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2062 – das Jahr der Wiederkehr des Halleyschen Kometen. Unüberschaubar erstreckt sich die Stadt, ragt himmelhoch und bohrt sich abgrundtief in den Boden. Hort der Geborgenheit, beklemmendes Monster, durchzogen vom Gewirr der Highways, Subways und Lifts. Vielen Millionen Menschen bietet die Stadt Wohnung, Arbeit und Zerstreuung, ein Leben in drängender Enge, aber elektronischer Sicherheit. Computer versorgen und steuern, geben Freiraum oder disziplinieren – zum Wohl der Angepaßten. Das Mädchen Zilli jedoch will einen eigenen Weg gehen; inmitten des Meeres der Gebote und Verbote, der totalen Information sucht sie nach einer Insel ganz für sich allein. Bei dieser Suche lernt sie die Krebsforscherin Geraldine kennen, deren scheinbar abenteuerliches Dasein sie fasziniert, und sie entdeckt, wer die anrührenden Graffiti an die kahlen Wände der Gänge sprüht. Mit einem jugendlichen Computerhacker dringt sie sogar bis zur städtischen Peripherie vor. Und dann ist da plötzlich eine Melodie, die sich nicht verdrängen läßt, Zillis Melodie – aufrüttelnd und einschmeichelnd zugleich.
Alfred Leman, 1925 in Nordhausen geboren, promovierter Biologe, wohnt in Jena. Viele Jahre arbeitete er bei Carl Zeiss Jena. Neben anderen Fachpublikationen hat er gemeinsam mit zwei weiteren Wissenschaftlern Hochschullehrbücher geschrieben. Belletristische Veröffentlichungen: „Das Gastgeschenk der Transsolaren“ (zusammen mit Hans Taubert, Erzählungen, 1973), „Der unsichtbare Dispatcher“ (Erzählungen, 1980), „Schwarze Blumen auf Barnard 3“ (Roman, 1986) sowie Geschichten in Anthologien.
Verlag Neues Leben Berlin
ISBN 3-355-01188-6 ©Verlag Neues Leben GmbH, Berlin 1991 Schutzumschlag und Einband: Jörn Hennig/Hans-Jürgen Malik Gesamtherstellung: Offizin Andersen Nexö Leipzig GmbH, Graphischer Großbetrieb
FÜR HELLA
1. Zilli Mamelink strebte zur Radial-Sub auf der minus Fünf in Richtung Outer-Marginal1, um vom Außenring schneller ins Zentrum zu kommen, weil es da draußen noch Plätze in den Zügen gab. Schlangen vor den Liften, die Downs waren voll und zischten vorbei, ohne zu halten. Sie zog denselben Trick gleich noch mal, sprang in den nächsten Up, blieb in der Kehre ganz oben über plus Vierzig sitzen und hatte ihren Platz. In der minus fünften Sub nahm der UserIdentifier gehorsam ihren Stempel an, dreizehn Minuten Fahrt, Leuchtbuchstaben mit Fünfzigmeterlücken blitzten aus schwarzen Fenstern in die Wagen hinein: CAI-CIR + BCMS MACHT 500 PROZENT… KASKA – PFLICHT FÜR JEDEN… Sie kannte das alles, nahm den Blick da weg und schätzte die mitfahrenden Mädchen und Jungen ab, die sie abschätzten. Sie trug türkisfarbene Hosen, ein maigrünes Kleid mit langen, rosa wallenden Fransen bis zum Knie, rosa wallendes Haar und glaubte, bestehen zu können. Dann aber begriff sie die Streckeninformationen nicht, denn auf einmal jagten die Texte auf den Tableaus im Wagen einander in unlesbarer Hast. Und tatsächlich quollen in der Halle der Outer-Marginal Unmassen Menschen von unten herauf, von dorther, wohin sie wollte, um in die City zu kommen. Ein halbes Dutzend Vocoder brüllte darüber hinweg und stampfte den Unmut der Menge zu eintönigem Brausen zusammen. Die digitale Streckeninformation blieb auch hier in der Halle nur sinnloses Geflacker, irgend etwas haute da unten wieder nicht hin. Nichts Neues. CAI-CIR + BCMS M CHT 00 PR ZENT, schmetternde Fünfmeterbuchstaben. Zilli schrie ein paar Leuten Fragen zu, aber die Leute trieben an ihr vorbei wie ein mit Grabsteinen gefüllter Zug Transportkarren im Zwangslauf des AUTOPATH. Der Strom zog Zilli in sich ein und spülte sie aufwärts bis zur dritten High. Plötzlich, ganz oben, in der Sekunde, als sie aus der Schleuse trat, prallte sie auf den April. Kalt, wilde, ungezügelte Luft, wildes Licht, 1
Wort- und Sacherklärungen am Ende des Bandes
das Kleid war zu dünn für die High, aber der Blick schoß durch das Netz der Oberleitungen hindurch in wundervolle, maßlose Weite bis zum Rand der Welt. Auf der andern Seite lag die Stadt, unsichtbar, versunken in Blau. Nur das Gespinst der Highways schwebte darüber in hundert zart verwobenen Tönen von anderem Blau, Nadeln stachen senkrecht da hindurch mit winzigen roten, weißen und gelben Funken als Köpfen. Verborgen unter diesen Schleiern also lauerte die ungeheure Masse wimmelnder Substanz: die Stadt, das großartige, glitzernde, stinkige Biest. Zilli schwamm hier oben mit weit geöffneten Augen und Nüstern in der Menge, spürte nicht, daß ihre Füße die metallenen Riffeln des Bodens berührten, als sähe und röche sie das alles zum erstenmal. Ein Strom von Kraftstoff schoß in ihr Herz, irgendein wunderbares Gefühl, und dies war der Augenblick, in dem sie beschloß, etwas Großes zu werden. Ein SNAP wollte sie werden, ein SNAP von mindestens dreißig kW, ein Star, leuchtend wie die Atomöfen jener heißen Systems for Nuclear Auxiliary Power, die da oben zwischen den Sternen dahinzogen, zwischen den Stars, von denen manche aus dem Dunkel versunkener Epochen noch immer hervorglommen, von einer Art rosa Himmel herab, der damals Hollywood hieß, ein Fetzer, etwas ganz Großes, das es nur einmal gab in der Stadt. Aber als sie zum Himmel hinaufschaute, sah er nicht leuchtend und rosa aus, sondern grau, ohne Ende, schmutzig und wie Wellblech gerippt. Sie hätte diesem blechernen Himmel gern einen Tritt verpaßt. Bei Newton! Das gäbe einen wundervollen Krawall… Mechanische Wellen entstehen an Grenzflächen relativ gegeneinander bewegter Medien unterschiedlicher Dichte: gerippelte Dünen, Wasser, Schäfchenwolken und meinetwegen auch dieses beschissene Blech. Was soll’s? Von oben ballert die Sonne drauf, die Schöne. Soll sie, feste! Zilli summte die Kringelmelodie, die am Morgen durch die Korridortür gedrungen und abgebrochen war, sie wußte auf einmal, wie die Musik weiterging, sie wußte es so genau, daß sie die einzelnen Töne richtig laut hätte singen können. Nach reichlich zwei Stunden nahm der Ul an einer der Wagentüren der High ihren Stempel endlich an, Zilli erhielt ihre Fahrt in die Stadt. Ein SNAP, ein SNAP…, dachte sie und erprobte wunderbare und er-
hebende Empfindungen, als könne sie die Welt nur immer von oben sehen, wenn sie es nur genug wollte, Gefühle, die, wie sie glaubte, SNAPs und Stars immerwährend durchflössen, jetzt und damals, seit es sie gab. Zilli hielt schon gewisse Vorstellungen in dieser Sache bereit, die mit Kleidern zu tun hatten, einem Colorset von mindestens zwei Meter Länge, mit Unmengen rosafarbener Accessoires und damit, daß sie nie mehr gezwungen werden könne, Punkt sechs Uhr aufzustehen, bloß um sich nur fortwährend zu waschen, zu warten, zu warten, immer zu warten auf irgendwas. Sie lüftete den Ausschnitt ihres Kleides und steckte die Nase hinein. Es roch feucht und warm und als ob ein Strauß aus hundert chemischen Blumen da drin steckte. Sie ließ den Stoff befriedigt zurückschnippen. Ich möchte wissen, ob es sich noch wer leisten kann, soviel Deo zu verbrauchen wie ich, eine Dose die Woche… Vielmehr hatte sie solche Vorstellungen bis vor zwei Stunden gehabt. Inzwischen taten sich Unschärfen auf im Bild, auf das sie nun selbst geraten war, sperrige Fragen, Löcher, sobald sie Einzelheiten und Genaues ins Auge faßte: Wohin mit den Accessoires? Von oben? Von wo oben? Dann ist da noch Pa. Er ist zu dick und einfach zu substantiell, um ihn da oben unterzubringen. Ein SNAP. Ein Fetzer. Was denn für einer? Und wie? Der Zug warf sich in die Kurve vor der nächsten Station, Skyline Süd, gab der Vocoder bekannt, ein paar Leute drängten zur Tür; teilnahmslose, selbstsüchtige Blicke. Von der Skyline war aber von hier aus gar nichts zu. sehen, nur blauer, wattiger Dunst. Die Löcher wuchsen und spien Beunruhigendes aus, Zilli machte sich steif auf ihrem Sitz. Was tut Praxis mit ihrer Theorie? So ist das also: ein Feedback. Gegenphasiges Feedback führt einen Teil der Ausgangsleistung eines Systems auf die Eingangsleistung zurück, um diese zu verringern… Die Kriterien von Nyquist und Bode. Die Eingangsleistung bring ich. Ich mach einen SNAP aus mir, hab noch nicht angefangen damit, und gleich krieg ich eins drüber. Die Feedbackbremse, so einfach ist das. Kann denn das Ding verdammt keiner mal abschalten? Die Frage blieb ungeklärt. Plötzlich quiekte ein Wiederfinder energisch und ganz in der Nähe. Zugluft wehte durch offene Türen, Halt auf Skyline Süd, zwanzig Sekunden.
Zilli entdeckte den Finder unter dem Sitz gleich gegenüber dem ihren, Identikat und Stempel hingen daran, kleine elektrische Dinger, dringlicher für das Leben als ein ergiebiges Konto auf der Bank. Sie erinnerte sich, daß da jemand gesessen hatte, schmal, weiblich und grau bis zur Unsichtbarkeit, der Sitz war jetzt leer, die Frau lief da draußen ohne Identikat herum. Sie wußte nicht, wie es gekommen war, da stand sie auf dem Perron, die Dingerchen in der Hand. Hinter ihr zischten rüde die Türen zu, Menschen schubsten, der Finder fuhr fort zu quieken, aber auf einmal nur dünn und piepsig über dem Lärm in der Luft. Zilli raffte ihre Tasche und die rosa Fransen zusammen, die ihr die Menge fast entriß. Die Hand mit dem Quieker reckte sie hoch in die Luft, ein paar Meter weiter hob sich ein anderer, grauer Arm wie eine Antenne über die Köpfe hinweg, ein bißchen Gerangel, dann stießen die beiden zusammen, Verlierer und Finder stellten ihre Alarmrufe ein. „Ihr Identikat!“ „Du meine Güte!“ Die Leute sickerten weg, es gab Raum, um sich zu sehen und zu bewegen, wie man es selbst wollte, und nicht, wie es die Menge erzwang. Die Frau war wirklich dünn und alt und grau von oben bis unten, zumindest schon in die Dreißig. „Du bist ja ein Kind!“ rief sie, lachte belustigt, und die späte Entdeckung veranlaßte sie, in die Knie zu gehen auf angemessenes Niveau, um mit dem Kind zu reden von gleich zu gleich. Zilli maß ein Meter siebzig, und ihr schien, der Schreck über den Verlust sitze weniger tief in dieser Person, als er sitzen müßte, und unterm Wert, während sie auf den Scheitel der Frau hinabschaute. Sie sagte: „Es kommt eben mal vor, daß man etwas verliert. Man hat seine psychedelischen Absenzen.“ Wie ein verschreckter Vogel hob die Frau den Kopf und schaute zu Zilli hinauf. Sie hatte ein hübsches, rundes, heiteres Gesicht, weit weniger grau, als Zilli erwartet hatte bei einer so fürchterlichen Montur, und große, dunkle Augen. „Was für welche?“ fragte sie einigermaßen
verblüfft. „Psychedelische. Man geht durch rosafarbene Landschaften, die aussehen wie Wurzel aus minus eins“, antwortete Zilli exakt. Zwei, drei Sekunden trat eine Pause ein, während der die Frau fortfuhr, Zilli zu betrachten, und Zilli wünschte sich, daß Pa sie einmal auf die Art anschauen würde, wie die Frau sie ansah. Die erhob sich aus ihrer unpassenden Position, um Zilli ein Stückchen beiseite zu ziehen, denn ein neuer Schwall von Leuten überschwemmte den Perron. Ihr Gesicht sah so rund aus, weil es ringsum in kurze Löckchen gefaßt war von so unbestimmtem Braun, daß es nur das rohe, barbarische Haar sein konnte, mit dem die Frau nichts tat, und es war wirklich ein grauenhafter Kittel, den sie trug. Sie sagte: „Dein Zug ist weg.“ „Ja“, antwortete Zilli. „Sie fahren im Neunzigsekundenrhythmus, aber sie werden dich nicht mitnehmen, wenigstens nicht gleich.“ Zilli sagte: „Ja.“ „Du hast schon in der Outer-Marg warten müssen, nicht wahr?“ „Zwei Stunden“, sagte Zilli und bemerkte erst jetzt, daß die Frau einen Tragebeutel mit beiden Armen so beschützend umschloß, als sei er mit ägyptischen Schriftrollen gefüllt, aber was drin war, sah nur aus wie gewöhnliches Computerpapier. Auch der Beutel war schrecklich grau. Wie aus heiterem Himmel fing die Frau wieder zu lachen an und sagte: „ Ich bin Geraldine. Sag Geraldine zu mir. Und wie heißt du?“ „Zilli“, antwortete Zilli nach kurzem Zögern wahrheitsgemäß. „Hör mal, Zilli“, sagte die Frau, „wir könnten zusammen essen. Wir leisten uns mal was, denn wir haben es uns verdient, wenigstens du. Geht das?“ Die Frau lachte zwischen den Worten, als ob es etwas ziemlich Närrisches sei, was sie da vorschlug; ein schadhafter Eckzahn wurde sichtbar. Zilli hatte plötzlich die heftigste Abneigung, wieder solo zu sein. Die beiden fügten sich in den Strom der Menge, und der Lift förderte sie abwärts zur minus Eins, wo es Gastronomie und Magazine gab.
Aber die Frau steuerte an allen Pforten von Restaurants, Espressos und an den kleineren Bistros vorbei, und auch die Magazine für Fertiggerichte gefielen ihr nicht, sie suchte nach einer Boutique für kulinarisches Halbzeug, die im Gewirr der Automatenpassagen schwer zu finden war. „Sachen zum Selberkochen?“ fragte Zilli verwundert, sie gewann Geschmack an der Sache. „Aber ja. Wir leisten uns heute etwas“, sagte die Frau, „Past’ asciutta, original.“ „Und das können Sie?“ Die Frau lachte schon wieder. „Kindchen“, erklärte sie mit heiterem Sinn, als ob es diesmal etwas ganz Gewöhnliches sei, was sie da mitteilte, „was glaubst du, wie oft ich gekocht habe im Leben. Und unter was für Umständen. Unter Bäumen und offenem Himmel mitten in der Nacht, wenn es regnete, und auf offenem Feuer mit Holz und Gras. Die Männer holten das Wasser wer weiß woher.“ Zilli schwieg beeindruckt dazu. Solche Dinge waren Legenden für sie, Erfindungen des TV, in der Gestalt von Wirklichkeit lagen sie ihr zur diesem Zeitpunkt noch zu fern, als daß sie jetzt etwas zu fragen gewußt hätte. Geraldine suchte verschiedene Dinge in der Boutique zusammen, die eßbar sein sollten und die Zilli in diesem Zustand noch nie gesehen hatte. Ein paar dieser Dinge gab es nicht mal konfektioniert, und der elektronische Transfer des Gegenwertes vom Konto der Frau auf das Konto der Boutique mittels Identikat dauerte lange. Sie brauchten noch fast eine Stunde, um zu Geraldines Wohnung zu kommen in der minus Drei. Sub, Lift, Weichen, Gänge. MASCHPRIBORINTORG – IHR PARTNER IM ERDNAHEN RAUM. Immer war alles gleich, die Luft, das Licht, die gleichen Menschen, Farben und Türen, immerwährende Wiederkehr der Norm, der Weg in die Stadt rückwärts. Als aber Geraldine das Mädchen vor sich her in ihr Zimmer komplimentierte, blieb Zilli vor Überraschung stehen, stocksteif, ein Bein noch erhoben wie ein verharrendes Tier. Das Zimmer war leer wie eine Wüste. Nur an den Wänden hafteten Messer und
Spieße, bemalte Schilde und fremdländisches, konserviertes Getier, dem muffiger Dunst zu entströmen schien. Ein CTI-Rechner stand da wie ein einsamer Stein und ein winziger, wahrhafter BCMS neuester Bauart, das Panel voller Tassen und gestapeltem Computerpapier, ein einziger Stuhl. Tassen auch auf dem Fußboden rundherum, unbarmherziges Licht nackter Lampen. Sonst war das Zimmer leer. Nein, nicht ganz: Etwas Graues hoppelte herbei, ein Kaninchen, dann noch eins, von oben krächzte ein schwarzer Vogel einen mürrischen Gruß, und überall waren Kügelchen, kalkige Flecke, Schmutz verschiedenen, undurchsichtigen Ursprungs, Spuren tierischer Physiologie und Geschäftigkeit. Aus Zillis Bauch brodelten unbekannte Empfindungen herauf und vernebelten ihr das Gehirn, eine Art neurohumoralen Tumults. Sie hockte mitten im Zimmer nieder, die rosa Fransen fielen zu einem anmutigen Kranz. Aber die Wärme und das Pochen unter dem Fell der Kaninchen und die überaus zarte, vertrauensvolle Berührung der aufund abwippenden Nasen der Tiere mit Zillis Hand ließen Licht aufgehen über dem Gewölk, all das Fremde wurde auf einmal freundlich und gut. Sie versank im Blick der Tiere und im Entzücken über das samtene Leben unter ihrer Hand. Noch niemals hatte sie so etwas Wunderbares berührt. Die Frau sagte auf einmal: „Kindchen, du zitterst ja“, aber Zilli schluckte nur etwas hinunter und konnte nicht antworten, weil sie so ergriffen war. Zeit verging. Die Frau hantierte mit dem Staubsauger und dann mit etwas anderem in der Nische nebenan, die, wie Zilli annahm, Herd und Bett enthielt. Der Vogel krächzte Forderungen von oben herab. Zilli fragte: „Kochen Sie schon?“ „Noch nicht“, rief die Frau aus der Nische und lachte. „ Hör mal, Kindchen, kannst du nicht schon mal anfangen damit?“ Die Dinge nahmen dann einen sonderbaren Verlauf, der Zilli gleichwohl weit denkwürdiger erschien, als er es wirklich war. Sie begriff alsbald, daß sie von Geraldine außer grundlosem Lachen keine Antwort erhalten würde, die reine Null Leistung, soweit es Fra-
gen zur Herstellung dieser Pasta betraf. Wilde Bäume… Feuer aus Holz und Gras unter freiem Himmel… Bei Newtons Gravitation! Und mit Wasser, wer weiß woher… Dies und plötzlich ausbrechender Hunger bewogen sie, von den Tieren abzulassen und sich der Zumutung zu stellen, die ihr die Frau da zuschanzte. Sie kannte den Mechanismus, wie man Information aus dem Netz herausholte, und schon nach ein paar Sekunden flitzten die richtigen Zeilen über den Monitor des CTI: Past’ asciutta – Zutaten, Herkünfte, Mengen, Preise; der eindeutig ausführbare Algorithmus, Varianten; ein paar Sachen aus der Boutique paßten tatsächlich in diesen Text. Plötzlich zuckte noch etwas anderes über den Schirm. NAZCA GEHT DICH AN, blinkend im Sekundentakt. Es war, als stieße ihr jemand einen Finger unters Kinn. Nazca? Sie erinnerte sich. Diese verrückten Rennpisten der Inkas? Mich.? Zilli machte nur „Ts!“, drückte OFF, ohne hinsehen zu müssen, der Schirm erlosch. Aber dann gab es weder Herd noch Teller, noch einen einzigen Topf, die Technik der Küche erschöpfte sich in Kaffeemaschine und Hahn für Wasser der Qualität 01. Zilli beließ im dunkeln, was ihr dunkel erschien, und stopfte in die Maschine, was mit „Spaghetti“ bezeichnet war. Während die Nudeln weichten, fand sie Geraldine am BCMS. Sie vernahm eine neue, ernsthafte, kalte Stimme, in der die Frau mit dem Rechner sprach. Schöne Hände mit langen, ein wenig schmuddligen Fingern handhabten die Tasten so reizbar, als entzifferten sie Blindenschrift. Die Spitzen der Finger waren aufwärts gebogen. Zilli sah das mit bewundernder Beklommenheit und kehrte zu ihren Nudeln zurück. Dann landete der Vogel bei der Maschine, voller Interesse beobachteten sie miteinander, wie die Nudeln anschwollen, der Vogel trat nervös von einem auf das andere Bein. Was für Hände… Es muß einen Dreh geben, um solche Finger zu kriegen… Hernach aßen sie, was die Maschine und das 01-Wasser aus den Nudeln hatte entstehen lassen. Zilli kaute mühsam auf den verschweißten Teigfäden herum und betrachtete ein helles, ockerbetupftes Fellchen, das ausgespannt an die
Wand geheftet war und dort leuchtete wie ein kleiner Komet mit geringeltem Schweif. „Das ist Kei-Kei“, sagte die Frau, als sie Zillis Blick folgte, „das bißchen, das von ihm geblieben ist. Kei-Kei gehörte Wiliwoodie, oder Wiliwoodie gehörte ihm, und der eine war ohne den anderen nicht zu denken. Immer kletterte er auf Wiliwoodie herum oder in der Hütte, und immer fraß er Löcher ins Dach.“ „In den Beton? Wer ist das, Wiliwoodie?“ Die Frau hatte den Kaffeemaschinentopf mit äußerstem Gleichmut entgegengenommen und etwas von seinem Inhalt in drei Tassen zu füllen vermocht. Nun aßen sie aus den Tassen. Auch der Vogel erhielt sein Teil. „Ommars Freund. Du wirst es nicht glauben, seine Nase war rabenschwarz und von Flügel zu Flügel mindestens acht Zentimeter breit.“ Sie saßen zusammen am Tisch auf dem einzigen Stuhl. Der Vogel umkreiste seine Tasse über die Papiere hinweg, ratlos, flügellüpfend, und sandte schiefe Blicke von oben in die Tasse hinab. „Ommars Nase?“ „Kindchen“, antwortete Geraldine mit klebrigem Mund, „Ommar ist mein ältester Sohn, ein junger Mann schon damals, und es war ihm gelungen, diesen schwarzen Australier zum Freund zu gewinnen, so, wie ihm alles gelang. Wiliwoodie gehörte zu einer der Aboriginessippen, die mit den Rindern im australischen Busch am Rande der Wüste umherziehen. Manchmal, wenn ihnen die Puste ausging, arbeiteten sie bei den Züchtern für ein paar Bohnen, Zucker oder verramschte Armbandfernseher, hinter denen sie her sind, je nachdem. Und glaub mir, für einen Weißen ist es noch immer nicht leicht, denen nahezukommen. Aber Ommar schaffte es. Kaum daß der Yankee sein Lager dort aufschlug, schaffte er es. Ommar wurde Wiliwoodies und Kei-Keis Freund. Deshalb ist Kei-Keis Fell an mir hängengeblieben.“ „Was für ein Yankee?“ Helles, wie Stücke einadrigen Kabels, schoß durch die Luft und klebte fest, wo es hintraf. Der Vogel war zu einem Entschluß gekommen, hielt einen Nudelbatzen im Schnabel und schlenkerte wild und
zornig den Kopf. Aber er ließ es zu, daß ihm die Frau beruhigend über die Flügel strich, und Zilli sah die wunderbar aufgebogenen Finger. „Mein Mann“, antwortete die Frau. „Und wie lange waren Sie dort?“ „Zwei Jahre.“ Zilli wischte sich den Mund mit dem Handrücken. „Ach, so lange. Und was taten Sie in diesem Busch?“ Geraldine lachte. „Kindchen, was taten wir da?“ Und dann sagte sie mit sonderbarer Gelassenheit: „Es war grauenhaft, als Wiliwoodie starb. Wie er starb. Er war kaum fünfzig. Die schwarzen Männer dort sehen gewöhnlich älter aus, als sie sind.“ Der Batzen lag jetzt auf dem Tisch und wurde mit einem Auge betrachtet. „Wir wußten nicht, daß ihre Sippe einen Zauberer hervorgebracht hatte“, fuhr Geraldine fort. „Ommar zuliebe setzte Wiliwoodie bei seinen Leuten durch, daß wir eins ihrer Tanzfeste mit ansehen durften. Plötzlich tauchten ein paar von den weißen Rinderleuten bei uns auf, sie waren betrunken, und dann brüllte ein Kofferradio irgendeinen dummen Schlager mitten in ihrer Zeremonie. Die Schwarzen schienen sich nicht stören zu lassen, aber am anderen Tage hieß es, Wiliwoodie sei krank. Wir wußten, woran die Leute zuweilen litten, Ommar ging mit Medikamenten zu Wiliwoodie in die Hütte. Wiliwoodie nahm die Medizin und sagte, er werde sterben. Er sagte zu Ommar, Wiliwoodie werde sterben, weil er den Zauber gestört habe. Wiliwoodie starb fast zwei Wochen lang, denn er war gesund. Erstarb, da es ihm der Zauberer befahl.“ Der Vogel war ganz ruhig geworden. Zilli sah, daß die Geschicklichkeit seines Schnabels vermocht hatte, die Nudeln in aller Stille zu entwirren, sie lagen hübsch nebeneinander, einzeln und wie etwas Ordnungsgemäßes anzusehen. Und jetzt war er damit befaßt, sie der Reihe nach wie lebendige Würmer zu verschlingen. Zilli schwieg, rutschte vom Stuhl und holte sich eins der Kaninchen unter die Hand. Sie streichelte es auf einförmige Weise, die Hand nahm immer den gleichen Weg von den Ohren zum Schwanz, hin und her wie eine Ma-
schine. Nach einer Weile sagte sie: „ Pa war schon mindestens zehnmal dort, in Melbourne, auf einer Insel, in Sydney und in Wollongong. Jedesmal steckte er dort seine blöden Teletexte ins Netz, daß ich mir die Füße waschen soll. Die Telexe schickte er mir ans Bett wie vom Zimmer nebenan.“ „ Das ist nun bald fünfzehn Jahre her“, sagte die Frau. „Quatsch“, antwortete Zilli. „Um die Zeit war ich ein Jahr lang noch gar nicht da.“ Allmählich verwandelte sich alles um sie her. Die Frau verflüchtigte sich wie der Rauch aus dem Müllverbrenner im Korridor. Zilli sah sie am Rechner sitzen, hörte, wie sie mit dieser anderen Stimme in die Maschine sprach, Rascheln von Papier, und zugleich schien die Frau entwichen zu sein, weit weg, weiter vielleicht als bis in den australischen Busch. Nur das Kaninchen blieb wirklich zurück. Zilli nahm die Sub, um nach Hause zu fahren. Sie hatte noch Geraldines Lachen im Ohr, als sie sich verabschiedet hatten: „Komm wieder, Kindchen, nach zwölf bin ich immer da“, ein Faden, der nicht gerissen war. Viele Anfänge. Helles und Dunkles, das sie verwirrte. Sie rief sich den wellblechernen Himmel herbei, von dem sie nun nicht erfahren würde, ob ihn die Sonne hatte plattklopfen können. Das Blech weckte den Traum vom SNAP, und sie flüchtete in diese rosafarbene Welt. Zwei Schwarze saßen mit im Kupee, eine Chinesin, und einer sah wie ein Inder aus. Funken des Erkennens in den fremdländischen Augen, Ellbogen stupften diskret, Geflüster, streifende Blicke, man hatte sie erkannt. Mit den Leuten reisten ihre Hirne überallhin in die Welt und mit den Hirnen ihr, Zilli Mamelinks Bild, das in ihnen war, der Globus überzog sich mit einem Netz von Spuren des SNAPs. CAI-CIR + BCMS MACHT 500 PROZENT hinter den Fenstern, der elende Trick funktionierte auch rückwärts, und in Wahrheit lagerte in den Augen der Leute nichts als Gleichgültigkeit. Die Fahrt nach Hause zurück nahm kein Ende. „He, Pa!“ – „He, Zilli!“, als sie endlich das Zimmer betrat. Der Mann sah die Post durch am Monitor. „Ach, Pa! Ich traf heute…“
„Hattest du einen schönen Tag? Freut mich, Schäfchen. Moment noch, da sind ein paar Sachen…“ Danach TV-Geflimmer – der Brennstabskandal in Nazca, Peru. – Solarzellenprojekt in der Sahelzone. Khartum, Tel Aviv, Moskau und Peking: der Yuan-Verfall, ökonomische Instinktlosigkeit gegen Interessen in Fernost, Indolenz unter vertragsgebundenen Partnern, Simultanschaltung enervierter Kommentatoren. – Tbilissi: Psychopharmakongreß. – Atlantik-Glasfaserkabel: unerwartete Fortschritte, die tausendste Meile. – Wale. – Recyclingquote für rücklaufpflichtige Stoffe weltweit auf zweiundachtzig Prozent. – Problem-Arts-Exhibition-Miami. – Schnee, wo keiner sein sollte. – Hast, Wörter, Farben, ineinanderlaufend zu Rauschen… Pas flüchtiger Blick zum Tisch. „Das willst du wirklich essen, mein Kind? Das alles? Wie ein MAN-Bagger. Schmatz nicht so!“ Im Bett hernach wollten die Dinge des Tages nicht zu den Wolken zerfließen, wie es immer geschah. Zwei Paare runder, samtener Augen, zwei verschiedene Stimmen der Frau, die Achtzentimeternase, Tod durch einen unbegreiflichen Schuß aus dem Nichts, die seltsam sinnlosen Nazca-Straßen, parallel, abgebrochen, schwankend im Helikopterbild, aufgebogene Finger, der Vogel, all das blieb stehen, gleichzeitig, wie in den verrückten Simultanblenden des TV, scharf, jenseits und nahe. Dazwischen klaffte die Welt zu bodenloser Schlucht. Die Wände des Grabens glänzten. Erschreckende, gewalttätige, brodelnde Glut der ineinandergeschachtelten Kugeln geologischer Formation: Kruste und Mohorovicic-Diskontinuität – Mantel und Wiechert-Disko – ganz unten der Kern aus Nickel und Eisen. Wie geschliffener Onyx, und winzig glitzerte da das hinuntergefallene Schwarze Loch. Gab es da nicht noch eine Disko dazwischen? Radien? Drücke? Fürchterliche Physik! Pas Stimme von nebenan: „Hast du dir die Füße gewaschen? Wirklich? Ich schau am Kontingentzähler nach!“
2. So aber hatte diese Geschichte gar nicht begonnen. In Wahrheit hatte sie schon ein paar Tage früher begonnen und überhaupt nicht so, wie es sich für eine Geschichte gehört. Es war nur rein zufällig im Jahr der Wiederkehr des Halley gewesen, als die ROTATION den Beginn der großen Schulferien für die neunhundertvierundvierzigste Polytechnische auf einen sehr frühen Zeitpunkt festlegte, nämlich auf Mittwoch, den fünften April. Zilli Mamelink besuchte eine der sechsundzwanzig achten Klassen jener Neunhundertvierundvierzigsten, und vielleicht lag es nur an dem ungewöhnlichen Termin, daß dieses Ereignis über sie kam wie eine Naturerscheinung; Nebel, ein dummer Regen draußen, von dem man ohnehin nichts sah und der alles mögliche sein mochte, nur nicht hell und schillernd und wundervoll, wie es der Anfang so endloser Ferien sonst immer gewesen war. Keine Erwartung, keine Pläne, sie hatte sich nicht einmal in einen einzigen Ferienklub einschreiben lassen. Und so kam es, daß der Vocoder noch einige Tage lang schon im frühen Halblicht sein „Sechs Uhr fünf…, sechs Uhr fünf…, sechs Uhr sechs…“ zu schnarren anfing wie an jedem gewöhnlichen Schultag, weil ihm niemand etwas anderes aufgetragen hatte. Zilli schlug die Bettdecke zurück, stand auf und erledigte all die Bewegungen und Handgriffe, die sie immer tat, bewog den Kontingentzähler für Waschwasser der Qualität 02 mittels ihres Geheimtricks, eine höhere Durchflußmenge anzuzeigen, als er tatsächlich hergab, drückte vor dem Spiegel den Zeigefinger quarzgenau zwei Minuten lang gegen die Nasenspitze, um die Nase, die der Spiegel hinter dem Waschbecken so grauenhaft lang und realistisch wiedergab, zu verkürzen, und erst während des Frühstücks wurde sie plötzlich inne, daß sie nicht nur jetzt, sondern den ganzen Tag über in diesen beiden Zimmern allein sein würde. Wie immer war Pa schon eine Stunde aus dem Haus, Ma – sie wußte momentan nicht, seit wann – mit einem anderen Mann in einer ande-
ren Stadt, und ein Schwarzes Loch mit einer Masse von zehn Kilo war also mindestens eine Million Mal kleiner als der Durchmesser eines Atoms. Man packt die zehn Kilo in eine Kiste aus härtestem Stahl und kann sie nicht wegtragen darin, denn das Schwarze Loch ist längst durch die viel zu losen Atommaschen des Stahlbodens hindurchgefallen und fällt und fällt bis zum Mittelpunkt der Erde. Zillis Kiefer hörten auf zu kauen, ein Krümel blieb im Mundwinkel kleben. Sie hatten gelacht in der Schule. Soll das ein Witz sein? Jetzt war das Lachen weit weg und nichts als erkaltetes Erinnern an ein Geräusch. Zilli dachte an das unbegreifliche schwarze Ding und fürchtete sich. Das Frühstück war dann eigentlich schon vorbei, aber sie häufte noch mal ein paar Löffel Kornflocken auf ihren Teller betrachteten den Flockenberg, fügte noch zwei Löffel voll hinzu und formte ihn zum Kegel eines Vulkans. Den Schlund des Vulkans füllte sie mit magmatischer Glut in Gestalt eines Kleckses Tomatenmark und goß einen Kratersee aus der Thermomilchdose darüber, die Milch war noch ein bißchen warm. Aus der Perspektive eines TV-Satelliten schaute sie jahrhundertelang dem Kampf der Elemente zu. Risse öffneten sich im Gestein, gewaltige Steilwände lösten sich ab, stürzten in den hochaufgischtenden See und versanken in unergründliche Tiefen. Am Ende zerfloß das Ganze wie immer zu unansehnlichem Mampf. Sie aß ihn auf. Aber vielleicht lag das gar nicht daran, daß die Ferien so früh begannen in diesem Jahr? Zilli räumte das gebrauchte Geschirr, ihres und Pas, in den Spüler. Eine halb leergegessene Thermoassiette mit grünen Nudeln stand da noch herum, Zimmertemperatur, sie aß auch die Nudeln noch auf, ein paar Minuten gingen vorbei. Dann streuselte sie eine Weile zwischen den beiden Zimmerchen hin und her, ihrem und dem Pas, hielt beim Rechner inne und rief die vom Netz eingelaufene Post ab. Die erste Adresse war sie selbst: – dein fach mit sauberer wäsche ist leer, laß dir was einfallen, Pa –. Dann ein paar Zirkulare, ein Text, der nur aus diesen dämlichen Piktogrammen bestand, wie für Analphabeten, alles für Pa, sie gab es in den Speicher. Nachrichten im TV: Fünfzehn Jahre Inter-Antarctic-Naphta-Organisation INTANAPOR – Irritation in
Fernost wegen Einmischungen in das Sahel-Solarzellenprojekt – Schwankungen im Kurs des Yuan – Moskau, Peking und Delhi intervenieren in der Nazca-Affäre, dem skandalösen Brennstabdepot inmitten dieser berühmten Inkastraßen im Westen Perus, Regierungserklärung aus Lima, widersprüchliche Kommentare – Schülerkrawalle in Osaka, Changchun und Sheniang – Nanoelectrics bringt den kommerziellen Fünfzehn-Millionen-Pixel-Schirm, Verzicht auf SECAM, Konsequenzen… Den Synthetic-Freakers hätte man längst den Goldenen Pfau verleihen müssen, und seit der Sache mit dem Schwarzen Loch wartete Zilli darauf, daß endlich jemand den Antigravitationswellensender erfand, aber es kamen dann nur noch Euro-Asiens Umweltminister zum Regenetat, ein Jubilar, Spartak Witebsk im Weltcupfinale, noch ein Jubilar und das Pfeifen der Synchronfrequenz. Dann orderte Zilli doch einen der Posttexte auf die Halbfläche des Monitors zurück, setzte den Takter in die übliche Ecke und schrieb den Text auf die andere Hälfte des Schirmes ab. Beim dritten- oder viertenmal erreichte sie dreihundertzwanzig Anschläge die Minute. Sie schrieb, löschte und schrieb. Beim dreißigsten- oder vierzigstenmal, als das Beben der Dinge und Wände des Zimmers und das ewige Dröhnen der Stadt schon lange erstorben schienen, wies der Takter eine Vierhundertzwölf aus (Standardabweichung 4.3) und dann auf einmal wieder nur eine Dreihundertsieben (Tendenz fallend, Signifikanz 98 Prozent). Zilli sprang auf, versetzte dem Rechner einen Tritt, oder doch wenigstens der Box für die Peripherie, strich dann, wieder im anderen Zimmer, mit dem Finger über die plustrigen Federchen einiger Fruchtstände (Clematis?), die sie seit dem vergangenen Jahr in einer rosa Plastdose verwahrte. Wie immer weckte die Berührung eine Menge Gefühle, die ihren Bauch und ihr Herz ergriffen und die winzigsten Fasern und Bläschen in diesen Gegenden zum Erzittern brachten. Aber Zilli konnte nicht herausbekommen, ob da etwas in sie hinein oder von ihr weg rieselte, eine neue, erschreckende Frage, und mit einem Ruck holte sie sich zurück von der Reise ins rosafarbene Irgendwohin; endoplasmatisches Reticulum, Vesikel, die Membranstapel der Golgikörper, Östrogenmoleküle, die zwischen all dem herum-
revoluzzerten; gab’s noch was Kleineres, das in Bauch und Herz erzittern konnte? Steifbeinig wandte sie sich wieder dem Rechner zu. Sie setzte sich vor das Panel, als sei nichts gewesen, und schaute eine Weile durch den leeren Schirm hindurch. Lieber kollege Pasqualo! schrieb sie, ohne noch weiter nachdenken zu müssen. In Ihrem roman über die entdeckung der neutrinofalle („Die gewalt der wirkungslosen“) kommen die neutrinos ziemlich ungeschoren davon, viel Wischiwaschi und stark verrauscht, wo man endlich gern etwas erfahren hätte. Ich weiß warum, sie sind nur backsound für was anderes: wie es Ihrem helden gelingt, TROTZ ALLEM ein insider zu bleiben, ohne sich unterbuttern zu lassen (der titel ist happy). Sie tun so, als äßen alle insider nur rapünzchen in olivenöl und trinken täten sie dampfendes blut. Die meisten insider, die ich kenne, sind eher wie ausgelutschter kaugummi. Ihre leute werken alle in so romantischen labors. In unserer stadt gibt es nur wohnungen und büros, und in den büros gibt es küchen und in den wohnungen rechner. Übrigens hat Ihr held am anfang zwei kinder, am ende kommen die nicht mehr vor. Schob er sie ab ins internat? Warum hat er dann welche? Trotzdem grüße ich Sie herzlich. Stellalunik O’Connel. Schriftstellerin. Leerzeile. Sehr geehrter herr professor direktor! Wir informierten uns über Ihren Sachverstand hinsichtlich waranen der orientalischen region und erfuhren von Ihrer erfolgreichen zucht sehr kleiner, rosafarbener zierformen, die mit eipulver ernährt werden können. Inzwischen beherrschen wir eine phoneatrische technologie, die geeignet ist, diese tiere singen zu lehren. Sofern Sie uns zwanzigtausend eier aus Ihrer zucht übersenden, sind wir bereit, Ihnen einen wirtschaftsvertrag zu beiderseitiger nutzung des verfahrens anzubieten, indem wir Ihnen versichern, über hinreichende mengen von wasser der qualität 02 zu verfügen, so daß Ihren tieren nichts abgeht. Stimmt es, daß warane ein halbes jahr ohne fressen auskommen? In erwartung Ihres teletextes per netz, kombinat interphonik, i. a. Janice Desdemona Cucumomo, direktrice. Nach einer Leerzeile begann Zilli noch einen dritten Brief an die Welt, der auf Zweifel an der Richtigkeit der UNESCO-Politik zur Frage der pädagogischen Krise in der chinesischen Einkindfamilie
abzielte…, meine frage: Sehen diese leute die tv-reportagen überhaupt an, deren auftraggeber sie sind? Sehen sie sich die krawalle in ihren schulen und die gesichter der trauen und kinder an, die… Der Text erstarb an dieser Stelle in einer weiteren Leerzeile. Hierauf tippte sie mit spitzen Fingern ein M und nach einer langen Weile ein a. Ma stand nun da mit dem mahnenden Blinker hinter dem a, daß die Zeile noch offen sei. Regungslos betrachtete Zilli das Wort, während es das Gewicht von Plutonium anzunehmen schien. Dann löschte sie den Blinker, bedachte, zu welchem Zeitpunkt des Abends Pa voraussichtlich heimkommen würde, gab diesen Punkt in die Tasten und orderte die Differenz zwischen ihm und dem Jetzt. Die Maschine gab die Order augenblicklich heraus: 9h 41 min 22,06s. So waren viele Tage endlos dahingeschlichen, mindestens drei. Dann reichte es ihr. Schon in aller Frühe zeigte Zilli dem Spiegel mittels bewährter Geste der flachen Hand in Höhe der Kehle, wie weit es ihr reichte. An diesem Tag sah der Himmel wie Wellblech aus, grau und schmutzig und auf eine trostlose Weise gerippt, und es war genau der Tag, an dem sie beschloß, ein SNAP zu werden. Zum Frühstück gönnte sie sich nur die Zeit für zwei Waffeln und drei Gurken mit Senf. Gleich danach griff sie nach ihrer rosafarbenen Tasche, deren Lack spröde und schon rissig geworden war, und verließ die Wohnung gerade, als der Radiator zu klopfen begann. Der Korridor war wie immer voller Staub und Flusen, von synthetischem Licht und synthetischer Hitze erfüllt, nach zehn oder zwölf Schritten blickten zwei neue Sekunden-Pop-Arts von der Wand zwischen den Türen, Kunst aus heimlicher Dose, ein bißchen traurig, ein bißchen anti, und gnädig auf zerbröseltem Putz. Nach der Biegung zum Hauptflur waren schon Leute da, ein Duett quengelnder Kinder, die etwas anderes wollten, oben Fäden merkwürdig geruchlosen Rauches aus den Düsen des Müllverbrenners, unten zerknautschte Tuben aus Plast, leergegessene Assietten neuesten Datums, sie glänzten noch feucht, danach eine Zwanzigmeterstrecke befremdlicher Reinlichkeit.
Dann kam die Tür, hinter der sie schon oft jemanden Cello spielen gehört hatte, richtiges Cello, keine Konserve, und wirklich waren die Klänge wieder da, eine alte Melodie wie blaßblaue und fliederfarbene Kringel, die ineinanderhingen und irgendwo oben, dann quietschte hinten die Feuerschutztür, und die Musik war zu Ende. Zilli ging ein bißchen langsamer und lauschte, ob die Musik wieder beginne, aber in der Weiche waren schon zu viele Leute da und erstickten das alles in Namenlosigkeit.
3. So war das also am Anfang gegangen. Und jetzt lag sie hier im Bett in den Kissen und wußte plötzlich, wie eischalendünn diese Kruste auf dem glutflüssig geschichteten Globus schwamm. Ein bißchen Schimmel wächst drauf. Das sind wir, der australische Busch, der vermoderte Wiliwoodie, den etwas umbrachte, was weniger zu begreifen ist als eine Revolverkugel aus Gas. Zilli kniff die Augen zu. Der darauffolgende Tag und der nächste und die wieder folgenden Tage waren mit Farbtupfern geschmückt, von denen sich Zilli nie hätte träumen lassen, Zichorienblau, Rosa und Flieder, aber auch Scharlach und düsteres Violett. Schon am Morgen schaute der Spiegel ihrer experimentellen Kosmetik zu. Sie bog die Fingerspitzen nach oben, bis die Gelenke knackten, und erfand eine Vorrichtung, um den Fortschritt zu messen. Nach drei Tagen schwebte das Ende der auf den Fingernagel gehefteten Besenborste schon zwei Millimeter über dem Null-Niveau. Die Hochrechnung mittels des Tangens ergab einen Winkelzuwachs zwischen Fingerbasis und Spitze von dreiundsiebzig Grad je Jahr. Zilli erwog, die Trainingszeit zu verkürzen. Sehr geehrter herr referent, schrieb sie nach dem Frühstück und dem Abrufen der Post aus dem Netz (das fach ist noch leer. Ich sorge fürs essen, du für die wäsche, so ist es abgemacht, denk dran! Pa). Sie zeichnen verantwortlich für die teletexte im fach sozialhygiene II, die für die polytechnischen verbindlich sind. Gleich vorn in der einführenden historie stellen Sie fest: Die primitiven waren auch immer gejagte; sie wurden so lange von göttern und dämonen verfolgt, bis die wissenschaft diese dämonen aus den steinen, dem holz, den kröten, dem himmel und donner vertrieb und aus allen schlupfwinkeln, die man für ihren wohnsitz hielt. – Was für ein tröstliches bild! Aber hat man wirklich alle gefunden? Sind Sie sicher? Wenn ja, bleibt die frage offen: Man VERTRIEB sie. Wohin? Auf verlassene inkastraßen? In den australischen busch? Aus dem exil kann man zurückkehren, wie
tv-reportagen belegen. Die nicht? Warum? Mir ist das lachen vergangen, sage ich Ihnen, und ich schwöre bei den Newtonschen gravitationsgesetzen, daß ich’s nicht weiß. Ihre antwort erhoffend, dr. Bathseba-Liese Ogh, Sekretärin der IMACO-kontrollkommission. Leerzeile. Nur immer erwachsene haben die macht. Sie stopfen ihre kinder mit purem zucker voll, wie sie glauben, und trotzdem reden die kinder: minus, minus, minus. Es ist zucker der macht, der gleiche, den der esel im zirkus bekommt, damit er sein kunststückchen morgen wieder vollbringt. Leerzeile. Dann wies der Text georderte Uhrzeit vor: zehn Uhr neun, Zeit für den Aufbruch zu Geraldine in die Stadt. Oder sie schrieb: Was ist ein SNAP? Leerzeile. SNAP = Sensation des guten. SNAP = Sensation des einzelnen. Der einzelne leuchtet. Plötzlich. Plötzlich wie ein knall. SNAP = einmannexplosion… EINMANNEXPLOSION! Der Rest der Schirmfläche blieb leer. Er war mit verdichteter Leere bedeckt wie mit der Starre eines von der Zimmerdecke gefallenen Käfers. Überhaupt mochte sich Zilli vorerst nicht zu weiteren Mitteilungen entschließen und wandte sich ihrer Garderobe zu. In einige Kleider und Hosen waren Löcher zu schneiden, in Höhe der Hüfte etwa und des Oberbauchs. Sie vermaß die Löcher genau und kultivierte die Ränder zu verfeinerter Schludrigkeit. Aber niemals übersah sie den Zeitpunkt für die Fahrt in die Stadt. Sie nahm die Sub, und tagelang wußte sie nicht, ob da oben endlich die Sonne schien. Im Zug erwarb sie Fertiggerichte in Thermoassietten der Zwei- und Dreihunderterserie, die sie bevorzugte. In der Fünfhunderter fand sie für die Kaninchen Instant-Salat aus Rapünzchen und Chinakohl, den sie mit Geraldines 01-Wasser wusch, um den Essig zu entfernen. Die Sechshunderternummern boten Extras für den Vogel an. Die Tür zum Zimmer der Frau fand sie stets schon geöffnet vor und begriff die einladende Geste rasch auch als Bitte um Ruhe für Konzentration. Denn sooft sie eintraf, saß die Frau am BCMS, sprach mit dieser anderen Stimme, die graue Tasche mit immer neuen Papieren stand da, und Geraldine nahm ihr Kommen gar nicht wahr. Zilli respektierte das Zeremoniell. Sie fügte sich dem absonderlichen Leben in diesem Zimmer ein, begrüßte die Tiere in aller Stille, wusch den
Instant-Salat wollüstig in Wasser 01, lernte auch, Tassen darin zu spülen ohne Automat. Sie spielte mit den Kaninchen, berührte, während sie lautlos umherging, die fremden Trophäen an der Wand und erwartete ihre Zeit. Fast immer war es der Vogel, der zum Essen rief. Gegen zwei oder drei Uhr und von irgendwo oben brachte er schnarrende Mahnungen vor, die er alsbald zu Unverschämtheiten zu steigern verstand. Dann öffnete sie die Assietten, deren Inhalt sich sogleich zu erwärmen begann, und Geraldine empfing die Mahlzeit gleichmütig aus Zillis Hand, ohne zu fragen und ohne Dank. Aber auch ohne daß Zilli zu bitten hatte, fing sie bereitwillig zu erzählen an. Sie sprach von ihren Reisen um die Welt. Namen von Gegenden und Städten tauchten auf, von denen Zilli niemals etwas gehört hatte, und sie wurden von immer neuen Namen wieder verschüttet und von seltsamen Episoden und Abenteuern, in die die Frau dort verwickelt worden war. Auch Namen von Männern und Kindern flocht die Frau in das Gewirr ihrer Erlebnisse ein, sie kehrten wieder oder auch nicht. Es war schwierig zu erkennen, ob diese Leute zu Geraldines Familie gehörten oder welche anderen Ursachen dazu geführt hatten, daß ihre Wege sich kreuzten oder nebeneinander herliefen, wenigstens eine Weile lang. Zilli sog das alles in sich auf, und Stück um Stück fanden die bunten und merkwürdigen Dinge an den Wänden ihre Erklärung und ihren Sinn. Der Vogel besaß eine ausgepichte Zunge, er stahl von den Assietten, verglich mit dem, was ihm zugedacht gewesen war, und mischte sich unverfroren in Geraldines Rede ein. „Wir haben niemals einen von ihnen gesehen“, fuhr die Frau zu erzählen fort, „obwohl wir monatelang diese Insel durchstreiften, der Ungar, ich und Kaspar, mein Jüngster. Wir wußten nicht, daß Boawa verbotene Zone war, eine Suluinsel. Irgendein Ministerium in Manila hatte sie gesperrt, weil man Ureinwohner entdeckt hatte, ein paar Dutzend Steinzeitmenschen, Nackte, die in Höhlen wohnten. Später gingen die Reportagen rund um die Welt.“ Zilli fragte: „Und der Yankee? Was war aus dem Yankee geworden?“
„Aus wem?“ „Ihrem Mann!“ „Ach, der“, sagte die Frau. „ Bevor wir die Suluinseln erreichten, hatte ich mir schon den Ungarn geschnappt. Die Story lief gut ein Jahr lang, bis die Bombe platzte“, fuhr sie eilfertig fort. „Ein Ethnologe fand in der Sprache der Nackten Wörter für Dach und Eisen und Geld, und die Denkmäler der Steinzeit entpuppten sich als überaus echte Slum-Filipinos aus Manila und Quezoncity. Ein prominenter Gauner hatte sie dort von einer der riesigen Müllkippen gelesen, auf denen sie lebten, er hatte sie für den Job präpariert und dann in die Höhle gestopft, damit man sie entdeckte.“ Zilli war entsetzt. „Ein ganzes Jahr? Warum?“ Geraldine lachte. „Kindchen“, antwortete sie mit diesem unpassenden Ausdruck von Heiterkeit, „mit solchen Stories macht man großes Geld.“ Zilli schwieg eine Weile und bog ihre Finger nach oben, dann fragte sie plötzlich: „Sie haben vier Söhne, nicht wahr?“ „Vier…“, sagte die Frau, als zähle sie nach, und schob den Vogel und die geleerten Assietten auf eine brüske Weise weit von sich weg. „Ja doch, vier, was denn sonst“, sagte sie und wandte sich dem Rechner zu. Die Geschäfte daheim, Pas postalische Mitteilungen, die Fahrt zu dieser exotischen Zelle mit den Tieren und der erfrischenden Unordnung fügten sich zu Tagen zusammen, die von Geraldines Geschichten erfüllt waren, von Entzücken, Stille, Erschauern und dem halben Ohr, das Pa dem Widerhall all dessen am Abend lieh. Die Tage folgten einander wie Muster von Moving-Arts auf den Schirmen der Fans, und ihr Glanz überblendete den Traum vom SNAP. Aber von einer unbestimmten Stunde an schienen die Movings langsamer zu wechseln, oder Zillis Blick haftete länger an einer der Figuren, oder nur die Erinnerung an diese Figur haftete länger in ihrem Gedächtnis fest. Sie wußte nicht, was da vor sich ging, als sie am Morgen Geraldine und ein Fragezeichen auf den Schirm schrieb, sonst nichts, und erst nach
einer langen Weile: GERALDINE? GERALDINE?, eine ganze Zeile voll mit dem fordernden Blinker am Ende. Sie hob die Füße auf den Stuhl, umfing die Knie mit den Armen, blieb katzenbucklig so sitzen, ließ Scheiben von etwas Bitterem aus einer großen Packung zwischen den Zähnen zerkrachen und stierte nur immer diese Zeile an. Der Blinker machte sie verrückt, vielleicht gerade darum wußte sie plötzlich etwas: Geraldine lachte zuviel. Aber wenn der Mund der Frau und ihre Wangen lachten, blieben die Augen stumm. Sie blieben immer von den Wimpern und von noch etwas anderem verhangen, von etwas wie Regen, der die Lichter der Stadt verhängen konnte, wie Zilli es manchmal von den Dächern gesehen hatte oder von den Perrons der High. Allein gelassen lagen sie inmitten der strahlenden Miene, als gehörten sie nicht dazu. Dann sprang sie auf einmal vom Stuhl herunter, galoppierte zwischen den beiden Zimmern hin und her wie eine Verrückte, und da sie momentan nicht bereit war, auf den Tisch, die Rechnerperipherie und den Radiator Rücksicht zu nehmen, hieben alle möglichen Ecken auf ihren Körper ein, und jedesmal im Vorbeirennen am Rechner orderte sie eine andere Kassettenmusik. Sie trieb die Amplituden so hoch, wie die Membranen hergaben, und schließlich liefen wenigstens drei solcher Protest oder Zärtlichkeit oder etwas anderes Sentimentales ausdrückende Polymetric Souls, Racs und Problems zugleich aus den Konserven in den Verstärker hinein, brüllten diese Zärtlichkeit da wieder hinaus und brachten die paar Kubikmeter Luft zum Erzittern. Am Ende zwang sie der Schmerz, innezuhalten im Rennen, oder der Anfall lief sich nur einfach tot. „Ihr miesen Scheißer“, sagte sie, indem sie den Rechner und den Radiator anblickte, „ich könnte euch alle zerschmettern.“ Sie verbiß den Schmerz, und allmählich nahm ihr Gesicht einen lauschenden Ausdruck an. Sie suchte nach dem Wort, das der TV-Sprecher gebraucht hatte. Hören Sie, Geraldine, sagte sie, als sie es gefunden hatte, Sie halten mich für indolent, nicht wahr? Indolenz, meine Liebe, ist eins der Grund übel unserer Epoche. Aber sie befällt, bei Newton, nur die Insider und Alten, die über dreißig sind. Sie fühlte sich wirklich wieder von jenem Blick der Frau getroffen, ernst, forschend, erstaunt, wie sie sich ihn erhofft hatte. Aber Ge-
raldine antwortete nicht. Ein blödsinniger Krach hier, was? fügte sie beflissen hinzu, als müsse sie etwas vertuschen. Da bleibt einem glatt die Spucke weg. Als Zilli anderntags wieder bei Geraldine anlangte, trug sie einen grauen Hut und ein graues, grob befranstes Kleid, wie aus Wischlappen gemacht, mit einem Knopf – groß wie der Mond –, der mit rosafarbenem Zwirn an den Ausschnitt geheftet war. Auch Haar und Brauen waren fransig und ergraut mit Spuren von Rosa darunter, das die Chemie nicht zuzudecken vermocht hatte, Gleichklang zum Zwirn. Schon in der Tür stieg säuerlich Fremdes in ihre Nüstern: Vor dem Rechner saß ein Kind. Geraldine stand da und redete mit ihrer anderen Stimme. Alles hätte genauso laufen können, wie es immer lief, aber diesmal ging’s anders. Sie schob die Karnickel aus dem Weg und richtete ihren Kurs auf konzentrische Kreise ein. „Nee, nee!“ und „Ja, ja!“, sagte das Kind auf entschiedene Art und mit tausend Hertz in der Stimme. Linksund rechts stießen wächserne Ohren in die Luft, dazwischen klebte glattes Haar in der Farbe eines Messinghahns, den man lange nicht geputzt hatte. Unten sahen Zehen aus irgendwelchen Sandalen hervor, und Zilli hatte Erfahrung genug, wie das Alter des Staubes zu beurteilen war, der die Zehen bedeckte. „Nee, nee, ja, ja“, sagte das Kind. Auf der anderen Seite glitzerte eine Brille mit großen, nickelberandeten Gläsern, wie es sie gar nicht mehr gab, und durch die Gläser blickten Augen hindurch wie Knöpfe aus Porzellan mit blauem Dekor, das vor Alter verblichen und wie ausgewaschen war, fischige Augen. Zwischen Wänden und in künstlichem Licht gezüchtete Blässe ungewaschener Haut, ein Schmierer neben der Nase. Zehn Jahre? Elf? Ein Junge, ein Mädchen? „Nee, nee, ja, ja“, sagte das Kind. Zilli entschied sich für das männliche Geschlecht. Die Finger des Jungen füllten den Schirm mit dem Netz eines Struktogramms und die Maschen des Netzes mit immer neuen GOSUBs, OPERATIONS und LETs, die sich verzwickt und schließlich zu einem so dünnfädigen Filz verwoben, daß ihn die zwei Millionen Pixel
des Schirms nicht mehr auflösen konnten. Die Nägel der Finger waren vom ewigen Tasten bis unter die Kuppen geschliffen. Zilli verstand, was sie sah. Sie schrieb dergleichen zwei- oder dreimal die Woche in der Schule oder am Rechner daheim, sie schrieb gut, aber nicht so. Nein, wirklich nicht so. Ist ein Fetzer, der Boy, ein kleiner SNAP, Drei- oder Fünfkilowattklasse. Und sieht aus wie eine vergessene Null. Zilli spitzte die Lippen wie zu einem langen Kuß für Pa. Die Graphik erlosch, und die Finger schienen gleichmütig von vorn zu beginnen. Geraldine sprach ein paar Wörter mit ihrer Maschinenstimme. „ Nee, nee, Frau“, sagte der Boy, als rede er zu den Tasten, „kannste dir sparn.“ „Der Rechner versteht mich gut“, widersprach Geraldine, aber nur halbherzig. Es ging auf zwei Uhr, und der Vogel erhob seine Stimme. „Nee, nee“, sagte das Kind, „hört nischt mehr, dein Renner. Gequatsche, nee, nee. Kannste dir sparn.“ „Warum? Er versteht sehr gut.“ „Ja, ja. Is was für Dumme.“ Zilli stülpte den Hut mit mehr Schwung als nötig auf das Horn einer Trophäe an der Wand, hängte ihre Tasche dazu, nahm eine Tasse vom anderen Horn, die zum Trocknen da hing, und klapperte damit ein bißchen herum. Aber die Frau fuhr nur fort, mit dem Jungen zu reden: von ROM, interner Intelligenz der Maschine, einer Menge Kilobyte in den Firmwarespeichern, die man von außen nicht löschen könne. „Sechshundertfumfzich.“ „ So viele? Man darf sie nicht löschen!“ „Ja, ja. Dürfen? Nie gehört das Wort. Nee, nee. Is was für Dumme“, sagte das Kind. „Zur Firmware führt kein von außen bedienbarer Bus.“ „Von außen. Ja, ja. Is was für Dumme. Hab se mit’n Assembler gelöscht.“
„Die Firmwarespeicher? Alle?“ „Nee, nee. Nur die fürs Gequatsche. Die sin jetz leer. Kannste brauchen, Frau. Ja, ja. Die zweihundertfumfzich Kilobyte kannste brauchen.“ Zilli hörte zu. Assembler? Ein schwaches Signal tickte in ihrem Hirn, als lägen Assemblerprogramme weitab oder versunken in fast vergessener Vergangenheit. Auf dem Schirm braute sich eine neue Graphik zusammen und vor ihm unbehagliche Stille. Geraldine sah ziemlich erschrocken aus, in der Stimme des Vogels begann Unmut zu schwingen, die konzentrischen Kreise verloren an Ergiebigkeit. Zilli sammelte ein paar weitere Tassen ein und ging in die Nische zu Kaninchen und Salat. „Nee, nee“, hörte sie draußen den Boy, „ich dressier dein Renner, und du guckst minus dazu. Kannste dir sparn… De Datenbusse fahrn bloß mit deim Gequatsche rum. Reiner Müll. Ne Million bits karrn se zu ner Million Adressen, als hätten se nischt Beßres zu tun. Reiner Müll. Jetz nich mehr, nee, nee.“ Die herrischen tausend Hertz zerhackten das Gemurmel der Frau zu zaghaften Rückzügen. Zilli machte sich steif. „Das is eins. Un jetz kommt’s andre“, sagte draußen der Boy. „Zehntausend Fälle haste, sachste, nich? Ja, ja. Un fumfzich Variablen für jeden von den. Un in de Inputs schummelste Wahrheiten rin von dreißich, fumfzich, sechzich Perzent un so, krumme Sachen, die’s nich gibt.“ Die Assietten erwärmten sich schon, die Zweihundertsiebzehn für heute. Der Instant-Salat war mit 01-Wasser gewaschen, bis er nicht mehr nach Essig roch, und nun hockte Zilli am Boden und hielt den Kaninchen die Blätter hin, eins nach dem andern. Die Mäuler raspelten eifrig hin und her, aber alle halben Minuten blieben sie stehen, wie wenn einer eine Maschine stoppt, weil die Kaninchen erst an den Blättern riechen mußten, wie es weitergeht. „Nee, nee“, sagte das Kind mit seiner hohen, kalten, durchdringenden Stimme, „ ne Wahrheit hat nur null Perzent oder hundert. Gibt’s
bloß Null oder Hundert. Ja, ja gibt’s un nee, nee. Hörstes, Frau, ja, ja un nee, nee. Nischt dazwischen. Mußte fummeln…“ „ Macht hin, ihr blöden Viecher, oder ich pflanz euch ne Faust unters Kinn“, zischte Zilli zu den Tieren hinab. „Was sachste? Permutationen? Weiß nich. Mußte fummeln. Un dann lädste damit de Speicher voll. Ja, ja, un de Busse. Läßt se flitzen de Busse, bis des hast: de Hundert oder de Null. Ja, ja oder nee, nee. Was sachste? Paar hundert Billionen bits für ein Fall? Da siehstes: Dein Renner is eben bloß fleißich, un nur du hastn Kopp. Ja, ja. Mußte fummeln…“ Böse und gegen den Strich fuhr Zilli den Tieren durchs Fell, denn die quäkende Stimme des Boys drüben bohrte sich ihr durch die Ohren bis in den Bauch. Sie programmierte selber genug, um zu wissen, daß logo war, was der sagte, logo so sauber, daß es nichts zu fackeln gab. Was aber war das andere, das sie nicht begriff? Wer war das da draußen? Nicht der Bengel, sondern die Frau? „ Un nun hör auf mit’n Gequatsche auch auf mir. Reiner NullBedarf. Nee, nee, kannste dir sparn. Sonst schalt ich auf anti um, un denn siehste so grau aus, wie de bist mit dein Renner un dein Müll…“ Zilli schmiß den Tieren die Blätter auf den Kopf. Sie begriff diese Geraldine nicht, ihre Frau, nicht die des Boys, die als Gast oder Widersacher mit schwarzen und gelben Gouverneuren umgegangen war und mit wilden Bäumen, Tieren und Ländern und die jetzt da draußen duckmäuserte mit diesem lausigen Kind. Dann brach Aufruhr aus nebenan. Ein schwarzer Teufel fuchtelte auf dem Panel herum, Arme, Flügel, dreifaches Geschrei. Wie ein Geschoß stob der Vogel hinauf auf seinen weißbesprenkelten Platz. Nur ein ganz gewöhnliches Wort stand mitten im Schirm: ERROR in ruhigem Grün. Eine Feder trudelte herab. „Ne Lizenz, um de Mäuler von de Kundschaft zu stoppen, wärs Idjal“, sagte das Kind in die jähe Stille. Geraldine hob die Schultern auf eine niedergeschlagene Art, Zilli hörte ihr eigenes Herz klopfen. Das war der Augenblick, in dem sie ganz deutlich den Anfang von etwas entstehen fühlte in ihrem Kopf.
Noch zweimal fuhr Zilli mit der Sub in die minus Drei, ehe sie Geraldine verließ. Auf dem Korridor lagen die ganze Zeit fünf Kinderwagenräder herum, Reste des toten Gestern, und ein paar Meter weiter drehten sich Staub und Alufoliefetzen, von Zugwind getrieben, in einem ewigen Kreis. Wieso fünf? Das Cello schwieg, aber dahinter blinkerten sämtliche Infos im Vierviertel-Afrotakt mit dem Schlag auf der Zwei und der Vier: NAZCA – UND DEINE STIMME? Dann kamen die Weichen, Lifts und Perrons, und die Leute, die mit ihr gingen oder denen sie begegnete, waren zuerst nur wie einzelne Tropfen, die immer dichter ineinanderflossen, bis sie sich in der Halle der Sub zu dem wimmelnden Strom vereinigten, in dem auch sie selber schwamm. Nach der Fahrt zerfiel der Strom in Bäche und Rinnsale von Menschen und löste sich auf der fortwährend rechtwinklig abzweigenden Strecke wieder zu den einzelnen Tropfen auf, wie es immer gewesen war. Und dennoch kam ihr alles ganz anders vor. Sie wußte nicht, wann die Stadt auf einmal angefangen hatte, sich zu verändern. Der Weg hatte seinen Rhythmus verloren, die vertraute Melodie einer Maschine, die glatt und soft und von selber lief. Jetzt kam er ihr holprig und zerrissen vor. Die auf die Perrons herabflutende Menge drohte jeden Augenblick in die Tausende von Tropfen auseinander zu fallen, aus denen sie bestand, und dann zerfiel sie wirklich in lauter einzelne Gesichter: Eine dicke, halslose Frau mit verstörten, eiligen Augen, die tief in das Gesicht gedrückt waren wie in von Hefe überquellenden Teig, zu grüne Gehänge zappelten an den Ohren, ein trügerisch junger Mund, Fett und aussichtslose, eingekeilte Zielstrebigkeit; die erdfarbenen Runzeln wie von zu schnell getrocknetem Lack im Gesicht eines Mannes mit zu prächtigen Zähnen, Taschen an den Armen des Mannes, die bis zu den Runzeln hinauf an den Armen zu zerren schienen; zwei japanische Puppen mit aufs genaueste gleichen Mündern, glänzend von Farbe und Höflichkeit; aufgerissene, schwatzende, verkniffene Münder, harte, durchsichtige, suchende und unergründliche Augen, glatte und alte Gesichter und solche, die den Jahren standzuhalten vermochten ohne Spur; Zwänge, Absichten,
Stumpfheit, Eile. All das glitt zu schnell vorbei, geschwind und immer geschwinder. Die Informatoren brüllten mit ihren Vocoderstimmen Nachrichten auf die Menschen herab, Zilli hielt ihre eigenen Ziele im Kopf, sehr genaue, neue, bestürzende Ziele, und sie konnte unmöglich noch etwas anderes denken, nur irgendwas, und wußte dennoch von irgendwoher, daß diese Schnelligkeit und Zerrissenheit weiter reichte als nur bis zu den Grenzen des Gesichtergewimmels und daß der Stahl, das Glas und der Beton der Halle porös und durchlässig waren für das, wovon sie nicht wußte, was es war. Es drang aus der Stadt in die Halle herein oder aus der Halle hinaus in die Stadt und die Welt und veränderte sie. Unversehens scheute sich Zilli, ihre Tricks anzuwenden, den heimlich zwischen die Nachbarn geschlängelten Arm, die Drehung des Körpers um sich selbst, ihre geheimnisvolle Physik, um die vorwärtsschiebende Menge zu überlisten und Nachbarn wie Widersacher hinter sich zu lassen und schneller voranzukommen als die. Auch die Widersacher hatten Gesichter. Sie ließ sich tragen vom Strom, träumte, bis ganz gewöhnliche Buchstaben vom Schild eines Eisladens sie weckten. Plötzlich überfiel sie unbezwingbares Verlangen nach Erdbeereis. Zum erstenmal, seit sie sich kannten, schien die Frau auf Zilli gewartet zu haben, zumindest kam es Zilli so vor, denn als sie ins Zimmer trat, stand Geraldine nur da, sah ihr entgegen, weit weg von der Maschine, grau und dünn wie immer und ein bißchen verloren, als gehörte sie nicht mehr hierher. Zwei, drei Sekunden betrachtete sie die Ketten um Zillis Knöchel, Hüften und Hals, deren Glieder gut zu einem Tanker im Hafen gepaßt hätten, und das noch immer graue Haar. Sie sagte: „ Du hast einen Bart aus Himbeereis.“ An den Rechnern arbeitete das Kind, als hätte es sich seither niemals weiter von der Maschine entfernt als zehn Zentimeter. „Habe ich nicht“, sagte Zilli. Sie fuhr fort, nur auf den Rechner zu blicken, und wartete darauf, daß Geraldine wieder in dieses unangebrachte Gelächter ausbreche. Aber das Lachen blieb aus, und die sprachlose Stille zog sich hin.
„Dieser BCMS ist ganz neu und schon mit dem Netz verkabelt. Der Junge war auf einmal da, mitten in der Nacht, und sagte, er müsse den Renner sehen“, sagte die Frau ganz plötzlich und im letzten Augenblick, als es Zilli beinahe nicht mehr aushalten konnte. „Ich glaube, er ist ein Hacker und hat sich von draußen und seit Tagen schon über das Netz in meine Programme gehängt. Ich weiß nicht mal, wie er heißt, aber jetzt hilft er mir sehr.“ „Ich hasse Himbeeren“, sagte Zilli. Endlich hatte ihr Geraldine die paar Worte über den Rechner gesagt. „Von Himbeeren könnt ich glatt kotzen.“ Wie immer stand der Beutel mit den Papieren da, und die Frau machte sich mit ihnen zu schaffen. Zilli sagte: „Es war Erdbeereis.“ Man sah, daß die Frau nichts Wirkliches mit den Papieren tat. Zilli ergriff die Gelegenheit wie in boshaft freudigem Schreck, daß ihr Geraldine so gefällig das RUN in die Hand gab zu ihrem eigenen Programm. „Ach,“ sagte sie mit schwerwiegender Beiläufigkeit, „was ist das, dieses Papier? Und was machen Sie damit?“ „Mit dem?“ Geraldine gab die Papiere von der einen in die andere Hand. „Es wird dich nicht interessieren.“ Zilli blieb neben der Tür stehen und zerrte an ihrer Hüftkette. „Es sind MEM-Tests. Kopien der Schriebe von Automaten, mit denen man solche Tests durchführen kann. Sie machen Kopien, und ich sammle sie morgens in den onkologischen Kliniken ein.“ „In was für welchen?“ „Kliniken für Geschwulstkrankheiten, für Karzinome. Für Patienten mit Krebs.“ Geraldine hatte ihre Hände sinken lassen. „Zufrieden?“ Aber als es so aussah, als ob Zilli einfach kehrtmachen und weggehen würde, fuhr sie zu reden fort, und ihr Gesicht nahm einen unglücklichen Ausdruck an. MEM stehe für Macrocyte-ElectrophoreticMotility. Ob Zilli wisse, was Elektrophorese sei? Nun, aus der Art, wie das elektrische Feld zwischen Kathode und Anode diese Blutzellen, die Makrozyten, im Feld zu wandern veranlasse, könne man schließen, ob der Patient Krebs habe oder nicht. Mit MEM und eben
nur mit dieser Methode stelle man Karzinome schon in geringerer Größe als ein Millimeter fest, zu einem so frühen Zeitpunkt also, daß der Krebs ohne Kunst und Risiko entfernt werden könnte, wenn… „Und was machen Sie mit dem Papier?“ Zilli sah nur den Schleier über Geraldines Augenfallen, den sie schon kannte, den Vorhang wie von Regen über der Stadt. Die Frau antwortete nicht, als sei sie überwältigt von unüberwindlicher Müdigkeit. Obwohl Zilli hernach mitten in einen der seltsam stummen Ströme heimkehrender Schulkinder geriet, dem die UIs der Sub berechtigten Vorrang einräumten, langte sie diesmal schon viel früher als gewöhnlich zu Hause an, weit früher als Pa. Sie orderte dem Rechner sogleich einen Informationsauftrag zum Stichwort MEM über das Netz an die einschlägigen Zentren der Stadt, die sie durch Schulaufgaben gewohnt war, in Anspruch zu nehmen. Statt der geforderten Auskunft hieß sie der Schirm warten, dann listete er fortwährend wechselnde Codes von Informationsträgern auf, flackernde Prints, Rattern wie von Address-Bussen auf Kreisbahnen, eine Art elektronischer Zuständigkeitshändel, Wörter und Buchstaben von weit her, die sie für kyrillische oder arabische hielt, aber dann flitzten wirklich die ersten Antwortzeilen über den Schirm, füllten ihn aus und endeten mit offenem Blinker. Ein zweiter, dritter und ein fünfzehnter Schirm, ein nicht enden wollender Steinschlag von Daten schmetterte auf Zilli herab. Aber sie war gewitzt und lenkte die Unerschöpflichkeit mit dem Kommando SAVE auf ein Floppy Disc. Nach kaum drei Minuten meldete die Fünfeinviertelzoll-Diskette das Ende ihrer Kapazität, tausendzweihundert Kilobyte, die Anzahl Buchstaben zweier ausgewachsener Romane mit einem noch immer offenen Blinker am Schluß. Zilli kniff die Augen zu. Information ist beseitigte Unkenntnis. Sie setzt einen Absender voraus, der seine Nachricht in gequantelter Form über geeignete Kanäle Adressaten übermittelt, die diese Nachricht verstehen… Verdammt, die sie verstehen! Der Adressat bin ich! Hat denn diese MEM-Leute einer mit ‘nem Sack Softerrors bedingst? Ein ganzer Floppy voll Wörter, die es gar nicht gibt…
Sie schnitt sich über LOAD willkürliche Spurstrecken der Diskette als lesbaren Text auf den Schirm, und nach zwei Stunden herrschte in ihrem Kopf ein so heilloses Durcheinander, daß sie nicht wußte, ob dieser Kopf nun ganz voll oder ganz leer geworden war. Die Qualität von Computerantworten ist eine direkte Funktion der Qualität der an den Computer gestellten Fragen. Und gerade im schlimmsten Augenblick, als dieser Satz plötzlich da war, öffnete sich die Tür, und Pa kam herein. „He, Schäfchen! Wie denn? Schon da? Mach Platz, ich muß nach der Post schauen.“ „Vielleicht siehst du, daß ich zu tun habe“, sagte Zilli, ohne sich umzudrehen. „Ja wirklich. Was denn?“ fragte der Mann nach einer Weile, und Zilli hörte angestrengte Gelassenheit. Sie sagte: „MEM. Ich glaub nicht, daß du etwas verstehst davon.“ „Schäfchen…“ „Ich bin bald vierzehn. Wenn schon, dann wenigstens Schaf.“ Eine ziemlich lange, elektrische Stille stellte sich ein, dann Klappern von Geschirr, behutsame Schritte, und es fing an, nach Eßbarem zu riechen. Nur langsam schienen sich die Buchstaben wieder zu Wörtern zu ordnen. Die Geräusche, mit denen Pa zu Abend aß, waren schon lange erloschen, als Zilli wieder Pas Stimme hinter sich vernahm, Pas freundschaftlich feststellende Stimme: „Es ist nicht besonders fair, wenn einer A sagt und läßt den anderen dann hängen mit dem B. Ist sicher was Interessantes, dein MEM.“ Zilli fühlte sich von einem Messer in zwei Hälften zerschnitten. Die größere strebte zu ihrem Pa, und der Arm an dieser Hälfte verlangte danach, ihn zu umschlingen. Es ging aber nicht, die andere blieb an den Rechner genietet. Ich könnte die Frau auf den Mond schießen. Sie blieb tatsächlich den ganzen Abend an ihren beiden Romanen hängen, die Stunden liefen dahin, und dann spürte sie das lautlose Seufzen, mit dem ihr Pa sie betrachtete, ehe er schlafen ging. Nachdem die Atemzüge hinter ihr längst flach und gleichmäßig geworden waren, sagte sie: „Stimmt. Es tut mir leid.“ Pas Atem blieb so, wie er
war, und sie dachte nach, ob ihr das recht sein sollte oder nicht. Dann ging auch sie schlafen und las noch den ganzen folgenden Tag. Statistik, Statistik… Daten, seit mehr als hundert Jahren bewahrt, seither war der Test bekannt, und sechzig oder siebzig Jahre, nachdem er entwickelt worden war, galt er als absolut sicher. Dann Signifikanzen, Hunderte Kilobyte undurchdringlichen Gestrüpps, Zilli ging über diese Wüsten hinweg und wußte bald nicht mehr, ob, was sie überschlug, wirklich noch mit dem Test zu tun hatte. Irgendwas stimmt nicht. Ein Error. Und was für einer? Sie stöberte in Pas intimem Winkel, ging der Nase nach, entdeckte die Büchse hinter einer Mauer von Flaschen und setzte die Kaffeemaschine in Betrieb. Stunden verrannen, Zilli las, trank Kaffee, grübelte und las. Irgendwann nannte der Text Namen der Industrie, mächtiger Firmen, die sie kannte und deren Signum die Zentren von Weltstädten erhellte, AUTOSOFT… CHINA-ATOMNET… ROBOTRON… NANOELECTRICS… MANAG und ZEISS-TELOPT. Die hatten mit MEM zu schaffen? Was? Warum? Ganz allmählich, während sie las und trank und nachdachte, und ohne zu wissen, wann das über sie kam, fühlte sie sich leicht und stark und wunderbar, als hätte sie eine Grenze überflogen. Die diesseitigen Dinge standen groß und wirklich da, größer und wirklicher als die, die sie jenseits hinter sich ließ, und sie warfen schwarze Schatten. Jenseits, glaubte sie, nur Schein entschwinden zu sehen, eine simulierte andere Welt, unernste, himmelblaue, behütete Wege, die man sie in der Schule gehen ließ. Wie von selbst sprang es ihr jetzt in die Augen: Warum starben dennoch so viele Menschen an Krebs? Der Test beantwortete die Frage nach dem Vorhandensein des Karzinoms präzise mit ja oder nein, so winzig der Tumor auch sein mochte, verschwieg indessen, wo er saß, in welchem Organ und an welcher Stelle der Chirurg suchen und schneiden mußte… Manchmal aber verriet er es doch. Nicht sicher genug? Nicht unsicher genug, als daß man den Test irgendwann hätte fallenlassen? War es so…? Neue Primärdaten, neue Statistik… Blutzellen von Schafen und Ziegen, Zytokine, endloses dorniges Dickicht von Wörtern, die sie nicht verstand; Programme, immer neue Programme, um den Daten des Tests diese
einzige Information zu entreißen, Antwort auf die Frage: wo?, die er verschwieg. Zillis Blicke stürmten weiter fort über den Schirm. Drei oder vier Jahrzehnte schienen nur diese Firmen den Gang der Geschichte des MEM-Tests zu beschreiben, zu einer Zeit, in der Zilli noch lange nicht geboren war. Zweifel, Hoffnung, Unermüdlichkeit. Aneinanderreihungen von Anfängen. Von einem gewissen Zeitpunkt an versickerte die Industrie aus den Texten auf dem Schirm. Die Namen der Firmen verließen die mit den grünen Zeilen bedeckte Fläche auf eine gleichsam verstohlene Art, wie von sonderbarer und blamabler Schwäche befallene Fußballer das Feld ihres Spieles verlassen würden, einer nach dem anderen. Zilli zwinkerte. Das Bild war schief. Denn mächtig wie eh und je leuchtete das Signum der Firmen über der Stadt: SCHNELLER • WEITER • MEHR MIT ZEISS-TELOPT… MANAG DENKT FÜR SIE… Sie wußte nicht, warum die Tasten des Panels auf einmal die Plätze tauschten, als sie die nächsten Texte rief. Es war eine Antwort, die schwer und erstickend über ihr hing und die sie erschreckte, aber sie kannte die Frage nicht. Die Dinge warfen schwarze Schatten, als sonderten sie Dunkles ab, drohende Abgründe und Unumkehrbarkeit. Die Schatten neben den Dingen waren schwarz vor Tiefe und Gefahr. Zilli hatte die Frau vergessen, um derentwillen sie dies alles bestand. Sie hatte vergessen, hungrig zu werden, der Tag ging in den Abend hinein, und sie fühlte ihr Herz wie einen Hammer in der Brust. Irgendwann kehrte sie von ihrer Reise zurück. Fünf schmutzige Tassen standen auf dem Panel herum, und im Winkel des Schirms flakkerte das Flämmchen des Blinkers. Wie ein Blitz zuckte die Zahl durch den Dämmer ihres Hirns, jene fünfstellige Zahl, die sie gestern dem Jungen entriß, und alles, was sie vergessen hatte, war wieder da. Ich schieße die Frau auf den Mond. Bei Newtons verdammter Gravitation, ich könnte sie auf die andere Seite ins Mare Ingenii schießen! Der folgende Tag lief so still und sanft an, wie ein Geraldine-Tag überhaupt anlaufen konnte. Zilli hatte sich besonders unauffällig hergerichtet mit ihren grünen Hosen, die bis auf die Hälfte der Knie-
scheibe heraufgerollt waren. Drei grüne Zöpfchen hingen ihr in die Stirn, und die Lippen waren mit passendem Grün bemalt, kein Faden Rosa, keine einzige Franse, noch unauffälliger ging es nicht. Der Tag begann noch viel stiller und gewöhnlicher, als sie es sich hätte ausdenken können, denn als sie in Geraldines Zimmer trat, saß die Frau wieder selber am BCMS, schweigend diesmal, der Vogel schlief, und der Junge war nicht mehr da. Nach der Salat-Kaninchen-Zeremonie ging Zilli in Strümpfen an den Wänden entlang und betrachtete zum letztenmal die zusammengewürfelten Souvenirs, mit denen sie geschmückt waren. Sie trug noch die Wärme der Tiere in der Hand, und das Zutrauen, mit dem die Tiere sich hochnehmen und wiegen und lieben ließen, hatte sie entzückt und beinahe vergessen lassen, was heute noch zu Ende gebracht werden mußte. Geraldine nahm einen Schluck Kaffee aus einer der Tassen, die wie immer herumstanden, und murmelte: „ Er ist weg. Er wird woanders einen anderen Renner gefunden haben, der ihn interessiert.“ Zilli wartete. Die alte Cellomusik rumorte ihr im Kopf, die ineinandergreifenden Kreise der Melodie, immer neue Glieder fügten sich an, als sei sie zu fortdauernder Ruhelosigkeit verdammt. Gleich würde sie sich entscheiden müssen, ihren Fuß auf den Asphalt zu setzen, der womöglich wieder zu heiß war, daß sie einsinken würde und festkleben im Heißen, wie es manchmal auf den Dächern geschah oder oben in der High, wenn die Sonne den Beton unterm Asphalt zum Glühen gebracht hatte. Sie bog die Fingerspitzen hoch, und als sie an den Fingern entlangvisierte, zitterten sie ein bißchen. Die Zeit schlich immer langsamer dahin. „ Es ist merkwürdig“, sagte Geraldine später, als sie zusammen Pizza aßen. Die Packungen hatten gut funktioniert und waren so heiß geworden, daß am Rand bräunliche Fettbläschen zerplatzten und die neuen MEM-Test-Papiere mit Pünktchen versahen wie Sommersprossen. „Was ist merkwürdig?“
„Daß ich das jetzt erst sehe“, antwortete Geraldine kauend. „Ich habe fortwährend darüber nachgedacht, warum mir immer Kaspar in den Sinn kommt, wenn du da bist. Erinnerst du dich, was ich dir von Kaspar erzählte? Und jetzt weiß ich’s auf einmal: Ihr habt die gleiche Nase. Du hast die gleiche Thrakernase wie er.“ Der Vogel musterte seine Pizza mit mürrischer Ungeduld. „Die Nasen der Thraker sind schrecklich lang, und ihr Rücken macht von der Stirn an bis zur Spitze eine gerade Linie, es ist kein Grübchen dazwischen“, fuhr Geraldine fort und drückte einen ihrer hübschen, ein wenig fettigen Finger gegen Zillis Kinn, bis sie das Gesicht im Profil sehen konnte. „Na, eben wie deine. Du weißt ja, wie die ist.“ Zilli hätte das Nasenthema am liebsten fallenlassen. Geraldine erzählte lebhaft etwas von einem jungen Seegurkenfischer aus Piperion im Ägäischen Meer, der auch eine solche Nase gehabt habe. Als sich die Sache wie eine Geschichte anzuhören begann, sagte Zilli aus trokkener Kehle und mit aller Entschiedenheit, die sie in ihre Stimme legen konnte, mitten in Geraldines Worte hinein: „ Ich glaube nicht, daß es solche Thraker überhaupt gibt.“ Geraldine lachte. „Natürlich nicht. Jetzt nicht mehr. Aber ihre Nasen haben sie hinterlassen. Auf den ägäischen Inseln sieht man genug davon.“ „Kaspar ist jünger als ich, nicht wahr?“ fragte Zilli. Geraldines Gesicht nahm einen abwesenden Ausdruck an, sie sah dem Vogel zu, der Löcher in die Pizza bohrte, um an Speckwürfel zu gelangen oder an etwas anderes Interessantes, das er im Inneren vermuten mochte. „Ja natürlich“, sagte sie und glättete mit unnützer Ausführlichkeit den grauen Stoff des Kittels über ihrem Knie. „ Er ist jetzt acht oder neun oder höchstens zehn. Als wir in der Ägäis waren, fragte er unaufhörlich, warum diese Leute die Gurken so mühsam aus dem Wasser holten und nicht aus einem Magazin…“ Sie hielt inne, vielleicht weil sie das Sonderbare in ihrer eigenen Antwort wahrgenommen, aber vielleicht auch, weil sie Fremdes in Zillis Stimme gehört hatte.
Mit einem Ruck trat Zilli auf den Rechner zu. Zwischen Nase und Oberlippe drangen Schweißtröpfchen durch die Haut, sie spürte sie ineinanderrinnen und drückte ein paar Tasten auf dem Panel des alten CTI. Auf dem Schirm erschien die fünfstellige Zahl. „Das sind die Betriebsstunden des CTI“, erklärte Zilli, „die Zeit in Stunden, die Sie arbeiteten mit ihm. Vielleicht wissen Sie’s nicht, aber der zählt seine Arbeitszeit, und man kann sie abrufen.“ DATA… READ… GOTO… LET, Konstanten, Variablen, Ziffern und STRINGs, von RUN in Bewegung gesetzt, Zilli arbeitete flink und sicher. Neue Ziffern stellten sich zu Kolonnen auf, schlimme Ziffern zu schlimmen Kolonnen. Sie bot Varianten an. Aber wo auch immer der Unterschied zwischen diesen Varianten liegen mochte, verkündeten sie dennoch alle die gleiche bittere, unnachgiebige Wirklichkeit, die Wahrheit des Lebens dieser Frau. In fühlloser Unschuld gaben die Ziffern immer diese gleiche Wahrheit an: Daß die dünne, graue Herrin des Rechners nichts anderes getan hatte, als viele Jahre lang zu rechnen, diese fünfstellige Anzahl von Stunden, die sich zu all den Jahren addierten und die sie überhaupt gehabt haben konnte nach der Ausbildung, tags, nachts, unermüdlich, ein Leben lang. Daß sie nichts anderes getan haben konnte, als einem endlosen Strom von Ziffern und STRINGs eine Wahrheit zu entreißen, die diese Ziffern nicht herausgeben wollten oder die es nicht gab, Antwort auf die Frage: wo? „Irgendwann müssen Sie’s ja auch gelernt haben, nicht wahr?“ sagte Zilli, schluckte und wischte sich den Schweiß unter der Nase mit dem Handrücken fort. „Wann haben Sie Kaspar zur Welt gebracht? Und wann die anderen drei? Afrika, Manila, Australien. Die Gouverneure. Die ewigen Reisen. Der Yankee, die Söhne und die Sachen an der Wand. Nur Lügen, nicht wahr? Wenn’s keine verdammten Lügen wären, müßten Sie fünfzig sein. Mindestens fünfzig. Logo, nicht wahr?“ „Wir lernten, was Licht ist in Piperion, richtiges Licht“, antwortete Geraldine hilflos und kalt. „Und richtiges Lachen, wenn die Fischer zufrieden waren mit ihrem Fang… Und sie lachten auch, wenn die Tooner nichts in ihre Netze gelockt hatten…“. „Du kannst gar nicht kochen. Diese Pasta. Du hast mich glatt hereingelegt.“
Geraldine biß zwei-, dreimal in die Pizza, ohne zu kauen und ohne etwas hinunterzuschlucken, ein verzweifelter Versuch, nicht mehr antworten zu müssen. Die Zeit verbrauchte sich selbst, oder sie rann nur dahin, während die Frau sich in Stein verwandelte. Am Ende saß sie wirklich da wie eine Skulptur, wie eine ein wenig lächerliche, graue Skulptur, aufrecht mit den von den Bissen angeschwollenen Wangen und mit dem Stück Pizza in der Hand, die in halberhobener Haltung verharrte. Dann geschah etwas sehr Merkwürdiges. Zilli hatte die ganze Zeit kaum ein Meter von dem Stuhl entfernt gestanden, auf dem die Frau saß und dessen eine Ecke, Zillis Ecke, diesmal leer geblieben war. So plötzlich, daß sie nichts, aber auch gar nichts hätte denken können, tappte sie den einen Schritt auf den Stuhl zu, fiel förmlich auf Geraldine hinab, umschlang sie und schmiegte ihre Wange tief in Geraldines Halsbeuge hinein. Es ergab sich eine höchst unbequeme Stellung, doch die beiden standen sie durch. Geraldines Arme legten sich um das Mädchen herum, hielten es fest, und Geraldine und Zilli gaben sich jeder des anderen Atem und Wärme hin, so lange, wie sie es aushalten konnten. Lippen flüsterten nahe an einem Ohr: „Vergiß mich nicht,“ Zilli wischte sich unter der Nase entlang. Unduldsam, schiefäugig und so leblos wie ein Brocken Eisenstein hockte der Vogel auf dem Tisch. Als sich Zilli am Abend schon schlafen gelegt hatte, ging ihr Vater noch einmal, nach ihr zu sehen, denn dies und das in ihrem Gehabe war ihm nicht geheuer vorgekommen. Er unterließ es, Licht zu machen, als er in Zillis Zimmer trat, und begnügte sich mit dem schwachen Schein, der durch den Türspalt drang: Als er sich über das Bett beugte, sah er den Schlumpt und daneben zwei Funken glitzern, nasse, offene Augen. Seine Hand fand ein ganz nasses Kopfkissen vor. „Schäfchen, du weinst?“ fragte er. „Warum?“ „Quatsch“, sagte Zilli mit von Tränen erstickter Stimme. „Es ist bloß Spucke. Ich könnte euch alle anspucken.“
Als sich die große Hand daraufhin vom Kopfkissen hob, in Zillis Haar vergrub, um das Mädchen behutsam und fragend zu streicheln, vernahm der Mann Gemurmel, das man als eine Entschuldigung hätte auslegen können. Er sagte: „Es ist wahr. So geht das. Wir haben es wahrscheinlich nicht anders verdient.“
4. Am anderen Morgen blieb Zilli im Bett liegen, sie mochte nicht aufstehen, und nicht die winzigste Spur Lust auf irgendwas stellte sich ein, selbst dann noch nicht, als die Staatliche Wohnungsverwaltung das Licht schon auf die zweite Normstufe heraufgedreht hatte. Nach einer Weile hielten die Augen nicht mehr zu, und Zilli betrachtete die Putzrisse und Schatten in der Decke über dem Bett und die hundert Aufkleber von Käfern, Gespensterchen und Raketen, die sie entlang dieser Linien dort oben angebracht hatte. Aber die wirklichen und die eingebildeten Figuren wollten nicht zu den Geschichten erwachen, wie es immer geschah, ziemlich von selbst und ohne daß sie hätte nachhelfen müssen, wenigstens sonntags, wenn keine Schule war. Und sie wußte auch, warum. Ich hab eine Krise, dachte sie. Ich bin von ‘ner typischen Krise befallen, und die alle sind selber schuld, daß mich so was erwischt, warum lassen sie’s zu, wenn ich nicht aufstehen will und wenn… Im Zustand der Krise brachte sie keine weiteren Argumente zusammen, die diese Frage hätten erhellen können. Sie sind selber schuld, daß ich ‘s nicht weiß. Eine Minute später wurde sie plötzlich von Sehnsucht ergriffen nach irgendwas, was an die Wellen erinnerte, die das Leben unter dem Fell der Kaninchen in ihr hatte entstehen lassen. Aber gerade da wollte sie nicht hin. Nicht dran rühren. An alles, nur DARAN nicht! Sie floh von dort weg, nahm die Hände unter die Bettdecke, drückte die Augen zu und streichelte sich selbst. Wirklich rieselten überaus angenehme Gefühle über die berührte Haut und breiteten sich aus. Aber die Gefühle verwandelten sich in ganz andere und entführten Zillis taumelnden Geist in Gegenden, auf die sie nicht gefaßt war und die ihr angst machten. Sie nahm die Hände von ihrem Körper weg, machte die Arme steif und sprang aus dem Bett. Dann blieb auf einmal der Strom weg, das Licht der Notdioden langte gerade dazu, daß man umhergehen konnte. Zilli aß Kornflocken gleich aus der Packung; als diese leer war, noch eine halbe, und eine
halbe Dose Senf. Weil nichts anderes mehr da war, dröselte sie durch den Dämmer, lauschte der plötzlichen Stille nach und den Sekunden, die mindestens viermal so lang waren wie sonst. Als der Strom wiederkam, spielte sie ein bißchen am Rechner herum, geriet ins Netz und an die Nachrichten. Nazca, Nazca, ungewöhnliche zwölf Minuten lang. Zweihundertzehn Tonnen nichtaufgearbeiteten AK-Abbrandes inmitten des Sperrgebietes, über zweitausend Kassetten, zum erstenmal Zahlen. Cäsium-137 und Strontium-90; kritische Massen, Strahlung, Sekundäreffekte, Risiken in bilderlosem Dreißigsekundenreport. Das Palpatal: Nazca, Mochica, Geschichte der Frühkulturen im Süden Perus, Neuzeitgeschichte vom weißen Fleck bis zum Sperrgebiet des Typs „ Most rigerous degree“, Scharrbilder, Keramik, das Straßenrätsel, betulicher Zweiminutenkommentar und Helikopterfilme; einen kannte sie schon und sah den alten Freigabecode. Weltweite diplomatische Konfusion, scharfe Stimmen aus Moskau, Delhi und Fernost, der Sprecher nannte die Quellen offiziell, offiziös oder vertraulich, Außenminister, Beschwichtigungen, Gerede. Die vielen Flocken quollen in Zillis Bauch, sie saugte am Loch einer Büchse Depovit, das Zeug war kalt, ohne Strom hatte die Kochplatte nichts hergegeben. Tausend Kassetten… Die Sioux werden die Dinger doch nicht auf einen überkritischen Haufen schmeißen dort? Wissen die denn Bescheid, die Komanchen, Dakota und die Schwarzfüße, oder wer da noch wohnt…? Die kritische Masse ist diejenige Masse von spaltbarem Material, bei der schnelle Neutronen genauso viele Atome zu Bruchstücken und zu Spaltneutronen zerschießen und die Spaltneutronen wieder andere spaltbare Atome zu Bruchstücken und neuen Spaltneutronen, daß der Prozeß gerade eben in Gang gehalten und eine Kettenreaktion ermöglicht wird. – Die Vierfaktorenformel. – Der Multiplikationsfaktor k; k gibt an, ob die Anzahl der Spaltneutronen während der Kettenreaktion wächst oder nicht. Sie darf nicht wachsen. Deshalb werden Neutronenabsorber als Moderatoren zwischen das spaltbare Material gepackt, die die zu vielen Neutronen fangen oder bremsen: k = 1! Da gab’s diese schlimme Zahl… 1.0064… Wenn k die 1.0064 übersteigt… Bei Newton! Dann wird der Reaktor zur Bombe! Wissen die das dort?
Es war noch eine andere Nachricht da: 1 st butter 1 kleiebrot (1000g) 1 vita-instant (klein) 2 mittagsassietten (keine thermo-) 2 abendsets (od. keine dann aber 4 mittagsas. GOTO was du willst) 1 tb Dermosan (f. mich – apotheke!) geh abends nach 0900 man muß dann nicht warten. Wäsche! Kann heute nicht einkaufen – eilig Pa. Cäsium-137, Strontium-90, zweihundertzehn Tonnen im Sperrgebiet. Wer hat das gefunden, gewogen und gezählt, wenn keiner rein darf ins most rigerous degree? Ich denke, da darf keiner rein, nur der Minister? Zwei Tage später ging Zilli zu Salome. „Wie findest du das hier?“ fragte Salome, die eine Sonnenbrille trug. Die Robe, die sie vorführte, knirschte ein bißchen, als sich das Mädchen in einen der Sessel fallen ließ. „Umwerfend“, antwortete Zilli ziemlich geschäftsmäßig. Ohne innezuhalten, fuhr sie fort, in Strümpfen durch die Gänge zu schlurfen, die die Möbel in diesem fremden Zimmer freiließen, sie war ruhelos wie ein in geschlossene Schleifen geratenes Programm. „Für die Disko? Du wirst schwitzen da drin.“ Man sah nur wenig von Salomes Gesicht. Aber es leuchtete rund und rotbackig wie ein blanker, ländlicher Apfel aus dem Kleid heraus, einer Art bleichfarbenen Verpackung des Apfels, deren Hauptbestandteile aus dem geringelten Hunderter und Dreihundertvierziger Weichplastrohr gefertigt waren, mit dem man gemeinhin Kabelverbände umhüllte, wenigstens vorrangig. „Bist du verrückt?“ fragte der Apfel. „Ma würde mich niemals rauslassen damit.“ „Ach. Deine Ma.“ „Sie hat moralisch so sehr verschlissene Ansichten über Sachen, die im Leben wichtig sind. Ich freue mich so, daß du da bist, Zilli. Sie sagte, du hättest jetzt keine Ma. Ist sie bloß auf ein GOTO, oder macht sie ein echtes NEW?“ Zilli ging immer um den Tisch herum. „Die andern sind alle in einem Club. Wer weiß, wie sich die amüsieren. Du bist blöd, hier drin hockenzubleiben.“
„Ich weiß nicht“, sagte Salome, „manchmal denke ich wirklich, Ma hat eine Fehlstelle im Chip. Und dann bin ich so sehr deprimiert. Glaubst du, deine Ma macht ein richtiges NEW?“ Sie lutschte an einer gestielten rosafarbenen Zuckerstange, die das Licht der Lampen zu sammeln und mit merkwürdiger Intensität zurückzuwerfen schien. Die Augen des Mädchens glänzten vor Lüsternheit und ihre Lippen von zuckrigem Lack. „Dein Busen ist weg unter dem Zeug“, sagte Zilli, „du hast wenigstens einen. Am besten wäre es, wenn wir jetzt in die Stadt fahren. Was Grünes wäre gut für dich, Vert de zinc, Chartreuse, Petrol oder Stein. Oder Malachit mit einer Nuance von Chinablau. Grün und rosa Fransen sind in.“ Salome fuhr mit einem Finger über die Tischplatte in einer gezierten Bewegung, die genauso aussah wie ein Spot für Möbelpolitur. „Du warst einen Monat nicht draußen, was? Ich freue mich so, daß du da bist, und könnte meine Maschine holen, und du siehst sie dir an.“ Zilli war wirklich lange nur immer zu Hause gewesen. Zwei Tage, eine echte Ewigkeit. Auf einmal hatte sie den Weg gewußt, den Weg zum SNAP. Sie würde Musik machen. Psychedelische Musik. Twilight-Synthetic-Disko. Entschwindende Reggey-Rhythmen, Fallenlassen, Atmen, Warten. Hundert im Discodunkel wartende, glitzernde Augen. Das Zeremoniell des Nummernwechsels. Diskante Schwebungen dann, kaum hörbar hinter den Horizonten und hoch über Chören in synthetischem Baß. Vakuum, eisgrüne Gespinste. Die Stimme des Disc-Masters: Ich weiß, was ihr wollt. Ihr wollt Zilli Kat Mamelink. Da ist sie, endlich. Glückliche Reise…! Aus dem Diskant steigt grünes Leuchten und hebt das Land aus dem Dunkel, die INSEL inmitten rosafarbener Arabesken und Kringel, die alle ineinanderhängen, rätselhafter, verschlungener Ballistiken von Revolverkugeln aus Gas… Ihre, Zilli Kat Mamelinks Musik. Endlich. Man hatte lange gewartet. Man würde noch länger warten müssen. Sie hatte gearbeitet wie verrückt. Die Jagd nach Synthesizerkapazität, Tricks, um die Schaltung endlich zu kriegen. Der. Strom war zweimal weg gewesen und der Zufallsgenerator ein Irrer: Das RANDOM produzierte Teig, der nur mit Vorchecking zu bändigen war; das Checking brauchte Program-
me. Amplitudenfitz: verdoppeln, zehnteln, löschen, die widerborstige human-voice, und nachher hätte es simples OVERLAY auch gemacht… Zwei Tage zu Hause, eine Ewigkeit. Ganz plötzlich hatte sie hinausgemußt, ein paar Flure weit laufen, mit jemandem reden, irgendwas. Dann war keiner zu Hause gewesen, nur Salome mit der Nähmaschine, das Mädchen, das in der Schule zwei Bänke vor ihr saß. „Die Maschine? Anschauen? Ist mir schnuppe“, sagte Zilli, „fahren wir los?“ „Du könntest ein bißchen drauf nähen“, schlug Salome vor, sie hatte den Plast-Pop mit etwas Verschwommenem vertauscht. „Setz dich bitte. Du machst mich so sehr nervös.“ „Ich glaube, du hörst nicht gut“, erwiderte Zilli und rannte weiter um den Tisch. „Du solltest lieber aus deinem Busen was machen. Fahren wir nun oder nicht?“ „ Du kannst drauf nähen, solange du willst. Den ganzen Tag kannst du drauf nähen. Hast du Susan gesehen?“ „Nähen? Ich könnte mir nichts Blöderes ausdenken, wirklich! Susan? Nein.“ „Sie hat sich die linke Schläfe rasiert. Rasiert und verchromt, blank wie die Sonne. Mindestens zehn Zentimeter.“ Zilli war vor einer Tür stehengeblieben. Die Türe bestand aus Glas, das mit abstrakten Eisblumenmustern geätzt war, eine schöne Tür, nobel, distinguiert. Das ganze Zimmer war distinguiert, Sessel wie ein halbes Bett, gut zum Träumen, eine mechanische Uhr, zwei noch älter aussehende Krüge aus grauem Metall, verirrte Ehrwürdigkeit als Accessoir zum Normmöbelset aus hochglänzendem Malimoglasfasergewirk; Kontrast durch schick berichtigte Zufälle, und kein Stäubchen lag drauf. „Susan setzt Maßstäbe“, sagte sie. „Ich habe Maud gesehen, Dominique, Imma und Pet. Sie haben es Susan schon nachgemacht und ein paar Jungen auch. Die Jungen rasieren die rechte Seite.“ „Fabian?“
„Was für ein Fabian?“ fragte Salome. „Ach, der aus der Zehnten, wie kommst du auf den? Der nicht. Die sind schon zu konformistisch dafür.“ „Hm“, machte Zilli gedehnt. Sie bohrte ihren großen Zeh in den Flor des Teppichs und betrachtete die Tür. Die verdammte Maschine mochte dahinter stehen, aber man konnte nicht durch das Glas hindurchschauen. Salome machte auch „hm“, ihre Augen glitzerten, und sie lutschte heftig an ihrer Lackstange. „Susan hat die Kahlen alle auf ihre Bude geholt“, plapperte sie auf einmal los und wedelte die Luft mit dem Zuckerzeug, als sei es der Fächer einer Dame vom Hause der Ming. „Willst du auch eine? Hinterher leuchten die Lippen im Dunkeln. Du ahnst nicht, was da bei Susan geschah.“ Zilli antwortete nicht, weil sie plötzlich etwas ganz anderes sah: Sie schaute sich selbst ins Gesicht, das die Glastür wie ein umwölkter Spiegel vor ihr abbildete, in größere, brennendere, dunklere Augen, als sie gemeint hatte; da waren Schatten unter den Jochbeinen, elitäre Hohlwangigkeit, Ermattungen, Blässe; Spuren, die im Schaffensprozeß verzehrte Substanz hinterließ. Eine solche Zuckerstange? O nein! Sie schüttelte ablehnend den Kopf. Salome! Was für ein Name für einen Apfel. Hatten denn Mütter niemals ein Hirn? „Susan zog eine Perücke herunter und hatte sich gar nicht rasiert“, sagte sie, den Mund aufsperrend, als käme sie Gähnen an. Salome riß den Shining-Stick aus dem Mund. „Du warst doch überhaupt nicht dabei!“ „Nö“, sagte Zilli. „Aber so hätte ich das an Susans Stelle gemacht. Gut“, fuhr sie versöhnlich fort, „gehen wir bloß in der minus Eins durch die Boutiquen.“ Sie besserten das Nötigste an sich auf, ein schnelles REFRESH nur diesmal, Salome lieh Zilli einen gelackten Schal. „Er paßt nicht ganz zu den Schuhen, aber mit der gräßlichen Tasche? Ich freu mich ja so, daß du da bist.“ Dann fuhren sie zu den Boutiquen hinunter. Als sie den Lift verließen, blies ihnen plötzlich ein Schwall frostiger Luft in die Gesichter,
und die Schuhsohlen der ihnen entgegeneilenden Leute stempelten Nässe auf den Beton. Es roch nach wasserdurchweichter Pappe, Kälte und Öl. Sie tauchten in das Gewimmel ein, das sich in die Läden ergoß, in den endlosen Strom von Erwachsenen, Kindern und Jungen und Mädchen wie sie selbst. Sie blieben in diesen Strudeln hängen, blähten die Nasen, sondierten mit flinken, rasternden Blicken, wie die Atmosphäre hinter den Heißluftvorhängen und automatischen Türen wegkippte in das Besondere der immer neuen Anonymität, in die Farben, Kaskaden von Licht oder Dämmereffekte, das Geglitzer von Widerschein in hundert begehrlichen Augen. Unter den Fußsohlen grummelte der AUTOPATH, der verborgene Automatenverkehr der Warenverteiler, der da und dort den Boden durchbrach, um seinen Breakdance im Gestänge über den Köpfen weiterzutanzen, Containerzüge flossen wie der Menschenstrom. Ohrclipfernseher mit modischem Graphikprogramm – JETZT SECHZEHN KANÄLE! Das Fünfsekundendessin aus der Dose – VERWIRKLICHE DICH SELBST!… Kichern, abfällige Rufe, Seufzer der Begeisterung, Rauschen… Drei Lautsprecherstimmen überschrien die Szenerie: Dollarmanipulationen transatlantischer Trusts gegen den chinesischen Yuan… FUSION AND TECHNOLOGY, DYNAMICS und GENERAL CHINA ATOMNET, Exportdefizite, weltweite Verflechtungen… Verfall des Yuan im Licht der Peking-Proteste gegen Verschleppungstaktik Limas in der Nazca-Affäre… Transpazifische Einmischungen in den Finanzgipfel des Sahel-Solarzellenprojekts… Eine haushohe Fläche des Videotraktes sah aus wie ein vergittertes Loch in die Welt. Hunderte von Terminals auf ebenso vielen Kanälen zerhackten diese Welt zu unzähligen Farbklecksen, zu zappelnder Clownerie und Rastlosigkeit. Den Ton hatte man abgestellt, nur die drei Sprecher schrien zugleich aus der Wand herab, ein Streit zorniger und sonderbar unbeteiligter Stimmen. Lima: AK-Abbranddepot bei Nazca nichts Ernsteres als ein kolportiertes Gerücht… UdSSR, Nordafrikanische Union und EG fordern internationale Expertenkommission… Schutzgebiet Most rigerous degree, der Status zwinge zur Änderung geltenden peruanischen Rechts, sofern nicht Notstand erklärt
werde… Die Krisenfrist… Lima sehe für Notstand keinen hinreichenden Grund, man sehe auch keinen Grund, provokantem Druck gewisser industrieller Interessengruppen zu weichen… Singapore: Illegale malaysische Elektronikergruppe knackt Ul-Code des äquatornahen US-Satelliten INFO-92 und zwingt das System zur Preisgabe des Bildspeichers, zweifelsfreier Nachweis technischer Objekte im Palpatal, Koordinaten, Anzahl, Volumen… Ganz plötzlich brachen die Stimmen ab, das Geflimmer erstarb zu Blau, Text aus schirmgroßen Buchstaben: SIE PRODUZIEREN BRENNSTAEBE WIE MILCHPULVER – JETZT WISSEN SIE NICHT WO DAMIT HIN – LAESST DICH DAS KALT – DIE ABOMBE IST SEIT SECHZIG JAHREN GEAECHTET – IN NAZCA TICKT EINE NEUE – HEUTE NAZCA MORGEN HIER – IST DIR DAS EGAL – STOPPT VERBRAUCH VON ELEKTROENERGIE – WAEHLT UNSEREN CODE – WIR WISSEN ALLES – IHR WISST WER WIR SIND – TUT BEIDES! Die Wand flackerte, unsichtbar rangelten Hacker gegen die Legalitat, Rechtmäßigkeit setzte sich durch: Das Blau zerfiel in das bunte, zappelnde Loch in der Wand und zu dröhnenden Rhythmen im Afrotakt. Zilli schwamm weiter im Strom, der zu Bächen zerrann, zusammenfloß, sich wieder teilte, wie es die Geometrie der Passagen erzwang. Sie ließ sich dahin und dorthin ziehen, wo Salome etwas entdeckt hatte… Der neue Halbzollflop – HITS RUND UM DIE UHR!… Aber der Rausch und das Fieber wollten nicht zünden, die sie vor Tagen noch wie der Kraftstoff eines Strahltriebwerkes anfachten, als sie selbst jemanden hinter sich her zog, um von all diesen verrückten Dingen zu haschen, was zu erhaschen war. Fortwährend hüpfte ihr Hirn in ganz andere Richtungen und dachte wie von selbst an Dauer und Wege, die es hier gar nicht gab. Sie sah den schmählichen Weg dieser Dinge voraus, der Farben, des Hochmuts und Geglitzers, und wie das alles in den Zerreißern, Schmelzern und Stampfern der Aufarbeitungsmaschinen verging. Die Recyclingquote für rücklaufpflichtige Stoffe steht weltweit auf zweiundachtzig Prozent. Ein Kreis. Ein Kreisel. Eine ewige Mühle, CAI-CIR-gesteuert. Der Drehimpuls ist gleich dem Produkt der Vektoren für Ort und Kraft, CAI-CIR spuckt die Zah-
len aus, ratzfatz, fünfhundert Millionen in der Sekunde. Und vernünftig: Sinnlose Dezimalen blasen die Rechner ins Leere, x-mal fünfhundert Millionen. Sie addieren sich wie Geraldines Stunden am CTI zur fünfstelligen Zahl. Gigawatt. Die Gigawatt verschwinden im Nirgendwo. Nein, da hockt einer, der sie fängt und frißt, einer der zurückgekehrten Dämonen, die der Herr Referent und die Wissenschaft einstmals verjagten. Laß die Pille weg! schreit dieser Fresser irgendwohin, er muß schreien, denn die Mühle rasselt und lärmt. „ Du schaust gar nicht her.“ Aber ja doch. Die schaut schon hin, hat’s gehört und läuft rosa an, weil sie’s gehört hat. Rosa! Muß das sein? Abgefeimtes Gelichter… Laß die Pille weg, wir machen in Nazca eine Filiale auf und brauchen viel Personal, die Einsnullnullvierundsechzig hängt da irgendwo rum, hat sich versteckt dort, der Scheißer, und wir müssen sie kriegen, schreit der Rückkehrer herüber, grinst ganz gemütlich und kaut. Zilli erblickte Salomes Finger, wie sie wühlten in Ringen geriffelten Rohrs. „ Ich seh alles ganz genau“, schrie sie in Salomes Ohr. Halb glücklich, halb hungrig schaute der rote Apfel zu ihr hinauf. „Du ahnst nicht, wie schwierig es ist, den Trend zu erkennen. Den Trend, das Kommen von etwas, was es jetzt noch nicht gibt, wenn du so was verstehst. Ich freue mich so, daß du da bist.“ „Ich versteh’s!“ schrie Zilli quer durch den Lärm. „Es ist dasselbe wie mit den Antis der Gravitationswellen. Die Einkäufer hier sehen auch erst nur Halbzeug für Accessoires in den Rohrdingern. Sie gukken noch nicht voll über den Rand.“ „Was für Wellen?“ Ketten junger Leute drängten sie auseinander. Lachen, Zurufe. „Stark!“ schrie Zilli über die Köpfe hinweg. „Wie?“ „ Du bist stark. Wirklich!“ Und da läuft auch die rosa an, rosa tatsächlich, weil sie einer mal lobt. Ein paarmal verloren die Mädchen einander, weil Salome irgendwo wartete, um ihr Identikat in den Schlitz des Abbuchers zu stecken für etwas, was sie unbedingt hatte erwerben müssen; einen Softwareflop-
py der Serie TU-ES-SELBST, „du glaubst nicht, wie dringend man so was braucht, o Zilli, es ist so wichtig, schöpferisch tätig zu sein“, zwei Dosen mit diesem Sekundenspray und etwas Aufgebauschtes, das fast nichts wog. Aber dennoch fand der Bummel nicht zur gewohnten Ergiebigkeit. „Ist was?“ fragte Salome, als sie endlich wieder zusammentrafen. Ja. Es war etwas. Zilli bockte mit ihrem schmalen Rücken gegen den Strom, Wirbel entstanden, Sog, schiebende Wellen. Sie suchte standzuhalten, als sei das alles nicht da, weil es vergangen war und hinter ihr lag. Sie hatte zu denken. Jetzt wollte sie über Geraldine nachdenken und über Ma, an die vier wunderbaren Soundtakte wollte sie denken, die sie geschaffen hatte und konserviert auf dem Floppy im Rechner daheim, ihren INSEL sound, an Nazca und die verbotene Pille, sie wollte sich des Rieseins erinnern auf der Haut. Über ALLES wollte sie nachdenken. „Nein. Nichts“, sagte sie. „Nur eine gewisse Indolenz.“ Dann war es plötzlich schon beinahe zwölf, und Salome mußte nach Hause. „ Ma legt so sehr großen Wert darauf, daß wir alle zusammen essen“, sagte sie, „du weißt, was Ma für durchdringende Ansichten hat. Wir essen um elf Uhr dreißig, zwölf Uhr vierzig, um dreizehn Uhr zehn oder um drei. Es ist so schwierig für uns alle, denn Ma und Pa arbeiten in so sehr verschiedenen Schichten.“ „Auf mich wartet keiner“, sagte Zilli und kratzte über einen alten Schorf am Knie. „Gut, was? Keiner. Wirklich!“ Die Sub schoß herein, Salome raffte ihre Einkäufe zusammen, um in ihre polierte Wohnung zu fahren zu ihrem Pa, der sie daheim schon erwartet, und zu ihrer Ma mit den polierten Ansichten, zurück in ihr hochglänzendes Dasein, das… Ul, Stempel, aufzischende Türen. „Ich freu mich ja so, daß du da warst“, rüdes Gedränge, der Zug fuhr ab, und Zilli war allein. Bei Newton! So weit weg war ich noch nie von mir. Zilli sah sehr lang und dünn aus und so, als hätte sie etwas verloren.
5. Mein dicker Pa… Die Hosenträger überm Pullover, und jeden Tag ist er schon weg, wenn ich aufstehe, fünf Uhr neununddreißig mit der sechzehnten Sub Richtung Westkreuz Vier, dreizehn Minuten für den Lift zur High, zweiundzwanzig Minuten um die Museumscity herum, wenn er die Sechsundzwanzigste kriegt, oder vierzehn Minuten länger mit der Einhundertacht, wenn er die Sechsundzwanzig verpaßt, mit dem Lift runter und mit dem anderen Lift wieder rauf zur plus Vierunddreißig, genau hundertzwanzig Schritte, dann ist er da. Zwei Dutzend andere Mas und Pas sind im Büro, lautlose Tasten, man darf nicht reden in der konditionierten Luft von zumindest 02, die summt und riecht nur ein bißchen, ein paar haben Milchflaschen mitgebracht, und alle schauen hoch, wenn einer mal aufsteht und geht irgendwohin. Pa setzt sich gleich in die Reihe an seinen Tisch mit dem BCMS und erfindet… Knie und Bäuche drückten ihr auf den Leib, ein neuer Zug war gekommen, Haare wehten ihr in die Augen, ihre eigenen und die von anderen Köpfen. Zielstrebige Taschen, Ellbogen und zu große Gesichter drangen auf Zilli ein und schieden sie, wie eine Sortiermaschine einen Fremdkörper aussondert, aus der Menge nach außen ab, weg vom Perron. Ihr war ein bißchen schwindlig geworden, mein Blut geht zu langsam, dachte sie, stieß rückwärts auf ein Sims und setzte sich drauf. Es war ein niedriges Band aus Beton, der Schorf auf dem Knie spannte, als sie die Beine an sich zog. Der Beton war kalt, Zilli erschauerte und hielt sich an ihrer Tasche fest… Oder es geht zu schnell, fuhr sie zu denken fort, oder vielleicht sind die Leute zu schnell… Sieben und eine halbe Stunde erfinden sie. Sie erfinden Sprachen, immer neue Computersprachen, nein, nicht ganz siebeneinhalb, und aus ihren Schreibtischen wachsen Bäume. Die Pas und Mas sitzen ganz oben im Geäst ihrer Sprachenbäume, die alle gleich aussehen wie die Kinder eines Klons, und erfinden. Jeder auf seinem. Die Wurzeln der Bäume wachsen direkt aus der Tischplatte heraus, ASSEMBLER, die man
kaum noch sieht, aber die drei Äste oben sind stark und deutlich: ALGOL, FORTRAN und LISP, die verzweigen sich weiter zu PASCAL, ADA und C oder zu PILOT, BASIC, LOGO und FORTH. Dann kommen die Dialekte und MOSAIK und ganz oben die Dialekte der Dialekte, tausend Ästchen und Stielchen, und da drin hocken sie wie Vögel, erfinden und heften immer neue Zweige, Ästchen und Stielchen in den Fitz. Bis um zehn. Dann lassen sie sich herunterfallen vom Baum und trinken Tee. Mit dem Tee oder der Milch im Bauch erfinden sie weiter bis um halb eins… In einem Tunnel heulte eine Sirene los und weiter oben noch eine, sie erinnerten daran, daß Mittwoch war und zwölf Uhr null und daß die Kruste der Ordnung da und dort weniger dick und dauerhaft sein mochte, als es gut war für die Welt. Durch die Schwebungen des Lärms drang von weit her kommendes Heulen hindurch, denn alle Sirenen der Stadt probten diesen Appell zur selben Sekunde. Zilli dachte: So muß ich’s machen, genauso wie die. Ich versetz bloß identische Takte gegeneinander, eine Viertel oder halbe Sekunde, die Töne spielen mit sich selbst, bauen Schwebungen und Interferenzen auf, und ich krieg einen Sound, den sich keiner ausdenken kann. Überlagern sich zwei oder mehrere Bündel akustischer Wellen und sind diese Bündel kohärent und phasenverschoben, so interferieren sie. Die vektoriellen Einzelamplituden addieren sich an jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt zu resultierenden Frequenzen und zu Klangerscheinungen, die es in den ursprünglichen Wellenbündeln nicht gab. Ich krieg einen irren Sound, den sich keiner… Aber ich habe mit was anderem angefangen: Von halb eins bis halb zwei ist Mittagszeit. Ein Korridor, eine Treppe zu Fuß, die Kantine. Fünf Wahlessen, Luft 06, Klappern, Schwatzen, Kaffee. Nach dem Kaffee ist Erfinden bis vier. Fünf Minuten danach schauen Pa und die zwei Dutzend anderen Denkmaschinen von unten zu ihren Bäumen hinauf, keiner kann sehen, daß der seine gewachsen ist. Wirklich mal wieder kein bißchen. Dann fahren sie alle den gleichen Weg rückwärts, den sie am Morgen gekommen sind, und endlich steht Pa in der Tür und sieht so leer aus wie ein gecleantes RAM. So geht das, und auf einmal fühlt er die fünfstellige Zahl, er wird alt und fängt an, rückwärts zu denken, dann denkt er mehr zu-
rück als voraus, und wenn ich oben bin und er nicht mehr aufpassen muß auf mich, wird er nur noch zurückdenken. „Kannst du nicht mal weggehen von da?“ sagte eine Stimme über ihr. Bei Newton! Ich möchte wissen, woran er sich dann erinnern will. Die Stimme gehörte einem Mann in teuer aussehendem Pelzoverall, mit flachem, angestrengtem Gesicht und zwei gelben Reiselords in den Händen. Zilli blickte voll Abscheu auf das Gelb dieser Lords. Das Sims, auf dem sie hockte, erwies sich als Gleiskante für die Servicecontainer des AUTOPATH, mit denen die Leute ihr Handgepäck zur High, zu Umsteigepunkten oder Ausgängen der Sub ordern konnten, wenn sie keine Lust hatten, es selber zu tragen. Tatsächlich hatte sie einen schlechten Parkplatz erwischt und versperrte den Zugang zum ersten Wagen des PATH. „Wird’s bald!“ sagte der Mann. Kinder stehen im Mittelpunkt und sind daher immer im Wege, dachte Zilli und erwog, den gelben Lords in diesem Sinne zu antworten. Statt dessen stand sie auf, trat zur Seite und sagte: „O ja, entschuldigen Sie.“ In Wirklichkeit war nur immer noch dieser Satz in ihrem Kopf: Ich möchte wissen, woran sich Pa dann erinnern will! Noch ein paar Leute eilten auf Zilli und die Wägelchen zu. Der Pelzmann schob seine Lords in die Box des vordersten Karrens, und die Lords sahen so leicht aus, als enthielten sie nur ein paar Blättchen Papier. Die Leute stießen, Zilli wich ihnen aus und war auf einmal selber so leicht, daß sie taumelte. Einer der Karren fing ihren Körper auf, aber die Schwerpunkte wollten es anders, und der Wagen kippte vom Gleis. Vorn glitten schon die ersten Karren davon, ich möchte wissen, woran sich Pa…, da spürte sie einen Knacks im Hirn, etwas Imaginäres, oder in ihrem Herzen, sie kniff die Lippen zusammen, plötzlich entschlossen zu irgendwas, zu irgend etwas Verrücktem. Sie fing auch gleich damit an, hob den eigensinnigen Wagen über das Sims hinweg ganz aus den Schienen heraus und schob ihn vor sich her, gleislos über den Bahnsteig und weg von der Menge.
Die Räder rettelten über die Riffeln des Betons, plastsanft und so gutwillig, als sähen sie selbst ihr Ziel voraus. Es lag aber daran, daß Zilli und ihre Karre auf eine schiefe, abwärts führende Ebene geraten waren, die sich alsbald zu einer Spur zusammenzog, einer Art Kinderwagenservicepfad zur nächsttiefer gelegenen Sub. Aber dann war es doch keiner. Der Weg hatte sich längst zu einem Tunnel geschlossen, er war zu gerade, zu sauber und einsam, etwas Unmenschliches haftete ihm an, und Zilli meinte, sie schöbe die Karre schon bald eine halbe Stunde auf ihm entlang, länger als Menschen jemals zu gehen bereit waren. Weiter vorn hörte sie Rauschen, und als sie dort ankam, verlor sich der Weg in unversehens vorhandener Weite. Aus den Sternen eines falschen, heruntergefallenen Himmels sickerte Helligkeit wie gefangengesetztes Licht, das dennoch überallhin und ins Grenzenlose zu rinnen schien, und nur unten traf es solide Substanz. Es stieß auf Blöcke, Türme und Niederungen aus Waagerechten und Vertikalen. Große und kleine Quader, Würfel und Schatten hatten sich hier versammelt und feierten ein seltsames Fest, ihre Halblichtorgie der rechten Winkel und Kanten, und der Festsaal dehnte sich hin bis zum Horizont. Es waren unzählige Container, die man auf diese Weise zusammen- und übereinandergebaut hatte: eine unterirdische Speicherund Umschlagstation. Zilli war stehengeblieben und blickte mit weit offenen Augen und ohne Neugier über das alles hinweg. Das Lager rauschte vor Geschäftigkeit. Containerboxen lösten sich aus ihrem Verband, schwebten aufwärts und davon, oder es schien nur so, als schwebten sie. Schwarze Schatten krochen ins Licht oder blähten sich plötzlich zu riesigen Blasen auf und flohen in eckigen Sprüngen vor den Boxen her, andere dieser Container glitten aus dem Ungewissen herbei und sanken herab. Es knisterte, wenn sich die Festkörper berührten. Die Mechanik war zu gut, die Adressenleser und Supervisoren zu wachsam, die Programme zu genau, und die Summe der Schwingungen gab nicht mehr her als nur dieses Rauschen. Die Landschaft war menschenleer. Zilli wußte, daß es dergleichen gab. Jetzt aber und hier waren die Luft, der Dämmer und die Dinge anders, schneller und größer, als sie
geglaubt hatte, diese dummen Schatten krochen herum, und sie fürchtete sich. Sie kniff die Lippen zu einem Strich zusammen, tat ein paar entschlossene Schritte von ihrem Wagen weg auf einen der Stapel zu und versetzte ihm einen Tritt. Der blecherne Lärm, den sie erhofft hatte, blieb aus, sie wartete noch ein bißchen, aber nicht das kleinste Scheppern stellte sich ein, nur in ihrem Zeh fing etwas zu wummern an. Sie nahm keine Rücksicht auf den Zeh, rief ihr Gedächtnis ab, und nach drei Sekunden verblich die ganze Großartigkeit zu nichts weiter als eiskaltem CAI-CIR. Und zu dem freilich, was die Schatten hinter ihr trieben. Zilli sah nur immer geradeaus. Der Zeh brannte lichterloh, aber alles übrige an ihr fröstelte. Hier war nicht das, was zu finden sie sich aufgemacht hatte. Dann lag da plötzlich etwas Rosafarbenes auf dem Beton. Zilli humpelte dahin, kobaltfarben und auffordernd blinkerten Baby-DollAugen zu ihr hinauf, sie steckten im Kopf eines rosafarbenen Krokodils. Sie hob es auf, das Ding war leicht wie Luft, und als es die Hände ein bißchen erwärmt hatten, fingen Schwanz und Kiefer zu wackeln an, aus dem Inneren sprach eine Vocoderstimme. Ich freu mich ja so, daß du da bist, knarrte das Krokodil, ohne Punkt und Komma zu setzen, der Chip innen drin hörte sich an wie ziemlich hinter dem Stand der Technik zurück und schnitt die hohen Frequenzen ab. Bist du ein Junge oder ein Mädchen. Zilli antwortete: „Ein Junge.“ Hierauf nahm das Tier eine grüne Farbe an mit naturalistischen Schuppen und fahlem Bauch, es riß das Maul auf, klappte es wieder zu und äußerte dann ganz friedfertig, daß es mit Jungen weit lieber spiele als mit allem anderen, und fragte: Wieviel Jahre bist du alt. Der Fund hatte das Feuer im Zeh auf unter vierhundert K absinken lassen, aber dies war wirklich die einfältigste Dialogeröffnung, von der Zilli jemals gehört hatte, und sie sagte: „Zweihundertzehn.“ In der Halle hinten bollerte nun doch etwas gegeneinander, von vorn stürmte ein Fetzen Finsternis über ihren Kopf, aber es war nur einer der Schatten, und als er weg war, sagte sie zu dem Krokodil: „Verschluck dich nicht. Ist ein einfacher Error, die Zahl. Du machst ein
schnelles GOTO zur Programmzeile eins, fängst von vorn an und wartest bloß ab.“ Tatsächlich ging das Ding wieder los mit seinem Ichfreumichjaso…, Zilli ließ es fallen wie einen unnützen Stein, sah ungerührt zu, wie es zu Rosa verblaßte, und dann sagte sie: „Wer hat dich bloß von der Leine gelassen?“ Aber das Krokodil führte sie auf magische Weise zu einer enormen Menge weiterer Krokodile hin, die aus einem defekten Container herausquollen. Zilli lud sie in ihren Wagen um, alle versicherten sie ihrer synthetischen Sympathie, sobald die warme Hand sie ergriff, eine Million Mal diese gleiche Vocoderstimme: Ich freu mich ja so… Zilli häufte übereinander, was ihr unerschöpflich entgegenfiel, und als der Karren voll war, steuerte sie ihn durch die Gassen der Containerstadt, hinkend noch, den Blick auf die rosa Fracht gerichtet, und so geradeaus, wie es die Gassen zuließen. Geleise kurvten aus Seitenstraßen in ihren Weg, immer neue, je weiter sie ging. Sie schob den Wagen neben den Schienen her, manchmal schubste sie ihn nur mit dem schmerzenden Fuß, von hinten glitten Züge heran, überholten seitwärts oder hoch über ihren Kopf hinweg, lange und kurze Containerzüge aus Wagen genau desselben Normtyps zusammengesetzt, den sie selbst hier so mühselig bugsierte. Alle strebten zu einem Ziel, das irgendwo vorn lag, und nach einer Kurve stieß sie auf Hunderte von diesen Wagen, die hier aufgelaufen waren, unten und oben. Die Wagen warteten vor dem Maul einer Maschine, daß das Adressenrelais sie verschlang, irgendeine gefräßige Mitte, und sogleich wieder ausspie auf andere Ebenen und in andere Richtungen, in denen die schon abgefertigten Vorgänger von dieser Mitte davonschossen, zielgenau und wie auf den Strahlen eines Sterns. Zilli wartete auch. Sie wußte, was die Wagen enthielten: die Lords in diesem gräßlichen Gelb, Ohrclipfernseher, Trends und Sekundendessins, Salomes Plastrohr und die Brut des wattgeschwollenen Rückkehrers per Adresse Nazca Peru. Unversehens stieg Hitze aus dem Zeh in ihr Herz, und das Herz pumpte die Hitze hinauf in ihr Hirn, zwischen Nase und Lippe rannen Schweißtropfen zusammen. Sie wischte ihre Hände an den Hosenbeinen ab, packte fest zu, schob die Karre steifbeinig und ohne zu hinken quer über die Schienen hinweg
an eins der Maschinenmäuler heran. Dort hielt sie inne, wie auch die anderen Wagen warteten, wenn auch auf rechtmäßigem Gleis, und im richtigen Augenblick stieß sie die mit den Krokodilen beladene Karre mitten in den Maschinenrachen hinein. Hernach war sie ziemlich zufrieden, als sich der erste Rummel gelegt hatte, weniger mit sich selbst als mit der Welt, die sich zu etwas anderem hatte entscheiden müssen als ihrem sturen Schema F. Das getretene Blech hatte zwar nicht gelärmt, aber eine Menge elektrischer Strom blieb irgendwo übrig, den hier jetzt niemand mehr brauchte. Es hatte ein paar Fünkchen gegeben und ein bißchen geknirscht, dann war schon der Saft raus, wirklich aller, und er ließ nur Stille zurück wie Erstaunen. Die Maschine stand still, die Wagen waren noch da, aber so, als schliefen sie und ohne den Eifer des Abwartens, ihre abgefertigten Vorgänger schossen nicht mehr davon, und das Maul der Maschine war mitten im Schlingen erstarrt oder weit aufgerissen, genau so, als staunte sie. Zilli wußte schon nicht mehr, wie lange dieses erschrockene Einatmen gewährt hatte, zehn Sekunden oder nur zwei, und das Ausatmen fing dann gleich mit dem Quieker an. Die Luft, die Zähne und Haarwurzeln erzitterten in den ultrafeinen und abgefeimten Schwingungen, in denen der Quieker zu fisteln begann, und eine Tafel schmetterte ihr Piktogramme ins Gesicht: Drücken Sie Ihren Stempel auf den markierten Ul, und warten Sie hier! Zilli zerrte die Karre aus dem Relais heraus, stieß sie auf diese Markierung zu, und nur ein paar heruntergefallene Krokodile blieben auf den Gleisen zurück. Der Quieker kletterte schon zur dritten Stufe hinauf, sie wußte, daß es eine Menge dieser Stufen gab, daß kaum einer der sechsten oder siebenten zu widerstehen vermochte, und stempelte ihre Identität in den Ul, so schnell es ging. Der Quieker quittierte, indem er erstarb. Das war jener Moment ertrotzter Zufriedenheit. Zilli schaute zu, wie das Erstaunen aus den Dingen entwich, bis sie nur noch dumm und zwecklos aussahen und so tot wie der Mond. Auch das Feuer im Zeh und die Bilder der Leuchttafel waren erloschen, wenigstens zum Teil, nur die eine Weisung stand noch da: Warten Sie hier. Das Hemd klebte ihr an der Haut, und im Mund war
kein bißchen Spucke mehr übrig. Sie lüftete ihren Nicki und das Hemd, irgendwo rannen Schweißtropfen herab, und als sie den Nicki zurückschnippen ließ, war das Hemd darunter wie aus Rauhreif gemacht. Sie starrte die Weisung an, erschauerte, und es war ihr auf einmal unmöglich, sich für irgendwas zu entscheiden. Aber dann fingen ihre Fußsohlen aus der Tiefe und wie von fern her sich näherndes Beben auf und gaben es weiter an ihre Knie. Das Signal hieß die Knie zu laufen. Es befahl ihnen loszulaufen, nur weg von hier, zu retten, was einzig wichtig war: die Karre und die Krokodile darin, das Verrückte. Um jeden Preis und unter allen Umständen. Man hatte den Erdball mit einem Netzwerk von Glas- und Metallkabeln umwoben, dessen Adern in den Wohngebieten der Menschen auffaserten und sich miteinander verspannen wie ein überaus dichter und vielschichtiger Filz, so daß jedes Ende einer solchen Faser mit dem Ende jeder anderen Faser, wo auch immer in der Welt man diese verlegt hatte, verbunden war. Elektromagnetische Brücken verknüpften das Kabelgewirr zugleich mit dem System von Raumstationen, kosmischen Sonden und mit den Tausenden Satelliten, die in großen Höhen und auf geostatischen oder orbitalen Bahnen über der Erde schwebten, um den ferneren Raum zu beobachten oder die Erde selbst, von deren Oberfläche sie jeden einzelnen Punkt abzutasten vermochten. Das Netzwerk transportierte Information. Die Knoten des Netzes wurden von Rechnern besetzt, die solche Informationen aufnehmen, anfordern, speichern, verarbeiten, adressieren und, sobald die Information ihre georderte Adresse erreicht hatte, wieder abgeben konnten. In einzelnen Zentren lagen die Knoten besonders zahlreich und dicht gepackt beieinander, vielleicht einige tausend in einem einzigen Haus. Es waren die Speicher- und Umschlagstationen von staatlichen oder privaten Serviceeinrichtungen. Viele solcher Einrichtungen hatten sich ihrerseits mit eigenen Kabeln oder Nutzungsvorteilen zu betriebs- oder gemeindeeigenen, aber auch zu weltweiten Kommunikationskombinaten zusammengeschlossen. Jedermann und leitende Gremien von einigem oder auch höchstem Ge-
wicht konnten von diesem Service die Informationen abrufen, die sie für Alternativen oder für die Entscheidung selbst benötigten, oder sie konnten entsprechende Nachrichten oder Weisungen adressieren und verbreiten lassen. Später, als der Service hinreichend leistungsfähig geworden war, beauftragte man ihn mehr und mehr mit der Entwicklung automatischer Rückkopplungen höherer Art und Projekten selbständigen Regeins und Steuerns. Im Zeitraum von siebzig oder achtzig Jahren war das Netzwerk so zur Grundlage aller die Gesellschaft bewegenden Prozesse geworden. Es funktionierte als unabdingbares Instrument, um diese Prozesse zu steuern; und ohne das Netz, nachdem es nun da war, lief nichts mehr. Man benötigte es, sowohl um einfache Systeme zu regeln, wie Marktlage, Entwicklung, Wert-Preis-Verhältnisse, Produktion und Verbreitung eines bestimmten Verbrauchsgutes oder den städtischen Verkehr, als auch weit kompliziertere wie die der nationalen Ökonomie, Post, Forschungs- und Bildungspolitik bis hin zu den globalen, hochgradig verkoppelten Regelkreisen der übernationalen Sicherheit und der Konservierung der irdischen Biosphäre. Das Kabelgespinst wurde unablässig von elektrischen und elektromagnetischen Impulsen durchflossen, eben den Trägern der Information. Die Impulse eilten mit Lichtgeschwindigkeit über Wegstrecken von Mikrometern bis zu Zehntausenden Kilometern, ihre Anzahl war sehr groß. Schon die Anzahl der Operationen eines einzigen Rechners war sehr groß, vielleicht fünfhundert Millionen je Sekunde. Das ganze, weltweite Netz enthielt nun aber so viele Rechner, daß sich die Gesamtmenge der in ihm umlaufenden Operationen nicht mehr durch eine Zahl ausdrücken ließ, es gab keinen Namen für eine derartig große Zahl, und einleuchtenderweise lag sie weit jenseits menschlicher Vorstellungskraft. Man wußte nur, daß die Menge wuchs, und zwar noch immer in logarithmischer Progression. Der Sachverhalt des Zuwachses an Unzählbarkeit machte sie, je weiter die Zeit fortschritt, der mathematischen Größe Unendlich allmählich näher verwandt als jeder anderen denkbaren Zahl. Hierin liegt der Ursprung zu gewissen, in der zur Rede stehenden Zeit sich anbahnenden Veränderungen in den
Funktionsweisen des Systems und seines Betreibers, der menschlichen Gesellschaft. Es gab Fehler in diesem kommunizierenden Netz. Die Fehler gerieten sowohl in die Festkörper der Maschinerie, während man die Rechner herstellte und miteinander verband, als auch in die Algorithmen und Programme, mit denen man sie betrieb; all das war letzten Endes von Menschen erdacht und geschaffen und konnte unmöglich vollkommener als seine Schöpfer sein. Es unterlag auch dem Verschleiß und den Gesetzen der Entropie, und das Netz ließ sich nicht fortwährend durch ein neues ersetzen. Um solche Fehler zu vermeiden, wendete man das Äußerste an die notwendigen Technologien, das man vermochte, und schon sehr bald wurden diese so komplex, daß man sie ihrerseits nur mit Hilfe des Netzes entwickeln und handhaben konnte, das Netz arbeitete also quasi an sich selbst. Die Fehlerquote erwies sich dann auch wirklich als klein, zugleich allerdings als über Jahrzehnte hinweg stabil und unabwendbar, auf zehn Millionen richtige Operationen mochte nur eine einzige falsche fallen. Praktisch arbeitete das Netz stets mit solchen inkorrekten Informationen und Adressen. Je mehr Operationen das Netz jedoch durchführen und je größere Kapazitäten es einsetzen mußte, um eine gegebene Aufgabe zu lösen, desto geringer wich die vom Netz gefundene Lösung von der theoretischen ab. Die Fehler verdünnten sich oder hoben einander auf; außerdem waren praktische und theoretische Lösung in der Regel identisch, eine andere als die des Netzes gab es so gut wie nie, weil es gar keine brauchbare Methode gab, um zu einer alternativen Lösung zu kommen, daß man die eine mit der anderen hätte vergleichen können. Die gesellschaftliche Praxis entschied fast immer zugunsten des Netzes: Seine Lösung war „richtig genug“. So schien diese Art Inkorrektheiten der Maschinerie gleichsam in ihr zu verschwinden. Sie führten zu nichts, was gewissen seltenen und spektakulären Crash downs vergleichbar gewesen wäre, wenn das Netz oder ein Teil von ihm in traumatischer Resonanz versank oder am eigenen Wissen erstickte. Dennoch setzte gerade an den unmerklichen Inkorrektheiten etwas an, was sich zäh entwickelte und zu ganz unerwarteten Wirkungen zu führen schien.
Seit Anbeginn der Arbeit am Netz befaßte man sich mit dem Adressierungsproblem: Jeder Rechner erarbeitet die vom Auftraggeber geforderte Nachricht, indem er Elementarinformationen in seinem Inneren von einer Baugruppe an die nächste adressiert und verschickt, um diese Elemente wie auf einer sehr schnellen Taktstraße von Takt zu Takt zu verformen und zur geforderten Nachricht zusammenzubauen. Auch die Kommunikation des Rechners, sowohl mit seinen Auftraggebern als auch mit den anderen Rechnern des Verbundes im Netz, bedurfte exakter Adressen. Man löste die Aufgabe und schuf das Address-bus-System. Es enthielt Fehler. Man wandte diesen Adressenfehlern die gleiche Aufmerksamkeit zu wie allen andern Fehlern des Systems. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt. Es war der, als das Netz globale Ausdehnung und die Anzahl seiner Operationen die Nähe des Unendlichen erreichte. Auch ein Teil des Unendlichen ist immer unendlich, also auch die Menge der Adressenfehler. Und es war kein Zufall, als eine Art Affinität diese quasi unendliche Menge mit einer anderen, ebenso vielfältigen verband, mit der Menge der menschlichen und gesellschaftlichen Interessen. Gegen inhaltliche Fehler verhielten sich die Nutzer des Netzes immer eindeutig und neutral: Niemand legt Wert auf falsche Information, sofern man das Wesentliche der Sache im Auge behält. Fehler im Adressierungssystem riefen jedoch schon frühzeitig voneinander abweichende und durch gegensätzliche Interessen bestimmte Haltungen der Nutzer hervor: Die einen suchten die Fehler zu umgehen, die anderen sie auszubeuten. Freilich betraf das nur einen Bruchteil aller umlaufenden Information. Aber einen, der Gewicht hatte. Es handelte sich zum Beispiel um zahlreiche technologische, ökonomische oder sicherheitspolitische Sachverhalte, Lösungen oder Programme, die das Netz im Auftrag ebenso zahlreicher Interessengruppierungen erarbeitet hatte und die einleuchtenderweise voneinander abwichen und wettstreitende oder ganz und gar gegeneinandergerichtete Ziele verfolgten. Die Auftraggeber hielten derartige Informationen meistens geheim, das heißt, das Netz durfte sie nur einem mit aller Strenge vorgegebenen kleinen Kreis von Adressen bekanntgeben, nur ihm und sonst niemandem.
Jedes Geheimnis setzt Gegenspieler voraus. Sowohl die Inhaber solcher Geheimnisse als auch ihre Konkurrenten schöpften die Mittel des Netzes aus, die einen, um den Zugang zu den gefährdeten Adressen mit elektronischen Barrieren zu verriegeln, die anderen, um mittels der Allgegenwart von Fehlern oder unvorhergesehenen Eigenwilligkeiten des Address-bus-Systems den Zugang zu diesen Adressen zu öffnen. Man betrieb Aufwand und kämpfte verbissen und wissenschaftlich. Der Kampf hatte seine Geschichte. Man mag sie mit der „Gimme Cookie-Affäre“ in den achtziger Jahren beginnen lassen, als die „Vierhundertvierzehner-Gruppe“ in Milwaukee die Abschirmungen eines renomierten Computerverbundes auf legendäre Weise durchbrach und die Monitore der Anlage tagelang nichts anderes mehr hergaben als „gimme Cookies“, was bedeutete, daß sie mit Keksen gefüttert zu werden wünschten. Zahlreiche andere Beispiele mit praktischeren und ernsthafteren Absichten folgten, in denen Interessengruppen sich oder der Öffentlichkeit Zugang zu Informationen verschafften, die nicht für sie bestimmt waren. Es war die Zeit der Hacker und Cracker, der Stars und SNAPs und des mit Fleiß, Findigkeit und Kunstgriffen gesteuerten Zufalls. Und es war die Zeit der Computerkriminalität. Die Erfolgsquote von Belagerungen elektronischer Zitadellen, in denen sich Geheimnisse verschanzt hielten, stieg dermaßen an, daß an der Möglichkeit, elektronische Sperren zu brechen oder zu unterlaufen, nicht mehr zu zweifeln war, an dieser Möglichkeit als allgemeinem und durchdringendem Prinzip, dem mit den Mitteln des Netzes nicht beizukommen war. Die Inhaber von Geheimnissen kurbelten die gesetzgebenden Parlamente an, man strafte. Die Strafen richteten kaum etwas aus. Sei es durch objektive Wirkungen, die Folgen der sonderbaren, dem Netz innewohnenden Gesetze der großen Zahl, sei es durch die stärkere Kraft des Bekenntnisses zur Absicht oder den Zustrom von Sympathie, denn die Menschen mißtrauten Geheimnissen dieser Art und wünschten die Welt durchsichtiger, als sie war: Es gelang im Fortgang der Zeit, die Möglichkeit des Zugriffs zu jeder Information in die Richtung von Wahrscheinlichkeiten wachsender Dichte zu treiben, des
Zugriffs durch jeden, sofern er nur hinreichend wollte und bereit war zu den notwendigen Aufwänden. Geheimnisse verloren von Tag zu Tag an Sicherheit, und es schien, als würden sie einstmals unmöglich sein. Man mochte sich auf etwas gefaßt machen. Das Netz erzeugte von Sekunde zu Sekunde eine ungeheure Menge neuer Information und mit ihr die Substanz der sogenannten aktuellen Nachrichten für die Öffentlichkeit. Es enthob die Nachrichtendienste und Agenturen der Aufgabe, Informationen in aller Welt aufzuspüren und zu sammeln, und stellte sie vor eine ganz andere Schwierigkeit: den Brei des so leicht abrufbaren Vielzuvielen nach regionalen Gesichtspunkten und Direktiven zu sieben, zu Nachrichten und auf ein Maß zu verdichten, das dem Aufnahmevermögen, den Informationsbedürfnissen, regionalen Eigenarten und Interessenlagen der Menschen entsprach, für die diese Nachrichten bestimmt waren. Wie von selbst entwickelte der Kompressionsmechanismus eine törichte Vollkommenheit. Er belud die Wörter, ihre Reihenfolge und wie sie im Ganzen verknüpft waren, dermaßen mit Information, daß kaum einer der Konsumenten wirklich alle Bedeutungen empfing, die ihm die Wörter zutrugen. Zu einem bestimmten Augenblick, während das Mädchen Zilli im Bauch der Stadt auf eisigen und umgetriebenen Füßen und mit heißem Kopf umherirrte, einen Ausweg oder Ausgang zu finden aus dieser Verworrenheit, fiel das Stichwort Nazca in den europäischen Nachrichten vom ersten auf den dritten Rang. Die vorderste Stelle nahmen Berichte von finanzpolitischen Operationen ein. Der Verfall des Yuan bedrohe empfindliche Balancierungen der Welthandelsbilanz, Chinaais Produktions- und Exportgigant, die Standfestigkeit der MoskauPeking-Koalition, Abhängigkeiten zwischen den Wirtschaftsblöcken, prognostische Diagramme, Nervositäten der internationalen Diplomatie, die Stimme Pekings überraschend verhalten. Das SahelSolarzellenprojekt wurde zum erstenmal als „Bau des Jahrhunderts“ bezeichnet und als dessen größtes Geschäft, hinter „transozeanischen Einmischungen“ hoben sich Konturen von Firmen ab: DYNAMICS, FUSION AND TECHNOLOGY. Der Finanzierungsgipfel finde in
Beirut statt, man kommentierte ihn im Licht des Yuan-Verfalls und begann, ihn anzuzählen wie bei einem Countdown. Endlich Nazca, aber in seltsamen und verschwommenen Randkommentaren aus zweiter und dritter Hand: Lima schweige, als verweigere sich ihm das Nachrichtennetz, ein totaler Block über einer ganzen Region. Rätselhafte Zurückhaltung in Fernost. Dennoch schienen die Nachrichten einen unsichtbaren Vektor an dieses Nazca zu heften. Er zielte über den halben Globus hinweg auf Peking, und fast mochte man den Eindruck gewinnen, als sei seine Spitze auf den Sitz von GENERAL CHINA ATOMNET gerichtet wie ein vorwurfsvoll hinweisender Finger. Zuerst krochen oben die Rohre wieder in die Wände zurück, die sie weit hinten in den Tiefen der Labyrinthe durchstoßen hatten. Die dikken Achthunderterrohre und die dünnen und die in Ringelplast gekleideten Kabelstränge waren auf einmal nicht mehr da, das Retteln der Karrenräder und das Rauschen nahmen eine im Leeren nachhallende Klangfarbe an. Dann veränderte sich das Licht, die Luft fing an, gebraucht und nach Radiatorenfarbe zu riechen, und da wußte Zilli, daß sie den Ausgang gefunden hatte oder wenigstens irgendeinen. Sie fühlte sich heiß und kalt und leer, nur im Kopf flogen fortwährend Schwärme schwarzer Punkte auf, sie wirbelten hoch und fielen wieder zusammen, aber es war nicht ein einziger brauchbarer Gedanke dabei. Einen Moment hielt sie an, um nach der Zeit zu sehen, und es war abends, fast halb sechs. Dann fiel ihr Blick wie von selbst auf ihre Bürde hinab, die rosafarbenen Krokodile, die das Rütteln der Fahrt zu einer scheinbar viel kleineren Menge zusammengestampft hatte. Vielleicht war es das kurze Verharren, der Ausbruch aus der Schleife der Rastlosigkeit, oder es war der Anblick, den sie wieder richtig und wie etwas ganz Neues hatte wahrnehmen können, die ihr die Kraft gaben, sich ihres schrecklichen Durstes zu erinnern – auf Wasser und auf menschliche Stimmen. Trinken, trinken!, das war das einzige, woran sie jetzt dachte.
Nach ein paar Schritten wichen die Seitenwände des Ganges zurück, der Boden stieg an, von oben stürzte Helligkeit über einen plötzlich vorhandenen Horizont zwischen staubigem Licht und Beton. Ein Fetzen Plastfolie wehte Zilli ins Gesicht, Türen zischten, Stimmen trieben zur Eile an. Sie erschrak über das Hämmern vieler Absätze und erblickte dennoch nur auf dem Horizont entlanghastende Köpfe, die freilich, während sie ihre Karre die Schräge hinaufschob, mit Körpern, Beinen und Füßen allmählich zu vollständigen Leuten heranwuchsen. Dann stand sie auf dem Perron. Drei Minuten später saß sie in einem Bistro der Sub an einem Tischchen gleich neben der Tür. Zwei leere Gläser standen auf dem Tisch zwischen Ringen angetrockneter Feuchtigkeit, sie hatte das Depovit aus den Gläsern gleich hintereinander in sich hineingekippt, verfolgte, wie die Kühle überall in die feinsten Bläschen ihres Körpers rann, saß nur da und dachte: Das ist das Leben! Eine Frau mit grünem Hut trat durch die Tür, sie trug ein Paket unterm Arm und fragte: „Ist das dein Wagen da draußen?“ Zilli fand den Wagen von einer Schar heimkehrender Schulkinder umringt. Sie standen wie importierte Nippesfiguren da, die man wie Stewards einer Fluggesellschaft gekleidet und soeben ausgepackt hatte. Zweite Klasse, Geschmack der Mütter, dachte sie, und die Wirkung des Depovits und ihre Sehnsucht nach Antwort und Stimmen riefen Wellen von Zuneigung in ihrem Herzen hervor. „Was steht ihr darum?“ Sie wandte sich den Kindern zu: „Hier gibt’s nichts zu erben.“ Die Kinder blieben stumm und der Ausdruck ihrer Gesichter ein wenig abwesend. Vorn trat ein dünner, braunhäutiger Junge nach irgendwelchem Takt vom einen auf das andere Bein. Er hatte schwarzes Kraushaar, abstehende Ohren, war der Kleinste von allen und trug eine riesige Brille. Die Brille blitzte unschuldig. Er hielt ein blondes Mädchen an der Hand, das neben dem Jungen ziemlich stabil aussah und ein wenig x-beinig. „Hä?“ fragte eine Stimme von hinten. Zilli sah endlich die Walkmanclips, die alle Ohren verstopften. Sie nahm der Blonden einen Clip aus dem Ohr und hielt ihn an ihres. Eine Stimme sagte Vokabeln des lehrplanmäßigen BASIC-Dialektes auf,
im Takt und mit überdeutlicher Aussprache. „Seid ihr blöd, Leute?“ rief Zilli aus. „ In der Zweiten hatten wir längst die Synthetic-Freakers drauf und die Moonsingers und solche.“ „Geklaut, was?“ sagte ernsthaft und sachkundig der Boy mit der Brille. Die Brille blitzte noch immer unschuldig. Sie war jetzt auf den Inhalt der Karre gerichtet. Zilli riß den Clip aus dem Ohr. „Mann! Nicht so laut.“ „Aha“, sagte der mit der Brille. „Geklaut!“ schrien plötzlich alle Kinder so gleichzeitig, als hätten sie einen Programmierer dabei. „ Ich mach gleich mit“, sagte Zilli ein bißchen erschrocken. Jemand nieste, es war ein hochgeschossener, sommersprossiger Junge, und seine Nase lief. Zilli gab ihm ihr Taschentuch. „ Und ich gehör nicht zu denen, die wegrennen, wenn wer brüllt. Ihr verschwendet bloß Zeit.“ Die Kinder schrien: „Geklaut!“ „He, du Herzchen! Die Zahnklammer fliegt dir gleich raus!“ Das Taschentuch segelte über die Karre zu Zilli zurück. „Geklaut!“ brüllten die Kinder. „Ich polier euch die Fressen!“ „Geklaut!“ Eine exakte Liturgie. Ein paar Leute blieben stehen. Zilli schaute rundumher und wischte mit dem Handrücken Schweiß unter der Nase weg, sie hätte jetzt lieber zur Opposition jenseits der Karre gehört. Noch mehr Leute sammelten sich an, die Blonde trat einen Schritt auf die Karre zu und zog den mit der Brille hinter sich her. Die Kinder drehten die Köpfe, um sich ihres Publikums zu versichern. „Geklaut!“ brüllten sie im Chor und mit verdoppelter Lautstärke. Aber diesmal kam es Zilli so vor, als hätte eine Stimme gefehlt. Ich freu mich ja so, knarrte ein Vocoder in die Pause hinein, als die Brüller ihre Lungen mit neuem Vorrat an Luft auffüllten, die Blonde hielt etwas Rosafarbenes in der Hand. Blitzschnell langte Zilli ein weiteres Krokodil aus der Karre und gab es in eine der Kinderhände, die sich einhellig und fordernd geöffnet von allen Seiten herstreckten. Die Ge-
ste rief augenblickliches Einvernehmen der Parteien hervor. Zilli zahlte, was unvermeidlich geworden war. Jedes Kind erhielt sein Stück des rosa-elektronischen Ramsches, seinen Anteil an Glück, das aus dreihundertzwanzig Teilen gefertigt war, um Bedarfslücken in Seelen zu stopfen, die man so sorgfältig auskalkuliert hatte. Zilli zischte: „Verbrecher!“ „Schon gut, Süße“, flötete der mit der Brille. Befriedigt zockelten die Kinder in die eine, Zilli schob die Karre in die andere Richtung des Perrons. Die Leute verliefen sich. Ichfreumichjaso, ichfreumichjaso, hörte sie acht- oder neunmal, von ebenso vielen ganz gleichen, frigiden Vocoderstimmen versichert, bis die Distanz diese verschluckte. Walkmanclips wurden wieder in Ohren gesteckt, Zilli erkundete den Namen der Substation. Jeder kehrte zu seinem eigenen Leben zurück, wie es eben war. Etwas Klebriges blieb übrig in Zillis Hand: ein Fruchtbonbon, das ein Erpresser ihr zugesteckt hatte. Westkreuz Vier, also die Sechzehn Richtung Ost, fünf oder sieben oder nur drei Stationen, Zilli hatte schon wieder Durst und wußte jetzt nicht, wievielmal der Zug bis nach Hause anhalten würde. Sie fror, die schwarzen Punkte regten sich, sie wollte die Karre und mit der Karre heim zu ihrem Pa. Als die Sechzehn endlich hereinfuhr, war sie überfüllt, die nächste auch, in der folgenden gab es Plätze, der Ul an der Tür aber nahm den Stempel nicht an. Die Punkte ratterten gegen den Schädel, als wollten sie durch ihn hindurch, aber der Schädel war viel zu solide, sie würden da niemals herauskommen und vergeudeten nur ihre Zeit. Und sie, Zilli, würde natürlich niemals in einen Zug hineinkommen, denn da gab es das Vorkommnis unten im Adressenrelais, das vor Staunen aufgerissene Maul der Maschine und all die ratlos umherstehenden Karren, die ohne Adresse nicht wußten, wohin. Irgendwo hatte ein simples GOSUB längst ein Fehlersuchprogramm anspringen lassen, seit Stunden fahndete das Netz nach ihr, deren Stempelmuster es kannte, denn der Quieker hatte es ihr entrissen. Jetzt lauerte das Netz
an den Türen der Züge, verglich die hunderttausend einlaufenden Muster mit ihrem und wartete, bis sie sich verriet. Es würde sie niemals wegfahren lassen. Es würde sie festnageln, wo immer sie sich befand, eiskalt, und jede Hoffnung war weniger wert als verschwendete Zeit. Die schwarzen Punkte tobten. Zilli bugsierte die Karre per Lift hinauf zur obersten High. Der Perron prahlte mit dem Glanz frischer Aprilpfützen, gekräuselt von richtigem Wind. Die Skyline sah ganz nah aus und wie Zierspitze durchbrochen und vermochte dennoch die Sonne zu tragen, die auf sie niederging, die runde, gewalttätige Last. Tausend rote Funken widerspiegelnder Fenster schwammen in Blau. Zilli sah nichts von all der Pracht. Wie ein Sturzbach fiel die Luft über sie her, die Sonne schleuderte blendende Nadeln in ihr Gesicht. Der Schmerz preßte ihr Tränen ab, und das Rot und das Blau und die Linien der Gittermasten zerliefen. Sie zitterte, ihre Zähne schlugen aufeinander, und auch der Wind und die Leute schienen feindlich mit Nadeln zu stechen. In der Menge stand ein orangefarbener Mann. Zilli erwartete ihren Zug, und als er da war, lehnte er ihren Stempel ab. Nach ein paar Haken durch vergessene Winkel des Perrons floh sie ganz hinunter und mit dem Lifttrick wieder ein Stück hinauf, um auf dem Passagenniveau ein bißchen Wärme und einen Weg zu Fuß nach Hause zu finden. Ein Karrenrad fing zu quietschen an. Sie schmierte es mit Spucke, mit den Fäden weißen Schaums, die sie zuwege brachte, und als sie wieder hochkam vom Rad, stand der orangefarbene Mann neben der Karre. Er hatte kein Gesicht, die Gefahr ging nur von seiner Größe, Breite und Farbe aus. „Du also hast den Ärger da unten zustande gebracht“, sagte der Mann, die Stimme drang sonderbar brüchig aus der blendenden Montur. „ Den Ärger im Hauptrelais, in der Sechshundertzwölf.“ Zilli kramte nach ihrem Taschentuch, und erst als die Tränen weg waren, erhielt der Mann sein Gesicht. Zwischen mageren Zügen nistete graue Geduld. Das Alter hatte die Augen klein gemacht, sie saßen eng beieinander und so tief in ihren Gruben versteckt, daß Zilli außer Wachsamkeit nichts weiteres in ihnen entdecken konnte, und hinter den Lippen stellte sie sich sehr viele schmale und lange Zähne vor, die gewiß zu weiß waren, denn der Mann hatte auch seine Schuhe zu
glänzend gewichst, als daß sie nicht gleich gewußt hätte, wie gefährlich er war. Sie griff an: „Was denn für Ärger?“ „Sei friedlich“, antwortete der Mann, dann aber scharf und präzise, während sein Finger auf die Karre wies: „ Dies ist ein Wagen des AUTOPATH.“ Zilli sah das Emblem mit dem geflügelten Rad in der Mitte über dem Mützenschirm. „Leider keiner von Ihrer Sechshundertzwölf“, entgegnete sie mit zu Bedauern verkleideter Aufsässigkeit. Es schien, als rücke der Mann seine Augen noch enger zusammen. „Das stimmt allerdings“, gab er zu. Zilli hörte die Lücke und die winzige Unsicherheit. GOSUBs, GOSUBs. Das Programm überlasten. Immer neue JUMPs in die laufenden hinein. Ich will heim und den Karren. Ich will, ich will! „Wir haben morgen ‘ne Fete“, sprudelte sie los, als hätte plötzlich jemand am Absperrhahn einer Fontäne gedreht, „eine Riesenfete, die für April wie alle vier Wochen; wir machen sie morgen, sagt Pa heute früh, ein Haufen Kinder sind da, solche wie du, geh los, besorg was zum Spielen, aber sofort und nicht wieder Memory. Ma freut sich schon wie verrückt und macht Eiersalat, den gibt’s immer, weil sie ihn kann, und zur Märzfete, als alle fertig waren mit essen, nur ich nicht, sagt Tante Mary, die sich den Yankee aus Cincinnati geangelt hat, schaff das Geschirr in die Spüle. Ich frage: Ich?, und sie sagt, du bist groß genug dafür, die vier Gören der Cincinnaties bleiben auf ihren Hintern sitzen, gucken mich an und grinsen, und auf einmal ist der Salat von meinem Teller weg, und die vier Cincinnaties haben ihn in den Haaren und im Gesicht. Die Synthetic-Freakers röhren von der Kassette, ich kann alles leiden, nur keine Ungerechtigkeit, sie hätten nicht grinsen müssen, und um Frieden zu stiften, sag ich, jetzt spielen wir weiter Memory. Aber das hört keiner, denn draußen brüllt was, das genauso klingt wie der Kleinste der Wiliwoodies mit den Achtzentimeternasen, Mann!, der brüllt wie von ‘ner Küchenschabe gebissen, haben Sie auch Kinder? Die rosa Dinger hier hab ich für morgen zum Spielen besorgt, aber ich schick sie lieber zu den Schwarzfüßen ins Palpatal.“
Zilli wischte sich mit der Faust über die Stirn und spähte vorsichtig unter den Lidern in das Gesicht des Mannes hinauf. Zwei Frauen mit einer Teppichrolle stießen ihn an und schimpften. Der Mann verriet nicht die Spur von Ungeduld. AUTOSOFT – VERTRAUEN SIE UNS IHRE PROBLEME AN! las sie oben an der Wand hinter dem Mann, Dreimeterbuchstaben in rechtschaffenem Blau. „Die Krokodildinger hier mein ich“, fuhr sie fort, „die schick ich ins Most rigerous degree. Den Bororos und Irokesen werden sie auch schon zum Hals raushängen, sie werden davonrennen, wenn sie die bloß sehn, und werden vergessen, mit den Brennstäben zu spielen, daß da bloß nichts passiert. Der Wiliwoodie steckt in der Wäscheschleuder, weil er Kosmonaut werden und für die Prüfung trainieren will, die Schleuder hat gar keinen Strom, und er schreit nur, weil er festsitzt und aus der Trommel nicht wieder herauskommen kann.“ Das Reden überkam sie wie ein Rausch, als wäre es ein Vocoder in ihrem Bauch, der da sprach, nicht sie selbst, ein wildgewordenes RANDOM in ihr, von dem sie nichts gewußt hatte und das da redete aus ihr, redete, und immerschneller. Aber der Mann hörte nur zu, blickte aus engen Augen auf sie herab, auf die roten Flecken an ihrem Hals und auf die Ränder getrockneten Silberstaubs, den der Schweiß aus den Haaren bis auf die hitzig glühenden Wangen hinuntergespült hatte. „Die Kinder hauen im Takt auf den Tisch, die Freakers röhren, Pa hängt am Netz, um einen Spezialisten für das Chaos zu kriegen und für die Wäscheschleuder einen Monteur. Keiner will noch mal zwei Stunden Memory, weil es das Ödeste sei, was es gibt, denn um sich was zu merken, sind genug Megabitspeicher da, und wer so ein ödes Hirn gehabt hätte, so was anzuschaffen, und das war ich. Meine drei großen Brüder sind auch da, und der größte knallt ihnen hin, sie sollten, wenn er sie richtig verstanden hätte, auf ihre Vorderzähne achtgeben, wenn nicht gleich Ruhe wäre und Memory, sie redeten nämlich von mir, und ich wär seine Schwester.“ „Du bist Zilli Mamelink und gehst in die achte Klasse der Neunhundertvierundvierzigsten“, unterbrach sie der Mann, und dann fragte er: „Stimmt das?“
Zilli antwortete: „Ja.“ Aber das Niederschmetternde, Genaue in der Frage verfehlte ihre Aufmerksamkeit. „ Die Wiliwoodies kommen per Jet direkt aus dem australischen Busch und bringen immer eine Herde Kaninchen mit“, setzte sie, anstatt zu erschrecken, ihre Rede fort, „vorn spielen wir Memory, und hinten ist Mas Fünfzehnmeterveranda, lauter Glas und Sonnenschein mit Clematis drin und einer Masse anderer Blumen, und weil wir vorn Memory spielen müssen, fressen die Karnickel hinten in der Veranda die Blumen kahl. Die dicke Deborah der Cucumomos aus Ungarn guckt zu, wie sie fressen, dann hör ich, wie sie fragt: Hattest du auch soviel Spaß wie wir, Ma, als du jung warst? Und heute früh sagt Pa zu mir, besorg ein paar Sachen zum Spielen, aber nicht wieder Memory.“ Die ganze Zeit über glitten die Finger des Mannes über den Karrenrand, aber auf eine sonderbare und empfindsame Weise, als fürchteten sie, etwas Verletzliches zu zerstören. Zilli sprach und schaute den Fingern zu. Es war, als sei, was die Hand tat, unter einer Oberfläche verborgen gewesen, nun plötzlich aufgetaucht und in ihr Gesichtsfeld getreten. In der Sekunde danach erschienen andere Hände vor ihrem Geist, ein wenig schmuddlige und hochgebogene Finger, dann war der Gedanke da, daß auch der Mann ein ganz anderer sein mochte, als sie geglaubt hatte. Sie spürte einen so fürchterlichen und alles durchdringenden Blick, den er in sie hineinsenkte, daß sie etwas sagte, was sie niemals hatte sagen wollen: „Ich treib es zu weit, nicht wahr? So kann man nur Dumme fangen.“ Eine neue Woge abendlichen Berufsverkehrs schwappte über den Perron, Menschen, herein- und hinauszischende Züge. Vocoder gaben Anschlüsse bekannt, Umleitungen über die minus Drei, kurze, giftig gegeneinanderprallende Wellen. MANAG DENKT FÜR SIE! „Ach. Dumme. Glaubst du“, antwortete der Mann. Er nahm die Hand von der Karre weg und schloß die Finger, als müsse er sie verstecken, so wie man Untreue und Freundlichkeit verbirgt. „Es sollte ein paar mehr davon geben“, sagte er. „Sie kriegen Ärger wegen mir.“ Der Mann seufzte. Sein Gesicht nahm einen angestrengten Ausdruck an. Er sagte: „Ich kann nichts für
dich tun. Du wirst drei Tage nicht fahren können. Genau am Samstag neunzehnnullneun bricht das Programm ab, das nach dir sucht, und es wird nichts Weiteres mehr geben. Wenigstens nichts für dich. Geh und kurier dich, mehr kann ich nicht tun.“ Als er das mitgeteilt hatte, warf der Mann einen letzten, ermüdeten Blick auf die albern rosafarbene Fracht in der Karre, drehte sich um, schritt zu aufrecht und mit seltsam unbeweglichen Knien davon und verschwand in der Menge, wie sich ein orangefarbener Kristall in Wasser zu unsichtbaren Ionen löst und verschwindet. Noch bevor die Gefahr und der orangefarbene Klecks so restlos ins Gewimmel entwichen waren, wendete Zilli ihre Karre und schob sie, beschwingte Kurven steuernd, durch den hastenden Strom. Die Bewegung machte sie warm, gierig atmete sie die gezähmte Luft, stieg dann ab in die minus Eins und sog dort die wechselnden Düfte des Passagenniveaus in sich ein, die sie kannte. Plötzlich sah sie den Weg voraus, den sie zu gehen hatte, denn weite Strecken des Betons unter der Stadt wurden vor ihren Augen durchsichtig wie ein gläsernes Modell. Sehr genau nahm sie den roten Faden wahr, der sie führte, ziemlich geradenwegs, weil er gewisse Tricks wußte, versteckte Gassen zweimal unter einem der Automobiltunnel hindurch, und diesen Rutsch mit dem Karren heim zu Pa würde sie leicht hinter sich bringen. Alsbald hoben sich jenseits des Ziels schon andere ab. Das Vorkommnis und die Karre schrumpften auf das Maß eines Anfangs zusammen, zum Beginn schwungvoller Unternehmungen, immer neuer und mit jedem Schritt weiter reichender Pläne, von denen sie zuvor niemals geträumt hätte. Sie lief all diesen Dingen entgegen, die vor ihr auftauchten, großartig und leuchtend, die verschwammen und zu zerfließen drohten, sie lief, um sie festzuhalten, wenn sie nur erst da wäre am Ziel, auf der INSEL. Sie war durstig, stolperte, fiel, raffte sich auf, lief und lief, an den Karren und ihre Tasche geklammert. Viel später in einem Durchgang, als sie den roten Faden schon längst verloren hatte, traten zwei Schatten in ihren Weg, und im Dämmer dahinter schien sich noch ein dritter zu bilden. „Uns ist ein kleines Malheur passiert, ein Mißgeschick“, äußerte einer der Schatten mit Gesten umständlicher Höflichkeit, „ein Stempel ist uns verloren-
gegangen, wir kommen nicht weg von hier, und vielleicht helfen Sie uns mit Ihrem aus.“ Zilli hielt sich an ihrer Tasche fest. „Gehen Sie weg“, sagte sie schwach. Der Schatten wiederholte seine Forderung, bat um Entgegenkommen, mahnte verbindlich, das Fräulein möge Ärger vermeiden, den es womöglich auf sich herabziehe und an dem hier niemand gelegen sei. Ärger. Es war dieses Wort, das alarmierend aus Nebelhaftem stieg. Oben donnerte ein Zug der Sub über den Gang, ein Lichtblitz riß modisches Silber aus der Finsternis und ein glattes Gesicht. Zilli sagte: „Gehen Sie weg.“ Als der Bursche in den Karren langte, schlug sie nach ihm. Eine Hand fing ihren Arm mit professioneller Geschicklichkeit, verwandelte sich augenblicklich in Klemmbacken aus Stahl, und alles danach schnurrte herunter wie der Maschinentakt einer Montage. Zuerst flog die Tasche davon, dann ging Zilli zu Boden, eine Schuhsohle nagelte ihre Finger auf den Beton. Hastende Schritte, Geflüster einer Frau, ein obszönes Bild, im Leeren wallende Fetzen. „Ist noch ein Kind“, die Stimme des dritten. Die Schuhsohle biß zu, Zähne knirschten, die von Zilli, aber sie wußte es nicht. Die Frau sagte: „ Sieh in der Tasche nach“, und eine Ewigkeit später sagte ein Mann: „Das hier ist drin.“ Der Schlumpf fiel von oben herab, lehnte sich sanft an ihren Bauch und blieb sitzen. „Ist doch ein Kind. Heb sie hoch, sag ich!“ befahl barsch der dritte. „ Und ihr Stempel bleibt hier. Mit einem Kind, nein. Ohne mich. Er bleibt hier. Basta!“ Klemmbacken unter den Armen, Fahrt aufwärts wie im Lift. Dann war niemand mehr da, nur der Schlumpf und die Karre.
6. Hernach konnte sich Zilli niemals erinnern, wie und wann sie nach Hause kam. Später und eins nach dem andern stellten sich Bilder ein, aber nur solche, als sie schon angekommen war: Die zu Pas Zimmer aufgestoßene Tür, der auf den Rechner zurollende Karren. Die Karre war fast leer, der Rechner auf ON. Kaum zwei dünne und grün leuchtende Zeilen: Mußte rasch mal nach Jerewan, nur zwei tage, ein paar Sachen, die sie besorgen sollte, mach dir’s gemütlich, in eile, Pa. – Das viele Wasser, das sie trank, ihr Bett und der quälende Satz: Ich möchte wissen, woran er sich erinnern will. Dann aber kam die Dunkelheit, auf die sie so lange gewartet hatte. Sie war von Menschen erfüllt, die alle das gleiche taten und die sich endlich den Programmen entwinden und zu dem aufraffen sollten, wozu sie bestimmt waren, zur Hauptsache, aber sie konnte jetzt nicht herauskriegen, worin die bestand. Sie wollte die Augen schließen, wie alle Menschen die Augen schlossen, wenn es dunkel war. Die Nacht lief wie eine Welle um die Welt, fünfhundert Meter je Sekunde, und dann fühlte sie, daß diese Welle auch sie endlich ergriff und fortspülte wie nach einem fehlerfreien Programm. Und sie fühlte, wie wundervoll es war, sich ihm zu ergeben. Aber ihre Augen hielten nicht zu. Sie starrte auf eine leere Stelle der Wand, durch die das hindurchkriechen würde, von dem sie auf einmal wußte, daß es kam. Das Zimmer war dunkel, Decke und Wände schwarz. Jenseits der Wände leuchtete die Finsternis der Nacht wie auf der Umkehrung eines Graphikprogramms, aber im Gegensatz zu dem, was sie wußte, daß die Netzhaut Zeit brauchte, um im Dunkeln zu sehen, sah sie alles sofort. Es war schneller da, anders und fürchterlicher, als sie gedacht hatte: Plötzlich kippte das Zimmer um, der Fußboden, ihr Bett, alles um sie herum kippte ins Schiefe, die Bettdekke oder sonst irgend etwas hatte sich zu einem Strick zusammengewunden oder dergleichen und fesselte sie an das schiefe Bett, daß sie sich nicht rühren, nicht fliehen und nicht fallen konnte, wohin es sie
zog. In der leeren Wand sprangen zwei Fensterflügel auf, durch die Öffnung fegte Finsternis in das Zimmer hinein, graue, zerfaserte Lumpen, zu denen ein seltsam lautloser Sturm die Nacht draußen zerfetzt hatte, und drei Vögel wie Krähen. Die Vögel waren schwarz, schrien ihr etwas zu, während sie die Interferenzpunkte des Zimmers dreimal umkreisten. Taub vor Stille sah sie zu, wie die Furchen verblaßten, die die Flügel der Raben in die Luft und in diese Stille gepflügt hatten, und schneller, als sie lesen konnte, verblichen auch ihre Schreie, Schlangen aus Wörtern in Siebensegmentlettern, die wie Zungen aus ihren Schnäbeln geschnellt waren, und weil sie wissen mußte, was man ihr hatte mitteilen wollen, wußte sie es auch: daß sie sich bereit machen sollte. Als sie erwachte, waren sie längst unterwegs. Sie gingen und gingen über eine Ebene aus Glas. Die Stadt lag schon weit hinten, und jedesmal, wenn sie sich nach ihr umwandte, war die Skyline ein bißchen mehr zusammengeschrumpft. Aber vorn, wohin sie gingen, war nichts, nur das endlose, platte Glas, nichts, an dem sie hätte erkennen können, daß es näher kam, oben wanderte eine kleine, überaus heiße Sonne mit ihr mit, und neben ihr schritt der orangefarbene Mann. Das Glas ermüdete ihre Füße. Sie sehnte sich nach einem Ziel, der INSEL, und fragte den Mann, wo sie denn hingingen. Von da weg, sagte er. Und wohin? Von da weg, antwortete wieder der Mann. Dann sah sie, wie sich die Sonne gleich einem Bohrer zuspitzte, der rotierte wie irrsinnig um sich selbst, fraß sich durch den Himmel auf sie zu und spie immer weißer glühende Helligkeit von oben herab, so weiß und blendend, daß sie ihn nicht mehr sehen konnte und die Sekunde verpaßte, von der ab die Sonne nicht mehr über ihr war, sondern schon in ihr drin. Im letzten Moment, als sie die Hitze des in ihr kochenden Lichts nicht mehr aushalten konnte, erreichten sie eine Höhle. Fliegen mit langen chromblitzenden Stacheln fielen über sie her, Weißes wehte, sie schlug um sich und schrie, hörte nicht ihren Schrei, auch die Fliegen hörten ihn nicht, und wirklich wurde sie in die Armbeuge gestochen. Die Sonne war mit ihnen in die Höhle geschlüpft. Da zog der Mann eine Blackbox aus seiner orangefarbenen Knietasche. Als er die Box öffnete, strömte Dunkelheit unter ihrem Deckel hervor, wunder-
barer, kühlender Dämmer, der das Licht verschlang, die Höhle füllte und bis in ihren letzten Winkel floß. Die Sonne hatte sich in einer Falte der Höhle zu verstecken versucht, vergeblich, weil sie im Dunkeln nun wieder ganz deutlich zu sehen war. Der Mann fing sie ein, sperrte sie in das Kästchen und schlug den Deckel zu. Viele Tage wanderten sie weiter in die Länge und Breite der Piste hinein. Wohin? fragte sie, und der Mann antwortete: Von da weg. Das Weichbild der Stadt war hinter ihnen so klein geworden, daß man von oben in sie schauen konnte wie in einen Topf, und sie beugte sich dann und wann herab, um die Spinnweben der Highways und das ziellose Hasten der Menschen darunter noch sehen zu können, denn das alles war schon so winzig wie das Wimmeln der Pixel eines Schirms, den man mit einer Lupe betrachtet. Bald wird die Stadt ganz weg sein, wenn wir so weiterlaufen, sagte sie, und der Mann antwortete: Sie ist schon weg. Nach einer stummen Weile, während sie gingen, fuhr der Mann diesmal zu reden fort: Schon vor langer Zeit habe jemand die Stadt weggenommen von da, gestohlen, transmutiert, er wisse nicht, in was, fortgetragen, er wisse nicht, wohin. Nur ein paar hundert Quadratkilometer Nichts hätten jene dahin gelegt, wo die Stadt einmal war, und Bilder. Aber ein bißchen seh ich noch davon, widersprach sie trotzig, denn sie war müde, heiß und kalt, und die Füße taten ihr weh. Das sind nur gespiegelte Nachrichten, Bilder, Filze imaginärer Information, die sie den Menschen ins Hirn pflanzten, um sie zu täuschen. Sie ließen nichts Wirkliches zurück, als sie die Stadt wegnahmen, erklärte der Mann, nichts als psychedelische Tricks. Sie sagte: Wurzel aus minus eins, weil sie anfing, den Mann zu verstehen. Die taten das, bevor sie sich nach Nazca davonmachten, sagte sie, und der Mann nickte. Dann fragte sie ihn: Und das hat keiner gemerkt? Der Mann hielt im Gehen inne, deutete mit ausholender Geste rundum und sagte: Doch. Einige schon. Die da. Und du. Da erinnerte sie sich jenes Augenblicks, in dem sie gespürt hatte, wie die Stadt sich veränderte, und wußte nun, warum das damals so war. Sie schaute in die Gegenden, wohin der Arm des Mannes wies, und wirklich zogen auf einmal viele Leute über die Ebene dahin, genauso, wie sie selbst
dahingingen. Die Leute und ihre Spiegelbilder hielten die Füße geschlossen und bewegten sie nicht und glitten dennoch in dieser, jener oder einer anderen Richtung immer geradeaus über das Glas, ihre Wege kreuzten sich oder liefen nebeneinanderher, wenigstens eine Weile, bis sich der eine oder andere der Wanderer plötzlich in eine neue Richtung abwandte, um nun dieser zu folgen. Manche der Leute trugen Lords, oder AUTOPATHwägelchen fuhren vor ihnen her, in die sie etwas von ihrer Habe gepackt haben mochten, und wenn sie sich nahe kamen, zogen sie aneinander vorbei, als seien sie taub und blind. Wohin wollen die alle? fragte sie den Mann, er antwortete: Von da weg, und plötzlich erkannte sie seine Stimme, aber es war nicht die von dem Mann im orangefarbenen Overall. Sie grübelte dieser Stimme nach, weit hinten sah sie Geraldine vorüberziehen, die ihren grauen Beutel umschlang, und hierauf sah sie den Boy mit den Fischaugen. Hei! grüßte sie ihn, als sie fast aufeinanderstießen. Der Boy sagte: Ja ja und nein nein, aber so, als rede er nur im Schlaf, und seine Augen waren leer. Sie kehrten in noch so manche Höhle ein, in Höhlen mit Fliegen, aber nur zweimal wurde sie von den Fliegen gestochen, irgendwann war das Gleißen des Sonnenbohrers erloschen, sie dachte, daß da oben vielleicht wieder das Wellblech hing, und in den Höhlen leuchtete nur ein milder Mond. Auf einmal wußte sie, daß der Mann mit der Stimme des dritten sprach, und um die noch einmal zu hören, fragte sie ihn: Wohin werden wir morgen gehn? Der Mann schaute sie an, das Orange seiner Montur verblaßte, Hosenträger zeichneten sich ab und dann der Pullover darunter, er sagte: „ Da bist du ja wieder, Schäfchen, endlich“, auch sein Gesicht verblaßte, und im hellen Schein, den es zurückließ, erschien das Gesicht ihres Pa. Da legte sich Zilli in ihre Kissen zurück, die nicht mehr schief waren, sondern gerade, wie es sich gehört, und lächelte ein bißchen. Sie verzichtete darauf, noch mal nach dem Wohin zu fragen, das ihr auf der Zunge lag. Wie sollte ihr Pa das denn wissen? Noch drei oder vier Tage blieb Pa bei ihr zu Hause, während sie das Bett hüten mußte. Er und die Plasmen, die man in ihre Armbeuge gespritzt hatte, ermunterten die zuständigen Interferone, die RNA-
Replikation in Zillis Körper von den Grippeviren des Typs A sing. 2.1 sofort weg- und wieder one line und ausschließlich in Richtung Synthese zillieigener RNA hinzulenken. Und sie sorgten für gesündere Träume, solche, die man mit halbgeöffneten Lidern träumt: In einem Drachenflieger und mittels blitzschnell berechneter Loopings rettete sie ein Kind, das sich im Gitterwerk irgendwelcher Antennen hoch über der Stadt verklettert hatte; die hilflos starrende Menge unten brach in Jubel aus. Ein elektrisches Blackout in ihrem Vierzigstocker rief Kälte, Hungersnot, Finsternis und in dieser und den zweiundsechzig verklemmten Liften eine Panik hervor. Zilli tastete sich durch die Dunkelheit und zwischen den Eiszapfen hindurch, die meterdick von der Decke herabwuchsen, drang in die Leitzentrale ein, schob notlampenfuchtelndes Personal zur Seite und drückte auf dem richtigen Panel den richtigen Knopf, denn sie wußte Bescheid. Dann gab es das Vorkommnis mit den Beutelorangs im Allroundmagazin, das nur durch Kaltblütigkeit zu klären gewesen war. Es blieb ein Geheimnis, wie die Untiere direkt von Tasmanien in die minus Eins hatten gelangen können, plötzlich waren sie da und rückten gegen die Kunden und Angestellten vor, die sich verschreckt aneinanderdrängten. Zilli schlängelte sich zur Kosmetikabteilung hin und schleuderte den Bestien über die Köpfe der Leute hinweg Lippenstifte und Spiegel zu. Geheul verwandelte sich in fröhliches Schnattern. Während die Tiere sich die Gesichter bemalten, gelang es der Feuerwehr, sie und einander zu narkotisieren, die TV-Reportage lief rund um die Welt. „Schäfchen?“ rief Pa von nebenan. Durch die Tür drangen der Duft und das Brutzeln von Puffern und Zwiebeln, die Pa aus Halbzeug auf der E-Platte zusammenbuk. Pa haßte es, selber zu kochen, und kaufte immer nur Fertiggerichte ein. Er haßte auch Zwiebeln und röstete diese nur aus Liebe zu ihr. Dennoch war er zugleich ihr Feind. Sein Wissen über Interferone, wie sicher sie programmiert waren und heute Viren auszuhungern vermochten – ritsch ratsch, vier- oder fünfhundert Syntheseblokkaden je Sekunde und Zelle mußte moralisch längst verschlissen sein. Sie mißtraute ihrem Pa und den Puffern als Partnern seines Komplotts, um sie länger als nötig ans Krankenlager zu nageln. Und in Wirklichkeit gab es Orangs nur im Zoo hinter Panzerglas, noch niemals hatte
sie einen Drachenflieger gesehen und schon gar keinen hoch über der Stadt. Faulenzen macht nur Spaß, wenn man Arbeit hat, und die Erwachsenen haben die Macht, sind Erpresser und leben in viel zu glücklichen Umständen, als daß sie denken könnten, was zu denken sie hier gezwungen war. Ich mach Puffer für dich, murmelte sie, vorwegnehmend, was ihr Pa wohl mitteilen würde, bist du ordentlich zugedeckt? Und dann rief sie endlich „Pa?“ durch die Tür und über das Brutzeln hinweg, das Bereitschaftssignal. „Was glaubst du, was es heute zu Mittag gibt?“ antwortete Pa. Zilli bog vorsichtig die drei Finger nach innen, über deren Gelenken die Sohle des Fremden im Tunnel einen Schorf hatte entstehen lassen, und betrachtete, was mit dem Schorf geschah. „Milchgrieß mit Eischnee“, sagte sie, als hätte sie nachdenken müssen, „vielleicht mit Rosinen. Und zwei Kapseln Vitamaltin.“ „Ich mache Puffer für dich“, sagte Pa, und sie meinte leibhaftig seinen Eifer zu sehen, sein glückliches Lächeln, weil er sie so zu überraschen vermocht hatte, und wie er die teigverschmierten Hände rieb. „ Mit Zwiebeln. Gleich geht es los, aber bleib zugedeckt bis dahin!“ „O wirklich?“ rief Zilli zurück, und dann murmelte sie: „Eine Liebe ist die andere wert, du könntest mir dafür versprechen, einen Tag noch im Bett liegenzubleiben, weil ich morgen wieder ins Büro gehen muß. Zu essen bringe ich abends mit.“ „Gleich geht’s los“, rief Pa. „Hör mal, Schäfchen, könnte ich dich um was Liebes bitten?“ „Immer, Pa, wenn du Puffer bäckst.“ „ Ich wünschte mir, daß du morgen noch im Bett liegenbleibst, auch wenn du vielleicht allein sein mußt.“ „Allein?“ „Ja, Schäfchen, ich muß mal wieder ins Büro.“ „Mal?“ Was schon konnte ihr armer Pa darauf antworten: Nun ja. Nein. Du weißt doch, wie das ist. Die werden schon warten auf mich… Sie dachte daran, einen Surprise-Effekt einzutasten, um den deprimierenden Dialog zu beleben, zum Beispiel ein bißchen Druck.
Sie könnte fragen, ob er ihr auf Grund ihrer schlimmen Lage erlauben würde, sich einen eigenen Synthesizer zu kaufen, ziemlich teure Peripherie. Ein schwerer Bauch stieß die Türe auf, Pa wurde sichtbar mit einem dampfenden Teller in der Hand. „ Ich habe heute früh unsere Auszüge abgefragt“, sagte er, die Teller durch die Tür balancierend. „In unserem Konto ist ein Riesenloch. Die Recherche ergab konfuses Zeug, arabische und kyrillische Typen dabei, ein Error, ich sag ja, konfuses Zeug, unser Renner ist für so was zu umständlich und braucht zu lange dafür. Da fahre ich mal ins Büro, denk ich, von dort aus geht es schnell, nun ja, zwei, drei Stunden, du weißt ja, wie das ist. Ich bringe auch gleich was zu essen mit.“ Blitzschnell rasselte ein Suchprogramm durch die Dateien in Zillis Hirn…, arabische und kyrillische Buchstaben…, was hatte sie diesem Zoodirektor geschrieben? Eine Zeile des Programms schien den Algorithmus zu löschen, der einen über ihrem Herzen schwebenden Hammer festhielt und den hinderte, von da runterzufallen. „Du bist auch wirklich noch blaß“, sagte Pa, die Teller waren heiß, und er suchte nach einer geeigneten Horizontale, auf der er sie abstellen konnte. Am Morgen, der dem Tag folgte, als Pa ins Büro gefahren war, sah Zilli zu, wie er sich in aller Frühe vor ihrem Spiegel rasierte. Sie atmete gleichmäßig und flach, als schliefe sie, und spähte durch das Gitter ihrer herabgelassenen Wimpern hindurch. Pa hatte immer nur die Pyjamahose an, weiß quollen Bauch und Hüften über den Bund, ein Sammelnetz für Recyclingplast, das man zu voll hatte werden lassen. Aus den Pyjamabeinen sahen unten seltsam zierliche Füße hervor. Mit widerwilliger Neugier betrachtete er sein Spiegelgesicht, die Empfindlichkeiten unterhalb der Lider, die Morgenstoppeln auf dem üppigen zweiten Kinn. Sie kannte dieses Vorspiel im Zeremoniell, ehe er die Zeichen der Kümmernis auf diesem Gesicht mit Schmierern aus Rasiercreme vor ihr und der Welt verbarg. Er führte die Klinge mit harschen, unglücklichen Händen, die weniger tüchtig waren als der Kopf,
dies freilich gewahrte sie heute zum erstenmal, gab sich Eckziffern vor und rechnete hoch, wie oft sich ihr Pa im Leben schon so rasiert haben mochte, zehntausendvierhundertfünfundachtzigmal, die fünfstellige Zahl. Wie immer fielen Schaumflocken ins Becken und auf den Fußboden rundherum wie Auswurf von Drehspänen einer Maschine, die für ihren Zweck zu gewaltig war und Morgen für Morgen nur ruckend und schwerfällig in Gang kam. Pa war am Tag zuvor zur Fünfuhrneununddreißiger Sub gegangen, in aller Frühe zur Sechzehn wie immer, und um drei endlich zurückgekehrt. Sie hatte sich wirklich im Bett vorfinden lassen und abwartend geschwiegen. Dann aßen sie Fischsuppe und Nußkuchen, und auch Pa hatte geschwiegen. Als sie dann nachts einmal aufwachte, hatte sie ihn hinter der Tür in seinem Zimmer herumgehen gehört, stundenlang, wie sie meinte, vielleicht bis zum Morgen. Und jetzt nach der Rasur sah es so aus, als ob er das sinnlose Umhergehen fortsetzen wollte. Noch immer barfuß in der Schlafanzughose und mit wirr vom Kopf abstehendem Haar trug er eine Schachtel mit Frühstücksflocken herbei, verharrte unschlüssig vor ihrem Bett und trug die Schachtel wieder hinaus. Dann kam er mit seiner Tasse herein, kehrte damit wieder um, dann mit ihrer, dann mit der Zuckerdose für seinen Kaffee. Er trat jedesmal in die Schaumflocken, wenn er am Becken vorüberging, auf dem Fußboden entstand eine Straße aus Abdrücken dunkler Feuchtigkeit und Tupfern aus grauem Schaum. Heißes strömte in Zillis Herz, während sie all dem zusah, sie mochte die Feindseligkeiten gegen den Mann auf einmal nicht länger aufrechterhalten. „Guten Morgen“, sagte sie daher, schlug vollends die Augen auf, als Pas Bauch erneut in der Türe erschien, und legte gedämpfte Fröhlichkeit in ihre Stimme. Aber der Bauch zog sich wieder zurück, wie von dieser Attacke verscheucht, und hinter der Tür drang nur irgendein Grunzen hervor. Sie fing an, aus dem Bett zu steigen, behutsam, um die Luft nicht durcheinanderzubringen, da stand ihr Pa plötzlich mitten im Zimmer und hielt diesmal eine mit gefährlichen Farben etikettierte Flasche in jeder Hand. „Es hat dir gefallen, ein paar Briefe zu schreiben, schlampig adressiert, wenn überhaupt, und so, mein Kind, daß sie ins Netz gingen“,
sagte er, indem er die Hände mit den Flaschen anbietend vorstreckte. Er schien die Wand über Zillis Bett zu betrachten, oder den Schlumpf, der daran lehnte. „Hast dir den ADDRESS-RAPID-Suchservice andrehen lassen vom Netz, dem schlitzohrigen Ding, das den jedem anzuhängen versucht, um sich selbst zu amortisieren. Ich kann dich beruhigen, mein Kind, es hat deine Partner gefunden, den Herrn Pasqualo, was weiß ich noch, wen, und den Direktor von diesem Zoo. Siebzehn Minuten gebührenpflichtiger Rechenzeit nach Sondertarif 3.2 mal Faktor mal neunzehntausend Kilometer summierter Kabeldistanz. Möchtest du lieber Ketchup oder das hier für deine Kornflocken?“ Zilli hockte mit hochgezogenen Knien im Bett, kniff die Lippen zu und rührte sich nicht. „Und auch mein Konto hat es gesucht und gefunden, Normaltarif 1.0“, fuhr der Mann zu reden fort, „damit es die Kosten abbuchen kann. Ich möchte wissen, was ihr da in der Schule lernt. Meiner Tochter ist das nicht genug, der Klugen, oder das Rechte nicht, wie es scheint, sie muß auch noch von diesem MEM etwas wissen, ordert drauflos, hat noch nie etwas davon gehört, daß man ein Aufwandslimit codieren muß, wenn das Netz nicht einen Silo mit unbezahlbaren Floppies füllen soll. Und hat niemals etwas davon gehört, wozu man ein Konto braucht, und wie sauer es ist, eins aufrechtzuerhalten. Hast Glück gehabt. In Kairo verlor das Netz die Lust am MEM – oder war’s klüger als du? – und hatte nach neunzigtausend Wörtern genug. Macht zwölf Minuten mal Faktor mal sechzigtausend Kilometer Draht. Brauchst einen Spezialisten aus London, was? Hol dir einen! Nur zu! Ich möchte wissen, was ihr da immerfort lernt in der Schule.“ Während der langen Rede hatten sich Zillis Lippen zu einem immer dünner werdenden Strich zusammengepreßt, und nach ihr brach Stille über das Zimmer herein. Der Mann blieb stehen, wo er stand, und wußte nichts mit der Stille anzufangen und auch nichts mit den Flaschen. Dann erblickte er Zillis einen Fuß, der aus der Bettdecke herausragte. Zilli belauerte die Zehen dieses Fußes mit voller Konzentration, ob es den fünfen gelänge, die ungeraden nach oben und die geraden nach unten zu krümmen. Dann sagte sie: „Mir kommt’s so vor, ich hätt schon größere Füße als du.“
Pa ging fast eine halbe Stunde zu spät ins Büro, weil das Startprogramm durch das schreckliche GOSUB so durcheinandergekommen war. Sie hatten zusammen gefrühstückt, stumm, auf dem Tisch standen das benutzte Geschirr, die Kornflockenschachtel, der Milchtopf und die vielen anderen Dinge, die sie nun würde aufräumen müssen. Müllschlucker, Spüle, Wasser 02 und die endlosen Folgen, die all das nach sich zog. Pas Tasse hatte vier oder fünf braune Kaffeeringe ins Tischtuch gedruckt, weil er an diesem Morgen die Untertasse nicht traf, und dazwischen lagen überall Krümel herum. Zilli blieb im Schlafanzug vor der tödlichen Wüste am Tisch sitzen, die ganze Zeit sandte jene Stelle zwischen ihren Beinen irgendwelche Signale in ihren Bauch hinauf oder etwas Molekulares, das um die Zellen herum nach oben floß, höherund immerhöher, und zehn Sekunden, nachdem Pa die Türe zugeklappt hatte und sie endlich allein war, erreichte es ihr Herz. Da wußte sie, was es war: Sehnsucht nach Tränen. Sie gab sich ihr hin, tauchte in die lauen Gewässer der Trauer und Einsamkeit, wartete dort ein bißchen, dann klimperte sie mit den Lidern, um den Tränen auf die Sprünge zu helfen, aber es reichte nicht, die Augen gaben nichts her, nicht einen einzigen Tropfen. Während sie so dahintrieb, begannen ihre Gedanken zu wandern. Wie viele Male sie schon den Korridor draußen entlanggegangen war, immer denselben Weg zu den Weichen, den sie besser kannte als ihre Fingernägel und ihr Gesicht, weil er sich nicht veränderte und der gleiche blieb wie für immer. Manchmal passierten die merkwürdigsten Dinge auf dem Korridor. Die Ränder von Pas Fußtapfen waren schon zu grauen Krümeln verdorrt, und eines Tages im vergangenen Jahr hatte man auf dem Beton des Korridors Abdrücke von kolossalen Tatzen entdeckt, die aussahen, als habe ein Tiger oder ein Löwe in aller Frühe ein Fußbadebecken durchquert und sei dann über den Flur gegangen. Die Leute standen um die Spuren herum, der kleine Dampfmaschinen-Henry von nebenan hatte geschrien, daß es kein Löwe, sondern ein Stegosaurus gewesen sei, er schrie, weil er auf dem Schulweg wie immer Walkmanclips in den Ohren trug, aber die Erwachsenen überstimmten ihn, jemand lachte, und inzwischen trockne-
te die Fährte und war auf einmal verschwunden. Ein andermal in der Nacht war leiser und fremdländisch ziehender Singsang in ihr Zimmer geweht, Düfte nach Zimt und Nelken, und als sie am andern Morgen in die Schule ging, hingen überall von den Leitungsrohren Girlanden aus Polypanblumen und Twenschlüpfern herab. Jetzt aber kamen ihr die Ereignisse gar nicht mehr so erstaunlich vor und weniger interessant als das Gewöhnliche, das fortdauerte und immer so war. Immer waren die Wände des Korridors mit diesen PopArts bemalt. Schwarze Gesichter kniffen die Lippen zu oder schrien mit Mündern wie ein Quadrat oder einem so großen O, daß es fast das ganze Gesicht ausfüllte, und niemals war ein Zuhörer dabei. Sie hätte gern gewußt, wer der Junge war. Vielleicht Fabian aus der Zehnten? In einer bestimmten Nacht veränderte er seine Kunst, spritzte von da an überaus zierliche Liniengeflechte in Lavendel, Zitrone und Türkis an die Wand, seltsame Schriftzeichen einer Sprache, die er in jener Nacht erfunden hatte, die sie anzogen und festhielten wie ein Magnet seinen Anker. Sie sahen wie Würzelchen aus, die auf komplizierte Weise verästelt fort und fort aus einer Mitte hervorsprossen, um eine Welt zu erschließen. Andere dieser Flechtwerke waren wie aus feinsten Härchen gemacht, die sich streckten, um Gefahr zu erkunden, nervös, empfindlich und bereit, millisekundenschnell in die Mitte zurückzuzucken, in jene Mitte der Sicherheit, die sie ausgesandt hatte. Viele Male war sie sehr lange vor den Arts stehengeblieben, mindestens zwei Minuten, sie hatte den Kopf mal auf die linke, mal auf die rechte Schulter gelegt, weil es das Denken anregte, und dann stellte sie sich vor, wie die Hände dieses Jungen beschaffen sein mochten, der so zarte Bilder zu machen verstand, wie es sich anfühlen mochte, von ihnen gestreichelt zu werden, und manchmal spürte sie das geträumte Streicheln wie wirklich auf ihrem Bauch. Dann war da die fette, halslose, hastende Frau mit den grünen Ohrringen auf dem Perron der Sub, eine Viertelsekunde lang hatten sie einen Blick getauscht, das war alles, aber jetzt erinnerte sie sich daran. Sie wußte plötzlich, daß all diese einzelnen Dinge miteinander zu tun hatten, und sah, wie eins aus dem anderen floß, so wie diese Gedanken aus ihrem Kopf herausflossen, heraus und nicht von irgendwo draußen herein, und
nicht zufällig, sondern weil dieses GOSUB gelaufen war, und auch das hatte kommen müssen, weil es irgendwann von einer verborgenen Macht mit zehn oder hundert Zeilen in ein gewaltiges Programm geschrieben worden war. Dann dachte sie an den Feind, ihren Pa, und jetzt, sofort, hätte sie ihm geradeheraus sagen können, daß für ihr Frühstück nur Ketchup in Frage kam, und wie sehr sie ihn, ihren Pa, liebe. Aber Pa war nicht da, und noch immer verweigerten sich die Tränen. Die Menschen konnten auch mit dem Herzen denken, und es gab ein Wort für die Art, wie an diesem Morgen ihr eigenes Herz dachte, und auch das Wort war nicht da. Sie fahndete nach dem Wort, suchte und suchte, bis sie vergessen hatte, wonach, und dann fand sie auf einmal etwas ganz anderes, das heimlich und wie von selbst in ihrem Inneren entstanden und herangewachsen war: eine einfache Melodie. Kaum eine halbe Minute später hatte sie die Order nach Synthesizerkapazität ins Panel gedrückt. Der Auftrag ging aber nicht ab, er wartete, in latenter Form an die Mikrostrukturen des Rechners gefesselt, auf das Kommando RUN, das die Fesseln zerschnitt und ihn als etwas Wirkliches losrennen hieß. Zillis Finger hing über dem RUN in der Schwebe, weil das GOSUB mit Pa etwas genauso Latentes erzeugt hatte, ein elektronisches Geisterbild in der Luft oder sonst irgendwo, das dem Finger verbot, auf das RUN niederzufallen. Eine Weile ging Verschiedenes gegeneinander los, danach wußte Zilli nicht mehr, wie es gekommen war, vielleicht durch eine Entropie, die den Hemmer hatte zerbröseln lassen, wie es oftmals mit guten Vorsätzen geschah, denn plötzlich schossen dann doch die richtigen Zeilen über den Schirm: das Angebot gebührenpflichtiger Kapazität, zweiunddreißig Minuten. Sie machte ein Unisono aus ihrer Melodie. Der Synthesizer gab willig die spinnfadendünnen Töne her, die sie verlangte, Schwingen steriler Frequenz, danach eine Serie von RETURNs, die sie mit ganzzahligen Vielfachen dieser Frequenzen umwand, mit Ober- und Untertönen, immer neuen Oktaven, Quinten und Terzen, die die Töne warm und lebendig machten, bis sie sich beugten unter der schmückenden Last. Rückkehr zur nackten Frequenz. Erinnerung. Ende.
Hierauf ereignete sich mehreres zugleich oder so schnell nacheinander, daß ihr Geist unmöglich hätte folgen können: Sie erfand die Dreisatztheorie der absoluten Musik. Zu diesem Zweck rollte sie sich auf dem Hocker zu einer Kugel zusammen, aus der nur die Beine herausstachen, weil sie zu lang waren. Im Inneren des Geflechts nahm ihr Gesicht einen entrückten Ausdruck an, und dann verkündigte sie die Prämisse: „Jede Musik besteht aus drei Teilen.“ Mitten in einem der Wörter empfing der Rechner den Ruf nach einer Verbindung in Videophon, die Firmware stellte eine Kommandoliste auf und optimierte die Prioritäten. Zilli sagte: „ Der erste ist ziemlich schnuppe.“ Die Liste begann mit dem Befehl an das Analog-DigitalWandlersystem, die vom Synthesizer memorierten Frequenzmuster zu quanteln, zu digitalisieren, durch Puffer von Überbestimmungen zu befreien und die entlasteten Zifferncodes vom RAM in den Speicher zu schicken, Umsatz von zweihundertdreißigtausend bit. Zilli sagte: „Der zweite muß kontrastieren gegen den ersten.“ Die Liste endete mit dem Befehl zur Schaltung des Videophonregims. ROM informierte den Anrufer über das Netz, wie lange er warten müsse: vier Komma drei Sekunden. Nach Ablauf der Frist warf die Firmware die Weichen auf Kamera, Lautsprecher und Mikrophon, organisierte das Bild und befahl das Bereitschaftssignal. Der Schirm wies das ziemlich sonderbare Gesicht eines Mädchens vor, Neugier in diesem Gesicht, man hörte ungeduldiges Atmen. Zilli sagte: „ Der dritte…, der dritte… Na, dann eben nicht. Muß ich mir noch was ausdenken.“ „Was für ein dritter?“ erkundigte sich das Mädchen vom Schirm. Aus den Wangen wucherten Haarbüschel hervor, die zottig herabhingen. „Zilli?“ fragte sie, ihre Augen glommen im Grün phosphoreszierender Haftschalen, und die Pupillen darin huschten umher, als rasterten sie das Video nach etwas ab, was wider Erwarten dort nicht vorhanden war.
Die fremde Stimme brach in Zillis Versunkenheit. Zilli entrollte sich, erblickte das Bild auf dem Schirm, und ein wenig langsamer entrollte sich auch ihr Geist. „Hei, Zilli!“ grüßte das Mädchen erfreut, als es den Partner nun endlich auftauchen sah. „Was für ein dritter?“ Zilli antwortete: „Hei!“ Sie erkannte die Stimme. „Imma, nicht wahr? Du siehst ziemlich ET-mäßig aus. Es ist ein existentielles Problem und wird dich nicht interessieren.“ „Schlimm?“ fragte das Mädchen und lächelte dazu. „Wir riefen dich mindestens hundertmal, und dein Pa sagte so Sachen, als wärst du fast schon ein bißchen gestorben. Du wirst dringend gebraucht.“ „Ich? Keine Zeit“, antwortete Zilli, „sieht aber hübsch aus, wie diese Zotteln tanzen, wenn du sprichst. Ist das jetzt in? Ich habe aber was wirklich Existentielles.“ „Hiob wird umfunktioniert.“ „Ach“, sagte Zilli, plötzlich höchst interessiert. „In der Disko. Einundzwanzigste Twilight-Synthetic, die für Tens im Nordflügel des Blocks. Heute nachmittag um fünfzehn null null.“
7. Mehr als zwei Stunden befaßte sich Zilli nunmehr ausschließlich mit der Substanz und gewissen, aus dieser hervorgehenden Kniffligkeiten des Stylings ihrer Person, mit der Disco betrat man riskantes Parkett. Sie zerschnitt die vor ihr liegende Zeit, um deren Verfügbarkeit im Auge zu behalten, und teilte nach menschlichem Maß, zum Beispiel in Viertelstunden. Auch das Netz zerschnitt diese Zeit. Legionen von Rechnern atomisierten sie nach Taktgebermaß zu nichtmenschlichen Pikosekunden, beluden diese mit Information und verdichteten sie wie zu Teilchen einer Quasisubstanz, die aus unzähligen Quellen zusammenfloß, daß man sich diese Substanz als ein Meer hätte vorstellen können. Das Netz analysierte das Meer, sein Strömen, das Auf und Ab und die Strudel und Kniffligkeiten, die in ihm umgingen. Überall in der Welt formten Agenturen die Analysen des Netzes zu Nachrichten um: Außerordentlicher Präsidentengipfel der Länder in der EUROASIATISCHEN ALLIANZ, Maßnahmepakete, um den Yuan zu stabilisieren, Beispiele dazu. Prognose: Vertragsgeflechte zwischen den freien Kartellen pufferten die Stoßkraft derartiger Stützungsmaßnahmen ab, sofern die Kartelle nicht einlenkten und sofern ihnen ein Einlenken überhaupt möglich sei, was heiße, daß der Yuan weiterhin falle, Wahrscheinlichkeiten 0.3 bis 0.8. Ein Hochrechnungsdiagramm: Büschel von Kursvarianten kreuzten die Deadline des Yuan in einem tatsächlich vorauszusehenden Terminintervall. Damit wurde der Yuan zum erstenmal mit dem Beirutgipfel verknüpft, denn die Deadline sei durch denjenigen Kurswert des Yuan bestimmt, der, sobald unterschritten, die Finanzierung des Sahel-Solarzellenprojekts unmöglich mache, man sprach es aus: Das Zero des Countdown würde dann platzen. All das ging in Form elektromagnetischer Wellen über Zilli hinweg, durch sie hindurch, spurlos, unbemerkt und ohne sie zu berühren. Sie suchte die Sonnenbrille zum weißen Kleid, denn sie hatte Weiß als
Farbe für ihren Discoauftritt bestimmt. Ihr Haar war schon sehr schön weiß, aber nun fand sie die Brille nicht, sie fand die Listen der Codes, mit denen man Aufwandslimits befahl und Serviceangebote des Netzes erbat oder ablehnte, und fast alle anderen Brillen, nur die weiße nicht, und auch der weiße Gürtel war weg. Sie konnte das Kleid auch ohne Gürtel anziehen, aber nicht ohne Brille. Vier der Brillen, die sie gefunden hatte, waren grün, daher konnte sie statt des Kleides auch weiße Hosen anziehen und den weißen Poncho darüber oder ein weißes Blouson, das mit ein wenig Sekundendessin dann aber grün pointiert werden müßte, und auch die Haare müßten dann mit dem Grün korrespondieren, wenigstens zwei oder drei Stirnzöpfchen davon. Blouson und Zöpfchen waren sehr schnell fertig gesprayt, aber als sie die Bluse anhatte, sah man, daß darunter nicht die Spur von Busen vorhanden war, und in der Bluse gab es nicht einmal Abnäher. Weil der Poncho zu kurz war, suchte sie nach dem anderen Spray, um wenigstens diese Abnäher in die Bluse zu steppen. Sie fand es in der Schublade für das Voltmeter zwischen Verbundbuchsen, und unter Stücken von Abschirmkabel lag auch die zum weißen Kleid passende Brille. Aber die Zöpfchen waren nun grün, Zilli rechnete die Viertelstunden zusammen, und es waren zuwenig, um die grünen Zöpfe wieder auf weiße zu polen, in ihrem Countdown wurde es auf die gleiche Weise enger wie in jedem anderen, während er fortschritt. Die Nachrichtenkommentatoren sprachen über signifikantes Wachstum der Impulsdichte im Netz, Unterlaufen von UNO-Supervisoren, illegale, mit Mitteln übernationaler Größenordnung finanzierte Recherchierungsaufträge und Mosaike elektronischer Resonanz. Das Netz liefere Order zu Gegenständen reiner oder politischer Ökonomie, sobald sie globale Dimensionen berührten, zunehmend als Mandelbrot-Fraktels aus, in Gestalt jener Bilder, die von expandierenden nichtlinearen Zufallssystemen erzeugt werden können, Ausdrücken verzweifelter Suche nach Ordnung in chaotischen Strömen. In den Texten der Sprecher schritt die Häufigkeit von Synonymen für Katastrophe zur logarithmischen Progression. Die Kurve für Nazca tendierte zur Null.
Zilli saß vor dem Schirm und betrachtete sich im Video, das auf sie selbst geschaltet war. Finish und Zerocontrol. Der Rechner schien direkt aus dem Weltraum mitten in das Trümmerfeld panisch verlassener Wälle aus Büchsen, Kämmen und Bürstchen gefallen zu sein, in ein Chaos aus Pinseln, Schächtelchen, Kunst und Verbissenheit. Sie drückte den Finger gymnastisch erst gegen die Nase und dann von unten gegen alle Finger der anderen Hand und sagte mit Jungenstimme: „Olé! Die Szene belebt sich.“ Dann bleckte sie ihre Zähne, die groß waren und wie Spatel aus weißem Porzellan und einer genau neben dem andern. „Cheese-cake“, sagte sie, schaute auf ihren Mund, und der mitlaufende Lautsprecher versah ihre Stimme mit Widerhall. Etwas fehlte. Sie wußte nicht, was. Vielleicht wären vier Zöpfchen besser gewesen als drei, dann aber griff sie plötzlich nach Pinsel und Lack und malte einen ihrer oberen Schneidezähne schwarz. Die Barempore trieb zwei, drei Meter über den Köpfen der Tänzer durch die Luft, ein seltsamer, aus dem Kosmos taumelnder Bolid aus blasigem Glas mit Milch in den Blasen, die eine Sonne von innen erhellte, einziger Festpunkt synthetischer Endlosigkeit, des Dämmers, der Düfte, der Tens und der vierkanaligen Allgegenwart konservierten Sounds der Spitzenklasse, wie es in der einundzwanzigsten Twilight immer gewesen war. Zuerst sah es so aus, als habe man diesmal einen blaugrüngelben Kugelreflektor dort oben auf ein Faserkabel gespießt, Dekoration oder Signal einer Besitzergreifung. Zilli nahm die Sonnenbrille von der Nase herunter, weil sie im Twilight mit der Brille noch immer nicht gut genug sah, finzelte da hinauf und wußte Bescheid. Sie wußte auch schon, wer da war und wer nicht, ein Tenpärchen in Weiß flanierte an ihr vorbei, das sie nicht kannte, der Boy wies auf das blaugrüngelbe Ding und sagte: „Das da oben ist er, der Hiob. Siehst du ihn?“ Sein Mädchen sagte: „Aha.“ „Ich flipp aus dem Oneline, er ist wirklich gekommen, der King…“, aber das Mädchen legte kichernd einen Finger auf seinen Mund, und dann erzitterte die Welt von den Bässen einer neuen Musik.
Zilli steuerte einen der Flying spots an, trat genau auf die Marke, der Spot fuhr sie zur Empore hinauf, ein Schritt, der Weiser empfahl einen freien Platz an der Bar, CAI-CIR-synchronisierte Präzision. Der Hokker nahm sie an, umfing, als sie oben war, freundlich, ein wenig zu freundlich, wie sie fand, ihr Gesäß und wiegte sie augenblicklich ein in den Takt der Musik. Hiob benutzte sogleich sein Übergewicht, um sich näher an Zilli heranzuschwingen. „Olé! Die Szene belebt sich!“ schrie er. „Seht mal die, an der könnt ihr etwas studieren!“ Er leckte die Reste einer schwarzen Flüssigkeit aus dem Untersatz seines Glases und blickte unverschämt auf die Abnäher. „Ich mach mich überall gut, Dicker“, zischte ihm Zilli zu. Ein Junge, der Pablo hieß, pustete die zu langen Ponyfransen von seiner Brille, und Hiob brüllte in die andere Richtung: „He, Keeper! Noch mal einen kompletten Set Schwarzer Geiser für alle die Bißchenzurückgebliebenen hier!“ Er trug keine Brille, nur Hosen in giftigem, längst vergessenem Blaugrüngelb und ein ebenso blaugrüngelbes Hemd aus blitzendem Lack. Das Hemd war zu kurz oder der Bauch darunter zu dick, so daß die Verschlüsse nicht standhielten, kindlich Nacktes quoll dazwischen hervor und der Punkt in der Mitte, wo einstmals der Nabel in Fleisch und Fett verlorengegangen war. Hellwach scannte Zilli die Gegend ab. Weiter hinten redeten sie über Bäume, die in einer Brasilia-Reportage vorkamen oder weil jemand einen richtigen Wald von oben gesehen oder womöglich von innen erlebt hatte. Der schwarze Geiser war wirklich schwarz mit nilblauem Schaum obenauf, aus dem von Zeit zu Zeit ein Fontänchen spritzte. Zilli nippte am Glas, das man ihr zugeschoben hatte, und spähte von oben auf die Tänzer herab. Sie vollführten kleine, sonderbare Schritte mit der Anmut einer vollkommenen Konstruktion oder wie halblebendige Puppen im Takt der Musik oder dagegen und folgten den Spuren einer herben und nur den Eingeweihten zugänglichen Phantasie. Jeder tanzte seins, ohne daß sie einander berührten und als wünschten sie niemals ein Ende. Nicht alle waren in Weiß, aber ein jeder trug eine Son-
nenbrille, und Rosa war OUT. Ein Winken von unten herauf, „ Ich freu mich ja so, daß du da bist!“, ein Stückchen Salomeapfel zwischen Brille und Kragen aus geringeltem Plast. „Hei!“ rief Zilli zurück, da fielen ihr plötzlich die Krokodile ein. Bei Newton! dachte sie, warum grade jetzt, wo ich so aufpassen muß. Und wo sind die Dinger überhaupt alle geblieben? Zwei Japanerjungen gingen zum Holovisorpult. Hiob schrie: „Was für ein ödes Gequatsche da hinten, wie soll einer da relaxen! Baum ist Baum, wenn du einen gesehen hast, dann hast du alle gesehen. Stamm, Äste, Blätter… Kubikwurzel aus Na-und.“ Diese Maxime rief nicht das geringste Aufsehen hervor, statt dessen bevölkerte sich allmählich die Bar. Die Spots förderten schwatzende Mädchen und Jungen herauf, die Zilli gut kannte, sie kamen wie von ungefähr und einer nach dem anderen: der schöne Ramon, Blabla, Jet und Salome. „Hei!“ Der schöne Ramon grinste mit spitzen Zähnchen zu Zilli hin. Hiob schrie: „Gib ihr ‘n Liebesbiß, der macht die Hormone an, vielleicht wächst ihr dann was da oben!“ Pablo sah nach der Uhr und blies in immer kürzeren Abständen zu seinen Ponyfransen hinauf. „ Ich bin ernsthafter Stoiker und biete ihr höchstens ein Plätzchen in meinem Herzen an“, flötete der Schöne und zog sich die Hosen hoch. Zilli sagte: „Sehr verbunden. Aber ich mag kein Gedrängel.“ Sie wartete auf das, was hier losgehen sollte, und dann kamen noch Susan und Pet. Der Discodämmer kräuselte den Rand einer holographischen Endlosigkeit, hinten tauchten lichtüberhauchte Dünen aus grauen Schatten, und noch weiter hinten flimmerte das Meer. Scharen winziger Boote jagten aufwärts zum Horizont und verschwanden jäh hinter der Kimm, als hätte sie dort ein grausiger Abgrund verschlungen. Alle lachten, tranken Geiser, Salome lutschte an ihrem ShiningStick, Hiob rasterte wie ein flinker Scanner ihre Bluse ab. Der schöne Ramon folgte Hiobs Blicken und sagte: „Der reinste Ted, unser King.“
„Wer?“ „T E D! Total Ehrlicher Durchunddurchblicker“, erläuterte Ramon und steuerte seinen Sitz zwischen Hiob und Salome. Hierauf schaukelte Hiob den seinen hoch und auf Ramon zu und schoß Ramon kraft seiner Masse, sich selbst als Kegelkugel benutzend, brutal von dessen Hocker herunter. „Was ich mir ansehen will, bestimme ich und nicht du!“ schrie er von oben und goß Schwarzen Geiser auf Ramon herab. Der stand schon wieder, grinste und zog sich die Hosen hoch. Die Tänzerpaare vervielfachten sich, ihre Abbilder schwärmten aus und ergriffen als identisch wiederkehrende Muster aus unzähligen weißen Tupfen Besitz vom neu entstandenen Land. Jenseits der Hügel erwachte purpurner Glanz, als kündeten hundert Sonnen ihren Aufgang an, der Glanz entzündete die See, flammte rundum aus ihr empor, wölbte sich, verschmolz im Zenit zu purpurfarbenem Himmel oder zur Kuppel eines gewaltigen Doms. Pablo wartete, bis Ramon seinen Sitz wieder erklettert hatte, sah zur Uhr und sagte auf einmal: „Vor siebzehn Minuten sind sie gelandet.“ Es war das Bereitschaftssignal. Susan verschluckte sich, das Schwatzen erstarb, jemand gab mit kosmodromischer Geschäftsmäßigkeit Koordinaten bekannt, westliche Länge, nördliche Breite, Minuten, Sekunden. „Heiliger ENIAC von den dreißig Tonnen! Das ist ja ziemlich nahe hier dran?“ rief Jet mit wie vor Schreck heiserer Stimme. „Verdammt nahe. ENIAC, bitte für uns.“ Dann redeten alle zugleich: Invasion der Tau-Ceti-Leute, erst in Nazca, dann hier, konzentrische Kreise, bei nur zweihundertvierzig Kilometer je Stunde seien die ja schon da. Hier drin! Stimmen dafür und dagegen. Salome verdrehte die Augen unter der Brille und sagte: „Oh, ich sehe sie schon. Eine Crew silberner Ritter, Ma sagt immer, ich hätte eine so sehr ausgeprägte Vorstellungskraft.“ Aus dem Himmel regneten Ströme winziger Flämmchen herab, Güsse purpurner Pailletten, Nordlichter leuchtenden Rauchs.
„ Ritter?“ Ramon wandte sich an Salome. „ Da ist dir ein Error untergekommen. Die Ceti-Leute sind nur so groß“, er wies auf Hüfthöhe, „und irgendwie doppelt. Genau groß genug, um…“ Das Licht begann, Fäden zu spinnen, stroboskopisch zerhackte Spieße schossen wie Malimoschiffchen durch die Luft und wirkten die Fäden zu endlosen Bändern zusammen. Die Bänder wuchsen zu Schleiern heran, die Schleier sanken herab oder wehten hinauf, immer neue, während der Himmel selbst, sich erschöpfend, verging. Die Gespinste wirbelten umeinander, verknoteten sich zu sonderbaren Figuren, die sogleich wieder zerschlissen, sich neu formierten, Versuch um Versuch. Dann endlich schien das Ziel des Mühens erreicht, plötzlich stand da die Skulptur eines Jungenkopfes, Monument aus leuchtender Luft und Fiktion einer schönen Form, mathematisch errechnet, digitalisiert, holographisch gebeugt, alterslos, riesenhaft, kalt. Mitten durch ihre Grenzen hindurch, im Inneren der Figur, in den Labyrinthen des Ohrs, durch das Eustachische Rohr, die Choanen und durch die Windungen des Hirns tanzten die Tens. Unbeeindruckt von diesen Sekundenwundern, nur sich selbst hingegeben und ihren Schritten, zogen die Paare ihre Bahn. Pablo und Blabla steckten die Köpfe zusammen: Der START beginne bei siebzig, Achtung, ab jetzt… Und dann zehn Sekunden. „Genau?“ „Ganz genau!“ Susan sagte: „Im Netz sind sie schon drin. Schlaue Kerlchen. Wer hat Nachrichten gehört? Illegale Recherchen, Mandelbrot-Fraktels und solche Sachen bloß wegen dem bißchen Ökonomie? Wir sind nicht von gestern. Die Tau-Ceti-Leute sind drin! He, King! Hast du die Fraktels gesehn?“ Hiob antwortete nicht. Wie ein Stück gestanzten Blechs oder wie eine Larve zum Kehraus des Maskenfestes fiel das Antlitz des Monumentes herab, flog davon und entblößte, was es hintersinnig versteckt hatte: das Gesicht eines Clowns, einen Mund von Ohr zu Ohr, unbändige Heiterkeit, explodierende Farben.
Hiob fragte plötzlich: „Gerade groß genug, um…?“ Pablo blies seine Ponyfransen weg und sah nach der Uhr. „Tja…“, machte der schöne Ramon gedehnt. „Wenn du das nicht mal weißt?“ Es entstand eine Pause. Unmaß der Teile, Farben, Wärme und Menschlichkeit entwichen dem Clownsgesicht, als verwehte ein ätherischer Duft. Kalkulierte Harmonie kehrte zurück, die Grimasse verwitterte zur blanken Fassade des Schönlings. Pablo nickte Susan zu. Endlich der START! Alle hielten den Atem an, starr wie Tragöden, ehe der Vorhang sich hebt. Ersticktes Gekicher. Susan schöpfte tief Luft, machte die Augen dunkel und träumerisch und zwitscherte mit ihrer süßesten Stimme quer durch die Stille zu Hiob hin: „Wenn du es wirklich wissen willst, Baby, wozu sie gerade groß genug sind: Sie beißen den Buben das Vögelchen ab und die Eierchen, auf denen es sitzt. Eins, zwei!“ rief sie fröhlich und schnippte die Finger einmal der linken und einmal der rechten Hand. „Eins, zwei, wenn ihnen der Hunger kommt. Ich möchte wissen, was aus den Buben dann wird?“ Dann plötzlich giftig und scharf: „Aus Buben wie dir!“ „Eins, zwei! Eins, zwei!“ murmelten alle, die um Hiob herumsaßen, in düsterem Chor. Zu genau dieser Sekunde erlosch das Licht. Die holographische Gaukelei, die Farbe und Leichtfertigkeit schlugen zu Schwärze um, ein letzter Diskant der Musik verwimmerte im Abfluß der Kondensatoren. Finsternis. Stille. In der zweiten Sekunde huschten da unten Funken im Zickzack umher, grün phosphoreszierende Augen, je sechs zu zwei Dreiergruppen gepaart, widerscheinend auf Fratzen mit zottelndem Haar und auf dem Glas des Parketts, kleines Volk einer fremden Welt, Effekt eines Schauerstücks. Stimmen der Tänzer schrillten aus der Tiefe herauf. Jungen? Mädchen? Theatralisches Schmerzensgeschrei. In der achten Sekunde verflog der Spuk, genau in der zehnten waren plötzlich das Monument wieder da, der Dämmer und die Musik.
Children, they are angels The wings drawing in While their legs grow more and more, Sound, wie von Silberfäden gezupft. Der Riesenboy riß sein Gesicht von der Clownsmaske herunter, diesmal Tränen wie Wetterballons, unsägliche Trauer. Hiob spähte auf das Parkett hinab. Ein Reflex hieb ihm die Knie zusammen. Wie ein Notsignal stieg Blässe aus seinem Hemdkragen hervor, kroch über das feiste Kindergesicht bis zu den Haarwurzeln hinauf und verwandelte es in gelbliches Porzellan. In letztem Aufbegehren langte der Dicke nach seinem Glas. Sie schautem ihm gierig und zielsicher ins Gesicht, denn sie wußten, was er gesehen hatte: Unter den Tanzenden war kaum mehr ein Junge vorhanden. „Eins, zwei… Eins, zwei…“, summte es um ihn herum. Von da an funktionierten die Taktgeber nicht mehr richtig, einige Operationen liefen zu schnell, andere viel zu langsam ab. Zilli glaubte, die Zeit selbst hätte sich unversehens geteilt, die der Disco liefe im einen, ihre nach anderem Gang. Aber sie konnte über den Spalt dazwischen hinwegsehen, von ihrer in die andere Zeit. Die Tanzenden fuhren fort, ihre Schritte zu setzen, als wäre es für immer. Hier oben tanzte die Bar, aber für deren Insassen hatte irgend etwas ein jähes Ende gefunden. Nach einer Prioritätenliste waren Ereignisse auf den letzten Punkt heruntergeschnurrt, bis zu dem man die Liste erdacht hatte. Wie eine gespannte Feder kauerte Hiob auf seinem Sitz und rührte sich nicht. Er hatte nach seinem Glas langen wollen, und in der Mitte des Weges dahin hielt die Hand inne, als wäre genau dies jener Punkt, auf dem das Programm zum Stillstand gekommen war. Wie die Blicke ihrer Gefährten hingen auch Zillis an dieser Hand und an Hiobs erstarrtem Gesicht, und weil die Zeit nicht weiterging, hatte Zilli Muße herauszufinden, daß es gut zu seinem Bauch paßte. Die Augen standen weit auseinander, hoch oben unter der niedrigen Stirn, sie wurden rundum von zu üppigem Fleisch bedrängt, daß man sie kaum noch sah. Weil der Junge zu viel Süßes aß. Warum? Das Spiegelgesicht ihres Pa. Plötzlich glaubte sie, all das um sie herum,
die gierigen Blicke ihrer Gefährten und ihre eigenen, den Hokuspokus des Lichterspiels, das Hampeln der tanzenden Tens, den Glanz und Glimmer zu einem Strom zusammenrinnen zu sehen, zu einem unendlichen, fortwährend enger und reißender vorbeiziehenden Schwarm von Bildern und Information, der sich seit eh und je in diese Augenschlitze ergoß wie Bienenvölker in ihre Fluglöcher. Der Schwarm mochte zu viele Dinge mit sich führen, denen der Junge sich verschloß, weil er schon erfahren hatte, wie es war, sie fortan in sich zu tragen. Sie gefielen ihm nicht, und er wehrte sich, indem er seine Augen zuwachsen ließ. Die Bilder strömten fort und fort, nur die Zeit hielt immer noch still, als wäre ein Movie aus der Perforation gesprungen. Wie von selbst und unbotmäßig erzitterte dann aber doch endlich Hiobs Hand und setzte fort, was steckengeblieben war. Sie ergriff das Glas, nach dem er hatte langen wollen, er umschloß den Kelch mit beiden Händen und drückte zu. „Jetzt seid ihr die Größten“, sagte er mit vor Wut, Angst und Verachtung bebender Stimme. „Ihr SNAPs von anderthalb Watt. Weiber. Kids. Ihr Bißchenzurückgebliebenen hier. Als wüßtet ihr was. Was denn? Vielleicht, daß ich mich anmachen lasse von euren ETs, eurem öden Flop vom gestorbenen Gestern“, fuhr er fort, hob ihnen das Glas entgegen mit den Fingern drum herum, daß sie sehen sollten, wie weiß sich die Nägel und Knöchel verfärbt hatten von seiner Kraft. Schweißtröpfchen glitzerten auf seiner Stirn, rannen die dicken Wangen herab wie Tränen. „Sagt, daß ich’s machen soll! Ihr Knopfdrücker von zweihundertsechzig Anschlägen die Minute. Ihr Fingerdenker, nähm euch die einer weg, machte das Netz pleite, General Cybernetics, Autosoft und die alle und danach ihr selbst, denn Darwin hat recht. Sagt’s endlich, ihr Feiglinge von anderthalb Watt!“ An seinen Kinnladen sprangen Muskelstränge hervor, und dann zerkrachte das Glas. Zilli sah die Splitter davonspritzen, das Gesudel von Geiserschaum und Blut und daß der Junge die blaugrüngelben Knie noch immer zusammenhielt. Blau, Grün, Gelb… Die Farben berührten eine Erinnerung, aber sie konnte da jetzt unmöglich herankommen. Blaue Pigmente schlucken alle Frequenzen außer Blau und den benachbarten
Violett und Grün, die sie zurückwerfen. Gelbe werfen nur Gelb zurück und Orange und Grün. Mischt man sie, bleibt von allen Frequenzen nur die eine übrig, die beide Pigmente zulassen: das Grün. Im ersten Satz mach ich eine blaue Musik, im zweiten Satz eine gelbe. Dann muß der dritte Satz grün sein. Er muß! Denn nur dann erinnert er sich des ersten und zweiten und versöhnt ihren Kontrast. Die Synthese überwindet den Widerspruch. Bei Newton! So einfach ist das. Wirklich. Blau, Grün, Gelb… Auf einmal nahm sie das Muster mit neuen Augen wahr, das der Junge auf den Lack von Hemd und Hose gespritzt hatte: Härchen, Würzelchen, Zitrus, Lavendel, Türkis, und jene Empfindlichkeit… Nach all dem Durcheinander spuckte der Rechner sein Fazit aus, und nun wußte sie endlich, wer das war, der die Pop-Arts im Korridor schuf. Es mochte an der verrückten Zeit liegen oder an den verrückten Japanerjungen, daß Zilli nachher nicht mehr zusammenbrachte, wie es auf der Empore weitergegangen war. Aber vielleicht auch wollte sie es dann gar nicht mehr wissen. Zuerst krümmte sich, was vorher noch glatt und eben gewesen war. Dann stiegen zwei der gegenüberliegenden Ufer der Bar in die Höhe, bildeten einen Trog und schließlich ein geschlossenes Rohr. Das Rohr schien nun mit den Hockern, den Fans, den Tischen, Büfetts und ihrem Geglitzer gleichsam innen und rundum bewachsen, und alle Senkrechten wiesen auf seine unsichtbar in der Luft schwebende Mitte. Der Verlust des Oben und Unten machte die Kinder taumeln, Arme fuhren in die Luft, Hände langten nach Halt, Mädchen quiekten, aber durchaus nicht verstört und nicht allzu ergiebig, denn man kannte den Trick. Nach einer Minute schon suchte und begrüßte man einander von oben herab und von unten hinauf, lachend und an den verbogenen Wänden oder Kopf über Kopf an der Decke klebend wie Fliegen. Irgendwann und auf undurchsichtige Weise war da noch eine Meute weiterer Fans in das Rohr gedrungen: Imma und einige ihrer ETs. Bärte wurden von Wangen gerupft, dritte Augen aus jeder Stirn. Für ein paar Augenblikke geriet Hiob ins Abseits der Aufmerksamkeit. Lachen. Getümmel. Als sie sich Hiobs erinnerten, war er verschwunden.
Vor der Weiche stieß Zilli auf das erste Krokodil. Neu, rosafarben und moralisch verschlissen war es sachkundig zu Gleichwertigem aussortiert: zu den Staubflusen im toten Winkel zwischen Fußboden und Wand. Gleich hinter der Wand fand sie das zweite, dieses kopflos und seiner Innereien beraubt, Zeugnis von Forschungen immerhin. Sie schwenkte um Ecken in den heimischen Flur, Rosa war OUT, aus der Cellotür drang nur Stille, und am Boden saß Hiob, nach dem sie gesucht hatte. Auch Hiob kauerte im Winkel da mitten im Staub. Man hatte ihm die Hände verbunden, sie umfingen die Knie, die er an den Bauch gezogen hatte, und sie waren noch immer eng aneinandergepreßt. Zilli ging hin, wo der Junge saß, schaute ein Weilchen auf ihn herab, dann ließ sie sich neben ihm nieder, zog die Beine an und umschloß die Knie mit den Armen. Von hinten, woher sie gekommen war, trieb Zugluft eine leere Polyflontüte herbei. Manchmal fuhr die Luft in die Tüte hinein und blies sie auf, dann rollte die Tüte ein Stückchen, sank wieder zusammen, blieb liegen, bis sie sich erneut aufraffte wie ein sonderbares, erschöpftes Tier. Die Tüte war schon lange am anderen Ende des Flures verschwunden, da beendete Hiob das Gespräch zwischen ihnen, das nicht zustande gekommen war. „Geißlein sind das, oder wie man die nennt“, sagte er. „ Kids. Welche, die noch nicht zu wissen brauchen, wo es langgeht und daß Gute und Böse nicht immer so aussehen, wie sie sind. Wird Zeit, daß ich mich umfunktioniere. Kids! Man soll so was lieben!“ Zilli erhob sich und ging, ohne zu antworten. Nach ein paar Schritten hielt sie an, kehrte um, lief die Schritte wieder zurück und küßte Hiob mitten aufs Haar, weil sie an eine bessere Stelle nicht herankommen konnte. Als sie zu Hause anlangte, wies der Monitor auf neunzehn Uhr zwölf. Pa saß da am Tisch und hielt unentschlossen ein paar von Zillis Büchsen und Kämmen in den Händen. Er blickte auf den Tisch, dann auf das Chaos, hinter dem die Neunzehn der Uhr zu vermuten war,
zum Schluß in Zillis Gesicht, und da blieb sein Blick sitzen, als sei nichts anderes mehr zum Anschauen da. Auf dem Tisch standen das Frühstücksgeschirr, die Kornflockenschachtel, der Milchtopf und die vielen anderen Dinge mit den Krümeln dazwischen. Zilli schaute über das alles hinweg und sagte: „Wir sind Kids. Und ihr solltet uns lieben.“
8. Sie geht über den Korridor, und hinter vielen Wohnungstüren spielt man ihre Musik. Der grüne Satz ist vollendet, jener dritte, das Ziel, das die ersten beiden Sätze ersehnten: die INSEL. Als ein Wölkchen schwebt das Eiland erst fern über endlosen gläsernen Pisten, wächst, sich nähernd, zum Fels, zu grünen Türmen empor, näher, immer näher, bis man die feinsten Adern sieht, Bläschen, Würzelchen, auf verwirrende Weise verzweigt, und diese Empfindlichkeit. Dreiundvierzig simultane Frequenzen sind es am Ende, die leisen in Sechzehntel und Zweiunddreißigstel zerschnitten und um Fünftel-, Siebentel- und Zehntelsekunden versetzt zu grünschillerndem Sound: distinguierte Musik. Der Beton unter den Füßen bedeckt sich mit Flor, während sie lauscht und geht, manchmal weichen die Wände zurück, sie schreitet in Hallen und Feierlichkeit, Menschen sehen sie an und grüßen, und sie grüßt auf distinguierte Weise zurück. Nur noch ein bißchen Routine schied den Traum vom wirklichen Leben, der Schritt der Musik vom Floppy über die Bank in die Öffentlichkeit. Der ADDRESS-RAPID-Service war allzu dienstfertig gewesen. Er hatte nicht nur Señor Pasqualo aufgespürt und den Herrn Referenten des Faches Sozialhygiene II, sondern auch Zilli als kindlichen Absender erkannt, den er dem Dichter und dem Herrn Referenten schwatzhaft verriet. Und nun, als sie vor einer Stunde die Post abriefen, hatte ihnen der Speicher gleich zwei Antworten auf einmal vorgeführt, überaus freundliche Zeilen. Stellalunik O’Connel las sie ein bißchen stolz, die Dame Bathseba-Liese Ogh von der IMACO-Kontrolle ein bißchen pikiert und Zilli Mamelink ein bißchen bestürzt, die Gefühle verknäuelten sich in ihrem Kopf oder woanders, wo eben Gefühle sich aufhalten, aber nicht für lange. Die Directoryliste gab sofort das Paßwort HARMONY als Kennung der Musicbank bekannt, der zuständigen Stadtfiliale für den Schritt in die musikalische Öffentlichkeit. Alles lief schnell und soft: Guten tag, meldete sich die Bank auf dem Schirm, HARMONY dankt für Ihren ruf, bitte übermitteln Sie uns Ihren Ul. Zilli drückte den Stempel auf
das Auge unter dem Monitor, reine Routine, man fragte, ob sie etwas abfordern oder anbieten wolle, sie signalisierte ein Angebot, und die Bank schickte ihr die Offerte in Gestalt eines MENÜs. Achtunddreißig Programme. Bitte wählen Sie! Zilli meinte, das sechzehnte sei genau richtig für sie, orderte, und sogleich wurde sie vom sechzehnten Unterprogramm mit einer gewissen Bestimmtheit ersucht, ihre Autorennummer zu nennen. Sie las die Zeile, erkannte den Haken, den die da immer drin hatten, kniff pfiffig ein Auge zu und dachte nach. Der Cursor am Ende der Zeile fuhr fort zu blinken, andeutend, daß die Bank warte. Zilli hatte keine derartige Nummer, aber gewisse Gedanken zu deren Sinn, und diese Gedanken veranlaßten sie, den digitalen Text ihrer Musik mit ein paar flinken Tasten vom Floppy flugs um die Nummer herum in den Draht zur Bank zu schicken. Aber auch das sechzehnte Unterprogramm kniff quasi nachdenkend die Augen zu, als die ersten Wellen der Ziffernflut bei ihm eintrafen. Mit einem schnellen JUMP verschaffte es sich folgende Information: anzahl der im schnitt der letzten 12 tage pro tag einlaufenden angebote nicht an15 402.750 geforderter kompositionen .............................. davon debütanden ohne autorennummer ........ 15 306.583 gesamtzahl der in der bank gespeicherten kompositionen:................................................ 11 150 940.000 anzahl der im schnitt der letzten 12 tage pro tag von Verbrauchern angeforderten verschiedenartigen kompositionen (= sortimentsbedarf.............................................. 737.583 davon anzahl der abforderungen für die 10 in den letzten 24 Stunden am häufigsten verlangten kompositionen (= mengenbedarf/max) ............................................... 2 292 518.000
anzahl der abforderungen für die 10 in den letzten 24 stunden am wenigsten häufig verlangten kompositionen (= mengenbedarf/min) ........................................
12.000
Hierauf verglich das sechzehnte Unterprogramm die Einzelinformationen untereinander, setzte sie in Bezug zu dem Anliegen des Partners im gegenwärtigen Dialog und leitete diesen Dialog in das GOSUB „Entgegenkommende Verweigerung D3“, der Variante mit der im Schnitt der letzten 12 Tage kürzesten Dialogdauer. Zillis Floppy spuckte die digitalen Größen noch immer ins Netz und war erst beim zweiten Takt der Musik, da sprang eine Zeile auf ihren Schirm: Überlastung! Bitte warten Sie. Während des wartens werden keine gebühren berechnet. Zilli klimperte auf dem Rand des Panels herum… Man kann nicht einfach nur hinschreiben, was man denkt und sieht? Was denn sonst, Herr Pasqualo? Lügen? Bei Newton, mein Lieber, die kenn ich schon! Nach zwei Minuten und dreizehn Sekunden war die Bank wieder da. Man habe es möglich gemacht, sie mit der Klassiksektion zu verbinden. Die Sektion danke für den Ruf, wünsche einen guten Tag und bitte um Nachricht, ob es sich beim angekündigten Angebot um eine nicht registrierte Komposition handle (= Neuentdeckung), und wenn ja, um welchen Komponisten, damit man sie an die zuständige Untersektion vermittle. Zilli antwortete: Ja. Und ohne zu zögern: Ich bin der komponist. Die Sektion gab zu bedenken, nur solche Musik zähle zur Klassik, die vor mindestens 84.6 Jahren komponiert worden sei. Man bat um ihren Ul. Zilli schnaufte und drückte ihren Stempel auf das Auge unter dem Schirm. Augenblicklich erschien dort das Nichtzuständigkeitssignal. Dann die Empfehlung: Wenden Sie sich bitte an HARMONY. HARMONY wünschte einen guten Tag…, Dank für den Ruf… Bitte um den Ul…, das Menü. Zilli wich aus auf die Neun. Ansuchen der
Neun um die Autorennummer. Zilli hieb blindwütig auf irgendwelche Ziffern ein. Bitte warten Sie, gab die Neun bekannt, während des wartens werden keine gebühren berechnet. Es dauerte lange. Zilli umkreiste den Frühstückstisch, die Ketchupflasche war leer, zwei Waffeln lagen noch da, die schreiben mit Wörtern, als würden Kinder nie größer als ein Meter zehn, sie strich Senf auf die Waffeln, aufseufzend und gleich mit dem Finger. Die verjagten Dämonen seien nur als Bild zu verstehen, Herr Referent? Als nicht ganz treffendes Bild, wie Sie zugeben? Millionen Kindern machen Sie angst, die stecken drin bis zum Hals, da schicken Sie ihnen Bildchen zum Angucken? Nach vier Minuten und sechsundzwanzig Sekunden sandte die Bank eine Entschuldigung und die erneute Bitte um die Autorennummer. Ein Übertragungsfehler sei unterlaufen. „Ich könnt euch glatt vollkotzen!“ stieß Zilli hervor, nahm einen Anlauf, um mit vierhundertzwanzig Anschlägen die Minute ihren Namen herunterzuhämmern: Ich bin Zilli Mamelink…, mindestens zwanzigmal hintereinander. Man hätte meinen sollen, daß ein auf dermaßen ungeschliffene Weise gehandhabtes Programm aus seinen vorgezeichneten Bahnen kippt. Aber dem war nicht so. Die Bank hieß Zilli abermals warten, Zilli verglich die bisherigen Wartezeiten, machte sich auf acht Minuten und zweiundfünfzig Sekunden gefaßt, und nach genau dieser Zeit dankte man ihr für die übermittelte Information und versicherte, daß man sich sehr für so junge Talente interessiere. Wenden Sie sich bitte an HARMONY! Wieso jung? gab sie zurück. Ihr spioniert hinter meinem rücken herum! Es ist eine sehr schöne musik und in drei sätzen. Hierauf die Bank: Wir beglückwünschen Zilli Mamelink zur schönheit ihrer musik und empfehlen ihr, sich mit HARMONY in verbindung zu setzen. Sie schrieb: Da war ich schon dreimal. Zweimal korrigierte die Bank. Aber auch drei sei eine sehr kleine Zahl. „Mit uns könnt ihr’s machen. Für euch werden wir niemals grö-
ßer als ein Meter zehn“, sagte Zilli, weil sie schon ein bißchen ermüdet war. Dann fügte sie noch ein schlimmes Wort hinzu, gab aber ein weit höflicheres in die Tasten. Ein paar der Tasten klebten vom Senf. Döskopp? fragte die Bank. Wiederholen Sie. Wir bitten um zugelassene synonyme. Zilli hieb mit dem Daumen auf OFF. Der Kameramann machte es diesmal umgekehrt, nicht, von der Totalen kommend, mit dem Zoom heran an die besondere Einzelheit, sondern ganz ohne den Zoom mit kleinen, aneinandergereihten Schwenks vom Nahen und Fernen. Ein von Lachen weit aufgerissener Männermund, Zähne, weiß wie zur Reklame mitten in schwarzwolligem Bart, eine Metallkiste, geriffelt, schief, daß ein Dutzend dünne, rechteckige Scheiben wie Brennstofflamellen herausfielen. „Nichts“, sagte der andere Mann bedächtig, der die Kassette hielt, „billiges Aluminium und ein paarmal zehn hoch minus acht Curie je Kubikmeter, so gut wie nichts, denk ich, kannst du Kochtöpfe draus machen.“ Dann sah man eine schwarze Frau mit dünnen Beinen in Shorts, hinter der Frau ragten Blechtürme in die Luft, fünfzehn, zwanzig, die mindestens viermal so groß waren wie die Männer davor, Staub, Zelte, Jeeps, Helikopter, verdorrtes Stachelgesträuch, ganz weit hinten flimmerndes Blau, von seltsamen horizontalen Strichen durchschnitten, die die Hitze nervöse Wellen schlagen ließ. So war das also: Nazca. Endlich. Experten im Most rigerous degree. Und die ganze Bombenaffäre bestand nur aus Attrappen. Immer dasselbe. Sie machen den Leuten Angst vor den Flammen, dann spritzt die Feuerwehr mit Benzin. Oder war’s umgekehrt? Auch der Kommentator wußte nur Fragen. Aber nach drei, vier Minuten waren schon Antworten da: Ein Gutachter der LIMAANALYSIS identifizierte das Metall, aus dem die Brennstoffattrappen gemacht waren, als Aluminium-Billigcharge chinesischer Produktion… Die Auftragskopie an SHANGHAI-METAL für zweihundertzehn Tonnen mit dem Signum des Bestellers ANGOTRANS in Ango-
la, in dessen Hafen Luanda die Fracht vor drei Monaten spurlos verschwunden war… Die Verflechtung des Lieferanten SHANGHAIMETAL mit dem Riesen GENERAL CHINA ATOMNET… Weltweit expandierendes Jagdfieber nach der verlorengegangenen Fracht, Jagd ohne Strecke, statt dessen ein Sturzbach seltsamer Informationen, die das Netz wie von selbst aus einem vermauerten Winkel seiner Dateien plötzlich hervorsprudeln ließ: Es handelte sich um Hunderte Chiffren von Zweit- und Drittkonten gewisser Topmanager und Experten der Hochfinanz. Die Art der Chiffren wies auf ein einziges Unternehmen als Ursprung der Dotierungen hin und ließ deren Empfänger als illegale Berater erkennen, als Lotsen, angeheuert, um Fahrrinnen auszumachen durch den Wirrwarr des elektronischen Währungstransfers. Das namenlose Unternehmen beauftragte diese Leute, Tiefen und Untiefen in den Strömungen und Wirbeln der Wechselkurse zwischen den Wirtschaftsblöcken auszuloten oder Kanäle quer durch lange Prioritätenbarrieren zu finden oder zu stechen, informationstechnische Tricks, die gewundene Wege abkürzten, damit man schneller war als die Konkurrenz. Eine Liste von Namen. Das Netz erinnerte an Ursachen für den Yuan-Verfall. Dann organisierte es plötzlich das Bild eines gläsernen Mammutbaus, in dem man alsbald das Zentrum des BF-Kartells in Itacare am Ufer des Rio da Contas erkannte, des Giganten der brasilianischen Kernfusionsenergie… Zillis Augen waren, während all das an ihr vorüberzog, immer kleiner geworden. Aber dann, wie auf einen Alarm, schreckte sie plötzlich hoch und spürte ein unbezähmbares Verlangen danach, die Sonne zu sehen. Sie zog sich irgendwas an, stopfte den Schlumpf in die Tasche, Rosa war out, sollten sie doch die Nase rümpfen, sie wollte die Sonne sehen, die Sonne und sonst gar nichts. Korridor, Weichen, Gedrängel am Lift, sie hielt nur die Tasche fest, über der Dreißig schien der Lift auf einmal wie für sie reserviert, und als sie aus der Vierziger Schleuse trat, war da nichts, nicht einmal Himmel, nur Kälte und Regen. Der Regen biß ins Gesicht, rann die Wangen herab, aber wirklich nur Tropfen vom Regen, keine Träne diesmal, und wenn, dann nur welche aus Wut. Der Trotz, ihre Sehnsucht, Hoffnung oder etwas anderes
weiter innen trieben sie an, mit dem Lift wieder hinunterzufahren bis zum Perron der obersten High. Sie wählte die Neunzehn, weil die nach Westen fuhr. Sofort erlaubte der Stempel die Fahrt, warum denn nach Westen? dachte sie, schaute durch die von der Nässe verklebten Haarsträhnen hindurch den Tropfen zu, die nun fast waagerecht über das Fenster striemten, dahinter war nichts, nur Regen, außer gerade noch diesen Fünfmeterbuchstaben DEIN FROHSINN IST DAS SICHERSTE KONTO DER SVK, und am Kreuz über die OuterMarginal stiegen dann eine Menge Leute zu. Zuerst drängte die Frau ins Kupee. Sie war dünn und hatte ein blasses, wie von Sorgen langes Gesicht mit zu glänzenden Augen, die so weit aus ihren Höhlen herausragten, als sei dahinter nicht genug Platz. Dann kamen ihr Mann und ein Mädchen. Die Frau hielt die Hände im Schoß, viele Ringe glitzerten an den Fingern, und die Finger knüpften fortwährend Fäden zu einem Muster zusammen, aber die Fäden waren nicht wirklich da. Sie sagte: Das Krebsproblem könnte längst erledigt sein, wenn nicht so viele Strahlen in der Luft herumflögen. Es liegt an Deborahs Mann, daß sie schon wieder schwanger ist. Fluorierte Zahnpasta zerstört die roten Blutkörperchen. Genau besehen, kümmern sich die Männer um rein gar nichts, was wichtig ist. Haustiere sind ekelhaft. Deborahs Kinder malen sich mit Ketchup als Crime-Tote an, legen sich hin, um mit der Uhr in der Hand rauszukriegen, wer es als Leiche am längsten aushalten kann. Wann einer stirbt, ist ihm vom Schicksal vorherbestimmt. Der Mann hatte eine hohe Stirn, weil da keine Haare mehr wuchsen. Sie bildete die obere Hälfte eines geduldigen Gesichts, das sich wie ein Stein in ewiger Brandung hatte ergeben hin- und herwerfen und rundschleifen lassen. Die Knopflöcher des Blazers spannten über dem Bauch. Der Mann sagte: Fortwährend erfinden sie neue Codes, mit denen sie unsere Konten plündern. Nach der letzten Normierung schmeckt das Bier dauernd nach Büchse. Die chinesischen Elektrizitätsbonzen hätten nicht einen Finger in Nazca drin? Kein Rauch ohne Feuer. Mit den Jahren verlieren verheiratete Frauen immer mehr den Sinn für die Aufgaben, die uns das Leben stellt. Spartak Witebsk ohne Woronzew gegen Ajax Amsterdam im Finale, oje, oje. An den Unwet-
terkatastrophen sind nur die großen Konzerne schuld. Der neue HeimBCMS mit den fünfzehn Millionen Pixeln ist der größte Blödsinn seit Jahren, weil das Auge so viele Punkte auf einmal gar nicht wahrnehmen kann, außerdem ist er zu teuer. Die UNO sollte die peruanische Regierung einfach absetzen. Das Mädchen baumelte mit den Beinen, die mit blauweißem Zebramuster bemalt waren, eine hübsche Idee, nur waren die Knie zu dick dafür. Es schaute geradeaus irgendwohin, wo gar nichts vorhanden war. Die Moonsingers könnte ich mir hundertmal anhören, sagte es. Eltern haben nie Zeit, weil sie sich immer in Sachen reinhängen, die heute schon längst von alleine gehn. Rosa ist out, und an Traurigkeit kann man sterben. Die Kinder von Tante Deborah sind Klasse, aber die Babys der Palästinenser sehen viel süßer aus. Zweihundert Anschläge die Minute sind ein Klacks. Wenn Pa frisch vom Dienst kommt, hat er manchmal schon schlechte Laune. Ehe ich heirate, will ich Bescheid wissen. Unversehens hatte der Regen aufgehört. Der Himmel war oben noch immer mit Blechplatten vernietet, aber darunter zogen Wolken dahin, grau und scharf umrissen, daß man jedes Fältchen ihrer zerfransten Ränder sah. Die Luft zwischen dem Blech und der Stadt war so klar, als wäre gar keine mehr da, und in der Ferne stießen Himmel und Erde in einer blauen Linie zusammen. Dort stand ein riesengroßer, seltsamer Baum. Zilli schaute mit zusammengekniffenen Augen durch das Kupeefenster hindurch, der Stamm des Baumes schien ihr aus blaßblauem, zart geädertem Glas gemacht. Er hatte nur wenig Äste, aber auf jedem davon hatten sich Vögel niedergelassen, ein paar große und viele kleine, um sich auszuruhn. Sie glaubte, die Rufe und das Gezwitscher der Vögel zu hören, sie auffliegen und niedergehen zu sehen, und dachte sich die Farben ihres Gefieders aus. Der Mann sagte: Es liegt an der Frau, wenn sie keinen Jungen bekommen kann, sie hat zu viele X in den Chromosomen. In China sind die Transportwege zu lang, deshalb haben sie jetzt die Finanzkrise. Der rechte Fresnelhafter drückt mich schon wieder, Brille bleibt eben Brille. Es ist doch so: Wenn die Leute einen Job haben und abends ihr Bier zum TV, dann könnten sie wirklich zufrieden sein, aber alle
jammern, und wenn es über das Wetter ist, von dem sowieso keiner was merkt. Die Frau puderte sich das Gesicht, um die Unzufriedenheit darin zuzudecken, aber in Wirklichkeit frischte der Puder diese Unzufriedenheit nur wieder auf. Mit Lotions, die grün aussehen, darf man nicht an die Augen, sagte sie. Die Kinder von heute haben nie Zeit, um mal zuzufassen, und denken, das täte sich alles von selbst. Früher starben die Leute, weil sie so vieles Unkonfektioniertes essen mußten, heute sterben sie an den Nerven. Daß Väter immer glauben, sie könnten Kinder mit ironischen Bemerkungen erziehen. Töchter geraten meistens nach ihren Großmüttern. Warum reden sie eigentlich dauernd über dieses Ozon? Der Zug schwenkte in eine weite Kurve ein, der Baum mit den Vögeln wanderte auf den Rand des Kupeefensters zu, und dann konnte Zilli ihn nicht mehr sehen. Das Mädchen sagte: Egmont hat mit ‘ner Compilermasche schon zweimal seine Zensuren getrickst. Warum sterben in den schönsten TV-Filmen am Ende immer die Guten? Manchmal ist Weinen schöner als Lachen. Ich glaube, so schnell legt mich keiner rein. Plötzlich tauchte der Baum wieder am Rande des Fensters auf, und ganz nahe. Es war ein Gittermast mit vielen parabolischen Richtantennen; rostzerfressener Stahl, geknickte Träger, die Paraboloide von schmutzigem Weiß wie von Schimmel bedeckt und zerlöchert, ein Mal, das Nähe und Nutzlosigkeit häßlich gemacht hatten. Der automatische Informator sagte den Namen einer Station, den Zilli noch nie gehört hatte, alle Leute stiegen dort aus, nur Zilli blieb sitzen, und dann fuhr die Bahn in einem großen Bogen um etwas herum, hielt, der Vocoder sagte: Wendeschleife Nordwest, Ende der Strecke. Wir danken für Ihren Besuch, steigen Sie bitte hier aus. Wo der Perron aufhörte, begann eine Betonpiste, aber nach hundert Metern war auch die Piste zu Ende, und dahinter begann diesmal nichts. Mauern toten Gestrüpps, triefender schwärzlicher Filz, zu dem Winter und Regen das vorjährige Gras und die hochgeschossenen Kräuter gemacht hatten, liefen hier aufeinander zu. Zillis Füße fanden
nur eine unsichtbare Schneise da hindurch wie eine am Fußboden versteckte Schlangenlinie. Der Pfad wand sich zwischen verbeulten Benzinfässern hindurch, zwischen Betonschwellen, Stapeln alter eiserner Schienen, Drahtschlangen und Neugier auf den nächsten Schritt. Nach einer Minute war Zilli naß bis zum Bauch, aber unversehens traf mildere Luft in ihr Gesicht, ein Schwall dumpfer, unbekannter und merkwürdiger Düfte. Der Pfad endete vor einer Hütte, die das Gestrüpp drum herum kaum überragte, einem Häuschen phantasievoller Geometrie, das aussah, als habe sich ein Troll oder ein vergessener Dämon aus allen möglichen Wellplatten und Blechschildern mit Spucke und beschwörenden Sprüchen eine Wohnstatt zusammengeklebt. Zilli dachte, wer weiß, was da drin ist, kletterte auf das Dach, setzte sich, zog die Knie an sich heran und betrachtete das Land. Sie fand es trostlos, weit, beklemmend und wunderbar, und vielleicht lag es an den breit auseinanderweichenden Schenkeln ihres Gesichtswinkels hier oben auf dem Dach, daß sie auf einen schrecklichen Gedanken stieß: Sie war einen langen Weg gegangen, und an seinem Ende stand die Musik, die sie gemacht hatte. Diese sehr hübsche Musik. Jetzt war sie dem Pfad gefolgt und hatte an dessen Ende die Blechplattenhütte gefunden, und auch die Hütte war sehr hübsch… Während Zilli diese Erschütterung widerfuhr, verwandelte sich die Welt. Das Licht veränderte sich, von irgendwoher scholl der Ruf eines gewaltigen Tiers, und dann blitzte im Westen eine Sonnenklinge auf, scharf und plötzlich. Das Licht weckte junges Grün unter den Wellen der verrunzelten Blätter und Stiele, und in der Sekunde darauf erglänzte das Land im Funkeln unzähliger Wassertropfen auf diesen Blättern, als hätte irgendein mächtiger Automat Millionen winziger Schweißbrenner gezündet. Zillis Lippen öffneten sich, etwas so Wundervolles hatte sie noch niemals erlebt. Mit 11 d, 23 h, 31 min und 12.18 s gab der Rechner am anderen Morgen die noch verbleibende Dauer der Ferien aus nebst einem Brief an Zilli Mamelink, den Madagaskar World Reptile Research, Subsection Varanidae, via ADDRESS-RAPID übersandt hatte. Zilli spürte ein
Bekanntheitssignal, schwach, aber wie eine glimmende Lunte. Ehe das Ding losging, holte sie Luft wie jemand, der eine Strecke unter Wasser schwimmen will, und kniff fest die Augen zu. Vor dem Dunkel zeichneten sich Varianten ab, was ihr diese Research-Leute wohl mitteilen wollten, in unheilschwangeren Worten, so nebelhaft, wie sie sich selbst der ihren zu erinnern vermochte: eine Art Bonsaiwarane…, etwas mit Eipulver…, und was noch? Als Ultimatum hielt sie den Atem an, mindestens eine halbe Stunde, im letzten Moment orderte sie dem Drucker eine Kopie, rollte das Blatt, als der Drucker zu schnarren aufgehört hatte, zu einer Röhre zusammen. Danach erst wagte sie, ihre Augen wieder zu öffnen. Der Schlumpf beanspruchte zuviel Platz, deshalb paßte die Röhre nicht ganz in die Tasche hinein und sah oben aus ihr heraus. In der Neunzehn Richtung West hingen dann ein Paar bebrillte Kinderaugen an diesem Stückchen Computerpapier, fischige Augen unter klebrigem, messingfarbenem Haar. Wirklich war es der Boy, auf den Zilli bei Geraldine getroffen war. „Ich bin Zilli“, sprach sie ihn an, „kennst du mich noch?“ „Ja, ja“, sagte der Boy. Sie betrachtete den Jungen von oben bis unten. Und so, wie die ultraschnellen und undurchschaubaren Operationen einer Blackbox überraschende Resultate hervorbringen können, veranlaßte, was sie sah, die Abtaster ihres Gedächtnisses, am Stichwort Hiob hängenzubleiben, sie erinnerte sich Hiobs, jenes ungebärdigen Dicken. Vielleicht war das die Ursache dafür, warum sie den Jungen aufforderte, dahin mitzufahren, wohin es sie zog, zu ihrer Blechhütte am Rande der Stadt. „Ja, ja“, sagte der Boy, den Blick auf die Rolle geheftet. Sie fuhren um die Wendeschleife herum, und als sie ausstiegen, war der Himmel hell und blau und sehr weit oben, höher noch als die weißen Federn, die an ihm hingen, und die wiederum schwebten über der schmetternden Sonne. Zilli hob ihr Gesicht der Sonne zu, gab es dieser ungewohnten Sorte von Wärme hin und zog die Augenlider zu zitternden Schlitzen zusammen.
Auch der Junge kniff hinter der Brille die Augen zu, aber eher so, als litte er Schmerzen in einem Zahn. Der Weg über die Piste und den Trampelpfad zog sich in die Länge, denn in den Frostrissen des Betons sproß diesmal grünes Frühlingsgras, und das Gestrüpp neben dem Pfad war von hundert Neuheiten durchsetzt. „Hier riecht’s“, stellte Zilli fest, „und nicht nur nach fluorierten kWs oder Wellen“, und nach zwei Schritten: „Hättest du jemals geglaubt, daß es so kleine und so viele Viecher gibt?“ Der Junge schwieg dazu und stolperte hinter dem Mädchen her wie Textbuchstaben hinter ihrem launisch voraushüpfenden Blinker. Zilli ging zweimal um die Hütte herum. KYROW-DIESEL TAIGA stand auf dem Schild, aus dem die Tür gemacht war, letzte Durchsicht 4/88, und drumherum: zugelassen für kinder kühe und kosmonauten scheiß auf dein konto komm rein verstand macht reich armut ist keine schande; und den „verstand“ hatte jemand mit etwas Obszönem übermalt, weil er anderer Meinung war. Sie fürchtete sich vor der Tür, zog den Jungen hinter sich her und sagte: „Keine Angst, ich bin dünn, aber drahtig.“ Die Tür ließ sich wirklich öffnen, ohne daß das Häuschen zusammenfiel, und drin war es dann ziemlich dunkel. Knöchelchen wie von Vögeln und leere Blechbüchsen lagen da um verkohltes Holz, eine Schaumplastmatratze. Dahinter betraten plötzlich zwei andere Kinder die Hütte durch ein goldenes Tor, genauso erschrocken wie sie, und als wieder Luft in ihre Lungen drang, war es nur ein Spiegel in einem überaus kunstvollen Rahmen, der aus fortwährend sich teilenden Schnörkeln bestand. Es roch nach Karbid und einem gestorbenen Jahr, und auf zwei Ziegelsteinen stand ein Radio. Der Junge tippte auf die Rolle Computerpapier und sagte: „Un wo is nu endlich dein Renner?“ Später saßen sie auf dem Dach, hielten Abstand voneinander, schwiegen und hatten Gründe dafür. Zilli kratzte am Schorf auf ihren Fingern herum, ganz aus der Nähe dröhnte das Brüllen, das sie schon kannte, die Federn fuhren fort, am Himmel zu hängen, und waren
schon ein paar Meter weitergerückt, da sagte sie: „Ich weiß nicht mal, wie du heißt.“ „Du“, antwortete der Junge verdrossen. „ Das ist doch kein Name.“ „Ja, ja. Oder Hedu und Duda.“ „Hör mal“, sagte Zilli, „deine Eltern müssen dich doch mit irgendwas rufen.“ „Wer?“ „Deine Ma und dein Pa.“ „ Ma? Pa? Nie gehört. Nee, nee. Sind das vielleicht Namen?“ Hierauf schwiegen sie wieder. Zilli ging einiges im Kopf herum, von dem sie gehört hatte. Sie dachte an ihre Ma, an in der Vergangenheit verschwimmende Bilder, an etwas, was sie sich wünschte, aber sie wußte nicht, was. Ganz weit hinten sah sie den gläsernen Vogelbaum, den die Nähe so herzlos hatte verdorren lassen. „ Ich lauf ein bißchen hier rum“, sagte sie plötzlich und rutschte vom Dach. Der Draht und die Betonschwellen waren aber dann nur zum Stolpern da, die Sonne fing an zu stechen, die Neuigkeiten verkrochen sich im Gestrüpp, das ihr die Beine zerkratzte, und die Benzinfässer waren nur noch verbeult und verrostet. Gedankenverloren hob sie die Nase in einen fremdartigen Duft. „Ein Star ist eine sensationelle Leuchterscheinung. Und wie leuchte ich?“ fragte sie laut in die Luft hinein und schaute sich um. Niemand antwortete. Jählings aber sah sie sich von einem Paar riesiger Augen betrachtet. Sie gehörten zu einem schwarzen und bedrohlich behörnten Kopf, der zwischen den Sträuchern hervorblickte. Zilli fuhr zurück. Dann erkannte sie den Ring an der Nase des Tieres und den vertrauenerweckenden Riemen, mit dem die Nase an einen Pflock in der Mitte eines Kreises gefesselt war, den das Tier leergefressen oder niedergetreten hatte, und dieser Umstand ermunterte ihre Tapferkeit. Sie erkundete gewisse Details, und dann wußte sie: Es war eine Kuh. Was für ein klotziges Vieh. Hab ich noch nie so live gesehn. Life bleibt live! Bei Newton, wirklich! Eine Weile sahen die beiden einander an, Zilli beobachtete ausgiebig, wie zähe der Speichelfaden, der aus dem Maul des Tiers troff, bis auf das zer-
mantschte Gras hinabschlenkerte und das Treiben der Fliegen. Sorgfältig verschluckte sie ihren eigenen Speichel. Und auch die hat noch niemals mich gesehen, dachte sie und versuchte, die Zunge, wie die Kuh es konnte, in ihre Nasenlöcher kriechen zu lassen. Der Duda saß immer noch auf dem Dach, als sie dorthin zurückkehrte. Sie kauerte sich auf ihren Platz, da rückte der Junge an sie heran, und auf einmal fühlte sie seine Wange an ihrem Arm. Säuerlich Warmes stieg zu ihr hinauf. Das Etwas, wonach sie sich sehnte, rann von der berührten Stelle durch den Körper hindurch in ihren Bauch. Sie vergaß, was sie hatte erzählen wollen, legte den Arm um den Jungen herum und blieb ganz still so sitzen. Nach einer Weile sagte sie: „Ohne Namen kriegst du nämlich gar kein Identikat und auch keinen Stempel. Aber du fährst mit der High. Oder?“ „Gibt’s Tricks“, sagte der Junge. „Kostet dich ein Vermögen, wenn sie dich kriegen.“ „Nee, nee. Gibt’s Tricks.“ „Sie werden dich einlochen.“ „Erst, wenn ich sechzehn bin.“ Ein Fernzug fuhr aus der Stadt in die Welt. Man sah keine Räder und hörte ihn nicht, als ob da hinten ein Wurm geradeaus über die Kräutersteppe hinweg der Stadt entwich, und ehe er im Ungewissen verschwand, pfiff er. Aber hier in der Stille, wo der Schall in so endlose Weiten stieß, verwandelte sich das Maschinensignal in den Schrei von etwas Lebendigem, in eine Klage, die erstarb, weil diesem davonfliehendem Wesen vielleicht etwas Tödliches widerfahren war. Zilli sagte: „Vorhin habe ich eine Kuh gefunden. Kommst du mit, sie dir ansehen?“ „Bin ich doof?“ fragte der Junge. Zilli sagte: „Reiß dir bloß keinen Dreiangel in die Spucke.“ „Ich glaube nicht, daß du so ins Büro gehen solltest“, äußerte Zilli am anderen Morgen, als ihr Pa sich anschickte, zur Arbeit zu gehen.
„Wieso nicht? Du hast Ferien. Wieso bist du schon auf? Du wächst zu schnell“, antwortete er ablenkend mit seinem Morgengesicht und klinkte das Etui für Identikat und Stempel in die Schlaufen der Hosenträger ein. „Solange du den braunen Pullover zu diesen Hosen trägst, wird die Liberalisierung der Taktgeberdiktatur niemals vorankommen in den Sachen, die du dort erfindest“, sagte Zilli mit einer gewissen Entschiedenheit. Aber sie dachte an etwas ganz anderes, an Größeres, das wichtiger war: an das Muster aus Fliedergewölk und überaus durchsichtigem Blau nämlich, das später am Himmel entstanden war, an die Balken aus Tyndall-Licht, die den Himmel zu tragen schienen wie die Speichen eines so gewaltigen Rades, wie sie es sich niemals hätte ausdenken können. Und ganz hinten, wo das Rad die Erde berührte, hatte es auch auf den toten Halden Muster gut zueinander stehender Farben geweckt, so, als benutze das Schöne, das oben war, das Unten als Spiegel. Zilli zog ihrem Pa den Pullover einfach über den Kopf, brachte die Hosenträger in Ordnung und half ihm in einen blauen Blazer hinein, der ziemlich unbenutzt aussah und den sie unversehens zur Hand hatte. „Du meinst das Gesetz vom verminderten Zwang?“ fragte der Mann mit erwachender Lebhaftigkeit, während er widerstandslos so mit sich umgehen ließ, „das Kaka-Gesetz, Kadama und Katzmacher? Du weißt was davon?“ Sie hatten am Vortag noch viele Züge davonfahren gesehen, und Zilli hatte in der Klage, mit der sie dahingingen, eine Botschaft zu hören gemeint. Sie wollte nachdenken darüber, aber niemals war dafür Zeit. „Aber Pa“, sagte sie, „das Kaka kennt doch jeder. Das hatten wir schon in der Sechsten. Ich kenn Sachen, die wirklich kniffliger sind.“ Als Pa dann gegangen war, konnte sie noch lange Zeit nicht aufhören, an diesen Himmel zu denken, an die Farben der Nähe und Ferne, die so anders waren als die der Holovisoren und die auf den Schirmen der teuersten Moving Arts. Wegen der Search-Leute lief sie in einem Bogen um den Rechner herum. Dann zog sie sich Nicky und Hemd
über den Kopf und betrachtete sich, die ausgezogenen Sachen in der Hand haltend, im Spiegel. Aber da oben ging noch immer nichts los, und sie zog sich wieder an. Auf einmal und ohne daß sie gewußt hätte, warum, fand sich dieser Satz ein in ihrem Kopf: Was glaubst du, wie oft ich unter Bäumen kochte und unter offenem Himmel, wenn es regnete, und auf offenem Feuer mit Holz und Gras… Und die beiden Informationspakete vereinten sich zu einer Idee. Weil sie noch hatte einkaufen müssen, dauerte es eine Stunde und vierzig Minuten, bis Zilli die Hütte über den Sträuchern auftauchen sah. Die Luft strich kühl und prickelnd über die Nasenlöcher bis in die Lungen hinein, in der Nacht war ein bißchen Regen gefallen, und auch das Blau des Himmels war kühl. Sie zitterte, weil sie fror, aber dennoch hüpfte ihr Herz, als sie schon von weitem den Jungen auf dem Dach sitzen sah, er war also wirklich wiedergekommen. „Hei, Duda!“ begrüßte sie ihn. Der Junge fuhr fort, seinen Oberkörper zu schaukeln, mal in die eine, mal in die andere Richtung, in immer der gleichen Reihenfolge wie ja, ja und nein, nein, und antwortete nicht. „Ist was?“ fragte Zilli nach oben, und der Junge erwiderte: „Wenn du kein Renner hast…“ Sie fand, daß dies eine dumme Antwort sei. Der Duda schien ihr kleiner, grauer und dünner geworden zu sein und seine Brille größer als am Tag zuvor, sie musterte ihn und fragte: „Was sind das für Krümel?“ Es ergab sich, daß er die Nacht in einem Haufen Verpackungsfüllpulver verbracht hatte. „Worin?“ fragte sie und ließ vor Unglauben den Mund offen. „Wenn du kein Renner hast“, sagte der Junge. Nach einigen Fragen zum Dach hinauf und vielen ja, ja und nein, nein vom Dach wieder herunter reimte sie sich zusammen, daß der Duda bei immer anderen Leuten aß und schlief, die mit ihren Rechnern nicht zurechtkamen oder deren Rechner nicht mit den Leuten zurechtkamen, dies und das, was sich nicht eben geheuer anhörte, einen Tag hier, den anderen da, wie es dem Zufall gefiel, und daß der Boy ein professioneller Hacker
war und niemals zur Schule ging, weil es ihn ohne Identikat und Stempel eigentlich gar nicht gab. Tricks gegen Essen und Schlafen, eine runde Sache und das Drumherum, dachte sie, aber der Neid hielt sich nur fünf Sekunden, denn als sie den Jungen da oben schon wieder so zu schaukeln anfangen sah, taten sich mürbe Stellen in diesem Runden auf, Bodenloses, über das sie würde nachdenken müssen. Sie fing auch gleich damit an, und dann rief sie: „Aber da hast du ja Hunger! Den von gestern plus den von heute. Schaukel nicht so!“ Und wie immer verflüchtigte sich die zum Denken notwendige Zeit. „Ich hab eine Menge zu essen mit“, fuhr sie mit dem Ausdruck von Ergriffenheit fort, weil das Ausmaß des fremden Hungers jäh auf ihre Seele gefallen war, „die Dreihundertsechzehn, Instantsojakremsuppe mit Klößchen und Erdbeereis. Das wußte ich nicht, und ich schau mich auch nie mehr im Spiegel an, bevor ich hierherkomme.“ Ein Windstoß trug Rangiergeräusche herbei, die Stöße von Puffern, Metall auf Metall, und es roch nach Gummi und vermoderndem Polypan. Zilli spuckte in die Hände, rieb sie gegeneinander und recherchierte die Ausgangssituation: Keine Bäume, kein Holz. Aber Gras war da und der hohe, wirkliche Himmel, die Männer holten das Wasser wer weiß woher. „ Komm runter!“ sagte sie. „Mach schon. Such dir da drin zwei Büchsen raus, hol Wasser, aber mindestens tausendfünfhundert Zentimeter hoch drei.“ Hierauf rupfte sie Gras zwischen den Stauden und Sträuchern, bis sie meinte, es sei genug, und entzündete es mit den Streichhölzern, die sie gekauft hatte. Es stieg aber nur ein Wölkchen hoch, das in die Augen biß, das Gras wollte nicht brennen. Der Duda kehrte nicht zurück, Zilli fand ein paar Sachen heraus, die länger qualmten als das Gras, und als der Junge dann doch auf einmal dastand mit einer Büchse Wasser in jeder Hand, hatte es manchmal schon ein bißchen geflackert zwischen den Fädchen und Stielen, aber nur vorübergehend, und die Streichholzschachtel war leer. Zilli blieb da sitzen, kratzte den letzten Schorf von den Fingern, zwei Jets zogen weiße Striche über den Himmel, sie schaute da gleich nicht mehr hin, mit Gras…, wirklich bloß Lügen, ich könnte die Frau auf den Mond schießen! Als die Striche schon lange zu krummen Bändern zerweht
waren, kam der Duda plötzlich mit dem Radio. Elektrisches hing aus dem Radio heraus, und wenn man an einem Knopf drehte, fing ein Draht zu glühen an. Als das Feuer brannte, hielten sie die Büchsen mit dem Wasser hinein, und nach einer Weile, wenn man den Finger ins Wasser tauchte, war es wärmer geworden. Es wurde noch wärmer, dann wurde es heiß, und sie konnten die Büchsen nicht mehr anfassen. Sie erfanden verschiedene Technologien, die funktionierten nicht, wie das mit Erfindungen eben so geht; am Ende bauten sie aus allerhand Krimskrams eine Art Herd um das Feuer herum, und nach zwei Stunden war die Instantsojakremsuppe wirklich fertig gekocht. Aber dann mußten sie immer noch warten, länger, als ihre Rauchtränen zum Trocknen brauchten, bis die Suppe nämlich nicht mehr so heiß, sondern wieder nur noch gerade so warm war, daß man sie irgendwie aus der Büchse heraus- und in den Mund hineinkriegen konnte, jeder aus seiner, denn es waren keine Löffel da. Nachher wischte Zilli den Mund mit dem Handrücken ab. Von Westen zogen Wolken wie einsame Schneegebilde oder Gebirge aus Zuckerschaum heran, und um den Rand einer der leeren Büchsen liefen zwei grüne Fliegen herum und eine große schwarze mit roten Augen. „Wir kochten unter offenem Himmel, wenn es regnete“, verkündete Zilli satt und feierlich, und der Glanz der Wolken strahlte diese Feierlichkeit auf sie und die Fliegen zurück, „und auf offenem Feuer aus Holz und Gras.“ „Nee, nee“, sagte der Junge. „Na gut“, kam ihm Zilli entgegen, „geregnet hat’s nicht. Sieh mal, wie die blitzen, sind diese Viecher nicht wunderhübsch? Ich könnt die glatt abküssen.“ Die ganze Zeit über war kein Mensch zu sehen, sie saßen zusammen auf dem Dach der Hütte, es passierte überhaupt nichts, und der Duda hockte mindestens vierzig Zentimeter von Zilli entfernt, gerade weit genug weg, daß sie ihn nicht wie zufällig hätte berühren können. Verschiedene Dinge gingen ihr durch den Kopf, an die sie noch niemals
gedacht hatte, Wörter wie Zorn, Begierde, Vertrauen, Sitte, Armut, Mitleid und Stolz. Sie fühlte, wie groß und schwer diese Wörter waren, so daß sie vor dem einen oder anderen hätte erschauern können. Warum denn? Das meiste, was sie bezeichneten, war vergangen, es kam im wirklichen Leben gar nicht mehr vor. Die Wörter schritten von den Menschen fort, oder die Menschen schritten von den Wörtern fort, oder es war ihnen wie den Dämonen ergangen, die der Herr Referent verjagt hatte. Oder die Wissenschaft. Wohin? Nach Nazca nicht. Vielleicht auf die INSEL. Der Duda hatte rings um den Mund eine Ellipse aus getrocknetem Sojamehl mit rosa Sprenkeln vom Erdbeereis. Das Innere der Ellipse war rein, so weit seine Zunge gelangt hatte. Zilli sagte: „Immer, wenn was kommt, hört was anderes auf.“ „Nur mit mindestens sechshundertfumfzich Anschlägen die Minute kannste was machen“, sagte der Junge. „Nee, nee. Mit fünfhundert braucht keiner gar nich erst anfangen.“ „Wisch dir den Mund ab“, hieß ihn Zilli und zeigte mit ihrem Handrücken, wie man das macht. Aus dem Weichbild des Stadtrandes krochen gleichzeitig zwei Fernzüge heraus. Zilli wartete darauf, daß sie die Stelle erreichten, an der sie gewöhnlich Signal gaben, und dann klang das Signal des zweiten Zuges wie eine Antwort auf das der ersten. „Sie tuten so traurig, weil etwas für sie aufgehört hat“, sagte sie, „und was danach anfängt, wissen sie nicht.“ Der Duda sagte: „Sechshundert Anschläge die Minute hat achtundachzich Jemenkow schon auf ner Schreibmaschine geschafft. Ja, ja, un jetzt kann keiner noch immer nich schneller als siebenhundertunzehn.“ Auf diese Weise gingen einige Tage dahin. Die Sonne schien von einem blanken Himmel herab, dessen Blau zwischen Morgen und Abend immer ein bißchen anders war. Zilli besorgte zwei Löffel, eine Nagelfeile und Klopapier und jeden Tag Instantsojakremsuppe, weil sie die konnte, und der Duda besorgte nichts. Zweimal, als die Klar-
heit der Nacht die Welt hatte zu kalt werden lassen, entzündeten sie in der Hütte ein Feuerchen, das das Innere des Häuschens mit Qualm und Wärme versah. Aber die großen Dinge spielten sich draußen ab. Viele Male besuchte Zilli die Kuh, die sich an jedem Morgen eine neue Arena gefressen hatte. Sie bot der Kuh grüne Blätter. Die Kuh nahm die Blätter an, und nach zwei Tagen erschreckte sie Zilli mit langgezogenem Brummen aus ihrem Bauch, das die Luft rundum zum Erzittern brachte, aber dennoch wußte Zilli gleich, daß es eine gute Kuh war und daß auch die Kuh wußte, sie, Zilli, wollte gut zu ihr sein. Da waren die glitzernden Spuren von Schnecken, ein Fleck gelbstrahliger Blümchen, die zwischen Ziegelsteinen und ganz ohne Blätter hervorsprossen, ein schöngeformter vierarmiger Leuchter voll grünem Rost, der Schreck bei der Berührung mit Brennnesseln oder vor dem großen, nahe aus dem Gesträuch hervorstiebenden Vogel, das frühtaugeschmückte Spinnennetz, Tau auch in den Schuhen und das Gefühl in der Nässe aneinandergleitender Zehen, ohne barfuß zu sein. An einem der Abende hatte sie endlich der Madagaskar World Reptile Research geantwortet, diesmal mit exakter Adresse. Sehr geehrte Magnifizenz! Soeben gaben uns informierte stellen die mittlere dauer von zyklen modischer kreationen mit 3.467 monaten an. Infolge der schleppenden vermittlung unseres angebotes per ADDRESS RAPID an Sie ist rosa inzwischen out, das vorhaben damit nicht mehr zu amortisieren, so daß wir von ihm zurücktreten müssen. Stimmt es, daß warane dumm sind? Sie hätten mit zyklusgerechtem termin womöglich gar nicht singen gelernt. Mit dem ausdruck freundlichen bedauerns! Zilli Mamelink. Sekundenschnell hatte das Netz sie daraufhin unter Vertraulichkeitscode rechtsmittelbelehrt: Man habe ihre Nachricht gelesen und verweise darauf, daß das Netz als juristische Person schuldhaft verursachte materielle Verluste des Auftraggebers zu hundert Prozent ersetze. Signatur einschlägiger Anträge, Directorycode der Beratungszentralen, alle Vorgänge in der sache unterliegen dem datenschutz…
Hier aber, um ihre Hütte herum, war Weite, Himmel und Wirklichkeit. Hier konnte sie stöbern, anfassen und glücklich sein. Nur wußte sie nicht, ob auch der Duda so glücklich war. Es schien, als stiege unter den Turbulenzen des stürmischen Wachstums etwas Schlimmes herauf, Riffe inmitten der Routen des Fortschritts, unversehens sich öffnender Durchblick auf düstere Zukünfte: die sogenannte Interdependenz-Krise der Neurologie. Durch das Netz gelangte der Ausdruck ins allgemeine Gespräch, die einschlägigen Fachleute freilich sahen in ihm nichts Genaueres als eine Art Dach, unter dem sie eine beträchtliche Menge höchst ungleichen Informationsmaterials unterzubringen vermochten. Sie deutete darauf hin, daß mit der Ganzheit der individuellen oder gar der menschheitlichen Nerven- und Gehirntätigkeit etwas nicht in Ordnung sei oder, vorsichtiger, daß sie einem gefährdeten Zustand zustrebe. Die Sorge der Neurologen und der Experten interdisziplinärer Randgebiete kam nicht von ungefähr. 1948 gab Shannon die Grundlagen der Informationstheorie bekannt, im selben Jahr bot der Markt den Transistor an. Zufall oder Zusammenhang? Jedenfalls Ausgangspunkt umwälzender Entwicklungen, ein Punkt aus der Sicht historischer Position, selbst wenn Jahrzehnte diese beiden Ereignisse voneinander getrennt hätten. Der Transistor verkleinerte sich bis zur Unsichtbarkeit, verschwisterte sich mit Millionen seinesgleichen in Festkörperschaltkreisen, die wiederum brachten die Software hervor, jene neue, ultraleichte Materie mit ungeheurer Wirkungskraft. Mit deren Verbreitung rund um die Welt entstand in beispielloser Effizienz und Schnelligkeit das Netz, von dem schon hinreichend die Rede war und dessen die Menschen kaum ein Dutzend Jahrzehnte später sich so gelassen bedienten wie ihres Löffels beim Genuß ihrer mittäglichen Vorsuppe. Fast jeder Prozeß ruft Feedback hervor. So nimmt es nicht wunder, daß die technischen Umwälzungen auf den Erfindergeist zurückwirkten, auf den Geist schlechthin, der sie hervorgebracht und in Gang gesetzt hatte, und zwar auf den Geist als Produkt des Gehirns und
menschlichen Nervensystems. Schon frühzeitig offenbarte sich die Universalität der Shannonschen Theorie. In den von den Elektronikern ausgetüftelten Mechanismen praktikablen Umgangs mit dem Signal erkannten die Neurologen Funktionsketten wieder, die ihnen schon lange bekannt waren. Oder sie faßten Mut, sich zu dieser oder jener Hypothese deutlicher zu bekennen, als es ihnen medizinische Zurückhaltung und das medizinische Handicap experimentellen Forschens bisher erlaubt hatte. (Im Gegenzug übrigens wurde in jener Zeit von den Technikern ihrerseits die Bionik erfunden, um ihren elektronischen Künsten zugänglich zu machen, was die Neurologen schon wußten; ihr wichtigster Erfolg: das Elektronisch Systemautarke Vergessen.) Es handelte sich in der Tat um beeindruckende Parallelen: um den stufenlosen und analogen Charakter des von außen ankommenden rohen Primärsignals, hier wie dort; dessen Wandlung in die vom System verwertbare Form sich ändernder, nunmehr ausschließlich elektrischer Potentiale und deren Codierung zu gequantelten analogen Impulsen (hier mittels der Kette Sinneszelle-Nerv-Synapse-Nerv, dort durch Interpreter, Compiler und ROM); die höchstmögliche Vereinfachung der systeminternen Sprache auf zwei Zeichen: 1 oder 0, ja oder nein, Erregung oder Hemmung, alles oder nichts; die Verschaltung der Leitungsbahnen zu Netzwerken, die Reservierung von Abschnitten dieser Netze zur „Wendung nach innen“ (hier, um die eigenen, lebenserhaltenden Organfunktionen zu sichern, dort Firmware und ROM); die Rolle der Redundanz, das Verschwimmen schließlich der Grenzen neuronaler Physiologie zu „Physik und Chemie unter erschwerten Bedingungen“. Das Menschenhirn enthält etwa zehn Milliarden Neuronen, jedes einzelne davon ist mittels durchschnittlich hunderttausend Synapsen mit anderen Neuronen vernetzt. Man erdachte jene Metapher, der Schaltplan eines einzigen Hirns führe, wäre er aufzuzeichnen, zu ungezählten Quadratkilometern eng bedruckten Papiers, und es ist kein Zufall, daß sie erst dann jemandem einfiel, als man analoge Entwürfe für Mikrochips tatsächlich herstellen mußte. Bezeichnenderweise rechnete man diese hypothetischen Papier-Quadratkilometer sogleich
auf die Größe realer elektronischer Mikrostrukturen zurück, zum Beispiel auf eine Chipfläche von noch immer zweihundert Quadratkilometern. Im Fortlauf der Zeit nahm diese Größe ab, man benutzte die Koeffizienten des Schwunds als Maß für den Leistungszuwachs der mikroelektronischen Technologie. Das Hirn schaute zu, wie das Vermögen seines Erzeugnisses, des Netzes, dem seinen näher kam. Nun wirkte die neue, elektronisch gesteuerte Technik in nahezu allen Feldern menschlicher Tätigkeit sofort sehr segensreich: Sie befreite den Werktätigen vom Zwang zum Aufwand hoher physischer Kraft und von Verrichtungen unwürdiger Stupidität. Der Befreiungsprozeß, einmal in Gang gesetzt, ließ sich nicht aufhalten. Aus dem Physischen gelöster Leistungswille vergeistigte sich, aus Arbeitern wurden Nachdenker, Programmierer, Entwickler und Ingenieure. So war zum Beispiel die Warenproduktion, ob es sich um die Erzeugung von Nudeln, Bulldozern oder Schultafeln handelte, seit eh und je aus einer Vielzahl verschiedener, dennoch fortwährend identisch sich wiederholender Takte zusammengesetzt, aus schier unerschöpflichem Futter also für all die neuen hungrigen Nachdenker, die nunmehr Sensoren, Chips und Schaltungen erfanden, um den Menschen an der Maschine zu ersetzen. Zug um Zug zwängten sich Chips zwischen die Menschen und die natürlichen Gegenstände, die sie vormals handzuhaben gewohnt waren. Fünf Dutzend Urteile, ein einziges Mal durch irgendein Team von Entwicklern gefällt und von Programmierern festgeschrieben, vervielfachten sich im Automaten, den zu entwickeln sie im Begriff waren und auf den sie stolz sein würden, sobald er lief und in hohen Stückzahlen seinen Weg machte in die Welt. Dort begannen diese Maschinen alsbald, fleißig und ermüdungsfrei ungezählte Daumen der Mühe zu entheben, auf der Suche nach Rauhigkeiten über Flächen von Werkstücken zu streichen, sie ersetzten zehntausend kritisch zugekniffene Augen und Zustimmungen oder Ablehnungen von Maßhaltigkeit, Ohren, die genüßlich dem Schmatzen lauschten, wenn die Spindel in die Bohrung stieß. Unumkehrbar schwand der Umgang mit Fülle und Reichtum sinnlicher Qualitäten dahin, mit dem Unerschöpflichen, das das Dasein jedermann fortwährend anzufassen, zu beobachten, hören,
schmecken, riechen und zu beurteilen zwang. Es handelte sich um jene gleiche Unermeßlichkeit des Verschiedenen in der Natur, die als Bedingung oder Widerpart des Lebens überhaupt dessen Sinne, Nerven, Gehirn und mit diesem den Geist erst hatte entstehen lassen. Sinnfälliges als Auslöser von Denkprozessen trat zurück. In die Lükken drängte Abstraktes nach, Logistik. Anstelle des Dings wirkte das Zeichen im Computerdialog, die Taste des Panels, das Vocodergespräch. In diesem Umstand setzten die Neurologen den Schwerpunkt ihrer Sorge an. Auf manchen Quadratkilometern ihres hypothetischen Gehirnschaltplans sahen sie die Zeichnung verblassen, als breite sich Ödland dort aus. Sie zählten versiegende Quellen, die das Wachstum von Motivationen, Gefühlen und Wünschen gespeist hatten, Formen des Geistes, die der Mensch brauchte, wie sie wußten, um glücklich zu sein. Man nutzte das Netz, legte Dateien an und rechnete hoch. Die Hochrechnungen erzeugten neue Dateien. Zu einem gewissen Zeitpunkt machte ein weiteres metaphorisches Bild von sich reden: Die Menschheit strebe einem Zustand entgegen, vergleichbar dem eines Gourmets, der in die Lage geriet, seinen Appetit nur noch mit Bohnen stillen zu müssen. Man suchte nach diesem unglücklichen Typ und fand ihn auch, denn natürlich vermißte jedermann etwas, wie er schon immer irgend etwas vermißt hatte. Dann aber mangelte es den Statistiken über die Angst vor der kommenden Leere, über Löcher im Fond des Glücks, die groß und zahlreich waren, wie man fürchten zu müssen geglaubt hatte, an Signifikanz. Man mußte den Eindruck gewinnen, das Menschenhirn und der Geist vermögen sich auf seltsame Weise den Hochrechnungstechnologien zu widersetzen und eigene, den Finessen des Extrapolierens unzugängliche grüne Wege zu gehen. Fast schien es so, als verwandle sich die neurologische Interdependenz-Krise der Menschen ganz allmählich in eine Krise der neurologischen Theorie. Immer wenn Zilli von ihren Streifzügen zurückkehrte, saß der Duda auf dem Dach, schaukelte sein ja ja und nein nein, und niemals wie-
der, wenn sie zu ihm hinaufkletterte, legte er seine Wange an ihren Arm. Sie umfing die Knie mit den Armen, legte ihr Kinn darauf und sagte nach einer Weile: „Schließlich kann sich jeder irgendwann aussuchen, was er mal werden will.“ „Im Netz gibt’s Löcher“, antwortete der Junge, „und um die Löcher leitet das Netz alles drum rum. Ja, ja, weil da was drinsteckt, was es nich hergeben will.“ Weiter hinten, wohin sie schauten, traf die Sonne auf eine leere Glasflasche oder Scherbe und entzündete dort ein starkes Licht. „Sieh dir das an“, sagte Zilli. „Und wenn einer ein SNAP werden will, ein SNAP von zum Beispiel dreißig kW, ist das ziemlich das Blödeste von allem, was er sich ausdenken kann.“ „Dann mußtes anmachen, das Netz. Jagst alles rein, waste hast“, sagte der Junge mit seiner durchdringenden Stimme, „GOSUBs, JUMPs, jede Menge un alles. Egal. Ja, ja, un so Sachen. Alles auf einmal ins Netz un mit mindestens sechshundertfumfzich, daß de Chips schwitzen un se socken müssen, de Busse. Aber das is de Kunst: nich zuviel, nee, nee, damits bloß nich crasht, das Netz, nur so, daß es gestreßt is, ja, ja. Nervös. Nur da haste ne Chance. Weil da kanns nich genug aufpassen, bei de Löcher mitn Drumrum. Fällt vielleicht rein un du mit, un da biste mit drin im Loch und kannste was rausholen ausm Loch, das es nich hergeben wollte. Oder was reinstekken, was es nich will. Mußte fix sein. Mußte fummeln. Stressen. Das is de Kunst.“ Die Sonne zog weiter und veränderte den Einfallswinkel ihres Lichts, Zilli sah zu, wie es auf der Scherbe langsam erlosch. „Ich kann bloß vierhundertzwölf“, sagte sie. Dann erzählte sie dem Duda von ihrer Musik und wie es ihr damit ergangen war. Der Junge fiel ihr ins Wort. „Stressen mußtes“, sagte er mit der gleichen Stimme wie vorher und, als Zilli schwieg: „Scharf stressen, ja, ja. Is hundert Perzent das richtige Wort. Genauso, wie wenn de wen mit sein Namen rufst, ja, wenn er grade ne Treppe runterprescht.“
Zilli riß die Augen auf, damit die Tränen drinblieben. Sie kletterte vom Dach hinunter, ging in die Hütte, um in ihrer Handtasche zu kramen. Dann kletterte sie wieder aufs Dach zum Duda hinauf und gab ihm den Floppy mit ihrer Musik. „Schenk ich dir“, sagte sie mit ein bißchen zittriger Stimme. „Mußtn Nerv dafür haben. Ja, ja, vielleicht. Oder so ähnlich“, erklärte der Duda ungerührt und steckte den Floppy weg, ohne ihn anzusehn. An dem alten Antennenstab begann das Paar Söckchen sacht zu wedeln, das Zilli zum Trocknen da aufgehängt hatte, denn gegen Abend kam immer ein Lüftchen auf. Pa war schon da, als sie wieder daheim anlangte. „Hei, Pa!“ begrüßte sie ihn. Das Zimmer war nur ein wenig vom Monitor erhellt und von Pas wirr abstehendem Haar, das seinen Kopf wie der Kranz silberner Protuberanzen einer schwarzen Sonne umgab. Etwas in Zillis Stimme veranlaßte ihn, seinen Blick von den Nachrichten weg und auf Zillis Schuhe zu lenken, weil der dort haftende Schmutz ihm von weither zu stammen schien und anfing, in den Flor des Teppichs zu rieseln. Das Bild auf dem Schirm sprang von parlamentarisch aussehenden Sitzreihen zum Kopf eines ernst und russisch sprechenden Mannes um, den Zilli kannte. Auf der Sprache des Mannes lag die Simultanübersetzung einer Vocoderstimme, und auf dem Gehäuse des Monitors stand eine kleine Box, die sie auch kannte, denn es war eine fabrikneue Synthesizerbox, eine der letzten Entwicklungen. Zilli zog gehorsam die Schuhe aus, hockte sich hin und sammelte die Schmutzbrocken vom Teppich auf. Pa langte nach ihr, um an ihren Haaren zu riechen. Er sagte: „Rauch?“, und als er ziemlich lange nachgedacht hatte: „ Die Schule fängt ja bald wieder an.“ Als sie zu ihm hinaufschaute, erblickte sie sein Morgengesicht und hörte den Funken boshafter Hoffnung in diesem Satz. Da wußte sie, daß sie wieder mit ihrem feindlichen Pa zu tun hatte. Im Bild des Monitors streckte der Mann seinen Zuhörern beide Arme entgegen, um eine Dringlichkeit darzutun, die größer war, als er
mit Worten auszudrücken vermochte. Oben trafen Reflexe des Bildes auf die Eloxalknöpfe der neuen Box. Während sich Zilli aus den dicken, wärmenden Fingern ihres Vaters herauslöste und die dreieinhalb Schritte ging, die das Zimmer zuließ, um möglichst weit weg zu gelangen von ihm, sagte er: „Ich muß morgen wieder zwei Tage nach Jerewan. Auf der E-Platte steht Sojakremsuppe mit Zwiebeln und Erdbeereis. Sie ist noch warm, so magst du sie doch. Und auch die Box da ist für dich, du weißt ja wohl, was das ist.“ Zilli stand in der äußersten Ecke des Zimmers auf einem Bein und kratzte mit einem Fuß über den Rücken des andern. „ Ein Synthesizer“, sagte sie. „ Und was soll ich damit?“ Der nächste Tag bestand hauptsächlich aus dem Warten auf die Nacht. Zilli hatte viele Dreihundertsechzehnersuppen, zwei Decken und vier Kerzen zur Hütte mitgebracht und wollte am Abend nicht nach Hause gehn. Als die beiden Siebzehnuhrddreizüge endlich getutet hatten, fing die Sonne sonderbar zu verbleichen an, ein Schwaden schwüler Luft senkte sich auf die Halden, von Süden her zog ein grauer, schwefelberandeter Vorhang auf und verdunkelte die Welt wie einen Zuschauerraum. Zilli beobachtete, was da oben geschah, und sagte: „Sieht aus wie ein Gewitter.“ Dann lachte sie plötzlich und schrie: „Ein Gewitter!“ Als es zu tröpfeln begann, lagen die Kinder auf der Matratze unter dem Dach und den Decken, schauten den vier Kerzenflammen im grünrostigen Leuchter zu, und mit den Flammen im Spiegel waren es acht. Es blitzte ein bißchen durch die Ritzen hindurch, grummelte zwischen den Blitzen, und auf das Dach klopfte der Regen. Zilli ließ ihre Zungenspitze auf den Lippen Spazierengehen, zählte die Kerzenflammen nach, bei acht war aber immer schon Schluß, und wenn erwärmte Luft mit hoher Geschwindigkeit aufwärts steigt, können die Ladungen der kondensierenden Wasser- und Eisteilchen von den Ladungen der unteren Luftschichten oder der Erde getrennt werden. Wächst die Potentialdifferenz zu hinreichender Größe heran, leitet ein
Vorblitz ihren Ausgleich ein: Er verbindet die Träger der beiden ungleichnamigen Ladungen mit einem Schlauch ionisierter Luft, durch deren Plasma hindurch der nachfolgende Hauptblitz die Potentialdifferenz annulliert… Die Blitze fielen heller und dichter in die Hütte herein, und das Grummeln verwandelte sich in Krachen. Der Duda lag so reglos wie ein Stein. Nur ab und zu erloschen die Funken hinter der Brille, denn bei jedem Donner kniff er die Augen zu. Ein paar hundert Kilovolt, hunderttausend Ampere in einer Millionstel Sekunde. Das ganz von selbst. Bei Newton! Und ganz ohne CAI-CIR… Dann aber versank das alles in der Woge eines großen Gefühls. Der Duda zwängte die Arme durch Decken und Ritzen und um Zilli herum, um seinen Körper so dicht an den ihren zu pressen, wie es nur ging. Mit aller Behutsamkeit kehrte sie sich ihm zu, seine Nase stieß kalt oder naß an ihre Schultergrube, die berührte Haut spürte dem Beben seines Leibes nach und dem Strom von ihm zu ihr. Kein Blitz, kein Donner war mehr da, nur der Gedanke: Pa, Ma, lieber Pa! O ja, das ist das Größte… Plötzlich veränderte sich die Dunkelheit. Jemand schleuderte Wasser aus Wannen über das Dach, daß die Schilder nicht standhielten, Gießbäche stürzten auf den Boden der Hütte herab, die Kerzen erloschen. Dann aber lief alles so gut und schnell wie nach einem Hightechprogramm der Spitzenklasse, obwohl in Wahrheit niemand ein solches Programm erdacht hatte. Zilli sprang auf und lachte. Lachend zog sie sich aus, so rasch sie konnte, hieß den Duda, sich ebenso auszuziehen, „aber ganz nackig, mein Lieber!“, warf ihre und seine Sachen in einen Winkel an der Wand, den sie schon ausgespäht hatte, auch die Dekken, und dann hochkant die Matratze darüber. Das Wasser rann an den Leibern der Kinder hinab, weil die Matratze den ganzen trockenen Raum in der Hütte verbrauchte, sie zitterten, und Zilli schrie: „Bei Newton, die Kuh!“ Nackt, zitternd und glücklich rannte sie durch die elektrische Luft davon, verschwand hinter dem Aufruhr und kehrte ein wenig langsamer mit der Kuh am Nasenriemen zurück. Dann zitterte auch die Hütte, weil der Bauch der Kuh nicht soft genug durch die Tür passen wollte. Während Zilli von hinten schob, sah sie im Licht der Blitze,
daß an der Kuh etwas fehlte, was da an ihrem Bauch hätte sein müssen, und etwas anderes war an dieser Stelle zuviel. Das Tier, als es drin war, legte sich nieder, und dann hörte der Regen so jählings auf, wie er begonnen hatte. Das Lager und die Kleidung waren wirklich trocken geblieben, wie das Programm es befohlen hatte, die Kinder zogen sich an, nur Zillis Hemd blieb naß vom Abtrocknen übrig. Alsbald lagen sie wieder unter den Decken. Wärme, die Dünste des Tieres und Frieden breiteten sich aus, und von weit her schwebte silberne, vieläugige, flüsternde Dunkelheit über das Land. Nach einer Weile bohrte Zilli ihre Nase irgendwo in den Duda hinein. „Jetzt riechst du gut“, stellte sie fest. Der Duda antwortete nicht, aber sie hörte an seinem Atmen, daß er nicht schlief. Zeit verging. Dann sagte der Duda auf einmal: „Wenn du kein Renner hast…“, diesen halben, merkwürdigen Satz, den sie kannte. Als Zilli erwachte, fiel der Tag schon hell zur Tür herein. Die Tür stand offen, die Hütte war leer. Draußen dampfte das Gras und die toten Stiele und Blätter. Ein Stück weiter hin trottete die Kuh, die vielleicht keine war, aber den Duda konnte Zilli nirgends entdecken. Zuerst hatte sie Hunger und keine Lust, Suppe zu kochen. Dann wartete sie, und danach ging sie den Jungen suchen. Sie rief und bewegte sich in konzentrischen Kreisen, aber schon ohne Hoffnung, denn plötzlich verstand sie den Satz, den er gesagt hatte. Seither wußte sie, daß sie den Duda nicht finden würde, weil er sie verlassen hatte und nicht wollte, daß sie ihn fand. Spätabends fuhr sie mit dem Deckenpaket unterm Arm nach Hause zurück, mit dem Leuchter, den sie in die Decken gewickelt hatte, und mit der Tasche, aus der des Schlumpfes wegen die MadagaskarReptile-Research-Rolle immer noch ungelesen herausragte. Sie lag schon lange im Bett, als sie ihren Pa vom Flughafen zurückkommen hörte. Jenseits der Tür blieb es eine halbe Minute still, aber da hatte er schon ihr Schniefen gehört. Noch im Reisemantel trat er zu ihr herein, nahm sie ein wenig hoch und bettete ihren von Schluchzern zuckenden Kopf in seine Hände. Lieber Newton, mach, daß er nichts
fragt. Er fragte nicht, streichelte nur fort und fort über die richtige Stelle. Sie rutschte ein bißchen, bettete Ohr und Wange an Pas dicken Bauch und hörte es in der Tiefe unterm Pullover rumoren und wie weiter oben sein Herz klopfte. Erst viel später sagte er: „Ist es schon besser?“ Zilli flüsterte: „Ja.“
9. Kratzige Morgenkrümel, die die Nacht aus den Abendtränen unter den Lidern gemacht hatte, erinnerten Zilli gleich beim Aufwachen daran, was gewesen war, und kündigten an, was sein würde. Sie riß die Augen auf, um eine Aussicht zu finden, die sich vielleicht im Aussichtslosen verbarg, und erblickte doch nur, was sie erwartet hatte: nacktes Nichts, einen Tag mit dem Charme einer vertrockneten Brötchenhälfte. Sie dehnte das Frühstück so lange aus, wie es ging, aber es widerstand dieser Dehnung, denn die dafür geeigneten Tricks setzten voraus, daß Pa da war und daß er es eilig gehabt hätte. Als sie erwog, einen Kornflockenvulkan zu erbauen, kam ihr das kindisch vor. Keine Post im Speicher. Keine Mahnung von Pa, der Wäsche wegen, Grund genug, sich endlich darum zu kümmern. Als sie die Wäsche über den Korridor karrte, schloß sie zehn Meter vor der Cellotür mittels geheimer Muskeln ihrer Ohrlöcher zu und öffnete sie erst zehn Meter danach, um der Musik zu entgehen, die vielleicht hinter der Tür hervordringen mochte. Musik würde sie nicht mehr ertragen können. Niemals wieder Musik! In der minus Zwölf standen die Zeiger im Panel der Serviceboxen auf acht Uhr vier, und als die Wäsche drin war, das Panel gestempelt und programmiert, wiesen sie auf neun Uhr als Abholtermin. Und was bis dahin? Was danach? Es waren noch andere Leute da, um ihre gebrauchte Wäsche in die Mäulerreihe der Boxen zu stopfen oder vor den Mäulern zu warten auf das neue Bereitschaftssignal. Zwischen lauter gewöhnlichen Leuten wartete eine Art weiße Fee, die an den paar Dessous in ihrem Körbchen zupfte. Oder es handelte sich um die Chefpsychologin des Stockholmer Delphinariums. Oder um eine hochgestochene Zicke. In einem Winkel weiter weg hockte ein Junge mit Brille und wartete auch. Zilli stand nur noch ein bißchen herum, sagte nichts, und auch die Leute schwiegen. Plötzlich klatschte ein Projektil aus hartem Papier, von der Gummischleuder des Jungen daherschießend, auf das
Hinterteil der Fee. Die Fee wandte sich um und streckte dem Jungen eine sehr lange Zunge heraus. Das gefiel Zilli. Und vielleicht zündete dieses Fünkchen im Grauen den Einfall an, daß sie die ROTATION durchbrechen und einmal von selber ins Solarium gehen könnte. Sie fuhr hinauf, um ihren Schlumpf und die Tasche zu holen. Die Briefrolle von den Research-Leuten steckte noch immer da drin, die zerknüllt und hinter die Müllklappe zu werfen war. Dann fuhr sie mit dem Lift oben um die plus Vierzig herum wieder hinab, und als sie in der minus Elf unten anlangte, sprangen die Ziffern der Uhren auf acht Uhr zwölf. Sie ging die paar Schritte zur Tür mit der richtigen Signatur, stempelte, und die Tür ließ sie ein. Dahinter roch es gleich nach einer Menge Sauerstoffradikalen, weil das UV Ozon aus der Luft gemacht hatte und weil das Ozon wieder zerfiel, nach vielen Sorten Parfüm, dem Summen und der Stille einer Lagerund Umschlagstation. Vieretagige, abgezirkelte Lichtkleckse hoben die Hygiene der Vliese hervor, mit denen die Pritschen bedeckt waren, machten die Blässe der ebenso vieretagig den Strahlen hingebreiteten Leiber glänzen. Dazwischen glommen die bunten Sternchen der Uhren, Weiser und Fernseher. Die Liegen waren so lang und breit, daß ein Normmensch genau daraufpaßte. Sie standen so, daß es den Leuten bequemer schien zu schweigen, als einander ansehen und miteinander reden zu müssen, weil CAI-CIR wußte, daß die Umwandlung des Ergosterins in der Haut mittels UV in Vitamin D, dessen die Menschen so dringend bedurften, sich in aller Stille vollzog. Es war hundertprozentig alles getan, was dem Gedeihen der Menschen nützte. Der Weiser empfahl ihr einen Platz in der Zwei. Zilli ging dorthin, zog sich aus, setzte die Schutzbrille auf, steckte die Clips in die Ohren, exakt in der Reihenfolge, wie es die Piktogramme sie hießen, und legte sich nieder. Automatisch und hautfreundlich empfing sie das Vlies, und ebenso automatisch sprangen der Strahler und der Monitor an. Den Fernsehschirm füllte ziemlich lange nichts anderes als ein zu blauer Himmel aus. Endlich stiegen Balken ferner Hochhäuser von unten ins Bild, hierauf ein Strand und taktmäßig über den Strand lek-
kende Wellen. Auch die Wellen waren sehr blau. Der Strand wurde länger, breiter und immer leerer, ein Schutzgebiet „most rigerous degree“ bis zum Rand der Welt, warum sonst sollten die Einwohner der Hochhäuser nicht hierherkommen? Während der Strand und die Wellen fortfuhren, so lügenhaft, wie von Señor Pasqualo ersonnen, und so einsam zu sein, traten dann aber doch ein Mann auf, eine Frau und ein Junge. Der Mann schritt einher und war sehr schön, und die Frau war so schön, daß sie die Zunge niemals länger als ein Millimeter herausstrecken würde und keiner jemals gewagt haben konnte, sie anzufassen. Und der Junge? Zilli betrachtete die drei Gesichter genau und rechnete aus, daß die Frau ihr Kind mit höchstens sechzehn zur Welt gebracht haben mußte. Die Wellen leckten den Sand, der Mann und die Frau blickten hauptsächlich in sich selber hinein, redeten wenig und um etwas herum, was Zilli nicht herausfinden konnte. Sie schaute daher nach links und rechts, sah Haare, Wölbungen glatter und borstig bewachsener Haut, die Schulter eines blauschwarzen Afrikaners, runzlige Ellbogen und Knie. Die Leute hatten so viel oder so wenig an, wie sie mochten, oder gar nichts, so daß es noch dies oder jenes Interessante zu sehen gab. Dann drang eine tiefe Stimme an Zillis Ohrclips vorbei. „Sie haben eine Fensterwohnung in der plus Drei“, sagte der Mann, seine volltönende Stimme vergeblich zurückhaltend, „man hat die beiden alten Platanen vor Ihren Fenstern dort umgesägt, nicht wahr?“ Die Frau und der Mann im Fernseher schritten noch immer am Rande der leckenden Wellen entlang. Es war ein sehr therapeutischer Film. „Man hat“, antwortete eine andere Männerstimme. Und nach einer Pause: „Aber kaum zweihundert Meter weiter die Straße hinab steht ja noch eine.“ Zilli wußte, daß es noch mindestens fünfundzwanzig andere Filme gab, auf die sie hätte umschalten können, aber die würden sicher ebenso therapeutisch sein. Die Chronometerziffern sprangen auf acht Uhr siebenundzwanzig, und der Weiser bedeutete Zilli über den Clip, daß es Zeit sei, sich umzudrehn. Aus der neuen Perspektive fahndete sie nach den Männern, die sie reden gehört hatte. Sie beurteilte die ihr
sichtbaren Bäuche, inwieweit diese mit den Stimmen, vielleicht in der Art von Puzzlesteinen, zueinanderpaßten. „ Das gefällt Ihnen wohl nicht?“ bemerkte der Mann mit der tönenden Stimme. „O doch“, erwiderte der andere Mann energischer, als er sicher gewollt hatte. „Ich seh jetzt den Mast für die Oberleitung viel besser.“ Die Minuten schleppten sich hin, als müsse jede die vorhergehende erst wegschieben wie einen mit träger Masse verharrenden Klotz, und Zilli irrte von ihrem Problem in ein anderes hinein. Wie von selbst stießen ihre Gedanken auf den Unterschied zwischen dem, was wirklich war, und dem, was sein sollte. Oder was die einen den anderen als wirklich hinstellten. Sie zog den Kopf unter die Arme, und weil es da dunkel war, sah sie sogleich: Das leuchtende Fernsehpaar und die Pritschenleiber, Schönes, Lüge, Wahrheit und Häßlichkeit trieben ein abgekartetes Spiel, vermischten sich miteinander, wie die Luft untrennbar sich mit Staub und Gerüchen vermischte. Sie mußte das atmen, alles zusammen, ob sie nun wollte oder nicht, denn es war überall in der Stadt. Und die Stadt nahm sie weniger wahr als das Auge einen einzigen Pixel auf einem Hundertquadratmeterschirm oder eins der winzigen Viecher, die sie in einer anderen Weltgegend gesehen hatte. Ein Schwall von Angst rauschte heran, wie es manchmal anfing, in ihren Ohren zu sausen, dann war sie da, dröhnend und fürchterlich, und schließlich flog sie wieder davon. Aber ein bißchen blieb in den Kniekehlen kleben und im Hals, wie es schon öfter gewesen war, wenn sie Nudeln unzerbissen verschluckt hatte. Sie checkte ihren Körper durch, und als alles noch dran war, hob sie den Kopf lieber wieder aus dem Dunkel heraus. Draußen hatte das Abgekartete fortgewirkt. Die Filmemacher hatten ihre Macht über die Zeit benutzt und diese so hurtig dahinrennen lassen, wie es ihr Spiel, und nicht, wie es die wirkliche Zeit wollte. Die Uhren wiesen auf acht Uhr zweiunddreißig, aber mit dem Strand und dem über ihn hinwandelnden Paar war in den sechs Minuten eine Menge geschehen, das Folgen gehabt und das sie verpaßt hatte. Die Frau und der Mann trugen jetzt Stiefel, und diese riefen Geräusche wie von splitterndem Glas hervor, wenn sie auf gefrorene Pfützen tra-
ten, auf Flecken dunkler oder weißlich verfärbter Feuchtigkeit wie von Spucke, die die Wellenzungen beim Lecken über den Sand zurückließen. Die Luft sah kalt und windig aus, die beiden hatten aus einem der Hochhäuser Mäntel geholt und redeten mit merkwürdigen Wörtern um etwas anderes drum herum, vielleicht diesmal wirklich um Liebe. Dann sah Zilli plötzlich, daß auch der Mann ein ganz anderer war, ein viel weniger schöner Mann als der vorangegangene, das Kind war ihnen abhanden gekommen, und über das alles hinweg zog ein grauer, dramatisch zerfetzter Himmel. Sie rätselte ein bißchen, was am Strand oder in den Häusern da hinten passiert sein mochte, aber auf einmal störte sie irgend etwas dabei. Es waren Querschläger einer Strahlung von durchdringender Heimlichkeit. Die Strahlen gingen von einem Bärtigen aus, dessen Blicke die Blößen eines schlafenden Mädchens berührten, unverschämt, wie Hiob ihre Abnäher gescannt hatte. Nein, so nicht. Wie dann? Ein Kerl, zartfühlend wie drei Tage Brechdurchfall. Sie setzte sich kerzengerade auf und verschoß eine Garbe ebenso unverschämter Blicke genau auf den kritischen Punkt des Solariumhöschens, das der Bärtige trug und das der Textildesigner an dieser Stelle mit einem maigrünen Herzchen markiert hatte. Der Reißverschluß teilte das Herzchen in zwei Hälften. Der Mann duckte sich unter den Schüssen, drehte ab, und während Zilli sich wieder auf ihre Pritsche zurücklegte, fiel ihr der auf dem Schirm nicht mehr vorhandene Junge ein. Als die Uhrziffern auf acht Uhr dreiundvierzig rückten, wußte sie schon, daß es ihm wohl genauso ergangen war wie ihr selbst mit ihrer Ma. Der Weiser gab ihr noch zwei Minuten bis zum Ende der Kur. Und sechsundzwanzig Minuten, bis sie die Wäsche schon wieder aus der Box würde schrankfertig herausnehmen können. Zilli hatte in diesen Tagen noch anderes verpaßt. Weltweit gefächerte Anstrengungen auf technischen und politischen Feldern hatten vermocht, den Filz der Störungslinien im Fünfeck Nazca – GENERAL CHINA ATOMNET – SHANGHAI METAL – ANGOTRANS – BF/Itakare zu entwirren samt den Fäden, mit denen diese Fixpunkte in der übrigen Welt festhingen. Es hatte technischer Anstrengungen be-
durft, weil irgendeine mächtige Mitte ihre Absichten und den Fluß aller diesen Absichten dienenden Information mit außergewöhnlichen Aufwänden geheimzuhalten versuchte, man hatte dort die Mittel dazu. Je mehr dieser Barrieren dann nachgaben und durchscheinen ließen, was sich dahinter verbarg, um so schwieriger gestaltete sich die Arbeit auf politischem Feld: Das Gefüge der Nationen der Welt, der Wirtschaftsblöcke und deren Verflechtungen verharrte seit langem in ebenso nutzbringender wie leicht zu erschütternder Balance, die aufrecht erhalten werden mußte. Um jeden Preis. Auch um den Preis einer mit diplomatischer Mäßigung gehandhabten Wahrheitspflicht gegenüber der Öffentlichkeit, der Wahrheit eines Skandals. Und die Nazca-Affäre erwies sich als ungeheurer Skandal. Es entsprach den Eigentümlichkeiten des Netzes, daß es die Fahndung, sobald es sie gab, wie aus sich selbst zu einer Informationslawine anwachsen ließ. Immer mehr Regierungsstellen, nationale und internationale Agenturen, offizielle und anonyme, auch private, auf eigene Faust und oft mit illegalen Methoden arbeitende Auftraggeber, Protestierer und Rechercheure stießen in den Prozeß, prallten aufeinander oder auf Aktionen der Gegenwehr. Das Mosaik der Einzelheiten fügte sich nur allmählich zum Bild. Immerhin dauerte es nur sechzig bis siebzig Stunden, je nachdem, wie man den Beginn der Fahndung datierte, bis zu erkennen war, was es im Ganzen darstellte. Bezeichnenderweise schloß sich sein Umriß zuerst in einem Krakower Studio. Sechsundfünfzig Sekunden später lag das Bild in Warschau vor und nach weiteren zweiundachtzig Sekunden in Peking, Moskau, Daressalam, Paris, Sydney und Washington. Von diesen Punkten aus ergossen sich hierauf weitere Ströme von Nachrichten ins Netz. Sie standen im Dienst der sogenannten stillen Diplomatie, die taktierte, Überreaktionen abzufangen suchte, zahlreiche Rückversicherungen, Verträge und Bindungen knüpfte und die auf vorsichtige Neutralisierung gewisser zu erwartender Empfindlichkeiten der Nordafrikanischen Union gerichtet war. So kam es zu jener paradoxen Situation, daß man das Netz mit vernünftigen Gründen so unvernünftig belud, daß es als Ganzes quasi zu summen begann.
Zu einer späteren Stunde ebenjenes Tages, an dem Zilli die Stadt mit der Sub und High ziel- und planlos so viele Male durchquerte, gab die UNO Anteile zurückgehaltener Nachrichten frei. Zilli fuhr mit der Einhundertacht unter der Museumsinsel hindurch. Rote und grüne Signallichter blinkten von draußen durch die Kupeefenster herein, TU ES GERN, DENN WER SCHAFFT, KANN GEWINNEN, UND WER NICHTS SCHAFFT, HAT SCHON VERLOREN. Das Licht der Signale und Leuchtlettern mischte sich mit der Luft und der Stimme des amtlichen Nachrichtensprechers, die der Zugservice in die Kupees übertrug: Durch Indiskretion des Netzes seien gegen Ende des sechziger Jahres in einer der informationstechnischen Anstalten des BF-Energiekartells/Itakare Chiffren aufgetaucht, die man in den leitenden Gremien des Kartells als alarmierend empfand. Gewisse Positionen im Staatshaushalt der chinesischen Volksrepublik deuteten auf Spielvarianten ungewöhnlichen Umfangs hin, auf Umwälzungen und hochrangige Investitionen im Energiesektor, den GENERAL CHINA ATOMNET repräsentiere. Rechneranalysen bestätigen den in BF geschöpften Verdacht, die enormen Volumina reichten aus, um GENERAL CHINA ATOMNET innerhalb dreier Jahre von Kernfusion auf Solartechnik umsteigen zu lassen, auf die nächstliegende und einzige relevante Kapazität: das Sahel-Solarzellenprojekt… Erschütterung der ausbalancierten Ost-West-Konkurrenz durch diese neue Nord-SüdKooperative… Katastrophale Folgen für die Prosperität des ItakareKartells… Zwang zum Einstieg des Kartells in das Solarprojekt… CAI-CIR + BCMS MACHT 500 PROZENT hinter den Fenstern. Reflexe der Buchstaben scheuchten die Mienen der Fahrgäste zu kurzem, unstetem Leben auf, das wieder zu Gleichmut erlosch, sobald die Lichterketten hinter den Fenstern zurückfielen. Die in Itakare ausgearbeitete Strategie, fuhr der Nachrichtensprecher fort, habe zunächst auf allgemeinen Zeitgewinn gezielt und erst Monate später auf den Beirutgipfeltermin, um diesen nach rechts zu verschieben… Pakete maskierter taktischer Maßnahmen… Ressorts mit einschlägigen Befugnissen, Verbindungen und Einflüssen… Die von Itakare in Gang gesetzten Initiativen enthielten von Anfang an die Zünder für deren skandalösen Verlauf, weil man sich in den Mitteln
vergriff: gefälschte Bilanzen, gegen Abnehmer und Lieferanten gerichtete Embargos und Boykotte auf abhängigen Märkten, um die chinesische Ökonomie zu treffen, Währungsmanipulationen gegen den Yuan, fingierte Ströme von Geld, Computergefechte… Der NazcaCoup, Verdunklungen in ANGOTRANS, lancierte Falschinformationen mit dem einzigen Zweck, die chinesische Konkurrenz als Verursacher zu diffamieren… Der Raketenfehlstart im Sinai… Die Wörter und die von Wörtern benannten Ereignisse verschlangen sich ineinander, bis niemand mehr Anfang und Ende sah. Bei Newton! Die haben getrickst und gemacht, was sie wollten. Wirklich! Und wissen nicht mal, daß das nicht geht. Zillis Haut war vom UV so dunkel gerötet, daß sie wenigstens das Gesicht vor dem Spiegel zu Hause so weiß hatte pudern müssen, wie es sich gehörte, und danach standen die Dinge in ihrem Zimmer auf die gleiche Weise erloschen umher wie diese Fahrgäste hier. Tu es gern! Was denn? Eine volle Minute hatte sie auf den Rechner geblickt, aber die Tasten antworteten nicht, sie waren so leblos in ihrer Reihe sitzen geblieben, gleichgültig und stumm wie Steine in einer Wüste endloser, unnützer Zeit. Und nun fuhr sie mit diesen Leuten in der Einhundertacht. Vielleicht dachte der eine oder andere von ihnen jetzt gerade das gleiche, was sie dachte. Doch jeder für sich, die Leute wußten nichts voneinander. Alles, aber auch alles war mit Drähten, Wellen oder sonstwas verbunden, nur zwischen den Menschen in dieser Stadt war es merkwürdigerweise so, daß es da keine Antennen gab, nicht mal einen Draht, durch den sie miteinander in Verbindung treten und ihr Einverständnis einander hätten mitteilen können. Jeder fuhr hier einzeln herum. Plötzlich von irgend etwas getroffen, schaute sie auf, und ihr Blick fiel mitten in die Pupillen eines Jungen, der ihr gegenübersaß und der sie schon eine Weile betrachtet zu haben schien. Nach einer halben Mikrosekunde wußte sie, daß er Augen hatte wie Fabian, groß und veilchenblau, und auch den hellen Flaum zwischen Nase und Lippen. „Hei“, sagte der Junge und schluckte, weil er ein bißchen erschrocken war. Sein Adamsapfel bewegte sich. Zilli sagte nichts. Sie hielt den Blick fest auf das eine Veilchenauge geheftet, in das er zuerst gefallen war, auf das eine, weil man immer
nur in eins blicken konnte und weil sie ihren eigenen verbot, auf das andere hinüberzuspringen, um keinen Preis und bis zuletzt, als der Junge die Lider endlich herabsinken ließ. Wo schaut der denn jetzt hin? Ihre Knie zitterten, und ihre verdammten Füße waren zu groß. Nach mindestens dreiundzwanzig Minuten gingen die Veilchenaugen wieder auf. „ Ich kenne ein Bistro am Kubassow-Ring in der minus Zwei. Wir könnten da einen Geiser trinken, schwarz oder weiß, wie du willst“, sagte der Junge. „Der Kubassow-Ring ist die übernächste Station, kommst du mit?“ „Ich glaub nicht, daß dich das was angeht, aber auf Geiser bin ich ziemlich genauso scharf wie auf einen Furunkel am Hintern“, antwortete Zilli sofort und so ausdruckslos, wie sie es hinkriegen konnte. „ Reiner Nullbedarf. Und ich gehör nicht zu denen, die soviel Zeit übrig haben wie du.“ Die Leute nickten alle zugleich, weil der Zug bremste. MASCHPRIBORINTORG – GENERALLIEFERANT IM 62er HALLAYPROJEKT blitzte mit immer längeren Abständen zwischen den Buchstaben zum Fenster herein. Eine Frau zerrte zwei Taschen, ein Bündel Kleiderbügel und ihr Kind durch den Gang zur Tür, der Service meldete: Roter Turm, keine Anschlüsse auf dieser Station. Der Junge sah kein bißchen gekränkt aus. „Hei, bist du immer so?“ fragte er, indem er Zilli freimütig anschaute. Sie kniff die Lippen zusammen, stand auf und folgte der Frau. Vom Gang aus schaute sie nochmal zu dem Jungen zurück und sagte: „Ja. Immer. Staun ich selbst drüber.“ Den ganzen Tag fuhr sie kreuz und quer in der Stadt herum. Mal ließ sie sich mit der Sub, mal mit der High irgendwohin transportieren, nur nicht zur Wendeschleife Nordwest. Draußen stellte sie sich einen finster zerfetzten Himmel vor. Wegen des Fernsehers oder weil sie das aus geheimen Zeichen las oder weil sie unter den vielen Köpfen im Zug keinen finden konnte mit messingfarbenem Haar oder einfach nur, weil ihr nach einem solchen Himmel zumute war. Aber als sie irgendwann später durch eine Schleuse hoch oben ins Freie geriet, schien dort die Sonne schräg von einem leuchtenden Himmel herab,
der aussah, als wäre er aus matter, hellblauer Plastikfolie gemacht, in einem Stück wie ein gewaltiger Luftballon, von innen betrachtet. Es war kalt, und das Licht war hart und grell und holte die Gittermasten so nahe heran und schliff ihre Ränder so scharf, daß jedermann hätte fürchten müssen, sie schnitten ihm in die Finger, wenn er sie anfaßte. Aber das sonderbarste von all dem war, daß es schneite. Hundert Millionen Kristallplättchen taumelten in der Luft, fingen die Sonne, spielten damit und zerschossen sie zu ebenso vielen winzigen, gelben, roten und blauen Blitzen. Ein kleines Wunder bei diesem blauen Himmel. Zilli sah das Wunder, und gleichzeitig sah sie es nicht. Sie nahm es nicht an, weil sie es nicht annehmen wollte und weil sie auf Totalnull geschaltet war. Bitteres lag unter ihrer Zunge, und deshalb zwang sie sich und den Tag zu halten, was er versprochen hatte. Oder vielleicht war es auch umgekehrt. Danach fuhren ihr die Züge zu schnell oder nicht schnell genug, und je länger der Tag andauerte, um so unglücklicher fühlte sie sich, umgetrieben und unglücklich wie eine Maschine, die von einem boshaften Programm mit zuviel Strom und zuwenig Halbzeug versorgt wurde. Genau ab siebzehn Uhr drei fingen einige Züge an, Zillis Stempel abzulehnen, obwohl noch Plätze in ihnen frei waren. Sie fuhr zum Ostkreisel Drei, checkte dort, ohne zu fahren, auf acht Etagen die Zugtüren durch, die sie entweder aussperrten oder zuließen, und wußte Bescheid: Das Netz hatte sie auf die Stromerliste gesetzt und gab ihr nur noch Richtungen frei, die sie zu ihrer Wohnung bugsierten. Eine Weile stand sie nur da, während die Leute und der Abendverkehr sie vorwärts und rückwärts stießen, weil sie ihnen ein Hindernis war. Sie schmeckte das Bittere im Mund und grub die Fingernägel in ihre Handflächen. Tricks? Nein. Sie kannte ein paar, aber gegen das Netz konnte niemand gewinnen. Wirklich keiner. Als sie eine Viertelstunde später durch das Vorkabuff zwischen Flur und Wohnung hindurch Pas Zimmer betrat, war da drin etwas geschehen, was an diesem Tag unmöglich hätte geschehen dürfen. Auf dem Tisch stand der grünrostige Leuchter, vier Kerzen brannten darin, und die Flämmchen füllten den Raum mit Stille, Wärme und Feierlichkeit. Kein einziges elektrisches Watt wirkte mit, nicht mal der Monitor.
Auf den Schmalseiten des Tisches war für zwei Personen gedeckt, nicht mit den gewöhnlichen, sondern mit den schönen, alten Strasbourger Fayencetellern, die mit richtigen Blumen bemalt waren und die Ma von ihrer Urgroßmutter Babette geerbt hatte. Ferner saß Pa am Tisch. Er hatte den braunen Pullover an mit den Hosenträgern darüber, ein verschmitztes Leuchten in den Augen, oder vielleicht spiegelten sich auch nur die Kerzen darin. Jedenfalls saß er so da, als habe er schon stundenlang auf seine Tochter gewartet, wie es noch niemals vorgekommen war. Zilli schlenkerte die Schuhe von den Füßen und schüttelte sich. Sie mußte jetzt etwas Wildes, einen Schocker, dahinschmeißen, aber ihre Erfindungskraft war von dem so warnungslos hereingebrochenen Frieden dermaßen gelähmt, daß sie nur etwas ganz und gar Glanzloses zustande brachte. „Ist was?“ fragte sie mit zaghafter Stimme. Pa antwortete munter von seinem Platz hinter dem Tisch: „Freilich ist was, ein guter Tag!“ Zilli trödelte noch ein bißchen an der Tür und sah sich das alles an. Neben dem Leuchter stand auch noch die zu den Tellern passende Bratenplatte. Auf der Platte lagen zwei Thermoassietten der sehr teuren Tausenderserie, die sie an der konischen Form erkannte und die sie schon interessiert hätten, nur eben heute nicht, und zwei Stücke dünnes französisches Brot. Während Pa die Assietten öffnete, damit sie heiß werden konnten, warf sich Zilli mit aller Kraft dem Energiegefälle entgegen und machte sich innen ganz kalt. „ Komm her, Schäfchen, und laß dich nieder“, sagte Pa. Eine Weile saßen sie einander gegenüber und schwiegen. Hin und wieder knisterten die Kerzenflammen, Zilli studierte die Blumen auf ihrem Teller. Manchmal knisterte auch die Luft, wenn Zillis Antennen von vis-à-vis einfallende Blicke einfingen und Strahlungen der Gedanken ihres Pa um geeignete Worte für irgendeinen Beginn, mit dem er das ungemütliche Schweigen beenden könnte, und endlich knisterten auch die Assietten. Jeder stürzte eine auf seinen Teller, tat die leere Hülle auf die Platte zurück, und der Inhalt erwies sich nun als Pastete, die aus vielen verschiedenfarbigen Schichten bestand. Zilli hielt Gabel und Messer nur an den äußersten Enden fest, weil sie jetzt keine
Kritik hätte ertragen können, und als sie sah, daß Pa das Backwerk wie zu Tortenstücken zerschnitt, fuhr sie mit dem Messer horizontal in das ihre hinein, um es zu demontieren und die einzelnen Schichten nebeneinander auf den Teller zu tun. Plötzlich sagte sie: „Es liegt nur daran, daß es zuwenig Inseln gibt.“ Pa kaute mit hingebungsvoller Aufmerksamkeit. „Gut, was?“ fragte er. „Die rosa Schicht in der Mitte schmeckt beinahe so, als ob echte Trüffeln da drin wären. Hast du schon mal Trüffeln gegessen? Ich nicht. Es sollen Pilze sein.“ Seine Zunge kreiste noch einmal im Mund, ehe er den Bissen sacht in den Magen hinabgleiten ließ. „Inseln? Wie kommst du darauf? Du hättest eben vor zwei Milliarden Jahren dabeisein und aufpassen sollen, daß es so viele werden, wie du brauchst, damals, als sie die Erde gemacht haben.“ „Vor fünf.“ „Was für fünf, bitte?“ „Vor fünf Milliarden.“ „Sieh an! Sind es jetzt wieder mal fünf. Ich glaube fast, daß sie wirklich Trüffeln da drin haben“, sagte Pa und schnitt sich ein neues Tortenstück. „Und was hast du mit den fehlenden Inseln im Sinn?“ Eine übriggebliebene Winterfliege summte um den Tisch, weil sie der Pastetenduft anlockte. Aber nicht mal dieses außerordentliche Ereignis konnte Zilli ablenken, denn jetzt kam gewissermaßen der Augenblick, in dem das RUN gedrückt werden mußte. „Auf Inseln ist alles anders“, sagte sie. „Viele suchen danach, weil sie dort leben wollen. Sehr viele. Ein paar Millionen, denk ich. Die halbe Stadt.“ „Tatsächlich?“ fragte Pa, als sei er ernsthaft erstaunt. „Warum?“ „ Ich sagte: Auf Inseln ist alles anders. Auf seiner Insel kann jeder genau das machen, was er gern will.“ Pa antwortete mit dem Timbre der Erfahrung in seiner Stimme und indem er die Gabel erhob: „Niemand kann machen, was er will.“ Das fand Zilli richtig. Aber nur prinzipiell. Es blieb etwas übrig, das irgendwo in ihrem Inneren darauf wartete, in Worte gefaßt und wirklich zu werden. Inzwischen hatte sie ihre Pastete vollends zerlegt, und
von den einzelnen Regionen des Tellers stiegen verschiedene und sehr gute Gerüche auf. Sie war sehr hungrig. Aber es mochte sich um die gleiche Doktrin handeln, die sie gezwungen hatte, nur immer in dasselbe Auge des Jungen zu blinken, die ihr auch jetzt zu essen verbot. Befehle. Verbote. Oder hab ich ein Autoaggressionssyndrom? Überall in der Welt werden in jeder Sekunde Millionen Befehle gedrückt. Die ROMs in den Boxen befehlen den bits, wohin die zu rennen haben, bloß in die Staatsbibliothek oder bis nach Amerika, da müssen sie hin, die bits können nichts machen dagegen, so wie die Leute in der Sub, die so aussehen, als wäre es ihnen egal. Sie müssen. Und wieder zurück. Oder woanders hin und alles mit Lichtgeschwindigkeit, weil es nicht anders geht. Dann bleibt ein Rädchen irgendwo stehen, weil eins von den bits es ihm so befiehlt, oder es fängt zu laufen an, oder tausend oder Millionen Rädchen, die Fliege ist auf Pas Messer gelandet und läuft da rum, und ich kann ganz gut erkennen, was in Pas Kopf jetzt läuft und wie das weitergeht, was wir hier reden, und auch mein Kopf denkt das alles mit Lichtgeschwindigkeit, mit genau derselben wie die der bits, und ich weiß nur nicht, ob das nun gut ist oder eher grauenhaft. „Du meinst, die ganze Stadt ist ein Ameisenhaufen, in dem die Ameisen nur tun dürfen, was die Königin will“, sagte sie. „Oder ein großes Gefängnis, oder was anderes in der Art.“ „ Ich denke, du weißt nicht, was du daherredest“, sagte Pa, zwischen dessen Brauen unversehens zwei schiefe Falten erschienen. Zilli kannte die Falten und mochte sie nicht, jetzt aber gefielen sie ihr. „ Es ist dumm und fürchterlich, was du da sagst“, fuhr der Mann mit vollem Munde zu sprechen fort. „Wir sind freie Menschen und leben in einer freien Demokratie.“ „Aha“, gab Zilli kühl zurück, „in der keiner machen darf, was er will.“ Hierauf hielt Pa die mit einem neuen Bissen beladene Gabel auf halbem Weg zum Munde an. Eine Weile schwebte sie dort in Warteposition, bis er mit veränderter Stimme feststellte: „Du siehst blaß aus, mein Kind. Ich will doch nicht annehmen, du hättest dich etwa so angemalt?“
Zilli überging diese Frage. Auch der Vater war zu gescheit, um auf ihr zu beharren, und zog sich statt dessen, wenn auch ein wenig zu ostentativ, auf das Spiel seiner Geschmacksnerven zurück. Aber dann entrang sich ein Seufzer seiner Brust, und er sagte: „ Na gut. Ich könnte dir das alles erklären, doch diese Dinge sind wirklich sehr kompliziert.“ Zilli schwenkte die Ketchupflasche, die sie plötzlich zur Hand hatte, und erstickte die aufsteigenden Düfte, indem sie die Pastetenscheiben so reichlich begoß, daß man fast nichts mehr davon sah. „Ich liebe sehr komplizierte Erklärungen“, gab sie mit gelassenem Tonfall bekannt, der heraushören ließ, daß sie bereit sei zu warten. Pa hatte seinen Mut und die Gabel endgültig niedergelegt. Eine Weile hörten die beiden gemeinsam dem Summen der Fliege und der Stadt draußen zu. Als Zilli meinte, sie hätte genügend lange gewartet, erklärte sie: „Vielleicht erinnerst du dich, daß ich sagte, auf Inseln ist alles anders. Rein theoretisch gilt wie bei allen monotonen Funktionen auch hier die Umkehrung: Wo alles anders ist, da ist auch eine Insel. Und ich glaube, daß du in den Dingen, die du mir erklären willst, viel weniger gut Bescheid weißt, als du glaubst, daß du’s wüßtest.“ Pa warf einen langen Blick über den Tisch, der sowohl Liebe ausdrückte wie auch Ergebenheit. Zilli spürte nach, ob die Kälte noch da war, die sie in sich erzeugt hatte. „ Hast du denn nicht mal Lust, in der Stadt rumzufahren, durch die Boutiquen zu gehen oder so?“, sagte Pa. „Zum Beispiel mit deiner Freundin. Heißt sie nicht Salome?“ „Mit dem Apfel? Du lieber Himmel!“ „Oder mit anderen, die so alt sind wie du?“ „Als ob jemand anders so alt wäre wie ich.“ Zilli betrachtete die Blumen auf ihrem Teller, denn er war plötzlich leer. Sie konnte die Blumen so deutlich sehen, als habe sie jemand mit einem Stückchen französischem Brot extra zum Anschauen so blank geputzt. „Ich sage dir, was ich möchte“, sagte sie. „Hör mal, wird Ma wiederkommen?
Muß es wirklich nur immer dieser Pullover sein? Behalt’s für dich, wenn du nicht antworten willst. Ich sage dir, was ich möchte: niemanden mehr sehn!“
10. Zillis Vorstellungen zum Gebrauchswert von Inseln waren keineswegs so klar, wie sie sich selbst zuweilen glauben zu machen versuchte. Das wußte sie auch. Sie ging etwa so damit um, als sei dieser Wert ein Konto, das anwuchs, wenn sie sich etwas abzuheben genötigt sah, und schwand, sobald sie nichts brauchte. Überdies würde der jeweilige Saldo stets in imaginären Zahlen auszudrucken sein, imaginär im Sinne des Vielfachen von Wurzel aus minus eins, so daß keine oder fast keine Wirkungen in die wirkliche Welt gelangten, wie hoch oder wie tief auch immer ihr Guthaben stieg oder fiel. Auch hier galt die Umkehrregel der monotonen Funktion: Es bedurfte keiner oder geringer Anstöße in der Wirklichkeit, um dieses Guthaben beträchtlich ins Schwanken zu bringen. In der auf die Pastete folgenden Nacht hatte sie von der Substation Ostkreisel Drei geträumt. Der Traum machte die Riesenanlage durchsichtig, nur die Leute nicht, so daß sie diese um sich herum, unter und über sich in der Luft wie durch Röhren dahinströmen sah. Ein Orangefarbener mit dem geflügelten Rad an der Mütze sagte: Es ist die einzige Art, diesen Bahnhof zu erklären, denn er ist sehr kompliziert. Und mitten in dem geträumten Gewimmel entdeckte sie das neue Holovisionskino. Bei der Unsichtbarkeit aller Dinge, die da geherrscht hatte, kam ihr das anderntags so merkwürdig vor, daß sie sich aufmachte, um dem Traum auf die Schliche zu kommen. Sie fuhr zum Ostkreisel Drei, trieb sich nach der Trial-und-Error-Methode eine gute Stunde darin herum, stieß auf Weiser, und es stimmte, das Laserkino war da. Pompöses Vestibül, schallschluckend. Zwölf Lichtschleusen in die Säle, Leute, Kinder, schallverschlucktes Kommen und Gehen, erstklassig geclearte Luft, Zwanzigstundenbetrieb. Sie blieb am Ankündigungsservice hängen, orderte und ließ die Titel und Kommentare an ihren Augen vorüberziehn. Ihre Füße standen eng beieinander, sie schaukelte auf den Sohlen nach vorn und zurück, während sie las. Die Luft drang aus dem Fußboden hervor, schlüpfte ihr in die Hosenbeine,
schmeichelte sich warm und verführerisch an den Waden oder Schienbeinen, je nachdem, hinauf bis zum Bauch. Einer der Titel hieß: „Die zehn Kräfte des Baal“, aber es gibt doch nur die Gravitation, die elektromagnetische Kraft, die Kern- und kleinen Kräfte und die fünfte Kraft, wo will der denn die andern fünf herkiegen? Und da ist immer noch die unerledigte Sache mit dem Antigravitationswellensender, oder besteht Schwere aus Teilchen oder womöglich wieder aus keinem von beiden, wie man es immer wieder erlebt. Ob ich mich doch mal ranmache? An das MamelinkTheorem…, das Mamelink-Theorem…, das Mamelink… Wie von selbst fiel sie in diesen vertrauten Triolenrhythmus und erschauerte, wie von einem magischen Strahl getroffen, als sie erkannte: Es war die Melodie im ersten Satz ihrer Musik, der Musik, die sie selbst komponiert hatte. Aber in der Welt um sie herum hatte jemand weit Größeres in Gang gesetzt, das praktischer war als jeder magische Strahl. Zilli hielt plötzlich im Schaukeln und in ihrem eigenen Singsang inne, legte den Kopf ein bißchen schief, und obwohl sie nicht mehr die Spur von Atem durch die Stimmritze ließ, konnte sie hören, daß die Musik dennoch weiterging. Von fern her und außen wehte der Sound nur wie ein Hauch aus klingender Luft. Aber sie ließ sich nicht täuschen, denn akustische Schwingungen gingen immer von einem materiellen Erzeuger aus. Schneller, als sie noch weiteres hätte denken können, wußte sie, daß in diesem Augenblick etwas Ungeheures geschah. Sie raste quer durch das Kinoentree, draußen zwischen der schiebenden Menge hindurch dem Amplitudengefälle entgegen. Im Lift begann schon der zweite Satz, und als sie ganz oben ins Helle trat, schallte er voll aus allen Lautsprechern des Perrons. Und widerhallend schwang er sich über die Mauern und Geländer von unten herauf aus all den tausend Quellen überall in der Stadt. Zilli stand nur da, schmiegte sich in die Menschenstrudel und leuchtete. Die Menge strömte an ihr vorbei, dann tauchte die grüne Insel des dritten Satzes aus dem gläsernen See, die Türme, Bläschen und Wür-
zelchen, sie harrte dieser Empfindlichkeit, des Übergangs nach Dis, und schaute den Leuten in die Gesichter, erwartungsvoll, ob sie ihn hörten. Plötzlich drang elektronisches Kratzen aus den Membranen, zerschrammte die Musik, Geräusche von Hackergerangel gegen die Rechtmäßigkeit, stressen mußt du das Netz, sechshundertfünfzig Anschläge die Minute, da paßt es nicht auf, auch das verdammte HARMONY wird nervös, fällt in eins der verbotenen Löcher, und du packst in das Loch hinein, was es nicht will, die Musik, es will sie nicht, aber wenn die Musik erst mal drin ist im Netz, muß es sie spielen, es muß! – und überall in der Stadt… Dann kehrte der Sound zurück, der messinghaarige Boy hatte sich durchgesetzt. Nur das süße Fallenlassen zum Dis war verspielt. Und dann ging die Musik zu Ende. Aber vielleicht doch nicht ganz. Inzwischen schwoll der Mittagsverkehr. Zilli schnupperte. Die Luft roch angenehm nach überhitztem Metall. Funken regneten auf die Sicherheitszone darunter, wie eine Brausekanne ein Gärtchen begießt, ganz oben an einer Säule unter dem Dach des Perrons klebte ein Reparaturschweißer. Der Brenner knatterte über den Lärm der ein- und ausfahrenden Züge hinweg, der Mann trug einen Schirm vor dem Gesicht, und Zilli rätselte, wie er mit der einen Hand den Schweißdraht und mit der anderen den Brenner handhabte, ohne sich festzuhalten, und trotzdem da oben blieb. Die Säule trug ganz allein die dreihundert Meter Dach. Das Dach sah spinnwebenleicht aus, als schwebe es fast von selbst, und so leicht fühlte Zilli sich auch, so schwebend, und vermutlich galt das ebenso für den Mann. Sie legte den Kopf in den Nacken, schaute ein Weilchen, und auf einmal schrie sie dem Mann oben zu: „Haben Sie die Musik gehört? Die hab ich gemacht. Es ist meine Musik!“ Und was tat der Mann? Er ließ den Brenner knallen und eine besonders prächtige Funkenkaskade herausschießen. Als er den Schirm wegklappte, sah das Gesicht darunter jung, von Öl- und Rostschmierern scheckig aus, und die Schmierer hüpften, als er Zilli anlachte. Sie rief: „Es ist nämlich ein toller Unterschied zwischen einer Musik aus Zahlen auf einem Floppy und einer, die ganz wirklich aus Tausenden staatlichen Lautsprechern spielt. Und in der Öffentlichkeit!“
Der Mann antwortete ihr etwas von da oben herab und wedelte dazu mit der Hand. Sie verstand seine Worte nicht und wußte, daß auch er die ihren nicht hatte verstehen können. Aber was tat das schon? Tascheschlenkernd ging sie zwischen den Leuten hindurch, lächelte in viele Gesichter, und manche davon gaben ihr das Lächeln zurück. Dann waren die dreihundert Meter Perrongeländer mit gelben und krapproten Frühlingsprimeln bewachsen, die sie noch nie dort bemerkt hatte, und sie sammelte Foliefetzen, Pillenschachteln und Babyschnuller zwischen den Blättern heraus. Jenseits der Primeln lag die Stadt, gewaltig, glitzernd und blau. Die Millionen Menschen darin hatten ihre Musik gehört, und an einem geheimen Ort hockte der Junge vor seinem Panel und dachte an sie. In ihrem Inneren ließ sie das Gewaltige da unten noch einmal den einen und anderen Takt ihrer Musik spielen und dreimal den Übergang nach Dis. Die Stadt spielte sie auch, denn es war ihre Stadt, ihre, in der sie zu Hause war. Das Ereignis mit der Musik und die Tatsache, daß sie, Zilli, sowohl in ihrem Ich als auch quasi als zweites Exemplar im Kopf oder im Herzen des Jungen vorhanden war, beschäftigten sie noch tagelang. Die Überlegungen wucherten in die Breite, aber einige davon konnte sie ziemlich bündig abschließen. Danach hatte es sich, als die ganze Stadt ihre Musik hörte, um ein Vorkommnis gehandelt, eine großartige Geschichte, dennoch eben ein Vorkommnis, das einmalig blieb und sich nicht wiederholen würde. Ferner hatte es die Welt verändert, ein bißchen, oder die Menschen darin, oder wenigstens ein paar in dieser Stadt. Gleich abends, als Pa heimkam, war sie im Zimmer umhergesprungen wie eine Verrückte, hatte Verrücktes geredet, „ Ich weiß was, ich weiß was!“, und gelacht, weil herausmußte, was drin zu unbändig nach allen Seiten stieß. Pa hatte sie eingefangen und an sich gedrückt, an den warmen Bauch unterm blauen Blazer mit den Hosenträgern darunter, bis sie ganz ruhig geworden war. Obwohl sie ihm nichts erzählt hatte. Obwohl er natürlich nichts wußte von dem öffentlichen Konzert und obwohl er hätte böse sein müssen mit ihr, und zu Recht.
Seither lachte sie, wenn sie nicht nachdenken mußte. In der Stadt schaute sie den Leuten in die Gesichter, und diese Gesichter sahen auf einmal wirklich weit weniger indolent aus, als sie nach ihrer Erfahrung hätten aussehen müssen. Manche lächelten sogar, als spiegelten sie irgend etwas Helles zurück, aber wenn sie sich umwandte, konnte sie niemals dergleichen entdecken. Sogar in ihr selbst hinterließ das Ereignis gewisse Spuren. So kam ihr zum Beispiel die Inselsehnsucht unversehens weniger schmerzhaft vor, das Verlangen lockerte sich wie ein böser Husten am dritten Tag, zumindest im Hinblick auf die Chance, eine zu finden. Sie ging die Dateien ihres Gedächtnisses durch. Tatsächlich! Sie hatte Weiser gesehen. Die Museumsinsel! Freilich inmitten der Stadt, immerhin eine INSEL. Warum sollte sie es mit der, im Sinne der Umkehrung, nicht einmal versuchen? Erst im letzten Moment hatte sie die veränderten Lebensumstände auf Inseln bedacht und ihren wüstenfarbenen Overall angezogen, den sie zwecks Vorstoßes ins Unbekannte für am besten geeignet hielt, und die Knietasche mit Waffeln und einer Depovitbüchse gefüllt. In der Reihe Safaritaschen links über der Brust steckten Augenbrauen-, Deo-, Lidschatten- und Lippenstifte, griffig und verkehrt herum, daß sie wie richtige Patronen ein Stückchen daraus hervorsahen. Sechzehnte Sub Richtung Westkreuz Vier, von da an die Einhundertacht, ROBOTELECTRICS – HABT EIN HERZ FÜR KINDER – ROBOTELECTRICS, die Lettern diesmal in bissigem Mint. Bei Hauptkaufhaus Mitte Drei schickte sie der Weiser hinauf zur plusminus Null, und da stand schon: MUSEUMSCITY. Zugang 18 D. Aber dahinter kam zuerst noch ein Tunnel mit einem grellen Auge am Ende. Ohne sich vom Informationsgeblinker der Tunnelwände beirren zu lassen, steuerte sie das Auge an. Es brannte vom Licht eines überaus hellen Himmels. Na bitte! Genau, wie sie es längst gewußt hatte: Alles war anders. Soviel Himmel und wilde Luft in der Tiefe des Nullniveaus. Hinter sich fühlte sie die steinerne Front der Stadt, aber nach vorn und in die Breite streckte sich dieser Himmel dermaßen weitläufig aus, daß im Osten die Sonne und gleichzeitig im Westen der Mond darauf Platz fanden. Dies also war die Nahtstelle zwischen
Tag und Nacht, die sie so plausibel noch niemals gesehen hatte. Und warum? Weil die Insel nicht zuließ, daß auf ihr Häuser gebaut wurden. Man hatte den Weg, den sie hier ging, statt mit Beton mit unzähligen würfelförmigen Steinen bedeckt, nach weitherziger Technologie, denn er war von Buckeln und Dellen gewellt. Links und rechts waren Sträucher zu sonderbaren, bestaubten, endlosen Mauern zusammengewachsen, und manche trieben schon junges Grün. In x-beliebigen Winkeln zweigten bald auf der einen, bald auf der anderen Seite ähnliche Korridore ab, und inmitten des Strauchgemäuers gab es grün oder braun gestrichene Türen, hinter denen gedämpfte Schläge erklangen wie von Holz auf Metall oder Stimmen von Männern und Frauen. Als Zilli durch ein Loch in einer der Mauern spähte, waren doch Häuser dahinter. Aber was für welche! Sie bestanden aus einem Gitter aus braunem Holz, die Maschen hatte man mit Steinen gefüllt, und über der plus Eins saß schon ein schiefes Dach, das war alles. Aus jedem der Dächer quoll Rauch wie von Feuer. Feuer aus Gras… Die Häuser waren so klein, daß sie in eines der Fenster hinein- und zu einem anderen durch das ganze Ding hindurch wieder hinausschauen konnte. Sie fragte sich, ob es möglich sei, länger darin zu wohnen als ein paar Tage zum Jux. Weiter hinten entzündete die Sonne ein Stück der Korridorwand zu blendendem Gelb. Als Zilli da ankam, bestand die Wand nur aus unzähligen gelben Blümchen, die aus rauhen, noch blattlosen Zweigen hervorsprossen. Zilli war entzückt, strich, die Blümchen betrachtend, dicht an diesen entlang und erschrak, als sie unversehens in ein aufgerissenes, mit furchtbaren Zähnen gefülltes Maul hineinblickte. Neben dem Maul sah sie ein Kind stehen und ein geöffnetes Tor. „Er gähnt bloß“, sagte das Kind mit einem hohen, bebenden Stimmchen. „Ich bin die Solvig und habe ihm meine Musik in die Ohren gesteckt, und die Ma hat ihm einen Tranquizer zu fressen gegeben. Deswegen.“ Das Mädchen hatte schwarze, wie in dienstfertigem Eifer aufgerissene Augen und einen seltsamen, unsteten Funken darin. Links und rechts fielen dunkle, staubige Zöpfe auf ihr Kleid herab, das aussah wie Pas brauner Pullover. Vielleicht war es neun Jahre alt,
vielleicht aber auch zwölf, und so klein und mager, daß Zilli die Knöchelchen unter der dünnen Haut meinte mitbeben zu sehen, als es mit dem zittrigen Stimmchen sprach. Dem Maul daneben entwich ein Fiepen, als es zuklappte, und dann war das Ganze ein großer, schwarzer, schläfriger Hund. Zilli sagte: „ Einen Tranquilizer.“ „Ja. Einen Tranquizer“, antwortete das Mädchen eifrig und lächelte, so daß man viele winzige braune Zähnchen sah. „Und warum?“ fragte Zilli. „Hat Gras im Kopf, nur Gras, nur Gras, nur Gras…“, flüsterte das Mädchen und wackelte dazu mit dem Kopf einen einfältigen Takt. Auf der Stirn bildete sich eine Falte kindischen Nachdenkens. Hinter dem Tor war ein Garten zu sehen, richtige braune Erde. Ein paar Bäumchen sahen geliebt aus, an kreuz und quer gespannten Bindfäden wedelten Hosen, Hemden und Handtücher wie Fahnen. „Weil Mittwoch ist“, sagte das Kind, „von zwei bis fünf kommen die Fremden zu uns in die Stube, und dann fürchtet er sich. Deswegen.“ „Mit den Zähnen?“ Zilli betonte das „den“. „Was für Fremde?“ „Solche wie du.“ Zilli verstand. „Tag der offenen Tür?“ „Ja. Der Tür“, sagte das Mädchen und lächelte wie glücklich über etwas, was es endlich gekonnt hatte. „Die kommen rein, auch wenn ihr fernsehen wollt?“ „ Haben wir nicht. Dürfen wir nicht. Bloß in der Schule.“ Eine harsche Stimme scholl aus dem Haus: „Mit wem redest du da? Komm rein! Du hast den Topf auf das Feuer gestellt, und kein Wasser ist drin. Der Topf ist hin. Komm ja rein, du Teufel. Hast wieder bloß Gras im Kopf!“ Unglaublich gelenkig zuckte der Kopf mit den Zöpfen tief zwischen die Schultern hinab, das Kind schluckte etwas wie einen zu großen Bissen hinunter und flüsterte, als das unten war: „Geh da lang“, und wies heimlich mit einem Finger dorthin. Der Hund spitzte ein Ohr. „Warum? Wo komm ich da hin?“
„Gras im Kopf. Weil’s da langgeht. Deswegen“, flüsterte das Kind mit ertrinkenden Augen und lächelte dennoch mit den vielen braunen Zähnchen dazu. Eine Weile konnte Zilli die Dinge um sich herum nicht so gründlich genießen, wie sie es hätte müssen, während sie weiterging. Vieles, Verschiedenes, Denkwürdiges schlüpfte fortwährend von draußen in ihre Nasen-, Ohrlöcher und Augen hinein, aber der Raum in ihr drin, bis zu dem das alles hätte vordringen müssen, war plötzlich von einer Frage besetzt: Wer hat das Gras im Kopf? Wer denn wirklich!, und von einer Antwort in Gestalt immer dicker aufquellender Stille. So kam es, daß die Landschaft sich verwandelte, ohne daß Zilli es sah. Sie selbst fand sich in einem Gewirr von Häusern wieder, die eins neben dem andern und links und rechts so eng beieinander umherstanden, wie von oben heruntergefallen und seither von niemandem aufgeräumt. Manche davon reichten schon bis zur plus Zwei oder Drei, die Wege dazwischen fielen schief hinab oder stiegen hinauf oder wurden von auf- oder abwärts führenden Stufen gequert. Allerlei Leute gingen auf diesen Wegen entlang, standen herum und schwatzten inmitten der Unordnung, und niemand sah so aus, als wundere er sich darüber. Sie konsumierte das alles wie TV-Legenden in live, voller Staunen, amüsiert und ein bißchen von oben. Als ihr Körper schon einen langen Aprilschatten warf, geriet sie zwischen lockere Menschengruppen, Solchewiedufremde, die zum Nachmittag aus der Stadt hierher gekommen sein mochten. Vielleicht lag es an diesen, daß die Museumscity unversehens ganz andere, schauerliche Fratzen aus ihrem Gesichterfundus zog: goldenen Prunk, zusammengerottete goldene und rosafarbene Engel, an Säulen hängend, zu gewaltiges, an Wände gemaltes Fleisch. Woanders dann tausend viereckige Bilder nur in Schwarz und Weiß: Skelette von Bäumen, Städten und Menschen, Tausende Fenster wie herausgefallene Augen, Tausende Augenpaare wie herausgefallene Fenster, dahinter noch immer Wille und Leben, einzeln, in endlosen Zügen, Karren, Kinder, grausige Träume einer kranken, versunkenen Zeit. Zilli floh aus dem Haus.
Draußen liefen die Leute auf einmal alle in eine Richtung davon, riefen einander aufgeregt etwas zu und so, als wisse jeder den Namen des andern. Zilli rannte dahin, wo die Leute hinliefen, damit sie den schrecklichen Bildern entkam. Nach ein paar Ecken stießen sie in immer engere Gassen hinein und auf andere Leute, die, zu einem Klumpen geballt, vor einem Haus mit weit geöffneter Tür standen. Niemand ging da hinein oder kam heraus, alle hatten die Köpfe in den Nacken gelegt, und spähten in den Himmelsstreifen über der Gasse hinauf. Aber es war gar nicht der Himmel, den sie sehen wollten, auf der Esse des Hauses hockte ein Junge wie ein Vogel auf dem höchsten, gefährlichsten Zweig. Der Junge hustete vom Rauch aus der Esse. In Zillis Hirn tickte gleich das Bekanntheitssignal: der Drachen, das verkletterte Kind über den Dächern der Stadt, in der Tiefe die Menge, die geträumte Rettungsaktion. Es sei wieder der Pascher-Klaas von den Andersons, teilten Frauenstimmen einander mit. Der von der Patric-Bande? Ja der! Und wie der denn diesmal wieder da hinaufgekommen sein könnte? In Zilli kehrte sich einiges um: Sie dachte sich auf die Esse hinauf, den Jungen von da oben herunter, spielte durch, wie es sein würde, selbst gerettet zu werden, von Veilchenauge zum Beispiel oder von Fabian, und das war ein ganz neues Gefühl. Weiter vorn schrien Männerstimmen. Er, der Klaas oder der Bengel, je nachdem, wer da brüllte, solle verdammt wieder herunterkommen, und zwar verdammt schnell, auf demselben verdammten Weg, den er hinaufgestiegen sei, und er könne etwas erleben! Der Schornsteinjunge schrie zurück, wovon unten kaum etwas ankam, des Lärmens der Leute wegen und wegen des Hustens vom Rauch. Dennoch sprach sich’s herum: Er bleibe, und sie sollten sich hüten, daß einer zu ihm heraufsteige, um ihn zu holen. Rechts fuchtelten Hände über eine Clique Jungen und Mädchen; Ärmel wie die des braunen Pullovers von Pa. Die Kinder brüllten: „Laß den Tiger raus! Klaas, laß den Tiger raus!“ Dann schmetterte eine Glocke in das Ende der Gasse hinein und warf den Aufruhr nieder, die Feuerwehr. Nach vierzig Sekunden hatte das Auge der Leiter das Ziel erkannt, die Leiter hob ihren Mann millimetergenau zum Schornstein hinauf. Der Junge regte sich, Frauen-
hände fuhren vor schreckgeöffnete Münder. Mit jedem Meter, den die Leiter gewann, rückte der Junge einen Zentimeter vom Schornstein ab, um aus seiner gefährlichen Lage heraus in eine noch gefährlichere hineinzugelangen, daß jedermann sah, gleich werde er von da oben herabstürzen. Die Leiter hielt an und zog ihren Mann wieder zurück. „Komm runter! Ich zähle bis drei!“ bellte vorn eine von Ohnmacht heisere Stimme. Dies sei der Vater, flüsterte man einander zu, obwohl alle es wußten. Wispern wie von Druckerpapier in einer menschenleeren Zentrale. „Eins!“ „Laß den Tiger raus!“ formten die Lippen der Clique, stimmlos, aber synchron. Zillis Lippen formten sich mit. „Zwei!“ Nach der Zwei trat eine Pause ein, weil der Biszweizähler zugleich auch der Klaasvater war, der seinen Sohn kannte. Die Pause währte so lange, bis Liebe und die Vernunft des Mannes die Einsicht erzeugt hatten, daß die Unvernunft des Sohnes ihn, den Vater, leicht bis zehn oder bis tausend würde zählen lassen. Der Mann vermied den Eklat, die Drei, und rief zum Schornstein hinauf: „ Na gut. Du hast gewonnen. Sag mir, was du verlangst!“ Der Junge richtete sich nun sicherer ein auf seinem Sitz. Er hustete, sein Gesicht war grau, vielleicht kam das vom Rauch. Die Hände der Frauen sanken von den Mündern herab, die sich schlossen. „Laß den Tiger raus!“ brüllte die Clique. Diesmal langten alle Wörter deutlicher unten an, als der Junge sagte: „Du weißt genau, was ich will. Ich will hier raus. Ich will raus aus dem gestorbenen Gestern. Ich will in die Stadt und machen, was alle da tun. Bastian wohnt in der Stadt und Tante Undine, ich weiß, daß sie mich nehmen, und du weißt es auch.“ Der Junge sah inzwischen fast schwarz aus gegen den grünlich verfärbten Himmel, denn die Sonne war hinter den Dächern versunken. Einer der Feuerwehrleute geriet an den Knopf für die Schelle. Die
Schelle läutete los und zerschnitt die Handlung, aber nur eine Sekunde, als melde sie den Wendepunkt eines heiligen Zeremoniells. „Gut. Versprochen“, sagte der Mann, als das Scheppern verklungen war. „Kommst du jetzt runter?“ Dann sagte er: „Bitte.“ „Und ihr alle da unten sollt niemanden zwingen, hier drin zu bleiben, wenn er nicht will. Sag’s ihnen, Pa.“ „Ich sage es ihnen“, versprach der Mann. „Willst du die Leiter?“ Der Junge sagte: „Ja“, wie durch einen Schleier hindurch. Zilli wußte, wie das da weiterging. Sie zwängte sich zwischen den Leuten hindurch, hieß ihre Beine, Schritte zu gehen, immer neue aus der Museumscity hinaus, und fühlte ihr Herz wie eine geballte Faust in der Brust. Ist das vielleicht eine INSEL? Sind die alle so? In der Stadt fuhr sie mit einem Lift hinauf und mit einem anderen wieder hinab und dann mit der Sub, ohne zu wissen, wohin. Das Dunkel hinter den Fenstern verbarg die endlosen gläsernen Pisten, aber doch nicht ganz, denn vom Horizont her winkte der Widerschein grün glimmender Türme. Die Türme zogen vorbei, erloschen hinter dem Rahmen des Fensters, und am gegenüberliegenden Rahmen leuchteten andere auf. Es lag an dem Spiegelspiel, daß sie die Schattenrisse der Jungen entdeckte: Hiob, den Klaas vom Dach, den Duda mit den Fischaugen. Sie schritten kräftig aus, jeder für sich allein in seiner eigenen Bahn von etwas weg und auf etwas anderes zu, und stemmten sich schräg gegen den Sturm, der ihnen dort draußen entgegenblies und den sie bis hierhinein ins Kupee hörte, denn jedesmal, wenn er die Richtung änderte, fiel sein Tönen ins Dis. Und jeder Turm stand auf einer INSEL. Ihre Finger zupften an einem Strauß aus Margeriten, Kornblumen und rotem Mohn. Er lag auf ihrem Schoß, und sie erinnerte sich nicht, auf welche Weise er dahin gekommen sein mochte. Die Jungen gingen und gingen und immer an den Inseln vorbei, als seien sie blind, und sie konnte sich nicht entscheiden, froh oder traurig darüber zu sein. Die Weiche, noch ein Korridor und dann endlich die Tür. Sie erwies sich als unverschlossen, wie es immer gewesen war, und als
Zilli eintrat, still, kaum daß sie zu atmen wagte, schlief oben der Vogel, Geraldine saß auf ihrem Stuhl, und ihre hochgebogenen Finger liefen über die Tasten des BCMS. Überall waren Tassen auf dem Fußboden und um den Rechner herum, und aus einer davon wehte ein Dampfwölkchen auf. Zilli tankte das Bild in sich hinein, wie eine Maschine zum erstenmal nach der Reparatur gierig wieder Strom in ihr Inneres zieht. Über den Monitor flossen die gleichen Programmzeilen, die sie kannte: Permutationen, immer wieder Permutationen mit dreiundvierzig unterschiedlichen Gliedern. Fakultäten. Trillionen ins Aussichtslose dahinstürmender bits, fünfhundert Millionen je Sekunde. Viele solcher Sekunden versanken in die Vergangenheit, während die Frau dem im Unendlichen verschwimmenden Ziel um ein Millimeter näher kam. Schließlich spürte sie, daß etwas anders geworden war. Ihre Augen trafen groß und dunkel auf Zillis Augen. Sie erhob sich vom Stuhl, träge, wie eindringend in Schichten zähflüssiger Luft, und dann flogen die beiden aufeinander zu, fielen sich in die Arme, und einer hielt sich am anderen fest. Die Patronen in den Safaritaschen bohrten sich links in Zillis Brust, Geraldines Löckchen kitzelten ihr Kinn. Es kam ihr so vor, als sei die Frau ein bißchen kleiner geworden in der Zeit, die sie voneinander getrennt hatte. Während Zilli das alles empfand, jagte sie einem Gedanken nach, einem wunderbaren und wichtigen Satz, dem wichtigsten, den sie in den ganzen Ferien gedacht hatte, so kam es ihr vor. Aber jedesmal, wenn sie nach ihm langte, hüpfte er weg. So zusammengeheftet blieben sie stehen. Zilli erzählte von Solvig und von Klaas auf dem Dach, daß übermorgen um acht die Schule wieder beginne und von den herausgefallenen Fenstern und Augen. Geraldine hörte zu, bis sie die Rede Zillis dann doch unterbrach. „Hör auf, Kleines“, sagte sie, „sonst muß ich weinen.“ Statt dessen lachte sie und wies mit einem ein wenig schmuddligen Finger irgendwohin. Dort lag der Blumenstrauß auf dem Boden zwischen den Tassen oder das, was von ihm übrig geblieben war: der rote Mohn. Denn die Margeriten und Kornblumen hatten die Kaninchen schon beinahe aufgefressen.
Plötzlich war der Gedanke da, Zilli griff zu, ein ganz einfacher Satz. „ Erzähl mir eine Geschichte aus Afrika“, sagte sie, denn das waren die Worte, die sie gesucht hatte. Geraldine lachte, und der BCMS wisperte mit einer der Fakultäten, um Ziffern mit anderen zu vergleichen, wie das Programm es befahl.
Wort- und Sacherklärungen Aborigines AK-Abbrand Algorithmus
Assembler
Autoaggressions-Syndrom
Backsound BCMS Blackbox
Blinker Bode, Hendrik Wade Bus
– (engl.) Ureinwohner Australiens – verbrauchte Brennelemente eines Atomkraftwerks – (lat.) vorgegebenes Schema zum Ablauf eines (z. B. elektronischen) Prozesses – engl.) Programm, das es ermöglicht, den rechnerinternen Maschinencode in Form leicht zu merkender Abkürzungen zu programmieren – (grch./lat.) Erscheinungsbild des psychischen Drangs, Angriffe gegen sich selbst zu richten – (engl.) Hintergrundmusik – (engl.) Balance Control and Management System: Rechnertyp (fiktiv) – „schwarzer Kasten“, Laborjargon für ein elektronisches System, von dem man nicht weiß, was genau in ihm vorgeht – hierfür Cursor (s.d.) – (geb. 1905), amerikanischer Elektrotechniker – (engl.) binary unit System: Sammelleitung für den Informationstransport zwischen den Baugruppen des Rechners. Drei Typen: data bus, address bus, control bus
CAI-CIR
– (engl.) elektronisches Steuerungsregime (fiktiv), Computer Aided Imagination – Computer Integrated Realisation (Center go away tendency): Rechnergestützte Vorstellungskraft – Rechnergesteuerte Verwirklichung (mit Richtung auf abnehmende Aufsicht des Menschen in der Zentrale), entwickelte sich über CAD-CIM Computer Aided Design-Computer Integrated Manufactoring (go away tendency): Rechnergestützte Konstruktion – Rechnergesteuerte Fertigung (mit Richtung auf abnehmende Aufsicht des Menschen an der Maschine) aus CAD-CAM Computer Aided DesignComputer Aided Manufactoring: Rechnergestützte Konstruktion – Rechnergestützte Fertigung Chartreuse – (frz.) ein grüner Likör Checking – (engl.) Vorauswahl Cheese-cake – (engl.) Käsekuchen Children, they are angels… – (engl.) Kinder sind Engel, die ihre Flügel einziehen, während ihre Beine in die Länge wachsen. Choanen – Öffnungen der Nasenhöhle in den Rachenraum clearen – (engl.) reinigen Colorset – Schminkkasten Compiler – (engl.) Programm, das in einer höheren Programmiersprache abgefaßte
Programme als Ganzes in Maschinensprache übersetzt Cracker – (engl.) jemand, der mit elektronischen Mitteln illegal in fremde Dateien oder Programme einbricht Crash down – (engl.) Zusammenbruch CTI-Rechner – Rechnertyp (fiktiv) Curie – Maßeinheit für die Aktivität radioaktiver Substanzen Cursor – (engl.) Markierung auf dem Bildschirm, wo das nächsteingegebene Zeichen dargestellt werden wird DATA – Anweisung in BASIC, steuert zu verarbeitende Daten oder Werte an Deadline – (engl.) Todeslinie, hier: Minimalwert, unterhalb dessen ein Zusammenbruch zu erwarten ist Depovit – ein Vitamingetränk (fiktiv) Directoryliste – Liste von Adressencodes Downs – (engl.) hier: Kurzwort für abwärtsfahrende Fahrstühle Elektronisch Systemautarkes Vergessen – Vergessen als fiktive Annäherung der Leistungen von Rechnern an die Leistungen des menschlichen Gehirns endoplasmatisches Reticulum – (grch./lat.) submikroskopisches Membransystem im Zytoplasma fast aller Zellen ENIAC – erster elektronischer Rechner mit 18000 Elektronenröhren, 1946, Amerika
Ergosterin
Error ET Eustachisches Rohr Fakultät Feedback Finish
Firmware Floppy Disc fluorierte KWs Flyingspot
Freakers
Fresnelhafter Golgikörper
GOSUB
– Provitamin D; geht bei UVBestrahlung in das antirachitische Vitamin D2 über – (engl.) Irrtum, Fehler – (engl.) Extraterrestrier, Außerirdischer – verbindet bei Wirbeltieren das Mittelohr mit der Mundhöhle – (lat.) Produkt aller ganzen Zahlen bis zu einer bestimmten Zahl – (engl.) Rückkopplung – (engl.) Schlußbehandlung am Ende der Fertigung einer Ware (z.B. eines Autos) – (engl.) Programme, die im ROM (s.d.) gespeichert sind – (engl.) magnetischer Speicher – fluorierte Kohlenwasserstoffe – (engl.) „fliegender Punkt“, Begriff der Lasertechnik, hier im übertragenen Sinn gebraucht – von Freak (engl.): begeisterter Anhänger abgeleitet; hier Name einer Musikband – Augenhaftschale aus Fresneloptik – nach dem italienischen Histologen Camillo Golgi (1844–1926) benanntes Zellorganell in Zellen hoher Stoffwechselleistung – Anweisung in BASIC, aus dem Programm in ein Unterprogramm zu springen
GOTO
Halley HARMONY High Holovisor human-voice humoral Indolenz Input
Insider Interdependenz Interferone
JUMP
KASKA Kohärent
– Anweisung in BASIC, auf eine andere als die nächstfolgende Programmzeile zu springen – Halleyscher Komet, der alle 76 Jahre in Sonnennähe kommt – eine Musikagentur (fiktiv) – (engl.) Hochbahn – fiktives Gerät zur holographischen Projektion – (engl.) menschliche Stimme – (lat.) die Körperflüssigkeiten betreffend – (lat.) Unempfindlichkeit, Gleichgültigkeit – BASIC-Anweisung, bei einer bestimmten Programmzeile Eingaben abzuwarten – (engl.) an die jeweiligen Verhältnisse angepaßter Mensch – (lat.) gegenseitige Abhängigkeit – (lat.) gegen Viren wirksame und Immunität regulierende Substanzen in der Zelle – entspricht GOTO (s.d.) oder GOSUB (s. d.) in der Programmsprache BASIC – eine Versicherung (fiktiv) – (lat.) Lichtstrahlen, die im gleichen Raum- und Zeitpunkt gleiche Wellenlänge und feste Phasenbeziehungen haben
LET
– BASIC-Anweisung zur Zuordnung von Werten für Variablen LOAD – Kommando an den Rechner, Informationen in den Speicher aufzunehmen Mandelbrot-Fraktels – computergraphische Bilder, die bei Versuchen entstehen, weitgehend ungeordnete Prozesse rechnerisch zu durchdringen MASCH PRIBORINTORG – sowjetische Exportfirma MEM – Abkürzung für Macrocyte Electrophoretic Motility (engl.): elektrophoretischer Test zur Krebsfrüherkennung MENÜ – Programmsortiment Mohorovicic-Diskontinuität – Grenze zwischen äußerer Kruste und darunter liegendem Mantel des Erdkörpers monotone Funktion – mathematischer Begriff: bestimmter Typ reeller Funktionen Most rigerous degree – (engl.) strengsten Grades Moving Art – (engl.) eine Art der Computergraphik (fiktiv) NEW – Anweisung in BASIC, die alle im Arbeitsspeicher befindlichen Programme löscht Nyquist, Harry – (geb. 1889) schwedischer Elektrotechniker, studierte und arbeitete in den USA OFF – beim Umgang mit Computern: aus ON – beim Umgang mit Computern: an Oneline – (engl.) in Reihe geschaltet
OPERATION
– Grundleistungen von Rechnern, z.B. Rechenarten, logische und Vergleichsoperationen Outer-Marginal – (engl.) Hauptverkehrsader, die die Außenbezirke der Stadt ringförmig verbindet (fiktiv) OVERLAY – Anweisung in einer höheren Computersprache, bestimmte Perioden anderen Perioden zu überlagern Panel – (engl.) Bedienpult Past’ asciutta – (ital.) ein würziges Nudelgericht Permutation – (lat.) mathematische Operation, bei der von einer endlichen Anzahl von Elementen immer sämtliche Elemente verwendet werden müssen phoneatrische Technologie – eine die Lautbildung betreffende Technologie Pixel – Bildpunkt Polymetric Souls, Racs und Problems – (engl.) Musikstile (fiktiv) Polypan – ein Kunststoff (fiktiv) Print – Anweisung in BASIC, einen errechneten Inhalt auf dem Bildschirm darzustellen Problem-Arts- Exhibition – (engl.) Ausstellung von Exponaten der Problem-Kunst (fiktiv) Puffer – hier: elektronisches Funktionselement Quanteln – in Teile zerlegen RAM – Random Access Memory, SchreibLese-Speicher (Arbeitsspeicher) des Rechners RANDOM – hier: Zufallsgenerator
READ REFRESH
Research RETURN
RNA-Replikation ROM
ROTATION RUN SAVE
scannen Shannon, Claude
Shining-Stick Signifikanz Soft-error
– BASIC-Anweisung, die gespeicherten Variablen Werte zuweist – elektronische Manipulationen, durch die z. B. Unschärfen in ComputerBildern korrigiert werden können – (engl.) Forschung – Anweisung in BASIC, z. B. nach GOSUB zu der Programmzeile zurückzukehren, in der das Programm unterbrochen wurde – identische Verdopplung der DNS als Träger der Erbsubstanz im Zellkern – Read Only Memory, „Nur-LeseSpeicher“ (Festwertspeicher) des Rechners – städtisch-kommunales Organisationssystem (fiktiv) – Anweisung in BASIC, z.B. ein im RAM stehendes Programm zu starten – Anweisung in einer höheren Programmsprache, Eingaben z. B. von einem Floppy in den Speicher zu übernehmen – punkt- und zeilenweise abtasten – (geb. 1916), amerikanischer Mathematiker und Informatiker, Prof. am Mass. Inst. of Technology in Cambridge – (engl.) Lutscher, der selbst leuchtet (fiktiv) – (lat.) Grad der Sicherheit z.B. einer statistisch gewonnenen Aussage – (engl.) Programmfehler
STRING
– Computeranweisung in Form von Buchstaben- oder Zeichenketten Struktogramm – Programmablaufplan Sub – (engl.) Untergrundbahn Supervisor – computerinternes Überwachungssystem Synapse – (grch.) Strukturen des Nervensystems, die Erregungen von einem Neuron auf ein anderes übertragen System for Nuclear Auxiliary Power (SNAP) – (engl.) Atombatterie für Raumflugkörper Tooner – (engl.) Lautsprecher Tranquilizer – (engl.) Beruhigungsmedikament Trial-und-Error- Methode – (engl.) Versuch-Irrtum-Methode Twilight – (engl.) Dämmerung, Zwielicht Tyndall-Licht – Streulicht Up – (engl.) hier: Kurzwort für aufwärts fahrenden Lift User-ldentifier (UI) – (engl.) Benutzer-Identifizierer Vert de Zinc – (frz.) Zinkgrün Vocoder – Gerät oder Bauteil zur Erzeugung computergesteuerter, synthetischer Sprache Wiechert-Disko – Grenze zwischen Mantel und Kern des Erdkörpers Zero – (engl.) Null Zoom – (engl.) sogenannte Gummilinse Zytokine – aktivierende Zellsubstanzen