Zu Gast beim schwarzen Grafen Ein Gespenster-Krimi von Brian Elliot In den letzten Minuten war ein leichter Wind aufgek...
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Zu Gast beim schwarzen Grafen Ein Gespenster-Krimi von Brian Elliot In den letzten Minuten war ein leichter Wind aufgekommen. Er ließ die Flammen auflodern und verursachte einen starken Funkenflug. Dadurch breitete sich das Feuer noch rascher aus. Eine schwarze Rauchwolke wälzte sich träge gen Himmel und verdunkelte die untergehende Sonne. Zwei Kleinbusse strebten in rascher Fahrt dem nahen Waldrand entgegen. Die Frauen und Männer in den Fahrzeugen sahen geradeaus. Ängstlich vermieden sie es, einen Blick zurückzuwerfen. Sie wollten den Ort des Grauens so rasch wie möglich hinter sich bringen. Mit knapper Not waren sie einem schrecklichen Tode entronnen. Nur weg von hier! Das war der alles beherrschende Gedanke. Jeder Bastei-Gespenster-Krimi ist eine deutsche Erstveröffentlichung Am Vortage erst waren sie hier eingetroffen. Sie waren voller Erwartungen und Pläne gewesen. Hier, sozusagen an den Originalschauplätzen, hatten sie einen Vampirfilm drehen wollen. Sie, das waren der Produzent und Regisseur Paul Wakefield, seine Freunde Johnny McAllister und Dave Davidson, der Reporter Tony Wilkins sowie dreizehn junge, hübsche Mädchen. In London hatte Paul Wakefield durch einen Zufall den rumänischen Adligen Andraj Swaslow kennengelernt. Dabei war Paul die Idee zu einem Horrorfilm gekommen. Der Graf hatte sich von dieser Idee so angetan gezeigt, daß er nicht nur die Hauptrolle, den Grafen Dracula, hatte spielen wollen, sondern ihnen auch noch für die Dreharbeiten sein Schloß in den Karpaten zur Verfügung stellte. So waren sie hierhergekommen. Und am vergangenen Abend bereits hatte sich gezeigt, daß die Realität um vieles grausiger als jeder Filmgag sein konnte. Ihr Gastgeber hatte sich für die Filmrolle nicht zu verstellen brauchen, denn er war wirklich ein Vampir. Die Filmleute hatten eine grauenhafte Nacht hinter sich, in
deren Verlauf Johnny McAllister, Dave Davidson und drei der Mädchen dem Vampir zum Opfer gefallen waren. Als sie das Schloß nach einem Irrweg durch die unterirdischen Gänge hatten verlassen wollen, war ihnen der Vampir gegenübergetreten. Tony Wilkins war es nach hartem Kampf schließlich gelungen, den unheimlichen Gegner zu töten. Mit einem Kamerastativ hatte er ihm das Herz durchbohrt. Dies hatte sich als die einzige Methode erwiesen, einen Vampir zur Strecke zu bringen. Nachdem sie sich der beiden Kleinbusse bemächtigt hatten, beseelte sie nur noch ein Wunsch, nämlich eine möglichst große Entfernung zwischen sich und das Schloß zu bringen. Bevor sie jedoch flohen, hatte Tony Wilkins mit einem der Reservekanister das Schloß in Brand gesetzt. Er war der Ansicht gewesen, daß der Vampir nur dann wirklich keine Gefahr mehr darstellte, wenn sein Körper von den Flammen verzehrt wurde. Und jetzt, da die Fahrzeuge den Waldrand erreicht hatten, drehte sich niemand mehr um. So sah auch keiner, was sich hinter ihnen noch auf dem Burghof abspielte… * Kaum waren die Fahrzeuge aus dem Schloß gerollt, da öffnete sich eine kleine, schmale Pforte an einem der Seitengebäude. Ein Mann mit einem breitflächigen, völlig ausdruckslosen Gesicht kam zum Vorschein. Es war einer der Diener des Grafen. Nachdem er erkannt hatte, daß die Feinde seines Herrn fort waren, öffnete er die Pforte völlig und trat hinaus. Er sah überall nur lodernde Flammen. Schwarzer Rauch nahm ihm teilweise die Sicht. Funken stoben knisternd an ihm vorbei und ließen ihn erschreckt knurrend zurückweichen. Plötzlich sah er die langausgestreckte Gestalt mitten auf dem Hof liegen. Es dauerte eine Weile, bis sein träge arbeitendes Gehirn die Situation erfaßte. Und er erkannte die drohende Gefahr für seinen Herrn. Rasch eilte er hinüber, wobei er mehrmals den züngelnden Flammen ausweichen mußte, die den Benzinspuren folgten. Eine dieser Flammen bewegte sich mit großer Geschwindigkeit auf den Körper der riesigen Fledermaus zu. Er war jedoch schneller dort, packte die reglose Gestalt an den Schwingen und zog sie zur Seite. Es geschah keine Sekunde zu
früh, denn eine Flammenzunge leckte bereits an der Seite des toten Vampirs. Mit sichtlichem Unbehagen und Widerwillen beugte der Diener sich herab und schlug die Flamme aus. Er ergriff die Leiche und trug sie einige Meter weiter, aus dem unmittelbaren Bereich des Feuers hinaus. Dort ließ er sie vorsichtig wieder zu Boden gleiten. Dann erst riß er mit einem wütenden Ruck das zur tödlichen Waffe gewordene Kamerastativ aus der Brust des Vampirs. Knurrend warf er das Gerät in hohem Bogen in die Flammen. Als er sich neben seinem toten Herrn niederkniete, konnte er sehen, daß sich die tiefe Wunde in der Brust der Riesenfledermaus bereits schloß. Und dann wurde er Zeuge eines unglaublichen Schauspiels. Vor seinen Augen verformte sich die Gestalt. Zuerst schrumpften die Schwingen ein, wurden wieder zu menschlichen Armen, dann streckten sich die Beine. Auch der ganze Rumpf wurde schmaler und länger, bis nach wenigen Minuten wieder der Graf vor ihm lag. Aber er blieb nach wie vor reglos liegen. Nur ein kurzes, leichtes Flattern der Augenlider ließ erkennen, daß er wieder dem Leben zurückgegeben worden war. Doch er war so stark geschwächt, daß er aus eigener Kraft nicht würde überleben können. Der Diener wußte dies, doch er war völlig hilflos. Zu neu war diese Situation für ihn. Sein Herr hatte ihm nie Anweisungen gegeben, wie er sich einmal in einer solchen Lage zu verhalten hatte. Langsam wurde es unerträglich heiß. Die Flammen loderten immer näher. Der Wind trieb in stärkerem Maße Funken herüber, die ihn oft nur sehr knapp verfehlten. Er erkannte, daß er hier nicht länger bleiben konnte. Zudem fürchtete er das Feuer. Deshalb beschloß er, seinen Herrn erst einmal in Sicherheit zu bringen. An das Schloß verschwendete er keinen Gedanken. Es war dem Untergang geweiht und würde bald schon bis auf die Grundmauern niedergebrannt sein. Rasch bückte er sich und hob den schlaffen Körper auf. Als handele es sich um ein leichtes Kleiderbündel, nahm er die Gestalt auf die Arme und verließ das Schloß. Es wurde höchste Zeit, denn die Flammen hatten ihm fast schon den Weg zum Tor hinaus abgeschnitten. Er schaffte es gerade noch.
Hinter ihm stürzten bereits die ersten brennenden Balken funkenstiebend zusammen. Die gewaltige schwarze Rauchwolke verdunkelte den Himmel fast völlig. Mit der schweren Last auf den Armen eilte er im Laufschritt über die Ebene. Einmal blieb er kurz stehen und warf einen Blick zum Waldrand hinüber. Doch von den beiden Wagen mit den Feinden war längst nichts mehr zu sehen. Er hatte die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. Dort hatte sich sein Herr vor langer Zeit ein Versteck tief im Wald eingerichtet. Als er unter den ersten Bäumen stand, blieb er stehen und sah sich noch einmal um. Das einst so imposante Schloß stand nun völlig in Flammen. Soweit er zurückdenken konnte, hatte er dort gelebt. Und doch empfand er nichts bei diesem Anblick. Es war ihm absolut gleichgültig, was mit dem Schloß geschah. Wichtig war einzig und allein, seinem Herrn zu dienen. Nur darauf war sein Denken ausgerichtet. Er war viele Stunden unterwegs gewesen, als er schließlich bei Anbruch der Dunkelheit die kleine Hütte erreichte. Obwohl er keine Pause eingelegt hatte, war er nicht müde oder erschöpft. Vorsichtig ließ er seinen Herrn auf das Lager im Innern der Hütte gleiten. Dann kniete er sich daneben auf den Boden und wartete. Nach einer Weile glaubte er, eine schwache Bewegung wahrzunehmen. Ihm war, als hätte ein leichtes Zittern den stillen Körper durchlaufen. Und dann schlug der Vampir übergangslos die Augen auf. Erwartungsvoll beugte der Diener sich vor. Sie sahen sich in die Augen, beide mit starrem Blick. Er sah, daß sein Herr offensichtlich zu sprechen versuchte. Doch anscheinend war er noch zu sehr geschwächt. Plötzlich aber formten sich Worte im Gehirn des Dieners. Ergriffen hockte er da und lauschte in sich hinein. Dann schließlich, nach endlos langen Minuten, nickte er und erhob sich. Er hatte die Anweisungen seines Herrn verstanden. Ohne zu zögern, verließ er die Hütte und eilte durch die Nacht davon. Er würde alles unternehmen, um seinem Herrn zu helfen. Wenn es ihm gelang, die Anweisungen auszuführen, dann würde der Graf bald wieder im Vollbesitz seiner Kräfte sein. Und es gab keinen Grund für ihn, an seinem Erfolg zu zweifeln.
* Maria Falingowa wurde langsam ungeduldig. Anatol ließ heute aber sehr lange auf sich warten. Sonst war er immer pünktlich gewesen, heute aber hockte sie schon seit gut einer halben Stunde mit heftig klopfendem Herzen hinter den Beerensträuchern. Nie hatte sie in den vergangenen Wochen länger als ein paar Minuten auf ihren Geliebten warten müssen. Was mochte heute wohl geschehen sein? War er aufgehalten worden, oder hatte etwa seine Frau etwas bemerkt? Maria verwarf diesen unangenehmen Gedanken rasch wieder. Seit gut zwei Monaten trafen sie sich einmal in der Woche an verschiedenen Tagen hier. Sie waren immer sehr vorsichtig gewesen und konnten sicher sein, daß niemand einen Verdacht hegte. Warum aber kam Anatol heute nicht zur vereinbarten Zeit? Sie hatte sich bereits rechtzeitig aus dem Hause fortgestohlen, um hier auf ihren Geliebten zu warten. Und jetzt kam er nicht. Ihre Sehnsucht nach ihm wuchs in dem gleichen Maße wie die Furcht davor, daß ihr Verhältnis entdeckt worden war. Es war bereits dunkel geworden. Der Mond stand schon am Himmel und tauchte die Umgebung in milchiges Licht, das die Konturen ein wenig verschwimmen ließ. Ein wenig unheimlich war es schon, so allein hier draußen im Wald. Aber bald würde Anatol kommen. Der Gedanke an ihn nahm ihr die Furcht vor dem nächtlichen Wald. Angestrengt lauschte sie, doch es blieb still. Nichts kündigte an, daß ihr Geliebter sich bereits näherte. Das letzte Haus des Dorfes lag so weit entfernt, daß von dort keine Geräusche bis hierher drangen. Der Platz für ihr Stelldichein war gut gewählt. Anatol hatte vor Monaten zufällig diese kleine Lichtung entdeckt. Sie war auf allen Seiten von hohen dornigen Beerensträuchern umgeben. Es gab nur einen sehr schmalen Durchlaß. Sie hatte immer sehr aufpassen müssen, damit sie sich nicht das Kleid an den Dornen zerriß. Als in der Ferne irgendein Tier schrie, zuckte sie erschreckt zusammen. Langsam begann sie sich Sorgen zu machen. Ob es Anatol heute doch nicht geschafft hatte, sich von seiner kränkelnden und zänkischen Frau fortzustehlen? Oder warum kam er nicht?
Obwohl es noch ziemlich warm war, fröstelte sie auf einmal. Die Furcht vor der Finsternis stellte sich wieder ein. Sie entsann sich der Schauergeschichten, die man sich im Dorf erzählte. Und in diesem Augenblick knackte und raschelte es unweit von ihr im Gebüsch. Anatol! Endlich kam er. Das war ihr erster Gedanke. Sie richtete sich auf, die Hand an das wild klopfende Herz gepreßt. Doch es blieb still. Entweder hatten ihr die angespannten Sinne einen Streich gespielt, oder das Geräusch war von einem kleinen Tier verursacht worden. Enttäuscht ließ sie sich wieder zurücksinken. Sie beschloß, noch einige Minuten zu warten. Wenn Anatol bis dahin nicht gekommen war, dann wollte sie heimgehen. Wieder raschelte es. Ein Zweig zerbrach knackend. Sie beugte sich vor und lauschte. Das Geräusch wiederholte sich, kam näher. Es klang tatsächlich, als würde sich jemand ihrem Versteck nähern. Das konnte nur ihr Geliebter sein. Wer sonst kannte dieses Versteck? Rasch erhob sie sich. Sie fieberte dem erregenden Augenblick entgegen, wo er sie in seine starken Arme nehmen und ihr Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen bedecken würde. Zu lange schon hatte sie darauf warten müssen. In diesem Moment verschwand die bleiche Scheibe des Mondes hinter einer Wolke. Undurchdringliche Finsternis senkte sich schlagartig über sie und ihre Umgebung. Sie konnte die Hand nicht mehr vor Augen sehen. Plötzlich befiel sie wieder Furcht. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie sich fürchtete, jetzt, da Anatol endlich kam. Nachdem sich ihre Augen etwas an die Finsternis gewöhnt hatten, konnte sie die Konturen der Büsche erkennen. Und jetzt sah sie, daß sich die Büsche vor ihr teilten. Nur undeutlich hoben sich die Umrisse einer großen, breitschultrigen Gestalt vor dem dunklen Hintergrund ab. Das mußte Anatol sein. Aber auf einmal kamen ihr Zweifel. Warum zwängte sich Anatol einfach durch die Dornenbüsche, anstatt den Durchgang zu benutzen? Hatte er es so eilig, zu ihr zu gelangen? Sie spürte den harten Schlag ihres Herzens bis zum Hals. Heiße Furcht stieg in ihr auf und schnürte ihr die Kehle zu. Sie mußte sich erst räuspern, bevor sie sprechen konnte.
»Anatol?« fragte sie mit leiser, zaghaft klingender Stimme. Aber sie erhielt keine Antwort. Da wurde die vage Ahnung abrupt zur fürchterlichen Gewißheit. Die stille, dunkle Gestalt näherte sich ihr langsam und drohend. Sie wich zurück, bis sich ihr einige Dornen schmerzhaft in den Rücken preßten. Und dann tauchte der Mond wieder hinter den Wolken hervor. In seinem Licht konnte sie deutlich erkennen, daß der Mann vor ihr wirklich nicht Anatol war. Die winzige Hoffnung, daß er es doch war und sie nur hatte erschrecken wollen, zerplatzte jäh wie eine Seifenblase. Es war auch niemand aus dem Dorf. Der Mann war ihr vollkommen fremd. In der Größe und Statur glich er Anatol, deshalb hatte sie ihn auch mit ihm verwechseln können. Das Gesicht des Mannes war vollkommen ausdruckslos. Seine Augen waren starr auf sie gerichtet, als wolle er sie mit den Blicken durchbohren. Seine Arme hingen lose an den Seiten herab. Doch jetzt hob er sie und streckte die Hände nach ihr aus. Sie versuchte, noch weiter zurückzuweichen, doch das dornige Gesträuch in ihrem Rücken verhinderte das. Das überraschende Auftauchen des Mannes und seine Haltung verhießen nichts Gutes. Keinen Moment dachte sie daran, wer er wohl sei und woher er kommen mochte. Es war auch gleichgültig. Wichtig war nur die Frage, was er von ihr wollte. Schon öffnete sie den Mund, um zu schreien, da schoß seine Hand vor und legte sich auf ihren Mund. Verzweifelt rang sie nach Luft. In ihrer Not trommelte sie mit ihren kleinen Fäusten gegen die Brust des unheimlichen Fremden. Doch dies beeindruckte ihn überhaupt nicht. Der Griff lockerte sich nicht. Es gelang ihr nicht, freizukommen. Rasch erlahmten ihre Kräfte. Sie spürte, wie ihr durch die Anstrengungen langsam die Sinne schwanden. Und dann versank ihr Bewußtsein in einen tiefen, dunklen Abgrund. Der Mann fing den schlaffen Körper auf und warf ihn sich über die Schulter. Er verließ mit seinem Opfer die Lichtung. Als er in den dichten Wald eindrang, wurde das Mondlicht wieder von einer ausgedehnten Wolkenbank verschluckt. Es wurde stockfinster. Doch der Mann verringerte seine Geschwindigkeit nicht. Als würde ihn ein geheimnisvoller Instinkt leiten, marschierte er durch den nächtlichen Wald, seinem fernen Ziel entgegen.
Dabei entfernte er sich rasch von dem Dorf, in dem ein nicht mehr ganz junger Mann in seinem Bette lag und der verpaßten Gelegenheit nachtrauerte. Es war ihm nicht gelungen, sich heimlich davonzuschleichen. Weder er noch sonst jemand in dem kleinen Ort ahnte, welches Drama sich draußen im Wald abgespielt hatte. * Als sie erwachte, drang flackerndes Kerzenlicht durch ihre halbgeschlossenen Augenlider. Verwirrt schlug sie die Augen auf und sah sich um. Im ersten Moment wußte sie nicht, wie sie hierher gelangt war. Aber dann setzte schlagartig die Erinnerung ein, und ihr Herz krampfte sich vor Entsetzen zusammen. Sie befand sich in einem kleinen Raum, der offensichtlich zu einer aus rohen Balken zusammengefügten Hütte gehörte. Man hatte sie auf ein primitives Lager aus Decken und Fellen auf dem Fußboden niedergelegt. Vor ihr an einem Tisch saß ein Mann, der ihr den Rücken zukehrte. Wahrscheinlich war es jener, der sie im Wald überfallen und hierher verschleppt hatte. Wer mochte er wohl sein? Warum hatte er sie hierher gebracht? Ihr Blick glitt weiter. Sie erstarrte, als eine Hand in ihr Blickfeld kam. Sie gehörte einem Mann, der nur zwei Schritte neben ihr reglos auf einem Bett lag. Seine Hand hing schlaff an der Seite herunter. Ohne sich über ihre Handlungsweise im klaren zu sein, erhob sie sich und trat neben das Bett. Neugierig sah sie auf den Mann hinunter. Er lag auf dem Rücken, Arme und Beine ausgestreckt und die Augen geschlossen. Seine Kleidung, die einen recht vornehmen Eindruck machte, war an mehreren Stellen zerrissen und wies Brandflecken auf. Ob er noch lebte, vermochte sie nicht zu erkennen. Auf seinem Gesicht verweilte ihr Blick länger. Es war schmal geschnitten und von erschreckender Blässe. Trotzdem fand sie, daß er sehr gut aussah. Ihre Neugierde wuchs immer mehr an. Wer mochte er wohl sein? Was war mit ihm geschehen? Und was sollte sie hier?
Ein Geräusch hinter ihr ließ sie zusammenzucken. Ein Stuhl wurde zurückgeschoben. Sie drehte sich um und sah, daß sich ihr Entführer erhoben hatte. Mit langsamen, schwerfälligen Schritten kam er näher. Seine Bewegungen wirkten irgendwie unbeholfen. Auch jetzt war sein Gesicht völlig ausdruckslos. Angst stieg wieder in ihr auf und verdrängte die Neugierde. Sie wich zurück, bis sie mit den Kniekehlen gegen die Bettkante stieß. Der Mann blieb stehen, als er ihre Furcht bemerkte. In einer beschwichtigenden Geste hob er beide Arme. »Bitte haben sie keine Angst«, sagte er mit tiefer Stimme, der jegliche Betonung fehlte. Es klang, als würde er einige auswendig gelernte Worte heruntersagen. Sein Gesicht verzog sich etwas. Offensichtlich versuchte er, ein Lächeln oder etwas Ähnliches zustande zu bringen. Doch es gelang ihm nicht ganz. Aber zumindest erreichte er damit, daß Marias Furcht ein wenig schwand. Mit der Hand wies er auf das Bett. »Das ist Graf Swaslow, mein Herr. Er ist schwer krank. Helfen Sie ihm. Wenn er wieder gesund wird, werden wir Sie reich belohnen.« Maria drehte sich wieder um und sah nachdenklich auf den Kranken herab. Ein Graf also. Und dazu noch jung und gutaussehend. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Diesmal jedoch nicht vor Angst sondern vor Erregung. Vergessen waren auf einmal Anatol und ihre Eltern. Diese Aufgabe hier war gar nicht so uninteressant. Daß man sie mit Gewalt hierher geschleppt hatte, war zwar nicht sehr angenehm gewesen, aber darüber konnte man schließlich noch mit dem Graf reden. Der Mann gefiel ihr immer mehr. Obwohl er mehr tot als lebendig aussah, strömte er so etwas wie Vitalität aus. Als spüre er ihre Gedanken, schlug er plötzlich die Augen auf. Er sah sie an. Ihre Blicke saugten sich sekundenlang ineinander fest. Er hatte dunkle Augen von undefinierbarer Farbe, die sie förmlich in ihren Bann zogen. Es war ihr nicht möglich, den Blick von ihm zu lösen. Als er jetzt leicht lächelte, da schwand auch der allerletzte Rest Furcht bei ihr. Da öffnete er die Lippen. Er schien sprechen zu wollen, besaß aber offensichtlich nicht die Kraft dazu. Sie sah, wie seine Lippen versuchten, Worte zu formen und glaubte, wie einen Hauch seine
Stimme zu hören. In seinen Augen las sie die Aufforderung, näherzukommen und sich über seinen Mund zu beugen. Sie tat es ohne zu zögern. Nur flüchtig bemerkte sie, daß der Diener dicht hinter sie getreten war. Doch sie maß dem keine Bedeutung zu. Vielleicht wollte er nur seinem Herrn nahe sein, um helfen zu können. Als sie ihr Ohr dicht an die Lippen des Kranken hielt, vernahm sie seine Stimme. »Bitte, helfen Sie mir!« Die leichte Berührung seiner Lippen an ihrem Ohr ließ sie unwillkürlich erschauern. Sie schloß die Augen und wartete auf weitere Worte. Doch in diesem Moment, wo sie förmlich im siebten Himmel schwebte, wurde sie brutal von hinten gepackt. Der Diener hielt sie fest und drückte sie auf das Bett nieder. Das war so überraschend geschehen, daß sie nicht zu reagieren vermochte. Dann spürte sie die Lippen des kranken Grafen an ihrem Hals. Sie zuckte zusammen. Waren sie vorher schon so eiskalt gewesen oder hing dieses Gefühl mit der wieder aufkeimenden Furcht zusammen? Für einen kurzen Moment saugten sich die Lippen an ihrem Hals fest, bis sie plötzlich einen scharfen, stechenden Schmerz spürte. Sie wollte schreien, doch die seltsamen Empfindungen, die nacheinander auf sie einstürmten, verhinderten dies. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Schmerz jagte durch ihren Körper und wurde abgelöst von Wellen eines wohligen, glückseligen Gefühls. Etwas warmes, klebriges rann ihren Hals hinab. Vage ahnte sie, daß es ihr Blut war. Doch es war ihr gleichgültig. Der Wunsch, sich dem Griff und dem Biß zu entziehen, war wohl da, doch sie konnte ihm nicht mehr nachgeben. Ihr Widerstandswille war bereits gebrochen. Eine wohlige Müdigkeit ergriff immer mehr von ihr Besitz. Sie gab sich ganz diesem Gefühl hin. Auf einer imaginären, weichen Wolke ließ sie sich dahintreiben, einem fernen, verheißungsvollen Ziel entgegen. Und schließlich spürte sie, wie sich ihr Geist sanft vom Körper löste und davonglitt. Dann erloschen all ihre Empfindungen wie die Flamme einer heruntergebrannten Kerze. Mit dem letzten Blutstropfen schwand auch das Leben aus ihrem Körper. Sie konnte nicht mehr spüren, wie sich der Griff lockerte, daß sie schließlich losgelassen wurde und zu Boden fiel.
* Graf Andraj Swaslow richtete sich auf. Zufrieden reckte er sich. Er fühlte sich wie neugeboren, was ja in gewissem Sinne auch zutraf. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund, ehe er sich von seinem Lager erhob. Der Leiche des jungen Mädchens neben dem Bett schenkte er nur einen kurzen Blick. Der Diener öffnete auf einen Wink hin einen Schrank und holte neue Kleidung hervor. Beide zogen sich aus, machten sich im Nebenraum frisch und zogen dann saubere Kleidung an. Die Jagdhütte war mit allem ausgestattet, was sie benötigten. Mit der alten, zerrissenen und angesengten Kleidung würden sie nur unliebsames Aufsehen erregen, sobald sie sich wieder unter Menschen begaben. Und das wollte der Graf auf jeden Fall vermeiden. Bei dem, was er vorhatte, konnte er keine Störungen gebrauchen. Als alles erledigt war und sie zum Aufbruch bereit waren, trat er noch einmal vor den reglosen Körper des Mädchens, das zu seiner unfreiwilligen Lebensretterin geworden war. Ihr Blut hatte ihm wieder neue Kraft gegeben, hatte ihn den Tod überwinden lassen. Sie lag da wie tot und war es doch nicht, obwohl ihr schöner Körper vollkommen blutleer war. Aber bald würde auch sie von Leben erfüllt sein. Doch es würde ein anderes Dasein werden, als sie es bisher gelebt hatte. Es würde ihm allein gewidmet sein. Er war ihr Herr und Gebieter geworden, dessen Willen sie für immer und ewig unterworfen sein würde. Unwillkürlich seufzte der Vampir. Lange schon lag es zurück, daß eine Frau seinen Biß überstanden hatte und nun seinesgleichen wurde. Zwar war es ihm vor zwei Nächten erst gelungen, die beiden Engländerinnen zu seinen Geschöpfen zu machen, doch sie waren enthauptet worden. Damit waren sie unwiderruflich tot. Zudem waren ihre Körper sicherlich im Schloß verbrannt worden. Es war ein uraltes Naturgesetz, das er wohl kannte, jedoch nicht verstand. Theoretisch wurde jeder zum Vampir, der von ihm und seinen Geschöpfen gebissen wurde. Starb dieser Mensch jedoch während des Vampirbisses an Herzversagen, dann trat der Tod tatsächlich ein. Nur dann, wenn das Herz bis zuletzt durchhielt,
bis der letzte Tropfen Blut zusammen mit dem Leben aus dem Körper gewichen war, dann übertrug sich der Keim des Vampirismus auf das Opfer. Wie er selbst, so wurde es dann zu einem Geschöpf des Bösen, dessen Daseinszweck allein darin lag, den Vampirismus weiter zu verbreiten. * Langdon Murdoch lehnte sich zurück und schloß ergeben die Augen. In Gedanken ließ er einen ellenlangen Fluch vom Stapel, der einem Schauermann im Hafen von Hongkong zur Ehre gereicht hätte. Er hatte, wie man so treffend sagt, die Schnauze gestrichen voll. Und das nicht erst seit einigen Stunden, sondern bereits seit Tagen. Anfangs war es ja noch einigermaßen interessant gewesen, einen Teil des östlichen Europas kennenzulernen, aber nach einigen Tagen im Bus, und Nächten in billigen Hotels, war ihm gründlich die Lust vergangen. Warum nur habe ich mich zu diesem Trip überreden lassen, fragte er sich immer wieder. Aber es war müßig, darüber nachzudenken. Die Antwort lag klar auf der Hand. Schließlich hatte Lorna es wahnsinnig aufregend und todchic gefunden, den Urlaub hier in Osteuropa zu verbringen. Seine zaghaften Versuche, ihr diese Schnapsidee auszureden, hatten sie nur noch mehr in ihrem Willen bestärkt. Und so waren sie eben gefahren. Langdon Murdoch war allerdings selbstkritisch genug, um zu wissen, daß er überhaupt nicht in der Lage war, seiner Frau einen Wunsch abzuschlagen. Schließlich war er bereits 62; ein kleiner, krummbeiniger Mann mit einer prächtigen Glatze und einem beachtlichen Bauch. Lorna dagegen war erst 27 Jahre. Und sie verkörperte den Typ Frau, nach dem sich wohl jeder normal veranlagte Mann auf der Straße umdrehte. Sie beide wußten nur zu gut, daß es allein sein Geld war, was sie miteinander verband. Er betrachtete Lorna als sein Eigentum, das er oft und gern überall vorzeigte. Dafür konnte Lorna nahezu alles von ihm haben, was sie wollte. Sie hatte es nie ausgesprochen, doch er wußte genau, daß sie ihn sofort verlassen würde, wenn er ihr nicht mehr jeden erdenk-
lichen Luxus bot. Und das wollte er auf keinen Fall. Also ertrug er ihre Extravaganzen lieber. Er hatte sie erst allein auf diese verrückte Reise gehen lassen wollen. Aber er kannte ja ihre Wirkung auf andere Männer; und so begleitete er sie. Hier im Bus gab es einige junge Burschen, die ihre Blicke nicht von Lorna lassen konnten. Aber es schmeichelte ihm doch irgendwie, obwohl sie alle sicher denken mochten, was dieser alte Knacker noch mit einer so tollen Frau anfangen mochte. Sollten sie denken, was sie wollten. Unwillkürlich seufzte er leise auf. Viel lieber würde er sich jetzt auf Hawaii, auf den Seychellen oder irgendwo in der Südsee aufhalten. Er stellte sich vor, wie er unter Palmen am Strand lag, einen eisgekühlten Drink in der Hand hielt und sich die Sonne auf den Bauch würde scheinen lassen. Dann würde er Lorna zusehen, wie sie in ihrem winzigen Bikini aus dem Wasser kam und sich ihm näherte. Viel zu lange schon hatte er ihren wundervollen Körper nicht mehr bewundern können. Statt dessen hockte er hier in einem altmodischen, schlechtgefederten Bus, dessen Klimaanlage defekt war und ließ sich durch die Karpaten schaukeln. »Auf Draculas Spuren« war diese Pauschalreise betitelt worden. Das hatte mächtig interessant geklungen, war aber äußerst langweilig. Seit dem Start in Bukarest vor vier Tagen hatten sie einige Dörfer mit unaussprechlichen Namen besucht, in denen sich der berühmte Blutsauger vor Jahrhunderten mal aufgehalten haben sollte. In den Ruinen der Burg Tirgoviste hatten sie ein kleines Dracula-Museum besichtigt. Er selbst hatte sich nicht sonderlich dafür interessiert. Schließlich war ihm auch bekannt, daß jener rumänische Fürst Vlad III zwar Dracula genannt worden war und auch sehr blutrünstig gewesen war, mit der bekannten Figur aus unzähligen Horror-Romanen und -Filmen aber absolut nichts gemein hatte. Vampire, die jungen Mädchen bei Vollmond genüßlich das Blut aussaugten und dann als Fledermaus davonflatterten, waren gottlob reine Ausgeburten der Phantasie. Insofern war dieser ganze Trip mit allen historischen Stätten reiner Quatsch. Aber es gab ja genügend Leute, die sich wohlig gruselten, wenn der Reiseführer erzählte, was der berüchtigte Walacherfürst damals alles mit seinen Feinden angestellt hatte. Wenn man diesen Geschichten Glauben schenkte, mußte man
annehmen, daß der Bursche zu seiner Glanzzeit halb Osteuropa entvölkert hatte. Am gestrigen Tage hatten sie Gelegenheit gehabt, das Geburtshaus Draculas zu besichtigen. Es lag in dem kleinen Städtchen Sighisoara, einem Ort mit malerischer mittelalterlicher Kulisse. Hier schien trotz Tourismus die Zeit stehengeblieben zu sein. Für den heutigen und die beiden nächsten Tage war ein Abstecher in die Karpaten vorgesehen. Der Führer hatte ihnen eine wildromantische Bergwelt mit malerischen Dörfern versprochen. Inzwischen war es später Nachmittag geworden. Sie näherten sich wieder irgendeinem verschlafenen Nest, dessen Name kaum jemand aussprechen konnte. Dort wartete nach den Worten des Reiseleiters ein gemütlicher Gasthof auf sie, wo sie die Nacht verbringen sollten. Er hoffte, daß sie bald den besagten Gasthof erreicht haben würden. Die ständige Schaukelei in dem Bus ging ihm mächtig auf die Nerven. Er war froh, wenn er aussteigen konnte, um sich die Beine zu vertreten. Und danach interessierte ihn nur noch ein gutes Essen, ein Glas Wein und ein weiches Bett. So lausig dieses Land ja auch war, eines mußte man den Leuten hier lassen. Vom Essen und Trinken verstanden sie einiges. Er hatte vor Antritt der Reise mit Schaudern an das Essen gedacht, welches ihn dort in Rumänien erwartete. Doch er war sehr angenehm überrascht worden. Das einfache, gut gewürzte Essen hatte ihm bisher immer besser geschmeckt. Und die Weine, die man ihnen kredenzt hatte, waren auch vorzüglich gewesen. Insofern war er ganz froh, für einige Zeit mal etwas Anderes vorgesetzt zu bekommen, als das, was sogenannte feine Leute als kulinarische Genüsse bezeichneten. Es dunkelte bereits, als der Bus vor einem flachen, strohgedeckten Haus hielt. Einige Männer und Frauen in der Landestracht standen vor der Tür und unterhielten sich gestikulierend. Offensichtlich erwarteten sie die Touristen bereits sehnsüchtig. Na ja, die verdienen ja auch schließlich ganz gut an uns, dachte er belustigt. Als Letzter verließ er den Bus. Lorna war als eine der Ersten aufgestanden und sofort im Gasthof verschwunden. Ächzend reckte er sich draußen und atmete tief die klare Luft ein, eine Wohltat nach dem Mief im Bus.
Bald darauf stand er in dem halbdunklen Gastraum. Die übrigen Mitglieder der Reisegesellschaft hatten bereits an den langen, blankgescheuerten Tischen Platz genommen. Ohne sich im Raum umzusehen, steuerte er auf die Tische zu. Diese ländlichen Gasthöfe glichen sich ohnehin wie ein Ei dem anderen. Er sah Lorna, die ihm zuwinkte. Sie hatte einen Platz neben sich freigehalten. Unwillkürlich seufzte er, als er den Reiseführer zu ihrer Linken sitzen sah. Natürlich, das hatte er beinahe erwartet. Dieser Bursche mit dem Zahnpastareklamelächeln hatte es von der ersten Minute ihrer Reise an auf Lorna abgesehen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatte er versucht, in ihre unmittelbare Nähe zu gelangen. Doch Langdon hatte bisher ein wachsames Auge auf die Beiden gehabt. Und er würde auch weiterhin aufpassen, daß nichts geschah. Wie er Lorna kannte, war der Bursche sicher ihr Typ. Sie würde bestimmt nicht nein sagen, wenn sich eine Gelegenheit ergeben würde. * Irgend etwas riß Lorna aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie öffnete die Augen und versuchte, die absolute Finsternis mit dem Blick zu durchdringen. Doch es gelang ihr nicht. Außer den pfeifenden Schnarchtönen Langdons, die aus dem Nebenzimmer drangen, war nichts zu hören. Eine Weile lauschte sie noch, dann schloß sie die Augen wieder. Schlaftrunken wälzte sie sich auf die andere Seite. Ein wenig war sie wütend, weil es wieder nicht geklappt hatte. Stephan, ihr Reiseleiter, hatte es so einrichten können, daß der Wirt Langdon und ihr die beiden einzigen Einzelzimmer gegeben hatte. Angeblich waren alle Doppelzimmer im Dorf bereits belegt. Auch ein paar Dollarnoten, die Langdon dem Wirt unter die Nase gehalten hatte, waren kein überzeugendes Argument gewesen. Doch Stephan hatte leider übersehen, daß die Einzelzimmer nebeneinander lagen und eine Verbindungstür besaßen. Natürlich hatte Langdon die Tür weit geöffnet, bevor er sich hingelegt hatte. Nun war es wieder nichts mit dem Schäferstündchen in der Nacht. Zwar verfügte Langdon über einen sehr festen Schlaf, doch das Risiko war ihr zu groß. Sie wußte genau, daß es für alle
Zeiten aus sein würde mit dem Dollarsegen, wenn sie erwischt werden würde. Und so reizvoll es auch sein mochte, eine Nacht mit einem Mann wie Stephan zu verbringen, das Geld war ihr nun doch lieber. Außerdem würden sie noch einige Tage und Nächte unterwegs sein, so daß sich bestimmt noch eine gute Gelegenheit ergeben würde. Plötzlich riß sie wieder die Augen auf. Sie verspürte ein seltsames Gefühl. Ihr war, als würde sie angestarrt werden, als stände jemand in der Dunkelheit neben ihrem Bett und sah auf sie hinab. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nichts erkennen. Die schweren Vorhänge vor dem Fenster ließen absolut kein Mondlicht herein. Ein leises Rascheln in ihrer unmittelbaren Nähe ließ sie zusammenzucken. Tatsächlich schien da jemand zu sein. Das Herz schlug ihr auf einmal bis zum Halse. Ihre Hände krampften sich in die Bettdecke. Unwillkürlich hielt sie den Atem an, als könne sie dadurch vermeiden, von dem Eindringling bemerkt zu werden. Doch dann schwand ihre Furcht wieder. In Gedanken schalt sie sich eine Närrin. Warum sollte sie sich fürchten, weil Stephan doch noch gekommen war. Sicher hatte auch er großes Verlangen. Nun, für ihn war das Risiko ja auch nicht so groß. Sie richtete sich auf. Das Verlangen nach seiner Umarmung ließ ihre Stimme leicht zittern. »Stephan, mach die Tür zum Nebenzimmer zu«, flüsterte sie. »Wenn wir leise sind, wird Langdon nichts bemerken.« Der junge Reiseleiter antwortete nicht. Aber sie hörte, wie sich etwas bewegte. Stoff raschelte leicht; und dann knarrte leise eine Tür. Sie spürte mehr, als daß sie es hörte, wie sich jemand ihrem Bett näherte. Erwartungsvoll legte sie sich zurück. Ihre Bettdecke raschelte, als Stephan sie zurückschlug. Leicht knarrte ihr Bett unter seinem Gewicht. Sie rückte ein wenig zur Seite, denn es war nicht gerade breit. Noch immer hatte Stephan kein Wort gesprochen. Aber Worte waren auch in einer Nacht wie dieser überflüssig. Lorna erschauerte, als sich ein Körper neben sie drängte. Sie streckte die Hand aus und ertastete sein Gesicht. Er war vollständig angekleidet, wie sie wenig später feststellen konnte. Aber sie kam nicht mehr dazu, dem abzuhelfen.
Rasch wälzte er sich auf sie. Es irritierte sie, daß er es so eilig hatte. Stephan hatte eigentlich einen erfahrenen Eindruck gemacht. Und nun verhielt er sich wie jemand, der zum ersten Mal mit einer Frau zusammen war und es möglichst schnell hinter sich bringen wollte. Aber sie war trotzdem froh, daß er gekommen war. Und plötzlich erschrak sie. Dicht vor ihr schwebten zwei glühende Punkte in der Luft. Einen Moment starrte sie darauf, dann streckte sie zögernd die Hände danach aus. Sie berührte Stephans Gesicht. Als sie über seine Augen strich, erloschen die grünlichschimmernden Lichtpunkte. Sie nahm die Hand weg; und sie waren wieder da. Langsam näherten sie sich und wurden größer. Stephans Atem strich über ihr Gesicht. In diesem Augenblick kam ihr der erste Zweifel. War das überhaupt Stephan? »Stephan«, flüsterte sie seinen Namen. Doch er antwortete nicht. Da sprang sie die Angst förmlich an. Abwehrend streckte sie die Hände wieder aus und berührte sein Gesicht. Jetzt wußte sie, daß es nicht Stephan war. Aber wer war es? Und was wollte er von ihr? Seine Hand legte sich plötzlich auf ihren Mund. Ihr Körper versteifte sich. Sie wollte sich freistrampeln, wollte weg, doch sein Gewicht drückte sie unbarmherzig nieder und hielt sie fest. Nun glitt seine Hand in den Ausschnitt ihres Negligés und strich sanft über ihren Busen. Die Berührung ließ sie unwillkürlich erschauern. Gegen ihren Willen spürte sie, wie sich ihr Körper allmählich entspannte. Dann berührten seine Lippen ihre Wange, wanderten weiter und fanden ihren Mund. Anfangs preßte sie ihre Lippen zusammen, doch dann gab sie den Widerstand auf und erwiderte seinen Kuß. Er erweckte seltsame, nie gekannte Empfindungen in ihr. Auf einmal war es ihr völlig gleichgültig, ob es Stephan oder irgendein geheimnisvoller Unbekannter war. Hauptsache, es war ein richtiger Mann. Ein wenig irritierten seine grünschillernden Augen. Sie mußte an eine Katze denken. Bei einem Menschen hatte sie ein derartiges Phänomen noch nie beobachten können.
Aber als sich der Unbekannte weiter zärtlich mit ihr beschäftigte, schloß sie ihre Augen und ignorierte einfach alles, was an diesem nächtlichen Besuch ungewöhnlich war. Und so stieß sie einen leisen wohligen Seufzer aus, als seine Lippen über ihre Wange zum Kinn und schließlich zum Hals wanderten und sich dort sanft aber bestimmt festsaugten. Ein leichter Schmerz entstand, der sich in rhythmischen Wellen über ihren Körper ausbreitete. Doch sie wehrte sich nicht dagegen, denn Schmerz wechselte rasch mit unbeschreiblichem Wohlbehagen. Sie hatte schließlich das Gefühl, immer tiefer in einen riesigen Watteberg hineinzusinken. Ihre letzte Empfindung war das gedämpfte, wie aus weiter Ferne herüberklingende Schnarchen Langdons. * Jemand hämmerte gegen die Tür. Langdon blinzelte verschlafen, ehe er vollends die Augen öffnete. Es war noch halbdunkel im Zimmer. Durch den Vorhang vor dem Fenster fiel bereits erstes schwaches Tageslicht. Ein Blick auf seinen Reisewecker zeigte ihm, daß es bereits 6 Uhr war. Zeit also zum Aufstehen. Ächzend wälzte er sich herum und schwang die Beine aus dem Bett. Nachdem seine tastenden Füße die Pantoffeln gefunden hatten, erhob er sich. Gähnend strich er seinen Seidenpyjama glatt und watschelte zur Verbindungstür hinüber. Er stutzte einen Moment, denn soweit er sich erinnerte, hatte er selbst die Tür am Vorabend weit geöffnet. Was hatte das denn zu bedeuten? Sollte etwa…? Rasch stieß er die Tür auf. In Lornas Zimmer war es noch stockfinster. Anscheinend schlief sie noch, obwohl auch gegen ihre Tür geklopft worden war. Er eilte zum Fenster und riß mit einem Ruck den Vorhang zur Seite. Im hereinflutenden Tageslicht konnte er sehen, daß Lorna auf der Seite lag. Sie hatte sich die Bettdecke bis an das Kinn hochgezogen. Als er sich über sie beugte, sah er, daß ihr Gesicht von einer merkwürdigen Blässe war.
»Lorna, Liebling, wach auf!« rief er. Doch sie reagierte nicht. Sie schien noch tief und fest zu schlafen. So griff er nach ihr, um sie wachzurütteln. Aber als seine Hand ihre Wange berührte, da zuckte er erschrocken zurück. Lornas Haut hatte sich eiskalt und glatt angefühlt, so als sei sie tot. Tot…? Der Gedanke war ganz plötzlich da und veranlaßte ihn, den Kopf zu schütteln. Das war doch absurd. Warum sollte Lorna auf einmal tot sein? Es gab doch keinen Grund dafür. Zögernd streckte er noch einmal die Hand aus und berührte wieder ihre Wange. Fast augenblicklich schien die Eiseskälte auf ihn überzuströmen. Schon wollte er die Hand in rasch aufsteigender Panik wieder zurückziehen. Aber die Sorge um seine Frau veranlaßte ihn, fest zuzupacken. Er schüttelte sie kräftig, daß ihr Kopf hin- und herflog. »Lorna, so wach doch endlich auf!« herrschte er sie förmlich an. »Sag doch was, Darling. Bitte, komm zu dir.« Doch Lorna sagte nichts. Ihr schlaffer Körper rollte schließlich auf die andere Seite und blieb so liegen. Die rechte Hand war unter der Bettdecke hervorgerutscht und hing aus dem Bett heraus. Ihr langes, schwarzes Haar fiel über ihr Gesicht und verbarg es völlig. Es bildete einen reizvollen Kontrast zu ihrer weißen Haut, doch Langdon achtete nicht darauf. Er ließ sie los und taumelte zurück. Grauen packte ihn plötzlich. Er stand auf einmal vor einer völlig unerklärlichen Situation. Hilflos starrte er auf die reglose Gestalt, die sich unter dem Bettlaken abzeichnete. Einige Minuten stand er so da, ehe er sich von dem Anblick lösen konnte. Dann wirbelte er herum. Ein Arzt mußte her; und das so rasch wie möglich. Vielleicht gab es doch noch eine Chance für Lorna. Auf seinen kurzen, krummen Beinen eilte er zur Tür, erreichte sie und griff zur Türklinke. »Langdon!« Der Klang der Stimme ließ ihn erstarren. Seine Hand krampfte sich um die Türklinke. Er spürte auf einmal einen dumpfen Druck, der nicht nur auf seinem Körper, sondern auch auf seinem Geist lastete. In seinen Ohren begann es zu rauschen; und die Tür tanzte vor seinen Augen auf und ab. Mühsam zwang er sich dazu, die Augen zu schließen und einige Male tief durchzuatmen. Der Erfolg zeigte sich schließlich. Nach wenigen Sekunden war er bereits in der Lage, sich langsam umzudrehen und die Augen wieder zu öffnen.
Lorna saß aufrecht im Bett. Sie lächelte ihn an und schob sich mit einer Handbewegung das Haar aus der Stirn. »Nanu, Darling, was ist denn mit dir los?« wollte sie wissen. »Habe ich dich etwa erschreckt? Du siehst ja aus, als seiest du einem leibhaftigen Gespenst begegnet. Spukt es etwa hier?« Langdon schluckte. Hatte er das alles nur geträumt oder begann er jetzt durchzudrehen? Vor wenigen Augenblicken noch hatte Lorna totenbleich und kalt im Bett gelegen. Obwohl es eigentlich unmöglich war, so hatte er doch befürchtet, daß sie tot war. Jetzt aber war sie quicklebendig. Wie in Trance löste er seine Hand von der Türklinke. Mit langsamen, steifen Schritten näherte er sich dem Bett. Als er es erreicht hatte, erhob Lorna sich. Auch sie bewegte sich seltsam langsam und irgendwie ruckartig. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Nach dem, was er in den letzten Minuten erlebt hatte, konnte er seinen eigenen Beobachtungen sowieso nicht mehr trauen. Nur daß hier einiges nicht stimmte, darüber war er sich im klaren. »Du, du…« brachte Langdon stotternd hervor, dann schwieg er. Auf einmal fürchtete er, sich lächerlich zu machen. Lorna würde ihn sicherlich auslachen, wenn er ihr erzählte, daß er sie vorhin für tot gehalten hatte. Als sie jetzt auf ihn zutrat und ihm die Hand auf den Arm legte, da zuckte er unwillkürlich vor der Berührung zurück. Sie bemerkte es. Ihre Miene drückte Befremden aus. »Was hast du nur, Darling? Sag mir, was mit dir los ist. Du kommst mir reichlich seltsam vor.« Langdon holte tief Luft, dann stieß er hervor: »Tut mir leid, Lorna. Aber ich habe mich vorhin fürchterlich erschrocken. Als ich hereinkam, da hast du wie tot in deinem Bett gelegen. Deine Haut war eiskalt und dein Körper seltsam schlaff. Da habe ich große Angst um dich gehabt. Gerade als ich Hilfe holen wollte, bist du endlich aufgewacht.« Lorna lächelte leicht. Sie beugte sich vor und hauchte ihm einen flüchtigen Kuß auf die Lippen. Wieder war ihm, als streife ihn eine Eiseskälte, die direkt aus der Hölle zu kommen schien. Auch den Druck ihrer Hand auf seinem Arm spürte er eiskalt durch den Stoff seines Pyjamas hindurch. Es kostete ihn große Überwindung, sich nicht aus ihrem Griff zu befreien und zurückzuweichen.
Aber da ließ sie ihn los; und der seltsame Eindruck schwand blitzartig. »Rührend, wie besorgt du um mich bist, Darling. Aber das war wirklich nicht nötig gewesen, denn ich habe tief und fest geschlafen. Ich habe nur entsetzlich gefroren. Deshalb habe ich mich auch wohl so kalt angefühlt. Daß ich nicht so kalt bin, das weißt du doch oder etwa nicht? Aber jetzt laß uns sehen, daß wir fertigwerden. Ich brauche jetzt unbedingt ein gutes Frühstück.« Nach diesen Worten schlüpfte sie aus ihrem Nachthemd, das ohnehin schon mehr enthüllte als verbarg. Sie ging zur Kommode hinüber und begann sich zu waschen. Langdon sah ihr einen Moment zu. Normalerweise fiel es ihm sehr schwer, den Blick von ihrem wundervollen schlanken Körper zu lösen. Doch jetzt hatte er es eilig, das Zimmer zu verlassen. Obwohl er sich fragte, ob er sich das alles nicht nur einbildete, war ihm klar, daß seine Frau über Nacht zu einer völlig Fremden geworden war. Da war auf einmal etwas Geheimnisvolles, Unfaßbares zwischen sie getreten. Er schüttelte immer wieder den Kopf, als er sich wenig später ankleidete. Etwa eine halbe Stunde später saßen sie sich unten in der Gaststube beim Frühstück gegenüber. Wie immer in den letzten Tagen, hatte man ihnen ein überaus reichhaltiges und gutes Frühstück vorgesetzt. Langdon, der inzwischen seine Fassung bereits ein wenig wiedergewonnen hatte, ließ es sich munden und auch Lorna aß und trank entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit viel. Als er ihr aber zusah, da gewann er den Eindruck, daß sie alles ohne jeglichen Appetit nur in sich hineinstopfte. Langdon bestrich gerade die siebente Toastscheibe dick mit Honig, da trat der Reiseleiter ein. Erst jetzt fiel ihm auf, daß er gefehlt hatte. In seiner Begleitung befand sich ein Fremder, ein hochgewachsener Mann mittleren Alters. Er war vornehm, fast schon elegant gekleidet. Mit seinen scharfgeschnittenen Gesichtszügen konnte man ihn sogar als schön bezeichnen, obwohl er nichts Feminines an sich hatte. Als Langdon aber die Augen des Fremden sah, durchfuhr es ihn förmlich. Vermittelte das Aussehen und das Auftreten des Mannes zuerst einen recht sympathischen Eindruck, so machten seine Augen sofort alles zunichte. Ihr Blick war kalt und grausam. Langdon fühlte sich sofort regelrecht davon durchbohrt.
Aber da war noch etwas an dem Blick des Fremden, etwas, das ihm merkwürdig bekannt und beinahe schon vertraut vorkam. Doch er kam nicht darauf. »Das ist Mister Popuescu vom Touristik-Ministerium«, stellte der Reiseleiter vor. »Er wird uns auf unserer weiteren Fahrt begleiten.« Der Fremde nahm an einem der Tische Platz, nachdem er der Reisegesellschaft kurz zugenickt hatte. Langdon wandte sich wieder seinem Frühstück zu und knurrte leise vor sich hin. Es paßte ihm überhaupt nicht, daß sie dieser Kerl in den nächsten Tagen begleiten würde. Der Bursche war ihm nicht nur unsympathisch, sondern sogar regelrecht unheimlich. Er warf Lorna einen kurzen, nachdenklichen Blick zu. Sie hatte, als der Fremde hereingekommen war, nur flüchtig hochgeschaut und sich dann wieder ihrem Frühstück gewidmet. Das war auch nicht ihre Art. Ein fremder, durchaus attraktiver Mann hätte doch eigentlich ihr Interesse erwecken müssen. Ansonsten zeigte sie sich doch auch nicht so uninteressiert. Jetzt aber schaute sie auf; und ihre Blicke kreuzten sich für Sekundenbruchteile. Langdon hielt den Atem an. Eine eiskalte Hand griff nach seinem Herz und preßte es zusammen. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Aus Lornas Augen blickte ihn der Fremde an. * Seit zwei Tagen streikten die Fluglotsen nicht mehr. Die vielen ausgefallenen Flüge wurden jetzt nachgeholt und bewirkten so, daß das Gedränge in der Halle des Flughafens chaosähnliche Ausmaße angenommen hatte. Es herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Pausenlos trafen neue Passagiere ein. Männer und Frauen aller Nationalitäten und Hautfarben gaben sich hier ein Stelldichein. Tony Wilkins war es gelungen, sich durch die Menschenmenge hindurch bis zur Zollabfertigung vorzuarbeiten. Dort hatte er sich postiert und konnte so die ankommenden Reisenden in Augenschein nehmen. Die Maschine aus Zürich war inzwischen gelandet. Der Professor wartete also jetzt bereits auf seinen Koffer
oder befand sich schon in der Abfertigung. Tony hoffte nur, daß er nicht mit einem Jumbo-Jet gekommen war. Aus Erfahrung wußte er, daß die Ausgabe des Gepäcks und die Abfertigung meistens längere Zeit in Anspruch nahm als der eigentliche Flug. Wieder kam eine Gruppe von lärmenden, braungebrannten Urlaubsheimkehrern aus dem Zollbereich. Der Professor befand sich nicht darunter. Amüsiert folgte Tony den Leuten mit den Blicken. Schließlich blieb sein Blick auf einer jungen Frau hängen, die die Gruppe gerade passierte. Es war eine faszinierend schöne Frau, schlank und hochgewachsen. Ihr langes schwarzes Haar stand in reizvollem Gegensatz zu ihrem außerordentlich blassen Teint. Ihr Gang war regelrecht aufreizend. Billig wirkte sie aber trotzdem nicht. Unwillkürlich mußte Tony grinsen, als er den Begleiter der Frau sah. Der Mann sah aus wie eine Witzfigur: klein, dick und krummbeinig. Ob er der Ehemann der Schwarzhaarigen war? Wenn, dann mußte er aber stinkreich sein. Die Frau machte auf Tony ganz den Eindruck, als würde das Geld bei ihr an erster Stelle stehen. Hinter dem ungleichen Paar kam ein Mann, dem Tony nur einen flüchtigen Blick schenkte. Er trug zwei kleine, schmale Koffer. Ob er zu den beiden gehörte, war nicht zu erkennen. Irgend etwas aber zwang Tony auf einmal dazu, sich den Mann genauer anzusehen. Und plötzlich schien die Zeit stillzustehen. Tony starrte den Fremden an. Er hörte nichts mehr von dem Lärm ringsum und sah nur noch den hochgewachsenen, elegant gekleideten Mann. Sein Gesicht war ihm seltsam vertraut. Je länger er es anstarrte, desto bekannter kam es ihm vor. Und dann kam die Erinnerung schlagartig. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Auf einmal fühlte er sich um einige Monate zurückversetzt. Wieder sah er sich dem unheimlichen Gegner gegenüber, der es auf sein Leben und das seiner Freunde abgesehen hatte. Er hatte mit letztem Einsatz damals gekämpft und gesiegt. Nie würde er diese fürchterlichen Augenblicke zwischen Leben und Tod vergessen können. Jemand faßte ihn am Arm. »Hallo, Tony, was treiben Sie denn hier?« hörte er eine vertraute Stimme.
Nur langsam und beinahe widerwillig löste er den Blick und drehte sich herum. Professor Fitzpatrick stand vor ihm, den Mantel säuberlich zusammengefaltet über dem Arm und eine übergroße, buntkarierte Reisetasche in der Hand. Tony sah ihn einen Moment sprachlos an, dann riß er den Kopf wieder herum. Doch weder von dem Fremden noch von dem ungleichen Paar war etwas zu sehen. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Nun, bei dem Gewühl und dem ständigen Kommen und Gehen war das auch kein Wunder. »Tony, was ist los mit Ihnen? Stimmt etwas nicht?« Es dauerte noch eine Weile, ehe Tony seine Überraschung überwunden hatte. Erst dann war er in der Lage, den Professor zu begrüßen. Wenig später, als sie in Tonys Wagen saßen und der Londoner City zustrebten, da konnte er die Fragen des Professors beantworten. »Ich habe Ihnen doch bereits eingehend mein Erlebnis in den Karpaten geschildert. Meinen Kampf mit dem Vampirgrafen werde ich nie vergessen. Und ich sehe immer noch sein Gesicht vor mir, als wäre es erst vor wenigen Tagen geschehen. Nun, gerade als ich auf Sie wartete, da sah ich einen Mann in der Halle, der dem Grafen Swaslow derart ähnlich sah, daß ich schwören könnte, er ist es. So etwas von Ähnlichkeit habe ich noch nie erlebt. Aber das kann einfach nicht möglich sein. Nach menschlichem Ermessen muß er tot sein. Und doch…« Er brach ab und schüttelte den Kopf. Der Professor sah ihn nachdenklich von der Seite an. Dem jungen Reporter war deutlich anzumerken, wie sehr ihn diese Begegnung im Flughafen aufgerüttelt hatte. »Hm«, machte er. »Sie haben mir doch erzählt, daß Sie dem Grafen mit ihrem Kamerastativ das Herz durchbohrt haben. Danach hat er sich in eine mannsgroße Fledermaus rückverwandelt. Das ist nach allem, was ich über den Vampirismus weiß, ein sicheres Zeichen für seinen Tod. Und wenn Sie ihn dann anschließend noch mit Benzin übergossen und das Schloß angezündet haben, dann können Sie hundertprozentig sicher sein, daß der Vampir endgültig vernichtet ist. Der Mann, den Sie vorhin gesehen haben, hatte bestimmt nur eine starke Ähnlichkeit mit dem Grafen. Und diese Ähnlichkeit bewirkte, daß Sie sich bei seinem Anblick im gleichen Moment
wieder an den unheimlichen Vorfall erinnerten. Durch diese Erinnerung wiederum empfanden Sie die Ähnlichkeit des Fremden so stark, daß Sie ihn für den Grafen hielten.« Tony erwiderte nichts darauf. Er konzentrierte sich anscheinend völlig auf den Verkehr. Erst nach einer geraumen Zeit sah er seinen Beifahrer kurz an und nickte ihm zu. »Ich glaube, Sie haben recht, Professor. Je mehr ich darüber nachdenke, desto unwahrscheinlicher finde ich meinen Verdacht. Der Vampir ist unwiderruflich tot; und der Mann, den ich vorhin gesehen habe, ähnelt dem Grafen eben nur sehr stark. Doch nun zu Ihnen, Professor. Als Sie mich gestern anriefen, da sprachen Sie von interessanten Entdeckungen während ihres Urlaubes. Das hat mich natürlich neugierig gemacht. Und da bin ich nun und warte auf die großen Neuigkeiten.« Doch der Professor grinste ihn nur an. »Gedulden Sie sich noch ein wenig, Tony. Ich denke, wir warten noch ein wenig, bis wir bei mir sind. Bei einer guten Tasse Tee läßt es sich bestimmt besser plaudern.« Dem konnte Tony nicht widersprechen. * Bald darauf saßen sie sich im Arbeitszimmer des Professors gegenüber. Miß Barker, die Haushälterin, hatte ihnen in Rekordzeit dampfenden, aromatischen Tee serviert. »Da haben Sie ja eine echte Perle gefunden, Professor«, stellte Tony anerkennend fest, nachdem Miß Barker den Raum wieder verlassen hatte. »Ja, das kann man wohl sagen. Aber sie hat einen kleinen Fehler. Bis jetzt habe ich es ja glücklicherweise immer verhindern können, aber ich fürchte, daß ich ihr nicht mehr lange werde standhalten können. Eines Tages geschieht es, das weiß ich genau.« »Wieso Fehler, Professor?« feixte Tony. »Ein Mann in Ihrem Alter sollte nicht länger allein bleiben. Und ich kann mir vorstellen, daß Sie eine vorzügliche Köchin ist. Das ist doch ein gewichtiger Grund, um sie endlich zu erhören.« Der Professor schaute ihn einen Moment verdutzt an, dann lachte er laut auf.
»Ha, da sind Sie aber ganz schön auf dem falschen Dampfer, Tony. Miß Barker hat mir noch keinen Heiratsantrag gemacht. Das, was ich als ihren Fehler bezeichnete, ist nur ihr Wunsch, hier in meinem Arbeitszimmer einmal gründlich aufzuräumen. Räuberhöhle nennt sie mein Zimmer. Können Sie das verstehen? Ich finde es urgemütlich hier.« Diesen Eindruck hatte auch Tony. Gewiß, auf den ersten Blick sah es etwas chaotisch aus in diesem Raum, den der Professor als sein Heiligtum betrachtete. In den Regalen an den Wänden stapelte sich eine nicht überschaubare Anzahl von Büchern. Auf den beiden Schreibtischen und auch auf dem zur Sitzgruppe gehörenden Tisch türmten sich Blätter. Jeder freie Platz wurde zudem von Masken und anderen Kultgegenständen aus allen erdenklichen Gegenden und Epochen eingenommen. Für jeden Fremden wirkte das alles reichlich unordentlich, eben so wie man sich eine Junggesellenbude vorstellt. Doch Tony, der bereits einige Male zu Gast gewesen war, wußte genau, daß der Professor sich in diesem scheinbaren Tohuwabohu bestens zurechtfand. Der urgemütliche Eindruck wurde noch durch das flackernde Kaminfeuer verstärkt. Es strahlte eine behagliche Wärme aus. Nach einem kurzen, verregneten Sommer zeigte sich in diesem Jahr auch der Herbst von seiner schlechtesten Seite. Obwohl es erst Mitte September war, mußte man schon heizen. In den späten Nachmittagsstunden war es bereits empfindlich kühl geworden. Nachdem sie ihren Tee ausgetrunken hatten, kam der Professor endlich auf seine geheimnisvollen Andeutungen zu sprechen. »Wie Sie wissen, Tony, habe ich ein paar Tage Urlaub in den Schweizer Alpen gemacht. Ein alter Mann wie ich benötigt eben hin und wieder etwas Erholung. Als Urlaubsort hatte ich ein kleines Nest namens Wengen ausgesucht. Ein zauberhaftes Fleckchen Erde, sage ich Ihnen. Aber nicht ganz ungefährlich. In den vergangenen Wochen sind acht Menschen in der näheren Umgebung spurlos verschwunden. Ein weiterer Skifan verschwand während meines Aufenthaltes. Es gab einen ganz schönen Wirbel dort. Zwei Tage später hat man ihn aber gefunden, beziehungsweise seine Überreste.
Ich hatte selbst Gelegenheit, die Leiche zu sehen. Der Mann sah schrecklich aus. Es können nur Wölfe gewesen sein. Das glauben jedenfalls alle Leute dort. Bei einer weiteren großen Suchaktion sind noch drei Skelette gefunden worden. Von den übrigen Verschollenen fehlte bis zu meiner Abreise jede Spur. Und jetzt lebt die Bevölkerung dort in Angst und Schrecken vor einem Wolfsrudel. Dort kursieren die unglaublichsten Schauergeschichten. Ich habe mich ein wenig umgesehen und umgehört. Dabei konnte ich feststellen, daß zwar jeder an die Wölfe glaubt, sie aber noch niemand gesehen hat. Auch eindeutige Spuren gibt es nicht. Und deshalb bin ich zu dem Schluß gekommen, daß es kein Wolfsrudel, sondern nur ein einzelner Wolf ist. Dieser aber ist weitaus gefährlicher als ein ganzes Rudel seiner Artgenossen. Also, um es kurz zu machen, es kann nur ein Werwolf sein. Ich habe meinen Urlaub erst einmal abgebrochen und bin zurückgekehrt, weil ich mir noch über einige Punkte Klarheit verschaffen muß. In drei oder vier Tagen aber werde ich wieder in die Schweiz reisen, denn ich möchte den Werwolf zur Strecke bringen. Er ist nicht nur eine Bedrohung für die Leute dort unten. Wie wäre es, wenn Sie mir dabei helfen würden, Tony?« »Ein leibhaftiger Werwolf? Sind Sie sich da auch ganz sicher? Mit der Existenz von Vampiren habe ich mich ja wohl oder übel abfinden müssen, aber jetzt auch noch ein Werwolf. Meinen Sie wirklich so einen Kerl damit, der sich im Licht des Vollmonds in einen mannsgroßen Wolf verwandelt und dann zur reißenden Bestie wird?« Der Professor nickte. »Na ja«, machte Tony. »Dann eben ein Werwolf. Noch vor einem halben Jahr hätte ich jeden ausgelacht, der an die Existenz von Vampiren, Hexen, Magiern und anderen Horrorgestalten glaubte. Aber nach meinen eigenen Erfahrungen weiß ich ja nun, daß es noch scheußlichere Geschöpfe gibt, mit deren Existenz wir uns einfach abfinden müssen. Also, um es kurz zu machen, ich bin dabei, Professor. Ich denke, daß wir dem Werwolf gemeinsam auf die Sprünge helfen werden. Allerdings muß ich mir noch einfallen lassen, wie ich meinen Chef dazu bringen kann, mir die Reise in die Schweiz zu finanzieren.«
Der Professor grinste ihn an. »Das dürfte kein Problem sein, Tony. Ich habe da so einige Beziehungen. Und zudem dürfte bei der Geschichte auch bestimmt eine gute Story für Ihr Blatt herausspringen.« Sie tranken sich noch mit einem guten Cognac zu, ehe sie sich verabschiedeten. In zwei Tagen wollten sie sich wieder hier treffen, um die letzten Reisevorbereitungen zu treffen. * Ein leises, undefinierbares Geräusch riß ihn aus dem Schlaf. Er ließ die Augen geschlossen und lauschte angestrengt. Es blieb jedoch still, so daß er schließlich glaubte, sich getäuscht zu haben. Gerade als er sich jedoch umdrehen wollte, hörte er es wieder. Das Geräusch kam einwandfrei von unten aus dem Büro. Und es wies darauf hin, daß sich dort unten jemand herumtrieb, der nicht dort hingehörte. Wahrscheinlich ein Einbrecher. Daniel Wallace schüttelte unwillkürlich den Kopf. Was konnte ein Einbrecher wohl bei ihm suchen? Bargeld war bei ihm kaum zu holen, das war hier im Viertel bestens bekannt. Alle Überlegungen halfen jedoch nichts. Er mußte aufstehen und sich selbst überzeugen, zumal ein weiteres leises Geräusch von unten seine letzten Zweifel beseitigte. Er schlug die Bettdecke langsam zurück und schwang seine Beine aus dem Bett. Doch er zögerte noch einen Moment, ehe er sich erhob. Ein Feigling war er gerade nicht, doch ihm kam der Gedanke, daß dort unten zwei Ganoven sein konnten. Außerdem bestand die Möglichkeit, daß der oder die Einbrecher bewaffnet waren. Aber schließlich konnte er ja nicht tatenlos hier oben liegen, während im Erdgeschoß sein Büro durchwühlt und ausgeplündert wurde. Wieder klangen Geräusche herauf. Jetzt konnte er nicht länger warten. Nachdem seine tastenden Füße die Hausschuhe gefunden hatten, schlich er leise zum Schreibtisch hinüber. Dort befand sich das Telefon. Langsam wählte er die Nummer der Polizei. Eine barsche Stimme meldete sich. Er konnte ihr deutlich anhören, wie erbost der Polizist über die nächtliche Störung war. Aber darauf konnte er ja schließlich keine Rücksicht nehmen.
»Hier ist Daniel Wallace von der Firma Wallace and Sons«, flüsterte er in den Hörer, wobei er noch die Hand darüberhielt. »Bei mir sind Einbrecher im Büro. Ich wurde durch Geräusche im Erdgeschoß aus dem Büro geweckt. Ich kann deutlich hören, wie unten alles durchwühlt wird. Schicken sie mir einen Streifenwagen. Aber beeilen sie sich bitte. Wer weiß, ob der oder die Kerle nicht zu mir raufkommen, wenn sie unten kein Geld finden.« Er legte erleichtert auf, nachdem ihm der Beamte versprochen hatte, unverzüglich eine Streife zu schicken. Abwartend blieb er neben der nur angelehnten Schlafzimmertür stehen und lauschte. Er überlegte, ob er jetzt runtergehen oder lieber das Eintreffen der Polizei abwarten sollte. Was war, wenn der oder die Einbrecher tatsächlich aus Wut darüber, kein Geld im Büro gefunden zu haben, zu ihm heraufkommen würden? Plötzlich fiel ihm auf, daß es unten still geworden war. Angestrengt lauschte er, doch es war nichts mehr zu hören. Auch als er auf Zehenspitzen zur Tür schlich, sie vorsichtig aufzog und den Kopf hinausstreckte, konnte er nicht mehr das leiseste Geräusch von unten vernehmen. Vermutlich hatten der oder die Ganoven das gefunden, was sie gesucht hatten, und waren wieder verschwunden. Oder aber sie hatten sich abgesetzt, weil sie nichts gefunden hatten. Nachdem zwei, drei Minuten später immer noch alles still blieb, beschloß er nachzusehen. Vorsichtig bemüht, keine Geräusche zu verursachen, schlich er an der Wand entlang zur Treppe. Langsam stieg er hinunter, und er war froh, daß sie nicht aus knarrenden Holzstufen bestand. Dann stand er schließlich mit klopfendem Herzen vor der Tür seines Büros. Ein schmaler Lichtstreifen unter der Tür verriet, daß der Eindringling einfach das Licht eingeschaltet hatte. Ganz schön frech, der Bursche. Allerdings besaß der Raum auch kein Fenster, so daß von außen nichts zu sehen war. Zögernd streckte er die Hand nach der Türklinke aus, zog sie dann aber wieder rasch zurück. Plötzlich befielen ihn wieder Bedenken. Was war, wenn sich doch noch jemand im Büro befand? Er beschloß, sich erst zu bewaffnen, bevor er sich da hineinwagte. Neben dem Büro befand sich ein Abstellraum. Dort wußte er einiges, was sich als Waffe verwenden ließ. Und so tastete er sich auf Zehenspitzen an der Wand entlang bis zur Tür, die gottlob nur angelehnt war. Rasch schlüpfte er in den winzigen Raum hinein und zog leise die Tür hinter sich zu. Er schaltete das Licht ein und
sah sich um. Sein Blick fiel auf allerlei Werkzeug, das auf einem Wandregal lag. Er nahm sich einen Hammer, der gerade die richtige Größe besaß. Dann löschte er das Licht und verließ den Abstellraum wieder. Mit der provisorischen Waffe in der Faust stieß er wenig später die Tür seines Büros auf. Ein rascher Rundblick zeigte ihm, daß hier tatsächlich jemand etwas gesucht hatte. Sämtliche Schränke und Schubladen standen weit offen. Der Inhalt war zum größten Teil über den Fußboden verstreut worden. Seine Kundenkartei war nur noch ein einziges Durcheinander. Er machte einen Schritt in den Raum hinein, vorsichtig bemüht, nicht auf die am Boden liegenden Fotos und Karteikarten zu treten. Kopfschüttelnd starrte er auf das Chaos und fragte sich verwundert, was der nächtliche Eindringling hier wohl gesucht haben mochte. Plötzlich legte sich ihm eine Hand mit sanftem, aber bestimmtem Druck auf die Schulter. Ein eisiger Schreck durchfuhr ihn und ließ ihn zusammenzucken. Der Hammer entglitt seiner Hand und fiel polternd zu Boden. Eine geraume Weile stand er wie gelähmt da, bevor er sich langsam umdrehen konnte. Vor ihm stand ein hochgewachsener, schlanker Mann. Daniel Wallace war überzeugt davon, daß er ihn noch nie zuvor gesehen hatte, obwohl sein Personengedächtnis nicht gerade gut war. Der Fremde war elegant, ja geradezu vornehm gekleidet. Dies und sein schmales, gutgeschnittenes Gesicht wiesen eigentlich nicht auf einen Gesetzesbrecher hin. Aber es stand außer Zweifel, daß er der Einbrecher war. Daniel fragte sich, was diesen Mann wohl bewogen haben mochte, hier bei ihm einzusteigen und ein solches Durcheinander zu schaffen. Sein erster Eindruck von dem Fremden war der, daß dieser bestimmt wohlhabend war und deshalb solche nächtlichen Aktivitäten eigentlich nicht nötig haben sollte. Als er dann aber die Augen des Einbrechers sah, da trat er unwillkürlich einen Schritt zurück. Aus ihnen strahlte eine derartige Kälte, daß ihn plötzlich eine unerklärliche Furcht beschlich. Der stechende Blick verursachte bei ihm eine regelrechte Übelkeit. Nach einigen Atemzügen faßte er sich jedoch. Schließlich hatte er den Einbrecher auf frischer Tat ertappt. Die Polizei mußte jeden Augenblick eintreffen. Zudem machte der Fremde nicht gera-
de einen gewalttätigen Eindruck. Und er war außerdem bewaffnet. Allerdings konnte er nicht verhindern, daß er sich ein wenig lächerlich vorkam, als er jetzt den Hammer aufhob und sich dem Eindringling wieder einen Schritt näherte. »Was suchen sie hier?« Doch der Fremde antwortete nicht. Dafür begann es auf einmal in seinen Augen zu funkeln. Es war ein seltsames, unerklärliches Funkeln. Daniel Wallace war sicher, so etwas noch nie zuvor beobachtet zu haben. Er vermochte seinen Blick nicht abzuwenden. Ganz allmählich gewann er den Eindruck, als würde er von den Augen des Einbrechers wie von einem Magneten angezogen und regelrecht von ihnen aufgesaugt. Er fühlte, wie ihm schwindelig wurde. Nach und nach verlor die Situation ihren bedrohlichen Charakter. Ihm wurde seltsam leicht, und er fühlte sich irgendwie völlig unbeteiligt. »Suche mir sofort die Fotos, Namen und Anschriften der Mädchen heraus, die vor einigen Monaten mit dem Regisseur Paul Wakefield nach Rumänien gereist sind. Und die Anschrift von Wakefield benötige ich ebenfalls. Aber beeile dich.« Er gehorchte augenblicklich. Nicht einen Moment kam ihm der Gedanke, daß der Fremde hier überhaupt nichts zu verlangen hatte. Bereitwillig ließ er sich auf alle viere fallen und kroch über den Boden, um in dem Durcheinander die gewünschten Unterlagen zu finden. Nach einigen Minuten hatte er sie schließlich gefunden. Langsam erhob er sich und reichte sie dem Mann. Der warf nur einen prüfenden Blick darauf und steckte sie ein. Offensichtlich war er zufrieden, denn für einen winzigen Augenblick huschte so etwas wie ein Lächeln über sein sonst so unbewegtes Gesicht. In diesem Moment schlug der Türgong an. Der Einbrecher zuckte zusammen und fuhr herum. »Wer ist das?« wollte er wissen. »Das wird die Polizei sein. Ich habe sie vorhin alarmiert und um Hilfe gebeten«, gab er bereitwillig Auskunft. Und dann ging alles blitzschnell. Daniel Wallace besaß keine Chance zur Gegenwehr. Zwar begann sich sein Trancezustand allmählich aufzulösen, doch er erkannte zu spät, was der Gegner beabsichtigte.
Erst als dieser den Hammer aufgehoben hatte und damit zum Schlag ausholte, begriff er, daß dieser Angriff ihm galt. Doch er war noch nicht in der Lage, sich zur Wehr zu setzen. Noch ehe er eine Bewegung machen konnte, traf ihn der Hieb am Kopf. Er brach lautlos zusammen. * Ein wenig lustlos blätterte Tony in der Morgenzeitung. Auch dem Frühstück konnte er heute nicht allzuviel abgewinnen, obwohl ihm der Toast an diesem Tage einmal gut gelungen war. Inzwischen waren zwei Tage vergangen, seit er die seltsame Begegnung im Flughafen gehabt hatte. Immer noch beschäftigte er sich, ohne es eigentlich zu wollen, mit der Frage, wer der Mann wohl gewesen sein mochte. Der Professor hatte ihm begreiflich gemacht, daß der Vampirgraf damals von ihm unwiderruflich zur Strecke gebracht worden war. Und er selbst hatte ihn sterben sehen. Doch die Ähnlichkeit des fremden Flugpassagiers mit jenem blutdürstigen Grafen war nun einmal derart frappierend, daß seine Überzeugung doch auf schwachen Füßen ruhte. Seufzend legte er die Zeitung schließlich beiseite und goß sich Tee nach. Dabei verschüttete er etwas auf die Zeitung. Als er mit einem Lappen die Folgen beseitigte, da fiel sein Blick auf eine kleine Meldung, die er vorhin übersehen hatte. »Mysteriöser Einbruch in Künstleragentur!« lautete der Titel. Ohne es eigentlich zu wollen, überflog er die kurze Meldung. London war nun einmal eine Großstadt, in der Tag und Nacht eine Unzahl der verschiedensten Verbrechen verübt wurden. Ein kleiner Einbruch war deshalb nur etwas, das man beiläufig am Rande erwähnte. Tony stutzte jedoch, als er den Namen der kleinen Firma las, die in der Nacht von Einbrechern heimgesucht worden war. Einen der Inhaber hatten die Täter, nachdem er bereits die Polizei angerufen hatte, mit einem Hammer niedergeschlagen und schwer verletzt. Bis jetzt wußte man noch nicht, ob überhaupt etwas geraubt worden war. Tony zermarterte sich das Hirn, kam aber nicht darauf, woher er den Namen der Agentur kannte. Er war aber davon überzeugt, daß er von der Firma noch vor kurzer Zeit gehört oder gelesen
hatte. Schließlich zuckte er die Achseln und wandte sich wieder seinem Frühstück zu. Er wußte aus Erfahrung, daß es ihm im Laufe des Tages auf jeden Fall einfallen würde. Für den morgigen Tag stand die Reise in die Schweizer Alpen auf dem Programm. Mit Professor Fitzpatrick hatte er vereinbart, daß sie zwar zusammen auf den Kontinent fliegen würden aber am Ort getrennt recherchieren würden. Grund dafür war die Vermutung des Professors, der Werwolf sei einer der Einwohner von Wengen. Tony war sehr gespannt darauf, was sich in der Schweiz ergeben würde. Obwohl er überhaupt keine Veranlassung hatte, an den Worten des Professors zu zweifeln, war er doch ein wenig skeptisch. Ein Werwolf, das gehörte doch ins Reich der Phantasie. Aber andererseits hatte er es damals selbst mit einer Phantasiegestalt zu tun gehabt, und die war auf eine schmerzhafte und tödliche Weise real gewesen. Nach dem Frühstück verließ Tony sein Appartement. Es wurde Zeit, sich mal wieder in der Redaktion sehen zu lassen. Ein Artikel und etlicher Kleinkram waren noch zu erledigen. Fast wäre es Tony nicht gelungen, seinen Chef von der Notwendigkeit der Reise zu überzeugen, vor allem deshalb, weil diese auf Spesen erfolgen sollte. Aber der Professor hatte sich eingeschaltet. Er schien über recht gute Beziehungen zu verfügen, denn er hatte die ganze Geschichte in wenigen Minuten am Telefon geregelt gehabt. Für den Abend dieses Tages hatte Tony eine kleine Abschiedsfeier geplant. Allerdings wußte er noch nicht, ob Sandra auch Zeit für ihn haben würde. Sie wußte nämlich noch nichts von der bevorstehenden Reise. Und plötzlich, als er an Sandra dachte, kam die Erinnerung. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen, und er schlug sich die flache Hand klatschend vor die Stirn. Rasch eilte er zurück in seine Wohnung, um zu telefonieren. Sandra gehörte zu jenen Komparsinnen, die damals von Paul Wakefield für seinen Horrorfilm engagiert worden waren. Und vermittelt worden waren diese Girls durch die Agentur Wallace and Sons, eben jener Agentur, die in der letzten Nacht das Opfer eines Verbrechens geworden war. Es war sicher nur ein Zufall, daß dort eingebrochen worden war. Und es war ebenfalls nur ein Zufall, daß der Mann am Flughafen wie der Vampirgraf ausgesehen hatte. Brachte man jedoch beide Fakten miteinander in Verbindung, dann…
Tony wagte den Gedanken nicht zu Ende zu verfolgen. Er schüttelte den Kopf und schalt sich selbst einen Narren. Seine Phantasie schoß einfach wieder mal zu weit über das Ziel hinaus. Die Vorstellung, daß der Vampir doch noch lebte und jetzt nach London gekommen war, um in das Büro der Agentur einzubrechen, war doch reichlich absurd. Er griff zum Telefon und wählte die Nummer von Scotland Yard. Die Zentrale verband ihn mit dem Büro seines Freundes. Aber er bekam nur die Stenotypistin an die Strippe. Inspektor David Simms und seine Leute waren unterwegs. Tony bedankte sich und legte auf. Er wollte es später von der Redaktion aus noch einmal versuchen. * Alles an diesem Fall war bis jetzt reine Routine. Es schien sich um einen ganz gewöhnlichen Mordfall zu handeln, sofern man bei Mord von etwas Gewöhnlichem sprechen konnte. Irgendwann im Laufe der Nacht war eine junge Frau umgebracht worden. Der oder die Täter hatten sie erwürgt und entweder hier oder irgendwo stromaufwärts in die Themse geworfen. Die Leiche hatte sich an einem ins Wasser ragenden Ast verfangen. Dort war sie von einem Spaziergänger entdeckt worden. Der Mann hatte sofort den Yard alarmiert. Und so stand Inspektor Simms jetzt hier dicht am Ufer, hatte den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen und die Hände in den Taschen vergraben. Mißmutig starrte er auf die schmutzigen Fluten, über denen der Frühnebel hochwallte. Der Nebel war so dicht, daß vom jenseitigen Ufer nichts zu sehen war. Das feuchtkalte Wetter trug noch dazu bei, daß seine Stimmung immer weiter auf den absoluten Tiefpunkt zusank. Vor wenigen Minuten hatten die Experten vom Spurensicherungsdienst ihre Arbeit abgeschlossen. Als sie an ihm vorbei zum Wagen gingen, hatten sie nur vielsagend die Achseln gezuckt. Das bedeutete, daß sie keine verwertbaren Spuren entdeckt hatten. Dies wiederum wies darauf hin, daß die Tote doch irgendwo stromaufwärts in die Themse geworfen worden war. Diese Stelle galt es nun zu finden.
Doc Hughes war nach kurzer Untersuchung der Meinung gewesen, daß der Tod etwa zwischen 22 und 24 Uhr eingetreten war. Genau wollte er sich da noch nicht festlegen. Bei einer Wasserleiche konnte darüber erst die Obduktion genauen Aufschluß geben. Drüben bei den Wagen stand der Mann, der die junge Frau gefunden hatte. Interessiert sah er zu, wie man die Tote in den Zinksarg legte und abtransportierte. Sein Hund schien das nicht so interessant zu finden, denn er zog kräftig an der Leine und wollte offensichtlich den unterbrochenen Spaziergang fortsetzen. David Simms warf noch einen letzten grimmigen Blick zu der Stelle, an der sie das unglückliche Mädchen aus dem Wasser gezogen hatten, dann ging er zu dem Mann hinüber. Er war Pensionär und wohnte etwa eine Meile stromabwärts. Wie er erzählte, unternahm er jeden Morgen um diese Zeit mit seinem Hund einen ausgedehnten Spaziergang am Themseufer entlang. Davon konnten ihn auch Wind und Regen nicht abbringen. Daß er die Leiche überhaupt entdeckt hatte, war seinem Hund zu verdanken. Als er seinen Spaziergang begonnen hatte, war der Nebel noch so dicht gewesen, daß er vom Weg aus das etwa acht Meter entfernte Ufer nicht hatte erkennen können. Sein Percy, eine typische Promenadenmischung, war ihm vorausgelaufen und im Nebel verschwunden. Dort unten am Ufer hatte er dann etwas zu ausdauernd verbellt, daß sein Herr nachgesehen hatte. Und so hatte er dann die Leiche gefunden. Die Frage des Inspektors, ob er jemanden gesehen hatte oder ob ihm sonst irgend etwas aufgefallen war, mußte er verneinen. Kein Mensch war ihm auf dem Weg von seiner Wohnung bis hierher begegnet. Der Beamte bedankte sich und bat den Alten noch, sich im Laufe des Tages in der nächstgelegenen Polizeiwache einzufinden, um seine Angaben noch zu Protokoll zu geben. Der Pensionär versprach es. Während Mann und Hund sich auf den Heimweg machten, gab der Inspektor seinen beiden Assistenten kurze Anweisungen. Dann marschierten die Männer stromaufwärts, die Augen auf den Boden gerichtet. David Simms hoffte, die Stelle zu finden, an der die junge Frau in den Fluß geworfen worden war. Ob diese Stelle aber auch identisch mit dem Tatort war, würde sich noch erge-
ben. Allerdings war er recht skeptisch. Ihm war klar, daß ihnen nur ein Zufall weiterhelfen würde. Nach etwas mehr als einer Meile gaben sie es auf. Sie hatten nicht die geringste Spur gefunden. Mißmutig und fröstelnd stapften die Männer zum Wagen zurück. Niemand sprach ein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach. Erst als sie im Büro angelangt waren, erwachte der Inspektor aus seinem Schweigen. »Snyder, rufen sie doch mal unsere Kollegen von der Themsepolizei an«, wandte er sich an seinen Assistenten. »Lassen sie sich mal angeben, wie die Strömungsgeschwindigkeit des Flusses ist. Sobald der Doc uns genau sagen kann, wann das Mädchen getötet worden ist, fahren wir noch einmal raus. Anhand der Strömungsgeschwindigkeit müßten wir ziemlich genau die Stelle errechnen können, an der die Tote in den Fluß geworfen worden ist. Die große Frage ist natürlich, ob sie nicht bereits einige Zeit tot war, ehe sich der Mörder auf diese Weise ihrer entledigte. Das müßte uns aber der Doc sicher sagen können.« Snyder nickte und griff zum Telefon. * »Hallo, David. Alter Junge, wie ist das werte Befinden denn noch so?« Der Inspektor blickte auf, als Tony Wilkins eintrat und sich ihm mit ausgestreckter Hand näherte. Er zog ein Gesicht, als hätte er soeben eine Zitrone ausgelutscht. Trotzdem aber ergriff er die dargebotene Hand und schüttelte sie kräftig. Dann wies er auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Das ist ja fürchterlich mit euch Reportern«, beklagte er sich in gespielter Entrüstung. »Kaum zieht man mal eine Leiche aus der Themse, da rücken einem auch schon diese Pressefritzen auf die Bude. Also, um es kurz und schmerzlos zu machen; wir wissen weder, wer die Tote ist noch wer sie umgebracht hat. Zufrieden?« Sein Freund sah ihn nur fragend an. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Mein Besuch hat einen völlig anderen Grund. Aber was du da sagst, interessiert mich
natürlich. Erzähl doch mal, bevor ich dich um einen Gefallen bitte.« Inspektor Simms kam der Bitte seines Freundes nach, obwohl er damit nicht im Sinne seiner Vorgesetzten handelte. Aber erstens waren Tony und er alte Freunde und zweitens gehörte Tony nicht zu jener Sorte Journalisten, die eine Story völlig in den Vordergrund stellen und die man als Aasgeier und Hyänen bezeichnen kann. Tony war als freier Kriminalreporter für den »Sunday Star« tätig. Für ihn war es wichtiger, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, als auf Schlagzeilen Jagd zu machen. Als David seinen Bericht beendet hatte, reichte er seinem Gegenüber die Fotos vom Fundort und von der Leiche. »Eigentlich kommst du mir gerade recht«, erklärte er dazu. »Da die Tote absolut nichts bei sich hatte, wodurch sie zu identifizieren war, könntest du ein Foto von ihr in deinem Käseblatt bringen. Das…« Er unterbrach sich verblüfft, als er Tonys Reaktion bemerkte. Mit weitaufgerissenen Augen starrte der Reporter auf das Foto des toten Mädchens. Seine Hand, die das Bild hielt, zitterte leicht, als er es langsam vor sich auf den Schreibtisch legte. »Das darf doch nicht wahr sein«, sagte er mehr zu sich selbst. »Sag bloß, du kennst das Mädchen«, wollte der Inspektor wissen. Tony sah auf. Er nickte nur. Als er seinen Freund ansah, da schien er durch ihn hindurchzustarren. Seine Gesichtsfarbe schien sich langsam auf die Farbe einer frischgekalkten Wand zuzubewegen. Offensichtlich hatte ihm der Anblick des toten Mädchens auf dem Foto einen Schock versetzt. Der Inspektor erkannte das und ließ seinem Freund Zeit. Er wußte, daß er in wenigen Augenblicken von sich aus erzählen würde. Fragen würden jetzt keinen Erfolg erzielen. Also lehnte er sich zurück und wartete ab. Nach einer Weile schüttelte Tony, den Kopf, als könne er etwas nicht begreifen. Noch einmal sah er sich die Fotos an, ehe er den Inspektor aus seinem erwartungsvollen Zustand erlöste. »Also, ich glaube, es ist besser, wenn ich dir alles der Reihe nach erzähle. Dazu muß ich ein wenig ausholen. Sei also nicht ungeduldig. Den Namen des Mädchens erfährst du noch früh genug.
Es begann damit, daß ich gestern draußen in Heathrow einen Bekannten abgeholt habe. Dabei fiel mir ein Passagier auf, der mir merkwürdig bekannt vorkam. Erst konnte ich mich nicht erinnern, woher ich ihn kannte, aber dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Der Mann gleicht dem Vampirgrafen, den ich damals in Rumänien zur Strecke gebracht habe, wie ein Ei dem anderen. So etwas von Ähnlichkeit habe ich noch nie gesehen. Ich war lange Zeit der Meinung, es sei mein Feind gewesen, der doch auf geheimnisvolle Weise überlebt hat. Aber der Gedanke ist doch absurd. Je länger ich mich damit beschäftigte, desto unwahrscheinlicher erschien es mir, daß der Kerl überlebt hat. Heute morgen jedoch kamen mir wieder Zweifel, so verrückt es auch klingen mag. In der Zeitung las ich, daß Unbekannte in der Agentur >Wallace and Sons< eingebrochen und den Inhaber niedergeschlagen haben. Das Büro der Agentur ist vollkommen durcheinandergewühlt worden. Ob etwas gestohlen worden ist, konnte noch nicht festgestellt werden. An sich also ein ganz alltäglicher Einbruch, der weder für dich noch für mich von Interesse sein dürfte. Aber jetzt kommt’s. Die Agentur >Wallace and Sons< hat uns damals die Mädchen für den Vampirfilm vermittelt. Und das hier ist Leslie Collins.« Er nahm das Bild der toten Frau auf und hielt es dem Inspektor entgegen. »Auch sie war dabei gewesen. Sie gehörte zu jenen Mädchen, die mit Paul Wakefield, Johnny McAllister und Dave Davidson den Film in den Karpaten drehen wollten, zu dem es dann nicht mehr gekommen ist.« »Hm«, machte der Inspektor nur, nachdem Tony geendet hatte. Eine ganze Weile saßen sich die Männer schweigend gegenüber, dann erhob sich der Kriminalbeamte und verließ das Zimmer für einen Moment. »Ich habe Snyder losgeschickt, damit er die Unterlagen über den Einbruch holt«, erklärte er, als er wieder Platz nahm. »Ich meine zwar, daß deine Phantasie mal wieder mit dir durchgeht, aber wir wollen uns die Sache doch mal genau ansehen. Du weißt ja selbst zur Genüge, wie viele Einbrüche nächtlich in London verübt werden und wie viele Morde geschehen. Daß hier ein Zusammenhang besteht, halte ich für einen reinen Zufall.« Doch der Reporter schüttelte den Kopf.
»Nein, für mich bestehen da eine Menge Zusammenhänge. Ich bin nun versucht, doch daran zu glauben, daß der Vampir noch lebt und jetzt hier in London ist. Wahrscheinlich…« »Du meinst wohl den verrückten Grafen, der sich für einen Vampir hält«, unterbrach ihn David grinsend. Tony seufzte und hob in einer hilflos erscheinenden Gebärde die Hände. »Na gut, dann eben den Verrückten. Ich kann mich auf den Kopf stellen, du glaubst mir einfach nicht. Aber ich kann es dir auch nicht verübeln. Ich selbst hätte damals auch jeden für verrückt gehalten, der an die Existenz von Vampiren geglaubt hätte. Doch laß uns nicht abschweifen. Nehmen wir also mal an, der Graf hat tatsächlich überlebt und ist jetzt wieder nach London zurückgekehrt. Wahrscheinlich will er Rache nehmen an mir und allen Überlebenden der Filmexpedition. Sein erster Schritt war der Einbruch in die Künstleragentur. Dort hat er sich aus den Karteien die Anschriften der Mädchen besorgt, die damals dabei waren. Und dann hat er sofort zugeschlagen. Leslie Collins ist sein erste Opfer geworden. Sag, hat euer Doc schon die genaue Todesursache festgestellt? Hat er irgend etwas Ungewöhnliches an der Leiche entdeckt?« »Wenn du die typischen Bißmale am Hals meinst, dann muß ich dich enttäuschen. Sie ist eindeutig erwürgt und dann in die Themse geworfen worden. Wir haben anhand des Todeszeitpunktes und der Strömungsgeschwindigkeit der Themse versucht, die Stelle zu finden, an der der Mord verübt worden ist oder an der sie ins Wasser geworfen worden ist. Aber das hat uns bisher nichts eingebracht, obwohl wir den ganzen Tag das Themseufer abgesucht haben.« »Nun gut, das hat nicht viel zu bedeuten. Vielleicht hat er sie wirklich nur erwürgt, um uns zu täuschen. Er weiß ja nun, daß wir seine Existenz kennen. Wenn wir eine Tote mit Bißspuren am Hals finden, dann wissen wir Bescheid. Beziehungsweise, ich weiß Bescheid«, verbesserte er sich sofort. »Wir müssen jetzt so schnell wie möglich die übrigen Girls auftreiben, um weiteres Unheil zu verhindern. Ich rechne damit, daß der Vampir noch in dieser Nacht wieder zuschlagen wird. Ich schlage vor, daß ich sofort Paul Wakefield aufsuchen werde. Viel-
leicht kann er mir die Adressen der ehemaligen Komparsinnen besorgen. Und du könntest…« »O nein, Tony Wilkins«, warf der Inspektor rasch ein. Abwehrend hob er seine Arme. »Laß mich ruhig aus dem Spiel. Die Steuerzahler greifen dafür in die Tasche, daß ich Verbrecher fange und nicht dafür, daß ich einem bestimmten Reporter helfe, hinter irgendwelchen ominösen Phantasiegestalten herzujagen. Sei mir nicht böse, Tony, aber ich kann dir deine Geschichte einfach nicht abkaufen. Nicht, daß du für mich unglaubwürdig bist, das ist es nicht. Aber ich sehe einfach keine Zusammenhänge zwischen deinem toten rumänischen Grafen, dem Einbruch und dem Mord an Leslie Collins. Du weißt, daß ich damals beinahe an die Existenz eines Vampirs geglaubt hatte. Aber für mich ist und bleibt der Kerl, der die jungen Frauen umgebracht und ihnen das Blut ausgesaugt hat, ein Psychopath mit abnormen krankhaften Neigungen. Und nach deinem Bericht und den Aussagen der Zeugen müßte er eigentlich tot und zu Asche verbrannt sein.« Tony hatte sich erhoben und war bereits an der Tür. Er ließ die Klinke jedoch los und wandte sich um, als sein Freund weitersprach. »Nicht so eilig, Tony. Laß mich ausreden. Du hast mir sehr viel Arbeit erspart, indem du mir den Namen des Opfers genannt hast. Deshalb werde ich mich jetzt sofort zum Hospital begeben und Mr. Wallace befragen. Wenn ich etwas Interessantes von ihm erfahre, gebe ich dir sofort Bescheid. Dann werden wir weitersehen. Zufrieden?« Der Reporter nickte ihm nur zu, dann verließ er das Dienstzimmer des Inspektors. Er hatte es jetzt sehr eilig. * Vor nicht allzulanger Zeit war Paul D. Wakefield ein sehr vielversprechender junger Filmregisseur gewesen. Er hatte am Beginn einer internationalen Karriere gestanden. Doch die furchtbaren Ereignisse in jenem unheimlichen Schloß in den Karpaten hatten ihn weit zurückgeworfen.
Der Tod von Karen Cummings und seiner Freunde Johnny und Dave hatte ihm einen schweren Schock versetzt, der sich erst nach seiner Rückkehr von Rumänien bemerkbar gemacht hatte. Nach einer mehrmonatigen psychiatrischen Behandlung lebte er jetzt zurückgezogen in einer kleinen Wohnung im Londoner Stadtteil Belgravia. Das Interesse am Filmen hatte er völlig verloren. Er lebte praktisch in den Tag hinein und vermied geradezu ängstlich Kontakte zu anderen Menschen. Deshalb war er auch ziemlich erstaunt, als Tony Wilkins ihn an diesem Abend besuchte. Trotzdem aber begrüßte er seinen alten Freund recht herzlich. Sie hatten sich einige Wochen lang nicht mehr gesehen. Jetzt aber war es an Tony, erstaunt zu sein, denn Paul bat ihn in die Küche. Er entschuldigte sich wiederholt damit, daß er Besuch habe und deshalb für ihn nur wenig Zeit habe. Irgendwie wirkte er sehr verstört und fahrig. Doch Tony achtete nicht weiter darauf. Er war nur darauf konzentriert, so rasch wie möglich die Anschriften der Mädchen in Erfahrung zu bringen. Sein Gefühl sagte ihm, daß er dem Mörder zuvorkommen mußte. Doch Paul sah ihn nur fragend an, als er nach den zwölf jungen Frauen fragte. Er konnte sich nur noch daran erinnern, daß sie damals von »Wallace and Sons« vermittelt worden waren. Auch besaß er keinerlei Unterlagen mehr über das verhängnisvolle Filmprojekt. Obwohl Paul sich bemühte, freundlich und höflich zu sein, erkannte Tony doch, daß er ihn so schnell wie möglich loswerden wollte. Ob sein Besuch weiblichen Geschlechts war? Wenn das so war, dann war das nur von Vorteil für Paul, Das würde ihm sicher helfen, über den Tod von Karen Cummings hinwegzukommen. Also verabschiedete sich Tony rasch wieder und ging. Unter normalen Umständen hätte er sich gerne Pauls Besuch angesehen, aber dazu hatte er jetzt keine Zeit. Nachdem er gegangen war, eilte Paul ins Wohnzimmer. Dort erwartete sie ihn. Sie hatte sich auf seiner Schlafcouch ausgestreckt. Ihre Pose erinnerte irgendwie an eine bestimmte Sorte von Pinup-Fotos. Und doch verfehlte sie ihre Wirkung auf Paul nicht. Er spürte, wie sein Herz hart schlug, als er sich ihr langsam näherte. Sie hatte die Arme verlangend nach ihm ausgestreckt. Ihre Augen lächelten ihn an. Für einen Moment hatte er den Eindruck,
daß da hinter dem Lächeln etwas Kaltes, Drohendes war. Doch dieser flüchtige Eindruck schwand sofort, als sie flüsterte: »Komm, Paul!« Er war sich überhaupt nicht der seltsamen Situation bewußt. Ihn beherrschte nur der Wunsch, diese Frau zu besitzen. Nur flüchtig konnte er sich daran erinnern, daß sie erst vor einer knappen Stunde gekommen war. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen; und dennoch hatte sofort eine gewisse Vertrautheit zwischen ihnen bestanden. Sie war groß und besaß eine Figur, von der unzählige Frauen nur träumen konnten. Ihr langes, schwarzes Haar fiel locker bis auf die Schultern herab und umrahmte ein feingeschnittenes Gesicht mit dunklen Augen von undefinierbarer Farbe. Ihrer Aussprache nach schien sie Amerikanerin zu sein. Ein seltsames Schwindelgefühl ergriff von ihm Besitz, als sie ihn zu sich herabzog. Fast gegen seinen Willen schloß er die Augen. Und so entging ihm auch, daß die Frau den Mund öffnete und sich mit der Zungenspitze scheinbar genießerisch über die beiden spitzen, weit aus dem Oberkiefer herausragenden Eckzähne fuhr. Hätte er es gesehen, hätte es vielleicht noch Rettung für ihn gegeben. So aber sank er ahnungslos in ihre Arme, wo das Grauen und das Verderben auf ihn warteten. Als dann wenig später ihre Zähne spielerisch an seinem Ohrläppchen knabberten, da war es schon zu spät für ihn. Plötzlich spürte er, wie sich ihr gesamter Körper versteifte. Für einen winzigen Augenblick mußte er an ein Raubtier denken, dessen Muskeln sich zum entscheidenden Sprung auf die Beute zusammenzogen und spannten. Ihr Mund glitt rasch tiefer bis zu seinem Hals. Es erinnerte ihn vage an etwas Fürchterliches; und er riß die Augen auf und lockerte seinen Griff um ihren Körper. Doch da drückte sie ihm einen sanften Kuß auf den Hals. Zufrieden entspannte er sich wieder und schloß die Augen. Da biß sie zu… *
»Sandra, grüß dich. Gott sei Dank treffe ich dich endlich an. Ich brauche deine Hilfe. Es ist sehr eilig und sehr wichtig.« Tony hatte im Laufe des Tages wiederholt vergeblich bei Sandra Dennison angerufen. Nachdem Inspektor Simms bei seinem Besuch im Krankenhaus absolut nichts von dem Überfallenen Agenturinhaber erfahren hatte, war Sandra seine letzte Hoffnung. Sandra war ebenfalls dabeigewesen. Sie war eines der Mädchen gewesen, das in Paul Wakefields Film eines der Vampiropfer hatte spielen sollen. Aus dem Vorhaben wäre auch für sie beinahe blutiger Ernst geworden. Während ihrer Rückreise aus Rumänien hatten sich Tony und Sandra angefreundet und sich seitdem oft getroffen. »Hallo, Tony«, begrüßte sie ihn. »Es wurde aber auch langsam Zeit, daß du dich meldest. Ich hatte schon befürchtet, daß du mich vergessen hast. Was kann ich denn für dich tun, Tony?« »Weißt du noch die Namen der Girls, die damals mit uns in Rumänien waren? Ich brauche ganz dringend die Namen und vor allem die Anschriften. Es geht…« Er brach plötzlich ab. An das Naheliegende hatte er bisher überhaupt nicht gedacht. Erst jetzt fiel ihm siedendheiß ein, daß ja auch Sandra in höchster Gefahr schwebte. »Sandra, jetzt höre mir bitte gut zu«, stieß er hervor. »Du bist in höchster Lebensgefahr. Ich kann es dir jetzt hier am Telefon nicht erklären. Aber ich bitte dich eindringlich, sofort alle Fenster und Türen zu verriegeln. Ich komme sofort und werde dir alles erklären. Laß unter keinen Umständen jemanden in die Wohnung. Hörst du; unter gar keinen Umständen. Ich bin gleich bei dir und werde zweimal kurz und zweimal lang klingelnd. Hast du verstanden, Sandra?« Sie zögerte ein wenig, ehe sie leise bejahte. Da legte Tony auf und verließ die Telefonzelle. Er wollte sich in seinen Wagen setzen, überlegte es sich dann jedoch anders. Mit dem Wagen würde er ungefähr eine halbe Stunde benötigen, vorausgesetzt, die Verkehrsdichte ließ es zu. Da ging es mit der U-Bahn doch wesentlich schneller, zumal die Station nur etwa 300 Meter von Sandras Wohnung entfernt lag. Er hastete los zur nächsten Station, die glücklicherweise ebenfalls in unmittelbarer Nähe war. Der Gedanke, daß Sandra als nächstes Opfer des Vampirs ausersehen sein konnte, trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn und beschleunigte seine Schritte.
Ungeduldig wartete er dann auf den Zug, sprang hinein, als er endlich kam und schaute während der endlos lang erscheinenden Fahrt fortwährend auf die Uhr. Endlich hielt das Fahrzeug an der Station. Tony sprang hinaus und hastete die Rolltreppe hinauf, weil es ihm zu langsam ging. Keuchend und mit Seitenstichen erreichte er endlich das alte Haus, in dem Sandra ihre Wohnung hatte. Rasch drückte er auf den Klingelknopf, zweimal kurz und zweimal lang. Doch nichts tat sich daraufhin. Vergeblich wartete er auf das Summen des elektrischen Türöffners. Noch einmal betätigte er die Klingel. Wieder nichts. Die Angst um Sandra überschwemmte einer gewaltigen Woge gleich sein Denken. Einen Moment lang stand er vollkommen hilflos da und starrte auf die Klingeln mit den Namensschildern. Er war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch dann riß er sich zusammen. Entschlossen preßte er die Handfläche gegen alle Klingelknöpfe. Von Sandra wußte er, daß außer ihr noch vier Mietparteien in diesem Haus wohnten. Eine weitere Wohnung stand schon seit Monaten leer. Jemand mußte ganz einfach zu Hause sein und ihm öffnen. Aber seine Hoffnung trog. Nichts tat sich. Nachdem er noch einmal auf Sandras Klingel gedrückt hatte, wandte er sich ab und lief zur Toreinfahrt, durch die man auf den Hof gelangte. Dort wußte er eine kleine, schmale Kellertür. Alle möglichen Gedanken schossen ihm durch den Kopf, während er auf den Hof hastete, die schmale Treppe an der Rückfront des Hauses hinunterstürzte und nach der Türklinke griff. Ein kurzer Blick nach oben hatte ihm gezeigt, daß nur die Fenster von Sandras Wohnung erleuchtet waren. Die Kellertür war wider Erwarten verschlossen. Tony überlegte nicht lange, sondern trat zwei Schritte zurück und warf sich dann gegen die Holztür. Sie gab knirschend und krachend nach. Tony stolperte über die Trümmer hinweg in den finsteren Kellergang hinein. Seine tastende Hand fand auch rasch den Lichtschalter. Gebeugt und den Kopf zwischen die Schultern gezogen, rannte er den schmalen, niedrigen Gang entlang auf die Treppe zu, die nach vorne zum Hausflur führte. Dort oben war eine weitere Tür, die aber zum Glück nicht verschlossen war.
Im Hausflur angelangt, verhielt er einen Moment lauschend. Im ersten Moment war es still, doch dann drang von oben ein Poltern an seine Ohren. Etwas zerbrach klirrend; und dann ertönte ein gellender Schrei. Sandra! Mit gewaltigen Sätzen hastete er die Treppe hinauf. Dann warf er sich gegen ihre Wohnungstür, hämmerte mit den Fäusten dagegen und schrie Sandras Namen. Diese Tür jedoch war zu stabil, als daß er sie eintreten konnte. Aber er versuchte es und warf sich immer wieder dagegen. Schließlich hörte er von drinnen ein weiteres Poltern; dann war es absolut still. Er glaubte, daß sein Herzschlag jeden Augenblick auszusetzen drohte. In ohnmächtiger Wut schloß er die Augen und hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. Ich bin zu spät gekommen, durchfuhr es ihn. Ich hätte eher daran denken müssen. Es ist meine Schuld. Und dann glaubte er seinen Ohren nicht zu trauen, als er leise, zaghafte Schritte hörte, die sich drinnen der Tür näherten. Der Riegel wurde zurückgeschoben, ein Schlüssel im Schloß herumgedreht, und dann schwang die Tür langsam auf. Mit einem Aufschrei, in den sich die Erleichterung in das erlebte Grauen mischten, warf sie sich in seine Arme. Tony atmete erleichtert auf. Seine linke Hand streichelte sanft ihren Rücken, während er ihr mit der anderen Hand zärtlich über das Haar fuhr. Dabei stellte er fest, daß ihr Kleid an einigen Stellen zerrissen war. Sie hatte sich anscheinend wie eine Tigerin gewehrt. Eine ganze Weile wurde ihr Körper von heftigem Schluchzen geschüttelt. Tony ließ ihr Zeit. Er wußte, was sie erlebt hatte und wie ihr jetzt zumute war. Dann sah sie auf und ihm in die Augen. »Tony, er lebt«, stieß sie hervor, von neuerlichem Schluchzen begleitet. »Er war hier und wollte mich umbringen. Es war furchtbar. O Tony, ich bin ja so froh, daß du gekommen bist. Wenn du jetzt nicht gekommen wärst, dann hätte er mich bereits getötet. Tony, sag, wie ist es möglich, daß er noch lebt?« Sein Schulterzucken drückte seine ganze Rat- und auch Hilflosigkeit aus. Diese Frage hatte er sich selbst bereits oft genug gestellt. Und sie war bisher unbeantwortet geblieben. Es gab einfach keine akzeptable Erklärung dafür.
Nachdem sich Sandra einigermaßen erholt hatte, setzten sie sich erst einmal hin. Tony erzählte ihr alles, was sich seit seiner Begegnung im Flughafen ereignet hatte. * Allmählich begann sich Margaret Lockwood doch Sorgen zu machen. Leslie war jetzt schon den zweiten Tag nicht nach Hause gekommen. Das war zwar schon einige Male geschehen, aber bisher hatte sie jedesmal hinterlassen, wo sie anzutreffen war oder aber sie hatte sich telefonisch gemeldet. Doch jetzt war es völlig anders. Sie war praktisch von einem Augenblick zum anderen spurlos verschwunden. Was mochte geschehen sein? Hatte sie ganz plötzlich einen guten Job bekommen? Oder steckte ein Mann dahinter? Aber das konnte es nicht sein, denn in beiden Fällen hätte sie sich auf jeden Fall bei ihr gemeldet. Die beiden jungen Frauen hatten sich kennengelernt, als sie nach Rumänien gereist waren, um dort einen Vampirfilm zu drehen. Nach den schrecklichen Ereignissen dort, die sie beide gewaltsam aus ihren Erinnerungen verdrängt hatten, waren sie zusammengeblieben. Sie hatten ein geräumiges Appartement gemietet, das sie gemeinsam bewohnten. Für die Miete und den Lebensunterhalt kamen sie entweder zusammen auf oder aber immer derjenige, der gerade einen Job hatte. Es hatte einige Leute aus ihrem Bekanntenkreis gegeben, die sie für Lesbierinnen gehalten hatten. Doch es hatte ihnen wenig Mühe gemacht, sie alle vom Gegenteil zu überzeugen. Sie waren ganz einfach nur zwei junge Frauen, die sich sehr gut verstanden. Margaret hatte bereits etliche Telefonate geführt, doch niemand hatte ihr sagen können, wo Leslie augenblicklich steckte. Auch bei der Agentur >Wallace and Sons< hatte sie wiederholt angerufen. Vielleicht hatte man ihr dort einen besonders eiligen Auftrag vermittelt. Doch in der Agentur meldete sich niemand. Immer wieder drängte sie die aufkommenden Gedanken an einen Unfall oder dergleichen beiseite. Sie sagte sich, daß Leslie sicher nur verhindert war, sich zu melden und dies bald nachholen würde. Also wartete sie noch ab. Eine Verabredung mit Tom
hatte sie schweren Herzens abgesagt, um zu Hause zu sein, wenn Leslie anrief. Schließlich war bereits der Abend hereingebrochen; und das Telefon war stummgeblieben. Sie legte die Zeitschrift beiseite, in der sie lustlos geblättert hatte und stand auf. Ihre Nervosität nahm spürbar zu. Plötzlich bekam sie das unerklärliche Verlangen nach einem heißen Bad. Vielleicht würde es helfen, sie zu beruhigen. Als sie sich wenige Minuten später wohlig im heißen Wasser räkelte, da wurde sie tatsächlich ruhiger. Das Telefon hatte sie in Reichweite gestellt, ebenso einen Drink. Gerade als sie zum Glas griff, da hörte sie ein leises Geräusch von der Wohnungstür her. Das konnte nur Leslie sein. Erleichtert atmete sie auf. Gleichzeitig grinste sie amüsiert, als sie daran dachte, was Leslie ihr jetzt wohl alles zu berichten haben würde. Sie konnte nicht leugnen, daß sie unwahrscheinlich neugierig war. »Leslie!« rief sie. »Ich bin im Bad!« Doch Leslie antwortete nicht. Es war nichts zu hören, also schien sie sich getäuscht zu haben. Margaret nahm einen Schluck und stellte das Glas auf den Rand der Badewanne. Da hörte sie leise Schritte, die sich der Badezimmertür näherten. »Leslie?« Keine Antwort. Auch die Schritte waren nicht mehr zu hören. War das etwa nicht Leslie? Wer aber konnte es dann sein? Einen Schlüssel besaßen doch nur sie beide. Wieder war die Sorge um die Freundin da, gepaart mit Angst. Sie streckte die Hand nach dem Telefon aus. Eine innere Stimme riet ihr, sofort die Polizei anzurufen. Aber dann zog sie die Hand wieder zurück. Wenn es doch nur Leslie war, die sich einen Scherz mit ihr erlaubte, dann würde sie sich nur unnötig blamieren. Und in diesem Moment ertönte laute Musik aus dem Wohnzimmer. Erleichtert ließ sie sich zurücksinken und schloß einen Moment die Augen. Also doch Leslie. Es war eine Angewohnheit von ihr, wenn sie nach Hause kam, immer sofort das Radio oder den Fernseher einzuschalten. Manchmal ein wenig zu laut, so daß sie schon einige Male Ärger mit den Nachbarn bekommen hatten. Auch jetzt war es wieder einige Phon zu laut.
Margaret öffnete die Augen und sah, wie sich die Badezimmertür langsam öffnete. Rasch nahm sie ihr Glas und trank den Whisky aus. Und dann traf sie der Schock mit brutaler Gewalt. Das Glas entglitt ihren Fingern und zerschellte klirrend am Boden. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, der ihr aber vor Entsetzen in der Kehle steckenblieb. Es war nicht Leslie, die nun in der Tür stand, sondern ein Mann. Ein Mann, an den sie nur mit Schaudern dachte und der eigentlich tot sein müßte. Aber er war es, daran gab es keinen Zweifel. Es waren vor allen Dingen seine Augen, die jeden Zweifel ausschlossen. Während ihre Gedanken in einem wilden Strudel kreisten, sah sie wieder das Bild vor Augen, als dieser Mann mit durchbohrtem Herzen starb und sich in eine riesige Fledermaus verwandelte. Und sie sah auch noch, wie nach ihrer Flucht die Flammen aus dem Schloß in den Himmel züngelten. Und jetzt stand dieser Mann vor ihr. Wie war das möglich? War sie verrückt geworden, daß sie ihren Wahrnehmungen nicht mehr trauen konnte? Als sich jetzt der Unheimliche in Bewegung setzte und sich ihr näherte, da kroch sie förmlich in sich zusammen. Mit einer völlig sinnlosen Geste bedeckte sie ihre Blößen, obwohl ihr völlig klar war, daß er nicht gekommen war, um sich an ihrem nackten Körper zu ergötzen. Und dann war er auch schon bei ihr und beugte sich über sie. Sie schrie auf, doch da schoß seine Hand vor und preßte sich auf ihren Mund. Der Gedanke an Widerstand kam ihr, doch ein Blick in seine Augen zeigte ihr, wie sinnlos Gegenwehr sein würde. Außerdem war da etwas in seinen Augen, das ihren Blick anzog und festsaugte. Sie war nicht in der Lage, den Blick von ihm zu nehmen. Gleichzeitig spürte sie, wie ihr die Gedanken entglitten. Eine wohltuende Müdigkeit ergriff von ihrem Körper Besitz. Und noch etwas anderes war zu spüren; etwas, das im Gegensatz zu der Müdigkeit stand, ein wildes, unbezähmbares Verlangen. Sie schloß die Augen und gab sich diesem Gefühl hin. Die Hand verschwand von ihrem Mund. Nahezu im gleichen Moment kam wie ein Hauch die Berührung seiner Lippen.
Vergessen waren schlagartig Angst und Entsetzen. Sie streckte die Arme nach ihm aus und genoß seine Zärtlichkeiten. Aber dann kam der Augenblick, in dem er seine wahre Natur offenbarte. Seine Zunge glitt wie spielerisch über ihren Hals. Dann biß er übergangslos zu. Als es vorbei war, sah er auf ihren nackten, verkrampften Körper herab. Sie war unwiderruflich tot und damit wertlos für ihn. Wie die meisten Frauen, so war auch sie während des Bisses an Herzversagen gestorben. Sie würde dadurch keine Untote werden. Er sah sich rasch im Badezimmer um und entdeckte schließlich eine Schere. Damit beugte er sich über die Tote und stach zu, wobei er mit Bedacht die Stelle wählte, an der er vorhin zugebissen hatte. Das würde alle Spuren verwischen, die auf ihn deuten konnten. Dann drehte er den Wasserhahn auf und zog den Stöpsel aus der Wanne. Gleichmütig sah er zu, wie der letzte Rest Blut aus ihrem Körper lief, sich mit dem Badewasser mischte und schließlich im Abfluß verschwand. Wenig später verließ er die Wohnung, lautlos und unbemerkt, so wie er gekommen war. * »Hier muß es sein. Sie wohnen in Nr. 49.« »Gut, dann wollen wir sie warnen. Ich hoffe nur, daß wir nicht zu spät kommen.« Tony ließ den Wagen ausrollen. Während er den Zündschlüssel abzog, warf er einen prüfenden Blick an der Fassade des alten, schmalen Hauses entlang. Vier der Fenster waren erleuchtet. Welches davon zu der Wohnung von Margaret Lockwood und Leslie Collins gehörte, wußte er allerdings nicht. Sie stiegen aus und näherten sich mit raschen Schritten dem Eingang. Der Anordnung der Klingel entnahm Tony, daß die beiden jungen Frauen im zweiten Stock wohnten. Dort war auch hinter einem der Fenster Licht gewesen. Die Haustür war geschlossen, doch als Tony dagegendrückte, gab sie nach. Offenbar war das Schloß defekt. Das paßte auch zu dem schlechten äußeren Zustand das Hauses. Sandra drückte
den Lichtschalter. Augenblicklich flammte das Licht auf. Sie sahen einen langen, schmalen Hausflur, an dessen Ende eine Holztreppe zu den oberen Etagen führte. Sie hielten sich nicht damit auf, erst unten zu klingeln, sondern schritten sofort auf die Treppe zu. Nach wenigen Stufen blieb Tony plötzlich stehen und hielt Sandra am Arm fest. Sie sah ihn fragend an. Er legte den Zeigefinger an die Lippen. Und da hörte sie es selbst. Irgendwo über ihnen wurde eine Tür geschlossen, leise zwar, aber dennoch vernehmbar. Schritte näherten sich der Treppe. Auch sie waren leise, als stehle sich da jemand davon. Dann knarrten einige Stufen, als die Schritte näherkamen. Tony blieb stehen und wartete. Es konnte ein Hausbewohner oder auch ein Besucher sein, der jetzt die Treppe hinunterkam. Aber irgendwie war er argwöhnisch. Seit er wußte, daß der Vampir noch am Leben und sogar hier in London war, da mußte er jederzeit mit dem Schlimmsten rechnen. Die leichten, kaum hörbaren Schritte kamen näher, erreichten den Treppenabsatz und verhielten. Tony beugte lauschend den Kopf vor, doch es blieb still da oben, nur wenige Meter entfernt. Wieder knarrte eine Stufe und bewies, daß da doch jemand war. Sandra drängte sich gegen ihn, als würde sie Schutz bei ihm suchen. Offensichtlich spürte sie auch, daß hier etwas nicht stimmte. Oder war es nur die Spannung? Und dann schrie sie entsetzt auf. Über ihnen, nur gut ein Dutzend Stufen von ihnen entfernt, stand er. Lautlos war er plötzlich hinter dem Treppenabsatz hervorgetreten. Er war es, es gab keinen Zweifel mehr. Es war der Mann, den sie damals als Graf Andraj Swaslow kennen- und als Vampir fürchten gelernt hatten. Der Unheimliche überwand zuerst seine Überraschung. Während Tony wie gelähmt dastand und zu ihm heraufsah, verschränkte er seine Arme vor der Brust. »Sieh an, wie klein doch die Welt ist. Mein guter, alter Freund Tony Wilkins. Der Mann, der geglaubt hat, mich vernichten zu können. Nun, du hättest es beinahe geschafft, aber auch nur beinahe. Und jetzt bekommst du die Quittung dafür. Du hast es gewagt, dich gegen mich zu stellen.
Dir ist doch wohl klar, daß du dafür den Tod verdient hast. Aber dein Tod wird nur vorübergehend sein, denn danach erst wird das wahre Leben für dich beginnen, ein Leben, das mir gehören wird. Und nun…« Das kalte Lächeln wich nicht von seinen Zügen, als er die Arme ausbreitete und sprang. Doch Tony hatte inzwischen seine Überraschung überwunden. Er stieß Sandra von sich, daß sie zurücktaumelte. »Lauf!« rief er. »Hol Hilfe!« Dann warf er sich blitzschnell zur Seite. Der Graf flog an ihm vorbei, krachte auf die ausgetretenen Stufen und rutschte hinunter bis zum Ende der Treppe. Sandra klammerte sich angstvoll ans Treppengeländer und sah ihm mit weit aufgerissenen Augen nach. Der Weg nach unten war ihr nun versperrt. Tony war mit zwei Schritten bei ihr und faßte sie am Arm. »Schnell, nach oben«, flüsterte er ihr zu. »Sieh zu, daß du an ein Telefon gelangst. Ruf den Yard an und laß dir Inspektor Simms geben.« Sie nickte ihm zu und gehorchte. Rasch eilte sie an ihm vorbei nach oben. Es wurde auch höchste Zeit, denn der Vampir war wieder auf die Beine gekommen und stürmte jetzt mit großen Schritten die Treppe hinauf. Tony empfing ihn mit einem gewaltigen Fußtritt. Wieder verlor sein Gegner den Halt und fiel rücklings die Treppe hinunter. Jeder normale Mensch hätte sich bei diesem Sturz die Knochen oder sogar das Genick gebrochen. Doch dem Vampir machte weder der Tritt noch der Sturz das Geringste aus. Tony wußte das. Aber es kam ihm hauptsächlich darauf an, Zeit für Sandra zu gewinnen. Er hörte, wie sie die Treppe über ihm hinaufrannte. Wenige Sekunden später verstummte das Geräusch, ehe eine Tür ins Schloß fiel. Da atmete er auf. Sie jedenfalls war schon mal in Sicherheit. Und sie würde sofort Hilfe herbeirufen. Als der Rumäne diesmal wieder zu ihm hinaufkam, ließ er sich etwas mehr Zeit. Tony wich langsam zurück, bis er schließlich auf dem Treppenabsatz stand. Unaufhaltsam näherte sich der unheimliche Gegner. Wieder versuchte es Tony mit einem wuchtigen Tritt. Doch jetzt wich der Vampir mit einer blitzschnellen Bewegung aus. Seine Hand schnellte vor und erwischte Tonys Fuß. Ein kurzer Ruck; und Tony krachte schwer zu Boden. Trotz der Schmerzwel-
le, die seinen Körper durchtobte, wälzte er sich rasch zur Seite. Keine Sekunde zu früh, denn neben ihm prallte der Gegner auf den Boden. Ächzend kam Tony auf die Beine. Der Blutgraf kniete noch am Boden. Tony nutzte die Chance. Er faltete die Hände, hob die Arme und ließ sie mit aller Kraft auf den Nacken des Feindes herabsausen. Der Hieb streckte ihn zwar zu Boden, erzielte aber sonst keine Wirkung. Unschlüssig starrte Tony einen Moment auf seinen Gegner, der sich langsam herumwälzte und sich aufrichtete. Ihm war klar, daß er ihn nicht besiegen konnte. Alles, was er erreichen konnte, war Zeit zu gewinnen. Aber mit jedem Schlag, den er anbringen konnte, würde auch seine Kraft erlahmen. Es war deshalb fraglich, ob die Polizei rechtzeitig hier sein würde. Mit einer halben Stunde mußte er mindestens rechnen. Da er sich nicht sicher war, ob er so lange würde durchhalten können, entschloß er sich, erst einmal einen gewissen Abstand zwischen sich und den Vampir zu bringen. Also drehte er sich um und hastete die Treppe empor. Doch er kam nicht weit. Gerade passierte er die Wohnungstür im ersten Stock, da wurde er am Arm gepackt und herumgerissen. Sein Gegner hatte ihn eingeholt. Blindlings schlug Tony zu. Er traf, und der Griff an seinem Arm löste sich. Der Schwung ließ ihn zurücktaumeln. Die Tür krachte und knirschte bedenklich, als er dagegenprallte, doch sie hielt noch stand. Es schien, als habe der Vampir bis jetzt nur mit ihm gespielt. Jetzt war er mit einem gewaltigen Satz bei dem Reporter, wischte dessen Arme mit einer leichten Handbewegung beiseite und griff zu. Seine Hände legten sich um Tonys Hals und drückten langsam zu. Verzweifelt schlug Tony um sich, doch seine Gegenwehr zeigte keinerlei Erfolg. Unbarmherzig verstärkte sich der tödliche Druck um seinen Hals. Die Finger des Vampirs glichen Stahlklammern. Tony versuchte vergeblich, die kleinen Finger des Gegners umzubiegen. Sie ließen sich um keinen Millimeter bewegen. Schon schnappte Tony verzweifelt nach Luft, da gab plötzlich die Tür in seinem Rücken nach. Er stürzte hintenüber, zog den Gegner mit sich und stieß mit jemanden zusammen. Dann schlug er schwer zu Boden. Der Vampir fiel auf ihn. Voller Erleichterung registrierte Tony, daß der
mörderische Druck nachließ. Gierig schnappte er nach Luft und genoß das Gefühl, wieder ohne Behinderung atmen zu können. Durch die tanzenden Schleier vor seinen Augen sah er, daß sich jemand über sie beugte. Er konnte aber nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Die polternde Stimme jedoch klärte ihn sofort auf. »Ihr seid wohl verrückt geworden. Wenn ihr euch schon prügeln müßt, dann macht das draußen. Und jetzt verschwindet. Aber schnell, sonst hole ich die Polizei.« Gleichzeitig mit den Worten erreichte Tony ein wahrer Schwall übelriechender Luft. Er verzog angewidert das Gesicht und drehte den Kopf etwas zur Seite. Dabei fiel sein Blick, der sich inzwischen geklärt hatte, auf den Vampir. Er kniete etwa zwei Schritte vor ihm auf dem Boden und starrte zu dem Mann empor, mit dessen Tür sie praktisch ins Haus gefallen waren. Sein Gesicht hatte sich verzerrt und drückte Abscheu aus. Er wich langsam zurück und richtete sich dabei auf. Und dann glaubte Tony seinen Augen nicht zu trauen. Der Vampir faßte sich mit der Hand an den Hals und begann zu würgen. Plötzlich sprang er auf, drehte sich übergangslos um und rannte davon. Verblüfft schaute ihm Tony nach. Er verstand die Welt auf einmal nicht mehr. Was mochte seinen Gegner wohl dazu bewogen haben, einfach aufzugeben und zu verschwinden? Als Tony sich schließlich ächzend aufrappelte, da fiel bei ihm der Groschen. Jetzt erst konnte er den »Duft«, den der Wohnungsinhaber ausströmte, definieren. Es war Knoblauch und zwar in einer unwahrscheinlichen Konzentration. * Was Tony beim Eintreten entgegenschlug, das konnte man mit Fug und Recht als dicke Luft bezeichnen. Daß er es hier würde lange aushalten können, das bezweifelte er. Aber was er vorhatte, würde wohl nicht sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Und Zeit war sowieso etwas, was er viel zuwenig zur Verfügung hatte. Er bahnte sich einen Weg durch die Tisch- und Bankreihen zur Theke. Jeder Quadratmeter Fläche war hier durch alle nur er-
denklichen Sitzgelegenheiten genutzt, was bei der geringen Größe der Wirtschaft auch nur allzu verständlich war. Der »Mini-Pub« war außerordentlich gut besucht. Tony schätzte nach einem Rundblick, daß sich gut 60 Personen hier aufhielten, obwohl der Raum höchstens für die halbe Anzahl geeignet war. Aber das spielte keine Rolle, denn dieser Pub vermittelte seinen Gästen die für englische Pubs so charakteristische Gemütlichkeit. An der Theke standen die Gäste in dicht gedrängten Zweierreihen. Fast alle waren in mehr oder weniger angeregte Gespräche vertieft. Tony wunderte sich darüber, denn die Musikbox schleuderte ihre Klänge geradezu in den Raum. Elvis »It’s now or never« mochte Tony zwar auch, aber nicht in einer derart trommelfellzerfetzenden Lautstärke. Als einer der Männer an der Theke zur Toilette torkelte, schlüpfte Tony rasch in die entstandene Lücke. Bei dem schmalen, blaßgesichtigen Keeper bestellte er sich ein Glas Stout. Als die Bestellung kam, verklangen gerade die letzten Akkorde des Oldies. Tony nutzte die Pause bis zur nächsten Platte zu einer Frage an den Wirt. »Ich suche Linda Black. Können Sie mir sagen, wo ich sie finden kann?« Der kleine, blasse Mann sah ihn einen Moment erstaunt an. Dann hob er einfach den Arm und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger an Tony vorbei. Langsam drehte sich Tony herum und spähte in die angegebene Richtung. Durch die wahren Wolken von Tabaksqualm hindurch sah er schließlich an einem der Tische in der Ecke eine Frau sitzen. Vor sich ein leeres Glas, das sie wie geistesabwesend in den Fingern drehte, starrte sie vor sich hin. Ihr Gesicht konnte Tony nicht erkennen. Ihre Kleidung war einfach und nicht sehr modisch. Sie sagte nichts über ihr Alter aus. »Ist sie das?« Da inzwischen die Beatles ihr weltberühmtes »Yeah, Yeah!« aus der Box dröhnen ließen, mußte Tony brüllen. Der Wirt nickte nur. Als Tony sein Glas nahm und sich in Bewegung setzte, da beugte sich der Wirt über die Theke und hielt ihn am Oberarm zurück. Tony blickte ihn fragend an. Der Keeper schob ihm ein gefülltes Glas zu. »Nehmen Sie das mit, sonst ist jede Unterhaltung sinnlos. Sie ist schon seit Stunden trocken. Und in diesem Zustand ist nichts mit ihr anzufangen«, erklärte er.
Nachdem Tony ihm sein Ohr entgegengehalten hatte, verstand er den gutgemeinten Rat beim zweiten Anlauf. Er zahlte, nahm das zweite Glas und den Slalomlauf zu dem Ecktisch in Angriff. Neben der Frau war noch ein Platz frei. Zufall oder Absicht? Fast sah es so aus, als wolle niemand etwas mit ihr zu tun haben. Tony ließ sich neben ihr nieder und schob ihr das Glas hin. Erst reagierte sie nicht, dann jedoch schoß ihre Hand vor und umklammerte das Glas, als befürchtete sie, jemand könne es ihr wegnehmen. Mit zitternden Fingern führte sie es schließlich zum Mund und leerte es auf einen Zug. Dann drehte sie langsam den Kopf und blickte den edlen Spender an. Tony erschrak. Er erkannte sie wieder, obwohl diese Frau nicht mehr jene Linda Black war, die er kannte. Das lebenslustige, junge, ausnehmend hübsche Mädchen, das vor einigen Monaten mit nach Rumänien gereist war, und diese verbrauchte, vom Leben gezeichnete Frau hatten nichts mehr miteinander gemein. Und doch war es ein und dieselbe Person. Noch nie hatte Tony ein Gesicht gesehen, in dem Alkohol und wahrscheinlich auch andere Genußgifte in so kurzer Zeit derartige Spuren hinterlassen hatten. Der Blick ihrer früher so strahlenden Augen war trüb geworden. Sie erkannte ihn nicht, daran bestand kein Zweifel. Tony ahnte, was geschehen war. Linda war eines der Mädchen gewesen, die damals bei ihrer Flucht aus dem Schloß unmittelbar vor dem physischen und psychischen Zusammenbruch gestanden hatten. Nach ihrer Rückkehr war sie, um jene furchtbaren Stunden vergessen zu können, zur Alkoholikerin geworden. »Hallo, Linda. Können Sie sich noch an mich erinnern?« Sie schüttelte den Kopf. »Gib mir noch einen aus, Süßer. Vielleicht kommst du mir dann bekannt vor.« Seufzend kam Tony der Aufforderung nach. Auf die paar Pence kam es auch nicht an. Als sie sich den zweiten Drink einverleibt hatte, wurde ihr Blick erheblich klarer. Intensiv starrte sie den Mann an, der ihr die Drinks spendiert hatte. Und schließlich kam wohl die Erinnerung, denn ihre Hände begannen zu zittern. Sie rückte etwas von Tony ab, als habe er eine ansteckende Krankheit.
»Linda«, sagte Tony eindringlich. »Ich bin nicht gekommen, um unangenehme Erinnerungen in Ihnen zu wecken, sondern um ihnen zu helfen. Linda, ich möchte Sie bitten, jetzt sofort mit mir zu kommen. Sie sind in großer Gefahr. Er lebt noch; und er ist hier in London, um sich zu rächen. Ich will Sie in Sicherheit bringen. Stellen Sie jetzt keine Fragen, denn wir haben wenig Zeit. Kommen Sie mit, damit Sie nicht sein nächstes Opfer werden. Bitte, glauben Sie mir, Linda. Ich mache keinen Scherz. Es ist bittere Wahrheit.« Sie starrte ihn verständnislos an. Es war fraglich, ob sie alles mitbekommen hatte, was er gesagt hatte. Aber er sah ihr ihre Furcht an. Ihre Hand umkrampfte das geleerte Glas, als wolle sie es zerdrücken. Dann erhob sie sich übergangslos, murmelte etwas Unverständliches und nahm ihre Handtasche. Leicht schwankend steuerte sie auf die schmale Tür im Hintergrund des Raumes zu, die nur für Ladies bestimmt war. Irgendein Witzbold hatte unter das Schild den Zusatz »und Transvestiten« geschrieben. Tony lehnte sich zurück und trank sein Bier. Er hoffte, daß er sie gleich, wenn sie sich ihre Nase gepudert hatte, würde überzeugen können. Und vor allen Dingen hoffte er von ihr die Namen und Anschriften der übrigen Komparsinnen zu erfahren, die damals dabei gewesen waren. Sandra hatte ihm Linda Blacks Adresse genannt. Linda war seine letzte Chance, dem Vampir noch zuvorzukommen, denn weitere Namen und Adressen wußte Sandra nicht mehr. Als Linda nach über 10 Minuten noch nicht wieder aufgetaucht war, wurde Tony langsam unruhig. Es bestand zwar kein Grund zur Panik, aber die vorausgegangenen Ereignisse hatten dazu beigetragen, daß Tony überaus mißtrauisch geworden war. Fünf Minuten wollte er ihr noch geben. Doch Linda war entweder auf der Toilette eingeschlafen oder hatte sich durch einen Hinterausgang empfohlen. Oder aber… An diese dritte Möglichkeit wollte Tony nicht denken. Aber auszuschließen war sie nicht. Also erhob er sich und kämpfte sich zur Theke durch. Die Frage nach dem Hinterausgang verneinte der Wirt. Aber es gab dort ein großes Fenster, das einen ausgezeichneten Fluchtweg abgab, erklärte er grinsend.
Auf Tonys eindringliche Bitte hin schickte er seine Gehilfin zur Toilette. Sie sollte nachsehen, warum Linda sich soviel Zeit ließ. Tony folgte der Kleinen mit dem müden Blick bis an die Tür und wartete. Er brauchte nicht lange zu warten. Als er ihren schrillen Schrei hörte, riß er die Tür auf. Mit einem Satz war er in dem winzigen Raum, der durch eine weitere schmale, weißgestrichene Tür abgetrennt war. Sein Blick fiel auf das Fenster in der linken Wand. Es stand einen Spalt breit auf. Dann erst sah er das Mädchen. Es stand vor ihm, hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und schluchzte. Vor ihr war die offene Toilettentür und gab den Blick frei auf Linda Black. Sie saß auf dem Boden, den Oberkörper weit zurückgelehnt. Ihre Arme hingen schlaff an den Seiten herunter. Der Kopf war weit zurückgebogen. Als Tony nähertrat, sah er ihren starren Blick gegen die Decke gerichtet. In ohnmächtigem Zorn ballte er die Fäuste. Wer Linda getötet hatte, darüber konnte kein Zweifel bestehen. Daß sie sterben mußte, war schon schlimm genug. Schlimmer aber war, daß er wieder zu spät gekommen war. Der Vampir hatte so verhindert, daß Tony die Adressen der anderen Mädchen in Erfahrung bringen konnte. Nach einer Weile wandte sich Tony schließlich ab, um die Polizei zu informieren. * Zu dritt saßen sie in Tonys Wohnung und hielten Kriegsrat. Mit Sandras Hilfe hatte es der Reporter schließlich doch geschafft, seinen so überaus skeptischen Freund davon zu überzeugen, daß es sich bei dem Unbekannten, der drei junge Frauen umgebracht hatte, tatsächlich um einen leibhaftigen Vampir handelte. Inspektor Simms hatte sich lange an sein Schulwissen geklammert, denn das hatte ihm vermittelt, daß es Vampire einfach nicht geben durfte. Doch letztlich hatte er sich von den Fakten überzeugen lassen müssen. Und die besagten, daß Linda Black durch einen Biß in die Halsschlagader getötet worden war. Außerdem hatte sich herausgestellt, daß sich das Blut auf eine seltsame Weise verändert hatte. Es ließ sich in keine der bekann-
ten Blutgruppen einordnen. Und hierfür gab es einfach keine Erklärung. »Zu dumm, daß sich der Mann von der Agentur an nichts mehr erinnern kann«, stellte der Inspektor fest. »Ich habe ihn heute morgen noch einmal besucht. Er weiß nur noch, daß er den Einbrecher überrascht hat und dann von diesem niedergeschlagen worden ist.« »Ich nehme an, daß der Graf ihn hypnotisiert hat. Und ich bin überzeugt davon, daß er sich von ihm alle Karteikarten der betreffenden Frauen hat raussuchen lassen, bevor er ihm eins übergezogen hat. Sandra und ich haben alles in der Agentur abgesucht, aber absolut nichts gefunden, was uns weiterhelfen könnte. Linda Black war unsere letzte Chance gewesen. Verdammt, wir können nur noch warten, bis die nächste Tote gefunden wird. Wenn ich nur wüßte, wie dem Kerl beizukommen ist.« »Was ist übrigens mit deinem Freund, dem Regisseur«, wollte der Inspektor wissen. Tony sah ihn nachdenklich an. Dann zuckte er in einer hilflosen Gebärde mit den Achseln. »Der weiß auch nichts«, erklärte er. »Damals, als er den Film plante, da hat seine Freundin und Mitarbeiterin alles Geschäftliche erledigt. Er selbst kannte – nicht einmal die Namen der Girls. Und seine Freundin können wir nicht mehr befragen. Sie war damals eines der ersten Opfer des Grafen. Aber da wir gerade von Paul Wakefield sprechen. Wenn der Vampir beabsichtigt, alle umzubringen, die zu der Filmexpedition gehörten, dann steht ja auch Paul auf seiner Liste. Ich muß ihn warnen.« Er griff zum Telefonbuch, suchte sich Pauls Nummer heraus und wählte. Aber es war besetzt. Tony legte auf und wandte sich an seinen Freund. »Ich denke, wir werden ihn morgen früh aufsuchen und ihm die Situation erklären. Jetzt aber dürfte es das beste sein, du läßt seine Wohnung durch deine Leute überwachen, damit wir keine unliebsame Überraschung erleben.« David Simms nickte und schnappte sich das Telefon, um die notwendigen Schritte einzuleiten. Als es geschehen war, erhob er sich demonstrativ. Er sah, wie müde Tony und Sandra waren. Die
Ereignisse der letzten drei Tage forderten nun ihren Tribut. Beide brauchten dringend einige Stunden Schlaf. Gerade wollte er sich verabschieden, da klingelte das Telefon. Tony quälte sich aus dem Sessel hoch und nahm den Hörer. »Spreche ich mit Mr. Tony Wilkins?« fragte eine weibliche Stimme. Es war eine angenehme Altstimme. Die Frau sprach langsam und unmoduliert, als hätte sie Schwierigkeiten mit der Aussprache und der Formulierung. Nachdem Tony ihre Frage bejaht hatte, schwieg sie einen Moment. Dann senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern. »Sind Sie daran interessiert, etwas über einen gemeinsamen Feind zu erfahren? Wenn ja, dann kann ich Ihnen einige wertvolle Informationen geben. Dazu müßten wir uns treffen. Ich würde vorschlagen, in einer Stunde im Hyde Park, beim Speaker’s Corner.« »Wer sind Sie?« wollte Tony wissen. »Und woher kennen Sie mich? Wieso sprechen Sie von einem gemeinsamen Feind?« Sie lachte kurz auf. »Kommen Sie gleich zum Treffpunkt, dann werden Sie alles erfahren. Aber ich muß Sie bitten, auf jeden Fall allein zu kommen.« Ehe Tony Einwände vorbringen konnte, hatte sie schon aufgelegt. Er ließ den Hörer sinken und starrte einen Moment nachdenklich vor sich hin. Als er sich dann umwandte, sah er die fragenden Blicke von Sandra und David auf sich gerichtet. Er klärte sie über das Telefongespräch auf. »Das ist bestimmt eine Falle«, sagte Sandra spontan. »Ich möchte wetten, daß dich der Graf auf diese Weise in den Park locken und dich dort umbringen will. Geh’ nicht hin, Tony.« »Doch, ich muß. Ich halte es zwar auch für möglich, daß das eine Falle ist. Aber ich muß das Risiko einfach eingehen. Der Vampir muß unbedingt unschädlich gemacht werden. Und wenn mir die geheimnisvolle Unbekannte wirklich etwas über den Grafen sagen kann, dann bleibt mir gar nichts übrig, als zu gehen.« Er sah auf die Uhr. »Es wird Zeit. Sandra, bleibe bitte hier und schließ dich ein. Ich…« »Das sollte sie nicht tun«, unterbrach ihn David. »Es ist nämlich durchaus möglich, daß der Kerl gerade das erreichen will. Du wirst aus dem Haus gelockt, und Sandra bleibt allein hier. Nach
allem, was du mir über den Burschen erzählt hast, stellen verschlossene Türen und Fenster keine absoluten Hindernisse für ihn dar. Ich halte es für besser, wenn Sandra mit mir kommt. Bestimmt freut sich meine Mutter, wenn sie für einige Tage einen Gast bekommt. Das Zimmer meines Bruders steht noch immer leer, seit er sich auf dem Kontinent befindet.« Tony überlegte einen Moment, dann pflichtete er seinem Freund bei. »Du hast recht, David. Solange sich Sandra in meiner Nähe aufhält, ist sie ständig in höchster Gefahr. Es ist besser, wenn sie für einige Tage völlig aus der Schußlinie verschwindet.« Sandra fand den Gedanken erst nicht sonderlich gut, sah aber dann ein, daß die Männer nur zu recht hatten. Sie packte also rasch ihre Sachen zusammen, die sie aus ihrer Wohnung bereits mitgenommen hatte. Gemeinsam verließen sie wenige Minuten später das Haus. Als sie sich draußen bei den Wagen verabschiedeten, beschwor Tony noch einmal seinen Freund, sich und seine Leute aus der Sache rauszuhalten. Er befürchtete, daß die geheimnisvolle Unbekannte sich sofort in die Büsche schlagen würde, wenn sie merkte, daß sich etliche Polizisten in Tonys Nähe herumtrieben. David versprach es ihm. Als Tony jedoch seinen Wagen startete, da griff der Inspektor zum Funksprechgerät. * Detective Brockfield bestätigte und hängte das Mikrophon des Sprechgeräts ein. Dann startete er den Motor des Wagens. Während er aus der Parklücke ausscherte, erklärte er seinem Kollegen, welche Anweisung sie gerade erhalten hatten. »Wir sollen zum Hyde Park rüber. Da wird in wenigen Minuten der Reporter, der Freund vom Inspektor, eintrudeln. Er fährt einen grünen Ford Escort. Der Inspektor will, daß wir seinem Freund unauffällig in den Park folgen. Er trifft sich am Speaker’s Corner mit einer Frau, die wir beobachten sollen. Den Rest hast du ja noch mitgekriegt. Also, dann mal los.«
Die Erklärung war erforderlich gewesen, weil Detective Snyder gerade Zigaretten geholt hatte. Er war erst in dem Augenblick zurückgekommen, als das Gespräch zwischen Brockfield und dem Inspektor fast beendet war. »Ich möchte mal wissen, was das Ganze wieder mal soll. Da läßt uns der Alte mitten in der Nacht hier hocken und das Haus beobachten, in dem diese beiden Morde passiert sind. Und jetzt sollen wir auf einmal Kindermädchen für diesen Reporter spielen, nur weil er ein guter Freund vom Chef ist. Also, mir stinkt’s mal wieder.« »Wenn du schon länger bei uns wärst, dann würdest du den Reporter vielleicht kennen. Ich kann dir nur sagen, daß Tony Wilkins ein prima Kerl ist. Das ist keiner von diesen sensationshungrigen Pressefritzen. Er arbeitet als freier Kriminalreporter und hat uns in der Vergangenheit schon oft gute Tips gegeben. Für ihn ist wirklich wichtiger, einen Verbrecher zu überführen als einen reißerischen Artikel darüber zu machen. Wenn der Chef ihn überwachen läßt, dann ist da etwas im Busch, das kannst du mir glauben. Das Treffen mit der Frau im Park ist auf keinen Fall ein Rendezvous, bei dem wir Anstandswauwau spielen sollen. Der Inspektor hat sich zwar nicht geäußert, aber ich habe das Gefühl, daß es mit den Frauenmorden zusammenhängt.« Snyder schwieg und rauchte seine Zigarette. Er hatte sich regelrecht in den Sitz geflegelt und schaute uninteressiert durch das Wagenfenster auf die nächtliche Straße. Vor wenigen Wochen erst war er der Abteilung von Inspektor Simms zugeteilt worden. Deshalb waren ihm die Arbeitsweise und die Gepflogenheiten seines Vorgesetzten und seiner Kollegen auch noch nicht sehr vertraut. Die Fahrt verlief schweigend. Vor lauter Langeweile hatte sich Snyder die zweite Zigarette angesteckt, sehr zum Ärger von Brockfield, der Nichtraucher aus Überzeugung war. Allerdings war Brockfield tolerant genug, um seinem Kollegen das Laster zu gönnen. Er hatte nur das Seitenfenster ein wenig heruntergekurbelt, obwohl es draußen schon ganz schön kalt war. Schließlich hatten sie den Park erreicht. Brockfield nahm die Straßenkarte zu Hilfe, um festzustellen, aus welcher Richtung der Reporter kommen würde. Daß er noch nicht da war, stand fest, denn er hatte den längeren Weg zurückzulegen. Er verfolgte auf der Karte die Strecke, die für Tony Wilkins am günstigsten war.
Zufrieden stellte er fest, daß er, wenn er diese Strecke fuhr, in unmittelbarer Nähe ihres Standortes hier eintreffen würde. »So, ich denke, einer von uns beiden macht sich schon mal auf die Socken und postiert sich am Speaker’s Corner. Bis zum Treffen sind es noch knapp 15 Minuten. Tony müßte jetzt jeden Augenblick kommen. Kennst du ihn eigentlich?« Snyder verneinte. »Nun gut«, seufzte Brockfield, »dann werde ich mal losziehen, denn mich kennt er. Und da er nichts von der Überwachung merken soll, wirst du ihm gleich folgen. Also, er fährt einen grünen Escort, ist ein großer, schlanker Bursche Anfang Dreißig und trägt einen Vollbart. Wahrscheinlich läuft er wieder in Jeans und Wildlederjacke herum. Also, bis später dann.« Brockfield stieg aus, ging über die Straße und verschwand bald darauf in der Finsternis jenseits der Laternen. Einen Moment lang blickte Snyder seinem Kollegen nach, dann griff er zur Zigarettenpackung. Gerade hielt er das Feuerzeug an den Glimmstengel, da sah er in der Ferne die Scheinwerfer eines Wagens auftauchen. Das mußte dieser Reporter sein. Seufzend nahm er die Zigarette aus dem Mund und verstaute sie sorgfältig wieder in der Packung. Der Wagen hielt etwa 150 Meter hinter ihm auf der anderen Straßenseite. Als er an ihm vorübergefahren war, konnte er erkennen, daß es tatsächlich ein grüner Ford Escort mit einem bärtigen Fahrer war. Im Rückspiegel beobachtete er, daß der Fahrer ausstieg und mit schnellen Schritten dem Park zustrebte. Er machte sich dabei noch nicht einmal die Mühe, den Weg zu benutzen, sondern marschierte über den Rasen. Bevor er in der Finsternis verschwand, schlüpfte Snyder aus dem Wagen und folgte ihm. Um nicht aufzufallen, nahm er aber den kleinen Umweg in Kauf und benutzte den kiesbestreuten Weg. Da er das Ziel des Reporters ja kannte, war es nicht unbedingt erforderlich, daß er auf Sichtweite blieb. Trotzdem aber beschleunigte er seine Schritte, damit sich der Vorsprung des Verfolgten nicht vergrößerte. Es war eine dieser vollkommen finsteren Nächte, die eine Verfolgung zwar erschwerten, dafür aber auch verhinderten, daß der Verfolgte etwas bemerkte. Nur der Kies knirschte leicht unter den Füßen. Snyder hielt sich deshalb nach wenigen Schritten auf dem Rasen neben dem Weg auf.
Plötzlich riß die Wolkendecke auf. Silbrigschimmerndes Mondlicht fiel auf das Land. Snyder verharrte im Schritt und duckte sich hinter einen Strauch. Er spähte in die Runde, sah aber nichts. Erst als er seinen Weg fortsetzte, sah er für einen Augenblick weit voraus eine Gestalt zwischen den Büschen auftauchen und wieder verschwinden. Sie strebte mit raschen Schritten jenem Platz zu, der weltweit als Speaker’s Corner bekannt war. Dort sollte sich der Reporter in wenigen Minuten mit einer unbekannten Frau treffen. Ein rascher Blick zur Uhr zeigte ihm, daß es bereits 1 Uhr 27 war. Eine nicht gerade alltägliche Zeit für ein Stelldichein. Snyder arbeitete sich vorsichtig in Deckung der Ziersträucher an den Treffpunkt heran. Als er den letzten niedrigen Busch vor den Bankreihen erreicht hatte, hockte er sich auf den Boden und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Von hier aus hatte er einen guten Überblick. Im Mondlicht konnte er den Reporter erkennen, der langsam durch die Sitzbankreihen auf den asphaltierten Platz zuschritt. Dort, wo sich tagsüber jedermann auf eine mitgebrachte Seifenkiste stellen und als Volksredner betätigen konnte, blieb er stehen und Sah sich um. Doch außer ihm war niemand zu sehen. Snyder veränderte vorsichtig seine Stellung. Seine Hand glitt in die Jackentasche und umklammerte die Zigarettenpackung. Ärgerlich zog er aber die Hand wieder zurück. Es war zu riskant, jetzt zu rauchen. »Hallo! Warten Sie etwa auf mich?« * Einen Moment lang war der Kriminalbeamte wie erstarrt. Die leise Stimme in seinem Rücken hatte ihn wie ein Schock getroffen. Von der Annäherung der Frau hatte er absolut nichts bemerkt. Langsam drehte er sich um und sah zu der Frau empor. Aus seiner »Froschperspektive« wirkte sie riesengroß. Vom Mondlicht in eine silbrigglänzende Aura gehüllt, stand sie vor ihm. Mit einem amüsierten Lächeln sah sie auf ihn herab. Irgendwie kam er sich lächerlich vor, deshalb richtete er sich rasch auf.
Sie war ihm völlig unbekannt. Er war sich aber sicher, daß dies die Frau war, mit der sich Tony Wilkins hier treffen wollte. Was aber wollte sie dann von ihm? Hatte sie etwa gemerkt, daß er den Reporter beschattete? Die Unbekannte war groß, fast so groß wie Snyder, sehr schlank und schwarzhaarig. Ihr Gesicht schimmerte weiß wie frischgefallener Schnee in der Dunkelheit. Obwohl Snyder Blondinen mit etwas fülligerer Figur vorzog, faszinierte ihn ihre fremdartige Schönheit. Das Merkwürdigste an ihr war jedoch, daß sie trotz der nächtlichen Kälte nur ein Kleid trug, das zudem noch kurze Ärmel besaß. Außerdem war es mit einem sehr »einsichtigen« Dekolletee versehen. Der Einblick, der sich Snyder bot, hatte es in sich. Bevor der Beamte etwas sagen konnte, war sie nähergetreten und hatte ihm die Hände auf die Schultern gelegt. Snyder schluckte. Er war vollkommen verwirrt. Irgendwie kam er sich seltsam hilflos vor. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück, bis er das Gesträuch in seinem Rücken spürte. »Wer sind Sie?« stammelte er schließlich. »Was wollen Sie von mir?« »Ist das so wichtig?« fragte sie zurück. Ihre leise, flüsternde Stimme ließ ihm einen Schauer den Rücken hinunterrieseln. Soviel Sex in einer Stimme hatte er noch nie gehört. Ihm wurde auf einmal regelrecht heiß. Plötzlich drängte sie sich gegen ihn! Ihr Gesicht war nun dicht vor dem seinen. Nur unbewußt bekam er mit, daß sich der Mond wieder hinter der Wolkendecke zurückgezogen hatte. Es war wieder finster geworden. Trotzdem aber konnte er ihr in die Augen sehen. Und da sah er etwas, das ihn erneut erschauern ließ. Da war etwas in ihrem Blick, etwas, das Gefahr verhieß aber auch grenzenlose Lust und Leidenschaft, vermischt mit etwas Unbekanntem, Unbegreiflichem. Er spürte, wie es seine Widerstandskraft lähmte. Und so schloß er seine Augen, als sich ihre Lippen öffneten und sich ihm langsam entgegenreckten. Der Kuß ließ ihn schlagartig vergessen, wer er war und welchen Auftrag er auszuführen hatte. Es war, als würde die Welt um ihn herum versinken, als würde das ganze Universum mit einem Male völlig bedeutungslos werden. Er nahm kaum wahr, daß sie ihn mit sanfter Gewalt zu Boden zwang und sich auf ihn wälzte.
Eine Art Ekstase erfaßte ihn. Sie bewirkte, daß ihn der plötzlich aufflammende Schmerz am Hals nur wohlig aufstöhnen ließ. Es war ein stechender Schmerz, der sich langsam vom Hals aus über den ganzen Körper ausbreitete, schließlich abebbte und einer euphorischen Wärme wich. Und dann sank er allmählich in einen Dämmerzustand hinüber, ohne sich dagegen wehren zu können. Schließlich bildeten seine Empfindungen einen regelrechten Strudel, der ihn mit sich fortriß in eine bodenlose, unendliche Finsternis. * Fluchend starrte Tony zum wiederholten Male auf seine Uhr. Die Leuchtzeiger schienen stillzustehen. Es war bereits 2 Uhr durch. Die geheimnisvolle Anruferin war demnach seit mehr als einer halben Stunde überfällig. Ärgerlich stampfte er hin und her, denn es war empfindlich kalt. Zudem hatte inzwischen der Mond wieder Zuflucht hinter den Wolken gesucht, so daß man kaum die Hand vor den Augen erkennen konnte. Immer wieder kroch seine Hand in die Jackentasche und umklammerte seine »Geheimwaffe«. Er hatte sich im Verlauf des Tages etwas einfallen lassen und zusammengebastelt, das ihm gegen seinen Gegner würde helfen können. Außerdem trug er in einem Futteral zwei zugespitzte Holzpflöcke bei sich, die klassische Waffe gegen Vampire. Sollte es sich hier doch um eine Falle handeln, dann war er gerüstet. Vor ein paar Minuten hatte er geglaubt, Geräusche aus den Büschen am Rande des Platzes zu hören. Aber er schien sich getäuscht zu haben, denn es blieb still. Nur gelegentlich drang das Geräusch eines fahrenden Wagens aus der nahen Park Lane herüber. Um 2 Uhr 35 schließlich gab es Tony auf. Er war jetzt davon überzeugt, daß die Unbekannte nicht mehr kommen würde. Es gab nur eine Erklärung. Man hatte ihn hierhergelockt, um während seiner Abwesenheit an Sandra herankommen zu können. Zum Glück hatte er mit dieser Möglichkeit gerechnet und sie von David in Sicherheit bringen lassen.
Tony war enttäuscht, als er langsam zu seinem Wagen zurückging. Insgeheim hatte er doch gehofft, daß die Anruferin kommen und ihm wichtige Informationen über seinen Gegner geben würde. Jetzt sah er keine Möglichkeit mehr, den Vampir aufstöbern zu können. Niemand war ihm begegnet, als er den Park verlassen hatte und vor seinem Wagen stand. Gerade schloß er die Tür auf, da vernahm er ein schwaches Geräusch hinter sich. Blitzschnell fuhr er herum. Vor ihm stand eine Frau; schweigend und irgendwie drohend. Tony erkannte sie sofort wieder. Es war die Frau, die er am Flughafen gesehen hatte, als er auf den Professor gewartet hatte. Sie war in Begleitung eines kleinen, dicklichen Mannes gewesen. Und hinter diesem ungleichen Paar war der rumänische Graf hergegangen. Jetzt erkannte Tony blitzartig die Zusammenhänge. Diese Frau war eine der untoten Kreaturen des Vampirs. Sie hatte ihn in seinem Auftrag hierhergelockt, um ihn zu töten. Er wich einen Schritt zurück und griff in die Jackentasche. Jetzt bekam er Gelegenheit, seine »Geheimwaffe« zu testen. Seine Beobachtung am vergangenen Abend, als er beinahe vom Vampir in einem Hausflur erwürgt worden und wie durch ein Wunder gerettet worden war, hatte ihn auf die Idee gebracht. Seine Hand krampfte sich um den Kolben der Pistole zusammen. Als sie langsam nähertrat, da zog er die »Waffe« und hielt sie schußbereit. Irgendwie kam er sich doch ein wenig lächerlich vor mit seinem Kinderspielzeug. Aber die Situation war keineswegs lächerlich und rechtfertigte auch den Einsatz so seltsamer Mittel wie es eine Wasserpistole aus Plastik nun einmal war. Sie blieb etwa zwei Schritte vor ihm stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann lächelte sie ihn an, wobei sie sich bemühte, den Mund nicht zu verziehen. Dementsprechend fiel auch ihr Lächeln aus. Tony fühlte sich um einige Monate zurückversetzt. Damals hatte er sich in einer ähnlichen Lage befunden. In den Gängen des unheimlichen Schlosses in den Karpaten hatte er einen Kampf auf Leben und Tod gegen zwei weibliche Vampire ausfechten müssen. »Hallo, habe ich das Vergnügen mit Tony Wilkins?«
Sie sprach sehr langsam und betont, als hätte sie Schwierigkeiten mit der Formulierung. Ihre Stimme vibrierte leicht. Unter anderen Umständen wäre Tony sicherlich auf gewisse dumme Gedanken gekommen. Die Frau sah nicht nur sehr gut aus, sie strömte auch eine gehörige Portion Sex aus. Doch er nickte nur. »Wir beide haben einen gemeinsamen Freund. Und von dem soll ich Sie grüßen. Wie ich hörte, würden Sie gerne wissen, wo er sich aufhält. Ich könnte es Ihnen sagen. Aber ich halte es für besser, wenn wir jetzt zu ihm fahren. Er freut sich schon darauf, Sie wiederzusehen.« Aber Tony schüttelte ablehnend den Kopf. »O nein, schöne Unbekannte. Sagen Sie mir lieber, wo ich ihn finden kann. Ich werde ihn dann im Laufe des Tages besuchen. Schließlich kann ich ihn ja nicht so unvorbereitet mitten in der Nacht belästigen. Also, wo steckt er?« Sie antwortete nicht und bedachte ihn mit einem rätselhaften Blick. Und dann stürzte sie sich plötzlich auf ihn. Obwohl er damit gerechnet hatte, überraschte ihn der blitzartige Angriff doch. Noch ehe sich sein Zeigefinger um den Abzug seiner Waffe krümmen konnte, traf ihn ein fürchterlicher Hieb auf den Unterarm. Er konnte es nicht verhindern, daß ihm die Plastikpistole aus den auf einmal gefühllosen Fingern fiel. Sein Arm war wie gelähmt. Entsetzt wich er zurück, bis er mit dem Rücken an den Wagen stieß. Ihrem nächsten Ansturm konnte er ausweichen, indem er sich unter ihren Armen wegduckte und zur Seite warf. Er kam hart auf, rollte sich aber sofort herum. Mit der linken Hand bekam er seine Wasserpistole zu fassen. Als sie sich mit einem wütenden Knurrlaut wieder auf ihn stürzen wollte, da hob er die seltsame Waffe und drückte ab. Der feine Strahl traf sie mitten im Gesicht. Sie blieb stehen, als sei sie vor eine Wand gelaufen. Deutlich konnte Tony sehen, wie sich ihr Gesicht vor Ekel verzog. Dabei öffnete sie ihren Mund, was Tony den letzten Zweifel nahm, denn jetzt konnte er ihre Vampirzähne sehen. Rasch spritzte er ihr noch eine Ladung des hochkonzentrierten Knoblauchsaftes ins Gesicht. Würgend und knurrend wich sie zurück. Tony rappelte sich auf und setzte nach. Er mußte sie unbe-
dingt in seine Gewalt bekommen, um den Aufenthaltsort des Vampirgrafen von ihr zu erfahren. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, daß ein Mann über die Straße gelaufen kam und sich ihnen näherte. Wahrscheinlich ein Passant, der die Szene verfolgt hatte. Wahrscheinlich zog er jetzt falsche Schlüsse und wollte der Überfallenen jungen Dame zu Hilfe eilen. Auch die Untote sah jetzt den Mann. Sie warf den Kopf herum; und dann rannte sie auf ihn zu. Der Mann blieb überrascht stehen. Offensichtlich wußte er nicht, was er von der ganzen Sache halten sollte. Er kam nicht mehr dazu, irgend etwas an der Situation falsch zu deuten. Wie ein wildes Tier sprang ihn die junge Frau an. Sie stieß wütende Knurrlaute aus, als sie mit ihm zusammen zu Boden stürzte. Tony hatte einen Moment gezögert. Das Verhalten der Untoten hatte ihn vollkommen überrascht. Jetzt aber eilte er in weiten Sätzen auf die beiden Gestalten am Boden zu. Aber er kam nicht mehr rechtzeitig genug. Der wilde Schmerzensschrei, den der Mann ausstieß, bestätigte seine Vermutung. Der Vampir war durch den Knoblauchsaft wahrscheinlich so stark geschwächt, daß er unbedingt Blut brauchte. * Tony packte die Frau an der Schulter und wollte sie von ihrem unglücklichen Opfer wegreißen. Doch seine Kraft reichte dazu nicht aus. Er hatte schon vor Monaten die Erfahrung machen müssen, daß die Blutsauger mit geradezu unmenschlichen Kräften ausgestattet waren. Also gab es nur eine Möglichkeit. Er griff in ihr langes schwarzes Haar und riß ihren Kopf mit aller Kraft nach hinten. Von der Seite spritzte er ihr den übelriechenden Saft ins Gesicht. Es half. Sie stieß einen schrillen Wutschrei aus und ließ von dem Mann ab. Mit einem Satz war sie auf den Beinen, senkte den Kopf und warf sich gegen den Reporter. Tony wurde zurückgeworfen, stolperte und schlug der Länge nach zu Boden. Aber er konnte die Wasserpistole schußbereit halten.
Doch der weibliche Vampir sah wohl ein, daß diese Runde an den Reporter ging. Sie warf sich herum und jagte mit weiten Schritten davon. Als sich Tony erhoben hatte, da war sie bereits im Dunkel des Parks verschwunden. Es war sinnlos, ihr zu folgen. Tony beugte sich über den Mann, der stöhnend am Boden lag. Er hielt die Hand an den Hals gepreßt. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor. Überrascht starrte Tony auf den Verletzten. »Nanu, Brockfield, was treiben Sie denn hier?« Der Polizeibeamte stöhnte nur. Offensichtlich konnte er nicht sprechen. Also hielt sich Tony nicht länger damit auf, ihn zu befragen, und eilte zu seinem Wagen. Mit dem Erste-Hilfe-Kasten kam er zurück und verarztete den Polizisten erst einmal notdürftig. »Haben Sie ihren Dienstwagen hier?« fragte er ihn dann. Brockfield nickte. Er drehte sich herum und deutete mit dem Zeigefinger in die Richtung. Nachdem Tony den Verletzten von der Straße heruntergezogen und auf den Rasen gelegt hatte, eilte er zu dem Dienstwagen. Er fand ihn schnell und griff sich das Sprechfunkgerät, um Hilfe für den Detectiven zu bekommen. Und er bat, Inspektor Simms zu benachrichtigen. Der Mann in der Zentrale versprach, es sofort zu erledigen, nachdem er seine Überraschung überwunden hatte. Wenig später kam der Notarztwagen. Brockfield wurde an Ort und Stelle behandelt. Er war aber immer noch nicht in der Lage, zu sprechen. Ursache dafür mochte wohl der Schock sein, den er erlitten hatte, als ihn die Frau in den Hals gebissen und sein Blut gesaugt hatte. Als der Krankenwagen davonfuhr, traf auch endlich der Inspektor ein. Er hatte Sandra bei seiner Mutter abgeliefert und sich gerade ein wenig aufs Ohr legen wollen, als er angerufen wurde. Mißmutig kletterte er aus dem Wagen und baute sich vor Tony auf. Sie nahmen auf einer der Bänke am Rande des Parks Platz. Der Inspektor ließ sich von seinem Freund berichten, was vorgefallen war. »Und wo steckt Snyder?« fragte er, als Tony ihn informiert hatte. »Wer ist Snyder?«
Tony sah den Inspektor erstaunt an. »Ich hatte Brockfield und Snyder damit beauftragt, dich ein wenig zu beobachten. Mach mir jetzt bitte keine Vorwürfe. Ich hatte dir zwar versprochen, dich allein in den Park gehen zu lassen, aber ich hatte einfach Bedenken. Irgendwie war ich überzeugt davon, daß du in eine Falle gelockt werden solltest. Wenn ich nicht Sandra in Sicherheit hätte bringen müssen, wäre ich selbst dir gefolgt. Aber zurück zu Detective Snyder. Hast du nichts von ihm gesehen oder gehört? Er muß doch auch hier sein. Ich habe ein ungutes Gefühl. Komm, laß uns im Park nachsehen.« Als sie sich erhoben, hielt ihn Tony am Arm fest. »Da, wenn mich nicht alles täuscht, können wir uns die Suche sparen. Das dürfte Snyder sein.« Er deutete mit der Hand auf eine Gestalt, die sich aus der Finsternis des Parks gelöst hatte und sich ihnen taumelnd näherte. Sie eilten ihm entgegen. Es war tatsächlich Snyder. Er blieb stehen, als er seinen Vorgesetzten erkannte und versuchte, so etwas wie Haltung anzunehmen. »Snyder, was ist passiert? Sind sie verletzt?« »Es geht schon wieder, Sir«, wehrte der Polizist ab. Er versuchte, zu grinsen, was ihm aber nicht ganz gelang. »Ich habe den Reporter bis zum Speaker’s Corner verfolgt und in Sichtweite von ihm hinter einem Gebüsch Stellung bezogen. Von da aus habe ich ihn einige Minuten lang beobachtet. Und dann hat mir plötzlich jemand eins übergezogen. Es ging so schnell, daß ich nichts mitbekommen habe, wer es war. Ich bin erst vor wenigen Minuten zu mir gekommen.« Er griff sich an den Kopf und stöhnte leise auf. Dann sank er plötzlich in sich zusammen. Tony und David fingen ihn auf und legten ihn auf die Bank. Eine flüchtige Untersuchung ergab, daß er nur bewußtlos war. Von einer Verletzung war nichts zu sehen. Snyder kam auch sehr schnell wieder zu sich. Als sich Tony über ihn beugte, da rümpfte der Polizist die Nase und richtete sich rasch auf. »Lassen Sie nur, es geht schon wieder«, wehrte er jede Hilfestellung ab. *
Der Reporter sah dem Wagen seines Freundes einen Moment lang nach, ehe er sich zu seinem Fahrzeug begab. Der Inspektor wollte Snyder zum nächsten Unfallkrankenhaus bringen, obwohl sich dieser mit Händen und Füßen dagegen sträubte. Aber es mußte sein. Tony mußte unentwegt an den Polizisten denken, als er seinen Wagen startete. Irgend etwas an ihm und seinem Verhalten war ihm äußerst merkwürdig erschienen. Aber was es war, darauf kam er einfach nicht. Nicht, daß er einen Verdacht hatte; es war nur das vage Gefühl, daß da etwas nicht stimmen könnte. Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Snyder war unnatürlich blaß gewesen, seine Hand hatte sich sehr kalt angefühlt und er hatte, als sich Tony ihm näherte, die Nase gerümpft. Außerdem war Tony aufgefallen, daß der Polizist den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen hatte. Dies alles mochte nicht viel zu bedeuten haben. Zusammengenommen aber reichte es zu einem Verdacht aus. Es war durchaus möglich, daß… Tony hielt neben einer Telefonzelle an und sprang aus dem Wagen. Es ging jetzt um Sekunden. Wenn sich sein Verdacht bestätigte, dann schwebte sein Freund in tödlicher Gefahr. Mit fliegenden Fingern wählte er die Nummer des Yard. Der Beamte in der Telefonzentrale war glücklicherweise derjenige, den er vorhin bereits an der Strippe gehabt hatte. So konnte er sich lange Vorreden ersparen. »Wo brennt’s denn jetzt, Mr. Wilkins?« wollte der Beamte wissen. »Inspektor Simms ist jetzt unterwegs zum St.-ElizabethHospital, um den Kollegen Snyder dort abzuliefern. Im Augenblick müßte er sich etwa in der Churchstreet befinden. Sagen Sie ihm bitte durch, er möchte dort vor der Kirche halten und auf mich warten. Ich mache mich sofort auf den Weg zu ihm. Mir ist etwas eingefallen, was ich ihm mitteilen muß. Es ist äußerst wichtig für ihn und Snyder. Und es ist sehr eilig. Also, bitte geben Sie es ihm sofort durch.« Tony wartete erst gar nicht die Bestätigung ab, sondern hängte ein, warf sich in seinen Wagen und raste los. Er konnte nur hoffen, daß er nicht zu spät kommen würde.
* »Danke. Ich werde an der Kirche auf ihn warten. Ende.« Inspektor Simms klinkte das Mikrophon wieder ein. Er war gespannt darauf, was Tony ihm noch so Wichtiges mitzuteilen hatte. Es mußte vertraulich sein, sonst hätte er es durch den Kollegen der Zentrale ausrichten lassen. Da er bereits an der Kirche vorbeigefahren war, wendete er und fuhr langsam zurück. Bis Tony beim vereinbarten Treffpunkt eintreffen konnte, mochten noch einige Minuten vergehen. Schließlich hielt er vor der kleinen Kathedrale, die ein wenig verloren inmitten der mehrstöckigen Wohn- und Geschäftshäuser wirkte. Er schaltete den Motor aus und lehnte sich bequem zurück. »So, dann wollen wir mal hören, was dieser Verrückte Reporter uns noch zu sagen hat«, wandte er sich an seinen Beifahrer. Die weiteren Worte blieben ihm jedoch in der Kehle stecken. Snyder hatte den Sicherheitsgurt geöffnet und sich zu ihm herumgedreht. Mit völlig ausdruckslosem Gesicht sah er ihn an. Sein Mund war geöffnet und gab zwei bildschöne Vampirzähne frei. Entsetzt starrte der Inspektor seinen Kollegen an. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. In seiner Dienstzeit hatte er sich schon sehr oft in gefährlichen Situationen befunden. Aber immer waren seine Gegner Menschen gewesen. Doch war Snyder noch als, Mensch zu bezeichnen? War er nur noch als eine Art Kreatur anzusehen? Nicht eine Sekunde zweifelte der Inspektor daran, daß Snyder tatsächlich zu einem Vampir geworden war. Hatte er es bisher immer abgelehnt, an die Existenz solcher »Fabelwesen« zu glauben, so mußte er es jetzt ganz einfach von einer Sekunde zur anderen als Realität akzeptieren. Tony fiel ihm ein, den er deswegen doch immer ein wenig belächelt hatte. »Snyder, was ist mit Ihnen los? Was hat das denn zu bedeuten?« Doch Snyder antwortete nicht. Sein Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos, als er langsam die Hände hob. Und dann schnellten seine Hände plötzlich vor. Ehe David eine Abwehrbewegung machen konnte, schlossen sich die Hände um seinen Hals. Erbarmungslos drückte der Vampir zu.
Schon nach wenigen Sekunden röchelte der Inspektor nur noch hilflos. Bunte Schleier wogten vor seinen Augen und ließen das Bild seines Gegners verschwimmen. Verzweifelt versuchte er, sich aus dem Würgegriff zu befreien. Aber er mußte erfahren, daß Tony die Wahrheit gesagt hatte, als er von den unmenschlichen Kräften der Vampire berichtet hatte. Schließlich gelang es ihm, die kleinen Finger Snyders zu fassen und nach außen zu biegen. Doch der erwartete Erfolg blieb aus. Der Vampir kümmerte sich überhaupt nicht darum, sondern verstärkte den Druck noch. Irgendwann später, für David war eine qualvolle Ewigkeit vergangen, lockerte sich der Griff auf einmal. Langsam, fast widerwillig lösten sich die Hände und ließen seinen Hals los. David sank kraftlos zur Seite. Seine Lunge schmerzte bei jedem Atemzug. Er sog gierig die Luft ein. Immer noch war er nicht in der Lage, seine Umwelt wahrzunehmen. Da waren Geräusche und Bewegungen in seiner Nähe, die er nur undeutlich mitbekam und nicht zu deuten vermochte. Schließlich ließen die Schmerzen im Brustkorb nach; und die tanzenden Schleier vor seinen Augen lösten sich auf. Erschöpft und zitternd richtete er sich auf. Zuerst sah er, daß die Tür auf der Beifahrerseite aufstand. Eine dunkle Gestalt lag neben dem Wagen auf der Straße. Als sich der Inspektor aus dem Fahrzeug gequält hatte, sah er, daß der reglose Mann am Boden Snyder war. Tony Wilkins stand neben ihm, seine Wasserpistole in der Hand haltend. Und jetzt in diesem Moment nahm David auch den durchdringenden Knoblauchgeruch wahr, der ihm in die Nase stieg. Er blieb stehen und stützte sich am Wagen ab. Eine Schwächewelle drohte ihn zu überschwemmen und von den Beinen zu reißen. Tony war mit zwei Schritten bei ihm. »Alles in Ordnung?« fragte er besorgt. Er legte dem Freund die Hand auf die Schulter. Nachdem David einige Male tief Luft geholt hatte, fühlte er sich wieder besser. Er nickte schwach, dann deutete er mit der Hand auf Snyder. »Was hast du denn mit ihm gemacht? Ist er tot?« Seine Stimme klang wie ein Reibeisen. Das Sprechen bereitete ihm sichtliche Schwierigkeiten.
»Ja, ich mußte ihn töten«, erklärte Tony. »Es war die einzige Möglichkeit, ihn zu überwinden. Ich kam wirklich im allerletzten Moment. Einige Minuten später, dann wärst du entweder tot oder auch zum Vampir geworden wie dein Kollege. Nun, bist du denn jetzt wenigstens davon überzeugt, daß ich dir keine Märchen erzählt habe?« Der Inspektor starrte einen Moment auf die Leiche Snyders, aus dessen Brust ein Holzpflock ragte, dann sah er seinen Freund an. * »Die Frau heißt Lorna Murdoch. Sie und ihr Mann Langdon stammen aus den Staaten. Als sie hier eintrafen, da kamen sie direkt aus Rumänien. In welchem Hotel sie abgestiegen sind, haben wir allerdings noch nicht ermitteln können. Aber wir bleiben am Ball. Ich habe alle zur Zeit verfügbaren Leute darauf angesetzt.« »In Ordnung, David. Vielleicht bringe ich auch etwas in Erfahrung durch meine Kollegen. Du weißt ja, daß Reporter immer die Augen aufhalten. Wie sieht es bei den Mietwagenfirmen und den Taxifahrern aus?« »Clemence und Harding überprüfen gerade diese Möglichkeiten. Ich erwarte bald ein Resultat. Sobald wir eine Spur haben, melde ich mich bei dir.« »Gut, ich erwarte dann deinen Anruf. Ich bin übrigens bei Professor Fitzpatrick zu erreichen. Durch den ganzen Trubel habe ich beinahe vergessen, daß ich mit ihm in die Schweiz reisen wollte. Das fällt natürlich jetzt erst einmal ins Wasser. Bevor wir den Vampir nicht endgültig zur Strecke gebracht haben, werden wir sowieso keine ruhige Minute mehr haben. Ach, wie hat dein Vorgesetzter übrigens aufgenommen, daß du einen Vampir jagst?« Der Inspektor stieß einen Seufzer aus. »Du kannst vielleicht blöde Fragen stellen. Glaubst du denn, daß ich dem Alten die Wahrheit gesagt habe. Wir beide wissen zwar, daß es wirklich Vampire gibt, die auch nicht davor zurückschrecken, in der Großstadt ihr Unwesen zu treiben, aber bring das mal einem Beamten bei. Nein, ich möchte schließlich noch nicht in den Ruhestand versetzt werden oder in die Klapsmühle
kommen. Deshalb mache ich offiziell auch nur auf einen ganz gewöhnlichen Triebtäter Jagd. Und ich denke, bei der Version bleiben wir auch erst einmal. Wenn wir ihn haben, dann können wir weitersehen.« »Okay, das ist auch meine Meinung. Obwohl das ja für mich als Reporter die Story des Jahrhunderts wäre, halte ich es nicht für angebracht, die Wahrheit zu schreiben. Außerdem glaube ich auch, daß uns niemand trotz aller Beweise die Wahrheit abnehmen wird. Aber was sollen wir uns jetzt die Köpfe darüber zerbrechen. Erst müssen wir die Bestie haben. Also, ich werde dann jetzt den Professor aufsuchen. Wenn du etwas hast, dann melde dich sofort. Und, David, bitte keine Alleingänge. Du hast ja gespürt, mit welchem Gegner wir es zu tun haben. Also, bis dann!« Tony legte den Hörer auf und erhob sich. Einen Moment überlegte er, ob er den Professor aufsuchen oder ihn nur anrufen sollte. Aber er entschied sich dann dafür, zu ihm zu fahren. Schließlich beschäftigte sich Professor Fitzpatrick eingehend mit Vampirismus und anderen übernatürlichen Dingen. Vielleicht konnte er ihm doch wertvolle Hinweise geben. Gerade hatte er sich davon überzeugt, daß seine Plastikpistole mit Knoblauchsaft gefüllt war, da ertönte der Türgong. Nachdem er die Sicherheitskette vorgelegt hatte, öffnete er die Tür einen Spalt breit. Draußen stand Paul Wakefield, der ehemalige Regisseur. Was mochte er wohl wollen? War ihm doch noch etwas eingefallen, was er ihm nun mitteilen wollte? Tony ließ ihn ein und begrüßte ihn herzlich. Seine Hand fühlte sich kalt und schlaff an. Auch erschien ihm Paul noch verschlossener und bedrückter als bei seinem letzten Besucht. Nun, das mochte wohl andere Gründe haben. Der leise Verdacht, der aufgekommen war, schwand schlagartig, als ihn Paul angrinste. »Na, immer noch auf Vampirjagd, Tony«, wollte er wissen. »Dir wird das Lachen noch vergehen, alter Freund, wenn ich dir sage, daß Graf Swaslow noch lebt. Er ist nach London gekommen, um sich an uns zu rächen. Drei der ehemaligen Statistinnen sind schon tot. Und ein Polizist ist gebissen worden. Ich habe ihn gerade noch daran hindern können, Inspektor Simms umzubringen. Nun, was hältst du davon?«
Paul schwieg. Betroffen schaute er zu Boden. Dann sah er auf. »Ich verstehe das nicht, Tony. Wie ist es möglich, daß er noch lebt. Du hattest ihn doch erstochen und danach noch mit Benzin übergossen und angezündet. Das ist doch einfach unmöglich. Bist du wirklich sicher, daß er es ist?« Das Klingeln des Telefons enthob Tony einer Antwort. Er nahm den Apparat und trat damit ans Fenster. Während er den Hörer abnahm und sich meldete, blickte er hinaus auf den schmutzigen, tristen Hinterhof. Der Inspektor war am Apparat. »Hallo, Tony. Wir haben die erste heiße Spur. Ein Taxifahrer, den wir befragten, reagierte ein wenig merkwürdig. Es schien zuerst, als würde er das amerikanische Ehepaar nach der Beschreibung erkennen, stritt dann aber alles wieder ab. Mir fiel ein, daß Vampire ja auch hypnotische Fähigkeiten besitzen; und so haben wir bei der Taxizentrale erfahren, daß für ihn zur fraglichen Zeit eine Fahrt vom Flughafen zum Hotel Laura registriert worden ist. Das »Laura« ist eine Absteige in Soho. Ich denke, wir werden uns dort gemeinsam ein wenig umsehen. Weißt du, wo es ist?« »Ja, ich kenne den Laden. Ich werde in etwa 40 Minuten dort sein können. Ach, übrigens ist Paul Wakefield gerade bei mir. Sicher wird er gern mitkommen wollen, denn er hat ja mit unserem alten Feind noch ein ganz gewaltiges Hühnchen zu rupfen. Bis später dann.« Als er den Hörer auflegen wollte, veranlaßte ihn ein Geräusch hinter ihm, sich umzudrehen. Unvermittelt sah er sich Paul gegenüber – einem Paul Wakefield, der sich auf furchtbare Weise verändert hatte. Auch Paul war also bereits ein Opfer des Vampirgrafen geworden. Ihn hatte der Biß des Vampirs nicht getötet, sondern ihn zu einem Untoten gemacht. Nun war er zu einer der bedauernswerten Kreaturen geworden, die in einem Zustand zwischen Leben und Tod existierten und für die es nur den Willen ihres Herrn und Meisters gab. Obwohl er wußte, daß es sinnlos war, versuchte Tony, den Freund von seinem Vorhaben abzuhalten. Doch er reagierte nicht. Ein drohendes, tierisches Knurren entrang sich seiner Kehle, als er sich langsam näherte. Für einen winzigen Moment hatte Tony den Eindruck, als würde sich Paul einen üblen Scherz mit ihm erlauben, als seien die Vampirzähne nur aus Plastik. Aber er wußte, daß es nicht so war.
Er war unfähig, sich zu rühren und zu fliehen. Seine Jacke mit der Wasserpistole und den Holzpflöcken hing im Korridor. Waffenlos war er der unheimlichen Kraft des Untoten ausgeliefert. Als das Wesen, das einmal sein Freund gewesen war, mit weitaufgerissenem Mund auf ihn eindrang, da riß er mit einer instinktiven Bewegung die Hand hoch, die noch den Telefonhörer um klammert hielt. Der Hörer traf den Vampir voll am Mund. Paul stieß einen wimmernden Ton aus und wich zurück. Tony war erstaunt, denn er hatte angenommen, daß die Vampire nicht in der Lage waren, Schmerzen zu empfinden. Dem schien aber doch so zu sein, denn Paul krümmte sich und hielt die Hände vor den Mund. Als er aufsah, bemerkte Tony, daß seine Augen blutunterlaufen waren. Er ließ den Hörer fallen und hetzte aus dem Zimmer, Mit einigen raschen Schritten war er im Korridor und griff nach seiner dort hängenden Jacke. Doch als er die Wasserpistole aus der Jackentasche ziehen wollte, da verhedderte er sich im Futter. Ein wütendes Knurren dicht hinter ihm veranlaßte ihn zur Eile. Paul war ihm gefolgt und befand sich bereits in gefährlicher Nähe. Er fletschte die Zähne. Endlich hielt Tony die Plastikpistole in der Hand und richtete den Lauf auf Paul. Als der Vampir sich auf ihn stürzen wollte, drückte er entschlossen ab. Ein dünner Strahl der »duftenden« Ladung traf den Angreifer mitten ins Gesicht. Zuerst zeigte er überhaupt keine Wirkung, doch dann stieß er einen Klagelaut aus und wich zurück, die Hände schützend vor das Gesicht erhoben. Tony setzte sofort nach und trieb ihn mit weiteren Schüssen ins Zimmer zurück. Dabei hatte er den Vampir einige Male in den offenen Mund getroffen. Die Wirkung war enorm. Paul wälzte sich keuchend und mit verzerrtem Gesicht am Boden herum. Unschlüssig schaute Tony auf den Mann hinunter. Er wußte nicht, wie er sich nun verhalten sollte. Der erste und einfachste Gedanke war der, Pauls augenblicklichen Zustand auszunutzen und ihm einen der zugespitzten Holzpflöcke ins Herz zu stoßen. Damit würde er ihn nicht nur töten, sondern auch erlösen. Aber so einfach war das nicht. Erst einmal war Paul sein Freund. Vielleicht gab es doch noch eine andere Möglichkeit, ihm zu helfen. Und zum Anderen war es
so, daß er der Polizei eine Menge Erklärungen zu geben hatte, wenn die Leiche von Paul Wakefield in seiner Wohnung gefunden würde. * Vier Beamten war es schließlich gelungen, den tobenden Vampir aus der Wohnung zu bringen. Sie hatten ihn an Händen und Füßen mit Handschellen fesseln müssen. Und das war auch nur gelungen, weil Tony immer wieder mit Knoblauchsaft dafür gesorgt hatte, daß Pauls Kräfte nicht voll zum Einsatz kamen. Inspektor Simms war selbst gekommen, als er Tonys Anruf erhalten hatte. Zwei seiner Leute hatte er zum Hotel »Laura« beordert. Sie sollten das Haus beobachten und das Eintreffen des Inspektors abwarten. Nachdem der Vampir abtransportiert war, machten sich der Inspektor und Tony auf den Weg zu dem Hotel in Soho. Unterwegs suchten sie ein Delikatessengeschäft auf, um sich einen Vorrat an Knoblauchsaft anzulegen. Außerdem besorgte Tony seinem Freund eine Wasserpistole, die dieser aber nur sehr widerstrebend entgegennahm. Trotz seiner Erfahrungen, die er bereits mit Vampiren gemacht hatte, vertraute er immer noch auf seine Dienstpistole. Die Wasserpistole war und blieb für ihn nur ein Kinderspielzeug. Tony mußte sie ihm förmlich aufdrängen, ehe er sie schließlich einsteckte. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, meldeten Collins und Bush, daß während der letzten zwei Stunden die gesuchten Personen nicht aufgetaucht waren. Der Inspektor beorderte die beiden Beamten zum Hinterausgang und schärfte ihnen äußerste Wachsamkeit und Vorsicht ein. Dann, nachdem einige Minuten verstrichen waren und sie sicher sein konnten, daß Collins und Bush ihre Position erreicht hatten, betraten sie das Hotel. Hotel war ein recht unpassender Begriff für diesen Laden. Es war ein dreistöckiger, schmaler Bau, dessen bessere Tage schon lange zurücklagen. Tony fragte sich, wieso der Amerikaner und seine Frau sich ausgerechnet in dieser Absteige einquartiert hatten.
Der Typ an der provisorischen Rezeption reagierte erst nicht auf Davids Frage nach der Gästeliste. Doch als ihm der Inspektor seinen Dienstausweis unter die Nase hielt, bequemte er sich, das Buch herauszurücken. David schlug den schon reichlich schmierigen Wälzer auf und stieß auf Anhieb auf die Namen der Gesuchten. Sie bewohnten Nr. 7 im zweiten Stock. Tony, der David über die Schulter blickte, deutete auf eine Spalte darunter. Andraj Swaslow stand dort. Er hatte das Zimmer Nr. 9 gemietet. »Sie sind nicht im Haus. Wo sie sich befinden, weiß ich nicht«, erklärte der Portier auf Davids Frage, wobei er sich Mühe gab, seine ganze Verachtung für die Polizei in seine Stimme zu legen. »Gut, dann sehen wir uns mal in den Zimmern um«, entschied der Inspektor. Er wandte sich der Treppe zu, die zu den oberen Stockwerken führte. Wie ein Wiesel huschte der Portier hinter seiner Barriere hervor und baute sich vor dem Inspektor und seinen Begleitern auf. »Haben Sie überhaupt einen Haussuchungsbefehl? Sie können nicht einfach hier eindringen und meine Räume durchsuchen.« »Mit einer Sondergenehmigung schon!« entgegnete David ruhig. »Es handelt sich um einen Mordfall. Und außerdem, Freundchen, ist mir über diesen Laden hier so einiges zu Ohren gekommen, was uns veranlassen könnte, Ihre Konzession einzuziehen. Also, seien Sie hübsch brav und hindern Sie uns nicht an der Ausübung unseres Dienstes.« Seine Worte erzielten die gewünschte Wirkung. Der Mann zog den Kopf zwischen die Schultern und schlich davon wie ein geprügelter Hund. Während dieses Disputs hatte sich Tony die beiden Zimmerschlüssel vom Schlüsselbrett geangelt. Sie hasteten die Treppe empor und wandten sich zuerst der Nr. 9 zu. Der Inspektor hielt seine Dienstwaffe schußbereit, als Tony rasch die Tür aufschloß. Er riß seine Wasserpistole aus der Tasche, stieß die Tür weit auf und sprang ins Zimmer. Aber seine Vorsicht erwies sich als unbegründet. Der Raum war leer. Nichts wies darauf hin, daß er bewohnt wurde. Sogar das Bett sah vollkommen unbenutzt aus. Aber das hatte nicht viel zu besagen. Tony wußte, daß der Vampirgraf so gut wie keinen Schlaf brauchte. Und er war auch nicht so wie seine »Kollegen« aus Ro-
manen und Filmen auf die schützende Dunkelheit der Nacht angewiesen. Er trieb auch bei Tageslicht sein Unwesen. Nachdem sie kurz das Zimmer durchsucht hatten, nahmen sie sich das Nebenzimmer vor. Die Amerikaner waren tatsächlich nicht anwesend. Aber Gepäckstücke und überall wahllos im Raum verstreute Kleidungsstücke wiesen auf die Bewohner hin. Auch hier blieb ihre Suche ergebnislos. Sie fanden keinen Anhaltspunkt dafür, wo sich die Amerikaner und der Vampirgraf momentan aufhalten konnten. Entmutigt ließ sich Tony auf der Bettkante nieder. Dabei fiel sein Blick auf einen bunten Prospekt auf dem Nachttisch, den sie vorhin bei ihrer Durchsuchung völlig unbeachtet gelassen hatten. Er griff danach und blätterte ihn durch. »House of Fear« nannte sich das Unternehmen, welches sich selbst anpries. Es schien sich um eine Art Miniaturausgabe von Madame Tussaud’s weltberühmten Wachsfigurenkabinett zu handeln. Der Unterschied bestand nur darin, daß im »House of Fear« ausschließlich wächserne Abbildungen von Horrorgestalten aus der Literatur und aus Filmen ausgestellt waren. Die Besitzerin nannte sich Madame Thomain. Tony entnahm dem Prospekt, daß sich das Unternehmen ganz in der Nähe, in der Dean Street, befand. Vielleicht… Er sprang auf und warf David die Broschüre zu. Der fing sie auf und schaute Tony entgeistert an. »Komm, versuchen wir’s dort mal. Es ist möglich, daß sie dort sind. Das wäre auch genau die richtige Umgebung für den Grafen.« Der Inspektor folgte dem Freund kopfschüttelnd. Erst als er einen kurzen Blick auf den Prospekt geworfen hatte, verstand er. * Das Schreckenskabinett war stilgerecht in einem alten, düster wirkenden Fachwerkbau untergebracht. Ein übergroßes Plakat neben dem schmalen Eingang versprach garantiertes Gruseln und sicheres Schaudern. Die Monsterfratze, die vom Plakat herunter die Zähne fletschte, machte jedoch mehr einen komischen denn einen schrecklichen Eindruck.
Obwohl nach der Broschüre um diese Zeit geöffnet, war die Tür geschlossen. Der Inspektor klopfte an, da von einer Klingel nichts zu sehen war. Nachdem er ein zweites Mal mit der Faust gegen die Tür gehämmert hatte, vernahmen sie leise Schritte dahinter. Ein Riegel wurde zurückgeschoben. Langsam schwang die Tür auf. Obwohl er mit allem Möglichen gerechnet hatte, war Tony doch mehr als nur erstaunt, als er nun wieder der Amerikanerin gegenüberstand. Sie starrten sich einen Moment lang an, dann fuhr die Frau herum und rannte davon. Tony folgte ihr sofort. Es ging durch einen langen, schmalen Korridor, an dessen Ende sich eine weitere Tür befand. Ehe Tony die Frau erreichen konnte, schlüpfte sie durch die Tür und schlug sie ihm vor der Nase zu. Er hörte, wie sie von innen einen Riegel einschnappen ließ. Dann entfernten sich rasche Schritte. Tony und David traten zur Seite, um den beiden Beamten Platz zu machen. Beide hatten Figuren wie Schwergewichtler. Sie warfen sich gemeinsam gegen die Tür, die zwar bedrohlich ächzte und knirschte, aber doch standhielt. Beim dritten Ansturm erst wurde sie krachend aus den Angeln gerissen. Die Männer stürzten in den Raum und sahen sich unverhofft King Kong gegenüber. Obwohl sie wußten, daß dies hier ein Gruselkabinett war, stockte ihr Schritt einen Moment. Etwa 3,50 m hoch ragte der Riesenaffe drohend vor ihnen auf, die Arme erhoben und mit gefletschtem Gebiß. Um die Wachsfigur herum hatte man ein Stück Dschungel nachgebildet. Das diffuse Licht trug aber dazu bei, daß es relativ echt wirkte. Echt wirkte auch die leblose Gestalt einer jungen Frau mit blonden Haaren, über die Tony beinahe gestolpert wäre. Sie lag King Kong zu Füßen und sollte wohl die Schöne darstellen, die von der Bestie geraubt worden war. Tony stieg über die Gestalt hinweg und wollte die Verfolgung der Frau fortsetzen, die irgendwo im Hintergrund des saalartigen Raumes verschwunden war. David aber beugte sich über die vermeintliche Wachsfigur. »Collins«, winkte er einen der beiden Beamten zu sich heran. »Das ist keine Wachsfigur. Kümmern Sie sich um die Frau.« Dann eilte er Tony nach, der es besonders eilig hatte, dem Vampir auf den Fersen zu bleiben. Sie rannten über den Plastikra-
sen, bogen dem schmalen Pfad folgend, um einen riesigen künstlichen Felsen und prallten fast auf eine weitere Schreckensfigur. Der Werwolf stand vor ihnen; und er war so plastisch, daß David unwillkürlich seine Waffe hob. Während sie dem gewundenen Weg folgten, stellte Tony anerkennend fest, daß diese Anlage sehr gut gemacht worden war. Die Figuren waren von Könnern hergestellt worden; und man hatte sie nicht einfach in den Raum hingestellt, sondern um sie herum die Umgebung nachgebildet, die man aus den entsprechenden Filmen kannte. Sie sahen Godzilla inmitten den Trümmern einer Spielzeugstadt, die Mumie im Innern eines Pharaonengrabes, das FrankensteinMonster mit seinem Schöpfer im Labor und etliche andere mehr oder minder bekannte Schreckensgestalten. Aber sie hatten jetzt absolut keine Zeit und Lust, sich alles genau anzusehen. Von der Frau war nichts zu sehen. Sie war spurlos verschwunden. Sie konnte nur durch die Tür am Ende des Raumes verschwunden sein. Ein aufgemalter Totenschädel sollte wohl symbolisieren, daß hinter der Tür noch größere Schrecken auf den Besucher warteten. Der Inspektor stieß die Tür entschlossen auf. Dahinter wurde eine schmale, steinerne Treppe sichtbar, deren ausgetretene, feuchte Stufen in die Tiefe führten. Auch hier herrschte nur ein schwaches Licht, das den Schauereffekt noch verstärken sollte. Langsam, mit schußbereiten Waffen, stiegen sie die Treppe hinab. Wieder fühlte sich Tony in die Vergangenheit zurückversetzt, in jene schreckliche Nacht, als er und seine Begleiter durch die unterirdischen Gänge des Karpatenschlosses geirrt waren. Die Umgebung hier wirkte deshalb sehr vertraut auf ihn. Er spürte, daß sein Gegner hier irgendwo auf ihn lauerte, daß hier unten bald die Entscheidung fallen würde. Seine Faust umklammerte die Wasserpistole; und mit der anderen Hand tastete er nach den Holzpfählen in seiner Jackentasche. Sie hatten 22 Stufen gezählt, als die Basis des Kellergeschosses erreicht war. Mehrere Abzweigungen führten zu verschiedenen weiteren Abteilungen. Sicher gab es hier unten auch die so sattsam bekannten Folterkammern, die zur Attraktion jedes Schlosses gehörten. Als sie in die erste Kammer zur Linken eintraten, da blieb Tony überrascht stehen. Sein Blick fiel auf zwei Särge, die in der Mitte
des kleinen Kellerraumes standen. Während der eine Sarg offen war, lag auf dem zweiten, ein wenig seitlich verrutscht, der Deckel. Beide Särge standen auf einem steinernen Podest. Langsam trat Tony näher, die Waffe schußbereit haltend. In dem offenen Sarg lag eine Gestalt. Noch ehe Tony sie erkennen konnte, wußte er, wer es war. Es bestand kein Zweifel. Vor ihm lag Andraj Swaslow, der Vampir. Aus weitaufgerissenen, blutunterlaufenen Augen starrte er ihn an. Der Mund war halb geschlossen, so daß man deutlich die Vampirzähne sehen konnte. Einen Augenblick lang schaute Tony zögernd auf seinen Todfeind herab, dann hob er entschlossen die Wasserpistole. »Er ist es«, erklärte er David, der neben ihn getreten war. Dann zog er den Abzug durch und jagte dem Vampir mehrere Ladungen Knoblauchsaft ins Gesicht. Aber bis auf den fürchterlichen Gestank zeigte der Beschuß keinerlei Wirkung. Verblüfft ließ Tony seine Waffe sinken. Ehe er es verhindern konnte, beugte sich der Inspektor zu der immer noch vollkommen regungslos daliegenden Gestalt hinab und griff nach ihrem Arm. »Da hat man dich aber ganz schön hereingelegt«, stellte er lakonisch fest, als er sich wieder aufrichtete. »Das ist nur eine Wachsfigur wie alle anderen hier auch.« »Tatsächlich«, murmelte Tony verwirrt, nachdem er sich ebenfalls davon überzeugt hatte. »Verdammt, wieder nichts. Ich war felsenfest davon überzeugt, daß dies der echte Vampir ist. Eine solche große Ähnlichkeit kann kein Zufall sein. Ich möchte…« Er unterbrach sich, als rasch hintereinander drei ferne Schüsse erklangen. Dann folgte ein leiser Schrei, der abrupt abbrach. »Das ist Collins«, rief der Inspektor und stürmte aus dem Raum. Tony und der andere Zivilbeamte folgten ihm. * Sie fanden Sergeant Collins in einer Blutlache. Er lebte noch. Beide Hände hielt er um seinen Hals gepreßt. Zwischen seinen Fingern rann Blut hervor und tropfte auf den Boden. Der Inspektor kniete sich neben ihn. Er zog sein Taschentuch hervor und hielt es ein wenig hilflos in der Hand. Sergeant Bush
hetzte unterdessen raus zum Wagen, um einen Notarztwagen und auch Verstärkung herbeizurufen. »Collins, wer war es? Wie ist es geschehen?« Doch der Sergeant reagierte nicht auf die drängenden Fragen seines Vorgesetzten. Er starrte mit blicklosen Augen geradeaus. Langsam entspannten sich seine Züge; die um den Hals verkrampften Hände lockerten sich und sanken schließlich herab. Wie in Zeitlupentempo sank der Polizist zur Seite und schlug zu Boden. Entsetzt sahen Tony und der Inspektor auf die Wunde am Hals des Sergeanten. Als David nach der schlaffen Hand Collins griff, da spürte er keinen Pulsschlag mehr. Der Sergeant war tot. David biß die Zähne zusammen und erhob sich langsam. In diesem Moment klang ein schauerliches, höhnisches Gelächter an ihre Ohren. Es kam irgendwo aus dem Hintergrund des Raumes. Sie nickten sich kurz zu und rannten los, die Waffen schußbereit haltend. Wieder eilten sie an den Wachsfiguren vorbei zu dem Eingang in die »Unterwelt«. Als sie an der Mumie vorbeiliefen, blieb Tony plötzlich stehen. Sein Blick blieb an der aufgebauten Szenerie hängen. Es kam ihm vor, als hätte sich hier etwas verändert. Aber er konnte sich auch getäuscht haben. Da waren außer der Mumie noch die Figur eines altägyptischen Priesters und die einer jungen Frau, die vor Angst erstarrt vor der Mumie stand. Das Gesicht der Figur war von einem Schleier bedeckt. Und das war es, was Tonys Aufmerksamkeit erregte. Er hielt David, der weitereilen wollte, am Ärmel fest und zeigte mit dem Lauf seiner Wasserpistole auf die Figur. »Ich glaube, die dürfte nicht ganz echt sein«, raunte er dem Freund zu. »Laß uns doch mal nachsehen.« Er näherte sich der Gestalt bis auf zwei Schritte, dann hob er seine Waffe und drückte ab. Näher wollte er nicht rangehen, um kein unnötiges Risiko einzugehen. Und plötzlich kam Leben in die vorher so reglose Figur. Sie tauchte unter dem Strahl Knoblauchsaft hinweg und sprang ihn an. Das geschah so plötzlich und mit einer derartigen Schnelligkeit, daß Tony völlig überrumpelt wurde. Zwar konnte er noch die Hand mit der Pistole senken und einen Treffer anbringen, doch da hatte ihn die Frau auch schon erreicht. Es war die Amerikanerin, die er auch schon am Hyde-Park getroffen hatte.
Ihr Anprall war so stark, daß er hintenüber zu Boden stürzte und sie mit sich riß. Dabei kam sie auf ihn zu liegen und klemmte die Wasserpistole mit ihrem Körper ein. Es gelang ihm nicht, sie freizubekommen. Tony spürte, wie ihm der sprichwörtliche Schauer über den Rücken lief, als er das Gesicht der Frau dicht vor sich sah. Von der Schönheit, die ihm vor wenigen Tagen am Flughafen aufgefallen war, war jetzt nichts mehr zu sehen. Ihre Züge waren verzerrt. Die Augen waren blicklos und schienen ihn dennoch zu durchbohren. Einen Moment lang war er wie gelähmt. Und dieses kurze Zögern wäre ihm beinahe zum Verhängnis geworden. Ihre Hand schoß vor und umklammerte sein Handgelenk. Scheinbar mühelos bog sie seinen Arm zur Seite, daß er aufstöhnte. Ihr Gesicht mit den spitzen Zähnen schob sich unaufhaltsam näher an seines heran. Nur noch wenige Zentimeter trennten sie von seinem Hals. Verzweifelt bäumte er sich auf. Doch es gelang ihm nicht, sie abzuschütteln. Schließlich konnte er aber seine linke Hand freibekommen, mußte dabei aber die Waffe loslassen. Er holte aus und schlug zu. Aber sie reagierte nicht. Ein rascher Blick über die Schulter des Vampirs zeigte ihm, daß David ihm nicht helfen konnte. Er rang mit einem Mann im Kostüm eines ägyptischen Priesters. Jetzt wich er zurück und schlug seine Dienstwaffe auf ihn an. Als der Mann seine Warnung nicht beachtete, schoß der Inspektor. Tony konnte sehen, wie der Mann durch die Aufschlagwucht der Kugel einen Schritt zurückgeworfen wurde, aber dann unbeirrt weiter auf den Inspektor eindrang. Auch zwei weitere Schüsse konnten ihn nicht stoppen. Mehr bekam Tony nicht mit, denn das Vampirweib schob sich näher heran. Weit öffnete sie den Mund, bereit, jeden Augenblick zuzubeißen. Wie gebannt starrte Tony auf die beiden langen, spitzen Zähne. Alle Gegenwehr war sinnlos. Er war verloren, das war ihm jetzt klar. Und in diesem Augenblick höchster Not zerriß etwas in seinem Gehirn. Es war, als würde ein dunkles Tuch vor seinen Augen entfernt, als würde er erst jetzt sehen können.
Neue Kraft und Wissen durchströmten ihn. Er riß mit einem gewaltigen Ruck seine rechte Hand frei, machte eine magische Bewegung und schleuderte dem Vampir eine Beschwörung entgegen. Ihr Gesicht verzerrte sich, als würde sie Schmerzen empfinden. Fauchend und knurrend fuhr sie zurück. Sie blieb stehen und starrte ihn an. Tony erhob sich rasch, griff in die Tasche und zog einen der zugespitzten Holzpflöcke hervor. Fauchend und knurrend versuchte sie, weiter zurückzuweichen. Aber der magische Spruch bannte sie an den Platz. Sie konnte sich nicht wehren, als Tony tat, was unbedingt getan werden mußte. Es widerstrebte Tony zwar, aber es gab einfach keine Alternative. Seine Hände zitterten leicht, als er sich abwandte. Die Frau lag vor ihm am Boden, den Pflock im Herzen. Und jetzt, da sie wirklich tot war, war sie wieder eine Frau und keine höllische Kreatur mehr. Es schien ihm, als umspiele ein leichtes, zufriedenes Lächeln ihre blassen Lippen. Die Vampirzähne hatten sich bereits zurückgebildet und waren verschwunden. Ein Stöhnen ließ ihn herumfahren. Es wurde höchste Zeit, daß er sich um seinen Freund kümmerte. David befand sich in höchster Bedrängnis. Er lag am Boden. Der als Priester kostümierte Vampir kniete über ihm. Eine rasche Beschwörungsformel und eine Handbewegung Tonys ließen ihn hochfahren und regungslos verharren. Auch seinem Dasein bereitete Tony mit einem Holzpflock ein schnelles Ende. Dann wandte er sich David zu, der dem Geschehen mit ungläubigem Staunen gefolgt war. * Vor einigen Monaten hatte Tony auf der schönen Kanalinsel Jersey einen offenbar wahnsinnigen Mörder gejagt. Es hatte sich aber später herausgestellt, daß es sich um einen Druidenpriester handelte, der vor Jahrhunderten mit einem Fluch belegt und durch einen Zufall wieder zum Leben erweckt worden war. Von Professor Fitzpatrick hatte Tony erfahren, daß nicht nur Vampire, sondern auch Magier, Hexen und Dämonen existierten. Mehr noch, es gab Anhänger der Weißen und der Schwarzen Ma-
gie, die für Gut und Böse standen und sich seit Urzeiten einen erbitterten Kampf lieferten. Um die Skepsis Tonys zu beseitigen, hatte der Professor in seiner Gegenwart eine Beschwörung durchgeführt, in deren Verlauf der Dämon Yaguth erschienen war. Yaguth war ein Vertreter der Weißen Magie. Er und der Professor hatten Tony für ihren Kampf gegen das Böse gewinnen können. Tony war aus diesem Grunde von ihnen in die Grundgeheimnisse der Weißen Magie eingeweiht worden. Mit Hilfe dieser Kenntnisse und einer gewissen Fähigkeit, die manche Menschen unbewußt besitzen, war Tony danach in der Lage gewesen, den Druidenpriester aufzuspüren und zu vernichten. Nach diesen Ereignissen hatte ihm der Dämon Yaguth aber die Erinnerung an diese Vorgänge genommen. Erst in Augenblicken absoluter Lebensgefahr kehrte die Erinnerung automatisch wieder. Und damit auch das Wissen und die Fähigkeit zu magischen Beschwörungen. Das hatte ihm jetzt das Leben gerettet. Nun, da er die Kräfte der Weißen Magie auf seiner Seite wußte, fühlte er sich dem Vampir mehr als gewachsen. Er wußte, wie ihm beizukommen war und wie er ihn finden konnte. Ein kleines, allerdings nicht unüberwindbares Problem war David. Er hatte die Beschwörung mitbekommen und verlangte nun Aufklärung. Und er konnte verdammt hartnäckig sein, wenn man ihm mit Ausflüchten kam. Also beschloß Tony, ihm reinen Wein einzuschenken. Falls dies nicht im Interesse Yaguths und des Professors war, dann würde es ein Kinderspiel sein, David die Erinnerung daran zu nehmen. Doch jetzt war keine Zeit zu langen Erklärungen. Tony versprach seinem Freund, ihm alles zu erklären, sobald der Vampir unschädlich gemacht war. Daß dieser noch in der Nähe war, spürte er deutlich. Jeder Vertreter der Weißen und der Schwarzen Magie verfügte über eine charakteristische Ausstrahlung, die mitunter fast körperlich zu spüren war. Sie eilten wieder zurück zum Kellergeschoß. Dort unten irgendwo mußte der Graf stecken. Als sie die nachempfundene Gruft des Grafen Dracula erreichten, warfen sie nur einen kurzen Blick hinein. Die Szenerie war unverändert. In dem offenen Sarg lag still die Wachsfigur. »Nimm du dir die Räume auf dieser Seite vor«, schlug Tony vor. »Ich suche auf der anderen Seite. Wenn du etwas Verdächtiges
bemerkst, dann ruf sofort. Nimm die Wasserpistole. Und sei vorsichtig!« David nickte ihm zu, dann trennten sie sich, um die zahlreichen Räume hier unten zu durchkämmen. Die Ausstrahlung des Vampirs war allgegenwärtig, ließ sich aber nicht lokalisieren. Er konnte sowohl im nächsten Raum als auch im letzten Raum der weitläufigen Anlage sein. Tony prüfte deshalb bei seiner Suche gewissenhaft jede Wachsfigur auf ihre »Echtheit«. Er sah Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Professor Bondi und andere Bekannte und unbekannte Horrorgestalten. Doch von dem Vampir war nichts zu sehen. Schließlich hatte er alle Kammern auf seiner Seite durchsucht und wandte sich der anderen Seite zu. David war noch nicht soweit. David…? Plötzlich fiel ihm auf, daß er David schon eine geraume Zeit nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Da der Gang nur etwa drei Meter breit war und sich die Räume fast alle gegenüberlagen, hätte er ihn eigentlich einige Male sehen müssen. Ein fürchterlicher Verdacht stieg auf einmal in ihm auf. Er rannte los. Die Angst um David trieb ihn vorwärts. Hoffentlich komme ich nicht zu spät, durchfuhr es ihn. Dann hatte er den ersten Raum erreicht. Sein Blick fiel auf die Wasserpistole seines Freundes, die vor ihm auf dem Boden lag. Als sein Blick weiterwanderte, fiel er auf den Sarg. Er war leer. David saß auf dem anderen Sarg und schaute ihm teilnahmslos entgegen. Seinen leeren Blick wußte Tony sofort richtig zu deuten. Jemand hatte ihn hypnotisiert. Wer das gewesen war, darüber konnte kein Zweifel bestehen. Tony ahnte, was geschehen war. Als sie vorhin oben gewesen waren, hatte der Vampir die Wachsfigur aus dem Sarg genommen und sich selbst hineingelegt. Wahrscheinlich lag der Wachsdracula nun in dem anderen Sarg. Aber warum hatte er David nur hypnotisiert, fragte sich Tony. Er sah keinen Sinn darin, denn er hatte schließlich Zeit und Gelegenheit genug gehabt, um seinen Widersacher zu töten. Damit hätte er sich nicht nur einen hartnäckigen Verfolger vom Halse geschafft, sondern auch ihn, seinen ärgsten Feind, getroffen. Es mußte also eine andere Absicht dahinterstecken. Der Vampirgraf tat nichts ohne Grund.
Tony breitete die Arme aus, legte die Kuppen von Daumen, Zeige- und Ringfinger zusammen und vollführte damit vor Davids Gesicht kreisende Bewegungen. Dabei sprach er eine der Beschwörungsformeln, die ihm der Dämon Yaguth beigebracht hatte. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Davids Augenlider begannen zu flattern, dann zuckte er plötzlich zusammen und riß die Augen weit auf. Fragend sah er den Freund an. »David, was hat er von dir gewollt? Hat er dir etwas befohlen oder dich etwas gefragt?« David überlegte einen Moment, als müsse er sich erst ins Gedächtnis zurückrufen, was sich vorhin hier abgespielt hatte. »Ja, er hat mich ausgefragt«, bestätigte er Tonys Vermutung. »Er wollte von mir die Adressen der übrigen Girls wissen; vor allem die von…« Er stockte und fuhr hoch. Aber er brauchte Tony nichts mehr zu erklären, denn der Reporter war bereits herumgefahren und rannte hinaus. David folgte ihm. Er wußte, daß es jetzt auf jede Minute, ja Sekunde ankam. * Während er sich um David gekümmert hatte, war ihm überhaupt nicht bewußt geworden, daß die magische Ausstrahlung des Vampirs immer schwächer geworden und schließlich erloschen war. Jetzt aber wußte er, daß der Gesuchte sich nicht mehr in der näheren Umgebung befand. Aber er wußte, wo er ihn finden konnte. Sandra… Sie war in höchster Gefahr. Sein Herzschlag drohte auszusetzen, als er an sie dachte. Er hatte gehofft, sie aus allem heraushalten zu können, indem er sie bei Davids Mutter einquartiert hatte. Und nun waren sie von dem Vampir überlistet worden. Er kannte ihren Aufenthaltsort und war sicher auf dem Weg zu ihr. Tony hetzte in Rekordzeit durch die Halle, nach draußen und zu seinem Wagen. Er konnte nur hoffen, daß der Vorsprung seines Gegners noch nicht zu groß war. Als er den Wagen startete, sah er im Rückspiegel David verzweifelt winken. Aber er konnte nicht auf ihn warten. Jede Se-
kunde war kostbar. David konnte ja mit dem Dienstwagen von Collins und Bush nachkommen. Davids Mutter besaß ein kleines Häuschen in Belgravia, das sie von ihrem Vater geerbt hatte. Bei günstigen Verkehrsverhältnissen konnte man von hier aus in knapp 40 Minuten dort sein. Mit zusammengebissenen Zähnen hockte Tony hinter dem Steuer. Er übertrat so ziemlich alle Verkehrsregeln bei seiner rasenden Fahrt. Und trotzdem ging es ihm zu langsam. Die Angst um Sandra trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Seine Hände umkrampften das Lenkrad. Er bedauerte, daß er nicht auf David gewartet hatte und sie gemeinsam mit dem Dienstwagen gefahren waren. Das Blaulicht wäre jetzt sehr nützlich. * Mrs. Simms stellte bedauernd die Teetasse ab, als der Türgong anschlug. »Lassen Sie nur, ich gehe schon«, sagte sie, als ihr Gegenüber sich erhob. »Das wird sicher David sein. Er wird bestimmt eine Tasse Tee mit uns trinken. Wenn sie so lieb sein würden und ein Gedeck für ihn aus der Küche holen.« Sandra nickte ihr lächelnd zu und ging, um dem Wunsch der alten Dame nachzukommen. Vielleicht war auch Tony mitgekommen. Sie hoffte es jedenfalls. Die kleine Küche lag nach hinten heraus. Sie war sehr klein, altmodisch eingerichtet aber wunderbar gemütlich. So urgemütlich, wie das ganze Haus. Sandra fühlte sich hier sehr wohl. Die Mutter des Inspektors war eine außerordentlich sympathische alte Dame, mit der sie sich auf Anhieb gut verstanden hatte. Erst war sie überhaupt nicht davon begeistert gewesen, sich hier zu verstecken. Aber sie wußte um die Gefährlichkeit des Vampirs. Und Tony und der Inspektor konnten nicht ihren Gegner jagen und gleichzeitig noch auf sie aufpassen. Hier war sie sicher aufgehoben, bis alles vorüber war. Während sie zwei Tassen und Untertassen aus dem schmalen, schon etwas wackeligen Küchenschrank nahm, hörte sie schwache Stimmen von der Haustür her. Dann fiel die Tür ins Schloß; und es blieb still.
Die Tassen in der Rechten und eine Schale Gebäck in der Linken verließ sie die Küche. Der dicke, verblichene Teppich dämpfte ihre Schritte, als sie durch den langen Korridor ging. Nach acht Schritten zweigte er rechtwinklig ab und führte in den Salon! Als Sandra mit dem Fuß vorsichtig die halbgeschlossene Tür aufstieß, fiel ihr Blick auf Mrs. Simms. Sie saß auf ihrem Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet und blickte starr geradeaus. Sie schien einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand eingehend zu fixieren. Ehe sich Sandra darüber wundern konnte, wurde die Tür mit einem Ruck aufgerissen. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, stand Sandra da und starrte den Mann an. Nie hätte sie damit gerechnet, ihm noch einmal zu begegnen. Hier hatte sie sich völlig sicher gefühlt. Und nun war er da. Was er von ihr wollte, darüber bestand kein Zweifel. Sie spürte, wie ihr Herzschlag schneller wurde. Eine Hitzewelle durchraste ihren Körper und lähmte sie. Ihre Hände krampften sich um das Geschirr. Nach einigen Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen waren, drangen die Wahrnehmungen ihrer Augen in ihr Gehirn vor. Erst jetzt schien sie bewußt ihr Gegenüber zu sehen. Ein Schrei löste sich aus ihrer Kehle. Das Geschirr entglitt ihren Fingern und zerbrach klirrend am Boden. Sie wollte zurückweichen, sich umdrehen und fliehen und wußte genau, daß dies unmöglich war. Sie hatte die unheimliche Macht, über die er verfügte, bereits kennen- und fürchtengelernt. Langsam näherte er sich ihr mit gleitenden Schritten. Und mit ihm näherten sich das Grauen und der Tod. Am ganzen Leibe zitternd, stand sie da und erwartete ihn. Es gab kein Entrinnen, keine Hoffnung mehr. Und der alles beherrschende Blick seiner abgrundtiefen Augen lähmte ihren Widerstand immer mehr. Schon streckte er triumphierend die Hand nach ihr aus, da schlug die Kuckucksuhr an. Sie war ein Andenken an einen Urlaub in Old Germany und der ganze Stolz von Mrs. Simms. Als der winzige Vogel zum Vorschein kam und seinen mechanischen Ruf ertönen ließ, da fuhr der Graf irritiert herum. Offensichtlich waren ihm Kuckucksuhren fremd und nicht ganz geheuer.
Der winzige Moment der Ablenkung riß Sandra aus ihrer Erstarrung. Ihr war, als wäre sie gerade erst aus tiefem Schlaf erwacht und stände vor einer überraschenden Situation. Doch als sie den Mann vor ihr erkannte, da warf sie sich herum und stürzte davon. So rasch sie konnte, rannte sie den Korridor entlang zur Küche. Sie kämpfte dagegen an, sich umzudrehen, um sehen zu können, ob er sie verfolgte. Aber es war sicher, daß er hinter ihr war. Sie erreichte die Küche, warf die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel herum. Zusätzlich war die Tür noch durch einen Riegel gesichert, den sie rasch vorschob. Dann lehnte sie sich schweratmend gegen die Tür und sah sich um. Entsetzt stellte sie fest, daß sie hier in der Falle saß. Die Küche besaß keinen zweiten Ausgang. Jetzt bedauerte sie es, daß dieser Raum so altmodisch eingerichtet war. In einer modernen Küche hätte sich bestimmt ein Telefon befunden. Hier aber gab es so etwas nicht. Ihr Blick blieb am Fenster hängen. Es war sehr schmal und auch sehr hoch angebracht. Aber es war ihre einzige Chance. Als hinter ihrem Rücken dumpfe Faustschläge gegen die Tür klangen, da eilte sie rasch zu dem kleinen Tisch und rückte ihn unter das Fenster. Sie kletterte hinauf und riß die Flügel mit fliegenden Fingern auf. Gerade als sie sich an der Fensterbrüstung hochziehen wollte, zerbarst unter fürchterlichem Getöse die Tür. Sie drehte sich herum und sah entsetzt den Vampir über die Trümmer der Tür steigen. Langsam und siegessicher kam er näher. Sandra zog sich mit einem Ruck hoch. Ihr Oberkörper war bereits draußen, da schloß sich eine Hand mit eisernem Griff um ihr Bein. Sie strampelte verzweifelt, um freizukommen, doch ihre Kräfte waren zu schwach gegen die des Vampirs. Unbarmherzig zog er sie wieder in den Raum hinein. Als sie wieder auf dem Tisch stand, ließ er ihr Bein los. Offensichtlich war er seiner Sache völlig sicher. Plötzlich mußte Sandra an den Kampf zwischen Tony und dem Vampir im Treppenhaus denken. Und sie handelte augenblicklich Ihr Fuß schnellte vor. Ihr Verfolger taumelte zwei Schritte zurück. Sandra nutzte die Zeit; vielmehr sie versuchte es. Aber sie war nicht schnell genug. Wieder umschloß eine Faust mit hartem Griff ihr Bein. Diesmal aber riß er sie mit Gewalt zurück. Aufschreiend fiel Sandra auf den Tisch, der zur Seite kippte.
Er ließ sie los, als sie über den Boden rollte. Schwer atmend blieb sie auf dem blankgescheuerten Fußboden liegen. Auf einmal verließen sie die Kraft und der Wille zum Widerstand. Es war aus. Es gab keine Rettung mehr für sie. Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, als er sich über sie beugte. Sie wollte schreien, als sie die Vampirzähne dicht vor ihrem Gesicht sah. Aber das Grauen schnürte ihr die Kehle zu. Unaufhaltsam näherte er sich ihr, den Mund geöffnet zum tödlichen Kuß. Da schloß sie die Augen. * Verwirrt riß sie die Augen wieder auf. Sie hatte überhaupt nichts gespürt. War es denn schon vorbei? Die Situation hatte sich auf merkwürdige Weise verändert. Der Vampirgraf stand zwei Schritte vor ihr und starrte sie mit einem Ausdruck des Entsetzens an. Es hatte fast den Anschein, als hätte er Furcht vor ihr, als sei etwas geschehen, was ihn zurückgestoßen hatte. Und dann sah sie Tony. Ihre grenzenlose Erleichterung und das Wissen, gerettet zu sein, drückten sich in einem tiefen Seufzer aus. Tony würde es schaffen, das wußte sie. Allerdings war Tonys Verhalten ein wenig seltsam. Er stand nur da, die Augen geschlossen und die Arme von sich gestreckt, als würde er schlafwandeln. Dazu bewegten sich seine Lippen zu hören war allerdings kein Laut. Der Vampir schien nun zu merken, daß sich jemand hinter ihm befand. Er fuhr herum und stieß ein verächtliches Knurren aus, als er Tony erkannte. Tony öffnete die Augen und ließ die Hände herabsinken. Dann trat er näher. Er grinste leicht. »Habe ich dich endlich, du Schrecken aller Ladies? Aber jetzt geht es dir an den Kragen, mein Freund. Es wird allerhöchste Zeit, daß dir endlich das Handwerk gelegt wird. Zuviel Unheil hast du schon angerichtet. Doch damit ist jetzt Schluß.« »Für größenwahnsinnig habe ich dich eigentlich nicht gehalten«, stellte der Vampirgraf fest. »Aber ich scheine mich getäuscht zu
haben. Du bist es offensichtlich. Damals in meinem Schloß hast du Glück gehabt, daß du mich vorübergehend außer Gefecht setzen konntest. Aber nun kann mich nichts von meiner Rache abhalten. Du glaubst doch nicht etwa, daß du eine Chance gegen mich hast? Doch nun genug der Worte. Bringen wir es hinter uns. Ich möchte mich noch ein wenig mit der reizenden jungen Dame hier befassen. Und dabei kann ich keine Störenfriede gebrauchen.« Langsam schritt er auf Tony zu. Der blieb ruhig stehen und griff in die Jackentasche. Mit der Wasserpistole kam seine Hand zum Vorschein. Er richtete sie auf den Vampir und drückte ab, als sich dieser bis auf drei Schritte genähert hatte. Der erste Strahl traf den Grafen ins Gesicht. Er stieß ein wütendes Knurren aus und blieb stehen, als sei er vor eine Wand gelaufen. Bevor Tony jedoch den nächsten Treffer anbringen konnte, hatte ihn der Gegner bereits mit einem wahren Panthersatz angesprungen. Der dünne Strahl Knoblauchsaft fuhr dicht über seinem Kopf hinweg. Tony warf sich blitzschnell zur Seite, war aber doch nicht schnell genug. Der Vampir prallte gegen ihn und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er stürzte; und es gab ein häßliches, knirschendes Geräusch, als er auf seine Waffe fiel. Tony war zwar durchtrainiert und sportlich fit. Aber der animalischen Kraft und Schnelligkeit des Vampirgrafen hatte er nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Voller Schrecken sah Sandra, wie die beiden Kontrahenten engumschlungen über den Boden rollten. Wiederholt traf Tony den Gegner mit der Faust. Doch das machte überhaupt keinen Eindruck auf ihn. Dann schrie Sandra entsetzt auf. Offenbar wollte der Vampir dem Spiel ein Ende bereiten. Er schlug mit der Linken Tonys Hände zur Seite und mit der rechten Faust zu. Tony wurde am Kinn getroffen, konnte dem Schlag aber durch eine Reflexbewegung einen Teil seiner Wirkung nehmen. Trotzdem aber wurde er zurückgeworfen und rutschte über den Boden bis an die Korridor wand. Benommen blieb er liegen. Wie durch einen Schleier sah er seinen Gegner triumphierend lachen. Da griff er in seine Jackentasche und zog einen der zugespitzten Holzpflöcke hervor. Mit beiden Händen streckte er ihn von sich, schloß die Augen und rief rasch einige unverständliche Worte.
Sandra, die der Szene mit weitaufgerissenen Augen folgte, begann nun an ihrem Verstand zu zweifeln. Sie glaubte zu träumen. Das, was sie nun sah, war einfach unmöglich. Es konnte nicht wahr sein. Deutlich konnte sie sehen, wie sich der Holzpflock langsam aus Tonys Händen löste und in die Höhe schwebte. Sekundenlang verharrte er regungslos, dann schoß er plötzlich wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil davon – direkt auf den Vampir zu. Graf Swaslow versuchte, dem drohenden Verhängnis auszuweichen, doch jetzt war er nicht schnell genug. Das hölzerne Geschoß traf ihn mitten in der Bewegung und ließ ihn zurücktaumeln. Mit beiden Händen griff sich der Vampir an die Brust und zerrte den Pflock aus der Wunde. Einen Moment taumelte er, dann hatte er sich wieder gefangen. Aus dem Handgelenk heraus schleuderte er den Holzpfahl gegen Tony. Der konnte sich im letzten Augenblick ducken. Hinter ihm prallte das Wurfgeschoß gegen die Wand. Rasch zog Tony zwei weitere Pflöcke aus der Tasche. Er hob sie hoch und stieß eine Beschwörung aus. Sein Gegner versuchte, ihm zuvorzukommen. Aber mitten im Sprung traf ihn das erste Geschoß in die Brust. Er wurde zurückgeworfen, verlor das Gleichgewicht und schlug neben Sandra zu Boden. Und diesmal war wohl das Herz richtig getroffen worden. Ein Zittern lief durch seinen Körper. Sandra, die inzwischen die Augen wieder geöffnet hatte, rollte sich herum und kroch rasch aus seiner Reichweite. Mit weitaufgerissenen Augen erlebte sie nun den letzten Akt des Dramas mit. Ein letzter Ruck, und der Vampir streckte sich. Als er endgültig still dalag, vollzog sich wieder die unheimliche Verwandlung, die sie auch schon damals im Karpatenschloß beobachtet hatten. Es war ebenso unheimlich wie faszinierend. Zuerst schrumpfte die ganze Gestalt auf etwa dreiviertel ihrer Größe zusammen, dann veränderten sich die Gliedmaßen. Zum Schluß wurde das Gesicht zu der Fratze einer riesigen Fledermaus. Der Stoff der Jacke zerriß, als die lederhäutigen Schwingen sich als Abschluß der Verwandlung entfalteten. Fassungslos starrte Sandra auf die grauenhafte Gestalt. Nur undeutlich hatte sie wahrgenommen, daß inzwischen einige Leute
gekommen waren. Als sie jetzt aufblickte, sah sie David Simms und einen ihr unbekannten Mann neben Tony stehen. Beiden stand das Entsetzen deutlich im Gesicht geschrieben. Stumm standen sie da und versuchten, das Unbegreifliche zu akzeptieren. Sandra sprang auf und eilte zu Tony. Der breitete die Arme aus und drückte sie fest an sich. Er sagte nichts; aber es war auch nicht nötig. Nach einer geraumen Weile schob er sie sanft von sich. »Sandra, geh bitte rüber in den Salon zu Davids Mutter. Ich habe hier noch etwas zu erledigen, was nicht sehr angenehm für dich sein dürfte. Erst wenn ich das getan habe, ist der Vampir endgültig und für alle Zeiten tot. Dann haben wir endlich Ruhe.« Sandra nickte bestätigend und ging. Als sie sich nach wenigen Metern kurz umdrehte, da sah sie, daß Tony ein großes Brotmesser aus einer Schublade holte. Unwillkürlich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Sie ahnte, was Tony vorhatte. Und sie beschleunigte ihre Schritte. * Obwohl das Messer ziemlich scharf war, mußte Tony ganz schön arbeiten, bis er endlich den Kopf der Riesenfledermaus vom Rumpf getrennt hatte. Es war alles andere als angenehm, aber es mußte sein. Nur so konnte er sicher sein, daß der Vampir nicht eines Tages wieder auf unerklärliche Weise zu neuem Leben erwachte. Auch David und den Polizeibeamten hatte er aus dem Raum geschickt. Es galt noch einiges zu erledigen. Und dabei konnte er keine Zeugen gebrauchen. Nachdem er die vorgeschriebenen Worte gesprochen und die Handbewegungen ausgeführt hatte, erschien eine purpurfarbene, leuchtende Wolke mitten im Raum. Sie schwoll an und zerplatzte dann lautlos in einem irren Regen schillernder Farben. Einer der Farbpunkte schoß auf Tony zu und umkreiste ihn. Tony blieb still stehen. Er kannte inzwischen die Vorliebe des Dämons Yaguth für spektakuläre Auftritte gepaart mit einem skurrilen Humor.
Aber als jetzt auf einmal eine taubengroße Fledermaus mit einem menschlichen Gesicht vor ihm durch die Luft flatterte und sich auf seiner Schulter niederließ, da erschrak er doch ein wenig. Professor Fitzpatricks Gesicht in Miniaturformat grinste ihn an. »Hallo, alter Freund«, begrüßte ihn Yaguth. »Lange nicht gesehen und doch wiedererkannt. Ich muß dir ein Lob aussprechen. Du hast ihn jetzt endgültig zur Strecke gebracht. Den kann keiner mehr zusammenflicken. Auch die Kraft der Schwarzen Magie kann da nichts mehr ausrichten. Daß du ihm die Rübe abgesäbelt hast, war das einzig Richtige. Aber du hast da einige Probleme, nicht wahr? Ich sehe es dir an der Nasenspitze an. Doch du brauchst dir nicht den Kopf zu zerbrechen. Der nette, kleine Yaguth erledigt schon alles für dich. Du brauchst dir nicht zu überlegen, wie du deinen Freunden und der Polizei den toten Vampir erklären kannst. Das regle ich schon. Aber leider muß ich dir wieder die Erinnerung an mich nehmen. Tut mir leid, alter Freund. Befehl von oben. Ich kann auch nicht so wie ich will. Aber ich denke, daß du schon recht bald völlig eingeweiht werden kannst. Bis dahin empfehle ich mich nun. Also dann.« Die Fledermaus mit dem Gesicht des Professors erhob sich von seiner Schulter, schlug einmal mit den Flügeln und verschwand übergangslos. Im gleichen Moment verschwamm die Umgebung vor Tonys Augen. Irgend etwas Unerklärliches geschah auf einmal in seinem Geist. Als es vorüber war und er wieder klar sehen konnte, da fiel sein Blick auf die Leiche zu seinen Füßen. Jetzt, da er endlich tot war, sah der Vampirgraf eigentlich recht harmlos und friedlich aus. Sogar die charakteristischen Zähne waren verschwunden. Nur der Holzpflock, der in seinem Herzen steckte, sowie die Blutlache wiesen daraufhin, daß der Mann eines gewaltsamen Todes gestorben war. Als Tony Stimmen hörte, fuhr er herum. Mrs. Simms, ihr Sohn, Sandra und ein Polizist in Zivil kamen den Korridor entlanggeeilt. David trat neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Tony, du glaubst nicht, wie erleichtert ich bin, daß wir den Killer zur Strecke gebracht haben. Aber sei so gut und höre auf, mir einzureden, daß das ein waschechter Vampir sein soll. Er sieht zwar so aus wie einer von diesen Leinwand-Blutsaugern, aber das ist auch schon alles. Der Kerl ist, besser war, ganz einfach krank-
haft und pervers. Leute in den Hals beißen und das Blut aussaugen, das ist nicht die feine Art. Aber damit ist jetzt endgültig Schluß.« Tony zuckte nur mit den Achseln, als er sich abwandte. David war eben unverbesserlich. Aber es war auch gut so, daß er einfach nicht an Vampire glauben wollte. Dadurch wurde ihm erspart, seine Vorgesetzten auch davon zu überzeugen. Einen flüchtigen Augenblick lang erschien es Tony, als ob hier etwas nicht stimmte. Mit David nicht und auch mit der Leiche des Vampirs nicht. Aber es war nur ein vager Gedanke, der ihm sofort wieder entglitt. »Ach, übrigens«, wandte er sich an David. »Er hat noch einen letzten Wunsch geäußert, bevor es mit ihm zu Ende ging. Wir sollen seine Leiche verbrennen und die Asche in die Themse streuen. Damit sein Geist nicht spuken muß, hat er gesagt.« David grinste. »Das kann er haben. Er hat mir so schon genug schlaflose Nächte bereitet. Da will ich mich nicht noch mit seinem Geist herumschlagen müssen.« Tony ließ ihn stehen und ging zu Sandra. Er nahm sie in den Arm und drückte sie kurz an sich. Dann hängte sie sich bei ihm ein. Langsam schritten sie hinaus und ließen all das Grauen der letzten Tage hinter sich zurück. Sie konnten jetzt sicher sein, daß es endgültig überstanden war und daß sich die schrecklichen Ereignisse nicht mehr wiederholen würden. ENDE In einer Woche erscheint Band 334 der Gespenster-Krimi-Reihe. A. F. Morland schrieb: Im Tal der Vampire Als Dämonenjäger Tony Ballard in das Flugzeug nach Johannesburg steigt, um einen Freund zu besuchen, ahnt er noch nichts von der Anwesenheit zweier Luftpiraten. Als die Maschine plötzlich den Kurs ändert und in der Savanne notlandet, ist es zum Eingreifen zu spät. Nur zwanzig Menschen überleben die Katastrophe. Der einzige Weg zur nächsten Stadt führt durch den
Dschungel. Doch die Gruppe gerät vom Regen in die Traufe. Menschen verschwinden, tauchen wenig später wieder auf und verbreiten Angst und Schrecken. Allein Tony Ballard ahnt, welches Grauen die kleine Gruppe begleitet. Aber auch er ist machtlos, als das Inferno über sie hereinbricht… Im Tal der Vampire Merken Sie sich diesen Titel. Der Roman erscheint in einer Woche im Zeitschriften- und Bahnhofsbuchhandel. DM 1,40