Uwe Luserke / Denis Scheck (Herausgeber]
Zwischenfall in Luna City Seltsame Geschichten aus dem Jahre X
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Uwe Luserke / Denis Scheck (Herausgeber]
Zwischenfall in Luna City Seltsame Geschichten aus dem Jahre X
Franckh'sche Verlagshandlung Stuttgart
Aus dem Amerikanischen übertragen von Denis Scheck, außer der Erzählung »Die Pflicht« von Edward Ludwig, deren deutsche Übersetzung von Walter Ernsting übernommen wurde, sowie der Erzählung »Der Eroberer« von Mark Clifton, deren deutsche Übersetzung von Werner Baumann stammt. Beide Übersetzungen wurden mit freundlicher Genehmigung des Pabel-Verlages, Rastatt, aufgenommen. Titel der Originalgeschichten: »The Menace from Earth«, © 1959, Robert A. Heinlein »The Juvenile Delinquent«, © Edward E. Ludwig »Desirable Lakeside Residence«, © 1973, Roger Elwood & Virginia Kidd »The Conqueror«, © 1953, Mark Clifton »Bettyann«, © 1951, Henry Holt & Co. Der Verlag dankt folgenden Agenturen für die Erteilung der Rechte: Linder AG, Zürich, für »The Menace from Earth« von Robert A. Heinlein; Forrest J. Ackerman, Hollywood, California/Thomas Schlück, Garbsen für »The Juvenile delinquent« von Edward E. Ludwig, und »Bettyann« von Kris Neville; Larry Sternig, Milwaukee, Wisconsin, für »Desirable Lakeside Residence« von Andre Norton; Liepman AG, Zürich, für »The Conqueror« von Mark Clifton. Schutzumschlag: Atelier Höllerer, Stuttgart CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Zwischenfall in Luna City: seltsame Geschichten aus d. Jahre X / Uwe Luserke; Denis Scheck (Hrsg.). [Aus d. Amerikan. übertr. von Denis Scheck...]. – Stuttgart: Franckh, 1983 (Lesefutter) ISBN 3-440-05196-X NE: Luserke, Uwe [Hrsg.]
Franckh'sche Verlagshandlung, W. Keller & Co., Stuttgart / 1983 Scan by Brrazo 06/2005 Alle Rechte an dieser Ausgabe, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Für diese Zusammenstellung in deutscher Sprache: © 1983, Franckh'sche Verlagshandlung, W. Keller & Co., Stuttgart ISBN 3-440-05196-X / L 9mm H cs Printed in Czechoslovakia / Imprimé en Tchécoslovaquie Gesamtherstellung durch Artia, Prag
Zwischenfall in Luna City ROBERT A. HEINLEIN : Das Biest von der Erde EDWARD E. LUDWIG: Die Pflicht ANDRE NORTON : Reizvolle Villa am See MARK CLIFTON: Der Eroberer KRIS NEVILLE: Bettyann
Das Biest von der Erde ROBERT A. HEINLEIN Mein Name ist Holly Jones, und ich bin fünfzehn. Ich bin sehr intelligent, aber man sieht es mir nicht an, weil ich wie ein halb verhungerter Engel aussehe. Fad. Ich wurde hier in Luna City geboren, was Erdbewohner zu überraschen scheint. Ich gehöre sogar schon zur dritten Generation; meine Großeltern waren Pioniere bei Position Eins, wo heute das Denkmal steht. Ich wohne bei meinen Eltern in den Artemis-Apartments, der neuen Genossenschaft in Druckzone Fünf, zweihundert Meter unter der Oberfläche, nahe dem Rathaus. Aber sehr oft bin ich dort nicht, dazu bin ich zu beschäftigt. Vormittags besuche ich die Technische Hochschule, nachmittags lerne ich zu Hause, gehe mit meinem Partner Jeff Hardesty fliegen oder spiele für Erdenwürmer den Fremdenführer, wenn gerade ein Touristenschiff da ist. Heute mittag landete die Gripsholm, und ich bin gleich von der Schule aus zum American Express-Reisebüro gegangen. Der erste Schwung Touristen kam gerade aus der Quarantäne, aber ich drängte mich nicht vor, weil Mr. Dorcas, der Geschäftsführer, sowieso weiß, daß ich die Beste bin. Ich mache Führungen zwar nur gelegentlich – hauptberuflich konstruiere ich Raumschiffe – aber wenn
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man eine Arbeit anfängt, sollte man sie auch richtig machen. Mr. Dorcas entdeckte mich. »Holly! Hierher, bitte. Miss Brentwood, Holly Jones wird Ihre Führerin sein.« »Holly«, wiederholte sie. »Was für ein ungewöhnlicher Name. Und du bist tatsächlich Fremdenführerin, Herzchen?« Ich bin gegenüber Erdenwürmern ja wirklich tolerant, denn einige meiner besten Freunde sind von der Erde. Mein Vater sagt immer, auf Luna geboren zu werden, ist Glück, kein eigenes Verdienst, und die meisten Menschen müssen auf der Erde bleiben. Außerdem waren schließlich Jesus, Buddha und Einstein auch alle Erdenwürmer. Aber sie können einem schon auf die Nerven gehen. Wenn die älteren Schüler nicht als Fremdenführer arbeiten würden, wer sollte das dann machen? »Zumindest steht das in meiner Lizenz«, sagte ich kühl und musterte sie genauso wie sie mich. Ihr Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor, vielleicht hatte ich ihr Foto in einer dieser Klatschspalten der irdischen Magazine gesehen – eine dieser reichen Nichtstuerinnen; von der Sorte haben wir hier bereits mehr als genug. Sie war schon fast widerlich schön: eine Haut wie aus Nylon, weiches, gewelltes, silberblondes Haar, ungefähre Maße 88-60-86. Sie war so gut proportioniert, daß ich mir dagegen wie ein Strichmännchen vorkam, hatte eine dunkle, vertrauenerweckende Stimme, und all jene Reize, die gewöhnlichere Frauen dazu verleiten, an einen Pakt mit dem Teufel zu denken. Aber ich machte mir
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darüber keine Sorgen; sie war schließlich ein Erdenwurm, und Erdenwürmer zählen nicht. »Alle Führungen in der Stadt werden von Mädchen gemacht«, erklärte Mr. Dorcas. »Holly macht das sehr gut.« »Da bin ich mir sicher«, sagte sie schnell und verfiel prompt in Touristenrolle Nummer Eins: Überraschung, daß sie sogar für den Weg zum Hotel eine Führerin brauchte. Staunen, daß es weder Taxis noch Gepäckträger gab und Stirnrunzeln bei dem Gedanken, daß zwei junge Frauen allein durch eine ›unterirdische Stadt‹ gehen sollten. Mr. Dorcas hörte sich das alles geduldig an und sagte schließlich: »Miss Brentwood, Luna City ist die einzige Großstadt im Sonnensystem, in dem eine Frau wirklich sicher ist. Es gibt keine dunklen Gassen, keine unsicheren, verlassenen Bezirke und auch keine Kriminellen.« Ich hörte gar nicht zu; statt dessen hielt ich Mr. Dorcas meine Gebührenkarte zum Abstempeln hin und nahm ihre Koffer. Fremdenführer sollten eigentlich keine Koffer tragen, und die meisten Touristen probieren sowieso begeistert aus, ob ihre dreißig Pfund schweren Koffer – mehr dürfen sie nicht mitnehmen – tatsächlich nur noch fünf Pfund wiegen. Aber ich wollte, daß wir endlich losgingen. Wir waren draußen im Tunnel, ich hatte schon einen Fuß auf dem Gleitband, als sie plötzlich stehenblieb. »Das habe ich ja ganz vergessen! Ich wollte noch einen Stadtplan kaufen.« »Da werden Sie kein Glück haben.« »Ist das dein Ernst?« 10
»Es gibt nur einen einzigen. Deshalb brauchen Sie ja auch eine Führerin.« »Aber warum bringt man denn keinen heraus? Oder würde euch das arbeitslos machen?« Seht ihr, was ich meinte, als ich sagte, sie können einem auf die Nerven gehen? »Glauben Sie, unsere Arbeit sei eine Art Beschäftigungsprogramm? Arbeitskräfte sind hier so rar, daß man Affen anstellen würde, wenn man's könnte.« »Warum werden dann keine Stadtpläne gedruckt?« »Weil Luna City nicht so flach wie...« fast hätte ich »Städte von Erdenwürmern« gesagt, aber ich konnte mich noch verbessern, »...wie die Städte auf der Erde ist«, beendete ich den Satz. »Vom Weltraum aus haben Sie lediglich den Meteorschutzschild gesehen. Darunter breitet sich die Stadt aus und geht kilometertief in über zehn Druckzonen in den Mond hinein.« »Ja, das ist mir klar, aber warum nicht je eine Karte für jede Zone?« Erdenwürmer sagen prinzipiell: »Ja, das ist mir klar, aber...« »Ich kann Ihnen den Stadtplan zeigen. Es ist ein Stereobild von sechs Metern Höhe, und trotzdem kann man nur die großen Dinge wie die Halle des Bergkönigs, die Hydrokulturen und die Fledermausgrotte klar darauf erkennen.« »Die Fledermausgrotte«, wiederholte sie. »Dort fliegt ihr, oder?«
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»Ja, dort fliegen wir.« »Oh, das möchte ich sehen!« »OK, sollen wir gleich dahin fahren oder zuerst den Stadtplan besorgen?« Sie beschloß, zuerst in ihr Hotel zu gehen. Wenn man den normalen Weg zum Hotel Zürich nimmt, gleitet man zuerst nach oben und in Richtung Westen durch den GrayTunnel an der marsianischen Botschaft vorbei, geht dann beim Mormonentempel raus und durch die Druckschleuse zum Diana-Boulevard. Aber ich kenne alle Abkürzungen. Wir stiegen bei der Macy-Gimbel-Station aus, um den Hotelschacht zu benutzen. Ich dachte, es würde ihr Spaß machen. Doch als ich ihr sagte, sie solle sich an einem der an ihr vorbeigleitenden Handgriffe festhalten, schaute sie in den Schacht hinunter und wich entsetzt zurück. »Du machst wohl Witze?« Ich wollte sie gerade wieder auf den regulären Weg zurückbringen, da kam eine Nachbarin von uns durch den Schacht. »Hallo, Mrs. Greenberg«, sagte ich. »Grüß dich, Holly. Wie geht's?« Susie Greenberg ist wirklich mehr als nur pummelig. Mit der einen Hand hielt sie sich fest, auf dem anderen Arm hatte sie den kleinen David und in der anderen Hand den Luna-Kurier, in dem sie gemütlich las, während sie an uns vorbeifiel. Miss Brentwood machte große Augen, biß sich auf die Lippen und fragte: »Was muß ich machen?«
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»Halten Sie sich mit beiden Händen fest, ich nehme die Koffer«, antwortete ich. Ich band die Handgriffe mit meinem Taschentuch zusammen und ging voran. Als wir unten ankamen, zitterte sie. »Um Himmels willen, wie hältst du das bloß aus, Holly? Bekommst du kein Heimweh?« Touristenfrage Nummer Sechs... »Ich bin auf der Erde gewesen«, sagte ich und ließ das Thema fallen. Meine Mutter hatte mich vor zwei Jahren nach Omaha geschickt, um meine Tante zu besuchen; mir war jämmerlich zumute gewesen – mal heiß, mal kalt, immer dreckig – und ständig wurde ich von diesen Krabbeltierchen geplagt. Damals wog ich eine Tonne, mir tat alles weh, und meine Tante jagte mich fortwährend nach draußen, damit ich Bewegung bekäme; dabei wollte ich mich nur in eine Badewanne verkriechen und still zugrunde gehen. Außerdem hatte ich Heuschnupfen. Vielleicht habt ihr noch nie etwas von Heuschnupfen gehört – man stirbt zwar nicht daran, aber man sehnt sich danach. Ich hätte dort in ein Mädcheninternat gehen sollen, aber ich rief Daddy an und sagte ihm, wie verzweifelt ich war. Da ließ er mich heimkommen. Die Erdenwürmer verstehen einfach nicht, daß sie in der Steinzeit leben. Aber Erdenwürmer sind eben Erdenwürmer, und Lunies sind Lunies, und nie werden sie zusammenfinden! Wie alle besseren Hotels liegt das Hotel Zürich in Druckzone Eins auf der Westseite, damit man den Blick auf die Erde hat. Ich half Miss Brentwood mit der Anmeldung beim Robotportier und brachte sie auf ihr Zimmer, das ein eigenes Aussichtsfenster hatte. Sie ging 13
sofort darauf zu, starrte auf die Erde herunter und brach in Ah- und Oh-Rufe aus. Ich schaute ihr über die Schulter und sah, daß es kurz nach dreizehn Uhr war; die letzten Sonnenstrahlen fielen auf den Südzipfel Indiens – früh genug, um noch einen Kunden zu angeln. »Brauchen Sie mich noch, Miss Brentwood?« Statt zu antworten, sagte sie mit ehrfurchtsvoller Stimme: »Holly, ist das nicht der schönste Anblick, den du je gesehen hast?« »Ganz nett«, stimmte ich ihr zu. Wenn man einmal von der am Himmel stehenden Erde absieht, ist der Ausblick von hier eigentlich eintönig; aber die Touristen schauen immer nur auf die Erde, auch wenn sie sie gerade erst verlassen haben. Dennoch, die Erde ist schon schön. Das wechselnde Wetter ist interessant – wenn man es nicht mitmachen muß. Habt ihr jemals einen Sommer in Omaha durchgestanden? »Großartig«, flüsterte sie. »Sicher«, pflichtete ich ihr bei. »Möchten Sie noch irgendwo hingehen? Oder könnten Sie meine Karte abzeichnen?« »Was? Entschuldige bitte, ich habe geträumt. Nein, jetzt nicht – das heißt doch! Holly, ich möchte da hinausgehen. Ich muß einfach! Haben wir noch Zeit? Wie lange ist es noch hell?« »Wir haben noch zwei Tage bis Sonnenuntergang.« Sie sah verblüfft aus. »Wie merkwürdig. Kannst du uns Raumanzüge besorgen, Holly? Ich muß da einfach hinausgehen.« 14
Ich ließ mir nichts anmerken – ich bin Touristengeschwätz gewöhnt. Wahrscheinlich sieht ein Druckanzug für sie genauso wie ein Raumanzug aus. »Wir Mädchen haben für draußen keine Lizenz, aber ich kann einen Freund anrufen.« Jeff Hardesty ist mein Partner in unserem Konstruktionsbüro, deshalb lasse ich ihm immer die Aufträge zukommen, die ich nicht erledigen kann. Jeff ist achtzehn und bereits im Goddard Institut. Ich strenge mich sehr an, um auch bald so weit zu sein wie er, damit wir ein Büro für unsere Firma eröffnen können: ›Jones & Hardesty, Raumschiffingenieure‹. Ich bin sehr gut in Mathematik, was praktisch das wichtigste in der Raumtechnik ist. Ich werde wohl ziemlich schnell meinen Abschluß haben, und in der Zwischenzeit konstruieren wir ohnehin schon Raumschiffe. Das habe ich Miss Brentwood aber nicht erzählt, weil die Touristen immer glauben, daß ein Mädchen meines Alters unmöglich Raumschiffingenieurin sein kann. Jeff hat seine Vorlesungen so gelegt, daß er dienstags und donnerstags Führungen machen kann; er wartet dann an der Westschleuse und lernt zwischen den Führungen. Ich erreichte ihn über das Visiphon des Schleusenwärters. Jeff grinste und sagte: »Hallo, Klappergestell!« »Hallo, Fettwanst! Kannst du eine Führung machen?« »Eigentlich warte ich auf eine Familie, aber sie ist bis jetzt noch nicht gekommen.« »Sag ihnen ab. Miss Brentwood, kommen Sie bitte in Kameraweite, das ist Mr. Hardesty.«
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Jeff bekam große Augen, und ich fühlte mich unbehaglich. Aber es kam mir nicht in den Sinn, daß sich Jeff von einem Erdenwurm angezogen fühlen könnte – selbst wenn man einräumt, daß Männer in solchen Dingen Sklaven ihres Stoffwechsels sind. Natürlich war mir klar, daß sie außergewöhnlich attraktiv war, aber es war einfach undenkbar, daß Jeff von irgendeinem Erdenwurm bezaubert werden könnte, egal, wie wohl proportioniert er auch war. Sie sprechen einfach nicht unsere Sprache! Ich habe keine romantischen Gefühle für Jeff; wir sind einfach nur Partner. Doch alles, was Jones & Hardesty betrifft, betrifft auch mich. Als wir ihn an der Westschleuse trafen, trat er sich vor pubertärem Imponiergehabe fast auf die Zunge. Ich schämte mich für ihn und war – zum erstenmal – besorgt. Warum sind Männer nur so kindisch? Miss Brentwood schien sein Benehmen nichts auszumachen. Jeff ist ein richtiger Koloß, und mit dem Druckanzug sieht er wie ein Eisriese aus Rheingold aus. Sie lächelte zu ihm hinauf und bedankte sich, daß er für sie seinen Terminplan geändert hatte. Daraufhin machte er ein noch dümmeres Gesicht und sagte, es sei ihm ein Vergnügen. Ich bewahre meinen Druckanzug an der Westschleuse auf, so daß Jeff mich immer einladen kann, mitzukommen, wenn ich ihm einen Kunden bringe. Diesmal allerdings sprach er kaum mit mir, seit dieses platinblonde Biest in seiner Reichweite war. Ich half ihr beim Aussuchen eines Anzugs und begleitete sie in den Umkleideraum, um ihr beim Anziehen zu helfen. Diese Leihanzüge muß man 16
besonders gewissenhaft anziehen, sonst drücken sie an den empfindlichsten Stellen, wenn man im Vakuum ist – außerdem gibt es da gewisse Dinge, die man von Frau zu Frau besprechen sollte. Als ich mit ihr herauskam und meinen Anzug selbst nicht anhatte, fragte Jeff nicht einmal, warum ich mich nicht umgezogen hatte – er nahm einfach ihren Arm und ging auf die Schleuse zu. Ich mußte mich regelrecht zwischen die beiden drücken, um wenigstens meine Gebührenkarte abgezeichnet zu bekommen. Die folgenden Tage waren die längsten meines Lebens. Ich sah Jeff lediglich einmal – auf dem Gleitband in der Gegenrichtung am Diana Boulevard. Sie war bei ihm. Obwohl ich ihn nur einmal sah, wußte ich, was los war. Er ließ Vorlesungen ausfallen und führte sie in drei aufeinanderfolgenden Nächten in den Erdaussichtssaal des Hines-Hotels aus. Aber was ging mich das an! – Ich hoffe, sie hatte mehr Glück bei dem Versuch, ihm das Tanzen beizubringen, als ich. Jeff ist ein freier Mensch, und wenn er sich unbedingt lächerlich machen möchte, indem er die Schule vernachlässigt und sich wegen einem aufgetakelten Erdenwurm die Nächte um die Ohren schlägt, so war das seine Sache. Aber die Firma hätte er nicht vernachlässigen sollen! Jones & Hardesty war in einen gewaltigen Arbeitsrückstand geraten, da wir das Raumschiff Prometheus entwerfen sollten. Wir schufteten schon über ein Jahr an diesem Projekt und flogen extra nicht öfter als zweimal in der 17
Woche, um keine Zeit zu verlieren – und das ist kein geringes Opfer. Natürlich kann man heute noch kein Raumschiff bauen, das zu den Sternen fliegt, da das Antriebsproblem noch nicht gelöst ist. Aber Vati ist der Ansicht, daß es bald einen Durchbruch in der Raumtechnik geben wird und Antriebssysteme auf der Grundlage der Umwandlung von Materie in Energie gebaut werden können – was wirkliche Raumschiffe möglich machen würde. Vati muß es wissen – er ist Chefingenieur für Raumschiffahrt auf Luna und Dozent am Goddard Institut. Jeff und ich konstruieren ein autarkes Raumschiff mit Unterkünften, Notaggregaten, Operationssaal, Laboratorien – einfach allem. Vati glaubt, das sei lediglich eine Übung, aber Mutter ahnt etwas. Mutti ist mathematische Chemikerin bei General Synthetics of Luna und fast so schlau wie ich. Sie hat erkannt, daß Jones & Hardesty einen fertigen Plan in der Tasche haben möchte, wenn andere Konstrukteure noch im Dunkeln tappen. Das war der Grund, warum ich wütend auf Jeff war, der seine Zeit plötzlich mit dieser Kreatur verschwendete. Bisher hatten wir jede freie Minute zur Weiterarbeit genutzt. Jeff kam gewöhnlich nach dem Essen zu mir, wo wir zunächst unsere Hausaufgaben erledigten und dann an die wirkliche Arbeit gingen, die Prometheus... Wir kontrollierten die Berechnungen des anderen, debattierten heftig über jedes Detail und hatten großen Spaß dabei. Aber an dem Tag, an dem ich ihm Ariel Brentwood vorstellte, kam er nicht. Ich hatte meine Hausaufgaben beendet und fragte mich, ob ich noch auf ihn warten oder 18
ohne ihn anfangen sollte – wir nahmen gerade eine einschneidende Veränderung an der Abschirmung des Antriebs vor – als mich seine Mutter anrief. »Jeff hat mich gebeten, dich anzurufen, Holly. Er ißt mit einer Touristin zu Abend und kann heute nicht zu dir kommen.« Mrs. Hardesty beobachtete mich, also verstellte ich mich und sagte verwirrt: »Hat Jeff gedacht, ich würde ihn erwarten? Er muß seine Termine durcheinandergebracht haben.« Sie hat mir wahrscheinlich nicht geglaubt; sie stimmte mir so merkwürdig schnell zu. In dieser Woche mußte ich wohl oder übel einsehen, daß Jones & Hardesty im Auflösen begriffen war. Jeff ließ zwar keine Verabredung mehr platzen – wie kann man auch eine Verabredung platzen lassen, die man gar nicht getroffen hat? – aber sonst gingen wir donnerstagsnachmittags immer fliegen, wenn keiner von beiden eine Führung machen mußte. Er rief nicht an. Oh ja, ich wußte schon, wo er war; er ging mit ihr Eislaufen in Fingais Höhle. Ich blieb also zu Hause und arbeitete an der Prometheus; ich berechnete noch einmal die Masse und die Sicherheitsvorkehrungen für die Hydrokulturen und Lager auf der Grundlage der veränderten Abschirmung. Aber ich machte Fehler und mußte zweimal Logarithmen nachschlagen, anstatt sie auswendig zu wissen... Ich war so daran gewöhnt, mich mit Jeff über jede Kleinigkeit zu streiten, daß ich ohne ihn einfach nicht arbeiten konnte. Schließlich fiel mein Blick auf den Namenszug des von mir bearbeiteten Blattes. »Jones & Hardesty« stand da, wie auf allen anderen auch. »Holly Jones«, sagte ich zu mir, »hör' auf, dir etwas einzureden; dies kann das Ende sein. Du wußtest, 19
daß sich Jeff irgendwann einmal in jemanden verlieben würde.« »Natürlich – aber doch nicht in einen Erdenwurm.« »Aber es ist nun mal passiert. Was für eine Ingenieurin bist du, wenn du Fakten nicht anerkennst? Sie ist schön und reich; sie wird ihren Vater dazu bewegen, ihm einen Posten auf der Erde zu verschaffen. Verstehst du? Auf der Erde! Schau dich also nach einem anderen Partner um – oder mach das Geschäft allein.« Ich radierte »Jones & Hardesty« aus, schrieb »Jones & Company« und starrte auf den Schriftzug. Dann begann ich, auch das wieder auszuradieren – aber es verschmierte; eine Träne war daraufgefallen. Einfach lächerlich! Am folgenden Dienstag waren sowohl Vater als auch Mutter zum Mittagessen daheim. Das war ungewöhnlich, denn Vater ißt normalerweise im Raumhafen. Er schenkt einem sonst keine Beachtung, es sei denn, man wäre ein Raumschiff; aber ausgerechnet an diesem Tag mußte es ihm auffallen, daß ich mir nur Salat genommen und diesen noch nicht mal aufgegessen hatte. »Dieses Essen hat ungefähr achthundert Kalorien zu wenig«, sagte er und schaute den Salat an. »Ohne Treibstoff kann man nicht zünden – geht's dir nicht gut?« »Ganz gut, danke«, sagte ich mit Würde. »Mhm... Mir fällt auf, daß du schon seit einigen Tagen den Kopf hängen läßt. Vielleicht solltest du dich untersuchen lassen.« Er schaute Mutter an.
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»Ich brauche keine Untersuchung!« Ich hatte den Kopf nicht hängenlassen! Muß man denn als Frau immerzu plappern? Aber ich hasse es, wenn Ärzte an mir herumschnüffeln, deshalb fügte ich hinzu: »Ich esse wenig, weil ich zufälligerweise heute nachmittag fliegen gehe. Aber wenn du darauf bestehst, werde ich Schmorfleisch mit Kartoffeln bestellen und statt dessen schlafen!« »Immer mit der Ruhe, Kleines«, antwortete er sanft. »Ich wollte mich nicht einmischen. Iß eine Kleinigkeit nach dem Fliegen – und grüße Jeff von mir.« »Okay«, antwortete ich nur und bat, mich zu entschuldigen; es kränkte mich, daß sie annahmen, ich könne nicht ohne Mr. Jefferson Hardesty fliegen. Aber ich wollte nicht darüber diskutieren. »Komm nicht zu spät zum Abendessen«, rief Vati mir nach, worauf Mutter ihn tadelte: »Aber Jakob...« Zu mir gewandt fügte sie hinzu: »Flieg, bis du müde bist, Schatz; du hast in letzter Zeit nicht viel Bewegung gehabt. Ich werde dein Essen warm stellen. Möchtest du etwas Bestimmtes?« »Nein, ich esse dasselbe, was ihr eßt.« Das Essen war mir momentan ganz egal, was sonst gar nicht meine Art ist. Auf dem Weg zur Fledermausgrotte fragte ich mich, ob ich mir vielleicht etwas zugezogen hatte. Aber meine Backen fühlten sich nicht heiß an, und mein Magen war auch nicht verstimmt, obwohl ich keinen Hunger hatte. Plötzlich kam mir ein schrecklicher Gedanke. Könnte es sein, daß ich eifersüchtig war? Ich?
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Es war unvorstellbar. Ich bin überhaupt nicht romantisch veranlagt; ich bin eine Karrierefrau. Jeff war mein Partner und Freund, und unter meiner Führung hätte er ein großartiger Raumschiffkonstrukteur werden können, aber unser Verhältnis war rein sachlicher Natur – beiderseitiger Respekt vor den Fähigkeiten des anderen ohne irgendwelche albernen Gefühlsduseleien. Eine Karrierefrau kann sich so etwas nicht leisten. Man brauchte sich nur meine Mutter anzuschauen: wieviel wertvolle Zeit hatte sie meinetwegen verloren! Nein, Eifersucht konnte es nicht sein; ich war einfach verzweifelt, weil mein Partner sich mit einem Erdenwurm eingelassen hatte. Jeff ist nicht gerade erfahren, was Frauen anbelangt, und außerdem war er noch nie auf der Erde und machte sich Illusionen. Jones & Hardesty war erledigt, wenn sie ihn auf die Erde lockte. »Jones and Company« würde letztendlich doch kein Ersatz sein; die Prometheus würde nun wahrscheinlich nie gebaut werden. Ich hatte die Fledermausgrotte erreicht, als ich zu dieser bedrückenden Erkenntnis gekommen war. Mir war nicht nach Fliegen zumute, aber ich ging trotzdem zu den Schließfächern und holte mir meine Flügel. Die meisten Beschreibungen, die es über die Fledermaushöhle gibt, vermitteln einen falschen Eindruck. Sie ist ein großer Reserve-Luftbehälter, wie ihn jede Kolonie hat; die Fledermaushöhle ist der Ort, wo die tief unten von Pumpen gereinigte Luft aufbewahrt wird, bis sie gebraucht wird. Wir haben einfach das Glück, daß unser Vorratsraum groß genug ist, um darin fliegen zu können. Aber extra 22
gebaut oder so wurde er nie; es handelt sich lediglich um eine große vulkanische Blase mit einem Durchmesser von mehr als drei Kilometern; wäre sie damals bis zur Oberfläche gestiegen und geplatzt, wäre sie heute ein Krater. Manchmal bemitleiden die Touristen uns Lunies, weil wir keine Möglichkeit zum Schwimmen haben. Also ich habe das in Omaha mal probiert; ich bekam Wasser in die Nase und erschrak fürchterlich. Meiner Meinung nach ist Wasser zum Trinken da und nicht, um darin zu spielen. Ich bevorzuge auf jeden Fall das Fliegen. Ich habe Erdenwürmer sagen hören, oh ja, sie wären schon oft geflogen. Aber das, was die unter Fliegen verstehen, ist nicht das wirkliche Fliegen. Ich habe es zwischen White Sands und Omaha erlebt. Ich fühlte mich ganz elend und mir wurde schlecht. Diese sogenannten Flugzeuge sind wirklich nicht sicher. Ich ließ Schuhe und Rock im Schließfach zurück, zog mir die Schwanzfläche über die Füße, legte meine Flügel an und bat jemanden, mir die Schultergurte festzuziehen. Ich habe keine Kondorflügel von der Stange, sondern maßgefertigte Möwenflügel, speziell auf mein Gewicht und meine Größe zugeschnitten. Ich habe Vati eine hübsche Stange Geld gekostet, weil ich immer so schnell aus meinen Flügeln herausgewachsen bin, aber dieses Paar habe ich mir von meinem eigenen Verdienst aus den Führungen gekauft. Sie sind einfach toll! Die Streben sind aus einer Titanlegierung, so leicht und stabil wie die Knochen eines Vogels; sie haben elastische Hand- und Schultergelenke, 23
optimale Bewegungsfreiheit und automatischen Flügelschlag beim Durchsacken. Die Flügel sind mit Federfolie überzogen, ausgestattet mit Einzelkielung der Schulterund Schwungfedern. Sie fliegen sich fast von selbst. Ich faltete meine Flügel zusammen und betrat die Schleuse. Während sie arbeitete, entfaltete ich meinen linken Flügel und probierte die Handschwingen aus. Beim letztenmal hatte ich eine einseitige Neigung festgestellt, aber die Handschwingen öffneten sich normal, und ich entschied, daß ich wohl übersteuert haben mußte. Das kann bei Möwenflügeln leicht passieren, denn sie sind äußerst wendig. Jetzt leuchtete grünes Licht über der Tür, ich faltete den Flügel wieder zusammen und stürzte mich mit einem Blick auf das Barometer nach draußen. Siebzehn Pfund – zwei Pfund mehr als auf Meeresspiegelhöhe der Erde und fast doppelt so viel wie in den Städten auf Luna; da könnte selbst ein Strauß noch fliegen. Ich richtete mich auf und bemitleidete alle Erdenwürmer – gefesselt vom sechsfachen der natürlichen Schwerkraft konnten sie nie, niemals fliegen. Aber ich könnte es natürlich auch nicht, auf der Erde. Die Belastung meiner Flügel beträgt weniger als fünf Kilo pro Quadratmeter, denn mit Flügeln wiege ich insgesamt weniger als zehn Kilo. Auf der Erde wären das mehr als fünfzig Kilo; da könnte ich ewig flattern und doch nicht vom Boden wegkommen. Ich fühlte mich so gut, daß ich Jeff und seine Schwäche völlig vergaß. Ich breitete meine Flügel aus, rannte ein paar Schritte, flatterte, um Auftrieb unter die Flügel zu bekommen, griff in die Luft, hob meine Füße – und flog. 24
Ich ruderte leicht und glitt zu dem Lufteinlaß in der Mitte des Bodens; wir nennen ihn die Babyleiter, denn hier konnte man siebenhundert Meter bis unter die Decke vom Aufwind getragen werden, ohne auch nur einen Flügelschlag zu tun. Als ich den Auftrieb spürte, legte ich mich auf die rechte Seite, machte einen Fehler mit der rechten Handschwinge, korrigierte, begann einen Segelflug gegen den Uhrzeigersinn und ließ mich der Höhlendecke entgegentragen. Nach ungefähr einhundert Metern schaute ich mich um. Die Höhle war fast leer. Es waren nicht mehr als zweihundert Flieger in der Luft und etwa einhundert auf dem Boden oder an der Wand – Platz genug für ein paar Kunststückchen. Als ich eine Höhe von etwa einhundertfünfzig Metern erreicht hatte, flog ich aus dem Aufwind heraus und fing an, mit den Flügeln zu schlagen. Während das Gleiten überhaupt keinen Kraftaufwand erfordert, muß man sich beim richtigen Fliegen schon ganz schön anstrengen. Beim Gleiten trage ich an jedem Arm nur fünf Kilo – auf der Erde im Bett zu liegen ist anstrengender! Der Auftrieb, der einen in der Luft hält, verlangt keinerlei Arbeit, solange Luft unter den Flügeln durchstreicht. Selbst ohne Auftrieb muß man bei einem Gleitflug, bei dem man nicht an Höhe verlieren will, lediglich etwas mit den Fingerspitzen rudern; sogar eine zittrige, alte Oma brächte das noch zustande. Der Auftrieb entsteht durch verschiedene Luftdruckstufen, aber das müßt ihr nicht verstehen; man rudert einfach ein wenig, und die Luft trägt einen, als ob man in einem herrlich bequemen Bett läge. 25
Das Rudern treibt einen voran, genau wie beim Rudern in einem Boot – zumindest hat man mir das erzählt; ich selbst war noch nie in einem Ruderboot. In Nebraska hatte ich zwar Gelegenheit dazu, aber ich war nicht so verwegen, in so etwas einzusteigen. Beim richtigen Fliegen rudert man sowohl mit den Unterarmen als auch mit den Händen, unterstützt von der Schultermuskulatur. Im Gegensatz zum Gleiten werden hier nicht nur die Federn der Handschwingen verstellt, sondern die Federn der Hand- und Armschwingen gehen bei jedem Auf- und Niederschlag ruckartig bis zum Gelenk zurück; sie tragen nicht länger, sondern treiben einen vorwärts. Das Gewicht wird dabei von dem Rückenfittich unter den Achselhöhlen getragen. Man fliegt also schnell oder steigt, oder auch beides gleichzeitig, wobei der Steigungswinkel von den Füßen bestimmt wird, nämlich von den Steuerfedern am Schwanz, den man an den Füßen trägt. Ja, ich weiß, das hört sich ganz schön kompliziert an, aber das ist es gar nicht. Man macht es einfach. Man fliegt genauso wie ein Vogel. Vogeljunge können es lernen, und die sind bestimmt nicht sehr gescheit. Auf alle Fälle ist es genauso leicht wie das Atmen, wenn man es erst einmal gelernt hat – und es macht mehr Spaß als man sich vorstellen kann! Mit kraftvollen Schlägen schwang ich mich zur Decke empor, vergrößerte meinen Steigungswinkel und spreizte meine Eckflügel, um mehr Auftrieb zu bekommen; die meisten Flieger würden bei solch einem Winkel durchsacken. Ich bin zwar klein, aber ganz schön kräftig, und 26
außerdem fliege ich seit meinem sechsten Lebensjahr. Als ich oben angelangt war, ging ich zum Gleitflug über und schaute mich um. Unten am Boden nahe der Südwand probierten einige Touristen Gleitflügel aus – wenn man diese Dinger überhaupt ›Flügel‹ nennen konnte. An der Westwand war die Besuchergalerie voll von glotzenden Touristen. Ich fragte mich, ob Jeff und seine CirceImitation auch da waren; ich beschloß, hinunterzugehen und nachzusehen. Ich stieß also im Sturzflug zur Galerie hinab, fing mich ab und flog dann sehr schnell an ihr entlang. Ich konnte Jeff und sein Erdenwurm-Frauchen nicht entdecken. Ich achtete nicht darauf, wohin ich flog und plötzlich tauchte ein anderer Flieger vor mir auf; ich stieß fast mit ihm zusammen. Ich konnte mich gerade noch durchsacken lassen und fiel zwanzig Meter in die Tiefe, bevor ich mich wieder unter Kontrolle hatte. Keiner von uns beiden war ernsthaft gefährdet, da die Galerie über fünfzig Meter hoch ist, aber ich schaute ziemlich dumm aus der Wäsche, und es war mein eigener Fehler; ich hatte eine Sicherheitsregel mißachtet. Es gibt nur wenige Regeln, doch sie sind notwendig; die erste Regel ist, daß rote Flügel immer Vorfahrt haben – Rot ist nämlich die Farbe der Anfänger. Dieser Flieger hatte zwar keine roten Flügel, aber ich wollte ihn überholen. Der Flieger unter einem, der, der überholt wird, derjenige, der näher an der Wand ist oder der, der gegen den Uhrzeigersinn fliegt, in dieser Reihenfolge, hat Vorfahrt. Ich kam mir lächerlich vor und fragte mich, wer mich beobachtet hatte. Ich stieg den ganzen Weg wieder hinauf, 27
vergewisserte mich, daß ich freie Bahn hatte, schoß dann wie ein Falke zur Galerie hinunter, flatterte mit den Flügeln, reckte den Schwanz hoch und ließ mich schließlich wie ein Stein fallen. Ich beendete meinen Sturzflug vor der Galerie, senkte meine Schwanzfedern und spreizte sie so energisch, daß ich fühlte, wie sich meine Beinmuskeln verkrampften, dann griff ich mit meinen Flügeln in die Luft, die Eckschwingen gespreizt. Mit einem äußerst schnellen Gleitflug hielt ich mich auf der Höhe der Galerie. Ich konnte ihre weitaufgerissenen Augen sehen und dachte selbstzufrieden: »So! Jetzt hab' ich's ihnen aber gezeigt!« Gerade in diesem Augenblick stieß jetzt jedoch jemand auf mich nieder! Der Windstoß des bremsenden Fliegers direkt über mir ließ mich fast die Kontrolle verlieren. Ich griff in die Luft, fing so eine Trudelbewegung auf, stieß einige unanständige Worte aus und schaute mich um, um zu sehen, wer mich da angegriffen hatte. Ich erkannte das schwarzgoldene Muster der Flügel – Mary Muhlenburg, meine beste Freundin. Sie drehte sich um ihre Flügelspitze zu mir herum. »Hallo, Holly! Ich hab' dich ganz schön erschreckt, was?« »Quatsch! Sei du lieber vorsichtig, sonst verpaßt dir der Flugmeister einen Monat Flugverbot.« »Wohl kaum. Der sitzt unten und trinkt Kaffee.« Ich flog weg, immer noch verärgert, und begann wieder zu steigen. Mary rief mir hinterher, aber ich überhörte es und dachte mir: ›Mary, meine Hübsche, jetzt werde ich dich mal von oben aus der Luft angreifen.‹
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Es war ein lächerlicher Gedanke, denn Mary fliegt täglich und hat Schultermuskeln und einen Brustkorb wie Frau Herkules persönlich. Als sie mich eingeholt hatte, war meine Wut verraucht, und wir flogen Seite an Seite, während wir weiter stiegen. »Setzen wir uns?« rief sie. »Ja, ok«, willigte ich ein. Mary hatte immer herrliche Klatschgeschichten auf Lager, und ich konnte eine Verschnaufpause gut gebrauchen. Wir flogen zu unserem Stammplatz, einer Deckenstütze für Flutlichtlampen; es war eigentlich kein richtiger Sitzplatz, aber der Flugmeister kam selten hier herauf. Mary flog voran, bremste, ließ sich durchsacken und machte eine perfekte Landung. Ich schwankte ein wenig, aber Mary streckte einen Flügel aus und hielt mich fest. Es ist nicht leicht, in eine solche Nische hineinzufliegen, besonders, wenn man auf gleicher Höhe anfliegen muß. Vor zwei Jahren hatte es ein Junge versucht, der gerade erst seine roten Flügel abgelegt hatte; er brach sich seine linken Eckflügel und Handschwingen und stürzte flatternd und sich drehend über fünfhundert Meter tief zu Boden. Er hätte sich retten können; man kann auch mit einem schwer beschädigten Flügel sicher landen, indem man die Luft durch den anderen hindurchläßt, dem steileren Gleitflug keinen Widerstand entgegensetzt und beim Landen durchsackt. Aber der arme Junge wußte das nicht; er brach sich das Genick und war tot wie Ikarus. Ich habe diesen Sitzplatz seitdem nie mehr benutzt.
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Wir falteten unsere Flügel zusammen, und Mary rückte näher zu mir heran. »Jeff sucht dich«, sagte sie mit einem listigen Grinsen. Innerlich zuckte ich zusammen, aber ich antwortete gefaßt. »So? Ich wußte nicht, daß er hier ist.« »Klar. Da unten«, sagte sie und deutete mit einem Flügel nach unten. »Siehst du ihn?« Jeff trägt schon orange und silber gestreifte Flügel, aber sie zeigte auf die Gleitstrecke für Touristen, mehr als einen Kilometer entfernt. »Nein.« »Da ist er aber.« Sie schaute mich von der Seite an. »Ich würde an deiner Stelle aber nicht zu ihm gehen.« »Warum nicht? Oder vielmehr: Weswegen sollte ich überhaupt?« Mary kann einen wirklich auf die Palme bringen. »Wie bitte? Du rennst doch sonst auch immer wie ein Hündchen zu ihm, wenn er pfeift. Jedenfalls hat er heute wieder diese Sirene von der Erde im Schlepptau. Vielleicht wäre es dir peinlich.« »Mary, wovon sprichst du eigentlich?« »Na, halt mich nicht für ganz blöde, Holly Jones. Du weißt genau, was ich meine.« »Das weiß ich nicht«, antwortete ich mit abweisender Würde. »Tatsächlich? Dann bist du der einzige Mensch in Luna City, der es nicht weiß. Jeder weiß, daß du in Jeff vernarrt bist, und die Spatzen pfeifen es von den Dächern, daß sie
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ihn dir ausgespannt hat – und daß du vor Eifersucht schon kochst.« Mary ist meine beste Freundin, aber eines Tages mache ich noch mal einen Bettvorleger aus ihr. »Mary, das ist lächerlich im Quadrat! Wie kannst du sowas auch nur im entferntesten denken?« »Du brauchst mir nichts vorzumachen, Schatz. Ich bin ja auf deiner Seite.« Sie tätschelte meine Schulter mit ihrer Armschwinge. Ich schubste sie zurück. Sie fiel dreißig Meter hinunter, fing sich ab, kreiste ein wenig und stieg wieder hinauf. Immer noch grinsend setzte sie sich neben mich. Aber ich hatte mir in der Zwischenzeit überlegen können, was ich sagen wollte. »Mary Muhlenburg, erstens bin ich in niemanden vernarrt, am allerwenigsten in Jeff Hardesty. Wir sind nur Freunde. Es ist also völlig unsinnig zu behaupten, ich wäre eifersüchtige Zweitens ist Miss Brentwood eine Dame und ›spannt niemanden jemand aus‹, am allerwenigsten mir. Und drittens ist sie eine Touristin, die Jeff führt – also eine reine Geschäftsangelegenheit, weiter nichts.« »Natürlich, natürlich«, stimmte Mary gelassen zu. »Ich habe mich wohl geirrt. Aber dennoch...« Sie zuckte mit den Flügeln und verstummte. »Aber was? Mary, laß dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.« »Hmm... Ich habe mich gerade gefragt, woher du wußtest, daß ich über Ariel Brentwood sprach, wo es doch eine reine Geschäftsangelegenheit ist.« 31
»Nun, du hast ihren Namen doch erwähnt.« »Hab' ich nicht.« Ich überlegte krampfhaft. »Na, vielleicht auch nicht. Aber es ist ganz einfach. Miss Brentwood ist eine Kundin, die ich selbst an Jeff weitergeleitet habe. Deshalb nahm ich an, daß sie diejenige ist, von der du sprachst.« »So? Ich erinnere mich nicht einmal, gesagt zu haben, daß sie eine Touristin sei. Aber wenn sie eine Touristin ist, die ihr zwei euch teilt, warum machst du dann nicht die Führung in der Stadt, und Jeff hält sich an die Arbeit außerhalb? Ich dachte, ihr Führer hättet da ein Abkommen?« »Oh? Wenn er sie innerhalb der Stadt geführt hat, so wußte ich nichts davon ...« »Du bist die einzige, die es nicht weiß.« »Und es interessiert mich auch nicht. Das ist Sache der Schiedsstelle. Aber Jeff würde sowieso keinen Lohn annehmen für eine Führung in der Stadt.« »Freilich – zumindest keinen, den er auf die Bank tragen könnte. Aber Holly, wenn ich mich schon geirrt habe, warum hilfst du ihm dann nicht mit ihr? Sie will lernen, wie man gleitet.« Mich diesem Pärchen aufzudrängen, war so ziemlich das letzte, was ich wollte. »Wenn Mr. Hardesty meine Hilfe benötigt, wird er mich schon darum bitten. Bis dahin werde ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern – was ich dir auch empfehle!« »Immer mit der Ruhe, Schwesterchen«, sagte sie unerschüttert. »Ich wollte dir nur einen Gefallen tun.« 32
»Herzlichen Dank, ich brauche keinen!« »Gut, dann geh' ich jetzt – ich muß noch für das Turnfest trainieren.« Sie beugte sich vor und sprang. Aber sie übte keineswegs Kunststücke, sondern segelte genau auf die Touristenstrecke zu. Ich schaute ihr nach, bis sie aus meinem Blickfeld verschwunden war; dann zog ich meine linke Hand aus der Schlaufe und holte mein Taschentuch heraus – unangenehm, wenn man Flügel trägt, aber das Flutlicht hatte mir Wasser in die Augen getrieben. Ich wischte es ab, schneuzte mich, steckte das Taschentuch wieder weg und zog die Schlaufe an. Ich kontrollierte alles, Daumen, Zehen und Finger, um mich für den Start fertigzumachen. Aber ich startete nicht. Ich saß einfach nur da, ließ die Flügel hängen und überlegte. Ich mußte zugeben, daß Mary teilweise recht hatte; Jeff war völlig von Sinnen – wegen einem Erden wurm. Er würde also früher oder später auf die Erde gehen, und Jones & Hardesty war erledigt. Dann rief ich mir ins Gedächtnis, daß ich schon lange bevor ich mich mit Jeff zusammengetan hatte, vorgehabt hatte, wie Vati Raumschiffkonstrukteur zu werden. Ich brauchte niemanden; ich würde auch allein fertig werden, wie die Jungfrau von Orleans oder Lise Meitner. Ich fühlte mich besser... ein kalter, strenger Stolz stieg in mir auf, und ich fühlte mich wie Luzifer in »Das verlorene Paradies«. Ich erkannte das orangesilberne Muster von Jeffs Flügeln schon von weitem und überlegte, ob ich mich still verdrücken sollte. Aber Jeff konnte mich ja einholen, wenn
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er wollte, und so sagte ich mir: »Holly, sei kein Dummkopf! Du hast keinen Grund wegzurennen – sei einfach zurückhaltend höflich.« Er landete neben mir, rückte jedoch nicht an mich heran. »Na, du Dezimalstelle?« »Na, du Null. Viel geklaut in letzter Zeit?« »Nur in der Bank, aber sie wollten alles wiederhaben.« Er runzelte die Stirn und fügte hinzu: »Holly, bist du mir böse?« »Wer hat dich denn auf diesen blödsinnigen Gedanken gebracht, Jeff?« »Mary Schnattermaul hat was in der Richtung gesagt.« »Die? Hör nicht auf das, was die sagt. Die Hälfte ist falsch, und den Rest meint sie nicht so.« »Ja, sie hat einen Kurzschluß zwischen den Ohren. Dann bist du also nicht wütend?« »Natürlich nicht. Warum sollte ich?« »Ich weiß auch nicht, warum. Ich war seit einigen Tagen nicht mehr bei dir, um an dem Schiff weiterzuarbeiten ... aber ich war furchtbar beschäftigt.« »Mach dir keine Gedanken deswegen. Ich war selbst sehr beschäftigt.« »Na, dann ist es ja gut. Hör mal, Kolbenprober, tu mir mal einen Gefällen. Könntest du mir mal mit einer Freundin – einer Klientin, will ich sagen, aber sie ist auch eine Freundin, helfen? Sie möchte lernen, mit den Gleitflügeln umzugehen.«
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Ich tat so, als würde ich es mir überlegen. »Kenne ich sie?« »Oh, ja. Du hast uns sogar vorgestellt. Ariel Brentwood.« »Brentwood? Jeff, es gibt so viele Touristen. Laß mich mal nachdenken. Groß? Blond? Ziemlich hübsch?« Er grinste wie ein Honigkuchenpferd, und ich hätte ihn am liebsten runtergeschmissen. »Genau, das ist Ariel.« »Ich erinnere mich an sie ... Sie erwartete, daß ich ihre Taschen trug. Aber da brauchst du keine Hilfe, Jeff. Sie schien recht intelligent zu sein. Guter Gleichgewichtssinn.« »Ja, natürlich, den hat sie. Also, die Sache ist die, ich möchte, daß ihr beide euch kennenlernt. Sie ist... also, sie ist einfach wundervoll, Holly. Eine richtige Persönlichkeit, durch und durch. Du wirst sie mögen, wenn du sie besser kennst. Es wäre eine gute Gelegenheit – jetzt.« Mir wurde schwindlig. »Das ist wirklich sehr aufmerksam von dir, Jeff, aber ich bezweifle, daß sie mich besser kennenlernen will. Ich bin doch nur ein Dienstbote, den sie gemietet hat – du kennst doch die Erdenwürmer.« »Aber sie ist überhaupt nicht wie die gewöhnlichen Erdenwürmer. Und sie will dich besser kennenlernen – sie hat es mir gesagt!« »Nachdem du es ihr eingeredet hast!« murmelte ich. Aber ich hatte mich in eine Sackgasse geredet. Hätte mich meine gute Erziehung nicht daran gehindert, hätte ich gesagt: »Hau ab, du Vakuumschädel! Ich interessiere mich nicht für deine Erdenwürmer-Freundinnen ...« Aber in
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Wirklichkeit sagte ich: »In Ordnung, Jeff«, und ich drückte mir die Natter an die Brust und ging in einen Gleitflug. Also brachte ich Ariel Brentwood das »Fliegen« bei. Diese sogenannten Flügel, die sie den Touristen geben, haben eine Fläche von über vier Quadratmetern, keine Steuerungsmöglichkeit außer ausfahrbaren Handschwingen, eine V-Stellung der Flügel, um sie so stabil wie einen Tisch mit vier Beinen zu machen, und einige bedeutungslose Scharniere, um dem Benutzer die Illusion zu verleihen, daß er durch das Wedeln der Arme »fliege«. Der Schwanz ist unbeweglich und abgeschrägt, so daß man, selbst wenn man durchsackt, noch auf den Füßen landet, was eigentlich unmöglich ist. Der Tourist rennt lediglich ein paar Schritte, zieht die Beine hoch, was sich nicht vermeiden läßt, und gleitet auf einem Luftpolster ein Stückchen durch die Luft. Dann kann er seinen Enkeln erzählen, daß er geflogen ist, wirklich geflogen ist, ›genau wie ein Vogel‹. Auf diese Art und Weise könnte ebensogut ein Affe fliegen lernen. Ich ließ mich so weit erniedrigen, mir selbst diese albernen Dinger anzulegen. Ich schwang mich in die BabyLeiter und ließ mich ungefähr dreißig Meter hinauftragen, um Ariel zu zeigen, daß man wirklich und wahrhaftig damit fliegen konnte. Dann wurde ich die Dinger Gott sei Dank wieder los und legte ihr ein größeres Paar an. Ich selbst nahm wieder meine herrlichen Möwenflügel. Ich hatte Jeff weggeschickt (zwei Lehrer – einer zuviel), aber als er Ariel die Flügel anlegen sah, stieß er herab und landete bei uns. Ich schaute hoch. »Schon wieder du.«
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»Hallo, Ariel. Hallo, Pfennig. Sag mal, du hast ihre Schultergurte aber zu stramm gezogen.« »Ach was«, sagte ich. »Bitte immer nur ein Lehrer, ja? Wenn du helfen willst, vertausche diese geschmacklosen Wedel mit einem Paar Gleitflügel – dann kann ich dich als Beispiel verwenden, wie man es nicht machen soll. Wenn du das nicht willst, steig über fünfzig Meter und bleib da; Stammtischpiloten brauchen wir nicht.« Jeff zog eine Schnute wie ein kleines Kind, aber Ariel gab mir Rückendeckung. »Mach, was die Lehrerin sagt, Jeff, sei ein guter Junge.« Gleitflügel wollte er nicht anziehen, aber weggehen wollte er auch nicht. Er flog um uns herum, schaute uns zu und bekam schließlich einen Verweis vom Flugmeister wegen Behinderung in der Touristenzone. Ich gebe zu, daß Ariel eine gute Schülerin war. Sie wurde nicht einmal böse, als ich andeutete, daß sie um die Hüften etwas zu stark sei, um eine gute Balance haben zu können; sie sagte darauf nur, daß sie bemerkt hätte, daß ich hier das schlankeste Hinterteil hätte und daß sie mich darum beneidete. Ich hörte auf, sie zu piesacken, und ich entdeckte, daß ich sie beinahe sympathisch fand, solange ich mich auf das Lehren konzentrierte. Sie strengte sich sehr an und begriff schnell; sie hatte gute Reflexe und – entgegen meiner Behauptung – eine gute Balance. Ich sagte es ihr, und sie gab schüchtern zu, daß sie Ballettunterricht gehabt hatte. Um die Mitte des Nachmittags fragte sie: »Ob ich wohl richtige Flügel haben könnte?«
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»Was? Hm, Ariel, besser nicht.« »Warum nicht?« Da hatte sie mich ja schön erwischt. Sie hatte schon alles getan, was man mit diesen gräßlichen Gleitflügeln tun konnte. Wenn sie mehr lernen wollte, mußte sie richtige Flügel haben. »Ariel, das ist gefährlich. Es hat nichts mit dem zu tun, was du bisher gemacht hast, glaub' mir. Du könntest dich verletzen, vielleicht sogar tödlich verunglücken.« »Wärst du dafür verantwortlich?« »Nein, du hast eine Verzichtserklärung unterschrieben.« »Dann würde ich es gern versuchen.« Ich biß mir auf die Lippen. Hätte sie ohne meine Hilfe eine Bruchlandung gebaut, hätte ich keine Träne darüber vergossen – aber sie als meine Schülerin etwas tun zu lassen, was zu gefährlich war... das hatte einen unangenehmen Beigeschmack. »Ariel, ich kann dich nicht davon abhalten, aber dann möchte ich meine Flügel ausziehen und nichts damit zu tun haben.« Jetzt war sie an der Reihe, sich auf die Lippe zu beißen. »Wenn du so darüber denkst, kann ich dich nicht bitten, mir dabei zu helfen. Ich möchte es aber trotzdem. Vielleicht wird Jeff mir helfen.« »Das wird er vielleicht«, platzte ich heraus, »wenn er tatsächlich ein so großer Dummkopf ist, wie ich dachte!« Ihr kameradschaftlicher Gesichtsausdruck verschwand, aber sie sagte nichts, weil Jeff gerade in diesem Moment neben uns landete.
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»Worum geht's denn?« Wir versuchten beide, ihm die Situation zu erklären, verwirrten ihn jedoch nur, so daß er den Eindruck bekam, es wäre mein Vorschlag gewesen, und er fing an, mich anzuschreien. Ob ich denn verrückt sei? Ob ich versuchen würde, Ariel zu verletzen? Ob ich denn ganz von Sinnen sei? »Halt's Maul!« schrie ich und fügte leise, aber bestimmt hinzu: »Jefferson Hardesty, du wolltest, daß ich deine Freundin unterrichte, und ich habe zugestimmt. Jetzt dräng' dich gefälligst nicht dazwischen und glaube ja nicht, daß du in so einem Ton mit mir sprechen kannst. Und jetzt verschwinde. Hau ab. Verflatter dich!« Er plusterte sich auf und sagte langsam: »Ich verbiete es!« Für fünf endlose Sekunden war Stille. »Komm Holly«, sagte Ariel schließlich ruhig. »Holen wir ein Paar Flügel.« »In Ordnung, Ariel.« Aber echte Flügel kann man nicht leihen. Die Flieger haben ihre eigenen, das ist Vorschrift. Gebrauchte Flügel kann man allerdings bekommen, da Kinder aus ihren Flügeln herauswachsen, andere zu maßgefertigten Flügeln überwechseln oder sonst was. Ich entdeckte Mr. Schultz, der die Schlüssel aufbewahrt, und erzählte ihm, daß Ariel Flügel kaufen wollte; daß ich aber auf einem Probeflug bestehen würde. Nachdem wir über vierzig Paare angeschaut hatten, erspähte ich schließlich eines, aus dem Johnny Queveras herausgewachsen war. Ich wußte, es war in Ordnung. Trotzdem untersuchte ich die Flügel sorg-
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fältigst. Ich konnte die Fingerkontrollen kaum erreichen, aber Ariel paßten sie. Während ich ihr half, die Schwanzflächen anzuziehen, sagte ich: »Ariel? Das ist aber trotzdem eine Schnapsidee.« »Ich weiß. Aber wir dürfen die Männer nicht in dem Glauben lassen, daß sie uns besitzen.« »Da hast du wohl recht.« »Natürlich besitzen sie uns. Aber das sollten wir sie nicht wissen lassen.« Sie machte sich mit den Schwanzkontrollen vertraut. »Mit den großen Zehen werden sie gespreizt?« »Ja, aber mach das nicht. Halte deine Füße einfach zusammen und die Zehen ruhig. Weißt du, Ariel, du hast wirklich noch nicht genügend Übung. Du wirst heute nur gleiten; du machst genau das, was du bisher auch getan hast. Versprichst du mir das?« Sie blickte mir in die Augen. »Ich werde genau das tun, was du sagst. Ich werde auch keine echten Flügel benutzen, wenn du damit nicht einverstanden bist.« »Ich bin einverstanden. Bist du startklar?« »Ja, ich bin so weit.« »OK. Hoppla, das hab' ich ja total vergessen. Sie sind nicht rot.« »Spielt das eine Rolle?« »Oh ja.« Es folgte eine ermüdende Diskussion, denn Mr. Schultz wollte die Flügel für einen Probeflug nicht extra mit roter Farbe übersprühen. Ariel beendete den Streit, indem sie die Flügel kurzerhand kaufte, aber wir mußten
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trotzdem noch ein Weilchen warten, um die Farbe trocknen zu lassen. Schließlich gingen wir in die Touristenzone zurück, wo ich sie gleiten ließ und ihr einprägte, immer beide Eckflügel mit dem Daumen zu spreizen, um bei der geringen Geschwindigkeit mehr Auftrieb zu bekommen, und nur ganz leicht mit den Händen zu rudern. Sie machte ihre Sache gut und stolperte nur einmal bei der Landung. Jeff trieb sich inzwischen die ganze Zeit in der Nähe herum und flog Achten über uns, aber wir beachteten ihn nicht. Bald brachte ich ihr bei, in einer weiten, gleichmäßigen Kurve zu wenden; man kann auch mit diesen fürchterlichen Gleitflügeln wenden, aber das erfordert Geschick, denn sie sind nur für den geraden Gleitflug gedacht. Schließlich landete ich neben ihr und fragte: »Hast du genug?« »Davon werde ich nie genug haben! Aber ich höre auf, wenn du möchtest.« »Bist du müde?« »Nein.« Sie blickte über ihren Flügel zur Baby-Leiter hinüber; ein Dutzend Flieger ließen sich mit ausgebreiteten Flügeln faul hinauf gleiten. »Ich wünschte, ich könnte das nur einmal versuchen. Es muß himmlisch sein.« Ich überlegte. »Eigentlich bist du um so sicherer, je höher du bist.« »Warum also nicht?« »Hmm – sicherer, vorausgesetzt, du weißt, was du tust. Um mit dem Aufwind hinaufzusteigen, mußt du einfach gleiten, wie du es bereits getan hast. Du bewegst dich nicht 41
und läßt dich einfach siebenhundert Meter nach oben tragen. Dann kommst du auf die gleiche Art und Weise wieder hinunter, immer langsam an der Wand kreisend. Aber du bekommst bestimmt Lust, etwas zu tun, was du bisher noch nicht getan hast – mit den Flügeln zu schlagen oder irgendwelche Kunststückchen zu machen.« Sie schüttelte ernsthaft ihren Kopf. »Ich werde nichts machen, was du mir nicht beigebracht hast.« Ich war immer noch besorgt. »Es ist zwar nur siebenhundert Meter hoch, aber du legst im Endeffekt einen Weg von acht Kilometern zurück, und beim Hinuntersegeln ist es sogar noch mehr. Das dauert also mindestens eine halbe Stunde. Halten deine Arme das aus?« »Da bin ich mir sicher.« »Nun gut, du kannst ja auch jederzeit ausscheren und wieder nach unten segeln. Du mußt ja nicht ganz hinauf. Entspanne unterwegs hin und wieder deine Arme, damit sie sich nicht verkrampfen. Du darfst nur nicht mit den Flügeln schlagen.« »Das werde ich nicht tun.« »Also gut.« Ich breitete meine Flügel aus. »Folge mir.« Ich führte sie in den Aufwind, legte mich leicht nach rechts und links und begann den Aufstieg gegen den Uhrzeigersinn. Ich ruderte sehr langsam, damit sie mir folgen konnte. Als wir richtig im Aufwind waren, scherte ich aus und rief ihr zu: »Bleib so!« Ich stieg etwas höher und bezog meinen Posten zehn Meter über bzw. hinter ihr. »Ariel?« »Ja, Holly?« 42
»Ich fliege über dir. Verrenk' dir nicht den Hals; mich brauchst du nicht zu beobachten, sondern ich muß dich im Auge behalten. Du fliegst wunderbar!« »Ich fühle mich wunderbar!« »Schüttel deine Gelenke mal ein wenig aus. Versteif dich nicht. Bis zur Decke ist es noch ganz schön weit. Du kannst auch kräftiger rudern, wenn du willst.« »Aye-aye, Kapitän.« »Bist du nicht müde?« »Himmel, nein, ich lebe in vollen Zügen!« Sie kicherte. »Und Mutter hat gesagt, ich würde nie ein Engel werden.« Ich antwortete nicht, weil ein Paar orangesilberne Flügel auf mich zugeschossen kamen, plötzlich abbremsten und sich in den Kreis zwischen mir und Ariel drängten. Jeffs Gesicht war fast so rot wie Ariels Flügel. »Was zum Teufel denkt ihr euch eigentlich dabei?« »Rote Flügel!« rief ich. »Abstand halten!« »Geht sofort runter! Alle beide!« »Verschwinde zwischen mir und meiner Schülerin. Du kennst die Regeln.« »Ariel!« rief Jeff. »Scher aus dem Kreis aus und gleite hinunter. Ich bleibe bei dir.« »Jeff Hardesty«, sagte ich wütend, »ich geb' dir drei Sekunden, von hier zu verschwinden, sonst melde ich dich wegen Vergehen gegen Regel Eins. Zum dritten Mal: Rote Flügel!« Jeff fluchte irgend etwas, senkte seinen rechten Flügel und scherte aus. Der Idiot flog keine anderthalb Meter an 43
Ariels Flügelspitze vorbei. Ich hätte ihn eigentlich dafür melden sollen; einem Anfänger ist der größte Platz noch zu klein. »Alles in Ordnung, Ariel?« fragte ich. »Ja, Holly. Es tut mir leid, daß Jeff wütend ist.« »Das wird er verkraften. Sag mir, wenn du müde bist.« »Ich bin nicht müde. Ich möchte bis ganz oben rauf. Wie hoch sind wir denn jetzt?« »Ungefähr einhundertzwanzig Meter.« Jeff flog eine Weile unter uns, dann stieg er und flog über uns – wahrscheinlich aus demselben Grund, weshalb auch ich über Ariel flog: um einen besseren Überblick zu haben. Es war mir ganz recht, daß zwei sie beobachteten, solange er sich nicht einmischte; langsam begann ich mir Sorgen darüber zu machen, daß es Ariel nicht bewußt war, daß der Rückweg ebenso lang und ermüdend war wie der Hinweg. Ich hoffte, sie würde sich melden, wenn sie nicht mehr konnte. Ich konnte so lange gleiten, bis ich am Verhungern war, aber ein Anfänger versteift sich zu sehr. Jeff blieb meist über uns, mal hinter, mal vor uns – er ist zu aktiv, um lange zu gleiten – während Ariel und ich segelten und uns langsam zur Decke hochschraubten. Als wir ungefähr die Hälfte geschafft hatten, fiel mir ein, daß ja auch ich aufgeben konnte; ich mußte ja nicht warten, bis Ariel müde war. »Ariel, bist du jetzt müde?« rief ich. »Nein.« »Aber ich bin müde. Könnten wir bitte runtergehen?«
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Sie diskutierte nicht, sondern sagte nur: »Okay, was soll ich tun?« »Leg dich auf die rechte Seite und schere aus dem Kreis aus.« Ich wollte, daß sie etwa zweihundert Meter flog, in den nach unten führenden Luftstrom kam und genauso nach unten segelte, wie sie hinaufgekommen war. Ich schaute nach oben und suchte Jeff. Schließlich entdeckte ich ihn, weit entfernt und viel höher als wir, aber er flog auf uns zu. »Wir treffen uns am Boden, Jeff«, rief ich. Vielleicht konnte er mich gar nicht hören, aber er würde schon verstehen, was gemeint war. Ich schaute wieder auf Ariel. Ich konnte sie nicht entdecken. Doch dann sah ich sie, dreißig Meter weiter unten, mit ihren Flügeln wild um sich schlagend; sie hatte sich nicht mehr unter Kontrolle und stürzte hinab. Ich wußte nicht, wie das passiert war. Vielleicht hatte sie sich zu stark auf die Seite gelegt, war in die Kurve gegangen und hatte begonnen, mit den Flügeln zu schlagen. Aber ich machte keinen Versuch, eine Erklärung zu finden; ich hatte panische Angst. Ich schien eine Stunde lang bewegungslos in der Luft zu hängen, während ich sie beobachtete. Aber in Wirklichkeit muß ich »Jeff!« gebrüllt haben und in einen Sturzflug übergegangen sein. Doch ich schien einfach nicht zu fallen, ich konnte sie nicht einholen. Ich klappte meine Flügel völlig zusammen – aber ich fiel nicht. Sie war noch genauso weit von mir entfernt wie vorher.
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Am Anfang fällt man natürlich langsam; unsere geringe Anziehungskraft macht menschliches Fliegen ja erst möglich. Sogar ein Stein fällt nur knapp einen Meter in der ersten Sekunde. Aber diese erste Sekunde erschien mir wie eine Ewigkeit. Dann endlich merkte ich, daß ich fiel. Ich konnte die Luft an mir vorbeistreichen fühlen, aber ich schien immer noch nicht näher an sie heranzukommen. Ihr Widerstand mußte den Sturz etwas verlangsamen, während ich ja bewußt stürzte, die zusammengeklappten Flügel über meinem Kopf. Ich hatte den verrückten Gedanken, daß ich sie zu Sinnen bringen könnte, wenn ich sie eingeholt hätte, damit sie zuerst in einen Sturzflug ging und sich dann in einem langen Gleitflug abfing. Aber ich erreichte sie nicht! Dieser Alptraum zog sich stundenlang hin. In Wirklichkeit konnten wir gar nicht länger als zwanzig Sekunden fallen; das war die Zeit für einen Fall von dreihundert Metern. Aber zwanzig Sekunden können furchtbar lang sein, lang genug, um jede Dummheit, die man gemacht hat, zu bereuen, lang genug, um für uns beide zu beten – und lang genug, um mich in meinem Herzen von Jeff zu verabschieden, lang genug, um den Boden auf uns zufallen zu sehen und zu wissen, daß wir beide verunglücken würden, wenn ich sie nicht verdammt schnell einholen würde. Ich warf einen Blick nach oben. Jeff stürzte hinter uns her, aber er war noch viel höher. Sofort schaute ich wieder nach unten – ich holte sie ein, war auf gleicher Höhe, war unter ihr!
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Ich bremste mit allem, was mir zur Verfügung stand und brach mir fast die Flügel dabei. Endlich hatte ich Luft unter den Flügeln und begann zu schlagen, ohne vorher zu gleiten. Ich schlug einmal, zweimal, dreimal – und knallte von unten gegen sie. Dann schlugen wir auf. Ich fühlte mich schwach und träumerisch zufrieden. Ich lag auf dem Rücken in einem halbdunklen Zimmer. Ich glaube, Mutter war bei mir, und ich weiß, daß Vati da war. Meine Nase juckte, und ich wollte sie kratzen, aber meine Arme gehorchten mir nicht. Ich schlief wieder ein. Ich wachte hungrig und hellwach wieder auf. Ich lag in einem Krankenhausbett, und meine Arme gehorchten mir immer noch nicht, was aber nicht weiter verwunderlich war, da beide in Gips lagen. Eine Schwester kam mit einem Tablett herein. »Bist du hungrig?« fragte sie. »Beinahe verhungert«, gab ich zu. »Dann werden wir dem mal abhelfen.« Sie begann, mich wie ein Baby zu füttern. Ich wich dem dritten Löffel aus und fragte: »Was ist mit meinen Armen geschehen?« »Ruhig«, sagte sie und machte mich mit einem weiteren Löffel mundtot. Aber später kam ein netter Arzt herein und beantwortete mir meine Frage. »Nichts Ernstes. Drei glatte Brüche. In deinem Alter verheilen sie im Nu. Aber wir mögen deine Gesellschaft,
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deshalb behalten wir dich zur Überwachung möglicher innerer Verletzungen hier.« »Ich habe keine inneren Verletzungen«, sagte ich. »Zumindest tut mir nichts weh.« »Ich habe ja gesagt, daß es nur ein Vorwand ist.« »Äh, Doktor?« »Ja?« »Werde ich wieder fliegen können?« Ich wartete angsterfüllt. »Aber natürlich. Ich kenne Patienten, die weit schlimmer verletzt waren und später noch mit bloßen Händen Bäume ausreißen konnten.« »Vielen Dank, Doktor! Und – was ist denn mit dem anderen Mädchen passiert? Ist sie... Hat sie...?« »Brentwood? Sie ist hier.« »Jawohl, hier ist sie«, stimmte Ariel zu. Sie stand in der Tür. »Darf ich hereinkommen?« Mir fiel die Kinnlade herunter, doch dann sagte ich: »Ja, natürlich. Komm rein.« »Bleiben Sie nicht zu lange«, sagte der Arzt und ging. Ich forderte Ariel auf, sich zu setzen. »Danke.« Sie humpelte, und ich bemerkte, daß ein Bein verbunden war. Sie setzte sich auf das Bettende. »Du hast deinen Fuß verletzt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Kleinigkeit. Eine Verstauchung, ein Bänderriß und zwei Rippenbrüche. Ich hätte sterben können. Du weißt, warum ich noch am Leben bin?« 48
Ich antwortete nicht. Sie berührte vorsichtig einen meiner Gipsverbände. »Darum. Du hast meinen Fall abgefangen, und ich bin auf dir gelandet. Du hast mir das Leben gerettet, und ich habe dir beide Arme gebrochen.« »Du brauchst mir nicht dafür zu danken. Das hätte ich für jeden anderen auch getan.« »Das glaube ich dir, und ich habe mich auch nicht bedankt. Man kann sich bei einem Menschen nicht dafür bedanken, daß er einem das Leben gerettet hat. Ich wollte nur sichergehen, daß du weißt, daß ich es weiß.« Mir fiel keine Antwort darauf ein, deshalb fragte ich: »Wo ist Jeff? Ist er gesund?« »Er wird bald hier sein. Jeff ist nicht verletzt, obwohl ich überrascht bin, daß er sich nicht beide Knöchel gebrochen hat. Er landete so hart neben uns, daß er sich eigentlich verletzt haben müßte. Aber Holly... Holly, meine Liebe... Ich bin so früh zu dir gekommen, damit wir Zeit zum Reden haben, bevor er kommt.« Ich wechselte schnell das Thema. Die Mittel, die man mir gegeben hatte, gaben mir ein träumerisches und wohliges Gefühl, aber meine Verlegenheit verhinderten sie nicht. »Ariel, was ist eigentlich geschehen? Du bist doch wunderbar zurechtgekommen – und plötzlich warst du in Gefahr.« Sie machte ein Gesicht wie ein Schaf. »Meine eigene Schuld. Als du sagtest, du würdest jetzt runter gehen, schaute ich nach unten. Wirklich schauen, meine ich. Vorher war ich ganz damit beschäftigt, bis zur Decke zu steigen; ich hatte gar nicht daran gedacht, wie tief unten
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der Boden jetzt war. Und dann schaute ich hinab – mir wurde ganz schwindlig, ich bekam panische Angst und verlor die Kontrolle.« Sie zuckte mit den Schultern. »Du hattest recht. Das war einfach noch zu viel für mich.« Ich dachte darüber nach und nickte. »Ich verstehe. Aber mach dir keine Sorgen; wenn meine Arme wieder heil sind, nehme ich dich wieder mit hinauf.« Sie berührte meinen Fuß. »Liebe Holly, ich werde nicht mehr fliegen; ich gehe wieder dorthin zurück, wo mein Platz ist.« »Zur Erde?« »Ja, ich fahre mit der Billy Mitchell am Mittwoch.« »Oh, das tut mir leid.« Sie runzelte leicht die Stirn. »Wirklich? Holly, du magst mich nicht, oder?« Es war mir schrecklich peinlich. Was konnte man in so einer Situation sagen? Besonders dann, wenn es auch noch stimmte? »Nun«, begann ich langsam, »ich habe nichts gegen dich. Ich kenne dich einfach nicht besonders gut.« Sie nickte. »Und ich kenne dich nicht besonders gut – wenn ich auch während weniger Sekunden viel von dir gelernt habe. Aber Holly – bitte höre mir jetzt zu und rege dich nicht auf. Es handelt sich um Jeff. Er hat dich in den letzten Tagen nicht besonders gut behandelt, während meiner Anwesenheit, meine ich. Aber sei ihm nicht böse. Ich gehe, und alles wird wieder so werden wie vorher.«
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Das Wort war gefallen, und ich konnte die Wunde, die es aufgerissen hatte, nicht ignorieren. Wenn ich das tat, würde sie sich alles mögliche zusammenreimen. Ich mußte es also erklären... Daß ich eine Karrierefrau bin, daß, wenn ich verärgert gewirkt hatte, es lediglich der Schmerz gewesen sei, die Firma Jones & Hardesty aufgeben zu müssen, bevor sie ihr erstes Raumschiff konstruiert hatte, daß ich Jeff nicht liebte, sondern ihn als Freund und Partner schätzte, daß jedoch, wenn Jones & Hardesty nicht weitermachen würde, Jones & Company das Geschäft fortführen würde. »Du siehst also, Ariel – es ist nicht nötig, daß du Jeff aufgibst. Wenn du das Gefühl hast, daß du mir etwas schuldest, vergiß es. Es ist nicht nötig.« Sie blinzelte, und ich stellte überrascht fest, daß sie versuchte, Tränen zurückzuhalten. »Holly, Holly – du verstehst überhaupt nichts.« »Ich verstehe sehr wohl. Ich bin ja kein kleines Kind mehr.« »Nein, du bist eine erwachsene Frau – aber das hast du noch nicht gemerkt.« Sie erhob einen Finger. »Erstens, Jeff liebt mich nicht.« »Das glaube ich nicht.« »Zweitens, ich liebe ihn auch nicht.« »Glaube ich auch nicht.« »Drittens, du sagst, du würdest ihn nicht lieben, aber dazu kommen wir später. Holly, bin ich schön?« Das Thema zu wechseln, ist eine weibliche Spezialität, aber ich werde nie lernen, es so schnell zu tun. »Ich sagte, bin ich schön?« 51
»Du weißt verdammt gut, daß du es bist.« »Ja. Ich kann ein wenig singen und tanzen, aber wenn ich nicht hübsch wäre, würde ich verdammt wenige Rollen bekommen, weil ich eine drittklassige Schauspielerin bin. Ich muß also schön sein. Wie alt bin ich?« Es gelang mir, nicht zu zögern. »Hm. Älter als Jeff denkt. Einundzwanzig mindestens. Vielleicht zweiundzwanzig.« Sie seufzte. »Holly, ich bin alt genug, um deine Mutter zu sein.« »Was? Das glaube ich nicht.« »Es freut mich, daß man es nicht merkt. Aber das ist der Grund, warum ich mich nie in Jeff verlieben könnte, obwohl er sehr nett ist. Aber was ich von ihm halte, spielt gar keine Rolle; das Entscheidende ist, daß er dich liebt.« »Was? Das ist das allerdümmste, was du bis jetzt gesagt hast. Klar, er hat mich gern – oder hatte es zumindest. Aber das ist alles.« Ich schluckte. »Und mehr möchte ich auch nicht. Du solltest einmal hören, wie er mit mir redet.« »Das habe ich. Aber Jungen in diesem Alter können nicht ausdrücken, was sie wirklich meinen; es ist ihnen peinlich.« »Aber...« »Warte, Holly. Ich habe etwas beobachtet, was du nicht sehen konntest, weil du bewußtlos warst. Als wir zusammenstießen, weißt du, was dann geschah?« »Hm, nein.«
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»Jeff kam herunter wie ein Racheengel, keine Sekunde nach uns. Noch während er landete, riß er sich die Flügel herunter, um die Arme frei zu bekommen. Mich schaute er nicht einmal an. Er schritt über mich hinweg, hob dich auf, nahm dich in die Arme und heulte wie ein Schloßhund.« »Das hat er getan?« »Ja, das hat er getan.« Ich dachte darüber nach. Vielleicht mochte mich der große Kerl doch irgendwie, nach allem, was passiert war. »Du siehst also, Holly«, fuhr Ariel fort, »selbst wenn du ihn nicht liebst, mußt du sehr zärtlich zu ihm sein, denn er liebt dich, und du könntest ihm schrecklich weh tun.« Ich versuchte, zu denken. Vor romantischen Gefühlen sollte sich eine Karrierefrau hüten, aber wenn Jeff wirklich so dachte... Würde es wirklich ein Verrat an meinen Idealen sein, wenn ich ihn heiratete, damit er zufrieden war? Um die Firma zusammenzuhalten? Nach einiger Zeit, versteht sich. Aber wenn ich das tat, würde die Firma nicht länger Jones & Hardesty, sondern Hardesty& Hardesty heißen. Ariel redete immer noch: »...du könntest dich vielleicht sogar in ihn verlieben. So was kann vorkommen, Liebes; und wenn das der Fall wäre, täte es dir leid, ihn weggejagt zu haben. Dann würde ein anderes Mädchen ihn sich unter den Nagel reißen; er ist unheimlich nett.« »Aber...« Ich unterbrach mich, weil ich Jeffs Schritte hörte – die erkenne ich immer. Er blieb in der Tür stehen, schaute zu uns herüber und runzelte die Stirn. »Hallo, Ariel.« 53
»Hallo, Jeff.« »Hallo, Bruchpilot.« Er musterte mich gründlich. »Ach du meine Güte, du siehst ja aus!« »Du bist auch nicht gerade schön. Ich habe gehört, daß du Plattfüße haben sollst.« »Zeit meines Lebens. Wie putzt du dir denn die Zähne mit den Dingern an deinen Armen?« »Gar nicht.« Ariel glitt leise vom Bettrand und balancierte auf einem Fuß. »Muß mich beeilen. Bis später, Kinder.« »Wiedersehn, Ariel.« »Adieu, Ariel. Äh... Vielen Dank.« Jeff schloß die Tür, nachdem sie hinausgehüpft war, kam ans Bett und sagte barsch: »Halt still.« Dann legte er seine Arme um mich und küßte mich. Nun, ich konnte ihn wohl nicht daran hindern, oder? Mit zwei gebrochenen Armen? Außerdem deckte es sich ja mit der neuen Firmenpolitik. Ich war sprachlos vor Überraschung, denn Jeff küßt mich sonst nie. Außer an meinem Geburtstag, aber das zählt ja nicht. Ich versuchte, ihn auch zu küssen und ihm zu zeigen, daß ich es gern hatte. Ich weiß nicht, was für ein Zeug sie mir gegeben hatten, aber in meinen Ohren begann es zu rauschen und mir wurde wieder ganz schwindlig. Dann beugte er sich über mich und sagte traurig: »Für einen Dreikäsehoch machst du mir aber ganz schön Kummer.«
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»Du bist auch nicht gerade 'n Glückskauf, Flachkopf«, antwortete ich gefaßt. »Wahrscheinlich nicht.« Er schaute mich sorgenvoll an. »Warum weinst du?« Es war mir nicht bewußt, daß ich weinte. Dann fiel mir der Grund ein. »Oh Jeff, ich habe meine schönen Flügel kaputt gemacht!« »Wir werden dir neue kaufen. Aber jetzt rüste dich, ich mache es gleich nochmal.« »Einverstanden«, sagte ich, und er beugte sich wieder zu mir hinab. Ich glaube, Hardesty & Hardesty hat mehr Rhythmus als Jones & Hardesty. Es klingt wirklich besser.
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Das Lesen wird heute als selbstverständlich angesehen, und der Kampf gegen das Analphabetentum wird auch von seiten des Staates unterstützt. Aber es könnte einmal soweit kommen, daß die Kunst zu Lesen unerwünscht, ja sogar gefährlich ist.
Die Pflicht EDWARD E. LUDWIG »Tick-tack, tick-tack, tick-tack!« machte die alte Uhr unaufhörlich und schien dabei flüstern zu wollen: »Vater kommt, Vater kommt!« Außer dem Ticken war kein Geräusch im Hause zu hören, nur noch das laute Pochen von Ronnies Herz. Er stand allein in seinem kleinen Kinderzimmer. Sein zarter Körper, gerade acht Jahre alt, zitterte und bebte an allen Gliedern. Schweißtropfen perlten auf der glatten, jungen Stirn. »Vater kommt! Vater...!« Unaufhörlich tickte es die Uhr jetzt. Immer düsterer wurden die Schatten des herabsinkenden Abends im Zimmer. Es war ein warmer Septemberabend des Jahres 2056. Ronnie freute sich über die beginnende Dunkelheit. Gern wäre er ganz in ihr versunken, eins mit ihr geworden, nur um den schimpfenden Zungen und den ärgerlichen Blicken zu entgehen.
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Eine plötzliche Hoffnung durchzuckte ihn, ließ ihn zusammenfahren. Vielleicht würde etwas geschehen ...? Vielleicht hatte Papa einen Unfall ...? Vielleicht... Er biß sich fest auf die Lippen und schüttelte entschieden den Kopf. Nein! Ganz gleich, was Vater tun würde, ein solcher Wunsch wäre sündhaft und schlecht! Draußen ertönte das Heulen eines Turbinenwagens. Ronnie fuhr zusammen, sein Puls ging immer schneller. Die Muskeln waren angespannt wie straffe Drähte. Unten im Haus war plötzlich Bewegung. Mutter stellte die automatische Küche ab, schritt dann langsam zur Haustür. Öffnen und Schließen. Dann Vaters tiefe Stimme: »Hallo, Liebes!« Ronnie schlich sich bis zur offenen Tür vor, horchte die Treppen hinab. »Bitte, Mutti! Erzähle Papa nicht, was ich getan habe!« flüsterte er dabei vor sich hin. Immer und immer wieder. Unten war ein gedämpftes Murmeln hörbar. Dann Vaters Stimme: »Was hat er getan?« Wieder das unverständliche Gemurmel. »Ich kann es nicht glauben! Du hast ihn tatsächlich dabei gesehen? Der Teufel soll mich holen!« Geräuschlos zog Ronnie die Tür zu. Er wartete. »Warum hast du ihm das nur erzählt, Mutti? Warum?« flüsterte er. »Ronnie!« kam Vaters Stimme von unten herauf. Ronnie hielt den Atem an. Seine Füße waren wie Blei. 57
»Ronnie! Komme sofort herunter! Sofort!« Steif aufgerichtet verließ Ronnie sein Schlafzimmer und schritt bis zur Treppe vor, trat auf die silberne Platte. Automatisch setzte sich die Vorrichtung in Betrieb, brachte ihn langsam in das untere Stockwerk. Mit abwesendem Blick betrachtete er links an der Wand die alten Fotos seiner Mutter, die Reproduktionen berühmter Meister wie Rembrandt, van Gogh und Dali. Die Gesichter schienen ihn zu verhöhnen. Er kam sich vor wie ein verwundeter Vogel, der auf die Erde hinabfällt. Vater und Mutter warteten bereits auf ihn. In den Augen der Mutter konnte er Tränen bemerken. Sie hatte noch nicht einmal die braunen Haare glattgekämmt, was sie sonst immer tat, wenn Vater nach Hause kam. Und Vater, gut aussehend in seiner schwarzen, enganliegenden Pentagon-Uniform, war ein finster blickender, böser Fremder. In seinen Augen blitzte der Zorn. »Ist es wahr, was Mutti mir erzählte?« sagte er kalt. »Ist es wahr, daß du in einem Buch gelesen hast?« Ronnie schluckte. Dann nickte er wortlos. »Großer Gott!« stöhnte der Mann auf, beugte sich zu seinem Sohn herab und nahm seine dünnen Armchen in seine kräftigen Hände. Fest blickte er dem Jungen in die Augen. Und für eine Sekunde wurde er wieder der gute und verständige Vater, so wie ihn Ronnie kannte. »Erzähle mir alles, Ronnie«, forderte er den Kleinen auf. »Woher bekamst du ein Buch? Wer hat dich das Lesen gelehrt?« 58
Ronnie spürte, wie seine Beine zitterten. »Es war – gelt, Vater, du machst ihm keine Schwierigkeiten?« »Keine Sorge! Andere Leute gehen mich nichts an.« »Nun, es war Kenny Davis. Er...« »Kenny Davis! Ausgerechnet Kenny Davis! Der Junge ist schlecht! Sein Vater hat noch niemals eine anständige Stelle gehabt. Jedermann in der Stadt weiß, daß er ein Leser ist.« Die Mutter räusperte sich, trat vor. »David, du hast mir versprochen, nicht ärgerlich zu werden.« Der Vater grunzte etwas Undeutliches, dann sagte er: »Erzähle weiter, mein Sohn!« »Kenny sagte mir eines Tages nach der Schule, ich solle mit ihm kommen. Er wolle mir etwas ganz Schönes zeigen. Ich ging mit ihm nach Hause...« »Was, in diese schmutzige Hütte?« »David!« mahnte die Mutter ruhig. Ronnie fuhr fort, nachdem er Mutter einen dankbaren Blick zugeworfen hatte: »Er nahm mich mit nach Hause. Dort lernte ich seinen Vater kennen, einen lustigen, alten Mann. Er hat einen Bart, malt Bilder und besitzt mehr als 500 Bücher.« Ronnies Stimme schwankte leicht. »Weiter!« murmelte sein Vater.
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»Ich – nein, Mr. Davis versprach, mir das Lesen beizubringen, wenn ich keinem Menschen davon ein Wort erzählen würde. Jeden Tag lasen wir dann, bis ich es nach und nach lernte. Oh, Papa, es ist so schön, in diesen Büchern zu lesen. Sie erzählen von Dingen, die du weder im Fernsehen noch auf Band erfährst.« »Wann begann das alles?« fragte der Vater. »Nun, vor etwa zwei Jahren.« Die Hand des Mannes ließ den Arm des Jungen los, ballte sich zur Faust. In seinen Augen flackerte ein gefährliches Feuer. »Zwei Jahre!« stieß er hervor. »Schon seit zwei Jahren! Und ich habe immer gedacht, mein Sohn sei ein anständiger braver Junge. Doch vielleicht ist es auch meine eigene Schuld. Wir hätten in Washington bleiben und nicht in dieses Nest ziehen sollen.« »David«, unterbrach die Mutter seinen Vater. »Es wird doch wohl nicht notwendig sein, ihm das Gedächtnis zu nehmen?« Ihre Stimme zitterte merklich. »Ich weiß es nicht, Edith«, murmelte er bitter. »Ich weiß es nicht.« Der Vater schritt schwer hinüber zu seinem geliebten Platz am altertümlichen Kamin und ließ sich in den Polstersessel sinken. Leise sprach er ein Wort in das seitlich angebrachte Mikrofon, und Sekunden später reichte ihm eine metallene Hand eine brennende Zigarette. »Komm her, mein Sohn!« befahl er. Ronnie kam und setzte sich auf die niedrige Fußbank vor seinen Vater. Er schaute zu ihm auf. 60
»Ich habe dir niemals die Dinge so recht erklärt, Ronnie. Vielleicht hätte ich das tun sollen! Sieh mal, du bleibst doch nicht immer nur ein kleiner Junge, sondern wirst groß und erwachsen. Dann mußt du dein Geld selbst verdienen. Du kannst entweder bei der Regierung arbeiten, oder aber bei einem der großen Trusts.« »Mr. Davis ist auch kein normaler Mensch, Ronnie! Er ist ein Ausgestoßener. Kein anständiger Mensch läßt ihn in sein Haus. Er besitzt einen Garten und baut sein eigenes Gemüse an. Manchmal arbeitet er auch in fremden Gärten für Lebensmittel. Deine Zukunft soll nicht so aussehen. Du sollst ein großes eigenes Haus besitzen und von allen Leuten respektiert werden. So wie ich!« Vater paffte wütend Rauchwolken in die Luft. »Aber du wirst niemals so weit kommen, wenn die Leute wissen, daß du ein Leser bist. Und wenn du es noch so sehr verleugnest, es wäre sinnlos. Eines Tages erfahren sie die Wahrheit.« »Aber – warum darf man denn nicht lesen können?« »Wegen der Konkurrenz – falls du bei einem Trust arbeitest. Und wegen der Spionagegefahr, falls bei der Regierung. Siehst du, es ist so: Wenn du eine solche Stelle hast, gehen Hunderte von Schreiben durch deine Hand. Sie sind eingeteilt in vertraulich, geheim, streng geheim oder so ähnlich. Selbst wenn du es nicht wolltest, das eine oder andere Schriftstück würdest du dann doch lesen und von seinem Inhalt Kenntnis nehmen. Es könnte sich um neue, noch geheime Waffenpläne handeln oder um neue Waren für das kommende Jahr. Vielleicht sogar um einen Plan zur Liquidierung eines Konkurrenten. Alles Dinge, die besser
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unbekannt bleiben. Je weniger Leute davon wissen, um so besser! Darum bleibt alles geheim.« Eine Falte grub sich in Ronnies glatte Stirn. »Aber wenn all das niedergeschrieben ist, so muß es doch auch jemand geben, der es lesen kann!« »Natürlich, mein Sohn, muß es auch solche Leute geben. Aber nur einer von zehntausend kann es so weit bringen, daß die Gesellschaft ihm Unterricht erteilt. Aber zuerst mußt du deine Treue und Loyalität unter Beweis stellen. Wenn du 30 oder 40 Jahre alt bist, kann es möglich sein, daß du lesen lernen darfst. Aber junge Menschen – nein! Selbst der Präsident konnte nicht lesen, bis er 50 Jahre alt war. Dann erst lernte er es.« Der Vater reckte sich hoch. »Sieh mich an, Ronnie! Ich bin 30 Jahre alt, aber schon Messenger, also ein Mann, der Schriftstücke zu befördern hat. Und darunter befinden sich die geheimsten Mitteilungen. Und wenn ich 50 Jahre alt bin, werde ich vielleicht die Befehle geben, anstatt sie nur zu übermitteln. Dann werde ich vielleicht lesen lernen. Siehst du, das ist die rechte Reihenfolge. Und nicht anders!« »Vielleicht kann ich aber doch als Leser einen weniger wichtigen Posten bekommen. So als Friseur oder Klempner.« »Rede nicht so dummes Zeug, Ronnie! Sowohl die Friseurläden wie auch die Klempnergeschäfte werden von den Trusts eingerichtet. Und meinst du vielleicht, die würden einen solchen Laden einem Leser übergeben? Man würde dich für einen Spion oder Agenten halten. Für einen Verrückten!«
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»Mr. Davis ist aber auch nicht verrückt! Er ist noch jung, so wie du, Vater.« »Ronnie!« Die Stimme des Vaters war scharf und schneidend. Ronnie zuckte wie unter einem körperlichen Schlag zusammen, rutschte von der Fußbank und duckte sich. »Verdammt!« sagte der Vater. »Wie kamst du nur auf die Idee zu lesen? Wir haben ein Fernsehgerät hier in der Wohnung, lebensgroßes Bild, farbig. Extra wegen dir ließ ich den Geruchzerstäuber anbringen. Jedes gewünschte Tonband kannst du dir kommen lassen und es ablaufen lassen. Junge, hast du denn gar nicht daran gedacht, daß ich meine Stelle verliere, wenn jemand erfährt, daß mein Sohn ein Leser ist?« »Aber – Papa...« Der Vater sprang auf. »Es tut mir leid, Edith, aber ich fürchte, da wird nichts helfen. In seinem augenblicklichen Zustand ist er eine Gefahr für uns alle. Seine Erinnerung muß gelöscht werden. Einen anderen Ausweg sehe ich wirklich nicht.« Ronnie stieß einen Schrei aus. »Nein, Vater! Laß sie nicht mein Gedächtnis nehmen! Alles, nur das nicht, Papa!« Der Vater stand ganz still und steif da. Er sah ihn nicht an. »Sie nehmen nicht dein Gedächtnis, nur die Erinnerung der letzten beiden Jahre.« Die Mundwinkel der Mutter zuckten nervös.
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»Das wollte ich nicht, David. Das nicht! Es gibt so gute Privatärzte. Vielleicht kann ihm eine Behandlung helfen. Ein Gedächtnisblock. Bedenke, wenn die beiden letzten Jahre ausgelöscht werden, hat Ronnie wieder das Gehirn eines Sechsjährigen. Er muß die ganze Schule noch einmal durchmachen.« Der Vater kehrte zu seinem Sessel zurück, ließ sich hineinsinken und vergrub das Gesicht in den Händen. »Mein Gott, Edith, was soll ich nur tun?« Er sah plötzlich auf, als sei ihm ein Gedanke gekommen. Doch seine Augen blieben finster und ohne Hoffnung. »Daran habe ich nicht gedacht! Eine Gehirnwäsche bliebe kein Geheimnis. Sie würden trotz allem davon erfahren. Nie mehr würde ich befördert werden.« Das Schweigen in dem Raum war drückend. Irgendwo tickte eine alte Uhr. Genau wie auf Ronnies Zimmer. Dann sagte der Vater endlich: »Edith, was für Bücher waren es, die Ronnie gelesen hat?« Durch den Körper der Mutter ging ein unmerkliches Zittern. »Ich weiß es nicht genau. Ich fand in seinem Bett drei Bücher.« »Drei Stück? Hast du sie wenigstens verbrannt?« »Nein, Liebling. Noch nicht!« »Warum denn nicht?« »Der Junge hätte sich umgebracht. Ich wollte sie dir auch erst zeigen. Dann kannst du sie ja verbrennen.« »Hole sie, diese dreckigen, verdammten Dinger!« 64
Die Mutter ging hinüber zum Schrank, holte drei verblichene Bücher heraus und legte sie auf den Fußhocker zu des Vaters Füßen. David beugte sich hinab und blätterte in einem der Bücher herum. Er tat so, als berühre er eine Leiche. »Alt sind sie, so schrecklich alt. Unser ganzes Leben wird zerstört von Dingen, die schon vor hundert Jahren hätten verbrannt werden sollen.« Eine plötzliche Falte erschien auf seiner Stirn. Die Uhr an der Wand tickte laut. »Ich weiß, warum er so schnell auf diesen Davis hereinfiel. Ich weiß warum!« »Wie meinst du das, David?« Der Vater nickte zur Uhr hinüber, sein Gesicht überzog sich mit zorniger Röte. »Es ist deine Schuld, Edith! Du hängst zu sehr an den alten Dingen. Diese Uhr von deiner Urgroßmutter! Die alten Bilder an den Wänden! Die Briefmarkensammlung, die du Ronnie anlegtest! Sie reicht zurück bis ins Jahr 1940.« »Ich verstehe immer noch nicht, David.« »Du hast Ronnie für die Vergangenheit interessiert, Edith! Seit seiner Geburt wuchs er zwischen Dingen aus der Vergangenheit auf, sie bedeutete ihm Heimat und Frieden. Was ist natürlicher, als daß er die Bücher lesen wollte, die aus der Vergangenheit stammen und von ihr erzählen?« Die Mutter stöhnte auf. »Das konnte ich nicht wissen!« flüsterte sie heiser.
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Seine Augen sprühten vor Zorn. »Das genügt aber nicht, siehst du das nicht ein! Ronnie muß ganz von vorne anfangen! Seine Erinnerung muß ausgelöscht werden! All das, was ihn zum Lesen zwang, muß er vergessen. Sein ganzes bisheriges Leben!« »Nein, David! Das nicht!« »Und in meiner Position ist es unmöglich, einen Sohn von acht Jahren zu haben, der mit dem Gehirn eines Neugeborenen herumläuft. Ich würde mich lächerlich machen. Er muß in ein Waisenhaus. Dort kann er aufwachsen, ohne uns jemals gekannt zu haben. Nie wird er wissen, daß wir seine Eltern – waren.« Die Mutter schrie auf, rannte hin zum Vater und schlang ihre Arme um ihn. »Nein, David! Das kann doch nicht dein Ernst sein!« Mit der flachen Hand schlug er sie ins Gesicht. Der Schlag knallte wie ein Peitschenhieb durch das Zimmer. Vaters Hand holte ein zweites Mal aus, doch dann blieb sie mitten in der Luft hängen. Langsam sank sie dann herab. Er war aufgestanden. Nun setzte er sich wieder, griff nach einem der Bücher. »Edith! Hat Ronnie in diesem Buch gelesen? Wie heißt es?« »Die Abenteuer des Tom Sawyer«, gab sie weinend zur Antwort. Er ergriff das zweite Buch und hielt es ihr hin. »Und dieses hier?« »Tarzan bei den Affen.«
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Ihre Stimme war brüchig. Tränen rollten über ihre Wangen. »Von wem?« »Edgar Rice Burroughs.« »Und dieses hier?« »Der Zauberer von Oz.« »Autor?« »L. Frank Baum.« Ronnies Vater warf die Bücher zur Erde und erhob sich. Er ging langsam auf seine Frau zu, in seinen Augen eine furchtbare Mischung von Zorn, Mitleid und Unglauben. »Edith!« sagte er endlich mit schrecklicher Stimme. »Edith! Du kannst ja auch lesen!« Die Mutter schlug die Hände vor das Gesicht und weinte lautlos. Sie war totenblaß geworden, ihre Schultern zuckten. »Es hat keiner davon gewußt, David. Auch Ronnie nicht. Seit wir verheiratet sind, habe ich kein Buch mehr angesehen. Immer habe ich versucht, dir eine gute Frau zu sein.« »Eine gute Frau!« höhnte David verächtlich. Sein Gesicht war so häßlich, daß Ronnie wegsehen mußte. »Ich lernte es schon, als ich noch ein junges Mädchen war. Du weißt doch, wie junge Menschen sind: neugierig und ungehorsam.« »Du hast mich belogen, Edith! Zehn Jahre lang hast du mich belogen! Warum hast du gelesen? Warum nur?«
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Die Frau schwieg für einige Sekunden. Sie weinte nicht mehr, atmete jedoch schwer und heftig. Ihre Augen wurden klarer, und zum erstenmal vermeinte Ronnie in den Augen seiner Mutter so etwas wie Trotz zu erblicken. »Ich wollte deshalb lesen, weil es mir Freude bereitete Genauso, wie es Ronnie auch Freude bereitete. Das Fernsehen ist gut und schön, David, aber einmal ist man die Revuen, die Opern und die Schauen, die Indianer und die Lustspiele leid. Einmal sehnt man sich nach etwas anderem. Einmal will man wissen, wie andere Menschen ganz tief in ihrem Inneren fühlen und empfinden. Und Worte sind so schön, Gedanken können so wundervoll sein. Wenn man sie liest, versteht man sie besser, als wenn man sie nur hört. Manchmal will man diese Worte nicht nur hören, sondern auch sehen. Man versteht sie dann besser.« Ihre letzten Worte verklangen in dem großen Raum, wurden von dem Ticken der alten Uhr aufgesogen. Der Blick des Vaters wanderte unschlüssig von Edith zu Ronnie, dann wieder zurück. Endlich sagte er: »Raus!« Seine Frau starrte ihn an. »Raus!« wiederholte er. »Ihr könnt eure Sachen später nachholen lassen. Ich will niemals mehr einen von euch wiedersehen!« »David...« »Ich sagte: raus!« Ronnie und seine Mutter verließen das Haus. Draußen war es dunkel, und ein kalter Wind wehte in ihre Gesichter. »Wohin wollen wir gehen, Ronnie? Wohin...?« 68
»Ich weiß einen Platz, Mutti. Vielleicht können wir dort bleiben. Wenigstens für eine kurze Zeit.« »Eine kurze Zeit...«, murmelte die Mutter versonnen. Ronnie führte sie durch die kalten, dunklen Straßen der Kleinstadt. Dann ließen sie die Lichter hinter sich, als sie die trockene, rissige Landstraße entlanggingen. Als sie endlich ein kleines, halbverfallenes Haus erreichten, war von der Stadt nichts mehr zu sehen. Licht strahlte ihnen durch die Fenster freundlich und einladend entgegen. Sekunden später öffnete sich die Haustür. Ein kleiner Junge sah heraus und erkannte Ronnie. Er lief ihnen entgegen. »Hallo, Kenny!« sagte Ronnie. »Nanu? Wer ist das? Deine Mutter?« »Ja. Ist dein Vater da?« »Natürlich ist er da!« Im Türrahmen erschien ein bärtiges, freundliches Gesicht. Er lächelte sie an. Er machte nur eine Handbewegung. Ronnie und seine Mutter traten ein.
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Ich ging zum Fluß mein Leid zu ertränken Aber der Fluß war mehr zu bedauern als ich ... Schottische Ballade
Reizvolle Villa am See ANDRE NORTON Ohne das Atemgerät fühlte sich ihr Gesicht eigenartig und leicht an – fast so, als wäre sie nackt hier draußen. Jill griff an die abgenutzten Schnüre ihres Sauerstoffgeräts, verdrehte sie und strich sie wieder gerade, ohne auf ihre Hände zu achten, denn ihre Augen waren zu sehr damit beschäftigt, diese neue, unbekannte und manchmal furchterregende Außenwelt zu erfassen. Zu Hause war die Wohnung gewesen, natürlich luftdicht verschlossen, und die Schule, mit dem luftdicht verschlossenen Bus für den Schulweg. Hin und wieder hatte man einen Besuch im Einkaufszentrum gemacht. Aber sie konnte sich jetzt kaum noch daran erinnern. Selbst die Reise hierher erschien ihr wie ein Traum. Da bewegte sich etwas in dem langen, gezackten Gras unterhalb des Steinblocks, auf dem Jill saß. Sie richtete sich auf – ein schwarzer Kopf, ein kleiner, pelziger Kopf mit zwei eindrucksvollen blauen Augen.
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Jill wagte kaum zu atmen, obwohl überhaupt kein Smog war. Das Augenpaar musterte sie aufmerksam. Dann glitt ein geschmeidiger schwarzer Körper in ihr Blickfeld. Von einer Minute zur anderen war er aufgetaucht – ganz plötzlich! Das war doch – sie erinnerte sich an die alten Bücher – eine Katze! Hunde und Katzen, die Menschen hatten sie einmal als Haustiere gehalten. Vor der Zeit, als der Luftquotient so knapp bemessen wurde, daß niemand ein Haustier in einer Siedlung halten durfte. Aber hier gab es noch keinen Luftquotienten – hier konnte eine Katze leben... Jill betrachtete die Katze, die jetzt auf ihren Hinterläufen saß, den Schwanz hinter sich ausgestreckt, nur die Spitze zuckte von Zeit zu Zeit ein wenig. Wäre diese Bewegung nicht gewesen, hätte sie auch eine Stoffkatze sein können, wie der alte Teddybär, den sie als kleines Kind hatte. Ganz plötzlich gähnte die Katze herzhaft und zeigte ihre scharfen, weißen Zähne und eine leuchtend rosa Zunge, die sich vom Schwarz des restlichen Körpers deutlich abhob. »Hallo, Katze...«, sagte Jill, und die ungewohnte Weitläufigkeit der Außenwelt ließ sie ihre Stimme dämpfen. Die schwarzen Ohren zuckten, als ob ihre Worte sie ein wenig gekitzelt hätten. Die Katze blinzelte. »Lebst du hier – im Draußen?« fragte sie. Denn hier konnten es die Tiere wagen, draußen zu leben. An diesem Morgen hatte sie einen Vogel gesehen, und im Gras krabbelten alle möglichen Insekten. »Es ist schön« – Jill gewann allmählich ihr Selbstvertrauen wieder –, »im
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Draußen zu leben – aber manchmal«, schränkte sie ehrlicherweise ein, »macht es einem Angst. Nachts zum Beispiel.« »Odysseus, wo bist du? Katze?« Jill erschrak. Die Katze blinzelte wieder und schaute nach hinten. Dann stieß sie einen leisen Laut aus. »Ich habe dich gehört, Odysseus. Wo bist du denn?« Es raschelte im Gestrüpp. Jill war darauf vorbereitet, schnell fortlaufen zu müssen. Sie wollte jedoch nicht fliehen, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Das Gestrüpp teilte sich, und Jill sah ein anderes Mädchen, das nicht größer war, als sie selbst. Sie entspannte sich. Die Katze stand auf und rieb sich an den zerkratzten, schmutzigen Beinen des Neuankömmlings. »Hallo«, wagte sich Jill vor. »Du bist Oberst Baylors Nichte.« Es klang fast wie eine Beschuldigung. Sie stand vor Jill, ihre zu Fäusten geballten Hände in die Hüften gestützt. Sie trug wie Jill eine einteilige, kurze Tunika, aber ihre war blattgrün und schien mit der Farbe des Gestrüpps zu verschmelzen. Jill hatte das unangenehme Gefühl, daß sich das andere Mädchen, wenn es wollte, unsichtbar machen konnte, noch während es direkt vor ihr stand. Ihre Haut war braun, und ihr Gesicht wurde von buschigen, schwarzen Haaren umrahmt, die in alle Richtungen abstanden. »Er ist mein Onkel, Onkel Shaw«, erzählte Jill bereitwillig. »Lebst – lebst du auch im Draußen?« »Draußen«, wiederholte das Mädchen, als ob das ein merkwürdiges Wort wäre. »Klar lebe ich hier. Ich bin 72
Marcy Scholar. Ich wohne dort drüben.« Sie wandte sich um und zeigte nach links. »Auf der anderen Seite ist der See – oder was einmal der See war. Als ich noch ein ganz kleines Baby war, ging mein Vati dort immer zum Angeln. Glaubst du mir?« Sie schaute Jill herausfordernd an, als erwarte sie einen Widerspruch. Jill nickte. Sie war bereit, alles zu glauben, was mit dem Draußen zusammenhing. Es hatte ihr schon so viele Wunder gezeigt, die sie bisher nur aus Büchern gekannt hatte, oder, wenn der Doppelsmog so stark gewesen war, daß man nicht einmal mehr die luftdicht verschlossenen Busse benutzen konnte, vom Bildschirm des Schulfernsehens. »Du kommst aus dem Norden, aus dem verseuchten Land...« Marcy kam einen Schritt näher. »Der Oberst muß sehr gute Beziehungen zur Regierung haben, sonst hättest du nicht hierherkommen können. Wir erlauben nicht, daß fremde Leute so einfach in eine Freizone kommen. Sie könnte auch verseucht werden, wenn zu viele kämen. Schlimm genug, daß die Seen alle tot sind und das alles.« Plötzlich schmerzten Jills Augen so wie damals, als sie in einem Zimmer eingeschlossen war, in dem die Sauerstoffgeräte versagten. Sie wollte nicht mehr daran denken, weshalb sie hier war. »Onkel Shaw war auf dem Mond! Der Präsident der ganzen Vereinigten Staaten hat ihm dafür einen Orden verliehen. Er steht in den Geschichtsbüchern ...«, entgeg-
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nete sie. »Ich glaube, was Onkel Shaw will, das bekommt er auch.« Marcy sagte nichts dagegen, wie Jill es fast erwartet hatte. Statt dessen nickte sie. »Das stimmt. Mein Vater arbeitete auch an dem Projekt, deshalb leben wir hier. Als sie den großen Stützpunkt stillegten und bekanntgaben, daß keine weiteren Raumflüge unternommen würden, sind wir zusammen mit dem Oberst, Dr. Wilson und den Pierces hierher gezogen. Schau mal...« Sie drängte sich an Jill vorbei und schob das Laubwerk zur Seite. Hinter den wuchernden, gelblichen Blättern war ein Schild, das an einem dicken Pfosten befestigt war; es zeigte eine stark verblaßte Schrift. »Kannst du das lesen?« Marcy zeigte mit dem Finger auf die Worte. »Natürlich kann ich das lesen!« Jill schaute sich die fast unkenntlichen Buchstaben genau an. »›Reizvolle Villa am See‹.« »Genau das war dies hier einmal!« sagte Marcy. »Einst – vor vielen, vielen Jahren – haben die Leute eine Menge Geld für diese Grundstücke bezahlt – Grundstücke am Ufer eines Sees. Das war natürlich bevor all die Fische, Schildkröten, Alligatoren und so weiter wegstarben und das Wasser voller Unkraut war. Man kann kaum noch erkennen, wo der See einmal war. Komm mit – ich zeig's dir!« Jill starrte unschlüssig auf die Wand aus rostfarbenem Grün. Aber Marcy bog das Gestrüpp zur Seite, um ihr die dahinter liegende Bresche zu zeigen. In diesem Moment
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wurde Odysseus plötzlich wieder wach, streckte sich, stand auf und verschwand durch die Lücke. Jill befestigte ihr Atemgerät am Gürtel und folgte Marcy. Es war, als ginge man durch einen Tunnel, aber die Wände dieses Tunnels waren lebendig, nicht aus Stein. Von Zeit zu Zeit streckte sie ängstlich eine Hand aus, um mit den Fingerspitzen die Blätter und biegsamen Zweige zu berühren, die alle ein Teil des Draußens waren. Dann traten sie aus dem Tunnel heraus und sahen vor sich, etwas unterhalb ihres Standorts, eine glatte, grüne Oberfläche. Als Jill jedoch genauer hinsah, entdeckte sie braune, wie eine Flüssigkeit aussehende Flecken, die von dem Grün nicht bedeckt wurden. Das sah überhaupt nicht wie die Seen aus, die sie auf Bildern gesehen hatte, aber heute war ja alles anders als auf den Bildern. Die alten Leute erzählten immer noch davon, wie es war, als sie jung waren, und meinten, ja, genauso wie auf den Bildern hätte es ausgesehen. Aber Jill fragte sich manchmal, ob sie sich nicht nur zu erinnern versuchten und die Bilder mit dem durcheinanderbrachten, was sie glauben wollten. Vielleicht stellten die Bilder nur Märchen dar, die auch vor langer Zeit nicht Wirklichkeit gewesen waren. Marcy beschattete ihre Augen mit der Hand und schaute auf die grünbraune Fläche hinaus. »Komisch...« »Was ist komisch?« »Mir kommt es so vor, als wäre heute mehr Wasser zu sehen – als ob das Unkraut verschwunden wäre. Vielleicht ist es jetzt so vergiftet, daß nicht mal mehr das Unkraut
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darin leben kann.« Sie hob einen Stecken auf, der neben ihr auf der Erde lag. Dann legte sie sich der Länge nach hin, um die zähflüssige Masse zu erreichen, und zog den Stock darin hin und her. Odysseus tauchte wieder auf. Nicht oben bei ihnen, sondern unten am Ufer. Jill sah ihn zusammengekauert auf einem schlammbedeckten Stein sitzen. Sein Kopf war weit vorgereckt, während er in das Grün starrte, als würde er etwas sehen, das den Mädchen entging. »He!« Marcy richtete sich auf. »Hast du das gesehen?« »Was?« »Als ich den Stecken an dieser Stelle eintauchte«, sie beugte sich vor, um es zu zeigen, »hat sich etwas bewegt – nach dort!« Sie zeigte mit dem Stock in die Richtung. »Achte mal auf Odysseus, er muß es auch gesehen haben!« Der Schwanz der Katze schlug hin und her; ihr Blick ging deutlich in die Richtung, die Marcy angedeutet hatte. »Du hast doch gesagt, die Fische, Schildkröten und so weiter wären tot.« Jill wich zurück. Es hatte auch einmal Schlangen gegeben. Waren die Schlangen tot? »Natürlich sind sie tot. Mein Vati sagt, in dem alten See könne nichts leben! Aber etwas hat sich bewegt. Das müssen wir uns mal näher ansehen.« Sie bahnte sich ihren Weg weiter, indem sie auf die unter ihr liegenden Blätter einschlug und das Unkraut niedermähte; die Pflanzen ließ sie zerfetzt hinter sich. Aber so sehr sie auch aufpaßten: Es gab keine weiteren Anzeichen für etwas, das vor dem niedersausenden Zweig flüchtete.
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»Vielleicht ein Insekt – ein großes Insekt?« mutmaßte Jill, als Marcy sich zurückschob und den Stecken fallen ließ. »Das wäre allerdings ein sehr großes.« Marcy klang nicht überzeugt. »Du wirst hier leben – für immer?« Jill begann wieder, an ihrem Atemgerät herumzuspielen. »Vermutlich.« »Wie ist es da oben im Norden, im verseuchten Land?« Jill sah sich ein wenig hilflos um. Das Draußen war so anders, wie konnte sie Marcy da etwas über das Drinnen erzählen? Sie wollte so wenig wie möglich an jene letzten, schrecklichen Tage erinnert werden. »Man – man hat uns die Luftquote gekürzt«, platzte sie heraus. »Zwei der großen Sauerstoffgeräte fielen aus. Die Menschen wurden alle in dem Teil zusammengedrängt, wo die Luftregulatoren noch funktionierten. Aber es waren zu viele. Sie – sie brachten den alten Mr. Evans fort, und auch Mrs. Evans. Vati – irgendwie hat er Onkel Shaw eine Nachricht geschickt, und er hat mich holen lassen. Aber Vati konnte nicht kommen. Er ist einer der Atemtechniker, und die dürfen noch nicht einmal ihr Arbeitsgebiet verlassen, weil etwas passieren und die Sauerstoffgeräte ausfallen könnten.« Marcy schaute sie groß an. »Ich wette, du bist froh, hier zu sein.« »Ich weiß nicht – es ist alles so anders, hier im Draußen.« Jill sah sich plötzlich verstört um. Von dem Stein, auf dem sie gesessen hatte, hatte sie sich umdrehen und das Haus sehen können. Aber jetzt sah sie nur noch 77
Büsche. Wo war das Haus...? Sie stand auf, zitternd vor innerer Kälte. »Bitte«, irgendwie brachte sie dieses Wort heraus, »wo ist das Haus? Welchen Weg sind wir gegangen?« Das Drinnen war sicher... »Hast du Angst? Brauchst hier keine Angst zu haben. Nur Bäume und Tiere. Und natürlich Odysseus, aber er ist ein Freund. Er ist ein kluger Kater und versteht fast alles, was man sagt. Wenn er nur sprechen könnte...« Marcy beugte sich vor und rief: »Odysseus, komm hier rauf. Da unten ist nichts, was du fangen kannst, brauchst gar nicht so tun als ob da was wäre.« Jill zitterte immer noch ein wenig. Aber Marcys Gelassenheit wirkte beruhigend. Außerdem wollte sie die Katze noch einmal genauer anschauen. Vielleicht würde sie sich streicheln lassen. Wieder schob sich der schwarze Kopf durch das Unterholz, und nachdem Odysseus kurz innegehalten hatte, um sich an der Schulter zu lecken, kam er zu ihnen. »Er ist eine Halb-Siamkatze«, verkündete Marcy, als ob ihn das noch außergewöhnlicher machen würde. »Seine Mutter ist Min-Hoy. Mutti bekam sie schon als ganz kleines Kätzchen. Jetzt ist sie alt und geht nicht mehr oft nach draußen. Sag mal, hast du eine Katze?« Jill schüttelte den Kopf. »Sie sind nicht erlaubt – alles, was Luft verbraucht, ist verboten, die Menschen brauchen alles für sich selbst. Ich habe noch nie vorher eine Katze gesehen, außer auf Bildern.«
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»Na, dann werde ich dir eine Hälfte von Odysseus abgeben – « »Eine Hälfte?« »Klar, du nimmst ihn einige Tage und dann ich wieder. Immer abwechselnd. Odysseus«, sie schaute die Katze an. »Das ist Jill Baylor, sie hat noch nie eine Katze gehabt. Du kannst doch manchmal mit ihr gehen, oder?« Odysseus hatte gerade eine seiner Pfoten inspiziert. Jetzt blickte er zuerst Marcy an, als könnte er jedes Wort verstehen, und wandte dann den Kopf, um Jill mit demselben prüfenden Blick anzustarren. Jill kniete sich nieder und streckte die Hand aus. »Odysseus – « Mit der ernsten Würde einer Katze kam er zu ihr, beschnupperte ihre Finger und rieb dann seinen Kopf an ihrer Hand; zärtlich streichelte sie sein seidenweiches Fell. »Er mag dich.« Marcy nickte kurz. »Er wird dir die Hälfte seiner Zeit abgeben, wart's nur ab.« »Jill!« rief eine Stimme ganz aus der Nähe. Marcy stand auf. »Das ist deine Tante. Es ist besser, du gehst jetzt. Miss Abby ist sehr für Pünktlichkeit.« »Ich weiß. Wie – wie muß ich gehen?« Marcy führte sie zurück durch den grünen Tunnel. Odysseus verschwand wieder im Dickicht. Aber Marcy begleitete sie bis sie bei Tante Abby angekommen waren; sie wartete unter dem überhängenden Dach. Jill war überzeugt, daß ihre Tante das Haus wesentlich lieber gemocht hatte, bevor sie zu ihr gezogen war.
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»Wo bist du gewesen –? Oh, Tag, Marcy. Du kannst deiner Mutter sagen, daß der Oberst den Jeep repariert hat und ich am Nachmittag in die Stadt gehe, falls sie mitfahren möchte.« »Ja, Mrs. Baylor.« Marcy war höflich, trödelte aber nicht herum. Von Odysseus war nichts zu sehen. Niemand fragte Jill, was sie am Vormittag erlebt hatte, und sie fing nicht freiwillig davon an. In Gegenwart von Tante Abby fühlte sie sich gehemmt, und was Onkel Shaw anging, so hatte sie das Gefühl, daß er die meiste Zeit über nicht einmal wußte, daß sie da war. Manchmal schien er mit seinen Gedanken weit weg zu sein; dann redete er mit ihr wie mit einem kleinen Baby. Aber meistens zog er sich in ein Zimmer am anderen Ende des Hauses zurück. Tante Abby hatte sie eindringlich davor gewarnt, dieses Zimmer zu betreten. Jill hatte keine Ahnung, was sich darin befand. Wie sie erfuhr, lebten zur Zeit nur vier Familien an dem See. Marcys, die Haddams, ältere Leute, die die meiste Zeit damit verbrachten, im Garten zu arbeiten, und versuchten, irgendwelches Gemüse zu ziehen. Obwohl das meiste abstarb, bevor es groß oder reif genug zum Essen war, versuchten sie es immer wieder, wie Marcy erzählte. Dann waren da die Williams – Marcy riet ihr, sich vor denen in acht zu nehmen, obwohl Jill gar kein Verlangen spürte, auf eigene Faust Streifzüge im Draußen zu machen. Die Williams, berichtete Marcy, waren hundsgemein, böse und nicht ganz richtig im Kopf. Das war genug, um Jill die Lust an der Bekanntschaft dieser Leute zu nehmen. Doch es waren ausgerechnet die Williams, die das ganze Spektakel in jener Vollmondnacht verursachten. 80
Jill war aufgewacht und richtete sich im Bett auf; ihr Herz klopfte, und sie begann, am ganzen Körper zu zittern, als sie das furchtbare Geschrei hörte. Es kam vom Draußen und rief all ihre Ängste zurück, die die Tage mit Marcy verdrängt hatten. Dann hörte sie Geräusche im Haus: Onkel Shaws schwere Schritte und Tante Abbys Stimme. Der Generator war wieder ausgefallen, und sie hatten eine Woche lang nur Lampen gehabt. Jetzt sah sie durch das Fenster den grellen Strahl einer Taschenlampe, der die Schwärze der Nacht durchschnitt. Dann hörte sie Marcys Vater auf der Straße rufen und sah eine zweite Taschenlampe. Wieder ein Kreischen, und jetzt schrie auch Jill. Die Tür öffnete sich und Tante Abby trat ein, ging hastig zum Fenster und schloß es trotz der Hitze. »Alles in Ordnung.« Sie setzte sich auf das Bett und nahm Jills Hand. »Nur irgendein Tier...« Aber Jill wußte es besser. Es gab nicht viele Tiere – Odysseus, Min-Hoy und den alten Maulwurf, den die Haddams hielten. Marcy hatte ihr erzählt, daß alle wilden Tiere das Gebiet verlassen hatten. Es folgten keine weiteren Schreie mehr; Tante Abby nahm sie mit sich ins Bett, und nach einer Weile schlief Jill ein. Als sie am nächsten Morgen zum Frühstück kam, saß Onkel Shaw schon an seinem Platz. Mit keinem Wort wurde das, was in der Nacht vorgefallen war, erwähnt, und sie spürte, daß sie nicht fragen durfte. Erst als sie Marcy traf, erfuhr sie die Geschichte.
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»Beeny Williams«, berichtete Marcy, »hat den Verstand verloren. Er rannte die Straße hinunter und schrie, die Dämonen wären hinter ihm her. Mein Vater mußte ihn k. o. schlagen. Sie bringen ihn zu einem Arzt.« Sie hielt inne und schaute Jill merkwürdig von der Seite an, als ob sie sich nicht entscheiden könnte, etwas zu sagen oder zu schweigen. Dann fragte sie abrupt: »Jill, träumst du je von – na, komischen Sachen?« »Was für Sachen?« Jeder hatte Träume, die ihm Angst machten. »Na, zum Beispiel, daß man an einem grünen Ort wäre und sich bewegen würde – aber nicht wie gehen, sondern wie fliegen. Oder daß man nicht mehr dort wäre und sich sehr wünschen würde, wieder hinzukommen.« Jill schüttelte den Kopf. »Träumst du so etwas?« »Manchmal – meistens erinnert man sich nicht mehr deutlich an einen Traum, wenn man aufwacht, aber an diesen erinnert man sich. Es scheint etwas Wichtiges zu sein. Ach, dummes Zeug!« Sie winkte ab. »Vati sagt, wir sollen vom See wegbleiben. Anscheinend ist Beeny letzte Nacht im See herumgewatet, vielleicht hat er irgendein Gift abbekommen. Aber die Williams sind sowieso schon verrückt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß das Waten im See ihm noch irgendwie geschadet haben könnte. Vati hat nicht ausdrücklich gesagt, daß wir nicht um den See herumlaufen dürfen, komm, wir gehen mal nachsehen.« Sie nahmen den gewohnten Weg durch den Tunnel. Jill blinzelte in die grell strahlende Sonne. Dann zwinkerte sie noch einmal mit den Augen.
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»Marcy, es ist viel mehr Wasser zu sehen! Sieh mal – da und dort. Vielleicht hat dein Vater recht, und da ist etwas, das das Unkraut abtötet.« »Tatsächlich. Odysseus«, rief sie dem Kater zu, der auf einem Stein unter ihnen kauerte. »Geh da weg, du könntest dir was Schlimmes holen.« Doch Odysseus zuckte diesmal als Antwort nicht einmal mit einem Ohr – geschweige denn, daß er kam. Marcy drohte, herunterzuklettern und ihn zu holen, aber Jill machte sie darauf aufmerksam, daß die Uferböschung brüchig war und sie in den verbotenen See fallen könnte. Sie ließen den Kater wo er war und bahnten sich ihren Weg am Ufer entlang bis sie an ein verlassenes Haus kamen, das inmitten abgestorbener Kletterpflanzen und kümmerlicher Triebe verborgen lag. »Gespenstisch«, meinte Marcy. »Sieht wie ein Ort aus, an dem sich Tiere verstecken und einen anfallen könnten...« »Ich frage mich, wer hier wohl gewohnt hat.« »Dr. Wilson. Er war auch am Cape. Und er war auf dem Mond – « »Dr. Morgan Wilson.« Jill nickte. »Ich erinnere mich.« »Ihm hat es am meisten zugesetzt, als sie das Projekt stillegten, weil er gerade mitten in einem Experiment war. Er versuchte, sein Zeug hierher mitzunehmen und weiterzuarbeiten, aber er bekam kein Geld mehr von der Regierung, und niemand hörte mehr auf ihn. Das hat er nie verwunden. Eines Nachts ging er einfach raus und in den See – einfach so!« Marcy wedelte mit der Hand. »Sie 83
fanden ihn erst am nächsten Morgen. Und weißt du was – er nahm einen Schatz mit sich – und man hat ihn nie gefunden.« »Einen Schatz – was für einen?« »Na, er hatte dieses Mondgestein, das er für seinen Versuch brauchte. Er hatte es selbst gesammelt. Mein Vati sagt, daß man das Gestein in Vitrinen ausstellte, wo die Leute hingehen und es ansehen konnten. Aber nachdem New York, Chicago und Los Angeles beim Größen Zusammenbruch ausgelöscht wurden, gab es keine Mondflüge mehr – und auch kein Geld dafür, denn alles wurde für Sauerstoffgeräte und zur Bekämpfung des Giftes und ähnliche Dinge ausgegeben – niemand scherte sich mehr darum, was aus ein paar alten Steinen wurde. So sind diese im See verschwunden.« »Wie sahen sie aus?« »Oh, ich glaube, wie alle alten Steine. Sie waren nur deshalb Schätze, weil sie aus einer anderen Welt kamen.« Sie gingen zurück, weil sie vor einem Dickicht aus kleinen Palmen standen, das sie nicht durchdringen konnten. Es war ziemlich warm geworden, und Jill dachte an ihr Haus und daran, daß es dort sicherlich schön kühl sein würde. Man brauchte nur aus der Sonne zu gehen. »Komm mit mir nach Hause«, drängte sie. »Wir können Limonade trinken, und Tante Abby hat mir einen dicken alten Katalog gegeben – wir können uns aussuchen, was wir kaufen würden, wenn sie noch den Laden und wir Geld hätten.«
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Wunschkaufen war normalerweise ein Spiel, mit dem man trübe Regentage zu verbringen pflegte, aber es könnte ja auch mal einen heißen Tag ausfüllen. »Okay.« Kurz danach hatten sie sich auf Jills Bett niedergelassen, blätterten in den schlaffen Seiten herum und trafen ziemlich lustlos ihre Wahl, als sie ein Kratzen an Jills Schlafzimmertür hörten. »He«, Marcy richtete sich auf, »das ist Odysseus – und er trägt irgend etwas im Maul – ich lasse ihn rein.« Sie war aufgestanden, bevor sich Jill auch nur bewegen konnte. Die Katze huschte herein und unter Jills Bett, als ob sie fürchtete, man würde ihr ihren Fund wegnehmen. Sie konnten Odysseus leise grollen hören; beide Mädchen beugten sich über die Bettkante und versuchten etwas zu erkennen, bis sie sich schließlich auf den Boden rollen ließen. »Was hast du da, Katze?« verlangte Marcy zu wissen. »Laß mal sehen...« Aber obwohl Odysseus geduckt dasaß und knurrte, und er gewiß etwas im Maul gehabt hatte, als Marcy ihn hereinließ, war jetzt außer seinem eigenen schwarzen Körper überhaupt nichts zu sehen. »Was hat er damit gemacht?« »Keine Ahnung.« Marcy war genauso überrascht wie Jill. »Was war es überhaupt?« Aber als sie verglichen, was jeder beobachtet hatte, mußten sie feststellen, daß keine von beiden es deutlich genug gesehen hatte, um zu erraten, was es war. Jill holte 85
die große Taschenlampe, die immer auf dem Tisch in der Diele stand, und leuchtete unter das Bett; aber außer Odysseus geschmeidigem Körper war nichts zu sehen. »Es ist entwischt«, sagte Marcy. »Aber wenn es noch irgendwo im Zimmer ist, was immer es auch sein mag ...« Jill schauderte bei dem Gedanken, daß irgendein entwischtes Etwas im Raum war – besonders ein Etwas, das sie nicht identifizieren konnte. »Wir lassen Odysseus hier. Wenn es wieder hervorkommt, wird er's erwischen. Er lauert ja nur darauf. Du machst die Tür zu, damit es nicht in die Diele kann, dann wird er es wieder einfangen.« Doch es dauerte nicht lange, bis Odysseus offensichtlich alle Gedanken an das Jagen aufgab und auf das Bett sprang, um alle Viere von sich zu strecken und zu dösen. Als Marcy gehen mußte, hatte Jill eine Bitte. »Marcy, du hast gesagt, Odysseus gehöre zur Hälfte mir; laß ihn heute nacht bei mir. Wenn dieses – dieses Ding hier frei herumläuft, will ich es nicht auf mir haben. Vielleicht kann er es fangen.« »Einverstanden, wenn er dableiben möchte. Bleibst du hier, Odysseus?« Der Kater hob den Kopf, gähnte und ließ sich zurückfallen. »Sieht so aus, als hätte er sich entschieden. Aber wenn er nachts Ärger macht, mußt du ihn schnell hinauslassen. Wenn du es nicht tust, schreit er – und zwar schrecklich laut.«
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Während des ganzen Abends zeigte Odysseus kein Verlangen hinauszugehen. Jill brachte ihm sein Fressen, das Marcy vorbeigebracht hatte, und ein Schüsselchen mit Wasser. Er öffnete schläfrig seine Augen, warf einen Blick auf die Mahlzeit und gähnte. Noch einmal durchsuchte Jill mit der Taschenlampe in der Hand ihr Zimmer und zwang sich dazu, sich auf den Bauch zu legen und unter dem Bett nachzusehen. Aber sie konnte nichts entdecken. Was hatte Odysseus da nur hereingebracht? Oder hatten sie sich geirrt und nur gedacht, daß er etwas im Maul hatte? Zögernd kroch Jill ins Bett und deckte Odysseus mit einem Zipfel der Decke zu. Sie wußte nicht, wie Tante Abby auf das neue Mitglied im Haushalt reagieren würde, selbst wenn es nur ein vorübergehender Gast war, und sie hatte auch keine Lust, ihr alles zu erklären. Tante Abby würde sicher gleich Alarm schlagen, wenn sie erfuhr, daß Odysseus etwas in Jills Zimmer gebracht und dort verloren hatte. Tante Abby kam und nahm die Lampe mit; Odysseus tat das Seinige, indem er seine Anwesenheit weder durch Laute, noch durch Bewegungen unter der Bettdecke verriet. Jill wehrte sich gegen den Schlaf. Sie hatte eine Angst, die sich langsam zu echter Furcht steigerte, daß sie aufwachen und dieses Etwas womöglich genau auf ihrem Kissen finden würde. Odysseus streckte sich neben ihr aus. Er legte eine Pfote auf ihren Fuß, als wüßte er genau, wie ihr zumute war, und als wolle er sie beruhigen, sowohl durch seine Anwesen-
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heit als auch durch die Tatsache, daß er aufpaßte. Sie begann, sich zu entspannen. Sie – sie war überhaupt nicht im Bett! Sie war plötzlich wieder in einer luftdicht verschlossenen Wohnung, aber die Sauerstoffgeräte waren ausgefallen, sie konnte nicht atmen – ihr Atemgerät – die Tür – sie mußte rauskommen – weg von hier, dahin wo sie atmen konnte! Sie mußte! Jill warf sich gegen die Wand. Es gab keine Türen – keine Entlüftungsschlitze. Wenn sie klopfte, würde es jemand hören? Dann war es dunkel, und sie war wieder in ihrem Zimmer. Aufrecht saß sie in ihrem Bett. Ein leiser, kehliger Laut – das war Odysseus. Er hatte sich an den Bettrand begeben, lag dort geduckt – und starrte auf den Fußboden. Jill bekam einen Schweißausbruch und zitterte vor Angst bei dem Gedanken an den Traum; es mußte ein Traum gewesen sein ... Aber jetzt war sie wach und spürte immer noch, daß sie kaum atmen konnte, daß sie hinaus mußte – zurück – zurück zu – es war, als könne sie es direkt vor sich sehen, wie auf einem Bild an der Wand – der See – der fast tote See! Aber sie wollte nicht – sie wollte – sie mußte. Von Entsetzen geschüttelt, warf Jill sich von einer Seite auf die andere. Sie wollte nicht zum See gehen, nicht jetzt. Natürlich wollte sie nicht! Was ging nur in ihr vor? Aber alles, was sie sehen konnte, war der See. Und da war die Gewißheit, daß sie aufstehen mußte – ja, genau jetzt – und zu dem See gehen mußte.
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Sie weinte; solche Angst hatte sie vor diesem Etwas, das ihren Willen übernommen und ihren Widerstand gebrochen hatte, das sie etwas tun ließ, vor dem sie sich fürchtete, daß sie am ganzen Körper zitterte, als sie aus dem Bett glitt. In diesem Augenblick sah sie die Augen! Zuerst schienen sie nur zwei gelbe Punkte am Boden zu sein, wo sie den Teller mit Wasser für Odysseus hingestellt hatte. Aber als sie sich bewegten...! Jill griff hastig nach der Taschenlampe. Ihre Hände waren vom Schweiß so schlüpfrig, daß sie die Lampe beinahe fallen ließ. Aber irgendwie brachte sie es fertig, den Strahl auf den Teller zu richten. Da war etwas in dem Teller, das das Wasser zum Überschwappen brachte, indem es mit immer heftiger werdenden Bewegungen hin und her zuckte. Aber außer den vagen Umrissen konnte sie es kaum erkennen. »Atmen – ich kann nicht atmen!« Jills heiseres Flüstern veranlaßte Odysseus zu einem weiteren leisen Fauchen. Aber sie konnte atmen, hier gab es keinen Smog. Dies war eine Freizone. Was war los...? Plötzlich begriff sie – es ging nicht um sie – es war das Ding dort, das sich in dem Teller bewegte – es konnte nicht atmen – es brauchte Wasser. Jill rannte zur Tür und machte einen großen Bogen um den Teller mit dem Etwas. Sie legte die Taschenlampe auf den Boden, schlüpfte zur Tür hinaus und huschte in die Küche. Der Küchenschrank stand rechts, dort hatte sie den großen Kessel gesehen, als Tante Abby vom Einmachen sprach.
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Mondlicht fiel in die Küche und erhellte den Raum, so daß sie den Schrank finden und den Kessel herausnehmen konnte. Dann füllte sie ihn mit Wasser – sie versuchte so leise wie möglich zu sein. Nicht zu voll, sonst würde sie ihn nicht mehr tragen können. Natürlich verschüttete sie auf dem ganzen Weg zurück zum Schlafzimmer Wasser. Die Bewegungen in dem Teller hatten fast aufgehört. Das Gefühl in ihrem Innersten ließ Jill den Atem anhalten – das Ding lag im Sterben. Jill überwand ihre Furcht und Abscheu, durchquerte irgendwie das Zimmer, riß den Teller an sich, bevor ihr Entsetzen sie lähmen konnte, und kippte den Inhalt in den Kessel. Etwas Fremdes berührte ihre Finger, als es ins Wasser platschte. Doch sie konnte es kaum sehen! Sie kniete sich vor dem Kessel nieder, nahm die Taschenlampe und leuchtete in die Tiefe. Es – es war wie etwas aus Glas! Sie sah die vorstehenden Augen, sie waren sichtbar und einige andere Teile auch, Aber der Rest schien mit dem Wasser zu verschmelzen. Jill atmete erleichtert auf. Der Zwang, der sie an die Bedürfnisse dieses Wesens gekettet hatte, war von ihr genommen. Sie war frei. Sie ging neben dem Kessel in die Hocke und leuchtete mit der Lampe auf das Ding. Eine Weile bewegte es sich noch unruhig, aber dann hatte es sich friedlich am Boden niedergelassen. 90
Ein Geräusch aus der Dunkelheit, Odysseus hatte seinen Kopf über die andere Seite des Kesselrandes gestreckt, um den Insassen zu begutachten. Er knurrte nicht, stand nur einen Augenblick oder zwei da; dann sprang er wieder auf das Bett – wie jemand, der gerne weiterschlafen würde, jetzt, da die ganze Aufregung vorbei war. Für eine Zeitlang war das Ding versorgt, stellte Jill fest. Sie war jetzt eher verwirrt als beunruhigt. Sie hatte so wenig Ahnung von den Dingen, die im Draußen lebten – sie wußte lediglich das, was sie gelesen oder von Marcy und aus eigener Beobachtung gelernt hatte. Aber wie hatte dieses Ding es geschafft, sie aufzuwecken, wie hatte es sie wissen lassen, was es brauchte, um überleben zu können? Sie konnte sich nicht daran erinnern, je von nichtmenschlichen Dingen gehört zu haben, die einen durch Gedankenübertragung dazu bringen konnten, etwas zu tun, was sie wollten. Als sie sehr klein gewesen war, hatte sie – in dem alten Märchenbuch, das ihrer Mutter gehört hatte – eine Geschichte über einen Frosch gelesen, der in Wirklichkeit ein Prinz gewesen war. Aber das war nur ein Märchen. Dieses fast durchsichtige Etwas war mit Sicherheit kein Mensch gewesen! Es kam aus dem See, davon war sie überzeugt. Ihre Vision kurz nach dem Aufwachen ließ keinen Zweifel daran. Und dahin wollte es zurück. Heute nacht? Es war fast so, als hätte sie unabsichtlich eine Frage gestellt! Ein seltsamer Drang bemächtigte sich ihrer Gedanken. Ja – jetzt – jetzt! Es antwortete ihr ebenso
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wahrhaftig, als wäre es zur Oberfläche des Wassers geschwommen und hätte ihr die Antwort zugerufen. In die Nacht hinausgehen? Jill zuckte zusammen. Sie wagte es nicht, sie konnte es einfach nicht. Aber das Ding – es tat dasselbe wie vorher – jetzt trieb es sie dazu, es zurückzubringen. Jill kämpfte mit ihrer ganzen Willensstärke dagegen an. Sie konnte jetzt nicht zu dem See hinuntergehen. Sie keuchte – das Ding – es ließ sie wieder etwas fühlen, das es selbst fühlte – sein vorangegangener Todeskampf war durch das Wasser im Kessel nur für eine Weile gemildert. Es mußte zu dem See zurückgebracht werden, und zwar bald. Langsam stand Jill auf und zog sich an. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie den Weg bei Nacht finden würde. Aber das Ding ließ ihr keine Ruhe. Den Kessel in der einen Hand, die Taschenlampe in der anderen, schlüpfte sie in die Dunkelheit hinaus. Da waren so viele leise Geräusche – vielleicht verschiedene Insektenarten, einige Vögel. Vor den schlechten Zeiten hatte es Tiere gegeben – vor der Flurbereinigung, bei der fast alles getötet worden war, was Luft verbrauchte, weil die Menschen sie benötigten. Vielleicht – hatten hier im Draußen ein paar Tiere überlebt. Besser nicht daran denken! Mit jedem Schritt spritzte Wasser über den Kesselrand, und Jill nahm den kürzesten Weg zum See. Als sie hinter der ersten Buschreihe war, knipste sie die Lampe an und fand den jetzt schon vertrauten Weg. Aber sie konnte nicht rennen, wie sie es am
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liebsten getan hätte, sondern mußte langsam gehen, um auf dem unebenen Gelände nicht zu stolpern. So erreichte sie das Seeufer. Der Mond schien so hell, daß sie die Taschenlampe ausknipste. Da nahm sie die Bewegung wahr – die Ränder der dichten Pflanzenbänke, die vom Grund des Sees bis knapp über die Wasseroberfläche gewachsen waren, befanden sich in ständiger Bewegung, ein Kräuseln im Wasser. Bruchstücke von Blättern und Stengeln wurden herausgerissen und trieben zu den unbedeckten Flächen, wo sie in einen Strudel gerieten und völlig hinuntergezogen wurden. Aber nichts deutete darauf hin, was die Ursache dafür war. Hinein – hinein! Der Gedanke durchzuckte ihr Bewußtsein wie ein Schrei. Jill legte die Taschenlampe hin, nahm den Kessel in beide Hände und leerte den Inhalt über die Böschung ins Wasser. Dann, von der Aufgabe, die das Ding ihr übertragen hatte, gänzlich erlöst, schnappte sie die Taschenlampe und rannte in Richtung des Hauses; der leere Kessel schlug gegen ihre Beine. Ihr Herz hörte nicht eher auf zu hämmern, bis sie wieder in ihrem Bett lag. Odysseus, wieder warm und schwer an ihren Füßen, schnurrte ein wenig, als sie nach unten griff, um sein Fell zu streicheln. Am nächsten Morgen hatte Marcy eine Neuigkeit. »Diese Williams werden versuchen, den See in die Luft zu sprengen, weil sie fürchten, daß etwas Giftiges drin ist. Beeny hat völlig den Verstand verloren, und alle Williams sind in die Stadt gefahren, um eine Sprenggenehmigung zu bekommen.«
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»Das – das können sie nicht machen!« rief Jill, obwohl sie den Grund für ihre schnelle Ablehnung zuerst nicht verstand. Marcy sah sie prüfend an. »Was weißt du davon?« Jill erzählte ihr von dem Abenteuer der letzten Nacht. »Laß uns nachsehen – gleich jetzt!« war Marcys Antwort. Jill entdeckte, daß ihre Neugier stärker war als die Furcht der vergangenen Nacht, die immer noch nicht ganz gewichen war. »Sieh dir das an, sieh dir das nur an!« Marcy starrte auf den See. Die Flächen offenen Wassers waren an diesem Morgen ganz deutlich größer. Die Umtriebe in der letzten Nacht mußten das bewirkt haben. »Wenn diese unsichtbaren Dinge die ganzen wuchernden Pflanzen entfernen«, bemerkte Marcy, »dann tun sie sicher etwas Gutes. Dieses alte Unkraut hat eine Menge Arger verursacht. Mein Vati sagt, es vermehrte sich so stark, daß es den Sauerstoff verdrängte, und dann starben die Fische und all die anderen Lebewesen, nur das Unkraut gab es weiterhin. Als es auf das Ende zuging, versuchten einige der Männer, denen die großen Häuser auf der anderen Seeseite gehörten, alles mögliche. Sie besorgten sogar neue Fischarten, von denen sie annahmen, sie würden das Unkraut fressen, und setzten diese aus – sie brachten sie von Afrika, Südamerika und von ähnlichen Gegenden hierher. Aber es half alles nichts. Die meisten der Fische konnten hier nicht leben und starben einfach – und die anderen – ich glaube, davon gab es einfach nicht genug.«
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»Unsichtbare Fische?« Wenn es eine vernünftige Erklärung für letzte Nacht gab, war Jill nur zu begierig, sie zu hören. Marcy schüttelte den Kopf. »Hab' noch nie etwas von solchen Fischen gehört. Aber sie sollten ihre restliche Zeit gut nutzen. Wenn die Williams den See in die Luft sprengen...« »In die Luft sprengen?« »Mit Dynamit – sprengen.« »Aber das können sie nicht tun!« Jill wollte so laut schreien, daß die Williams dahinten in ihrem verdammten alten Haus jedes Wort verstehen konnten. »Ich werde es Onkel Shaw erzählen – gleich jetzt!« Marcy folgte ihr zum Haus. Es würde fast so viel Mut kosten, in Onkel Shaws verbotenes Zimmer zu gehen, wie den Kessel zu dem See zu bringen. Aber so wie das hatte erledigt werden müssen, so mußte auch dies getan werden. Vor der Küche blieb sie stehen. Tante Abby war dort am Arbeiten, und wenn sie hineingingen, würde sie es nicht zulassen, daß Jill Onkel Shaw störte. Es war besser, um das Haus herumzugehen zu dem großen Fenster. Das war jedoch leichter gesagt als getan, denn das Gebüsch war sehr dicht. Doch Jill kämpfte sich mit einer Kraft vorwärts, von der sie vorher nichts geahnt hatte. Dann schaute sie in den langgestreckten Raum. Da waren Bücher, einige dicht beieinander auf Regalen, andere unordentlich in Stößen auf dem Fußboden, und ein langer Tisch, auf dem alles mögliche herumlag.
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Und in einem großen Sessel saß Onkel Shaw, saß einfach nur da – und schaute genau auf das Fenster. Er verzog keine Miene, als ob er Jill gar nicht gesehen hätte. Sie beugte sich vor und klopfte gegen die Scheibe; sein Kopf fuhr herum, als hätte sie ihn aufgeweckt. Dann runzelte er die Stirn und bedeutete ihr wegzugehen. Aber Jill tat, was sie sich vor einem Tag noch nicht getraut hätte, sie wich nicht zurück, deutete auf das Fenster und forderte ihn auf, es zu öffnen. Nach einem langen Augenblick stand Onkel Shaw auf; er bewegte sich sehr langsam, als wäre es sehr anstrengend. Er kam und öffnete das breite Fenster, das einmal eine Tür zu dem überwucherten Innenhof gewesen war. »Geh weg«, sagte er barsch. Jill hörte hinter sich ein Rascheln, als ob Marcy gehorchen würde. Aber sie hielt stand, obwohl ihr Herz wieder schnell pochte. »Du mußt sie aufhalten«, sprudelte es aus ihr heraus. »Sie aufhalten – wen aufhalten – von was abhalten?« Er sprach so langsam, wie er sich bewegt hatte. »Sie abhalten, den See zu sprengen. Sie werden all die Unsichtbaren töten –« Jetzt erst sahen seine Augen sie wirklich und schauten sie nicht nur an wie etwas, das ihn belästigte. »Jill... Marcy...«, er sah sie verwirrt an. »Wovon redet ihr überhaupt?«
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»Die Williams wollen den See in die Luft sprengen, weil Beeny dieses Erlebnis gehabt hat«, sagte Jill so schnell sie konnte, entschlossen, ihm alles schnell zu erzählen, solange er zuzuhören schien. »Das wird alle Unsichtbaren töten. Und sie fressen das Unkraut – oder zumindest brechen sie es ab, reißen es heraus und versenken es oder so. Heute morgen ist schon viel mehr klares Wasser zu sehen.« »Klares Wasser?« Er kam heraus und bahnte sich seinen Weg durch das Gestrüpp am Fenster. »Zeigt es mir – und dann sag mir nochmal, was du da gerade erzählst.« Als Onkel Shaw am Seeufer stand und sie ihm das klare Wasser zeigten, erzählte Jill ausführlich von Odysseus' Fang und dessen Ausgang. Von Zeit zu Zeit unterbrach er sie, um sich etwas wiederholen zu lassen, aber schließlich kam sie zum Schluß. »Verstehst du – wenn sie den See sprengen – dann werden die Unsichtbaren – sie alle werden sterben!« beendete sie ihre Geschichte. »Und du sagst, es hat mit dir gesprochen – in deinen Gedanken...« Zum dritten Mal kam er auf diesen Teil ihres Berichts zurück. Sie wurde ungeduldig. Es kam jetzt darauf an, die Williams aufzuhalten, und nicht über das nachzugrübeln, was letzte Nacht geschehen war. »Gesprochen kann man nicht sagen, es ließ mich nur fühlen, wie schlecht es sich selbst fühlte, so, als wäre ich irgendwo eingeschlossen, wo die Luftversorgung ausgefallen war. Es war schrecklich!«
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»Es brauchte also Wasser... Aber nach deinem Bericht war es doch ziemlich lange ohne Wasser gewesen.« Sie nickte. »Ja, es brauchte furchtbar dringend Wasser. Es warf sich in dem Teller, den ich für Odysseus gebracht hatte, hin und her. Dann holte ich ihm den Kessel, aber das war nicht genug – es brauchte den See. Als ich es zum See brachte – da sah ich dieses Reißen an dem Unkraut – große Teile wurden losgerissen und versanken. Aber wenn die Williams – « Er hatte die ganze Zeit über sie hinweg auf das Wasser gestarrt. Plötzlich drehte er sich um. »Folgt mir!« befahl er ihnen schroff, und sie mußten sich beeilen, um ihm auf den Fersen zu bleiben. Sie gingen zu Marcys Haus, und sie mußte Marcys Vater die Geschichte noch einmal erzählen. Als sie fertig war, schaute Onkel Shaw Major Scholar an. »Was glaubst du, Price?« »Da gab es doch diese importierten Fische, die Jacques Brazan gekauft hatte –« »Etwas, das unsichtbar im Wasser ist, aber ziemlich lange auf dem Trockenen überleben kann. Etwas, das einen Notruf ›denken‹ kann. Klingt das nach Brazans Tierchen?« »Wenn ich es mir recht überlege, nein. Aber an was denkst du dann, Shaw? Auf keines der alten, hier einheimischen Tiere paßt diese Beschreibung.« »Ich habe einen verwegenen, einen sehr verwegenen Verdacht.« Onkel Shaw rieb sich die Hände. »So verwegen, daß du mich zusammen mit Beeny einsperren
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könntest, deshalb werde ich jetzt auch noch nichts davon sagen. Was hatte Brazan im See ausgesetzt?« »Müßte in den Aufzeichnungen stehen.« Major Scholar zog ein Notizbuch aus seinem Schreibtisch. »Da steht es...« Er fuhr mit dem Finger eine Liste herunter. »Nichts, das auch nur die geringste Ähnlichkeit hätte. Aber erinnerst du dich an Arthur Pierce? Er drehte an jenem Tag durch und versenkte seine Sammlung im See.« »Allerhand seltsame Dinge waren darunter! Aber es gibt keine Aufzeichnung darüber...« »Vati«, meldete sich Marcy zu Wort. »Ich kann mich an das große Aquarium von Dr. Pierce erinnern. Da war ein Fisch, der auf seinen Flossen aus dem Wasser ging, und springen konnte er auch. Er hat ihn mir einmal gezeigt, als ich klein war, kurz nachdem wir hierher gezogen waren.« »Schlammspringer!« Ihr Vater nickte. »Warte –« Er ging zu einem großen Bücherregal und begann, mit einem Finger an den Titeln der Bücher entlang zu fahren. »Hier – jetzt – « Er zog ein Buch heraus und schlug es auf dem Schreibtisch auf. »Schlammspringer – aber – wart' mal! Hör mal zu, Shaw!« Er fing an vorzulesen, ließ jedoch einiges aus. »Zwergmeergrundel – farblos, abgesehen von den Augen – im Wasser praktisch durchsichtig... Nein, der ist ja nur knapp einen Zentimeter lang –« »Es war viel größer«, wandte Jill ein. »Zu groß für den Teller, den ich für Odysseus hingestellt hatte. Es sprang darin hin und her und versuchte, im Wasser unterzutauchen.« 99
»Eine Mutation – vielleicht«, sagte Onkel Shaw. »Das würde zu meiner Vermutung passen.« Aber er erklärte nichts weiter, sondern sagte statt dessen: »Price, heute nacht gehen wir angeln!« Er ist plötzlich wie umgewandelt, dachte Jill. So als ob der Onkel Shaw, den sie seit ihrer Ankunft erlebt hatte, geschlafen hätte und erst jetzt völlig erwacht wäre. »Aber die Williams werden den See...«, erinnerte sie ihn. »Nicht jetzt – zumindest nicht gleich. Das hier ist wichtig genug, um ein paar Beziehungen spielen zu lassen, Price. Glaubst du, wir können sie noch einsetzen?« Major Scholar lachte. »Versuchen kann man's immer, Shaw. Ich würde meinen Kopf auf dich setzen.« Nach Einbruch der Dunkelheit versammelten sie sich am Seeufer. Onkel Shaw und Major Scholar hatten nicht gesagt, daß Jill und Marcy nicht mitkommen könnten, und so waren sie eifrig dabei, und auch Tante Abby und Mrs. Scholar waren da. Aber an den Rändern der Pflanzenfelder waren in dieser Nacht keine Strudel zu sehen. Hatte – hatte sie das alles nur geträumt, fragte sie sich ängstlich. Und was würden Onkel Shaw und Major Scholar sagen, wenn keine Unsichtbaren kamen? Dann – genau wie es letzte Nacht von dem verzweifelten Gefangenen in dem Teller plötzlich in ihr Bewußtsein gedrungen war – wußte sie es. »Sie werden nicht kommen«, sagte sie mit Überzeugung. »Sie wissen, daß du – daß du sie fangen willst!« Sie
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deutete auf das Netz und den großen Wasserkessel, den sie mitgenommen hatten. »Sie haben Angst zu kommen.« »Woher wissen sie das?« fragte Onkel Shaw ruhig. Er sagte nicht, daß er ihr nicht glaubte, wie sie es erwartet hätte. »Sie – irgendwie wissen sie, wann Gefahr da ist.« »OK.« Er hatte sich auf der Uferböschung niedergekniet, jetzt stand er auf. Aber er hielt noch einmal inne, warf das Netz hinter sich und kickte den Kessel um, so daß das Wasser die Böschung hinabfloß. »Wir werden nicht versuchen, sie zu fangen.« »Aber – «, Major Scholar begann zu protestieren, fuhr dann aber in einem anderen Ton fort: »Ich verstehe – ich verstehe, was du meinst – wir haben nach dem alten Schema reagiert – haben dieselben alten Fehler gemacht.« Sie waren jetzt alle aufgestanden, und der Mond begann den See zu versilbern. Plötzlich bewegten sich die Ränder der Pflanzenfelder, das Wasser kräuselte sich und schäumte auf. Die Unsichtbaren waren wieder da. Onkel Shaw streckte die Arme aus und nahm Jill und Tante Abby bei den Händen. »Ich glaube, Price, daß wir vielleicht – nur vielleicht – eine zweite Chance bekommen haben. Wenn wir bereit sind, einen neuen Weg einzuschlagen, können wir sie wahrnehmen – nicht mehr die alten Fehler –« »Vielleicht, Shaw.« »Du wirst die Williams doch nicht –«, begann Jill.
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»Nein!« Das Wort erklang so scharf und klar wie ein Schrei. Es schien über dem mondgetränkten Wasser widerzuhallen, wo jenes ungebändigte, quirlige Leben war. »Nicht jetzt, niemals – das verspreche ich dir!« Aber Jill glaubte nicht, daß er ihr antwortete; er sprach zu den Unsichtbaren. »Der Mond ist sehr hell heute nacht –«, sagte Tante Abby fast ein wenig eingeschüchtert. »Vielleicht ruft er seine Schützlinge. Pierces Wesen mögen den Samen gelegt haben, aber vergiß nicht«, sagte Onkel Shaw langsam, »da unten war noch etwas anderes ...« »Das Mondgestein!« rief Marcy. »Shaw, du denkst doch nicht etwa –!« Major Scholar klang ungläubig. »Price, im Augenblick denke ich gar nichts, jetzt ist es Zeit, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Wenn Wilsons Vermutung richtig war, und die Felsstücke von der letzten Expedition tatsächlich einen Keim des Lebens einschlössen – einen Keim, der hier gediehen ist –, dann stell dir nur vor, Mann, was der Rest dieser Ausbeute vom Mond für diese Welt jetzt bedeuten könnte!« »Und wir wissen genau, wo –« Onkel Shaw lachte. »Ja, Price. Jetzt, da die Steinbrocken verstaubt und fast vergessen sind – warum sollten wir sie nicht hier auf nutzbringende Art und Weise verwenden. Und dann warte ab, was in der Welt geschieht, die wir verseucht haben! Vielleicht liegt die Lösung für unser Problem genau da, und wir waren zu blind, sie zu sehen!« 102
Auf dem See wurde das Mondlicht da in tausend Teilchen zersplittert, wo die Unsichtbaren an der Arbeit waren.
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Der Eroberer MARK CLIFTON Von Padre Thomas war er auf den Namen Juan Rafael de la Medina Torres getauft worden, im übrigen wurde er aber auch Pepe genannt. Als er seinen fünften Geburtstag feierte, hatte sein Körper die kindlichen Rundungen verloren, und die hervorstehenden Backenknochen, ein Erbe seiner indianischen Eltern, begannen sich abzuzeichnen. Und sein Kopf steckte voller Träume. Denn für einen Jungen, der nichts kannte als den Pfad, der von dem Vulkan hinunterführte zum Dorf, wo auch die Mission stand, und den Pfad hinauf zum Berg, wo sein Vater mühselig Mais und weiße Bohnen pflanzte, und höchstens noch den Pfad rund um den Vulkan hinüber zur Kaffeeplantage – für so einen Jungen waren dies in der Tat Träume. Sein Papa hätte erstaunt den Kopf geschüttelt und ihn mit zwar nicht sehr strengen, aber nachdrücklichen Worten ermahnt, lieber mehr Schilf zu sammeln, als daran zu denken, die Welt zu erobern. Manchmal träumte Pepe davon, ein mächtiger brujo zu sein, den die Leute sogar mehr achteten als den Dorfältesten – jawohl, viel mehr als einen, der alt war und keine Zähne mehr hatte und der seine geheimen Kräfte nie zum Zaubern gebrauchte. Wenn er einmal so mächtig war, würde seine Schwester für alles büßen müssen, was sie ihm schon angetan hatte. Natürlich würde er ihr nicht zu weh
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tun, denn sonst würde ja Padre Thomas mit ihm schimpfen. Wenn sie also genug Buße getan hätte, würde er ihr verzeihen und ihr so schöne Kleider schenken, wie die Senora Nord Americana trug, die er einmal im Dorf gesehen hatte. Meistens aber wollte er in seinen Träumen noch viel höher hinaus. Er träumte davon, El Presidente de Guatemala zu werden. Er hatte zwar El Presidente noch nie gesehen, weil dieser in einem schönen Palast in Guatemala City wohnte, aber sicher war er ein so großer Mann wie Padre Thomas selbst. So träumte Juan Rafael de la Medina Torres, der von allen Pepe gerufen wurde. Bis zu einem gewissen Tag. Natürlich wußte Pepe, daß man die Wurzel der wilden Dahlie nicht essen konnte. Aber die Knollen der Dahlie sahen so saftig aus, daß er immer eine der Knollen versuchte, wenn er eine Wurzel ausgrub. Man konnte ja nie wissen! Eines Tages, als er wieder Schilf sammeln sollte, kam ihm ganz zufällig eine Dahlie in die Hand. Er zog daran und riß sie schließlich mit der Wurzel aus. Es war eine schöne Pflanze, mit einem dicken Stengel und vielen Knollen. Und wieder brach er eine der Knollen ab und versuchte sie. Ein Leuchten ging über sein Gesicht, denn sie schmeckte wirklich gut. Seine Schwester, die schon immer etwas vorlaut war, hatte ihm von einem Baum aus zugeschaut. Schleunigst kletterte sie herunter und rannte zu ihrer Mutter hinüber,
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um ihn zu verpetzen; Pepe habe schon wieder von dem schmutzigen Zeug gegessen. Mama legte ärgerlich ihre Schilfmatte nieder, die sie gerade flocht, und erhob sich. Sein ungewöhnliches Benehmen verdutzte sie so, daß sie mit ihrem Schimpfen innehielt und mißtrauisch an der Wurzel roch, anstatt ihm den gewohnten Knuff in die Seite zu geben. Dasselbe Leuchten ging über ihr Gesicht, als sie einen Bissen davon gekostet hatte. Sorgfältig las sie die übrigen Knollen zusammen, die auf dem Erdboden verstreut lagen. Marguerita, die Schwester, beobachtete sie mit weit geöffneten Augen. Sogar ihr nimmermüdes Mundwerk war zur Ruhe gekommen. Sie schneuzte ihre Nase durch die Finger und kam näher, aber nicht so nahe, daß Pepe sie hätte fassen können. Ihre Augen wurden noch größer und ihr Mund öffnete sich vor maßlosem Erstaunen, als Pepe und ihre Mama ihr bereitwillig ein Stück von der Knolle zum Versuchen gaben. Auch sie biß ein Stückchen ab und kostete es. Niemand war erstaunt, als sie ihre Arme um ihren kleinen Bruder schlang und ihn »Pepito« nannte. Nicht einmal diese ungewohnte Zärtlichkeit vermochte seinen inneren Frieden zu stören. Nun gruben sie alle drei die übrigen Dahlien mit den Wurzeln aus und kosteten davon, aber alle anderen Knollen waren zäh und bitter. Nur die Knollen dieser einzigen Pflanze schmeckten gut. Mama führte ihre Machete so vorsichtig wie ein Barbier sein Rasiermesser, als sie nun sorgfältig die Knolle so
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auseinanderschnitt, daß an jedem Stück ein Auge blieb und sich daraus eine neue Pflanze entwickeln konnte. Während Pepe und seine Schwester ihr neugierig zuschauten, grub sie die zehn Knollenstücke in die gute Vulkanerde neben dem Eingang zu ihrer Hütte. Hier hatte sie die jungen Pflanzen immer vor Augen und konnte ihr Gedeihen täglich überwachen. Papa würde glauben, sie habe einen Sonnenstich bekommen, wenn er erfuhr, daß sie Dahlien züchtete. Deshalb schnitt sie von der letzten Knolle noch ein kleines Stückchen ab und hob es für ihn auf. Den ganzen Tag über arbeiteten sie und ihre Kinder friedlich und fleißig miteinander. Solange er von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Stelle werfen konnte, wo die Knollen eingegraben worden waren, war Pepe glücklich. Er sammelte mehr Schilf zum Flechten als je zuvor. Auch Marguerita widmete sich zum ersten Male willig der Aufgabe, das Flechten zu erlernen. Nur ab und zu unterbrach sie ihre Arbeit, um hinüber zu dem Fleckchen Erde zu schauen, wo die Dahlien gepflanzt worden waren. Mama schimpfte deswegen nicht, denn auch sie fand, daß sie ab und zu hinüberschauen müsse. Die Sonne war schon untergegangen, als Papa von seiner Arbeit in der Kaffeeplantage zurückkam. Richtig wütend schaute er drein und sein Gesicht wurde feuerrot, als er aus dem Schilfdach ihrer Hütte keinen Rauch aufsteigen sah und nicht den vertrauten Duft der weichgekochten, weißen Bohnen roch. Aber beim ungewohnten Anblick seiner Frau und seiner Kinder, die fleißig in der Dämmerung arbeiteten, verhielt er seinen Wutausbruch. 107
Als Mama ihn durch die Tür hereinkommen sah, sprang sie flink und leichtfüßig wie ein junges Mädchen auf. Schnell hielt sie ihm das Knollenstückchen entgegen, das sie für ihn aufgespart hatte. Er nahm es und betrachtete es eingehend. Dann schaute er sie fragend an. »Iß davon«, sagte sie. Erstaunt, aber auch mißtrauisch, biß er ein winziges Stückchen ab und kostete es. Schon bei diesem einen Bissen ging dasselbe Leuchten über sein Gesicht, das nachmittags über die Gesichter seiner Familie gegangen war. Erst gegen Mittag des nächsten Tages verspürten sie zum ersten Male wieder Hunger. Und erst mehrere Tage später, als die narkotische Wirkung der Knollen verflogen war, verschwand wieder die Verklärtheit von ihren Zügen. Pepe und seine Schwester balgten sich wie die wilden Tiere, während Mama wie früher wetterte und schimpfte. Auch Papa brummte und war unwirsch wie zuvor. Trotzdem hütete die ganze Familie mit größter Sorgfalt die Stelle, an der die Dahlien gepflanzt worden waren. Selbst bei ihrem wildesten Toben vergaßen Pepe und Marguerita nie, sich von dieser Stelle fernzuhalten. Die fahlen, saftigen Triebe erschienen an der Oberfläche und wuchsen sehr rasch. Täglich, fast stündlich, wachte die Familie darüber, daß kein Wurm und keine Schnecke die zarten Triebe beschädigte und daß keines der Küken an den jungen Blättchen fraß. Auch der Hund durfte sich hier kein Lager zurechtscharren.
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Zwei Monate später begannen die Dahlien zu blühen, und die Familie Torres wußte, daß sich unten im Schoß der Erde neue Knollen bildeten. Die Blätter und die Blüten schmeckten nicht gut, aber als sich die Blüten öffneten, waren die ganze Hütte und der große Garten von ihrem wohlriechenden Duft erfüllt. Und wieder wurde die Familie Torres friedfertig und gut. Kein böses Wort wurde mehr gesprochen. Papa lag nie mehr im Schatten des Suquinay-Baumes, wo er früher seinen Chica getrunken hatte und dann seine Freunde mit der Machete bedrohte, um eine Minute später vor Reue und Scham zu weinen. Marguerita ärgerte Pepe nicht mehr, sondern verbrachte die Tage damit, eifrig Matten zu flechten. Und auch Pepe stellte keine Fallen mehr auf, um Papageien zu fangen und sie zu quälen. Keiner hatte mehr bei Padre Thomas eine Sünde zu beichten, wie dies früher ach so oft der Fall gewesen war. Schließlich hielt es Padre Thomas nicht mehr länger aus. Er kannte doch seine Indianer und wußte daher, daß im Hause Torres etwas passiert sein mußte. Kein Indianer konnte so brav sein, wie es diese in ihren Beichten behaupteten. Das war unmöglich. Er begann, für ihr Seelenheil zu fürchten. Und so erschien er eines Tages bei den Torres vor ihrer Hütte, wo sie gerade dabei waren, Dahlien auszugraben. Mit Erstaunen bemerkte er, wie vorsichtig sie mit diesen wilden Pflanzen umgingen und welch heiterer Friede auf ihren Zügen lag.
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Als Mama Torres ihn kommen sah, brach sie ein Stückchen von einer Knolle ab, gab es dem guten Padre und bedeutete ihm, er solle davon essen. Um seiner Arbeit und seines Berufes willen hatte Padre Thomas schon vieles auf sich nehmen müssen. Und so zögerte er auch nicht, in die scharfe, bittere Wurzel zu beißen, wenn es darum ging, das Vertrauen seiner Kinder zu gewinnen. Und wie er da stand, auf der umgegrabenen, schwarzen Erde vor der Hütte, glaubte Padre Thomas plötzlich, über ihm jubiliere der himmlische Chor und besinge den ewigen Frieden. Dieses Mal hatte es mehr als hundert Pflanzen gegeben; Padre Thomas blieb bei ihnen und half, bis die letzte sicher heil wieder in die Erde versenkt worden war. Und als er fand, daß auch er bis zum nächsten Tage nichts mehr zu essen brauchte, kam er zurück zum Hause Torres, um sie zu ermahnen: »Behütet sie vorsichtig, meine Kinder.« Ein paar Knollen hatten sie für ihn aufgespart und gaben sie ihm mit. Er trug sie in den Garten der Mission und pflanzte sie dort ein. Als Pepe acht Jahre zählte, waren es schon tausend Pflanzen. Mit der Zeit wurden zehntausend daraus. Überall im Dorf wurden sie gezüchtet. Friede und Wohlstand waren im Dorf eingekehrt. Niemand erhob mehr die Hand gegen seinen Bruder. Selbst die Hühner, die Schweine und die Hunde wurden liebevoll gepflegt.
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Schon vor langer Zeit hatte Padre Thomas Knollen dieser Pflanze nach den anderen Dörfern und Missionen geschickt, und es dauerte nicht mehr lange, bis ganz Guatemala regelmäßig von der Dahlie aß. Jedermann wußte, daß das Militär insgeheim ein Komplott schmiedete, um El Presidente zu stürzen – manana – und eines Tages würden sie sich vielleicht dazu hinreißen lassen. So bekannt war dieses Komplott, daß schon ein zweites Komplott geschmiedet wurde, mit dem die Anführer des ersten gestürzt werden sollten. Jetzt fand ein Revolutionär nach dem anderen – die des ersten und die des zweiten Komplotts – daß es ihm besser gefiel, in seinem Garten die Dahlie zu züchten. Sie alle gingen nun gemeinsam daran, in vielen erfolgreichen Konferenzen stundenlang miteinander darüber zu diskutieren, wie man auf eine neue Weise dem Steuerzahler Geld ersparen und die Soldaten zu friedlichen Zwecken verwenden könne. Die Politicos hörten auf, die Staatskasse zu plündern und Geld an Banken im Ausland zu überweisen, damit sie dort in Freuden leben konnten, nachdem die Revolution gesiegt hatte, die sie selbst anstifteten, um einen Vorwand für ihre Flucht ins Ausland zu haben. Statt dessen bauten sie nun Schulen und Straßen für das Volk. In ganz Guatemala gab es kein Elend mehr, und die Menschen waren gut. Jeder Tag war wie ein Fest, denn die Menschen freuten sich die ganze Zeit über wie bei einer richtigen Fiesta. Welch größere Freude konnte es geben, als dem Wachsen der Dahlie zuzusehen? Jeden Tag häuften sich die Knollen am Marktplatz zu hohen Bergen, damit 111
jeder Städter seinen Anteil an dieser wunderbaren Frucht haben konnte. Und der Marktplatz war jeden Tag überfüllt mit Menschen aus allen Teilen der Welt; sie kauften von dieser Pflanze und schickten sie nach Hause, damit sie dort gezüchtet werde. Wie überall, war auch in den Botschaften in Guatemala City das endlose Wechselspiel der Spionage und Gegenspionage getrieben worden. Kein Geschäftsmann aus Nordamerika machte eine Bewegung, die nicht sofort sein Gegenspieler in England erfuhr. Jeder Hindu beobachtete einen Moslem, und jeder Moslem beobachtete einen Hindu. Selbst Wun Sing Lo, der seit zwanzig Jahren die Wäsche anderer Leute wusch, gab Meldungen weiter, indem er die Hemden der Geschäftsleute kennzeichnete. Die Regierungen der Welt waren an umfangreiche Berichte gewöhnt und arbeiteten sich, gähnend vor Langeweile, durch diesen Papierwust hindurch. Die Tüchtigkeit eines Diplomaten wurde nach dem Umfang seiner Meldungen beurteilt und nach der Häufigkeit, mit der er Krisen aufdeckte. Deshalb dauerte es geraume Zeit, bis den Regierungen auffiel, daß aus Guatemala keine solchen Meldungen mehr kamen. Friede, Wohlstand und guter Wille sprachen aus allen Berichten, die von den Spionen aus Guatemala geschickt wurden. Niemand konnte Schlechtes von seinem Nachbarn glauben, denn niemand konnte Böses denken, geschweige denn tun, wo die Dahlie gegessen wurde.
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Moskau, immer noch bemüht, eine Spitzenstellung einzunehmen, war die erste Großmacht, die ihren Botschafter zurückrief. Es verlangte Rechenschaft wegen dieser unmarxistischen Meldungen über Ruhe und Frieden in einem kapitalistischen Land. Es wollte wissen, warum die Eingeborenen in Frieden lebten, und warum nicht schon längst wieder ein Aufstand angezettelt worden war. Der Botschafter nahm einen großen Vorrat von Knollen mit auf die Reise und aß zuvor noch davon, soviel er konnte. Er hatte erfahren, daß der menschliche Körper den Nährwert der Dahlie monatelang aufspeichern konnte. So vermochte niemand, ihm etwas anzuhaben. Schließlich kam es soweit, daß ein Mitglied des Politbüros nach dem anderen die Frucht versuchte. Sogar der Leiter selbst aß davon. Dies alles dauerte geraume Zeit, und unterdessen aßen die Häupter der anderen Regierungen, die nicht jeden leisen Schatten verdächtigten, und die nicht so unzugänglich waren, schon regelmäßig von der Dahlie. Als endlich die Worte des Friedens und des guten Willens aus Moskau der ganzen Welt verkündet wurden, schallte ihnen ein hundertfaches, aufrichtiges Echo entgegen. Nach zwölf Jahren wuchs und gedieh die Dahlie in der ganzen Welt und wurde überall gegessen. Der Eskimo von der Beringstraße, der Pygmäe vom Kongo, der Buschneger in Australien, der Yak-Hirte in Tibet – sie alle aßen von der Dahlie. Zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit
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kannte die dichtgedrängte Bevölkerung von Indien und der an Hungersnot gewöhnte Chinese einen vollen Bauch und Frieden und Fortschritt. So geschah es in der Welt. Überall herrschte Glück und Freude. Pepe war nun siebzehn und schon lange in dem Alter, sich eine Frau zu suchen. Aber jetzt drängten die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht mehr, und den Kindern blieb es erspart, so früh diese große Verantwortung auf sich zu nehmen. Aber heute war er siebzehn, und heute war sein Hochzeitstag. Heute war sein wichtigster Tag, denn ab heute würde man ihn nicht mehr Pepe nennen. Ab diesem Tag würde er mit seinem vollen Namen Juan Rafael de la Medina Torres angeredet werden. Jetzt war er ein erwachsener Mann. Undeutlich erinnerte er sich daran, daß jenseits seines Dorfes noch eine Welt bestand. Wie alle seine Vorfahren kümmerte er sich nicht darum. Im Grunde genommen kannte er immer noch nur den Pfad der von dem Vulkan herabführte zum Dorf, und den Pfad hinauf zum Berg, wo sie früher Mais und Bohnen gepflanzt hatten und wo jetzt Dahlien wuchsen, oder höchstens noch den Pfad rund um den Vulkan hinüber zu der Kaffeeplantage. Barfuiß zwar, aber mit seiner schönsten Hose angetan, die wie ein Pfefferminz-Bonbon gestreift war, und eine rote Schärpe um seine schlanken Hüften geschlungen, trottete er den Pfad hinunter zur Mission, wo seine Maria
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auf ihn wartete und wo der gute Padre Thomas ein Paar aus ihnen machen würde. Das war seine Welt. Als er an der Stelle vorüberkam, an der er zum ersten Male die Dahlie gefunden hatte, erinnerte ihn dieser Anblick an seine Jugendzeit. Er lachte fröhlich, warf die Schultern zurück und atmete froh die frische Luft der Berge ein. »Was war ich doch für einer!« rief er laut aus und schüttelte lachend den Kopf. »Wie eingebildet war ich doch damals. Ich wollte die ganze Welt erobern!« Wissenswertes über die Dahlie 1. Die Dahlie verändert sich mit jeder Generation, das heißt, jede neue Pflanze unterscheidet sich in der Art von der Mutterpflanze. 2. Die Fortpflanzung geschieht jedoch auch häufig durch Knollenteilung. In diesem Fall ist die neuentstandene Art ziemlich beständig. 3. Von einer einzigen Dahlie können zehn neue Pflanzen im Jahr gewonnen werden. In zwölf Jahren könnte die Nachkommenschaft einer einzigen Pflanze also hundert Milliarden betragen. 4. Jeder Gärtner, der Dahlien züchtet, hat oft unerwünschte Knollen wegzuwerfen. Schon mancher hat dabei die Nährwerte bedauert, die dadurch verlorengehen und ausgenützt werden könnten, wenn die Knollen genießbar wären.
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5. Die Dahlie stellt keine besonderen Ansprüche an den Erdboden. Bei geeigneter Auswahl und Pflege könnte sie vom Äquator bis zur Arktis gedeihen. 6. In Guatemala wächst die Dahlie wild und hat sich dort im Laufe der Jahrhunderte zu zahllosen Abarten entwickelt. Es liegt durchaus im Bereich der Möglichkeit, daß eine dieser Abarten besondere Eigenschaften aufweist.
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Bettyann KRIS NEVILLE
Es begann zu schneien, und der Wagen rutschte ein wenig auf der nassen Fahrbahn. »Fahr bitte etwas langsamer«, sagte die Frau, und das Baby fing an zu weinen. Der Mann schaute auf das Leuchtzifferblatt der Uhr. »Wir müssen uns beeilen.« »Sie werden warten«, sagte die Frau. »Pscht«, besänftigte sie das Baby. Der Mann beugte sich leicht vor, seine Augen starrten in die Dunkelheit. Schnee wirbelte gegen die Windschutzscheibe und wurde von dem schnell klackenden Scheibenwischer abgestrichen. »Sie werden glauben, uns wäre etwas zugestoßen, und fortgehen«, sagte er. »Nein, das werden sie nicht«, meinte sie und streichelte das Baby. Der Mann verlangsamte den Wagen vor einer Kurve, die um eine naßglänzende Felswand führte. »Was sagt der Kilometerzähler?« fragte er.
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»Sechzehntausendeinhundertund... neun«, las die Frau langsam von dem schwach beleuchteten Armaturenbrett ab. »Noch sechzehn Kilometer. Dann müßte bald die Abzweigung kommen.« »Wir haben fast noch eine halbe Stunde, fahr bitte langsamer.« Widerstrebend nahm er den Fuß vom Gas. Das Baby weinte unruhig. »Der Körper steht ihr gut«, sagte die Frau. »Sie trägt ihn besser als wir.« »Wir werden Probleme haben, sie da rauszubekommen«, meinte er. »Sie kennt nichts anderes.« Einen Augenblick lang waren sie still, nur das Geräusch der Reifen war zu hören. Dann sagte die Frau: »Hat es dir gefallen?« »Es war interessant. Nette kleine Welt. Warme Grüntöne, finde ich.« »Einen schönen Sonnenuntergang hatten wir auch.« »Auf dem Planet in der Nähe von Elsini gibt es schönere Sonnenuntergänge. Weißt du noch, der mit den Wolkenformationen ...?« »Bitte, fahr langsamer, Liebling! Es macht mich ganz nervös.« Verärgert schaute er wieder auf seine Uhr. »Wir haben viel Zeit«, sagte sie. »Nach der Abzweigung ist es noch eine ganz schöne Strecke. Vergiß nicht, es sind zwei Kilometer bis zu 118
diesem gräßlichen, weißen Haus; und sie stehen noch ein ganzes Stück dahinter, damit das Schiff außer Sichtweite ist.« Die Frau liebkoste das Baby. »Auf seine Art ist es ein schöner Planet; nicht zu hart, nicht zu weich... Sie wächst tatsächlich in diesem Körper, hast du das bemerkt? Ich glaube, sie hat schon mehrere Pfund zugenommen. Schau nur, wie kräftig ihre Arme schon sind.« »Schließlich kennt sie nur diesen Körper.« »Liebling! Die Straße ist gefährlich mit diesem Wagen. Also...« »Wir sind gleich an der Abzweigung.« »Paß auf! Paß auf!« schrie sie entsetzt. Es war ein Lastwagen. Er stand quer zur Fahrbahn. Das Auto schoß die Steigung hoch direkt auf ihn zu. Im Scheinwerferlicht war kurz die Silhouette des Fahrers zu sehen, der mit dem Rücken auf der nassen Straße lag und an einem der mehrfach bereiften Hinterräder herumbastelte. Der Autofahrer sprang auf die Bremse. Die Frau hielt den Atem an. Der Wagen geriet heftig ins Schleudern, schoß auf den Straßenrand zu, verfehlte den abgestellten Lastwagen um Haaresbreite und fuhr die Böschung hinauf. Der Mann kämpfte gegen das Lenkrad und versuchte, den Wagen wieder auf die Fahrbahn zu bringen. Die Vorderräder blockierten. Keuchend riß der Mann das Lenkrad nach links; es entglitt seinen Händen; das führerlose Auto raste weiter. Der Wagen hob sich, prallte wieder auf den Boden und schleuderte eine unendliche Sekunde lang, dann stürzte er die Böschung hinab. Er überschlug sich 119
mehrmals und kam nach fast zwanzig Metern durch eine mächtige Zeder zum Stehen. Er lag reglos, nur eines der Vorderräder drehte sich müßig. Der Mann lag über der Frau, keiner der Körper bewegte sich; langsam, Sekunde um Sekunde, strömte das Leben heraus. Die zwei Körper zerfielen und lösten sich auf; alles, was übrigblieb, war feiner, grauer Staub. Oben auf der Straße richtete der bleiche Lastwagenfahrer den Strahl seiner Taschenlampe auf das Wrack. Einen Moment lang hörte er nichts. Nur das eintönige Geräusch der herunterfallenden Tropfen eines Baumes auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Dann, sehr deutlich, hörte er ein Baby weinen. Für eine lange Zeit, eine Ewigkeit nach dem Unfall, erlebte Bettyann (obwohl dies noch nicht ihr Name war) ihr Dasein als ein Durcheinander von Händen, Gesichtern, Licht und Schatten. Ihr halbes Leben lang und mehr war da zunächst ein starker, nicht lokalisierbarer Schmerz gewesen. Sie weinte, sobald eine Krankenschwester die linke Seite ihres Oberkörpers berührte, aber sie brachte den schrecklichen Schmerz nicht mit der Handlung der Schwester in Zusammenhang, und begriff auch nicht die Angst, die sie beim Geräusch eines bestimmten Schrittes überkam. Anfänglich schienen die Hände, die sie berührten, nicht näher als die weit entfernten, verschwommenen Wände zu sein. Die Dinge existierten zwar, aber sie hatten keine Beziehung zueinander, und keine zu ihr. 120
Die Gegenstände um sie herum fügten sich erstmals in eine Ordnung, als ihr bewußt wurde, daß, sobald man ein bestimmtes Etwas an ihre Lippen führte, das stechende, schmerzähnliche Gefühl, das aber nicht an ihren Lippen war, aufhörte. Später entdeckte sie, daß die hohe Lade ihres Kinderbetts die Bewegung ihrer Hand einengte. Und als sie nach und nach ein Gefühl für das Räumliche entwickelte, konnte sie deutlich den Wechsel zwischen Licht und Dunkelheit erkennen. Bald konnte sie den starken Schmerz lokalisieren, auch wenn er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr annähernd so stark war wie vorher. Es war ihre linke Körperseite, die schmerzte, und zeitweise der Bereich ihrer linken Schulter. Unwillkürlich wollten ihre Muskeln den zweiten Arm bewegen, aber der Arm reagierte nicht; reglos lag er da. Eines Tages wurde ihr bewußt, daß die Hand dieses Arms fest zur Faust geballt war. Sie versuchte, die Finger zu bewegen, aber sie bewegten sich nicht. Ihr Weinen begleitete sie in den Schlaf. Die Zeit verging schneller, nachdem sie von dem Krankenhaus in ein staatliches Waisenhaus gebracht worden war, aber immer noch waren die Monate lang, im Verhältnis zu ihrem bisherigen Leben. Eines Tages wurde ihr gewöhnlicher Trott Essen – Bewegen – Schlafen von einem fremden Duft, neuen, beruhigenden Stimmen, die freundlich plapperten, und zarten, sanften Händen unterbrochen. Die Hände waren besonders angenehm. »Ist sie nicht ein reizendes kleines Mädchen?« sagte die Frau, und der Mann stimmte ihr zu. 121
»Ihr Arm wurde bei einem Unfall verletzt«, erklärte die Krankenschwester. »Sie wird ihn nie benützen können.« Der Mann und die Frau murmelten etwas Mitfühlendes. Später – aber Bettyann konnte dies nicht wissen – sprachen der Mann und die Frau mit der grauhaarigen Heimleiterin; nach diesem Gespräch gingen sie fort, um alle Folgen der Adoption eines Kindes mit nur einem gesunden Arm zu überdenken. Der Wagen, in dem man Bettyann gefunden hatte, lag verrostet auf einem Schrotthaufen. Der Staub auf den Sitzen war ebenso restlos verschwunden wie der Schnee vom letzten Jahr. Die Untersuchung des Unfalls war abgeschlossen. In der Geschichte der Menschen hatte es schon merkwürdigere Dinge als ein zerstörtes Auto und ein verlassenes Baby gegeben und würde es wieder geben. Die freundlichen Hände blieben Bettyann im Gedächtnis, und irgendwie unzufrieden, wollte sie, daß sie wiederkehrten. Als die Hände schließlich zurückkamen (und sie nun Bettyann hieß), gluckste sie vergnügt; sie wurde hochgehoben und strampelte aufgeregt. Feierlich, als ob Bettyann die Worte verstehen könnte, sagte die Heimleiterin: »Das sind deine neuen Eltern, Bettyann. Mamma Jane und Papa Dave.« Als Ausdruck ihrer Freude brabbelte Bettyann das, was die Schwester, die sie fütterte, immer sagte: »Dada.« Die Frau zwinkerte mit den Augen, schaute auf den Säugling und fragte: »Möchtest du mit uns nach Hause gehen, Bettyann?«
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Der Mann räusperte sich. Die Augen der Heimleiterin glänzten, und sie lächelte fast ein wenig neidisch. »Ich bin überzeugt, daß sie die richtige Tochter für Sie ist, Mrs. Seldon.« »Natürlich ist sie das!« sagte Mr. Seldon. »Und intelligent ist sie. Sie hat doch gerade ›dada‹ gesagt. Sie ist schon ein halbes Genie.« »Anfangs hatten wir an ein etwas älteres Kind gedacht«, sagte die Frau. »Eigentlich waren wir uns gar nicht sicher, ob wir ein Mädchen wollten. Bis wir Bettyann sahen.« Nach weiteren, für sie nicht verständlichen Worten, spürte Bettyann, wie eine Decke stramm um sie gewickelt wurde, dann strahlenden Sonnenschein auf ihrem Gesicht und später eine Übelkeit erregende Bewegung und merkwürdige Geräusche. Bald verschwamm die Bewegung völlig mit den Geräuschen und alles wurde zu einem hektischen Summen, mit Ausnahme der auf- und niederhüpfenden Quaste von Mamma Janes Mütze und dem einschläfernden Gemurmel von Papa Dave. Aufmerksam untersuchte Jane Bettyanns Hand, und Bettyann genoß das Gefühl der warmen Handfläche um ihre Finger. »Sie sind furchtbar klein, die Finger«, sagte Jane. »Laß mal sehen«, sagte er und warf schnell einen Blick herüber. »Hmm. Ja, allerdings. Weißt du, wenn wir zu Hause sind, müssen wir eine Geburtstagstorte für sie besorgen. Das habe ich ganz vergessen.« »Ist sie dafür nicht noch ein wenig zu jung?«
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»Nein, ich finde nicht. Ich bin sicher, daß ich an meinem ersten Geburtstag eine Torte hatte. Zu jedem Geburtstag bekam ich eine. Einmal, als ich noch aufs College ging, schickte mir meine Großtante Amelia eine Torte und neunzehn kleine, in Wachspapier eingewickelte Kerzen. Natürlich muß sie eine Torte bekommen.« Jane betrachtete Bettyann und sagte: »Ihren wirklichen Geburtstag will ich lieber nicht wissen.« »Hm? Und warum nicht?« »Wenn wir den Tag, an dem wir sie nach Hause bringen, zu ihrem Geburtstag erklären, sieht es so aus, als ob sie irgendwo ziellos umhergeirrt wäre und nur auf uns gewartet hätte.« Dave murmelte etwas und war glücklich. »Dave, Liebling«, sagte sie nach einem Augenblick. »Du glaubst doch nicht, daß sich die Eltern melden werden?« »Natürlich werden sie sich nicht melden!« fuhr er sie plötzlich fast ärgerlich an. »Warum zum Teufel sollten sie sich melden? Nachdem sie einfach abgehauen sind und das Kind in dem Autowrack zurückgelassen haben!« »Ja, das glaube ich auch. Aber machst du dir keine Sorgen?« Er blies die Backen auf. »Selbst wenn sie auftauchten, wie könnten sie Bettyann zurückbekommen? Was könnten sie ausrichten?«
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Bettyann war fünf, und es war ihr letzter Frühling, bevor sie in die Schule kam. Sie saß am Fenster und schaute sehnsuchtsvoll auf den ihr verbotenen Hof. Sie und Jane hatten nach dem Frühstück einen Streit gehabt wegen der Puppe. (»Bettyann, du darfst deine Spielsachen einfach nicht dort herumliegen lassen, wo man leicht darüber stolpern kann.«) Es war mindestens das zehnte Mal in letzter Zeit, daß sie sich etwas zuschulden hatte kommen lassen, und Jane, der es schließlich zu bunt geworden war, hatte sie bestraft. Den ganzen Morgen über saß Bettyann nachdenklich und traurig am Fenster und nahm nach dem Essen gleich wieder ihren Posten ein. Ihre Geduld wurde belohnt, als sich Jane, genau wie es Bettyann beabsichtigt hatte, schließlich erweichen ließ und den Hausarrest aufhob. Mit leicht belustigter Stimme sagte Jane: »Na gut. Du darfst jetzt raus.« Bettyann rutschte von ihrem Stuhl herunter, die Lippen trotzig aufeinandergepreßt. Wortlos ging sie zur Tür und trat erhobenen Hauptes in den Sonnenschein hinaus. Sie war zutiefst verletzt, und ihr kindlicher Mund verriet unwiderrufliche Entschlossenheit. Von der Veranda ging sie an den Kirschbäumen vorbei direkt auf die vielen Stockrosen zu, die entlang dem Gartenzaun wuchsen. Auf einer Blüte entdeckte sie eine Biene; fast ohne zu zögern nahm sie die Biene und hielt sie in ihrer gesunden rechten Hand gefangen. Sie wußte, daß es Mamma Jane leid tun würde, wenn sie gestochen werden würde. Wenn Vati da wäre, würde er angesichts des Stiches hämisch grinsen und sagen: »Es wird besser, wenn's nicht mehr weh tut« – sein 125
Lieblingsspruch, wenn er ihre ach so wichtigen Kratzer und blauen Flecken begutachtete. Ein Spruch, der sie wütend machte, auch wenn sie durch ihre Zornestränen hindurch lachen mußte. Aber wenn Mamma Jane den schlimmen Stich sah, würde sie zu ihr gelaufen kommen, sie küssen und sagen: »Mein Liebling, laß Mutter gleich etwas auf den bösen Schmerz tun.« Schließlich wurde sie von der Biene gestochen; es schmerzte jedoch viel mehr, als sie es sich vorgestellt hatte; verzweifelt schlug sie mit der Hand gegen ihr Kleid, um das gemeine Insekt loszuwerden. Dann rannte sie auf das Haus zu und jammerte: »Ich bin gestochen worden. Eine Biene hat mich gestochen!« Vom Küchenfenster konnte man den Zaun sehen; Jane stand am Fenster und erwartete sie. Als Bettyann in die Küche gestürmt kam, sagte sie ruhig, die Hände entschlossen in die Hüften gestützt, »Ich hab' gesehen, wie du die Biene mutwillig gefangen hast, Liebling.« Bettyann blinzelte verblüfft: »Hast du das?« »Ja, genau das hab' ich.« Als ihr klar wurde, daß das erwartete Mitleid ausbleiben würde, sagte Bettyann: »Ich wünschte, ich hätte es nicht getan.« Sie verließ die Küche und ging auf ihr Zimmer, und nachdem sie einige Tränen der Enttäuschung vergossen hatte, erkannte sie das Komische der Situation, und mußte darüber lachen; schließlich hörte auch der Bienenstich auf zu schmerzen. In diesem letzten Sommer vor der Schule wurde sie noch einmal von einer Biene gestochen, diesmal unbeabsichtigt,
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und man schenkte ihr die gebührende Aufmerksamkeit. Abgesehen von der Bienengeschichte war der Sommer natürlich schön, und als der Herbst vor der Tür stand, bedauerte sie dies aufrichtig. Die Frage, die sie sich bereits im letzten Winter gestellt hatte, gab ihr wieder Rätsel auf: Warum mußte im Winter alles sterben, wo wir doch das Grün des Lebens so nötig brauchen würden? Aber als der Sommer auch weiterhin unerbittlich verrann, begann sie, sich, halb ängstlich, halb interessiert, auf das neue Geheimnis zu freuen, in das sie bald eingeweiht werden würde. Am ersten Tag begleitete Jane sie zu jenem unheilschwangeren, weißen Steingebäude, aus dem sie, wie sie sich erinnerte, im vergangenen Frühling fröhliches Lachen gehört hatte, und stellte sie dort einer Vertrauen erweckenden Person vor, die für ein ganzes, langes Jahr ihre Lehrerin sein würde. Einen Moment lang hatte sie Angst, als Jane gegangen war, in dem fremden Zimmer, umgeben von fremden, möglicherweise feindseligen Menschen. Einen winzigen Augenblick kam es ihr so vor, als würde sie die vertraute Sicherheit, die sie zu Hause umgab, nie wieder spüren können; das Blumenbeet, der Garten, die verwitterte Eiche, alles wirklich und existent, schien nun bloße Erinnerung, unwirklich. Verzweifelt wollte sie Mamma Jane nachlaufen und mit ihr den von Bäumen gesäumten Weg hinunterrennen. So schnell sie ihre Füße trugen, denn das Blumenbeet, der Garten und die verwitterte Eiche könnten nicht mehr da sein, wenn sie eine unendliche Stunde lang wartete. (Tante Bessie hatte zu Mamma gesagt: »Da fängt 127
man an, sie zu verlieren. Danach sind sie nie wieder ganz dieselben. Die Lehrer bringen es fertig, sie einem wegzunehmen.« Vati Dave hatte dazu bemerkt: »Unsinn, Bessie. Sie ist schließlich erst fünf.« »Aber eigentlich glaube ich«, hatte Tante Bessie gesagt, »daß es für dich nicht so schlimm sein wird, liebe Jane, wie für – für, na du weißt schon...« Worauf Mamma Janes Gesicht sehr rot wurde. Und Bettyann hatte fragen wollen, warum dies so sein sollte.) Nach einer anfänglichen Eingewöhnungszeit fand Bettyann, daß die sie umgebenden fremden Gesichter eigentlich ziemlich freundlich waren. Die ersten, scheuen Lächeln beim Kennenlernen wurden zu fröhlichen Lächeln beim Wiedertreffen. Weihnachten rückte näher. Und dann, ganz plötzlich, waren die Ferien da und wieder vorbei, und strahlende, frisch gewaschene Gesichter erzählten mit vor Aufregung kaum kontrollierten Zungen von den herrlichen Geschenken des Weihnachtsmannes. Und weil es so viel zu tun gab, schien es, als ob im Nu der süße, müde Frühling wieder da wäre. Drei Wochen vor Ferienbeginn verteilte die Lehrerin Miss Collier Fingerfarben. »Mit diesen Farben werdet ihr das ganze nächste Jahr über malen«, erklärte sie, und eine Viertelstunde später stand sie vor Bettyanns Tisch. Bettyann malte begeistert die leuchtenden Farben auf ein großes Blatt Papier. »Was meinst du, stellt dein Bild dar?« Ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, antwortete Bettyann: »Einen Mann in einem Baum.« »So?« 128
»Ja«, sagte Bettyann und runzelte die Stirn. »Die Baumrinde ist ganz runzelig, und das Gesicht des Mannes ist auch ganz runzelig – genau in der Rinde.« »Wie seltsam«, sagte Miss Collier. »Sieht so aus, als hättest du es tatsächlich hineingemalt, wenn ich genau hinsehe.« »Das hab' ich auch.« »Nein, Kind. Ich meine absichtlich.« »Es war absichtlich«, bestand Bettyann auf ihrer Meinung. Miss Collier lachte und fuhr sich durch's Haar. »Dann solltest du Malerin werden.« Nachdem Miss Collier gegangen war, verwischte Bettyann, darüber enttäuscht, nicht verstanden worden zu sein, den Mann im Baum und begann, ein kleines Mädchen zu malen. Sie versuchte, das Gesicht des Mädchens so wirken zu lassen, als ob man es von zwei Seiten gleichzeitig anschauen würde. Während der letzten Schulwoche in dem Jahr machte Miss Collier eine Reihe von Begabungstests mit den Kindern. (Miss Collier kam frisch von der Universität.) Bettyann wußte, daß die Tests für die gesamten kommenden acht Klassen wichtig sein würden, und strengte sich sehr an. Als der Direktor später Miss Collier für ihre Tüchtigkeit lobte und fragte, was mit den Ergebnissen geschehen solle, sagte Miss Collier: »Dies hier ist der Test von Bettyann Seldon. Zweifellos ist sie sehr intelligent. Aber ich habe das Gefühl, daß die Tests nicht ihre wirklichen Fähigkeiten erfaßt haben; sie kann 129
sicherlich mehr. Ich habe eine Notiz darüber in ihre Akte gemacht.« »Ah ja, ich verstehe«, sagte der Direktor. »Ich habe allerdings auch erst drei Grundschultests durchgeführt«, meinte Miss Collier. Der Direktor, der noch nie einen solchen Test durchgeführt hatte, und dem entsprechend unbehaglich war, versicherte, daß der Test zweifellos sehr hilfreich sein würde, und daß er schließlich nicht erwarten könne, daß seine Lehrer alles wüßten. Bettyann war in der zweiten Klasse, als eine ihrer Zeichnungen (»Fast so gut wie von einem Achtkläßler«) am Mitteilungsbrett in der Aula aufgehängt wurde. Von einem anderen ihrer Bilder aber, das ein Haus zeigte und auf dem die Hecke und der Schornstein am falschen Platz gezeichnet waren und die Möbel an der Decke schwebten, sagte ihre Lehrerin: »Ein bißchen zu unwirklich.« Und Bettyann beschloß, künftig ein wenig sorgfältiger zu malen, denn sie wollte nicht mißverstanden werden. Das Lesenlernen fand sie verwirrend; bis sie schließlich nicht mehr versuchte, die Wörter mit den Bildern im Lesebuch zu verbinden, sondern sie mit der Sprache in Zusammenhang zu bringen; danach fiel ihr das Lesen leicht. Bald wurde sie gewahr, daß ihr verkrüppelter Arm bei Mannschaftsspielen, besonders bei Ballspielen, mit zunehmender Vertrautheit kaum noch eine Behinderung darstellte.
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Aber während des letzten Halbjahres und auch noch während des gesamten nächsten Schuljahres, ihrem dritten, fühlte sie sich immer mehr von ihren Mitschülern entfremdet, bis zu einem gewissen Grad auch von ihren Lehrern und sogar, wenn auch weniger stark, von ihren Eltern. In der Schule begann sie zu fürchten, daß jeden Augenblick eine unglückliche Bemerkung donnerndes Gelächter auslösen würde; zu Hause gab es ihrer Meinung nach Dinge, die weder Jane noch Dave verstehen konnten, zumindest nicht so, wie sie sie verstand, ganz gleich, wie sie sich auch bemühten; und wenn sie mit ihnen darüber sprechen würde, so würden sie nicht die Dinge an sich, sondern sie, weil sie es gesagt hatte, mißverstehen. So kam es, daß sie sich immer mehr zurückzog, still wurde, wenn andere lachten, und schüchtern, wenn andere unerschrocken redeten. (»Sie ist ein schüchternes und sensibles Kind.«) An einem Spätherbstnachmittag Anfang des vierten Schuljahrs, kaum eine Woche nach Schulbeginn, wurde die Klasse aufgrund des ersten Elternabends früher nach Hause geschickt. Ein paar Kinder, die sich noch immer etwas fremd waren, drückten sich auf dem Schulhof herum. Bettyann beobachtete eines der älteren Mädchen, eine Siebt- oder Achtkläßlerin, wie sie von der unbenutzten Schaukel zu einem leeren Klassenzimmer rannte, wobei ihre Tennisschuhe weißen Sand aufwirbelten und sie leise weinte. Bettyann sah keinen ersichtlichen Grund für das Verhalten des Mädchens: Es war in relativ großer Entfernung zu den anderen Kindern gestanden. In diesem Augenblick begriff Bettyann – wobei dies mehr ein Gefühl 131
als eine Überlegung war – daß jeder Mensch einzigartig ist. Die Erinnerung an das tränenüberströmte Gesicht machte ihr klar, daß jeder in einem gewissen Maß mißverstanden wird, und daß sie, die vielleicht nicht mehr als das ältere Mädchen allein war, nicht mehr mißverstanden wurde, als alle anderen Menschen auch. Bevor sie in die fünfte Klasse kam, machte sie noch einmal eine ähnliche Erfahrung. Dieser zweite Zwischenfall ereignete sich nicht in der Schule, sondern während eines Ausflugs, den ihre Klasse in den etwa dreißig Kilometer entfernten Zoo machte. Die Aufsicht hatte Mrs. Fox, die Lehrerin für die achten Klassen; diese hatte sich, Bettyann wußte das, nach der Ankunft für einige Minuten zurückgezogen, um heimlich eine Zigarette zu rauchen. Die Klasse war von der Mark-Twain-Schule in einem gemieteten Bus losgefahren; jedes Kind, außer Elmer, trug sein Mittagessen in einer Plastiktüte. (Elmer hatte eine Vesperdose mit, wie sie die Erwachsenen haben.) In dem Park, denn er wurde Park anstatt Zoo genannt, gab es allerhand merkwürdige, herrliche und aufregende Tiere. Als die eifrige Klasse zu den Känguruhs kam, sagte Willie, einer der kleineren, weniger gut angezogenen Jungen: »Schaut mal! Bettyann hat einen KänguruhArm!« Bettyann verstand zunächst nicht und betrachtete das Känguruh; sie runzelte kurz die Stirn und antwortete dann: »Nein, die Arme der Känguruhs sind beide in Ordnung; keiner ist verkrüppelt.« Dann erkannte sie, daß der Vergleich gar nicht auf die äußerliche Ähnlichkeit anspielen sollte. In Willies Stimme hatte Abneigung und Gemeinheit gelegen. Sie konnte sich nicht entsinnen, ihn je 132
beleidigt zu haben. Sie hatte nicht mehr als ein- oder zweimal mit ihm gesprochen, denn er saß auf der anderen Seite des Zimmers, und in den Pausen spielte er gewöhnlich allein. Auf jeden Fall hatte er keinen Grund, ihr irgend etwas zurückzuzahlen. Als sie später über den Zwischenfall nachdachte, fragte sie sich, wie man das in einem Bild zwischenmenschlicher Beziehungen verallgemeinern könnte. Vielleicht mit einer Gruppe von Menschen, die jeweils zu zweit stehen, jeder Mensch an alle anderen gekettet, und jeder zieht an der Kette, um so seinem Partner näherzukommen. Eigentlich hätte sie die fünfte Klasse überspringen sollen, aber Dave war dagegen. »Sie ist so schon früh eingeschult worden.« Und nachdem ihr erster Stolz verflogen war, meinte auch Jane: »Es wäre nicht schön für sie, wenn sie fast zwei Jahre jünger als die anderen wäre, wenn sie auf die Highschool kommt.« »Und aufs College«, fügte Dave stolz hinzu. Beide nickten, und Dave, der Bettyann auf dem Schoß hatte, sagte: »Sie ist schon ein halbes Genie.« »Sei vorsichtig, Dave, sonst paßt ihr nachher kein Hut mehr.« »Unsinn«, meinte Dave, »das gibt ihr Selbstvertrauen.« Während des ganzen fünften Schuljahres bemühte sich Bettyann aufrichtig, die gelegentlichen Eigenarten ihrer Spielkameraden zu akzeptieren, ihr Verhalten, so gut sie es vermochte, zu verstehen und sich dieses dann selbst anzueignen. Zunächst mußte sie sich dazu zwingen, später kam es automatisch; als sich das Schuljahr seinem Ende näherte, dachte sie schon fast so wie ihre Mitschüler.
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Der Frühling kam und dann der Sommer. Einmal, an einem heißen Nachmittag, war sie allein und ging zu der Spatzenschar auf dem Rasen vor dem Haus; vorsichtig nahm sie einen in die Hand, hielt ihn sich vor das Gesicht und piepste. In diesem Augenblick kam Dave aus dem Haus und ließ die Tür hinter sich zufallen, worauf die Vögel erschreckt fortflogen. »Wie zum Teufel hast du es nur geschafft, so nahe an sie heranzukommen, Bettyann?« fragte Dave. »Einfach so«, antwortete sie lachend. Dann stellte sie sich selbst die Frage, aber es gab keine Antwort außer der, die sie gesagt hatte. »Ich habe wohl einfach richtig gedacht«, erklärte sie, und Dave sagte aufgebracht: »Diesen verdammten Spatzen gehört noch einmal das ganze Land.« Sie drehte sich um und beobachtete die Spatzen, wie sie von ihren Zweigen herunterflogen, um sich in sicherer Entfernung vor der Einfahrt niederzulassen. Und als sie ihnen beim Fliegen zuschaute, schien es ihr, als könnte sie mit ihnen fliegen und so frei wie sie am Himmel segeln, wenn sie nur wüßte wie. Einen Augenblick lang empfand sie ein großes Verlangen, ein Verlangen, aus der Enge und Begrenztheit ihrer Welt zu entfliehen, mit dem Wind zu segeln, so wie ein Vogel zu sein... Aber dann verschwand das Gefühl – sie war zufrieden. Hier, um sie herum, der ruhige, schläfrige Nachmittag... Sie lächelte bei dem Gedanken an die leichten Pflichten ihres Lebens: der Abwasch, wofür sie natürlich bezahlt wurde – »im Haus helfen« nannte Dave das immer, ein Ausdruck, der wenig besagte – und der langweilige, ermüdende Besuch der 134
Sonntagsschule, von der Jane behauptete: »Schaden kann's nicht...«. Aber jetzt, während des heißen Nachmittags, war sie frei, und hier, inmitten des aufregenden, pulsierenden Lebens der Stadt, war sie glücklich und konnte das große Verlangen, das sie noch vor wenigen Augenblicken verspürt hatte, nicht mehr verstehen. Der Sommer war ungewöhnlich trocken, und sie spielte oft im Freien; einmal ging sie in ein französisches Restaurant, einmal besuchte sie eine Party im Haus von Doris Heisten, das ungefähr zehn Kilometer entfernt auf dem Land lag, und ein anderes Mal verbrachte sie eine Woche an einem See mit Tante Bessie. Schließlich kam der Regen und es goß in Strömen; der Hof wurde in ein einziges Schlammbad verwandelt. Draußen konnte sie nun nicht mehr spielen. Der Regen drückte die absterbenden Stockrosen nieder, und an demselben Tag schlug ein starker Hagelschauer Blätter und kleine Zweige von den Kirschbäumen und zertrümmerte das Schaufenster von Al's Lebensmittelgeschäft auf der anderen Straßenseite. In Daves Büchersammlung entdeckte sie David Copperfield (dt: ›David Kupferfeld‹ Anm. d. Ü.). Dave besaß ungefähr zwanzig Bücher, einige noch vom College, andere während eines halben Jahres der Erleuchtung gekauft, als er Mitglied in einem Buchklub war. Der Titel machte sie neugierig; in ihrer Phantasie war ein Kupferfeld eine endlose Fläche von Kupferhalmen, funkelnd im Sonnenlicht, Reihe um Reihe, wie hoher Mais. Es dauerte einige Tage, bis sie das Buch ganz durchgelesen hatte. Während der ganzen Zeit trommelte der Regen als einschläfernde Hintergrundmusik herrlich auf das Dach, 135
tröpfelte aus der Dachrinne und schlug gegen das Fenster. Sie verstand zwar nicht alles, aber sie lachte mit Mr. Micawber und beim Tod Moras mußte sie weinen. Als sie mit dem Buch fertig war, fühlte sie sich froh und stolz, obwohl sie sich nicht erklären konnte, warum. Es war ein merkwürdiges, unwirkliches Buch. Aber anders unwirklich als Alice im Wunderland, das sie zweimal gelesen hatte, jedesmal mit dem Gefühl, etwas von größter Wichtigkeit zu überlesen. Durch den Regen schien die Zeit stillzustehen, aber schließlich wurde der Himmel wieder blau, die Schule begann, dann kam der Winter und wieder der aufregende Frühling. Aber dieser Frühling vor ihrer Versetzung in die achte Klasse war anders als die vorangegangenen. Die Erwachsenen waren still und warteten; sie schienen vor Spannung fast zu platzen. Anfang Mai war es dann soweit, der Krieg in Europa war beendet. Jedermann jubelte und schrie und freute sich. Aber in ihrem Innersten fühlte Bettyann sich traurig und vielleicht auch ein wenig schuldig, denn der Krieg war tief in die Herzen der Menschen eingedrungen und brannte dort wie ein fürchterliches Gewissen. Kurz bevor die Schule wieder anfing, endete auch der andere Krieg, aber die Menschen waren zutiefst erschreckt darüber, wie dieser Krieg zu Ende gebracht wurde. Der Friede war jedoch eine große Erleichterung, und obwohl sie nicht viel über den Krieg wußte, weinte Bettyann, als sie die Neuigkeit erfuhr. Bettyanns Lehrer waren sich darüber einig, daß sie nicht ganz so wie die anderen Kinder war. (»Alles was ich weiß«, meinte Mrs. Fox, »ist, daß sie ein absolut 136
einmaliges Vorstellungsvermögen für Geschichte hat.«) Ihre hervorragenden Noten spiegelten nur einen Teil ihrer Verschiedenheit – worauf auch immer sie beruhte – wider. Der Grund für ihr Anderssein lag tiefer als das, sogar tiefer als das Verhalten, das sie an den Tag legte: Sie spielte wie die anderen auch, ihre Unterrichtsbeiträge unterschieden sich nicht viel von denen ihrer Mitschüler, wenn auch gelegentlich die Haltung eines Erwachsenen durchschimmerte. Sie zog andere Mädchen mit ihren Freunden auf, wurde selbst jedoch nie aufgezogen, gab heimlich Zettel während der Stunde weiter und wurde rot, wenn man sie beim Kaugummikauen erwischte. Der große Unterschied, meinten die Lehrer in der abschließenden Besprechung, läge darin, daß man von ihr ein ruhiges, ernstes und zurückhaltendes Verhalten erwartete, was sie jedoch völlig ablehnte. Wie nicht anders erwartet, bestand sie ihre Abschlußprüfung als Klassenbeste. Während der Ferien vor der Highschool trat dann der für sie erschreckende biologische Wandel ein; sie hatte Schmerzen und war verwirrt, und zum zweiten Mal in ihrem Leben zog sie sich in sich selbst zurück. (Es war der Sommer, in dem Jane und Dave ihr von der Adoption erzählten; sie führten ihre erneute Zurückhaltung teilweise darauf zurück.) Das Gefühl, von der Natur ungerechterweise eingesperrt, auf unbeschreibliche Art gegen ihren Willen an einen neuen, sehr unangenehmen Körper gefesselt zu sein, hielt in ihrem ersten Jahr auf der Highschool an. Sie hatte
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plötzliche Ausbrüche heftiger Verwirrung, deren Ursache nicht in irgendeiner Handlung lag, sondern die mit ihrer eigenen Person zu tun hatte; oft kamen sie völlig überraschend, vielleicht während sie gerade in der Schulbank saß. Und immer schien es, als ob da, gerade an der Grenze zu ihrem Bewußtsein, ein Weg für sie wäre, vor allem zu flüchten, das sie bedrückte. Ihre Bilder, die so vielversprechend gewesen waren und in den unteren Klassen ausgestellt und bewundert wurden, interessierten sie nicht mehr; ihr Ehrgeiz ruhte. Instinktiv erkannte sie, daß er nur darauf wartete, durch mehr Wissen befreit und durch tiefere Erkenntnisse angeleitet zu werden; eines Tages, wenn sie erwachsen sein würde, würde für sie vieles machbar sein, aber nicht jetzt. Ihre Bücher waren ihr gleichgültig; die Schule langweilte sie. Sie träumte davon, Pilotin zu werden, oder Forscherin, oder Glücksspielerin, oder Rennfahrerin, oder irgend etwas anderes, um sich gegen diesen schwachen, weiblichen Körper aufzulehnen. (Dave sagte im Spaß: »Ein Mädchen sollte wissen, was sie will, wenn sie in der Highschool ist.« Sie antwortete, ehrlich betroffen: »Ich wünschte, ich wüßte es; ich wünschte, ich wüßte es.«) Das Jahr schleppte sich zum Verzweifeln langsam dahin. Bis eines Tages Ende November (also fast einen Monat vorher) der Junge, der ihr im Physikunterricht gegenübersaß, sie zum Studentenball einlud. Sie kam nach Hause und verkündete begeistert: »Ich muß tanzen lernen!« Dave nahm die Neuigkeit mit gespielter Überraschung und hochgezogenen Augenbrauen auf, und einen Moment lang hatte sie Angst, er könnte ihre Bitte ablehnen. Aber er 138
nickte und sagte ernst, zu ernst: »Ich werd' drüber nachdenken.« Das hieß, wie sie wußte, soviel wie »Ja«. Für nächsten Samstagnachmittag, drei Uhr, war sie in Zobels Tanzschule angemeldet. Die Schule bestand nur aus einem Zimmer, das direkt über einer Kneipe nahe dem Marktplatz lag, und die Musik kam von einem Kofferplattenspieler und verkratzten, alten Foxtrottplatten. Oft wurden die Klänge von dem überlauten Heulen der Musikbox unten übertönt. Mr. Zobel, ein schmächtiger, weibischer Mann, hatte eine Assistentin, eine gertenschlanke Blondine, die mit den älteren Jungen tanzte, die nicht mit Mr. Zobel tanzen wollten. Es war die einzige Tanzschule in der Stadt, und Mr. Zobel gab neben dem Tanzunterricht auch Step- und Ballettstunden. Es ging das Gerücht um, daß er einst in Nachtklubs im Westen getanzt und einen Filmvertrag gehabt hatte, bis etwas geschah, das ihn zur sofortigen Rückkehr in das Haus seiner Eltern und schließlich zur Eröffnung der Tanzschule zwang. Bettyann bewegte sich geschmeidig und paßte sich leicht der unaufdringlichen Führung von Mr. Zobel an, und nach zwei Einzelstunden tanzte sie ebenso natürlich wie sie ging, wobei sie die unheimliche Fähigkeit zeigte, jeden seiner Schritte vorauszuahnen. Nach dem Studentenball fühlte sie sich wieder glücklich und war mit ihrem nun nicht mehr ganz so neuen Körper versöhnt. Die Gesellschaftswissenschaften, so hieß der Anfängerkurs in Politik, erregte zu Beginn des zweiten Halbjahrs als erstes ihr neu erwachtes Interesse, und sie begann eifrig die erste Seite der Zeitung zu lesen und komplizierte Fragen zu stellen, die Dave nach bestem Vermögen zu beantworten 139
versuchte. Manchmal kam es vor, daß ihr einige Informationen ungewöhnlich nahegingen; dann beruhigte er sie: »Kleines, wir leben schließlich nicht in der besten aller Welten; es ist nur die beste, die wir haben können.« Die beiden einzigen Bücher über Politik, die in der Schulbibliothek zu haben waren, lieh sie sich aus; und auf der Suche nach weiteren Büchern in der öffentlichen Bücherei entdeckte sie zufällig, während sie in den dreihundert Bänden schmökerte, Das Kapital (der Bibliothekarsgehilfe hatte vergessen, daß es nicht in den für jedermann zugänglichen Regalen stehen durfte). Als Bettyann das Buch zu der Bibliothekarin brachte, sagte diese: »Bist du für eine so anspruchsvolle Lektüre nicht noch ein wenig zu jung? Würde dir ein Abenteuerroman oder so etwas nicht besser gefallen?« Aber Bettyann erwiderte: »Ich hätte gern dieses Buch, wenn Sie nichts dagegen haben, Miss Stemy.« Miss Stemy, eine alte Bekannte der Familie, die Bettyann sehr gern hatte, sagte: »Natürlich, Schatz, wenn du es möchtest.« Kurz darauf rief sie Dave an und berichtete: »Ich dachte, es würde dich interessieren, daß deine Tochter Das Kapital liest.« »Tut sie das? Naja, sie ist eben ein neugieriger kleiner Teufel«, meinte Dave. »Du hast also nichts dagegen, daß ich es ihr gegeben habe?« »Oh, ich glaube nicht, daß es sie verderben wird; aber Lee, wenn sie Krafft-Ebing haben möchte, das gibst du ihr 140
bitte nicht. Auf keinen Fall vor ihrem nächsten Geburtstag.« Bettyann verstand nur sehr wenig von Das Kapital, aber das Kommunistische Manifest am Ende des Buches ließ ihr Herz vor Enthusiasmus höher schlagen. Sie war der Meinung, sofort etwas für die Arbeiter tun zu müssen, und ging damit zu Dave, der ihr, nachdem er ihre erregten Ausführungen geduldig angehört hatte, zustimmte, daß eine gewisse Empörung gegenüber sozialer Ungerechtigkeit sehr wichtig sei; er bedauerte aber gleichzeitig, daß mangels einer momentanen revolutionären Bewegung, der das Wohl des Volkes am Herzen lag, es nur sehr wenig gab, das ein kleines Mädchen ausrichten könnte; sie würde sich wohl mit solch banalen, aber wichtigen Arbeiten wie der Mithilfe bei den nächsten Veranstaltungen des Roten Kreuzes und der Arbeiterwohlfahrt zufriedengeben müssen. Im Laufe des Sommers flaute ihre Begeisterung für Gesellschaftswissenschaften ab. Als ihr zweites Jahr auf der Highschool begann, hatte sie sich mit fast schon missionarischem Glauben neuen Berufsplänen zugewandt. Sie war fest entschlossen, Ärztin, oder, wenn das nicht ging, Krankenschwester zu werden. Sie sprach mit Dave darüber. Er stimmte ihr zu, daß dies ein lohnender Beruf mit vielen positiven Seiten sei. »Aber du hast viel Zeit, dich zu entscheiden«, sagte er, und es kam Bettyann so vor, als ob er damit seinen vorherigen Standpunkt ins Gegenteil verkehrte. Jane, die ihren Idealismus sah, ermutigte sie zwar, jedoch mit der gleichen Zurückhaltung. Keiner von beiden wollte ihren Idealismus so stark werden lassen, daß 141
er eines Tages von der Realität zerstört und Bettyann, ernüchtert, weil sie zuviel verlangt hatte, dadurch automatisch verbittert und gefühllos werden würde. »Es gibt so viel zu tun!« jammerte Bettyann. »So viel, das getan werden muß!« »Auch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut«, meinte Dave. Bettyann lachte und wollte sagen, daß ihr das natürlich klar sei. Aber Dave fuhr fort: »Ich fürchte, unsere Gesellschaft ist ziemlich kompliziert. Vieles ist schwerer als es ausschaut.« »Ärztin zu sein ist einfach«, sagte Bettyann. »Das kommt ganz darauf an, was für ein Mensch du bist«, warf Jane ein. Sie begann wieder zu zeichnen, meist Feder- oder Tuschezeichnungen, sorgfältig und mit großer Mühe auf dem Papier festgehalten, aber jetzt waren die Zeichnungen abstrakt und persönlich, ohne erkennbaren Sinn für jemanden außer für sie selbst, und wenn sie fertig war, verbrannte sie ihre Werke. Sie spürte, daß sie sich ständig verbesserte, sie beherrschte die Pinselführung und die Perspektive – eine Entwicklung, die ihr eines Tages erlauben würde, Bilder zu malen, die auch anderen etwas sagen würden, etwas Wichtiges sagen würden, von dem sie jetzt noch nicht die leiseste Ahnung hatte. Sie wagte sich an die Lektüre von Gedichten (Emily Dickinson mochte sie am liebsten) und entdeckte die Kurzgeschichte für Erwachsene in den Bänden, die mit dem O.142
Henry-Preis ausgezeichnet worden waren. Diese Bücher hatte sie, säuberlich in verstaubten Reihen geordnet, am Südfenster der öffentlichen Bibliothek stehen sehen. Die Geschichten schienen sehr viel über das Leben auszusagen, aber es war unmöglich, diese Aussage in andere Worte als die des Verfassers zu kleiden. Sie erkannte, daß die Gesellschaft wirklich kompliziert war, und wieder machte sich in ihr das Gefühl von Verwirrung und Unsicherheit breit. »Dummer, romantischer Narr«, sagte sie zu sich selbst, wenn sie ihre Gefühle von etwas einnehmen ließ, das nichts mit ihrem momentanen Leben zu tun hatte. Sie sah ein Bild der Cheopspyramide und war überwältigt von der Größe menschlichen Schaffens und der traurigen, verwegenen Vermessenheit eines bereits vergessenen Mannes; sie wollte Gedichte schreiben über die Ebbe und Flut menschlichen Lebens. Während ihres zweiten Jahres auf der Highschool gab der Schulleiter bei einer Schulversammlung zu ihrer größten Überraschung (sie hatte sich nämlich gerade flüsternd mit Bill Northway unterhalten, der neben ihr saß) folgendes bekannt: Sie sei vom Lehrerkollegium zur begabtesten Schülerin ihrer Klassenstufe gewählt worden und würde nächsten Freitag vom Vereinigten Frauenverband, der alle Kosten übernahm, auf einen Tagesausflug nach Jefferson City, der Hauptstadt von Missouri, geschickt werden. Der Freitag kam schnell, und eh' sie sich versah, war sie in Jefferson City und bewunderte die Wandgemälde Thomas Hart Bensons und Marmor aus Carthage. Sie war zum Tee in die Villa des Gouverneurs eingeladen und hatte 143
sogar Gelegenheit, einen Moment lang allein mit der Frau des Gouverneurs zu plaudern, einem aufgeschreckten Huhn von einer Frau, die geschmeichelt schien, daß Bettyann Notiz von ihr nahm, indem sie sagte: »Es muß unangenehm sein, so viele Fremde im Haus zu haben.« Die Frau des Gouverneurs antwortete mit einem tiefen Seufzer und sagte: »Ja, manchmal ist es das, meine Liebe«, und dann fügte sie heiter hinzu, als ob es komisch und zugleich wichtig wäre. »Weißt du, daß die Besucher von den Highschools die Schlimmsten sind, wenn es um Silber geht? Jedesmal sind wir dreißig bis vierzig Löffel los.« Bettyann lachte und meinte: »Dann muß ich wohl auch einen Löffel nehmen, wenn ich nicht anders sein will.« Verschwörerisch ging die Frau des Gouverneurs zu dem Tisch, wo der Zitronentee serviert war, nahm einen Silberlöffel, packte ihn in eine Papierserviette ein und überreichte ihn Bettyann. »Laß dich nicht damit sehen«, flüsterte sie. »Sie würden zwar nichts sagen – Wählerstimmen, weißt du –, aber es ist doch besser, wenn sie einen erst gar nicht sehen.« Nach diesem Ausflug verging die Zeit wie im Flug, und schon war das Schuljahr wieder zu Ende. Bettyann nahm gegen Janes halbherzigen Widerstand eine Arbeit bei Scot's Restaurant an, wo sie fast drei Monate lang die Leute der Stadt bediente und dabei deren Bekanntschaft machte. Und als Bettyann sie näher kennenlernte, all die Kleinlichen und Geizigen, die, die sich hochmütig nicht nach einem heruntergefallenen Pfennig bückten, die Streitlustigen, die Schüchternen, die Mutigen und die Ängstlichen, da wußte sie, daß es eine unendliche Vielfalt von Charakteren gab, 144
daß sie nur sehr wenig gemein hatten, außer vielleicht den Ausdruck in ihren Augen, und daß nichts sicher war, außer der Vielzahl der Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Begierden. Viele Eindrücke würde sie wohl nie vergessen: Red, ›der Pfeifer, ein verhutzelter Mann (ehemaliger Farmer, ExSchmuggler, abtrünniger katholischer Priester; es gab viele Geschichten über seine früheren Berufe), der immer ohne Melodie vor sich hin pfiff, wohin er auch ging, der auf jedem Begräbnis war und immer in ein großes Leinentaschentuch weinte. »Ich gehe wegen der Musik hin«, vertraute er Bettyann an. Und Ed Barnett, der vom vierten Stock aus dem Drake Hotel auf den Bürgersteig fiel und ohne auch nur einen Kratzer wieder aufstand. Und William Seiner, der sich jeden Montag den Kopf rasierte, weil er Angst vor Schuppen hatte. Und Miss Leonard, die, wie man sagte, verrückt wurde, als ihre Schwester heiratete, und aus Groll zwanzig Jahre lang im Bett blieb. Sie war eine steife, alte Jungfer mit leuchtenden braunen Augen, und sie kicherte und zwinkerte vielsagend, als sie Bettyann riet: »Schnapp dir einen Mann, Kind, schnapp dir einen Mann.« Da waren Red, ›der Pfeifer‹, Ed Barnett, William Seiner und Miss Leonard, und viele andere. Es waren warme, glückliche Tage. Bill ging mit ihr mehrmals ins Kino, einmal zum Eislaufen und zweimal schwimmen. Sie hatte auch Verabredungen mit anderen Jungen; einer von ihnen zitierte eines Abends Gedichte von einem Mann namens Swinburne; der Junge sah regelrecht beseelt aus während er zitierte; sie wollte lachen, aber dazu war sie zu höflich. 145
Im letzten Schuljahr vor der Oberstufe mußte sie in Englisch Erzählungen schreiben. In ihrem ersten Aufsatz verwendete sie einen ihrer Meinung nach neuen Stil für Beschreibungen. Aber wie ihr der Lehrer erklärte, kam dieser Stil in Sätzen wie »Kriechendes Mondlicht beugte das Knie vor Gaslichtschatten, sich windend« der Aussage ziemlich in die Quere, und das sah sie ein. (Immer, bei jeder Bewegung, beim Malen und Schreiben, beim Reden, gab es die Schwierigkeit der Verständigung.) »Schau dir den Hof an«, sagte sie zu Bill, als die beiden auf der Hollywoodschaukel, die auf der Veranda stand, saßen, »und sage mir, was du siehst.« »Laß mich nachdenken«, meinte er und heuchelte Ernsthaftigkeit, was er manchmal tat, ohne daß er, wie sie wußte, sie je ernst nahm. »Da ist das Gras. Ja, das Gras. Und natürlich das Mondlicht. Und der Schatten der alten Eiche, und der Bürgersteig mit Rissen im Beton, und die Hecke ...« Bettyann wollte ihm erklären, daß man außer den materiellen Einzelheiten auch ihr Verhältnis zueinander erkennen könne, oder eines der vielen Verhältnisse zwischen ihnen, die verursachten, daß alles zu einem Muster geordnet war. »Am Anfang steht Leben und Tod«, sagte sie. »Schau wie sie sich ausgleichen. Schau, wie weich das Leben und wie hart der Tod ist. Schau, wie das Gras und die Eiche leben, wie tot der Bürgersteig und die Schatten sind. Schau, wie die Blätter das Mondlicht aufzusaugen scheinen, und wie leblos die Baumrinde dagegen ist.«
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»Hmmm«, meinte Bill, nur noch halb ernst, und dann spielte er ihr nicht länger etwas vor, wandte sich ihr lachend zu und sagte: »Dein schöner Kopf ist voller Sterne.« Sie wußte, daß er sie nicht verstand. Oder genauer gesagt, er hörte die Worte, verstand ihre Bedeutung, aber fühlte nicht wie sie die grundlegende Wahrheit und Richtigkeit, die in ihnen lag. Aber er hatte Verständnis für sie und lachte nicht überheblich, sondern freundschaftlich, und das lenkte alles wieder ins rechte Lot. In dem Sommer vor dem letzten Schuljahr besuchte Bill seine Mutter, die geschieden war und in New York lebte; als Bettyann ihn im Frühherbst wiedersah, war er durch die lange Reise erfahrener und klüger geworden, und in ihrem Inneren wußte sie, daß sie auf ihn gewartet hatte. Das letzte Schuljahr begann, sie und Bill gingen ins Kino, bummelten in der Stadt, tranken Cola in Gray Reynolds Gemischtwarenhandlung und amüsierten sich in den Schulpausen. Sein schmales Gesicht war hübsch. Aber die Tatsache, daß er bald zum Militär eingezogen werden sollte, warf einen Schatten verwirrender Unsicherheit über sie und verfolgte sie auf Schritt und Tritt; es brachte sie einander näher, obwohl es sie doch auseinanderzureißen versprach. Verzweifelt wünschte sie sich, daß die bevorstehende Trennung plötzlich verschwinden möge. Sie wünschte sich – und sie wußte, was für ein Unsinn es war, auch nur im Traum daran zu denken –, daß sie auf irgendeine Weise statt seiner dienen könnte, oder daß er sich eine schnell vorübergehende Krankheit holen könnte und sie ihn gesundpflegen müßte. Ihre anderen Tagträume 147
waren ruhiger, bescheiden und irgendwie mütterlich; sicherlich, so dachte sie, wird er mich verstehen lernen, wie ich verstanden werden muß, wenn wir Tag für Tag eng zusammenleben. Als wieder der Frühling kam und sein Einberufungstermin näherrückte, überkam beide noch stärkere Verzweiflung und Unruhe: Bis Bettyann eines Abends mit einem Schlag realisierte, daß ihr Traum am Auseinanderbrechen war. Seine Augen blickten abwesend und ärgerlich, sie war verletzt und versuchte verzweifelt, an ihn heranzukommen, und machte sich dadurch, im nachhinein betrachtet, zu einer vollkommen dummen Gans und trieb ihn nur noch weiter von sich weg. Schließlich brüllte sie ihn, zu ihrer Schande, verbittert und unberechtigterweise an: »Du brauchst wohl eine Frau mit zwei Armen, was?«, und der Traum lag vor ihren Füßen, auf ewig zerstört, und sofort, in demselben erregten Augenblick, in dem sie die Worte sagte, wußte sie, daß sie zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Behinderung dazu benützt hatte, einen Vorteil für sich herauszuschlagen; dieser Fehler würde ihr nicht noch einmal unterlaufen. Nachdem er gegangen war, blieb sie verletzt, voll Reue und Ärger, auf der Hollywoodschaukel zurück. Traurigkeit überfiel sie, nie wieder konnte sie glücklich sein, dachte sie schicksalsergeben, nie wieder glücklich. Während sie in der Dunkelheit saß und die Sterne anschaute, fühlte sie Welle um Welle die Sehnsucht. Alles um sie herum war schweigende Trauer, die Luft war voller Trauer, von den Blättern tropfte Trauer; auch das Leben war ein einziges Trauerspiel. 148
Die erste Woche danach schien endlos zu sein: In ihren Gedanken war eine traurige, schwermütige Melodie, tief und in Moll, die ihre Bewegungen bestimmte und in ihren alltäglichen Gesprächen mitschwang. Nach vierzehn Tagen, auf den Tag genau drei Wochen nachdem Bill gegangen war – gegangen, obwohl sie täglich sein Gesicht weit entfernt in der Schule sah, rief Dave sie ins Wohnzimmer und sagte ohne Umschweife: »Wie würde es dir gefallen, nächstes Jahr auf die SmithUniversität zu gehen?« Einen Augenblick war sie wie betäubt, und Dave erklärte ihr, daß Lee Stemy, selbst eine ehemalige Studentin der Smith-Universität, sich die ganzen letzten Jahre darauf gefreut hatte, ihr ein Stipendium zu vermitteln; angesichts ihrer bemerkenswerten Zeugnisse und Miss Stemys Einfluß war das Stipendium praktisch eine abgemachte Sache. Bettyanns erster Gedanke galt Dave und Jane; sie wollte einwenden, daß es zuviel wäre, nach allem, was sie schon für sie getan hatten, ihr eine Schule im Osten zu bezahlen; Dave bestand jedoch darauf, daß sie ging, und als Jane schließlich sagte: »Wir haben hier und da etwas gespart, damit du aufs College gehen kannst«, willigte sie ein, unter der Voraussetzung, daß sie das Stipendium bekommen würde. Sie war stolz, aufgeregt und glücklich, und es dauerte volle fünfzehn Minuten, bevor sie sich daran erinnerte, daß die Welt ein trauriger Ort war. Im Zug von Kansas City (sie war von Boston nach Kansas City geflogen), einem Bummelzug, der an jedem Bauernhof zu halten schien, versuchte Bettyann vergeblich 149
zu schlafen; während sie aus dem Fenster schaute und sich schließlich mit dem Wachsein abfand, erkannte sie erst, wie stark weniger als ein Semester an der Universität die ihr vertraute Landschaft verändert hatte. Als der Zug mit kreischenden Bremsen in den winzigen Bahnhof einfuhr, empfand sie unwillkürlich die Isolation, die Leblosigkeit und Abgeschiedenheit des Stationsgebäudes und der verschlafenen Hauptstraße. Hinter ihr im Osten lag eine andere Welt. Noch war sie zu neu für Bettyann, um von ihr verstanden zu werden, aber sie war so vielversprechend wie der Sonnenaufgang. Sie erhaschte einen flüchtigen Einblick in unbekannte Welten. Neue Ideen aus allen Richtungen, über alle Gebiete, erschienen wie der Schlüssel zu unerforschten, aber aufregenden Zimmern, die sie, klein und unerfahren, zurück ließen. Ihre tief verborgenen, ruhenden Talente regten sich unter diesen heftigen Einflüssen. Die Verheißung der Reife lag in ihr. Die Erregung ließ sie erzittern: Eine Antwort lag ihr auf der Zunge, und fast, aber nicht ganz, konnte sie sie erahnen. Was soll ich mit dieser traurig-lustigen Welt anfangen, was für einen Platz habe ich darin? Was muß ich verstehen, um verstanden zu werden, und wenn ich verstehe, was muß ich dann tun? Ich wollte, ich wüßte es; ich wollte, ich wüßte es. Die Antwort lag zum Greifen nahe, an der Schwelle ihres Bewußtseins. In einem Moment völliger Einsamkeit (jenseits des schleichenden Zugs lagen ebene, schneebedeckte Felder) wünschte sie sich nichts sehnlicher – als 150
wäre dies die Antwort –, als völlig verstanden zu werden. Aber das, so dachte sie, würde eine vollkommene Übereinstimmung mit jemandem voraussetzen; nein, das konnte es nicht sein. Die einzige, die mich je vollkommen verstehen kann, bin ich selbst. Wie kann ich mich in dieses traurig-lustige Leben einfügen? Was ist meine Rolle? Was soll ich tun? Die Antwort darauf würde kompliziert sein, so vielschichtig wie das Leben an sich zu sein schien, ohne einfache Erklärung. Aber eines wußte sie: daß sie den Menschen, von denen sie ein Teil und doch kein Teil war, ihr Bestes würde geben müssen, damit sie ihr wiederum das gaben, was sie am meisten brauchte. Was wollten sie von ihr; was wollte sie von ihnen? (Ich wollte, ich wüßte es; ich wollte, ich wüßte es.) Aber nur eine Rolle zu spielen, konnte nicht alles sein. Darüber hinaus mußte es noch etwas anderes geben, vielleicht einen unerforschten Zweig der Philosophie, von dem sie noch nichts gehört hatte. Es sei denn, es handelte sich nur um ein oberflächliches Bedürfnis, wo Leben und Tod sinnlos erscheinen und nur durch zwangsweise Wiederholung an Bedeutung gewinnen und der Willen zum Leben die ganze Grundlage bildet: Aus den Schwierigkeiten entsteht Lebenskraft, aus der Lebenskraft ein umfassender Wille zum Leben. Stirbt der Wille, so stirbt auch das Leben: Schlaf, Ruhe, Langeweile, Tod. Die Rolle könnte alles sein. Wäre es möglich, fragte sie sich, daß ich jenseits der Rolle nach etwas suche, weil ich das tun muß, aber nie finden werde, weil ich es nicht finden kann? 151
Die Antwort, die weniger wichtige Antwort, war ganz nahe; wie kann ich mich in diese traurig-lustige Welt einfügen? Jetzt noch nicht. Irgendwann, irgendwann, irgendwann, ratterten die Räder. Und bald, pfiff die Pfeife, bald. Dave holte sie vom Bahnhof ab, half ihr beim Aussteigen und trug ihr einziges Gepäckstück, die Reisetasche. Die Luft war frisch und winterlich, als sie über den Kies, auf dem der Schnee geschmolzen war, zu dem Wagen gingen. Nach der Begrüßung war Dave schweigsam, und Bettyann, die die Fremdheit zwischen ihnen spürte, rief plötzlich entsetzt: »Irgend etwas stimmt nicht!« Während er ihr beim Einsteigen half, frage Dave: »Wie kommst du darauf?« »Du bist so...« Sie hielt inne, suchte nach einem Wort, das ihre Überzeugung ausdrückte; sie versuchte, sowohl für sich als auch für ihn, die Eigenschaft zu benennen, von der ihre Überzeugung herrührte. Ein Zucken um seinen Mund, die Art seiner Begrüßung, der Vorbehalt, den sie in seinen Augen zu entdecken meinte? Nein, das war es nicht, zumindest nicht nur das. Es war, als hätte sie vorher seine geheimen Gedanken gehört und könnte sich nun nicht mehr daran erinnern. »Geht es Mutti gut?« fragte sie in plötzlicher Angst. »Ist ihr irgend etwas zugestoßen?« »Natürlich geht es ihr gut«, beruhigte sie Dave. Er schloß die Autotür und ging um den Wagen herum zur Fahrerseite. Beim Einsteigen sagte er: »Hat man dir auch
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genug zu essen gegeben? Du siehst zwar sehr gesund aus, aber hat man dir wirklich genug gegeben?« »Soviel ich wollte«, sagte sie lachend. »Weißt du, ich bin damals auf eine staatliche Universität gegangen. Ich machte mir Sorgen, daß du in einer Privatschule vielleicht nicht genug bekommen würdest. Aber es ist schön, dich zu sehen. Du siehst gut aus... Es ist gut, daß du wieder da bist.« »Ich habe ein wenig Heimweh gehabt«, gab Bettyann zu. »Wie lange kannst du bleiben?« Erjagte den kalten Motor hoch. »Zehn Tage.« »Das ist nicht sehr lange. Aber gefällt es dir wirklich auf der Schule? Wie ist das, auf ein College im Osten zu gehen? Wie sind die anderen Mädchen? Kommst du mit ihnen aus? Und...« »Um Gottes willen, nicht so schnell! Ich bleibe zehn Tage, Vati. Wenn ich jetzt alles erzähle, hab' ich morgen nichts mehr zu berichten. Morgen muß ich dann wie ein Bauer aus Hintertupfing reden: ›Ziemlich kalt heute. Sieht nach mehr Schnee aus. Die Kältewelle wird dem Winterweizen schaden‹.« Der Wagen drehte vor dem Bahnhof. Sie kuschelte sich in den Sitz. »Es ist sehr aufregend«, sagte sie. »Und ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe.« Sie hielt inne, um ihren Gesamteindruck der SmithUniversität in Worte zu fassen, und die Stille war fast augenblicklich bedrückend. Durch dieses Gefühl verwirrt, 153
schaute sie aus dem Fenster und sagte: »Das Gerichtsgebäude schaut sauberer aus.« »Hat dir Jane das nicht geschrieben? Man hat es mit einem Sandstrahler gereinigt. Letzten September, kurz, nachdem du gegangen bist.« »Nein... Sie muß es vergessen haben... Was ist denn mit Starkes Eisenwarenhandlung passiert? Ist das nicht eine neue Fassade?« »Er hat den Laden verkauft... Im Süden der Stadt war vor zwei Monaten ein Feuer. Das Castle-Haus ist abgebrannt.« »Von dem Feuer hat Mutti geschrieben.« Dave bog rechts ab und nahm die Fünfte Straße nach Garrison. Wieder schaute sie ihn an. Sie versuchte zu überlegen, wie sie die unsichtbare, nie gekannte Schranke zwischen ihnen durchbrechen könnte. Um dem drohenden Schweigen zuvorzukommen, sagte sie: »Sie scheint kleiner zu sein, die Stadt. Enger – die Häuser sind anders als in New England, dort sind die Häuser alle so alt. Sie werden schon so lange bewohnt, daß etwas von diesem Leben an ihnen haften geblieben ist. Unsere Häuser sind nicht so.« Um nicht den Eindruck zu erwecken, daß sie sich nach drei Monaten im Osten als etwas Besseres fühlte, fügte sie schnell hinzu: »Aber ich glaube, im Westen sind die Häuser auch anders. Ich habe Bilder gesehen, auf denen man eine feindliche Abgeschiedenheit zu erkennen meint...« Verärgert biß sie sich auf die Lippen, denn die Worte schienen den Eindruck, den sie zu vermeiden 154
versucht hatte, eher noch zu bestärken als zu entkräften. Sie verstummte. Er fuhr bis zur Maplestreet, dann bog er links ab. Das Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte, verunsicherte Bettyann. Fast hatte sie Angst, wieder etwas zu sagen, da sie fürchtete, die Worte könnten die ihr unbekannte, schwierige Lage noch verschlimmern. »Habe ich irgend etwas getan bzw. nicht getan?« fragte sie. »Was, Liebling? Was hast du nicht getan?« »Ich weiß, daß dir etwas Sorgen macht. Ich spüre es. Habe ich etwas getan? Kostet es zuviel Geld, mich auf die Schule zu schicken? Wenn es das ist...« »Es ist nichts. Es...« Dave plusterte seine Backen auf, ein Zeichen, wie Bettyann wußte, daß er sich über sich selbst ärgerte. »Na gut«, sagte er zögernd. »Ich glaube, du hast mich, seit du etwa so groß warst, sowieso immer durchschauen können... Eigentlich habe ich Jane versprochen, dir nichts zu sagen.« »Mein Gott!« rief sie. »Es kann sich doch nicht um etwas so Ernstes handeln. Ich kann mir nichts vorstellen, das als ein solch mysteriöses Geheimnis behandelt werden müßte.« Jetzt, da die Schranke gefallen war, schien er entspannter zusein. »Wahrscheinlich ist es überhaupt nichts Ernstes. Jane wollte es dir erst kurz vor deiner Abreise sagen... Ein Mann war da und wollte dich sprechen. Er war aus Boston oder irgendeiner Stadt im Osten. Jane fürchtete, er könnte dir 155
Weihnachten verderben, auf das sie sich so gefreut hatte. Sie bat ihn deshalb, zu warten und dich dann zu sprechen, wenn du wieder auf der Universität bist...« Dave hatte den Wagen durch die Einfahrt vor das Haus gefahren. Er stellte den Motor ab. Bettyann war verwirrt und erregt. Sie konnte diese Erregung nicht ganz verstehen. »Was wollte er?« fragte sie, und ihre Stimme klang unerwartet gespannt. »Ich nehme deine Tasche«, sagte Dave. »Sag nichts von dem, was ich dir erzählt habe. Ich werde erst mit Jane darüber sprechen. Er wollte dir etwas sagen über... Er hatte einige Informationen über... Es handelte sich um deine... wirklichen Eltern. Er hat uns nicht sehr viel erzählt.« Bettyanns Herz klopfte wild. »Erzähle Jane nichts davon, bis ich mit ihr geredet habe«, sagte Dave noch einmal. Dann rannte Bettyann auf die Veranda, wo Jane sie erwartete. Jane schloß sie in die Arme, lachte, und Bettyann rief: »Es ist herrlich, zu Hause zu sein, Mamma!« Er kam zwei Tage nachdem sie auf die Smith-Universität zurückgekehrt war. Sie hatte mit wachsender Spannung auf ihn gewartet, und als die Hausmutter anklopfte und sagte: »Bettyann? Unten steht ein junger Mann, der dich sprechen möchte. Er heißt Don Talley«, spürte sie, wie ihr Herz Sprünge machte. »Don ... Talley«, wiederholte sie langsam und ließ den merkwürdigen Namen von ihrem Verstand aufnehmen. Eigentlich mochte sie den Namen nicht. Es war nicht die 156
Art Name, die sie erwartet hatte, und sie fragte sich, wie wohl das Gesicht des Mannes mit diesem Namen aussehen würde. »In Ordnung, Mrs. Reeves. Sagen Sie ihm, ich komme gleich.« Als die Schritte der Hausmutter auf der Treppe verklungen waren, sagte das Mädchen, mit dem sie das Zimmer teilte: »Amherst?« Bettyann schüttelte unsicher den Kopf. »Aggies? Williams?« »Ich... ich glaube nicht.« »Na«, sagte das Mädchen mit Enttäuschung in der Stimme, »sieht er denn wenigstens gut aus?« »Ich habe keine Ahnung.« Sie verzog erstaunt das Gesicht. »Mein Gott, du kannst nicht einmal sagen, ob er schön ist oder nicht?« »... ich habe ihn noch nie zuvor gesehen.« »Und er hat dich auch noch nie gesehen?« Die Zimmergenossin sah, wie Bettyann den Kopf schüttelte. Sie zwinkerte ihr zu und meinte: »Na, das nenn' ich echten Sexappeal!« Bettyann lächelte kaum merklich. »Hm, ich wünschte... Na, steh hier nicht rum. Geh runter. Laß ihn nicht warten. Gib keiner anderen eine Chance, sich ihn zu angeln.« »Ich – ich geh' ja schon«, sagte Bettyann. »Du könntest ihn ja fragen, ob er einen Freund hat, der bei Amherst studiert... Weshalb bist du denn so bleich? Was ist los? Hast du Angst?« 157
»Nein – oder vielleicht doch, auf gewisse Weise schon.« »Bist du irgendwie in Schwierigkeiten? Kann ich dir helfen, Bettyann? Kann ich irgend etwas tun?« »Es ist alles in Ordnung... Ich geh' jetzt wohl besser.« Sie verließ das Zimmer und schloß die Tür leise hinter sich. Sie ging die breite Treppe herunter. Der Kristalleuchter klirrte melodisch. Er war von dem Luftzug bewegt worden, als die große weiße Tür zur Veranda zuletzt geöffnet worden war. Am Ende der Treppe hielt Bettyann inne. »Es ist der junge Mann, der sich gerade mit Mildred unterhält«, sagte Mrs. Reeves, als sie sah, wie sich Bettyann suchend in dem Raum umschaute. »Scheint ein netter junger Mann zu sein.« »Ja«, sagte Bettyann. »Danke.« Bettyann ging durch das Zimmer zu seinem Sessel vor dem Kamin. Ihm gegenüber auf der anderen Seite des Tisches saß die braunäugige Mildred und lächelte ihn mit gekünsteltem Interesse an. Ihre Hände lagen still ergeben in ihrem Schoß; ihr Mund war halb geöffnet. Als Bettyann neben ihm angelangt war, stand er auf, und sie fühlte, wie eine Welle unheimlichen Erkennens in ihr aufstieg. Es schien außerhalb von ihr selbst zu kommen. »Ich bin Bettyann, Mr. Talley«, stellte sie sich vor. »Bettyann... äh... Seldon?« »Ja...«
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Mildred beugte sich vor, in ihren Augen stand Angriffslust. »Willst du dich nicht zu uns setzen? Don erzählte mir gerade, er käme aus dem Westen.« Das Feuer warf einen rötlichen Schein aufsein Gesicht. Das Gesicht war von der Kälte draußen noch steif; es war klassisch schön, voll Selbstvertrauen, ruhig. Schneeflocken glitzerten auf seinem Mantel. »Oh, Don«, sagte Mildred, stand auf und ging an seine Seite. »So«, sagte sie besitzergreifend, »lassen Sie mich Ihnen den Mantel abnehmen, Don.« »Nein... Bitte... Machen Sie sich keine Umstände...« »Sie sollen nicht denken, unser Haus wäre nicht gastfreundlich. Lassen Sie mich ihn abnehmen.« Sie nestelte an seinem Kragen herum. »Ich möchte, daß Sie sich wie zu Hause fühlen.« »Wirklich, nein, vielen Dank«, sagte er schon fast ärgerlich. »Aber...« »Ich ziehe es vor, ihn anzubehalten.« Bettyann betrachtete Mildreds plötzlich außer Kontrolle geratenes Gesicht: Kindheit, vielleicht eine traurige Kindheit, schimmerte da für einen Augenblick durch; doch dann gewann sie ihre Selbstsicherheit wieder zurück und sagte schnippisch, in dem Versuch, ihre Stimme nicht beleidigt klingen zu lassen: »Ich – oh – nun. Ich sehe, ihr beiden wollt reden.« »Wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Don.
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»Aber überhaupt nicht«, antwortete Mildred liebenswürdig und zugleich kühl. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ich habe morgen eine Prüfung in Literatur und muß sowieso lernen.« Als sie gegangen war, sagte Don: »Sie kam herüber, setzte sich mir gegenüber hin und fing an, an diesem Tisch eine Patience zu legen. Als ich nichts sagte, schaute sie mich an und sagte: ›Ich studiere Soziologien Und als ich darauf nichts entgegnete, fuhr sie fort: ›Nach der Abschlußprüfung gehe ich nach New York und werde in der Forschung arbeiten. Woher kommen Sie?‹ Ich erzählte ihr also, daß ich aus dem Westen käme. Meinen Namen hat sie wohl von der Frau dort drüben erfahren.« Bettyann sagte ernst, wobei ihre Augen verwirrt blickten: »Ich dachte, Sie hätten meinen Eltern erzählt, Sie kämen aus dieser Gegend hier.« Er nickte, zu dem Feuer gewandt. »Es war zweckdienlich, das zu sagen.« Er drehte sich zu ihr um. »Dürfen Sie jetzt dieses Gebäude verlassen?« »Ich – ich könnte, wenn ich es wollte.« Jetzt erst fiel ihr auf, daß er einen Akzent hatte, keinen sehr starken, gerade noch wahrnehmbar, aber sie konnte sich nicht erinnern, jemals solch einen Akzent gehört zu haben. »Ich möchte, daß Sie Ihren Mantel holen. Ich möchte, daß Sie mit mir kommen.« Der Befehlston in seiner Stimme wollte sie zu einem brüsken ›Nein‹ veranlassen, aber sie hielt ihre Absage zurück, denn etwas in seinem Gesicht, eine nicht zu 160
beschreibende Spannung, eine fast Traurigkeit zu nennende Eigenschaft, zog sie an und ließ sie seine Grobheit entschuldigen. »Schauen Sie mich an«, sagte er. »Ich muß Ihnen einige Dinge über Sie selbst mitteilen. Schauen Sie mich an. Werden Sie mit mir kommen?« Sie schaute in seine Augen. Sie fühlte, wie ihr Herz bei diesem Anblick anfing, heftig zu schlagen. Sie ergriff seine Hand. »Über meine Eltern?« »Und über andere Dinge. Du kannst mich Don nennen, Bettyann. Ich muß dir sehr viel erzählen.« »Ich hole meinen Mantel.« »Ja, bitte.« Als sie wieder nach unten kam, wartete er an der Tür. Mrs. Reeves nickte ihr zu und meinte mütterlich: »Vergiß nicht, Liebes. Elf Uhr.« Ohne ein Wort öffnete Don die Tür und die beiden traten von der hellen Wärme in die dunkle Kälte. »Wohin gehen wir?« »Ins Draper Hotel.« Ihre Gefühle ihm gegenüber waren hin- und hergerissen. Irgend etwas störte sie an ihm; sie spürte, daß sie ihm nicht so ganz vertrauen sollte, wie sie eigentlich dazu geneigt war. Und dennoch fühlte sie sich auf unerklärliche Weise verwandt mit ihm. »Man wird mich nicht auf das Zimmer gehen lassen«, sagte sie. »Du mußt ganz selbstverständlich an der Rezeption vorbeigehen. Es wird klappen.« 161
Sie hielt ihr Gesicht dem Schnee entgegen. Vielleicht sollte sie Angst haben, aber sie hatte keine. Oder vielleicht hatte sie doch Angst – aber nicht vor ihm, sondern davor, daß er ihr Dinge erzählen würde, die sie von sich selbst nicht wissen wollte. Sie gingen an der Kapelle vorbei. Schnee knirschte unter ihren Füßen. Sie verließen das verschneite Universitätsgelände, bogen in die Hauptstraße ein; die Innenstadt von Northhampton lag vor ihnen. Sie klapperte mit den Zähnen und hielt sich an seinem Arm fest. Die Neonlichter verliehen dem treibenden Schnee eine leichte Orangefärbung; ihr Atem hing eisig in der Luft, aus einer Bar hörten sie Gelächter. Sie gingen weiter. Die Stadt bereitete sich für den Schlaf vor. Vor dem Hotel stampften sie den klebrigen Schnee von ihren Stiefeln. »Komm. Man wird dich nicht bemerken.« Sie gingen die Vortreppe hinauf, an der Rezeption vorbei, und der schläfrige Portier schaute gleichgültig durch sie hindurch, als ob sie überhaupt nicht da wäre. Sie sah Don an; sein Gesicht war nun entspannt. Von unten hörte man Stimmen und Gesang. Ein Mädchen lachte. Sie gingen den abgenutzten Teppich über den Treppenstufen von der Empfangshalle zum zweiten Stock hinauf. Don ging voraus und führte sie zu dem Zimmer. Er klopfte leise an die Tür. »Ich bin's«, sagte er. »Herein.« Er öffnete die Tür und ließ Bettyann vor sich hineingehen. Er schloß die Tür. 162
»Setz dich, Bettyann«, sagte der Mann auf dem Bett. Sein Gesicht war alt und voller Falten, er hatte tiefliegende Augen, seine Lippen waren dünn und sein Haar weiß. Sie betrachtete sein Gesicht. »Nanu«, sagte sie erstaunt, »Sie sind ja gar nicht alt!« Der Mann auf dem Bett nickte. »Sie ist eine von uns.« »Du kannst mich Robin nennen«, sagte der Mann auf dem Bett. »Ich werde dir jetzt einige sehr merkwürdige Dinge erzählen, Bettyann.« Bettyanns Augen wurden größer. »Hab keine Angst.« Obwohl ihr Herz heftig pochte, sagte sie: »Ich – habe keine Angst.« Und sie fragte sich, ob das wirklich stimmte. »Würdest du bitte deine Augen schließen?« fragte Robin. Seine Stimme war wie die Dons die Stimme eines Ausländers, aber mehr als nur seine Stimme war fremd. Sein Gesicht, alles an ihm war unwirklich. Sie konnte diese Unwirklichkeit ebensowenig einordnen, wie sie ihre Gewißheit erklären konnte, daß er nicht alt war; genauso ihr Gefühl, verwandt mit ihm zu sein. Sie schloß die Augen. Ihre Lippen bewegten sich lautlos. Sie stand an der Schwelle zu etwas, das völlig außerhalb aller ihrer Erfahrungen lag. Sie wartete. »Hör gut zu«, sagte Robin. »Hörst du meine Gedanken?« Nach einem Moment stieß sie einen erschöpften Seufzer aus. »Ja.« In ihrem Verstand konnte sie die Worte entstehen und vergehen fühlen, aber erschreckenderweise waren dies nicht ihre eigenen 163
Gedanken, sondern etwas, was von außen eindrang. Die Worte waren verschwommen und wirr, und darüber hinaus war da das Bewußtsein seiner Anwesenheit. Sie spürte eine Veränderung in sich, versuchte gegen die Worte anzukämpfen, aber sie blieben in ihrem Verstand, und nach einem Augenblick verschwand das Gefühl. »Es ist schwierig, diese Sprache zu übertragen. Die Symbole sind zu – schwer; nein, nicht schwer, sondern... Es gibt kein Wort dafür. Oxy heißt es in Fbun. Du wirst das noch kennenlernen. Du wirst viele Sprachen lernen. Entspanne dich, Liebes. Ich möchte dir noch etwas anderes zeigen. Bist du entspannt?« »Ja«, antwortete sie, aber ihr Körper war verkrampft. »Versuche jetzt zu folgen, wenn du kannst. Anfangs kann es schwierig sein, du wirst mir helfen müssen.« In ihrem Verstand waren jetzt keine Worte, obwohl sie seine Anwesenheit spürte. Er versuchte, ihre eigenen Gedanken zu lenken. Sie legte die Hand an die Stirn. Er ließ sie... Ihre Gedanken... zerrten... an einem verschlossenen Bereich, einem neuen Bereich ihres Geistes, einem so fremdartigen Teil, daß sie davor zurückschreckte, aber er gab nicht nach ... »Du mußt helfen«, sagte er. Sie stöhnte, als sie schließlich eine Wahrnehmung empfand, die sich gänzlich unterschied von allen bisherigen: Es war wie ein elektrischer Schlag, wie ein frischer Wind, wie die Erinnerung an einen Schmerz. »Er... er – wächst! Ich fühle, wie er wächst!« rief sie.
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Sie öffnete die Augen und schaute auf ihren linken Arm. Immer wieder bewegte sie die Hand vor ihren Augen. Sie konnte es nicht fassen. »Er ist neu«, sagte sie. »Mein Arm ist neu.« Sie wandte ihre Augen bittend zu Robin. Sie wollte weinen; sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten, schluckte sie aber wieder runter. Ihre Haut prickelte. »Wer seid ihr?« Ein Teil ihres Verstandes sträubte sich dagegen, daß dies alles wahr sein sollte. (Am wirklichsten waren noch die Wände des Zimmers: Die schmutzigen Tapeten waren so unerschütterlich nüchtern, daß sie regelrecht nach Widerlegung schrien, aber ihr Dasein beruhte ja auf Wirklichkeit.) Die Finger ihrer neuen linken Hand, dünne zarte Finger, bewegten sich in nie gekannter Freiheit. Robin stand auf und ging zu dem Fenster. »Du wirst üben müssen«, sagte er. »Zeig es ihr, Don.« Wieder schaute sie auf Don. Augenblicklich spürte sie, wie ihre unbestimmte Abneigung in Ehrfurcht umschlug. Sie wollte wegschauen, zittern – aber sie stand stumm vor ihm, ungläubig, überwältigt; ihre Gefühle, ihr Verstand, ihr ganzer Körper war vor starrem Erstaunen wie gelähmt. Vor ihren Augen begann Don zu flimmern, sich zu verwandeln. Einen Augenblick später hatte er keine menschliche Gestalt mehr. »Oh«, rief sie mit schwacher Stimme. »So sehen wir aus«, sagte Robin, »und so siehst auch du aus, Bettyann.« »Ich sehe so aus?« fragte sie. Don – oder was Don gewesen war – sah seltsam aus, verlockend, nicht schön,
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aber durch die Fremdartigkeit anziehend. Ein Schaudern durchlief ihren Körper, sie konnte kaum noch denken; sie konnte nicht glauben, daß auch sie so sein sollte, aber in diesem Augenblick gab es ohnehin keinen Glauben oder Unglauben, lediglich stumme Verwunderung. »Du wirst dich daran gewöhnen«, sagte Robin. »Du wirst lernen, viele Gestalten anzunehmen; wenn du willst, kannst du so sein, wie du jetzt bist; du kannst aber auch etwas anderes sein, wenn du das möchtest, vielleicht ein Vogel, ein anderes Tier oder etwas, von dem du jetzt noch nichts weißt. Wenn du es erst einmal gelernt hast, kannst du viele Formen annehmen.« Sie schaute auf ihren neuen Arm. Weil sie sich fast davor fürchtete, zu denken, ließ sie ihren Geist den neuen Bereich nach eigenem Willen erforschen. Was geschah, schien ein unwillkürlicher Reflex zu sein. Langsam schrumpfte der Arm wieder in seine ursprüngliche, verkümmerte Form. »Etwa so?« fragte sie stumpf. »So?« Ihr Herz stand kurz vor dem Zerspringen. Die wirklichen – die ach so wirklichen – Wände verschwammen vor ihren Augen, das Muster der Tapeten floß ineinander und ließ ihren Kopf vor Erregung hämmern. Sie wartete fast darauf, daß die Wände jeden Moment in sich zusammenfallen und sich in fließenden Wellenlinien auflösen würden; Wellen, die in alle Richtungen strömten und sie allein auf ihrer kleinen Insel von festem Teppich zurückließen, umgeben von treibender Stille. »Woher kommt ihr?« »Von den Sternen.«
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»Von den... Sternen«, wiederholte sie. Seltsame Worte. Sie hatte Sterne bei Nacht gesehen. Sie waren weit weg (aber manchmal schienen sie weiter weg zu sein als andere Male). In ihrem Körper bauten sich Spannungen auf. Die Sterne. Es würde sehr schwierig sein, diese Spannungen im Zaum zu halten; eine Zeitlang würde sie hin- und hergerissen sein, ihre Gedanken würden in diese und jene Richtung streben. (Irgendwann würde ihr Verstand zur Ruhe kommen, das spürte sie, aber das nützte ihr nichts, denn jetzt hatte sie keine Ruhe). Es würde lang dauern. Denn die Sterne waren sehr weit weg. »Wir stammen nicht von diesem Planeten. Sicher hast du selbst, Bettyann, schon das Gefühl gehabt, nicht völlig auf diesen Planeten zu gehören. Sicher hast du bemerkt, daß du anders als die anderen bist.« Sie schüttelte den Kopf, eine Locke fiel ihr in die Stirn, und sie strich sie weg. Anders? Anders? »Erzähl... erzähl mir davon.« Erzähl es mir ganz langsam, hatte sie sagen wollen, immer ein kleines bißchen auf einmal, denn ich glaube euch noch nicht ganz, und ich würde gern mehr Dinge hören, die ich nicht glauben kann, aber langsam, damit ich die Stücke einfügen kann, wie bei einem Puzzle. Ich kann mich an ein Puzzle erinnern, das Jane und ich zusammengesetzt haben. Es war ein Bild von zwei Hunden, Hühnerhunden, und wir hatten den Deckel der Schachtel verloren und es dauerte lange, bevor wir uns vorstellen konnten, was auf dem Bild war. (Jane dachte anfangs, es wäre ein Ungeheuer, ich tippte auf einen Grizzlybären.) »Es gibt sehr viel zu erzählen«, sagte Robin. 167
Bettyann dachte an die Hühnerhunde; als Dave damals nach Hause kam, hatte er gelacht und gesagt: »Ist ja klar. Es war auf dem Schachteldeckel.« (Und dann fiel es ihr und Jane wieder ein, und sie sagten, daß sie es, jetzt da er sie daran erinnerte, die ganze Zeit über gewußt hätten.) Es schien plötzlich, als hätte sie es schon immer gewußt; daß hier endlich die Leute waren, die sie wie niemand sonst verstehen konnten, und sie wollte weinen vor Glück, und dann plötzlich nicht mehr vor Glück, sondern vor Überwältigung. »Wir reisen«, sagte Robin, »...ursprünglich kamen wir von einer Welt, die wohl so ähnlich wie diese hier war. Unsere Aufzeichnungen besagen, daß sie Amio hieß. Wir waren schon Reisende, als die Bewohner dieses Planeten noch in Höhlen lebten. Es ist schon so lange her, daß sich unser Planet hinter dem größer werdenden Horizont verlor; vielleicht kreist er jetzt um eine erloschene Sonne – ich weiß es nicht. Es ist lange her. Unsere Geschichte – vieles weiß man nicht mehr. Wer weiß, vielleicht durchlaufen alle Rassen dieselben Stadien und wir waren diesem neuen Volk, unter dem du gelebt hast, einmal ganz ähnlich? Aber jetzt reisen wir. Wir sind alt – und weise auf Amio geworden, bis nach langer Zeit einer von uns per Zufall den Zeiui-Effekt entdeckte und wir Amio verließen. Und hier finden wir nun einen Sonnenuntergang, das Blau der Meere Millionen Kilometer entfernt. ..« Während sie ihm zuhörte, erkannte der Teil ihres Verstandes, der durch den Schock nicht wie gelähmt war, daß Robin zwar alt war, aber nicht alt in dem Sinn, wie sie das Wort zuvor benutzt hatte, nicht so, wie Menschen von 168
der Erde alt sind; fast schien es so, als seien seine Worte müde vom Alter. Dieser Gedanke flackerte kurz in ihr auf und erstarb. »Als wir das letztemal auf diesen Planeten kamen«, fuhr Robin fort, »kamen deine Eltern bei einem Unfall um. Ich selbst hörte die letzten Gedanken deines Vaters, denn ich wartete auf ihn in dem Aufklärungsschiff. Ich dachte, du wärst auch tot... Vor einem Monat sind wir zurückgekommen. Einer von uns spürte deine Anwesenheit auf dem Planeten, und ich konnte mich daran erinnern, wo der Unfall geschehen war; anhand des Logbuchs des Mutterschiffes errechneten wir das Datum. Wir suchten in den Zeitungsarchiven in der Stadt, die dem Unfall am nächsten gelegen war. Du hattest tatsächlich überlebt. Von dort aus führten uns diskrete Nachforschungen zu dir.« »Sprich weiter.« »Es gibt nicht mehr viele von uns; nicht so viele, wie wir gerne hätten. Es wäre schön, wieder ein neues Gesicht unter uns zu haben. Es gibt genügend Platz für dich. Wir haben dich gesucht, weil du eine von uns bist; wir konnten dich hier nicht einsam zurücklassen. Wir sind gekommen, um dich zu bitten, zu deinem eigenen Volk zurückzukehren und mit uns zu reisen. Denn du bist eine von uns.« Er wandte sich zum Fenster und schaute in den fallenden Schnee. »Viele Planeten haben schöneren Schnee.« »Auf Lylo gibt es schöneren Schnee«, sagte Don. »Und auch bessere Schatten. Dort gibt es drei Monde.« Bettyann wußte, daß sie ihr Zeit ließen, damit sie das Gehörte verarbeiten konnte; aber ihr Kopf spielte nicht mit; ihre Gedanken wirbelten unkontrollierbar durcheinander. 169
»Dieser Planet ist für seine Grüntöne bekannt«, sagte Robin, mehr zu sich selbst als zu Bettyann oder Don. »Es gibt einige wirklich sehenswerte Grüntöne in den tropischen Regenwäldern, zum Beispiel in Guam. Aber nicht hier, nicht zu dieser Jahreszeit, nur dieser Schnee...« »Dies ist nicht dein Volk«, sagte Don in seinem fremden Körper. Bettyann schaute ihn wieder an. Die Gestalt begann bereits etwas von ihrer anziehenden Fremdartigkeit zu verlieren. Sie schien sich allmählich an den Anblick zu gewöhnen. Nun schon fast vertraut, fühlte sie sich zu ihr hingezogen und sie sehnte sich danach, sich ihrer Wirklichkeit und der ihrer eigenen echten Gestalt, die sie unter der menschlichen Hülle trug, zu vergewissern. »Laß mich dir helfen«, sagte Don. Am ganzen Körper zitternd, begann Bettyann sich zu verwandeln. Auf nie gewandelten Pfaden tastete sie sich zurück zu der neuen Ebene ihres Geistes. Alles war ungeheuer kompliziert: ein verworrenes Knäuel von Schaltzentren. Wieder wirbelten unbewußte Bilder durch ihre Gedanken; und so wie die Vögel im Winter nach Süden fliegen, so fand auch sie instinktiv ihren Weg. Am Anfang ging es langsam und bereitete Schmerzen, und sie biß sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien. Aber dann, als sie fühlte, wie ihr Körper eins mit sich wurde, war sie wie betäubt von dem unvorstellbaren schönen Wunder, das neben ihrem Dasein pulsierte. Sie war zu überwältigt, um zu verstehen: Sie empfand nur Ehrfurcht und Demut, daß sie hier, in sich selbst, das große Geheimnis trug, um ihren Körper freizugeben, zu verändern, zu formen, zu gestalten. Sie kannte seine 170
äußeren Umrisse und seine Konturen, seine Form; es lag in dem neuen Bereich ihres Geistes, aber dieser Bereich war kein zweites Gehirn, und auch nicht dem ihren überlegen, sondern es war etwas Eigenständiges, etwas außerhalb ihrer Persönlichkeit, das ihre Gedanken so wundervoll unterstützte. Die Verwandlung ging weiter, obwohl sie es noch nie gesehen hatte; sie konnte es kaum glauben; und sie hatten es ihr gezeigt. Es war zu – fremdartig. Es würde einige Zeit dauern, dachte sie, bis das Gefühl der Fremdartigkeit nachlassen würde. Zuerst würde alles ganz fremd sein, dann neu und dann (die Zeit ist etwas Herrliches) schließlich natürlich. (Dave hatte gesagt: »Wenn du lange genug einen Pfad benutzt, wird man ihn pflastern.«) »Nein«, sagte sie, und ihr Verstand hatte sich noch nicht ganz von dem Schock der Verwandlung und der ungekannten (aber noch nicht gesicherten) Freiheit ihrer neuen Gestalt erholt. »Nein«, sagte sie stumpf. Das Gefühl der Dazugehörigkeit, die absolute Gewißheit, war stärker als alles, stärker als momentane Empfindungen und Überlegungen: sie gehörte zu ihnen, und das war richtig so. »Nein«, wiederholte sie noch einmal. »Die Menschen sind nicht mein Volk.« Sie schaute an sich herunter und sah, wie unpassend ihre Menschenkleidung an dem fremden Körper wirkte, und sie zerrte an dem Kleid, und einen Augenblick lang fühlte sie sich traurig und allein. »Du wirst also mit uns kommen?« »Ja.« wollte sie sagen. »Ja. Ich werde gehen. Ich muß doch gehen, oder? Ihr seid mein Volk.« Aber all die Eindrücke, all die durcheinandergewirbelten Erinnerungen 171
an die Vergangenheit stiegen klagend und vorwurfsvoll in ihr auf. Sie versuchte, sie zu unterdrücken, versuchte, die jetzt wiedererlebte Erregung, die sie vor nur zwei Wochen gespürt hatte, als sie wußte, daß sie an der Schwelle zu einer Entdeckung stand (wo sie auch jetzt noch stand: immer noch an der Schwelle), zu vergessen. Mein Volk kommt von den Sternen, dachte sie ungläubig. Sie gehen, wohin sie wollen, frei und ungebunden. (Und ich habe Doris gesagt, ich würde ihr morgen meine Notizen der letzten Geschichtsstunde geben, und eine Idee für einen Artikel hatte ich auch.) Sie wartete, bis sich ihre Gefühle beruhigten. »Gebt mir ein wenig Zeit«, bat sie. Ihre Gefühle waren am Sprudeln, erschreckend stark außer Kontrolle geraten, und stiegen in ihr auf wie rasendes, kochendes Wasser in einem Topf zur Oberfläche. Sie stand da, fühlte den fremden Körper und beobachtete Robin, der aus dem Fenster in den Schnee hinausschaute. Sie hatte einmal einen Alptraum gehabt, in dem ihr Zimmer plötzlich verschwunden war; über der Treppe zu Hause war das Nichts; als sie erwachte, fiel der Mondschein auf den Teppich, und Mamma Janes zarte Hände waren da, Hände, die für sie da waren und sie beruhigten, seit sie denken konnte und noch länger. Unten waren die Spitzenvorhänge und neun (sie hatte sie oft gezählt) dicke Kassetten mit Schallplatten, die Dave sich manchmal nach dem Abendessen anhörte; irgendwann einmal würde sie die Musik in einem Bild ausdrücken, verwoben mit Daves und ihren Gefühlen (und da war der neue Bereich in ihrem Bewußtsein, der ihr helfen würde, 172
die Farben nach ihrem Willen zu mischen, und der ihr viele Dinge zeigen würde, die zu tun und zu zeigen waren). Einmal nistete eine Familie von Spottdrosseln in der ausgewitterten Eiche. Im Sommer sangen sie die ganze Nacht über; durch die offenen Fenster konnte sie ihnen zuhören, bis sie einschlief. Sie konnte förmlich noch die Sommernachtsluft (mit dem Duft süßer Hyazinthen, geheimnisvoller Maiglöckchen, Geißblattpollen und starken Rosen) schmecken. Die Erinnerung daran, die alles in einem Aufblitzen der fünf von der Zeit gefärbten Sinne umfing, war weder schön noch traurig, sondern seltsam wunderbar, und Bettyann ließ sie mit stillem Erstaunen wirken, bis ihr Blut kribbelte. Don scharrte unruhig. Die Sterne betrachten, die so weit weg waren, irgendwann noch bevor sie in die Schule kam – sehr früh, eine ihrer ersten Erinnerungen, die mit den warmen, beruhigenden Nicht-Erinnerungen ihres Unterbewußtseins verschmolzen... Sie waren heftig, leuchtend und sehr einladend, und sie wollte sie wie Blumen sammeln. (Da gab es doch ein Märchen von einem kleinen Mädchen, das den Mond haben wollte; eines Tages war es verschwunden, und ihr Vater zeigte auf den Mond und sagte: »Sie ist da oben, sie ist auf dem Mondstrahl hinaufgerudert«, und die Leute aus der Stadt senkten alle den Kopf, weil es so traurig war.) (Der alte Mr. Starke hatte Krebs und lag im Sterben.) Aber als sie Robin anschaute, den alten (jungen) Robin, so sehr weise, fühlte sie eine große Sehnsucht, eine größere Sehnsucht als nach der Erde, und die Sterne lagen mit 173
tausend Abenteuern zum Greifen nahe vor ihr. (Eine lodernde Sonne zum Spielen, und dann weiterziehen zu einer erloschenen Sonne, die einen zu nie-zu-beantwortenden Fragen anregte; die Liebe zum Weltall, und nie versteht man, bis aus dem Nirgendwo ein Komet kommt und einen verstehen läßt, und man versteht, vergißt und versucht sich wieder daran zu erinnern – später – wenn man Zeit dazu hat.) Sie wollte vor diesem Gedanken auf die Knie fallen und ihre nicht mehr Arme zu nennenden Gliedmaßen in einer Geste der Dankbarkeit ausstrecken, für dieses, ihr Volk, und sie wollte rufen: Dies ist mein Volk, und dieser seltsame Körper ist mein Körper, und dies sind diejenigen, die mich verstehen werden, weil sie so sind wie ich. Dies ist mein Volk, und die traurig-lustigen Geschöpfe und die Welt, die ich kenne, ist nur – menschlich... Dies, mein Volk; und ihr Blut wallte auf vor Erregung, und sie sagte: »Ja! Ja! Ich werde kommen, ihr seid mein Volk.« Die Worte waren ausgesprochen. Jetzt wollte sie weinen. Robin war an ihrer Seite. Sie schaute zu ihm auf, und ihr Herz hämmerte voller Hoffnung. »Ich muß mich zuerst von meinen Eltern verabschieden«, sagte sie. »Ich muß es ihnen sagen. Ich könnte nicht gehen, ohne es ihnen zu sagen.« »Es tut mir leid«, sagte Robin nach einer Pause. »Ich glaube, ich kann mir vorstellen, wie dir zumute sein muß. Aber es ist unmöglich. Dies zu gestatten, würde bedeuten, unsere Entdeckung zu riskieren. Wir wollen nur in Ruhe gelassen werden; dafür lassen wir die anderen in Ruhe. Wir haben hier auf dich gewartet, weil deine Eltern uns
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ausfragen zu wollen schienen. Wir wollten keinen Ärger haben.« »Aber ich kann nicht einfach fortgehen! Ich muß sie wiedersehen! Ich muß ihnen sagen, daß ich fortgehe!« »Die anderen warten schon«, sagte Don. »Wir haben den Aufbruch wegen dir hinausgezögert. Wir können nicht länger warten.« »Du mußt dich mit einem Brief verabschieden«, sagte Robin. »Bitte...« Robin schüttelte den Kopf. »Es ist die Vorschrift, Bettyann. Es war schon immer Vorschrift. Wenn diese Rasse unsere Besuche entdecken würde, wenn deine Eltern etwas herausfinden würden... Nein, das Risiko ist zu groß. Ich kann dies gegenüber den anderen nicht vertreten. Wir wollen nur in Ruhe gelassen werden; das ist nicht zuviel erwartet.« Langsam verwandelte sie sich wieder in die Gestalt einer Studentin mit einem verkrüppelten Arm zurück, verkrüppelt, weil er bequemer als der gesunde war, mit dem sie kaum umzugehen wußte. (Mit einem Teil ihres Verstandes ging sie müßig der Frage nach, was Bill dazu sagen würde, sie mit zwei gesunden Armen zu sehen, und wo Bill jetzt wohl war – irgendwo bei der Armee – und ob sein attraktives Gesicht, oder dessen Bedeutung für sie, oder die Erinnerung daran... war es wirklich so wichtig, was er sagen oder denken würde? Ich könnte den Arm wachsen lassen, dachte sie, ganz langsam, nur um den Bruchteil eines Zentimeters pro Tag, mich daran gewöhnen, und allen erklären, daß er mit gymnastischen
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Übungen wieder wachsen würde, und wenn er in einem Jahr normal wäre, würden weder sie noch ich es merkwürdig finden. Es ist kindisch, zu weinen.) »Ich – ich möchte gern allein sein«, sagte sie. »Es geht mir gleich wieder besser. Bitte laßt mich ein paar Minuten allein.« »Auf dem Tisch liegt Schreibzeug und Papier«, sagte Don. Als sie zurückkamen, fragte Robin: »Fühlst du dich jetzt besser?« »Ja«, antwortete sie. »Ich habe einen Brief an das College geschrieben, in dem steht, daß ich durch einen Krankheitsfall nach Hause mußte. Sie werden sich nicht bei meinen Eltern melden und sie mit meinem Fehlen beunruhigen.« Sie schaute Don an. »Ich habe meinen Eltern einen Brief geschrieben, in dem ich sage, daß ich fortgehen muß.« Sie schaute Robin um Verständnis bittend an. »Er war nicht leicht zu schreiben.« »Es tut mir sehr leid, glaube mir«, bedauerte Robin. »Aber vielleicht ist der Brief am einfachsten für dich. Ich gebe sie dem Mann unten am Empfang.« »Wir müssen gehen«, sagte Don. »Draußen haben wir einen Wagen stehen«, erklärte Robin. »Bis zu unserem Aufklärungsschiff sind es mehrere Stunden.« Sie verließen das Zimmer; in der Empfangshalle weckte Robin den schläfrigen Portier, gab ihm die zwei Briefe und
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eine Banknote und sagte: »Können Sie diese Briefe gleich morgen früh aufgeben?« (Bettyann dachte: Es wird drei, vielleicht vier Tage dauern, bis Jane den Brief bekommt; sie wird ihn aus dem Briefkasten nehmen... Sie wird neben dem Briefkasten stehen, den Brief vielleicht öffnen, bevor sie zurück ins Haus geht – wenn es an diesem Tag auf der Veranda nicht zu kalt ist. Sie wird säuberlich die rechte Ecke des Umschlags aufreißen, ihn herausschütteln – oder ihn vielleicht mit Daumen und Zeigefinger herausholen –, nur eine Seite, mit groß geschriebenen wenigen, traurig wenigen Worten.) Sie saßen im Auto und fuhren durch die kalte Nacht. Bettyann zitterte; sie saß zwischen Robin (der fuhr) und Don, bis Robin schließlich merkte, daß ihr kalt war, und sagte: »Stell lieber die Heizung an, Don.« Robin fuhr langsam, und die Nacht war lang. Don saß am Fenster und versuchte, zu schlafen. Anfangs befand sich Bettyann in einem Zustand immer stärker werdender Erregung, einer Erregung, der sie kaum noch Herr werden konnte und die nicht ohne Kummer war, aber noch stärker. Nach einer Weile wandte sie sich zu Robin, um ihn zur Eile anzutreiben, und dann wollte sie plötzlich verzweifelt mit ihm reden, um den Schmerz des Abschieds zu überwinden, aber sie konnte nicht die passenden Worte finden. Schließlich wurde sie müde, und sie wollte schlafen und vergessen (oder vielleicht einen Augenblick lang von funkelnden Sternen träumen). Die Nacht nahm kein Ende. Und dann kam das Morgengrauen, düster und mit Schneewolken verhangen. Und 177
dann das schwache Rosa des Sonnenaufgangs, das ihren Mund trocken und ihren Kopf schwer werden ließ. Don erwachte, und nach einer Weile schaute er auf eine Karte. »Die nächste Straße rechts.« Langsam erwachte die Welt um sie herum, die an ihnen vorüberflog. Sie fuhren an einer Stadt vorbei. »Das ist ein seltsames Rot«, sagte Don. »Auf der Mütze des Jungen, Robin.« Bettyann schaute begierig aus dem Fenster. Der Junge trat in die Pedale seines Fahrrads, sein Atem gefror zu einer Eiswolke, warf eine Zeitung in hohem Bogen auf eine Veranda, und Bettyann erinnerte sich daran, wie es war, das Plumpsen der Morgenzeitung gegen die Hauswand zu hören, wenn man noch halb schlief und es draußen Winter war. Plötzlich völlig wach, sagte Don: »Sie sehen nicht viel, oder? Hast du ihnen irgend etwas beibringen können?« »Ein wenig«, sagte Bettyann. »Ich glaube, ihre Augen sind anders als unsere. Es muß schwierig gewesen sein.« Während sie immer noch aus dem Fenster schaute, wollte sie erklären, was sie fühlte. »Der alte Starke hat seine Eisenwarenhandlung verkauft und alle seine Angelegenheiten in Ordnung gebracht, weil ihm der Arzt gesagt hat, er hätte Krebs und würde noch vor dem Sommer sterben.« Don lächelte zurückhaltend. »Du kannst uns gerne von den Eingeborenen erzählen. Glaube mir, ich bin mir sicher, daß wir alle sehr gern deine Erfahrungen hören möchten.« 178
In seiner Stimme lag keine Gleichgültigkeit – Gleichgültigkeit war ein zu leichtes Wort dafür. Es war, als stimme er höflich etwas zu, das er nicht ganz verstand, es war, als wäre er der Meinung, daß man aus einer Mücke einen Elefanten mache. Aber er kannte den alten Starke nicht, wußte nicht, daß er Süßigkeiten hinter dem Ladentisch hatte, die er den Kindern gab, wenn ihre Eltern bei ihm einkauften. (Natürlich war das eine gute Werbung, aber in seinem Lächeln lag nicht nur Geschäftliches, und die Süßigkeiten waren auch etwas anderes als bloßes Geschäft: Es war viel komplizierter als etwas rein Geschäftliches.) Und sie konnte sich an das Lächeln und die Stimme erinnern (wo hatte er Krebs? im Kehlkopf?), die sagte: »Mein Gott, die ist aber gewachsen, Mr. Seldon; ich glaube, heute habe ich für unser Leckermäulchen genau das richtige.« (Er tat immer so, als ob diese Großzügigkeit nicht zu seinem üblichen Geschäftsgebaren gehörte, sondern etwas höchst Besonderes nur für dich war.) Und dabei winkte er mit dem noch nicht eingepackten Pinsel (Vati Dave hatte ihn gekauft, um das Abtropfbrett der Spüle damit zu streichen, aber dann überlegte er es sich anders und rief Mr. Olson an, der vorbeikam und die Arbeit für ihn erledigte), und die Eisenwarenhandlung roch nach Öl und neuem Eisen, oder danach, wie neues Eisen riechen sollte. Aber das konnte Don nicht wissen. Und da er es nie erlebt hatte, konnten seine Gefühle dazu anders als die ihren sein ... »Bieg hier ab«, sagte Don. »Dann geradeaus weiter.« Die Häuser wurden von Feldern abgelöst. Der felsige Boden schien sich gegen die Bearbeitung aufzulehnen. 179
Alles war tot, und zwischen dem Schnee war fruchtbare Erde zu sehen. Die Luft war frisch, und blendend strahlte die Sonne. Der Wagen schnurrte weiter. Ein Schienenstrang schwenkte ein und verlief parallel zu der Straße, ein Zug dampfte die Steigung hoch. Der Zug blieb hinter dem Wagen zurück, und nach einer Weile hörte Bettyann ihn traurig an einem Bahnübergang pfeifen. »Erzähl mir von den Planeten«, sagte Bettyann. »Erzähl mir, was ich sehen werde.« »Es gibt so viel...« »Ich würde gern malen. Was kann ich malen?« »Malen? Zum Beispiel Oliki. Das ist ein wunderschöner blauer See.« »Ich würde gern so etwas wie das Feld dort malen«, sagte Bettyann. »Aber meinst du nicht, daß es etwas farblos ist?« fragte Don und in seiner Stimme lag ehrliche Überraschung, als ob es ihm noch nie eingefallen wäre, ein Feld zu malen. »Du hast wohl schon so vieles gesehen... Ja, es ist wohl ein wenig farblos. Aber siehst du nicht, wie trotz der ganzen Felsen und dem Schnee sich alles verkrochen hat und darauf wartet, lebendig zu werden?« »Ja, das ist eine Tatsache, das ist klar«, kam Robin ihr zu Hilfe. »Hier links«, sagte Don. Dann fuhren sie schweigend mehrere Kilometer. Sie kamen zu einer langen Brücke mit hohem Geländer, die
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über einen zugefrorenen kleinen Fluß führte (das Eis auf der Mitte der Strömung war hauchdünn). Die Holzbalken der Brücke ächzten unter dem Gewicht des Wagens. Nachdem sie über dem Fluß waren, bog Robin in einen Pfad ein, den normalerweise die Fischer benutzten. Der Pfad war von Bäumen gesäumt, deren tote Zweige mit zerbrechlichen Fingern an dem Metalldach des Wagens kratzten. »Wir brauchen das Auto nicht mehr«, sagte Don. »Wir können es hier abstellen.« Robin hielt an, die drei stiegen aus, und Robin sagte: »Du hattest recht, Don. Es war niemand hier. Ein sicheres Versteck.« Das Schiff stand dreißig oder vierzig Meter tief im Wald; ringsherum war die Erde tot, verkohlt. »Kannst du dich jetzt verwandeln, Bettyann?« fragte Robin. »Ich glaube schon«, sagte Bettyann. Langsam ließ sie ihre Gestalt sich verändern, jetzt fiel es ihr schon leichter, und aus dem plötzlichen Wunsch heraus, die Anerkennung von Don und Robin zu bekommen, wurde sie sich der Macht ihres neuen Bereiches bewußt und begann damit zu arbeiten. »Ein kleiner Baum!« rief Don. »Ein kleiner Baum, Robin! Schau nur, wie schön die Blätter sind! Sie ist wirklich ein wunderschöner Baum!« Die Luft war kalt. Die Sonne strahlte durch neblige Wolken. »Sie lernt schnell«, sagte Robin.
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Sie verwandelte sich wieder, diesmal in keine ihr bekannte Gestalt, sondern sie ließ sich von ihren Gefühlen leiten. Don machte große Augen, starrte in das Grau, das gerade noch ein kleines Bäumchen mit leuchtendem Blattwerk gewesen war, und wandte sich schaudernd ab. »Was es auch sein soll, schön ist es nicht.« Sie entspannte ihren Körper, verwandelte sich in die Gestalt, in die sie gehörte, und einen winzigen Moment lang kam sie sich eingeengt und merkwürdig unbequem darin vor; die Erdworte kamen nur unter Schwierigkeiten aus ihrem neuen Mund und sie konnte sie auch nicht einfach denken, denn sie kannte noch keine Sprache, und jetzt wurde ihr klar, daß Robin und Don sich auf der langen Fahrt in Gedanken unterhalten hatten. »Ihr würdet es wohl Traurigkeit nennen«, sagte sie. »Mein Gefühl beim Abschied.« »Wir sollten ins Schiff gehen«, sagte Robin. Don half ihr beim Einsteigen. Als sie im Schiff waren und sahen, wie die Bäume nach unten wegsackten, sagte Don: »Du mußt sehr erregt sein. Du hast viel, worauf du dich freuen kannst.« Aber ihre Gefühle beim Abschied waren zu heftig, als daß sie hätte antworten können. Sie stand schweigend am Fenster, das von den ersten Wolken verschleiert wurde. Der Wald war bereits in wirbelndem Grau verschwunden; das Schiff beschleunigte. Sie war gefangen in den kalten Metallwänden, wurde von ihnen festgehalten; sie wollte mit ihren bloßen Händen 182
sinnlos dagegentrommeln. Ihr Zuhause war weit weg, weit, weit unten, und während sie das dachte, entfernte es sich weiter, immer weiter, für sie nicht mehr erreichbar. »Das Mutterschiff liegt nicht weit von der mexikanischen Küste«, erklärte Robin. »Wir werden es bald erreichen.« Bettyann wollte sich an etwas festhalten, die Bewegung machte sie krank. Es wird vorbeigehen, dachte sie, es wird vorbeigehen. Sie dachte an die Sterne, an den Körper, ihren Körper, und die fremden Lippen bewegten sich, und sie dachte: Dies ist mein Volk. Das Schiff stieg empor. Es drehte sich langsam nach Westen. Die Zeit verging, schnell oder langsam, und die Wolken lagen hinter ihnen; unter ihnen lagen die Großen Seen wie über den Horizont gelegte Finger. Nach einer Weile neue Felder und neue Wälder, neue Flüsse und weite Ebenen und ein großer Strom, der die rote Erde durchschnitt. Und dann die ersten hoch aufragenden Berge, deren scharfe Zacken in die Sturmwolken schnitten, die ihre Spitzen umschwirrten. Schnee glänzte auf ihren Gipfeln. Das Schiff bebte und sang sein Adieu zu dem weit unten liegenden Land. (Jetzt lag die Westküste unter ihnen, die sie zum erstenmal sah und die sie nie wieder sehen würde, und über dem Land lag der Sonnenaufgang.) »Erzähl mir von den Planeten«, bettelte sie. »Schnell, erzähl mir.«
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»Du wirst sie bald selbst sehen können«, antwortete Don. »Erzähl mir nur ein bißchen. Jetzt gleich. Bitte.« »Nun, da gibt es die orangefarbenen Berge von Kenu.« »Wie sehen sie aus?« fragte sie begierig, versuchte, ihre ganze Konzentration auf seine Worte zu richten. »Du mußt sie sehen. Wir verbringen meist einen ganzen Tag dort.« »Einen... Tag?« »Das ist für die orangefarbenen Berge nicht zu lange«, meinte Don. »Nein«, sagte Bettyann, »ich wollte sagen, wie ihr wirklich alles in einem Tag sehen könnt?« »Ich verstehe nicht ganz«, sagte Don. »Ich würde gern etwas über die orangefarbenen Berge wissen. Gibt es dort Flüsse?« »– ich weiß nicht. Gibt's dort welche, Robin?« Robin, der an der Steuerung saß, räusperte sich. »Ich habe nie welche bemerkt.« »Aber die Farben, verstehst du, Bettyann?« sagte Don. »Die Strukturen der Farben.« »Genau«, meinte Robin. »Die Farben. Auf die kommt es an...« Unter ihnen der Ozean, eine verwaschene Mischung dunkler Grün- und Grautöne, auf der der Schaum wie Geifer eines tollwütigen Hundes sprang. Das Wasser funkelte nun kristallen und blau, dann dunkelblau, dann wieder heller und wurde schließlich zu einem flachen, 184
wartenden Blau. Ein winziger Dampfer gab morgendlichen Rauch von sich. Die Nacht lag genau vor ihnen, denn das Schiff ließ die Sonne hinter sich zurück. »Es gibt immer viel zu sehen«, sagte Don plötzlich. »Es gibt viele Sehenswürdigkeiten.« Bettyann ging in das Heck des Schiffes. »Sie ist ein merkwürdiges Mädchen«, dachte Don zu Robin. Robin spähte nach unten, Mondlicht lag auf dem Wasser. »Da ist das Mutterschiff«, sagte er. Er steuerte das Aufklärungsschiff darauf zu. Sicher lenkte er das Schiff durch den tosenden Ozean. Bettyann schaute auf das silbrige Schiff unter ihnen. Es lag auf den Wellen, machte sanft deren Bewegungen mit, die Landeluke klaffte wie ein hungriger Mund weit offen; das Schiff war ein glänzendes, wartendes Gefängnis. Wenn sie jetzt zu Hause wäre, könnte sie Dave und Jane erzählen, sie wäre auf der Universität krank geworden, hätte von June Geld geborgt und wäre so schnell wie möglich nach Hause gefahren, weil sie Angst davor hatte, ihre Krankheit unter Fremden auskurieren zu müssen. Und wenn dann der Brief käme und sie ihn vernichtet hätte, würde sie sagen, sie wäre wieder gesund und könne zurück aufs College gehen. Sie würde zwar eine Woche versäumen, aber man würde sie wieder aufnehmen, nachdem man sie eine dumme Gans gescholten hatte, weil sie sich nicht auf der Krankenstation gemeldet hatte, und stattdessen ein Bauchgrimmen, das eine Blinddarmentzündung hätte sein können, über den halben Kontinent
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geschleppt hatte. Es würde leicht sein, sich krankzustellen, denn jetzt kannte sie ihren Körper genau und konnte alle Anzeichen dafür vortäuschen. Und dann wurde sie sich der wunderbaren Gabe bewußt, die sie in sich trug. Bis jetzt hatte sie in den wenigen Stunden, seitdem sie davon wußte, nur deren Oberfläche berührt. Was für Geheimnisse gab es noch? Wieviel wußte sie, von dem die Ärzte nicht einmal eine Vermutung hatten, das sich auch der phantasiereichste Künstler niemals vorstellen konnte? Sie dachte an den alten Starke. Was war die merkwürdige Wucherung in seinem Körper? Wußte sie es? Der Gedanke, was es bedeutete, das in ihr verborgene Geheimnis zu lüften, erregte sie aufs höchste. Und jetzt, zum erstenmal in ihrem Leben, schwach nur, aber mit überwältigender Gewißheit, freute sie sich auf das Morgen, wußte sie, was ihre Aufgabe und ihre Rolle sein würde, und sie zitterte. Aber es war zu spät. Unter ihr lag der Ozean, so weit das Auge reichte, vereitelte ihr jede Möglichkeit zur Flucht, und sie schaute auf Robin und auf Don, und fühlte sich unsagbar traurig im Gedanken an sie und an sich selbst, und so weit das Auge reichte, unüberquerbar, brauste der Ozean hin zu fernen Horizonten. Robin ließ das Aufklärungsschiff auf das Mutterschiff aufsetzen. Don ging zu Bettyann. »Nicht weinen«, sagte er. »Wir sind da.« Er lächelte. »Gehen wir. Wir sind im 186
Mutterschiff. Du bist jetzt wirklich zu Hause. Endlich können wir reisen.« »Können wir das?« fragte sie. Sie stiegen um in den großen Hangar. »Ich gehe und überprüfe den Kartenraum, bevor ich die Landeluke schließe«, sagte Robin. »Vielleicht ist noch ein anderer Aufklärer draußen.« Don beugte sich vor, um eine kleine beschädigte Stelle an der Außenwand des Aufklärers anzusehen. Nach einem Augenblick kam Robin zurück. »Nein, keiner ist unterwegs. Ich schließe jetzt die Landeluke.« »Ich gehe und sage Bettyann Bescheid. Sie wird den Start vom Kartenraum aus sehen wollen.« Robins schwere Schritte verklangen. Laut quietschend schloß sich die Luke. Die Schritte kamen zurück. »Stimmt was nicht?« »Merkwürdig. Vor einem Moment war sie noch hier. Bettyann! O, Bettyann! – ich kann sie nicht finden... Bettyann!« »Ich bin sicher, daß sie den Start sehen möchte«, sagte Robin. »Bettyann!« rief Don, und seine Stimme verhallte ohne Antwort. Ratlos schauten sie sich an und schüttelten den Kopf. »Bettyann!« rief Don. »Wo zum Teufel steckt sie?« sagte Robin. Und draußen hing der Mond tief, und das Meer wälzte sich träge wie ein erschöpfter Liebhaber, und die Sterne 187
waren unendlich weit weg. Über der ruhigen See flog ein einsamer, großer Vogel und schlug seine mächtigen Schwingen gegen die Nacht.
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