Atlan - Der Held von
Arkon
Nr. 215
Zuflucht der
Unsterblichen
Abenteuer an der Grenze zwischen
den Universen - di...
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Atlan - Der Held von
Arkon
Nr. 215
Zuflucht der
Unsterblichen
Abenteuer an der Grenze zwischen
den Universen - die Flotte der
Selbstmörder naht
von H. G. Ewers
Im Großen Imperium der Arkoniden steht es nicht zum Besten, denn es muß sich sowohl äußerer als auch innerer Feinde erwehren. Die äußeren Feinde sind die Maahks, deren Raumflotten den Streitkräften des Im periums durch überraschende Schläge schwere Verluste zufügen. Die inneren Fein de Arkons sind Habgier und Korruption der Herrschenden, die – allen voran Impera tor Orbanaschol III. – nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind und das Gemein wohl völlig außer acht lassen. Gegen diese inneren Feinde des Imperiums ist der junge Atlan, der rechtmäßige Thronerbe und Kristallprinz von Arkon, der eine stetig wachsende Schar von ver schworenen Helfern um sich sammeln konnte, bereits mehrmals erfolgreich vorge gangen. Gegenwärtig ist Atlan jedoch nicht in der Lage, den Untergrundkampf gegen den Usurpator und Brudermörder Orbanaschol persönlich weiterzuführen, denn durch die Einwirkung einer Geheimwaffe der Maahks gelangt er erneut in den Mikrokosmos, wo er inzwischen von Ischtar, der Goldenen Göttin, und seinen alten Kampfgefährten Fartuloon, Corpkor und Eiskralle gesucht wird. Die Wege der Sucher und des Ge suchten führen freiwillig oder unfreiwillig gleichermaßen zur Eisigen Sphäre, denn Yarden ist die Grenzstation zwischen den Dimensionen, die »Drehscheibe« zwischen Mikro- und Makrokosmos – und die ZUFLUCHT DER UNSTERBLICHEN …
Zuflucht der Unsterblichen
3
Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Kristallprinz bewahrt die Eisige Sphäre vor dem Untergang.
Crysalgira, Chapat, Ischtar, Fartuloon, Corpkor und Eiskralle - Atlans Freunde und Gefährten in
der Gewalt der Varganen.
Vargo - Entdecker der Absoluten Bewegung.
Kreton und Kandro - Herren der Eisigen Sphäre.
1. »Bei allen Göttern von Arkon!« Die Stimme, die das ausrief, gehörte der arkonidischen Prinzessin Crysalgira. Ich blickte zu ihr hinüber und sah, wie ihre schmalen und doch kräftigen Hände die Sei tenlehnen des Schalensessels umklammer ten, in dem sie saß. Ihre brennenden Augen blickten auf den Frontbildschirm. Der Ausruf war mir verständlich. Ich sel ber empfand eisige Schauer, wenn ich den großen leuchtenden Nebel anblickte, der in der Schwärze des Weltraums schwebte und seine Konturen laufend veränderte. Ein eisi ger Todeshauch schien von diesem Nebel auszugehen, ein Hauch, den ich körperlich zu spüren glaubte, obwohl das natürlich un möglich war. Dennoch war ich sicher, daß in diesem Nebel eine Kälte herrschte, wie ich sie mir nicht vorzustellen vermochte. Denn der Nebel war nichts anderes als Yarden, die Eisige Sphäre, in der die letzten Überlebenden des Volkes wohnten, das einst den Mikrokosmos beherrscht hatte und aus unerfindlichen Gründen untergegangen war. Mit Ausnahme jener, die sich nach dem Erfinder der Absoluten Bewegung, Vargo, Varganen nannten. Sie waren einst mit Hilfe eines sogenannten Umsetzers aus dem Mi krokosmos in den Makrokosmos vorgesto ßen und den dortigen Größenverhältnissen angepaßt worden. Ihr Ziel war es gewesen, sich immer mehr Sonnensysteme zu unter werfen und ein riesiges Sternenimperium aufzubauen. Sehr bald hatten sie erkennen müssen, daß die Erreichung dieses Zieles sinnlos gewor den war. Der Übergang vom Mikro- zum
Makrokosmos hatte sie steril gemacht. Sie waren unfähig geworden, miteinander Kin der zu zeugen. Zwar waren sie gleichzeitig unsterblich geworden, aber auch für Un sterbliche war es ohne Sinn, immer mehr fremde Planeten zu unterwerfen, wenn sie keine Nachkommen zeugen konnten, die diese Planeten besiedelten. »Meine Mutter ruft!« teilte mir Chapat te lepathisch mit. Ich wandte mich um und blickte auf mei nen Sohn, der in einer provisorischen Wiege aus Stahlplastik lag, zwischen geheizte Kis sen gebettet. Der telepathische Anruf Chapats erinnerte mich wieder daran, daß wir mit dem Dop pelpyramidenschiff nach Yarden geflogen waren, um Ischtar zu finden, meine Geliebte und die Mutter unseres Sohnes. Hätte Cha pat mir nicht schon vor einiger Zeit mitge teilt, daß Ischtar sich in der Eisigen Sphäre befand, Crysalgira und ich wären niemals freiwillig hierher gekommen. Wir wußten ja, daß es das Ziel der Varganen war, uns in die Eisige Sphäre zu verschleppen. Dort sollten wir beide zusammen mit Varganen weibli chen und männlichen Geschlechts Kinder zeugen. Das, nämlich die Zeugung von Nachwuchs mit Fremden, war den Varganen allein noch möglich. Verständlicherweise widerstrebte es der Prinzessin und mir, uns als Zuchtvieh gebrauchen zu lassen. Und nun waren wir freiwillig gekommen, denn Ischtar war hier, und die Goldene Göt tin befand sich in großer Gefahr. Magantilli ken, der Henker der Varganen, hatte sie auf seine Abschußliste gesetzt, denn Ischtar war für die Varganen in der Eisigen Sphäre eine Rebellin, über die das Todesurteil bereits ge fällt war. Ich tippte Angaben in das Auswerterpult
4 der Bordpositronik. Das Positronengehirn wertete sie in Relation zu den ermittelten Ortungsdaten aus und ließ das Ergebnis auf einem Bildschirm erscheinen. »Aureole aus negativer Energie«, las ich das Ergebnis ab. »Wirkung: Entzug von ki netischer Energie bei allen Fremdkörpern. Dabei erfolgt Zusammenbruch der einengen den und schützenden Kugelfelder der Fusi onsmeiler an Bord, was zur vernichtenden Explosion führt.« »Also können wir nicht in die Eisige Sphäre hinein«, resümierte Crysalgira. »Aber was heißt das: negative Energie?« »Ich weiß nicht, was die Positronik darun ter versteht«, antwortete ich. »Bestimmt ist es nur ein Versuch der möglichst anschauli chen Definition, eine Namensgebung, die nichts über das wirkliche Wesen dieser Er scheinung aussagt. Aber es muß eine Mög lichkeit geben, in die Eisige Sphäre einzu dringen und sie wieder zu verlassen. Sonst wären die Varganen darin gefangen.« »Es gibt Strukturschleusen dort«, teilte mir mein Sohn telepathisch mit. »Sie wer den von den Raumschiffen der Varganen be nutzt.« Ich gab die Auskunft an Crysalgira weiter und schloß: »Allerdings müssen wir diese Struktur schleusen erst finden. Wenn wir die Schiffs bewegungen der Varganen beobachten, soll te uns das gelingen.« Meine Aufmerksamkeit wurde von einem anderen Ereignis gefesselt. Zuerst bemerkte ich nur den heftigen Ausschlag verschiede ner Meßinstrumente. Dann konnte ich das Ereignis auch mit bloßem Auge auf den Bildschirmen der Außenbeobachtung sehen. Schräg hinter der Eisigen Sphäre schien die schwarze Hülle dieses Universums ber sten zu wollen. Ein rotglühender Riß zeich nete sich ab. Er war mindestens drei Licht wochen lang und verbreiterte sich zuse hends; immer wieder zogen schwarze Schat ten darüber hinweg. Die Strukturtaster an Bord spielten verrückt und verzeichneten Ausbrüche nie dagewesenen Ausmaßes.
H. G. Ewers »Was ist das?« fragte Crysalgira entsetzt. »Die Grenze zwischen Mikro- und Ma krokosmos bricht auf«, erklärte ich. »Was das bedeutet, weiß ich auch nicht. Jedenfalls dürfte sich die Vermischung der beiden Exi stenzebenen zumindest lokal katastrophal auswirken.« Ein Signal hallte durch die Zentrale des Doppelpyramidenschiffs. Es war das Warn signal der Automatortung. Kurz darauf wie sen die Analysatorschirme der Ortung aus, daß nahezu zehntausend Raumschiffe in der Nähe der Eisigen Sphäre aufgetaucht seien. Es waren eindeutig Raumschiffe der Tejon ther. »Das sind die Kreuzfahrer«, sagte ich. »Wie Magantilliken aussagte, werden alle dreihundert Jahre zehntausend tejonthische Raumschiffe von den Gefühlsbasen nach Yarden gelotst. Sie werden mitsamt ihren Besatzungen kaltblütig in die Labilzone zwi schen den beiden Existenzebenen geschickt, um den für eine Stabilisierung notwendigen Massenausgleich herbeizuführen.« Crysalgira schüttelte sich. »Aber die Besatzungen müssen doch er kennen, daß sie in ihr Verderben fliegen«, sagte sie. Ich lachte bitter. »Sie sind nicht mehr fähig, die Gefahr zu erkennen«, erwiderte ich. »Da sie auf ihrem Flug nach Yarden zahlreiche Gefühlsbasen passiert haben, sind sie durch die Emotioim pulse der Basen derart manipuliert worden, daß sie von der Labilzone angezogen wer den wie die Motten vom Licht. Sie können nicht anders, als sich mit ihren Schiffen ins Verderben zu stürzen.« Crysalgira ballte ihre Hände zu Fäusten. »Wir müssen etwas dagegen unterneh men, Atlan!« flehte sie. »Wir dürfen doch nicht tatenlos zusehen, wie dort draußen ein Massenmord stattfindet.« »Wir müßten das Flaggschiff anfunken«, sagte ich. Doch dann fiel mein Blick auf eine brand neue Ortungsmeldung, und ich verwarf diese Absicht wieder.
Zuflucht der Unsterblichen »Das geht nicht mehr«, erklärte ich. »Soeben sind neun Doppelpyramidenschiffe bei der Kreuzzugsflotte aufgetaucht. Wenn wir die Tejonther anfunken, hören die Var ganen mit und werden unsere Absicht verei teln. Neun Schiffe gegen eins – das ist ein zu ungleiches Verhältnis.« Ich überlegte eine Weile, dann sagte ich zögernd: »Aber vielleicht sollte ich mit einem klei nen Beiboot zum Flaggschiff der Tejonther fliegen. Ja, das werde ich tun.«
* »Das darfst du nicht!« erreichte mich der telepathische Ruf Chapats. »Es ist viel zu gefährlich. Wenn die Varganen dich ent decken, nehmen sie dich fest. Dann kannst du meiner Mutter nicht helfen.« »Ich muß es riskieren!« dachte ich zu rück. »Selbst wenn sich in jedem Raum schiff nur hundert Tejonther befinden, ergibt das bei rund zehntausend Schiffen eine Mil lion intelligenter Lebewesen. Ich darf nicht untätig zusehen, wie eine Million intelligen ter Lebewesen durch Beeinflussung zum Selbstmord getrieben werden.« »Kein Beeinflußter wird auf dich hören, Vater«, erwiderte Chapat. »Sie sind keinen Argumenten zugänglich, denn die Emotio strahlung der Gefühlsbasen hat sie völlig in ihren Bann geschlagen.« Ich fühlte mich durch die Bezeichnung »Vater« eigentümlich berührt. Außerdem verblüffte es mich immer wieder, wie ein praktisch eben erst geborenes Kind so argu mentieren konnte, als wäre es ein wissen schaftlich ausgebildeter Erwachsener. Dabei war Chapat nicht einmal in der Lage, sich selbst zu helfen. Wir mußten ihn trockenle gen, waschen und füttern. »Ich muß es wenigstens versuchen«, erwi derte ich gedanklich. »Mein Gewissen wür de mir keine Ruhe lassen, wenn ich nicht al le Möglichkeiten ausschöpfte, die Besatzung der Kreuzfahrerschiffe zu retten. Irgendwann muß dieser fürchterliche Aderlaß auf
5 hören.« Chapat protestierte und warnte weiter. Aber ich ließ mich nicht beirren. Der Gedan ke, daß in den tejonthischen Schiffen rund eine Million intelligenter Lebewesen einem grauenhaften Schicksal entgegenflogen, wühlte mich zutiefst auf. Ich nickte Crysalgira auffordernd zu. Wir begaben uns in den Schleusenhangar, in dem ein kleines eiförmiges Beiboot lag. Da wir nicht wußten, in welchem Zustand sich die Beiboote des varganischen Raum schiffs befanden, mußten wir die umständli che und langwierige Prozedur des Durch checkens wohl oder übel auf uns nehmen. Tatsächlich fanden wir einige Mängel, die uns, wären wir ohne Vorbereitungen gestar tet, im Weltraum manövrierunfähig gemacht hätten. Wir beseitigten sie durch Aktivie rung der betreffenden Reparaturschaltungen. Dabei stellten wir fest, daß eine Reparatur schaltung selbst reparaturbedürftig war! Ich aktivierte einen Technoroboter und ließ ihn die Schaltung instand setzen. Danach zogen wir varganische Rauman züge über die flexiblen Metallrüstungen, die wir immer noch trugen, kletterten in die Pi lotenkanzel des Beiboots und starteten. Ich steuerte. Mit einigen kurzen Schubintervallen brachte ich das kleine Boot in Fahrt und drehte es so, daß sein Bug auf den riesigen Pulk der Kreuzfahrerschiffe zeigte. Danach ließ ich es treiben, damit die Varganen es nicht mit der Energieortung ihrer Schiffe er fassen konnten. Allmählich wanderte die kalt leuchtende Ballung der Eisigen Sphäre nach Backbord. Es sollte einen Hohlraum darin geben. Doch von außen ließ er sich nicht erkennen. Die Energieturbulenzen ließen auch keine Or tungsimpulse durch. Mit Unterlichtgeschwindigkeit trieb unser Beiboot näher an die Flotte der Tejonther heran. Als wir eine Position erreichten, von der aus gesehen die neun Varganenschiffe hinter der Kreuzfahrerflotte standen, schalte te ich die Impulstriebwerke erneut ein. Ihre
6 Energieemissionen würden durch die Ener gieimpulse, die von den tejonthischen Schif fen ausgingen, einwandfrei überlagert wer den. Das tejonthische Flaggschiff hatten wir schon von Bord unseres Doppelpyramiden schiffs ausgemacht. Es schwebte im Zen trum einer Halbkugelschale, die von den üb rigen Tejontherschiffen gebildet wurde. Von ihm gingen ständig Funkimpulse aus, simple Leitsignale, die an die anderen Raumschiffe gerichtet waren und den Pulk beisammen und auf Kurs hielten. Auf einem Kurs ins Verderben! Immer wieder blickten Crysalgira und ich zu dem rötlich strahlenden Kontinuumsriß. Er war inzwischen länger geworden. Manch mal brach eine unsichtbare Flut von dimeh sional übergeordneten Impulsen aus ihm heraus und ließ alle Ortungsund Meßinstru mente verrückt spielen. Dann wieder beru higte sich alles. Hin und wieder schloß sich der Riß sogar fast völlig, eine Folge des na türlichen Beharrungsvermögens, das jeder Existenzebene anhaftete. Die Flotte der Kreuzfahrer bewegte sich nicht kontinuierlich. Ihre Raumschiffe voll führten ruckartige Manöver, die an die Be wegungen von Fischschwärmen erinnerten. Nur wirkten sie nicht so anmutig und ele gant. Im Gegenteil, die emotionale Beein flussung schien das Reaktionsvermögen der Tejonther negativ beeinflußt zu haben. Manchmal kamen sich einige ihrer Schiffe so nahe, daß eine Kollision kein Wunder ge wesen wäre. Das war unbedeutend für mich, solange wir den Verband noch nicht erreicht hatten. Als ich das Beiboot hineinsteuerte, wurde mir klar, daß ich Crysalgira und mich damit in akute Lebensgefahr brachte. Plötzlich schwenkten drei tejonthische Schiffe herum und jagten auf unser Beiboot zu. Ich dachte schon, sie wollten uns be schießen. Das wäre unser Ende gewesen. Doch ihre Kursänderung war nur Teil eines Schwenkmanövers, das von der gesamten Flotte ausgeführt wurde.
H. G. Ewers Ich bremste mit Vollschub und rief die ar konidischen Götter an. Mehr konnte ich nicht tun. Nicht bei einer Eigengeschwindig keit von 0,5 LG und der geringen Distanz zwischen uns und den drei tejonthischen Schiffen. Eines der Schiffe raste so dicht an uns vorbei, daß ich dachte, die Außenwandun gen würden gegeneinander scheuern. Es sah aus, als könnte ich mit der Hand das andere Schiff berühren, wenn ich den Arm aus streckte. Im nächsten Moment war es auch schon vorüber. Weit hinter uns strahlten die kreisrunden Düsenöffnungen des anderen Raumschiffs. Dafür kurvten andere Tejontherschiffe über, unter und neben uns vorbei, daß eine Kollision unvermeidlich schien. Aus zirka zehn Kilometern Entfernung wurden wir von einem Impulsstrahl getroffen. Das klei ne Beiboot wirbelte haltlos einige Minuten lang herum, bevor ich es wieder stabilisiert hatte. Anschließend mußten Crysalgira und ich das Flaggschiff, das wir aus den Augen ver loren hatten, erst wieder suchen. Das war gar nicht so einfach, denn wir befanden uns nunmehr innerhalb des riesigen Pulks, und zahllose Raumschiffe versperrten uns die Sicht. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis wir wußten, wo sich das Flaggschiff der Tejon ther befand. Ich schaltete die Triebwerke des Beiboots hoch und ging auf Kurs. Doch als wir nur noch einige Kilometer von dem Flaggschiff entfernt waren, voll führte die gesamte Flotte erneut eines dieser ruckhaften Manöver. Das Flaggschiff geriet nach oben aus unserem Blickwinkel. An Steuerbord und Backbord schoben sich zwei tejonthische Schiffe so dicht vorbei, daß ich schon fürchtete, unser Beiboot würde zwi schen ihnen zerrieben werden. Doch auch das ging vorüber. Ich steuerte das Boot so rasch wie mög lich nach oben, um es nicht noch einmal ei nem Triebwerksstrahl auszusetzen, der uns glatt verbrennen konnte.
Zuflucht der Unsterblichen Wieder ging es gut, obwohl ich Blut und Wasser schwitzte. Als ich das Flaggschiff abermals entdeckte, steuerte ich es an und gab Vollschub. Natürlich mußte ich dann mit Vollschub wieder abbremsen, aber ich fürchtete, es würde uns im letzten Augen blick wieder entwischen. Etwas unsanft stießen wir neben einer Mannschleuse gegen die Außenwand des Flaggschiffs. Ich schaltete unseren Feldanker ein, wandte mich an die Prinzes sin und sagte: »Ich gehe allein hinüber, Crysalgira. Du wartest hier auf mich.« »Was soll ich machen, wenn du nicht zu rückkommst, Atlan?« fragte Crysalgira. Ich legte ihr meine Hand auf den Unter arm, lächelte und erwiderte: »Du bist alt und erfahren genug, um Ent scheidungen auch allein treffen zu können, Mädchen. Ich vertraue dir. Bis bald!« »Bis bald!« flüsterte Crysalgira.
* Nachdem ich meinen Druckhelm ge schlossen hatte, schleuste ich mich aus und stieß mich so ab, daß ich genau an dem Au ßenschott der Mannschleuse landete. Sofort schaltete ich den Feldanker meines varganischen Schutzanzugs ein, sonst wäre ich wieder von der Schleuse abgetrieben. Danach preßte ich meine Handfläche auf die Aktivierungsplatte des Schleusenmechanis mus. Wenn die Schotte von innen gesichert wa ren, würde ich die Frage stellen, ob ich auf einen Einstieg verzichten oder Gewalt an wenden sollte. Glücklicherweise stellte sich diese Frage nicht. Das Außenschott war nicht gesichert und glitt lautlos zur Seite. Ich schaltete den Feldanker ab und zog mich in die Schleusenkammer hinein. Sofort schloß sich das Außenschott wieder. Große Infrarotstrahler flammten an den Wänden und der Decke der Schleusenkammer auf und sorgten dafür, daß die einströmende
7 Luft nicht sofort kondensierte. Immerhin herrschten in der Schleusenkammer Welt raumbedingungen. Nach kurzer Zeit war die Schleusenkam mer mit warmer Luft gefüllt. Dadurch wurde der Öffnungsmechanismus des Innenschotts aktiviert. Es öffnete sich vor mir. Ich klappte meinen Druckhelm zurück und begab mich auf den Weg zur Komman dozentrale des Schiffes. Niemand begegnete mir. Die Besatzung schien sich ausnahmslos auf den Stationen zu befinden. Wahrschein lich gab es auf den Kreuzfahrerschiffen so etwas wie Freiwachen nicht. Meine Schritte hallten metallisch von den Wänden der Korridore wider, die ich durch eilte. Da ich wußte, wo sich bei tejonthi schen Raumschiffen die Kommandozentrale befand, brauchte ich nicht auch noch Zeit für die Suche zu verschwenden. Als ich vor dem rotgestrichenen Panzer schott stand, zog ich meinen Energiestrahler und entsicherte ihn. Ich wußte schließlich nicht, was mich in der Kommandozentrale erwartete. Ein Haufen Beeinflußter stellt im mer eine Gefahr für einen Eindringling dar. Aber als sich das Panzerschott öffnete, war ich angenehm überrascht. Niemand von der Besatzung drehte sich nach mir um, obwohl das Öffnen des Zentra leschotts von einem hellen Summton beglei tet worden war. Scheinbar teilnahmslos hockten die Tejonther vor den Kontrollen – scheinbar deshalb, weil ich kurz darauf er kannte, daß sie emotional sehr wohl und sehr intensiv beteiligt waren. Die Augen der fremden Wesen glänzten unnatürlich. Sie schienen sich im Zustand der Euphorie zu befinden. Vielleicht hatten die Emotiostrahler der Gefühlsbasen ihnen vorgegaukelt, der Sturz in die Grenzzone der beiden Existenzebenen wäre gleichbedeu tend mit einem Eingehen in höchste Selig keit. Mein Zorn auf die Varganen, die sich nicht scheuten, alle dreihundert Jahre zehn tausend Raumschiffe mitsamt ihren Besat zungen für die Erhaltung der Eisigen Sphäre
8 zu opfern, stieg. Ich sah mich nach einem Übersetzungsge rät um, mit dem ich mich den Tejonthern verständlich machen konnte. Lange suchte ich vergeblich. Dann entdeckte ich einen Translator, der an der Innenwand neben dem Panzerschott an einem Tragriemen aufge hängt war. Ich hängte mir das Gerät um und schaltete es ein. Erneut musterte ich die vor den Kon trollen sitzenden Männer. Sie beobachteten ihre Instrumente, nahmen hin und wieder Schaltungen vor und benahmen sich anson sten wie Arkoniden, die einem beseligenden Erlebnis entgegenhungerten. Vielleicht würden sie beim Untergang ih rer Flotte sterben, ohne zu erkennen, daß sie einer grausamen Täuschung zum Opfer ge fallen waren. Dennoch war es Mord. Nichts konnte die Absichten und Taten der Varga nen beschönigen. »Begreift ihr denn nicht, daß ihr in euren Tod fliegt?« schrie ich die Tejonther in einer jähen Aufwallung vor Zorn und Mitleid an. Einige geistesabwesend wirkende Blicke trafen mich, irrten aber schnell wieder ab. Ich wurde nicht stärker beachtet als ein un verhoffter schwacher Windstoß. Ich ging zu dem Tejonther, der mir am nächsten stand, und riß ihn an der Schulter zu mir herum. »Aufhören!« brüllte ich ihm ins Gesicht. »Was ihr macht, ist heller Wahnsinn!« Für einen Moment verschwand die Eu phorie aus seinen Augen. Dann blinzelte er. Das Blinzeln schien mich aus seiner Wahr nehmung zu wischen. Er machte sich los, drehte sich um und konzentrierte sich erneut auf seine Kontrollen. Enttäuscht, zornig und deprimiert ballte ich die Hände zu Fäusten. »Seid ihr denn alle verrückt geworden!« schrie ich. »Kann nicht wenigstens einer von euch noch klar denken? Erkennt niemand, was der rotglühende Strukturriß auf dem Frontschirm bedeutet? Eure ganze Flotte wird von ihm verschlungen werden, wenn ihr nicht bald den Kurs ändert.«
H. G. Ewers Einige Tejonther drehten sich nach mir um. Ihre Blicke und ihre Gesichter verrieten sanftes Erstaunen. Aber im nächsten Augen blick vergaßen sie wieder, daß ein Fremder anwesend war. Sie nahmen ihre Arbeit wie der auf, als wäre nichts geschehen. In mir kochte es. Es mußte doch einen Weg geben, eine Million intelligenter Lebewesen zu retten. Die Tejonther gingen schließlich nicht aus freien Stücken in den Tod, sondern wurden durch massive psychische Beeinflussung ins Verderben getrieben. Ich holte tief Luft, dann faßte ich einen Entschluß. Der Platz des Kommandanten war durch seine erhöhte Stellung und die eindeutig markierten Hauptkontrollen zu erkennen. Außerdem war der davor sitzende Tejonther durch einen kurzen Schulterumhang gekenn zeichnet und aus der Masse herausgehoben. Langsam ging ich auf seinen Platz zu, beugte mich über die Schulter des Komman danten und musterte die Kontrollen. Ich fand mich schnell zurecht, denn ich hatte bereits einmal ein tejonthisches Raumschiff geführt. Es gab nur geringfügige Unterschiede. Ich streckte die freie Hand aus und drück te blitzschnell einige Tasten. Die Impulstriebwerke des Schiffes rumor ten lauter. Auf den Bildschirmen war zu se hen, daß das Flaggschiff einen Satz nach oben machte und langsam herumschwenkte, bis nicht mehr der Bug auf den Strukturriß zeigte, sondern die Steuerbordseite. Die Haltung des Kommandanten versteif te sich. Offensichtlich war er durchaus in der Lage, die Kursänderung seines Schiffes zu erkennen. Langsam drehte er sich mitsamt seinen Sessel um und starrte mich aus gel ben Augen an. Der euphorische Ausdruck verschwand. »Wer sind Sie und was suchen Sie hier?« fragte er, und das Übersetzungsgerät über setzte klar und deutlich seine Worte. »Wer ich bin, spielt keine Rolle«, antwor tete ich. »Ich bin hier, um Sie alle vor einem verhängnisvollen Fehler zu warnen. Sie füh
Zuflucht der Unsterblichen ren den Kreuzzug nach Yarden nicht aus freiem Willen durch, sondern unter dem Einfluß, den die Gefühlsbasen auf Sie aus geübt haben. Am Ende dieses Kreuzzugs wird nicht die Erfüllung einer herrlichen Verheißung stehen, sondern der Tod aller Beteiligten.« Es dauerte lange, bis der Kommandant sprach, dann sagte er langsam und stockend: »Uns ist verheißen worden ein Meer von Glückseligkeit. Kein Versucher darf uns be irren. Weiche von uns! Du willst uns hin dern, die Erfüllung zu finden, nach der wir alle streben.« Er drehte sich wieder nach seinen Kon trollen um. Ich sah, daß er meine Schaltungen rück gängig machen wollte und fiel ihm in den Arm. »Halt!« schrie ich ihn an. »Die Varganen aus der Eisigen Sphäre treiben euch in einen Strukturriß zwischen zwei Existenzebenen. Eure ganze Flotte soll dort vernichtet wer den, um einen Massenausgleich zwischen diesem Mikrokosmos und einem Makrokos mos herbeizuführen. Kehrt um, ehe es zu spät ist!« Der Tejonther versuchte, sich aus meinem harten Griff zu befreien. Als es ihm nicht gelang, schrie er einige Befehle. Ich hörte polternde und scharrende Ge räusche, ließ den Arm des Kommandanten los und drehte mich um. Zu spät. Die gesamte Zentralebesatzung hatte ihre Plätze verlassen. Stumm drangen sie auf mich ein, wollten mich packen. Ich schlug mehrmals zu und sah, daß die Getroffenen stürzten. Aber andere Tejonther traten an ih re Stelle. Sie bewegten sich wie Marionet ten, schlugen auf mich ein und ließen sich auch durch meinen Strahler nicht ab schrecken. Natürlich konnte ich auf diese Unschuldi gen nicht schießen. Ich feuerte lediglich kurz an die Decke, erzielte damit aber keine andere Wirkung als die, daß mehrere Tejon ther mir die Waffe aus der Hand schlugen.
9 Immer mehr Schläge durchbrachen meine Deckung, prasselten erbarmungslos auf mei nen Kopf. Ich versuchte, mein Helmfunkge rät einzuschalten und Crysalgira zu warnen, aber drei Tejonther hielten meine Arme von hinten fest. Eine Augenbraue platzte auf. Blut floß warm über mein Gesicht. Ich war von den zahllosen Schlägen zwar nicht bewußtlos, aber völlig benommen, als sich Kunststoffschnüre um meine Arme und Beine zusammenzogen. Dann wurde ich ge packt, fortgetragen und irgendwo auf den Boden geworfen. Aus einem Auge sah ich einen Teil des Frontbildschirms – und ich erkannte, daß der Kommandant sein Flaggschiff wieder auf den alten Kurs gebracht hatte, so daß es un aufhaltsam auf die Zone der Vernichtung zu trieb. Ich hatte getan, was ich konnte – und nun würde ich das Schicksal der tejonthischen Kreuzfahrer teilen müssen …
2. Corpkor fröstelte, zog die Schultern hoch und sagte: »Ich friere. Ist es hur mir so kalt oder geht es euch genauso?« »Es ist tatsächlich empfindlich kalt ge worden«, bestätigte Fartuloon und rieb seine klammen Hände gegeneinander. »Sogar ich friere«, meinte Eiskralle. Seine Zähne schlugen klappernd aufeinander. »Das ist die Eisige Sphäre«, erklärte Isch tar. Die Goldene Göttin stand, in ihre eng an liegende Raumkombination gekleidet, mit verschränkten Armen mitten in dem Raum, in den man die vier Personen auf Befehl Thayntros gesperrt hatte. Im Unterschied zu ihren Leidensgefährten fror sie jedoch offen sichtlich nicht. Ihre Haut war glatt wie im mer. Der beleibte Fartuloon trat zum Sichtfen ster und blickte hinaus. Das Doppelpyrami denschiff, in dem sie gefangengehalten wur den, flog noch immer in dem kleinen Pulk
10 von Varganenschiffen, der sie von dem Dschungelplaneten Xermatock geholt hatte. Zuvor waren sie mit Ischtars Doppelpyrami denschiff in Absoluter Bewegung vom Ma krokosmos aus in den Mikrokosmos gereist. Ischtar hatte ihren geliebten Atlan um jeden Preis wiedersehen wollen, und auch Atlans Gefährten waren bereit gewesen, alle Gefah ren auf sich zu nehmen, um dem Freund zu helfen. Ihr Pech war es gewesen, daß Ischtars Raumschiff durch die Absolute Bewegung nicht im leeren Weltraum des Mikrokosmos, sondern beinahe auf der Oberfläche eines Planeten materialisiert war. Der harte Auf prall hatte sowohl das Schiff als auch alle Beiboote unbrauchbar gemacht. Die Insas sen waren bewußtlos geworden. Als sie zu sich kamen, fanden sie sich verstreut in gefährlichen Regionen des Dschungels von Xermatock. Der vargani sche Dschungel Jäger Mantraroggin hatte sie aus dem Schiff geholt und an verschiedenen Stellen der Wildnis deponiert, um sie nach ihrem Erwachen nacheinander jagen und tö ten zu können. Die Varganin Haitaschar, die die vier Freunde begleitet hatte, wurde von einem Raubtier angefallen und zerfleischt, bevor sie richtig zu sich gekommen war. Danach hatte Mantraroggin die Jagd eröffnet. Es war sein Pech gewesen, daß er sich als erstes Opfer ausgerechnet den ehemaligen Kopfjä ger und Tiermeister Corpkor ausgesucht hat te. Als Corpkor dem als Jagdhund abgerich teten Tier Mantraroggins begegnete, konnte er es durch seine natürliche Begabung, mit Tieren aller Art umzugehen, auf seine Seite ziehen. Dadurch wurde Mantraroggin vom Jäger zum Gejagten. Sein eigenes Tier tötete ihn schließlich. Da Corpkor vorher Mantraroggins Schiff unbrauchbar gemacht hatte, um den Varga nen an der Flucht zu hindern, war die Grup pe nunmehr auf Xermatock gestrandet. Man traroggin hatte jedoch vor seinem Ende noch einen Funkspruch absetzen können. Dadurch
H. G. Ewers wurden mehrere Varganenschiffe nach Xer matock geführt. Ihre Besatzungen nahmen die vier Personen schließlich gefangen und brachten sie nach Yarden. Durch eine Strukturschleuse war der Pulk ins Innere der Eisigen Sphäre geflogen. Als Fartuloon aus dem Fenster blickte, erkannte er vor dem Hintergrund des leuchtenden Energienebels eine gigantische Ballung von Doppelpyramidenschiffen, die offenbar durch Röhren miteinander verbunden waren. »Seht euch das an!« rief er seinen Gefähr ten zu. Nacheinander traten Corpkor, Eiskralle und Ischtar neben ihn und blickten hinaus. »Ein grandioser Anblick«, meinte Eiskral le. »Eine Stadt aus Raumschiffen, mitten in der Eisigen Sphäre errichtet. Es müssen et wa zweitausend Varganenschiffe sein, die dort miteinander verbunden sind. Der Schlupfwinkel der Unsterblichen. Aber bei dieser Kälte müssen sie doch ununterbro chen mit den Zähnen klappern, daß man es bis in den Makrokosmos hört.« Ischtar lachte über die Bemerkung, dann sagte sie: »Mir macht die Kälte nichts aus. Ich emp finde sie sogar als angenehm. Wahrschein lich geht es den anderen Unsterblichen nicht anders als mir.« »Das hilft uns verdammt wenig!« schimpfte Corpkor. »Warum stellt der Kom mandant unseres Schiffes nicht die Klimaan lage besser ein?« »Wahrscheinlich hilft gegen diese Art von Kältestrahlung auch die beste Klimaanlage nur begrenzt«, meinte Fartuloon. »Ohne den Schutz des Schiffes wären wir wahrschein lich längst erfroren.« »Kältestrahlung?« fragte Eiskralle ge dehnt. »Ich dachte bisher, es gäbe nur Wär mestrahlung. Daß auch Kälte sich strahlen förmig ausbreitet, ist mir neu.« Fartuloon zuckte mit den Schultern. »Früher ahnten wir auch nicht, daß es einen Mikrokosmos gibt und daß ehrliche Arkoniden sich so verkleinern können, daß sie sich unter ihrem eigenen Daumennagel
Zuflucht der Unsterblichen verstecken könnten. Wenn ich hier meine normale Größe besäße, könnte ich wahr scheinlich diese ganze Eisige Sphäre in der hohlen Hand verbergen. Das wirft die Frage auf, ob wir jemals wieder in unsere Existen zebene zurückkehren werden.« »Wenn die Unsterblichen in Yarden noch ihren Umsetzer besitzen, gibt es für uns auch noch einen Weg zurück«, erklärte Ischtar. »Aber ohne Atlan gehe ich niemals.« Corpkor streckte und beugte seine klam men Finger. »Du hast leicht reden«, erwiderte er. »Du frierst ja auch nicht, im Unterschied zu uns.« »Unser Schiff steuert den Pulk an«, teilte Fartuloon mit. »Bald wird sich zeigen, was die Varganen mit uns vorhaben.« »Man wird mich als Rebellin zum Tode verurteilen«, sagte Ischtar niedergeschlagen. »Wir werden schon einen Ausweg fin den«, erklärte Eiskralle. »Wenn ich daran denke, wie oft ich schon in Lebensgefahr ge schwebt habe, erscheint es mir unglaublich, daß ich noch lebe. Dennoch bin ich frisch wie immer – vielleicht sogar zu frisch, die ser Kälte wegen. Also, Kopf hoch, Mäd chen!« Die Varganin faßte sich und brachte sogar ein zaghaftes Lächeln zustande. »Ich bin froh, daß ich euch habe«, sagte sie.
* Eine schwache Erschütterung durchlief das Doppelpyramidenschiff, als es an einer aus dem Pulk ragenden, dick mit Isolations material ummantelten Röhre anlegte. Fartuloon musterte die Röhre und beson ders die starke Isolierung und meinte: »Ich schätze, daß wir außerhalb eines Raumschiffs auch dann zu Eis erstarren wür den, wenn wir einen Schutzanzug trügen. Wahrscheinlich wäre die Weltraumkälte in der Eisigen Sphäre auch für die Varganen zuviel. Sonst hätten sie ihre Passagier brücken nicht so stark zu isolieren brau chen.«
11 Ischtar wollte etwas darauf erwidern, kam aber nicht mehr dazu, denn in diesem Mo ment schnappten die Türverriegelungen. Als die Tür sich öffnete, erblickten die Gefange nen den Unsterblichen Thayntro und vier bis an die Zähne bewaffnete andere Varganen. »Ich bringe euch in den Pulk«, erklärte Thayntro. »Kreton und Kandro wollen euch sehen. Ich warne euch. Versucht nicht zu fliehen. Wir würden auf jeden Flüchtenden schießen, um zu töten. Außerdem würdet ihr außerhalb der Schiffe und Röhren sofort er frieren.« Er winkte befehlend. Die vier Bewaffneten traten zurück, um die Gefangenen herauszulassen. Als die Freunde den Schiffskorridor be traten, sahen sie, daß sie zur Zeit tatsächlich keine Chance hatten, sich zu befreien. Die vier Bewaffneten waren nicht allein. In Ab ständen von wenigen Schritten standen wei tere Wachtposten an den Korridorwänden. »Wir machen vorläufig gute Miene zum bösen Spiel«, sagte Fartuloon auf Arkoni disch, obwohl er wissen mußte, daß der Translator Thayntros seine Worte übersetz te. Es war ein psychologischer Nadelstich, von dem er hoffte, daß er später Früchte tra gen würde. Die vier Freunde blieben dicht beisam men, und Thayntro und die vier Bewaffne ten folgten ihnen mit schußbereiten Waffen. Sie schienen wirklich entschlossen, die Ge fangenen bei einem Fluchtversuch zu töten, denn alle Wachen trugen ausnahmslos Strahlwaffen. Als sie das Doppelpyramidenschiff durch eine Schleuse verließen und die Passagier brücke betraten, waren sie noch kälterer Luft ausgesetzt. Unwillkürlich schlugen sie eine schnellere Gangart ein. »Langsamer!« befahl Thayntro. Sie gehorchten, denn auch in der Passa gierbrücke standen bewaffnete Varganen. Fartuloon war durch seine Korpulenz, die al lerdings nicht durch Fettgewebe, sondern durch trainierte Muskeln hervorgerufen wur de, besser gegen die Kälte geschützt als Cor
12 pkor und Eiskralle. Doch auch er fror er bärmlich und war froh, als die Passagier brücke endlich hinter ihnen lag. In dem Schiff, in das sie getrieben wurden, war es doch wärmer als in der Röhre. Aber ihr Leidensweg war keineswegs zu Ende. Sie mußten das Schiff auf der gegen überliegenden Seite wieder verlassen und ei ne zweite Röhre durchqueren. Das wieder holte sich noch achtzehnmal. Danach blie ben sie in dem Schiff, das sie zuletzt betre ten hatten. Es wurde höchste Zeit, denn Far tuloons und Corpkors Haut war bereits blau angelaufen. Die Kommandozentrale des Schiffes war zu einer Art Sitzungssaal mit einem Anflug von Audienzhalle umgestaltet worden. Kost bare Teppiche lagen auf dem Boden und hingen zwischen den Bildschirmen an der Wand. Hinter einem mächtigen gläsernen Kartentisch saßen zwei Varganen in Sesseln mit geschwungenen Lehnen. Fünf Schritte vor dem Kartentisch befahl Thayntro seinen Gefangenen stehenzublei ben. Eine Weile musterten sich die Gefange nen und die beiden Varganen hinter dem Kartentisch prüfend, dann lächelte einer der beiden Varganen. »Ich bin Kreton«, erklärte er. »Der Mann neben mir ist Kandro. Wir beiden zusammen repräsentieren alle noch lebenden Varganen des Mikrokosmos.« »Angenehm!« sagte Fartuloon. Er stellte seine Gefährten und sich vor und erklärte: »Allerdings wäre es mir angenehmer, wenn es nicht so kalt wäre. Können Sie die Hei zung nicht höher drehen lassen, Kreton?« »Ich bedaure«, erwiderte Kreton in ver bindlichem Tonfall. »Aber über eine gewis se Grenze hinaus läßt sich die zirkulierende Luft nicht mehr erwärmen.« Er wandte sich an Ischtar. Sein Blick wur de hart. »Rebellin Ischtar, Magantilliken hat mir berichtet, daß es ihm nicht gelungen ist, dich zu töten«, sagte er. »Bisher hast du dich hin ter deinem Freund verstecken können, der
H. G. Ewers sich Atlan nennt. Aber das ist vorbei. Hier gibt es keinen Atlan, der dich beschützen könnte.« Ischtar reckte sich stolz und erwiderte fest: »Atlan wird mich nicht im Stich lassen, Kreton. Außerdem bin ich keine Rebellin. Wie viele andere von uns habe ich es ledig lich vorgezogen, im Makrokosmos zu blei ben, so, wie unser ursprünglicher Plan es vorsah. Wenn jemand der Rebellion be schuldigt werden soll, dann seid ihr es – ihr alle, die in den Mikrokosmos zurückgekehrt seid. Und ihr seid nicht nur Rebellen, son dern auch Mörder, denn ihr habt Magantilli kens Geist in den Makrokosmos geschickt, damit er alle dort lebenden Varganen ermor det.« »Magantilliken fungiert als Vollstrecker eines rechtmäßig gefällten Urteils«, sagte Kandro finster. »Auch über dich ist seit lan gem das Todesurteil gefällt worden. Von mir aus würde es sofort vollstreckt werden, aber Kretons Anhänger plädieren dafür, daß die Vollstreckung bis zur Beendigung des Kreuzzugs ausgesetzt werden soll.« »Wir haben gute Gründe dafür vorge bracht«, warf Kreton ein. »Ich will es mir er sparen, sie hier zu wiederholen. Nun zu den anderen Gefangenen: Fartuloon, Eiskralle und Corpkor. Sie sind keine Rebellen, son dern lediglich Helfershelfer Ischtars. Ich schlage deshalb vor, wir verbannen sie auf eine einsame Welt, hier im Mikrokosmos.« »Ich wäre dafür, sie ebenfalls zu töten«, entgegnete Kandro. »Warum sollen wir uns die Mühe machen, sie zu einem einsamen Planeten zu transportieren?« »Weil wir nicht grundlos töten«, erwider te Kreton sanft. »Aber sie haben Mantraroggin umge bracht!« warf Thayntro erregt ein. »Du warst nicht gefragt, Thayntro«, sagte Kreton. »Außerdem stimmt es nicht«, erklärte Corpkor. »Mantraroggin setzte uns im Dschungel von Xermatock aus, weil er uns nacheinander umbringen wollte. Aber er
Zuflucht der Unsterblichen wollte auch, daß wir uns wehren. Deshalb gab er uns Waffen. Wir haben ihn jedoch nicht getötet. Das hat sein abgerichtetes Tier getan. Thayntro müßte es eigentlich an den Verletzungen erkannt haben.« Kreton blickte Thayntro fragend an. »Stimmt das?« »Ja, es stimmt«, gab Thayntro zögernd zu. »Aber ich habe den Verdacht, daß die Ge fangenen das Tier Mantraroggins dazu brachten, seinen Herrn zu töten.« »Ein Verdacht genügt nicht«, meinte Kan dro. »Ich pflichte Kreton bei, daß wir Recht sprechen wollen und nicht Unrecht. Deshalb nehme ich meinen Antrag, die Fremden zum Tode zu verurteilen, zurück und stimme da für, sie auf einen einsamen Planeten zu ver bannen.« »Danke, Kandro«, sagte Kreton. Er wand te sich wieder an Thayntro und befahl: »Bringt die Verhafteten ins Gefängnis! Und nehmt ihnen die gesamte Ausrüstung ab.«
* Die Stahltür knallte ins Schloß; Verriege lungen schnappten zu. Fartuloon drehte sich langsam im Kreis und musterte die Behausung, in die die Var ganen sie gesperrt hatten. Es war ein kahler ungemütlicher Raum mit stählernen Wänden, vier Klappbetten mit grauen Decken, einem Tisch und einer Leuchtplatte an der Decke. Eine schmale Tür mit Drehknopf befand sich in einer der Wände. Als Fartuloon sie öffnete, sah er dahinter einen Raum mit hy gienischen Einrichtungen. Er klopfte die Wände ab und stellte fest, daß sie ebenfalls aus massivem Stahl bestanden. »Hier sitzen wir fest«, erklärte er. »Ohne Ausrüstung kommen wir nicht hinaus. Die Varganen haben mir sogar mein Skarg weg genommen.« »Das Schwert würde dir hier kaum etwas nützen«, meinte Corpkor. »Oder bildest du dir ein, seine Klinge könnte besten Stahl durchschneiden?«
13 »Was weißt du schon von meinem Skarg, du Flohdompteur!« schimpfte Fartuloon. »Streitet euch nicht«, sagte Eiskralle und streckte und krümmte seine wie bläulich schimmerndes Gletschereis aussehenden Finger. »Die Lage ist nicht so verfahren, daß wir nicht wenigstens überlegen könnten, wie wir uns aus ihr befreien. Wenn man uns um gebracht hätte, könnten wir nicht mehr über legen.« Der dicke Fartuloon zwinkerte Corpkor zu und erklärte: »Wir streiten uns, wann wir wollen, Eis kralle. Ich muß deine scharfe Logik bewun dern. Schön, überlegen wir, wie wir verhin dern können, daß Ischtar nach dem Kreuz zug ermordet wird. Wir selbst sind ja nicht unmittelbar bedroht.« »Es gibt keine Möglichkeit, mein Leben zu retten«, meinte die Goldene Göttin. »Aber ich danke dir für deinen guten Willen, Fartuloon.« »Solange du lebst, besteht auch noch Hoffnung für dich«, erwiderte Fartuloon hit zig. »Du vergißt, daß Atlan sich ebenfalls im Mikrokosmos aufhält. Wenn er erfährt, daß wir in der Eisigen Sphäre gefangengehalten werden, unternimmt er bestimmt etwas, um uns zu befreien.« »Woher sollte Atlan etwas über unser Schicksal erfahren?« erkundigte sich Eis kralle. »Der Mikrokosmos ist so unendlich wie der Makrokosmos. Atlan kann Millio nen Lichtjahre von uns entfernt sein.« »Stimmt«, fiel Corpkor ein. »Aber ver geßt nicht, daß er auf der Suche nach dem Stein der Weisen ist. Seine Suche muß ihn automatisch nach Yarden führen, wo, wie Ischtar uns verriet, sich der Stein der Weisen befindet, der identisch mit dem Umsetzer ist, mit dem man die Absolute Bewegung be herrscht.« »Wenn er in die Nähe der Eisigen Sphäre kommt, werden die Varganen ihn gefangen nehmen«, sagte Ischtar. »Unweigerlich, denn kein Fremder findet die Struktur schleusen, durch die allein man Yarden be treten und verlassen kann.«
14 Fartuloon seufzte und setzte sich nieder geschlagen auf eines der Betten. Im näch sten Moment fuhr er wieder hoch. »Da kommt jemand!« flüsterte er. »Schnell, neben die Tür!« Auch seine Gefährten hatten das mehrma lige Schnappen gehört, mit dem die Türver riegelungen gelöst wurden. Während Ischtar gegenüber der Tür stehen blieb, eilten Fartu loon, Eiskralle und Corpkor zur Tür und stellten sich so neben ihr auf, daß sie jeden Eintretenden blitzschnell überwältigen konnten. Kurz darauf wurde die Tür aufgestoßen. Ein alter Vargane huschte herein. Er wollte die Tür hinter sich zuziehen, aber da packten Fartuloon und Corpkor ihn. Der ehemalige Kopfjäger drückte dem Varganen die Kehle zu, während Fartuloon die Arme hielt und den Fremden in den Raum zerrte. Eiskralle nahm dem Varganen unterdes sen den Gürtel ab und musterte verdrießlich das leere Energiewaffenhalfter. Vorsichtig lockerte Corpkor seinen Griff um die Kehle des Varganen und sagte: »Wenn du schreist, sperre ich dir endgül tig die Luft ab, Freundchen! Also, ganz ru hig!« Der alte Vargane schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, dann stieß er ärgerlich hervor: »Laßt mich los, ihr Narren! Ich bin euer Freund!« »Ich erkenne ihn«, sagte Ischtar. »Er ist Vargo, der Erfinder der Absoluten Bewe gung und der Mann, nach dem wir Varganen uns nannten. Das besagt aber noch lange nicht, daß er unser Freund ist. Was willst du von uns, Vargo?« Vargo blickte Ischtar voll an. In seinem zerknitterten Gesicht bildeten sich zusätzli che Falten. »Ich erkenne dich auch«, sagte er. »Du bist Ischtar, die junge Varganin, die Mam rohn damals mit nach Dopmorg brachte. Hat Mamrohn dich geschickt?« Ischtar schüttelte den Kopf. »Mamrohn ist tot«, antwortete sie. »Ich
H. G. Ewers bin aus privatem Grund nach Yarden ge kommen. Ich suche meinen Geliebten, der identisch ist mit dem Freund dieser Männer hier. Aber Kreton und Kandro wollen mich nach Beendigung dieses Kreuzzugs töten lassen und meine Gefährten auf eine einsa me Welt verbannen. Nachdem* ich dir auf richtig geantwortet habe, bist du an der Rei he. Was wolltest du von uns, Vargo?« »Ich suche Helfer«, erklärte der alte Var gane. »Zuviel Leid ist schon über viele Völ ker, vor allem über unser Volk, durch den Umsetzer gebracht worden. Die Verbindung zwischen unserem Mikrokosmos und dem Makrokosmos muß endlich zerstört werden. Aber ich komme nicht unbemerkt an den Umsetzer heran. Kandro und Kreton lassen mich ständig überwachen. Ohne Verbündete schaffe ich es nicht.« Fartuloon lachte trocken. »Wenn du uns als Verbündete ausgesucht hast, ist die Wahl auf die Falschen gefallen, Vargo«, erklärte er. »Wir sind Gefangene. Oder kannst du uns befreien und uns unsere Ausrüstung wiederbeschaffen?« »Ich könnte euch aus eurem Gefängnis herauslassen«, antwortete Vargo. »Das hätte aber keinen Zweck, denn ihr kämt nicht an den Wachen vorbei, die die Zu- und Aus gänge dieses Schiffsdecks kontrollieren. Aber wenn ihr mir versprecht, mich bei der Eroberung des Umsetzers zu unterstützen, will ich sehen, ob ich eure Ausrüstung wie derbeschaffen kann.« »Mit unserer Ausrüstung wären wir erst mal nicht mehr hilflos«, erklärte Corpkor. »Ich stimme dafür, Vargo zu helfen, Freun de, wenn er uns ebenfalls hilft.« »Einverstanden«, sagte Eiskralle. »Ischtar?« fragte Fartuloon. »Ich auch«, sagte die Varganin. »Gut«, meinte Fartuloon. »Dein Vor schlag ist akzeptiert, Vargo«, wandte er sich an den Varganen. »Sieh zu, daß du unsere Ausrüstung beschaffst. Wenn wir sie haben und frei sind, helfen wir dir. Klar?« »Ich bin so froh, daß ich endlich Verbün dete gefunden habe«, erwiderte der alte Var
Zuflucht der Unsterblichen gane. »Ich gehe jetzt, aber ich komme bald wieder.« Corpkor, der den Alten immer noch fest gehalten hatte, wenn auch nur sanft, ließ ihn los. Vargo öffnete die Tür, spähte nach drau ßen und verschwand. Aber schon bald dar auf erschienen vier bewaffnete Varganen. Sie brachten den Gefangenen etwas zu es sen. Doch sie blieben anschließend vor der Tür stehen, wie das dumpfe Auf und Ab ih rer Schritte verriet. Vargo würde so bald nicht helfen können …
3. Crysalgira Quertamagin blickte auf ihren Armband-Chronographen. Zwei Stunden Arkonzeit waren verstrichen, seit Atlan das tejonthische Schiff betreten hatte. Kurz danach hatte das tejonthische Schiff ein abruptes Manöver vollführt und war aus dem auf die Grenze zwischen Makro- und Mikrokosmos gerichteten Kurs ausgebro chen. Dann hatte es sich einmal wie verrückt um seine Längsachse gedreht und war in den alten Kurs zurückgeschwenkt. Das alles sagte Crysalgira, daß Atlan ver sucht hatte, das tejonthische Flaggschiff auf einen anderen Kurs zu bringen – und daß dieser Versuch mit großer Wahrscheinlich keit gescheitert war. Aber was sich in dem Flaggschiff konkret abgespielt hatte, das konnte sie natürlich nicht wissen. Unterdessen trieben die rund zehntausend Kreuzfahrerschiffe immer weiter auf jene Stelle zu, an der immer wieder rotglühende Strukturrisse erschienen und den Zusam menbruch der Grenze zwischen zwei ver schiedenen Existenzebenen ankündigten. Es war ein unheimlicher Anblick, wenn die Grenze aufriß und die Form einer sich windenden blutroten Schlange annahm, die kurze Zeit später wieder verschwand. Crys algira fragte sich, was wohl geschehen wür de, wenn das, was den Makrokosmos und den Mikrokosmos voneinander trennte, end
15 gültig zusammenbrach. Würden die beiden Existenzebenen dann verschmelzen – und würden die Größenverhältnisse sich gegen seitig angleichen? Aber diese Fragen beschäftigten die Prin zessin des Großen Imperiums nur am Rande. Viel mehr beschäftigte sie die Frage, was wohl mit Atlan geschehen sein könnte, und je mehr Zeit verstrich, ohne daß Atlan zu rückkehrte, um so verzweifelter wurde Crys algira. Sie überlegte, ob sie dem Kristallprinzen folgen sollte. Aber sie dachte realistisch ge nug, um diesen Gedanken schnell wieder zu verwerfen. Wenn Atlan von der Besatzung des tejonthischen Flaggschiffs überwältigt worden war, dann würde sie allein ihn auch nicht befreien können. Und wenn man sie ebenfalls überwältigte, dann war sowohl das Schicksal der tejonthischen Kreuzfahrer als auch das Atlans und ihr eigenes besiegelt. Sie nahm sich vor, noch eine halbe Stunde zu warten. Kehrte Atlan bis dahin nicht zu rück, wollte sie mit dem Beiboot zum Dop pelpyramidenschiff fliegen und Kontakt mit Chapat aufnehmen. Chapat war zwar körper lich nur ein Baby, aber er hatte schon oft be wiesen, daß er es an Klugheit mit den mei sten Erwachsenen aufnehmen konnte. Die halbe Stunde verstrich, ohne daß At lan zurückkehrte. Schweren Herzens schaltete die Prinzes sin den Feldanker aus, der das Beiboot am Flaggschiff der Tejonther festgehalten hatte. Danach steuerte sie das kleine Boot zwi schen den kurvenden tejonthischen Raum schiffen hindurch. Das Manöver war nicht leichter als beim Einflug in die Flottenfor mation. Immer wieder ruckten Schiffe un vermittelt an und schossen so dicht an dem Beiboot vorbei, daß es Crysalgira wie ein Wunder erschien, daß die befürchtete Kolis sion ausblieb. Oft war sie unterwegs versucht, wieder umzukehren, weil sie dachte, Atlan könnte das Flaggschiff doch noch verlassen und fände dann keine Möglichkeit, an Bord des Doppelpyramidenschiffs zurückzukehren.
16 Es kostete sie große Selbstüberwindung, sich dennoch immer weiter von dem tejon thischen Flaggschiff zu entfernen. Endlich war sie aus der Flottenformation heraus und konnte das Doppelpyramiden schiff ansteuern, das wegen der Fortbewe gung der Flotte ein ganzes Stück zurückge fallen war. Eigentlich war es ein Wunder, daß die Besatzungen der Varganenschiffe, die näher an der Grenze standen, das Dop pelpyramidenschiff nicht geortet hatten. Vielleicht haben sie es doch geortet! über legte die Prinzessin. Aber es ist ebenfalls ein Varganenschiff und fällt wahrscheinlich di rekt vor der Eisigen Sphäre, dem Zufluchts ort der Unsterblichen, nicht auf. Crysalgira öffnete das Außenschott des Beiboothangars mittels Fernsteuerung, dann brachte sie das Beiboot hinein, ließ es auf setzen und aktivierte die Feldverankerung. Danach stieg sie aus und eilte in die Steuer zentrale, in der sich auch Chapat aufhielt. Vor der Wiege des Babys blieb sie stehen. Sie hoffte, daß Chapat telepathischen Kon takt mit ihr aufnehmen würde. »Du bist erregt«, meldete sich Chapat so gleich auf gedanklichem Wege. »Ist meinem Vater etwas zugestoßen? Ich empfange seit einiger Zeit keine gedankliche Ausstrahlung mehr von ihm.« »Ich weiß nicht«, antwortete Crysalgira. Sie sprach laut, weil sie wußte, daß sie ihre Gedanken dadurch schärfer als sonst artiku lierte und dem telepathisch begabten Baby den Empfang erleichterte. »Atlan befindet sich in dem tejonthischen Flaggschiff. Wahrscheinlich hat die Besatzung ihn über wältigt. Was soll ich nur tun?« »Mein Vater muß bewußtlos sein«, mein te Chapat. »Aber er wird bald sterben, denn die Flotte der Kreuzfahrer treibt immer nä her an die Grenze zwischen dem Mikro- und dem Makrokosmos heran. Es wäre töricht, wenn du versuchtest, gegen die Besatzung des Flaggschiffs zu kämpfen, um meinen Vater zu befreien. Du mußt vor allem ver hindern, daß das Flaggschiff weiter auf die Grenze zutreibt.«
H. G. Ewers »Aber wie?« fragte die Prinzessin ver zweifelt. »Du mußt das Flaggschiff mit Fesselfel dern aufhalten«, antwortete Chapat. »Danach mußt du es aus der Kreuzfahrer flotte herausmanövrieren – und zwar so vor sichtig, daß die Varganen nichts davon be merken, mindestens nicht früher, als bis un ser Schiff mit dem Flaggschiff eine Ge schwindigkeit erreicht hat, die einen Über gang zur Überlichtgeschwindigkeit gestat tet.« »Und wenn die Besatzung sich wehrt?« wandte Crysalgira ein. »Wenn sie das Feuer auf uns eröffnet?« »Das ist eine gute Frage«, erwiderte At lans Sohn. »Du mußt unser Schiff so dicht an das tejonthische Flaggschiff heranbrin gen, daß die Besatzung ihre Geschütze nicht auf uns abfeuern kann, ohne von einer Ex plosion unseres Schiffes mit in den Tod ge rissen zu werden.« »Du hast auf alles eine Antwort!« meinte die Prinzessin, teils anerkennend, teils iro nisch. Aber sie wußte genau, daß Chapats Vor schläge Hand und Fuß hatten. Deshalb setzte sie sich unverzüglich vor die Hauptkontrol len. Ihre Finger glitten spielerisch über die Tastatur, mit der die Maschinenanlagen des Doppelpyramidenschiffs bedient wurden. Sanft beschleunigte das Schiff und flog auf die Flotte der Kreuzfahrer zu …
* Eine rote Leuchtplatte strahlte in kurzen Intervallen auf: Kollisionswarnung! Crysalgira strich mit den Fingern über ei ne Reihe bunter Lämpchen und aktivierte damit die Schutzschirme des Varganen schiffs. Dann wartete sie ab. Sie konnte nichts anderes tun, denn bei Kollisionsalarm übernahm der Autopilot die Führung des Schiffes. Er stand in permanen ter Verbindung und Rückkopplung mit dem Bordcomputer und konnte erheblich schnel ler reagieren als ein organisches Lebewesen.
Zuflucht der Unsterblichen Dennoch konnte auch der Autopilot keine Wunder vollbringen. Die Geschwindigkei ten, mit denen sich das Doppelpyramiden schiff und die Raumschiffe der Tejonther bewegten, waren zwar für Raumfahrtbegrif fe sehr gering. Aber angesichts der geringen Entfernungen waren die Geschwindigkeiten viel zu hoch, um bei direktem Kollisions kurs erfolgversprechende Ausweichmanöver fliegen zu können. Glücklicherweise erwies sich der Kurs, den das plötzlich dicht vor dem Doppelpyra midenschiff aufgetauchte Tejontherschiff hielt, nicht als direkter Kollisionskurs. Die beiden Raumschiffe rasten wenige hundert Meter aneinander vorbei, und der Schutz schirm des Varganenschiffs leuchtete ledig lich auf, weil ihn die Streuenergie der Trieb werke des anderen Schiffes traf. Als die Gefahr vorüber war, strich sich die Prinzessin den kalten Schweiß von der Stirn. Sie war eine erfahrene Raumfahrerin und wußte daher ganz genau, daß die Schutzschirme des Varganenschiffs sie bei einem Zusammenprall nicht gerettet hätten. Sie hätten das andere Schiff zur Explosion gebracht, und eine Schiffsexplosion in un mittelbarer Nähe hätten auch die Energie schirme nicht verkraftet. Crysalgira dachte dabei nicht nur an sich selbst, sondern vor allem an Atlan und an Atlans Sohn Chapat, die ebenfalls beide ver loren gewesen wären, wenn das Varganen schiff vernichtet worden wäre. Sie war sich auch klar darüber, daß sie die Gefahren auf sich nehmen mußte, denn wenn sie nichts tat, flog Atlan mit dem Flaggschiff der Kreuzfahrer ins Verderben. Wieder einmal züngelte die Glutschlange des Kontinuumsrisses weit im Hintergrund, jenseits der Nebelballung der Eisigen Sphä re. »Du mußt das Schiff so drehen, daß es parallel zur Hauptbewegungsrichtung der te jonthischen Schiffe fliegt«, erklärte Chapat ihr telepathisch. »Dann ist die Kollisionsge fahr am geringsten.« Das leuchtete Crysalgira ein. Gehorsam
17 steuerte sie das riesige Doppelpyramiden schiff so, wie Chapat es von ihr verlangte. Für einige Zeit glitten ihr Schiff und die Raumschiffe der Tejonther Seite an Seite ne beneinander her. Dann vollführte das Flagg schiff der Kreuzfahrer wieder eine Schwen kung; und plötzlich geriet die Formation wieder durcheinander. Offenbar reagierten die tejonthischen Piloten unterschiedlich schnell. Ihr Geist mußte durch die Emotio strahlung der Gefühlsbasen, die sie auf ih rem Weg zur Eisigen Sphäre angeflogen hat ten, getrübt worden sein. Der Prinzessin blieb gar nichts anderes übrig, als sich an der wilden Kurbelei zu be teiligen, wenn sie keinen Zusammenstoß ris kieren wollte. Immer wieder mußte sie das Varganenschiff nach Steuerbord oder Back bord ausbrechen lassen, mußte es hochrei ßen oder nach unten drücken, beschleunigen oder verzögern. Hin und wieder leuchtete der Kollisions alarm auf, dann nahm ihr der Autopilot die Kommandogewalt ab, und sie mußte taten los abwarten, ob die nächsten Augenblicke Tod oder Rettung brachten. Einmal kam es zum Berührungskontakt mit einem tejonthi schen Schiff. Der Autopilot rettete die Situa tion dadurch, daß er die Schutzschirme des Varganenschiffs abschaltete. Überbean spruchtes Metallplastik kreischte, als das Doppelpyramidenschiff an der Außenhülle des anderen Schiffes entlangschabte. Dann war die Gefahr vorüber. Das Tejontherschiff hatte die Berührung ebenfalls überstanden und nur eine seiner Heckflossen verloren. Crysalgira war schweißgebadet, als sie endlich das Flaggschiff der Tejonther er reichte. Sie schickte einen Traktorstrahl aus, der das Flaggschiff einfing und festhielt. Anschließend schaltete sie das Doppelpyra midenschiff auf Bremsbeschleunigung. Langsam sank das Flaggschiff in die Flot tenformation hinein, blieb hinter den ande ren tejonthischen Schiffen zurück. Der Zeit punkt, an dem es die Formation ganz ver ließ, war abzusehen. Doch nicht nur Crysalgira erkannte das.
18 Auch auf den Raumschiffen der Varganer die in der Nähe der Kontinuumsgrenze lau erten, erkannte man das. Prinzessin Crysalgira atmete auf, als die letzten Schiffe der Kreuzfahrer an dem Dop pelpyramidenschiff und dem eingefangenen tejonthischen Schiff vorbeiglitten. Behutsam schaltete sie und leitete das Wendemanöver ein, das vor der Beschleuni gung erforderlich war. Da die Maschinen des Varganenschiffs erheblich stärker waren als die des tejonthischen Schiffes, blieben die Bemühungen der tejonthischen Besat zung, ihr Schiff aus dem Traktorstrahl zu be freien, erfolglos. Dennoch verzögerten die Anstrengungen der Tejonther Crysalgiras Manöver. Sie mußte die Energie ihres Schiffes zielsicher einsetzen, um die Ausbruchsbemühungen der Tejonther zu kompensieren und das Wendemanöver abzuschließen. Die Prinzessin war dadurch so stark bean sprucht, daß sie die Doppelpyramidenschif fe, die sich ihrem Schiff näherten, erst be merkte, als die automatische Ortung Annä herungsalarm gab. Gehetzt schaute Crysalgira von ihren Kontrollen auf und entdeckte auf den Bild schirmen der Steuerzentrale insgesamt neun Doppelpyramidenschiffe, die ihr Schiff oben und unten, an Steuerbord und an Backbord eingekreist hatten. »Was soll ich tun, Chapat?« fragte sie. »Wir sind von neun Varganenschiffen um geben.« Ein Impuls der Resignation kam von At lans Sohn, gefolgt von einem stärkeren Im puls der Auflehnung. »Beschleunige mit voller Kraft!« befahl Chapat. »Wir werden sehen, wie die Varga nen reagieren. Auf jeden Fall mußt du das Schiff, auf dem mein Vater ist, fest im Griff behalten. Mein Vater lebt. Ich empfange sei ne Gedanken klar und deutlich. Die Tejon ther auf dem Flaggschiff haben ihn nieder geschlagen, gefesselt und im Kommando stand liegen lassen.« Crysalgira glaubte zu wissen, wie die
H. G. Ewers Varganen auf einen Ausbruchsversuch rea gieren würden. Dennoch riskierte sie es. Sie schaltete die Maschinen des Doppelpyrami denschiffs aufs höchste Leistung, beschickte zusätzlich den Traktorstrahlprojektor mit mehr Energie und beschleunigte mit Maxi malwerten. Das Doppelpyramidenschiff ruckte an. Aber im gleichen Augenblick schalteten die Tejonther im Flaggschiff auf volle Gegenbe schleunigung. Dadurch drehten sich die durch Fesselfelder aneinander gekoppelten Schiffe rund dreißig Grad um ihre Längsachse, bevor sie allmählich in Fahrt kamen. Crysalgira sah, daß sie zu langsam waren. Die neun Varganenschiffe hielten ihre Ein kreisungsschale fest geschlossen. Dann rückten sie dichter auf – und plötzlich rührte sich das Doppelpyramidenschiff nicht mehr von der Stelle. »Man hat uns eingefangen!« sagte die Prinzessin erbittert. »Wenn Atlan nicht in dem Flaggschiff wäre, würde ich jetzt das Feuer eröffnen. So aber sind mir die Hände gebunden.« »Du mußt jetzt die Ruhe bewahren«, teilte Chapat ihr telepathisch mit. »Paß auf, wohin die Varganen uns schleppen. Wenn sie uns an die Grenze schleppen wollen, müssen wir bis zum Ende kämpfen. Sonst können wir uns passiv verhalten.« Crysalgira nickte. Sie beobachtete die Kontrollen, um.festzustellen, wohin ihr Schiff von den Varganen gebracht würde. Nach kurzer Zeit stand es fest, daß die Varganen das Doppel pyramidenschiff mitsamt dem angekoppel ten Tejonther schiff nicht auf die Grenze zwischen Makro- und Mikrokosmos zu schleppten. Die beiden miteinander verbundenen Schiffe wurden direkt auf die Eisige Sphäre zu gezogen. Machtlos mußte die Prinzessin mitanse hen, wie der unheimliche nebelhafte Wirbel von Yarden immer näher kam. Plötzlich lös ten sich von einem der Varganenschiffe
Zuflucht der Unsterblichen zwei Beiboote. Sie steuerten das tejonthi sche Flaggschiff an. Crysalgira wollte auf die Feuerknöpfe ei ner Batterie leichter Energiegeschütze drücken, zog aber die Hand wieder zurück, als Chapat ihr eine telepathische Warnung zukommen ließ. »Wenn du das tust, verhinderst du, daß mein Vater gerettet wird«, erklärte Chapat. »Bestimmt wollen die Varganen das tejon thische Flaggschiff den anderen Kreuzfah rerschiffen nachschicken. Aber sie wollen meinen Vater vorher herausho* len, weil sie ihn brauchen.« Crysalgira zog die Hand von den Feuer knöpfen zurück. Sie beobachtete, wie die beiden Beiboote genau dort an dem Tejon therschiff anlegten, an dem sie und Atlan zu vor mit einem Beiboot angelegt hatten. Vier Varganen in Raumanzügen stiegen über. Sie kehrten schon nach kurzer Zeit zu rück. Zwei von ihnen trugen eine gefesselte Gestalt im Raumanzug. Der Gefesselte konnte nur Atlan sein. Chapat bestätigte es. »Das ist mein Vater«, sagte er. »Er ist nicht ernsthaft verletzt und denkt daran, daß du nichts unternehmen sollst, Crysalgira.« »Schon gut«, erwiderte die Prinzessin ton los. »Ich unternehme nichts – jedenfalls vor läufig nicht.« Nachdem die Raumfahrer wieder in ihre Beiboote gestiegen waren, legten die Boote ab. Sie nahmen aber nicht etwa Kurs zu ih rem Mutterschiff, sondern auf das Doppel pyramidenschiff Crysalgiras. »Sie kommen zu uns«, sagte die Prinzes sin erschrocken. »Du kannst nichts gegen sie unternehmen, wenn du nicht zugleich meinen Vater ge fährden willst«, übermittelte ihr Chapat. »Sei froh, daß sie nicht vorhaben, euch zu trennen, öffne die Schleuse, an der sie anle gen. Es wäre sinnlos, Widerstand zu leisten. Sie können sich auch mit Gewalt Einlaß ver schaffen.« Resignierend tat Crysalgira, wie das Baby ihr geheißen. Die Beiboote legten an. Kurz
19 darauf betraten die vier Varganen die Steu erzentrale. In ihrer Mitte befand sich Atlan. Die Varganen hatten ihm die Fußfesseln ge löst, aber die Handfesseln belassen. In der Zentrale klappten sie ihre Druckhelme zu rück und öffneten auch Atlans Helm. Atlan versuchte ein Lächeln, das aber bei seinem zerschlagenen und angeschwollenen Gesicht kläglich mißlang. »Hallo, Crysalgira, mein Schatz!« sagte er schwerfällig. Das war zuviel für die Prinzessin. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte laut.
4. »Sie ist völlig durcheinander«, teilte mir mein Sohn telepathisch mit. Das hatte ich selbst schon bemerkt. Crys algira hatte sich bislang hervorragend gehal ten. Aber mein Scheitern und das Scheitern aller ihrer Bemühungen hatten sie psychisch erheblich strapaziert. Kein Wunder, daß sie zusammengebrochen war, als ich als Gefan gener zu ihr kam und sie auch noch mit ei nem Scherzwort begrüßte. »Tut mir leid, Kleines«, murmelte ich be treten. Meine Niedergeschlagenheit schlug in kalten Zorn um, als einer meiner Bewacher von hinten an Crysalgira herantrat und sie brutal aus ihren Sessel riß. Obwohl ich von zwei Varganen festgehalten wurde, reagierte ich explosiv. Ich täuschte meine Bewacher, indem ich tat, als wollte ich sie abschütteln. In Wirk lichkeit dienten meine Bewegungen der Vorbereitung eines seitlichen Fußstoßes in die Kniekehle des Varganen, der Crysalgira an den Armen zog. Meine Bewacher ver stärkten die Wucht des Fußstoßes ungewollt noch, indem sie mich festhielten und mir so besseren Halt gaben. Der Getroffene knickte in den Knien ein, kippte seitlich weg, ließ Crysalgira los und wand sich wimmernd auf dem Boden. Mei ne Bewacher schrien wütend auf, wußten
20 aber nicht recht, wie sie reagieren sollten. Sie zerrten mich lediglich ein Stück zurück und redeten wild durcheinander. Ich konnte sie gut verstehen, denn Ischtar hatte mir die Sprache ihres Volkes beigebracht. Dieser Zwischenfall richtete die Prinzes sin seelisch wieder etwas auf. Als der vierte Vargane auf sie zutrat und sie bei den Schul tern und einem Arm packen wollte, ging sie seitlich in ihn herein, faßte energisch zu und warf ihn so vehement über ihre linke Hüfte ab, daß er bewußtlos am Boden liegenblieb. »Gut gemacht!« rief ich ihr zu und lachte. Die beiden noch handlungsfähigen Varga nen traten von mir zurück, zogen ihre Strahl waffen und richteten sie auf Crysalgira und mich. »Wenn Sie sich weiter widersetzen, schie ßen wir!« drohte der eine. »Schon gut!« erwiderte ich beschwichti gend. Ich wußte, daß die Varganen uns nicht töten wollten, wußte aber auch, daß sie schießen würden, wenn wir sie weiter provi zierten. »Wir wollten Ihnen nur klarmachen, daß Sie gegenüber einer arkonidischen Prin zessin gewisse Umgangsformen zu wahren haben. Wenn Sie etwas von uns wollen, dann sagen Sie es uns, aber versuchen Sie nicht noch einmal, die Prinzessin anzufas sen!« Der Vargane, den ich in die Kniekehle ge treten hatte, erhob sich ächzend und starrte mich wütend an. Er hütete sich jedoch, in meine Nähe zu kommen. »Was wollen Sie eigentlich von uns?« fragte Crysalgira. Ich übersetze die Frage und auch die Ant wort. »Das werden Sie sehen«, antwortete einer der Varganen. »Zuerst bringen wir Sie in die Eisige Sphäre. Kreton und Kandro werden dann entscheiden, was aus Ihnen wird. Set zen Sie sich in zwei freie Reservesitze! Wir werden Sie dort festbinden, damit Sie uns nicht wieder angreifen können.« Nachdem ich für die Prinzessin übersetzt hatte, sagte ich: »Wir müssen gehorchen, Crysalgira.«
H. G. Ewers Ich führte sie zu einem Reservesessel. Als sie saß, nahm ich in dem Sessel neben ihr Platz. Vorher aber sah ich nach meinem Sohn. »Mach dir keine Sorgen um mich, Vater«, teilte Chapat mir telepathisch mit. Sprechen konnte er ja noch nicht. »Meine Windeln sind noch sauber, und Crysalgira hat mich noch gefüttert, bevor die Varganen an Bord kamen.« »Dann werden deine Windeln ja bald voll sein«, erwiderte ich gedanklich, damit die Varganen nicht merkten, daß wir uns ver ständigen konnten. Als ich Platz genommen hatte, banden die Varganen Crysalgira und mich mit Kunst stoffseilen an die Sessel. Ich wandte einen bewährten Trick an und erreichte damit, daß die Varganen mich nur so fesselten, daß ich mich, wenn ich es wollte, ohne große Mühe selbst befreien konnte. Allerdings hütete ich mich, davon schon jetzt Gebrauch zu machen. Es wäre zweck los gewesen, die vier Männer zu überwälti gen. Wenn die Varganen in den neun Schif fen merkten, daß ihre Genossen nicht mehr Herr der Lage waren, würden sie unter Schiff vielleicht zusammenschießen. Inzwischen war auch der Vargane wieder zu sich gekommen, den Crysalgira unsanft auf den Boden befördert hatte. Er warf der Prinzessin einen giftigen Blick zu, dann setzte er sich in einen Sessel vor den Kon trollen. Die übrigen Sessel waren von seinen Genossen belegt worden. Die Varganen schalteten. Begleitet von den neun anderen Doppelpyramidenschiffen, setzten wir uns in Richtung Eisige Sphäre in Bewegung. Ich blickte mich nach dem Flaggschiff der Tejonther um und sah auf einem Bildschirm, daß es beschleunigte und der Kreuzfahrer flotte nachflog. Crysalgira und ich hatten uns große Mühe gegeben, die Tejonther vor einem grauenvollen Schicksal zu bewahren. Ich war erschüttert darüber, daß es nichts ge nutzt hatte. Inzwischen flammten schräg hinter der
Zuflucht der Unsterblichen Eisigen Sphäre immer mehr Kontinuumsris se auf. Es sah aus, als wollte der Weltraum auseinanderbrechen. Riesige rotglühende Feuerräder tauchten diesseits der Grenze auf, gigantische Wirbel fremdartiger Energi en. Vielleicht waren es für die Größenver hältnisse des Makrokosmos nur eine Hand voll leuchtender Gasmassen, so wie der Kontinuumsriß »drüben« wahrscheinlich so klein war, daß niemand ihn bemerkte. Für die Größenverhältnisse des Mikrokosmos wallten durch die Kontinuumsrisse Glutor kane, deren Masse derjenigen Hunderter von Sonnen gleichkam. Ich konnte die Flotte der Kreuzfahrer nicht mehr mit bloßem Auge erkennen. Nur noch einmal wurde sie sichtbar. Das war, als sie unmittelbar vor den entfesselten Glutschlangen der Grenze ankam und im Widerschein der Lichtausbrüche aufleuchte te. Dann verschwand sie in den Energiewir beln zwischen den Existenzebenen. Ein weißlicher Schleier, wie ausströmender Dampf, legte sich barmherzig über den Schauplatz des Grauens. Danach schlossen sich die Kontinuumsrisse. Die Lage stabili sierte sich. Für die nächsten dreihundert Jah re schien das Gleichgewicht zwischen Mi kro- und Makrokosmos wieder gesichert zu sein. Ich wandte mich erschüttert ab. Der Preis für die Stabilisierung war zu hoch. Dabei hätte er nicht gezahlt werden müssen. Zumindest die Besatzung der Kreuzfahrerschiffe waren völlig sinnlos ge opfert worden. Es hätte genügt, die Schiffe ferngesteuert in die Energiewirbel an der Grenze zu schicken. Die Varganen der Eisigen Sphäre aber hatten zirka eine Million intelligenter Lebe wesen kaltblütig geopfert. Damit hatten sie das Recht verwirkt, weiter zu existieren. Ich wußte, daß ich nicht davor zurück schrecken Würde, die Mörder unnachsichtig zu bestrafen, wenn sich mir die Gelegenheit dazu bot.
21
* In den wirbelnden Nebelmassen der Eissi gen Sphäre tat sich eine Lücke auf, an deren Rändern kalte Flammenzungen leckten. Unsere neun Begleitschiffe formierten sich zu einer Reihe. Wie Perlen an einer straffgespannten Schnur schwebten sie lang sam in die Strukturlücke hinein. Unser Schiff war das fünfte in der Reihe. Auf den Bildschirmen der Steuerzentrale sah ich, daß wir durch einen gewundenen Nebeltunnel schwebten. Infolge der Kurven, die geflogen werden mußten, konnte ich nur das Schiff vor uns und das hinter uns er blicken. Sonst war nichts außer den wirbelnden und wallenden Nebeln zu sehen. Es war ein eigentümlicher Nebel. Er ließ mich frösteln. Ich führte das auf die be drückende psychische Auswirkung des An blicks zurück, bis mir Crysalgira erklärte, daß ihr kalt sei. »Dir auch?« fragte ich. »Dann muß es tat sächlich kalt geworden sein.« Ich wandte mich an die Varganen. »He, Sie!« rief ich auf Varganisch. »Die Klimaanlage ist ausge fallen. Sehen Sie einmal danach, sonst er frieren wir noch.« Einer der Varganen wandte sich nach mir um, lächelte höhnisch und erwiderte: »Sie werden sich daran gewöhnen müs sen, daß es in der Eisigen Sphäre kälter ist als draußen.« »Unsinn!« entgegnete ich heftig. »Hier kann es unmöglich kälter sein als im freien Weltraum, wo die Temperatur schon um den absoluten Nullpunkt liegt. Die Klimaanlage muß defekt oder falsch eingestellt sein.« »Es liegt nicht an der Klimaanlage, Va ter«, übermittelte mir mein Sohn telepa thisch. »Innerhalb der Eisigen Sphäre gibt es eine Art Kältestrahlung, die sogar durch die Isolationsschichten von Raumschiffen dringt. Die Temperatur wird sogar noch et was abfallen, sich dann aber stabilisieren. Außerhalb eines Raumschiffs aber wärst du auch mit einem Raumanzug verloren.«
22 Der Vargane erklärte mir praktisch das gleiche, nur schwang bei ihm Schadenfreude darüber mit, daß Crysalgira und ich unter der Kälte litten. Den Varganen schien sie nichts auszumachen. Im Gegenteil, sie leb ten innerhalb der Eisigen Sphäre richtigge hend auf. »Das stimmt«, erklärte mir Chapat. »Mir macht die Kälte ebenfalls nichts aus. Das ist ein Erbteil meiner Mutter. Die in der Eisigen Sphäre lebenden Varganen müssen sogar in bestimmten Zeitabständen nach Yarden zu rückkehren und sich der Kältestrahlung aus setzen.« »Du auch?« dachte ich erschrocken, denn wenn Chapat ebenfalls nur begrenzte Zeit ohne die Kältestrahlung leben konnte, würde ich ihn nie aus der Gewalt der Varganen be freien können. »Nein, ich bin nicht darauf angewiesen«, teilte mir mein Sohn mit. »Ich komme ohne die Kältestrahlung aus, aber sie schadet mir auch nicht. Ist die Kälte schlimm für dich und deine Freundin?« »Sie läßt sich ertragen«, sagte ich verse hentlich laut. »Mit wem sprechen Sie?« erkundigte sich der Vargane, der bisher das Wort geführt hatte. Ich grinste ihn an. »Mit mir selbst. Haben Sie etwas dage gen?« Wortlos wandte der Vargane sich um. Alle vier Varganen widmeten sich wieder uneingeschränkt der Steuerung unseres Schiffes. Kurze Zeit später verließen wir den Nebeltunnel und erreichten einen giganti schen freien Raum innerhalb der wirbelnden Kältenebelmassen. Die Bezeichnung »gigantisch« tauchte nur deshalb in meinen Gedanken auf, weil ich den freien Raum an gesichts eines riesigen Pulks von Doppelpy ramidenschiffen in seinem Durchmesser un gefähr abschätzen konnte. Demnach besaß er ungefähr hundert Mal den Durchmesser der Sonne Arkon. Wir flogen genau auf den Raumschiff spulk zu. Zahllose Röhren verbanden die
H. G. Ewers zirka zweitausend Schiffe, die aus der Ferne eine makabre Ähnlichkeit mit einem Haufen leerer Konservendosen hatten. Ihre Hüllen spiegelten den kalten Schein des Eisigen Ne bels wider. Crysalgira hatte den Pulk natürlich auch entdeckt. Mit großen Augen blickte sie auf den betreffenden Bildschirm. »Leben die Varganen dort?« fragte sie. »Es ist ihr Zufluchtsort«, teilte Chapat uns beiden telepathisch mit. »Der Pulk besteht aus tausendachthundert Raumschiffen. Die Varganen besitzen außerdem noch zweihun dert Schiffe, die nicht mit dem Pulk verbun den sind, sondern frei operieren, meist au ßerhalb der Eisigen Sphäre.« So war das also. Ich hielt es für bezeichnend für den geisti gen Zustand der Unsterblichen, daß sie sich in der Eisigen Sphäre eingeigelt oder ver schanzt hatten. Mit ihren technischen Mit teln wäre es sicher nicht allzu schwierig für sie gewesen, sich einen Planeten in den Hohlraum der Eisigen Sphäre zu holen und die Oberfläche durch Atomsonnen zu erwär men und zu beleuchten. Statt dessen hatten sie sich mit einem Provisorium abgefunden. Sie sind mit Komplexen behaftet! teilte mir mein Logiksektor mit. Offenbar haben sie ihr Schicksal nicht verkraftet. Die Un sterblichkeit muß ein übriges dazu getan und ihren Geist verwirrt haben. Ich fand, daß Unsterblichkeit nicht unbe dingt den Geist verwirren mußte. Jedenfalls hätte ich nichts dagegen gehabt, ebenfalls unsterblich zu werden. Unwillkürlich mußte ich an Ischtar denken. Meine varganische Geliebte war unsterblich, was bedeutete, daß sie noch genauso schön sein würde wie heu te, wenn ich längst ein Greis geworden war. Dieser Gedanke veranlaßte mich zu einer Verwünschung. Sofort drehte sich der Sprecher der vier Varganen wieder zu mir um und erkundigte sich nach meinem Befinden. »Ich dachte nur daran, daß es schade ist, daß ich nicht unsterblich bin wie Sie«, ant wortete ich wahrheitsgemäß. »Aber Sie wis
Zuflucht der Unsterblichen sen Ihre Unsterblichkeit offenbar nicht zu schätzen!« »Unsterblichkeit ist Segen und Fluch zu gleich«, gab der Vargane zurück. »Besser ist es, nur durch seine Nachkommen unsterb lich zu werden statt als Individuum.« Er lä chelte schief. »Sie werden in zahllosen Nachkommen Unsterblichkeit erlangen, At lan. Ich möchte Sie lieber umbringen. Statt dessen muß ich dafür sorgen, daß Sie heil und gesund zu unseren Frauen kommen und die Prinzessin zu uns Männern. Es ist eine Schande, daß ein Sterblicher mit unseren Frauen schlafen soll, aber leider ist es not wendig, damit der Fortbestand unseres Vol kes gesichert ist.« Ich erwiderte nichts darauf, denn ich hatte gewußt, was die Varganen mit uns vorhat ten. Sie wollten uns als Zuchtvieh mißbrau chen, damit die Verluste, die die Unsterbli chen durch Unglücksfälle und Selbstmorde erlitten, ausgeglichen wurden. Aber ich verspürte keine Lust, mich derart mißbrauchen zu lassen. Das verstieß einfach gegen meinen männ lichen Stolz. Und für Crysalgira würde es noch schlimmer sein. Für sie, die ihren arko nidischen Sonnenträger Chergost liebte, spielte es sicher keine Rolle, daß sie aus na turgegebenen Gründen längst nicht so oft wie ich mißbraucht werden würde. Um Crysalgira willen wollte ich alles ver suchen, um den Plan der Varganen zunichte zu machen.
* Die vier Varganen steuerten unser Dop pelpyramidenschiff an die Öffnung einer aus dem Pulk ragenden, dick mit Isolationsmate rial ummantelten Röhre. Wir sind genau dort, wohin wir wollten! dachte ich voller Selbstironie. »Meine Mutter!« rief Chapat mir telepa thisch zu. »Sie ist irgendwo in der Nähe!« Ich atmete auf. Ischtar lebte also noch und wurde sicher in einem Schiff des Pulks gefangengehalten.
23 Der Gedanke an sie hob meine Stimmung etwas und ließ mich zugleich einen süßen Schmerz fühlen. Erinnerungen an schöne Stunden wollten mich überschwemmen. Ich verdrängte sie unter Aufbietung meiner gan zen Willenskraft. Immerhin »hörte« mein Sohn mit, und die Erinnerungen an heiße Liebesnächte waren nicht für eine kindliche Seele geeignet. »Was meinst du damit, Vater?« übermit telte mir Chapat. Ich wurde verlegen und suchte nach Be griffen, mit denen ich meinem Sohn etwas klarmachen konnte, was ich ihm gegenüber nicht klar ausdrücken durfte. »Was verstehst du unter Jugendgefähr dend'?« erkundigte sich Chapat. Hatte ich diesen Begriff tatsächlich ge dacht? »Es ist etwas, das du erst später begreifen kannst«, versuchte ich zu erklären. »Man braucht ein gewisses Alter, um bestimmte Dinge richtig sehen zu können, Chapat. Wird man zu früh damit konfrontiert, be steht * die Gefahr einer Gefühlsverwirrung, die sich später schädlich auf die Beziehung zwischen Mann und Frau auswirken können. Darum meine Zurückhaltung. Ich bitte dich, das zu respektieren, mein Sohn.« »Aber ich bin neugierig«, erwiderte Cha pat. Ich seufzte und dachte: »Du bist zu neugierig für dein Alter, Cha pat. Konzentriere dich auf die Gedanken deiner Mutter. Vielleicht findest du heraus, in welchem Schiff des Pulks sie gefangenge halten wird. Das ist wichtig, denn wenn ich weiß, wo sie ist, kann ich sie vielleicht errei chen.« Chapat ging sofort auf den Themawechsel ein. Das Wohl seiner Mutter lag ihm mehr am Herzen als die Befriedigung seiner ver ständlichen Neugier. »Ich versuche es«, teilte er mir mit. Die telepathische Verbindung riß ab, als unser Schiff von einer schwachen Erschütte rung durchlaufen wurde. »Wir haben angelegt«, erklärte einer der
24 Varganen. »Sie, Atlan, werden Ihren Sohn nehmen und uns begleiten. Crysalgira kommt ebenfalls mit. Wir bringen Sie zu Ih rer Unterkunft. Versuchen Sie aber nicht zu fliehen. Außerhalb eines Schiffes bezie hungsweise der Verbindungsröhren würden Sie selbst mit geschlossenem Raumanzug sofort erfrieren.« »Wir werden vernünftig sein«, versprach ich. Für mich bedeutete es schon eine große Erleichterung, daß wir nicht von meinem Sohn getrennt wurden. Die Varganen banden die Prinzessin und mich los. Zwei von ihnen bedrohten uns da bei ständig mit der Waffe. Aber diesmal hielten sie keine tödlichen Thermostrahler auf uns gerichtet, sondern nur Lähmwaffen. Ich ging zu der provisorischen Wiege und nahm meinen Sohn mitsamt dem Bettzeug heraus. Es war ein seltsames Gefühl, ein Ba by auf dem Arm zu halten, das von der Raumfahrttechnik genausoviel verstand wie ein Arkonide oder Vargane. Crysalgira packte die Konservendosen mit leichter Nahrung, die wir aus den Schiffs vorräten herausgesucht hatten, in einen Beu tel, dazu auch das Fläschchen, mit dem Cha pat gesäugt wurde, sowie einen Pakken Windeln. »Ihr habt meinen Schnuller vergessen!« übermittelte mir mein Sohn vorwurfsvoll. »Entschuldigung!« dachte ich. Ich beugte mich über die Wiege und ent deckte den Schnuller am Boden. Während ich ihn einsteckte, fühlte ich, wie ich erröte te. Die Prinzessin schien mein Gefühlsleben zu durchschauen, denn sie lächelte maliziös. »Vorwärts!« sagte der Sprecher unserer Varganen und deutete mit seiner Waffe auf den Ausgang. Mit dem Baby auf dem Arm war ich zur Passivität verurteilt. Um nichts auf der Welt hätte ich etwas getan, was meinen Sohn ge fährdete. Gehorsam verließ ich die Steuer zentrale. Hinter mir kamen zwei Varganen, danach Crysalgira, der die beiden letzten Varganen folgten.
H. G. Ewers Wir wurden durch den Schiffskorridor ge trieben und mußten mit den Antigravlift zur Mannschleuse schweben. Dort erwarteten uns weitere bewaffnete Varganen. Als wir das Doppelpyramidenschiff durch die Mannschleuse verließen und die Verbin dungsröhre betraten, schlug uns eine Luft entgegen, die noch um einige Grade kälter war als die Luft innerhalb des Schiffes. Un willkürlich schritt ich schneller aus. Ich war froh, als wir endlich das nächste Schiff erreichten. Die Luft in seinem Korri dor kam mir gegen die Luft in der Röhre im ersten Augenblick sogar warm vor. Doch wir durften nicht in dem Schiff blei ben, sondern wurden durch weitere einund dreißig Raumschiffe und ebenso viele Ver bindungsröhren getrieben. Obwohl Crysalgi ra und ich so schnell wie möglich gingen, um mehr Körperwärme zu erzeugen, waren wir am Ende unseres Marsches halb erfro ren. Mein einziger Trost in dieser Lage war das Wissen, daß meinem Sohn die Kälte nichts ausmachte. Sonst hätte ich wahr scheinlich durchgedreht. Im zweiunddreißigsten Pulkschiff führten unsere Bewacher uns in eine aus fünf Räu men bestehende Suite. Sie war verhältnismä ßig gut ausgestattet, beinahe luxuriös. Man legt Wert darauf, daß das Zuchtvieh sich wohl fühlt! erklärte der Logiksektor meines Extrahirns. Eine angenehme, ent spannende Atmosphäre soll sich auf die Fruchtbarkeit und die Nachkommen positiv auswirken. Am liebsten hätte ich mein Extrahirn her ausgerissen, wenn mir das möglich gewesen wäre. Dieser Zynismus widerte mich an. Doch dann sagte ich mir, daß Logik oftmals zynisch klingt. Mein Logiksektor hatte nicht meine Gefühle verletzen wollen, sondern nur Tatsachen festgestellt. Ich legte Chapat auf eines der breiten be quemen Betten, drehte mich zu Crysalgira um und nahm ihr den Beutel ab. Die Prin zessin sank aufschluchzend an meine Brust, und ich brauchte ungewöhnlich lange, um sie wieder zu beruhigen.
Zuflucht der Unsterblichen Als ich danach aufblickte, war von unse ren Wächtern nichts mehr zu sehen. Sie hat ten die Suite verlassen. Ich ging zur Tür und versuchte sie zu öffnen. Aber natürlich war sie abgeschlossen. Die telepathische »Stimme« meines Soh nes riß mich aus dem dumpfen Brüten, in das ich versunken war. »Ihr könntet eigentlich meine Windeln wechseln«, meinte Chapat. »Ich habe näm lich …« »Ja, schon gut!« sagte ich schnell und mußte gegen meinen Willen lachen. »Aber, bitte, keine Kraftausdrücke verwenden, mein Junge!« »Wieso Kraftausdrücke?« wunderte sich Chapat. »Ich wollte doch nur sagen, daß ich volle Windeln habe.« Diesmal lachte auch Crysalgira, die alles »mitgehört« hatte, wieder. »Laß nur, Atlan«, erklärte sie. »Ich werde deinen Sohn trockenlegen.«
5. Nachdem ich mich vergewissert hatte, daß mein Sohn fest schlief, zog ich mich aus und ging ins Bad, wo Crysalgira bereits unter der Dusche stand. Zwischen uns beiden gab es keine falsche Scham mehr, dazu kannten wir uns inzwi schen zu gut. Manchmal hatte ich sogar überlegt, ob man unsere Beziehungen als Liebe bezeichnen konnte. Aber das war schlecht möglich, denn Crysalgira liebte ih ren Chergost, und ich liebte meine Ischtar. Wir waren lediglich durch eine starke Zunei gung verbunden, die das Resultat gemein sam bestandener Strapazen und Gefahren war. Auch diesmal seiften wir uns gegenseitig ab. Doch im Unterschied zu sonst wollte keine übermütige Laune aufkommen. Crys algiras Lächeln wirkte verkrampft, und ich merkte selbst, daß die Scherze, die ich machte, um die Prinzessin aufzuheitern, kei nen echten Esprit hatten. Wir erwähnten zwar das Problem, das uns
25 quälte, mit keinem Wort, aber es lastete den noch schwer auf unseren Gemütern. Schwei gend spülten wir den Schaum von unseren Körpern, dann stellten wir uns unter die Warmluftduschen und ließen uns trocknen. Anschließend gingen wir zu Bett und sch liefen bald darauf ein. Ich erwachte irgendwann von einem lau ten, mißtönenden Schrillen. Müde setzte ich mich auf. Auch Crysalgira war erwacht. Sie schaute mich aus großen, verstörten Augen an. »Was ist das, Atlan?« flüsterte sie. »Wahrscheinlich ein Türmelder«, antwor tete ich. »Jemand will uns besuchen, und er legt Wert darauf, seine guten Manieren zu beweisen. Zieh dir etwas über, Kleines. Wir werden nicht umhin können, die Tür zu öff nen – beziehungsweise unseren Besucher hereinzubitten, denn die Tür kann er schließ lich selbst öffnen.« Wir kleideten uns so schnell wie möglich an. Ich war zuerst fertig damit und eilte zur Tür, schaltete die Gegensprechanlage ein. »Wer ist da?« fragte ich. »Kreton und Kandro!« antwortete eine Stimme. Es war die mechanische Stimme ei nes Translators, und sie sprach Arkonidisch. »Wir müssen Sie sprechen, Atlan!« »Bitte, kommen Sie herein!« erwiderte ich, denn wenn die Varganen so höflich wa ren, auf meine Einladung zu warten, hielt ich es für meine Pflicht, nicht weniger höf lich zu sein. Die Tür öffnete sich. Draußen standen zwei in weiche wallende Gewänder gehüllte Varganen, denen man die Würde ihres Amtes ansah – aber auch die Bürde, wie die dunklen Ringe um die Augen und die harten Falten um die Münder bewiesen. Neben den beiden Zivilisten standen zwei schwerbewaffnete Varganen – und hinter der Gruppe drängte sich eine bunt gewürfel te Gesellschaft aus jungen Varganinnen und jungen Varganen. Die Varganinnen kicher ten, tuschelten miteinander und musterten mich neugierig.
26 Ich spürte ein Prickeln unter der Kopf haut, denn ich zweifelte nicht daran, daß die Varganinnen diejenigen waren, mit denen ich Nachwuchs zeugen sollte. Wenn ich ob jektiv blieb, mußte ich gestehen, daß es aus nahmslos reizvolle Vertreterinnen dieses Volkes waren. Aber wenn ich daran dachte, daß ich gezwungen werden sollte, ihnen zu Kindern zu verhelfen, sträubte sich alles in mir dagegen. Dennoch trat ich zur Seite, um die Varga nen einzulassen. Sie versammelten sich alle in dem großen Raum, den man schon beina he als Wohnhalle bezeichnen konnte. Kurz darauf trat Crysalgira ein. Ich beob achtete ihr Gesicht und sah, wie sie blaß wurde, als sie begriff, daß die varganischen Männer, die sie neugierig musterten, für sie bestimmt waren. Ich trat neben sie und er griff ihre Hand. Kandro stellte sich und Kreton vor, sagte, daß sie beide die Varganen der Eisigen Sphäre repräsentierten und kam dann zur Sa che. »Ich bedaure, daß meine Leute Gewalt anwenden mußten, um Sie hierher zu brin gen«, sagte er. »Doch hoffe ich, daß Sie sich bald hier wohl fühlen werden. Wenn Sie be sondere Wünsche hinsichtlich Ihrer Unter bringung und Verpflegung haben, werden wir uns bemühen, sie zu erfüllen.« »Ich will fort von hier!« schrie Crysalgira ihn an. »Lassen Sie uns frei!« Kandro machte eine bedauernde Geste. »Ich kann Sie verstehen, Prinzessin Crys algira«, erklärte er milde. »Aber ich bitte Sie, auch uns zu verstehen. Wir Varganen wurden als Folge unseres Durchgangs durch den Umsetzer nicht nur unsterblich, wir verloren auch die Fähigkeit, miteinander Nachkommen zu zeugen. Da durch sind wir zum Aussterben verurteilt, denn unsere Art von Unsterblichkeit schützt nicht gegen die Folgen tödlicher Unfälle. Außerdem begehen immer wieder Varganen in depressiven Anfällen Selbstmord. Als wir erfuhren, daß die Rebellin Ischtar mit dem Arkoniden Atlan ein Kind gezeugt
H. G. Ewers hat, war das für uns ein Lichtblick. Wir hat ten, wenn auch anfangs nur theoretisch, eine Möglichkeit gefunden, unser Volk vor dem allmählichen Aussterben zu bewahren. Durch Sie, Crysalgira und Atlan, wird unser Volk sich erstmals wieder vermehren.« Ich nickte bedächtig. »Ich kann Sie schon verstehen, Kandro«, erwiderte ich. »Andererseits muß ich es schärfstens mißbilligen, daß Sie die Prinzes sin und mich zu etwas zwingen wollen, was Frauen und Männer eigentlich nur tun soll ten, wenn das Herz daran beteiligt ist. Es verstieße gegen unseren Stolz und unsere Würde, uns als Zuchtexemplare mißbrau chen zu lassen.« »Lieber bringe ich mich um!« erklärte Crysalgira. Kandro hob beschwörend die Hände und sagte: »Seien Sie nicht voreilig, Prinzessin. Schauen Sie sich die jungen Männer an, die wir für Sie ausgewählt haben. Sie sind aus nahmslos wohlerzogen und kultiviert. Au ßerdem wurden sie in einem Kursus geschult und dazu erzogen, Ihnen achtungsvoll zu be gegnen und Sie charmant und galant zu um werben. Es wird keine Akte von Roheit oder Gewalt geben. Lassen Sie sich Zeit, Prinzes sin.« »Das geht nicht!« fiel Kreton ein. »Die Zeit drängt, Kandro. Der Verfall unserer Ge sellschaft ist nur aufzuhalten, wenn wir den Frauen und Männern handfeste Beweise da für liefern können, daß unsere Zahl wieder zunimmt, statt ständig abzunehmen.« Er wandte sich an Crysalgira und mich. »Falls Sie sich weigern, sind Sie nutzlos für uns. Dann werden wir Sie töten. Also überlegen Sie sich alles gut. Sehen Sie sich Ihre Partner und Partnerinnen an! Was gibt es denn an ihnen auszusetzen? Sie sind alle gut gebaut, völlig gesund und wohlerzogen. Ich wollte, mir wäre in jungen Jahren eine solche Auswahl präsentiert worden.« »Sie sind geschmacklos, Kreton!« erklärte ich empört! »Ja, das bin ich wohl«, räumte Kreton wi
Zuflucht der Unsterblichen derwillig ein. »Ich bitte um Verzeihung.« Er hob seine Stimme. »Aber vergessen Sie nicht, daß es für uns um Tod oder Leben geht! Wir müssen notfalls Mittel anwenden, die wir selbst für moralisch verwerflich hal ten.« »So ist es«, sagte Kandro. »Wir verlassen Sie jetzt wieder, Crysalgira und Atlan. Was ich über besondere Wünsche hinsichtlich Unterkunft und Verpflegung gesagt habe, gilt. Wir wünschen, daß Sie sich bei uns so wohl fühlen, wie das in Ihrer besonderen La ge möglich ist.« Er wandte sich um und schritt neben Kre ton würdevoll zur Tür. Ich sah, wie die Varganinnen mir neugie rige und herausfordernde Blicke zuwarfen, dann gingen auch sie. Die Männer dagegen bemühten sich, Crysalgira nicht aufdringlich anzustarren. Sie schienen tatsächlich gut auf ihre Rolle vorbereitet worden zu sein. Als die Tür sich hinter unseren Besuchern geschlossen hatte, ging Crysalgira zu einem Sessel, ließ sich auf ihm nieder und barg lei se weinend das Gesicht in den Händen. Mir fiel nichts ein, womit ich sie hätte trö sten können.
* »Ich habe sie, Vater!« Die telepathische Botschaft meines Soh nes erreichte mich, als ich, in Grübeln ver sunken, in einem Sessel hockte. Sie elektri sierte mich förmlich. Unwillkürlich sprang ich auf. »Wen hast du gefunden?« fragte ich er regt, denn ich ahnte, was Chapat gemeint hatte. »Meine Mutter«, antwortete Chapat – wiederum telepathisch, denn er konnte noch nicht sprechen. »Ich habe das Schiff lokali siert, in dem sie gefangengehalten wird. Es sind drei Männer bei ihr. Aus ihren Gedan ken entnehme ich, daß es sich um Freunde von dir handelt.« Sofort dachte ich an Fartuloon, den Bauchaufschneider, der sich zu meinem
27 Pflegevater gemacht und nach der Ermor dung meines Vaters mit mir von Arkon ge flohen war. Ihm hatte ich nicht nur zu ver danken, daß ich noch lebte. Er hatte mich auch so erzogen, wie es einem Kristallprin zen von Arkon gebührte, und mich im Waf fenhandwerk ausgebildet. »Ja, einer der Begleiter meiner Mutter heißt Fartuloon«,1 übermittelte Chapat mir. Er hatte meine intensiven Gedanken natür lich aufgefangen. Ich holte tief Luft. »Und die beiden anderen Männer dürften Eiskralle und Corpkor sein«, stellte ich fest. »Stimmt«, erwiderte Chapat. »Woher wußtest du das, Vater?« »Fartuloon, Eiskralle und Corpkor sind meine besten Freunde«, erklärte ich. »Ich bin froh, daß sie ebenfalls hier sind. Chapat, kannst du mir beschreiben, wie ich zu dem Schiff komme?« »Du willst hin?« erkundigte sich Chapat. »Das wird sehr gefährlich sein, denn in fast allen Schiffen des Pulks leben Varganen. Außerdem fürchte ich, daß unsere Unter kunft bewacht wird.« »Das laß nur meine Sorge sein, mein Sohn«, erwiderte ich. »Sag mir endlich, wie ich zu dem Schiff komme, in dem Ischtar und meine Freunde sind!« »Ich verrate es dir, wenn du mich mit nimmst«, erklärte Chapat. »Das kommt überhaupt nicht in Frage«, entschied ich. »Ich werde dich nicht unnöti gen Gefahren aussetzen, mein Junge.« »Aber ich will zu meiner Mutter!« »Das kann ich verstehen. Aber wenn ich dich mitnehme, komme ich bestimmt nicht zu deiner Mutter, denn ich dürfte nicht not falls kämpfen, um dich nicht zu gefährden. Dann könnte ich auch gleich hierbleiben.« »Schon gut, Vater«, erwiderte Chapat. »Ich sehe es ja ein. Meine Mutter befindet sich in einem Schiff, das um zwanzig Grad nach rechts von einer durch mich gedachten Geraden abweicht und einhundertachtund vierzig Schiffe weit entfernt ist.« Crysalgira, die bisher geschwiegen hatte,
28 nahm die Hände vom Gesicht und sagte: »Ich habe alles mitgehört, Atlan. Das schaffst du nie. Du kommt niemals durch einhundertachtundvierzig Röhren, ohne zu erfrieren.« »Ich kann ja unterwegs Pausen einlegen und mich in einigen Schiffen aufwärmen«, tat ich Crysalgiras Einwand ab. »Dann wirst du tagelang unterwegs sein«, meinte die Prinzessin. »Und was wird unter dessen mit mir? Willst du zulassen, daß ich während deiner Abwesenheit gezwungen werde, den für mich bestimmten Partnern zu Willen zu sein?« Ich schüttelte den Kopf. »Du hast gehört, daß die Varganen keine Gewalt anwenden wollen«, erwiderte ich. »Außerdem werden sie, wenn meine Flucht entdeckt ist, andere Sorgen haben. Ich bin für sie als Zuchtexemplar noch viel wertvol ler als du, denn ich kann in einem Jahr mehr Nachkommen zeugen, als du in tausend Jah ren zur Welt bringen könntest.« Auf Crysalgiras verweintes Gesicht stahl sich der Anflug eines Lächelns. »Gib nicht so an, Atlan«, sagte sie. Ich erwiderte das Lächeln. »So gefällst du mir schon besser, Mäd chen«, erwiderte ich. »Aber du wirst einse hen, daß ich um jeden Preis versuchen muß, Verbindung mit Ischtar und meinen Freun den aufzunehmen. Vielleicht können wir ge meinsam etwas tun, um die Pläne, die die Varganen mit uns haben, zu durchkreuzen.« »Dann geh, im Namen der Götter Ar kons!« sagte die Prinzessin. »Aber sei vor sichtig! Paß auf dich auf! Ich wünsche dir viel Glück, Liebster.« »Liebster!« übermittelte Chapat. »Wenn ich das meiner Mutter erzähle, kratzt sie euch beiden die Augen aus.« Crysalgira errötete und meinte: »So etwas sagt man manchmal so dahin, Chapat. Es hat nicht viel zu bedeuten.« »Ich weiß, was ich weiß«, erwiderte mein Sohn. »Und du wirst schweigen!« sagte ich streng. »Oder ich versohle dir den Allerwer-
H. G. Ewers testen!« »Kindesmißhandlung ist strafbar, Vater«, erwiderte Chapat. Gegen meinen Willen mußte ich lachen. »Hat man so einen impertinenten Säug ling schon erlebt!« rief ich. »Er macht noch in die Windeln und weiß schon mehr als mancher Erwachsene!« »Ich habe eben eine besonders intelligente Mutter«, meinte mein Herr Sohn. »Aha!« sagte ich. »Und der Vater ist wohl geistig unterentwickelt, wie?« Crysalgira lachte verhalten. Mein Sohn dagegen war diplomatisch genug, um end lich zu schweigen. Ich ging zu dem Versorgungsautomaten, den die Varganen freundlicherweise in unse rer Suite installiert hatten, tastete mir einige Päckchen Nahrungskonzentrate sowie einen Beutel Trinkwasserkapseln und verstaute al les in den Außentaschen des Raumanzugs, den ich noch immer über meinem flexiblen Metallanzug trug. Als ich aufblickte, stand Crysalgira neben mir. Ihr Gesicht wirkte besorgt. Ich küßte sie leicht auf die Stirn. »Halte die Ohren steif, Kleines«, sagte ich. »Mir wird bestimmt nichts passieren. Die Varganen werden sich hüten, mit tödlich wirkenden Waffen auf mich zu schießen.« Ich strich ihr übers Haar, dann wandte ich mich abrupt um und ging zur Tür.
* Zuerst preßte ich das Ohr gegen die Tür und lauschte. Undeutlich vernahm ich das Auf und Ab von Schritten. Ich merkte, daß die Geräusche von nur einer Person verur sacht wurden. Mit einem einzelnen Varga nen aber würde ich fertig werden. Vorher aber mußte ich die Tür von innen öffnen, obwohl der innere Türöffner entfernt worden war. Aber auch das würde kein unüberwindba res Problem sein, falls die Tür nicht durch eine komplizierte elektronische Vorrichtung besonders gesichert war. Was ich bezweifel
Zuflucht der Unsterblichen te, denn der Pulk innerhalb der tödlichen Ei sigen Sphäre dürfte in den Augen der Varga nen das sicherste Gefängnis sein, das sie sich vorstellen konnten. Ich baute meinen Helmsender aus, preßte die Antennenscheibe gegen die Stelle, hinter der sich das elektronische Schloß befinden mußte, und drückte die Taste, mit der man unartikulierte Signale funken konnte. Es dauerte nicht lange, und ich hatte den unkomplizierten Kode herausgefunden, auf den die Verriegelung ansprach. Mit leisem Knacken sprang die Tür auf. Ich hörte auf der anderen Seite einen überraschten Ausruf und zögerte nicht län ger. Mit einem Satz befand ich mich auf dem Korridor. Der Wachtposten starrte mich aus schreckgeweiteten Augen an. Er hatte offen bar seine Waffe im Gürtelhalfter völlig ver gessen. Ich beförderte ihn mit einem Dagor griff ins Reich der Träume, bevor er sich an seine Waffe und seine Pflichten erinnerte. Seine Waffe wanderte in mein leeres Gürtel halfter. Ich blickte mich um. Niemand außer dem bewußtlosen Posten und mir befand sich in dem langen, von Leuchtplatten erhellten Korridor. Ich packte den Varganen unter den Armen und schleifte ihn in die Suite. »Ich muß ihn hier verstecken, sonst findet man ihn vielleicht zu früh«, erklärte ich Cry salgira. »Ich besorge etwas zum Fesseln«, ver sprach die Prinzessin und eilte davon. Sie war schon ein prachtvolles Mädchen. Der Mann, der sie einmal zur Frau nahm, war zu beneiden. Ich schleppte den Bewußtlosen in eines der Zimmer, das wir sowieso nicht benutz ten und lud ihn auf einer Liege ab. Kurz dar auf brachte die Prinzessin mir zwei lange Vorhangschnüre. Ich fesselte den Varganen kunstgerecht. Fartuloon hatte mir beigebracht, wie man je manden so fesselt, daß sein Blutkreislauf nicht ins Stocken gerät und er sich dennoch
29 nicht befreien kann. Zusätzlich fesselte ich den Mann noch an die Liege. Anschließend bekam er einen Knebel in den Mund, damit er nicht schreien konnte. »So!« sagte ich aufatmend, als alles fertig war. »Unser Freund ist gut aufgehoben. Hof fentlich entdeckt man sein Fehlen nicht so schnell. Ich gehe jetzt endgültig.« »Wenn die Varganen deine Flucht ent decken, werden sie wissen, wohin du gegan gen bist, Atlan«, warnte Crysalgira. Ich lächelte beruhigend. »Nein, das werden sie nicht, denn sie ah nen ja nicht, daß ich weiß, wo sich Ischtar befindet. Aber ich werde dennoch vorsichts halber einen Umweg machen. Alles Gute, Kleines!« »Alles Gute, Atlan!« erwiderte Crysalgira ernst. Ich nickte ihr noch einmal zu, dann ver ließ ich die Suite. Auf dem Korridor war noch alles ruhig. Ich hätte mich eigentlich nach links wen den müssen, um auf dem direkten Weg zu Ischtar und meinen Freunden zu gelangen. Aber ich wandte mich nach rechts, für den Fall, daß die Varganen, sobald sie meine Flucht entdeckten, doch den richtigen Schluß ziehen würden. Unterwegs montierte ich meinen Helm sender wieder an, eine unkomplizierte Ar beit, bei der ich mich auf mein Fingerspit zengefühl verlassen konnte. Zum Glück be gegnete mir niemand auf dem Weg zur Schleuse. Unser Schiff schien verlassen zu sein. Auch das Ausschleusen bereitete mir kei nerlei Schwierigkeiten. Der Schleusenme chanismus arbeitete automatisch. So dauerte es nicht lange, bis ich die erste Verbindungs röhre betreten hatte. Die erste von hundertachtundvierzig Ver bindungsröhren – oder noch mehr, wenn ich den Umweg berücksichtigte, den ich einzu schlagen gewillt war.
6.
30 Als ich die vierzigste Verbindungsröhre passiert hatte, war ich trotz des geschlosse nen Raumanzugs so durchfroren, daß ich be schloß, eine Erholungspause einzulegen. Das Schiff, das ich betreten hatte, wirkte so verlassen wie das, in dem Crysalgira, Chapat und ich untergebracht waren. In den vorher passierten neununddreißig Raum schiffen hatte ich mehr Glück als Verstand gehabt. Sie waren bewohnt gewesen, und mehr als einmal war ich der Entdeckung nur durch schnelles Ausweichen in Kabinen ent gangen, die ich vorher nicht erkunden konn te. Ich betrachtete es nachträglich als ein kleines Wunder, daß keine einzige dieser Kabinen bewohnt gewesen war. Müde stapfte ich in Richtung der Maschi nenräume. Ich hoffte, daß es dort ein wenig wärmer sein würde als in den anderen Schiffssektionen. Meine Füße und Ohren waren fast gefühllos. Ich mußte befürchten, daß ich Erfrierungen davontragen würde. Da ich mich mit den Raumschiffen der Varganen auskannte und sie alle gleich kon struiert waren, fand ich den Maschinensek tor mühelos. Ich zwängte mich zwischen haushohen Aggregaten hindurch und wagte mich so nahe wie möglich an die Energie austauscher heran, zwischen denen in unre gelmäßigen Abständen Energieblitze über schlugen. Dadurch wurde die Luft zusätzlich erwärmt. Aufatmend rutschte ich mit dem Rücken an einem Speicheraggregat hinab. Als ich saß, öffnete ich den Druckhelm und zog die Raumstiefel aus. Bald stellte sich in den Fü ßen und Ohren ein so schmerzhaftes Krib beln ein, daß ich die Zähne zusammenbei ßen mußte, um nicht laut aufzuschreien. Das Kribbeln und Brennen schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Da ich damit schon frü her einige diesbezüglichen Erfahrungen ge sammelt hatte, wußte ich, daß es ein positi ves Zeichen war. Als der Schmerz endlich verebbte, schloß ich zufrieden und erschöpft die Augen und schlief beinahe übergangslos ein. Ich erwachte von einem lauten Poltern
H. G. Ewers und tastete, noch bevor ich richtig zu mir ge kommen war, nach meiner Strahlwaffe. Meine Hand fand ein leeres Gürtelhalfter. Die Erschöpfung mußte meine Reflexe doch stark verlangsamt haben, sonst hätte ich mich sofort zur Seite geworfen, als ich das fremdartige Gerät sah, das in einen spi raligen, auf mich gerichteten Lauf auslief. So sah ich mir zuerst die mit Kapuzenmän teln vermummten Wesen an, die an dem Ge rät hantierten. Zu lange! Als ich endlich meine Muskeln anspannte, um mich fortzuschnellen, brach ein bläuli ches Flimmern aus dem Spirallauf. Es hüllte mich ein, versetzte mich in kreatürliche Furcht. Und zugleich lähmte es mich. ich hatte das Gefühl, körperlos durch Zeit und Raum geschleudert zu werden. Aber im nächsten Augenblick stürzte ich hart auf den Boden der Wirklichkeit zurück, ein Boden, der aus nacktem Felsgestein bestand. Meine Reflexe waren tatsächlich völlig in Unordnung geraten, denn jetzt, wo ich gar keine Veranlassung dazu sah, führte ich den vorbereiteten Sprung aus. Ich landete in einem Gebüsch, dessen Dornen mir das Gesicht zerkratzten. Rasch wälzte ich mich wieder ins Freie, wischte mir das Blut aus dem Gesicht und sah mich um. Eines stand fest: Ich befand mich nicht mehr an Bord eines Varganenschiffs, son dern auf einem Planeten. In der näheren Umgebung sah ich felsigen Boden, der von flachen Mulden unterbrochen war, in denen Dornensträucher wuchsen. In größerer Ent fernung ragten grüne Hügel auf, und der Ho rizont zu meiner Rechten zeigte eine dunkle, fast schwarze Bergkette. Das alles war so verwirrend, daß ich eine Zeitlang völlig ratlos dastand. Erst allmäh lich kehrte die Fähigkeit zu klarer Überle gung zurück. Mein Logiksektor lieferte dazu den auslösenden Impuls. Man hat dich mit einem Transmitter aus dem Varganenschiff auf diesen Planeten be fördert! erklärte er.
Zuflucht der Unsterblichen Ich blinzelte. »Ganz davon abgesehen, daß ›man‹ eine völlig unzureichende Beschreibung ist, kann ich nicht durch einen Transmitter abgestrahlt worden sein, denn ich sehe keine Gegensta tion, in der ich rematerialisiert wäre oder worden sein könnte«, sagte ich laut, weil ich dann am besten denken konnte. Eine Tatsache wird nicht durch das Feh len eines Beweisstücks widerlegt! gab der Logiksektor meines Extrahirns zurück. Und es ist eine Tatsache, daß du ohne merklichen Zeitverlust aus dem Varganenschiff auf die Oberfläche eines Planeten versetzt wurdest. Das aber ist nur mit Hilfe eines Transmitters möglich. »Nein!« sagte ich. »Das ist nur mit Hilfe von zwei Transmittern möglich, denn eine Wiederverstofflichung ohne Empfangsgerät gibt es nicht.« Darauf wußte offenbar auch mein Logik sektor keine Antwort, was mich zu einem ironischen Lächeln veranlaßte. Das Lächeln verging mir jedoch sehr schnell wieder, als mir klar wurde, daß ich keine Möglichkeit besaß, in die Eisige Sphäre zurückzukehren. Die Umgebung lieferte mir keinen Anhalts punkt, auf welchem Planeten ich angekom men war. Ich wußte nicht einmal, ob diese Welt zum Mikrokosmos oder zum Makro kosmos gehörte. Verzweiflung packte mich. Was sollte aus Chapat, Crysalgira, Ischtar und meinen Freunden werden, wenn ich nicht in die Eisige Sphäre zurückkehrte? Und ich war so nahe daran gewesen, Ischtar wiederzusehen. Nach einiger Zeit beruhigte ich mich wie der. Ich durfte nicht meine eigene Wichtigkeit überschätzen. Fartuloon würde gemeinsam mit Eiskralle und Corpkor schon etwas ein fallen, um Ischtar zu retten und Crysalgira aus ihrer bösen Lage zu befreien. Vielleicht entdeckten sie dann sogar das Gerät, mit dem mich die Vermummten, die nur Varga nen gewesen sein konnten, hierher befördert hatten. Und wenn sie das Gerät fanden und
31 seine Bedienung durchschauten, konnten sie mich vielleicht zurückholen. Aber ich merkte, daß es zu viele »Wenn« gab. Die Wahrscheinlichkeit, daß ich zu rückgeholt wurde, war verschwindend ge ring. Außerdem widersprach es meiner Na tur, mich auf andere zu verlassen. Ich mußte selbst etwas unternehmen. Aber was? Die einzige Möglichkeit, die ich sah, war, daß ich irgendwo auf diesem Planeten intel ligente Lebewesen fand. Vielleicht trieben sie sogar Raumfahrt, so daß sie mir verraten konnten, wie dieser Planet hieß und wo er sich befand – falls sie mich nicht vorher um brachten. Nur schade, daß meine Raumstiefel auf dem Varganenschiff zurückgeblieben waren. Bei diesem Gedanken schaute ich zu der Stelle, an der ich angekommen war – und entdeckte meine Stiefel. Natürlich, sie hatten sich ja in meiner unmittelbaren Nähe befun den, folglich war es logisch, daß sie eben falls auf diesen Planeten befördert worden waren. Erleichtert zog ich die Stiefel wieder an, dann marschierte ich auf die grünen Hügel zu …
* Ich hatte den ersten Hügel erreicht, als ein scharfer Pfiff ertönte. Im nächsten Augen blick galoppierten hinter den Flanken des Hügels Scharen von Berittenen hervor. Sie kamen genau auf mich zu, und die ge schwungenen Lanzen und Schwerter ließen nichts Gutes ahnen. Dennoch blieb ich ruhig stehen, mit deutlich erkennbar abgespreizten Händen. Ohne Waffen war Passivität meine beste Verteidigung. Die beiden Reitergruppen bogen wenige Meter vor mir nach links und rechts ab. Lan zen flogen auf mich zu, bohrten sich dicht vor meinen Füßen in den weichen Boden. Die Berittenen stürmten im kurzen Galopp in gegenläufigen Gruppen um mich herum, schrien und schwangen ihre Schwerter. Ab
32 und zu bohrte sich eine weitere Lanze neben den anderen in den Boden. Ich blieb äußerlich völlig gelassen. Inner lich versuchte ich mich mit der Feststellung zu beruhigen, daß die Berittenen ihre Lan zen nicht auf mich geschleudert hatten und mich demnach nicht töten wollten. Aber ich wußte genau, daß es schlimmeres gab als den Tod. Endlich zügelten die Männer, die kleiner als Arkoniden waren und katzenartige grüne Augen in ihren gelbhäutigen breiten Gesich tern hatten, ihre Tiere. Einer, wahrscheinlich der Anführer, ritt dichter an mich heran und sagte etwas in ei ner mir fremden Sprache. Er trug als einzi ger Reiter einen Helm aus blausilbernem Metall. Die anderen Reiter trugen graue, spitz zulaufende Ledermützen. Obwohl keine Aussicht bestand, daß die Reiter meine Worte verstanden, sagte ich zuerst auf Arkonidisch und dann auf Varga nisch: »Ich bin Atlan, ein Arkonide aus dem Reiche Arkon – und ich komme in Frieden.« Die Reiter redeten wild durcheinander. Ein scharfer Befehl ihres Anführers ließ sie wieder verstummen. Dann deutete der An führer auf mich, beschrieb anschließend mit der Schwerthand einen weiten Bogen und deutete zuletzt mit der geballten Faust auf den Boden. Es war eine mir unverständliche Zeichensprache. Vielleicht will er damit ausdrücken, daß auf seiner Welt Fremde überall den Boden zu küssen oder die Knie zu beugen haben! teilte mir mein Logiksektor mit. Unsinn! dachte ich – und wurde im glei chen Moment eines Besseren belehrt. Das stumpfe Ende einer Lanze traf mich so wuchtig zwischen den Schulterblättern, daß mir die Luft wegblieb und ich auf die Knie sank. Bevor der Schock abklingen konnte, wur de ich brutal an den Armen hochgerissen und vor den Sattel eines Berittenen gewor fen. An den anschließenden Bewegungen merkte ich, daß »mein« Reittier angaloppiert
H. G. Ewers war. Diesmal war es mein Magen, der gepei nigt wurde. In kurzen Abständen hüpfte der harte Widerrist des Tieres in meine Magen gegend. Ich kam nicht dazu, mich einigermaßen von dem Schlag in den Rücken zu erholen. Nach kurzem Ritt zügelten die Reiter ihre Tiere. Bevor ich den Kopf anheben konnte, wurde ich von dem Reittier gerissen und auf die Füße gestellt. Ich war benommen, hielt mich aber unter Anspannung meiner ganzen Willenskraft auf den Füßen. Wir befanden uns in einem La ger, das aus zirka dreißig Zelten bestand. Mehrere Feuer brannten. Auf Spieße ge stecktes Wild röstete über der Glut und den Flammen. Da weder Frauen noch Kinder zu sehen waren, mußte es sich um ein Jägerla ger handeln. Der Anführer der Reiter kam zu mir, er griff meinen linken Arm und führte mich zu einem der Lagerfeuer. Ein anderer Mann folgte uns. Er trug ein langstieliges Brennei sen, das er in die Glut stieß. Ich ahnte, was das zu bedeuten hatte. Die Jäger wollten mir das Zeichen ihres Stam mes einbrennen und damit beweisen, daß ich ihr Eigentum, ihr Sklave, war. Das war zuviel für mich. Ich, der Kristallprinz des Großen Imperi ums, sollte für immer mit dem Brandmal ei nes Sklaven herumlaufen! Lieber wollte ich sterben. Vorsichtig versuchte ich durchzuat men. Es gelang. Allerdings spürte ich einen stechenden Schmerz dabei, aber das ließ sich ertragen. Ich riß mich los, stieß dem Anführer mei nen Ellbogen in den Magen, nahm ihm das Schwert ab und rannte los. Mein Ziel war ei nes der Reittiere, das noch nicht angepflockt war. Hinter mir erhob sich Geschrei. Von links und rechts rannten Männer auf mich zu. Eine Lanze streifte meine linke Schulter, konnte aber das zähe Material des Rauman zugs nicht aufschlitzen. Als ich noch drei Schritt von dem Tier entfernt war, schnellte ich mich vorwärts. Ich landete flach auf seinem Rücken und
Zuflucht der Unsterblichen war froh darüber, daß man ihm den Sattel inzwischen abgenommen hatte. Das Tier er schrak und ging mit allen vier Beinen in die Luft. Ich hielt mich an seiner Mähne fest und stieß ihm die Hacken in die Flanken. Das Tier ging durch, sprang über eine Feuerstelle und raste im gestreckten Galopp geradewegs auf eine Gruppe von fünf Jägern zu. Vier von ihnen ergriffen die Flucht. Der fünfte Mann aber traf Anstalten, mir seine Lanze in den Leib zu stoßen. Ich hob das er beutete Schwert, beugte mich soweit wie möglich nach rechts und ließ die Klinge nie dersausen. Dann war der Weg frei. Ich verhielt mich passiv, bis ich merkte, daß mein Reittier langsamer wurde. Erst dann ergriff ich die fremdartigen Zügel und probierte solange herum, bis ich das Tier un ter Kontrolle gebracht hatte. Danach wandte ich mich um. Wie erwartet, hatte sich eine große Schar Berittener an die Verfolgung gemacht. Die Spitze war noch zirka dreihundert Meter ent fernt, holte jedoch allmählich auf. Aller dings würden auch ihre Reittiere bald ermü den. Deshalb verzichtete ich vorerst darauf, mein Tier stärker anzutreiben. Als die Verfolger bis auf etwa hundert fünfzig Meter aufgeholt hatten, schwenkten ungefähr zwanzig von ihnen nach rechts ab. Ich schaute nach rechts und sah, daß sich dort das Gebirge befand, das ich gleich nach meiner Ankunft auf dieser Welt gesehen hat te. Die Verfolger mußten einen stichhaltigen Grund haben, mir den Weg zum Gebirge ab zuschneiden. Den Weg nach links versuch ten sie mir jedenfalls nicht zu verlegen. Of fenbar wollten sie mich in diese Richtung treiben. Ich lächelte grimmig. So leicht bekamen sie mich nicht dorthin, wo sie mich haben wollten! Ich lenkte mein Reittier um zirka zwanzig Grad nach rechts. Zurufe ertönten, und die nach rechts abgeschwenkten Reiter beugten sich tiefer über die Hälse ihrer Tiere und trieben sie unbarmherzig an.
33 Der Ausgang des Rennens würde über Le ben und Tod entscheiden. Deshalb trieb auch ich mein Reittier mit Hilfe aller Tricks an, die Fartuloon mir vor.langer Zeit beige bracht hatte. Schließlich fielen die Verfolger bis auf zwei zurück, aber diese beiden Jäger würden mich erreichen. Wenn sie mich gleichzeitig angriffen, war der Ausgang des Kampfes ungewiß. Ich mußte sie irgendwie trennen. Etwa zwanzig Meter vor dem Punkt, an dem wir zusammenprallen mußten, zügelte ich mein Tier, dann lenkte ich es nach rechts und trieb es wieder an. Es sah so aus, als rit te ich in die Richtung zurück, in der das La ger war. Das mußte den beiden Verfolgern un glaubhaft erscheinen, und genau das war meine Absicht. Wie ich erwartet hatte, trennten sie sich. Der eine Reiter folgte mir direkt auf meiner Spur, während der zweite sich so hielt, daß er mich bei einem Aus bruchsversuch in Richtung Gebirge abfan gen konnte. Da das Gros der Verfolger höchstens fünfhundert Meter entfernt war, mußte ich die Sache schnell zu einem Ende bringen. Ich wartete, bis die beiden Reiter rund fünf zig Meter voneinander entfernt waren, dann riß ich mein Reittier abermals herum und griff den Verfolger an, der mir am nächsten war. Er reagierte nicht schnell genug und fiel nach kurzem Kampf. Anschließend mußte ich mich sofort dem zweiten Reiter zuwen den, der in vollem Galopp auf mich los preschte. Es war der Anführer, wie ich an seinem Helm erkannte. Nach kurzem, aber heftigen Schlagab tausch, bei dem wir uns umeinander drehten, trennten wir uns wieder, wendeten und preschten erneut aufeinander los. Ich hatte bemerkt, daß mein Gegner be müht gewesen war, von hinten an meine lin ke Seite zu reiten, um mich, da ich mein Schwert in der rechten Hand hielt und des halb seiner Meinung nach Rechtshänder sein mußte, ohne großes eigenes Risiko auszu
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H. G. Ewers
schalten. Zwar war ich tatsächlich Rechtshänder, aber ich hatte gelernt, auch mit der linken Hand alle Waffen zu führen, die für einhän digen Gebrauch bestimmt waren. Deshalb ließ ich mich beim zweiten Zusammenprall absichtlich in die von meinem Gegner ge wünschte Stellung bringen. Doch bevor er die günstige Gelegenheit nutzen konnte, hat te ich mein Schwert von der rechten in die linke Hand gewechselt und einen tödlichen Schlag gegen seinen Hals geführt. Lautes Wutgebrüll erscholl, als die übri gen Verfolger sahen, wie ihr Anführer fiel. Ich winkte ihnen mit dem Schwert zu, dann trieb ich mein braves Tier weiter, in Rich tung zum Gebirge.
* Es war Abend, als ich das Gebirge er reichte. Ich hielt mein Reittier an und schaute zu rück. Von den Verfolgern war weit und breit nichts mehr zu sehen. Demnach brauchte ich von den Jägern wohl nichts mehr zu be fürchten. Mein Blick wanderte zum Gebirge hin über, dessen Gipfel im Schein der großen blauweißen Sonne wie flüssiges Silber leuchteten. Warum hatten die Jäger verhin dern wollen, daß ich dorthin floh? Hauste hier vielleicht ein Stamm, mit dem sie ver feindet waren? Hatten sie gefürchtet, ich könnte ihren Feinden etwas über sie berich ten, das ihnen geschadet hätte? Ich beschloß, auf jeden Fall äußerst vor sichtig zu sein, wenn ich ins Gebirge ritt. Möglicherweise herrschten bei den Bergbe wohnern noch schlimmere Bräuche als bei den Jägern des Hügellands. Es war sicher besser, wenn ich mein Nachtlager nicht im unübersichtlichen Bergland aufschlug, son dern hier, wo ich einen besseren Überblick hatte. Ich stieg ab und schlang meinem Reittier die Zügel so um die Vorderbeine, daß es sich nicht allzu weit entfernen konnte. Es
fing sofort *an zu grasen. Ich selbst hatte ebenfalls keine Nahrungsprobleme, denn die Außentaschen meines Raumanzugs bargen noch reichlich Konzentrate und Wasserkap seln. Da der Inhalt der Kapseln außer klarem Trinkwasser aus einer Substanz bestand, die die Urinbildung hemmte und die Leber befä higte, die sonst mit dem Urin ausge schwemmten Giftstoffe abzubauen, genüg ten in Notfällen drei Kapseln täglich, um dem Organismus genügend Flüssigkeit zu erhalten. Als die Sonne versank und es dunkel wur de, legte ich mich auf einer flachen Hügel kuppe zum Schlafen nieder. Ich schloß den Druckhelm meines Raumanzugs bis auf einen kleinen Spalt und stellte die Außenmi krophone so ein, daß ich auf hundert Meter Entfernung sogar noch das Rascheln einer kriechenden Schlange hören würde. Einen anschleichenden Gegner würde ich aus noch größerer Entfernung hören. Vorerst aber hörte ich nur die Huftritte und Freßgeräusche meines Reittiers, das Zir pen von Insekten und manchmal das Flugge räusch eines Nachtvogels. Die Geräusche wurden so verstärkt, daß sie störend wirkten. Doch ich war von meinem Marsch durch die Kälte und von Kampf und Flucht derart er schöpft, daß ich dennoch schon nach weni gen Minuten einschlief. Ich wußte nicht, wie lange ich geschlafen hatte, als ein ohrenbetäubendes Donnern und Tosen mich weckte. Meine Hand packte das Schwert neben mir, dann sprang ich auf, um mich den vermeintlichen Angreifern zum Kampf zu stellen. Aber da war niemand, gegen den ich mich verteidigen mußte. Außerdem würden even tuelle Angreifer nicht einen solchen Lärm machen. Mit einem Griff schaltete ich die Außen mikrophone ab und klappte den Druckhelm zurück. Das Donnern und Tosen sank au genblicklich auf ein erträgliches Maß zurück – und plötzlich wußte ich auch, was diese Geräusche verursachte. Ein Raumschiff, das sich innerhalb einer
Zuflucht der Unsterblichen Planetenatmosphäre befand! Mein Kopf flog in den Nacken. Dennoch entdeckte ich das Schiff nicht gleich, son dern erst, als ich zum Gebirge hinüber späh te. Eine Gipfelregion war in einen Kreis grel len bleichen Lichts getaucht, und das Licht kam von etwas, das gleich einer riesigen Atomlampe darüber schwebte. Während ich aus zusammengekniffenen Augen hinsah, wanderte der Lichtkreis von der Gipfelregi on fort. Langsam sank die Lichtquelle tiefer und tauchte schließlich irgendwo im Gebir ge unter. Das Donnern und Tosen verwan delte sich in ein gedämpftes Rollen, das eini ge Zeit später erstarb. Ich holte tief Luft. Das Raumschiff war im Gebirge gelandet, daran gab es keinen Zweifel. Aber was ließ sich daraus schließen? Bedeutete es, daß sich im Gebirge der Stützpunkt von Raum fahrern befand, die nicht auf diesem Plane ten geboren waren? Oder bedeutete es, daß sich auf einem Teil des Planeten eine Zivili sation entwickelt hatte, die den anderen Re gionalvölkern haushoch überlegen war? Natürlich gab es theoretisch noch eine dritte Möglichkeit, die nämlich, daß ich nur die Landung einer Expedition gesehen hatte, die diesen Planeten zum erstenmal betrat. Doch erschien es nicht logisch, daß fremde Raumfahrer auf einem unbekannten Plane ten ausgerechnet auf der Nachtseite und noch dazu mitten in einem Gebirge landeten. Aber, wie immer es sich auch verhielt, die Anwesenheit von Raumfahrern erhöhte mei ne Aussichten, in die Eisige Sphäre zurück zufinden, beträchtlich. Ich nahm mir vor, am nächsten Tag zum Landeplatz des Raum schiffs aufzubrechen und Kontakt mit der Besatzung aufzunehmen. Am liebsten wäre ich sofort aufgebro chen, aber es hatte keinen Sinn, nachts durch unbekanntes Bergland zu reiten. Ich legte mich wieder hin und schaltete die Außenmi krophone wieder auf starke Empfindlichkeit. Doch ich konnte nicht gleich wieder ein schlafen. Vieles ging mir durch den Kopf.
35 Warum hatten die Varganen mich mit ih rem seltsamen Gerät auf diesen Planeten ge schickt, wenn sie mich doch in die Eisige Sphäre geholt hatten, damit ich mit vielen Varganinnen Nachkommen zeugte? Gab es vielleicht eine Widerstandsgruppe, die den Plan der Mehrheit hintertrieb? Oder handelte es sich um die Tat einer Gruppe Verrückter? Es erschien mir denkbar, daß die Sinnlosig keit ihres unsterblichen Daseins bei einem Teil der Vargenen die geistige Gesundheit untergraben hatte. Kreton und Kandro hatten ja erklärt, daß es immer wieder zu Selbst morden kam, und diesen Selbstmorden lag sicher größtenteils geistige Verwirrung zu grunde. Ich fand keine Antwort auf diese Fragen.
7. Wieder wurde ich von ohrenbetäubendem Lärm geweckt. Aber als ich zur Waffe griff und aufspringen wollte, sah ich im Licht des neuen Tages mein Reittier, das seinen Kopf zu mir herabgestreckt hatte. Im nächsten Moment schnaubte es durch die Nüstern – und es war dieses Schnauben, das von meinen hochempfindlich geschalte ten Außenmikrophonen in das Geräusch ei nes verheerenden Wirbelsturms verwandelt wurde. Schnell schaltete ich die Mikrophone auf normale Empfindlichkeit zurück, erhob mich und tätschelte den Hals des Tieres. »Es scheint mir, als wolltest du weiter«, sagte ich. »Da sind wir einer Meinung, mein Freund.« Ich reckte mich, blinzelte kurz in die Son ne und schaute dann zum Gebirge hinüber. Von den Raumfahrern war nichts zu sehen, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Aber wenn es im Gebirge eine große raumfahrt treibende Zivilisation gab, dann hatte ihr Staatsgebiet sicher eine bewachte Grenze, die es gegen Überfälle von Barbaren schütz te. Vielleicht ließ sich dadurch der Versuch der Hügellandbewohner erklären, mich nicht ins Gebirge entkommen zu lassen.
36 Möglicherweise fand ich noch heute Ant wort auf alle meine Fragen. Ich kaute einen Konzentratriegel, schluckte den Inhalt einer Wasserkapsel und schwang mich danach auf den Rücken meines Reittiers. Das erbeutete Schwert steckte ich hinter meinen leeren Waffengürtel. Als ich die Zügel aufnahm und mit der Zunge schnalzte, setzte mein Tier sich gehorsam in Richtung Gebirge in Bewegung. Ich ritt am Rand des steil aufragenden Ge birges entlang, bis ich zu einem Fluß kam, der aus einem tief eingeschnittenen Tal ins Hügelland floß. Das Flußbett war nur zu zwei Dritteln mit Wasser gefüllt. Ich war in einer regenarmen Jahreszeit angekommen. Die trockenen Seitenstreifen des Flußbetts boten sich förmlich als Pfad an, auf dem ich tiefer ins Gebirge reiten konnte. Ich wählte die rechte Seite, weil es die war, an der ich mich befand und weil der Fluß hier in der Mitte ziemlich tief war, so daß ich lieber darauf verzichtete, hindurch zu reiten. Es ging anfangs recht gut voran, aber dann wurde das Gelände steiler. Mein Reit tier rutschte immer wieder auf losem Geröll aus. Dazu brannte die Sonne unbarmherzig heiß von einem wolkenlosen Himmel. Bald schwitzten wir beide, das Tier und ich. Dennoch erlahmte meine Wachsamkeit nicht. Ich blickte mich ständig aufmerksam um, denn ich hielt es für besser, wenn ich die Grenzwachen, falls es welche gab, ent deckte, bevor sie mich erspähten. Es war ja völlig ungewiß, wie sie reagieren würden. Vielleicht schossen sie mich einfach nieder. Doch ich konnte keine Wachen erkennen. Hin und wieder tauchten auf Felsvorsprün gen große gehörnte Tiere auf, die sich schnell und sicher an den Felshängen be wegten. Hoch über uns kreisten einige große Vögel, wahrscheinlich Raubvögel. Anson sten schien es hier außer kümmerlichem Pflanzenwuchs kein Leben zu geben. Die Begegnung mit den Grenzwächtern erfolgte ebenso unverhofft wie unerwartet. Ich hatte mit Bewaffneten gerechnet oder
H. G. Ewers mit Felsenforts, aber nicht damit, daß die Gebirgsbewohner in den Felsen kleine elek tronische Geräte verborgen hatten, die jeden Eindringling abschrecken sollten, indem sie ihm Horrorszenen vorgaukelten. Plötzlich stand ich in einer brettflachen, heißen Wüste – und mir gegenüber stand ein katzenartiges Raubtier von etwa drei Metern Länge, das mich aus grünen Augen anstarr te. Aber ich wußte zugleich, daß dies nicht die Wirklichkeit war. Dank der Behandlung, der mein Gehirn zur Kapazitätserweiterung unterzogen worden war, besaß ich eine ge wisse Immunität hypnotischen und suggesti ven Einflüssen gegenüber. Sie reichte offen bar nicht aus, die fremde Projektion zu ver drängen, aber sie genügte, um mir klarzuma chen, daß es sich nur um eine Projektion handelte. Mein Reittier schien von der Hypnopro jektion ausgeschlossen zu sein. Jedenfalls gehörte es nicht zu der vorgegaukelten Sze nerie. Ich konnte nur hoffen, daß es nicht mit mir durchging. Während ich im wahr sten Sinne des Wortes geistesabwesend war. Das Raubtier fauchte und peitschte den Sand mit dem Schwanz. Dann machte es sich zum Sprung bereit. Ich hatte mir vorgenommen, nicht auf die irrealen Bilder und Geschehnisse zu reagie ren. Da ich nicht kontrollieren konnte, wie sich solche Reaktionen in der Wirklichkeit auswirkten, würde eine falsche Bewegung vielleicht den Tod bedeuten. Aber als das Raubtier sprang und sein schwerer Körper auf mich zuflog, reagierte mein vom Selbsterhaltungstrieb angestachel tes Unterbewußtsein. Gegen meinen Willen warf ich mich nach rechts. Ich fühlte einen harten Aufprall und einen stechenden Schmerz in der rechten Schulter. Im nächsten Augenblick war die fiktive Um gebung verschwunden. Ich lag mit der rech ten Seite an einer Felswand, und links von mir tänzelte aufgeregt mein Reittier. Vorsichtig richtete ich mich auf und taste te meine rechte Schulter ab. Es schien aber
Zuflucht der Unsterblichen nichts gebrochen zu sein. Ich atmete auf. Es schien, als hätte ich mich durch den Schmerz des Aufpralls aus der fiktiven Um gebung gelöst. Vielleicht aber hatte ich auch die Wirkungszone der Hypnoprojektoren be reits verlassen. Ich war froh, daß mein Unterbewußtsein meinen Körper nicht nach links dirigert hat te. Dort ging es rund zwei Meter steil zum Flußbett hinab, und unten lagen große Stein blöcke. Ich hätte mir bei dem Sturz auf sie das Genick brechen oder den Schädel auf schlagen können. »Also, weiter!« sagte ich zu mir selbst. Ich redete beruhigend auf mein Reittier ein, das der Situation offensichtlich ver ständnislos gegenüberstand. Als ich mich auf seinen Rücken schwang, schien es froh darüber zu sein, daß alles wieder normal war. Gehorsam setzte es einen Fuß vor den an deren, tiefer in die Gebirgswelt hinein, in der die geheimnisvollen Fremden hausten …
* Es war später Nachmittag, als ich nach langem und beschwerlichem Ritt um einen Felsvorsprung bog und plötzlich ein breites langgestrecktes Tal vor mir sah. Und mitten in dem Tal stand ein kugelför miges, zirka vierhundert Meter durchmes sendes Raumschiff. Seine Landestützen ruh ten auf großen Landetellern, die nur gering fügig in den verbrannten Boden unter dem Schiff eingesunken waren. Ich zügelte mein Reittier, dirigierte es ei nige Schritte zurück, bis wir vom Tal aus nicht gesehen werden konnten, und stieg ab. Nachdem ich die Zügel um einen Fels block geschlungen hatte, schlich ich zu dem Felsvorsprung, legte mich auf den Boden und kroch so weit, daß ich das Tal über blicken konnte. Das Raumschiff war nicht das einzige Produkt einer hochstehenden Technik. Im Hintergrund des Tales ragte ein terrassenför miger felsgrauer Bau auf, der sich an die
37 hintere Wand des Tales lehnte. Die oberste Terrasse war ungefähr dreihundert Meter hoch. Niemand war zu sehen, weder die Raum fahrer noch die Bewohner des festungsähnli chen Terrassenbaus. Ich überlegte, wie ich am besten vorgehen sollte. Zwar war ich fest entschlossen, Kontakt mit den Raumfahrern aufzunehmen, aber ich wollte nicht riskieren, für einen Feind gehal ten und abgeschossen zu werden, wenn ich offen ins Tal ritt. Nein, ich mußte mich ver borgen halten, bis es mir gelungen war, mit einer Einzelperson Kontakt aufzunehmen und mehr über die Fremden zu erfahren. Aber wie sollte ich das anstellen, wenn sich niemand in meiner Nähe sehen ließ? Du mußt in den Terrassenbau einsteigen! teilte mir der Logiksektor meines Extrahirns mit. Ich wußte, daß der Rat gut war. Dennoch zögerte ich, weil ich, um in den Terrassen bau gelangen zu können, das Tal von außen umrunden und an der Hinterwand des Tales hinabklettern mußte. Die damit verbundenen Strapazen schreckten mich nach dem langen mühseligen Ritt ab. Aber mir fiel keine bessere Lösung mei nes Problems ein. Ich wollte auch nicht bis zum nächsten Tag warten. Also kehrte ich zu meinem Reittier zurück, löste die Zügel von dem Felsblock und saß wieder auf. An fangs gebärdete es sich etwas unwillig, als ich es erneut antrieb. Aber nach beharrli chem Zureden setzte es sich doch in Bewe gung. Es wurde der mühseligste Ritt meines bis herigen Lebens. Dreimal mußte ich umkeh ren, weil die eingeschlagenen Wege sich als Sackgassen erwiesen, anstatt zum Ziel zu führen. Es war schon dunkel, als ich endlich die Felsschulter über der Hinterwand des Tales erreichte. Da hier oben kein Gras wuchs, gab ich meinem Reittier drei Konzentratriegel und zwei Wasserkapseln, nachdem ich abgeses sen war. Danach setzte ich mich an den
38 Rand des Felshangs und blickte auf die oberste Terrasse und ins Tal hinab. Im Tal war es so dunkel wie hier oben. Das Licht der Sterne reichte gerade aus, das Raumschiff als dunkleren Schemen ahnen zu lassen. Die Terrassen dagegen waren von Lampen erleuchtet, die sich an den Gebäu dewänden befanden. Nur die oberste Terras se war unbeleuchtet. Es handelte sich dem nach um das Dach des Bauwerks. Das von weiter unten heraufstrahlende Licht reichte wahrscheinlich gerade aus, um mich nicht völlig blind über die Felswand klettern zu lassen. Nachdem ich mich etwas ausgeruht und einen Konzentratriegel und eine Wasserkap sel zu mir genommen hatte, band ich mein Reittier an einem Felsvorsprung fest und be gann mit dem Abstieg. Das Beuteschwert ließ ich oben liegen. Ich wollte bei der er sten Begegnung mit den Fremden keinen kriegerischen Eindruck hervorrufen. Da ich kein Seil bei mir hatte, war der Abstieg über die rund hundertfünfzig Meter abfallende Wand ein lebensgefährliches Un terfangen. Ich hätte es nicht gewagt, wenn ich nicht schwindelfrei gewesen wäre. Glücklicherweise war die Wand mit Ris sen und Gesimsen übersät, so daß meine Hände und Füße ausreichend Halt fanden. Ich bewegte mich sehr vorsichtig und brauchte ungefähr eine halbe Stunde, bis ich auf dem Dach des Terrassenbaus stand. Nach einigem Suchen entdeckte ich eine Falltür, die ins Dach eingelassen war. Ich zog an dem Griff, aber ohne Erfolg. Die Falltür war von innen verriegelt. Ich überlegte, ob ich nicht lieber auf die oberste Terrasse steigen sollte. Aber das er schien mir zu gefährlich. Die Bewohner der betreffenden Etage hätten mich durch ihre Fenster sehen können. Zweifellos hätten sie Alarm geschlagen, wenn nachts ein Fremder bei ihnen einstieg. Das mußte ich vermei den. Ich stellte mich mit abgespreizten Beinen über die Falltür, bückte mich, packte den Griff mit beiden Händen und zog mit all-
H. G. Ewers mählich gesteigerter Kraft. Schon fürchtete ich, gegen die Verriegelung nicht anzukom men, da krachte es, und ich saß auf dem ver längerten Rücken. Die Falltür war offen, und ich hielt den Griff immer noch fest. Hoffent lich hatte man den Krach nicht gehört. Ich stand auf, ging zu der Öffnung und spähte hindurch. Unter der Falltür war eine Trep penleiter befestigt. Mehr konnte ich nicht se hen, da es in dem Raum darunter dunkel war. Ich stieg die Treppenleiter hinab, lauschte noch immer, dann schaltete ich die Helm lampe ein. Ich mußte zwar meinen Druck helm herabklappen, um Nutzen von der Lampe zu haben, aber ich ließ ihn einen Spalt offen, um den Sauerstoffvorrat nicht anzutasten. Im hellen Schein der Helmlampe sah ich, daß ich mich in einem quadratischen fenster losen Raum befand. Eine Wand enthielt eine einfache Tür mit Drehknauf. Ich schaltete meine Lampe aus und öffne te die Tür. Wieder lauschte ich. Doch ich hörte nichts, was auf die Anwesenheit ande rer Personen hingewiesen hätte. In der gan zen Etage schien es totenstill zu sein. Vorläufig war mir das nur recht. Ich schaltete die Lampe ein und durchquerte einen kurzen Flur. Wieder schaltete ich die Lampe aus, bevor ich die nächste Tür öffne te, und wieder blickte ich in einen finsteren Raum. Als ich die Lampe erneut einschaltete, er hellte ihr Lichtkegel eine Art Wohnzimmer. Es war eine gewisse Ähnlichkeit mit arkoni dischen Wohnzimmern vorhanden, was dar auf schließen ließ, daß die Unbekannten einen ähnlichen Körperbau wie Arkoniden besaßen. Doch gab es genügend fremde Stil elemente, die bewiesen, daß es sich bei den Fremden keinesfalls um Arkoniden handeln konnte. Ich setzte meine Suche fort, fand aber nur verlassene Räume. Allerdings deutete alles darauf hin, daß die Räume bewohnt und demnach nur kurzfristig verlassen waren. Als ich auf einen doppelläufigen Anti
Zuflucht der Unsterblichen gravschacht stieß, konnte ich der Versu chung nicht widerstehen, ihn zu benutzen. Nachdem ich mit ausgestrecktem Arm fest gestellt hatte, welche Röhre ein nach unten gepoltes Kraftfeld enthielt, schwang ich mich hinein und sank sanft abwärts. Ich war darauf gefaßt, mit meiner Ab wärtstour anderen Personen zu begegnen, hoffte aber, daß sie beim Anblick eines Raumfahrers, der in ihrem Antigravlift schwebte, nicht hysterisch reagieren würden. Vielleicht war die körperliche Ähnlichkeit so groß, daß ich nicht sofort als Fremdling erkannt wurde. Das würde eine Kontaktauf nahme erleichtern. Aber niemand begegnete mir. Ich erreichte schließlich die unterste Eta ge und schwang mich hinaus. Wieder lauschte ich – und diesmal hörte ich etwas. Es war ein dumpfes Summen und Brausen, das auf die Arbeit irgendwelcher Maschinen hindeutete. Vorsichtig ging ich dem Geräusch nach und erreichte durch ein offenes Tor eine Ga lerie hoch über einem großen Saal. Minde stens fünfhundert Personen befanden sich auf der Galerie, die sich über die ganze Brei te der Saalwand hinzog. Doch niemand be achtete mich. Vielleicht deshalb, weil wir uns im Kör perbau nicht wesentlich unterschieden, viel leicht aber auch wegen der faszinierenden Demonstration, die in dem Saal stattfand. Zuerst wußte ich nicht, was die zahllosen in der Luft schwebenden leuchtenden Ku geln, keine größer als eine Fingerkuppe, be deuten sollten. Doch dann sah ich etwas am Rande des Kugelschwarms, das mir klar machte, worum es sich handelte. Es war ein etwa handtellergroßer leuch tender Nebelfleck. Genauer gesagt, eine Ne belballung, die in sich wirbelte …
* Fassungslos blickte ich zu der Nebelbal lung hinüber. Genauso hatte die Eisige Sphäre aus
39 großer Entfernung vom Weltraum des Mi krokosmos aus ausgesehen – und die Kon stellationen der allernächsten leuchtenden Kugeln beim Nebelfleck entsprach der Kon stellation der Sterne in der nächsten Umge bung von Yarden! Aber was hatte es zu bedeuten, daß ich den Mikrokosmos – oder doch den Teil des Mikrokosmos, den ich kannte – mitsamt der Eisigen Sphäre in der Halle schweben sah? Handelte es sich um eine Art von Planeta rium, bei dem die Himmelsobjekte mit Hilfe von Projektoren in extrem verkleinertem Maßstab in ein Energiefeld projiziert wur den? Oder befand ich mich im Makrokos mos und handelte es sich bei den Sternen und der Eisigen Sphäre um einen sichtbar gemachten Ausschnitt des wirklichen Mi krokosmos? Wenn deine letzte Hypothese stimmt, dann müssen vollkommen neuartige Sichtvergrö ßerungsfelder benutzt werden! erklärte mein Logiksektor. »Endlich ist es soweit!« flüsterte jemand in meiner Nähe. Im ersten Moment hielt ich es für normal, daß ich den Sprecher verstand. Doch dann ging ein innerlicher Ruck durch meinen Körper. Der Fremde hatte Varganisch gesprochen! Ich musterte die nächststehenden Perso nen genauer. Ihr Körperbau entsprach dem von Varganen, aber ihre Haut war nicht bronzefarben, sondern rot und weiß gefleckt. »Ja!« antwortete jemand dem ersten Spre cher, ebenfalls in varganischer Sprache. »Bald werden wir sie ausgelöscht haben. So bald das Implosionsfeld ins Zentrum des Mi krokosmos geschaltet ist, werden alle Son nen, Planeten und auch Yarden ins Zentrum stürzen und vergehen.« Ich war starr vor Entsetzen. Diese Leute mußten wahnsinnig sein. Sie planten die Vernichtung eines Universums, das zwar submikroskopisch klein war, aber dennoch ein richtiges Universum mit unge zählten, von intelligenten Lebewesen be wohnten Planeten darstellte.
40 Ich dachte an die vielen verschiedenen In telligenzwesen, denen ich auf meiner langen Reise durch den Mikrokosmos begegnet war. Sie waren nicht besser gewesen als die Intelligenzen des Makrokosmos, aber auch nicht schlechter. Aber durfte überhaupt jemand ein Wertur teil über andere Lebewesen fällen? Hatte nicht jede Intelligenz, jede beliebige Lebens form, ein Anrecht darauf, sein Leben leben zu dürfen? Was diese Leute hier planten, war eiskal ter milliardenfacher Mord. Mit dieser Er kenntnis kam der Wille, die Verhinderung dieses Mordes wenigstens zu versuchen. Im merhin befanden sich in Yarden auch Ischtar und mein Sohn sowie meine Freunde und Crysalgira. Ich hatte die Pflicht, alles zu tun, um sie zu retten. Irgendwo mußte es Aggregate geben, die den Mikrokosmos – beziehungsweise einen Ausschnitt des Mikrokosmos – für die Lebe wesen hier im Makrokosmos sichtbar mach ten und die Schaltung eines Implosionsfel des gestatteten. Wenn ich diese Aggregate zerstören konnte, war der Mikrokosmos gerettet. Langsam ging ich rückwärts. Ich wollte versuchen, unter die Halle zu kommen, da ich dort die Aggregate vermutete, die das Teufelswerk aufrechterhielten. »Wer ist da?« Der Ruf ließ mich zusam menzucken. Man hatte mich entdeckt. »Ein Fremdling!« rief eine andere Stim me. Im nächsten Moment schrien viele Stim men durcheinander. Zahllose rot und weiß genarbte Gesichter wandten sich mir zu. Es sind Narben! erklärte mein Logiksek tor. Vielleicht durch Strahleneinwirkung hervorgerufene Verbrennungsnarben. Dem nach können diese Leute doch Varganen sein. Ich wich schneller zurück, und als die Varganen auf mich zukamen, drehte ich mich um und floh aus der Halle. Draußen lief ich den Flur entlang, in den der doppel läufige Antigravschacht mündete. Er führte
H. G. Ewers nicht tiefer, aber es mußte einen anderen Antigravlift oder eine Treppe geben, die tiefer führte. Ich beschleunigte meinen Lauf, als die er sten Verfolger durch die Tür in den Flur quollen. Sie behinderten sich dabei gegen seitig, aber sie würden mich schließlich doch einholen, wenn ich keine Möglichkeit fand, meine Flucht fortzusetzen. Der Flur beschrieb einen Bogen nach rechts. Als ich um die Biegung rannte, flog ich förmlich in den Antigravschacht hinein, in dem der Flur endete. Glücklicherweise hatte ich eine nach unten gepolte Liftröhre erwischt. Ein ungepolter Antigravschacht wäre mir lieber gewesen, denn darin hätte ich meine Sinkgeschwindigkeit durch Ab stoßen selbst bestimmen können. Hier mußte ich mich dem Feld passiv anvertrauen. Als ich unten ankam, schwangen sich oben die ersten Verfolger in die Liftröhre. Ich blickte mich um und entdeckte einen plombierten Schaltkasten. Mit einem Ruck riß ich den verplombten Deckel ab. Darunter waren zwei Schalter zu sehen. Einer polte das Liftschachtfeld nach unten um – dieser war niedergedrückt –, der andere konnte es nach oben umpolen. Ich riß den niedergedrückten Schalter hoch und drückte den anderen hinunter. Oben schrien meine Verfolger, als sie von dem umgepolten Feld wieder nach oben ge zogen wurden. Ich hatte einen kleinen Vor sprung gewonnen, gab mich aber keinen Il lusionen hin. Die Varganen kannten sich hier besser aus als ich. Sie würden eine an dere Möglichkeit finden, mich zu verfolgen. Ich schaute mich suchend um. Der Flur, in dem ich angekommen war, führte rund sechs Meter nach links und endete an einem Schott. Vielleicht lag dahinter eine Maschi nenhalle. Ich eilte zu dem Schott. Es öffnete sich automatisch vor mir und gab den Blick auf eine große Maschinenhalle und einen Mann frei, der bei meinem Anblick zu der klobi gen Strahlwaffe in seinem Gürtelhalfter griff.
Zuflucht der Unsterblichen Ich sprang ihn an, umklammerte seine Beine, und wir gingen beide zu Boden. Mein Gegner war allerdings kein geübter Kämp fer. Ich konnte ihn mit einem Dagorgriff au ßer Gefecht setzen. Ich schleifte ihn von dem Schott weg, dann nahm ich seine Waffe und schweißte das Schott zu. Das würde meine Verfolger eine weitere Zeitspanne aufhalten. Danach blickte ich mich prüfend um. Die Maschinen waren so fremdartig, daß ich nicht feststellen konnte, welche das Ver größerungsfeld aufbauten und mit welchen das Implosionsfeld geschaltet werden konn te. Ich hatte auch nicht die Zeit, lange her umzuprobieren. Aber wenn ich wahllos her umschaltete, konnte ich eine Katastrophe auslösen, die die gesamte Anlage vernichtete – und mich mit. Doch offensichtlich blieb mir keine ande re Wahl. Da fiel mir siedendheiß ein, daß ich bei wahllosem Herumschalten versehentlich das Implosionsfeld aktivieren konnte. Zerstören hieß die einzige Alternative. Ich hob die Hand mit der Strahlwaffe, zielte auf das erste Schaltpult und drückte auf den Auslöser. Eine sonnenhelle Energie bahn stand plötzlich in der Luft. Metallpla stik verglühte. Flammen schlugen aus dem Pult. Als es nur noch ein glühender Trümmer haufen war, wandte ich mich dem nächsten Schaltpult zu.
8. Längst hatte ich den Druckhelm geschlos sen und die Außenmikrophone abgeschaltet. Dennoch dröhnte mir das Donnern der Explosionen und Entladungen in den Ohren, die ich ausgelöst hatte. Der Maschinenraum hatte sich in eine wahre Hölle verwandelt. Als mein Energiemagazin leer war, eilte ich zu dem Bewußtlosen und nahm aus sei nen Gürteltaschen drei weitere Magazine. Zwei steckte ich ein, eines schob ich als Er satz in das Griff stück meiner Waffe. Da
41 nach setzte ich mein Zerstörungswerk fort. Kurz darauf brachen meine Verfolger das Schott auf. Ich duckte mich hinter einen glü henden Trümmerhaufen und feuerte auf ein seltsam geformtes Aggregat. Es explo^ dier te mit einem so lauten Krach, daß ich glaub te, mir wären die Trommelfelle geplatzt. Die Varganen konnten mich nicht sehen, aber mein letzter Schuß hatte ihnen meinen ungefähren Standort verraten. Sie feuerten wild drauflos. In meiner Nähe bildeten sich Glutvulkane, die eine mörderische Hitze ausstrahlten. Spritzer flüssigen Metallpla stiks flogen durch die Luft. Einige trafen meinen Raumanzug, aber das feuerfeste Ma terial hielt stand. Dennoch wurde es Zeit, daß ich mich in Sicherheit brachte. Die Zerstörungen, die ich angerichtet hatte, mußten ausreichen, den Wahnsinnsplan dieser Varganen zu verei teln. Maschinen lassen sich nachbauen! gab mir mein Logiksektor zu bedenken. Ich stieß eine Verwünschung aus. Was verpflichtete mich eigentlich, den Beschützer der Mikroweit zu spielen? Wenn du die Möglichkeit hast, diese Be drohung für immer vom Mikrokosmos abzu wenden, bist du auch dazu verpflichtet! ant wortete mein Logiksektor. Das war glasklare Logik. Ich konnte mich dieser Verpflichtung nicht entziehen, wollte ich in meinem Leben wieder ruhig schlafen können. Aber ich wußte auch, was die Erfül lung dieser Verpflichtung für diese Varga nen bedeutete. Ich zog mich, von Deckung zu Deckung eilend, tiefer in den Saal zurück. Die Varga nen folgten mir nur zögernd. Sie schienen einen Hinterhalt zu vermuten, da ich mich nicht mehr bemerkbar machte. Als ich die Rückseite des Maschinensaals erreichte, suchte ich vergeblich nach einem Schott oder einer Tür. Anscheinend saß ich in der Falle. Geduckt hastete ich an der Rückwand ent lang. Noch immer hatten die Varganen mich nicht entdeckt. Ab und zu gab einer einen
42 Schuß ab, aber die Energiebahnen schlugen niemals in meiner Nähe ein. Als ich wieder einmal eine Strecke lau fend zurückgelegt hatte, stürzte ich beinahe in eine Grube. Ich blieb stehen und schaute hinein. In meinem Nacken begann es zu kribbeln, als ich in der erleuchteten Grube neben einem würfelförmigen Aggregat das Gegenstück jenes fremdartigen Geräts sah, das mich auf diesen Planeten verschlagen hatte. Wenn das andere Gerät dich aus dem Mi krokosmos in den Makrokosmos beförderte, kann dieses dich vielleicht aus dem Makro kosmos wieder in den Mikrokosmos zurück bringen! raunte mein Logiksektor. Oder sonstwo hin! dachte ich. Dennoch zögerte ich nicht länger und kletterte über eine Metalleiter in die Grube hinab. Bevor ich mich dem seltsamen Trans portgerät zuwandte, musterte ich das würfel förmige Aggregat. Plötzlich verstärkte sich das Kribbeln in meinem Genick, breitete sich über den Hin terkopf aus. Ich schluckte trocken. Das Aggregat enthielt nur einen einzigen Schalter und darüber eine Inschrift. Sie lau tete AMDIR, was das varganische Wort für Ende war. Ich zweifelte nicht daran, daß mit diesem Ende die Vernichtung der gesamten Anlage gemeint war, und ich wußte, was ich zu tun hatte. Doch zuerst ging ich zu dem Gerät mit dem spiraligen Lauf. Es gab an ihm nur zwei Drucktasten sowie zwei Kurbeln zur Aus richtung des Abstrahllaufs. Da der Lauf waagerecht ausgerichtet war, brauchte ich ihn nicht zu verstellen. Ich drückte eine der Tasten. Sofort brach das mir bekannte bläuliche Flimmern aus dem Spirallauf. Wo es auf die Wand der Grube traf, verschwand das Material. Ein kreisförmiger, zirka drei Meter durchmes sender Tunnel entstand. Ich wollte mich dem würfelförmigen Ag gregat zuwenden, als über mir ein gellender Schrei ertönte. Als ich nach oben blickte, sah ich einen Varganen. Seine Augen quol-
H. G. Ewers len vor Entsetzen beinahe aus den Höhlen. Dann hob er die Waffe. Ich feuerte vor ihm, und er warf die Arme hoch und kippte nach hinten weg. Aber sein Schrei und mein Schuß mußte die anderen Varganen unweigerlich an locken. Ich hatte keine Zeit mehr, das Für und Wider meines Planes zu durchdenken. Außerdem würde auch bei stundenlangem Überlegen immer wieder nur der eine Schluß herauskommen: daß ich nicht das Leben einiger hundert Mörder schonen durf te, wenn es um die Rettung von Milliarden Unschuldiger ging. Ich drückte den Schalter unter der In schrift AMDIR nieder, dann sprang ich in den Wirkungsbereich des Transportgeräts. Als das bläuliche Flimmern mich erfaßte, barst außerhalb des Wirkungsfeldes die Um gebung in einer grellen Explosion. Schon fürchtete ich, mit in den feurigen Strudel der Vernichtung gerissen zu werden, da verschwand die Gluthölle, und ich hatte das bekannte Gefühl, körperlos durch Zeit und Raum geschleudert zu werden. Im nächsten Augenblick landete ich auf einem Hügel aus verschiedenartigen Trüm mern, sah geborstene Metallplastikwände und hörte gedämpfte Schreie. Zuerst glaubte ich, abermals auf einem fremden Planeten angekommen zu sein. Doch dann entdeckte ich am Fuß des Trümmerhügels einen von einer Kapuze ver hüllten Kopf und einen Arm, die aus den Trümmern ragten. Die Kapuze war von der gleichen Art wie die, die von den Unbekann ten getragen worden waren, die mich aus der Eisigen Sphäre auf den Planeten der Narben gesichtigen befördert hatten. Du stehst auf dem Materieberg, der von dem Gerät in der Grube entstofflicht und hierher befördert wurde, bevor das Gerät vernichtet wurde! teilte mir mein Logiksek tor mit. Ich klappte meinen Druckhelm zurück und holte erst einmal tief Luft. Ja, die unan genehme Kühle verriet mir, daß ich mich in einem Raumschiff innerhalb der Eisigen
Zuflucht der Unsterblichen Sphäre befand. Demnach waren die Kapu zenmänner, die mich heimtückisch auf den Planeten der Narbigen geschickt hatten, von der Materie erschlagen worden, die der bläu lich flimmernde Strahl entstofflicht hatte, bevor ich in sein Wirkungsfeld getreten war. Wahrscheinlich lag auch das Gerät der Kapuzenmänner unter den Trümmern. Hof fentlich war es so stark beschädigt, daß es nicht mehr benutzt werden konnte. Die Schreie waren unterdessen ver stummt. Die Stille des Todes breitete sich aus. Den Kapuzenmännern war sicher nicht mehr zu helfen. Ob sie wohl gewußt hatten, daß ich auf einem Planeten landen würde, auf dem die Zerstörung ihrer Welt vorberei tet wurde? Ich erfuhr es wahrscheinlich nie. Meine Knie zitterten, als ich daran dachte, wie dicht der Mikrokosmos vor der endgülti gen Vernichtung gestanden hatte – und mit ihm mein Sohn Chapat, Ischtar, Crysalgira und meine treuen Freunde. Es dauerte eine Weile, bis meine psychi sche Schwäche abklang und meine Ent schlossenheit zurückkehrte. Ich wußte, daß ich meinen langen Marsch durch die. Varga nenschiffe des Pulks und durch die eiskalten Verbindungsröhren fortsetzen mußte, so sehr mich auch die bevorstehenden Strapa zen schreckten. Ich kletterte von dem Trümmerhügel, ging zu dem Mann, der mit Kopf und Arm aus den Trümmern ragte und schlug die Ka puze zurück. Gebrochene Augen starrten mich an. Das Gesicht war qualvoll verzerrt. Ich drückte dem Toten die Augen zu, zog die Kapuze wieder über den Kopf und setzte meinen Weg fort. In diesem Raumschiff schienen nur die Kapuzenmänner gelebt zu haben. Jedenfalls begegnete mir in dem Hauptkorridor kein anderes Lebewesen. Als ich die nächste Verbindungsröhre er reichte, eilte ich im Dauerlauf hindurch, um der in ihr herrschenden Kälte so schnell wie möglich zu entkommen. Das nächste Raumschiff allerdings war bewohnt. Als ich es durch die Schleuse be
43 treten wollte, sah ich eine Gruppe Varganen im Korridor. Rasch zog ich mich wieder zu rück und beobachtete aus der Schleusen kammer. Dabei hoffte ich, daß die Varganen das offene Innenschott nicht bemerkten. Die Gruppe tauchte in einem Raum unter. Aber dafür kamen andere Varganen aus ver schiedenen Türen. Auch sie gingen wieder, aber stets war jemand auf dem Hauptkorri dor. Ich entschloß mich dazu, das Schiff über dem Umweg durch Nebenkorridore zu durchqueren. Links und rechts von mir zweigte je ein schmaler Gang ab. Ich wählte den nach rechts führenden. Er brachte mich in eine Sektion, in der sich die Lagerräume des Schiffes befanden. Hier herrschte eine unglaubliche Unord nung. Die Schotte der Lagerräume schlossen nicht mehr, neben Kisten mit Konzentratrie geln lagen Lebensmittelabfälle, Staub und Schmutz bedeckten den Boden. In diesem Chaos huschten unterarmlange Tiere mit spitzen Schnauzen, grauem oder schwarzem Fell und nackten Schwänzen herum. Sie nagten mit ihren scharfen Zäh nen an den Kisten, verstreuten Konzentra triegel und andere Lebensmittel und füllten sich die Bäuche. Kam ich in ihre Nähe, so zogen sie sich zurück und starrten mich aus schwarzen Knopfaugen, an. Sie schienen keine Angst zu haben, sondern nur ihre Fluchtdistanz wahren zu wollen. Sobald ich an ihnen vor über war, stürzten sie sich wieder auf die Lebensmittel. Ich fühlte mich in der Nähe dieser Tiere unbehaglich, obwohl ich mir sagte, daß sie mich erstens kaum anfallen würden und daß zweitens mein Raumanzug mich vor ihren Zähnen schützen würde. Anfangs empfand ich Verachtung den Varganen gegenüber, weil sie ihre Schiffe verlottern und zum Tummelplatz von Schmarotzern werden ließen. Aber dann wurde mir klar, daß die chaotischen Zustän de auf die seelische Zerrüttung zurückzufüh ren war, die die Varganen erfaßt hatte, weil
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sie in ihrem unsterblichen Leben keinen Sinn entdecken konnten. Ich war froh, als ich die andere Seite des Schiffes erreichte und mich in die nächste Verbindungsröhre ausschleusen konnte. Die eisige Kälte darin war mir lieber als die Ge sellschaft der freßgierigen Nager. Das nächste Doppelpyramidenschiff er wies sich wieder als verlassen. Ich war froh, den Hauptkorridor benutzen zu können. Meine Freude erhielt jedoch sehr bald einen Dämpfer. Ich hatte den Hauptkorridor etwa zur Hälfte durchquert, als aus den Lautsprechern der Rundrufanlage das Dröhnen eines elek tronischen Gongs erschallte. Als er verstummte, sagte die Stimme ei nes Varganen: »Achtung! Durchsage an alle! Der Gefan gene Atlan ist entflohen. Er muß unbedingt wieder eingefangen werden. Jeder Vargane und jede Varganin hat sich mit Lähmwaffen auszurüsten und an der Suche zu beteiligen. Möglicherweise bewegt sich der Entflohene durch die Sektoren elf und vierzehn. Ein rät selhafter Vorfall im Sektor zwölf, bei dem sieben Angehörige der Krait-Sekte ums Le ben kamen, scheint darauf hinzudeuten. Der Gefangene darf nicht mit tödlich wirkenden Waffen angegriffen werden.« Ich lachte grimmig. Ab sofort war ich also ein Gejagter. Es würde sehr schwierig sein, dennoch zu Isch tar und meinen Freunden vorzudringen, aber ich würde es weiterhin versuchen. Schließ lich konnte mir nichts weiter passieren, als wieder eingefangen zu werden.
* Die Varganen reagierten sehr langsam auf die Durchsage. Ich konnte vier weitere Schiffe ungehindert durchqueren, bevor ich auf den ersten Suchtrupp stieß. Der Trupp bestand aus einer Frau und drei Männern, die alle schwere Lähmwaffen tru gen. Glücklicherweise sah ich sie, bevor sie mich entdeckten. Ich wich in eine Wandnis-
che aus, ließ sie herankommen und trat ih nen dann mit gezogener Waffe entgegen. »Hände hoch!« befahl ich. »Ich halte eine tödliche Strahlwaffe!« Ich wollte niemanden töten, denn das wi derstrebte mir, da die Varganen mich eben falls nicht töten wollten. Aber das wußten die vier Varganen natürlich nicht. Sie ließen ihre Waffen fallen und hoben zitternd die Hände. »Umdrehen und an die Wand stellen!« be fahl ich. Sie gehorchten mit weichen Knien. Offen bar dachten sie, ich wollte sie von hinten er schießen. Sie taten mir beinahe leid. Aber ich wußte, was ich zu tun hatte. Ich hob eine der Lähmwaffen auf und pa ralysierte die Varganen. Danach schleppte ich sie einzeln in einen verlassenen Raum, warf die drei überflüssigen Lähmwaffen hin terher und setzte meinen Weg fort. Der Zwischenfall hatte mir wenigstens ei ne Waffe eingebracht, die ich bedenkenlos einsetzen konnte. Das verlieh mir einen ge wissen Vorteil. Aber irgendwie mußten die anderen Var ganen gemerkt haben, wo ich mich befand. Als ich das Schiff verlassen wollte, entdeck te ich in der nächsten Verbindungsröhre zir ka dreißig Varganen, die sich mir näherten. Ich eilte ins Schiff zurück und mußte fest stellen, daß mir in seinem Hauptkorridor ebenfalls ein starker Trupp Varganen entge genkam. Gegen diese Übermacht konnte ich nicht offen antreten. Deshalb wich ich in einen Nebengang aus. Da ich mir denken konnte, daß die Varga nen das ganze Schiff durchsuchen würden, eilte ich zu den Beiboothangars. Ich wollte mit einem Beiboot starten und zu dem Dop pelpyramidenschiff fliegen, in dem sich Ischtar und meine Freunde befanden. Als ich den ersten Hangar leer vorfand, beschlich mich die dumpfe Ahnung, daß ich auch in den übrigen Hangars kein Glück ha ben könnte. Und so war es auch. Warum die Varganen ihre Beiboote entfernt hatten, war mir schleierhaft, genauso schleierhaft wie
Zuflucht der Unsterblichen der Weg, auf dem ich den Suchtrupps ent kommen wollte. Ich versuchte es durch die Schächte der Klimaanlage. Das Lüftungsgitter, das ich ab gerissen hatte, lehnte ich wieder so vor die Öffnung, daß es auf den ersten Blick keinen Verdacht erregen würde. Dann kroch ich in den Schacht hinein. Als ich an der vergitterten Öffnung in ei ner Kabine vorbeikroch, erlebte ich, wie die Suchtrupps vorgingen. Ich sah, wie das Ka binenschott sich öffnete. Im gleichen Au genblick feuerten von draußen mehrere Var ganen gleichzeitig in die leere Kabine. Sie gingen kein Risiko ein. Ich lachte leise über die an Hysterie gren zende Vorsicht. Aber das Lachen verging mir, als ein Lähmstrahl durch das Gitter fuhr und meine linke Schulter streifte. Ein eisiges Gefühl breitete sich von der getroffenen Schulter über die ganze linke Körperhälfte aus. Ich konnte weder den linken Arm noch das linke Bein bewegen. Ich blieb liegen, bis die Varganen gegan gen waren und das Kabinenschott sich wie der geschlossen hatte. Danach wälzte ich mich auf die rechte Seite und zog und schob mich mit einer Hand und einem Bein weiter. Es war eine mühsame Art der Fortbewe gung. Doch ich konnte nicht warten, bis die Taubheit meiner linken Körperhälfte abge klungen war. Das würde einige Stunden dauern, und wenn die Varganen alle Räum lichkeiten des Schiffes vergeblich durch sucht hatten, würden sie vielleicht darauf kommen, daß ich in der Klimaanlage Zu flucht gesucht hatte. Mein nächstes Ziel war der Hauptkorri dor. Ihn und die angrenzenden Räume hatten die Varganen bestimmt zuerst durchsucht. Inzwischen mußten sie in die angrenzenden Schiffssektionen eingedrungen sein. Im Hauptkorridor war ich also einigermaßen si cher. Wenn es mir gelang, die bestimmt an den Schleusen aufgestellten Wachen zu überwältigen, konnte ich durch den nächsten Korridor fliehen. Die Orientierung erwies sich allerdings
45 als ernstes Problem. Zweimal mußte ich feststellen, daß ich von der Richtung auf den Hauptkorridor abgekommen war. Das koste te viel Zeit, denn ich kam nur langsam vor an. Endlich aber erreichte ich den Hauptkorri dor doch. Ich preßte mein Gesicht gegen ein Lüftungsgitter in der Wand. Nichts von Var ganen zu sehen. Allerdings war mein Blick feld sehr begrenzt. Aber ich konnte auch niemanden hören. Ich drehte mich so, daß ich mit dem Rücken an der einen Wandung des Schach tes lehnte und den rechten Fuß gegen das Lüftungsgitter stemmte. Dann drückte ich mit aller Kraft, die mir noch zur Verfügung stand. Einige bange Sekunden vergingen, dann gab das Gitter nach und fiel polternd auf den Korridor. Ich blieb noch eine Weile sitzen und lauschte. Als ich keine verdächtigen Ge räusche hörte, schob ich den Lähmstrahler unter den Gürtel und schob mich mit den Füßen voran über den Rand der Öffnung. Mit der rechten Hand hielt ich mich am Rand fest, dann drehte ich mich und ließ mich fallen. Viel länger hätte ich mich so wieso nicht halten können. Ich prallte zuerst mit dem tauben Bein auf den Boden, knickte ein und stürzte hart auf die linke Seite. Die Taubheit der linken Kör perhälfte bewahrte mich vor Schmerzen. Langsam wälzte ich mich auf die rechte Sei te, setzte den rechten Fuß auf den Boden, stützte mich mit der rechten Hand an der Korridorwand ab und stemmte mich hoch. Danach versuchte ich zu gehen. Der Ver such endete mit einer Katastrophe, denn als ich mühsam das Gewicht auf den tauben lin ken Fuß verlagerte, knickte er haltlos weg, und ich stürzte erneut. Wieder stemmte ich mich hoch und pro bierte, ob ich mich nicht auf einem Bein hüpfend fortbewegen könnte. Das ging tat sächlich, aber schon nach knapp hundert Metern mußte ich die erste Pause einlegen. Atemlos und schwitzend lehnte ich mich
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an die Korridorwand. Die Tatsache, daß ich in der Eisigen Sphäre schwitzte, entrang mir sogar ein Lächeln. Als mein Atem etwas ruhiger ging, hüpfte ich weiter. Diesmal kam ich höchstens fünf zig Meter weit, dann stellte sich Seitenste chen ein. Wieder legte ich eine Pause ein, preßte die rechte Hand in die rechte Seite und atmete keuchend. Mein rechtes Bein zit terte. Aus! dachte ich. Viel weiter kommst du nicht! Ich sah mich nach dem nächsten Lüf tungsgitter der Klimaanlage um. Es befand sich rund drei Meter hoch in der Wand. Zu hoch, um in meinem Zustand heranzukom men. Ich biß die Zähne zusammen und hüpfte weiter. Diesmal schaffte ich keine zehn Me ter, denn plötzlich stieß jemand hinter mir einen Ruf der Überraschung aus. Ich war entdeckt. Ich warf mich herum, stürzte prompt und schlug der Länge nach hin. Dennoch gelang es mir noch, den Lähmstrahler zu ziehen und auf die drei Varganen zu feuern, die auf mich zuliefen. Ich sah zwei von ihnen stürzen, dann schoß der dritte Vargane – und diesmal er wischte mich der Lähmstrahl voll. Die Waf fe entfiel meiner Hand, und ich wurde stock steif.
9. Ich wurde in die Suite zurückgebracht und auf ein Bett gelegt. Crysalgira setzte sich ne ben mich und hielt meine Hand, bis ich mei ne Bewegungsfähigkeit zurückerlangte. »Ich bin froh, daß du noch lebst, Atlan«, sagte sie. »Alles andere ist nicht so wich tig.« »Ich habe es nicht geschafft«, flüsterte ich – überflüssigerweise, wie mir sofort klar wurde. Dann fiel mir etwas ein. »Wie lange nach meinem Aufbruch haben die Varganen gemerkt, daß ich geflohen
war?« erkundigte ich mich. »Nach ungefähr sechs Stunden«, antwor tete Crysalgira. »Warum fragst du?« Ich dachte erst eine Weile nach, bevor ich zu einer Erklärung ansetzte. »Weil ich während der ersten Phase mei nes langen Marsches von Kapuzenmännern der Krait-Sekte mit einer Art Transmitter auf einen Planeten im Makrokosmos befördert wurde«, sagte ich. »Dort habe ich mich zwei Tage und anderthalb Nächte aufgehalten, be vor ich zurückkehren konnte. Die Durchsage über meine entdeckte Flucht kam aber erst später.« »Das begreife ich nicht«, erwiderte die Prinzessin. Sie war blaß geworden. »Du warst auf einer Welt im Makrokosmos?« Ich nickte und schilderte ihr meine Erleb nisse in gekürzter Fassung. Crysalgira wurde noch blasser, als ich die Gefahr erwähnte, in der zumindest ein großer Teil des Mikrokos mos geschwebt hatte. »Was sind das nur für Wahnsinnige!« flü sterte sie. »Hoffentlich bauen sie diese fürchterlichen Geräte nicht ein zweites Mal.« »Das dürften sie kaum können«, erklärte ich. »Wahrscheinlich sind sie bei der Explo sion der Anlage ausnahmslos umgekommen. Ich hatte keine andere Wahl.« »Niemand kann dir deshalb einen Vor wurf machen, Atlan«, sagte Crysalgira. Sie beugte sich über mich und hauchte mir einen Kuß auf die Stirn. »Wer einen milliardenfa chen Massenmord begehen will, hat sein Recht auf Leben verwirkt.« »Ich weiß«, erwiderte ich. »Aber mir macht auch die Zeitdifferenz zu schaffen. Ich bin sicher, daß die Tage auf dem frem den Planeten nicht wesentlich kürzer waren als die Tage auf Arkon. Dort sind nicht nur sechs Stunden vergangen, sondern minde stens vierzig.« »Vielleicht bewirken diese seltsamen Transmitter zusätzlich zu ihrer primären Leistung einen Zeitverschiebungseffekt«, meinte die Prinzessin nachdenklich. »Aber ist denn das so wichtig! Du bist wieder bei
Zuflucht der Unsterblichen mir und lebst, nur das zählt.« Ich setzte mich auf, und Crysalgira half mir dabei. »Sobald ich mich erholt habe, versuche ich es noch einmal«, erklärte ich. »Du mußt doch gemerkt haben, daß es nicht zu schaffen ist«, entgegnete Crysalgira zornig. »Wenn du es wieder versuchst, wer den die Varganen dich wieder einfangen. Danach lassen sie dich bestimmt nicht mehr aus ihren Augen. Wahrscheinlich wird unse re Suite schon jetzt schärfer bewacht als vor her, so daß du gar keine Chance hast, zu ent kommen.« Ich lächelte. »Sei nicht so pessimistisch, Kleines«, sag te ich. »Irgend etwas muß ich schließlich un ternehmen. Oder möchtest du in absehbarer Zeit von ausgesucht höflichen Varganen zur Mutter gemacht werden?« Crysalgira sprang auf. »Nein!« schrie sie wild. »Dem Varganen, der es wagt, mich anzurühren, kratze ich die Augen aus! Ich …« »Langsam, Mädchen!« mahnte ich. »Vergiß nicht, daß du eine Dame der besten Gesellschaft des Großen Imperiums bist. Gewisse Dinge sagt man in solchen Kreisen einfach nicht.« »Die beste Gesellschaft des Imperiums kann mich – kreuzweise!« tobte die Prinzes sin. Plötzlich sank sie schluchzend aufs Bett. Ihre Energie war so schnell verpufft wie ihre Aggressivität. Ich ließ sie sich ausweinen. Das war am besten für sie. Aber ich zermarterte mir un terdessen das Gehirn nach einer Lösung un serer Probleme. Leider fiel mir nichts ein. Ich selbst wußte, daß ich lieber eine flüchti ge Verbindung mit ein paar hundert schönen Unsterblichen eingehen würde, als mich tö ten zu lassen. Aber ich wußte auch, daß bei Crysalgira die Dinge anders lagen. Der ein zige Mann, von dem sie ein Kind empfangen wollte, hieß Chergost, der arkonidische Son nenträger. Es war wirklich zum Verzweifeln!
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* Als sich die Tür öffnete, schrak ich auf. Doch es waren nicht die varganischen Rä te, die uns besuchten, auch nicht die für uns bestimmten Partner, sondern ein alter, etwas gebeugt gehender Vargane. Er blickte noch einmal auf den Korridor, ehe er die Tür von innen schloß. Dann kam er mit zaghaftem Lächeln auf mich zu. Im nächsten Augenblick riß ich die Augen weit auf, denn ich kannte diesen alten Mann. Er war mir in der transparenten Kugel be gegnet, mit der die Erinnye in einer vargani schen Gefühlsbasis mir die Erlebnisse dieses Mannes als eine Art Fiktivspiel übermittelt hatte. Er hieß Vargo. Nach seinem Namen hat ten sich die Tropoythers, die mit Hilfe des von ihm konstruierten Umsetzers in den Ma krokosmos vorgestoßen waren, in Varganen umbenannt. Was konnte dieser Wissenschaftler von Crysalgira und mir wollen? »Setzen Sie sich, Vargo!« sagte ich und deutete auf einen Sessel in der Nähe des Bettes. Crysalgira richtete sich auf. Sie hatte of fenbar nicht bemerkt, daß jemand gekom men war und war erst durch meine Worte aufmerksam geworden. »Vargo?« sagte sie fassungslos. Der alte Wissenschaftler schaute uns er staunt an. »Sie kennen mich?« fragte er unsicher. »Aber ich bin Ihnen noch nicht begegnet.« »Bitte, nehmen Sie Platz!« wiederholte ich. Als Vargo saß, sagte ich: »Sie sind uns noch nicht begegnet, aber wir sind Ihnen be gegnet, Vargo. Eine Erinnye auf einer Ge fühlsbasis überspielte uns Ihre wesentlich sten Erinnerungen und die Informationen über die Geschichte der Varganen. Deshalb haben wir Sie erkannt.« »So ist das also«, meinte Vargo. Sein Ge sicht hellte sich auf. »Das erspart mir lange Erklärungen.«
48 »Nicht ganz«, sagte Crysalgira. »Warum haben Sie uns besucht, Vargo?« Vargos Gesicht wurde ernst, während sei ne Augen plötzlich traurig wirkten. »Ich will versuchen, Ihnen zu helfen«, er klärte er mit zittriger Stimme. »Allerdings erwarte ich einen Gegendienst.« »Lassen Sie hören!« sagte ich. »Ich will dafür sorgen, daß die unglückse lige Verbindung zwischen Makro- und Mi krokosmos ein für allemal unterbunden wird«, antwortete der alte Mann. »Irgendwo im Pulk befindet sich der von mir konstru ierte Umsetzer, jenes Gerät zur Erzeugung der Absoluten Bewegung.« »Der Stein der Weisen!« entfuhr es mir. Als Vargo mich fragend ansah, erklärte ich: »Ich bin lange Zeit dem Stein der Weisen nachgejagt, ohne zu wissen, worum es sich dabei handelt. Meine Freunde und ich – und unsere Feinde, die ebenfalls hinter dem Stein der Weisen her waren – nahmen an, es handele sich um das Erbe eines uralten Vol kes, mit dessen Hilfe man unvorstellbares Glück und überwältigende Macht erreichen könnte. Und nun stellt es sich als ein Arte fakt heraus, der bisher nur Unheil über seine Benutzer und über Unschuldige brachte.« »So ist es«, erwiderte Vargo niederge schlagen. »Dabei hatte ich den Umsetzer nur konstruiert, weil er die Möglichkeit eröffne te, großangelegte Forschungsexpeditionen in den Makrokosmos zu unternehmen und einen nutzbringenden Handel mit vielen bis dahin unbekannten Völkern aufzunehmen.« »Das wissen wir«, sagte Crysalgira. »Weder Atlan noch ich geben Ihnen die Schuld an dem unheilvollen Mißbrauch Ih res Geräts.« »Danke«, erwiderte der Vargane. »Dann werden Sie vielleicht bereit sein, mir zu hel fen, den Umsetzer zu zerstören. Ich allein komme nicht an ihn heran. Kandro und Kre ton lassen ihn scharf bewachen. Sie ahnen, daß ich ihn zerstören möchte, und obwohl sie ihn nicht mehr benutzen wollen, möchten sie ihn doch erhalten. Das aber fordert einen späteren Mißbrauch geradezu heraus.«
H. G. Ewers »Sie sagen es«, sagte ich und seufzte. »Was vorhanden ist, wird eines Tages auch angewendet. Das gilt für Schlachtflotten ge nauso wie für Ihren Umsetzer. Ich wäre be reit, Ihnen zu helfen, das Gerät zu zerstören, Vargo. Allerdings nur dann, wenn Sie in der Lage sind, uns bei unserer eigenen und der Befreiung unserer Freunde zu helfen und uns vor der endgültigen Zerstörung durch den Umsetzer zurück in den Makrokosmos schicken wollen.« »Das soll gelten, Atlan«, erwiderte Vargo. Seine Augen leuchteten auf. »Ich habe schon mit Ischtar und Ihren Freunden ge sprochen. Auch sie werden mir helfen.« »Gut!« sagte ich. »Sagen Sie uns, wie Sie uns helfen können, Vargo!« Ich glaubte, ehr lich gesagt, nicht daran, daß der alte Wissen schaftler in der Lage sein würde, uns zu be freien. »Ich kann Ihnen und Ihren Freunden Waf fen beschaffen«, erklärte Vargo. »Aber das geht nur, wenn einige der Varganen, die mir verpflichtet sind, vor Ihrer Unterkunft und der Ihrer Freunde Wache halten müssen. So, wie es jetzt vor Ihrer Unterkunft der Fall ist.« »Warum haben Sie dann nicht gleich Waffen mitgebracht?« fuhr die Prinzessin ihn an. »Bitte, schimpfen Sie nicht mit mir«, bat Vargo. »Ich mußte mich zuerst vergewis sern, daß Sie bereit sind, mir ebenfalls zu helfen. Aber als Beweis meines guten Wil lens wäre ich bereit, Ihren Sohn zu Ischtar zu bringen, Atlan.« »Chapat?« überlegte ich. »Sind Sie sicher, daß Sie das schaffen, ohne daß dem Jungen ein Leid geschieht? Wenn ihm unterwegs et was zustößt, Vargo, dann werde ich nicht eher ruhen, als bis ich Sie getötet habe.« »Ich fürchte den Tod schon lange nicht mehr«, wehrte der alte Vargane meine Dro hung ab. »Aber ich verspreche Ihnen, daß ich Ihren Sohn sicher zu seiner Mutter brin gen werde.« »Gut, ich glaube Ihnen«, erwiderte ich. »Entschuldigen Sie, daß ich so heftig war.«
Zuflucht der Unsterblichen »Bist du ebenfalls einverstanden, Cha pat?« dachte ich. »Ja, Vater«, antwortete mein Sohn telepa thisch. »Ich will zu meiner Mutter!« Ich ging zu Chapats Lager, hob meinen Sohn hoch, küßte ihn und überreichte ihn dem Alten. »Passen Sie gut auf ihn auf!« beschwor ich ihn. »Und nehmen Sie das mit!« sagte Crysal gira und hielt dem Varganen einen Beutel hin. »Saubere Windeln und Babynahrung.« Vargo lächelte, nahm auch den Beutel an sich und verließ uns. »Auf Wiedersehen, Vater!« übermittelte mir Chapat, bevor die Tür sich hinter Vargo und ihm schloß. »Auf Wiedersehen, Chapat!« sagte ich laut. »Grüß deine Mutter!«
* »Wird er es schaffen?« fragte Crysalgira. »Ich meine, wird er uns wirksam helfen kön nen?« »Warten wir es ab«, erwiderte ich. Wir fuhren beide herum, als sich die Tür abermals öffnete. Aber es war nicht Vargo, wie wir zuerst wohl beide gedacht hatten. Kandro und Kre ton kamen herein, abgesichert von acht Var ganen, die Lähmwaffen schußbereit in den Händen hielten. »Wir haben eine Frage an Sie, Atlan«, sagte Kandro. »Ich weiß«, sagte ich. »Sie möchten wis sen, was sich in Sektor Zwölf abgespielt hat.« Kandros Gesicht verfinsterte sich. »Ich will wissen, wie Sie die sieben An gehörigen der Krait-Sekte ermordet haben – und warum!« fuhr er mich an. »Keine Angst, Sie werden dafür nicht hingerichtet, weil wir Sie brauchen.« Ich nickte. »Da ich also keine Hinrichtung befürch ten muß, werden Sie mir hoffentlich glau ben, daß es die Wahrheit ist, was ich Ihnen
49 jetzt berichte«, erklärte ich. Anschließend schilderte ich, wie ich von den Kapuzenmännern in den Makrokosmos geschickt wurde, was ich dort erlebte und wie es mir gelang, in die Eisige Sphäre zu rückzukehren. »Die Lothurnes!« stieß Kreton hervor, als ich meine Schilderung beendet hatte. »Ja, es kann sich nur um die Lothurnes gehandelt haben«, fiel Kandro ein. »Als wir noch im Makrokosmos waren, bildete sich um Lothurne eine Gruppe von Abtrünnigen. Die Frauen und Männer dieser Gruppe woll ten sich nach einem von Lothurne ausgear beiteten Plan in kleine Kommandos auftei len, die jeweils die heimliche Herrschaft über einen bewohnten Planeten des Makro kosmos errichten sollten. Sie wollten im ver borgenen darauf hinarbeiten, ein riesiges Sternenreich zu errichten.« »Wir hielten das für eine gefährliche Ent wicklung«, erklärte Kreton. »Diesen kleinen Kommandos konnte die Kontrolle entglei ten, sie konnten verunglücken oder ermordet werden, und die von ihnen hochgezüchteten Zivilisationen wären vielleicht zu einer Be drohung für uns geworden. Deshalb sorgten wir dafür, daß die Auto piloten ihrer Raumschiffe insgeheim mani puliert wurden. Ihre kleine Flotte flog dann tatsächlich in einen Wirbel tödlicher Strah lung. Wir konnten sie dorthin nicht verfol gen und verloren sie aus den Augen. Aber wir waren sicher, daß sie ausnahmslos in dem Strahlenwirbel umgekommen waren.« »Und aus Rache wollten sie uns vernich ten«, sagte Kandro tonlos. »Sie müssen die ganze lange Zeit über mit unendlicher Ge duld auf dieses Ziel hingearbeitet haben.« »Aber sie hätten Milliarden Unschuldiger mit umgebracht«, warf ich ein. »Nur deshalb sorgte ich dafür, daß von ihnen nie wieder eine Bedrohung ausgehen kann.« »Wäre Ihnen unser Tod gleichgültig ge wesen?« fragte Kreton. »Nein«, antwortete ich aufrichtig. »Aber um Sie zu retten, hätte ich die Lothurnes niemals getötet.«
50 »Sie sind verbittert«, meinte Kandro. »Aber wir sind wahrscheinlich auch verbit tert, weil uns das Schicksal so hart mitge spielt hat. Bitte, folgen Sie uns jetzt!« Er war so höflich gewesen, es als Bitte zu formulieren, aber die schußbereiten Lähm strahler machten deutlich, daß dieser Bitte notfalls Nachdruck verliehen würde. Also folgten Crysalgira und ich den beiden Räten. Kreton und Kandro führten uns zum hin teren Teil des Doppelpyramidenschiffs. Als wir das stark eingeschnürte Mittelteil verlas sen und durch ein Schott getreten waren, blieben wir – jedenfalls Crysalgira und ich – überrascht stehen. Die hintere Pyramide war völlig umge staltet worden. Statt des Korridors mit den Kabineneingängen und den Nebengängen gab es dort ein durchgehendes riesiges Deck, auf dem eine Parklandschaft errichtet worden war. Weite Rasenflächen, blühende Sträucher, Bäume, plätschernde Bäche – und über allem die Videoprojektion eines strah lend blauen Himmels mit einer Atomsonne, die milde Helligkeit verstrahlte. Allerdings war es hier auch nicht erheblich wärmer als im Vorderteil des Gesamtschiffs. Und über die Rasenflächen wandelten gutgebaute, gutgekleidete Varganinnen und Varganen … Kandro strahlte und rief: »Ist das nicht traumhaft schön?« Ich nickte und erwiderte trocken: »Es ist zu schön, um geschenkt zu sein, Kandro. Sicher soll diese paradiesische Landschaft in der Prinzessin und mir zarte Gefühle gegenüber den Bewohnern wecken.« »Es ist teuflisch!« fauchte Crysalgira. »Aber ich falle nicht darauf herein – nie mals!« Kandro lächelte milde. »Es ist Ihre neue Unterkunft. Ich hoffe, Sie werden sich in kurzer Zeit eingelebt ha ben und dann unseren Wünschen nicht mehr ganz so ablehnend gegenüberstehen.« »Und wenn ich tausend Jahre hier leben müßte, ich würde dennoch nicht nachge-
H. G. Ewers ben!« erklärte Crysalgira. »Wir verlangen nichts von Ihnen, wozu Frauen nicht da sind«, sagte Kreton. »Und wozu Männer da sind. Außerdem bin ich überzeugt, daß Ihr natürliches Triebleben keine Abstinez auf Dauer zuläßt.« Wütend sprang die Prinzessin los, um ihm mit den Fingernägeln in die Augen zu fah ren. Ich hielt sie fest und handelte mir dabei einen Tritt ans rechte Schienbein ein. »Nicht durchdrehen, Kleines!« flüsterte ich auf Arkonidisch. »Die Kerle können denken und sagen, was sie wollen. Wir wis sen, daß wir willensstark genug sind, um un sere Instinkte zu beherrschen.« »Ja, Atlan!« flüsterte Crysalgira. »Du kannst mich wieder loslassen.« Ich ließ sie los und sagte zu Kreton und Kandro: »Ihr könnt unseren Willen nicht brechen. Lieber sterben wir, als daß wir uns dazu her ablassen, Ihnen als Zuchtvieh zu dienen.« »Auch Sie werden eines Tages anders darüber denken«, versicherte Kreton. »Sie bleiben hier. Selbstverständlich werden alle Ausgänge bewacht. Ich sorge dafür, daß Ihr Sohn zu Ihnen gebracht wird, Atlan.« Du wirst dich wundern! dachte ich. »Sie schaffen es nie!« sagte Crysalgira trotzig und zuversichtlich. »Nein, sie werden es nicht schaffen«, er widerte ich. Aber im Unterschied zu der Prinzessin war ich nicht sehr zuversichtlich. Dazu wa ren Kandro und Kreton ihrer Sache zu sicher gewesen. Außerdem hatte ich in der künstlichen Himmelswölbung einige Unterschied zu ih rer Umgebung schwach flimmerten. Ich fürchtete, daß es sich dabei um die Abstrahlfelder von Emotiostrahlern handel te, wie sie in größerer Ausgabe in den Ge fühlsbasen arbeiteten. Wenn meine Befürchtung zutraf, war es tatsächlich nur noch eine Frage der Zeit, bis Crysalgira willens war, sich hinzugeben. Ich hoffte, daß Vargo aktiv werden wür
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de, bevor etwas geschah, was Crysalgira später innerlich zerbrechen lassen konnte … ENDE ENDE