordes an einer hohen Dame geworden. Ein Zeuge, dessen man sich umgehend ebenfalls entledigen würde, wenn man ihn entdeckte. Ohne zu wissen, wer der skrupellose Mörder dieser armen Dame war, begriff er, daß dieser Mann niemals zögerte, wenn es darum ging, sein Ziel zu erreichen. Zudem mußte er von hohem Stand sein, daß er sich anmaßte, Richter über Leben und Tod zu spielen. Auf eine Leiche mehr oder weniger würde es ihm nicht ankommen, um sich eines Augenzeugen zu entledigen. Niemand würde ihn je auf dieser Lichtung finden oder gar das Geheimnis seines rätselhaften Todes ergründen. Außerdem war Baptiste nicht der Bursche, der sich auf die Suche nach seinem Herrn machen würde, wenn jener verschwunden blieb. Sobald er begreifen würde, daß der Reeder nicht zurückkam, würde er in kopfloser Flucht davonstieben. So sehr sich Jacques Malivet für seine Feigheit verachtete, er blieb in seinem Versteck, bis die Sänfte mit der sterbenden Edeldame und ihrer Eskorte im dichten Grün des Waldes von Belloncombre verschwand. Auch danach vermochte er geraume Zeit nicht, sich zu bewegen. Aber während seine Zähne vor Kälte aufeinanderschlugen, die nichts mit der wirklichen Temperatur des Tages zu tun hatte, begann er bereits auf einer sachlichen, leidenschaftslosen Ebene seines Verstandes sich selbst zu verachten. Er hatte einen kaltblütigen Mord beobachtet und nicht eingegriffen. Wie konnte er diese Feigheit jemals sühnen? Welche Buße würde ihm auferlegt für eine Sünde, die er vor Gott und den Menschen begangen hatte, als er nicht sein Leben in
die Waagschale warf, um die arme Dame zu retten? In diesem Moment hörte er das Weinen — ein dünnes erbärmliches Stimmchen. 1. KAPITEL Dieppe — 18. April 1528 Der stürmische Westwind zerrte an Haubenbändern, Röcken, Schürzen und Umhängen. Er sorgte dafür, daß die Männer ihre Hüte festhielten und die Worte des Pfarrers davongetragen wurden. Worte, die den verstorbenen Reeder Jacques Malivet als wahren und aufrechten Christenmenschen rühmten. Als einen ehrenwerten Mann, der für seine Familie und seine Stadt Großes geleistet hatte und dessen Tod von allen betrauert wurde. Aimee Malivet spürte die eisige, zitternde Hand ihrer kleinen Schwester, die nach ihren Fingern griff und sie so fest umklammerte, als könne sie dort den Halt finden, den sie jetzt so sehr vermißte. Sie erwiderte sacht den Druck und versuchte das Brennen in den Augen zu ignorieren. Sie wollte nicht weinen. Nicht hier, unter all den neugierigen Blicken und den kalten Augen der Dame Simone, die öfter auf ihr als auf dem Eichenholzsarg ihres Bruders lagen. Floralie schluchzte. Der Wind trocknete die Tränen auf ihren viel zu blassen Wangen. Es war nicht gut, daß sie so lange auf dem Friedhof stand. Noch litt sie unter den Folgen des schlimmen Fiebers, welches Jacques Malivet hingestreckt hatte. Er hatte sich bei Floralie angesteckt in jenen langen Nächten, die er gemeinsam mit Aimée an ihrem Bett gewacht hatte. Simone machte es der Kleinen zum Vorwurf, Aimee ahnte es, ohne daß ein Wort darüber gefallen war. Sie las es aus den Blicken, aus der steinernen Trauer um den Bruder, der Dame Simones ganzer Lebensinhalt gewesen war. Sie fürchtete sich schon jetzt vor dem Moment, in dem sie mit ihr allein sein würden. Die hagere Jungfer mit den strengen Zügen, deren tiefe Falten ihnen fast männliche Härte verliehen, stand dem Haushalt der Malivets vor, seit Aimée denken konnte. Sie mußte diese Herrschaft nach dem Tod von Jacques' junger Frau angetreten haben, die bei Floralies Geburt gestorben war. Sie hatte die beiden Mädchen aufgezogen und sonnte sich in der allgemeinen Bewunderung ihrer christlichen Nächstenliebe, die sie vermeintlich dazu befähigt hatte. Aimee preßte die vollen, perfekt gezeichneten Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Floralie und sie hatten von dieser Liebe hinter den Mauern des Hauses Malivet nur wenig zu spüren bekommen. Simone war schnell mit der Haselrute bei der Hand, wenn man nicht flink und nicht sorgfältig genug arbeitete, aber die Zuneigung ihres Vaters hatte all dies ausgeglichen. Wenn es also einen Menschen gab, der seinen Platz im Paradies überreich verdiente, dann war dies wohl Jacques Malivet. Seine Mildtätigkeit, sein großes Herz und seine Hilfsbereitschaft hatten auch dazu geführt, daß sich fast ganz Dieppe an seinem Grab versammelte und Tränen über seinen unerwarteten Tod vergoß. Allein, die Stadt war nicht so reich und mächtig geworden, weil ihre Bewohner den christlichen Tugenden huldigten, sondern weil sie geschäftstüchtig und klug ihren Vorteil zu wahren wußten. Deswegen galt bei allem Mitgefühl auch mehr als ein interessierter Blick den beiden schönen Töchtern des Reeders. Malivet hatte keinen Sohn hinterlassen, nur diese beiden Mädchen. Die Jüngere war noch ein Kind, aber eine lohnendere Partie als die Ältere gab es in der ganzen Hafenstadt nicht. Wie schade, daß man um der guten Form willen doch wenigstens ein paar Wochen der Trauer beachten mußte. Aimée Malivet wußte um diesen Umstand. Er trug dazu bei, daß sie sich noch elender
fühlte, denn sie würde einen dieser Anträge annehmen müssen, wenn sie sich und ihre Schwester von der tyrannischen Herrschaft Dame Simones befreien wollte. Die wenigen Tage zwischen dem Tod und der Beisetzung ihres Vaters hatten ihr bereits hinreichend bewiesen, daß sie keine andere Wahl hatte. Sie würde einen dieser jungen Männer heiraten müssen, die sie bereits mit einer Mischung aus Begeisterung und Besitzgier betrachteten. Söhne von Reedern, von wohlhabenden Kaufleuten oder ehrgeizige Kapitäne, welche erhofften, mit Hilfe ihrer Mitgift zum Schiffseigner aufzusteigen. Männer wie ihr Vater, von kräftiger Statur, mit Händen, die zupacken konnten. Mit wettergegerbten Gesichtern, unverblümter Sprache und dem gesunden Appetit nach einer vielköpfigen Kinderschar. Sie blinzelte erneut gegen die aufsteigenden Tränen an. Ihre Zukunftsaussichten brachten sie ebenso zum Weinen wie die Vergangenheit. Floralie gab einen leisen Laut von sich, und Aimée zuckte zusammen. Sie hatte die Finger ihrer Schwester so stark gequetscht, daß sich die Kleine erschreckt aus dem gewaltsamen Griff befreite. Aimée errötete schuldbewußt und legte sanft den Arm um die schmalen Schultern der kleinen Schwester. Manchmal begriff sie selbst nicht, woher die heftigen, unbeherrschten Gefühle kamen, die sie zum Aufbegehren trieben. Die sie in jene Mischung aus Rebellion und Sehnsucht stürzten, die unweigerlich dafür sorgte, daß sie sich in aufflammendem Stolz mit Simone anlegte. So wie an diesem Morgen, als Simone darauf bestanden hatte, daß sie die pelzgefütterten, warmen Umhänge zu Hause ließen und die schlichten Tuchmäntel trugen, die sie normalerweise nur anlegten, um bei launischem Wetter kurz auf den Markt zu gehen. Wie sie erwartet hatte, war der Stoff viel zu dünn. Der feuchte, böige Westwind pfiff hindurch, kroch unter die Röcke und Unterröcke und ließ Aimée frösteln. Simone hatte sich durchgesetzt, aber nur weil Floralie die Schwester zum Nachgeben gebracht hatte. Jetzt bereute sie dieses Zugeständnis. Floralie klapperte bereits mit den Zähnen und bekam unnatürlich rote Wangen. »Wollt ihr euch wirklich an Vaters Totenbett streiten?« hatte die Kleine am Morgen mit ihrer sanften, melodiösen Stimme gefragt und die beiden so unterschiedlichen Frauen damit zu Vernunft gebracht, die einander mit hochroten Gesichtern Unfreundlichkeiten sagten. Unwillkürlich sah Aimee jetzt zu Simone und begegnete dem starren Blick der grauen Reptilienaugen ihrer Tante. Keine Freundlichkeit lag in diesem Blick. Kein Mitgefühl, keine Wärme. Wenn sich überhaupt ein Gefühl entdecken ließ, dann höchstens mühsam gezügelter Haß. Aber weshalb sollte Simone sie und ihre Schwester derart hassen? Weshalb stand sie dort im Reichtum ihres warmen, pelzgefütterten Umhanges, die feine Spitzenhaube der Bürgerin auf dem Kopf, und schaute sie an, als wäre sie ein ungebetener Gast auf der Beerdigung des eigenen Vaters? Aimee fröstelte, aber diesmal war nicht allein der Wind daran schuld. »Ich verstehe Euch nicht, Tante Simone...« Aimée stand im Innenhof des stattlichen Steinhauses, das dem Reeder Jacques Malivet gehörte und das sie Zeit ihres Lebens für ihr Elternhaus gehalten hatte. Sie spürte Floralies Hände um ihren Arm, aber ihre ganze Aufmerksamkeit war auf die hagere Bürgerin gerichtet, die ihnen im vollen Staat ihres flämischen Tuches und mit der heuchlerischen Frömmigkeit scheinbarer Rechtschaffenheit den Eingang versperrte. Erst in diesem Augenblick fiel Aimee auf, daß Simone Malivet die schwere Goldkette über ihrem Kleid trug, die bisher das Wams ihres verstorbenen Bruders geschmückt hatte. Der Innenhof, in dem sonst der rege Betrieb eines gut geführten Hauses herrschte, lag gähnend leer und verlassen vor ihnen. Sogar Bouboule, der große Hühnerhund, hatte sich vor der kalten, keifenden Stimme in die hinterste Ecke seiner Behausung verzogen. Aimée sah auf die Bahnen schwarzen Tuches, die aus dem ersten Stock hingen und die aller Welt verkündeten, daß es in diesem Hause einen Toten zu beklagen gab. Sie war es dessen
Angedenken schuldig, einen neuerlichen Streit zu vermeiden. »Beim Andenken unseres Vaters, Tante Simone«, begann sie von neuem und wurde von einem häßlichen, freudlosen Lachen unterbrochen, ehe sie den begonnenen Satz zu Ende bringen konnte. »Hast du es immer noch nicht begriffen, Mädchen?« Simone Malivet stemmte ihre knöchernen Arme in die Hüften und trat so nahe an Aimée heran, daß diese den gelblichen Schleier auf den Zähnen ebenso sehen wie das Aroma aus Kampfer und altem Lavendel riechen konnte, das aus dem selten genutzten Festgewand der Tante aufstieg. »Jacques Malivet ist nicht eurer Vater! In diesem Hause habt ihr nichts mehr zu suchen und schon gar nichts zu erben! Schert euch von dannen!« »Das ist nicht wahr!« Aimee versuchte das lähmende Entsetzen zu überwinden, das sie am Denken hinderte. Seit ihnen ihre Tante vor wenigen Augenblicken den Eintritt ins Haus verweigert hatte, schien es ihr, als würde sie haltlos von einer abschüssigen Klippe in immer gefährlichere Tiefen rutschen. Von drinnen hörte sie Stimmen und Geräusche. Die Gäste des Leichenschmauses fragten sich vermutlich bereits, wo die neue Herrin des Hauses und die schönen Töchter des Verstorbenen so lange blieben. »Und ob es wahr ist, mein hochnäsiges Fräulein! Jetzt ist Schluß mit den Lügen! Mein Bruder war nie verheiratet, und die Geschichte seiner armen Frau, die in Rouen gestorben ist, nur ein Märchen, das er sich aus Mitleid ausgedacht hat, um zwei nichtsnutzige Waisenkinder in sein Haus zu nehmen!« »Aber...» Aimée fiel nichts ein, was sie dem entgegenhalten konnte. Es hätte ohnehin keinen Sinn gehabt, Dame Simone zu unterbrechen. All die Empörung, die ihr Bruder Zeit seines Lebens durch seine Autorität im Zaum gehalten hatte, brach nun über Aimée und ihre fassungslose kleine Schwester herein. »Mörderkinder!« Aimee und Floralie duckten sich unter dem Wort wie unter dem gehässigen Blick, der es begleitete. »Mein armer Bruder hat mit eigenen Augen gesehen, wie euer ruchloser Vater eure Mutter zu Tode brachte. Der Bader hat ihr im Wald von Belloncombre die Pulsadern aufgeschnitten, und sie ist unter den Augen ihres Mörders verblutet. Als Strafe für ihren Ehebruch! Die Bälger, die zu ihr gehörten, hat der eigene Vater in der verfallenen Kapelle ausgesetzt, zur Beute der Tiere und zur Buße für die Sünden der Mutter! Jacques beging die Dummheit, sich der Kleinen anzunehmen. Er brachte sie mit ins Haus und zwang mich, sie zu dulden, aber damit ist es nun vorbei!« Aimée hörte Floralies Aufschluchzen und griff tröstend nach der Hand der Schwester. Eigenartigerweise zweifelte sie keinen einzigen Herzschlag lang an Simones Geschichte. Zum einen, weil Simone Malivet viel zu nüchtern und zu fantasielos war, um sich ein derartiges Drama auszudenken, zum anderen, weil es so vieles erklärte: Weshalb sie weder ihrem Vater noch seiner Schwester ähnlich sahen und woher die eigenartigen Bilder kamen, die Aimée das eine um das andere Mal in ihren wirren Träumen fand. Der Wald von Belloncombre! Erklärte das ihre unsägliche Furcht vor dichtem Gebüsch und Wäldern, die sie sich bisher einfach nicht hatte erklären können? »Du lügst!« rief Floralie, und Aimee entdeckte besorgt die hektischen Flecken auf ihren Wangen. Die Kälte im Verein mit der Aufregung war pures Gift für die eben erst Genesene. »Glaub", was du möchtest, aber ihr werdet weder in den Kirchenbüchern dieser Stadt noch in jenen von Rouen eine Eintragung finden, welche die Taufe eurer verfluchten Seelen bestätigt! Ich will Euch nicht mehr unter diesem Dach sehen! Packt Euch fort!« »Bei allen Heiligen, Ihr könnt uns doch nicht einfach auf die Straße setzen!« rief Aimee entsetzt. In diesem Moment bestand sie nur aus Sorge um ihre kleine Schwester. »Ihr wißt, daß Floralie krank ist und der Schonung bedarf...« »Siiiie!« Ein knochiger Zeigefinger stach in die Richtung des allzu zarten, hellhäutigen Kindes, in dessen Augen von neuem das Fieber glänzte. »Sie hat meinen Bruder
auf dem Gewissen! Wegen ihr ist er gestorben! Ich will sie nicht mehr sehen! Und dich auch nicht!« »Unser Vater würde das nie gestatten!« Aimee beschwor das Bild des gütigen Reeders, den sie eben erst zu Grabe getragen hatten. »Ihr könnt Floralie keinen Vorwurf daraus machen, das wißt Ihr genau! Außerdem habt Ihr nicht das Recht, uns hinauszuwerfen! Wir sind Malivets wie Ihr und die Reederei...« »Die Reederei!« Ein neuerliches böses Auflachen. »Die Reederei gehört mir, mein Fräulein! Alle Schiffe, das Haus, das Vermögen! Ihr habt kein Anrecht auf die kleinste Kupfermünze! Hier, das ist das einzige, was Jacques außer zwei schreienden Mörderbälgern ins Haus gebracht hat. Du hast diesen Ring an einer Kette um den Hals getragen, also wird er wohl dein Eigentum sein. Und nun packt euch fort! Wenn ich euch jemals wieder vor dieser Tür finde, hetze ich die Hunde auf euch!« Dröhnend schlössen sich die beiden Flügel des großen, dunklen Holztores. Wie betäubt starrte Aimee auf die Reliefs der Segelschiffe, welche die Türfüllung links und rechts des bronzenen Löwenkopfs mit dem großen Türklopfer zierten. Sie nahm kaum wahr, daß von innen mit bedrohlicher Eindeutigkeit ein Riegel vorgelegt wurde. Ein Windstoß verfing sich zwischen den Mauern, riß ihr die Kapuze des Umhangs vom Kopf und peitschte ihr ein paar lose Haarsträhnen ins Gesicht. »Aimee... Ich versteh das alles nicht!« wisperte Floralie und heftete ihre riesigen blauen Augen auf die Schwester. In ihrem weichen, ovalen Mädchengesicht wirkten diese Augen wie zwei unendlich tiefe Seen. Gefährlich glänzende, fiebrige Augen, die Aimees schlimmste Befürchtungen bestätigten. »Was soll das alles bedeuten, Aimee? Weshalb läßt uns die Tante nicht mehr ins Haus?« »Ich kann es dir nicht sagen!« Aimee nahm die Jüngere in die Arme und versuchte einmal mehr an diesem schrecklichen Tag, nicht in Tränen auszubrechen. Sie strich mechanisch über Floralies Rücken und spürte ihr Zittern. Die Kleine gehörte ins Bett, sie benötigte warme Decken, lindernden Kräutertee, Ruhe und keine Aufregungen! »Ich fürchte, unsere Tante hat den Verstand verloren«, sagte sie entmutigt. Der Wind stach erbarmungslos durch ihren dünnen Umhang, und mit einem trockenen Aufschluchzen begriff sie, weshalb Simone verhindert hatte, daß sie ihre warmen, pelzgefütterten Mäntel an diesem Tage trugen. Sie hatte schon vor der Beerdigung den Plan gehabt, sie anschließend auf die Straße zu setzen! Vor ihren Augen verschwamm das vertraute Haus mit der schönen Kammer, die sie im ersten Stock mit Floralie geteilt hatte. Ein Raum mit bleigefaßten Glasfenstern, mit einem eigenen Kamin und flämischen Wandbehängen. Mit wohl gefüllten Kleidertruhen und warmen Decken über dem mächtigen Alkoven, der mit zusätzlichen Vorhängen Wärme und Zuflucht vor allem Kummer bot. »Mir ist so schrecklich kalt, Aimée...» »Gütige Mutter Gottes, was soll ich tun? Kannst du wirklich zulassen, was hier geschieht?« richtete Aimée ein Stoßgebet an eine höhere Instanz. Sie versuchte verzweifelt, einen Entschluß zu fassen. Sie besaßen nichts. Absolut nichts. Nicht einmal ein paar Kupfermünzen, um sich etwas zu essen zu kaufen. »Schscht! Aimée...« Die drängende leise Stimme in ihrem Rücken erregte endlich ihre Aufmerksamkeit. Aus den Augenwinkeln sah sie Barbe, die alte Köchin, die ihr, halb hinter dem Brennholzverschlag versteckt, drängend zuwinkte. Aber ehe sie Floralie in diese Richtung schob, bückte sie sich nach dem Gegenstand, den ihr Simone Malivet mit solcher Verachtung vor die Füße geworfen hatte. Erst jetzt erkannte sie, daß es sich um einen Ring handelte, einen schweren goldenen Siegelring mit einer rechteckigen Goldplatte, auf der die Konturen eines gravierten
Wappens zu erkennen waren. Ein kostbares Stück immerhin, aber weshalb hatte sich Simone in ihrer Habgier davon getrennt? Weil sie nichts mit jenem Mord zu tun haben wollte, der ihrer Mutter angeblich das Leben gekostet hatte? »Schscht... So kommt doch! Wenn sie mich sieht, kann ich euch nicht helfen...« Kein Zweifel, wer damit gemeint war. Simone Malivet, ihre Tante. Aber nein, das war sie jetzt nicht mehr. Sie war nur noch eine rachsüchtige Hexe, die zwei unschuldige Kinder mit einem Schlag um ihre Zukunft und ihr Zuhause gebracht hatte. »Ich verstehe das alles nicht«, seufzte Aimee, während sie gemeinsam mit Barbe die zitternde Floralie zwischen zwei Pferdedecken ins Stroh bettete. Hier im Stall, wo die beiden Reitpferde des Reeders friedlich in ihren Verschlagen schnauften und vier Lastesel für die Aufgaben des Hauses bereit standen, befanden sie sich wenigstens im Moment in Sicherheit. Solange der Leichenschmaus dauerte, würde niemand in den Stall kommen. Nicht einmal der Hausknecht, denn der lauerte mit Sicherheit darauf, daß er seinen gerechten Anteil von der Herrschaftstafel bekam. »Floralies Fieber ist wieder gestiegen«, seufzte Aimee bedrückt. »Ich begreife Tante Simone nicht. Wie kann sie uns das antun? Was haben wir getan? Weshalb verfolgt sie uns mit diesem Haß?« »Weil der Herr euch geliebt hat«, entgegnete die ehemalige Köchin, der Jacques Malivet auch weiterhin Unterkunft in seinem Hause gegeben hatte, als ihre arthritischen Finger nicht länger arbeiten konnten. Barbe war so etwas wie der gute Geist des Hauses. Es gab nichts, was ihrer Aufmerksamkeit entging. Allein, viel konnte sie in diesem Moment auch nicht dazu beitragen, Aimée zu helfen. »Wie konnte er uns lieben, wenn er nicht unser Vater war?« »Wie kannst du so etwas fragen? Hast du schon sein großes Herz vergessen?« ächzte die alte Frau und ließ sich auf einer umgedrehten Futterraufe nieder. Sie atmete in kurzen angestrengten Zügen, aber das Dämmerlicht im Stall verbarg die bläulichen Schatten um ihre Lippen. »Ich habe befürchtet, daß sie so etwas tun wird, wenn sie einmal die Herrschaft in diesem Hause erhält. Sie hat euch nur dem Herrn zuliebe geduldet...« »Ich bitte dich, erzähl!« Aimee legte ihre Finger auf die knochigen Hände der alten Köchin und bedachte sie mit einem flehenden Blick. »Ich habe gehört, was sie uns vorwirft, aber ich habe keine Ahnung...« »Ach, Kindchen, ich weiß auch nicht viel mehr«, unterbrach sie Barbe bekümmert. »Ich weiß nur, daß er euch vor fünfzehn Jahren von seiner großen Reise mit nach Hause gebracht hat. Er sagte, ihr wäret die Kinder einer Gemahlin, die bei Floralies Geburt verstorben ist. Aber er war nie verheiratet. Das Meer und seine Schiffe waren ihm stets wichtiger als die Frauen. Ich kannte ihn gut genug, um das sagen zu können.« Aimée umklammerte den fremden, goldenen Ring, dessen Umrisse sich in ihre Handfläche drückten. Der Siegelring eines Mannes. Ihres Vaters? Eines Mörders? Weshalb harte er dieses Juwel bei einem kleinen Kind belassen? Weil er nichts davon wußte? Fragen über Fragen, und nicht einmal auf die einfachsten davon gab es eine Antwort. »Aber wenn Jacques Malivet nicht unser Väter ist, wer ist es dann?« wisperte sie mit rauher, fremd klingender Stimme. »Er war der einzige Vater, den wir je kannten. Und Tante Simone...« »Sie hat euch jedes Lächeln mißgönnt und jede Freude, die der Herr euch geschenkt hat«, entgegnete die alte Magd nüchtern. »Sie ist krank vor Eifersucht und Mißgunst. Sie hat den Tag gefürchtet, an dem die erste von euch einen Mann nimmt und der Herr ihm die Reederei übergibt! So verzweifelt sie über seinen Tod ist, so sehr dankt sie dem Himmel dafür, daß sie nun die Herrschaft über alles hat. Sie hat gedroht, einen jeden von uns ohne einen Sou auf die Straße zu setzen, für den Fall, daß wir es wagen sollten, euch auch nur ein Stück Brot zu geben.« Aimée sah Barbe erschrocken an. »Um Gottes willen, dann können wir nicht bleiben...«
»Mich wird sie nicht mehr davonjagen«, schnaufte die alte Magd und preßte ihre Hand über dem Herzen auf ihr geschnürtes Mieder. »Dafür sorgt schon unser Herr dort oben. Kommt erst ein wenig zur Ruhe, ihr beiden. Dort im Korb ist Wein, Brot, ein paar Äpfel und etwas Käse. Mehr konnte ich in der Küche nicht nehmen, ohne ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Morgen werden wir sehen, was ich für euch tun kann. Ich habe eine Schwester, die bei Offranville verheiratet ist. Der Hof ihres Mannes ist groß genug, und zupacken, das habt ihr bei Madame Simone ja gelernt...« Aimée strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und unterdrückte ein Stöhnen. Die Ruhe des Stalls wurde nur vom gleichmäßigen Mahlen der Pferdezähne durchbrochen, die sich am Hafer gütlich taten. Das geruhsame Geräusch hatte jedoch seine vertraute Beschaulichkeit für Aimée verloren. Sie hatte Mühe, die Ereignisse zu bewältigen. Am Grabe ihres Vaters hatte sie sich noch vor einer möglichen Ehe geängstigt, und nun stand ihr im günstigsten Fall eine Zukunft als Bauernmagd bevor, wenn nicht gar als Bettlerin auf den Straßen der Stadt, die sie bisher als wohlhabende Bürgerin gesehen hatte. »Iß, Kind...« mahnte die alte Köchin und ihr Atem pfiff hörbar durch die lückenhaften Zähne. »Ich werde sehen, ob ich noch Decken für euch beide finde...« Sie richtete sich ächzend auf und verließ mit gebücktem Rücken den Stall. Aimée erschauerte unter dem Schwall kalter Luft, der dabei hereindrang. Sie brachte keinen Bissen über die Lippen. Floralie war in einen unruhigen, erschöpften Schlummer gesunken. Aimee prüfte ihre heiße Stirn, indem sie die Hand darüber legte. Kein Zweifel, sie hatte einen schlimmen Rückfall erlitten. Was sollte sie tun, mit einer kranken Schwester und der Last der schrecklichen Wahrheit, die ihr Simone Malivet voller Verachtung ins Gesicht geschleudert hatte? Wohin sollten sie sich wenden, wenn sie die unglücklichen Töchter eines Mannes waren, der die eigene Gemahlin ermordet hatte? Wenn sie die Töchter einer leichtsinnigen Frauensperson waren, die ihren Mann betrogen und jenes Drama damit herausgefordert hatte? Im Stall war es schwer, die Einzelheiten des Wappens auf dem Ring zu erkennen, und Aimee erspürte lediglich die feinen Linien mit der Fingerkuppe. Verschlungene Symbole, bei deren Konturen ihr unwillkürlich ein Schauer über den Rücken lief. Ein scharfer Schmerz durchschnitt im selben Augenblick ihr Herz, und sie vermochte kaum zu atmen. Die Ahnung von unendlichem Leid und auswegloser Verzweiflung schloß sich wie ein Mantel aus Eis um sie. Wem immer dieser Ring einmal gehört hatte, er konnte kein fröhlicher Mensch gewesen sein. »Aimee?« Floralie warf unruhig die wärmenden Decken von sich. »Wo...« »Schscht! Bleib liegen.« Sie drückte die Schwester sanft zurück. »Ruh' dich aus! Alles wird gut!« »Ich hab’ solchen Durst, Aimée!« Aimée griff in den Korb und fand die Flasche mit dem Wein. Sie suchte nicht nach dem Wasserkrug, um das Getränk wie üblich zu verdünnen. Es tat der Schwester sicher gut, wenn sie den Wein ausnahmsweise pur trank. Vielleicht konnte sie dann schlafen. Sie stützte die Jüngere und hielt ihr den Holzbecher, damit sie besser trinken konnte. »Was werden wir tun?« forschte Floralie ein wenig energischer, denn der Wein hatte ihr neue Kraft geschenkt. »Wo ist Barbe?« »Sie holt noch Decken«, entgegnete Aimée. »Sorg dich nicht. Vielleicht beruhigt sich Tante Simone bis morgen wieder...« »Das wäre gut«, wisperte Floralie und ließ sich wieder zurücksinken. Der Hoffnungsschimmer, so vage er auch war, machte ihr Mut. »Sicher liegt es nur daran, daß sie sich über Vaters Tod so schrecklich grämt...« Aimée antwortete nicht. Drei Jahre älter als die fünfzehnjährige Floralie hatte sie bereits gelernt, daß es keine Wunder gab. Wer hatte ihnen das angetan? Sie konnte nicht glauben, daß es allein Simone Malivets Schuld war, daß ihr Leben so plötzlich in Trümmern lag. Es mußte die Schuld des Mannes sein, dem der Siegelring gehörte. Die Schuld eines Mörders. Die Schuld ihres
unbekannten Vaters. Ihre Finger umklammerten den Ring mit neuerlicher Gewalt. Sie hatte noch nie in ihrem ganzen Leben einen Menschen gehaßt, aber mit einem Male fiel es ihr ganz leicht! Sie mußte nur an den Besitzer dieses Schmuckstückes denken! 2. KAPITEL »Auf! Auf!« Die Stimmen weckten Aimee. Eine keifende, nur zu bekannte und ein paar murmelnde, bedrückte, die vergeblich versuchten, das schrille Keifen zu besänftigen. Noch ehe sie die Augen aufschlug, traf sie der harte Knuff einer Schuhspitze zwischen den Rippen. Der unerwartete Schmerz sorgte dafür, daß sich ihr Kopf im Nu klärte. »Hab’ ich nicht gesagt, daß ich euch Pack nicht mehr sehen will! Und du kannst gleich mitgehen, René! Ein Stallknecht, der mich hinter meinem Rücken betrügt, hat nichts in meinem Haus zu suchen! Ich werde euch schon noch lehren, wer hier die Herrin ist!« Aimée rappelte sich hoch, um den weiteren Fußtritten zu entgehen. Sie schützte die verwirrte Floralie mit dem Körper vor neuerlichen Angriffen. Zutiefst erschöpft waren sie Arm in Arm in Schlummer gesunken. Sie hatten beide Mühe, sich im Licht des neuen Morgens zurechtzufinden. Von Barbe war keine Spur zu sehen, aber dafür drückte der gescholtene Stallknecht seine Wollmütze verlegen in den Händen hin und her. Er schwankte sichtlich zwischen der Angst vor seiner Herrin und der Verblüffung, die beiden Jungfern Malivet mit zerdrückten Kleidern im Stroh des Stalles vorzufinden. Kaum daß er begriff, was sich in diesem Hause über Nacht alles verändert hatte. »Hinaaaaus!« kreischte Dame Simone, wie um dieses zu bestätigen. Sie unterstützte den harschen Befehl mit einer eindeutigen Geste zur Tür. Aimée raffte ihre Mäntel zusammen und legte sie der zitternden Floralie um die Schultern, ehe sie der harte Stoß Simone Malivets traf, die sie gewaltsam und unzweifelhaft in Richtung Stalltür beförderte. René, ohnehin eher schlichten Gemüts, ergriff die Gelegenheit der neuen Herrschaft seine Ergebenheit zu beweisen. Er nahm seiner Herrin die Arbeit ab und drängte die beiden jungen Frauen schleunigst über den Hof zum Tor hinaus. »Wo ist Barbe?« besaß Aimée noch die Geistesgegenwart, ihn zu fragen. »Um die braucht ihr euch nicht zu kümmern«, grummelte René, der annahm, daß die Frage aus Mitleid gestellt worden war. »Man bringt sie gerade auf den Gottesacker. Sie hat ihren Herrn kaum um zwei Tage überlebt. Ihr müdes Herz hat einfach aufgehört zu schlagen...» Aimée zuckte unter dem neuerlichen Schicksalsschlag zusammen. Dann sah sie, daß Floralie stolperte, und sie riß sich zusammen. Sie stützte ihre schwankende Schwester, die im Licht des Morgens blasser als die gekalkten Wände aussah. »Halt dich an mir fest«, riet sie der Kleinen und richtete sich auf. Sie vermochte nichts zu fühlen. Nicht einmal Trauer oder Enttäuschung um die einzige Seele, die bereit gewesen war, ihnen zu helfen. Sie wußte nur eines, sie würde Simone Malivet nicht die Genugtuung gönnen, sie schwach werden zu sehen. Und wenn es sie umbrachte, wenigstens ihren Stolz konnte sie mitnehmen. Dame Simone bekam schmale Lippen und enge Augen, als sie den beiden Gestalten nachsah, die hoch erhobenen Hauptes durch das Hoftor schritten, über dem in Stein gehauen das Wappen mit dem Schiff der Malivets prangte. Sie würden schon sehen, wie weit sie mit diesem Stolz kämen, den sie ihnen in den vergangenen fünfzehn Jahren nicht hatte austreiben können. »Schließt das Tor!« befahl sie. Aimée spürte, wie Floralie zusammenzuckte, als das Geräusch der zufallenden Tür durch die Gasse hallte. Ihre kleine Schwester setzte wie in Trance Schritt vor Schritt. Eine
fiebrige Schlafwandlerin, in deren Zöpfen noch Strohhalme hingen. Hastig wischte sie die Zeichen der Nacht im Stall von ihren Haaren und ihrem Umhang. Sie tat ihr Möglichstes, damit ihnen wenigstens niemand ansah, welche Katastrophe über sie hereingebrochen war. Freilich, um sie beide wieder in die ehrenwerten Jungfern Malivet zu verwandeln, hätte es nicht nur einen Kamm, sondern auch saubere Kleider und eine Magd gebraucht, die sie begleitete. Anständige junge Mädchen gingen nicht ohne Begleitung auf die Straße. Was, im Namen der göttlichen Gerechtigkeit, sollten sie nur tun? Hastig zog sie Floralie die Kapuze des Mantels über den Kopf und senkte selbst das Haupt, dessen brave Leinenhaube sie irgendwann verloren hatte, ohne daß sie sich daran erinnern konnte. Aimée Malivet, die stets ihre kleine Nase so hoch über den Straßenstaub gereckt hatte, schämte sich nun, die Lider zu heben und einem der Bürger zu begegnen, die sich möglicherweise darüber wunderten, was sie am Morgen nach der Beisetzung ihres Vaters auf den Straßen der Stadt tat. Die Neuigkeiten flogen ohnehin schnell durch Dieppe, und sie bezweifelte nicht, daß der Leichenschmaus für Jacques Malivet unter dem Skandal förmlich gesummt hatte, den die Dame Simone entfesselt hatte. Die schönen Töchter des Reeders, welche die Träume aller ehrgeizigen jungen Männer bevölkert hatten, waren im Nu zu rechtlosen Waisen geworden, zu einer leichten Beute, denen nur noch die Wahl zwischen Arbeitshaus und Freudenhaus blieb. »Wohin gehen wir?« wisperte Floralie und krallte sich so fest an Aimées Arm, daß ihr jedes Empfinden darin abstarb. »Warum hat uns Tante Simone hinausgeworfen? Was ist mit Barbe geschehen?« »Ich wünschte, ich könnte deine Fragen beantworten, kleine Schwester.« Aimée seufzte bedrückt und zog sie weiter. »Aber ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur eines, wir müssen fort aus Dieppe. Ich ertrage es nicht, wie sie uns ansehen...« Sie drängte Floralie sacht nach links in die Rue St. Cathérine. Dann eilte sie mit ihr zum Südportal von Saint Jacques und tauchte erleichtert in das Dämmerlicht der größten Kirche der Stadt. Wenn die Menschen ihnen schon keinen Schutz mehr gewährten, die himmlischen Mächte würden doch sicher ein Einsehen mit ihnen haben. Aber das Gebet zum heiligen Jacobus, der auch der Namenspatron von Jacques Malivet gewesen war, schenkte Aimée keinen Trost. Halb verborgen von den Chorstreben starrte sie mit brennenden Augen auf das Ewige Licht und schwankte zwischen Rebellion und Verzweiflung. Floralie ließ die Perlen ihres Rosenkranzes andächtig zwischen den Fingern hindurch gleiten. Sie war so zart, so grazil, eine kindhafte kleine Fee. Der Gedanke, sie irgendwann mit einem grobschlächtigen Kapitän verheiratet zu sehen, hatte Aimée schlaflose Nächte bereitet. Aber sie hatte nie damit gerechnet, daß ihr viel Schlimmeres bevorstehen würde. Floralie war so fromm, so demütig, so unschuldig und gutgläubig, daß man sie einfach vor der Wirklichkeit beschützen mußte. Schon immer hatte Aimée sich gefragt, wie ein und dieselbe Mutter zwei so grundverschiedene Mädchen zur Welt hatte bringen können. Sie glich weder äußerlich noch vom Charakter her ihrer sanftmütigen, liebenswürdigen Schwester. Allein, auch mit Stolz, Mut und stürmischem Temperament ließ sich kein Ausweg aus ihrer bedrückenden Lage finden. Unwillkürlich griff sie in ihre Tasche und suchte den Ring, den ihr Simone am Vortag vor die Füße geworfen hatte. Nun, im Schein der Kerzen, die vor dem Schrein des heiligen Jacobus brannten, flackerte das Licht über die Goldschmiedearbeit. Aimée studierte die Einzelheiten des Wappens auf der Fläche. Ein zweigeteiltes Feld, das auf einer Hälfte einen runden steinernen Turm zeigte. Einen Bergfried oder einen Wachturm. Auf der gegenüberliegenden Seite kreuzten sich eine Hellebarde und eine Weizenähre. Das Wappen einer kriegerischen Familie, die über fruchtbare Ländereien verfügte? Oder nur die Laune eines Ahnherren? »Was hast du da?« wollte Floralie, von ihren Gebeten abgelenkt, wissen. Ihre Stimme klang flach vor Anstrengung, und sie atmete in beunruhigend kurzen Stößen.
»Unsere Rettung oder unsere Rache«, murmelte Aimée aus ihren Gedanken heraus und umschloß das Wappen einmal mehr mit ihren Fingern. »Vielleicht können wir den Ring verkaufen...« Sie sah das heftige Frösteln, das Floralie überlief, und hörte das Keuchen ihres Hustens, den sie vergeblich zu unterdrücken versuchte. Sie mußte irgendwo ein Lager und warme Decken für sie auftreiben und einen Händler finden, der dieses Schmuckstück kaufte, ohne sich groß um seine Herkunft zu scheren und ohne die Jungfer Malivet zu erkennen. Bei den Goldschmieden in der Stadt konnte sie das nicht wagen. »Mir ist kalt«, hauchte Floralie und bemühte sich tapfer, das Klappern ihrer Zähne zu unterdrücken. Aimée gab sich einen Ruck und bekreuzigte sich hastig. Es hatte ohnehin keinen Sinn, die Zeit an nutzlose Gebete zu verschwenden. »Der Himmel liebt die Menschen, die sich selbst helfen!« Sie konnte die Stimme des verstorbenen Reeders förmlich hören, so oft hatte er diese Maxime von sich gegeben, wenn ihn jemand um Hilfe oder Rat bat. Jacques Malivet war vielleicht nicht ihr Vater gewesen, aber die Weisheit seines Wahlspruchs half auch ihr. »Laß uns hinunter zum Hafen gehen«, schlug sie ihrer Schwester mit mehr Zuversicht vor, als sie in Wirklichkeit empfand. Floralie widersprach nicht. Das neuerliche Fieber legte eine seltsame watteweiche Schicht zwischen sie und den Rest der Welt. Jede Bewegung kostete unendlich viel Kraft. Ihr armer Kopf schmerzte, und sie hatte es aufgegeben, all die rätselvollen Dinge zu begreifen, die über sie hereinstürzten. Aimée würde sich darum kümmern. Aimée hatte sich immer um alles gekümmert. Auf ihre Schwester konnte sie sich verlassen. Jacques Malivet war nur einer der Reeder von Dieppe gewesen, der dazu beigetragen hatte, aus einer ruhigen Hafenstadt ein aufblühendes Zentrum des Handels und des Aufbruchs in eine neue Zeit zu machen. Der Mastenwald des Hafenbeckens legte Zeugnis davon ab. Dickbäuchige Galeonen lagen dort neben prächtigen Karavellen mit hoch aufragendem Schanzdeck. Schnittige Galeeren, kleine Segler und flache Flußboote teilten sich die Ankerfläche mit wendigen Fischerkähnen und großen Handelsschiffen aus Spanien und England. Der böige Aprilwind zerrte an den Tauen und kämpfte um die wenigen Eckchen Segeltuch, die nicht ausreichend befestigt waren. Das Pfeifen und Knattern dieses Spiels mischte sich mit den unterschiedlichen Sprachen aus aller Herren Länder, mit dem schwerfälligen Quietschen der Karrenräder und dem eiligeren der Kutschen, mit den derben Flüchen der Lastenträger und den Kommandopfeifen, die vom Deck der Schiffe ertönten. Der Mann, der sich gegen die Reling des kleinen Handelsschiffs lehnte, nahm das bunte Bild mit einer Mischung aus Vergnügen und Vorsicht zur Kenntnis. Vergnügen, weil es ihn immer wieder befriedigte, wenn er in seine Heimat zurückkam. Vorsicht, weil er gelernt hatte, dem scheinbaren Frieden einer jeden Situation zu mißtrauen. Ein Mißtrauen, das sich als lebensrettend erweisen konnte. Glücklicherweise fand er an diesem Vormittag keinen Anhaltspunkt für seinen Argwohn. Das Gewimmel des aufstrebenden Hafens schien bar jeglicher Gefahr, und er ließ seine Augen müßig über die Menschen wandern. Es war purer Zufall, daß sie ausgerechnet das Mädchen streiften, als jenes mitten im Schritt verharrte, als wäre es gegen den Bolzen einer Armbrust gerannt. Der Wind trieb ihm die offenen, bronzefarbenen Haare ins Gesicht, und es hielt sie mit einer Hand aus der Stirn, während der andere Arm ein halbwüchsiges Kind schützte. Er folgte der Richtung des entgeisterten Blicks und fand ihn von der eigenen Standarte gefangen, die über den Fuhrwerken wehte, die soeben für ihn beladen wurden. Normalerweise war es nicht seine Art, sein Wappen auf steifer Seide vorzuführen, aber in
diesem speziellen Fall erschien es ihm angebracht. Was, in drei Teufels Namen, entsetzte diese Frauensperson so sehr daran? Was kümmerten ihn überhaupt die Gedanken dieses kleinen Feuerkopfs? Immerhin wartete Anne de Fonsac in Paris auf ihn. Die makellose, bildschöne Dame Anne, die hinter der Fassade ihres engelsgleichen Äußeren den verführerischen, unersättlichen Körper einer Sirene verbarg. Er hatte weiß Gott keinen Grund, sich nach einer niedlichen Hafendirne umzusehen, die sein Wappen anstarrte. Aimée hatte schon aus alter Gewohnheit den Weg in Richtung Hafen eingeschlagen. Für einen kostbaren Moment lang konnte sie sich dabei in der trügerischen Illusion wiegen, daß sie alles nur geträumt habe, daß sie unterwegs in das Kontor ihres Vaters war und daß sie, von ihrer Magd begleitet, durch die ehrfurchtsvolle Gasse schritt, die man der ältesten Demoiselle Malivet in Dieppe ganz selbstverständlich einräumte. Allein die Knüffe und Stöße, die ihr galten und die sie nur mühsam von Floralie abwenden konnte, bewiesen ihr, daß niemand den beiden Mädchen in ihren beschmutzten Kleidern und den zerknitterten Umhängen sonderlichen Respekt entgegenbrachte. Sie waren nicht mehr als all das andere Volk, das sich an diesem Vormittag im Hafen herumtrieb. Sei es um zu gaffen, um zu arbeiten oder gar um den einen oder anderen leichtsinnigen fremden Handelsmann um seine wohlgefüllte Börse zu erleichtern. Aimée legte den Arm um die schmalen, bebenden Schultern ihrer Schwester und versuchte, sie im Windschatten eines Fuhrwerks in Sicherheit zu bringen, das eben beladen wurde. Kisten, Bündel, Truhen und Fässer füllten bereits einen großen Teil des Fahrzeugs, und zwei bewaffnete Männer sahen mit kritischem Blick in die Runde, damit sich keiner daran vergriff. Sie bemerkte, daß ihre Hellebarden den matten Glanz gut gepflegter Waffen hatten und daß sie die Standarte ihres Herrn aufgepflanzt hatten, die sich knatternd im Wind bewegte. Ein kostbar besticktes Stück Seide, dessen Versteifungen dafür sorgten, daß ein jeder das Wappen dieses wichtigen Mannes erkennen konnte, der hier seinen Besitz verlud. Ein Wappen, bei dessen Anblick Aimée ein unterdrückter Aufschrei entfuhr, der sogar durch den seltsamen Nebel von Floralies Krankheit drang. »Was ist?« hauchte sie, und ihre Augen folgten dem ausgestreckten Finger nach oben, bis auch sie ein tonloses ›Oh!‹ nicht unterdrücken konnte. Auf smaragdgrünem Grund zeigte das zweigeteilte Wappen dieselben Linien, die sie an diesem Tage schon einmal betrachtet hatten: Den Bergfried und die gekreuzte Ähre mit der Hellebarde. »Wie ist das möglich?« wisperte Floralie. »He, Mädchen, was treibt ihr euch hier im Weg herum! Seht ihr nicht, daß wir arbeiten müssen? Packt euch, unser Herr sieht es nicht gerne, wenn wir uns am Vormittag schon mit Dirnen abgeben!« Wütende Röte schoß in Aimées Wangen, und sie maß den mürrischen Mann, der sie vertreiben wollte, mit einem Blick, der jenem fürs erste die Sprache verschlug. Soviel stolze Verachtung und empörte Ehrbarkeit drang sogar durch den Panzer seiner Griesgrämigkeit. »Wer ist dein Herr?« erkundigte sich Aimée eisig. Der Befehlston ihrer Frage erforderte eine unverzügliche Antwort. »Ich diene dem Seigneur Georges de Pontivy, dem Grafen von Termignon!« verkündete der schmale, nur mittelgroße Mann mit dem traurigen Gesicht eines verkniffenen Schoßhündchens so stolz, als habe er selbst seinem Seigneur diese stolzen Titel verliehen. Floralie krümmte sich unter einem neuerlichen Hustenanfall zusammen und nahm ihrer Schwester damit eine Entscheidung ab. Ohne Wenn und Aber gingen Aimées Gedanken einen simplen, vielleicht zu einfachen Weg. Aber hatte sie denn eine andere Möglichkeit, als auch die kleinste, unglaublichste Gelegenheit mit beiden Händen zu packen? Wenn dies tatsächlich das Wappen ihres unbekannten Vaters sein sollte, dann hatte
sie ein Recht, Hilfe zu fordern. Dann war er es gewesen, dessen schurkische Taten bis zum heutigen Tag nachwirkten und sie in ihre schreckliche Lage gebracht hatten. »Bring mich zu deinem Herrn!« »Dich?« Der Mann lachte auf. »Mädchen, du hast den Verstand verloren! Pack dich fort! Mein Herr ist keine Kundschaft für Hafendirnen. Er ist ein nobler Seigneur, der zum Hofe des Königs gehört.« Aimée hatte inzwischen den Ring aus ihrer Tasche genestelt und schob ihn der Einfachheit halber über den Zeigefinger der rechten Hand, damit sie ihn vorzeigen konnte, ohne ihn zu verlieren. »Wenn ich dich um deine Meinung gebeten hätte, dann hätte ich es sicher erwähnt«, zischte sie mit schmalen Lippen und hielt ihm die Hand direkt vor die Augen. »Kennst du dieses Wappen? Wenn ja, dann bringst du mich auf der Stelle zu diesem Grafen!« »Schockschwerenot...« Der Mann wich einen Schritt zurück, und die tiefen Falten auf seiner Stirn wurden noch ausgeprägter. »Ich warne dich! Wenn du diesen Ring gestohlen hast, wirst du dich schneller im Schandblock wiederfinden, als du deinen Namen sagen kannst! Warte hier, ich werde den Herrn fragen, ob er dich sehen will!« »Meinen Namen...« äffte ihn Aimée wütend nach, während er davonstolzierte. »Nicht einmal wenn ich ihn wüßte, würde ich ihn dir nennen, du Einfaltspinsel!« Erst jetzt beachtete sie das hartnäckige Zupfen an ihrem Ärmel, mit dem Floralie ihre Aufmerksamkeit zu erregen versuchte. »Du bist närrisch«, keuchte die Jüngere zwischen ihren angestrengten Atemzügen. »Was erwartest du von diesem Mann, den du gar nicht kennst?« »Er führt dieses Wappen!« Aimée zog den Umhang enger um die Schultern der Schwester, und in ihren Augen glomm ein Feuer, das Floralie ängstigte. »Wer er auch immer ist, Verwandter, Vater oder Mitglied dieser Familie, er kann sich der Verantwortung für uns nicht entziehen, dafür werde ich sorgen!« »Ihr wolltet mich sprechen?« Die Stimme klang dunkel, aufgerauht, herausfordernd und doch auf eigene Weise auch melodiös. Aimées Kopf schoß nach oben, denn der Besitzer dieser Stimme, der zwei Schritte vor ihr stand, überragte sie um Haupteslänge. Ihre Pupillen weiteten sich unmerklich, während sie sein Bild in sich aufnahm. Bräunliche Haut, wie sie Männer besaßen, die unter der Sonne des Südens zur Welt gekommen waren. Schwarze, kurz gehaltene Locken, die sich in ungebändigter Fülle um ein markantes, eckiges Antlitz wellten. Goldfunkelnde, düstere Raubtieraugen unter dichten, diabolisch gewölbten Brauen. Eine scharfe, doch gerade gewachsene Nase und ein breiter, vollendet geformter Mund, dessen Lippen im Augenblick jedoch auf ein verächtlich schmales Maß aufeinandergepreßt wurden. Die makellosen, straffen Wangen wiesen keinen Schatten von Bart auf, und auch die Kleidung verriet den Seigneur von Stand. Nur am Rande registrierte Aimée zudem, daß sein weiter, dunkel schimmernder Schaubenmantel aus florentinischem Samt sein mußte, daß das gefältelte Hemd kostbare Spitzenverzierungen hatte und daß eine Kette aus erlesen geschmiedeten Goldgliedern über seinem gleichfalls schwarzen Samtwams lag. Zu einer eng anliegenden Hose trug er indes kniehohe Lederstiefel, die ebenso wie das Schwert an seiner Seite und das Messer in seinem Gürtel eher auf einen Mann hindeuteten, der sich zu verteidigen wußte als auf einen Modegecken. Auf einen Mann, der zweifellos die ersten dreißig Jahre seines Lebens noch nicht erreicht hatte. Die Frage, ob er ihr Vater war, erledigte sich damit von selbst. Wenn er dasselbe Wappen führte, dann nur aufgrund einer entfernteren Verwandtschaft. Allein, wie sollte sie ihre Frage danach stellen? Es fiel Aimée nicht auf, daß sie derselben blitzschnellen Musterung unterzogen wurde. Sie hatte wahrhaftig Wichtigeres zu denken, als sich um ihr Aussehen zu kümmern, das ihr ohnehin in den vergangenen Jahren eher gleichgültig gewesen war. Schon aus diesem Grund war sie sich der Wirkung nicht bewußt, die sie auf den Fremden ausübte. Das
seltsame Bild, das sie ihm in ihrer einfachen, dunklen Kleidung bot, die aus gutem Wollstoff, aber so schmucklos wie die einer einfachen Magd war. Tote Farben, die trotz allem nicht vermochten, die natürlichen Farben zu zerstören, die Aimées besonderen Reiz ausmachten. Die rebellischen bronzefarbenen Locken, die sich aus ihrem hochgesteckten Zopf gelöst hatten, schimmerten in den verschiedensten Goldund Rottönen von Herbstlaub. Ihre Augen leuchteten in tiefem Waldgrün, und die Lippen hatten jenes rosig durchblutete Rot, das keine Pomade herbeizaubern konnte. Sie besaß ein leicht dreieckiges Gesicht mit einem ausgeprägten, runden Kinn, das viel über ihr aufbrausendes Temperament verriet. Meist waren die Betrachter jedoch von ihren ein wenig schrägen Katzenaugen, der zierlichen Nase und dem üppigen Mund so abgelenkt, daß sie diese Warnung übersahen. Unter einem Hauch goldener Haut wölbten sich betonte Wangenknochen, und bei einem Lächeln bildeten sich kaum merkliche Grübchen darunter. Im Moment lächelte Aimée jedoch nicht. Im Gegenteil, unter streng gehobenen Brauen musterte sie den Grafen von Termignon auf eine Weise, daß jener sich fragte, ob er darüber empört oder amüsiert sein sollte. Erst auf den zweiten Blick entdeckte er das bleiche, hustende Kind an ihrer Seite, unter dessen Kapuze blasse, flachsfarbene Haarsträhnen hervorsahen. Welch befremdliches Paar diese beiden Jungfern doch bildeten. »Wo ist der Ring, von dem Blavy gesprochen hat?« wollte er wissen, als ihm klar wurde, daß wohl er das Wort ergreifen mußte, wenn sie nicht noch länger stumm auf dem belebten Kai stehen wollten. Stumm hob Aimée die Hand. Im selben Moment trieb der launische Wind die Wolken vor der Sonne fort, und ihre Geste hatte einen Blitz aus gleißendem Gold zur Folge, der den Mann geblendet die Augen schließen ließ. Als er sie wieder öffnete, waren sie nur mehr ein schmaler, dunkler Spalt, in dem sich ein letztes, goldenes Aufglänzen zeigte, wenn man genauer hinsah. »Welchem Galan hast du das gute Stück gestohlen, Mädchen?« erkundigte er sich kalt, ohne auf das vertraute Wappen einzugehen. »Hast du keine Angst davor, daß man dich als Diebin brandmarkt?« Aimées Hand sank kraftlos zwischen die Falten ihres dunklen Rockes, als wäre das große Schmuckstück mit einem Mal zu schwer für sie. »Ich habe es nicht nötig zu stehlen, Seigneur«, verleugnete sie die neuen Tatsachen ihres Lebens. »Dieser Ring gehört mir und meiner Schwester. Er ist das Erbe unserer Mutter, welche die Gemahlin eines Mannes war, der dieses Wappen getragen hat.« Sie konnte nicht ahnen, daß sie es mit einem Mann zu tun hatte, der über die seltene Fähigkeit verfügte, seine Gefühle so vollkommen zu beherrschen, daß nicht der kleinste Funke seiner Gedanken sichtbar wurde. Sie beobachtete nur, daß sich die Winkel seines Mundes verächtlich verzogen. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, daß er im geheimen ihre Aussage bedachte und für eine Lüge hielt. Gleich würde er sie wegschicken. Eben dazu verspürte der Seigneur keine Lust, obwohl ihm seine Vernunft zu diesem Schritt riet. Das Mädchen sah beileibe nicht wie eine Hafendirne aus. Da war etwas in ihrer Haltung, ihrem Gesicht, in ihren Augen, das ihn innehalten ließ. »Gesetzt den Fall, ich würde dieser kühnen Behauptung Glauben schenken, meine Hübsche! Was verlangst du eigentlich von mir?« Der pure Spott in seiner Stimme schüchterte Aimée keineswegs ein. Er erreichte sogar genau das Gegenteil, er machte sie endlich wütend. Noch nie in den vergangenen achtzehn Jahren ihres Lebens hatte sie eine solche Welle reinen Zorns durchspült, eine so hemmungslose Wut gegen die Welt, die Menschen und die Umstände. Was hatte sie ihnen allen getan? Was verbrochen, daß sie die Zeche für ein Unglück zahlen sollte, das längst vor ihrem eigenen Denken geschehen sein mußte? »Ich verlange, daß Ihr für mich und meine Schwester sorgt! Daß Ihr uns ein Dach über dem Kopf, Nahrung und Schutz gewährt!« forderte sie aus dieser flammenden
Empörung heraus und dachte gar nicht daran, den Blick bescheiden vor ihm zu senken. »Auch noch Dienerschaft, Nadelgeld, Gewänder und Juwelen?« fügte er sarkastisch hinzu und brach in schallendes Gelächter aus. Er mußte sich erst beruhigen, ehe er dieser unverschämten Weibsperson klarmachen konnte, daß sie sich für diese Art von Spaß einen anderen Esel suchen sollte. Daß er es am Ende dann doch nicht tat, überraschte ihn selbst am allermeisten. Von der Verzweiflung in den weit aufgerissenen grünen Augen gebannt, blieben ihm die schneidenden Worte im Halse stecken. Da war etwas Eigenartiges in der Tiefe dieser grünen Augensterne, das ihn daran hinderte, sie noch weiter zu kränken, das an einen Punkt seines Herzens rührte, von dem er nicht gewußt hatte, daß er existierte. Ehe Aimée begriffen hatte, was er plante, hatte er ihr schmales Handgelenk gepackt und hochgerissen. Im letzten Moment konnte sie die Finger zur Faust ballen, damit der viel zu weite Ring bei diesem Ruck nicht davonflog. Die dichten Brauen zu einer scharfen Linie zusammengezogen, die sich in den steilen Falten auf der Mitte seiner Stirn traf, starrte er auf den Ring an der kleinen Hand mit ihren schmutzigen Fingern. Eine Hand, die verriet, daß ihre Besitzerin keine feine Dame war. Obwohl zierlich mit ebenmäßig langen schlanken Fingern, kündeten Schwielen und eingerissene Nagelhäute von grober Arbeit. Aimée spürte die Wärme seines Griffs durch ihre eisigen Adern rinnen und bemerkte, daß er sie zwar so fest hielt, daß sie sich nicht befreien konnte, daß er es indes offensichtlich vermied, ihr weh zu tun. Sie starrte in das kantige Abenteurergesicht und fühlte den schweren, beklemmenden Schlag des eigenen Herzens. Was ging hinter dieser braunen Stirn vor? »Nun gut, mein unbescheidenes Kind«, sagte er so unerwartet, daß sie erschrocken zusammen zuckte. »Ich kenne diesen Ring, aber ich war bislang der Meinung, er sei seit zwanzig Jahren verschwunden. Du wirst mir irgendwann eine Antwort darauf geben müssen, woher du ihn hast. Im Moment bleibt dafür jedoch keine Zeit. Wir sind im Aufbruch, wie du siehst, und ich kann es mir nicht leisten zu trödeln. Wenn du so großen Wert darauf legst, deine Schwester und dich unter meinen Schutz zu stellen, so wirst du Dieppe verlassen und dich meiner Reisegesellschaft anschließen müssen! Such dir für dich und das Kind einen Platz unter den Bündeln, mehr Komfort kann ich euch nicht bieten!« Er hielt sie noch fest, nachdem er seine Rede längst beendet hatte. Vergeblich zerrte Aimée an seinem Griff, und erst beim zweiten oder dritten Versuch erregte sie wieder seine Aufmerksamkeit. »Ungebärdiges Geschöpf!« Halb amüsiert, halb erstaunt gab er das schmale Handgelenk frei und packte sie an den Schultern. Aimée war sich der neugierigen Blicke seiner Männer und der Vorübergehenden nur zu bewußt. Mußte es nicht so aussehen, als böte sie sich dem nächstbesten Fremden an? Ach, zum Kuckuck, was ging es sie an, was die ehrenwerten Bürger dieser Hafenstadt künftig von ihr dachten? Waren sie nicht wie Simone Malivet ausschließlich an sich selbst und dem eigenen Wohlergehen interessiert? Mit einer ebenso graziösen wie trotzigen Geste warf sie stolz den Kopf in den Nacken, so daß sich eine weitere ihrer leuchtenden Haarsträhnen löste und wie glatte Seide über die Hand des Grafen von Termignon fiel. Er sah auf das Haar und dann auf den bebenden, verführerischen Mund, der einen höchst eigenen Reiz besaß, wenn er nicht gerade Dinge sagte, die einen vernünftigen Mann zur Weißglut bringen mußten. »Wir werden noch genügend Muße haben, miteinander zu plaudern, meine kratzbürstige Schöne«, sagte er mit einer gefährlichen Sanftmut, die Aimée das Blut in die Wangen trieb. Sie hatte keinerlei Erfahrung mit Männern, aber eine innere Stimme sagte ihr, daß sie sich in höchster Gefahr befand. Nicht einmal der achtbaren Reederstochter hätte es angestanden, sich mit einem Grafen auf diese Weise anzulegen, geschweige denn einem Mädchen, das nicht einmal den Namen seines Vaters kannte. Die Stimme riet ihr, die Röcke
zu raffen und davonzulaufen. Allein, wohin? »Ich denke, Ihr wolltet nicht länger säumen«, erinnerte sie ihn mit belegter Stimme, um den Bann zu brechen, der so seltsam zwischen ihnen schwang und ihr seine unmittelbare körperliche Gegenwart auf eine bedrohliche Weise zu Bewußtsein brachte. Es kam ihr vor, als reiche die Berührung seiner Handflächen auf ihren Schultern bis in die verborgensten Tiefen ihrer Seele hinab. »In der Tat, du hast recht!« Daß es auch ihm schwerfiel, in die Wirklichkeit zurückzukehren, bemerkte Aimée nicht. Sie wunderte sich lediglich darüber, daß er Floralie mit unerwarteter Höflichkeit auf das Fuhrwerk half und eines der Bündel aufriß, bis er eine schwere Pelzdecke aus braunen Marderfellen fand und ihr zuwarf, als handle es sich um einen belanglosen Lumpen. »Das wird deine Schwester wärmen«, knurrte er, während Aimée das Mädchen zwischen die Gepäckstücke bettete. Sie sah auf und wagte ein Lächeln. »Seid bedankt, Seigneur!« »Bedank dich nicht zu früh!« warnte er und drehte ihr unvermittelt den Rücken zu. Welch ein Lächeln! Zart und anrührend, wie das Aufbrechen der ersten Blüte nach langer Winterkälte. Wie es schien, hatte das Schicksal ein Einsehen mit ihm und bewahrte ihn vor einer langweiligen, ereignislosen Reise. »Es wird der Dame de Fonsac nicht gefallen, wenn Ihr Euch derlei Spielzeug von dieser Reise mitbringt«, riß ihn eine trockene Stimme aus seinen Gedanken. »Blavy! Manchmal frage ich mich, warum ich mir deine Unverschämtheiten eigentlich gefallen lasse...« Der hagere Mann zuckte mit den Achseln. »Vielleicht, weil Ihr im Grunde Eures Herzens wißt, daß ich recht habe!« »Laß gut sein«, erwiderte der Graf mit einem Grinsen. »Warum ein Abenteuer ablehnen, wenn es sich so unverblümt anbietet?« Aimée sah ihn mit dem Diener reden, und dessen Blicke verrieten ihr, um wen sich dieses Gespräch drehte. Sie begriff, was die beiden erstaunte. Sie konnte ja selbst nicht begreifen, was in sie gefahren war. Unwillkürlich blickte sie zu der Standarte mit dem zweigeteilten Wappen hinauf, das Wappen des Hauses Termignon. Was hatte sie mit diesen Menschen zu schaffen? 3. KAPITEL »Wo sind wir?« »Schscht! Schlaf weiter, es ist alles in Ordnung! Wir sind in Sicherheit...« Eine fromme Lüge, aber Aimée sah, daß ihre kleine Schwester nicht in der Verfassung war, die Wahrheit zu ertragen. Sie glühte vor Fieber und war die meiste Zeit kaum bei Bewußtsein. Es war eine himmelschreiende Dummheit gewesen, für die Beerdigung das Bett zu verlassen, und nun... Vor wenigen Augenblicken hatte die Reisegesellschaft des Grafen von Termignon das Stadttor von Dieppe passiert und die Landstraße in Richtung Rouen eingeschlagen. Das Läuten der Mittagsglocken folgte ihnen, und Aimée hätte schon vom Klang her sagen können, um welches Kirchengeläut es sich handelte. Die Glocken von St. Jacques und von St. Remy hatten schließlich lange genug ihren Tagesablauf eingeteilt. Jetzt grüßten sie zum Abschied... »Bist du sicher, daß dieser Mann uns helfen wird?« wisperte Floralie in ihre wirren Gedanken hinein. »Er wirkt so dunkel, böse und unwillig. Er kommt mir vor, als habe ihn die Hölle eben erst ausgespuckt... Er macht mir angst! Vielleicht täuschen wir uns über die Herkunft dieses Wappens. Vielleicht ist das alles nur ein weiterer böser Streich von Simone. Sie will uns vernichten, weil Vater uns geliebt hat...« »Schscht, du siehst Gespenster«, versuchte Aimée die Kleine zu beruhigen. Es war schwer zu unterscheiden, wann sie fantasierte und wann sie bewußt etwas sagte. »Spürst du
nicht die warme Decke, in die du dich wickeln kannst? Der Seigneur hat sie eigens für dich herausgesucht. Er meint es gut mit uns...« Floralies Lider fielen wieder zu, und ihr heißer Griff um Aimées Hand löste sich. Die Ältere war dankbar dafür. Sie hätte nicht gewußt, wie sie ihre Fragen beantworten sollte. Sie hatte in höchster Verzweiflung nach dem nächstbesten Rettungsanker gegriffen, aber erst die Zukunft würde zeigen, ob sie bei diesem Unternehmen nicht vom Regen in die Traufe geraten waren. »Was hast du eigentlich angestellt, daß du so dringend die Stadt verlassen möchtest?« hörte sie in diesem Moment die Stimme des dunklen Grafen. »Nichts!« »Dann kannst du mir bei deinem Seelenheil versprechen, daß die Schergen von Dieppe nicht hinter dir her sind? Oder weshalb liegt dir sonst soviel daran, mit deiner Schwester die Stadt zu verlassen?« Aimée lachte bitter auf. Es war ein völlig neues Lachen, eines, über das sie selbst erschrak. »Wahrhaftig, das kann ich Euch versprechen, Seigneur«, sagte sie mit diesem neuen, harten Klang in ihrer Stimme, der sogar in Floralies Fieberträume drang. »Dieppe legt ebenso wenig Wert auf mich und meine Schwester, wie ich Wert darauf lege, den Menschen dieser Stadt jemals wieder unter die Augen zu treten.« »Du wirst mir heute abend mehr darüber erzählen müssen...« Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt wieder nach vorne. Aimée sah ihm nach, dann zog sie die Knie unter dem Rock an, umspannte sie mit den Armen und legte ihren müden Kopf darauf. Das Rattern der eisenbeschlagenen Räder im Staub der Landstraße übertönte ihren tiefen Seufzer. Jede Umdrehung führte sie weiter fort aus einem Leben, das plötzlich nicht mehr das ihre war. Es paßte dazu, daß sie vergessen hatte zu fragen, wohin diese Reise eigentlich ging. Es war unwichtig. »Aimée... Nein! Bitte nicht... Ich habe Angst... ich...« Die Fieberfantasien ihrer Schwester riefen sie in die Wirklichkeit zurück. Einmal mehr warf Floralie die Decke ab, und Aimée stopfte den Saum des Pelzes um die schmale Gestalt wieder fester. Die Plane über dem Fuhrwerk gab ein halbrundes Stück Himmel frei, über das der Wind zerfaserte weiße Wolken trieb. Ähnlich wild und stürmisch hatte sie ohne große Überlegung ihr Los mit dem eines völlig unbekannten Mannes verbunden. Es widersprach allem, was sie im behüteten Haushalt jenes Mannes gelernt hatte, den sie bis gestern für ihren Vater gehalten hatte. Allein, was galt das Gelernte, wenn ohnehin alles nur Lug und Trug gewesen war? War es nicht an der Zeit, daß sie begann nach eigenen Regeln zu leben, wenn alle anderen sich als falsch entpuppten? Auch Georges de Pontivys Gedanken beschäftigten sich mit der unerwarteten Komplikation seiner Reise, die bei Vernunft betrachtet besserer Wahnsinn war. Weshalb hatte er sich mit diesem herausfordernden Geschöpf und seiner kranken Schwester belastet? Um ein paar schöner grüner Augen und einer geschmeidigen Gestalt willen? Was trieb ihn dazu, ein Mädchen von der Straße aufzulesen, wenn doch Dame Anne darauf wartete, daß er ihr endlich nicht nur seine Leidenschaft, sondern auch seinen Namen und sein Vermögen zu Füßen legte. Dabei gehörte er wahrhaftig nicht zu den Männern, die aus dem Bauch heraus unüberlegte Entscheidungen trafen. Er hatte gelernt zugunsten der eigenen Sicherheit alles zu bedenken und jede Gefahr zu meiden. Aber paßte es nicht zum Bild des sorglosen Edelmannes, das er gerne zur Schau stellte, sich auf ein solches Abenteuer einzulassen? Würde er damit nicht jene in die Irre führen, die sich vielleicht an seine Fersen geheftet hatten? Immerhin entsprach er damit seinem Ruf als galanter Seigneur. Nur im geheimsten Winkel seines Verstands räumte er die Faszination ein, welche das fremde Mädchen auf ihn ausübte. Es besaß einen Stolz und eine angeborene Haltung, die weit über das übliche Maß einer Dirne hinausgingen. Vielleicht war ihr Vater wirklich ein Edelmann gewesen, und sie versuchte diesen Umstand auszunützen, um sich einen
wohlhabenden Beschützer zu angeln. Gewiß war er nicht der erste, dem sie das Märchen mit dem Siegelring erzählt hatte. Vermutlich war er lediglich der erste, dessen Wappen mit dem Bild auf dem Ring übereinstimmte. Handelte es sich dabei wirklich um den Ring der Grafen von Termignon, der seit Jahrzehnten verschwunden war? Er hatte den Siegelring nie zu Gesicht bekommen und vermochte es deswegen nicht zu beurteilen. Allein, wie hätte das kostbare Familienjuwel in die Hände eines solchen Mädchens geraten können? Der letzte Mann, der diesen Ring getragen hatte, war sein Onkel Jules de Pontivy gewesen. Er war bei einem königlichen Turnier ums Leben gekommen, so daß der Titel auf seinen Vater übergegangen war, von dem er ihn geerbt hatte, als jener gemeinsam mit dem Herzog von Bourbon vor Rom den Tod auf dem Schlachtfeld fand. Es gab niemanden mehr, den er in dieser Sache befragen konnte. Er würde ganz allein seine eigene Entscheidung treffen müssen, unbeeinflußt von dem Blick in waldgrüne Augen. Georges de Pontivy unterdrückte einen Fluch und warf einen prüfenden Blick zum Himmel. Hoffentlich regnete es nicht. Er beabsichtigte nicht, sein Nachtlager in Rouen aufzuschlagen. Je weniger Aufmerksamkeit sein kleiner Troß erregte, um so besser würde es sein. Er hatte eine Lichtung in der Nähe der Seine im Sinne, die sich hervorragend zum Übernachten eignete. Wenn sie das Tempo ein wenig beschleunigten, würden sie den Platz vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Aimée fiel es nicht auf, daß die kräftigen Pferde vor dem Fuhrwerk keine Rast erhielten. Ihre Aufmerksamkeit war ausschließlich auf die kranke Schwester gerichtet, die wirre Sätze von sich gab und immer wieder beruhigt werden mußte. Der ältere Mann, der das Fuhrwerk kutschierte, hatte ihr seinen Trinkschlauch gereicht, und sie bemühte sich, Floralie immer wieder ein paar Schluck des säuerlichen Weins einzuflößen, der nur sehr sparsam mit Wasser verdünnt worden war. Barbes Kräutertee hätte ihr bessere Dienste geleistet... Als das Fahrzeug endlich anhielt, war sie selbst in einer Mischung aus Erschöpfung, Hunger und Verzweiflung eingedämmert. Sie schoß mit einem erschreckten Schrei herum, als eine Hand sie vorsichtig an der Schulter rüttelte. »Du kannst dir die Beine vertreten, Mädchen«, brummte der Kutscher und zeigte mit dem Daumen nach draußen. »Die Kleine hier schläft so fest, daß sie dich nicht braucht. Du dagegen siehst aus, als könntest du einen Happen zu Essen vertragen...« Verblüfft erkannte Aimée, daß es bereits dämmerte. Die Männer rings um sie her arbeiteten daran, ein provisorisches Nachtlager aufzuschlagen. Die Fuhrknechte versorgten die Tiere, und die Söldner ließen den Weinschlauch kreisen. Als sie mit steifen Beinen vom Wagen kletterte, taumelte sie im ersten Moment, denn ihre verkrampften Glieder verweigerten den Dienst. »Es tut mir leid, daß ich dir keine bequemere Reisemöglichkeit bieten kann, meine Schöne«, hörte sie die spöttische Stimme des Grafen in ihrem Rücken. »Es sei denn, du zögest es vor, daß ich dich vor mich auf den Sattel nehme!« Aimée rieb sich das eingeschlafene Bein und nutzte die Gelegenheit für einen schrägen Blick auf den Seigneur. Bis auf die Staubschicht auf seinen Stiefeln und dem Übermantel sah man ihm die Anstrengung des stundenlangen Ritts nicht an. Er bewegte sich auf dieser versteckten Waldlichtung mit derselben Unbekümmertheit wie auf den Kais von Dieppe. Wald! Mit einem Schlage kam ihr zu Bewußtsein, wo sie sich befand. Ringsum von dichtem Grün und Bäumen eingeschlossen, war diese versteckte Lichtung vielleicht der ideale Lagerplatz, aber Aimée fuhr mit der Hand an ihren Hals, als bekäme sie nicht genügend Luft zum Atmen. »Was ist los mit dir?« »Ich...« Aimée benötigte ihre ganze Beherrschung, um nicht in blinder Panik einfach loszulaufen. Auch wenn sie jetzt zu wissen glaubte, weshalb sie diese urtümliche, unerklärliche Angst vor Wäldern hatte, fiel es ihr schwer, dagegen anzukämpfen.
»Nun?« Der herrische Befehl löste endlich ihre Zunge. »Verzeiht... ich... Ich fürchte die Wälder...« »Du fürchtest...« Er brach ab und musterte sie mit einem Blick, der deutlich besagte, daß er ihr kein Wort glaubte. »Immerhin, wenigstens etwas, das dir Angst einjagt«, fügte er mit einem trockenen Auflachen hinzu. »Denkt, was Ihr wollt«, sagte Aimée heiser, aber ihr schwerer Atem und die Blässe auf ihren Zügen bewiesen, daß sie ihre Fassung noch immer nicht wiedergefunden hatte. Der Graf verzichtete darauf, sie weiter zu reizen. Er versuchte, sie mit jenem Lächeln zu beeindrucken, das normalerweise sogar die Königinmutter bezauberte, und die war nun wirklich ein schwieriger Fall. »Ehe ich noch mehr über dich erfahre, solltest du mir vielleicht endlich deinen Namen verraten...« Aimée übersah das Lächeln, aber sie beantwortete seine Frage. »Aimée Ma...« Sie unterbrach sich selbst und fügte hart hinzu: »Nun, Aimée eben!« Malivet wollte sie sich nie wieder nennen. Malivet war gleichbedeutend mit Simone! Der Gedanke an diese Frau war sogar noch unerträglicher als ihre Furcht vor dem Wald. »Aimée«, wiederholte der Graf sinnend, und es kam ihr so vor, als habe ihr Name in seinem Mund einen ganz anderen Klang bekommen. »Deine Mutter hat dir den Namen der Liebe gegeben. Trägst du damit auch den Namen deiner Profession, meine Hübsche?« Was wollte er damit sagen? Hielt er sie für eine Dirne? Aimée spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg, aber sie hielt dem provozierenden Blick stand, ohne die Wimpern zu senken. Ihre Ehre bestand in dem, was sie von sich selbst hielt. Sie würde sich nicht von einem arroganten Edelmann demütigen lassen. »Denkt, was ihr wollt«, entgegnete sie widerspenstig. »Und nun laßt mich durch, oder könnt Ihr Euch nicht denken, daß ich mich nach den Stunden auf diesem Karren zurückziehen möchte?« Die höchst sittsame Umschreibung ihres Bedürfnisses entlockte ihm ein Schnauben. Sie besaß vielleicht die Dreistigkeit eines Kriegers, aber nicht die Ungeniertheit einer Hure. Konnte es sein, daß er sich doch in ihr täuschte? Oder verfügte sie nur über das natürliche Talent, sich ihrer jeweiligen Umgebung anzupassen und die richtigen Sätze aufzuschnappen? »Geh nicht zu weit weg«, rief er ihr nach. »Die Dunkelheit bricht schnell herein!« Aimée antwortete mit einem Laut, der seinem Schnauben ähnelte. Keinen Schritt zuviel würde sie in dieser feindlichen Düsternis gehen. Dort vorne schien es jedoch ein wenig heller zu sein und als sie darauf zuging, fand sie sich hoch über dem Flußufer. Im Schutz von ein paar knorrigen Weidenbüschen erleichterte sie sich, aber das Ufer war bedauerlicherweise zu steil, um hinunterklettern zu können. Dabei hätte sie sich zu gerne Gesicht und Hände ein wenig gesäubert. Voller Bedauern sah sie hinunter und mußte sich damit begnügen, lediglich ihre wirren Haare mit allen zehn Fingern zu glätten und die üppige Pracht in einen ordentlichen Zopf zu bändigen. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie den Grafen, der müßig ein Bein auf einen halb umgestürzten Baum gestellt hatte und sie ansah. Sie spürte, daß ihr erneut die Röte ins Gesicht stieg. Wie kam er dazu, sie heimlich zu beobachten? Wie lange stand er schon da? »Habt Ihr Angst, daß ich Euch fortlaufe?« erkundigte sie sich gereizt. »Weshalb solltest du dir in diesem Falle die Mühe gemacht haben, mir deine Begleitung so hartnäckig aufzudrängen?« antwortete er kühl und nahm den Fuß herab, um ihr entgegenzuschlendern. »Ja, weshalb wohl...«, wiederholte sie sinnend, als stelle sie sich diese recht bedeutsame Frage zum allerersten Mal. »Wie wäre es, wenn du mir endlich die Wahrheit über dich sagst? Ich halte mir zugute, ein aufrechter Mann zu sein, allein bisher hat sich mir noch keine Frau mit solcher Beharrlichkeit aufgedrängt. Ich nehme an, es liegt nicht allein an meinem Charme...«
Die humorvolle Mischung aus Spott und gelassener Feststellung entwaffnete Aimée. Sie befestigte das einfache Band um ihren Zopf und schüttelte den Reisestaub aus ihren Röcken. Alltägliche Gesten, die ihr Zeit verschaffen sollten, an denen Georges de Pontivy indes eine ungezwungene Anmut entdeckte, die sein Auge entzückte. Sie erweckte den Anschein, als beachte sie ihre eigene Erscheinung lediglich im Rahmen einer gewissen Reinlichkeit und Ordnung. Ein erstaunliches Erlebnis für einen Mann, der die raffinierten Manöver der Damenwelt am Hofe des Königs kannte und den Aufwand, den man dort mit Kleidern und Frisuren trieb. »Was seht Ihr mich so an?« durchbrach sie in diesem Moment seine abschweifenden Gedanken. »Erinnere ich Euch möglicherweise an jemand? Könnt Ihr eine Ähnlichkeit entdecken?« »In den richtigen Kleidern könntest du ohne weiteres die Damen am Hofe des Königs mit deiner Schönheit erbittern. Ist es das, was du von mir hören wolltest?« forschte er amüsiert. »Pah! Das wollte ich wirklich nicht hören«, platzte Aimée heraus und wollte an ihm vorbeigehen, als sein Arm zur Seite fuhr und sie eisern festhielt. »Ihr tut mir weh, laßt mich los!« »Dann sag mir, was deine Frage bedeutet? Welche Ähnlichkeit sollte ich bei dir finden? Willst du mir im Ernst das Märchen aufbinden, einer der Termignons hätte dich oder deine Schwester gezeugt? Laß dir gesagt sein, daß ich kein Dummkopf bin, Mädchen!« Die Verachtung, mit der er von vorneherein ausschloß, daß sie die Wahrheit sagte, brachte Aimée erst recht gegen ihn auf. Sie ahnte nicht, daß dieser Zorn in ihren Augen sprühte und daß sie die schmal aufeinandergepreßten Lippen verrieten. »Der Ring mit dem Wappen beweist es«, behauptete sie knapp, obwohl sie selbst wußte, auf welch schwachen Beinen dieser Beweis stand. »Wie sonst sollte er in meinen Besitz gekommen sein?« »Ich bin der letzte Graf von Termignon, meine Schöne«, erklärte er knapp und zog sie gewaltsam so nahe an sich heran, daß ihre schmutzigen Rocksäume seine Stiefelspitzen berührten. »Der Erbe des Namens, des Titels und der Ländereien. Wenn es irgendwo Nachkommen meiner Familie gäbe, dann würde ich es wissen. Vergiß diesen dummen Versuch, mich dir zu verpflichten. Es könnte sein, daß ich es freiwillig auf mich nehme...« Aimée starrte wie gebannt in die dunklen Augen, in denen die letzten goldenen Lichter der Sonne zu glühen schienen. Sie vermochte sich nicht zu bewegen, und ihr Herz kam völlig aus dem Takt. Langsam und schwer, seltsam zögerlich und dann wieder hastig sich überschlagend pochte es unter dem schlichten Mieder. Es dröhnte so laut in ihren Ohren, daß er es vermutlich ebenfalls vernehmen mußte. Was geschah mit ihr? »Laßt mich...«, murmelte sie mit einer Stimme, die sie kaum als die ihre erkannte. »Wenn Ihr mir ohnehin nicht glaubt...» »Was passiert dann? Wirst du dich in Luft auflösen und ebenso rätselhaft verschwinden, wie du aufgetaucht bist?« raunte er, und seine Hände lagen plötzlich auf ihren Schultern und zogen sie unaufhaltsam näher. »Ich komme zu der Einsicht, daß ich das nicht möchte. Im Gegenteil, ich könnte mich an deine Gegenwart gewöhnen...« »Ich...« Aimées Antwort erstickte in einem Seufzer, als sich die warmen Männerlippen sacht auf ihren Mund legten. Im Bruchteil eines Herzschlages empfand sie so viele Dinge auf einmal, daß sie von der Fülle überwältigt keine einzige Bewegung machen konnte. Da war die kalte Härte des Schwertgehänges, das sich gegen ihre Hüfte drückte, die besitzergreifenden Hände, die ihre Schultern festhielten, und die überraschend seidige Wärme der fremden, angenehmen Lippen. Lippen, die wie ein Hauch über die ihren streichelten und die strenge Linie ihres Mundes ganz einfach auflöten. Die einen Sturmangriff auf ihre Sinne ritten und Gefühle freisetzten, denen sie hilflos ausgeliefert war. Es drängte sie danach, die Zärtlichkeit zu erwidern, sich in die trügerische Wärme dieser Umarmung zu schmiegen, ihre spröden
Lippen wurden weich, lebendig und süß. Sie erbebte unter einem Schauer, der sie von Kopf bis Fuß überlief und eine heftige Sehnsucht in ihr weckte. Georges des Pontivy war erfahren genug, um die Zeihen ihrer bevorstehenden Kapitulation zu erkennen. Vie entzückend unbefangen dieser hübsche Feuerkopf loch auf seine ungenierten Huldigungen reagierte. Er zog Aimée enger in seine Umarmung, und die unverdorbne Frische ihrer zarten Lippen überraschte und begeisterte ihn zugleich. Sie weckte einen Hunger in ihm, der schlagartig in herrisches Verlangen umschlug. Was zu Beginn nur als spielerische Prüfung gedacht war, wurde nun plötzlich zum hungrigen, dringenden Bedürfnis. Er wollte sie auf der Stelle besitzen, sich in die heißen Tiefen ihres Körpers wühlen und den Rausch der Leidenschaft mit ihr teilen. Seine neugierigen Hände glitten über den zierlichen Körper und entdeckten die vielversprechenden straffen Formen unter den alltäglich verhüllenden Stoffen. Er spürte den Seufzer, der unter diesem Streicheln durch Aimées Leib zitterte, und die Reaktion einer begehrlich harten Brustwarze, die sich gegen die Fläche seiner rechten Hand drückte. Wie leidenschaftlich und prompt sie doch auf diese elementaren Botschaften der Lust antwortete. Seine Finger fanden die Bänder des Mieders und schlüpften unternehmungslustig zwischen den Stoff und die seidig warme weiche Haut. Nichts in ihrem behüteten und ehrbaren Leben hatte Aimée auf jene fremden, wilden Empfindungen vorbereitet, die Georges de Pontivys Hände in ihr hervorriefen, als sie ihre Brüste umfaßten und streichelten. Sie kam sich vor, als würde sie inmitten einer Flamme schweben, die sie wärmte, aber auf höchst angenehme Weise nicht schmerzhaft verbrannte. Sie konnte nicht denken, nur noch fühlen, sich dem Strudel hingeben, der sie mit sich fortriß. Doch plötzlich geschah etwas höchst Seltsames. Sie spürte einen Ruck und hörte einen dumpfen Schlag. Im selben Moment ließen seine Lippen von ihr ab, die Hände rutschten aus dem Mieder, und die Umarmung wurde zum haltlosen Taumel. Verwirrt und noch völlig betäubt von den Geschehnissen hatte Aimée Mühe, daß sie nicht ebenfalls mit zu Boden gerissen wurde. Ihr Schrei freilich erstickte unter einer groben Hand, die sich im selben Moment über Mund und Nase legte. Nur ihre Augen blieben frei, und sie sah, daß Georges de Pontivy nun eigenartig verkrümmt zu ihren Füßen lag. Seine Lider waren geschlossen, und unter den dunklen Locken rann ein dünner Strahl roten Blutes hervor, der über die Stirn in Richtung Schläfe lief. Blut! Blut auf dem Waldboden! Er war tot! Vor Aimées Augen tanzten flirrende rote Kreise. In diesem Moment wußte sie nicht mehr, wie alt sie war und wo sie sich befand. Der Ruch nach Blut und Tod raubte ihr den Verstand und die Beherrschung. Ihre panischen Schreie erstickten jedoch stumm unter der brutalen Hand. Da sie keine Luft mehr bekam, wurden ihre zappelnden Bewegungen immer schwächer. Sie versuchte, gegen das Grauen anzukämpfen, aber sie hatte nicht mehr die Kraft dafür. Die Gestalt des leblosen Mannes wurde immer unschärfer und verschwand am Ende in einer schwarzen Wolke. Aimée verlor das Bewußtsein. 4. KAPITEL »Was ist...?« Aimée brach ab, denn jeder Laut schien tief in ihrer Kehle zu schmerzen. Ihr Kopf dröhnte, und ihr Körper wurde auf so seltsame Weise durchgeschüttelt, daß sie erst nach und nach begriff, daß sie wie ein Sack Hafer quer über dem Sattel eines Pferdes lag. Die Dunkelheit der Nacht machte es ihr ebenso unmöglich, etwas zu erkennen, wie die gräßliche Lage zu begreifen, in der sie sich befand. Jede Bewegung des Pferdes preßte den Sattel schmerzhaft in ihren Magen. Das Blut in ihrem herabhängenden Kopf rauschte und dröhnte, als wolle es jeden Moment die zarten Adern sprengen. Was war geschehen? Sie hatte keine Ahnung. Sie spürte nur, daß man ihr Hände und
Füße mit Stricken gebunden hatte. Mit der Zeit vermochte sie jedoch Bruchstücke in ihrem Kopf zu finden und halbwegs zu ordnen. Georges de Pontivy hatte sie geküßt, gestreichelt und... Oh Gott! Ja, er war tot! Sie hatte ihn zu ihren Füßen gesehen, mit einer Wunde am Kopf, aus der unaufhaltsam Blut auf die Erde lief! Wer hatte das getan? Und was — bei der Gnade der Heiligen Mutter Gottes — war mit ihren anderen Begleitern geschehen? Mit Floralie? Hatte man sie auch getötet? Der bloße Gedanke schmerzte mehr als ihre mißliche Lage. Die Verzweiflung, die Aimée bisher so tapfer und beherrscht im Zaum gehalten hatte, brach sich Bahn. Wozu überhaupt kämpfen, wenn ohnehin alles in Blut und Tränen endete? Floralie! Um Gottes willen, was hatten diese Schurken mit ihrer kleinen Schwester getan? Allein, es war trotz allem nicht das zarte, fieberglühende Antlitz der kleinen Schwester, das bei diesen Gedanken vor ihrem geistigen Auge entstand. Es waren die kantigen Züge eines seltsam attraktiven, spöttischen Mannes. Die lebendige Zartheit erfahrener Lippen und die Wärme höchst ungebührlicher, aufwühlender Berührungen. Sie hatten beide vergessen, wo sie sich befanden und was sie taten. Ein tödlicher Fehler! Das Empfinden eines unendlichen, kummervollen Verlustes überwog alles andere. Aimée keuchte unter dieser scharfen Qual und wand sich ohnmächtig in ihren Fesseln. Der Reiter über ihr schien es nicht zu bemerken. Sah so die Hölle aus? Als sie endlich aus ihrer schmerzhaften und demütigenden Lage erlöst wurde, begriff sie anfangs kaum, was mit ihr geschah. Sie sank mit tauben Gliedern in sich zusammen und stürzte heftig auf gepflasterten Boden. Sie spürte runde Steine, Schmutz und nächtliche Feuchtigkeit unter ihren Händen. Nur unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihr, wenigstens den Kopf zu heben. Im flackernden Licht zahlloser Fackeln erkannte sie, daß sie sich im Innenhof eines Schlosses oder einer Burg befinden mußte und daß sich rund um sie herum ein gutes Dutzend Männer von ihren Pferden schwang. Schnaubende Pferde, knirschende Sättel und gedämpfte Stimmen verliehen der Szene eine seltsame Unwirklichkeit. Es kam ihr vor, als würde sie all dies sehen, ohne selbst daran beteiligt zu sein. »Bringt sie nach drinnen in die Halle!« sagte von irgendwoher eine leise, völlig emotionslose Männerstimme. »Sind alle Befehle ausgeführt? Sind die Wagen und Männer verschwunden?« »Ja, Seigneur!« Aimée wurde an ihren gefesselten Händen hochgerissen, ehe sie begreifen konnte, was dieses ›Ja!‹ bedeutete. Während das Blut qualvoll in ihre Beine schoß, zog man sie vorwärts, und sie mußte wohl oder übel hinterherstolpern, auch wenn jede Bewegung glühende Schmerzen durch ihre gepeinigten Muskeln jagte. Alles geschah so schnell, daß sie sich kaum orientieren konnte. Das einzige, was ihr zu Bewußtsein kam, waren die unendlich hohen, aus gewaltigen Quadersteinen gefügten Mauern ringsum. Eine breite, vielstufige Freitreppe führte zum Eingang hinauf, und Aimée kniff geblendet die Augen vor dem Licht zusammen, das sie hinter dem doppelflügeligen Portal erwartete. Unzählige Öllampen, Kerzen und kleine Leuchter tauchten die Eingangshalle fast in Tageslicht. Eine breite Treppe führte weiter nach oben, mit einem Geländer, das in feinster Steinmetzarbeit endlose Blütenranken immer wieder miteinander verschlang. Bisher hatte sie derlei Pracht nur in Kirchen gesehen! Auch auf den Absätzen der Treppe brannten vielarmige Kerzenleuchter, deren Flammen in der Zugluft tanzten. Noch voll damit beschäftigt, ihre Umgebung blinzelnd in sich aufzunehmen, fand sie sich durch ein geschnitztes Portal in den nächsten Raum geschoben, der ebenfalls die Ausmaße eines großen Saales hatte. An seiner Stirnseite brannte in einem großen Kamin ein Feuer, und die Wände waren mit Waffen, Standarten und den erbeuteten Fahnen vergangener Schlachten geschmückt. Der glänzende Boden aus schwarzen und weißen Steinquadraten schimmerte wie ein endloses, gewürfeltes Meer. Lediglich in der Nähe des Feuers stand ein geschnitzter dunkler Tisch, um den Stühle mit hohen Lehnen gruppiert waren.
Eiserne Leuchter mit mächtigen, dicken Bienenwachskerzen sorgten auch hier für Licht, trotzdem entdeckte Aimée den Mann erst, als ihre Arme losgelassen wurden und sie sich der Fesseln wegen mit beiden Händen zugleich die wirren Haare aus der Stirn strich. Seltsamerweise brachte ihr der Anblick der stillen Gestalt als erstes die eigene zerzauste Erscheinung zu Bewußtsein. Der beschwerliche Ritt hatte ihren neuen Zopf gelöst und ihre ohnehin nicht sauberen Röcke völlig mit Schlamm und Erde bespritzt. Wenn ihr Gesicht ähnlich wie ihre Rocksäume aussah, dann war es kein Wunder, daß der Fremde angeekelt einen Schritt zurückwich. »Gütiger Himmel, habt ihr dieses Weib durch alle Pfützen des Königreichs gezogen?« hörte sie dieselbe kalte Stimme, die vorhin die Befehle erteilt hatte. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß ausgerechnet Termignon an diesem Stück Unrat Geschmack gefunden haben sollte!« »Zumindest war er so damit beschäftigt, sie zu küssen und abzulatschen, daß wir ihn ohne Gegenwehr überwältigen konnten«, brummte ihr Begleiter, als habe man ihn persönlich der Geschmacklosigkeit bezichtigt. Er stieß sie vorwärts, so daß sie unbeabsichtigt vor dem Seigneur auf die Knie fiel, der in lässiger Haltung am Kamin lehnte. Aimée versuchte nicht, sich aufzurappeln. Einmal mehr kämpfte sie mit der unordentlichen Flut ihrer Haare. Unter halb gesenkten Lidern versuchte sie sich ein Bild von dem Edelmann zu machen, der nachdenklich seine Stirn runzelte und sie seinerseits so abschätzig betrachtete, als könne er sich nicht entschließen, sie zur Kenntnis zu nehmen. Seine Kleidung aus azurblauem, goldbesticktem Brokat war ebenso makellos wie die schulterlangen blonden Haare. Das bartlose Gesicht hätte man schön nennen können, wäre da nicht die völlige Reglosigkeit der ebenmäßigen Züge gewesen, das Eis in den hellen blauen Augen. Hätte er nicht von Zeit zu Zeit gesprochen, hätte sie ihn für eine bemalte Statue halten können. »Steh auf!« Als sie nicht schnell genug dem Befehl nachkam, packte er ihren Arm und stellte sie eigenhändig wieder auf die Füße. Dann griff er nach ihrem Kinn und drehte das Gesicht dem Licht der Kerzen zu, ehe er es wieder losließ, als habe er sich dabei die Fingerspitzen schmutzig gemacht. »Nun, mag sein, wenn du sauber bist... Deine Augen sind vielleicht eine Sünde wert. Deinen Namen, Mädchen?« Ohne eine merkliche Bewegung seines Mundes kam der kalte Befehl über die blassen Lippen. Es war sicher nicht ratsam, ihm zu trotzen. »Aimée!« antwortete sie tonlos. Sie hatte sich traurigerweise bereits daran gewöhnt, nur ihren Vornamen zu gebrauchen. »Du bist also Termignons Liebchen!« Aimée beantwortete die Feststellung mit einem heftigen Kopf schütteln. Die Strapazen hatten die Erinnerung an die Geschehnisse am Fluß fast getilgt. Jetzt fühlte sie nur noch eine seltsame Mischung aus Angst, Verzweiflung und lähmender Betäubung. »Lüg mich nicht an. Ich habe Mittel und Wege, dich zum Sprechen zu bringen«, teilte er geradezu geschäftsmäßig mit. »Erweist du dich als hilfsbereit, lasse ich dich möglicherweise sogar laufen...« »Eine Zeugin von Mord und Totschlag?« wisperte Aimée mit einem Anflug ihres alten Kampfgeistes. Sie mochte müde sein, aber sie haßte es nach wie vor, wenn man sie für eine alberne Gans hielt. »Dir haltet mich für höchst naiv, Seigneur!« Keine Regung des ehernen Gesichts deutete darauf hin, daß er sie überhaupt gehört hatte. »Woher ist Pontivy gekommen?« »Ich weiß es nicht...« »Sei vorsichtig, Mädchen!« mahnte die kalte Stimme gnadenlos. »Ich weiß, daß dein Seigneur sein vermeintliches Handelsgut von einem englischen Schiff übernommen hat und
daß er so tut, als hätte er jenseits des Kanals die besten Geschäfte gemacht. Wir können mit den Lügen aufhören, denn ich weiß natürlich, daß er in Spanien gewesen ist.« Aimée begriff nicht, was dieses Hin und Her der Worte sollte. Was war so wichtig daran, ob der Mann mit den goldenen Funken in den schwarzen Augen in England oder in Spanien gewesen war? Jetzt war er tot, und sie fühlte einen seltsamen scharfen Schmerz, wenn sie sich an ihn erinnerte. Sie mußte aufhören, an ihn zu denken. Sie mußte ein Ende damit machen, über Dinge nachzugrübeln, die sie ohnehin nicht mehr ändern konnte. »Ihr wißt mehr als ich, Seigneur...«, entgegnete sie erschöpft, und ihre Worte wurden vom peinlichen Knurren ihres Magens übertönt, der seit undenklichen Zeiten keine Nahrung mehr erhalten hatte. »Rede, und ich lasse dir zu essen geben«, bot ihr der Herr der Burg entgegenkommend an und nützte umgehend die zufällig entdeckte Chance. »Vielleicht erlaube ich dir sogar, die Badestube aufzusuchen! Beides scheinst du nötig zu haben!« Aimées grüner Blick maß sich mit dem eisigen blauen, und sie sagte sich, daß es pure Narretei war, sich mit diesem Mann anzulegen. Wofür kämpfte sie noch? Allein, sie brachte es nicht fertig zu schweigen. Sie mußte es einfach wissen. »Was habt Ihr mit meinen Begleitern gemacht?« fragte sie drängend und richtete ihre flehenden grünen Augen auf ihn. »Was ist mit den Fuhrknechten, den Söldnern, dem Mädchen im Wagen? Habt Ihr sie alle ebenfalls töten lassen wie den Grafen?« Es lag ein Drängen in ihrer Stimme, das den Mann unschwer erkennen ließ, wie viel ihr an seiner Antwort lag. Er lächelte kalt. Wenn er gewillt war, Auskunft zu geben, dann sicher nicht in diesem Moment. »Beantworte meine Fragen, und ich werde über die deinen nachdenken!« »Ich weiß nichts über den Grafen, Ihr müßt mir glauben«, seufzte Aimée und zerrte unwillkürlich an den Stricken um ihre Handgelenke. Die aufgeriebene Haut schmerzte abscheulich, aber die Qual bewies ihr eindringlich, daß sie nicht träumte und dies alles Wirklichkeit war. Sie zwang sich, die Pein nicht zur Kenntnis zu nehmen. Instinktiv erfaßte sie, daß dieser Fremde Schwäche verachtete und Mut respektierte. Jede Klage würde ihn nur amüsieren. »Ich habe den Grafen am Hafen angesprochen und ihn gefragt, ob ich mich gemeinsam mit meiner Schwester seiner Reisegruppe anschließen darf«, gestand sie wenigstens einen Teil der Wahrheit. »Natürlich«, nickte er zynisch und schenkte ihr ein freudloses Lächeln. »Und deswegen hat er dich auch zu einem Schäferstündchen an den Fluß geführt, ohne sich darum zu kümmern, ob sein Lager richtig bewacht ist. Das ist genau der Georges de Pontivy, den ich kenne! Wir beide sprechen vom gefährlichsten Spion des Königs, Mädchen. Dieser Mann zeichnet sich weder durch Naivität noch durch sonderliche Gutgläubigkeit aus. Du mußt dir schon eine bessere Geschichte ausdenken. Weshalb habt ihr euch von den anderen abgesondert? Erwartete er noch einen geheimen Boten?« Aimée schwieg, und die Art, wie sie die Unterlippe zwischen die Zähne zog und darauf herumkaute, hatte etwas bedrückend Vertrautes für den Mann am Kamin. Allein, er konnte die flüchtige Erinnerung nicht fassen. Dafür erkannte er, daß das Mädchen am Ende seiner Kräfte war. Möglicherweise schon so erschöpft, daß es nicht mehr wußte, wovon es redete. Falls sie, wie er vermutete, eine der unternehmungslustigen höfischen Kurtisanen war, die sich auf dieses Abenteuer mit Termignon eingelassen hatte, um seine Tarnung zu vervollständigen, dann hatte sie vermutlich die Nase voll davon. Dann hatte allein der zurückliegende Ritt ihre Nerven zerrüttet und ihre Vorliebe für Abenteuer für immer getilgt. Vielleicht bot sich hier eine Möglichkeit, mit etwas Geschick zum Ziel zu gelangen. Alle Frauen waren käuflich, und eine wie sie vermutlich noch mehr als manche anderen. »Nun gut... ich sehe, es hat keinen Sinn, dich weiter zu plagen. Vielleicht wirst du dich zugänglicher erweisen, wenn du erst einige Zeit mein Gast bist. Du sollst sehen, daß es
durchaus seine Vorteile haben kann, wenn man meine Wünsche erfüllt...« Noch ehe Aimée richtig begriffen hatte, daß er seine Taktik änderte, tauchten wie aus dem Nichts mehrere Bedienstete auf, die auf ein Nicken des blonden Kopfes hin zu wissen schienen, was von ihnen erwartet wurde. Eine ebenso stämmige wie mürrische Frau, deren steife Leinenhaube und blütenweiße Schürze sie als bedeutsame Person des Haushalts auswiesen, kam näher und sah mit verkniffenen Lippen auf ihre gefesselten Hände hinab. »Ist sie nun Gefangene oder ein Gast?« »Gast, meine liebe Magod«, verkündete der Seigneur zufrieden. »Wir möchten, daß die Demoiselle sich bei uns wohl fühlt!« Aimée fuhr bestürzt zurück, als plötzlich die Schneide eines scharfen Dolches vor ihr aufblitzte und sich senkte. Das Wechselbad aus Drohung und Freundlichkeit drohte sie zu zermürben. Ehe sie sich jedoch in Sicherheit bringen konnte, fielen die Enden der Schnüre zu Boden, und sie konnte ihre Hände wieder frei bewegen. Das Blut schoß kribbelnd in die tauben Fingerspitzen. Der jähe Schmerz trieb ihr die Feuchtigkeit in die Augen und ermöglichte es ihr, sich wieder zu fassen. »Ein besonderer Gast, dessen Ruhe und Abgeschiedenheit uns Verpflichtung sein sollte«, hörte sie den Seigneur spotten. »Ich hoffe, ich kann mich darauf verlassen!« Die eigenartige Betonung, mit der er dies bemerkte, ließ Aimée frösteln. Dieser Mann sagte einen Satz und schien in Wirklichkeit etwas ganz anderes zu meinen. Die stämmige Magod wunderte sich im Gegensatz zu ihr nicht darüber. Sie brummte etwas Zustimmendes und packte den unverhofften Gast am Arm. »Dann kommt!« So satt es Aimée auch hatte, ständig von irgend jemand irgendwohin gezerrt zu werden, sie sah keine Möglichkeit, diesem Befehl zu entkommen. Ehe sie durch die doppelflügelige Tür verschwand, warf sie über die Schulter einen Blick zurück. Was für ein seltsamer, bedrohlicher Mensch. Burgherr? Schurke? Raubritter? Edelmann? Sie konnte sich nicht entscheiden, was ihm entsprach. Auf eigenartige Weise erinnerte er sie trotz des Unterschieds in Aussehen und Gestik an Georges de Pontivy. Sie waren beide Edelmänner, die ihr Angst einjagten, weil sie nicht begriff, was sie zu ihren unerklärlichen Taten bewog. Ihre abweisende Haltung und ihre Menschenverachtung waren ihr fremd. Die Kammer, in die man sie führte, lag im obersten Geschoß eines eckigen Turmes, und es gab nur eine einzige Treppe, die dort hinaufführte. An deren Fuß war die Waffenkammer untergebracht, die von zwei Männern mit Hellebarden bewacht wurde. Aimée durchschaute, daß man sie zwar nicht in den Kerker brachte, daß sie aber trotzdem keinen unbeobachteten Schritt tun konnte. Bis in den Grund ihrer Seele hinein erschöpft, sah sie sich um. Zu ihrem Erstaunen entdeckte sie ein riesiges Kastenbett, zu dem zwei Stufen hinaufführten, sowie einen marmorverzierten Kamin mit gepolsterten Stühlen davor. In einer Ecke stand ein kleiner Tisch und eine geschnitzte Truhe, ähnlich jener, in der sie zu Hause ihre Kleider aufbewahrt hatte. Zu Hause? Sie verzog bitter den Mund. Sie hatte kein Zuhause mehr. Sie hatte keine Familie mehr und keinen Menschen, der zu ihr gehörte. »Paßt Euch etwas nicht?« fauchte die Stämmige sofort mißtrauisch. Aimée schüttelte stumm den Kopf. Es war eine bessere Unterkunft als der Stall der vergangenen Nacht. Sie versuchte, nicht an Floralie zu denken und keine Fragen mehr zu stellen. Sie wußte, daß sie ohnehin keine Antworten bekommen würde. Sie ahnte, daß sie zusammenbrechen würde, wenn sie sich dem Kummer ergab, der dicht unter der Oberfläche ihres Bewußtseins lauerte. »Ich lasse Euch den Badezuber und eine Mahlzeit bringen!« erklärte die mürrische Magod und musterte Aimée von Kopf bis Fuß, ehe sie hinzufügte: »Euch ist klar, daß Ihr diesen Raum nicht verlassen dürft?« Aimée nickte matt. Die reinen Laken des Betts lockten verführerisch, aber ehe sie
nicht sauber war, wagte sie nicht einmal, sich auf einen der Stühle zu setzen. Das Badewasser, das man ihr unmittelbar darauf brachte, war nur lauwarm und die Seife mit grober Asche vermischt. Beides genügte Aimée jedoch, um sich Haut und Haare gründlich zu säubern. Sie hinterließ eine graue Schicht auf dem Wasser, als sie aus dem Bottich stieg und sich ihre Locken mit dem letzten Eimer sauberen Wassers abspülte. Mechanisch trocknete sie sich ab, schlüpfte in das weiße Leinenhemd, das auf der Truhe bereitlag, und begann ihre wirren Haare zu ordnen, damit sie die Strähnen zu den üblichen Zöpfen flechten konnte. Die vertrauten Gesten der täglichen Toilette ermöglichten es ihr, für kurze Zeit dem Schrecken des Erlebten zu entfliehen. Sie bemühte sich entschlossen die Geschehnisse fürs erste zu verdrängen. Mit aller Beharrlichkeit war sie bestrebt, nur das Gewohnte zu tun, das Gewohnte zu denken. Das Gewohnte eines Lebens, das längst ein Ende gefunden hatte. Allein es kostete Kraft, dies zu tun. Soviel Kraft, daß sie nicht einmal mehr schmeckte, was sie von dem Tablett aß, das für sie bereitstand. Sie aß und trank lediglich in der Hoffnung, daß sie danach schlafen konnte. Schlafen und nie wieder aufwachen, aber soviel Gnade gestand ihr der Himmel vermutlich nicht zu. Mit letzter Kraft löschte sie die Kerzen und sank zwischen die Decken des Alkovens. Aber obwohl sie sich so tief wie möglich unter die Laken kuschelte, wollte sich keine Wärme einstellen. Sie hatte jedes Gefühl für Geborgenheit verloren. Was vor wenigen Tagen nur Trauer um einen geliebten Vater gewesen war, hatte seinen Höhepunkt in der völligen Vernichtung ihrer Existenz gefunden. Sie starrte mit trockenen, brennenden Augen in die Dunkelheit, bis irgendwann die völlige Erschöpfung über ihren Willen siegte und ihre Lider herabsanken. Aber es waren beunruhigende, schlimme Träume, die sie heimsuchten. Träume von Mord und Totschlag, von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, von Einsamkeit und ewiger Verdammnis. Aimée merkte nicht, daß sie im Schlaf endlich die Ströme von Tränen weinte, die sie sich im Wachen seit Tagen verbot. 5. KAPITEL »Kommt mit, der Herr wartet auf Euch!« Aimée stand am zweigeteilten Fenster des Turmgemachs und sah über die Wipfel des Waldes hinweg, welche die Burg auf dieser Seite wie ein grünes, endloses Meer bis zum Horizont umgaben. Eichen, Buchen und Nadelbäume prangten in frühlingsgrüner Helligkeit. Von oben betrachtet, unter der Kuppel eines seidig blauen Frühlingshimmels, kam ihr dieser Wald nicht ganz so erschreckend vor. Aus dieser Perspektive verlor er das Erdrückende und Bedrohliche, vor dem sie sich instinktiv fürchtete. Aber sie wagte nicht, daran zu denken, was sie empfinden würde, wenn sie die Burg verließ und unter das grüne Blätterdach tauchen mußte. Aber vielleicht sorgte sie sich ja völlig umsonst? Vielleicht würde sie diese Festung nie mehr verlassen. »Kommt Ihr?« Zögernd wandte sie sich Magod zu, die bereits ungeduldig mit der Hand winkte. »Was will er?« fragte sie tonlos. »Weitere Fragen, die ich nicht beantworten kann?« Tag um Tag Fragen und noch einmal Fragen. Aus einem ihr unbekannten Grund schien dieser Seigneur anzunehmen, daß sie um ein Geheimnis wußte, das ihr selbst unbekannt war. Irgendwann mußte er doch die Geduld für dieses sinnlose Spiel verlieren, wenn sie ihm Tag um Tag dieselben unbefriedigenden Antwort gab? »Weiß ich's?« zuckte Magod mit den Schultern. »Ich befolge seine Befehle, und damit hat sich's. Er hat mir befohlen, Euch zu baden, in Seide zu kleiden, zu frisieren und zu ihm zu bringen, wenn er es wünscht. Damit ist meine Aufgabe beendet.« Unwillkürlich strich Aimée über die schweren, seidenbestickten Röcke, die zu dem verblüffenden Gewand gehörten, in das sie nach dem heutigen Bad gekleidet worden war. Zuerst hatte Magod sie in ein Hemd in der feinen Farbe alten Elfenbeins gehüllt. Es war aus
schmeichelnder Seide, hatte weite Ärmel, und am viereckigen Ausschnitt und den Ärmelkanten rüschte sich kostbare Spitze. Darüber zog sie ein schweres Seidengewand in lichtem Frühlingsgrün mit einem weiten Rock und einem so engen Mieder, daß sie im ersten Augenblick schon gefürchtet hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Magod hatte die Hemdspitze wie einen gefälligen Rahmen um den herausfordernden Ausschnitt zurechtgezupft, so daß ihre Brüste wie auf einem Präsentierteller zur Schau gestellt wurden. Aimée hatte dieses Manöver mit stummer Verblüffung verfolgt. Sie fand das Dekollete' befremdlich, aber niemand interessierte sich für ihre Meinung. Die weiten Ärmel mit den Schlitzen wurden ganz zum Schluß mit kostbaren Schmucknadeln am Gewand befestigt, und danach zupfte Magod die elfenbeinfarbene Seide durch die Schlitze, so daß sich die Ärmel wie kostbare Flügel um Aimée bauschten und die fragile Zartheit ihrer Taille betonten. Die Glieder eines goldenen Gürtels umspannten sie, und die Enden fielen bis zu ihren Knien herab, wo sie bei jeder Bewegung mit sachtem Klingen aneinanderstießen. Während Aimée noch staunend mit den Handflächen über diese Pracht fuhr, hatte Magod sie auf einen Hocker gedrückt und damit begonnen, ihre Locken zu entwirren und sie so lange zu bürsten, bis sie sich in glänzender hülle bis auf die Taille wellten. Aimée kam es ungewohnt vor, die Last dieser schweren Haare so offen zu spüren. Seit sie denken konnte, hatte sie die üppige Masse in Zöpfe und Flechten gezwängt. Für Simone hatte es sich nicht gehört, daß eine ehrbare Jungfer die Haare offen trug. Magod hingegen bändigte sie lediglich mit einem schmalen Goldreif, der ohne jeden Schmuck nur ihre Stirn umspannte. Sie tat ihre Arbeit als Kammerzofe mit leidenschaftsloser Effizienz und beantwortete keine Frage nach dem Grund. Aimée war zu dem vorsichtigen Schluß gekommen, daß es trotz aller Pracht nichts Gutes bedeuten konnte, wenn sie dermaßen ausstaffiert wurde. Soviel hatte sie über den Herrn dieser Festung bereits gelernt, daß er nichts ohne Berechnung tat und nicht der kleinste Hauch von Freundlichkeit oder Mitgefühl in ihm wohnte. Sie versuchte ihre düsteren Ahnungen zu unterdrücken und folgte Magod. Der Seigneur empfing sie an diesem Tage nicht wie üblich in seinem Arbeitskabinett, sondern in der großen Treppenhalle. Seine sonst so prächtigen Kleider hatten einem schlichten, schwarzen Lederwams und engen Lederhosen und Stiefeln Platz gemacht. Sie hätte nicht sagen können, in welchem Kostüm sie ihn einschüchternder empfand. Als prächtig glitzernden Eiszapfen oder als diesen dunklen, gefährlichen Krieger. »Komm mit!« befahl er knapp und wandte sich einem Durchgang zu, der Aimée erst in diesem Moment auffiel. Ein Bewaffneter stand davor und reichte ihm stumm eine Laterne. Über ihre veränderte Erscheinung verlor niemand eine Silbe. »Ich möchte dir etwas zeigen, das vielleicht deine Zunge löst!« Wie üblich folgte sie schweigend seiner Aufforderung. Was blieb ihr anderes übrig? Die Ereignisse hatten eine seltsam lähmende Teilnahmslosigkeit bei ihr hinterlassen, eine Art von Trance, die sie gleichsam distanziert auf sich selbst sehen ließ. Sie hatte versagt, ihre Schwester und sich selbst zu schützen. Was immer im weiteren geschah, berührte sie ohnehin nicht mehr. Sie hatte es durch ihr Unvermögen selbst herausgefordert. Obwohl sie fröstelte, als der steinerne Gang zu einer Treppe führte, die sie tief in die Eingeweide der Erde zu leiten schien, empfand sie beileibe nicht die unbändige Furcht, mit dem der Mann an ihrer Seite gerechnet hatte. Ihr war lediglich kalt. Das üppige Dekollete dieser eleganten Robe war für derlei Spaziergänge höchst ungeeignet. Dagegen bemerkte sie weder die Feuchtigkeit an den Wänden noch den Modergeruch abgestandener Luft und brackigen Wassers. Ja, nicht einmal die bedrohlichen Schatten, welche die wenigen Fackeln warfen, die in Eisenringen an den Wänden flackerten. »Das Burgverlies«, verkündete ihr Begleiter kalt und verbarg seine Verärgerung über ihre fehlende Ängstlichkeit. Aus welchem Stoff war diese junge Frau gemacht? Sie sollte zittern und Fragen stellen! Wie konnte sie mit dieser unbeteiligten Miene auf seine Worte reagieren?
»Dort hinten ist die Folterkammer«, fügte er erbittert hinzu. »Eine höchst sinnvolle Einrichtung, wenn es darum geht, einen Menschen zum Reden zu bringen. Ich habe einen Mann in meinen Diensten, der sein Handwerk als Sklave der Berber im Mittelmeer gelernt hat.« Aimée ging ohne zu zögern weiter. Die Röcke des kostbaren Seidengewands schleiften über den festgestampften Lehmboden, und eine Spinnwebe berührte ihre bloße Schulter. Sie strich sie zur Seite, ohne die behaarte Spinne zu beachten, die vor ihrer Hand floh. Nicht einmal davor verspürte sie Entsetzen. »Wollt Ihr mich töten, wenn ich Euch nicht sage, was Ihr wissen wollt?« erkundigte sie sich so ruhig, daß der Seigneur seinen eigenen Ohren nicht traute. »Hast du keine Angst davor?« Aimée drehte ihm das blasse, schöne Gesicht zu und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe Angst vor dem Leben, das ist schlimmer als der Tod!« Die Überzeugung, mit der sie dies sagte, brachte ihren Begleiter für einen kaum merklichen Augenblick aus dem Konzept. Dieser Ausflug verlief nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Geradezu unwirsch stieß er die Bohlentür zur Folterkammer auf, die im Schein mehrerer Fackeln in bedrohlicher Helligkeit erstrahlte. Ein Koloß von einem Mann, dessen muskulöser Körper nur mit Stiefeln, Lederhose und ärmellosem Lederwams bekleidet war, beherrschte dieses Schreckensreich. Hinter einer Ledermaske mit Augenschlitzen glitzerten seine Pupillen, und die behaarten Arme waren auf eine Axt gestützt, deren Schneide im Fackelschein blitzte. »Der Henker«, vernahm Aimée die Vorstellung. Für einen winzigen Atemzug lang drang die unheimliche Atmosphäre des bedrückenden Ortes in ihr Bewußtsein. Sie blieb stehen und sah sich wider Willen in einer Mischung aus Faszination und Abscheu um. Sie hatte nie zu jenen Bürgern von Dieppe gehört, die zu den Hinrichtungen pilgerten und sich an den Männern und Frauen am Schandpfahl ergötzten. Das Leid anderer Menschen bedrückte sie, und sie empfand das krankhafte Vergnügen vieler Menschen daran als ebenso schlimm wie die Not der Betroffenen selbst. Bereitete es diesem Manne Freude, andere zu quälen? Unwillkürlich landete ihr prüfender Blick wieder bei ihm. Er hatte die Fackel in eine leere Halterung gestellt und die Arme vor der Brust verschränkt. Bis auf das Knistern der Flammen und der roten Glut in einem offenen Holzkohlenbecken war kein Geräusch in diesem Raum, der Aimée an eine Höhle tief unter der Erde erinnerte. Die Schreie, die ein armes Opfer in diesen Gewölben ausstieß, würde kein Mensch in der Außenwelt vernehmen. An diesem Ort endeten alle Hoffnungen. »Weißt du, wie eine peinliche Befragung abläuft?« erkundigte sich ihr Kerkermeister in diesem Moment so unerwartet, daß er den Satz wiederholen mußte, damit sie ihn begriff. Aimée schüttelte langsam den Kopf und versuchte den Henker zu mißachten, der wie ein stummer Dämon dieser Unterhaltung beiwohnte. »Nun, hier ist zum Beispiel eine Streckbank. Wie du siehst, wird der Übeltäter an Händen und Füßen mit Lederschlaufen gefesselt. Dann dehnt die sinnvolle Einrichtung der Mechanik seinen Körper so lange, bis er zu der Einsicht kommt, daß es besser wäre zu sprechen! Meist dauert es nicht einmal sehr lange.« Aimée schluckte. »Zuerst kugeln Arme und Beine aus den Gelenken«, erläuterte er gleichmütig. »Anschließend reißen die Sehnen und Muskeln. Kein angenehmes Gefühl, meine Schöne, laß es dir versichert sein!« Die Angst sprang Aimée so unvermittelt an, daß sie leise aufkeuchte. Angst nicht vor dem Tod. Angst vor dem, was dieses Gerät aus ihr machen würde. Ein wimmerndes Bündel Qual. Es sollte nicht erlaubt sein, daß Christenmenschen ihresgleichen so etwas antaten. »Außerdem gibt es natürlich Daumenschrauben und spanische Stiefel, Nagelzangen, mit denen man die Fingernägel ausreißt und jene ein wenig barbarische Erfindung dieses
speziellen Kastens dort, der innen mit langen Nägeln versehen ist, die sich in das Opfer bohren, sobald man den Deckel schließt...« »Hört auf...«, unterbrach ihn Aimée rauh und verbarg ihre eiskalten Finger auf der Suche nach etwas Wärme in den Falten ihres Gewandes. »Ich kann Euch nichts sagen, auch wenn Ihr jedes einzelne dieser Instrumente an mir zur Anwendung bringt. Ich weiß nicht, welche Reise mein Begleiter hinter sich hat. Auch Euer gewinnender Freund dort vermag mit seiner Folterkunst nichts anderes in Erfahrung zu bringen...« »Das mag ja sein«, entgegnete er zu ihrer Überraschung gelassen. »Aber es gibt kaum eine wirksamere Methode, um einen so sturen Menschen wie George Pontivy zum Reden zu bringen, wie die Folter!« »Die Folter?« Aimée wiederholte es verblüfft, während ihre Gedanken sich überschlugen. Wenn er den Grafen zum Reden bringen wollte, bedeutete dies doch, daß er noch am Leben war und ihn der Hieb auf den Schädel trotz des Blutverlusts nicht getötet hatte! Sie vermochte die Erleichterung, die sie durchlief, nicht zu verbergen. Die plötzliche Röte ihrer Wangen verriet sie ebenso wie ihr schnellerer Atem. »Mach dir keine falschen Hoffnungen, meine Schöne«, riß sie die kalte Stimme des Seigneurs aus ihrer Benommenheit. »Daß er lebt, bedeutet nicht, daß er noch lange am Leben ist...« Aimée gab einen verblüffend spöttischen Laut von sich und warf den Kopf in ungezügeltem Stolz in den Nacken. Was erwartete sich dieser Mann von dem seltsamen Katz-und-Maus-Spiel dieses Gesprächs? »Daran zweifle ich nicht«, sagte sie mindestens ebenso kühl wie er. »Aber Ihr könnt ihn foltern, soviel Ihr wollt. Er wird Euch nicht eine Silbe von dem sagen, was Ihr zu hören begehrt!« »In der Tat«, gab er zu. »Ihr kennt ihn gut. Der härteste Schädel des Königreichs, der stolzeste Ritter unter der Sonne. Der beste Freund Seiner Majestät und Liebling aller Damen des Hofes. Es würde mir ein Vergnügen sein, dabei zuzusehen, wie er seine Arroganz unter den Daumenschrauben einbüßt. Aber er würde nicht reden, soviel ist natürlich klar.« Aimée tat ihm nicht den Gefallen, darauf zu antworten. Daß er darüber lachte, verblüffte sie indes. Konnte sie sich seine vorübergehende Stimmung zunutze machen? »Was habt Ihr mit seinen anderen Begleitern gemacht?« warf sie in der Hoffnung ein, endlich Näheres über den gewaltsamen Handstreich zu erfahren, dessen Opfer sie alle geworden waren. »Es ist nicht meine Art, mich mit Kreaturen zu belasten, die mir nicht nützlich sind«, entgegnete der Seigneur barsch und bestätigte damit endgültig die schlimmsten Befürchtungen um Floralie. In seinen Kreisen war es nicht üblich, Knechte und Mägde als Menschen zu betrachten, deren Leben einen Wert besaß. Noch dazu, wenn es sich um das Gesinde eines Gegners handelte, und Floralie hatten seine Leute sicher für eine Magd gehalten. Aimées trotziger Stolz kämpfte mit aufkommender Hoffnungslosigkeit. Weshalb noch Widerstand leisten? Wozu? In ihren Augen glänzten ungeweinte Tränen, und das Leid auf ihren Zügen verlieh ihr eine Schönheit, die auch das Herz des gefühllosesten Mannes erweichen mußte. Sie ahnte nicht, daß dies genau der aufgelöste, gepeinigte Zustand war, auf den der Seigneur hingearbeitet hatte. Dies und die verführerische Eleganz des höfischen Gewandes, das mit Sicherheit die Erinnerung an bessere und sorglosere Zeiten weckte. »Ich dachte nicht daran, den hochmütigen Grafen zu foltern. Ich habe im Sinn, die hochnotpeinliche Befragung an deiner entzückenden Person durchzuführen«, versetzte er ihr gelassen den nächsten Schlag, und ein kaltes Lächeln umspielte seinen Mund. »Ihr seid närrisch...« Armee haßte sich für die Furcht, die sie aus den eigenen Worten heraushörte. Aus einem Grund, den sie selbst nicht genau kannte, war es wichtig, daß sie Haltung bewahrte
und vor diesem Manne und seinen Drohungen nicht klein beigab. »Das gefällt dir nicht?« durchschaute er sie trotzdem. »Nun, es gibt eine Möglichkeit, dies zu vermeiden. Ich gebe dir die Chance, die Folter aus eigener Kraft abzuwenden...« Aimée blieb stumm. Dieser Mann gab nichts umsonst, soviel wußte sie. Was sollte sie dafür tun? Er sah das Begreifen in ihren Augen und nickte anerkennend. Er hatte recht gehabt, eine Frau, die Pontivy auf dieser Reise begleitete, mußte intelligent sein und ihm gleichzeitig viel bedeuten. Nur wenn dies der Fall war, würde sein Plan aufgehen. »Überzeuge den Seigneur de Pontivy davon, daß er dir zuliebe reden muß. Deine Unversehrtheit gegen die Informationen, die er aus Spanien mitgebracht hat. Weigert er sich, lasse ich ihn dabei zusehen, wie der Henker seine Spielchen mit dir treibt!« »Aber ich...« Aimée brach resigniert wieder ab. Es hatte keinen Sinn zu erklären, daß der Seigneur nichts für sie empfand und vermutlich keinen Finger rühren würde, damit sie unversehrt bliebe. »Sehr richtig, es gibt keine andere Möglichkeit, als zu gehorchen«, lobte er sie betont sarkastisch für ihre vermeintliche Einsicht. »Sei versichert, daß ich zu diesem Mittel greifen werde, wenn du versagst. Ich habe lange genug darauf hingearbeitet, diesen Mann in meine Hände zu bekommen. Er ist wichtig, nicht du! Aber ich nehme an, daß er in seiner Ritterlichkeit närrisch genug ist, sein Liebchen schützen zu wollen. Männer wie er sind leicht zu durchschauen...« »Was hat er Euch getan?« rutschte es Aimée in einem Anflug von weiblicher Neugier heraus. »Stell ihm deine Fragen!« entgegnete er barsch und hielt ihr die Tür auf. »Tu dein Bestes. Man wird dich zu ihm bringen, und morgen früh erwarte ich sein Geständnis! Wenn nicht, solltest du den morgigen Tag mit einem Gebet beginnen, meine Schöne!« 6. KAPITEL »Was...?« Es kam selten vor, daß Georges de Pontivy, dem Grafen von Termignon, das Wort auf der Zunge erstarb, aber dieser Moment war einer jener raren Fälle. Wie vom Donner gerührt starrte er die Erscheinung an, die im Halbrund der niedrigen Pforte stand, welche seine Kammer abschloß. Durch die schmalen Luftschlitze des Turmgemachs fiel dank der hochstehenden Abendsonne genügend Licht, damit er sie in allen Einzelheiten wahrnehmen konnte. Eine Vision in Grün und rötlichem Gold, die er nur bezaubert anstarren konnte. Keine Frau am Hofe des Königs besaß eine so anmutig stolze Haltung, eine so zerbrechlich schmale Taille, eine so durchscheinend seidige Haut und so aufsehenerregende Haare. Sie wirkten, als habe der Herbst seine Farbenpracht mit jener eines goldenen Weizenfelds gepaart. Irgend etwas in den hellen, grünlich schimmernden Augen und ihrem entzückenden Antlitz kam ihm seltsam bekannt vor, aber er vermochte die flüchtige Erinnerung nicht einzuordnen. »Gütiger Himmel, ich vergesse meine Erziehung«, platzte er nach einem tiefen Atemzug heraus. »Seid willkommen, edle Dame. Seid Ihr der Engel, der einem armen Gefangenen im Traum erscheint?« Das höfisch gedrechselte Kompliment verwirrte Aimée, die in dem bärtigen, schmutzigen Mann mit dem verkrusteten Blut im Haar ihrerseits kaum den eleganten Reisenden aus Dieppe wiedererkannte. Er wirkte blaß, hohlwangig und abgezehrt. Wie es schien, hatte man ihn nicht mit derselben großzügigen Gastfreundschaft behandelt, die ihr zuteil geworden war. »Redet keinen Unsinn«, entgegnete sie wesentlich unwirscher, als sie es geplant hatte. Zu jenem Schrecken, den sie nur mühsam verbergen konnte, kam nun auch noch die
Erkenntnis hinzu, daß er offensichtlich nicht mehr der starke souveräne Edelmann war, auf dessen Hilfe sie heimlich gehofft hatte. Und zu allem Überfluß hatte er sie anscheinend auch bereits wieder vergessen. »Ich bin Aimée, gebraucht Eure Augen!« »Zum Henker!« fluchte Georges de Pontivy und erhob sich endlich von seinem Lager, das nur aus ein paar Holzbrettern und einem alten Strohsack bestand. Er trat näher, und Aimée wurde Zeugin, wie die unverhohlene Bewunderung in seinen dunklen Augen blitzschnell erstarb und ebenso deutlich erkennbarem Mißtrauen Platz machte. »Eine wahrlich verblüffende Veränderung, der Ihr Euch unterzogen habt, mein Fräulein!« hörte Aimée seine Stimme und vernahm bestürzt den metallischen Unterton. »Seid Ihr gekommen, den Narren zu besichtigen, den Ihr ins Verderben gelockt habt? Ein schönes Stück Niedertracht, das muß ich schon sagen. Mein Kompliment; wie Ihr mich von meinen Männern fortgelockt und im richtigen Moment abgelenkt habt, das ist das Meisterstück einer raffinierten Hure!« Aimée hörte die Beschuldigung, aber sie war so verdutzt darüber, daß sie ihn nur aus großen Augen wortlos ansehen konnte. »Natürlich keine Spur von Scham«, stellte er fest, nachdem er einen Herzschlag lang auf ihre Antwort gewartet hatte. Ein rauher, schmutziger Finger fuhr spielerisch an der Innenkante ihres Ausschnitts über die bloße Haut. Aimée spürte die rauhe Berührung, und ein Schauer überlief sie. Mit einem Schlag waren die Gefühle wieder da, die der verhängnisvolle Kuß am Hochufer der Seine in ihrem Körper wachgerufen hatte. Die Berührung seines Mundes, das Streicheln seiner Hände. Unwillkürlich benetzte sie ihre trockenen Lippen mit der Zunge und holte tief Atem. Sie ahnte nicht, daß der Atemzug die Wölbung ihrer Brüste im Ausschnitt hinreißend zur Wirkung brachte und die Feuchtigkeit ihrem schönen Mund verführerischen Glanz verlieh. Sie hatte bei Simone Malivet die Führung eines Hausstands gelernt, bei Jacques Malivet schreiben, rechnen und lesen, sowie die Buchhaltung eines Handelskontors. Keiner von beiden hatte indes daran gedacht, sie im Gebrauch ihrer weiblichen Reize zu unterrichten. Was sie tat, tat sie mit einer zu Herzen gehenden Unschuld, die jeder Geste nur noch eine bestrickendere Wirkung verlieh. »Ihr seid närrisch«, fand sie endlich die Fähigkeit zur Rede wieder. »Ich kenne den Mann nicht, dessen Feindschaft Ihr Euch zugezogen habt. Er hält mich gefangen, genau wie Euch!« »Gefangen in Seide und goldenen Ketten«, spottete der Graf und wickelte die Enden ihres klingelnden Gürtels um seine geballte Faust. »Denn die Lippen der fremden Frau sind süß wie Honigseim, und ihre Kehle ist glatter als Öl, hernach aber ist sie bitter wie Wermut und scharf wie ein zweischneidiges Schwert!« Aimée versuchte sich loszureißen, aber der Gürtel hielt wie die Kette einer Fußfessel. »Redet keinen Unsinn!« rief sie empört. »Das sind die Sprüche des weisen Salomo, meine Schöne«, lachte Georges de Pontivy spöttisch. »Es paßt zu deinem tückischen Charakter, daß du die frommen Worte der Bibel als Unsinn bezeichnest.« Aimée legte ihre schmalen Hände um seine geschlossene Faust und versuchte mit aller Kraft die steifen Goldglieder zu lösen, während sie wütend zischte: »Herrje, ich weiß auch nicht, weshalb mich dieser Mensch in feine Kleider hüllt. Aber ich weiß, daß wir beide unter den Händen seiner Folterknechte sterben, wenn Ihr mir nicht endlich zuhört und Euren Verstand gebraucht, statt nur dummes Zeug zu reden. Wir haben nicht viel Zeit!« So unmittelbar vor ihm stehend fiel es ihr schwer, einen halbwegs klaren Kopf zu behalten. Da waren so viele Dinge auf einmal, die auf ihre Sinne einwirkten. Aber unter all dem Schmutz und dem getrockneten Blut, dem Schweiß und den menschlichen Ausdünstungen eines Mannes, den man seit Tagen zu zermürben versuchte, indem man ihm
auch die geringste Annehmlichkeit verweigerte, war da noch etwas anderes. Eine subtile Anziehungskraft, eine vertraute Wärme, die ihre eisigen Fingerspitzen erreichte und den Panzer schmelzen ließ, hinter dem sie ihre geheimsten Gefühle auch vor sich selbst verbarg. Georges de Pontivy sah in die tiefgrünen Augen, die bei dieser Beleuchtung wie das Dunkel eines Tannenwaldes wirkten. Augen, die einen Mann gefangennahmen und ihn dazu verleiteten, Vernunft und Vorsicht zu vergessen. So wie er es verhängnisvollerweise bereits einmal getan hatte. Er wußte es, und der Mann, der ihn gefangenhielt, ebenso. Hatte er diesen Umstand ins Kalkül gezogen? »Es wäre ihm zuzutrauen, daß er dich genau deswegen zu mir geschickt hat, nicht wahr?« setzte er seinen Gedankengang laut fort. »Er will mich dazu verleiten, Dinge zu verraten, die mir bei klarem Verstand nie über die Lippen kommen würden. Er täuscht sich. Freilich bin ich nicht der Mann, der einen kühlen Trunk ablehnt, allein weil er danach dafür bezahlen muß...« Ehe Aimée begriff, was die rätselhafte Bemerkung bedeutete, spürte sie seine Lippen auf ihrem Mund. Sie erstarrte, aber nur einen kleinen Herzschlag lang, dann gewannen ihre eigenen Lippen Leben. Sie beantworteten den heftigen, hungrigen Druck mit der gleichen Wildheit. Sie merkte nicht, daß die Bartstoppeln über ihre Haut kratzten und daß seine Hände die sorgsam gezupften Stoffwölkchen ihrer modischen Ärmel zerknitterten. Alle ihre Empfindungen konzentrierten sich nur auf diesen Kuß. Es war ein Kuß, bei dem alles andere unwichtig wurde, der etwas Unbekanntes, Elementares in ihr weckte und wie von selbst dazu führte, daß sie sich nicht mehr gegen seinen Griff sträubte. Im Gegenteil, ihre Arme schlössen sich um seinen Nacken, und alles Widerstreben wich aus ihrer Gestalt. Die süße Hingabe ihrer Zärtlichkeit überrannte mühelos die eiserne Kontrolle des Mannes. Der zarte Duft des Rosenöls, der von ihrer Haut aufstieg, mischte sich mit der überraschenden mädchenhaften Frische ihres Mundes. Sie war so weich, so entgegenkommend und verlockend, daß sein männliches Verlangen jede Vernunft im Keim erstickte. Die seidigen Locken ihrer Haare fielen wie ein Streicheln über seine Hände. Er griff mit allen zehn Fingern hinein, ohne seine Lippen von den ihren zu lösen. Geschmeidige Seide, ein lebendiger Schleier, der unwillkürlich die Frage aufwarf, wie sie wohl aussehen würde, wenn sie nur mit diesem Mantel bekleidet war. »Wie ist es dir nur gelungen, all diese Herrlichkeit unter den schäbigen Kleidern einer Magd zu verbergen?« hörte Aimée seine Frage aus der Ferne, während sie heftig nach Atem rang und mit den Fingerspitzen ihre Lippen berührte, die sich anfühlten, als seien sie zwischen zwei Mühlsteine geraten. Mit leichter Verzögerung begann ihr Geist wieder zu arbeiten. Die Frage konnte nur eines bedeuten. Er glaubte ihr immer noch nicht. Er hielt sie für eine Betrügerin, die man auf ihn angesetzt hatte, für eine Verräterin, die ihn absichtlich in eine Falle gelockt hatte. »Es waren meine eigenen Kleider, verdammt! So hört mir doch zu!« brauste sie in einem Anflug ihres alten Temperaments auf, das unter den Ereignissen beträchtlich gelitten hatte. »Hat/ ich Euch nicht gesagt, daß all diese Seide nur geliehene Pracht ist? Ich kenne den Mann nicht, der uns gefangenhält. Ich bin in Dieppe aufgewachsen, und die wichtigsten Menschen, die ich dort gesehen habe, waren Reeder, Ratsherren und Bürger. Mit Herren von Eurem Schlage hatte ich noch nie zu tun!« Der Graf musterte das wutentbrannte schöne Gesicht mit den flammenden Augen und konnte nichts anderes als völlige Aufrichtigkeit in ihm entdecken. Entweder war sie eine begnadete Schauspielerin, oder sie sprach die Wahrheit. Eine andere Möglichkeit schien es nicht zu geben. Allein, welche davon sollte er wählen? »Hat er dir diesen Ring gegeben, damit du einen Grund hattest, mich anzusprechen?« Die Hartnäckigkeit, mit der er sich weiterhin weigerte ihr zu glauben, kränkte Aimée. Sie verabscheute Lügen. Sie log nie, nicht einmal wenn es darum ging, Unheil von sich selbst abzuwenden.
»Dieser Ring ist das einzige Erbstück, das mir von meiner toten Mutter geblieben ist«, entgegnete sie mit spröder Stimme. »Glaubt mir oder laßt es bleiben.« »Du hast mich mit dem Wappen der Herren von Termignon in diese Falle gelockt«, erinnerte er sie heiser. »Es gibt keine Mutter, die das Recht hätte, ein solches Schmuckstück an dich zu geben. Dieser Ring gehört seit Anbeginn unserer Familie dem Grafen von Termignon. Nur er reicht ihn an seinen Erben weiter. Eine Frau hat damit nichts zu tun...« Aimée zuckte unter dem höhnischen Klang dieser arroganten Rede zusammen. Eine Frau hat damit nichts zu tun. Welch eine Unverschämtheit! Wer brachte sie denn zur Welt, diese auch so wichtigen Herren von Termignon? »Nenne mir doch den Namen dieser Mutter, die du ständig erwähnst!« setzte er hinzu, als sie so hartnäckig schwieg. »Ich weiß nicht, wer meine Mutter war oder wie sie hieß«, mußte Aimée zugeben. »Ich weiß nicht einmal, wer mein Vater war. Ich habe all die Jahre den Falschen dafür gehalten.« »Das kommt in den besten Familien vor«, spottete Georges de Pontivy, während er trotz allem noch mit der Rechten spielerisch eine ihrer Locken berührte. »Zum Donnerwetter, glaubt Ihr, ich hätte meine kranke Schwester dieser Gefahr ausgesetzt, wenn nicht die blanke Not mich getrieben hätte?« fauchte sie wütend und riß die Locke so heftig aus seinem Griff, daß ein paar Haare zwischen seinen Fingern blieben und ihre Kopfhaut schmerzte. »Richtig, die Kleine«, erinnerte er sich. »Was ist mit ihr geschehen?« Aimée senkte die Lider, damit er den Schmerz in ihren Augen nicht sah. »Dasselbe, was mit Euren Männern passiert ist und was auch mit uns geschehen wird...« »Welch düstere Prophezeiung«, sagte er ruhig und hob ihr Kinn mit dem Finger an. Aimée spürte seinen Blick wie eine Berührung, obwohl sie ihm weiterhin hartnäckig den Augenkontakt verweigerte. »Es tut mir leid, wenn deine Schwester auf diese schreckliche Weise umgekommen ist. Aber so wie es aussah, hat ihr das vielleicht nur überflüssiges Leid erspart. Sie schien mir sehr krank zu sein...« Das unerwartete Mitgefühl in seinen Worten trieb Aimée die Tränen in die Augen. So sehr sie auch um Beherrschung kämpfte, sie konnte nicht verhindern, daß eine Träne nach der anderen unter ihren Wimpern hervorrann und über die Wangen perlte. »Es sind immer die Unschuldigen, welche die Zeche bezahlen müssen«, fügte er nun hinzu. »Aber ich bin sicher, daß der Himmel gerade mit ihnen ein besonderes Einsehen hat. Deine Schwester ist jetzt glücklicher, dessen darfst du gewiß sein...« Aus der Tatsache, daß er sich die Mühe machte, sie zu trösten, entnahm Aimée, daß er sich entschlossen haben mußte, ihr zu glauben. »Ich werde für sie beten«, erwiderte sie heiser. »Aber es wäre besser, Ihr würdet Euch um Euer eigenes Leben sorgen. Der Seigneur, der uns gefangengenommen hat, ist höchst interessiert daran, ob Ihr all diese Waren wirklich aus England über den Ärmelkanal gebracht habt. Er wollte ständig die Bestätigung von mir, daß Ihr in Wirklichkeit aus Spanien gekommen seid. Ich sollte ihm sagen, welche Städte Ihr aufgesucht habt, wen Ihr dort gesprochen und wo Ihr gewohnt habt...« »Du solltest ihm das sagen?« »Er hielt mich für Eure Komplizin«, erläuterte Aimée das Offensichtliche. »Und warum wählst du die Vergangenheit für diese Feststellung?« »Weil er eingesehen hat, daß ich ihm all diese Dinge nicht sagen kann.« Georges de Pontivy fuhr sich nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger über sein stoppeliges Kinn. »Was will er dann von Euch?« »Er ist nach wie vor davon überzeugt, daß ich zu Euch gehöre und daß Ihr...» Sie brach ab und begann von neuem. »Nun, er nimmt irrtümlich an, daß ich Euch zumindest ein wenig bedeute. Er ließ sich nicht vom Gegenteil überzeugen, obwohl ich mich redlich bemüht habe, dieser Annahme zu widersprechen.«
»Kein Wunder.« Das schon vertraute spöttische Lächeln geisterte um die Lippen des Grafen. »So wie du aussiehst, müßte ein Mann schon blind oder Methusalem persönlich sein, damit du ihm nichts bedeutest. Und wie gedenkt unser unerquicklicher Freund, diese Tatsache für seine Zwecke zu nutzen?« Aimée preßte die Handflächen vor der Taille zusammen und zwang sich den Anflug von Panik zu unterdrücken, den der bloße Versuch in ihr auslöste, die Drohung auszusprechen. »Er will bis morgen bei Sonnenaufgang Eure Informationen. Andernfalls wird er mich foltern lassen und Ihr sollt dabei zusehen...« »Teufel aber auch!« Aimée runzelte verwirrt die Stirn. Es war nicht ganz die Antwort, die sie erwartet hatte. Konnte es sein, daß da eine kleine Spur widerwilliger Anerkennung mitgeschwungen hatte? »Er nimmt weiter an, daß Euer ritterliches Ehrgefühl dies nicht zulassen wird, daß...« Aimée wußte nicht mehr weiter. Wozu auch? Sie hatte alles gesagt. Und dieser Mann hatte keine Veranlassung, ihretwegen sein Schweigen zu brechen. »Deswegen hat er dich wie ein Geschenk geschmückt und verpackt«, nickte der Graf bedächtig. »Ich soll mir ansehen, was auf dem Spiel steht. Dieser Mann scheut nun wirklich keine Gemeinheit, um den Namen Termignon für immer auszulöschen, das muß ich ihm zugestehen. Ein Jammer, daß ich ihn bisher nicht ernster genommen habe.« »Ich bin schuld, daß er Euch überwältigen konnte«, flüsterte Aimée und sprach endlich die Gedanken aus, die ihr seit dem unliebsamen Besuch im Folterkeller nicht mehr aus dem Kopf gingen. »Wenn Ihr mir nicht gefolgt wärt, wenn ich mich Euch nicht aufgedrängt hätte... Ohne meine Ablenkung hätte er Euch nie gefangengenommen. Ich weiß, daß wir ohnehin sterben werden, aber...« Sie rang die Hände und schaute ihn endlich wieder an. Er konnte die Spuren ihrer Tränen sehen, während ihre Lippen bebten. »Ich habe Angst vor all diesen Dingen, die er mit mir machen wird. Versprecht mir eines: Ehe er mich zur Folter holt morgen... werdet Ihr mich töten?« »Dich töten?« wiederholte er völlig fassungslos. »Warum sollte ich das tun? Und womit? Denkst du, man hätte mir eine Waffe gelassen?« »Nehmt Eure Hände!« Aimée ergriff die starken, schmalen Kriegerhände und legte sie um den eigenen Hals. »Sie sind kräftig genug, um ein Mädchen vom Leben zum Tod zu bringen. Erfüllt mir diese Bitte! Ich kann's nicht ertragen, daß mich der Henker auf die Streckbank legt! Ich will wenigstens meinen Stolz ins Jenseits retten! Es hält mich ohnehin nichts mehr. Ich begrüße den Augenblick, in dem Ihr zudrückt!« Georges de Pontivy sah sie bestürzt an. Sie meinte es ehrlich, das wußte er instinktiv. Er spürte die seidige Glätte ihrer Haut unter seinen Handflächen, aber auch die Anspannung ihres verkrampften Körpers. Sie war wild entschlossen, ihr Leben fortzuwerfen. Es kümmerte sie entweder nicht, was sie zurückließ, oder es gab tatsächlich niemanden mehr, an dem ihr etwas lag. Seltsamerweise begann er in diesem Moment, ihre Erklärungen wenigstens teilweise zu glauben. Kein Mensch konnte eine so schmerzlich würdevolle Ergebenheit in ein unausweichliches Schicksal einfach vorspiegeln. Was hatte man diesem schönen Geschöpf angetan, daß es nichts Besseres mehr mit seinem Leben anzufangen wußte? Wer hatte sie in dieses dumme Spiel aus Ehrgeiz und Haß verwickelt? »Schscht!« beruhigte er sie, wie er es mit einem jungen Kätzchen getan hätte, das er vor dem Ertrinken retten wollte. »Niemand wird es wagen, dich zu töten, meine Schöne! Ich gebe dir mein Wort darauf. Es wäre ein Verbrechen, diese wunderbare Haut zu verletzen, diesen schönen Körper zu quälen und diese bezaubernden Augen zum Weinen zu bringen...« »Oooh...« Aimée konnte nichts anderes sagen, denn seine Hände begleiteten diese Aufzählung, und sie vergaß darüber zu atmen.
Sie streichelten über ihre bloßen Schultern, liebkosten die verführerische Wölbung ihres Dekolletes. Sie strichen spielerisch über ihre gewölbten Brauen und berührten die halb geöffneten Lippen. Sie woben ein zärtliches Netz um ihre verstörten Sinne. »Soviel Schönes sollte man lieben und nicht aus dummer Rachsucht zerstören. Komm, meine Schöne, schenk mir deine Lippen. Küß mich...« Dieses Mal ließ er sich mehr Zeit, den bezaubernden Mund zu kosten. Er tupfte kleine, hauchzarte Küsse die Konturen entlang und ließ damit ein Lächeln in ihren Mundwinkeln entstehen, von dem sie selbst nichts wußte. Die Liebkosung fächelte über ihre Wangen, berührte die Lider und küßte die letzten Spuren ihrer Tränen und ihrer Verzweiflung von der Schläfe. Aimées Gedanken und Empfindungen zerstoben wie ein Blätterhaufen, mit dem der Herbstwind spielte. Sie wollte protestieren, allein sie wußte nicht, wie sie es anfangen sollte. Sie fand weder das richtige Wort noch die richtige Geste, und im Grunde ihres Herzens wollte sie auch nicht, daß er damit aufhörte. Es fühlte sich wie eine höchst wunderbare Flucht aus der Wirklichkeit an. »Du mußt keine Angst vor mir haben!« Aimée hätte ihm nur zu gerne geglaubt, aber die Erinnerung an das Foltergewölbe flackerte wieder auf. »Was habt Ihr ihm angetan, daß er Euch so schrecklich haßt?« stellte sie ihm dieselbe Frage, die sie auch dem anderen gestellt hatte. »Eine alte Geschichte von Familienfehde und Haß. Man sagt, ein Termignon ist daran schuld, daß seine Familie vom Hofe des Königs verbannt wurde. Ich habe die Angelegenheit im Gegensatz zu ihm nie besonders ernst genommen. Ein Fehler, ich weiß, aber wir werden versuchen, ihn zu korrigieren...« »Wie wollt Ihr das fertigbringen bis zum Sonnenaufgang?« flüsterte Aimée. »Ein Abend und eine Nacht können ein ganzes Leben sein, meine Schöne!« raunte er vielsagend und umfaßte ihre schmale Taille. Die untergehende Sonne schickte ein letztes feuriges Aufglühen durch das karge Turmgemach, streute Gold über Aimées Haut und betonte die ausgeprägten Wangenknochen des Männergesichts, das sich mit einem Lächeln über sie neigte, das ihr Herz aus dem Takt brachte. Es war schrecklich schmutzig und unrasiert, aber ihr Herz setzte aus bei seinem Anblick. 7. KAPITEL »Was tut Ihr? Ich bitte Euch...« Aimée wehrte die Hände ab, die an den Schnüren und Schlaufen ihres Gewands nestelten, aber es schienen viel mehr als nur zwei zu sein. Sie waren schneller als sie, und überall hatten sie die Schlingen schon gelöst. Der Gürtel aus den goldenen Gliedern lag bereits wie eine glänzende Schlange im zertretenen, schmutzigen Stroh, das die Steinquader des Bodens bedeckte. Georges de Pontivy antwortete mit einem leisen Lachen, aber er ließ sich nicht von seinem Tun ablenken. Er gedachte, keine Minute mehr zu verschwenden. »Ich mache das, was der Herr dieser Festung von uns erwartet. Er hat dich genau in dieser Absicht zu mir geschickt. Ich soll die ganze Süße deiner entzückenden Person kosten, damit ich ja nicht in Versuchung komme, versehentlich meinem Vasalleneid zu folgen. Du bist sein liebenswürdiger Köder für meine Ehre, hast du das noch nicht begriffen?« »Also werdet Ihr ihm sagen, was er hören will?« wisperte Aimée abgelenkt. »Alles immer schön der Reihe nach. Was er von mir erfahren wird, ist die Sache von morgen. Heute hat er mir die Gunst deiner Anwesenheit geschenkt, und ich werde sie nutzen, meine gefällige Schöne!« Aimée, ebenso unerfahren wie ratlos, versuchte ihn davon abzuhalten, ihr das ohnehin großzügige Dekollete' des Kleides einfach über ihre Schultern zu schieben. Es
gehörte sich nicht, was er da tat! Aber gleichzeitig war da eine rebellische Stimme in ihrem Inneren, die ihr riet, das Leben mit beiden Händen festzuhalten, ehe es zu Ende ging. Was zählten in ihrer bedrängten Lage Dame Simones strenge Ratschläge in bezug auf Sitte und Anstand? Hatte Simone nicht selbst jede Moral verraten, indem sie die Ziehkinder ihres Bruders rücksichtslos auf die Straße setzte? »Sträube dich nicht, du willst es doch ebenso wie ich«, durchschaute er ihre Gedanken und schob die störenden Hände sacht zur Seite. »Denkst du, ich kann nicht erkennen, wenn eine Frau meine Zärtlichkeiten schätzt?« Ein völlig überraschender Anflug von blankem Zorn verdunkelte Aimées Augen. Mußte er ausgerechnet jetzt davon sprechen, daß er die Abenteuer in den Armen von Frauen schätzte? Daß sie nicht mehr als eine von vielen für ihn sein würde? »Ich kann mit Eurer reichen Erfahrung nicht mithalten, aber ich bitte Euch...« »Worum, mein wütendes Kätzchen? Um meine Zuneigung? Du besitzt sie bereits! Um ein wenig Zerstreuung? Ich werde unter diesen unerfreulichen Umständen mein Möglichstes tun. Komm, bleib nicht so steif, wir haben Zeit bis weit nach Mitternacht. Weshalb sollten wir sie nicht zu unserem beiderseitigen Vergnügen nützen?« Die glatte, dicke Seide des schweren Kleides rutschte mitsamt dem Hemd über Aimées Oberarme, und sie verdeckte mit einem entsetzten Laut ihre blanken Brüste hinter Armen und Händen. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie, daß der Graf seinen schmutzigen Umhang, der ihm wohl als Zudecke gedient hatte, mit der sauberen Seite nach oben über den Strohsack auf dem Brettergestell legte. Dann wandte er sich zu ihr um und hob sie mit einem geschickten Griff aus dem seidigen Wulst ihres Kleids. »Ich wünschte, ich könnte dir einen verschwiegenen Alkoven mit weichen Kissen bieten, meine Kleine«, raunte er verheißungsvoll und setzte sich mit ihr auf dem Schoß auf seine Liegestatt. »Aber wir werden uns mit den kargen Möglichkeiten meines Kerkers bescheiden müssen. Komm, du mußt nicht zittern, ich werde dich wärmen!« Er kam gar nicht auf die Idee, daß Aimée zitterte, weil sie vor lauter Panik nicht mehr wußte, was sie tun sollte. Sie konnte nicht einmal davonlaufen! Noch nie hatte sie ein Mann ohne ihre Kleider erblickt, und die ehrbare Erziehung von Dame Simone hatte nie ein Wort über die Dinge verloren, die Mann und Frau im Alkoven taten. »Wie schön du bist...« Den bewundernden Augen preisgegeben, wagte Aimée keine Bewegung. Lediglich eine feine, bläuliche Ader an ihrem Hals, die in wildem Rhythmus pochte, verriet ihre Anspannung. Oder war da noch etwas anderes unter dieser scheuen Furcht? Eine Art von glühender Erregung, die seltsame, fremde Wünsche und eigenartige Gelüste in ihr wachrief? Heißes Verlangen, das ihre Kehle austrocknete und dafür sorgte, daß sich jedes noch so feine Härchen auf ihrer Haut sträubte? Gütiger Himmel, es war sicher nicht richtig, daß ihr die Inbrunst in seinem Blick schmeichelte. Daß es ihr gefiel, wie er mit sanften Handflächen über ihren Körper fuhr, wie sie es nur einmal bei einem Steinmetz gesehen hatte, als jener eine Heiligenfigur am Kirchenportal von Saint Jacques vollendet hatte. »Ihr dürft das nicht tun«, murmelte sie, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. »Ich muß es tun, damit ich weiß, daß ich nicht träume«, antwortete er mit gedämpfter Stimme. »Weißt du überhaupt, wie schön du bist? Eine Venus aus Elfenbein mit einer Haut von feinster Seide. Du besitzt die Brüste und die schlanken Beine einer Göttin. Du gefällst mir, Aimée. Du bist die Gestalt gewordene Liebe, man hat dir den richtigen Namen geschenkt...« Seine Handflächen schlössen sich über den weichen Hügeln ihrer Brüste, und die harten Knospen der rosigen Spitzen drängten sich der Berührung geradezu entgegen. Aimée erbebte und zog scharf die Luft ein. Glühende Wärme drang von seinen Händen aus durch ihren ganzen Leib. Sie biß sich in einem kindlichen Versuch, die Beherrschung zu bewahren, in die Unterlippe. Pontivy sah es und strich bei einem sachten Kuß mit der Zungenspitze über die Reihe
der kleinen weißen Zähne, die sich mit einem Seufzer von der malträtierten Lippe löste. Er nahm die Gelegenheit wahr und drang mit der Zunge in die warme feuchte Höhle ihres Mundes, um den Kuß zu vertiefen. Er merkte, wie Aimée erst erschrak, sich zurückzog, aber es dauerte nicht lange, bis der leidenschaftliche Kuß ihren Widerstand besiegte. Ihre Zunge kam ihm scheu entgegen und fügte sich in das Spiel dieser Zärtlichkeit, wie es noch keine andere Frau je getan hatte. Sie schmeckte nach Frühling und frischer Minze, nach einem kühlen Trunk an einem heißen Tag. Er bekam nicht genug von ihr. Er wußte schon jetzt, daß er nie genug von ihr bekommen würde. Aimée entschlüpfte ein gehauchter Seufzer, als er ihre Lippen freigab und sie sacht auf das harte Bett drückte. Ihr blasser, feingliedriger Körper hob sich wie Elfenbein vom dunklen Seidenfutter des Umhangs ab. Ihre bronzefarbenen Locken ringelten sich um die Schultern, flössen auf den Boden und umkränzten das schöne Antlitz, als er sacht den goldenen Reif abstreifte, der sie bändigte. Dann küßte er den feinen rötlichen Abdruck, den er auf der Stirn hinterlassen hatte, und zog eine glühende Spur aus Zärtlichkeiten tiefer. Es drängte sie danach, mit den Händen den aristokratischen Kopf mit den dichten dunklen Locken zu berühren. Sie fühlten sich überraschend weich an. Man konnte die Finger darin vergraben, und erst als sie in die Nähe der Wunde geriet, die man ihm versetzt hatte, spürte sie das getrocknete Blut in den Haaren. Da war eine Schwellung und der Schorf einer verheilenden Wunde. Aimée glaubte den Schmerz in sich selbst zu fühlen. »Man muß die Wunde säubern...«, wisperte sie und erntete erneut jenes amüsierte Lachen, das so gar keine Angst und keinen Ernst kannte. »Es ist nicht die erste Schramme, die ich trage, meine Kleine! Man sagt mir den härtesten Schädel des ganzen Königreichs nach, also sorg dich nicht. Es bedarf mehr als einer lächerlichen Beule, um mich davon abzuhalten, dich zu lieben...« Den Lufthauch der letzten Worte spürte sie über ihren gespannten Brustspitzen, dann schlössen sich seine Lippen um eine der Knospen. Sie fühlte die streichelnde, neckende Bewegung einer Zungenspitze, die eine Welle der unvergleichlichsten, wunderbarsten Gefühle durch ihren ganzen Körper schickte. Heiße Feuerpfeile, die ein unbekanntes Ziel tief in ihrem Leib fanden, wo sie sich zu einer glühenden Kugel ballten, die immer größer und immer hungriger zu werden schien. Die unruhige, instinktive Bewegung ihrer Hüften leitete das Streicheln seiner Hand tiefer. Sie umfing die Wölbung ihres Pos, glitt über den straffen, schlanken Oberschenkel und kam an der Innenseite wieder noch oben. Als die Hand das lockige Dreieck aus rötlich weichen Härchen bedeckte, dort, wo sich ihre Beine trafen, entschlüpfte ihr der nächste hilflose Seufzer. Es gehörte sich nicht, daß er sie dort berührte, aber gleichzeitig mißfiel es ihr jedoch, daß er die Hand so ruhig hielt. Warum bewegte er sie nicht? Sie rieb unruhig die Oberschenkel aneinander und drängte sich gleichzeitig dem heißen Spiel seiner feuchten Zunge entgegen, die zwischen ihren Brüsten hin und her wechselte. Es kam ihr vor, als würden sie unter dieser Berührung wachsen. Die Haut spannte sich vor Wonne und reagierte auf jedes noch so sanfte Streicheln einer Fingerkuppe, einer Zungenspitze. »Kleine Hexe!« hörte sie von Ferne sein leises Lachen, aber sie war nicht fähig zu antworten. Sie stand in Flammen! Als sich die Hand in ihrem Schoß sacht zwischen die Beine drängte und dort auf Erkundung ging, erstarrte sie in einer Mischung aus Erschrecken und Wonne. Für einen Herzschlag lang linderte die Berührung das seltsam sehnsüchtige Brennen, das sie dort verspürt hatte. Dann jedoch schien das Verlangen nur noch größer zu werden. Die Finger, die sacht die benetzten Tiefen ihrer Weiblichkeit erkundeten, glitten wie auf warmem Öl in unbekannte Tiefen und verursachten ein Gefühl, von dem sie im ersten Moment nicht sagen konnte, ob es Lust oder Schmerz war. Es war neu, aufwühlend, überwältigend, sie wollte nicht, daß es jemals wieder aufhörte. »Oh, ja, bitte...« flüsterte sie erschüttert, und die Antwort hauchte er belustigt über ihre empfindsamen Brustwarzen.
»Geduld, meine Kleine! Wir haben alle Zeit der Welt, uns zu lieben. Nicht so geschwind... Genieße es... Hat dir noch niemand gezeigt, daß es mehr gibt als die hastige Vereinigung der Körper? Die Leidenschaft ist ein Spiel, das der Meisterschaft bedarf...« Ein Finger schob sich sacht in ihren Körper, und sie erstickte den eigenen Aufschrei, indem sie die Zähne fest in ihre geballte Faust hieb. Das fremdartige Auf und Ab dieser Berührung brachte sie um den Verstand. Es fachte das Feuer in ihr noch weiter an und machte sie erst recht unruhig und seltsam gierig. Es war, als hätte eine fremde Macht von ihr Besitz ergriffen. »Du bist so wild und lüstern, daß du einen Heiligen in Versuchung führen könntest«, hörte sie ihn lachen. »So gib mir wenigstens einen Moment Zeit, meine Kleider auszuziehen...« Die Dämmerung hatte die Kammer eingehüllt, und als Aimée die Augen aufschlug, sah sie nur die Konturen einer hohen Gestalt, die sich mit flinkem Griff aus Wams und Hosen schälte, ehe sie zugleich warm und seltsam hart und knochig ihren heißen Körper berührte. Im ersten Moment zuckte sie davor zurück, dann empfand sie unvermitteltes Vergnügen an dieser intimen Berührung. Sie spürte etwas Warmes, Fremdes, Hartes, das sich gegen ihre Hüfte drängte und wieder verschwand, als sie auf den Rücken gerollt wurde. Jetzt spreizte er sanft ihre schlanken Beine, um sich dazwischen zu knien. Während Aimée sich noch bemühte, ihre aufgepeitschten Sinne zu einem vernünftigen Gedanken zu sammeln, spürte sie jene Härte bereits in ihrem Schoß. Der kurze Anflug von Wirklichkeit zerstob unter dieser Berührung. Aimée wurde nur von dem einen unbezähmbaren Verlangen beherrscht, die Berührung tiefer und heftiger in sich zu spüren. Sie wölbte sich ihr entgegen, und es fiel ihr gar nicht auf, daß Pontivy plötzlich stutzte, weil er auf ein unerwartetes Hindernis getroffen war, mit dem er nicht gerechnet hatte. »Du bist...«, begann er und verharrte mit einem Keuchen mitten in der Bewegung. »O bitte, nicht... hört nicht auf...« murmelte Aimée heiser und schlang die Arme um seinen Nacken. »Ich ertrag es nicht!« Sie warf sich ihm entgegen, und ihre ungehemmte Leidenschaft machte alle guten Vorsätze des Mannes zunichte. Mit einem rauhen Aufstöhnen durchbrach er das Hindernis und erstickte ihren Aufschrei in einem hungrigen, schonungslosen Kuß. Bis sie wieder Luft bekam, hatte sich der Schmerz bereits gelegt, und sie glich sich instinktiv dem langsamen Hin und Her an, mit dem er sie zu schonen versuchte. Aber es war nicht Schonung, die Aimée suchte. Es war Erlösung, Vernichtung, totale Selbstaufgabe. Der Gipfel der Lust, dem sie hemmungslos entgegeneilte. Aimée wußte nicht, daß die drängenden, schluchzenden Laute, die sie von ferne vernahm, aus ihrer eigenen Kehle kamen. Da geschah etwas in ihr, das sich absolut ihrer Beherrschung entzog. Eine fremde Gewalt trug sie mit sich fort, während um sie her die Sterne in gleißendem Licht zerstoben. Die Welt ging unter, und sie taumelte mit ihr hinab in samtige, unendliche Dunkelheit. Sie hatte nie geahnt, daß der Tod so schön sein konnte! Obwohl auch er eine so intensive und rauschhafte Erfüllung wie noch nie zuvor gefunden hatte, bemerkte George de Pontivy die jähe Entspannung der winzigen Ohnmacht, die Aimée mit sich forttrug. Er barg sie in seinen Armen und betrachtete das rosig überhauchte Antlitz der stürmischen Liebesgöttin, die er da auf dem Hafenkai in Dieppe aufgelesen hatte. Welch ein Geschöpf! Ohne daß es ihm selbst bewußt wurde, schwor er sich in diesem Moment, daß er sie nie aus seinen Armen lassen würde. Eine Frau, die mit solcher Hingabe und Leidenschaft liebte, war ein Wunder. Man mußte es hüten und vor jeder Gefahr beschützen. Aimée tauchte aus der völligen körperlichen und seelischen Erschöpfung ihres ersten Liebeserlebnisses wie aus den Tiefen eines urzeitlichen Schlummers auf. Nach und nach begannen ihre Sinne wieder zu arbeiten. Als erstes spürte sie die auffallende Empfindsamkeit ihrer Haut, die absolute Entspannung ihres Leibes. Das leichte Brennen zwischen ihren
Beinen, die Fülle der zärtlich verwöhnten Brüste, deren Spitzen sich in die krausen Haare einer Männerbrust drückten. Dann war da eine Hand, die ihr Gesäß umspannte und sie gegen die harten Linien eines anderen Körpers drückte, der sich ihren eigenen Formen anpaßte. Ein kaum hörbarer Seufzer weitete ihre Lungen, und sie spürte federleichte Küsse auf ihren geschlossenen Lidern. Zärtliche Lippen, die den nächsten Seufzer von ihrem Mund pflückten. Eine Zungenspitze, die neckend über ihre Ohrmuschel tanzte. So wie es aussah, mußte sie sich der Wirklichkeit wieder stellen. »Könnt Ihr mir sagen, was das war?« platzte sie mit der ersten naiven Frage heraus, die ihr durch den Kopf schoß. »Ich dachte, ich sei gestorben!« »Deswegen nennt man es auch den ›kleinen Tod‹, wenn man auf dem Höhepunkt der Leidenschaft die Erfüllung findet«, beantwortete Georges de Pontivy die treuherzige Feststellung. Aber schon im nächsten Moment machte sein Lächeln einem Stirnrunzeln Platz. »Warum hast du mir nicht gesagt, daß du noch nie bei einem Mann gelegen hast? Habe ich dir weh getan? Das wollte ich nicht!« »Hättet Ihr mir denn geglaubt?« wisperte Aimée nicht ganz zu Unrecht. »Es wäre das erste Mal gewesen. Seit wir miteinander sprechen, mißtraut Ihr doch jedem Wort, das aus meinem Munde kommt.« Georges de Pontivy, Graf von Termignon, dachte nicht daran, sich dafür zu schämen. Im Gegenteil, sein unverwüstliches Lächeln tauchte wieder auf und wurde zum anzüglichen Grinsen. »Ein kluger Mann hütet sich davor, den Worten einer verführerischen Dame unbesehen Glauben zu schenken, schöne Aimée. Es ist eine Maxime, die mir bisher viel Ärger erspart hat...« Es war nicht die Antwort, die sie sich erwartet hatte, und die Art, wie sich ihr Körper versteifte, verriet noch mehr als ihr gekränkter Blick, über den sie blitzschnell die Wimpern schlug. Sie war zu feinfühlig und zu empfindsam, um in diesem Moment Scherze zu machen. »Aber vielleicht mache ich bei dir ja die eine oder andere Ausnahme«, bot er friedfertig an und küßte den grimmig aufeinandergepressten Mund. »Ihr werdet keine Gelegenheit mehr dazu bekommen, sobald die Sonne über dem östlichen Wald aufgegangen ist«, wisperte Aimée, der nach und nach die bedrückende Wirklichkeit wieder einfiel. »Werdet Ihr Euer Versprechen halten und mich vor der Folter bewahren?« »Schscht! Du hast keinen Grund, an mit zu zweifeln!« Ihr Zittern legte sich unter dem sinnlichen Streicheln seiner zärtlichen Hände. »Vergiß deine Ängste, diese Nacht gehört uns...« Aimée behielt ihre weiteren Zweifel für sich. Sie sah die schmale Lichtbahn, die der zunehmende Mond auf die brüchigen Strohreste auf dem Boden warf. Würde es das letzte Mondlicht sein, daß sie in ihrem kurzen, so tragisch endenden Leben sah? O, Gott! Sie wollte nicht daran denken! »Du brauchst dich nicht zu fürchten«, durchschaute Georges de Pontivy ihre düsteren Gedanken. »Warum vertraust du mir nicht einfach?« Es gab tausend und einen Grund dafür, aber Aimée nannte nicht einen. Sie ließ sich auf der trügerischen Wolke des Wohlbefindens nieder, die er ihr anbot, und übte sich einmal mehr in der Kunst, die Wirklichkeit zu verdrängen. Wie es schien, wurde sie eine Meisterin darin. Sie ahnte nicht, daß der Graf seinem Feind heimlich Dank sagte für die wunderbare Ablenkung, die er ihm in dieser Nacht geschickt hatte — die es ihm ersparte, das Verrinnen der Stunden am Stand des Mondes zu messen und sich um Dinge zu sorgen, die außerhalb seines Einflusses lagen. 8. Kapitel
Der schweigsame Mann sah beherrscht auf die reglose Gestalt hinab. Wären da nicht die quälend langsamen Atemzüge gewesen, man hätte meinen können, sie wäre bereits nicht mehr von dieser Welt. Sie bekam nichts von dem mit, was um sie herum geschah. Vielleicht war gerade das der Grund dafür, daß er sich so gerne in dieser Kammer aufhielt. Der steife, geschnitzte Lehnstuhl vor dem Alkoven war nicht besonders bequem, aber er verbrachte trotzdem Stunden darin. Stunden des ungestörten Nachsinnens in einer Gesellschaft, die sein Schweigen nicht störte. Der Medicus hatte gesagt, daß seine Kunst hier endete und daß man Gott die Entscheidung überlassen müsse. Er persönlich neigte nicht dazu, sonderlich viel Vertrauen in gerade diese Instanz zu setzen. Er teilte es der Kranken mit, in jenen langen Gesprächen, die er mit ihr führte, im beruhigenden Wissen, daß sie ihm nicht antworten konnte und vielleicht gar nicht hörte, was er sagte. Es fiel ihm einfach leichter die Dinge auszusprechen und zu ordnen, während sie reglos dalag. Ohne Bewußtsein, wie eine zarte, leicht rosig überhauchte Blüte einer Christrose auf jungfräulichem Schnee. Aber doch ein lebendes Wesen, das ihm die Illusion vermittelte, ebenfalls ein fühlender Mensch zu sein. »Auf Gott vertrauen«, lästerte er denn auch mit gedämpfter Stimme, die ihren unnatürlichen Schlummer nicht stören sollte. »Ein Märchen, mit dem die Pfaffen die Menschen besänftigen, damit sie es nicht wagen, in ihrem Unglück aufzumucken. Solange sie denken, daß Er dort oben für alles verantwortlich ist, müssen sie sich selbst nicht anstrengen, um ihre Situation zu ändern. Sie schieben die Verantwortung für ihre Fehler auf ihn ab und glauben, mit einem Gebet sei alles getan. Nimm nur diesen Medicus. Statt seine Pflicht zu tun und dir zu helfen, schiebt er den Himmel vor seine Unfähigkeit. Welch jämmerlicher Haufen die Menschen doch sind...« Das ruhige, zierliche Mädchen bewegte sich nicht, aber in seiner Starre glaubte der Mann doch so etwas wie einen Vorwurf herauszulesen. »Du hältst mich für zynisch? Eine völlig korrekte Beurteilung meiner Person. Ich habe gelernt, die Menschen zu durchschauen. Sie empfinden nur für ein einziges Wesen Zuneigung: Für sich selbst! Und die wenigen Narren, die das Rittertum hochhalten, wie Termignon, sind ohnehin zum Untergang verurteilt. Ich nehme an, der Dummkopf kann nicht zulassen, daß seiner kleinen, stolzen Dirne etwas geschieht. Er gehört zu diesen edlen Narren, die das schwache Geschlecht für schutzbedürftig halten!« Ein neuerliches, beißendes Lachen drang in die Ohren der reglosen Kranken, die wie das Steinbild eines Sarkophages auf dem Rücken ruhte. Das klösterliche steife Leinenhemd, das sie bis zum Kinn umgab, die sorgsam geflochtenen Zöpfe, die kindlich weichen Züge verliehen ihr eine Reinheit, die nicht einmal dem Mann verborgen bleiben konnte, der sie betrachtete, als wolle er jede Einzelheit genau prüfen. »Schutzbedürftig mögen vielleicht die Kinder sein«, fuhr er fort, als habe es die Pause des Nachdenkens nie gegeben. »Die Ahnungslosen. Sobald ihr jedoch die Macht entdeckt, die euch eure Weiblichkeit verleiht, werdet ihr zu Bestien. Zu Schlangen, die einen Mann, seine Ehre und seine Zukunft vernichten. Zu herzlosen Kreaturen, die ihre betrügerischen Ziele hinter falschem Reiz und lügnerischen Worten verbergen. Glaube mir, ich weiß, wovon ich rede. Es war eine solche Frau, die jede Freude und jedes Lachen aus meinem Leben getilgt hat...« Das Knistern einer Flamme im Kerzenleuchter ließ ihn abbrechen. Die Schatten um den Alkoven waren jene der tiefsten Nacht. Einer Nacht, die auch in seinem Herzen herrschte. »Aimée, wach auf, Petite! Es ist Zeit, zieh dein Kleid an. Es ist ein wenig zu prächtig für das, was wir vorhaben, aber ich kann dir nichts anderes verschaffen! Es wird reichen müssen.« Die leise raunende Stimme an ihrem Ohr drang in Aimées erschöpften Schlummer,
und mit einem Mal war sie hellwach. Ihr Herz raste, und das Blut dröhnte in ihren Ohren. Die Nacht war vorbei! Der Tag brach an! Der Tag, der ihr den Tod brachte! »Ist es soweit?« wisperte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Muß ich jetzt sterben?« »Närrisches Zeug!« erhielt sie zur Antwort. »Anziehen sollst du dich! Hier, dein Hemd. Beeile dich, wir dürfen nicht säumen...« Aimée wischte sich die wirre Wolke ihrer zerzausten Haare aus der Stirn und starrte auf ihren bloßen Körper. Mit einem Schlag war die Erinnerung an die vergangene Nacht wieder da und überflutete sie mit einer Mischung aus nachhallender Wärme und aufkommender Scham. Was hatte sie getan? Das erwähnte Hemd landete in ihrem Schoß, und sie befolgte mechanisch den Befehl, es überzuziehen, schon weil sie den Anblick der eigenen Nacktheit in diesem Augenblick nicht länger ertrug. Daß der Graf im Moment Wichtigeres zu tun hatte, als sich an ihrer Schönheit zu erfreuen, fiel ihr gar nicht auf. »Autsch... Verdammt! Welch modische Narretei«, hörte sie ihn unterdrückt schimpfen, und dann folgte ihr Gewand dem Hemd. »Erwarte um Gottes willen nicht, daß ich dir diese lächerlichen Ärmel feststecke. Ich bin keine Zofe, und es genügt mir, wenn ich mich einmal an diesem Nadelzeug gestochen habe!« knurrte er unwillig und machte sich daran, die eigenen Kleider überzuziehen und in seine langen Stiefel zu schlüpfen. Erst jetzt, als Aimée im Halbdunkel die winzigen Nadeln zu entfernen versuchte, erkannte sie, daß das schwache Licht vom Mond und nicht von der Sonne kam. Der Morgen, vor dem sie sich so geängstigt hatte, war noch gar nicht angebrochen. Im Gegenteil, dem Stand des Mondes nach zu schließen, mußte es kurz nach Mitternacht sein. Von überwältigender Schwäche erfaßt, war sie nach einem Sturm der Leidenschaft mit dem letzten Gedanken eingeschlafen, daß sie nie wieder aufwachen wollte. So abrupt aus dem Schlaf gerissen, begriff sie nicht, was um sie herum geschah. Weshalb sollte sie sich mitten in der Nacht ankleiden? Was hatte es mit der Dringlichkeit auf sich, die Georges de Pontivy plötzlich an den Tag legte? Warum... »Es bleibt uns genügend Zeit, deine Fragen zu beantworten«, las er all dies von ihrem ratlosen Gesicht ab. Aber keinesfalls im Moment! Hab" Vertrauen zu mir, mehr verlange ich nicht!« Vertrauen? Aimée verzog unweigerlich die Lippen. Sie hatte ihr Maß an Vertrauen verbraucht. Es war gänzlich verschwunden. Unter Simone Malivets Schuhen, im Sarg ihres vermeintlichen Vaters und unter den kalten Augen eines berechnenden Seigneurs in der Folterkammer dieser Burg. Sie zog mit zitternden Händen die Bänder zurecht, ehe sie nach einem der Ärmel griff. »Laß sie hier, ich kaufe dir ein Dutzend neue Ärmel, du mußt diesen nicht nachweinen! Zieh deine Schuhe an, das ist wichtiger!« »Was...?« Aimée brach nach der ersten Silbe wieder ab, denn in diesem Augenblick öffnete sich ganz langsam die Tür der Turmkammer, und ein Mann streckte suchend den Kopf herein. Ein dunkles, mit Ruß geschwärztes Gesicht, in dem nur die Augen funkelten. Eine große Hand auf ihrem Mund erstickte ihren Schrei und löste sich erst, als sie vergeblich um Atem rang und zappelte. »Unsere Rettung!« spürte sie seine Lippen mehr an ihrem Ohr, als sie die Worte hörte. Dann wandte er sich an den unverhofften Besucher. suchten ihre Arme und Beine den Halt um den sehnigen Männerkörper. Als er sich vorsichtig über die Brüstung schwang, sank ihr Herz voraus ins Bodenlose. Sie sah undeutlich, daß er schwere Lederhandschuhe trug, und schloß mit einem stummen Stoßgebet die Augen. Sie wollte gar nicht wissen, wie tief es nach unten ging und was geschehen würde, wenn es ihr nicht gelang, sich an ihm festzuhalten. »Ich ziehe dreimal am Tau, wenn ich angekommen bin«, hörte sie ihn einen letzten
Befehl erteilen. »Dann kannst du nachkommen und nun... Mit Gott!« Mit Gott? Aimée blieb das Gebet im Halse stecken, als sie das kräfteraubende Abwärts wahrnahm. Sie spürte die Anspannung der Muskeln unter ihren Händen, als er sich Armspanne um Armspanne nach unten hangelte; den Krampf, der seine Sehnen verhärtete, als auch die letzten Reserven verbraucht waren. Die keuchenden Atemzüge, gütiger Himmel, wie weit war es denn noch? Der unerwartete Ruck entlockte ihr einen leisen Schrei. Dann fühlte sie das rasende Abwärts, hörte den unterdrückten Fluch, roch das schwelende Leder. Unmittelbar darauf folgte ein harter Aufschlag auf rauhem Fels. Scharfe Steine kratzten über ihre bloßen Arme. Der Aufprall stieß Aimée die Luft aus der Lunge. Sie rollte schräg abwärts und blieb in kühler Feuchtigkeit liegen. Als sie ihre Benommenheit abgeschüttelt hatte, tat ihre Schulter mörderisch weh, zudem hatte sie sich auf die Lippe gebissen haben, weil sie Blut schmeckte. Neben sich vernahm sie eine Serie von leisen, aber höchst drastischen Flüchen. »Petite? Verdammt, hast du dir weh getan?« Aimée versuchte etwas zu sagen, aber sie brachte nur ein stimmloses Krächzen zustande. Wie es ihm gelang, sie nach diesem Laut in der ägyptischen Finsternis zu finden, war ihr ein Rätsel. Er zog sie hoch und sie spürte, daß sich ihre vollgesogenen nassen Röcke als kalte, schwere Fessel um die Knöchel legten. In ihrer Schulter tobte brennender Schmerz. »Kannst du laufen?« Laufen? Sie konnte kaum stehen! Aber er hielt sich ohnehin nicht damit auf, ihre Antwort abzuwarten. Während ein anderer Schatten mit katzengleicher Geschmeidigkeit neben ihnen auf die Beine kam, wurde sie bereits davongezogen. Stolpernd und keuchend schlichen sie im tiefen Schatten der Mauer vorwärts, wobei sie knöcheltief im Morast einsanken. Der geradezu bestialische Gestank, der diesen unerfreulichen Marsch begleitete, verriet Aimée unschwer, wo sie sich befanden. Man hatte den Burggraben abgelassen, wie man es von Zeit zu Zeit bei großen Festungen tat, um den Unrat aus dem Graben zu entfernen. Nur so war diese tollkühne Flucht überhaupt ermöglicht worden. Daß sie im Schutz der Bäume zwei gesattelte Pferde erwarteten, nahm Aimée bereits als selbstverständlich hin. Ihr Begleiter schien ebenfalls ein wenig Mühe zu haben, in den Sattel zu kommen, und die Art, wie er vorsichtig seine Hände um die Zügel schloß, bewies, daß auch er die Höllenfahrt in die Tiefe nicht unbeschadet überstanden hatte. Lediglich der Mann mit dem geschwärzten Gesicht warf sich mit der Geschicklichkeit eines Akrobaten auf sein Pferd und setzte sich an die Spitze ihres kleinen Trupps, den er in mörderischem Tempo durch den Wald leitete. Aimée fand sich vor Georges de Termignon auf dem Sattel, und sie hatte anfangs ihre liebe Not, sich an die unvermittelten Stöße dieses wilden Rittes zu gewöhnen. Es war das erste Mal, daß sie auf einem Pferd saß. Wenn sie in Begleitung ihres Vaters bisher ein Reittier benötigt hatte, so war dies ein zahmes Maultier mit einem hübschen Damensattel gewesen. Dies jedoch war ein geschmeidiger Hengst, der seinen Weg mit der Geschwindigkeit des Windes unter die Hufe nahm. Irgendwann gelang es Aimée jedoch, sich mit angeborener Anmut auf die Bewegungen des Tieres einzustellen. Die Schmerzen in ihrer Schulter milderten sich zu einem dumpfen Pochen, und ihr Kopf sank wie von selbst gegen die breite Brust des Reiters, zwischen dessen. Armen sie sich wenn schon nicht geborgen, so doch wenigstens in Sicherheit befand. Zum ersten Mal fand sie Gelegenheit, die Ereignisse, die sich wie ein Wasserfall über sie gestürzt hatten, zu bedenken. Es würde dem Herrn der Burg nicht gefallen, daß ihm seine Opfer im letzten Moment entkommen waren. Ob ihm das Scheitern seiner raffinierten Pläne wenigstens eine Gefühlsregung entlockte? Aimée hätte es gerne gewußt. Wie seltsam, daß sie keinen Haß für ihn empfinden konnte. Er hatte ihr Leben bedroht, sie in seine finsteren Machenschaften hineinzuziehen versucht. Auf seinen Befehl
hin war ihre Schwester gestorben. Grund genug, einen Mann zu hassen. Weshalb nur brachte sie es nicht fertig? Lag es an der völligen Betäubung ihrer Gefühle oder daran, daß sie all ihre Kraft für den Mann benötigte, in dessen Armen sie durch die Nacht ritt? Daran, daß sie sich noch nicht einmal entschieden hatte, ob sie ihn haßte oder liebte? Schon wieder Fragen, auf die es keine vernünftige Antwort gab! 9. KAPITEL »Au! Ihr tut mir weh!« Aimée versuchte, sich vor dem brennenden Schmerz in Sicherheit zu bringen, aber sie wurde gnadenlos festgehalten. »Halt dich ruhig, Mädchen! Dieser Branntwein ist zu schade, um ihn zu verschwenden!« Georges de Pontivy hielt Aimée unbarmherzig fest und gab ihr keine Möglichkeit, sich seinem Griff zu entwinden. Die verschrammte Wunde an ihrer Schulter trug nicht dazu bei, seine Laune zu bessern. Es kam ihm so vor, als könne er den brennenden Schmerz, mit dem der Alkohol den Schmutz und das Blut abspülte, am eigenen Leibe fühlen, und das erbitterte ihn noch mehr. Weshalb ging ihm alles, was Aimée betraf, so beklagenswert nahe? Sie war wirklich nicht die erste Frau, die ihm gefiel, und so wie er sich selbst kannte, würde er sie in kürzester Zeit gegen das nächste hübsche Wesen eintauschen, das ihn mehr reizte. Es war ohnehin närrisch genug, daß er sich auf diesem Ritt mit ihr belastet hatte, egal wie betörend er sie auch fand. Im Moment reizte ihn jedoch der ängstliche Blick, mit dem sie seine Samariterdienste verfolgte, bis aufs Blut. Es empörte ihn, daß sie ihm mit solchem Mißtrauen begegnete. Was hatte er ihr getan? »Was denkst du, was ich hier tue? Daß ich Vorbereitungen treffe, um dir deinen hübschen Hals durchzuschneiden?« erkundigte er sich griesgrämig. »Dann sagt mir doch, was Ihr da tut!« beschwerte sich Aimée mindestens ebenso schlecht gelaunt. »Weshalb tut ihr mir weh?« »Ich reinige diese Wunde«, entgegnete der Graf unwirsch. Sowohl ihr Verhalten als auch der Anblick ihrer verkratzten Haut erfüllten ihn mit steigender Verärgerung. »Du hast sie dir beim Sturz in den Burggraben zugezogen. Sie wird eitern, wenn der Schmutz nicht gründlich entfernt wird. Legst du Wert darauf?« Aimée verzog den schönen Mund. Aus den mittlerweile trockenen Säumen ihres ramponierten Kleids schien noch immer der gräßliche Gestank des morastigen Grabens aufzusteigen. Ganz zu schweigen davon, was alles in ihren Haaren kleben mußte, Vermutlich sah sie aus, als habe sie die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens auf dem Grund einer Kloake verbracht. »Es brennt«, verkündete sie mit einem deutlichen Unterton von Vorwurf in ihrer Stimme, als er endlich von der Wunde abließ. »Das mag ja sein«, räumte er ein. »Aber es ist immer noch besser, ein paar schmerzhafte Augenblicke zu ertragen, als eine vereiterte Wunde ausbrennen zu müssen. Du kannst von Glück sagen, daß Blavy in seiner üblichen vorhersehenden Art wenigstens ein paar Dinge in die Satteltaschen gepackt hat, mit denen wir uns jetzt behelfen können!« Aus den Augenwinkeln sah Aimée, daß er ein sauberes Tuch auf die gereinigte Haut legte, welches er zuvor dick mit einer gelblichen Salbe bestrichen hatte. Während er die Kompresse mit einer Binde quer über ihren Oberkörper festzurrte, spürte sie bereits die kühle, beruhigende Wirkung dieses Balsams, der endlich das ständige Pochen in ihrer Schulter verstummen ließ. Unwillkürlich beruhigten sich ihre Atemzüge. »Ihr solltet noch etwas für Eure Hände übrig behalten«, erinnerte sie ihn und lehnte sich mit der gesunden Schulter vorsichtig gegen den Baumstamm zurück, der ihr in diesem Lager die Stuhllehne ersetzte.
Seit sie sich von Blavy, dem geschickten Kletterkünstler, getrennt hatten, waren eine Nacht und ein Tag vergangen. Bei Helligkeit hatte Aimée in ihm den Mann erkannt, den sie im Hafen von Dieppe angesprochen hatte, als sie auf dem Banner das gleiche Wappen wie auf dem Ring entdeckt hatte. War das wirklich erst ein paar Tage her? Sie hatte vergeblich versucht, sich zu erinnern, wann sie Blavy zum letzten Mal gesehen hatte. Wie mochte es ihm gelungen sein, dem heimtückischen Überfall zu entkommen und die Flucht seines Herrn vorzubereiten? Sie hatte jedoch keine Gelegenheit bekommen, ihre Fragen zu stellen, da sie fast ununterbrochen im Sattel saßen und sich um die Mittagszeit des ersten Fluchttages ohnehin trennten. Niemand machte sich die Mühe, ihr den Grund zu erklären. Sie war auf ihre eigenen Vermutungen angewiesen, warum Georges de Pontivy wie von Dämonen gehetzt durch das Königreich Frankreich ritt. Hatte er Angst vor seinem Verfolger? Auf irgendeine Weise konnte sie sich das nicht vorstellen. Er machte nicht den Eindruck eines Mannes, der ein solches Gefühl überhaupt kannte. Er schien ohnehin die Fähigkeit zu besitzen, seine Empfindungen vollendet zu beherrschen. Sie vermochte nicht einmal ein Zeichen von Schmerz an ihm entdecken, als er seine Blessuren leidenschaftslos versorgte. Den verstauchten Knöchel ignorierte er bis auf ein schonendes Humpeln einfach, und die Hände, die aussahen, als hätte er ein Brandeisen angefaßt, bestrich er lediglich mit dem Balsam und schlang ein paar saubere Leinenbinden darum. Trotzdem führte er die Zügel mit voller Kraft und brach auch die kleinen Äste für das winzige Feuer ohne ein Zeichen merklicher Behinderung. Kein Wunder, daß sich der Mann, der ihn gefangengenommen hatte, keinen Erfolg von der Folter erwartet hatte. »Hier, trink und iß einen Bissen!« Aimée fuhr aus ihren Gedanken auf und betrachtete den Weinschlauch, der ihr hingehalten wurde, während die andere Hand einen Kanten Brot anbot. Dankbar griff sie nach beidem. Sie trank, ohne sich darum zu kümmern, daß der Wein wie Feuer in ihre Glieder fuhr, und grub anschließend die Reihe ihrer ebenmäßigen Zähne hungrig in das harte Brot. Unter halb gesenkten Wimpern sah sie ihm dabei zu, wie er seinerseits eine ähnliche Ration mit wahrem Heißhunger verschlang. Erst jetzt erinnerte sie sich daran, daß sie in seinem Verlies nicht einmal einen Wasserkrug gesehen hatte, von Nahrung ganz zu schweigen. »Er hat Euch hungern und dürsten lassen«, stellte sie ein wenig undeutlich fest, weil sie noch kaute. »Weshalb sind Eure Handelsgeschäfte und Reisen so bedeutsam für diesen Mann? Warum habt Ihr Blavy fortgeschickt? Damit er mögliche Verfolger in die Irre führt, die hinter uns her sind?« Georges de Pontivy zuckte wortlos mit den Achseln, ohne sein Mahl zu unterbrechen. Er hatte keine Lust, ihre Fragen zu beantworten. »Das bedeutet, Ihr wollt es mir nicht sagen oder Ihr haltet mich für zu einfältig, es zu begreifen«, faßte Aimée sachlich diese stumme, ablehnende Antwort zusammen. »Es liegt an meiner Selbstachtung, welches davon mir lieber ist.« »Plag sie nicht, deine Selbstachtung«, grinste er überraschend, und in der zunehmenden Dunkelheit blitzten seine Zähne. »Was willst du dich mit Fehden belasten, die ihren Ursprung weit vor deiner Geburt haben. Nutze die Zeit, dich auszuruhen, wir brechen auf, sobald der Hengst erholt genug ist...« »Also noch im Dunkeln«, stellte Aimée fest. »Ihr habt Angst, daß man uns verfolgt. Dafür muß es doch einen Grund geben. Es sind Menschen gestorben. Meine Schwester...« Sie sah, wie er den Kopf hob und prüfend ihren Blick suchte. Bildete sie sich das kurze warme Auffunkeln ein, oder handelte es sich lediglich um einen Widerschein des winzigen Feuers? »Es tut mir leid«, drang seine gedämpfte Stimme an ihr Ohr. »Ich konnte nicht ahnen, daß dieser Überfall geplant war. Hätte ich es gewußt, hätte ich euch nie erlaubt, mich zu begleiten. Wenngleich ich gestehen muß, daß ich trotz allem meinem Schicksal noch
dankbar bin. Es hat dich am Leben gelassen...« »Ihr geht leichtfertig über Menschenleben hinweg, die anderen teuer sind«, entgegnete Aimée niedergeschlagen, ohne auf das versteckte Kompliment einzugehen. »Ich wollte Floralie in Sicherheit bringen. Nichts schien mir wichtiger zu sein, als Dieppe zu verlassen und sie nicht dem Spott und der Verachtung auszusetzen, welche die nächsten Tage für uns gebracht hätten. Allein, ich habe ihr Schlimmeres angetan. Ich habe sie geradewegs in den Tod geführt...« »Warum mußtest du die Stadt so überstürzt verlassen? Wir beide wissen nun, daß du dir deinen Lebensunterhalt nicht als Dirne verdient hast, weshalb also diese Flucht um jeden Preis? Was steckt dahinter? Ein Dienstherr, den du bestohlen hast? Eine Herrin, der du zu schön geworden bist? Oder hast du einfach die günstige Gelegenheit ergriffen, dir einen wohlhabenden Beschützer zu besorgen?« Aimée gab einen seltsamen kleinen Laut zwischen Lachen und Schluchzen von sich, der ihr die Kehle verengte. Sie fuhr sich mit den Fingerspitzen durch die wirren, offenen Haare, die so dringend eines Kamms oder einer Bürste bedurften, welche sie beide nicht zur Verfugung hatte. Sie spürte, wie ihre Trauer aufs neue dem Zorn wich. Wie selbstherrlich er doch war. In seinen Augen gab es keinen ehrenhaften Grund für ihre Handlungen. Für ihn war sie im günstigsten Fall ein leichtfertiges Ding, das sich aus weiblicher Torheit in Schwierigkeiten gebracht hatte. »Glaubt, was Ihr wollt«, seufzte sie unwillig. »Die Wahrheit ist, daß meine Schwester und ich schlicht nicht mehr erwünscht waren. Der Mann, den wir für unseren Vater hielten, hat uns vor vielen Jahren bei sich aufgenommen und als seine Töchter ausgegeben. Nach seinem Tode stellte sich heraus, daß wir es nicht sind. Wenn überhaupt sind wir namenlose Findelkinder. Ausgesetzte Säuglinge, unerwünschte Bastarde, zum Tode verurteilt von einem Mann, der Euer Wappen getragen hat!« Bis zum letzten Satz hatte der Graf von Termignon in einer Mischung aus Verblüffung und Unglauben zugehört, dann konnte er nicht länger schweigen. »Welch absurde Behauptung! Wer hat dir derlei Unsinn eingeredet? Der letzte Graf von Termignon ist unverheiratet und ohne eigenen Erben gestorben. Er wurde nie einer Edeldame angetraut. Mein Vater — sein jüngerer Bruder — trat das Erbe an. Meine Mutter war seine einzige Gemahlin, und sie ist vor zwei Jahren gemeinsam mit meinen Schwestern ums Leben gekommen, als die Blattern in Paris wüteten. Es gibt in meiner Familie keine Menschenseele, die du eines solchen Verbrechens beschuldigen könntest, geschweige denn jemand, der dazu fähig gewesen wäre! Es geht nicht an, daß du mit dieser wilden Geschichte den Namen einer ehrenwerten Familie beschmutzt! Hör auf zu fabulieren!« »Und der Ring?« erinnerte Aimée in aufflammendem Trotz. »Was bedeutet der Ring?« »Weiß der Henker, wo du ihn gestohlen hast«, bekam sie zur Antwort. »Ich bin keine Diebin!« »Was noch zu beweisen wäre, meine Hübsche!« »Ich hasse Euch!« »Tatsächlich?« Inzwischen war es fast ganz dunkel, und die seltsam körperlose Stimme, die zwischen den Bäumen ihres kleinen Lagers schwebte, ließ Aimée in hilfloser Ohnmacht die Fäuste ballen. Das Feuer war bereits zu einem Häufchen Glut niedergebrannt und im plötzlichen Schweigen waren das leise Knistern des verglühenden Holzes und die Laute des Waldes zu vernehmen. Die vertraute Furcht, die sie stets unter Bäumen überfiel, lauerte am Rand ihres Bewußtseins, und sie versuchte schnell, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Der Ring! Wo war er überhaupt? In all dem Durcheinander hatte Aimée nicht mehr an ihn gedacht. Er war fort, und sie vermochte nicht einmal zu sagen, ob sie ihn schon beim Überfall auf dem Hochufer verloren hatte oder erst in der Burg. Sie debattierten um die Glaubwürdigkeit eines Beweises, den es längst nicht mehr gab! Welch ein Hohn! Georges de Pontivy brach die Stille als erster wieder. »Was treibt dich dazu, mir
dieses Jahrmarktsmärchen der ausgesetzten Kinder zu erzählen? Ich habe dich mitgenommen. Du hast mir Vergnügen bereitet, und ich gehöre zu den Männern, die einer gefälligen Frau durchaus dankbar sind. Du kannst auf mich rechnen; es ist nicht nötig, daß du mich zusätzlich verpflichtest!« Aimée schluckte krampfhaft. Die gefällige Frau dröhnte wie eine Glocke in ihrem Kopf. Als nächstes würde er das Wort käuflich verwenden! Hatte er denn nicht erkannt, daß ihr gar nichts anderes übriggeblieben war, als sich ihm hinzugeben? Daß sie im Bewußtsein, die letzte Nacht ihres Lebens zu verbringen, nur auf ihren Körper und nicht auf ihren Verstand gehört hatte? Oder lagen die Dinge ganz anders? Hatte er es erkannt und schamlos zum eigenen Vorteil genutzt? Natürlich! Deswegen hatte er ihr kein Wort von der geplanten Flucht verraten! Zorn flammte wie rotes Licht hinter ihren geschlossenen Augenlidern auf. Hätte sie in diesem Moment eine Waffe besessen, sie hätte sie bedenkenlos gegen den Grafen von Termignon gerichtet. Gegen ihn und den Rest der Welt! Wie hatte es nur geschehen können, daß sie von einem Tag auf den anderen von der ehrbaren Jungfer Malivet in ein lächerliches Spielzeug verwandelt worden war? In ein Geschöpf, dem man weder Glauben noch Respekt oder Freundlichkeit schuldete? In eine Dirne, deren einzige Hoffnung die Dankbarkeit eines befriedigten Mannes sein sollte? »Dankbarkeit, wie sie meiner Mutter zuteil wurde?« fauchte sie verbittert. »Wer hat eigentlich festgelegt, daß immer nur die Sicht der Männer für den Lauf der Welt bestimmend ist? Warum kümmert sich niemand um das, was die Frauen fühlen?« »Zum Henker, was verlangst du denn eigentlich von mir?« Georges de Pontivy riß die Geduld. Er war müde, seine Hände und sein Bein pochten um die Wette. Die unfreiwillige Fastenkur hatte auch seinen Nerven zugesetzt, und jetzt fand er sich unversehens wütenden Angriffen ausgesetzt, wo er in männlicher Ahnungslosigkeit auf Belohnung und Zärtlichkeit gehofft hatte. »Ich habe dir eben angeboten, mich um dich zu kümmern. Was willst du mehr?« »Ha!« Aimée warf ihm einen Blick zu, der die Kraft einer auflodernden Fackel besaß. »Und woher nehmt Ihr die Gewißheit, daß ich diesen Ring gestohlen habe? Weshalb seid Ihr Euch so sicher, daß ich eine Diebin bin? Ein liederliches Frauenzimmer, das zu jedem noch so üblen Mittel greift, um einen hochedlen Seigneur zu umgarnen? Was habe ich Euch getan, daß Ihr mir Stolz, Ehre und Rechtschaffenheit absprecht?« Es lag etwas in der tiefen, leidenschaftlichen Ernsthaftigkeit ihrer rauhen Stimme, das Georges de Pontivy beschämte Röte in die Stirn trieb. Welch ein Glück, daß die Dunkelheit diese Gefühlsregung verbarg. Es war nicht ratsam, diesem Mädchen zu zeigen, welche Macht es bereits über seine Gedanken und seine Sinne besaß. Er flüchtete sich in der Dunkelheit in das übliche Brummen, ehe er ihr — seiner Meinung nach — die Hand zur Versöhnung reichte. »Ich zweifle nicht daran, daß du ein gutes Herz hast, Kleines. Ich bin dir nicht böse. Ich habe Verständnis dafür, daß du in deiner Lage nach jedem Mittel greifst, um für dich zu sorgen. Ich will dir nur sagen, daß du es bei mir nicht nötig hast.« Aimée kam sich einmal mehr vor, als sei sie im vollen Lauf gegen eine Ziegelmauer gerannt. Ihre Stirn schmerzte, und das Dröhnen in ihren Ohren entstammte aus einer Mischung aus Hilflosigkeit und ohnmächtiger Wut. Was sollte sie tun? An wen sich wenden, wohin gehen, wenn niemand ihr glaubte? Wer gab ihr die Schwester zurück, die sie verloren hatte, indem sie den falschen Mann um Hilfe bat? Ein leiser Laut des Schreckens entfuhr ihr, als sich Georges de Pontivy neben ihr niederließ und sie ohne viel Federlesens in seine Arme zog. Sie sträubte sich, aber er ließ nicht locker. »Hör auf, dich zu widersetzen, Mädchen«, raunte er mit warmer Stimme an ihrem Ohr, hielt sie aber gleichzeitig so fest, daß sie ihm nicht entkommen konnte. »Hast du schon vergessen, wie du dich in meine Arme geschmiegt hast? In deinem armen Kopf geht es ein wenig durcheinander, aber ich möchte wetten, daß es im ganzen Königreich kein Mädchen
gibt, das leidenschaftlicher und hingebungsvoller zu lieben versteht als du. Vergiß, was geschehen ist. Du lebst, und ich kenne ein unfehlbares Mittel, dir zu beweisen, wie sehr du lebst...« Aimée spürte die Lippen, die ihre Schläfe liebkosten, die beruhigende Hand, die über ihren Rücken strich. Eine seltsame Magie schien von beiden Bewegungen auszugehen, ein Zauber, der wie flüssiges Feuer durch ihre Adern rann und die steife Kälte in ihr vertrieb. Sie wollte den Haß festhalten, die Wut und die Verzweiflung, aber sie vergaß, was sie eben noch gedacht hatte. Sie vergaß sogar, daß sie sich unter dem Blätterdach eines Waldes befand. Sie hatte mit einem Male das überwältigende Empfinden, daß sie mit einem Schlag genau an dem Platz angelangt war, wo sie hingehörte. Jetzt suchten die sanften Lippen ihren Mund. Es war keiner jener leidenschaftlichen Küsse, von deren Existenz sie bis vor wenigen Tagen keine Ahnung gehabt hatte. Dies war pure Zärtlichkeit, sanfte Überredung, eine Frage, die Antwort von ihrer Seite forderte. Eine Erwiderung, die ihre Lippen aus freiem Willen gaben. So hingebungsvoll und freimütig, daß kein Zweifel daran bestehen konnte, wie sie es meinten. Es hätte des kleinen, sinnlichen Seufzers gar nicht mehr bedurft, der sich tief in ihrer Kehle löste. »Ich hätte dich gleich küssen sollen«, hörte sie die leise, amüsierte Stimme des Grafen, während er liebkosend an ihren Lippen knabberte. Ihre Reaktion bestätigte ihn auf die erfreulichste Weise. »Es führt zu nichts, wenn Mann und Frau zu viele Worte verlieren...« Aimées klarer Verstand kämpfte auf verlorenem Posten gegen die begehrlichen Wünsche ihres jungen, hungrigen Körpers. Schlagartig schien er sich an die Freuden jener Nacht zu erinnern, die sie miteinander verbracht hatten. »Laßt mich...«, stöhnte sie und versuchte, die Hände gegen seine Schulter zu stemmen. Sie wollte nicht wieder in dieses Gespinst aus Hingabe und falschen Gefühlen gewickelt werden. »Ich kann das nicht! Ich bitte Euch, es gehört sich nicht...« »Schscht, mein Engel! Komm, wir wärmen uns gegenseitig in dieser kalten Nacht!« Aimée erschauerte unter der Hand, die sich zwischen ihre Körper schob und sich wie eine Muschel um ihre rechte Brust schloß. Sie spürte nur zu gut, wie sich unter dieser Berührung die Spitze verhärtete und verräterisch durch den Stoff drängte. Ihre Gegenwehr erstickte wie das verlöschende Feuer eines Köhlers. Sie ergab sich dem Streicheln seiner erfahrenen Hände, die Glut und Lust erschufen, wo eben noch Kalte, Angst und Abwehr gewesen waren, die wie geschickte Wegelagerer zwischen die ramponierten Spitzen des Ausschnitts schlüpften und die Halbkugeln umfaßten, die genau eine Hand ausfüllten. »Deine Haut ist weicher als die kostbarste Seide, meine süße Schöne!« hörte sie das Raunen seiner Stimme am Rande ihres Bewußtseins. Ihre aufgewühlten Sinne schienen mit gesteigerter Empfindlichkeit alles in sich aufzunehmen. Das Rascheln des Windes in den zarten Frühlingsblättern. Das leise Knistern kleiner Tiere in Moos und Unterholz, die sich auf ihrer Jagd im Dunkeln nicht um die beiden Menschen scherten, die sich dem uralten Spiel der Leidenschaft hingaben. Sie keuchte auf, als er ihr das Kleid über den Oberkörper streifte und die steifen Spitzen ihrer Brüste sachte mit den Fingerkuppen knetete. Seine Zunge umschmeichelte ihre Lippen, bis sie sich freiwillig öffneten und sich ihre Arme wie von selbst um seinen Nacken legten. Kühle Nachtluft strich über die erhitzte Haut ihres Busens, und sie erschauerte, als er sein Gesicht zwischen die seidigen Hügel preßte. Sie spürte die genießerischen Lippen, das leichte Kratzen der Bartstoppeln, und ein kleines Wimmern entrang sich ihrer Kehle, als sich sein Mund um die pralle Perle einer Brust schloß und vorsichtig daran saugte. Im Verein mit seiner Zunge sandte diese raffinierte Liebkosung Ströme puren Feuers durch Aimées Körper. Jede Berührung weckte nur den Wunsch nach mehr, und die spielerischen Bisse rissen sie in ein Wechselbad aus lustvoller Qual und unendlicher Wonne. Sie preßte seinen Kopf an ihr Brüste, ohne
auf den Schmerz in ihrer Schulter zu achten. Sie hörte das kleine, triumphierende Lachen kaum, mit dem Georges de Pontivy ihre heißblütige Erregung wahrnahm. Er kannte die Frauen, er liebte das wollüstige Spiel zwischen den Vorhängen eines Alkovens, und er traf so gut wie nie auf Widerstand, wenn er es sich in den Kopf gesetzt hatte, eine von ihnen zu erobern. Auch die stolze Anne de Fonsac in ihrer eleganten, kühlen Schönheit hatte ihm nicht widerstanden! Aber nicht einmal sie hatte eine so subtile Verführungskraft wie dieses wirklich reizende, ein wenig närrische Geschöpf, das er sich da in Dieppe eingefangen hatte. Wie sonst hätte er sie trotz ihrer schmutzig wirren Haare, ihrer dreckigen Kleider und ihrer spitzen Zunge derart begehren können? Vielleicht, weil noch keine Frau mit so unverfälschter Wollust auf seine Zärtlichkeiten reagiert hatte? Weil es ihm ein so unerhörtes Vergnügen machte, sie gegen ihren Willen in eine wilde Bacchantin zu verwandeln? Während er das raffinierte Spiel mit ihren schönen Brüsten fortsetzte, suchte eine seiner Hände zielsicher den Weg unter die Röcke. Er fand die seidige Wölbung ihrer Wade, das schlanke Knie und den angespannten Oberschenkel. Die Seufzer aus ihrem Mund und die unruhige Bewegung ihres Schoßes verrieten, daß sie die Eroberung sehr wohl zur Kenntnis nahm. Er drängte sich zwischen die weichen, feuchten Löckchen ihres Schoßes und traf wie erwartet auf keinen Widerstand. Aimée öffnete ihre Schenkel der forschenden Hand und kam ihr entgegen. Ihr Schoß pochte vor wildem Verlangen und nicht einmal die frische Nachtluft verschaffte ihr Erleichterung. »Gütiger Himmel, du bist fantastisch!« murmelte der Graf heiser und vergaß, wo sie sich befanden und in welcher Gefahr sie schwebten. »Ich muß dich besitzen, du bringst mich um jede Beherrschung!« Aimée spürte, daß er an seiner Hose nestelte und ihre Röcke hochzog. Ehe sie begriff, was er plante, hatte er sie herumgedreht und hochgehoben, so daß sie mit dem Rücken zu ihm saß. Er schob sie ein wenig höher, und sie mußte die Beine zu beiden Seiten seiner Oberschenkel auf die Erde stemmen, aber als er sie sacht wieder nach unten drängte, senkte sie sich ganz von selbst über den heißen, pochenden Schaft seiner Männlichkeit. »Oooh...« Dir leiser, verwirrter Seufzer verlor sich in einem sinnlichen Stöhnen. Aimée erzitterte bis in die Tiefen ihres Seins, dann schloß sich ihr Körper wie eine seidene Fessel um den Eindringling, der sich unaufhaltsam wie ein glühender Pfahl in sie hineinschob. Er würde sie durchbohren, zerstören, ermorden, aber noch während sie das dachte, rief die sanfte Reibung im Verein mit dem glühenden Dehnen einen Schauer purer Lust in ihrem Schoß hervor, ein so unbeschreibliches Gefühl der völligen Hingabe, daß es jedes andere Empfinden verdrängte. Aimée keuchte auf und überließ sich instinktiv dem wilden Rhythmus ihrer beiden Körper. Georges de Pontivy spürte das weibliche Beben, und seine Handflächen schlössen sich fester um die straffen, lieblichen Brüste, die in der Bewegung dieser Vereinigung nachwippten. Er spielte mit den hochempfindlichen Knospen, so daß sich ihm seine Geliebte mit aufgepeitschten Sinnen nur noch völlig ausliefern konnte. Es gab nichts, was sich mit dem Empfinden messen konnte, wenn sie eins mit ihm wurde. Wenn sich ihr Innerstes wie von selbst um ihn fügte und in sinnlicher Wonne zu zerschmelzen schien. Es war nicht von dieser Welt, was sie fühlte. »Ja, meine wilde, kleine Stute«, hörte sie eine rauchige Männerstimme von ferne, die sie in immer wildere Raserei trieb. »Wie herrlich du reiten kannst. Aaah...« Mit einem Aufschrei mischte sich die pochende Explosion in ihrem Inneren, und Aimée ließ sich so tief und fest über das Hindernis gleiten, daß sich sein Verströmen und ihr pulsierendes Erzittern wie eine einzige Bewegung anfühlten. Wie der gemeinsame Klimax einer Lust, die einem unerträglichen Schmerz schon sehr ähnlich war. Völlig haltlos sank sie langsam über ihm zusammen. Untrennbar an ihn geschmiedet durch das Band einer Ekstase, die keinen Anfang und kein Ende zu haben schien.
Sie merkte nicht mehr, daß der Mann sie irgendwann wieder in seine beschützenden Arme zog, ihre Röcke über sie breitete und sie beide mit seinem Umhang zudeckte. Die Erschöpfung hatte sie in einen tiefen Schlummer sinken lassen, der ihr die Illusion ermöglichte, dies alles nur geträumt zu haben. Georges de Pontivy hingegen sah in die Finsternis hinaus und entdeckte, daß er Mühe hatte, sich an das makellose Antlitz Anne de Fonsacs zu erinnern. Sie würde nicht erfreut darüber sein, wenn er sich eine Geliebte hielt. Sie würde es für eine Geringschätzung ihrer Schönheit halten, auf die sie so große Stücke hielt. Aber gleichzeitig wußte der Graf, daß er nicht auf Aimée verzichten würde. Nun, er würde sicherlich Wege und Mittel finden müssen, die beiden Damen voneinander fern zu halten. Immerhin trennten sie Welten von Herkunft und Stand, er würde also kein Problem damit haben. 10. KAPITEL »Schau! Dort ist Paris, die Hauptstadt des Königreiches!« Aimée verengte die Augen, um die Umrisse der Türme und Mauern schärfer zu erkennen, die schwerelos im Dunst vor dem Horizont zu schweben schienen. Von der tiefstehenden Sonne in ein unwirkliches, golden rötliches Licht getaucht, kam die Stadt ihr gar nicht wirklich vor. Eher wie die Darstellungen auf den gewirkten Bilderteppichen, die ihr Vater manchmal aus fernen Ländern bezogen hatte. Heilige Madonna, Monsieur Malivet war nicht länger ihr Vater. Wann würde sie aufhören, so an ihn zu denken? Es war Schwäche und Dummheit, sich an vergangene Träume zu klammern. Je eher sie damit aufhörte, um so eher würde sie vielleicht imstande sein, ihr neues Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Ihre ebenso stumme wie unbefriedigende Reaktion entlockte Georges de Pontivy einen aufgebrachten Fluch. Er mochte es nicht, wenn sie sich in dieses ferne Schweigen verlor, bei dem ihre Augen allen Glanz einbüßten und er den Eindruck gewann, daß nur eine leere Hülle vor ihm auf dem Pferd saß. »Was für ein seltsames Geschöpf du doch bist, Petite!« knurrte er. »Nun, immerhin befindest du dich mit deiner Mißachtung von Paris in hochwohlgeborener Gesellschaft. Unser König kann die Stadt auch nicht besonders gut leiden. Er mißtraut ihren Räten, begegnet der Universität mit Argwohn und feiert seine Feste lieber in Blois oder Fontainebleau!« Aimée gab auch hierzu keinen Kommentar ab. Der junge König erschien ihr noch ferner als die Sterne des Himmels, und von seinen Festen hatte sie in Dieppe nicht einmal Gerüchte gehört. Sie wußte nur, daß Franz erst in diesem Jahr seine Freiheit zurückerlangt hatte, weil er seine beiden kleinen Söhne dem König von Spanien als Geiseln zur Verfügung gestellt hatte. Arme Kinder, die nun um des Friedens willen in spanischem Gewahrsam lebten. Wie konnte ihr Vater Feste feiern, während seine Söhne in einem fernen Land heranwachsen mußten? Weshalb hatte er sich überhaupt in diese dummen italienischen Kriege eingelassen, die mit seiner Gefangenschaft geendet hatten? Mit einem neuerlichen Fluch nahm der Graf von Termignon ihr fortdauerndes Schweigen zur Kenntnis. Je näher er dieses Mädchen kennenlernte, um so mehr wurde es ihm zum Rätsel. Er hatte gelernt, Aimées Körper in Flammen zu setzen, aber er drang nicht bis zu ihrem Geist vor. Hinter der perfekten Maske ihrer ansprechenden Züge verschloß sie ihre Gedanken gänzlich vor ihm. »Halt dich fest«, riet er ihr knapp. »Ich beabsichtige, die Stadt vor dem abendlichen Schließen der Tore zu erreichen. Ich will keine weitere Nacht auf einer schlammigen Lichtung verbringen und vom Regen um meinen verdienten Schlaf gebracht werden.« Der kurze, aber heftige Frühlingsschauer, den er erwähnte, hatte sie beide bis auf die Haut durchnäßt, und Aimée fröstelte bei der bloßen Erinnerung daran. Immerhin hatte der
Regen den Schmutz des Schloßgrabens aus Kleidern und Haaren gespült, aber bis die Sonne beides wenigstens einigermaßen getrocknet hatte, war sie bereit gewesen ihr Leben in eine Jauchegrube zu verbringen, nur um nicht mehr zu frieren. Vielleicht war es ja tatsächlich ein Segen, daß Floralie diese Flucht nicht mehr erlebt hatte. Aimée zweifelte nicht daran, daß sie ihr Leben am Straßenrand ausgehaucht hätte. Sie umklammerte das Sattelhorn mit beiden Händen und bemerkte erst jetzt, daß sie die schmalen Schleichwege verlassen hatten. Sie befanden sich auf einer breiten, ausgefahrenen Landstraße, auf der unaufhörlich Karren, Fuhrwerke, Kutschen, Reiter und Menschen unterwegs waren. Bäuerinnen mit leeren Tragkörben, die vom Markt in der Stadt kamen und ihrem Dorfe zustrebten. Karren mit Brennholz und Vorräten, die in Richtung Stadt ratterten. Kaufleute, königliche Soldaten, Reisende und Pilger machten es dem Seigneur zwar schwer, sein forsches Tempo einzuhalten, aber anscheinend fühlte er sich nun in Sicherheit und fürchtete keine Verfolger mehr. Aimée mißfiel die Geschwindigkeit, mit der die Stadt an Konturen gewann. Plötzlich entdeckte sie, daß die Flucht trotz allem ihre Vorteile gehabt hatte. Solange sie unterwegs gewesen waren, hatte sie keine Entscheidung treffen müssen, ja, gar keine treffen können. Es war um das pure Überleben gegangen, aber nun? Diese riesenhafte Stadt, in der sie keinen Menschen kannte, glich einem Moloch, der sie zu verschlingen drohte. Viel zu schnell ragten die hohen Mauern eines wohlbewachten Stadttores vor ihr auf, und die Hufe des Pferdes klapperten über runde Pflastersteine auf den Sergeanten zu, der alle Neuankömmlinge mit grimmiger Miene musterte. Der Offizier und seine Männer ließen sich Geleitbriefe zeigen, prüften Wagenladungen und schnauzten Hausierer zusammen, die nicht schnell genug ihre Antworten stammelten. Aimée vermeinte im Lärm der Stimmen, der Wagenräder und Hufe den Schlag des eigenen Herzens zu vernehmen. Was gedachte ihr Begleiter diesen Männern zu sagen? Vermutlich war es nicht erlaubt, eine Frauensperson ohne Namen und Herkunftsnachweis in die Stadt des Königs zu schmuggeln... »Woher und wohin des Wegs!« bellte denn auch prompt der Sergeant, sobald er ihrer ansichtig wurde. Sein Blick glitt über Aimées ärmelloses Seidenkleid mit der zerfetzten Schulter. Er registrierte ihre wilden Haare ebenso wie den Reiter, der stoppelbärtig und hager keine Anstalten machte, seiner Autorität besondere Ehre zu erweisen. Zu Aimées Verblüffung streifte der Graf lediglich den Handschuh von der Rechten und hielt dem Mann die Hand hin. Erst in diesem Moment entdeckte Aimée, daß er plötzlich einen Ring trug. Woher hatte er ihn? Sie sah genauer hin. Es handelte sich um einen breiten Goldring, ähnlich jenem, den sie besessen hatte, nur daß dieser anstelle der Platte mit dem Wappen einen matten grünen Stein trug, in dessen Oberfläche etwas eingeritzt war. Sie vermochte nicht zu erkennen, ob ein Wappen oder ein Monogramm. Was es auch war, es hatte eine höchst verblüffende Wirkung auf den Sergeant. Der Mann trat zurück, entbot ihnen eine zackige Reverenz, nickte und gab ihnen mit einer Geste den Weg frei, ohne daß ein weiteres Wort zwischen ihnen gefallen war. Aimée grübelte über die Herkunft des Rings nach. Er mußte ihn irgendwo verborgen und erst an diesem Morgen übergestreift haben. An diesem Morgen, an dem sie zu durchnäßt, zu verstört und zu zerschlagen gewesen war, um überhaupt Fragen zu stellen. Zum Beispiel, ob sie die Ereignisse des Abends zuvor geträumt hatte oder... Nein, sie wollte nicht daran denken. Sie schob den Gedanken gewaltsam fort, aber der scharfe Schmerz einer demütigenden Erkenntnis ließ sich nicht so einfach verdrängen. Vielleicht hatte Simone Malivet mit der beleidigenden Beschreibung ihrer armen Mutter doch recht gehabt? Eine anständige Jungfer fand keinen Gefallen an solchen Taten und Träumen. Es mußte an ihrem Blut, ihrer Herkunft liegen, daß sie in Flammen stand, sobald dieser Mann sie küßte oder auf sinnliche Art berührte. Die Reaktion ihres eigenen
Leibes war mehr Beweis als jede Beschuldigung. So benahm sich nur ein leichtfertiges Straßenmädchen! Das böse Blut in ihren Adern trieb sie dazu, Dinge zu tun, die aller Ehrbarkeit widersprachen. »Vooorsicht!« Aimée konnte sich im letzten Moment an der Mähne des Hengstes festhalten, als der Seigneur de Pontivy das Tier so hart an der Kandare riß, daß es sich auf die Hinterbeine hob. Nur so entgingen sie dem übelriechenden Inhalt eines Ledereimers, den eine Bürgerin aus einem oberen Stockwerk in die Abflußrinne auf der Gasse kippte. Einmal mehr stellte sie fest, daß sie so tief in die eigenen widersprüchlichen Gedanken und Gefühle verstrickt gewesen war, daß sie die Wirklichkeit um sich herum völlig vergessen hatte. In diesen Gassen, wo die Häuser ihre Giebel so eng aneinanderduckten, daß kaum noch Licht dazwischen fiel, lebten also die Pariser! Aimée rümpfte die Nase und sah erst jetzt den breiten Strom des Unrats, der in der Mitte dieser Straße darauf wartete, daß ihn der nächste Regenguß in den nahen Fluß spülte. Sie vermißte mit einem Schlag den scharfen, salzigen Geruch des nahen Meeres. Den ständigen böigen Wind, der in Dieppe dafür sorgte, daß niemand durch solche Wolken von ekelerregenden Dünsten reiten mußte. Sie hatte die Stadt so fluchtartig verlassen, daß ihr erst jetzt zu Bewußtsein kam, wie wohl sie sich dort gefühlt hatte. Endlich weiteten sich auch diese Gassen auf einen Platz, in dessen Mitte ein Galgen stand, an dem die bedauernswerte Gestalt eines aufgequollenen Delinquenten baumelte, während rings um ihn her die Menschen ihrem Tagwerk nacheilten, als sei dieser Anblick etwas völlig Selbstverständliches. Sie fand immer weniger Gefallen an dieser Hauptstadt, die nur aus Enge, Dreck und Leid zu bestehen schien. »Schaut nicht hin«, riet ihr der Graf viel zu spät. »Der Profoß von Paris zögert nicht lange, wenn er einen Galgenvogel erwischt. Die Stadt zieht eine Menge Gesindel an.« Aimée schloß schaudernd die Augen. Gab es denn keinen Ort auf dieser Welt, wo man sie nicht mit Gewalt, Folter und Tod bedrohte? »Du bist müde und erschöpft«, hörte sie Georges de Pontivy an ihrem Ohr murmeln. »Halt noch ein wenig durch, dann wird für dich gesorgt.« Aimée hörte das Versprechen, aber sie machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Sie schrak erst auf, als der Graf sie mit einem einzigen Griff um die Taille nahm und mit sich aus dem Sattel hob. Sie hatte gar nicht bemerkt, daß sie den gewaltigen Torbogen eines prächtigen Gebäudes durchquert hatten. Er dehnte mit einem leisen Ächzen die verspannten Schultern und übergab sein Pferd einem diensteifrig herbeieilenden Stallburschen. Rings um sie wurden soeben die Pechfackeln und Laternen entzündet. Aimée sah bewaffnete Männer, prächtig gekleidete Damen und Herren sowie ein Heer von Knechten und Mägden, das an ihnen vorbeieilte, einem verschachtelten, riesigen Haus entgegen, dessen dunkle, hohe Umrisse vor dem dämmerigen Himmel aus Tausenden von verschieden hohen Türmchen zu bestehen schienen. »Komm, Kleines, wir sind am Ziel!« Der Graf faßte nach ihrem Arm und lief mit schnellen Schritten auf einen Seiteneingang zu. Aimée stolperte über die runden Steine des Pflasters und trottete mit der stummen Ergebenheit einer Verurteilten an seiner Seite dahin. Was sollte sie schon anderes tun? Die Pforte führte in einen breiten Gang, der mit quadratischen Platten ausgelegt war und in dem es bereits so dunkel war, daß sie nur schwer die Umrisse der Türen und Nischen ausmachen konnte, an denen sie vorbeihasteten. Viele Schritte, zwei Treppen und einen weiteren langen Gang später stieß Georges de Pontivy endlich eine der Türen auf. Auch hier brannte kein Licht, aber in einem großen Kamin loderte ein kleines Feuer, das für angenehme Wärme und ein wenig Helligkeit sorgte. Aimée ging wie magisch angezogen auf den rötlichen Schein zu. Sie beugte sich näher und reckte die eisigen Hände der Wärme entgegen, wahrend hinter ihr der Graf eine Kerze nach der anderen anzündete.
»Seigneur! Dem Himmel sei Dank, Ihr seid endlich da! Der König...« »Wie du siehst«, unterbrach die gelassene Stimme des Grafen die freudige Litanei des Lakaien, der auf seinem grünen Samtwams in feinster Stickerei das geteilte Wappen trug, das Aimée auf ihrem Ring entdeckt hatte. Erst auf den zweiten Blick gewahrte sie, daß es Blavy war, der in einer offenen Tür stand, die in einen Nebenraum führte, der noch kleiner und heimeliger wirkte als das Gemach, in dem sie sich befanden. Ein Blavy in der Livree des hochherrschaftlichen Dieners. Nur das verknitterte, faltige Galgenvogelgesicht war dasselbe geblieben, wenn es auch längst nicht mehr mit Ruß geschwärzt war. »Finde mir eine vertrauenswürdige, geschickte Magd, die das Amt einer Kammerfrau versehen kann. Sie soll dafür sorgen, daß es meiner Begleiterin an nichts fehlt. Danach kannst du dich um meine Wünsche kümmern. Ach ja, und vergiß nicht, auch für eine Mahlzeit zu sorgen. Husch, spute dich! Erkennst du nicht, daß die Demoiselle müde und hungrig ist?« »Die Demoiselle...«, glaubte Aimée ein leises Echo zu hören, das einwandfrei geringschätzig klang. Sie spürte, daß ihr trotz allem die Röte in die Wangen stieg. Sie gewöhnte sich nur schwer an die Verachtung, mit der man sie in diesem neuen Leben behandelte. »Wo sind wir?« wisperte sie tonlos und sah sich prüfend um. »In meiner Wohnung. Komm, setz dich in diesen Stuhl, die Kammerfrau wird sofort erscheinen. Du mußt völlig erschöpft sein...« Der Stuhl war gepolstert und wundersam weich. Aimée versank förmlich in ihm, und sie ließ vorsichtig die Fingerspitzen über den bestickten Samt der Kissen gleiten. Wie alles in diesem Raum, kündete er von Reichtum und Luxus. Die geschnitzten Balken der Decke formten rechteckige Kassetten, die von Künstlerhand mit bunten Blütenranken und Vögeln geschmückt worden waren. Die Wände bedeckte eine matt schimmernde Holztäfelung, und neben dem Kamin hing ein großer Bildteppich, der eine höfische Gesellschaft bei der Falkenjagd zeigte. Ein achteckiger, prächtig geschnitzter Tisch, um den vier geschnitzte Stühle gruppiert waren, stand vor dem dreigeteilten Fenster, dessen bleiverglaste Bogenscheiben den Abend aussperrten. Ein Schauschrank mit Silberschalen, Bechern und Krügen, mit Glas und anderen Kleinodien stand an der Wand, und die beiden geschlossenen Truhen zu beiden Seiten trugen verschlungene Eisenornamente, die Sicherheit und Schmuck zugleich symbolisierten. Monsieur Malivet hatte sein Vermögen in einer solchen Truhe verwahrt gehabt; wenn der Graf dies ebenfalls tat, dann übertraf er den Reeder an Reichtum. Aimée gewahrte all dies auf einer fernen Ebene ihres Bewußtseins, ohne daß sie dessentwegen etwas fühlte. Sie war weder beeindruckt noch neidisch. Sie stellte einfach nur fest. Es war Tatsache. Ein Seigneur, der in einem derart riesigen und verwirrenden Haus wohnte, mußte vermutlich so reich wie König Midas sein. »Hier, trink!« Ein Silberbecher schimmerte vor den Flammen, und der rote Wein, den er enthielt, wirkte in diesem Licht wie dickes, schwarzes Pech. Immer noch in jener täuschenden Lähmung verharrend, die Georges de Pontivy für Gehorsam hielt, griff Aimée nach dem Becher und nippte daran. Warm glitt der Wein durch ihre Kehle und entfachte in ihrem leeren Magen eine wohltuende Wärme. Ohne zu zögern, setzte sie ihn erneut an die Lippen und trank ihn in langen, durstigen Zügen aus. »Ich hoffe, du machst es dir nicht zur Gewohnheit, meinen guten Malvasier wie billigen Apfelwein in dich hineinzuschütten«, vernahm sie die amüsierte Stimme des Grafen, als sie ihm den Becher zum Nachschenken hinhielt. »Dann gebt mir Apfelwein«, erwiderte Aimée spröde. Sie war nicht in der Verfassung, angemessen auf spöttische Bemerkungen zu reagieren. Sie hatte Mühe, die Augen aufzubehalten, und irgendwann mußte sie einge-
schlafen sein, denn nun hörte sie das Geschnatter einer eifrigen Frauenstimme, von der sie nicht wußte, woher sie so plötzlich kam. »... Ihr werdet mit mir zufrieden sein, Seigneur! Es gibt keine bessere Kammerfrau im ganzen Palast. Unter meinen Händen ist schon manch ein Straßenpflänzchen zur noblen Dame erblüht.« »Es soll dein Schaden nicht sein, wenn du für das Mädchen sorgst!« hörte sie die Antwort des Grafen. »Sorg dafür, daß es sich erholt und wieder zu Kräften kommt. Ich verlasse mich auf dich! Und vergiß nicht, ich möchte keinesfalls, daß jemand sie außerhalb meiner Gemächer zu Gesicht bekommt. Ich wünsche auch keinerlei überflüssiges Getratsche darüber, daß sich der Graf von Termignon in weiblicher Gesellschaft befindet. Haben wir uns verstanden, gute Frau?« Und ob die gute Frau das verstand, immerhin hatte Blavy sie ausgesucht. Da sie zudem die Gerüchte um Anne de Fonsac und diesen Seigneur kannte, begriff sie sehr wohl, welch diskrete Anforderungen an ihre Arbeit gestellt wurden. Sie deutete einen respektvollen Knicks an und kam schnaufend wieder in die Senkrechte. »Bei der heiligen Genevieve, Ihr könnt Euch auf Mahaut Cyran verlassen, Seigneur! Mein Mund ist versiegelt, und mein Schweigen reicht bis über das Grab hinaus! Ich bin Eure gehorsame Dienerin.« Aimée preßte die Lippen schmal aufeinander. Es mißfiel ihr ausgesprochen, in welcher Art über ihre Person und ihr Schicksal verhandelt wurde. Die kurze Spanne der Ruhe und der Wein hatten wenigstens einen Teil ihrer Lebensgeister neu belebt. Sie stemmte sich aus dem Stuhl und bemerkte erstaunt, daß sich das elegante Gemach befremdlich um sie drehte. »Kommt, meine Schöne!« Eine dralle Person, über deren ordentlichem, schwarzem Wollgewand eine steif gestärkte Leinenhaube wie ein Segelschiff schwebte, ergriff ihren Arm und sorgte dafür, daß sie nicht das Gleichgewicht verlor. Aimée errötete vor Scham. »Mere Mahaut wird jetzt für dich sorgen! Wir werden die Rosen schon wieder auf deinen Wangen erblühen lassen, Kindchen!« Aimée versuchte sich sowohl der Hand wie auch der unerwünschten Vertraulichkeit der Kammerfrau zu erwehren. Aber sie hätte sich ebensogut der hereinbrechenden Flut in den Weg stellen können. Mere Mahaut dirigierte sie ins Nebenzimmer und von dort in eine dritte Kammer, ehe ihr ratloser Blick den Seigneur de Pontivy auch nur festhalten konnte. Immerhin bekam sie mit, daß er gar nicht daran dachte, ihr ein Abschiedswort nachzurufen. Er saß am Tisch, blätterte in irgendwelchen Papieren und bediente sich gleichzeitig von einem üppig gefüllten Tablett mit Speisen. Er hatte sie bereits vergessen, noch ehe sich die Tür richtig hinter ihr geschlossen hatte. Sie hätte erleichtert sein sollen, aber das Geräusch der zufallenden Tür traf sie bis in die Seele. Sie hatte sich an seine Gegenwart gewöhnt. Unwillkürlich drehte sie sich um. »Je nun, du wirst ihm schon wieder begegnen, Kindchen!« deutete Mere Mahaut diese sehnsüchtige Bewegung völlig richtig. »Es ist nun einmal eine Eigenschaft der hohen Herren, daß sie nicht immer Zeit für ein Mädchen haben. Im Augenblick ist das auch besser, so mitgenommen wie du aussiehst. Was hast du nur angestellt, um dieses schöne Gewand in ein solches Lumpenkleid zu verwandeln? Man könnte meinen, du hast dich mit irgendwelchen Schweinen im Koben gewälzt...« Das leicht atemlose, ein wenig heisere Geplauder der geschwätzigen Kammerfrau irritierte Aimée wie das beständige Summen einer aufdringlichen Fliege. Sie sah sich um und entdeckte die einladend zurückgeschlagenen Decken eines großen Alkoven. Wie an unsichtbaren Schnüren gezogen ging sie darauf zu. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Sie wollte schlafen und nie wieder aufwachen! 11. KAPITEL
Die Glocken der Stadt vereinten ihre unterschiedlichen Stimmen zu einem sonntäglichen Festgeläut. Es drang nach und nach in Aimées Bewußtsein und rief dort die verschiedensten Empfindungen wach, obwohl die Schläferin die Augen noch gar nicht geöffnet hatte. Als erstes war da Geborgenheit. Sie befand sich in den beschützenden Mauern einer Stadt, in der es viele Kirchen gab, in denen Gottes Lob gesungen wurde. Gleichzeitig indes drängte sich die letzte Erinnerung an Glockenklang dazwischen. Das dumpfe, getragene Geläut, mit dem Jacques Malivet zu Grabe getragen worden war. Unruhe ließ nun die Lider der jungen Frau flattern, und ein kaum hörbarer Seufzer löste sich von den blassen Lippen. Die Bilder schoben sich übereinander und wurden zu Floralies blassen, liebenswürdigen Zügen mit den fiebrig roten Flecken auf den Wangen. »Bist du sicher, daß dieser Mann uns helfen wird?« flüsterte die Kranke, und ihr Bild wich dem des schwarzlockigen Abenteurers, mit dem Aimée ihr Schicksal unheilvoll verbunden hatte. Weshalb hatte sie nicht auf ihre Schwester gehört? »Floralie!« Mit dem Namen der Schwester auf den Lippen fuhr Aimée von ihrem Lager hoch und sah sich verwirrt um. Sie strich sich überrascht die Haare aus der Stirn. Sie befand sich in einem luxuriös ausgestatteten Alkoven, dessen seidene Decken und weiche Daunenkissen in ihrer Unordnung von den friedlosen Träumen einer unruhigen Schläferin kündeten. Sie trug ein glattes weißes Hemd mit schlichtem Bortenbesatz, und jemand hatte sich die Mühe gemacht, ihre widerspenstigen Haare in einem Zopf zu bändigen, der sich jedoch wieder bereits zur Hälfte aufgelöst hatte. Durch die geschlossenen Samtvorhänge des Bettes drang ein leichter Dämmerschein, und Aimée schlug mit einer Hand den Vorhang zurück. Ihr Blick fiel auf die weit geöffneten Glasflügel eines Bogenfensters, die ein Stück blauen Frühlingshimmel umrahmten, der golden überhaucht von einem sonnigen Tag kündete. Die Nische unter diesem Fenster war mit bestickten Seidenkissen belegt, und der hohe Lehnstuhl davor war ebenfalls gepolstert und prächtig geschnitzt. Der Glockenklang, der sie geweckt hatte, drang zugleich mit einer frischen Brise in die Kammer, die nach Frühling, feuchter Erde und blühendem Flieder duftete. Aimée atmete die balsamische Luft in tiefen Zügen ein. »Du bist wach?« hörte sie in diesem Moment eine muntere Stimme. »Na, das wurde aber auch Zeit! Ist dir klar, daß du eine Nacht und fast einen ganzen Tag geschlummert hast, Mädchen? Sie läuten schon zur Vesper! Langsam habe ich mir Sorgen um dich gemacht.« »Wo...?« Aimée brach ab, räusperte sich und versuchte ihrer Stimme mehr Festigkeit zu geben, während sie die mollige Kammerfrau betrachtete, die nun die Fensterflügel zuschlug und den Frühling energisch wieder aussperrte. »Wo bin ich?« »Das weißt du nicht mehr?« Die steifen Flügel der Leinenhaube bebten entrüstet, während Aimée einer kritischen Musterung unterzogen wurde. »Nun ja, du warst erschöpft, das ließ sich nicht übersehen. Du befindest dich in den Räumen des Grafen von Termignon, Kind. Unser Seigneur hat dich meinem Schutz anvertraut! Man nennt mich Mere Mahaut, und ich kann dir versichern, daß du bei mir in den besten Händen bist.« Es sollte Aimée beruhigen, aber genau das Gegenteil war der Fall. Die lange, ungestörte Ruhe hatte endlich jenen Nebel aus Schmerz und dem Gefühl der Ohnmacht beseitigt, der sie in den vergangenen Tagen umfangen gehalten hatte. Aber noch wollte es ihr nicht so recht gelingen, die verschiedensten Bruchstücke der Ereignisse, die sich wild in ihrem Kopf durcheinander bewegten, in die richtige Reihenfolge zu bringen. Was war geschehen? Was hatte sie getan? »Floralie?« wisperte sie fragend. »Deine Freundin?« erkundigte sich die Kammerfrau neugierig. »Ich weiß nichts von einer Floralie. Der Seigneur sprach lediglich davon, daß ich mich um dich kümmern soll. So wie es aussieht, scheint er einen Narren an dir gefressen zu haben. Bisher hat er immer davon Abstand genommen, ein Mädchen deines Standes in seinen Haushalt aufzunehmen. Daß er sich ausgerechnet kurz vor seiner offiziellen Verlobung solche Schwierigkeiten einbrockt, ist mir ein Rätsel. Aber du hast auf jeden Fall dein Glück gemacht, soviel steht fest.«
Glück? Aimée verzog zweifelnd den Mund, aber im selben Augenblick erinnerte sie sich an das markante Abenteurer-Gesicht unter dem wilden, dunklen Haarschopf, an Küsse und an andere Dinge. Sie erschauerte und kreuzte unwillkürlich die Arme vor der Brust. »Du mußt nicht rot werden«, kommentierte Mere Mahaut die verlegene Glut, die in Aimées feine Züge stieg und irgendwo zwischen den gefältelten Borten des Hemds auslief. »Ein jeder versucht, das beste Stück aus dem Kuchen des Lebens zu erhaschen. Solange du jung und schön bist, hast du wenigstens im Austausch dafür etwas zu bieten. So, und nun Schluß mit dem Geplauder! Wir haben eine Menge Arbeit vor uns!« Etwas in Mere Mahauts Befehlston reizte Aimée wie eine falsch sitzende Schmucknadel an einem prächtigen Ärmel, die ständig piekste. Woher nahm die Frau das Recht, ihr Anweisungen zu erteilen? Hatte sie mit ihrer Schwester, ihrem Namen und ihrer Ehre auch das Recht verloren, über sich selbst zu bestimmen? »Vorwärts, Mädchen! Ich habe einen kalten Imbiß für dich vorbereitet, und danach scheint es angebracht, daß du ein ausgiebiges Bad nimmst. Auch um deine Haare müssen wir uns kümmern. Kein Mann liebt einen Schmutzfinken in seinem Bett, auch wenn er noch so hübsch ist!« In ihrer Ahnungslosigkeit hielt Aimée diese Bemerkung lediglich für den Hinweis darauf, daß sie im Bett des Seigneurs genächtigt hatte. Sie sprang mit einem leisen Laut des Entsetzens aus dem Alkoven. Wieder bei klarem Verstand wußte sie nur eines, sie sollte nichts mit ihm teilen und schon gar nicht die Laken. Da das prächtige Bett auf einer Empore stand, die man über zwei Stufen erreichte, stolperte sie prompt nach unten und konnte sich im letzten Moment an der rundlichen Mere Mahaut festhalten. »Gemach!« zeterte die Kammerfrau und schüttelte erneut tadelnd den Kopf mit der steifen Leinenhaube. »Gütige Mutter Gottes, mir scheint, das wird ein überaus schweres Unterfangen, bis ich aus dir eine Dame gemacht habe, die wenigstens über die einfachsten Manieren verfügt.« »Bemüht Euch nicht«, murrte Aimée trotzig und löste sich aus ihrem Griff. »Meinetwegen ist es nicht nötig, daß Ihr Euch diese Arbeit macht!« »Papperlapapp!« Mere Mahaut deutete auf ein kleines Tischchen, auf dem der angekündigte Imbiss stand. »Iß jetzt und versuch nicht, dich aufs hohe Roß zu setzen! Es ist doch immer das gleiche Elend mit euch Dirnen. Kaum habt ihr einen Edelmann in euren Fängen, glaubt ihr, daß ihr die Königin spielen könnt.« Sie stemmte die Arme in die molligen Hüften. »Du bist auf mich angewiesen, wenn du deine Position im Bett des Seigneurs behalten willst, mein Täubchen! Der Graf ist ein anspruchsvoller Edelmann, und du mußt mit den schönsten Damen des Hofes in Konkurrenz treten, eigentlich sogar mit der schönsten!« »Ich bin keine Dirne«, entgegnete Aimée mit solcher Überzeugungskraft, daß Mere Mahaut für einen Moment irritiert die Stirn runzelte. »Ich mach dir keinen Vorwurf aus deiner Profession«, kam die Kammerfrau zu dem Entschluß, daß Aimée sich dafür schämte. »Nicht ein jeder wird in Samt und Seide geboren, und ich bin die letzte, die einem hübschen Mädchen Übles nachredet, weil es die einzige Währung verkauft, die ihr der Himmel mitgegeben hat. Oder willst du mir einreden, daß du noch Jungfrau bist?« Die neuerliche Röte, die Aimées blasse Züge färbte, verriet mehr als jedes Wort. Sie war derlei freimütige Gespräche nicht gewöhnt. »Siehst du!« entgegnete Mere Mahaut befriedigt. »Und nun iß. Ich kümmere mich derweilen um den Badezuber.« Sie rauschte aus dem Gemach, ehe Aimée etwas sagen konnte. Für einen Moment schaute die junge Frau irritiert zwischen der Tür und dem Tablett hin und her. Dann gewann ihr knurrender Magen die Oberhand. Was auch immer sie unternahm, sie würde es erst bewältigen können, wenn sie nicht mehr diesen Hunger verspürte. Aimée griff nach den gefüllten Pastetchen, bediente sich bei den süßen Törtchen und
löffelte eine vanilleduftende Eierspeise. Sie ließ den verdünnten Wein stehen und trank die Gewürzmilch, die sie in einem gekühlten Tonkrug fand. In einem abgedeckten Schälchen entdeckte sie zudem eingelegte Rosinen und geschälte Nüsse in Honig. Die ungewohnten Köstlichkeiten knabbernd, wagte sie zaghaft, ihre Situation zu ergründen. Sie besaß nichts mehr. Keine weltlichen Güter, keinen Menschen, der zu ihr gehörte, kein Zuhause, keinen Namen. Nicht einmal mehr die Unversehrtheit der eigenen Person. Sie war nicht fromm genug, um diese himmelschreiende Ungerechtigkeit als Willen Gottes zu akzeptieren. Im Gegenteil, in ihr bäumte sich alles dagegen auf. Wenn sie etwas fühlte, dann war es Haß. Abgrundtiefer, wilder Haß. Ein so ausschließliches und stürmisches Gefühl, daß das Blut schneller durch die Adern kreiste und sich ihre Fäuste wie von selbst ballten. Falls Georges de Pontivy annahm, daß sie bei ihm blieb und seine Hure spielte, dann würde er sich täuschen! Lieber würde sie ins Wasser gehen oder sich vor die Räder des nächsten Fuhrwerks werfen, als ihm noch einmal zu erlauben, daß er sie anfaßte! Sie wollte fort! Egal wohin, nur fort! Doch sie scheiterte schon an der Pforte dieses Gemachs. Mere Mahaut hatte den Riegel vorgelegt, ehe sie gegangen war. Sie hatte gelernt, den jungen Damen zu mißtrauen, die man in ihre Obhut gab, und sie wußte sich vor dem Zorn der Herrn zu schützen, deren Vögelchen das Weite suchten, noch ehe sie entsprechend gerupft worden waren. Sie lachte nur über Aimées Schimpftirade, die sie bei ihrer Rückkehr empfing. »Diesen Palast wirst du erst verlassen, wenn der Seigneur es befiehlt, Mädchen!« entgegnete sie knapp und beschied den Mägden, die sie begleiteten, sich um Aimées Bad zu kümmern. »Was soll das heißen? Bin ich die Sklavin dieses Seigneurs?« rief Aimée in zunehmender Entrüstung. »Ich bin frei geboren, und niemand kann mich einsperren! Ich habe nichts verbrochen!« »Deine Geburt ist mir egal. Aber im Gegensatz zu dir habe ich gelernt, einem Befehl zu gehorchen! Ich soll mich um dich kümmern, und dich in eine Dame verwandeln. Nun hör auf mit dem nutzlosen Gezeter und zieh dich aus. Dort wartet dein Badewasser!« »Nein!« Aimée verschränkte die Arme vor der Brust und hob das kleine störrische Kinn. Sie hatte beschlossen, sich nichts mehr gefallen zu lassen. Weshalb auch? Die Tatsache, daß sie nichts besaß, bedeutete auch, daß sie nichts mehr verlieren konnte. »Nun gut.« Mere Mahaut zuckte gleichgültig mit den Achseln und setzte ihre rundliche Figur in Richtung Tür in Bewegung. Verwirrt sah Aimée ihr nach. Daß sie so schnell die Waffen streckte, ging nicht mit rechten Dingen zu. »Was habt Ihr vor? Warum geht Ihr?« erkundigte sie sich vorsichtig. »Ich besorge mir ein paar von den Pferdeknechten im Hof«, verkündete Mere Mahaut gelassen. »Denen muß ich nicht einmal ein paar Kupfermünzen für den Spaß geben, eine hübsche Hure zu baden!« Aimée schnappte nach Luft. »Das meint Ihr nicht im Ernst!« rief sie. »Entweder bist du in diesem Zuber, bis ich die Pforte erreicht habe, oder ich gebe dir Gelegenheit in Erfahrung zu bringen, ob ich es ernst meine oder nicht!« drohte die Kammerfrau. Aimée wich zurück, ihre Schultern sanken nach unten; dann griff sie mit zitternden Händen nach den Schnüren ihres Nachtgewands. Ohne die Kammerfrau ein einziges Mal anzusehen, schlüpfte sie aus dem Kleidungsstück und hockte sich mit angezogenen Beinen in den ovalen hölzernen Bottich, den man mit feinem Leinentuch ausgelegt hatte, damit sie sich nicht irgendwo einen Splitter zuzog. Das Wasser war unerwartet heiß und duftete angenehm nach Rosen, aber Aimée weigerte sich, die Wohltat zur Kenntnis zu nehmen, die durch alle ihre Glieder drang. Ihr Versuch, sich durchzusetzen, war kläglich gescheitert. Mere Mahaut war klug genug, die Sache nicht noch mit einem Kommentar zu verschlimmern. Sie gab den beiden Mädchen schweigend die gewohnten Befehle und über-
ließ es ihnen, das steife, widerspenstige Geschöpf zu säubern. Sie sah mit dem Kennerblick der Fachfrau, daß sich unter Schmutz und Stolz die feingliedrige Gestalt makelloser, angeborener Schönheit verbarg. Die langen, edel geformten Beine und Arme, der grazile, schlanke Körper, der an den richtigen Stellen die perfekten Rundungen aufwies, und der zierliche, anmutige Hals boten einen Anblick, der in seiner Vollkommenheit einfach atemberaubend war. Allerdings nur, wenn es ihr umgehend gelang, den störrischen Geist zu brechen, der unglücklicherweise dazugehörte. Aimée reagierte nicht auf das bewundernde Geflüster der Mägde. Sie kniff die Augen zusammen, als ihr beim Haarewaschen Seife und Schmutz in die Augen geriet, aber sie beugte nicht einmal den Hals, damit die Mädchen ihre Arbeit leichter tun konnten. Sie klammerte sich an das schäbige Restchen ihres Stolzes wie an einen letzten, verzweifelten Rettungsanker. »Wenn du so weitermachst, wirst du schneller wieder in der Gosse landen, als dir lieb ist!« drohte die gereizte Kammerfrau. Sie besaß genügend Menschenkenntnis, um ihre aufrührerischen Gedanken zu lesen. »Man möchte meinen, du bist ein hochedles Fräulein, dem man ein Unrecht tut. Bist du es denn?« Dummerweise brachte Aimée es nicht fertig zu lügen. Wenn sie zu solchen Mitteln griff, um sich Achtung zu verschaffen, würde sie endgültig den Respekt vor sich selbst verlieren. »Nein, das bin ich nicht!« »Dann vielleicht eine ehrenwerte Jungfer, deren verzweifelte Eltern sich die Augen um ihre entführte Tochter ausweinen?« »Laßt mich in Frieden!« »Aha«, entgegnete Mere Mahaut und stemmte mit ihrer Lieblingsgeste die Arme in die Gegend, wo früher einmal ihre Taille gewesen sein mußte. »Dann laß dir eines gesagt sein, mein widerspenstiges Fräulein: In diesem Raum wird getan, was ich sage!« Sie wartete auf einen Widerspruch von Aimée, der erstaunlicherweise nicht kam. Sie reagierte anders als all die anderen hübschen Mädchen, die sie schon unter ihre Fittiche genommen hatte. Ihr fehlte die Härte, die ihresgleichen sonst zu eigen war. Jenes Einfügen in ein Los, an dem man ohnehin nichts ändern konnte. Aber vielleicht war es auch gerade dies, was ihr jenen herzzerreißenden Hauch von Tragik verlieh, der einen Mann förmlich dazu zwang, sie beschützen zu wollen. Der sogar Mere Mahaut dazu veranlaßte, mit einem Friedensangebot zu enden. »Wenn du mir gehorchst, werden wir wunderbar miteinander auskommen. Laß dir gesagt sein, seine Gnaden, der Graf von Termignon, ist einer der attraktivsten und ehrenwertesten Männer des Königs. Wer unter seinem Schutz lebt, kann sich nicht beklagen! Und jetzt beuge den Kopf, damit die Seife aus deinen Haaren gespült werden kann!« Aimée bewies mit keiner Geste, ob sie Mere Mahaut verstanden hatte. Sie blieb sitzen, steif und mit zusammengekniffenen Augen. So als könne sie damit die Wirklichkeit aussperren. Georges de Pontivy sah von den Papieren auf seinem Arbeitstisch auf, als man die junge Frau in sein Kabinett führte. Er konnte einen leisen Ausruf der Bewunderung nicht unterdrücken. Mere Mahaut wußte, wie man die Schönheit einer Frau zur Geltung brachte. Aimée trug lediglich ein schlichtes Hauskleid in der Farbe blühender Veilchen. Der schwere Atlas schmiegte sich ohne Unterröcke an ihre schlanke Figur, und das Oberteil saß ohne Mieder so straff, daß jeder Atemzug die schöne Wölbung der Brüste betonte, die von einem viereckigen, schmucklosen Ausschnitt umrahmt den Blick wie magisch auf sich zogen. Um das ovale, feine Gesicht wellten sich ein paar rötlich schimmernde Löckchen, während die übrige Lockenflut von perlengeschmückten Kämmen an den Schläfen zurückgehalten wurde. Die langen, engen Ärmel bedeckten die Hände bis zum Fingeransatz, und im Schein der ersten Kerzen warfen Aimées lange Wimpern zitternde Fächer aus feinen
dunklen Schatten auf ihre hohen Wangenknochen. War sie an jenem Abend in seinem Gefängnis die Verführung in Person gewesen, so präsentierte sie sich jetzt als Verlockung schlechthin. Ihr Reiz gewann durch die Zurückhaltung und wurde noch gefährlicher und subtiler. Nichts an diesem Mädchen war gewöhnlich oder dirnenhaft. Zum ersten Mal erwog Georges de Pontivy in diesem Moment, ob ihre Geschichte nicht doch ein Körnchen Wahrheit enthalten könnte, so unglaublich sie klang. Mere Mahaut hatte sich längst schweigend zurückgezogen, als der Graf seine Musterung mit einem tiefen Atemzug beendete und Aimée ein bewunderndes Lächeln schenkte, das sie nicht bemerkte, weil sie hartnäckig auf den Boden starrte. »Wie schön du bist, Aimée!« hörte sie seine leicht heisere Stimme. »Wie ich sehe, hat die Ruhe dir gutgetan und die düsteren Wolken von deiner Stirn vertrieben. Komm, setz dich zu mir an den Kamin und trink ein Glas Malvasier mit mir, ehe wir zusammen speisen.« Das Bild, das er zeichnete, ließ Aimée unwillkürlich die Lippen aufeinanderpressen. Sie verweigerte sich dem Idyll des Paares vor dem Kamin. Sie waren keine Liebenden, die das Mahl miteinander teilten. Sie war das Spielzeug dieses arroganten, hochfahrenden Mannes, der dachte, daß er alles kaufen konnte und daß sie ihm gehörte, nur weil sie keinen Ausweg mehr fand. »Warum laßt Ihr mich nicht gehen?« fuhr sie ihn überraschend an und bedachte ihn mit einem zornigen Blick. »Gütiger Himmel, welch ein Vorwurf!« Er hob die flachen Hände in Schulterhöhe und schien sich prächtig darüber zu amüsieren, daß sie ihm Widerstand leisten wollte. »Gehen willst du? Wohin in aller Welt? Welch launisches Wesen du doch bist. In Dieppe hast du mich angefleht, dich mitzunehmen, und nun wünschst du genau das Gegenteil. Kann es sein, daß in deinem wunderschönen Kopf die Dinge ein wenig durcheinandergeraten sind?« Er machte sich lustig über sie. Kein Zweifel. Schon die Art, wie er nun mit diesen erhobenen Händen näher kam und sie anlächelte, sprach dafür. Sie roch den Hauch von Ambra und Irispuder, der von seiner eleganten Kleidung aufstieg, und fühlte die faszinierende Präsenz seiner Erscheinung, welche die Luft um ihn herum so schwer machte, daß sie kaum atmen konnte. Sie mochte es nicht, wenn er ihr so gefährlich nahe kam. Georges de Pontivy entdeckte die pochende Ader an ihrem Hals, den schnelleren Atem. Die instinktive Geste, mit der ihre Zungenspitze die trockenen Lippen befeuchtete. Er zog eine Reihe von Schlüssen daraus, die Aimée überhaupt nicht gefielen. »Du willst ja gar nicht gehen, meine Schöne!« raunte er kurz vor diesen Lippen, und Aimée verharrte hilflos wie das Rehkitz vor dem Jagdhund. Angst und Erwartung mischten sich auf merkwürdige Weise irgendwo tief in ihr. »Da ist etwas im Blick deiner Augen, das mir ganz andere Dinge sagt!« Gott im Himmel, hilf, daß er mich nicht berührt! Aimees stummes, konfuses Flehen erstickte schon unmittelbar darauf in einem genießerischen, kundigen Kuß, der ihre Lippen eroberte und wie von selbst dazu führte, daß sich ihre Arme um seinen Hals schlangen und sich ihr törichter Leib in seine Umarmung drängte. Genau das hatte sie verhindern wollen! »Nun, Aimée, meine schöne Liebste, willst du gehen? Dort ist die Tür...« Aimée brachte nicht einmal mehr die Kraft auf, den Kopf in die angegebene Richtung zu drehen. Das Blut dröhnte in ihren Ohren, und ihre Knie wurden weich. Dieses Mal freilich konnte sie die Reaktion weder auf ihre Angst noch auf ihre Erschöpfung schieben. Von dem Moment an, als er auf sie zugekommen war, mit diesem Lächeln in den Mundwinkeln, hatte sie gewußt, daß es geschehen würde. Daß sie wollte, daß es geschah. Es gab zwei völlig verschiedene Personen in ihrer Haut, die vollkommen unterschiedliche Dinge wollten. Die Schlimmere von beiden besiegte stets die andere, die Fromme, die Ordentliche, die Sittsame. Georges de Pontivy spürte die instinktive Hingabe ihrer Umarmung, die zärtliche
Leidenschaft ihres gleichzeitig so frischen und unschuldigen Kusses. Da war kein raffiniertes Zögern, kein Versuch, einen Mann hinzuhalten und vielleicht den kurzen Moment der Macht über ihn zu nutzen. Sobald er sie in die Finger bekam, hatte es ein Ende mit den dummen Kriegserklärungen, dem wütenden Funkeln und der angedeuteten Rebellion. Von wem hatte sie dieses herrische Gehabe nur abgeschaut? Es paßte so gar nicht zu einer Frau... »Wie mir scheint, bewegt sich dein Hunger in eine ganz andere Richtung!« raunte er in bewundernder Anerkennung und suchte mit streichelnden Händen die Konturen ihres anmutigen Körpers unter dem schweren Atlas des eng anliegenden Kleids. »Wer bin ich, daß ich dieses süße Flehen abschlagen könnte!« Ehe Aimée begriff, was mit ihr geschah, hatte er sie aufgehoben und trug sich durch das Kabinett. In einer Wolke aus hochgeschlagenem Atlas landete sie mit dem Rücken zwischen den Pergamenten auf dem Tisch. Direkt neben ihrem Kopf ragte ein silbernes Tintenfaß in die Höhe. Zwischen angespitzten Federn, Siegeln und eingerollten Pergamenten lag ein juwelenverzierter Silberdolch, mit dem der Graf die Siegel zu lösen pflegte. Was, zum Kuckuck, tat er mir ihr? Weshalb... Doch im gleichen Moment spürte sie bereits den sanften Druck zärtlicher Hände, die ihre Schenkel spreizten, und die Berührung eines heißen, begierigen, männlichen Glieds, das sich dreist und heiß in ihren Schoß drängte und dort keinen nennenswerten Widerstand fand, sondern nur verräterisch feuchtes Willkommen. »Nein!« flehte sie heiser und versuchte, sich der Begegnung trotz allem zu entziehen. »Bitte laßt mich, tut mir das nicht an. Ich...« Er lachte nur und machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten, denn ihr Leib verriet sie. Hitzig und verlangend schloß er sich um sein Begehren, und wie von selbst wölbte sich ihr Rücken, um die Bewegung zu unterstützen. Es war beileibe keine Vergewaltigung des Körpers, aber während die heißen Wellen sinnlicher Lust über Aimée hinwegbrausten und ihre Hände ziellos über die Gerätschaften auf dem Tisch glitten, bäumte sich ihr empfindlicher Stolz unter der neuerlichen, erzwungenen Niederlage auf. Er konnte ihren Körper bezwingen, aber nicht ihren Geist! In dem Moment, als Georges de Pontivy mit einem unterdrückten Stöhnen den Gipfel seines Verlangens erreichte und sich in den pochenden Tiefen ihres bebenden Körpers verlor, schenkte er Aimée nicht nur die höchste Lust, sondern auch die tiefste Erniedrigung. Verraten von sich selbst schloß sie die Augen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Die geborene Hure, die unter den Händen eines Mannes dahinschmolz. Dame Simone hatte recht behalten. Sie war schmutzig und verachtenswert. Es wäre besser gewesen, Jacques Malivet hätte sie auf der Lichtung des Waldes von Belloncombre ihrem Schicksal überlassen! Ihre unruhigen Hände umklammerten hilfesuchend den nächstbesten Gegenstand, den sie blindlings ertasteten. Es war der juwelenbesetzte Griff eines schmalen, tödlich scharfen Dolchs. 12. KAPITEL »Nun, mein Freund? Kann es sein, daß Euch die Mission, die Ihr in meinen Diensten so erfolgreich abgeschlossen habt, mehr beansprucht hat, als ich annahm? Ihr kommt mir blaß vor, und ich vermisse Eure übliche Konzentration auf das Wesentliche...« Georges de Pontivy benötigte seine ganze Selbstbeherrschung, um dem prüfenden Blick seines Königs standzuhalten. Mit seinen 33 Jahren verfügte Franz von Valois über scharfe Augen und eine angeborene Menschenkenntnis, die ihn Dinge erahnen ließ, die man lieber vor ihm verborgen gehalten hätte. Ganz besonders, wenn es sich wie bei dem Grafen von Termignon um einen Mann handelte, den er aus vielen gemeinsam verbrachten Jahren kannte. »Ich bitte um Vergebung«, zog der Graf sich vorsichtig aus der Affäre. »Wenn Eure Majestät mich unkonzentriert finden. Ich bin es nicht...«
Die Hügel der markanten langen Nase des Königs blähten sich in kaum hörbarem Schnauben. Er merkte es ebenso, wenn man ihn hinzuhalten versuchte. »Ich könnte es verstehen«, beharrte er auf dem Thema, das ihn im Moment sogar noch mehr interessierte als die Angelegenheiten Seiner Heiligkeit, des Papstes Clemens von Medici. »Man munkelt, Ihr hättet Euch von Eurer Reise ein kleines Schoßkätzchen mitgebracht, das Ihr in höchst eifersüchtiger Weise vor allen Blicken versteckt. Sollte an diesem Gerücht etwas Wahres sein, würde es zumindest Euer augenblickliches Desinteresse an dem täglichen Einerlei unserer Politik erklären.« Georges de Pontivy unterdrückte mit Mühe einen Fluch. Es war ein Fehler gewesen, Aimée in das Palais des Tournelles zu bringen, er hatte es längst geahnt. Aber da sein eigenes Stadthaus im Moment einer Baustelle glich, war ihm nichts anderes übriggeblieben. Er hatte die Umbauten zu Ehren seiner künftigen Gemahlin vor seiner Abreise angeordnet, und nun herrschten Baumeister, Steinmetze und Schreiner unter seinem Dach. Er kannte den König gut genug, um zu wissen, daß er ihm wenigstens einen Teil der Wahrheit verraten mußte, damit er nicht auf eigene Faust Nachforschungen anstellte. Wo eine schöne Frau im Spiel war, wurde die Neugier des Monarchen stets besonders gereizt. »Man übertreibt, wie üblich«, winkte er in perfekt gespielter Gelassenheit ab. »Mein kleines, unliebsames Abenteuer mit Damville hat mich mit der Verantwortung für ein einfaches Geschöpf geschlagen, das durch Zufall in unsere Auseinandersetzung verwickelt wurde. Es erschien mir für alle Beteiligten das beste, dafür zu sorgen, daß das Mädchen seinen Mund hält und nicht über Dinge plaudert, die besser vergessen werden.« Der König betrachtete stirnrunzelnd eines der Pergamente, die vor ihm auf dem Arbeitstisch lagen, ehe er die Arme vor dem prächtig bestickten grün-goldenen Wams verschränkte und sich in seinem Stuhl zurücklehnte. Er war noch nicht zufrieden damit, der Graf sah es. »Ist es möglich, daß Ihr zu diesem Zweck Gewalt anwendet, mein Freund?« »Gewalt?« Ein schmales, nicht besonders amüsiertes Lächeln glitt wie ein Schatten um den Mund des Monarchen. Er durchschaute, daß diese Frage nur Zeitgewinn sein sollte. »Erspart uns beiden das Katz-und-Maus-Spiel, Graf!« befahl der König knapp. »Weshalb solltet Ihr sonst mitten in der Nacht in aller Eile nach einem Medicus schicken? Ihr zählt nicht zu den Männern, die des Nachts unter Blähungen leiden oder ihre Gicht behandeln lassen! Was haben die nächtlichen Aktivitäten in Euren Räumen zu bedeuten? Was die gellenden Schreie einer Frau, von der die Palastwache Bericht erstattet?« Unwillkürlich hob Georges de Pontivy die rechte Schulter, wo sich der scharfe Schmerz der ersten beiden Tage inzwischen in ein dumpfes Pochen verwandelt hatte. Der Dolch hatte glücklicherweise keine Adern durchtrennt und keinen bleibenden Schaden angerichtet. Die Wunde würde in Kürze verheilt sein. Wie es allerdings mit jener Verletzung aussah, die sein Stolz erlitten hatte, stand auf einem ganz anderen Blatt. Noch immer vermochte er es nicht zu fassen, was in jenen verwirrenden Augenblicken geschehen war. Entspannt von dem höchst befriedigenden, leidenschaftlichen Intermezzo, amüsiert über das Verhalten Aimées, die sich als eine junge Frau mit vielen verschiedenen Gesichtern entpuppte, hatte er die befriedigte Nymphe eben freigeben wollen, als ihr Arm hochfuhr und die Spitze des Dolches nur unwesentlich über dem Herzen in seine Schulter drang. Im ersten Moment hatte er in seiner Verblüffung nicht einmal Schmerz verspürt. Lediglich eine Art Schlag, der ihn veranlaßte, zu seiner Schulter zu sehen, wo er den Griff des kleinen Dolches entdeckte, den er noch kurz zuvor zum Aufschneiden eines Siegels verwendet hatte. Allein die geschulte Reaktion eines kampferprobten Ritters hatte verhindert, daß das rasende Mädchen die Waffe wieder herauszog und von neuem zustieß. Es hätte nicht des wilden Hasses in ihrer Stimme bedurft, um ihm klarzumachen, daß sie ihn mit voller Absicht und in vollem Bewußtsein töten wollte! Es stand deutlich genug in ihren Augen!
»Eine Meinungsverschiedenheit«, entgegnete er heiser, als ihm klar wurde, daß er die Geduld seines Königs mit diesem Schweigen ungebührlich strapazierte. »Allerdings eine, die zu meinen Ungunsten ausging, wie ich ungern zugebe. Mein Gast wußte sich nur mit dem Dolch zu wehren, und ich hatte nicht mit soviel reizbarer Kriegslust gerechnet.« »Ihr seid verletzt? Guter Gott, warum erfahre ich das erst jetzt?« Die Neugier des Königs schlug unmittelbar in Sorge um. »Macht ein Ende mit dem Geschwafel und sagt endlich klipp und klar, was geschehen ist?« »Ein harmloser Stich in die Schulter, schon vergessen, Sire!« versuchte der Graf die Sache herabzuspielen. »Die Zeit nicht wert, die wir darüber sprechen.« Aber Franz enträtselte die scharfen Falten im Gesicht des Grafen endlich als das, was sie wirklich waren. Die Rücksichtslosigkeit eines Kriegers gegenüber den eigenen Schmerzen und Beschwerden. »Seid Ihr närrisch, Georges?« Der König stand so abrupt auf, daß sein Stuhl über den polierten Boden schrammte. »Nichts gegen ein kleines Abenteuer, aber in diesem Falle habt Ihr Euch eine gefährliche Wildkatze eingehandelt. Ist sie von edler Geburt?« Der Graf schüttelte notgedrungen den Kopf, denn er wollte den König nicht auch noch zu allem Überfluß mit Aimées wirrer Lügengeschichte belästigen. Je gewöhnlicher ihre Person war, um so leichter würde sie in königliche Vergessenheit geraten. »Eine Magd aus Dieppe, Sire. Ein kleines Nichts, das Eurer Aufmerksamkeit nicht wert ist.« »Zum Henker, um so schlimmer!« reagierte der König völlig anders, als der Seigneur de Pontivy erwartet hatte. »Wo kommen wir hin, wenn schon die Mägde das Blut meiner Freunde vergießen? Ihr hättet mich sofort benachrichtigen müssen! Das Mädchen verdient empfindliche Strafe. Die Peitsche, ein paar Tage am Pranger und ein geschorener Kopf sind das mindeste, ehe sie im Arbeitshaus für ihr Verbrechen büßt! Ich werde sofort die Wache anweisen, daß die Dirne verhaftet wird...« Seine wütende Rede beschwor das Bild einer Aimée vor Georges de Pontivys Augen, die mit geschorenem Haupt und demütig gesenktem Kopf am Pranger stand. Entblößt und der allgemeinen Verachtung preisgegeben. Keine Szene, der zu der stolzen Amazone paßte, die lieber tötete, als sich von der eigenen Leidenschaft überwältigen zu lassen. Ein Schicksal, dem er sie trotz allem nicht aussetzen wollte. Der Gedanke, daß ihre Schönheit zerstört, ihr Stolz gebrochen würde, war ihm unerträglicher denn je. »Ich bitte Euch, Sire...« »Ihr bittet vergebens!« fuhr Franz von Valois auf. »Ich kenne Eure Schwäche für ein paar schöne Augen, ich teile sie selbst. Aber es geht nicht an, wenn ein Mädchen darüber vergißt, dem Gesetz des Königs zu gehorchen.« Georges des Pontivy strich in einer unbewußten Geste über die Wunde unter seinem Wams. Seit jenem Abend befand sich Aimée eingesperrt in der kleinen Kemenate. Blavy, sein treuer Gefährte, auf den er sich verlassen konnte wie auf den eigenen Kopf, hatte ihn daran gehindert, ihr im ersten rasenden Moment die Kehle zuzudrücken, obwohl der Wunsch dazu fast übermächtig gewesen war. Der hemmungslose Zorn, mit dem er auf ihren unerwarteten Verrat reagiert hatte, war für ihn selbst überraschend gekommen. Nicht allein ihr Angriff, sondern der Vertrauensbruch in diesem besonderen Moment hatte ihn zur Weißglut gebracht. Die Tatsache, daß er sich so unglaublich in ihr getäuscht hatte. Die zwingende Erkenntnis, daß ihre Gefühle längst nicht so tief und leidenschaftlich waren wie die seinen. Wie sonst hätte sie es fertigbringen können, die Waffe gegen den Mann zu erheben, der sie eben besessen hatte? »Es wäre mir dennoch lieb, wenn Ihr mir die Gnade erweisen würdet, die Bestrafung dieses Mädchens in meine Hand zu legen«, stellte er sich gleichwohl in offenen Widerspruch zu den Wünschen des Königs. »Außer mir ist niemand zu Schaden gekommen, und es wäre mir nicht angenehm, wenn das Getuschel durch eine offizielle Bestrafung plötzlich einen
unliebsamen Wahrheitsgehalt bekäme.« Er sagte nichts von Anne de Fonsac, aber die noble Gestalt der schönen Edeldame stand gleichwohl wie eine stumme Mahnung zwischen ihnen. Sie würde es nicht schätzen, wenn ihr Verlobter in einen Skandal verwickelt wurde. Vielleicht würde sie sogar ihr Wort zurücknehmen, und das wollten weder der König noch der Graf. Beide hielten die geplante Ehe für eine sehr passende Verbindung. Georges de Pontivy hielt dem stummen Blick des Königs stand. Er konnte sich unschwer ausmalen, daß Franz sich fragte, aus welchen Gründen er Aimée trotz dieser Gefahr bei sich behalten wollte. Er hatte sich einen Namen als Waffengefährte und Freund des Königs gemacht, man rühmte viele seiner Eigenschaften, aber Rachsucht zählte nicht dazu. Seine Majestät konnte sich also unschwer ausrechnen, das diese Wildkatze ein Mädchen von außergewöhnlicher Schönheit sein mußte. »Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, daß Ihr eine blutrünstige Furie zähmen wollt, mein Freund«, erkannte der Monarch seine Gründe viel besser, als der Graf es wahrhaben wollte. »Es gibt nicht viele Männer Eures Schlages an meinem Hofe, und ich möchte sie nicht von Dirnen dezimieren lassen. Sorgt dafür, daß es die letzte Wunde war, die sie Euch geschlagen hat, dann werde ich im Moment über ihre Existenz hinwegsehen. Freilich wäre es gut, wenn Ihr den Skandal in Grenzen haltet. Die Dame de Fonsac gehört nicht zu jenen Frauen, die eine Nebenbuhlerin vertragen, und sei sie von noch so geringem Stande. Seht zu, daß sie keinen Anlaß zur Eifersucht bekommt. Und nun zu Euren Berichten aus Spanien. Ich denke, wir haben Wichtigeres zu besprechen als Eure Eroberungen unter den einfachen Töchtern dieses Königreiches...« Joseph Blavy erwies sich bei näherem Kennenlernen als ebenso geübter Kerkermeister, wie er ehedem ein gewandter Befreier gewesen war. Dabei dachte Aimée gar nicht daran, ihm zu entkommen oder ihn mit einem jener Tricks abzulenken, die er offensichtlich von ihr erwartete und die er von vorneherein auszuschalten gedachte. Von dem entsetzlichen Moment an, als die Spitze des Dolchs, den kaum spürbaren Widerstand von Stoff und Haut durchstoßend, in den Körper Georges de Pontivys gedrungen war, hatte sie selbst nur noch sterben wollen. Das Blut, das aus seiner Wunde strömte, war ihr eigenes Herzblut. Sein Schmerz rief ein peinigendes Echo in ihrem eigenen Körper hervor. Weshalb hatte er ihr nicht erlaubt, die Waffe herauszuziehen und gegen sich selbst zu richten? Weshalb zwang man sie weiterzuleben? Das Blut, das aus seiner Wunde über das Wams lief, an seinen Händen klebte und ihre eigene Haut befleckte, hätte auch das ihre sein sollen. Aber einmal mehr hatte das boshafte Schicksal dafür gesorgt, daß ihre Pläne scheiterten. »Ihr müßt essen!« störte die Stimme ihres ruhigen Wächters den ewig gleichen Reigen ihrer erbärmlichen Gedanken. »Ich werde diese Kemenate erst verlassen, wenn Ihr die Speisen dort zu Euch genommen habt.« Aimée antwortete nicht. Was hatte es für einen Sinn zu sprechen, wenn niemand einem zuhörte. Auch Blavy wollte nicht, daß sie aß, weil ihm an ihrem Wohlergehen lag, sondern weil er Ärger mit seinem Herrn befürchtete. Ärger mit dem Seigneur, dessen wutverzerrtes Gesicht sie nicht vergessen konnte, als er begriff, daß die warme Flüssigkeit, die zwischen seinen Fingern hindurchlief, nicht anderes als sein strömendes Blut war. »Du mörderische Dirne!« hatte er geschrien und die blutigen Finger um ihren Hals geschlossen, bis ihr selbst die Sinne schwanden und ihr Schrei unter seinem Würgegriff erstickte. Die Erinnerung an das Folgende blieb gleichsam verschwommen. Mere Mahauts vorwurfsvolle Miene tauchte darin auf. Ein dunkel gekleideter Medicus, der ihr eine bitter schmeckende Arznei verabreichte, die sie den Rest ihrer Erinnerungen kostete. Sie wußte nicht mehr, wieviel Zeit vergangen war, bis sie in ihrem Alkoven erwachte und sich als Gefangene wiederfand, noch immer in jenes zerknitterte Gewand gekleidet, das
dunkle, eingetrocknete Blutflecken aufwies und von einem Kampf über der Schulter eingerissen war. Sie wagte nicht, um ein frisches Gewand oder um Wasser zu bitten. Sie wußte, daß sie kein Recht zur kleinsten Bitte hatte. Es war vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis man sie dem Henker überantwortete. Auch das behütete Leben, das sie bis zum Tode ihres Ziehvaters geführt hatte, war von klaren Regeln und Gesetzen bestimmt gewesen. Eine Frauensperson, die mit dem Messer in der Hand auf einen Mann, gar auf einen Seigneur losging, hatte ihr Leben verwirkt. Aimée empfand keine Angst vor diesem Ende. Allein, das Warten darauf quälte sie. Weshalb atmen, weshalb essen und trinken? Nur damit der unvermeidliche Tod noch ein wenig hinausgezögert wurde? Nur damit sie dieses Mal die Kraft für das hochnotpeinliche Verhör hatte, das ihr gewiß nicht erspart bleiben würde? Aus halb gesenkten Augenwinkeln sah sie zu ihrem Wächter hinüber. Er hockte auf der Holzbank neben dem Kamin und ließ die Hände entspannt zwischen den Knien baumeln. Das bräunliche, hagere Gesicht erinnerte sie noch immer an ein griesgrämiges Schoßhündchen, aber sie beging nicht den Fehler, ihn für harmlos zu halten. Sollte er doch dort sitzen bleiben, bis er festwuchs. Aimée ahnte nicht, daß auch sie in diesen Stunden einer genauen, gnadenlosen Musterung unterzogen wurde. Joseph Blavy war mehr als nur ein treuer, vielseitiger Diener seines Seigneurs. Er hatte den stürmischen Knaben auf sein erstes Pony gehoben, später seine Waffenübungen geleitet und seinen Rücken gedeckt, als er in die Schlachten des Königs ritt. Er kannte Georges de Pontivy besser, als dessen frühverstorbene Mutter ihren einzigen Sohn gekannt hatte. Er war ihm mehr Vater als der ehrgeizige Krieger gewesen, der vor den Toren von Rom unter dem Konnetabel von Bourbon sein Leben gelassen hatte. Aimée war Joseph Blavy ein Dorn im Auge, seit er sich unversehens mit ihr belastet gefunden hatte, als er den Grafen befreit hatte. Was veranlaßte einen gemeinhin so vernunftbetonten und klar denkenden Mann, sich mit einem Mädchen abzugeben, das einwandfrei nicht ganz richtig im Kopfe war? Gut, sie war schön, aber auch nicht schöner als andere, strahlendere Damen bei Hofe, die sich um die Gunst gestritten hätten, seinem Herrn Vergnügen zu bereiten. Nicht verführerischer als die hochmütige Dame de Fonsac, die sich bereits als künftige Gräfin Termignon sah. Was fand Georges de Pontivy an diesem wilden, unberechenbaren Wesen, das seinem treuen Gefährten vorkam wie eine zu straff gespannte Bogensehne? Sie war nicht wie die anderen, die bisher seinen Weg gekreuzt hatten, und genau das mahnte ihn zur Vorsicht. Was immer sein Herr von ihr hielt, sie gehörte zu jener Sorte von Frauenzimmern, die mehr Schaden anrichteten als Glück brachten. Wäre es nach ihm gegangen, er hätte sie ohne viel Federlesens dem Profoß von Paris überantwortet und ihr geraten, das letzte Gebet zu sprechen. Warum erlaubte es der Seigneur nicht? »Du kannst gehen, Blavy!« Sowohl Aimée wie der Diener fuhren erschreckt zusammen, als die ruhige Stimme das Schweigen des Raums brach. Keiner von ihnen hatte einen Schritt oder gar das Öffnen der Tür gehört. Wenn er Wert darauf legte, konnte sich Georges de Pontivy mit der Lautlosigkeit des fallenden Nebels bewegen. Er war ein Mann, den man nicht zweimal mit einem Überraschungsangriff hereinlegte. Aimées Augen glitten forschend über die hohe Gestalt. Nichts deutete mehr darauf hin, daß er noch Beschwerden mit der Wunde hatte, die sie ihm zugefügt hatte. Der Verband, den er mit Sicherheit noch benötigte, war unter dem prächtig gefältelten Samtwams verborgen, zu dem er passende enge Hosen trug. Das Wams war auf den zweiten Blick nicht schwarz, sondern von tiefem Violett. Lediglich eine schmale cremefarbene Spitzenbordüre am Hemdsärmel und der kostbare durchbrochene Kragen aus der gleichen venezianischen Spitze milderten die düstere Strenge dieser Kleidung. Das Schwertgehänge mit Waffe und Dolch an seiner Hüfte bewies, daß er diese Aufwartung nicht unbewaffnet machte. Die schwarzen Augen unter den dichten dunklen
Brauen begegneten jenen von Aimée mit einem Ausdruck, den sie nicht einzuordnen vermochte. Vorwurf? Wut? Verletztheit? Rachsucht? Sie sah zwei dunkle, glänzende Pupillen, die ihr wie bedrohliche schwarze Steine erschienen. Ein ahnungsvoller Schauer überlief sie unter diesem kalten Blick. Was wollte er von ihr? Die Tür klickte und bewies, daß Joseph Blavy den Raum verlassen hatte. Danach war Stille zwischen ihnen. Aimée erschien ihr Atem überlaut, den sie scharf zwischen den Lippen einsog, während sie darauf wartete, daß er zu sprechen begann. Georges de Pontivy ließ sich damit Zeit. Auch er betrachtete erst einmal die schlanke Gestalt in dem beschmutzten, zerknitterten Kleid. Sie hatte eine höchst wirkungsvolle Art, kostbare Roben in Kürze zu ruinieren. Dennoch thronte sie mit geraden Schultern und hochgerecktem Kinn wie eine Königin auf den Polstern der Fensternische. Das Licht hinter ihr machte aus den wirren bronzefarbenen Haaren einen fein gesponnenen Heiligenschein. Es las sich schwer in ihrem Antlitz gegen dieses Licht. Es blieb im Schatten, blaß, reglos, wie das Meisterwerk eines genialen Bildhauers. »Warum?« schleuderte er ihr die einzige Frage entgegen, die ihn beschäftigte, seit er wieder mit klarem Kopf denken konnte. »Weil Ihr mich zur Dirne gemacht habt!« entgegnete Aimée, ohne darüber nachzudenken. »Weil es Männer Eurer Familie gewesen sein müssen, die meine Mutter getötet haben und weil es keinen anderen Weg für mich gibt, mich von Euch zu befreien!« Georges de Pontivy lachte heiser auf. Er hatte nicht mit einer so umfassenden Antwort gerechnet. »Du gehst seltsame Wege für deine Freiheit. Ich kann dich für deinen Mordversuch dem Henker von Paris überantworten!« »Tut es!« forderte Aimée ihn dumpf auf. »Hattest du nicht einmal Angst vor der Folter und dem Tod?« »Ihr habt mir gezeigt, daß. es Schlimmeres als Folter und Tod gibt!« Die Qual in ihrer Stimme zwang ihn, näher zu treten. Er nahm auf der anderen Seite der Fensternische Platz und griff nach ihren Händen, die sie fest ineinander verschlungen in ihrem Schoß liegen hatte. »Ich wünschte, ich könnte dich begreifen«, sagte er überraschend sanft und ließ nicht zu, daß Aimée ihre Hände aus seinem Griff befreite. »Willst du mir erklären, wie du das gemeint hast?« »Ich kann es nicht«, hauchte Aimée und versuchte die Wärme zu ignorieren, die von seiner Berührung durch ihre eisigen Fingerspitzen stieg. »Ich weiß nur, daß es nicht recht ist, daß ich Lust in Euren Armen empfinde. Ihr seid ein Mann jener Familie, die meine Mutter auf grausame Weise ermordet hat, auch wenn Ihr selbst das Messer nicht geführt habt. Es geht auch nicht an, daß Ihr mich den Tod meiner Schwester vergessen macht, sobald Ihr mich berührt. Nehmt Euren diabolischen Zauber von mir und sprecht Euer Urteil über mich. Vielleicht finde ich in einer anderen Welt Gerechtigkeit...« Hin- und hergerissen zwischen der Empörung über ihre ungerechtfertigten Vorwürfe und dem Reiz dieser gequälten und doch so melodiösen Stimme, hörte er zu. Mechanisch streichelten seine Daumen die geballten kleinen Fäuste, als gäbe es im Moment nichts Wichtigeres, als die Anspannung dieser Frau zu lösen, die ihn mit jeder Faser ihres Seins ablehnte und gleichzeitig begehrte. »Ich werde nicht zulassen, daß du dich auf diese Weise davonschleichst«, erwiderte er nach einer langen Zeit des Schweigens. »Egal, ob dein Ziel das Paradies oder die Hölle ist. Du bist verwirrt, gekränkt und verletzt worden. Man hat dir weh getan, und du beißt wie ein in die Enge getriebenes Tier die Hand, die dich füttert. Aber mit der Zeit wirst du merken, daß ich es gut mit dir meine!« Aimée zerrte in blinder Verzweiflung an ihren Händen. Sie wollte seine Berührung nicht! Sie ertrug seine Berührung nicht länger! »Ich bin ein Mensch und kein Tier, könnt Ihr das nicht begreifen?« schluchzte sie. »Ich kann so nicht leben, wie Ihr das für mich im Sinn habt! Ich bin kein Singvogel, den Ihr
in einen goldenen Käfig sperren könnt! Ich werde fliehen, sobald jemand die Tür für mich offenstehen läßt...« »Dann liegt es an mir zu verhindern, daß dies geschieht«, entgegnete der Graf von Termignon verärgert. Weshalb war sie nur so eigensinnig? Weshalb kam sie ihm nicht ein kleines Stück entgegen? »Du wirst in mir einen Meister der Dressur finden!« »Ich werde Euch dafür hassen!« erklärte Aimée mit rauher Stimme. »Auf diesen Kampf werde ich es ankommen lassen, meine Schöne!« Ehe sie begriffen hatte, daß dies bereits eine Demonstration seiner Macht sein sollte, lag sie in seinen Armen. Ein ebenso rücksichtsloser wie glühend sinnlicher Kuß bewies ihr, daß sie nach wie vor auf die subtile Sprache seiner Zärtlichkeiten reagierte. Vielleicht ein wenig unzugänglicher als zuvor, aber deswegen sogar noch reizvoller für den Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, sie gegen den eigenen Willen zu lieben. Ihr Widerstand kam nicht unerwartet für ihn. »Je nun, mein sprödes kleines Löwenweibchen, ich werde diesen süßen Kampf gewinnen, dessen darfst du gewiß sein...« Seine Worte ließen sie erschauern, aber vielleicht waren es auch seine Hände, die rücksichtslos den Riß an ihrem Ärmel vergrößerten und unter den Stoff schlüpften, wo sie die kühlen Rundungen der seidig weichen Brüste fanden, die sich so vollendet in seinen Griff schmiegten und ihre Erregung verrieten, weil sich die Spitzen sofort hart und begehrlich gegen seine Handflächen drängen. Aimée keuchte auf. Sie konnte nicht unterscheiden, ob aus Schmerz oder aus Wonne. Von Schwäche und Verzweiflung ebenso besiegt wie von der Lust, die er so geschickt in ihrem Körper zu wecken verstand, begriff sie nur eines: Nichts, was sie einander antaten, konnte etwas an dem unersättlichen Hunger ändern, den sie füreinander empfanden. Sie konnte nicht begreifen, was es für ein Gefühl war, das er in ihr geweckt hatte. Sie wußte nur, daß es stärker war als alles, was sie je zuvor in ihrem Leben empfunden hatte. »Du gehörst mir«, erwiderte er ihre geheimen Gedanken und umfing die steife Spitze einer Brust mit leidenschaftlich warmen Lippen. »Du wirst dein Lied für mich singen, kleiner Vogel. Du wirst mich entzücken, wann immer ich von dir unterhalten werden will!« Er knabberte an der rosig harten Knospe, während er die andere zwischen den Fingerspitzen massierte. Heiße Ströme der Lust fluteten durch Aimées zitternden Leib, und während sie noch versuchte, sich gegen diesen Ansturm zu wappnen, stieß er sie so unerwartet von sich, daß sie hart mit den Knien auf den Boden prallte und die fliegenden Locken ihr die Sicht nahmen. Als sie die wirren Haare aus der Stirn strich, stand er bereits an der Tür. Makellos. Nicht eine Spitzenrüsche seines Ärmels war in Unordnung oder gar eine Ecke des Kragens verknittert. Verwirrt starrte sie ihn an, nicht begreifend, was dieser plötzliche Sinneswandel bedeuten sollte. Ihr Herz pochte, und ihr Leib sehnte sich verzweifelt nach der Vereinigung mit ihm. »Du gehörst mir«, wiederholte der Graf kalt. »Aber ich denke, es wird dir nicht schaden, auch einmal die Medizin unbefriedigter Wollust zu kosten. Wenn du gebadet und gesäubert bist, kannst du wieder in mein Bett kommen. Heute werde ich meine Gunst einem Schätzchen schenken, das ein wenig gepflegter ist als du...« Die Tür fiel ins Schloß und der Riegel wurde vorgeschoben, ehe Aimées Kehle jener wütende, gellende Schrei einer zutiefst beleidigten Frau entfloh. Mit einem wilden Aufschrei griff sie nach dem nächstbesten Gegenstand und warf ihn gegen die geschlossene Tür. Es war ein bezaubernder grüner Pokal aus feinstem venezianischem Glas. Er zerschellte in einem wahren Regen aus funkelnden grünen Splittern, in denen sich das Licht brach. Aimée konnte nicht mehr aufhören zu schreien, bis der letzte Ton in ihrer wunden Kehle erstickte und sie wild schluchzend auf dem Boden liegenblieb. Fassungslos der eigenen Wut und den unbeschreiblichen Stürmen ausgeliefert, die er in ihr entfacht hatte, blieben ihr nur noch verzweifelte Tränen. Sie wußte nicht, was da in ihr tobte, sie begriff nur, daß ihre Leiden noch nicht zu Ende waren.
13. KAPITEL »Es ist die neueste spanische Mode, aber was aus diesem Land kommt, ist ohnehin keinen Pfifferling wert! Wenn man nur bedenkt, daß diese Barbaren noch immer unsere königlichen Prinzen gefangen halten! Die arme Königin, man sagt, sie leidet schrecklich darunter, daß ihre Kinder in einem fernen Land als Friedenspfand leben müssen. Es gehört sich nicht...« Mere Mahaut machte es nichts aus, daß ihr Schützling diese Neuigkeiten völlig teilnahmslos zur Kenntnis nahm. Sie hatte sich daran gewöhnt, daß Aimée kaum eine Silbe von sich gab. Da sie ihrerseits für mehrere gleichzeitig reden konnte, glich sich das Defizit ohnehin aus. Wie es aussah, hatte der Seigneur seiner stummen Liebsten diesen närrischen Anfall verziehen, der ihm eine Wunde und ihrer jungen Herrin verschärften Arrest eingetragen hatte. Dabei war der April in einen Mai übergegangen, wie er sonniger, lieblicher und wärmer nicht hätte sein können. »Ein Mieder mit Bleiplatten verstärkt, hat man jemals einen solchen Unsinn gehört«, kam die Kammerfrau auf den Kernpunkt ihres Unmuts zurück. »Es soll dafür sorgen, daß der Busen schön flach bleibt! Vermutlich muß man am kaiserlichen Hof in Madrid leben, damit man auf derlei Häßlichkeiten kommt. Weiß nicht jedermann, daß ein wohlgeformter Busen das wichtigste Kapital einer schönen Frau ist?« Unwillkürlich betrachtete Aimée ihr eigenes Dekollete im silbergerahmten Halbspiegel. Es machte mit einer streng gerafften schneeigen Spitzenrüsche keinen Versuch, die verführerisch gewölbten, seidigen Hügel züchtig zu verbergen oder gar abzuflachen. Ganz im Gegenteil, die Robe aus knisternder, strahlendblauer Seide war wie geschaffen dafür, die Schönheit einer Frau von Kopf bis Fuß ins rechte Licht zu rücken. Das Oberteil schmiegte sich eng an, während die gebauschten Ärmel durch schmale, silbergefaßte Schlitze die schneeweiße Seide des Innenfutters freigaben. Der üppige, weite Rock lief in einer kleinen Schleppe aus, und um die schmale Taille lag anstelle eines Gürtels ein silbernes Band, das mit Ranken aus weißen Perlen bestickt war. Aimée hatte noch nie ein so hinreißend schönes Kleid besessen, und sie versuchte vergeblich, ihre instinktive Freunde darüber zu unterdrücken. Es gehörte sich nicht, über äußeren Tand dermaßen in Verzückung zu geraten, wenn man sich in ihrer Lage befand. Es war höchste Zeit, daß sie endlich ihren Verstand gebrauchte und sich nicht länger zum Spielball der Ereignisse machen ließ. Seit dem Tode ihres Ziehvaters war sie nicht viel mehr als ein Blatt im Wind gewesen. Sie hatte nur noch auf das reagiert, was andere Menschen ihr und Floralie angetan hatten. Dabei hätte sie es doch besser wissen sollen! »Ein geschickter Handelsmann ist seinen Konkurrenten jederzeit um eine Nasenlänge voraus«, hatte Jacques Malivet stets mit jenem Schmunzeln in den warmen braunen Augen gesagt, an das Aimée sich mit schmerzlicher Zärtlichkeit erinnerte. Im Gegensatz zu Simone hatte es ihm Vergnügen gemacht, wenn sie ihren Verstand schärfte und sich in der unweiblichen Tugend der Logik übte. Es war an der Zeit, sich an diese Fähigkeit zu erinnern, wenn sie nicht endgültig den Verstand verlieren wollte. Sie hatte doch immer gewußt, daß Simone Malivet ihrer Schwester und ihr keine Zuneigung entgegenbrachte, daß sie nur den Bruder liebte und den Tag herbeisehnte, an dem die Mädchen heirateten und endlich das Haus verließen. Weshalb war es ein solcher Schock für sie gewesen, daß sie den Tod des Bruders für diese Zwecke genutzt hatte? Weshalb hatte sie es zugelassen, daß sie, von einem Schicksalsschlag zum nächsten taumelnd, zur blinden, gedankenlosen Beute des launischen Zufalls geworden war? Wozu hatte ihr der Himmel denn einen Kopf gegeben? Zusammen mit diesem wundervollen Kleid schien sich plötzlich auch ihr Lebensmut wieder einzufinden. Die Rüstung aus Seide und Perlen, die sich auf so vollkommene Weise
um ihre Gestalt schmiegte, verlieh ihr eine völlig neue Sicherheit. Sie war schön! Unzweifelhaft. Das Bild im Spiegel sprach für sich. Die Frau mit den kunstvoll hochgesteckten Locken, in denen blasse Perlen wie kleine Blüten im Herbstlaub schimmerten, zog garantiert Blicke auf sich. Allein, wessen Blicke? Die Ereignisse hatten ihren Zügen die mädchenhafte, ein wenig rundliche Unschuld genommen und das klare, fein gezeichnete Antlitz einer bezaubernden Frau erschaffen. Die sittsame Jungfer Malivet mit den züchtig gesenkten Lidern, die ihr stürmisches Temperament hinter gefalteten Händen und anerzogenem Gehorsam verbarg, hatte sie auf ihrem dornigen Reiseweg hinter sich gelassen. Ganz allein auf sich selbst gestellt, entdeckte sie plötzlich den verblüffenden, unerwarteten Wunsch in sich, wieder zu leben. Da war etwas tief in ihr, das sich weder beugen, noch unterordnen wollte, sondern energisch danach verlangte, ins Licht zu dürfen und zu atmen. »Wunderbar!« lobte nun auch Mere Mahaut und schüttelte eine letzte Falte im Seidenrock zurecht, als Aimée dies zum Anlaß nahm, endlich aufzustehen. »Du bist mit Abstand die schönste Frau, der ich je gedient habe. Wenn du dich nur dazu aufraffen könntest, diese Schönheit auch sinnvoll einzusetzen, könntest du vielleicht sogar den König umgarnen. Er hat eine Schwäche für schöne Frauen, und er ist ein höchst großzügiger Herr...« »Der König ist verheiratet«, platzte Aimée entrüstet heraus und erntete ein vergnügtes Lachen, das sich ein wenig wie das Kollern eines Truthahns anhörte. »Kindchen! Wenn in dieser Stadt alle verheirateten Seigneurs ihren Ehefrauen treu wären, hätte unsereins keine Arbeit und du würdest vermutlich noch in der Schenke bedienen, in welcher dich der Graf aufgegabelt hat! Hör auf, die Naive zu spielen. Königin Claude ist weder besonders hübsch noch unterhaltsam. Der König behandelt sie gut, aber sie ist beileibe nicht die Frau, die einen munteren Mann in seinem Alter an sich fesselt. Ich könnte mir vorstellen, daß du ihm gefällst, wenn er dich zu Gesicht bekommt. Man sagt, er liebt ein hitziges Temperament und leidenschaftliches Entgegenkommen...« Aimée preßte die Lippen aufeinander und verzichtete darauf, ihrer Kammerfrau zu sagen, daß sie keine Ambitionen hatte, die Maitresse des Königs zu werden. Der König war eine ferne, unbekannte Größe. Eine respekteinflößende Institution und kein Mann! Aber das Gespräch brachte sie gleichwohl auf einen Gedanken, der ihr bislang völlig entgangen war. Auf einen alarmierenden, höchst beunruhigenden Gedanken. Sie schritt mit raschelnden Röcken zum Fenster und sog gierig die warme Frühlingsluft in ihre Lungen. Sie vermißte den Salzhauch des Meeres, der in Dieppe so selbstverständlich jeden Atemzug begleitet hatte. Aber noch während sie daran dachte, runzelte sie unwillig die glatte Stirn. Sie mußte aufhören, ständig von Dieppe und der Vergangenheit zu träumen. Es war an der Zeit, etwas anderes in Erfahrung zu bringen. »Ist der Seigneur eigentlich verheiratet?« Mere Mahaut stutzte, und diese kurze Pause ließ Aimées Herz bis in den Hals hinauf schlagen. Er war es! Die Kammerfrau wußte nur nicht, wie sie es ihr sagen sollte. Er hatte sie doppelt gekränkt und betrogen! »Je nun...«, begann Mere Mahaut und beschloß, wenigstens einen Teil der Wahrheit zu sagen, damit sich das Mädchen keine überflüssigen Illusionen machte. Man konnte schließlich nie genau wissen, was in einem so hübschen Kopf vor sich ging. »Es gab noch keine Hochzeit, aber alle Welt wartet darauf, daß er endlich Dame Anne de Fonsac zum Altar führt. Sie sind einander versprochen...« Aimée preßte die Hand auf das Mieder, dort, wo ihr Herz ebenso plötzlich nicht mehr schlug, wie es zuvor zu eilig gepocht hatte. Am Rande einer Ohnmacht hörte sie Mere Mahauts Stimme. »Die Dame de Fonsac gehört zu den Ehrendamen von Madame Claude. Sehr nobel, sehr reich und sehr stolz. Die eleganteste Dame des Hofes...« »Also genau die Art von Frau, die ein Seigneur wie der Graf heiratet«, entgegnete
Aimée angestrengt und versuchte in die Wirklichkeit zurückzufinden. Was hatte sie erwartet? Welche wirre Hoffnung hatte diese Frage eigentlich diktiert? »Und was hat er Euch hinsichtlich meiner Person für Befehle gegeben?« Mere Mahaut deutete den sehnsüchtigen Blick nach draußen ganz richtig und machte eine bedauernde Geste mit ihren kleinen, gut gepolsterten Händen. »Ihr dürft diese Räume nicht verlassen. Er erwartet, Euch hier vorzufinden, wenn er von seinen Geschäften zurückkommt!« »Von seinen Geschäften«, murmelte Aimée und unterdrückte im letzten Moment ein spöttisches Schnauben. Merkwürdige Geschäfte waren das, bei denen er sich den Anschein gab, aus England zu kommen und angeblich im Süden gewesen war. Merkwürdig wie der ganze Mann. »Hat er gesagt, wann das der Fall sein wird?« Die Kammerfrau schüttelte den Kopf über diese unsinnige Frage. Seit wann gaben hohe Herren den Dienstboten Auskunft darüber, wie sie ihren Tag verbrachten? Diese junge Frau hatte wahrhaftig seltsame Ansichten über das Leben im Palais de Tournelles. »Wenn Ihr es wissen wollt, müßt Ihr seinen treuen Wachhund fragen«, zog sie sich aus der Affäre. »Joseph Blavy ist vor Eurer Tür postiert, und so wie's den Anschein hat, ist er nicht besonders begeistert über diesen Auftrag seines Herrn.« »Vermutlich steht ihm sein kriegerischer Sinn nicht nach dem Dasein eines Kindermädchens«, entgegnete Aimée trocken. »Schickt ihn herein, und dann laßt mich allein mit ihm!« Die Kammerfrau stutzte. Der plötzliche, unerwartete Befehlston, den Aimée an Handelsknechten, Matrosen und Stallburschen im Hause Malivet geübt harte und der ihr den Respekt aller Marktfrauen von Dieppe eingetragen hatte, tat jedoch auch bei ihr seine Wirkung. Sie deutete einen Knicks an. »Wie Ihr befehlt, Demoiselle...« Joseph Blavy mühte sich, seine reglosen Züge unter Kontrolle zu behalten, aber Aimée ahnte instinktiv, daß ihn eher die Neugier dazu trieb, ihrer Aufforderung zu gehorchen, als das Bemühen, ihr zu Gefallen zu sein. Sie betrachtete den schmalen, alterslosen Mann in seiner grauen, gleichwohl gut geschneiderten Livree aus flämischem Tuch. Sie versuchte keinen Gedanken an das Wappen zu verschwenden, das seine Brust schmückte. »Ihr seid der Vertraute Eures Herrn«, begann sie mit einer Feststellung, die nur ein knappes Nicken als Antwort erforderte. »Und Ihr könnt mich nicht ausstehen«, fügte sie mit derselben neutralen Stimme hinzu. Die Maske aus Gleichgültigkeit und Gehorsam zerbrach. »Wie könnt...« »Ich habe Augen im Kopf«, unterbrach ihn Aimée mit einer knappen Handbewegung. »Wenn es nach Euch gegangen wäre, hätte ich nie das Gefängnis Eures Seigneurs mit ihm verlassen.« Blavy gab auf, dem Offensichtlichen zu widersprechen. »Und wenn dem so wäre?« erkundigte er sich ruhig. »Dann seid Dir der richtige Mann, um mir zu helfen«, sagte Aimée ruhig. »Gebt mir Gelegenheit zur Flucht, und Dir seid die lästigen Sorgen los, die ich Euch bereite.« »Wer sagt Euch, daß ich mich sorge?« Graue und grüne Augen maßen sich in einem stummen Duell, die des Mannes bedeutend vorsichtiger und mißtrauischer als jene der Frau. Aimée erkannte es und gönnte dem Diener ein so strahlendes Lächeln, daß er für einen Moment die Fassung verlor. Ein Lächeln, das wie eine Blume in dem blassen Gesicht aufblühte und einen gegen seinen Willen dazu trieb, es zu erwidern. Im letzten Moment konnte er verhindern, daß er wie ein geblendeter Narr die Zähne vor ihr bleckte. »Ich will nichts von Eurem Herrn!« versicherte sie mit soviel Nachdruck wie es ihr irgend möglich war. »Es wäre mir lieb, wenn ich einfach lautlos aus seinem Leben verschwinden könnte. Meinetwegen kann er ruhig die feine Dame heiraten, die darauf wartet.«
»Ach ja? In der Tat?« »Wenn Ihr mir nicht glaubt, warum macht Ihr nicht einfach die Probe auf dieses Exempel?« »Und wo wollt Dir hingehen?« erkundigte er sich vorsichtig. »Das soll nicht Eure Sorge sein«, beschied ihm Aimée energisch. Im geheimen stellte sie sich natürlich dieselbe Frage. Aber über diesen Punkt wollte sie sich den Kopf zerbrechen, wenn es soweit war. Im Moment galt es nur, die erste Hürde zu nehmen. Sie gab ihm Zeit, die Sache zu bedenken, und Joseph Blavy mußte eingestehen, daß ihm die angebotene Lösung immer besser gefiel. Sehnlichst wünschte er sich, sein Herr möge seßhaft werden, eine Gemahlin nehmen und dafür sorgen, daß das Geschlecht der Termignons nicht ausstarb, aber diese Frau hier war eine Gefahr für alle Pläne. Sie war gefährlicher als eine Viper und von jener geheimnisvollen Anziehungskraft, die vernünftige Männer in den Ruin trieb. Er wagte nicht darüber nachzudenken, welcher Galgenvogel von Vater ihr diese zähe Lebenskraft vererbt und welche Zigeunerin von Mutter sie mit dem bestrickenden Zauber der Sinnlichkeit versehen hatte. »Er wird nicht glauben, daß Ihr mir ohne mein Zutun entwischt seid«, entgegnete er am Ende resigniert. »Er ist daran gewöhnt, daß ich seine Befehle stets zu seiner Zufriedenheit ausführe.« »Gütiger Himmel!« verlor Aimée ihre ohnehin geringe Geduld. »Entscheidet Euch, Mann! Seid Ihr zu feige, ein Risiko einzugehen? Habt Ihr Angst vor einem Tadel oder Angst vor der Hexe, für die Ihr mich haltet? Laßt mich gehen und verbringt den Rest Eures Lebens damit, die Zufriedenheit Eures Herrn zu sichern!« Sie wagte einen vorsichtigen Schritt in Richtung Tür und beobachtete gespannt Joseph Blavys Reaktion. Er sah nicht in ihre Richtung. Er schien ganz in die Betrachtung des polierten Holzbodens vertieft, der sich unter seinen Stiefelspitzen befand. Nun denn, keine Antwort war in diesem Fall wohl auch eine Antwort. Aimée entschied sich zu handeln. Sie raffte ihre leise knisternden Röcke und ging zur Tür, erst zögernd und dann sehr schnell. Die Hand auf dem geschmiedeten Griff widerstand sie der Versuchung, sich noch einmal umzusehen. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, egal, was daraus wurde. Alles war besser, als zu bleiben und als willenlose Marionette des Grafen Termignon zu enden, auch wenn in diesem Augenblick alles vor ihren brennenden Augen verschwamm. Das leise Klicken des Schlosses hatte in ihren Ohren das Echo einer brechenden Eisenstange, aber nichts passierte. Joseph Blavy hielt sie nicht auf. Sie öffnete die Tür und huschte wie ein glänzender, hellblauer Schatten auf den Flur hinaus. Ein hastiger, prüfender Blick belehrte sie, daß der lange Gang mit den Steinquadraten menschenleer vor ihr lag. Durch die gewölbten, schmalen Fenster fielen regelmäßige Lichtbahnen und teilten den Weg in dunkle und hellere Partien. In welche Richtung sollte sie sich wenden? Sie hatte nicht die kleinste Ahnung, wo sie sich befand und wie sie ins Freie kam. War dies der Palast des Seigneurs? Da ihre Ankunft in diesen Mauern in einem Nebel aus Erschöpfung erfolgt war, konnte sie sich weder an den Weg, noch an die Lage des Gebäudes erinnern. Das Klirren sporenbewehrter Schritte von rechts nahm ihr die Entscheidung ab. Sie wollte niemanden sehen. So lautlos sie es vermochte, eilte sie den Gang nach links entlang. Unter den weichen Sohlen ihrer schmalen Lederschuhe spürte sie die Kälte der Steine, und sie zog fröstelnd die Schultern hoch. Sie schickte ein Stoßgebet gen Himmel, von dem sie selbst nicht genau wußte, was es erflehte. Ein Wunder vielleicht? Der Gang endete in einem scharfen Rechtsknick und Aimée konnte im letzten Moment verhindern, daß sie genau vor den beiden Gardisten um die Ecke schoß, die dort ihre Hellebarden hielten und mit der starren Miene von gedrillten Wachsoldaten zu beiden Seiten einer großen, doppelflügeligen Tür standen. Nur die Tatsache, daß sich in eben diesem Moment die Flügel öffneten und eine ganze Gruppe von Menschen heraustrat, bewahrte Aimée davor, entdeckt zu werden.
Der Lärm und die Schritte übertönten das leise Rascheln ihres Kleides und ihren hastigen Atem, als sie sich zurückzog und sich Schutz suchend in die nächstbeste Mauernische zwängte. Die Stimmen drangen seltsam körperlos zu ihr hin, aber manche der kurzen Satzfetzen ergaben dennoch einen Sinn. »Es ist kein Verlaß auf die Engländer...« »Aber man darf das Pariser Parlament nicht unterschätzen!« »Der König hat den geheimen Conseil einberufen...« »Und was wird aus den beiden Prinzen?« Aimées Herz klopfte wie rasend. Erst jetzt begann sie sich zu fragen, wo sie sich eigentlich befand. Was hatten diese Gardisten zu bedeuten? Wachsoldaten in einem Privatpalast? Panik überflutete sie, und sie vermochte nicht mehr genau zu unterscheiden, ob die Männer sich entfernten oder näher kamen. Voller Angst umklammerte sie die steinernen Kanten des Wappenschilds, das diese Nische schützte, als könne sie sich dahinter verbergen. Der kühle Stein bewegte sich erst unmerklich, dann mit der zunehmenden Geschwindigkeit einer gut geölten Mechanik. Ehe sie erfaßte, was das zu bedeuten hatte, trug sie der Schwung der unerwarteten Bewegung durch einen schmalen Mauerspalt auf die andere Seite. Sie taumelte, verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem leisen Wehlaut zwei Stufen hinunter, die eben noch nicht dagewesen waren. Aufs neue schlugen männliche Stimmen aufgeregt über ihrem Kopf zusammen. »Zum Donnerwetter, was ist das?« »Eine Frau, Sire!« »Eine schöne Frau, in der Tat! Dennoch kann ich mich nicht erinnern, ihr das Geheimnis dieser versteckten Tür mitgeteilt zu haben. Erhebt Euch, meine Dame, und sagt mir Euren Namen!« Eine Hand streckte sich in Aimées Blickfeld. Eine schlanke, sehr gepflegte Männerhand mit langen Fingern und einem breiten Goldring, in dessen Mitte der größte Saphir schimmerte, den sie jemals gesehen hatte. Taubeneigroß und flirrend wie die Sonne auf ruhiger, sommerlicher See. Sie legte nur zögernd ihre eigene Hand hinein und ließ sich aufhelfen. Ihre Augen tasteten sich behutsam über Hand und Arm hinauf zu zwei breiten Schultern in ein längliches, jugendliches Männergesicht. Unter einem Samtbarret blickten sie freundliche braune Augen an. Die überlange Nase hätte dem Antlitz einen Zug der Melancholie verliehen, wäre da nicht dieses begeisterte, entzückte, offene Lächeln gewesen, mit dem er sie betrachtete, als sei sie ein Geschenk, das er unverhofft erhalten hatte. Die vollen Lippen unter dem modischen Kinnbart neigten sich über ihre Hand und küßten sie mit Hingabe. Aimée errötete in einer Mischung aus Verlegenheit und Scheu. »Verzeiht, Sire, aber...« »Schscht!« Ohne sich umzusehen, erstickte er die Unterbrechung mit einem ungeduldigen Laut. »Es passiert nicht alle Tage, daß mir die Frühlingsgöttin persönlich ins Arbeitskabinett schneit. Ich hoffe, Ihr habt Euch nicht weh getan! Stützt Euch auf meinen Arm!« Aimées Augen flogen an ihm vorbei. Wie es aussah, war sie mitten in die Besprechung von fünf Männern geplatzt, die rund um einen Tisch standen, der mit Karten und Papieren überladen war. Ihre ohnehin schon peinliche Lage wurde jedoch durch den Umstand verschärft, daß einer dieser Männer der Graf von Termignon war! Der eisige Blick, mit dem er sie förmlich durchbohrte, ließ keine positiven Vermutungen über seine Stimmungslage zu. Sie versuchte seine Anwesenheit zu ignorieren und beschäftigte sich damit, ihre Röcke zu richten und eine Locke wieder festzustecken, die sich bei ihrem Sturz gelöst hatte. »Erlaubt...« Der Seigneur mit dem Barett und der langen Nase beugte sich mit der Geschicklichkeit eines Fachmanns über ihre Frisur und plazierte die herausgefallene Perlennadel genau an der richtigen Stelle. Aimée konnte nicht anders, sie mußte ihn einfach anlächeln. Er erinnerte sie an einen fröhlichen, waghalsigen jungen Schiffsführer, der sich nach monatelanger Seereise im Hafen
nach einem hübschen Mädchen umsieht. Er hatte unleugbar eine Menge Charme. »Danke«, wisperte sie mit angestrengter Stimme und versuchte trotz der mörderischen Blicke Georges de Pontivys ihre Haltung zu bewahren. »Es tut mir leid. Euch gestört zu haben. Ich... ich wußte nicht, was es mit dem Steinschild auf sich hat... Ich wollte lediglich nicht gesehen werden...« »Das wird ja immer geheimnisvoller. Vor wem seid Ihr auf der Flucht, mein Kind? Wollt Ihr mir nicht endlich Euren Namen verraten?« Aimée schlug die Lider nieder. »Aimée...« »Aimée?« wiederholte ihr neugieriger Gastgeber und ließ den Namen genüßlich auf der Zunge zergehen. »Wie bezaubernd und wie ganz besonders passend. Und jener Eures Vaters, schönste Dame Aimée?« »Laßt mich gehen!« wisperte Aimée und verweigerte die Antwort. »Bitte, ich...« »Das Mädchen gehört zu meinem Haushalt, Sire!« hörte sie in diesem Moment die Stimme des Grafen seltsam angespannt für sie antworten. »Die Magd aus Dieppe? Wollt Ihr mich zum Narren halten, Pontivy?« Aimée errötete unter dem verblüfften Ausruf des Bärtigen. Doch etwas an der Art, wie sie trotz allem stolz das Kinn hob und die Schultern straffte, veranlaßte Franz von Frankreich, noch genauer hinzusehen, als er es ohnehin schon getan hatte. »Jetzt begreife ich, was Ihr gegen das Arbeitshaus und das Scheren hattet, mein Freund«, sagte er in einem Anflug von Humor, ehe er sich an die übrigen Herren wandte, die mit unverhohlener Neugier diesem Disput gefolgt waren. »Ich schlage vor, wir vertagen unsere kleine Unterredung auf morgen. So wie es aussieht, habe ich Wichtigeres zu erledigen. Ihr könnt Euch zurückziehen...« Georges de Pontivy zögerte, als letzter den Raum zu verlassen. Die anmutige, glänzend blaue Gestalt, die vor dem König stand, leuchtete zwischen den dunklen Hölzern und prächtigen Wandbehängen des königlichen Arbeitskabinetts in der Tat wie eine Frühlingsgöttin. Wie, zum Teufel, war es ihr gelungen, seine Gemächer zu verlassen? Was war nur in Blavy gefahren, dies zuzulassen? Hatte sie ihn ebenfalls mit einem Dolch angegriffen? Unwillkürlich suchte er das prächtige Gewand nach Blutflecken ab und war erleichtert, daß es keine gab. Dafür sah er die schnellen Atemzüge, welche die Brüste hoben und senkten. Die Verlegenheit, in die sie die Galanterien des Königs stürzte. Bei Gott, er kannte den Appetit seines Monarchen in bezug auf schöne Frauen. Aimée mochte eine rabiate, ungehorsame und gefährliche kleine Wildkatze sein, aber sie gehörte ihm! Niemand hatte das Recht, sie zu umwerben. Niemand außer ihm! Nicht einmal der König! Nicht ahnend, was das für ein Gefühl war, das ihm den Hals verengte und die Fäuste ballen ließ, legte er noch einmal Widerspruch gegen das königliche Edikt ein. »Sire, ich möchte...« »Gehabt Euch wohl, Georges!« winkte der König ab und milderte seine Ablehnung durch den Gebrauch des vertrauten Vornamens. »Ich schätze es, mir mein eigenes Bild der Dinge zu machen! Es ist nicht nötig, daß Ihr mich beschützt, ich nehme nicht an, daß die Dame mir Böses will.« Aimée bemerkte mit Staunen, daß Georges de Pontivy gehorchte. Zähneknirschend, aber manierlich trat er den Rückzug an und überließ dem Seigneur mit der langen Nase das Feld. »Wer seid Ihr, daß er Euch gehorcht?« fragte sie mit einer solchen Verblüffung in der Stimme, daß der König in schallendes Gelächter ausbrach. Es war ihm noch nie passiert, daß man ihn nach seinem Namen fragte. Dieses Mädchen aus Dieppe wurde immer unterhaltsamer! »Franz von Valois, meine Schöne! Ihr befindet Euch in meinem Palast, solltet Ihr das tatsächlich nicht wissen? Wie unhöflich von Georges, Euch über diese Tatsache im unklaren zu lassen. Wie mir scheint, habt Ihr so Eure eigenen Erfahrungen mit dem Starrsinn des stolzen Grafen von Termignon gemacht!«
Franz von Valois? Aimées Lippen teilten sich zu einem kaum hörbaren Seufzer. »Der König? Oh...« »Nein, laßt! Keine Reverenz. Ich bin froh, daß Ihr wieder auf den Beinen steht«, schmunzelte der Monarch und betrachtete mit den Augen des Kenners die Schätze in Aimées verführerischem Dekollete. Da sie trotzdem in eine tiefe Reverenz gesunken war, bot sich seinen Blicken ungehinderter Zugang. »Ich wußte es wahrhaftig nicht«, murmelte Aimée beklommen. »Er hat sich nicht die Mühe gemacht, mir etwas zu erklären. Ich wäre nie auf die Idee gekommen...« Sie brach verwirrt ab. Die Mischung aus scheuer Ratlosigkeit, unterschwelliger Verzweiflung und anrührender Verletzlichkeit, die der König an ihr wahrnahm, paßte so gar nicht zum Bild der leidenschaftlichen Kriegerin, die mit dem Dolch auf ihren Geliebten losging. Welch seltsames Mädchen. Nichts von dem, was er wußte, schien zu ihrer Erscheinung zu passen. Sie wirkte weder wie eine Dirne noch wie eine Verbrecherin, nicht wie eine Magd und schon gar nicht wie eine Abenteurerin. »Mir scheint, das wird eine lange Geschichte, die Ihr mir berichten müßt, mein Kind«, ermunterte er sie sanft zum Sprechen. »Nehmt dort in dem Stuhl Platz und sagt mir alles, was Ihr auf dem Herzen habt. Ich werde Euch zuhören, ich bin Euer König!« Der letzte Satz drang in Aimées Herz, als habe sie die ganze Zeit darauf gewartet. Wen sonst konnte sie um Gerechtigkeit bitten, wenn nicht den König! »Es begann an jenem Apriltag, als wir in Dieppe Monsieur Jacques Malivet zu Grabe trugen...« »Den Reeder?« warf der König ein. »Ihr kanntet ihn?« Jetzt war es an Aimée, verblüfft zu sein. »Jean d’Ango hat mir von ihm gesprochen«, entgegnete der König. Aimée hatte den mächtigsten Mann von Dieppe nur selten zu Gesicht bekommen, aber sie wußte, daß ihr Ziehvater bei ihm ein und aus gegangen war. Zwei Männer, welche die Leidenschaft für die See und den Schiffsbau verband. Zwei Männer, die über das Schicksal der aufstrebenden Hafenstadt entschieden. »Ich hielt Monsieur Malivet bis zu jenem Tag für meinen Vater und den Vater meiner Schwester«, nahm Aimée den Faden ihrer Erzählung wieder auf, und je länger sie sprach, um so flüssiger kamen ihr die Worte über die Lippen. Sie schaute auf ihre verschlungenen Hände, während sie von Überfall und Tod, von Gefangenschaft und Flucht, von alten Lügen und unbewiesenen Behauptungen berichtete. »Und weshalb wolltet Ihr nicht unter dem Schutz des Grafen Termignon bleiben?« wollte der König wissen, als sie endlich schwieg. »Wißt Ihr nicht, was Euch auf den Straßen dieser Stadt erwartet hätte, wenn Euch diese närrische Flucht gelungen wäre?« »Es ist mir egal«, flüsterte Aimée mit spröder Stimme. »Sogar der Tod ist besser als Verachtung und Gleichgültigkeit.« »Werft nicht so leichtsinnig Euer Leben fort, Dame Aimée«, mahnte sie der König und griff sinnend nach einem der Dokumente auf seinem Tisch, dessen Siegel er der jungen Frau vor Augen hielt. »Ist das jenes Wappen, das Ihr auf dem Siegelring fandet?« Aimée erkannte die Umrisse des zweigeteilten Wachsabdruckes und nickte stumm. Der König hatte nichts anderes erwartet. Zu gut paßten die Spuren alter Skandale und vergessener Gerüchte zu dieser Geschichte. Er würde mit seiner Mutter sprechen müssen. Louise von Savoyen, die ihrem königlichen Sohn eine hingebungsvolle Mutter und in Zeiten der Gefahr auch eine verantwortungsbewußte Ratgeberin und Regentin gewesen war, wußte mit Sicherheit alle Einzelheiten. Vielleicht bereitete es ihr sogar Vergnügen, ein wenig Licht in diese verworrene Geschichte zu bringen. Um so mehr, wenn die Termignons und andere darin verwickelt waren, denen stets ihr besonderes Augenmerk gegolten hatte. Er warf das Pergament auf den Tisch zurück und griff erneut nach Aimées eiskalten Händen. »Macht Euch keine Sorgen mehr, meine schöne Freundin! Ich werde Euch zu einer Dame bringen, die Euch mit Güte und Wohlwollen aufnehmen wird. Ihr habt Euer Schicksal
in die Hände des Königs gelegt, und Ihr sollt diese Entscheidung nicht bereuen!« Aimée sah auf den König, der ihre Fingerspitzen küßte, und errötete aufs neue. Es gehörte sich nicht, daß er ihr mit soviel Schmeichelei begegnete. Wie sie schon Mere Mahaut gesagt hatte, er war schließlich verheiratet. 14. KAPITEL »Man sagt, sie sei das neueste Protegée des Königs!« »Arme Madame Claudel Ihre Söhne schmachten in spanischen Kerkern, und ihr Gemahl durchtanzt den Frühling mit seiner neuesten Maitresse!« »Sie ist nicht die Geliebte des Königs! In einem solchen Fall hätte Louise von Savoyen sie nie unter ihre Damen aufgenommen!« »Dann wird sie es eben in Kürze werden. Schaut sie Euch nur an. Welcher Mann kann schon die Augen von diesem Juwel lassen!« »Sie hat ja nicht einmal einen ehrenwerten Namen. Dame Aimée, das spricht ja wohl für sich...« Die Gerüchte überschlugen sich, und nicht eines von ihnen trug dazu bei, Georges de Pontivy zu beruhigen. Im Gegenteil, es kam ihm so vor, als bohre sich jede noch so kleine Silbe, die man über Aimée verbreitete wie ein Dorn unter seine Haut. Lästig, schmerzend, unangenehm. Auf jeden Fall so beharrlich, daß es keinen Augenblick des Tages mehr gab, an dem er nicht an sie dachte. Wie hatte sie es nur geschafft, den König zu ihrem Beschützer zu machen? Indem sie sich seinem Werben hingab? Der bloße Gedanke daran trieb ihm das Blut in die Stirn und ließ ihn die Fäuste ballen. Kleine leidenschaftliche Dirne, die ihren Körper verwendete wie andere Leute die Kupfermünzen auf dem Markt! Die Gärten des Palais de Tournelles, die sich bis an den Fluß hinunter zogen, standen in voller Blüte. Alle Welt genoß es, nach einem langen strengen Winter zwischen den blühenden Rabatten spazierenzugehen. Der Duft der Hyazinthen, Narzissen und Anemonen mischte sich mit den Veilchen- und Maiglöckchendüften, mit denen sich die Damen der Königinmutter parfümiert hatten. Seidene Röcke raschelten über die Kieswege, und die Stimmen der Damen zwitscherten mit den Vögeln um die Wette. Es war ein unbeschwertes, elegantes und liebenswürdiges Bild, das so gar nicht zu der finsteren Miene des Seigneurs paßte, der auf dem Weg in den Palast den Garten mit langen, ungeduldigen Schritten durchmaß, als könne er auf diese Weise den Gerüchten ebenso entfliehen wie den Bildern. Tief versunken in die eigenen düsteren Gedanken stürmte er einen Laubengang entlang und bemerkte zu spät die Dame, die ihm entgegenkam. Die türkisfarbenen Röcke ihres duftigen Kleids nahmen fast die ganze Breite des Weges ein, und das kleine Anemonen-Sträußchen zwischen den Spitzenrüschen ihres Dekolletes lenkte den Blick auf die verlockende Zartheit ihrer Haut. Die offenen Haare von einem Netz aus Goldschnüren gefaßt und das weiße Schoßhündchen der Königinmutter auf dem Arm, blieb sie wie vom Schlag getroffen stehen, als sie erkannte, wem sie da über den Weg lief. Kaum einen Schritt voneinander entfernt blieben sie stehen und maßen sich mit stummen Blicken. Aimée entdeckte lodernden Zorn in seinen dunklen Augen, die ungeduldige Ader, die an seinem sehnigen Hals pochte, und den schweren Kampfdegen in seinem Waffengehänge. Er trug lederne Stiefel, Reithosen und einen kurzen Umhang, ein schwarzer Hut mit breiter Krempe beschattete das kantige Antlitz. Ein Ruch nach Pferd und Leder umgab ihn und verriet, daß er einen längeren Ritt hinter sich haben mußte. Deswegen hatte sie ihn also seit Tagen nicht gesehen! Nicht einmal vor sich selbst wollte sie zugeben, daß sie nach ihm Ausschau gehalten hatte. »Wie ich sehe, ergeht es Euch wohl, Dame!« zischte er knapp und gebrauchte den Ehrentitel, als handle es sich um eine Beleidigung. »Macht Ihr es mir zum Vorwurf, daß ich mich nicht in die Seine gestürzt habe?«
murmelte Aimée und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, daß sie seine Art der Begrüßung kränkte. »Wie käme ich dazu, meinen König um seine neueste Augenweide bringen zu wollen?« höhnte er prompt zurück. »Ich bin beglückt, daß Ihr Euch für das Weiterleben entschieden habt.« Aimée hatte Mühe, das zappelnde kleine Hündchen zu bändigen, das sich bei diesem Austausch leise gezischter Beleidigungen deutlich unwohl fühlte. Vermutlich spürte das Tier, daß sie nicht ganz bei der Sache war, und wollte die Möglichkeit zur Flucht nutzen. »Ich gehöre zum Hofstaat der Königinmutter«, berichtigte sie eisig. »Es gibt nichts Unehrenhaftes, das ich mir vorzuwerfen hätte. Ihr könnt Euch Eure niederträchtigen Andeutungen sparen, Seigneur.« »Und du dir das Theater, mein Kleines!« entgegnete er im selben herausfordernden Ton. »Wir wissen beide, daß du die Gunst der Stunde klug genutzt hast, um dein Schiff in den Wind zu drehen. Ein Graf war dir nicht gut genug als Beschützer, es mußte gleich der König sein. Nur eines würde ich gerne wissen: Was hast du zu Blavy gesagt, damit er dich gehen ließ?« Aimée drückte das kleine Hündchen an sich, daß es leise jaulte. Woher nahm er das Recht, ihr so weh zu tun? Sie so zu beleidigen? Und wie brachte er es fertig, daß sie sich sogar in diesem Moment an die Berührung seiner Lippen erinnerte? An die aufwühlende Leidenschaft seiner Küsse, den Rausch ihrer Begegnung? Georges de Pontivy tauchte in die klaren Tiefen ihrer grünen Augen und versuchte sich vergeblich der Faszination dieses Blickes zu entziehen. Er hatte sie gekränkt, er sah es daran, wie sich die Farbe verdunkelte. Keine Frau hatte Augen wie die ihren. Augen, in deren Tiefen er das Echo der Erregung zu sehen glaubte, die sie miteinander geteilt hatten. Am liebsten hätte er sie auf der Stelle genommen, sie unterworfen und in seinen Besitz gebracht. Zum Henker, hoffentlich verbarg der Umhang, wie unmittelbar und leidenschaftlich er auf ihren bloßen Anblick reagierte. Welche Macht sie über ihn hatte. »Laßt mich vorbei...«, wisperte sie in diesem Moment und versuchte, sich zwischen der Hecke und ihm hindurchzuzwängen. Ihr Haarnetz verfing sich in einem der kleinen Äste, deren grünes Laub gerade erst in Form von winzigen Blättern sproß. »Au...« Mit einem leisen Schmerzenslaut faßte sie nach ihrem Haar und ließ dabei das kläffende Hündchen los, das mit weiten Sprüngen davonsauste. Jeder Versuch, das Netz zu lösen, verstärkte nur das Chaos. »Warte!« Georges de Pontivy beugte sich über ihre Schulter, um die bronzegoldene Strähne mitsamt dem steifen Netz vom Ast zu befreien. Aber noch während er das tat, nahm er den feinen Rosenduft wahr, der von ihrer Haut aufstieg. Wie von selbst legten sich seine Lippen in jene sanfte Kuhle, wo Aimées Hals in die Schulter überging, und kosteten die glatte Haut, nach deren Berührung er sich gesehnt hatte, ohne daß es ihm bewußt gewesen war. Die junge Frau erstarrte unter der Berührung. All ihr Fühlen konzentrierte sich auf das kleine Stück Haut, auf dem seine Lippen lagen. Weißglühendes Feuer breitete sich von dort durch ihren ganzen Körper aus, gefolgt von der nur zu bekannten unseligen Schwäche, die sie willenlos in seine Arme sinken ließ. Der Kuß eroberte ihre Lippen und stillte einen Hunger, von dem Aimée nicht gewußt hatte, daß er sie quälte. Ihr Herz raste gegen das eng geschnürte Mieder ihrer modischen Robe, und sie hätte keinen Widerstand geleistet, hätte er sie in diesem Moment und an dieser Stelle genommen. Sie gehörte ihm doch. »Dame Aimée? Dame Aimée, wo seid Ihr denn? Binouche ist von allein zurückgekommen! Dame Aimée!« Das hartnäckige Rufen einer Frauenstimme drang in den leidenschaftlichen Nebel, der Georges de Pontivy umfangen hielt, und mahnte an die Wirklichkeit. Mit einem Laut, der ebenso ein Seufzer wie ein Fluch sein konnte, gab er Aimées willigen Mund frei und holte tief Atem. Ihre Blicke konnten nicht voneinander lassen.
»Man sucht Euch, geht!« Sie tat keinen Schritt, sie war nicht fähig dazu. Sie keuchte in kurzen, schnellen Zügen, als wäre sie ein gutes Stück zu schnell gelaufen. In einer Geste der Verwirrung und Verzückung zugleich berührte sie ihre schmerzenden Lippen mit den Fingerspitzen, als könne sie nicht glauben, was sie fühlte. »Nun geht schon, oder wollt Ihr, daß man uns hier findet?« herrschte der Graf sie an. »Genügt Euch der Tratsch um Eure Person noch nicht?« Wütend, weil ihn diese anmutige Bewegung halb um den Verstand brachte, und ärgerlich, weil er den eigenen Schwur gebrochen hatte, die Finger von dieser allzu verführerischen kleinen Dirne zu lassen, starrte er sie böse an. Sie machte einen Narren aus ihm. Keine Erkenntnis, die ihm sonderlich gefiel. »Dame Aimée!« Der Ruf erregte endlich Aimées Aufmerksamkeit. Ihre Hände glitten herab und ihre Lider senkten sich flatternd über den grünen Blick. Mit einem unterdrückten Schluchzen fuhr sie herum und rannte an ihm vorbei durch den dämmerigen Tunnel des Laubengangs, dem Licht entgegen. Georges de Pontivy sah ihr nach und knirschte einen lästerlichen Fluch. In diesem Moment entdeckte er das zerdrückte Anemonensträußchen vor seinen Stiefelspitzen. Violette, geknickte Blüten, die in ihrer Zartheit und Eleganz das Ebenbild der Frau zu sein schienen, die er eben noch geküßt hatte. Er bückte sich danach, doch dann entschied er sich anders. Mit zusammengepreßten Lippen setzte er die Stiefelsohle mitten auf das Sträußchen und zermalmte es mit einer rücksichtslosen Drehung des Fußes zwischen Kies und Erde. Wie schade, daß er nicht alle Probleme seines Lebens auf so einfache und wirkungsvolle Weise für immer erledigen konnte! In diesem Augenblick hätte er nicht gezögert, es zu tun. »Husch, beeilt Euch, Ihr Mädchen! Dame Aimée muß pünktlich zum Bankett des Königs erscheinen! Wir haben keine Zeit mehr!« Mere Mahaut klatschte in die molligen Handflächen und scheuchte die beiden Kammermägde an die Arbeit, über die sie seit kurzem gebieten konnte. So ganz hatte sie selbst noch nicht begriffen, welches Wunder sie plötzlich zur ehrenwerten Kammerfrau einer edlen Dame gemacht hatte. Allein, sie war gewitzt genug, um ihre Chance zu ergreifen und dieses Glückslos zu nutzen. Je blendender und schöner Aimée an der Tafel des Königs prunkte, um so mehr Glanz würde auch auf ihre Kammerfrau zurückfallen. Franz von Valois hatte Aimée nicht nur der besonderen Fürsorge seiner Mutter anvertraut, er hatte auch dafür gesorgt, daß sie mit allem ausgestattet wurde, was nötig war, damit sie als Ehrendame der Königin auftreten konnte. Als Ziehtochter eines Kaufmannes fragte sie sich im geheimen nach dem Preis für all die Annehmlichkeiten und Ehren, die ihr plötzlich zuteil wurden. Sie hatte als Aimée Malivet gelernt, daß man nichts umsonst bekam. Das Schicksal hatte es an sich, daß einem früher oder später die Rechnung präsentiert wurde. »Zerbrecht Euch nicht den Kopf über solche Dinge«, hatte Louise von Savoyen ihre schüchterne Frage mit einem knappen Lächeln abgetan. »Wie es scheint, bietet sich in Eurer Person eine überraschende Möglichkeit, ein altes Problem aus der Welt zu schaffen, und der König möchte diese Chance nützen. Wenn es wahr ist, was Ihr ihm erzählt habt, dann erhaltet Ihr nur, was Euch von Rang und Geburt zusteht.« Die Mutter des Königs hatte eine Art, die Brauen zu heben, bei der es sich von selbst verbot, sie mit weiteren Fragen zu behelligen. Sie war freundlich zu Aimée, aber in erster Linie galt ihre Zuneigung und Loyalität dem König. Die junge Frau hatte die Befürchtung, daß die hohe Dame auch ein Straßenmädchen zur Dame erzogen hätte, wenn es nur den Zielen des Königs diente. Ihr Mißtrauen half ihr, trotz aller neuen Ehren nicht völlig den Kopf zu verlieren. Das Gefühl, lediglich für eine gewisse Zeit ein geliehenes Leben zu führen, ließ sich dennoch
nicht vertreiben. Vielleicht konnte sie sich deswegen mit einer gewissen Distanz im Spiegel betrachten. Mere Mahauts Bemühungen um ihre Schönheit waren eine gute Spur raffinierter und sehr viel sittsamer geworden. Die Ausschnitte der neuen Roben blieben verlockend, waren aber nicht von jener herausfordernden Einladung, wie sie die Gewänder besessen hatten, die für eine Geliebte bestimmt gewesen waren. Da waren plötzlich viel mehr Unterröcke im Spiel, breitere Spitzenrüschen und hauchfeine Strümpfe, die mit bestickten Bändern über dem Knie befestigt wurden. Auch die Zeit der offenen Haare war vorbei. Jetzt wurden die Strähnen der rötlich goldenen Locken geflochten, hochgesteckt und zu kunstvollen Gebilden auf dem Kopf arrangiert, wenn sie nicht unter einer Haube oder einem federgeschmückten Barett verschwanden. Für diesen Abend hatte die Kammerfrau den größten Teil des Haars glatt in ein Haarnetz gesteckt und lediglich zu beiden Seiten zwei schlanke zierliche Zöpfe geflochten, die sie schneckengleich festgesteckt hatte. Die Frisur erlaubte nicht der kleinsten Haarsträhne den schmeichelnden Fall in Aimées Gesicht. Sie betonte jedoch gerade dadurch die feine Struktur des Knochenbaus, die gerade Linie der kleinen Nase und den sinnlichen Schwung des schönen Mundes. Sie verlieh ihr etwas Stolzes und Reines zugleich, das alle Blicke auf sich zog, obwohl sie sich unter den Ehrendamen der Königinmutter im Hintergrund hielt. Sie spürte die Fragen, den Neid und die Mißgunst der anderen Hofdamen, auch wenn sie sich in tadelloser Höflichkeit übten. Armee war sich auch der Anwesenheit Anne de Fonsacs deutlich bewußt, die sich natürlich zu schade war, mit ihr auch nur ein Wort zu wechseln. Aimée war ihr nicht böse, denn es fiel ihr schwer ihre spontane Abneigung gegen diese prächtige, hochfahrende Dame zu verbergen. Der Gedanke, daß Georges de Pontivy diese schmalen, fein gezeichneten Lippen küssen würde, war wie Galle in ihrem Mund. Gefiel es ihm, eine Frau zu heiraten die statt eines Herzens einen Kieselstein hinter dem Busen trug? Anne de Fonsac ihrerseits war die treibende Kraft des Klatsches, der Aimée nicht zur Ruhe kommen ließ. Sie hatte natürlich vernommen, daß der Graf von Termignon beim unverhofften Auftauchen dieser neuen Schönheit seine Finger mit im Spiel hatte. Sie war zu stolz, um ihn selbst danach zu fragen, aber sie war wild entschlossen, Aimée das Leben zur Hölle zu machen, und sie tat es auf eine höchst perfide und untadelige Weise. Sie mußte nur ständig darauf hinweisen, daß niemand Näheres über die Herkunft, das Vermögen oder die Mitgift der neuen Ehrendame wußte. An diesen drei Säulen maß sich schließlich die Bedeutung einer unverheirateten jungen Frau bei Hofe. Aimée fehlte dieser Halt; sie war aufgetaucht wie eine Sternschnuppe am Sommerhimmel, und ihre Konkurrentinnen lauerten darauf, daß sie ebenso schnell wieder verglühen würde. Bescheiden die Augen auf ihren Teller gesenkt, versuchte Aimée einmal mehr, das Getuschel nicht zur Kenntnis zu nehmen. Solange das Bankett dauerte, gelang es ihr. Doch wie üblich lud der König danach zu Spiel und Tanz, so daß sich die strenge Hierarchie der Hofgesellschaft auflöste. Sie fand sich plötzlich Auge in Auge mit Franz von Valois, der sie zum Reigen führte und sie mit raffinierten Komplimenten umwarb. Was, um Himmels willen, antwortete man einem König in einer solchen Situation? Ihr Versuch, zu ihm auf Distanz zu gehen, bewirkte zudem genau das Gegenteil. Der König, an die unverhohlene Bewunderung seiner Damen gewöhnt, fühlte sich von dem unerschütterlichen Gleichmut Aimées herausgefordert. War das die wilde Geliebte seines Freundes, die nicht davor zurückschreckte, einen Dolch zu gebrauchen? Sie schien ihm kaum stürmischere Gefühle zu besitzen als ein marmornes Standbild in der königlichen Kapelle. »Habe ich Euch schon gesagt, wie sehr Ihr mein Auge entzückt?« erkundigte sich der König galant, und Aimée hätte fast geantwortet: »Ihr auch!«, denn sie hatte noch nie einen Mann gesehen, der so prächtig und modisch gekleidet war. Franz von Valois trug ein höchst aufwendiges Wams, das aus verschiedenfarbigen Seidenstreifen aneinandergefügt war und dessen gebauschte, sorgsam gefaltete Ärmel ihn
doppelt so breit erscheinen ließen, wie er in Wirklichkeit war. Der dunkle Kinnbart glänzte geölt und duftete parfümiert, seine Beine steckten in so eng anliegenden Hosen, daß eine anständige Dame besser nicht hinsah, denn man konnte jeden Muskel erkennen. »Eure Majestät beschämen mich«, murmelte Aimée, als ihr klar wurde, daß der König noch immer auf eine Antwort wartete. »Es sind nur die Kleider, die Ihr mir zur Verfügung gestellt habt.« »Ich wüßte keine Frau an meinem ganzen Hof, die sie mit mehr Grazie tragen könnte«, setzte der König seinen Eroberungsfeldzug fort und wurde damit belohnt, daß Aimée verlegen errötete. »Ich weiß nicht, wie ich Euch für diese Großzügigkeit danken kann«, murmelte sie und spürte, daß er ihre Hand ungebührlich lange festhielt. »Schenkt mir ein Lächeln, Dame Aimée, und Ihr belohnt mich überreich...« Sie lächelte, zwischen Gehorsam und Ungeduld hin- und hergerissen. Hörte dieser Reigen denn eigentlich nie mehr auf? Endlich schwiegen die Musikanten, und Aimée dankte dem König mit einer anmutigen Verneigung für diesen Tanz, ehe sie in fast unziemlicher Hast an das andere Ende des Saals floh. Sie sah den Arm zu spät, der aus einer Fensternische schoß und sie in das abgeschiedene Versteck zog. »Ihr!« murmelte sie heiser und rieb sich das Handgelenk, das Georges de Pontivy wieder losgelassen hatte, als habe er sich daran verbrannt. »Was wollt Ihr denn schon wieder?« »Ein wenig mit Euch plaudern!« brummte er so unwirsch, daß sie keinen Zweifel an seiner Gereiztheit haben konnte. »Wir sind heute nachmittag unterbrochen worden, habt Ihr das bereits vergessen?« Aimée hatte sich mit allen Kräften bemüht, nicht mehr an den Zwischenfall im Laubengang zu denken, aber so wie es aussah, wollte er es nicht zulassen. »Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht...«, wisperte sie spröde und sah so betont zu Boden, daß er ihr Kinn ergriff und sie zwang, ihn anzuschauen. »Da ist noch nicht alles zwischen uns abgetan, Aimée!« hörte sie seine Stimme so eindringlich, daß sich die kleinen Härchen in ihrem Nacken sträubten. »Erst wenn mir deine Lippen nicht mehr antworten, werde ich dich in Frieden lassen. Keinen Tag vorher!« Die Drohung ließ sie erschauern. Oder war es eine Ahnung? Die erschreckende Ahnung, daß ihr Herz bis an ihr Lebensende diesem stolzen, gefühllosen Seigneur gehören würde? »Ich erwarte dich nach diesem Fest in meinen Gemächern. Du weißt jetzt, wo du sie findest. Du wirst kommen, hörst du? Ich befehle dir zu kommen!« Aimée wich vor ihm zurück und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Das meinte er nicht im Ernst — oder doch? Er konnte ihr so etwas nicht befehlen. Er hatte nicht das Recht dazu... »Wenn die Uhr Mitternacht schlägt, wirst du kommen!« Ohne einen Gruß drehte er ihr den Rücken zu und verschwand im Gewimmel des Hofstaats. Aimée hatte die Hand vor den Mund geschlagen und schaute ihm nach. Er trug schwarzen Samt ohne jede Verzierung. Keine Kette, lediglich ein verwegenes Barett dessen dunkler Samt mit dem nachtschwarzen Glanz seiner Locken verschwamm. Unter den aufgeputzten Kavalieren des Hofes kam er ihr wie ein düsterer Krieger vor. Sie sah, wie er die Dame Anne de Fonsac zur Tanzfläche führte. Die schöne, eiskalte und ehrgeizige Anne, die eine Zunge wie pures Gift besaß. Wie gut sie zu ihm paßte in ihrem silberflirrenden Gewand, das vor Bändern, Borten und Perlenverzierungen förmlich steif zu sein schien. Er bot den Hintergrund für ihre Schönheit und das Lächeln mit dem er auf eine Bemerkung von ihr reagierte, traf Aimée mitten ins Herz. Wenn die Uhr Mitternacht schlägt. Er mußte den Verstand verloren haben. Wie konnte er annehmen, daß sie so etwas tat? Daß sie durch die dunklen Gänge des Schlosses eilte, um sich mit einem Liebhaber zu treffen, der lediglich ihren Körper benutzte, ohne sich
um das zu kümmern, was sie fühlte. Allein, was fühlte sie für ihn? Ihre zitternde Hand sank von den Lippen und umklammerte die Falten ihres Gewands. Was war es, das ihr das Herz abschnürte und sie seine Gegenwart spüren ließ, auch wenn der halbe Hof Frankreichs zwischen ihnen stand? Welche Magie ließ sie innehalten und seinen Worten lauschen, sobald er sich die Mühe machte, sie zur Kenntnis zu nehmen? Weshalb ertappte sie sich zu allem Überfluß auch noch dabei, daß sie Anne de Fonsac heiß beneidete? Nicht um ihren Namen, nicht um ihren Status, sondern allein nur um die Tatsache, daß sie von Georges de Pontivy angelächelt wurde? Haß war es nicht, soviel vermochte sie zu sagen. Aber es war ein Gefühl, das in seiner Heftigkeit alles andere mit sich riß. Eines, das sie noch nie empfunden hatte und das sie im Grunde ihrer Seele zutiefst erschreckte. Es machte ihr angst. 15. KAPITEL Würde sie kommen? In der Tür stehen wie jene verführerische, goldene Vision, die ihn in seinem Kerker aufgesucht hatte, weil Damville sich ihrer auf so perfide Art bedient hatte? Das Bild stand in gnadenloser Klarheit in seinem Kopf. Sie hatte die Wahl zwischen Franz von Valois und seinem Gefolgsmann. Die Wahl zwischen Macht und Leidenschaft. Die Wahl zwischen Einfluß und... Nun, was konnte er gegen den Einfluß des Königs aufbieten? Auch Franz war jung, die Frauen sangen sein Loblied und es gab nicht eine seiner Maitressen, die sich je über ihn beschwert hatte. Großzügig, charmant, liebenswürdig und unersättlich mangelte es ihm zwar an der Treue, aber gewiß nicht an Verführungskunst. Er bezweifelte sogar, daß er es mit seiner Sinnenlust aufnehmen konnte. Georges de Pontivy goß den Pokal aus venezianischem Glas zum zweiten Mal mit Rotwein voll und nahm seine unruhige Wanderung durch das prächtig ausgestattete Kabinett wieder auf. Dort auf dem Tisch hatte er Aimée geliebt und war mit einem Dolchstoß belohnt worden. Die Wunde schmerzte noch immer, wenn das Wetter umschlug, aber noch mehr schmerzte inzwischen die Erkenntnis, daß Aimée so tief in seinem Herzen steckte, daß es ihm unmöglich schien, sie zu vergessen. Würde sie kommen? Er trank in langen Zügen den Pokal leer, aber der Wein beantwortete keine Fragen. Er hinterließ lediglich einen schalen Geschmack in seinem Mund. Im Grunde spürte er diesen üblen Geschmack, seit er ihr beim Reigen mit dem König zugesehen hatte. Bei allen Heiligen, es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre wie ein Narr zwischen die beiden gegangen und hätte seine Ritterehre und seinen Treueschwur vergessen. Und das alles nur wegen einer Hexe aus Dieppe! Was hatte sie ihm angetan, daß er sie nicht vergessen konnte? Daß er sogar den König als Nebenbuhler ansah? So gefährlich und abenteuerlich die Dienste waren, die er seinem König leistete, sein Leben war in geraden, überschaubaren Bahnen verlaufen, bis zu jenem Tag, an dem er in Dieppe das Schiff verlassen hatte und die beiden Mädchen im Gewühl des Hafens entdeckte. An das Gesicht der Jüngeren vermochte er sich kaum zu erinnern. Bereits damals waren alle seine Sinne darauf ausgerichtet gewesen, Aimée anzusehen. Die grazile und aufgeregte Gestalt zu erfassen, die ihn mit Worten und Blicken dazu zwingen wollte, etwas zu tun, das absolut närrisch war. Schon damals hatte es im Grunde begonnen. Seitdem ertappte er sich immer wieder dabei, daß er in den Spiegel sah und sich selbst nicht mehr erkannte. Daß er Dinge tat, die jeglicher Vernunft widersprachen, und Gefühle hatte, die ihn aus der Bahn warfen und ihn selbst am allermeisten verblüfften. Alles wegen einer Frau? Wegen flüchtiger Leidenschaft und dem wollüstigen Spiel zweier Körper? Das konnte doch nicht wahr sein! Zum ersten Mal in seinem Leben hätte er gerne einen Menschen gehabt, dem er diese
Fragen stellen konnte. Aber da gab es niemand. Sein Vater war dem Konnetabel von Bourbon gefolgt, der aufgrund einer Erbschaftsstreitigkeit zu Kaiser Karl V. übergelaufen war, und wie er hatte er vor Rom den Tod auf dem Schlachtfeld gefunden. Die Erinnerung an seine Mutter war nur ein Schemen. Eine zarte, leise Edelfrau, die mit sanften Händen die Decken eines kleinen Jungen zurechtzog, ehe sie Krankheit und Tod in das steinerne Altarbild auf der Familiengruft in Termignon verwandelten. Eine ferne, schöne Dame mit entrücktem Gesicht und gefalteten Fingern. Wie seltsam, er hatte seit Jahren nicht mehr an sie gedacht. Aimée legte Schicht um Schicht über dem Kern seiner Seele frei. Allein, was würde am Ende herauskommen? Was übrigbleiben von den Panzern, die er sich zugelegt hatte, um jener zu werden, der er war? Der raffinierteste, klügste und erfolgreichste Spion seiner Allerchristlichsten Majestät, des Königs von Frankreich? Das leise Öffnen der Tür ließ ihn herumfahren, und für einen langen Augenblick standen sie beide reglos und sahen sich über die ganze Breite des Gemachs hinweg in die Augen, ohne daß einer von ihnen ein Wort sagte. Er erkannte die abwehrbereite Haltung Aimées, die Art, wie sie den Knauf der Tür in der Hand behielt, als wolle sie bei der leisesten Bewegung seinerseits wieder die Flucht ergreifen. Also verharrte er auf seinem Platz, den Weinpokal in der Hand und die Augen auf sie geheftet, als gelte es, ihr Bild für immer festzuhalten. Sie trug noch das Festgewand des Banketts. Ein aufwendiges Kleid aus aprikosenfarbenem Atlas, dessen steifes Mieder ebenso wie der Rock mit der kleinen Schleppe mit goldenen Blütenranken bestickt waren. Die gebauschten und geschlitzten Ärmel waren an Oberarm, Ellbogen und Handgelenk mit Perlenschnüren zusammengefaßt, während dazwischen das seidene Unterkleid in einem helleren Ton herausschaute. Der rechteckige Ausschnitt war im Nacken nach neuester Mode mit einem steifen Spitzenkragen verziert, der bis zum Hinterkopf hochstand. Er betonte die lange, gebogene Kurve ihres Halses und verlieh dem elegant frisierten Kopf einen geradezu königlichen Hochmut. »Ich weiß nicht, warum ich gekommen bin!« sagte sie heiser und schloß endlich die Tür. »Ich habe mir geschworen, es nicht zu tun und doch...« Sie brach ab und preßte die Lippen so fest aufeinander, daß jeder Rotton daraus verschwand. Er sah, daß sie die Hände rang und erst jetzt stellte er endlich den Pokal auf dem Kaminsims ab. Er trat mit drei schnellen Schritten zu ihr. Es kam ihm so vor, als müsse er sie halten, damit sie sich nicht doch im letzten Augenblick anders besann und davoneilte. Damit sie ihn nicht seinen eigenen deprimierenden Gedanken überließ. »Schscht!« Er legte einen sanften Zeigefinger auf die versiegelten Lippen, ehe er die seidenverhüllten Schultern umfaßte und sie sacht an sich zog. »Ich kann dich nicht ohne Begehren ansehen, und dir geht es genauso. Was nützt es, diese Tatsache zu leugnen? Das Schicksal scheint die Fäden unserer Geschicke unauflöslich miteinander verknüpft zu haben und es hat keinen Sinn, sich gegen dieses Gewebe zu stemmen!« Verstört und fasziniert zugleich konnte Aimée die Augen nicht von seinem Antlitz wenden. Etwas in ihr beugte sich dem Wahrheitsgehalt seiner Worte. Eine andere Erklärung fand auch sie nicht für die fremde Macht, die sie alles andere mißachten ließ, um seinem Ruf zu folgen. Was würde der König sagen, wenn er wüßte, wo sie sich befand? Was sie im Begriffe war zu tun? »Aber Ihr empfindet nichts für mich!« wisperte sie protestierend. »Ihr bedient Euch meiner, wie Ihr einen Becher Wein trinkt.« »Hunger und Durst, sind das nicht die elementarsten Gefühle eines Menschen?« flüsterte der Graf, und seine Fingerkuppen streichelten wie von selbst die seidenzarte Haut unter seinen Fingern. »Was ist schlecht daran, daß ich nach dir hungere?« Aimée schloß die Augen unter dem Feuer seines Blickes. In einer Mischung aus Resignation und letztem Aufbäumen widersprach sie. »Es ist falsch! Ohne den Schwur vor dem Altar ist es falsch. Die Frau darf dem
Manne nur mit dem Segen des Himmels angehören!« Ein rauhes, höchst spöttisches Lachen ließ sie die Lider wieder aufreißen. Tatsächlich, er amüsierte sich über ihre Not, ihre Ratlosigkeit und Angst! Welch ein herzloser Schurke dieser Mann doch war! Wie närrisch mußte sie sein, hier zu stehen! »Ich hoffe doch sehr, daß du jetzt keinen Eheschwur von mir verlangst, meine kleine einfältige Blume aus Dieppe«, keuchte er zynisch, als er sich endlich ein wenig gefaßt hatte. Er betrachtete sie wie ein seltenes Exemplar in einer Gauklerbude voller Absurditäten. »Es kann nicht dein Ernst sein, was du da sagst, Mädchen! Ich bin der Graf von Termignon! Unser Name zählt zu den ältesten in Frankreich! Wir dienten schon den Königen dieses Landes, bevor die Valois auf den Thron gekommen waren. Soll ich vielleicht die Blutlinie dieser Familie mit dem heißen Lebenssaft eines verführerischen Straßenmädchens schänden?« »Die Blutlinie einer Familie von Mördern und Schurken«, fauchte Aimée gereizt zurück und spürte, daß sie vor Zorn am ganzen Leib zitterte. Nur er konnte sie so kränken, daß sie nicht mehr wußte, was sie sagte. »Ihr teilt sie lieber mit dem klirrenden Eis, das in den Adern einer Anne de Fonsac rinnt, nicht war! Ich sehe es ein, sie paßt besser zu Euch!« Georges de Pontivy schnaubte seinerseits wütend, aber er überging die Anspielung auf Dame Anne. Er beabsichtigte nicht, mit Aimée über seine Pläne zu diskutieren. Die Heirat betraf einen Teil seines Lebens, mit dem sie nichts zu scharfen hatte. Ein Edelmann mußte sich um den Fortbestand seines Namens kümmern. »Fängst du schon wieder mit dieser absurden Geschichte deiner Mutter an?« kam er auf den nächsten, höchst ärgerlichen Punkt ihrer Vorwürfe. »Willst du mir einreden, der König hätte sie dir geglaubt und dich deswegen mit Gewändern, Juwelen und Ehren überschüttet? Er will nicht mehr und nicht weniger von dir, als ich es in diesem Moment will! Das Vergessen der Lust in deinen willigen Armen!« Aimées wutentbrannter Protest erstickte unter einem Kuß, der wohlbedacht darauf berechnet war, ihre eigene Leidenschaft zu wecken und aufzustacheln. So sehr sie sich auch dagegen wehrte, es gelang ihr nicht, länger als ein paar Herzschläge Widerstand zu leisten. Ihre spröden Lippen wurden weich und erwiderten die Zärtlichkeit mit jener Hingabe, gegen die sie nichts ausrichten konnte. »Siehst du, es bringt nichts, mit dir zu diskutieren, meine Schöne«, raunte er an ihrem Ohr und hauchte eine ganze Reihe verheerender Küsse über ihren Hals, ihre Wangen und auf die geschlossenen Lider ihrer Augen. »Laß uns diese Nacht nicht verschwenden...« »Aber Ihr liebt mich nicht!« protestierte Aimée in einem Anflug von Verzweiflung. »Weshalb wollt Ihr mich denn dann...?« »Du täuschst dich. Ich liebe so viel an dir, deine geschmeidigen Glieder, deine zärtlichen Brüste, den süßen Mund, der soviel Unsinn redet, den gierigen kleinen Schoß, der mich umfängt...« Schwäche flutete durch Aimées Glieder. Gefährliche, wunderbare Schwäche, die ihren kriegerischen Geist, ihren Zorn und ihre Kraft umnebelte. War es das, was sie über die nächtlichen Gänge des Palastes getrieben hatte, wo die Fackeln Schattenspiele aus Dunkel und Licht an die Wände zeichneten? Hatte sie deswegen ihre Kammerfrau davongeschickt und die Mägde entlassen, damit niemand sah, was sie tat? Wegen dieser nachgiebigen Wärme, die sich in ihr ausbreitete? Dieses Gefühls, außerhalb der Welt zu stehen, wenn sie in seinen Armen lag? »Komm, meine reizvolle Geliebte, laß mich deine Zofe sein...« Geschickte Finger lösten ihre Haare, glitten über Schlaufen und Schleifen, zogen Schmucknadeln aus den wulstigen Ärmelnähten und öffneten die Bänder des steifen Mieders. Aimée half nicht, aber sie gebot auch keinen Einhalt. Ein kurzer Schauer lief durch ihren Körper, als das feine Hemd mitsamt dem schweren Gewand über ihre glatte Haut rutschte. Jetzt trug sie nur noch die hauchfeinen weißen Strümpfe mit den cremefarbenen Spitzenbändern, die feinen weißen Lederpantöffelchen und die Perlenkette, die wie eine glänzende Schlange über ihren Brüsten lag.
Pontivy berührte dieses Juwel mit den Fingerspitzen, ehe er sie daran noch näher zog. Dann fühlte sie seine Arme, die sie ins Nebenzimmer trugen und auf den seidigen Laken des Bettes niederlegten. Starke Arme, die sie beschützend und fordernd umfingen, vorwitzige Finger, die ihr die Schuhe auszogen und die Strümpfe in quälender Langsamkeit abrollten. Allein diese alltägliche Berührung ließ sie schon vor Verlangen vergehen. Sie wagte nicht, die Lider zu heben. Sie hatte Angst davor, zuviel von den eigenen Gefühlen zu verraten und in seinen Pupillen kein Echo zu finden. O ja, er wußte mit verheerender Genauigkeit, wo er sie berühren, küssen und streicheln mußte, damit sie nach mehr verlangte. Damit er das Feuer in ihr entfachte und sie sich wie im Fieber in seine Arme drängte. »Öffne die Augen, meine schöne Freundin!« Mit einem Seufzer tat Aimée, was er von ihr verlangte, und sie verlor sich in dem golden glühenden, schwarzen Blick, der sie umfing. Begehren, Leidenschaft, Triumph, all das fand sie in diesen Pupillen, aber auch etwas anderes, Fremdes, das sie nicht einordnen konnte. Aber es war etwas, das endgültig den letzten Rest Zorn aus ihrem Herzen vertrieb und nur noch den verzweifelten Wunsch zurückließ, geliebt zu werden und wieder zu lieben. »Weshalb nur immer wieder diese Rebellion?« neckte er sie sanft. »Warum kannst du dich nicht einfach in das fügen, was uns geschenkt wird? Laß dir versichert sein, es gibt nicht viele Männer und Frauen, die einander dieses Entzücken bereiten können!« Aimée spürte seine Hand, die über ihren Rücken glitt und sich um die feste Wölbung schloß, wo er endete. Er preßte sie an sich, damit sie keinen Zweifel mehr daran haben konnte, wie sehr er sie begehrte. Wie leidenschaftlich ihn nach dem seidigen Schoß verlangte, den er in das Spiel der Liebe eingeweiht hatte und der es ihm mit soviel Geschick dankte. »Faß mich an, meine Kleine...« Zwischen Schüchternheit und Faszination hin- und hergerissen, kam Aimée auch dieser Aufforderung nach. Ihre Finger umschlossen ihn, und sie spürte, daß er unter dieser Berührung erbebte. Sie sah, wie sich seine Lippen in einer sinnlichen Qual verzogen, die ihr ein völlig neues, unbekanntes Gefühl der Macht verlieh. War es möglich, daß er unter demselben Bann stand? Daß sie ihn mit Liebe beherrschen konnte? Es war der letzte zusammenhängende Gedanke, an den sich Aimée in dieser Nacht erinnern sollte. Was danach kam, war ein purer Rausch der Sinne. Das gegenseitige hartnäckige Bestreben, alles zu nehmen und alles zu geben, um sich damit vielleicht wieder Ruhe und Seelenfrieden zu erkaufen. Dieses Mal jedoch war es für Aimée zum ersten Male keine Überraschung, kein Überfall und keine gewaltsame Eroberung. Die Tatsache, daß sie sich freiwillig der Sehnsucht beugte, die sie erfüllte, verwandelte sie in eine bestrickende Sirene, die ihn gleichzeitig mit Verlangen und Verwirrung schlug. Er hatte geglaubt, sie zu kennen und fand sich erneut vor einem Rätsel. »Du bringst mich um den Verstand«, flüsterte Georges de Pontivy, als er sie im Schein der niedergebrannten Kerzen auf dem zerwühlten Bett an seine Brust zog. »Ich werde nicht zulassen, daß du die Maitresse des Königs wirst! Du gehörst mir!« Halb benommen vor Erschöpfung, vor sinnlicher Auflösung und rechtschaffener Müdigkeit vermochte Aimée der Drohung kaum mehr als ein mattes Kopfschütteln entgegenzusetzen. »Ich bin niemandes Maitresse, weder die Eure noch die des Königs...« Eine unhaltbare Behauptung in Anbetracht der Tatsache, daß sie splitternackt in seinen Armen ruhte und die Laken vom Duft ihrer Liebe gesättigt waren. Die wirren dunkelgoldenen Locken fielen auf ihre zarten Brüste, deren korallenrote Spitzen erregt durch die seidige Masse stießen, und ihre langen Beine umschlangen seine Oberschenkel. Schon der Anblick dieses lasziv entspannten Leibes konnte einen standhaften Mönch um seine Haltung bringen, ganz zu schweigen von einem Mann, der soeben entdeckte, daß sein Begehren noch immer nicht gestillt war.
Pontivy strich sanft die Haarsträhnen zur Seite und beugte die Lippen über Aimées Brust, während er sie zurück in die Kissen drückte. Ein kleiner Seufzer entfloh ihren Lippen, denn die sensiblen Spitzen zogen sich unter dem Kuß zusammen und verhärteten sich augenblicklich. Aimées Fingerspitzen verloren sich im lockigen Wald seines Haars, und die andere Hand fuhr über die gespannte Muskulatur der breiten Männerschultern. Sie mochte den Kontrast dieses dunklen Schopfes vor ihrer blassen Haut. Sie schmolz dahin unter dem sinnlichen Spiel der Zungenspitze, die über ihre Brüste züngelte, und sie öffnete willig die Schenkel für die geschickten Finger seiner Hand. Sie hatte mit einem Male allen Widerstand, allen Kampf und alle Feindschaft aufgegeben. Sie war nur Hingabe und Leidenschaft. Ein neuerliches, aufreizendes Wimmern entfloh ihren Lippen, als sich die ganze Fläche seiner Hand auf ihren Schoß preßte und dort einen erotischen Besitzanspruch anmeldete, den sie nur beantworten konnte, indem sie sich dagegendrückte. »Wie unersättlich du bist, mein Kätzchen«, hauchte er an ihren Brüsten. »Und wie köstlich du dich anfühlst! Wie warm und wunderbar feucht und gierig. Ich will dich schon wieder...« Aimée war längst in den glühenden Nebel absoluter Ekstase eingetaucht. Sie errötete bei den verwegenen erotischen Schmeicheleien, die er ihr machte, aber sie wollte auch nicht, daß er schwieg. Solange er sie begehrte, gehörte er ihr! Solange sie ihn mit ihren Reizen fesselte, dachte er nicht an eine andere! Rein vom Instinkt geleitet verwickelte sie ihn in eine zügellose Schlacht körperlicher Begierde. »Gütiger Himmel, Aimée... ich bitte dich...«, hörte sie sein heiseres Flehen, während sie ihn mit Armen und Beinen umfing. »Das hält kein Mann aus!« »Ich will alles von dir! Du sollst mir gehören!« widersprach Aimée keuchend und trieb ihn in das wilde Delirium eines neuerlichen Höhepunktes, das die Welt vor ihren Augen in einem wahren Regen aus fallenden Sternen untergehen ließ. Irgendwann kam sie wieder zu sich und spürte ein feuchtes, nach Minze duftendes Tuch auf ihrer Stirn, eine kühle, seidene Decke auf ihrer überempfindlichen Haut und besorgte Hände, die sie stützten. Nur langsam wich das Gefühl völliger Ohnmacht und Hilflosigkeit. Zaghaft öffnete sie die Augen. »Dem Himmel sei Dank!« hörte sie George de Pontivys erleichterten Ausruf. »Ich hatte schon Angst, ich hätte dich getötet!« Ein feines, verlorenes Lächeln geisterte um Aimées Mundwinkel, und sie trank dankbar den erfrischenden, fruchtigen Weißwein, den er ihr reichte. Wie kleine frostige Eiskristalle rannen die Schlucke ihre Kehle hinab, die sich anfühlte, als habe sie lange viel zu laut und zuviel gerufen. Sie holte tief Atem... »Hier, lehn dich zurück, ich werde das Tuch neu befeuchten...« Mit der Besorgtheit einer Kinderfrau eilte Georges de Pontivy von der Waschschüssel zum Bett. Ein höchst befremdliches Bild. »Es geht mir gut.« Aimée fand ihre ein wenig belegte Stimme wieder. »Ihr müßt Euch nicht um mich sorgen. Ich bin stark...« Die Behauptung entlockte ihm ein unwirsches Auflachen. Zum einen, weil sie dem Bild der blassen, anmutigen Schönheit widersprach, die da zwischen den Kissen lag. Zum anderen, weil ihm erst jetzt die animalische Rücksichtslosigkeit bewußt wurde, mit der er seine eigene Lust befriedigt hatte. Wo, um Himmels willen, blieb bei dieser Frau seine Erfahrung, seine Finesse? Bei Aimée benahm er sich nicht besser als ein ausgehungerter Landsknecht, dem jede Beherrschung fehlte. »Verzeih mir!« sagte er in so schroffem Ton, daß sie seinen Blick suchte. Gebannt von dem düsteren Glanz, fand sie nicht die Kraft zu einer höflichen Lüge. »Ich weiß nicht, ob ich das kann!« wisperte sie kaum hörbar. 16. KAPITEL
»Ihr seid völlig von Sinnen!« Mere Mahaut war außer sich, während sie um ihre Herrin herumflatterte, die in den Kissen ihres Alkovens lag und die Lider geschlossen hielt. Nur das leise Beben der Wimpern verriet, daß sie wach war und zuhörte. Die Kammerfrau war sich der Tatsache bewußt, daß sie sich im Ton vergriff, aber wer sollte dieses Mädchen zur Vernunft bringen, wenn nicht sie? So wie es aussah, würde es sich ohne große Umstände ruinieren und sie, Mere Mahaut, über kurz oder lang mit in diesen Abgrund reißen. »In diesem Palast gibt es keine Geheimnisse! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Seine Majestät davon erfährt, und was Dame Louise sagt, möchte ich besser gar nicht wissen! Ganz zu schweigen von Anne de Fonsac. Sie zur Feindin zu haben, ist gleichbedeutend mit Tod und Verbannung«, setzte sie ihre Predigt fort. »Wißt Ihr denn nicht, wie schmal der Grat ist, auf dem Ihr Euch bewegt? Sobald Dir die Gunst des Königs verliert, ist alles aus!« Aimée wünschte, Mere Mahaut würde endlich den Mund halten und das Gemach verlassen. Aber offensichtlich hatte ihre autoritäre Kammerfrau in dieser Hinsicht andere Vorstellungen. Sie hatte Aimée kurz nach Sonnenaufgang in ihrem Kabinett erwartet, und ihren erfahrenen Augen hatte es nicht verborgen bleiben können, daß ihre Herrin von einer Nacht der zügellosesten Leidenschaft kam. Die Mattigkeit ihrer Bewegungen war ebenso eindeutig wie die malträtierten Lippen ihres zu oft geküßten Mundes. Vom beklagenswerten Zustand ihrer Haare und des nachlässig übergeworfenen Kleids gar nicht zu reden. Mere Mahaut hatte ihr aus den Kleidern geholfen und versucht, die Spuren erotischer Küsse auf ihrem Körper zu ignorieren. Sie hatte ihr das Nachtgewand gereicht und die Laken zurückgeschlagen. Aber jetzt, als gerade die Sonne aufging, dachte sie nicht daran, den Raum zu verlassen. Sie blieb und bedachte Aimée mit einer Tirade, die nicht einmal Dame Simone in ihren besten Zeiten mit solcher Wortgewalt zustande gebracht hätte. Im Unterschied zur Schwester des Reeders hatte sie Aimée nämlich in ihr Herz geschlossen. Sie versuchte, ihr klarzumachen, daß sie den größten Fehler ihres Lebens beging und sie nicht auf ihr Herz hören durfte. »Habt ein Einsehen«, murmelte die junge Frau matt. »Ich bin müde, und ehrlich gesagt, es ist mir höllisch übel. Wenn Ihr nicht wollt, daß ich die Reste des Banketts in dieses Bett speie, dann gönnt mir endlich ein wenig Ruhe...« »Euch ist...« Mere Mahaut brachte das Wort kaum über die Lippen. Sie wurde blaß und rang nach Luft. Sie runzelte die Stirn unter der steifen Leinenhaube und verengte die Augen. Sie hatte ihre Erfahrung mit schönen Damen und leichtsinnigen Mädchen. Sie kannte die Gefahren ihres kometenhaften Aufstiegs und ihres plötzlichen Niedergangs, der leider zu oft damit begann, daß es den jungen Damen morgens unwohl wurde... Aimée merkte nichts von ihrem Entsetzen. Sie hielt die plötzliche Stille für ein Geschenk des Himmels und ließ sich endgültig in den Schlummer sinken, der sie bereits halb in seinen Fängen hielt. Sie wollte nicht denken, nicht zuhören und nicht antworten. Nur schlafen und vielleicht noch ein wenig träumen von der vergangenen Nacht. Welch eine Nacht das doch gewesen war... »Übel...«, murmelte Mere Mahaut Unheil ahnend, während sie die bestickten Seidenvorhänge um den prächtigen Alkoven energisch zuzog. Sie sperrte die Sonne aus und gönnte der schönen Schläferin die dringend benötigte Ruhe. Allein, sie selbst war weit davon entfernt, diesen paradiesischen Zustand der Unbeschwertheit zu erreichen. Hinter ihrer gefurchten Stirn jagten sich die Gedanken. Nun, das hatte ihnen allen wahrhaftig noch gefehlt! Aimée mochte noch so schön und verführerisch sein. Wenn sie sich hinter dem Rücken des Königs nach wie vor mit dem Grafen von Termignon traf, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie Ärger bekam. Der König teilte nicht gern, und Mere Mahaut glaubte wie alle anderen, daß es nur einen Grund geben konnte, wenn er ein Mädchen wie Aimée vor
aller Welt erhöhte und ihr den Status einer Dame verlieh. Er liebte sie! Aber es machte am Ende einen gewaltigen Unterschied, ob Aimée mit einem Bastard des Königs schwanger war oder mit jenem des Grafen de Termignon. Einen geradezu lebenswichtigen Unterschied. »Schlaft, Kindchen!« murmelte sie, obwohl Aimée sie schon gar nicht mehr hören konnte. »So wie es aussieht, werdet Ihr diesen Schlaf noch dringend benötigen.« Sie ging zur Tür, in Gedanken bereits ausschließlich mit dem Inhalt eines geheimnisvollen Holzkästchens beschäftigt, das tief in ihrer Kleidertruhe verborgen lag. Sie würde nachschauen müssen, ob sie noch genug Kräuter für diesen besonderen Tee hatte... »Ich liebe Eure lebhaften, wundervollen Farben, Dame Aimée«, raunte der König und preßte vielsagend die schmale Hand der jungen Frau, die an seiner Seite den Musikanten lauschte, die Liebeslieder aus dem Süden vortrugen. »Ich sollte einen dieser Sänger bitten, ein Madrigal auf Eure Augen zu schreiben! Grüne Sterne...« Die Akkorde der Lauten untermalten die Komplimente des begeisterten Monarchen, und Aimée unterdrückte einen Seufzer. Sie wußte langsam nicht mehr, wie sie sich Seiner Majestät erwehren sollte. Er überhäufte sie mit Aufmerksamkeiten, die ihre Truhen und Kammern füllten. Mit Ehren, die sie verlegen machten, und mit schönen Worten, auf die ihr nicht die passenden Antworten einfielen. Bei ihrer Ankunft in Paris hatten ihr nicht einmal die Kleider gehört, die sie trug, und nun besaß sie unversehens Truhen voller Gewänder, auch ein winziges, weißes Schoßhündchen, einen goldenen Käfig mit zwei Singvögeln, zahllose Perlenbänder und Armreifen, Spiegel, Kämme und den ganzen modischen Tand einer Dame von Stand. Mere Mahaut ließ nicht zu, daß sie ein einziges dieser Geschenke ablehnte und wenn sie es doch einmal tat, dann nahm sie die Gabe hinter ihrem Rücken an und schalt sie dafür aus. »Wovon wollt Ihr denn leben, wenn Eure Schönheit verblüht?« pflegte sie ein jedes Mal auf Aimées Vorwürfe zu sagen. »Ihr werdet nicht immer jung und reizvoll bleiben. Denkt an Eure Zukunft, Kind! Bescheidenheit könnt Ihr Euch nicht leisten!« Wenn Mere Mahaut ›Kind‹ zu ihr sagte, dann gab es ohnehin keine Widerrede. Aimée wußte nicht, wann es ihrer Kammerfrau gelungen war, sich zur Herrin über sie aufzuschwingen, aber zwischen Unmut und Dankbarkeit hin- und hergerissen, hatte sie es längst akzeptiert. Mere Mahaut war zum einzigen Fels in ihrem wirren Leben geworden, zur einzigen Person, der sie bedingungslos vertraute. Die Musikanten beendeten ihr Konzert unter allgemeinem Beifall und enthoben Aimée damit einer Antwort, die ihr ohnehin nicht eingefallen wäre. Unter halb gesenkten Lidern sah sich um und versuchte im bunten Gewirr des Hofstaats die vertraute Gestalt des Grafen Termignon zu entdecken. Wie seltsam, daß er schon wieder verschwunden war. Seit jener Nacht, an die sie nicht ohne Erröten denken konnte, hatte sie ihn nicht wiedergesehen, und sie wagte auch niemand nach ihm zu fragen. Wo steckte er? Ging er ihr mit Absicht aus dem Weg? Hatte er bereits genug von ihr? War er gesättigt von jenem Rausch der wilden Gefühle, die sie miteinander geteilt hatten? Wenn dem so war, sollte sie eigentlich froh sein. Dann hatte er ihr eine Entscheidung abgenommen, vor der sie sich selbst gefürchtet hatte. Allein, weshalb war ihr trotzdem so elend zu Mute? Vielleicht weil sie die Erkenntnis gewonnen hatte, daß diese verhängnisvolle Nacht sie nur noch fester aneinandergeschmiedet hatte? Weil weder von Überdruß noch von Sättigung die Rede sein konnte? Nur von schmerzlicher Sehnsucht und dem Wunsch nach mehr? »Man könnte meinen, die Sänger hätten vom Sterben und Vergehen erzählt und nicht vom Frühling und von der Liebe«, kommentierte der König ihre traurige Miene. »Was bedrückt Euch, meine Schöne? Was hat Euer Lächeln von diesem schönen Mund vertrieben?« »Wie könnt Ihr das fragen, Sire«, sagte Aimée in einem Anflug von Aufbegehren und platzte mit der Wahrheit heraus. »Ich gehöre nicht an diesen Hof! Ich bin eine Fremde unter
diesen Menschen, und ich weiß sehr wohl, daß man mich voller Mißtrauen beobachtet. Man denkt, daß Ihr mich belohnt, weil ich Euch zu Gefallen bin! Man hält mich für ein leichtfertiges Geschöpf, und ich weiß selbst, daß ich keinen Anspruch auf Respekt habe.« »Wie bedauerlich, daß sich alle Welt so sehr in Euch täuscht, Dame Aimée, denn eher bin ich Euch zu Gefallen und erhalte nicht mehr als ein seltenes Lächeln dafür«, dämpfte der König seine Stimme und griff nach Aimées Hand, um sie zärtlich zu küssen. »Wer ist es, der Euer stürmisches kleines Herz gefangengenommen hat und Euch so leiden läßt, Dame Aimée? Mein schwarzer Ritter, der Graf von Termignon?« Aimée hätte am liebsten ihre Hand zurückgezogen, aber ihre innere Stimme sagte ihr, daß sie den König bereits genügend gekränkt hatte. Er reagierte empfindlich, wenn es um seinen männlichen Stolz ging. Er gab sich den Anschein zu scherzen, sie begriff jedoch, daß er auch auf diesem Schlachtfeld keine Niederlagen mochte. »Ihr wißt sehr wohl, daß ich nicht zu jenen Frauen gehöre, die ein Mann von Ehre mit lauteren Absichten umwerben kann«, blieb sie trotzdem bei der Wahrheit. »Ich habe nicht den Ruf einer tugendhaften Dame. Was auch immer ich für den Grafen empfinde, er ist Anne de Fonsac versprochen und wird sie zur Gemahlin nehmen.« Bei Gott, sie hatte die verbrämten Spielchen, die gedrechselten Worte und die versteckten Andeutungen einfach satt. Sie hob den Kopf und begegnete dem ruhigen, nachdenklichen Blick des Königs, aus dem jede Andeutung von Tändelei verschwunden war. »Ihr geht hart mit Euch ins Gericht, Dame Aimée...» sagte der König leise. »Ich habe keine andere Wahl, Sire!« »Warum könntet Dir mir nicht einfach vertrauen?« »Ich habe es verlernt, Sire!« »Und wenn ich es Euch befehle?« »Ach...« Aimées kaum hörbarer Seufzer verlor sich in der sanften Frühlingsbrise. Sie hatte schon immer ihre liebe Not mit Befehlen gehabt. Daran konnte auch der Aufenthalt am Hofe des Königs nichts ändern. »Kleine Rebellin«, murmelte der König mit einer Zärtlichkeit, die Aimée verlegene Röte in die Wangen trieb. »Versprecht mir, daß Ihr wenigstens zu meinem Fest heute abend kommt? Die italienischen Komödianten proben bereits das Theaterstück, das sie uns zeigen wollen.« Aimée dankte mit einer anmutigen Reverenz für die Einladung, und der König verabschiedete sich. Er hatte sich ohnehin die Zeit für die kurze Muße im Park gestohlen, denn der Graf von Termignon hatte schlechte Neuigkeiten aus Spanien mitgebracht. Man hielt seine Söhne in einem steinernen Verlies gefangen, das nur über ein vergittertes Fenster verfügte. Man hatte sie der Diener beraubt, die für sie sorgen sollten, und die treuen Seelen getötet oder schlicht in die Sklaverei verkauft. In vollkommener Einsamkeit hatten die beiden kleinen Prinzen nur einander zum Trost und zur Gesellschaft. Schon ein Erwachsener würde unter den harten Bedingungen einer solchen Gefangenschaft zerbrechen, was tat sie erst zwei Kindern an? Wann war der Habsburger endlich zu Verhandlungen bereit? Obwohl gutmütig und lebenslustig, fiel es Franz von Valois bei diesen Gedanken schwer, seinen ungestümen Haß auf Karl V. zu zügeln. Er beschleunigte seine Schritte, als könne er die Entscheidungen damit herbeizwingen, die er so angespannt erwartete. Wann kam Georges de Pontivy denn endlich zurück? Ahne« sah dem Fürsten aus den Augenwinkeln nach, während sie sich wieder unter die Damen der Königinmutter einreihte. Man machte ihr bereitwillig Platz, aber es lag keine Freundlichkeit in den Bewegungen. Sie gehörte nicht dazu. Es war nicht nur Aimées Einbildung, die ihr das sägte. Es stand in jeder Geste, jedem Wort das notgedrungen zu ihr gesagt werden mußte.
Trotzdem kam es natürlich nicht in Frage, daß sie sich in ihre Räume zurückzog oder gar das geplante Fest versäumte. Einerseits, weil Louise von Savoyen es nicht duldete, wenn eine ihrer Ehrendamen aus der Reihe tanzte, und andererseits, weil sie auf die italienischen Komödianten auch ein wenig neugierig war. Nach Dieppe hatten sich höchstens ein paar Gauklertruppen verirrt und das auch nur sehr selten. Die unleugbare Vorliebe des Königs für alles, was aus Italien kam, konnte man überall im Schloße besichtigen. Kostbar bemalte Tapeten, wunderbare Gemälde und Meisterwerke der Bildhauerkunst fanden sich in allen Gängen, Gemächern und Sälen des Palais de Tournelles. Aimée wurde nicht müde, sie zu betrachten, und was das abendliche Spektakel betraf, hoffte sie im geheimen darauf, daß auch Georges de Pontivy an diesem Fest teilnehmen würde. Nicht umsonst hatte sie Mere Mahaut angewiesen, ihr prächtigstes Gewand für diesen Abend vorzubereiten. Sie wollte schön sein. Sie wollte, daß er sie begehrte, wenn er sie sah! Sie wollte, daß er sich ebenso nach ihr verzehrte, wie sie es nach ihm tat. »Habt Ihr schon gehört? Die Gräfin von Dévinas ist in Paris eingetroffen«, hörte sie ein paar Edeldamen miteinander plaudern. »Ich wußte gar nicht, daß sie noch lebt. Sie muß uralt sein!« »Gab es da nicht diesen entsetzlichen Skandal, in den die Dévinas verwickelt waren? Es ging um eine Verlobung, die auf höchst peinliche Weise aufgekündigt wurde, alle Welt hat damals darüber gesprochen«, mischte sich eine silberne, kühle Stimme ein. »Daß diese alte Hexe es wagt, sich trotzdem bei Hofe sehen zu lassen...« »Pfui, wie garstig von Euch, Dame Anne!« erhob die zierliche, dunkelhaarige Königin Claude ihre Stimme. Sie wurde meist übersehen, weil sie kaum ein Wort sagte. »Dame Dévinas ist eine persönliche Freundin der Mutter meines lieben Gemahls. Sie ist kaum sechzig Jahre alt. Sie hat sich vor Jahren auf ihre Ländereien zurückgezogen, weil ihre Familie von mehreren schlimmen Schicksalsschlägen getroffen wurde. Daß sie jetzt an den Hof kommt, tut sie auf eine ausdrückliche Einladung der Königinmutter hin!« »Verzeiht, das wußte ich nicht...« Die gescholtene Edeldame bekam einen roten Kopf und suchte hektisch nach einer Bemerkung, die ihren Fauxpas überspielte. Ihr Blick fiel auf Aimée, und nur ein guter Beobachter konnte das kurze Aufflackern in ihren unschuldig blauen Augen erkennen. »Dann hat mir jemand etwas Falsches erzählt«, säuselte sie betont liebenswürdig. »Wart nicht Ihr es, die diesen vergessenen Skandal in allen Einzelheiten ausgeplaudert hat, Aimée?« Aimée zuckte unter der doppelten Bosheit zusammen. Anne de Fonsac hatte es bisher nicht einmal für notwendig gehalten, sie zu grüßen, geschweige denn, daß sie einmal miteinander geplaudert hätten. Auch hatte sie in ihrem Leben noch nie den Namen Dévinas gehört. Hinzu kam, daß sie in diesem Kreise schlicht Aimée zu ihr sagte, obwohl sie weder miteinander verwandt noch befreundet waren. Sogar einer einfachen Kammerfrau gebührte die höfliche Anrede ›Dame‹ und noch eine Magd nannte man Jungfer. Sie war sich bewußt, daß hinter den höflich distanzierten Gesichtern Schadenfreude lauerte. Mit Ausnahme der herzensguten Königin gönnten ihr alle diese Beleidigung von ganzem Herzen. Allein, wie sollte sie darauf reagieren? Was sagen? »Nein, das hat Dame Aimée mit Sicherheit nicht«, bekam sie von völlig unerwarteter Seite Hilfe. »Dame Aimée kennt die Gräfin überhaupt nicht. Ich kann kaum behaupten, daß mir Eure Art des Klatsches gefällt, Anne de Fonsac. Es wäre sicher angebracht, wenn Ihr ein längeres Gespräch mit Eurem Beichtvater führen würdet. Ich erlaube Euch, daß Ihr Euch für heute zurückzieht.« Louise von Savoyen trat um das Rund des plätschernden Brunnens und maß die bleiche Dame de Fonsac mit einem Blick, der selbst den König einschüchterte, wenn sie darauf zurückgriff. Aimée kam es vor, als würden sogar die Vögel im Park für einen Augenblick das fröhliche Zwitschern einstellen. Lastende Stille lag auf dem Grüppchen der prächtig gekleideten Damen rund um die
kleine Königin. Das Plätschern des Brunnens und das ferne Brausen der großen Stadt hinter den hohen Mauern verstärkte noch den Eindruck absoluter Unwirklichkeit. »Ihr müßt mich mißverstanden haben, Madame«, versuchte die gescholtene Edeldame die Situation mit einem unsicheren Lächeln zu entspannen. »Ich wollte keinesfalls...« »Es ist für uns alle besser, wenn Ihr darauf verzichtet, uns darzulegen, was Ihr wolltet«, fiel die Königinmutter ihr streng ins Wort. »Dame Aimée steht im Hause des Königs unter königlichem Schutz. Ich erwarte, daß man ihr mit dem Respekt begegnet, der ihrer Person gebührt!« Auch Aimée zuckte unter dieser besonderen Formulierung zusammen. Hatte sie nicht eben erst dem König selbst gesagt, daß sie kein Recht auf Respekt einforderte? »Ich würde gerne zum Fluß hinuntergehen«, sagte Königin Claude in diesem Augenblick, als habe es den unliebsamen Vorfall nie gegeben. »Wollt Ihr mich nicht begleiten, Dame Aimée?« Nichts, was Aimée lieber getan hätte. An der Seite der stillen Königin, die am liebsten ihren eigenen Gedanken nachhing, entkam sie erleichtert der Gehässigkeit und dem Neid. Während sie jedoch auf den Fluß hinaussah, fragte sie sich einmal mehr, weshalb sie der König nun wirklich unter seinen Schutz genommen hatte. Mehr denn je hatte sie das Gefühl, daß es dafür einen Grund gab, den sie nicht kannte. Einen Grund, der mit Georges de Pontivy zusammenhing? 17. KAPITEL Der ohnehin schon prächtige große Saal des Palais de Tournelles glich an diesem Maienabend einer märchenhaften Insel aus Licht und Luxus. Während Stadt und Fluß im Dunkel der Nacht dem nächsten Morgen entgegendämmerten, machte der König mit Tausenden von kostbaren Kerzen die Nacht zum Tag. Die Musikanten, Komödianten, Akrobaten und Spaßmacher, die zur Unterhaltung seiner Gäste gekommen waren, vollbrachten ihre Kunststücke in Fluten von gleißender Helligkeit. Noch nie war Aimée der Prunk der seidenbestickten Standarten und Wandteppiche so farbenprächtig und lebendig erschienen. Es wirkte, als wollten die Fabelgestalten und Ritter von ihren Stoffen herabsteigen und sich mit ihren Damen unter die Menge mischen. Obwohl alle Türen und Fenster in der lauen Frühlingsnacht offenstanden, herrschte drückende Wärme unter der hohen Decke, und manch ein Seigneur wischte sich verstohlen den Schweiß unter seinem federgeschmückten Barett von der Stirn. Aimée war dankbar, daß sie Mere Mahauts Rat gefolgt war und auf das schwere, violette Samtgewand verzichtet hatte, das sie ursprünglich hatte tragen wollen. Auch wenn es die verschiedenen Goldtöne ihres Haares raffiniert zur Wirkung gebracht und den seidigen Schimmer ihrer Haut betont hätte, sie wäre vermutlich vor Hitze darin umgekommen. Statt dessen trug sie nun ein Kleid, das in seiner Einfachheit mindestens ebenso spektakulär wirkte wie die verschmähte neue Robe. Es war ein schleppenloses, schlichtes Gewand, das unter dem Busen mit einer einzigen Silberkordel gegürtet wurde und von dort in feinen Falten bis auf den Boden fiel. Der spitze, V-förmige Ausschnitt reichte bis auf diese Kordel. Da Aimée darunter jedoch ein glattes Seidenhemd mit engen Ärmeln trug, waren ihre Brüste züchtig bis zum Ansatz hinauf bedeckt, und der Stoff der Ärmel reichte sogar bis zum Beginn der Finger. Keine einzige Stickerei beeinträchtigte die Wirkung dieses Kleids, lediglich Ärmel und Ausschnitt waren mit einer schmalen Silberborte besetzt, die dem Gürtel glich. Mere Mahaut hatte ihr versichert, daß es der neuesten floreminischen Mode entsprach, und die neidischen Blicke der Damen bestätigten sie darin. Gegen die steifen, voluminösen Röcke der übrigen Damen wirkte sie zerbrechlich grazil und feenhaft. Auf der eisfarbenen Seide, die im Licht abwechselnd grünlich oder bläulich schimmerte, wirkte die Flut ihrer offenen, hellbraun rötlichen Locken wie gebändigtes Sonnenlicht. Sie trug einen
Hauch von kaum sichtbarem Schleier darüber, der mit einem Goldreif gehalten wurde, der gleichzeitig ihre Haare bändigte. Sie sah kühl, wunderschön und auf fremdartige Weise unberührt und rein aus, während um sie herum Licht und Hitze waberten. Ihre Gestalt schien zu leuchten, und es gab kaum einen Seigneur, der sie nicht immer wieder ansah. Der König nahm sich natürlich das Recht heraus, sie als erster zum Tanz zu führen, als die Musikanten endlich dazu aufspielten. Wie üblich begann er schwungvoll und zog Aimée in eine Folge von Drehungen und Sprüngen, die sie schwindelig machten. Dem König gefielen ihre Atemlosigkeit und die fliegenden seidigen Haare und Rocksäume. Während man ihnen Platz machte, beschleunigte er den Rhythmus und schwenkte Aimée so stürmisch durch den Saal, daß sie völlig den Überblick verlor. Franz von Valois spürte die biegsame Taille unter seinen Händen. Die verheißungsvolle Glätte der Haut unter der kostbaren Seide und die duftende Nähe des anmutigen Körpers, der sich ihm verweigerte und in gerade dadurch so reizte. Er begriff immer mehr, weshalb Georges de Pontivy so unrettbar in diesen bezaubernden weiblichen Fängen zappelte. Ein weiteres Mal hob er sie hoch, um sie mit starken Armen wieder aufzufangen, aber dieses Mal hatte der zarte Körper, der zu ihm zurückkehrte keine Kraft mehr. Aimées Kopf mit dem Schleier sank haltlos an die breite, stoffgepolsterte Schulter des Königs, und voller Schrecken sah er die durchsichtigen Lider über den Augen, die tödliche Blässe der Wangen. »Schnell! Die Dame ist ohnmächtig geworden. So helft mir doch!« Die Musik brach mit einem Mißakkord ab, und im Nu machte man dem König Platz, der die leblose junge Frau auf eine gepolsterte Bank neben dem mächtigen Kamin bettete, der an diesem Abend nicht beheizt war. Durch den Kreis, der ihn umgab, drängte sich eine zierliche Gestalt im dunklen Brokatgewand. Eine strenge Kinnhaube umspannte das faltige Gesicht der alten Dame, die besorgt auf die bewußtlose Gestalt der jungen Frau hinabsah. »Was ist passiert?« »Sie scheint die Besinnung verloren zu haben«, gab der König mit einer schuldbewußt jungenhaften Grimasse zu. »Wie es aussieht, bin ich ein wenig zu stürmisch beim Tanz gewesen!« »Ihr habt sie durch die Luft geworfen wie einen Sack Rüben!« kommentierte Louise von Savoyen das Ereignis trocken. Sie war der Greisin gefolgt und legte nun eine prüfende Hand an Aimées zarte Wange. »Kein Wunder, daß das arme Ding keine Luft mehr bekommen hat. Warum seid Ihr nur so wild, Franz...« Nur sie durfte es wagen, dem König in mütterlicher Autorität die ungeschminkte Wahrheit zu sagen. Ausschließlich bei ihr senkte Franz von Valois in einem solchen Fall wie ein gescholtener Junge den Kopf und schwieg. »Ah... Sie kommt zu sich!« sagte die alte Dame und griff besorgt nach einer von Aimées unruhigen Händen. Aimée wußte im ersten Moment nicht, wo sie sich befand, als sie die Augen aufschlug. Sie sah in ein schmales Frauengesicht, dessen feine Haut von tiefen Falten und Runzeln durchzogen war und von hohem Alter kündete. Lediglich die klaren grünen Augen waren alterslos und kündeten von tiefer Sorge. Vertraute Augen, die ihr vorkamen wie der Blick in einen Spiegel. »Gott sei's gedankt! Ihr habt uns einen schönen Schrecken eingejagt, Dame Aimée!« Sie drehte den Kopf nach der Stimme und erkannte den König, der ungewöhnlich besorgt aussah und an seinem bestickten Wams zupfte, als sei es auch ihm mit einem Schlage zu warm im Saal geworden. Noch nie hatte sie ihn so aufgewühlt gesehen. »Was... was ist passiert?« wisperte sie leise und ließ ihre Augen wieder zur der betagten Dame zurückwandern, die sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Unter dem intensiven Blick griff sie sich unwillkürlich an die Kehle, als würden dort alle Worte
steckenbleiben. »Wer seid Ihr?« »Florence de Dévinas, die Gräfin von Dévinas und St. Omer, mein Kind!« antwortete die Greisin ebenso leise. »Deine Großmutter!« Aimée hörte die Worte, aber sie vermochte nicht so zu reagieren wie man es von ihr erwartete. Vermutlich war sie noch immer ohnmächtig. Sicher, sie träumte. Eine andere Erklärung gab es nicht. Sie schloß die Lider und versuchte sich zu konzentrieren. Neben dem Stimmengewirr des großen Festes, das von ferne an ihr Ohr drang, war da eine seltsame Stille um sie herum. Eine Art von Wand aus Schweigen, die sie von allem anderen abschirmte. Gütiger Himmel, sie war nicht länger ohnmächtig! Dies alles geschah in Wirklichkeit! Sie hatte diese Worte tatsächlich gehört. Mit einem Ruck setzte Aimée sich auf und unterdrückte den Schwindel, der sie immer noch umfangen hielt. Ihr nervöser Blick wanderte über eine Reihe von Gesichtern, die sich ihr zugewandt hatten und sie beobachteten, als gehöre sie zu den Komödianten, die zuvor ihr Stück gespielt hatten. Sie wich befangen zurück und fand sich zwischen der Wand und diesen Menschen gefangen, deren Erwartung sie spürte, obwohl sie nicht begriff, worauf sie harrten. Instinktiv suchte sie den Blick der Greisin, die ihr von allen noch am vertrauenswürdigsten erschien. Alt genug, um ihr nicht mit Neid und Mißtrauen zu begegnen, wohlwollend genug, um die verstörte Frage in ihren Augen zu beantworten, noch ehe sie gestellt wurde. »Es kann keinen Zweifel daran geben, daß du meine Enkelin bist«, teilte sie Aimée mit fester Stimme mit. »Du gleichst meiner armen Elise aufs Haar. Sie hatte die gleichen Augen, den gleichen Mund und denselben Schwung der Brauen. Ihr Haar glich der Glut eines erlöschenden Feuers und ihre Gestalt den aufrechten Birken am Rand eines Moores. Sieh dich um, an diesem Hof, der alle edlen Damen des Landes vereint, niemand gleicht dir, so wie niemand Elise geglichen hat!« Aimée öffnete den Mund, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Sie war nicht fähig zu sprechen, dafür ergriff die Herzogin von Savoyen ruhig das Wort. »Ich dachte es mir«, sagte sie besonnen. »Aber ich wollte Euch nicht vorgreifen, meine liebe Florence. Es ist schon so lange her, aber ich wußte, daß Euer Herz Euch über alle Zweifel hinweg die Wahrheit verraten würde, deswegen habe ich Euch nach Paris gebeten. Allein, mir scheint, es wäre sinnvoll, wenn Ihr Euch mit Eurer Enkelin in die Abgeschiedenheit ihrer Räume begebt. Dieses Fest ist nicht der richtige Ort, um all die Fragen zu beantworten, die das Ereignis aufwirft!« »Kannst du gehen, Kind?« Aimée beantwortete die Frage der alten Dame mit einem unmißverständlichen Nicken. Obwohl noch immer in seltsamer Trance, gelang es ihr, gemeinsam mit der Gräfin von Dévinas in tadelloser Haltung das Fest zu verlassen. Sie schritten durch die Gäste wie Moses durch das Rote Meer, und hinter ihnen schlugen die Wellen des Tratsches zusammen. »Georges de Pontivy hat sich mit Recht über deine Vorwürfe gewundert«, seufzte die alte Dame, nachdem Aimée auch ihr die am Ende so traurige Geschichte ihres Lebens als Aimée Malivet erzählt hatte. »Der Siegelring, den du leider verloren hast, gehörte nicht dem Gatten deiner Mutter. Er zeigt Wappen der Termignons, das Wappen des Mannes, den Elise geliebt, verraten und wieder geliebt hat. Vermutlich hat sie das Schmuckstück ihrem Kind umgehängt, um es vor Constant zu verbergen. Welch eine Wirrnis mein kleines Mädchen doch aus seinem Herzen gemacht hat...« »Ich bitte Euch, erzählt!« bat Aimée und ließ sich auf dem Taburett neben dem gepolsterten Stuhl am Kamin nieder, in dem die Gräfin Platz genommen hatte. »Ich kann nicht begreifen, wie all diese Dinge zusammenhängen. Ich vermag nicht einmal zu erkennen, wie weit sie mein eigenes Leben betreffen!«
»Ich muß dir als erstes von Elise erzählen«, begann die alte Dame, und ihrer zitternden Stimme war anzuhören, wie sehr sie der Blick in die Vergangenheit berührte. Wie schmerzlich es für sie war, alles noch einmal zu erleben und nichts ändern zu können. »Sie war ein herzensgutes, liebenswürdiges Mädchen, schön wie ein verlockender Frühlingstag. Unser einziges Kind, aber sie war kein gehorsames Wesen. Der Himmel hatte ihr zuviel Anmut, Charme und Dickköpfigkeit in die Wiege gelegt. Schon seit ihrem elften Lebensjahr stand fest, daß sie Jules de Pontivy, den Graf von Termignon heiraten würde. Eine höchst passende Partie, die obendrein durch die geradezu närrische Liebe gekrönt wurde, die Jules von Anfang an für sie empfand. Er betete meine flatterhafte Tochter an, es gab nichts, was er nicht für sie getan hätte, und sie gewöhnte sich zu früh daran, ihn für einen ergebenen Knecht zu halten. Nicht die beste Voraussetzung für einen Gatten.« Vor Aimées Augen tauchte ungebeten das Antlitz des Grafen von Termignon auf, den sie kannte. Beileibe kein Mann, auf dessen Nase eine Frau herumtanzen konnte. Allein, wohin verirrten sich ihre Gedanken, sie mußte zuhören, begreifen, verstehen... »Elise war vierzehn, als sie Constant de Damville auf dem Turnier in Amiens erblickte, den berühmtesten Ritter seiner Zeit, gute zwanzig Jahre älter als sie. Niemand focht den Tjost wie er, niemand saß wie er einem griechischen Heros gleich auf seinem Streitroß, und keiner besiegte seine Gegner mit dieser Eleganz und Kraft zugleich. Elise sah ihn und war verloren. Sie liebte ihn mit der ganzen Leidenschaft ihres verwöhnten kleinen Herzens, und Jules war vergessen, noch ehe Constant in seiner überlegenen Manier dieses Turnier überhaupt gewonnen hatte. Allein, die Leidenschaft beruhte auf Gegenseitigkeit. Für das Band am Arm, das ihm meine närrische Tochter zum Pfand gegeben hatte, riskierte Constant sein Leben und legte ihr seinen Ruhm und seinen Gewinn vor die kleinen Füße.« Die romantische Erzählung schlug Aimée mehr und mehr in ihren Bann. Sie sah die Szene förmlich vor sich. Den stolzen Ritter, das zierliche Mädchen. Sie wußte längst, was es bedeutete, so bedingungslos zu lieben. »Sie haben einander geehelicht?« fragte sie mit angespannter Stimme. »Ja«, erwiderte Florence de Dévinas. »Leider haben wir das Flehen dieses dummen Kindes erhört und nachgegeben. Es hat Jules das Herz gebrochen, aber sie reiste mit fliegenden Fahnen nach ihrer Hochzeit gen Damville. Fünfzehn Jahre alt zu diesem Zeitpunkt, unschuldig, ahnungslos und närrisch verliebt in einen Mann, den sie im Grunde nicht kannte und dessen leidenschaftliche Gefühle sie nicht verstehen konnte.« »Was ist geschehen?« Aimée ahnte instinktiv, daß damit der romantische Teil dieses Berichts sein Ende gefunden hatte. »Der Alltag hat ihre Träume zerstört. Verwöhnt, unbeschwert und viel zu jung erwartete sie natürlich, daß sie ewig umworben werden würde. Allein, der Seigneur von Damville hatte Wichtigeres zu tun. Er kehrte an die Seite des Königs zurück und ließ seine Gemahlin zu Hause. Er vertraute ihr die Burg und den kleinen Sohn aus seiner ersten Ehe an. Ein verstocktes, schwieriges Kind, das die jugendliche Mutter ebenso ablehnte wie der Rest seines ländlichen Haushalts, der es gewohnt gewesen war, alleine zu schalten und zu walten.« »Wie schrecklich!« »Elises Stolz ließ natürlich nicht zu, daß jemand von ihren Schwierigkeiten erfuhr. Sie versuchte sich zu behaupten. Sie lebte nur für die wenigen Tage, an denen ihr Gemahl nach Hause kam. Sie flehte ihn an, sie mitzunehmen, aber als sie ihn fast überzeugt hatte, wurde sie schwanger...« »Arme Elise...«, hauchte Aimée, die in der Tiefe ihrer Seele das Unglück dieses schönen, impulsiven Mädchens begriff. »Eine nüchternere und klügere Frau hätte sich vielleicht mit ihrem Schicksal abgefunden, aber Elise war keines von beiden. Sie rebellierte wie ein kleines Kind und fand sich im erbittertsten Streit mit dem Gatten, von dem sie sich über alles geliebt geglaubt hatte. Damville versuchte ihren Gehorsam zu erzwingen, indem er ihre Freiheit beschnitt. Seine Gefühle für Elise waren so tief und leidenschaftlich, daß sie genau das Gegenteil
bewirkten. Sie bekam Angst vor ihm und seiner Inbrunst. Soviel Angst, daß sie keinen anderen Rat mehr wußte, als Jules de Pontivy um Hilfe zu bitten.« »Den abgewiesenen Verlobten?« Aimée sah das Nicken der Gräfin und konnte es trotzdem nicht fassen. Auch wenn sie instinktiv auf Seiten ihrer Mutter war, eine solche Handlung mußte doch geradewegs in eine Tragödie fuhren. »Sie wußte sich trotz allem geliebt von ihm«, versuchte Elises Mutter ihre Handlungen zu erklären. »Jules gehörte nicht zu jenen Männern, die ihre Gefühle wechseln wie andere das Wams. Ein Wort von Elise, und er handelte. Er wartete ab, bis Damville seine Burg verließ, dann entführte er das törichte Mädchen mitsamt dem Kind, das es erwartete. Beiden war es egal, daß sie damit einen beispiellosen Skandal verursachten.« Die alte Dame schwieg, und auch Aimée fand keine Worte. Zwischen Unglauben und Gewißheit hin- und hergerissen, begriff sie, daß jede Silbe dieses Berichtes traurige Wahrheit sein mußte. Welch ein niederträchtiges Durcheinander an Gefühlen und verletzten Menschen! Vermutlich hatte Monsieur de Damville diese Beleidigung nicht tatenlos hingenommen. »Constant de Damville tobte«, beantwortete die Gräfin diese Frage mit einem leisen Ächzen. »Er forderte Gerechtigkeit vom König. Er wollte seine Frau und sein Kind zurückhaben. Er belagerte unsere Burg, er stellte das halbe Königreich auf den Kopf, aber Elise und Termignon blieben verschwunden.« »Und dann?« »In dieser Zeit bist du zur Welt gekommen«, erfuhr Aimée endlich Näheres über das eigene Schicksal. »Elise hat es mir in einem Brief berichtet. Du bist die rechtmäßige Tochter von Constant de Damville, auch wenn dies niemand in den Kirchenbüchern von Damville vermerkt hat. Dein richtiger Name ist Aimée de Damville!« »Und Floralie, meine arme Schwester?« »Jules de Pontivy war ihr Vater, denn von ihrer Geburt erfuhr ich mehr als zwei Jahre später, als ich bereits glaubte, Damville habe die Suche nach Elise aufgegeben und beantrage in Rom bei Seiner Heiligkeit die Annullierung seiner unglücklichen Ehe. Vielleicht hat uns das leichtsinnig gemacht. Damville fing den Boten mit meiner Antwort an Elise ab, und damit nahm das Elend erneut seinen Lauf...« Aimée schluckte angestrengt; sie ertrug das Schweigen nicht länger, in das die alte Dame verfallen war. »Was ist danach passiert?« forschte sie ungeduldig, obwohl sie ahnte, daß man jetzt zu jenem Teil des Dramas kam, den sie besser kannte. »Niemand weiß Genaues.« Die Gräfin tupfte sich mit einem Taschentuch die Augenwinkel ab. »Tatsache ist, daß Constant de Damville in einem ritterlichen Zweikampf Jules de Pontivy vor den Augen des verstorbenen Königs in allen vermeintlichen Ehren abschlachtete, obwohl bei diesem Turnier scharfe Waffen verboten waren. Des weiteren erfuhren wir lediglich, daß Constant seine Gemahlin und ihre Töchter nach Damville zurückgebracht habe. Während ich vergeblich auf ein Lebenszeichen von Elise wartete, erreichte uns die nächste Hiobsbotschaft. Angeblich war sie mitsamt ihren Töchtern bei einer Blattern-Epidemie in Damville ums Leben gekommen. Ich erfuhr nie Näheres über ihren Tod. Mein Gemahl verbot mir jede weitere Nachforschung. Elise hatte ihn ebenso tief enttäuscht wie Damville. Er hielt es für eine gerechte Strafe des Schicksals, daß sie sich vor einem höheren Richter für ihren Leichtsinn und ihren Ehebruch rechtfertigen mußte. Niemand von uns kam jedoch auf die Idee, daß Damville in bezug auf die beiden unschuldigen Kinder gelogen haben könnte.« Näheres über den Tod ihrer Mutter? Aimée erinnerte sich an die bitteren Worte Simone Malivets. Sie hatte sich nicht die Mühe machen müssen zu lügen, die Wahrheit war entsetzlich genug gewesen. Sie suchte den Blick ihrer Großmutter. »Ein Bader hat Elise de Damville im Wald von Belloncombre die Pulsadern aufgeschnitten. Sie ist dort unter den Augen ihres Gemahls verblutet. Wie es scheint, hat er
mich und meine Schwester gezwungen, alles mit anzusehen. Ich vermag mich nicht zu erinnern, ich weiß nur, daß ich in Panik ausbreche, sobald sich die Bäume eines Waldes um mich schließen...« »Heilige Mutter Gottes!« Die alte Dame bekreuzigte sich mit zitternder Hand. Aimée rang heftig um Atem. Hinter ihren Schläfen pochte die Qual. »So hat Dame Simone also völlig recht gehabt. Ich bin die Tochter eines Mörders...« »Ich bitte dich, so darfst du nicht sprechen!« Die Gräfin legte eine Hand auf Aimées verkrampfte Finger. Sie spürte die ungesunde Anspannung ihrer Enkelin, die abgrundtiefe Verzweiflung, die sie dazu trieb, sich selbst für die Ereignisse verantwortlich zu machen. »Stimmt es etwa nicht?« widersprach Aimée heiser. »Er hat sie getötet und in dem Bewußtsein sterben lassen, daß auch ihre Kinder elend umkommen würden. Verhungern, verdursten, vielleicht sogar von den Wölfen zerfetzt. Wie kann ein Mann im Namen der Liebe so grausam sein?« »Wir sollten uns nicht zum Richter über diese schreckliche Wirrnis der Gefühle aufschwingen«, sagte Florence de Dévinas ruhig. Die Jahre der Trauer und Einsamkeit hatten ihr zu einer Einsicht verhelfen, die Aimée im Augenblick noch fehlte. »Nur ein Mann, der über jedes menschliche Maß hinaus liebt, wird auch in seiner Rachsucht und Enttäuschung alles Maß verlieren. Constant de Damville ist vor Rom gefallen. Alle Beteiligten dieser Katastrophe sind tot, sogar deine bedauernswerte Schwester.« Aimée schloß die Augen und versuchte, sich Floralies zarte Züge in Erinnerung zu rufen. Allein, das Gesicht verschwamm vor ihren Augen, so als habe es die Schwester nur in ihrer Fantasie gegeben. Das vergessene Kind einer verbotenen Liebe. Ein von allen verlassenes kleines Mädchen, von dem es nicht einmal ein Grab gab, an dem man für es beten konnte. »Am liebsten wäre ich auch tot...«, sagte Aimée aus diesen Gedanken heraus tonlos und riß erschreckt die Lider wieder auf, als sie in eine stürmische Umarmung gezogen wurde. »Wie kannst du es wagen, so etwas Dummes zu sagen!« rief die alte Dame mit einem Temperament, das Aimée verblüffte. »Weißt du nicht, wie ich gezittert und gehofft habe, seit mich die Botschaft der Herzogin erreichte? Gezittert davor, daß alles nur ein Irrtum sei. Gehofft darauf, daß mein Leben nach all diesen Jahren endlich wieder Freude und Licht kennenlernen wird! Ich lasse nicht zu, daß dir etwas Böses geschieht! Du bist zu Hause, Aimée! Du gehörst zu mir!« Die eindringliche Botschaft bestürzte Aimée eher, als sie sich darüber freuen konnte. Mit einem Schlag kam ihr die eigene Lage wieder zu Bewußtsein. Hatte die Gräfin denn vorhin nicht zugehört? »Ich bin nicht das, was Ihr von mir erwartet!« sträubte sie sich gegen die Zuneigung, die ihr entgegengebracht wurde. »Ich bin die Tochter eines Mannes, der zum Mörder geworden ist! Die Tochter einer Frau, die Ehebruch begangen hat. Ich bin kein Edelfräulein ohne Makel, ich werde Euch enttäuschen! Auch im günstigsten Fall habe ich nicht mehr als die einfache Erziehung einer Bürgerstochter erhalten! Ich werde Euch enttäuschen!« »Das glaube ich nicht!« widersprach die Gräfin gerührt. »Du bist die Tochter meiner Tochter. Nur eine solche Frau kann die Aufmerksamkeit des Königs erregen und das Haus Valois dazu bewegen, sich um ihr Schicksal zu kümmern. In dir steckt die Leidenschaft deines Vaters und der Zauber deiner Mutter. Es ist kein leichtes Erbe, das die beiden dir hinterlassen haben.« Zumindest der letzten Feststellung konnte Aimée von ganzem Herzen zustimmen. Sie begegnete dem Blick der leicht verschleierten grünen Augen, welche den ihren so sehr glichen. Ihre Großmutter! Gütiger Himmel, sie hatte tatsächlich eine Großmutter! 18. KAPITEL
Das Stadthaus der Grafen von Dévinas konnte es naturgemäß nicht mit dem Palast des Königs aufnehmen, aber Aimée fühlte sich im Schatten der großen Kathedrale von Notre Dame auf Anhieb wohl. Drei Stockwerke hoch, aus hellem Stein gebaut und rund um einen Innenhof mit schattigen Laubengängen geordnet, was es ein Mittelding aus Kaufmannshaus und herrschaftlicher Burg. Vier runde Türmchen an allen Ecken des Hauses, steinerne Wasserspeier und blinkende kupferne Dachreiter und Wetterfahnen kündeten davon, daß es trotz der Abwesenheit von Madame Dévinas von ihrem ergebenen Haushofmeister vortrefflich gepflegt und instand gehalten worden war. »Es ist besser, wenn du hier deinen Wohnsitz nimmst und den königlichen Palast meidest, bis sich die Wogen geglättet haben«, hatte ihre Großmutter über ihren Kopf hinweg bestimmt. »Gibt es jemanden, den du mitnehmen möchtest?« Mere Mahaut wußte sich vor Verblüffung darüber kaum zu fassen, daß die junge Frau, um deren Wohlergehen sie sich seit kurzer Zeit kümmerte, tatsächlich diese Dienste würdigte und sie mit in ihr neues Heim nahm. Doch ihre Sprachlosigkeit währte nur kurze Zeit. Im Nu ergriff sie die Zügel und lehrte sogar den hochnäsigen Haushofmeister der Gräfin das Fürchten, der für einen kurzen Moment gedacht hatte, der molligen Dame die Regeln dieses Hauses mitteilen zu müssen. »Ich komme aus dem königlichen Palast, mein Freund«, erklärte sie mit dem nicht unbeträchtlichen Gewicht ihrer akkurat gekleideten Person. »Ich bin keine Magd, der Ihr sagen müßt, was ihre Aufgaben sind. Wenn Ihr indes dafür sorgt, daß es meiner jungen Herrin an nichts mangelt und ihre Befehle unverzüglich befolgt werden, dann kommen wir sicher bestens miteinander aus.« Während der stocksteife gräfliche Haushofmeister noch nach Luft schnappte, hatte sie bereits dafür gesorgt, daß Aimées Gewänder in den Garderobentruhen untergebracht und die Betten gelüftet und mit feinstem Leinen bezogen wurden und daß in den Räumen der beiden Damen große Sträuße frischer Frühlingsblumen standen, die im Verein mit dem Duft des Honigwachses und der weit geöffneten Fenster den Muff vieler Jahre vertrieben. »Sie ist ein Goldstück, diese Mere Mahaut«, schmunzelte Florence de Dévinas und lehnte sich beim Anblick der golden glühenden Narzissen zufrieden in ihrem Stuhl zurück. »Sie gleicht meiner Dorette, aber die Arme leidet derart unter der Gicht, daß ich ihr die Reise nicht mehr zumuten mochte. Du wirst sie im Sommer kennenlernen, wenn wir nach Dévinas reisen...« Die Ankündigung blieb als leise Frage in der Luft hängen, aber Aimée antwortete nicht. Sie war viel zu tief in ihre eigenen Gedanken verstrickt. Sie stand am halboffenen Fenster und sah über die Dächer der Nachbarhäuser hinweg auf die Türme der großen Kathedrale. Der dröhnende Klang ihrer Glocken unterteilte das Leben auf der Ile de Cité in überschaubare Abschnitte. Ein kurzer, aber heftiger Regenschauer hatte Glanz auf den dunklen Schieferdächern hinterlassen und den Unrat von den Straßen in den Fluß gespült. Ein Holzfuhrwerk ratterte über das Pflaster vor dem Haus und der Mann auf dem Bock trieb die beiden Ochsen mit derben Flüchen in den Innenhof. Von fern vernahm Aimée den Ruf eines Pastetenverkäufers. Die Stadt und ihre Bewohner waren plötzlich näher gerückt als im großen Palais de Tournelles. Hier fand sie die Erinnerungen an Dieppe manchmal wieder. Die Gräfin betrachtete ihre schöne Enkelin mit gerunzelter Stirn. Mit jeder Stunde, die sie mit ihr verbrachte, wurde sie ihr mehr zum Rätsel. Weshalb zeigte sie so gar keine Regung der Freude über die Ereignisse? Sie war liebenswürdig, freundlich, aber doch seltsam abwesend, als befinde sich ihr Geist in unbekannten Fernen. Hatte ihr das Leben, das sie geführt hatte, unheilbaren Schaden zugefügt? War ihr Geist zerrüttet? »Was bedrückt dich, mein Kind?« packte sie schließlich den Stier bei den Hörnern. »Macht es dich traurig, daß du den Palast verlassen mußtest? Ich habe den Eindruck, du vermißt etwas!« »Aber nein!« Mit einem kurzen Aufblitzen ihres alten Temperaments fuhr Aimée
herum. »Ich bin glücklich über diesen Wechsel. Ich habe mich dort nicht wohl gefühlt. Es ist nicht meine Welt. Ich hasse dieses Getuschel hinter meinem Rücken.« »Es wird deine Welt werden«, widersprach die alte Dame sanft. »Niemand hat mehr das Recht, dich zu kränken. Falls es doch jemand tut, so wird er seine Strafe dafür erhalten, dessen darfst du gewiß sein.« »Wollt Ihr tatsächlich alle strafen, die mir jemals Leid zugefügt haben?« erkundigte sich Aimée sichtlich verblüfft. Es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, daß ihre Großmutter sich aus liebevollem Mitgefühl um derlei Dinge kümmern würde. Bisher hatte sich niemand bemüßigt gefühlt, ihre Interessen zu vertreten. Sogar im Leben von Aimée Malivet hatte sie in erster Linie für sich selbst und für Floralie sorgen müssen. Ihr Ziehvater hatte die Dinge des Hauses seiner Schwester überlassen und nicht daran gedacht, daß jene diese Macht zum Nachteil der beiden Mädchen verwenden würde. »Wenn es in meiner Macht steht, selbstverständlich«, erklärte die Gräfin energisch. »Es ist höchste Zeit, daß jemand für dich und dein Leben sorgt, Kind. Du hast ein Recht darauf, endlich behütet zu werden.« Mit zwei schnellen Schritten war Aimée bei ihr, sank auf die Knie und barg ihren Kopf im Schoß der zierlichen Frau. »Ich weiß nicht, wie ich Euch jemals für all dies danken kann!« »Dank es mir, indem du glücklich wirst und dein kostbares Leben nicht in Traurigkeit verschwendest. Wir haben soviel Zeit versäumt, weshalb kannst du die Vergangenheit nicht ruhen lassen und dich der Zukunft zuwenden, meine Kleine? Du machst deine Schwester nicht mehr lebendig, wenn du so unendlich trauerst...« Ein tiefer Seufzer weitete Aimées Lungen, und sie zwang sich, dem Blick ihrer Großmutter standzuhalten. So sehr sie es haßte, ihr weh zu tun, sie mußte endlich die Wahrheit sagen. Jeder weitere Tag machte den Vertrauensbruch nur noch schlimmer. Wenn sie sich ihren Unmut zuzog, dann besser gleich, ehe der Betrug ins unendliche wuchs. Sie mußte den verständlichen Irrtum der alten Dame korrigieren. »Ich kann die Vergangenheit nicht vergessen, denn sie beeinflußt meine Zukunft!« sagte sie tonlos. »Ich bin nicht die reine Jungfer, für die Ihr mich haltet. Ich fürchte, ich erwarte ein Kind...« Auch wenn ihre Stimme immer leiser geworden war, Florence de Dévinas erstarrte dennoch unter dem Schlag dieser Neuigkeit. Schweigen breitete sich in dem hübsch eingerichteten Raum aus, und plötzlich schlug Aimée der süßlich starke Duft der Narzissen auf den Magen. Sie würgte, preßte sich die Hand vor den Mund und eilte hinaus. Eine passendere Demonstration für den Wahrheitsgehalt ihres Geständnisses hätte es nicht geben können, und ihre Großmutter stieß einen seltsamen kleinen Laut der Verärgerung aus, ehe sie aufstand und ihr nachlief. Sie fand Aimée in ihrer Kemenate, wo Mere Mahaut soeben die Magd mit der übelriechenden Schüssel fortschickte, ehe sie eine feuchte Kompresse auf die blasse Stirn der jungen Frau drückte, die auf den Decken ihres Alkovens lag und in harten, abgehackten Zügen atmete. Sie wußte, wer da kam und öffnete nicht die Lider. »So ist es also wahr«, murmelte die Gräfin betroffen, und die rundliche Kammerfrau hob in einer fatalistischen Geste die Schultern. »Wir werden ein Weihnachtskind bekommen«, faßte sie die Lage zusammen. »Aber macht Euch keine Sorgen, die ersten Beschwerden werden sicher bald verklingen. Sie ist gesund, es fehlt ihr nichts...« Um Aimées Gesundheit machte sich die Gräfin zu diesem Zeitpunkt die wenigsten Sorgen. Sie massierte sich die Schläfen unter ihrer eng sitzenden Kinnhaube und stellte die wichtigste Frage, ohne sich speziell an eine der beiden Frauen zu werden. »Der Vater. Ist... ist es der König?« Aimée fuhr so abrupt hoch, daß die Kompresse von ihrer Stirn rutschte.
»So haltet Ihr mich also auch für die Maitresse Seiner Majestät? Für eine ehrgeizige Dirne, die ihre Ziele zu hoch gesteckt hat? Für ein lügnerisches Weib, das seinen Körper einsetzt, um Macht und Ansehen zu erlangen, ohne sich darum zu kümmern, daß sie damit Königin Claude hintergeht?« rief sie heiser. Ihre Großmutter wich vor der Heftigkeit dieser Vorwürfe einen Schritt zurück. Sie hatte nicht mit diesem verzweifelten Aufschrei einer jungen Frau gerechnet, die im Chaos ihrer Gefühle und ihres Lebens unterzugehen drohte. Sie sah in die weit aufgerissenen grünen Augen und entdeckte den Schmerz in ihnen. Das unverhohlene Leid, das Aimée bisher so sorgfältig verborgen hatte. Wer, um Himmels willen, hatte ihr das angetan? »Ich halte dich für meine geliebte Enkelin!« erwiderte sie ruhig und setzte sich auf die Kante des Betts, um das Mädchen in die Arme zu nehmen. »Aber wir werden diesen gordischen Knoten nicht lösen, wenn du mir verschweigst, wer der Mann ist, der dich mißbraucht hat!« »Mißbraucht?« Das Wort entlockte Aimée ein seltsames, trauriges kleines Lachen. »Nein, mißbraucht hat er mich wahrhaftig nicht! Ich habe ihn verfuhrt, um mein dummes Leben zu retten, und danach war nichts mehr so wie vorher. Ich weiß nicht, was er mit nur gemacht hat, aber er muß mich nur ansehen, damit ich unter diesem Blick schmelze. Wenn er mich berührt, verliere ich den Verstand, und wenn er sich im selben Raum befindet, kann ich es spüren, ohne ihn zu sehen. Er ist mein Leben.« »Heilige Mutter Gottes, so sehr liebst du ihn?« seufzte die alte Dame. »Wer ist es? So sag mir doch endlich seinen Namen!« »Ihn lieben?« Da war es — das Wort, die Tatsache, die Wahrheit, der Aimée sich bisher so hartnäckig und trotzig verweigert hatte. War das Liebe, was sie für Georges de Pontivy fühlte? Dieses allumfassende leidenschaftliche Interesse für ihn? Dieser Wunsch, seine Stimme zu hören und von ihm umfangen zu werden, egal, ob er sie dabei verletzte oder nicht? Wenn das Liebe war, dann war sie noch rettungsloser verloren, als sie bisher gedacht hatte. »Ihr habt recht«, wisperte sie fassungslos und schenkte ihrer Großmutter ein zitterndes Lächeln. »Ich liebe ihn! Mit allem, was ich bin. Mit meiner Seele, meinem Herzen, meinem Geist und meinem Körper.« »Den Namen!« forderte ihre Großmutter mit einer Strenge, die sie ihr gegenüber bisher noch nie gebraucht hatte. Es kam Aimée wie die Bestätigung ihrer Befürchtungen vor. Also war die kurze Spanne des Friedens vorbei. Sie hatte es befürchtet, seit dem letzten Morgen im Palast, als ihr Mere Mahaut auf den Kopf zugesagt hatte, was diese regelmäßigen Übelkeitsanfälle bedeuteten. »Könnt Ihr es Euch nicht denken?« erwiderte sie abweisend. »Es ist Georges de Pontivy, der Graf von Termignon!« »O Gott!« Aimée lachte, aber es klang beileibe nicht amüsiert. Es war ein herzzerreißender, unterdrückter Laut, der ihr ganzes Leid verriet. »Jules' Neffe«, fuhr ihre Großmutter nachdenklich fort und strich mechanisch über den steifen Rücken des Mädchens, das sich trotz der Umarmung fühlbar um Abstand zu ihr bemühte. »Mußtest du es mit deiner Dankbarkeit für seine Hilfe gleich so übertreiben?« Die trockene Feststellung brachte lediglich Mere Mahaut zum Schmunzeln, aber Aimée fühlte sich kritisiert. Sie ging geradewegs zum Angriff über. »Ich würde es jederzeit wieder tun!« verteidigte sie ihre leidenschaftlichen Gefühle. »Es war alles, was ich von ihm bekommen konnte, und ich habe es mir genommen. Ich wollte es mir nehmen.« »Georges de Pontivy«, seufzte die Gräfin. »Man sagt, er hat den schwierigen, stolzen Charakter seines Vaters und nicht die Verbindlichkeit seines Onkels. Zuviel Ehrgefühl und
Mut, zuviel Abenteuerlust und männliche Arroganz, aber zu wenig Herz und Güte! War nicht die Rede davon, daß er Anne de Fonsac versprochen ist? Ich entsinne mich, von einer Verlobung gehört zu haben.« Der knappen, aber zutreffenden Beschreibung war nichts hinzuzufügen. Aimée hätte sie nur resigniert bestätigen können. »Er hat mich als sein Liebchen mit nach Paris genommen«, fühlte sie sich verpflichtet, auch die letzten schlimmen Details auszubreiten, die sie ihrer Großmutter bisher verschwiegen hatte. »Ich haßte ihn dafür. Gleichzeitig schmolz ich unter seinen Händen, wenn er mich berührte. Ich wollte ihn töten und danach mich selbst, aber es mißlang. Ich habe ihn nur verwundet.« »Um Himmels willen, was hast du getan?« Die Gräfin wurde noch eine Spur blasser. »Wolltest du ihn wirklich umbringen?« »Ich wollte erst ihn und dann mich selbst erstechen, aber es mißlang. Sogar mit einem Dolch in der Schulter war ich seinen Kräften nicht gewachsen.« Aimée hörte sich an, als bedauere sie diesen Umstand bis zum heutigen Tag. »Die Madonna steh uns bei! Und was hat er daraufhin getan? Sein Vater hätte dir den Hals umgedreht, es wundert mich, daß er es nicht auch getan hat!« Die alte Dame rang unwillkürlich die Hände. Die Überraschungen nahmen kein Ende. »Lästerlich geflucht hat er und mich in meine Kammer gesperrt, nachdem ihn sein Diener bedauerlicherweise davon abgehalten hat, eben das zu tun, was Ihr vermutet habt, Grandmere.« Aimées Großmutter schüttelte verblüfft den kleinen Kopf mit der strengen Haube. »Wie? Kein Rufen der Wachen? Keine Anzeige beim König? Er hätte dich dem Profoß von Paris ausliefern müssen!« »Keines von alldem«, wisperte Aimée. »Er sagte, auf so einfache Art und Weise wäre die Angelegenheit zwischen uns nicht zu lösen.« Die Blicke der Gräfin suchten über Aimées Kopf hinweg verblüfft jene der zuverlässigen Kammerfrau. War es denn möglich, daß dieses Kind, das selbst ein Kind erwartete, trotz allem noch so unschuldig war, daß es nicht begriff, welche Gewalt der Leidenschaft es selbst fühlte und hervorgerufen hatte? Mere Mahaut nickte bestätigend. Die reine Unbefangenheit ihrer Herrin hatte auch ihr anfangs Schwierigkeiten bereitet. Es war nicht leicht zu begreifen, daß sie nur aus ihrem Herzen heraus handelte und keinerlei Berechnung oder Falschheit in ihr waren. »Mir scheint, ich muß dem Seigneur recht geben«, sagte die alte Dame seufzend und gab ihre Enkelin endlich frei. »Und wie steht es mit dir? Wirst du erneut mit dem Messer auf ihn losgehen, wenn er dir unter die Augen tritt?« Aimée wandte den Blick ab. Sie hatte zwar die Wahrheit gesagt, aber trotzdem vieles verschwiegen. So zum Beispiel die Nacht, als sie freiwillig zu ihm gegangen war, weil sie vor Sehnsucht nicht mehr ein noch aus gewußt hatte — einer Sehnsucht, die von Tag zu Tag stärker wurde und die ihr auch jetzt die Lebensfreude und den Mut raubte. In seine Arme würde sie sich werfen, nichts sonst... oder? »Ich weiß es nicht«, sagte sie nach langem Schweigen tonlos und schlug beschämt die Hände vor das Gesicht. Wie konnte sie erklären, was sie selbst nicht begriff. »Ich weiß gar nichts mehr. Bitte laßt mich allein!« Die beiden älteren Frauen tauschten einen neuerlichen Blick und kamen der Bitte nach. Aimée sank in die Kissen zurück und merkte nicht einmal, daß sie weinte. Ununterbrochen rannen Tränen aus ihren Augenwinkeln, liefen über die Schläfen, versickerten in den Haaren und näßten am Ende sogar das Leinen. Sie unternahm keinen Versuch, die Tränen abzuwischen. Nicht einmal in den schlimmsten Zeiten ihrer Demütigung war sie so verzweifelt gewesen. »Die Wahrheit!« forderte Florence de Dévinas gebieterisch und Mere Mahaut begriff
nur zu gut, daß ihre nagelneue ehrbare Existenz in diesem Moment bedenklich knapp auf dem Spiel stand. Wenn die edle Dame mit ihren Auskünften nicht zufrieden war, würde sie schneller als gedacht wieder unter den Mägden des Palais de Tournelles sein. Eine alternde Zofe ohne Haushalt, ohne Herrin und ohne die Chance, jemals wieder auch nur in die Nähe eines so wunderbaren Lebens zu kommen, wie sie es im Moment als Kammerfrau bei Aimée de Damville führte. »Es kommt immer wieder vor, daß einer der Seigneurs für einige Zeit ein einfaches Mädchen bei sich aufnimmt«, ging sie das Risiko der absoluten Ehrlichkeit ein. »Meist sind es hübsche kleine Dinger, die sie irgendwo aufgelesen haben, und wenn die Herren sich langweilen, werden sie mit ihren neuen Kleidern und ein paar Goldstücken davongeschickt. Das heißt, manche halten es so, andere reichen die armen Kinder auch an ihre Freunde weiter, bis sie dann irgendwann in der Gosse bei den Dirnen landen...« »Du mußt mir nichts über das Leben in Palästen erzählen«, fiel die alte Dame frostig ein. »Ich bin alt genug, um die Männer zu kennen.« »Anfangs nahm ich an, der Graf sei einer dieser Herren. Sein Ruf als Herzensbrecher eilt ihm schließlich voraus. Aber dann erkannte ich die Unterschiede. Er wollte nur das Beste für Aimée. Er wies mich an, ihre Truhen mit Kleidern zu füllen, und machte mich zu ihrer persönlichen Kammerfrau. Die Arbeit machte mir Vergnügen, denn es kann keine freundlichere und bescheidenere Herrin geben und keine schönere. Auch der Seigneur wußte dies. Ihr hättet ihn sehen sollen, wenn er sie heimlich betrachtete. Wenn ich jemals in meinem Leben einen närrisch verliebten Mann gesehen habe, dann ihn. Er konnte die Augen nicht von ihr lassen und sie nicht von ihm... Was sie allerdings an diesem Tag dazu getrieben hat, den Dolch gegen ihn zu erheben, kann ich nicht sagen.« Die Gräfin seufzte leise. Sie vermutete insgeheim, daß Aimée den hochfahrenden Stolz ihres eifersüchtigen Vaters geerbt hatte. Dieses übersteigerte Bewußtsein für die eigene Ehre, das nicht zuließ, daß sie sich von Herz und Leib versklaven ließ. Ihr war mit Sicherheit zu jeder Zeit bewußt gewesen, daß sie für Termignon nicht viel mehr als ein vorübergehender Zeitvertreib sein würde, während sie sich ihm selbst mit allem, was sie war, übereignet hatte. Lieber wollte sie sterben als fortgeschickt werden. Lieber selbst ein Ende machen, als gedemütigt werden. Wie eigenartig, daß ausgerechnet Aimée nicht verstehen wollte, was ihren Vater zu seinen schlimmen Taten getrieben hatte. Sie war ihm näher, als sie ahnte. »Ich nehme an, daß der Tratsch über meine wiedergefundene Enkelin irgendwann auch bis zum Grafen von Termignon vordringen wird«, faßte die Gräfin nun ihre Gedanken zusammen. »Warten wir ab, ob er Aimée seine Aufwartung macht. Wenn ihm wirklich etwas an ihr liegt, so muß der nächste Schritt von seiner Seite kommen.« Mere Mahaut bemerkte erleichtert, daß die alte Dame ihr keine Vorwürfe machte. Das beste wäre demzufolge gewesen zu schweigen, aber das brachte sie nicht fertig. Dafür hatte sie Aimée inzwischen viel zu sehr ins Herz geschlossen. Und sie hatte Quellen, die den hohen Herrschaften vielleicht nicht zur Verfügung standen. »Der Graf hat am Morgen nach dem Frühlingsfest des Königs die Stadt verlassen. Lange bevor Ihr nach Paris gekommen seid«, erklärte sie. »Gleich nach der Nacht, die Aimée allem Anschein nach bei ihm verbracht hat...« »Bist du sicher? Davon hat sie kein Wort erwähnt...« »Sein Diener, Joseph Blavy, hat es mir bestätigt, und ich habe sie selbst zu Bett gebracht, als sie von ihm kam.« Die Gräfin runzelte die Stirn und stellte prompt die nächste Frage: »Weshalb fühltest du dich verpflichtet, den Diener des Grafen aufzusuchen?« Mere Mahaut hielt dem neugierigen Blick stand. Nun kam es nicht mehr darauf an. »Blavy nimmt großen Anteil am Schicksal Aimées. Ich nahm an, es würde nicht schaden, ihm genau zu erzählen, was sich in letzter Zeit zugetragen hat.« Die Gräfin schnaubte unterdrückt. »Du wolltest, daß er es seinem Herrn brühwarm
weitererzählt?« »Und wenn dem so wäre?« erkundigte sich die Kammerfrau gelassen. »Als Demoiselle de Damville ist sie ihm ebenbürtig. Es wäre nur recht und billig, wenn dieses Kind in allen Ehren zur Welt käme.« »Ich mache Euch keinen Vorwurf. Also... der Graf war bereits fort?« »Sein Diener wußte nur, daß er in den frühen Morgenstunden allein aufgebrochen ist und nicht nur mürrisch, sondern äußerst schlecht gelaunt gewesen sei. Seitdem ist er wie vom Erdboden verschluckt. Es geht das Gerücht, er sei in geheimer Mission für Seine Majestät unterwegs, aber niemand weiß Genaues.« Das Schweigen dehnte sich zwischen den beiden Frauen, und am Ende war es die Gräfin, welche die Lage für Aimée in wenigen Worten umriß. »Das arme Kind...« 19. KAPITEL Zum Ende des Monats zog der Hof nach Fontainebleau um. Den jungen König lockten die Wälder rund um die alte königliche Residenz zur Jagd. Außerdem versuchte er dort seine kühnen Pläne eines völlig neuen, nach italienischen Maßstäben gebauten Palastes in die Wirklichkeit umzusetzen. Hunderte von Handwerkern waren damit beschäftigt, die alten Gebäude abzureißen und unter Leitung italienischer Baumeister das neue wunderbare Schloß zu errichten, von dem der König träumte, seit er aus Italien zurückgekehrt war. Es kümmerte ihn nicht, daß er seinen Hofstaat währenddessen in einer halben Baustelle einquartierte. Seine Räume und die der Königinmutter waren ja bereits fertiggestellt. Aimée und ihre Großmutter hatten eine herzlich formulierte, persönliche Botschaft der Herzogin von Savoyen erhalten, in der sie gebeten wurden, den Hof nach Fontainebleau zu begleiten. »Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein, die Dame de Damville unter meinen Ehrendamen zu begrüßen, damit sie den Platz einnehmen kann, der ihr zusteht!« hatte die Mutter des Königs ausdrücklich geschrieben, und das kam bereits einem strikten Befehl zum Erscheinen gleich. »Ich kann nicht«, sträubte sich Aimée und leistete damit ihrer Großmutter zum ersten Mal ernsthaften Widerstand. »Ich möchte nicht. Ich will nicht.« »Warum nicht?« »Ich gehöre nicht unter diese Damen!« »Papperlapapp, du bist Aimée de Damville, meine einzige Enkelin. Denjenigen möchte ich sehen, der dir dieses Recht streitig machen will. Es ist an der Zeit, daß du deinen lästigen Hang zur Einsiedelei aufgibst. Du kannst auf die Dauer nicht einem Wiedersehen ausweichen, das du heimlich doch ersehnst. Wenn du ihn haben willst, dann fang gefälligst endlich an, um diesen Mann zu kämpfen, sonst behält Anne de Fonsac doch noch die Oberhand, und du bist selbst schuld daran.« Aimée starrte ihre Großmutter verblüfft an. Sie hatte sich immer noch nicht ganz daran gewöhnt, von ihr so vollkommen durchschaut zu werden. Nicht einmal Floralie hatte diese gespenstische Fähigkeit besessen, jeden Gedanken hinter ihrer Stirn lesen zu können. Aber sie brachte es dennoch nicht fertig, die wirren Gefühle in Worte zu fassen, die sie zu ihrer Ablehnung trieben. Hier im Schutz dieses Hauses hatte sie vorübergehend Frieden gefunden. Eine Atempause, die es ihr ermöglichte, zu sich selbst zu finden. Nach Fontainebleau zu gehen bedeutete, das mühsam errungene Gleichgewicht wieder aufs Spiel zu setzen. Am Hof bestand jederzeit die Gefahr, Georges de Pontivy über den Weg zu laufen. In seinen Augen würde sie immer die Hexe aus Dieppe bleiben, egal, was ihre Großmutter auch sagte. Vermutlich würde er sie in ihrer neuen Ehrbarkeit nur auslachen. »Ich fürchte mich nicht«, entgegnete sie schwach und war nicht weiter überrascht
darüber, daß die Gräfin unwillig schnaubte. Sie selbst hätte sich auch kein Wort geglaubt. »Um so besser, dann gibt es nichts, was uns davon abhalten könnte, dieser Einladung zu folgen! Gib deiner Kammerfrau Anweisung, die Reisekisten zu packen, wir begeben uns nach Fontainebleau!« »Warum müssen wir...?« Aimée wurde unterbrochen, ehe sie ihren Satz beenden konnte. »Zum Donnerwetter, ich werde nicht zulassen, daß meine Enkelin sich in ihrer eigenen Dickköpfigkeit geringer schätzt, als es sich gehört!« verkündete die alte Dame. »Du wirst mir gehorchen und mich an den Hof begleiten und jetzt Schluß!« Aimée sah die alte Dame mit halboffenem Mund an. Sie hatte bisher weder so energische noch so drastische Worte aus ihrem Mund vernommen. »Wir werden der Welt beweisen, daß die Frauen des Hauses Dévinas zu kämpfen wissen!« verkündete ihre Großmutter kriegerisch, und ein runzliger, leicht gekrümmter Zeigefinger schoß auf Aimée zu. »Du wirst mich nicht enttäuschen!« »Es gibt nur eine einzige Möglichkeit«, verkündete Franz von Valois und sah sich im kleinen Kreis seiner Ratgeber um. Mehr aus Gewohnheit denn um sich zu versichern, ob sie auch aufmerksam lauschten. »Kaiser Karl verabscheut es ebenso, mit mir zusammenzutreffen, wie ich darauf verzichten kann, seine habsburgische Visage zu betrachten. Verhandlungen, die uns beide an einen Tisch führen, müssen scheitern, denn ich bin versucht, ihm seinen dürren Hals umzudrehen für die Dinge, die er meinen Söhnen antut. Beide benötigen wir allerdings Unterhändler, denen wir blind vertrauen können.« Georges de Pontivy bemühte sich, die Augen aufzubehalten. Der Gewaltritt, der hinter ihm lag, steckte ihm noch in den Knochen. Immerhin waren die Nachrichten, die er dem König aus Spanien mitgebracht hatte, die Strapazen wert gewesen. »Wie wir aus sicherer Quelle erfahren haben, beabsichtigt Karl, seine Tante Margarete von Österreich sowie seine Gemahlin Maria von Burgund mit dieser Friedensmission zu beauftragen«, erklärte der König soeben und teilte dem Gremium danach mit, daß seine verehrte Mutter die heiklen Verhandlungen für das Königreich Frankreich führen würde. Vielleicht war auf diese Weise doch ein diplomatisches Abkommen möglich, welches die baldige Rückkunft der beiden Prinzen ermöglichte. Der Graf beteiligte sich nicht an der Diskussion, die ohnehin nur der Form halber geführt wurde und mit der Bestätigung des königlichen Entschlusses endete. Während die Räte noch über den geeigneten Ort für eine solche Zusammenkunft debattierten, sehnte er sich dringlich nach einem Bad, einer Mahlzeit und einem Bett. Wenn möglich in dieser Reihenfolge, aber der König hielt ihn auf, als sich der Conseil zerstreute. »Ihr seht müde aus, mein Freund«, kommentierte er die tiefen Falten im Gesicht des Grafen. »Ihr seid für das heutige Fest entschuldigt, wenngleich Ihr Euch damit um den Anblick eines neuen Sternes bringt, der über unserem Hof aufgegangen ist. Habt Ihr schon vernommen, daß die Gräfin Dévinas mit ihrer Enkelin in Fontainebleau eingetroffen ist? Aber vermutlich interessiert Euch das nicht, da Ihr Euch in die wartenden Arme der Dame Fonsac stürzen könnt.« »Dévinas?« wiederholte Georges de Pontivy leicht fragend. Der Name weckte eine ferne Erinnerung in ihm, die er im Augenblick nicht einordnen konnte. Sein müder Geist versagte den Dienst. Die Tage im Sattel forderten am Ende auch von seiner robusten Kraft ihren Tribut. »Ihre Tochter Elise de Dévinas war die Gemahlin von Constant de Damville...« Der König ließ das Ende des Satzes vielsagend in der Luft hängen, aber der Graf hatte das fehlende Mosaiksteinchen bereits an die richtige Stelle des Bildes gelegt. »Lieber Himmel, doch nicht schon wieder dieser alte Skandal?« rief Georges de Termignon. »Reicht es nicht, daß Sylvain de Damville keine Ruhe gibt?« »Madame de Dévinas kam auf Bitten meiner lieben. Mutter nach Paris«, erklärte der König, ohne seine Augen vom Antlitz des Grafen zu lassen. »Und sie hat in der jüngsten
Ehrendame von Madame einwandfrei ihre totgeglaubte Enkelin Aimée erkannt! Ihr vermögt Euch nicht vorzustellen, welche Wellen die Aufregung geschlagen hat, kaum daß Ihr Paris verlassen hattet. Ich muß Euch sagen, ich bin Euch dankbarer denn je, daß Ihr vernünftig genug wart, auf die Bestrafung der Kleinen zu verzichten, als sie Euch mit dem Dolch angriff. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn die Gräfin sie geschoren und ausgepeitscht im Arbeitshaus gefunden hätte! Und auch noch auf meinen Befehl hin!« Hätte er Georges de Pontivy mit der eisernen Hellebarde des Gardisten vor der Tür niedergeschlagen, der Graf hätte nicht verstörter dreinschauen können. Im Verein mit seiner Erschöpfung fiel es ihm schwer, auch nur annähernd seine Haltung zu bewahren. »Ihr scherzt?« murmelte er und wußte bereits, daß der Monarch es nicht tat. »Wie könnte ich mit dem bedauernswerten Schicksal dieses armen Kindes Scherze treiben«, entrüstete sich der König denn auch prompt. »Bei Gott, im Grunde bin ich froh, daß Damville gemeinsam mit dem Konnetabel vor Rom gefallen ist. Sein Schicksal erspart es mir, einen Ritter der Krone für seine Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Ich bin sicher, mein Vater hätte viel mehr getan als ihn und die Seinen vom Hof zu verbannen, wenn er gewußt hätte, mit welcher Brutalität Damville unschuldige Kinder ausgesetzt hat!« »Ausgesetzt...«, wiederholte der Graf so heiser, daß der König die Stirn runzelte. »Ja, denkt Euch nur, das eigene Fleisch und Blut! Alk Welt ist erschüttert darüber. Wir müssen unser Möglichstes tun, um Dame Aimée für die Schrecken der Vergangenheit zu entschädigen. Ich werde darüber nachdenken, welcher gütige und noble Edelmann einen passenden Gatten für sie abgibt. Vielleicht wähle ich einen älteren Mann, der großzügig darüber hinwegsehen kann, daß sie unschuldig die Tiefen des Elends durchmessen hat, weil er bereits einen Erben besitzt. Einen klugen Seigneur, der ihr die Ehre seines Namens und seiner Familie schenkt und den ich dafür reich belohnen werde.« Die salbungsvolle, verschlungene Rede, die am Ende nur darauf hinauslief, Aimée mit einem alten Mann zu verheiraten, traf den Grafen wie ein weiterer Faustschlag in den ungeschützten Magen. Entgegen seiner üblichen Diplomatie und Vorsicht bemerkte er kaum, daß der König eine jede seiner Reaktionen förmlich belauerte. Er versuchte sich mit aller Gewalt zu fassen. »Warum... warum wollt Ihr sie so schnell verheiraten?« brachte er angestrengt heraus. »Dem Anschein nach steht sie bald im neunzehnten Lebensjahr! Es wird Zeit, daß sie ihrem Gatten Kinder schenkt«, erklärte der König und bemerkte sehr wohl die ärgerliche Röte auf der Stirn. »Ja...«, entgegnete Georges de Pontivy unbestimmt und entdeckte zum ersten Mal in seinem Leben, daß ihm die Worte fehlten. Großzügig gab ihm der König die Erlaubnis, sich zurückzuziehen, und erst als der Graf den Raum verlassen hatte, gestattete er sich das Lächeln, das er sich die ganze Zeit über verboten hatte. Allein, noch war der Kampf nicht entschieden. Zwar hatte er einen sicheren Treffer gelandet, wenn ihn sein Instinkt nicht täuschte, aber der Graf hatte sich einmal mehr als ebenbürtiger Gegner erwiesen. Er gehörte nicht zu jenen Männern, die über ihre Empfindungen plauderten oder sich leicht beeinflussen ließen. Blieb die Frage, ob er den königlichen Köder nun geschluckt hatte oder nicht. Georges de Pontivy lief wie blind durch die prächtige neue Galerie des Schlosses, taub für die Grüße, die man ihm schenkte, und völlig benommen von einem Schock, wie er ihn in dieser Größenordnung noch nie erlitten hatte. Sogar Joseph Blavy, der treue Schatten seines Herrn, wich zur Seite, als er den wilden Schimmer der schwarzen Augen sah und den Fluch vernahm, mit dem der Graf die Tür seines Gemachs hinter sich ins Schloß warf. »Großer Gott, was ist passiert, Seigneur?« platzte er heraus. »Laß mich in Frieden!« fauchte der Seigneur, und seine Handbewegung bedeutete dem Diener, sich umgehend aus seiner Sichtweite zu entfernen. Blavy gehorchte schweren Herzens. Er hatte seinen Herrn nur ein einziges Mal in
einer solchen Verfassung gesehen. Damals, als Aimée ihn mit dem Dolch angriff. Hatte sie auch dieses Mal ihre Finger mit im Spiel? Er mußte es herausbekommen. Seine Schritte fanden wie von selbst die Richtung zum Dienstbotentrakt. Wenn Dame Aimée im Schloß war, dann war Mere Mahaut nicht weit. Von ihr würde er mehr erfahren können. Sein Seigneur hingegen war reglos mitten im Raum stehengeblieben. Eine düstere Statue in staubigen Stiefeln, in den Säumen des Umhanges den Schmutz der Reise. Abwesend strich er sich das Haar aus der Stirn, ehe er an den glänzend eingelegten Holztisch trat, auf dem bereits ein kalter Imbiß auf ihn wartete. Joseph hatte bestens vorgesorgt, aber in Anbetracht der Tatsache, daß man nie wußte, wie lange die Conseils des Königs dauerten, auf warme Speisen verzichtet. Der Graf entdeckte jedoch erstaunt, daß ihm sein Hunger von eben völlig vergangen war. Er bediente sich lediglich beim Wein und trank den vollen Silberbecher in langen durstigen Zügen aus. Der schwere Burgunder rief ein trügerisches Gefühl des Wohlbefindens in seinem Magen hervor, das ihm endlich die Kraft gab, wenigstens Umhang und Waffen abzulegen. Dann nahm er eines der duftenden Brote und rupfte es mechanisch in kleine Teile, die er in den Mund zu schieben vergaß. Eine weiß-grau gesprenkelte Taube landete mit leisem Krallengeklapper auf dem Bleisims seines offenen Fensters und nahm dort eine unruhige Wanderung auf. Ihr gurrender Ruf weckte Georges de Pontivy endlich aus seiner Benommenheit, und das erste, was über seine Lippen kam, war ein Fluch, der alle bisherigen noch um einiges an Deutlichkeit übertraf. Sie war hier. In diesem Schloß. Aber sie war nicht mehr seine kleine Hexe! Sie war jetzt Aimée de Damville, eine hochnoble Dame, der er mehr als nur unrecht getan hatte. Eine Dirne hatte er sie genannt, ein Straßenmädchen, eine Landstreicherin und Abenteurerin, gut genug für die ungezügelte Lust eines Mannes. Verführerisch genug, um sie diese wahrlich hemmungslose Art der Liebe zu lehren, die meilenweit von dem entfernt war, was ein ehrenwerter Mann seiner unschuldigen Edeldame schuldig sein mußte. »Warum habe ich nicht wenigstens den Versuch gemacht, ihre ungeheuerliche Geschichte zu glauben? Wieso habe ich sie von Anfang an als geschickte Lügnerin abgestempelt?« warf er sich selbst vor, obwohl die Antwort auf der Hand lag. Weil es in diesem Fall seine Ehre erfordert hätte, daß er die Finger von ihr ließ und weil er das nicht fertiggebracht hätte. Weil er sie vom ersten Tag an begehrt hatte. Weil er süchtig nach ihr gewesen war. Die Tatsache, daß sie nicht unter dem Schutz einer Familie stand und ihm ausgeliefert war, hatte die Angelegenheit erheblich vereinfacht. Mädchen wie Aimée gehörten dem, der sie als erster entdeckte. Mädchen wie sie mußten dankbar sein für einen Edelmann, der sie liebte und verwöhnte, und ein Mädchen wie sie konnte man gefahrlos vergessen, wenn die erste Leidenschaft wieder abgeflaut war. Daß er die eigenen niederträchtigen Gründe für sein Handeln so genau durchschaute, machte die Angelegenheit nicht besser. Der untadelige Seigneur, der ehrenhafte Chevalier und Ritter war im Grunde nicht mehr als ein übler Schurke, der die Schwäche einer Frau schamlos ausgenützt hatte. Aimée hatte es durchschaut, schon damals, als sie den Dolch auf ihn gerichtet hatte. »Natürlich muß sie mich hassen«, murmelte er beschämt. »Sie kann gar nicht anders, sie muß mich hassen. Sie hat sich an einen Ritter des Königs gewandt und ihn um Hilfe gebeten, aber was hat sie bekommen? Einen leichtlebigen Halunken, der ihre Notlage ausgenützt und sie um Ehre und Jungfernschaft gebracht hat!« Ohne daß er sich groß darum bemühen mußte, tauchte das Bild der verführerischen Sirene vor ihm auf, die in der Dunkelheit seines Kerkers in seine Arme geglitten war. Die Unschuld ihrer scheuen Bemühungen um seine Gunst, die Verwirrung, in die er sie mit seinen hemmungslosen Zärtlichkeiten gestürzt hatte. Ein armes, verzweifeltes Geschöpf, das sich in einer Welt der Gewalt und des Hasses verirrt hatte. Sogar sein Impuls, sie auf seiner Flucht mitzunehmen, war doch am Ende nur dem eigensüchtigen Wunsch entsprungen, sie auch weiterhin in den Armen halten zu
können. Das einmal genossene Vergnügen nicht einem anderen zu überlassen. Damville ein wenig mehr zu ärgern. »Du hättest Besseres verdient, mein bezaubernder Schatz!« sagte er ihr in seinen reuigen Gedanken. »Mit meinem Schutz und meiner Hilfe hättest du mehr anfangen können als mit meinem Verlangen.« O Gott, warum mußte er sich ausgerechnet in diesem Moment an die Vollkommenheit des geschmeidigen Körpers erinnern, der so vollendet zu dem seinen paßte? Der ihm so unendlich kostbare Augenblicke der Verzückung geschenkt hatte, daß sie dem Paradies auf Erden nahe kamen? An die winzigen, anrührenden Seufzer der Lust, die sie ausstieß, wenn er ihre Brüste liebkoste? An die unschuldige Leidenschaft, mit der sie sich seinen bizarrsten und begehrlichsten Wünschen unterworfen hatte? Hätte ihm nicht die Tatsache, daß sie als Jungfrau zu ihm gekommen war, zu denken geben sollen? Allein, es war zu spät. Es gab nichts, was ihn entschuldigte, nichts, was seine hungrige Begierde beschönigen konnte. Er hatte etwas unendlich Kostbares und Schönes besessen und es in männlicher Arroganz und eitlem Stolz zerstört. Er verdiente jeden Augenblick der Qual, der ihn heimsuchte. Und doch, da war ein Funke in all der reuigen Düsternis seiner Selbstanklagen. Sie war hier! Er würde sie wiedersehen! Sie war in Fontainebleau. Irgendwo unter diesem prächtigen neuen Dach. Er mußte nur durch diese Tür dort gehen und am Fest des Königs teilnehmen. »Du Narr!« meldete sich eine nüchterne Stimme in seinem Hinterkopf. »Willst du den nächsten Skandal provozieren? Hast du vergessen, daß Anne de Fonsac dein Wort besitzt?« Seine Schultern sanken nach vorn, und die Müdigkeit kehrte zurück. Nein, es gab nichts, was er tun konnte. Absolut nichts. 20. KAPITEL »Graf Termignon?« Georges de Pontivy drehte sich mit einem unmerklichen Stirnrunzeln um und betrachtete die zierliche Dame, die vor ihm stand. Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter, und obwohl eine strenge Haube ihr Gesicht klösterlich umschloß, verrieten ihm die Runzeln und Falten, daß sie die Lebensmitte längst hinter sich hatte. Allein, in den hellen grünen Augen blitzte die Neugier, und die Stimme klang kräftig und befehlsgewohnt. »Madame?« Seine Verneigung war elegant, makellos und vorsichtig distanziert. Er gehörte nicht zu den Männern des Hofes, die von alten Damen angesprochen wurden. Es fehlte ihm an der Erfahrung mit ihnen und deswegen verließ er sich erst einmal auf seine bewährten, diplomatischen Fähigkeiten. »Gönnt mir einen Augenblick Eurer Zeit, ich würde mich gern ein wenig mit Euch unterhalten«, sagte sie so energisch, daß ihm kaum etwas anderes übrigblieb, als ihr den Arm zu reichen und mit ihr die königliche Galerie entlang zu spazieren. »Ihr seid im Vorteil, Madame«, entgegnete er höflich. »Ihr kennt mich offensichtlich, was mir bei Euch nicht vergönnt ist!« »Das ist tatsächlich mein Vorteil. Sonst hättet Ihr womöglich die Flucht ergriffen«, sagte sie ihm auf den Kopf zu. »Ich bin Florence de Dévinas, Aimées Großmutter... Nun, es ist nicht nötig, daß Ihr stolpert, habt Ihr Probleme mit Euren Stiefeln, Seigneur?« Der trockene Spott in ihrer Stimme trieb ihm die Röte in die Stirn, und der Arm, auf den die alte Dame ihre Hand gelegt hatte, erstarrte förmlich unter ihrer leichten Berührung. Sie registrierte es mit einer gewissen Befriedigung. Sie war sich noch nicht darüber im klaren, ob sie ihn mochte oder nicht. Er sah verschlossen, arrogant und auf gefährliche Weise viel zu männlich aus. Er glich in nichts seinem liebenswürdigen Onkel. Er wirkte wie ein Mann, der einer Frau sehr viel Kummer machen konnte. Die Gräfin tätschelte den steifen Ärmel, als habe sie einen kleinen Jungen vor sich,
dem sie seine Befangenheit nehmen wollte. »Ich wollte nicht versäumen, mich bei Euch dafür zu bedanken, daß Ihr meine Enkelin nach Paris gebracht habt«, begann sie in leichtem Plauderton und merkte an seiner Verblüffung, daß der Seigneur etwas anderes erwartet hatte. Vorwürfe vermutlich. »Ich habe es verachtenswerterweise nicht allein aus Menschenfreundlichkeit getan«, verurteilte sich der Graf selbst. »Euer Dank belohnt einen Mann, der ihn nicht verdient. Ich habe Eurer Enkelin nicht geglaubt, als sie mich um Hilfe bat.« »Eure Ehrlichkeit ehrt Euch«, gab die alte Dame zu und gönnte ihm ein maliziöses Lächeln. »Bleiben wir also bei den Tatsachen. Ihr habt Euch wie ein hungriger Wolf auf die schöne Jungfer gestürzt und sie mit bestem Appetit verspeist. Wie stellt Ihr Euch nun alles Weitere vor?« Das unheilverkündende Kribbeln, das ihn bei den ersten Worten überlaufen hatte, vertiefte sich zu handfestem Widerstreben. Unwillkürlich preßte er die vollen Lippen schmal aufeinander und wägte seine nächsten, eher zynischen Worte genau. »Wäret Ihr ein Ritter, Gräfin, würde ich mich selbstverständlich dem Zweikampf stellen. Welche Waffen schlagt Ihr jedoch in unserem Fall vor? Stickrahmen und Nähnadel sind nicht meine Welt.« Die alte Dame antwortete mit einem höchst empörten Schnauben. Sie durchschaute das Ablenkungsmanöver auf Anhieb. »Keine Dummheiten, Seigneur! Wenn Ihr glaubt, mich zum Lachen bringen zu können, dann habt Ihr Euch getäuscht. Es ist mir durchaus ernst mit meiner Frage. Seid Ihr bereit, die Folgen Eures Handelns auf Euch zu nehmen und Aimées Ehre wiederherzustellen?« Nicht daran gewöhnt, von anderen Befehle anzunehmen, hob der Graf anzüglich die Brauen. »Wie sollte ich das tun? Der Schaden ist passiert und kann nicht wiedergutgemacht werden. Soweit mir bekannt ist, sucht der König bereits nach einem Ehemann für Eure Enkelin. Eure Sorgen um ihren angegriffenen Ruf sind völlig unbegründet.« Sein düsterer Blick kreuzte sich mit ihrem vorwurfsvollen. »Was empfindet Ihr für meine Enkelin?« Es war nicht die Frage, mit der er gerechnet hatte. Der Frontalangriff ließ ihn mitten im Schritt verharren, und sein Arm, auf den die alte Dame ihre Hand gelegt hatte, sank herab. Zum ersten Mal entdeckte Georges de Pontivy die Ähnlichkeit der Augen und der Gesichtszüge. Aimée würde so aussehen, wenn sie einmal weiße Haare hatte. Falls das Leben sie in Würde altem ließ. Er wünschte sich jedoch nicht, daß sie jene feinen Linien der Trauer und des Schmerzes im Gesicht haben würde, daß das Grün ihrer Augen zu diesem blassen Mooston verging, der ihm so vorkam, als hätten sie zuviel gesehen und zuviel geweint. Die Jahre hatten ein Netz aus Falten und Runzeln über die Haut der Gräfin gelegt und das Haar zu mattem Silber getönt. Er ertappte sich bei dem kindischen Wunsch, daß er ein Leben lang dabei zusehen wollte, wie die Jahre Aimée verwandelten. Daß er dabeisein wollte, wenn aus der fiebrigen, besessenen Leidenschaft ihrer Begegnungen die Vertrautheit sicherer Liebe wurde. Daß er die Kinder im Arm halten wollte, die sie zur Welt brachte, Verwirrend bezaubernde Töchter und dickköpfige, mutige Söhne. Verdammt! Wohin verirrten sich seine Gedanken? »Ich denke, es ist nicht die Frage, was ich für Aimée empfinde«, sagte er dumpf und noch ganz in seinen hoffnungslos vergeblichen Träumereien befangen. »Fragt sie selbst, und sie wird Euch sagen, daß sie mich haßt und verachtet. Wenn Ihr Gutes für sie tun wollt, dann sorgt dafür, daß wir uns nicht mehr unter die Augen kommen!« Betroffen von der Verzweiflung in seiner Stimme, schluckte die alte Dame. Sie hatte nicht ahnen können, daß er genauso tief betroffen und verletzt wie ihre Enkelin war. »Und wenn doch?« konnte sie sich nicht enthalten zu fragen.
»Dann fürchtet die Folgen!« »Aber ich...« Die Gräfin brach ab, denn Georges de Pontivy verneigte sich knapp und entfernte sich mit schnellen Schritten die Galerie entlang. Ein hochgewachsener, athletischer Ritter in düsterem Schwarz, der ihr in diesem Moment merkwürdig einsam und traurig vorkam. »Zum Donnerwetter!« murmelte sie verärgert und bekämpfte den närrischen Impuls, ihm nachzulaufen und ihn festzuhalten. Wäre sie noch behende genug gewesen, nicht einmal der Gedanke an das lächerliche Bild, das sie dabei bot, hätte sie davon abgehalten. Dieser Seigneur hatte entschieden eine unerfreuliche Art, im falschen Augenblick zu verschwinden. Hätte sie es nicht bereits von Mere Mahaut gewußt, die Schlußfolgerung hätte sich ihr jetzt ebenfalls aufgedrängt. Soviel zu ihrem Versuch, dem Vater von Aimées Kind die Mutter als Gattin aufzuschwatzen. Anscheinend verfügte sie über kein Talent zur Kupplerin. Mere Mahauts Neuigkeiten, die sie am nächsten Tag erfuhr, bestätigten sie in dieser Annahme. Wie es aussah, hatte der Graf von Termignon nichts Besseres zu tun gehabt, als bereits am nächsten Tag in gestrecktem Galopp Fontainebleau zu verlassen. Er ging einer weiteren Auseinandersetzung aus dem Wege. Sie konnte nicht wissen, daß Aimée in diesem Moment über den Zeilen eines Briefes grübelte, den ihr Joseph Blavy an diesem Morgen überbracht hatte. Ein seltsamer, höfischer und formvollendeter Brief, in dem sie vergeblich nach einem persönlichen Wort oder einem Anhaltspunkt suchte, der ihr mehr über die Gefühle des Mannes verriet, der ihn geschrieben hatte. Verehrte Dame! las sie zum unzähligsten Mal. Wie ich bei meiner Rückkehr vernommen habe, hat sich Euer Schicksal durch die Güte des Himmels zum Besseren gewendet. Nehmt meine aufrichtigsten Wünsche für Euer Wohlergehen entgegen. Ich habe Euren Haß und Eure Verachtung verdient, aber ich werde alles tun, um Euch wenigstens für einen winzigen Teil dessen zu entschädigen, was Ihr durch mich erlitten habt. Gott beschütze Euch! Georges de Pontivy, Graf von Termignon. »Zum Donnerwetter!« gebrauchte Aimée den Lieblingsausruf ihrer Großmutter und warf das Pergament so ungestüm auf den Tisch, daß es über die Platte segelte und zu Boden glitt. Sie erhob sich aufgebracht und nahm eine unruhige Wanderung durch das hübsche, holzgetäfelte Kabinett auf, dessen Fenster über die Gärten von Fontainebleau hinaus gingen. Sie waren noch nicht so eingewachsen wie jene des Palais de Tournelles, aber die gekiesten Wege und schattigen Lauben boten einem rastlosen Geist immerhin die Möglichkeit eines ausgiebigen Spaziergangs. Aimée verzichtete darauf, Mere Mahaut oder eine der Mägde um ihre Begleitung zu bitten. Sie wollte allein mit sich und ihren Gedanken sein. Sie wollte auch die scharfen Augen ihrer Großmutter meiden, die ohnehin zu viele Fragen stellte und zu vieles über ihren Kopf hinweg bestimmte. Sie hatte sich Aimées Leben mit einer Tatkraft angenommen, die ihr keinen Raum für eigene Entschlüsse mehr ließ. Trotzdem wünschte sie sich im ersten Moment, sie hätte nicht auf Gesellschaft verzichtet, als sie um eine sorgsam geschnittene Buchsbaumhecke bog und sich unversehens Anne de Fonsac gegenüber fand, die dort auf einer Marmorbank saß und sich am Anblick eines leise plätschernden Springbrunnens erfreute. Auch sie war allein und für einen Herzschlag lang trafen sich überrascht ihre Augen. Dann jedoch veränderte sich der Blick der Dame de Fonsac, und ihre mandelförmigen Augen verengten sich gefährlich. Aimée spürte förmlich, wie sie unter die Lupe genommen, kritisiert und abgeurteilt wurde. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht. Es kostete sie alle Beherrschung, einfach stehenzubleiben und abzuwarten. In cremefarbene Seide mit rosafarbenen Streifen gehüllt, trug ihre Rivalin den Kopf mit den hochgetürmten, perlendurchflochtenen dunklen Haaren in unnachahmlicher Arroganz. Anne de Fonsac war schön, aber kühler als der Marmor aus Carrara, auf dem sie saß. »Nehmt Platz«, bot sie ihr überraschenderweise an und deutete an ihre Seite. »Ich wollte schon lange ein Wort mit
Euch reden...« »Nein, danke... Ich...« »Habt Ihr Angst? Ich beiße nicht!« Aimées Stolz siegte über ihre Vorsicht. Sie hob das Kinn und trat näher, aber sie achtete sorgfältig darauf, daß sich ihre hellgrünen Atlasröcke nicht mit den gestreiften seidenen berührten, als sie sich auf dem angebotenen Platz niederließ. »Habt Dank«, murmelte sie höflich und heftete den Blick auf die Kaskaden des Wassers, in denen sich das Sonnenlicht brach. Hätte sie diese Bank für sich allein gehabt, der Anblick hätte ihr mehr Freude bereitet. »Ich wollte Euch nicht in Eurer Besinnung stören...« »Was habt Ihr mit ihm gemacht?« Aimée ahnte instinktiv, daß die Dame von Georges de Pontivy sprach. Die elegante Gestalt des Seigneurs stand vom ersten Tag an unsichtbar zwischen ihnen. Allein, sie hatte ohnehin keinerlei Recht auf ihn, egal, wie ihr Herz dazu stand... »Ich habe keine Ahnung, von wem Ihr sprecht«, stellte sie sich dennoch unwissend und spielte nervös mit den perlenbestickten Enden des dunkelgrünen Samtgürtels, der ihre Taille umspannte. »So, habt Ihr nicht?« Die Worte kamen so scharf zwischen den spitzen weißen Zähnen hervor, daß Aimée ein Zischen zu hören glaubte. »Ich spreche von Georges de Pontivy, meinem Verlobten! Hört auf den naiven Engel zu spielen. Denkt Ihr, ich weiß nicht, daß Ihr ihn begehrt? Denkt Ihr, man liest es nicht in Euren feuchten Augen, wie sehr Ihr ihm gewogen seid? Ich warne Euch, egal, ob Ihr nun eine noble Dame oder eine Dirne seid, ich werde ihn nicht freigeben! Er gehört mir!« »Ihr seid närrisch!« Aimée fuhr von der Bank hoch. Es war ein Fehler gewesen, sich zu setzen. Sie hatte es gleich gewußt. »Hört auf, solchen Unsinn zu reden. Niemand mißgönnt Euch den Seigneur de Pontivy! Ihr habt meine Glückwünsche zu Eurer Heirat!« Eine jämmerliche Lüge. Unwillkürlich legte sie beschützend die Hand auf ihren Leib. O ja, sie verleugnete den Vater ihres Kindes, aber was blieb ihr schon anderes übrig, wenn sie wenigstens einen Rest ihrer Selbstachtung bewahren wollte? Sollte sie zugeben, wie unendlich sie sich nach ihm sehnte? »Lügnerin!« zischte Dame Anne fuchsteufelswild. Sie sprang auf und trat so nahe vor Armee, daß sich ihre Röcke berührten. »Er war in Fontainebleau und er war bei Euch, leugnet es nicht! Er selbst hat mir gesagt, daß er jetzt in Euren Diensten unterwegs ist! Was habt Ihr mit ihm zu schaffen? Ich werde ihm sein Wort nie zurückgeben!« Aimée schüttelte verwirrt den Kopf. Sie begriff nicht, was der Seigneur mit diesen Worten gemeint haben konnte. Welche Dienste sollte sie ihm abverlangen? »Das ist bestimmt ein Irrtum«, antwortete sie so gelassen wie möglich. »Ihr müßt ihn falsch verstanden haben. Ich habe ihn nicht gesprochen, und ebensowenig kann er für mich unterwegs sein!« »Aber er begehrt Euch!« behauptete Anne de Fonsac mit soviel Haß in der Stimme, daß Aimée erblaßte. »Ich fühle es. Ich kenne ihn. Etwas ist anders in ihm, seit er mit Euch an den Hof zurückgekehrt ist. Er hat nicht einmal den Versuch gemacht, mir seine Aufmerksamkeiten aufzudrängen, und er kümmert sich nicht im geringsten um unsere bevorstehende Hochzeit. Er hat nur Euch im Kopf! Die Tochter eines Mörders, die das verfluchte Blut der Damvilles in ihren Adern hat! Mörderblut! Denkt Ihr, er würde Euch nehmen? Söhne von Euch haben wollen?« »Faßt Euch!« Aimée verlor die Geduld mit dieser gereizten Schönheit, die sie mit Beleidigungen überschüttete wie mit Eimern voller Unrat. Sie schlug blindlings mit Worten zurück. Auch sie konnte verletzen, wenn sie es darauf anlegte! »Meinetwegen könnt Ihr den schwarzen Grafen heiraten und eine Brut der niedlichsten Reptilien aufziehen, die sich im Königreich Frankreich zu finden ist! Es ist mir gleichgültig!« »Was nehmt Ihr Euch heraus?« schrie die andere und packte Aimée am Arm, worauf
diese sich losriß und Anne den kräftigen Stoß eines Bürgermädchens versetzte, das Wassereimer und Futtertröge tragen konnte. Die Dame de Fonsac prallte mit der Hüfte gegen die Einfassung des Brunnens. Die Fontänen näßten die Seidenröcke ihres Kleids, und ihr zorniges Rufen wurde zum undamenhaften Kreischen. »Da! Seht, was Ihr getan habt!« keifte sie lautstark durch den königlichen Garten. »Die Flecken werden nie wieder aus der Seide herausgehen!« Aimée schüttelte verblüfft den Kopf über diesen hysterischen Ausbruch. Es mutete sie seltsam an, hinter der marmornen Fassade plötzlich eine ganz gewöhnliche Frau zu entdecken. Anne de Fonsac verlor mit einem Schlag ihren Schrecken für sie. Ja, sie brachte es sogar fertig, ihr Gekeife mit einem kleinen Lachen zu quittieren. »Um Himmels willen, als nächstes werdet Ihr mich für das launische Wetter, die lange Nase des Königs und die gestiegenen Preise für venezianische Spitze verantwortlich machen!« schüttelte sie den Kopf. »Ihr macht Euch lächerlich, Madame! Eure Eifersucht verleitet Euch dazu, dummes Zeug zu reden!« »Was erlaubt Ihr Euch... Ihr? Eine Dirne!« »Ihr wiederholt Euch, Madame!« Der Streit weckte auf seltsame Weise Aimées Lebensgeister. Je länger die Dame de Fonsac schimpfte, um so mehr verlor sie von ihrer einschüchternden Persönlichkeit. Sie straffte unbewußt die Schultern und erinnerte sich daran, daß sie jetzt die Dame von Damville war und keine rechtlose Magd. Die unbewußte Geste ließ indes ihre Rivalin stutzen. Sie brach ab und holte tief Atem, ehe sie wesentlich gefaßter fortfuhr: »Welchen Namen Ihr auch immer tragt, Ihr könnt es nicht leugnen, in der Gosse aufgewachsen zu sein. Kein Seigneur von Rang und Ehre wird sich mit Euch verbinden. Schon gar nicht einer, dessen Ahnen zu den ruhmreichsten des Königreichs zählen.« Aimée hielt es nicht für nötig, auf alle Beleidigungen und Drohungen einzugehen. »Es liegt mir fern, Euch einen Mann zu neiden, der statt eines Herzens einen Stein in der Brust trägt. Meinetwegen könnt Ihr gern die Gräfin Termignon werden. Ihr werdet hervorragend zueinander passen!« Eine weitere Lüge, eine schäbige, kindische Lüge, nur vom eigenen Stolz diktiert. Nur von dem Wunsch, dieser eingebildeten Gans ihre Grenzen zu zeigen und Georges de Pontivy auf den Platz zu verdammen, wo er hingehörte. Fort aus ihrem Leben! Fort aus ihrem Herzen! »Das tun wir auch, dessen könnt Ihr gewiß sein, Aimée de Damville!« Die beleidigte Schönheit mit den nassen Säumen rauschte von dannen, und Aimée schloß erschöpft die Augen. Vielleicht gelang es ihr auf diese Weise, die brennenden Tränen zurückzuhalten. Sie atmete in einem zitternden Seufzer aus und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Der unerwartete Streit hatte sich wie ein Gewitter über ihr entladen. Dabei waren es nicht die gehässigen Kränkungen und falschen Beschuldigungen, die ihr weh taten. Am schlimmsten war die Erkenntnis, die sie die ganze Zeit nur mühsam verdrängt hatte. Der Brief, den sie erhalten hatte, war ein Abschiedsbrief. Die Dame de Fonsac hätte sich gar nicht so aufführen müssen. Ihr ehrenwerter Verlobter hatte längst die Konsequenzen gezogen. Aimée legte erneut die flache Hand auf ihre Taille. Noch war nicht die kleinste Wölbung des heranwachsenden Kindes zu spüren. Sie ertappte sich dabei, daß sie wünschte, es möge ein Sohn sein. Ein Knabe mit den dunklen Locken und den Kohlenaugen des attraktiven Grafen. Ein Sohn, dem sie die Liebe schenken konnte, die sein Vater verschmäht hatte. Aimée rieb zerstreut an den feuchten Flecken auf ihrem Rock herum. Spritzten die Fontänen des Springbrunnens etwa bis auf den Weg? Der nächste Tropfen fiel, und erst jetzt begriff sie, daß sie trotz aller Anstrengung doch weinte. Tränen um eine vergangene Liebe...
21. KAPITEL »Ich verstehe es nicht!« Aimée sah ihre Großmutter mit jenem verständnislosen Ausdruck an, den sie immer bekam, wenn sie sich an der Etikette des königlichen Hofes stieß, und das kam leider sehr häufig vor. Es gab so vieles, was sie nicht begriff und das sie permanent daran erinnerte, daß sie tatsächlich in einer ganz anderen Welt aufgewachsen war. »Warum ist es nötig, daß sich der König auf einer pausenlosen Wanderschaft durch all diese Schlösser befindet?« erkundigte sie sich. »Warum genügt ihm nicht ein Palast in Paris? Das Palais de Tournelles ist wahrhaftig eine ganze Welt für sich!« Man sprach bereits davon, daß der König die Monate August und September in Chambord verbringen wollte, obwohl man sich doch eben erst in Fontainebleau ein wenig häuslich eingerichtet hatte. An das regelmäßige Leben des Reederhauses in Dieppe gewöhnt, verwirrte Aimée der geschäftige Luxus des königlichen Hofes. Bankette, Bälle, Festlichkeiten, Jagden und Theateraufführungen füllten die Tage und Nächte, gefolgt von den Besichtigungen der Baustellen, den Paraden des königlichen Militärs und den offiziellen Empfängen. Für jeden Anlaß galt es ein neues, noch prächtigeres Gewand anzuziehen und in vollendeter Eleganz ein Mosaiksteinchen im bunten Bild des Hofes zu spielen. Franz von Valois hatte Aimée bei ihrer Ankunft in Fontainebleau eine sogenannte Pension zukommen lassen, und sie erfuhr zu ihrem Erstaunen, daß alle Ehrendamen über einen solchen Zuschuß verfügten. Der König sorgte in jeder Beziehung dafür, daß der französische Hof in ganz Europa als der eleganteste, verschwenderischste und prächtigste galt. Schon allein um den sparsamen, asketischen, frommen Kaiser in Spanien zu ärgern, hätte der König hier niemals irgendwelche Einsparungen vorgenommen. »Der König legt eben Wert darauf, sich seinen Untertanen überall zu zeigen«, versuchte die Gräfin Dévinas die Rastlosigkeit des Monarchen zu erklären. »Möglicherweise ist es auch eine Folge seiner Gefangenschaft. Ein Mann, der einmal die Kerkerhaft kennengelernt hat, benötigt im Grunde seines Herzens die ständige Bestätigung dafür, daß er gehen kann, wohin immer er möchte. Es gefällt ihm zu reisen.« Aimée erinnerte sich an die Beschränkungen ihres eigenen Lebens und konnte Franz von Valois plötzlich gut verstehen. Niemand hatte ihr je erlaubt, den Ort zu bestimmen, an dem sie leben wollte. »Ich wäre gerne irgendwo wirklich zu Hause«, sagte Aimée gedankenverloren. »Aber du bist es doch!« widersprach die Gräfin diesem plötzlichen Anflug von Melancholie energisch. »Dein Zuhause ist bei mir! In Dévinas, in Paris, wo immer du künftig leben wirst.« Aimée schwieg. Sie behielt ihre Gedanken für sich und die alte Dame hatte einmal mehr das sichere Gefühl, daß sie ganz und gar nicht einer Meinung mit ihr war. »Vielleicht gehen wir auch gar nicht mit nach Chambord«, versuchte sie nun die Aufmerksamkeit ihrer Enkelin zu fesseln. »Ich könnte behaupten, daß mir das Reisen mit dem Hof auf die Dauer zu anstrengend ist!« Ihr Plan ging auf. Aimée lächelte. »Dann kehren wir also heim, nach Dévinas?« Die alte Dame verzog ein wenig den Mund. »Die Burg ist einsam geworden, seit mein Gemahl vor vielen Jahren verstarb. Es ist ein Haus der Trauer und des Andenkens an die Toten. Ich habe nie daran gedacht, daß es dort noch einmal Kindergeschrei und Lachen geben wird. Willst du wirklich dort leben? Wäre nicht das Haus in Paris angenehmer und zweckmäßiger?« Paris? Wirklich nicht! Auch wenn der König das Reisen schätzte, er würde mit Sicherheit bald in das Palais de Tournelles zurückkehren. Das bedeutete, daß sie bei Hofe erscheinen und den Anblick der schönen Gräfin Termignon und ihres Gatten ertragen mußte. Dann schon lieber eine einsame Burg weit fort von allen.
»Dévinas scheint es nötiger zu haben, daß man es mit Leben und Lachen füllt«, entgegnete Aimée vorsichtig und legte der zierlichen, weißhaarigen Greisin den Arm um die leicht gebeugten Schultern. »Es ist an der Zeit, daß man dort die Gespenster vertreibt und Ihr werdet mich und mein Kind zur Gesellschaft haben!« »Es wäre vernünftiger, du hättest die Gesellschaft eines Ehemannes, Aimée«, kam die Gräfin auf ihr Lieblingsthema zu sprechen. Es ging schließlich nicht an, daß ihre Enkelin einen Bastard zur Welt brachte. Der dritte Monat der Schwangerschaft neigte sich dem Ende zu, und es wurde höchste Zeit, dieses Problem in Angriff zu nehmen, nachdem es nicht so aussah, als tauche der Seigneur de Pontivy in der nächsten Zeit noch einmal bei Hofe auf. »Ihr habt mir versprochen, nicht immer wieder damit anzufangen«, erinnerte sie Aimée sanft. Sie hatte der alten Dame das Versprechen abgerungen, sie nicht zu einer Ehe zu zwingen. »Wahrhaftig, das dümmste Versprechen, das ich jemals gegeben habe«, murmelte ihre Großmutter, und sie verzog ärgerlich den Mund. Aimée ahnte, daß sie der alten Dame großen Kummer bereitete, aber sie wußte nicht, wie sie es verhindern sollte. Sie konnte schlecht ihr zuliebe einen der Edelmänner zum Manne nehmen, die plötzlich um sie herum scharwenzelten, die ihr Komplimente machten und mit ihr tanzten, wenn der König es nicht tat. In jedem Männergesicht, das sich über sie neigte, suchte sie die Züge des Grafen Termignon, und wenn sie nachts in ihrem Alkoven lag, starrte sie mit brennenden Augen und schmerzendem Körper in die Dunkelheit. Sie hatte nicht gewußt, daß Liebe so weh tun konnte! Daß es so schwierig sein würde, sie aus dem Herzen zu reißen. Es waren Nächte, in denen sie wünschte, daß sie nie von der Existenz der Liebe erfahren hätte. »Ich weiß es als Maß Eurer Zuneigung zu schätzen«, entgegnete Aimée ein wenig steif. Sie mochte die alte Dame wirklich, aber sie hatte gelernt, den eigenen Gefühlen zu mißtrauen. »Kind, du solltest nicht denselben Fehler wie deine Mutter begehen«, versuchte die Ältere an Aimées Vernunft zu appellieren. »Eine Ehe in unseren Kreisen wird aus Vernunftgründen geschlossen. Weil zwei Familien ihre Macht vereinen, weil der Grundbesitz es erfordert oder weil politische Erwägungen dahinterstehen. Es sind nicht die schlechtesten Gründe, laß dir das gesagt sein. Das Beispiel deiner Mutter zeigt doch am grausamsten, daß kein Segen darauf liegt, wenn man nur auf die unvernünftige Sprache des Herzens hört!« »Das Verbrechen hat nicht meine Mutter, sondern mein Vater begangen!« erinnerte Aimée sie störrisch. »Auch er hat aus übergroßer Leidenschaft gehandelt«, sagte die alte Dame. »Aus blinder Eifersucht und aus dem Wunsch heraus zu zerstören, wenn er schon nicht besitzen konnte.« »Also gibt es kerne Schuldigen, sondern nur Opfer...«, seufzte Aimée nachdenklich. »Müßte ich den Schuldigen suchen, fände ich ihn beim Blick in den Spiegel«, entgegnete ihre Großmutter reuevoll. »Mein Einspruch war es, der meinen Gemahl davon überzeugt hat, daß Elise nur mit Constant de Damville glücklich werden würde. Wäre es nach ihm gegangen, er hätte sie gezwungen, Jules de Tennignon zu heiraten und ihr Wort zu halten. Ich zweifle nicht daran, daß die beiden miteinander zufrieden und alt geworden wären. Ich werde nie aufhören, mir Vorwürfe zu machen...« »Aber Grand-Mere!« Aimée warf in einer spontanen Aufwallung der Gefühle ihre Arme um die Schultern der alten Dame. »Ihr täuscht Euch! Niemand hätte sie aufhalten können. Ihr nicht und nicht Euer Gemahl. Wenn zwei Menschen sich mit solcher Inbrunst lieben, wie es mein Vater und meine Mutter anfangs getan haben müssen, werden sie immer einen Weg finden, einander zu bekommen! Eher könnt Ihr ein Gewitter mit bloßen Händen aufhalten, als eine solche Liebe! Ihr habt keine Schuld...« »Liebe...«, murmelte die Gräfin traurig. »Wir Menschen sollten uns auf die Liebe zu
unseren Kindern und zu Gott beschränken, es bekäme uns besser.« Aimée ersparte sich eine Antwort auf den galligen Kommentar. Auch deswegen, weil sie ihrer Großmutter im Grunde ihres Herzens zustimmte. Das große Sommerfest des Königs verwandelte die Gärten von Fontainebleau in eine Märchenlandschaft. Rund um die zierlichen Marmorpavillons waren bunte Zelte errichtet, üppig gedeckte Tafeln boten alles an Speisen und Getränken, was sich ein verwöhnter Gaumen nur wünschen konnte, und in verborgenen Grotten und grünen Labyrinthen spielten Musikanten, während Gaukler und Tänzerinnen auf den Lichtungen für Kurzweil sorgten. In versteckten, mit Weinlaub geschmückten Nischen, auf gepolsterten Bänken und unter schattigen Sonnendächern entfaltete sich der ganze Luxus des königlichen Hofes. Die Damen hatten sich in sommerlich leichte, tief dekolletierte Kleider gehüllt, und die Herren wetteiferten in der Pracht der gekräuselten, gefärbten Federn, die von ihren Baretts wippten. Musik, Gelächter und Stimmen übertönten das Gezwitscher der Vögel, und Aimée suchte die Stille, indem sie sich immer weiter vom Zentrum des großen Festes entfernte. Sie hatte sich von der Gruppe um Königin Claude getrennt, weil sie nicht länger mit ansehen wollte, wie Anne de Fonsac mit Johann von Lothringen flirtete. Der junge Edelmann trug zwar den Titel eines Kardinals, aber das hinderte ihn nicht daran, ein beliebter Hofkavalier zu sein, und alle tuschelten über seine Abenteuer. Das Vergnügen, mit dem er seine Blicke über Anne de Fonsacs halb entblößte Brüste gleiten ließ, war unverkennbar das eines Connaisseurs. Aimée verstand beide nicht, weder den Kirchenfürst, der so wenig fromm wirkte, noch die Edeldame, welche die Verlobte eines anderen war. Da war er wieder, der Name, den sie nicht einmal im geheimen aussprechen wollte. Das Gesicht, das sie so gerne vergessen hätte. Immer wieder ertappte sie sich dabei, daß ihr die nichtigsten Dinge einen Vorwand boten, über ihn nachzusinnen. Sie konnte es ableugnen, soviel sie wollte, der Gedanke an ihn gehörte zu ihr wie der regelmäßige Schlag ihres Herzens. »Du wirst ihn noch lieben, wenn du so alt wie deine Großmutter bist, Aimée...«, wisperte sie leise und strich sich seufzend eine Haarsträhne aus der Stirn. »Er hat dir das Siegel seiner Liebe aufgedrückt wie das Brandzeichen einer Diebin...« Mere Mahaut hatte ihr nur ein paar hervorstehende, rötlich dunkle Strähnen ihres Haars zu Zöpfen geflochten, in die sie dünne goldene Ketten gewunden hatte. Der Rest ihrer Locken flutete offen über die bloßen Schultern bis fast auf die Hüfte hinab. Ihr Gewand täuschte in seiner augenfälligen Schlichtheit darüber hinweg, daß es aus fernstem Atlas und kostbarer Seide war. Über einem schneeweißen Unterkleid mit gebauschten Ärmeln und Bänderzug um das Dekolleté trug sie einen grün-weiß gestreiften Seidenrock und ein eng geschnürtes grünes Mieder. Der Tracht eines einfachen Landmädchens nachempfunden, betonte das Kostüm äußerst raffiniert Aimées Schönheit. Das Grün unterstrich die bronzefarbenen Lichter in ihrem Haar, das Mieder formte eine zerbrechlich zarte Taille und betonte die Fülle der verlockenden Brüste. Der Rock endete eine Handbreit über dem Boden und verriet, daß seine Trägerin winzige Füße mit schmalem Spann und entzückend zierlichen Knöcheln besaß. Zudem verlieh er ihr eine Leichtigkeit des Schritts, die ihr unbeschwert von Schleppen und schweren Unterröcken eine ganz besondere Anmut der Bewegungen schenkte. Aimée zog alle Blicke auf sich, auch jene des Königs, der ihren Versuch, das Fest zu fliehen, mit einem ärgerlichen Seufzer quittiert hatte. Er gab einem Diener das vereinbarte Zeichen und erhob sich ebenfalls. Man würde sehen, was die Dame Aimée zu der Überraschung sagte, die in der Lichtung des kleinen Birkenhains auf sie wartete. Er wollte dabeisein und sich sein eigenes Urteil über die bevorstehenden Geschehnisse bilden. Aimée schlenderte im Schatten der lichten Bäume über einen gekiesten Weg und erreichte die Rosenlaube, die man dort als Refugium für müde Gäste des Festes mit bunten
Seidenkissen, mit Karaffen voller Wein und mit silbernen Tellern voller Früchte und süßer Törtchen versehen hatte. Sie hatte sie bereits erreicht, als sie im letzten Moment erkannte, daß sie nicht allein sein würde. Eine zierliche Dame in einem zarten, rosafarbenen Gewand saß dort halb abgewandt von ihr. Aimée stutzte, wollte sich mit einer Entschuldigung abwenden und blieb doch wie vom Donner gerührt stehen. Das silberne Haar, das unter dem Schleier hervorfloß, die schmalen Schultern... AU dies weckte eine so schmerzliche und traurige Erinnerung in ihr, daß sie einen leisen Seufzer nicht unterdrücken konnte. Ein Laut, der die Gestalt dazu veranlaßte, sich nach ihr umzudrehen, so daß sie das lächelnde Antlitz sehen konnte. »Das...« Aimée brach ab, und ihre grünen Augen weiteten sich fassungslos. »Floralie? Nein! Das ist nicht möglich, du...« Sie strich sich mit einer fahrigen Bewegung über die Stirn, und die Laube verschwamm vor ihrem Blick. Wie von ferne drang eine vertraute, leise Stimme an ihr Ohr. »Aimée? Fast hätte ich dich nicht erkannt. Wie schön du bist, eine richtige, große Dame! Ich kann's kaum glauben!« Aimée machte einen unsicheren Schritt auf die Laube zu. Sie rechnete jeden Moment damit, daß sich das zierliche Gebilde mitsamt dem Mädchen in Luft auflösen würde, aber das tat es nicht. Im Gegenteil, sie roch den Duft der Rosen, die seine Säulen schmückten, und sah das schelmische Leuchten in den großen blauen Augen ihrer Schwester. »Du bist es«, wisperte sie völlig durcheinander und wagte nicht einmal, sie in die Arme zu nehmen. »Natürlich bin ich es!« kicherte das junge Mädchen und warf sich seiner großen Schwester an den Hals. »Glaubst du etwa, daß ich ein Gespenst bin und verschwinde, wenn du mich umarmst?« Aimée spürte die liebevollen Küsse und das Gewicht der zierlichen Person und endlich kehrte Leben in sie zurück. Sie schloß die Arme um Floralie, und ein tiefer Seufzer weitete ihre Brust, ehe sie den Blick der Jüngeren suchte. »Wie ist das möglich? Wo kommst du her? Was ist geschehen?« stellte sie eine Frage nach der anderen, um dieses unverhoffte Wunder erklärt zu bekommen. »Ach, das ist eine lange Geschichte«, winkte Floralie ab, als sei sie nicht von Bedeutung. »Sag mir lieber, was hier passiert ist. Stimmt es, daß wir eine Großmutter haben, die uns bei sich aufnehmen wird? Daß unsere Eltern von edler Geburt und...« Aimée vermochte sich nicht auf das schnelle Geplauder zu konzentrieren. Sie sah prüfend in das schmale, aber makellose Gesicht ihrer kleinen Schwester. Sie hatte es gerötet und fieberheiß in Erinnerung, ^n Tränen benetzt und mit Augen, in denen die Verständnislosigkeit eines Kindes stand, dessen Welt zusammenbrach, ohne daß es begriff, weshalb. Inzwischen hatte Floralie durch ein Wunder zu ihrer alten, fröhlichen Sorglosigkeit zurückgefunden. Wie war das möglich? »Ich weiß nicht so viel«, gestand sie auf Aimées neuerliche, energischere Fragen mit einer kleinen Grimasse. »Ich war krank, nicht wahr? Die Fahrt in einem Wagen ist mir in Erinnerung, aber alles andere ist verschwommen und fern. Ich kann dir nicht einmal mehr sagen, weshalb wir Dieppe so überstürzt verlassen mußten...« Glückliche Floralie. Aimée beneidete sie um ihre Unwissenheit. Sie wollte sie auch nicht mit Erinnerungen belasten. Weshalb die schlimmen Stunden von neuem aufrühren? Aber eines mußte sie dennoch erfahren. »Wie kommst du hierher?« »Der Seigneur hat mich hierhergebracht«, lächelte Floralie mit einem so verträumten Zug um die Lippen, daß sich ihre Schwester neugierig fragte, wer dieser Mann war. »Erst hat er sich schrecklich mit dem wütenden Grafen gestritten. Sie sind mit den Schwertern aufeinander los. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Angst ich um ihn hatte...« Aimée fand es zunehmend schwieriger, in diesen wirren Sätzen einen Faden zu finden. Floralies Verstand hatte doch hoffentlich keinen Schaden gelitten?
»Welcher Graf, um Gottes willen?« »Nun, der Graf von Termignon«, entgegnete Floralie, als könne sie nicht begreifen, weshalb ihre Schwester so begriffsstutzig sein sollte. »Er ist plötzlich in der Festung aufgetaucht, um nach meinem Verbleib zu forschen. Er nahm wohl an, daß ich bei irgendeinem Überfall getötet worden sei. Er hat sich heimlich in die Burg geschlichen und stand plötzlich in meinem Gemach. Von ihm habe ich erfahren, daß du lebst. Aber dann kam der Seigneur! Es war schrecklich, sie sind mit den Schwertern aufeinander los, und ich hatte entsetzliche Angst, daß er ihn tötet...« Aimée brachte vor Verblüffung keine Frage heraus. Termignon? Er war zurück in diese Festung gegangen, in der man ihn gefangengehalten hatte? Er hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt? Weshalb? »Hätte ich mich nicht dazwischen geworfen, es wäre sicher übel ausgegangen«, stellte Floralie in der ganzen Weisheit ihrer wohlerzogenen fünfzehn Jahre fest. »Nun, am Ende konnten sie sich nicht gegenseitig aufspießen, weil sie sonst mich getroffen hätten. Sie haben sich übel beschimpft, und er hat ihn im tiefsten Verlies der Burg eingesperrt!« »Georges? Um Gottes willen...« »Es war nicht nett von ihm«, fiel ihr Floralie zustimmend ins Wort. »Ich habe ihm das auch gesagt. Aber er ist schrecklich stur, es hat einige Zeit gedauert, ehe ich ihn davon überzeugt hatte, daß ich unbedingt mit dem Grafen sprechen muß. Ich wollte doch wissen, wo du bist und wo ich dich finde!« Aimée wurde langsam klar, daß Floralie von dem Mann sprach, der sie so raffiniert für seine Zwecke mißbraucht hatte. »Und dann?« flüsterte sie heiser. »Sie haben sich wüst beschimpft, aber am Ende sind wir alle zu dieser Reise aufgebrochen, die uns hierhergeführt hat. Der Seigneur sagte, ich solle hier sitzen bleiben und auf ihn warten. Ich hatte ja keine Ahnung, daß er dich zu mir schicken würde!« »Wer, um der Güte Christi willen, ist dieser Seigneur, von dem du pausenlos sprichst?« erkundigte sich Aimée fassungslos. »Meine Wenigkeit«, sagte in diesem Moment eine Stimme in ihrem Rücken, und sie fuhr herum. »Sylvain de Damville, zu Euren Diensten, schönste Dame. Wie ich sehe, habt Ihr die kleinen Mißlichkeiten überstanden, zu denen ich bei unserem letzten Treffen gezwungen war.« »Mißlichkeiten?« Aimée erstickte fast an dem ungenierten Wort. Sie fuhr hoch und trat einen Schritt auf die blonde, geschmeidige Gestalt ihres Kerkermeisters zu, dessen edles, steinernes Gesicht keinen Hauch eines Gefühls verriet. Er lehnte an einem der Rosenpfeiler, als gäbe es nichts Wichtigeres für ihn zu tun. Am liebsten hätte sie mit allen Fingernägeln dafür gesorgt, daß ihm seine Gleichgültigkeit verging. »Ihr seid ein Meister der Untertreibung, Seigneur! Wie könnt Ihr es wagen, im Garten des Königs mit Euren Schurkereien zu paradieren? Ein Wort von mir, und die Garden Seiner Majestät werden Euch festnehmen!« »Ja, es ist Euch zuzutrauen, daß Ihr dieses Wort sprecht«, nickte er nach einem prüfenden Blick in ihre flammenden Augen. »Also ist Rache zwischen uns. Kein Wort des Dankes?« »Dank?« Aimée prustete höchst undamenhaft. »Wofür, in drei Teufels Namen, sollte ich Euch danken? Dafür, daß Ihr mich für Eure Pläne benutzt habt? Dafür, daß ich unter Eurem Dach Angst und Schrecken kennengelernt habe?« »Für die Rettung Eurer reizenden Schwester zum Beispiel«, erhielt sie zur Antwort und sah mit höchster Verblüffung das fröhliche, geradezu verständnisinnige Lächeln, das Floralie und dieser Mann tauschten. Wie war es ihm gelungen, der Kleinen dieses unangebrachte Vertrauen einzuflößen? »Ohne Euer Eingreifen wäre sie nie in Gefahr geraten!« erinnerte ihn Aimée. »Ohne mein Eingreifen hätte sie diese närrische Fahrt vermutlich gar nicht überlebt«, widersprach er ihr knapp. »Sie war dem Tode nahe, als ich sie in die Hände
meines Medicus gab. Ein Tag länger in der feuchten Kälte dieser Frühjahrsnächte, und Ihr hättet sie heute nicht in die Arme schließen können.« Ihre Ehrlichkeit zwang Aimée zumindest, diesen Umstand zu bedenken. Trotzdem verweigerte sie noch immer jeden Dank. »Dann habt Ihr damit nur das ausgeglichen, was Ihr mir angetan habt!« fauchte sie. »Lästerlicher Schurke, der Ihr seid!« »Euch? Euch kann man nichts antun!« Eine Mischung aus zynischem Spott und deutlicher Bewunderung schwang in seiner Stimme. »Ihr seid unverwüstbar, biegsam wie reinster Stahl und unzerbrechlich wie eine geschmeidige Weidenrute. Ihr habt die neun Leben einer Katze und den Kampfgeist eines Löwen. Hätte ich geahnt, welches Blut in Euren Adern fließt, ich hätte den größten Bogen des Königreiches um Euch gemacht, dessen könnt Ihr gewiß sein!« »Welch bezaubernder Austausch von Komplimenten«, hörte Aimée in diesem Moment die amüsierte Stimme des Königs und fand sich dem Monarchen gegenüber, der in Begleitung seiner Mutter der Szene beigewohnt hatte, ohne daß es ihr bewußt geworden war. Sein glitzernder Blick flog über Aimée und die kleine Floralie, ehe er an der eisig kühlen Gestalt des Seigneurs hängenblieb, dessen Reverenz seinen Respekt vor dem Herrscher und dessen Mutter demonstrierte. Aimée, die noch voller Erstaunen über die vorherige Rede war und sich fragte, ob sie geschmeichelt oder beleidigt sein sollte, hatte das deutliche Empfinden, daß alle um sie herum etwas wußten, von dem sie selbst keine Ahnung hatte. Etwas das zwischen ihr und diesem unangenehmen Seigneur knisterte wie die Spannung eines Blitzes, ehe er sich entlud. Er hatte seinen Namen genannt, auch wenn sie ihn nicht zur Kenntnis genommen hatte. Nun bemühte sie ihr Gedächtnis, um die Silben zu rekonstruieren. »Sylvain de Damville«, wiederholte sie tonlos. »Das heißt doch nicht, daß Ihr...« »Er ist Euer Halbbruder, Aimée!« faßte die Herzogin von Savoyen die Tatsachen in Worte. »Der Sohn Constant de Damvilles aus seiner ersten Ehe.« »O nein«, hauchte Aimée. »Dir seht mich genauso verblüfft wie Ihr über diese unverhoffte Verwandtschaft, von der ich eben erst erfahren habe«, warf der Seigneur de Damville trocken ein. »Immerhin erklärt es mir wenigstens, weshalb Ihr mir zu entkommen vermochtet!« »Mein Gott!« Aimée versuchte ihre Verwirrung halbwegs unter Kontrolle zu bekommen. Ausgerechnet dieser rätselhafte, seltsame Mann, der sie bedroht und benutzt hatte, entpuppte sich als ein Mensch, der zu ihr gehörte. Wahrhaftig, ihn hätte sie sich zuletzt als neuestes Mitglied ihrer Familie erwählt. »Ist das nicht wundervoll, Aimée?« zwitscherte Floralie aus dem Hintergrund und schlug die Hände aneinander wie ein Kind, dem man soeben ein herrliches Geschenk gemacht hatte. »Wir sind miteinander verwandt! Wir gehören zusammen!« Aimée versagte sich die Bemerkung, daß sie keinen Wert auf diese Verwandtschaft legte. Auch daß sie sich nicht auf Floralie bezog, da ihr Vater, nach allem was sie erfahren hatte, Jules de Termignon gewesen war. Sie zwang sich dazu, ihre Fragen in Gegenwart der königlichen Familie zurückzuhalten. Eine indes mußte sie einfach noch stellen. »Weshalb? Weshalb habt Ihr uns überfallen, die Männer getötet und all diese Drohungen ausgesprochen? Gibt es einen Grund dafür, oder seid Ihr nicht viel mehr als ein Schurke, der keine Ehre und keine Moral kennt?« Über das blasse Gesicht des Mannes, der ihr Halbbruder sein sollte, flog die Andeutung einer ungewohnten Röte. Franz von Valois registrierte es mit diabolischer Befriedigung. Es konnte diesem hochfahrenden Seigneur nicht schaden, auch einmal die Demütigung einer ausgewachsenen Verlegenheit kennenzulernen. Es paßte hervorragend in seine Pläne und gefiel ihm, daß er sich in Aimée am Ende doch nicht getäuscht hatte, auch wenn sie in der vergangenen Zeit auf seltsame Weise teilnahmslos gewirkt hatte. Allein, Sylvain de Damville überwand die kurze Phase der Beschämung und hob in
angeborener Arroganz den Kopf. Eine Geste, die den König fatal an seine Halbschwester erinnerte. »Es herrschte Feindschaft zwischen Damville und Termignon«, sagte er kalt. »Vom Beginn meines Denkens an wurde mir diese Feindschaft von meinem Vater als Verpflichtung auferlegt, im Verein mit der Treue zum König und dem Wunsch, den Namen Damville vom Schatten alter Skandale reinzuwaschen. Die Termignons sind daran schuld, daß die Damvilles vom Hofe verbannt wurden und sie das erzwungene Leben von Geächteten führen müssen und der Gnade des Königs verlustig gingen. Ich hätte jede, aber auch jede Gelegenheit ergriffen, Seiner Majestät zu beweisen, daß er einen treuen Diener in mir hat.« Es bereitete Aimée keine Schwierigkeiten, diesen Gedankengängen zu folgen und umgehend ihre eigenen Schlüsse daraus zu ziehen. Offensichtlich besaßen sie eine höchst ähnliche Art zu denken. »Die Informationen, die Georges de Pontivy im Gepäck hatte, sollten Euch dazu dienen, dem König Eure Loyalität und Treue zu beweisen. Daß der Mann, der diese Informationen unter Einsatz seines Lebens beschafft hatte, dabei starb, war in Euren Augen nur eine höchst angenehme Dreingabe. Um die übrigen Leben, die dabei zu Schaden kamen, habt Dir Euch ohnehin nicht weiter gekümmert!« warf sie ihm erbost vor. »Und wenn schon?« entgegnete der Seigneur unerwartet gereizt von ihrer geharnischten Kritik. »Es ist nicht Frauensache, über die Motive der Männer zu debattieren. Hat man Euch das nicht gelehrt?« Aimées Augen verengten sich gefährlich, und ein Gefühl brach sich in ihr Bahn, das weit über Entrüstung hinausging. Sie hatte endlich ein Opfer gefunden, das es verdiente, daß sie ihren Zorn an ihm ausließ. Den Sohn des Mannes, der all das Unglück verursacht hatte. »Dank unseres fürsorglichen gemeinsamen Vaters, Seigneur, hat man mich gelehrt, die Bücher eines Reeders zu führen, einem Haushalt vorzustehen und meinen eigenen Kopf zu gebrauchen. Wenn das nicht mit Euren Idealvorstellungen von einer Edeldame übereinstimmt, so muß ich Euch enttäuschen. Ihr müßt mich nehmen, wie Ihr mich selbst geschaffen habt — als Eure Feindin!« »Aimée!« Floralies entsetzter Aufschrei ließ die junge Frau den Kopf nach der Schwester wenden. »Das darfst du nicht sagen!« mahnte die Jüngere aufgeregt. »Er hat mir das Leben gerettet und ich schulde ihm ewige Dankbarkeit. Es gibt keinen Seigneur, der liebenswürdiger und freundlicher ist.« »Ich bezweifle nicht, daß auch eine Viper irgendwo liebenswürdige Züge aufweist«, fauchte Aimée gereizt zurück. »Aber sie gehört dennoch nicht zu den Haustieren, die ich verhätscheln möchte!« »Zum Henker...«, fuhr Sylvain de Damville auf, aber alle gemeinsam wurden sie vom König zum Schweigen gebracht. Er hatte genügend gehört und tauschte jetzt einen unergründlichen Blick mit der Herzogin. »Ein erster interessanter Familienstreit«, stellte er sarkastisch fest. »Wie ich sehe, beginnt man sich zu verstehen. Trotzdem wäre ich Euch dankbar, wenn Ihr davon absehen könntet, mein Fest mit diesem Streit zu stören. Ich erwarte Euch alle morgen zu einer Audienz in meinem Arbeitskabinett. Wir werden sehen, wie wir diese verwickelte Angelegenheit in Ordnung bringen können!« Er reichte der amüsierten Herzogin seinen Arm und schritt davon, als habe es in dieser Lichtung nicht mehr als eine kleine Plauderei gegeben. Aimée atmete scharf aus und wandte sich an Floralie, sobald die hohen Herrschaften außer Hörweite waren. »Komm mit, ich bringe dich zu unserer Großmutter! Sie wird überglücklich sein, dich in ihre Arme schließen zu können. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich um dich gelitten habe...« Floralie gehorchte, aber nach ein paar Schritten wandte sie sich zum Seigneur de Damville um, der keine Anstalten machte, sie zu begleiten. »Kommt Ihr nicht mit?«
»Warum sollte er?« nahm ihm Aimée die Antwort ab, ehe er etwas sagen konnte. »Ich nehme nicht an, daß die Gräfin besonderen Wert auf seine Gegenwart legt. Und zudem...« »Ich bin das Familienoberhaupt der Damvilles, meine liebe Dame«, knurrte der so abgekanzelte Seigneur und trat einen bedrohlichen Schritt auf die beiden Schwestern zu. »Ihr solltet davon Abstand nehmen, mich zu reizen. Immerhin wird es mein Dach sein, unter dem Ihr Eure Zukunft verbringen werdet!« »Euer Dach?« Aimée schwankte zwischen Empörung und Furcht. Wovon redete dieser unangenehme Zeitgenosse eigentlich? »Gütiger Himmel, lieber heirate ich den nächstbesten Tölpel, als die Dummheit zu begehen, mich einem Mann auszuliefern, der nicht viel mehr als ein ehrgeiziger, mörderischer Schurke ist!« Die Beleidigung ließ Floralie erröten, und während ihre Blicke ängstlich zwischen Sylvain und ihrer Schwester hin- und herflogen, gönnte jener seiner neu gefundenen Schwester ein eisiges Lächeln. »Ihr vergeßt, daß eine solche Heirat meiner Genehmigung bedarf, mein Fräulein! Das Recht in diesem Königreich ist auf meiner Seite. Ihr müßt mir gehorchen, ob es Euch gefällt oder nicht, und es wird mir ein Vergnügen sein, Euch diesen Gehorsam beizubringen!« Aimée preßte die Lippen aufeinander. Sie war klug genug, um zu wissen, daß er die Wahrheit sprach. Sie hatte sich so sehr gewünscht, jene Familie zu finden, der sie angehörte, aber in diesem Moment fragte sie sich ernsthaft, ob sie nicht doch im Armenhaus von Dieppe besser aufgehoben gewesen wäre. 22. KAPITEL »Ich begreife dich nicht!« Floralie war an die Röcke ihrer Großmutter geschmiegt und von einem Strahlen erfüllt, das sie einem zarten, überirdischen Wesen gleichen ließ. Sie beobachtete Aimée dabei, wie sie einem gereizten Raubtier gleich durch den kleinen Salon schritt, der zum Appartement der Gräfin gehörte. Sie hatte sich dieses Wiedersehen anders vorgestellt. »Ich nahm an, du würdest ebenso glücklich sein wie ich, und nun... Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie viele Tränen ich vergossen habe, als ich glaubte, daß du tot seist?« »Hat er dir gesagt, daß ich tot bin?« erkundigte sich Aimée knapp. »Wie typisch für diesen gräßlichen Mann. Auf eine Leiche mehr oder weniger kommt es ihm nicht an.« »Du beschuldigst ihn zu Unrecht«, wiederholte Floralie zum unzähligsten Male ihre Verteidigung. Nach der ersten überschwenglichen Freude fehlte nicht viel, und sie hätte sich mit ihrer Schwester gestritten. Aimée kam ihr fremd vor, verschlossen und auf unbestimmte Weise hart gegen sich selbst und alle anderen. »Immerhin hat er mich umgehend nach Fontainebleau gebracht, sobald er von Monsieur de Pontivy erfuhr, daß du lebst und jetzt zum Hofe des Königs gehörst«, erinnerte sie die Ältere ungeduldig. »Georges de Pontivy war bei Damville?« Zum ersten Mal vernahm die Gräfin de Dévinas von jenem Umstand, der alle Dinge ins Rollen gebracht hatte. Sie suchte Aimées Augen, aber die verweigerte sich ihrem fragenden Blick. Sie hatte genügend zu bedenken, ohne auch noch von einem närrischen Herzen belastet zu werden, das sich kindischerweise ständig fragte, wie es ihm ging, wo er war und was er wohl tat. »So wie es aussieht«, sagte sie knapp. »Er hat sein Leben aufs Spiel gesetzt«, staunte die alte Dame. »Er mußte doch damit rechnen, daß er Sylvain kein zweites Mal entkommen würde...« »Er tat es für Aimée«, warf Floralie in aller Harmlosigkeit ein. »Erst von ihm habe ich erfahren, daß sie lebt und daß sie sich über meinen vermeintlichen Tod grämt.«
»Er hat sich in Sylvains Hände begeben?« wunderte sich die alte Dame nur noch mehr.
»Für das Versprechen, daß der Seigneur mich zu meiner Schwester an den Hof des Königs bringt!« nickte das junge Mädchen. »Und... Wo befindet er sich jetzt?« wisperte Aimée heiser und preßte ihre eiskalten Handflächen vor der Taille zusammen. Eine höchst eigenartige Mischung aus Rührung, Furcht, Liebe, Empörung und Unruhe durchlief sie wie eine Welle, die ihr Standfestigkeit und Stärke raubte. »Vermutlich in den Kerkern von Damville«, seufzte die Gräfin, als Floralie mit einem Achselzucken zugab, daß sie es nicht wußte. »Constant hat allem, was den Namen Termignon trägt, Rache bis zum letzten Tag geschworen. Er hat sichergestellt, daß die Saat des Hasses bei seinem Erben aufgeht.« »Ihr meint, er ist tot?« murmelte Aimée erschüttert. »Natürlich nicht! Der Seigneur ist kein Mörder!« verteidigte Floralie temperamentvoll den Ritter, den sie offensichtlich in ihr Herz geschlossen hatte. »Wann glaubt ihr mir endlich?« Aimée tat es zumindest nicht. Mit bleichem Gesicht suchte sie den Blick ihrer Großmutter. »Er hat sich für mich geopfert«, sagte sie überwältigt. »Er wollte sein Möglichstes tun, um meinen Kummer zu lindern. Es stand in den Abschiedszeilen, die ich von ihm erhielt...« »Wie romantisch!« In ihrer kindlichen Arglosigkeit war Floralie schwer beeindruckt. »Er hat gehandelt wie ein echter Ritter in den Heldensagen. Wir sind wieder beieinander. Alles ist wieder wie früher, nur viel schöner!« Aimée schlug schweigend die Hände vor das Gesicht. Der Raum drehte sich vor ihren Augen und ihr Herz schlug so dumpf und schwer, daß ihre ganze Brust schmerzte. Nichts war wie früher. Georges de Pontivy hatte ein Opfer gebracht, das sie nicht wollte. Er hatte sich für eine Rache geopfert, die in ihrer Sinnlosigkeit und Grausamkeit nicht mehr zu überbieten war. Er hatte sie um den Sinn ihres Lebens gebracht, aber wie sollte sie einem Kind wie Floralie das begreiflich machen? »Ich bitte dich«, hörte sie die Stimme ihrer Großmutter. »Fasse dich. Noch ist alles nur Vermutung. Was auch immer geschehen ist, der König wird für Gerechtigkeit sorgen!« Gerechtigkeit? Aimée atmete zitternd ein. Bei allen Heiligen, sie wollte keine Gerechtigkeit, sie wollte den Mann, den sie liebte. Lebendig, warm und leidenschaftlich mit all seinem dummen Stolz und seinen Fehlern. Warum hatte es erst zu einer Katastrophe kommen müssen, ehe sie zu sich selbst ehrlich sein konnte? Wenn die Ereignisse am Vortag im Trubel des Festes untergegangen waren, so bewies nun das Getuschel, daß die Neuigkeit längst ihre Runde gemacht hatte. Die Gräfin von Dévinas, die gefolgt von ihren beiden Enkelinnen die große Galerie des Königs in Fontainebleau entlang schritt, glaubte noch nie so viele Höflinge auf ein Mal in diesen Gängen gesehen zu haben. Jeder, der auch nur halbwegs einen Grund haben konnte, sich hier aufzuhalten, stand irgendwo herum und folgte mit neugierigen Blicken dem kostbar gewandeten Damentrio. Es hätte nicht unterschiedlicher sein können. Die noble, silberhaarige Greisin, die schöne junge Edeldame mit den traurigen Augen und das zarte, noch kindliche junge Mädchen. Alle gemeinsam verband eine auffällige Familienähnlichkeit, die bei Aimée im makellosen Äußeren lag und bei Floralie eher in der schwebenden Anmut der Bewegungen, die so sehr jenen ihrer Großmutter glichen. Die Tatsache, daß die drei Damen von der Leibgarde des Königs begleitet wurden, verlieh ihrem Auftauchen zusätzliche Dramatik. Auch Aimée hatte sich mit einem unheilvollen Schauder gefragt, was die geharnischten Männer zu bedeuten hatten. Gedachte der König seine Entscheidung, wie immer sie ausfiel, mit Gewalt durchzusetzen? Würde er
sie tatsächlich der Familiengewalt der Damvilles unterstellen? Elise de Dévinas war nur ihre Großmutter und eine Frau. Die Entscheidungsgewalt fiel immer dem Mann der Familie zu, und ihre Familie war leider Gottes und zweifelsfrei jene der Damvilles! Die schwere Flügeltür zum Empfangszimmer des Königs schwang wie von Geisterhand bewegt vor ihnen auf. Aimée betrat diesen offiziellen Saal zum ersten Mal, und ihre Augen glitten beeindruckt über die neuartigen, italienischen Stuckarbeiten, welche den Übergang von Wand und Decken zierten, und über das prächtige, mehrfarbige Marmormuster des Bodens, das sie in solcher Vollkommenheit noch nie gesehen hatte. Sie bewunderte es mit niedergeschlagenen Augen, während sie mit ihrer Schwester und Großmutter in einer ehrerbietigen Reverenz verharrte, die erst die Stimme des Königs beendete. »Erhebt Euch, Mesdames!« Aimée nützte die fließende Bewegung dazu, die Schultern zu straffen und den Kopf ein wenig höher zu nehmen. Ihr natürlicher Stolz, der Simone Malivet so gereizt und den diese so gerne gedemütigt hätte, brach sich immer stärker Bahn. Wenn es darauf ankam, würde sie kämpfen. Für sich, für Floralie, für ihre Großmutter und für das ungeborene Leben, das in ihr wuchs. Doch sie kam nicht dazu, ihren Blick auf den König zu heften, wie sie es geplant hatte. Eine Gestalt schräg hinter ihm fesselte ihre Aufmerksamkeit viel stärker, und für einen Moment vergaß sie völlig zu atmen. Sie mußte träumen! Anders war es nicht zu erklären. Oder stand da wirklich Georges de Pontivy in seiner hochgewachsenen Gestalt? Angetan mit einem waldgrünen Samtwams, über dem lässig ein passender ärmelloser Umhang lag, der von seinem juwelenbesetzten Schwert an der rechten Seite gerafft wurde. Die Reiherfeder seines grünen Baretts wippte provozierend über seinen Kohlenaugen, die Aimées Bück in einer Intensität festhielten, daß alle übrigen im Raum meinten, das Knistern der Luft zwischen ihnen förmlich hören zu können. »Faßt Euch!« zischte eine kühle Stimme leise, und eine Hand stützte sie fürsorglich, als sie unmerklich zu schwanken begann. Aimée sah mit größter Mühe zur Seite und begegnete den Eisaugen ihres Halbbruders. Zweifellos war es kein Mitleid, das ihn zu dieser Hilfestellung trieb. Vermutlich handelte es sich um eine Demonstration von künftigem Familienzusammenhalt vor den Augen des Königs. Heftig riß sie sich los und trat stumm einen Schritt aus seiner Reichweite. Immerhin hatte er den Bann gebrochen. Der Schock begann zu weichen, den ihr der Anblick des Grafen Termignon versetzt hatte. Jetzt konnte sie ihn verstohlener ansehen, und sie erkannte die hageren Vertiefungen in seinen Zügen. Hatte dieser Schurke ihn wieder hungern und dürsten lassen? Und da waren auch die Spuren eines Schwert- oder Messerhiebes an seiner Wange, die halb verschorft von einem blindwütigen Kampf kündeten. Wütend schoß sie einen vorwurfsvollen Blick auf den Seigneur de Damville ab. Das leise Lachen des Königs trieb verlegene Röte in ihre Wangen, und sie senkte die Lider. Sie sah beharrlich auf ihre eigenen Hände, die sie sittsam vor der Taille des burgunderroten, betont einfachen Kleids gefaltet hatte. Es wies weder Gold- noch Silberstickereien auf und war bis zum Kinn geschlossen. Auch die engen Ärmel endeten erst knapp vor ihren Fingerspitzen. Lediglich der üppige Faltenwurf des Rocks, der in einer modischen Schleppe endete, deutete darauf hin, daß nicht aus Sparsamkeit auf jeden Putz verzichtet worden war. Die Robe betonte höchst elegant die wohlgeformte, schlanke Figur ihrer Trägerin. Sie unterstrich die stolze Linie des langen Halses und ließ den schönen Kopf mit den hochgesteckten goldbronzenen Haaren wie eine Blüte über allem schweben. Georges de Pontivy fand sie noch schöner als in seiner Erinnerung. Gleichzeitig auch weiblicher, verführerischer und auf eine subtile, unmerkliche Weise weicher als je zuvor. »Nun«, begann der König, als habe er die unterschwelligen Strömungen zwischen seinen Besuchern nicht bemerkt. »Wir sind hier zusammengekommen, um ein altes
Zerwürfnis für immer zu begraben, das wir unglückseligerweise von Männern geerbt haben, die wir selbst nicht mehr zur Rechenschaft ziehen können.« Franz von Valois trat an seinen Arbeitstisch und griff nach einem Schriftstück, das dort bereit lag. Das breite Band, an dem das rote Wachssiegel des Königs baumelte, deutete auf seine Wichtigkeit hin. »Das Königreich Frankreich sieht sich an seinen Grenzen von den Habsburgern bedroht! Kaiser Karl möchte sich in seiner entfesselten Machtgier zum Herrn Europas aufschwingen, und das werden wir nicht zulassen. In einer solchen Lage wäre es eine tödliche Verschwendung von Mut, Intelligenz und Kampfkraft, wenn ich dulden würde, daß sich zwei mächtige Adelshäuser weiterhin befeinden und sich zwei Seigneurs in einem Krieg verzetteln, während sie ihre Kraft besser dem König zur Verfügung stellten. Mit derlei Unsinn muß es ein Ende haben!« Unter halb gesenkten Lidern warf Aimée einen Blick zu ihrem Halbbruder. Sie entdeckte, daß er die Lippen schmal und blaß aufeinandergepreßt hatte. Er wog die Worte des Königs sorgsam, ehe er sich gestattete, einen Hauch von Gefühl zu zeigen. »Ich befehle den Herren von Termignon und Damville Kraft meiner Macht und meines Amtes, in Zukunft Frieden zu wahren. Nur unter diesen Umständen verzichte ich darauf, vergangene Freveltaten zu verurteilen. Bestätigt wird dieser Frieden durch einen Ehebund.« Der König machte eine Pause und sah sich um. In den Augen der Gräfin Dévinas fand er das Funkeln von Zustimmung, bei Floralie ängstlichen Respekt. Aimée verweigerte sich mit niedergeschlagenen Lidern jeder Auskunft, und das Gesicht des Seigneurs von Damville war zu einer Maske erstarrt. Lediglich Georges de Termignon hatte die Stirn gerunzelt, als gelte es eine Sache zu betrachten, die ihm auf das höchste mißfiel. »Es ist mein königlicher Wunsch, daß sich Aimée de Damville und Georges de Pontivy, der Graf von Termignon, in der Kapelle dieses Schlosses das Jawort geben und damit den neuen Frieden zwischen den Häusern Damville und Termignon besiegeln!« »Nein!« Es war ein doppeltes ›Nein!‹, und es kam nicht von Aimée. Sylvain de Damville hatte es im gleichen Moment wie Georges de Pontivy ausgestoßen, und beide übertrafen einander in der Heftigkeit ihrer Ablehnung. Aimées Hände verkrampften sich noch fester, aber sie blickte hartnäckig auf den Boden. Sie ahnte, weshalb beide so vehement gegen diesen Vorschlag opponierten. Sylvain, weil es seinem stolzen Sinn widerstrebte, den Treuebruch ihrer Mutter auf diese Weise vergessen zu machen. Georges de Pontivy, weil er nicht daran dachte, ein Edelfräulein mit einer höchst zweifelhaften Vergangenheit zu seiner Gemahlin zu nehmen. Sir erinnerte sich zu gut an sein höhnisches Lachen, als sie auch nur andeutungsweise an eine solche Möglichkeit gedacht hatte. Außerdem gab es da noch die Dame de Fonsac! Sie versuchte nach besten Kräften den Schmerz zu bewältigen, der in ihr tobte. Sie wollte sich ihre Enttäuschung und ihre Verletztheit nicht anmerken lassen, aber ihre totenblassen Wangen und die Atemstöße verrieten sie. »Nein«, wiederholte in diesem Moment Georges de Pontivy, und Aimée wünschte sich verzweifelt, zwischen die Ritzen des polierten Bodens versinken zu können. »Das könnt Ihr Dame Aimée nicht antun!« fügte er zu ihrer Verblüffung jetzt hinzu. Mit einer schnellen Bewegung verließ er seinen Platz, sank vor dem König in die Knie, entblößte die Haare und senkte seinen stolzen Kopf. Mit steigender Verblüffung vernahm Aimée seine ruhigen, aber nichtsdestotrotz von leidenschaftlicher Eindringlichkeit gefärbten Worte seines Einspruchs. »Bestraft mich für meine Dummheit und Herzlosigkeit, aber verschont sie. Sie hat einen besseren Gemahl verdient als einen Abenteurer, der zu stolz und zu arrogant war, um ihre Glaubwürdigkeit auch nur in Erwägung zu ziehen oder gar der Sprache des eigenen Herzens zuzuhören. Gebt ihre Hand einem Edelmann, der sie für den Kummer entschädigt, den sie erlitten hat, und der sie auf Händen trägt, wie sie es verdient. Ich schwöre bei dem,
was von meiner Ehre noch geblieben ist, daß ich den Frieden zwischen Damville und Termignon wahren werde. Es ist nicht nötig, daß Ihr Dame Aimée dafür opfert!« »In der Tat!« fauchte Sylvain de Damville ungefragt dazwischen. »Es ist nicht nötig, daß Ihr unsere Familien auf so besondere Weise verbindet. Auch ich werde den Frieden wahren, ohne daß sich meine Schwester dafür opfern muß, Ihr habt mein Wort!« Aimées Herzschlag beschleunigte sich auf wundersame Weise. Mit einem Schlag trat wieder Blut in ihre Wangen, und die seidigen Wimpern hoben sich über einem höchst ungläubigen Blick. Einen Blick, den der König mit einem Lächeln einfing. »Ich schlage vor, wir überlassen die Entscheidung Dame Aimée«, erklärte er und verschränkte seine Arme vor der Brust. »Dir seht in nur Eure gehorsamste Dienerin, Sire«, entgegnete Aimée, und das Strahlen ihrer Augen ließ keinen Zweifel daran, daß sie es ehrlich meinte. Zum Teufel mit der Dame Fonsac, sie befolgte schließlich den Befehl des Königs. Sie hatte keine andere Wahl! »Ich bin bereit, die Gemahlin des Herrn von Pontivy zu werden!« »So sei es!« Der König bedeutete dem Grafen sich zu erheben und legte die schmale Hand Dame Aimées in die große Hand des fassungslosen Seigneurs. »Ich vertraue Euch Aimée de Damville an, mein Freund! Ich hoffe, Ihr entschädigt sie für allen Kummer und tragt sie wie versprochen auf Händen. Trotzdem rate ich Euch als Freund, in schwierigen Zeiten dafür zu sorgen, daß sie keinen Dolch in Eurer Nähe findet.« Die humorvolle Anspielung des Königs ließ Aimée erröten, und Georges de Pontivy sah mit einer Zärtlichkeit auf sie herab, die sogar Sylvain de Damville ein Knurren widerwilliger Resignation entlockte. »Wie ist das möglich? Warum?« fragte er so leise, daß nur Aimée es hörte. »Weil ich Euch liebe!« »Trotz allem?« »Nennt es Bestimmung, Schicksal...«, hauchte Aimée und legte ihre Hände auf die samtverhüllte breite Brust, als müsse sie mit allen Sinnen zugleich seine unmittelbare faszinierende Gegenwart spüren. »Nun küßt Eure Braut schon endlich!« machte der König der Quälerei ein Ende, und während für Aimée und Georges eine Welt versank, reichte er das zuvor ergriffene Pergament an Sylvain de Damville. »Euer Gnadenerweis, Seigneur! Ich weiß es zu würdigen, daß Ihr meinen Freund verschont und Euch der Gerechtigkeit Eures Königs unterworfen habt. Frankreich braucht kluge Ritter, die mehr erkennen als den bescheidenen Bereich der eigenen Festung. Ich hoffe, Euch künftig an meiner Seite zu finden!« Die Großzügigkeit des jungen Monarchen entwaffnete sogar den schwierigen Herrn von Damville, der den stolzen Kopf neigte und seinen Treueid erneuerte. »Nun, Madame, seid Ihr mit mir zufrieden?« erkundigte sich der König und wandte sich an die Gräfin Dévinas, die mit einem leisen Lächeln ihre Enkelin und den Grafen betrachtete, die in einen atemberaubenden Kuß ohne Ende verstrickt waren. »Ich danke Euch«, sagte die alte Dame trocken. »Und ich hoffe inständig, Ihr habt auch Maßnahmen getroffen, daß Anne de Fonsac meiner armen Aimée nicht die Augen auskratzt!« Der König schmunzelte vielsagend. »Die Dame ist auf ihre Güter abgereist, habt Ihr nichts davon gehört? Ihre Tändelei mit dem Herrn von Lothringen hat die Grenzen des guten Geschmacks verletzt, und deswegen sah sich meine liebe Mutter gezwungen, auf eine ihrer Ehrendamen zu verzichten!« Aimée, die halb schwindelig vor Glück und Luftmangel in den Armen des Grafen zu sich fand, vernahm die Antwort mit einer Mischung aus Entzücken und Mitleid. Dame Anne hatte sich ihr Los selbst zuzuschreiben, aber daß sie in diesen Skandal vom König hineinmanövriert worden war, daran konnte kein Zweifel bestehen. Es war nicht ratsam, Franz von Valois zu verärgern.
23. KAPITEL Der Schein des vollen Mondes spiegelte sich im breiten Band des Flusses und sprühte milchige Glanzlichter über die Schnur aus cremeweißen, ebenmäßigen Perlen, die Aimée de Pontivy, die Gräfin von Termignon, am Fenster ihrer Kemenate stehend durch die Finger gleiten ließ. »Was für ein seltsamer Mensch er doch ist«, murmelte sie gedankenverloren. »Diese Perlen müssen ein Vermögen wert sein, aber er hat es nicht einmal fertiggebracht, ein einziges freundliches Wort zu mir zu sagen.« »Laß ihn ziehen. Vielleicht benötigt er ein wenig Zeit«, entgegnete ihr Gemahl, der eben die Schlaufen des schweren, goldbestickten Wamses löste, das er zu seiner Eheschließung getragen hatte. »Er kann nicht begreifen, was mich in Eure Arme treibt«, sagte Aimée, die zwar den abrupten Abschied ihres Bruders aus Paris nicht bedauerte, aber dennoch gerne gewußt hätte, was in seinem Kopf vorging. »Wie sollte er«, entgegnete ihr Gemahl mit einer Grimasse. »Es gibt Augenblicke, in denen ich es selbst nicht begreife. Du hättest allen Grund gehabt, mich auch weiterhin zu hassen!« »Es hat nie einen einzigen Augenblick gegeben, in dem ich dich gehaßt habe.« Die ruhige Schlichtheit, mit der Aimée das sagte, verlieh ihren Worten nur noch größere Eindringlichkeit. Sie hatte mit Mere Mahauts Hilfe längst die prächtige grüngoldene Robe mit den bauschigen Ärmeln gegen ein feines Hemd aus hauchzarter Seide getauscht. Sein leicht rosiger Farbton ließ ihre Haut wie Morgenröte durchschimmern, und es war lediglich mit einer silbernen Kordel um Hals und Ärmel geschlossen. Sie trug es unter einem knisternden Hausmantel aus fliederfarbenem schwerem Atlas, dessen Kanten mit feinstem weißem Hermelin besetzt waren. Er verriet nichts von dem aufreizenden Negligé das darunter verborgen war, er bildete lediglich den violetten Grund für ihre offene Haarpracht und für die spektakulären Perlen, die das Hochzeitsgeschenk ihres verwirrenden Halbbruders waren. »Außer Floralie scheint ihn ohnehin niemand zu vermissen«, räumte Aimée friedfertig ein und legte die Perlen in die dazugehörige samtgepolsterte Schatulle zurück. »Sie hat ihn ins Herz geschlossen, sie wäre ihm die bessere Schwester als ich...« Ihre Stimme wurde leiser, denn sie hatte sich umgewandt und betrachtete wieder ihren Gemahl. Nur noch mit einer empörend eng geschnittenen Strumpfhose und seinem spitzenbesetzten, schneeweißen Hemd bekleidet, glich er mehr denn je dem Abenteurer, in den sie sich verliebt hatte. Es war das erste Mal, daß sie allein miteinander waren, seit jenem Augenblick im Empfangssaal des Königs. Die Herzogin von Savoyen hatte es sich nicht nehmen lassen, die spektakuläre Hochzeit auszurichten, und es war Aimée nicht gelungen, bis dahin mehr als nur das Nötigste mit ihrem künftigen Gemahl zu sprechen. Hinzu kamen noch Floralie, die sich wie ein kleines Hündchen an ihre Fersen geheftet hatte, und Sylvain, der den dazugehörigen Wachhund gespielt hatte. Nun war sie alle los. Sylvain war davongeritten, und Floralie war bei ihrer Großmutter im Haus auf der Ile de Cité geblieben. Dies hier waren endlich ihre eigenen vier Wände, das prächtig ausgestattete Schlafzimmer des Grafen von Termignon, der sein elegantes Stadthaus eigentlich für die Heirat mit einer ganz anderen Frau hatte renovieren lassen. Nun teilte sie mit ihm diese ganz besondere Intimität gemeinsamer Räume. Es machte sie befangen und sie räusperte sich, obwohl sie ohnehin nicht wußte, was sie sagen sollte. Trotzdem brachte sie es nicht fertig, die Augen von ihm zu wenden. »Ich liebe es, wenn du dieses Glitzern in den Pupillen hast«, sagte der Graf von Termignon in diesem Augenblick mit leicht heiserer Stimme. »Welches... ich weiß nicht, wovon Ihr redet«, murmelte Aimée und schlug mit Anstrengung die Wimpern nieder; sie begehrte ihn so schrecklich. Hoffentlich hörte er
nicht, wie rasend ihr Herz pochte, wie das Blut in ihren Adern rauschte. »Jenes besitzergreifende Glitzern!« raunte der Graf und umfaßte ihre Schultern. »Ich sah es schon in Dieppe an jenem ersten Tag. Den Blick einer Kriegerin, die sich durch nichts von ihrem Weg abbringen läßt. Ich redete mir ein, daß ich mich getäuscht hätte. Ein Hirngespinst, die schräg stehende Sonne, pure Einbildung, aber es war längst geschehen... Du hast mein Herz erobert, noch ehe ich begriff, daß ich ein Herz besaß! Wirst du mir jemals verzeihen, was ich dir angetan habe?« Atemlos lauschte Aimée dem unerwarteten, kostbaren Geständnis seiner Leidenschaft, ehe sie das kantige Männerantlitz mit den Händen umfaßte und beglückt den Kontrast von warmer Haut und harten Kiefers erspürte. Ihr Gemahl! »Ich weiß es nicht, Seigneur...«, raunte sie mit einem verheißungsvollen, rauchigen Unterton. »Aber ich bin bereit, mich von Eurem guten Willen überzeugen zu lassen. Wollt Ihr Euch bemühen...?« Sie bot ihre Lippen dem unausweichlichen Kuß und leistete keinen Widerstand, als er die Schlaufen des Mantels öffnete und ihn von den runden Schultern schob, wo er über die Seide glitt und wie ein veilchenfarbener Wall zu ihren Füßen liegen blieb. »Gütiger Himmel.« Das sündige Hemd sprach für sich. Manchmal hatte es entschieden seine Vorteile, über die Dienste einer Kammerfrau zu verfügen, welche die Geheimnisse der geschicktesten Kurtisanen kannte. Aimée hätte in gesundem Menschenverstand auf dieses Nichts aus Seide verzichtet, der Blick in das hingerissene Gesicht ihres Gemahls verriet ihr indes, daß es offensichtlich einen Mann glatt um den Verstand brachte. Sie trat einen Schritt zurück und bot ihm, vom sachten Flackern des Kaminfeuers in ihrem Rücken beleuchtet, durch den Schleier ihres Gewandes die Silhouette der Verführung in Person. Wie hatte er jemals glauben können, daß er ohne sie leben konnte? »Gütiger Himmel...«, wiederholte er nicht sehr fantasievoll und riß sie in seine Arme. Sein Kuß nahm ihr den Atem, aber zum ersten Mal gab sich Aimée ohne die kleinste Gegenwehr, ohne Bedenken und in völliger Übereinstimmung von Körper und Seele hin. Sie wollte in seinen Armen sein, sie hatte das Recht dazu und den Wunsch! Ihr Entgegenkommen brachte ihn endgültig um seine ohnehin geringe Beherrschung. Das spinnwebfeine Gewand riß mit einem kaum hörbaren Seufzen unter seinen ungeduldigen Händen. In einzelnen Schleierteilen flatterte es unbeachtet zu Boden. Aimée kam nicht dazu, es zu bedauern. Er trug sie zum aufgeschlagenen Alkoven, auf dem Mere Mahaut und ihre Helferinnen ein Bett aus kühlen, duftenden Rosenblättern vorbereitet hatten. Die Berührung auf ihrer brennenden Haut im Verein mit den leidenschaftlichen Küssen ließen sie alles andere vergessen. »Du bist noch schöner geworden«, raunte Georges de Pontivy und strich über die vollkommenen Linien ihres schönen Leibes. »Ich hatte deine Brüste nicht so wundervoll und üppig in Erinnerung. Das höfische Leben ist dir wohl bekommen...« Seine streichelnde Hand verharrte auf dem winzigen angedeuteten Bäuchlein, das Aim^es Zustand verriet, aber er schöpfte keinen Verdacht. Sie legte ihre Hand über seine Finger und drückte sie sacht auf die kleine Wölbung. »Es ist weniger das höfische Leben als Euer Samen gewesen, Seigneur, der all dies vollbracht hat...«, sagte sie belustigt. Sie spürte den Ruck, der durch seinen Körper ging, und lächelte in das fassungslose, fragende Antlitz, dessen schwarze Augen auf sie herabstarrten. »Du bist... wir werden...« »Wir werden ein Kind haben, um die Weihnachtszeit herum!« beantwortete sie die unvollendete Frage. »Wenn es das ist, was Ihr fragen wolltet.« »Gütiger Himmel, aber weshalb hast du nichts davon gesagt? Du mußt es doch längst gewußt haben? Wie wolltest du denn...?« Aimée legte ihre Fingerspitzen auf seinen Mund, und ihr Lächeln war von der unendlichen Liebe überstrahlt, die sie für ihn empfand. »Ich habe es dir jetzt gesagt. Gibt es einen glücklicheren Augenblick dafür, mein
Gemahl?« Georges de Pontivy ertrank in den waldgrünen Augen seiner Gemahlin und dankte dem Himmel für jenen gesegneten Tag, als ihn in Dieppe jegliche Vernunft und Einsicht verlassen hatte. »Du hast recht, meine Kleine! Es gibt keinen passenderen Augenblick, um unser Kind willkommen zu heißen! Meinst du, wir stören es, wenn wir uns in Liebe vereinen?« Aimée schmiegte sich enger an seine Seite und begann übermütig an seiner Schulter zu knabbern. »Mere Mahaut vertritt die Meinung, daß eine Schwangerschaft eine höchst natürliche und selbstverständliche Sache ist. Man sollte sich in keiner Weise davon abhalten lassen, ein normales Leben zu führen. Auch ein normales Eheleben, wie sie ausdrücklich betont hat.« »Was für eine weise und kluge Kammerfrau du doch hast, mein Herz! Wo hast du sie nur gefunden?« nahm er ihren spielerischen Ton auf. »Oh, eine Geschichte aus meiner bewegten Vergangenheit, Seigneur, ich werde sie Euch einmal erzählen. Später...« »Viel später, Teufelchen... viel später...« Aimée seufzte verhalten und gab sich den kühnen Liebkosungen ihres Gemahls hin. Seine Küsse ließen fiebrige Hitze über ihre Haut flackern und umschmeichelten die begehrlichen Spitzen ihrer Brüste mit einer feuchten Zungenspitze. Die vertraute Leidenschaft machte sie schaudern, und ihre schmalen Hände glitten über die muskulöse Landschaft seiner breiten Schultern. Sie spürte die Narben alter Wunden und die Wärme lebendiger Gegenwart. Das Entzücken war kaum zu ertragen. Sie hatte sich die Erinnerung an seine Leidenschaft verboten, aber ihr Körper hatte nichts vergessen. In aufflammender Leidenschaft schmiegte er sich gegen die sehnige Gestalt des Mannes und kam ihm warm und feucht entgegen. So hungrig und ungeduldig wie er. Nur auf die Erlösung, die Bestätigung aus. Für die Finessen und Spielereien blieb ihnen später Zeit. »Ich fürchte, ich kann nicht länger warten«, hörte sie Georges, und die angestrengte Spannung in seiner heiseren Stimme ließ sie schnurren wie eine kleine Katze. Es gefiel ihr, ihn so ungeduldig in den Fängen seines Verlangens zu erleben. Sie umschloß ihn mit ihren Fingern und öffnete ihre Schenkel für ihn. Sie war bereit. Mehr als bereit. Sie kam ihm entgegen, und keiner von ihnen hatte in diesem Moment etwas anderes im Sinn als die ungehemmte, reine Leidenschaft. Eine Wollust, die in den tiefsten Bereichen ihrer Sinne schlummerte und die nichts mit Raffinesse, Kultur oder Erziehung zu tun hatte. Es war pure, animalische Sehnsucht, und sie explodierte in einem gewaltigen Höhepunkt, der sie mit sich fort riß und wie Schiffbrüchige an einem neuen, unbekannten Ufer landen ließ. »Ich liebe dich!« hörte sie die Stimme ihres Gatten, als sie die Augen aufschlug. »Ich werde nicht müde werden, dich zu lieben...« »Wie wundervoll«, seufzte Aimée und schlug ihre Augen auf, um seinem Blick zu begegnen. »Immerhin hat die Nacht eben erst begonnen...« »Teufelchen...« Die Worte verloren sich in Seufzern, im unendlichen Spiel von Liebe und Lust. Aimée hatte nicht geahnt, daß eine so ehrenwerte und moralisch einwandfreie Sache wie eine Ehe so unendlich viel Vergnügen bereiten konnte. 24. KAPITEL Paris, im Januar 1529 »Wird er kommen?« Die Gräfin von Termignon deutete ein Achselzucken an und ersparte sich die
Antwort auf die bereits viele Male gestellte Frage. »Aber wenn er der Pate sein soll, dann muß er kommen! Ohne ihn könnte die Taufe ja gai nicht stattfinden.« Aimée de Pontivy verzichtete erneut auf die Antwort. Zum einen, weil es ohnehin keinen Sinn hatte, Floralies Spekulationen fortzuführen, zum anderen, weil es bereits genügend Debatten um ihren Entschluß gegeben hatte, Sylvain de Damville zum Paten ihres Kindes zu bestimmen. Ihr Gemahl mochte zwar zugestimmt haben, Frieden zu halten, aber die familiären Bande, die ihn nun mit Damville vereinten, kamen ihn hart an. Er hatte es am liebsten, wenn man ihn nicht daran erinnerte. Ein Wunsch, dem Floralie von allen Bewohnern des Hauses am allerwenigsten nachkam. Sie warf ihrer kleinen Schwester einen nachdenklichen Blick zu. Das vergangene Jahr hatte sie verändert. Aus dem Kind begann eine junge Frau zu werden. Sie hatte die jugendliche Schlaksigkeit ihrer schmalen Figur verloren, und ein zarter Busen begann ihre Kleider zu wölben. Bei den Festlichkeiten zur Taufe der kleinen Demoiselle von Pontivy würde sie zum ersten Mal offiziell an einer Gesellschaft teilnehmen. »Wie kannst du nur so ruhig dasitzen und mit Elisa spielen, während du nicht einmal weißt, ob ihr Taufpate rechtzeitig eintreffen wird?« beschwerte sich Floralie empört und stampfte mit dem Fuß auf, um ihrer Klage noch mehr Nachdruck zu verleihen. »Würde es etwas an den Dingen ändern, wenn ich so wie du im Zimmer herumlaufe und alle Welt mit närrischen Fragen verrückt mache?« bekam sie endlich die gewünschte Antwort. »Ich schlage vor, du kümmerst dich wieder um deine Lautenübungen und übst dich in Geduld. Zwei höchst damenhafte Tugenden.« »Lautenübungen! Geduld und damenhafte Tugenden, pah!« Floralies Tonfall bewies eindeutig, was sie von diesen Vorschlägen hielt. Die zarte, schutzbedürftige Schwester gehörte endgültig der Vergangenheit an. »Denkst du, daß du damit aus mir die Edeldame machst, die dir vorschwebt? Warum kannst du mich nicht lassen, wie ich bin? Warum mußt du ständig an mir herumkritteln?« Aimée betrachtete ihre rebellische kleine Schwester in einer Mischung aus Überdruß und Ungeduld. Sie wußte nicht, weshalb Floralie gegen alles und jeden rebellierte, und sie begriff auch nicht, was ihr an dem prächtigen Stadthaus am Ufer der Seine nicht paßte, in dem sie jetzt lebten. Das Hotel Termignon zählte zu den schönsten Palästen von Paris; weshalb ein Mädchen, das in einem Bürgerhaus in Dieppe aufgewachsen war, nicht damit zufrieden sein sollte, blieb ihr schlicht ein Rätsel. Der Umzug der Gräfin und ihrer jüngsten Enkelin unter Aimées Dach war anfangs aus rein praktischen Gesichtspunkten erfolgt. Der alten Dame mißfiel es, ständig von einem Haus zum anderen zu pendeln. Hinzu kam, daß Floralie mehr und mehr den Versuch machte, ihrer Großmutter ein wenig auf der Nase herumzutanzen. Unzweifelhaft benötigte die junge Dame eine energische Hand und einen Hausherrn, der ihr Grenzen setzte. Auch Aimée fühlte sich so kurz nach der Geburt ihres Kindes dem eigensinnigen Kopf ihrer kleinen Schwester nicht ganz gewachsen. Glücklicherweise unterbrach der Eintritt Mere Mahauts den beginnenden Streit. Sie hatte sich von der obersten Kammerfrau Madames zu unbestrittenen Herrin der Dienstboten aufgeschwungen, und so war es kein Wunder, daß sie die Ankunft des Gastes meldete und nicht Joseph Blavy, der seinerseits zum Haushofmeister befördert worden war. Sylvain de Damville war eingetroffen. Die Taufe, für den Sonntag nach dem Dreikönigsfest angesetzt, konnte wie geplant ihren Verlauf nehmen. Aimée war so auf ihren Halbbruder konzentriert, als er sich vor ihr verneigte, daß ihr entging, wie ihre Schwester reagierte. Erst rot übergössen und dann unnatürlich blaß, nahm sie jedes Detail des eleganten Seigneurs wahr. Nur Sylvain de Damville schien über das seltsame Talent zu verfügen, auch nach dem staubigsten Ritt zu wirken, als habe er eben erst frisch gekleidet sein Schlafzimmer verlassen. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie ihn auf sich aufmerksam machen, aber seine kühl glitzernden Augen glitten ausschließlich über die junge Mutter, deren Schönheit unter den Ereignissen nicht gelitten hatte. »Ihr seht wohl aus«, stellte er fest, als prüfe er die gesunden Zähne eines Reitpferds.
»Er behandelt Euch also gut?« »Und wenn er es nicht täte?« erkundigte sich Aimée mit einem Hauch von Provokation. »Dann wurde ich ihn zur Rechenschaft ziehen«, bekam sie gelassen zur Antwort. »Immerhin seid Ihr meine Schwester und habt ein Recht auf meine Hilfe.« »Welch leidenschaftliche Demonstration von Bruderliebe«, entgegnete Aimée zwischen Belustigung und Verwunderung hin- und hergerissen. »Bemüht Euch nicht, Sylvain. Seht Euch lieber Euer Patenkind an.« Die kleine Mademoiselle de Pontivy, die von ihrem Paten ein wenig steif an den Altar der großen Kathedrale von Notre Dame getragen wurde, verschlief den größten Teil des feierlichen Ereignisses in seliger Unbeschwertheit. Die feinen Lider über den Augen, die sich bereits leicht ins Grünliche färbten, fest geschlossen, die winzigen Finger zu Fäusten geballt, gab sie lediglich einen beleidigten Schrei von sich, als das Taufwasser die feenzarten goldenen Löckchen näßte. Danach gelang es der Kleinen, eine Spitzenmanschette ihres Paten zu erwischen, und ihr Schrei verstummte, als sie heftig daran zu nuckeln begann und ihre Beute nicht mehr losließ. Sie schien ihr zu schmecken. »Es ist venezianische Spitze«, seufzte Sylvain de Damville und schüttelte seine nasse, zerknüllte Manschette aus, als er die kleine Dame endlich ihrer Mutter zurückgeben konnte. »Ich fürchte, sie beginnt bereits jetzt teure Vorlieben zu entwickeln. Man sollte sich nie mit dem weiblichen Geschlecht einlassen! Es bringt einem nur Ärger und unnötige Kosten.« Aimée achtete nicht auf seine eisige Distanz, die er nicht einmal jetzt ablegte. Sie schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln und küßte ihre müde kleine Tochter auf die seidenweiche Wange. Das Kind hatte die letzten eigensinnigen Kanten ihres Charakters zu weiblicher Stärke geschliffen. Sie hatte gelernt, nur noch die Kämpfe zu führen, die sich lohnten und sich nicht mehr von Kleinigkeiten provozieren zu lassen. »Ich sehe, Ihr habt bereits Euer Herz ganz an sie verloren...«, blickte sie unter die mürrische Fassade seiner sarkastischen Rede. »Bildet Euch nicht zuviel darauf ein, Aimée!« warnte er sie vor falschen Schlüssen. »Ich habe mich Eurem Wunsch gebeugt, weil ich dem König einen Beweis meines guten Willens geben wollte. Ich kann mit kleinen Kindern nichts anfangen, und ich beabsichtige auch nicht, mich wie ein Tanzbär als Familienmitglied vorführen zu lassen. Sobald das Fest zu Ende ist, werde ich Eure Gastfreundschaft nicht länger strapazieren! Bis dahin...« Er griff in sein Wams. »Das gehört Euch, soweit ich weiß. Erlaubt, daß ich es zurückgebe. Vielleicht bewahrt Ihr es für den Sohn, den Ihr sicher in Kürze bekommen werdet...« Er gönnte ihr eine elegante Reverenz und verschwand unter den Festgästen. Aimée sah kurz ein hellblaues Seidengewand und wehende silberblonde Haare, als Floralie höchst ungeniert nach seinem Arm griff. Dann traten andere Gäste dazwischen, und sie sah nicht mehr, wie beide den großen Saal verließen. Nachdenklich starrte sie auf das kleine Ledersäckchen, das er ihr gegeben hatte. Vom Fühlen her enthielt es einen harten Gegenstand, den sie nicht auf Anhieb benennen konnte. Da sie jedoch ihre Tochter auf dem Arm hatte, steckte sie das Geschenk in den kleinen Almosenbeutel an ihrem Gürtel und beschloß, es später zu betrachten. »Ein Tanzbär! Er denkt, ich möchte ihn wie einen Tanzbär vorführen«, berichtete sie viel später ihrem Gemahl von dem Gespräch, als es ihnen endlich vergönnt war, die Abgeschiedenheit der eigenen Gemächer aufzusuchen. Der Täufling schlummerte längst, von seiner Kinderfrau und seinem kleinen Hofstaat eifersüchtig bewacht, und die letzten Gäste hatten sich verabschiedet. Auch die Herzogin von Savoyen, die der kleinen Demoiselle die königliche Gunst und ein Silberkästchen mit geschliffenen Smaragden und Jadesteinen zur Taufe überreicht hatte. Seine Majestät selbst befand sich auf Reisen, und Aimée war ihm nicht böse darum. Der König hatte eine Art mit ihr zu flirten, die das ausgesprochene Mißfallen ihres Gemahls
erregte. Er vermochte nicht zu begreifen, daß sie in ihrer Ehe alles gefunden hatte, was sie sich wünschte. Stille hatte sich über das Haus und seine Bewohner gelegt. Georges de Pontivy sah seiner Gemahlin bei der abendlichen Toilette zu, während sie sich über das vergangene Fest unterhielten. »Wenn da jemand die Kette des Bären in zarten Händen hält, dann ist das wohl die entzückende Fee Floralie«, grinste er und streckte seine Beine dem Kaminfeuer entgegen, das munter über die Buchenscheite tanzte und die Kälte der Januarnacht vertrieb. »Floralie?« Aimée hatte bereits die prächtige Bestrebe aus goldbesticktem Satin in prächtigem Nachtblau abgelegt und trug nur noch das zarte, cremefarbene Hemd mit den weiten gebauschten Ärmeln, die zuvor aus den geschlitzten Ärmeln gelugt hatten. Sie ließ die Haarbürste sinken und strich sich mit der anderen Hand die losen fliegenden Locken aus der leicht gerunzelten Stirn. »Was willst du damit sagen?« »Daß sie der einzige Mensch ist, auf dessen Wort dein Halbbruder hört. Nun sieh mich nicht mit diesen fassungslosen Augen an, Petite! Was glaubst du eigentlich, wer diesen Löwen davon abgehalten hat, mich kurzerhand ins Jenseits zu befördern, als er mich als ungebetenen Gast in seiner Burg entdeckte?« »Er hätte es nicht gewagt...«, wisperte Aimée tonlos und versuchte sich nicht aufzuregen. »Er hätte alles gewagt«, widersprach ihr Gatte trocken. »Nur nicht die Tränen deiner koketten kleinen Schwester! Ihr ist es auch zu verdanken, daß die meisten meiner Männer, die ich nach jenem Überfall tot geglaubt hatte, aus der Gefangenschaft Sylvains entlassen wurden.« »Gütiger Himmel! Das kann nicht sein. Das darf nicht sein... Weshalb hat sie nie eine einzige Silbe davon gesagt?« Aimée warf einen Blick zur Tür, als wolle sie auf der Stelle loslaufen, um Floralie zu dieser Sache zu befragen. Aber ehe sie auch nur den ersten Schritt tun konnte, lag sie in den Armen ihres Gemahls. »O nein, mein Herz! Du wirst hierbleiben«, murmelte er an ihrem Scheitel, und seine streichelnden Hände suchten die verführerischen Konturen ihres Körpers durch das seidige Hemd. »Georges, ich bitte dich... Doch nicht jetzt, ich... Oh...« Die vertraute Magie hatte nichts von ihrer Wirksamkeit verloren. Im Gegenteil, zu wissen, wie alles enden würde, tat dem Spiel keinen Abbruch. Es verlieh ihm sogar eine prickelnde Würze. Aimées Hände schlüpften unter den offenen Hausmantel ihres Gatten, und sie vergaß alles außer ihrer Leidenschaft und dem glühenden Vergnügen, das sie einander bereiteten. Sehr viel später, als sie nackt an seinen heißen Leib geschmiegt, erschöpft und doch zu aufgeputscht, um zu schlafen, die trägen Zärtlichkeiten einer befriedigten Liebe tauschten, kam Aimée noch einmal auf seine Vermutung zu sprechen. »Du meinst, er ist ihr ehrlich zugetan? Aber er ist kalt, ohne Herz und ohne jedes menschliche Gefühl! Sie würde an seiner Seite erfrieren.« »Ich kann dir deine Fragen nicht beantworten«, entgegnete ihr Gatte sanft. »Ich weiß nur, daß es Dinge auf dieser Welt gibt, die kein Mensch mit Vernunft beeinflussen kann, und die Liebe ist das Komplizierteste von allen. Laß deine kleine Schwester ihren eigenen Weg finden. So wie du es getan hast. Immer aufrecht und immer der Stimme deines Herzens nach!« Aimée mußte ihm recht geben. Sie seufzte leise und plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie richtete sich auf und schlüpfte aus dem Bett. »Was ist los?« Vor dem rötlichen Schein des Kaminfeuers bot sie ihrem Gemahl die verführerische Silhouette einer nackten Sirene. Nach der Geburt hatte sie bald die grazile Schlankheit ihres
Körpers wiedergewonnen, wenngleich die Brüste größer und voller wirkten und die Gestalt nun jene einer erblühten Frau und nicht länger die eines zarten Mädchens war. Er konnte sie nicht ansehen, ohne sie auf der Stelle zu begehren. Aimée hatte sich an das Geschenk ihres Halbbruders erinnert und suchte in den Falten des Kleids nach ihrem Almosenbeutel. Endlich fand sie das Gesuchte und kehrte in die Arme ihres Gemahls zurück. Sie zeigte ihm das kleine Behältnis. »Er sagte, ich solle es für unseren Sohn aufbewahren...«, murmelte sie und zog das Lederband auf, um den Inhalt in Georges Hände zu kippen. »Sieh nur, der Ring der Grafen von Termignon!« rief sie voller Staunen und faßte nach dem kostbaren Schmuckstück, von dem sie gedacht hatte, daß sie es für immer verloren hatte. Warum hatte sie die Umrisse nicht gleich erkannt? Fassungslos betrachtete sie die verschlungenen Linien des inzwischen so vertrauten Wappens. Es sah aus, als hätte ein geschickter Goldschmied die Konturen vertieft und den Ring neu poliert. »Zum Henker...«, murmelte ihr Herr Gemahl in ungeschminktem Erstaunen. »Der Kerl bringt es doch tatsächlich fertig, mich in seine Schuld zu setzen! Was können wir nur tun?« »Oh, ich wüßte schon etwas!« Aimée malte mit einem Zeigefinger, an dem der Ring der Grafen von Termignon schimmerte, kleine zärtliche Kringel auf die dunkel behaarte Brust ihres Liebsten. Gleichzeitig drängte sie ihre Brüste an seine Seite und rieb sich verheißungsvoll an ihm. »Und das wäre?« erkundigte er sich deutlich abgelenkt mit seltsam angespannter Stimme. Er konnte nicht klar denken, wenn sie solche Dinge tat. »Oh! Wir müssen schnellstens dafür sorgen, daß wir einen Sohn bekommen, der diesen Ring tragen kann. Könnte es sein, daß du hierfür etwas tun möchtest...?« ENDE