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Zum Buch Jeanette Garland, vermisst gemeldet in Castleford, Juli 1969. Susan Ridyard, vermisst gemeldet in Rochdale, März 1972. Clare Kemplay, vermisst gemeldet in Morley am gestrigen Tag. Es ist Freitag, der 13. Dezember 1974, und Edward Dunford tritt seinen ersten Arbeitstag an. Endlich hat er den Job, den er immer wollte: Reporter bei der Evening Post. Nur weiß er noch nicht, dass er in den nächsten elf Tagen durch die Hölle gehen wird. Ein grausamer Mord wird entdeckt. Zeugen verschwinden spurlos. Und die Polizei scheint mehr zu wissen, als sie vorgibt. Als Edward Dunford herausfindet, dass die Honoratioren der Stadt in den Mordfall verwickelt sind, beginnt ein Wettlauf mit dem Tod. Temporeich und mit großer Leidenschaft erzählt David Peace von dunklen Obsessionen, vermeintlich rechtschaffenen Men‐ schen und einem tödlichen Spiel mit der Wahrheit. 1974 ist der erste Teil des preisgekrönten Red Riding Quartetts, einer Chro‐ nik Englands in den siebziger und frühen achtziger Jahren, mit der David Peace zu einer der wichtigsten Stimmen der neuen englischen Literatur aufstieg Pressestimmen »Ein unwiderstehliches Buch, das keinen kaltlässt.« The Guardian »Dieses Buch ist ein literarischer Schock, genau wie Die Schwarze Dahlia.«
The New York Times
Zum Autor David Peace wurde 1967 im Westen Yorkshires geboren. Nach einem Studium an der Technischen Hochschule von Manchester arbeitete er jahrelang als Englischlehrer in Istanbul. Heute lebt er mit seiner Familie in Tokyo. David Peace wurde u. a. mit dem »Grand Prix du Roman Noir« ausgezeichnet und in die renom‐ mierte »Granta’s List of Best Young British Novelists« aufge‐ nommen. Auch die weiteren Titel der Yorkshire‐Ripper‐Saga
werden als Taschenbuch im Heyne Verlag erscheinen.
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Die Originalausgabe NINETEEN SEVENTY FOUR erschien 1999 by Serpent’s Tail, London
Verlagsgruppe Random House FSC‐DEU‐0100 Das für dieses Buch verwendete FSC‐zertifizierte Papier München Super liefert Mochenwangen. Vollständige Deutsche Taschenbuchausgabe 04/2006 Copyright © 1999 by David Peace Copyright © 2005 der deutschen Ausgabe by Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München Coypright © 2006 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2006 Umschlagillustration und Umschlaggestaltung: © Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, München‐ Zürich Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN‐10: 3‐453‐67508‐8 ISBN‐13: 978‐3‐453‐67508‐7 www.heyne‐hardcore.de »Das einzig Neue auf der Welt ist die Geschichte, die man nicht kennt.« HARRY S. TRUMAN
Vergebung Bomben zu Weihnachten und Lord ›Lucky‹ Lucan auf der Flucht, Leeds United und die Bay City Rollers, Der Exorzist und It Ain’t half Hot Mum. Yorkshire, Weihnachten 1974. Ich sag nichts. Ich habe Lügen als Wahrheit verkauft und Wahrheit als Lügen und alles geglaubt. Ich habe Frauen gehabt, die ich nicht liebte, und die eine, die ich liebte, werde ich nie wieder haben. Ich habe einen bösen Mann getötet, aber andere leben lassen. Ich habe ein Kind getötet. Yorkshire, Weihnachten 1974. Ich sag nichts.
ERSTER TEIL
Yorkshire will mich
1. Kapitel »Das einzige, was wir vorgesetzt kriegen, ist der beschissene Lord Lucan und irgendwelche bescheuerten Krähen ohne Flügel«, lächelte Gilman, so als sei dies der schönste Tag unseres Lebens: Freitag, 13. Dezember 1974. Ich hoffte auf meine erste Titelseite, wurde endlich namentlich genannt: Edward Dunford, Gerichtsreporter für Nordengland; zwei verdammte Tage zu spät. Ich schaute auf die Uhr meines Vaters. Neun Uhr, und keines von den Arschlöchern war im Bett ge‐ wesen; noch immer nach Ale stinkend, direkt aus dem Presseclub in diese Hölle: Konferenzraum, Millgarth Police Station, Leeds. Die ganze verdammte Meute wartete mit gezückten Stiften und aufnahmebereiten Tonbandgeräten auf die Hauptattraktion; heiße Scheinwerfer und Zigarettenqualm leuchteten den fenster‐ losen Raum aus wie einen Boxring in der Town Hall bei einer Late Night Fight Night, die Zeitungsschmierer ließen sich über die Fernsehheinis und Radiofritzen aus und stellten sich taub: »Einen Scheißdreck wissen die.« »Ein Pfund, wenn George mit dabei ist, ist sie tot.« Khalid Aziz im Hintergrund, von Jack keine Spur. Jemand stupste mich an. Gilman schon wieder, Gilman von der Manchester Evening News und von noch früher. 10
»Tut mir leid, das mit deinem alten Herrn, Eddie.« »Ja, danke«, erwiderte ich und dachte nur, wie verdammt schnell sich doch so was rumspricht. »Wann ist die Beerdigung?« Ich schaute wieder auf die Uhr meines Vaters. »In zwei Stunden.« »O Scheiße. Aber Hadden will erst noch seine Portion Blut, oder?« »Ja«, sagte ich und wußte, Beerdigung hin oder her, unter gar keinen Umständen würde ich dem beschissenen Jack Whitehead die Story überlassen. »Tut mir echt leid.« »Ja«, sagte ich. Sekunden später: Eine Seitentür geht auf, alles wird still, alles erstarrt. Erst ein Kriminalbeamter mit dem Vater, dann Detective Chief Super‐ intendent George Oldman, als letzte eine Polizistin mit der Mutter. Sie verschanzen sich hinter den plastiküberzogenen Tischen, schieben Papiere hin und her, berühren die Wassergläser und schauen überallhin, nur nicht nach vorn, und ich drücke an dem Philips Pocket Memo auf Start. In der blauen Ecke: Detective Chief Superintendent George Oldman, ein Gesicht von früher, ein Brocken von Mann unter Brocken von Mannern, dichtes schwarzes Haar, nach hinten geklatscht, damit es nach we‐ niger aussah, ein blasses Gesicht im grellen Licht der Scheinwer‐ fer, tausend geplatzte Äderchen, die roten Fußtapser winziger Spinnen, die sich über seine bleichen Wangen bis zu seiner Säufer‐ nase zogen. 11
Sein Gesicht, seine Leute, seine Zeit, dachte ich. Und in der roten Ecke: Die Eltern in verknitterten Klamotten und mit fettigen Haaren, der Vater, der sich die Schuppen vom Kragen klopft, die Mutter, die mit ihrem Ehering spielt; beide schrecken auf bei dem Knall und dem Jaulen eines Mikrofons, das eingeschaltet wird, und beide sehen in aller Augen eher wie die Täter, nicht wie Opfer aus. Habt ihr vielleicht eure Tochter auf dem Gewissen? dachte ich. Die Polizistin legt eine Hand auf den Arm der Mutter, die dreht sich um und starrt sie an, bis die Polizistin den Blick ab‐ wendet. Runde eins: Oldman tippt ans Mikro und hüstelt: »Meine Herren, vielen Dank, daß Sie gekommen sind. Es war für alle eine lange Nacht, vor allem für Mr. und Mrs. Kemplay, und der Tag wird ebenfalls lang werden. Fassen wir uns also kurz.« Dann nippt er an einem Glas Wasser. »Gegen sechzehn Uhr am gestrigen Nachmittag, dem 12. De‐ zember, verschwand Clare Kemplay auf dem Heimweg von der Schule, der Morley Grange Junior and Infants. Clare verließ die Schule um Viertel vor vier mit zwei Klassenkameradinnen. An der Ecke Rooms Lane und Victoria Road verabschiedete sie sich von ihren Freundinnen. Das letzte Mal wurde sie gesehen, als sie gegen sechzehn Uhr die Victoria Road in Richtung ihres Zuhau‐ ses entlangging.« Der Vater sieht Oldman an. »Als Clare nicht zu Hause eintraf, veranlaßte die Polizei in Morley am frühen Abend eine Suchaktion, unterstützt von 12
Freunden und Nachbarn der Kemplays, doch bisher gibt es noch keinerlei Hinweis auf den Verbleib von Clare. Clare ist bisher noch nie weggelaufen, und wir machen uns ernsthafte Sorgen um ihr Befinden und ihre Sicherheit.« Oldman greift erneut nach dem Glas, läßt es aber stehen. »Clare ist zehn Jahre alt. Sie ist hellhäutig, hat blaue Augen und lange, glatte Haare. Gestern abend trug Clare eine orangefarbene Regenjacke, einen dunkelblauen Rollkragenpullover, eine hell‐ blaue Jeans mit einem unverkennbaren Adlermotiv auf der hinte‐ ren linken Hosentasche und rote Stiefel. Als Clare die Schule ver‐ließ, hatte sie eine Plastiktüte von Co‐op mit schwarzen Turn‐ schuhen bei sich.« Oldman hält ein vergrößertes Photo von einem lächelnden Mädchen in die Höhe und sagt: »Abzüge dieses kürzlich auf‐ genommenen Schulphotos werden am Ende verteilt.« Er trinkt erneut einen Schluck Wasser. Stühle scharren, Papiere rascheln, die Mutter schnieft, der Vater starrt vor sich hin. »Mrs. Kemplay möchte nun kurz etwas sagen, in der Hoff‐ nung, daß jemand aus der Bevölkerung, der Clare gestern nach‐ mittag nach sechzehn Uhr gesehen hat oder über sonstige In‐ formationen über Clares Verbleib oder Verschwinden verfügt, sich meldet, um uns bei unseren Ermittlungen zu helfen. Vielen Dank.« Detective Chief Superintendent Oldman schiebt das Mikrofon freundlich zu Mrs. Kemplay hin. 13
Blitzlichter durchzucken den Konferenzraum und schrecken die Mutter auf, die in unsere Gesichter blinzelt. Ich schaue auf meinen Notizblock und die Räder, die das Band in meinem Philips Pocket Memo spulen. »Ich flehe Sie an, wenn Sie wissen, wo meine Clare ist, oder wenn Sie sie gestern nach sechzehn Uhr noch gesehen haben, bitte rufen Sie die Polizei an. Clare ist ein sehr glückliches Kind, und ich weiß, sie würde nie weglaufen, ohne mir vorher Bescheid zu sagen. Bitte, wenn Sie wissen, wo sie ist, oder wenn Sie sie ge‐ sehen haben, bitte melden Sie sich bei der Polizei.« Ein unterdrücktes Hüsteln, dann Stille. Ich blicke auf. Mrs. Kemplay hat die Hände vorm Mund und die Augen ge‐ schlossen. Mr. Kemplay steht auf und setzt sich wieder hin, als Oldman fortfährt: »Meine Herren, ich habe Ihnen alle Informationen ge‐ geben, über die wir im Augenblick verfügen. Es tut mir leid, aber wir haben jetzt nicht die Zeit, irgendwelche Fragen zu beantwor‐ ten. Die nächste Pressekonferenz ist für siebzehn Uhr anberaumt, es sei denn, es gibt bis dahin weitere Entwicklungen. Ich danke Ihnen, meine Herren.« Stühle scharren, Papiere rascheln, aus Gemurmel wird Mur‐ ren, aus Flüstern werden Worte. Weitere Entwicklungen, Scheiße. »Danke, meine Herren. Das wäre im Augenblick alles.« Detective Chief Superintendent Oldman erhebt sich und will hinausgehen, doch niemand am Tisch sonst rührt sich. Er dreht sich wieder um und nickt den Journalisten zu, die er in den grel‐ len Fernsehscheinwerfem nicht sehen kann. 14
»Danke, Jungs.« Ich schaue wieder auf meinen Notizblock, die Räder spulen noch immer das Band, und ich sehe die weiteren Entwicklungen mit dem Gesicht nach unten in einer orangefarbenen Regenjacke in einem Graben liegen. Ich blicke wieder auf, der andere Beamte stützt Mr. Kemplay am Ellbogen, Oldman hält Mrs. Kemplay die Seitentür auf und flüstert ihr etwas zu, was sie zum Blinzeln bringt. »Hier, bitte.« Ein schwergewichtiger Kriminalbeamter in ei‐ nem guten Anzug reicht Abzüge des Schulphotos herum. Jemand stupst mich an. Schon wieder Gilman. »Sieht nicht besonders rosig aus, stimmt’s?« »Nein«, erwidere ich, während Clare Kemplay mich anlächelt. »Armes Ding. Was sie wohl durchmacht, hm?« »Ja«, sage ich und schaue auf die Uhr meines Vaters am kalten Handgelenk. »He, du solltest dich besser schleunigst vom Acker machen, meinst du nicht?« »Ja.« MI, Motorway One, südlich von Leeds nach Ossett. Ich trieb den Viva meines Vaters im Regen auf 100 km/h, im Radio rockte Shang‐a‐Lang von den Bay City Rollers. Zwölf Kilometer lang murmelte ich den Text wie ein Mantra vor mich hin: Mutter appelliert an Mitgefühl. Mutter der vermißten Clare Kemplay (10) appelliert an unser aller Mitgefühl. Angesichts zunehmender Besorgnis appellierte Mrs. Sandra Kemplay an unser aller Mitgefühl. Emotionale Appelle, wachsende Besorgnis. 15
Zehn vor zehn hielt ich vor dem Haus meiner Mutter in der Wesley Street in Ossett und fragte mich, warum die Rollers nicht The Little Drummer Boy gecovert hatten, das hätten sie sicher gut hingekriegt, dachte ich. Am Telefon: »Okay, tut mir leid. Den Anfang noch mal, dann sind wir fer‐ tig. Also: Mrs. Sandra Kemplay appellierte heute morgen an un‐ ser aller Mitgefühl und flehte, ihre Tochter Clare möge gesund und unversehrt heimkehren, doch zugleich wuchs die Sorge um die vermißte Zehnjährige aus Morley. Neuer Absatz: Clare verschwand gestern am frühen Nach‐ mittag auf dem Heimweg von der Schule; die intensive Suche der Polizei, die die ganze Nacht über andauerte, führte zu keinerlei Hinweisen auf den Verbleib von Clare Kemplay. Okay, der Rest bleibt ... Danke, meine Liebe ... Nein, bis dahin bin ich damit durch, außerdem lenkt es mich ein wenig ab ... Bis bald, Kathryn.« Ich legte auf und schaute auf die Uhr meines Vaters : Zehn nach zehn. Ich ging den Flur entlang zum Hinterzimmer und fand, daß ich das richtig gut hingekriegt hatte. Susan, meine Schwester, stand mit einer Tasse Tee am Fenster und schaute hinaus in den Garten und den Nieselregen. Meine Tante Margaret hockte am Tisch, eine Tasse Tee vor sich. Tante Madge saß im Schaukelstuhl und balancierte ihre Tasse auf dem Schoß. Im Sessel meines Vaters neben der Anrichte saß 16
niemand. »Bist du fertig?« fragte Susan, ohne sich umzudrehen. »Ja. Wo ist Ma?« »Oben, mein Lieber, sie zieht sich an«, sagte Tante Margaret, stand auf und nahm ihre Tasse und Untertasse. »Möchtest du einen Tee?« »Nein, danke.« »Die Wagen kommen gleich«, meinte Tante Madge. »Ich geh jetzt besser und zieh mich um«, sagte ich. »Ist gut, mein Lieber. Geh du nur. Ich koch dir einen Tee, bis du wieder runterkommst.« Tante Margaret ging in die Küche. »Glaubst du, Ma ist fertig im Bad?« »Frag sie doch selber«, sagte meine Schwester zum Garten und zum Regen hin. Die Treppe rauf, zwei Stufen auf einmal, so wie früher; schei‐ ßen, rasieren, duschen, fertig; ich dachte, besser wäre wichsen und waschen, und plötzlich fragte ich mich, ob mein Vater jetzt meine Gedanken lesen konnte. Die Badezimmertür stand auf, die Tür zum Zimmer meiner Mutter war zu. Auf dem Bett in meinem Zimmer lag ein sauberes weißes, frisch gebügeltes Hemd, daneben der schwarze Schlips meines Vaters. Ich stellte das Radio in Form eines Schiffs an, und David Essex versprach mir, mich zu einem Star zu machen. Ich betrachtete mein Gesicht im Schrankspiegel und sah meine Mutter, die im rosa Schlüpfer in der Türöffnung stand. »Ich hab dir ein sauberes Hemd und einen Schlips rausgelegt.« »Ja, danke, Ma.« »Wie lief’s heute morgen?« »Ganz gut.« »War im Radio gleich die erste Meldung.« 17
»Ach ja?« sagte ich und unterdrückte die Fragen. »Hört sich nicht gut an, oder?« »Nein«, antwortete ich, hätte aber lieber gelogen. »Hast du die Mutter gesehen?« »Ja.« »Armes Ding«, sagte meine Mutter und schloß die Tür hinter sich. Ich setzte mich aufs Bett und das Hemd und starrte das Fuß‐ ballposter von Peter Lorimer an der Tür an. Ich dachte an seine Schußkraft, 145 km/h. Die Prozession der drei Wagen kroch Dewsbury Cutting hinun‐ ter durch die noch dunkle Weihnachtsbeleuchtung der Innenstadt, dann langsam die andere Talflanke hinauf. Mein Vater lag im ersten Wagen. Meine Mutter, meine Schwe‐ ster und ich saßen im nächsten, der letzte war vollgestopft mit Tanten, echten und Nenntanten. In den ersten beiden Wagen sprach keiner ein Wort. Als wir beim Krematorium ankamen, hatte sich der Regen et‐ was gelegt, doch als ich an der Eingangstür stand, peitschte mich der Wind noch immer, und ich jonglierte hin und her zwischen Händeschütteln und einer Zigarette, die ich nur mühsam ange‐ zündet bekommen hatte. Drinnen hielt ein Ersatzmann die Totenrede; der Vikar un‐ serer Familie war zu sehr damit beschäftigt, den eigenen Krebs zu bekämpfen, auf derselben Krankenstation, die mein Vater am frühen Mittwochmorgen verlassen hatte. Also hielt dieser tolle Er‐ satz eine Totenrede auf einen Mann, den weder er noch wir 18
jemals gekannt hatten, und machte ihn zum Schreiner, obwohl er Schneider gewesen war. Ich saß da, regte mich auf, welche jour‐ nalistische Freiheit man sich da herausnahm, und dachte, diese Leute sind völlig behämmert. Ich starrte auf die Kiste drei Schritte vor mir, dachte an eine kleinere weiße Kiste und die Kemplays in Schwarz und fragte mich, ob der Vikar auch deren Totenfeier versauen würde, wenn man Clare erst mal gefunden hatte. Ich sah auf meine Finger, die die kalte Holzbank so fest um‐ klammerten, daß sie alles Blut verloren hatten und weiß wurden, warf einen Blick auf die Uhr meines Vaters unter der Manschette und spürte eine Hand auf meinem Ärmel. In der Stille des Krematoriums flehten die Augen meiner Mut‐ ter mich an, die Fassung zu bewahren, der Mann gebe zumindest sein Bestes, und die Einzelheiten seien nicht immer so wichtig. Neben ihr meine Schwester, deren Make‐up ganz verwischt, fast weg war. Und dann war auch er fort. Ich beugte mich vor, um das Gesangbuch auf den Boden zu legen, dachte an Kathryn und daran, sie auf einen Drink einzu‐ laden, wenn ich die nachmittägliche Pressekonferenz im Kasten hatte. Vielleicht würden wir danach in ihre Wohnung gehen. Meine Wohnung kam nicht in Frage, zumindest heute nicht. Dann dachte ich, die Toten können todsicher keine Gedanken lesen. Draußen jonglierte ich wieder mit einer Reihe von Händen und einer Zigarette und vergewisserte mich, daß die Wagen den 19
Rückweg zum Haus meiner Mutter fanden. Ich stieg in den letzten Wagen ein, saß wieder stumm da, konnte kein Gesicht zuordnen und kannte keinen einzigen Na‐ men. Als der Fahrer einen anderen Weg zurück nach Ossett ein‐ schlug, geriet ich einen Augenblick lang in Panik und war schon überzeugt, in die falsche beschissene Totengesellschaft geraten zu sein. Doch dann fuhren wir wieder Dewsbury Cutting hinauf, und die anderen Insassen lächelten mich plötzlich an, als hätten alle dasselbe gedacht. Wieder daheim, eins nach dem anderen: Im Büro anrufen. Nichts. Keine Neuigkeiten, also schlechte Neuigkeiten für die Kem‐ plays und Clare und gute Neuigkeiten für mich. 24 Stunden waren bald um, tick‐tack. 24 Stunden, das hieß, Clare war tot. Ich legte auf, schaute auf die Uhr meines Vaters und fragte mich, wie lange ich mich noch bei den Angehörigen und seinen Freunden aufhalten mußte. Vielleicht noch eine Stunde. Ich ging den Flur entlang, wurde endlich namentlich genannt, brachte noch mehr Tod ins Haus eines Toten. »Also, hat einer aus dem Süden ‘ne Panne in den Yorkshire Moors. Er geht die Straße lang zu einem Bauernhof und klopft an. Der alte Bauer macht auf, und der aus dem Süden fragt: ›Wis‐ sen Sie, wo ich die nächste Werkstatt finde ?‹ ›Nein‹, antwortet der alte Bauer. Fragt ihn der aus dem Süden dann, ob er den Weg in die Stadt weiß. Weiß er nicht, sagt der Bauer. ›Und wie steht’s mit 20
dem nächsten Telefon?‹ Weiß er auch nicht, sagt der Bauer. Da sagt der aus dem Süden: ›Na, Sie wissen aber verdammt wenig, oder?‹ Daraufhin der alte Bauer: ›Kann schon sein, aber ich hab mich ja auch nicht verfahren.‹« Onkel Eric, stolz darauf, Yorkshire bisher nur einmal verlas‐ sen zu haben, um Deutsche zu töten, hielt hof. Onkel Eric, den ich mit zehn dabei beobachtet hatte, wie er einen Fuchs mit einem Spaten erschlug. Ich setzte mich auf die Lehne des leeren Sessels meines Vaters, dachte an Zimmer mit Meerblick in Brighton, an Mädchen aus dem Süden, die Anna hießen oder Sophie, und an ein fehlge‐ leitetes Gefühl kindlicher Treue, das nun zur Hälfte überflüssig war. »Bist sicher froh, wieder hier zu sein, hm?« fragte Tante Mar‐ garet blinzelnd und drückte mir wieder eine Tasse Tee in die Hand. Ich saß mitten in dem überfüllten Hinterzimmer, drückte mit der Zunge an meinem Gaumen herum, versuchte das festgeklebte Stück Weißbrot abzukriegen, war froh, etwas zu haben, um den Geschmack von warmem, salzigem Schinken wegzuspülen, haue am liebsten einen Whisky getrunken und dachte schon wieder an meinen Vater; ein Mann, der an seinem achtzehnten Geburtstag den Eid auf den König ablegte, nur weil sie ihn darum gebeten hatten. »Ja, schaut euch das mal an.« Ich war Meilen und Jahre entfernt, und plötzlich spürte ich, meine Stunde war gekommen, alle Augen ruhten auf mir. Meine Tante Madge wedelte mit einer Zeitung umher, als 21
wolle sie eine Schmeißfliege erschlagen. Ich saß auf der Sessellehne, kam mir vor wie die Fliege. Ein paar meiner jüngeren Cousins hatten sich Süßigkeiten gekauft und die Zeitung mitgebracht, meine Zeitung. Meine Mutter nahm Tante Madge das Blatt ab und blätterte durch den Innenteil, bis sie auf die Geburts‐ und Todesanzeigen stieß. Verdammt, verdammt, verdammt. »Steht Dad drin?« fragte Susan. »Nein. Morgen wohl«, antwortete meine Mutter und sah mich mit ihren traurigen, traurigen Augen an. »Mrs. Sandra Kemplay appellierte heute morgen flehend darum, ihre Tochter möge gesund heimkehren.« Jetzt hatte meine Tante Edie aus Altrincham die Zeitung. Verdammte Appelle. »Von Edward Dunford, Gerichtsreporter für Nordengland. Na, Donnerwetter«, las Tante Margaret über Tante Edies Schultern hinweg. Alle im Zimmer versicherten mir reihum, wie stolz mein Vater auf mich gewesen wäre und daß es doch eine Schande sei, daß er diesen großen Tag, meinen großen Tag nicht mehr habe er‐ leben dürfen. »Ich hab all das Zeugs gelesen, das du über diesen komischen Rattenfänger geschrieben hast«, sagte Onkel Eric. »Komischer Kauz, der Kerl.« Der Rattenfänger, eine Story im Innenteil, Brosamen vom Tisch des verdammten Jack Whitehead. »Ja«, lächelte ich, nickte hierhin und dorthin und stellte mir meinen Vater vor, wie er in dem leeren Sessel neben der Anrichte saß und die letzte Seite zuerst las. 22
Es gab Schulterklopfen, und für einen kurzen Augenblick hielt ich die Zeitung in der Hand und warf einen Blick darauf. Edward Dunford, Gerichtsreporter für Nordengland. Ich las nicht weiter. Wieder machte die Zeitung die Runde. Ich sah meine Schwester, die auf der anderen Seite des Zimmers auf dem Fensterbrett saß, Augen zu, Hände vorm Mund. Sie schlug die Augen auf und starrte mich an. Ich wollte auf‐ stehen und zu ihr gehen, doch sie erhob sich und ging hinaus. Ich wollte hinter ihr her und sagen: ›Tut mir leid, tut mir leid; tut mir leid, daß das ausgerechnet heute passieren mußte.‹ »Bald werden wir ihn um ein Autogramm bitten müssen, was?« lachte Tante Madge und reichte mir einen Tee. »Für mich wird er immer der kleine Eddie bleiben«, sagte Tante Edie aus Altrincham. »Danke«, sagte ich. »Sieht nicht besonders gut aus, was?« fragte Tante Madge. »Nein«, log ich. »Ist nicht das erste Mal, oder?« fragte Tante Edie, meine Hand in der einen, eine Tasse Tee in der anderen Hand. »Ja, vor ein paar Jahren gab’s das schon mal. Die Kleine drü‐ ben in Castleford«, antwortete meine Tante Madge. »Das ist wirklich schon ‘ne Weile her, ja. Aber da war noch eine, erst kürzlich, mehr bei uns in der Gegend«, sagte Tante Edie und nahm einen Schluck Tee. »Ja, in Rochdale. Ich erinnere mich«, meinte Tante Madge und hielt ihre Untertasse fester. »Man hat sie nie gefunden«, seufzte Tante Edie. »Wirklich?« fragte ich. 23
»Konnte auch nie jemandem angehängt werden.« »Ja, niemandem«, sagte Tante Madge. »Früher hat es so was nicht gegeben.« »Die in Manchester waren die ersten.« »Ja«, murmelte Tante Edie und ließ meine Hand los. »Das war grausam, einfach grausam«, flüsterte Tante Madge. »Das muß man sich mal vorstellen, es gibt Eltern, die lassen ihre Töchter einfach so herumlaufen, als sei nie was gewesen.« »Dummheit stirbt eben nie aus.« »Die Menschen haben ein kurzes Gedächtnis«, sagte Tante Edie und schaute hinaus in den Garten und den Regen. Edward Dunford, Gerichtsreporter für Nordengland, mach‐ te, daß er hinauskam. Es regnete Bindfaden, verdammte Bindfäden. Die MI zurück nach Leeds, dichter LKW‐Verkehr, es ging nur langsam voran. Ich fuhr, so schnell ich konnte, und brachte den Viva im Regen auf 110. Lokalradio: »Die Suche nach dem vermißten Schulmädchen Clare Kem‐ play aus Morley geht weiter, doch die Sorge wächst, daß ...« Ein Blick auf die Uhr bestätigte mir, was ich bereits wußte: 16.oo Uhr, das hieß, die Zeit war gegen mich, das hieß, sie war gegen Clare, das hieß, es war keine Zeit mehr, um Hintergrund‐ infos über vermißte Kinder zu beschaffen, das hieß, keine Fragen bei der Pressekonferenz um 17.00 Uhr. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Ich verließ den Motorway mit hohem Tempo, wog das Für und Wider ab, meine Fragen einfach aufs Geratewohl zu stellen, gleich um 17.oo Uhr, mit nichts anderem in der Hand als dem Gerede zweier alter Tanten. 24
Zwei vermißte Kinder, Castleford und Rochdale, keine Daten, nur Vermutungen. Vage Vermutungen ins Blaue hinein. Knopfdruck, landesweites Radio: 67 Mitarbeiter bei der Ken‐ tish Times und der Slough Evening Mail entlassen, Provinzjourna‐ listen der National Union of Journalists bereiten sich darauf vor, vom 1. Januar an zu streiken. Edward Dunford, Provinzjournalist. Vage Vermutungen kriegen als erstes einen Tritt in den Hintern. Ich sah das Gesicht von Detective Chief Superintendent Old‐ man vor mir, sah das Gesicht meines Chefredakteurs vor mir, sah eine Wohnung in Chelsea vor mir mit einem wunderschönen Mädchen aus dem Süden namens Sophie oder Anna, das die Tür zumachte. Du kriegst vielleicht ‘ne Glatze, aber deshalb bist du noch kein Kojak. Ich parkte hinter der Millgarth Police Station, als gerade der Markt abgebaut wurde; der Rinnstein war voller Kohlblätter und vergammeltem Obst, und ich fragte mich, auf Sicherheit spielen oder auf Risiko? Ich krallte mich an das Lenkrad und schickte ein Gebet gen Himmel. B I T TE , LAS S KE IN AN DERE S ARS CH LOCH D I ES E FR A GE S TE LL EN .
Ich wußte, es war ein Stoßgebet. Motor aus, ein weiteres Gebet vom Lenkrad aus: VER SAU’S N I CH T.
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Die Treppe rauf durch die Doppeltür, wieder hinein in die Mill‐ garth Police Station. Dreckige Fußböden und gelbes Licht, versoffenes Gegröle und schnell durchbrennende Sicherungen. Ich zückte am Empfang meinen Presseausweis und der Diensthabende ein säuerliches Lächeln: »Abgesagt. Das Pressebüro hat angerufen.« »Sie machen Witze. Warum?« »Keine Neuigkeiten. Neun Uhr morgen früh.« »Gut«, grinste ich und dachte, wenigstens sind keine Fragen gestellt worden. Der Sergeant zuckte zusammen. Ich sah mich um und öffnete meine Brieftasche. »Was soll’s denn kosten?« Er nahm mir die Brieftasche aus der Hand, zog einen Fünfer heraus und reichte sie mir zurück. »Das sollte reichen, Sir.« »Und?« »Nichts.« »Das waren verdammte fünf Pfund.« »Und für fünf Pfund lautet die Antwort, sie ist tot.« »Haltet die Druckerpressen an«, sagte ich und ging hinaus. »Schöne Grüße an Jack.« »Ach, Scheiße.« »Tschüß, Schätzchen.« 17.30 Uhr. Wieder in der Redaktion. Barry Gannon hinter seinen Kisten, George Greaves mit dem Gesicht auf dem Schreibtisch, Gaz vom Sport, der nur Müll laberte. Keine Spur vom beschissenen Jack Whitehead. Gott sei Dank. 26
Scheiße, wo war der eigentlich? Verfolgungswahn: Ich bin Edward Dunford, Gerichtsreporter für Nordengland, so steht es in jedem einzelnen verdammten Exemplar der Evening Post. »Wie lief’s?« Kathryn Taylor, mit frischen Locken auf dem Kopf und in einem häßlichen cremefarbenen Pullover, stand von ihrem Schreibtisch auf und setzte sich gleich wieder. »Wie geschmiert.« »Wie geschmiert?« »Ja. Perfekt.« Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Sie runzelte die Stirn. »Was war denn los?« »Nichts.« »Nichts?« Sie schaute völlig perplex. »Abgesagt. Sie suchen immernoch. Hab nichts«, sagte ich und leerte meine laschen auf ihrem Schreibtisch aus. »Die Beerdigung meinte ich.« »Ach so.« Ich nahm meine Zigaretten. Telefone klingelten, Schreibmaschinen klapperten. Kathryn besah sich mein Notizbuch auf ihrem Schreibtisch. »Und was glauben die?« Ich zog meine Jacke aus, nahm ihren Kaffee, zündete mir eine Zigarette an, alles auf einmal, »Sie ist tot. Hör mal, ist der Chef bei einer Besprechung?« »Weiß nicht. Glaub nicht. Warum?« »Ich will, daß er mir ein Interview mit George Oldman ver‐ schafft. Morgen früh, vor der Pressekonferenz.« Kathryn nahm mein Notizbuch und drehte es zwischen den Fingern. »Da mußt du schon Glück haben.« »Sprich du mit Hadden. Er mag dich«, sagte ich und nahm ihr 27
das Notizbuch ab. »Machst du Witze?« Ich brauchte Fakten, handfeste Fakten, verdammt. »Barry!« brüllte ich über Telefone, Schreibmaschinen und Ka‐ thryns Kopf hinweg. »Kann ich mal ein Wörtchen mit dir reden, wenn du mal ‘ne Minute hast?« »Wenn’s sein muß«, sagte Barry Gannon hinter seiner Akten‐ festung. »Ja bitte.« Plötzlich spürte ich Kathryns Blick auf mir ruhen. Sie schaute wütend. »Ist sie tot?« »Blut verkauft sich besser«, erwiderte ich, ging zu Barrys Schreibtisch und haßte mich dafür. Ich drehte mich um. »Kath, bitte.« Sie stand auf und ging hinaus. Verdammt. Ich zündete mir an der Glut meiner Zigarette die nächste an. Barry Gannon, dürr, alleinstehend und manisch; überall mit Zahlen übersäte Blätter. Ich kauerte mich neben seinen Schreibtisch. Barry Gannon kaute an einem Bleistift. »Und?« »Ungelöste Fälle von vermißten Kindern. Eins in Castleford und eins in Rochdale? Vielleicht.« »Ja. Rochdale muß ich nachschauen, aber der Fall in Castle‐ ford war 1969. Mondlandungen, Jeanette Garland.« Bei mir klingelte es. »Aber gefunden wurde sie nie?« »Nein.« Barry nahm den Bleistift aus dem Mund und starrte mich an. »Hat die Polizei irgendwas?« »Ich bezweifle es.« »Danke. Ich kümmer’ mich drum.« »Keine Ursache«, sagte er zwinkernd. Ich erhob mich. »Was macht Dawsongate, dein Privat‐ 28
skandal?« »Keine Ahnung.« Barry Gannon schaute ohne zu lächeln wieder auf seine Unterlagen und die Zahlen und kaute am Bleistift. Verdammt. Ich verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. »Danke, Barry.« Ich war auf halbem Weg zu meinem Schreibtisch, Kathryn kam wieder zurück und unterdrückte ein Lächeln, da rief Barry hinter mir her. »Gehst du später in den Presseclub?« »Wenn ich mit allem fertig bin.« »Wenn mir noch was einfällt, sehen wir uns da.« Eher überrascht als dankbar. »Danke, Barry. Ich weiß das zu schätzen.« Kathryn Taylor, keine Spur von einem Lächeln. »Mr. Hadden wünscht seinen Gerichtsreporter für Nordengland pünktlich um 19.oo Uhr zu sprechen.« »Und wann wünschen Sie Ihren Gerichtsreporter für Nord‐ england zu sprechen?« »Nachher im Presseclub, denke ich. Wenn’s unbedingt sein muß.« Sie lächelte. »Es muß«, sagte ich augenzwinkernd. Den Gang entlang zum Archiv. Die Nachrichten von gestern. Durch die Metallschubladen zu den Kisten. Tausend Ruby Tuesdays, Yesterday don’t matter if it’s gone. Ich nahm die Mikrofilme, setzte mich vor einen Apparat und legte die Spule ein. Juli 1969. Ich ließ den Film vor mir ablaufen: Auflösung der Ulster Special Constabulary, der Sonderpolizei in Ulster; Bernadette Devlin, Wallace Lawler und In Place of 29
Strife, der Regierungsvorschlag, Gewerkschaften, die keine ordnungs‐ gemäße Befragung durchführten oder die Regelung der 28tägigen ›Waffenruhe‹ nicht einhielten, mit einer Geldstrafe zu belegen. Wilson, Wilson, Wilson; so als habe es Ted nie gegeben. Immer und immer wieder der Mond und der verdammte Jack Whitehead. Ich in Brighton, zweitausend Lichtjahre entfernt von daheim. Verschwunden. Volltreffer. Ich schrieb. »Also bin ich alle Unterlagen durchgegangen, hab mit ein paar Leuten gesprochen, und ich glaube, wir haben da was«, sagte ich und hoffte, mein Chefredakteur würde mal von dem Stapel »Spot the Ball«‐Photos auf seinem Schreibtisch aufblicken. Bill Hadden nahm sich eine Lupe und fragte: »Haben Sie mit Jack gesprochen?« »Er war heute nicht in der Redaktion.« Gott sei Dank. Ich rutschte auf dem Stuhl hin und her und starrte zum Fen‐ ster hinaus, zehn Stockwerke hoch über das schwarze Leeds hin‐ weg. »Also, was genau haben Sie?« Hadden strich über seinen silbergrauen Bart und linste durch die Lupe auf die Photos. »Drei vergleichbare Fälle ...« »In Kurzform?« »Drei verschwundene Mädchen. Eins acht, die anderen beiden zehn. 1969,1972, gestern. Alle verschwanden nur wenige Meter 30
von ihrem Zuhause entfernt, nur wenige Meilen auseinander. Ge‐ nau wie in Cannock Chase.« »Na, wollen wir hoffen.« »Ich drück uns die Daumen.« »Das war ironisch gemeint.« »Oh«, sagte ich und rutschte wieder hin und her. Hadden schaute weiter durch die Lupe auf die Schwarzweiß‐ bilder. Ich sah auf die Uhr meines Vaters; 20.30 Uhr, verdammt. »Also, was halten Sie davon?« fragte ich, ohne meine Ver‐ ärgerung zu verbergen. Hadden hielt ein Schwarzweißphoto von ein paar Fußball‐ spielern hoch, einer von ihnen Gordon McQueen, der zu einem Querschuß ansetzte. Es war kein Ball zu sehen. »Versuchen Sie sich auch manchmal an diesen Photos?« »Nein«, log ich und verabscheute das Spielchen, das wir jetzt spielen sollten. »Spot the Ball«, sagte Bill Hadden, Chefredakteur, »ist der Grund, warum 39 Prozent der arbeitenden männlichen Bevölke‐ rung dieses Blatt kaufen. Wie finden Sie das?« Sag ja, sag nein, aber erspar mir das. »Interessant«, log ich wieder und dachte das genaue Gegen‐ teil, dachte, daß 39 Prozent der arbeitenden männlichen Bevölke‐ rung die Befrager ganz schön zum Narren gehalten hatten. »Also, was halten Sie davon, mal ganz ehrlich.« Hadden be‐ trachtete wieder ein paar Photos. Er hatte mich auf dem falschen Fuß erwischt. »Wovon?« Hadden sah wieder auf. »Glauben Sie wirklich, es könnte sich um ein und denselben Mann handeln?« »Ja. Ja, das glaube ich.« 31
»Na gut«, sagte Hadden und legte die Lupe beiseite. »Chief Superintendent Oldman wird Sie morgen früh empfangen. Er wird Ihnen nicht sehr dankbar dafür sein. Das letzte, was er will, ist so eine verdammte Kindesentführungshysterie. Er wird Sie bit‐ ten, die Geschichte nicht zu bringen, Sie werden einwilligen, und er wird sich dankbar zeigen. Und ein dankbarer Detective Chief Superintendent ist etwas, das jeder Gerichtsreporter für Nord‐ england haben sollte.« »Aber ...« Meine Hand schwebte in der Luft und kam sich dort blöd vor. »Aber Sie machen trotzdem weiter und kümmern sich schon mal um das Hintergrundmaterial über die beiden Mädchen aus Rochdale und Castleford. Reden Sie mit den Familien, falls die Sie überhaupt sehen wollen.« »Aber warum, wenn ...« Doch Hadden lächelte. »Interesse an der menschlichen Seite, fünf Jahre danach, was auch immer. Und falls Sie recht haben, sind wir wenigstens nicht die letzten am Start.« »Ich verstehe«, sagte ich; ich hielt das Weihnachtsgeschenk in Händen, das ich schon immer haben wollte, nur in der falschen Größe und falschen Farbe. »Aber drängen Sie Oldman morgen nicht«, sagte Hadden und schob sich die Brille wieder auf den Nasenrücken. »Diese Zeitung unterhält glänzende Beziehungen zur neuen West Yorkshire Me‐ tropolitan Police. Und daran soll sich auch nichts ändern, vor al‐ 32
lem jetzt nicht.« »Natürlich«, sagte ich und dachte, wieso vor allem jetzt nicht? Bill Hadden lehnte sich in seinen großen Lederstuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Sie wissen so gut wie ich, daß die ganze Story schon morgen kalter Kaffee sein kann, und selbst wenn nicht, ist sie spätestens Weihnachten begraben.« Ich stand auf mein Stichwort hin auf und dachte, wenn du dich da mal nicht täuschst. Mein Chefredakteur nahm wieder die Lupe in die Hand. »Ich kriege noch immer Briefe zum Rattenfänger. Gute Story.« »Danke, Mr. Hadden.« Ich öffnete die Tür. »Das sollten Sie wirklich mal versuchen«, sagte Hadden und tippte auf ein Photo. »Das ist Ihr Ding.« »Danke, mach ich.« Ich schloß die Tür hinter mir. Durch die geschlossene Tür: »Und vergessen Sie nicht, mit Jack zu sprechen.« Eins, zwei, drei, vier, die Treppe runter und durch die Tür. Der Presseclub, in Sichtweite der beiden steinernen Löwen, in der Innenstadt von Leeds. Der Presseclub nach elf, vorweihnachtlich. Der Presseclub, nur für Mitglieder. Edward Dunford, Mitglied, die Treppe runter und durch die Tür. Kathryn an der Bar, ein unbekannter Betrunkener an ihrem Ohr, ihr Blick auf mich gerichtet. Der Penner lallt: »Da meint der eine Löwe zum annern, scheiß leise, oder?« Ich sah zur eigentlichen Bühne hinüber, und eine Frau im Federgewand schmetterte We’ve Only Just Begun. Zwei Schritte 33
links, zwei rechts, die kleinste Bühne der Welt. Mein Magen war vor Aufregung ganz klein, die Brust ge‐ schwollen, mit einem Scotch mit Wasser in der Hand stand ich unterm Lametta und der Lichterkette, die Tasche voller Notizen, und dachte, D A S IS T E S . In all dem Rot und Schwarz reckte Barry Gannon seine Hand in die Höhe. Ich nahm meinen Drink, ließ Kathryn allein zurück und ging an Barrys Tisch. »Erst wird bei Wilson eingebrochen, dann verschwindet zwei Tage später John Stonehouse«, erläuterte Barry Gannon dem Fußvolk; er hielt hof. »Vergiß Lucky Lucan nicht«, sagte George Greaves, der alte Schmierfink, süffisant. »Und was ist mit dem verdammten Watergate?« lachte Gaz vom Sport. Barry langweilte ihn. Ich setzte mich dazu. Ein Nicken in die Runde: Barry, George, Gaz und Paul Kelly. Jacks Kumpel, der fette Bernard und Tom aus Bradford, saßen zwei Tische weiter. Barry leerte sein Glas. »Hängt doch alles irgendwie zusam‐ men. Nenn’ mir zwei Dinge, die nicht zusammenhängen.« »Stoke City und die Fußballmeisterschaft«, lachte Gaz, Mr. Sport, emeut und zündete sich eine Zigarette an. »Großes Spiel morgen, hm?« sagte ich, Freizeitfußballfan. In Gaz’ Augen war echte Wut zu erkennen. »War’ doch ‘ne echte Schande, wenn sie’s genauso vergeigen wie letzte Woche.« Barry stand auf. »Noch jemand was von der Bar?« Nicken und Grunzen in der Runde, Gaz und George bereit, eine weitere Nacht lang über Leeds United zu faseln; Paul Kelly verneinte mit Blick auf die Uhr. Ich stand auf und leerte meinen Scotch. »Ich helf’ dir.« 34
Kathryn saß am anderen Ende der Theke und redete mit dem Barmann und Steph, der Tippse. Barry Gannon fragte aus heiterem Himmel: »Und, was hast du vor?« »Hadden hat mir für morgen früh ein Interview mit Oldman verschafft.« »Und warum lächelst du nicht?« »Er will nicht, daß ich bei Oldman wegen der ungelösten Fälle nachbohre. Ich soll nur so ‘n bißchen Hintergrundscheiß zusam‐ mentragen, mit den Familien reden, wenn die mich überhaupt sehen wollen.« »Fröhliche Weihnachten, Mr. und Mrs. Eltern der Vermißten und wahrscheinlich Toten, Eddie Nikolaus bringt Ihnen alles wieder brühwarm in Erinnerung.« Den Nagel auf den Kopf getroffen. »Die werden das mit Clare Kemplay sowieso mitkriegen. Kommt eh alles wieder hoch.« »Dann bist du ihnen ja ‘ne Hilfe. Katharsis.« Barry lächelte einen Augenblick lang und sah sich um. »Die haben was miteinander zu tun. Ich weiß es.« »Aber wie? Drei Pints und einen ...« Ich hatte mein Stichwort verpaßt und kam fast zu spät: »Scotch mit Wasser.« »Und einen Scotch mit Wasser.« Barry Gannon sah die Theke entlang zu Kathryn. »Bist ein Glückspilz, Dunford.« Ich war voller Schuldgefühle, hatte zerschlissene Nerven, zu‐ viel Scotch getrunken oder zu wenig, und die Unterhaltung nahm eine merkwürdige Wendung. »Was meinst du damit? Was weißt du eigentlich?« »Wieviel Zeit hast du noch?« Ach Scheiße, bin zu müde, um dieses Spiel zu spielen. »Ja, ja, ich weiß, was du meinst.« 35
Aber Barry hatte mir schon den Rücken zugekehrt und unter‐ hielt sich mit einem Kerl an der Bar, einer Bohnenstange in einem dicken kastanienbraunen Anzug mit orangefarbenen Daunen‐ haaren; unruhige Blicke aus schwarzen Augen schossen über Barrys linke Schulter in meine Richtung. Böser bescheuerter Bowie. Ich spitzte die Ohren, aber das Federkleid auf der kleinen Bühne stimmte nun Don’t Forget to Remember an. Ich sah zur Decke, zu Boden und zurück zur Theke. »Na, geht’s dir gut?« Kathryns Augen waren müde. Ich dachte, jetzt kommt’s. »Ach, du kennst doch Barry. Wird ‘n bißchen begriffsstutzig«, flüsterte ich. »Begriffsstutzig? Ziemlich starker Tobak aus deinem Mund.« Ich wich dem einen Köder aus und biß beim nächsten an. »Und was ist mit dir?« »Was soll mit mir sein?« »Geht’s dir gut?« »Oh, ich liebe es, zwölf Tage vor Weihnachten allein an einer Bar zu stehen.« »Du bist nicht allein.« »Na, jedenfalls, bis Steph kam.« »Hättest ja rüberkommen können.« »Ich bin nicht eingeladen worden.« »Lahme Ausrede«, lächelte ich. »Na dann, wenn du mich schon fragst, ich hätte gern einen Wodka.« »Ich glaub, ich nehm’ auch einen.« Die kalte Luft brachte nicht viel. »Ich liebe dich«, lallte ich und konnte nicht mehr gerade stehen. 36
»Na komm schon, das Taxi ist da.« Eine Frauenstimme, die von Kathryn. Der Wunderbaum »Fichtenduft« half auch nicht wirklich. »Ich liebe dich«, lallte ich. »Wehe, er kotzt«, brüllte der pakistanische Taxifahrer über die Schulter nach hinten. Ich konnte in all dem Fichtenduft seinen Schweiß riechen. »Ich liebe dich«, lallte ich. Kathryns Mutter schlief, ihr Vater schnarchte, und ich kniete auf dem Boden vor der Toilette. Kathryn machte die Tür auf und das Licht an, und das brachte mit einem Schwung alles hoch. Das Kotzen tat weh und brannte, aber ich wollte nicht, daß es jemals aufhörte. Als ich schließlich fertig war, starrte ich eine ganze Weile den Whisky und den Schinken an, den ganzen Schleim im Klo und auf dem Boden. Kathryn legte mir ihre Hände auf die Schultern. Ich versuchte die Stimme in meinem Kopf zu orten, die da sagte: Es gibt tatsächlich Menschen, die sich um dich sorgen, das hätte ich nie für möglich gehalten. Kathryn schob ihre Hände unter meine Arme. Ich wollte nie wieder aufstehen. Als ich es schließlich doch tat, fing ich an zu weinen. »Na komm, mein Lieber«, flüsterte Kathryn. In der Nacht wachte ich dreimal von demselben Traum auf. Jedesmal dachte ich, jetzt bin ich in Sicherheit, ich bin in Sicherheit, geh wieder schlafen. Jedesmal derselbe Traum. Eine Frau auf einer Straße mit Reihenhäusern, die eine rote Strickjacke um sich schlingt und 37
mir den Lärm von zehn Jahren ins Gesicht schreit. Jedesmal schoß eine Krähe oder ein ähnlicher schwarzer Vogel aus einem Himmel von tausenderlei Grau herab und krallte sich in ihr blondes Haar. Jedesmal jagte er sie die Straße entlang und wollte ihr die Augen auspicken. Jedesmal erstarrte ich, erwachte frierend, Tränen auf dem Kissen. Jedesmal lächelte mich Clare Kemplay von der dunklen Zimmerdecke aus an.
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2. Kapitel 7.55 Uhr. Samstag, 14. Dezember 1974. Ich saß in Millgarth im Büro von Detective Chief Superinten‐ dent George Oldman und fühlte mich wie Hundedreck. Das Zimmer war kahl. Keine Photographien, keine Urkun‐ den, keine Trophäen. Die Tür ging auf. Schwarzes Haar, bleiches Gesicht, die Hand ausgestreckt, der Griff fest. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Dunford. Wie geht’s Jack Whitehead und Ihrem Chef?« »Gut, danke«, sagte ich und setzte mich wieder. Kein Lächeln. »Setzen Sie sich, junger Mann. Tasse Tee?« Ich schluckte und sagte: »Ja, bitte. Danke.« DCS George Oldman setzte sich, betätigte einen Schalter an seinem Schreibtisch und hauchte in die Sprechanlage: »Julie, Schätzchen. Zwei Tassen Tee, wenn es Ihnen gerade paßt.« Das Gesicht und die Haare: eine geschmolzene schwarze Plastiktüte über einer Schüssel aus Mehl und Schmalz. Ich biß die Backenzähne fest zusammen. Hinter ihm fiel blasser Sonnenschein durch die grauen Fenster der Millgarth Police Station und spiegelte sich in dem Öl seiner Haare. Mir war schlecht. »Sir«, sagte ich und schluckte wieder. »Chief Superinten‐ 39
dent ...« Seine winzigen Haifischaugen tasteten mich vollständig ab. »Reden Sie weiter, mein Sohn«, sagte er blinzelnd. »Ich habe mich gefragt, ob es etwas Neues gibt?« »Nichts«, dröhnte er. »36 Stunden und nicht die kleinste Spur. Hunderte von Polizisten, Verwandten und Ortsansässigen. Nichts.« »Was ist Ihre persönliche ...« »Tot, Mr. Dunford. Das arme kleine Ding ist tot.« »Ich frage mich, was Sie ...« »Es sind einfach verdammt grausame Zeiten, mein Sohn.« »Ja«, sagte ich schwach und dachte, wie kommt es dann, daß Sie immer nur Zigeuner, Irre und Iren verhaften? »Das beste wäre, jetzt so schnell wie möglich die Leiche zu finden.« Mein Magen hüpfte: »Was glauben Sie ...« »Ohne Leiche können wir überhaupt nichts machen. Auf lange Sicht hilft das auch der Familie.« »Und was wird ... « »Die Mülltonnen abklappern, kontrollieren, wer sich aus dem Staub gemacht hat.« Oldman lächelte beinahe und dachte kurz darüber nach, wieder zu blinzeln. Ich schnappte nach Luft. »Und was ist mit Jeanette Garland und Susan Ridyard?« DCS George Oldman klappte den Mund leicht auf und fuhr sich mit einer fetten, feuchten, rötlichgelben Zunge über die schmale Unterlippe. Ich dachte schon, ich würde mir auf der Stelle mitten in Old‐ mans Büro in die Hose machen. George Oldman holte seine Zunge wieder ein, schloß den Mund, und seine winzigen schwarzen Augen starrten in meine. Es klopfte leise an der Tür, und Julie brachte zwei Tassen Tee 40
auf einem billigen geblümten Tablett herein. Oldman sah mich weiter an, lächelte und sagte: »Danke, Julie, Schätzchen.« Julie schloß die Tür hinter sich. Unsicher, ob ich noch immer sprechen konnte, murmelte ich: »Jeanette Garland und Susan Ridyard gingen beide ...« »Ich weiß, was verdammt noch mal passiert ist, Mr. Dunston.« »Nun, ich frage mich nur, wenn ich an Cannock Chase denke ...« »Was zum Teufel wissen Sie über Cannock Chase?« »Die Ähnlichkeit ...« Oldman ließ die Faust auf den Tisch donnern. »Raymond Morris sitzt seit 1968 hinter Schloß und Riegel, verdammt.« Ich sah die beiden kleinen weißen Tassen auf dem Tisch hüp‐ fen. So ruhig und besonnen, wie ich nur konnte, sagte ich: »Tut mir leid. Ich wollte nur sagen, daß auch in jenem Fall drei kleine Mädchen ermordet wurden und es sich später als die Tat eines einzelnen herausgestellt hat.« Oldman beugte sich vor, stützte die Arme auf den Tisch und höhnte: »Die Kleinen wurden vergewaltigt und ermordet, Gott schütze sie. Und ihre Leichen hat man gefunden.« »Aber, Sie sagten doch ... « »Ich habe keine Leichen, Mr. Dunfield.« Wieder schluckte ich und sagte: »Aber Jeanette Garland und Susan Ridyard werden seit über ...« »Sie halten sich wohl für den einzigen Penner, der zwei und zwei zusammenzählen kann, Sie eingebildeter kleiner Fatzke«, sagte Oldman leise, nahm einen Schluck und starrte mich an. »Das könnte sogar meine senile alte Mutter.« »Ich habe mich nur gefragt, was Sie davon halten ... « DCS Oldman schlug sich auf die Oberschenkel und lehnte sich zurück. »Also, was haben wir denn Ihrer Meinung nach in 41
der Hand?« fragte er lächelnd. »Drei vermißte Mädchen. Un‐ gefähr im selben Alter. Keine Leichen. Castleford und ...« »Rochdale«, flüsterte ich. »Rochdale und jetzt Morley. Etwa drei Jahre zwischen jedem Fall?« sagte er und hob fragend eine Augenbraue. Ich nickte. Oldman nahm eine Schreibmaschinenseite vom Tisch. »Und was ist damit ?« fragte er, warf mir das Blatt über den Schreibtisch vor die Füße und sagte auswendig: »Helen Shore, Samantha Davis, Jackie Morris, Lisa Langley, Nichola Haie, Louise Walker, Karen Anderson.« Ich hob die Liste auf. »Vermißt, allesamt. Und das sind nur die Fälle seit Anfang ‘73«, sagte Oldman. »Alle ein wenig älter, zugegeben. Aber alle unter fünfzehn, als sie verschwanden.« »Tut mir leid«, murmelte ich und reichte ihm das Blatt über den Tisch. »Behalten Sie’s. Schreiben Sie darüber von mir aus eine ver‐ dammte Story.« Auf dem Schreibtisch klingelte das Telefon, ein Licht blinkte. Oldman seufzte und schob mir eine der weißen Tassen hin. »Trin‐ ken Sie, bevor er kalt wird.« Ich tat wie geheißen, nahm die Tasse und stürzte die kalte Brühe hinunter. »Um ehrlich zu sein, junger Mann, ich mag solche schlam‐ pigen Recherchen nicht, und ich mag die Presse nicht. Sie haben Ihren Job zu erledigen ... « Edward Dunford, Gerichtsreporter für Nordengland, bekam zweite Luft und löste sich aus den Seilen. »Ich glaube nicht, daß 42
Sie eine Leiche finden werden.« Oldman lächelte. Ich sah in meine leere Teetasse. Oldman erhob sich und lachte. »Lesen Sie das aus Ihren verdammten Teeblättern?« Ich stellte Tasse und Untertasse auf den Schreibtisch und faltete die Namensliste zusammen. Wieder klingelte das Telefon. Oldman trat zur Tür und öffnete sie. »Sie machen Ihre Drecksarbeit und ich meine.« Ich stand mit schwachen Beinen und schwachem Magen auf. »Vielen Dank, daß Sie Zeit für mich hatten.« An der Tür packte er mich hart an der Schulter. »Wissen Sie, Bismarck hat mal gesagt, ein Zeitungsschreiber sei ein Mann, der seinen Beruf verfehlt habe. Vielleicht hätten Sie Polizist werden sollen, Dunston.« »Danke«, sagte ich mit all dem Mut, den ich noch aufbringen konnte, und dachte, na, wenigstens wäre es dann einer von uns beiden. Oldman drückte plötzlich noch fester zu und las meine Ge‐ danken. »Sind wir uns schon mal begegnet, junger Mann?« »Vor langer Zeit«, antwortete ich und löste mich mit Mühe aus seinem Griff. Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte erneut lang und durchdringend. »Kein Wort darüber«, sagte Oldman und scheuchte mich zur Tür hinaus. »Kein verdammtes Wort.« »Die haben ihm die Flügel abgehackt. Der scheiß Schwan hat noch gelebt«, grinste Gilman von der Manchester Evening News, als ich mich auf meinen Platz setzte. »Du machst Witze!« sagte Tom aus Bradford und beugte sich 43
von der Reihe hinter uns vor. »Nee. Haben ihm die Flügel glatt abgetrennt und das arme Viech einfach da liegenlassen.« »Scheiße«, pfiff Tom aus Bradford. Ich sah mich im Konferenzraum um, wieder schwirrte mir das Bild eines Boxrings durch den Kopf, nur diesmal ohne Fernsehen, ohne Rundfunk. Die heißen Scheinwerfer brannten nicht, will‐ kommen waren die, die immer da waren. Die Zeitungsleute unter sich. Ich spürte einen Schlag gegen die Rippen. Schon wieder Gilman. »Wie lief’s gestern?« »Ach, weißt du ...« »Scheiße, ja.« Ich schaute auf die Uhr meines Vaters, dachte an den Boxer Henry Cooper und den Mann meiner Tante Anne, der aussah wie Henry, und daß Onkel Dave gestern gar nicht dabeigewesen war, dachte an Cooper und den tollen Duft von Brut. »Hast du gelesen, was Barry über dieses Kind aus Dewsbury geschrieben hat?« fragte Tom aus Bradford und hauchte mir sei‐ nen Scotchatem ins Ohr. Ich hoffte, daß meiner nicht so stank. Ich ganz Ohr: »Welches Kind?« »Das Contergankind?« lachte Gilman. »Das, was sie in Oxford im College aufgenommen haben. Acht Jahre alt oder so.« »Ja, ja«, lachte ich. »Hört sich wie eine blöde kleine Kuh an.« »Barry meint, ihr Vater sei noch schlimmer.« Ich lachte immer noch, und alle lachten mit mir. 44
»Der Vater geht mit ihr an die Uni, oder nicht?« fragte Gilman. Ein neues Gesicht hinter uns, neben Tom, lachte mit: »Der hat vielleicht Glück. All die knackigen Studentinnen.« »Ich glaub nicht«, flüsterte ich. »Barry meinte, der Vater habe nur Augen für seine kleine Dame. Seine Ruthie.« »Na, wenn sie schon ihre Regel hat«, sagten zwei von uns gleichzeitig. Alle lachten. »Ihr macht schlechte Witze.« Tom aus Bradford, der nicht besonders viel lachte. »Barry hat ‘ne schmutzige Phantasie.« »Dirty Barry«, lachte ich. Das neue Gesicht fragte: »Wer?« »Arschficker Barry. Schwule Sau«, spuckte Gilman. »Barry Gannon. Ist bei der Post, genau wie Eddie«, sagte Tom aus Bradford zum neuen Gesicht. »Der Typ, von dem ich dir erzählt habe.« »Der Fall John Dawson?« fragte das neue Gesicht und sah auf die Uhr. »Ja. Und wenn wir schon von Mistkerlen reden, habt ihr schon von Kelly gehört?« Jetzt war Tom an der Reihe zu flüstern. »Ich hab Gaz gestern nacht gesehen, und er meinte, Kelly ist gestern nicht zum Training gekommen und wird morgen nicht spielen.« »Kelly?« Das neue Gesicht. Überregional, nicht lokal. Glückspilz. Meine Nerven vibrierten, die Story, meine Story schaffte es bis in die landesweite Presse. »Rugby«, sagte Tom aus Bradford. »Rugby Union oder League?« fragte das neue Gesicht, mit Sicherheit aus der verdammten Fleet Street. »He, Scheiße«, sagte Tom. »Wir reden hier von der Großen 45
Weißen Hoffnung von Wakefield Trinity.« »Ich hab Paul gestern abend gesehen«, sagte ich. »Hat kein Wort darüber verloren.« »Der Scheißer ist einfach auf und davon, hat Gaz gesagt.« »Up, up and away«, sagte Gilman von der Manchester Evening News desinteressiert. »Auf geht’s«, flüsterte das neue Gesicht. Runde zwei: Eine Seitentür geht auf, alles wird still, alles erstarrt. DCS George Oldman, ein paar Zivilbullen, ein Streifenpolizist. Keine Verwandten. Die Bande riecht es, Clare ist tot. Die Bande denkt, keine Leiche. Die Bande denkt, keine Neuigkeiten. Die Bande riecht es, die Story ist tot. DCS Oldman schaut mir haßerfüllt direkt in die Augen und forden mich heraus. Ich rieche den tollen Duft von Brut, denke an Henry Cooper und seine Werbeauftritte: ›S P L A S H I T A L L O V E R .‹ Die ersten Schauer eines schweren Gewitters. Ich krieche westwärts aus Leeds hinaus in Richtung Rochdale, die Notizen auf dem Schoß, den Blick auf die Mauern der düste‐ ren Fabriken und stillgelegten Webereien gerichtet: Wahlplakate, Matsch und Kleister. Ein Zirkus hier, ein Zirkus dort, heute hier, morgen fort. Big Brother is watching you. Angst essen Seele auf. Ich schaltete mein Philips Pocket Memo ein, spulte während der Fahrt die Pressekonferenz zurück und suchte nach Einzel‐ heiten. Es war für alle die reinste Zeitverschwendung gewesen, nur 46
fur mich nicht, denn keine Neuigkeiten waren für Edward Dunford, den Gerichtsreporter für Nordengland, der vagen Vermutungen nachging, gute Neuigkeiten. Die Sorge wächst natürlich ... Oldman haue sich an seine Story geklammert: absolut nichts, trotz aller Bemühungen seiner besten Leute. Die Öffentlichkeit hatte Hinweise geliefert, auch einige Beob‐ achtungen, doch bisher hatten die besten Leute nichts, worauf sie aufbauen konnten. Wir möchten betonen, daß jeder, der über irgendwelche Infor‐ mationen verfugt, und mögen sie noch so unbedeutend scheinen, dringend das nächste Polizeirevier aufsuchen oder anrufen sollte ... Dann hatte es eine Reihe von ergebnislosen Fragen und Ant‐ worten gegeben. Ich hielt den Mund, nicht eine verdammte Silbe. Oldman richtete seine Antworten direkt an mich, schaute mich unverwandt an, blinzelte nicht. Vielen Dank, meine Herren. Das wäre alles für heute ... Und als DCS Oldman aufstand, zwinkerte er mir viel‐ sagend zu. Gilmans Stimme am Ende der Aufnahme: Was zum Teufel habt ihr beide denn am Laufen? Vollgas, Leeds hinter mir, ich stellte das Band ab, Heizung und Radio an und lauschte, wie die Sorge in den Lokalsendern zu‐ nahm und die Story auch auf überregionaler Ebene verbreitet wurde. Jedes Arschloch wollte zubeißen, aber die Story weigerte sich, zu Boden zu gehen und zu krepieren. Ich gab ihnen noch einen weiteren Tag ohne Leiche, bevor die Story auf Seite zwei wanderte; am Freitag würde der 47
einwöchige Jahrestag begangen werden mit einer Rekonstruktion des Tat‐ herganges durch die Polizei, was die Geschichte kurz wieder auf die Titelseite heben würde. Und dann war wieder Samstag, Sport auf allen Kanälen. Mit einem Arm auf dem Lenkrad schaltete ich das Radio aus und blätterte durch Kathryns säuberlich getippte DIN‐A4‐Seiten auf meinem Schoß. Ich drückte auf Aufnahme und skandierte vor mich hin: »Susan Louise Ridyard. Vermißt seit dem 20. März 1972, zehn Jahre alt. Wurde zuletzt gesehen vor der Holy Trinity Junior and Infants School, Rochdale, 15.55 Uhr. Umfangreiche polizeiliche Suchmaßnahmen und landesweite Aufmerksamkeit erbrachten nichts, null, nada. George Oldman führte die Untersuchung, obwohl es sich um einen Fall in Lanca‐ shire handelte. Er hatte darum gebeten.« Castleford und ...? Rochdale. Verdammter Lügner. »Die Untersuchung ist offiziell noch immer nicht eingestellt. Den Eltern geht es soweit gut, es gibt noch zwei weitere Kinder. Sie hängen immer noch im ganzen Land Poster aus. Haben eine Hypothek aufs Haus aufgenommen, um die Kosten dafür zu be‐ gleichen.« Ich schaltete das Band aus, grinste, dachte, leck mich am Arsch, Barry Gannon, wußte, daß die Ridyards sofort wieder bei ihrer eigenen Geschichte sein würden, wußte, daß ich ihnen keine Neuigkeiten brachte, aber immerhin frische Publicity. Ich hielt am Rand von Rochdale neben einer frischgestriche‐ 48
nen roten Telefonzelle. Eine Viertelstunde später setzte ich rückwärts in die Einfahrt zur Doppelhaushälfte der Ridyards, gelegen in einem ruhigen Viertel von Rochdale. Es pißte. Mr. Ridyard stand an der Haustür. Ich stieg aus und sagte: »Guten Morgen.« »Hübsches Wetter, wenn man eine Ente ist«, sagte Mr. Rid‐ yard. Wir gaben uns die Hand, und Mr. Ridyard führte mich durch einen winzigen Flur ins dunkle Vorderzimmer. Mrs. Ridyard saß in Hausschuhen auf dem Sofa, links und rechts neben sich ein Mädchen und einen Jungen im Teenageralter. Sie hatte ihre Arme um beide gelegt. Sie warf mir einen kurzen Blick zu, flüsterte: »Geht eure Zimmer aufräumen«, und drückte beide kurz, bevor sie sie los‐ ließ. Die Kinder senkten den Blick zu Boden und gingen hinaus. »Setzen Sie sich bitte«, sagte Mr. Ridyard. »Möchte jemand Tee?« »Danke, gern«, antwortete ich. »Liebes ?« fragte er seine Frau, als er das Zimmer verließ. Mrs. Ridyard war tief in Gedanken versunken. Ich setzte mich gegenüber dem Sofa hin und sagte: »Hübsches Haus.« Mrs. Ridyard blinzelte im Dämmerlicht und zupfte sich an der Haut ihrer Wangen. »Nette Gegend«, fügte ich hinzu; die Worte verreckten, aber 49
nicht schnell genug. Mrs. Ridyard hockte auf der Sofakante und starrte durchs Zimmer auf das Schulporträt eines kleinen Mädchens, das zwi‐ schen zwei Weihnachtskarten auf dem Fernseher hervorlugte. »Bevor die neuen Häuser da gebaut wurden, hatten wir eine hübsche Aussicht.« Ich sah zum Fenster hinaus über die Straße auf die neuen Häuser, die die Aussicht verdarben und so neu auch nicht mehr wirkten. Mr. Ridyard kam mit dem Tee auf einem Tablett herein, und ich zog mein Notizbuch aus der Tasche. Er setzte sich neben seine Frau aufs Sofa und sagte. »Soll ich einschenken?« Mrs. Ridyard löste ihren Blick von dem Photo und betrach‐ tete nun das Notizbuch in meinen Händen. Ich beugte mich auf meinem Platz vor. »Wie ich schon am Telefon sagte, fanden mein Chefredakteur und ich, es sei an der Zeit ... also, ich bin daran interessiert, eine Folgestory ...« »Eine Folgestory?« fragte Mrs. Ridyard und starrte weiter das Notizbuch an. Mr. Ridyard reichte mir eine Tasse Tee. »Hat das was mit dem kleinen Mädchen drüben in Morley zu tun?« »Nein. Nun, zumindest nicht direkt.« Der Stift in meiner Hand fühlte sich weich und heiß an, das Notizbuch lästig und allzu auffällig. »Geht es um Susan?« Eine Träne fiel auf Mrs. Ridyards Rock. Ich riß mich zusammen. »Ich weiß, es muß schwer sein, aber wir wissen, wieviel von Ihrer Zeit Sie, ähm, in diese Sache in‐ vestiert haben und ...« Mr. Ridyard stellte seine Tasse ab. »Von unserer Zeit?« »Sie beide haben so viel dafür getan, daß Susan weiter im öffentlichen Interesse steht und die Untersuchung am Leben 50
bleibt.« Leben, Scheiße. Die Ridyards sagten kein Wort. »Und ich weiß, Sie müssen das Gefühl gehabt haben …« »Gehabt haben?« fragte Mrs. Ridyard. »Das Gefühl ...« »Tut mir leid, aber Sie haben keine Ahnung von unseren Gefühlen.« Mrs. Ridyard schüttelte den Kopf, ihr Mund be‐ wegte sich weiter, nachdem die Worte gesagt waren, Tränen kullerten. Mr. Ridyard sah mich durchs Zimmer an, und sein Blick war voller Bedauern und Schamgefühl. »Uns ging es schon so viel besser bis zu dieser Sache, nicht?« Niemand antwortete ihm. Ich sah zum Fenster hinaus über die Straße zu den neuen Häusern, in denen noch zur Mittagszeit das Licht brannte. »Um diese Uhrzeit könnte sie zu Hause sein«, sagte Mrs. Rid‐ yard leise und wischte die Tränen in den Rock. Ich stand auf. »Es tut mir leid. Ich habe Sie lange genug be‐ lästigt.« »Mir tut es leid«, sagte Mr. Ridyard, der mich zur Haustür brachte. »Es ging uns schon so viel besser. Wirklich. Aber diese Sache in Morley hat alles wieder aufgewühlt.« An der Tür drehte ich mich um und sagte: »Tut mir leid, aber nach Durchsicht der Zeitungsberichte und meiner Notizen sieht es ganz so aus, als hätte die Polizei keine heiße Spur gehabt. Ich frage mich, glauben Sie nicht, die Polizei hätte mehr tun können?« »Mehr?« fragte Mr. Ridyard mit einem halben Lächeln. »Irgendein Hinweis, der ...« »George Oldman und seine Leute haben zwei Wochen lang hier im Haus gehockt und telefoniert.« 51
»Und es gab nichts ...« »Ein weißer Lieferwagen, das war das einzige, wovon sie die ganze Zeit faselten.« »Em weißer Lieferwagen?« »Daß sie Susan finden würden, wenn sie diesen weißen Liefer‐ wagen fänden,« »Und die Rechnung haben sie auch nie bezahlt.« Mrs. Rid‐ yard stand mit rotem Gesicht am anderen Ende des Flurs. »Bei‐ nahe hätten sie uns das Telefon abgestellt.« Am oberen Treppenabsatz konnte ich die Köpfe der beiden Kinder sehen, die über das Geländer schauten. »Danke«, sagte ich und gab Mr. Ridyard die Hand. »Ich danke Ihnen, Mr. Dunford.« Ich stieg in den Viva und dachte nur, verdammte Scheiße. »Fröhliche Weihnachten«, rief Mr. Ridyard. Ich beugte mich zu meinem Notizbuch hinüber und kritzelte zwei Wörter hinein: Weißer Lieferwagen. Ich winkte Mr. Ridyard zu, der einsam an der Tür stand, und behielt all meine Flüche für mich. Ein Gedanke: ruf Kathryn an. »Es war ein verdammter Alptraum.« Ich stand wieder in der knallroten Telefonzelle, warf eine weitere Münze ein, hopste von einem Bein aufs andere und fror mir die Eier ab. »Jedenfalls sagt er dann, da sei noch dieser weiße Lieferwagen gewesen, aber ich erinnere mich nicht, irgendwo was über einen weißen Liefer‐ wagen gelesen zu haben, du etwa?« Kathryn ging am anderen Ende der Leitung ihre eigenen Notizen durch und pflichtete mir bei. »Auch nicht in irgendeiner der Anfragen?« »Nein, nicht daß ich wüßte«, sagte Kathryn. Ich konnte den 52
Bürolärm bei ihr hören. Ich fühlte mich zu weit weg. Ich wollte dort sein. »Irgendwelche Nachrichten?« fragte ich und jonglierte mit dem Telefonbuch, einem Notizbuch, dem Stift und einer Zigarette. »Nur zwei. Barry und ...« »Barry? Hat er gesagt, worum es ging? Ist er da?« »Nein, nein. Und ein Sergeant Craven ...« »Sergeant wer?« »Craven.« »Scheiße, keine Ahnung. Craven? Hat er eine Nachricht hinterlassen?« »Nein, aber er sagte, es sei dringend.« Kathryn klang stinkig. »Wenn es so verdammt dringend ist, würde ich ihn kennen. Wenn er wieder anruft, soll er eine Nachricht hinterlassen, okay?« Ich ließ die Kippe in die Pfütze auf dem Boden der Telefonzelle fallen. »Wohin gehst du jetzt?« »In den Pub, wohin sonst? Ein bißchen Lokalkolorit ein‐ fangen. Danach komme ich sofort zurück. Bye.« Ich legte auf und fühlte mich beschissen. Sie starrte mich über die Theke im Huntsman hinweg an. Ich versteinerte, nahm mein Glas und ging auf sie zu; ihre Au‐ gen zogen mich an, wie sie da am anderen Ende der Bar neben den Toiletten über dem Zigarettenautomaten hing. Susan Louise Ridyard mit ihren großen weißen Zähnen lächelte fürs Schulphoto, auch wenn ihr Blick verriet, daß sie ihren Pony ein wenig zu lang fand, und sie wirkte linkisch und traurig, 53
so als wüßte sie, was sie erwartete. Das größte Wort über ihrem Gesicht war in Rot und lautete: VERMISST.
Unter dem Bild stand ihr Lebenslauf und das, was an ihrem letzten Tag geschah. Beides war verdammt kurz. Schließlich noch die Bitte um Informationen und drei Telefon‐ nummern. »Möchten Sie noch eins?« Ich erschrak und betrachtete mein leeres Glas. »Ja. Nur noch das eine.« »Reporter, stimmt’s?« fragte der Barkeeper und zapfte ein Pint. »Sieht man das?« »Es war ‘ne Menge von Ihrem Haufen hier, ja.« Ich gab ihm genau 36 Pence. »Danke.« »Bei welchem Blatt?« »Post.« »Nichts Neues?« »Wir versuchen nur, die Geschichte am Leben zu halten, wis‐ sen Sie? Wir wollen nicht, daß die Menschen sie vergessen.« »Sehr lobenswert, wirklich.« »War gerade bei den Ridyards«, sagte ich, um Vertrauen zu schaffen. »Ach. Derek schaut ab und zu mal rein. Ihr geht es nicht so gut, erzählt man sich.« »Ja«, sagte ich und nickte. »Die Polizei scheint ja nicht allzu viele Spuren zu haben, oder?« »‘ne Menge von denen hat hier gegessen, als das passiert war.« Der Barkeeper, wahrscheinlich der Besitzer selbst, drehte sich um und bediente einen Gast. Ich spielte meine einzige Karte aus. »Es war allerdings die Rede 54
von einem Lieferwagen. Einem weißen Lieferwagen.« Der Barkeeper schloß langsam und stirnrunzelnd die Kassen‐ lade. »Ein weißer Lieferwagen?« »Ja. Die Polizei meinte zu den Ridyards, sie würde nach einem weißen Lieferwagen fahnden.« »Davon weiß ich nichts«, sagte er, zapfte wieder ein Pint, und der Pub füllte sich langsam zur samstäglichen Mittagsstunde. Er kassierte und sagte: »Ich hatte eher den Eindruck, alle glaubten, es wären die Zigeuner gewesen.« »Zigeuner«, murmelte ich und dachte, schöne Scheiße. »Ja. Die waren eine Woche vorher hier durchgezogen, am St. Patrick’s Day. Vielleicht hatte einer von denen einen weißen Lieferwagen.« »Vielleicht«, sagte ich. »Noch eins?« Ich drehte mich wieder zu dem Plakat und den Augen um, die ich schon kannte. »Nein, danke.« »Was glauben Sie?« Ich drehte mich nicht um. Brust und Magen taten mir weh, und das Bier machte es nur noch schlimmer; ich hätte besser was essen sollen. »Ich glaube nicht, daß die Leiche jemals gefunden wird«, flüsterte ich. Ich wollte zurück zu den Ridyards und mich entschuldigen. Ich dachte an Kathryn. »Bitte?« fragte der Barkeeper. »Haben Sie ein Telefon?« »Da«, lächelte der fette Kerl und zeigte auf meinen Ellbogen. Es war mir egal, ob er zuhörte oder nicht. Ich kehrte ihm wie‐ der den Rücken zu. Kathryn hob beim zweiten Klingeln ab. 55
»Hör mal. Wegen letzter Nacht, da ...« »Eddie, Gott sei Dank. Um drei ist eine Pressekonferenz auf der Wakefield Police Station.« »Du machst Witze. Warum?« »Man hat sie gefunden.« »Scheiße.« »Hadden sucht dich ...« »Scheiße!« Edward Dunford, Gerichtsreporter für Nordengland, raste zur Tür hinaus. Wakefield Police Station, Wood Street, Wakefield. 14.59 Uhr. Eine Minute vor Spielanpfiff. Ich die Treppe rauf durch die eine Tür, DCS Oldman durch die andere. Im Konferenzraum so still wie in einem Gruselkabinett. Oldman, flankiert von zwei Zivilbeamten, setzt sich hinter einen Tisch mit Mikrofon. In der ersten Reihe Gilman, Tom, das neue Gesicht und DER VER DAMMTE JACK W HITEH EA D.
Eddie Dunford, Gerichtsreporter für Nordengland, hinter den Fernsehscheinwerfern und den Kameras, wo die Techniker mit‐ einander über beschissene Kabel flüstern. Der verdammte Jack Whitehead bei meiner Story. Die Blitzlichter flammen auf. DCS Oldman wirkt verloren, ein Fremder auf diesem Revier, in diesen Zeiten: Aber es sind seine Leute, seine Zeiten. Er schluckt und setzt an: »Meine Herren. Etwa gegen 9.30 Uhr heute morgen entdeck‐ ten Arbeiter im Devil’s Ditch hier in Wakefield die Leiche eines jungen Mädchens.« 56
Er trinkt einen Schluck Wasser. »Die Leiche wurde identifiziert. Es handelt sich um Clare Kemplay, die am Donnerstagabend auf dem Heimweg von der Schule in Morley verschwand.« Notizen, mach dir Notizen, verdammt. »Bisher konnte die genaue Todesursache noch nicht fest‐ gestellt werden. Allerdings ist eine umfangreiche Mordunter‐ suchung in Gang gesetzt worden. Diese Untersuchung wird von hier aus von mir selbst geleitet.« Wieder ein Schluck. »Eine erste medizinische Untersuchung ist bereits durch‐ geführt worden; Dr. Alan Coutts, der Pathologe des Innenmini‐ steriums, wird heute abend im Pinderfields Hospital die Obduk‐ tion vornehmen.« Die Reporter schauen ihrem Nachbarn in die Notizen, um sich bei dem Namen zu vergewissern. »Zu diesem Zeitpunkt der Untersuchungen sind dies alle In‐ formationen, die ich Ihnen geben kann. Im Namen der Familie Kemplay und der gesamten Polizei von West Yorkshire möchte ich allerdings unseren Aufruf wiederholen, daß sich jeder, der über Informationen jedweder Art verfügt, beim nächsten Revier mel‐ den soll. Wir möchten vor allem mit jedem reden, der sich am Freitag zwischen Mitternacht und 6 Uhr früh in der Nähe des Devil’s Ditch aufgehalten und etwas gesehen hat, insbesondere irgend‐ welche parkenden Fahrzeuge. Wir haben außerdem die Hotline Wakefield 3838 eingerichtet, damit jeder direkt mit der Mord‐ kommission in Kontakt treten kann. Alle Anrufe werden streng vertraulich behandelt. Vielen Dank, meine Herren.« Oldman steht auf und reckt seine Hände einem Sperrfeuer 57
von Fragen und Blitzlichtern entgegen. Er schüttelt langsam den Kopf, murmelt Entschuldigungen, die er nicht so meint, und sitzt in der Fälle wie der blöde King Kong auf dem Empire State Building. Ich beobachte ihn, beobachte, wie er den Raum absucht, mein Herz wummert, mein Magen tut weh, und ich lese in seinen Augen: SIEH MICH AN.
Ein Schubser, Qualm im Gesicht: »Da bin ich aber froh, daß du es noch geschafft hast, du Sensationsreporter. Der Chef will dich sofort sprechen.« Von Angesicht zu Angesicht mit dem Alptraum meiner Nächte, dem beschissenen Jack Whitehead, Whisky im Atem, ein Grinsen auf dem Gesicht, das aussieht wie das einer Ratte. Die Bande der Zeilenschinder schiebt sich an uns vorbei, eilt Zu den Telefonen und Autos und flucht über das Timing. Jack Whitehead zwinkert mir zu und tut so, als verpasse er mir einen Kinnhaken. »Wer zuerst kommt ...« Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Die MI zurück nach Leeds. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Die schmieriggrauen Schieferplatten des samstäglichen Nach‐ mittagshimmels verwandelten sich vor und hinter mir in Nacht. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Ich hielt Ausschau nach dem Rover von scheiß Jack White‐ head. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Ich schaltete Radio Leeds ein: Die Leiche der vermißten Clare Kempley wurde in den frühen 58
Morgenstunden im Brachland des Devil’s Ditch in Wakefield von Bauarbeitern entdeckt. Auf einer Pressekonferenz auf der Wood Street Police Station in Wakefield rief Detective Chief Superintendent George Oldman zur Jagd nach dem Mörder auf und appellierte an Zeugen, sich zu melden: »Im Namen der Familie Kemplay und der gesamten Polizei von West Yorkshire möchte ich unseren Aufruf wiederholen ...« Scheiße. »Dich hat doch jemand in der Hand. Jemand hat dich doch ver‐ dammt noch mal in der Hand!« »Da liegst du völlig falsch, und außerdem wäre ich dir sehr dankbar, wenn du auf deinen Ton achten würdest.« »Tut mir leid, aber du weißt, wie nah ich dran bin ...« Dann konnte man nichts mehr verstehen, und ich gab es auf, mitzuhören, worüber die beiden stritten. Die Tür zu Haddens Büro war dicker, als sie aussah, und daß die fette Steph tippte, half auch nicht. Ich sah auf die Uhr meines Vaters. Dawsongate: Gelder der Ortsverwaltung für privaten Haus‐ bau; minderwertiges Baumaterial für den sozialen Wohnungsbau; Schmiergelder, wohin man sieht. Barry Gannons Baby, seine Obsession. Die fette Steph schaute von der Arbeit auf, lächelte mitfühlend und dachte, du bist der nächste. Ich lächelte zurück und fragte mich, ob Jack es ihr wirklich von hinten besorgte. Wieder hob Barry Gannon in Haddens Büro seine Stimme. »Ich will doch nur zu dem Haus gehen. Sie hätte dich nicht angerufen, verdammt noch mal, wenn sie nicht hätte reden 59
wollen.« »Es geht ihr nicht besonders gut, das weißt du doch. Das wäre unethisch. Das wäre einfach nicht recht.« »Unethisch!« Scheiße. Das würde noch die ganze verdammte Nacht dauern. Ich stand auf, zündete mir noch eine Zigarette an, ging wieder auf und ab und murmelte: »Scheiße, Scheiße, Scheiße.« Die fette Steph sah verärgert auf, aber nur halb so verärgert, wie ich es war. Unsere Bücke kreuzten sich, und sie tippte weiter. Ich sah erneut auf die Uhr meines Vaters. Gannon stritt sich weiter mit Hadden über Dawsongate, irgendein Scheiß, für den sich außer Barry eh keiner interessierte, während der verdammte Jack Whitehead unten saß und die größte Story des verdammten Jahres schrieb. Eine Story, die jeder lesen wollte. Meine Story. Plötzlich ging die Tür auf, und Barry Gannon kam lächelnd heraus. Er schloß leise die Tür hinter sich und zwinkerte mir zu. »Du schuldest mir was.« Ich machte den Mund auf, aber er legte einen Finger an seine Lippen und ging pfeifend den Flur entlang davon. Die Tür ging wieder auf. »Tut mir leid, daß Sie warten mußten. Kommen Sie rein«, sagte Hadden. Er hatte die Armel hochgekrempelt, und die Haut unter seinem silbrigen Bart glühte rot. Ich folgte ihm ins Büro, schloß die Tür und setzte mich. »Sie wollten mich sprechen?« Bill Hadden setzte sich hinter seinen Schreibtisch und grinste wie der beschissene Weihnachtsmann. »Ich wollte nur sicher‐ sehen, daß Sie wegen heute nachmittag nicht sauer sind.« Er 60
hielt ein Exemplar der Sunday Post in die Höhe, um seinen Punkt noch zu unterstreichen. M OR D.
Ich warf einen Blick auf die fette schwarze Schlagzeile und starrte dann die Zeile darunter an, die noch fetter und schwärzer wirkte: V ON JACK JAHRES .
W HITE HEA D,
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DES
»Sauer?« fragte ich und konnte beim besten Willen nicht sagen, ob ich verscheißert oder besänftigt, verjagt oder umarmt werden sollte. »Nun, ich hoffe, Sie haben nicht den Eindruck gewonnen, man hätte Sie aus der Story gedrängt.« Haddens Lächeln wirkte irgendwie matt. Ich fühlte mich völlig paranoid, so als tropfte Barrys Ver‐ folgungswahn von den beschissenen Wänden des Büros. Ich hatte keine Ahnung, warum wir überhaupt dieses Gespräch führten. »Ich bin raus aus der Story?« »Nein. Überhaupt nicht.« »Ich verstehe. Dann kapiere ich allerdings nicht, was heute nachmittag passiert ist.« Hadden lächelte nicht mehr. »Sie waren nicht da.« »Kathryn Taylor wußte, wo ich war.« »Wir konnten Sie nicht erreichen. Also habe ich Jack ge‐ schickt.« »Ich verstehe. Also ist das jetzt Jacks Story?« Hadden fing wieder an zu lächeln. »Nein. Sie werden gemeinsam darüber schreiben. Vergessen Sie nicht, Jack war über ...« »Zwanzig Jahre lang Gerichtsreporter für Nordengland. Ich 61
weiß. Er teilt mir das jeden verdammten Tag mit.« Ich war völlig verzweifelt und verängstigt. Hadden stand auf, kehrte mir den Rücken zu und sah hinaus über das schwarze Leeds. »Nun, vielleicht sollten Sie etwas sorg‐ fältiger hinhören, was Jack zu sagen hat.« »Was meinen Sie damit?« »Nun, schließlich hat Jack ausgezeichnete Beziehungen zu einem gewissen Detective Chief Superintendent.« Verärgert sagte ich: »Nun ja, vielleicht sollten wir dann gleich Nägel mit Köpfen machen, wenn wir schon dabei sind, und Jack zum verdammten Chefredakteur machen.« Hadden wandte sich vom Fenster ab und grinste beinahe un‐ gehemmt. »Hört sich nicht so an, als seien Sie besonders gut darin, zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen, oder?« Meine Brust spannte und pochte. »Hat George Oldman mit Ihnen gesprochen?« »Nein. Jack.« »Ich verstehe. Na, das war’s dann ja wohl«, sagte ich, war nicht mehr im ungewissen, stand dafür aber im Regen. Hadden setzte sich wieder. »Hören Sie, vergessen wir die ganze Angelegenheit. Der Fehler liegt genausogut bei mir. Da wäre noch eine Reihe von anderen Dingen, die Sie für mich wei‐ terverfolgen können.« »Aber ...« Hadden hielt eine Hand hoch. »Also, ich denke, wir stimmen darin überein, daß Ihre kleine Theorie durch die Ereignisse des heutigen Tages gewissermaßen widerlegt wurde ...« Mach’s gut, Jeanette. Mach’s gut, Susan. »Aber ...« murmelte ich. »Bitte«, sagte Hadden lächelnd und hielt die Hand erneut in 62
die Höhe. »Den Punkt mit der fehlenden Leiche können wir doch wohl vergessen.« »Zugegeben. Aber was ist damit?« sagte ich und deutete auf die Schlagzeile auf seinem Schreibtisch. »Was ist mit Clare?« Hadden schüttelte den Kopf und starrte auf die Zeitung. »Ent‐ setzlich.« Ich nickte, wußte, ich hatte verloren. »Aber es ist Weihnachten«, sagte er, »und entweder ist die Sache bis morgen geklärt oder nie. So oder so wird die Story sterben.« »Sterben?« »Also wird Jack den Großteil davon übernehmen.« »Aber ...« Haddens Lächeln versiegte. »Außerdem habe ich ein paar andere Storys für Sie. Mir zuliebe werden Sie morgen mit Barry Gannon nach Castleford hinausfahren.« »Castleford?« Mein Magen war hohl, meine Füße tasteten nach dem Boden, fanden aber keinen Halt. »Barry hegt die Annahme, daß Marjorie Dawson, John Daw‐ sons Frau, ihn tatsächlich sehen und ihm Informationen bestä‐ tigen will, die er über ihren Mann ausgegraben hat. Ich halte das für relativ unwahrscheinlich, wenn man die geistige Verfassung dieser Frau in Betracht zieht, aber er will auf jeden Fall hin. Also habe ich ihn gebeten, Sie mitzunehmen.« »Mich? Warum?« Ich stellte mich dümmer als erlaubt und dachte, Barry hat recht, nur weil man an Verfolgungswahn leidet, heißt das noch lange nicht, daß man keinen verdammten Grund dafür hat, sich verfolgt zu fühlen. »Na ja, falls da was dran ist, wird es zu Verhaftungen und An‐ klagen und was nicht alles kommen, und Sie«, lächelte Hadden, 63
»Sie als Gerichtsreporter für Nordengland werden bis über beide Ohren in Arbeit stecken. Und mir zuliebe werden Sie dafür sorgen, daß Barry nicht völlig ausflippt.« »Ausflippt?« Hadden sah auf die Uhr und seufzte. »Was wissen Sie über Barrys Geschichte?« »Dawsongate? Nur das, was alle wissen, nehme ich an.« »Und was halten Sie davon? Nur mal unter uns Pastoren‐ töchtern?« Er lenkte mich in eine andere Richtung, aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin oder warum. Ich ließ mich lenken. »Nur mal unter uns? Ich glaube, er hat da eine Story an der Hand. Ich glaube allerdings, daß sie eher auf der Wellenlänge von Hobby und Handwerk liegt, nicht auf unserer.« »Dann denken wir dasselbe«, sagte Hadden grinsend, nahm einen prall gefüllten braunen Umschlag und reichte ihn mir über den Schreibtisch. »Das ist alles, was Barry bisher zusammen‐ getragen und der Rechtsabteilung vorgelegt hat.« »Der Rechtsabteilung?« Langsam kam ich mir vor wie ein be‐ scheuerter Papagei. »Ja. Und offen gesagt, können wir froh sein, wenn wir auch nur einen einzigen Satz davon drucken dürfen.« »Ach so.« »Ich erwarte nicht, daß Sie das alles lesen, aber Barry haßt Dummköpfe, also ...« »Ich verstehe«, sagte ich, tätschelte den braunen Umschlag auf meinem Schoß und bemühte mich, echten Eifer an den Tag zu legen. »Und wenn Sie schon mal dort sind, möchte ich, daß Sie noch 64
eine Story über den Rattenfänger schreiben.« Scheiße. »Noch eine?« Neue Untiefen, ich war am Boden zerstört. »Tolle Nummer. Ihr bestes Stück. Jede Menge Leserbriefe. Und jetzt will diese Nachbarin ...« »Mrs. Sheard?« fragte ich unwillkürlich. »Ja, genau die. Mrs. Enid Sheard. Sie hat angerufen und sagt, sie will auspacken.« »Für eine gewisse Summe.« Hadden runzelte die Stirn. »Ja.« »Unausstehlich, die alte Schachtel.« Hadden wirkte leicht verärgert, setzte aber nach. »Ich dachte, nachdem Sie in Castleford gewesen sind, könnten Sie bei ihr rein‐ schneien und nach dem Rechten sehen. Das wär’ genau das Rich‐ tige für die Dienstagsbeilage.« »Ja. Okay. Aber, tut mir leid, was ist mit Clare Kemplay?« Da sprach die Verzweiflung und meine Magengrube, da sprach ein Mann, der nur noch Baustellen und Ratten vor sich sah. Hadden schaute kurz überrascht aufgrund des weinerlichen Tons meiner Frage, doch dann stand er wieder auf und sagte: »Keine Sorge. Wie schon gesagt, Jack wird die Stellung halten, und er hat versprochen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Reden Sie mit ihm.« »Er haßt mich«, sagte ich und weigerte mich zu gehen. »Jack Whitehead haßt jeden«, erwiderte Bill Hadden und öff‐ nete die Tür. Samstag nachmittag, das Büro war wunderbar still und gnädiger‐ weise war nichts von dem scheiß Jack Whitehead zu sehen. Die Sunday Post war schon zu Bett. 65
Leeds United mußte wohl gewonnen haben, aber mir war das scheißegal. Ich hatte verloren. »Hast du Jack gesehen?« Kathryn saß allein an ihrem Schreibtisch und wartete. »Der wird wohl im Pinderfields Hospital sein, oder? Auf die Obduk‐ tion warten.« »Scheiße.« Die Story war futsch, und ich hatte Angstvisionen, Welle um Welle von immer noch mehr Ratten, die über Meilen und Meilen von Baustellen huschten. Ich sackte an meinem Schreibtisch zusammen. Jemand hatte mir ein Exemplar der Sunday Post auf meine Schreibmaschine gelegt. Ich mußte kein beschissener Kojak sein, um herauszufinden, wer. M OR D – V ON JACK WH ITEH EA D, GER I CH TSRE POR T ER DES JAHRES .
Ich nahm die Zeitung in die Hand. Gestern in den frühen Morgenstunden entdeckten Arbeiter im Devils Ditch in Wakefield die unbekleidete Leiche von Clare Kemplay (9). Eine erste medizinische Untersuchung ergab keine eindeutige Todesursache, doch Detective Chief Superintendent George Old‐ man, der die Suche nach Clare geleitet hatte, ordnete umgehend den Einsatz einer Mordkommission an. Es war vorgesehen, daß Dr. Alan Coutts, der Pathologe des Innenministeriums, am späten Samstagnachmittag die Obduktion vornehmen sollte. Clare war seit Donnerstag gegen 16.oo Uhr nicht mehr gesehen worden, als sie auf dem Heimweg von der Morley Grange Junior and Infants School verschwand. Ihr Verschwinden löste eine der größten Suchaktionen der Polizei aus, die es im Bezirk je gegeben hat; Hunderte von Anwohnern schlossen sich der Polizei an, um in 66
Morley und der angrenzenden Gegend zu suchen. Erste Polizeiumfragen konzentrieren sich auf alle, die sich zwischen Freitagmitternacht und sechs Uhr früh am Samstagmor‐ gen in der Nähe des Devils Ditch aufgehalten haben. Die Polizei möchte vor allem mit Personen Kontakt aufnehmen, die in dieser Zeit möglicherweise ein parkendes Fahrzeug in der Nähe des Devil’s Ditch gesehen haben. Jeder, der über solche Informationen verfüge sollte sich mit der nächsten Polizeidienststelle oder über Wakefield 3838 direkt mit der Mordkommission in Verbindung setzen. Mr. und Mrs. Kemplay und ihr Sohn finden Trost bei Verwand‐ ten und Nachbarn. Blutige Schlagzeilen verkaufen sich besser. »Wie war’s mit Hadden?« Kathryn beugte sich über meinen Schreibtisch. »Na, was glaubst du denn, verdammt?« fauchte ich, rieb mir die Augen und suchte nach jemand Unbeschwertem. Kathryn kämpfte gegen die Tränen an. »Barry meinte, ich soll dir sagen, er holt dich morgen um zehn ab. Zu Hause bei deiner Mutter.« »Aber morgen ist doch Sonntag, verdammt.« »Dann geh und frag Barry doch selber. Ich bin nicht deine verdammte Sekretärin. Ich bin selber Journalistin, verdammte Scheiße.« Ich stand auf und verließ das Büro, aus Angst, jemand könnte hereinkommen. Im Vorderzimmer lief der Beethoven meines Vaters, so laut es nur ging. Im Hinterzimmer hatte meine Mutter den Fernseher noch lauter gestellt: Turniertanz und Springreiten. Scheiß Pferde. Der Köter von nebenan bellte die ganze Fünfte hindurch. Scheiß Hunde. 67
Ich goß den Rest Scotch ins Glas und dachte an die Zeit, als ich tatsächlich ein bescheuener Polizist werden wollte, aber viel zu große Angst hatte, es auch tatsächlich zu versuchen. Verdammte Schweine. Ich trank das Glas halb aus und dachte an all die Romane, die ich schreiben wollte, aber ich hatte viel zu große Angst, um es tat‐ sächlich zu versuchen. Scheiß Bücherwurm. Ich wischte ein Katzenhaar von der Hose, die mein Vater geschneidert hatte, eine Hose, die uns alle überdauern würde. Ich zupfte ein zweites Haar ab. Scheiß Katzen. Ich leerte mein Glas, zog die Schuhe aus und stand auf. Ich zog die Hose aus, dann das Hemd. Ich knüllte die Klamotten zusam‐ men und warf mit ihnen quer durchs Zimmer nach dem ver‐ dammten Ludwig. Dann setzte ich mich in weißer Unterwäsche hin und schloß die Augen; ich hatte viel zu große Angst, mich dem verdammten Jack Whitehead zu stellen. Viel zu große Angst, um für meine eigene Story zu kämpfen. Viel zu große Angst, es überhaupt zu versuchen. Feiger Hund. Ich hörte meine Mutter nicht hereinkommen. »Telefon für dich, mein Schatz«, sagte sie und zog die Gardi‐ nen zu. »Edward Dunford?« sagte ich ins Telefon, während ich meine Hose anzog und auf die Uhr meines Vaters sah: 23.35 Uhr. 68
Ein Mann: »Samstagnacht okay für’n Fight?« »Wer ist da?« Stille. »Wer ist da?« Ein unterdrücktes Lachen, dann: »Das brauchst du nicht zu wissen.« »Was wollen Sie?« »Interessierst du dich fürs Wahrsagen?« »Wie bitte?« »Weiße Lieferwagen und Zigeuner?« »Wo?« »MI Ausfahrt Hunslet und Beeston.« »Wann?« »Du bist spät dran.« Dann war die Leitung tot. 69
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3. Kapitel Mitternacht, Sonntag, 15. Dezember 1974. Ausfahrt MI Hunslet und Beeston. Es überfiel mich aus der Dunkelheit, so als hätte ich mein Leben lang geschlafen. Unglaubliche Gelb‐ und fremdartige Orangetöne, brennendes Blau und lebendiges Rot erhellten die schwarze Nacht links vom Motorway. Hunslet Carr brannte. Ich bremste scharf, hielt am Straßenrand, machte das Warn‐ blinklicht an und dachte, das muß doch das ganze beschissene Leeds sehen. Ich schnappte mir mein Notizbuch, sprang aus dem Wagen, krabbelte die Böschung hinauf, kroch durch Schlamm und Ge‐ 71
strüpp auf das Feuer und den Lärm zu; der Lärm: aufheulende Motoren und das donnernde, fortwährende monotone Schlagen der Zeit, die vergeht. Oben auf der Böschung lag ich auf dem Bauch, stützte mich auf meine Ellbogen und starrte in die Hölle. Dort unten im Becken von Hunslet Carr, keine 500 Meter unter mir, lag mein England am sonntäglichen Morgen des 15. Dezember im Jahr des Herrn 1974, und es sah tausend Jahre jünger und kein bißchen besser aus. Ein Zigeunerlager in Hammen, jeder einzelne der etwa zwan‐ zig Wohnwagen brannte, jeder einzelne rettungslos verloren: das Zigeunerlager Hunslet, das ich jedesmal, wenn ich zur Arbeit ge‐ fahren war, aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte, war nun eine große, fette Schüssel voller Feuer und Haß. Haß, denn das brennende Zigeunerlager war umringt von einem reißenden Metallstrom aus zehn blauen Lieferwagen, die mit hundert Meilen im Kreis herumrasten, direkt von einer Speedway‐Nacht im verdammten Belle Vue zu stammen schie‐ nen und fünfzig Männer, Frauen und Kinder einschlossen, eine Großfamilie, die sich in Todesangst aneinanderklammerte; die lo‐ dernden Flammen brannten blankes Entsetzen in ihre Gesichter, die Kinderschreie und das Heulen der Frauen durchfuhren die Mauer aus Lärm und Hitze. Cowboys und Indianer, 1974. Ich schaute zu, wie Väter und Söhne, Brüder und Onkel sich von ihren Familien lösten und versuchten, zwischen den Liefer‐ wagen hindurchzurennen, auf den Metallstrom einzuschlagen, zu 72
treten und in die Nacht hinauszuschreien, bis sie in den Schlamm und die Wagenspuren zurückfielen. Und als die Flammen immer höher schossen, sah ich, wen die Zigeuner so verzweifelt zu erreichen versuchten, auf wen all ihr Flehen gerichtet war. Rings um das ganze Lager, im Schatten unter mir, lag ein zwei‐ ter Ring außerhalb der Lieferwagen, Männer, in zwei Reihen ge‐ staffelt, die mit ihren Schlagstöcken den Takt auf ihren Schilden schlugen: Die West Yorkshire Metropolitan Police legte ein paar Über‐ stunden ein. Und dann blieben die Lieferwagen stehen. Die Zigeuner erstarrten im Schein der Flammen, wichen lang‐ sam zurück zu ihren Familien in der Kreismitte, schleiften die Ver‐ letzten mit sich durch den Dreck. Das Hämmern auf die Schilder wurde stärker, der äußere Ring der Polizei zog sich zu wie eine fette schwarze Schlange, die zwi‐ schen den Lieferwagen hindurchglitt, bis der äußere Ring zum inneren wurde und die Schlange vor den Familien und den Flam‐ men stand. Zulu, in Yorkshire. Dann erstarb das Hämmern. Die einzigen Geräusche waren das Knistern des Feuers und das Weinen der Kinder. Nichts rührte sich, nur mein Herz, das gegen die Rippen pochte. Dann konnte ich sehen, wie mitten aus der Nacht sich die 73
Scheinwerfer eines Lieferwagens näherten, über das Brachland hopsten und auf das Lager zukamen. Der Wagen, möglicherweise weiß, bremste plötzlich, und drei bis vier Männer purzelten her‐ aus. Rufe ertönten, und ein paar Polizisten lösten sich aus dem Ring. Die Männer versuchten, wieder zum Lieferwagen zurückzu‐ laufen, aber der Wagen, tatsächlich weiß, fuhr rückwärts davon. Der nächststehende Polizeiwagen erwachte ruckend zum Leben, wirbelte Schlamm auf und traf den Lieferwagen voll in die Flanke, von null auf hundert in halb so vielen Metern. Der Lieferwagen blieb stehen, und die Polizei stürzte sich auf ihn, zerrte Männer durch geborstene Scheiben, entblößte blanke Haut. Stecken und Steine droschen auf Köpfe und Beine. Innerhalb des Rings trat ein Mann barbrüstig vor. Der Mann senkte den Kopf und rannte schreiend los. Sofort schlug die Polizeischlange zu, der Ring schloß sich und verschluckte die Familien in einer schwarzen Sturzflut aus Knüppeln. Ich stand zu schnell auf und rollte die Böschung hinunter, zu meinem Auto, zum Motorway, nur weg. Ich kam unten an, mußte mich übergeben. Eddie Dunford, Gerichtsreporter für Nordengland, stützte sich an der Wagentür des Viva ab und sah die Flammen, die sich in der Scheibe spiegelten. Ich stürzte den Seitenstreifen entlang zur Notrufsäule, betete zu Gott, daß sie funktionierte, und als sie das tat, flehte ich die Frau am anderen Ende an, jeden nur erreichbaren Krankenwagen! 74
zur Ausfahrt Hunslet und Beeston an der MI zu schicken, wo sich, wie ich ihr atemlos versicherte, zehn Autos ineinander ver‐ keilt hätten, es würden rasend schnell immer mehr, dazu brannte noch ein Tanklaster. Dann rannte ich wieder am Motorway entlang zurück und die Böschung hinauf, sah hinunter auf eine verlorene Schlacht und einen Sieg, der mich mit einer ohnmächtigen Wut erfüllte. Die West Yorkshire Metropolitan Police hatte die Hecktüren ihrer Lieferwagen geöffnet und schleuderte die blutigen und zer‐ schundenen Männer hinein. Innerhalb des großen Feuerrades rissen Polizisten den Zigeu‐ nerfrauen und ‐kindern die Kleider vom Leib, schleuderten die Lumpen ins Feuer und knüppelten ziellos auf die nackte Haut der Frauen ein. Plötzlich durchschlugen ohrenbetäubende Schrotflintenschüsse das entsetzliche Geschehen, Benzintanks explodierten, Zigeuner‐ hunde wurden erschossen. Die Polizisten richteten ihre Schrot‐ flinten auf alles, das auch nur im entferntesten noch zu gebrau‐ chen war. Inmitten dieser Hölle sah ich ein nacktes, einsames Zigeuner‐ mädchen stehen, vielleicht zehn Jahre alt, vielleicht jünger, kurze braune Locken, blutiges Gesicht; es stand mit dem Daumen im Mund stumm zwischen all dem Haß. Wo zum Teufel blieben die Feuerwehr, die Rettungswagen? Meine Wut verwandelte sich in Tränen; ich lag auf der Bö‐ schung und suchte in meinen Taschen nach einem Stift, so als ob 75
ich schreiben, irgendwas schreiben könnte, das alles ein wenig lin‐ dern oder weniger wirklich machen würde, als es war. Mir war zu kalt, um den beschissenen Stift richtig in die Hand zu nehmen, also kritzelte ich mit dem roten Kuli über verdrecktes Papier und ver‐ barg mich in dem dürren Gestrüpp, aber es half überhaupt nichts. Und dann tauchte er auf und kam auf mich zu. Ich wischte mir die Tränen mit Dreck weg, sah ein rot und schwarz glänzendes Gesicht, das mich direkt aus der Hölle die Böschung hinauf anstarrte. Ich erhob mich, um ihm entgegenzugehen, doch ließ mich so‐ fort wieder fallen, als drei schwarzgeflügelte Polizisten den Mann an den Füßen packten und ihn gierig wieder hinabzogen zu ihren Stiefeln und Knüppeln. Und dann sah ich I H N jenseits von all dem in der Ferne stehen. Hinter den Stöcken und Beinen zeichnete sich Detective Chief Superintendent George Oldman an der Flanke eines Polizeiwa‐ gens ab wie irgendeine beschissene Höhlenzeichnung; er rauchte und trank zusammen mit ein paar anderen Bullen, während der Laster hin und her schaukelte. Oldman und seine Freunde warfen ihre Köpfe in den Nacken, schauten in den Himmel und lachten laut und lang, bis Oldman plötzlich innehielt und direkt in die Richtung schaute, in der ich in 500 Metern Entfernung lag. 76
Ich drückte mein Gesicht in den Schlamm, bis ich den Mund voll davon hatte und kleine Steinchen mir das Gesicht zerkratz‐ ten. Plötzlich wurde ich aus dem Schlamm hochgerissen, an den Haarwurzeln auf die Füße gehoben, doch alles, was ich sehen konnte, war der dunkle Nachthimmel über mir, bevor das fette Gesicht eines Polizisten vor meinen Augen aufging wie der Mond. Eine Lederfaust knallte mir ins Gesicht, zwei Finger in den Mund, zwei in die Augen. »Mach deine scheiß Augen zu und halt die Schnauze.« Ich tat, was er sagte. »Nicke, wenn du das Redbeck Café auf der Doncaster Road kennst.« Das Böse fauchte mir mit heißem Atem ins Ohr. Ich nickte. »Sei um fünf Uhr früh da, wenn du ‘ne Story willst.« Dann war der Handschuh verschwunden, ich schlug die Augen auf, sah den schwarzen Himmel und hörte den Lärm von tausend heulenden Sirenen. Willkommen daheim, Eddie. Vier Stunden lang Autofahren bei dem Versuch, meine Alp‐ träume von Kindern abzuschütteln. Eine vierstündige Tour durch die Hölle: Pudsey, Tingley, Hanging Heaton, Shaw Cross, Batley, Dewsbury, Chickenley, Earlsheaton, Gawthorpe, Horbury, Castleford, Pontefract, Nor‐ manton, Hemsworth, Fitzwilliam, Sharlston und Streethouse. Harte Städte für harte Männer. Ich war weich; zu feige, um durch Clares Morley zu fahren oder einen Blick auf Devil’s Ditch zu werfen, zu feige, um zum 77
Zigeu‐ nerlager zurückzufahren oder auch nur nach Hause nach Ossett. Irgendwann mittendrin nagelte mir der Schlaf die Augen zu, ich war auf einen Rastplatz bei Cleckheaton gefahren, träumte von Mädchen aus dem Süden namens Anna oder Sophie, von einem Leben vor dem hier, wachte dann mit einem Steifen auf und hörte meinen Vater krächzen: »Der Süden wird dich verdammt weich machen.« Wachte auf und hatte das Gesicht eines braunhaarigen Mäd‐ chens in einem Ring aus Feuer vor Augen und Schulphotos von kleinen Mädchen, die es nicht mehr gab. Die Furcht drehte den Zündschlüssel, ich rieb mir die Augen und fuhr durch die graue Dämmerung davon; überall erwachten die Braun‐ und Grüntöne, feucht und schmutzig, überall Hügel und Felder, Häuser und Fabriken, alles erfüllte mich mit Angst und bedeckte mich mit Lehm. Die Angst ist überall, daheim und andernorts. Morgendämmerung in der Doncaster Road. Ich fuhr mit dem Viva auf den Parkplatz neben dem Redbeck Café and Motel. Ich parkte zwischen zwei Lastern, hockte da und hörte mir auf Radio 2 Tom Jones an, der I Can’t Break the News to Myself sang. Es war zehn vor fünf, als ich über den Schotter zu den Toiletten hinter dem Haus ging. Die Toiletten stanken, der geflieste Boden war feucht vor schwarzer Pisse. Schlamm und Lehm waren mir auf der Haut festgetrocknet, sie schimmerte rot unter dem Dreck. Ich drehte Heißwasser auf und tauchte meine Hände in das eiskalte 78
Wasser. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht, schloß die Augen und fuhr mir mit den nassen Händen durchs Haar. Braunes Wasser tropfte mir vom Gesicht auf Jacke und Hemd. Wieder spritzte ich mir Wasser ins Gesicht und schloß die Augen. Ich hörte, wie die Tür aufging, spürte einen Stoß kalter Luft. Ich machte die Augen auf. Meine Beine verschwanden unter mir. Mein Kopf knallte gegen das Waschbecken, Galle stieg mir in den Mund. Meine Knie schlugen auf den Boden, mein Kinn gegen das Waschbecken. Jemand packte mich bei den Haaren und drückte mein Gesicht in das dreckige Wasser im Becken. »Wag es ja nicht, mich anzusehen.« Wieder dieses bösartige Flüstern, dann zog der Mann mich ein paar Zentimeter aus dem Wasser und nagelte mich dort fest. Ich dachte, Scheißkerl, Scheißkerl. Ich sagte: »Was wollen Sie?« »Halt die verdammte Schnauze.« Ich wartete, meine Luftröhre blieb gegen den Beckenrand ge‐ quetscht. Dann hörte ich etwas platschen, ich blinzelte und sah einen dünnen braunen Umschlag neben dem Waschbecken liegen. Die Hand in meinen Haaren lockerte den Griff, riß dann plötzlich meinen Kopf hoch und schlug ihn gegen die Vorderkante des Waschbeckens. Ich wehrte mich, ruderte mit den Armen und landete auf d Arsch. Schmerz schoß mir durch die Stirn, Wasser drang durch die Hose. 79
Ich zog mich am Waschbecken hoch, stand da, drehte mich um und fiel zur Tür hinaus auf den Parkplatz. Nichts. Zwei Lasterfahrer, die gerade aus dem Café kamen, zeigten auf mich und lachten laut. Ich lehnte mich gegen die Toilettentür, fiel wieder hinein, und, die beiden Lasterfahrer krümmten sich vor Lachen. Der braune DIN‐A4‐Umschlag lag in einer Pfütze neben dem Waschbecken. Ich hob ihn auf, schüttelte die Wassertropfen ab, öffnete ihn und schloß die Augen, um die Schmerzen in meinem Kopf erträglicher zu machen. Ich öffnete die Tür zur Klokabine und griff nach der Metall‐ kette, spülte ein langes gelbes Stück Scheiße hinunter. Ich schloß den gesprungenen Klodeckel über dem tosenden Wasser, setzte mich und öffnete den Umschlag. Die nächste Hölle. Ich zog zwei dünne DIN‐A4‐Seiten und drei vergrößerte Photos aus dem Umschlag. Eine Kopie des Obduktionsberichts von Clare Kemplay. Die reinste Horrorshow. Ich konnte, wollte mir die Photos nicht anschauen und tat es nicht. Ich las, das Entsetzen wurde immer größer. Die Obduktion war am 14. Dezember 1974 gegen 19.00 Uhr von Dr. Alan Coutts im Pinderfields Hospital in Wakefield vor‐ genommen worden, anwesend waren DCS Oldman und Super‐ intendent Noble. Die Leiche war einen Meter 22 groß und wog 32,5 Kilogramm. Abschürfungen, möglicherweise Bisse, an der rechten oberen Wange, dazu am Kinn und an Hals und Nacken. Abschürfungen, die auf Strangulierung als Todesursache hindeuteten. 80
Strangulierung. Dabei hatte sie sich mit den eigenen Zähnen durch die Zunge gebissen. Sie war wahrscheinlich nicht bewußtlos, als die tödliche Gewalt angewandt wurde. Wahrscheinlich nicht bewußtlos. Dem Opfer war mit einer Rasierklinge 4 LUV in die Brust ge‐ ritzt worden. Auch dabei war davon auszugehen, daß die Wunde nicht post mortem zugefügt worden war. 4 LUV. Auch an beiden Hand‐ und Fußgelenken fanden sich Schür‐ fungen. An allen vier Stellen war aus tiefen Einschnitten Blut aus‐ getreten, was daraufhinwies, daß das Opfer sich eine ganze Weile gegen seinen Angreifer gewehrt hatte. Die beiden Handflächen waren durchbohrt worden, wahrscheinlich mit Nägeln oder ei‐ nem ähnlichen Metallgegenstand. Eine entsprechende Wunde fand sich im linken Fuß, und offenbar war am rechten Fuß der Versuch unternommen worden, eine weitere derartige Wunde zu hinterlassen, was aber nur in Ansätzen gelungen war. Das Opfer hatte sich eine ganze Weile gegen seinen Angreifer gewehrt. Weitere Untersuchungen waren notwendig, doch ergab eine erste Analyse von Partikeln der Haut und Fingernägel des Opfers eine auffällige Menge an Kohlenstaub. Kohlenstaub. Ich schluckte. Vagina und Anus wiesen Risse und blaue Hecken auf, sowohl 81
innerlich als auch äußerlich. Die inneren Verletzungen der Vagina stammten vom Stiel und von den Dornen einer Rose, die in die Vagina gesteckt worden war. Auch hier war der überwiegende Teil der Verletzungen nicht post mortem zugefügt worden. Stiel und Dornen einer Rose. Blankes Entsetzen. Ich hatte Mühe, Luft zu holen. Dann hatten sie sie wohl auf den Rücken gedreht. Clare Kemplays Rücken erzählte eine andere Geschichte. Eine vollkommen andere Hölle: Zwei Schwanenflügel waren ihr an den Rücken genäh worden. »HABEN IH M D I E FL Ü GE L GLATT A BG ET R EN NT UN D D AS AR ME V I ECH E IN F ACH DA L I EGEN LASSEN.«
Sie waren mit einem dünnen gewachsten Faden angenäht worden. An manchen Stellen waren Haut und Muskeln völlig, zerquetscht, und der Faden hatte sich gelöst. Der rechte Flügel hatte sich ganz abgelöst, Haut und Muskeln waren nicht in der Lage gewesen, das Gewicht des Flügels oder den Druck der Nah., zu halten, so daß sich eine große Rißwunde am rechten Schultert blatt des Opfers gebildet hatte. » DI E HABE N IHM DI E FL Ü GE L A B GE HAC K T . DER S CH E ISS S CH WAN H AT N OCH GELEBT.«
Am Ende des Berichts hatte der Pathologe noch getippt: Todesursache: A S P H Y X I E D U R C H S T R A N G U L IE R U NG . Durch das dünne weiße Papier konnte ich die Umrisse und. Schatten einer schwarzweißen Hölle erkennen. . Ich stopfte alles wieder in den Umschlag zurück, ohne mir die Photos anzuschauen, und würgte, während ich mit dem Schloß 82
der Klokabine kämpfte. : Ich riß die Tür auf, rutschte aus und fiel gegen einen anderen beschissenen Lasterfahrer, heiße Pisse plätscherte mir ans Bein. »Hau bloß ab, du verdammte Schwuchtel!« Ich kämpfte mich zur Tür hinaus, sog die Yorkshire‐Luft ein, und Tränen und dreckiges Wasser liefen mir übers Gesicht. Keine der Verletzungen waren ihr post mortem zugefügt worden. »Ich rede mit dir, du schwule Sau.« 4 LUV. Meine Mutter hockte im Hinterzimmer in ihrem Schaukelstuhl und sah hinaus in den Garten und den leichten Nieselregen. Ich brachte ihr eine Tasse Tee. »Schau dich doch nur mal an«, sagte sie, ohne mich an‐ zuschauen. »Das mußt du gerade sagen, bist um diese Zeit ja noch nicht mal angezogen. Gar nicht deine Art.« Ich nahm einen großen Schluck heißen, süßen Tee. »Nein, mein Schatz. Heute nicht«, flüsterte sie. Draußen in der Küche kamen die Sechs‐Uhr‐Nachrichten im Radio: Achtzehn Tote in einem Altersheim in Nottingham, der zweite Brand in ebenso vielen Tagen. Der Vergewaltiger von Cambridge hatte sein fünftes Opfer gefordert, und England lag beim zweiten Testmatch im Kricket 171 Runs zurück. Meine Mutter saß da, starrte in den Garten hinaus und ließ den Tee kalt werden. Ich legte den Umschlag auf die Kommode, legte mich aufs Bett und versuchte zu schlafen, aber ich konnte nicht, Zigaretten 83
halfen da überhaupt nicht, machten alles nur noch schlimmer, ge‐ nauso wie der Whisky, der einfach nicht runterging, nicht unten bleiben wollte, und schon bald sah ich Ratten mit kleinen Flügeln, die eher wie Eichhörnchen aussahen mit ihren kleinen Gesichtern und freundlichen Worten, die aber plötzlich wieder zu Ratten wurden, mir harsche Worte ins Ohr flüsterten, mich beschimpf‐ ten, mir die Knochen brachen, bis ich aufsprang und das Licht ein‐ schaltete, dabei war schon Tag und es war hell, also machte ich das Licht wieder aus und sendete Signale hinaus, die niemand empfing, vor allem nicht der Sandmann. »Hände vom Sack!« Scheiße. »Hat sich hier jemand verletzt?« Ich schlug die Augen auf. »Sieht so aus, als hättest du ‘ne ziemlich wilde Nacht hinter, dir.« Barry Gannon, Teetasse in der Hand, besah sich die Ruine meines Zimmers. »Scheiße«, murmelte ich, keine Flucht möglich. »Es lebt.« »Himmel.« »Ja, danke. Und dir auch einen guten Morgen.« Zehn Minuten später waren wir unterwegs. Zwanzig Minuten später hatte ich ihm meine Geschichte er‐ zählt, und die Kopfschmerzen hämmerten auf meinen leeren Magen. »Also, den Schwan hat man oben in Bretton gefunden.« Barry nahm die landschaftlich schönere Route. 84
»Bretton Park?« »Arnold Fowler ist ‘n Kumpel von meinem Dad, der hat’s ihm erzählt.« Flashback Nr. 99 aus meiner Kindheit; ich sitze im Schneider‐ sitz auf dem hölzernen Schulfußboden, und Mr. Fowler erzählt uns was über Vogel. Der Kerl war ein Fanatiker, hatte in jeder Schule in West Riding einen Vögelclub initiiert, hatte in jedem Lokalblatt eine Kolumne gehabt. »Und der lebt noch?« »Und schreibt noch immer für den Ossett Observer. Sag nur, du hast es nicht gelesen?« Ich mußte beinahe lachen und sagte: »Und wie hat Arnold das herausgefunden?« »Du kennst doch Arnold. Gibt doch nichts in der Vogelwelt, was Arnold nicht als erster zu hören kriegt.« Zwei Schwanenflügel waren ihr an den Rücken genäht wor‐ den. »Ernsthaft?« Barn schaute gelangweilt. »Also, Sherlock, ich gehe davon aus daß die guten Menschen von Bretton Park ihm davon erzählt haben. Er verbringt jede wache Stunde da oben.« Ich schaute zur Seitenscheibe hinaus und sah einen weiteren stillen Sonntag vorbeiziehen. Barry hatte weder geschockt noch sonderlich interessiert geklungen, nicht bei den Zigeunern und nicht bei der Obduktion. »Oldman hat’s mit den Zigeunern«, war alles, was Barry dazu zu sagen hatte, fügte aber noch an, »und mit den Iren.« Bei der Obduktion hatte er noch viel weniger reagiert, und ich wünschte mir, ich hätte Barry die Photos gezeigt oder zu‐ mindest den verdammten Mumm gehabt, sie mir selbst anzu‐ 85
schauen. »Die Bilder müssen schlimm sein«, hatte ich gesagt, mehr nicht. Barry Gannon hatte darauf nichts erwidert. »Das im Redbeck muß ein Bulle gewesen sein«, sagte ich. »Ja«, sagte Barry. »Aber warum?« »Spielchen, Eddie«, sagte er. »Sie spielen verdammte Spiel‐ chen mit dir. Paß auf dich auf« »Ich bin schon groß.« »Hab ich gehört«, meinte er lächelnd. »Das ist hier in der Gegend allgemein bekannt.« »In welcher Gegend?« »Nicht in deiner Lendengegend.« Barry hörte auf zu lachen. »Glaubst du immer noch, daß es eine Verbindung zu den anderen vermißten Mädchen gibt?« »Ich weiß nicht, ich glaub schon. Könnte sein.« »Okay.« Und dann erzählte Barry noch mal vom bescheuerten Johnny Kelly, vom bösen Buben aus der Rugby League, der heute wieder nicht spielen konnte und von dem kein Schwein wußte, wo zum Teufel noch mal er steckte. Ich schaute zum Fenster hinaus und dachte, wen interessiert das schon, verdammt? Barry hielt am Rand von Castleford an. »Schon da?« fragte ich; ich hatte mir Dawsons Wohngegend erheblich vornehmer vorgestellt als das hier. »Du schon.« Ich konnte ihm nicht folgen und schaute mich um. »Brunt Street ist die erste links ein Stück weit zurück.« »Hm?« Ich schaute in die Richtung. 86
Barry Gannon lachte. »Wer zum Henker wohnt in dem Haus 11 Brunt Street, Castleford, Sherlock?« Ich kannte die Anschrift, kramte durch die Schmerzen in mei‐ nem Kopf, und langsam dämmerte es mir. »Die Garlands?« Jeanette Garland, S, Castleford, vermißt seit dem 12. Juli 1969. »Sie haben den ersten Preis gewonnen.« »Scheiße.« Barry sah auf die Uhr. »Wir treffen uns in ein paar Stunden auf; der anderen Straßenseite im Swan und tauschen Horrorstorys aus.« Stinksauer stieg ich aus. Barry beugte sich vor, um die Tür zuzuziehen. »Ich hab dir doch gesagt, du schuldest mir was.« »Na, wie schön.« Und damit war der lachende Barry verschwunden. Brunt Street, Castleford. Auf der einen Seite Reihenhäuser aus der Vorkriegszeit, auf der anderen neuere Doppelhaushälften. Die 11 war auf der Reihenhausseite und hatte eine leuchtend‐ rote Haustür. Ich ging dreimal die Straße rauf und runter, hätte lieber meine Notizen dabei gehabt, hätte lieber erst angerufen, hätte lieber nicht nach Alkohol gestunken, doch dann klopfte ich leise und nur ein einziges Mal an die rote Tür. Ich stand auf der ruhigen Straße, wartete und wandte mich ab. Die Tür flog auf. »Hören Sie, ich weiß nicht, wo zum Teufel er steckt. Und jetzt verschwinden Sie!« 87
Die Frau wollte gerade die rote Tür zuschlagen, hielt aber inne. Sie fuhr mit der Hand durch ihr schmutziggelbes Haar und zog eine rote Strickjacke um ihren mageren Körper. »Wer sind Sie?« flüsterte sie. »Edward Dunford.« Mein kleiner roter Affe rüttelte an den Stäben seines Käfigs. »Sind Sie wegen Johnny hier?« »Nein.« »Weswegen denn?« »Jeanette.« Sie legte sich drei dünne Finger an die weißen Lippen und schloß die blauen Augen. An der Tür zum Tod, mit einem Himmel, der sich zu einem Dezemberblau aufhellte, zog ich meinen Stift und Papier hervor und sagte: »Ich bin Reporter. Von der Post.« »Na, dann kommen Sie mal rein.« Ich schloß die rote Tür hinter mir. »Setzen Sie sich. Ich mache uns einen Tee.« Ich nahm in einem cremeweißen Ledersessel in einem kleinen, aber geschmackvoll eingerichteten Vorderzimmer Platz. Die mei‐ sten Sachen waren neu und teuer, manches war noch in Plastik verpackt. Der Farbfernseher lief ohne Ton. Es gab gerade eine Sen‐ dung für lesebehinderte Erwachsene, der Titel On the Move stand auf der Flanke eines schneller werdenden weißen Ford Transit. Ich schloß für einen Augenblick die Augen und versuchte, meinen Kater zu bändigen. Als ich die Augen aufschlug, sah ich sie. Auf dem Fernseher stand das Photo, das Schulporträt, vor 88
dem ich mich so gefürchtet hatte. Jeanette Garland, jünger und hellhäutiger als Susan und Clare, lächelte mich mit dem glücklichsten Lächeln an, das ich je gesehen hatte. Jeanette Garland war mongoloid. Draußen in der Küche fing der Kessel an zu schreien und ver‐ stummte abrupt. Ich wendete den Blick vom Photo ab und betrachtete einen Schrank voller Trophäen und Pokale. »Hier, bitte«, sagte Mrs. Garland und stellte ein Tablett auf das Sofatischchen vor mich. »Lassen Sie ihn noch einen Augenblick ziehen.« »Ein ziemlicher Sportsmann, Mr. Garland«, sagte ich lächelnd und nickte in Richtung Schrank. Mrs. Garland zog ihre rote Strickjacke fester um sich und setzte sich auf das cremeweiße Ledersofa. »Die gehören meinem Bruder.« »Oh«, sagte ich und versuchte zu schätzen, wie alt sie war: Jeanette war 1969 acht Jahre alt gewesen, da dürfte ihre Mutter vielleicht 26,27 gewesen sein, also jetzt Anfang 30? Sie sah so aus, als habe sie seit Tagen nicht geschlafen. Unsere Blicke trafen sich. »Womit kann ich Ihnen helfen, Mr. Dunford?« »Ich schreibe einen Artikel über Eltern, deren Kinder vermißt werden.« Mrs. Garland zupfte ein paar Staubkörnchen vom Rock. »Erst ist das Interesse der Öffentlichkeit immer groß, doch dann stirbt es wieder ab.« »Stirbt?« »Ja. Der Artikel dreht sich darum, wie die Eltern damit klar‐ kommen, wenn sich die ganze Aufregung gelegt hat, und ...« 89
»Wie ich damit klarkomme?« »Ja. Zum Beispiel, hatten Sie damals den Eindruck, die Polizei hätte mehr tun können, um Ihnen zu helfen?« »Eine Sache gab es schon.« Mrs. Garland starrte mich un‐ verwandt an und wartete. »Und was war das?« fragte ich. »Sie hätten meine Tochter finden können, Sie dummes, herz‐ loses, beschissenes Arschloch!« Sie zitterte am ganzen Körper und schloß die Augen. Mein Mund war ganz trocken und ich stand auf. »Es tut mir leid, ich wollte nicht ...« »Raus!« »Es tut mir leid.« Mrs. Garland schlug die Augen auf und sah zu mir auf. »Es tut Ihnen nicht leid. Wenn Sie dazu in der Lage wären, daß Ihnen etwas leid täte, dann wären Sie nicht hier.« Ich stand mitten in ihrem Wohnzimmer, meine Schienbeine waren zwischen Sofatisch und Sessel eingeklemmt, und plötzlich mußte ich an meine eigene Mutter denken, und ich wollte hin‐ übergehen und die Mutter vor mir in die Arme nehmen. Ich ver‐ suchte ungeschickt über den Tisch und die Teekanne zu steigen, wußte nicht, was ich sagen sollte, und bekam nur ein: »Bitte ...« heraus. Mrs. Paula Garland erhob sich, baute sich vor mir auf, riß die blaßblauen Augen voller Tränen und Haß auf und stieß mich gegen die rote Tür. »Ihr beschissenen Schmierfinken. Ihr kommt in mein Haus und redet über Dinge, von denen ihr keine Ahnung habt, so als ob ihr übers Wetter redet oder über irgendeinen scheiß 90
Krieg irgendwo.« Sie weinte bitterlich, während sie sich mühte, die Haustür zu öffnen. Mein Gesicht brannte wie Feuer, und ich trat rückwärts auf die Straße. »Mir ist das zugestoßen!« schrie sie und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Ich stand auf der Straße vor der roten Tür und wünschte mir, sonstwo auf der Welt zu sein, nur nicht gerade in der Brunt Street, Castleford. »Und, wie ist es gelaufen?« »Ach, Scheiße.« Ich hatte eine Stunde und drei Pints lang vor mich hingebrütet, bis Barry Gannon endlich auftauchte. Es war kurz vor der mittäglichen Sperrstunde, und der Großteil der Gast hatte sich bereits zum heimischen Sonntagsmahl verdünnisiert. Barry setzte sich mit einem Pint zu mir und nahm sich eine Zigarette aus meiner Schachtel. »Und, hast du Johnny unterm Bett gefunden?« Ich war nicht in der Stimmung für solchen Scheiß. »Was?« Barry sprach extra langsam: »Johnny Kelly. Die große weiße Hoffnung.« »Was ist mit ihm?« Ich war kurz davor, ihm den Schädel ein‐ zuschlagen. »Himmelherrgott noch mal, Eddie.« Die Pokale, die Trophäen, Scheiße. »Er ist mit den Garlands verwandt?« »Und schon wieder ein Hauptgewinn. Paula Garlands ver‐ dammter Bruder. Wohnt dort, seit ihr Mann tot ist und dieses Mannequin ihn verlassen hat.« Mein Gesicht glühte schon wieder, mir kochte das Blut. »Der 91
Mann ist tot?« »Scheiße, Dunford. Solche Sachen mußt du einfach vorher wissen.« »Scheiße.« »Hat das mit Jeanette nie verkraftet. Hat vor zwei, drei Jahren ‘ne Schrotpatrone verspeist.« »Und das hast du gewußt? Warum zum Teufel hast du nichts davon gesagt?« »Selber Arschloch. Mach’ deinen scheiß Job allein oder frag.« Barry nahm einen langen Schluck aus seinem Glas, um sein fettes Grinsen dahinter zu verbergen. »Also gut, jetzt frag ich.« »Der Mann hat sich etwa zu der Zeit weggepustet, als Johnny anfing, sich einen Namen zu machen, auf dem Spielfeld und außerhalb.« »Ein Weiberheld?« »Genau. Hat Miss Weston‐super‐Mare von 1971 geheiratet oder so was. Hat nicht lang gehalten. Als sie ihre Klamotten packte und ihn verließ, ist er zur großen Schwester gezogen.« »Der George Best der Rugby League?« »Hast da unten im Süden nicht viel davon mitgekriegt, hm?« Bei dem Versuch, ein wenig von meinem Stolz zu retten, sagte ich: »War nicht gerade in den Schlagzeilen, nein.« »Nun, hier schon, und das hättest du verdammt noch mal wissen müssen.« Ich zündete mir eine Zigarette an, haßte ihn dafür, es mir so reinzuwürgen, und haßte ihn für das dazugehörige Grinsen auf seiner Visage. Scheiß auf Stolz und Untergang. »Und Paul Kelly in der Arbeit ist wer?« »Ein Cousin oder so was. Frag ihn selbst.« 92
Ich schluckte und schwor mir, dies war das letzte Mal. »Und Kelly ist heute beim Spiel nicht aufgetaucht?« »Weiß nicht. Das wirst du wohl selber rausfinden müssen, oder?« »Ja«, murmelte ich und dachte, bitte, lieber Gott, laß meine Augen nicht überfließen. Eine Stimme sagte dröhnend: »Zeit, meine Herren.« Wir leerten unsere Gläser. »Wie ist es bei Mrs. Dawson gelaufen?« fragte ich. »Sie meinte, mein Leben sei in Gefahr«, sagte Barry lächelnd und stand auf. »Machst du Witze? Warum?« »Warum nicht? Ich weiß zuviel.« Wir gingen beide durch die Doppeltür hinaus auf den Park‐ platz. »Und du glaubst ihr?« »Die haben über jeden was. Die Frage ist nur, wann sie es ge‐ gen einen verwenden.« Barry trat seine Kippe im Schotter aus. »Wer sind ›die‹?« Barry wühlte in seinen Taschen auf der Suche nach de Wagenschlüsseln. »Die haben keine Namen.« »Spinn dich aus«, lachte ich, die drei Pints und die frische Luft machten mir Mut. »Da draußen gibt es Todesschwadronen. Warum soll’s denn, keine für Barry Gannon geben?« »Todesschwadronen ? « »Glaubst du, der Scheiß ist nur für den Gelben Mann oder die Indianer? Todesschwadronen gibt es in jeder Stadt in jedem Land.« Ich drehte mich um und ging weg. »Bist du endgültig über‐ geschnappt?« Barry packte mich am Arm. »Sie werden in Nordirland aus‐ 93
gebildet. Wenn die erst mal Blut geleckt haben, werden sie hung‐rig nach Hause geschickt.« »Blödsinn«, sagte ich und schüttelte ihn ab. »Was? Glaubst du wirklich, da rennen Banden von irischen Lümmeln in gefütterten Jacken herum, schleppen riesige Dünger‐ säcke und jagen Pubs in die Luft?« »Ja«, sagte ich lächelnd. Barry sah zu Boden, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und sagte: »Wenn ein Mann auf der Straße auf dich zukommt und dich nach dem Weg fragt, hat er sich verlaufen oder verhört er dich?« Ich lächelte. »Big Brother?« »Er beobachtet dich.« Ich sah in den blauen Himmel hinauf, der langsam grau wurde, und sagte: »Wenn du ihr wirklich glaubst, dann solltest du es jemandem sagen.« »Wem denn? Der Justiz? Diese Leute hocken auch in der Justiz. Jedermanns Leben ist in Gefahr.« »Und wozu dann weitermachen? Warum sich nicht gleich er‐ schießen, so wie Garland?« »Weil ich an Recht und Unrecht glaube. Ich glaube, irgend‐ wann werde ich von jemandem zur Rechenschaft gezogen, aber nicht von denen. Ich scheiß auf die, mehr sag ich nicht.« Ich sah zu Boden und mußte mal pinkeln. »Kommst du mit oder nicht, du Feigling?« fragte Barry und schloß sein Auto auf. »Ich muß in die andere Richtung.« Barry machte die Tür auf. »Na, bis dann.« »Ja, bis dann.« Ich drehte mich um und verließ den Parkplatz. »Eddie!« 94
Ich drehte mich wieder um und blinzelte in die blasse Winter‐ sonne. »Hattest du nie den Wunsch, uns alle vom Bösen zu be‐ freien?« »Nein!« rief ich über den leeren Parkplatz. »Lügner«, rief Barry lachend, schlug die Wagentür zu und startete den Motor. 15.00 Uhr, Sonntag nachmittag, Castleford; ich wartete auf den Bus nach Pontefract, froh, dem Wahnsinn eines Barry Gannon entronnen zu sein. Dreieinhalb Pints intus und beinahe froh, mich wieder um meine Ratten kümmern zu können. Der Rattenfänger: eine Story, die den Menschen von Yorkshire aus der Seele sprach. Der Bus kam angerollt. Ich hob den Daumen. Der Rattenfänger: Graham Goldthorpe, der in Ungnade ge‐ fallene Musiklehrer und spätere kommunale Kammerjäger, der seine Schwester Mary mit einem Nylonstrumpf erdrosselt und sich in der Freinacht vor dem Guy Fawkes Day in den Kamin gehängt hatte. Ich bezahlte beim Fahrer und ging in dem leeren Bus nach hin‐ ten, um zu rauchen. Danach hatte sich der Rattenfänger Graham Goldthorpe eine Schrotflinte an seinen wirren Kopf mit all den Alpträumen von Plagen dreckiger brauner Ratten gehalten. Mandy lutscht Pakis stand auf der Rückseite des Sitzes vor mir. Der Rattenfänger: eine Story, Edward Dunford aus der Seele gesprochen, dem Gerichtsreporter für Nordengland, ehemaliger Schmierfink aus der Fleet Street, der als verlorener Sohn heim‐ 95
kehrte und eine ganze Grafschaft mit seiner wahnsinnigen Story und den Visionen von Plagen dreckiger brauner Ratten erschüt‐ terte und schockierte. Yorkshire Whites stand auf dem nächsten Rücksitz. Der Rattenfänger: meine erste Story bei der Post, ein Geschenk des Himmels, während mein Vater und der verdammte Jack Whitehead im Krankenhaus lagen. Ich drückte auf die Halteklingel und wünschte, Jack White‐ head würde krepieren. Ich stieg aus dem Bus und trat in das letzte Ende eines Nach‐ mittags in Pontefract. Ich verbarg eine weitere Zigarette im alten Mantel meines Vaters und schaffte es erst im dritten Anlauf, den Böen des Windes zuvorzukommen. Die Heimat des Rattenfängers. Ich brauchte exakt eine John Player Special von der Bushalte‐ stelle bis Willman Close und trat beinahe in einen verdammten Hundehaufen, als ich die Kippe austreten wollte. Hundescheiße in Willman Close, das hätte Graham Gold‐ thorpe wirklich auf die Palme gebracht. Es war fast dunkel, und in einem Großteil der Häuser brann‐ ten bereits die Lichter an den Weihnachtsbäumen. Nur bei Enid Sheard nicht, dieser unausstehlichen alten Schachtel. Und bei den Goldthorpes auch nicht. Ich verfluchte mein Leben, klopfte an die Glastür des Bun‐ galows und hörte Hamlet, den riesigen Schäferhund, wie wild bellen. Bei meinem allzu kurzen Zwischenstop in der Heet Street hatte ich es zigmal mitbekommen. Die Familien, Freunde, Kollegen und Nachbarn des Toten oder Beschuldigten, genau die Leute, die bei 96
der leisesten Erwähnung von Geld für ihre Story ach so beleidigt taten, so entsetzt, verletzt und sogar wütend, eben diese Familien, Freunde, Kollegen und Nachbarn des Toten oder Beschuldigten riefen einen Monat später an und waren plötzlich ganz eifrig, hilfs‐ bereit und so beschissen gierig, Geld für ihre Story zu kriegen. »Wer ist da? Wer ist denn da ?« Die alte Schachtel schaltete nicht mal das Flurlicht an, geschweige denn, daß sie die Tür öffnete. Ich brüllte durch die Tür: »Ich bin’s, Mrs. Sheard, Edward Dunford. Von der Post, erinnern Sie sich?« »Natürlich erinnere ich mich. Heute ist Sonntag, Mr. Dun‐ ford«, kreischte sie über das Gebell ihres Schäferhundes Hamlet hinweg. »Mr. Hadden, mein Chefredakteur, hat mir gesagt, Sie hätten angerufen und wollten mit einem seiner Reporter reden«, brüllte ich durch das geriffelte Glas. »Ich habe letzten Montag angerufen, Mr. Dunford. Ich pflege meine Geschäfte in der Woche zu erledigen, nicht am Tag des Herrn. Ich wäre Ihnen und Ihrem Chef dankbar, wenn Sie das ebenfalls täten, junger Mann.« »Tut mir leid, Mrs. Sheard. Wir hatten sehr viel zu tun. Ich habe einen ziemlichen Weg hinter mir, und normalerweise arbeite ich nicht ...« murmelte ich und fragte mich, ob Hadden mich an‐ gelogen oder nur die Tage durcheinandergebracht hatte. »Es wäre besser für Sie, wenn Sie das Geld dabei hätten, ich nur sagen«, drohte Enid Sheard und öffnete die Tür. Ich hatte kaum einen Penny in der Tasche, dennoch trat ich 97
den dunklen, schmalen Flur, in dem es nach Hamlet muffelte, Gestank, von dem ich gehofft hatte, ihn nie mehr aushalten müssen. Witwe Sheard, siebzig gereizte Jahre alt, mindestens, führte mich ins Vorderzimmer, und wieder saß ich mit Enid Sheard ihren Erinnerungen und Lügen im Dämmerlicht, und Hamlet kratzte am Fuße der gläsernen Küchentür. Ich hockte mich auf die Sofakante und sagte: »Mr. Hadden meinte, Sie wollten reden ...« »Ich habe niemals mit Ihrem Mr. Hadden gesprochen ...« »Aber Sie wollten uns doch etwas über die Ereignisse Nebenhaus mitteilen?« Ich starrte die blinde Mattscheibe Fernsehers an, sah die toten Augen von Jeanette Garland, Susan Ridyard und Clare Kemplay. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich nicht unterbrechen würden, wenn ich rede, Mr. Dunford.« »Tut mir leid«, sagte ich, und meinem Magen wurde es bei jedem Gedanken an Mrs. Garland immer flauer. »Ich glaube, Sie riechen nach Alkohol, Mr. Dunford. Ich denke, ich treffe mich lieber mit Ihrem netten Mr. Whitehead. Und auch nicht an einem Sonntag.« »Sie haben mit Jack Whitehead gesprochen?« Ihre Strichlippen lächelten. »Ich sprach mit einem Mr. White‐ head. Er hat mir seinen Vornamen nicht genannt, und ich ihn auch nicht danach gefragt.« Mir war plötzlich siedend heiß in ihrem kalten schwarz Loch von Zimmer. »Was hat er gesagt?« »Er hat gesagt, ich sollte mit Ihnen sprechen, Mr. Dunford. Und daß es nicht seine Story sei.« »Was noch? Was hat er noch gesagt?« Ich rang nach Luft. »Wenn Sie mich ausreden ließen ...« Ich rutschte auf dem Sofa zum Sessel der Witwe. »Was noch?« 98
»Also wirklich, Mr. Dunford. Er sagte, ich solle Ihnen den Schlüssel überlassen. Aber ich meinte ...« »Den Schlüssel? Welchen Schlüssel?« Ich hockte der Witwe beinahe auf dem Schoß. »Den Schlüssel für nebenan«, verkündete sie stolz. Plötzlich flog krachend die Küchentür auf, es bellte donnernd, und Hamlet, der Deutsche Schäferhund, stürmte ins Zimmer, sprang zwischen uns hin und her und schleckte uns beiden mit seiner heißen, großen und schlabberigen Zunge über die Ge‐ sichter. »Also wirklich, Hamlet, es reicht.« Draußen war es Nacht, und Mrs. Enid Sheard fummelte mit dem Schlüssel an der Hintertür des Bungalows der Goldthorpes herum. Sie schloß auf, und ich ging hinein. Vor einem Monat hatte die Polizei kategorisch alle Anfragen, den Tatort der Tragödie sehen zu dürfen, abgewiesen. Enid Sheard hatte nicht einmal eine Andeutung fallenlassen, sie könne vielleicht über eine Zutrittsmöglichkeit verfugen, und nun stand ich in der Küche der Goldthorpes, in der Höhle des Ratten‐ fängers. Ich versuchte, in der Küche Licht zu machen. »Die haben doch sicher den Strom abgestellt, oder nicht?« flüsterte Mrs. Sheard von der Türschwelle aus. Ich probierte den Schalter ein zweites Mal. »Sieht so aus.« »Also, ohne Licht möchte ich da nicht reingehen. Ich kriege schon eine Gänsehaut, wenn ich nur hier stehe.« Ich linste in die Küche und fragte mich, wann Enid Sheard das letzte Mal nackte Haut gesehen hatte. Es roch muffig, wie nach einer Woche Camping. 99
»Sie werden wohl zurückkommen müssen, wenn es hell ist, nicht wahr? Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollten sonntags nie arbeiten, oder nicht?« »Ja, haben Sie«, murmelte ich unter der Küchenspüle und fragte mich, ob Enid Sheard ihren letzten Geschlechtsverkehr ge‐ nossen hatte, ob sie es vermißte und dies nicht einiges erklären würde. »Was machen Sie da unten, Mr. Dunford?« »Heureka!« rief ich, tauchte mit einer Kerze wieder unter der Spüle auf und dachte, Gott sei Dank dafür und für die Drei‐ Tage‐ Woche. »Na, wenn Sie darauf bestehen, sich im Stockfinsteren um‐ zuschauen, will ich mal sehen, ob ich nicht eine von Mr. Sheards alten Taschenlampen auftreiben kann. Waren ihm immer wichtig, dem Mr. Sheard, Kerzen auch. Stets auf der Hut sein, hat er im‐ mer gesagt. Und denken Sie doch nur mal an diese Streiks und was noch alles.« Auf dem Weg zurück in ihr eigenes Haus kotzte sie sich weiter aus. Ich schloß die Hintertür und nahm aus dem Küchenschrank’ eine Untertasse. Ich zündete die Kerze an, tropfte heißes Wachs auf den Teller und befestigte darauf die Kerze. Endlich allein in der Höhle des Rattenfängers. Das Blut in meinen Füßen war eiskalt. Die Kerze beleuchtete die Küchenwände rot und gelb, und plötzlich befand ich mich wieder auf einem Hügel oberhalb des; brennenden Zigeunerlagers, vor mir das Gesicht eines kleinen Mädchens mit braunen Locken, das in die Nacht weinte, während 100
ein anderes kleines Mädchen mit Flügeln am Rücken auf einem Tisch im Leichenschauhaus lag. Ich schluckte schwer, fragte mich,. was zum Teufel ich da eigentlich machte, und schob die gläserne Küchentür auf. Der Bungalow war genauso geschnitten wie der von Mrs. Sheard. In dem wenigen Licht, das am anderen Ende des Flurs durch die gläserne Eingangstür fiel und sich zum Kerzenschein gesellte, sah ich einen schmalen Gang mit ein paar trostlosen schottischen Landschaftsbildern und einer Radierung, die einen Vogel darstellte. Die fünf Türen, die vom Flur abgingen, waren zu. Ich stellte die Kerze auf das Telefontischchen und suchte in meinen Taschen nach Papier. In der Höhle des Rattenfängers ... Ich würde keine Schwierigkeiten haben, die Geschichte an die überregionalen Zeitungen zu verkaufen. Noch ein paar Photos, und alles war klar. Danach vielleicht noch ein Schnellschuß im Taschenbuch. Wie Kathryn schon gesagt hatte: die Story schrieb sich praktisch von selbst. 6 Willman Close, Anschrift von Graham und Mary Gold‐ thorpe, Bruder und Schwester, Killer und Opfer. Im Hausflur des Rattenfängers zog ich meinen Stift aus der Ta‐ sche und suchte mir eine Tür aus. Das hintere Schlafzimmer hatte Mary bewohnt. Enid Sheard zufolge hatte Graham darauf bestanden, daß seine große Schwe‐ ster aus Gründen der Privatsphäre das große Schlafzimmer be‐ kam. Die Polizei hatte zudem bestätigt, daß Graham in den zwölf Monaten vor den Ereignissen des 4. November zweimal an‐ 101
gerufen und sich beklagt hatte, ein Spanner habe durchs Fenster seiner Schwester geschaut. Die Polizei hatte seine Behauptungen nicht beweisen können, es vielleicht auch gar nicht versucht. Ich fand die schweren dunklen Vorhänge bedrückend, und ich fragte mich, ob sie wohl neu waren, ob Graham sie für Mary gekauft hatte, um den Spanner und dessen neugierige Blicke auszu‐ sperren. Wem gehörten die Augen, deren Blick über den Leib seiner Schwester strich? Waren es die Augen eines Fremden oder seine eigenen, die ihn nun im Spiegel durchbohrten? Die Vorhänge und Möbel wirkten zu wuchtig für das Zimmer, doch das war auch in Enid Sheards Haus nebenan so und im Haus meiner Mutter ebenfalls. In Marys Zimmer standen ein Einzel‐ bett, ein Kleiderschrank und eine Spiegelkommode, alles groß und aus Holz. Ich stellte die Kerze vor den Spiegel, neben zwei Haarbürsten, eine Kleiderbürste, einen Kamm und ein Photo von ihrer Mutter. Kam Graham in dieses Zimmer, wenn sie schlief, sammelte blonde Haare am ihrer Bürste, Haare wie die ihrer Mutter, um sie zu hüten, sie aufzuheben? In der linken oberen Schublade lagen Make‐up und ein paar Hautcremes. In der rechten oberen Schublade fand ich Mary Goldthorpes Unterwäsche, Seide, die Polizei hatte sie durech‐ wühlt. Ich faßte einen weißen Schlüpfer an, erinnerte mich an die Photos, die wir von einer schlicht gekleideten, aber keineswegs unattraktiven Frau gedruckt hauen. Mary war mit vierzig gestor‐ ben, weder die Polizei noch ich selbst hatten einen Freund auf‐ 102
treiben können. Ziemlich teure Unterwäsche für eine Frau ohne Liebhaber. Was für eine Verschwendung. Graham beobachtete sie im Schlaf, ihr Haar auf dem Kissen aus‐ gebreitet. Leise schob er die oberste rechte Schublade auf und vergrub seine Hände tief in dem seidenen Inhalt ihres intimsten Besitzes, Plötzlich setzte sich Mary im Bett auf. Bad und Klo waren eins; es roch nach kalter Fichte. Ich stand auf einer rosafarbenen Badematte, pinkelte schnell in Graham, Goldthorpes Kloschlüssel und dachte immer noch an seine Schwester. Die Spülung hallte durchs Haus. »Graham? Was tust du da?« flüsterte sie. Grahams Zimmer lag neben dem Bad zur Vorderseite des Hauses, es war klein und mit weiteren Stücken des wuchtigen, ge‐ erbten Mobiliars angefüllt. An der Wand über dem Kopfende des Einzelbettes hingen drei gerahmte Bilder. Ich stützte mich mit einem Knie auf Grahams Bett und hielt die Kerze vor drei weitere Vogelradierungen ähnlich der im Flur. Grahams Schlafanzug lag noch immer unter dem Kopfkissen. Graham erstarrte; der Pyjama klebte ihm schweißnaß am Leib. Neben dem Bett lagen mehrere Stapel Magazine und Akten. Tch stellte die Kerze auf ein Tischchen neben dem Bett und nahm ein paar Magazine in die Hand. Es handelte sich um Verkehrs‐ magazine, Eisenbahnen oder Busse. Ich ließ sie auf der Bettdecke liegen und ging zum Schreibtisch, auf dem ein großes Tonband‐ gerät stand. Auf dem Bücherregal war eine Lücke; die Polizei 103
hatte wohl die Tonbänder mitgenommen. Scheiße. Die Bänder des Rattenfängers, für immer verloren. «Heute nacht ertappte sie mich in ihrem Zimmer, als ich ihr beim Schlafen zuschaute«, flüsterte Graham unter der Bettdecke, während sich die Tonbandspulen lautlos drehten. »Morgen ist die Freinacht vor Guy Fawkes’ Day, morgen werden sie kommen.« Ich zog ein dickes Buch, einen alten Eisenbahnfahrplan, aus dem Regal und grübelte darüber, wie nutzlos diese Schwarte war. Auf die innere Titelseite hatte Graham Goldthorpe das Bild einer Eule mit Brille geklebt und darunter geschrieben: DIESES BUCH GEHÖRT GRAHAM UND MARY GOLDTHORPE. STEHLEN SIE ES NICHT, SONST WERDEN SIE GEJAGT UND GETÖTET.
Scheiße. Ich nahm ein zweites Buch aus dem Regal und fand darin die‐ selbe Botschaft, auch im nächsten und übernächsten und über‐ übernächsten. Total durchgeknallt. Ich stellte die Bücher zurück, stockte aber bei einem Buch, das sich nicht richtig zuklappen ließ: Die Kanäle des Nordens. Ich schlug es auf und landete sofort wieder in der Hölle. Zwischen den Photographien verschiedener Kanäle des Nor‐ dens steckten Photographien von zehn, zwölf kleinen Mädchen. Schulphotos. Augen und lächelnde Münder strahlten mich an. Mein Mund war trocken, mein Herz raste. Ich knallte das Buch zu. Im nächsten Augenblick schlug ich es wieder auf, hielt es näher an die Kerze und blätterte durch die Photos. 104
Keine Jeanette. Keine Susan. Keine Clare. Nur etwa zehn Schulporträts, fünfzehn mal zehn, von jungen‐ Mädchen im Alter von zehn bis zwölf. Keine Namen. Keine Adressen. Keine Daten. Nur zehn blaue Augenpaare und zehnfaches zahnweißes Lächeln vor demselben himmelblauen Hintergrund. Verstand und Puls rasten mir, ich nahm wieder ein Buch aus dem Regal, noch eins, noch eins. Nichts. Fünf Minuten später hatte ich alle Bücher und Magazine durchgeblättert. Nichts. Ich stand mitten in Graham Goldthorpes Schlafzimmer, drückte die Kanäle des Nordens an mich; der Rest des Zimmers lag zu meinen Füßen. »Ich weiß ja nicht, was so wichtig ist, daß Sie nicht an einem anderen Tag wiederkommen können. Ach herrje! Was für eine Unordnung.« Enid Sheard funzelte mit einer Taschenlampe von einer Ecke in die andere und schüttelte den Kopf. »Mr. Gold‐ thorpe hätte einen Anfall bekommen, wenn er sein Zimmer so vorgefunden hätte.« »Sie wissen nicht zufällig, was die Polizei mitgenommen hat, oder?« Sie blendete mich mit der Taschenlampe. »Ich kümmere mich um meinen eigenen Kram, Mr. Dunford. Das wissen Sie.« »Das weiß ich.« »Sie haben mir allerdings geschworen, sie haben geschworen, sie würden alles so zurücklassen, wie sie es vorgefunden haben. 105
Nun schau sich mal einer diese Unordnung an. Sieht es in den anderen Zimmern auch so aus?« »Nein. Nur hier«, antwortete ich. »Na ja, ich nehme an, sie haben sich für das Zimmer hier be‐ sonders interessiert«, sagte Enid Sheard und fuhr mit der Ta‐ schenlampe wie mit einem Suchscheinwerfer von einer Ecke zur anderen. »Wissen Sie, was hier fehlt?« »Mr. Dunford! Ich habe bis zum heutigen Tage noch nie einen Fuß in Mr. Goldthorpes Zimmer gesetzt. Ihr Schmierfinken. Schmutzige Gedanken wie in der Gosse, allesamt.« »Tut mir leid. Das meinte ich damit nicht.« »Sie haben alle seine Zeichnungen und Tonbänder mitgenom‐ men, soviel weiß ich.« Der weiße Lichtstrahl landete auf dem Ton‐ bandgerät. »Ich habe gesehen, wie sie das Zeug hinausgetragen haben.« »Hat Mr. Goldthorpe nie erwähnt, was auf den Bändern war?« »Vor ein paar Jahren hat Mary mir mal verraten, daß er Tage‐ buch führte. Und ich weiß noch, ich sagte, er schreibt wohl gerne, oder? Und Mary erwiderte, er schreibt kein Tagebuch, er spricht es auf Band.« »Hat sie gesagt, was er ...« Der Schein der Taschenlampe traf mich mitten in die Augen. »Mr. Dunford, wie oft soll ich es noch sagen? Sie hat es nicht ge‐ sagt, und ich habe nicht gefragt. Ich ...« »Ja, ich weiß, Sie kümmern sich um Ihren eigenen Kram.« Mit dem Reiseführer halb unter dem Hemd, halb in der Hose, nahm ich ungeschickt die Kerze hoch, »ich danke Ihnen, Mrs. Sheard.« Draußen im Flur blieb Enid Sheard vor der Tür zum Vorder‐ zimmer stehen. »Waren Sie dort schon drin?« 106
Ich starrte die Tür an. »Nein.« »Aber da ...« »Ich weiß«, flüsterte ich und stellte mir vor, wie Mary Gold‐ thorpe an ihrem eigenen Nylonstrumpf im Kamin hing und die Hirnmasse ihres Bruders an drei Wänden klebte. Ich sah auch Paula Garlands Mann in diesem Zimmer. »Ziemlich überflüssiges Unterfangen, wenn Sie mich fragen«, murmelte Enid Sheard. In der Küche machte ich die Hintertür auf, pustete die Kerze aus und stellte die Untertasse auf die Spüle. »Kommen Sie auf eine Tasse Tee zu mir«, sagte Enid Sheard schloß die Hintertür ab und steckte den Schlüssel in die Schür, zentasche. »Nein, danke. Ich habe Sie an diesem Sonntag schon über Gebühr in Anspruch genommen.« Das große Buch grub sich mir in den Bauch, »Mr. Dunford, Sie mögen ja vielleicht Ihre geschäftlichen An‐ gelegenheiten auf der Straße durchführen, ich aber nicht.« Ich lächelte. »Tut mir leid, ich verstehe nicht ganz.« »Mein Geld, Mr. Dunford.« »Ach ja, natürlich. Tut mir leid. Ich muß morgen noch einmal mit einem Photographen vorbeikommen. Ich werde Ihnen dann einen Scheck geben.« »Bares, Mr. Dunford. Mr. Sheard hatte kein Vertrauen zu den Banken und ich auch nicht. Also hundert Pfund in bar.« Ich ging den Gartenweg entlang. »Hundert Pfund in bar, Mrs. Sheard, abgemacht.« »Und ich verlasse mich darauf, daß Sie diesmal soviel Anstand besitzen und anrufen, ob es mir paßt«, rief Enid Sheard. »Also wirklich, Mrs. Sheard. Was denken Sie denn?« rief ich zurück und lief los; am Anfang der Hauptstraße kam gerade der Bus, der Reiseführer stieß mich in die Rippen. 107
»Hundert Pfund in bar, Mr. Dunford.« »Na, machst du dir ‘ ne schöne Zeit?« 20.00 Uhr. Presseclub, in Sichtweite der zwei steinernen Löwen, in der Innenstadt von Leeds. Kathryn bestellte sich einen Cider, ich hielt mich an meinem Glas fest. »Wie lange bist du schon hier?« fragte sie. »Seit sie aufgemacht haben.« Die Barkeeperin lächelte Kathryn an und formte tonlos: »sechs Uhr«, als sie ihr das Glas gab. »Wie viele hast du schon intus?« »Nicht genug.« Die Barkeeperin reckte vier Finger hoch. Ich schaute sie mürrisch an und sagte: »Komm, wir suchen uns einen Tisch.« Kathryn bestellte noch zwei Drinks und folgte mir in die dunkelste Ecke des Presseclubs. »Du siehst nicht besonders gut aus, mein Lieber. Was ist los ?« Ich seufzte und nahm mir eine Zigarette aus ihrer Schachtel. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« Die Jukebox spielte Life on Mars. »Laß dir Zeit. Ich hab’s nicht eilig«, sagte Kathryn und legte ihre Hand auf meine. Ich zog meine Hand weg. »Warst du heute im Büro?« »Nur ein paar Stunden.« »Wer war noch da?« »Hadden, Jack, Gaz ...« Scheiß Jack Whitehead. Nacken und Schultern taten mir vor Müdigkeit weh. »Was hatte der denn an einem Sonntag zu tun?« »Jack? Die Obduktion. Offenbar muß die ziemlich grausam gewesen sein. Richtig ...« Ihre Stimme versagte. 108
»Ich weiß.« »Hast du mit ihm gesprochen?« »Nein.« Ich zog eine weitere Zigarette aus ihrer Schachtel und zündete sie an der Glut der alten Kippe an. Bowie machte Platz für Elton. Kathryn stand auf und ging wieder an die Bar. George Greaves grüßte, eine Zigarette in der Hand, von einem Nebentisch. Ich nickte ihm zu. Langsam füllte sich der Laden. Ich lehnte mich zurück und starrte zum Lametta und zu der Lichterkette hinauf. »War Mr. Gannon schon da?« Ich beugte mich zu schnell vor, Magen und Kopf drehten sich mir. »Bitte?« »War Barry da?« »Nein«, sagte ich. Ein dürrer Kerl in einem kastanienbraunen Anzug machte kehrt und verschwand. »Wer war das?« fragte Kathryn und stellte die Gläser ab. »Keine Ahnung. Ein Kumpel von Barry. Die Obduktion wird die Titelstory?« Kathryn legte wieder ihre Hand auf meine. »Ja.« Ich bewegte meine Hand. »Scheiße. Gute Story?« »Ja.« Kathryn griff nach ihren Zigaretten, aber die Schachtel war leer. Ich zog eine Schachtel aus der Tasche. »Sonst noch was Großes?« »18 Tote bei einem Brand im Altersheim.« »Und das ist nicht die Titelstory?« »Nein. Clare.« »Verdammt. Sonst noch was?« »Der Vergewaltiger in Cambridge. Auslosung der Cup‐ Paarungen. Leeds gegen Cardiff.« 109
»Nichts über das Zigeunerlager, wenn man in die Stadt kommt, gleich neben der MI?« »Nein. Nicht, daß ich wüßte. Warum?« »Ach nichts. Ich hab gehört, da hätte es gebrannt oder so, das ist alles.« Ich zündete mir wieder eine Zigarette an und trank von meinem Pint. Kathryn nahm sich eine Zigarette aus meiner Schachtel. »Und was ist mit dem weißen Lieferwagen? Hast du da was ausgegraben?« fragte ich, steckte meine Zigaretten wieder ein und versuchte mich daran zu erinnern, was für einen Wagen Graham Goldthorpe gefahren hatte. »Tut mir leid, mein Lieber. Ich hatte keine Zeit. Ich glaube auch nicht, daß da was dran ist. Die Polizei hätte so etwas er‐ wähnt, und in den Berichten findet sich nichts darüber.« »Mr. Ridyard war sich hundertprozentig sicher.« »Na ja, vielleicht haben sie ihm nur irgendwas aufgetischt.« »Dafür sollten sie in der Hölle schmoren.« Kathryns Augen schimmerten im schwachen Licht; sie war kurz davor, in Tranen auszubrechen. »Tut mir leid«, sagte ich. »Schon gut. Hast du Barry getroffen?« Ihre Stimme zitterte. »Hm. Wieviel verrät er denn von der Obduktion?« Kathryn leerte ihr Glas. »Nichts. Was glaubst du denn, ver‐ dammt?« »Weißt du, ob Johnny Kelly heute für Trinity gespielt hat?« »Nein, hat er nicht.« »Hat Gaz gesagt, was passiert ist?« »Das weiß niemand.« »Und Gaz hat nicht gesagt, warum?« 110
»Das weiß auch niemand.« Kathryn hob ihr leeres Glas und stellte es wieder ab. »Und die Pressekonferenz ist morgen?« Kathryn nahm ihre leere Schachtel Zigaretten. »Ja, sicher.« »Wann?« »Um zehn, glaube ich. Ich weiß nicht genau.« Sie zog die Silberfolie aus der Packung. »Was hat Hadden über die Obduktion gesagt?« »Ich weiß es nicht, Eddie, ich habe keine Ahnung, ver‐ dammt.« Die Augen waren mit Tränen gefüllt, ihr Gesicht leuch‐ tete rot. »Edward, kann ich bitte eine Zigarette haben?« Ich zog meine Schachtel aus der Tasche. »Die letzte.« Kathryn schniefte laut. »Vergiß es. Ich hol’ neue.« »Stell dich nicht so an. Nimm sie.« »Bist du nach Castleford gefahren?« Sie wühlte in ihrer Han tasche herum. »Ja.« »Und hast du Marjorie Dawson gesehen? Wie ist sie so?« Ich zündete meine letzte Zigarette an. »Ich habe sie nicht ge‐ sehen.« »Was?« Kathryn kramte Wechselgeld für den Zigarettenaut maten zusammen. »Ich war bei Paula Garland.« »Himmelherrgott noch mal, das ist doch nicht dein Ernst, ver‐ dammt.« Ihre Mutter schlief, ihr Vater schnarchte, und ich hockte in ihrem Schlafzimmer auf den Knien. Kathryn zog mich hoch, führte meinen Mund an den ihrer und wir fielen aufs Bett. 111
Ich dachte an Mädchen aus dem Süden namens Sophie ode Anna. Ihre Zunge drückte sich fest gegen meine, der Geschmack ihrer Möse im Mund trieb sie stärker an. Ich befreite ihre Beine mit meinem linken Fuß aus ihrem Schlüpfer. Ich dachte an Mary Goldthorpe. Sie nahm meinen Schwanz und führte ihn ein. Ich zog ihn wie‐ der heraus und nahm die rechte Hand, um ihn im Uhrzeigersinn um ihre Schamlippen kreisen zu lassen. Ich dachte an Paula Garland. Kathryn bohrte mir ihre Fingernägel in den Arsch, wollte mich tief in sich spüren. Ich stieß hart zu; mein Magen fühlte sich plötzlich hohl an, und mir war schlecht. Ich dachte an Clare Kemplay. »Eddie«, flüsterte sie. Ich küßte sie und arbeitete mich vom Mund zum Kinn und weiter zu ihrem Hals vor. »Eddie?« Sie hörte sich verändert an. Ich küßte sie wieder und bewegte mich von Hals und Kinn zurück zu ihrem Mund. »Eddie!« Die Veränderung verhieß nichts Gutes. Ich hörte auf, sie zu küssen. »Ich bin schwanger.« »Was meinst du damit?« fragte ich, obwohl ich das verdammt genau wußte. »Ich bin schwanger.« Ich glitt aus ihr heraus und drehte mich auf den Rücken. »Was machen wir jetzt?« flüsterte sie und legte ein Ohr an meine Brust. »Laß es wegmachen.« Verdammt, ich war immer noch betrunken. Es war fast zwei Uhr früh, als mich das Taxi absetzte. 112
Scheiße, dachte ich, als ich die Hintertür aufschloß. Im Hinter‐ zimmer brannte immer noch Licht. Verdammt, ich brauchte einen Tee und ein Sandwich. Ich machte das Küchenlicht an und suchte im Kühlschrank nach Schinken. Scheiße, ich sollte wenigstens hallo sagen. Meine Mutter hockte in ihrem Schaukelstuhl und starrte den toten Fernseher an. »Möchtest du einen Tee, Ma?« »Dein Freund Barry ...« »Was ist mit ihm?« »Er ist tot, mein Lieber.« »Verdammt«, rutschte es mir heraus. »Du machst Witze.« »Nein, ich mache keine Witze.« »Wie? Was ist passiert?« »Autounfall.« »Wo?« »Morley.« »Morley?« »Die Polizei hat einfach nur Morley gesagt.« »Die Polizei?« »Sie hat vor ein paar Stunden angerufen.« »Warum denn hier?« »Sie haben deinen Namen und deine Anschrift in seinem Wagen gefunden.« »Namen und Anschrift?« Meine Mutter zitterte. »Ich habe mir furchtbare Sorgen ge‐ macht, Eddie.« Sie zog ihren Bademantel enger um sich und rieb sich immer und immer wieder den Ellbogen. »Tut mir leid.« »Wo bist du die ganze Zeit gewesen?« schrie sie mich an. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich sie das letzte Mal so 113
schreien gehört hatte. »Tut mir leid. « Ich wollte gerade meine Arme um sie legen, als der Kessel in der Küche zu pfeifen begann. Ich ging in die Küche und schaltete die Elektroplatte aus. Ich kehrte mit zwei Tassen Tee zurück. »Hier, dann fühlst d’ dich besser.« »Das ist doch der, der heute morgen hier war, oder?« »Ja.« »Er machte einen netten Eindruck.« »Ja.«
ZWEITER TEIL
Das Flüstern im Gras
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4. Kapitel «Die Bremsen haben versagt. Er ist direkt auf einen Laster aufge‐ 116
fahren. Bang!« Gilman pfefferte sich die Faust in die Handfläche. »Der Laster hatte Glasscheiben transportiert, oder?« flüsterte das neue Gesicht und setzte sich neben Tom. »Ja. Und eine der Scheiben hat ihm den Kopf abgetrennt, hab ich gehört«, sagte ein anderes neues Gesicht hinter uns. »Verdammt«, sagten wir alle. 16. Dezember 1974. Wakefield Police Station, Wood Street, Wakefield. Business as usual: Ein toter Kumpel und ein totes kleines Mädchen. Am schlimmsten aller jemals verregneten Montage sah ich auf die Uhr meines Vaters. Kurz vor zehn. Wir hatten uns im Parthenon oben in Westgate getroffen, Kaffee und Toast runtergewürgt und zugeschaut, wie die Fenster‐ scheiben beschlugen und der Regen fiel. Wir redeten über Barry. Um halb zehn rannten wir mit Konkurrenzblättern über den Köpfen durch den Regen zur Wood Street hinüber; Runde drei. Gilman, Tom und ich; dritte Reihe, aber das war uns scheiß‐ egal. Überregionale Blätter in der ersten Reihe. Vertraute Gesich‐ ter starrten mich frostig an. Mir war das scheißegal. Fast jedenfalls. »Was zum Teufel hat er in Morley gemacht?« fragte Gilman erneut und schüttelte den Kopf. »Du kennst doch Barry, hat wahrscheinlich nach Lucky Lu‐ can gesucht«, lächelte Tom aus Bradford. Eine Pranke landete auf meiner Schulter. »Voll bis an den Steh‐kragen, hab ich gehört.« 117
Alle drehten sich um. Scheiß Jack Whitehead saß direkt hinter mir. »Hau doch ab«, murmelte ich, ohne mich umzudrehen. »Und dir auch einen guten Morgen, du Sensationsreporter«, Whiskyatem strich mir über den Nacken. »Morgen, Jack«, sagte Tom aus Bradford. »Ihr habt heute früh einen ziemlichen Nachruf verpaßt. Kein Auge im Büro war mehr trocken, als Bill fertig war. Ziemlich be‐ wegend.« »Wirklich? Das ist ...« sagte Tom. Jack Whitehead beugte sich zu meinem Ohr vor, sprach aber genauso laut weiter. »Hätte dir auch einen Weg erspart, du Knall‐ tüte.« Ich schaute nach vorn. »Warum?« »Mr. Hadden möchte dich sprechen, du Knalltüte. Pronto, umgehend, auf der Stelle, und so weiter.« Ich konnte spüren, wie sich mir Jacks Grinsen in den Hinter‐ kopf bohrte. Ich stand auf, ohne Gilman oder Tom anzuschauen. »Ich ruf ihn an.« »Tu das. Ach, noch was, Knalltüte.« Ich drehte mich um und sah zu Jack herab. »Die Polizei sucht dich.« »Was?« »Du warst doch mit Barry saufen, hab ich gehört.« »Blödsinn.« »Wichtiger Zeuge. Wie viele habt ihr denn gekippt?« »Du kannst mich mal.« »Tja«, sagte Jack augenzwinkernd und sah sich im überfüllten Raum um. »Sieht so aus, als wärst du zur richtigen Zeit am rich‐ tigen Ort. Zur Abwechslung mal.« 118
Ich drückte mich an Tom vorbei und eilte, so schnell ich konnte, bis zum Ende der Sitzreihe. »Ach, noch was, Knalltüte.« Ich wollte mich nicht mehr umdrehen. Ich wollte nicht schon wieder dieses beschissene Grinsen sehen. Ich wollte nicht schon wieder fragen. »Was?« »Herzlichen Glückwunsch.« »Was?« fragte ich schon wieder und war gefangen zwischen den Beinen der Zeilenschinder und der Stühle. »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.« Ich war die einzige stehende Person im Raum, die nicht Tech‐ niker oder Bulle war, die einzige Person, die fragte: »Wie bitte?« »Das Tapsen von kleinen Füßchen und so weiter?« »Wovon zum Teufel redest du?« Alle im Raum Anwesenden sahen zwischen Jack und mir hin und her. Jack legte seine Hände in den Nacken und gab sein bestes Büh‐ nenlachen. »Nun sag einer, ich war’ nicht schneller als der Sensa‐ tionsreporter gewesen.« Alle lächelten mit Jack. »Deine Freundin, Dunston?« »Dunford«, erwiderte ich unwillkürlich. »Wie auch immer«, sagte Jack. »Was ist mit ihr?« »Hat Stephanie heute morgen erzählt, ihr sei schlecht. Aber das sei wohl etwas, an das sie sich gewöhnen müsse.« »Du machst Witze«, sagte Tom aus Bradford. Gilman sah zu Boden und schüttelte den Kopf hin und her. Ich, Edward Dunford, die glühendste Birne von Nordeng‐ land, stand dumm da, und alle Augen im Raum, überregionale 119
und lokale Presse, starrten mich an. »Und?« erwiderte ich lahm. »Ich hoffe doch, du wirst sie nicht entehren?« »Ehre? Was zum Henker weißt du schon über Ehre?« »Wer wird denn gleich in die Luft gehen?« »Leck mich.« Ich schob mich weiter die Reihe entlang. Es dau‐ erte eine Ewigkeit, bis ich am Ende angelangt war. Gerade lang, genug, daß Jack erneut einen Lacher plazieren konnte. »Also ich weiß ja nicht, diese Jugend von heute.« Der ganze Raum grinste und kicherte. »Ich glaube, Mrs. Whitehouse hat recht.« Der ganze Raum lachte mit Jack. »Diese freizügige Gesellschaft, das ist es doch. Ich, ich hab’s da eher mit Keith Joseph. Alle sterilisieren und fertig.« Der ganze Raum lachte schallend. Hundert Jahre später war ich am Ende der Reihe angelangt und trat in den Mittelgang. Jack Whitehead rief: »Und vergiß nicht, dich bei der Polizei zu melden.« Der ganze Raum johlte vor Vergnügen. Ich drückte mich an den zwinkernden Bullen und grinsenden Technikern vorbei und kam zum hinteren Ende des Raums. Ich wollte mich nur noch klein machen und dann sterben. Es gibt einen Knall. Der ganze Raum verstummt. Die Nebentür vorn schlägt zu. Ich drehe mich um. DCS George Oldman und zwei weitere Männer in Anzügen betreten den Raum. Ich drehe mich mit knallrotem Gesicht noch einmal um und werfe ihm einen letzten Blick zu. Oldman ist um hundert Jahre gealtert. 120
»Vielen Dank, daß Sie gekommen sind, meine Herren. Wir machen es so kurz wie möglich, da Sie ja alle wissen, wo wir jetzt lieber wären. Der Gentleman rechts neben mir ist Dr. Coutts, der Pathologe des Innenministeriums. Er hat die Obduktion durch‐ geführt. Zu meiner Linken sitzt Detective Superintendent Noble, der zusammen mit mir die Suche nach dem Mörder oder den Mördern der kleinen Clare Kemplay leiten wird.« DS Noble starrt mich unverwandt an. Ich weiß, was kommt; ich habe bis zum Ende meines Lebens mehr als genug davon. Ich drehe mich um und verschwinde durch die Doppeltür. »Und Barry soll betrunken gewesen sein?« Der Regen floß innen an der Telefonzellentür herab und bildete eine Pfütze rund um meine Schuhe. Ich starrte durch das dreckige Glas hinaus auf die gelben Lichter der Polizeistation Wood Street auf der anderen Straßenseite. Hadden klang, als sei er völlig am Boden zerstört. »Das hat die Polizei gesagt, ja.« Ich wühlte in meinen Taschen. »Jack auch.« Ich stand in der Pfütze, meine Schuhe zogen Wasser, ich jonglierte mit Streichhölzern, einer Zigarette und dem Telefon‐ hörer. »Wann sind Sie wieder im Büro?« Ich bekam die Zigarette an. »Irgendwann im Laufe des Nach‐ mittags.« Eine Pause, dann: »Ich muß mit Ihnen sprechen.« »Okay.« Eine längere Pause, dann schließlich: »Was ist gestern passiert, 121
Eddie?« »Ich war bei Enid Sheard. Sie hat einen verdammten Schlüssel zu Goldthorpes Haus.« Hadden, erheblich weiter als zehn Meilen entfernt: »Wirk‐ lich?« »Ja, aber ich brauche ein paar Photos. Können Sie Richard oder Norman veranlassen, mich dort zu treffen?« »Wann?« Ich schaute auf die Uhr meines Vaters. »Gegen zwölf. Und es wär’ nicht schlecht, wenn einer von ihnen das Geld mitbringt.« »Wieviel?« Ich starrte an der Polizeistation vorbei die Wood Street ent‐ lang, und schwarze Wolken machten den Morgen zum Abend. Ich holte tief Luft und fühlte einen stechenden Schmerz in der Brust. »Die gierige Schlampe will zweihundert.« Stille. Dann: »Eddie, was ist gestern passiert?« »Was?« »Bei Mrs. Dawson? Was war da los?« »Ich hab sie nicht gesehen.« Hadden sagte mit Verärgerung in der Stimme: »Aber ich hatte Sie doch ausdrücklich ...« »Ich bin im Wagen geblieben.« »Aber ich hatte Sie doch gebeten ...« »Ich weiß, ich weiß. Barry meinte, ich würde sie nur nervös machen.« Ich ließ meine Zigarette in die Pfütze fallen und glaubte mir die Geschichte schon fast selbst. Hadden am anderen Ende klang mißtrauisch. »Wirklich?« Die Zigarette zischte im Dreckwasser. »Ja.« »Wann sind Sie zurück?« »Irgendwann zwischen zwei und drei.« 122
»Ich muß Sie sprechen.« »Ja, ich weiß.« Ich legte auf. Ich sah, wie Gilman, Tom und der Rest der Bande aus der Po‐ lizeistation gerannt kamen und mit Jacken über den Köpfen zu ihren Autos stürmten. Auch ich zog mir die Jacke über den Kopf und machte mich bereit. Eine halbe Stunde später stank der Viva nach Schinken. Ich kurbelte das Fenster herunter und starrte die Brunt Street in Castleford endang. Meine Finger waren ganz fettig von dem Sandwich. Es brannte Licht im Vorderzimmer der Hausnummer 11 und spiegelte sich auf dem feuchten Bürgersteig. Ich trank einen Schluck heißen, süßen Tee. Das Licht ging aus und die rote Tür öffnete sich. Paula Garland trat unter einem geblümten Regenschirm aus dem Haus. Sie schloß ab und ging die Straße entlang auf den Viva zu. Ich kurbelte die Scheibe hoch und glitt auf dem Sitz tiefer. Ich hörte ihre hohen braunen Stiefel klackernd näherkommen. Ich schloß die Augen, schluckte und fragte mich, was zum Teufel ich nur sagen sollte. Die Stiefel kamen näher und wechselten auf die andere Stra‐ ßenseite. Ich setzte mich auf und schaute aus dem Rückfenster. Die braunen Stiefel, der beigefarbene Regenmantel und der geblümte Regenschirm verschwanden um die Ecke. 123
Barry Gannon hatte mal gesagt: »Alle großen Gebäude ähneln Verbrechen.« Den Notizen zufolge, die Hadden mir gegeben hatte, hatte John Dawson Shangrila 1970 entworfen und gebaut. Die archi‐ tektonische Fachpresse und die Öffentlichkeit waren voll des Lo‐ bes. Journalisten von Fernsehen, Zeitungen und Magazinen wa‐ ren ins Haus gebeten worden und breiteten das üppige Interieur pflichtbewußt auf Doppelseiten aus. Die Baukosten für den un‐ geheuren Bungalow, ein Geschenk des erfolgreichsten Nach‐ kriegsarchitekten Großbritanniens für seine Frau aus Anlaß ihres 25. Hochzeitstages, waren auf mehr als eine halbe Million Pfund geschätzt worden. Benannt worden war er nach der mythischen Stadt in Marjorie Dawsons Lieblingsfilm »Lost Horizon«. Shan‐ grila hatte die breite Öffentlichkeit in seinen Bann gezogen. Für kurze Zeit. Mein Vater hatte immer gesagt: »Wenn du den Künstler ken‐ nenlernen willst, schau dir die Kunst an.« Normalerweise meinte er damit Fußball und Kricket, Stanley Matthews oder Don Bradman. Ich erinnerte mich vage daran, daß meine Eltern eines Sonn‐ tags mit dem Viva einen Ausflug nach Castleford gemacht hatten. Ich stellte sie mir vor, wie sie hinfuhren, sich ein wenig unterhiel‐ ten, meistens aber Radio hörten. Wahrscheinlich hatten sie am: Fuße der Zufahrt geparkt und durch die Frontscheibe zur Villa hinaufgespäht. Hatten sie Sandwiches und eine Thermoskanne dabei? Hoffentlich nicht, verdammt. Nein, wahrscheinlich fuhren sie auf dem Weg zurück nach Ossett auf ein Eis bei Lumbs vor‐ 124
bei. Ich sah meine Eltern in ihrem Wagen auf der Barnsley Road sitzen und stumm ihr Eis essen. Als sie wieder zu Hause waren, hat sich mein Vater bestimmt hingesetzt und geschrieben. Am Vortag war er sicher erst bei Huddersfield Town gewesen, falls es ein Heimspiel gewesen war, und er hatte sicher erst darüber geschrieben, bevor er seinen bescheidenen Kommentar zu Shangrila und Mr. John Dawson abgab. 1970, ein Jahr vor der Fleet Street, hockte ich in meiner Bude mit Meeresblick in Brighton, überflog den wöchentlichen Brief aus dem Norden, den die Mädchen aus dem Süden namens Anna oder Sophie so herzig fanden, warf den halbgelesenen Brief in den Papierkorb und war heilfroh, daß die Beatles aus Liverpool stammten und nicht aus Lambeth. 1974 saß ich in demselben Wagen am Fuße derselben Zufahrt, starrte durch den Regen hinauf zu demselben weißgestrichenen, Bungalow und wünschte mir, ich hätte den bescheidenen Kom‐ mentar meines Vaters zu Shangrila und Mr. John Dawson gelesen. Ich öffnete die Wagentür, zog mir die Jacke über den Kopf und fragte mich, warum zum Teufel ich mir überhaupt die Mühe gemacht hatte, herzufahren. In der Auffahrt standen zwei Wagen, ein Rover und ein Jaguar, doch niemand ging an die Tür. Ich klingelte erneut und sah durch den Regen zum Viva, der hinter dem Garten mit dem Teich an der Straße stand. Ich glaubte, zwei, drei fette Goldfische im Teich zu erkennen. Ich fragte 125
mich, ob sie Regen mochten oder ob er ihnen völlig gleichgültig war. Ich wandte mich wieder zur Tür, um ein letztes Mal zu klin‐ geln, und sah mich direkt dem unfreundlichen Gesicht eines untersetzten Mannes gegenüber, braungebrannt und gekleidet, als wolle er zum Golfspielen gehen. »Ist Mrs. Dawson zufällig daheim?« »Nein«, sagte der Mann. »Wissen Sie, wann sie zurück ist?« »Nein.« »Wissen Sie, wo ich sie wohl antreffen kann?« »Nein.« »Ist Mr. Dawson daheim?« »Nein.« Irgendwie kam mir das Gesicht bekannt vor. »Ich möchte Sie nicht länger belästigen, Mr. Foster. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Ich drehte mich um und ging davon. Auf halbem Wege schaute ich zurück und sah, wie sich ein Vorhang bewegte. Ich wandte mich nach rechts und überquerte die weiche Rasenfläche zum Teich. Die Regentropfen bildeten wunderschöne Muster auf der Wasseroberfläche. Die leuchtend orangefarbenen Fische im Wasser rührten sich nicht. Ich drehte mich um und besah mir Shangrila im Regen. Die kurvigen weißen Gebäudefronten erinnerten an Austernschalen oder dieses blöde Opernhaus von Sydney. Und dann fiel mir der bescheidene Kommentar meines Vaters zu Shangrila und Mr. John Dawson wieder ein: Shangrila sieht aus wie ein schlummernder Schwan. Mittag. 126
Willman Close, Pontefract. Es klopfte an der beschlagenen Scheibe des Viva. Ich kehrte mit einem Schreck in die Wirklichkeit zurück und kurbelte die Scheibe herunter. Paul Kelly beugte sich herab. »Echt schlimm, das mit Barry, hm?« Er war außer Atem und hatte keinen Regenschirm dabei. »Ja«, sagte ich. »Hab gehört, ihm hat’s den Kopf glatt abgetrennt.« »Sagt man.« »Scheiß Tod. Und dann auch noch im bescheuerten Morley.« »Ja, ich weiß.« Paul Kelly grinste. »Hier drin stinkt’s, Mann. Was zum Teufel hast du denn getrieben?« »Hab’n Schinkensandwich gegessen. Vorsicht«, sagte ich, kurbelte das Fenster hoch, aber nicht ganz zu, und stieg aus. Scheiße. Paul Kelly, der Photograph. Cousin des berühmteren John und dessen Schwester Paula. Es regnete noch stärker, und mein verdammter Verfolgungs‐ wahn wuchs mit ihm: Warum Kelly, nicht Dicky oder Norm? Warum ausgerechnet heute? Zufall? »Welches Haus?« »Was?« fragte ich, schloß den Wagen ab und zog mir die Jacke über den Kopf. »Das Haus der Goldthorpes.« Kelly besah sich die Bunga‐ lows. »Welches ist es?« »Hausnummer 6.« Wir überquerten die Straße und gingen zu den Häusern am Ende der Sackgasse. Kelly zog einen großen japanischen Photoapparat aus der Tasche. »Und die alte Schachtel wohnt in der 5?« 127
»Ja. Hat Hadden dir das Geld für sie mitgegeben?« »Ja«, antwortete Kelly und verbarg die Kamera in seiner Jacke. »Wieviel?« »200.« »In bar?« »Genau«, sagte Kelly und klopfte sich auf die Jackentasche. »Halbe‐halbe?« fragte ich, als ich an die Glastür klopfte. »Das wäre sehr nett, mein Herr«, sagte Kelly, als die Tür auf‐ ging. »Guten Morgen, Mrs. Sheard.« » Guten Tag, Mr. Dunford und ...« »Mr. Kelly«, sagte Mr. Kelly. »Eine erheblich zivilisiertere Stunde, finden Sie nicht, Mr. Dunford?« Enid Sheard lächelte Paul Kelly an. »Finde ich auch«, sagte Kelly und erwiderte ihr Lächeln. »Möchten die Herren einen Tee?« Schnell ging ich dazwischen: »Vielen Dank, aber ich fürchte, unsere Zeit ist ein wenig knapp.« Enid Sheard verzog den Mund. »Nun, dann bitte hier entlang, meine Herren.« Sie führte uns den schmalen Pfad zwischen den beiden Häu‐ sern entlang. Als wir an die Hintertür zur Hausnummer 6 kamen, erschrak Kelly über das plötzliche Bellen im Haus nebenan. »Hamlet«, sagte ich. »Mein Geld, Mr. Dunford?« fragte Enid Sheard und hielt den Schlüssel fest umklammert. Paul reichte ihr einen einfachen braunen Umschlag. »Hundert Pfund in bar.« »Vielen Dank, Mr. Kelly«, sagte Enid Sheard und schob das Geld in ihre Schürzentasche. 128
»Das Vergnügen ist ganz unsererseits«, erwiderte ich. Sie schloß die Hintertür zum Haus Willman Close 6 auf. »Ich stelle den Wasserkessel an, dann können die Herren anklopfen, wenn sie soweit sind.« »Danke. Das ist sehr freundlich«, sagte Kelly, und wir gingen hinein. Ich machte ihr die Tür vor der Nase zu. »Du solltest besser aufpassen. Jetzt, wo du sie angetörnt hast, solltest du besser auch wissen, wie du sie wieder beruhigst«, lachte ich. »Was du redest«, erwiderte Paul lächelnd, doch plötzlich. machte er ein ernstes Gesicht. Ich hörte ebenfalls auf zu lachen, starrte die Kerze auf der Spüle an, dachte an die Kanäle des Nordens und fragte mich, wo zum Teufel das Buch abgeblieben war. Bei Kathryn. »Die Höhle des Rattenfängers«, flüsterte Kelly. »Ja. Sieht nach nichts Besonderem aus, oder?« »Wie viele Bilder brauchst du?« Kelly schraubte einen Blitz an seine Kamera. »Ich denke, ein paar von jedem Zimmer und ein paar mehr vom Vorderzimmer.« »Von jedem Zimmer?« »Na ja, mal unter uns, ich denke darüber nach, ein Buch über das hier zu schreiben, also brauche ich ein paar gute Bilder. Ich beteilige dich, wenn du willst.« »Ehrlich? Klasse, Eddie.« Ich hielt mich im Schatten, während Kelly von der Küche in den Flur und zur Tür zu Mary Goldthorpes Zimmer ging. »Und das ist ihr Zimmer?« »Ja«, sagte ich und schob mich an Kelly vorbei. Ich ging zur Kommode und zog die rechte obere Schublade 129
auf. Ich wühlte durch die Unterwäsche, bis ich fand, wonach ich suchte. Ich drapierte einen einzelnen Nylonstrumpf über die Kommode und haßte mich für meine Kaltschnäuzigkeit. »Zauberhaft«, schnalzte Kelly, als ich ihm Platz machte. Ich sah in den Hintergarten und den Regen hinaus und dachte an meine eigene Schwester. »Glaubst du, die Bullen waren da dran?« »Wahrscheinlich.« Ich legte den Strumpf zurück und schob die Schublade mit Mary Goldthorpes Unterwäsche zu. »Dreckskerle.« Ich ging voran in Grahams Zimmer, zog ein Buch aus dem Regal und schlug es auf. »Versuch mal, davon ein gutes Bild zu machen«, sagte ich und wies auf das Exlibris mit der Eule und der Drohung. »Dieses Buch gehört Graham und Mary Goldthorpe. Stehlen Sie es nicht, sonst werden Sie gejagt und getötet«, las Kelly. »Wahnsinn.« »Mach auch eins von dem Bücherregal und allem.« »Ein paar echte Bestseller darunter«, lachte Kelly. Ich ging über den kleinen dunklen Flur und machte die Tür zum Vorderzimmer auf. Als erstes fiel mein Blick auf den Kamin. Kelly folgte mir auf den Fersen, Photoblitze schossen durch das dunkle Zimmer. »Und hier hat er es gemacht?« »Ja.« Nackt und erdrosselt. »Im Kamin, oder?« »Ja.« Im Kamin erhängt. »Willst du davon auch ein paar Bilder?« »Ja.« 130
Die Schrotflinte im Mund. »Da kriegt man ja ‘ne Gänsehaut, ehrlich.« »Ja«, sagte ich in die Leere über der Feuerstelle. Den Finger am Abzug. »Warum hat er das nur gemacht?« »Keine Ahnung.« Kelly schnaubte ungläubig: »Irgendeine Idee mußt du doch haben, du bist doch seit wer weiß wie lange an dieser Geschichte dran.« »Die Polizei geht davon aus, daß er den Lärm haßte. Stille wollte.« »Na, die hat er ja nun.« »Ja.« Ich sah Kelly beim Photographieren zu, weiße Sterne seh sen durchs Zimmer. Paulas Mann hatte sich auch erschossen. »Fragt man sich doch, wozu man heute noch Kamine braucht«, sagte Kelly immer noch photographierend. »Ach, sind doch ganz nützlich.« »Schon, aber nur, wenn du der blöde Weihnachtsmann bist.« »Eine Frage des Stils?« meinte ich. »Na, die hier haben jedenfalls Stil. Weißt du noch, was für Riesentamtam darum gemacht wurde?« »Worum?« »Um die Häuser?« »Nein.« Kelly legte einen neuen Film ein. »Mann, ein Riesenwirbel war das. Ich weiß es noch, weil wir meinen Großeltern auch eins von denen hier oder oben in Castleford kaufen wollten.« »Ich steh auf der Leitung.« »Das sollten eigentlich Häuser für Senioren werden, deshalb 131
sind das alles eingeschossige Bungalows. Die verdammte Bezirks‐ Verwaltung hat sie jedoch alle verkauft. Ich sag dir was, die Gold‐ thorpes müssen ziemlich viel Knete gehabt haben.« »Was sollten die denn kosten?« »Weiß ich nicht mehr. Billig waren sie jedenfalls nicht, soviel weiß ich. Entworfen von John Dawson. Frag doch mal die Alte von nebenan. Ich wette, die kann dir auf den Penny genau sagen, was die gekostet haben.« »John Dawson hat diese Bungalows entworfen?« »Ja, Barrys Kumpel. Mein Vater glaubt, die Verwaltung sei erst auf die Idee gekommen, sie zu verkaufen, weil alle so ein Geschiß um die Entwürfe machten.« »Verdammt.« »Barry war immer darauf rumgeritten. Das war total daneben, und alle wußten es.« »Ich nicht.« »Na ja, hier war das nichts Neues, ich nehme nicht an, daß sich das im Süden rumgesprochen hat.« »Nein, wohl nicht. Wann wurden die Häuser denn gebaut?« »Vor fünf, sechs Jahren. Etwa zur selben Zeit, als ...« Kelly verstummte. Ich wußte, woran er dachte. Wir standen in dem dunklen kalten Zimmer im Blitzlichtha‐ gel und redeten erst wieder, als er fertig war. »Also, das war’s, es sei denn, dir fallt noch was ein«, sagte Kelly und wühlte in seiner Kameratasche. »Ein paar Außenaufnahmen vielleicht?« Ich sah hinaus in den Regen. Ein Wagen bog in die Sackgasse ein. 132
Kelly schaute zum Vorderfenster hinaus. »Ich muß vielleicht bei schönerem Wetter noch mal wiederkommen, aber ich ver‐ suche.« Der Wagen hielt vor dem Haus. »Scheiße«, sagte ich. »Verdammt«, meinte Kelly. »Genau.« Zwei Polizeibeamte stiegen aus dem blau‐weißen Wagen. Die beiden Beamten kamen gerade den Weg herauf, als wir das Haus verließen. Der eine war groß und trug einen Bart, der an‐ dere war klein mit einer dicken Nase. Sie hätten auch als Lach‐ nummer auftreten können, nur daß keiner von ihnen lachte und: sie richtig fies aussahen. Nebenan fing Hamlet an zu bellen, und der kleine Beamte fluchte. Kelly zog die Tür hinter uns zu. Keine Spur von Enid Sheard. Es pißte, und wir konnten uns nirgendwo unterstellen. »Was gibt’s, Jungs?« fragte der große Beamte mit dem Bart. »Wir sind von der Post«, antwortete ich und warf Kelly einen Blick zu. Der Kurze grinste. »Und was zum Teufel soll das heißen?« Ich suchte in meiner Jacke nach einem Ausweis. »Wir sind an einer Story dran.« »Na, so was«, sagte der Kurze, zog seinen Notizblock hervor und schaute zum Himmel hinauf. »Stimmt«, sagte Kelly und zeigte seinen Presseausweis vor. Der Große nahm beide Ausweise, und der andere schrieb die Einzelheiten ab. »Und wie seid ihr ins Haus gekommen?« Der Kurze ließ mir keine Zeit zu antworten. »Ach Scheiße«, sagte er. »Mach schon die Tür auf. Ich will nicht in diesem Scheiß‐ regen stehen.« Er riß das durchweichte Stück Papier ab, auf das er 133
hatte schreiben wollen, und zerknüllte es. »Das kann ich nicht«, sagte ich. Der Große hatte aufgehört zu grinsen. »Du kannst schon, ver‐ dammt, und du wirst es auch.« »Das ist ein Sicherheitsschloß. Wir haben keinen Schlüssel.« »Und du bist der verdammte Weihnachtsmann, stimmt’s? Und wie zum Henker seid ihr da reingekommen?« Ich pokerte und sagte: »Es hat uns jemand reingelassen.« »Hör auf, uns vollzusülzen. Wer, verdammt?« »Der Familienanwalt der Goldthorpes«, meinte Kelly. »Und wer ...?« Ich versuchte, nicht allzu selbstgefällig zu grinsen. »Edward Clay and Son, Towngate, Pontefract.« »Du verdammter Klugscheißer«, spuckte der Große. »He, bist du nicht mit Johnny Kelly verwandt?« fragte der Kurze und reichte uns die Ausweise zurück. »Cousin zweiten Grades.« »Ihr verdammten Iren vermehrt euch wie die Karnickel.« »Hat sich verdrückt, hm? Hat die Biege gemacht.« Kelly entgegnete nur: »Keine Ahnung.« Der Große reckte den Kopf in Richtung Straße. »Verpiß dich und treib ihn besser bis nächsten Sonntag wieder auf.« »Du nicht, du Weihnachtsmann«, sagte der Kurze und bohrte mir einen Finger in die Brust. Kelly machte kehrt. Ich warf ihm die Wagenschlüssel zu. Er zuckte die Schultern und lief zum Wagen, wir drei blieben an der Hintertür stehen, der Regen stürzte vom Dach des Bungalows, wir hörten Hamlet bellen und warteten darauf, daß jemand was sagte. Der Kurze ließ sich viel Zeit damit, sein Notizbuch einzu‐ stecken. Der Große zog die Handschuhe aus, dehnte die Finger, 134
knackte mit den Knöcheln und zog die Handschuhe wieder an. Ich wippte auf den Fersen, Hände in den Taschen, Regen tropfte mir von der Nase. Nach ein paar Minuten von diesem Scheiß fragte ich: »Und was nun?« Der Große streckte urplötzlich beide Arme aus und drückte mich gegen die Tür. Er packte mich mit der einen Hand an der Kehle und drückte mit der anderen mein Gesicht platt gegen das Holz. Meine Füße berührten nicht mehr den Boden. »Hör auf, Leute zu belästigen, die nicht belästigt werden wol‐ len«, flüsterte er mir ins Ohr. »Das ist nicht nett«, zischte mir der Kurze, der auf Zehen‐ spitzen stand, ins Gesicht. Ich stand mit angespanntem Magen da und wartete auf den Schlag. Eine Hand umschloß meine Eier und streichelte sie sanft. »Du solltest dir ein Hobby zulegen.« Der Kurze drückte fester zu. »Vögel beobachten, das ist ein nettes, ruhiges Hobby.« Ein Finger drückte durch meine Hose und schob sich mir in den Hintern. Ich wollte kotzen. »Oder photographieren.« Er ließ meine Eier los, gab mir einen Kuß auf die Wange und ging pfeifend davon, We Wish you a Merry Christmas and a Happy New Year. Hamlet fing wieder an zu bellen. Der Große drückte mein Gesicht noch fester gegen die Tür. »Und denk’ dran: ›Big Brother is watching you.‹« Jemand hupte. Er ließ mich zu Boden fallen. »Ununterbrochen.« Wieder hupte jemand, ich hockte keuchend auf den Knien im 135
Regen und sah, wie mit Stahlkappen versehene Stiefel der Größe 45 den Weg hinuntergingen und in den Polizeiwagen stiegen. Die Reifen setzten sich in Bewegung, dann waren Stiefel Wagen verschwunden. Ich hörte, wie eine Tür geöffnet wurde und Hamlet laut bellte. Ich stand auf, rannte über die Sackgasse, rieb mir den Nacken und hielt mir die Eier. »Mr. Dunford! Mr. Dunford!« rief Enid Sheard. Kelly hatte den Motor angeworfen. Ich öffnete die Beifahrer‐ tür und sprang in den Wagen. »Scheiße«, sagte Kelly und trat aufs Gas. Ich drehte mich um, Eier und Gesicht brannten noch immer und ich sah Enid Sheard, die uns den ganzen Wilman Close hinterherkreischte. »Hör auf, Leute zu belästigen, die nicht belästigt werden wollen.« Kelly richtete seinen Blick auf die Straße. »Gar kein so schlechter Rat, ehrlich gesagt.« »Was meinst du damit?« fragte ich, obwohl ich wußte, was er meinte. »Ich hab gestern abend mit Paula gesprochen. Es ging ihr ziemlich schlecht, weißt du?« »Ich weiß. Es tut mir leid«, sagte ich, sah zu dem Wagen vor uns und fragte mich, warum Kelly bis jetzt damit gewartet hatte. »Du hättest mich erst fragen können.« »Ich wußte nichts davon. Es war Barrys Idee, nicht meine.« »Sag das nicht, Eddie. Das ist nicht recht.« »Nein, wirklich. Ich hatte keine Ahnung, daß ihr verwandt seid. Ich ...« 136
»Du tust nur deinen Job, ich weiß. Aber ehrlich gesagt, weißt du, keiner von uns hat das bis jetzt richtig verkraftet. Und dann das andere Mädchen, da kommt einfach alles wieder hoch.« »Ich weiß.« »Und jetzt noch all der Mist mit Johnny. Es hört einfach nie auf.« »Ihr habt nichts von ihm gehört?« »Keinen Mucks. « »Tut mir leid, Paul«, sagte ich. »Sicher, alle denken, es geht um irgendeine Frau oder er ist mal wieder ausgeflippt, aber ich weiß nicht. Ich hoffe es jedenfalls.« »Aber du glaubst es nicht?« »Johnny hat sich das alles sehr zu Herzen genommen, weißt du, das mit Paula und Geoff. Er liebt Kinder. Ich mein’, er ist selbst noch ein gottverdammtes Kind. Er hing richtig an Jeanie.« »Tut mir leid.« »Ich weiß. Ich wollte erst nichts sagen, aber ...« Ich wollte nichts davon hören. »Wo, glaubst du, ist er?« Kelly sah mich an. »Wenn ich das wüßte, dann würd’ ich dich nicht wie bescheuert durch die Gegend kutschieren, als war’ ich dein beknackter Chauffeur, oder?« Er versuchte zu lächeln, aber es wollte nicht recht gelingen, »Tut mir leid«, sagte ich zum tausendsten Mal. Ich starrte zum Fenster hinaus auf die braunen Felder mit den einsamen braunen Bäumen und den schmalen Streifen brauner Hecke. Wir näherten uns dem Zigeunerlager. Kelly schaltete das Radio an, die Bay City Rollers sangen kurz All of Me Loves All of You, bevor er wieder ausschaltete. Ich sah an Kelly vorbei, als die ausgebrannten Wohnwagen vorbeiflogen, und grübelte, was ich sagen sollte. 137
Keiner sprach ein Wort, bis wir nach Leeds kamen und unter den Bögen in der Nähe der Post parkten. Kelly schaltete den Motor aus und zückte seine Brieftasche. »Und was hast du damit vor?« »Fifty‐fifty?« »Okay«, sagte er und zählte die Zehner ab. Er gab mir fünf. »Danke«, sagte ich. »Was ist mit deinem Wagen?« »Hadden meinte, ich solle den Bus nehmen. Du würdest ins Büro kommen und könntest mich dann mitnehmen.« Scheiße, dachte ich. Das ist seine Art. »Warum?« »Ach nichts«, sagte ich. »Nur so ‘ne Frage.« »Wir erleben eine Blüte des Enthüllungsjournalismus, und Barry Gannon war einer der Männer, die uns diesen Fortschritt erst ermöglicht haben. Wo er Ungerechtigkeit sah, forderte er Gerech‐ tigkeit ein. Wo er Lügen sah, forderte er Wahrheit ein. Barry Gan‐ non stellte großen Männern große Fragen, weil er überzeugt war, daß die britische Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, alles zu er‐ fahren. Barry Gannon hat mal gesagt, daß uns die Wahrheit nur reicher machen kann. Uns alle, die diese Wahrheit anstreben, hat Barry Gannons frühzeitiges Ableben ärmer gemacht.« Bill Hadden, der hinter seinem Schreibtisch klein und aus‐ gelaugt wirkte, nahm die Brille ab und schaute auf. Ich nickte, dachte, daß Barry Gannon bei einer Menge Bier eine Menge ge‐ sagt hatte, unter anderem einen Spruch, den er in Indien aufge‐ schnappt hatte und bei dem es um einen Elefanten, drei Blinde 138
und die Wahrheit ging. Nach einer angemessenen Kunstpause fragte ich: »Steht das in der heutigen Ausgabe?« »Nein. Wir warten damit bis nach der Feststellung der Todes‐ ursache.« »Warum?« »Nun, Sie wissen ja, wie das ist. Man weiß nie, was dabei raus‐ kommt. Wie finden Sie den Nachruf?« »Sehr gut.« »Sie glauben nicht, daß er ein wenig zu panegyrisch geworden ist, oder?« »Absolut nicht«, antwortete ich; dabei hatte ich nicht den leisesten Schimmer, was panegyrisch überhaupt bedeutete. »Gut«, sagte Hadden und legte das getippte DIN‐A4‐Blatt beiseite. »Sie haben sich also mit Paul Kelly getroffen?« »Ja.« »Und Sie haben Mrs. Sheard das Geld gegeben?« »Ja«, sagte ich viel zu fröhlich, fragte mich, ob die verdammte Alte wohl Hadden wegen der Polizei anrufen und über Geld reden würde. »Er hat die Bilder und alles ?« »Ja.« »Sind Sie mit Ihrem Artikel fertig?« »Fast«, log ich. »Was haben Sie noch?« »Nicht viel«, log ich erneut und dachte an Jeanette Garland, Susan Ridyard, Clare Kemplay, an brennende Zigeunerlager, Die Kanäle des Nordens, Arnold Fowler und seine flügellosen Schwäne, an Dick und Doof von der Polizei und an die letzten Worte von Barry Gannon. 139
»Hm«, machte Hadden; hinter ihm lag die Stadt bereits im Dunklen. »Ich habe am Samstag mit den Eltern von Susan Ridyard geredet, wie wir es besprochen hatten. Die menschliche Seite der Story, wissen Sie noch?« »Vergessen Sie das«, unterbrach mich Hadden, stand auf und ging auf und ab. »Ich möchte, daß Sie sich auf Clare Kemplay konzentrieren.« »Aber ich dachte, Sie ...« Hadden hob die Hand. »Wir brauchen erheblich mehr Hinter‐ grundmaterial, wenn wir diese Story am Leben erhalten wollen.« »Aber ich dachte, Sie hätten gesagt, das sei jetzt Jacks Story?« Ich hörte mich schon wieder so weinerlich an. Haddens Gesicht verdüsterte sich. »Und ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, daß Sie die Geschichte zusammen machen?« Ich setzte nach. »Nun, bisher scheint es mit der Zusammen‐ arbeit nicht gerade zu klappen.« »Hm«, machte Hadden und nahm Barrys Nachruf in die Hand. »Die Zeiten sind für uns alle nicht einfach. Sie haben sicher Ihre Gründe, aber Sie waren nicht immer zu erreichen, als wir Sie brauchten.« »Tut mir leid«, sagte ich und dachte, was für ein Arschloch. Hadden setzte sich wieder. »Wie schon gesagt, Sie haben Ihre eigenen Probleme und Schicksalsschläge, ich weiß. Der Punkt ist, Jack kümmert sich um die tägliche Berichterstattung, und Sie kümmern sich um die Hintergrundinformationen.« 140
»Hintergrundinformationen ? « »Das können Sie doch am besten. Jack hat erst heute gesagt, was für einen tollen Schriftsteller Sie abgeben würden.« Hadden lächelte. Ich konnte mir die Szene bildhaft vorstellen. »Und das war als Kompliment gemeint, nicht wahr?« Hadden lachte. »Aus dem Munde von Jack Whitehead schon.« »Ach ja?« sagte ich lächelnd und fing an, von hundert an rück‐ wärts zu zählen. »Jedenfalls wird Ihnen das Spaß machen. Ich möchte, daß Sie dieses Medium aufsuchen ...« 86, 85. »Medium?« »Ja, Medium, eine Wahrsagerin«, betonte Hadden und wühlte in einer der Schubladen in seinem Schreibtisch. »Behauptet, sie habe die Polizei zu Clares Leiche geführt und sei gebeten worden, bei der Suche nach dem Mörder zu helfen.« »Und Sie wollen, daß ich sie interviewe?« fragte ich seufzend, 39,38. »Ja. Hier: Appartement 5, 28 Blenheim Road, Wakefield. Direkt hinter dem Gymnasium.« Wieder mal auf dem Pfad der Erinnerungen. 24,23. »Wie heißt sie?« »Mandy Wymer. Nennt sich selbst Mystic Mandy.« Ich gab auf. »Werden wir ihre Hand versilbern?« »Unglücklicherweise sind die Dienste einer Frau mit Mandys Talenten nicht billig zu haben.« »Wann?« »Morgen. Ich habe Ihnen einen Termin um ein Uhr besorgt.« »Danke«, sagte ich und stand auf. Ich war völlig verwirrt. Hadden tat es mir nach. »Sie wissen, daß die Untersuchung morgen stattfindet?« 141
»Welche?« »Barrys.« »Morgen?« »Ja. Ein gewisser Sergeant Fraser möchte mit Ihnen sprechen. Er sah auf seine Uhr. »In etwa fünfzehn Minuten in der Lobby.« Noch mehr Bullen. Ich spürte, wie mir die Eier schrumpften. »Okay.« Ich öffnete die Tür und dachte, hätte schlimmer; kommen können, er hätte Mrs. Dawson erwähnen können, die Szene mit den beiden Bullen in Pontefract, oder gar Kathryn Taylor, verdammt. »Und vergessen Sie Mystic Mandy nicht.« »Wie könnte ich?« Ich schloß die Tür. »Das ist doch was für Sie.« »Tut mir leid, daß ich Sie gerade jetzt belästigen muß, Mr. Dun‐, ford, aber ich versuche mir ein genaues Bild von Mr. Gannons gestrigem Tag zu machen.« Der Sergeant war jung, freundlich, blond. Ich dachte erst, er wolle mich verarschen, und sagte: »Er hat mich etwa gegen zehn Uhr abgeholt ..« »Tut mir leid, Sir. Wo war das ?« »10 Wesley Street, Ossett.« »Danke.« Er notierte sich das und schaute wieder auf. »Wir fuhren in Barrys, ähm, Mr. Gannons Wagen nach Castle‐ ford. Ich interviewte eine gewisse Mrs. Garland, wohnhaft in Brunt Street, Castleford, und ...« »Paula Garland?« »Ja.« Sergeant Fraser hatte aufgehört, mitzuschreiben. »Wie Jeanette ;
Garland?« »Ja.« 142
»Ich verstehe. Und Sie waren mit Mr. Gannon dort?« »Nein. Mr. Gannon war mit Mrs. Marjorie Dawson verab‐ redet. Wohnhaft Shangrila, Castleford. Wie in John Dawson.« »Danke. Er hat Sie also abgesetzt?« »Ja.« »Und da haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?« Ich hielt kurz inne und sagte dann: »Nein. Ich habe mich mit Barry im Swan in Castleford getroffen, irgendwann zwischen eins und zwei. Ich kann Ihnen nicht ganz genau sagen, wann.« »Hat Mr. Gannon getrunken?« »Ein halbes Bier, vielleicht. Höchstens ein Pint.« »Und dann?« »Dann ist jeder seiner Wege gegangen. Er hat mir nicht gesagt, wohin er wollte.« »Und Sie?« »Ich bin mit dem Bus nach Pontefract gefahren. Ich hatte noch ein weiteres Interview zu führen.« »Und wann, sagen Sie, haben Sie Mr. Gannon zum letzten Mal gesehen?« »Das muß spätestens Viertel vor drei gewesen sein«, sagte ich, und mir fiel ein, daß er mir gesagt hatte, Marjorie Dawson habe gemeint, sein Leben sei in Gefahr, und daß ich mir zu dem Zeit‐ punkt nichts dabei gedacht hatte und es nun auch für mich be‐ halten würde. »Und Sie haben keine Ahnung, wohin er gefahren ist?« »Nein. Ich bin davon ausgegangen, daß er in die Redaktion zurückwollte.« »Warum dachten Sie das?« »Aus keinem besonderen Grund. Ich hatte es einfach nur an‐ genommen. Das Interview niederschreiben.« »Sie haben keine Ahnung, warum er nach Morley wollte?« 143
»Nein.« »Ich verstehe. Danke. Sie sind verpflichtet, an der morgigen Untersuchung teilzunehmen, das wissen Sie.« Ich nickte. »Das geht alles ziemlich schnell, oder?« »Wir haben fast alle Einzelheiten beisammen, und unter uns gesagt, denke ich, die Familie ist darauf bedacht, na, Sie ver‐ stehen ... Wo doch Weihnachten kommt und all das.« »Wo findet die Untersuchung statt?« »Morley Town Hall.« »In Ordnung«, sagte ich. Ich dachte an Clare Kemplay. Sergeant Fraser klappte sein Notizbuch zu. »Man wird Ihne ungefähr dieselben Fragen stellen. Wahrscheinlich wird man sich ein wenig stärker auf den Alkoholkonsum konzentrieren. Sie wissen schon.« »Hatte er einen sitzen?« »Ich glaube, ja.« »Und die Bremsen?« Fraser zuckte mit den Schultern. »Haben versagt.« »Und das andere Fahrzeug?« »Das stand.« »Und stimmt es, daß es Fensterglas geladen hatte?« »Ja.« »Und eine Glasplatte ist durch die Windschutzscheibe ge‐ donnert?« »Ja.« »Und ...« »Ja.« »Also war er sofort tot?« »Ich denke schon, ja.« »Scheiße.« »Ja.« 144
Wir waren beide blaß geworden. Ich starrte zum Foyer hinaus auf den verregneten Feierabendverkehr, die Abblend‐ und Brems‐ lichter, die aufflammten und verloschen, gelb und rot, gelb und rot. Sergeant Fraser blätterte durch sein Notizbuch. Nach einer Weile stand er auf. »Sie wissen nicht zufällig, wo ich Kathryn Taylor erreichen kann, oder?« »Wenn sie nicht in der Redaktion ist, ist sie wahrscheinlich nach Flause gegangen.« »Bisher habe ich sie weder hier noch dort antreffen können.« »Ich bezweifle sowieso, daß sie irgendwas beisteuern kann. Sie war den Großteil des Abends mit mir zusammen.« »Das hat man mir gesagt. Aber man kann ja nie wissen.« Ich erwiderte darauf nichts. Der Sergeant setzte seine Mütze auf. »Wenn Sie mit Miss Taylor sprechen sollten, sagen Sie ihr bitte, sie soll sich mit mir in Verbindung setzen. Ich bin über das Revier in Morley jederzeit erreichbar.« »Okay.« »Vielen Dank, daß Sie sich die Zeit genommen haben, Mr. Dunford.« »Danke.« »Bis morgen.« »Ja.« Ich sah ihm nach, wie er zur Rezeption ging, etwas zu Lisa sagte, die hinter der Theke stand, und dann durch die Drehtür verschwand. Ich zündete mir eine Zigarette an; mein Herz raste mit 145 km/h. Die nächsten drei Stunden saß ich an meinem Schreibtisch und 145
arbeitete. Es gibt keine ruhige Minute in der Redaktion einer Lokal‐ zeitung mit Morgen‐ und Abendausgabe, aber heute herrschte nahezu eine Grabesstille, alle verpißten sich so früh wie möglich. Hier ein Goodbye, da ein Goodbye, und Ein paar von uns sind später im Presseclub, wenn du Lust hast. Kein Barry Gannon. Ich tippte und tippte; den ersten richtigen Fall, den ich hatte, seit mein Vater gestorben und Clare Kemplay verschwunden war. Ich mußte lange nachdenken, bis mir einfiel, wann ich das letzte Mal an diesem Schreibtisch gesessen und einfach nur gearbeitet hatte. Da war es wohl um Autodiebstähle gegangen, Kids, die mal eine Spritztour machen wollten. Aber ich konnte mich nicht er‐ innern, ob mein Vater da noch im Krankenhaus gewesen oder schon wieder nach Hause verlegt worden war. Kein Ronald Dunford. Gegen 18.00 Uhr brachte Kelly die Photos rauf, wir gingen sie durch und legten die besten beiseite. Kelly brachte meinen Arti‐ kel und die Bilder zur Schlußredaktion, dann zum Layout. Dabei gingen gerade mal fünfzig Wörter verloren, was an einem guten Tag Anlaß für ein großes Glas mit Kathryn im Presseclub gewesen wäre. Aber es war kein guter Tag. Keine Kathryn Taylor. Ich war bei der fetten Stephanie vorbeigegangen und hatte ihr gesagt, sie solle ihr loses Mundwerk zügeln, aber sie hatte gar nicht verstanden, wovon zum Teufel ich eigentlich redete, nur 146
daß Jack Whitehead ja offenkundig recht habe, was mich anbelangte. Wir sind alle nervös, aber ich sollte mich endlich mal zusammen‐ reißen. Jack hatte recht, was mich anbelangte, und das hatte sie immer und immer wieder gesagt, zu mir und zu jedem im Um‐ kreis von zehn Meilen. Auch kein verdammter Jack Whitehead? Pech gehabt. Auf jedem Schreibtisch lag ein Exemplar der Abendausgabe. F AN GT D IE B ES TI E.
Riesenschlagzeile auf der Titelseite der Evening Post. V ON JACK WH ITE HEA D, GER I CH TSR EP ORTER DES JAHRES I968 & 1971.
Scheiße. Die Obduktion der Leiche der zehnjährigen Clare Kemplay er‐ gab: sie wurde gefoltert, vergewaltigt und dann erdrosselt. Die West Yorkshire Police machte keine genaueren Angaben zu den Verlet‐ zungen, doch Détective Chief Superintendent George Oldman, der im Verlauf des Vormittages eine Pressekonferenz einberufen hatte, nannte das ungeheure Ausmaß der zum Tode führenden Verletzun‐ gen »unfaßbar« und hielt dies für »den grauenhaftesten Fall, den ich oder sonst irgendein Angehöriger der West Yorkshire Metropolitan Force jemals erlebt hat«. Dr. Alan Coutts, der Pathologe des Innenministeriums, der die Obduktion durchführte, sagte: »Mir fehlen die Worte, um die Qua‐ len zu schildern, die dieses junge Mädchen durchlitten haben muß.« Dr. Coutts, der bei mehr als fünfzig Morden die Obduktion durch‐ geführt hat, war sichtlich bewegt, als er sagte, erhoffe, »niemals wie‐ der eine solche Pflicht erfüllen zu müssen«. Detective Chief Superintendent Oldman sprach von der Dring‐ lichkeit, den Mörder zu fassen, und kündigte an, daß Detective Superintendent Peter Noble die Aufsicht über die tägliche Jagd nach 147
demjenigen habe, der für Clares Tod verantwortlich sei. Detective Superintendent Noble erlangte 1968 bei der damaligen West Midlands Force landesweite Bekanntheit als der Mann, der für die Verhaftung des Cannock‐Chase‐Mörders Raymond Morris ver‐ antwortlich war. Zwischen 1965 und 1967 hatte Morris drei kleine Mädchen in und um Stafford herum belästigt und dann erstickt, be‐ vor er vom damaligen Detective Inspector Noble verhaftet werden konnte. Detective Superintendent Noble brachte seine Entschlossenheit zum Ausdruck, Clare Kemplays Mörder zu ergreifen, und appellierte an die Unterstützung der Öffentlichkeit: »Wir müssen diese Bestie fas‐ sen, bevor ihr ein weiteres unschuldiges Leben zum Opfer fällt.« Detective Chief Superintendent Oldman fügte hinzu, daß die Po‐ lizei vor allem daran interessiert sei, mit jedem zu sprechen, der sich in der Nacht des 13. Dezember oder in den frühen Morgenstunden des 14. Dezember in der Nähe des Devil’s Ditch in Wakefield auf‐ gehalten habe. Die West Yorkshire Metropolitan Police appelliert an alle, die irgend etwas zur Aufklärung beitragen können, sich direkt mit der Mordkommission unter den Telefonnummern Wakefield 3838 oder 3839 in Verbindung zu setzen oder das nächstgelegene Polizeirevier zu kontaktieren. Alle Anrufe werden streng vertraulich behandelt. Zwei Photos flankierten den Bericht: das Schulphoto von Clare, das auch bei meinem ersten Bericht über ihr Verschwinden gezeigt worden war, und ein körniges Photo von der Polizeisuche bei Devil’s Ditch in Wakefield, wo Clares Leiche gefunden wor‐ den war. Hut ab, Jack. Ich riß die Titelseite ab, stopfte sie mir in die Jackentasche und ging zu Barry Gannons Schreibtisch hinüber. Ich zog die unterste 148
Schublade auf, nahm Barrys Flasche Bells heraus und goß mir einen Dreifachen in eine halbvolle Tasse Kaffee. Auf dich, Barry Gannon. Es schmeckte beschissen, so beschissen, daß ich mir eine zweite Tasse kalten Kaffee von einem anderen Schreibtisch holte und mir noch einen eingoß. Auf dich, Ronald Dunford. Fünf Minuten später ließ ich den Kopf auf meinen Schreibtisch sinken und roch das Holz, den Whisky und die Arbeit des Tages an meinen Ärmeln. Ich wollte noch bei Kathryn zu Hause an‐ rufen, doch der Whisky hatte wohl den Kaffee besiegt, und ich fiel beim hellen Schein der Bürobeleuchtung in einen unruhigen Schlaf. »Aufwachen, Sensationsreporter.« Ich schlug ein Auge auf. »Auf, auf, Schlafmütze. Dein Freund ist auf Leitung zwei.« Ich schlug auch das andere auf. Jack Whitehead saß auf Barrys Stuhl an Barrys Schreibtisch und winkte mir quer durchs Büro mit einem Telefonhörer zu. Die Gruft war zum Leben erwacht; alles machte sich für die nächste Ausgabe bereit. Ich setzte mich auf und nickte Jack zu. Jack zwin‐ kerte, und das Telefon auf meinem Tisch klingelte. Ich hob ab. »Ja bitte?« Eine junge Männerstimme fragte: »Edward Dunford?« »Ja?« Eine Pause und ein Klicken, Jack hatte sich verdammt viel Zeit gelassen, aufzulegen. Ich warf ihm durchs Büro einen Blick zu. Jack Whitehead reckte die Hände in die Höhe, als wolle er auf‐ geben. 149
Alle lachten. Mein Atem stank am Telefon. »Wer spricht da?« »Ein Freund von Barry. Kennen Sie das Gaiety an der Round‐ hay Road?« »Ja.« »Seien Sie gegen zehn dort an der Telefonzelle.« Die Leitung war tot. »Tut mir leid«, sagte ich, »da muß ich erst mit meinem Chef sprechen. Wenn Sie allerdings im Laufe des morgigen Tages noch einmal anrufen möchten ... Ich verstehe, danke. Auf Wieder‐ hören.« »Na, mal wieder ‘ne heiße Spur, du Sensationsreporter?« »Der beschissene Rattenfänger. Der bringt mich noch mal um, verdammt.« Alle lachten. Selbst Jack. 21.30 Uhr, Montag nacht, 16. Dezember 1974. Ich fuhr auf den Parkplatz direkt vor dem Gaiety Hotel, Roundhay Road, Leeds, und beschloß, mich eine halbe Stunde lang nicht von der Stelle zu rühren. Ich stellte den Motor ab, machte das Licht aus und saß im dunklen Viva; ich sah über den Parkplatz hinweg zum Gaiety hinüber, die Barbeleuchtung gab mir gute Sicht auf die Telefonzelle und den Pub selbst. Das Gaiety, ein häßliches, modernes Pub mit dem häßlichen alten Charme aller Pubs zwischen Harehills und Chapeltown. Das Gaiety, ein Restaurant, in dem es nichts zu essen gab, und ein Hotel, in dem es keine Betten gab. Ich zündete mir eine Zigarette an, kurbelte das Fenster einen Spalt weit herunter und legte den Kopf in den Nacken. Vor vier Monaten etwa, kurz nachdem ich in den Norden 150
zurückgekehrt war, hatte ich fast einen ganzen Tag, und einen Teil des folgenden dazu, damit verbracht, mich mit George Greaves, Gaz vom Sport und Barry um den Verstand zu saufen. Vor vier Monaten etwa, als es sich noch neu anfühlte, wieder im Norden zu sein, und es ein Riesenspaß und ein ungeheurer Erkenntnisschub war, sich im Gaiety zu besaufen. Vor vier Monaten etwa, als Ronald Dunford, Clare Kemplay und Barry Gannon noch lebten. Na ja, so witzig war das Ganztagesbesäufnis dann auch nicht gewesen, aber immerhin hatte sich der neue und noch fürchter‐ lich naive Gerichtsreporter für Nordengland bestens eingeführt. »Das hier ist Jack Whiteheads Kampfgebiet«, hatte George Greaves geflüstert, als wir damals gegen elf Uhr früh die Doppel‐ tür aufzogen und ins Gaiety traten. Nach zirka fünf Stunden hatte ich genug, doch das Gaiety unterlag den ortsüblichen Ausschankbeschränkungen nicht, und obwohl es weder Essen noch Betten noch Tanzboden gab, durfte dort von elf Uhr früh bis drei Uhr nachts Alkohol ausgeschenkt werden, allein aufgrund der Tatsache, daß es sich um ein Restau‐ rant, ein Hotel oder eine Disco handelte, je nachdem, mit wel‐ chem Bullen man redete. Und anders als zum Beispiel das Queen’s Hotel in der Innenstadt bot das Gaiety seinen Tages‐ stammgästen eine mittägliche Strip‐Show. Zusätzlich gab es im Gaiety anstelle einer Speisekarte für die Gäste die einzigartige Gelegenheit, jedes beliebige Mitglied der mittäglichen Strip‐ Show zu recht vernünftigen Preisen zu vernaschen. Dabei handelte es sich um einen Imbiß, der eine Fünf‐Pfund‐Note locker wert war, wie mir Gaz vom Sport versicherte. 151
»Unser Gaz war in München Olympiasieger im Muschi‐ lecken«, hatte George Greaves lachend verkündet. »Das ist nix, wo die schwarzen Krausen drauf stehen, ehrlich gesagt«, hatte Gaz noch angemerkt. Das erste Mal hatte ich mich gegen 18 Uhr übergeben, doch nachdem ich zugesehen hatte, wie Schamhaare in der gesprunge‐ nen Kloschüssel schwammen, war ich wieder fit genug gewesen, um weiterzumachen. Das Tages‐ und Nachtpublikum im Gaiety war in etwa das‐ selbe, setzte sich nur prozentual anders zusammen. Tagsüber gab es mehr Prostituierte und pakistanische Taxifahrer, nachts sah man mehr Arbeiter und Geschäftsleute. Sturzbesoffene Journalisten, dienstfreie Bullen und mürrische Westinder waren immer da, Tag und Nacht, tagein, tagaus. »Das ist Jack Whiteheads Kampfgebiet.« Das letzte, woran ich mich an jenem Tag erinnerte, war, daß ich noch mal auf den Parkplatz gekotzt und gedacht hatte, Jacks Kampfgebiet, nicht meins. Ich leerte gerade den Aschenbecher des Viva zum Fenster hinaus, als ein Spielautomat im Gaiety über den Jubel hinweg, daß die Jukebox schon wieder The Israelites spielte, einen Ge‐ winn auswarf. Ich kurbelte das Fenster wieder hoch und fragte mich, wie oft ich wohl an jenem Tag vor vier Monaten diesen ver‐ dammten Song gehört hatte. Kriegten die den Mist denn nie über? Gegen fünf vor zehn, als mal wieder Young, Gifted and Black 152
lief, stieg ich aus dem Viva, verließ den Pfad der Erinnerungen, ging zur Telefonzelle hinüber und wartete. Punkt zehn Uhr nahm ich den Hörer nach dem zweiten Klingeln ab. »Hallo?« »Wer spricht da?« »Edward Dunford.« »Sind Sie allein?« »Ja.« »Fahren Sie einen grünen Vauxhall Viva?« »Ja.« »Fahren Sie zur Harehills Lane, wo sie auf die Chapeltown Road trifft, und halten Sie vor dem Krankenhaus.« Wieder war die Leitung tot. Um zehn nach zehn hielt ich vor dem Chapel Allerton Hospital, wo sich Harehills Lane und Chapeltown Road trafen und zur eleganteren Harrogate Road wurden. Um elf nach zehn versuchte jemand, die Beifahrertür zu öff‐ nen, und klopfte dann gegen die Scheibe. Ich beugte mich hin‐ über und öffnete die Tür. »Wenden Sie und fahren Sie nach Leeds zurück«, sagte der kastanienbraune Anzug mit den orangefarbenen Haaren und stieg ein. »Weiß jemand, daß Sie hier sind?« »Nein«, antwortete ich und dachte, scheiß David Bowie sei eingestiegen. »Und was ist mit Ihrer Freundin?« »Was soll mit ihr sein?« »Weiß sie, daß Sie hier sind?« »Nein.« Der kastanienbraune Anzug schniefte, und die orangefarber 153
Mähne wandte sich hin und her. »Am Park rechts.« »Hier?« »Ja. Folgen Sie der Straße bis zur Kirche.« An der Kreuzung bei der Kirche schniefte der kastanienbraune Anzug erneut und sagte: »Halten Sie, warten Sie zehn Minuten und gehen Sie dann zum Spencer Place. Nach etwa fünf Minuten kommen Sie zum Spencer Mount, fünfte oder sechste links. Hausnummer 3 ist auf der rechten Seite. Klingeln Sie nicht, gehen Sie gleich zum Appartement 5 rauf.« »Appartement 5, 3 Spencer Mount«, sagte ich. Doch schon eilten der kastanienbraune Anzug und die orange Mähne da‐ von. Gegen halb elf ging ich den Spencer Place entlang und dachte, scheiß auf den Kerl und diesen Pseudo‐Spionage‐Scheiß. Der kann mich mal, daß er mich um halb elf den Spencer Place lang laufen läßt, so als sei das eine Prüfung oder so was. »Schaust dich nur um, Schätzchen?« Von zehn bis drei, sieben Nächte die Woche, war Spencer Place die geschäftigste Linienstraße in ganz Yorkshire, mal ab‐ gesehen von Manningham in Bradford. Heute nacht war trotz der Kälte keine Ausnahme. Autos krochen die Straße auf und ab, Bremslichter flammten rot auf, es sah aus wie ein Stau. »Na, gefall ich dir?« Die älteren Frauen saßen auf niedrigen Mauern vor unbe‐ leuchteten Reihenhäusern, die jüngeren gingen auf und ab, stampften mit ihren Stiefeln auf, um die Kälte zu vertreiben. »Entschuldigen Sie, Officer ...« Die einzigen anderen Männer auf der Straße waren Westinder, 154
die aus geparkten Wagen sprangen und wieder einstiegen, eine Qualm‐ und Musikwolke hinter sich herzogen, ihre Waren anbo‐ ten und ihre weißen Freundinnen im Auge behielten. »Du verklemmtes Arschloch!« Das Gelächter verfolgte mich bis um die Ecke zum Spencer Mount. Ich überquerte die Straße und ging drei Steinstufen hinauf zur Hausnummer 3, über der Tür war ein auf Milchglas gemalter, leicht angekratzter Davidstern zu sehen. Vom Judenviertel zu einem Viertel voller Schweinerei in wie vielen Jahren? Ich drückte die Tür auf und ging die Treppe hoch. »Nette Nachbarschaft«, sagte ich. »Schnauze«, zischte der kastanienbraune Anzug und hielt mir die Tür zu Appartement 5 auf. Es handelte sich um ein Ein‐Zimmer‐Appartement: zu viele Möbel, große Fenster, der Muff von vielen nördlichen Wintern. Von allen Wänden glotzte Karen Carpenter herab, aber auf dem winzigen Dansette‐Plattenspieler spielte Ziggy Gitarre. Es gab Weihnachtsbeleuchtung, aber keinen Baum. Der kastanienbraune Anzug nahm ein paar Klamotten von einem der Sessel und sagte: »Setz dich, Eddie.« »Ich furchte, das geht mir einen Schritt zu schnell.« »Arthur Francis Anderson«, sagte Arthur Francis Anderson stolz. »Aha?« Der Sessel roch muffig. »Ja, aber du kannst mich auch AF nennen«, sagte er kichernd. »Macht jeder.« 155
Ich ging nicht weiter darauf ein. » Okay. « »Ja, AF der Name, AF das Spiel.« Er horte auf zu lachen und eilte zu einem alten Schrank in der Ecke. »Woher kennst du Barry?« fragte ich. Ob Barry Gannon schwul gewesen war? »Sind irgendwo mal ins Gespräch gekommen.« »Arschficker Barry. Schwule Sau.« »Wo?« »Ach, hier und da. Tee?« fragte er und wühlte im Schrank herum. »Nein, danke.« »Dann nicht.« Ich zündete mir eine Zigarette an und nahm einen dreckigen Teller als Aschenbecher. »Euer«, sagte AF und reichte mir eine Plastiktüte von Flillardsy die er aus dem Schrank gefischt hatte. »Er wollte, daß du sie kriegst, falls ihm irgendwas zustößt.« »Falls ihm irgendwas zustößt?« wiederholte ich und machte die Tüte auf. Sie war vollgestopft mit Pappordnern und braunen Umschlägen. »Was ist das?« »Sein Lebenswerk.« Ich drückte meine Kippe in der angetrockneten Tomatensoße aus. »Wozu? Ich meine, wie kam er darauf, es hierzulassen?« »Ausgerechnet bei mir, meinst du«, schniefte AE »Er war letzte Nacht hier. Er hat gesagt, er braucht einen sicheren Ort für das Zeug da. Und falls ihm irgendwas zustößt, soll ich es dir geben.« »Letzte Nacht?« AF setzte sich aufs Bett und zog seine Jacke aus. »Ja.« »Ich hab’ dich letzte Nacht im Presseclub gesehen, oder?« 156
»Ja, und du warst nicht sehr nett zu mir, stimmt’s?« Sein Hemd war mit Tausenden kleiner Sternchen gesprenkelt. »Ich war besoffen.« »Na, das erklärt alles«, sagte er verächtlich. Ich zündete mir wieder eine Zigarette an und haßte den An‐ blick dieser kleinen Schwuchtel in seinem Sternchenhemd. »Was zum Teufel hattest du mit Barry zu schaffen?« »Ich habe einiges gesehen, weißt du?« »Das glaub’ ich gern«, sagte ich und schaute auf die Uhr meines Vaters. Er sprang vom Bett auf. »Ich will dich nicht weiter aufhalten.« Ich stand auf. »Tut mir leid. Setz dich, bitte. Tut mir leid.« AF setzte sich wieder hin und tat immer noch blasiert. »Ich kenne Leute.« »Da bin ich mir sicher.« Schon wieder sprang er auf und stampfte mit den Füßen auf. »Nein, ehrlich, verdammt. Berühmte Leute.« Ich stand auf und reckte die Hände vor. »Ich weiß, ich weiß ...« »Hör mal, ich hab die Schwänze von einigen der größten Männer dieses Landes gelutscht.« »Wen zum Beispiel?« »Nein, nein. So einfach kriegst du das nicht raus.« »Na gut. Und warum?« »Für Geld. Was denn sonst? Glaubst du vielleicht, es macht mir Spaß ? In diesem Körper? Schau mich doch an ! Das bin nicht ich.« Er war in die Knie gegangen und zerrte an seinem Sternen‐ hemd. »Ich bin keine Schwuchtel. In mir drin bin ich eine Frau«, schrie er, sprang auf die Füße, riß ein Karen‐Carpenter‐Poster von der Wand, zerknüllte es und schleuderte es mir ins Gesicht. »Sie 157
weiß, wie das ist. Er weiß es«, sagte er, drehte sich um und trat gegen den Plattenspieler; Ziggy kam kratzend zum Ende. Arthur Francis Anderson ließ sich neben dem Plattenspieler zu Boden fallen, verbarg seinen Kopf und lag zitternd da. »Barry wußte es.« Ich setzte mich hin und stand wieder auf. Ich ging zu dem zerknitterten Kerl in seinem silbrigen Sternenhemd und der ka‐ stanienbraunen Hose und half ihm aufs Bett. »Barry wußte es«, wimmerte er wieder. Ich ging zum Plattenspieler und legte die Nadel wieder auf, aber der Song war deprimierend und die Platte sprang, also machte ich die Musik aus und setzte mich wieder in den muffigen Sessel. »Mochtest du Barry?« Er hatte sich über das Gesicht gewischt, saß auf dem Bett und sah mich an. »Schon, aber ich kannte ihn nicht besonders gut.« AFs Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Er mochte dich.« »Wieso glaubte er, daß ihm etwas zustoßen würde?« »Also wirklich!« AF sprang auf. »Verdammt. Das war doch offensichtlich.« »Warum?« »Das konnte doch so nicht weitergehen. Er hatte über zu viele Leute zu viel herausgefunden.« Ich beugte mich vor. »John Dawson?« »John Dawson ist nur die Spitze des verdammten Eisbergs. Hast du das Zeug nicht gelesen?« Er machte eine Handbewegung in Richtung der Plastiktüte zu meinen Füßen. »Nur das, was er der Post gegeben hat«, log ich. Er lächelte. »Tja, all die großen Fische sind da in der Tüte.« 158
Ich haßte den kleinen Scheißer, seine Spielchen, seine Woh‐ nung. »Und wo ist Barry dann gestern nacht hin?« »Er sagte, er würde dir helfen.« »Mir?« »Das hat er gesagt. Irgendwas wegen dem kleinen Mädchen in Morley, und daß er alles miteinander in Verbindung bringen könne.« Ich sprang auf. »Was soll das heißen? Was ist mit ihr?« »Mehr hat er nicht gesagt ...« Bilder von Schwanenflügeln und kricketballgroßen Titten an AFs Brust überfielen mich. Ich stürzte durchs Zimmer auf ihn los und brüllte: »Denk nach!« »Ich weiß es nicht. Er hat’s mir nicht gesagt.« Ich packte ihn bei den Sternen auf seinem Hemd und drückte ihn ins Bett. »Hat er sonst noch irgendwas über Clare gesagt?« Sein Atem in meinem Gesicht war so muffig wie das ganze Zimmer. »Welche Clare?« »Das tote Mädchen.« »Nur daß er nach Morley wollte und dir das helfen würde.« »Wie zum Teufel sollte mir das helfen?« »Das hat er nicht gesagt, verdammt! Wie oft soll ich es noch sagen?« »War das alles?« »Ja. Jetzt laß mich endlich los, verdammt.« Ich packte seinen Mund und drückte zu. »Nein. Du verrätst mir erst noch, warum Barry dir davon erzählt hat«, sagte ich und drückte sein Gesicht so fest ich konnte, dann ließ ich wieder los. »Vielleicht, weil ich die Augen offenhalte. Weil ich Dinge sehe und mich daran erinnere.« Er blutete an der Unterlippe. Ich sah auf die silbrigen Sterne in meiner Hand und ließ sie 159
fallen. »Überhaupt nichts weißt du.« »Ach, glaub doch, was du willst.« Ich stand auf und ging zur Plastiktüte. »Mach ich.« »Geh schlafen.« Ich nahm die Tüte und ging zur Tür. Ich öffnete sie und drehte mich noch einmal zu der Wohnschlafhölle um. »War er betrun‐ ken?« »Nein, aber er hatte getrunken.« »Viel?« »Ich konnte es riechen.« Tränen flossen ihm über die Wangen. Ich stellte die Tüte hin. »Was, glaubst du, ist ihm zugestoßen?« »Ich glaube, die haben ihn umgebracht«, sagte er schniefend. »Wer?« »Weiß ich nicht, will ich auch nicht wissen.« Todesschwadronen gibt es in jeder Stadt, in jedem Land. »Wer?« fragte ich. »Dawson? Die Polizei?« »Ich weiß es nicht.« »Und warum?« »Geld, was sonst? Um all die räudigen Hunde in dem Sack da zu lassen. Um sie im Huß zu ersäufen.« Ich starrte auf ein Poster von Karen Carpenter, die eine riesige Mickymaus knuddelte. Ich nahm die Plastiktüte. »Wie kann ich dich erreichen?« Arthur Francis Anderson lächelte. »442189. Sag, Eddie hätte angerufen, ich krieg’s dann schon mit.« Ich schrieb mir die Nummer auf. »Danke.« »Nicht der Rede wert.« Im Laufschritt den Spencer Place entlang, Vollgas nach Leeds und auf die MI; ich hoffte, den Burschen nie wiedersehen zu müssen. 160
Planet der Affen, Die kleinen Pferdediebe, Theorien jagten sich gegenseitig: Regen fiel auf die Windschutzscheibe, der Mond war nicht zu sehen. Schnitt: die Jagd: Ich kannte einen Mann, der kannte einen Mann. »Er könne alles miteinander in Verbindung bringen.« Engel als Teufel, Teufel als Engel. Und der Kern des Ganzen: TU SO, A LS SEI ALL ES IN OR DNU NG.
Meine Mutter schlief in ihrem Sessel, und ich versuchte, alles mit‐ einander in Verbindung zu bringen. Aber nicht hier. Die Treppe rauf, dann schüttete ich Plastiktüten und Um‐ schläge, verstreute Akten und Photos auf mein Bett. Aber nicht hier. Ich stopfte alles in einen großen schwarzen Müllsack und steckte mir Vaters Reißzwecken und Stecknadeln ein. Aber nicht hier. Treppe runter, einen Kuß auf Mutters Braue, zur Tür hinaus. Aber nicht hier. Mit Vollgas durch den Sonnenaufgang von Ossett. Aber nicht hier.
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5. Kapitel Sonnenaufgang im Redbeck Café und Motel, Dienstag, 17. De‐ zember 1974. Ich war die ganze Nacht durchgefahren und dann wieder hier gelandet, so als ob alles hier enden sollte. Ich bezahlte für zwei Wochen im voraus und bekam, wofür ich bezahlt hatte. Zimmer 27 ging nach hinten raus, zwei Biker auf der einen und eine Frau mit ihren vier Kindern auf der anderen Seite. Kein Telefon, kein Klo, kein Fernseher. Aber für zwei Pfund die Nacht hatte ich einen Ausblick auf den Parkplatz, ein Doppelbett, einen Schrank, einen Tisch, eine Spüle, und niemand stellte Fragen. Ich schloß die Tür zweifach ab und machte die klammen Vor‐ hänge zu. Dann zog ich das Bett ab, befestigte das schwerste Laken am Vorhang und wuchtete die Matratze gegen das 163
Laken. Ich stopfte ein gebrauchtes Präservativ in eine halbleere Tüte Chips. Dann lief ich zum Auto, mußte unterwegs pissen, auf eben jener Toilette, wo ich mir die Fahrkarte für diese Todesfahrt gekauft hatte. Ich stand da und pißte, wußte nicht, war Dienstag oder Mitt‐ woch, schüttelte ab und trat die Klotür auf, obwohl ich wußte, daß mich dort nichts anderes erwartete als eine aufgeweichte gelbe Wurst und Schwuchtelgeschmiere an der Wand. Ich ging nach vorn ins Café und kaufte mir zwei Kaffee mit viel Zucker in dreckigen Styroporbechern. Ich öffnete den Koffer‐ raum des Viva und trug den schwarzen Müllsack und den schwarzen Kaffee ins Zimmer 27. Ich schloß wieder zweifach ab, trank einen Kaffee, leerte den Müllsack auf den Holzboden des Betts und machte mich an die Arbeit. Barry Gannons Akten und Umschläge waren nach Namen angelegt. Ich sortierte sie alphabetisch auf einer Hälfte des Bettes arbeitete mich dann durch den dicken braunen Umschlag von Hadden und stopfte die einzelnen Blätter in die dazugehörige Akte. Manche Namen waren mit Titeln versehen, andere mit Rän‐ gen, die meisten allerdings nur mit der Anrede Mister. Manche Namen kannte ich, bei manchen kungelte was, die meisten waren mir unbekannt. Auf der anderen Betthälfte breitete ich meine Akten in drei kleinen und einem großen Stapel aus: Jeanette, Susan, Clare und 164
rechts daneben Graham Goldthorpe, der Rattenfänger. Hinten im Schrank fand ich eine Rolle Tapete. Ich nahm eine Handvoll Reißzwecken, drehte die Tapete um und machte sie der Wand über dem Schreibtisch fest. Mit einem dicken roten Filz‐ stift teilte ich die Rückseite in fünf große Spalten. Über jede Spalte schrieb ich in roten Blockbuchstaben fünf Namen: JEANET SUSAN, CL ARE , GRA HAM und BARRY.
Neben die Tapete pinnte ich eine Karte von West Yorkshire die ich im Auto hatte. Ich machte mit dem roten Stift vier rote Kreuze und einen roten Pfeil, der direkt auf Rochdale zeigte. Ich trank den zweiten Kaffee und wappnete mich so für das was kam. Mit zitternden Händen nahm ich einen Umschlag von Clare Stapel. Ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel, riß den Umschlag auf und nahm drei große Schwarzweißabzüge heraus. Mit hoh‐ lern Magen und dem Mund voller Nadeln ging ich zur Tapete und machte vorsichtig die drei Photos oberhalb der jeweiligen Namen fest. Mit Tränen in den Augen trat ich einen Schritt zurück und schaute auf meine neue Wandtapete, auf Haut so weiß, Haare so blond, Flügel so weiß. Ein Engel in Schwarzweiß. Drei Stunden später erhob ich mich mît rotgeheulten Augen vom Fußboden des Zimmers 27. Barrys Story: drei reiche Männer: John Dawson, Donald Foster und ein dritter, den Barry nicht namentlich benennen 165
konnte oder wollte. Meine Story: drei tote Mädchen: Jeanette, Susan und Clare. Meine Story, seine Story: dieselben Zeiten, dieselben Orte, an‐ dere Namen, andere Gesichter. Das Rätsel dabei: Gab es eine Verbindung? Ein kleiner Stapel Münzen auf dem Telefon in der Lobby des Red‐ beck. »Sergeant Fraser bitte.« Die Lobby war ganz in Gelb und Braun gehalten und stank nach kaltem Rauch. Durch die gläsernen Flügeltüren sah ich ein paar junge Burschen Pool spielen und rauchen. »Sergeant Fraser.« »Hier spricht Edward Dunford. Ich habe weitere Informatio‐ nen bezüglich Sonntagnacht und Barry erhalten ...« »Welche Art von Informationen?« Ich klemmte den Hörer zwischen Kinn und Hals und zün‐ dete ein Streichholz an. »Es handelt sich um einen anonymen Anruf; Mr. Gannon sei wegen Clare Kemplay nach Morley ge‐ fahren.« »Sonst noch was?« »Nicht am Telefon.« Mit einem Kugelschreiber hatte jemand Jungschwanz neben den Fernsprecher geschmiert, dazu sechs Telefonnummern. »Wir sollten uns besser noch vor der Untersuchung treffen«, sagte Sergeant Fraser. Draußen regnete es wieder, und die Lastwagenfahrer zogen sich die Jacken über ihre Köpfe und eilten ins Café und aufs Klo. »Wo?« fragte ich. 166
»Angelo’s Café, in einer Stunde? Das ist gegenüber der Mor‐ ley Town Hall.« »Okay. Aber ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.« Ich suchte nach ebem Aschenbecher, mußte aber mit der Wand vor‐ liebnehmen. Fraser flüsterte ins Telefon: »Was?« Das Telefon fing an zu piepen, und ich warf eine Münze ein. »Ich brauche die Namen und Adressen der Arbeiter, die die Leiche gefunden haben.« »Welche Leiche?« »Die von Clare Kemplay.« Ich zählte die Herzchen, die über‐ all rings ums Telefon gekritzelt waren. »Ich weiß nicht ...« »Bitte«, sagte ich. In eins der Herzchen hatte jemand mit einem roten Stift 4eva 2geva geschrieben. »Warum ausgerechnet ich?« fragte Fraser. »Weil ich Sie für einen anständigen Kerl halte und weil ich jemanden brauche, der mir einen Gefallen tut, und sonst nie‐ manden habe, an den ich mich wenden könnte.« Stille, dann: »Ich will sehen, was ich tun kann.« »In einer Stunde«, sagte ich und unterbrach die Verbindung. Ich hängte den Hörer ein, hob wieder ab, warf eine Münze ein und wählte. Desmond vögelt Knastweiber. »Ja bitte?« »Sagen Sie AF, Eddie hat angerufen, und geben Sie ihm bitte folgende Nummer, 276578. Sagen Sie ihm, er soll nach Ronald Gannon fragen, Zimmer 27.« Fuck You Wakey Ken. Ich hängte ein, hob wieder ab, warf eine weitere Münze ein und wählte. 167
True Love Never Dies. »Peter Taylor?« »Hallo. Kann ich bitte Kathryn sprechen?« »Sie schläft noch.« Ich sah auf die Uhr meines Vaters. »Wenn sie aufwacht, sagen Sie ihr bitte, Edward hat ange‐ rufen.« »Mach’ ich«, sagte ihr Vater, so als handele es sich um einen Riesengefallen. »Wiederhören.« Ich hängte ein, hob wieder ab, warf die letzte Münze ein und wählte. Eine alte, nach Schinken riechende Frau trat aus dem Café in die Lobby. »Ossett 256199.« »Ich bin’s, Ma.« »Geht es dir gut, mein Liebling? Wo bist du?« Einer der Burschen reckte ein Queue in die Höhe und jagte einen anderen rings um den Pooltisch. »Alles bestens. Ich bin bei der Arbeit.« Die alte Frau hatte sich direkt gegenüber dem Telefon in einen der braunen Sessel der Lobby gesetzt und starrte in den Regen und zu den Lastwagen hinaus, »Ich bin wahrscheinlich ein paar Tage weg.« »Wo willst du denn hin?« Der Bursche mit dem Queue hatte den anderen auf den grünen Filz gedrückt. »In den Süden«, sagte ich. »Du rufst doch an, oder?« Die alte Frau furzte laut, und die jungen Burschen im Pool‐ zimmer hörten auf, sich zu kabbeln und stürmten in die Lobby. »Na klar ...« »Ich liebe dich, Edward.« 168
Die Burschen rollten die Hemdsärmel hoch, legten sich die Arme vor den Mund und prusteten los. »Ich dich auch.« Die alte Frau starrte in den Regen und zu den Lastwagen hin‐ aus, und die Burschen hüpften um sie herum. Ich legte auf. 4 L U V .
Angelos Café, gegenüber der Morley Town Hall, frühstücks‐ hektisch. Ich war bei meinem zweiten Kaffee, obwohl ich schon lange über jede Müdigkeit hinaus war. »Kann ich Ihnen was mitbringen?« Sergeant Fraser stand an der Theke. »Kaffee, bitte. Schwarz, zwei Stück Zucker.« Ich sah mich im Café um und sah die Wand aus Schlagzeilen, die jedes Frühstück verbarg: 534 Millionen Pfund Handelsdefizit, Gaspreise steigen um 12%, IRA verkündet Waffenstillstand über die Weihnachtsfeier‐ tage, ein Photo vom neuen Dr. Who, und Clare. »Guten Morgen«, sagte Fraser und stellte mir eine Tasse Kaffee hin. »Danke.« Ich trank den kalten Kaffee aus und nippte an der neuen Tasse. »Ich hab als erstes mit dem Coroner gesprochen. Die Unter‐ suchung wird verschoben.« »War eh ein wenig zu voreilig.« Die Kellnerin brachte ein ausgewachsenes Frühstück und baute es vor Sergeant Fraser auf. »Na ja, bald ist Weihnachten und die Familie, da wär’s schon nett gewesen.« »Scheiße, ja. Die Familie.« Fraser schob sich den halben Teller auf die Gabel. »Kennen Sie 169
sie?« »Nein.« »Nette Leute«, sagte Fraser seufzend und wischte Eigelb und den Saft der Tomaten mit einem Stück Toast auf. »Ach ja?« sagte ich und fragte mich, wie alt Fraser wohl sein mochte. »Aber die Leiche wird freigegeben. Damit sie ihn beerdigen können.« »Dann haben sie das schon mal hinter sich.« Fraser legte Messer und Gabel hin und schob den makellos sauberen Teller von sich. »Donnerstag, glaube ich, ist die Beerdi‐ gung.« »Okay. Donnerstag.« Ich konnte mich nicht erinnern, ob wir meinen Vater letzten Donnerstag oder Freitag hatten einäschern lassen. Sergeant Fraser lehnte sich zurück. »Was ist denn nun mit diesem anonymen Anruf?« Ich beugte mich vor und flüsterte: »Wie ich schon sagte. Es war mitten in der Nacht ...« »Eddie?« Ich blickte zu Sergeant Fraser auf, sah seine blonden Haare, die wasserblauen Augen, das aufgedunsene rote Gesicht, hörte eine Spur schottischen Akzents in der Stimme, sah den schlichten Ehering. Er sah aus wie der Junge, der im Chemieunterricht neben mir gesessen hatte. »Kann ich offen zu Ihnen sein?« »Das würde ich Ihnen raten«, sagte Fraser und bot mir eine Zigarette an. »Barry hatte eine Quelle.« Ich zündete mir die Zigarette an. »Einen Schnüffler?« »Eine Quelle.« 170
Fraser zuckte mit den Schultern. »Weiter.« »Letzte Nacht erhielt ich im Büro einen Anruf. Kein Name, nur daß ich ins Gaiety an der Roundhay Road kommen sollte. Das kennen Sie doch, oder?« »Woher denn?« lachte Fraser. »Na klar kenne ich den Schup‐ pen, verdammt. Woher wußten Sie, daß da was dran war?« »Barry hatte eine Menge Kontakte. Er kannte eine Menge Leute.« »Um welche Uhrzeit war das?« »Gegen zehn. Also, ich fuhr hin und traf mich mit diesem Kerl ...« Fraser hatte die Arme auf dem Tisch, beugte sich vor und lächelte. »Was für ein Kerl?« »Schwarzer, kein Name. Sagte, er sei Sonntag nacht mit Barry zusammengewesen. « »Und wie sah er aus?« »Schwarz.« Ich löschte meine Zigarette und zog die nächste aus meiner Schachtel. »Jung? Alt? Klein? Groß?« »Schwarz. Lockige Haare, breite Nase, wulstige Lippen. Was wollen Sie hören?« Sergeant Fraser lächelte. »Hat er gesagt, daß Barry Gannon getrunken hat?« »Ich hab’ ihn gefragt, und er hat geantwortet, Barry hätte ein paar getrunken, sei aber nicht voll gewesen.« »Und wo?« Ich hielt inne, dachte, jetzt kommt der Augenblick, wo ich alles versaue, und sagte: »Im Gaiety.« »Und gibt es dafür Zeugen?« Fraser hatte sein Notizbuch gezückt und schrieb etwas hinein. »Na ja, im Gaiety wohl.« »Ich nehme nicht an, daß Sie versucht haben, unseren schwar‐ zen Freund dazu zu überreden, seine Informationen einem An‐ 171
gehörigen der örtlichen Polizei zugänglich zu machen?« »Nein.« »Und dann?« »Gegen elf hätte Barry gesagt, er wolle nach Morley. Und daß das irgendwas mit dem Mord an Clare Kemplay zu tun habe.« Sergeant Fraser starrte über meine Schulter hinweg in den Regen hinaus und zur Town Hall gegenüber. »Was denn?« »Das wußte er nicht.« »Sie glauben ihm?« »Warum nicht?« »Ach Scheiße, der hat Sie angeschwindelt. Elf Uhr nachts an einem Sonntag, nach ein paar Gläschen im Gaiety?« »Hat er gesagt.« »Na gut. Was, glauben Sie, hat Gannon gewußt, daß er Sonn‐ tag nacht den ganzen Weg bis hierher gefahren ist?« »Keine Ahnung. Ich erzähle Ihnen nur, was mir dieser Kerl gesagt hat.« »Und das ist alles?« Sergeant Fraser lachte. »So ein Scheiß. Sie sind doch angeblich Reporter. Sie müssen ihm doch noch ein paar mehr Fragen gestellt haben als nur die.« Ich zündete mir schon wieder eine Zigarette an. »Na klar. Aber wie ich schon sagte, der Kerl wußte von gar nichts.« »Na gut, was, glauben Sie, hat Gannon herausgefunden?« »Keine Ahnung, wie schon gesagt. Aber das erklärt, warum er in Morley war.« »Na, meine Vorgesetzten werden sich freuen«, seufzte Fraser. Die Kellnerin kam zu uns und räumte Tassen und Teller ab. Der Mann am Nebentisch hörte uns zu und schaute sich die Polizeiskizze des Vergewaltigers von Cambridge an, die absolut jeden darstellen konnte. »Haben Sie die Namen?« fragte ich. 172
Sergeant Fraser zündete sich eine Zigarette an und beugte sich vor. »Aber das bleibt unter uns?« »Natürlich«, antwortete ich und zog Stift und Papier aus der Jackentasche. »Zwei Bauarbeiter, Terry Jones und James Ashworth. Sie ar‐ beiten an den neuen Häusern hinter dem Gefängnis Wakefield. Foster’s Construction, glaube ich.« »Foster’s Construction«, wiederholte ich und dachte, Donald Foster, Barry Gannon, eine Verbindung. »Adressen habe ich keine, und selbst wenn ich sie hätte, würde ich sie Ihnen nicht geben. Mehr geht nicht.« »Danke. Noch was.« Fraser stand auf. »Was denn noch?« »Wer hat Zugang zum Obduktionsbericht und zu den Photos im Fall Clare Kemplay?« Fraser setzte sich wieder hin. »Warum?« »Reine Neugierde. Ich meine, kommt jeder Polizist, der an dem Fall arbeitet, da dran?« »Eigentlich schon, ja.« »Haben Sie den Bericht gesehen?« »Ich habe mit dem Fall nichts zu tun.« »Aber Sie waren doch bei der Suche dabei?« Fraser sah auf die Uhr. »Ja, aber die Einsatzzentrale sitzt in Wakefield.« »Sie können also nicht wissen, wann der Bericht erstmalig zugänglich war?« »Warum?« »Ich wollte nur wissen, wie das so abläuft. Reine Neu‐ gierde.« Fraser stand wieder auf. »Solche Fragen stellt man besser nicht, Eddie.« Dann grinste er, zwinkerte mir zu und sagte: »Ich muß los. Wir sehen uns auf der anderen Straßenseite.« »Ja«, sagte ich. 173
Sergeant Fraser öffnete die Tür des Cafés und drehte sich noch einmal um. »Halten Sie mich auf dem laufenden.« »Ja klar.« »Und kein verdammtes Wort, okay?« sagte er halb lachend. »Nur über meine Leiche«, murmelte ich und faltete mein Stück Papier zusammen. Gaz vom Sport kam die Stufen zur Town Hall herauf. Ich saß auf den Stufen und rauchte eine letzte Zigarette. »Was zum Teufel machst du denn hier?« »Was sind wir aber freundlich heute«, sagte Gaz und grinste mich zahnlos an. »Ich bin ein Zeuge, ehrlich.« »Ach ja?« Das Grinsen war verschwunden. »Ja. Ich wollte mich Sonn‐ tag abend mit Barry treffen, aber er ist nicht aufgetaucht.« »Die Untersuchung ist verschoben worden.« »Du machst Witze. Warum?« »Die Polizei weiß immer noch nicht, was er Sonntag nacht vorhatte.« Ich bot Gaz eine Zigarette an und nahm mir auch eine. Gaz nahm feierlich Zigarette und Feuer. »Aber daß er tot ist, das wissen sie doch, oder?« Ich nickte und sagte: »Die Beerdigung ist am Donnerstag.« »Scheiße. So bald schon?« »Ja.« Gaz schniefte fest und spuckte dann auf eine der Steinstufen. »Warst du schon beim Chef?« »Ich war noch nicht in der Redaktion.« Gaz drückte seine Zigarette aus und ging die Treppe hoch. »Na, auf geht’s.« »Ich warte hier«, sagte ich. »Die wissen, wo sie mich finden, wenn sie mich brauchen.« 174
»Kann ich dir nicht verdenken.« »Hör mal«, rief ich ihm nach, »hast du irgendwas über Johnny Kelly gehört?« »Keinen Pieps«, sagte Gaz. »Irgendein Typ in der Kneipe ge‐ stern abend meinte, Foster hätte ihn unter seinen Fittichen.« »Foster?« »Don Foster. Trinity‐Präsi.« Ich stand auf. »Don Foster ist Vereinspräsident von Wakefield Trinity?« »Ja. Von welchem Baum haben sie dich denn geschüttelt?« »Reine Zeitverschwendung war das.« Eine halbe Stunde später kam Gaz vom Sport mit Bill Hadden die Treppe der Town Hall herunter. »So was kann man nicht überstürzen, Gareth«, sagte Hadden, der ohne seinen Schreibtisch irgendwie merkwürdig aussah. Ich stand von den kalten Stufen auf und gesellte mich zu den beiden. »Zumindest können sie ihn jetzt beerdigen.« »Guten Morgen, Edward«, sagte Hadden. »Guten Morgen. Haben Sie einen Augenblick Zeit?« »Die Familie nimmt es gefaßter auf, als man annehmen sollte«, sagte Gaz mit leiser Stimme und sah die Treppe hinauf. »Das hab’ ich auch gehört«, meinte ich. »Sehr starke Leute. Was gibt’s?« Hadden legte mir eine Hand auf die Schulter. »Bis später, alle Mann«, sagte Gaz vom Sport, nutzte die Gelegenheit, sich zu verdrücken, und nahm zwei Stufen auf ein‐ mal. »Was ist mit Cardiff City?« rief Hadden ihm nach. »Die machen wir kalt, Chef«, rief Gaz zurück. Hadden lächelte. »Solche Begeisterung kann man nicht kau‐ fen.« 175
»Nein«, sagte ich. »Das stimmt.« »Also, was gibt es?« fragte Hadden und verschränkte die Ar‐ me gegen die Kälte. »Ich dachte, ich interviewe die beiden Männer, die die Leiche gefunden haben. Verknüpfe das mit dieser Wahrsagerin und der Geschichte von Devil’s Ditch.« Das rasselte ich viel zu schnell herunter, wie ein Mann, der eine halbe Stunde Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken. Hadden strich sich über den Bart, stets ein schlechtes Zeichen. »Interessant. Sehr interessant.« »Finden Sie?« »Hmhm. Nur der Ton macht mir ein wenig Sorgen.« »Der Ton?« »Hm. Dieses Medium, die Wahrsagerin, das ist was für die Hintergrundinformationen. Zusatzmaterial. Aber die Männer, die die Leiche gefunden haben, also, ich weiß nicht ...« Ich hakte sofort nach: »Aber Sie sagten doch, sie würde den Namen des Mörders kennen. Das sind keine Hintergrundinfor‐ mationen, das ist Titelseite.« Hadden biß nicht an, sondern sagte: »Werden Sie heute mit ihnen reden?« »Ich dachte, ich fahre sofort rüber, ich muß sowieso nach Wakefield.« »Na gut«, sagte Hadden und ging zu seinem Rover. »Bringen Sie mir das Material bis fünf, und wir gehen es für morgen durch.« »Alles klar«, rief ich ihm nach und sah auf die Uhr meines Vaters. Mit dem aufgeschlagenen Stadtplan von Leeds und Bradford auf den Knien und meinen Notizen auf dem Beifahrersitz rollte ich 176
durch die Seitenstraßen von Morley, Ich bog in die Victoria Road und fuhr langsam weiter; kurz vor der Kreuzung Rooms Lane und Church Street hielt ich an. Barry mußte von der anderen Seite gekommen sein, in Rich‐ tung Wakefield Road oder M 62. Der Lastwagen dürfte hier an der Ampel der Victoria Road gestanden und darauf gewartet haben, in die Rooms Lane abzubiegen. Ich blätterte in meinem Notizbuch zurück, schneller, immer schneller, bis zur ersten Seite. Volltreffer. Ich startete den Motor, reihte mich in den Verkehr ein, wartete an der Ampel. Zu meiner Linken auf der anderen Seite der Kreuzung eine schwarze Kirche und daneben die Morley Grange Junior and Infants School. Die Ampel sprang um, ich las weiter. »An der Ecke Rooms Lane und Victoria Road verabschiedete sie sich von ihren Freundinnen und wurde zuletzt gesehen, als sie gegen sechzehn Uhr die Victoria Road in Richtung ihres Zuhauses ent‐ langging ...« Clare Kemplay. Zuletzt gesehen. Goodbye. Ich fuhr über die Kreuzung, und ein Co‐op‐Laster wartete, um nach rechts in die Rooms Lane abzubiegen. Barrys Unfallaster mußte wohl auch hier an der Ampel Victo‐ ria Road gestanden haben, um nach rechts in die Rooms Lane abzubiegen. Barry Gannon. Zuletzt gesehen. Goodbye. 177
Ich kroch die Victoria Road endang, die nachfolgenden Autos hupten. Clare, in ihrer orangefarbenen Regenjacke und den roten Stiefeln, hopste den Bürgersteig neben mir entlang. »... wurde zuletzt gesehen, als sie gegen sechzehn Uhr die Victo‐ ria Road in Richtung ihres Zuhauses entlangging.« Sportplatz, Sandmead Close, Winterbourne Avenue. Clare stand an der Ecke Winterbourne Avenue und winkte. Ich blinkte links und bog ab. Es handelte sich um eine Sackgasse mit sechs älteren Doppel‐ haushälften und drei neuen Einzelhäusern. Vor der Hausnummer 3 stand ein Polizist im Regen. Ich setzte rückwärts in die Einfahrt zu einem der neuen Häuser und wendete. Ich sah zur 3 Winterbourne Avenue hinüber. Die Vorhänge zugezogen. Der Motor des Viva ging aus. Ein Vorhang bewegte sich. Mrs. Kemplay stand mit verschränkten Armen am Fenster. Der Polizist sah auf die Uhr. Ich fuhr davon. Foster’s Construction. Die Baustelle lag hinter dem Wakefield Gefängnis, nur ein paar Meter vom Devil’s Ditch entfernt. Mittagspause an einem feuchten Dienstag im Dezember, und die Baustelle war so still wie ein Grab. In der Luft lag eine leise Melodie: Dreams Are Ten A Penny. Ich folgte meinen Ohren. »Alles klar?« sagte ich und zog die Abdeckplane in der Tür zu einem Rohbau beiseite. Vier Männer kauten auf ihren Sandwichs herum, schlurften 178
Tee aus Thermosflaschen. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte jemand. »Haben Sie sich verfahren?« ein anderer. »Nein, ich suche eigentlich ...« »Nie von ihm gehört«, sagte jemand. »Reporter, hm?« ein anderer. »Sieht man das?« »Ja«, meinten alle. »Wissen Sie, wo ich Terry Jones und James Ashworth finden kann?« Ein großer Kerl in Arbeitsjacke stand auf und schluckte ein halbes Brot herunter. »Ich bin Terry Jones.« Ich streckte ihm die Hand entgegen. »Eddie Dunford, York‐ shire Post. Kann ich mal mit Ihnen reden?« Er ignorierte die Hand. »Und, was zahlen Sie dafür?« Alle lachten in ihren Tee. »Nun, darüber läßt sich reden.« »Wenn’s nichts gibt, können Sie sich gleich wieder verpissen«, meinte Terry Jones, und wieder gab es Gelächter. »Ehrlich«, bekräftigte ich. Terry Jones seufzte und schüttelte den Kopf. »Manche Leute haben echt Nerven«, sagte jemand. »Wenigstens ist er vom örtlichen Käseblatt«, ein anderer. »Na, dann kommen Sie«, sagte Terry Jones, gähnte und spülte sich den Mund mit dem letzten Tee aus. »Aber laß ihn ordentlich bluten«, rief ein anderer, als wir hin‐ ausgingen. »Hatten sie ‘ne Menge Presse hier?« fragte ich und bot Terry Jones eine Zigarette an. »Die Jungs meinten, ein Photograph von der Sun ist hier ge‐ wesen, aber wir waren gerade auf der Wache in der Wood Street.« Es nieselte heftig, ich wies auf einen anderen Rohbau. Terry 179
Jones nickte und ging voran. »Hat die Polizei Sie lange aufgehalten?« »Nein, eigentlich nicht. Aber bei solchen Geschichten, da ge‐ hen die kein Risiko ein.« »Und was ist mit James Ashworth?« Wir standen im Tür‐ rahmen, der Regen verfehlte uns nur knapp. »Was soll mit ihm sein?« »Haben sie den länger dabehalten?« »Genauso lang.« »Ist er da?« »Krankgeschrieben.« »Ach ja?« »Da geht was rum.« »Ja?« »Ja.« Terry Jones ließ die Kippe fallen, zertrat sie mit seinem Arbeitsschuh und fügte hinzu: »Der Chef ist seit Donnerstag krankgemeldet, Jimmy seit gestern, paar andere Jungs seit letzter Woche.« »Wer hat sie gefunden, Sie oder Jimmy?« »Jimmy.« »Wo war sie?« fragte ich und sah in den Schlamm hinaus. Terry Jones holte ein gehöriges Stück Schleim hoch und sagte: »Ich zeig’s Ihnen.« Wir gingen schweigend über die Baustelle zu der Senke, die parallel zur Straße von Wakefield nach Dewsbury verlief. Ein blauweißes Polizeiabsperrband hing an der Oberkante des Gra‐ bens. Auf der anderen Seite an der Straße saßen zwei Polizisten in einem Panda. Einer von ihnen sah zu uns herüber und nickte Terry Jones zu. Terry winkte. »Wie lange bleibt das abgesperrt?« »Keine Ahnung.« »Bis gestern abend hatten sie Zelte über alles gebaut.« 180
Ich starrte hinunter in den Devil’s Ditch auf die verrosteten Kinderwagen und Eahrräder, die Küchenherde und Kühl‐ schränke. Alles war mit Laub und Abfall durchzogen, alles glitt in den Schlund hinab und versperrte den Blick auf den Grund der Senke. »Haben Sie sie gesehen?« fragte ich. »Ja.« »Scheiße.« »Sie lag auf einem Kinderwagen, etwa auf halber Höhe.« »Einem Kinderwagen?« Terry starrte hinaus in die weite, weite Ferne. »Die Polizei hat ihn mitgenommen. Sie hatte, ach Scheiße ...« »Ich weiß.« Ich schloß die Augen. »Die Polizei meinte, wir sollten niemandem davon erzählen.« »Ich weiß, ich weiß.« »Aber Scheiße ...« Er hatte Tränen in den Augen und mühte sich mit einem Kloß im Hals ab. Ich gab ihm noch eine Zigarette. »Ich weiß. Ich hab die Pho‐ tos von der Obduktion gesehen.« Er zeigte mit der frischen Zigarette auf ein gesondert markier‐ tes Stück Erde. »Einer der Flügel lag da drüben, fast ganz oben.« »Scheiße.« »Ich wünschte, ich hätte sie nicht gesehen.« Ich starrte in das Loch, hatte die Photos von der Wand im Red‐ beck vor Augen. »Wenn sie nur nicht dagewesen wär’«, flüsterte er. »Wo wohnt denn Jimmy Ashworth?« Terry Jones sah mich an. »Ich glaub nicht, daß das ‘ne gute Idee ist.« »Bitte.« 181
»Es hat ihn schwer mitgenommen. Er ist noch jung.« »Vielleicht hilft es ihm, wenn er darüber redet«, sagte ich und sah einen schmutzigen blauen Kinderwagen auf halber Höhe in der Senke. »Ist doch Blödsinn«, sagte er und schniefte. »Bitte.« »Fitzwilliam«, sagte Terry Jones, drehte sich um und ging da‐ von. Ich duckte mich unter der blauen Polizeiabsperrung hindurch, hielt mich an der Wurzel eines toten Baumes fest, beugte mich in die Senke und zupfte eine weiße Feder von einem Busch. Ich hatte eine Stunde totzuschlagen. Ich fuhr an der Queen Elisabeth Grammar School vorbei, stellte den Wagen ab und lief im Regen zurück nach Wakefield; auf Höhe der Schule ging ich schneller. Noch 50 Minuten. Es war Dienstag, ich ging über den Trödelmarkt, rauchte und wurde naß bis auf die Haut, starrte die Kinderwagen und Kinder‐ fahrräder sowie die Reste der Wohnungsauflösungen an. Der Hallenmarkt stank nach nassen Klamotten, und wo früher Joe’s Books gewesen war, war noch immer ein Bücher‐ stand. Ich schaute auf die Uhr meines Vaters und blätterte durch den Stapel mit den alten Superhelden. Noch 40 Minuten. Drei Jahre lang waren mein Vater und ich jeden Samstagmor‐ gen mit dem 126er vom Busbahnhof in Ossett hergefahren, mein Vater hatte mit leeren Einkaufstüten auf dem Schoß dagesessen, die Post gelesen, hatte von Fußball oder Kricket geredet, und ich 182
träumte von dem Stapel Comics, den ich immer als Lohn bekam, wenn ich Joe half. Jeden Samstagmorgen bis zu jenem Samstagmorgen, als der alte Joe nicht aufschloß und ich dastand und wartete, bis mein Vater mit zwei Tüten voller Einkäufe zurückkehrte, obendrauf der Käse, in Papier gewickelt. Noch 35 Minuten. Im Acropolis an der Westgate, wo ich mich mal in die Kellne‐ rin verknallt hatte, zwang ich einen Teller Iforkshire Pudding mit Zwiebelsauce runter und kotzte alles sofort wieder auf dem klei‐ nen Klo hinten in der Kneipe aus, wo ich mir immer vorgestellt hatte, die Kellnerin namens Jane zu vögeln. Noch 25 Minuten. Draußen im Regen ging ich zum Bullring, vorbei am Strafford Arms, dem härtesten Pub des Nordens, an dem Friseur vorbei, wo meine Schwester halbtags gearbeitet und Tony kennengelernt hatte. Noch 20 Minuten. Bei Silvio’s, dem Lieblingscafé meiner Mutter, wo ich mich nach der Schule immer heimlich mit Rachel Lyons getroffen hatte, bestellte ich mir ein Schokoladeneclair. Ich zog mein feuchtes Notizbuch aus der Tasche und las noch einmal die dürftigen Informationen durch, die ich über Mystic Mandy hatte. »Die Zukunft ist, wie die Vergangenheit, festgeschrieben. Sie läßt sich nicht verändern, aber sie kann helfen, die Wunden der Gegen‐ wart zu heilen.« Ich setzte mich ans Fenster und starrte auf Wakefield hinaus. Die Vergangenheit der Zukunft. 183
Es regnete so stark, daß die ganze Stadt wie unter Wasser wirkte. Am liebsten wäre mir gewesen, der Regen würde alle er‐ säufen und den ganzen beschissenen Ort fortspülen. Ich hatte all meine Zeit totgeschlagen. Ich trank die Tasse süßen Tee aus, ließ das Eclair liegen und ging zurück zur St. Johns Church; ein Teeblatt klebte mir an der Lippe; in der Tasche hatte ich eine Feder. Blenheim Road war eine der schönsten Straßen in Wakefield, mit großen, kräftigen Bäumen und großen, etwas zurückgesetzten Häusern auf ihren eigenen kleinen Grundstücken. Hausnummer 28 bildete keine Ausnahme, ein weitläufiges altes Haus, das in einzelne Wohnungen aufgeteilt worden war. Ich überquerte die Einfahrt, wich den vollgelaufenen Schlag‐ löchern aus und ging ins Haus. Die Fenster im Hausflur und an den Treppenabsätzen waren bleiverglast, und das ganze Haus stank wie eine alte Kirche im Winter. Nummer 5 war auf dem ersten Treppenabsatz rechts. Ich sah auf die Uhr meines Vaters und klingelte. Die Klingel klang nach Tubular Bells, und ich dachte an den Exorzisten, als die Tür aufging. Eine Frau mittleren Alters, frisch den Hochglanzseiten von Yorkshire Life entsprungen, in ländlicher Bluse und ländlichem Rock, streckte mir ihre Hand entgegen. »Mandy Wymer«, sagte sie und schüttelte mir kurz die Hand. »Edward Dunford. Von der Yorkshire Post« »Bitte, kommen Sie herein.« Sie preßte sich an die Wand und ließ die Tür offenstehen, als sie mir durch den dunklen Flur mit dunklen Ölbildern an den Wänden in ein großes dunkles Zimmer 184
folgte, dessen große Fenster von noch größeren Bäumen verdun‐ kelt wurden. In einer Ecke stand ein Katzenklo, und der ganze Raum roch danach. »Bitte setzen Sie sich«, sagte die Dame und wies auf das hin‐ tere Ende eines großen Sofas, über das ein Batiktuch drapiert war. Die konservative Erscheinung der Frau biß sich mit der orien‐ talischen Flippie‐Einrichtung und mit ihrem Beruf. Ein Gedanke, den ich offensichtlich nicht verbergen konnte. »Mein Ex‐Mann war Türke«, sagte sie unvermittelt. »Ex?« fragte ich und schaltete das Philips Pocket Memo in meiner Tasche an. »Er ist nach Istanbul zurückgegangen.« Ich konnte nicht widerstehen. »Und das konnten Sie nicht vorhersehen?« »Ich bin ein Medium, Mr. Dunford, keine Wahrsagerin.« Ich saß auf dem Sofa und kam mir wie ein Blödmann vor. Mû‐ fiel nichts ein, was ich sagen konnte. Schließlich bemerkte ich: »Ich mache keinen sehr guten Ein‐ druck, oder?« Miss Wymer erhob sich schnell aus ihrem Sessel. »Möchten Sie einen Tee?« »Das wäre sehr nett, wenn es keine Mühe macht?« Die Frau rannte beinahe aus dem Zimmer, blieb aber urplötz‐ lich in der Türöffnung stehen, so als sei sie gegen eine Glasscheibe geknallt. »Sie riechen sehr stark nach schlechten Erinnerungen«, sagte sie leise mit dem Rücken zu mir. »Entschuldigung?« »Nach Tod.« Blaß und zitternd stand sie an der Tür und hielt 185
sich am Rahmen fest. Ich stand auf. »Alles in Ordnung?« »Ich glaube, Sie gehen besser«, flüsterte sie und ließ sich am Türrahmen zu Boden gleiten. »Miss Wymer ...« Ich ging zu ihr. »Bitte! Nein!« Ich streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen. »Miss Wy‐ mer ...« »Rühren Sie mich nicht an!« Ich wich zurück, und die Frau rollte sich zusammen. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Es ist so stark«, sagte sie wimmernd. »Was denn?« »An Ihrem ganzen Körper.« »Was denn?« brüllte ich wütend und dachte an AF und an diese Tage und Nächte in Hotelzimmern mit all diesen Irren. »Was denn, sagen Sie es mir!« »Ihr Tod.« Plötzlich war die Luft stickig, mörderisch. »Wovon zum Teufel reden Sie überhaupt?« Ich ging auf sie zu, das Blut pochte mir in den Ohren. »Nein!« Sie schrie, rutschte auf dem Hintern durch den Flur, ruderte mit Armen und Beinen, ihr Rock glitt nach oben. »O Gott, nein!« »Halten Sie den Mund! Halten Sie den Mund! Halten Sie den Mund!« Ich schrie und eilte ihr den Flur entlang hinterher. Sie mühte sich auf die Beine und flehte: »Bitte, bitte, lassen Sie mich allein.« »Warten Sie!« Sie verschwand in einem Zimmer und schlug mir die Tür vor der Nase zu, wobei sie mir für einen Augenblick einen Finger 186
der linken Hand einklemmte. »Sie verdammtes Miststück!« schrie ich und trat und häm‐ merte gegen die verschlossene Tür. »Sie verrücktes, verdammtes Miststück!« Ich blieb stehen, steckte mir den pochenden Finger der linken Hand in den Mund und sog daran. In der Wohnung war es still. Ich lehnte den Kopf an die Tür und sagte leise: »Bitte, Miss Wymer ...« Ich konnte sie hinter der Tür verängstigt schluchzen hören. »Bitte, Miss Wymer. Ich muß mit Ihnen reden.« Ich hörte, wie Möbel bewegt, wie Kommoden und Schränke vor die Tür geschoben wurden. »Miss Wymer?« Eine leise Stimme drang durch das Holz der Türen, wie von einem Kind, das einem Freund unter der Bettdecke etwas zu‐ flüstert. »Erzählen Sie ihnen von den anderen ...« »Was?« »Bitte erzählen Sie ihnen von den anderen.« Ich lehnte mich an die Tür. »Welchen anderen?« »Den anderen.« »Welchen verdammten anderen?« brüllte ich und drückte und zerrte an der Türklinke. »All den anderen unter den hübschen neuen Teppichen.« »Halten Sie den Mund!« »Unter dem Gras, das zwischen den Steinen wächst.« »Halten Sie den Mund!« Meine Fäuste gegen das Holz, meine Knöchel blutig. »Sagen Sie es ihnen. Bitte sagen Sie ihnen, wo sie sind.« »Halten Sie den Mund! Halten Sie den verdammten Mund!« Ich lehnte den Kopf an die Tür, die Geräusche verebbten, die 187
Wohnung war leise und dunkel. »Miss Wymer?« flüsterte ich. Ich verließ die Wohnung und sog an Knöcheln und Fingern. Ich sah, wie die Tür auf der anderen Seite des Treppenabsatzes langsam aufging. »Stecken Sie Ihre verdammte Nase woanders rein!« brüllte ich und stürzte die Treppe hinunter. »Sonst schneide ich Sie Ihnen ab, verdammt!« 145 km/h, so geschockt war ich. Bleifuß auf der MI, zur Austreibung der alten und neuen Geister von Wakefield. Im Rückspiegel klebte ein grüner Rover. In meinem Ver‐ folgungswahn hielt ich ihn für einen Zivilfahnder. Mit dem Blick gen Himmel fuhr ich durch den fetten Bauch eines Wals, der Himmel die Farbe seines grauen Fleischs, pech‐ schwarze Bäume seine mächtigen Knochen, ein feuchtes Gefäng‐ nis. Blick in den Rückspiegel, der Rover kam näher. Ich nahm die Ausfahrt Leeds, bei den verkohlten Überresten des Zigeunerlagers, die schwarzen Rahmen der ausgebrannten Wohnwagen noch mehr Knochen, die in einer Art heidnischem magischem Kreis der Toten gedachten. Blick in den Rückspiegel, der grüne Rover fuhr weiter nach Norden. Ich parkte den Viva, zwei schwarze Krähen fraßen aus schwarzen Müllsäcken, rissen an vergammeltem Fleisch, ihre Schreie hallten durch die Dunkelheit, als tobte die Pest. Zehn Minuten später saß ich an meinem Schreibtisch. Ich rief die Telefonauskunft an, dann James Ashworth, dann 188
AF. Keiner da, alle beim Weihnachtseinkauf. »Du siehst ja furchtbar aus.« Stephanie mit Akten unterm Arm, fett wie eine Sahnetorte. »Mir geht’s blendend.« Sie stand vor meinem Schreibtisch und wartete. Ich glotzte die einsame Weihnachtskarte auf meinem Schreib‐ tisch an, versuchte die Vorstellung zu verdrängen, wie Jack Whitehead es ihr von hinten machte, kriegte dabei aber selber einen hoch. »Ich habe letzte Nacht mit Kathryn gesprochen.« »Und?« »Kümmert es dich denn gar nicht, verdammt?« Und schon war sie auf hundertachtzig. Ich auch. »Wenn du mich fragst, geht dich das einen Scheiß‐ dreck an.« Sie rührte sich nicht, blieb einfach da stehen, Standbein, Spiel‐ bein, Spielbein, Standbein, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ich fühlte mich mies und sagte: »Sorry, Steph.« »Du bist ein Schwein. Ein verdammtes Schwein.« »Sorry. Wie geht es ihr?« Sie nickte mit ihrem fetten Gesicht und gab sich und ihren eigenen fetten Gedanken recht. »Ist doch nicht das erste Mal, summt’s?« »Was hat Kathryn gesagt?« »Es hat schon andere gegeben, stimmt’s?« Die anderen, immer die verdammten anderen. »Ich kenne dich, Eddie Dunford«, setzte sie nach, beugte sich über den Schreibtisch; ihre Arme waren dick wie Oberschenkel. »Ich kenne dich.« »Ach, halt den Mund«, sagte ich leise. »Wie viele andere hat es denn schon gegeben, hm?« 189
»Steck deine verdammte Nase gefälligst woanders rein, du fette Schlampe.« Applaus und Jubel brandete im Büro auf, Fäuste knallten auf Schreibtische, Füße stampften. Ich starrte Kathryns Weihnachtskarte an. »Du Schwein«, spuckte Steph. Ich schaute von der Karte auf, doch sie hatte sich umgedreht und war schluchzend zur Tür hinaus. Am anderen Ende des Büros reckten George Greaves und Gaz ihre Zigaretten zum Salut und hoben ihre Daumen hoch. Ich tat es ihnen gleich, frisches Blut am Fingerknöchel. Es war siebzehn Uhr. »Ich muß immer noch mit dem anderen reden, James Ash‐ worth. Er war es, der die Leiche gefunden hat.« Fladden sah von seinem Stapel Weihnachtskarten auf. Er schob eine der größeren Karten unter den Stapel und sagte: »Alles ein bißchen dünn.« »Mystic Mandy ist völlig ausgeflippt.« »Haben Sie versucht, dazu einen Kommentar von der Polizei zu bekommen?« »Nein.« »Na ja, vielleicht auch besser so«, sagte er seufzend und blät‐ terte weiter durch seine Karten. Ich war müde jenseits von Müdigkeit, hungrig jenseits von Hunger, der Raum war jenseits von heiß, und alles war viel zu real. Hadden sah von seinen Karten auf. »Gab’s heute was Neues?« fragte ich, und mein Mund war plötzlich voller Galle. »Nichts, was wir drucken könnten. Jack ist auf einer seiner ...« 190
Ich schluckte. »Auf einer was?« »Na, sagen wir mal, er läßt sich nicht in die Karten sehen.« »Ich bin sicher, er tut, was am zweckdienlichsten ist.« Hadden gab mir den Entwurf meines Artikels zurück. Ich schlug den Ordner auf meinem Knie auf, legte den Artikel hinein und zog einen anderen heraus. »Und dann hab ich noch das hier.« Hadden nahm mir das Blatt ab und schob seine Brille auf den Nasenrücken. Ich starrte zum Fenster hinter seinem Rücken hinaus, das Spiegelbild von gelben Bürolichtern über einem dunklen, nassen Leeds. »Verstümmelte Schwäne, hm?« »Sie haben doch sicher mitbekommen, daß es eine ganze Reihe von verstümmelten Tieren gegeben hat.« Hadden seufzte, und seine Wangen wurden rot. »Ich bin nicht blöd. Jack hat mir den Obduktionsbericht gezeigt.« Ich konnte Leute in einem anderen Teil des Gebäudes lachen hören. »Tut mir leid«, sagte ich. Hadden nahm seine Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. »Sie steigern sich da zu sehr hinein.« »Tut mir leid«, wiederholte ich mich. »Sie sind wie Barry. Er war genauso, immer ...« »Ich wollte weder die Obduktion noch Clare überhaupt er‐ wähnen.« Hadden war aufgestanden und ging auf und ab. »Sie können nicht einfach irgendwas schreiben und dann glauben, das sei die Wahrheit, nur weil Sie das geschrieben haben.« »Das tue ich nie.« »Da bin ich mir nicht sicher«, sagte er in die Nacht hinein. » Sie 191
schießen ins verdammte Unterholz, nur weil die geringe Mög‐ lichkeit besteht, es könnte was drinstecken, das abzuschießen sich lohnt.« »Tut mir leid, wenn Sie das denken«, sagte ich. »Es gibt mehr als eine Möglichkeit, der Sache auf den Grund zu gehen, wissen Sie?« »Ich weiß.« Hadden drehte sich um. »Arnold Fowler hat jahrelang für uns gearbeitet.« »Ich weiß.« »Sie gehen mir nicht da raus und erschrecken den armen Kerl mit Ihren Horrorgeschichten.« »Das würde ich nie tun.« Fladden setzte sich wieder hin und seufzte schwer. »Holen Sie sich ein paar Zitate. Verpassen Sie dem Ganzen einen altväter‐ lichen Ton, und kein Wort über den verdammten Fall Clare Kemplay.« Ich stand auf, das Zimmer wurde plötzlich dunkel und dann wieder hell. »Danke.« »Wir bringen das am Donnerstag. Tiermißhandlungen, nichts weiter.« »Alles klar.« Ich öffnete die Tür, brauchte Luft, Halt, einen Ausgang. »Wie bei den Grubenpferden.« Mir kam alles hoch; ich rannte aufs Klo. »Hallo. Ist Kathryn da, bitte?« »Nein.« Das Büro war still, und ich war fast fertig mit dem, was ich zu tun haue. »Wissen Sie, wann sie zurückkommt?« »Nein.« 192
Ich zeichnete Flügel und Rosen auf mein Löschpapier. Dann legte ich meinen Stift hin. »Können Sie ihr bitte ausrichten, Edward habe angerufen?« Aufgelegt. Ich schrieb mit Kugelschreiber Das Medium & die Botschaft über den Artikel, setzte dann ein Fragezeichen dahinter und zündete mir eine Zigarette an. Nach ein paar Zügen riß ich ein Blatt Papier aus meinem No‐ tizbuch, drückte die Zigarette aus und schrieb zwei Listen. Unten auf die Seite schrieb ich Dawson und unterstrich den Namen. Ich war müde, hungrig und völlig verwirrt. Ich verschloß die Augen vor dem grellen Bürolicht und dem Rauschen, das meine Gedanken erfüllte. Es dauerte eine Weile, bis ich das Telefon klingeln hörte. »Edward Dunford?« »Hier spricht Paula Garland.« Ich beugte mich auf meinem Stuhl nach vorn, meine Ellbogen auf dem Tisch stützten den schweren Hörer und meinen schwe‐ ren Kopf. »Ja bitte?« »Ich habe gehört, Sie sind heute bei Mandy Wymer gewesen,« »Ja, so ähnlich. Woher wissen Sie das?« »Von Paul.« »Ach so.« Ich hatte keine Ahnung, was ich als nächstes sagen sollte. Es blieb lange still, dann sagte sie: »Ich muß wissen, was sie gesagt hat. « Ich saß senkrecht auf meinem Stuhl, wechselte den Hörer von einer Hand in die andere und wischte mir den Schweiß am Hosenbein ab. 193
»Mr. Dunford?« »Nun, sie hat nicht viel gesagt.« »Bitte, Mr. Dunford.« Ich hatte den Hörer zwischen Ohr und Kinn gedrückt, sah auf die Uhr meines Vaters und stopfte Das Medium & die Botschaft in einen Umschlag. »Wir können uns im Swan treffen. In einer Stunde?« »Danke.« Den Flur entlang ins Archiv. In Windeseile durch die Akten, Querverweise. Ein Blick auf die Uhr meines Vaters : 20.05 Uhr. Zeitsprung: Juli 1969, Mondlandung, kleine Schritte und große Sprünge. 12. Juli 1969, Jeanette Garland (8) wird vermißt. 13. Juli, Eine Mutter appelliert an unser Mitgefühl. 14. Juli, Detective Superintendent Oldman geht an die Öffent‐ lichkeit. 15. Juli, Polizei verfolgt Jeanettes letzte kleine Schritte. 16. Juli, Polizei weitet Suche aus. 17. Juli, Polizei ratlos. 18. Juli, Polizei stellt Suche ein. 19. Juli, Medium wendet sich an die Polizei. Kleine Schritte und große Sprünge. 17. Dezember 1974, ein Notizbuch voller hingekritzelter Zitate. Ein Blick auf die Uhr meines Vaters : 20.30 Uhr. Ich hatte keine Zeit mehr. The Swan, Castleford. Ich stand an der Bar und bestellte ein Pint und einen Scotch. Der Laden war vorweihnachtlich gefüllt, Firmenfeier, alle 194
sangen zur Jukebox. Jemand berührte mich am Ellbogen. »Ist eins davon für mich?« »Welches möchten Sie denn?« Mrs. Paula Garland nahm den Whisky und bahnte sich einen Weg durch die Menge zum Zigarettenautomaten. Sie legte ihre fiandtasche auf den Automaten und stellte das Glas daneben. »Kommen Sie öfter her, Mr. Dunford?« sagte sie lächelnd. »Edward, bitte.« Ich stellte mein Glas auf die Maschine. »Nein, nicht oft genug.« Sie lachte und bot mir eine Zigarette an. »Das erste Mal?« »Zweite«, sagte ich und dachte an das letzte Mal. Sie nahm Feuer von mir. »Normalerweise ist es nicht so voll.« »Kommen Sie öfter her?« »Versuchen Sie mit mir zu flirten, Mr. Dunford?« Sie lachte. Ich pustete den Qualm über ihren Kopf hinweg und lächelte. »Früher bin ich oft hier gewesen«, sagte sie; das Lachen war urplötzlich verklungen. Ich war unsicher, was ich sagen sollte, und meinte: »Ein net‐ tes Lokal.« »Das war es mal.« Sie nahm ihren Drink. Ich bemühte mich verzweifelt, sie nicht anzustarren, aber sie war so blaß in ihrem roten Pullover, und durch das Bündchen und die Falten am Kragen wirkte ihr Kopf so klein und zer‐ brechlich. Als sie ihren Whisky trank, erschienen kleine rote Flecken auf ihren Wangen und sie sah aus, als habe sie jemand geschla‐ gen. Paula Garland nahm noch einen Schluck und leerte ihr Glas. »Wegen Sonntag. Ich ...« »Vergessen Sie’s. Ich war völlig daneben. Noch einen?« sagte ich ein wenig zu schnell. 195
»Im Augenblick nicht, danke.« »Sagen Sie einfach Bescheid.« Elton John löste Gilbert O’Sullivan ab. Wir sahen uns verlegen im Pub um und lächelten die Partyhüte und Mistelzweige an. »Sie waren also bei Mandy Wymer«, sagte Paula. Ich zündete mir wieder eine Zigarette an, und mein Magen machte einen Satz. »Ja.« »Warum?« »Sie behauptete, sie habe der Polizei gesagt, wo Clare Kem‐ plays Leiche zu finden sei.« »Sie glauben ihr nicht?« »Zwei Bauarbeiter haben die Leiche gefunden.« »Was hat sie gesagt?« »Ich hatte keine Gelegenheit, mit ihr zu sprechen«, sagte ich. Paula Garland zog an ihrer Zigarette und meinte dann: »Weiß sie, wer es getan hat?« »Das behauptet sie zumindest.« »Gesagt hat sie nichts?« »Nein.« Paula spielte mit dem leeren Glas und ließ es auf dem Zigaret‐ tenautomaten kreiseln. »Hat sie etwas über Jeanette gesagt?« »Das weiß ich nicht.« »Das wissen Sie nicht?« Sie hatte Tränen in den Augen. »Sie sagte etwas über ›die anderen‹, mehr nicht.« »Was? Was hat sie gesagt?« Ich sah mich im Pub um. Wir flüsterten fast, doch ich hörte nichts anderes, so als habe jemand den Rest der Welt ausge‐ schaltet. »Sie sagte, ich solle ›ihnen von den anderen erzählen‹, und dann murmelte sie was von blutigen Teppichen und dem Gras 196
zwischen den Steinen.« Paula Garland hatte mir den Rücken zugekehrt, und ihre Schultern zitterten. Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Tut mir leid.« »Nein, mir tut es leid, Mr. Dunford«, sagte sie zu der roten Samttapete. »Es war sehr freundlich von Ihnen, daß Sie her‐ gekommen sind, aber ich muß jetzt allein sein.« Paula Garland nahm ihre Handtasche und ihre Zigaretten. Als sie sich umdrehte, war ihr Gesicht mit feinen schwarzen Linien überzogen, von den Augen bis zu den Lippen. Ich hielt die Hände in die Höhe und stellte mich ihr in den Weg. »Ich glaube, das ist keine so gute Idee.« »Bitte«, flehte sie. »Lassen Sie sich wenigstens nach Hause bringen.« »Danke, nein.« Sie schob sich an mir vorbei durch die Menge und zur Tür hin‐ aus. Ich trank aus und nahm meine Zigaretten. Brunt Street, die dunkle Zeile der Reihenhäuser gegenüber den weißen Fassaden der Doppelhaushälften, auf beiden Seiten nur wenig Licht. Ich hielt auf der Seite mit den Doppelhäusern am anderen Ende der Hausnummer 11, wartete und zählte die Weihnachts‐ lichter. Vor der 11 stand ein Weihnachtsbaum, aber ohne Lichter. Neun Bäume und fünf Minuten später horte ich ihre hohen braunen Stiefel. Ich drückte mich tief in meinen Sitz, sah, wie Paula Garland die rote Haustür aufschloß und ins Haus ging. Sie machte kein Licht. Ich saß im Viva, schaute und fragte mich, was ich wohl sagen sollte, wenn ich mich traute, an die rote Tür zu klopfen. 197
Zehn Minuten später kam ein Mann mit einer Mütze und sei‐ nem Hund aus einer der Doppelhaushälften und überquerte die Straße. Er drehte sich um und starrte meinen Wagen an, während sein Hund auf der Reihenhausseite der Straße kackte. In der 11 war noch immer kein Licht. Ich startete den Motor. Mein Mund war ganz fettig von den schlechten Redbeck‐Fritten, ich stapelte ein paar Münzen aufs Telefon und wählte. »Ja bitte?« »Haben Sie AF gesagt, daß Eddie angerufen hat?« Durch die gläserne Doppeltür sah ich dieselben Burschen Pool spielen. »Er hat eine Nachricht hinterlassen. Er wird Sie um zwölf zurückrufen.« Ich hängte ein. Ich sah auf die Uhr meines Vaters: 23.35 Uhr. Ich hob ab und wählte erneut. Beim dritten Klingeln legte ich auf. Sie kann mich mal. Ich setzte mich auf den braunen Sessel in der Lobby, auf dem die Frau heute morgen gefurzt hatte; das Klackern der Billard‐ kugeln und die Flüche der Burschen hielten mich wach. Punkt zwölf sprang ich aus dem Sessel und hing am Telefon, bevor einer der Burschen auch nur die Gelegenheit dazu hatte, mir zuvorzukommen. »Ja bitte?« »Ronald Gannon?« fragte AF. »Ich bin’s, Eddie. Hast du meine Nachricht gekriegt?« 198
»Ja.« »Ich brauche deine Hilfe, und ich möchte dir helfen.« »Gestern nacht warst du dir da nicht so sicher.« »Tut mir leid.« »Das sollte es dir auch. Hast du einen Stift?« »Ja«, sagte ich und wühlte in meinen Taschen. »Du solltest mal mit Marjorie Dawson reden. Sie ist im Hart‐ ley‐Pflegeheim in Hemsworth, seit Sonntag, seit Barry bei ihr war.« »Wie zum Teufel hast du das rausgekriegt?« »Ich kenne Leute.« »Ich will wissen, wer dir das erzählt hat.« »›Ich will‹ zieht bei mir nicht.« »Ach, Scheiße, AF. Ich muß es wissen.« »Das kann ich dir nicht sagen.« »Verdammt.« »Nur soviel: ich habe Jack Whitehead aus dem Gaiety kom‐ men sehen, und er sah betrunken und wütend aus. Du solltest vorsichtig mein, mein Lieber.« »Du kennst Jack?« »Wir kennen uns seit langer Zeit.« »Danke.« »Schon gut«, lachte er und legte auf. In dieser Nacht wachte ich im Motelzimmer 27 dreimal hinter‐ einander aus demselben Traum auf dem Fußboden auf. Jedesmal dachte ich, jetzt bin ich in Sicherheit, ich bin in Sicherheit, schlaf weiter. Jedesmal derselbe Traum. Auf der Brunt Street, Paula Garland, die eine rote Strickjacke um sich schlingt und mir zehn Jahre Lärm ins Gesicht schreit. 199
Jedesmal stieß eine Krähe aus einem Himmel in tausend Grautönen und krallte sich in ihr blondes Haar. Jedesmal jagte sie sie die Straße entlang und wollte ihr in die Augen picken. Jedesmal erstarrte ich, erwachte frierend auf dem Fußboden. Jedesmal drang Mondlicht ins Zimmer, und Schatten erweck‐ ten die Photos an den Wänden zum Leben. Beim letzten Mal waren die Fensterscheiben blutüberströmt.
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6. Kapitel 201
Mittwoch, 18. Dezember 1974. 7.00 Uhr früh und nichts wie raus aus diesem Zimmer. Tee und Toast mit Butter im Redbeck Café. Lastwagenfahrer hielten Titelseiten hoch: Stonehouse ausspioniert: Wilson streitet ab. Drei Bombenexplo‐ sionen: ein Toter. Benzinpreise schnellen hoch auf 74 Pence. Johnny Kelly tauchte auf den Rückseiten in der Lokalpresse auf: Der Lord Lucan der Rugby League ? Wo ist unser Weiberheld? Zwei Polizisten kamen herein, nahmen ihre Mützen ab und setzten sich an einen Fenstertisch. Mein Herz blieb stehen und flatterte dann über die hingekrit‐ zelten Namen in meinem Notizbuch: Arnold Fowler, Marjorie Dawson und James Ashworth. Drei Verabredungen. Mit neuem Wechselgeld wieder in der Lobby des Redbeck. »Arnold Fowler am Apparat?« »Plier spricht Edward Dunford von der Post Tut mir leid, daß ich Sie stören muß, aber ich arbeite an einem Artikel über die Angriffe auf Schwäne in Bretton Park.« »Ich verstehe.« »Ich hatte gehofft, wir könnten uns darüber unterhalten.« »Wann?« »Heute im Lauf des Vormittages ? Ich weiß, wie kurzfristig das ist.« »Ich bin heute morgen in Bretton. Ich unternehme dort eine Wanderung mit Schülern von der Horbury Junior School, aber erst gegen halb elf.« 202
»Ich könnte gegen halb zehn don sein.« »Wir treffen uns in der Haupthalle.« »Ich danke Ihnen.« »Wiederhören.« Die schneidend scharfe Wintersonne durchbohrte auf dem Weg nach Bretton die Windschutzscheibe, die Heizung dröhnte so laut wie das Radio: IRA und Stonehouse, die Jagd auf die Nr. i der Weihnachtshit‐ parade, Clare Kemplay, die nun auf allen überregionalen Sendern erneut starb. Ich sah in den Rückspiegel. Ich suchte mir einen Regionalsender: Auf Radio Leeds atmete Clare noch, Anrufer forderten, daß etwas unternommen werden müsse gegen so was, und was für ein Unmensch denn so was mache, und sowieso sei der Strick noch zu gut für solche, die so was täten. Die Polizei war plötzlich verstummt, keine Spuren, keine Pressekonferenz. Ich dachte, die Ruhe vor dem verdammten Sturm. »Hübscher Tag für einen Ausflug«, sagte ich und strahlte. »Zur Abwechslung mal«, entgegnete Arnold Fowler, Mitte Sechzig, passende Klamotten. Die Haupthalle war groß und kalt, die Wände zugepflastert mit Kinderzeichnungen und Bildern von Vögeln und Bäumen. Hoch oben an den Deckenbalken hing ein riesiger Schwan aus Pappmache. Die Halle stank wie eine Kirche im Winter, und ich dachte an Mandy Wymer. 203
»Ich kannte Ihren Vater«, sagte Arnold Fowler und führte mich in eine kleine Küche mit zwei Stühlen und einem blaßblauen Resopaltisch. »Wirklich?« »Ja. Ein guter Schneider.« Er knöpfte sein Tweedjackett auf und zeigte mir ein Wascheetikett, das ich jeden Tag meines Lebens gesehen hatte: Ronald Dunford, Schneider. »Die Welt ist klein«, sagte ich. »Ja. Aber nicht mehr wie früher.« »Er wäre sehr geschmeichelt.« »Ich glaube nicht. Nicht der Ronald Dunford, den ich kannte.« »Sie haben recht«, sagte ich lächelnd und dachte, daß erst eine Woche vergangen war. »Ich war sehr betroffen, als ich von seinem Ableben hörte«, sagte Arnold Fowler. »Danke.« »Wie geht es Ihrer Mutter?« »Den Umständen entsprechend. Sie ist sehr tapfer.« »Ja. Ein kerniges Yorkshire‐Mädel durch und durch.« »Wissen Sie, Sie sind mal in meine Schule, die Holy Trinity, gekommen.« »Überrascht mich nicht. Ich schätze, ich war im Laufe der Zeit an jeder Schule in West Riding. Hat es Ihnen Spaß gemacht?« »Ja. Ich kann mich noch gut daran erinnern, aber ich konnte beim besten Willen nicht zeichnen.« Arnold Fowler lächelte. »Sie haben sich also nie meinem Nature Club angeschlossen?« »Nein, tut mir leid. Ich war bei der Boys’ Brigade.« »Zum Fußballspielen?« »Ja.« Ich lachte zum ersten Mal seit langem. 204
»Dagegen kommen wir bis heute nicht an.« Er reichte mir einen Becher Tee. »Beim Zucker bedienen Sie sich bitte selbst.« Ich schaufelte zwei große Löffel in den Becher und rührte sehr lange um. Als ich wieder aufblickte, starrte Arnold Fowler mich an. »Wieso interessiert sich denn Bill Hadden plötzlich für die Schwäne?« »Mr. Hadden hat damit nichts zu tun. Ich habe einen Artikel über die verwundeten Ponys in Netherton geschrieben, und dann habe ich von den Schwänen gehört.« »Von wem?« »Ach, Gerede bei der Post Barry Gannon hatte ...« Arnold Fowler schüttelte den Kopf. »Furchtbare, ganz furchtba‐ re Geschichte. Ich kannte auch seinen Vater. Kannte ihn sehr gut.« »Wirklich?« fragte ich, ging ganz nach Drehbuch vor und stellte mich dumm. »Ja. Eine Schande. Ein sehr talentierter junger Mann, Barry.« Ich trank einen siedendheißen Schluck süßen Tee und sagte dann: »Ich bin mit den Einzelheiten nicht vertraut.« »Wie bitte?« »Bei den Schwänen.« »Ach so.« Ich zückte mein Notizbuch. »Wie viele dieser Zwischenfälle hat es denn gegeben?« »Zwei in diesem Jahr.« »Wann?« »Einer war irgendwann im August. Der andere vor etwas mehr als einer Woche.« »In diesem Jahr, sagten Sie?« »Ja. So etwas gibt es immer mal wieder.« 205
»Wirklich?« »Ja. Könnte einem übel davon werden.« »Immer auf dieselbe Art?« »Nein, nein. Aber die beiden Fälle dieses Jahr waren einfach unglaublich barbarisch.« »Was meinen Sie damit?« »Die Tiere sind gequält worden.« »Gequält?« »Man hat ihnen die Flügel abgehackt. Die Schwäne lebten noch.« Ich hatte einen staubtrockenen Mund beim Sprechen. »Und normalerweise?« »Pfeile, Luftgewehre, Dartpfeile.« »Und was ist mit der Polizei? Haben Sie das gemeldet?« »Natürlich.« »Und was hat sie gesagt?« » Letzte Woche?« »Ja«, nickte ich. »Nichts. Ich meine, was soll sie sagen?« Arnold Fowler rutschte plötzlich nervös herum und spielte mit dem Zuckerlöffel. »Die Polizei ist also seit letzter Woche nicht wieder bei Ihnen aufgekreuzt?« Arnold Fowler sah zum Küchenfenster hinaus über den See. »Mr. Fowler?« »Was für eine Art Geschichte schreiben Sie, Mr. Dunford?« »Eine wahre.« »Nun, ich bin gebeten worden, meine wahren Geschichten für mich zu behalten.« »Was meinen Sie damit?« »Man hat mich gebeten, gewisse Dinge für mich zu behalten.« Er sah mich an, als ob ich vollkommen verblödet sei. 206
Ich nahm meinen Becher und trank den Tee aus. »Haben Sie noch Zeit, mir zu zeigen, wo Sie die Tiere gefun‐ den haben?« fragte ich. »Ja.« Wir standen auf und gingen unter dem Schwan durch die Haupthalle. An der großen Eingangstür fragte ich ihn: »Ist Clare Kemplay jemals hier gewesen?« Arnold Fowler ging zu einer Bleistiftzeichnung, die sich an der Wand über einem dick mit Farbe zugepinselten Heizkörper wellte. Es handelte sich um die Zeichnung zweier Schwäne, die sich auf dem See küßten. Er strich eine der Ecken glatt. »In was für einer blutigen Welt leben wir eigentlich?« Ich öffnete die Tür zur fahlen Sonne und ging hinaus. Wir gingen den Hügel von der Haupthalle hinab zur Brücke, die den Schwanensee überquerte. Wolken schoben sich vor die Sonne und warfen Schatten über die Ausläufer des Moors auf der anderen Seeseite, Rot‐ und Brauntöne wie in einem zerschundenen Gesicht. Ich dachte an Paula Garland. Auf der Brücke blieb Arnold Fowler stehen, »Der letzte muß hier über die Brücke in den Teich geworfen worden sein.« »Und wo sind die Flügel abgetrennt worden?« »Das weiß ich nicht. Um die Wahrheit zu sagen, es hat auch niemand wirklich nachgesehen.« »Und der andere Schwan, der im August?« »Hing an dem Baum da.« Er zeigte auf eine große Eiche auf der anderen Seeseite. »Erst haben sie ihn gekreuzigt, dann die Flügel abgeschnitten.« »Das ist ein Scherz.« 207
»Nein. Ganz und gar nicht.« »Und keiner hat was gesehen?« »Nein.« »Wer hat sie gefunden?« »Den in der Eiche ein paar Kinder, den anderen einer der Park‐ wächter.« »Und die Polizei hat nichts unternommen?« »Mr. Dunford, wir leben in einer Welt, in der die Kreuzigung eines Schwans als übler Scherz angesehen wird, nicht als Ver‐ brechen.« Schweigend gingen wir wieder den Hügel hinauf. Auf dem Parkplatz stieg gerade eine Schulklasse aus einem Bus, die Kinder schubsten und zerrten sich gegenseitig an den Mänteln. Ich schloß die Wagentür auf. Arnold Fowler streckte mir seine Hand entgegen. »Passen Sie auf sich auf, Mr. Dunford.« »Sie auch«, erwiderte ich und gab ihm die Hand. »Ich habe mich gefreut, Sie wiederzusehen.« »Ja. Die Umstände hätten angenehmer sein können, ent‐ schuldigen Sie.« »Ja.« »Und viel Glück«, sagte Arnold Fowler und ging zu den Kindern hinüber. »Danke.« Ich hielt auf einem leeren Parkplatz irgendwo zwischen Bretton und Netherton. An der Telefonzelle fehlten alle Scheiben und ein Großteil der roten Farbe; der Wind fuhr mir in die Knochen, während ich wählte. 208
»Morley Police Station.« »Sergeant Fraser, bitte. « »Und wer ruft an, Sir?« »Edward Dunford.« Ich wartete, zählte die vorbeifahrenden Autos, stellte mir die fette Hand über dem Mundstück des Hörers vor und Rufe quer durch die Polizeistation. »Sergeant Fraser am Apparat.« »Hallo. Hier spricht Edward Dunfbrd.« »Ich dachte, Sie wären im Süden?« »Wie kommen Sie denn darauf?« »Hat Ihre Mutter gesagt. « »Mist.« Autos zählen, Lügen zählen. »Sie haben versucht, mich zu erreichen?« »Nun, da war noch der unbedeutende Punkt unserer gestri‐ gen Unterhaltung. Meine Vorgesetzten hätten ganz gern, daß ich ein offizielles Protokoll aufnehme.« »Tut mir leid.« »Was wollen Sie?« »Noch einen Gefallen.« »Sie scherzen, oder?« »Ich lasse mit mir handeln.« »Wie bitte? Haben Sie mal wieder die Buschtrommeln ge‐ hört?« »Haben Sie Marjorie Dawson wegen letztem Sonntag be‐ fragt?« »Nein.« »Warum nicht?« »Weil sie irgendwo im Süden ist und ihre im Sterben liegende Mutter besucht.« »Glaube ich nicht.« 209
»Und wo ist sie dann, Sherlock Holmes?« »In der Nähe.« »Seien Sie nicht so ein Arschloch, Dunford.« »Ich sagte doch, ich lasse mit mir handeln.« »Einen Scheiß tun Sie.« Er flüsterte irgendwas im Hintergrund und zischte. »Sie sagen mir, wo sie ist, sonst krieg ich Sie wegen Behinderung der Ermittlungen dran.« »Ach, kommen Sie. Ich will doch nur wissen, was Sie über ein paar tote Schwäne in Bretton Park wissen.« »Sind Sie auf Koks oder was ? Was für tote Schwäne?« »Letzte Woche sind oben in Bretton ein paar Schwänen die Flügel abgehackt worden. Ich wollte nur wissen, was die Polizei darüber denkt, mehr nicht.« Fraser atmete schwer. »Abgehackt?« »Ja, abgehackt.« Er hat von den Gerüchten gehört, dachte ich. »Und hat man sie gefunden?« »Wen?« »Die Flügel.« »Das wissen Sie doch selber, verdammt.« Stille, dann: »Na gut.« »Was, na gut?« »Na gut, ich werde sehen, was sich machen läßt.« »Danke.« »Und wo zum Teufel ist Marjorie Dawson?« »Pflegeheim Hartley, Hemsworth.« »Und woher zum Teufel wissen Sie das?« »Buschtrommeln.« Ich ließ den Hörer baumeln. Ich gab Gas. Sergeant Fraser rannte auf Schuhen Größe 44 durch die Poli‐ 210
zeistation. Ich war zehn Minuten vom Pflegeheim Hartley entfernt. Sergeant Fraser knöpfte sich die Jacke zu und schnappte sich seinen Hut. Ich hatte die Scheibe einen Spalt weit geöffnet, mir eine Ziga‐ rette angezündet, Radio 3 lief, Vivaldi. Sergeant Fraser hockte vor dem Büro des Chefs und sah auf die billige Uhr, die ihm seine Frau letzte Weihnachten geschenkt hatte. Ich lächelte, hatte mindestens eine Stunde Vorsprung. Mit frischen Blumen in der Hand klingelte ich am Pflegeheim Hartley. Ich hatte niemals Blumen ins St. James mitgebracht. Hatte meinem Vater nicht einen einzigen Blumenstengel ge‐ bracht. Das Gebäude, das eher wie ein altes Herrschaftshaus oder Ho‐ tel aussah, warf einen kalten Schlagschatten über das ungepflegte Grundstück. Zwei alte Frauen beobachteten mich durchs Erker‐ fenster eines Wintergartens. Eine der beiden massierte sich die linke Brust und quetschte sich mit den Fingern die Brustwarze. Ich fragte mich, wann meine Mutter aufgehört hatte, meinem Vater Blumen mitzubringen. Eine rotgesichtige Frau mittleren Alters in einem weißen Kittel öffnete die Tür. »Kann ich Ihnen helfen?« »Ich hoffe. Ich wollte meine Tante Marjorie besuchen. Mrs. Marjorie Dawson.« »Wirklich? Ich verstehe. Kommen Sie bitte mit«, sagte die Frau und hielt mir die Tür auf. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wann ich meinen Vater zum letzten Mal besucht hatte, Montag oder Dienstag. 211
»Wie geht es ihr?« »Nun, wir mußten ihr was für ihre Nerven geben. Nur um sie ein wenig zu beruhigen.« Sie führte mich in eine große Halle mit einer noch größeren Treppe. »Tut mir leid, das zu hören«, sagte ich. »Ich habe gehört, sie war in einem ziemlich schlechten Zu‐ stand, als man sie wieder eingeliefert hat.« Wieder, dachte ich und biß mir auf die Zunge. »Wann haben Sie denn Ihre Tante das letzte Mal gesehen, Mr....?« »Dunston. Eric Dunston«, sagte ich und streckte ihr lächelnd meine Hand entgegen. »Mrs. White«, sagte Mrs. White und gab mir die Hand. »Die Hartleys sind diese Woche außer Haus.« »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte ich und war ernst‐ haft froh, nicht den Hartleys zu begegnen. »Sie ist oben. Zimmer 102. Privatzimmer natürlich.« Mein Vater war auch in einem Privatzimmer ohne Blumen gelandet, ein Haufen Knochen in einem braunen Ledersack. Mrs. White ging in ihrem weißen Kittel voran die Treppe hin‐ auf. Die Heizung lief auf vollen Touren und irgendwo summte leise ein Fernseher oder Radio. Der Geruch nach Kantinenessen be‐ gleitete uns die Stufen hinauf, so als wäre er mir den ganzen Weg vom St. James Hospital in Leeds gefolgt. Oben gingen wir einen überhitzten Flur voller großer Heiz‐ körper entlang und kamen zu Zimmer 102. Mein Herz pochte laut und schnell, und ich sagte: »Danke. Ich habe Sie lang genug aufgehalten, Mrs. White.« »Ach, Unsinn«, sagte Mrs. White lächelnd, klopfte an die Tür 212
und öffnete sie. »Nicht der Rede wert.« Das Zimmer war sehr schön, ins Licht der Wintersonne ge‐ taucht, voller Blumen,.Radio 2 dudelte was Leichtes. Mrs. Marjorie Dawson lag mit geschlossenen Augen auf zwei großen Kissen, unter all den Bettdecken lugte der Kragen ihres Morgenmantels vor. Ein dünner Schweißfilm lag auf ihrem Ge‐ sicht und hatte ihre Dauerwelle ruiniert, wodurch sie jünger wirkte, als sie wahrscheinlich war. Sie sah aus wie meine Mutter. Ich betrachtete die Flaschen Lucozade und Robinson’s Barley Waterund entdeckte im Glas das hagere Gesicht meines Vaters. Mrs. White ging zu den Kissen und berührte Mrs. Dawson sanft am Arm. »Marjorie, meine Liebe. Sie haben Besuch.« Mrs. Dawson schlug langsam ihre Augen auf und sah sich im Zimmer um. » Möchten Sie Tee ? « fragte mich Mrs. White und zupfte an den Blumen auf dem Nachttisch herum. »Nein danke«, sagte ich und schaute Mrs. Dawson an. Mrs. White nahm mir die Blumen ab und ging zum Wasch‐ becken in der Ecke. »Gut, ich stell’ nur schnell die Blumen ins Wasser und lass’ Sie dann allein.« »Danke«, sagte ich; etwas anderes fiel mir nicht ein. Mrs. Dawson sah mich unverwandt an und durch mich hin‐ durch. Mrs. White haue die Vase mit Wasser gefüllt. »Das ist Eric, meine Liebe. Dein Neffe«, sagte sie, drehte sich zu mir und flüsterte: »Keine Sorge. Manchmal braucht sie eine Weile, um klar zu werden. Bei Ihrem Onkel und seinen Freunden letzte Nacht war es dasselbe.« 213
Mrs. White stellte die Vase mit den frischen Blumen auf den Nachttisch. »Ich bin fertig. Wenn Sie etwas brauchen, ich bin im Wintergarten. Bis später«, lächelte sie, zwinkerte mir zu und schloß die Tür. Das Zimmer war plötzlich unerträglich voll von Radio 2. Und unerträglich heiß. Mein Vater war verschwunden. Ich ging zum Fenster. Der Riegel war übermalt worden. Ich fuhr mit den Fingern über die Farbe. »Abgeschlossen. « Ich drehte mich um. Mrs. Dawson saß aufrecht im Bett. »Ich verstehe«, sagte ich. Ich stand am Fenster, unter den Klamotten schweißgebadet. Mrs. Dawson griff zum Nachttisch und stellte das Radio ab. »Wer sind Sie?« »Edward Dunford.« »Und warum sind Sie hier, Mr. Edward Dunford?« »Ich bin Reporter.« »Also haben Sie die liebe Mrs. White angelogen?« »Berufskrankheit. « »Woher wußten Sie, daß ich hier bin?« »Ich habe einen anonymen Tip erhalten.« »Da sollte ich mich wohl geschmeichelt fühlen, Gegenstand eines anonymen Tips zu sein«, sagte Mrs. Dawson und strich sich ihre Haare hinter die Ohren. »Das klingt so glamourös, finden Sie nicht?« »Wie bei einem Rennpferd«, sagte ich und dachte an AF. Mrs. Marjorie Dawson lächelte und sagte: »Und warum in‐ teressieren Sie sich für einen alten Klepper wie mich, Mr. Edward Dunford?« 214
»Mein Kollege Barry Gannon hat Sie letzten Sonntag auf‐ gesucht. Erinnern Sie sich noch?« »Ich erinnere mich.« »Sie haben gesagt, sein Leben sei in Gefahr.« »Habe ich das? Ich sage so viel.« Mrs. Dawson beugte sich vor und schnupperte an den Blumen, die ich ihr mitgebracht hatte. »Er ist Sonntag nacht ermordet worden.« Mrs. Dawson sah von den Blumen auf; ihre Augen waren feucht. »Und Sie sind hergekommen, um mir das zu erzählen?« »Haben Sie nichts davon gewußt?« »Wer weiß schon, was ich heutzutage wissen soll?« Ich sah hinaus über das Grundstück zu den kahlen Bäumen, deren Schatten in der Sonne verkümmerten. »Warum haben Sie ihm gesagt, sein Leben sei in Gefahr?« »Er stellte rücksichtslose Fragen nach rücksichtslosen Män‐ nern.« »Was für Fragen? Nach Ihrem Mann?« Mrs. Dawson lächelte traurig: »Mr. Dunford, mein Mann mag manches sein, aber rücksichtslos ist er nicht.« »Worüber haben Sie sich dann unterhalten?« »Über gemeinsame Bekannte, Architektur, Sport, all so was.« Eine Träne glitt ihr über die Wange zum Hals. »Sport?« »Rugby League, können Sie sich das vorstellen?« »Was denn?« »Nun, ich bin kein Fan davon, also war die Unterhaltung recht einseitig.« »Donald Foster ist ein Fan, oder?« »Wirklich? Ich dachte, seine Frau.« Eine zweite Träne. »Seine Frau?« 215
»Also wirklich, Mr. Dunford, geht das schon wieder los. Sol‐ ches Gerede fordert Opfer.« Ich ging wieder zum Fenster. Ein blauweißer Streifenwagen kam die Schotterzufahrt herauf. »Scheiße.« Fraser? Ich sah auf die Uhr meines Vaters. Es waren gerade erst 40 Minuten seit meinem Anruf ver‐ gangen. Nicht Fraser? Ich ging zur Tür. »Wollen Sie schon gehen?« »Ich fürchte, die Polizei ist da. Sie werden wohl mit Ihnen über Barry Gannon reden wollen.« »Nicht schon wieder«, seufzte Mrs. Dawson. »Schon wieder? Was meinen Sie mit schon wieder?« Man hörte Rufe, dann trampelten Stiefel die Treppe herauf. »Ich denke, Sie sollten jetzt gehen«, sagte Mrs. Dawson. Die Tür flog auf. »Tja, das finde ich auch«, sagte der erste Polizist durch die offene Tür. Der mit dem Bart. Nicht Fraser. Scheiß auf Fraser. »Ich dachte, wir hätten dir klargemacht, keine Leute zu be‐ lästigen, die nicht belästigt werden wollen«, sagte der Kleine. Sie waren nur zu zweit, aber ich hatte das Gefühl, als sei das ganze Zimmer voller Männer in schwarzen Uniformen mit eisen‐ beschlagenen Stiefeln und Knüppeln in den Händen. Der Kurze kam auf mich zu. »Und jetzt wird dir der Bulle den Kopf abreißen.« 216
Ein Tritt gegen den Knöchel brachte mich auf die Knie. Ich kroch über den Teppich, meine Augen brannten, feucht vor siedendheißen Tränen, und ich versuchte aufzustehen. Ein paar weiße Nylonstrümpfe kamen auf mich zu. »Sie Lügner«, zischte Mrs. White. Ein paar große Füße führten sie weg. »Du bist tot«, flüsterte der Bärtige, packte mich bei den Haa‐ ren und schleifte mich aus dem Zimmer. Meine Kopfhaut brannte wie Feuer; ich sah zum Bett zurück. Mrs. Dawson seitlich mit dem Rücken zur Tür, das Radio laut aulgedreht. Die Tür zu. Das Zimmer verschwunden. Riesige Affenhände packten mich hart unter den Achsel‐ höhlen, die kleineren Krallen noch immer an den Haarwurzeln. Ich sah einen riesigen Heizkörper, an dem die Farbe in Strei‐ fen abblätterte. Scheiße, von weißer warmer Wolle zu schwarzem gelbem Schmerz. Ich war oben an der Treppe, meine Schuhe mühten sich, an den Füßen zu bleiben. Ich hielt mich auf halber Höhe am Geländer fest. Scheiße, mir hatte es den Atem aus Brust und Rippen ver‐ schlagen. Dann war ich am Fuße der Treppe, versuchte aufzustehen, eine Hand auf der untersten Stufe, die andere an der Brust. Scheiße, meine Kopfhaut roter gelber schwarzer Schmerz. Dann war die Hitze verschwunden, und es gab nur kalte Luft und Splitter der geschotterten Einfahrt in meinen Handflächen. Scheiße, mein Rücken. Und dann rannten wir alle die Einfahrt hinunter. Scheiße, mit dem Kopf gegen die grüne Tür des Viva. 217
Sie packten meinen Schwanz, stopften mir ihre Hände in die Hosentaschen, und ich kicherte und wand mich hin und her. Scheiße, fette Lederhände zerquetschten mir das Gesicht zu gelbem rotem Schmerz. Und dann öffneten sie die Wagentür und steckten meine Hand dazwischen. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Dann schwarz. Gelbes Licht. Wer hat unseren kleinen Eddie gern? Wieder gelbes Licht. »Gott sei Dank.« Das rosige Gesicht meiner Mutter, die den Kopf schüttelt. »Was ist passiert, mein Schatz?« Zwei große schwarze Gestalten hinter ihr, wie riesige Krähen. »Eddie?« Ein gelbes Zimmer voller Schwarz und Blau. »Sie sind in der Notaufnahme Pinderfields«, sagte eine tiefe Männerstimme aus dem Schwarz heraus. Da war etwas am Ende meines Arms. »Fühlen Sie etwas?« Eine dicke, fett bandagierte Hand am Ende meines Arms. »Vorsichtig, mein Schatz«, sagte meine Mutter, eine sanfte braune Hand auf meiner Wange. Gelbes Licht, schwarze Blitze. »Die wissen, wer ich bin! Die wissen, wo wir wohnen!« »Wir sollten ihn jetzt besser in Frieden lassen«, sagte ein ande‐ rer Mann. Schwarzer Blitz. »Tut mir leid, Ma.« »Mach dir um mich keine Gedanken, mein Schatz.« 218
Ein Taxi, Pakistanis am Funk und Kiefernduft. Ich starrte auf meine weiße rechte Hand. »Wie spät ist es?« »Gerade drei.« »Mittwoch?« »Ja, mein Schau. Mittwoch.« Draußen hinter der Scheibe kroch die Innenstadt von Wake‐ field vorbei. »Was ist passiert, Ma?« »Ich weiß es nicht, mein Schatz.« »Wer hat dich angerufen?« »Angerufen? Ich habe dich gefunden.« »Wo?« Meine Mutter drehte das Gesicht zur Scheibe und schniefte. »In der Einfahrt.« »Was ist mit dem Auto?« »Ich habe dich im Auto gefunden. Du hast auf dem Rücksitz gelegen.« »Ma ...« »Blutverschmiert. « »Ma ...« »Hast einfach dagelegen.« »Bitte ... « »Ich hab gedacht, du bist tot.« Sie weinte. Ich starrte auf meine weiße rechte Hand, der Verband stank noch mehr als das Taxi. »Was ist mit der Polizei?« »Der Rettungssanitäter hat sie gerufen. Er hat dich gesehen und es sofort gemeldet.« Meine Mutter legte eine Hand auf meinen gesunden Arm und schaute mir in die Augen: »Wer hat dir das angetan?« 219
Meine kalte Hand im Verband pochte, zusammen mit mei‐ nem Puls. »Ich habe keine Ahnung.« Wieder daheim, Wesley Street, Ossett. Die Taxitür knallte hinter mir zu. Ich erschrak. An der Beifahrertür des Viva waren braune Schmierflecken. Meine Mutter ging hinter mir die Einfahrt hinauf und schloß ihre Handtasche. Ich steckte die linke Hand in die rechte Hosentasche. »Was machst du da?« »Ich muß weg.« »Das ist doch Unsinn, mein Junge.« »Ma, bitte.« »Du kannst nicht fahren.« »Ma, hör auf.« »Nein, du hörst auf. Tu mir das nicht an.« Sie versuchte, mir die Wagenschlüssel wegzunehmen. »Ma!« »Das kannst du mir nicht antun, Edward.« Ich setzte rückwärts aus der Einfahrt, Tränen und schwarze Blitze vor Augen. Meine Mutter stand in der Einfahrt und schaute mir nach. Der einarmige Autofahrer. Rotes Licht, grünes Licht, bernsteinfarbenes Licht, rot. Auf dem Parkplatz vor dem Redbeck heulte ich. Schwarzer Schmerz, weißer Schmerz, gelber Schmerz, mehr. Zimmer 27, unangetastet. Mit einer Hand goß ich mir kaltes Wasser über den Kopf. 220
Im Spiegel ein Gesicht, braune Schlieren alten Bluts flossen daran herab. Zimmer 27, nur Blut. 20 Minuten später auf der langsamen Straße nach Fitzwilliam. Ich fuhr, behielt ein Auge im Rückspiegel, knabberte den Ver‐ schluß von einer Dose Paracetamoltabletten ab, schluckte sechs Stück, um den Schmerz zu vergessen. Drohend tauchte Fitzwilliam auf, eine dreckige braune Berg‐ arbeiterstadt. Die weiße rechte Hand am Lenkrad, die linke in den Taschen. Mit der gesunden Hand und den Zähnen faltete ich eine Seite aus dem Telefonbuch des Redbeck auseinander: Ashworth, D. 69 Newstead View, Fitzwilliam. Eingekreist und unterstrichen. F U C K T H E I R A hatte jemand an die Eisenbrücke gesprüht. »He, Jungs. Wo finde ich Newstead View?« Drei Teenager in weiten grünen Hosen, die sich eine Zigarette teilten und dicke rosige Schleimbrocken an die Scheibe des Bus‐ häuschens rotzten. »Was?« fragten sie. »Newstead View?« »Rechts am Schnapsladen. Dann links.« »Vielen Dank.« »Will ich auch hoffen.« Ich quälte mich, die Scheibe wieder hochzukurbeln, und würgte den Motor ab, als ich losfahren wollte; die drei grünen Hosen schickten mir einen rosigen Schauer und drei Mittelfinger hinterher. Meine vier Finger unter dem Verband waren zu Brei zer‐ 221
schlagen. Rechts am Spirituosenladen, dann links in die Newstead View. Ich hielt an und schaltete den Motor aus. Newstead View bestand aus Reihenhäusern mit Blick auf eine dreckige Moorlandschaft. Ponys grasten zwischen rostigen Trak‐ toren und Metallschrort. Ein Rudel Hunde jagte eine Plastiktüte die Straße entlang. Irgendwo plärrten Babys. Ich suchte in meinen Jackentaschen. Nahm meinen Stift heraus. Mein Magen war leer, die Augen feucht. Ich starrte auf die weiße rechte Hand, die sich nicht schließen ließ, die weiße rechte Hand, mit der sich nicht schreiben ließ. Der Stift rollte langsam vom Verband und landete auf dem Boden des Wagens. 69 Newstead View, ein sauberer Garten und Fensterrahmen, von denen die Farbe abblätterte. Der Fernseher lief. Klopf, Hopf. Mit der linken Hand stellte ich das Philips Pocket Memo in meiner rechten Jackentasche an. »Hallo. Mein Name ist Edward Dunford.« »Ja bitte?« sagte eine vorzeitig ergraute Frau mit krummen Zähnen und irischem Akzent. »Ist James zu Hause?« Die Hände tief in den Taschen eines blauen Hauskittels ver‐ graben, sagte sie: »Sie sind der Typ von der Post, oder?« »Ja.« »Der, der mit Terry Jones gesprochen hat?« »Ja.« 222
»Was wollen Sie von Jimmy?« »Nur kurz mit ihm sprechen, das ist alles.« »Er hat mit der Polizei schon lange genug gesprochen. Er muß das nicht noch mal durchkauen. Vor allen Dingen nicht ...« Ich streckte die Hand aus und hielt mich am Rahmen der Haustür fest, um nicht umzufallen. »Sie hatten einen Unfall?« »Ja.« Sie seufzte und murmelte: »Na, kommen Sie rein und setzen Sie sich. Sie sehen nicht besonders gut aus.« Mrs. Ashworth scheuchte mich ins Vorderzimmer und in einen Sessel, der zu nah am Kamin stand. »Jimmy! Der Herr ist von der Post und will mit dir reden.« Meine linke Wange glühte schon; in dem Zimmer über mir rumste es zweimal laut. Mrs. Ashworth schaltete den Fernseher aus, und das Zimmer fiel in orangefarbene Dunkelheit. »Sie hätten früher kommen sollen.« »Warum?« »Na ja, ich hab’s nicht selber gesehen, aber die Gegend hier hat vor Polizei nur so gewimmelt, hat man mir erzählt.« »Wann?« »Gegen fünf Uhr heute morgen.« »Wo?« fragte ich und starrte im Dämmerlicht ein Schulphoto auf dem Fernseher an, ein langhaariger Bursche grinste mich an, der Krawattenknoten so groß wie sein Gesicht. »Hier. In der Straße.« »Um fünf Uhr früh?« »Ja, fünf. Keiner weiß, worum es ging, aber alle glauben, es ...« »Halt den Mund, Ma!« Jimmy Ashworth stand in einem alten Schulhemd und roter Trainingshose im Türrahmen. 223
»Ah, du bist auf. Tee?« fragte seine Mutter. »Bitte«, antwortete ich. »Ja«, sagte der junge Bursche. Mrs. Ashworth ging halb rückwärts aus dem Zimmer und murmelte etwas. Der Junge setzte sich auf den Fußboden, lehnte sich gegen das Sofa und strich sich die Strähnen aus dem Gesicht. »Jimmy Ashworth?« Er nickte. »Sind Sie der Kerl, der mit Terry gesprochen hat?« »Ja, bin ich.« »Terry sagte, da könnte Schotter für uns drin sein?« »Möglich.« Ich brauchte dringend einen anderen Platz. Jimmy Ashworth griff hinter sich nach einer Schachtel Ziga‐ retten auf der Sofalehne. Die Schachtel fiel zu Boden, und er nahm sich eine Zigarette. Ich beugte mich vor und sagte leise: »Wollen Sie mir erzählen, was passiert ist?« »Was ist mit Ihrer Hand?« entgegnete Jimmy und gab sich Feuer. »Die hab ich mir in einer Autotür geklemmt. Was ist mit Ihrem Auge?« »Sieht man das?« »Nur, wenn Sie sich Feuer geben. Die Bullen?« »Vielleicht.« »Die können einem das Leben schwermachen, hm?« »Kann man so sagen.« »Na, dann verdienen Sie sich mal ein paar Pfund. Was ist passiert?« Jimmy Ashworth zog an seiner Zigarette und blies den Qualm dann langsam in Richtung des orangeglühenden Feuers. »Wir haben auf den Chef gewartet, aber der kam nicht, und 224
es regnete, also hockten wir einfach nur rum, wissen Sie, tranken Tee und so. Ich bin rüber zum Ditch, mußte mal pissen, und da hab ich sie gesehen.« »Wo war sie?« »Im Ditch, ziemlich weit oben. So als ob sie runtergerollt war’ oder so. Dann hab ich die, die ...« Der Kessel in der Küche begann zu pfeifen. »Flügel?« »Das wissen Sie?« »Ja.« »Hat Terry Ihnen das erzählt?« »Ja.« Jimmy Ashworth strich sich die Haare aus dem Gesicht und versengte sie sich mit der Glut. »Scheiße.« Der Gestank verbrannter Haare hing im Raum. Jimmy Ashworth sah mich an. »Die hatten sich ganz verhed‐ dert.« »Und was haben Sie gemacht?« fragte ich und drehte mich so weit wie möglich vom Feuer weg. »Nichts. Ich war wie versteinert. Ich konnte nicht glauben, daß sie es war. Sie sah so anders aus, so weiß.« Mrs. Ashworth kam mit einem Teetablett herein und stellte es ab. »Alle haben erzählt, was für ein hübsches kleines Ding sie war«, flüsterte sie. Mein ganzer rechter Arm fühlte sich an, als würde kein Blut mehr darin fließen. »Und Sie waren allein?« fragte ich. »Ja.« Die Hand pochte wieder, der Verband war durchgeschwitzt und juckte. »Was war mit Terry Jones?« »Was soll mit ihm gewesen sein?« »Danke«, sagte ich und nahm Mrs. Ashworth eine Tasse ab. 225
»Wann hat Terry sie gesehen?« »Na, ich bin zu den Jungs zurück, oder nicht?« »Und wann?« »Wie meinen Sie das?« »Na ja, Sie sagten, Sie seien wie versteinert gewesen, da hab ich mich gefragt, wie lange Sie da gestanden haben, bevor Sie den anderen davon erzählten.« »Ich hab keinen Schimmer, verdammt.« »Jimmy, bitte. Nicht in diesem Haus«, sagte seine Mutter leise. »Er ist genau wie die verdammten Bullen. Ich weiß nicht, wie lang. « »Tut mir leid, Jimmy«, sagte ich und stellte meine Tasse auf den Kaminsims, damit ich mich am Verband kratzen konnte. »Ich bin zum Schuppen zurück und hatte gehofft, der Chef ist da, aber ...« »Mr. Foster?« »Nee, nee. Mr. Foster ist der große Boß. Unser Chef ist Mr. Marsh.« »George Marsh. Sehr neuer Mann«, sagte Mrs. Ashworth. Jimmy Ashworth sah seine Mutter an, seufzte und sagte: »Jedenfalls war der Chef nicht da, nur Terry.« »Und die anderen?« »Hauen sich irgendwo im Wagen verdrückt.« »Also haben Sie Terry Jones davon erzählt, und er ist mit Ihnen zum Devil’s Ditch zurückgegangen?« »Nee. Ich bin los, die Polizei anrufen. Einmal hat mir gelangt.« »Also ist Terry hin und hat nachgesehen, während Sie die Po‐ lizei angerufen haben?« »Ja.« »Alleine?« »Alleine, hab’ ich doch gesagt.« 226
»Und?« Jimmy Ashworth schaute in den orangefarbenen Lichtschim‐ mer. »Und die Polizei ist gekommen und hat uns aufs Revier in der Wood Street gebracht.« »Die haben geglaubt, er war’s, wissen Sie?« Mrs. Ashworth betupfte sich die Augen. »Ma, halt den Mund!« »Was war mit Terry Jones?« fragte ich; meine Hand pochte heftig und wurde dann taub, so als spürte sie, daß etwas fehlte. »Ein Nichtsnutz, der.« »Ma, willst du wohl den Mund halten, verdammt!« Mir war heiß, ich war wie betäubt, war müde. »Hat die Polizei ihn befragt?« »Ja.« Ich schwitzte, mich juckte es, und ich wollte nur noch raus aus diesem Ofen. »Aber die haben nicht geglaubt, daß er es war, oder?« »Weiß nicht. Fragen Sie sie.« »Warum dachten die, Sie hätten es getan, Jimmy?« »Sagte ich doch schon, fragen Sie sie.« Ich stand auf. »Sie sind ein kluger Bursche, Jimmy.« Er schaute überrascht auf. »Wieso?« »Sie halten den Mund.« »Er ist ein guter Junge, Mr. Dunford. Er hat nichts gemacht«, sagte Mrs. Ashworth und stand auf. »Danke, daß Sie mich reingelassen haben, Mrs. Ashworth.« »Was werden Sie denn jetzt über ihn schreiben?« Sie stand an der Tür und hatte die Hände tief in den Kitteltaschen vergraben. »Nichts.« »Nichts?« fragte Jimmy Ashworth, der barfuß dastand. »Nichts«, sagte ich und hob meine fette, weiße rechte Hand. 227
Ich fuhr langsam durch das Schwarz zurück zum Redbeck, schluckte Pillen und verteilte noch mehr davon auf dem Boden, Lastwagenlichter und Weihnachtsbäume sahen aus wie Geister in der Nacht. Tränen kullerten mir über die Wangen, aber nicht vor Schmerz. »In was für einer blutigen Welt leben wir eigentlich.« Kinder wurden geschlachtet, und niemand interessierte sich einen Scheißdreck dafür. König Herodes lebt. In der hellerleuchteten Lobby nahm ich wieder einen Stapel Mün‐ zen und rief in der Wesley Street an; ich ließ es fünf Minuten lang klingeln. »Das kannst du mir nicht antun, Edward!« Ich wollte erst bei meiner Schwester anrufen, änderte dann aber meinen Entschluß. Ich kaufte mir die Evening Post und trank dann im Redbeck’s einen Kaffee. Die Zeitung war voll mit Preiserhöhungen und IRA. Es gab einen kurzen Artikel über die Untersuchungen im Fall Clare Kemplay, nichtssagende Äußerungen von Detective Superinten‐ dent Noble irgendwo auf Seite zwei, keine Autorenzeile. Was zum Teufel machte Jack? »Ich habe Jack Whitehead aus dem Gaiety kommen sehen, und er sah betrunken und wütend aus. « Die letzten Seiten waren ganz Leeds United gewidmet, Fuß‐ ball hatte die Rugby League vom Platz gestellt. Kein Johnny Kelly, kein Wakefield Trinity, nur St. Helens, das 228
mit sieben Punkten klar führte. »Wirklich?Ich dachte, seine Frau.« Ich zeichnete Kreise mit einem Löffel voller Kaffeeflecken: Vermißt: Clare Kemplay ... Clare Kemplays Leiche wird von James Ashworth entdeckt ... James Ashworth arbeitet bei Foster’s Construction ... Foster’s Construction gehört Donald Foster ... Donald Foster ist Vorsitzender des Wakefield Trinity Rugby League Club ... Wakefield Trinitys Star heißt Johnny Kelly ... Johnny Kelly, Bruder von Paula Garland ... Paula Garland ist die Mutter von Jeanette Garland ... Jeanette Garland: vermißt. »Hängt doch alles irgendwie zusammen. Nenn‘ mir zwei Dinge, die nicht zusammenhängen.« Barry Gannon, so als würde er mir gegenüber am Tisch sitzen. »Und was hast du vor?« Wieder in der hellen Lobby, es war gerade sechs geworden, blätterte ich durchs Telefonbuch. »Hier spricht Edward Dunford.« »Ja?« »Ich muß Sie sprechen.« »Kommen Sie besser rein.« Mrs. Paula Garland stand in der Tür zum Haus Nummer 11, Brunt Street, Castleford. »Danke.« Und wieder betrat ich ein warmes Zimmer in einem Reihen‐ haus, Coronation Street fing gerade an. Die rechte Hand hielt ich in der Tasche verborgen. Eine untersetzte, rothaarige Frau kam aus der Küche. »Hallo, 229
Mr. Dunford.« »Scotch Clare, sie wohnt zwei Häuser weiter. Sie wollte ge‐ rade gehen, oder?« »Ja. Hat mich gefreut«, sagte die Frau und drückte mir die linke Hand. »Sie gehen doch nicht meinetwegen, hoffe ich?« log ich von Berufs wegen. »Ah, der hat ja wenigstens Manieren«, sagte die schottische Clare und ging zur hellroten Tür. Paula Garland hielt sie noch immer offen. »Ich seh’ dich mor‐ gen, meine Liebe.« »Ja. Hat mich gefreut, Mr. Dunford. Vielleicht sehen wir uns mal auf einen kleinen Weihnachtspunsch.« »Eddie, bitte. Das war’ nett«, sagte ich lächelnd. »Bis bald, Eddie. Fröhliche Weihnachten«, grinste Clare. Paula Garland ging ein Stück mit Clare auf die Straße hinaus. »Bis dann«, sagte sie draußen und kicherte. Ich stand einen Augenblick allein im Vorderzimmer und starr‐ te das Photo auf dem Fernseher an. Paula Garland kam wieder herein und machte die rote Tür zu. »Tut mir leid.« »Nein, es tut mir leid, daß ich einfach so telefonisch ...« »Stellen Sie sich nicht so an. Setzen Sie sich.« »Danke«, sagte ich und setzte mich auf das cremeweiße Ledersofa. Sie wollte gerade anheben: »Wegen gestern abend, ich ...« Ich reckte die Hände hoch. »Vergessen Sie’s.« »Was ist denn mit Ihrer Hand passiert?« fragte Paula Garland, schlug sich die Hand vor den Mund und starrte den grau werden‐ den Klumpen Verband an meinem Arm an. »Jemand hat sie mir in meiner Wagentür eingeklemmt.« 230
»Sie machen Witze.« »Nein.« »Wer?« »Zwei Polizisten.« »Sie machen Witze?« »Nein.« »Warum?« Ich sah auf und versuchte ein Lächeln. »Ich dachte, das könn‐ ten Sie mir vielleicht verraten.« »Ich?« An ihrem braunen ausgestellten Rock hing ein roter Baum‐ wollfaden. Ich wollte mich schon unterbrechen und ihr das mit dem Stück Faden sagen. Statt dessen sagte ich: »Dieselben beiden Polizisten haben mich schon einmal gewarnt, nachdem ich am Sonntag hier bei Ihnen war.« »Sonntag?« »Als ich das erste Mal hier war.« »Ich habe der Polizei kein Wort davon gesagt.« »Wem dann?« »Nur Paul.« »Wem noch?« »Niemandem.« »Bitte.« Paula Garland stand inmitten der Möbel, umgeben von Tro‐ phäen, Photographien und Weihnachtskarten, und zog ihre gelb‐ grün‐braungestreifte Strickjacke fest um sich. »Bitte, Mrs. Garland ...« »Paula«, flüsterte sie. Ich wollte am liebsten den Mund halten, die Hand aus‐ strecken, den roten Baumwollraden abzupfen und sie so fest in 231
die Arme nehmen, als ginge es um mein Leben. Statt dessen sagte ich: »Paula, bitte, ich muß es wissen.« Sie seufzte und setzte sich in den cremefarbenen Sessel mir gegenüber. »Nachdem Sie wieder fort waren, habe ich mich fürchterlich aufgeregt, und ...« »Bitte.« »Na ja, die Fosters sind vorbeigekommen ...« »Donald Foster?« »Und seine Frau.« »Wozu?« Paula Garlands blaue Augen blitzten kalt. »Sie sind Freunde, okay?« »Tut mir leid. Das habe ich nicht so gemeint.« Sie seufzte: »Sie kamen vorbei und wollten wissen, ob ich von Johnny gehört hätte.« »Wann?« »Zehn, fünfzehn Minuten nachdem Sie gegangen waren. Ich habe immer noch geweint, und ...« »Es tut mir leid.« »Es war nicht nur deswegen. Die ganze Woche hat schon das Telefon geklingelt, und alle wollten mit Johnny reden.« »Wer?« »Die Zeitungen. Ihre Kollegen.« Sie sprach mit dem Fußboden. »Haben Sie Foster von mir erzählt?« »Nicht mit Namen, nein.« »Was haben Sie ihm gesagt?« »Nur, daß irgend so ein verdammter Reporter da war und nach Jeanette gefragt hat.« Paula sah auf und starrte meine rechte Hand an. »Erzählen Sie mir von ihm«, sagte ich, und meine tote Hand 232
erwachte wieder zum Leben. »Von wem?« Der pochende Schmerz nahm zu. »Donald Foster.« Paula Garland, die ihr wunderschönes blondes Haar am Hin‐ terkopf zusammengebunden hatte, fragte: »Was denn?« »Alles.« Paula Garland schluckte. »Er ist sehr reich, und er mag Johnny.« »Und?« Paula Garland blinzelte schnell und flüsterte: »Und er war sehr freundlich zu uns, als Jeanette verschwand.« Mein Mund war trocken, die Hand brannte, ich starrte auf das Stückchen Faden und fragte: »Und?« »Und er ist ein Mistkerl, wenn man sich mit ihm anlegt.« Ich hielt meine weiße rechte Hand in die Höhe. »Glauben Sie, er könnte so etwas tun?« »Nein.« »Nein?« »Ich weiß es nicht.« »Sie wissen es nicht?« »Nein, weiß ich nicht, weil ich nicht weiß, warum er so etwas tun sollte.« »Wegen dem, was ich weiß.« »Was meinen Sie damit, was Sie wissen?« »Weil ich weiß, daß alles miteinander zusammenhängt und er das Bindeglied ist.« »Bei was? Wovon reden Sie?« Paula Garland kratzte sich die Unterarme. »Donald Foster kennt Sie und Johnny, und Clare Kemplays Leiche ist auf einer seiner Baustellen in Wakefield gefunden worden.« 233
»Das ist alles?« »Er ist die Verbindung zwischen Jeanette und Clare.« Paula Garland war ganz weiß und zitterte, riß an der Haut auf ihren Armen. »Glauben Sie, Donald Foster hat das kleine Mäd‐ chen umgebracht und mir meine Jeanette weggenommen?« »Nein, das sage ich nicht, aber er weiß es.« »Was weiß er?« Ich war aufgesprungen, der Verband löste sich, und ich brüllte: »Da draußen läuft ein Mann herum, der kleine Mädchen entführt, vergewaltigt und ermordet, und er wird wieder eines entführen, vergewaltigen und ermorden, und niemand hindert ihn daran, weil sich niemand auch nur einen Dreck darum schert.« »Ich schon.« »Das weiß ich, aber die nicht. Die interessieren sich nur für ihre kleinen Lügen und ihr Geld.« Paula Garland flog aus ihrem Sessel auf, küßte mich auf Mund, Augen, Ohren, drückte mich an sich und sagte immer und immer wieder: »Ich danke dir, ich danke dir, ich danke dir.« Mit der linken Hand krallte ich mich an ihren Wirbelknochen fest, meine Rechte baumelte taub herunter gegen ihren Rock, und der rote Baumwollfaden verfing sich im Verband. »Nicht hier«, sagte Paula, nahm vorsichtig meine weiße rechte Hand und führte mich die steile, steile Treppe hinauf. Oben gab es drei Türen, zwei waren zu, die dritte führte ins Bad. An den anderen beiden waren Plastiktürschilder befestigt: einmal Ma &Pa, einmal Jeanette. Wir stolperten durch die Tür Ma & Pa, Paula küßte mich im‐ 234
mer leidenschaftlicher und redete immer schneller: »Dir ist das nicht egal, und du glaubst daran. Du weißt gar nicht, wieviel mir das bedeutet. Es ist schon so lange her, daß es jemandem nicht egal war.« Wir waren auf dem Bett, das Licht vom Treppenabsatz warf warme Schatten auf Schrank und Frisierkommode. »Weißt du, wie oft ich noch immer aufwache und denke, ich muß Jeanette das Frühstück machen, ich muß sie wecken?« Ich lag auf ihr, erwiderte die Küsse, die Schuhe fielen lärmend zu Boden. »Ich möchte nur endlich wieder schlafen und aufwachen kön‐ nen wie alle anderen auch.« Sie setzte sich auf und zog ihre gestreifte Strickjacke aus. Ich versuchte mich auf die rechte Hand zu stützen und zog mit der linken Hand an den kleinen Blumenknöpfen ihrer Bluse. »Es war mir mal ungeheuer wichtig, daß niemand sie je ver‐ gißt, weißt du, daß niemand so über sie spricht, als sei sie Ver‐ gangenheit.« Meine linke Hand zog am Reißverschluß ihres Rocks, ihre Hand war an meinem Hosenschlitz. »Wir waren nicht glücklich, Geoff und ich, weißt du? Aber als wir Jeanette hatten, war uns, als sei es das alles wert.« Mein Mund schmeckte nach Salzwasser, ihre Tränen und Wörter kamen über mich wie ein harter, unablässiger Regen. »Und damals schon, als sie noch ein Baby war, selbst da lag ich schon nachts wach und fragte mich, was ich tun würde, wenn ihr irgendwas zustößt, selbst da sah ich sie schon tot vor mir; ich lag wach und sah sie tot vor mir.« Sie drückte meinen Schwanz zu fest; ich hatte meine Hand in ihrem Schlüpfer. »Meistens lag sie in ihrem kleinen roten Mantel auf der Straße, 235
von einem Auto oder einem Lastwagen überfahren.« Ich küßte ihre Brüste, ging zum Bauch über, rannte vor ihren Wörtern und ihren Küssen davon, hinunter zu ihrem Schlitz. »Und manchmal sah ich sie erdrosselt, mißbraucht, ermordet, und dann stürmte ich in ihr Zimmer und weckte sie und drückte sie an mich und wollte gar nicht mehr aufhören.« Sie fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, kratzte Schorf ab, hatte mein Blut unter ihren Fingernägeln. »Und als sie dann nicht mehr nach Hause kam, da war alles, was ich mir vorgestellt hatte, da waren all diese fürchterlichen Dinge wahr geworden.« Meine Hand brannte, ihre Stimme statisches Rauschen. »Alles war wahr geworden.« Ich mit hartem, schnellem Schwanz in ihrem toten Raum. Sie Schreie und Flüstern im Dunkeln. »Wir begraben unsere Toten lebendig, oder?« Ich zog an ihrer Brustwarze. »Unter Steinen, unter Gras.« Knabberte an ihrem Ohrläppchen. »Wir hören sie Tag für Tag.« Lutschte an ihrer Unterlippe. »Sie reden mit uns.« Nahm ihre Hüfte. »Sie fragen uns: ›Warum, warum, warum?‹« Ich wurde immer schneller und schneller. »Ich höre sie jeden Tag.« Schneller. »Und sie fragt mich: ›Warum?‹« Schneller. »Warum?« Trockene, wunde Haut auf trockener, wunder Haut. 236
»Warum?« Ich dachte an Mary Goldthorpe, ihre Seidenwäsche, ihre Strümpfe. »Sie klopft an diese Tür und will wissen: ›Warum?‹« Schneller. »Sie will wissen: ›Warum?‹« Meine Trockenheit an ihrer Trockenheit. »Ich höre sie: ›Warum, Mami?‹« Ich dachte an Mandy Wymer mit ihrem hochgerutschten Rock. »Warum?« Schnell. Trocken. Dachte an die falsche Garland. Verbraucht. »Ich kann nicht wieder allein sein.« Mein Schwanz war trocken und wund, ich hörte ihr im Dun‐ keln zu. »Sie haben sie mir weggenommen. Und dann Geoff, er ...« Mit offenen Augen dachte ich an doppelläufige Schrotflinten, an Geoff Garland und Graham Goldthorpe, an blutige Muster. »Er war ein Feigling.« Vorbeifahrende Scheinwerfer warfen Schatten an die Zimmer‐ decke, und ich fragte mich, ob Geoff sich hier im Haus, in diesem Zimmer das Hirn weggepustet hatte oder anderswo. »Der Ring war mir sowieso immer zu weit«, sagte sie. Ich lag im Bett mit einer Witwe und Mutter, dachte an Kathryn Taylor und kniff die Augen zu, nur um nicht wirklich hier zu sein. »Und jetzt Johnny.« Ich zählte nur zwei Schlafzimmer und ein Bad. Ich fragte mich, 237
wo Paula Garlands Bruder eigentlich schlief; in Jeanettes Zimmer? »Ich kann nicht mehr so weiterleben.« Ich fuhr mir über den rechten Arm, ihr Kissengeflüster plät‐ scherte vor sich hin, ich war kurz davor einzuschlafen. Es war die Nacht vor Weihnachten. Mitten in einem dunklen Wald stand eine neugebaute Blockhütte, Kerzen leuchteten gelb in den Fenstern. Ich ging durch den Wald, dünner Schnee unter meinen Füßen, und öffnete die schwere Holztür. Im Herd brannte ein Feuer, und es roch nach gutem Essen. Unter einem makellosen Weih‐ nachtsbaum standen Schachteln, wunderschön eingepackte Ge‐ schenke. Ich ging ins Schlafzimmer und sah sie. Sie lag unter einem selbstgemachten Quilt, ihr goldenes Haar auf den Kissen ausgebrei‐ tet, die Augen geschlossen. Ich setzte mich auf die Bettkante und knöpfte meine Kleidung auf. Ich glitt leise unter die Decke und ku‐ schelte mich an sie. Sie war kalt, und sie war feucht. Ich fühlte nach ihren Armen und Beinen. Ich setzte mich auf, riß Quilt und Laken fort, alles rot. Nur Kopf und Brust, daran klaffende Wunden, Arme und Beine fehlten. Ich fiel durch die Laken, ihr Herz plumpste mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Ich hob es mit einer bandagier‐ ten Hand auf, Staub und Federn klebten am Blut. Ich preßte das dreckige Herz gegen ihre Brust, strich ihr über das goldene Haar. Die Haare lösten sich unter meinen Fingern, glitten ihr vom Kopf und ich lag in einem Bett voller Federn und Blut, in der Nacht vor Weih‐ nachten, und jemand klopfte an die Tür. »Was war das?« Ich war hellwach. Paula Garland stand auf. »Das Telefon.« Sie nahm ihre Strickjacke, zog sie an, während sie die Treppe hinunterging; ich konnte ihren Hintern sehen; die Farben standen ihr nicht. Ich lag auf dem Bett und hörte Mäuse oder Vögel im Dach‐ stuhl scharren. 238
Nach zwei, drei Minuten setzte ich mich, stand auf, zog mich an und ging nach unten. Mrs. Paula Garland wiegte sich in dem cremefarbenen Leder‐ sessel vor und zurück und hielt Jeanettes Schulphoto in Händen. »Was ist los? Was ist passiert?« »Das war Paul ...« »Was? Was ist los?« Scheiße, dachte ich, Scheiße, Scheiße. Hatte Visionen von Autounfällen und blutverschmierten Wind‐ schutzscheiben. »Die Polizei ...« Ich hockte auf meinen Knien und schüttelte sie. »Was ?« »Sie haben ihn.« »Wen? Paul?« »Irgendeinen Burschen aus Fitzwilliam.« »Was?« »Die sagen, er sei’s gewesen.« »Was denn?« »Die sagen, er hat Clare Kemplay umgebracht und ...« »Was?« »Er sagt, er habe noch andere auf dem Gewissen.« Plötzlich wirkte alles rot, blutblind. »Er sagt, er habe Jeanette umgebracht.« »Jeanette?« Mund und Augen hatte sie aufgerissen, kein Ton, keine Tränen. Ich rannte die Treppe hinauf, meine Hand brannte wie Feuer. Dann wieder hinunter, die Schuhe in der Hand. »Wohin gehst du?« »In die Redaktion.« »Bitte geh nicht.« »Ich muß.« 239
»Laß mich nicht allein.« »Ich muß gehen.« »Komm zurück.« »Natürlich.« »Schwörst du?« »Ich schwöre.« 22.00 Uhr, Mittwoch, 18. Dezember 1974. Der Motorway glatt, schwarz und naß. Ein Arm auf dem Lenkrad, Bleifuß, Eiswind pfiff durch den Viva, und ich dachte an Jimmy James Ashworth. »Die haben geglaubt, er war’s, wissen Sie?« Ich sah in den Rückspiegel, der Motorway war leer, bis auf Laster und Liebespaare und Jimmy James Ashworth. »Ma, halt den Mund!« Ausfahrt Zigeunerlager, schwarze Nacht verbarg die Trüm‐ mer, ich schüttelte mir in der rechten Hand das Blut warm und dachte an Jimmy James Ashworth. »Warum dachten die, Sie hätten es getan, Jimmy?« Durch die Weihnachtsbeleuchtung der Innenstadt von Leeds schrieb ich den Artikel schon im Kopf vor und dachte, Jimmy James Ashworth. »Fragen Sie sie.« Das Gebäude der Yorkshire Post, auf zehn Etagen hell erleuch‐ tet. Ich parkte, grinste und dachte, Jimmy James Ashworth. »Sie sind ein kluger Bursche, Jimmy. « Ein großer Weihnachtsbaum im Foyer, gläserne Doppeltüren mit weißen Feiertagswünschen besprüht. Ich drückte auf den Fahrstuhlknopf und dachte, Jimmy James Ashworth. »Sie haken den Mund. « Die Türen gingen auf. Ich betrat den Fahrstuhl und drückte auf 240
die 10, mein Herz schlug, und ich dachte, Jimmy James Ashworth. »Er ist ein guter Junge, Mr. Dunford. Er hat nichts gemacht.« Die Türen gingen im zehnten Stock wieder auf, das Büro schwirrte nur so, ein Summen überall. Der Blick auf jedem Ge‐ sicht brüllte: W I R H A B E N I H N ! Ich packte das Philips Pocket Memo mit der linken Hand und dachte, Jimmy James Ashworth, dankte Jimmy James Ashworth. »Was werden Sie denn jetzt über ihn schreiben?« Ein Knüller, dachte ich. Ich platzte ohne zu klopfen in Haddens Büro. Im Zimmer war es still wie im Auge eines Hurrikans. Jack Whitehead, Zweitagebart und Augen so groß wie Teller, blickte auf. »Edward ...« Hadden, Brille halb auf der Nase. »Ich habe ihn heute nachmittag interviewt. Ich hab ihn ver‐ dammt noch mal heute nachmittag interviewt!« Hadden stöhnte auf. »Wen?« »Nein, hast du nicht«, sagte Jack grinsend, und es stank nach Schnaps. »Ich habe in seinem Wohnzimmer gesessen, und er hat mir praktisch alles erzählt.« »Ach, wirklich?« fragte Jack höhnisch. »Ja, wirklich.« »Von wem reden wir denn überhaupt, du Knalltüte?« »James Ashworth.« Jack Whitehead sah Bill Hadden lächelnd an. »Setzen Sie sich«, sagte Hadden und zeigte auf den Platz neben Jack. »Was denn?« »Edward, die haben keinen James Ashworth verhaftet«, sagte 241
er so freundlich wie möglich. Jack Whitehead tat so, als schaue er sich einige Unterlagen an, runzelte grimmig die Stirn und konnte dann nicht länger an sich halten: »Es sei denn, er hört auch auf den Namen Michael John Myshkin.« »Wer?« »Michael John Myshkin«, wiederholte Hadden. »Die Eltern sind Polacken. Sprechen nicht ein Wort Englisch«, sagte Jack und lachte, als sei das witzig. »Na, was ein Glück«, sagte ich. »Hier, du Knalltüte. Lies mal.« Jack Whitehead warf mir die erste Auflage der Morgenausgabe hin. Sie prallte an mir ab und fiel zu Boden. Ich beugte mich vor und hob sie auf. »Was um alles in der Welt ist mit Ihrer Hand passiert?« fragte Hadden. »In einer Tür eingeklemmt.« »Na, das wird deinen Stil nicht beeinflussen, da wette ich.« Ich wedelte mit der Zeitung in der linken Hand. »Brauchst du eine helfende Hand?« fragte Jack und lachte. »Nein.« »Titelseite«, sagte er lächelnd. G E S C H N A P P T , brüllte die Schlagzeile. Der Fall Clare: Mordkommission verhaftet Ortsansässigen, lockte die Unterzeile. V ON JACK JAHRES ,
W HITE HEA D,
GE R ICHT SRE POR TER
DES
prahlte die Autorenzeile. Ich las weiter: In den frühen Morgenstunden des gestrigen Tages verhaftete die Polizei einen Mann aus Fitzwilliam im Zusammenhang mit dem Mord an Clare Kemplay (10). Wie die Polizei dieser Zeitung mitteilte, hat der Mann den Mord gestanden; es wurde formell Anklage erhoben. Er wird im Laufe 242
des Vormittages ins Untersuchungsgefängnis des Magistratsgerichtes Wakefield überstellt werden. Die Polizei enthüllte weiter, daß der Mann auch eine Reihe weiterer Morde gestanden hat; formelle Anklagen werden in Kürze erwartet. Im Laufe des Tages wird mit dem Eintreffen von Senior Detec‐ tives aus dem ganzen Land gerechnet, die den Mann nach ähnlich gelagerten ungelösten Fällen befragen werden. Ich ließ die Zeitung zu Boden fallen. »Ich hatte recht.« »Glaubst du?« fragte Jack. Ich wandte mich an Hadden. »Das wissen Sie. Ich hab gesagt, das hängt alles zusammen.« »Von welchen Fällen sprechen Sie, Jack?« fragte Hadden. »Jeanette Garland und Susan Ridyard«, sagte ich mit Tränen in den Augen. »Unter anderem«, sagte Jack. »Ich hab’s Ihnen gesagt, verdammte Scheiße.« »Hüten Sie Ihre Zunge, Edward«, murmelte Hadden. »Ich hab’ in diesem Büro gesessen, ich hab’ in Oldmans Büro gesessen, und ich habe es Ihnen beiden gesagt.« Aber ich wußte, es war vorbei. Ich hockte da mit Hadden und Jack Whitehead, und meine Hand war eiskalt vor Schmerzen. Ich sah vom einen zum ande‐ ren, Jack grinste, Hadden spielte mit seiner Brille. Das Zimmer, die Redaktion, die Straßen draußen, alles wurde plötzlich still. Ei‐ nen Augenblick lang fragte ich mich, ob es draußen wohl schneite. Nur einen Augenblick lang, dann war alles wieder da: »Haben Sie eine Adresse?« fragte ich Hadden. »Jack?« »54 Newstead View.« 243
»Newstead View! Das ist dieselbe Straße, verdammt.« »Was?« fragte Hadden und verlor langsam die Geduld. »James Ashworth, der Bursche, der Clares Leiche gefunden hat, wohnt in derselben Straße wie dieser Kerl.« »Na und?« fragte Jack lächelnd. »Scheiße, Jack!« »Bitte hüten Sie Ihre Zunge in meinem Büro.« Jack Whitehead tat so, als gebe er auf, und reckte die Arme in die Höhe. Ich sah rot, rot, nur rot, und mein Kopf explodierte vor Schmerzen. »Sie wohnen in ein und derselben verdammten Straße in ein und derselben Stadt, zehn Meilen vom Fundort der Leiche entfernt.« »Zufall«, sagte Jack. »Ach ja?« »Denke schon.« Ich lehnte mich zurück, meine rechte Hand schwer von Blut, und ich spürte, wie sich diese Schwere über alles legte, so als ob es in diesem Zimmer und in meinem Kopf schneien würde. »Er hat’s ausgespuckt. Was willst du mehr?« fragte Jack Whitehead. »Die verdammte Wahrheit.« Jack lachte, lachte herzhaft aus dem dicken, fetten Bauch her‐ aus. Wir gingen zu weit. Leise sagte ich: »Und wie haben sie ihn gekriegt?« Hadden seufzte: »Kaputte Bremslichter.« »Sie machen Witze.« Jack hatte aufgehört zu lachen. »Wollte nicht anhalten. Panda hat ihn verfolgt. Sie halten ihn an, und er liefert aus heiterem Him‐ mel ein Geständnis.« 244
»Was für ein Auto?« »Transit«, sagte Jack und wich meinem Blick aus. »Farbe?« »Weiß«, lächelte Jack und bot mir eine Zigarette an. Ich nahm sie, dachte an Mrs. Ridyard mit ihren Plakaten, wie sie in ihrem netten Wohnzimmer mit der ruinierten Aussicht saß. »Wie alt ist er?« Jack zündete seine Zigarette an und sagte: »22.« »22? Dann war er 1969 erst 16,17.« »Na und?« »Na komm schon, Jack.« »Was macht er?« wollte Hadden von Jack wissen, sah aber mich dabei an. »Arbeitet in einem Photolabor. Entwickelt Bilder.« Mein Kopf schwamm vor lauter Schulmädchenphotos. »Da stimmt deiner Meinung nach was nicht, hm, Knalltüte?« »Nein«, flüsterte ich. »Du willst nicht, daß er es ist, ich weiß.« »Nein.« Jack beugte sich vor. »Ich war mal genauso. All die harte Ar‐ beit, all diese Ahnungen, und alles wollte irgendwie nie passen.« »Nein«, murmelte ich und trieb in einem weißen Transit voller Photos von lächelnden, blonden, kleinen Toten davon. »Es ist eine bittere Pille, aber sie haben ihn.« »Ja.« »Du gewöhnst dich noch dran«, sagte Jack augenzwinkernd und stand unsicher auf. »Bis morgen.« »Ja, danke, Jack«, sagte Hadden. »Großer Tag, hm?« sagte Jack und schloß die Tür hinter sich. »Ja«, antwortete ich ausdruckslos. 245
Im Zimmer war es ruhig, und es roch noch immer nach Jack und Schnaps. Nach ein paar Sekunden fragte ich: »Und was jetzt?« »Ich möchte, daß Sie den Hintergrund zu diesem Myshkin recherchieren. Das Ganze ist juristisch gesehen noch nicht klar, aber wenn er gestanden hat und in Untersuchungshaft sitzt, ist für uns alles in Ordnung.« »Wann werden Sie seinen Namen drucken?« »Morgen.« »Und wer kümmert sich um die Anhörung vor dem Unter‐ suchungsrichter ? « »Jack, auch um die Pressekonferenz.« »Er macht beides?« »Na ja, Sie können mitgehen, aber da ist ja noch die Beerdi‐ gung und alles, und ich dachte ...« »Beerdigung? Welche Beerdigung?« Hadden sah mich über seine Brille hinweg an. »Barry wird morgen beerdigt.« Ich starrte eine Weihnachtskarte auf Haddens Schreibtisch an, das Bild eines warmen, leuchtenden Cottages inmitten von schneebedeckten Wäldern. »Scheiße, hatte ich ganz vergessen«, flüsterte ich. »Ich denke, am besten bleibt Jack morgen an der Sache dran.« »Wann ist die Beerdigung?« »Um elf. Krematorium Dewsbury.« Ich stand auf, war ganz schwach vom Gewicht des toten Blutes. Ich watete über den Meeresgrund zur Tür. Hadden sah aus seinem Wald voller Karten auf und fragte leise: »Warum waren Sie so sicher, daß es James Ashworth war?« »War ich nicht«, erwiderte ich und machte die Tür hinter mir 246
zu. Paul Kelly hockte auf der Kante meines Schreibtischs. »Paula hat dich angerufen.« »Ach ja?« »Was ist los, Eddie?« »Nichts.« »Nichts?« »Sie hat mich angerufen. Hat gesagt, du hättest ihr gesagt, ich sei bei dieser Mandy Wymer gewesen.« »Laß sie in Ruhe, Eddie.« Zwei Stunden harter Arbeit, einhändiges Tippen macht daraus vier Stunden. Ich schrieb meine Ridyard‐Notizen für Jack White‐ heads große Story ab und überging meine Verabredungen mit Mrs. Paula Garland: Jack – Mrs. Garland redet nicht gern über das Verschwinden ihrer Tochter. Paul Kelly, der hier arbeitet, ist ihr Cousin, und er hat darum gebeten, daß wir ihren Wunsch respektieren, in Ruhe gelassen zu werden. Ich hob den Telefonhörer ab und wählte. Beim zweiten Klingeln: »Hallo, Edward?« »Ja.« »Wo bist du?« »In der Redaktion.« »Wann kommst du?« »Ich bin schon wieder gewarnt worden.« »Von wem?« »Von Paul.« »Tut mir leid. Er meint es nur gut.« »Ich weiß, aber er hat recht.« 247
»Edward, ich ...« »Ich ruf dich morgen an.« »Gehst du ins Gericht?« Ich saß allein im Büro und sagte: »Ja.« »Er war’s, oder nicht?« »Ja, sieht so aus.« »Bitte komm vorbei.« »Ich kann nicht.« »Bitte.« »Ich ruf morgen an, versprochen. Ich muß los.« Die Leitung war tot, und ich hatte einen Knoten im Hals. Ich stützte meinen Kopf in die gute und die schlechte Hand, beide rochen nach Krankenhaus und nach ihr. Ich lag im Zimmer 27 im Dunkeln auf dem Boden und dachte an Frauen. Auf dem Parkplatz kamen Laster an, fuhren davon, und ihre Scheinwerfer ließen Schattenskelette durchs Zimmer tanzen. Ich lag auf dem Bauch, die Augen geschlossen und die Hände über den Ohren, und dachte an Mädchen. Draußen in der Nacht schlug eine Wagentür zu. Ich sprang auf und fing an, laut zu schreien.
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7. Kapitel 6.00 Uhr früh. Donnerstag, 19. Dezember 1974. Meine Mutter hockte in ihrem Schaukelstuhl im Hinterzim‐ mer und starrte in den Garten hinaus in den grauen Eisregen. Ich gab ihr eine Tasse Tee und sagte: »Ich wollte nur meinen schwarzen Anzug holen.« »Auf deinem Bett liegt ein sauberes Hemd«, meinte sie und schaute weiter zum Fenster hinaus, ohne den Tee anzurühren. »Danke«, sagte ich. »Verdammt, was ist denn mit deiner Hand passiert?« fragte Gil‐ man von den Manchester Evening News. »Hat mir jemand eingeklemmt«, sagte ich lächelnd und setzte mich in die erste Reihe. »Nicht der einzige in der Klemme, hm?« meinte Tom aus Bradford und grinste. West Yorkshire Metropolitan Police Headquarters, Wood Street, Wakefield. »Und wie geht’s dem Vögelchen?« fragte Gilman lachend. »Halt die Klappe«, flüsterte ich, wurde rot und sah auf die Uhr meines Vaters, 8.30 Uhr. »Jemand gestorben?« fragte das neue Gesicht und setzte sich hinter drei schwarze Anzüge. »Ja«, sagte ich, ohne mich umzudrehen. »Oh, Scheiße, sorry«, murmelte er. »All diese Wichser aus dem Süden«, brummte Gilman. Ich warf einen Blick nach hinten zu den Fernsehstrahlern. »Verdammt, ist das heiß.« »Wie bist du reingekommen?« fragte Tom aus Bradford. 249
Das neue Gesicht antwortete. »Haupteingang.« »Viele draußen?« »Hunderte.« »Scheiße.« »Gibt’s einen Namen?« flüsterte Gilman. »Ja«, lächelte ich. »Anschrift?« fragte Gilman laut und stolz. »Ja«, sagten wir alle zusammen. »Scheiße.« »Morgen, die Damen«, sagte Jack Whitehead, setzte sich direkt hinter mich und klopfte mir auf die Schulter. »Morgen, Jack«, sagte Tom aus Bradford. »Na, hast du die Finger in der Story, du Sensationsreporter?» lachte Jack. »Nur für den Fall, daß du was verpaßt, Jack.« »Mal langsam, Mädels«, sagte Gilman. Die Seitentür ging auf. Dreimal breites Grinsen in drei breiten, legeren Anzügen. Chief Constable Ronald Angus, DCS George Oldman und DS Peter Noble. Drei fette Kater, die an der Sahne genascht haben. Ein Knall und ein Pfeifen, als die Mikros angehen. Chief Constable Angus nimmt ein DIN‐A4‐Blatt in die Hand und grinst genüßlich. »Meine Herren, guten Morgen. Gestern früh wurde nach kur‐ zer polizeilicher Verfolgungsjagd auf der Doncaster Road in Wake‐ field ein Mann verhaftet. Sergeant Bob Craven und PC Bob Dou^ glas hatten den Fahrer eines weißen Ford Transit aufgrund eines defekten Bremslichts zum Halten aufgefordert. Als der Fahrer des 250
Lieferwagens sich dem widersetzte, nahmen die Beamten die Ver‐ folgung auf und zwangen das Fahrzeug schließlich zum Halten.« Chief Constable Angus, graues Haar, wellig wie ein Softeis, hält inne und strahlt, so als erwarte er Applaus. »Der Mann wurde hierher in die Wood Street gebracht, wo er verhört wurde. Wahrend des ersten Verhörs deutete er an, daß er Informationen über eine ernstere Angelegenheit habe. Detective Superintendent Noble setzte dann das Verhör mit dem Mann im Hinblick auf die Entführung und Ermordung von Clare Kemplay fort. Gegen 20.00 Uhr gestern abend gestand er. Es wurde dar‐ aufhin formell Anklage erhoben; der Mann wird im Laufe des Vormittages dem Haftrichter vorgeführt.« Angus laßt sich zurücksinken wie jemand, der sich bis oben hin mit Weihnachtspudding vollgestopft hat. Dann bricht im Saal ein Sturm von Fragen los. Die drei Männer beißen sich auf die Zungen und grinsen noch breiter. Ich starre in Oldmans schwarze Augen. »Sie halten sich wohl für den einzigen Penner, der zwei und zwei zusammenzählen kann.« Oldmans Blick kreuzt meinen. »Das könnte sogar meine senile alte Mutter.« Der DCS wirft seinem Chief Constable einen Blick zu, sie nicken und lächeln sich zu. Oldman hebt die Hände. »Meine Herren, meine Herren. Ja, der Mann in Untersuchungshaft wird auch in bezug auf andere, ähnliche Straftaten befragt. Zum augenblicklichen Zeitpunkt kann ich ihnen allerdings nicht mehr sagen. Allerdings möchte 251
ich im Namen des Chief Constable, des Detective Superintendent und aller Männer, die an dieser Untersuchung beteiligt waren, öffentlich Sergeant Craven und PC Douglas meine Anerkennung aussprechen. Die beiden sind herausragende Beamte, die unseren tiefempfundenen Dank verdienen.« Wieder branden Fragen durch den Saal. Jeanette, 1969, und Susan, 1972, weiter unbeantwortet. Die drei Männer und ihr Grinsen erheben sich. »Vielen Dank, meine Herren«, ruft Noble und hält seinen Vor‐ gesetzten die Tür auf. »Verpiß dich!« brülle ich in meinem schwarzen Anzug, wei‐ ßen Hemd und dreckigen Verband. H ÄN GT DE N M IS T KER L. H ÄN GT DE N M IS T KER L. H ÄN GT DE N M IS T KER L AUF !
Wood Street, Wakefields Dreifaltigkeit der Regierung: Polizei, Gericht und Rathaus. Neun Uhr früh, und schon war der Mob da. F E IGL IN G, FE IGL IN G, M YS H K IN IS T E IN F E IGL IN G !
2000 Hausfrauen und ihre arbeitslosen Söhne. Gilman, Tom und ich mitten im Gewühl. 2000 heisere rauhe Kehlen und ihre Söhne. Ein Skin mit seiner Ma, einem Daily Minor und einem selbst‐ geknüpften Galgenstrick. Mehr Beweise braucht es nicht. F E IGE S AU, FE IGE SAU, M YS HKI N IS T ’NE FE IGE SAU!
Häßliche Hände, die an uns zerren, uns ergreifen und schubsen, in diese und in jene Richtung, in jene und in diese Richtung. 252
Plötzlich werde ich vom langen Arm des Gesetzes am Kragen gepackt. Sergeant Fraser rettet mich aus letzter Not. H ÄN GT IHN AUF ! H ÄN GT IHN AUF ! H ÄN GT DE N M IS T KER L AUF !
Hinter den Marmormauern und den dicken Eichentüren des Magistratsgerichts von Wakefield herrscht einen Augenblick lang Stille, aber nicht für mich. »Ich muß mit Ihnen reden«, flüstere ich, drehe mich um und richte meinen Schlips. »Da haben Sie verdammt recht«, zischt Fraser. »Aber nicht hier und nicht jetzt.« Die Schuhe Größe 44 stapfen davon. Ich schiebe die Tür zum Gerichtssaal 2 auf, gesteckt voll und still. Alle Stühle besetzt, nur noch Stehplätze. Keine Familien, nur die Herren von der Presse. Jack Whitehead ganz vorn beugt sich über die hölzerne Sperre und scherzt mit einem Gerichtsdiener. Ich starre zu den bleiverglasten Fenstern hinauf, auf denen Szenen mit Hügeln und Schafen, Webereien und dem Heiland dargestellt sind, und das Licht draußen ist so schwach, daß sich die Neonröhren, die so laut über unseren Köpfen summen, im Glas spiegeln. Jack Whitehead dreht sich um, verengt die Augen zu einem Schlitz und grüßt mich. Bei all dem Marmor und dem Eichenholz nur noch leise wahr‐ nehmbar, scheinen sich die gedämpften Rufe der Menschen‐ menge draußen mit unserem Geflüster zu vereinen und zum 253
Maß für das Verstreichen der Zeit unter dem Galgen zu werden. »Der reine Wahnsinn da draußen«, keucht Gilman. »Na, wenigstens sind wir drin«, sage ich und lehne mich gegen die hintere Wand. »Ja. Keine Ahnung, was aus Tom und Jack geworden ist.« Ich weise zur ersten Reihe der Besuchergalerie. »Jack ist da.« »Wie zum Teufel ist er so schnell reingekommen?« »Es muß einen unterirdischen Gang zwischen dem Gericht und der Polizeistation geben oder so was.« »Ja. Und Jack hat einen verdammten Schlüssel«, sagt Gilman naserümpfend. »So ist er nun mal, unser Jack.« Ich drehe mich urplötzlich zu den Bleiglasfenstern um, ein schwarzer Schatten erhebt sich draußen und verschwindet dann wieder wie ein riesiger Vogel. »Was zum Teufel war das ?« »Ein Plakat oder so was. Die Eingeborenen werden langsam’ unruhig.« »Da sind sie nicht allein.« Wie auf mein Stichwort erscheint er. Eine Anklagebank voller Zivilbeamter starrt in den Gerichts‐ saal hinein, einer von ihnen mit Handschellen gefesselt. Michael John Myshkin, ungeheuer fett und mit einem viel zu großen Kopf, steht in einem dreckigen blauen Overall und einer schwarzen Arbeitsjacke vor der Anklagebank. Ich schlucke schwer, mein Magen grummelt vor Galle. Michael John Myshkin blinzelt und formt ein Spuckebläschen mit den Lippen. Ich greife nach meinem Stift, Schmerzen schießen von den Fingernägeln bis zur Schulter hoch, und ich muß mich an die 254
Wand lehnen. Michael John Myshkin, der älter als 22 wirkt, sieht uns an und lächelt wie jemand, der nur halb so alt ist. Der Gerichtsschreiber vor der Richterbank erhebt sich, hüstelt einmal und fragt: »Sind Sie Michael John Myshkin, wohnhaft 54 Newstead View, Fitzwilliam?« »Ja«, antwortet Michael John Myshkin und sieht sich zu einem der Beamten auf der Anklagebank um. »Sie werden beschuldigt, zwischen dem 12. und 14. dieses Mo‐ nats Clare Kemplay ermordet und so gegen den Frieden Unseres Souveräns Ihrer Majestät der Queen verstoßen zu haben. Des weiteren werden Sie beschuldigt, am 18. Dezember in Wakefield ohne die gebotene Rücksicht und Aufmerksamkeit ein Fahrzeug gesteuert zu haben.« Michael John Myshkin, Frankensteins Ungeheuer in Hand‐ schellen, legt seine freie Hand auf das Geländer der Anklagebank und seufzt. Der Gerichtsschreiber nickt einem anderen Mann zu, der ihm gegenüber sitzt. Der Mann erhebt sich und verkündet: »William Bamforth, Bezirks Staatsanwalt. Es wird im Protokoll festgehalten, daß Mr. Myshkin im Augenblick keinen Rechtsbeistand hat. Im Namen der West Yorkshire Metropolitan Police fordere ich, daß Mr. Myshkin für weitere acht Tage in Untersuchungshaft genommen wird, damit er auch weiterhin zu Straftaten ähnlicher Natur ver‐ hört werden kann wie jene, die ihm bereits zur Last gelegt wird. Ich möchte alle Anwesenden im Gericht und vor allem die An‐ gehörigen der Presse daran erinnern, daß dieser Fall noch nicht rechtskräftig entschieden ist. Danke.« 255
Der Gerichtsschreiber steht wieder auf. »Mr. Myshkin, er‐ heben Sie Einspruch gegen die Forderung des Anklägers, daß Sie für weitere acht Tage in Untersuchungshaft genommen werden ?« Michael John Myshkin blickt auf und schüttelt den Kopf. »Nein.« »Wünschen Sie, daß die Presseeinschränkungen aufgehoben werden?« Michael John Myshkin sieht einen der Detectives an. Der Detective schüttelt kaum sichtbar den Kopf, und Michael John Myshkin flüstert: »Nein.« »Michael John Myshkin, Sie werden für acht Tage in Unter‐ suchungshaft genommen. Die Pressebeschränkungen werden aufrechterhalten. « Der Detective dreht sich um und zieht Myshkin hinter sich her. Alle Gäste auf der Galerie recken die Hälse. Michael John Myshkin bleibt oben an der Treppe stehen, dreht sich zum Gerichtssaal um, stolpert beinahe und muß von einem der Beamten gestützt werden. Das letzte, was wir von ihm sehen, ist seine große Pranke, die zum Abschied winkt und dann im Bauch des Gerichts ver‐ schwindet. Das war die Hand, die Leben genommen hat, denke ich. Und dann ist der Scheißkerl verschwunden. »Was denkst du?« »Er sieht jedenfalls ganz so aus«, sage ich. »Ja. Stimmt«, meint Gilman. Es war kurz vor elf, als der Viva, gefolgt von Gilmans Wagen, zum 256
Krematorium Dewsbury einbog. Der Eisregen war einem kalten Nieselregen gewichen, aber der Wind war so kalt wie letzte Woche, und man hatte keine Chance, sich mit einer bandagierten Hand eine Zigarette an‐ zuzünden. »Später«, murmelte Sergeant Fraser an der Tür. Gilman sah mich an, sagte aber kein Wort. Das Krematorium war gesteckt voll und totenstill. Die Familie plus Presse. Wir setzten uns in eine Bank am Ende der Kapelle, richteten unsere Schlipse, strichen unsere Haare glatt und nickten der Hälfte aller Nachrichtenredaktionen von Nordengland zu. Jack Whitehead saß vorn, beugte sich über seine Bank und sprach mit Hadden, dessen Frau und den Gannons. Ich starrte zu einer weiteren bleiverglasten Wand voller Hügel und Schafe, Webereien und dem Heiland empor und betete, daß Barry einen besseren Abgang bekam als mein Vater. Jack Whitehead drehte sich um, verengte die Augen und winkte mir zu. Draußen pfiff der Wind ums Gebäude wie das Geschrei von Seemöwen, und ich saß da und fragte mich, ob Vögel sprechen konnten. »Wann fangen die endlich an, verdammt«, flüsterte Gilman. »Wo ist Jack?« fragte Tom aus Bradford. »Da vorne«, sagte ich lächelnd. »Ja, verdammt. Noch so ein verdammter unterirdischer Gang«, meinte Gilman lachend. »Hör auf zu fluchen«, flüsterte Tom. Gilman schaute aufsein Gesangbuch. »Oh, Scheiße, sorry.« Ich drehte mich unvermittelt zu den Bleiglasfenstern um, als Kathryn Taylor, ganz in Schwarz, an den Fenstern vorbei den 257
Gang entlangging, Arm in Arm mit der fetten Steph und Gaz vom Sport. Gilman stieß mich an und blinzelte. »Du verdammter Glücks‐ pilz.« »Halt die Schnauze«, zischte ich und wurde ganz rot; ich sah, wie die Knöchel meiner gesunden Hand, die die Holzbank um‐ klammert hielt, ganz weiß wurden. Urplötzlich haute der Organist auf alle verdammten Tasten gleichzeitig. Alle erhoben sich. Und da war er. Ich starrte den Sarg vorne in der Kapelle an und konnte mich nicht mehr erinnern, ob der meines Vaters heller oder dunkler gewesen war. Ich sah auf das Gesangbuch zu meinen Füßen und dachte an Kathryn. Ich sah auf und fragte mich, wo sie wohl saß. Ein fetter Kerl in einem braunen Kaschmirmantel starrte mich über den Mittelgang hinweg an. Wir wandten beide unseren Blick ab und sahen zu Boden. »Wo warst du?« »Manchester«, antwortete Kathryn Taylor. Wir standen draußen vor dem Krematorium am Hang zwi‐ schen dem Eingang und den Autos. Wind und Regen waren noch kälter als sonst. Schwarze Anzüge und Mäntel verließen die Aus‐ segnungshalle, alle versuchten Zigaretten anzuzünden, spannten Regenschirme auf und schüttelten Hände. »Was hast du denn in Manchester gemacht?« fragte ich, 258
obwohl wohl ich genau wußte, was sie da gemacht hatte. »Ich will nicht darüber sprechen«, antwortete sie, drehte sich weg und ging zum Wagen der fetten Stephanie. »Tut mir leid.« Kathryn Taylor ging weiter. »Kann ich dich heute abend anrufen?« Stephanie öffnete die Beifahrertür, Kathryn beugte sich vor und nahm etwas vom Sitz. Sie drehte sich um, schleuderte mir ein Buch entgegen und schrie: »Hier, das hast du vergessen, als du mich das letzte gefickt hast!« Die Kanäle des Nordens segelten über die Zufahrt zum Krematorium und spuckten im Flug Photos von Schulmädchen aus. »Scheiße«, fluchte ich und hob eilig die Photos auf. Das kleine weiße Auto der fetten Steph fuhr rückwärts vom Parkplatz. »Mädchen gibt’s wie Sand am Meer.« Ich sah vom Boden auf. Sergeant Fraser reichte mir das Photo einer lächelnden, blonden Zehnjährigen. »Ach, hauen Sie ab«, sagte ich. »Gibt keinen Grund dafür.« Ich schnappte ihm das Bild aus der Hand. »Keinen Grund wofür?« Hadden, Jack Whitehead, Gilman, Gaz und Tom standen am Eingang und beobachteten uns. »Tut mir leid, das mit Ihrer Hand. « »Es tut Ihnen leid? Sie haben mir das doch eingebrockt, ver‐ dammt.« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon zum Teufel Sie eigentlich reden.« 259
»Na klar.« »Hören Sie«, sagte Fraser. »Wir müssen uns unterhalten.« »Ich habe Ihnen nichts zu sagen.« Er schob mir ein Stück Papier in die Brusttasche. »Rufen Sie mich heute abend an.« Ich ging zu meinem Wagen. »Es tut mir leid«, rief Fraser gegen den Wind. »Sie können mich mal«, sagte ich und zog den Wagenschlüs‐ sel aus der Tasche. Neben dem Viva standen zwei große Männer an einem dunkelroten Jaguar und unterhielten sich. Ich schloß auf, zog den Schlüssel ab und öffnete die Tür, alles mit der linken Hand. Ich beugte mich ins Wageninnere, ließ das verdammte Buch und die Photos auf den Rücksitz fallen und steckte den Schlüssel ins Schloß. »Mr. Dunford?« sagte ein fetter Kerl in einem braunen Kaschmirmantel über das Dach des Viva hinweg, »Ja?« »Wie wär’s mit einem gemeinsamen Mittagessen?« »Wie bitte?« Der fette Kerl lächelte und rieb sich die Hände, die in Leder‐ handschuhen steckten. »Ich lade Sie zum Essen ein.« »Warum wollen Sie das tun?« »Ich möchte mit Ihnen reden.« »Worüber?« »Na, sagen wir mal, Sie werden es nicht bereuen.« Ich sah den Hügel hinauf zum Eingang des Krematoriums. Bill Hadden und Jack Whitehead unterhielten sich mit Ser‐ geant Fraser. »Na gut«, sagte ich und dachte, scheiß auf den Leichen‐ 260
schmaus im Presseclub. »Kennen Sie den Karachi Social Club an der Bradford Road?« »Nein.« »Gleich neben dem Variety Club, kurz bevor Sie nach Batley kommen.« »Okay.« »In zehn Minuten?« fragte der fette Kerl. »Ich folge Ihnen einfach.« »Klasse.« Paki Town, die einzige noch verbliebene Farbe. Schwarze Ziegel und Saris, braune Burschen, die in der Kälte Kricket spielen. Die Moschee und die Weberei, heißt in Yorkshire 1974: Curry und Käppi. Nachdem ich den Jaguar an der letzten Ampel verloren hatte, fuhr ich auf den unbefestigten Parkplatz neben dem Badey Variety Club und hielt neben dem dunkelroten Wagen. Nebenan sang Shirley Bassey zum Weihnachtsfest, ich konnte ihre Band proben hören, als ich mir zu Goldfinger einen Weg über die Dreckpfützen voller Kippen und Chipstüten bahnte. Beim Karachi Social Club handelte es sich um ein freistehen‐ des, dreistöckiges Gebäude, das früher mal was mit der Beklei‐ dungsindustrie zu tun gehabt hatte. Ich ging die drei Stufen zum Restaurant hoch, schaltete das Philips Pocket Memo ein und öffnete die Tür. Der Karachi Social Club war eine Höhle, rot, mit schwerer Blumenmustertapete und den Klängen des Orients. Ein großer Pakistani in einem makellos weißen Kittel wies mir den Weg zu dem einzigen Tisch mit Gästen. 261
Die beiden fetten Kerle saßen nebeneinander, sahen zur Tür, zwei Paar Lederhandschuhe vor sich auf dem Tisch. Der Ältere, der mich zum Essen eingeladen hatte, stand auf, streckte mir die Hand entgegen und sagte: »Derek Box.« Ich gab ihm die Linke, setzte mich und sah den Jüngeren mit dem schwer verknautschten Gesicht an. »Das ist Paul. Er ist mir behilflich«, sagte Derek Box. Paul nickte, sagte aber kein Wort. Der Kellner brachte ein silbernes Tablett mit Pappadams und Eingelegtem. »Wir nehmen alle das Spezialmenü, Sammy«, sagte Derek Box und rupfte ein Pappadam auseinander. »Sehr wohl, Mr. Box.« Box lächelte mich an. »Hoffe, Sie mögen Ihr Curry scharf.« »Ich hab’s erst einmal probiert«, sagte ich. »Na, dann haben Sie ja das Mordsvergnügen noch vor sich.« Ich sah mich in dem riesigen, dämmrigen Raum mit den weißen Tischdecken und dem schweren Silberbesteck um. »Hier«, sagte Derek Box und schaufelte sich Eingelegtes und Joghurt auf ein Pappadam. »Hauen Sie rein.« Ich tat wie geheißen. »Wissen Sie, warum es mir hier gefällt?« »Nein«, sagte ich, wollte es aber auch gar nicht wissen. »Weil wir hier ganz unter uns sind. Nur Curryfresser und wir.« Ich nahm mein durchgeweichtes Pappadam mit der linken Hand und stopfte es mir in den Mund. »So mag ich es«, sagte Box. »Unter sich bleiben.« Der Kellner kam mit drei Pints Bitter zurück. »Und der Schweinefraß ist auch nicht übel, hm, Sammy?« lachte Box. »Vielen Dank, Mr. Box«, sagte der Kellner. 262
Paul lächelte. Derek Box hob sein Glas und sagte: »Cheers.« Paul und ich prosteten uns ebenfalls zu, und dann tranken wir. Ich nahm meine Zigaretten aus der lasche. Paul hielt mir ein schweres Ronson‐Feuerzeug hin. »Nett, hm?« fragte Derek Box. Ich lächelte. »Sehr vornehm.« »Ja. Nicht so wie der Scheiß da«, sagte Box und deutete auf meine grau bandagierte Hand auf dem weißen Tischtuch. Ich sah auf die Hand und dann wieder zu Box. »Ich war ein großer Bewunderer der Arbeit Ihres Kollegen, Mr. Dunford.« »Kannten Sie ihn gut?« »O ja. Wir standen in besonderen Beziehungen zueinander.« »Ach ja?« fragte ich und nahm mein Glas. »Hm. Von gegenseitigem Nutzen.« »In welcher Hinsicht?« »Nun, ich bin in der glücklichen Lage, gelegentlich Informa‐ tionen weitergeben zu können, die mir unterkommen.« »Welche Art Informationen?« Derek Box stellte sein Glas ab und sah mich an. »Ich bin kein Spitzel, Mr. Dunford.« »Ich weiß.« »Ich bin auch kein Unschuldslamm, ich bin Geschäftsmann.« Ich nahm einen großen Schluck Bier und fragte ihn dann leise: »Welche Art von Geschäften?« Er lächelte: »Automobile, allerdings habe ich Ambitionen auf dem Bausektor, damit halte ich nicht hinterm Berg.« »Welche Ambitionen?« »Verhinderte«, sagte Derek Box lachend. »Im Augenblick zu‐ mindest.« 263
»Und wie sind Sie und Barry ...« »Wie schon gesagt, ich bin kein Unschuldslamm, hab’ ich auch nie behauptet. Es gibt allerdings Männer in diesem Land, in die‐ ser Gegend hier, die für meinen Geschmack ein wenig zuviel vom Kuchen abbekommen.« »Vom Bausandkuchen?« »Ja.« »Und Sie haben Barry Informationen über gewisse Personen und deren Aktivitäten auf dem Bausektor zukommen lassen?« »Ja. Barry interessierte sich besonders für, wie Sie sich aus‐ drücken, die Aktivitäten gewisser Personen.« Der Kellner kehrte mit drei Tellern gelbem Reis und drei Schüsseln tiefroter Soße zurück. Dann stellte er vor jeden von uns einen Teller und eine Schüssel. Paul nahm seine Schüssel, leerte sie über den Reis aus und vermengte alles. »Möchten Sie Nan, Mr. Box?« fragte der Kellner. »Ja, Sammy. Und noch ‘ne Runde.« »Sehr gern, Mr. Box.« Ich nahm den Löffel aus meiner Curryschüssel und ließ ein wenig von der Soße auf meinen Reis tropfen. »Hauen Sie rein, Junge. Wir stehen hier nicht auf feierliches Benehmen.« Ich nahm eine Gabel voll Curry und Reis, spürte das Feuer im Mund und leerte das Pint in einem Zug. Nach einer Minute sagte ich: »Ja, das ist gut, ehrlich.« »Gut? Das ist verdammt lecker, das ist es«, sagte Box und lachte mit offenem Mund. Paul nickte und zeigte ein rotes Currygrinsen. Ich nahm noch eine Gabel voll Curry mit Reis und sah zu, wie 264
die beiden Männer mit jedem Bissen näher an ihre Teller heran‐ rutschten. Ich erinnerte mich an Derek Box, zumindest an die Ge‐ schichten, die die Leute über Derek Box und seine Brüder er‐ zählten. Ich nahm einen Mundvoll gelben Reis und sah hinüber zur Küche nach dem nächsten Pint. Ich erinnerte mich an die Storys der Box‐Brüder, die ihre Fluchtaktionen auf der Field Lane übten, und daß die jungen Burschen an den Sonntagvormittagen vorbeikamen, um sie dabei zu beobachten; Derek raste die Church Street auf und ab, und Raymond und Eric sprangen in den Wagen. Der Kellner kam mit einem silbernen Tablett mit Bier und drei Fladenbroten. Ich erinnerte mich daran, daß die Box‐Brüder wegen eines Raubüberfalls auf den Postzug aus Edinburgh in den Knast gingen, daß Eric nur wenige Wochen vor Ablauf der Haftstrafe gestorben war, daß Raymond nach Kanada oder Australien ge‐ gangen war und daß Derek sich für den Vietnam‐Krieg gemeldet hatte. Derek und Paul rupften ihre Nans auseinander und wischten ihre Schüsseln sauber. »Hier«, sagte Derek Box und warf mir ein halbes Fladenbrot zu. Nachdem er fertig war, lächelte er, zündete sich eine Zigarre an und schob seinen Stuhl vom Tisch zurück. Er zog kräftig an seiner Zigarre, begutachtete die Glut, atmete aus und fragte: »Waren Sie ein Bewunderer von Barrys Arbeit?« »Ja.« »Was für eine Schande.« 265
»Ja«, sagte ich; die Lichter spiegelten sich in den Schweiß‐ perlen auf Derek Box’ hellem Haaransatz. »Wirklich schade, daß sein Werk unvollendet bleibt, so vieles, das noch nicht veröffentlicht ist, finden Sie nicht?« »Ja. Ich meine, ich weiß nicht ...« Paul reichte mir das Ronson herüber, damit ich mir eine Ziga‐ rette anstecken konnte. Ich atmete tief ein und versuchte meine rechte Hand zu entspannen. Sie tat höllisch weh. »Woran arbeiten Sie gerade, Mr. Dunford, wenn ich fragen darf?« »Am Mord an Clare Kemplay.« »Entsetzlich«, seufzte Derek Box. »Einfach entsetzlich. Mir fehlen die Worte. Und an was noch?« »Das ist alles.« »Wirklich? Sie setzen also den Kreuzzug Ihres verstorbenen Freundes nicht fort?« »Wie kommen Sie darauf?« »Ich war in dem Glauben, daß Sie im Besitz der Akten dieses großartigen Mannes seien.« »Wer hat Ihnen das gesagt?« »Ich bin kein Spitzel, Mr. Dunford.« »Ich weiß, das habe ich auch nicht behauptet.« »Ich höre Dinge, und ich kenne Leute, die Dinge hören.« Ich sah auf meine Gabel voller Reis hinunter, die kalt auf dem Teller lag. »Wen?« »Gehen Sie öfters im Strafford Arms was trinken?« »In Wakefield?« »Ja«, lächelte Box. »Nein, kann ich nicht behaupten.« »Nun, vielleicht sollten Sie das tun. Oben gibt es einen priva‐ ten Club, ein wenig so wie Ihr Presseclub. Ein Ort, an dem sich ein Geschäftsmann wie ich und ein Polizeioffizier in einer weni‐ 266
ger offiziellen Umgebung zusammensetzen können. Mal alle fünfe gerade sein lassen, sozusagen.« Ich sah mich plötzlich auf dem Rücksitz meines eigenen Wa‐ gens, das schwarze Polster feucht vor Blut, und vor mir ein großer Mann mit Bart, der fuhr und zu Rod Stewart mitsang. »Alles in Ordnung?« fragte Box. Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht interessiert.« »Das werden Sie schon noch«, sagte Box und blinzelte mit seinen kleinen wimpernlosen Augen. »Ich glaube nicht.« »Gib’s ihm, Paul.« Paul griff unter den Tisch, brachte einen dünnen braunen Um‐ schlag zum Vorschein und warf ihn über die dreckigen Teller und leeren Pints. »Öffnen Sie«, forderte mich Box auf. Ich nahm den Umschlag, schob die linke Hand hinein und fühlte die vertraute Glätte von Photovergrößerungen. Ich sah über das weiße Tischtuch zu Derek Box und Paul hinüber, Bilder von kleinen Mädchen mit angenähten schwarz‐ weißen Flügeln schwammen durch mein mittägliches Bier. »Na, schauen Sie schon rein, verdammt.« Ich hielt den Umschlag mit dem grauen Verband fest und zog mit der linken Hand langsam die Photos heraus. Ich schob die Teller und Schüsseln beiseite und legte die drei Schwarzweiß‐ vergrößerungen auf den Tisch. Zwei nackte Männer. Derek Box grinste mit seinem Strichmund. »Wie ich höre, stehen Sie eher auf Mösen, Mr. Dunford. Da‐ her entschuldige ich mich für den Inhalt dieser Schnappschüsse.« 267
Ich schob die Bilder auseinander. Arthur Francis Anderson, der den Schwanz eines alten Man‐ nes lutschte. »Wer ist das?« fragte ich. »Ach ja, wie tief doch die Mächtigen gefallen sind«, seufzte Derek Box. »Die Aufnahmen sind nicht sehr scharf.« »Ich denke, Sie werden feststellen, daß sie für den Stadtrat und ehemaligen Ratsherren William Shaw, Bruder des berühmteren Robert Shaw, scharf genug sind, sollten Sie je den Wunsch ver‐ spüren, ihm ein paar Schnappschüsse für sein Familienalbum zu überlassen.« Der alte Körper war besser zu erkennen, der schlaffe Bauch, die dürren Rippen, das weiße Haar und die Grübchen. »Bill Shaw?« »Tut mir leid, ja«, sagte Box lächelnd. Herrje. William Shaw, Vorsitzender des neuen Wakefield Metropo‐ litan District Council und der West Yorkshire Police Authority, ehemaliger Regionalbeauftragter der Transport and General Wor‐ kers’ Union, der diese Gewerkschaft auch im Nationalen Exe‐ kutivkomitee der Labour Party vertrat. Ich starrte auf die angeschwollenen Hoden, die sich abzeich‐ nenden knotigen Adern in seinem Schwanz, das graue Scham‐ haar. William Shaw, Bruder des erheblich berühmteren Robert. Robert Shaw, Innenminister und Wunschkandidat seiner Partei als Nachfolger des Premierministers. Stadtrat Shaw, ein Schwanzlutscher. Scheiße. War Shaw Barrys dritter Mann? 268
Dawsongate. »Wußte Barry davon?« fragte ich. »Ja. Allerdings fehlte ihm das Handwerkszeug, sozusagen.« »Sie wollen, daß ich damit Shaw erpresse?« »Erpressen würde ich nicht sagen.« »Was würden Sie denn sagen?« »Überzeugen.« »Wovon soll er denn überzeugt werden?« »Überzeugen Sie den Stadtrat, seine Seele von all seinen öffentlichen Fehltaten zu reinigen, in der Gewißheit, daß sein Privatleben in sicheren Händen bleibt.« »Warum?« »Die britische Öffentlichkeit bekommt die Wahrheit, die sie verdient.« »Und?« »Und wir«, sagte Box zwinkernd, »wir bekommen, was wir wollen.« »Nein.« »Dann sind Sie nicht der Mann, für den ich Sie gehalten habe.« Ich starrte die Schwarzweißphotos auf dem weißen Tischtuch an. »Und was für eine Art von Mann wäre das?« fragte ich. »Ein mutiger Mann.« »Das nennen Sie mutig?« fragte ich und schob die Photos mit der grauen rechten Hand von mir. »In diesen Zeiten schon, ja.« Ich nahm eine Zigarette aus meiner Schachtel, und Paul hielt mir das Ronson hin. »Verheiratet ist er nicht, oder?« »Was macht das für einen Unterschied«, lächelte Box. Der Kellner kam mit einem leeren Tablett zurück. »Eis zum 269
Nachtisch, Mr. Box?« Box wedelte mit der Zigarre in meine Richtung. »Nur für mei‐ nen Freund hier.« »Sehr wohl, Mr. Box.« Der Kellner lud die dreckigen Teller und Gläser auf das silberne Tablett und ließ nur den Aschenbecher und die drei Photos zurück. Derek Box drückte seine Zigarre im Aschenbecher aus und beugte sich vor. »Dieses Land befindet sich im Krieg, Mr. Dunford. Regie‐ rung und Gewerkschaften, Linke und Rechte, Reiche und Arme. Dann sind da noch die Iren, die Curryfresser, die Nigger, die Schwuchteln und Perversen, ja selbst die verdammten Frauen; alle prügeln sich um das, was sie kriegen können. Bald wird nichts mehr übrig sein für den schwer arbeitenden weißen Mann.« »Und das wären dann Sie?« Derek Box stand auf. »Kriegsbeute.« Der Kellner kehrte mit einer Silberschale voll Eiscreme zurück. Paul half Derek Box in den Kaschmirmantel. »Morgen mittag, oben im Strafford Arms.« Als er hinausging, drückte er mir fest die Schulter. Ich starrte auf das Eis vor mir, mitten zwischen den Schwarz‐ weißphotos. »Genießen Sie Ihr Eis«, rief Derek Box von der Tür aus. Ich starrte die Schwänze und Eier an, die Hände und Zungen, die Spucke und die Wichse. Ich schob das Eis von mir weg. Ein Ortsgespräch von Hanging Heaton aus, der Gestank von Curry am Hörer. 270
Niemand ging ran. Zur Tür hinaus, ein Furz im Fahrwasser. Der einarmige Fahrer auf dem Weg nach Fitzwilliam, das Radio spielte leise: Michael John Myshkin war die erste Meldung in den 2‐Uhr‐ Lokalnachrichten, der weihnachtliche Waffenstillstand der IRA überregional. Ich warf einen Blick auf den Umschlag, der auf dem Beifahrer‐ sitz lag, und hielt an. Zwei Minuten später war der einarmige Fahrer wieder unter‐ wegs und der Umschlag mit den Sünden des Stadtrats William Shaw unter dem Beifahrersitz versteckt. Ich sah in den Rückspiegel. Noch keine 15.00 Uhr und schon fast dunkel. Newstead View, die zweite. Wieder bei den Ponys und den Hunden, dem Rost und den Plastiktüten. Ich fuhr langsam durch die dunkle Straße. Im Haus Nummer 69 lief der Fernseher. Ich hielt vor den Trümmern von Haus Nummer 54. Das Pack hatte sich ausgetobt, gefeiert und gewütet, und wo vorher die Fenster gewesen waren, glotzten nun drei schwarze Augen. H Ä N G T D E N P E R V E R S E N und LU FC stand in tropfend weißer Farbe über dem Vorderfenster. In dem Gestrüpp aus zerhackten und verkohlten Möbel‐ stücken lag eine braune Haustür, eingetreten und zerschlagen, mitten auf einem winzigen Rasenstück voller Familienplunder. Zwei Hunde jagten sich gegenseitig durchs Haus der Mysh‐ kins und wieder hinaus. 271
Ich bahnte mir einen Weg durch den Garten, ging über die birnenlosen Lampen und zerschlitzten Polster, vorsichtig vorbei an einem Hund, der mit einem riesigen Stoffpanda kämpfte, durch die gesplitterte Türfassung. Es roch nach Rauch, irgendwo lief Wasser. Mitten in dem zerstörten Wohnzimmer stand ein metallener Mülleimer in einem Meer aus Glassplittern. Es gab keinen Fern‐ seher, keine Stereoanlage, nur die leeren Stellen, wo sie einst gestanden hatten, und ein in der Mitte durchgebrochener Weih‐ nachtsbaum aus Plastik. Keine Geschenke, keine Weihnachts‐ karten. Ich trat über einen Haufen Menschenscheiße auf der untersten Stufe und stieg die feuchte Treppe hinauf. Alle Wasserhähne im Bad waren voll aufgedreht, die Wanne lief über. Kloschüssel und Waschbecken waren zerschlagen und hatten den blauen Teppich überflutet. Flüssiggelber Durchfall tropfte an der Badewanne herunter, in roter Farbe war National Front dar‐ über gesprüht. Ich drehte die Wasserhähne zu und schob mir mit dem Ver‐ band den linken Ärmel hoch. Ich steckte die linke Hand ins eis‐ kalte braune Wasser und suchte nach dem Stöpsel. Meine Hand stieß am Grund der Wanne gegen etwas Festes. In der Wanne war etwas. Ich erstarrte, dann zog ich schnell den Stöpsel heraus und meine Hand gleich mit. Ich sah dem abfließenden Wasser nach, trocknete mir die Hand an der Hose ab, während sich in dem kackbraunen Wasser ein dunkler Schatten bildete. Ich schob mir beide Hände unter die Achseln und kniff die 272
Augen zusammen. In der Wanne stand eine blaue Slazenger‐Sporttasche aus Leder. Sie war geschlossen und lag auf der Seite. Scheiße, laß es, du willst es nicht wissen. Mit trockenem Mund kauerte ich mich hin und drehte die Tasche richtig herum. Sie fühlte sich schwer an. Das letzte Wasser verschwand im Ausguß, zurück blieb kot‐ verdreckter Schlamm, eine Nagelbürste und die blaue Slazenger‐ Tasche. Scheiße, laß es, du willst es nicht wissen. Ich hielt die Tasche mit der bandagierten Hand aufrecht und zog mit der Linken den Reißverschluß auf. Er verhakte sich. Scheiße. Er verhakte sich wieder. Laß es. Der Gestank frischer Scheiße. Du willst es nicht wissen. Fell, ich konnte Fell sehen. Eine fette tote Katze. Gebrochenes Rückgrat, offenes Maul. Ein blaues Halsband und ein Namensschild, das ich nicht an‐ rührte. Erinnerungen an begrabene Haustiere, an Archie und Socks, die in unserem Garten in der Wesley Street begraben lagen. Scheiße, du hast es ja nicht anders gewollt. Auf dem Absatz zwei weitere Türen. Das größere Schlafzimmer links mit den zwei Doppelbetten stank nach Pisse und kaltem Rauch. Die Matratzen waren ab‐ 273
gezogen, die Klamotten daraufgeworfen. Brandspuren an den Wanden. Wieder in Rot: Kanaken raus und Fuck the Provos. Ich ging über den Absatz zu einem weiteren billigen Plastik‐ schild, auf dem Michaels Zimmer stand. Michael John Myshkins Zimmer war nicht größer als eine Zelle. Das Einzelbett war umgekippt, die Vorhänge von der Stange gezogen, das Fenster durch den umgekippten Kleiderschrank ein‐ geschlagen worden. Poster, die von den Wänden gerissen worden waren, was Streifen auf der Tapete mit dem Magnolienmuster hinterlassen haue, lagen auf dem Boden, zusammen mit ameri‐ kanischen und englischen Comics, Zeichenblöcken und Wachs‐ malstiften. Ich hob ein Hulk‐Heft auf. Die Seiten waren durchgeweicht und stanken nach Pisse. Ich ließ das Heft fallen und schob den Sta‐ pel aus Comics und Papier mit dem Fuß auseinander. Unter einem Buch über Kung‐Fu lag ein halbwegs unversehr‐ ter Skizzenblock. Ich beugte mich hinab und blätterte ihn auf. Der ganzseitige Titel eines Comics starrte mich an. Er war mit Filzstiften und Wachsmalern von Hand gezeichnet worden: Rat Man, Prinz oder Pest? Von Michael J. Myshkin. Eine von kindlicher Hand gezeichnete riesige Ratte mit menschlichen Händen und Füßen hockte auf einem Thron, um‐ ringt von Hunderten kleinerer Ratten. Rat Man grinste und sagte: »Die Menschen haben nicht über uns zu richten. Wir haben über die Menschen zu richten!« Über dem Rat‐Man‐Logo stand mit Kugelschreiber geschrie‐ 274
ben: Ausgabe 4, 5 Pence, MJM Comics. Ich blätterte um. In sechs Bildern flehten die Ratten Rat Man, ihren Prinzen, an, an die Erdoberfläche zu gehen und sie von den Menschen zu be‐ freien. Auf Seite 2 war Rat Man dann auf der Erdoberfläche und wurde von Soldaten gejagt. Auf Seite 3 entkam er. Er hatte Flügel bekommen. Verdammte Schwanenflügel. Ich stopfte den Comicskizzenblock in die Jacke und schloß die Tür zu Michaels Zimmer hinter mir. Dann ging ich die Treppe hinunter, aus dem Wohnzimmer kamen Kinderstimmen. Ein Zehnjähriger in einem grünen Pullover mit drei gelben Sternen daraufstand auf einem Eßtischstuhl und hämmerte einen Nagel oben in den Türrahmen. Seine drei Freunde trieben ihn an, einer von ihnen hielt in sei‐ nen dreckigen kleinen Händen eine Schlinge aus einer Wäsche‐ leine. »Was machen Sie hier?« fragte einer der Jungen, als ich die Treppe herunterkam. »Ja, wer sind Sie?« fragte ein zweiter. Ich machte ein verächtliches, offizielles Gesicht und fragte im Gegenzug: »Und was macht ihr da?« »Nichts«, sagte der Junge mit dem Hammer und sprang vom Stuhl herunter. Der Junge mit der Schlinge fragte: »Sind Sie ‘n Bulle?« »Nein.« »Dann können wir tun und lassen, was wir wollen«, sagte der 275
Junge mit dem Hammer. Ich zog ein paar Münzen aus der Tasche und fragte: »Wo ist die Familie?« »Hat sich verpißt«, sagte einer. »Die kommen bestimmt nich’ wieder, wenn sie wissen, was gut für sie is’«, sagte der Junge mit dem Hammer. Ich klimperte mit den Münzen. »Der Vater ist ‘n Krüppel?« »Ja«, sagten sie lachend und machten spastische, pfeifende Geräusche. »Und seine Ma?« »Eine beschissene böse Hexe, das isse«, sagte der Junge mit der Wäschelebe. »Arbeitet sie?« »Als Putze in der Schule.« »In welcher?« »Fitz Junior an der Hauptstraße.« Ich schob den Stuhl aus der Türöffnung, ging den Weg hinun‐ ter und sah zu den dunklen Häusern links und rechts. »Geben Sie uns nun Geld?« rief der Jüngste hinter mir her. »Nein.« Der Junge mit dem Hammer stellte den Stuhl wieder hin, nahm seinem Kumpel die Leine ab, stellte sich auf den Stuhl und hängte die Schlinge an den Nagel. »Wozu soll das denn gut sein? « fragte ich und schloß den Viva auf. »Für Perverste«, rief einer der Jungen. »He«, sagte der Junge mit dem Hammer auf dem Stuhl lachend. »Besser, Sie sind kein Perverster.« »Oben in der Wanne liegt eine tote Katze«, sagte ich und stieg ein. 276
»Wissen wir«, meinte der Kleinste kichernd. »Haben wir selber erledigt.« 1, 2, 3,4,5, 6,7, eine alte Frau kocht Rüben. Ich saß in meinem Wagen auf der anderen Straßenseite der Fitzwilliam Junior and Infants School. Es war kurz vor fünf, in der Schule brannte noch Licht, das im Gebäude Wände voller Weihnachtszeichnungen erhellte. Auf dem dunklen Spielplatz spielten Kinder Fußball. Jagten in einem Rudel ausgebeulter Hosen und dunkler Wollpullover mit diesen großen gelben Sternen einem billigen orangefarbenen Ball hinterher. Ich saß frierend im Auto, haue den Verband unter eine Ach‐ sel geklemmt, dachte an den Holocaust und fragte mich, ob Mi‐ chael John Myshkin auf diese Schule gegangen war. Nach etwa zehn Minuten gingen ein paar der Lichter aus, und drei dicke weiße Frauen kamen in Begleitung eines dünnen Man‐ nes in einem blauen Overall aus dem Schulgebäude. Die Frauen winkten dem Mann zum Abschied, der zu den Kindern ging und versuchte, ihnen den Ball abzujagen. Die Frauen lachten, als sie durchs Schultor kamen. Ich stieg aus und eilte über die Straße den Frauen nach. »Entschuldigen Sie bitte?« Die drei dicken Frauen blieben stehen und drehten sich um. »Mrs. Myshkin?« »Machen Sie Witze?« spuckte die Größte der drei. »Von der Presse, was?« meinte die Alteste höhnisch. Ich lächelte: »Yorkshire Post.« »Bißchen spät dran, wie?« sagte die Größte. 277
»Ich habe gehört, sie hat hier gearbeitet?« »Bis gestern, ja«, sagte die Älteste. »Wo ist sie hin?« fragte ich die Frau mit der Stahlbrille, die bis‐ her noch nichts gesagt hatte. »Schauen Sie mich nicht an. Ich bin neu«, sagte sie. Die Älteste meinte: »Kevin sagt, einer von euch hat sie in ir‐ gendeinem noblen Hotel drüben in Scarborough untergebracht.« »Das ist nicht recht«, meinte die Neue. Ich stand da und dachte, Scheiße, Scheiße, Scheiße. Rufe vom Spielplatz und das Gerenne von Stiefeln. »Die werden noch die verdammte Scheibe kaputtschießen«, seufzte die Größte. »Und Sie beide haben mit Mrs. Myshkin gearbeitet?« »Mehr als fünf Jahre lang, ja«, antwortete die Alteste. »Wie ist sie denn so?« »Hatte ‘n hartes Leben.« »Wie meinen Sie das?« »Na ja, er ist Frührentner, wegen dem Staub ...« »Ihr Mann war Bergmann?« »Ja. Hat mit Pat zusammengearbeitet«, sagte die Größte. »Und was ist mit Michael?« Die Frauen sahen sich an und schnitten Grimassen. »Der hat se nich’ alle«, flüsterte die Neue. »Wie meinen Sie das?« »Ist ‘n bißchen zurück, hab’ ich gehört.« »Hat er Freunde?« »Freunde?« fragten zwei von ihnen erstaunt. »Er spielt manchmal mit den Jüngeren auf der Straße«, sagte die Älteste und schüttelte sich. »Aber das sind keine Freunde.« »Macht einen wirklich krank, das Ganze«, sagte die Neue. »Na, irgend jemanden muß es doch geben?« 278
»Treibt sich nie viel mit anderen rum, nicht daß ich wüßte.« Die beiden anderen nickten. »Und was ist mit den Leuten in der Arbeit?« Die Dickste schüttelte den Kopf und meinte: »Arbeitet nich’ hier in der Gegend, ne? In Castleford oder so?« »Ja. Kevin meint, er ist bei ‘nem Photographen.« »Schmutzige Bücher, hab’ ich gehört«, sagte die Neue. »Willst du mich verscheißern?« sagte die Älteste. »Hab’ ich gehört.« Der Mann im blauen Overall stand am Schultor, Vorhänge‐ schloß und Kette in den Händen, und brüllte die Kinder an. »Diese verdammten Bälger heutzutage«, sagte die Größte. »Eine echte Plage, das sind sie.« »Danke für Ihre Zeit«, sagte ich. »Keine Ursache«, meinte die Alteste und lächelte. »Jederzeit«, meinte die Größte. Die Frauen gingen kichernd davon, die Neue drehte sich um und winkte. »Fröhliche Weihnachten«, rief sie. »Fröhliche Weihnachten.« Ich nahm mir eine Zigarette, suchte in den Taschen nach Streichhölzern und stieß auf Pauls schweres Ronson‐Feuerzeug. Ich wog das Feuerzeug in der linken Hand, zündete mir eine Zigarette an und fragte mich, wann ich es eingesteckt hatte. Die Kindermeute rannte über den Bürgersteig an mir vorbei, sie kickten den billigen Fußball vor sich her und schimpften über den Hausmeister. Ich ging zurück zu den verschlossenen Schultoren. Der Hausmeister im blauen Overall ging über den Spielplatz zurück zum Hauptgebäude. »Entschuldigung«, rief ich über die rotgestrichenen Tore hin‐ 279
weg. Der Mann ging weiter. »Entschuldigung!« An der Tür zum Schulgebäude drehte sich der Mann um und sah mich an. Ich legte die Hände zum Trichter. »Entschuldigen Sie, kann ich Sie mal sprechen?« Der Mann drehte sich wieder um, schloß auf und ging in das dunkle Gebäude. Ich lehnte meine Stirn gegen das Tor. Jemand hatte Fuck aus der roten Farbe gekratzt. Hinaus in die Nacht mit quietschenden Reifen. Mach’s gut, Fitzwilliam, wo die Nacht früh hereinbricht und einem nichts richtig vorkommt, wo die Kinder Katzen töten und die Männer Kinder. Ich fuhr zurück zum Redbeck, bog links auf die A 655, als der Laster kreischend aus der Nacht auftauchte und schwer in die Bremsen ging. Ich trat selbst auf die Bremse, Hupen röhrten, ich kam rut‐ schend zum Stehen, der Laster nur wenige Zentimeter von mei‐ ner Fahrertür entfernt. Ich starrte in den Rückspiegel, mein Herz raste, Abblendlich‐ ter tanzten. Ein großer bärtiger Mann in großen schwarzen Stiefeln sprang aus seiner Fahrerkabine und kam auf den Wagen zu. Er hielt einen großen schwarzen Kricketschläger in der Hand. Ich warf den Motor an, trat das Gaspedal durch und dachte, Barry, Barry, Barry. Das Golden Fleece in Sandal, kurz nach 18.00 Uhr, Donnerstag, 280
19. Dezember 1974, der längste Tag einer Woche aus langen Tagen. Ein Pint in der Bar, ein Whisky im Bauch, eine Münze im Tele‐ fon. »Gaz? Ich bin’s, Eddie.« »Wohin hast du dich denn verkrümelt, zum Teufel?« »Mir war nicht nach Presseclub.« »Du hast ‘ne echte Show verpaßt.« »Ach ja?« »Ja, Jack hat total die Nerven verloren und geflennt ...« »Hör mal, kennst du die Adresse von Donald Foster?« »Was zum Henker willst du denn von dem?« »Es ist wichtig, Gaz.« »Hat das was mit Paul Kelly und Paula zu tun?« »Nein. Hör mal, ich weiß, es ist in Sandal …« »Ja. Wood Lane.« »Nummer?« »Es gibt keine Hausnummern in der Wood Lane, verdammt. Heißt Trinity Towers oder so ähnlich.« »Danke, Gaz.« »Okay, aber erwähne bloß nicht meinen Namen, klar?« »Keine Sorge«, sagte ich, legte auf und fragte mich, ob er mit Kathryn schlief. Eine weitere Münze, ein weiterer Anruf. »Ich muß mit AF sprechen.« Eine Stimme am anderen Ende der Leitung murmelte so leise, als wäre sie am anderen Ende der Welt. »Wann sehen Sie ihn? Es ist wichtig.« Ein Seufzer vom Ende der Welt. »Sagen Sie ihm, Eddie hat angerufen, es ist dringend.« Ich ging zur Bar zurück und griff nach meinem Pint. »Ist das Ihre da drüben?« fragte der Wirt und nickte in Rich‐ 281
tung der Hillards‐Plastiktüte unter dem Telefon. »Ja, danke«, sagte ich und leerte mein Glas. »Sie sollten keine verdammten Plastiktüten herumliegen las‐ sen, nicht in Pubs.« »Sony«, sagte ich, ging zum Telefon zurück und dachte, leck mich. »Ich hab‘ schon gedacht, das ist ‘ne Bombe oder so was.« »Ja, sorry«, murmelte ich, nahm Michael John Myshkins Zei‐ chenblock und die Photos von Stadtrat William Shaw mit Arthur Francis Anderson heraus und dachte, und was für eine Bombe das ist, du Blödmann. Ich hielt an der Bordsteinkante vor dem Trinity View, Wood Lane, Sandal. Ich stopfte die Plastiktüte zusammen mit dem Reiseführer un‐ ter den Fahrersitz, neben die Kanäle des Nordens, drückte meine Zigarette aus, nahm zwei Schmerztabletten und stieg aus. Die Straße war ruhig und dunkel. Ich ging die lange Auffahrt zum Gebäude hinauf. In der Auf‐ fahrt stand ein Rover, oben im Haus brannte Licht. Ich fragte mich, ob das Gebäude wohl von John Dawson entworfen wor‐ den war. Ich drückte auf die Klingel und lauschte, wie Glocken durchs Haus läuteten. »Ja bitte? Wer ist da?« fragte eine Frau hinter der künstlich gealterten Tür. »Yorkshire Post.« Kurze Pause, dann wurde entriegelt, und die Tür ging auf. »Was wünschen Sie?« Die Frau war Anfang Vierzig, hatte eine dunkle, sehr teure Dauerwelle, sie trug eine schwarze Hose, eine dazu passende 282
Seidenbluse und eine medizinische Halskrause. Ich hielt meine verbundene rechte Hand hoch und sagte: »Sieht so aus, als hätten wir beide eine Kriegsverletzung.« »Was Sie wünschen, habe ich gefragt.« Mr. Schuß ins Blaue sagte: »Es geht um Johnny Kelly.« »Was ist mit ihm?« fragte Mrs. Patricia Foster viel zu schnell. »Ich hatte gehofft, Sie oder Ihr Gatte wüßten vielleicht, wo er sich befindet.« »Warum sollten wir das?« fragte Mrs. Foster, eine Hand an der Tür und die andere am Kragen. »Nun, er spielt für den Verein Ihres Mannes und ...« »Er gehört nicht ihm. Mein Mann ist nur der Vereinsvorsit‐ zende.« »Tut mir leid. Sie haben also nichts von ihm gehört?« »Nein.« »Und Sie haben keine Idee, wo er sich aufhalten könnte?« »Nein. Hören Sie, Mr. ...?« »Gannon.« »Gannon?« sagte Mrs. Patricia Foster mit ihrer Adlernase langsam, und ihre dunklen Augen sahen auf mich herab. Ich schluckte und fragte: »Dürfte ich wohl hereinkommen und kurz mit Ihrem Gatten sprechen?« »Nein. Er ist nicht zu Hause, und ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen«, erklärte Mrs. Foster und schloß die Tür. Ich versuchte sie daran zu hindern, mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen. »Was glauben Sie, was mit ihm geschehen ist?« »Ich werde jetzt die Polizei anrufen, Mr. Gannon, und dann meinen sehr guten Freund und Ihren Chef Bill Hadden«, sagte sie durch die Tür und verriegelte sie. »Und vergessen Sie nicht, Ihren Mann anzurufen«, rief ich, 283
drehte mich um, eilte die Auffahrt entlang und wünschte ihr und ihrer Sippschaft die Pest an den Hals. Edward Dunford, Gerichtsreporter für Nordengland, stand in einer Telefonzelle an der Barnsley Road und stampfte auf den Boden, um die Schlangen aufzuscheuchen. In etwa: »Wakefield Town Hall, bitte.« »361234.« Ich sah auf die Uhr meines Vaters und dachte, fifty‐fifty. »Stadtrat Shaw, bitte.« »Es tut mir leid, der Stadtrat ist in einer Sitzung.« »Es ist ein familiärer Notfall.« »Und Ihr Name?« »Ich bin ein Freund der Familie. Es ist ein Notfall.« Ich sah über die Straße in die warmen Wohnzimmer mit ihren gelben Lichtern und Weihnachtsbäumen. Eine andere Stimme sagte: »Stadtrat Shaw ist in der Bezirks‐ verwaltung zu erreichen unter der Telefonnummer 361236.« »Danke.« »Es ist doch nichts Ernstes, hoffe ich?« Ich hängte ein, nahm wieder ab und wählte. »Stadtrat Shaw bitte.« »Tut mir leid, der Stadtrat ist in einer Sitzung.« »Ich weiß. Es ist ein Notfall in der Familie. Sein Büro hat mir Ihre Nummer gegeben.« An einem der oberen Fenster auf der anderen Straßenseite stand ein Kind und starrte aus seinem dunklen Zimmer zu mir herüber. Darunter schauten ein Mann und eine Frau bei aus‐ geschaltetem Licht fern. »Stadtrat Shaw am Apparat.« 284
»Mr. Shaw, Sie kennen mich nicht, aber wir müssen uns tref‐ fen, es ist sehr wichtig.« »Wer spricht denn da?« fragte eine nervöse und verärgerte Stimme. »Wir müssen miteinander reden.« »Warum sollten wir das? Wer sind Sie?« »Ich glaube, jemand wird versuchen, Sie zu erpressen.« »Wer?« flehte die verängstigte Stimme. »Wir müssen uns treffen, Mr. Shaw.« »Womit erpressen?« »Sie wissen schon, womit.« »Nein, weiß ich nicht«, sagte die zittrige Stimme. »Sie haben eine Narbe von einer Blinddarmoperation und lieben es, sich diese von einem gemeinsamen Freund mit orange‐ farbenen Haaren küssen zu lassen.« »Was wollen Sie?« »Was für einen Wagen fahren Sie?« »Einen Rover; warum?« »Farbe?« »Kastanienbraun, rot.« »Kommen Sie um neun Uhr morgen früh zum Langzeitpark‐ platz an der Westgate Station. Allein.« »Das kann ich nicht.« »Sie werden schon einen Weg finden.« Ich hängte ein; mein Herz raste mit 145 km/h. Ich sah zu dem Fenster auf der anderen Straßenseite hinüber, das Kind war verschwunden. Edward Dunford, Gerichtsreporter für den Norden Eng‐ lands, brachte all ihren Sippschaften die Pest, nur einem nicht. »Wo warst du?« »Überall und nirgends.« 285
»Hast du ihn gesehen?« »Darf ich reinkommen?« Mrs. Paula Garland hielt die rote Haustür auf und schlang die Arme fest um sich. In einem schweren Glasaschenbecher qualmte eine Zigarette, im Fernsehen lief leise Top of the Pops. »Wie sah er aus?« »Mach die Tür zu, Schatz. Es ist kalt.« Paula Garland schloß die rote Haustür, stand da und starrte mich an. Im Fernsehen sang Paul da Vinci Your Baby Ain’t Your Baby Anymore. Eine Träne kullerte ihr aus dem linken Auge auf die milch‐ blasse Wange. »Also ist sie tot.« Ich ging zu ihr, legte meine Arme um sie und tastete nach ihrer Wirbelsäule unter der dünnen roten Strickjacke. Ich hatte dem Fernseher den Rücken gekehrt, aber ich konnte den Applaus hören und dann den Anfang von Father Christmas Do Not Touch Me. Paula hob den Kopf, ich küßte ihren Augenwinkel und schmeckte das Salz auf ihrer Haut. Sie lächelte den Fernseher an. Ich drehte mich um und sah, wie Pan’s People, die Go‐go‐ Truppe, als sexy Weihnachtsmiezen mit Lametta und Baum‐ schmuck im Haar kostümiert um die Geschenke herumschar‐ wenzelten. Ich hob Paula hoch, stellte mir ihre kleinen nylonbestrumpf‐ ten Füße auf die Schuhe, wir tanzten und donnerten mit den Bei‐ nen rückwärts gegen die Möbel, bis Paula lachte und weinte 286
und mich fest umarmte. Ich wachte mit einem Ruck in ihrem Bett auf. Unten war das Zimmer still und roch nach kaltem Rauch. Ich machte kein Licht an, setzte mich in Unterhose und ‐hemd aufs Sofa und nahm den Telefonhörer ab. »Ist AF da? Hier spricht Eddie«, flüsterte ich. Das Ticken der Uhr erfüllte den Raum. »Na, was für eine Freude. Wo warst du so lange?« wisperte AF am anderen Ende. »Kennst du Derek Box?« »Unglücklicherweise hatte ich noch nicht das Vergnügen.« »Nun, er kennt dich, und er kannte Barry.« »Die Welt ist klein.« »Ja, und nicht sehr angenehm. Er hat mir ein paar Photos überlassen.« »Wie hübsch.« »Laß den Scheiß, AF. Photos von dir, wie du dem Stadtrat William Shaw einen bläst.« Stille. Nur Aladdin Sane am anderen Ende der Welt. »Stadtrat Shaw ist also Barrys dritter Mann, stimmt’s?« »Volltreffer.« »Verdammte Scheiße.« Das Licht ging an. Paula Garland stand unten an der Treppe, die rote Strickjacke bekleidete sie nur dürftig. Ich lächelte und flüsterte tonlos eine Entschuldigung, der Hörer in meiner Hand war ganz feucht. »Was hast du vor?« fragte AF. »Ich werde dem Stadtrat Shaw die Fragen stellen, die Barry nie hat stellen können.« 287
»Du solltest dich da raushalten«, flüsterte AF. Ich sah Paula an und sagte: »Raushalten? Ich bin doch schon mittendrin. Und du bist eines der beschissenen Arschlöcher, die mich da reingezogen haben.« »Du hast doch mit Derek Box nichts zu schaffen, genauso‐ wenig wie Barry.« »Das sieht Derek Box aber ganz anders.« »Das ist eine Sache zwischen ihm und Donald Foster. Das ist ganz allein deren verdammter Krieg.« »Ach, das sind ja auf einmal ganz neue Töne? Was meinst du damit?« Paula starrte mich an und zog an ihrer Strickjacke. Ich hob entschuldigend die Augenbrauen. »Ich scheiß’ auf Derek Box. Verbrenn’ die Photos oder behalte sie für dich. Vielleicht kannst du sie ja anderweitig gebrauchen«, kicherte AF. »Scheiße. Die Sache ist ernst.« »Natürlich ist sie das, Eddie. Was hast du denn gedacht ? Barry ist tot, verdammt noch mal, und ich konnte noch nicht mal auf seine Beerdigung, weil ich viel zu große Angst hatte.« »Du bist ein verlogenes kleines Miststück«, zischte ich und legte auf. Paula Garland starrte mich immer noch an. Mir schwirrte der Kopf. »Eddie?« Ich stand auf; das Ledersofa klebte an meinen nackten Beinen. »Wer war das?« »Niemand«, erwiderte ich und schob mich an ihr vorbei die Treppe hinauf. »Das kannst du mir nicht antun«, rief sie mir hinterher. Ich ging ins Schlafzimmer und nahm eine Schmerztablette aus 288
meiner Jackentasche. »Du kannst mich nicht immer so behandeln«, sagte sie, als sie die Treppe heraufkam. Ich zog mir die Hose an. Paula Garland stand in der Türöffnung. »Es ist meine kleine Tochter, die tot ist, mein Mann, der sich umgebracht hat, mein Bruder, der vermißt wird.« Ich mühte mich mit den Knöpfen an meinem Hemd ab. »Du hast doch selber entschieden, dich auf diese ganze be‐ schissene Sache einzulassen«, flüsterte sie, und Tränen kullerten auf den Schlafzimmerteppich. Mit noch offenem Hemd zog ich meine Jacke an. »Niemand hat dich gezwungen.« Ich hielt ihr eine schmutziggrau bandagierte Faust unter die Nase und sagte: »Und was ist das? Was, glaubst du, ist das?« »Das ist das Beste, was dir jemals passiert ist.« »Das hättest du nicht sagen dürfen.« »Warum nicht? Was hast du vor?« Wir standen oben an der Treppe, umgeben von der Stille der Nacht, und starrten uns gegenseitig an. »Es ist dir egal, oder, Eddie?« »Ach, Scheiße«, zischte ich, ging die Treppe runter und ver‐ ließ das Haus. »Dir ist das alles scheißegal, oder?«
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8. Kapitel Die Woche des Hasses. Morgendämmerung, Freitag, 20. Dezember 1974. Ich erwachte auf dem Fußboden von Zimmer 27 unter einer Schneedecke von Hunderten zerrissener Seiten voller in Rot ge‐ schriebener Listen. Listen; seit ich Paulas Haus verlassen hatte, hatte ich Listen er‐ stellt. Mit einem dicken roten Filzstift in der linken Fland und einem schwirrenden Kopf hatte ich unleserliche Listen auf die Rückseite der Tapeten geschrieben. Namenslisten. Datenlisten. Ortsnamenslisten. Mädchennamenslisten. Jungennamenslisten. Listen von Korrupten, Korrumpierten und Korrumpierbaren. Polizistenlisten. Zeugenlisten. Familienlisten. Vermißtenlisten. Beschuldigtenlisten. Totenlisten. Ich ertrank in Listen, ersoff in Informationen. Ich wollte gerade eine Liste mit Reporternamen schreiben, zerriß dann aber alles zu Konfetti, schnitt mir dabei in die linke 290
Hand, und die rechte wurde taub. S A G D U MIR N I CH T, DASS M IR A LL ES S CHEISSEGAL IS T.
Ich lag auf dem Rücken und dachte an Listen mit den Frauen, mit denen ich geschlafen hatte. Morgendämmerung, Freitag, 20. Dezember 1974. Die Woche des Hasses. Lieferant des Schmerzes. 9.00 Uhr früh auf dem Dauerparkplatz, Westgate Station, Wakefield. Ich saß wie erstarrt in meinem Viva und schaute zu, wie ein dunkelroter Rover 2000 einbog. In dem braunen Umschlag, der neben mir lag, steckte ein einzelnes Schwarzweißphoto. Der Rover parkte so weit entfernt von der Einfahrt wie mög‐ lich. Ich saß da und ließ ihn warten, erst die Nachrichten im Radio, der Waffenstillstand der IRA, Michael John Myshkin bemühte sich nach Kräften, der Polizei bei ihren Untersuchungen behilflich zu sein, Mr. John Stonehouse, MP, war auf Kuba gesehen wor‐ den, die Ehe des Nachrichtensprechers Reggie Bosanquet war angeblich zerbrochen. Im Rover rührte sich niemand. Ich zündete mir noch eine Zigarette an, und nur um ihm zu zeigen, daß ich hier der Chef war, saß ich auch noch Petula Clarks Little Drummer Boy ab. Jemand startete den Rover. Ich stopfte mir das Photo in die Jackentasche, drückte auf dem Philips Pocket Memo auf Start und machte die Fahrertür auf. Als ich im fahlen Licht näherkam, ging der Motor des Rover aus. Ich klopfte an die Beifahrertür und öffnete sie. 291
Ich warf einen Blick auf den leeren Beifahrersitz, stieg ein und machte die Tür zu. »Schauen Sie geradeaus, Stadtrat.« Der Wagen war warm und teuer, und es roch nach Hund. »Was wollen Sie?« William Shaw klang weder wütend noch verängstigt, sondern nur müde. Ich sah ebenfalls nach vorn und versuchte, die dürre graue Respektsperson, die mit Autohandschuhen das Lenkrad um‐ klammert hielt, nicht anzuschauen. »Ich habe Sie gefragt, was Sie wollen«, sagte er und schaute mich an. »Schauen Sie nach vorn, Stadtrat«, sagte ich, zog das zerknit‐ terte Photo aus der Tasche und legte es vor ihn aufs Armaturen‐ brett. Mit einem Handschuh nahm Stadtrat William Shaw das Photo, auf dem zu sehen war, wie AF ihm einen blies. »Tut mir leid, ist ein wenig verknittert«, lächelte ich. Shaw warf mir das Photo vor die Füße. »Das beweist gar nichts.« »Wer sagt denn, daß das irgendwas beweisen soll?« fragte ich und hob das Photo auf. »Das könnte sonstwer sein.« »Könnte. Ist es aber nicht, richtig?« »Was wollen Sie?« Ich beugte mich vor und betätigte den Zigarettenanzünder unter dem Autoradio. »Der Mann auf dem Photo, wie oft haben Sie ihn getroffen?« »Warum? Wozu wollen Sie das wissen?« »Wie oft?« wiederholte ich. Shaw umklammerte das Lenkrad noch fester. »Drei‐, vier‐ mal.« Der Anzünder sprang heraus, Shaw zuckte zusammen. 292
»Zehnmal. Vielleicht öfter.« Ich schob mir eine Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie an und dankte Gott erneut dafür, einem Einarmigen geholfen zu haben. »Wie haben Sie ihn kennengelernt?« Der Stadtrat schloß die Augen und sagte: »Er hat sich mir vor‐ gestellt.« »Wo? Wann?« »In einer Bar in London.« »In London?« »Irgendeine Regionalkonferenz im August.« Die haben dich reingelegt, dachte ich, die haben dich richtig reingelegt, Stadtrat. »Und dann sind Sie ihm hier wiederbegegnet?« Stadtrat William Shaw nickte. »Und er hat Sie erpreßt?« Wieder nickte er. »Wieviel?« »Wer sind Sie?« Ich starrte hinaus auf den Parkplatz; die Bahnhofsansagen hall‐ ten über die abgestellten Fahrzeuge. »Wieviel haben Sie ihm gegeben?« »Ein paar Tausend.« »Was hat er gesagt?« Shaw seufzte. »Er meinte, das sei für eine Operation.« Ich drückte die Zigarette aus. »Hat er sonst noch jemanden erwähnt?« »Er sagte, es gäbe Männer, die mir schaden wollten, und er könne mich schützen.« Ich starrte auf das schwarze Armaturenbrett, aus Angst, Shaw anzuschauen. 293
»Wer?« »Keine Namen.« »Hat er gesagt, warum die Ihnen schaden wollen?« »Das brauchte er nicht.« »Sagen Sie es mir.« Der Stadtrat Keß das Lenkrad los und drehte sich zu mir um. »Erst sagen Sie mir, wer zum Teufel Sie eigentlich sind.« Ich drehte mich blitzschnell zu ihm hin, drückte ihm das Photo ins Gesicht und preßte seine rechte Wange gegen die Seiten‐ scheibe. Ich ließ nicht los, drückte dem Stadtrat das Photo noch fester ins Gesicht und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich bin ein Mann, der Ihnen sehr, sehr weh tun kann, und zwar auf der Stelle, wenn Sie nicht mit dem Gefasel aufhören und endlich anfangen, meine verdammten Fragen zu beantworten.« Stadtrat William Shaw schlug sich mit den Händen auf die Oberschenkel zum Zeichen, daß er aufgab. »Und nun mach den Mund auf, du schwule Sau.« Ich ließ das Photo feilen und lehnte mich zurück. Shaw, Trä‐ nen im Gesicht, beugte sich übers Lenkrad und rieb sich beide Wangen mit den Handschuhen. Nach fast einer Minute sagte er: »Was wollen Sie wissen?« Ganz weit weg, auf der anderen Seite des Parkplatzes, sah ich einen winzigen Vorortzug in die Westgate Station rollen und seine winzigen Passagiere auf dem kalten Bahnsteig absetzen. Ich schloß die Augen und sagte: »Ich muß wissen, warum die Sie erpressen wollen.« »Das wissen Sie doch«, sagte Shaw schniefend und lehnte sich zurück. 294
Ich drehte mich plötzlich zu ihm hin und verpaßte ihm eine Ohrfeige. »Reden Sie, verdammt!« »Wegen der Geschäfte, die ich gemacht habe. Wegen der Per‐ sonen, mit denen ich Geschäfte gemacht habe. Wegen des ver‐ dammten Geldes.« »Geld«, sagte ich und lachte. »Immer nur Geld, Geld, Geld.« »Die wollen ins Geschäft. Wollen Sie Zahlen?« Shaw war voll‐ kommen außer sich und hielt sich die Hände vors Gesicht. »Ihre beschissenen kleinen Schmiergeldgeschichten sind mir scheißegal, der schlechte Zement und all diese jämmerlichen Ge‐ schäfte, ich will nur, daß Sie es aussprechen.« »Was aussprechen? Was soll ich Ihnen denn sagen?« »Namen. Nennen Sie mir die Namen, verdammt!« »Foster, Donald Richard Foster. Wollen Sie das hören?« »Weiter.« »John Dawson.« »Sind das alle?« »Die, die wichtig sind.« »Und wer will ins Geschäft?« Ganz langsam und leise sagte Shaw: »Sie sind ein verdamm‐ ter Journalist, stimmt’s?« Ich hatte so ein Gefühl im Bauch. »Sind Sie jemals einem Mann namens Barry Gannon be‐ gegnet?« »Nein«, schrie Shaw und ließ den Kopf aufs Lenkrad fallen. »Sie sind ein verdammter Lügner. Wann war es?« Shaw lag zitternd überm Lenkrad. Plötzlich heulten Sirenen durch Wakefield. Ich erstarrte, mein Magen wurde hart, meine Eier schrumpften. Die Sirenen verhallten. »Ich wußte nicht, daß er Reporter war«, wisperte Shaw. 295
Ich schluckte und fragte: »Wann?« »Nur zweimal.« »Wann?« »Irgendwann letzten Monat und letzte Woche Freitag.« »Und Sie haben Foster davon erzählt?« »Ich mußte. Ich konnte so nicht weitermachen, es ging nicht.« »Was hat er gesagt?« Shaw sah auf, das Weiße in seinen Augen war rot. »Wer?« »Foster.« »Er meinte, er kümmere sich darum.« Ich starrte raus über den Parkplatz, sah den Zug aus London, dachte an Wohnungen mit Meeresblick und Mädchen aus dem Süden. »Er ist tot.« »Ich weiß«, flüsterte Shaw. »Was haben Sie jetzt vor?« Ich zupfte mir ein Hundehaar von der Zunge und machte die Beifahrertür auf. Der Stadtrat hielt mir das Photo hin. »Sie sind doch drauf, also behalten Sie es«, sagte ich und stieg aus. »Er sieht so weiß aus«, sagte William Shaw, allein in seinem teuren Auto, und starrte das Photo an. »Was haben Sie gesagt?« Shaw streckte die Hand aus, um die Tür zu schließen. »Nichts.« Ich beugte mich zurück in den Wagen, hielt die Tür auf und brüllte: »Was haben Sie gerade gesagt, verdammt!« »Ich sagte, er sieht so anders aus, mehr nicht, blasser.« Ich schlug ihm die Tür vor der Nase zu, rannte über den Parkplatz und dachte, dieser verdammte Jimmy James Ashworth. 296
145 km/h. Mit der gesunden Hand im Handschuhfach und der verbun‐ denen Hand auf dem Lenkrad wühlte ich durch Pillen, Straßen‐ karten und Kippen. Im Radio liefen The Sweet. Nervöse Blicke in den Rückspiegel. Ich fand die Mikrokassette, riß den Philips Pocket Memo aus der Tasche, zerrte die eine Kassette raus und schob die andere rein. Zurückspulen. Start: »So als ob sie runtergerollt war’ oder so.« Vorwärts spulen. Start: »Ich konnte nicht glauben, daß sie es war.« Zuhören. »Sie sah so anders aus, so weiß.« Stop. Fitzwilliam. 69 Newstead View, Fernseher an. Mit 145 km/h den Gartenweg hinauf. Klopf, klopf, klopf. »Was wollen Sie?« fragte Mrs. Ashworth und versuchte, mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Ich schob einen Fuß in den Spalt und drückte die Tür auf. »He, Sie können doch nicht einfach so bei den Leuten rein‐ platzen.« »Wo ist er?« fragte ich und drückte mich an ihr und ihren schlaffen Titten vorbei. »Er ist nicht da. He, kommen Sie zurück!« Ich rannte die Treppe hoch, riß Türen auf. »Ich ruf die Polizei«, schrie Mrs. Ashworth von unten, »Tun Sie das, meine Liebe«, sagte ich, sah ein ungemachtes 297
Bett und ein Poster von Leeds United, roch Wintermuff und Teen‐ ager‐Wichse. »Ich warne Sie«, schrie sie. »Wo ist er?« fragte ich, als ich die Treppe runterkam. »Bei der Arbeit, wo sonst?« »Wakefield?« »Weiß ich nicht. Sagt er mir nicht.« Ich sah auf die Uhr meines Vaters. »Wann ist er los?« »Der Transporter kam um Viertel vor sieben, so wie immer.« »Er ist ein Kumpel von Michael Myshkin, stimmt’s?« Mrs. Ashworth hielt die Tür auf und kräuselte die Lippen. »Mrs. Ashworth, ich weiß, daß die beiden Freunde sind.« »Michael hat Jimmy immer furchtbar leid getan. So ist er, das hat er im Blut.« »Ich bin gerührt«, sagte ich und ging hinaus. »Das hat nichts weiter zu bedeuten«, rief mir Mrs. Ashworth von der Türschwelle aus nach. Ich machte das Gartentor auf und sah die Straße endang zur ausgebrannten Nummer 54. »Ich hoffe, Ihre Nachbarn sehen das auch so.« »Ihr Zeitungsfritzen macht immer aus jeder Mücke einen Ele‐ fanten!« schrie sie mir hinterher und knallte die Tür zu. Mit Vollgas die Barnsley Road runter nach Wakefield, Blicke in den Rückspiegel. Radio an. Jimmy Young und der Erzbischof von Canterbury unterhiel‐ ten sich mit den ans Haus gefesselten Bürgern Großbritanniens über Anal Rape und The Exorcist »Solche Filme sollten einfach verboten werden. Das ist doch widerlich. « 298
Durch die Weihmchtsbeleuchtung und die ersten Regentrop‐ fen, vorbei an County Hall und Town Hall. »Exorzismus, wie ihn die Anglikanische Kirche praktiziert, ist ein zutiefst religiöser Runs und wird nicht leichtfertig gehandbabt. Dieser Film vermittelt einen vollkommen falschen Eindruck von Exorzismus.« Ich hielt gegenüber der Molkerei Lumbs, in der Nähe der Bücherei Drury Lane, es regnete kalt und heftig. »Wenn Sie Sex von Schuld befreien, befreien Sie die Gesellschaft von Schuld, und ich glaube nicht, daß unsere Gesellschaft funktio‐ nieren kann ohne Schuld.« Radio aus. Ich saß im Wagen, rauchte und schaute zu, wie die leeren Milchflaschen kistenweise heimkehrten. Halb zwölf. Ich trabte am Gefängnis vorbei zur Baustelle. Das Bauschild von Foster’s Construction klapperte im Regen. Ich schob die Plane vor der Tür eines Rohbaus beiseite; im Radio lief Tubular Bells. Drei große, stinkende, rauchende Kerle. »Au Scheiße, nich’ du schon wieder«, sagte einer der großen Kerle mit einem Sandwich im Maul und einer Thermosflasche Tee in der Pranke. »Ich suche Jimmy Ashworth«, sagte ich. »Ist nich’ hier, oder?« sagte ein anderer großer Kerl, der mir den Rücken zuwandte. »Und Terry Jones?« »Auch nich’«, sagte die Arbeitsjacke, und die anderen beiden grinsten. »Wissen Sie, wo sie sind?« »Nö«, antwortete das Sandwich. 299
»Und der Chef, ist der da?« »Irgendwie nich’ dein Glückstag heute.« »Vielen Dank«, sagte ich und dachte, erstick dran, du fettes, bescheuertes Stück Dreck. »Da nich’ für«, lächelte das Sandwich, und ich ging hinaus. Ich schlug den Jackenkragen hoch und grub meine Hände und den Verband tief in die Taschen. Dort fand ich neben Pauls Ron‐ son und dem üblichen Kleingeld eine Feder. Ich ging zwischen den Haufen mit billigen Ziegeln und den halbfertigen Häusern zum Devil’s Ditch und dachte an das letzte Schulphoto von Clare mit ihrem nervösen, hübschen Lächeln, das zwischen den schwarzweißen Aufnahmen an den Wänden in meinem Zimmer im Redbeck hing. Ich hielt die Feder zwischen den Fingern und sah auf. Jimmy Ashworth kam stolpernd über das Brachland auf mich zugerannt, große rote Blutstropfen fielen ihm von der Nase auf die dürre weiße Brust. »Was zum Teufel ist mit dir los?« rief ich. Er kam langsam näher und tat so, als sei nichts. »Was ist passiert?« »Verpiß dich.« In der Entfernung tauchte Terry Jones aus dem Devil’s Ditch auf. Ich packte Jimmy am Arm. »Was hat er zu Ihnen gesagt?« Jimmy versuchte sich loszureißen und schrie: »Laß mich los!« Ich packte den anderen Jackenärmel. »Sie haben sie schon vorher gesehen, stimmt’s?« »Verpiß dich!« Terry Jones war losgelaufen und wedelte mit den Armen. »Sie haben Michael Myshkin von ihr erzählt, stimmt’s?« 300
»Scheiße!« brüllte Jimmy, riß sich aus Jacke und Hemd und wollte davonrennen. Ich drehte mich um und rang ihn wie ein Rugbyspieler zu Boden. Er fiel in den Schlamm zu meinen Füßen. Ich drückte ihn zu Boden und brüllte: »Wo zum Teufel haben Sie sie gesehen?« »Verpiß dich!« schrie Jimmy Ashworth und sah an mir vorbei hinauf in den weiten grauen Himmel, der ihm ins schlamm‐ verschmutzte, blutige Gesicht regnete. »Sag mir, wo du sie gesehen hast, verdammt.« »Nein.« Ich verpaßte ihm mit meiner bandagierten Hand eine Ohr‐ feige, der Schmerz schoß mir vom Arm bis ins Herz, und ich brüllte: »Spuck’s aus!« »Runter, verdammt«, sagte Terry Jones, packte mich am Jackenkragen und zog mich nach hinten. »Laß mich los, verdammt noch mal«, stöhnte ich, ruderte mit den Armen und schlug nach ihm. Jimmy Ashworth, der sich unter meinen Beinen befreien konnte, stand auf und rannte barbrüstig zu den Häusern; Regen, Schlamm und Blut flossen ihm den Rücken hinunter. »Jimmy!« rief ich und rang mit Terry Jones. »Halt die Fresse, verdammt«, zischte Jones. Drüben bei den Häusern waren die drei Kerle vor die Tür ge‐ treten und lachten, als Jimmy an ihnen vorbeirannte. »Er hat sie vorher gesehen, verdammt.« »Gib endlich Ruhe!« Jimmy Ashworth rannte weiter. Die drei Männer lachten nicht mehr und kamen zu mir und Terry Jones herüber. Er ließ mich los und flüsterte: »Hau bloß ab.« 301
»Dafür krieg ich dich dran, Jones.« Terry Jones packte Jimmy Ashworths Hemd und Jacke. »Du verplemperst deine Zeit.« »Ach ja?« »Ja«, lächelte er traurig. Ich machte kehrt, ging in Richtung Devil’s Ditch und wischte mir die Hände an der Hose ab. Ich hörte jemanden rufen, und als ich mich umdrehte, sah ich Terry Jones, der die Arme hochreckte und die drei Kerle zurück zu den halbfertigen Häusern scheuchte. Keine Spur von Jimmy Ashworth. Ich stand am Rand der Senke, blickte hinab auf die rostigen Kinderwagen und Fahrräder, die Küchenherde und Kühl‐ schränke und dachte, das ganze moderne Leben liegt da unten, genau wie Clare Kemplay, zehn Jahre alt. Mit dreckschwarzen Fingern zog ich die kleine weiße Feder aus der Tasche. Dort am Devil’s Ditch sah ich hinauf in den schwarzen Him‐ mel, legte mir die kleine Feder an die blassen Lippen und fragte mich, warum gerade Clare? Strafford Arms, Bullring, Wakefield. Der ausgestorbene Ortskern von Wakefield am Freitag vor Weihnachten. Schlammverkrustet, wie ich war, ging ich die Treppe rauf und durch die Tür. Members only. »Schon in Ordnung, Grace, der gehört zu mir«, sagte Box zu der Frau hinter der Bar. Derek Box und Paul saßen an der Bar, Whiskys und Zigarren 302
in den Händen. In der Jukebox lief Elvis. Nur Derek, Paul, Grace, Elvis und ich. Box erhob sich von seinem Barhocker und ging durch den Raum zu einem Tisch am Fenster. »Sie sehen beschissen aus. Was zum Teufel ist denn mit Ihnen passiert?« Ich setzte mich ihm gegenüber, kehrte Paul und der Tür den Rücken zu und sah hinaus auf das nasse Wakefield. »Ich war im Devil’s Ditch.« »Ich dachte, dafür gäb’s andere?« »Dachte ich auch.« »Manche Dinge läßt man besser auf sich beruhen«, sagte Derek Box und begutachtete die Glut seiner Zigarre. »Wie bei Stadtrat Shaw?« Box gab sich Feuer. »Haben Sie ihn gesehen?« »Ja.« Paul stellte einen Whisky und ein Pint vor mich auf den Tisch. Ich kippte den Whisky ins Bier. »Und?« »Und er redet wahrscheinlich gerade mit Donald Foster.« »Gut.« »Gut? Foster hat Barry umlegen lassen. « »Schon möglich.« »Schon möglich?« »Barry wurde langsam zu ehrgeizig.« »Wovon reden Sie?« »Sie wissen genau, wovon ich rede. Barry hatte seine eigenen Pläne.« »Na und? Foster ist vollkommen durchgeknallt. Das können wir doch nicht einfach so durchgehen lassen. Wir müssen was dagegen tun.« 303
»Der ist nicht durchgeknallt«, erwiderte Box. »Nur moti‐ viert.« »Sie scheinen ihn ja gut zu kennen.« »Wir waren zusammen in Kenia.« »Geschäftlich?« »In geschäftlichem Auftrag Ihrer Majestät. Wir haben unseren verdammten Wehrdienst im kenianischen Hochland abgefeiert, fette Säcke, wie ich jetzt einer bin, beschützt und gegen die ver‐ dammten Mau‐Mau gekämpft.« »Scheiße.« »Ja, Scheiße. Die kamen die Hügel runtergestürmt wie eine Horde wildgewordener Indianer, haben Frauen vergewaltigt, Män‐ nern die Schwänze abgeschnitten und sie an Zaunpfähle gehängt.« »Sie machen Wïtze.« »Seh’ ich so aus?« »Nein.« »Wir waren keine Engel, Mr. Dunford. Ich war mit Don Fo‐ ster zusammen, als wir eine Bande in den Hinterhalt locken konnten. Wir haben ihnen nur zum Spaß in die Knie geschossen.« »Scheiße.« »Foster ließ sich Zeit dabei. Er nahm die Schreie und das Hundegebell auf Band auf, behauptete, dabei könne er besser schlafen.« Ich nahm Pauls Feuerzeug vom Tisch und zündete mir eine Zigarette an. Paul brachte noch zwei Whiskys. »Es war Krieg, Mr. Dunford. Genau wie jetzt.« Ich nahm mein Glas. Box schwitzte beim Trinken und starrte hinaus in die Dun‐ 304
kelheit. »Noch vor einem Jahr wollten sie Rationierungen wieder einführen. Heute haben wir eine Inflationsrate von beschissenen 25 Prozent.« Betrunken, verängstigt und gelangweilt trank ich einen Schluck Whisky. »Und was hat das alles mit Don Foster oder Barry zu tun?« Box zündete sich eine neue Zigarre an und seufzte. »Das Problem mit Leuten Ihrer Generation ist, daß sie von nichts eine Ahnung haben. Warum, glauben Sie, hat der Mann mit dem Schiff den Mann mit der Pfeife 1970 besiegt?« »Wilson war selbstgefällig.« »Selbstgefällig, so ein Scheiß«, sagte Box lachend. »Dann verraten Sie mir doch, warum.« »Weil solche Leute wie Cecil King, Norman Collins, Lord Renwick, Shawcross, Paul Chambers vom ICI, Lockwood bei EMI und McFadden bei Shell und wer sonst noch alles sich hingesetzt und gesagt haben, genug ist genug.« »Na und?« »Und diese Männer haben Einfluß; Einfluß darauf, Männer aufzubauen oder abzusägen.« »Was hat das mit Foster zu tun ?« »Sie hören mir einfach nicht zu, verdammt! Soll ich Ihnen ein Schild malen?« »Bitte ...« »Einfluß ist wie Leim. Er klebt Männer wie uns aneinander, hält alles im Lot.« »Und Sie und Foster sind ...« »Wir sind aus demselben Holz. Wir vögeln gern, wollen ans Geld, und es ist uns ziemlich egal, wie wir an beides kommen. Aber er wird langsam zu groß für seine Stiefel und will mich 305
jetzt rausdrängen, und das kotzt mich an.« »Also benutzen Sie mich und Barry, um seine Kumpel zu er‐ pressen?« »Wir hatten einen Deal, Foster, ich und noch jemand, der mitt‐ lerweile tot ist. Sie haben auf ihn gewartet, bis er aus Australien zurückkehrte, und dann haben sie ihn sich geschnappt, als er gerade aus der Wohnung seiner Mutter in Blackpool kam. Sie ha‐ ben ihm mit einem Handtuch die Hände hinterm Rücken ver‐ bunden und ihn mit fünf Metern Klebeband eingewickelt, von den Schultern bis zur Hüfte. Dann stopften sie ihn in den Koffer‐ raum seines Wagens und fuhren in die Yorkshire Moors hinaus. Bei Sonnenuntergang hielten ihn drei Männer fest, und ein vier‐ ter stach ihm mit einem Messer fünfmal ins Herz.« Ich sah in mein Whiskyglas, und der Raum begann sich zu drehen. »Das war mein Bruder. Er war gerade mal einen Tag zu Hause gewesen.« »Tut mir leid.« »Nach der Beerdigung bekam ich eine Karte. Kein Name, da stand nur: Drei können ein Geheimnis bewahren, wenn zwei davon tot sind.« »Ich will davon nichts wissen«, sagte ich leise. Box nickte zu Paul hinüber, der an der Bar saß, und sagte laut: »Wir haben Sie wohl überschätzt, Mr. Dunford.« »Ich bin nur ein Reporter.« Paul näherte sich von hinten und legte mir eine schwere Pranke auf die Schulter. »Dann sollten Sie tun, was man Ihnen sagt, Mr. Dunford, und Sie kriegen Ihre Story. Überlassen Sie alles weitere uns.« 306
»Ich will davon nichts wissen«, wiederholte ich. Box ließ seine Finger knacken und lächelte. »Dumm gelaufen. Sie stecken schon mittendrin.« Paul packte mich beim Kragen. »Und nun verpiß dich!« Auf der Flucht. Wieder nach Westgate. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Barry und Clare. Kleine tote Clare Kemplay, ein Kuß, schon war’s mit mir vorbei. Clare und Barry. Dirty Barry, als er gut war, war er sehr, sehr gut, und als er schlecht war, war er sehr, sehr schlecht. Ein Polizist stand zum Schutz vor dem Regen in einem Haus‐ eingang. Ich verspürte den Drang, mich vor ihm auf die Knie zu werfen, inständig hoffend, daß er einer von den Guten war, und ihm die ganze traurige Geschichte zu erzählen, nur um endlich nicht mehr im Regen zu stehen. Aber was sollte ich ihm sagen? Daß ich bis über beide Ohren drinsteckte, schlammbedeckt und sternhagelvoll war. Schnurstracks nach Leeds; unterwegs trocknete der Lehm an mir. Schnurstracks und schmutzverkrustet in die Redaktion. Mit sauberem Gesicht und einer sauberen Hand, mit drecki‐ gem Anzug und einem schwarzen Verband setzte ich mich am Freitag, dem 20. Dezember 1974, um 15.00 Uhr an den Schreib‐ tisch. »Netter Anzug, Eddieboy.« »Ach, hau ab, George.« 307
»Und dir auch ein schönes Weihnachtsfest.« Der Schreibtisch war übersät mit Nachrichten und Karten; Sergeant Fraser hatte am Morgen zweimal angerufen, Bill Had‐ den wollte mich umgehend sprechen. Ich ließ mich in meinen Stuhl zurücksinken, George Greaves furzte, die paar, die schon vom Mittagessen zurück waren, applaudierten. Ich lächelte und nahm die Karten in die Hand; drei aus dem Süden, dazu eine mit meinem Namen und der Redaktions‐ anschrift in blaues Dymoband gestanzt und auf den Umschlag geklebt. Auf der anderen Seite des Redaktionsraums nahm Gaz Wet‐ ten zum Spiel Newcastle gegen Leeds an. Ich öffnete den Umschlag und zog die Karte mit meinen Zähnen und der linken Hand heraus. »Willst du mitmachen, Eddie?« rief Gaz. Auf der Vorderseite der Karte war eine Blockhütte in einem schneebedeckten Wald abgebildet. »Zehn Pfund auf Lorimer«, sagte ich und schlug die Karte auf. »Den hat Jack schon.« In der Karte klebten über den Weihnachtsgrüßen zwei weitere Streifen Dymoband. »Na, dann nehm’ ich eben Yorath«, sagte ich leise. Auf dem oberen Streifen stand: K L O P F , K L O P F ... »Wer?« Auf dem unteren: A P P . 405 , C I T Y H E I G H T S . »Yorath«, rief ich und starrte die Karte an. »Jemand, den ich kenne?« Ich sah auf. »Ich hoffe doch, die ist von einer Frau«, sagte Jack Whitehead. »Was soll das heißen?« »Ich hab gehört, daß du mit kleinen Jungs rumhängst«, sagte 308
Jack lächelnd. Ich schob die Karte in die Jackentasche. »Ach ja?« »Ja. Mit orangefarbenen Haaren.« »Von wem hast du das, Jack?« »Hat mir ein kleines Vögelchen erzählt.« »Du stinkst nach Alk.« »Du auch.« »Ist Weihnachten.« »Nicht mehr lange«, meinte Jack grinsend. »Der Chef will dich sehen.« »Ich weiß«, sagte ich und rührte mich nicht vom Fleck. »Er hat mich gebeten, dich zu suchen und sicherzustellen, daß du nicht wieder verlorengehst.« »Willst du Händchen halten?« »Du bist nicht mein Typ.« »Blödsinn.« »Ach, halt die Schnauze, Jack, und hör zu.« Ich drückte wieder auf Start: »Ich konnte nicht glauben, daß sie es war. Sie sah so anders aus, so weiß. « »Blödsinn«, sagte Jack erneut. »Er spricht von den Photos in der Zeitung, in der Glotze.« »Das glaube ich nicht.« »Ihr Gesicht war überall zu sehen.« »Ashworth weiß mehr als das.« »Myshkin hat gestanden, verdammt.« »Das heißt überhaupt nichts, und das weißt du.« Bill Hadden saß hinter seinem Schreibtisch, Brille auf halber Nasenhöhe, strich sich über den Bart und sagte nichts. »Du solltest dir mal den ganzen Mist anschauen, den sie aus dem Zimmer dieses kleinen Perversen geholt haben.« 309
»Was denn?« »Photos von kleinen Mädchen, schachtelweise.« Ich sah Hadden an und sagte: »Myshkin war es nicht.« Hadden erwiderte langsam: »Wozu sollte man ihn dann zum Sündenbock machen?« »Was glauben Sie denn? Damit man eben einen hat.« »Dreißig Jahre«, sagte Jack. »Dreißig Jahre mach’ ich das nun schon, ich weiß, Feuerwehrleute lügen nie und Bullen öfter mal. Aber diesmal nicht.« »Die wissen, daß er es nicht getan hat, und du weißt es auch.« »Er war’s. Er hat’s gestanden.« »Na und?« »Plast du jemals was von Kriminaltechnik gehört?« »Ist doch Blödsinn. Die haben gar nichts.« »Meine Herren, meine Herren«, sagte Hadden und beugte sich vor. »Mir scheint, diese Unterhaltung hatten wir schon mal.« »Genau«, murmelte Jack. »Nein, da hab ich noch geglaubt, daß Myshkin es war, aber ...« Hadden hob die Hände. »Edward, bitte.« »Entschuldigung«, sagte ich und starrte die Karten auf seinem Tisch an. »Wann wird er wieder dem Haftrichter vorgeführt?« fragte Hadden. »Montag früh«, antwortete Jack. »Weitere Anklagen?« »Er hat schon gestanden, Jeanette Garland und dieses Mäd‐ chen aus Rochdale auf dem Gewissen zu haben ...« »Susan Ridyard«, sagte ich. »Aber ich habe gehört, da käme noch mehr.« »Und er hat nichts über den Verbleib der Leichen gesagt?« 310
fragte ich. »Dein Revier, Knalltüte.« »Also«, sagte Hadden und machte einen auf Papa. »Edward, Sie schreiben bis Montag eine Hintergrundstory über Myshkin. Jack, Sie gehen zu dem Termin.« »Alles klar, Chef«, meinte Jack und stand auf. »Nettes Stück über die beiden Polizisten«, sagte Hadden, ganz der stolze Vater. »Danke. Nette Jungs, kenn’ sie schon ‘ne ganze Weile«, sagte jack an der Tür. »Bis morgen abend, Jack«, sagte Hadden. »Ja. Bis bald, Knalltüte«, lachte Jack und ging. »Ciao.« Ich besah mir immer noch die Karten auf Haddens Tisch und stand auf. »Setzen Sie sich einen Augenblick«, meinte Hadden und stand auf. Ich setzte mich wieder hin. »Edward, ich möchte, daß Sie den Rest des Monats frei nehmen.« »Was?« Hadden hatte mir den Rücken zugekehrt und starrte hinaus in den dunklen Himmel. »Ich verstehe nicht«, sagte ich, dabei verstand ich ihn sehr gut; ich starrte eine kleine Karte an, die zwischen all den anderen steckte. »Ich möchte nicht, daß Sie derart in meinem Büro erscheinen.« »Wie denn?« »Derart derangiert«, betonte er und deutete auf mich. »Ich war heute morgen wegen meiner Story auf einer Bau‐ stelle.« »Welche Story?« »Clare Kemplay.« 311
»Die Story ist gestorben.« Ich starrte den Schreibtisch an, starrte diese eine Karte an, eine weitere Blockhütte inmitten eines weiteren schneebedeckten Waldes. »Nehmen Sie sich den Rest des Monats frei. Lassen Sie sich die Hand verarzten«, sagte Hadden und setzte sich wieder. Ich stand auf. »Wollen Sie die Story über Myshkin trotzdem noch?« »Ja, natürlich. Tippen Sie sie runter und geben Sie sie Jack.« Ich öffnete die Tür, dachte, ihr könnt mich alle mal, schlug noch einmal in dieselbe Kerbe: »Kennen Sie die Fosters?« Hadden sah nicht von seinem Schreibtisch auf. »Stadtrat William Shaw?« Hadden blickte auf. »Tut mir leid, Edward. Wirklich.« »Muß es nicht. Sie haben recht«, erwiderte ich. »Ich brauche Hilfe.« Ich saß zum letzten Mal hinter meinem Schreibtisch und dachte, bring’s eben in die überregionale Presse, verdammt, und fegte alles, was auf dem Tisch lag, in eine dreckige alte Co‐op‐Tüte. Es war mir scheißegal, wer mitbekam, daß ich abserviert worden war. Der verdammte Jack Whitehead knallte mir eine Evening News auf den leeren Schreibtisch und strahlte: »Hier, ein Erinne‐ rungsstück.« Ich sah zu ihm hoch und zählte rückwärts. Im Büro wurde es still, alle Augen waren auf mich gerichtet. Jack Whitehead starrte mich unverwandt an, ohne zu blinzeln. Ich sah auf die zusammengefaltete Zeitung und die Schlag‐ zeile: GUTE ARBEIT . 312
»Dreh mal um.« Am anderen Ende der Redaktion klingelte ein Telefon, keiner ging dran. Ich drehte die Zeitung um, sah dort ein Photo von zwei uni‐ formierten Polizisten, denen Chief Constable Angus die Hand schüttelte. Zwei uniformierte Polizisten: Ein großer mit Bart, ein kleiner ohne. Ich sah auf die Zeitung, auf das Photo, auf die Zeile unter dem Bild: Chief Constable Angus beglückwünscht Sergeant Bob Craven und PC Bob Douglas zu ihrer ausgezeichneten Arbeit. »Diese hervorragenden Polizeibeamten verdienen unseren größ‐ ten Dank.« Ich nahm die Zeitung, faltete sie zusammen, stopfte sie in die Plastiktüte und blinzelte Whitehead zu: »Danke, Jack.« Jack Whitehead sagte nichts. Ich nahm die Tüte und durchquerte die stumme Redaktion. George Greaves sah aus dem Fenster, Gaz vom Sport starrte eine Bleistiftspitze an. Auf meinem Schreibtisch klingelte das Telefon. Jack Whitehead hob ab. Die fette Stephanie, die mit einem Stapel Akten an der Tür stand, lächelte und sagte: »Tut mir leid, mein Lieber.« »Sergeant Fraser am Apparat«, rief mir Jack von meinem Schreibtisch aus nach. »Sag ihm, er kann mich mal. Ich bin gefeuert worden.« »Er ist gefeuert worden«, sagte Jack und legte auf. Eins, zwei, drei, vier, die Treppe runter und durch die Tür. Presseclub, nur für Mitglieder, kurz vor fünf. An der Bar, im Augenblick noch Mitglied, einen Scotch in der 313
einen Hand, das Telefon in der anderen. »Hallo. Kann ich bitte Kathryn sprechen?« Yesterday Once More lief in der Jukebox, meine Wahl. »Wissen Sie, wann sie zurückkommt?« Verdammte Carpenters, mir brennen die Augen schon vom eigenen Zigarettenqualm mehr als genug. »Können Sie ihr bitte ausrichten, daß Edward Dunford an‐ gerufen hat?« Ich legte auf, leerte das Glas Scotch, zündete mir wieder eine Zigarette an. »Das gleiche noch mal, bitte.« »Und einen für mich, Bet.« Ich drehte mich um. Scheiß Jack Whitehead setzte sich auf den Hocker neben mich. »Stehst du irgendwie auf mich oder was?« »Nein.« »Was willst du dann, verdammt?« »Wir sollten reden.« »Wozu?« Die Barkeeperin stellte zwei Scotch vor uns ab. »Jemand versucht dich reinzulegen.« »Ach ja? Das sind aber echte Neuigkeiten, Jack.« Er bot mir eine Zigarette an. »Wer, du Knalltüte?« »Wie wär’s, wenn wir mit deinen beiden Kumpeln, den Bullen, anfangen?« Jack zündete sich eine Zigarette an und flüsterte: »Was haben die damit zu tun?« Ich schwenkte meine rechte Hand herum, wedelte mit dem Verband vor seinem Gesicht und brüllte: »Und was ist damit? Was glaubst du eigentlich, was das hier ist, verdammt noch mal?« Jack wich mir aus und packte den Verband. 314
»Die waren das?« fragte er, schob mich wieder auf meinen Hocker und starrte das schwarze Stoffbündel am Ende meines rechten Armes an. »Ja, zwischen dem Niederbrennen von Zigeunerlagern, dem Diebstahl von Obduktionsphotos und dem Herausprügeln von Geständnissen aus geistig Minderbemittelten.« »Wovon redest du?« »Davon, daß die West Yorkshire Metropolitan Police sich um ihre Angelegenheiten kümmert, mit Unterstützung der guten alten Yorkshire Post, Freundin der Polizeistreitkräfte.« »Du hast sie doch nicht mehr alle.« Ich leerte meinen Scotch. »Das sagen irgendwie alle.« »Dann glaub’ ihnen, verdammt noch mal.« »Ach, hau doch ab, Jack.« »Eddie.« »Was?« »Denk an deine Mutter.« »Was zum Teufel soll das denn heißen?« »Hat sie nicht schon genug durchgemacht? Es ist noch nicht mal eine Woche her, seit man deinen Vater beerdigt hat.« Ich beugte mich vor und bohrte ihm zwei Finger in die kno‐ chige Brust. »Wage es ja nicht, meine Familie da mit reinzu‐ ziehen.« Ich stand auf und zog meine Autoschlüssel aus der Tasche. »Du kannst nicht fahren.« »Du kannst nicht schreiben und tust es trotzdem.« Jack war aufgestanden und hielt mich an den Armen fest. »Man legt dich rein, genau wie Barry.« »Laß mich los, verdammt.« »Derek Box ist das personifizierte Böse.« »Laß mich los.« Er setzte sich wieder hin. »Ich habe dich gewarnt.« 315
»Ach, leck mich«, zischte ich und ging die Treppe rauf. Ich haßte diesen verlogenen Mistkerl und die beschissene Welt, in der er lebte. Die MI nach Süden, 19.00 Uhr, Feierabendverkehr, der Regen vor meinen Scheinwerfern verwandelte sich in Eisregen. Always On My Mind im Radio. Auf der Überholspur, Blicke in den Rückspiegel, Blicke nach links, das Zigeunerlager war verschwunden. Ich schaltete durch die Radiosender und mied die Nachrich‐ ten. Plötzlich tauchte die Ausfahrt Castleford aus der Dunkelheit auf wie ein Laster mit Fernlicht. Ich schoß über drei Spuren hinweg, Hupen blökten mich ver‐ ärgert an, die gefangenen Gesichter wütender Gespenster in ihren Wagen verfluchten mich. Ich raste nur wenige Zentimeter am Tod vorbei und dachte, na, komm. Na, komm. Na, komm. Klopf, klopf ... »Du bist ja betrunken.« »Ich will nur reden«, sagte ich auf den Stufen zur Hausnum‐ mer 11 und wartete darauf, daß mir die rote Tür ins Gesicht knallte. »Komm rein.« Die fette Schottin von nebenan saß auf dem Sofa vor der Glotze, Opportunity Knocks, und starrte mich an. »Er hat ein paar zuviel gehabt«, sagte Paula und machte die 316
Tür zu. »Is’ doch nich’ schlimm«, lachte die Schottin. »Tut mir leid«, nuschelte ich und setzte mich neben sie auf das Sofa. »Ich koch dir einen Tee«, sagte Paula. »Danke.« »Du auch noch einen, Clare?« »Nein, ich mach’ mich vom Acker«, antwortete sie und folgte Paula in die Küche. Ich saß auf dem Sofa vor der Glotze, hörte, wie sie nebenan flüsterten, schaute zu, wie ein junges Mädchen sich ins Wohn‐ zimmer und in die Herzen von Millionen Menschen steppte. Direkt über ihr lächelte mich Jeanette auf dem Fernseher an. »Bis bald, Eddie«, verabschiedete sich die schottische Clare an der Tür. Ich wollte erst aufstehen, blieb aber lieber sitzen und mur‐ melte: »Ja, gute Nacht.« »Bleibt anständig«, sagte sie und zog die große rote Tür hin‐ ter sich zu. Im Fernsehen gab es Applaus. Paula reichte mir einen Becher Tee. »Bitte.« »Tut mir leid«, sagte ich, »wegen jetzt. Und wegen gestern nacht.« Sie setzte sich neben mich aufs Sofa. »Vergiß es.« »Daß ich immer so reinschneie, und dann all der Mist, den ich letzte Nacht geredet hab. Ich hab’s nicht so gemeint.« »Schon in Ordnung, vergiß es. Kein Wort mehr darüber.« Im Fernsehen fraßen irgendwelche außerirdischen Roboter Instant‐Kartoffelbrei. »Es ist mir nicht egal.« »Ich weiß. « Ich wollte nach Johnny fragen, statt dessen stellte ich den Be‐ cher ab, beugte mich vor und zog ihr Gesicht mit meiner linken 317
Hand zu mir. »Wie geht’s deiner Hand?« flüsterte sie. »Besser«, antwortete ich, küßte sie auf ihre Lippen, ihr Kinn, ihre Wangen. »Das mußt du nicht tun«, sagte sie. »Will ich aber.« »Warum?« Im Femsehen trank ein Affe mit Pagenmütze Tee. »Weil ich dich liebe.« »Bitte sag so etwas nicht, wenn du es nicht ernst meinst.« »Tu ich aber.« »Dann sag es noch einmal.« »Ich liebe dich.« Paula schob mich von sich, nahm mich bei der Hand, schal‐ tete den Fernseher aus und führte mich die steile, steile Treppe hinauf. Mummys undDaddys Zimmer. Das Schlafzimmer war so kalt, daß ich meinen Atem sehen konnte. Paula setzte sich aufs Bett und fing an, ihre Bluse auszuziehen; sie hatte eine Gänsehaut. Ich drückte sie in die Daunendecke und warf meine Schuhe von mir. Sie wand sich unter mir und versuchte, ihre Hose auszu‐ ziehen. Ich schob ihre Bluse und den schwarzen BH hoch, saugte an ihren blaßbraunen Brustwarzen und biß ganz vorsichtig hinein. Sie zog mir die Jacke aus und schob meine Hose runter. »Du bist dreckig«, kicherte sie. »Vielen Dank für das Kompliment«, lächelte ich und spürte das Lachen in ihrem Bauch. »Ich liebe dich«, sagte sie, fuhr mir mit den Händen durchs Haar und drückte meinen Kopf sanft nach unten. 318
Ich folgte ihrem Wunsch, öffnete den Reißverschluß an ihrer Hose und zog ihren blaßblauen Schlüpfer mit der Hose nach unten. Paula Garland drückte meinen Kopf an ihren Schlitz und schlang ihre Beine um meinen Rücken. Mein Kinn war ganz naß; es kribbelte, als es wieder trocknete. Sie drückte mich weg. Ich ließ ab. »Ich liebe dich«, sagte sie. »Ich liebe dich auch«, murmelte ich. Sie zog mich wieder hoch über ihre Brüste. Ihre Zunge an meiner, beide schmeckten nach ihr. Ich drückte mich hoch, mein Arm tat weh, und drehte sie auf den Bauch. Paula lag auf der Daunendecke mit dem Gesicht im Kissen; sie trug nur noch ihren BH. Ich sah zu meinem Schwanz hinunter. Paula hob ihren Hintern ein wenig an und legte sich dann wieder flach hin. Ich schob ihre Haare hoch, küßte sie im Nacken und hinter den Ohren und schob mich zwischen ihre Beine. Wieder hob sie ihren Hintern, der von Schweiß und Säften ganz feucht war. Ich setzte mich auf, die linke Hand flach auf ihrem unteren Rücken, und rieb meinen Schwanz an ihren Schamlippen. Sie hob ihren Hintern höher und reckte ihren Schütz meinem Schwanz entgegen. Mein Schwanz berührte ihren Hintern. Sie griff mit der Hand nach meinem Schwanz und führte ihn von ihrem Hintern weg in sich ein. Rein und raus, rein und raus. Paula streckte auf dem Bett die Finger und machte eine Faust. 319
Rein und raus, rein und raus. Paula mit dem Gesicht nach unten, Fäuste geballt. Ich zog ihn raus. Paula seufzte, Finger gespreizt. Mein Schwanz berührte ihren Hintern. Paula versuchte nach hinten zu schauen. Die verbundene Hand in ihrem Nacken. Paula suchte verzweifelt mit der Hand nach meinem Schwanz. Mein Schwanz an ihrem Arschloch. Paula rief ins Kissen. Fest hinein. Paula Garland schrie und schrie ins Kissen. Die verbundene Hand drückte ihr Gesicht ins Kissen, die andere hielt ihren Bauch. Paula Garland versuchte sich von mir loszumachen. Ich fickte sie in den Hintern. Zitternd und unter Tränen gab Paula nach. Rein, raus, rein, raus. Paula, Blut auf dem Hintern. Rein, raus, rein, raus, Blut an meinem Schwanz. Paula Garland weinte. Ich kam und kam und kam noch einmal. Paula rief nach Jeanette. Ich kam erneut. Tote Hunde, Monster und Ratten mit kleinen Flügeln. Jemand mit einer Taschenlampe und großen Stiefeln wanderte in meinem Kopf umher. Paula war draußen auf der Straße, zog ihre rote Strickjacke enger um sich und lächelte mich an. Plötzlich schoß ein großer schwarzer Vogel vom Himmel herab und landete in ihrem Haar, jagte sie die Straße entlang 320
und riß ihr riesige Büschel blonder Haare heraus, die an den Wurzeln blutig waren. Sie lag auf der Straße wie ein toter, vom Laster überfahrener Köter, und man konnte ihren blaßblauen Baumwollschlüpfer sehen. Ich wachte auf und schlief wieder ein, dachte, ich bin in Sicher‐ heit, ich bin in Sicherheit, schlaf weiter. Tote Hunde, Monster und Ratten mit kleinen Flügeln. Jemand mit einer Taschenlampe und großen Stiefeln wanderte in meinem Kopf umher. Ich saß in einer Blockhütte und starrte einen Weihnachtsbaum an; Essensduft erfüllte das Haus. Ich zog eine große Schachtel, die in Zeitungspapier einge‐ wickelt war, unter dem Baum hervor und machte die rote Schleife auf. Ich entfernte vorsichtig das Papier, um die Zeitung später noch lesen zu können. Ich starrte die kleine Holzschachtel auf meinen Knien an, die da auf der Zeitung und dem roten Schleifenband stand. Ich schloß die Augen und öffnete die Schachtel; das dumpfe Pochen meines Herzschlags erfüllte die Hütte. »Was ist es denn?« fragte sie, näherte sich mir von hinten und berührte mich an der Schulter. Ich verbarg die Schachtel unter meiner verbundenen Hand und grub meinen Kopf in die roten Stoffalten ihrer Jacke. Sie nahm mir die Schachtel aus der Hand und schaute hinein. 321
Die Schachtel fiel zu Boden, und die Hütte war erfüllt von Essensduft, dem Pochen meines Herzens und ihren mörderischen Schreien. Ich schaute zu, wie dieses Etwas aus der Schachtel über den Boden glitt und dabei mit seinem blutigen Faden spinnenartige Botschaften schrieb. »Mach’s weg«, schrie sie. »Mach’s sofort weg!« Es drehte sich auf den Rücken und lächelte mich an. Ich wachte auf und schlief wieder ein, dachte, jetzt bin ich in Sicherheit, ich bin in Sicherheit, schlaf weiter. Tote Hunde, Monster und Ratten mit kleinen Flügeln. Jemand mit einer Taschenlampe und großen Stiefeln wanderte in meinem Kopf umher. Ich war wach, lag unter der Erde auf einer Tür und fror. Über mir konnte ich die gedämpften Geräusche eines laufen‐ den Fernsehers hören, Opportunity Knocks. Ich starrte hinauf auf die winzigen näherkommenden Licht‐ pünktchen. Über mir hörte ich die gedämpften Geräusche eines klingeln‐ den Telefons und schlagender Flügel. In der Dunkelheit sah ich Ratten mit Flügeln, die mit ihren pel‐ zigen Gesichtern eher wie Eichhörnchen aussahen. Über mir konnte ich die gedämpften Töne einer Schallplatte hören, The Little Drummer Boy. Die Ratten waren an meinen Ohren, flüsterten schmutzige Worte, beschimpften mich, brachen mir die Knochen. Neben mir das gedämpfte Geräusch von weinenden Kindern. Ich sprang auf, um Licht zu machen, aber das brannte schon. Ich war wach, lag frierend auf dem Teppich.
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9. Kapitel »Was zum Teufel ist das ?« Eine Zeitung klatschte mir ins Gesicht und weckte mich. Samstag, 21. Dezember 1974. »Du erzählst, du liebst mich, sagst, daß es dir nicht egal ist, und dann fickst du mich in den Hintern und schreibst solchen Mist.« Ich setzte mich auf und rieb mir das Gesicht mit der verbun‐ denen Hand. Samstag, 21. Dezember 1974. Mrs. Paula Garland, blaue Jeans mit Schlag und roter Woll‐ pullover, beugte sich über das Bett. Die Schlagzeile der Yorkshire Post starrte mich von der Daunendecke an: ELFTÄGIGER WAFFENSTILLSTAND DER IRA. »Was?« »Komm mir ja nicht so, du verlogenes Stück Scheiße.« »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.« Sie nahm die Zeitung, schlug sie auf und las vor: Das Flehen einer Mutter, von Edward Dunford. Mrs. Paula Garland, Schwester des Rugby‐League‐Spielers Johnny Kelly, brach in Tränen aus, als sie von ihrem Leben seit dem Verschwinden ihrer Tochter Jeanette vor fünf Jahren berichtete. »Ich habe alles verloren«, sagte sie und spielte damit auf den Selbstmord ihres Gatten Geoff an, der sich 1971, direkt im Anschluß 324
an die ergebnislosen Bemühungen der Polizei, ihre vermißte Tochter zu finden, erschossen hatte. »Ich will nur, daß das alles endlich ein Ende hat«, weinte Mrs. Garland. »Vielleicht ist es ja jetzt soweit. « Paula machte eine Pause. »Soll ich weiterlesen?« Ich setzte mich auf die Bettkante, ein Laken über meinen» Schoß, und starrte einen hellen Fleck Sonnenlicht auf dem dün‐ nen geblümten Teppich an. »Das habe ich nicht geschrieben.« »Von Edward Dunford.« »Ich habe es nicht geschrieben.« Die Verhaftung eines Mannes aus Fitzwilliam im Zusammen‐ hang mit dem Verschwinden und der Ermordung von Clare Kemplay machte Mrs. Garland Hoffnung, wenn auch tragischer Art. »Ich hätte nie gedacht, daß ich jemals so etwas sage, aber nach all dieser Zeit möchte ich nur wissen, was passiert ist«, sagte Mrs. Garland unter Tränen. »Und wenn das bedeuten sollte, das Schlimmste zu erfahren, dann werde ich versuchen müssen, damit zu leben.« »Ich habe das nicht geschrieben.« »Von Edward Dunford«, beharrte sie. »Ich habe das nicht geschrieben.« »Lügner!« schrie Paula Garland, packte mich bei den Haaren und zerrte mich vom Bett. Ich fiel nackt auf den dünnen geblümten Teppich und wieder‐ holte nur: »Ich habe das nicht geschrieben.« »Raus!« »Paula, bitte«, sagte ich und suchte nach meiner Hose. Sie schubste mich um, als ich aufstehen wollte, und schrie immer wieder: »Raus! Raus!« »Verdammt, Paula, hör doch mal zu.« »Nein!« schrie sie und riß mir mit dem Fingernagel ein Stück Haut vom Ohr, 325
»Verdammt!« brüllte ich, schubste sie weg und suchte meine Klamotten zusammen. Sie ließ sich in die Ecke neben dem Schrank fallen, rollte sich zusammen und schluchzte: »Ich hasse dich.« Ich zog Hose und Hemd an und hob meine Jacke auf. Blut tropfte mir aus dem Ohr. »Ich will dich nie wiedersehen«, flüsterte sie. »Keine Sorge, das wirst du auch nicht«, spuckte ich, rannte die Stufen runter und verließ das Haus. Miststück. Die Uhr im Auto zeigte kurz vor neun, das gleißend helle Winterlicht blendete mich beim Fahren. Verdammtes Miststück. Die A655 war frei, ebene braune Felder, so weit das Auge reichte. So ein verdammtes Miststück. Im Radio lief Lulus Little Drummer Boy, der Rücksitz war voller Plastiktüten. So ein verfluchtes, verdammtes Miststück. Fünf Sekunden Piepen vor der vollen Stunde, das Ohr tat mir immer noch weh, und nun die Nachrichten: »Nach dem grausigen Fund einer toten Frau in einer Wohnung in St. John ‘s am gestrigen Tag hat die West Yorkshire Police die Unter‐ suchung des Mordfalles aufgenommen.« Das kalte Blut in meinen Adern erstarb endgültig. »Bei der Ermordeten handelt es sich um die 36jährige Mandy Denizili.« Fleisch würgte Knochen, runter von der Straße auf den Seiten‐ streifen. »Mrs. Denizili arbeitete unter ihrem Geburtsnamen Wymer als Medium und erlangte landesweite Bekanntheit, als sie der Polizei bei einer Reihe von Untersuchungen half. In jüngster Zeit hatte Mrs. De‐ 326
nizili behauptet, die Polizei zur Leiche des ermordeten Schulmäd‐ chens Clare Kemplay geführt zu haben. Dieser Behauptung wider‐ sprach der leitende Beamte, Detective Superintendent Peter Noble, allerdings vehement.« Die Stirn auf dem Lenkrad, die Hände vor dem Mund. »Zwar hat die Polizei zum gegenwärtigen Zeitpunkt erst wenige Einzelheiten bekanntgegeben, doch steht wohl fest, daß es sich um ein Gewaltverbrechen handelt.« Ich mühte mich mit der Tür und dem Verband ab, Kotze tropfte von der Armlehne aufs Gras. »Die Polizei bittet alle, die Mrs. Denizili kannten, sich umgehend bei einer der Dienststellen zu melden.« So ein verfluchtes, verdammtes Miststück. Raus aus dem Wagen und auf die Knie, die Galle lief mir übers Kinn auf den Boden. So ein verdammtes Miststück. Ich spuckte Galle und Schleim, hatte diesen Schrei im Ohr, wie sie auf ihrem Hintern den Flur endangrutschte, mit Armen und Beinen ruderte und sich ihr Rock dabei hochschob. Verdammtes Miststück. Schotter an den Händen, Erde an der Stirn, starrte ich das Gras in den Rissen des Asphalts an. Miststück. Frisch den Hochglanzseiten von Yorkshire Life entsprungen. Eine halbe Stunde später stand ich mit dreckschwarzem Gesicht und grasbefleckten Händen in der Lobby des Redbeck Motel und umklammerte mit meinem Verband den Telefonhörer. »Sergeant Fraser bitte.« Die Gelbtöne, die Brauntöne, der stinkende Qualm – ich fühlte mich schon fast wie zu Hause, so was Ähnliches jeden‐ falls. 327
»Sergeant Fraser am Apparat.« Ich dachte an Krähen, die auf Telefondrähten hockten, schluck‐ te und sagte: »Hier spricht Edward Dunford.« Stille, nur das Summen der Leitung, die auf Wörter wartete. Hinter den Glastüren klackerten Billardkugeln, und ich fragte mich, was für ein Wochentag war, fragte mich, ob Schule war, dachte an die Krähen auf den Telefondrähten und fragte mich, was Fraser wohl dachte. »Sie sind fällig«, sagte Fraser. »Ich muß Sie sprechen.« »Blödsinn. Sie sollten sich stellen.« »Was?« »Sie haben mich schon verstanden. Wir suchen Sie.« »Weswegen?« »Wegen des Mordes an Mandy Wymer.« »Das glauben Sie doch nicht im Ernst.« »Wo sind Sie?« »Hören Sie ...« »Nein, jetzt hören Sie zu, verdammt noch mal. Seit zwei Tagen versuche ich, Sie zu erreichen ...« »Hören Sie bitte ...« Wieder Stille, nur das Summen der Leitung, die auf seine Wörter wartete oder meine. Das Klackern der Billardkugeln hinter den Glastüren, und ich fragte mich, ob das immer noch dieselbe Partie war, fragte mich, ob die sich überhaupt mit einem Spielstand abgaben, dachte wie‐ der an die Krähen auf der Leitung und fragte mich, ob Fraser den Anruf zurückverfolgte. 328
»Reden Sie weiter«, sagte Fraser. »Ich gebe Ihnen Namen und Daten, alle Informationen, die ich über Barry Gannon habe, dazu all die Sachen, die er raus‐ gefunden hat.« »Weiter.« »Aber ich muß alles wissen, was Sie über Michael Myshkin gehört haben, was er über Jeanette Garland und Susan Ridyard erzählt. Und ich will sein Geständnis sehen.« »Weiter.« »Ich treffe Sie um zwölf Uhr mittags. Ich gebe Ihnen alles, was ich habe, Sie geben mir, was Sie haben. Und ich will Ihr Wort da‐ rauf, daß Sie nicht versuchen, mich zu verhaften.« »Weiter.« »Wenn Sie mich verhaften, reiße ich Sie mit rein.« »Weiter.« »Geben Sie mir bis Mitternacht, dann werde ich mich stellen. « Stille, nur das Summen, das auf Wörter wartete. Das Klackern der Billardkugeln hinter den Glastüren, und ich fragte mich, wo die furzende Alte geblieben war, fragte mich, ob sie auf ihrem Zimmer gestorben war und niemand sie gefunden hatte, dachte an die Krähen auf der Leitung und fragte mich, ob Fraser mich im Pflegeheim Hartley reingelegt hatte. »Wo?« flüsterte Sergeant Fraser. »An der Kreuzung der A655 und der B6134 liegt in Richtung Featherstone eine stillgelegte Tankstelle.« »Zwölf Uhr?« »Mittags.« Die Leitung war tot, das Summen weg, aber es gab keinen Unterschied. Das Klackern der Billardkugeln hinter den Glastüren. 329
Ich saß auf dem Fußboden des Zimmers Nr. 27, leerte meine Taschen und Tüten, starrte die winzigen Kassetten mit der Auf‐ schrift B O X und S H A W an und drückte auf Start: »Ich bin auch kein Unschuldslamm, ich bin Geschäftsmann.« Mit meiner verletzten Hand schrieb ich meine und ihre Worte nieder. »Überzeugen Sie den Stadtrat, seine Seele von all seinen öffent‐ lichen Fehltaten zu reinigen. « Ich legte eine Photographie neben mich. »Morgen mittag, oben im Strafford Arms.« Ich wechselte die Kassette und drückte auf Start: »Wegen des verdammten Geldes.« Ich schrieb in Großbuchstaben. »Foster, Donald Richard Foster. Wollten Sie das hören?« Hörte mir Lügen an. »Ich wußte nicht, daß er Reporter war.« Ich drehte das Band um. »All die anderen unter den hübschen neuen Teppichen.« Zurückspulen. »Rühren Sie mich nicht an!« Ich drückte zum Löschen auf Aufnahme. »Sie riechen so stark nach schlechten Erinnerungen.« Auf dem Fußboden von Zimmer 27 füllte ich einen braunen Umschlag mit Barrys Sachen und den Dingen, die er heraus‐ gefunden hatte, leckte die Lasche an, verschloß den Umschlag und schrieb Frasers Namen darauf. »Und das konnten Sie nicht vorhersehen?« Als ich mit dem braunen Umschlag in der Hand und einer Weihnachtskarte in der Tasche an der Tür zu meinem Motel‐ zimmer stand, schluckte ich eine Tablette und zündete mir eine Zigarette an. »Ich hin ein Medium, Mr. Dunford, keine Wahrsagerin.« 330
Es gab nur einen Ausweg. Mittag. Samstag, 21. Dezember 1974. Eingeklemmt zwischen einem Laster und einem Bus fuhr ich an der stillgelegten Shell‐Tankstelle an der Kreuzung von der A 655 und der B6134 vorbei. Ein senfgelber Maxi stand auf dem Vorplatz; Sergeant Fraser lehnte an der Motorhaube. Ich fuhr noch hundert Meter weiter, hielt an, kurbelte das Fen‐ ster herunter, wendete, drückte am Philips Pocket Memo auf Start und fuhr zurück. Ich hielt neben dem Maxi und sagte: »Steigen Sie ein.« Sergeant Fraser, der einen Regenmantel über seiner Uniform trug, ging hinten um den Viva herum und stieg ein. Ich verließ die Tankstelle und bog nach links Richtung Fea‐ therstone auf die B6134. Sergeant Fraser verschränkte die Arme und starrte nach vorn. Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, in eine Parallel‐ welt direkt aus Dr. Who geraten zu sein, wo ich der Bulle war, nicht Fraser, wo ich der Gute war, nicht er. »Wo fahren wir hin?« fragte er. »Sind schon da.« Ich fuhr auf einen Rastplatz direkt hinter einen roten Caravan, der Tee und Pasteten anbot. Ich schaltete den Motor aus und sagte: »Möchten Sie etwas ?« »Nein, danke.« »Kennen Sie Sergeant Craven und seinen Partner?« »Ja. Die kennen doch alle.« »Kennen Sie sie gut?« »Vom Hörensagen.« 331
Ich starrte durch die von braunem Schlamm verschmierte Scheibe über die niedrigen braunen Hecken hinaus, die die brau‐ nen Felder mit ihren einsamen braunen Bäumen teilten. »Warum?« fragte Fraser. Ich zog ein Photo von Clare Kemplay aus der Tasche, eines, auf dem sie auf einem Seziertisch lag, mit einem Schwanenflügel an den Rücken genäht. Ich gab ihm das Bild. »Ich glaube, Craven oder sein Partner hat mir das zukommen lassen.« »Verdammt. Wozu?« »Sie wollten mich reinlegen.« »Warum?« Ich wies auf die Plastiktüte zu Fräsers Füßen. »Ist alles da drin.« »Wirklich?« »Ja. Abschriften, Dokumente, Photos. Alles, was Sie brau‐ chen.« »Abschriften?« »Ich habe die Originalbänder, ich werde sie Ihnen geben, wenn Sie entscheiden, daß Sie etwas damit anfangen können. Keine Sorge, es ist alles da.« »Das sollte es besser auch«, sagte Fraser und schaute in die Tüte. Ich zog zwei Stück Papier aus der Innentasche meiner Jacke und gab Fraser eines davon. »Klopfen Sie an diese Tür.« »Appartement 5,3 Spencer Mount, Chapeltown«, las Fraser. Das andere Stück Papier steckte ich wieder ein. »Ja.« »Wer wohnt dort?« »Arthur Francis Anderson; er ist ein Bekannter von Barry Gannon und der Held von einigen der Aufnahmen und Bänder, 332
die Sie in der Tüte finden.« »Und warum verpfeifen Sie ihn?« Ich starrte hinaus zum Ende der braunen Felder, wo der blaue Himmel weiß wurde. »Ich habe sonst nichts anderes.« Fraser schob das Stück Papier in die Tasche und nahm ein Notizbuch heraus. »Und was haben Sie für mich?« »Nicht besonders viel«, räumte Fraser ein und zückte sein Notizbuch. »Sein Geständnis?« »Nicht im Wortlaut.« »Einzelheiten?« »Es gibt keine.« »Was hat er über Jeanette Garland gesagt?« »Er hat sich schuldig bekannt. Mehr nicht.« »Susan Ridyard?« »Ebenfalls.« »Verdammt.« »Genau«, sagte Sergeant Fraser. »Glauben Sie, daß er’ s war?« »Er hat gestanden.« »Hat er gesagt, wo er all diese Verbrechen begangen haben will?« »In seinem unterirdischen Königreich.« »Er hat sie nicht alle.« »Wer hat das schon?« seufzte Fraser. In dem grünen Auto neben der braunen Weide unter dem weißen Himmel sagte ich: »Ist das alles?« Sergeant Fraser sah auf sein Notizbuch herab und sagte: »Mandy Wymer.« »Verdammt.« 333
»Ein Nachbar hat sie gestern morgen gegen neun Uhr ge‐ funden. Sie ist vergewaltigt, skalpiert und mit einem Draht an der Deckenlampe aufgehängt worden.« »Skalpiert?« »Wie bei den Indianern.« »Verdammt.« »Das haben sie euch Aasgeiern vorenthalten«, sagte Fraser und lächelte. »Skalpiert«, flüsterte ich. »Die Katzen haben sich auch an ihr ausgetobt. Die reinste Horrorshow.« »Verdammt.« »Ihr Ex‐Boß hat Sie verpfiffen«, sagte Fraser und klappte sein Notizbuch zu. »Und die Polizei glaubt, ich bin’s gewesen?« »Nein.« »Warum nicht?« »Sie sind Reporter.« »Und?« »Und deshalb glauben wir, daß Sie wissen, wer es war.« »Warum ich?« »Weil Sie einer der letzten Menschen gewesen sein dürften, der sie noch lebend gesehen hat, deshalb.« »Verdammt.« »Hat sie was über ihren Mann gesagt?« »Sie hat gar nichts gesagt.« Sergeant Fraser klappte sein Notizbuch erneut auf. »Nachbarn haben uns berichtet, daß Miss Wymer Dienstag abend einen Streit hatte. Ihrem ehemaligen Arbeitgeber zufolge muß das entweder 334
kurz vor oder kurz nach Ihrem Besuch dort gewesen sein.« »Davon weiß ich nichts.« Sergeant Fraser sah mir in die Augen und klappte sein Notiz‐ buch wieder zu. »Ich glaube, Sie lügen«, sagte er. »Warum sollte ich?« »Keine Ahnung, Berufskrankheit vielleicht?« Ich drehte mich um und sah über die tote braune Hecke hin‐ weg auf das tote braune Feld mit dem toten braunen Baum hin‐ aus. »Was hat sie denn über Clare Kemplay gesagt?« fragte Fraser leise. »Nicht viel.« »Was denn zum Beispiel?« »Glauben Sie, daß es eine Verbindung gibt?« »Offensichtlich.« »Aber welche?« fragte ich, die trockenen Mundwinkel schmerzten, und mein feuchtes Herz pochte. »Ja, was glauben Sie denn? Sie hat an den Fällen gearbeitet.« »Noble und seine Meute behaupten das Gegenteil.« »Na und? Wissen wir doch alle, daß sie dran war.« »Und?« »Und dann wären da immer noch Sie.« »Ich? Was soll mit mir sein?« »Sie sind das fehlende Verbindungsstück.« »Und deshalb hängt das alles irgendwie zusammen?« »Sagen Sie es mir.« »Sie hätten Reporter werden sollen«, sagte ich. »Sie auch«, zischte mich Fraser an. »Alles Blödsinn«, sagte ich und startete den Motor. »Alles hängt zusammen«, erwiderte Sergeant Fraser. Ich sah zweimal in den Rückspiegel und fuhr los. 335
An der Kreuzung der B6134 und der A655 fragte Fraser: »Um Mitternacht?« Ich nickte und hielt neben dem Maxi auf dem Vorplatz der leeren Tankstelle. »Kommen Sie nach Morley«, sagte Fraser und nahm die Tüte, als er ausstieg. »Okay. Warum nicht?« Ich hatte nur noch eine Karte auszuspielen, sah in den Rück‐ spiegel und fuhr davon. City Heights, Leeds. Unter einem weißen Himmel, der bei drohendem Regen und ausbleibendem Schnee immer grauer wurde, schloß ich den Wa‐ gen ab und dachte, daß es im Sommer hier eigentlich ganz in Ord‐ nung sein könnte. Saubere Hochhäuser aus den Sechzigern: abblätternder An‐ strich in Gelb und Hellblau, rostansetzende Geländer. Ich ging die Treppe zum vierten Stock hinauf, ein Ball knallte gegen eine Wand, Kindergeschrei im Wind, und ich dachte an die Beades und ihre Plattenhüllen, an Sauberkeit, an Götdichkeit, an Kinder. Im vierten Stock kam ich über den offenen Hausflur vorbei an zugedampften Küchenfenstern und leise spielenden Radios, bis ich vor der gelben Tür mit der Nummer 405 stand. Ich klopfte an das Appartement 405, City Heights, Leeds, und wartete. Nach einer Weile drückte ich auf die Klingel. Nichts. Ich beugte mich vor und hob den Metalldeckel des Brief‐ kastens. 336
Die Wärme trieb mir Tränen in die Augen; ich konnte ein Pferderennen im Fernsehen hören. »Entschuldigung!« brüllte ich in den Briefschlitz. Das Rennen wurde abgebrochen. »Entschuldigung!« Auge wieder am Briefschlitz; ich sah ein paar weiße Frottee‐ socken, die auf mich zukamen. »Ich weiß, daß Sie da drin sind«, sagte ich und richtete mich wieder auf. »Was wollen Sie?« fragte eine Männerstimme. »Mich unterhalten.« »Worüber?« Ich spielte meine letzte Karte aus und sagte: »Über Ihre Schwester.« Ein Schlüssel drehte sich, die gelbe Tür ging auf. »Was ist mit ihr?« fragte Johnny Kelly. Ich reckte meine bandagierte rechte Hand hoch und sagte: »Klick, ein Photo.« Johnny Kelly in Blue jeans und Pullover, mit gebrochenem Handgelenk und zerschundenem irischem Gesicht, fragte wieder: »Was ist mit ihr?« »Sie sollten sich bei ihr melden. Sie macht sich Sorgen.« »Und wer zum Teufel sind Sie?« »Edward Dunford.« »Kenn ich Sie?« »Nein.« »Woher wissen Sie, daß ich hier bin?« Ich zog die Weihnachtskarte aus der Tasche und hielt sie ihm hin. »Fröhliche Weihnachten.« »Miststück«, meinte Kelly, nahm die Karte und starrte die beiden Dymostreifen an. 337
»Darf ich reinkommen?« Johnny Kelly ging in die Wohnung, ich folgte durch den kleinen Flur, vorbei an einem Bad und dem Schlafzimmer bis ins Wohnzimmer. Kelly setzte sich in einen vinylbezogenen Sessel und hielt sich das Handgelenk. Ich setzte mich auf das dazu passende Sofa neben einen Fernseher voller Pferde, die stumm über Hindernisse sprangen, und kehrte so einem weiteren Winternachmittag in Leeds den Rücken. Über dem gasbetriebenen Kamin lächelte eine Polynesierin mit einer Blume im Haar, und ich dachte an braunhaarige Zigeu‐ nermädchen und an Rosen, dort, wo Rosen niemals hätten sein dürfen. Unter den Pferden erschienen die Halbzeitergebnisse: Leeds verlor in Newcastle. »Paula geht es doch gut, oder?« »Was denken Sie?« fragte ich zurück und schaute die auf‐ geschlagene Zeitung an, die auf dem resopalbeschichteten Bei‐ stelltisch lag. Johnny Kelly beugte sich vor und starrte auf die Schlagzeilen. »Sie sind von der beschissenen Zeitung, oder?« »Ich kenne Paul.« »Und Sie haben diesen Mist geschrieben, stimmt’s?« fragte Kelly und lehnte sich zurück. »Habe ich nicht.« »Aber Sie sind doch von der scheiß Post, oder?« »Jetzt nicht mehr, nein.« »Verdammt«, meinte Kelly und schüttelte den Kopf. »Hören Sie, ich werde nichts verraten.« 338
»Na klar«, sagte Kelly und grinste. »Erzählen Sie mir nur, was passiert ist, und ich verspreche, ich sage kein Wort.« Johnny Kelly stand auf. »Sie sind ein scheiß Reporter.« »Nicht mehr.« »Ich glaube Ihnen kein Wort«, sagte er. »Na gut, sagen wir mal, ich bin einer. Ich könnte doch sowieso jeden Mist schreiben.« »Das macht ihr doch auch.« »Na, dann können Sie ja auch mit mir reden.« Johnny Kelly stand hinter mir und sah durch das Panorama‐ fenster hinaus auf die riesige alte Stadt. »Wenn Sie kein Reporter mehr sind, warum sind Sie dann hier?« »Ich bin hier, um Ihrer Schwester zu helfen.« Johnny Kelly hatte sich wieder in den Sessel gesetzt, rieb sich das Handgelenk und lächelte. »Nicht noch einer.« Das Zimmer wurde dunkler, der Gaskamin immer heller. »Wie ist das passiert?« fragte ich. »Autounfall.« »Ehrlich?« »Ehrlich«, sagte Kelly. »Sie sind gefahren?« »Nein, sie.« »Wer?« »Wer glauben Sie denn?« »Mrs. Patricia Foster?« »Volltreffer.« »Was ist passiert?« »Wir sind ausgegangen und waren gerade auf dem Rück‐ weg ...« »Wann?« 339
»Letzte Woche, Freitag nacht.« »Reden Sie weiter«, sagte ich und dachte an Stifte und Papier, Kassetten und Bänder. »Wir hatten auf der Rückfahrt ‘ne Pause gemacht und was getrunken, und sie meinte, besser, sie fährt das letzte Stück, weil ich mehr getrunken hatte als sie. Na, jedenfalls kommen wir die Dewsbury Road runter, und, ich weiß nicht, wir blödeln rum, und ehe wir uns versehen, latscht irgend so ein Kerl auf die Straße, und bang, wir fahren ihn an.« »Wo?« »Beine, Brust, keine Ahnung.« »Nein, nein. Wo an der Dewsbury Road?« »Wenn man nach Wakefield reinkommt, in der Nähe vom Gefängnis.« »In der Nähe der neuen Häuser, die Foster baut?« »Ja. Glaube ich jedenfalls«, sagte Johnny Kelly und lächelte. Ich dachte, alles ist miteinander verknüpft, dachte, so etwas wie Zufall gibt es nicht, es gibt einen Plan, also gibt es einen Gott, ich schluckte und sagte: »Wissen Sie, daß Clare Kemplay dort in der Nähe gefunden wurde?« »Ehrlich?« »Ja.« Kelly starrte in die Ferne. »Das wußte ich nicht.« »Und was war dann?« »Wir haben ihn nur ganz kurz gestreift, es war unheimlich glatt, sie verlor die Kontrolle über den Wagen, und die Kiste drehte sich.« Ich saß da in meinem Polyesteranzug auf dem Vinylbezug, starrte in dieser Wohnung aus Beton den Resopaltisch an und dachte an Gummi und Metall, Leder und Glas. 340
Das Blut. »Wir müssen wohl gegen den Bordstein und dann gegen einen Latemenpfahl gestoßen sein oder so.« »Und der Mann, den Sie angefahren haben?« »Keine Ahnung. Wie gesagt, ich glaube, wir haben ihn nur kurz berührt.« »Haben Sie nachgeschaut?« fragte ich und bot ihm eine Ziga‐ rette an. »Ich bin doch nicht blöd«, entgegnete er und gab sich Feuer. »Und dann?« »Ich hab’ ihr beim Aussteigen geholfen, aber sie war in Ord‐ nung. Sie hatte sich ein wenig den Hals verrenkt, aber nichts gebrochen. Schleudertrauma. Wir stiegen wieder ein, und ich fuhr sie nach Hause.« »Das Auto war heil?« »Nein, aber man konnte noch fahren.« »Was hat Foster gesagt?« Kelly drückte seine Zigarette aus. »Ich hab’ nicht auf ihn ge‐ wartet, um das herauszufinden.« »Und dann sind Sie hierhergekommen.« »Ich mußte mal für ‘ne Weile aus dem Verkehr. Mich unsicht‐ bar machen.« »Er weiß, daß Sie hier sind?« »Klar weiß er das«, sagte Kelly und fuhr sich übers Gesicht. Er nahm eine weiße Karte vom Resopaltisch und warf sie mir zu. »Der Mistkerl hat mir sogar eine Einladung zu seiner bescheuer‐ ten Weihnachtsparty geschickt.« »Wie hat er Sie denn aufgespürt?« fragte ich und versuchte, die Karte im Dunkeln zu entziffern. 341
»Die Wohnung gehört ihm.« »Und warum bleiben Sie dann hier?« »Na ja, genaugenommen kann er das Maul eh nicht auf‐ machen, oder?« Ich hatte das Gefühl, als hätte ich gerade etwas ganz Wichtiges, etwas ganz Furchtbares überhört. »Ich verstehe nicht.« »Seit ich siebzehn bin, vögelt er jeden Sonntag meine Schwe‐ ster.« Das ist es nicht, dachte ich noch. »Nicht, daß ich mich beklagen will.« Ich blickte auf. Johnny Kelly sah zu mir herunter. Das ganz Wichtige, ganz Furchtbare war mir wieder ein‐ gefallen. Das Zimmer war dunkel, der Gaskamin hell. »Schau nicht so schockiert, Kumpel. Du bist nicht der erste, der ihr helfen wollte, und du wirst nicht der letzte sein.« Ich stand auf, das Blut in meinen Beinen kalt und klamm. »Na, gehst du auf die Party?« fragte Kelly grinsend und zeigte auf die Einladung in meiner Hand. Ich drehte mich um, ging den schmalen Flur endang und dachte, ich scheiß auf euch alle. »Und vergiß nicht, ihnen fröhliche Weihnachten von Johnny Kelly auszurichten, okay?« Ich dachte, scheiß auf euch alle. Hallo, wie geht’s? Supermarkt. Zehn Sekunden später saß ich wieder im Wagen, hatte mein letztes Geld in Flaschen und Tüten angelegt, im Radio detonierte 342
eine Bombe im Harrods, im Aschenbecher lag eine Zigarette, eine andere hatte ich in der Hand, und ich zog ein paar Pillen aus dem Handschuhfach, Ich fuhr besoffen Auto. 145 km/h, ich hielt mir die Whiskyflasche an den Hals, warf mir Beruhigungsmittel und Aufputschmittel ein, verdrängte Mäd‐ chen aus dem Süden und ʺWohnungen mit Meeresblick, pflügte durch die Kathryns und Karens und all die anderen, die es vor ih‐ nen gegeben haue, jagte Bremslichter und kleine Mädchen, zer‐ rieb die Liebe unter meinen Rädern, durchwühlte sie mit dem Profil der Reifen. Ich war der Führer in einem selbstentworfenen Bunker und schrie: » I C H H A B N O C H N I E I R G E N D W A S B Ö S E S G E T A N !« Mi, Vollgas, ich sog die Nacht, die Bomben und ihre Splitter durch die Einlaßstutzen in meinen Wagen und durch die Zähne in den Mund, brauchte, suchte und fluchte nach einem letzten Kuß, nach der Art, wie sie redet und wie sie geht, flehte zum Himmel, ohne IHM ein Geschäft vorzuschlagen, flehte um Liebe ohne Hin‐ tergedanken, flehte, daß sie wieder leben sollte, leben sollte, HIER J ET Z T FÜR MICH.
Mit sanften Tränen und steifem Schwanz donnerte ich über sechs Spuren voller Scheiße und stellte fest I C H H A B N O C H N I E IRGENDWAS GUTES GETAN Radio 2 verstummte plötzlich, der weiße Motorway wurde 343
plötzlich golden, Männer in Lumpen, Männer mit Kronen auf den Häuptern, ein paar Männer mit Flügeln, andere ohne, und ich mußte hart bremsen, um nicht eine Krippe aus Holz und Stroh niederzumähen. Dann stand ich auf dem Bankett, Warnblinklicht an. Bye‐bye Love. 11 Brunt Street, alles dunkel. Das Quietschen der Bremsen hätte Tote wecken können; ich sprang aus dem grünen Viva und versuchte, die rote Tür einzu‐ treten. 11 Brunt Street, hintenrum. Um die Häuser herum, über die Mauer, den Mülleimerdeckel durch die Küchenfensterscheibe; beim Einsteigen nahm ich mit der Jacke ein paar Scherben mit. Liebling, ich bin zu Hause. 11 Brunt Street war totenstill. Drinnen dachte ich, wenn ich zu dir nach Hause komme, werde ich dir zeigen, was ich kann, und zog ein Messer aus der Küchenschublade (wo ich es vermutet hatte). Ist es das, was du wolltest? Ich stürmte die steile, steile Treppe hinauf ins Schlafzimmer, schleuderte die Daunendecken zu Boden, riß die Schubladen heraus, warf den ganzen Müll durch die Gegend, Make‐up und billige Schlüpfer, Tampons und falsche Perlen, sah Geoff, der sich die Schrotflinte in den Mund steckte, dachte, K E I N W U N D E R , V E R D A M M T , deine Tochter tot, deine Frau eine Nutte, die den Chef ihres Bruders vögelt und was nicht sonst noch alles, schleuderte einen Stuhl in den Spiegel, W E I L E S E I N F A C H K E I N GR ÖSSER ES P EC H VER DAMMTE
GE BEN
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KONNTE
A LS
DIESES
P E CH.
Du sollst alles kriegen, was du schon immer wolltest. Ich ging über den Treppenabsatz und öffnete die Tür zu Jeanettes Zimmer. So still und kalt wie in einer Kirche. Ich setzte mich auf die kleine rosafarbene Überdecke neben ihrer Sammlung von Teddy‐ bären und Puppen, ließ meinen Kopf in die Hände sinken, das Messer fiel zu Boden; das Blut an meinen Händen und die Tränen auf meinem Gesicht gefroren, bevor die Tropfen sich zu dem Messer gesellen konnten. Zum allerersten Mal galten die Gebete nicht mir, sondern allen anderen: daß nichts von alledem, was in meinen Notizbüchern stand und auf den Bändern zu hören war, nichts von alledem, was sich in den Umschlägen und Plastiktüten in meinem Zimmer fand, wahr war, daß die Toten lebendig waren und die Vermißten wieder zurückkehrten, daß alle diese Leben weiter gelebt werden konnten. Und dann betete ich für meine Mutter und meine Schwester, für meine Onkel und Tanten, für die Freunde, die ich hatte, die guten wie die schlechten, und zum Schluß für meinen Vater, wo immer er auch war, Amen. Ich saß eine Weile mit gesenktem Haupt da, faltete die Hände, horchte auf die Geräusche im Haus und auf mein Herz, nahm das eine für das andere. Nach einer Weile stand ich wieder von Jeanettes Bett auf, schloß die Tür hinter mir, ging zurück ins Schlafzimmer zu dem Schaden, den ich dort angerichtet haue. Ich hob die Daunen‐ decken auf, schob die Schubladen wieder in die Kommode, hob 345
Paulas Make‐up und ihre Unterwäsche auf, ihre Tampons und ihren Schmuck, schob die Scherben des Spiegels mit dem Schuh zusammen und stellte den Stuhl wieder hin. Dann ging ich die Treppe hinunter in die Küche, hob den Mülldeckel auf, schloß alle Schränke und Türen und dankte Gott dafür, daß niemand die verdammten Bullen gerufen hatte. Ich stellte den Wasserkocher an und brühte mir eine Tasse Tee mit Milch und fünf Stück Zucker. Ich nahm den Tee mit ins Wohn‐ zimmer, schaltete die Glotze ein und schaute zu, wie weiße Kran‐ kenwagen durch die schwarze Nacht bretterten und Bombentote und Verwundete hierhin und dorthin karrten, während sich ein blutiger Nikolaus und ein höherer Polizist fragten, welcher Mensch nur so etwas tun könne, und dann noch so kurz vor Weihnachten. Ich zündete mir eine Zigarette an, schaute mir die Fußball‐ ergebnisse an, verfluchte Leeds United und fragte mich, welches Spiel sie wohl beim Match of the Day zeigen würden und wer Gast bei Parkinson sein würde. Es klopfte an der Vorderscheibe, dann an der Tür, und ich erstarrte plötzlich, als mir einfiel, wo ich war und was ich getan hatte. »Wer ist da?« fragte ich, erhob mich und stand mitten im Zimmer. »Clare. Wer ist denn da?« »Clare?« Mein Herz raste mit 145 km/h, ich schob den Riegel beiseite und öffnete die Tür. »Ach, Sie sind’s, Eddie.« Mein Herz blieb stehen. »Ja.« 346
Die schottische Clare fragte: »Ist Paula da?« »Nein.« »Ach. Ich hab’ Licht gesehen und dachte, sie müßte wieder zurück sein. Tut mir leid«, sagte die schottische Clare lächelnd und blinzelte ins Licht. »Nein, sie ist noch nicht zurück, tut mir leid.« »Macht nichts. Ich seh’ sie ja morgen.« »Ja. Ich sag’ ihr Bescheid.« »Alles in Ordnung, mein Lieber?« »Bestens.« »Okay. Bis dann.« »Gute Nacht«, sagte ich, und als ich die Tür schloß, ging mein Atem flach und schnell. Die schottische Clare sagte noch etwas, das ich nicht mehr mitbekam, dann verhallten ihre Schritte auf der Straße. Ich setzte mich wieder aufs Sofa und starrte das Schulphoto von Jeanette Garland oben auf dem Fernseher an. Daneben lagen zwei Karten, eine davon zeigte eine Holzhütte in einem schnee‐ bedeckten Wald, die andere war weiß. Ich nahm Johnny Kellys weiße Einladung von Donald Foster aus der Tasche und ging zum Fernseher. Ich schaltete Max Wall und Emerson Fittipaldi aus und ver‐ schwand in der stillen Nacht. Zurück zu den großen Häusern. Wood Lane, Sandal, Wakefield. Die Straße war mit PKWs zugeparkt. Ich bahnte mir einen Weg durch all die Jaguars und Rovers, Mercedesse und BMWs. Trinity View, hellerleuchtet und festlich geschmückt. Im Vorgarten stand ein riesiger Weihnachtsbaum, der vor Lichtern und Lametta nur so strahlte. 347
Ich ging die Auffahrt hinauf zu der Party und folgte den wider‐ streitenden Melodien von Johnny Mathis und Rod Stewart. Diesmal stand die Haustür offen. Ich verweilte einen Augen‐ blick in der Türöffnung und sah Frauen in Abendgarderobe, die Pappteller voll Essen von einem Zimmer ins nächste trugen und auf der Treppe vor dem Klo Schlange standen, während Männer in samtenen Smokings herumlungerten und Scotchgläser und fette Zigarren in Händen hielten. Durch die Tür zur Linken konnte ich Mrs. Patricia Foster er‐ kennen, ohne Halskrause, die einer Gruppe von großen Männern mit roten Gesichtern die Gläser füllte. Ich ging in das Zimmer und sagte: »Ich suche Paula.« Totenstille. Mrs. Foster klappte den Mund auf, brachte aber keinen Ton heraus, und ihre Adlerblicke schossen durch den Raum. »Möchten Sie bitte mit rauskommen?« sagte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und bückte in Don Fosters grinsendes Gesicht. »Ich suche Paula.« »Das habe ich gehört. Lassen Sie uns hinausgehen und dar‐ über sprechen.« Zwei große Kerle mit Schnurrbärten standen hinter ihm, alle drei trugen Smoking, Fliegen und Rüschenhemden. »Ich bin wegen Paula hier.« »Sie sind nicht eingeladen worden. Auf geht’s.« »Und fröhliche Weihnachten von Johnny Kelly«, sagte ich und warf ihm Kellys Einladung hin. Foster warf seiner Frau einen Blick zu, wandte sich zu einem der Manner und murmelte: »Draußen.« 348
Einer der Männer trat auf mich zu. Ich hob einlenkend die Hände und ging zur Tür. Dort drehte ich mich um und sagte: »Vielen Dank für die Weihnachtskarte, Pat.« Ich sah, wie die Frau schluckte und zu Boden schaute. Einer der Männer schob mich sanft in die Eingangshalle. »Alles in Ordnung, Don?« fragte ein Mann mit grauem, locki‐ gem Haar und einer Handvoll Scotch. »Ja. Der Herr wollte gerade gehen«, sagte Foster. Der Mann reckte den Kopf in meine Richtung. »Kenne ich Sie?« »Schon möglich«, erwiderte ich. »Ich hab’ mal für den Kerl mit dem Bart da drüben gearbeitet.« Chief Constable Ronald Angus drehte sich um und sah ins Nebenzimmer, wo Bill Hadden mit dem Rücken zur Tür stand und sich unterhielt. »Ach wirklich? Wie interessant«, sagte Chief Constable Angus, trank noch einen Schluck Whisky und schloß sich wieder der Gesellschaft an. Donald Foster hielt mir die Tür auf, und ich bekam wieder einen sanften Schubs von hinten. Von oben erklang das Gelächter einer Frau herunter. Ich ging aus dem Haus, die beiden Männer flankierten mich links und rechts, Foster hinter mir. Ich dachte erst daran, über den Rasen davonzusprinten und es bis zum Pub, dem Golden Fleece, zu schaffen; ich fragte mich, ob sie es wagen würden, mich vor allen Leuten aufzuhalten, wußte aber, sie würden es tun. »Wohin gehen wir?« »Geh einfach weiter«, sagte einer der Männer; er trug ein weinrotes Hemd. 349
Wir waren gerade oben an der Zufahrt angekommen, als ich einen Mann vom Eingangstor halb laufend, halb gehend auf uns zukommen sah. »Scheiße«, sagte Don Foster. Wir blieben stehen. Die beiden Männer sahen Foster an und warteten auf seinen Befehl. »Der hat mir gerade noch gefehlt«, murmelte Foster. Stadtrat Shaw war ganz außer Atem. »Don!« rief er. Foster ging ihm ein kurzes Stück entgegen, breitete die Arme aus und reckte die Handflächen nach oben. »Bill, nett, dich zu sehen.« »Du hast meinen Hund erschossen! Du hast verdammt noch mal meinen Hund erschossen!« Shaw schüttelte den Kopf, weinte, versuchte Foster von sich zu schubsen. Foster umarmte ihn wie ein Tanzbär und versuchte ihn zu beruhigen. »Du hast meinen Hund erschossen!« schrie Shaw und machte sich los. Foster zog ihn wieder in seine Arme und grub Shaws Kopf in seinen Samtsmoking. Hinter uns stand Mrs. Foster mit ein paar Gästen auf den Stufen zur Tür und zitterte. »Was gibt’s, Liebling?« fragte sie mit klappernden Zähnen und klapperndem Glas. »Nichts. Geht ruhig wieder rein und amüsiert euch.« Alle blieben wie angefroren auf den Stufen stehen. »Na los. Es ist Weihnachten, verdammt!« brüllte Foster, der verdammte Nikolaus persönlich. »Wer will mit mir tanzen?« lachte Pat Foster, schüttelte ihre dürren Titten und scheuchte alle wieder hinein. 350
Dancing Machine dröhnte zur Tür heraus, und Brot und Spiele gingen weiter. Shaw stand da und schluchzte in Fosters schwarze Samtjacke. Foster flüsterte: »Das ist jetzt nicht der rechte Augenblick, Bill.« »Was ist mit dem da?« fragte der Mann mit dem lila Hemd. »Schafft ihn weg.« Der andere Mann in dem roten Hemd packte mich am Ell‐ bogen und führte mich die Einfahrt entlang. Foster blickte nicht auf, flüsterte Shaw ins Ohr: »Das ist extra für John.« Wir gingen an ihnen vorbei die Einfahrt hinunter. »Du bist mit dem Auto gekommen, stimmt’s?« »Ja.« »Gib mir den Schlüssel«, sagte Lila. Ich tat wie geheißen. »Ist das deiner?« fragte Rot und deutete auf den Viva am Straßenrand. »Ja.« Die beiden lächelten sich an. Lila öffnete die Beifahrertür und klappte den Sitz vor. »Steig ein.« Ich stieg mit Rot hinten ein. Lila setzte sich hinters Steuer und startete den Motor. »Wo‐ hin?« »Zu den neuen Häusern.« Ich saß hinten und fragte mich, warum ich nicht versucht hatte, wegzulaufen, und dachte, vielleicht wird’s nicht so schlimm, kann ja wohl kaum schlimmer werden als die Prügel im Pflegeheim, doch dann verpaßte mir Rot einen derartigen Schlag, daß ich 351
mit dem Kopf die Seitenscheibe einschlug. »Und du halt die Schnauze, verdammt«, sagte Rot lachend, packte mich bei den Haaren und drückte mir den Kopf zwischen die Knie. »Wenn er ‘ne Schwuchtel war’, müßtest du ihm jetzt einen blasen«, brüllte Lila von vorn. »Mach mal ‘n bißchen Musik an, verdammt«, sagte Rot und drückte meinen Kopf weiter nach unten. Rebel Rebel dröhnte durch den Wagen. »Lauter«, rief Rot, zog mich an den Haaren nach oben und flüsterte: »Du schwule Sau.« »Na, blutet er?« rief Lila über die Musik hinweg. »Noch nicht genug.« Er drückte mich wieder gegen die Scheibe, packte mich mit der Linken an der Kehle, rutschte ein wenig zurück und knallte mir einen vor die Nase, daß heißes Blut durch den Wagen spritzte. »Schon besser«, sagte er und legte meinen Kopf sanft gegen die Scheibe. Ich sah hinaus auf das Stadtzentrum von Wakefield, Samstag vor Weihnachten 1974, warmes Blut lief mir aus der Nase über Lippen und Kinn, und ich dachte: ziemlich still für eine Samstag‐ nacht. »Ist er k.o.?« fragte Lila. »Ja«, antwortete Rot. Bowie machte Platz für Lulu oder Petula oder Sandy oder Cilia, The Little Drummer Boy umspülte mich, die Weihnachts‐ beleuchtung verwandelte sich in Knastbeleuchtung, und der Wagen hüpfte über das Brachland von Foster’s Construction. 352
»Hier?« »Warum nicht?« Der Wagen hielt an, die Musik verstummte. Lila stieg aus, hielt die Fahrertür auf, und Rot schubste mich raus auf die Erde. »Der ist weggetreten, Mick.« »Tja. Schade eigentlich.« Ich kg mit dem Gesicht am Boden zwischen ihnen und stellte mich tot. »Was sollen wir machen? Liegenlassen?« »Nee.« »Was denn?« »Noch ‘n Späßchen.« »Heute nicht, Mick, für so ‘n Scheiß hab ich keine Zeit.« »Nur ‘n bißchen, okay?« Jeder packte einen Arm, und dann schleiften sie mich über den Boden, bis mir die Hose in den Kniekehlen hing. »Hier rein?« »Ja.« Sie zerrten mich durch die Plane, über den Holzboden eines halbfertigen Hauses, Splitter und Nägel rissen mir die Knie auf. Sie setzten mich auf einen Stuhl, banden mir die Hände hinter den Rücken und zogen mir die Hose über die Schuhe. »Hol mal den Wagen her und mach die Scheinwerfer an.« »Man wird uns sehen.« »Wer denn?« Ich hörte, wie einer von ihnen hinausging und der andere auf mich zukam. Er steckte mir die Hand in die Unterhose. »Ich hab gehört, du stehst auf Mösen«, sagte Rot und quetschte mir die Hoden. Ich hörte den Motor; plötzlich war der Raum hell erleuchtet und Kung‐Fu Fighting dröhnte. 353
»Na komm schon, laß uns aufhören«, sagte Lila. »Joe Bugner!« Ein Schlag in die Magengrube. »Coon Conteh!« Ein zweiter. »Scheiß George Foreman.« Ein Kinnhaken ... »Ali Shuffle«, Pause, ich wartete, dann links, rechts. »Scheiß Bruce Lee!« Ich erhielt einen furchtbaren Schlag gegen die Brust und stürzte mit dem Stuhl rückwärts zu Boden. »Schwule Sau«, sagte Lila, beugte sich vor und spuckte mir ins Gesicht. »Wir sollten den Scheißer verbuddeln.« Lila lachte. »Wir können doch George nicht die Fundamente versauen.« »Ich hasse diese verdammten Klugscheißer.« »Laß ihn. Komm.« »Das war schon alles?« »Na los, laß uns zurückfahren.« »Nehmen wir seinen Wagen?« »Wir suchen uns am Westgate ein Taxi.« »Ach Scheiße.« Ein Tritt gegen den Hinterkopf. Ein Fuß auf meiner rechten Hand. Lichter aus. Die Kälte weckte mich. Die pechschwarze Dunkelheit hatte violette Ränder. Ich schob den Stuhl weg und zog die Hände aus den Fesseln. Ich setzte mich in Unterhose mit wackligem Kopf und schmerzendem Körper auf den Holzboden. Ich streckte die Hand aus und zog die Hose zu mir. Sie war naß und stank nach der Pisse eines fremden Mannes. Ich zog die Hose über die Schuhe. 354
Langsam stand ich auf. Ich fiel zurück, stand wieder auf und verließ wankend die Bau‐ stelle. Das Auto stand mit geschlossenen Türen in der Dunkelheit. Ich probierte beide Türen. Abgeschlossen. Ich nahm einen zerbrochenen Ziegelstein, ging zum Beifahrer‐ fenster und schlug die Scheibe ein. Ich zog die Türverriegelung auf. Ich öffnete die Tür, nahm den Ziegelstein und schlug das Schloß im Handschuhfach ein. Ich zog Straßenkarten, muffige Lappen und einen Ersatz‐ schlüssel heraus. Ich ging zur Fahrerseite, schloß auf und stieg ein. Ich setzte mich in den Wagen, starrte die dunklen, leeren Häu‐ ser an und erinnerte mich an das beste Fußballspiel, bei dem ich je mit meinem Vater gewesen war. Huddersfield gegen Everton. Huddersfield Town kriegt einen Freistoß an Evertons Strafraumgrenze. Vic Metcalfe tritt an, zir‐ kelt den Ball um die Mauer, Jimmy Glazzard köpft ein. Tor. Der Schiri gibt den Treffer nicht, ich weiß nicht mehr, warum, sagt: »Wiederholung.« Metcalfe tritt erneut an, zirkelt den Ball um die Mauer, Glazzard köpft ein. Tor, und die Anhänger toben. 8:2. »Die Presse wird ihren Spaß haben. Die machen sie fertig«, hatte mein Vater gelacht. Ich warf den Motor an und fuhr zurück nach Ossett. Auf der Einfahrt in der Wesley Street sah ich auf die Uhr mei‐ nes Vaters. Sie war nicht mehr da, verdammt. 355
Es mußte etwa drei Uhr sein. Verdammt, dachte ich, als ich die Hintertür öffnete. Im Hinterzimmer brannte Licht. Verdammt, ich sollte wenigstens hallo sagen. Es hinter mich bringen. Ma saß angezogen, aber schlafend, im Schaukelstuhl. Ich machte die Tür zu und ging die Treppe hinauf, eine Stufe nach der anderen. Ich legte mich in meinen nach Pisse stinkenden Klamotten aufs Bett, betrachtete im Dunkeln das Poster von Peter Lorimer und dachte, das hätte Dad das Herz gebrochen. 145 km/h.
DRITTER TEIL
Wir sind die Toten
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10. Kapitel 357
Sonntag, 22. Dezember 1974. Um fünf Uhr früh brachen zehn Polizisten unter Leitung von Detective Superintendent Noble die Tür zum Haus meiner Mut‐ ter mit Vorschlaghämmern auf, verpaßten ihr eine Ohrfeige, als sie in den Flur trat, schoben sie wieder ins Hinterzimmer zurück, stürmten mit Schrotflinten die Treppe hoch, zerrten mich aus dem Bett, rissen mir büschelweise Haare aus, traten mich die Treppe runter, verprügelten mich, als ich unten landete, zerrten mich zur Tür hinaus und warfen mich über den Asphalt in einen schwar‐ zen Lieferwagen. Sie schmissen die Türen zu und fuhren davon. Hinten im Lieferwagen schlugen sie mich besinnungslos, dann ohrfeigten sie mich und pißten mich an, bis ich wieder zu mir kam. Als der Wagen zum Stehen kam, öffnete DS Noble die Tür, zerrte mich an den Haaren und schleuderte mich über den hin‐ teren Parkplatz der Wakefield Police Station, Wood Street. Zwei Uniformierte schleiften mich dann an den Füßen die Steinstufen hinauf ins Gebäude, wo die Flure links und rechts voller schwarzer Gestalten standen, die mich schlugen, traten, be‐ spuckten und mich immer und immer wieder an den Fersen die gelben Flure rauf und runter schleiften. Sie photographierten mich, zogen mich aus, schnitten mir den Verband von der rechten Hand, photographierten mich noch mal und nahmen mir Fingerabdrücke ab. 358
Ein pakistanischer Arzt blendete mich mit einer Taschen‐ lampe, wischte mir mit einem Spatel im Mund herum und kratzte unter meinen Fingernägeln. Dann steckten sie mich nackt in einen fensterlosen, grell‐ erleuchteten Raum von zweieinhalb mal anderthalb Metern, setz‐ ten mich hinter einen Tisch und legten mir hinter dem Rücken Handschellen an. Dann ließen sie mich allein. Eine Weile später ging die Tür auf, und jemand schleuderte mir einen Eimer voller Urin und Fäkalien ins Gesicht. Dann ließen sie mich wieder allein. Eine Weile später ging die Tür auf, und jemand bespritzte mich mit eiskaltem Wasser aus einem Schlauch, bis ich vom Stuhl fiel. Dann ließen sie mich allein auf dem Boden liegen, mit Hand‐ schellen an den Stuhl gefesselt. Ich konnte aus einem anderen Zimmer Schreie hören. Das Geschrei ging etwa eine Stunde lang weiter und hörte dann plötzlich auf. Stille. Ich lag auf dem Boden und hörte das Licht summen. Eine Weile später ging die Tür auf und zwei große Kerle in guten Anzügen kamen mit Stühlen in den Händen herein. Sie schlossen die Handschellen auf und stellten meinen Stuhl wieder hin. Einer der beiden hatte Koteletten und einen Schnurrbart und war um die Vierzig. Der andere hatte feines, sandfarbenes Haar, und sein Atem stank nach Erbrochenem. 359
Sandy meinte: »Setzen Sie sich und legen Sie Ihre Hände flach auf den Tisch.« Ich setzte mich und tat wie geheißen. Sandy warf Schnurrbart die Handschellen zu und setzte sich mir gegenüber. Schnurrbart ging hinter mir auf und ab und spielte mit den Handschellen. Ich sah auf meine rechte Hand, die flach auf dem Tisch lag, vier Finger zu einem geschwollen, hundert Schattierungen von Gelb und Rot. Schnurrbart setzte sich, starrte mich an und schob sich die Handschellen wie einen Schlagring über die Faust. Plötzlich sprang er auf und schlug mit der Handschellenfaust auf meine rechte Hand. Ich schrie. »Legen Sie Ihre Hände wieder hin.« Ich legte sie auf den Tisch. »Flach.« Ich versuchte, sie flach hinzulegen. »Sieht übel aus.« »Sie sollten mal zum Arzt damit.« Schnurrbart setzte sich mir gegenüber und lächelte. Sandy stand auf und ging hinaus. Schnurrbart sagte nichts und lächelte nur. Meine rechte Hand pochte Blut und Eiter. Sandy kehrte mit einer Decke zurück und legte sie mir über die Schultern. Er setzte sich hin, zog eine Schachtel John Players aus der Tasche und bot Schnurrbart eine an. Schnurrbart nahm ein Feuerzeug und gab sich und dem anderen Feuer. 360
Sie lehnten sich zurück und pusteten mir Rauch ins Gesicht. Meine Hände zuckten. Schnurrbart beugte sich vor, rollte die Zigarette zwischen zwei Fingern und ließ sie über meiner rechten Hand baumeln. Ich zog meine Hand ein Stück zurück. Plötzlich beugte er sich vor, packte mit der einen Hand mein rechtes Handgelenk und drückte mit der anderen die Kippe auf meinem Handrücken aus. Ich schrie. Er ließ mein Handgelenk los und lehnte sich zurück. »Legen Sie Ihre Hände wieder hin.« Ich legte sie auf den Tisch. Die verbrannte Haut stank. »Noch eine?« fragte Sandy. »Hätte nichts dagegen«, sagte Schnurrbart und nahm sich wieder eine Player. Er gab sich Feuer und starrte mich an. Er beugte sich vor und ließ die Zigarette über meiner Hand baumeln. Ich stand auf. »Was wollen Sie?« »Setzen Sie sich.« »Sagen Sie mir, was Sie wollen!« »Setzen Sie sich.« Ich setzte mich. Die beiden standen auf. »Stehen Sie auf.« Ich stand auf. »Augen geradeaus.« Ich konnte einen Hund bellen hören. Ich zuckte zusammen. »Rühren Sie sich nicht.« Sie schoben die Stühle und den Tisch an die Wand und gingen 361
hinaus. Ich stand mitten im Zimmer, starrte die weiße Wand an und rührte mich nicht. Aus einem anderen Raum hörte ich Schreie und Hundegebell. Geschrei und Gebell gingen etwa eine Stunde lang weiter und hörten dann auf. Stille. Ich stand mitten im Raum, mußte mal pinkeln und lauschte dem Summen der Neonröhren. Eine Weile später ging die Tür auf, und zwei große Kerle in guten Anzügen kamen herein. Einer der Männer hatte graue, mit Pomade nach hinten geklatschte Haare und war etwa fünfzig. Der andere war jünger, hatte braune Haare und trug eine orangefarbene Krawatte. Sie rochen beide nach Schnaps. Grau und Braun umkreisten mich schweigend. Dann schoben Grau und Braun die Stühle und den Tisch wieder in die Mitte. Grau stellte einen Stuhl hinter mich. »Setzen Sie sich.« Ich setzte mich. Grau hob die Decke vom Boden auf und legte sie mir über die Schultern. «Legen Sie Ihre Hände flach auf den Tisch«, sagte Braun und zündete sich eine Zigarette an. »Bitte sagen Sie mir, was Sie wollen.« »Legen Sie ihre Hände flach hin.« Ich tat wie geheißen. Braun setzte sich mir gegenüber hin, und Grau ging im Raum auf und ab. Braun legte eine Pistole auf den Tisch und lächelte. Grau blieb hinter mir stehen. 362
»Augen geradeaus.« Plötzlich sprang Braun auf und hielt meine Handgelenke fest, und Grau packte die Decke und wickelte sie mir ums Ge‐ sicht. Ich fiel vorwärts vom Stuhl, hustete und würgte, bekam keine Luft. Sie hielten weiter meine Handgelenke fest und drückten mir die Decke ins Gesicht. Ich kniete auf dem Boden, hustete und würgte, bekam keine Luft. Plötzlich ließ Braun meine Handgelenke los, ich drehte mich in der Decke herum und knallte gegen eine Wand. Grau warf die Decke beiseite, packte mich bei den Haaren und stellte mich vor die Wand. »Umdrehen und Augen geradeaus.« Ich drehte mich um. Braun hielt die Pistole in der rechten Hand, Grau hatte ein paar Patronen, warf sie in die Luft und fing sie wieder auf. »Der Chef meint, ist okay, wenn wir ihn abknallen.« Braun hielt die Pistole mit beiden Händen und zielte auf mei‐ nen Kopf. Ich schloß die Augen. Ein Klicken, nichts geschah. »Verdammt.« Braun drehte sich weg und fummelte an der Pistole herum. Urin lief an meinen Beinen herab. »Jetzt. Diesmal klappt’s.« Braun zielte erneut. Ich schloß die Augen. Ein lauter Knall. Ich dachte, jetzt bin ich tot. 363
Ich öffnete die Augen und sah die Pistole. Schwarze Papierstreifen flogen aus dem Lauf und schwebten zu Boden. Braun und Grau lachten. »Was wollen Sie?« Grau näherte sich mir und trat mir in die Eier. Ich fiel zu Boden. »Was wollen Sie?« »Stehen Sie auf.« Ich stand auf. »Auf die Zehenspitzen.« »Bitte sagen Sie mir, was Sie wollen.« Grau kam weiter auf mich zu und trat mir in die Eier. Ich fiel zu Boden. Braun kam zu mir, trat mir gegen den Brustkorb, band mir die Hände mit Handschellen hinter den Rücken und drückte mein Gesicht zu Boden. »Sie mögen keine Hunde, oder, Eddie?« Ich schluckte. »Was wollen Sie?« Die Tür ging auf, und ein Uniformierter kam mit einem Schäferhund an der Leine herein. Grau zog mir den Kopf an den Haaren hoch. Der Hund starrte mich an, keuchte mit heraushängender Zunge. »Faß, faß.« Der Hund fing an zu knurren und zu bellen und zerrte an der Leine. Grau schob meinen Kopf nach vorn. »Er hat Hunger.« »Davon haben wir noch ein paar mehr.« »Vorsichtig.« 364
Der Hund kam näher. Ich kämpfte, weinte, wollte mich losreißen. Grau schob mich noch näher ran. Der Hund war keine dreißig Zentimeter von mir entfernt. Ich konnte sein Zahnfleisch sehen, seine Zähne, konnte seinen Atem riechen, ihn spüren. Der Hund knurrte und bellte und zerrte an der Leine. Kot fiel mir aus dem Hintern. Hundespeichel sprühte mir ins Gesicht. Alles wurde schwarz. »Sagen Sie mir, was ich getan habe.« »Noch mal.« Der Hund war nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Ich schloß die Augen. »Sagen Sie mir, was ich getan habe.« »Noch mal.« »Sagen Sie mir, was ich getan habe.« »Braver Bursche.« Alles wurde schwarz; der Hund war verschwunden. Ich schlug die Augen auf. DS Noble saß mir gegenüber am Tisch, Ich war nackt, zitterte, saß in meinem eigenen Kot. DS Noble zündete sich eine Zigarette an. »Warum?« Tränen stiegen mir in die Augen. »Warum haben Sie es getan?« »Es tut mir leid.« »Das ist gut.« DS Noble gab mir seine Zigarette. Ich nahm sie. Er zündete sich eine zweite an. 365
»Sag mir, warum.« »Ich weiß es nicht.« »Soll ich dir helfen?« »Ja.« »Ja was?« »Ja, Sir.« »Du standst auf sie, richtig?« »Ja, Sir.« »Du standst voll auf sie, richtig?« »Ja, Sir.« »Aber sie hat dich nicht rangelassen, oder?« »Nein, Sir.« »Was hat sie nicht?« »Sie hat mich nicht rangelassen.« »Sie wollte nicht, stimmt’s?« »Ja, Sir.« »Aber du hast sie dir trotzdem genommen, oder?« »Ja, Sir.« »Was hast du?« »Ich hab’ sie mir trotzdem genommen.« »Hast sie von vorn genommen, oder?« »Ja, Sir.« »Hast ihr in den Mund gevögelt, oder?« »Ja, Sir.« »Hast sie von hinten genommen, oder?« »Ja, Sir.« »Was hast du getan?« »Ich hab’ sie von vorn genommen.« »Und?« »Ich hab’ ihr in den Mund gevögelt.« »Und?« »Ich hab’ sie von hinten genommen.« 366
»Es war dir egal, stimmt’s?« »Ja, Sir.« »Aber sie wollte den Mund nicht halten, oder?« »Ja, Sir.« »Was wollte sie nicht?« »Den Mund halten.« »Hat gesagt, sie wolle zur Polizei gehen, stimmt’s?« »Ja, Sir.« »Was hat sie gesagt?« »Sie hat gesagt, sie wolle zur Polizei gehen.« »Aber das konntest du nicht zulassen, oder?« »Nein, Sir.« »Also hast du sie erdrosselt, stimmt’s?« »Ja, Sir.« »Was hast du?« »Ich hab’ sie erdrosselt.« »Aber sie hat dich immer noch angeschaut, oder?« »Ja, Sir.« »Also hast du ihr die Haare abgeschnitten, stimmt’s?« »Ja, Sir.« »Was hast du?« »Ich hab’ ihr die Haare abgeschnitten.« »Warum?« »Ich hab’ ihr die Haare abgeschnitten.« DS Noble nahm mir die Zigarette weg. »Weil sie dich immer noch angeschaut hat, oder?« »Ja, Sir.« »Also, was hast du getan?« »Ihr die Haare abgeschnitten.« »Warum?« »Weil sie mich immer noch angeschaut hat.« »Braver Bursche.« 367
DS Noble trat die Kippe auf dem Fußboden aus. Dann zündete er wieder eine Zigarette an und gab sie mir. »Du hast auf sie gestanden, stimmt’s?« »Ja, Sir.« »Aber sie wollte dich nicht ranlassen, oder?« »Ja, Sir.« »Und was hast du getan?« »Ich hab’s mir trotzdem genommen.« »Was hast du getan?« »Ich hab’ sie von vorn genommen.« »Und?« »Ich hab’ ihr in den Mund gevögelt.« »Und?« »Ich hab’ sie von hinten genommen.« »Und dann?« »Sie wollte den Mund nicht halten.« »Was hat sie gesagt?« »Sie wolle zur Polizei gehen.« »Was hast du dann gemacht?« »Ich hab’ sie erdrosselt.« »Und dann?« »Dann hab’ ich ihr die Haare abgeschnitten.« »Warum?« »Weil sie mich immer noch angeschaut hat.« »Genau wie die anderen?« »Ja, Sir.« »Wie wer?« »Wie die anderen.« »Du möchtest ein Geständnis ablegen, richtig?« »Ja, Sir.« »Was möchtest du?« »Ich möchte ein Geständnis ablegen.« 368
»Braver Bursche.« DS Noble stand auf. Dann ließ er mich allein. Eine Weile später öffnete ein Polizist die Tür und rührte mich den gelben Flur entlang in einen Raum mit Dusche und Toilette. Der Polizist gab mir Seife und ließ in der Dusche Warmwasser laufen. Ich stand unter der warmen Dusche und wusch mich. Dann kotete ich mich wieder ein. Der Polizist sagte kein Wort. Er gab mir ein zweites Stück Seife und ließ weiter Warmwasser laufen. Ich stand unter der Dusche und wusch mich erneut. Der Polizist gab mir ein Handtuch. Ich trocknete mich ab. Dann gab mir der Polizist einen blauen Overall. Ich zog ihn an. Dann führte mich der Polizist den gelben Flur entlang in einen der kleinen Verhörräume mit vier Stühlen und einem Tisch. »Setzen Sie sich.« Ich tat wie geheißen. Dann ließ mich der Polizist allein. Nach einer Weile ging die Tür auf und drei große Kerle in guten Anzügen kamen herein: DCS Oldman, DS Noble und der Mann mit den sandfarbenen Haaren. Sie setzten sich mir gegenüber. DCS Oldman verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. DS Noble legte zwei Schnellhefter auf den Tisch und blätterte durch Papiere und große Schwarzweißphotos. Sandy hielt einen DIN‐A4‐Block auf den Knien. »Sie möchten ein Geständnis ablegen, richtig?« fragte DCS 369
Oldman. »Ja, Sir.« »Na, dann los.« Stille. Ich saß auf dem Stuhl und lauschte dem Summen der Neon‐ röhren. »Sie standen auf sie, oder?« fragte DS Noble und reichte seinem Chef ein Photo. »Ja, Sir.« »Was?« »Ich stand auf sie.« Sandy schrieb mit. DCS Oldman besah sich das Photo und lächelte. »Weiter«, sagteer. »Sie wollte mich nicht ranlassen.« Oldman sah mich an. »Und?« fragte DS Noble. »Da hab’ ich sie mir genommen.« »Was haben Sie getan?« fragte Oldman. »Ich hab’ sie von vorn genommen.« »Und?« fragte Noble und reichte Oldman ein zweites Photo. »Ich hab’ ihr in den Mund gevögelt.« »Und?« »Ich hab’ sie von hinten genommen.« »Und was geschah dann?« »Sie wollte den Mund nicht halten.« »Was hat sie gesagt?« »Sie wollte zur Polizei gehen.« »Und was haben Sie gemacht?« Noble reichte Oldman ein zweites Photo. »Ich hab’ sie erdrosselt.« »Und dann?« 370
»Hab’ ich ihr die Haare abgeschnitten.« Oldman blickte vom letzten Photo auf und fragte: »Aber warum?« »Sie wollte nicht aufhören, mich anzuschauen.« »Genau wie die andere?« fragte Noble, schlug die zweite Mappe auf und reichte Oldman weitere Photos. »Genau wie die andere«, antwortete ich. Oldman blätterte durch die Photos und reichte sie Noble zurück. Dann lehnte er sich mit verschränkten Armen zurück und nickte Sandy zu. Sandy sah auf seinen Block und las vor: »Ich stand auf sie, aber sie wollte mich nicht ranlassen, also hab’ ich sie mir selbst genommen. Ich hab’ sie von vorn genom‐ men, ihr in den Mund gevögelt und sie von hinten genommen. Dann wollte sie den Mund nicht halten. Sie sagte, sie würde zur Polizei gehen, also habe ich sie erdrosselt. Dann habe ich ihr die Haare abgeschnitten, weil sie nicht aufhörte, mich anzuschauen. Genau wie die andere.« Oldman stand auf und sagte: »Edward Leslie Dunford, Ihnen wird zur Last gelegt, am Dienstag, dem 17. Dezember 1974, Mrs. Mandy Denizili, Appartement 5,28 Blenheim Road, Wake‐ field, erst vergewaltige und dann ermordet zu haben. Des weite‐ ren wird Ihnen zur Last gelegt, am Samstag, dem 21. Dezember 1974, Mrs. Paula Garland, 11 Brunt Street, Castleford, vergewal‐ tigt und dann ermordet zu haben.« Stille. DS Noble und Sandy standen auf. Die drei verließen den Raum, und ich glaube, ich fing in diesem Augenblick an zu weinen. Eine Weile später ging die Tür auf. Dann führte mich ein Polizist den gelben Flur entlang. 371
Durch eine offene Tür sah ich die schottische Clare von nebenan. Sie sah mich mit offenem Mund an. Der Polizist führte mich in eine steinerne Zelle. Über der Tür hing eine Schlinge. »Rein da.« Ich tat wie geheißen. Auf dem Zellenboden stand eine Papptasse Tee und ein Papp‐ teller mit einem Stück Schweinspastete. Der Polizist schloß die Tür hinter sich. Es war stockfinster. Ich setzte mich hin und warf dabei den Tee um. Ich ertastete die Pastete und knabberte daran. Ich schloß die Augen. Eine Weile später öffneten zwei Polizisten die Tür und warfen mir ein Bündel Klamotten und ein Paar Schuhe in die Zelle. »Anziehen.« Ich tat wie geheißen. Es handelte sich um meine eigenen Sachen, die nach Pisse stanken und vor Dreck starrten. »Hände hinter den Rücken.« Ich tat wie geheißen. Einer der Polizisten trat in die Zelle und legte mir Hand‐ schellen an. »Deck ihn zu.« Der Polizist legte mir eine Decke über den Kopf. »Auf geht’s.« Der Polizist schubste mich von hinten. Ich ging los. Plötzlich wurde ich unter den Armen gepackt und fort‐ 372
geschleppt. Durch die Decke sah ich nur gelb. »Laß mich ran. Ich hatte noch nicht.« »Raus mit ihm.« Dann stieß ich mit dem Kopf gegen ein paar Türen und war draußen. Ich fiel hin. Sie hoben mich hoch. Ich vermutete, daß ich in einem Lieferwagen war. Ich hörte Türen schlagen und einen Motor starten. Ich lag hinten im Lieferwagen, die Decke immer noch über dem Kopf. Zwei, drei Männer saßen neben mir. »Verdammter Mistkerl.« »Wag ja nicht zu schlafen da drunter.« Ich bekam einen Schlag gegen den Kopf. »Keine Sorge, ich werd’ mich schon um ihn kümmern.« »Verdammter Mistkerl.« Erneut ein Schlag. »Halt den Kopf hoch, verdammt noch mal.« »Verdammter Mistkerl.« Ich roch Zigarettenqualm. »Er hat gehustet. Ich faß es nicht, verdammt.« »Ich hab’s gehört, dieses Arschloch.« Ich bekam einen Tritt vors Schienbein. »Wir sollten ihm die Eier langziehen.« »Dreckiger Frauenschänder.« Ich erstarrte. »Wir sollten mit ihm dasselbe machen wie mit dem anderen.« »Arschlöcher, alle beide.« Mein Hinterkopf schlug gegen die Wagenseite. »Verdammtes Schwein!« »Wie wär’s denn hier?« Ich hörte, wie es im Lieferwagen rumpelte. 373
»Nimm dem Mistkerl die Decke ab.« »Hier?« Plötzlich kam es mir kälter vor. Man nahm mir die Decke ab. Ich war allein mit Schnurrbart, Grau und Braun. Die Türen des fahrenden Lieferwagens standen offen. Draußen schien es zu dämmern. »Nehmt dem Scheißer die Handschellen ab.« Schnurrbart zerrte mich an den Haaren vorwärts und nahm mir die Handschellen ab. Ich konnte braune Felder vorbeifliegen sehen. »Er soll sich hinknien«, sagte Braun. Schnurrbart und Grau zogen mich an die Tür und ließen mich mit dem Rücken zu den braunen Feldern hinknien. Braun kauerte sich vor mich. »Das war’s.« Er zog einen Revolver. »Mund auf.« Ich sah Paula nackt mit dem Gesicht auf dem Bett liegen, sie blutete aus ihrer Möse und dem Arsch, ihre Haare waren ver‐ schwunden. »Mund auf!« Ich öffnete den Mund. Er schob mir den Lauf in den Mund. »Ich werde dir den verdammten Kopf wegpusten.« Ich schloß die Augen. Klick. Ich schlug die Augen auf. Er zog mir den Lauf aus dem Mund. »Also, irgendwas stimmt nicht mit dem Ding«, lachte er. »Der Scheißer hat echt Glück«, sagte Schnurrbart. »Mach ihn alle«, meinte Grau. 374
»Ich versuch’s noch mal.« Ich konnte die Luft spüren, die Kälte, die Felder hinter mir. »Mund auf.« Ich sah Paula mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett liegen, sie blutete aus ihrer Möse und dem Arsch, ihre Haare waren ver‐ schwunden. Ich machte den Mund auf. Braun schob mir erneut den Lauf in den Mund. Ich schloß die Augen. Klick. »Der verdammte Mistkerl muß wohl einen Schutzengel haben.« Ich schlug die Augen auf. Er nahm mir die Waffe aus dem Mund. »Dreimal Glück gehabt, hm?« »Scheiß drauf«, verkündete Schnurrbart, griff sich den Revol‐ ver und schob Braun beiseite. Er packte die Waffe am Lauf und hob sie über seinen Kopf. Ich sah Paula mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett liegen, sie blutete aus ihrer Mose und dem Arsch, ihre Haare waren ver‐ schwunden. Er ließ die Waffe auf meinen Kopf krachen : » DAS H I ER IS T DER N OR D EN . W IR T U N , WAS W IR W OL LE N !«
Ich fiel rückwärts, sah Paula mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett liegen, sie blutete aus ihrer Möse und dem Arsch, ihre Haare waren verschwunden. 375
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11. Kapitel Wir hielten uns an den Händen und sprangen in einen Fluß. Das Wasser war kalt. Ich ließ ihre Hand los. Ich schlug die Augen auf. Es kam mir vor, als sei Morgen. Ich lag am Straßenrand im Regen, und Paula war tot. Ich setzte mich auf, mein Schädel platzte mir, mein Körper fühlte sich taub an. Etwas weiter die Straße endang stieg ein Mann aus einem Wagen. Ich sah über leere braune Felder und versuchte aufzustehen. Der Mann kam zu mir gerannt. »Ich hätte Sie beinahe überfahren, verdammt!« »Wo bin ich?« »Was zum Teufel ist denn mit Ihnen passiert?« Neben der Beifahrertür stand eine Frau und sah zu uns her‐ über. »Ich hatte einen Unfall. Wo bin ich?« »Doncaster Road. Sollen wir einen Krankenwagen rufen?« »Nein.« »Die Polizei?« »Nein.« »Sie sehen nicht gut aus.« »Können Sie mich ein Stück mitnehmen?« Der Mann sah zu der Frau neben dem Wagen hinüber. »Wo‐ hin denn?« »Kennen Sie das Redbeck Café auf dem Weg nach Wakefield?« »Ja«, sagte er, schaute von mir zum Wagen und wieder 377
zurück. »Na gut.« »Danke.« Wir gingen langsam zum Wagen. Ich stieg hinten ein. Die Frau, die vorn saß, blickte stur geradeaus. Sie hatte blonde Haare wie Paula, nur länger. »Er hat einen Unfall gehabt. Wir setzen ihn unterwegs ab«, sagte der Mann zu der Frau und machte den Motor an. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 18.00 Uhr. »Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Was für ein Tag ist heute?« »Montag«, sagte die Frau, ohne sich umzudrehen. Ich starrte hinaus auf die leeren braunen Felder. Montag, 23. Dezember 1974. »Und morgen ist Heiligabend?« »Ja«, bestätigte sie. Der Mann beäugte mich im Rückspiegel. Ich drehte mich zu den leeren braunen Feldern um. »Hier recht?« fragte der Mann, als er beim Redbeck hielt. »Ja. Danke.« »Sind Sie sicher, daß Sie keinen Arzt wollen?« »Ganz sicher, danke«, antwortete ich und stieg aus. »Na dann, viel Glück«, sagte der Mann. »Ja, und vielen Dank noch mal«, sagte ich und warf die Tür zu. Als sie weiterfuhren, starrte die Frau immer noch geradeaus. Ich überquerte den Parkplatz mit seinen Löchern voller Schlamm und Öl und ging hinten herum zu den Motelzimmern. Die Tür zur 27 stand einen Spalt weit auf. Ich stand vor der Tür und lauschte. Stille. Ich schob die Tür auf. Sergeant Fraser lag in Uniform schlafend über Papier und Ak‐ 378
ten, Tonbändern und Photos. Ich schloß die Tür. Er schlug die Augen auf, blickte hoch und stand auf. »Verdammt«, sagte er und sah auf die Uhr. »Ja.« Er starrte mich an. »Scheiße.« »Ja.« Er ging zum Waschbecken und ließ Wasser laufen. »Setzen Sie sich lieber hin«, sagte er, kam vom Waschbecken zurück und kippte das Bettgestell aus. Ich stieg über die Papiere, Akten und Photos und setzte mich auf das leere Bettgestell. »Was machen Sie hier?« »Ich werde suspendiert.« »Was zum Teufel haben Sie getan?« »Sie kennengelernt.« »Und?« »Und ich will nicht suspendiert werden.« Ich hörte den Regen draußen prasseln, hörte die Laster, die rückwärts setzten und einparkten, hörte die Fahrer, die ins Trockene eilten. »Wie haben Sie hergefunden?« »Ich bin Polizist.« »Ach ja?« sagte ich und hielt mir den Kopf. »Ja«, sagte Sergeant Fraser, zog seine Jacke aus und rollte die Ärmel hoch. »Sind Sie schon mal hier gewesen?« »Nein. Wieso?« »Nur so«, sagte ich. Fraser weichte das einzige Handtuch im Waschbecken ein, wrang es aus und warf es mir zu. 379
Ich legte es mir aufs Gesicht und fuhr mir damit durch die Haare. Danach war das Handtuch rostfarben. »Ich war es nicht.« »Ich habe nicht danach gefragt.« Fraser nahm ein graues Laken und riß es in Streifen. »Warum haben die mich gehen lassen?« »Keine Ahnung.« Das Zimmer wurde langsam schwarz, Frasers Hemd grau. Ich stand auf. »Setzen Sie sich.« »Foster war’s, stimmt’s?« »Setzen Sie sich.« »Es war Don Foster, ich weiß es, verdammt noch mal.« »Eddie ...« »Und die Polizei weiß es auch, oder?« »Warum Foster?« Ich nahm eine Handvoll Papiere in die Hand. »Weil er das Bindeglied von alldem hier ist.« »Sie glauben also, Foster hat Clare Kemplay umgebracht?« »Ja.« »Warum?« »Warum nicht?« »Blödsinn. Und Jeanette Garland und Susan Ridyard?« »Auch.« »Und Mandy Wymer und Paula Garland?« »Auch.« »Und warum sollte das schon alles sein? Was ist mit Sandra Rivett? Vielleicht war das gar nicht Lucan, vielleicht war es Don Foster. Und was ist mit der Bombe in Birmingham?« »Ach, Scheiße. Sie ist tot. Sie sind alle tot.« »Ja, aber warum? Warum Don Foster? Sie haben mir nicht 380
einen einzigen verdammten Grund dafür genannt.« Ich setzte mich wieder aufs Bett, stützte meinen Kopf mit den Händen, das Zimmer wurde schwarz, nichts ergab einen Sinn. Fraser gab mir zwei Streifen von dem grauen Laken. Ich wickelte mir die Streifen um die rechte Hand und zog sie fest. »Sie waren ein Liebespaar.« »Na und?« »Ich muß ihn sehen«, sagte ich. »Sie wollen ihn damit konfrontieren?« »Es gibt ein paar Dinge, die ich ihn fragen muß. Dinge, die nur er weiß.« Fraser nahm seine Jacke. »Ich fahre Sie hin.« »Man wird Sie suspendieren.« »Ich habe doch schon gesagt, ich werde sowieso suspendiert.« »Geben Sie mir nur Ihre Wagenschlüssel.« »Warum sollte ich das tun?« »Weil Sie alles sind, was ich noch habe.« »Dann sind Sie am Arsch.« »Ja. Also her damit.« Er sah so aus, als wollte er sich übergeben, warf mir aber die Schlüssel zu. »Danke.« »Nicht der Rede wert.« Ich ging zum Waschbecken und wusch mir das alte Blut vom Gesicht. »Haben Sie AF gesehen?« fragte ich ihn. »Nein.« »Sind Sie nicht in seine Wohnung gegangen?« »Doch.« »Und?« »Er ist entweder abgehauen oder sitzt. Eins von beidem, keine 381
Ahnung.« Ich hörte Hundegebell und Schreie. »Ich sollte meine Mutter anrufen«, sagte ich. Sergeant Fraser sah mich an. »Wie bitte?« Ich stand mit den Schlüsseln in der Hand an der Tür. »Was für ein Wagen?« »Der gelbe Maxi«, sagte er. Ich öffnete die Tür. »Bis dann.« »Ja, bis dann.« »Danke«, sagte ich, so als würde ich ihn niemals wiedersehen. Ich schloß die Tür zum Zimmer 27 und überquerte den Park‐ platz zu seinem dreckigen gelben Maxi, der zwischen zwei Fin‐ dus‐Frozen‐Food‐Transportern stand. Ich fuhr davon und schaltete das Radio ein: Die IRA hatte Harrods in die Luft gesprengt, Mr. Heath war nur um Minuten einer Bombe entgangen, Aston Martin war pleite, Lucan war in Rhodesien gesichtet worden, und es gab einen neuen Master‐ mind. Es war kurz vor acht, als ich neben den hohen Mauern der Trinity View parkte. Ich stieg aus und ging zum Tor. Es stand offen, und die weißen Lichter in den Bäumen brann‐ ten noch immer. Ich sah über den Rasen die Einfahrt hinauf. »Scheiße!« brüllte ich und rannte los. Auf halber Strecke war ein Rover von hinten auf einen Jaguar geknallt. Ich schoß über den Rasen und rutschte auf dem kalten Tau aus. Mrs. Foster in einem Pelzmantel beugte sich über etwas auf 382
dem Rasen vor dem Vordereingang. Sie schrie. Ich packte sie, schlang meine Arme um sie. Sie schlug wie wild um sich, und ich versuchte sie weg‐ zuschieben, weg, zum Haus hin, weg von dem, was da auf dem Rasen lag. Und dann sah ich ihn mir an, ganz genau: Fett und weiß, mit einem schwarzen Kabel um Hals und Hände, hinter dem Rücken gefesselt, er trug eine eingekotete weiße Unterhose, seine Haare waren verschwunden, seine Kopf‐ haut roh und rot. »Nein, nein, nein«, schrie Mrs. Foster. Ihr Ehemann hatte die Augen weit aufgerissen. Mrs. Foster, deren Pelzmantel vom Regen schwarze Streifen hatte, eilte wieder zu der Leiche. Ich fing sie ab, starrte weiter Donald Foster an, die weißen, aufgedunsenen, lehmigen Beine, die blutverschmierten Knie, die dreieckigen Brandflecken am Rücken, den wunden Kopf. »Rein mit Ihnen«, rief ich, hielt sie fest, schob sie durch die Haustür. »Nein, decken Sie ihn zu.« »Mrs. Foster, bitte ...« »Decken Sie ihn zu!« schrie sie und wand sich aus ihrem Mantel. Wir standen im Haus am Fuß der Treppe. Ich schob sie auf die unterste Stufe. »Sie warten hier.« Ich nahm den Pelzmantel und ging hinaus. Ich legte den feuchten Mantel über Donald Foster. Ich ging wieder hinein. 383
Mrs. Foster saß immer noch auf der untersten Stufe. Im Wohnzimmer schenkte ich aus einer Kristallkaraffe zwei Scotch ein. »Wo waren Sie?« Ich reichte ihr ein großes Glas. »Bei Johnny.« »Wo ist Johnny jetzt?« »Ich weiß nicht.« »Wer war das?« Sie sah auf. »Ich weiß nicht.« »Johnny?« »O Gott, nein.« »Wer dann?« »Ich sagte doch schon, ich weiß es nicht.« »Wen haben Sie in jener Nacht auf der Dewsbury Road über‐ fahren?« »Was?« »Wen haben Sie auf der Dewsbury Road überfahren?« »Warum?« »Sagen Sie es mir.« »Warum wollen Sie das wissen, was hat das jetzt noch für eine Bedeutung?« Fallen, krallen, klammern. So als ob die Toten lebten und die Lebenden tot waren, sagte ich: »Ich glaube, der Mann, den Sie da überfahren haben, muß Clare Kemplay umgebracht haben, und wer immer Clare umgebracht hat, muß Susan Ridyard um‐ gebracht haben, und wer immer das war, muß Jeanette Garland umgebracht haben.« »Jeanette Garland?« »Ja.« Ihre Adleraugen waren plötzlich ganz wäßrig geworden, und ich starrte in riesige, schwarze Panda‐Augen voller Tränen und 384
Geheimnisse, Geheimnisse, die sie nicht für sich behalten konnte. Ich zeigte nach draußen. »War er es?« »Nein, o Gott, nein.« »Wer war es dann?« »Ich weiß es nicht.« Ihr Mund und ihre Hände zitterten. »O doch, Sie wissen es.« Das Glas in ihrer Hand wackelte, Whisky tropfte ihr auf das Kleid und die Stufen. »Ich weiß es nicht.« »O doch«, zischte ich und sah zu der Leiche hinüber, die, zusammen mit dem verdammten Weihnachtsbaum durch den Türrahmen zu sehen war. Ich ballte die Faust, so gut ich konnte, drehte mich wieder um und hob den Arm. »Spucken Sie’s aus!« »Rühr sie nicht an!« Johnny Kelly, blutverschmiert und schlammbedeckt, stand oben an der Treppe und hielt einen Hammer in seiner gesunden Hand. Patricia Foster sah sich noch nicht einmal um, so weit weg war sie. Ich stellte mich in die Türöffnung. »Haben Sie ihn umge‐ bracht?« »Er hat Paula und Jeanie getötet.« Ich wünschte, er hätte recht, wußte aber, daß er unrecht hatte, und sagte es ihm: »Nein, hat er nicht.« »Was wissen Sie denn schon?« Kelly kam die Treppe herunter. »Haben Sie ihn umgebracht?« Er starrte mich an, Tränen in den Augen und auf den Wangen, den Hammer in der Hand. Ich erkannte viel zuviel in diesen Tränen und machte wieder einen Schritt rückwärts. 385
»Ich weiß, Sie waren es nicht.« Er kam weiter auf mich zu und weinte. »Johnny, ich weiß, daß Sie ein paar üble Sachen gemacht ha‐ ben, schreckliche Sachen, aber ich weiß, das hier waren Sie nicht. « Er blieb am Fuß der Treppe stehen, der Hammer baumelte wenige Zentimeter neben Mrs. Fosters Kopf. Ich ging auf ihn zu. Er ließ den Hammer fallen. Ich ging hin, hob den Hammer auf, wischte ihn mit einem schmutziggrauen Taschentuch ab, genau wie all die bösen Jungs und korrupten Bullen bei Kajak. Kelly starrte auf Patricias Haar. Ich ließ den Hammer fallen. Johnny strich ihr übers Haar, fester und immer fester, bis das Blut eines anderen ihr die Locken verklebte. Sie rührte sich nicht. Ich zog ihn beiseite. Ich wollte nichts mehr wissen; ich wollte ein paar Drogen kaufen, ein paar Drinks, und so schnell wie möglich diesen Ort verlassen. Er sah mir in die Augen und sagte: »Sie sollten verschwin‐ den.« Aber ich konnte nicht. »Sie auch«, sagte ich. »Die werden Sie umbringen.« »Johnny«, sagte ich und packte ihn bei der Schulter. »Wen haben Sie auf der Dewsbury Road überfahren ?« »Die werden Sie umbringen. Sie sind als nächster dran.« »Wer war’s?« Ich drückte ihn gegen die Wand. Johnny sagte kein Wort. »Sie wissen, wer es war, stimmt’s, Sie wissen, wer Jeanette und die anderen beiden umgebracht hat.« 386
Er zeigte nach draußen. »Der da.« Ich verpaßte ihm eine, ein heißer Schmerz trieb mir Sterne vor die Augen. Der Star der Rugby League fiel auf den Teppich. »Ver‐ dammt.« »Schluß jetzt mit dem Scheiß.« Ich beugte mich über ihn, wollte ihm den Schädel aufschlagen und all seine dreckigen kleinen Geheimnisse herauskratzen. Er lag zu ihren Füßen auf dem Boden und sah sie an wie ein zehnjähriger Junge, und Mrs. Foster wiegte sich unbeteiligt vor und zurück, so als ob das alles vor ihr im Fernseher lief. »Sagen Sie es mir!« »Er war’s«, wimmerte Johnny. »Sie sind ein beschissener Lügner.« Ich griff hinter mich und nahm den Hammer. Kelly glitt mir zwischen den Beinen davon und kroch zu ei‐ nem Whiskyfleck in Richtung Vordertür. »Sie wollen nur, daß er es war.« »Nein.« Ich packte ihn beim Kragen und drehte sein Gesicht zu mir. »Sie wollen, daß er es war. Sie wollen, daß es so einfach ist.« »Er war’s, er war’s.« »Nein, er war’s nicht, und das wissen Sie.« »Nein.« »Sie wollen Rache? Dann sagen Sie mir endlich, wer zum Teufel das in jener Nacht war.« »Nein, nein, nein.« »Sie selbst werden nichts unternehmen, also spucken Sie es aus, verdammt, sonst schlag ich Ihnen den verdammten Schädel ein.« Er schob mit seinen Händen mein Gesicht weg. »Es ist vorbei. « 387
»Sie wollen nur, daß es vorbei ist. Aber Sie wissen, daß das nicht stimmt!« schrie ich und donnerte den Hammer seitlich ge‐ gen die Stufe. Sie schluchzte. Er schluchzte. Ich schluchzte. »Wenn Sie mir nicht sagen, wen Sie da verdammt noch mal angefahren haben, wird es nie vorbei sein.« «Doch!« »Es ist nicht vorbei.« »Doch!« »Es ist nicht vorbei.« »Doch!« »Es ist nicht vorbei, Johnny.« Er verschluckte sich an seinen Tränen. »Doch.« »Spuck’s aus, du Stück Dreck.« »Ich kann nicht.« Ich sah den Mond am Tag, die Sonne in der Nacht, mich, wie ich sie vögelte, Jeanettes Gesicht auf allen Leibern. Ich packte ihn an Hals und Haaren, hielt den Hammer in der verbundenen Hand. »Du hast deine Schwester gevögelt.« »Nein.« »Du bist Jeanettes Vater, richtig?« »Nein!« »Du bist der Vater.« Blutige Spuckebläschen platzten auf seinen zitternden Lippen. Ich beugte mich ganz nah vor sein Gesicht. Mrs. Foster hinter mir sagte: »George Marsh.« Ich wirbelte herum, streckte die Hand aus und zog sie zu mir heran. »Wie bitte?« »George Marsh«, flüsterte sie. »Was ist mit ihm?« 388
»Auf der Dewsbury Road. Es war George Marsh.« »George Marsh?« »Einer von Donnys Vorarbeitern.« »Unter den hübschen neuen Teppichen, unter dem Gras, daszwi‐ schen den Steinen wächst. « »Wo ist er?« »Ich weiß nicht.« Ich ließ die beiden los und stand auf, die Eingangshalle wirkte plötzlich viel größer und heller. Ich schloß die Augen. Ich hörte, wie der Hammer zu Boden fiel, hörte Kellys Zähne klappern, und dann war wieder alles klein und dunkel. Ich ging zum Telefon und nahm das Telefonbuch. Ich blätterte zum M, dann zu Marsh und fand all die G. Marshs. Einer davon wohnte in Netherton, 16 Maple Well Drive. Telefon 3657. Ich schlug das Telefonbuch zu. Ich nahm das weiche, geblümte Telefonverzeichnis und schlug unter M nach. In Tinte stand dort George 3657. Volltreffer. Ich schlug das Büchlein zu. Johnny Kelly hielt den Kopf in den Händen. Mrs. Foster starrte zu mir hoch. »Unter den hübschen neuen Häusern, unter dem Gras, das zwi‐ schen den Steinen wächst. « »Wie lange wußten Sie schon davon?« Die Adleraugen waren wieder da. »Überhaupt nicht.« »Lügnerin.« Mrs. Patricia Foster schluckte. »Was ist mit uns?« »Was soll mit Ihnen sein?« »Was haben Sie mit uns vor?« »Ich bete zu Gott, daß er Ihnen allen vergibt.« 389
Ich ging zur Haustür und zu Donald Fosters Leiche. »Wo wollen Sie hin?« »Dem allem ein Ende machen.« Mit blutigen Fingerabdrücken im Gesicht blickte Johnny Kelly auf. »Es ist zu spät.« Ich ließ die Tür offen. »Unter den hübschen neuen Teppichen, unter dem Gras, das zwi‐ schen den Steinen weichst.« Ich fuhr mit Fräsers Maxi zurück nach Wakefield und dann Richtung Horbury, der Regen verwandelte sich in Eisregen. Ich sang die Weihnachtslieder auf Radio 2 mit, wechselte dann zu Radio 3, um die Zehn‐Uhr‐Nachrichten nicht hören zu müs‐ sen, hörte statt dessen, wie England die ›Ashes‹ im Kricket an Australien verlor, und brüllte meine eigenen Zehn‐Uhr‐Nach‐ richten: Don Foster tot. Zwei verdammte Mörder, vielleicht drei. Ich als nächster? Ich zählte die Mörder. Ich fuhr Richtung Netherton, der Eisregen verwandelte sich plötzlich wieder in Regen. Ich zählte die Toten. Ich schmeckte Waffenmetall, roch meinen eigenen Kot. Hunde bellten, Männer schrieen. Paula war tot. Es gab ein paar Dinge, die ich tun mußte, die ich zu Ende brin‐ gen mußte. »Unter den hübschen neuen Teppichen, unter dem Gras, das zwi‐ schen den Steinen wächst.« Ich fragte im Postamt in Netherton nach, eine alte Frau, die 390
nicht dort arbeitete, konnte mir sagen, wo der Maple Well Drive war. Hausnummer 16 war ein Bungalow wie alle anderen in der Straße, so ähnlich wie der von Enid Sheard oder der der Gold‐ thorpes. Ein gepflegter kleiner Garten mit einer niedrigen Hecke und einem Vogelfutterplatz. Was immer George Marsh getan hatte, hier hatte er es nicht getan. Ich öffnete das schwarze Metalltor und ging den Weg entlang. Durch die Netzgardine konnte ich Fernsehbilder flimmern sehen. Ich klopfte an die Glastür; von der frischen Luft wurde mir schwindlig. Eine pummelige Frau mit grauen dauergewellten Haaren und einem Geschirrtuch in der Hand öffnete die Tür. »Mrs. Marsh?« »Ja?« »Mrs. George Marsh?« »Ja?« Ich knallte ihr die Tür ins Gesicht. »Was soll das?« rief sie und fiel auf den Hintern ins Haus zurück. Ich trat über die Schaftstiefel und Gartenschuhe hinweg ins Haus. »Wo ist er?« Sie hatte das Geschirrtuch über dem Gesicht. »Wo ist er?« »Ich habe ihn nicht gesehen.« Sie versuchte aufzustehen. Ich verpaßte ihr eine saftige Ohrfeige. Sie fiel wieder hin. »Wo ist er?« »Ich habe ihn nicht gesehen.« Die verhärmte Schlampe riß die Augen auf und versuchte, sich 391
ein paar Tränen abzupressen. Ich erhob wieder die Hand. »Wo?« »Was hat er denn gemacht?« Sie hatte eine Platzwunde über dem Auge, und die Unterlippe schwoll bereits an. »Das wissen Sie doch selbst.« Sie lächelte ein gezwungenes, beschissenes kleines Grinsen. »Wo ist er?« Sie lag da auf den Schuhen und Regenschirmen, sah mir direkt ins Gesicht, ihr dreckiges Mundwerk halb lächelnd, so als hätten wir vor zu vögeln. »Wo?« »Im Schuppen, oben bei den Schrebergärten.« Da wußte ich, was ich vorfinden würde. »Wo?« Noch immer grinste sie. Sie wußte, was ich vorfinden würde. »Wo?« Sie hob das Geschirrtuch. »Ich kann nicht ...« »Zeigen Sie’s mir!« zischte ich und packte sie am Arm. »Nein!« Ich stellte sie auf die Füße. »Nein!« Ich machte die Tür auf. »Nein!« Ich zerrte sie den Weg entlang, die Kopfhaut unter der grauen Dauerwelle war wundrot. »Nein!« »Welche Richtung?« fragte ich am Tor. »Nein, nein, nein.« »Welche Richtung, verdammt?« Ich packte fester zu. Sie drehte sich um und schaute zurück, am Haus vorbei. Ich schob sie durchs Tor und marschierte mit ihr zur Rückseite des Maple Well Drive. 392
Hinter den Häusern lag ein leeres Feld, das sich steil in den schmutzigweißen Himmel erhob. In einer Mauer befand sich ein Tor, dahinter eine Treckerspur; dort, wo Acker und Himmel sich trafen, konnte ich eine Reihe von schwarzen Schuppen er‐ kennen. »Nein!« Ich zog sie von der Straße und schob sie gegen die trockene Steinmauer. »Nein, nein, nein.« »Halt die Fresse, du verdammte Schlampe.« Ich packte ihren Mund mit der linken Hand und verwandelte ihr Gesicht in einen Fischkopf. Sie zitterte, aber es kamen keine Tränen. »Ist er da oben?« Sie sah mich unverwandt an und nickte einmal. »Wenn nicht, oder wenn er uns kommen hört, bring ich dich um, verstanden?« Sie sah mich immer noch an und nickte wieder. Ich ließ sie los, hatte Make‐up und Lippenstift an den Fin‐ gern. Sie stand an der Steinmauer und rührte sich nicht. Ich packte sie am Arm und schob sie durch das Tor. Sie starrte hinüber zu der schwarzen Reihe von Schuppen. »Los«, sagte ich und stieß sie weiter. Wir folgten der Treckerspur, deren ausgefahrene Rinnen voll mit schwarzem Wasser standen. Es roch nach Gülle. Sie stolperte, fiel hin, stand wieder auf. Ich sah zurück nach Netherton, das genauso aussah wie Ossett, genauso wie überall. Ich sah die Bungalows und Reihenhäuser, die Geschäfte und die Tankstelle. 393
Sie stolperte, fiel hin, stand wieder auf. Ich sah alles. Ich sah einen weißen Lieferwagen diesen Weg hinaufholpern und seine kleine Fracht im Laderaum herumschleudern. Ich sah einen weißen Lieferwagen wieder hinunterholpern, die kleine Fracht still und stumm. Ich sah Mrs. Marsh an ihrer Küchenspüle den Lieferwagen kommen und davonfahren sehen, das verdammte Geschirrtuch in der Hand. Sie stolperte, fiel hin, stand wieder auf. Wir waren fast oben auf dem Hügel, fast bei den Schuppen angelangt. Sie sahen aus wie ein Steinzeitdorf aus Lehm. »Welcher?« Sie wies zum letzten Schuppen, einem Flickwerk aus Planen und Düngesäcken, Wellblech und Ziegelsteinen. Ich ging vor, zerrte sie hinter mir her. »Die hier?« flüsterte ich und wies auf eine schwarze Holztür mit einem Zementsack anstelle eines Fensters. Sie nickte. »Aufmachen.« Sie zog die Tür auf. Ich schob sie hinein. Drinnen gab es eine Werkbank mit Werkzeug, aufgestapelte Säcke voller Dünger und Zement, Topfpflanzen und Futtertröge. Leere Plastiktüten bedeckten den Boden. Es stank nach Erde. »Wo ist er?« Mrs. Marsh, die das Geschirrtuch vor Nase und Mund hielt, kicherte. Ich wirbelte herum und verpaßte ihr eine. 394
Sie kreischte auf und ging in die Knie. Ich packte ein paar graue Dauerwellen, schleifte sie zur Werk‐ bank und preßte ihre Wange gegen das Holz. »Ah, ha‐ha‐ha. Ah, ha‐ha‐ha.« Sie lachte und schrie zugleich, zitterte am ganzen Körper, mit einer Hand wühlte sie durch die Plastiksäcke auf dem Boden, mit der anderen schob sie sich den Rock in ihren Schlitz. Ich packte eine Art Meißel oder Tapetenabschaber. »Wo ist er?« »Mh, ha‐ha‐ha. Mh, ha‐ha‐ha.« Die Schreie wurden zu einem Summen, das Kichern nahm ab. »Wo ist er?« Ich hielt ihr den Meißel an die fette Kehle. »Ah, ha‐ha‐ha. Ah, ha‐ha‐ha.« Wieder trat sie um sich und wühlte mit Knien und Füßen durch die Plastiksäcke. Ich sah zu Boden und entdeckte inmitten der Säcke und Tüten ein dickes, schlammverkrustetes Seil. Ich ließ ihr Gesicht los und schubste sie fort. Ich schob die Säcke mit dem Fuß beiseite und entdeckte einen Kanaldeckel, durch den das dreckige schwarze Seil gefädelt war, als wäre er ein riesiger Metallknopf. Ich wickelte mir das Seil um die gesunde Hand, zog den Deckel hoch und schwang ihn zur Seite. Mrs. Marsh hockte kichernd unter der Werkbank und trom‐ melte hysterisch mit den Fersen auf den Boden. Ich schaute durch das Loch in einen schmalen steinernen Schacht mit einer Metalleiter, die bis zu einem schwachen Licht‐ schein etwa fünfzehn Meter in die Tiefe reichte. Es handelte sich um den Luftschacht einer Mine. »Ist er da unten?« 395
Sie trommelte immer schneller mit den Füßen, das Blut floß ihr immer noch aus der Nase in den Mund, und plötzlich spreizte sie die Beine und rieb sich das Geschirrtuch über ihre braune Strumpfhose und den blutroten Schlüpfer. Ich griff unter die Werkbank und zog sie an den Knöcheln her‐ vor. Dann rollte ich sie auf den Bauch und setzte mich auf ihren Hintern. »Ah, ha‐ha‐ha. Ah, ha‐ha‐ha.« Ich streckte die Hand aus und zog ein Stück Seil von der Bank. Ich legte es um ihren Hals, führte es zu den Handgelenken, und anschließend knotete ich es am Bein der Werkbank fest. Mrs. Marsh hatte sich vollgepißt. Ich sah in den Schacht hinunter, drehte mich um und steckte einen Fuß in die Dunkelheit. Ich ließ mich an der kalten, feuchten Metalleiter in den glit‐ schigen Schacht hinunter. Ich stieg abwärts, drei Meter tief. Neben dem Kreischen und Schreien von Mrs. Marsh konnte ich leise das Plätschern von Wasser hören. Immer tiefer ging es, sieben Meter. Ein Kreis aus grauem Licht und Wahnsinn über mir. Immer tiefer ging es, das Gelächter und die Schreie erstarben, je weiter ich nach unten kam. Ich konnte unter mir Wasser spüren, stellte mir vollgesoffene Schächte mit schwarzem Wasser und ertrunkenen Leichen vor. Immer tiefer ging es auf das Licht zu, ich sah nicht hinauf, wollte nur sicher sein, daß ich weiter hinabstieg. Plötzlich war eine der Seiten des Schachts verschwunden, und ich stand im Licht. Ich drehte mich um und sah in den gelben Schlund eines hori‐ zontalen Schachts, der rechts von mir verschwand. 396
Ich stieg noch ein Stück weiter nach unten, drehte mich dann um und stützte mich mit den Ellbogen auf den Rand des Schlunds. Ich drückte mich hoch ins Licht und kroch auf den Fels. Das Licht war hell, der Tunnel eng und endlos. Ich konnte nicht stehen, also kroch ich auf Bauch und Ell‐ bogen über die groben Ziegel durch den Schacht auf das Licht zu. Ich schwitzte, war müde und wollte endlich wieder aufstehen. Ich kroch weiter, dachte erst in Metern, dann in Kilometern, verlor jedes Gefühl für Entfernungen. Plötzlich hob sich die Decke, und ich kniete mich hin, schlurfte weiter, dachte an die Dreckberge über meinem Kopf, bis meine Knie und Schienbeine wundgerieben waren und versagten. Ich konnte im Dämmerlicht sehen, wie sich etwas bewegte Mäuse, Ratten oder Kinderfüße. Ich streckte die Hand aus in den Schiefer und den Schlamm und zog einen Schuh heraus; eine Kindersandale. Ich lag auf den Ziegeln im Staub und Dreck und kämpfte mit den Tränen, klammerte mich an den Schuh, konnte ihn nie wegwerfen, nicht liegenlassen. Ich machte einen Buckel und stand auf, ging weiter, schlug mit dem Rücken gegen Träger und Balken, schaffte hier einen Meter dort ein paar Schritte. Dann veränderte sich die Luft, das Plätschern des Wassers verklungen, und ich konnte den Tod riechen und die Kinder stöh‐ nen hören. Die Decke hob sich erneut, und wieder gab es Holzbalken, denen ich mir den Kopf stieß; dann bog ich um eine Felsnase 397
war da. Ich richtete mich im Schein von zehn Grubenlampen im Schlund eines großen Tunnels auf, keuchte, schwitzte, hatte hölli‐ schen Durst, versuchte, alles in mich aufzunehmen. Die verdammte Höhle des Weihnachtsmanns. Tränen strömten mir übers dreckige Gesicht, und ich ließ den Schuh fallen. Der Tunnel war etwa fünf Meter vor mir zugemauert worden, die Ziegel waren blau und mit weißen Wölkchen bemalt, der Bo‐ den mit Sackleinen und weißen Federn bedeckt. An den beiden Seitenwänden standen wohl zehn Spiegel in ei‐ ner Reihe. Goldengel, Elfen und Sterne hingen von den Balken, alles glit‐ zerte im Schein der Lampen. Da waren Schachteln und Tüten, Klamotten und Werkzeug. Da waren Kameras und Scheinwerfer, Tonbandgeräte und Tonbänder. Und am Fuß der blauen Mauer, am anderen Ende des Raums, lag George Marsh unter einem Stück blutigem Sackleinen. Auf einem Bett aus roten Rosen. Ich ging über am Boden liegende Federn zu ihm hin. Er drehte sich zum Licht, seine Augen Löcher, sein Mund of‐ fen, das Gesicht eine Maske aus rotem und schwarzem Blut. Marsh machte den Mund auf und zu, Blutbläschen bildeten sich und platzten, und aus seiner Magengrube stieg das Heulen ei‐ nes sterbenden Hundes. Ich beugte mich über ihn und sah in die Löcher, aus denen früher einmal seine Augen geschaut hatten, in den Mund, in dem 398
früher einmal seine Zunge Worte gebildet hatte, und spuckte aus. Ich richtete mich auf und zog das Sackleinen beiseite. George Marsh war nackt und lag im Sterben. Sein Brustkorb war rot, grün und schwarz, voller Kot, Schlamm und Blut. Schwanz und Hoden waren verschwunden, lose Hautfalten und Blutlachen überall. Er zuckte und streckte eine Hand nach mir aus; der kleine Finger und der Daumen waren alles, was ihm noch geblieben war. Ich richtete mich auf und warf die Decke über ihn. Er lag da, hob den Kopf, flehte um das Ende; sein leises Stöhnen erfüllte die Höhle. Ich ging zu den Tüten und Schachteln, warf sie um, ver‐ streute Kleider und Lametta, Kinderspielzeug und Messer, Papierkronen und riesige Nadeln, suchte nach Büchern, suchte nach Wörtern. Ich fand Photos. Schachtelweise Photos. Schulmädchenphotos, Porträts, offenes Lächeln und große blaue Augen, blonde Haare und rosige Haut. Und dann sah ich wieder alles vor mir. Schwarzweißaufnahmen von Jeanette und Susan, dreckige Knie, wie sie da in den Ecken kauern, winzige Hände vor die zu‐ gekniffenen Augen pressen, grelle Blitzlichter, die den Raum aus‐ füllen. Das erwachsene Grinsen und die Kinderaugen, dreckige Knie in Engelsgewändern, winzige Hände vor blutigen Löchern, wei‐ ßes Gelächter, das den Raum ausfüllt. 399
Ich sah einen nackten Mann mit einer Papierkrone auf dem Kopf, der unter der Erde kleine Mädchen vögelt. Ich sah seine Frau, die Engelskostüme schneidert und die Madchen mit Küssen beruhigt. Ich sah einen halbblöden polnischen Bengel, der Photos ent‐ wickelt und einige klaut. Ich sah Männer, die Häuser bauen, die kleine Mädchen be‐ obachten, welche auf der anderen Straßenseite spielen, die sie photographieren und über die sie Notizen machen, die neue Häu‐ ser neben den alten errichten. Und dann sah ich wieder runter zu George Marsh, dem Vor‐ arbeiter, der auf seinem Bett aus roten Rosen im Sterben lag. »George Marsh. Sehr netter Mann. « Aber das war immer noch nicht alles. Ich sah Johnny Kelly mit einem Hammer in der Hand, der seinen Job noch nicht erledigt hatte. Das war immer noch nicht alles. Ich sah einen Mann zwischen Papier und Plänen, zerfressen von dunklen Visionen von Engeln, der Häuser aus Schwänen entwarf und um Stille bettelte. Und noch immer war das nicht alles. Ich sah denselben Mann, der in einer düsteren Ecke hockte und schrie: »Tu es für mich, George, IC H W I L L M E HR U N D I C H W I LL ES JETZT.«
Ich sah John Dawson. Und das alles war zuviel, viel zuviel. Ich floh aus dem Raum zurück in den Tunnel, duckte mich, kroch weiter, suchte nach dem Schacht hoch zum Schuppen, die Schreie der Kinder in meinem Kopf: »Bevor die neuen Häuser da gebaut wurden, hatten wir eine hübsche Aussicht. « Ich kam zur Leiter, zog mich hoch, schrammte mir den 400
Rücken an der Kante zum Schacht. Ich stieg hoch, hoch. Ich kam oben an und zog mich hoch in den Schuppen. Mrs. Marsh lag immer noch auf dem Bauch an die Werkbank gefesselt. Ich lag auf den Plastiksäcken, keuchte und schwitzte und hatte Angst. Sie grinste mich an, hatte Sabber am Kinn und eine nasse Strumpfhose. Ich packte mir ein Messer von der Werkbank und schnitt das Seil durch. Ich schob sie zum Kamin, riß ihren Kopf an der Dauerwelle nach hinten und hielt ihr das Messer an die Kehle. »Du gehst da jetzt runter.« Ich drehte sie um und trat ihr die Füße unterm Leib weg. »Ob du kletterst oder fällst, ist mir scheißegal.« Sie setzte einen Fuß auf eine Sprosse, sah mich an und stieg hinunter. »Bis daß der Tod euch scheidet«, rief ich ihr nach. Ihre Augen strahlten mich von unten an. Ich machte kehrt, packte das dicke schwarze Seil und zog den Gullydeckel wieder über die Öffnung. Ich nahm einen Sack Zement und wuchtete ihn auf den Deckel, dann noch einen und noch einen und noch einen. Ich setzte mich auf die Säcke und spürte, wie meine Beine und Füße kalt wurden. Ich stand auf und nahm ein Vorhängeschloß mit Schlüssel von der Werkbank. Dann verließ ich den Schuppen. Ich zog die Tür zu und ver‐ sperrte sie mit dem Schloß. Ich rannte den Hügel hinunter und warf den Schlüssel ins Feld. 401
Die Haustür zur Nummer 16 stand noch immer offen, im Fernsehen lief Crown Court. Ich betrat das Haus und ging erst einmal aufs Klo. Ich schaltete den Fernseher aus. Ich setzte mich aufs Sofa und dachte an Paula. Dann durchsuchte ich die Zimmer und alle Schubladen. Im Schrank entdeckte ich eine Schrotflinte und Kisten mit Patronen. Ich packte alles in einen Müllsack und ging zum Auto. Ich legte Schrotflinte und Munition in den Kofferraum des Maxi. Ich kehrte zum Haus zurück, sah mich noch einmal um, ver‐ schloß die Tür und ging davon. An der Mauer blieb ich stehen und sah zu der schwarzen Reihe von Schuppen hinauf, es regnete mir ins Gesicht, ich war voller Schlamm. Ich stieg ins Auto und fuhr davon. 4 LUV. Alles aus Liebe. Shangrila kauerte einsam unter dem müden grauen Himmel, Tropfen fielen von der Regenrinne. Ich hielt hinter einer weiteren schmutzigen Hecke auf einer weiteren leeren Straße und ging eine weitere traurige Zufahrt hinauf. Eisregen fiel vom Himmel, und wieder fragte ich mich, ob das den riesigen orangefarbenen Fischen im Teich egal war oder nicht; ich wußte, daß George Marsh litt und daß Don Foster ebenfalls gelitten haben mußte, aber ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Ich wollte eigentlich hinübergehen und mir diese großen bun‐ 402
ten Fische anschauen, statt dessen ging ich weiter. Vor dem Haus standen keine Autos, nur zwei nasse Milch‐ flaschen in einem Drahtkorb. Ich fühlte mich elend und verängstigt. Ich sah nach unten. Ich hielt eine Schrotflinte in den Armen. Ich klingelte und hörte, wie die Glocke durch Shangrila hallte, dachte an George Marshs blutigen Schwanz und Don Fosters blutige Knie. Niemand öffnete. Ich klingelte noch einmal und hämmerte dann mit dem Gewehrkolben gegen die Tür. Immer noch keine Antwort. Ich rüttelte an der Tür. Sie war offen. Ich ging hinein. »Hallo?« Das Haus war kalt und fast ganz still. Ich stand in der Eingangshalle und sagte wieder: »Hallo?« Ein leises zischendes Geräusch war zu hören, gefolgt von einem dumpfen Ticken. Ich ging nach links in ein großes weißes Wohnzimmer. Über einem kalten Kamin hing die Vergrößerung von einem Schwarzweißphoto. Ein Schwan, der von einem See abhebt. Der Schwan war nicht allein: Auf jedem Tisch, Regal, Fensterbrett hölzerne Schwäne, eiserne Schwäne, Schwäne aus Porzellan. Schwäne im Flug, schlafende Schwäne, zwei riesige, sich küs‐ sende Schwäne, deren Hälse und Schnäbel ein großes Herz form‐ ten. Zwei schwimmende Schwäne. 403
Volltreffer. Ich starrte die Schwäne an und lauschte dem Zischen und Ticken. Im Raum war es eiskalt. Ich ging zu einer großen Holzkiste, wobei ich schlammige Fußspuren auf dem cremefarbenen Teppich hinterließ. Ich legte die Schrotflinte zur Seite, hob den Deckel der Kiste und nahm die Nadel von der Schallplatte. Mahler. Kindertotenlieder. Ich drehte mich plötzlich um, weil ich glaubte, einen Wagen näherkommen zu hören, und sah hinaus auf den Rasen. Es war nur der Wind. Ich ging zum Fenster, stand da und sah zur Hecke hinüber. Dort unten im Garten war etwas. Einen Augenblick lang glaubte ich, ein braunhaariges, bar‐ füßiges Zigeunermädchen mit Zweigen im Haar unter der Hecke sitzen zu sehen. Ich schloß die Augen, öffnete sie wieder, das Mädchen war verschwunden. Ich konnte ein leises Trommeln hören. Ich trat wieder auf den weichen Teppich und stieß dabei gegen ein Glas, das in einer Pfütze lag. Ich hob es auf und stellte es neben eine Zeitung. Es war die heutige Ausgabe meiner Zeitung. Zwei riesige Schlagzeilen, zwei Tage vor Weihnachten: Schwester des Rugbystars ermordet. Stadtrat tritt zurück. Zwei Gesichter, zwei vom Zeitungsdruck dunkel umrandete Augenpaare, die mich anstarrten. Zwei Geschichten, von Jack Whitehead und von George Greaves. 404
Ich nahm die Zeitung, setzte mich auf ein cremefarbenes Sofa und las die Meldungen: Am frühen Sonntagmorgen entdeckte die Polizei die Leiche von Mrs. Paula Garland in ihrem Haus in Castleford. Nachbarn hatten Schreie gemeldet. Mrs. Garland (32) war die Schwester von Johnny Kelly, der bei Wakefield Trinity im Angriff spielt. 1969 verschwand Mrs. Garlands Tochter Jeanette (8) auf dem Heimweg von der Schule und konnte trotz eines Großeinsatzes der Polizei nicht gefunden werden. Zwei Jahre später beging Mrs. Garlands Ehemann Geoff Selbstmord. Die Polizei teilte dem Reporter dieser Zeitung mit, daß Mrs. Gar‐ land wahrscheinlich ermordet wurde. Dem Vernehmen nach ist eine Reihe von Personen der Polizei bei den Ermittlungen behilflich. Eine erste Pressekonferenz ist für den frühen Montagvormittag anberaumt worden. Johnny Kelly (28) stand uns bisher noch nicht für einen Kom‐ mentar zur Verfügung. Die umrandeten Zeitungsaugen, Paula, die nicht lächelte, schon tot wirkte. William Shaw, Kreisvorsitzender der Labour Party und Vor‐ sitzender des Wakefield Metropolitan District Council, erklärte am Sonntag zur Überraschung aller seinen Rücktritt. In einer knappen Pressemitteilung gab Shaw (58) an, ausschlag‐ gebend für seinen Entschluß sei sein immer schlechter werdender Gesundheitszustand. Shaw, der ältere Bruder des Innenministers Robert Shaw, kam über seine Tätigkeit bei der Transport and General Workers’ Union zu Labour. Er stieg in der Gewerkschaft bis zum Regionalbeauftrag‐ ten auf und vertrat die T.G.W.U. im National Executive Committee der Labour Party. Als ehemaliger Alderman war Shaw viele Jahre in der Lokal‐ politik von West Riding aktiv und machte sich vor allem als Für‐ sprecher der Kommunalregierungsreform einen Namen; er war zu‐ 405
dem Mitglied im Redcliffe‐Maud Committee. Shaws Wahl zum Vorsitzenden des ersten Wakefield Metropolitan District Council war von vielen begrüßt worden. Von ihm hatten sich alle einen reibungslosen Ablauf der Strukturreformen in West Riding erhofft. Gestern abend zeigten sich alle Lokalpolitiker konsterniert und enttäuscht über Mr. Shaws Amtsniederlegung. Mr. Shaw ist zudem amtierender Vorsitzender der West Yorkshire Police Authority. Zum jetzigen Zeitpunkt ist noch unklar, ob er diese Aufgabe weiter wahrnehmen wird. Der Innenminister Robert Shaw gab zum Rücktritt seines Bruder keinen Kommentar ab. Mr. Shaw selbst hält sich angeblich bei Freunden in Frankreich auf. Zwei weitere umflorte Zeitungsaugen, Shaw, der nicht lächelte, schon tot wirkte. Verdammte Scheiße. »Die britische Öffentlichkeit bekommt die Wahrheit, die sie ver‐ dient.« Und ich die meine. Ich legte die Zeitung weg und schloß die Augen. Ich sah Jack und George an ihren Schreibmaschinen sitzen, wie sie nach Whisky stanken, ihre Geheimnisse bewahrten, ihre Lügen verbreiteten. Ich sah Hadden, wie er ihre Lügen las, ihre Geheimnisse bewahrte, ihnen Whisky einschenkte. Ich wollte tausend Jahre lang schlafen, erst aufwachen, wenn sie und ihresgleichen vergessen waren, wenn ich nicht länger ihre dreckige schwarze Tinte an den Fingern, in meinem Blut haben mußte. Aber das verdammte Haus ließ mich nicht. Ich schlug die Augen auf. Auf dem Sofa neben mir lagen zusammengerollte Baupläne. 406
Ich breitete einen davon über Paula und Shaw auf dem Glas‐ tisch aus. Es handelte sich um Pläne für ein Einkaufszentrum, das Swan Centre. Es sollte an der Abfahrt Hunslet und Beeston an der MI gebaut werden. Ich schloß erneut die Augen, und mein kleines Zigeuner‐ mädchen stand in einem Ring aus Feuer. »Wegen des verdammten Geldes.« Das Swan Centre: Shaw, Dawson, Foster. Die Box‐Brüder, die ein Stück vom Kuchen abhaben wollen. Foster, der sich mit den Box‐Brüdern anlegt. Shaw und Dawson, die ihre jeweiligen Vergnügungen über ihre Arbeit stellen. Foster als Zirkusdirektor, der versuchte, den ganzen beschis‐ senen Laden am Laufen zu halten. Jeder außerhalb seiner Kompetenzen. Alle am Arsch. »Wegen des verdammten Geldes.« Ich stand auf, verließ das Wohnzimmer und kam in eine kalte und ziemlich teure Küche. Wasser lief aus einem Hahn in ein leeres Spülbecken aus Edel‐ stahl. Ich stellte es ab. Ich konnte noch immer das Trommeln hören. Es gab eine Tür zum Garten, eine zweite zur Garage. Das Trommeln kam von der anderen Seite der zweiten Tür. Ich versuchte, sie zu öffnen, doch sie war zugesperrt. Unter der Tür hindurch sah ich vier kleine Rinnsale. Ich versuchte erneut, die Tür zu öffnen, doch sie gab immer noch nicht nach. Ich rannte zur Hintertür hinaus und eilte zur Vorderseite des 407
Hauses. Die Garage hatte keine Fenster. Ich versuchte das Garagentor zu öffnen, doch es war versperrt. Ich ging durch die Vordertür wieder ins Haus. Im Schlüsselloch baumelte ein Ring voller Schlüssel. Ich nahm die Schlüssel mit in die Küche. Ich versuchte den größten, den kleinsten und noch einen. Das Schloß ließ sich öffnen. Ich öffnete die Tür und atmete Abgase ein. Verdammt. Am hinteren Ende der Garage stand ein Jaguar mit laufendem Motor. Verdammt. Ich packte einen Küchenstuhl, verkeilte die Tür, um sie offen‐ zuhalten, trat mit dem Fuß einen Stapel nasser Geschirrtücher beiseite. Ich rannte durch die Garage, im schwachen Licht konnte ich zwei Personen auf den Vordersitzen erkennen; ein Schlauch führte vom Auspuffrohr durch eins der hinteren Seitenfenster. Das Autoradio war voll aufgedreht, Elton John brüllte Good‐ bye Yellow Brick Road. Ich riß den Schlauch und weitere nasse Tücher aus dem Aus‐ puff und probierte, die Fahrertür zu öffnen. Verriegelt. Ich stürzte zur Beifahrertür, riß sie auf und erwischte einen Lungenzug Kohlenmonoxid; dann fiel mir Mrs. Marjorie Daw‐ son, die immer noch wie meine Mutter aussah, mit einem roten Gefrierbeutel über dem Kopf gegen die Knie. Ich versuchte, sie wieder aufrecht hinzusetzen, und beugte mich vor, um den Motor abzustellen. John Dawson lag zusammengesunken über dem Lenkrad, ebenfalls mit einem Gefrierbeutel über dem Kopf, die Hände 408
gefesselt. »Schon wieder. Gedankenloses Gerede kostet Menschenleben. « Beide waren blau und tot. Verdammt. Ich schaltete den Motor und Elton John aus, ließ mich nach hinten auf den Garagenboden sinken, Mrs. Dawson rutschte hin‐ ter mir her, ihr Kopf im Beutel fiel in meinen Schoß. Zusammen sahen wir zu ihrem Mann hinauf. Der Architekt. John Dawson, endlich, zu spät, den Kopf in einem Gefrier‐ beutel. Der verdammte John Dawson, stets eine geisterhafte Erschei‐ nung und nun wahrhaftig ein Geist in einem Gefrierbeutel. Der verdammte John Dawson. Zurück blieb nur sein Werk, türmte sich drohend auf, verfolgte einen. Und ich hatte keine Chance mehr, jemals die Wahrheit zu erfahren. Hockte nur da mit seiner toten Frau im Arm und wünschte verzweifelt, die Toten auch nur für eine Sekunde wieder zum Leben erwecken zu kön‐ nen, nur auf ein Wort. Stille. Ich hob Mrs. Dawson, so sanft ich konnte, wieder in den Jaguar, schob sie gegen ihren Mann, so daß die beiden ihre Gefrierbeutel‐ köpfe zusammensteckten; noch mehr, immer noch mehr Stille. Verdammt. »Gedankenloses Gerede kostet Menschenleben.« Ich zog mein schmutziggraues Taschentuch aus der Tasche und wischte alles ab. Fünf Minuten später schloß ich hinter mir die Tür zur Garage 409
und ging zurück ins Haus. Ich setzte mich neben ihre Pläne, neben ihre versauten Träume aufs Sofa und dachte mit der Schrotflinte auf dem Schoß an meine eigenen Träume. Im Haus war es still. Still. Ich stand auf und verließ Shangrila durch die Vordertür. Ich fuhr zurück ins Redbeck, ließ das Radio aus, die Scheiben‐ wischer quietschten wie Ratten in der Dunkelheit. Ich hielt in einer Pfütze und nahm den schwarzen Müllsack aus dem Kofferraum. Ich humpelte über den Parkplatz, so steif waren meine Gliedmaßen von der Zeit unter der Erde. Ich öffnete die Tür und ließ den Regen hinter mir. Zimmer 27 war kalt, kein Zuhause, Sergeant Fraser war schon lange verschwunden. Ich setzte mich im Dunkeln auf den Boden, lauschte den La‐ stern, die kamen und wieder davonfuhren, dachte an Paula und wie wir erst vor wenigen Tagen zu den Top of the Pops getanzt hatten. Ich dachte an AF und Jimmy Ashworth, an Teenager, die in feuchten Zimmern kauerten. Ich dachte an die Myshkins und Marshs, die Dawsons und Shaws, die Fosters und Box’, an ihr Leben und ihre Verbrechen. Dann dachte ich an die Männer im Untergrund, an die Kin‐ der, die sie stahlen, und an die Mütter, die sie zurückließen. Und als ich nicht mehr weinen konnte, dachte ich an meine eigene Mutter und stand auf. 410
Das gelbe Licht in der Lobby war heller, der Gestank stärker denn je. Ich nahm den Telefonhörer ab, wählte und hielt eine Münze an den Schlitz. »Hallo?« Ich ließ die Münze fallen. »Ich bin’s.« »Was willst du?« Durch die Doppelglastür sah ich den menschenleeren Billard‐ raum. »Ich wollte nur sagen, daß es mir leid tut.« »Was haben sie mit dir gemacht?« Ich sah mich zu den braunen Sesseln in der Lobby um und suchte nach der alten Frau. »Nichts.« »Einer von denen hat mich geohrfeigt, weißt du?« Ich spürte, wie mir die Augen wieder zu brennen begannen. »In meinem eigenen Haus, Edward.« »Es tut mir leid.« Sie weinte. Ich konnte die Stimme meiner Schwester im Hin‐ tergrund hören. Sie schrie meine Mutter an. Ich starrte die Namen und Versprechen an, die Drohungen und Telefonnummern, die neben das Telefon gekritzelt worden waren. »Bitte komm heim.« »Ich kann nicht.« »Edward!« »Es tut mir wirklich leid, Ma.« »Bitte!« »Ich liebe dich.« Ich legte auf. Ich nahm erneut den Hörer ab und wollte Kathryn anrufen, 411
aber mir fiel die Nummer nicht mehr ein, also legte ich auf und rannte durch den Regen zurück ins Zimmer. Der Himmel war weit und blau und wolkenlos. Sie war draußen auf der Straße, zog eine rote Strickjacke um sich und lächelte. Sie hatte blondes Haar, das im Wind wehte. Sie streckte die Hand nach mir aus, legte mir ihre Arme um Hals und Schultern. »Ich bin kein Engel«, flüsterte sie mir ins Haar. Wir küßten uns, ihre Zunge fest an meiner. Ich ließ meine Hände über ihren Rücken nach unten gleiten und drückte sie fester an mich. Der Wind wehte mir ihre Haare ins Gesicht. Als ich kam, brach sie unseren Kuß ab. Ich wachte auf dem Fußboden auf, die Hose voller Sperma. Nackt bis auf die Unterhose stand ich am Waschbecken in mei‐ nem Zimmer im Redbeck, lauwarmes graues Wasser schwappte mir über die Brust auf den Fußboden, ich wollte nach Hause gehen, aber niemandes Sohn sein. Und die Photos von Töchtern lächelten im Spiegel. Ich saß im Schneidersitz auf dem Boden in meinem Zimmer im Redbeck und wickelte den schwarzen Verband von meiner Hand, hörte kurz vor dem Eiter und dem rohen Fleisch auf, zer‐ riß mit den Zähnen ein weiteres Laken, verband mir die Hand mit den Streifen. In der Wand über mir grinsten noch viel schlimmere Verletzungen. Ich stand in meinen schlammigen Klamotten an der Tür zu meinem Zimmer im Redbeck, schluckte Pillen und zündete mir 412
Zigaretten an, wollte schlafen, aber nicht träumen, dachte, This’ ll be the day that I die, und die Bilder von Paula winkten mir zum Abschied.
12. Kapitel Ein Uhr nachts. Rock On. Dienstag, 24. Dezember 1974. Heiligabend. Sleigh bells ring, are you listening? Ich fuhr die Barnsley Road in Richtung Wakefield, vor den Häusern wurden die Weihnachtsbeleuchtungen ausgeschaltet, The Good Old Days waren vorüber. Im Kofferraum lag die Schrotflinte. Ich überquerte den Calder, fuhr am Markt vorbei in den Bull Ring, und die Kathedrale über mir war am schwarzen Himmel gefangen. 413
Alles war tot. Ich hielt vor einem Schuhgeschäft. Ich öffnete den Kofferraum. Ich nahm die Schrotflinte aus dem schwarzen Müllsack. Ich lud die Waffe im Kofferraum. Ich steckte mir noch ein paar Patronen in die Tasche. Ich nahm die Schrotflinte aus dem Kofferraum. Ich schloß den Kofferraum. Ich überquerte den Bullring. Im ersten Stock des Strafford brannte Licht, unten war alles dunkel. Ich öffnete die Tür und ging die Treppe hinauf, jede Stufe einzeln. Sie waren an der Bar, alle mit Whisky und Zigarre bewehrt: Derek Box und Paul, Sergeant Craven und PC Douglas. In der Jukebox lief Rock’n’Roll, Part 2. Arthur Francis Anderson tanzte allein in einer Ecke, das Gesicht schwarz und blau. Ich hatte eine Hand am Lauf und einen Finger am Abzug. Sie blickten auf. »Scheiße«, sagte Paul. »Lassen Sie die Waffe fallen«, sagte einer der Polizisten. Derek Box lächelte: »Guten Abend, Eddie.« Ich sagte ihm, was er schon wußte. »Sie haben Mandy Wy‐ mer umgebracht?« Box drehte sich um und zog kräftig an einer dicken Zigarre. »Wirklich?« »Und Donald Foster?« »Na und?« »Ich möchte wissen, warum.« »Der nimmermüde Enthüllungsjournalist. Na, dann raten Sie mal, Sie Zeilenschinder.« 414
»Wegen eines beschissenen Einkaufszentrums?« »Ja, wegen eines beschissenen Einkaufszentrums.« »Und was zum Teufel hatte Mandy Wymer mit einem Ein‐ kaufszentrum zu tun?« »Soll ich es Ihnen buchstabieren?« »Tun Sie das.« »Kein Architekt, kein Einkaufszentrum.« »Also wußte sie davon?« Box lachte. »Keine Ahnung.« Ich sah tote kleine Mädchen, tolle neue Einkaufsmöglich‐ keiten und skalpierte tote Frauen. »Sie hatten Spaß daran«, sagte ich. »Ich hab’ Ihnen doch von Anfang an gesagt, wir würden alles kriegen, was wir wollen.« »Und das wäre?« »Rache und Geld, die perfekte Kombination.« »Ich wollte keine Rache.« »Sie wollten Ruhm«, zischte Box. »Ist doch dasselbe.« Tränen strömten mir über das Gesicht auf die Lippen. »Und Paula? Was sollte das?« Box zog noch einmal an seiner fetten Zigarre. »Wie schon gesagt, ich bin kein Engel ...« Ich schoß ihm in die Brust. Er stürzte rückwärts in Paul hinein, zischend entwich ihm die Luft. Rock’n’Roll. Ich lud nach. Ich feuerte wieder, traf Paul in die Seite, warf ihn um. Rock’n’Roll. Die beiden Polizisten standen nur da und glotzten. Ich lud nach und feuerte. Ich traf den Kleinen an der Schulter. 415
Ich wollte erneut nachladen, doch der große Bärtige stürzte auf mich zu. Ich drehte die Schrotflinte um und knallte ihm den Kolben ins Gesicht. Er stand da, schaute mich an, der Kopf hing ihm zur Seite, Blut tropfte aus seinem Ohr. Rock’n’Roll. Der Raum war voller Qualm, es roch stark nach Schrot. Die Frau hinter der Bar schrie auf, ihre Bluse war blutver‐ schmiert. Ein Mann an einem Tisch am Fenster sperrte den Mund auf und reckte die Hände in die Höhe. Der Große stand immer noch mit hohlem Blick da, der Kurze kroch in Richtung Toiletten. Paul lag auf dem Rücken, starrte zur Decke, schlug die Augen auf und zu. Derek Box war tot. AF hatte aufgehört zu tanzen. Ich richtete die Waffe in Brusthöhe auf ihn. »Warum ich?« fragte ich. »Du bist in den höchsten Tönen gelobt worden.« Ich ließ die Waffe fallen und ging die Treppe hinunter. Ich fuhr nach Ossett zurück. Ich stellte Frasers Maxi auf dem Parkplatz eines Supermarktes ab und ging zu Fuß weiter zur Wesley Street. Der Viva stand einsam in der Einfahrt, das Haus meiner Mutter daneben war dunkel, alles schlief. Ich stieg ein, ließ Motor und Radio laufen. Ich zündete mir eine letzte Zigarette an und sagte meine kleinen Gebete auf: Clare, eins für dich. 416
Susan, eins für dich. Jeanette, eins für dich. Paula, alle fur dich. Und das ungeborene Kind. Ich saß da, sang zum Little Drummer Boy mit, und all die lang vergangenen Tage, diese Tage der Gnade, gingen zu Ende. Ich wartete auf die Blaulichter. 145 km/h. Zentaur 2006‐05‐20
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