Buch Victor ist ein so eiskalter wie brillanter Auftragskiller. Nachdem er jahrelang gewissermaßen freiberuflich tätig ...
110 downloads
1196 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Buch Victor ist ein so eiskalter wie brillanter Auftragskiller. Nachdem er jahrelang gewissermaßen freiberuflich tätig war, führte ihn sein letzter Auftrag unglücklicherweise in die Arme der CIA, und um seine Haut zu retten, blieb ihm nur eines übrig: sein Können in den Dienst des stellvertretenden Direktors der CIA, Roland Procter, zu stellen. Nun soll Victor in dessen Diensten zwei international operierende Waffenhändler ausschalten: Vladimir Kasakov und Baraa Ariff. Ariff ist ein vergleichsweise kleiner Fisch – er handelt mit AK47-Sturmgewehren und Panzerbüchsen –, während Kasakov für seine Kunden schwerere Geschütze bereithält: Panzer, Flugzeuge und Helikopter. Dank ihrer tatkräftigen Unterstützung von Diktatoren, Terroristen und Todesschwadronen in aller Welt wird die Maschinerie des Mordens am Laufen gehalten. Wenn es gelänge, die beiden zu beseitigen, würde das vermutlich Tausende von Menschen vor dem Tod bewahren. Doch Victors Mission, die ohnehin schon schwierig genug ist, läuft schließlich aus dem Ruder. Und schon bald sind es nicht mehr nur Kasakov und Ariff, die um ihr Leben fürchten müssen …
Autor Tom Wood ist freischaffender Bildeditor und Drehbuchautor. Er wurde in Staffordshire, England, geboren und lebt mittlerweile in London. Sein Debütroman »Codename Tesseract« wurde von Kritik wie Lesern begeistert gefeiert. Mit »Zero Option« stellt Tom Wood sein einzigartiges Talent als Autor mitreißender Actionthriller erneut unter Beweis.
Mehr zum Autor und seinen Büchern finden Sie unter www.tomwoodbooks.com
Tom Wood Zero Option Thriller Aus dem Englischen von Leo Strohm
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »The Contract« bei Thomas Dunne Books, an imprint of St. Martin’s Press, New York. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung April 2012 Copyright © der Originalausgabe 2011 by Tom Hinshelwood Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagfoto: FinePic, München Redaktion: Gerhard Seidl AB · Herstellung: Str. Satz: omnisatz GmbH, Berlin ISBN: 978-3-641-06907-0 www.goldmann-verlag.de
Kapitel 1 Bukarest, Rumänien
Es war ein guter Morgen, um einen Mord zu begehen. Undurchdringliche graue Wolken verhüllten die Sonne und lagen wie eine Decke über der dunklen, stillen Stadt. Genau so gefiel es ihm. Gemächlich ging er durch die Straßen. Er war genau im Zeitplan. Ein feiner Regen setzte ein. Ja, wirklich, ein ausgesprochen guter Morgen, um einen Mord zu begehen. Vor ihm schob sich ein Müllwagen langsam die Straße entlang. Die orangefarbenen Warnleuchten blinkten, die Scheibenwischer schwappten hin und her und fegten den morgendlichen Nieselregen von der Windschutzscheibe. Müllmänner gingen hinter dem Fahrzeug her, die Hände schützend unter die Achselhöhlen geschoben, bis sie beim nächsten Müllsackberg auf dem Bürgersteig angelangt waren. Sie unterhielten sich miteinander, lachten hin und wieder. Die Abgase kondensierten in der kühlen Frühlingsluft zu dichten Wolken. Er schritt mitten hindurch, und die Männer unterbrachen ihr
Geplänkel. In den wenigen Sekunden, bis er wieder verschwunden war, spürte er, wie sie ihn musterten. Es gab eigentlich nichts Auffälliges zu sehen. Er war gut gekleidet – ein langer Wollmantel über einem dunkelgrauen Anzug, schwarze Lederhandschuhe, dicksohlige Oxfordschuhe. In der linken Hand hielt er einen Aktenkoffer aus Metall. Die dunklen Haare waren kurz geschnitten, der Bart sauber gestutzt. Trotz der Kälte hatte er nur die obersten beiden der insgesamt vier Mantelknöpfe zugeknöpft. Ein Geschäftsmann auf dem Weg ins Büro, genau so sah er aus. Und in gewisser Weise war er ja auch ein Geschäftsmann, nur wären sie vermutlich niemals darauf gekommen, in welcher Branche er tätig war. Hinter ihm krachte mit lautem Getöse ein Mülleimer auf die Straße, und er warf einen Blick über die Schulter zurück. Schwarze Müllsäcke lagen aufgerissen auf dem Boden, ihr Inhalt war auf den Asphalt gekippt. Die Müllmänner stöhnten und beeilten sich, um den ganzen Abfall wieder einzusammeln, bevor der Wind ihn in alle Richtungen verteilen konnte. Kurze Zeit später stand der Geschäftsmann vor
einem großen Wohnblock, der die umgebenden Häuser um etliche Stockwerke überragte. Balkone und Satellitenschüsseln ragten aus der düsteren braunen Fassade hervor. Er setzte seine Schritte sehr bewusst, wollte auf gar keinen Fall gehetzt wirken und stieg das halbe Dutzend Treppenstufen bis zur Haustür hinauf. Mit dem Schlüssel, den er am Tag zuvor erst hatte machen lassen, schloss er auf und trat ein. Im Inneren gab es zwei Fahrstühle, doch er nahm die Treppe, zweiundzwanzig Absätze bis zur obersten Etage. Er musste sich nicht einmal nennenswert anstrengen. Hinter der Treppenhaustür erstreckte sich ein langer, nichtssagender Korridor. In regelmäßigen Abständen waren Wohnungstüren mit einer Nummer und einem Türspion zu erkennen. Der Fußbodenbelag war aus schmutzigem Linoleum, und die verblasste Farbe an den Wänden blätterte an vielen Stellen bereits ab. Es war kühl und roch nach einem starken Desinfektionsmittel. Irgendwo weinte leise ein Baby. Am Ende des Korridors, dort, wo er in einen zweiten Flur mündete, befand sich eine Tür mit der Aufschrift
Gebäudewartung. Er stellte seinen Aktenkoffer ab und holte ein kleines Butterpäckchen aus seiner Manteltasche, das aus einer Frühstücksbar in der Nähe stammte. Er wickelte die Butter aus und verteilte sie sorgfältig auf den Türscharnieren. Die leere Verpackung steckte er wieder in die Manteltasche. Dann zog er aus der Innentasche seines Mantels zwei kleine Metallwerkzeuge: einen Spanner und einen schlanken, gekrümmten Haken. Die Qualität des Schlosses lag deutlich über dem Durchschnitt, aber der Geschäftsmann brauchte keine sechzig Sekunden, um es zu knacken. Da öffnete sich hinter ihm eine Tür. Er ließ das Einbruchswerkzeug in seiner Tasche verschwinden. Irgendjemand sagte etwas in ruppig klingendem Rumänisch. Der Mann mit dem Aktenkoffer sprach mehrere Sprachen, aber diese gehörte nicht dazu. Er blieb noch einen Augenblick stehen, den Blick zur Tür gewandt, für den Fall, dass der andere mit jemandem in seiner Wohnung gesprochen hatte. Die Chance war zwar nicht groß, aber er musste es zumindest versuchen. Da ertönte die Stimme erneut. Dieselben kehligen
Worte, nur lauter. Ungeduldig. Den Rücken noch immer dem Sprecher zugewandt, schob der Geschäftsmann die rechte Hand in seinen Mantel. Er zog sie wieder hervor und schmiegte sie eng an seine Hüfte, sodass sie nicht zu sehen war. Schließlich drehte er sich nach links zu dem Hausbewohner um, den Kopf nach vorn geneigt, damit seine Augen im Schatten lagen. Ein korpulenter Mann mit einem etliche Tage alten Stoppelbart beugte sich zu seiner Wohnungstür heraus und hielt sich mit fetten Fingern am Türrahmen fest. Zwischen seinen dicken Lippen hing eine Zigarette. Er musterte den Mann mit dem Aktenkoffer von oben bis unten und nahm dann mit zitternden Fingern die Zigarette aus dem Mund. Aschereste fielen auf das schäbige Linoleum. Er schwankte leicht und fing dann wieder an zu sprechen. Schleppend und undeutlich kamen die Worte aus seinem Mund. Ein Betrunkener also. Keine Gefahr. Der Geschäftsmann ignorierte ihn, nahm seinen Aktenkoffer und ging den abzweigenden Korridor entlang, entfernte sich von dem Betrunkenen, bevor
dieser noch mehr Lärm machen konnte. Als hinter ihm eine Tür ins Schloss gedrückt wurde, blieb er stehen und kehrte lautlos zurück. Vorsichtig linste er um die Ecke, sah niemanden und steckte die NeunMillimeter- Beretta 92F zurück in die Innentasche seines Mantels, nachdem er sie wieder gesichert hatte. Der Raum hinter der Gebäudewartungstür war vollkommen dunkel. Irgendwo war ein tropfender Wasserhahn zu hören. Der Geschäftsmann knipste eine kleine Taschenlampe an. Der schmale Lichtstrahl glitt über nackte Backsteinwände, Rohrleitungen, Kisten und eine Metalltreppe an der Seite. Er schlängelte sich darauf zu und stieg lautlos hinauf. Die rostige Dachklappe war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Es war nur unwesentlich schwerer zu knacken als das Türschloss zuvor. In elf Stockwerken Höhe biss eisiger Wind in sein Gesicht und jeden Quadratzentimeter entblößter Haut. Doch nach wenigen Sekunden hatte sich der Luftdruck im Treppenhaus angeglichen, und der Schmerz ließ nach. Er duckte sich, um möglichst wenig Sichtfläche zu bieten, und schob sich zum westlichen Dachrand. Der Wind blies die Wolken in
Richtung Norden, und das Glühen der aufgehenden Sonne konnte sich jetzt über der ganzen Stadt verbreiten. Bukarest lag ihm zu Füßen, erwachte langsam aus dem Schlaf. Abgesehen von seinem momentanen Aufenthaltsort eine ausgesprochen schöne Stadt. Es war sein erster Besuch hier, und er hoffte, dass seine Arbeit ihn bald wieder einmal hierher- führen würde. Jetzt wandte er sich dem Aktenkoffer zu, schloss ihn auf und klappte den Deckel hoch. Eine dichte Schaumstoffhülle umgab das zerlegte Heckler & Koch MSG-90. Als Erstes befestigte er den Lauf am Gewehrkolben mit der integrierten Abzugsgruppe. Dann brachte er das Hensoldt-Zielfernrohr an, gefolgt vom Schaft und von dem zwanzigschüssigen Magazin. Er klappte das Zweibein auf und stellte die Waffe auf die niedrige Dachbrüstung. Durch das Visier sah er die Stadt jetzt in zehnfacher Vergrößerung – Gebäude, Autos, Menschen. Nur so zum Spaß richtete er das Fadenkreuz auf den Kopf einer jungen Frau und folgte ihr, ahnte ihre Bewegungen und Richtungswechsel voraus, behielt sie ununterbrochen im Visier. Glück gehabt, Mädchen,
dachte er und verzog den Mund zu einem seltenen Lächeln. Er hob den Kopf, veränderte die Position des Gewehrs und blickte anschließend noch einmal durch das Fernrohr. Nun war es auf den Eingang des Grand Plaza Hotel in der Calea Dorobantilor gerichtet. Das achtzehnstöckige Gebäude besaß eine moderne Fassade aus Glas und Edelstahl, die kraftvoll und zugleich grazil wirkte. Der Geschäftsmann hatte auf seinen zahlreichen Reisen rund um den Erdball bereits etliche Hotels der Howard-Johnson-Kette kennengelernt, aber dieses hier noch nicht. Falls das Grand Plaza dem durchschnittlichen bis hohen Standard der anderen Häuser entsprach, dann hatte die Zielperson vermutlich einen angenehmen Aufenthalt gehabt. Aus seiner Sicht war es absolut angemessen, dass der zum Tod Verurteilte erholt und ausgeschlafen seiner morgendlichen Hinrichtung entgegenging. Jetzt holte der Mann mit dem Gewehr einen Laser-Entfernungsmesser aus dem Aktenkoffer und visierte den Hoteleingang an. Er lag genau fünfhundertzweiundfünfzig Meter entfernt. Das war eine absolut akzeptable Entfernung und nur sechs
Meter weniger, als er geschätzt hatte. Er drehte am Höhenverstellrad, um die Einstellungen für die Entfernung und den Schusswinkel zu korrigieren. Vor dem Hoteleingang stand ein Türsteher mit zerfurchtem Gesicht, gähnte und entblößte dabei seine schlechten Zähne. An einer Straßenlaterne ganz in der Nähe flatterte ein lilafarbenes Band im Wind. Der Mann mit dem Gewehr beobachtete es einen Augenblick lang und schätzte die Windgeschwindigkeit. Acht, vielleicht auch achteinhalb Stundenkilometer. Er nahm die entsprechende Einstellung an seinem Hensoldt vor und fragte sich, wann wohl jemand die Bedeutung dieses scheinbar so harmlosen Bandes erkennen würde. Womöglich gar nie. Er fuhr die Vergrößerung etwas zurück, um mehr von der Hotelfassade zu sehen. Nur wenige Menschen waren in der Nähe. Einige Fußgänger, ein paar vereinzelte Hotelgäste, aber keine Menschenmassen. Das war gut. Er war zwar ein exzellenter Schütze, aber da er nur wenige Sekunden zur Verfügung hatte, brauchte er unbedingt freie Schussbahn. Im Prinzip war es ihm
zwar gleichgültig, ob er noch andere Personen erschießen musste, die das Pech gehabt hatten, zwischen ihn und sein eigentliches Ziel zu geraten, aber in solchen Fällen ließ sich nie ausschließen, dass die Zielperson vorzeitig über ihr eigenes bevorstehendes Ableben informiert wurde, und falls sie nicht komplett unzurechnungsfähig war, setzte sie sich daraufhin normalerweise in Bewegung. Der Mann mit dem Gewehr blickte auf seine Armbanduhr. Das unglückselige Opfer des heutigen Tages würde in Kürze auftauchen, falls der Zeitplan, den er zusammen mit dem Dossier erhalten hatte, zutreffend war. Der Geschäftsmann hatte keinen Anlass, den Informationen seines Klienten zu misstrauen, auch wenn es das erste Mal war, dass er mit diesem Auftraggeber zusammenarbeitete. Noch eine Drehung am Zielfernrohr, und er konnte das Hotel in seiner gesamten Breite sowie zwei Drittel seiner Höhe erkennen. In den Fenstern der obersten drei sichtbaren Stockwerke spiegelte sich das Licht der aufgehenden Sonne. Schließlich glitt eine Limousine von der Straße in die Hoteleinfahrt und hielt vor dem Haupteingang. Ein breitschultriger Weißer in beigefarbenem
Jackett und einer dunklen Jeans stieg aus und erklomm mit den schneidig-effizienten Bewegungen eines Bodyguards die Eingangstreppe. Er blickte vor und zurück, schnell und effektiv. Er registrierte sämtliche Personen in der Nähe, suchte nach Anzeichen für eine Bedrohung und wurde nirgendwo fündig. Der Mann mit dem Gewehr spürte sein Herz schneller schlagen, während der entscheidende Moment in rasantem Tempo näher rückte. Er atmete tief ein und aus, versuchte zu verhindern, dass sein rasender Pulsschlag sich negativ auf seine Treffsicherheit auswirkte. Er wartete. Nach einer Minute kam der Leibwächter wieder ins Freie und baute sich in der Mitte der Treppe auf. Er blickte sich noch einmal nach allen Seiten um, dann gab er ein Handzeichen in Richtung Hoteleingang. In wenigen Sekunden würde die Zielperson herauskommen. Nach Angaben des Dossiers reiste die Zielperson – ein Ukrainer – normalerweise in Begleitung mehrerer Leibwächter, die dann natürlich auch im selben Hotel untergebracht waren. Es handelte sich ausschließlich um ehemalige Militärs oder
Geheimdienstangehörige. Sie würden den Ukrainer mit Sicherheit in ihre Mitte nehmen, was einen normalerweise relativ unproblematischen Schuss relativ schwierig werden ließ. Der Mann mit dem Gewehr hatte sich für das MSG-90 entschieden, weil es eine Halbautomatikwaffe war, mit der er mehrere Schüsse innerhalb weniger Sekunden abgeben konnte. Die 7,62 x 51 Millimeter großen Vollmantelgeschosse besaßen genügend Durchschlagskraft, um einen menschlichen Körper zu durchschlagen und auch noch einen zweiten, dahinterstehenden Menschen zu töten. Darüber hinaus verwendete er Spezialpatronen mit einem Wolframkern. Für sie würden auch die Schutzwesten, die sowohl die Leibwächter als auch die Zielperson höchstwahrscheinlich trugen, kein Hindernis darstellen. Der Ukrainer konnte sich hinter zwei gepanzerten Männern verstecken und würde dennoch sterben. Bevor der Geschäftsmann näher heranzoomen konnte, um die letzten Vorbereitungen für den Schuss zu treffen, bemerkte er ein kurzes, helles Flackern. Es kam aus einem Fenster im dreizehnten
Stock des Hotels. Mit einer schnellen Bewegung hob er das MSG-90 an und blickte durch das Zielfernrohr, um den Ursprung des Lichtflecks zu suchen. Womöglich ein Hotelgast, der mit einem Teleskop oder Fernglas die Stadt betrachten wollte. Und wenn dieser Hotelgast sich oberhalb seiner eigenen Position befand, dann ließ sich nicht ausschließen, dass er versehentlich entdeckt wurde. In diesem Fall musste er das Attentat vergessen und sich sofort aus dem Staub machen. Es wäre sinnlos gewesen, erst noch die Zielperson zu ermorden, nur um anschließend verhaftet zu werden. Sobald das Fadenkreuz genau auf dem Fenster saß, justierte er an seinem Zielfernrohr die Vergrößerung und erkannte, dass sich das Sonnenlicht nicht etwa auf den Linsen eines Fernglases oder eines Teleskops spiegelte, sondern in einem Zielfernrohr, genau wie seinem. Unterdrücktes Mündungsfeuer verwandelte die Überraschung des Geschäftsmanns in tiefes Entsetzen, das keine Sekunde lang andauerte. Dann hatte die Kugel seinen Kopf erreicht. Rosafarbener Nebel hing in der Luft.
Kapitel 2 Victor sah die Leiche aus seinem Blickfeld verschwinden und nahm das Auge vom Zielfernrohr, während das Schussgeräusch langsam verhallte. Der lang gestreckte Schalldämpfer seines Gewehrs hatte zwar den Mündungsknall unterdrückt, aber gegen den mächtigen Überschallknall, mit dem das Geschoss die Schallgrenze durchbrochen hatte, ließ sich nichts machen. Jeder, der etwas davon verstand, wusste jetzt, dass irgendwo ein Schuss abgefeuert worden war, aber ohne das dazugehörige Mündungsfeuer war er praktisch nicht zu orten. Hätte er Unterschallmunition verwendet, dann hätte er so gut wie gar kein Geräusch verursacht, aber in Bukarest war es windig, und auf eine Entfernung von fünfhundertfünfzig Metern hätten langsamere Projektile ein zu großes Risiko bedeutet. Das Fenster des Hotelzimmers hatte sich für seine Zwecke nicht weit genug öffnen lassen, darum hatte Victor den ganzen Fensterflügel abmontiert. Es war kalt im Zimmer, aber der Luftzug ließ die penetrant riechenden Pulverdämpfe schnell
abziehen. Wenn er den Gewehrlauf zum Fenster hinausgestreckt hätte, hätte es zwar weniger Gestank hinterlassen, aber er wäre sehr viel leichter zu entdecken gewesen. So etwas machten nur Amateure. Schnell, aber ohne Hast schraubte Victor den Schalldämpfer vom Lauf und nahm das Gewehr auseinander. Die einzelnen Teile legte er in die dafür vorgesehenen Schaumstoffmulden eines ledernen Aktenkoffers. Das Ganze dauerte keine fünfzehn Sekunden. Mit einem Taschentuch hob er die heiße Patronenhülse vom Boden auf und steckte sie in eine Tasche. Anschließend schob er den Sessel, den er benutzt hatte, vom Fenster zurück an seinen ursprünglichen Platz. Mit dem Fuß beseitigte er die Druckstellen der Sesselbeine aus dem Teppich vor dem Fenster. Er setzte den Fensterflügel wieder ein und glättete mit einem kleinen Stück Schmirgelpapier die Schraubenköpfe. Dann blickte er sich um, suchte nach irgendwelchen Anzeichen für seine Anwesenheit. Es war ein modernes Hotelzimmer, ordentlich und sehr sauber. Neutrale Farben. Jede Menge Edelstahl und leichtes Holz. Völlig
unpersönlich, aber nicht abstoßend. Er sah nichts, weswegen er sich Gedanken machen müsste. Das Bett hatte er genauso wenig benutzt wie die Toilette, er hatte nicht einmal den Wasserhahn angefasst. So schwer es gewesen war, der Anziehungskraft der luxuriösen, außerordentlich fein gewebten Bettwäsche zu widerstehen, aber das Zimmer war ein Arbeitsplatz, mehr nicht, und es wäre ein sinnloses Risiko gewesen, den gebotenen Komfort in Anspruch zu nehmen. Es war schlicht und einfach nicht Victors Stil, dort zu schlafen, wo er einen Auftrag auszuführen hatte. Erleichtert, dass er keine Spuren hinterlassen hatte, die ihn irgendwie mit dem Zimmer in Verbindung bringen konnten, legte Victor den Aktenkoffer in einen größeren Koffer, klappte ihn zu und verließ den Raum. Sein Herzschlag lag etwa zwei Schläge pro Minute über dem Ruhepuls. Wegen Fingerabdrücken brauchte er sich keine Gedanken zu machen. Er hatte seine Hände mit einer durchsichtigen Silikonlösung bestrichen, sodass sie keinerlei Fettspuren hinterlassen konnten. Um nicht von der Überwachungskamera neben
dem Fahrstuhl erfasst zu werden, nahm er die Treppe ins Erdgeschoss und durchquerte das Foyer, ohne auf das dort herrschende Durcheinander zu achten. Den Kopf hielt er leicht gesenkt, damit die Kameras nur seine Stirn und seine Haare zu sehen bekamen. In der Nähe des Hoteleingangs redete ein großer, breitschultriger Mann, bekleidet mit einer Jeans und einer beigefarbenen Wildlederjacke, aufgeregt auf einen älteren Mann von ähnlicher Statur ein. Beide sahen osteuropäisch, slawisch aus – Russen oder womöglich auch Ukrainer. Der Ältere sah aus wie Ende vierzig und trug einen schönen schwarzen Nadelstreifenanzug, der sich perfekt an seinen großen, muskulösen Körper schmiegte. Sein kurz geschnittenes schwarzes Haar wurde an den Schläfen schon etwas grau, und er war glatt rasiert. Er hatte Victor seine linke Körperseite zugewandt, sodass das gezackte Narbengewebe am unteren Ende seines Ohrs deutlich zu erkennen war. Das Ohrläppchen fehlte. Die beiden Slawen wurden von vier weiteren Männern umringt. Allesamt blasse Osteuropäer, allesamt in schwarzen Anzügen, allesamt muskulös,
wenn auch nicht übertrieben, allesamt mit dem Auftreten ehemaliger Elitesoldaten und hervorragend ausgebildeter Bodyguards. Sie formten einen taktischen Schutzschirm um den Mann in der Wildlederjacke und den älteren im Nadelstreifenanzug. Jeder blickte in eine andere Richtung, sodass ihre Gesichtsfelder sich überschnitten. Sie waren aufmerksam, gewissenhaft, die Greifhand in Hüftnähe, jederzeit bereit, ihr Gehalt zu rechtfertigen. Als Victor sich dem Tresen näherte, hörte er, wie der Mann in der Wildlederjacke auf Russisch erklärte, warum der Mann im Nadelstreifenanzug – der VIP – im Foyer warten musste. Victor tat, als würde er kein Wort verstehen, und stellte sich so an den Empfangstresen, dass das Objektiv der nächstgelegenen Überwachungskamera auf seinen Hinterkopf gerichtet war. Der Mann an der Rezeption machte einen nervösen Eindruck und starrte die slawischen Männer an, ohne Victor zu bemerken, so lange, bis dieser ihm eine Hand vor die Augen hielt. »Bitte entschuldigen Sie, Sir«, sagte er auf
Englisch mit rumänischem Akzent. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« »Ich würde gerne auschecken.« Victor nannte ihm seinen Namen und die Zimmernummer, gab seine Schlüsselkarte ab und wartete, während der Portier all die Dinge erledigte, die es zu erledigen gab. Dabei lauschte er auf jedes Wort, das zwischen dem Chef-Leibwächter und seinem VIP gesprochen wurde. Als er die Rechnung kontrollierte und die Papiere unterschrieb, näherten sich feste Schritte in seinem Rücken. Normalerweise ließ Victor es nicht zu, dass jemand von hinten auf ihn zukam, aber zum einen schränkte die Überwachungskamera seine Bewegungsfreiheit ein, und zum anderen konnte er sich jetzt, während des Auscheckens, nicht gut umdrehen, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und die Leibwächter machten nicht den Eindruck, als ob sie sich solche verräterischen Bewegungen entgehen lassen würden. Darum blieb Victor regungslos stehen, während er seine Unterschrift an den unteren Rand des Formulars setzte, und empfing, als der Leibwächter an den Tresen trat und dem Mann an der Rezeption
ein paar Anweisungen zubellte, den erwarteten Stoß gegen die Schulter. Victor duckte sich nicht weg und setzte dem Stoß keinen Widerstand entgegen – auch das nur, um seine Tarnung als x-beliebiger Hotelgast aufrechtzuerhalten –, aber der Bodyguard brachte wohl gut über hundert ausgesprochen nützliche Kilogramm auf die Waage. Victor stolperte. Wahrscheinlich fand er sein Gleichgewicht schneller wieder als ein normaler überraschter Geschäftsmann, aber nur deshalb, weil er sonst unweigerlich auf dem Fußboden gelandet wäre. Bevor er die erwartete aufgebrachte – aber nicht zu aufgebrachte – Bemerkung loswerden konnte, hörte er den Mann im Nadelstreifenanzug rufen:
»Nikolai.« Der Kerl mit der Wildlederjacke drehte sich um und blickte seinen Boss an. Victor ebenfalls. Der VIP stürmte auf seinen Chef-Leibwächter zu, während die anderen vier Bodyguards sich nach Kräften bemühten, ihn auch weiterhin nach allen Seiten abzusichern, jeweils fünf Schritte entfernt, jede Ecke des Foyers von mindestens einem Augenpaar abgedeckt. »Nikolai, du respektloser Ochse«, sagte der Mann
im Nadelstreifenanzug beim Näherkommen. »Du entschuldigst dich auf der Stelle bei dem Herrn.« Er deutete auf Victor, der den bäuerlichen ukrainischen Akzent sofort erkannt hatte. Der Leibwächter namens Nikolai blickte Victor an und sagte in tonlosem Englisch: »Entschuldigung.« »Ist schon in Ordnung«, erwiderte Victor. Der Ukrainer im Nadelstreifenanzug wandte sich ihm zu. »Bitte verzeihen Sie mir. Mein Freund muss erst noch zivilisierte Manieren lernen. Mehr Affe als Mensch. Ich hoffe, Sie sind nicht verletzt.« »Alles in Ordnung.« Victor trat einen Schritt zurück, um die Begegnung mit dem Mann, dem er gerade eben das Leben gerettet hatte, so schnell wie möglich zu beenden. Mit jeder Sekunde wurde das Risiko seiner Entdeckung größer. Der Ukrainer musterte Victor mit einer Intensität, die er nur selten erlebte, einer gewissen Vertrautheit, ungeachtet der Tatsache, dass Victor ihm nie zuvor begegnet war. Er wusste nicht genau, warum, aber irgendwie hatte er dabei ein ungutes Gefühl. Er musste sich richtig zusammenreißen, um sich nichts anmerken zu lassen.
»Oh, nein«, sagte der Ukrainer, als sein Blick nach unten wanderte. »Ihr Anzug.« Victor sah ebenfalls hin und entdeckte den kleinen Riss in seinem rechten Jackettärmel. Er musste sich an der Ecke des Tresens verfangen haben, als er ins Stolpern geraten war. »Das ist schon in Ordnung«, sagte Victor. »Kann man nähen.« »Nein, der Anzug ist ruiniert.« Der Ukrainer wandte sich an Nikolai und sagte auf Russisch: »Du dämliches Arschloch, siehst du, was du angerichtet hast?« Und dann wieder zu Victor: »Es tut mir wirklich aufrichtig leid. Das ist ein sehr schöner Anzug. Man sieht, dass Sie ein Mann sind, der auf sein Äußeres achtet, genau wie ich. Ich würde Ihnen ja Geld geben, damit Sie sich einen Ersatz besorgen können, aber ich habe überhaupt kein Bargeld bei mir, und wer trägt in der heutigen Zeit noch ein Scheckbuch mit sich herum?« »Das ist nicht nötig, wirklich nicht«, sagte Victor. Vermutlich hätte er weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wenn er Nikolai vorhin mit einem Rückwärtssalto aus dem Weg gegangen wäre.
»Aber auf jeden Fall ist das nötig.« Der Ukrainer griff in die Innentasche seines Jacketts und zog eine Visitenkarte hervor. Diese reichte er Victor. »Ich fürchte, ich befinde mich im Augenblick in einer etwas problematischen Situation, ansonsten hätte ich Ihnen einen neuen Anzug gekauft, aber hier ist meine Karte. Rufen Sie mich an, dann finden wir eine Lösung. Und sollten Sie nach Moskau kommen, dann lasse ich Ihnen von meinem Schneider einen Anzug machen, dass Ihnen die Tränen kommen.« Victor nahm die Karte entgegen. Darauf stand in kyrillischen und in lateinischen Buchstaben: Vladimir Kasakov, außerdem eine Telefonnummer und eine Moskauer Büroadresse. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. Kasakov«, erwiderte Victor. »Und jetzt, bevor meine Mitarbeiter noch weiteren Schaden anrichten können, muss ich Sie bitten, mich zu entschuldigen.« Victor nickte und machte sich auf den Weg zum Haupteingang. Er drehte sich nicht um, aber er spürte die Blicke, die sich in seinen Rücken bohrten. Draußen war es kalt, und der Türsteher wirkte viel zu
zerbrechlich und zu alt für eine solche Arbeit, besonders bei diesem Wetter. Victors Blick wanderte hinüber zu dem elfstöckigen Gebäude, dessen Hässlichkeit selbst auf fünfhundertfünfzig Meter Entfernung unübersehbar war. Der Attentäter hatte die richtige Wahl getroffen. Es gab zwar auch andere, weniger weit entfernte Gebäude, die aber ungünstiger positioniert waren und keine freie Sicht auf den Hoteleingang boten. Victor hätte sich im umgekehrten Fall ebenso entschieden. Allerdings hätte er besser aufgepasst, um nicht auf dem Hausdach zu sterben. Victor sah sein Spiegelbild in der Glastür des Hotels, und ihm fiel auf, dass er dem Mann, den er erschossen hatte, gar nicht so unähnlich sah. Schwarzer Mantel, darunter ein dunkelgrauer Anzug mit weißem Hemd und himmelblauer Krawatte. Die perfekte Tarnung für die Großstadt. Seine dunklen Haare waren kurz und unauffällig geschnitten, sein Bart gestutzt. Er wirkte wie ein Börsenmakler oder Rechtsanwalt, ein Mann mit einem gepflegten, aber unauffälligen Äußeren. Er passte sich der Umgebung an, wurde selten gesehen, kaum wahrgenommen. Gleich wieder vergessen.
Im Taxi wickelte er einen Streifen Pfefferminzkaugummi aus und steckte ihn sich in den Mund. Irgendwo hatte er gelesen, dass Kaugummi ein guter Ersatz für Zigaretten war, aber ganz egal, wie viel er von dem Zeug kaute, man konnte es beim besten Willen nicht inhalieren. Er ließ sich zur Gara de Nord bringen und kaufte sich eine Fahrkarte nach Constanta. Sieben Minuten vor Abfahrt des Zuges stieg er ein. Sechs Minuten später erhob er sich von seinem Sitz und ging zwei Waggons weiter. Fünf Sekunden, bevor die Türen zuklappten und automatisch verriegelt wurden, stieg er aus. Er verließ den Bahnhof durch einen anderen Ausgang, bestieg ein anderes Taxi und fuhr zum Parcul Herˇastrˇau. Nachdem er eine Weile ziellos durch den Park geschlendert war, steuerte er das Charles de Gaulle Plaza an. Er setzte sich ins Foyer und griff nach einer der ausliegenden Gratiszeitschriften, wobei er den Haupteingang nicht aus den Augen ließ. Als sein Radar auch nach fünf Minuten keine Bedrohung gemeldet hatte, erhob er sich und stieg die Treppe hinunter bis ins untere Geschoss der Tiefgarage. Dann ließ er sich von einem der
Hochgeschwindigkeitsaufzüge bis in den obersten Stock bringen. Er nahm einen anderen Fahrstuhl, fuhr hinab in den dritten Stock und kehrte über die Treppe ins Foyer zurück. Anschließend verließ er das Gebäude durch einen Nebenausgang. Er steuerte die nächstgelegene U-Bahn-Station an und fuhr eine halbe Stunde lang kreuz und quer durch das U-Bahn-Netz, bevor er schließlich an der Universität wieder ans Tageslicht kam. Nach einem angenehmen Spaziergang über das Universitätsgelände fuhr er mit einem Taxi zum Bulevardul Regina Elisabeta nahe dem Rathaus und ging von dort noch ein paar Schritte zum Eingang des Parcul Ci¸smigiu. Im Park war es still und friedlich. Nur wenige Menschen begegneten ihm auf dem Weg zum Rondul Român, wo er sich Zeit nahm, um die zwölf Steinbüsten von berühmten rumänischen Schriftstellern zu betrachten, während er seine Maßnahmen zum Schutz vor Beschattern abschloss. Diese Vorsichtsmaßnahmen waren ein ebenso wichtiger Bestandteil seiner Arbeit wie das eigentliche Attentat. Die erfolgreiche Auftragsabwicklung hing entscheidend davon ab,
dass er unbemerkt blieb und keinerlei Spuren hinterließ. Fast jeder Mensch war in der Lage, einen anderen Menschen umzubringen, aber nur wenige kamen danach ungeschoren davon, und nur die allerwenigsten schafften das immer wieder. Jahrelang war Victor in völliger Anonymität seinem Geschäft nachgegangen. Als freiberuflicher Auftragskiller hatte er seine Opfer schnell, effizient und geräuschlos beseitigt. Keiner seiner Auftraggeber hatte gewusst, wer er war. Niemand hatte das gewusst. Er hatte in fast vollkommener Isolation gelebt – keine Freunde, keine Familie, niemand, der ihn hintergehen konnte, und niemand, der dazu benutzt werden konnte, ihn unter Druck zu setzen. Doch dabei war es nicht geblieben, und rückblickend musste er sich eingestehen, dass das unvermeidlich gewesen war. Er hätte schließlich am besten wissen müssen, dass niemand für immer unentdeckt bleiben konnte. Als Victor sich sicher sein konnte, dass ihm niemand gefolgt war, verließ er das Rondul Român und ging zur Mitte des Parks mit dem künstlichen See. Auf einer kunstvoll gearbeiteten
Fußgängerbrücke blieb er stehen, holte den Aktenkoffer aus seinem Koffer, sah sich um, ob er auch wirklich nicht beobachtet wurde, und ließ den Aktenkoffer unauffällig ins Wasser gleiten. Das Gewehr wog ungefähr sechseinhalb Kilogramm und sank sofort bis auf den Grund. Victor verließ den Park durch den Südostausgang und bestieg einen Bus. Er setzte sich auf die Rückbank, und als niemand mehr in seiner Nähe saß, stieg er nach einem halben Dutzend Haltestellen wieder aus. Den Koffer ließ er neben seinem Sitz auf dem Fußboden stehen. Er dachte an den Mann, dem er das Leben gerettet hatte. Victors Auftragsbeschreibung hatte keinerlei Informationen über die Zielperson seiner Zielperson enthalten, nur, dass sie überleben musste. Ohne den Zwischenfall in der Hotellobby hätte Victor wohl kaum einen Gedanken an den Mann verschwendet. Aber jetzt kannte er seinen Namen, einen Namen, dem er nicht zum ersten Mal begegnet war. Die meisten von Victors Kollegen hätten ihn erkannt. Vladimir Kasakov war einer der größten Waffenhändler des Planeten, wenn nicht sogar der größte überhaupt. Er wurde international
gesucht. Normalerweise machte Victor sich kaum Gedanken darüber, welches Motiv hinter seinen Aufträgen stecken mochte, aber jetzt fragte er sich unwillkürlich, warum sein Auftraggeber bei der CIA so scharf darauf war, diesem Mann das Leben zu retten. Es fing wieder an zu regnen, und Victor beschleunigte seine Schritte, passte sie denen der anderen Fußgänger an. Niemand interessierte sich für ihn. Oberflächlich betrachtet, das war ihm klar, wirkte er beinahe wie sie – Fleisch und Blut, Haut und Knochen –, aber genauso klar war ihm auch, dass damit das Ende der Ähnlichkeit erreicht war.
Weißt du, was dich zu etwas Besonderem macht?, hatte einmal jemand zu ihm gesagt. Menschen wie du, wie ich, wir tragen dieses Etwas in uns, das die anderen nicht haben, und entweder wir packen es beim Kragen und fangen damit etwas an, oder wir lassen zu, dass es uns zerstört. Und genau das hatte er sein Leben lang getan. Er hatte dieses Etwas beim Kragen gepackt und etwas damit angefangen. Doch vor sechs Monaten war seine ganze sorgsam aufgebaute Existenz auseinandergebrochen. In dem sich anschließenden
Strudel der Ereignisse hatte er immer wieder überlegt, ob er sich zur Ruhe setzen und versuchen sollte, ein normales Leben zu führen. Doch das war damals gewesen. Jetzt hatte er, selbst wenn er gewollt hätte, keine Chance mehr, seine Karriere einfach an den Nagel zu hängen. Falls er es dennoch versuchte, dann, das wusste er genau, würde sein neuer Arbeitgeber ihn für immer in den Ruhestand schicken.
Kapitel 3 Tunari, Rumänien
Dampf stieg aus dem Waschbecken auf. Victor drehte den Warmwasserhahn zu und tauchte den Rasierer ins Wasser. Er hatte den Bart bereits mit der Schere gestutzt, und jetzt beseitigte er die verbliebenen Stoppeln – zuerst am Hals, dann an den Wangen, am Kinn und zum Schluss an der Oberlippe. Er ging langsam und vorsichtig vor. Eine Schnittwunde oder eine Hautreizung konnte er sich jetzt nicht erlauben. Nachdem er die rasierten Flächen mit Aftershave-Balsam eingerieben hatte, griff er nach einer Schermaschine und stutzte seine Haare gleichmäßig auf etwas mehr als einen Zentimeter Länge. Als er fertig war, unterschied er sich deutlich von dem Mann, der sich angeblich im Zimmer 1312 des Grand Plaza eingemietet hatte. Die blauen Kontaktlinsen und die Fensterglasbrille, die er dort getragen hatte, hatte er entsorgt, bevor er in seinem jetzigen Hotel eingecheckt hatte. Es war ein gut besuchtes Haus in der Nähe des Flughafens Bukarest-Otopeni. Viel zu gut besucht, als dass
irgendjemand gemerkt hätte, dass ein bestimmter Gast mit kürzeren Haaren und ohne Bart wieder auscheckte. Victor hielt nicht viel von aufwendigen Verkleidungen. Wenn sie nicht von einem Make-upKünstler angefertigt wurden, dann waren sie nur selten wirklich überzeugend, besonders aus der Nähe betrachtet. Perücken und Latexfolie sorgten eher für zusätzliche Aufmerksamkeit als für Unauffälligkeit. Er absolvierte ein dreißigminütiges, intensives Trainingsprogramm, bestehend aus Kraft- und Dehnübungen, und legte sich anschließend in die Badewanne. Danach setzte er sich an den kleinen Schreibtisch in seinem Zimmer. Er griff nach einer Neun-Millimeter-SIG-Sauer P226 und zerlegte sie, reinigte sie sorgfältig und baute sie anschließend wieder zusammen. Die Pistole war eigentlich schon gereinigt und noch unbenutzt, aber die vertraute Tätigkeit half ihm dabei, sich zu entspannen. Die SIG hatte ihm sein CIA-Auftraggeber besorgt, genau wie das Gewehr, eine Dakota Longbow. Die Waffen hatten im Kofferraum einer unauffälligen Limousine auf dem Langzeitparkplatz des Flughafens bereitgelegen.
Zugegeben, es erleichterte Victors Arbeit spürbar, dass er sich seine Waffen nicht selbst besorgen und über Landesgrenzen transportieren musste, doch weit schwerer als diese Annehmlichkeiten wog das Gefühl, dass er die Kontrolle über sein Leben aus der Hand gegeben hatte. Jahrelang war er nur sich selbst gegenüber verantwortlich gewesen, hatte vollkommen unabhängig agiert. Und jetzt, wo er von einem einzelnen Menschen oder einer Organisation abhängig war, kam er sich vor, als hätte man ihm die Füße in Beton eingegossen. Aber was noch schlimmer war: Sein persönliches Risiko wurde dadurch um ein Vielfaches größer als sonst. Sein Auftraggeber wusste nicht nur, wen er wann umbringen würde, er kannte auch die Methode und wusste, wo er sich die dazu notwendigen Werkzeuge besorgte. Mit diesen Informationen ließen sich seine sämtlichen Vorsichtsmaßnahmen mühelos umgehen. Doch im Augenblick hatte er keine große Wahl. Die Bedingungen für sein Engagement verpflichteten ihn dazu, sämtlichen Anweisungen Folge zu leisten. Im Gegenzug wurde er gut bezahlt, und sein Einsatz-Koordinator von der CIA fungierte
als Puffer zwischen Victor und gewissen anderen Parteien, einschließlich der gesamten übrigen CIA, die ihm das Leben außerordentlich schwer machen konnten, bevor sie es auslöschten. Victor war außerdem verpflichtet, keine Aufträge von anderen Quellen anzunehmen, und hatte sich bisher an diese Bedingung gehalten. Seine Tage als unabhängiger Freiberufler waren Vergangenheit. Er war jetzt ein CIA-Auftragskiller. Ein verzichtbarer Posten. Nur noch ein Sklave mit einer Pistole. Sein linker Unterarm schmerzte, und er rieb ihn sanft. Dort waren zwei schmale Narben zu sehen, seine beiden Neuerwerbungen – eine an der Ober-, die andere an der Unterseite. Dort hatte sich ein Messer einmal quer durch den Arm gebohrt. Die Wunde war gut verheilt, und er hatte nichts von seiner Beweglichkeit eingebüßt. Ein plastischer Chirurg hatte dafür gesorgt, dass nur minimale Narben zurückgeblieben waren, aber trotzdem … gelegentlich tat die Wunde noch weh. Eine von Victors Grundregeln besagte, dass die Fenster sowie Fensterläden, Jalousien oder Gardinen jederzeit geschlossen bleiben mussten. Daher spähte Victor jetzt, als er zum Fenster
hinausschauen musste, durch den schmalen Spalt zwischen den Vorhängen. Er gestattete ihm einen eingeschränkten Blick auf die Welt da draußen … eine Welt, die er schon lange aufgegeben hatte und in die er nie wieder zurückkehren konnte. Als ihm bewusst wurde, dass er gerade an einen Menschen dachte, an den er auf gar keinen Fall denken durfte, nahm er eine kleine Wodkaflasche aus der Minibar und trank sie in einem Zug leer. Und benötigte seine gesamte Willenskraft, um sich keine zweite zu holen. Victor schob die SIG ein wenig zur Seite und klappte einen kompakten Laptop auf. Er fuhr ihn hoch, gab sein Passwort ein und stellte eine Internetverbindung zu seinem Bankkonto auf den Cayman Islands her. Erfreulicherweise war erst vor Kurzem eine sehr große Summe dort eingegangen. Vor zwei Tagen, unmittelbar nachdem er von dem Auftrag erfahren hatte, hatte er schon einmal die gleiche Summe erhalten. Das war sein übliches Verfahren – die eine Hälfte vorher, die andere nachher. Dieses Mal war sein Honorar höher ausgefallen als ursprünglich vereinbart, als kleine
Entschädigung für die sehr kurzfristige Ansage. Bis vor zwei Tagen hatte er noch in der Vorbereitung auf seinen eigentlich geplanten ersten Auftrag für die CIA gesteckt. Man hatte ihm gesagt, dass er kurz danach mit einem zweiten und vielleicht auch einem dritten Auftrag rechnen sollte, doch dann war überraschend der Bukarest-Job – die Tötung eines Auftragskillers, bevor dieser einen Mann töten könnte, den sein Auftraggeber am Leben lassen wollte – mit einer strikten Terminvorgabe dazwischengekommen. Victor hatte nicht gezögert. Er war froh gewesen, wieder an die Arbeit gehen und die eingerosteten Glieder ein bisschen bewegen zu können. Es war alles perfekt gelaufen. Sein erster Mord nach einem halben Jahr. Es dauerte keine Sekunde, bis er die Pistole in der Hand hatte und aufgesprungen war. Er hatte einen Schrei gehört. Weibliche Stimme. Victor ging zur Tür und schaute durch den Spion. Niemand zu sehen. Er verharrte regungslos, lauschte angestrengt. Zehn Sekunden vergingen, ohne dass er etwas hörte. Er drückte die SIG seitlich an den Körper, damit sie nicht zu sehen war, und machte die Tür auf, blickte nach links, dann nach rechts.
Alles frei. Nach einer Minute setzte er sich wieder an den Schreibtisch. Verblüffend, wie heftig er reagiert hatte. Der Schrei konnte alle möglichen Ursachen gehabt haben. Vielleicht hatte jemand im Nebenzimmer Kaffee verschüttet oder war in der Dusche einer Spinne begegnet. Oder aber der Schrei existierte nur in seinem Kopf, und er war dem Wahnsinn wieder einen Schritt näher. Er behielt die Waffe in der rechten Hand, fuhr mit dem linken Daumen über das Touchpad des Laptops und steuerte das E-Mail-Konto an, das der Kommunikation mit seinem Auftraggeber diente. Nicht zurückzuverfolgen, das hatte man ihm versichert. Es gab keinen Anlass, dieser Zusage zu misstrauen. Sein Auftraggeber hatte kein Interesse daran, dass die NSA oder ein anderer Geheimdienst seinen E-Mail-Verkehr mit einem international gesuchten Auftragskiller in die Hände bekam. Zumindest schien das Konto immun gegen alle Arten von Spam zu sein, und schon das reichte, um Victor so glücklich zu machen wie lange nicht. Im Posteingang fand er eine Nachricht seines Auftraggebers. Er merkte sich die darin genannte
Zahlenfolge und gab sie in das VoIP-Programm seines Laptops ein. Während der neun Sekunden bis zum Zustandekommen der Verbindung drang aus den Lautsprechern des Laptops ein imitierter Wählton. Dann ertönte ein kehliger Bariton: »Schön, wieder von Ihnen zu hören.« Victor blieb stumm. Er hörte, wie jemand mit der Zunge schnalzte. »Sie sind kein Mann vieler Worte, nicht wahr?« »Offensichtlich.« »Also gut«, meinte der Verbindungsmann. »Auf Small Talk können wir auch verzichten, Mr. Tesseract.« Victor hatte seinen Auftraggeber bisher nur einmal gesehen, vor knapp sechs Monaten, in einem Krankenhaus. Dort war ihm angeboten worden, für die CIA zu arbeiten, obwohl er, genau genommen, gar keine Wahl gehabt hatte. Der Mann, der ihn dort besucht hatte, war durchschnittlich groß und ziemlich fett gewesen, hatte gut hundertzehn Kilogramm vor sich hergeschoben, Mitte fünfzig, ergrauende Haare, scharfe Augen. Er hatte das Selbstbewusstsein und die Haltung eines hochrangigen Offiziers an den Tag
gelegt, aber gleichzeitig auch das Auftreten eines ehemaligen Operativ-Agenten. Genauso gut hätte er ein Namensschild mit dem Schriftzug Geheimdienst tragen können. Er hatte seinen Namen nicht genannt und nicht nach Victors gefragt. Ihr Gespräch war kurz und Victor mit Medikamenten zugedröhnt gewesen, aber er vergaß niemals ein Gesicht. »Ich mag diesen Decknamen nicht.« »Ach, nein?« Sein Gegenüber klang verblüfft, beinahe beleidigt. »Ich finde ihn eigentlich ganz hübsch. Trotz der Geschichte, die damit verbunden ist.« »Genau diese Geschichte mag ich nicht.« »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie zu Alpträumen neigen.« »Um Alpträume zu haben, muss man schlafen«, konterte Victor. »Aber, wie gesagt, dieser Deckname hat eine Geschichte. Er wurde schon einmal benutzt. Darum ist er vergiftet. Und darum habe ich damit ein Problem.« »Aha, ich verstehe.« Sein Auftraggeber schnaubte. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, mein Freund. Alle, die die
Zusammenhänge kennen, sind tot.« »Ich mache mir keine Sorgen«, verbesserte Victor. »Und außerdem haben Sie unrecht. Sie sind noch am Leben.« »Aber mir können Sie vertrauen.« Victor blieb stumm. »Wissen Sie«, fuhr sein Auftraggeber fort, »Sie könnten unser kleines Arrangement sehr viel mehr genießen, wenn Sie Ihren Verfolgungswahn ein bisschen ablegen würden. Gut möglich, dass ich der einzige Mensch auf der ganzen Welt bin, dem Sie tatsächlich vertrauen können.« »Vertrauen muss man sich verdienen.« »Dann könnte ich mir Ihr Vertrauen also verdienen?« »Nun lassen Sie uns mal nichts überstürzen.« Ein Augenblick der Stille, vielleicht, um ein leises Lächeln zuzulassen, dann sagte der Mann: »Ich glaube, Sie vergessen, unter welchen Umständen wir uns kennengelernt haben. Sie hatten so viele Verletzungen und Verbände am ganzen Körper, dass Sie eigentlich in einen Sarkophag gehört hätten und nicht in ein Krankenzimmer irgendwo hinter dem Mond. Wenn ich gewollt hätte, dann hätte
ich Sie auf der Stelle in die Leichenhalle schicken können, ganz still und unauffällig.« »Interessant«, erwiderte Victor. »Damals haben Sie doch gesagt, Sie hätten keine Rückendeckung mitgebracht.« »Sie haben doch nicht wirklich geglaubt, dass ich ganz alleine einem extrem gefährlichen Auftragskiller gegenübertreten würde, oder?« »Sie haben doch nicht wirklich geglaubt, dass ich Ihren Freund, den Hausmeister, mit seinem nagelneuen Werkzeugkasten nicht bemerken würde, oder?« Nach einer Pause sagte sein Auftraggeber: »Ich finde, unser Gespräch hat sich unnötigerweise in eine sehr ungute Richtung entwickelt. Vielleicht fangen wir einfach noch mal von vorn an.« Noch eine Pause. »Ich wollte Ihnen eigentlich lediglich gratulieren. Sie haben heute Morgen gute Arbeit geleistet.« »Ist angekommen.« »Ich weiß, es war alles etwas überstürzt, und ich möchte mich für die kurze Vorbereitungszeit entschuldigen. Aber für einen Mann mit Ihren Fähigkeiten scheint so etwas ja kein Problem zu
sein.« »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass mein Ego keine Streicheleinheiten braucht. Wer war die Zielperson meiner Zielperson?« »Er ist unwichtig.« »Wenn er unwichtig ist, warum können Sie mir dann seinen Namen nicht verraten?« »Weil Sie den nicht zu kennen brauchen.« »Ein bisschen mehr Originalität hätte ich Ihnen schon zugetraut.« »Es ist ein Klischee, zugegeben, aber dieses Klischee existiert nicht ohne Grund, mein Freund. Sie kümmern sich um die Erledigung Ihres Auftrags, während ich mich um alles andere kümmere. Darum sollten Sie sich so schnell wie möglich wieder mit dem Farkas-Auftrag beschäftigen, okay? Es gibt da einen Lieferanten, mit dem Sie Kontakt aufnehmen sollten.« »Und bestimmt können Sie mir auch seinen Namen verraten.« »Ich kenne ihn nur als Georg. Er ist Deutscher und wickelt seine Geschäfte in Hamburg ab.« »Nie von ihm gehört.« »Ist das ein Problem?«
»Wenn ich von ihm gehört hätte, dann wäre das ein Problem.« »Er ist weder Angestellter der Agency noch als freier Mitarbeiter für uns tätig. Aber er ist ein Mittelsmann und handelt mit allem, was Sie benötigen. Gerade habe ich Ihnen noch ein paar ergänzende Unterlagen zugeschickt. Müssten eigentlich jeden Moment in Ihrem Posteingang landen.« »Schon da.« Victor öffnete den Anhang und fing an, sich die Informationen einzuprägen. »Gut. Georg erwartet Ihren Anruf. Sie lesen sich die Dateien durch und rufen ihn an.« »Hier steht, dass ich zu einem Treffen nach Hamburg fahren muss.« »Haben Sie damit Schwierigkeiten?« »Erstens vermeide ich grundsätzlich jeden persönlichen Kontakt zu Leuten, die im direkten Zusammenhang mit meiner Arbeit stehen, es sei denn, ich habe vor, sie umzubringen, und zweitens: Hamburg ist für Georg ein Heimspiel. Ich habe noch nie von ihm gehört, und Sie wissen auch nichts über ihn. Wenn ich also zu ihm fahre, dann ist das die
perfekte Gelegenheit, um mich irgendwie übers Ohr zu hauen.« »Ich kann Ihnen versichern, dass Georg absolut professionell und zuverlässig ist.« »Obwohl Sie nur seinen Vornamen kennen.« »Er ist mir sehr empfohlen worden.« »Ich würde mir lieber mein eigenes Urteil bilden.« »Ich öffne Ihnen nur ungern die Augen, mein Lieber, aber Sie arbeiten nicht mehr auf eigene Rechnung. Und die Dinge, die ich zu erledigen habe, machen es erforderlich, dass Sie ab und zu unter Ihrem Felsblock hervorgekrochen kommen und mit der Welt in Verbindung treten. Ich bezahle Sie nicht nur dafür, ab und zu durch die Gegend zu ballern.« »Und das ist auch gut so. Wenn ich nur durch die Gegend ballern würde, dann hätte ich eine miserable Trefferquote. Um ein Ziel zu treffen, muss man auch gut zielen.« »Über die korrekte Anwendung von Schusswaffen können wir uns ein anderes Mal weiter unterhalten. Jedenfalls muss der Farkas-Auftrag auf eine ganz bestimmte Art und Weise erledigt werden, und darum müssen Sie sich mit Georg treffen. Falls Ihnen das nicht passt, dann haben Sie eben
verdammt noch mal Pech gehabt.« »Fluchen Sie nicht in meiner Gegenwart.« »Soll das ein Witz sein?« »Wenn ich einen Witz mache, dann merken Sie das garantiert von selbst.« »Also gut«, sagte der Auftraggeber und seufzte. »Ich habe Sie zwar nicht so konservativ eingeschätzt, aber ich kann natürlich diesbezüglich etwas vorsichtiger sein.« »Und auch keine Gotteslästerung.« Gelächter. »Jetzt weiß ich, dass Sie scherzen.« Victor blieb stumm. »Okay«, sagte der Koordinator. Dabei dehnte er die zweite Silbe in die Länge. »O-kaaay.« Dann fügte er hinzu: »Nicht fluchen, keine Gotteslästerung. Ich arbeite daran. Und Sie arbeiten an Ihrer Arroganz. Aber wenn Sie wirklich so ungern für mich arbeiten, dann können wir nach Abschluss dieser drei Aufträge auch getrennte Wege gehen. Kein Problem.« »Sehr großzügig«, erwiderte Victor. »Allerdings komme ich einschließlich der Bukarest-Sache auf vier Aufträge, nicht drei.« »Sie haben recht«, pflichtete der Mann ihm bei.
»Aber wenn Sie wirklich jedes Wort auf die Goldwaage legen wollen, dann sollte ich Sie vielleicht daran erinnern, dass es nach dieser Zirkuseinlage, an der Sie im vergangenen November beteiligt waren, jede Menge Leute gibt, die keinen sehnlicheren Wunsch verspüren, als Ihren Kopf aufgespießt auf einem spitzen Pfahl zu bewundern. Angesichts der Tatsache, dass ich große Anstrengungen unternommen habe, um Sie aus dem Fadenkreuz diverser Geheimdienste, nicht zuletzt des russischen und der US-Dienste, fernzuhalten, hätte ich eigentlich ein kleines bisschen mehr Dankbarkeit erwartet.« »Ich hätte Ihnen ja eine Postkarte geschickt, nur leider habe ich weder Ihren Namen noch Ihre Adresse. Wenn Sie mir die vielleicht verraten würden?« Sein Auftraggeber lachte kurz. »Irgendwie glaube ich, dass das keine besonders schlaue Idee wäre. Sie etwa?« Er wartete die Antwort gar nicht erst ab. »Falls es Ihnen nicht reicht, dass Sie unter meinem Schutz stehen, dann darf ich Sie vielleicht daran erinnern, dass ich Ihnen gleich zu Beginn unseres Arrangements ein gewisses Individuum ausgeliefert
habe. Damit habe ich Ihnen einen großen Gefallen erwiesen. Oder haben Sie das schon vergessen?« »Nein«, erwiderte Victor schmallippig. Vergeblich versuchte er zu verhindern, dass seine Gedanken den unausweichlichen Pfad einschlugen. »Gut, denn jetzt ist die Zeit gekommen, wo Sie sich revanchieren können.« Lange Pause. »Oder sollte ich mich in Ihnen getäuscht haben? Sind Sie womöglich doch kein Ehrenmann, auf dessen Wort man sich verlassen kann?« Victor erwiderte: »Das ist die einzige Ehre, die mir geblieben ist …« Und damit beendete er das Gespräch. Abschiedsworte waren überflüssig. Solche Höflichkeiten waren nur Freunden vorbehalten. Und es war schon etliche Jahre her, dass Victor jemanden als Freund betrachtet hatte. Der letzte Mensch, der zumindest annähernd so etwas gewesen war, hatte einen Anschlag auf sein Leben mitorganisiert. Diesen Fehler würde Victor nie wieder begehen. Doch da sein Brötchengeber so viel über ihn und seine Feinde wusste, musste Victor ihn zumindest
halbwegs zufriedenstellen. Außerdem war ihm eines vollkommen klar: Wenn Aufträge dieser Art irgendwie schiefgingen, dann bestand eine große Wahrscheinlichkeit, dass die beteiligten Personen vorzeitig ihr Leben aushauchten. Durchaus möglich, dass er von einem Augenblick auf den anderen nicht mehr benötigt wurde. Daher war jede Vereinbarung gleichzeitig auch ein potenzieller Hinterhalt. Doch in Bezug auf sein Wort hatte er die Wahrheit gesagt. Er würde seine Schuld begleichen. Er verließ das Hotel und musste eine ganze Strecke gehen, bis er ein Münztelefon entdeckte. Er wählte die Hamburger Telefonnummer, die er bekommen hatte. Eine Frau meldete sich. Sie sprach Deutsch, und ihre Stimme war die einer langjährigen Kettenraucherin. »Ja?« »Georg, bitte.« Sie hustete, und kurz darauf sagte jemand: »Ja?« »Wir haben gemeinsame Bekannte«, sagte Victor. »Von denen habe ich gehört, dass Sie etwas für mich haben.« »Morgen Abend, 22 Uhr, nehmen Sie die Hafenfähre Nummer 62 von den Landungsbrücken
nach Finkenwerder. Sie halten ein Hamburger Abendblatt in der linken Hand. Bleiben Sie auf dem Oberdeck, backbord. Keine Waffen.« Die Leitung war tot, bevor er etwas erwidern konnte. Victor legte auf. So machte er keine Geschäfte. Wenn schon eine persönliche Begegnung nicht zu vermeiden war, dann sollte sie auf neutralem Gebiet stattfinden. Eine Fähre ließ sich zwar als neutraler Ort interpretieren, aber sie war ja nicht der Ort des eigentlichen Treffens. Irgendjemand würde einsteigen und ihn zu Georg bringen. Und das war dann garantiert kein neutraler Treffpunkt. Und falls irgendetwas schiefging, dann war die Fähre eine schwimmende Falle. Zurück in seinem Hotelzimmer, schob Victor wieder den Stuhl unter die Türklinke, überprüfte seine SIG, steckte sie vorn in den Hosenbund und legte sich in voller Montur auf das Bett. Noch drei Aufträge, dann konnte er sein Leben zurückhaben. Was immer das bedeuten mochte. Er dachte noch einmal an den Schrei, dann schlief er ein.
Kapitel 4 Athen, Griechenland
Zur gleichen Zeit, ungefähr eintausendfünfhundert Kilometer südöstlich, versuchte Saul Callo gerade, seine anschwellende Erektion vor der eins achtzig großen, messerscharfen Norwegerin zu verbergen, die er irgendwie aufgerissen hatte. Der Amerikaner hatte die Falle perfekt platziert, und sie war mitten hineingetappt. Er hatte sich an einen der Tische in der Bar gesetzt, an einem Bier genippt und den Kellnerinnen regelmäßig Fünfzig-Euro-Scheine zugesteckt, sobald sie nur seinen Tisch abgewischt hatten. Das war eine seiner besten Taktiken. Kellnerinnen freuten sich über Trinkgeld, und über lächerlich hohes Trinkgeld freuten sie sich noch mehr. Wenn sie solch ein Trinkgeld bekamen, dann erzählten sie es herum, und die Leute, denen sie davon erzählten, erzählten es weiter, und so kam es, dass es nicht lange dauerte, bis jede geldgierige Schlampe in der Bar den kleinen Kerl mit dem schütteren Haar anstarrte, der da alleine in der Ecke saß. An der Wand hingen jede Menge moderne
Kunstwerke, die auch Callos kleine Nichte zustande gebracht hätte, nachdem sie zu viele Konservierungsstoffe in sich hineingestopft hatte. Stühle gab es keine, dafür aber gepolsterte Barhocker, die genauso unbequem waren, wie sie aussahen. Hinter der Theke standen zahllose Flaschen in einem großen Regal, sauber aufgereiht und von hinten beleuchtet. Für Callos ziemlich benebeltes Gehirn sah es so aus, als ob sie ein hypnotisches Glühen ausstrahlten. Vor der Ankunft der Blonden hatte Callo sich schon von der einen oder anderen Schlampe umschwärmen lassen, aber als die bildschöne Wikingergöttin durch die Tür der Bar getreten war, hatte er sie alle weggescheucht. Callo stand auf große Frauen. Groß war gut, das konnte er, der kaum größer als einen Meter sechzig war, sehr gut beurteilen. Die meisten Mädchen, bei denen er landen konnte, waren höchstens ein paar Zentimeter größer als er. Aber neben der norwegischen Schönheit mit ihren Stilettos kam er sich vor wie ein Zwerg. Sie saß nur wegen seines Geldes auf dem Hocker neben ihm, aber das war Callo egal. Das
Einzige, was zählte, war, dass sie ihn wollte. Außerdem konnte sie gut reden, hatte Stil und Klasse und war begeistert davon, dass er Amerikaner war. Sie wollte alles von ihm wissen. Wo er wohnte? Womit er sein Geld verdiente? Ob er eine Familie hatte? Warum er in Athen war? Was ihm Spaß machte? »Ich bin Diamantenhändler«, lallte Callo. »Ich bin auf der ganzen Welt zu Hause. Einmal geschieden, keine Kinder. In Athen bin ich, um mich zu erholen, und es gibt alle möglichen Sachen, die mir Spaß machen.« »Oh, wow«, sagte die Blonde und rückte Stück für Stück näher. »Ich liebe Diamanten. Sie sind so sexy.« Ihr Englisch war perfekt, und Callo konnte nicht die Spur eines norwegischen Akzents darin entdecken. Er hätte auch gar nicht gewusst, wie das geklungen hätte. Champagner mochte sie auch. Sie bat Callo, noch eine Magnumflasche zu bestellen, auch wenn er anscheinend den Großteil davon selbst trinken durfte. Er kannte sie erst seit zwanzig Minuten, aber in einem Punkt war er sich jetzt schon sicher: Er liebte diese Frau.
Als sie sich dicht an sein Ohr beugte und ihn leise fragte, ob er vielleicht Lust hätte, mit zu ihr zu kommen, da wusste er, dass ihm die Nacht seines Lebens bevorstand. Er folgte ihr hinaus auf die Straße. Die Bar befand sich in der Innenstadt von Athen. Callo liebte die griechischen Inseln und kam jedes Mal hierher, wenn er ein großes Geschäft abgeschlossen hatte. Er überließ es der Blonden, ein Taxi herbeizuwinken, während er ihr zur Stütze den Arm um die schlanke Taille schlang. Um diese Uhrzeit und in diesem Teil der Stadt waren Taxis normalerweise eine absolute Rarität, auch am Wochenende, aber jetzt hielt sofort eines an. Er erinnerte sich an seine guten Manieren und hielt der Norwegerin die Tür auf. Sie ließ sich elegant auf die Rückbank gleiten, und Callo stolperte hinterher. Der Fahrer fragte nicht, wo sie hinwollten, und die Blonde sagte auch nichts, aber das Taxi fuhr trotzdem los. Callo versuchte, den Arm um die Blonde zu legen, doch sie schüttelte ihn ab. Sie klappte ihre Handtasche auf und holte etwas heraus. Als Callo endlich kapiert hatte, dass es sich um eine Subkutanspritze handelte, stach die
Norwegerin ihn damit bereits in den Oberschenkel. Sie starrte ihn hasserfüllt an. »Perversling«, zischte sie.
»Was zum …?« Er wollte noch etwas sagen, brachte aber kein Wort mehr hervor. Sein Kopf wurde schwer und sackte nach vorn. Er konnte seine Gliedmaßen nicht bewegen. Danach wusste er gar nichts mehr.
Kapitel 5 Hamburg, Deutschland
Die Hamburger Kunsthalle war donnerstags bis 21 Uhr geöffnet, und so schlenderte Victor eine Stunde lang durch die verschiedenen Kunstgalerien, immer auf der Suche nach eventuellen Verfolgern. Als er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, blieb er zu seiner persönlichen Erbauung noch eine Weile in der Galerie der Alten Meister, bevor er sich im geschmackvoll eingerichteten Museums-Bistro, dem Café Liebermann, einen Kaffee zum Mitnehmen besorgte und sich auf den Weg machte. Auf dem zweieinhalb Kilometer langen Weg von der Kunsthalle bis hinunter zum Hafen mit den St.Pauli-Landungsbrücken durchquerte Victor die Hamburger Altstadt. Hinter einem älteren Paar, das langsamer vorankam, als er für möglich gehalten hätte, bestieg er die Fähre. Geduldig wartete er ab, bis er genügend Spielraum zum Überholen hatte. Er zog die zusammengerollte Zeitung aus seiner Manteltasche, klappte sie auf und nahm sie in die linke Hand. In der rechten hielt er seinen
Kaffeebecher. Er stieg die Treppe zum Oberdeck hinauf und entdeckte einen Platz auf der Backbordseite, von wo er die Treppe einigermaßen unauffällig im Blick behalten konnte. Er zählte und kam auf zweiundzwanzig Passagiere. Die Fähre war gut fünfundzwanzig Meter lang und ungefähr siebeneinhalb Meter breit. Kleiner, als er gedacht hatte. Gut. Zu klein, als dass hier etwas hätte passieren können. Falls er in einen Hinterhalt gelockt werden sollte, dann zumindest nicht hier auf dem Boot. Das Wasser der Elbe war schwarz wie der Himmel über ihren Köpfen. Das Schiffshorn tutete, und die Fähre legte ab. Victor benahm sich so, als sei er nur einer unter vielen gelangweilten Fahrgästen, während er gleichzeitig die anderen Passagiere gründlich musterte. Er würde es mit normalen Kriminellen zu tun bekommen, nicht mit ausgebildeten Agenten, aber er sah weder das eine noch das andere. An jeder Haltestelle beobachtete er die Einsteigenden. Die Fähre schien von allen möglichen Leuten benutzt zu werden – manche kamen von der Arbeit nach Hause, andere wollten
ausgehen, einige waren Touristen und einige auf dem Weg zur Nachtschicht. Victor interessierte sich vor allem für diejenigen, die weder alt noch jung waren, aber nur wenige waren ihm einen zweiten Blick wert. Ein junges Paar, das Victor genau gegenübersaß, lebte hemmungslos seine Gefühle aus. Er tat sein Bestes, um die beiden zu ignorieren. An der vierten Haltestelle stiegen drei Personen ein, darunter ein einzelner Mann, der sofort Victors Aufmerksamkeit auf sich zog. Er schaute ihn nicht direkt an, behielt ihn aber aus dem Augenwinkel ununterbrochen im Blick. Der Mann kam die Treppe empor und blieb stehen, um keineswegs unauffällig die anderen Passagiere zu betrachten. Er trug eine weite Jeans und eine lange Lederjacke. Seinem kantigen Gesicht war die Entschlossenheit deutlich anzusehen. Er wartete viel zu lange, um unbemerkt zu bleiben, und setzte sich dann vor Victor auf die Bank. »Bei der nächsten Haltestelle steigst du aus und gehst mir nach«, sagte der Mann, ohne sich umzudrehen. Zumindest das hast du richtig gemacht, dachte Victor.
Beim nächsten Anleger verließ Victor die Fähre. Er ließ die Zeitung liegen und nahm den Kaffeebecher in die linke Hand. Der Mond beschien die Wolken, und die riesigen Hafenkräne ragten wie Silhouetten in den Himmel. Es war kalt. Victor knöpfte seinen Mantel nicht zu. Er hatte zwar keine Waffe dabei, aber ohne Mantel konnte er besser kämpfen oder laufen als mit. Der Mann in der Lederjacke wartete nicht auf ihn. Er ging bereits am Flussufer entlang in Richtung Hafen, mit schnellen Schritten, die genauso entschlossen waren wie sein Gesichtsausdruck vorhin. Victor ging ihm nicht sofort hinterher. Zuerst nahm er sich einen Augenblick Zeit und beobachtete die nähere Umgebung. Es war ruhig. Niemand in der Nähe. Dann schlug er dasselbe Tempo an wie sein Führer, um den Abstand beizubehalten. Er wusste nicht, wohin er gebracht wurde oder was ihn bei der Ankunft erwartete, daher war eine gewisse Distanz eine notwendige Vorsichtsmaßnahme. Wenn der Führer am Ziel angelangt war, blieb Victor immer noch ein bisschen Zeit, um die Situation zu analysieren.
Jetzt wandten sie sich weg vom Fluss und folgten einem Kanal zwischen riesigen Lagerhäusern mit großen Rundbogenfenstern. Hier gab es nur wenige Straßenlaternen, und es war still und dunkel. In der Ferne war gedämpfter Verkehrslärm zu hören. Victor blickte sich nach allen Seiten um, suchte die Umgebung ununterbrochen nach Anzeichen für einen Hinterhalt und gleichzeitig nach Fluchtmöglichkeiten ab. Wenn sein Führer, wie neunzig Prozent der Weltbevölkerung, Rechtshänder war, dann würde er sich, falls er eine Waffe zog, um auf jemanden, der hinter ihm war, zu schießen, natürlicherweise in die Gegenrichtung drehen. Das war schneller. Daher ging Victor etwas nach rechts versetzt hinter ihm her, um den Winkel und damit auch seine eigene Reaktionszeit zu vergrößern. Jetzt blieb der Mann vor einer breiten Gasse stehen. Er drehte sich um und wartete, bis Victor aufgeschlossen hatte. Victor verlangsamte seine Schritte, beobachtete, lauschte. Als er dann vor ihm stand, deutete der andere in die Gasse. Victor wartete ab.
»Da entlang«, sagte der Mann. Seine Hände steckten in den Jackentaschen. Victor rührte sich nicht vom Fleck. Der Führer blieb ebenfalls stehen. »Da entlang, hab ich gesagt.« »Ich habe dich schon beim ersten Mal verstanden.« Das entschlossene Gesicht zeigte Verständnis. »Du hast wohl nicht gerne jemanden im Rücken, was?« »Stimmt«, meinte Victor. Der Mann nickte nachdenklich. »Das ist schlau.« Er zog die Hände aus den Jackentaschen und betrat die Gasse als Erster, ohne sich umzusehen. Victor folgte ihm wenige Sekunden später. In der engen Gasse gab es keine Fluchtmöglichkeiten oder Verstecke, darum hielt er sich dicht hinter seinem Führer. Falls er eine Waffe zog, dann wollte Victor in der Nähe sein, um sie ihm unter Umständen zu entreißen. Nach fünfzig Metern blieb der Mann erneut stehen. Er schloss eine Metalltür auf, die in eines der Lagerhäuser führte. Türangeln quietschten. »Da wären wir«, sagte er.
Er warf Victor einen Blick zu, lächelte wissend, als dieser keine Anstalten machte, sich in Bewegung zu setzen, und betrat das Gebäude zuerst. Victor ging ihm nach. Sie betraten eine riesige, von Neonröhren beleuchtete Halle, gefüllt mit Kartons und Kistenstapeln. Die Luft war kühl und feucht, und es roch leicht nach Schimmel, fauligem Holz und Marzipan. Victor hielt sich dicht hinter seinem Führer. Sonst war niemand zu sehen oder zu hören. Der Führer brachte Victor ans andere Ende des Lagerhauses, wuchtete das Metallgitter eines Frachtaufzugs beiseite und trat ein. Nachdem auch Victor den Fahrstuhl betreten hatte, klappte er das Gitter wieder zu und drückte auf die Taste für den zweiten Stock. Erst nach etlichen Sekunden erwachte das altertümliche Gerät zum Leben und beförderte sie unter Ächzen und Knirschen nach oben. Den Marzipanduft ließen sie dabei hinter sich zurück, aber der Geruch nach Schimmel und fauligem Holz wurde noch intensiver. Victor drehte den Kopf nach rechts und links, um die Halsmuskulatur zu lockern. Zuerst sah er ihre Beine. Stiefel und verwaschene
Bluejeans. Zwei Beinpaare, dicht beieinander. Er hörte, wie der eine gerade dabei war, einen Witz zu erzählen … irgendwas mit einer Prostituierten und einem Staubsauger. Aber als Victor in den Blick kam, brach er ab, noch vor der Pointe. Er war offensichtlich das Kraftpaket. Gut einen Meter neunzig groß, mindestens hundert Kilo schwer. Kopf, Wangen und Kinn waren gleichmäßig von Haarstoppeln überzogen. Seine dichten, dunklen Augenbrauen stießen in der Mitte fast zusammen. Neben dem Kraftpaket stand eine Frau. Sie war Mitte vierzig, einen Meter fünfundsiebzig groß und durchschnittlich gebaut. Strähnige dunkle Haare hingen ihr über die Ohren. Ihr schwerer Dufflecoat war bis oben hin zugeknöpft. Victor roch Zigarettenrauch und merkte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Vier ausgedrückte Stummel lagen auf dem Boden zu ihren Füßen. Das Fahrstuhlgitter öffnete sich klappernd. Victor trat hinaus und verschaffte sich einen schnellen Überblick über den hallenartigen Raum. Nicht so viele Kisten und Kartons wie im Erdgeschoss, mehr offene Flächen. Leere Metallregale, Eisenpfeiler. In einer Ecke lagen alte Zementsäcke, und neben der
Frau befand sich ein Stapel mit staubbedeckten Plastikplanen. Die Luft war feucht. An der Decke zogen sich in gleichmäßigen Abständen drei Reihen mit Neonröhren entlang, von denen jedoch nur die mittlere eingeschaltet war. Sie besaßen keine Abdeckung, nur die nackten Röhren, und manche waren kaputt. Sie gaben gerade genug Licht, um die Mitte des Raums zu beleuchten. Nach rechts und links wurde es zusehends dunkel, abgesehen von den Stellen mit den Rundbogenfenstern. Victor prägte sich die Lage der Ein- und Ausgänge genau ein. An der Wand, die am weitesten von der Frau und dem Muskelprotz entfernt war, hing über einer halb offenen Metalltür ein Notausgang-Zeichen. Durch dieselbe Wand, neben einem Edelstahl-Waschbecken, führte eine zweite Türöffnung in einen angrenzenden Raum. Die kränklich grüne Wandfarbe blätterte an vielen Stellen ab. Die Backsteine mitsamt den Fugen waren dreckverschmiert. Lange Risse zogen sich durch den Gips. Der Führer stellte sich neben den Fahrstuhl. Victor
ging vorwärts. Der Fußboden war mit schmalen Holzbrettern belegt, die zum Teil gebrochen, lose oder verzogen waren. Einige fehlten sogar ganz. Victor spürte das weiche, faulige Material unter seinen Sohlen und machte einen weiteren Schritt, um festeren Boden unter die Füße zu bekommen. Er stellte sich so hin, dass er seinen Führer aus dem Augenwinkel noch sehen konnte, während er die Frau anblickte. Einen langen Augenblick war es mucksmäuschenstill. Victor musterte die Frau und ihren massigen Begleiter und wusste, dass er ebenfalls abgeschätzt wurde. Welches Bild sie sich von ihm machten, konnte er nicht sagen. Er bemühte sich, weder durch die Körpersprache noch durch sein Mienenspiel bedrohlich zu wirken, ohne jedoch Anzeichen von Schwäche zu zeigen. »Du musst der Käufer sein«, sagte die Frau schließlich. In ihrer Stimme lag eine gewisse Überraschung. Ganz gleich, welche Erwartungen die Frau gehabt hatte, er entsprach ihnen jedenfalls nicht. Er nickte. »Und Sie müssen Georg sein.« »Ist natürlich nicht mein richtiger Name.«
»Natürlich nicht.« Georg meinte: »Jemanden wie dich hab ich nicht erwartet.« »Ich weiß.« Die Deckenbeleuchtung zeichnete tiefe Schatten unter Georgs Wangenknochen, Nase und Unterlippe. Ihre Augen lagen fast unsichtbar in dunklen Höhlen. »Bist du bewaffnet?«, wollte sie wissen. »Nur, wenn Sie meinen Kaffee als Waffe betrachten wollen.« Georg verzog ein wenig die schmalen Lippen. »Das ist gut. Aber ich muss zugeben, dass ich vor Schusswaffen mehr Respekt habe als vor heißen Getränken.« »Ich habe keine Waffe bei mir.« »Du wirst verstehen, dass ich mich nicht allein auf dein Wort verlassen kann.« Sie hob eine behandschuhte Hand und gab dem Kraftpaket ein Zeichen, ohne den Blick von Victor zu nehmen. »Sieh nach, ob er die Wahrheit gesagt hat.« Der Hüne kam auf Victor zu, die Augen zu Schlitzen verengt, das kräftige Kinn vorgeschoben, die Ellbogen nach außen abgespreizt, als könnte er
vor lauter Kraft kaum gehen. Sein Einschüchterungsversuch besaß allerhöchstens Anfängerniveau, besonders, als er näher kam und klar wurde, dass ungefähr ein Viertel seiner Körpermasse aus reinem Fett bestand. Victor behielt seine Beobachtung für sich. Er hielt still, während große Hände seine Beine, Arme und seinen Oberkörper abtasteten. Er registrierte den Fünfundvierziger-Colt, den der Muskelprotz in seiner Jeans stecken hatte, versteckt zwar, aber nicht gut genug. Jetzt bedeutete er Victor, die Arme zu heben, und Victor gehorchte. Nachdem die Suche beendet war, stellte er sich wieder neben Georg. »Er ist sauber.« »Freut mich zu hören«, meinte Georg zu Victor. »Es wäre sehr unangenehm für dich geworden, wenn wir irgendwas gefunden hätten.« »Das kann ich mir vorstellen.« »Du sprichst hervorragend Deutsch«, fuhr sie fort und kam zwei Schritte näher. »Aber du bist kein Deutscher. Was dann? Amerikaner?« Victor setzte den Kaffeebecher an die Lippen und nahm einen Schluck. »Manchmal.«
Die Falten auf Georgs Stirn wurden tiefer. »So was wie dich hab ich wirklich nicht erwartet.« »Das haben Sie schon einmal gesagt.« »Ich will es dir erklären.« »Ich bitte darum.« »In meiner Branche lerne ich alle möglichen Leute kennen, ganz unterschiedliche Typen, und das, was ich diesen Leuten besorge, verrät mir eine ganze Menge über sie. Nehmen wir dich zum Beispiel. Du brauchst mir gar nicht zu sagen, womit du dein Geld verdienst, weil das, was du kaufen willst, im Prinzip nichts anderes ist als eine Visitenkarte.« Regungslos und stumm stand Victor da. Er hatte keine Ahnung, worauf Georg hinauswollte, und es war ihm auch gleichgültig, aber es wäre wohl unhöflich gewesen, sie zu unterbrechen. »Ich weiß nicht, welche freundliche Umschreibung für Leute aus deinem Gewerbe heutzutage aktuell ist«, fuhr Georg fort, »aber ich habe schon mal mit Leuten wie dir zu tun gehabt. Nicht oft, aber ab und zu. Und jedes Mal hat es nicht länger als ein paar Sekunden gedauert, bis ich den Betreffenden komplett durchschaut habe. Es ist nicht besonders
schwierig. Entweder wollen sie möglichst furchterregend wirken und sind es gar nicht, oder aber sie sind es tatsächlich und müssen es nicht erst versuchen.« Sie unterbrach sich. »Aber du gehörst weder zur einen noch zur anderen Sorte.« »Ich verstehe das als Kompliment.« »Ich weiß gar nicht, ob ich es so gemeint habe.« »Ich verstehe es trotzdem als Kompliment.« Georg kam näher und starrte Victor durchdringend an. Ihre Augen waren blutunterlaufen, die Pupillen vergrößert. Dafür hatte es mehr als nur Nikotin gebraucht. »Ich werde wohl nicht dahinterkommen, wer du wirklich bist, oder?« »Nein«, erwiderte Victor. »Und das würden Sie auch gar nicht wollen.« »Zu schade.« Georg setzte sich auf eine Kiste und wischte sich etwas von ihrer Jeans. »Wenden wir uns dem Geschäftlichen zu.« Victor nickte. »Ich gehe davon aus, dass Sie alles haben, was auf der Liste steht.« Georg nahm die Finger zu Hilfe und zählte der Reihe nach auf: »Sprengkapseln aus russischen Armeebeständen, Neun-Millimeter-Pistole mit gezogenem Lauf, Schalldämpfer, Sperrpistole und
sieben Kilogramm Cyclotrimethylentrinitramin samt Zündern. Hab ich das eigentlich richtig ausgesprochen?« »Das haben Sie«, versicherte Victor. »Ich möchte mir die Sachen ansehen.« »Aber selbstverständlich, mein Kleiner, alles andere hätte mich überrascht. Du bist ja schließlich Profi.« Sie zog die Worte in die Länge. »Aber ich auch. Und darum möchte ich zuerst das Geld sehen.« Langsam steckte Victor seine linke Hand in die Außentasche seines Mantels. Dabei ließ er den Muskelprotz und seinen Führer keine Sekunde lang aus den Augen. Keine lockernden Bewegungen, keine Gewichtsverlagerungen, nichts, was darauf hindeutete, dass sie nur darauf warteten, irgendeinen Plan in die Tat umzusetzen, sobald er das Geld gezeigt hatte. Erleichtert, dass er nicht in einen Hinterhalt geraten war, zog Victor das schmale Bündel mit Hundert-Euro-Scheinen hervor. Georg hüpfte von der Kiste herunter und kam ein kleines Stück näher. Sie starrte das Geld an. »Das sieht aber nicht so aus, als würde es reichen.« »Das ist die Hälfte.«
Georg hob den Kopf und blickte Victor direkt in die Augen. Ihre Stimme klang leise, drohend. »Dann hast du nicht bloß meine Zeit vergeudet, sondern mich auch noch beleidigt. Beides nicht besonders schlau für einen Mann in deiner Position.« »Sobald ich die Ware habe, können Sie mich begleiten, und wir holen den Rest des Geldes«, sagte Victor. »Oder Sie schicken einen Ihrer Männer mit.« »So mache ich keine Geschäfte.« »Und ich mache keine Geschäfte auf Fähren, in leeren Lagerhallen und mit Aufpassern, die eine Fünfundvierziger in der Hose stecken haben«, konterte Victor. »Das ist der Preis dafür, dass das alles bisher so gelaufen ist, wie es gelaufen ist.« Der Muskelprotz legte die Hand an seine Waffe. Seine Miene wirkte überrascht und verärgert. Georg dachte ein paar Sekunden lang nach. »Was sollte mich daran hindern, mir einfach das Geld zu schnappen und das Versteck der zweiten Hälfte aus dir rausprügeln zu lassen?« Der Führer und der Muskelprotz reagierten sofort und machten sich bereit. Victor hielt den Blick starr auf Georg gerichtet.
»Erstens würden Sie einen wertvollen zukünftigen Kunden verlieren. Und zweitens«, fügte er mit ruhiger, emotionsloser Stimme hinzu, »würde ich Sie und Ihre Männer innerhalb von zehn Sekunden umbringen.« Dem Muskelprotz gefiel diese Antwort überhaupt nicht. Seine finstere Miene verfinsterte sich noch mehr, und seine Fingerknöchel wurden weiß. Der Führer richtete sich kerzengerade auf. Victor beachtete sie gar nicht. Er beobachtete Georgs Reaktion, zuerst Erschrecken und Wut, aber schließlich ein Lächeln. Da wusste Victor, dass er alles richtig gemacht hatte. »Einverstanden«, sagte sie. »Wir machen es so, wie Sie wollen.«
Kapitel 6 Victor hörte sie wenige Sekunden, bevor er sie sah. Sie kamen schnell herein, durch die Tür neben dem Waschbecken – fünf Männer, voller Entschlossenheit. Vier hatten eine Waffe in der Hand. Eine Schrotflinte. Drei Pistolen. Sie wirkten zwar nicht wie ausgebildete Profis, aber die Art und Weise, wie sie ihre Waffen hielten, machte deutlich, dass Gewaltanwendung für sie kein Fremdwort war. Das Kraftpaket reagierte schnell. Er drehte sich um und griff nach seinem Colt, doch ein Warnruf und der Anblick der Waffenmündungen veranlassten ihn, noch einmal nachzudenken. Der Führer streckte den Eindringlingen gleich die geöffneten Handflächen entgegen, während Georg vor Wut oder Enttäuschung oder beidem gegen eine Kiste trat. Victor blieb, wo er war. Abgesehen vom Fahrstuhl gab es keinen Ausgang, der so nahe lag, dass sich das Risiko gelohnt hätte, und das Fahrstuhlgitter ließ sich auf keinen Fall öffnen und schließen, ohne sich ein paar Kugeln einzufangen. Solange er nicht wusste, was hier los war, blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Der letzte Eindringling rief beim Betreten des Raums: »Ach, Georg, meine Liebe. Was für eine Überraschung.« Er war schmächtig gebaut und trug einen langen Mantel über einem billigen Anzug. Er hielt keine Waffe in der Hand, aber dennoch konzentrierte Victor sich sofort auf ihn. Die anderen kamen näher und verteilten sich. Die drei mit den Pistolen richteten ihre Waffen auf Georg, den Führer und das Kraftpaket. Der mit der Schrotflinte war für Victor zuständig. Typisch. Georg streckte fragend die Arme aus. »Was willst du denn hier, Krausse?« Der Mann im billigen Anzug trat in den Lichtkegel. Er war klein und sehr dünn. Vielleicht vierzig Jahre alt. Lichtes, kurz geschnittenes schwarzes Haar. Aknenarben auf den Wangen und der Stirn. »Genau dieselbe Frage könnte ich dir stellen, Georg«, sagte Krausse und blickte sich um. »Ich habe den Eindruck, als würdest du hier ein kleines Geschäft abwickeln, und zwar ohne mich vorher zu informieren.« »Verzieh dich, Krausse«, schrie Georg ihn an, »und nimm deine Clowns gleich mit. Das hier hat
nicht das Geringste mit dir zu tun.« »Oh, aber sicher hat es das.« Krausse lachte. »Wir sind doch Geschäftspartner, weißt du nicht mehr?« »Wir waren Geschäftspartner«, korrigierte Georg. Krausses Grinsen wurde hämisch. »Das werden wir ja sehen.« Er schaute zu Victor hinüber. »Wer ist denn der Anzugheini da?« »Was spielt das für eine Rolle? Das ist niemand.« »Es spielt sehr wohl eine Rolle.« Krausse deutete auf Victor. »Wer bist du?« Victor entgegnete ungerührt: »Wie sie gesagt hat. Niemand.« »Ich mach gleich einen Niemand aus dir, wenn du mir nicht sagst, was du hier zu suchen hast.« Victor schaute Krausses Männer an, einen nach dem anderen. Die drei mit den Pistolen waren nervös – viele kleine Zuckungen, trockenes Schlucken. Das Licht spiegelte sich im Schweiß auf ihren Gesichtern. Der mit der Flinte war ruhiger, konzentrierter. Seine kleinen Augen blinzelten kaum. Die Nasenlöcher seiner platten, krummen Nase weiteten sich in regelmäßigen Abständen, sein Atem ging ruhig und entspannt.
Nach einem kurzen Schweigen sagte Victor: »Ich kaufe ein.« »Und was genau kaufst du ein?« »Blumen für meine Mutter.« Ein paar von Krausses Männern lächelten. Krausse schnaufte. »Du bist einer von der witzigen Sorte, was?« »Wenn Sie es genau wissen wollen, mein Sinn für Humor hat sich in letzter Zeit tatsächlich positiv entwickelt.« Georg warf ihm über die Schulter hinweg einen Blick zu. »Es wär für uns alle besser, wenn du die Klappe halten würdest.« »Das ist ein guter Rat«, meinte Krausse. »Wir müssen ja nicht gleich unfreundlich werden. Ich bin nur gekommen, um mir meinen rechtmäßigen Anteil abzuholen.« »Du meinst, du willst mich berauben«, verbesserte Georg. Krausse grinste verschlagen. »Wenn du es so ausdrücken willst, meine Süße, dann will ich dir nicht widersprechen.« Er wandte sich an Victor. »Was willst du kaufen? Und überleg dir dieses Mal gut, was du sagst.«
Victor blieb stumm. »Er kauft Sprengstoff«, sagte Georg, nachdem etliche Sekunden verstrichen waren. »Und eine Pistole, solche Sachen eben.« »Interessant.« Krausse zog die Augenbrauen in die Höhe und nickte Victor zu. »Auch für deine Mutter?« »Sie nimmt immer noch sehr aktiv am Leben teil.« Krausse lachte, und seine Männer fielen ein, ließen ihre Waffen ein paar Zentimeter sinken. Victor sah, wie der Kerl mit der Schrotflinte sich einem seiner Kumpels zuwandte und dabei ungläubig den Kopf schüttelte. Krausse wandte sich wieder an Georg. »Wo zum Teufel hast du denn diesen Typen aufgetrieben?« »Er hat mich aufgetrieben.« »Das passt ja. Und wie viel Sprengstoff will er haben?« Georg zuckte mit den Schultern. »Eine ganz ordentliche Menge.« Krausse lächelte Victor an. »Dann bezahlst du auch einen Haufen Geld dafür. Und da ich diese Schlampe hier kenne, wahrscheinlich mehr als
nötig.« Er blickte einen seiner Männer an. »Nimm ihm das Geld ab.« Der Mann, der auf Victor zukam, hatte ungefähr seine Größe, um die eins fünfundachtzig, war aber deutlich kräftiger an Hals und Schultern, vor allem aber um die Hüfte. Sein Gesichtsausdruck war hart, ernst. Er stank. »Bist du bewaffnet?«, wollte er wissen. Victor schüttelte den Kopf und erwiderte: »Es sei denn, Sie rechnen meinen Kaffee mit.« Aus dem Augenwinkel sah er, wie Georg ihm einen Blick zuwarf. Der Mann ließ die Waffe sinken und kam näher. »Lass die Hände da, wo ich sie sehen kann.« Er tastete Victor mit der linken Hand ab. Nicht so gründlich wie Georgs Muskelprotz, aber immer noch ausreichend. Der Mann nahm Victor das Geldbündel aus der Hand und hielt es hoch, damit Krausse es sehen konnte. Dabei wandte er sich ein Stückchen von Victor ab. Victor wartete eine Sekunde und machte einen kleinen Schritt nach rechts. Krausse wirkte unzufrieden. »Das ist aber nicht besonders viel.« Dann, noch bevor irgendjemand etwas sagen
konnte, klingelte ein Handy. Der Klingelton gefiel Victor: Händels Wassermusik. Ein wenig mühsam zerrte Krausse das Telefon aus seiner Hosentasche. Er warf einen Blick auf das Display und drückte den Anrufer weg. »Ich hasse diese Dinger. Sie bestimmen das ganze Leben«, sagte er, bevor er es in die Tasche zurücksteckte. »Also, du wolltest mir gerade verraten, wo du das restliche Geld versteckt hast.« Victor sagte nichts. Er taxierte die übrigen drei Bewaffneten. Sie waren jetzt nicht mehr so verkrampft wie noch vor einer Minute, wirkten entspannter, selbstsicherer, je mehr Zeit verstrich. »Er wollte mich hinbringen, nachdem er die Ware bekommen hat«, erläuterte Georg. »Dann kann er jetzt ja mich hinbringen.« Krausse warf dem Kerl mit dem Geld einen Blick zu. »Zähl mal nach.« Der Mann wandte Victor den Rücken zu, steckte die Pistole in seine linke Jackentasche und blätterte die Scheine mit dem Daumen durch. »Kann ich die Sachen behalten, die ich kaufen wollte?«, erkundigte sich Victor. Krausse grinste höhnisch. »Ich hab doch schon
mal gesagt, dass du witzig bist.« »Und wenn ich ganz brav Bitte sage?« Krausse lachte und warf seinen Männern einen amüsierten und gleichzeitig erstaunten Blick zu. Sie erwiderten ihn lächelnd oder achselzuckend, während ihre Waffen irgendwo zwischen Schultern und Hüften pendelten. Victor machte noch einen Schritt nach rechts. Jetzt versperrte ihm der Kerl, der das Geld zählte, den Blick auf die beiden links platzierten Pistoleros. Und umgekehrt. Victor sprach Krausse an, ohne ihn anzusehen. »Sind Sie sicher, dass Sie es sich nicht noch einmal überlegen wollen?« »Oh, da bin ich mir ganz sicher«, erwiderte Krausse. »Dann lassen Sie mir keine andere Wahl.« Victor drückte den Kaffeebecher zusammen, der, wie niemandem aufgefallen war, trotz der Kälte überhaupt nicht dampfte. Der Deckel sprang ab. Er zog ein schwarzes Klappmesser heraus und rammte es dem Mann vor ihm in den Lendenwirbelbereich. Der verkrampfte sich und ließ schreiend das Geld fallen. Victor ließ das Messer los, zog die Pistole aus der Jackentasche des Mannes und richtete sie
auf Krausses Kopf, bevor irgendjemand reagieren konnte. Der Mann mit dem Messer im Rücken ging stöhnend in die Knie. Einen Augenblick lang standen alle nur regungslos da, niemand sagte ein Wort. Hundert-Euro-Scheine schwebten zu Boden. Victors Blick huschte zwischen den drei Bewaffneten hin und her. Mit erhobenen Waffen und sichtlich nervös blickten sie abwechselnd auf ihn und auf Krausse, warteten auf Anweisungen. Keiner sah so aus, als wäre er dämlich genug zu schießen, während Victor auf ihren Boss zielte, aber sicher konnte er sich auch nicht sein. Krausse applaudierte träge. »Beeindruckende Vorstellung.« Er starrte Victor wütend an. »Bravo.« »Sie sollten erst mal die Zugabe sehen«, sagte Victor. »Lieber nicht.« »Muss auch nicht sein«, erwiderte Victor. »Ich will lediglich das, weswegen ich hergekommen bin.« Der Mann mit dem Messer im Rücken kippte nach vorn und landete in Embryohaltung auf der Seite. Mit der rechten Hand versuchte er kraftlos, nach dem
Messer zu greifen. Auf dem Boden bildete sich eine Blutlache. Victor hatte die Klinge zwischen dem Rückgrat und der linken Niere platziert. Solange das Messer stecken blieb, war die Wunde nicht unmittelbar tödlich. Victor hatte ihn absichtlich nur verletzt, damit sich keiner der anderen zu einer idiotischen Racheaktion genötigt sah, die dann mit zwei Toten geendet hätte. Hoffentlich waren diese Typen miteinander befreundet und machten sich deshalb zunächst einmal Gedanken darüber, wie sie dem Verletzten vielleicht helfen konnten. Georgs Männer befanden sich außerhalb von Victors Blickfeld, doch im Augenwinkel konnte er Georg sehen, die auf die veränderte Situation erwartungsgemäß nervös reagierte, allerdings keinerlei Anzeichen von Panik erkennen ließ. Victor hoffte, dass alle drei so vernünftig waren, sich aus dem Ganzen herauszuhalten. Dass eine Waffe auf seinen Schädel gerichtet war, schien Krausse nicht allzu sehr zu beeindrucken. Er lächelte zwar nicht mehr, blieb aber ruhig und wirkte eher verärgert als verängstigt. »Also gut, und wie soll’s jetzt weitergehen?«, wollte er wissen.
»Als Erstes sagen Sie Ihren Männern, dass sie die Waffen fallen lassen sollen.« Krausse schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.« »Ich sag’s nicht zweimal.« Krausse nickte, als hätte er genau diese Antwort erwartet. »Du bist schnell, mein Freund, aber wir wissen doch beide ganz genau, dass du gar nicht schnell genug sein kannst, um mich und alle meine Männer umzulegen, bevor du selber dran bist. Du bist doch nicht lebensmüde, oder?« »In letzter Zeit nicht.« »Gut. Und mir ist klar, dass du mich umbringst, sobald ich meinen Männern befehle zu schießen, noch bevor ich den ersten Satz zu Ende gesprochen habe.« »Das erste Wort.« »Das glaub ich dir«, erwiderte Krausse leichthin. »Also haben wir ein Patt, und das heißt, wir behalten alle unsere Waffen.« Die Bedrohung ging nicht von Krausse aus, sondern von seinen Schlägern, aber er hatte recht. Sie standen zu weit auseinander. Auf sie zu schießen wäre zu riskant gewesen. Wäre es anders
gewesen, hätte Victor sie bereits erledigt. »Na gut«, sagte Victor. »Dann lasse ich das Geld, wo es ist, und verschwinde von hier. Und Sie lassen mich gehen.« »Was ist mit der anderen Hälfte?« »Liegt in einem Mülleimer an der Ecke Ballindamm und Alstertor.« »Dann sind wir quitt.« »Noch nicht ganz. Wo sind meine Sachen?«, wandte Victor sich an Georg. Georg blieb stumm. »Sag’s ihm«, befahl Krausse. Georgs Stimme klang leise, geschlagen. »In einem Lieferwagen hier in der Nähe. Ich bring dich hin.« »Nein, nein, nein.« Krausse schüttelte den Kopf. »Du bleibst hier. Wir sind noch nicht fertig miteinander.« »Du kriegst das ganze Geld«, sagte Georg. »Hau doch einfach ab.« »Du hast mich verarscht, Georg. Und nicht zum ersten Mal. Ich weiß von dem Deal mit diesen Arschlöchern aus München, den du ohne mich abgewickelt hast. Was wäre ich für ein Kerl, wenn
ich so eine Respektlosigkeit einfach durchgehen ließe? Genau darum bin ich nämlich hergekommen, um mit dir darüber zu reden«, sagte Krausse. »Also sag ihm, wo der Lieferwagen steht, und gib ihm den Schlüssel. Du wirst ihn sowieso nicht mehr brauchen.« »Nein.« »Sag’s ihm.« Georg richtete sich auf, trotzig. »Nein.« »Sag’s ihm, Georg, oder ich lasse meine Jungs von der Leine, damit sie ihren Frust an dir abreagieren können, so lange, bis du ein bisschen kooperativer geworden bist.«
»Leck mich am Arsch.« Victor wusste, was passieren würde, noch bevor Georg nach ihrer Waffe griff. Als es so weit war, hatte er sich bereits in Bewegung gesetzt und sich eine halbe Sekunde Vorsprung vor den anderen gesichert. Er sprang hinter einen Kistenstapel. Im nächsten Augenblick eröffnete einer von Krausses Männern das Feuer. Dröhnend hallte der Schuss durch die Lagerhalle. Blut spritzte, als die Kugel in Georgs linker
Schulter einschlug, noch bevor sie die kleine Pistole ganz erhoben hatte. Sie taumelte, konnte aber trotzdem noch einen Schuss auf Krausse abgeben. Die Kugel verfehlte ihn jedoch und riss ein Loch in die dahinterliegende Wand. Georg zielte noch einmal. Eine Schrotladung traf sie in den Bauch. Georg fiel rückwärts auf die Abdeckplanen, die neben dem Fahrstuhl gestapelt waren. Rot glänzendes Blut breitete sich auf dem Plastik aus. Georgs Männer gerieten in Panik und zogen ihre Waffen. Victor sah zu, wie der Muskelprotz gleichzeitig in Brust und Rücken getroffen und als Erster niedergestreckt wurde. Der Führer lebte ein kleines bisschen länger. Als die Schüsse verklungen waren, hörte Victor das Klirren leerer Patronenhülsen, konnte jedoch von seinem Platz hinter den Kisten weder Krausse noch einen seiner Männer entdecken. Er konnte kein Stöhnen und keine Schreie hören und wusste, dass es keine Verletzten gab. Der Mann mit dem Messer im Rücken gab keinen Laut von sich, bewusstlos. Victor hatte keine Ahnung, was gleich passieren würde, und vermutlich war es keine besonders gute
Idee, aufzustehen und nachzusehen. Falls sie ihn ebenfalls erschießen wollten, dann boten die Kisten zumindest einen gewissen Schutz, immer vorausgesetzt, sie waren nicht leer. Falls doch, dann waren sie zumindest ein wirksamer Sichtschutz. »Du kannst jetzt rauskommen«, sagte Krausse. »Eigentlich fühle ich mich da, wo ich bin, ganz wohl.« Krausse lachte. »Dann verrate mir doch mal, mein neuer bester Freund, wie lange du noch hinter diesen Kisten hocken willst.« Victor besah sich die Pistole. Eine Glock 17. Von ein paar Kratzern abgesehen schien sie ganz gut in Schuss zu sein. Er nahm das Magazin heraus, warf einen Blick auf die Neun-MillimeterVollmantelgeschosse und schob es lautlos wieder an seinen Platz. Behutsam zog er den Schlitten zurück, um sich die Kammer anzusehen. Sie machte einen sauberen Eindruck, aber er blies trotzdem einmal hinein, falls sich irgendwo Schmutz abgelagert hatte. Die Glock war so zuverlässig wie der Sonnenaufgang, aber es konnte nicht schaden, auf Nummer sicher zu gehen. Victor lud eine Patrone in die Kammer, bewegte den Schlitten ganz
langsam, um möglichst wenig Geräusch zu verursachen. Er sagte: »Sagen wir mal, so lange, bis Sie weg sind.« »So langsam wirst du mir wirklich sympathisch«, erwiderte Krausse. »Und das ist mein voller Ernst. Aber du weißt so gut wie ich, dass ich das nicht zulassen kann.« Victor überlegte in Windeseile. Lange konnte er nicht dort bleiben, wo er war. Je länger er wartete, desto mehr Zeit hatten sie, ihn einzukreisen. Er schlüpfte aus seinem Mantel. »Was wird aus unserer Abmachung?« »Unsere Abmachung?« Krausse lachte erneut. »Du meinst die Abmachung, die wir getroffen haben, als du mit einer Pistole auf meinen Kopf gezielt hast? Falls du tatsächlich von dieser Abmachung sprechen solltest, dann ist deine Verhandlungsposition in der Zwischenzeit entscheidend schlechter geworden.« Vor der Schießerei war Krausse von Victor aus gesehen auf ein Uhr, die Schrotflinte auf zwei Uhr und die beiden anderen auf neun und zehn Uhr gewesen. Victor überlegte. Wenn er schnell genug
war und Krausse und Schrotflinte sich nicht allzu weit von ihren Plätzen entfernt hatten, dann konnte er die beiden erledigen, bevor sie in der Lage waren, das Feuer zu erwidern. Das Problem waren aber die Typen auf neun und zehn Uhr, die ihm, falls er Krausse und Schrotflinte umbrachte, ein paar Kugeln zwischen die Rippen jagen würden. Und umgekehrt, wenn er diese beiden ausschaltete, dann würde er eben von Schrotkugeln durchsiebt werden. Victor hörte ein Flüstern, ohne zu verstehen, was gesagt wurde. Aber er konnte sich gut vorstellen, was das Thema des Gesprächs war. Er, beziehungsweise, etwas konkreter: wie man ihn am besten umbringen konnte. Seine Gegner waren zwar höchstwahrscheinlich keine Experten für NahkampfTaktik, aber bei vier gegen einen war es nicht weiter schwierig, jemanden in die Zange zu nehmen. Selbst Sunzi hätte wohl erhebliche Mühe gehabt, sich in seinem Werk Die Kunst des Krieges eine praktikable Verteidigungsstrategie auszudenken. Denk nach, sagte sich Victor. An der Decke flackerte eine Neonlampe. Von beiden Seiten näherten sich Schritte. Nur
noch wenige Augenblicke, dann würden sie von links und rechts zugleich über ihn herfallen. Er würde sterben. Keine Zeit mehr, um einen Plan auszuarbeiten. Er drückte ab.
Kapitel 7 Die erste Leuchtstoffröhre explodierte. Funken und Glassplitter regneten von der Decke herab. Victor schoss noch dreimal und löschte drei weitere Neonlichter aus. Das fünfte und letzte befand sich direkt über ihm. Unmittelbar nach dem Schuss hob er den linken Arm zum Schutz gegen die herabprasselnden Splitter. Schlagartig war es stockfinster in der Halle. Victor warf sich nach rechts auf den Boden. Kopf und Arme waren nun nicht mehr von den Kisten gedeckt. Er konnte nichts erkennen, schoss aber trotzdem in die Richtung, wo vor wenigen Sekunden noch Schrotflinte gestanden hatte. Zwei Schüsse, kurz hintereinander, auf Höhe des Oberkörpers. Ein Schrei und die folgenden schlurfenden Schritte sagten ihm, dass er einen Treffer gelandet hatte, wenn auch keinen tödlichen. Das Mündungsfeuer der Glock hatte seine Position preisgegeben, und er wälzte sich sofort zur Seite, bevor das Antwortfeuer Löcher in den Holzfußboden riss. Victor sprang auf und rannte los, bemühte sich gar
nicht erst, besonders leise zu sein, hatte nur das eine Ziel: Abstand zwischen sich und seine Gegner zu bringen. Er hatte sich den Korridor zwischen den Kistenstapeln genau gemerkt und hastete blindlings hindurch. Hinter ihm schlugen Kugeln in Kisten ein. Funken sprühten, als eine einen Metallpfeiler streifte. Nach wenigen Sekunden blieb er stehen, kauerte sich auf den Boden, überlegte. Er befand sich irgendwo jenseits des Fahrstuhls. Er konnte nicht genau erkennen, wo, hatte sich aber einen ungefähren Lageplan eingeprägt und versuchte, sich daran zu orientieren. Er streckte die Hand aus und suchte tastend Deckung. Victor konnte Schrotflinte stöhnen und fluchen hören. Krausse versuchte, ihn zum Stillhalten zu bewegen. Die anderen beiden gaben keinen Laut von sich. Ihre behutsamen Schritte waren leise, aber hörbar. Glas knirschte unter Schuhsohlen. Dreißig Meter entfernt vielleicht. Victor rechnete kurz nach. Das Magazin der Glock fasste siebzehn Patronen. Sieben hatte er bereits für die Lichter und für Schrotflinte verbraucht. Blieben noch zehn. Jeder von Krausses Männern hatte etliche Schüsse abgegeben, und bis jetzt hatte
keiner nachgeladen. Vermutlich würden sie das erst machen, wenn das Magazin leer war. So war es üblich. Dann bot sich Victor unter Umständen eine Chance, aber er wusste, dass das noch lange dauern konnte. Schrotflinte hörte auf zu stöhnen. Entweder hatte er die Schmerzen unter Kontrolle bekommen oder jemand hatte ihm die Hand auf den Mund gelegt. Victor hatte keinen Sturz gehört, also war er immer noch auf den Beinen und damit auch gefährlich. Er brauchte kein besonders guter Schütze zu sein, um Victor mit einer Schrotladung zu treffen. Victor sah sich um. Der mittlere Bereich der Lagerhalle lag in völliger Finsternis. Victor konnte kaum die Glock in seiner Hand ausmachen. Die Straßenlaternen schickten durch die hohen Fenster zu beiden Seiten ein wenig Licht herein, aber das reichte nicht aus, um wirklich etwas erkennen zu können, höchstens, wenn sich jemand in der Nähe der Wand aufhielt. Das Schummerlicht reichte nur wenige Meter weit, aber Krausse und seine Männer waren schlau genug, sich nicht in die Nähe dieser Lichtflecken zu wagen. Victor zog seine Schuhe aus und nahm einen
davon in die linke Hand. Jetzt konnte er sich geräuschlos vorwärtsbewegen. Die Glassplitter der zerplatzten Leuchtstoffröhren lagen alle in der Mitte der Halle, und Victor hatte nicht vor, sich dorthin zu wagen. Geduckt schob er sich vorwärts, die linke Hand ausgestreckt, um nicht mit irgendwelchen Hindernissen zusammenzustoßen, bis er an der rechten Wand angelangt war. Vorsichtig hielt er sich genau in der Mitte zwischen den beiden Fenstern mit den darunterliegenden beleuchteten Flächen. Den Rücken an die Wand gedrückt, starrte er in die Dunkelheit. Er konnte zwar seine Gegner nicht sehen, aber so blieb er zumindest auch unsichtbar. Noch fünfzehn Minuten vielleicht, dann hatten seine Augen sich auf die Lichtverhältnisse eingestellt. Allerdings ging er nicht davon aus, dass er sich so lange vor vier Männern verstecken oder in der Dunkelheit einen bisher unentdeckten Ausgang finden konnte. Darum blieb ihm nur eine Möglichkeit: Er musste sie umbringen, bevor sie ihn erledigten. Er lauschte angestrengt. Aus unterschiedlichen Richtungen waren vorsichtige Schritte und knarrende Bodenbretter zu hören. Keine knirschenden Glassplitter, also mieden sie die Mitte des Raums.
Er versuchte abzuschätzen, woher die Geräusche kamen, doch seine Munition reichte nicht, um sich allein auf sein Gehör zu verlassen. Aber dafür hatte er ja den Schuh. Sobald er sich einigermaßen sicher war, wo der nächste Gegner stand, warf er den Schuh ungefähr zu der Stelle beim Fahrstuhl, wo er vorhin noch gekauert hatte. Das Geräusch bei der Landung klang eigentlich nicht, als würde sich dort ein Mensch bewegen, aber für jemanden, der bis zum Anschlag mit Adrenalin vollgepumpt war, reichte es. Mündungsfeuer zuckte durch das Dunkel. Zweimal zwei Lichtblitze. Victor jagte zwei Kugeln in die Nähe des ersten, anschließend noch zwei in Richtung des anderen und ließ sich zu Boden fallen. Ungefähr einen Meter rechts neben seinem Kopf riss eine Schrotladung ein Loch in die Wand. Sein Gesicht wurde von einer Staubschicht umhüllt. Noch bevor er das Feuer erwidern konnte, meldete sich die Schrotflinte erneut zu Wort und dann noch einmal. Jeder Schuss hinterließ ein Loch im Mauerwerk über ihm. Kleine Backsteinbröckchen
plumpsten auf ihn herab. Er hielt den Kopf unten, bis das Echo der Schüsse verebbt war. Staub und Steinchen hatten sich auf seinen Kopf und seine Schultern gelegt, waren in Augen und Mund eingedrungen. Das mit den Augen war ihm egal, abgesehen von den Schmerzen und der Irritation. Er konnte ja sowieso nichts sehen. Aber der Staub löste einen Hustenreiz aus, den er unbedingt zurückdrängen musste. So leise wie möglich spuckte er aus. Jetzt fing jemand an zu schreien und sich auf dem Boden zu wälzen. Der Schmerz hatte offensichtlich die Oberhand gewonnen. Dieses Mal machte Krausse gar nicht erst den Versuch, seinen Mann zum Stillhalten zu bewegen. Er wollte sich nicht verraten, um nicht genauso zu enden. Und Victor wusste nicht, ob er den anderen tödlich oder womöglich gar nicht getroffen hatte. Daher musste er davon ausgehen, dass er immer noch kampffähig war. Und Schrotflinte hatte gezeigt, dass er immer noch schießen konnte. Vermutlich hatte auch Krausse mittlerweile eine Waffe in der Hand. Das machte insgesamt drei Gegner. In der Glock waren noch sechs Schüsse. Zwei für jeden. Nicht viel
angesichts der Tatsache, dass er so gut wie blind war. Victor behielt den Kopf unten und entfernte sich von der Wand, suchte sich eine Stelle, wo er mehr Deckung hatte. Tränen quollen aus seinen Augen. Mit der linken Hand tastete er sich um Hindernisse herum und blinzelte ununterbrochen, um wenigstens einen Teil der Staubkörner auszuspülen. Behutsam bewegte er sich vorwärts, war sich dessen bewusst, dass er sich dem Bereich mit den Glasscherben näherte. Die Schreie des Angeschossenen übertönten jedes andere Geräusch, darum musste Victor aufpassen, um nicht mit einem von Krausses Männern zusammenzustoßen. Er wusste nicht, ob sie auf ihren Plätzen verharrten oder ebenfalls umherschlichen. Wenn das Treppenhaus auf Victors Seite gewesen wäre, dann hätte er einen Fluchtversuch gewagt, doch sämtliche Ausgänge lagen im Rücken seiner Gegner. Der Angeschossene brüllte zwar ununterbrochen weiter, doch die Lautstärke seiner Schreie ließ langsam nach, während seine Kräfte schwanden. Nur noch wenige Minuten, dann würde er keinen
Laut mehr von sich geben. Na los, kratz endlich ab, damit ich wieder was hören kann, dachte Victor. Er blinzelte die letzten Schmutzreste aus den Augen, abgesehen von ein paar wenigen Staubkörnchen unter den Lidern. Unangenehm, aber immerhin konnte er seine Glock wieder sehen. Die Schreie waren mittlerweile kaum mehr als ein ersticktes Wimmern, und Victor konnte auch seinen eigenen Atem wieder hören. Er streckte die Glock weit nach vorn und wartete auf irgendeinen Hinweis, der ihm verriet, wo Krausse und seine Männer waren. Keine Bewegung war zu hören, keine panischen Atemzüge, nur das Stöhnen des Angeschossenen. Victor schlich weiter, auf die andere Seite des Fahrstuhls zu. Der Fußboden unter seinen Füßen knarrte. Zwei Schrotladungen schlugen in einen Kistenstapel ganz in seiner Nähe ein. Holzsplitter flogen in sämtliche Himmelsrichtungen. Einige prallten gegen sein Jackett. Er ließ sich bäuchlings zu Boden fallen, und schon einen Augenblick später fingen zwei Pistolen an, Feuer zu spucken. Kugeln durchschlugen die Kisten, die ihm Deckung gaben, oder sausten über seinen Kopf hinweg.
Die Schüsse hörten nicht auf. Seine Gegner deckten die gesamte nähere Umgebung ab, vertrauten auf ihre Feuerkraft und hofften auf einen Glückstreffer. Es war ein ohrenbetäubender Lärm. Victor musste entweder bleiben, wo er war, oder versuchen zu entkommen. Sich direkt in die Schusslinie zu begeben war keine gute Taktik, aber einfach nur still dazuliegen und zu beten, dass er nicht getroffen wurde, kam ihm noch sinnloser vor. Immer wieder schlugen Projektile in seiner Nähe ein, trafen den Fußboden, die Kisten und Pfeiler. Eine Schrotladung riss einen Krater in den Holzfußboden, so dicht bei Victor, dass er das Vibrieren der Dielen spüren konnte. Ihm war klar, dass er nicht ewig so viel Glück haben konnte. Die Schüsse kamen ins Stocken. Eine Pistole hatte das Feuer eingestellt. Zuerst dachte er, dass einer seiner Gegner nachlud, doch zwischen den Schüssen der anderen war noch ein Geräusch zu hören. Die Wassermusik von Händel. Diesen Vorteil ließ Victor sich nicht entgehen. Schnell streckte er den Kopf um den Kistenstapel herum. Nichts zu sehen. Er versuchte es auf der
anderen Seite und entdeckte, nur einen Sekundenbruchteil bevor das Telefon verstummte, durch den dünnen Stoff von Krausses billiger Anzughose das fahle, bläuliche Schimmern des Displays. Victor zielte und schoss, einmal, zweimal, schnell hintereinander. Krausse schrie auf. Victor war bereits auf den Beinen und losgelaufen, als Schrotflinte das Feuer erwiderte. Die mächtige Stichflamme am Ende des Laufs ließ für einen kurzen Moment seine Silhouette sichtbar werden, und Victor gab noch einmal zwei Schüsse ab. Schrotflinte fiel seitlich zu Boden und landete in einem schwach beleuchteten Bereich in der Nähe eines Fensters. Ausgesprochen tot. Der letzte Gegner gab einen Schuss auf Victor ab. Das Mündungsfeuer zuckte am anderen Ende der Lagerhalle auf, knapp zwanzig Meter entfernt. Victor schoss ebenfalls, im Laufen, kam näher. Zu hastig. Er wusste, dass er ihn verfehlt hatte, noch bevor der nächste Schuss aufblitzte. Die Kugel prallte gegen einen Metallpfeiler auf Victors linker Seite. Er wandte sich nach rechts, wollte aus dieser Entfernung nichts riskieren. Er hatte noch eine
einzige Kugel. Fünfzehn Meter, und sein Gegner schoss erneut, aus unveränderter Position, irgendwo in der Nähe des Waschbeckens. Die Kugel ging weit daneben. Er schoss nach Gehör, und Victor war ein sehr schnelles Ziel. Er schlug einen Haken nach rechts und stolperte über eine Kiste. Die nächste Kugel durchschlug eine Fensterscheibe. Keine zehn Meter mehr. Sein Gegner schoss erneut, dieses Mal aus einer anderen Position, hinter einem Pfeiler. Victor konnte das Überschallknacken hören, so dicht flog die Kugel an ihm vorbei. Fünf Meter. Noch ein Fehlschuss. Victor bereitete sich auf den nächsten Schuss vor, der, da war er sich sicher, treffen würde. Kein Schuss. Leeres Magazin. Victor hörte den Aufprall, hörte den Schützen in panischer Hektik nachladen. Er legte die letzten Meter im Sprung zurück, dann konnte er seinen Gegner sehen, ein verschwommener grauer Schatten, fast unsichtbar in der Dunkelheit. Das neue Magazin wurde hörbar in den Schacht geschoben, und dann sah er, wie der Schatten sich bewegte, nach hinten kippte, mit Victors letzter
Kugel in der Brust. Victor blieb stehen, atmete einmal tief durch – endlich, endlich – und lauschte. Irgendwo in der Dunkelheit stöhnte jemand. Alle anderen waren tot oder gerade dabei zu sterben. Victor ließ die leere Glock fallen und nahm seinem Gegner die eben geladene ab. Er durchsuchte die Taschen der Leiche und entdeckte ein Portemonnaie und ein Feuerzeug. Er nahm beides an sich. Er orientierte sich mithilfe des Plans in seinem Kopf, fand seine Schuhe wieder, schlüpfte hinein. Dann ging er zu der Stelle, an der Georg zu Boden gegangen war. Je näher er kam, desto lauter wurde das Stöhnen. Das Feuerzeug verscheuchte die Dunkelheit, und er sah Georg auf dem Rücken liegen, die Hände auf das blutende Loch in ihrem Unterleib gepresst. Die Plastikfolien, auf denen sie gelandet war, waren voller Blut, das von dort auf den Boden und in die Ritzen zwischen den schmalen Bodendielen tropfte. Sie starrte zu Victor hinauf, das gespenstisch-weiße Gesicht schmerzverzerrt. Tränen glänzten auf ihren Wangen.
»Bitte …« Vorsichtig, um nicht mit dem Blut in Berührung zu
kommen, durchsuchte Victor ihre Taschen. »Bitte was?« »Hilf mir.« Ihre Stimme klang schwach. »Ich bezahle dir … was du willst.« Victor hielt ihr ihr leeres Portemonnaie vors Gesicht. »Womit denn?« Sie gab keine Antwort. Victor schob den Geldbeutel in ihre Tasche, ignorierte das Handy und steckte die Autoschlüssel ein. »Hilf mir«, wiederholte Georg. »Sie tragen eine Schutzweste«, erklärte Victor. »Darum sind Sie immer noch am Leben, obwohl Sie eine Schrotladung Kaliber zwölf in den Bauch bekommen haben. Allerdings muss es sich um eine Unterzieh-Weste handeln, die verdeckt getragen wird, also besitzt sie vielleicht neunzehn Kevlarschichten. Das reicht, um eine NeunMillimeter-Kugel mit 365 Metern pro Sekunde aufzuhalten, aber nicht für neun gleich schnelle Schrotkugeln. Die Weste hat vielleicht fünfzig Prozent der Energie absorbiert, sodass keine Kugel bis zum Rückgrat durchgekommen ist, aber für Ihre Eingeweide hat es allemal gereicht. Dazu kommt
noch die Kugel in Ihrer Schulter. Ihnen bleibt noch eine Viertelstunde, maximal. Und ich kann absolut nichts daran ändern.« »Ruf … einen Notarzt.« »Damit die Notrufzentrale meine Stimme auf Band hat? Ich glaube kaum.« Er suchte nach dem Kerl, den er erstochen hatte, und zog ihm das Messer aus dem Rücken. Sonderanfertigung, hundert Prozent Keramik, mit gezackter Klinge und beidseitig geschliffener Spitze. Eine Waffe, die viel zu gut war, um sie an eine Leiche zu verschwenden, auch ohne ihren zusätzlichen sentimentalen Wert. Victor wischte die Klinge am Jackett des Toten ab, bevor er sie einklappte. »Es tut mir … leid, was … passiert ist«, sagte Georg. Ihre Stimme klang aufrichtig, aber Victor hatte die Erfahrung gemacht, dass unerträgliche Schmerzen bei Menschen oft das Bedürfnis weckten, sich zu entschuldigen. Er erhob sich. »Hilf mir … bitte«, gurgelte sie zwischen Ächzen und Stöhnen hervor. »Oder bring mich um … diese Schmerzen …«
Einem Feind hätte Victor eine solche Geste verweigert, aber die sterbende Frau war nicht sein Feind und war es niemals gewesen. Victor trat näher. Wenige Zentimeter vor der Blutlache blieb er stehen und legte die Glock an. Georg sah die Pistole und machte die Augen zu, um es nicht mit ansehen zu müssen. Nicht, dass ihr genügend Zeit geblieben wäre, um das Mündungsfeuer zu erkennen und sich vor der Kugel zu fürchten, oder dass das Gehirn genügend Zeit gehabt hätte, sich seiner eigenen Zerstörung bewusst zu werden. Aber Victor drückte nicht ab. Stattdessen ging er in die Hocke und griff in Georgs Jackentasche. Er holte das Handy heraus und wählte die Notrufnummer, schaltete den Lautsprecher ein und drückte ihr das Ding in die Hand. Sie riss die Augen auf und starrte Victor entgeistert an. »Denken Sie daran, mich zu vergessen«, sagte Victor, bevor es am anderen Ende der Leitung klingelte. Er ging zum Fahrstuhl, und die Frau in der Notrufzentrale erkundigte sich höflich, wie sie Georg helfen konnte.
Kapitel 8 Central Intelligence Agency, Virginia, USA
Der stellvertretende Direktor des National Clandestine Service, Roland Procter, ließ sich in einen der vier Ledersessel in der Sitzecke seines Büros sinken. Dieser Bereich war speziell für Sitzungen und Gespräche eingerichtet worden, die ein wenig formloser verlaufen sollten als üblich, aber Procter fühlte sich normalerweise wohler, wenn er hinter seinem massiven Schreibtisch sitzen bleiben konnte. Sein jetziger Gast verdiente jedoch eine Behandlung mehr auf Augenhöhe. In dem Sessel gegenüber von Procter saß Clarke. Er war zwar genauso alt wie sein Gegenüber, aber mindestens vierzig Kilogramm leichter und deutlich blasser. Bei genauerer Betrachtung wies er eine gewisse Ähnlichkeit mit einem frittierten Kartoffelstäbchen im Anzug auf. Aber wenn Clarke das Pommes frites war, dann war Procter – das musste er zugeben – der Hamburger. Er kannte sein eigenes Gewicht nicht genau, aber es musste sich irgendwo jenseits der hundertzwanzig Kilo bewegen, und das hatte nichts mit Veranlagung oder schweren
Knochen zu tun. Procter war einfach ein leidenschaftlicher Esser. Clarke war nicht bei der CIA angestellt. Sein Dienstausweis war vom Pentagon ausgestellt worden, aber das konnte im Prinzip so gut wie alles heißen. Procter wusste nicht genau, für wen Clarke zurzeit eigentlich arbeitete. Der Pentagon-Ausweis bot eine Menge Raum für Spekulationen und öffnete ihm viele Türen. Er war so etwas wie der BackstagePass zu den Geheimdiensten. Ob bei der CIA, der NSA, dem Ministerium für Heimatschutz oder der DIA, Clarke war jederzeit willkommen. Er brauchte sich nicht einmal vorher anzumelden. Diese Tatsache weckte bei Procter eine gewisse Unruhe, zumindest in dem Teil von Procter, der noch fest auf dem Boden seiner Vorschriften und Dienstanweisungen stand. Wer weiß, vielleicht arbeitete Clarke für keinen einzigen der großen Dienste oder aber für alle gleichzeitig. Vielleicht war seine Behörde so geheim, dass nicht einmal Procter je davon gehört hatte. Doch das spielte alles keine Rolle. Das Einzige, was eine Rolle spielte, war, dass Clarke sich denselben Prinzipien verpflichtet fühlte wie Procter und dass er genauso viel Schneid
besaß wie er, um diese Prinzipien in die Tat umzusetzen. »Ich habe Nachricht von meinem Mann erhalten«, fing Procter an. »Anscheinend hat es ein paar unbedeutende Probleme mit dem Lieferanten in Hamburg gegeben.« Clarke zog die Augenbrauen in die Höhe. »Was denn für Probleme?« »Tödliche.« Procter fasste kurz und knapp alles zusammen, was er wusste. »Ist Tesseract sauber da rausgekommen?« »Das behauptet er zumindest, und unsere Leute in Deutschland stützen seine Version. Die Polizei hat die Toten als Opfer einer Bandenschießerei verbucht. Georg ist sehr schwer verwundet, wurde dreimal operiert, wird aber vermutlich durchkommen. Man hat mir gesagt, dass er bei Bewusstsein ist und den Mund hält. Aber das spielt ohnehin keine Rolle. Der Polizei da drüben ist es ziemlich egal, wenn sich ein paar Kriminelle gegenseitig Löcher in den Bauch schießen. Insgeheim führen die ein paar Freudentänze auf, weil gleich zwei Banden auf einen Schlag dabei draufgegangen sind. Sie fahnden nicht nach einem bestimmten Täter und schon gar nicht
nach unserem Mann.« »Gut.« »Das klingt ja beinahe enttäuscht«, sagte Procter. Clarke ignorierte die Spitze. »Aber es gibt da noch ein echtes Problem. Wegen Bukarest.« »Und das wäre?« »Einer von Kasakovs Leuten hat Tesseracts Schuss gehört. Er hat seine Kontakte ins Polizeipräsidium von Bukarest spielen lassen und erfahren, dass man den Leichnam des Attentäters schon entdeckt hatte – ohne Kopf. Er lag auf einem Flachdach, direkt neben einem Scharfschützengewehr, mit freier Sicht auf den fünfhundertfünfzig Meter entfernten Haupteingang des Grand Plaza, wo zufälligerweise Vladimir Kasakov abgestiegen war.« »Und was hat die Polizei ihm noch verraten?« »Alles, was sie über den Attentäter wussten. Dass er ein kroatischer Auftragskiller war und von Interpol gesucht wurde. Der Typ war Arschloch durch und durch, hat für alle möglichen Leute gearbeitet. Das heißt, Kasakov weiß jetzt, dass ihn irgendjemand um die Ecke bringen wollte. Und dass jemand anders eingegriffen hat, um genau das zu verhindern.
Vielleicht ist ihm ja klar, wer ihn umbringen will, vielleicht auch nicht. Aber eines steht fest: Er wird wissen wollen, wer ihm da zu Hilfe gekommen ist, und in der Zwischenzeit wird er schön den Kopf unten halten.« Procter zuckte die Achseln. »Ist mir eigentlich egal.« »Mir nicht.« »Sollte es aber. Wir legen einfach eine falsche Fährte. Wir lassen ihn glauben, dass der Kroate in einem ganz anderen Zusammenhang umgebracht worden ist und er sein Leben nur einem glücklichen Zufall zu verdanken hat.« Daran hatte Clarke auch schon gedacht, und das wusste Procter. Darum kam die Antwort auch wie aus der Pistole geschossen zurück. »Sicher. Aber es wäre besser, wenn er sein Leben einfach weiterleben würde, ohne dass er sich bedroht fühlt. Jetzt weiß er, dass er dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen ist, und das könnte die Dinge für uns komplizierter machen. Vielleicht ändert er seine Pläne, verstärkt seine Sicherheitsmaßnahmen, taucht unter. Verdammt
noch mal, vielleicht zieht er sich ja ganz aus dem Waffengeschäft zurück und geht in die Politik.« Clarke wog vielleicht ungefähr so viel, wie Procter an einem schlechten Tag in sich hineinschlang. Aber in puncto Gehirnmasse, dachte der Dicke, da liegen wir beide in einer Gewichtsklasse. »Das ist kein Problem«, versicherte ihm Procter. »Und wenn er jetzt zu viel Angst bekommen hat?« »Dann beruhigt er sich auch wieder. Kasakov ist sich sehr wohl über die Risiken seines zweifelhaften Lebenswandels im Klaren. Wer illegal mit schweren Waffen handelt und jeden Diktator, jeden Stammesfürsten und jede Todesschwadron auf diesem Planeten in seiner Kundenkartei führt, der braucht einen guten Schlaf. Und im Übrigen – glauben Sie wirklich, dass das der erste Anschlag auf sein Leben war? Der Kerl ist hart im Nehmen. Ein einziger Gewehrschuss reicht jedenfalls bestimmt nicht aus, um so einem Typen Angst einzujagen.« »Es besteht aber ein Unterschied zwischen Angsthaben und klugem Handeln.« »Glauben Sie mir, dieser Drecksack hat Eier aus Granit. Haben Sie gewusst, dass der französische
Geheimdienst mal hinter ihm her gewesen ist, noch bevor er eine ganz große Nummer war? Er hat sie bei einem Geschäft mit Exocet-Raketen über den Tisch gezogen. Damals war es auch so knapp.« Procter hielt Daumen und Zeigefinger im ZweiZentimeter-Abstand in die Höhe. »Hab ich nicht gewusst«, erwiderte Clarke tonlos. »Das wissen nur die wenigsten. Ich glaube, das war in Marokko damals. Er hat Urlaub gemacht. Der französische Auslandsgeheimdienst hat eine Einheit losgeschickt. Die haben den Großteil seines Gefolges erschossen, aber ihn haben sie nur verletzt. Er hat das halbe Ohr verloren. Hat er sich davon etwa aufhalten lassen? Nein, hat er nicht. Er hat ihnen später sogar beim Verkauf von ein paar Mirage-Jets geholfen. Dabei sind die Franzosen ihm in Marokko deutlich näher gekommen als unser kroatischer Freund in Bukarest. Ich sage Ihnen, Peter, um den guten alten Vladimir brauchen Sie sich wirklich keine Sorgen zu machen.« Clarkes Gesichtszüge wurden härter. »Wegen Kasakov mache ich mir auch keine Sorgen.« Procter beugte sich vor. »Das hatten wir doch alles schon mal, und ich kann Ihre Bedenken in
Bezug auf meinen neuen Mitarbeiter wirklich verstehen.« »Da bin ich mir eben nicht so ganz sicher.« »Hören Sie, es kann ja sein, dass da unter Umständen ein gewisses Risiko mit ihm verknüpft ist, aber sein Wert übersteigt dieses Risiko bei Weitem.« »Zum jetzigen Zeitpunkt ist immer noch nicht eindeutig erkennbar, welchen Wert er tatsächlich hat.« »Ich finde, diesen Wert hat er erst vor Kurzem recht eindrücklich demonstriert.« Clarke zuckte abschätzig mit den schmalen Schultern. »Das Wunderkind besteht den ersten Test, na und? Das bedeutet doch lediglich, dass er nützlich ist, aber von der Sorte gibt es viele. Und zwar solche, die sehr viel besser zu lenken sind.« »Ich glaube, Ihnen ist immer noch nicht so richtig bewusst, wie glücklich wir uns schätzen können, dass wir ihn haben. Nur für den Fall, dass Sie es vergessen haben sollten: Wir haben erst achtundvierzig Stunden, bevor der Anschlag auf Kasakov stattfinden sollte, überhaupt davon erfahren. Wir hatten keine Ahnung, wo Kasakov war,
und selbst wenn wir es gewusst hätten, hätten wir keine Möglichkeit gehabt, ihn zu warnen. Wir hatten bloß dieses eine abgefangene Telefonat, aus dem wir erfahren haben, wo es stattfinden soll. Wir haben weder gewusst, wer es tun sollte, noch wie. Wir haben Tesseract einfach blind da reingeschickt, und er hat genau das erledigt, was zu erledigen war. Wenn Kasakov in Bukarest ermordet worden wäre, dann wäre unsere ganze schöne Operation in sich zusammengekracht, bevor sie überhaupt angefangen hatte. Also, dann sagen Sie mir mal, wen hätten wir denn noch losschicken können, inoffiziell? Wer sonst hätte uns diese Katastrophe ersparen können, ohne dass wir ins Scheinwerferlicht geraten wären? Ich? Sie?« Clarke setzte sich kerzengerade auf und brachte seinen Zeigefinger in Stellung. »Versuchen Sie ja nicht, mich in die Falle zu locken, Roland. Ich habe absolut nachvollziehbare Zweifel an Ihrer Personalauswahl für diese Operation geäußert. Diese Zweifel beziehen sich aber keineswegs auf Tesseracts Fähigkeiten, sondern auf seine Loyalität, Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit, wenn ich Sie
daran erinnern darf.« »Was Sie soeben gemacht haben«, sagte Procter mit hochgezogenen Augenbrauen. Clarke stieß hörbar den Atem aus. Sein normalerweise blasses Gesicht war rot angelaufen. »Peter, jetzt regen Sie sich wieder ab, bevor Ihnen noch eine Ader platzt. Schließlich haben Sie mich angesprochen, wissen Sie noch? Sie haben mich um Hilfe gebeten, nicht andersrum. Natürlich bin ich froh, dass Sie das getan haben, aber wir haben uns doch zu Anfang unserer kleinen Verschwörung darauf verständigt, dass ich die Operation so führe, wie ich es für angebracht halte. Einschließlich der Auswahl der handelnden Personen. Tesseract besitzt außergewöhnliche Fähigkeiten und kann niemals mit uns in Verbindung gebracht werden. Solange die Ergebnisse stimmen, ist es mir vollkommen egal, was er gemacht hat, bevor er für uns gearbeitet hat.« »Solange die Ergebnisse stimmen.« »Das Entscheidende ist doch«, sagte Procter und senkte die Stimme. »Wir haben ihn gebraucht, wir haben ihn benutzt, und er hat seinen Auftrag perfekt erfüllt. Mehr können wir beim besten Willen nicht
verlangen.« »Aber er stellt auch ein Risiko dar, das können Sie nicht leugnen.« »Tue ich auch gar nicht. Aber sein Wert übersteigt das Risiko.« »Im Augenblick, ja«, sagte Clarke. »Aber Sie sollten nicht vergessen, dass das Risiko immer größer wird, je mehr Zeit vergeht. Und gleichzeitig werden unsere Möglichkeiten, dieses Risiko irgendwie einzudämmen, immer geringer.« »Dann handeln wir, bevor es kritisch wird.« »Das hoffe ich.« »Sie machen sich zu viele Sorgen.« »Ich habe nie etwas anderes behauptet. Aber Sie machen sich nicht genügend Sorgen.« Procter lächelte. »Dafür habe ich ja Sie. Aber jetzt wenden wir uns wieder dem Eigentlichen zu, in Ordnung? Es wird Sie freuen zu hören, dass Tesseract, wie geplant, in Berlin eingetroffen ist, um die nächste Phase unserer Operation einzuläuten.« »Gut. Mal sehen, ob der Kerl unsere Siegessträhne fortsetzen kann.« »Das wird er«, erwiderte Procter im Brustton der Überzeugung. »Und jetzt, wo wir auch Saul Callo
geschnappt haben, läuft doch alles wie geschmiert.« »Wie verfahren wir mit Callo?« »Das habe ich den Jungs vor Ort überlassen. Ich habe nicht vor, aus meinem zehntausend Kilometer entfernten Sessel den Großinquisitor zu geben. Saul hat die letzten achtundvierzig Stunden im Kofferraum eines Autos zugebracht und nicht mehr als ein paar Schlucke Wasser bekommen. Er dürfte mittlerweile ziemlich weichgeklopft sein. Morgen, nehme ich an, schaffen sie ihn dann auf das Gelände und lassen ihn vermutlich noch ein paar Stunden lang in einer dunklen Zelle schmoren, bevor sie ihn sich vorknöpfen.« »Klingt wirklich köstlich«, sagte Clarke. Procter beugte sich erneut vor. »Er hat es nicht anders verdient.« Er hievte sich aus dem Sessel und trat ans Fenster. Draußen schien die Morgensonne auf das ländliche Virginia und tauchte die Landschaft in ein wunderschönes Licht. Procter liebte diese Gegend. Wenn es nach ihm gegangen wäre, er wäre sofort aus Washington, D. C., weg und in ein schönes Landhaus gezogen, vielleicht mit einer Wiese und einem Pferd dabei. Aber Patricia war dem
Stadtleben viel zu sehr verfallen, sie hätte es nur unter heftigen Kämpfen aufgegeben. Procter, der sich immer sehr genau überlegte, wann er welche Schlacht führte, wusste, dass er diese noch nicht gewinnen konnte. »Wie sicher sind Sie, dass er die Informationen besitzt, die wir brauchen?«, erkundigte sich Clarke. »Oh, die hat er ganz bestimmt. Außerdem, sollte es tatsächlich irgendwo noch ein besseres Bindeglied zu Ariffs Imperium geben, wir würden es wohl kaum entdecken. Schließlich hat es schon sehr, sehr lange gedauert, bis wir diesen ägyptischen Drecksack überhaupt mal auf den Schirm bekommen haben.« »Wer stellt ihm die Fragen?«, bohrte Clarke weiter. »Wer immer mit Callo in diesem Raum sein wird, er bekommt auf jeden Fall vieles zu hören. Informationen, die, wenn das Ganze vorüber ist, womöglich auch als Druckmittel gegen uns verwendet werden können.« »Ich glaube, Sie überschätzen die Betreffenden. Da wären zum einen die britischen Vertragspartner, die Sie mit ins Boot geholt und für die Sie
selbstverständlich auch gebürgt haben, aber die wissen nur das Allernötigste. Von der Seite sind also keine Schwierigkeiten zu erwarten. Der Mann, der die Aktion überwacht, ist Mitarbeiter der CIA. Er ist zwar ein ehrgeiziges kleines Arschloch, aber seine Eier bestehen aus feinstem Kuchenteig und sonst nichts. Er wird niemals ein Sterbenswörtchen verraten, an niemanden.« Procter lächelte. »Er ist sozusagen mein kleiner, privater Sklave. Ich habe so viel Material über ihn in der Hand, dass ich von ihm verlangen könnte, er soll sich das rechte Bein abhacken, und er würde sich, während er verblutet, noch für meine Gnade bedanken. Ich halte ihn so dermaßen kurz, dass er nicht einmal weiß, ob ich Jesus Christus bin oder der Teufel persönlich.« Der letzte Satz entlockte Clarke so etwas Ähnliches wie ein Lächeln. Procter sagte: »Er wird tun, was getan werden muss, sodass wir am Mittwoch genügend Informationen haben, um die nächste Phase einzuleiten.« Endlich einmal schien Clarke zufrieden zu sein. »Dann läuft also alles genau nach Plan.« »Genau nach Plan«, erwiderte Procter. »Wir
werden den illegalen internationalen Waffenhandel Stück für Stück auseinanderreißen, das ist unser Ziel.«
Kapitel 9 Berlin, Deutschland
Laut Dossier sollte Adorján Farkas am Mittwoch in Berlin eintreffen. Sein Aufenthalt war für maximal sieben Tage vorgesehen. Anschließend wollte er in seine Heimat Ungarn zurückkehren, wo er, wie Victor vermutete, entweder sehr viel schwerer zu erwischen oder seine Ermordung weniger wert war. Farkas war schon sein Leben lang Angehöriger der ungarischen Mafia. Mittlerweile war er zweiundfünfzig Jahre alt und gerade dabei, sich auch außerhalb der klassischen Betätigungsfelder des organisierten Verbrechens – also Drogenhandel, Erpressung und Prostitution – einen Namen zu machen, vor allem im internationalen Menschenhandel und als Waffenschieber. Dieser letzte Punkt war, laut Dossier, der Grund, warum Farkas ausgelöscht werden sollte. Farkas machte im Moment eine Menge Geld mit Sturmgewehren, die er bei verschiedenen Herstellern in Osteuropa kaufte und dann mit großem Gewinn und illegal im Nahen Osten absetzte. Trotzdem nahm Farkas nicht gerade eine
Spitzenstellung in der Rangliste der Bösewichter dieser Welt ein, daher hatte sein Tod wahrscheinlich, abgesehen von den Waffen-Deals, noch eine andere Bedeutung. Dass diese Angaben fehlten, war ein weiteres Indiz dafür, dass Victor immer nur das Allernötigste erfuhr. Farkas war höchstwahrscheinlich Glied einer Kette, die Victors Einsatz-Koordinator unterbrechen wollte, und die Ermordung des Ungarn war entweder die einfachste oder vielleicht auch die einzige Möglichkeit, um zu verhindern, dass die Waffen, die er verscherbelte, irgendwann einmal amerikanischen Staatsbürgern das Leben nahmen. Victor hatte zwar bereits einem Waffenschieber das Leben gerettet, aber ihm war auch klar, dass die Dinge nicht immer so eindeutig waren, wie sie zu sein schienen. Abgesehen von dem konkreten Motiv waren die Informationen über Farkas ungewöhnlich umfassend – ein ausführlicher Lebenslauf, Listen mit Geschäftspartnern, persönliche Einzelheiten und so weiter –, aber weitgehend nutzlos. Das Wichtigste – und manchmal auch das Einzige, was Victor brauchte – waren aktuelle Fotos und die Angabe von Farkas’ Aufenthaltsort. Ansonsten brauchte er nur
die Informationen, die zur Erledigung seines Auftrags erforderlich waren. Und da diejenigen, die diese Dossiers zusammenstellten, nicht selbst aktiv wurden, bestand vielfach eine enorme Diskrepanz zwischen dem, was ihnen wichtig erschien, und dem, was Victor wichtig war. Aber trotzdem, angesichts der spezifischen Besonderheiten dieses Auftrags bekam er lieber zu viele Informationen als zu wenige. Farkas sollte in die Luft gesprengt werden. Kein Unfall, kein Selbstmord, keine Schusswunde, keine aufgeschlitzte Kehle. Farkas durfte nur mithilfe von Sprengstoff in die ewigen Jagdgründe geschickt werden. Und zwar nur mit dem Sprengstoff, den Georg geliefert hatte. Auch dafür hatte Victor keine Erklärung bekommen, doch ähnlich wie im Zusammenhang mit Farkas’ Ableben generell hatte er auf diese Frage ebenfalls eine halbwegs plausible Antwort parat. Sein Auftraggeber wollte den Mordverdacht auf eine bestimmte Person oder Gruppe lenken, und dafür würde der Sprengstoff sorgen, den Victor benutzen sollte. Victor untersuchte das Cyclotrimethylentrinitramin, das er in Hamburg besorgt hatte. Die Substanz,
besser bekannt als Hexogen oder RDX, war ein in Militär und Industrie weitverbreiteter Sprengstoff und einer der wirkungsvollsten überhaupt. Unter Hinzufügung verschiedener Chemikalien, unter anderem zum Beispiel eines Spritzers Motoröl, konnte man aus Hexogen Plastiksprengstoff wie zum Beispiel C4 herstellen. Das wäre Victor deutlich lieber gewesen, aber leider war ihm dieser Luxus nicht vergönnt. Die vierzehn Pfund Hexogen, die Victor aus Georgs Transporter geholt hatte, bestanden aus sieben zwei Pfund schweren Blöcken, die speziell für den militärischen Einsatz hergestellt worden waren. Während Plastiksprengstoffe sich verformen ließen, bildete das Hexogen eine harte, weiße, kristalline Masse. Mithilfe der mitgelieferten Sprengkapseln konstruierte Victor aus einem der Blöcke eine Bombe, die genügend Sprengkraft besaß, um einen einzelnen Mann auf mehrere Meter Entfernung zu töten. Ein Sprengsatz aus den gesamten vierzehn Pfund hätte zwar eine unglaublich heftige Sprengwirkung gehabt, wäre aber auch sehr viel schwieriger zu transportieren und zu verstecken gewesen. Außerdem hatte Victors
Auftraggeber deutlich gemacht, dass es, trotz der naheliegenden potenziellen Nebenwirkungen einer Bombe, keine Kollateralschäden geben durfte. Nicht, dass es dieses Hinweises tatsächlich bedurft hätte. Er besaß nicht die Angewohnheit, Unbeteiligte zu töten, aber bei einer Bombe ließ sich das nie ganz ausschließen. Das war auch der Hauptgrund, warum er normalerweise nicht mit Sprengstoff arbeitete. Georg hatte keinen Fernzünder geliefert, daher musste Victor die Bombe so anbringen, dass sie von Farkas ausgelöst wurde. Natürlich hätte er auch ein Handy an die Sprengkapseln anschließen und sie mit einem Anruf von einem zweiten Handy auslösen können, aber das kam nur infrage, falls es wirklich keine andere Möglichkeit gab. In einem solchen Fall musste er während der Detonation Sichtkontakt zum Opfer haben, und damit blieben ihm weniger Möglichkeiten, wo er die Bombe platzieren konnte. Außerdem war er dann gezwungen, ganz in der Nähe zu bleiben. Dazu kam noch, dass er womöglich genau in dem Moment, wo er die volle Netzstärke benötigte, plötzlich keinen
Empfang mehr hatte. Trotzdem hatte Victor sich mithilfe der Informationen aus dem Dossier schon einen ungefähren Plan zurechtgelegt. Farkas hatte sich für die Dauer seines BerlinAufenthalts im Penthouse eines Blocks mit Luxusappartements eingemietet. Er würde ein ganzes Gefolge mitbringen, also drei bis fünf seiner Mafia-Untergebenen, die, wenn man von seinen bisherigen Auslandsreisen ausgehen konnte, ebenfalls im Penthouse wohnen würden. Ob und wenn ja, wie sie bewaffnet waren, darüber gab es keine Erkenntnisse. Es war kalt und sonnig, als Victor an dem Appartementhaus in Berlin vorbeischlenderte, ein stattliches Gebäude im Zentrum von Prenzlauer Berg, einem der begehrtesten Wohnviertel in ganz Berlin. Es war vier wunderschöne Stockwerke hoch und besaß ein Souterrain. Zwei bis drei Appartements pro Stockwerk, aber nur eine Penthouse-Wohnung. Victor verbrachte eine ganze Weile damit, den Prenzlauer Berg zu erkunden, zum einen, um sich
routinemäßig nach eventuellen Verfolgern umzusehen, zum anderen, um ein Gefühl für die Umgebung zu bekommen, in der er seinen Auftrag ausführen würde. Das Viertel hatte den Zweiten Weltkrieg relativ unversehrt überstanden, und so waren ihm auch die Nachkriegsbauten erspart geblieben, die die übrige Stadt bis heute zu ertragen hatte. Was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts als Arbeiterviertel errichtet worden war, war heute eine sehr wohlhabende Wohngegend mit zahlreichen trendigen Bars und Restaurants, Edelboutiquen, Delikatessengeschäften und Cafés. Victor fiel es nicht schwer zu verstehen, weshalb ein wohlhabender ungarischer Gangster hier Quartier machen wollte. Er setzte sich in ein Straßencafé, in dem es vor Mittagsgästen wimmelte. Kleidergeschäfte und Restaurants säumten die baumbestandene Straße. Ihm gegenüber befand sich die U-Bahn-Station, die gepflegt und sauber wirkte. Er beobachtete die Leute, vor allem die Männer Anfang bis Mitte dreißig, die vielfach lässig und stylisch zugleich gekleidet waren.
Als er seinen Eistee ausgetrunken hatte, suchte er ein Kleidergeschäft auf und sah sich in der Herrenabteilung um. Ein schlanker junger Mann erkundigte sich, ob er ihm vielleicht helfen könne. Victor sagte: »Ich suche etwas Lässiges, das trotzdem stylisch ist.« Alles, was zu auffällig war oder worin er zu gut aussah, lehnte er ab, sehr zur Verwirrung des jungen Mannes. Schließlich entschied er sich für zwei dunkle Jeans, ein paar gemusterte Hemden, einen cremefarbenen Pullover und eine braune Lederjacke, alles relativ weit geschnitten. Außerdem besorgte er sich in unterschiedlichen Geschäften Unterwäsche, Slipper, eine Schultertasche aus braunem Leder, eine Designer-Sonnenbrille und ein Prepaid-Handy. Victors bescheidenes Hotel lag drei U-BahnStationen weit entfernt. Er wollte einerseits in Farkas’ Nähe sein, aber gleichzeitig auch weit genug entfernt, um auch dann eventuelle Verfolger aufspüren zu können, wenn er gezwungen war, den direkten Weg zu nehmen. In seinem Einzelzimmer angelangt, schlüpfte Victor in seine neuen Sachen. Eigentlich trug er in städtischer Umgebung am
liebsten Anzüge, aber im Prenzlauer Berg, wo Männer seines Alters sich tendenziell zwangloser kleideten, wäre er damit aufgefallen. Vorhin schon hatte er zwei potenzielle Beobachtungsposten ausfindig gemacht. Der eine war ein schickes Café auf der gleichen Straßenseite wie das Appartementhaus, der andere eine Cocktailbar auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er betrat die Bar, bestellte sich ein stilles Wasser mit einer Scheibe Zitrone und setzte sich nach draußen. Der Blick war zwar nicht optimal, aber von hier aus konnte er den Haupteingang des Gebäudes im Blick behalten, und es fiel nicht weiter auf, wenn er womöglich mehrere Tage lang viele Stunden hier verbrachte. Er holte ein kleines Notizbuch und einen Stift aus der Tasche und legte sie neben sein Wasserglas auf den Tisch. Er notierte sich alle Personen, die das Gebäude verließen oder betraten, und wartete auf jemanden, der seinen Anforderungen entsprach. Am liebsten eine Person, die nicht aussah wie ein Gast – ein Zimmermädchen vielleicht oder ein Hausmeister –, aber er hatte kein Glück.
Nachdem er zwanzig Minuten lang gewartet hatte, sah er einen Mann und eine Frau gemeinsam das Haus verlassen. Sie waren beide Ende zwanzig, ein gut aussehendes Paar, und das wussten sie auch. Sie achteten nicht auf ihre Umgebung, konnten weder die Blicke noch die Hände voneinander lassen. Er sah sofort, dass sie genau das waren, was er brauchte. In Victors Arbeitsfeld konnte die Liebe manchmal wirklich ein ausgesprochen nützliches Gefühl sein. Sie waren leicht zu verfolgen. Selbst wenn er nicht vorsichtig gewesen wäre – was er immer war –, hätten sie ihn vermutlich nicht wahrgenommen, geschweige denn beachtet. Sie kamen nur langsam voran, wie es bei den meisten Paaren der Fall zu sein schien, und registrierten vor Seligkeit nicht einmal, wie viel Platz sie einnahmen. Etliche verärgerte Fußgänger hatten keine andere Wahl, als ihnen im Bogen auszuweichen. Sie betraten eine Kneipe, und er trat wenige Minuten später ebenfalls dort ein. Im Inneren verfolgte eine lebhafte Menge auf mehreren großen Bildschirmen ein Fußballspiel. Victor entdeckte das
Pärchen an einem Tisch in einer nur unwesentlich ruhigeren Ecke. Er orderte ein Bier und stellte sich so an die Theke, dass er die beiden beobachten konnte und gleichzeitig wie ein Fußballfan aussah, der sich einfach nur das Spiel anschauen wollte. Es war warm in der Kneipe, und Victor sah, wie der Mann seine Jacke auszog und über die Stuhllehne hängte. Auch er hatte sich ein Bier bestellt, genau wie Victor, und leerte es zügig. Als die Frau ihren Weißwein ausgetrunken hatte, erhob sich der Mann, um die zweite Runde zu bestellen. Victor stellte sein Glas ab und setzte sich in Bewegung. Während der Mann sich zur Theke durchkämpfte, schlängelte Victor sich durch die lebhafte Menschenmenge und holte dabei sein Handy aus der Hosentasche. Er tat so, als würde er gerade eine SMS schreiben, und drängte sich leicht schwankend an dem Tisch mit der Frau vorbei, stützte sich an der Stuhllehne mit der Jacke des Mannes ab. Er spürte das Gewicht des Schlüsselbunds in einer der Taschen und tat so, als sei er gestolpert. Dabei ließ er das Handy fallen. Er stieß einen unterdrückten Fluch aus, bückte sich, um es mit der linken Hand aufzuheben, während er die rechte in die
Jackentasche des Mannes gleiten ließ und den Schlüsselbund herausholte. Kopfschüttelnd stand er wieder auf. Aus dem Augenwinkel sah er, dass die Frau ihn anschaute, ohne Misstrauen, nur mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen. Für sie war er nichts weiter als ein angetrunkener Fußballfan. Zurück an der Theke nahm Victor noch einen großen Schluck Bier, dann verließ er die Kneipe. Den nächstgelegenen Schlüsseldienst hatte er bereits ausfindig gemacht und ließ sich einen Zweitschlüssel anfertigen. Anschließend kehrte er in die Kneipe zurück und reichte einer Kellnerin den Schlüsselbund, den er angeblich in der Nähe des Tisches gefunden hatte, an dem das junge Paar saß. Die Fußballfans schrien auf, als der Ball im Netz landete. Es dauerte eine Weile, bis Victor einen Laden für Künstlerbedarf gefunden hatte. Dort kaufte er Farbe, Papier, Pinsel, Kreide und ein Gläschen Grafitpulver. In der Kosmetikabteilung eines Kaufhauses erstand er einen ausklappbaren Makeup-Pinsel mit sehr weichen Borsten, Rouge und eine
Flasche Parfüm, das ihm von einer freundlichen Verkäuferin empfohlen wurde, als er sie fragte, was er denn seiner Freundin schenken könnte. Auf dem Weg zurück ins Hotel warf er alles weg bis auf das Grafitpulver und den Make-up-Pinsel. In seinem Zimmer angekommen schlüpfte er in seinen Anzug und tauchte den Make-up-Pinsel in das Grafitpulver, klappte ihn ein und steckte ihn in seine Hosentasche. Er war schon ein bisschen spät dran und ging dennoch gemächlich los. Um sechzehn Uhr dreizehn traf er die Maklerin, die unruhig vor dem Appartementhaus auf und ab ging. Sie war etwa eins siebzig groß, Ende zwanzig, trug einen akkuraten, marineblauen Hosenanzug, der ihr ein durch und durch geschäftsmäßiges Aussehen verlieh, ohne auch nur den geringsten Zweifel daran zu lassen, dass sie eine attraktive und gut gebaute Frau war. Ihr blondes, schulterlanges Haar wehte sanft im Wind. Wie nicht anders zu erwarten, sah sie ziemlich ärgerlich und ungeduldig aus. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Er war noch einen guten Meter von ihr entfernt, als ihr klar wurde, wer er war. Er lächelte sie höflich an. Sie erwiderte sein Lächeln nicht.
»Frau Friedman, nehme ich an«, sagte Victor mit leichtem Hamburger Akzent. »Mein Name ist Krausse. Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe.« Er lieferte keine nähere Begründung. Sie erwiderte wenig überzeugend: »Das macht doch nichts.« Er überhörte ihren Tonfall. »Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen wollen, mir alles zu zeigen.« Er streckte die Hand aus, und sie ergriff sie. Fast leblos. Dann zeigte sie auf die Haustür. »Wollen wir?« Frau Friedman begleitete ihn ins Penthouse, schloss die Tür auf und trat ein. Victor blieb ihr dicht auf den Fersen. Die Alarmanlage stieß einen dumpfen Warnton aus. Am anderen Ende des Flurs hing ein kleiner Kasten an der Wand. Um welches System es sich handelte, war nicht auf den ersten Blick erkennbar, aber angesichts der Exklusivität des Appartements hatte er es hier vermutlich nicht nur mit den üblichen Fotozellen zu tun, sondern mit einem deutlich komplexeren System. Wahrscheinlich Radarsensoren oder aber, noch wahrscheinlicher,
passive Infrarot-Bewegungsmelder. Radarsensoren stoßen in regelmäßigen Abständen Mikrowellen oder Ultraschallwellen aus. Diese Wellen werden von der Umgebung reflektiert und vom Gerät ausgewertet. Wenn ein Fremdkörper oder eine Person in den überwachten Bereich eindringt, ändert sich das Muster der reflektierten Wellen und löst den Alarm aus. Passive Infrarotsysteme hingegen registrieren den Anstieg der Infrarotstrahlung, verursacht durch die Körperwärme eines Eindringlings. Egal, welches System, es war in jedem Fall alles andere als einfach, es zu überlisten. Aber wenn alles so lief wie geplant, dann würde das gar nicht nötig werden. Er beobachtete Friedman, während ihre Finger über das Tastenfeld huschten. Er konnte sich zwar nicht so dicht hinter sie stellen, dass er die Zahlen erkennen konnte, ohne sie misstrauisch zu machen, aber er sah, in welche Richtung sich ihre Finger bewegten. Sie drückte die erste Taste, der Finger zuckte nach unten, zweite Taste, noch einmal nach unten, dritte Taste, und schließlich wieder ganz nach oben, letzte Taste. Victor prägte sich das Muster gut ein. Taste, runter, Taste, runter, Taste, hoch, hoch,
Taste. Die Maklerin zeigte ihm das Wohnzimmer, die Küche, das Badezimmer und die drei Schlafzimmer. Das größte besaß sogar ein eigenes Bad. Jedes Zimmer war verschwenderisch eingerichtet – Ledersofas im Wohnzimmer, Marmor im Badezimmer, Edelstahl und Granit in der Küche. Sie war mit allem ausgestattet, was für einen gehobenen, modernen Lebensstil erforderlich war: Spülmaschine, riesiger Flachbildfernseher, Surround-Sound, die neuesten Spielekonsolen und eine Espressomaschine. Was ein Mafiaboss auf Reisen eben so brauchte. Er ließ sich Zeit mit der Besichtigung, untersuchte jeden Einrichtungsgegenstand und jedes Möbelstück gründlich. Im Augenwinkel sah er, wie die Maklerin immer häufiger auf ihre Armbanduhr schaute. Er gab vor, es nicht zu bemerken. Schließlich hatte er das Ganze so weit in die Länge gezogen, dass ihr Handy klingelte. Er wunderte sich nicht im Geringsten, dass sie den Anruf entgegennahm, ohne sich bei ihm zu entschuldigen. Er nickte höflich, und sie ging in die Küche, um ungestört zu sein.
Hastig betrat Victor den Flur. Er holte den Makeup-Pinsel aus der Hosentasche, klappte ihn auf und strich sehr behutsam mit den Borsten über die Tastatur der Alarmanlage. Das feine Grafitpulver blieb an den Fettspuren kleben, die Friedman mit ihren Fingern auf vier der neun Tasten hinterlassen hatte. Eins, zwei, fünf und acht. Er hörte, wie sie ihr Telefonat beendete, und wischte die Tastatur mit seinem Jackettärmel sauber. Eine Sekunde, bevor sie in den Flur kam, verschwand der Make-up-Pinsel wieder in seiner Hosentasche. »Können wir dann?« Auf dem Weg zur U-Bahn-Station reimte er sich zusammen, wie die Zahlen Eins, Zwei, Fünf und Acht zu der Tastenfolge passten, die er sich eingeprägt hatte – Taste, runter, Taste, runter, Taste, hoch, hoch, Taste . Der Code musste also eins oder zwei – fünf – acht – und wieder eins oder zwei lauten. Was die erste und die vierte Zahl anging, standen die Chancen fünfzig zu fünfzig. Aber Alarmanlagen ließen immer ein bis zwei Fehleingaben zu, darum konnte er den Code mit Sicherheit erneut eingeben, falls er sich beim ersten Mal vertippte.
Victor stellte immer wieder fest, dass Menschen mit einem ungefährlichen Arbeitsplatz in Sicherheitsfragen viel zu nachlässig waren. In einem Appartementhaus mit rund einem Dutzend Wohnungen, die alle mit einer eigenen Alarmanlage ausgestattet waren, hätte eigentlich jede Wohnung einen eigenen Code bekommen müssen, der außerdem für jeden neuen Mieter gewechselt wurde. Das bedeutete einen ziemlichen Aufwand. Vielleicht wollte sie ja später noch einmal wiederkommen, um vor Farkas’ Ankunft noch einen neuen Code zu programmieren. Das wäre das Sicherste. Aber im Ringen zwischen Sicherheit und Faulheit würde Victor in jedem Fall auf die Faulheit setzen.
Kapitel 10 Flughafen Warschau-Ok¸ecie, Polen
Kevin Sykes unterdrückte ein Gähnen, während er die blinkenden roten und grünen Lampen an den Tragflächen der Maschine im Landeanflug beobachtete. Langsam schälte sich der Rumpf des Learjet aus dem nächtlichen Himmel. Seine Unterseite wurde von den Nebelleuchten des Flughafens angestrahlt. Im Gegensatz zu den Linienfliegern hatte der Learjet eine der kürzeren und seltener benutzten Landebahnen zugewiesen bekommen. Der Lärm übertönte nahezu alles, und Sykes hielt sich die Ohren zu. Mit kurzem Kreischen berührten die Reifen den Asphalt und stießen eine graue Wolke aus verbranntem Gummi aus, die sich in der kalten Luft verlor. Der weiße Jet rollte die schmale Rollbahn entlang und blieb knapp fünfzig Meter vor zwei Werkstatthangars stehen. Kein einziger Flughafenangestellter war in der Nähe, ganz wie verlangt. Die einzige Tür des kleinen Flugzeugs öffnete sich nach außen, und eine kurze Treppe
wurde zu Boden gelassen. Ein Mann tauchte in der Öffnung auf und kam die Treppe herunter. Er war sehr kräftig gebaut, Anfang fünfzig und trug Jeans sowie einen dicken Pullover. Er besaß lichtes graues Haar und ein sonnengebräuntes, kantiges Gesicht. Ihm folgte ein ähnlich grimmig wirkender Mann Mitte dreißig. Als der Wind in seine Jeansjacke blies, konnte Sykes das Halfter mit der Pistole am Gürtel erkennen. Er nahm die Neuankömmlinge am Fuß der Treppe in Empfang. »Max Abbot«, sagte der erste mit einem britischen Arbeiterschicht-Akzent und einer tiefen, heiseren Stimme. Sykes versuchte, während des Händedrucks nicht das Gesicht zu verziehen. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Max.« Abbot deutete auf seinen Begleiter. »Und der Drecksack da is’ mein Partner, Mr. Blout.« Blout verzog keine Miene. »Hallo.« Sykes nickte ihm zu, ein kleines bisschen misstrauisch. Seine jüngsten Erfahrungen mit unabhängigen Vertragspartnern waren alles andere als gut gewesen, daher war er sich unschlüssig, was
er von diesen beiden Briten halten sollte. Er wusste nicht das Geringste über sie, ging aber davon aus, dass es sich um ehemalige Militärs oder Geheimdienstleute handelte, die mit diesen Dingen so vertraut waren, dass sie den Job bekommen hatten. »Also«, meinte Abbot und drehte den Kopf in beide Richtungen. »Das is’ also Polen, was? Sieht von unten auch nich’ besser aus als beim Drüberfliegen.« Er rieb sich die Hände. »Bringen wir’s schnell hinter uns, ja? Je früher wir fertig sind, desto früher können wir uns wieder irgendwohin verkrümeln, wo’s warm is’. Hier würd’ sich ja sogar ’n Eisbär die Eier abfriern.« »Einverstanden.« Abbot drehte sich zu Blout um. »Hol ihn raus.« Blout kletterte die Treppe hinauf und verschwand für einige Augenblicke im Rumpf des Learjet. Als er wieder auftauchte, zerrte er einen Mann hinter sich her. An Händen und Füßen gefesselt kam Saul Callo zur Luke heraus. Er war kleiner, als Sykes gedacht hatte, und wog bestimmt nicht mehr als sechzig Kilogramm. Er trug einen orangefarbenen Overall, wie ihn
normalerweise nur Gefängnisinsassen und Terroristen verpasst bekamen – nicht besonders raffiniert angesichts der Tatsache, dass seine Auslieferung an sämtlichen offiziellen Stellen vorbei erfolgt war –, aber Sykes hielt den Mund. Callo würde nicht lange genug zu sehen sein, sodass es keine Rolle spielte. Der Overall war ihm ungefähr drei Nummern zu groß, was seine geringe Körpergröße noch zusätzlich betonte. Er ließ den Kopf hängen, sodass Sykes ihm nicht in die Augen sehen konnte. Jede seiner Bewegungen war verzögert, ungeschickt. Die Handschellen waren durch eine Kette mit den Fußfesseln verbunden. Das Ganze wirkte irgendwie ein bisschen übertrieben, schließlich hätten sowohl Blout als auch Abbot wahrscheinlich nur eine Hand gebraucht, um Callo wegzutragen, aber offensichtlich hatten sie ihre eigenen Methoden. Blout verpasste Callo einen Stoß in den Rücken, und er stakste vorsichtig die Treppe herunter. Abbot bemerkte Sykes’ starren Blick. »Er sieht vielleicht aus wie einer, den man einfach so an die Wand klatschen kann, aber in Wirklichkeit is’ das ’n richtiger Drecksack, so dermaßen übel. So einen
hab ich bis jetzt noch nich’ gehabt. Als die Spritze nachgelassen hat, da is’ er komplett ausgeflippt, ich meine, wie ’n richtiges, durchgeknalltes Arschloch. Hat mich in den Oberschenkel gebissen. Tut verdammt weh. Darum ham wir ihn gefesselt.« »Wie haben Sie ihn gefangen genommen?«, wollte Sykes wissen. Abbot lächelte voll Stolz. »Wir sollten ihn eigentlich aus seiner Villa rausholen. Ham uns die Grundrisse besorgt und uns ’nen hübschen kleinen Plan zurechtgelegt. Ham wir dann aber alles nich’ gebraucht. Wir ham ihn drei Tage lang beobachtet. Da hat er die ganze Zeit nichts anderes gemacht, als wie ein ralliger Kater um die Muschis rumzuschleichen. Aber nich’ irgendwelche Muschis. Bloß die richtig großen. Je größer sie warn, desto mehr hat Callo sich angestrengt. Also ham wir ein bisschen improvisiert. Ich hab ’ne Nutte besorgt, die schärfste Blondine, die Sie je gesehen ham, und außerdem noch so groß wie ich. Hab ihr ’nen Haufen Müll erzählt, von wegen, dass Callo ein entlaufener Sträfling is’ und wir Kopfgeldjäger, dass er so ein richtig übler Typ sei, Kinderschänder oder so was in
der Art. Also ham wir ihr Geld gegeben, damit sie ihn in dieser Kneipe aufreißt. Hat ganze achtundzwanzig Minuten gedauert, bis sie ihn im Taxi gehabt hat. Sie hat ihm sogar die Spritze verpasst und mir zum Abschluss noch einen geblasen, ganz umsonst.« »Gute Arbeit.« »War mir ein Vergnügen«, erwiderte Abbot und lächelte immer noch. Als Callo den Asphalt erreicht hatte, packte Abbot ihn am Kragen und stieß ihn vorwärts. »Nun komm schon, du Schleimscheißer, der Mann möchte was sehn von dir.« Langsam hob Callo den Kopf. Er sah vollkommen erledigt aus, kraftlos und erschöpft. Zum ersten Mal blickte Sykes in Callos blassblaue Augen und registrierte erfreut die Angst, die darin lag. »Guten Abend, Saul«, sagte er freundlich. »Willkommen in der Hölle.« Es war ein einfacher Raum, würfelförmig, drei mal drei mal drei Meter. Die unverputzten Wände bestanden aus Beton, genau wie die Decke und der Fußboden. Eine einzelne, nackte Glühbirne hing von
der Decke, ohne für Licht zu sorgen. An einer Wand lag eine verfilzte Matratze ohne Bettgestell. Callo saß auf der Mitte der Matratze, die Arme um die Knie geschlungen, und zitterte. Er war lediglich mit einer Unterhose und Socken bekleidet. Die rechte Socke war an den Zehen durchlöchert. »Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte Sykes von der geöffneten Tür her. »Und zwar über Baraa Ariff.« »Ich sage gar nichts«, erwiderte Callo trotzig, wobei sein Atem zu dichten Wolken kondensierte. »Das dürfen Sie überhaupt nicht. Ich bin Amerikaner. Ich habe Rechte. Ich will meinen Anwalt sprechen.« Sie hatten Callo gut drei Stunden lang in der Kälte und Dunkelheit allein gelassen, und er wirkte durch diese Erfahrung angemessen ernüchtert, wenn auch nicht völlig gebrochen. Sykes hätte ihn lieber mindestens einen Tag lang schmoren lassen, aber diesen Luxus konnte er sich rein zeitlich leider nicht leisten. Sykes faltete die Hände über dem Bauch und sagte: »Ich bin wirklich nur ungern der Überbringer der traurigen Wahrheit, mein kleiner Saul, aber Sie
befinden sich hier in einer, wie soll ich sagen, anwaltsfreien Zone. Die Rechte, die Sie zu haben glauben, existieren hier nicht. Sie sind weder in einem Land noch in einer Zeitzone. Hier gibt es keine Gesetze, die Sie beschützen könnten. Dieser Ort hier existiert schlicht und einfach nicht. Also, jetzt erzählen Sie mir von Ariff, und danach bekommen Sie auch Ihre Klamotten wieder. Vielleicht sogar ein warmes Essen. Wie hört sich das an? Ich weiß, es ist arschkalt hier drin. Und ich weiß, dass Sie Hunger haben.« »Nein«, wiederholte Callo und schlang die Arme noch fester um die Knie. »Leck mich am Arsch.« Seine Stimme klang immer noch trotzig, aber auf seinen Wangen glitzerten die Tränen. »Also gut«, meinte Sykes mit einem übertriebenen Seufzen. »Ich hab’s ja wirklich mit Höflichkeit versucht, aber Sie lassen mir keine andere Wahl, hab ich recht?« Sykes lehnte sich auf den Flur hinaus. »Kann ich mal ein bisschen Hilfe bekommen, bitte?« Abbot und Blout kamen in die Zelle gestürmt und gingen ohne Umschweife auf Callo los. Sie hatten die Jacken ausgezogen, und die aufgekrempelten
Hemdärmel gaben den Blick auf ihre mächtigen Unterarme frei. Sobald Callo die beiden erblickt hatte, fing er an zu brüllen. Abbot schnappte ihn an den Armen, Blout an den Beinen. Callo schlug wie wild um sich, aber er hatte nicht annähernd genügend Kraft, um es mit einem, geschweige denn mit allen beiden aufzunehmen. Sykes verließ den Raum. Blout ging ihm nach, in jeder Hand einen von Callos Fußknöcheln, während Abbot die Handgelenke gepackt hielt. Er wehrte sich auf dem ganzen Weg, brüllte, schrie und gab sich alle erdenkliche Mühe. Sie gingen einen langen, dunklen Korridor entlang. Es war kalt und feucht, und es roch nach Exkrementen. Ihre Schritte klangen laut. Irgendwo anders im Gebäude wurde ebenfalls geschrien, und Sykes merkte, dass Callo leiser wurde, um die Schreie zu hören. »Nein, bitte«, flehte er. »Sie machen da einen furchtbaren Fehler.« Abbot blickte auf Callo hinab. »Oh, nein, Kumpel. Der Einzige, der einen Fehler gemacht hat, das bist du. Und jetzt wirst du dafür büßen.« Ein Stück weiter vorn zuckten blaue Lichtblitze auf, und ein durchdringender Schrei hallte durch den
Korridor. Als sie an einer geöffneten Tür vorbeikamen, reckte Callo den Hals, um hineinsehen zu können. In der Mitte des Raums saß ein nackter Mann gefesselt auf einem Stuhl. Seine Haare waren klitschnass, seine Haut glänzte glitschig. An seinen Genitalien waren Drähte befestigt. Vor ihm stand ein Mann und verpasste ihm eine Ohrfeige nach der anderen. Dann fiel die Tür krachend ins Schloss. Blaues Licht drang unter dem Türspalt hervor. Die Schreie begannen von Neuem, und der Geruch nach verbranntem Fleisch erfüllte die Luft. Callo schnappte nach Luft und wehrte sich noch heftiger. Die Schreie des Mannes hinter der Tür übertönten Callos eigenes Gebrüll. »Keine Sorge«, sagte Abbot. »Jetzt bist du dran.« Sie betraten einen Raum mit unverputzten Wänden, genau wie in Callos Zelle. An einer Wand hing ein Waschbecken, und an einem der Wasserhähne war ein Schlauch befestigt. An der gegenüberliegenden Wand stand ein einfacher Tisch und darauf ein tragbarer Stromgenerator. Zwei lange Kabel, die als großes Knäuel auf dem Tisch lagen, waren daran
befestigt. Der Generator gab ein lautstarkes Rumpeln von sich. Abgase hingen in der Luft. Abbot und Blout ließen Callo los. Dieser landete unsanft auf dem Rücken, drehte sich aber blitzschnell um und krabbelte auf Händen und Füßen in Richtung Tür. Sykes versperrte ihm mühelos den Weg und lachte dabei. Dann schrie er auf und brüllte: »Das Arschloch hat mich gerade gebissen.« »Ich hab’s Ihnen doch gesagt«, meinte Abbot, während er Callo mit seinem muskulösen Arm in den Schwitzkasten nahm. »Der Typ is’ ein gottverdammter Irrer.« Sykes rieb sich den Unterarm und drückte die schwere Stahltür ins Schloss, während Blout und Abbot Callo rückwärts auf einen kalten Metallstuhl zerrten. Sie drehten seine Arme auf den Rücken und legten ihm Handschellen an. Anschließend fesselten sie ihm die Füße an die Stuhlbeine, ebenfalls mit Handschellen. Abbot ging zum Waschbecken und Blout zum Generator. »Ich sag euch alles«, kreischte Callo. Sykes nickte, während er sich den Unterarm rieb.
»Das wissen wir, Saul. Das machen alle. Aber genau das ist das Problem. Sie werden mir alles sagen. Aber ›alles‹ ist nicht das, was ich hören will. Und darum müssen wir ein ganz bestimmtes Verfahren anwenden, um sicherzustellen, dass das, was Sie uns sagen, auch wirklich die Wahrheit ist.« »Ich sage die Wahrheit, das verspreche ich«, erwiderte Callo hastig. Sykes nickte noch einmal, sagte aber nichts. Er warf Abbot einen Blick zu. Der nahm den Schlauch und richtete ihn auf Callo. Er drehte den Wasserhahn auf, und ein eiskalter Wasserstrahl traf Callo mitten ins Gesicht. Er war so kalt, dass Callo schlagartig sämtliche Muskeln anspannte und zischend den Atem ausstieß. Sein Gesicht war zu einer einzigen Grimasse verzerrt, und er riss den Kopf von einer Seite zur anderen, um dem schmerzhaften Ansturm des Wassers zu entkommen. Abbot ließ den Strahl über Callos gesamten Körper wandern, so lange, bis er vollkommen durchnässt war. Er wand sich und brüllte, zerrte wie wild an seinen Fesseln. Der Stuhl war im Boden verankert und gab keinen Millimeter nach. »Das reicht«, sagte Sykes.
Abbot drehte den Wasserhahn zu. Unkontrolliert zitternd saß Callo auf dem Stuhl, mit klappernden Zähnen und blauen Lippen, Gänsehaut am gesamten Körper. Er versuchte zu sprechen, wollte um Gnade flehen, doch er war nicht in der Lage, auch nur ein einziges verständliches Wort zu formulieren. Abbot packte Callo an den Haaren und riss ihm den Kopf zur Seite, sodass sein Blick auf den Tisch gerichtet war. »Das dürfte dich interessieren«, fauchte er. Er ließ Callo los und trat an den Tisch. Darauf lag eine braune Papiertüte. Abbot griff hinein und holte zwei Orangen hervor. Die legte er dicht nebeneinander, sodass sie einander berührten, und machte sie mit Klebeband an der Tischplatte fest. »Stell dir vor, das wären deine kostbarsten Teile.« Abbot zog einen schwarzen Filzstift aus der Hosentasche. Er malte ein paar dünne schwarze Striche auf die Orangen und lachte dabei leise vor sich hin. Dann nahm er die beiden Kabelenden, die mit Krokodilklemmen versehen waren, und klemmte sie an den Orangen fest. »Fertig?«, wandte Abbot sich an Callo, wartete
die Antwort aber gar nicht erst ab. Er gab Blout ein Zeichen, und dieser legte einen Schalter am Generator um. Die Orangen fingen erst an zu leuchten und dann zu vibrieren. Nach wenigen Sekunden breitete sich warmer Zitrusduft im ganzen Raum aus. Die Vibrationen wurden stärker. Die erste Orange platzte auf, und Saft blubberte heraus. »Jetzt geht’s los«, sagte Abbot und klatschte in die Hände. Nun bekam auch die zweite Orange einen Riss. Weitere folgten, und Callo sah mit weit aufgerissenen Augen zu, wie die Orangen aufplatzten, wie heißer Saft und Fleischstücke in alle Richtungen geschleudert wurden. Abbot klatschte erneut in die Hände. »Oh, ja. Geil abgespritzt!« Blout schaltete den Generator aus. Dampfende Orangenfetzen lagen auf dem Tisch. Saft tropfte auf den Boden. Fruchtfleischstücke und Schalenreste waren im ganzen Raum verteilt. Ein heißes Stück war auf Callos nacktem Oberschenkel gelandet, und er verzog das Gesicht.
»Guckt mal«, sagte Abbot und zeigte mit dem Finger darauf. »Das Arschloch hat sich in die Hose gepisst.« Callos Unterhose war ohnehin schon klatschnass gewesen, aber die gelbliche Verfärbung an der Vorderseite war nicht zu übersehen. Sykes trat einen Schritt auf Callo zu. »Na, haben Sie’s kapiert, Saul?« Callo nickte. »Ja, ja, ja. Ich sag ganz bestimmt
die Wahrheit.« »Gut«, erwiderte Abbot. »Du siehst ja, was dieses Schnuckelchen hier mit den Orangen angerichtet hat. Da willst du dir garantiert nich’ vorstelln, was es mit deinen Eiern alles anstellen würde.« Er löste die Krokodilklemmen von den Schalenresten. »Oha, ganz schön heiß, die Dinger.« Blout zog ein Klappmesser aus der Tasche und trat auf Callo zu, der beim Anblick der Klinge sofort in panisches Geschrei verfiel. Blout schnitt ihm die Unterhose in Fetzen. Abbot lachte. »Schätze mal, das Wasser is’ noch kälter, als ich gedacht hab.« Callo jaulte heiser, als die Krokodilklemmen sich in seinen Hodensack verbissen.
Sykes trat vor. »Sehen Sie, Saul, wir sind nur ein paar arme Schlucker und können uns keinen Lügendetektor leisten. Dadurch waren wir gezwungen, ein bisschen zu improvisieren. Sie sehen ja, was dabei herausgekommen ist. Na klar, das Ding hier ist technisch vielleicht nicht ganz auf dem neuesten Stand, aber es funktioniert genauso gut wie jedes andere. Sogar noch besser.« Sykes deutete auf Callos Lendengegend. »Wünschen Sie vielleicht eine noch eindrücklichere Demonstration?« Callo schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein, nein
…« »Also gut«, fuhr Sykes fort. »Ich merke, dass Sie von seiner Funktionsweise überzeugt sind. Fangen wir mal ganz gemütlich an. Wie laufen denn die Geschäfte?« Callo setzte ein verwirrtes Gesicht auf. »Die Geschäfte?« »Ja, genau«, meinte Sykes. »Die Geschäfte. Sie wissen schon, der Diamantenhandel. Wie läuft es denn so? Machen Sie damit einen Haufen Geld?« »Ich … ich denke schon. Könnte besser laufen.« Sykes lachte. »›Könnte besser laufen‹?« Er warf
Abbot und Blout einen Blick zu. »Habt ihr das gehört? Könnte besser laufen. Ich habe von Ihrem kleinen Ausflug in diese griechische Taverne gehört. Sie haben so mit Geld um sich geschmissen, dass man glauben könnte, es kommt demnächst aus der Mode. Und diese Villa am Strand … ich wette, die kostet für eine Woche so viel Miete, wie ich in einem Monat mit nach Hause bringe. Also keine falsche Bescheidenheit. Ich habe keine Ahnung, wie Sie das machen. Für mich sehen ungeschliffene Diamanten immer bloß aus wie irgendwelche beschissenen kleinen Kieselsteine, aber Sie, Sie haben das magische Auge, stimmt’s?« »Ich denke, ja.« »Wie war das gerade mit der falschen Bescheidenheit, Saul?« »Also gut, ich bin gut in meinem Job.« »Dann sag’s doch einfach, du Arschgeige, verfluchte Scheiße noch mal«, stieß Abbot hervor. »Haben Sie etwas Nachsicht mit meinem Freund«, fuhr Sykes fort. »Er hat schlechte Laune, weil die Kaffeemaschine kaputt ist. Ich würde Ihnen ja einen Schluck Wasser anbieten, aber vermutlich reicht Ihnen das, was Sie aus dem Schlauch
bekommen haben.« Callo schüttelte den Kopf. Er hatte schon seit zwei Tagen ununterbrochen Durst. »Nein, ein Schluck Wasser wäre schon gut.« »Einverstanden«, sagte Sykes. »Sie beantworten mir noch ein paar Fragen, und ich lasse Ihnen einen ganzen Becher voll bringen. Na, wie hört sich das an?« »Danke«, erwiderte Callo. »Nicht der Rede wert.« Sykes steckte die Hände in die Hosentaschen. »Jetzt erzählen Sie mir doch mal, in welcher Beziehung Sie zu Baraa Ariff stehen.« Callo zögerte. »Was denn genau?« »Einfach das, was ich gesagt habe. Erzählen Sie mir etwas über sich und ihn. Und denken Sie immer an den Lügendetektor.« »Ich … ich verkaufe seine Diamanten.« Sykes legte den Kopf schräg. »Sie meinen, Sie hehlen mit den Diamanten, die er im Tausch für Waffenlieferungen nach Afrika erhalten hat?« »Ich habe keine Ahnung, woher sie stammen. Ich wickle nur …«
»Sie sind doch ein kluges Bürschchen, jetzt raten Sie doch einfach mal. Was könnte ein Waffenhändler sonst noch zu bieten haben, im Tausch gegen Diamanten?« Abbot kratzte ein bisschen Fruchtfleisch aus einer der explodierten Orangen und schob es sich in den Mund. »Heiße Orange is’ gar nich’ mal so schlecht.« Saft lief ihm übers Kinn. »Willst du ’nen Bissen, Saul?« Callo schüttelte den Kopf. Blout warf ihm trotzdem ein Stück zu. Es traf Callo an der Wange. »Ich warte«, bohrte Sykes nach. Callo sagte: »Er bekommt die Diamanten für Waffen.« »Das war nicht besonders schwierig«, meinte Sykes. »Ich weiß, Sie haben Angst, er könnte erfahren, dass Sie ihn verpfiffen haben, aber das wird nur dann zum Problem, falls Sie diesen Raum hier jemals verlassen. Also denken Sie genau nach und beantworten Sie meine Fragen in Zukunft ein bisschen schneller.« Sykes kniff die Augen zusammen. »Also, wir haben festgestellt, dass Sie Ariffs Diamanten verhökern und damit vom illegalen Waffenhandel profitieren.«
»Aber das habe ich nicht gewusst.« »Es interessiert mich einen Scheißdreck, ob Sie das gewusst haben oder nicht. Es interessiert mich einen Scheißdreck, wer Sie sind. Ich bringe Ihnen das wirklich nur äußerst ungern bei, Saul, aber Sie sind keine besonders bedeutende Persönlichkeit. Gibt es irgendjemanden, der weiß, dass Sie von der Bildfläche verschwunden sind? Und wenn ja, würde es demjenigen irgendetwas ausmachen?« Callo wandte den Blick ab. »Genau das habe ich mir gedacht«, sagte Sykes. »Zurück zu Ariff. Was wissen Sie sonst noch über ihn?« »Ich weiß nicht so genau.« Abbot machte eine wütende Handbewegung. »Du weißt nich’ genau, was du weißt? Was is’ ’n das für ’ne beschissene Scheißantwort?« Sein Gesicht war knallrot. Er sah zu Sykes hinüber. »Wir sollten ihm auf der Stelle die Eier weichkochen. Dann weiß er jedenfalls, was er weiß.« »Nein, nein«, flehte Callo. »Ich sag Ihnen alles, was Sie wissen wollen.« »Wo ist Ariff?«, sagte Sykes. »Das weiß ich nicht. Wieso sollte ich das
wissen?« Abbot schlug Callo ins Gesicht. »Weil du vor einer Woche in Antwerpen gesehn worden bist, wo du ’nen Riesenhaufen ungeschliffene Diamanten verkauft hast.« »Die Sie von Ariff erhalten haben«, ergänzte Sykes. »Wir wissen also, dass Sie sich erst kürzlich mit ihm getroffen haben. Sind Sie wirklich so dämlich, dass Sie das nicht kapieren? Dass wir die Antworten auf manche Fragen bereits kennen? Noch eine einzige Lüge, noch ein einziger Versuch, mir auszuweichen, dann schalten wir den Lügendetektor ein und besorgen Ihnen ein Glas Wasser. Das dauert genau zwei Minuten. Überlegen Sie mal, wie Ihre Eier nach einhundertzwanzig langen Sekunden aussehen werden.« Tränen liefen über Callos Wangen, und er blinzelte, um wieder sehen zu können. »Ariff lebt jetzt im Libanon. Er hat ein Haus in Beirut.« »Wo in Beirut?«, wollte Sykes wissen. »Das weiß ich nicht genau, ich war noch nie da. Das letzte Mal habe ich ihn in Kairo besucht. Es muss in den Hügeln oberhalb von Beirut liegen, weil er erzählt hat, dass er von dort einen tollen Blick auf
die Stadt unterhalb und das Meer hat. Wahrscheinlich irgendwo an einem Hang des Libanon-Gebirges. Er wollte ein paar Zedern schlagen lassen. Und die wachsen ja da oben.« Sykes zog die Mundwinkel nach unten und nickte. »Ganz ausgezeichnet kombiniert, Saul. Ich bin beeindruckt. Wirklich. Also, Sie haben seine Diamanten verscherbelt und dafür Bargeld bekommen, und wir wissen, dass Ariff kein Vertrauen zu Banken hat. Wie sollte die Geldübergabe stattfinden?« Als Callo zögerte, gab Sykes Blout ein Zeichen. »Einschalten.« Callo brüllte: »NEIN.« »Dann raus mit der Sprache.« »Irgendwo in Europa oder im Nahen Osten. Wie jedes Mal. Aber ich erfahre den Treffpunkt immer erst unmittelbar vorher. Dann fliege ich da hin und übergebe das Geld. Es läuft immer genau gleich ab.« »Und treffen Sie Ariff dabei persönlich?« »Ihn oder seinen Geschäftspartner, Gabir Yamout«, erwiderte Callo.
»Und wann bekommen Sie die Nachricht?« »Bald. Vielleicht noch in dieser Woche.« »Braver Junge«, sagte Sykes und lächelte. »Das machen Sie ganz großartig. Machen Sie weiter so, dann bekommen Sie sogar irgendwann die Sonne wieder zu sehen. Und jetzt verraten Sie mir mal, auf welchem Weg Sie benachrichtigt werden.« Sykes fragte Callo noch eine ganze Stunde lang aus, bevor er ihm das versprochene Glas Wasser besorgte. Es hätte gar nicht besser laufen können. Procter würde begeistert sein, welche Informationen Sykes ihm besorgt hatte. Schon nach der Lektüre des Dossiers war Sykes klar gewesen, dass er keine allzu große Überredungskunst oder, wie es die CIA gerne formulierte, Überzeugungskraft würde anwenden müssen, um Callo zum Reden zu bringen. Noch vor Sauls Eintreffen hatte Sykes die Vorschriften zum Thema zulässige Befragungstechniken gründlich studiert und wusste genau, was erlaubt war und was nicht. Eierkochen fiel ganz eindeutig in die letztere Kategorie, aber schließlich war das Ganze sowieso nur Kulisse. Sykes hatte für Callo ein perfektes Theater
inszeniert. Sie befanden sich in einem verlassenen Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg, der sich ganz wunderbar als Geheimgefängnis für die CIA eignete. Zwei Einheimische hatten in der kurzen Szene, die Callo »zufälligerweise« mit angesehen hatte, gegen Bezahlung den Gefangenen und den Fragensteller gemimt, ein paar Schweinekoteletts auf einem Campingkocher hatten die Rolle der verbrannten Hoden übernommen. Der Generator war echt, genau wie die explodierenden Orangen, aber Sykes wäre nicht so weit gegangen, den Schalter umzulegen. Er wollte lediglich, dass Callo das glaubte. Sykes’ Anordnungen waren eindeutig gewesen. Callo durfte nicht verletzt werden. Das hatte er zwar nicht verdient, aber es hatte auch sein Gutes. Sykes hatte schon die eine oder andere Erfahrung mit körperlicher Gewaltanwendung gemacht und wusste, dass er schlicht und ergreifend nicht die Nerven hatte, um eine ernsthafte Folter durchzuziehen. Allerdings war es absolut unerlässlich, Callo Todesangst einzujagen, und da war die eine oder andere Grobheit durchaus erlaubt, solange sie keine bleibenden Spuren hinterließ. Callo war ein hauptberuflicher Krimineller und Hehler, der seine
Finger in zahlreichen krummen Geschäften hatte. Die Unannehmlichkeiten des heutigen Tages, ob er nun ernsthaft verletzt wurde oder nicht, waren angesichts seiner langen Sündenliste nichts weiter als ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit. Und, wie Sykes sich zu seiner eigenen Überraschung eingestehen musste, es hatte ihm viel Spaß gemacht, Callo zappeln und betteln zu sehen.
Kapitel 11 Berlin, Deutschland
Der Erste aus Farkas’ Gefolge traf alleine ein. Victor entdeckte ihn sofort. Er kam mit einer gewissen Arroganz die Straße entlanggeschlendert, erwartete, dass die anderen ihm auswichen, starrte jeden, der es nicht tat, mit grimmigen Blicken an. Er war um die dreißig Jahre alt, besaß blasse Haut und dunkles Haar, das ihm über die Ohren reichte. Dazu trug er einen schlecht sitzenden Anzug und brüllte auf Ungarisch in sein Handy. Victor vermutete eine Freundin oder Ehefrau am anderen Ende der Leitung. Victors Ungarisch war im höchsten Fall passabel. Er hatte seine Sprachkenntnisse zwar ein bisschen aufpoliert, nachdem er den Auftrag bekommen hatte, aber die Lücken waren immer noch groß. Der Ungar hatte das Handy zwischen Kopf und Schulter geklemmt und suchte dabei nach dem Hausschlüssel. Victor saß auf dem Bürgersteig vor der Cocktailbar und nippte an seinem Orangensaft. Er konnte nicht erkennen, ob der Mann bewaffnet war. Er schrieb die Zahl Eins auf eine frische Seite
in seinem Notizbuch und listete daneben die körperlichen Eigenschaften des Mannes sowie dessen taktisches Bewusstsein auf – Null. Es dauerte eine Stunde, bevor er sich die nächste Notiz machte. Der Mann verließ das Gebäude und kehrte dreißig Minuten später wieder zurück. Er hatte etliche Einkaufstüten sowie ein Tablett mit fünf Bechern Kaffee in der Hand. Er hatte also Vorräte besorgt, alles, was vor der Ankunft des Bosses noch nötig war. Victor fügte die Dauer des Einkaufs und die Kaffeemarke zu seinen Notizen hinzu, außerdem das Wort Unbewaffnet. Angesichts der Kaffeebecher war wohl jeden Moment mit Farkas’ Ankunft zu rechnen. Victor trank sein Glas leer, packte seine Sachen zusammen und schlenderte gemächlich die Straße entlang, ganz entspannt, ein Einheimischer, der keine Eile hatte, nach Hause zu kommen. Er holte sein Handy aus der Tasche, als würde er angerufen werden, und begann ein lockeres und halbwegs geistreiches Gespräch mit seinem fiktiven Gesprächspartner. Das Telefon gab ihm einen Anlass, auf dem Bürgersteig vor dem Appartementhaus herumzustehen. Er hielt sich wenige Meter von der
Eingangstreppe entfernt, um bei Farkas’ Eintreffen möglichst in der Nähe zu sein, ohne sein Deodorant – beziehungsweise das Fehlen desselben – riechen zu müssen. Es dauerte nicht lange. Ein schwarzer Mercedes fuhr vor, und Farkas ließ sich von einem seiner Untergebenen die Tür aufhalten und stieg aus. Er wirkte fit und gesund, war ungefähr einen Meter achtzig groß und wohl um die achtzig Kilogramm schwer. Das Dossier beschrieb ihn als ein paar Zentimeter größer und ungefähr fünf Kilogramm schwerer. Keine allzu wichtigen Informationen, aber die falschen Angaben warfen kein allzu gutes Licht auf Victors Quellen. Im Gegensatz zu seinen Begleitern war Farkas gebräunt, allerdings wirkte die Bräune ziemlich künstlich – zu dunkel, zu gleichmäßig. Er trug einen schwarzen Anzug, der sehr teuer aussah, dazu ein rotes Hemd und eine rote Krawatte. Eine sehr stylische Kombination – abgesehen von der protzigen Goldkette über dem Hemd. Victor setzte sein fiktives Telefonat fort. Einer von Farkas’ Männern streifte ihn mit einem flüchtigen Blick. Insgesamt drei waren mit Farkas zusammen
eingetroffen, einer Mitte vierzig, die beiden anderen Mitte dreißig. Sie waren unsportlich gebaut, trugen Anzüge und hatten je einen Koffer dabei, einer sogar zwei. Sie waren alle bewaffnet. Handfeuerwaffen in Unterarmhalftern, dem Anblick ihrer Jacketts nach zu urteilen. Sie machten einen entspannten, aber aufmerksamen Eindruck. Victor konnte keine Hinweise auf eine Spezialausbildung feststellen, weder militärisch noch sonst wie. Jetzt ließ sich der erste Kerl blicken. Mit rotem Kopf kam er die Treppe herabgeeilt und schob sich die Haare hinter die Ohren. Es sah so aus, als wollte der Mann sich für seine Verspätung entschuldigen und gleichzeitig mitteilen, dass das Penthouse vorbereitet sei. Farkas blickte ihn verächtlich an, sagte aber nichts. Victor wartete noch eine Minute, dann verließ er seinen Standort. Er betrat eine Boutique in einer Seitenstraße und kleidete sich komplett neu ein. Seine alten Sachen steckte er in eine Einkaufstasche mit dem Logo des Ladens. Er setzte sich in das Café, das auf derselben Straßenseite wie das Appartementhaus lag, und bestellte sich einen Cappuccino sowie ein Sandwich mit
Geflügelsalat. Von hier aus hatte er die Straße zwar nicht so gut im Blick wie von der Bar aus, aber den Bürgersteig unmittelbar vor dem Appartementhaus konnte er immer noch einwandfrei sehen. Die späte Nachmittagssonne schien noch so kräftig, dass die Sonnenbrille glaubwürdig war, und es war warm genug, dass Victor sein Jackett über eine Stuhllehne hängen konnte. Er ließ sich Zeit mit dem Essen. Im Café lagen verschiedene Tageszeitungen aus, und er nahm sich eine und gab vor zu lesen. Er hoffte, dass das nicht allzu lange erforderlich war. Seine Instinkte sagten ihm, dass Farkas nicht der Typ war, der sich gleich am ersten Tag in seiner Wohnung verkroch. Er würde sich entweder um seine Geschäfte kümmern müssen oder, was wahrscheinlicher war, sich auf den Weg machen, um etwas zu essen. Eher früher als später. Als Victor gerade seine zweite Tasse Kaffee leerte, hatte das Warten ein Ende. Es war kurz nach achtzehn Uhr, als Farkas mitsamt seinen vier Männern wieder auftauchte. Sie lachten und scherzten miteinander, auch Farkas, allerdings deutlich zurückhaltender. Freundschaftlich, aber
nicht eng befreundet, notierte sich Victor. Er sah sie vorbeigehen und hörte, wie jener, der zuerst angekommen war, ein Restaurant erwähnte. Victor wartete, bis sie außer Sichtweite waren, dann stand er auf. Mithilfe des nachgemachten Schlüssels kam er ins Haus und fuhr hinauf ins Penthouse. Er blieb einen Augenblick lang vor der Tür stehen und lauschte, um sicherzugehen, dass im Stockwerk unter ihm niemand war. Die Sperrpistole war zwar nicht besonders laut, aber eben auch nicht besonders leise. Er holte das Werkzeug aus seinem Rucksack, schob den langen, dünnen Stab in das Schlüsselloch der Penthousetür und drückte den Abzug. Der Stab fing sofort an zu vibrieren, und schon nach wenigen Sekunden war das Schloss entriegelt. Victor hatte schon länger keines von den Dingern mehr benutzt – einfaches Einbruchswerkzeug ließ sich sehr viel leichter verstecken –, aber praktisch war so eine Sperrpistole, das ließ sich nicht bestreiten. Er drückte die Tür auf und trat ein. Die Alarmanlage gab ihre gedämpften Piepstöne von sich. Victor stellte sich vor die Tastatur und drückte eins, fünf, acht, zwei. Es piepste weiter, also
probierte er es mit zwei, fünf, acht, eins. Das Signal verstummte. Victor betrat das Wohnzimmer und stellte fest, dass die Ungarn sich bereits eingerichtet hatten. Tabakgeruch hing in der Luft. Auf dem Fußboden neben den Sofas standen Kaffeebecher, und auf dem Couchtisch lag Gepäck. Er sah sich um. Vielleicht gab es ja etwas, was er zu seinem Vorteil nutzen konnte, doch wie erwartet war das Wohnzimmer für das Attentat ungeeignet. Die Frage, wo und wie er die Bombe installieren sollte, hatte Victor seit seiner Ankunft in Berlin beschäftigt. Es musste irgendwo sein, wo sie mit Sicherheit gezündet wurde, aber eben von keinem anderen als Farkas. Da vier weitere Männer mit ihm das Appartement bewohnten, war die Antwort alles andere als leicht. Eine Fernzündung schied von vornherein aus. Theoretisch konnte die Bombe auf der Straße vor dem Haus platziert und gezündet werden, wenn Farkas daran vorbeiging. Allerdings gab es nirgendwo geeignete Mülleimer. Auch unter einem geparkten Auto war eine denkbare Möglichkeit, aber allein die Montage der Bombe wäre schon ein
riskantes Unterfangen gewesen. Außerdem konnte der Wagen ohne Weiteres wegfahren, bevor Farkas überhaupt daran vorbeigegangen war. Dazu kam noch das ausgesprochen naheliegende Risiko, dass auch Unbeteiligte zu Schaden kamen. Die Bombe musste also im Appartement platziert werden – unter Farkas’ Bett vielleicht. Wenn man ihn beobachten konnte, dann war auch eine Fernzündung denkbar. Während der Wohnungsbesichtigung hatte Victor zu jedem Fenster hinausgeschaut, um festzustellen, von welchen Gebäuden aus man einen Blick in das Schlafzimmer hatte. Er hatte aber nur einen einzigen möglichen Standort ausgemacht, und auch der war nichts wert, wenn hier die Vorhänge zugezogen wurden. Er spielte mit der Idee, die Bombe unter der Matratze zu befestigen und einen Druckauslöser zu verwenden, der reagierte, sobald Farkas sich ins Bett legte. Das Problem war aber, dass es sich um ein sehr breites Bett handelte und Victor nicht wusste, auf welcher Seite Farkas schlafen würde. Der Auslöser durfte erst bei deutlich spürbarer
Belastung reagieren, falls Gepäckstücke oder andere Gegenstände auf das Bett gelegt wurden. Zudem bestand die Gefahr, dass sich jemand anderes auf die Matratze setzte oder legte und die Bombe in die Luft jagte, oder aber, dass Farkas auf der falschen Seite schlief und überhaupt nichts passierte. Das Geräusch eines Schlüssels, der ins Schlüsselloch gesteckt wurde, war deutlich zu hören. Vorsichtig drückte Victor die Schlafzimmertür ins Schloss. Er lauschte, während die Wohnungstür geöffnet wurde und jemand eintrat. Ein einzelner Mann, den Schritten nach zu urteilen. Einer aus Farkas’ Gefolge. Wäre Farkas selbst wiedergekommen, dann vermutlich in Begleitung aller seiner Männer. Hatte der Kerl gemerkt, dass die Alarmanlage ausgeschaltet war? Wenn ja, dann ließ er sich nichts anmerken. Victor hörte den Mann durchs Wohnzimmer gehen, hörte seine Schritte lauter werden, je näher er den Schlafzimmern kam. Vielleicht hatte er ja etwas vergessen. Oder Farkas hatte etwas vergessen. Victor warf einen Blick auf das schmale, ledergebundene Notizbuch auf dem
Nachttischchen. Er ging in die Knie und schaute unter das Bett, musste jedoch feststellen, dass er niemals daruntergepasst hätte. Er erhob sich wieder, schaute in den Schrank. Alles voll mit Anzügen und Koffern. Auch hier hatte er keinen Platz. Das direkt angrenzende Badezimmer war noch die beste Möglichkeit, immer vorausgesetzt, der Kerl wollte nicht noch einen Blick in den Spiegel werfen, bevor er wieder ging. Falls doch, dann blieb Victor nur eine Möglichkeit, und der ganze Auftrag wäre gescheitert. Victor hörte, wie die Schritte lauter wurden, näher kamen. Er ließ den Blick ein letztes Mal durch das Schlafzimmer schweifen, in der Hoffnung, dass er etwas übersehen hatte. Und genau so war es auch. Der Ungar mit den halblangen Haaren machte die Schlafzimmertür auf und trat ein. Das Zimmer war größer und schöner als das, das er sich mit einem seiner Kollegen teilen musste. Und es roch auch besser. Mit einem Blick hatte er das schwarze Notizbuch entdeckt und griff danach. Dann steckte er es in die Innentasche seines Jacketts. Er wandte sich zum Gehen, doch dann, aus einer
Laune des Augenblicks heraus, machte er die Tür zum angrenzenden Badezimmer auf. Auch hier war es sehr viel hübscher als in dem großen Badezimmer, in dem vier Männer mit ihren Toilettenartikeln um jeden Quadratzentimeter kämpften. Die gemeinsame Toilette war bereits ziemlich dreckig und die Schüssel von etlichen Pisselachen umringt. Eingehend betrachtete der Ungar die teuren Fläschchen und Flakons, mit denen Farkas sein Waschbecken bestückt hatte, und suchte sich eine verführerische Cremetube aus. Er machte sie auf, schnüffelte daran, drückte sich ein wenig vom Inhalt auf die Hand und verrieb die Creme gründlich. Jetzt fühlten seine Hände sich weich an. Er legte die Tube genau so wieder hin, wie er sie vorgefunden hatte. Farkas war zwar im Großen und Ganzen ein guter Chef, aber er achtete sorgfältig darauf, dass die Hierarchie jederzeit gewahrt blieb. Der Ungar verließ das Badezimmer, schaltete die Alarmanlage wieder ein und verließ das Appartement. Er konnte sich zwar nicht erinnern, den Alarm ausgeschaltet zu haben, verschwendete aber keinen weiteren Gedanken daran.
Victor hörte, wie die Wohnungstür ins Schloss schnappte, und verharrte noch genau sechzig Sekunden lang so regungslos wie nur möglich in seiner Position. Dann schlug er den Vorhang beiseite und sprang vom Fenstersims, auf dem er mit verkrümmten Beinen balanciert hatte, den Rücken fest gegen das Fenster gedrückt, die Arme ausgestreckt. Das Fensterbrett war zwar nicht so tief, wie er es sich gewünscht hätte, aber der Kerl hatte nicht bemerkt, dass die Vorhänge ein wenig schiefer fielen als sonst. Sobald seine Schuhe den Teppich berührten, fing die Alarmanlage an zu piepsen. Victor eilte zu der Schalttafel und gab den Code ein. Zurück im Schlafzimmer holte er seine Tasche aus dem Schrank, in den er sie gelegt hatte, gleich neben Farkas’ Gepäck, stellte sie auf das Bett und holte die Bombe hervor. Er war fest überzeugt, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Es dauerte keine vier Minuten, bis die Bombe montiert war. Er aktivierte die Alarmanlage und war kurz darauf wieder auf der Straße. Für ihn war der Auftrag so gut wie erledigt.
Jetzt kam es nur noch auf Farkas an.
Kapitel 12 Adorján Farkas war betrunken. Etliche Bier waren dem Steak vorausgegangen, und etliche weitere waren ihm gefolgt, dazu noch der eine oder andere Cocktail. Seine Männer hatten ihn zu einem zünftigen Zechgelage überredet, und wenn fünf Ungarn es krachen ließen, dann waren nicht selten Kopfschmerzen und Übelkeit die Folge. Aber in der Liste der vielen Abende, an denen er betrunken oder sonst wie berauscht gewesen war, rangierte dieser hier weit abgeschlagen am unteren Ende der Skala. Wenn Farkas außer Landes war, irgendwo, wo ihn niemand kannte und keiner wusste, wie er sein Geld verdiente, war er zwar oft spürbar entspannter als zu Hause, aber er war geschäftlich nach Deutschland gekommen, und darum musste er zumindest ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung beweisen. Sein Gefolge hatte diesbezüglich deutlich weniger Disziplin an den Tag gelegt und schon während des Essens gewaltige Mengen Bier vertilgt, nur um sich anschließend in der Bar an zahlreichen Spirituosen gütlich zu tun. Sie benahmen sich anständig, darauf legte er Wert, und es gefiel ihm, seine Männer so
fröhlich und gut gelaunt zu erleben. Farkas befürwortete solche geselligen Abende sehr. Freundschaftliche Verbundenheit sorgte immer dafür, dass das Band der Loyalität stärker wurde. Er war schon lange genug eine Führungskraft der ungarischen Mafia, um zu wissen, dass er seine Position nur deshalb behalten konnte, weil seine Männer ihn als ihren Boss akzeptierten. Sie erwarteten von ihm, dass er sie bezahlte, und er erwartete von ihnen, dass sie seine Befehle ausführten und ihn vor den Gefahren des organisierten Verbrechens beschützten. Farkas wusste, dass er ohne seine Männer praktisch machtlos wäre. Aber es gab eine Grenze, die Grenze zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, und diese Grenze durfte auf keinen Fall überschritten werden. Es war unerlässlich, dass seine Männer ihn mochten und respektierten und dass sie sich umgekehrt ebenfalls gemocht und respektiert fühlten, aber er durfte sich niemals mit ihnen anfreunden. Schließlich war es jederzeit möglich, dass ein Mann in seinen Diensten plötzlich zum Problem wurde, bewusst oder unbewusst, und Farkas hatte festgestellt, dass es
sehr hart war, einen Freund zu foltern und umzubringen. Wenn seine Mitarbeiter nicht seine Freunde waren, dann konnte er frei von Schuldgefühlen das erledigen, was zu erledigen war. Er folgte seinen Männern zurück zum Appartementhaus, hielt sich im Hintergrund, während die anderen lauthals miteinander scherzten. Obwohl sie zusammengerechnet so viel Alkohol im Blut hatten, dass man damit einen ausgewachsenen Bullen hätte umbringen können, wusste er, dass sie immer noch aufmerksam waren. Wer in Farkas’ Branche Erfolg haben wollte, der musste seine Trinkgewohnheiten im Griff haben. Ein paar von ihnen würden vermutlich den Großteil des morgigen Tages damit zubringen, Aspirin zu schlucken, aber am Freitag waren sie alle wieder fit und arbeitsfähig. An diesem Tag hatte Farkas einen Termin mit ein paar potenziellen neuen Lieferanten. Er versuchte unentwegt, sein ohnehin expandierendes Reich zu vergrößern, und er hatte ein gutes Gefühl, was diese Reise anging. Die Lieferanten waren ihm wärmstens empfohlen worden, und wenn alles gut lief, dann würden sie dazu beitragen, Farkas’ Waffenangebot zu vervollständigen. Er versorgte einen ägyptischen
Zwischenhändler mit billigen osteuropäischen Kalaschnikows, die dieser in den Nahen Osten und nach Afrika verkaufte. Die Erträge waren akzeptabel und das Risiko minimal, aber Farkas wusste, dass er diesen ägyptischen Schweinehund – der ihn hundertprozentig verarschte, das war ihm klar – umgehen konnte, wenn er höher entwickelte Waffen aus westlicher Produktion in die Hände bekam. Dann konnte er den Mittelsmann überspringen und seine Gewinnspanne enorm vergrößern. Mit ein bisschen Glück waren diese deutschen Lieferanten genau die richtigen Partner für sein Vorhaben. Er dachte dabei an ein paar hübsche Artikel von Heckler & Koch: die MP5, das G36, die UMP, das ganze Programm. Der Markt war vorhanden. Farkas musste das Zeug nur noch in die Hände bekommen. Außerdem wollte er sich eine neue Pistole besorgen, irgendetwas Auffälliges, was die anderen Bosse zu Hause nicht hatten. Im Penthouse angekommen, fingen seine Leute an, die Küche nach etwas Ess- oder Trinkbarem zu durchstöbern. Farkas kamen sie vor wie eine Horde Plünderer, satt und voll bis zum Rand, aber dennoch gierig alles in sich hineinschlingend, was sie
zwischen die Finger bekamen. Morgen früh würden ein paar von ihnen heftige Kopf- und Magenschmerzen haben. Einer der Männer schnappte sich die Fernbedienung und zappte durch die Programme, auf der Suche nach einem Porno. Als Genitalien in Großaufnahme den Bildschirm ausfüllten, wusste Farkas, dass es Zeit war, sich zurückzuziehen. Sein Entschluss wurde mit jeder Menge Gejohle quittiert, aber er winkte nur verächtlich ab und ging in sein Schlafzimmer. Er schaltete das Deckenlicht ein und fing an, sich auszuziehen. Seine dreckigen Klamotten warf er in eine Zimmerecke, dann zog er den Reißverschluss seines Koffers auf und wühlte seinen Schlafanzug hervor. Im Badezimmer putzte er sich die Zähne und wusch sich das Gesicht, um anschließend wieder ins Schlafzimmer zurückzukehren. Er schaltete die Deckenleuchte aus und legte sich ins Bett, nahm den Roman, den er sich für die Reise eingesteckt hatte, vom Nachttisch und knipste die Leselampe an. Nachdem er ein paar Seiten gelesen hatte, wurde
er von Müdigkeit übermannt. Das Buch war sowieso nicht besonders gut – irgendein Thriller, in dem zu viel geredet und zu wenig getötet wurde. Er knickte die Ecke der letzten Seite um und legte das Buch beiseite, knipste die Lampe aus. Einige Augenblicke blieb er einfach nur in der Dunkelheit liegen, dann schaltete er das Licht wieder ein und stieg aus dem Bett, um im Badezimmer seine Blase zu leeren. Er drückte auf die Spültaste. Nichts rührte sich. Er drückte noch einmal, fester diesmal. Der Hebel im Inneren des Wasserkastens hob sich und öffnete das Ventil. Dabei wurde der an der Oberseite des Hebels festgeklebte Zündstift in den Zünder an der Unterseite des Kastendeckels getrieben. Der Zündfunke brachte das in dem leeren Wasserkasten befindliche Hexogen zur Explosion. Die Druckwelle breitete sich mit einer Geschwindigkeit von rund siebentausendfünfhundert Kilometern pro Sekunde aus und vernichtete dabei den Wasserkasten und alles andere, was sich im Badezimmer befunden hatte. Die Badezimmertür wurde aus den Angeln gerissen und schlug krachend an die gegenüberliegende Schlafzimmerwand,
danach kamen die Flammen und Trümmerteile. Farkas tropfte in kleinen Stückchen von der Badezimmerdecke.
Kapitel 13 Linz, Österreich
Viel zu früh lag Victor wach in seinem harten Hotelbett. Vom Flur her drang Lärm ins Zimmer – Gerenne, Gebrüll, dumpfe Aufprallgeräusche. Es hörte sich an wie ein paar Kinder, die gerade dabei waren, ihre Eltern zu ärgern, die sich wiederum genötigt sahen, ihren Nachwuchs noch lautstarker zur Ordnung zu rufen. Das war das Problem, wenn man einen leichten Schlaf hatte und sich in der Regel dann zur Ruhe legte, wenn alle anderen wach waren. Die Leute nahmen noch weniger Rücksicht als sonst. Daran hatte er sich erst gewöhnen müssen. Er schlief, wann immer er konnte und so lange er konnte. Wenn das nicht reichte, dann schlief er irgendwann wieder. Seine ersten Einsätze hatten ihm gezeigt, wie wichtig es war, jede sich bietende Möglichkeit zur Erholung zu nutzen, ganz egal, wie die Umstände gerade waren. Das war eine Lektion, die er bis heute fest verinnerlicht hatte. Wenn er ein bequemes Bett und acht Stunden ununterbrochenen Schlaf gebraucht hätte, um wirklich Top-Leistungen
zu bringen, dann hätte er schon vor langer Zeit das Zeitliche gesegnet. Eine der wichtigsten Fähigkeiten, die Victor sich antrainiert hatte, war eine bestimmte Atemtechnik, die ihn sehr schnell zum Einschlafen brachte. Aber dieses Mal funktionierte sie nicht. Gegen zwei kreischende Kinder und zwei brüllende Eltern hatte keine Atemtechnik der Welt eine Chance. Ohrstöpsel hätten wohl etwas gebracht, allerdings nicht nur ihm und seinem Schlaf, sondern auch möglichen ungebetenen Besuchern. Manchmal war es besser, zu früh aufzuwachen als überhaupt nicht mehr. Er hatte komplett angezogen geschlafen, wie immer. Jetzt zog er Hose und Hemd aus, machte seine Fitnessübungen und nahm anschließend ein Bad. Die Dusche wirkte zwar ausgesprochen verlockend, doch er widerstand der Versuchung. Solange sein Kopf unter der heißen Brause steckte, hätte jeder Amateur in sein Zimmer eindringen können, ohne dass er etwas davon mitbekam. Den Genuss einer Dusche hatte er sich ausschließlich in der Sicherheit seiner eigenen vier Wände gegönnt. Als die Wanne fast voll war, stieg er hinein. Das
Wasser war so heiß, dass er sich beinahe verbrühte, genau so, wie er es gerne hatte. Langsam ließ er sich tiefer sinken, so lange, bis nur noch Kopf und Knie aus dem Wasser ragten. Anders als sonst üblich waren die Wasserhähne auf der der Tür zugewandten Seite montiert, sodass er baden konnte, ohne ständig die Edelstahlarmaturen im Rücken zu spüren. Er genehmigte sich eine halbe Stunde, was zwar unter taktischen Gesichtspunkten nicht besonders schlau war, aber er hatte die entspannende Wirkung des Bades dringend nötig. Die letzten zehn Tage waren ziemlich anstrengend gewesen. Zwei Auftragsmorde und zwischendurch noch eine Schießerei. Und dann gab es Leute mit einem stinknormalen Bürojob, die behaupteten, sie hätten es schwer. Aber ihm war auch klar, dass er sich nicht beklagen durfte. Schließlich hatte ihn niemand zu diesem Leben gezwungen. Er beschäftigte sich nur ungern mit der Vergangenheit, aber er wusste, dass er jeden einzelnen Schritt, der ihn zu dem gemacht hatte, der er heute war, aus freien Stücken gegangen war, schon damals, als er noch gar nicht gewusst hatte, in welche Richtung das alles
letztendlich führen würde. Es war das, was er gut konnte, was er schon immer gut gekonnt hatte. Angefangen beim ersten Fuchs über den ersten getöteten Feind bis hin zu Farkas. Er schloss die Augen und ließ den Kopf unter Wasser gleiten, begrenzte diesen Luxus jedoch auf lediglich dreißig absolut göttliche Sekunden. Da fiel ihm ein Satz ein, den er von einem Kollegen einmal gehört hatte: Wenn dir etwas nicht gefällt, dann hör auf, es zu tun. Eine ganz einfache Aussage, aber wahr. Wenn ihm seine Arbeit gefallen hätte, dann wäre sie ihm leichtergefallen, sehr viel leichter sogar, aber das Problem war, dass er auch nicht sagen konnte, dass sie ihm nicht gefiel. Dass die Menschen, die er umbrachte, noch viel schlimmer waren als er selbst, machte da auch keinen großen Unterschied. Nach dreiundzwanzig Sekunden hob er den Kopf aus dem Wasser. Die entspannende Wirkung des Bades verpuffte. Er war mit einem Mal aufgeregt, rastlos. Das hatte er jetzt von dieser ganzen Nachdenkerei. Er stieg aus der Wanne. Wasser platschte auf den Boden. Später nahm er in einem nahe gelegenen
Restaurant eine eiweiß- und kohlenhydrathaltige Mahlzeit, bestehend aus Forelle und Speckknödeln, zu sich. Er saß alleine an einem Ecktisch. Das Essen war gut, aber die darin enthaltenen Nährstoffe waren ihm wichtiger. Der Kellner, vermutlich ungefähr in Victors Alter, sah müde und alt aus. Victor gab ihm ein stattliches Trinkgeld. Er musste mehrere Stunden rumbringen und erkundete das Zentrum von Linz, besuchte das Lentos Kunstmuseum, das Schlossmuseum und den im 17. Jahrhundert erbauten Alten Dom mit seinem kunstvoll geschnitzten Chorgestühl, das mit zahlreichen furchterregenden, zum Teil fast dämonisch wirkenden Figuren verziert war. Während des Sonnenuntergangs fand er bei einer Fahrt mit einem Ausflugsboot über die Donau Gelegenheit, sich einerseits zu entspannen und gleichzeitig nach möglichen Verfolgern Ausschau zu halten, bevor er das Schiff verließ und den Hauptplatz im Herzen der Altstadt ansteuerte. Hoch aufragende Barockgebäude umschlossen den herrlichen Platz, und Victor ließ sich durch die Menschenmenge bis zur Dreifaltigkeitssäule in der Mitte des Platzes
spülen. Selbst wenn er nicht genau gewusst hätte, wo sie sich treffen wollten, er hätte sie mithilfe der Blicke und der verdrehten Köpfe der Männer auf dem Platz problemlos gefunden. Sie sah ihn nicht kommen, aber das war sowieso nur den wenigsten vergönnt. Victor ergriff ihr Handgelenk, und sie wirbelte herum. Schnell wich ihre Überraschung einem Lächeln und dann einem Kuss. Dabei schlang sie ihm die Arme um den Hals. In seinem Hotelzimmer war es dunkel. Victor lag nackt auf dem Bett. Die Laken waren zerwühlt und halb zu Boden gerutscht. Vor dem Bett stand eine Frau und sammelte ihre verstreuten Kleidungsstücke ein. Victor betrachtete sie und genoss den spektakulären Anblick ihrer langen, geschmeidigen Beine und des G-Strings, der ihm freien Blick auf ihre gebräunten Arschbacken gewährte. Adrianna war Schweizerin, aber geboren in England, und sie sprach mit dem kultivierten Akzent einer britischen Aristokratin. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie weder Profikillerin noch Polizistin oder Agentin irgendeines
Geheimdienstes war. In ihrer Gesellschaft konnte er sich entspannen – was mit jemandem, den er gerade erst kennengelernt hatte, ein Ding der Unmöglichkeit war. Victor traute keinem Menschen, aber Adrianna war einer der wenigen, denen er zumindest nicht komplett misstraute. »Du solltest dich nicht so nach vorn bücken«, sagte er. »Die Belastung ist nicht gut für die Muskulatur im Lendenwirbelbereich. Du musst in die Knie gehen, dann haben auch deine Oberschenkel was davon.« »Emmanuel, du bist wirklich voll mit überflüssigen Informationen.« Nach ein paar Sekunden warf sie ihm einen Blick zu und sagte dann: »Mach bitte mal das Licht an. Ich kann nichts sehen.« »Es ist hell genug.« »Für dich vielleicht. Aber ich hasse Karotten.« »So funktioniert das doch gar nicht«, erwiderte er und streckte den Arm aus, um die Lampe auf der anderen Seite des Bettes einzuschalten. Sie war so platziert, dass sie keine Schatten auf das Fenster werfen konnte. »Besser so?« »Viel besser, danke.« Sie entdeckte das
Gesuchte und richtete sich auf. »Ich wette, du hattest den ganzen Tag die Vorhänge zu, hab ich recht?« Er gab keine Antwort. »Kein Wunder, dass du so blass bist.« Er wollte einen Schluck von seinem Scotch nehmen, stellte aber fest, dass das Glas leer war. Er sah zu, wie Adrianna den BH anlegte und ihre Brüste zurechtrückte. Dann holte sie eine kleine Haarbürste aus ihrer Schlangenleder-Handtasche und fing an, sich zu kämmen. Sie brauchte keine zwei Minuten, um sich von der zerzausten Gespielin in eine gepflegte Geschäftsfrau zu verwandeln. Victor hatte sie erklärt, dass das eine Kunstform sei. Adrianna weigerte sich standhaft, ihm ihr Alter zu verraten. Wenn er fragte, dann sagte sie jedes Mal schlicht: »Alt genug.« Er sagte ihr nicht, dass er wusste, dass sie gerade erst dreißig geworden war und ein Geschichtsstudium in Cambridge abgeschlossen hatte, dass ihre Eltern tot waren und ihr Bruder in Amerika lebte. Er wusste außerdem, dass ihr die zarten Fältchen in den Augenwinkeln Kummer bereiteten und dass sie dachte, ihre Hüften seien zu breit, aber in Victors Augen war sie so vollkommen, wie es nur möglich war. Sie glaubte
ihm nie, wenn er ihr sagte, dass sie wunderschön sei. Sie besaß eine Wohnung in Genf und eine in London. In beiden kannte er jeden Quadratzentimeter, obwohl sie ihn noch nie zu sich eingeladen hatte. Auch von den Wanzen, die er dort installiert hatte, hatte sie keine Ahnung gehabt. Nachdem sie sich in einer Bar in Genf kennengelernt hatten, hatte er sie zunächst einmal eine Woche lang beschattet, bevor er sie angerufen hatte. Im Verlauf der folgenden Monate hatte er sie immer wieder beobachtet, in unregelmäßigen Abständen. Er hatte keinerlei Anlass zum Misstrauen entdeckt. Was ihn überrascht hatte. Irgendwann hatte er schließlich die Wanzen abmontiert, gewissermaßen als anonyme Aufmerksamkeit. Er war schließlich ein Gentleman. Jetzt schenkte er sich ein großes Glas Chivas Regal ein, eine seiner bevorzugten Marken. Ein Verschnitt zwar, aber besser als fast jeder andere Scotch. Victor fand, dass Single Malts in der Regel überbewertet wurden. Sie lachte. »Was?«, wollte er wissen. »Ich weiß, dass du mich vermisst hast.«
»Wieso denn das?« Sie zeigte ihm eine cremefarbene Seidenbluse und warf ihm ein spitzbübisches Lächeln zu. »Sie ist zerrissen.« »Ohne siehst du besser aus.« Sie zog eine Grimasse und sagte: »Hmmm.« Dann schlüpfte sie hinein und knöpfte sie so weit zu, wie es noch möglich war. Schnaufend steckte sie die Finger durch die Löcher, um Victor zu zeigen, dass die oberen drei Knöpfe fehlten. Er zuckte mit den Schultern. »Ich kann sie suchen und für dich aufbewahren.« »Wirf sie weg, ich nähe nicht.« »Kannst du nicht oder willst du nicht?« »Beides.« »Okay, ich kauf dir eine neue.« »Die ist aus dem letzten Jahr«, meinte sie schmollend. »So eine bekommst du sowieso nicht wieder.« Er setzte sich etwas aufrechter. »Dann werde ich dir wohl zwei neue aus diesem Jahr kaufen müssen, hab ich recht?« Sie grinste.
»Was hast du noch vor? Wie wär’s, wenn du erst später zurückfliegst, und wir gehen noch zusammen essen?« Sie zog den Reißverschluss ihres Rocks hoch und stopfte die Bluse in den Bund. »Wahnsinnig gern, aber ich kann nicht. Muss mich um die Geschäfte kümmern.« »Du arbeitest zu viel.« »Die Rechnungen wollen schließlich bezahlt werden.« Sie setzte sich ans Fußende des Bettes und wippte ein wenig auf und ab, so gut es die Matratze eben zuließ. »Das ist hart wie Beton. Du solltest dich beschweren.« »Ich find’s gut.« »Es wundert mich, dass du da überhaupt schlafen kannst.« Sie schlüpfte in ihre Schuhe, verharrte für einen Augenblick und sagte dann mit sanfter Stimme: »Ist dir eigentlich klar, dass wir uns seit über einem halben Jahr nicht mehr gesehen haben?« Sie unterbrach sich kurz. »Ich hatte schon Angst, du würdest nie wieder anrufen.« Er schaute sie nicht an. »Ich hatte zu tun.« Sie hielt den Blick auf ihn gerichtet. »Arbeit?« Als er nickte, fuhr sie fort: »Du arbeitest zu viel.«
»Die Rechnungen wollen schließlich bezahlt werden.« Sie lächelte. »Ich frage mich immer wieder, was du eigentlich machst.« »Kein Wort über die Arbeit, weißt du noch?« Adrianna hob abwehrend die Hände. »Ich weiß, Emmanuel, ich weiß. Aber du machst mich eben neugierig. Gelegentlich stelle ich mir vor, dass du ein Geheimagent bist oder so was.« »Du hältst mich für einen Spion?« Sie lächelte verlegen. »Lächerlich, nicht wahr? Ich nehme an, das liegt an deinen Narben.« »Ich war in der Armee«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Ich weiß. Wie gesagt, das ist bloß eine Fantasie. Ich wette, du machst in Wirklichkeit etwas Stinklangweiliges, bei einer Bank oder an der Börse.« Sie lächelte. »Jetzt weiß ich’s: Du bist Buchhalter, hab ich recht?« »Um ehrlich zu sein«, sagte er mit erhobener Augenbraue, »ich bin ein Auftragskiller.« Sie prustete los vor Lachen. »Du kannst so witzig sein, wenn du nur willst.« »Nein, ich meine es ernst«, erwiderte er und klang
dabei alles andere als ernst. »Gerade erst habe ich einen Gangster in die Luft gejagt, mit einer Bombe, die in seiner Toilette versteckt war.« Adrianna lachte noch lauter. Sie griff sich mit der Hand an die Brust. »Bitte hör auf, sofort. Du bringst mich noch um.« »Nur, wenn du mir dafür einen Batzen Geld gibst.« Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf, und Adriannas Lachen ebbte langsam ab, wurde zu einem Lächeln, während sie sich wieder in den Griff bekam. Sie musterte ihn gründlich und sagte: »Du hast ein bisschen zugenommen. An Muskeln, meine ich.« Er nickte. Eigentlich war ihm Wendigkeit immer wichtiger gewesen als Kraft, aber eine ausgesprochen schmerzhafte Erfahrung in jüngster Vergangenheit hatte ihn von der Nützlichkeit der einen oder anderen Kraftreserve überzeugt. »Ich habe auch zugenommen.« Sie kniff sich in die Bauchfalte und knurrte. »Ist aber alles Speck.« »Ach was, mach dich nicht verrückt. Du siehst toll aus, sogar besser als toll.« »Du bist ein Lügner, Emmanuel.« »Warum sagst du das eigentlich jedes Mal?«
»Weil ich dich kenne.« Sie ließ die Hand zu seinem ausgestreckten Bein gleiten und streichelte ihm die Wade. Leise sagte sie: »Dieses Mal warst du anders als sonst.« »Wie meinst du das?« Sie seufzte, zuckte die Achseln. »Nicht negativ«, versicherte sie ihm. »Ich weiß auch nicht, einfach … anders eben.« »Mir geht eine Menge durch den Kopf.« »Möchtest du darüber reden?« »Ich dachte, du musst jetzt gehen?« »Muss ich auch. Aber wenn du willst, kannst du mich später noch anrufen, weißt du.« »Klar«, entgegnete er und nahm einen großen Schluck Whisky. Adrianna versetzte ihm einen Klaps auf das Bein und erhob sich. Sie zog ihren Rocksaum gerade und arrangierte vor dem Spiegel auf dem Sideboard noch einmal ihre Oberweite. »An der Seite«, sagte er. »Unter der Zeitung.« Adrianna drehte sich um, zum Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte, und zog das Kuvert unter der Zeitung hervor. Sie steckte es in ihre Handtasche.
Er beobachtete sie. »Willst du denn nicht nachzählen?« »Das fragst du jedes Mal. Ich weiß, dass das nicht nötig ist.« »Du bist zu vertrauensselig.« Sie lächelte leise. »Warum führst du mich eigentlich nie aus? Ich meine, zu einem richtigen Date. Nicht so wie das hier.« »Es läuft doch alles wunderbar. Warum sollten wir es unnötig kompliziert machen?« Er griff nach seiner Brieftasche. »Ich gebe dir noch etwas, damit du dir ein paar neue Blusen kaufen kannst.« »Ist schon in Ordnung«, seufzte sie. »Sie war gar nicht so teuer, wie sie aussieht. Und außerdem …«, sie zog den Kragen ihrer Bluse mit beiden Händen weit auf, sodass ihr Dekolleté deutlich sichtbar wurde, »… so sieht es sowieso besser aus, finde ich.« Nachdem Victor gebadet und frische Kleidung angezogen hatte, setzte er sich ans Fußende des Bettes, fuhr seinen neuen Laptop hoch, kontrollierte seine E-Mails, um die neueste Nummer zu bekommen, und startete das VoIP-Programm, um
mit seinem namenlosen Auftraggeber Kontakt aufzunehmen. »Ausgezeichnete Arbeit in Berlin«, waren die ersten Worte, die Victor zu hören bekam. Er gab keine Antwort. Sein Auftraggeber sagte: »Ich war mir nicht sicher, ob Sie das wirklich schaffen würden, ohne dass sich noch weitere Personen im Netz verfangen, bildlich gesprochen.« »Laut Anweisung sollte ich Kollateralschäden vermeiden.« »Aber Sie sollen wissen, dass ich mir über die Schwierigkeit dieser Aufgabe im Zusammenhang mit einer Bombe bewusst bin. Also danke.« Victor blieb stumm. Er stand auf und trat ans Fenster. Mit einem Finger schob er den Vorhang einen Spalt zur Seite und blickte auf die Straße hinunter. »Das nächste Dossier ist noch nicht ganz fertig«, fuhr sein Auftraggeber fort. »Es gibt noch etliche Einzelheiten zu klären, Sie wissen ja. Ich möchte Sie nicht mit unvollständigen Informationen losschicken.« »Gott bewahre!« »Ganz genau. Also können Sie erst mal
abschalten. Tun Sie ein bisschen was, um sich zu entspannen. Amüsieren Sie sich.« »Genau das mache ich gerade.« »Sehr gut«, erwiderte sein Gegenüber, »aber sehen Sie zu, dass es nicht zu sehr ausartet. Sie müssen von einem Augenblick zum nächsten einsatzbereit sein.« »Ich bin immer in Bereitschaft.« »Genau das wollte ich hören. Außerdem haben Sie doch auf jeden Fall einen Grund zur Freude.« »Wieso denn das?«, wollte Victor wissen. »Weil wir die Hälfte schon hinter uns haben, mein Freund. Zwei sind erledigt, jetzt haben wir nur noch zwei vor uns. Dann sind Sie wieder ein freier Mann.« Nach einer kurzen Pause sagte Victor: »Wann bekomme ich den dritten Auftrag?« »Bald«, erwiderte die Stimme. »Sehr bald.«
Kapitel 14 Beirut, Libanon
Das Mädchen unter Baraa Ariff war neunzehn. Spanierin. Langes, welliges schwarzes Haar, das sich über ihre Schultern ergoss, und dazu eine makellose goldbraune Haut, die einen schlanken und dennoch üppigen Körper umhüllte, genau so, wie Ariff es gernhatte. Außerdem redete sie nicht zu viel – eine weitere attraktive Eigenschaft, die der ägyptische Waffenhändler ganz besonders zu schätzen wusste. Frauen, die versuchten, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, oder womöglich sogar die Arroganz besaßen, ihm irgendwelche Fragen zu stellen, konnte er nicht ausstehen. Die Vorstellung war beinahe lächerlich, wäre sie nicht so abstoßend gewesen. Aus Ariffs Sicht waren ihm ohnehin nur sehr wenige Menschen ebenbürtig, und das waren ausnahmslos Männer. Keine einzige noch lebende Frau hatte es jemals geschafft, sich seinen Respekt zu verdienen. Sie waren entweder Spielzeuge, die ausschließlich seinem persönlichen Vergnügen dienten, oder aber sie brachten seine Kinder zur
Welt und zogen sie auf. Niemals beides zugleich. Mütter sollten sich mit der Pflege und Aufzucht des Nachwuchses beschäftigen und ihre kostbare Zeit nicht damit verschwenden, mit ihm zu sprechen. Und Mösen brauchten keine Stimmbänder. Glücklicherweise war er so wohlhabend, dass er sich nur dann mit dem anderen Geschlecht befassen musste, wenn er wollte. Da er mit seiner Familie zusammenlebte, musste er notgedrungen mehr Zeit mit seiner Frau verbringen, als ihm lieb war, aber sie hatte gelernt, ihn nur dann anzusprechen, wenn es absolut unumgänglich war. Seine Töchter hingegen waren ganz anders – drei himmlische Geschöpfe, die noch keine Anzeichen für die Verunreinigungen des Frauseins erkennen ließen. Wäre es möglich gewesen, Ariff hätte dafür gesorgt, dass das für alle Zeiten so blieb. Das Mädchen seufzte. Sie sprach kein Arabisch, und er hatte keine Ahnung von Spanisch, sodass die Sache mit dem Gequatsche sich von selbst erledigte. Normalerweise hatte er während eines Besuchs Gott sei Dank nur ein paar Schreie zu ertragen, während er den Körper des jeweiligen Mädchens benutzte. Und heute war es sogar besser
als normal – das Mädchen stöhnte kaum, als er sich auf sie legte. Daher war er auch viel schneller fertig als gewöhnlich, und darüber freute er sich sehr. Je schneller man ein gewünschtes Ziel erreichte, desto besser, das war Ariffs Meinung. Er wälzte sich von dem Mädchen herab, versetzte ihr einen leichten Klaps auf den Oberschenkel, als anerkennende Würdigung ihres Körpers, und stellte sich im Badezimmer unter die Dusche. Er ließ das warme Wasser über Kopf und Körper regnen. Der Sex hatte ihn träge gemacht. Er war zwar immer noch ganz gut in Schuss, aber die Tage seiner Jugend lagen schon sehr lange zurück. Ariff ging regelmäßig zum Arzt und wusste, dass er für einen Achtundsechzigjährigen sehr fit und gesund war. Sein Blutdruck lag deutlich unter dem Durchschnitt, und das trotz des Stresses und der Gefahren seines Berufsstands. Er akzeptierte die unvermeidlichen Risiken, die sein Geschäft mit sich brachte, und vergeudete daher auch nicht allzu viel Zeit damit, sich irgendwelche Sorgen zu machen. Dafür gab es andere Leute, die von ihm bezahlt wurden. Sehr gut bezahlt wurden.
Drei Jahrzehnte im illegalen Waffenhandel hatten Ariff ein riesiges Vermögen beschert, das die Gefahren, denen er sich ausgesetzt sah, mehr als wettmachte. Er hatte das Geschäft von seinem Vater übernommen, der fast zehn Jahre lang Waffen von Ägypten nach Gaza geschmuggelt hatte, bevor er von einem israelischen Kommandotrupp getötet worden war. Damals war Ariff fast noch ein Junge gewesen, aber er hatte die richtigen Lehren aus dem Tod seines Vaters gezogen und niemals selbst irgendwelche Schmuggelware in die Hand genommen. Er vermittelte zwar viele Geschäfte persönlich, doch den eigentlichen Transport überließ er anderen. Der Tod seines Vaters hatte ihn auch Vorsicht gegenüber seinen Geschäftspartnern gelehrt. Wer Waffen kaufen wollte, der hatte Feinde, und indem er solchen Leuten gab, was sie wollten, machte er deren Feinde zu seinen. Aufgrund dieser Philosophie handelte er beispielsweise nicht mit chemischen, biologischen oder nuklearen Kampfstoffen. Sobald er anfing, solche Dinge zu kaufen oder zu verkaufen, würde er zum Ziel der westlichen Welt und besonders der Vereinigten
Staaten werden. Solange er sich jedoch halbwegs unauffällig benahm, das wusste er, war er auch sicher. Ariffs Hauptgeschäft war der Handel mit leichten Waffen – Handfeuerwaffen, Maschinenpistolen, Sturmgewehre, tragbare Maschinengewehre, Granatwerfer und Raketenwerfer. Abgesehen davon, dass er sich dabei nicht allzu weit aus der Deckung wagen musste, brachte diese Angebotspalette noch eine Reihe weiterer Vorteile mit sich. Die Ware war leicht zu bekommen, günstig im Einkauf und problemlos zu verstecken und über Landesgrenzen zu transportieren. Und die Nachfrage war groß. Die Sachen waren billig, also wollte sie jeder haben. Es war jetzt fast zwanzig Jahre her, dass Ariff zum letzten Mal versucht hatte, etwas Größeres an den Mann zu bringen. Damals hatte er in Estland ein halbes Dutzend M-72-Panzer erstanden, die von der Roten Armee zurückgelassen worden waren. Obwohl die Panzer in hervorragendem Zustand und voll einsatzbereit gewesen waren, hatte er keinen Käufer auftreiben können. Für Staatsregierungen war die Stückzahl viel zu klein gewesen, und
prinzipiell interessierte Kriegsfürsten konnten für den Preis eines einzigen Panzers jeden ihrer Männer mit einem Sturmgewehr und Munition ausstatten. Letztendlich hatten die Esten die Panzer für sechzig Prozent des Verkaufspreises wieder zurückgenommen. Das war eine harte, aber wichtige Lektion gewesen. Obwohl Ariff in erster Linie im illegalen Waffenhandel aktiv war, wickelte er einen Teil seiner Geschäfte über legale Kanäle ab. Waffen konnten legal in den Herstellerstaaten erworben und auch legal transportiert werden, um dann, Tausende Kilometer von ihrem Ausgangspunkt entfernt, umgeleitet zu werden. In der Hälfte aller Fälle bekamen die Herstellerstaaten gar nicht mit, dass ihre Waffen nicht dort ankamen, wo sie ankommen sollten, und in der anderen Hälfte der Fälle war es ihnen egal. Wenn das große Geld im Spiel war, dann waren zahlreiche Hersteller auch bereit, zur Steigerung ihrer Profite ganz bewusst Sanktionen und Embargos zu unterlaufen. Dann konnte Ariff ihre Produkte sogar direkt in Kampfgebiete transportieren. Wenn die Geschäfte sich nicht grundsätzlich legal
abwickeln ließen, dann besorgte sich Ariff in der Regel zumindest so viel Legalität, wie sich auf illegalem Weg eben beschaffen ließ. Er bestach Offizielle, um amtlich beglaubigte Frachtbriefe und Endverbraucherzertifikate in die Finger zu bekommen. Wenn sich niemand bestechen ließ, dann benutzte er hervorragend gemachte Fälschungen. Um die guten Beziehungen zu all den Grenzsoldaten, Flughafenangestellten und Regierungsbeamten, die für seinen Handel wichtig waren, zu erhalten, spendete Ariff regelmäßig, ganz egal, ob er gerade eine Lieferung hatte oder nicht. Je mehr die Leute sich an Bestechungsgelder gewöhnten, desto schwerer fiel es ihnen beim nächsten Mal, Nein zu sagen. Und es war auch kein Nachteil, wenn das reguläre Monatsgehalt der Bestochenen unterhalb der Summe lag, die Ariff für ein einziges Paar Schuhe ausgegeben hätte. Wenn Ariff also nicht unter der Flagge eines bestimmten Staates operieren konnte, dann schmuggelte er seine Waffen auf jede erdenkliche Weise, zu Land, zu Wasser und auch in der Luft. Eine seiner bevorzugten Methoden war die Tarnung als humanitärer Hilfstransport. Wenn zum Beispiel
das Rote Kreuz ein Flugzeug mit Getreide in die Demokratische Republik Kongo schickte, dann konnte es geschehen, dass ein Drittel der Säcke bei einem Tankstopp in Ägypten geleert und mit Waffen befüllt wurde. Es gab Waffenhändler, die deutlich unverfrorener vorgingen und unverhohlen die Schlupflöcher im nationalen und internationalen Waffenhandel ausnützten. Auch Ariff hätte sicherlich noch mehr Spielraum gehabt, hätte seine Geschäfte deutlich ausweiten und seine Umsätze spürbar steigern können, aber er hielt sich zurück. Er wollte nicht von der Gier aus dem Schatten ans Licht gelockt werden. Es gab niemanden im Geschäft, der offener agierte als er und trotzdem seit über vierzig Jahren weder umgebracht noch ins Gefängnis gesteckt worden war. Nachdem Ariff sich abgetrocknet und angezogen hatte, ging er zurück ins Wohnzimmer. Das spanische Mädchen saß ein wenig verlegen auf dem Sofa. Sie trug einen roten, seidenen Morgenmantel, sonst nichts. So, wie der Stoff sich an ihren Körper schmiegte, wäre Ariff womöglich noch ein bisschen länger geblieben, hätte ihr gegenüber nicht dieser
voluminöse Libanese gesessen. Gabir Yamout ließ den Sessel wie ein Kinderspielzeug wirken, nicht so sehr durch seine Größe, sondern vor allem durch seinen Umfang. Er sah unzufrieden aus, aber das hatte nichts mit dem Missverhältnis zwischen seinen Körpermaßen und seiner Sitzgelegenheit zu tun. Ariff lächelte. »Hat dir die Vorstellung nicht gefallen, Gabir?« Yamout zog eine Grimasse, sagte aber nichts. Ariff stellte sich vor einen kunstvoll verzierten Spiegel an einer Wand des Zimmers. Er wischte mit der Hand über die Schultern seines Jacketts und drehte sich um. Dann griff er in eine Jacketttasche und zog ein zusammengefaltetes Taschentuch hervor, reichte es dem spanischen Mädchen und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, dass sie verschwinden solle. Ohne zu zögern, ging sie ins Schlafzimmer und machte die Tür hinter sich zu. In dem Taschentuch befanden sich winzige Diamanten – genug für einen schönen Ring oder eine Halskette. Manchmal bezahlten afrikanische Regierungen und Kriegsherren Ariff mit wertvollen
Steinen, die sein Juwelier dann wiederum in Antwerpen oder in Tel Aviv zu Geld machte. Die Diamanten, die er dem Mädchen gegeben hatte, waren alle schadhaft und unverkäuflich, aber das würde sie niemals erfahren. »Einer unserer Lieferanten ist tot«, sagte Yamout. »Der Ungar, Farkas. Er ist letzte Woche ermordet worden.« »Und was geht mich das an?« »Seine Mafia-Partner glauben, dass wir ihn umgebracht haben, weil er uns umgehen und sich direkt mit unseren Kunden in Verbindung setzen wollte. Ich habe gehört, dass sie sich rächen wollen.« Ariff lachte. »Sollen sie’s doch versuchen. Ich habe sogar vor meiner Frau mehr Angst als vor ihnen.« Er blickte Yamout an. »Wann bekomme ich mein Geld?« »Ich sage dem Juden, er soll es nach Minsk bringen«, erwiderte Yamout. »Dann kann ich dort das Geschäft mit dem Weißrussen abwickeln und anschließend das Geld abholen.« »Sehr effektiv.« Ariff warf noch einen letzten Blick in den Spiegel und sagte dann: »Los jetzt, sonst
kommen wir noch zu spät zu Eshes Party. Ich will meine Tochter an ihrem Geburtstag nicht warten lassen. Du hast ihr doch hoffentlich etwas Hübsches besorgt, oder?« Yamout erhob sich und nickte. »Aber natürlich, sie ist schließlich mein Patenkind. Ein wunderschönes Seidenkleid, habe ich schon letzte Woche abgeholt. In Blau und Gold, sehr hübsch. Ich kann es kaum erwarten, ihr Gesicht zu sehen.« Ariff runzelte die Stirn. »Aber dir ist doch klar, dass Eshe erst acht Jahre alt ist.« »Auch Achtjährige freuen sich über hübsche Kleider.« Vor dem Haus setzte sich Ariff auf den Beifahrersitz von Yamouts Mercedes. Zwei Männer saßen auf der Rückbank, und jeder hatte eine kompakte Ingram-Maschinenpistole im Schoß. Ariff schenkte ihnen keine Beachtung. »Was wissen wir über diesen Weißrussen?« »Nicht viel«, entgegnete Yamout. »Aber ich habe eine sehr zuverlässige Empfehlung bekommen, und seine Preise hören sich sehr vernünftig an.« »Nimm dir einen Haufen Männer mit«, meinte Ariff, während er sich gegen die Lehne sinken ließ
und die Augen schloss. »Diesen ehemaligen Sowjettypen kann man nicht über den Weg trauen.« Yamout legte den Gang ein und fuhr los. Ein Stück dahinter startete ein Mann sein Motorrad und flüsterte einem Unsichtbaren etwas zu.
Kapitel 15 Linz, Österreich
Victor saß in einem Internet-Café und öffnete seinen E-Mail-Account. Das Dossier der Zielperson wartete schon auf ihn. Der Laden vermietete nicht nur Computer-Terminals, sondern auch Musik und Filme. Im Schaufenster stapelten sich ausgebleichte DVD-Hüllen und Videokassetten. Die Kundschaft war jung, jede Menge Teenager und Mittzwanziger. Niemand war älter als er. Aus diversen Kopfhörern drangen unterschiedlichste Musikstücke und vermischten sich über dem Geklapper der Tastaturen zu einem dissonanten Soundtrack. Niemand beachtete Victor, der in einer abgelegenen Ecke saß und das Dossier las. Es war, genau wie das über Farkas, eine sehr ausführliche Lektüre. Gabir Yamout war ein vierundvierzig Jahre alter libanesischer Waffenschmuggler, ehemaliger Offizier der Beiruter Polizeikräfte. Er war Christ und hatte in den Achtzigerjahren, während des Bürgerkriegs, für die christlichen Milizen gekämpft, bevor er sich in die Dienste eines Ägypters namens Baraa Ariff begeben hatte. Yamout lebte mit seiner
gesamten Großfamilie in Beirut. Er war Ariffs Geschäftspartner, Leibwächter und Freund. Victor betrachtete das erste Foto aus dem Anhang. Es war eine heimliche Aufnahme, auf der Yamouts Gesicht und seine Schultern zu sehen waren. Er sah aus wie Anfang dreißig, also mindestens zehn Jahre jünger als er laut Dossier sein sollte. Damit wusste Victor, dass er zumindest in der Lage war, sich über einen langen Zeitraum hinweg unauffällig zu benehmen. Yamout trug ein Freizeithemd und eine Sonnenbrille, dazu einen sauber gestutzten Vollbart. Kurze Haare. Er machte einen intelligenten, freundlichen Eindruck. Sein Äußeres verriet in keiner Hinsicht, auf welch finstere Art und Weise er sein Geld verdiente. So war es nach Victors Erfahrung meistens. Bei ihm selbst ja auch. Nachdem die VoIP-Verbindung hergestellt war, sagte sein Auftraggeber: »Ich habe ein bisschen Arbeit für Sie.« »Gabir Yamout.« »Allerdings gibt es da eine Komplikation.« »Warum kommt mir dieser Satz bloß so bekannt vor?«
»Yamout kann nur an einem ganz bestimmten Abend umgebracht werden, und zwar genau in zwei Tagen. Ich weiß, dass ich Ihnen jetzt schon das zweite Mal einen sehr überstürzten Auftrag gebe, aber ich kann es nicht ändern. Die Zeit ist der entscheidende Faktor.« »Natürlich«, erwiderte Victor. »Sie wollen also, dass ich einen der bedeutendsten Waffenschieber dieser Welt ermorde, und zwar innerhalb von weniger als sechzig Stunden.« »Wie gesagt, ich kann es nicht ändern. Nächstes Mal läuft es wieder anders.« »Wie bei dem Farkas-Auftrag?« »Ja, genau.« »Wie bei dem Farkas-Auftrag, den ich überstürzt durchziehen musste, weil der überstürzte BukarestAuftrag mir mitten in meine Vorbereitungen geplatzt ist?« Keine Antwort. »Das ist der dritte von insgesamt drei Aufträgen, und bei jedem hatte ich nur sehr wenig Zeit«, sagte Victor. »Drei von drei, das ist keine besonders vertrauenerweckende Quote.« »Ich habe nie behauptet, dass die Arbeit, die Sie
für mich erledigen sollen, einfach sein würde. Wenn es so wäre, dann würde ich Sie ja nicht brauchen, stimmt’s oder hab ich recht?« Dieses Mal war es Victor, der eine Antwort schuldig blieb. »Wie Sie aus dem Dossier ersehen können, ist Yamout ein ziemlich dicker Fisch«, fuhr der Mann fort. »Er ist der Geschäftspartner von Baraa Ariff. Die beiden haben ein weitverzweigtes Netzwerk mit vielen kleineren, lokalen Händlern aufgebaut, die sie überwiegend mit leichten Waffen versorgen, zu Land, zu Wasser und aus der Luft. Die Händler verkaufen sie dann an die Endverbraucher weiter. Sie verfügen über eine lange Liste von Kunden, vor allem im Nahen Osten und in Afrika, und wir glauben, dass sie im Lauf der letzten drei Jahrzehnte Waffen im Wert von rund einer Milliarde Dollar an Kriegsfürsten, Milizen und Terroristen verscherbelt haben.« »Scheint ja ein ganz reizendes Pärchen zu sein.« »Nicht wahr? Ohne Yamout wäre die Welt ein sehr viel lebenswerteres Örtchen. Sie sollten froh sein, dass Sie derjenige sein dürfen, der ihm das Lebenslicht auspustet.«
»Ich bin außer mir vor Freude.« »Genau so hört es sich auch an.« Sein Auftraggeber schwieg für einen Moment. »Yamout kommt nach Minsk, wo er sich mit einem weißrussischen Gangster namens Danil Petrenko treffen will. Petrenko ist nichts weiter als ein ganz normaler osteuropäischer Bandenchef, der aber zufälligerweise ein paar Kisten Kalaschnikows ausgegraben hat, die er jetzt wieder loswerden möchte. Sie sind im Hotel Europe verabredet. Dort hat Petrenko eine Suite gebucht, extra für diesen Anlass. Das macht er anscheinend öfter, wenn ein wichtiges Treffen ansteht. Wir wissen nicht, wie Yamout nach Minsk kommt oder wann er anschließend wieder abreisen will, aber meine Quellen sagen mir, dass er höchstwahrscheinlich nicht lange bleiben wird. Sie müssen ihn also bei der ersten sich bietenden Gelegenheit erwischen.« »Dann wäre das Hotel der einzige realistische Ort für das Attentat.« »Ich schätze, ja. Aber das ist Ihr Spezialgebiet, nicht meines, also beuge ich mich Ihrem Urteil.« Victor sagte: »Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass das
die Dinge deutlich komplizierter macht.« »Wieso denn das?« »Yamout ist ein professioneller Waffenschieber, ein Mann, der in einem skrupellosen und gefährlichen Gewerbe nicht nur überlebt, sondern seine Kreise kontinuierlich erweitert hat, ein Mann, der immerhin so schlau war, seit einem Jahrzehnt keiner Kamera mehr vors Objektiv zu laufen. Er wird sich niemals ohne Rückendeckung mit einem ausländischen Gangster auf dessen eigenem Gebiet treffen. Und Petrenko wird niemals in seiner eigenen Stadt einem ausländischen Waffenschieber gegenübertreten, ohne seine eigene Stärke zu demonstrieren. Das bedeutet, dass da eine Menge Pistolen und Gewehre im Umlauf sein werden, die allesamt auf mich gerichtet sein könnten.« »Soll das etwa heißen, dass Sie Angst haben?« »Das soll heißen, dass ich ohne ausreichend Zeit für eine vernünftige Planung und Aufklärung mit roher Gewalt vorgehen muss. Für eine unauffällige Aktion sehe ich keine Möglichkeit.« »Von mir aus können Sie ihn auch im Fahrstuhl mit einer Axt erschlagen.« »Es ist höchst wahrscheinlich, dass alle Welt es
mitbekommt.« »Damit kann ich leben.« »Und ein Hotel ist ein sehr öffentlicher Raum.« »Ich bin mir sicher, dass Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun werden, damit keine Unbeteiligten zu Schaden kommen.« »Also gut«, sagte Victor. »Ich brauche Schusswaffen, die ich in Minsk irgendwo abholen kann, und zwar spätestens morgen Nachmittag.« »Das lässt sich arrangieren. – Was für Schusswaffen?« »Viele.« Nach dem Ende des Telefonats legte Victor sich schlafen und programmierte den Wecker in seinem Kopf auf 20 Uhr. Danach absolvierte er sein Trainingsprogramm und badete, wobei er unentwegt an den bevorstehenden Auftrag dachte. Was hatte man ihm nicht gesagt? Und würde genau das Ungesagte unter Umständen zu seinem Tod führen? Als Auftragskiller war man automatisch so etwas wie ein Verschleißteil, jederzeit ersetzbar, aber das hieß noch lange nicht, dass Victor das einfach so hinnehmen musste.
Noch ein Waffenhändler. Ein verräterisches Detail, auf das sein Auftraggeber nicht näher eingegangen war. Auch seine letzte Zielperson war in dieser Branche tätig gewesen, und sein erstes Opfer, ein Auftragskiller, hatte sterben müssen, um das Leben eines weiteren Waffenschiebers zu retten, Vladimir Kasakov. Drei Mordaufträge, drei bedeutende Figuren des internationalen Waffengeschäfts. Zwei sollten sterben, einer sollte leben. Was steckte dahinter? Victor schob alle Spekulationen beiseite. Er musste das nicht verstehen. Er war bloß der Mann am Abzug. Jahrelang hatte er alles in seiner Macht Stehende getan, um nicht zu wissen, warum die Menschen, die er tötete, den Tod verdient hatten. Aber dieses Mal war es anders. Dieses Mal wollte er es wissen. Er wollte verstehen. Und sagte sich, dass das wichtig war, zu seinem eigenen Schutz. Weil die Unwissenheit ihn vor ungefähr einem halben Jahr beinahe das Leben gekostet hätte. Aber das war nur die halbe Wahrheit. Es steckte noch mehr dahinter, auch wenn er selbst nicht genau wusste, was. Er misstraute seinem Auftraggeber. Jeder Auftrag war gleichzeitig auch eine potenzielle
Falle. Genauso gut war es möglich, dass diese Serie an viel zu überhasteten Aufträgen letztendlich dazu führte, dass er irgendwann in eine Situation kam, aus der er sich nicht mehr befreien konnte. Wäre dieser aktuelle Auftrag von einem privaten Klienten gekommen, dann hätte er ihn gar nicht mehr angenommen, sondern die Kommunikation für immer abgebrochen. Aber das war in diesem Fall keine Option. Private Klienten besaßen nicht genügend Macht, um ihn an die Polizei oder Geheimdienstorganisationen überall auf der Welt auszuliefern, sie hatten keinen Zugriff auf Satellitenbilder oder biometrische Gesichtserkennungsprogramme und konnten auch nicht auf Tausende Agenten und andere Mitarbeiter zurückgreifen. Und wenn es irgendwann vorüber war, würde der Auftraggeber seinen Teil der Abmachung einhalten? Würde er Victor gestatten, sich aus der Abhängigkeit von der CIA zu verabschieden, sobald der letzte Mord ausgeführt war? Womöglich beinhaltete sein finaler Auftrag auch eine Abfindung, direkt in die Schläfe. Aber er hatte gar keine andere Wahl, als bis zum Ende durchzuhalten. Wenn er sich
jetzt aus dem Staub machte, dann würden sie ihn suchen, und im Gegensatz zu allen anderen, die das schon versucht hatten, wussten sie genug über ihn, um ihn tatsächlich zu finden. Victor seufzte. Er war im Moment nicht in der Position, seinem CIA-Auftraggeber davonzulaufen, aber es wurde langsam Zeit, über die Schritte nachzudenken, die er unternehmen musste, sobald es so weit war und er weiter am Leben bleiben wollte. Das Erste und Wichtigste war eine neue Identität. Eine saubere Identität, eine, die er noch nie zuvor benutzt hatte. Er wusste nicht, wie viele seiner alten Tarnexistenzen bereits verbrannt waren. Im Augenblick konnte er sich nicht darum kümmern, aber er nahm sich vor, die nächste sich bietende Gelegenheit zu nutzen. Er beugte sich vor und gab eine neue Adresse in das Browserfenster ein, gelangte zu einem weiteren E-Mail-Account. Zwischen den Hunderten von Angeboten – zum Beispiel preiswerte Medikamente gegen Erektionsstörungen oder die einmalige Gelegenheit, ein Vermögen zu machen, wenn er seine sämtlichen persönlichen Daten einem freundlichen Herrn aus Nigeria überließ, oder
Tabletten zur Penisvergrößerung – befand sich eine einzige Nachricht, von Interesse. Er öffnete sie. Es war eine kurze Nachricht, und sie begann mit Mein Freund. Absender war ein gewisser Alonso, der ihm mitteilte, dass er einen wunderbaren Aufenthalt in Hongkong gehabt, aber leider sehr viel Geld ausgegeben hatte. Er war auf dem Weg nach Europa, würde aber nicht lange bleiben. Die E-Mail schloss mit den Worten: Wie geht es Dir? Victor überlegte. Für beide Aufträge, sowohl den in Hongkong, der sehr gut bezahlt wurde, als auch den in Europa, der sehr zügig erledigt werden musste, war er der erste Ansprechpartner, aber wenn er nicht reagierte, dann würden sie sich an jemand anderen wenden. Es gab Dutzende, wenn nicht Hunderte von Männern wie ihn überall auf der Welt. Victor war genügend von ihnen begegnet, um zu wissen, dass er alles andere als einzigartig war. Aber die Tatsache, dass er alle diese Begegnungen überlebt hatte, zeigte ihm, dass er zu den Besten innerhalb seiner rar gesäten Spezies gehörte. Vor einem Monat noch hätte er diese Nachricht auf der Grundlage seines exklusiven Engagements
gelöscht, ohne darauf zu reagieren. Doch das letzte Gespräch mit seinem Einsatz-Koordinator hatte einiges verändert. Er musste sich verschiedene Möglichkeiten offenhalten. Victor formulierte eine Antwort an Alonso und schrieb, dass er sich aufrichtig freute, von ihm gehört zu haben, und gerne mehr über seine Reisepläne erfahren würde. Er klickte auf »Senden«. Dann loggte er sich aus und blieb einen Augenblick lang sitzen, ruhig, aber nicht vollkommen entspannt. Wenn seine Auftraggeber irgendwelche Spielchen spielen wollten, dann bitte schön. Das konnte er auch. Nur, dass er nicht fair spielen würde.
Kapitel 16 Hundert Kilometer südwestlich von Minsk, Weißrussland
Es war kalt auf dem Rücksitz. Saul Callo hatte die Schultern hochgezogen und die Arme eng um die Brust geschlungen, die Hände unter den Achselhöhlen versteckt. Schuld daran war Blout, der beim Fahren Selbstgedrehte rauchte und das Fenster heruntergelassen hatte, damit der Rauch nach draußen wehte. Callo saß genau im Luftzug. Seine Entführer hatten ihm zwar einen Mantel gegeben, aber der gewährte eben auch nur einen begrenzten Schutz gegen die Kälte. Abbot und Blout mit ihrer Football-Profi-Statur schienen keine Probleme mit dem offenen Fenster und der kalten Luft zu haben. Draußen vor dem Fenster sauste eine grüne Landschaft ohne nennenswerte Erhebungen vorbei. Leer gefegte Felder, kaum Anzeichen für Besiedelung, irgendwie wirkte das alles tot. Lange Zeit wusste Callo nicht einmal, in welchem Land er sich befand, bis er schließlich die ersten Hinweisschilder nach Minsk bemerkte. Sie waren zweisprachig beschriftet, auf Weißrussisch, aber
auch auf Russisch, das Callo dank seines beruflichen Engagements zumindest bruchstückhaft verstehen konnte. Zu Beginn ihrer Reise hatte er ein paar Stunden auf der Rückbank verbracht, bis Abbot ihn irgendwann in den Kofferraum beordert hatte. Dann hielt Blout ihn fest, während Abbot ihm Klebeband um die Hände, die Füße und schließlich auch auf den Mund klebte. Er verriet zwar nicht, worum es ging, machte Callo aber unmissverständlich klar, dass er sich mucksmäuschenstill verhalten sollte. Anderenfalls würde er, Abbot, sich einen eigenen Eierkocher basteln und Callo darauf weichkochen. Anschließend hatte Callo zwanzig Minuten lang Abgase eingeatmet, bevor sie ihn wieder freigelassen und ungefesselt auf die Rückbank gesetzt hatten. Eine Erklärung hatten sie ihm nicht gegeben, aber das war gar nicht nötig gewesen. Callo war klar, dass sie eine Grenze überquert hatten. Seit seiner Entführung in Athen hatte er nicht mehr gewusst, wo er war. Er war mindestens zweimal geflogen und hatte unzählige Stunden in Kofferräumen irgendwelcher Autos zugebracht. Dem Wetter nach zu urteilen, war er irgendwo in
Osteuropa verhört worden. Jetzt fuhren sie nach Minsk, also mussten sie zuvor in einem Nachbarland von Weißrussland gewesen sein, höchstwahrscheinlich in Polen. Seine innere Uhr war vollkommen durcheinander, und er hatte keine Ahnung, wie lange er sich schon in den Händen seiner Entführer befand. Er erhaschte einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett und wusste jetzt zumindest, wie spät es war. »Warum fahren wir nach Minsk?«, wollte er von Abbot wissen, als er die Stille und die Ungewissheit nicht mehr länger ertragen konnte. Abbot hatte den Ellbogen auf den Fensterrand gelegt und starrte hinaus in die weißrussische Landschaft. »Yamout hat dir eine SMS geschickt. Er will sich dort mit dir treffen.« »Aber ich habe das Geld doch gar nicht.« »Das wirst du auch nicht brauchen«, versicherte ihm Abbot. Callo versuchte, das Gespräch fortzusetzen, aber Abbot reagierte nicht mehr. Blout redete sowieso nicht mit Callo. Das Schweigen war ausgesprochen unangenehm, und Callos Fantasie hatte viel zu viel Raum und Zeit, um auf Touren zu kommen. Er hatte
schreckliche Angst davor, irgendwo hingebracht zu werden, wo es noch furchtbarer war als dort, wo seine Eier zwei Stunden lang an einem Stromgenerator gehangen hatten. Obwohl … etwas Schlimmeres als Stromschläge in die Hoden konnte er sich, ehrlich gesagt, beim besten Willen nicht vorstellen. Vielleicht konnte er ihre Fragen dieses Mal wirklich nicht beantworten, und sie legten den Schalter dann tatsächlich um. Schaudernd presste er die Schenkel zusammen. Er wusste, dass er bis zum Hals in der Scheiße steckte, aber er wusste auch, dass diese Typen ihn schon längst hätten umbringen können, wenn sie das vorgehabt hätten. Dazu mussten sie ihn nicht erst bis nach Minsk schaffen. Den Typen im Anzug, der ihm die ganzen Fragen gestellt hatte, hatte er seither nicht wieder zu Gesicht bekommen. Nachdem Callo alles, was er über Ariff und Yamout wusste, ausgespuckt hatte, hatte man ihn in seine Zelle zurückgebracht und ihn dort vielleicht vierundzwanzig Stunden lang alleine gelassen. Dann hatte Abbot ihn aufgeweckt und ihm eine heiße Dusche gegönnt, wo er sich ohne Bewachung hatte waschen können. Frische Kleider
hatten auf ihn gewartet, und vernünftiges Essen hatte er auch bekommen, so viel er wollte. Abbot hatte ihm sogar versichert, dass das Fleisch koscher war. Callo hatte gehofft, dass seine Freilassung unmittelbar bevorstand, aber stattdessen waren sie jetzt unterwegs nach Minsk. Hoffentlich wollten sie ihn nicht als Köder benutzen, um Yamout zu entführen. Das würde nicht funktionieren. Callo hatte nicht die Nerven, um so einen Bluff durchzustehen. Außerdem wären Abbot und Blout Yamouts Leibwächtern zahlenmäßig weit unterlegen, aber da waren sie vermutlich auch schon selbst drauf gekommen. Also, was genau hatten sie vor? Sie hatten ihm keine Ausweise gezeigt oder ihm sonst wie verraten, für wen sie arbeiteten, aber der Drecksack, der ihn verhört hatte, der stank meilenweit nach CIA. Die Briten waren entweder mit von der Partie, oder aber die beiden waren irgendwelche Söldner, die für den anderen die Drecksarbeit machten. Ausgesprochen seltsam war, dass es niemanden zu interessieren schien, dass ein Großteil seiner Geschäfte illegal war, dabei hatte er durch seine Aussagen über Yamout und Ariff
seine Beteiligung an zahlreichen Verbrechen zugegeben. Er hatte fest damit gerechnet, dass er zumindest eine Anzeige wegen Schmuggels bekommen würde, aber bis jetzt hatte sich nichts dergleichen abgespielt. Vielleicht würden sie ihn ja laufen lassen, sobald er getan hatte, was Abbot in Minsk von ihm erwartete. Er hatte schließlich nicht vor, gleich zu Amnesty International zu laufen und sich darüber zu beschweren, dass man ihm mit einem Paar glühender Orangen Angst eingejagt hatte. »Noch ’ne Stunde vielleicht, dann sind wir in Minsk«, sagte Blout zu Abbot. »Hast du gehört, Kumpel?« Abbot drehte den Kopf in Callos Richtung. »Dauert nich’ mehr lange, dann is’ die ganze Sache zu Ende.« Callo war hocherfreut, das zu hören.
Kapitel 17 Minsk, Weißrussland
Nach einem erholsamen Flug war Victor am vorangegangenen Abend auf dem Internationalen Flughafen von Minsk gelandet. Er hatte nur Handgepäck aus Österreich mitgebracht, nicht mehr als eine kleine Tasche mit ein paar unwichtigen Kleinigkeiten, aber er flog nicht gerne ganz ohne Gepäck. So weckte man schnell das Interesse der Flughafensicherheit. Ein glücklicherweise schweigsamer Taxifahrer hatte ihn vom Flughafen bis ins Stadtzentrum befördert, wo er sich noch eine Weile aufgehalten und nach eventuellen Verfolgern Ausschau gehalten hatte. Schließlich war er zu Fuß zu seinem Hotel, dem Best Eastern, gegangen. Yamout war am nächsten Tag gegen einundzwanzig Uhr im Hotel Europe mit Petrenko verabredet. Da er sich vermutlich nicht lange dort aufhalten würde, blieb Victor nur ein kleines Zeitfenster, um seinen Auftrag zu erledigen. Er fuhr mit der U-Bahn quer durch die ganze Stadt und nahm dann ein Taxi zurück ins Zentrum. Unmittelbar danach ließ er sich von einem zweiten
Taxi eine halbe Stunde lang kreuz und quer durch die Innenstadt kutschieren. Anschließend fuhr er noch einmal dreißig Minuten lang U-Bahn, wechselte zweimal die Züge und ging schließlich zu Fuß weiter, wobei er wachsam nach möglichen Verfolgern Ausschau hielt. Irgendwann nahm er dann ein drittes Taxi und ließ sich zum Passaschyrski-Bahnhof bringen. Bei einer atemberaubenden, braunhaarigen Weißrussin an einem Kiosk erstand er einen großen Kaffee und nippte lässig daran, während er durch den Bahnhof schlenderte. Keine Spur von irgendwelchen Beschattern. Im Mai hatte es in Minsk selten mehr als zwanzig Grad Celsius, darum trug Victor keinen Mantel, hatte sein dunkelgraues Anzugjackett aber zugeknöpft. Der Kaffee schmeckte außergewöhnlich gut, aber vielleicht lag das auch nur an den Bildern von der Brünetten, die ihm noch durch den Kopf schwebten. Bei der Gepäckaufbewahrung im Untergeschoss des Bahnhofs gab er den falschen Namen an, den sein Auftraggeber ihm mitgeteilt hatte. Ein alter Mann brachte zwei schwere SamsoniteKoffer angeschleppt und wischte sich anschließend
mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Was haben Sie denn da drin? Steine?« »Waffen«, erwiderte Victor. Der Alte lachte. Die Aufkleber besagten, dass die Koffer über Nacht von Moskau hierhergereist waren, aber vermutlich war der Inhalt irgendwo unterwegs ausgetauscht worden. Victor wusste allein anhand des Gewichts der Koffer, was sie enthielten. Er nahm ein Taxi zurück ins Best Eastern und ging auf sein Zimmer. Er fragte sich, wie das Hotel wohl zu seinem Namen gekommen sein mochte, da es in jeder Hinsicht weit vom Besten entfernt war. Sein Zimmer war nichtssagend und wenig einladend, das Bett weich und klumpig. Er zog die Vorhänge zu und legte die Koffer auf das Bett, um den Inhalt zu überprüfen. Das Innenfutter war herausgetrennt und durch dicke Schaumstoffpolster ersetzt worden, mit Vertiefungen, speziell für die darin befindlichen Gegenstände. Die Schale des ersten enthielt ein zerlegtes Heckler & Koch PSG1-A1 mit einem dazugehörigen, langen Schalldämpfer. Das PSG1A1 war ein halbautomatisches
Scharfschützengewehr, eine sehr gute Waffe, perfekt für den Gebrauch in einem städtischen Umfeld und auf jeden Fall eines der präzisesten halbautomatischen Gewehre der Welt, mit einer Abweichung von weniger als einer Bogenminute. Auf eine bestimmte Eigenschaft hätte Victor jedoch liebend gerne verzichtet. Nach dem Schuss stieß das Gewehr die verbrauchten Patronenhülsen in hohem Bogen aus, was im besten Fall nur das Aufräumen nach einem Attentat erschwerte, im schlimmsten Fall jedoch seine genaue Position preisgeben konnte. Victor setzte die Waffe zusammen und schob eines der drei Magazine, die ebenfalls in der Schaumstoffhülle saßen, in den vorgesehenen Schacht. Jedes Magazin enthielt zwanzig hochwertige 7,62 x 52-Millimeter-Patronen. Geladen wog die Waffe ziemlich genau acht Kilogramm und besaß eine Länge von einem Meter zwanzig. Er klappte den Garbini-Tripod auseinander und baute ihn auf dem Bett auf, machte sich mit der Funktionsweise vertraut, stellte ihn auf die richtige Höhe ein und schwenkte das PSG immer wieder von rechts nach links und wieder zurück. Dann stellte
er den Kolben und den Abzugsgriff genau auf seine Bedürfnisse ein und blickte durch das Schmidt-&Bender-3-12 x 50-Zielfernrohr. Wenn er freie Sicht hatte, dann konnte er Yamout damit noch aus neunhundert Metern Entfernung erschießen. Victor zerlegte die Waffe wieder und packte die Einzelteile in den Koffer zurück. In der anderen Schale lagen ein Infrarot-Nachtsichtgerät, eine Universal-Schlüsselkarte für das Hotel Europe, wo Yamouts Verabredung stattfinden sollte, ein Block C4-Plastiksprengstoff sowie die dazugehörigen Fern- und Zeitzünder. Victor nahm jedes einzelne Stück heraus und überprüfte es sorgfältig. Im zweiten Koffer, zwischen den beiden Schaumstoffhälften, lag eine Schutzweste der Schutzklasse 1, die verdeckt getragen wurde. Ihre zahlreichen Kevlarschichten waren nicht miteinander verwoben, sondern thermisch verbunden worden. Victor riss die Plastikhülle auf und probierte die Weste an. Es war ein Medium-Modell, das heißt, sie lag relativ eng an, genau, wie er gewollt hatte, bedeckte jedoch nicht den Unterleib. Das wäre ihm zwar lieber gewesen, aber dazu hätte er eine
größere Weste gebraucht, die wiederum seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt hätte. In die erste Schale des zweiten Koffers waren zwei schallgedämpfte Handfeuerwaffen in die Schaumstoffhülle eingepasst: eine USP Compact Tactical von Heckler & Koch, Kaliber 45, sowie eine Walther P22, Kaliber 22. Zu jeder Pistole gehörten drei volle Magazine. Victor nahm die Waffen heraus, inspizierte sie gründlich und gab aus jeder ein paar trockene Schüsse ab, bevor er sie in den Koffer zurücklegte. Die Pistolen hatte er angefordert, weil sie mit Unterschallmunition gefüttert wurden und daher, wenn ein Schalldämpfer verwendet wurde, fast unhörbar waren. Darüber hinaus waren sie beide sehr klein – die USP siebzehn, die Walther sogar nur sechzehn Zentimeter lang – und leicht zu verstecken. Darum besaßen auch die Magazine mit acht Patronen bei der USP und zehn bei der P22 nur eine geringe Kapazität, aber sie waren sowieso nur als Absicherung eingeplant. Die erste Option lautete also, Yamout mit dem PSG aus größerer Distanz zu erschießen. Falls sich das jedoch als zu schwierig erweisen sollte, dann würde Victor sich auf die Waffe in der zweiten
Kofferschale verlassen müssen. Die FN P90 sah wirklich seltsam aus. Die kompakte Maschinenpistole wurde von der Fabrique National im belgischen Herstal produziert. Mithilfe eines Drehschalters ließ sie sich auf Einzelfeuer oder Feuerstöße einstellen. Durch die sogenannte Bullpup-Konstruktion, bei der Verschluss und Magazin in die Schulterstütze integriert sind, war die Waffe sehr handlich und dadurch auch zielgenauer als die üblichen Maschinenpistolen, besaß aber trotzdem einen fünfundzwanzig Zentimeter langen Lauf, der ihr eine deutlich höhere Durchschlagskraft verlieh. Victor nahm die Waffe aus der Schaumstoffhülle. Sie bestand überwiegend aus hochverdichtetem, absolut schlagfestem Polymer sowie besonders leichten Metalllegierungen und wog bei einer Gesamtlänge von fünfzig Zentimetern nur zweieinhalb Kilogramm. Er schloss die rechte Hand um den Griff mit dem Daumenloch, während die Linke sich um den großen Abzug legte, der gleichzeitig als vordere Griffhalterung diente. Die Waffe lag gut in der Hand und versprach auch bei automatischen Feuerstößen eine große
Genauigkeit. Der Drehschalter, der zur Sicherung der Waffe sowie zur Einstellung von Einzelfeuer oder Automatiksalven diente, lag unterhalb des Abzugs. Victor drehte ihn etliche Male in die verschiedenen Stellungen. Sanft legte er den Finger auf den Abzug, spürte den Widerstand, den er für einen Einzelschuss überwinden musste, dann drückte er den Hebel für Dauerfeuer bis zum Anschlag durch. Das war eine sinnvolle Einrichtung, weil er dadurch auch ohne den Drehschalter zu bedienen die Möglichkeit hatte, entweder einen Einzelschuss oder aber einen Feuerstoß abzugeben. Bei einer maximalen Kadenz von neunhundert Schüssen pro Minute konnte die P90 ihr fünfzigschüssiges Magazin innerhalb von 3,3 Sekunden vollständig leeren. Die speziell für die P90 entwickelten, 5,7 x 28 Millimeter großen Geschosse besaßen selbst bei Vollautomatik eine außergewöhnliche Präzision. Dank der Konstruktion der Waffe war die Streuung minimal, Rückstoß und Hochschlag fielen ausgesprochen gering aus. Victor nahm die vier vollen, durchsichtigen Polykarbonat-Magazine, die oberhalb der Waffe in
einer waagerechten Reihe platziert waren, sorgfältig unter die Lupe. Die SB193-Unterschallmunition mit den weißen Spitzen war deutlich zu erkennen. Jedes Geschoss wog fünfundfünfzig Gran, enthielt einen Bleikern und zwei Gran Pulver, die es auf eine Mündungsgeschwindigkeit von rund dreihundert Metern pro Sekunde beschleunigten. Die Reichweite betrug fünfzig Meter. Die Stoppwirkung einer Überschallkugel war in etwa mit der eines Neun-Millimeter-Hohlspitzgeschosses vergleichbar, doch die SB193-Geschosse waren schwerer als die 5,7-Millimeter-Überschallmunition und nur halb so schnell. Die Stoppwirkung war daher vermutlich nicht besonders groß, aber wenn man zwei Kugeln in der Brust und eine im Schädel stecken hatte, spielte die Munitionscharakteristik nach Victors Erfahrung keine allzu große Rolle mehr. Er führte ein Magazin in den Schacht und nahm Schusshaltung ein, blickte durch das Reflexvisier. Die Markierung, das sogenannte Absehen, bestand hier nicht aus einem Fadenkreuz, sondern aus zwei konzentrischen Kreisen, die jeweils in schmale Keile unterteilt waren. Die Keile in dem größeren Kreis
umfassten ungefähr einhundertachtzig Bogenminuten und dienten zur schnellen Zielerfassung auf große Distanz, während der kleinere Kreis mit einer Zwanzig-BogenminutenEinteilung einen winzigen Fleck in der Mitte der Zieloptik umschloss. Victor ging zum Schrank, machte ihn auf und hielt die P90 in den Schatten. Die von einer Tritiumzelle sanft beleuchtete Zielmarkierung erschien in Form zweier waagerechter und einer senkrechten Linie, die in der Mitte des Kreises auf die erste Waagerechte traf, sodass ein T entstand. Victor nahm den Schalldämpfer, einen Gemtech SP90, aus dem Koffer. Er setzte ihn an der Mündung an, drückte und drehte ihn um neunzig Grad im Uhrzeigersinn, sodass er einrastete. Durch die einzigartige Befestigungsmethode dauerte es weniger als zwei Sekunden, um den Dämpfer zu montieren, also sehr viel kürzer als bei einem normalen aufschraubbaren Schalldämpfer. Jetzt war die Waffe 18,4 Zentimeter länger und rund fünfhundertfünfzig Gramm schwerer. Außerdem betrug die Mündungsgeschwindigkeit jetzt nur noch zweihundertneunzig Meter pro Sekunde, aber nach
Victors Erfahrungen hatte das so gut wie keinen negativen Einfluss auf die Flugeigenschaften oder die Genauigkeit. Und was positiv zu Buche schlug: Eine schallgedämpfte P90 war noch leiser als eine MP5SD. Victor setzte das Infrarot-Nachtsichtgerät auf, knipste das Licht aus und schaltete das Gerät ein. Das Zimmer erschien jetzt in unterschiedlichen Schwarz-, Grau- und Weißschattierungen. Er ließ das Magazin der P90 herausschnappen und untersuchte das Mündungsende der Waffe unterhalb des Laufs, wo der Infrarot-Laser angebracht war. Die Lichtquelle war in den Empfänger integriert und beeinflusste das Schussverhalten der P90 in keiner Weise. Victor schaltete das Gerät auf volle Leistung. Es gab zwar auch eine Energiespareinstellung, aber er hatte nicht vor, die Waffe so lange zu benutzen, dass die Lebensdauer der Batterie zum entscheidenden Kriterium wurde. Ein dünner weißer Lichtstrahl, der für das bloße Auge unsichtbar war, schnitt quer durch das Zimmer und traf auf die gegenüberliegende Wand. Victor richtete ihn auf den Fernseher an der Wand. Er drückte ab und stellte sich vor, wie der Kopf seines
Spiegelbildes zerplatzte. Plastiksprengstoff, ein Scharfschützengewehr, zwei Handfeuerwaffen und eine Maschinenpistole. Ja, dachte Victor. Das müsste eigentlich reichen.
Kapitel 18 Washington, D. C., USA
Das Nelson’s Diner war ein funkelndes, würstchenförmiges Gebäude rund zwanzig Autominuten von Langley entfernt. Procter saß in einer Nische an der hinteren Wand vor einer Tasse Kaffee, als Clarke zum Eingang hereinkam. Kaum hatte er das schäumende Frittierfett und das brutzelnde Fleisch gerochen, rümpfte er die Nase. Der Laden war gut gefüllt, und unter der Kundschaft waren viele wie Procter, denen ein paar Pfund weniger auf den Rippen nicht geschadet hätten. Clarke ließ sich auf die Sitzbank gleiten. »Sie sollten sich vielleicht ein bisschen mehr Mühe geben, so zu tun, als würden Sie hierhergehören«, meinte Procter. »Dann fallen Sie nicht so auf.« »Na ja, aber ich gehöre nun mal nicht hierher, oder? Das sieht doch jeder. Sie auch, nehme ich an. Was mich zu der Frage bringt: Warum hier?« Procter ließ den Blick durch das Lokal gleiten. »Weil es hier die besten Steak-Sandwiches gibt, die Sie je gegessen haben. Sie sollten unbedingt
eins probieren. Allein dafür lohnt sich der Weg zur Arbeit.« Clarke schaute zu einem Tisch hinüber, wo ein paar Typen in Overalls Hamburger mit Pommes frites und einigen Alibi-Salatblättchen aßen. Die Brötchen sahen schlapp und labberig aus, und die Fritten waren magersüchtige Kartoffelstäbchen, umhüllt von einer dicken Schicht Öl. Hinter der Theke stand ein dicker, schwitzender Latino und wendete Hackfleischscheiben. Clarke verzog das Gesicht. »Ich glaube, ich verzichte lieber auf meinen vorzeitigen Herzinfarkt.« »Jetzt schmeißen Sie doch wenigstens ein Mal Ihr Spießertum und Ihre Vorurteile über Bord, Peter.« »Ich habe also Vorurteile gegen Gefäßablagerungen. Zeigen Sie mich doch an.« Eine Kellnerin kam an ihren Tisch. Sie war groß und jung und so hübsch, dass Procter sie kurz von oben bis unten musterte, aber für seinen Geschmack hatte sie zu magere Hüften und zu wenig Busen. Er sparte sich einen zweiten Blick. Clarke beachtete sie gar nicht. Sie setzte ein freundlich strahlendes Lächeln auf. »Kann ich Ihnen einen Kaffee bringen?«
Clarke nickte. »Und für mich auch noch einen«, fügte Procter hinzu. Sie schenkte Clarkes Tasse voll und goss Procter frischen Kaffee nach. Er kippte jede Menge Sahne und Zucker dazu. In diesem Diner machten sie den Kaffee dick, stark und genau so, wie Procter ihn mochte. Er war ja nicht automatisch weniger wert, bloß, weil er keinen italienischen Namen hatte, nicht in einem gewachsten Pappbecher serviert wurde und nicht das Dreifache kostete. Clarke trank seinen schwarz, wie immer. »Wie schmeckt der Kaffee?«, wollte Procter wissen. »Wie Pisse.« »Er geht auf meine Rechnung, also genießen Sie ihn.« »Wir sind doch nicht hier, um die Qualität des Kaffees zu diskutieren.« Clarke stellte seine Tasse auf den Tisch. »Wie ist die Lage?« »Dank der Informationen, die wir aus Saul Gallo herausgequetscht haben, haben wir innerhalb sehr kurzer Zeit große Fortschritte gemacht«, fing Procter an. »Anscheinend sind Ariffs Leute schon eine
ganze Zeit lang in Verhandlungen mit einem weißrussischen Gangster namens Danil Petrenko. Petrenko hat Zugang zu großen Vorräten an Schusswaffen, die Ariff gerne in sein Programm aufnehmen möchte. Morgen Abend ist in Minsk ein persönliches Treffen zwischen Petrenko und Ariffs bestem Mann geplant, einem Libanesen namens Gabir Yamout. Ja, genau der Yamout, der, wie wir wissen, schon seit Jahren als Ariffs rechte Hand fungiert. Jetzt sind die beiden Geschäftspartner, behauptet zumindest Callo. Beide sind Christen, und ihr Verhältnis ist so eng, dass man es beinahe familiär nennen könnte. Deshalb ist Yamout – und ich bin mir sicher, dass Sie mir in diesem Punkt zustimmen werden – das perfekte Ziel, um die nächste Stufe einzuleiten. Wir wissen weder, wie Yamout nach Weißrussland kommt, noch, wo er absteigen wird, aber wir wissen, dass Petrenko die beste Suite im Hotel Europe in Minsk gebucht hat, für eine einzige Nacht. Und zwar für morgen. Also wird Tesseract im Hotel zuschlagen, solange Yamout dort ist.« Clarkes längliches Gesicht zeigte keine Regung. »Die Vorstellung, in einem Hotel ein Attentat
durchzuführen, behagt mir gar nicht. Schon gar nicht mit einer so kurzen Vorlaufzeit. Das könnte ein ziemliches Blutbad werden.« »Genau das hat Tesseract auch gesagt. Also gut. Haben wir ideale Voraussetzungen? Nein, haben wir nicht. Aber Yamout verlässt den Nahen Osten, und das ist eine Gelegenheit, die wir uns nicht entgehen lassen dürfen.« »Ein Attentat in einem Hotel, das ist ein gefundenes Fressen für die Medien.« »Davon gehe ich aus«, erwiderte Procter. »In ganz Europa werden die Fernsehsender darüber berichten, und darum wird auch Ariff schon sehr bald wissen, was passiert ist. Und genau das wollen wir ja.« »Okay«, sagte Clarke. Allem Anschein nach hatte er sich Procters Logik gebeugt. »Yamout ist bestimmt nicht alleine unterwegs. Und Petrenko auch nicht. Könnte also sein, dass Tesseract es mit einem ganzen Haufen Leute zu tun bekommt. Könnte durchaus zu viel werden, sogar für Ihren MVP.« Procter zuckte die Achseln und meinte: »Ich habe keinen Anlass, an ihm zu zweifeln. Er muss ja nicht
erst alle anderen umnieten, bevor er sich Yamout widmet. Und außerdem … wenn so eine Sache eine Nummer zu groß für ihn ist, dann wird es Zeit, dass wir das erfahren.« »Dann setzen wir also bewusst sein Leben aufs Spiel?« »Wenn Sie es so ausdrücken wollen.« »Nein, was ich ausdrücken will, ist, dass Sie unsere Ziele aufs Spiel setzen.« Procter stieß den Atem aus. »Unsinn. Vergessen Sie nicht, dass Tesseract lediglich versuchen soll, Yamout zu töten. Der Versuch ist das Entscheidende. Ja, sicher, Yamout ist die Zielperson, und sein Tod hätte für uns eine große Bedeutung, aber unser Plan funktioniert auch, wenn das Attentat fehlschlägt. Es ist nur wichtig, dass Yamout und Ariff es mitbekommen.« »Weiß Tesseract das?« »Natürlich nicht.« »Warum nicht?« »Verraten Sie mir mal Folgendes, Peter: Wenn Sie dafür bezahlt würden, mit einem Bären zu kämpfen, ohne wirklich mit dem Bären kämpfen zu müssen, würden Sie den Kampf dann überhaupt
antreten? Nein, Sie würden das Geld nehmen und einfach abwarten. Wenn Tesseract wüsste, dass er die Sache eigentlich gar nicht bis zum bitteren Ende durchziehen müsste, dann brennt er vielleicht einfach bloß ein kleines Feuerwerk ab. Und wenn das nicht überzeugend ist, dann sind wir ziemlich am Arsch. Das kann ich nicht riskieren. Er kann Erfolg haben oder scheitern, aber das Attentat muss wirklich ernst gemeint sein. Das ist die beste Chance, Ariffs Organisation so empfindlich zu treffen, dass er nach unserer Pfeife tanzt.« »Aber Tesseract wird früher oder später anfangen zu glauben, dass wir ihn austricksen wollen.« »Wollen wir ja auch.« Clarke richtete sich auf. »Das wird ihm aber nicht gefallen.« »Wenn er aufmüpfig wird, dann machen wir ihm noch einmal unmissverständlich deutlich, wer eigentlich wem etwas zu sagen hat.« »Und das wird ihm noch viel weniger gefallen.« Procter runzelte die Stirn und beugte sich vor. »Glauben Sie denn wirklich, dass ich mir nicht schon längst über alles, was Sie gerade gesagt haben, im Klaren bin?«
Clarke beugte sich ebenfalls nach vorn. »Oh, dass Sie daran gedacht haben, das glaube ich wohl, Roland. Es ist bloß so, dass wir zu diametral entgegengesetzten Schlussfolgerungen kommen.« »In diesem Punkt täuschen Sie sich, mein Freund. Wir ziehen genau die gleichen Schlussfolgerungen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Sie sich deswegen Sorgen machen, während ich mich darüber freue.« »Sie freuen sich also darüber, dass irgendwo da draußen ein wutschnaubender Profikiller unterwegs ist, der möglicherweise tut, was man ihm sagt, aber möglicherweise auch nicht?« Procter wählte seine Worte mit Bedacht. »Ich kann gut damit leben.« »Dann verraten Sie mir doch mal, was wir machen sollen, wenn seine Wut größer ist, als wir glauben.« »Dann ziehe ich die Notbremse.« Clarke seufzte. »Ich glaube, so langsam ist es an der Zeit, dass Sie mir verraten, wie diese Notbremse aussehen soll.« »Das kann ich nicht.« Clarke lief knallrot an. »Und warum nicht, verdammt noch mal?«
»Wir stehen bei dieser Sache zwar auf einer Seite, aber manche Dinge sollte man besser für sich behalten, und zwar zur beiderseitigen Sicherheit. Was Ihnen ja sehr wohl bewusst sein dürfte.« »In diesem Fall finde ich dieses Argument nicht stichhaltig, Roland.« »Na gut, wenn wir schon alle Karten auf den Tisch legen müssen, dann will ich wissen, wer diese Operation von Ihrer Seite aus finanziert.« Clarke verstummte kurz. »Sie wissen, dass ich das nicht verraten darf. Wir haben uns doch auf absolute Anonymität verständigt, zum Schutz aller beteiligten Parteien, für den Fall, dass etwas schiefgehen sollte. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich kann.« »Verschonen Sie mich mit Ihren Vorträgen. Wer?« »Ich werde diese Frage nicht beantworten«, erwiderte Clarke. »Also verschonen Sie mich mit Ihren Fragen. Und, wenn ich Sie daran erinnern darf: Unser Sponsor weiß auch nicht, wer Sie sind.« »Na gut, dann verraten Sie’s mir eben nicht«, lenkte Procter ein. »Aber dann habe ich ebenso das
Recht zu schweigen.« »Das ist aber nicht dasselbe«, protestierte Clarke. »Wenn ich weiß, was Sie mit Tesseract vorhaben, falls er sich zum Problem entwickeln sollte, stellt das noch keine Gefährdung für mich dar.« »Vielleicht nicht«, gestand Procter ein und lächelte. »Aber ich will Ihnen die Überraschung nicht verderben.« Clarke schwieg für einen Augenblick. »Warum habe ich bloß das Gefühl, dass Sie mich genauso an der Nase herumführen wie diesen Tesseract?« »Weil Sie schon zu lange in diesem Geschäft sind, Peter. So wie ich. Aber wir stehen auf derselben Seite. Wir wollen beide diesen abscheulichen Waffenschiebern das Handwerk legen, und das, was wir vorhaben, ist der Weg – der einzige Weg –, wie wir dieses Ziel tatsächlich erreichen können.« Clarke schien beschwichtigt zu sein, zumindest für den Augenblick. Procter sagte: »Sie haben noch gar nichts zu Kasakov gesagt. Tappt er immer noch im Dunkeln, was das Farkas-Attentat angeht?«
»Das berichten mir meine Quellen«, begann Clarke und ließ sich gegen die Lehne sinken, »aber ich gehe davon aus, dass das Licht der Erkenntnis nicht mehr lange auf sich warten lässt.«
Kapitel 19 Moskau, Russland
Auf den kurzen Jab folgte eine rechte Gerade, die Vladimir Kasakov knapp oberhalb der linken Schläfe traf. Der Schlag streifte ihn kaum, aber Kasakov hatte ihn nicht kommen sehen, und das waren immer die, die am meisten wehtaten. Der Boxer, der den Schlag ausgeführt hatte, wog gut und gerne hundertfünfzehn Kilogramm. Er war SchwergewichtsProfi und bekannt für seine Knock-out-Qualitäten. Die sechzehn Unzen beziehungsweise 453,6 Gramm schweren Boxhandschuhe dämpften den Schlag, der die Sinne des ukrainischen Waffenhändlers erschütterte, auch nicht wesentlich ab. Er verschanzte sich hinter einer dichten Deckung, während sein Gegner eine ganze Serie harter Haken und rechter Geraden auf ihn niederprasseln ließ. Kasakov wich zurück und hielt den Russen mit der Führhand auf Distanz. Sein Gegner war genau zwei Meter groß und damit sieben Zentimeter größer als er, aber sie verfügten über dieselbe Armlänge. So konnte Kasakov seinen kurzen, explosiven Jab oft
und effektiv einsetzen. Es war sein Lieblingsschlag, hart und zielgenau, und auch wenn er damit niemanden k. o. schlagen konnte, war er eine sehr gute Vorbereitung für andere, wirkungsvollere Treffer. Außerdem – jeder, der pro Runde zehn solche Schläge ins Gesicht bekam, zeigte irgendwann Wirkung und wurde gleichzeitig in die Defensive gedrängt. Der Russe setzte nach, stieß selbst ein paarmal die Führhand in Kasakovs Deckung, allerdings ohne rechte Überzeugung. Er wollte immer nur die schweren Treffer setzen, doch Kasakov besaß nicht nur die besseren Jabs, sondern auch die bessere Beinarbeit und verhinderte so, dass der Russe einen festen Stand für seine harten Schläge bekam. Aber er stellte sehr gut den Ring zu, bewegte sich seitwärts und drängte Kasakov dadurch immer dichter an die Seile, wo dieser unter gar keinen Umständen enden wollte. Er wich nicht mehr weiter zurück, sondern ließ seinen Jabs ein paar Gerade und Haken folgen, ohne jedoch die konventionelle Deckung des Russen ernsthaft in Bedrängnis zu bringen. Kasakov war es nicht gewohnt nachzugeben,
weder im Ring noch außerhalb, und so blieb er stehen, teilte aus und steckte ein. Das Adrenalin flutete seine Blutbahnen. Ein paar seiner Handlanger in der Ringecke riefen irgendwelche Anweisungen, doch der Waffenhändler hörte gar nicht hin. Beim Boxen hörte er auf niemanden. Seinem ehemaligen Amateurtrainer hatte er zugehört, aber der war schon lange tot, und Kasakov hatte nie das Bedürfnis gehabt, sich einen Ersatz zu besorgen. Er boxte seit seinem sechsten Lebensjahr, und mit seinen vierzig Jahren Ringerfahrung gab es kaum etwas, was er nicht ohnehin schon wusste. Er hatte eine lange und erfolgreiche Amateurkarriere hinter sich, hatte regionale und sogar nationale Titel gewonnen, aber die Olympischen Spiele durch eine Ellbogenverletzung während der Ausscheidungskämpfe leider verpasst. Mit der Einberufung in die Sowjetarmee und seinem Einsatz in Afghanistan hatte seine Amateurboxerkarriere allerdings ein jähes Ende gefunden. Man hatte ihn für den Bereich Logistik eingeteilt, und als die Sowjets schließlich den Rückzug antraten, hatte er es bis zum Major
gebracht. Als das Reich auseinanderfiel, befand sich Kasakov in der idealen Position, um die übrig gebliebenen Waffenbestände, für deren Transport und Lagerung er zuständig gewesen war, an sich zu bringen und zu verkaufen. Der Markt für leichte Waffen war damals bereits zu stark gewesen, um mit den Großen ernsthaft konkurrieren zu können, doch beim schweren Gerät witterte Kasakov seine Chance. Die ersten Kunden waren seine alten Feinde aus Afghanistan. Er verkaufte ihnen mit großem Erfolg T-55- und T-62-Panzer der Roten Armee. Als die Taliban das Land übernahmen, belieferte er seine alten Kunden, die mittlerweile zur Nord-Allianz geworden waren, weiter. Aber Kasakov war ein Mann, der gute Gelegenheiten beim Schopf packte, und so kam er auch mit den Taliban ins Geschäft. Ihnen lieferte er Panzerabwehrraketen, um anschließend der Nord-Allianz Mörser zum Kampf gegen die Panzerabwehr-Einheiten zu beschaffen. Sobald eine Partei die Oberhand zu gewinnen schien, hielt er Nachschublieferungen zurück und senkte die Preise für die anderen, nur um den Konflikt in die Länge zu ziehen und seine florierenden Geschäfte am Leben zu erhalten.
Bald schon expandierte er auch nach Afrika und flog mithilfe von Flugzeugen der stillgelegten sowjetischen Luftwaffe Waffen in Staaten, die einem Embargo der Vereinten Nationen unterlagen. Es dauerte nicht lange, da belieferte er auch Kunden in Asien und Südamerika. So langsam wurde die internationale Staatengemeinschaft auf ihn aufmerksam. Um nicht irgendwann ausgeschaltet zu werden, zog er sich aus dem aktiven Teil des Waffenschiebergeschäfts zurück und überließ das große Risiko den anderen. Er sorgte dafür, dass sein Name nirgendwo mehr auftauchte, weder in irgendwelchen Akten noch in Computerdateien. Er wusste gar nicht, wie viele Firmen er genau besaß, aber es mussten wohl an die hundert sein, registriert in einem Dutzend unterschiedlicher Staaten. Sobald irgendeine Behörde Wind davon bekam, womit sich eine dieser Firmen beschäftigte, machte Kasakov sie dicht und verschob ihre Aktivitäten zu einer anderen Firma in einem anderen Land. Das Netz der Besitzverhältnisse war so kompliziert, dass selbst Kasakov seine liebe Mühe hatte, immer auf dem aktuellen Stand zu bleiben.
Am Tag, als in New York die Twin Towers fielen, war er klug genug, sämtliche Verbindungen zu den Taliban und allen, die irgendetwas mit islamischen Terroristen zu tun hatten, abzubrechen, aber da war es schon zu spät. Die internationalen Stimmen, die seine Festnahme forderten, wurden immer lauter, ungeachtet seiner Präventivmaßnahmen. Kasakov war sich des wachsenden Drucks sehr wohl bewusst und verlegte seinen Wohnsitz aus seiner ukrainischen Heimat nach Russland. Da er dem russischen Staat durch die Vermittlung von Waffengeschäften Milliarden eingebracht hatte, bekam er problemlos die russische Staatsbürgerschaft. Und da Moskau niemals einen russischen Bürger auslieferte, war er in Sicherheit. Doch diese Sicherheit erstreckte sich nicht bis in den Ring, wo der russische Riese gerade eine Lücke in Kasakovs Deckung gefunden und eine mächtige Rechte hindurchgeschickt hatte. Kasakov sah sie kommen, aber trotzdem knickte sein Kopf nach hinten weg, und er bekam für einen Augenblick weiche Knie. Es war sein erster Sparringskampf gegen den Russen, und jetzt wusste er auch, weshalb seine Leute immer versucht hatten, ihn
davon abzuhalten. Der Kampf war härter als erwartet. Viel härter. Kasakov wünschte, er hätte in den vergangenen Wochen mehr Zeit auf das Training verwendet, doch das fehlgeschlagene Attentat in Bukarest und das abflauende Geschäft hatten seine ganze Aufmerksamkeit erfordert. Er schüttelte diesen Gedanken ab. Na gut, dann würde es eben heute zur Abwechslung mal kein Spaziergang werden. Hartes Training und Kämpfe waren für Kasakov eine ziemlich einsame Angelegenheit geworden, nachdem er viele Jahre lang zusammen mit seinem Neffen Illarion geboxt hatte. Der Junge hatte zwar nicht Kasakovs Leidenschaft für den Sport geteilt, aber er hatte immer alles gegeben. Als er der Pubertät entwachsen war, hatten sie öfter gegeneinander gekämpft. Illarion war zwar deutlich kleiner als sein Onkel, aber aufgrund seiner Schnelligkeit, seiner Jugend und seiner natürlichen Athletik immer ein fast gleichwertiger Gegner gewesen, sodass Kasakov sich nicht ständig hatte zurückhalten müssen. Wie Illarion sich wohl zu seinem Kampf gegen den Russen geäußert hätte? Garantiert nicht anerkennend, da war Kasakov sich
sicher. Er konnte sich aus den Seilen befreien und gelangte in die Mitte des Rings, wo er sich daranmachen wollte, den Kampf zu drehen. Der Ukrainer ließ bei seinen Kämpfen keine Punktrichter am Ring sitzen, weil ihm klar war, dass seine Untergebenen sowieso jeden Kampf zugunsten ihres Chefs gewertet hätten, aber er zählte sehr wohl mit, für sich selbst, zu seiner eigenen Befriedigung. In der ersten Runde hatte keiner einen nennenswerten Treffer landen können, darum wertete er sie unentschieden, aber die letzten beiden waren an den Russen gegangen, weil er jeweils die klareren Treffer gehabt hatte. 30 : 28 gegen Kasakov. Drei Runden noch. Er würde sie alle gewinnen müssen, um nach dem SechsRunden-Kampf den Ring als Sieger zu verlassen. Vielleicht hätte er mithilfe seiner Jabs auch ein Unentschieden erreichen können, aber Kasakov kämpfte, um zu gewinnen. Er attackierte vorsichtig, stieß immer wieder die Führhand vor und setzte durchaus den einen oder anderen Treffer, allerdings ohne große Wirkung, abgesehen davon, dass er den riesigen Russen
damit auf Distanz hielt. Dessen Gesicht glitzerte vom Schweiß, und seine Nase war durch die vielen Jabs gerötet, aber ansonsten hatte der Kampf bei ihm keine Spuren hinterlassen. Was Kasakov von sich nicht behaupten konnte. Der Russe verblüffte Kasakov jetzt ebenfalls mit einer Serie von Jabs. Kasakov hatte nichts gegen einen kleinen Jabbing-Wettbewerb einzuwenden, da er wusste, dass er über die bessere Technik verfügte. Der Waffenhändler setzte noch einmal vier Treffer am Kopf und einen am Körper seines Gegners. Vielleicht wurde das Ganze ja doch noch ein Spaziergang. Doch die mächtige ÜberhandRechte, die auf seiner linken Augenhöhle landete, zerstörte in einem einzigen, demütigenden Augenblick jeden Gedanken an einen leichten Kampf. Der Schlag tat verdammt weh und saugte sämtliche Kraft aus Kasakovs Beinen. Er konnte nicht mehr klar sehen und stolperte, hielt sich aber auf den Beinen und riss die Deckung hoch, während er versuchte, die Wirkung des schweren Treffers abzuschütteln. Der Russe deckte ihn jetzt mit einem Hagel an Schlägen ein, und mit
jeder Sekunde, die verging, vermehrten sich die stechenden Schmerzen an Kasakovs Armen, Schultern und am Kopf. Der Russe nützte Kasakovs hohe Deckung aus und landete ein paar schwere Körpertreffer auf seinen ungeschützten Rippen. Kasakov reagierte, indem er sich nach vorn warf und seinen Gegner umklammerte, ihm die Arme festhielt, damit er nicht mehr schlagen konnte, versuchte, Zeit zu schinden, bis er wieder klar sehen und denken konnte. Er lehnte sich gegen den Russen, damit sein Gegner nicht nur sein eigenes Körpergewicht, sondern auch Kasakovs tragen musste. Für seine siebenundvierzig Jahre war Kasakov außergewöhnlich fit, und er beherrschte die Kunst, sich die Kräfte für einen Kampf genau einzuteilen, meisterhaft. Ihm war klar, dass er zu diesem Zeitpunkt eigentlich frischer hätte sein müssen, aber die Körpertreffer hatten ihm die Ausdauer geraubt. Und wenn er anfing, mit dem Russen zu ringen, der an die zehn Kilogramm schwerer war als er, dann vergeudete er nur noch mehr Energie. Das funktioniert nicht, sagte sich Kasakov. Die Umstehenden feuerten ihn zwar immer noch
an, doch ihre Rufe klangen geschlagen, genauso geschlagen, wie Kasakov sich fühlte. Sein Kampfeswille war erloschen. Der Russe befreite sich aus Kasakovs Umklammerung und stieß ihn weg. Kasakov war immer noch ein wenig benommen von der harten Rechten, und seine Beine waren kraftlos. Der nächste Volltreffer würde ihn auf die Bretter schicken. Sein Gegner schleuderte die Führhand nach vorn und ließ eine weitere rechte Gerade folgen, die Kasakov gerade noch mit dem linken Handschuh ablenken konnte. So viel Glück hatte er beim nächsten Mal vermutlich nicht mehr. Der Waffenhändler beugte sich nach rechts, machte einen Schritt vorwärts und setzte einen kurzen, linken Aufwärtshaken an. Der Russe stöhnte, als der Boxhandschuh ihn mit voller Wucht in den Unterleib traf. Er trug natürlich, genau wie Kasakov, einen Unterleibsschutz, aber Metallschale hin und Polsterung her – ein Tiefschlag tat in jedem Fall höllisch weh. Der Russe ging in die Knie, das Gesicht rot angelaufen und schmerzverzerrt. Von außerhalb des Rings erklangen Jubelschreie, und einer der Speichellecker fing an zu zählen, laut und
vernehmlich.
»Eins … zwei … drei … vier … fünf …« Kasakov stand in der neutralen Ecke, die Ellbogen auf den obersten Seilstrang gestützt, und atmete schwer. Ein dicker Schweißfilm bedeckte jeden Quadratzentimeter seiner Haut. Der Russe blickte zu ihm auf, und Kasakov erkannte nicht nur Schmerz in seinem Gesicht, sondern auch Wut und Empörung. Er tat so, als hätte er es nicht bemerkt.
»Sechs … sieben … acht … neun … ZEHN.« Kasakov hob eine Hand, um den Jubel seiner Untergebenen entgegenzunehmen. Er empfand keine Freude darüber, dass er regelwidrig den Sieg errungen hatte, aber auch keine Scham. Im Kampf mit einem übermächtigen Gegner musste ein kluger Mann jede Möglichkeit nutzen, um Chancengleichheit herzustellen. Der Russe kassierte für den Sparringskampf mit Kasakov eine stattliche Summe, also musste er auch die Regeln des Ukrainers akzeptieren. Er kletterte aus dem Ring, nickte und lächelte seinen Untergebenen zu, die ihm zu einem großartigen Körpertreffer gratulierten. Einige hatten wahrscheinlich gar nicht gemerkt, dass der Schlag
regelwidrig gewesen war, aber die Mehrzahl hatte mit Sicherheit freie Sicht auf das Geschehen gehabt. Niemand machte eine Andeutung, dass der Schlag womöglich auf dem Gürtel gelandet sein könnte, geschweige denn weit darunter. Der Vorzug der Angst, dachte Kasakov. Wenn Illarion das gesehen hätte, er hätte ihm zwar nicht geschmeichelt, aber er hätte Kasakovs Willen, um jeden Preis zu gewinnen, respektiert. Ein Frontalzusammenstoß vor den Toren Kiews, bei dem Kasakovs einziger noch lebender Blutsverwandter – sein jüngerer Bruder – zusammen mit seiner Ehefrau ums Leben gekommen war, hatte Illarion zum Vollwaisen gemacht. Kasakov hatte sich entschlossen, das Richtige zu tun und den Jungen bei sich aufzunehmen. Vorher hatte Kasakov nichts für Kinder übriggehabt, aber die Gesellschaft des jungen Illarion schenkte ihm sehr viel mehr Freude, als er sich jemals hatte vorstellen können, und so betrachtete er ihn schon bald und entgegen all seinen Erwartungen wie einen Sohn. Kasakov hatte keine eigenen Kinder und war sicher, dass er unfruchtbar war, obwohl er sich jedem
Fruchtbarkeitstest standhaft widersetzte. Er und seine Frau sprachen nie über diese Situation, aber es war der einzige dunkle Fleck auf ihrer ansonsten perfekten Ehe, und er wurde unentwegt größer. Einer seiner Untergebenen band ihm die Handschuhe auf, und der Waffenhändler trocknete sich den schweißnassen Oberkörper, die Arme und das Gesicht mit einem weichen Handtuch ab. Es dauerte noch eine Minute, bis der Russe wieder aufstehen konnte. Als er geduscht und angezogen war, verließ Kasakov den Umkleideraum und trat auf zwei gut gekleidete Personen – einen Mann und eine Frau – zu, die erwartungsvoll in der Nähe standen. Sie waren beide Mitte vierzig, der Mann ebenfalls Ukrainer, die Frau eine Russin. Sie waren Kasakovs engste Vertraute. Eigentlich hatten alle beide gerade etwas anderes zu tun, daher war anzunehmen, dass irgendetwas Wichtiges vorgefallen war, und ihre langen Gesichter signalisierten ihm, dass sie nichts Gutes zu berichten hatten. Vermutlich ging es um den Attentatsversuch von neulich in Bukarest. Seine Leute hatten sich sehr ins
Zeug gelegt, um festzustellen, was dort eigentlich passiert war und wer dahintersteckte. Aber bis jetzt hatte sich kein Lebensretter bei ihm gemeldet, daher ging der Waffenschieber davon aus, dass er lediglich zufällig von dem Mordanschlag dieses Vormittags profitiert hatte. Aber trotzdem hätte er gerne mehr darüber gewusst. Die Tatsache, dass er um ein Haar getötet worden wäre, hatte Kasakov dazu veranlasst, seine Reisegewohnheiten und Sicherheitsmaßnahmen zu überdenken, wenngleich er sich keine allzu großen Sorgen machte. Die Liste seiner Feinde war lang, und er war schon mehr als einmal Ziel eines Attentats gewesen. Das letzte Mal war allerdings schon zehn Jahre her. Damals hatte eine französische Spezialeinheit ihm das halbe linke Ohr abgeschossen. Kasakov hätte gerne ein ruhigeres Leben geführt, doch sein Vermögen, das sich auf etliche Milliarden Dollar belief, machte es ihm leicht, die Risiken seiner Branche zu ertragen. Julia Eltsina ergriff als Erste das Wort. Sie war früher beim russischen Geheimdienst gewesen und arbeitete jetzt seit fast acht Jahren für Kasakov. Sie war knapp dreißig Zentimeter kleiner als er, schlank,
und in ihrer einst offensichtlichen Schönheit wurden die ersten altersbedingten Risse sichtbar. Eltsina umgab sich nach wie vor mit einer raubvogelhaften Aura, die großes Wissen und gleichzeitig eine beiläufige Brutalität ausstrahlte. Mit ebendieser Ausstrahlung war sie einst durch die Ränge des KGB und später des SVB bis ganz nach oben gelangt. Kasakov empfand keine Sympathie für Eltsina und fand ihre humorlose Art oftmals ermüdend. Aber bei der Entwicklung immer neuer Strategien für Fortbestand und Ausbreitung des blühenden Waffenschmuggels vor den Augen der internationalen Gemeinschaft war sie ein Genie. Durch ihre zahlreichen Kontakte in die Geheimdienstorganisationen Russlands und seiner Nachbarstaaten war es ihr möglich, Kasakov mit vielfältigen Informationen über seine Geschäftspartner, Rivalen, Lieferanten und Kunden zu versorgen, die ansonsten für ihn unerreichbar gewesen wären. »Es ist etwas passiert, was du wissen solltest.« »Einzelheiten«, gab Kasakov zurück. Sie überreichte ihm ein Dossier. »In dieser Akte befindet sich ein Polizeibericht über eine
Bombenexplosion, die letzte Woche in Deutschland stattgefunden hat. Dabei ist ein ungarischer Staatsbürger ums Leben gekommen, ein gewisser Adorján Farkas, hochrangiges Mitglied einer der führenden Mafia-Familien in Ungarn. Farkas hat seit zwei Jahren billige Sturmgewehre an Baraa Ariff geliefert. Meine Kontaktleute haben mir erzählt, dass Ariff den Mord an Farkas angeordnet hat, weil Farkas Ariff übergehen und sich direkt an dessen Kunden wenden wollte.« Kasakov interessierte sich nicht für Ariffs Geschäftspraktiken, darum wartete er geduldig ab, welchen Grund Eltsina sah, ihn mit diesen Informationen zu füttern. Ariffs Geschäftsfelder überschnitten sich nicht mit Kasakovs. Kasakov hatte zwar gelegentlich versucht, in das Geschäft mit leichten Waffen einzusteigen, war jedoch jedes Mal gescheitert. Ariffs Netzwerk hatte bereits bestanden, bevor Kasakov überhaupt ins Waffengeschäft eingestiegen war, und es war zu groß gewesen, um dagegen anzukommen. Kasakovs zweiter Berater, Tomasz Burliuk, sagte: »Außerdem enthält das Dossier die chemische
Analyse des Sprengstoffs, mit dem Farkas getötet worden ist. Diese Analyse des Bundeskriminalamtes zeigt – und das ist auch der Grund, weshalb wir darauf aufmerksam geworden sind –, dass Farkas mit Hexogen ermordet worden ist, und zwar aus einer Charge, die ausschließlich für die russische Armee bestimmt war. Dem Hexogen wurde zu Markierungszwecken eine ganz bestimmte chemische Verbindung beigemischt. Vor ein paar Jahren gab es mal eine Vereinbarung zwischen einigen Staaten, Sprengstoffe zu markieren, um den internationalen Terrorismus zu bekämpfen. Man hat ein paar Chargen produziert und die Idee dann wieder fallen gelassen. Das überschüssige markierte Hexogen haben wir damals aufgekauft.« Burliuk war seit Kindertagen mit Kasakov befreundet. Er war nicht ganz so groß wie Kasakov und besaß das lässige Selbstbewusstsein eines Mannes, der wusste, dass er gut aussah und mit jedem Jahr attraktiver wurde. Er war makellos gekleidet, seine Frisur saß perfekt, und jedes Barthaar war exakt gestutzt. Er war seit den Anfangstagen an Kasakovs Seite, länger, als Kasakov zurückdenken konnte. Er war
ein guter Mann und harter Arbeiter und hatte zunächst als Buchhalter und Zahlenjongleur begonnen. Der Umgang mit Geld war alles andere als Kasakovs Stärke, aber Burliuk beherrschte ihn meisterhaft. Mittlerweile verwaltete Burliuk nicht nur die Finanzen, sondern regelte auch den Großteil des Tagesgeschäfts, sodass Kasakov nur noch die wirklich wichtigen Entscheidungen zu treffen hatte. »Das Hexogen wurde dann nach Istanbul geschickt, wo wir es über einen Mittelsmann verkaufen wollten, damit der Vorgang nicht bis zu uns zurückverfolgt werden kann«, fuhr Burliuk fort. »Aber in Istanbul wurde es von Unbekannten gestohlen«, fügte Eltsina hinzu. Burliuk kam zum entscheidenden Punkt. »Und das war, wie du weißt, die Aktion, bei der dein Neffe Illarion erschossen worden ist.« Gleich bei der ersten Erwähnung der Stadt Istanbul hatte Kasakov aufgehört, in der Akte zu blättern. Der Schmerz, der ihn überkam, war schlimmer als jeder Faustschlag. Er fühlte sich schwach, und ihm war schwindelig. Er sah Illarions lebloses Gesicht vor sich, hatte die Löcher, die die Kugeln in seine leichenblasse Haut geschlagen
hatten, plastisch vor Augen. »Wie sicher sind diese Informationen?«, stieß Kasakov mühsam hervor. Eltsina ergriff das Wort. »Die Sprengstoffanalyse des BKA ist über jeden Zweifel erhaben. Farkas wurde Ende letzter Woche in Berlin umgebracht, mit dem markierten Hexogen, das in Istanbul gestohlen wurde, damals, als Illarion ermordet worden ist. Bis jetzt hat die Polizei keine Verdächtigen für das Bombenattentat genannt. Meine Kontaktleute haben mir gesagt, dass es innerhalb der ungarischen Mafia allgemein bekannt war, dass Farkas in Deutschland neue Waffen kaufen wollte. Er wollte ein eigenes Vertriebsnetz aufbauen und Ariff umgehen. Farkas’ Mafia-Kollegen sind davon überzeugt, dass Ariff das Attentat veranlasst hat, und wollen sich an ihm rächen. Aber sie wissen nicht, wo er sich aufhält, sonst hätten sie schon längst zugeschlagen.« Kasakov nickte. Er war zufrieden mit den Indizien, die sie ihm präsentiert hatte. »Wenn also Ariff Farkas mit meinem Hexogen umgebracht hat, dann steckt er auch hinter dem Diebstahl. Und dann war er es auch, der Illarion ermordet hat.« »Wir dürfen jetzt nichts Unbedachtes tun«, sagte
Burliuk hastig. »Ariffs Organisation ist genauso stark wie unsere. Sein Einfluss ist womöglich sogar noch größer als unserer. Solange die Nordkoreaner jeden unserer Schritte beobachten, können wir uns keinen Krieg mit ihm erlauben. Beim geringsten Anzeichen für irgendwelche Konflikte brechen sie die Kaufverhandlungen ab. Aber wir brauchen dieses Geschäft dringend. Die sind ja sowieso schon sauer, weil du aus Bukarest abgereist bist, ohne dich mit ihrem Verhandlungsführer zu treffen. Vladimir, bitte, hör mir zu. Du musst …« Aber Kasakov hörte nicht zu. Er gab ihm die Akte zurück. »Sucht Ariff und tötet ihn«, sagte er ungerührt. »Das hat allererste Priorität. Alles andere ist mir egal. Besorgt euch die besten Leute. Koste es, was es wolle. Zuerst foltert ihr seine Angehörigen, dann bringt ihr sie um. Und sorgt dafür, dass er dabei zusieht.«
Kapitel 20 Minsk, Weißrussland
Von Victors Standort sah es so aus, als ob das Hotel Europe seine fünf Sterne zu Recht trug. Das siebenstöckige, Anfang des 20. Jahrhunderts erbaute Jugendstilgebäude befand sich an der Nordwestecke eines Häuserblocks, direkt an der Kreuzung von Vulica Lenina und Vulica Internacyjanainaja. Strahlend weiße, hoch aufragende Steinmauern und darüber ein grau gedecktes Dach. Üppig belaubte Bäume säumten den Bürgersteig. Der junge Türsteher vor dem Haupteingang stand in militärischer Haltung kerzengerade da und trug ein freundliches Lächeln im Gesicht. Victor ging zunächst in nordöstlicher Richtung die Internacyjanainaja entlang, umrundete den ganzen Block und schwenkte dann auf der Lenina nach Nordwesten. Er holte sich unterwegs einen Becher Kaffee und wartete eine halbe Stunde, bevor er die Lenina in der Gegenrichtung entlangschlenderte, um sich dann auf der Internacyjanainaja nach Südwesten zu wenden. Eine Stunde später wiederholte er das Ganze noch
einmal. Er wollte so viel wie möglich über das Gebäude und die unmittelbare Umgebung in Erfahrung bringen und nahm sämtliche umliegenden Straßenzüge genau unter die Lupe. Das Hotel befand sich mitten im kulturellen Zentrum von Minsk. Überall schienen Gotteshäuser zu stehen. Zwei Querstraßen weiter westlich überragten die Türme der aus dem 18. Jahrhundert stammenden russisch-orthodoxen Kathedrale die umliegenden Häuser, und ein Stück weiter nördlich an der Lenina war die römisch-katholische Kathedrale der Heiligen Jungfrau Maria zu erkennen. Diagonal über der Kreuzung befand sich das Rathaus der Stadt und auf der anderen Seite der Leninstraße eine Filiale des berühmten Kaufhauses GUM. Victor kam am Nationalen Akademischen Yanka-Kupala-Theater vorbei, an der Nationalgalerie der Republik Weißrussland, an der Staatlichen Musikakademie und an dem gewaltigen, stalinistisch anmutenden Palast der Republik. Wie nicht anders zu erwarten, wimmelte es überall nur so von Touristen. Die zahlreichen Besucher aus Weißrussland und anderen Ländern waren sehr vielfältig gekleidet,
aber dennoch waren genügend Männer im Anzug unterwegs, um ihn in der Menge untertauchen zu lassen. Die Temperatur lag bei angenehmen zweiundzwanzig Grad, und Victor ließ sein Jackett offen. Obwohl eine Sonnenbrille nicht zwingend notwendig war, fiel man damit auch nicht weiter auf. Die Informationen, die sein Auftraggeber ihm geliefert hatte, besagten, dass das Treffen in der Präsidentensuite im sechsten Stock stattfinden sollte. Petrenko hatte die Suite für eine einzige Nacht gebucht, und zwar für maximal fünf Personen einschließlich seiner selbst. Yamout reiste üblicherweise mit fünf bis sechs Begleitern. Das ergab also für Yamout sechs bis sieben und für Petrenko drei bis fünf. Im besten Fall neun Personen, im schlechtesten zwölf. Bei solchen Voraussetzungen hätte Victor normalerweise mindestens zwei Wochen Vorbereitungszeit veranschlagt, um einen vernünftigen Plan auszuarbeiten. In dieser Zeit hätte er jedes nur denkbare Szenario durchgespielt, jede Möglichkeit sorgfältig analysiert, sich durch ein Dutzend unterschiedlicher Ansätze gearbeitet. Dann hätte er den erfolgversprechendsten Plan zum
bestmöglichen Zeitpunkt in die Tat umgesetzt. Aber dieses Mal war alles anders. Er hatte nur einen Abend, nur eine einzige Möglichkeit, um Yamout zu töten. Wenn es schnell gehen musste, dann blieben ihm eigentlich nur zwei Optionen: aus großer Nähe oder aus großer Entfernung. Aber er hatte nur sehr wenige Standorte gesehen, die für einen Scharfschützen geeignet waren, und keiner davon garantierte freie Sicht auf Yamout. Die aktuellste Aufnahme, die die CIA von ihm hatte, war zehn Jahre alt, und Victor schloss daraus, dass Yamout auf einer solchen Reise garantiert Vorsichtsmaßnahmen ergreifen würde. Eine relativ einfache Maßnahme konnte zum Beispiel sein, das Hotel nicht durch den Haupteingang zu betreten und zu verlassen. Es besaß verschiedene Eingänge, also woher sollte Victor wissen, welchen Yamout benutzen würde? Ein Distanzschuss beim Betreten oder Verlassen des Hotels kam also nicht infrage, daher blieb höchstens noch die Möglichkeit, Yamout durch die Fenster der Präsidentensuite hindurch zu erschießen. Es gab etliche Häuser, die einen geeigneten Blick auf den sechsten Stock des Hotels
boten, aber im Augenblick waren sämtliche Vorhänge zugezogen. Wenn es dabei blieb, dann hatte Victor keine Chance. Selbst, wenn Petrenkos Leute die Vorhänge öffnen sollten – was ausgesprochen unwahrscheinlich war –, gab es keine Garantie, dass sie nicht vor dem Treffen wieder geschlossen wurden. Und ob Yamout überhaupt so hilfsbereit wäre und sich gut sichtbar ans Fenster stellte, war ebenfalls mehr als zweifelhaft. Ihm blieb nur ein Attentat aus nächster Nähe. Also musste er sich an den Leibwächtern vorbei bis zu Yamout durchkämpfen. Wenn sie auch nur die geringste Ahnung von Gefechtstaktik hatten, dann würden sie eine Einheit vor der Tür postieren, als erste Verteidigungslinie und Frühwarnsystem, wahrscheinlich zwei Mann, einer von Yamout und einer von Petrenko. Dann würden ein paar Leute mehr, vielleicht fünf insgesamt, die zweite Schicht bilden, vermutlich im Wohnzimmer der Suite, und erst dahinter würden Yamout, Petrenko und ihre engsten Vertrauten sich zusammensetzen und das Geschäftliche besprechen, im Esszimmer vielleicht
oder in einem der Schlafzimmer. Egal, wie er die Sache betrachtete, es war ein strategischer Alptraum. Wenn er zu Yamout vordringen wollte, dann musste er zuerst ein rundes Dutzend anderer Gegner überwinden, von denen vermutlich jeder eine Schusswaffe hatte, die er ohne zu zögern benutzen würde. Petrenkos Leute würden wohl kaum ihr Leben riskieren, um Yamout zu beschützen, aber während des Kampfes würden sie alle davon ausgehen, dass die Bedrohung auch ihnen galt, und sich entsprechend zur Wehr setzen. Selbst wenn Yamout und Petrenko sich aus den Kämpfen heraushielten, hatte Victor es mit bis zu neun bewaffneten Gegnern zu tun. In unmittelbarer Nähe. Im Dossier stand, dass Yamout nur erstklassige Bodyguards beschäftigte, alle mit militärischer Ausbildung. Sie kosteten ihn zwar ein kleines Vermögen, gerieten aber bei einem Feuergefecht nicht sofort in Panik. Petrenkos Mannschaft besaß vermutlich nicht ganz dieses Kaliber, aber als Angehörige der weißrussischen Mafia wussten sie wahrscheinlich auch, wie man eine Pistole entsicherte. Und um in einem geschlossenen Raum, wo die maximale Entfernung
nicht mehr als drei Meter betragen würde, ein mannsgroßes Ziel zu treffen, bedurfte es keiner Scharfschützenausbildung. Man brauchte lediglich zu zielen und abzudrücken. Er hatte nur dann eine Chance, wenn er schnell war und das Überraschungsmoment voll ausnutzte. Zuschlug, wenn sie am wenigsten damit rechneten. Und nicht danebenschoss. Victor hatte zwar die Grundrisse des Hotels erhalten, aber zweidimensionale Abbildungen von dreidimensionalen Räumen besaßen nur eine begrenzte Aussagekraft. Die Suite war jetzt noch belegt. Sobald die Gäste abgereist waren, würde das Zimmermädchen sauber machen, noch bevor Petrenko eintraf. Victor wusste nicht, wann das sein würde, aber es bestand immerhin die Chance, dass er sich kurz mit dem Schauplatz des geplanten Anschlags vertraut machen konnte. Allerdings nur dann, wenn Petrenko nicht zu früh eintraf. Aber auch ohne Präsidentensuite wollte er sich auf jeden Fall einen Eindruck von dem Hotel verschaffen, bevor es Zeit war zuzuschlagen. Der Türsteher lächelte Victor freundlich an und
hielt ihm die Tür auf. Victor nickte und betrat das riesige, beeindruckende Foyer. Durch die elegante Glaskuppel in rund dreißig Metern Höhe fiel Tageslicht herein. Jedes Stockwerk verfügte über einen ringförmigen Balkon zum Innenraum hin, von dem die Hotelgäste in die Eingangshalle hinunterblicken konnten. Zwei gläserne Fahrstühle schwebten mitten im Raum nach oben. An verschiedenen Stellen waren luxuriöse Sofas und Polstersessel platziert. Auf Victors linker Seite befand sich eine Lobbybar, direkt gegenüber lag der lang gestreckte Empfangstresen. An der Wand zwischen den Fahrstühlen zog sich ein riesiges florentinisches Mosaikgemälde bis hinauf an die Decke hoch über Victors Kopf. Er wurde nicht langsamer, um nicht für einen Neuankömmling gehalten zu werden und die Blicke der beiden Rezeptionistinnen auf sich zu ziehen. Er schlenderte weiter, während er ununterbrochen umherblickte und das, was er sah, mit dem verglich, was auf den Grundrissen zu erkennen beziehungsweise nicht zu erkennen gewesen war. Das Foyer war belebt, aber nicht überfüllt. In gleichmäßigem Strom betraten oder verließen
Menschen die Restaurants und Bars, näherten sich den Fahrstühlen oder entfernten sich davon. Andere warteten, saßen in der Lobbybar oder hatten es sich auf einem der geschmackvollen Sofas gemütlich gemacht. Die Zimmerpreise garantierten dem Hotel eine zahlungskräftige Stammkundschaft. Und diejenigen, die nicht ganz so wohlhabend wirkten, waren vermutlich Touristen, deren Heimatwährung in Weißrussland mehr wert war als zu Hause. Vorher hatte Victor auch die Möglichkeit erwogen, Yamout im Foyer zu erschießen, aber der Raum war zu groß, zu offen, und da Victor nicht wusste, auf welchem Weg Yamout es überhaupt betreten würde, hatte er keine Chance, das Ganze vernünftig einzurichten. Wahrscheinlich würden Yamout und seine Leute den Fahrstuhl benutzen, aber selbst das war nicht sicher. Und außerdem gab es da noch ein weiteres Problem. Sicherheitspersonal patrouillierte in regelmäßigen Abständen durch das Hotel. Sie sahen aus wie gut trainierte Wachmänner, die sich zwar nicht unbedingt freiwillig in ein Feuergefecht stürzen würden, aber vermutlich auch nicht gleich wegliefen, falls es dazu kam.
Darüber hinaus registrierte Victor einen einzelnen Mann, der in der Nähe der Fahrstühle auf einem Sessel saß. Er hielt eine gefaltete Zeitung in der Hand, ohne darin zu lesen, und offenbarte ungewöhnlich großes Interesse an den Gästen, die die Fahrstühle verließen und betraten. Er trug eine braune Lederjacke und eine dunkle Hose. Billige Schuhe. Haut- und Haarfarbe waren für einen Weißrussen zu dunkel. Also ein Tourist, nur dass ein Tourist nicht so getan hätte, als würde er eine weißrussische Zeitung lesen. Interessant. Vielleicht einer von Yamouts Männern, der vor dessen Eintreffen das Hotel auskundschaften sollte. Der Mann schenkte Victor keine Beachtung, aber es war klar, dass Victor vorsichtig sein musste. Der Beobachter hatte vermutlich Anweisung, nur Petrenkos Leute im Auge zu behalten, aber wenn Victor ihm zu oft über den Weg lief, dann dämmerte ihm womöglich, dass auch Victor ein wenig Aufmerksamkeit verdient hatte. Dank der Universalschlüsselkarte, die in seiner Tasche steckte, hatte Victor zu jedem Bereich des Hotels Zugang. Er war auf der Hut vor den Überwachungskameras, aber da er schon zahllose
Hotels überall auf der Welt gesehen hatte, wusste er ziemlich genau, wo sie in der Regel angebracht wurden, und hielt den Kopf möglichst so, dass er nicht zu erkennen war. Das klappte zwar nicht immer, aber lieber bekamen sie ihn jetzt vor die Linse als irgendwann anders, wenn es wirklich darauf ankam. Im Erdgeschoss befanden sich keine Gästezimmer, sondern nur die verschiedenen Serviceeinrichtungen des Hotels. Das Europe verfügte über siebenundsechzig Zimmer, die üblichen Angebote eines Luxushotels sowie über einen Friseur- und einen Schönheitssalon, fünf Bars, einen Nachtklub und ein türkisches Bad. Das alles interessierte Victor jedoch nur am Rande. Er hatte vor, Yamout in der Präsidentensuite zu erschießen, aber er war lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass jeder noch so sorgfältig geplante Anschlag auch schiefgehen konnte. Improvisationsgabe war eine wichtige Eigenschaft für einen Auftragskiller. Und sollte er tatsächlich gezwungen sein zu improvisieren, dann wollte er seine Umgebung möglichst genau kennen. Darum ließ er sich Zeit,
sah nach, wo sich die einzelnen Ausgänge befanden und wie nützlich sie sein konnten, falls er fliehen musste. Ganz egal, wie er diesen Auftrag ausführte, danach würde er auf jeden Fall in höchster Eile verschwinden müssen. Etwas anderes konnte er sich nicht vorstellen. Selbst mit Schalldämpfer war es unmöglich, unbemerkt zwölf Menschen umzubringen. Irgendwann würde es laut werden, und dann blieben ihm nur noch wenige Minuten bis zum Eintreffen der Polizei. Die nächste U-Bahn-Station lag gemütliche zehn, gehetzte fünf oder gesprintete zwei Minuten entfernt. Die nächste Bushaltestelle war zwar deutlich näher, aber er musste zusehen, dass er so schnell wie möglich von der Straße verschwand, und da war es nicht besonders sinnvoll, auf den Bus zu warten. Am besten nahm er sich ein Taxi und ließ sich aus dem Stadtzentrum bringen, bevor die Polizei alles absperren konnte. Aber dann musste er auf ein vorbeikommendes Taxi hoffen und etwas, das für seine erfolgreiche Flucht so notwendig war, wollte er nur äußerst ungern dem Zufall überlassen. Natürlich konnte er auch ein Auto stehlen, aber
wenn die Polizei danach suchte, dann brachte er sie dadurch unter Umständen nur noch schneller auf seine Spur. Und bevor er sich keine saubere Identität beschafft hatte, wollte er auch keinen Mietwagen nehmen und damit eine Fährte aus irgendwelchen Papieren legen. Außerdem kannte er sich in Minsk gar nicht gut genug aus, um so einfach mit dem Auto entkommen zu können, und er hatte auch keine Zeit mehr, sich mit den Straßen vertraut zu machen. Lieber begann er erst einmal zu Fuß, um dann die U-Bahn, den Bus oder ein Taxi zu nutzen, je nach Bedarf. Er nahm den Fahrstuhl in den sechsten Stock und streifte auf dem Flur umher, stellte sich an das Balkongeländer und schaute nach rechts hinunter ins Foyer. Dann warf er einen Blick hinauf zu der Glaskuppel. Der Himmel dahinter war tiefblau und brachte so viel Helligkeit in das Hotel, dass nur wenige künstliche Lichtquellen erforderlich waren. Er stellte sich vor, wie die Kuppel bei Nacht wirken würde, und zählte die Schritte bis zur Tür der Präsidentensuite und von dort bis zum Treppenhaus. Dann schaute er auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach halb elf. In der Nähe der Eingangstür zur
Suite stand ein Rollwagen mit Putzutensilien. Staubsaugergeräusche waren zu hören. Er wusste nicht, wie lange das Zimmermädchen brauchen würde, aber er wollte in der Nähe bleiben, bis sie fertig war. Zehn Minuten später kam sie aus der Suite und schob den Rollwagen weiter. Victor wartete, bis sie weg war, dann loggte er sich mit seinem Smartphone und dem Passwort, das er von seinem Arbeitgeber bekommen hatte, im Intranet des Hotels ein und schaute sich die Gästeliste an. Er wollte während seiner Besichtigung der Präsidentensuite nicht überraschend Gesellschaft von Petrenko und dessen Männern bekommen. Unwahrscheinlich zwar, da man offiziell erst in eineinhalb Stunden einchecken konnte, aber womöglich bekam Petrenko als Stammgast und lokale Gangstergröße ja eine Sonderbehandlung. In der Gästeliste war nichts dergleichen vermerkt, aber Victor blieb regungslos stehen. Ein Fahrstuhl kam im sechsten Stock an, und die Türen glitten auf. Ein kräftig gebauter Mann trat heraus. Er war ungefähr eins achtzig groß, Mitte zwanzig, hatte kurz geschnittene rote Haare und trug Jeans, Turnschuhe und ein Sportsakko. Seine
schlanke Figur war die eines gestählten Kämpfers, und während er auf die Präsidentensuite zuschlenderte, durchbohrte er Victor mit genau dem Blick, mit dem knallharte Typen überall auf der Welt ihre Mitmenschen durchbohrten. Das war definitiv kein Hotelangestellter, und obwohl Victor keine Ahnung hatte, wie Petrenko aussah, war dieser Kerl es höchstwahrscheinlich nicht. Zu jung und zu offensichtlich bescheuert. Victor wartete nicht, bis der Knallharte die Suite betrat, sondern ging über die Treppe ein Stockwerk tiefer und stellte sich an eine Stelle, von wo er das darüberliegende Stockwerk beobachten konnte. Jetzt schwebte der zweite gläserne Fahrstuhl nach oben. Zunächst waren keine Einzelheiten zu erkennen, aber er sah zumindest zwei oder drei Personen darin stehen. Als der Fahrstuhl auf seiner Höhe war, spiegelte das Glas nicht mehr, und er sah, dass es sich um drei Männer handelte – noch einmal zwei Knallharte in Jeans und sportlicher Kleidung und ein älterer, besser gekleideter Mann, dessen ganze Haltung ihn unmissverständlich als Anführer kenntlich machte. Sie verließen den
Fahrstuhl und gingen auf die Präsidentensuite zu. Petrenko durfte also früher einchecken. Vielleicht hatte er mit dem Hotel eine entsprechende Vereinbarung getroffen oder einfach nur der Dame am Empfang ein wenig Bargeld zugesteckt. Victor ging über die Treppe hinunter ins Foyer, setzte sich in die Bar und wartete. Der Mann mit der braunen Lederjacke saß immer noch da und tat immer noch so, als lese er Zeitung. Erst nachdem eine Stunde vergangen war, erhielt Victor die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte. Der Mann, den er für Petrenko hielt, kam zusammen mit dem jungen Knallharten und den beiden anderen Sportlichen aus einem Fahrstuhl. Sie durchquerten das Foyer und verließen das Hotel durch den Haupteingang. Woraufhin der Beobachter in der braunen Jacke sich aus seinem Sessel erhob, seine Zeitung auf die Sitzfläche fallen ließ und ihnen nachging. Wenn die drei Männer, die Victor gerade gesehen hatte, Petrenkos gesamtes Gefolge waren, dann war die Suite jetzt leer. Möglich, dass ein weiterer Mann hinzugekommen war, solange Victor in der Bar gesessen hatte, aber es gab nur eine Möglichkeit,
das herauszufinden. Er wartete noch ein paar Minuten ab, dann fuhr er mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock, um die letzten beiden Stockwerke zu Fuß zu gehen. Höflich klopfte er an die Tür der Präsidentensuite und setzte ein gleichermaßen höfliches Lächeln auf. Ob jemand reagierte oder nicht, würde auch etwas über die Präzision seiner Informationen aussagen. Er musste ein zweites Mal anklopfen und noch etwas warten, aber dann wurde die Tür geöffnet. Ein Punkt für die CIA und keine Chance mehr für Victor, ein wenig Zeit alleine in der Suite zu verbringen. Jetzt sah er sich einem weiteren Schlägertypen in TShirt und Jeanshose gegenüber. Das T-Shirt war mit dem feurigen Logo einer deutschen Rockband verziert. »Ja?« Der Mann sprach Russisch. Hätte er ihn auf Weißrussisch angesprochen, hätte Victor Mühe gehabt, seine Rolle weiterzuspielen, da er die Sprache nicht beherrschte, aber im Alltag bedienten sich auch die meisten Weißrussen normalerweise der russischen Sprache. »Hotel-Management«, sagte Victor. »Ich möchte
nur überprüfen, ob mit der Suite alles in Ordnung ist.« »Ähm, ja.« Der Mann machte einen etwas verlegenen Eindruck. Sein Gesicht war gerötet, er hatte das TShirt vorn in den Bund seiner Boxershorts gestopft, und der Reißverschluss seiner Jeans stand offen. Das alles wurde ihm erst jetzt bewusst, eine Sekunde nach Victor. Er lief knallrot an. Victor war offensichtlich in ein kleines Intermezzo vor dem Pornokanal des Hotels geplatzt. Da hatte er eine Idee. Dem Mann, der da vor ihm stand, war die Situation ganz eindeutig peinlich, und er war hin- und hergerissen zwischen dem Drang, einfach wegzulaufen, und dem, das Ganze ins Lächerliche zu ziehen. Seine strategische Aufmerksamkeit konnte gar nicht geringer sein als jetzt. »Ich muss die Suite persönlich in Augenschein nehmen«, sagte Victor. Keine Bitte, keine Chance auf Ablehnung. »Ähm, ja, klar.« Der Mann machte einen Schritt zur Seite und ließ Victor eintreten. Er hörte, wie hastig ein Reißverschluss hochgezogen wurde.
Die Präsidentensuite repräsentierte den Gipfel des Luxus in einem ohnehin schon ausgesprochen luxuriösen Etablissement. Victor betrat das geräumige Wohnzimmer. Der dicke Teppich war makellos sauber. Das gebrochene Weiß der Wände wirkte wie getäfelt. Diverse Ölgemälde hingen an den Wänden. Unmittelbar zu seiner Rechten standen ein weißes, L-förmiges Ledersofa, ein weißer Ledersessel und ein niedriger weißer Couchtisch. Rechts vor einer Zwischenwand sah er eine Kommode, darauf ein Telefon. Das Wohnzimmer setzte sich hinter dem Sofa nach links fort und ging in einen Essbereich mit einem Tisch und vier Stühlen über, während auf der rechten Seite ein Schreibtisch mit Stuhl und noch ein Sofa zu sehen waren. Vor dem Sofa stand ein großer Fernseher, ausgeschaltet, und auf dem Sofa lag eine Schachtel mit Papiertüchern. »Haben Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit vorgefunden?«, erkundigte sich Victor. Der Mann vermied jeden Augenkontakt und sagte: »Ich schätze schon.« Victor durchquerte den Essbereich und betrat das
Haupt-Schlafzimmer. Es war sehr groß, besaß ein riesiges Doppelbett sowie Schrankwände mit Spiegeltüren. Neben dem Schrank führte eine Tür in das dazugehörige Badezimmer. Das zweite Schlafzimmer befand sich am anderen Ende der Suite. Auf dem Esstisch lag ein Aktenkoffer, aber sonst war absolut nichts Persönliches zu sehen. Petrenko und seine Leute waren eindeutig nur aus geschäftlichem Anlass hier. Ein einziges Verhandlungsgespräch mit Yamout, mehr nicht. Das Treffen würde vielleicht nur eine Stunde dauern, doch Victor hatte vor, unmittelbar nach Yamouts Ankunft loszuschlagen. Es hätte ihm zwar geholfen, ein wenig abzuwarten, bis der Adrenalinschub, den eine erste persönliche Begegnung mit einem potenziell gefährlichen Geschäftspartner automatisch mit sich brachte, etwas abgeklungen war. Aber da er nicht wusste, was genau Yamout und Petrenko miteinander vorhatten, bestand die Gefahr, dass er zu lange wartete. Dann waren, bevor er zur Tür hereinplatzte, die Verhandlungen bereits abgeschlossen und womöglich alle schon wieder zu Hause.
Wenn er gleich am Anfang zuschlug, hatte er das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Dann waren die beiden Gruppen noch so beschäftigt mit ihrem Misstrauen gegenüber den anderen, dass sie nicht mit einer dritten Partei rechneten. Trotzdem, so viele Gegner auf so engem Raum, das war ziemlich riskant. Er musste im Vollbesitz seiner Kräfte sein. Ein Fehlschuss, ein Fehler, eine Überraschung, und das war’s. Er merkte, wie der Mann langsam seine Nervosität abstreifte, wünschte ihm noch einen angenehmen Tag und verabschiedete sich. Yamout wurde um 21 Uhr im Hotel erwartet. Victor sah auf seine Armbanduhr. Noch achteinhalb Stunden.
Kapitel 21 »Wer war der Typ?« Der Mann vor dem Computer war klein und muskulös. Das T-Shirt spannte sich über seiner Brust, den Schultern und Oberarmen. Die Vorhänge der Suite waren zugezogen, aber der Laptopbildschirm warf einen blassen Schimmer auf sein sonnengebräuntes Gesicht. Er blickte nach rechts, zu dem Mann neben ihm. Er war größer, schlanker, älter. »Ich weiß nicht«, sagte der Schlanke. »Aber wie einer vom Hotel-Management hat er nicht ausgesehen, finde ich.« »Sehe ich genauso.« Der Schlanke schlug eine neue Seite in seinem Notizbuch auf und begann einen Eintrag: 12.27 Uhr,
großer Mann – Anzug, dunkle Haare – betritt Suite. Behauptet, vom Hotel-Management zu sein. Sieht sich eine Minute lang um. Geht wieder. Glaube nicht, dass er zum Management gehört. Auf dem Laptopmonitor waren insgesamt sechs Fenster zu erkennen. Fünf davon gaben die Aufnahmen verschiedener Videokameras wieder.
Jeweils ein Fenster nahm das obere linke beziehungsweise das untere linke Viertel des Bildschirms ein. Die anderen Fenster, jeweils ein Achtel groß, waren auf der rechten Bildschirmseite untereinander angeordnet, wobei im untersten Fenster verschiedene Regler für Bildqualität und Lautstärke zu sehen waren. Die fünf Videofenster waren per Funk mit fünf winzigen Kameras in der Präsidentensuite verbunden, die einen ununterbrochenen Live-Stream sendeten. Auf dem Fenster in der linken oberen Bildschirmecke, gefilmt aus einer Lüftungsöffnung hoch oben an einer Wand, war am unteren Rand die Kante des Esstischs, auf der rechten Seite die Tür zum Haupt-Schlafzimmer, in der rechten oberen Ecke die Eingangstür der Suite sowie am oberen Rand der Fernsehbereich zu erkennen. Das Fenster in der linken unteren Bildschirmecke zeigte die Suite aus der gegenüberliegenden Perspektive. Auf den anderen drei Bildschirmfenstern waren das HauptSchlafzimmer und das zweite Schlafzimmer sowie der Blick vom Fernseher aus zu sehen. Die Bilder waren zwar nicht gerade perfekt, aber in Anbetracht der kurzen Zeit, die sie für die
Montage zur Verfügung gehabt hatten, waren die Männer sehr zufrieden mit ihrer Arbeit. Was die Fischaugen der Kameras nicht erfassten, das wurde von den dazugehörigen leistungsstarken Mikrofonen aufgezeichnet. Bis jetzt hatten die Kameras Petrenko und seine ersten drei Männer gezeigt. Sie waren angekommen, hatten herumgesessen und sich unterhalten, hauptsächlich über Fußball, Glücksspiel und Frauen, nichts Geschäftliches. Dann war der fünfte Mann aufgetaucht, war zur Schnecke gemacht worden, weil er sich verspätet hatte, und hatte dann die Anweisung erhalten, hierzubleiben, während Petrenko zusammen mit den drei anderen etwas zu essen besorgen wollte. Der Nachzügler hatte keine Zeit vergeudet, die Schachtel mit den Papiertüchern sowie den Pay-per-View-Kanal für Erwachsene gesucht und gefunden, nur, um von dem Mann im Anzug unterbrochen zu werden. Es klopfte zweimal an der Tür. Die beiden Männer hoben den Kopf. Als es noch ein drittes Mal und noch fester klopfte, erhob sich der Schlanke, warf einen schnellen, bestätigenden Blick durch den Türspion und machte die Tür auf. Noch bevor der
Neue eingetreten war, hatte er sich wieder auf seinen Platz gesetzt. Er war jünger als die anderen beiden. »Nummer drei hat mich direkt angeschaut«, sagte er. »Die Tarnung ist intakt, aber ich musste abbrechen. Kein Drama. Sie wollen sich bloß ein paar Waffeln besorgen.« Der junge Mann hängte seine Lederjacke über eine Stuhllehne. »Was gibt’s hier Neues?« Der Schlanke sagte: »Irgendein Typ hat behauptet, er sei vom Management, und hat sich in der Suite umgeschaut.« »Lass mal sehen.« Der Mann, der für den Computer zuständig war, klickte das Fenster in der oberen linken Bildschirmecke an und spulte die Aufnahme mithilfe des Mausrads ein paar Sekunden zurück. Dann ließ er den Film laufen. »Der Typ ist garantiert nicht vom HotelManagement«, sagte der junge Mann. »Wieso bist du dir da so sicher?«, wollte der Schlanke wissen. »Ich hab gesehen, wie er vor ein paar Stunden reingekommen ist. Ist mitten durch das Foyer
spaziert. Hat kein Wort mit den Angestellten geredet. Und von denen hat ihn auch niemand angesprochen, nicht einmal angeschaut haben sie ihn. Wenn er von der Geschäftsführung wäre, dann hätte doch zumindest irgendjemand Hallo gesagt.« »Hast du ihn dir gut angeschaut?«, erkundigte sich der Schlanke. »Na, klar. Eins sechsundachtzig, dunkle Haare, dunkle Augen, guter Anzug.« Der Mann, der die Maus bediente, grinste. »Hast wohl ein Auge auf ihn geworfen, was?« »Leck mich, der ist direkt an mir vorbeigelatscht.« »Einfach nicht beachten, den Kindskopf«, sagte der Schlanke. »Wie schätzt du ihn ein?« »Keine Ahnung«, erwiderte der junge Mann. »Für mich war er einfach bloß ein normaler Typ. Kein Grund, ihn zweimal anzuschauen.« Der Schlanke überlegte kurz. »Irgendwie passt er mir nicht. Wenn er kein Hotelangestellter ist, was will er dann hier?« Die beiden anderen schüttelten den Kopf. »Ganz egal, was er vorhat, ich will jedenfalls nicht, dass er unsere Operation stört. Für uns ist das hier wichtig, und wir werden nicht zulassen, dass er
uns in die Quere kommt. Ist das klar?«
Kapitel 22 Die Ankunft Yamouts und seiner Leute im Europe fiel so unauffällig aus, wie es einem Waffenschieber mit sechs Leibwächtern nur möglich war. Sie marschierten durch das Foyer, mit einem Mann als Speerspitze, etwas sechs, sieben Meter vor Yamout. Vier weitere hatten ihn in ihre Mitte genommen – zwei ein wenig nach vorn versetzt, zwei etwas nach hinten –, und der sechste Mann folgte ihnen in rund drei Metern Abstand. Es war eine sehr effektive Formation, und Victor war froh, dass er nicht gezwungen war, hier in der Lobby in Aktion zu treten. Die Gruppe zog die Blicke der meisten Hotelgäste auf sich, doch das stählerne Starren der Bodyguards sorgte dafür, dass die meisten sich schnell wieder abwandten. Einzige Ausnahme waren die aufmerksamen Wachleute. Lediglich Yamout und der Mann an der Spitze waren Araber, die anderen, nach der blassen Hautfarbe zu urteilen, vermutlich Weißrussen, Russen oder Angehörige einer anderen, benachbarten ehemaligen Sowjetrepublik, die nur für diesen einen Auftrag angeheuert worden waren, weil
sie sich in der Region auskannten und die Sprache sprachen. Sie waren allesamt hoch konzentriert, wussten genau, was sie zu tun hatten, und waren kräftig, aber nicht übertrieben muskulös, allesamt typische Eigenschaften für Leibwächter, die mehr tun mussten, als einfach nur gefährlich auszusehen. Der Mann an der Spitze gehörte vermutlich zu Yamouts persönlicher Schutztruppe. Er wirkte mindestens genauso kompetent wie der Rest. Yamout war nicht größer als einen Meter achtzig, wog aber bestimmt um die hundert Kilogramm. Trotzdem machte er einen halbwegs fitten Eindruck – das Produkt einer von Natur aus kräftigen Statur und viel körperlicher Aktivität in der Jugend, die aber stark nachgelassen hatte. Alle trugen Anzüge. Yamouts war marineblau, die der Leibwächter dunkelgrau oder schwarz. Ihre Schritte waren zügig, aber nicht gehetzt, und ihr Auftreten geschäftsmäßig mit einer Prise Arroganz. Gepäck hatten sie keines dabei. Ob sie in einem anderen Hotel in Minsk abgestiegen oder nur zu diesem Treffen angereist waren, wusste Victor nicht. Es war ihm auch ziemlich gleichgültig. Am Faltenwurf ihrer Jacketts erkannte Victor,
dass die Leibwächter bewaffnet waren. Die fünf Weißen trugen jeweils ein Halfter an der rechten Hüfte. Dort ließen sich die Waffen zwar nicht so gut verstecken wie unter dem Arm, dafür konnte man aber schneller ziehen. Bei der arabischen Speerspitze konnte Victor nichts erkennen, hatte aber trotzdem keine Zweifel, dass auch er bewaffnet war. Bei Yamout war ebenfalls keine Waffe zu sehen, aber mit solch einem Schutzaufgebot brauchte er auch keine. Victor saß vor einem Glas Limonade in der Bar. Die Bodyguards registrierten ihn zwar, genau wie alle anderen in der Umgebung auch, aber er wurde schnell als unproblematisch eingestuft. Er war nichts weiter als ein unauffälliger Mann, der alleine in einer Bar saß. Keine Bedrohung. Das war etwas, das er immer wieder sehr bewusst einstudierte – harmlos zu erscheinen, obwohl er in Wirklichkeit alles andere als harmlos war. Die Speerspitze hatte jetzt den Fahrstuhl erreicht und drückte auf die Taste. In dem Moment, in dem Yamout vor den Fahrstuhltüren stand, glitten sie auf. Die Speerspitze stieg alleine ein und fuhr hinauf in den sechsten Stock. Yamout und die anderen
verharrten eine Zeit lang vor dem Fahrstuhl, dann erhielt Yamout einen Anruf. Wahrscheinlich die Speerspitze, die ihm mitteilte, dass alles in Ordnung war. Yamout gab einem der Leibwächter ein Zeichen, und dieser drückte die Taste. Die zweite Fahrstuhltür öffnete sich, und die ganze Gruppe betrat die Kabine. Victor sah sie nach oben schweben. Der Beobachter war nirgends mehr zu sehen, schon seit Stunden nicht mehr. Victor hätte sehr gerne gewusst, wo er im Augenblick steckte, aber er konnte eben nicht alles im Griff haben. Er schaute auf seine Armbanduhr, nahm seine Tasche, stand auf und verließ das Foyer. Mit seiner Schlüsselkarte gelangte er in den Personalbereich, folgte dem Weg, den er sich mithilfe der Grundrisszeichnungen eingeprägt hatte, und betrat, nachdem er sich nach allen Seiten umgesehen hatte, den Raum. Es war dunkel und kalt. Winzige Lämpchen flackerten in der Dunkelheit, und Geräte brummten. Er machte die Tür hinter sich zu und knipste das Licht an. Leuchtstofflampen flackerten auf. Er befand sich im Stromverteilerraum des Hotels mit seiner Vielzahl unterschiedlicher Apparaturen. An zwei
Wänden hingen diverse Schaltschränke, Sicherungskästen, Transformatoren, Verteilerkästen und andere elektrische Geräte. Die Wände und die Decke des Raums waren mit zahllosen Leitungen und Kabeln gepflastert. Victor stellte seine Tasche auf den Fußboden und zog ein Paar dicke Gummihandschuhe heraus. Er streifte sie über die Hände und nahm dann die Abdeckung der Schaltschränke ab. Kupferne Stromschienen bildeten die Verbindung zwischen den verschiedenen Schaltelementen. Victor holte einen Plastikbeutel mit sechs golfballgroßen Kugeln C4 aus seiner Tasche. Er platzierte sie sorgfältig an unterschiedlichen Stellen in den Schaltschränken und achtete darauf, den blanken Hochspannungsschienen nicht zu nahe zu kommen. Als das C4 an Ort und Stelle saß, drückte er in jede Kugel einen Zünder und verband sie mit einer einfachen Zeituhr. Er stellte den Wecker auf drei Minuten und verließ den Raum. Gabir Yamout folgte zweien seiner Bewacher und trat aus dem Fahrstuhl. Elkhouri, Yamouts Chef-
Leibwächter und der Mann an der Spitze, war allein in den sechsten Stock vorgefahren. Er hatte Petrenko über Yamouts Ankunft informiert und gleichzeitig das Gelände sondiert. Keinem seiner Angestellten vertraute Yamout mehr als dem Araber mit dem ernsten Gesichtsausdruck, der seit über zehn Jahren an seiner Seite war. Er war Leibwächter und Ratgeber zugleich und stets in erster Linie auf Yamouts Sicherheit und Vorteil bedacht. In den Anfangstagen war Yamout wie Elkhouri gewesen und hatte Ariff als einfacher Leibwächter gedient. Doch je mehr Vertrauen er sich erworben hatte, desto mehr Verantwortung hatte Ariff ihm übertragen, sodass er jetzt in erster Linie sein Geschäftspartner und Freund und erst in zweiter Linie sein Leibwächter war. Elkhouri hatte seinen Posten als Leiter von Ariffs Sicherheitsabteilung übernommen, und wenn Elkhouri Yamout geraten hätte, die Besprechung abzubrechen, dann hätte er ohne weitere Fragen zu stellen auf der Stelle kehrtgemacht. Doch aus dem Anruf, den er vor wenigen Minuten erhalten hatte, schloss Yamout, dass Elkhouri zufrieden war – zumindest so
zufrieden, wie es möglich war, wenn man sich mit skrupellosen Gangstern auf deren Heimatterritorium treffen wollte. Elkhouri erwartete ihn vor der Suite, zusammen mit zwei breitschultrigen Weißrussen. Sie trugen Designerjeans und sportliche Markenklamotten und hätten, selbst wenn sie es versucht hätten, beim besten Willen nicht noch grimmiger dreinschauen können. Beide wurden sichtlich angespannter, als sie sahen, wie viele Männer Yamout mitgebracht hatte. Das war gut. Wenn er einen neuen Kontaktmann traf, wollte Yamout Stärke demonstrieren, ganz besonders auf unbekanntem Terrain. Einer der Grimmigen eilte zurück in die Suite, offensichtlich, um Petrenko von Yamouts Truppen zu unterrichten. Petrenkos Reaktion würde Yamout alles über den Mann verraten, was er wissen musste. Elkhouri nickte kaum merklich. Yamout ging auf den einen noch auf dem Flur verbliebenen Gangster zu, der ohne Umschweife Platz machte. Zuerst betraten vier Leibwächter die Suite, gefolgt von Elkhouri und schließlich Yamout. Der letzte Bodyguard blieb zusammen mit
Petrenkos Mann vor der Tür stehen. Yamout war durchaus vertraut mit luxuriösen Hotelzimmern, aber selbst er zeigte sich im Stillen beeindruckt von der Präsidentensuite. Petrenko hatte sich in die Mitte des Wohnzimmerbereichs gestellt und lächelte, als würde er sich freuen, Yamout zu sehen. Dieser erwiderte das Lächeln nicht. Das hier war ein rein geschäftlicher Termin mit einem Unbekannten und kein privates Treffen mit einem Freund. Hinter Petrenko standen der Mann vom Eingang und noch zwei ähnlich gekleidete Gangster. Petrenko, der eine Leinenhose, Slipper und ein über die Hose hängendes weißes Hemd mit bis über die Ellbogen aufgekrempelten Ärmeln trug, sah zumindest ein bisschen schicker aus als seine Leute. Er war ungefähr fünfzig Jahre alt, und im Vergleich zu seinen Bediensteten wirkte er beinahe zivilisiert. Keiner seiner Männer trug eine Waffe, und Yamout empfand einen Hauch von Respekt für sein Gegenüber. Obwohl zahlenmäßig unterlegen, fühlte er sich nicht eingeschüchtert. Beziehungsweise ließ es sich nicht im Geringsten anmerken. »Gabir Yamout. Wie schön, Sie endlich persönlich
kennenzulernen«, sagte Petrenko auf Russisch. Er streckte die Hand aus. Yamout schlug mit wenig Enthusiasmus ein. »Danke für die Einladung in Ihre Stadt.« »Sie ist wunderschön, nicht wahr?« Yamout nickte. Falls das stimmte, dann hatte er es nicht bemerkt. Sie lösten den Händedruck. »Kommen Sie«, sagte Petrenko. »Setzen wir uns.« Dann musterte er die Zahl der Männer. »Ich fürchte, wir haben gar nicht genügend Stühle.« Yamout gab keine Antwort. In der Suite gab es mehr als genügend Sitzgelegenheiten, wenn auch nicht in unmittelbarer Nähe. Petrenko wollte ihm eine Erklärung entlocken, warum er so viele Leibwächter mitgebracht hatte. Aber er würde keine bekommen. Petrenko brachte Yamout in einen Bereich mit einem großen Fernseher vor einem Ledersofa und ein paar Sesseln. Dort ließ er sich in einen Sessel sinken, ohne zuvor Yamout einen Platz anzubieten. Der Waffenschieber war sich unschlüssig, ob das in Weißrussland so üblich oder doch als kleinkarierte Reaktion auf Yamouts fehlende Erklärung für die
vielen Bodyguards zu verstehen war. Aber so oder so trug es nicht zur Verbesserung seines ersten Eindrucks bei. Yamout setzte sich ebenfalls auf einen Sessel. Elkhouri und einer von Petrenkos Leuten teilten sich das Sofa. Petrenkos Mann, rothaarig und mit kantigem Gesicht, legte sein Jackett ab und brachte einen mächtigen Oberkörper zum Vorschein. Er schwitzte. Die anderen warteten im Wohnzimmer. »Etwas zu trinken?«, sagte Petrenko. »Nein, danke.« »Oder vielleicht eine Kleinigkeit zu essen? Das Angebot hier ist ausgezeichnet und der Zimmerservice ausgesprochen flink. Es würde nicht lange dauern.« »Nein, danke«, wiederholte Yamout. »Wie Sie wünschen«, sagte Petrenko. »Sie wollen wahrscheinlich gleich zum Geschäftlichen kommen.« Yamout nickte. »Ich bin nicht dreitausend Kilometer weit geflogen, um mir den Bauch vollzuschlagen.« Petrenko lächelte, aber anders als bisher. Seine Miene veränderte sich, wurde härter. Die Rolle des
freundlichen Gastgebers hatte ausgedient. »Gut«, sagte er. »Auch ich vergeude nur sehr ungern meine Zeit, wenn sich gleichzeitig Geld verdienen lässt.« Er schlug die Beine übereinander. »Ich nehme an, Sie wissen, dass ich eine große Menge leichter Waffen besitze, sowohl aus ehemaligen sowjetischen als auch modernere aus russischen Armeebeständen. Sturmgewehre, Maschinenpistolen, sogar Granaten mit Raketenantrieb. Einfach alles.« Er klappte den Aktenkoffer, der auf dem Couchtisch lag, auf, holte ein Blatt Papier heraus und reichte es Yamout. »Wie Sie sehen, halten meine Preise sich sehr im Rahmen.« Yamout nahm sich Zeit, um die Liste mit den verschiedenen Waffen und den dazugehörigen Preisen durchzugehen. Dann verbrachte er noch eine Minute damit, so zu tun, als würde er lesen, während die Falten auf seiner Stirn immer tiefer wurden. Er reichte das Dokument an Elkhouri weiter, der ein ziemlich ähnliches Verhalten an den Tag legte. »Das sind Zahlen, mit denen ich nicht gerechnet hatte«, sagte Yamout. Petrenko rutschte ein wenig auf dem Sessel hin
und her. »Inwiefern?« »Ihre Preise sind zu hoch, und die Preisstruktur ergibt nicht viel Sinn.« Petrenkos gelassene Fassade geriet ins Wanken, und Yamout erhaschte einen Blick auf den jähzornigen Mann, der sich dahinter verbarg. »Ergibt nicht viel Sinn? Was soll das denn heißen, verdammt noch mal?« »Das heißt …« Das Licht ging aus. Elkhouri sprang sofort auf. Im angrenzenden Teil der Suite brach ein Getümmel los – nervöse Bodyguards, die noch nervöser wurden, weil sie nichts sehen konnten. Petrenko stieß den Atem aus und seufzte. »Der Strom wird jeden Augenblick wieder eingeschaltet, ganz bestimmt«, sagte er. Er hob die Stimme an, damit man ihn in der ganzen Suite verstehen konnte. »Bleibt alle, wo ihr seid, und bewahrt Ruhe. Nicht, dass irgendeiner sich irgendeinen Blödsinn einfallen lässt. Da ist bloß eine Sicherung durchgebrannt.« »Vielleicht sollten wir lieber gehen«, sagte Elkhouri auf Arabisch. Seine Stimme hörte sich ungewöhnlich aufgeregt an.
»Wenn dieser Idiot uns die Ware für ein Drittel des Preises verkaufen will, den Ariff zu zahlen bereit wäre, dann können wir uns auf jeden Fall noch ein paar Minuten erlauben«, erwiderte Yamout. »Alles in Ordnung?«, ließ sich Petrenko vernehmen. »Mein Freund hat Angst vor der Dunkelheit«, entgegnete Yamout trocken. »Er soll sich keine Sorgen machen«, versicherte ihm Petrenko. »Hier sind wir absolut sicher.«
Kapitel 23 Victor hatte im Treppenhaus gewartet, als das Licht ausging. Da es hier keine Fenster gab, wurde es schlagartig vollkommen dunkel. Er hielt das Nachtsichtgerät schon in der Hand und musste es nur noch aufsetzen und einschalten. Jetzt sah er seine Umgebung in unterschiedlichen Grauschattierungen. Die kühlen Wände waren fast weiß, die heißen Glühbirnen schwarz. Victor streifte die Schuhe ab und holte die P90 aus seiner Umhängetasche. Er entsicherte die Waffe, ließ die Tasche auf dem Boden neben seinen Schuhen stehen und zog die Treppenhaustür auf. Mit einem Fuß verhinderte er, dass sie ganz ins Schloss fiel. Victor nahm das Gewehr in beide Hände und legte den Kolben in die Kuhle zwischen Brust und Schulter. Er stellte den Ziellaser auf volle Kraft, und der nadeldünne, glühende Lichtstrahl schoss durch den Raum und traf als greller Punkt auf die gegenüberliegende Wand. Er schaltete auf Automatikfeuer und trat durch die Tür. Künstliches Licht von außerhalb des Hotels drang
durch die Glaskuppel. Es mochte reichen, um ihn aus eineinhalb Metern Entfernung zu bemerken, aber weiter nicht. Der offene Galeriebereich des sechsten Stocks war lang und schmal und lief fast ganz um die Mittelöffnung herum. Die Tür zur Präsidentensuite lag 6,70 Meter entfernt. Davor standen zwei Männer. Einer von Petrenkos Männern in Jeans und Sportsakko und einer von Yamouts Leibwächtern mit Anzug. Ihre Kleidung erschien in dem Nachtsichtgerät dunkelgrau, während die kühlere Wand und die Tür deutlich heller waren. Ihre Köpfe und Hände waren schwarz. Sie hatten die Pistolen gezogen und blickten sich nach allen Seiten um, wussten nicht, was sie tun sollten, blind in der Dunkelheit. Seit dem Stromausfall waren sechs Sekunden vergangen. Der Infrarot-Strahl glühte auf der Brust des Typen, der ihm am nächsten stand. Zwei 5,7-MillimeterKugeln schlugen in seiner Brust ein, eine dritte traf ihn zwischen die Augen. Die P90 gab bei den Schüssen nur ein kaum hörbares Klick von sich. Das Geräusch, das die Kugeln machten, als sie in das Fleisch eindrangen, war lauter. Die P90 stieß die verbrauchten
Patronenhülsen senkrecht nach unten aus, und sie klirrten auf dem Teppich aneinander. Victor drückte den Abzug mit voller Kraft durch und jagte dem weiter entfernt stehenden Mann einen Feuerstoß in den Oberkörper, als dieser sich gerade umdrehte. Er taumelte, blieb aber auf den Beinen … Sein Gehirn war zu langsam, um gleich zu erfassen, was gerade mit seinem Körper passiert war. Victor trat einen Schritt zur Seite, um den richtigen Winkel zu bekommen, drückte den Abzug halb durch und schoss ihm noch einmal in die Stirn, bevor er vor Verblüffung oder Schmerz einen Schrei ausstoßen konnte. Er landete auf dem anderen Leichnam. Ein hübscher kleiner Stapel. Mit schnellen Schritten eilte Victor zur Tür der Suite, für den Fall, dass jemand gehört hatte, wie die beiden Wachen zu Boden gegangen waren, und nun damit rechnete, dass er gleich die Suite stürmte. Unwahrscheinlich, aber selbst wenn, dann war es noch unwahrscheinlicher, dass sie den Schock so schnell verdauen konnten, dass sie daran dachten, die Tür zu verteidigen. Trotzdem … Victor hatte in diesem Beruf nur darum so lange überlebt, weil er immer mit dem Schlimmsten rechnete.
Er stellte sich direkt vor die Tür, den Lauf der P90 leicht nach unten gerichtet, auf durchschnittliche Oberkörperhöhe, und hämmerte einen langen Feuerstoß von links nach rechts durch das Türblatt, um die Kugeln in einem weiten Radius im Zimmer zu verteilen. Die Chance auf einen Treffer war minimal, aber er wollte damit die Leute auf der anderen Seite in erster Linie ablenken und in Panik versetzen, um ins Zimmer gelangen zu können, ohne sich eine Kugel einzufangen. Victor feuerte eine zweite Salve ab, dorthin, wo Klinke und Schloss sich befanden. Er zog die P90 wieder ein Stück dichter heran, trat die Tür ein und war mit zwei schnellen Schritten im Raum, ging sofort in die Knie, schaute nach links und schoss dem ersten Mann, den er sah, in die Brust. Dieser sackte auf dem Esstisch zusammen und warf dabei etliche Stühle um. Victor blickte nach rechts, entdeckte einen dunklen Umriss am hinteren Ende des Zimmers, schoss und sah den Umriss in einen Schrank stürzen. Glas splitterte. Ein Schritt nach vorn. Hinter dem Sofa vor dem Fernseher kauerte irgendetwas oder irgendjemand. Er schickte einen Feuerstoß durch die Polster, hörte
einen Schrei und schoss noch einmal. Keine Schreie mehr. Sein Blick glitt ein zweites Mal durch das Zimmer. Niemand. Die Suite war groß. Kein Licht, nur fahlgraue Schatten. Dicke Vorhänge verdeckten die Fensterfront. Sie hatten zwar einen Distanzschuss mit dem Scharfschützengewehr verhindert, aber jetzt waren sie ihm eine Hilfe. Nur ein winziges bisschen Licht drang aus dem abendlichen Minsk herein, sodass die anderen höchstens ein paar Zentimeter weit sehen konnten. Victor ließ den Blick nach unten gleiten, sah, dass das fünfzigschüssige Magazin immer noch ungefähr sechs Patronen enthielt, und ließ es trotzdem zu Boden fallen. Gerade, als er sich ein neues nehmen wollte, flog eine Tür zu seiner Linken auf, und ein Mann kam herausgestürmt. Er trug eine Anzughose und eine Weste, seine nackten Arme waren schwarz, genau wie sein Gesicht. Die Mitte der Weste war ebenfalls dunkel, vom Schweiß. Er war bewaffnet, hielt eine schwere Pistole in beiden Händen, bewegte sie ruckartig in alle Richtungen, genau wie den Kopf, versuchte mit Blicken die Dunkelheit zu durchdringen
und sah Victor nicht, der keine drei Meter von ihm entfernt auf dem Boden kauerte. Mit der linken Hand zog Victor die USP aus dem Halfter und schoss zweimal kurz hintereinander. Die Kugeln durchschlugen den Schädel des Mannes und schleuderten schwarz glühende Gehirnmasse auf die dahinterliegende Wand. Victor steckte die H & K wieder ins Halfter und schob ein zweites Magazin in die P90. Er trat über die Leiche, durchquerte den Essbereich und betrat das Haupt-Schlafzimmer. Hier ließ ein fünf Zentimeter breiter Streifen zwischen den beiden Vorhanghälften mehr Licht von draußen eindringen. Das Zimmer war leer. Victor blieb vor der Tür zum angrenzenden Badezimmer stehen, blies eine Salve hindurch, riss sie auf und trat sofort ein. Niemand da, weder in der Duschkabine noch in der Badewanne. Zwei Typen vor der Suite, vier im Inneren. Sechs erledigt. Blieben noch fünf. Yamout, Petrenko und drei Leibwächter. Er schaute auf seine Armbanduhr. Zwanzig Sekunden waren seit dem ersten Schuss vergangen. Es kam ihm sehr viel länger vor. So war es immer.
Er hörte ein Geräusch – irgendetwas klapperte in seinem Rücken, am anderen Ende der Suite. Er drehte sich um, verließ das Badezimmer und das Schlafzimmer, trat wieder in den Wohnbereich. Ohne Schuhe machte er auf dem dicken Teppich keinerlei Geräusch. Er hastete hinüber, dorthin, wo der Fernseher stand, und hörte ein Flüstern aus dem zweiten Schlafzimmer, dann eine geflüsterte Antwort. Was geflüstert wurde, konnte er nicht verstehen. Victor stellte sich links neben die Tür, drückte den Abzug voll durch und jagte einen hüfthohen Feuerstoß in einem Abwärtswinkel von zehn Grad durch die Türöffnung, rechts an der Wand entlang. Dann wechselte er seine Position und feuerte noch eine Salve, diesmal von der anderen Seite. Erst erklang ein Stöhnen, dann stieß etwas Metallisches gegen Holz. In solchen Situationen stellten oder knieten sich die Leute immer neben die Türen. Wieder schoss er Klinke und Schloss entzwei, bevor er sich auf den Bauch fallen ließ. Er rutschte nach vorn, bis er mit der linken Schulter die Sockelleiste berührte, den Körper parallel zur Wand, den Kopf auf Höhe des Türrahmens. Mit dem Lauf
der P90 stieß er die Tür einen Spalt weit auf. Sie quietschte leise. Mehrere Löcher platzten in Brusthöhe durch das Türblatt. Kugeln bohrten sich in die gegenüberliegende Wand, manche in Kopfhöhe, andere noch höher. Zwei Schützen also, der eine sehr tief – liegend oder auf Knien –, der andere geduckt. Victor lag immer noch auf dem Bauch. Er trat mit dem Fuß gegen einen Stuhl, der mit einem dumpfen Schlag auf dem Teppich landete. Die Schüsse verstummten, und er ließ zusätzlich noch ein pfeifendes Stöhnen hören, während er auf die Tür zukroch, sie mit dem Ellbogen aufstieß und den ersten Schützen – denjenigen, den er durch die Tür hindurch angeschossen hatte – vor sich auf dem Boden sitzen sah. Er lehnte mit dem Rücken am Bett, die Beine ausgestreckt, von einer schwarzen Blutlache umgeben. Er erblickte Victor, und einen Sekundenbruchteil später wurden sein Herz, seine Lunge und seine Wirbelsäule von 5,7-MillimeterGeschossen durchbohrt. Schnell kam Victor auf die Knie, erfasste den zweiten Mann, der hinter dem Bett kauerte und
verblüfft das Gesicht verzog, als Victor anscheinend aus dem Nichts vor ihm auftauchte. Victor schoss ihm zweimal in den Kopf, stand auf, schwenkte die Waffe einmal durch das Zimmer, sah aber niemanden mehr. Damit blieb nur noch das angrenzende Badezimmer übrig. Als der zweite Kerl zu Boden gestürzt war, hatte er einen der Vorhänge herabgerissen. Die nächtliche Straßenbeleuchtung drang ins Zimmer. Die Badezimmertür war zu. Dahinter drängten sich jetzt drei Mann auf der Suche nach Sicherheit. Saßen in der Falle. Victor warf einen prüfenden Blick auf das Magazin. Immer noch dreißig Prozent der Kapazität. Mehr als genug. Er ging einen Schritt auf die Badezimmertür zu, doch dann hörte er hinter sich, aus dem Wohnzimmer, das Knirschen einer leeren Patronenhülse. Blitzartig schnellte er herum, stellte sich in den Türrahmen, erwartete, einen verschreckten Hotelgast oder einen neugierigen Wachmann zu sehen. Stattdessen war da die dunkelgraue Silhouette eines schlanken Mannes in der Mitte des Wohnzimmers, neben ihm ein zweiter
Mann, kleiner und muskulöser. Beide hatten die Arme ausgestreckt und hielten blassgraue Pistolen in den schwarzen Händen. Sie hatten ihn im fahlen Licht des unverhüllten Fensters bereits erblickt und schossen zuerst. Ihre schallgedämpften Schüsse klickten in der Stille, fast gleichzeitig. Das Mündungsfeuer war in Form winziger schwarzer Blitze durch das Nachtsichtgerät erkennbar. Die erste Kugel traf Victor in den rechten Trizeps, die zweite schlug etwa acht Zentimeter unterhalb des Brustbeins ein, und er fiel zu Boden, bevor er das Feuer erwidern konnte. Der Aufprall hatte ihm die Luft aus den Lungen gepresst. Er war geschockt und hatte Schmerzen. Trotzdem blieb er regungslos liegen, während er sie mit hastigen Schritten näher kommen hörte. Er atmete so flach wie nur irgend möglich, die Augen geschlossen, damit er nicht geblendet wurde, die rechte Hand immer noch fest um den Griff der P90 geschlossen. Sein Bauch tat weh, doch dank der Kevlarweste war es ein Gefühl wie nach einem heftigen Boxhieb. Die Wunde im Arm war schlimmer, aber er versuchte, jeden Gedanken daran zu verdrängen.
Er ging davon aus, dass die Männer zu Yamout gehörten. Vermutlich waren sie per Handy zu Hilfe gerufen worden. Sie mussten ganz in der Nähe gewesen sein, auf demselben Stockwerk, in einer anderen Suite, und hatten wohl so früh eingecheckt, dass Victor sie nicht gesehen hatte. Er dachte an den Beobachter aus dem Foyer und war wütend auf sich selbst, weil er davon ausgegangen war, dass der Kerl alleine war. Sie kamen näher und verlangsamten ihre Schritte. In der Dunkelheit konnten sie nicht sehen, dass er eine kugelsichere Weste trug. Die Bodenbretter unter dem Teppich knarrten, als ein schwerer Fuß dicht neben Victors rechtem Bein landete. Eine Schuhspitze traf ihn an der Hüfte. Eine sinnlose Maßnahme, aber dennoch gängig, wenn jemand zu viel Adrenalin im Blut hatte. Da ertönte eine Stimme aus dem Badezimmer des kleineren Schlafzimmers. Es war ein verzweifelter Hilferuf auf Russisch – vermutlich Petrenko. Es folgte ein zweiter Ruf, diesmal auf Arabisch. Das musste Yamout sein. Die beiden Männer neben Victor zeigten keine Reaktion. Der Fuß neben seinem Bein bewegte sich, und
Victor spürte den Mann neben seinem rechten Arm stehen. Ein zweiter Mann ging links an ihm vorbei. Der Mann zu seiner Rechten trat über seinen Arm hinweg, und Victor wartete ab, bis er drei Schritte nach vorn gemacht hatte. Dann schlug er die Augen auf. Er rollte den Kopf nach hinten, sah die grauen Umrisse der beiden Männer, um hundertachtzig Grad gedreht, wie sie durch das Schlafzimmer schlichen, langsam, trotz der Hilferufe. Victor packte den vorderen Griff der P90 mit der linken Hand, hob die Maschinenpistole über den Kopf, zielte auf den Rücken des ersten Mannes und drückte ab. Die Kugeln stanzten eine unregelmäßige Linie von Einschusslöchern neben seine Wirbelsäule. Da Victor die P90 auf dem Kopf stehend und ohne vernünftige Stütze abgefeuert hatte, war der Rückschlag erheblich. Die Waffe schlug aus, und Victor vergeudete eine Menge Patronen. Er zielte erneut und sah, wie der zweite Mann in die Hüfte, den Rücken, den Arm und den Kopf getroffen wurde. Beide fielen tot auf den Teppich. Der Schmerz in seinem Arm wurde schlimmer. Er sah nach der Wunde. Sie blutete, wenn auch nicht
allzu schlimm. Die Kugel war nicht ins Fleisch eingedrungen, sondern hatte lediglich eine Rille in die Haut und den Muskel gefräst. Nichts Ernstes, aber auf Liegestütze würde er vorerst verzichten müssen. Er kam auf die Knie. Da riss eine Kugel ein Stück aus dem Teppich und dem Bodenbrett ganz in seiner Nähe. Noch ein Geschoss zischte durch die Luft, knapp über seinen Kopf hinweg. Ein dritter Spielverderber. Er nahm ihn vom Wohnzimmer aus ins Visier, hatte jedoch Schwierigkeiten, ihn genau zu orten, weil er so dicht am Boden lag. Hastig legte Victor die P90 an, doch ihm fehlte die Zeit, um zu zielen, und er schoss daneben. Dennoch, das Gegenfeuer erfüllte seine Aufgabe und zwang den Angreifer zurück in die Deckung, aber jetzt klickte die P90. Das Magazin war leer. Zeit zum Nachladen hatte er nicht – der Angreifer konnte jeden Moment wieder auftauchen –, also ließ Victor die Maschinenpistole fallen, zog die USP, packte sie fest mit beiden Händen, hielt den Atem an und wartete, bis sein Angreifer sich sehen ließ. Dann drückte er ab.
Er hörte keinen Schrei, aber das eindeutig erkennbare feuchte Schmatzen eines in menschliches Fleisch eindringenden Projektils, Kaliber fünfundvierzig. Wenn da drei Männer gewesen waren, von deren Existenz er nichts gewusst hatte, dann konnten auch noch mehr kommen. Darum verharrte Victor fünf Sekunden lang regungslos, wartete ab, die USP genau auf die Stelle in der Mitte des Wohnzimmers gerichtet, wo jeder, der den Raum betrat, zwangsläufig auftauchen musste. Als niemand sich sehen ließ, erhob er sich. Durch das offene Foyer war der Lärm, den seine Angreifer veranstaltet hatten, mit Sicherheit weithin hörbar gewesen, trotz der Schalldämpfer. Der Sicherheitsdienst des Hotels war womöglich schon unterwegs. Vielleicht hatte auch schon jemand die Polizei verständigt. Er wusste, dass er eigentlich abbrechen musste, sich unverzüglich zurückziehen, aber seine Zielperson war keine sechs Meter von ihm entfernt. Er hastete zurück in das zweite Schlafzimmer, wobei er sorgfältig darauf achtete, nicht auf eine der Leichen zu treten, die in der Türöffnung lagen. Schon während er sich der Tür zum angrenzenden
Badezimmer näherte, konnte er Verkehrslärm hören. Er wusste sofort, was das zu bedeuten hatte, noch bevor er die Zugluft spürte. Er trat die Tür ein. Durch das eingeschlagene Fenster drang ausreichend Licht herein, um auch ohne Nachtsichtgerät zu erkennen, dass der Raum leer war. Das Fenster war zwar klein, aber auch ein dickerer Mann wäre in der Lage gewesen, sich durch die Öffnung zu zwängen, wenn es um Leben und Tod ging. Victor stellte sich in die Badewanne und reckte sich, um hindurchzuschauen. Blut und Textilfasern klebten an den spitzen Glasresten. Er sah den Außenbereich des Hotels. Keine drei Männer, aber einen Mauersims, der breit genug war, um darauf entlangzukriechen. Und er hörte Sirenen. Victor hetzte zurück, quer durch die Suite. Das Stöhnen aus dem Wohnzimmer signalisierte ihm, dass der letzte Kerl, auf den er geschossen hatte, nicht tot war, sondern nur bewegungsunfähig. Victor ignorierte ihn und trat hinaus auf den Flur. Von dort sah er einen Fahrstuhl abwärtsschweben, bereits auf Höhe des vierten Stocks. Die Fahrgäste waren als grauschwarze Schemen erkennbar. Die Fahrstühle waren, im Gegensatz zu allen anderen elektrischen
Einrichtungen des Hotels, durch Victors inszenierten Kurzschluss nicht ausgefallen. In der Regel gab es genau für solche Fälle entsprechende Notstromaggregate. Er schoss sofort, und die Glasfront des Fahrstuhls verwandelte sich in ein feingliedriges Spinnennetz aus Rissen, dann wurde der Winkel zu spitz. Er schoss trotzdem, jagte eine Kugel nach der anderen auf das Dach des Fahrstuhls, so lange, bis das Magazin leer war, obwohl er doch ganz genau wusste, dass eine Fünfundvierziger keine Chance hatte, den stählernen Maschinenkopf auf der Fahrstuhlkabine zu durchschlagen. Aber zu Fuß konnte er ihn nicht mehr einholen, und wie immer er ins Foyer hinuntergelangen würde, es war in jedem Fall zu spät, um Yamout aufzuhalten, allein schon wegen der bewaffneten Wachmänner. Er lud nach und leerte innerhalb von weniger als vier Sekunden ein zweites Magazin. Sinnlos, aber er hatte keine Zeit mehr, irgendetwas anderes zu unternehmen. Der Fahrstuhl befand sich dreißig Meter unter ihm. Die Angelegenheit war erledigt. Er hatte versagt. Jetzt gab es nichts anderes mehr als die Flucht. Sämtliche Probleme, die sich aus seinem Versagen
ergaben, mussten zunächst warten. Er stürzte zum Treppenhaus und sah einen fahlgrünen Lichtschimmer durch eine offene Tür dringen. Die Tür gehörte zu der Suite direkt neben der Präsidentensuite. Die Lichtquelle musste irgendein batteriebetriebenes Gerät sein, wahrscheinlich ein Laptopmonitor. Victor erinnerte sich an die drei Typen, die kaum eine Minute nach ihm in die Präsidentensuite gestürmt waren. Sie mussten in der Nachbarsuite gewesen sein, sonst hätten sie es niemals so schnell geschafft. Aber auf die Hilfeschreie von Petrenko und Yamout hatten sie nicht reagiert. Wenn sie nicht zu einem der beiden gehört hatten, zu wem dann? Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, um darauf eine Antwort zu erhalten, aber er war gezwungen gewesen, drei Männer mehr umzubringen, als eigentlich vorgesehen war. Diese Männer hatten versucht, ihn zu töten, und hatten ihn daran gehindert, seinen Auftrag auszuführen, was fatale Konsequenzen haben konnte. Er brauchte eine Erklärung dafür. »Keine Bewegung«, ertönte in diesem Moment
eine Stimme auf Russisch hinter Victor. In der Stimme lag das Selbstbewusstsein, das sich auf den Besitz einer Schusswaffe gründete. Einer Schusswaffe, die, wie Victor annahm, direkt auf seinen Rücken gerichtet war. Er blieb stehen. Zwei Schritte vor der Tür. »Waffe fallen lassen.« Es ließ sich nicht feststellen, wo genau der Mann stand. Wenn Victor also etwas probieren wollte, dann musste er sich ausschließlich auf seine Geschwindigkeit verlassen, musste sich umdrehen, die Pistole heben, sein Ziel ins Auge fassen und einen tödlichen Treffer landen, bevor der Mann den Zeigefinger krümmen konnte. Victor ließ die USP auf den Teppich fallen. »Und jetzt das Nachtsichtgerät absetzen.« Victor legte es auf den Boden. »Umdrehen.« Victor gehorchte. Vor ihm, keine drei Meter entfernt, stand ein Mann, genau zwischen ihm und dem Treppenhaus. Die Glaskuppel ließ genügend Licht hereinfallen, damit Victor die schallgedämpfte Pistole in der Hand des Mannes und den glänzenden Schweißfilm
auf seinem Gesicht erkennen konnte. Er sah atemlos aus, nachdem er wahrscheinlich etliche Treppenabsätze heraufgesprintet war. Längliches Gesicht, Bartstoppeln. Victor erkannte ihn wieder, auch ohne die braune Lederjacke. Der Beobachter. »Wer zum Teufel bist du eigentlich?«, wollte der Beobachter wissen. Er redete Russisch, aber das war nicht seine Muttersprache. Victor konnte den Akzent nicht einordnen. Er gab keine Antwort. Am liebsten hätte er seinem Gegenüber die gleiche Frage gestellt. »Kick die Knarre weg«, sagte der Beobachter. Victor versetzte ihr einen leichten Fußtritt, sodass sie nur rund einen Meter zur Seite schlitterte. Der Beobachter trat näher. Er war vorsichtig, ließ den Blick über die beiden toten Bodyguards vor der Präsidentensuite gleiten. »Die Bullen sind gleich da«, sagte Victor. Der Beobachter beachtete ihn nicht und machte eine Bewegung mit seiner Pistole. »Die andere auch.« Victor fasste mit einer Hand nach hinten, an seinen Hosenbund, zu dem Halfter mit der P22. »Ganz langsam«, ermahnte ihn der Beobachter.
Victor zog die Walther heraus und holte sie nach vorn. »Dieses Mal lässt du sie nicht fallen, sondern schmeißt sie weg.« Victor gehorchte. Er warf die Waffe nach vorn, auf den Beobachter zu. Nicht, um ihn zu verletzen, sondern einfach nur als Ablenkung. Der Mann sah die Waffe auf sich zukommen und blinzelte kurz, um ihr dann auszuweichen. Als er sich wieder im Griff hatte, war Victor mit einem Satz durch die offene Tür gesprungen. Er schlug die Tür hinter sich ins Schloss und sah, dass es sich bei der grünlichen Lichtquelle wie erwartet um einen Laptopmonitor handelte. Er war in sechs Fenster unterteilt, die jeweils unterschiedliche Bilder zeigten, Aufnahmen, die aus verschiedenen Nachtsichtkameras in der nebenan gelegenen Präsidentensuite stammen mussten. Er dachte nicht länger darüber nach. All seine Gedanken drehten sich nur noch um den Mann auf der anderen Seite der Tür, den Mann mit der Pistole, während er selbst nichts in der Hand hatte, gar nichts.
Kapitel 24 Victor ging in die Hocke, balancierte in der Dunkelheit auf den Fußballen. Die Luft im Zimmer war warm und roch muffig, nach Parfüm und Schweiß. Sein rechter Arm pulsierte. Das wenige Licht, das zu den schmalen Schlitzen zwischen den Vorhängen hereindrang, reichte aus, um den Wohnzimmerbereich der Suite zu erkennen. Er unterschied sich vom Wohnzimmer der Präsidentensuite, war kleiner und weniger opulent ausgestattet. Zwei Türen führten in angrenzende Zimmer, vermutlich zwei Schlafzimmer. Sie verfügten wahrscheinlich jeweils über ein eigenes Badezimmer, aber ansonsten gab es nichts, wohin er hätte ausweichen können. Er konnte es Yamout nachmachen und durch eines der Fenster auf den äußeren Wandsims klettern, aber das setzte voraus, dass sein Gegner ihn gewähren ließ. Victor rührte sich nicht von der Stelle. Er wartete. Wenn der Beobachter etwas von ihm wollte, dann musste er kommen und ihn holen. Das Wohnzimmer war der größte zur Verfügung stehende Raum, darin konnte er sich am einfachsten verteidigen. Victor
erkannte die Umrisse eines großen Sofas, die Sideboards an zwei Wänden, dazu einen Couchtisch, den Schreibtisch mit dem Computer und zwei Stühlen. Allesamt Hindernisse für einen Angreifer, alles potenzielle Verteidigungswaffen. Er hörte leise Schritte vor der Eingangstür. Kurz danach ertönten schallgedämpfte Schüsse, und die Tür hatte sechs Löcher. Zwei oben, zwei in der Mitte und zwei unten. Alle in gerader Linie. Victor befand sich weit genug außerhalb des Schussfeldes, um sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Für einen Moment dachte er, dass der Beobachter keine Schlüsselkarte hatte, doch dann klickte das Schloss, und Victor spürte den sanften Luftzug, als die Tür aufging. Es machte viermal klack, als der Beobachter vier Schüsse quer durch das Zimmer jagte. Erneut brauchte Victor sich nicht von der Stelle zu rühren. Der Beobachter trat ins Zimmer, langsam und kontrolliert. Er wusste, dass sein Gegner unbewaffnet war. Wie erwartet hatte er sich das Nachtsichtgerät aufgesetzt, sodass er das dunkle Wohnzimmer als hellgrauen Schatten wahrnahm, während Victor sich deutlich sichtbar als
dunkelgrauer Umriss mit schwarzem Kopf und schwarzen Händen abheben würde. Der Beobachter sah ihn nicht. Aber Victor sah den Beobachter. Die Infrarot-Optik des Nachtsichtgeräts saß etliche Zentimeter vor den Augen. Dadurch wurde das seitliche Gesichtsfeld auf kurze Distanz stark eingeschränkt. Victor stand direkt neben der Tür, höchstens dreißig Zentimeter von dem Beobachter entfernt, in seinem toten Winkel. Er griff an, wollte die ausgestreckte Hand mit der Waffe packen, aber der Beobachter musste sich des Problems mit dem eingeschränkten Gesichtsfeld bewusst gewesen sein, jedenfalls riss er die Pistole weg, bevor Victor sie in die Finger bekam. Stattdessen prallte Victor mit dem Mann zusammen, stieß ihn rückwärts gegen die Tür, so fest, dass er beim Aufprall laut aufstöhnte. Bevor er sich davon erholen konnte, rammte Victor ihm einen Ellbogen ins Gesicht, unterhalb des Nachtsichtgeräts, spürte, wie er gegen den Wangenknochen prallte und dann seitlich am Gesicht abrutschte, während er mit der linken Hand
das rechte Handgelenk seines Gegners mitsamt der Waffe packte und an die Wand drückte. Die Reaktion bestand in einem kurzen Haken in den Magen, nicht so stark, dass er ernsthaften Schaden angerichtet hätte, aber genug, um wehzutun. Die Kevlarweste nahm ihm einen Teil der Wucht, aber nicht viel. Es folgten noch ein paar weitere linke Haken. Victor verzog das Gesicht und schlug noch etliche Male mit dem Ellbogen zu, ohne wirklich voll zu treffen. Der Kopf des Beobachters war ein schlüpfriges Ziel, das geschickt mal nach rechts und mal nach links pendelte. Victor änderte seine Taktik, trat einen halben Schritt zurück, ließ das Handgelenk seines Gegners los, packte den Mann mit beiden Händen an den Schultern und riss das Knie nach oben. Der Beobachter reagierte gerade noch rechtzeitig, und das Knie traf ihn etwas oberhalb des Unterleibs. Er verzog zwar das Gesicht, doch der Stoß hatte nicht genügend Nervenenden getroffen, um ihn außer Gefecht zu setzen. Das Nachtsichtgerät wurde, getrieben von einem heftigen Kopfstoß, gegen Victors Schläfe gerammt. Lichtblitze zuckten über seine Netzhaut, und er
taumelte rückwärts, berappelte sich aber gerade noch rechtzeitig, um die Hand mit der Waffe zu packen, bevor sein Gegner sie auf ihn richten konnte. Während Victor noch benommen war, stürmte der Beobachter auf ihn los, warf sich mit ganzer Wucht auf ihn, drängte ihn weiter nach hinten, brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Victor taumelte ein paar Schritte, bevor er mit der Hüfte gegen die Sofalehne stieß und sein Angreifer ihn darüberkippte. Victor ließ die Pistole los, rollte rückwärts über das Sofa zu Boden, landete auf den Füßen, machte zwei schnelle Schritte in die Dunkelheit und sprang zur Seite, noch bevor der Beobachter einen hastigen Schuss abgeben konnte. Mit einem Satz war Victor bei ihm, riss ihm die Beine weg, und sie stürzten gemeinsam zu Boden. Der Beobachter bekam den Großteil der Wucht des Sturzes zu spüren, und Victor hörte, wie die Pistole über den Teppich rutschte. Er beachtete sie gar nicht, sondern drückte seinen Gegner mit seinem ganzen Gewicht zu Boden und versuchte, ihm den linken Arm um den Hals zu schlingen. Der Beobachter wehrte sich, hämmerte mit den Fäusten
und Ellbogen auf Victors Flanken und seinen Lendenbereich ein. Die Schläge waren sauber platziert, trafen seine Nieren und die empfindlichen Rippen. Victor verzog das Gesicht vor Schmerzen, ließ sich aber nicht von dem Vorhaben abbringen, seine Linke unter den Kopf des Beobachters zu schieben. Er zwängte den Arm Stück für Stück weiter, bis er den Nacken in der Ellenbeuge hatte. Dann griff er mit der rechten Hand nach der linken, packte fest zu, wälzte sich nach rechts von seinem Widersacher herab und landete mit dem Rücken auf dem Fußboden neben ihm. Victors Arme machten die Bewegung mit, sodass sein rechter Unterarm jetzt quer über der Kehle des Beobachters lag. Victor drückte zu. Sofort wurde die Halsschlagader des Beobachters abgequetscht. Die Blutzufuhr zum Gehirn war unterbrochen, und es bekam keinen Sauerstoff mehr. Der Beobachter schlug wild um sich, rammte die Ellbogen in Victors angespannte Bauchmuskulatur, wollte ihm die Augen auskratzen. An Victors Arm machte er sich nicht zu schaffen, weil er wusste, dass er dafür länger als die zehn
Sekunden gebraucht hätte, die ihm noch blieben, bevor er das Bewusstsein verlieren würde. Seine einzige Chance war, Victor zu zwingen, ihn loszulassen. Aber so weit würde es nicht kommen. Victor hielt den Druck noch sechzig Sekunden, nachdem alle Spannung aus den Gliedern des Beobachters gewichen war, aufrecht, um sicherzustellen, dass er nicht nur bewusstlos, sondern tot war. Dann rappelte er sich auf und entfernte sich, wobei er mit den Zehen auf die Pistole trat. Wenn er gewusst hätte, dass sie so dicht in seiner Nähe lag, hätte er vielleicht versucht, sie in die Finger zu bekommen, und sich eine Menge Scherereien erspart. Andererseits, ein bisschen Fitnesstraining war auch nicht schlecht. Sein Unterleib und der Lendenbereich taten zwar ziemlich weh nach den vielen Ellbogenschlägen, aber sie hatten keinen wirklichen Schaden erlitten. Morgen früh würde er vermutlich ein paar blaue Flecken haben, aber das war es dann auch. Seine Kopfschmerzen waren schlimmer. Und sein Arm pulsierte immer noch heftig. Der Kampf hatte nicht gerade zur Heilung
beigetragen, hatte die Wunde aber auch nicht verschlimmert. Er zog einen Vorhang auf, um besser sehen zu können. Die Zeit reichte nicht mehr, um das Zimmer zu durchsuchen, aber er sah in den Taschen des Beobachters nach und nahm sein Portemonnaie, die Schlüsselkarte für die Suite und ein Ersatzmagazin für seine Pistole, eine SIG Sauer P226, heraus. Der Beobachter hatte elf Schüsse abgegeben, also mussten noch vier Patronen im Magazin stecken. Victor ließ es herausschnappen und ersetzte es durch das volle. Eine Sekunde lang überlegte er, ob er den Computer mitnehmen sollte, aber er war sperrig und würde ihn direkt mit dem Verbrechen in Verbindung bringen. Also jagte er fünfzehn Neun-MillimeterKugeln hinein, um sicherzugehen, dass die Aufzeichnungen auf der Festplatte unwiderruflich zerstört waren, dann warf er die SIG neben den toten Beobachter auf den Boden. Victor verließ die Suite. Ihm blieben schätzungsweise noch zwei Minuten, bevor die ersten Polizisten eintrafen. Er eilte zurück in die Präsidentensuite, riss einen Vorhang herunter, um
ein wenig Licht hereinzulassen, und sah, dass eine der Gestalten auf dem Fußboden sich bewegte. Der Mann hatte ein Einschussloch unterhalb des rechten Schlüsselbeins. Er blutete stark. Auf dem Boden, gar nicht weit entfernt, aber außerhalb seiner Reichweite, lag eine Pistole. Victor nahm sie in die Hand. Auch eine SIG. Er packte den Mann am Kragen, blickte ihm in die Augen und sagte auf Russisch: »Wer bist du?« Keine Antwort, aber Victor sah, dass er ihn verstanden hatte. Er legte dem Mann die linke Hand auf den Mund und drückte ihm mit dem Daumen den Kiefer zu. Dann presste er den Daumen seiner rechten Hand, die immer noch die SIG gepackt hielt, in die Schusswunde. Seine Linke erstickte die Schreie, sodass Victor den Daumen in der Wunde hin und her drehen konnte. Der Mann unter ihm bäumte sich auf, von grausamen Schmerzen geschüttelt. Victor hörte rechtzeitig auf, damit der Mann nicht ohnmächtig wurde, und wischte seinen blutverschmierten Daumen an dessen Jackett ab. Er hielt ihm so lange
den Mund zu, bis er sich wieder halbwegs im Griff zu haben schien. »Wer bist du?«, wiederholte Victor seine Frage. Der Mann erwiderte, jede Silbe unterbrochen von schweren Atemstößen: »Bring. Mich. Ein. Fach. Um.« »Für wen arbeitest du?« Er gab keine Antwort, verzog aber das Gesicht zu einer Grimasse, die an ein Lächeln erinnerte. Victor hielt dem Kerl erneut den Mund zu und stieß den Daumen zurück in die Einschusswunde. Er drückte und drehte ihn in alle Richtungen. Erstickte Schreie folgten, lauter dieses Mal. Der Mann bäumte sich auf, die Augen weit aufgerissen, die Adern auf der Stirn und an den Schläfen prall gefüllt. Victor zählte bis sieben, dann zog er den Daumen wieder heraus. Danach dauerte es noch einmal fünf Sekunden, bis der Mann sich so weit beruhigt hatte, dass Victor die Hand wegnehmen konnte. »Wer?«
»Bring … mich um.« Der Kerl wurde zusehends schwächer, sein Atem flacher, die Stimme leiser, die Zeit zwischen den
einzelnen Worten länger. Victor beugte sich dicht über ihn. »Wer hat dich geschickt?« Der Kopf des Mannes sackte nach hinten, und er klappte die Augen zu. Victor fühlte seinen Puls. Er war kaum mehr vorhanden, das Herz war schon dabei, seine Arbeit für immer einzustellen. Er durchwühlte die Taschen des Sterbenden. Eine Brieftasche mit einem wahrscheinlich gefälschten Führerschein, der ihm aber vielleicht trotzdem weiterhelfen würde, ein bisschen Bargeld und ein Autoschlüssel, allerdings ohne Sender. Er steckte den Schlüssel und den Führerschein ein und blickte auf seine Armbanduhr. Vier Minuten waren vergangen, seitdem es laut geworden war. Wenn die Polizei nicht schon hier war, dann würde sie es sein, wenn Victor das Hotel verlassen wollte. Er legte alles, was er zum Kampf benötigt hatte, ab, die Kevlarweste ebenso wie die diversen Halfter. Dann steckte er die Pistole hinten in den Hosenbund, wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht und steuerte das Treppenhaus an. Er wusste nicht, wer die vier Kerle mit den SIGs gewesen waren, aber er wusste, dass er
unbeabsichtigt in eine Überwachungsaktion geraten war und das gesamte Überwachungsteam umgebracht hatte. Aber diese Typen waren mehr als reine Beobachter gewesen. Sie wussten, wie man mit Waffen umging und wie man kämpfte. Irgendjemand hatte sie geschickt. Und dieser Jemand würde wissen wollen, wer sie getötet hatte. Victor schlüpfte in seine Schuhe und eilte die Treppe hinunter. Während sein Körper das Adrenalin langsam abbaute, wurden die Schmerzen in seinem Arm schlimmer. Er gesellte sich zu einer Gruppe verängstigter Hotelgäste im dritten Stock und benahm sich ähnlich nervös wie sie, während sie ins Foyer gingen. Es war mit Gästen überfüllt. Die Schüsse im obersten Stockwerk hatten sie alle in Panik versetzt. Die Wachmänner versuchten, die Situation unter Kontrolle zu bekommen, waren jedoch schlau genug, nicht ihr Leben zu riskieren, falls es nicht unbedingt erforderlich war. Das Hotelpersonal hatte Kerzen angezündet, um wenigstens für ein bisschen Licht zu sorgen. So gelang es Victor ohne Mühe, einen Seiteneingang zu entdecken und hinauszuschlüpfen. Während er sich entfernte, fuhren draußen
Polizeiautos vor.
Kapitel 25 »Nicht mehr lange«, sagte Abbot. Saul Callo saß in einem kleinen Apartment in einem Wohnblock irgendwo in Minsk. Vor etlichen Stunden war er zusammen mit Abbot und Blout hier eingetroffen und hatte seither hauptsächlich auf dem Sofa gesessen und sich im russischen Fernsehen synchronisierte US-Sitcoms angesehen. Er hatte jede Menge zu essen und zu trinken bekommen, wenn auch überwiegend Junkfood und Limonade, aber Blout hatte eingekauft, und gutes Essen war offensichtlich nicht das Spezialgebiet des wortkargen Gorillas. Trotzdem, Essen war Essen, und Callo war zwar der magere Typ, besaß aber einen kräftigen Appetit. Leere Chipstüten und Schokoriegel-Verpackungen bedeckten den Fußboden rund um seine nackten Füße. Schuhe durfte er keine tragen. Abbot stand am Fenster, und Blout war irgendwo sonst in der Wohnung. Mindestens einer der beiden war immer in Callos Nähe. Sie ließen ihn auch nur bei geöffneter Tür aufs Klo gehen, und jedes Mal stand Blout direkt davor. Callo hatte dafür gesorgt,
dass der dämliche Idiot ordentlich was zu hören kriegte. Sie warteten auf irgendwas, das war jedenfalls klar wie ein polierter Diamant. Callo hatte keine Ahnung, worauf. Man hatte es ihm nicht gesagt und auch nichts angedeutet, und er würde den Teufel tun und sich danach erkundigen. Er war müde. Es gab keine Uhr in der Wohnung, aber Callo wusste, welcher Tag heute war, und kannte auch die Uhrzeit, weil er nämlich immer wieder heimlich, wenn gerade niemand hinsah, auf den Nachrichtensender umschaltete. Das hatte er schon mehr als einmal gemacht, und er war sehr stolz auf seine Cleverness. Das Apartment hatte zwei Schlafzimmer, ein Badezimmer, ein Wohn- und Esszimmer sowie eine Küche und einen Flur. Es war alles sauber und ordentlich, aber das ganze Ding einschließlich der Möbel kostete wahrscheinlich weniger als Callos letzter Ausflug nach Athen. Wer immer hinter dieser Operation steckte, die CIA oder sonst jemand, war ganz offensichtlich ein Geizhals. Wenn die Verantwortlichen ein bisschen tiefer in die Tasche gegriffen und etwas Hübscheres aufgetan hätten, vielleicht hätten sich die beiden
Menschenaffen, die ihn bewachten, ein bisschen entspannen können. Callos Augenlider wurden schwer. »Kann ich ins Bett gehen?«, erkundigte er sich, als er nicht mehr länger gegen seine Müdigkeit ankam. »Keine Chance«, erwiderte Abbot, ohne ihn anzuschauen. »Dann schlafe ich eben hier auf dem Sofa ein.« »Wie du willst«, meinte Abbot. »Ich weck dich auf, wenn wir dich brauchen.« Callos Müdigkeit war schlagartig verflogen. Wofür konnten sie ihn brauchen? Blout trat ins Wohnzimmer und gab Abbot ein Zeichen. Dieser folgte Blout in eines der Schlafzimmer, und Callo war zum ersten Mal seit Langem alleine. Er überlegte, ob er zur Tür laufen sollte, aber nur kurz. Sie würden ihn schnappen, noch bevor er die Tür geöffnet hatte, und das Ganze würde ihm garantiert eine heftige Abreibung einbringen. Lieber ganz ruhig sitzen bleiben. Schließlich konnten sie ihn nicht ewig hier festhalten. Callo stellte den Fernseher stumm und rutschte auf dem Sofa ein Stückchen dichter auf die Tür zu,
hinter der Abbot verschwunden war. Er hörte russische Stimmen, vielleicht aus einem Funkgerät. Aber sie waren zu leise, und Callo konnte nicht verstehen, was gesagt wurde. Plötzlich trat Abbot wieder ins Zimmer, und Callo war mit einem Satz zurück in der Sofamitte. Falls Abbot etwas gesehen hatte, dann ließ er sich nichts anmerken. Stattdessen drückte er Callo ein Handy in die Hand und zog ein Blatt Papier aus seiner Hosentasche. Das hielt er Callo vor die Nase. »Du wirst Folgendes tun«, sagte er mit angespannter Miene. In seinem britischen Akzent lag eine gewisse Schärfe. »Du rufst Gabir Yamout an und sagst demjenigen, der ans Telefon geht, das, was auf diesem Zettel steht. Du sprichst doch Arabisch, oder? Du kannst es anders formulieren, in eigenen Worten, wenn du willst, aber du musst alles sagen, was da draufsteht.« Callo nahm den Zettel in die Hand und las ihn schnell durch. »Ja, ich spreche Arabisch. Aber ich verstehe das nicht. Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.« »Du brauchst es nicht zu verstehen«, erwiderte Abbot. »Du sollst es bloß sagen.«
»Aber ich …« Bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, hatte Abbot ihm eine schallende Ohrfeige verpasst. Das Telefon fiel zu Boden. Callos Wange brannte. Er schaute zu Abbot auf. Plötzlich hatte er Angst. Und Blout war auch wieder hereingekommen. »Ruf Yamout an«, wiederholte Abbot kalt, »und sag ihm, was auf dem verdammten Zettel steht.« Callo nahm das Telefon und wählte. »Bitte schön«, sagte er. »Aber Yamout wird gar nicht selber ans Telefon gehen, sondern einer seiner Leute, und der richtet Yamout dann aus, dass ich angerufen habe.« Abbot zuckte mit den Schultern. »Hauptsache, du tust so, als hättest du Schiss.« Callo kapierte zwar nicht, was das sollte, aber er saß da und hörte es zehn Sekunden lang piepsen, bis sich schließlich jemand meldete und auf Arabisch sagte: »Ja?« Callo wiederholte, was er gelesen hatte. Bloß ein paar kurze Sätze … eine eindeutige Lüge … und das mit dem Schiss war überhaupt kein Problem. Noch bevor er den letzten Satz beendet hatte, riss
Abbot ihm das Telefon aus der Hand und unterbrach die Verbindung. »Gut gemacht, Saul.« Er schien rundum zufrieden zu sein, und Callo brachte ein verzagtes Lächeln zustande, obwohl seine Wange immer noch brannte. Blout ging zurück ins Nebenzimmer. Callo warf noch einmal einen Blick auf den Zettel. »Oh, nein«, sagte er dann. »Ich habe den Teil mit dem Hotel vergessen. Tut mir leid.« Abbot zuckte demonstrativ mit den Schultern. »Spielt keine Rolle. Die Einzelheiten sind nicht so wichtig, wichtig ist vor allem, wie es rüberkommt. Und du bist spitzenmäßig rübergekommen. Sehr überzeugend.« »Wirklich? Vielen Dank.« Blout kam zurück, stellte einen Rucksack auf den Esstisch und holte einen Geldbeutel heraus. Er warf ihn Abbot zu, und dieser klappte ihn auf und kippte den Inhalt auf den Fußboden. Callo sah zu, wie seine Kreditkarten, Quittungen, Geldscheine und anderes Zeug auf den Teppich regneten. Schließlich warf Abbot das Portemonnaie beiseite und verteilte die Sachen mit dem Fuß auf dem Boden. »Was machen Sie denn da?«, beschwerte er
sich. »Das sind doch meine Sachen.« Abbot gab keine Antwort. Callo blickte Blout an, der im Rucksack herumwühlte. Er nahm all seinen Mut zusammen. »Und mehr wollten Sie nicht von mir?«, stieß er hervor. Abbot krempelte seine Hemdärmel nach oben. »Das war die Hälfte, Saul, und du warst wirklich spitze. Hast du echt gut gemacht. Sehr überzeugend, wie gesagt. Genau das war auch notwendig. Aber jetzt musst du auch im zweiten Teil absolut überzeugend sein.« Callo nickte bereitwillig. »Das kriege ich bestimmt hin.« Abbot lächelte ihn irgendwie seltsam an. »Da bin ich mir ganz sicher.« Blout streifte ein Paar Latexhandschuhe über und reichte Abbot ein zweites Paar. »Wann soll ich den zweiten Anruf machen?«, wollte Callo wissen. Abbot schüttelte den Kopf und dehnte die Handschuhe über seine großen Hände. »Keine Anrufe mehr, Saul. Jetzt musst du deine arabischen Freunde davon überzeugen, dass du überfallen wurdest.«
Callos Blick huschte zwischen Abbot und Blout hin und her. »Aber ich habe ihnen doch gesagt, dass ich entkommen bin.« »Aha«, meinte Abbot, nickte und schob die Finger ineinander, damit das Latex sich schön um jeden Finger schmiegte. »Aber dann haben sie dich noch mal erwischt.« Blout kam drohend näher. Callo starrte zu Abbot hinauf, hatte endlich kapiert. Tränen schossen ihm in die Augen. Abbot baute sich vor Callo auf, zog den rechten Ellenbogen zurück und ballte die Hand zur Faust. »Tut mir leid, Kumpel«, sagte er, »aber das hättest du dir wirklich denken können.«
Kapitel 26 Victor kam eine halbe Stunde, nachdem er das Europe verlassen hatte, im Best Eastern an, deutlich schneller als unter normalen Umständen, aber mit einem verletzten Arm war klar, dass er sich nicht erst zwei Stunden mit seiner Gegenüberwachung aufhalten konnte. In der Theorie wäre das zwar das Richtige gewesen, aber wenn der Arm sich in der Zwischenzeit entzündete oder er einem wachsamen Polizisten über den Weg lief, war die ganze schöne Theorie nichts wert. In seinem Zimmer angelangt, zog er sich aus und ließ Badewasser ein. Dann stellte er sich vor den Spiegel und untersuchte die Wunde. Sein ganzer Arm war blutverschmiert. Die eigentliche Wunde war ungefähr zehn Zentimeter lang, vielleicht drei Millimeter tief und blutete jetzt sehr viel stärker als unmittelbar nach dem Schuss. Er steckte den Stöpsel ins Waschbecken und drehte den Warmwasserhahn auf. Zur Ausstattung des Zimmers gehörten auch ein Wasserkocher, Tassen, Teebeutel sowie kleine Portionspackungen mit löslichem Kaffee und Zucker. Victor warf zwei
Teebeutel in eine Tasse und feuchtete sie mit einem Schuss kaltem Wasser an. Dann holte er ein sauberes T-Shirt aus seiner Tasche und riss es in Streifen. Das ging nicht ohne Schmerzen, und er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Er senkte seinen verletzten Trizeps ins Waschbecken. Sekunden später hatte sich das Wasser blassrot gefärbt. Mit zusammengebissenen Zähnen wusch er die Wunde aus, um sämtliche Faserreste und andere Rückstände daraus zu entfernen. Er trocknete den Arm vorsichtig ab, holte die feuchten Teebeutel aus der Tasse und legte sie auf die Wunde, balancierte sie auf dem waagerechten Oberarm und wickelte einen T-ShirtStreifen darum, fest, aber nicht zu fest, damit die Teebeutel ihre optimale Wirkung entfalten konnten. Die im Tee enthaltenen Tannine würden dazu beitragen, die Blutung zu stillen und Infektionen zu verhindern. Darüber hinaus unterstützten sie den Heilungsprozess. Nach fünf Minuten ersetzte Victor die blutgetränkten Teebeutel durch zwei frische und machte den Verband ein klein wenig fester. Als er nach weiteren fünf Minuten noch einmal nachsah, blutete es nicht mehr.
Victor riss ein Zuckerpäckchen auf und streute die Kristalle vorsichtig in die Wunde. Falls sie sich noch nicht entzündet hatte, dann würde der Zucker mit seiner antimikrobischen Wirkung dafür sorgen, dass es auch so blieb. Und falls doch, dann würde der Zucker hoffentlich die Bakterien abtöten oder zumindest ihren Ausbreitungsprozess verlangsamen. Anschließend umwickelte er den Arm mit einem frischen T-Shirt-Streifen, trank zwei Wodkaflaschen aus der Minibar leer und ließ sich in die Badewanne sinken, den rechten Arm immer in gebührendem Abstand zum Wasser. Jetzt, da die Wunde sauber und die Blutung gestillt war, konnte die Heilung beginnen. Es würde eine neue Narbe zurückbleiben, aber davon hatte er schon so viele, dass es auf eine mehr oder weniger nicht mehr ankam. Er war nicht der Typ, der in der Öffentlichkeit das Hemd auszog, und sollte die Narbe sich dennoch als zu auffällig erweisen, dann würde eben noch mehr von seinem Geld in die Taschen irgendwelcher Schönheitschirurgen fließen. Abgesehen von reichen Frauen waren Profikiller vermutlich deren beste Kundschaft. So gut sich Teebeutel und Zucker auch zur
Erstversorgung von Verletzungen eigneten, eine richtige Erste-Hilfe-Ausstattung wäre natürlich besser gewesen. Er hatte jedoch so kurz nach den Geschehnissen keine Suche nach einer Nachtapotheke riskieren wollen, da die Polizei jetzt ganz besonders aufmerksam war. Victor glaubte zwar kaum, dass ihnen klar war, dass sie nach einem einzelnen Mann Ausschau halten mussten – zumindest noch nicht –, aber wenn er auf der Straße herumlief, dann konnte er jederzeit angehalten werden. Und vermutlich waren sie schlau genug, um Krankenhäuser und Apotheken unter Beobachtung zu stellen. Das Polizeiaufgebot in dieser Nacht würde gewaltig sein, in der Hoffnung, die Schuldigen auf der Flucht zu stellen. Alle würden sie davon ausgehen, dass die Täter zu flüchten versuchten. Genau das taten Verbrecher in einer solchen Situation. Und Victor musste zugeben, dass die Flucht durchaus das richtige Mittel sein konnte. Wenn ein Aufenthaltsort vergiftet war, dann war Rückzug angesagt. Sobald man dann die unmittelbare Gefahrenzone hinter sich gelassen hatte, musste man innehalten, sich sammeln, einen
Plan ausarbeiten. Aber in diesem Fall wäre ein überhasteter Rückzug zu riskant gewesen. Bei Nacht waren nur wenige Menschen auf der Straße, sodass man nicht gut in der Menge untertauchen konnte, und es gab weniger Möglichkeiten, schnell vom Fleck zu kommen. Außerdem war er verletzt, was er nur schwer verbergen konnte und was ihn, falls er entdeckt wurde, zusätzlich behindern würde. Er war müde. Der Adrenalin-Kater war auf dem Höhepunkt angelangt, und er musste sich regelrecht zwingen, die Augen offen zu halten. Bilder des Erlebten flackerten durch seinen Geist. Es hätte gar nicht schlimmer kommen können: Yamout war entkommen, Victor war gezwungen gewesen, ein Überwachungsteam einer unbekannten Organisation zu töten und war dabei auch noch verletzt worden. Er wusste nicht allzu viel über diese Leute, außer dass sie gekommen waren, um das Treffen zwischen Yamout und Petrenko zu dokumentieren. Sie hatten weder zu dem einen noch zu dem anderen gehört, hatten sich aber eingemischt, nachdem Victor begonnen hatte, einen nach dem anderen zu massakrieren. Wären es Verbündete
von Yamout oder Petrenko gewesen, dann hätten sie auf deren Hilferufe reagiert. Und weißrussische Sicherheitsbeamte waren es auch nicht gewesen. Sonst hätten sie sich als solche ausgewiesen und versucht, Victor festzunehmen, anstatt auf ihn zu schießen. Letzter Punkt: Das Russisch des Beobachters hatte alles andere als fließend geklungen. Also handelte es sich nicht um Einheimische. Er schob den Gedanken zunächst einmal beiseite. Solange er in der Badewanne lag, würde er keinen klaren Gedanken mehr fassen, und wenn er Minsk nicht bald den Rücken kehren konnte, war jedes Nachdenken ohnehin überflüssig. Die Wasserhähne bohrten sich unangenehm in seine Schulterblätter, aber er musste mit dem Gesicht zur Badezimmertür sitzen. Sie stand offen, damit er das Hotelzimmer und den kleinen Spiegel im Blick behalten konnte, den er auf den Boden gestellt und so gedreht hatte, dass er darin die Tür sehen konnte. Er rechnete zwar nicht damit, dass irgendjemand hereinkam, aber Vorsichtsmaßnahmen waren nur dann sinnvoll, wenn sie jedes Mal getroffen wurden.
Er verbrachte zwanzig Minuten in der Wanne, genoss die Hitze und den Alkohol in seinem Blut. Er vertrug mehr, als er getrunken hatte, darum war der berauschende Effekt nur minimal. Falls es sein musste, würde ein Adrenalinstoß den Alkohol mühelos überlagern, aber trotzdem half ihm die Wirkung, sich zu entspannen. Die ganze Zeit über hielt er die SIG des Beobachters in der linken Hand. Nach dem Abtrocknen säuberte Victor das Schlafzimmer und das Badezimmer. Jeden Blutstropfen wischte er mit einem Streifen des zerrissenen T-Shirts ab, angefeuchtet mit noch etwas Wodka aus der Minibar. Das blutverschmierte Handtuch und alle Hinweise auf seine improvisierten Erste-Hilfe-Maßnahmen wanderten in seinen Aktenkoffer. Er schlüpfte in einen kompletten Satz frischer Klamotten und bestellte beim Zimmerservice etwas zu essen. Dann, nachdem er seine Energiereserven aufgefüllt und sichergestellt hatte, dass alle seine Sachen fertig gepackt waren und er von einer Sekunde zur anderen fliehen konnte, erst dann steckte er die SIG vorn in seinen Hosenbund und legte sich aufs Bett. Wenn sein Auftraggeber bei der CIA nicht bereits
wusste, was geschehen war, würde es sicher nicht mehr lange dauern. Vielleicht ging er ja nachsichtiger mit ihm um, wenn er wusste, dass er lediglich durch die Intervention einer dritten Partei daran gehindert worden war, seinen Auftrag auszuführen. Aber wer weiß … womöglich stellte sich heraus, dass die Ermordung dieser Männer seinen Brötchengeber zu sehr unter Druck setzte. Und Victor zu einem verzichtbaren Faktor wurde.
Kapitel 27 Danil Petrenko empfand Wut und Angst gleichermaßen. Es brachte ihn in Rage, dass jemand es gewagt hatte, ihn mitten in seiner eigenen Stadt anzugreifen, um ihn umzubringen, und es erschütterte ihn bis ins Mark, dass diese Typen es um ein Haar auch geschafft hätten. Als Vorsichtsmaßnahme hielt er daher eine Desert Eagle, Kaliber 50, in der Hand, während er in seiner Wohnung auf und ab tigerte, Befehle bellte oder einfach nur seiner Frustration und seiner Nervosität freien Lauf ließ. Seine Adjutanten hatten jeden Mann, dem er etwas zu sagen hatte, angerufen und zu seiner Residenz befohlen, als Schutztruppe. Wenn die Angreifer es noch einmal versuchen sollten, dann würden sie es mit einer kleinen Armee zu tun bekommen. Er hatte Wachen vor seinem Haus, im Foyer, vor den Fahrstühlen und vor seiner Wohnungstür postiert. Sechs seiner kräftigsten und grausamsten Männer hielten sich bei ihm in der Wohnung auf. Alle waren bewaffnet. Jedes Fenster war geschlossen, sämtliche Vorhänge, Gardinen und Jalousien
zugezogen, alle Lichter waren eingeschaltet und in jedem Zimmer zusätzliche Kerzen aufgestellt worden, für den Fall, dass der Strom noch einmal ausfallen sollte. Wie Petrenko waren auch seine Männer hochgradig nervös. Sie wussten, dass vor wenigen Stunden erst drei ihrer Kumpels einer skrupellosen Attacke zum Opfer gefallen waren. Neben all den Männern, die Petrenko bewachten, waren noch mehr Leute auf der Straße unterwegs, klopften an Wohnungstüren, brachen anderen die Finger und versuchten irgendwie herauszufinden, wer und was hinter diesem Angriff steckte. Sämtliche Kriminellen, die er kannte, und sämtliche Polizisten, die er bestochen hatte, beteiligten sich an der Suche, manche aus Furcht um ihr Leben, andere aus Furcht um ihr Einkommen, falls Petrenko getötet werden sollte. Das Motiv spielte für Petrenko keine Rolle. Ihn interessierten nur Ergebnisse. Der libanesische Drecksack steckte jedenfalls nicht dahinter. Das war ziemlich eindeutig. Er hatte ihm in die Augen gesehen, als sie durch das Badezimmerfenster geklettert und auf dem schmalen Mauersims entlanggekrochen waren. Dieses tödliche Entsetzen konnte kein Mensch
vortäuschen. Ungefähr drei Stunden waren vergangen, seitdem er zusammen mit seinem einzigen überlebenden Mann aus dem Europe geflüchtet war. Er bewohnte das Penthouse eines zehnstöckigen Wohnblocks in einer der teuersten und begehrtesten Gegenden von Minsk. Hier lebte er mit seiner Freundin, einem glamourösen Model, die sich im Gästezimmer eingeschlossen hatte, weil sie Petrenko und seinen Leuten auf keinen Fall über den Weg laufen wollte. Jetzt kam einer seiner Männer aus einem anderen Zimmer. Er hielt eine Schrotflinte in der einen Hand und drückte mit der anderen ein Handy an seine Brust. »Gerade haben sie von unten angerufen«, sagte der Mann. »Er ist da.« »Gut.« Petrenko nickte. »Schickt ihn hoch. Aber sorgt dafür, dass er und seine Männer keine Waffen haben. Und lasst sie keine Sekunde lang aus den Augen, verstanden? Keine einzige Sekunde.« Während der Mann den Wachen im Foyer ein Zeichen gab, spritzte Petrenko sich ein wenig Wasser ins Gesicht, wischte sich die verschwitzten Haare aus der Stirn, zog sich noch eine dicke Linie
des hochwertigen bolivianischen Stoffs in die Nüstern. Er wischte sich die weißen Pulverreste von den Nasenlöchern, holte einmal tief Luft und wartete im Wohnzimmer auf die Ankunft seines Besuchers. Wenig später klopfte es an der Tür. Petrenko hörte, wie seine Männer zu den Waffen griffen und den Gast zu ihm brachten. Tomasz Burliuk betrat den Raum, und Petrenko stand auf. Zwei Leibwächter folgten dem groß gewachsenen, gut aussehenden, makellos gekleideten Ukrainer dicht auf den Fersen. Alle drei Männer trugen Anzüge und Mäntel. »Danil«, sagte Burliuk. »Wo hast du deine Manieren gelassen?« »Es tut mir leid, Tomasz, aber man kann nicht vorsichtig genug sein. Du hast ja keine Ahnung, was ich gerade erlebt habe. Ich wär beinahe abgekratzt, um ein Haar abgekratzt.« Burliuk erwiderte: »Was ist denn passiert?« Petrenko ließ sich in einen Sessel plumpsen. Er zuckte mit den Schultern und fuchtelte ein wenig mit den Händen, während er versuchte, seine Gedanken zu sammeln. »Wir hatten mit den Verhandlungen gerade angefangen, da ist überall das verdammte
Licht ausgegangen. Ich hab mir nichts dabei gedacht. Eine Sicherung, vielleicht. Aber keine dreißig Sekunden später waren meine ersten Männer tot. Verdammt noch mal, Tomasz, irgendjemand hat versucht, mich umzulegen. In meiner eigenen Stadt. Ich musste durch ein Fenster klettern, um lebend davonzukommen. Hier …« Er deutete auf seine Handgelenke, wo die spitzen Glasscherben ein paar Schürfwunden hinterlassen hatten. »Das war absolut lebensgefährlich.« Burliuk knöpfte seinen Mantel auf und setzte sich gegenüber von Petrenko in einen Sessel. »Was ist mit Yamout?« »Was soll mit ihm sein?« Burliuk strich sich über den Bart. »Ist er auch entkommen?« »Er schon. Aber keiner von seinen Leuten. Er hatte insgesamt sechs Männer dabei. Kannst du dir das vorstellen? Zuerst hab ich mich geärgert über so viel Respektlosigkeit, aber im Nachhinein muss ich ihm dankbar sein. Wären es nicht so viele gewesen, dann wär ich jetzt vielleicht nicht hier.« »Wo steckt Yamout im Moment?«
Petrenko schnaubte. »Woher soll ich das wissen? Wieso auch? Sobald wir aus dem Fahrstuhl waren, haben unsere Wege sich getrennt. Wir haben uns nicht erst zusammengesetzt und unsere Reisepläne erörtert. Wahrscheinlich ist er schon wieder in seiner Wüste.« »Ist er verletzt?« Petrenko runzelte die Stirn. »Wen interessiert das? Schließlich ist es seine Schuld, dass ich beinahe krepiert wäre … Moment mal. Vielleicht waren die ja gar nicht hinter mir her, sondern hinter Yamout.« »Das weiß man nicht«, entgegnete Burliuk. »Du hast ja schließlich Feinde, oder etwa nicht?« Petrenko nickte, aber seine Gedanken wurden zunehmend klarer. Er setzte sich auf und sagte: »Ich habe mehr Feinde als Gott. Jeder Kriminelle hier in dieser Stadt will meinen Kopf. Aber sie fürchten Danil Petrenko und das, was ich ihren Familien antun kann. Zu Recht.« Er deutete mit dem Daumen auf seine Brust. »Ich bin der König von Minsk. Niemand würde es wagen, etwas gegen mich zu unternehmen, es sei denn, er will mir meinen Thron streitig machen. Aber wenn tatsächlich einer so
verrückt wäre, dann würde er mich doch erst dann angreifen, wenn ich am verwundbarsten bin. Und nicht, wenn auch noch Yamout mit seiner kleinen Armee dabei ist.« »Wenn Ihr das sagt, König Danil.« Burliuk neigte den Kopf. »Wie gut, dass du mir zustimmst, Tomasz, weil ich dich nämlich dafür verantwortlich mache.« »Was?« »Du hast den Kontakt zwischen Yamout und mir hergestellt. Ich hätte mit diesem Mann doch niemals Geschäfte gemacht, wenn du nicht für ihn gebürgt hättest.« Burliuk sagte nichts. Petrenko fuhr fort. »Ich habe dich holen lassen, weil ich Schadenersatz von dir verlange.« Burliuk lachte kurz. »Du lässt mich nicht holen, kleiner König. Du ersuchst mich um meine Gegenwart, und dann entscheide ich, ob ich bereit bin, dir diese Gnade zu erweisen oder nicht.« Petrenko lief vor Wut knallrot an. Er trat auf Burliuk zu. Das Kokain bewirkte, dass er sich diesen unbewaffneten Ausländern gegenüber stark und überlegen fühlte.
Burliuks Bodyguards erwachten sofort zum Leben und versperrten ihm den Weg. Petrenko grinste und fuchtelte mit seiner Desert Eagle herum. Wenn er wollte, dann konnte er diese beiden unverschämten, unbewaffneten Schlägertypen von einem Augenblick auf den anderen auslösch… Ein winziges Augenzucken später zog einer der Bodyguards eine Pistole und hielt Petrenko den Lauf an die Wange. »Du musst deinen Gorillas mal erklären, wie man eine vernünftige Durchsuchung anstellt«, sagte Burliuk emotionslos. Petrenko schluckte und ließ seine Waffe fallen. Seine Männer waren nicht in der Nähe und bekamen daher nicht mit, was sich abspielte. Burliuk flüsterte seinen Leibwächtern etwas zu, und sie traten zurück. »Es gibt überhaupt keinen Grund für solche Feindseligkeiten, Danil. Legen wir diesen Konflikt auf freundschaftliche Weise bei.« Petrenko nickte. »Einverstanden.« »Was soll ich also für dich tun?« »Ich will den tot sehen, der mich umbringen wollte.«
»Aber wieso, wenn der Anschlag doch Yamout galt und nicht dir?« Petrenko schnaubte. »Wer das eigentliche Ziel war, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass sie mich angegriffen haben, in meiner Suite, in meiner Stadt, und dass sie meine Männer umgebracht haben. Wie gesagt, es gibt hier viele, denen nichts lieber wäre, als dass mein Königreich zusammenbricht. Ich bin stärker als jeder einzelne meiner Rivalen, aber nicht stärker als alle zusammen. Und jetzt, nach dieser Demütigung, werden sie mich für schwach halten. Ich muss meine Stärke beweisen, und zwar schnell. Und du kannst mir dabei behilflich sein.« »Danil, ich glaube nicht …« »Wage es ja nicht, Nein zu sagen, Tomasz. Ich war dir und Kasakov immer ein guter Freund. Wie viele Lieferungen habt ihr über mein Land abgewickelt? Und immer ist alles glattgelaufen. Die Gewehre, um die es hier geht, habe ich mir völlig selbstständig beschafft, und ich habe sie zuerst Kasakov angeboten, aus Höflichkeit. Aber ihr wart nicht interessiert. Also mache ich mich auf die
Suche nach Käufern, und dann kommst du ins Spiel und bittest mich, mit Yamout zu verhandeln, aus reiner Gefälligkeit … eine Gefälligkeit, zu der ich mich als Zeichen meines Respekts auch bereit erklärt habe. Du hast mir den Grund dafür nicht genannt, und ich habe nicht danach gefragt, ich habe es einfach gemacht. Aber das war, bevor ich, nur aufgrund dieser Gefälligkeit, mehrere gute Männer verloren habe. Und jetzt frage ich mich natürlich, warum du so versessen darauf warst, dass ich meine Gewehre ausgerechnet an Yamout verkaufe. Es wird dich beruhigen, dass ich die Antwort auf diese Frage noch nicht gefunden habe, aber ich bin mir sicher, dass Kasakov von deiner kleinen Absprache mit Yamout nichts ahnt. Was würde er wohl dazu sagen, wenn ich ihm erzähle, dass seine rechte Hand irgendetwas hinter seinem Rücken gemauschelt hat?« Burliuk blieb lange stumm. Dann sagte er: »Du würdest dein Leben tatsächlich so sinnlos aufs Spiel setzen?« »Ich glaube nicht, dass du in der Position bist, um mir zu drohen, Tomasz.« »Du hast mich missverstanden. Ich will dich
lediglich darauf hinweisen, dass Kasakov dich genauso sicher umbringen würde wie mich, falls du ihm das Ganze erzählst.« »Nicht schlecht, Tomasz. Aber du musst dir schon ein bisschen mehr Mühe geben, wenn du mich austricksen willst. Kasakov und Yamout sind keine direkten Konkurrenten, das weiß ich genau. Darum ist es ihm auch egal, wenn ich mit ihm Geschäfte mache. Aber bei dir ist das was anderes.« Burliuk lachte. »Dann bist du ein Idiot. Kasakov würde dir Qualen bereiten, für die es keine Worte gibt. Er weiß nichts von meiner Absprache mit Yamout, das ist richtig. Yamout hat mir einen Gefallen getan, und ich habe diesen Gefallen erwidert und den Kontakt zu dir hergestellt. Und bis jetzt war das alles auch kein Problem. Aber nun hat Kasakov festgestellt, dass Yamouts Organisation für den Tod seines geliebten Neffen Illarion verantwortlich ist, und er will Blut sehen. Wenn er erfährt, dass ich mich mit seinem ärgsten Feind eingelassen habe, dann blüht mir dasselbe Schicksal. Genau wie dir.« »Ich glaube dir kein Wort.« Burliuk holte sein Handy aus der Tasche. »Dann
ruf Vladimir an, jetzt und hier, und spiel mit deinem Leben.« Petrenko dachte eine Minute lang nach, dann winkte er ab. »Also gut, du hast gewonnen, Tomasz. Steck das verdammte Telefon weg. Gut gepokert, wie immer. Ich kann nur hoffen, dass du Yamout genauso gut im Griff hast, in deinem eigenen Interesse.« »Yamout hat keinerlei Bedeutung. Er weiß nicht, wer ich bin, und Kasakov wird ihn in Kürze ermorden lassen.« »Es freut mich zu hören, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst«, zischte Petrenko. »Dann können wir uns ja wieder meinem Anliegen zuwenden. Ich muss immer noch an meine Rivalen denken. Sie müssen wissen, dass jeder, der etwas gegen mich unternimmt, einen Preis zu bezahlen hat.« »Dann verrat mir doch, was du bisher über die Angreifer in Erfahrung gebracht hast.« Petrenko zuckte mit den Schultern. »Noch gar nichts.« »Aber es ist ja schon über drei Stunden her.« Erneut zuckte Petrenko mit den Schultern. »Meine
Leute tun, was sie können. Jeder Ganove in der Stadt wird gerade ausgequetscht, ob er vielleicht irgendetwas weiß.« »Dann weißt du also, nach wem du suchen musst?« »Nein, aber …« »Hast du vielleicht einen der Angreifer gesehen?« »Nein.« Burliuk ging im Zimmer auf und ab. »Hast du etwas gehört? Irgendetwas? Stimmen vielleicht?« »Nein«, wiederholte Petrenko. »Ist vielleicht irgendetwas vorgefallen, noch vor Yamouts Eintreffen?« »Davor? Wieso?« »Weil die nicht einfach nur aufgetaucht sind und angefangen haben herumzuballern. Vorher müssen sie das Hotel ausgekundschaftet haben. Sie waren schon vor Yamout da, vielleicht sogar schon vor dir. Sie müssen nach ihm Ausschau gehalten haben. Hast du irgendjemanden gesehen?« Petrenko schüttelte den Kopf. »Nein.« »Und was ist mit dem Mann, der zusammen mit dir entkommen ist?«
»Ich weiß nicht.« »Dann frag ihn.« Petrenko rief nach seinem Untergebenen, und er trat ins Zimmer. Er wirkte nervös. »Hast du heute«, sagte Burliuk ohne Einleitung, »irgendjemanden im Hotel gesehen, der irgendwie unpassend gewirkt hat? Ausländer vielleicht. Leute mit auffälliger Kleidung. Hast du bei irgendjemandem den Eindruck gehabt, er würde dich beobachten, vielleicht auch nur ganz flüchtig? Hat dich irgendjemand länger als eine Sekunde angeschaut?« Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Mir ist niemand verdächtig vorgekommen, und Ausländer hab ich auch keine gesehen. Der Einzige, an den ich mich erinnern kann, war einer vom HotelManagement.« »Wann war das?«, wollte Burliuk wissen. »Ja, genau, wann?«, fügte Petrenko hinzu. »Als ihr gerade Essen geholt habt. Ein paar Minuten, nachdem ihr weg wart, um genau zu sein.« Burliuk sagte: »Was wollte er?« »Weiß ich nicht. Er hat bloß die Suite kontrolliert.« »Wie war sein Name?«, wollte Petrenko wissen.
»Ich kenne alle, die für das Management arbeiten.« »Er hat mir nicht gesagt, wie er heißt.« »Beschreib ihn mal«, sagte Burliuk. »Meine Größe, aber dünner. Ungefähr mein Alter. Dunkle Haare.« Petrenkos Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Du Idiot, im Hotel-Management gibt es niemanden, der so aussieht. Das war einer von denen. Ich müsste dir die Augen ausstechen.« »Aber du hast ihn doch mit Sicherheit genau gesehen, oder?«, sagte Burliuk mit leiser Stimme. »Ja«, bestätigte der Mann. »Gut«, sagte Petrenko und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Du hast dir gerade eben das Leben gerettet.« Burliuk meinte: »Stell ihn dir genau vor. Die Form seiner Nase, seine Augenfarbe, wie weit sie auseinanderstehen. Alles, jedes kleinste Detail.« Er wandte sich an Petrenko. »Hast du ein paar Bullen auf deiner Gehaltsliste?« »Selbstverständlich.« »Ruf an und lass sofort einen Phantombildzeichner herkommen. Wenn das Bild fertig ist, bekommt jeder deiner Männer eine Kopie
davon. Sie sollen jedes Hotel und jede Pension abklappern, jeden Portier und jedes Zimmermädchen fragen, ob sie ihn gesehen haben. Lass Flughafen und Bahnhöfe beobachten. Sprich mit Taxifahrern, Barkeepern, mit allen. Lass Geld springen, setz eine Belohnung für Hinweise aus. Gib das Bild an Bullen weiter, denen du hundertprozentig vertrauen kannst. Streck deine Fühler überall in der ganzen Stadt aus. Irgendjemand hat ihn gesehen oder wird ihn sehen. Mit ein bisschen Glück sind er und seine Freunde noch hier. Und wenn nicht, dann gibt es eine Spur, der wir folgen können, bis zu denjenigen, die sie geschickt haben.« Petrenko blieb für einen Moment still und überlegte, wie er sich ausdrücken sollte. »Und wenn wir sie gefunden haben?«, sagte er schließlich. »Was dann? Beim letzten Mal haben sie meine und Yamouts Leibwächter umgelegt, und zwar blitzschnell. Das sind skrupellose Killer. Meine Männer hingegen sind Diebe und Schläger, aber keine Soldaten.« Burliuk winkte ab. »Ich helfe dir, und im Gegenzug vergisst du, welche Rolle ich bei deinem Deal mit Yamout gespielt habe. Einverstanden?«
Petrenko nickte. »Ich organisiere dir ein paar Profis, die die Sache in die Hand nehmen werden. Du hast nichts weiter zu tun, als ihn zu finden.«
Kapitel 28 Dunkle Wolken hingen am Himmel über Minsk. Victor ging auf der linken Straßenseite direkt an der Bürgersteigkante entlang, damit unachtsame oder ungeschickte Fußgänger nicht aus Versehen seinen verletzten Arm streifen oder dagegenstoßen konnten. Er pulsierte unaufhörlich. Im Lauf des Vormittags hatte er verschiedene Apotheken aufgesucht und Erste-Hilfe-Artikel gekauft, anschließend die Wunde gesäubert und verbunden, um sich dann auszuruhen und zu schlafen. Er hatte gewartet, bis der Berufsverkehr einsetzte. Dann war die beste Zeit, um sich aus dem Staub zu machen. So viele Menschen wie möglich, so viel Deckung wie möglich. Nach den Ereignissen des vergangenen Abends hatte Victor es mit zahlreichen Feinden zu tun. Er glaubte zwar nicht, dass Yamout noch in der Stadt war, und noch weniger, dass er nach ihm suchte, jetzt, wo alle seine Leibwächter tot waren, aber da waren immer noch Petrenkos Leute, die Auftraggeber des Überwachungsteams sowie die Behörden.
Die Polizei würde, da es keine Augenzeugen gab, nicht konkret nach ihm suchen, aber generell nach Verdächtigen Ausschau halten. Das Überwachungsteam hatte mit den Kameras sein Gesicht erfasst, als er am Nachmittag die Präsidentensuite in Augenschein genommen hatte. Den Computer hatte er zwar erschossen, aber wenn die Aufnahmen noch irgendwo anders gesichert worden waren, dann hatte er ein echtes Problem. Hatte er tatsächlich alle Team-Mitglieder getötet, dann spielte es keine Rolle, zumindest nicht im Moment, aber irgendjemand hatte sie losgeschickt, und dieser Jemand kannte jetzt womöglich sein Gesicht. Was Petrenko anging: Einer seiner Männer hatte zusammen mit ihm überlebt, doch im Durcheinander des Gefechts hatte Victor sich nicht gemerkt, welcher. Falls dieser Mann zufälligerweise jener gewesen war, mit dem Victor sich kurz unterhalten hatte, dann war es denkbar, dass sie mittlerweile die Bedeutung dieses »Kontrollbesuchs« erkannt hatten und ebenfalls wussten, wie er aussah. In einem Secondhandladen hatte er sich billige Schuhe, billige Jeans und eine billige Jacke besorgt,
dazu eine ebenso billige Baseballmütze tief in die Stirn gezogen. Er ging leicht gebückt, damit man ihm seine wahre Größe nicht ansah. Jetzt war er noch eine Querstraße vom Europe entfernt, hielt sich einen Schritt hinter einer russischen Reisegruppe, ganz so, als würde er dazugehören, nickte gelegentlich und lächelte, wie jemand, der sich am Gespräch beteiligte. Währenddessen suchte er nach dem Auto, das zu dem Schlüssel gehörte, den er einem der Männer des Überwachungsteams abgenommen hatte. Sie hatten sich clever angestellt. Abgesehen von den weißrussischen Führerscheinen, die sie bei einer Verkehrskontrolle gebraucht hätten, waren sie absolut sauber gewesen. Das Auto stand garantiert nicht auf einem der Parkplätze gegenüber dem Hotel oder sonst in der unmittelbaren Nähe. Sie hatten bestimmt ein bisschen weiter weg geparkt, damit sie von Petrenko oder Yamout nicht bemerkt wurden, aber trotzdem so dicht, dass es nicht unpraktisch wurde. Einen Straßenblock, vielleicht ein bisschen mehr, vielleicht ein bisschen weniger. Von seinen vorangegangenen Erkundungsgängen kannte Victor sämtliche Parkmöglichkeiten in der
näheren Umgebung. Er ging im Stillen eine nach der anderen durch, bis er noch zwei auf der Liste hatte: entweder ein kleiner Parkplatz im Nordosten, hinter einer Ladenzeile, oder aber die lange Reihe mit Parkbuchten, die sich am westlichen Rand des Oktoberplatzes entlangzog. Der Erstgenannte lag etwas versteckter, war aber auch schwerer zugänglich und daher nicht so gut geeignet, wenn man in Eile aufbrechen musste. Wenn sie es clever angestellt hatten, dann hatten sie nach Möglichkeit einen Parkplatz gewählt, auf dem sie nicht eingeklemmt werden konnten. Er sah trotzdem nach, weil er eben gründlich war, konnte den Wagen aber nicht finden. Jetzt befand er sich bei der zweiten Option und ging nach Süden. Zu seiner Linken, in der Mitte des riesigen Platzes, stand der Palast der Republik. Das rechteckige Gebäude wurde von einem Säulenvorbau mit zahlreichen scharfkantigen, stalinistisch anmutenden Säulen umschlossen. Dahinter lag eine Glasfassade. Es diente als Veranstaltungsort für staatliche Feiern, Konzerte, Gipfeltreffen und Ausstellungen und lockte zahlreiche Besucher an. Auf dem nahe gelegenen Parkplatz,
der eine direkte Anbindung an zwei Hauptstraßen besaß, ging es dementsprechend lebhaft und anonym zu. Wenn Victor anstelle des Überwachungsteams gewesen wäre, er hätte sein Fahrzeug hier abgestellt. In einer langen Reihe entlang der Westseite des Platzes parkten ungefähr fünfzig Autos. Mit einem Sender hätte Victor einfach nur immer wieder auf die Taste drücken müssen, bis irgendwo ein paar Blinker gezuckt hätten. Ein Herstellername war auf dem Schlüssel auch nicht zu erkennen. Beides war vermutlich als Vorsichtsmaßnahme entfernt worden. Clever gemacht. Da sie zu viert gewesen waren, musste der Wagen so groß sein, dass sie alle hineingepasst hatten, also eine viertürige Limousine oder ein SUV. Ohne die kleineren Limousinen und die Coupés blieben noch sechsunddreißig Autos übrig. Ein SUV wäre bei einer Verfolgung zu auffällig gewesen, also noch einmal drei weniger. Es handelte sich höchstwahrscheinlich um ein möglichst unauffälliges Fahrzeug, erneut zur Wahrung der Anonymität, also schloss Victor die über zehn- und die unter
zweijährigen ebenso aus wie die wenigen Luxuskarossen. Blieben noch sechzehn. Die Farbe war sicherlich dezent, irgendetwas, das nicht sofort ins Auge fiel. Weder Rot noch Weiß noch Schwarz. Da waren’s nur noch sieben. Da das Team nicht aus Weißrussland stammte, hatten sie sich höchstwahrscheinlich einen Mietwagen genommen, mit Markierung und weißrussischen Kennzeichen. Noch drei. Da er bereits gestern hier abgestellt worden war und die Team-Mitglieder alle tot waren, musste er auch einen Strafzettel haben. Noch zwei. Und schließlich: Clevere Agenten parkten immer rückwärts ein, um schneller wegfahren zu können. Noch einer. Ein dunkelgrauer Saab, vier Jahre alt, mit einem Autoverleih-Aufkleber auf der Windschutzscheibe. Victor schob den zusammengefalteten Strafzettel in die Tasche und steckte den Schlüssel in das Schloss der Fahrertür. Es sprang auf, und er stieg ein. Mit einem beruhigenden Tschak fiel die Tür wieder ins Schloss. Das Wageninnere war sauber und unauffällig. Victor saß einen Augenblick nur da, die Hände auf das Lenkrad gelegt, und lauschte dem Rauschen des Verkehrs und den
vorüberschlendernden Fußgängern. Donner grollte in der Ferne. Im Handschuhfach war außer dem Geruch nach fettigem Essen, der zweifellos von einem ImbissMenü herrührte, nichts zu finden. In der Seitentasche der Fahrertür entdeckte er ein Päckchen mit Pfefferminz-Kaubonbons und steckte sich eins davon in den Mund, während er den Zündschlüssel drehte. Das eingebaute Navigationssystem des Saab erwachte zum Leben, und Victor sah sich den Zielspeicher an. Er war, was ihn kaum wunderte, leer. Die Mietwagenfirma hatte den Speicher vor der Übergabe des Wagens gelöscht, und das Überwachungsteam war vorsichtig genug gewesen, das Navigationssystem gar nicht erst zu benützen, um keine elektronische Fährte zu hinterlassen. Er entriegelte den Kofferraum und stieg aus. Eine junge Frau mit einem langen blonden Pferdeschwanz stand auf der anderen Seite der Blumenbeete zwischen den Parkbuchten und dem Oktoberplatz. Sie fotografierte mit einer Kompaktkamera den Palast der Republik, dann schaute sie in seine Richtung und lächelte höflich, so wie höfliche Menschen es tun, wenn sie anderen,
höflich wirkenden Menschen begegnen. Unhöfliche Menschen blieben in der Erinnerung oftmals besser haften als höfliche, daher erwiderte Victor das Lächeln. Er spürte, dass sie irgendwie Kontakt zu ihm aufnehmen wollte, vielleicht, um über die Architektur des Palasts der Republik zu plaudern, vielleicht auch, um einige der Informationen aus ihrem Reiseführer loszuwerden. Er wandte den Blick ab, als wäre er jetzt zu abgelenkt, um zu reden, und sie wandte sich wieder ihrer Kamera zu. Er wartete ab, bis sie weggegangen war. Erst dann klappte er den Kofferraumdeckel auf. Zwei große schwarze Sporttaschen lagen darin. Eine enthielt lediglich ein paar Kabel. In der zweiten lagen winzige Kameras und Mikrofone, wahrscheinlich identisch mit denen, die in der Präsidentensuite des Hotel Europe installiert gewesen waren. Es waren akkubetriebene Funkgeräte, sehr klein, sehr leicht zu verstecken und hochmodern. Dazu fanden sich noch weitere Kabel, Werkzeuge und andere Hilfsmittel zu Überwachungszwecken. Victor nahm die Tasche und setzte sich wieder auf
den Fahrersitz. Der Kilometerzähler stand bei einundneunzigtausend. Der darunter befindliche Tageskilometerzähler zeigte neunundvierzig Kilometer an. Wenn die Mietwagenfirma den Speicher des Navigationsgeräts gelöscht hatte, dann hatte sie wahrscheinlich auch den Tageskilometerzähler auf null gestellt. Am Internationalen Flughafen von Minsk, der ungefähr einundvierzig Kilometer vom Stadtzentrum entfernt lag, gab es eine Filiale der Autoverleih-Firma. Also fehlten noch acht Kilometer. Entweder hatten sie sich auf dem Weg in die Innenstadt ziemlich verfahren, was Victor bezweifelte, oder sie hatten noch ein anderes Ziel angesteuert. Es war nicht besonders wahrscheinlich, dass sie alle mit demselben Flug angekommen waren, da sie sonst zu viel Aufmerksamkeit erregt hätten. Sie waren zu viert gewesen, also waren vermutlich zwei geflogen, während die beiden anderen ein anderes Verkehrsmittel gewählt hatten, wahrscheinlich die Bahn, da sie die ganzen technischen Geräte mitgebracht haben mussten. Am Flughafen hätte man damit zu viele Fragen beantworten müssen. Die
beiden, die geflogen waren, waren nach den anderen angekommen, sonst hätte der Kilometerstand mindestens zweiundachtzig betragen. Die Suite neben der Präsidentensuite besaß zwei Doppelbetten, also hatten nur zwei Mann eingecheckt, auch wieder, um nicht aufzufallen. Und da sie einen Tag vorher angekommen sein mussten, um ihre Geräte einzurichten, mussten die beiden anderen Team-Mitglieder irgendwo anders übernachtet haben. Acht überzählige Kilometer, vorausgesetzt, sie hatten sich nicht verfahren. Wenn sie nur einmal vom Hotel zu ihrer sicheren Unterkunft und wieder zurück gefahren waren, dann ergab das einen Radius von vier Kilometern. In einer Stadt, wo man nur selten stur geradeaus fahren konnte, war der Radius deutlich kleiner, vielleicht ungefähr zweieinhalb Kilometer. Das entsprach einer Kreisfläche von rund achtzehn Quadratkilometern. Die Innenstadt von Minsk. Irgendwo dort befand sich ein anderes Hotel oder vielleicht auch ein sicheres Haus, wo die beiden, die nicht im Europe übernachtet hatten, abgestiegen waren. Die Entfernung hätte man auch zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln
zurücklegen können, aber sie hatten wegen der ganzen Geräte, die für die Überwachungsaktion notwendig waren, ein Auto gebraucht. Außerdem war nicht auszuschließen, dass sie vorgehabt hatten, Yamout oder Petrenko nach Abschluss der Verhandlungen zu folgen. Victor ging um den Saab herum, nahm die Karosserie genau unter die Lupe. Sie war eigentlich sehr sauber – vom Autovermieter frisch gereinigt –, aber auf der Windschutzscheibe, außerhalb der Reichweite der Scheibenwischer, hatte sich eine dünne Schmutzschicht abgelagert. Victor strich mit dem Finger darüber. Das, was daran kleben blieb, fühlte sich leicht feucht an. Er rieb so lange, bis die Feuchtigkeit sich verflüchtigt hatte und nur noch feines graues Pulver übrig war, das sich wie Talkum anfühlte. Noch einmal besah er sich die Karosserie, konnte aber, abgesehen von ein paar wenigen blassen Streifen auf der vorderen Stoßstange sowie einigen Ablagerungen in den Einbuchtungen der Motorhaube und am Kühlergrill, keine Pulverspuren mehr entdecken. Victor nahm die Tasche mit den Geräten mit und ließ das Auto stehen. Die Polizei suchte vermutlich
schon danach, und wenn nicht, dann würde es nicht mehr lange dauern. In einem Internet-Café stellte er sich eine Liste mit allen Hotels in einem Radius von zweieinhalb Kilometern um den Oktoberplatz zusammen, dann rief er von einem Münzfernsprecher aus jedes einzelne an und erkundigte sich nach den Namen, die auf den drei weißrussischen Führerscheinen der TeamMitglieder standen, aber sie waren bei keinem dieser Hotels registriert. Wenn sie nicht in einem Hotel übernachtet hatten, dann mussten sie eine andere Unterkunft genutzt haben. Eine einfache Pension oder ein Wohnheim hätte zu wenig Privatsphäre geboten, aber eine private Unterkunft, das war denkbar. Victor dachte an das graue Pulver. Wenn er genügend Zeit gehabt hätte, hätte er sich zu Fuß auf den Weg gemacht, aber bei achtzehn Quadratkilometern hätte die Suche höchstwahrscheinlich zu viel Zeit in Anspruch genommen. Er musste die Unterkunft finden, und zwar vor der Polizei. Wenn es nicht ohnehin schon zu spät war. Er winkte ein Taxi herbei. Die Fahrerin war eine dickliche Weißrussin mit
Brille und dem breitesten Lächeln, das ihm seit Langem begegnet war. Er sprach sie auf Russisch an und tat so, als beherrschte er die Sprache nur schlecht: »Du wissen, wo hier … äh … Baustelle in der Nähe, in der …« Er ließ die Stimme ausklingen, als könnte er den Straßennamen nicht richtig aussprechen. »Kirova? Nemiga?«, sagte sie langsam, hilfsbereit und lächelnd. »Kirova«, erwiderte er ebenfalls lächelnd. Sie ließ ihn am östlichen Ende der Straße aussteigen, und er ging nach Westen. Nach wenigen Minuten war ihm klar, dass sie ihn falsch verstanden beziehungsweise er sich nicht klar genug ausgedrückt hatte. Hier fanden Straßenbauarbeiten statt. Es sah aus, als würde eine Wasserleitung repariert. Er nahm sich noch ein Taxi. »Nemiga«, sagte er zu dem Fahrer. Als sie in die Straße einbogen, sah Victor in der Mitte des Straßenzugs ein eingerüstetes Haus. Er ließ den Fahrer anhalten. Die Nemiga befand sich in einer heruntergekommenen Wohngegend, einen knappen Kilometer vom Oktoberplatz entfernt.
Schmale, pastellfarbene Stadthäuser säumten die Straße. Victor ging auf das Haus mit dem Gerüst zu. Er hörte Baulärm – Rufen, Klopfen sowie das Dröhnen und Jaulen kräftiger Maschinen. Auf dem Bürgersteig stand ein Zementmischer. Der Saab konnte zu beiden Seiten des Zementmischers gestanden haben, je nachdem, aus welcher Richtung der Wind den Zementstaub auf die Windschutzscheibe geblasen hatte. Nicht, dass ihm die Stelle, wo der Wagen geparkt hatte, wirklich weitergeholfen hätte. Sie hatten mit Sicherheit die erstbeste freie Parklücke genommen. Auf jeder Straßenseite standen rund zwanzig Häuser, vierzig insgesamt, also neununddreißig potenzielle Unterkünfte, wenn man das Haus mit den Bauarbeiten abzog. Er konnte also an jede einzelne Tür klopfen und alle Häuser, wo jemand zu Hause war, von der Liste streichen, aber selbst dann blieben womöglich fünfundzwanzig oder noch mehr Möglichkeiten übrig. Es gab einen sehr viel einfacheren Weg, die Auswahl einzugrenzen. Er schaute hinauf zum wolkenverhangenen Himmel. Es war ein trüber Nachmittag. Victor ging den Bürgersteig entlang bis zu dem einzigen Haus,
an dem sämtliche Vorhänge zugezogen waren. Die Haustür besaß ein gutes Bolzenschloss, aber Victor wusste schon seit fünfzehn Jahren, wie man Schlösser knackte. Er machte die Tür hinter sich zu und steckte das Einbruchswerkzeug wieder ein. Dann stand er im Flur und lauschte. Es gab keine Alarmanlage, aber damit hatte Victor auch nicht gerechnet. Das Überwachungsteam hatte bestimmt kein Interesse daran gehabt, dass die Polizei im Fall eines Einbruchs hier aufkreuzte und Fragen stellte, die kein Mensch beantworten wollte. Früher, als Victor noch ein eigenes Haus gehabt hatte, hatte er es genauso gehandhabt. Er wusste nicht, ob es sich um ein sicheres Haus handelte, das dem Auftraggeber der vier gehörte, oder ob es nur für diesen einen Auftrag angemietet worden war. Es war dunkel. In dem schmalen Flur lag ein durchgetretener Teppich, Farbe blätterte von den Wänden ab. Die Deckenlampe besaß keinen Schirm. Eine Treppe führte in den ersten Stock, rechts befand sich eine Tür. Geradeaus führte der Flur in eine Küche. Er machte zuerst die Tür auf und fand sich in einem kleinen Wohnzimmer mit einem
Zweier-Sofa, einem Sessel und einem Fernseher wieder. Ansonsten gab es kaum Anzeichen dafür, dass hier irgendjemand wohnte. In einer Ecke stand ein Feldbett und daneben ein aufgeklappter kleiner Koffer. Das Bett war zerwühlt. In dem Koffer lagen Kleidung und Toilettenartikel, sonst nichts. Eine Seitentasche stand offen, war aber leer. Victor ging in die Küche. Der Kühlschrank war zu einem Viertel gefüllt – Milch, Käse, Wurstaufschnitt, ein bisschen Gemüse und Orangensaft. Die Schränke waren leer bis auf einen, der etwas Brot und ein paar Konservendosen enthielt. Plastikmesser, Gabeln und Löffel lagen lose in einer Schublade. Von der Küche ging es direkt ins Badezimmer, wo sich etliche feuchte Handtücher auf dem Handtuchhalter drängten. Im ersten Stock gab es zwei Schlafzimmer. Das erste war klein, mit einem Einzelbett an der einen und einem weiteren Feldbett an der anderen Wand. Beide Betten waren benutzt. Das machte schon drei. Dann hatte die Suite im Europe nur zur Überwachung gedient. Die Team-Mitglieder waren von hier aus hin- und hergefahren, hatten sich wahrscheinlich in Schichten eingeteilt. So waren die
zusätzlichen Kilometer zustande gekommen. Victor durchsuchte die Koffer neben den beiden Betten. Genau wie der erste enthielten sie lediglich Kleidung und Toilettenartikel, aber nichts, was ihm verraten konnte, wer diese Kerle waren. Auch hier fand er geöffnete, aber leere Seitentaschen vor, einmal auf der Außen- und einmal auf der Innenseite des Kofferdeckels. Das zweite Schlafzimmer war größer als das erste. In dem zerwühlten Doppelbett hatte das vierte Team-Mitglied geschlafen, höchstwahrscheinlich der Anführer. Als Victor das Zimmer betrat, beschleunigte sich sein Herzschlag um etliche Schläge pro Minute. Nicht, weil auf dem Bett ein aufgeklappter Koffer lag und die Kleidungsstücke auf dem Bett verteilt waren. Nicht, weil sich darin nichts mehr befand, was ihm irgendwie hätte weiterhelfen können. Sein Herz schlug schneller, weil an der gegenüberliegenden Wand ein fünftes, ebenfalls benutztes Feldbett stand. Aber kein Koffer.
Kapitel 29 Zürich, Schweiz
In einem dunklen Raum standen zwei Männer, die keine Schweizer waren, vor einem antiken Holzschreibtisch. Der eine war Anfang dreißig und trug Jeans und einen Anorak. Der zweite war alt, sehr klein und trug einen Anzug. Seine Haltung war leicht gebeugt. Vor ihnen auf dem Tisch befand sich ein Laptop, auf dessen Bildschirm ein Videofilm ablief. Die gräulichen Bilder waren mit hochmodernen Infrarotkameras aufgezeichnet worden und zeigten das Innere einer Hotelsuite. Drei Männer waren darauf zu erkennen, die schockiert und verwirrt wirkten. Aus den Laptoplautsprechern drangen merkwürdige Geräusche. »Er schießt durch die Tür«, erläuterte der Mann mit dem Anorak. Der ältere Mann nickte und sah, wie einer der drei Männer sich hinter ein Sofa warf. Unmittelbar danach sprang die Tür auf, und ein Mann mit Maschinenpistole und Nachtsichtgerät stürmte ins Zimmer und eröffnete das Feuer, mähte erbarmungslos die beiden stehenden Männer nieder
und anschließend den dritten, durch das Sofa hindurch. Die Schüsse waren nicht zu hören, man sah nur das Ergebnis. Der Mann mit dem Anorak sagte: »Ich bin mir ziemlich sicher, dass das eine P90 ist, mit Schalldämpfer. Außerdem benutzt er Unterschallmunition. Deshalb hören wir keine Schüsse.« Die Kameraperspektive veränderte sich, während der Mann mit der P90 unbeirrt weitermachte. Er feuerte durch eine Schlafzimmertür und legte sich dann direkt daneben auf den Boden, bevor er die Tür aufmachte und die Leute im Zimmer umbrachte. Der Mann mit dem Anorak rieb sich über das müde Gesicht und sagte: »Als Nächstes ist mein Team an der Reihe.« Der MP-Schütze wurde jetzt von zwei Männern in seinem Rücken angegriffen und stellte sich tot, bis sie an ihm vorbeigegangen waren, dann tötete er sie ebenfalls. Es folgte ein Schusswechsel mit einem letzten verbliebenen Mann. Danach verließ er die Suite. Jetzt machte das Video einen Zeitsprung. Der MP-Schütze war zurückgekehrt und kniete neben seinem letzten Opfer, das offensichtlich nur
angeschossen war. Er verharrte fast eine halbe Minute lang neben ihm. »Befragt er ihn?«, wollte der alte Mann im Anzug wissen. »Das nehme ich an. Die Mikrofone haben aber nichts erfasst.« »Was wissen die Weißrussen?« »Nichts«, erwiderte der Mann in der Windjacke. »Die Kameras und die übrigen Geräte haben sie natürlich mittlerweile entdeckt, aber die Flugtickets und Reisepässe der anderen habe ich entsorgt. Unser Computer wurde zerstört … ich nehme an, das war der Attentäter, als Vorsichtsmaßnahme. Hat ihm aber nichts genützt, da wir die Aufnahmen sofort auf den Backup-Server in unserem sicheren Haus übertragen haben. Sonst wüssten wir überhaupt nichts von ihm.« »Zeig mir den Rest.« Der Jüngere drückte ein paar Tasten auf dem Laptop und fuhr über das Touchpad. Die Infrarotbilder wichen einer farbigen Innenaufnahme der Suite. Zwei Männer sprachen auf Russisch miteinander. »Welcher ist der Kerl, der meine Jungs
umgebracht hat?«, wollte der Mann im Anzug wissen und beugte sich dichter vor den Bildschirm. »Der Linke gehört zu Petrenkos Mannschaft. Der Mann rechts behauptet, er sei vom HotelManagement, aber er macht überhaupt nichts, sieht sich einfach nur in der Suite um. Er ist kein HotelAngestellter, das habe ich überprüft.« »Dann haben wir also seine Stimme und sein Gesicht.« »Aber sonst nichts. Es tut mir sehr leid, Vater.« »Mehr brauchen wir gar nicht«, sagte der alte Mann im Anzug und griff nach seinem Telefon.
Kapitel 30 Libanon-Gebirge, Libanon
»Hier spricht Saul Callo«, ertönte eine verängstigte Stimme. »Ich bin in Minsk.« In der folgenden Pause waren schwere Atemzüge zu vernehmen. »Sag Yamout, dass es eine Falle ist. Vladimir Kasakov will ihn umbringen.« Noch eine Unterbrechung, länger diesmal, mehr Keuchen. »Er wollte mich auch umbringen, aber ich bin entkommen. Sag Yamout …« »Das war’s«, sagte Yamout. »Das war Callos Nachricht.« Baraa Ariff nickte. Er konnte immer noch nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. Er saß in einem türkischen Ebenholz-Sessel aus dem 18. Jahrhundert, der mit zahlreichen Schnitzereien kunstvoll verziert war. Auf einem Couchtisch davor lag ein Handy, das an einen Lautsprecher angeschlossen war. Ihm gegenüber hatte sich Yamout auf eine kleine Couch mit handgesticktem Bezug gezwängt. »Lass noch mal laufen«, sagte Ariff. Sie hörten sich Callos Worte erneut an. Noch
bevor die Aufnahme zu Ende war, schüttelte Ariff den Kopf. Schweigend saßen die beiden Waffenschieber in der wohnzimmerähnlichen Bar im ersten Stock von Ariffs Villa in den Bergen. Es war kühl und ruhig. An der Decke rotierten leise brummend große Ventilatoren. Ariff hatte sich hier, in der nordöstlichen Ecke des Hauses, einen privaten Bereich ganz für sich alleine einrichten lassen, der nicht nur das Wohnzimmer mit der Bar umfasste, sondern außerdem einen Büroraum, eine Küche, ein Badezimmer, ein Schlafzimmer sowie einen Balkon. Weder seine Frau noch seine Kinder hatten hier Zutritt, dank einer elektronischen Türverriegelung, deren Code nur er selbst und Yamout kannten. Ariff ließ sich gegen die Sessellehne sinken. »Wann genau hat er denn angerufen?« »Laut Zeitansage auf dem Anrufbeantworter um 21.30 Uhr, gestern Abend.« »Halb zehn«, meinte Ariff nachdenklich. »Kurz, nachdem du angegriffen wurdest.« Yamout nickte. »Dann hat Kasakov also dich und Callo zeitgleich überfallen. Ein koordinierter Schlag. Dass Callo tot
ist, ist mir völlig egal, abgesehen davon, dass das Geld weg ist und wir uns nun die Dienste eines anderen Diamantenhändlers sichern müssen. Nebensächlichkeiten. Die Hauptsache ist, mein treuer Freund, dass du listig genug warst, Kasakovs hinterhältigen Attentätern zu entkommen.« Yamout verzog das Gesicht. »Und doch hätte ich um Haaresbreite mein Leben gelassen. Seine Männer waren nur noch eine Tür weit entfernt. Meine Flucht hat nichts mit List zu tun, sondern nur mit unaussprechlichem Schrecken. Ich kann mich glücklich schätzen, noch am Leben zu sein. Es ist im Grunde genommen nicht weniger als ein Wunder.« Ariff lächelte spöttisch. »Mach dich doch nicht lächerlich. Gott würde dich genauso wenig retten wollen wie mich. Wunder sind für die Rechtschaffenen und Guten reserviert, aber wir sind weder das eine noch das andere. Männer wie wir müssen sich ihre eigenen Wunder schaffen.« Ariff stand auf. »Komm mit.« Yamout folgte ihm in den anderen Teil der Villa. Die Inneneinrichtung veränderte sich deutlich. In seinen privaten Räumen bevorzugte Ariff eine eher einfache Ausstattung – Fellteppiche auf dem Boden,
bequeme Möbel, nichts, was nicht einen bestimmten Zweck zu erfüllen hatte. Die goldfarbenen Sessel, Bronzestatuen, persischen Teppiche, Kristallleuchter, exotischen Zimmerpflanzen und Ölbilder im restlichen Teil der Villa waren allesamt Ariffs Frau zu verdanken. Sie besaß einen extravaganten Geschmack und hatte das Haus im Stil eines opulenten Prinzenpalastes ausgestaltet. Sie kamen die mächtige Marmortreppe herab. Als Ariff unten angelangt war, tauchte wie aus dem Nichts seine jüngste Tochter auf und kam direkt auf ihn zu. Er packte Eshe unter den Armen und hob sie zu sich empor. Er legte ihr den Mund auf den Bauch und fing an, mit flatternden Lippen zu prusten. Sie brach in hysterisches Lachen aus. Yamout sah lächelnd zu. Dann kam das Kindermädchen angelaufen. »Es tut mir leid, Sidi«, sagte sie an Ariff gewandt. »Eshe, komm her, lass deinen Vater in Ruhe.« Ariff setzte Eshe wieder ab und streichelte ihr über den Kopf. »Tu, was dir gesagt wird, mein Liebes.« Das Kindermädchen nahm Eshe bei der Hand und zog sie mit sich. Immer noch lächelnd betrat Ariff den riesigen
Garten hinter der Villa. Er erstreckte sich in weite Ferne und schien bis zu den Bergen zu reichen, die hinter der Villa in die Höhe ragten. Die Sonne brannte, und am Himmel war keine Wolke zu erkennen. Auf der gegenüberliegenden Seite des halbmondförmigen Swimmingpools patrouillierte ein Wachmann. Er war mit einem Sturmgewehr ausgerüstet – keine von den billigen Kalaschnikows, die Ariffs wichtigstes Handelsprodukt waren, sondern eine US-amerikanische Armalite. Sechs Söldner waren auf dem an die viertausend Quadratmeter großen Grundstück kontinuierlich auf Patrouille. Zwei weitere waren im Haus selbst stationiert, während Nummer neun und zehn die zwanzig Überwachungskameras und das Dutzend Bewegungsmelder im Auge behielten, die Ariffs Heim bei Tag und Nacht bewachten. Für sich und seine Familie war Ariff nur das Beste gut genug. »Wenn er mich umbringen wollte«, sagte Yamout, »dann wird er auch dich umbringen wollen.« Er ging die dreißig Meter bis zu einer großen Pergola neben dem Swimmingpool. Unter dem Ziegeldach standen Sofas und Liegestühle bereit.
Ariff holte eine Flasche Mineralwasser aus einem Kühlschrank. Er bot Yamout ebenfalls etwas an, doch der schüttelte den Kopf. Dann ließen die beiden Männer sich im kühlen Schatten nieder. »Wenn es so weit ist, dann werden wir seine Attentäter gebührend empfangen«, sagte Ariff. »Du wirkst nicht besonders besorgt.« »Halte mich nicht für naiv. Aber du musst bedenken, sie haben dich nicht zu fassen bekommen, und das, obwohl du so weit von der Heimat entfernt warst.« Er deutete auf den Wachmann. »Glaubst du etwa, sie könnten hier mehr Erfolg haben, wo unsere Macht am größten ist?« Ariff ließ sich entspannt in seinen Liegestuhl sinken. »Seitdem ich als kleiner Junge das erste Mal den Kugeln der Israelis ausgewichen bin, ist mein Leben ununterbrochen in Gefahr. Jetzt ist mein Haar grau und mein Gesicht faltig, aber ich atme immer noch. Wird Kasakov auch so lange überleben?« Erneut schüttelte er den Kopf. »Aber um wirklich sicherzugehen, solltest du mitsamt deiner Familie zu mir ziehen, so lange, bis diese Geschichte vorbei ist. Ich habe sechs leere Zimmer zur Verfügung. Ich bin froh, dass sie endlich einmal benützt werden.« Er
lächelte. »Du würdest mich in keiner Weise stören, und wir könnten deine Männer einfach zu meinen hinzufügen. Dann sind wir unverwundbar.« »Vielen Dank. Ich würde mich wirklich besser fühlen, wenn ich meine Familie hinter deinen Mauern in Sicherheit bringen könnte.« »Nicht der Rede wert. Deine Familie ist meine Familie.« Er breitete die Arme aus. »Dies hier wird unsere Burg sein. Ich freue mich auf seine Killer. Sollen sie ruhig versuchen, hier zuzuschlagen. Wir werden diesem Narren zeigen, wie närrisch er tatsächlich ist. Soll Kasakov seine Gorillas ruhig auf unser Gebiet entsenden. Wir schicken sie in kleinen Stückchen nach Russland zurück.« Yamout stieß den Atem aus und stand auf. »Aber warum greift er uns überhaupt an, jetzt, nach all den Jahren? Wir machen unsere Geschäfte doch auf ganz unterschiedlichen Gebieten.« Ariff nippte an seinem Mineralwasser. »Eigentlich kann es keinen Grund geben, warum er mich oder dich töten will, da stimme ich dir zu. Wir haben nichts gegen ihn unternommen, und auch zwischen unseren Schmugglern ist nichts vorgefallen. Und wenn es irgendetwas Persönliches wäre, von dem wir nichts
wissen, dann gäbe es keinen Grund, Callo umzubringen. Aber bedenke, Kasakov sitzt mittlerweile seit etlichen Jahren in Russland fest. Die UNO arbeitet mit erheblichem Druck daran, seine Auslieferung zu erreichen. Vielleicht ist dadurch seine Handlungsfähigkeit auf dem Markt mit schweren Waffen zunehmend beeinträchtigt.« Ariff setzte das Wasserglas ab und trat unter der Pergola hervor. Er machte die Manschettenknöpfe auf und krempelte die Hemdärmel nach oben. Dann ging er zum Rand der Steinterrasse, schlüpfte aus seinen Sandalen und trat barfuß auf den Rasen. Das Gras fühlte sich kühl und feucht an. Yamout begleitete ihn. Ariff sagte: »Vladimir verfügt nicht über die Infrastruktur, um im Handel mit leichten Waffen bestehen zu können. Seine riesigen Frachtflugzeuge sind zwar hervorragend geeignet, um irgendwelche Kriegsfürsten mit Panzern zu beliefern, aber um Sturmgewehre und Granatwerfer in ein Kriegsgebiet zu transportieren, braucht man etwas Unauffälligeres. Er weiß, dass er mit uns nicht konkurrieren kann, darum hat er in der Vergangenheit auch immer nur symbolische
Versuche in diese Richtung unternommen. Aber offensichtlich ist er der Meinung, dass er, wenn er es schafft, uns auszulöschen, in die Bresche springen kann.« Ariff schüttelte den Kopf. Er lächelte. »Wenn er das denkt, dann ist er ein Narr, so, wie er ein Narr war, uns so unverfroren und auf so arrogante Art und Weise nachzustellen. Dass er es nicht geschafft hat, dich zu töten – worüber ich natürlich sehr froh bin –, ist genügend Beweis dafür, dass sein Ehrgeiz größer ist als seine Intelligenz. Er wird für seinen Mangel an Weitsicht büßen müssen.« Ariff blieb stehen und blickte Yamout an. »Es ist Krieg, Gabir.« Yamout stieß hörbar den Atem aus und blinzelte in die Sonne. »Aber wie sollen wir zurückschlagen? Russland ist sehr weit weg.« Ariff nickte. »Vergiss nicht, dass Kasakovs Reich sich mit unserem überschneidet. Wir machen in den gleichen Teilen der Welt Geschäfte, zum Teil mit denselben Kunden. Unsere Pfade kreuzen sich regelmäßig. Wenn er geglaubt hat, er könnte uns einfach wegwischen, ohne selbst verletzlich zu sein, dann hat er sich schwer getäuscht. Wir müssen unsere Hände nicht ganz bis nach Russland
ausstrecken, wenn Kasakovs Arm schon ganz in unserer Nähe ist. Wir greifen seine Organisation an. Wir vernichten seine Lieferungen. Wir töten seine Schmuggler. Wir schneiden ihm die Finger ab, einen nach dem anderen, bis sein Reich nur noch ein verkrüppelter Torso ist.« Mit einem Lächeln legte Ariff Yamout die Hände auf die Schultern. »Und dann, wenn er keine Kraft mehr hat, wenn er sich nicht mehr wehren kann, dann landen wir den tödlichen Schlag.«
Kapitel 31 Minsk, Weißrussland
Victor stieg aus dem Taxi in die Kälte, den Wind und den Regen, der seinen Mantel sofort dunkel färbte. Er ließ den Blick über das Grüppchen von Taxifahrern gleiten, die unter dem Dach einer Bushaltestelle standen, lachten, scherzten und Zigaretten rauchten. Sie waren die Einzigen, die nicht in Bewegung waren. Fußgänger hasteten mit hochgezogenen Schultern, die Köpfe zu Boden gerichtet, die Straße entlang. Bei diesem fürchterlichen Wetter wagten sich nur diejenigen ins Freie, die wirklich keine andere Wahl hatten. Das galt auch für Beschatter. Falls der Bahnhof also unter Beobachtung stand, dann mit Sicherheit von innen und nicht von außen. Victor hatte nichts dagegen. Der Hauptbahnhof von Minsk war ein gewaltiges, modernes Bauwerk aus Beton und Glas, dessen beeindruckende Wirkung nicht einmal der kalte Dauerregen entscheidend schmälern konnte. Während Victor die Straße überquerte, bemerkte er zwei bewaffnete Polizeibeamte auf dem Vorplatz. Sie machten einen aufmerksamen Eindruck. Nichts
Ungewöhnliches. Er sah unverdächtig aus, benahm sich unverdächtig, war nichts weiter als ein anonymer Geschäftsmann auf dem Weg nach Hause. Das unangenehme Ziehen in seiner Magengegend ignorierte er einfach. Er umkurvte eine wartende weißrussische Familie, die sich nicht daran zu stören schien, dass sie einen großen Teil des Haupteingangs blockierte. Das Flugzeug wäre die schnellste Möglichkeit gewesen, um wegzukommen, aber auch die am gründlichsten überwachte, regulierte, eingeschränkte und daher mit Abstand die beste Möglichkeit, um erwischt zu werden. Ein Auto hätte größtmögliche Freiheit geboten, brachte aber auch gewisse Nachteile mit sich. Mit einem gestohlenen Wagen würde er Schwierigkeiten mit der Polizei riskieren, und wenn er sich einen Mietwagen nahm, machte er eine seiner falschen Identitäten öffentlich. Die Bahn war zwar auch nicht perfekt, aber in der Regel die beste Lösung. Er konnte bar bezahlen, brauchte keinen Ausweis vorzuzeigen und hinterließ auch sonst keinerlei Spuren bis auf die Fahrkarte, die aber vernichtet werden konnte, sobald sie nicht mehr
gebraucht wurde. Als Junge hatte er Züge geliebt und endlose Stunden damit zugebracht, auf den Bahnhof zu starren, den er von seinem Zimmerfenster aus sehen konnte. Damals hatte er sich gewünscht, Lokomotivführer zu werden. Stattdessen ermordete er jetzt andere Menschen und wusste die Eisenbahn nur noch deshalb zu schätzen, weil sie sich gut als Fluchtfahrzeug eignete. Im Inneren der Bahnhofshalle ging es laut und sehr lebhaft zu. Victor schob sich zwischen zahlreichen Feierabendpendlern und Reisenden hindurch. Seine Augen waren wenigstens teilweise versteckt hinter einer Fensterglasbrille, und er musterte pausenlos die Gesichter der Menschen, die an den Wänden lehnten oder saßen, an den Stellen, wo auch er sich postiert hätte, wenn er Neuankömmlinge beobachten wollte. Er suchte nach Anzeichen für ein Erkennen, nach verräterischen Handlungen oder Bewegungen, konnte aber nichts entdecken. Trotzdem entspannte er sich nicht. Nur, weil er nicht merkte, dass er beobachtet wurde, bedeutete das nicht, dass es auch wirklich so war. Wenn Petrenkos Organisation groß genug war und sie es schlau
genug anstellten, dann hatten sie vielleicht schon eine Personenbeschreibung oder sogar ein Bild von ihm in Umlauf gebracht. Gut möglich, dass Bahnhöfe und Flughäfen überwacht wurden. Er schlenderte mehrere Male durch die Bahnhofshalle, kaufte sich einen Becher Kaffee, eine Zeitung, blätterte in Büchern, gab sich ganz entspannt und versuchte dabei, möglichst oft abzutauchen, um eventuelle Beobachter aus der Deckung zu locken. Professionelle Beschatter konnten sich auch als Liebespaar oder als Bahnangestellte tarnen. Petrenko verfügte wohl kaum über derart kompetente Mitarbeiter, die Auftraggeber des Überwachungsteams aus dem Hotel jedoch sehr wohl. Zweimal registrierte er aus dem Augenwinkel eine sportliche und aufmerksame junge Frau mit Buggy, aber ohne Kind. Gut möglich, dass das dazugehörige Kind gerade mit dem Vater unterwegs war, aber vielleicht existierte es auch gar nicht. Er ging an mehreren Schaufenstern vorbei, um im Spiegelbild zu überprüfen, ob sie ihn beobachtete, sah sie aber kein einziges Mal in seine Richtung blicken. Victor ging zur Toilette und verbrachte fünf Minuten
in einer Kabine. Als er wieder herauskam, war die Frau nicht mehr zu sehen. Er warf einen Blick auf die Abfahrtsanzeige, suchte sich einen passenden Zug heraus und reihte sich in die Schlange am Fahrkartenschalter ein. Er benahm sich genau wie alle anderen Weißrussen, völlig unauffällig, aber dann fing er den Blick eines klein gewachsenen Mannes auf. Nur einen einzigen Blick, der womöglich gar nichts zu bedeuten hatte, vielleicht aber auch alles. Der Mann hatte ein rundliches Gesicht, eine Glatze und rund zehn Kilogramm Übergewicht. Er trug eine Bahnuniform. Victor sah einige Sekunden lang auf seine Armbanduhr, dann trat er aus der Schlange. Er ging in eine Apotheke und studierte interessiert verschiedene Shampoos, bevor er noch einmal einen Blick in Richtung des Glatzkopfes warf. Er war nicht mehr zu sehen. »Hrodna«, sagte Victor auf Russisch, als er wieder beim Fahrkartenschalter war. »Den nächsten Zug.« »Es gibt nur noch Plätze in der ersten Klasse.« »Kein Problem.« Er wartete bis drei Minuten vor Abfahrt des Zuges
nach Hrodna, erst dann ging er zum Bahnsteig. Sorgfältig musterte er jeden Mann und jede Frau, die nach ihm den Bahnsteig betraten. Seine Beschatter – falls es welche gab – würden gezwungen sein, ebenfalls zu warten. Sonst fuhr der Zug womöglich los, und sie mussten feststellen, dass Victor gar nicht an Bord war. Aber niemand lungerte auf dem Bahnsteig herum oder benahm sich anderweitig verdächtig. Victor wartete bis eine Minute vor Abfahrt, dann stieg er ein. Niemand folgte ihm. Sein Sitzplatz befand sich im Erste-KlasseWaggon an der Spitze des Zuges, am Gang, mit Blick in Fahrtrichtung und an einem Tisch. Victor setzte sich. Gegenüber saß ein Mann. »Junge, Junge, wie ich das Zugfahren hasse«, sagte der Mann auf Englisch mit amerikanischem Akzent und ziemlich laut. »Diese ständige Warterei. Ich meine, warum fahren wir nicht los? Wissen Sie, was ich meine?« Victor schaute ihn an, gab aber keine Antwort. »Walt Fisher«, sagte der Mann und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich schätze mal, Sie sind kein Russki.« Fisher sah aus wie Mitte vierzig. Er hatte den
obersten Knopf seines gestreiften Hemds aufgeknöpft, die Krawatte gelockert und sein Jackett auf den Nachbarsitz gelegt. Seine Wangen waren gerötet, und an seinem Haaransatz hatten sich feine Schweißtropfen gebildet. »Sie meinen Weißrusse«, sagte Victor. Es hatte wohl keinen Zweck, so zu tun, als spräche er kein Englisch. Er schüttelte dem Mann die Hand. Sie war warm und feucht. »Ist ja auch egal. Weißrusse, Russe, wo ist da der Unterschied?« Victor zuckte mit den Schultern. Fisher nickte. »Eben.« »Wie haben Sie erkannt, dass ich weder das eine noch das andere bin?«, wollte Victor wissen. Es interessierte ihn tatsächlich. »Die reisen nicht erster Klasse.« »Aha«, erwiderte Victor, ohne darauf einzugehen, dass in ihrer Nähe zahlreiche Gespräche auf Russisch geführt wurden. Fisher gestattete sich ein überhebliches Lächeln. »Und, haben Sie auch einen Namen, mein Junge?« »Peter.« »Sie sind ein Teebeutel … ich meine Brite, hab
ich recht?« »Sehr aufmerksam«, bestätigte Victor und ließ seinen Akzent noch ein wenig mehr ins KlischeehaftBritische gleiten. »Das will ich hoffen, mein Freund. Das macht schließlich so an die neunzig Prozent meines Jobs aus.« Fisher stank nach Bourbon und machte, abgesehen von seiner lauten Stimme, einen relativ harmlosen Eindruck. Manche Leute hören sich eben gerne reden. »Hab gerade einen Riesen-Deal mit den Roten an Land gezogen«, erklärte er und fügte dann hinzu: »Darf man das eigentlich immer noch sagen?« »Das ist ähnlich wie mit den Teebeuteln.« Er ließ ein dröhnendes Lachen hören. »Ja, na gut, tut mir leid. Schlechte Angewohnheit.« »Ist schon in Ordnung.« »Ich mache Übernahmen und Fusionen«, erklärte Fisher. »Und Sie?« »Ich bin Berater.« »Welcher Bereich?« Fisher schnippte mit den Fingern, noch bevor Victor antworten konnte. »Nein, sagen Sie’s nicht.« Er biss sich auf die Unterlippe
und fuhr den gestreckten Zeigefinger aus. »Personalmanagement.« »Sieht man mir das so deutlich an?« Fisher klatschte in die Hände, erfreut und stolz. Das laute Geräusch brachte ihnen etliche Blicke von anderen Fahrgästen ein. »Schon als Sie reingekommen sind, dachte ich: Das ist der Mann, der heuert und feuert.« »Überwiegend feuert.« »Klingt ja lebensgefährlich.« Victor hob eine Augenbraue. »Sie haben ja keine Ahnung.« Drei Minuten nach der fahrplanmäßigen Abfahrtszeit hatte der Zug sich immer noch nicht von der Stelle gerührt. Keine Ansage war erklungen. Victor schätzte Pünktlichkeit, umso mehr, wenn er Feinde in der Stadt hatte. Er stand auf, um aus dem Fenster zu schauen. Fisher beobachtete ihn. Victor konnte keine Ursache für die Verzögerung erkennen. Also kein Grund, sich Gedanken zu machen. Wahrscheinlich. »Na gut, jedenfalls …«, sagte Fisher, »… auf dem Weg hierher …«
Victor setzte sich stumm auf seinen Platz, während Fisher ihm erzählte, was er angeblich Lustiges auf dem Weg von seinem Hotel zum Bahnhof erlebt hatte. Er war angeheitert und redselig, und durch den kleinen Wortwechsel am Anfang hatte Victor seinem neuen besten Freund die Erlaubnis erteilt, während der ganzen Fahrt auf ihn einzureden. Bei anderer Gelegenheit hätte es Victor vielleicht sogar Spaß gemacht, Peter, den Personalberater, zu mimen, rein zum Zeitvertreib, aber Fisher war schon zu betrunken. Er redete viel zu laut und zog damit zu viel Aufmerksamkeit auf sich. Gut möglich, dass etliche der Fahrgäste, die auf Fisher aufmerksam wurden, sich auch denjenigen merkten, mit dem Fisher sich so lautstark unterhielt. Victor musste ihn irgendwie zum Schweigen bringen. Als der Zug sich nach weiteren vier Minuten immer noch nicht in Bewegung gesetzt hatte, wurden auch ein paar andere Fahrgäste unruhig. Viele schauten zum Fenster hinaus und murmelten ärgerliche Worte vor sich hin. Eine Kellnerin schob einen kleinen Rollwagen durch den Mittelgang und bot Getränke an. Victor bestellte sich ein Mineralwasser, Fisher
einen Bourbon. »Mit oder ohne Kohlensäure?«, wandte sie sich an Victor. »Mit, bitte.« Sie ging sämtliche Flaschen auf ihrem Wagen durch, dann wandte sie sich wieder an Victor. Ihre Stirn lag in Falten. »Es tut mir leid, aber ich glaube, ich habe heute nur stilles Wasser dabei.« Ihr Bedauern wirkte nicht gespielt. »Das macht nichts, dann nehme ich eben das.« »Sind Sie sicher? Ich kann Ihnen auch schnell eine andere Flasche besorgen.« »Lieber nicht«, meinte Victor. »Wenn Sie den anderen Fahrgästen nicht bald etwas Alkoholisches servieren, dann kommen Sie womöglich nicht mehr lebend zurück.« Sie servierte Fisher seinen Bourbon und lächelte dabei. Es war ein einladendes Lächeln mit feucht glänzenden, rosaroten Lippen. »Ich glaube, ich werd’s überleben. Bin gleich wieder da.« Sobald sie außer Hörweite war, ließ Fisher seine flache Hand auf die Tischplatte knallen. Erneut blickten die Umsitzenden auf. »Sie gottverdammter
Glückspilz, Sie. Da geht doch was.« »Kann schon sein«, erwiderte Victor. »Kann schon sein?« Fisher riss die Augen auf. »Wieso denn bloß ›Kann schon sein‹, zum Teufel noch mal?« »Sie ist nicht mein Typ«, sagte Victor, ohne ihn direkt anzuschauen. Walt Fisher starrte ihn verblüfft an. Er schnaufte: »Nicht Ihr Typ? Was ist denn mit Ihnen los, mein Junge?« Victor wandte sich zu Fisher und hielt seinem Blick stand. Dann beugte er sich über den Tisch, etwas zu nahe an Fisher heran, und sagte: »Ich bin schwul.« Fishers blutunterlaufene Augen weiteten sich schlagartig. Hastig wandte er den Blick ab, nahm die Hände vom Tisch und legte sie in den Schoß. Dann starrte er regungslos zum Fenster hinaus. Victor beglückwünschte sich innerlich zu seiner Vorstellung. Jetzt, da Fisher endlich still war, konnte er wieder in den Mantel der Anonymität schlüpfen. Die Kellnerin brachte Victor das Mineralwasser und stellte die Flasche mitsamt einem durchsichtigen Plastikbecher voller Eiswürfel auf den
Tisch. »Ganz herzlichen Dank«, sagte Victor und schenkte ihr sein schönstes jungenhaftes Lächeln. »Sie sind ein Engel.« Sie lächelte erneut. Vielleicht hatte Fisher ja recht, vielleicht ging da ja wirklich was. »Ganz ehrlich«, sagte sie. »Das ist überhaupt kein Problem.« Ihr Tonfall ließ erkennen, dass er ihre professionelle Fassade durchbrochen hatte. Das war nicht schwierig gewesen. Erste-KlassePassagiere ließen sich in der Regel nicht einmal zu einem direkten Augenkontakt herab. Jemand, der höflich war, lobte und ihr ein Lächeln entlocken konnte, wurde da sehr schnell zum Vertrauten. »Können Sie mir vielleicht sagen, was es mit dieser Verzögerung auf sich hat?«, erkundigte sich Victor. Sie runzelte ein wenig nachdenklich die Stirn, blickte sich schnell nach beiden Seiten um und beugte sich dann zu ihm herab. »Eigentlich darf ich das gar nicht sagen«, gestand sie ihm, »aber wir sollen die Abfahrt absichtlich
hinauszögern.« »Wieso denn das?« »Das hat man uns nicht gesagt.« Sie beugte sich noch dichter zu ihm, und er spürte ihren Atem auf seiner Wange. »Aber wenn Sie mich fragen, dann ist jemand im Zug, der hier nicht erwünscht ist, wenn Sie verstehen. Ich glaube, dass jetzt gerade ein paar Leute hergeschickt werden.« Victor musste ihr seine Besorgnis nicht vorgaukeln. Er wartete ab, bis sie einen anderen Fahrgast bediente, dann stand er auf. Er ging den Gang entlang in den Vorraum und betrat eine Toilette. Nach zehn Sekunden betätigte er die Spülung. Das Geräusch übertönte das Klirren, das entstand, als er mit dem Ellbogen den Spiegel über dem Waschbecken zertrümmerte. Er nahm eine etwa fünfzehn Zentimeter lange Glasscherbe in Form eines spitzen Dreiecks aus dem Waschbecken. Dann schob er sie mit der Spitze voraus in den linken Jackettärmel, krempelte den Hemdärmel um, damit die Scherbe nicht herausfallen konnte, und prüfte den Sitz durch ein kurzes Schütteln des Arms. Er verließ die Toilette und ging zur
nächstgelegenen Waggontür. Sie öffnete sich, noch bevor er die Klinke gedrückt hatte. Ein kalter Wind wehte vom Bahnsteig herein. Keine zwei Meter entfernt standen ihm drei Männer gegenüber. Der erste war groß und schlank mit einem kantigen Gesicht. Er war mit einem Anzug und einem Mantel bekleidet. Die beiden anderen waren kleiner und trugen dunkle Hosen und Anoraks. Der eine hatte einen fusseligen Bart, der zweite trug eine randlose Brille. Das waren keine Polizisten, und sie sahen auch nicht aus wie Petrenkos Leute oder die Männer des Überwachungsteams. Sie zögerten, von seinem Anblick überrascht, wussten nicht so recht, was sie tun sollten. Also nicht besonders viel Erfahrung. Er stieg aus und trat direkt auf sie zu. Sie waren verwirrt und nervös angesichts des plötzlichen Rollenwechsels zwischen Jägern und Opfer. Der mit der Brille legte die Hand an die Pistole in seinem Gürtelhalfter. »Was wollen Sie denn machen?«, sagte Victor. »Wollen Sie mich hier erschießen, wo dreißig Augenpaare zusehen können?« Der Mann runzelte die Stirn. Er gab keine Antwort, doch seine Hand rückte ein wenig von der Pistole
ab. Einen Meter vor dem Grüppchen blieb Victor stehen. »Wollen wir vielleicht irgendwo anders hingehen?« Die beiden kleineren Männer schauten sofort den größeren an, der sie jedoch überhaupt nicht wahrnahm. Er starrte Victor in die Augen, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Sein kantiges Gesicht ließ keine Regung erkennen, aber Victor spürte, wie er nachdachte, wie er das Für und Wider abwog. Sollten sie Victor an einen etwas weniger öffentlichen Ort schaffen? Oder ihn doch vor einem Zug voller Augenzeugen erschießen? »Es gibt doch keinen Anlass, dass wir das nicht wie zivilisierte Menschen regeln könnten«, fügte Victor hinzu. »Ja«, erwiderte der Mann mit schmalem Lächeln. »Benehmen wir uns also zivilisiert.«
Kapitel 32 Reisende befanden sich keine mehr auf dem Bahnsteig, nur der Glatzkopf mit der Bahnuniform starrte in Victors Richtung. Der Mann trat einen Schritt zurück, ohne den Blick von Victor zu nehmen, und bedeutete ihm vorwärtszugehen. Victor gehorchte. Die beiden kleineren Männer nahmen ihn sofort in ihre Mitte. Sie waren ziemlich kräftig und hatten ernste Mienen aufgesetzt. Und sie vertrauten darauf, dass Victor nichts unternehmen würde, darum packten sie ihn nicht am Arm oder hielten die Hände in der Nähe ihrer Pistolen. Der Glatzkopf hörte nicht auf, zu ihnen herüberzustarren. Victor verharrte regungslos, während der Kerl mit dem Fusselbart ihn an Oberschenkeln und Hüften sowie unter den Armen abtastete. Das geschah schnell, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Sehr clever. Doch die tastenden Hände gerieten nicht einmal in die Nähe von Victors linkem Handgelenk. Weniger clever. Der Mann entdeckte die SIG in Victors Hosenbund und steckte sie in seine eigene Tasche. »Jetzt ist er sauber«, sagte er dann.
Mit dem Brillenträger vor sich und den anderen beiden im Rücken wurde Victor den Bahnsteig entlanggeführt, allerdings nicht in Richtung Bahnhofshalle, sondern zu dem Glatzkopf mit der Uniform, der ihnen eine altersschwache Metalltür öffnete. Dann entfernte er sich mit hastigen Schritten, um jeden Blickkontakt mit Victor zu vermeiden. Der Große stieß Victor in den Rücken. »Augen geradeaus, Freundchen.« Er folgte dem ersten Mann in den Korridor hinter der Metalltür. Hier war es dunkel und kühl, unverputzte Backsteinwände und trübe Beleuchtung. Die Tür fiel hinter Victor ins Schloss, und er hörte aus der Ferne, wie der Zug nach Hrodna sich in Bewegung setzte. Er wünschte Walt Fisher, dass er einen anderen Gesprächspartner fand. Sie bogen nach links um die Ecke, dann wurde er durch lange, triste Gänge geführt, bis nur noch das Geräusch ihrer Schritte zu vernehmen war. Victor hielt den Kopf immer stur geradeaus gerichtet, aber seine Augen waren ununterbrochen in Bewegung; er registrierte jede Kleinigkeit, prägte sich die Route ein, suchte nach einem Ausweg, einer Chance. Alle
Gänge glichen sich: unverputzter Backstein, unbeschriftete Türen, Sprinklerdüsen an der Decke. Nichts, was er irgendwie zu seinem Vorteil hätte nutzen können. Sie bogen um die nächste Ecke, und der Kerl, der ihm vorausging, öffnete eine Tür. Er bedeutete Victor, in den dahinterliegenden, dunklen Raum zu treten. Er gehorchte. Das Licht ging an und erhellte ein kleines, drei mal drei Meter großes Zimmer. An einer Wand standen Kartonstapel, an der anderen ein einfaches Tischchen mit Plastikstühlen. In einer Ecke ein Wischmopp und ein Metalleimer. Es roch muffig und staubig. »Hinsetzen«, sagte der Große. Victor drehte sich um. »Ich bleibe lieber stehen.« Der große Mann trat einen Schritt näher. »Das war kein Angebot, sondern ein Befehl.« »Trotzdem«, erwiderte Victor. »Ich glaube, ich bleibe stehen.« Die Augen des Mannes wurden ein klein wenig schmaler. »HINSETZEN«, bellte er. Victor blieb stehen. Der große Mann machte eine Handbewegung, und der Kerl mit dem Fusselbart trat näher. Er hatte
kurze blonde Haare und dunkle Augenringe, war vielleicht zwölf Zentimeter kleiner als Victor, aber sehr viel kräftiger. Der Anorak spannte sich über seinen muskulösen Schultern und Armen. Und Victor wusste, dass der Kerl einen Schwächling vor sich sah. Also genau so, wie Victor es am liebsten hatte. Er wurde rückwärts gegen die Wand geschubst und leistete keinen Widerstand. Beim Aufprall stöhnte er laut, auch wenn es nicht nötig gewesen wäre. Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, strich Victor sich das Jackett glatt und machte einen Schritt auf den Angreifer zu. Einen langen Schritt, sodass er unmittelbar vor dem anderen zu stehen kam. Eine unmissverständliche Herausforderung, für die er ein Lächeln erntete. Der Schlag kam schnell, aber ungeschickt … Sie standen zu dicht beieinander, der Mann hatte keinen Platz, um seine ganze Kraft hineinzulegen, er stand ungünstig und war nicht richtig austariert. Victor spannte die Bauchmuskeln an, machte aber keine Anstalten, den Schlag abzuwehren. Er traf ihn in die Magengegend. Victor ließ sich auf ein Knie sinken, hustete. Seine drei Kidnapper lachten, und Victor hustete
und prustete deutlich länger als notwendig. Der Kerl, der ihn geschlagen hatte, stellte sich wieder zurück zu den anderen, nahe der Tür. »Und, willst du dich jetzt hinsetzen?«, sagte der Großgewachsene. Langsam rappelte Victor sich auf und zog einen Plastikstuhl heran. Er ließ sich Zeit, aber er setzte sich hin. »Und was nun?«, sagte er mit einer Spur Schmerz und Verzweiflung in der Stimme. Sie gaben ihm keine Antwort. Der Große zog ein Handy aus seiner Gesäßtasche, drückte eine Taste und hielt es sich ans Ohr. »Wir haben ihn«, sagte er, als sich am anderen Ende der Leitung jemand gemeldet hatte. In der folgenden Pause redete die Person am anderen Ende der Leitung. »Ja, am Bahnhof«, erwiderte der große Mann. »Nein, er ist noch am Leben. Machen Sie sich keine Sorgen, hier sind wir ungestört. Ihr Informant kann Ihnen zeigen, wo.« Noch eine Pause. Der Mann starrte Victor an, der kleinlaut auf seinem Stühlchen saß. »Nein, wir können das selber regeln. Er macht
keinerlei Schwierigkeiten.« Bis jetzt, fügte Victor in Gedanken hinzu. Die beiden kleineren Männer konzentrierten sich in erster Linie auf ihren Boss und dessen Telefongespräch. Wegen Victor machten sie sich keine Gedanken – er hatte ihnen ja schon demonstriert, dass er leicht zu beherrschen war. Gut. Allerdings standen alle drei dicht beieinander vor der Tür. Nicht so gut. Der Großgewachsene murmelte noch ein paar Worte und steckte das Handy dann wieder ein. Anschließend wandte er sich an Victor. »Nicht mehr lange, mein Freund, dann ist das Ganze vorbei.« »Soll mir recht sein«, erwiderte Victor. »Ich hasse es zu warten.« Der Große lächelte und machte einen Schritt in Richtung Tisch. Seine Kleidung roch nach Zigarettenrauch. »Wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf, ich finde, du machst einen sehr ruhigen Eindruck, angesichts dieser Situation.« »Ich bin immer ruhig«, gab Victor zu. Der Mann nickte nachdenklich. »Ich nehme an,
dass man in deiner Branche seine Nerven immer im Griff haben muss.« Er ließ sich auf dem Stuhl gegenüber von Victor nieder. »Hast du jemals geglaubt, dass es so enden würde?« »Kann ich nicht gerade behaupten.« Der große Mann strich sich für einen Moment über das Kinn. »Wie lange bist du schon in der Branche tätig?« Victor tat so, als müsste er überlegen. »Schon lange«, sagte er dann. Der große Mann nickte. »Das habe ich mir gedacht. Ich selbst hingegen, ich habe noch relativ wenig Erfahrung. Aber ich lerne schnell.« Er lächelte und entblößte dabei seine spitzen, unregelmäßigen Zähne. »Davor war ich Polizeibeamter. Die Bezahlung war nicht so gut, aber ich habe eine Menge darüber gelernt, wie man diese Arbeit machen kann, ohne geschnappt zu werden.« »Und, ist Ihnen das hier lieber?« »Viel lieber, mein Freund. Sehr viel mehr Geld.« Er ließ noch ein Lächeln sehen. »Und viel befriedigender.« »Die Arbeit muss Spaß machen.« »In der Tat.« Er rutschte mit seinem Stuhl ein
Stückchen vor. »Obwohl – jeder Job hat natürlich auch seine Schattenseiten.« »Völlig richtig.« »Da du mehr Erfahrung besitzt als ich, kannst du mir vielleicht einen Ratschlag geben?« »Passen Sie auf, dass Sie nicht umgebracht werden.« Er grinste hämisch. »Weißt du, mein Freund, du hättest deine eigenen Ratschläge wirklich besser beherzigen müssen.« Victor starrte ihn an. »Noch bin ich nicht tot.« »Noch«, wiederholte der große Mann. Erneut strich er sich über das Kinn. »Das, was du vorhin gesagt hast, dass wir uns zivilisiert benehmen sollen, das hat mir gefallen. Ich glaube, das merke ich mir. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mir deinen Spruch klaue, oder?« »Nicht, wenn ich eine Zigarette bekomme, solange wir warten.« Der Große griff in seine Tasche. »Ist mir jedes Mal ein Vergnügen, einem Todeskandidaten den letzten Wunsch zu erfüllen.« Er schenkte Victor ein Lächeln, von Mann zu Mann. »Meine Frau sagt immer, ich soll aufhören. Sie liegt mir pausenlos in den Ohren
damit, bla, bla, bla.« Er holte ein Feuerzeug und eine Zigarettenschachtel aus der Tasche und legte beides auf den Tisch, schob sie Victor zu. »Ich habe aufgehört«, sagte Victor. »Vor sechs Monaten.« »Und fehlt es dir?« Victor zog das Päckchen näher zu sich heran und spielte mit dem Feuerzeug. »An jedem einzelnen Tag.« Der große Mann schaute ihn mit einem gewissen Grad von Verständnis im Blick an. »Hast du wegen einer Frau aufgehört?« »So was in der Art.« »Tja, jetzt wird sie dich nie wieder zu Gesicht bekommen«, sagte der Mann. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Du hast fünf Minuten. Rauch, so viel du willst.« »Also, um ehrlich zu sein«, meinte Victor, nachdem er das Päckchen noch ein paar Zentimeter näher zu sich gezogen hatte, »ich hab’s mir anders überlegt.« Er legte das Feuerzeug auf die Zigarettenschachtel. »Aber trotzdem, danke.«
Der Großgewachsene zuckte mit den Schultern. »Wie du willst, mein Freund. Dann bleibt mehr für mich übrig.« Er beugte sich vor und streckte die Hand aus. Seine Finger schlossen sich um das Zigarettenpäckchen. Victor packte die ausgestreckte Hand mit der Linken, zog die Spiegelscherbe aus dem Ärmel, drehte sie um und rammte die Spitze durch die Hand des Mannes in die Tischplatte. Der Mann brüllte. Blut schoss aus der Wunde. Die beiden anderen zögerten einen Moment – starr vor Schreck. Victor sprang auf und schleuderte seinen Stuhl in ihre Richtung. Der Kerl mit der Brille reagierte gerade noch rechtzeitig, aber der mit dem Bart war zu langsam. Der Stuhl prallte gegen seine Brust, und er wurde zu Boden geworfen. Als der Kerl mit der Brille das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, war Victor schon bei ihm und rammte ihn mit der Schulter gegen die Wand. Er prallte röchelnd gegen die harte Backsteinmauer, mit fliegenden Armen und ungeschütztem Oberkörper. Victor trieb eine kurze Rechte genau in seinen Solarplexus. Der Mann keuchte und
schnappte vergeblich nach Luft. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sank er an der Wand hinab. Victor wandte sich dem Kerl auf dem Boden zu, während dieser schon dabei war, sich auf den Rücken zu drehen und eine Waffe unter seiner Jacke hervorzuziehen, eine große Automatik, Smith & Wesson, Kaliber 45, mit Schalldämpfer. Victor machte einen schnellen Schritt, trat ihm die Pistole aus der Hand, versetzte ihm einen zweiten Tritt gegen die Schläfe und hieb ihm anschließend den Schuh mit voller Wucht ins Gesicht. Knochen und Knorpel knirschten unter seinem Absatz. Blut floss über das Gesicht des Mannes. Victor wirbelte herum und sah, wie der Kerl an der Wand zwar immer noch um Atem rang, aber dennoch versuchte, seine eigene Waffe aus dem Schulterhalfter zu ziehen. Mit dem aufgeschraubten Schalldämpfer war die Waffe einfach zu lang. Ein amateurhafter Fehler. Victor packte das Handgelenk des Mannes, noch bevor der die Waffe ganz gezogen hatte, und rammte ihm den Ellbogen zweimal ins Gesicht. Die Brille zerbrach, genau wie der Wangenknochen. Victor spürte, wie die Hand
kraftlos wurde, riss die Waffe an sich, presste den Lauf in die Magengegend seines Gegners und drückte zweimal ab. Dann drehte er sich um, sah, wie der Kerl mit der gebrochenen Nase nach seiner Fünfundvierziger griff und sie in seine Richtung schwang. Victor schoss ihm dreimal in die Brust. Der große Mann brüllte – keine Worte, lediglich eine unverständliche Mischung aus Furcht, Verzweiflung und Flehen. »Niemand kann Sie hören«, sagte Victor. »Darum haben Sie mich doch hierhergebracht, wissen Sie noch?« Der Kerl mit dem Magendurchschuss glitt an der Wand herab, nicht tot, aber lange würde es nicht mehr dauern. Die zerbrochene Brille baumelte noch an einem Ohr. Blut durchtränkte seine Jacke. An der Wand in seinem Rücken hatte die Austrittswunde eine glitzernde Schleimspur hinterlassen. Er stöhnte leise. Victor machte einen Schritt über den am Boden liegenden Leichnam hinweg und stellte sich dem großen Mann gegenüber. Schmerz und Todesangst verzerrten seine kantigen Züge. Er war leichenblass
im Gesicht, und der Schock trieb ihm Schweißperlen auf Stirn und Wangen. Die an die Tischplatte genagelte Hand war mit roter Flüssigkeit bedeckt, genau wie die umgebende Tischfläche. Das Blut tropfte von der nächstgelegenen Kante zu Boden. Seine andere Hand, die Linke, hatte er unter seinen Mantel gesteckt und versuchte verzweifelt, die Waffe aus dem Halfter unterhalb der linken Achsel zu ziehen. Selbst unter optimalen Bedingungen kein leichtes Unterfangen. Victor richtete den Lauf der Fünfundvierziger auf das Gesicht des Mannes, und dieser stellte seine Bemühungen ein. Victor holte die Waffe mit seiner Linken selbst aus dem Halfter. Es war ebenfalls eine Smith & Wesson, genau die gleiche, die er schon in der Hand hatte. Er warf sie beiseite. »Was willst du wissen?«, brüllte der Großgewachsene. »Ich sag dir alles.« Victor nahm den Stuhl, der am anderen Ende des Raums lag, und stellte ihn neben den Tisch. Er wischte die Sitzfläche sauber und setzte sich im rechten Winkel zu dem Mann darauf. »Das weiß ich«, meinte Victor. »Sie könnten
damit anfangen, dass Sie mir verraten, mit wem Sie vorhin telefoniert haben. Der, der gleich hier auftauchen wird.« »Mein Auftraggeber. Ein Weißrusse. Danil Petrenko.« »Kommt er alleine?« »Er bringt seine Männer mit.« »Wie viele?« Victor legte einen Finger auf die Glasscherbe. Mehr musste er gar nicht machen, die Drohung alleine war schon genug. »Noch fünf Mann, die gehören alle zu uns«, platzte der Große heraus. Voller Panik und mit weit aufgerissenen Augen starrte er die fünfzehn Zentimeter lange Glasscherbe an, die aus seiner Hand ragte. »Gehören Sie zu Petrenkos Mannschaft?« »Nein, wir arbeiten freiberuflich. Als Auftragskiller.« Er unterbrach sich kurz, dachte nach. »Aber wir hätten dich nicht umgebracht, mein Freund«, fügte er hastig hinzu. »Petrenko wollte bloß mit dir reden.« »Nächster Versuch.« Verzweiflung huschte über sein Gesicht. »Also
gut«, meinte er nach einer kurzen Pause. »Aber nur rein geschäftlich, nichts Persönliches.« »Das versteht sich von selbst.« »Ich habe nur meine Anweisungen befolgt, meine Arbeit gemacht, das verstehst du doch. Du bist doch genau wie ich.« »Ich kann keinerlei Ähnlichkeit entdecken.« »Du bist doch hinter Petrenko her, nicht hinter mir.« »Das heißt also, ich brauche Sie gar nicht.« In höchster Panik riss der Mann die Augen auf. »Bitte, bring mich nicht um.« »Wie viele Ihrer Opfer haben diesen Satz zu Ihnen gesagt?« »Ich … ich weiß nicht.« »Ich nehme an, viele. Und wie viele von denen haben Sie verschont?« Es entstand eine kurze Pause, dann sagte er: »Manche.« »Dann sind Sie nicht besonders gut.« Victor stand auf. »Sie hätten meinen Ratschlag wirklich beherzigen sollen.« »Bitte«, flehte der Mann. »Ich hab dir doch alles gesagt, was ich weiß.«
»Das stimmt«, pflichtete Victor ihm bei, »aber ich habe nicht gesagt, dass ich Sie dann laufen lasse.« »Also gut, mein Freund.« Hastig und verzweifelt brachen die Worte aus dem groß gewachsenen Mann hervor. »Ich habe keinen Einzigen verschont. Ich bin ein böser Mensch. Aber du hast doch selbst gesagt, dass du nicht bist wie ich. Also richte dich danach. Werd nicht so wie ich!« Victor starrte ihn an und sagte: »Nach allem, was ich getan habe, weiß ich, dass der Teufel mir einen Platz reserviert hat. Wenn ich also so oder so in der Hölle schmore, welche Rolle spielt dann schon eine Sünde mehr oder weniger?« Er zielte.
»NEIN …«
Kapitel 33 Victor lud die Smith & Wesson durch und steckte sie in seinen Hosenbund. In seiner einen Jacketttasche lagen zwei Ersatzmagazine und in der anderen die Handys der drei Toten. Als er die Tür zum Korridor aufmachte, entdeckte er dort einen jungen Burschen. Er war Anfang zwanzig. Unter seiner schmutzigen Mütze hingen lange Haare hervor. Er trug einen Overall und einen Werkzeuggürtel, wippte mit dem Kopf und formte mit den Lippen lautlos den Text des Heavy-Metal-Songs, den sein Kopfhörer ihm ins Ohr brüllte. Solange die Tür zu gewesen war, hatte Victor ihn gar nicht gehört. Jetzt stand er einen guten Meter von Victor entfernt und starrte mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund auf die drei Leichen. Keine Sekunde später drückte die Mündung von Victors Smith & Wesson eine runde Delle in seine Stirn. »Soll ich dich erschießen?«, fragte Victor. Der junge Mann brachte ein mühsames Kopfschütteln zustande. »Dann gib mir deine Brieftasche.« Ohne Victor aus den Augen zu lassen, gehorchte
er. Victor klappte das Portemonnaie auf und holte einen Führerschein hervor. Er zeigte ihn dem jungen Mann und steckte ihn anschließend ein. »Ich vergesse dich. Du vergisst mich. Abgemacht?« Er nickte, und Victor warf ihm die Brieftasche zu. Das Bürschchen versuchte nicht einmal, sie zu fangen. Sie prallte von seiner Brust ab und fiel ihm auf die Füße. Victor sagte: »Du wartest doch bestimmt erst noch fünfzehn Minuten ab, bevor du Hilfe holst, oder?« Noch ein versteinertes Nicken. Victor ließ ihn stehen und folgte mithilfe des Lageplans in seinem Kopf dem Labyrinth der Korridore. Eine Minute später hörte er Bahnhofsgeräusche, und kurz darauf sah er die Metalltür. Der große Mann hatte gesagt, dass Petrenko in fünf Minuten da sein würde. Das war vor drei Minuten gewesen. Der Bahnsteig war voller Fahrgäste auf dem Weg zu ihrem Zug. Mindestens dreißig Männer kamen mit schnellen Schritten auf Victor zu. Keiner sah aus wie der, den Victor am Tag zuvor im Fahrstuhl des Hotel
Europe gesehen hatte. Fünf Auftragskiller oder der Glatzkopf mit der Uniform waren auch nicht darunter. Er machte die Metalltür zu und ging den Bahnsteig entlang, nutzte die Fahrgäste und eine Säule als Deckung, um sich zu verstecken und die Tür zu beobachten. Er hoffte, dass Petrenko nicht alle fünf Killer mitbrachte, ansonsten würde es in dem kleinen Raum sehr, sehr ungemütlich werden. Etliche Minuten vergingen, ohne dass irgendjemand sich der Tür näherte. Unter Umständen gab es ja noch einen anderen Eingang, aber eigentlich glaubte er nicht, dass diese Leute freien Zutritt zu sämtlichen Bereichen des Bahnhofs hatten. Wahrscheinlicher war es, dass der glatzköpfige Bahnangestellte ihnen bewusst diese eine Tür aufgeschlossen und ihnen verraten hatte, wo sie am besten erledigen konnten, was sie zu erledigen hatten. Victor wollte sich auf jeden Fall bei ihm bedanken, falls sich eine Gelegenheit ergab. Je näher die Abfahrt des Zuges rückte, desto weniger Menschen waren auf dem Bahnsteig unterwegs. Daher konnte Victor jetzt bis in die Bahnhofshalle sehen. Immer noch keine Spur von Petrenko, einer Gruppe von Profikillern oder dem
Glatzkopf in der Uniform. Der letzte Fahrgast bestieg den Zug, und die Türen schlossen sich. Jetzt waren nur noch zwei Zugabfertiger und Victor übrig. Er schaute auf seine Armbanduhr und tat so, als warte er auf den nächsten Zug, hielt sich aber hinter der Säule, für den Fall, dass sie gleich auftauchten. Der Zug rollte aus dem Bahnhof, und die beiden Abfertiger verließen den Bahnsteig, um das zu tun, was Abfertiger zwischen zwei Abfertigungen eben so taten. Nachdem der Zug aus dem Bahnhof gerollt war, konnte Victor auch den gegenüberliegenden Bahnsteig sehen. Dort stand der glatzköpfige Bahnangestellte inmitten einer Menge wartender Fahrgäste und beantwortete eine Frage, machte seine Arbeit, ganz entspannt, sogar mit einem Lächeln auf den Lippen. Der Kerl hob den Blick und erkannte Victor, bevor dieser sich wegdrehen konnte. Blitzschnell gewann die Erkenntnis die Oberhand über die Verblüffung. Er holte ein Handy aus seiner Hosentasche und legte es ans Ohr. So groß die Versuchung auch war, einfach die Fünfundvierziger zu ziehen und zwei Kugeln in seinem Brustkorb zu versenken, es
standen mehr als fünfzig Fahrgäste in der unmittelbaren Umgebung, die vermutlich alle ein Handy besaßen. Fünfzehn Sekunden nach den Schüssen würde der erste Anruf bei der Notrufzentrale eingehen. Dreißig Sekunden danach war jeder Polizist in der näheren Umgebung hinter Victor her. Also ging er mit eiligen Schritten in Richtung Bahnhofshalle. Hier hätte er zwar auch, wenn er gerannt wäre, weniger Aufmerksamkeit erregt als anderswo, aber wenn irgendwann die Leichen entdeckt und die Aufnahmen der Überwachungskameras durchgesehen wurden, dann brauchten die Polizeiberichte nicht durch die Beschreibungen irgendwelcher Augenzeugen konkretisiert zu werden. Dem Glatzkopf war klar, was er vorhatte, und er reagierte sofort. Absolute körperliche Fitness war in Victors Beruf eine Grundvoraussetzung, aber die konnte er nicht einsetzen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, und der Glatzkopf hatte nur die Hälfte der Strecke zurückzulegen. Er war vor Victor in der Bahnhofshalle und tauchte im Meer der Fahrgäste
unter. Victor hatte fünf Sekunden Rückstand, aber in Situationen wie dieser machte es sich bezahlt, dass er ein paar Zentimeter größer war als der Durchschnitt. Er sah einen kahlen Schädel, der sich rasch entfernte, und hielt darauf zu, wich Männern und Frauen aus, die regungslos und nervös auf die Tafel mit den Abfahrtszeiten starrten. Dann musste er sich seitwärts durch eine dicht gedrängte Gruppe von Feierabendpendlern drängen und verlor sein Ziel aus den Augen. Er hastete weiter in dieselbe Richtung, aufmerksam, schaute immer wieder in alle Richtungen, für den Fall, dass Petrenko auftauchte, sah den Glatzkopf ein ganzes Stück weit entfernt aus der Menge auftauchen, gehetzt. Er strauchelte, sah sich um, blickte Victor für einen kurzen Moment in die Augen und hastete weiter in Richtung Hauptausgang. Sobald Victor die Menge ebenfalls hinter sich gelassen hatte, rannte er los. Mit jedem Schritt wurde der Abstand kleiner. Wenn er den anderen am Arm packte, würden die Umstehenden auf ihn aufmerksam werden, aber das ließ sich eben nicht
ändern. Victor erreichte den kleinen Platz vor dem Bahnhofsgebäude und sah den Glatzkopf wild fuchtelnd in seine Richtung zeigen. Er lief dabei auf eine Gruppe von sechs Männern zu, die sich dem Bahnhof näherte. Einen der Männer hatte Victor schon einmal gesehen. Im Fahrstuhl des Hotel Europe. Petrenko. Victor verlangsamte seine Schritte, aber sie hatten ihn bereits entdeckt. Petrenko zögerte. Furcht zeigte sich auf seiner Miene. Die anderen jedoch stürmten vorwärts, Hände fuhren in Jacketts oder Hosentaschen. Sie ließen ihre Waffen stecken, weil Victor seine Hand auf die Smith & Wesson in seinem Hosenbund legte und sie daher wussten, dass er bewaffnet war. Sie kamen näher. Fünf gegen einen, fünfzehn Meter Abstand, keine Hindernisse. Sie konnten völlig unbesorgt sein. Er besaß zwar mit Sicherheit die besseren Reflexe, aber mehr als drei Schüsse konnte er auf keinen Fall abfeuern, bevor drei Kugeln auf ihn abgegeben wurden. Nur eine davon musste treffen. Victor würde seine Waffe nicht ziehen, weil das Selbstmord gewesen wäre. Das wussten sie. Aber falls einer von ihnen zog, dann würde er reagieren, und ganz
egal, wer von ihnen als Erster die Waffe in die Hand nahm, er würde von Neun-Millimeter-Geschossen durchbohrt werden, bevor die anderen zurückschießen konnten. Das wussten sie auch. Der Glatzkopf rannte weiter, an Petrenko vorbei zum Taxistand. Victor ging rückwärts, war jetzt schon wieder in der Bahnhofshalle, versuchte sich in die schützende Menschenmenge zurückzuziehen. Sie waren schneller als er, aber er wagte nicht, ihnen den Rücken zuzukehren. Ohne ein Wort der Verständigung schwärmten zwei der fünf nach rechts und links auf die Flanken aus, während Petrenko und die anderen drei unbarmherzig näher kamen. Schon wenige Sekunden später konnte Victor die beiden äußeren nur noch mit Mühe aus dem Augenwinkel erkennen – und dann gar nicht mehr. Er drehte hastig den Kopf erst nach links, dann nach rechts, versuchte sie im Blick zu behalten, schaffte es aber nicht, ohne gleichzeitig die anderen aus den Augen zu verlieren. Eine Gruppe älterer Männer und Frauen querte seinen Weg von rechts nach links, mit langsamen Schritten, den Blick starr auf eine Art Broschüre gerichtet. Wahrscheinlich eine Tourenbeschreibung.
Sie verstellten seinen Verfolgern den Blick. Victor drehte sich um und rannte los. Er stürmte geduckt durch die Menge, sah, dass die beiden Flankenläufer es ihm nachmachten, von beiden Seiten näher kamen, seine Bewegungsfreiheit einschränkten. Sie mussten nichts weiter tun, als ihm so nahe zu kommen, dass er langsamer wurde, und darauf warten, dass die anderen aufschlossen. Er steuerte eine Rolltreppe an, nahm immer zwei Stufen auf einmal, drängte sich an anderen Reisenden vorbei. Als der erste von Petrenkos Männern am Fuß der Rolltreppe anlangte, war Victor noch drei Stufen vom oberen Ende entfernt. Er drückte auf die Nothalt-Taste. Der Mann am unteren Ende stürzte, vom Schwung mitgerissen, nach vorn. Die anderen Fahrgäste stöhnten und fluchten. Das Durcheinander brachte Victor insgesamt dreißig Sekunden Vorsprung. Nicht genug, um seinen Verfolgern davonzulaufen, aber vielleicht genug, um sich zu verstecken oder den Ort des Kampfs selbst zu bestimmen. Er war jetzt in einer kleinen Ladenzeile mit zwei Stockwerken und
jeweils ungefähr einem Dutzend Geschäften. Er blickte sich um. Kleider, Sportartikel, Dessous, Postkarten, Kosmetik. Nichts, womit er etwas anfangen konnte. Er hastete weiter, kam um eine Ecke, verlangsamte seine Schritte, damit die Leute ihm nicht nachstarrten und dadurch seine Position preisgaben. An einem Verkaufsstand wurden frisch gepresste Obstsäfte angeboten, an einem anderen Spielzeug-Hubschrauber. Er betrat die Speiseabteilung des kleinen Einkaufszentrums mit etlichen Cafés, Restaurants und Bars. Eine Bar sah besonders gut aus. Sehr belebt. Mit schnellen Schritten trat er durch die offene Vorderfront. Das fantasielose Hintergrundgedudel des Einkaufszentrums wurde vom Klang Dutzender Gespräche sowie der Achtzigerjahremusik, die aus den Boxen an der Wand dröhnte, abgelöst. Er benahm sich unauffällig, nichts weiter als ein Geschäftsmann, der eine Kleinigkeit trinken wollte, solange er auf seinen Zug wartete. Niemand beachtete ihn. Er zog sein Jackett zurecht und ging zur Theke. Ein junger Mann, der viel zu klug und viel zu gut
aussah, um einfach nur Barkeeper zu sein, fing seinen Blick auf, und Victor bestellte einen Wodka Lemon. Während er auf seinen Drink wartete, stellte er sich hinter ein paar andere Gäste, sodass er von draußen so gut wie nicht zu sehen war, während er gleichzeitig freie Sicht auf die Passanten hatte. Bis jetzt aber keine Spur von Petrenkos Männern. Es musste außer der Rolltreppe noch einen anderen Weg zurück in die Bahnhofshalle geben. Hoffentlich kannten seine Gegner sich im Bahnhof besser aus als er und waren bereits dorthin unterwegs, um ihn abzufangen. Oder aber sie mussten mehr als zwanzig Geschäfte durchstöbern. Wenn sie schlau waren, dann blockierten sie als Erstes die möglichen Ausgänge. Die Ladenzeile war nicht besonders groß, daher gab es vermutlich nicht mehr als zwei Verbindungen zur Bahnhofshalle. Wenn sie je einen Mann bei jedem Abgang und einen beim Fahrstuhl postierten, dann blieben noch zwei für die Suche, immer vorausgesetzt, Petrenko hielt sich zurück. Aber er hatte bei Victors Anblick so erschrocken ausgesehen, dass Victor nicht davon ausging, dass er sich aktiv an der Suche beteiligen wollte. Wenn die beiden sich im Einkaufszentrum
aufteilten, kamen sie schneller voran, aber falls sie ihn tatsächlich entdecken sollten, stand es eins gegen eins. Da sich leicht ausrechnen ließ, was mit dem Großgewachsenen und dessen Helfershelfern geschehen war, ging Victor davon aus, dass sich keiner der neuen fünf alleine mit ihm anlegen wollte. Die Bar war groß, und die zahlreichen Gäste saßen überall im Raum verteilt, in Sitznischen entlang der hinteren Wand, an Tischen oder an der Theke. Es waren überwiegend Touristen oder Geschäftsreisende, viele von ihnen alleine. Niemand sah aus wie ein Stammkunde. Er fügte sich gut ins Gesamtbild ein, aber Petrenkos Leute suchten ihn. Nur ihn. Einen einzelnen Mann. Also warum sollte Victor es ihnen nicht ein bisschen schwerer machen? Schon hatte er ein geeignetes Ziel erspäht. Sie saß am hinteren Ende der Theke, allein, balancierte elegant auf einem Barhocker, den Kopf leicht in seine Richtung geneigt, und aß grüne Oliven von einem Cocktailspieß. Ihr Glas war fast leer, also konnte man ihr ohne Weiteres einen zweiten Drink spendieren. Sie hatte nicht besonders viel Ähnlichkeit mit den Geschäftsreisenden, und für eine
Touristin war ihre Haltung viel zu entspannt. Er schaute so lange in ihre Richtung, bis sie ihn ebenfalls bemerkte. Sie hielt seinem Blick etliche Sekunden lang stand, und er lächelte sie an. Nicht zu sehr, aber dennoch unmissverständlich. Sie wandte sich ab, dann wieder zu ihm zurück. Der Barkeeper brachte Victor seinen Drink, und er nahm ihn mit und ging zu der Frau hinüber. »Darf ich Ihnen noch ein Glas spendieren?«, fragte er auf Russisch. Er musste ziemlich laut reden, um den Klang eines Synthesizers zu übertönen. Er setzte sich auf den Hocker rechts neben ihr, sodass sie ihn vor den Blicken aus dem Einkaufszentrum abschirmte. Bedächtig musterte sie ihn vom Scheitel bis zur Sohle. Erst dann erwiderte sie: »Na, klar.« »Walt Fisher«, sagte Victor. »Ich bin Carolin.« Sie zog mit strahlend weißen Zähnen eine Olive vom Cocktailspieß. »Sehr erfreut, Walt. Sind Sie Amerikaner?« Victor nickte. »Gut«, meinte sie und sprach nun ebenfalls
Englisch. »Ich mag Amerikaner.« Sie besaß einen kultivierten russischen Akzent und ein ausdrucksstarkes Gesicht, das in ihrer Jugend einmal sehr schön gewesen sein musste. Aus der Nähe sah sie aus, als hätte sie ungefähr zehn Jahre mehr auf dem Buckel als er selbst, aber das war vermutlich nur ihrem Schönheitschirurgen zu verdanken. Sie war schlank, hatte lange Beine und kurz geschnittenes, glattes kastanienbraunes Haar. Ein Hauch von Grau am Ansatz. Sie trug einen Bleistiftrock, jede Menge Schmuck sowie eine weiße Bluse mit einem tiefen Ausschnitt. Er zeigte auf den Barkeeper. »Was trinken Sie?« »Einen trockenen Martini. Und noch ein paar Oliven. Viele Oliven.« Victor gab die Bestellung an den Barkeeper weiter. »Hier gibt es viele Frauen«, sagte Carolin. »Warum also kommen Sie zu mir?« »Weil Sie nicht aus demselben Grund hier sind wie die anderen.« »Wie meinen Sie das?« »Alle, die hier sitzen, machen hier nur Station, weil sie auf dem Weg sind, irgendwo anders hin wollen.
Sie nicht.« »Ist es so offensichtlich?« »Nein, aber in meiner Branche braucht man Menschenkenntnis.« Sie lächelte und nickte dann. »Ich bin hier, weil mein Mann ein fetter Workaholic ist, der nur noch bei seiner Sekretärin einen hochbekommt. Ich bin nach Minsk gekommen, damit er nicht sieht, was ich mache, und in dieser Bar sitze ich, weil ich auf einen bestimmten Typ Mann stehe. Was meinen Sie? Ist das Grund genug?« »Das ist auf jeden Fall Grund genug.« Er beugte sich dichter zu ihr. »Und ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, aber ich finde, Ihr Mann hat keine Ahnung, was er verpasst.« Nicht gerade der originellste Spruch, aber er brauchte ein schnelles Ergebnis oder er musste sich anderweitig orientieren. Sie lächelte belustigt. »Nicht besonders dezent, hab ich recht, Walt?« »Nicht übermäßig«, erwiderte er und rückte ein Stückchen näher. »Gut«, sagte sie mit einem ironischen Lächeln. »Ehrlichkeit gefällt mir.«
»Na also.« Der Barkeeper stellte den Martini vor Carolin auf die Theke. Victor bezahlte. »Worauf wollen wir trinken?«, sagte er und hob sein Glas. Carolin stieß mit ihm an. »Auf die Ehrlichkeit.« Sie nahm einen tiefen Schluck und riss anerkennend die Augen auf. »Vorzüglich.« Über ihre Schulter hinweg erkannte Victor zwei Anzugträger vor der Bar. Petrenkos Männer. Die beiden Flankenläufer. In dieser Zeit konnten sie die anderen Geschäfte unmöglich alle durchsucht haben, also hatten sie sich wahrscheinlich gedacht, dass er sich nicht in irgendeinem x-beliebigen Laden verstecken würde. Sie betraten die Bar und blickten sich um. Carolin merkte, dass er abgelenkt war, sagte aber nichts. »Und? Was führt Sie nach Minsk?«, erkundigte sie sich. Victor nippte an seinem Wodka Lemon. »Die Arbeit.« »Ein Vertragsabschluss?« »So etwas in der Art.« Er verlor die beiden kurz aus dem Blick, aber er
wollte seine Haltung auf keinen Fall verändern, um nicht durch die Bewegung auf sich aufmerksam zu machen. »Ist alles in Ordnung?«, wollte Carolin wissen. »Ich bin ein wenig müde. Die lange Reise.« Die Männer tauchten wieder auf. Sie reckten die Hälse, sahen sich um, aber sie suchten nach einem einzelnen Mann, nicht nach der Hälfte eines Pärchens. Carolin blickte ihn bedeutungsvoll an. »Dann sollten Sie sich unbedingt ein bisschen entspannen.« Er nickte. Einer der Männer zeigte zur Toilette, aber der andere schüttelte den Kopf. Er glaubte nicht, dass Victor sich freiwillig in so eine Falle begeben hätte, und er hatte recht damit. »Mein Hotel ist gleich auf der anderen Straßenseite«, sagte Carolin. »In meinem Zimmer gibt es eine Minibar. Wir könnten sie leeren und meinem Mann die Rechnung überlassen.« Die beiden Flankenläufer gaben auf und setzten ihre Suche anderswo fort. Carolin sagte: »Keine Angst. Ich will Sie nur auf
einen Drink einladen.« Victor erhob sich. »Ein andermal vielleicht.« »Sie müssen doch nicht gleich weglaufen«, meinte Carolin. Victor gab keine Antwort. Es tat ihm leid, dass er sie so vor den Kopf stoßen musste, aber das ließ sich nun einmal nicht ändern. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Noch neun Minuten, dann würde das Bürschchen mit dem Werkzeuggürtel Alarm schlagen. Nicht viel, aber Petrenko war immer noch irgendwo ganz in der Nähe.
Kapitel 34 Victor schob sich durch die Scharen der Einkäufer und Reisenden in der Ladenzeile und holte das Handy des Anführers der Killer aus seiner Jackentasche. Es sah aus wie ein normales privates Handy, das regelmäßig benutzt wurde, und nicht wie ein unpersönliches Hilfsmittel nur für einen einzigen, ganz speziellen Auftrag. Das bestätigte ihm, was er sowieso schon wusste – diese Typen waren keine Elite-Killer. Trotzdem waren immer noch fünf von ihnen am Leben, und letztendlich war es egal, wer die Waffe hielt, aus der die eine, tödliche Kugel abgefeuert wurde. Victor rief die letzte gewählte Nummer an. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich ein Mann – vermutlich Petrenko – auf Russisch und mit misstrauischer Stimme. »Ja?« Victor sagte kein Wort. Er lauschte auf die Hintergrundgeräusche. Petrenkos Atem war zu hören, der hallende Klang einer Lautsprecherdurchsage, zahlreiche hastige Schritte. In der Ladenzeile gab es im Augenblick keine Ansage, aber aus der Bahnhofshalle wehte etwas
herüber, was sich zumindest so ähnlich anhörte. Victor ging in Richtung Rolltreppe. Seine Augen waren pausenlos in Bewegung, er blickte nach vorn, zu den Seiten, suchte in jeder Spiegelfläche, ob irgendjemand in seine Richtung sah. »Du bist es«, sagte Petrenko. Seine Stimme klang überrascht, aber beherrscht. Neugierig und ängstlich zugleich. Sein Akzent war der eines wortgewandten Weißrussen, gebildet, wohlhabend. Victor hörte Fingerschnippen dicht bei Petrenkos Handy. Er stellte sich vor, wie der Weißrusse gestikulierte und lautlos versuchte, einem der anderen Auftragskiller irgendetwas klarzumachen. Unterdessen verlangte die Lautsprecherdurchsage, dass ein falsch geparktes Auto unbedingt weggefahren werden musste. Victor hörte Geschirr klappern – vermutlich wurde in Petrenkos Nähe gerade ein Tisch abgeräumt. »Sehr richtig«, erwiderte Victor. Er ging mit schnellen Schritten, hielt ununterbrochen Ausschau nach seinen Gegnern, konnte aber niemanden entdecken. Zwei waren in die Ladenzeile geschickt worden, um ihn zu verfolgen, zwei blockierten wohl die Ausgänge.
Dann wäre noch einer bei Petrenko geblieben. »Woher hast du diese Nummer?«, wollte Petrenko wissen. »Was glauben Sie?« Kurze Pause, dann: »Was willst du?« »Ihnen ein paar Fragen stellen.« »Nur zu.« »Von Angesicht zu Angesicht.« Petrenko lachte kurz. »Das kann ich mir vorstellen. Wollen wir uns vielleicht auf dem Parkplatz treffen? Wir könnten eine kleine Spazierfahrt in meinem Wagen unternehmen und über alles reden, was du willst.« Victor war jetzt an der Rolltreppe angelangt. Er blickte in die Bahnhofshalle hinunter, wo etliche Cafés und Imbissbuden dicht beieinanderlagen. Dutzende Menschen saßen dort an Tischen und tranken, Dutzende andere gingen in endlosem Strom daran vorbei. Kein Anzeichen von Petrenko. Victor hielt das Handy am ausgestreckten Arm in Richtung Bahnhofshalle und zählte bis fünf. Bei vier war die Lautsprecherdurchsage beendet. Er hörte Petrenko erneut mit den Fingern schnippen, diesmal schneller, drängender. Victor wandte der Rolltreppe
den Rücken zu und folgte den Wegweisern zum Treppenhaus. »Ein bisschen weiter weg wäre mir lieber«, sagte er dann ins Telefon. »Wieso?« Im Hintergrund hörte Victor ein dumpfes, metallisches Klacken, und wenige Sekunden später noch einmal. Er ging die Treppe hinunter und legte den Finger auf das Handymikrofon, um seine Stimme und das Echo des Treppenhauses zu dämpfen. »Weil ich in den letzten zehn Minuten drei Ihrer Männer umgebracht habe und es nicht mehr lange dauern wird, bis jemand das bemerkt.« Schon wieder klackte es in Petrenkos Nähe. »Also gut«, sagte Petrenko etwas selbstbewusster. »Das kann ich verstehen. Ich will auch nicht, dass die Polizei sich einmischt.« Victor hatte das Fußende der Treppe erreicht und trat in die Bahnhofshalle, hielt Ausschau nach einem bewaffneten Mann, aber wie erwartet war keiner zu sehen. Er behielt die Finger auf dem Mikrofon und sah sich die verschiedenen Hinweisschilder an, die an den Wänden oder von der Decke hingen. Als er
das Gesuchte gefunden hatte, änderte er seine Richtung. »Was willst du von mir?«, sagte Petrenko. »Ich möchte Sie kennenlernen.« Mit schnellen Schritten schob Victor sich durch die Menge, kam an diversen Geldautomaten und einer Schlange von Menschen vorbei, die alle unbedingt Geld abheben wollten. Petrenko kicherte. »Sonst noch was?« »Und ich möchte Sie davon überzeugen, mich nicht zu töten.« »Dafür müsstest du mir wirklich einen sehr guten Grund liefern.« Victor stellte sich Petrenkos Gesicht vor, sein Lächeln. Er ging noch schneller, wich ein paar jungen Typen aus, die Hamburger aßen und Milchshakes schlürften. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis seine Gegner begriffen hatten, was los war. »Ich weiß ganz genau, was ich Ihnen dafür geben kann.« Petrenko lachte. »Und was könnte das sein?« »Ihr Leben«, sagte Victor, allerdings nicht mehr
ins Telefon. Petrenko verkrampfte sich. Er sagte nichts und rührte sich nicht von der Stelle. Victor stand hinter ihm. Links befand sich eine öffentliche Toilette. Ein älterer Herr steckte ein paar Münzen in einen Schlitz und schob sich durch das Drehkreuz. Dabei klackte es. »Ich brauche Ihnen bestimmt nicht zu sagen, dass Sie sich auf keinen Fall umdrehen sollen«, sagte Victor. Petrenko schluckte. »Meine Männer sind ganz in der Nähe.« »Sind sie nicht«, entgegnete Victor. »Die haben Sie doch alle zur Rolltreppe geschickt, während wir miteinander telefoniert haben. Sie werden zwar jeden Moment kapieren, dass ich dort gar nicht heruntergekommen bin, aber mehr als diesen einen Moment brauche ich nicht.« Petrenko nahm das Handy vom Ohr. »Was willst du?« »Los, gehen wir.« Victor warf beide Handys in einen Mülleimer. »Zum Ausgang.« Petrenko setzte sich in Bewegung, ohne Eile. Victor folgte ihm, behielt ihn immer im Auge und sah
sich gleichzeitig nach den beiden um, die nach ihm suchten. »Schneller, wenn Ihnen Ihre Knie lieb sind.« Petrenko beschleunigte seine Schritte. »Lass mich am Leben, ich flehe dich an.« »Das hängt ganz alleine von Ihnen ab.« »Ich schreie um Hilfe«, sagte er mit brechender Stimme. »Dann bekommen Sie eine Kugel in die Wirbelsäule, und ich bin weg, bevor irgendjemand auch nur einen Gedanken daran verschwenden kann, Ihnen zu helfen.« Sie verließen den Bahnhof. Es hatte aufgehört zu regnen, und die Temperaturen lagen ein klein wenig höher als bei Victors Ankunft. »Welche Richtung?«, fragte Petrenko. »Was wäre Ihnen am liebsten?« »Links.« »Dann gehen wir nach rechts.« Er hielt sich dicht bei Petrenko, aber nicht zu dicht. Freunde oder Kollegen ließen sich immer einen gewissen persönlichen Spielraum. Sie waren etliche Minuten unterwegs, und Victor sagte Petrenko, wann er links oder rechts zu gehen und wann er eine
Straße zu überqueren hatte. In einer schmalen Gasse blieben sie stehen. Victor sagte: »Woher haben Sie gewusst, wie ich aussehe?« »Es hat wahrscheinlich keinen Zweck zu lügen«, sagte Petrenko und blickte über die Schulter zurück. »Die Augen nach vorn«, befahl Victor. »Und lügen Sie ruhig, solange Sie der Meinung sind, dass ich Ihnen glaube. Aber jedes Mal, wenn ich das nicht tue, kostet Sie das einen Finger.« »Einer meiner Männer hat dich in der Hotelsuite gesehen.« Es klang, als sei er dem Ersticken nahe. Er schluckte und fuhr dann fort. »Ich habe meine Kontakte zur Polizei spielen lassen. Die haben ein Phantombild gezeichnet, und das habe ich anschließend verbreiten lassen.« Petrenko blieb stehen. »Ich kann dir Geld geben, Drogen, Frauen. Alles, was du willst.« »Ich will kein Geld. Ich will auch keine Drogen oder Frauen. Mittlerweile sind Sie wohl selbst darauf gekommen, dass ich gar nicht hinter Ihnen, sondern hinter Gabir Yamout her war. Trotzdem lassen Sie mich jagen. Ich habe etliche Ihrer Männer umgebracht, habe Sie in Ihrer eigenen Stadt
angegriffen. Das können Sie natürlich nicht ungestraft durchgehen lassen, ohne Ihren eigenen Ruf zu gefährden. Kann ich verstehen. Aber genau wie Sie kann ich so etwas nicht einfach hinnehmen.« »Dann mach endlich«, spie Petrenko hervor. »Du hast mich gefunden, tolle Leistung, bitte sehr. Jetzt erschieß mich eben, dann haben wir’s hinter uns. Bewunderung kannst du von mir jedenfalls nicht erwarten.« »Darum geht es mir auch nicht.« »Und worum dann? Wenn du mich umbringen wolltest, dann hättest du das doch schon längst erledigt.« »Sehr gut«, sagte Victor. »Ich will nämlich gar nicht, dass Sie tot sind. Ich will, dass Sie weiterleben.« »Wieso denn das?« »Gabir Yamout war meine Zielperson, nicht Sie. Dass Sie dabei ins Kreuzfeuer geraten sind, war ein unvermeidlicher Zufall. Den ich bedaure.« »Entschuldigung angenommen«, meinte Petrenko trocken. Victor sagte: »Vergessen Sie mich.«
»Was?« »Ziehen Sie das Phantombild aus dem Verkehr. Sagen Sie Ihren Leuten, dass ich tot bin, falls es Ihnen hilft, Ihr Gesicht zu wahren. Sagen Sie ihnen, dass ich bei einem Feuergefecht mit Ihren Auftragskillern ums Leben gekommen bin.« »Warum?« »Weil ich es Ihnen sage«, erwiderte er kalt. »Weil ich Sie töten werde, wenn Sie es nicht tun. Sie kehren in Ihr Leben zurück und ich in meines.« »Das würde doch niemals funktionieren. Kein Mensch würde das glauben, ohne Leiche.« »In irgendeinem Hinterzimmer des Bahnhofs liegen drei Tote. Also sehen Sie zu, dass Sie das hinkriegen. Falls nicht, dann komme ich zurück. Ich habe Sie dieses Mal erwischt, und ich würde Sie wieder erwischen.« Petrenko verkrampfte sich. »Ich glaube dir«, sagte er und schluckte. »Wirklich, ich gebe auf. Du hast gewonnen. Ich mache, was du willst.« »Dann sind wir uns einig?« »Ja«, meinte Petrenko, »wir sind uns einig. Aber beantworte mir noch folgende Frage: Warum lässt du mich am Leben? Warum erschießt du mich nicht
einfach?« »Ich töte nur, wenn es einem bestimmten Zweck dient«, erläuterte Victor. »Und das Einzige, was mich im Moment interessiert, ist dieses Phantombild. Wenn ich Sie jetzt umbringe, dann bleibt es im Umlauf. Und wenn ich dafür sorgen wollte, dass es für alle Zeit verschwindet, dann müsste ich Ihre gesamte Organisation auslöschen. Aber dazu fehlt mir schlicht und ergreifend die Zeit.« »Wer zum Teufel bist du eigentlich?« »Das ist nicht wichtig. Wichtig ist allein, dass ich Sie am Leben lasse. Und wenn das so bleiben soll, dann stellen Sie diese Frage nie wieder.« Victor kam um Petrenko herum und stellte sich vor ihn. »Stillhalten, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.« Petrenkos Gesicht glitzerte schweißüberströmt, und er sah starr vor Schrecken zu, wie Victor ihm etwas in die Brusttasche steckte und dann einen Schritt zurücktrat. »Ich habe Ihnen in Ihrer Brusttasche ein kleines Abschiedsgeschenk hinterlassen. Es handelt sich um ein Fläschchen mit Trinitrooxypropan. Sie kennen es wahrscheinlich unter dem allgemein verbreiteten Begriff Nitroglyzerin. Es ist nur eine
kleine Menge, aber wenn Sie sich allzu abrupt bewegen oder auch nur zu heftig atmen, dann sprengt es ein faustgroßes Loch in Ihren Brustkorb.«
»Großer Gott.« »Vorsicht«, sagte Victor und legte den Finger an die Lippen. »Ich würde von jetzt an nur noch flüstern, wenn ich Sie wäre.« Er machte ein paar Schritte um Petrenko herum, bis der Weißrusse ihn nicht mehr sehen konnte. »Sollte mir jemals zu Ohren kommen, dass irgendjemand aus Weißrussland Nachforschungen nach mir anstellt, dann komme ich zurück, aber Sie erfahren es erst dann, wenn ich vor Ihrem Bett stehe.« Er entfernte sich. »Und denken Sie immer daran, egal was Sie machen: Bewegen Sie sich nur sehr, sehr vorsichtig.« Es dauerte unerträgliche sechs Minuten, bis die Männer, die von Burliuk engagiert worden waren, Petrenko ausfindig gemacht hatten. Er hatte nicht gewagt, sich von der Stelle zu rühren. Als er schließlich seinen Namen hörte, war er schweißgebadet. Mit roten Köpfen und außer Atem tauchten zwei Idioten vor ihm auf. Sie waren nicht nur schlecht in Form, sondern auch noch dämlich.
Sehr langsam und sehr leise erklärte er ihnen, was los war. Die beiden Männer starrten ihn verständnislos an. »Einer von euch«, sagte Petrenko mit zusammengebissenen Zähnen, »holt das jetzt raus.« Der Kräftigere der beiden stupste den Schmächtigeren an, und der trat kleinlaut ein paar Schritte vor. »Du musst stillhalten«, sagte er dabei. »Halt die Klappe und mach.« Als der Mann so dicht vor Petrenko stand, dass dieser den Zigarettenrauch in dessen Kleidern riechen konnte, streckte er die Hand nach Petrenkos Brusttasche aus. »Langsamer, du Vollidiot«, flüsterte Petrenko. »Das ist Nitroglyzerin. Wahnsinnig instabil. Wenn du nicht ganz langsam machst, dann sind wir beide tot.« Die Hand des Mannes zitterte. Er hatte noch mehr Angst als Petrenko. Ganz langsam steckte der Kerl Zeige- und Mittelfinger in die Brusttasche. Er keuchte, als er die Bombe berührte. »Vorsichtig«, flüsterte Petrenko. Der Mann holte noch einmal tief Luft, dann zog er
die Finger wieder heraus. Petrenko konnte nicht erkennen, was dazwischen festgeklemmt war. »Genau so«, sagte er. »Schön langsam.« »Sieht aus wie ein Feuerzeug.« »Und zwar voll mit Nitroglyzerin«, flüsterte Petrenko. »Also pass gut auf.« Petrenko trat einen Schritt zurück. Der Lakai hielt das Ding auf Armeslänge in der Hand. »Leg es auf den Boden«, sagte Petrenko und wich noch weiter zurück. Der Mann war rot angelaufen und schwitzte aus allen Poren. Zentimeter für Zentimeter ging er in die Knie, bis er das Feuerzeug vorsichtig ablegen konnte. Nachdem er es losgelassen hatte, stieß er kräftig den Atem aus. Petrenko machte einen großen Bogen um das Feuerzeug und wich zurück. Sein Mann tat es ihm nach. »Und jetzt?«, wollte er wissen. »Spreng es in die Luft«, erwiderte Petrenko. »Womit denn?« »Du hast doch eine Kanone, oder etwa nicht?« Seufzend zog der Mann seine schallgedämpfte Pistole. »Sind wir außer Reichweite?«
»Aber selbstverständlich«, stieß Petrenko hervor. »Jetzt schieß endlich!« Der Mann zielte, hielt den Atem an und drückte ab. Das Feuerzeug zerplatzte, Flüssigkeit spritzte heraus, aber es gab keine Explosion. Petrenko wartete gespannt, aber es passierte nichts. »Was zum Teufel …?« Er schob sich an dem Schützen vorbei, ging in die Knie und steckte zögerlich einen Finger in die kleine Pfütze. Er roch daran. Feuerzeugbenzin.
»Drecksack.«
Kapitel 35 Moskau, Russland
Tomasz Burliuk beendete das Gespräch und steckte sein Handy ein. Soeben hatte Petrenko ihm berichtet, dass Burliuks freie Mitarbeiter ihm dabei geholfen hatten, seine Stärke unter Beweis zu stellen, auch wenn drei von ihnen dabei ums Leben gekommen waren. Tote Auftragskiller waren Burliuk vollkommen gleichgültig. Das Einzige, worauf es ihm ankam, war, dass Petrenko die Absprache mit Yamout für sich behielt. Kasakov durfte niemals erfahren, dass Burliuk sich auf einen Handel mit den Todfeinden seines besten Freundes eingelassen hatte. Burliuk holte tief Luft und kontrollierte im nächstgelegenen Wandspiegel, ob ihm der Stress irgendwie anzusehen war. Nachdem er keine Anzeichen entdecken konnte, wischte er sich mit der Hand über die Schulterstücke seines Jacketts, strich noch eine verirrte Strähne glatt, drehte sich um und kehrte ans andere Ende des Speisesaals zurück, wo Kasakov und Eltsina sich mit zwei potenziellen Kunden unterhielten. Es handelte sich um
Nordkoreaner, zwei ernst dreinschauende Männer Mitte fünfzig, die im Auftrag der Regierung in Pjöngjang gekommen waren. Der Klub war eine der besten Adressen in Moskau und außerdem Kasakovs persönliches Lieblingsrestaurant. Daher war es auch Burliuks Lieblingsrestaurant. Burliuk begleitete seinen Freund regelmäßig zum Essen, anders als Eltsina, mit der er nur selten an einem Tisch saß. Kasakov und Burliuk waren Freunde und Kollegen zugleich, aber keiner der beiden hegte irgendwelche freundschaftlichen Gefühle für die Russin. Sie war eine humorlose Frau, die nur selten lächelte, und es gab anscheinend nichts, was ihr Spaß machte. Witze, die Kasakov die Tränen in die Augen trieben, lösten bei Eltsina in aller Regel nicht einmal eine sichtbare Reaktion aus. Aber heute, bei diesem speziellen Anlass, wurde ihr Fachwissen benötigt. Geschäfte mit Nordkorea mussten generell unter größtmöglicher Diskretion und außerordentlich sorgfältig geplant und durchgeführt werden. Trotzdem ließ es sich dabei kaum verhindern, dass Kasakov etwas weiter aus der Deckung kommen musste als sonst. Daher machte er – trotz der
enormen Gewinne, die Waffenverkäufe an das kommunistische Regime oder der Handel mit nordkoreanischen Waffen versprachen – eigentlich nur dann Geschäfte mit Pjöngjang, wenn der Zeitpunkt optimal und das Risiko so minimal wie nur möglich war. Allerdings hatten die Zeiten sich geändert, und ein großer Vertrag mit den Kommunisten war zur Überlebensfrage für die gesamte Organisation geworden. »Meine Herren«, sagte Kasakov gerade. »Ich hoffe, das Essen hat Ihnen geschmeckt und wir können nun zum geschäftlichen Teil des Ganzen übergehen. Sie wissen, dass ich Ihnen die einmalige Gelegenheit biete, die Luftwaffe Ihres Landes mit der Mikoyan MiG-31 zu bereichern, genauer gesagt mit der MiG-31 BM, einer Weiterentwicklung des Basismodells. Dieser Mehrzweck-Abfangjäger ist technologisch auf dem allerneuesten Stand und nur sehr selten überhaupt auf dem Markt. Zu den auffälligsten Neuentwicklungen gehören unter anderem die Ausstattung mit Luft-Boden-Raketen, das HOTAS-Steuerungssystem, die hochmoderne Bordelektronik, die digitale Datenübertragungstechnologie sowie die Zaslon-M-
Radareinrichtung, ein PESA-Radar mit einer Reichweite von vierhundert Kilometern. Er versetzt Ihre Piloten in die Lage, zeitgleich Ziele am Boden und in der Luft anzugreifen. In dem Katalog, den Sie bekommen haben, finden Sie eine umfangreiche Liste mit sämtlichen enthaltenen Neuerungen.« Kasakov lächelte, dann fuhr er fort. »Nun, die NATO hat diesem Flugzeug den Codenamen ›Fuchshund‹ verliehen, und ich bin überzeugt, dass Sie mir zustimmen, wenn ich sage, dass das eine sehr passende Bezeichnung ist. Die MiGs sind gnadenlose Hunde, die die Maschinen aus Washington und Seoul wie Füchse vor sich hertreiben werden.« Die Nordkoreaner zeigten keinerlei Reaktion. Burliuk setzte sich wieder auf seinen Platz neben Kasakov und flüsterte ihm zu: »Tut mir wirklich sehr leid.« Kasakov nickte, aber Burliuk kannte ihn gut genug, um sein Missfallen zu spüren. Niemand am Tisch beachtete ihn. »Die MiG-31 BM ist ein außergewöhnliches Kampfflugzeug«, fügte Kasakov hinzu. »Wenn Ihre Luftwaffe über solche Jets verfügt, dann steigen Sie
in den exklusiven Zirkel der mächtigsten Nationen dieser Welt auf. Kein Aggressor, nicht einmal die USA, wird es noch einmal wagen, mit Flugzeugen in Ihren Luftraum oder mit Schiffen in Ihre Gewässer einzudringen. Sie erlangen damit eine unerreichte Stärke, die all Ihre Träume in Erfüllung gehen lässt. Ich kann Ihnen zwanzig Stück anbieten, und zwar zu einem sehr akzeptablen Preis von siebzig Millionen Dollar pro Stück. Die Summe ist nicht verhandelbar und schließt die Lieferung der Flugzeuge an einen Ort Ihrer Wahl zu einem Zeitpunkt Ihrer Wahl mit ein.« Einer der Nordkoreaner ergriff das Wort. Er war groß, schmal wie ein Strich und hatte kurz geschnittene pechschwarze Haare. »Die Inder bieten uns aufgerüstete MiG-29 für vierzig Millionen das Stück an.« Eltsina zuckte kaum wahrnehmbar mit den Schultern. »Das bezweifle ich nicht. Vor allem, da sie allerhöchstens fünfzehn Millionen wert sind, aufgerüstet oder nicht. Und dann sind diese aufgerüsteten MiGs in Indien mit Sicherheit noch umgebaut worden. Wir hingegen bieten
Originalware aus russischen Produktionsüberschüssen an, genau auf Ihre Bedürfnisse zugeschnitten. Die Geräte waren noch nie im Kampfeinsatz. Sie sind in bestem Zustand. Und außerdem: Wenn Sie bei uns kaufen, dann haben Sie die hundertprozentige Garantie, dass Sie auch hundert Prozent Ihrer Bestellung erhalten.« Sie lächelte und hob die Augenbrauen. »Diese unglückliche Kasachstan-Aserbaidschan-Affäre würde sich also nicht wiederholen.« Jetzt fingen die Nordkoreaner an, sich in ihrer Landessprache zu unterhalten. Für Burliuk hörte es sich an wie eine Sprache aus einer anderen Welt. Kasakov wandte sich an Burliuk und winkte ihn zu sich heran. Dann flüsterte er: »Hättest du bitte die Freundlichkeit, mir zu verraten, wieso du mitten in den Verhandlungen für ein Geschäft, das wir, wie du selbst gesagt hast, dringend benötigen, einfach den Tisch verlassen hast?« Kasakovs Stimme klang leise, sein Tonfall ruhig und beherrscht, aber Burliuk konnte die unterschwellige Aggressivität trotzdem spüren. »Verzeih mir, Vladimir, aber ich versichere dir, dass es nötig war. Ich habe gestern von einem
Geschäftspartner in Minsk erfahren, dass ein Attentäter in der Stadt unterwegs sein soll, auf der Durchreise nach Russland, um hier einen Mordanschlag auf dich zu verüben. Ich habe ein paar Männer losgeschickt, um dieses Gerücht zu überprüfen. Es hat sich als wahr herausgestellt. Meine Leute haben den Attentäter gestellt. Dabei ist es bedauerlicherweise zu einem Schusswechsel gekommen, und der Mann wurde getötet, bevor man ihn befragen konnte.« Kasakov wirkte verblüfft, schluckte die Lüge ohne Weiteres und lächelte sogar ein wenig. »Dann sei dir verziehen, Tomasz.« Er blickte Eltsina an. »Ich dachte immer, du bist für meine Sicherheit verantwortlich, Julia. Vielleicht sollte ich dein Gehalt in Zukunft an Tomasz überweisen.« Eltsina grinste verschlagen, gab aber keine Antwort. Kasakov lächelte, griff nach seinem Weinglas und nahm einen Schluck. »Ach ja, um beim Thema zu bleiben: Ich würde es sehr begrüßen, wenn jemand von euch endlich die Güte besitzen und herausfinden könnte, wer mich eigentlich so unbedingt unter die Erde bringen will.« Die Nordkoreaner auf der anderen Seite des
Tischs hatten ihre Konferenz noch nicht beendet. »Ich habe von einem Massenmord in einem Hotel in Minsk gehört«, wandte Eltsina sich an Burliuk. »Meinst du das?« Burliuk nippte an seinem Mineralwasser und vermied jeden direkten Blickkontakt. »Leider kenne ich noch nicht alle Einzelheiten.« »Ich würde gerne erfahren, was genau vorgefallen ist. Sagst du mir Bescheid, sobald du mehr weißt?«, erwiderte Eltsina mit sanfter, verständnisvoller Stimme. Burliuk nickte. »Aber was wichtiger ist …«, schaltete Kasakov sich ein. »Was habt ihr in Bezug auf den Drecksack unternommen, der meinen Neffen auf dem Gewissen hat? Wisst ihr schon, wo er sich versteckt hält und wer dazu in der Lage ist, seiner jämmerlichen Existenz das Licht auszupusten?« Eltsina sagte: »Wir verfolgen verschiedene Spuren. Ariff bleibt nie länger als ein, zwei Jahre am selben Ort wohnen und ist sehr vorsichtig. Daher braucht das seine Zeit. Aber ich verspreche dir, dass wir ihn finden. Sobald wir wissen, wo Ariff steckt, könnten wir ein amerikanisches Team
beauftragen, das mir im Augenblick die beste Option zu sein scheint. Meine Kontaktleute im Auslandsgeheimdienst haben sie mir wärmstens empfohlen. Ihre Bilanz ist exzellent. Das einzige Problem ist, dass sie sehr viel Geld verlangen.« Beherrschte Wut zeigte sich auf Kasakovs Miene. »Ich habe doch gesagt, dass Geld keine Rolle spielt. Was war denn daran unklar?« Eltsina runzelte die Stirn. »Ich unterzeichne die Schecks ja nicht. Aber Tomasz wollte noch einmal über den Preis verhandeln.« Kasakov wandte sich an Burliuk. Jetzt war sein Zorn überhaupt nicht mehr beherrscht. »Die Honorarforderung ist wirklich absolut lächerlich, Vladimir«, beeilte sich Burliuk zu beteuern. »Du erwartest von mir, dass ich deine Finanzen in Ordnung halte, und genau das tue ich. Für das, was sie haben wollen, könntest du eine ganze Armee bekommen. Ich übertreibe nicht.« Kasakov beugte sich dichter zu Burliuk. »Wenn sie so gut sind, wie Julia sagt, dann akzeptierst du die Forderungen auf der Stelle und gibst ihnen, was sie haben wollen. Alles, was sie wollen, kapiert?
Jede Sekunde, in der Ariff lebt und Illarion nicht, ist eine Zumutung. Und wenn sie mir den Kopf des Ägypters bringen, damit ich ihn mir an die Wand hängen kann, dann bezahle ich ihnen das Dreifache. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?« Burliuk nickte. »Sorg einfach dafür, dass dieser schäbige Hundesohn und seine Familie krepieren. Und zwar schnell.« Die Nordkoreaner hörten auf zu reden und richteten ihre Blicke auf die andere Seite des Tischs. »Nun, meine Herren«, sagte Kasakov ohne jeden Rest von Ärger, ganz Geschäftsmann. »Haben Sie sich entschieden?« Der dünne Nordkoreaner verschränkte die Finger ineinander. »Wie sieht es mit der Bewaffnung aus? Was genau würden Sie uns zusammen mit den Flugzeugen liefern?« Burliuk musste ein Lächeln unterdrücken. Immer wollten alle eine Gratisbeigabe haben. Sogar Staatsregierungen. »Ein Hund ohne Zähne nützt keinem etwas«, erwiderte Kasakov. »Aber scharfe Fänge sind teuer. Daher wird es Sie freuen zu hören, dass ich nahezu
unbegrenzten Zugriff auf Luft-Luft-Raketen wie die R33 oder die neuere R-77 oder auch auf Luft-BodenRaketen, darunter die Anti-Schiffs-Rakete X-55, habe. Meine lieben Freunde, bitte, werfen Sie einen Blick in den Katalog, dort finden Sie umfangreiche Preisinformationen. Als Zeichen unserer beständigen Freundschaft biete ich Ihnen jedoch an – unter der Voraussetzung, dass Sie alle zwanzig Jets übernehmen –, jedes Flugzeug mit Raketen auszustatten. Gratis.« Er unterbrach sich. »Nun, kommen wir ins Geschäft?« Der dünne Nordkoreaner nickte. »Aber wir möchten auch Sicherheiten.« »Aber selbstverständlich«, erwiderte Kasakov und lächelte erneut. »Sie bekommen eine Geld-zurückGarantie.«
Kapitel 36 Washington, D. C., USA
Procter und Clarke waren im Smithsonian National Zoological Park verabredet. Clarke wartete schon neben dem Raubkatzengehege und beobachtete ein paar Sumatra-Tiger, die einfach nur dalagen und nichts taten. Es war ein warmer Tag, und das bedeutete für einen Mann mit Procters Statur: ein heißer Tag. Er stellte sich neben Clarke und betrachtete die Tiger, die ungerührt mit dem Nichtstun fortfuhren. »Die sehen aus, als wäre ihnen langweilig«, sagte Procter kurze Zeit später. Clarke drehte sich nicht zu ihm um. »Welches Tier, das so perfekt zum Töten geschaffen wurde, möchte schon einfach bloß gefüttert werden?« Procter nickte. Es waren zwar nur wenige andere Zoobesucher in der Nähe, aber trotzdem sprach er sehr leise. »Ich weiß, was Sie gleich sagen wollen, also lassen Sie’s lieber, ja? Die Dinge sind nicht ganz so gelaufen wie geplant.« Clarke sagte kein Wort. Einer der Tiger gähnte. »Yamout ist lebend außer Landes gekommen, ich
weiß, aber Yamout ist auch nur der Bischof, und wir sind ja hinter dem König her. Entscheidend ist doch, dass wir Ariffs Organisation getroffen haben, und zwar an einer sehr empfindlichen Stelle. Vergessen wir die Tatsache, dass Yamout überlebt hat. Ausschlaggebend ist, dass Ariff schäumen wird vor Wut, weil sein bester Kumpel beinahe das Zeitliche gesegnet hätte. Er wird also trotzdem genau die beiden Dinge tun, die wir erreichen wollten: Erstens wird er sich vor zukünftigen Attentatsversuchen in Acht nehmen, und zweitens wird er es dem Verantwortlichen heimzahlen wollen. Dank Callo werden Ariff und Yamout gleichermaßen der Überzeugung sein, dass Kasakov dahintersteckt. Das wäre der erste Punkt für uns. Und was Nummer zwei angeht … Kasakov weiß jetzt, dass das Hexogen, mit dem Farkas ermordet wurde, aus der Serie stammt, die bei der Ermordung seines Neffen gestohlen wurde. Wenn er nicht bereits erste Maßnahmen gegen Ariff ergriffen hat, dann wird er es in Bälde tun. Aber da Ariff schon jetzt davon überzeugt ist, dass Kasakov ihm an den Kragen will, wird er sich umso besser schützen, daher kann Vladimir ihn nicht einfach im
Vorbeigehen beseitigen. Und Kasakov selbst ist ohnehin sehr schwer anzugreifen.« Procter machte eine kurze Pause. »Damit hätten wir doch genau das Ergebnis, das wir erzielen wollten: Die beiden erfolgreichsten Waffenschieber dieses Planeten verstricken sich in einen Krieg, der hoffentlich viele Jahre andauern wird. Der illegale Waffenhandel wird so schweren Schaden nehmen, dass er sich davon vielleicht nie wieder erholt. Und wir haben unzählige Menschenleben gerettet.« Clarke schnaubte. »Mit der Strategie bin ich sehr wohl vertraut, Roland.« »Das weiß ich doch«, meinte Procter. »Aber es kann nicht schaden, sich daran zu erinnern, wenn die Dinge ein bisschen undurchschaubarer werden, als uns lieb ist.« Clarke hielt den Blick nach wie vor auf die Tiger gerichtet. Einer war mittlerweile eingeschlafen. »Roland«, begann er, ohne Procter anzuschauen. »Ich bin wirklich nur äußerst ungern derjenige, der Ihnen die Augen öffnet, aber schlimmer hätte es gar nicht kommen können. Ihr Freund hat – wie viele genau? – zwölf Menschen ermordet. Und wenn die ersten Berichte zutreffend sind, dann sind unter den
Toten auch vier Bewohner der Nachbarsuite.« »Und diese toten Zivilisten stimmen mich sehr, sehr traurig«, versicherte ihm Procter. »Aber Tesseract hatte, was den Ort des Attentats anging, nur wenige Alternativen. Es wäre natürlich schön gewesen, wenn Yamout und Petrenko sich irgendwo in einer einsamen Hütte getroffen hätten, aber das haben sie nun mal nicht. Und bei solchen Dingen besteht immer das Risiko, dass auch Unbeteiligte zu Schaden kommen. Aber ich finde, wir sollten erst einmal abwarten, was Tesseract dazu zu sagen hat, bevor wir uns ein endgültiges Urteil erlauben.« Clarke schnaubte. »Ihr MVP hat es nicht auf die Reihe gekriegt, Yamout zu töten, hat dabei aber vier Zivilisten umgebracht, und Sie wollen erst mal abwarten, was er dazu zu sagen hat? Roland, bitte. Sehen Sie endlich den Tatsachen ins Auge: Tesseract ist längst nicht so gut, wie Sie gehofft hatten. Er stellt sogar einen noch größeren Unsicherheitsfaktor dar, als ich befürchtet hatte. Auf zwei Kriminelle kommt jeweils ein toter Unbeteiligter. Da hätten wir das ganze Gebäude auch gleich mit Mörsern unter Beschuss nehmen können. Dann hätten wir zumindest auch Yamout erwischt.«
»Sie kommen doch aus dem Militär«, entgegnete Procter. »Da müssten Sie Kollateralschäden eigentlich besser verkraften.« Clarke kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Apropos Kollateralschäden«, fuhr Procter fort. »Es gibt da etwas, was Sie wissen sollten. Es geht um Saul Callo. Die Briten, die wir dafür engagiert haben, haben sich nach dem Anruf bei Yamout bei mir gemeldet. Callo hat versucht zu fliehen. Abbot und Blout hatten keine andere Wahl, sie mussten ihn neutralisieren, um sich nicht selbst zu gefährden. Ich bin natürlich ziemlich sauer, aber schlaflose Nächte habe ich deswegen auch keine. Brauchen Sie auch nicht zu haben. Callo war ein ausgesprochen widerliches Exemplar der menschlichen Rasse. Das wissen Sie genauso gut wie ich.« Clarke seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich habe Abbot und Blout mit ins Boot geholt, also fühle ich mich auch für Callos Schicksal verantwortlich. Aber, wie Sie schon gesagt haben, schlaflose Nächte werde ich wegen ihm auch nicht haben. Ich wünschte, das Gleiche könnte ich über Tesseract
sagen.« Procter legte die Hände auf den Zaun. »Es gibt so vieles, was wir nicht wissen, also sollten wir keine voreiligen Schlüsse ziehen und ihn verdammen, bevor wir die Fakten kennen. Sobald er sich meldet, können wir ihn ausführlich befragen. Unser primäres Ziel haben wir erreicht, selbst wenn Yamout am Leben geblieben ist. Und das nenne ich einen Erfolg.« Clarke meinte: »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir unsere Beziehung zu diesem Attentäter neu definieren.« Der zweite Tiger schloss sich dem ersten an und klappte die Augen zu. Sie lagen Seite an Seite nebeneinander. Procter schüttelte den Kopf. »Ich kann wirklich nicht verstehen, warum Sie ihn so schnell loswerden wollen. Muss ich Sie noch einmal daran erinnern, dass er seine ersten beiden Aufträge hundertprozentig erledigt hat? Wenn er Kasakov in Bukarest nicht das Leben gerettet hätte, dann hätten wir unseren kleinen Krieg hier niemals anzetteln können. Nur wegen ihm sind unsere Pläne überhaupt so weit gediehen, dass wir jetzt besprechen können,
wie es weitergehen soll. Kasakov will Ariff an den Kragen und Ariff Kasakov. Und das haben wir Tesseract zu verdanken.« »Ganz genau«, erwiderte Clarke. »Wir haben etwas in Gang gesetzt und können jetzt anfangen, uns zu überlegen, ob wir nicht die eine oder andere offene Frage klären sollten, und zwar endgültig.« »Einen Moment mal, Peter. Wir haben etwas in Gang gesetzt, das ist richtig, aber wir brauchen Tesseract zumindest ein letztes Mal, das sollten Sie nicht vergessen.« »Falls es jemals so weit kommt. Was nicht der Fall sein wird, falls Tesseract irgendwelche Spuren hinterlassen hat. Wegen eines Haufens Gangster und Söldner machen sich die Weißrussen bestimmt keinen großen Kopf, aber was ist mit diesen Zivilisten? Da wird es Ermittlungen geben, und wir stehen noch mehr im Rampenlicht. Könnte sein, dass wir ein riesiges Problem an der Backe haben, solange er frei rumläuft. Das dürfen wir nicht zulassen.« Procter seufzte. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er seine Fingerabdrücke überall im Hotel verteilt hat. Solange er nicht zu
einem eindeutigen Unsicherheitsfaktor geworden ist, will ich kein Wort mehr über irgendwelche endgültigen Problemlösungen hören.« »Die Beschützermentalität, die Sie für Ihr neues Haustier entwickelt haben, ist ja ganz rührend, Roland. Aber sobald er ein Unsicherheitsfaktor geworden ist oder wird, erwarte ich schnelles und entschiedenes Handeln.« Procter nickte. »Selbstverständlich.«
Kapitel 37 Hindukusch, Afghanistan
Das gewaltige Flugzeug war 57,60 Meter lang, mit einer Flügelspannweite von 64,40 und einer Höhe von 12,53 Metern. Es handelte sich um eine Antonov AN-22 aus sowjetischer Produktion, eines der größten Frachtflugzeuge der Welt mit einer maximalen Nutzlast von über achtzig Tonnen. Diese Maximallast war mit den beiden teilweise zerlegten MiG-31 BM sowie den dazugehörigen Raketen und Ersatzteilen im Frachtraum erreicht. Die Antonov zog in einer Höhe von sechstausendsiebenhundert Metern über dem Meeresspiegel ihre Bahn, während ihr Schatten über die schneebedeckten Gipfel des HindukuschGebirges im Nordosten Afghanistans glitt. Der Himmel war blau und wolkenlos, die Luft dünn und ohne Turbulenzen. Die Antonov hatte ihre lange Reise auf einem Flugplatz vor den Toren der russischen Stadt Novosibirsk begonnen und auf ihrem Weg nach Süden bereits Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan überflogen, bevor sie in den afghanischen Luftraum eingedrungen war. Ihre
bogenförmige Route würde sie noch über Pakistan, Indien, Thailand sowie etliche Gewässer führen, bevor sie ihr Ziel in Nordkorea erreicht hatte. Nordkorea und Russland grenzten zwar direkt aneinander, aber die gemeinsame Grenze wurde von der internationalen Gemeinschaft so stark überwacht, dass es viel zu riskant gewesen wäre, sie mit einem Flugzeug voll illegal gehandelter Waffen zu überqueren. Jedes einzelne Besatzungsmitglied besaß große Erfahrung mit den überlangen Flügen, die notwendig waren, um Kasakovs Kunden rund um den Erdball zu bedienen. Sie waren insgesamt zu fünft: Pilot, Kopilot, Navigator und zwei Bord-Ingenieure. Alles Russen bis auf den ukrainischen Piloten. Er hatte schon in der sowjetischen Luftwaffe eine AN-22 geflogen, nur dass er jetzt, in Diensten von Vladimir Kasakov, hundertmal mehr verdiente als damals bei den Kommunisten. Die anderen vier waren zu jung, um für die Sowjetunion im Einsatz gewesen zu sein. Sie hatten vorher im privaten Sektor gearbeitet. Was genau sie für diesen Waffenschieber transportierten und wohin, hatte sie noch nie interessiert. Das Einzige, wofür sie sich interessierten, waren ihre
großzügigen Gehaltsschecks. Das Flugzeug war fast bis zu seiner maximalen Flughöhe aufgestiegen, und trotzdem lagen die Gipfel und Kämme der Berge keine tausend Meter darunter. Durch das unentwegte Zittern des Rumpfes und das Jaulen der vier gewaltigen Propeller konnte man zwar nicht gerade von einem friedlichen Flug sprechen, doch die verschneiten, in der grellen Sonne glitzernden Bergspitzen boten einen herrlichen Anblick. Der Pilot hatte graue Haare, war ständig unrasiert und kaute ununterbrochen auf einer kalten Zigarre herum. Schon während der sowjetischen Invasion hatte er Antonovs nach Afghanistan geflogen, und das Land hatte sich in all den Jahren kein bisschen verändert. Es war ein verfluchter Ort, in alle Ewigkeit dazu verdammt, Schlachtfeld zu sein. Er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, weshalb die Sowjetunion überhaupt den Wunsch verspürt hatte, sich dieses Land einzuverleiben. Bald schon würde der Westen endgültig daraus vertrieben werden, und es konnte wieder in seine natürliche Barbarei zurückverfallen. Beiläufig warf er einen Blick auf seine Instrumente,
aber im Normalfall beachtete er sie kaum. Für ihn hatte Fliegen sehr viel mehr mit Instinkt zu tun als mit Messgeräten und künstlichen Horizonten. Es war sein Leben, war es schon immer gewesen, und er erledigte seine Arbeit mit einem selbstverständlichen Selbstbewusstsein, das in langjähriger Vertrautheit wurzelte. Seiner Erfahrung nach geschahen unten auf dem Boden viel schlimmere Dinge als oben in der dünnen Luft. Er knackte eine Dose seines deutschen Lieblingsbiers und nahm einen großen Schluck. Dann wischte er sich den Schaum vom Kinn und bot den beiden anderen Männern, die mit ihm im Cockpit saßen, ebenfalls eine Dose aus seinem Sechserpack an. Der Kopilot bediente sich und nahm einen ähnlich großen Schluck. Der Navigator mimte wie üblich den Langweiler und lehnte ab. Die beiden Biertrinker rülpsten fröhlich. Dreitausend Meter unter ihnen standen zwei Afghanen mit Ferngläsern auf einem Berg. Die Sonne brannte, aber trotzdem war es hier, dreitausendsiebenhundert Meter über dem Meeresspiegel, kalt, und sie hatten zum Schutz vor
der Kälte einen Pakul, die traditionelle Kopfbedeckung der Afghanen, aufgesetzt und sich in lange Mäntel gehüllt. Ihre Ferngläser waren USFabrikate, die das Militär an die damalige NordAllianz verteilt hatte. Die Taliban waren zwar schon längst nicht mehr an der Macht, aber die Afghanen hatten die wertvollen Geschenke behalten. In der Nähe stand ein Esel und kaute trockenes Gras. »Da ist es«, sagte der eine und ließ das Fernglas sinken. »Es kommt auf uns zu.« Der andere Afghane nickte. »Pünktlich auf die Minute.« Die Stinger lehnte bereits abschussbereit an einem Felsblock. Der ältere Afghane kam ohne Probleme damit zurecht und schwang sich die Waffe auf die Schulter. Sie war einen Meter zweiundfünfzig lang und wog 15,8 Kilogramm. Der stolzeste Moment im Leben des Afghanen lag lange zurück, in den späten Achtzigerjahren. Damals hatte er zum letzten Mal eine Stinger bedient und damit einen sowjetischen Hubschrauber mit dem Codenamen »Hirschkuh« abgeschossen. Bis heute wurde von dieser Heldentat gesprochen, und die Jungen erstarrten jedes Mal in Ehrfurcht, wenn er die
Geschichte erzählte. Die USA hatten im Rahmen eines Fünfundfünfzig-Millionen-Dollar-Programms rund sechzig Prozent der vielen hundert StingerRaketenwerfer, die die Mudschaheddin während der Auseinandersetzungen mit dem Sowjetregime erhalten hatten, zurückgekauft. Dieser hier gehörte zu den vierzig Prozent, von deren Verbleib nichts bekannt war. Der Afghane schob die Gaskartusche mit dem Kühlmittel in die Halterung und drückte auf einen Knopf. Nichts passierte. Er fluchte, wenn auch nicht besonders überrascht, holte die Kartusche wieder heraus und ließ sich die nächste geben – der zweite Mann hatte mehrere Ersatzkartuschen zur Verfügung. Wieder gab es keine Reaktion, als er auf den Knopf drückte. Die Stinger und die Abschussvorrichtung waren jahrzehntealt, und viele der Kühlkartuschen funktionierten nicht mehr. Der Afghane schob eine dritte, neuere Kartusche in die Halterung, und jetzt klappte es. Das Argon wurde zischend in das Abschussrohr geleitet, um den Zielsuchkopf der Rakete zu kühlen. Erst dadurch war sie in der Lage, ihr Ziel per Infrarotstrahlung selbstständig anzusteuern.
Die Antonov kam immer näher und wurde immer größer. Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Kreiselkompass und die Elektronik vollständig aktiviert waren. Während dieser Zeit nahm der Schütze die Schutzkappe vom Ende des Abschussrohrs und legte das Auge an das Zielfernrohr. Das Sichtfeld war sehr schmal, und er schwenkte auf der Suche nach dem Flugzeug kreuz und quer über den Himmel. »Weiter rechts«, unterstützte ihn der zweite Afghane, »und höher.« Der ältere der beiden Männer tat, wie ihm gesagt wurde. »Ich hab sie.« Eine Sekunde später hörte er den charakteristischen Signalton und wusste, dass der Sucher das Ziel eingespeichert hatte. Der Afghane konnte den Schweiß auf seinen Lippen schmecken, während er die Waffe fast senkrecht nach oben richtete. Dadurch wollte er sicherstellen, dass die gestartete Rakete genügend Höhe gewann, bevor der Raketenmotor ansprang. Wenn nicht, dann bestand die Gefahr, dass der Rückstoß ihm das ganze Gesicht abfackelte.
Er drückte den Abzug, und keine zwei Sekunden später schleuderte die Gasladung das Geschoss aus dem Rohr. Der Startantrieb fiel von der höhersteigenden Rakete ab, während die vorderen Steuerflügel und die Schwanzflossen ausklappten. In einer Höhe von sechs bis sieben Metern zündete der Festbrennstoffmotor. Die Stinger stieß ein gewaltiges Brüllen und eine dichte Rauchwolke aus. Zwei Sekunden später hatte sie bereits auf doppelte Schallgeschwindigkeit beschleunigt.
»Was ist denn das, verfluchte Scheiße?« Die Stimme des Kopiloten holte den ukrainischen Flugkapitän schlagartig zurück in die Realität, die er kurz verlassen hatte, um von seinem Zuhause und dem ausladenden Hinterteil seiner Frau zu träumen. Er hatte es sich auf seinem Sitz bequem gemacht, eine Hand an den Steuerknüppel gelegt, und als er jetzt aufschreckte, um zu sehen, was der Kopilot ihm zeigen wollte, ließ er seine Bierdose fallen. Der Inhalt ergoss sich auf den Boden des Cockpits. Die Augen des Piloten wurden groß vor ungläubigem Staunen, als er den glühenden Fleck in der Ferne
entdeckte. Der Fleck zog einen bogenförmigen Schweif aus Rauch und Abgasen hinter sich her, der bis zu den Bergen hinunterreichte. Der Navigator im Rücken des Piloten war bereits aufgesprungen. »Ist das …?« »Ja«, brüllte der Pilot, während er die Steuerknüppel zu sich heranzog. »Ganz genau! Und sie kommt direkt auf uns zu!« »Wie lange bis zum Einschlag?«, erkundigte sich der Navigator voll Panik, während der glühende Punkt rasch größer wurde. Der Pilot gab keine Antwort. Er hatte nur Augen für die Steuerknüppel, mit denen er die Antonov zum Steigen bewegen wollte. »Abdrehen«, kreischte der Navigator. Erneut gab der Pilot keine Antwort. Die Höchstgeschwindigkeit des Flugzeugs lag bei siebenhundertvierzig Stundenkilometern, aber sie flogen im Moment mit ungefähr fünfhundert. Er sah, wie der Tachometer sich langsam im Uhrzeigersinn weiterdrehte, aber die Beschleunigung war, bedingt durch den Steigflug, eher mäßig, und er wusste, dass die Antonov selbst bei Höchstgeschwindigkeit jedes Wettrennen gegen eine Rakete, die mehr als
dreimal so schnell war, verlieren musste. »Abdrehen«, kreischte der Navigator erneut. »Warum drehen wir nicht ab?« »Halt die Klappe und setz dich hin«, brüllte der Pilot zurück. »Ich versuche gerade, dir das Leben zu retten.« Aus seiner Zeit beim Militär wusste der Pilot, dass Boden-Luft-Raketen nur eine begrenzte Reichweite und eine vergleichsweise geringe Flughöhe besaßen. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, die Antonov auf eine Höhe zu bringen, wo die Rakete sie trotz ihrer Geschwindigkeit nicht mehr erreichen konnte. Die beiden Afghanen sahen dem immer länger werdenden Abgasschweif hinterher. Er bildete eine gezackte Kurve aus geraden Linien, da das Leitsystem die Flugrichtung der Stinger mithilfe der proportionalen Navigation ständig an den Kurs der Antonov anpasste, um sie dann an einem bestimmten Punkt zu treffen. »Warum macht das Flugzeug das?«, wollte der jüngere Afghane wissen, als sie die Antonov steil nach oben steigen sahen.
Der Ältere war sich nicht sicher, wollte sich aber vor dem Jüngeren keine Blöße geben und sagte: »Sie haben Angst.« »Wird sie trotzdem treffen?« Der Ältere sagte: »Ich schieße nicht daneben.« Sie sahen, wie die Rakete auf die Antonov zujagte, den passiven Infrarot-Sucher auf die Hitze der Motoren gerichtet. Es dauerte keine drei Sekunden, dann hatte sie es geschafft. Die Stinger schlug in die Steuerbord-Tragfläche zwischen den beiden Motoren ein, und ihr drei Kilogramm schwerer Sprengkopf explodierte. Die Tragfläche wurde in zwei Teile gerissen, und der abgesprengte Teil taumelte erdwärts. Der Pilot kämpfte mit der Steuerung. Vor Anstrengung biss er die kalte Zigarre durch, und sie fiel in seinen Schoß. Das ganze Flugzeug wurde heftig durchgeschüttelt, und er musste alles geben, um es wenigstens halbwegs waagerecht zu halten. Die Nadel des Höhenmessers drehte sich gegen den Uhrzeigersinn. »Wir haben Triebwerk Nummer drei verloren« , brüllte der Kopilot. »Und Nummer zwei brennt.«
»Ausschalten«, erwiderte der Pilot. Der Kopilot machte sich an seinen Instrumenten zu schaffen, um die brennende Propellerturbine abzustellen. »Scheiße«, sagte der Pilot, als der Höhenmesser sich immer schneller in die falsche Richtung drehte. Seine Armmuskeln waren zum Zerreißen gespannt, seine Knöchel weiß, die Sehnen ächzten. Der Kopilot war mit seinen Bedienelementen in einen ähnlichen Kampf verstrickt. »Wir schaffen es nicht«, sagte er und warf dem Piloten einen Blick zu, hoffte auf Widerspruch. Es kam keiner. Als der Höhenmesser die ViertausendfünfhundertMeter-Marke passierte, sagte der Pilot: »Wir stürzen ab. Alles bereit machen zur Notlandung.« Das Hindukusch-Gebirge lag gewaltig, imposant und sehr, sehr dicht vor ihnen. Viertausendfünfhundert Meter über dem Meer waren nur eintausendfünfhundert Meter über den Bergen. Der Pilot versuchte verzweifelt, die Antonov in ein Tal zu lenken, wo er sie vielleicht wenigstens halbwegs sicher zur Landung bringen konnte. Doch das Flugzeug reagierte nicht.
»Viertausendzweihundert Meter«, schrie der Kopilot. Der ukrainische Flugkapitän blinzelte den Schweiß aus seinen Augen. Irgendwo in seinem Rücken brüllte der Navigator, aber der Pilot beachtete ihn nicht. Seine ganze Konzentration galt dem Versuch, es über den nächsten Bergkamm zu schaffen. Vielleicht gab es ja auf der anderen Seite eine Möglichkeit zur Notlandung. Vielleicht. »Dreitausendneunhundert.« Der Berg schien direkt vor ihnen aus dem Boden zu wachsen. Mit aller Kraft zog der Pilot am Steuerknüppel. Er spürte ein Reißen im Arm, wollte den Kampf jedoch unter keinen Umständen aufgeben, trotz der Schmerzen.
»Dreitausendsechshundert Meter.« Der Berg füllte das Sichtfeld komplett aus.
»WIR SCHAFFEN ES NICHT!« Der Pilot machte die Augen zu. Die Afghanen sahen durch ihre Ferngläser, wie der Unterboden der Antonov den Felskamm streifte, wie die Maschine sich wand und schließlich auf spektakuläre Weise auseinanderbrach. Einen
Augenblick später hatte das Flugbenzin Feuer gefangen, und die nun folgende gewaltige Explosion schleuderte das Wrack über den Himmel. Die beiden Afghanen klatschten in die Hände und jubelten, während brennende Trümmerstücke auf den Berghang regneten.
Kapitel 38 Lavarone, Italien
Die Alpen waren eine gute Gegend, um unterzutauchen. Berge waren generell sehr gut dafür geeignet. Sie waren per Definition abgelegen und dünn besiedelt. Es gab unzählige Verstecke. Victor war nicht nur ein geübter Bergsteiger und Kletterer, sondern auch in der Lage, sich längere Zeit in der freien Natur durchzuschlagen. So konnte er sich im Kampf gegen seine Feinde das Terrain zunutze machen. Außerdem gefiel ihm die Landschaft, die friedvolle Stille, das Gefühl der Einsamkeit. Adrianna hätte sich hier auch wohlgefühlt, und wenn Victor sich nicht gerade hätte unsichtbar machen müssen, er hätte sie vielleicht sogar zu sich eingeladen. Die Lavarone-Hochebene befand sich im nordöstlichen Landesteil. Mehrere kleine Dörfer und Gemeinden lagen in der üppigen, bäuerlichen Landschaft verstreut. Knapp über tausend Einwohner lebten auf einer Fläche von knapp dreißig Quadratkilometern, inmitten von Wiesen und Wäldern. Touristen und durchreisende Besucher waren nichts Ungewöhnliches, sodass Victor nicht
weiter auffiel. Und im Umkreis von hundert Kilometern gab es drei Staatsgrenzen. Er hatte sich im Albergo Antico im Stadtzentrum ein Zimmer genommen. Es war für einige Tage ein ideales Versteck – groß genug, um eine gewisse Anonymität zu gewährleisten, aber gleichzeitig klein genug, um alle übrigen Gäste im Blick behalten zu können; modern genug, um seinen Gästen die eine oder andere Annehmlichkeit zu bieten, aber nicht so modern, dass an jeder Ecke eine Überwachungskamera hing. Das Foyer war absolut funktional eingerichtet und lud nicht zu einem längeren Aufenthalt ein. Und die Lage war auch gut. Von seinem Fenster aus hatte er die Dorfstraße ebenso im Blick wie die große Durchgangsstraße. Auch da würde normalerweise niemand einfach ohne Grund herumstehen. Die Nähe zur Durchgangsstraße war außerdem günstig für den Fall, dass er schnell verschwinden musste. Die gemäßigten Zimmerpreise wirkten sich auch auf die Bestechungsgelder für die Portiers aus, die sich in einem sehr annehmbaren Rahmen bewegten. Er bat jeden in einem kurzen, vertraulichen Gespräch, ihm Bescheid zu sagen, falls sich irgendjemand nach
ihm erkundigte, direkt oder indirekt. Und zu guter Letzt war auch das Essen vorzüglich, was ihm das Untertauchen spürbar angenehmer machte. Victor war seit Samstag in Italien und seit Sonntag in Lavarone. Dort hatte er den Tag zum größten Teil in einem Paddelboot auf dem See und mit der Besichtigung des Werks Gschwent, auch Forte Belvedere genannt, zugebracht. Er hatte schon öfter von der riesigen, Anfang des 20. Jahrhunderts erbauten Festungsanlage gelesen und nutzte grundsätzlich jede sich bietende Möglichkeit, Zeugnisse der Militärgeschichte zu besichtigen. Das Werk Gschwent und sein Museum eigneten sich außerdem sehr gut zur Identifikation irgendwelcher Beschatter, aber seit seiner Ankunft in Italien war ihm niemand Verdächtiges aufgefallen. Victor wusste nicht, womit er rechnen sollte, und so rechnete er ganz automatisch mit dem Schlimmsten. Das Beste zu hoffen war braven Bürgern und toten Auftragskillern vorbehalten. Darum hielt er noch intensiver als sonst nach möglichen Spitzeln Ausschau, traf noch mehr Vorkehrungen als gewöhnlich. Dass er bei dem Yamout-Auftrag versagt hatte, ließ sich nicht so
einfach aus seinem Bewusstsein verdrängen. Insbesondere die Tatsache, dass er nur deshalb versagt hatte, weil eine dritte Partei eingegriffen hatte. Sodass er gezwungen gewesen war, vier Angehörige dieser dritten Partei zu erschießen, weil sie ihn unter Beschuss genommen hatten. Er rieb sich den Arm. Tat immer noch weh. Die Verletzung war nicht schlimm, aber das, was die Auftraggeber dieses Überwachungsteams im Gegenzug veranlassen konnten, das musste er sehr ernst nehmen. Er hatte den Laptop mit den Aufnahmen aus den versteckten Kameras in der Präsidentensuite zwar zerstört, aber er war sich sicher, dass es irgendwo noch Sicherungskopien geben musste. Wer sich im Kampf so geschickt anstellte, der pfuschte nicht bei Überwachungsmaßnahmen. Wer immer der Auftraggeber war, jetzt kannte er Victors Gesicht, seine Stimme und war möglicherweise schon in diesem Augenblick dabei, ihm auf die Spur zu kommen. Die Konfrontation mit Petrenkos Leuten auf dem Bahnhof von Minsk würde eventuellen Verfolgern noch mehr Material über ihn in die Hände spielen.
Petrenko war nicht das Problem. Victor hatte dem Weißrussen viel zu viel Angst eingejagt, als dass er eine Racheaktion fürchten musste. Damit war zumindest ein potenzieller Todfeind aus dem Spiel. Blieb noch sein eigener Auftraggeber. Da es in Lavarone kein Internet-Café gab, fuhr Victor mit dem Bus in einen der größeren Orte in der Umgebung. Dort hielt er geschlagene zwei Stunden lang Ausschau nach möglichen Verfolgern, bevor er den menschenleeren Laden betrat und sich vor einen Computer setzte. Es war das erste Mal seit seinem Attentatsversuch auf Yamout, dass er in seinem CIA-Postfach nachsah. Wie erwartet befand sich darin eine Aufforderung, Kontakt aufzunehmen und über Minsk zu berichten. Den ursprünglich vereinbarten Zeitpunkt für den Anruf hatte er verpasst, aber darauf ging die E-Mail nicht ein. Der Tonfall war neutral und verriet mit keiner Silbe, wie ungehalten sein Auftraggeber war, weil Yamout den Anschlag überlebt hatte. Aber dass er nicht glücklich darüber sein würde, das verstand sich von selbst. Victor rieb sich den rechten Trizeps, bevor er seine Antwort eingab und seinem Gegenüber eine
Zeit für den Rückruf mitteilte. Die paar Tage ohne größere Anstrengungen hatten seiner Wunde gutgetan. Sie heilte ab, hatte sich nicht entzündet, und auch die Schmerzen ließen kontinuierlich nach. Er nahm keine Schmerzmittel. Das hatte zwar deutlich spürbare Nachteile, aber der Schmerz war immer noch der beste Indikator für den Heilungsverlauf. Den Rest des Nachmittags verbrachte er mit der Erkundung der Orte und Dörfer der LavaroneHochebene, mit dem Bus oder zu Fuß. Gelegentlich plauderte er mit den freundlichen Einheimischen ein wenig über die Schönheit ihrer Region. Nach Einbruch der Dunkelheit kehrte Victor in sein Hotel zurück. In seinem Rucksack steckte ein frisch erworbener, kleiner Laptop. In seinem Zimmer angekommen, fuhr er den Computer hoch, loggte sich ins Internet ein, lud die benötigte Software herunter, installierte sie und rief schließlich seinen Brötchengeber an. »Was war da los?«, wollte der Mann wissen. »Also heute mal ohne jeden Smalltalk?« »Ganz genau, heute nicht, mein Freund. Nicht,
wenn Sie versagt haben. Nicht, wenn Sie dabei auch noch vier Unbeteiligte erschießen.« »Wenn Sie mir keine achtundvierzig Stunden Zeit geben, um einen Waffenschieber zu ermorden, der von zehn Bewaffneten beschützt wird, dazu noch an einem Ort mit sehr eingeschränkten Möglichkeiten, dann muss Ihnen klar sein, dass die Erfolgsaussichten nicht besonders groß sind.« »Die zweite Hälfte Ihres Honorars können Sie vergessen«, konterte sein Auftraggeber, »und glauben Sie ja nicht, dass ich Sie nach diesem Debakel schon mit dem nächsten Auftrag vom Haken lasse. Ich habe Sie wirklich für besser gehalten, für deutlich besser.« »Angesichts der unvorhergesehenen Umstände hätten Sie den Auftrag liebend gerne anderweitig vergeben können, falls Sie jemanden kennen, der dazu in der Lage gewesen wäre.« Erst eine Pause, dann: »Was für Umstände?« »Ich weiß wirklich nicht, woher Sie Ihre Informationen beziehen«, sagte Victor, »aber unpräziser geht es nun wirklich nicht. Diese vier Zivilisten, die ich getötet habe, das waren keine Zivilisten.«
»Was denn dann?« »Ich weiß es nicht«, lautete Victors Antwort. »Den ersten habe ich gleich bei meiner Ankunft bemerkt. Da habe ich noch gedacht, er sei einer von Yamouts Leuten. Aber sie hatten weder mit Yamout noch mit Petrenko etwas zu tun. Das war ein Überwachungsteam, auch wenn das eine enorme Untertreibung ist. Im Kampfeinsatz und als Pistolenschützen jedenfalls sehr viel besser als die üblichen Pflastertreter. In Petrenkos Suite hatten sie Kameras installiert, die per Funk mit einem Computer in der Nachbarsuite verbunden waren. Und in dem Moment, als ich Yamout erschießen wollte, haben sie sich eingemischt. Nur deshalb sind sie jetzt tot, während Yamout noch am Leben ist.« Sein Arbeitgeber brauchte lange, um diese Enthüllungen zu verarbeiten. Schließlich sagte er: »Wenn diese Leute also eingegriffen haben, dann …« »Nein«, fiel Victor ihm ins Wort. »Yamout hat zwar um Hilfe gerufen, aber da haben sie nicht das Geringste unternommen. Wenn es irgendeine Verbindung zu ihm gäbe, dann hätten sie zumindest geantwortet. Und als Petrenko gerufen hat, war es
genau das Gleiche.« »Haben Sie mit einem von denen gesprochen?« »Nur kurz. Er hat mir nichts Nützliches verraten. Er hat Russisch gesprochen, obwohl ich nicht glaube, dass es Russen waren. Der Einzige, den ich bei Tageslicht gesehen habe, hatte dunkle Haut und schwarze Haare. Ich dachte, er kommt aus dem Nahen Osten, weil ich davon ausgegangen bin, dass er für Yamout arbeitet. Er könnte aber genauso gut aus Südamerika oder dem Mittelmeerraum stammen. Oder einer seiner Vorfahren.« »Das ist ein ziemlich weites Feld.« »Habe ich etwas anderes behauptet?« »Und sie hatten vermutlich keine Ausweise dabei, oder?« »Weißrussische Führerscheine, keine Reisepässe.« »Echt?« »Sehr gute Fälschungen.« »Also können sie auf Unterstützung zurückgreifen.« »Plus Ausbildung, Erfahrung, Geld und präzise Geheimdienstinformationen, es sei denn, Yamout und Petrenko haben ihr Treffen groß im
Waffenschieber-Wochenblatt angekündigt.« »Sie wollen also behaupten, dass irgendein Geheimdienst Yamout oder Petrenko unter Beobachtung hatte und wir mitten in deren Operation geplatzt sind?« »Das ist die wahrscheinlichste Erklärung«, pflichtete Victor ihm bei. »Oder aber es handelt sich um private Söldner im Auftrag einer Organisation oder einer Einzelperson.« »Sie haben gesagt, dass sie in Petrenkos Suite Kameras installiert hatten, richtig?« »Ja.« »Wäre es dann nicht die logischste Erklärung, dass diese Leute Petrenko im Visier gehabt haben? Sonst hätten sie Yamout doch bei sich zu Hause ausspioniert, oder täusche ich mich? Vielleicht die weißrussische Polizei oder der Inlandsgeheimdienst, die Petrenko bei einem seiner Verbrechen auf frischer Tat ertappen wollten.« »Sie haben nicht einmal versucht, mich festzunehmen«, entgegnete Victor, »aber wenn das Mitarbeiter einer weißrussischen Behörde gewesen wären, hätten sie das getan. Ich vermute, sie wollten
in erster Linie wissen, was Yamout und Petrenko miteinander zu besprechen hatten. Die Personen an sich waren ihnen eher gleichgültig.« »So oder so, jedenfalls sind wir aufgeflogen. Wie viel wissen die von Ihnen?« Auf diese Frage hatte Victor gewartet. Er wusste, dass sein Auftraggeber sehr genau zuhören würde, wie seine Antwort ausfiel. »Fast nichts«, sagte Victor. »Ich bin ein vorsichtiger Mensch, und die vier Mitglieder des Überwachungsteams sind alle tot. Ich habe ein ganzes Neun-Millimeter-Magazin in die Festplatte ihres Computers gejagt. Die Aufnahmen sind garantiert nicht mehr zu retten.« »Gut«, erwiderte sein Einsatz-Koordinator mit einem Seufzer der Erleichterung. »Aber was war dann am Tag darauf los? Ich habe erfahren, dass es auf irgendeinem Bahnhof eine ganze Reihe von Toten gegeben hat. Das waren aber nicht Sie, oder?« »Ich bin mit dem Auto entkommen«, erwiderte Victor. »Alles, was am Tag danach passiert ist, dürfte auf Petrenkos Kappe gehen. Vermutlich wollte er sich an irgendwelchen Feinden rächen, die er für
den Anschlag im Verdacht hatte.« »Vermutlich.« Der Tonfall ließ offen, ob Victors Gesprächspartner ihm tatsächlich glaubte, aber er konnte ja nicht beweisen, dass Victor für die Ereignisse am Hauptbahnhof von Minsk verantwortlich war. Falls es überhaupt Aufnahmen aus Überwachungskameras gab, dann waren sie im besten Fall mehrdeutig. »Also gut«, sagte sein Gegenüber einen Augenblick später. »Wenn Sie nicht aufgeflogen sind, dann gibt es auch keinen Anlass zur Sorge. Ich melde mich, falls sich daran etwas ändert, aber bis dahin machen wir weiter wie bisher. Im Augenblick brauche ich Sie nicht, aber bleiben Sie in Europa. Lange wird es nicht dauern.« Nach dem Ende des Telefonats blieb Victor regungslos in der Dunkelheit sitzen. Nur seine Gedanken leisteten ihm Gesellschaft. Zum wiederholten Mal untersuchte er eine der Brieftaschen, die er dem Überwachungsteam abgenommen hatte. Bis auf den weißrussischen Führerschein und ein bisschen Bargeld war sie leer.
Natürlich würden sich Fingerabdrücke darauf finden, und falls der Besitzer in irgendeiner Datenbank registriert war, dann konnte die CIA den Betreffenden sicherlich identifizieren. Aber Victor wollte nicht, dass sein Auftraggeber vor ihm wusste, wer seine Gegner waren. Sollte Victors Verdacht sich bewahrheiten, dann konnte ihn das gegenüber der CIA in eine äußerst knifflige Situation bringen. Er dachte an die Ereignisse im Hotel Europe. Im Rückblick konnte er sich nicht mehr an jede Einzelheit erinnern, aber das war immer so nach einem Kampf. Manche Dinge blieben jahrelang und bis ins kleinste Detail haften, während andere – nicht unbedingt weniger bedeutsame – schon Minuten später komplett gelöscht wurden. Victor wusste nicht, welche physiologischen oder psychologischen Gründe es dafür gab, und es interessierte ihn auch nicht. Bei der Durchsicht seiner anderen E-MailAccounts fand er eine Antwort von Alonso von letzter Woche. Darin stand, dass Alonso nur noch einen Tag in Europa sei und dass ein Treffen, wenn überhaupt, dann nur sehr kurzfristig möglich sei. Seither waren etliche Tage vergangen, also hatte
Alonso seinen europäischen Auftrag an einen von Victors Kollegen vergeben. Des Weiteren schrieb Alonso, dass Hongkong rückblickend betrachtet nicht besonders schön gewesen sei und er einen Besuch dort nicht empfehlen könne. Victor löschte die Nachricht. Das Geld hätte er gut gebrauchen können, aber aus irgendeinem Grund war der Hongkong-Job storniert worden. Womöglich hatte der Kunde kalte Füße bekommen, oder die Zielperson war unter einen Zug geraten. Dann stellte Victor fest, dass er auch noch einen Auftrag eines anderen Maklers verpasst hatte. Ein Kasache mit Sitz in Moskau, für den Victor vor Jahren einmal gearbeitet hatte, bot ihm einen nicht näher spezifizierten, aber sehr gefährlichen Auftrag mit einem beeindruckenden Honorar an. Er hätte Victor sehr gerne verpflichtet. Als Victor antwortete und sich mehr Informationen erbat, kam die Antwort umgehend zurück. Der Empfängeraccount existierte nicht mehr. Gut möglich also, dass der Auftrag genau wie der in Hongkong zurückgenommen oder eben an andere Auftragskiller vergeben worden war. Seine restlichen Konten enthielten lediglich eine Menge Spam, sonst nichts. Niemand bot ihm Arbeit
an. Er war jetzt seit über sechs Monaten nicht mehr auf dem Markt, also war es kein Wunder, dass die Makler sich anderweitig orientierten. Es war nicht davon auszugehen, dass sein Arbeitgeber ihm Schwierigkeiten machen würde, zumindest noch nicht. Der Mann am anderen Ende der Welt wollte genauso sehr wie Victor selbst erfahren, zu wem das Überwachungsteam gehört hatte, das Victor stillgelegt hatte. Aber Victor wollte es als Erster herausfinden. Darum hätte er sein Wissen liebend gerne für sich behalten, aber sein Arbeitgeber wäre mit Sicherheit auch schon bald dahintergekommen, dass diese vier zusätzlichen Leichen keine Zivilisten gewesen waren. Und wenn er merkte, dass Victor sensible Informationen für sich behalten hatte, würde das seine ohnehin unsichere Position gegenüber der CIA zusätzlich schwächen. Victor wollte seiner Wunde noch einen Tag Zeit zur Heilung geben, dann würde er nach Süden reisen, nach Bologna. Wenn Victor die Identität der Männer, die er in Minsk getötet hatte, noch vor seinem Auftraggeber lüften wollte, dann brauchte er Hilfe.
Kapitel 39 Moskau, Russland
Trotz der lächelnden Gesichter, der Anekdoten und der höflichen Worte war Vladimir Kasakov gelangweilt, frustriert und wünschte sich, irgendwo anders sein zu können. Die Party war der übliche Auflauf der Moskauer Elite. Zahlreiche Politiker, Oligarchen und Prominente, die einander auf die Zehen traten und freundlich taten und sich in Wirklichkeit nicht ausstehen konnten. Die Oligarchen hassten die Macht der Politiker, während diese wiederum den Reichtum der Oligarchen hassten, und beide hassten sie die Popularität der Prominenten, die ihrerseits die Politiker und die Oligarchen hassten, weil sie keine Prominenten waren. Nur Kasakov war anders. Er war der Einzige, der alle anderen gleichermaßen hasste. Er schüttete Champagner in sich hinein und stand alleine in der Gegend herum. Das Einzige, was ihn beschäftigte, war die Frage, wann das nächste Tablett mit Häppchen bei ihm vorbeikommen würde. Obwohl er sich so abweisend wie nur möglich gab, wollten alle möglichen Leute etwas von ihm, und er
musste sich kolossal zusammenreißen, um nicht jede Menge Aufwärtshaken und Schwinger zu verteilen. Normalerweise war er durchaus imstande, geschmeidig von hier nach da zu schlendern, freundliche Gespräche zu führen und ab und zu einen zweideutigen Witz einzuflechten. Solche Partys waren ihm zwar genauso verhasst wie die widerlichen Figuren, die dort anzutreffen waren, aber er musste sich dort sehen lassen, musste all die Bekanntschaften, Kontakte und Freundschaften am Laufen halten, die notwendig waren, damit er ein freier Mann blieb. Russland lieferte zwar niemals einen russischen Staatsangehörigen aus, aber er musste jederzeit darauf gefasst sein, dass irgendein Politiker sich plötzlich gegen ihn wandte, vielleicht, weil er sein Geschäft übernehmen oder sich bei der internationalen Staatengemeinschaft einschleimen wollte, oder einfach nur – so unwahrscheinlich es sich auch anhören mochte – aus moralischer Integrität. Aber solange der Ukrainer die Moskauer Aristokratie hinter sich wusste, konnte er ruhig schlafen. Heute Abend jedoch brachte Kasakov es nicht fertig, sein Partygesicht aufzusetzen. Er konnte an nichts anderes denken als an Illarion, Ariff und
daran, dass er sich unbedingt rächen musste. Der einzige Partygast, für den er überhaupt Zeit gehabt hätte, befand sich am anderen Ende des Saals und lauschte den Worten irgendeines gut aussehenden russischen Schauspielers. Izolda war nicht alleine. Ungefähr ein Dutzend Ehefrauen waren ebenso fasziniert wie sie, während ein Dutzend Ehemänner ebenso wie er bemüht waren, sich ihre Eifersucht nicht anmerken zu lassen. Der Unterschied zwischen Izolda und den anderen Frauen lag darin, dass der gut aussehende Schauspieler offensichtlich genauso viel Gefallen an ihr fand wie sie an ihm. Das war nicht verwunderlich. Kasakovs Frau sah einfach hinreißend aus, wie immer. Groß, schlank und anmutig war sie und überstrahlte jede andere Frau im Saal. Ihre rückenfreie Abendrobe brachte das Kunststück fertig, unverschämt sexy und elegant zugleich zu wirken. Einige der anderen, weniger stilvollen Frauen stellten mit Dekolletés, die fast bis zum Nabel reichten, ihre aufgepumpten Brüste zur Schau und konnten mit ihren bis zum Äußersten gedehnten und zu Stein erstarrten Gesichtern weder die Nase rümpfen noch lächeln. Izolda hatte die schwarzen
Haare hochgebunden – so, wie Kasakov es gernhatte – und brachte dadurch ihren ohnehin beneidenswerten Hals noch besser zur Geltung. Die Diamant-Ohrringe, die ihr Mann ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, hüpften und glitzerten, während sie lachte. Der Schauspieler machte noch eine witzige Bemerkung. Angesichts der Heiterkeit, die er damit im Hexenzirkel der Ehefrauen auslöste, schien er wohl eine Art Komiker zu sein. Kasakov hatte ihn schon in etlichen russischen Filmen gesehen. Offensichtlich konnte der Mann besser Witze erzählen als schauspielern. Er beugte sich dicht zu Izolda, flüsterte ihr etwas ins Ohr, und Izolda lächelte ein breites, sorgloses Lächeln, aus dem endlich einmal jeder Schmerz gewichen war, der Schmerz, den sie so gut vor allen anderen verbergen konnte, wenn auch nicht vor ihm. Sie waren jetzt etwas mehr als fünfzehn Jahre miteinander verheiratet, und obwohl Izolda bereits Ende dreißig war, war sie immer noch kinderlos. Die Gewissheit, dass er die Schuld an ihrem Unglück trug, brachte Kasakov beinahe um. Izolda lachte erneut und legte eine Hand auf den
Arm des Schauspielers. Er war höchstens dreißig und zweifellos genauso fruchtbar wie gut aussehend. Kasakov stellte sich vor, dass Izolda genau in diesem Augenblick davon träumte, mit dem Schauspieler zu schlafen. Und aus dem Blick zu schließen, mit dem dieser sie betrachtete, dachte er genau das Gleiche. Kasakov hätte es ihr nicht übel nehmen können. Nur seine Unfruchtbarkeit war schuld daran, dass sie nachts, wenn sie glaubte, dass er schlief, bittere Tränen in ihr Kissen weinte. Er malte sich bildlich aus, wie sie heute in einem Monat zu ihm kommen und ihm das Wunder verkünden würde, auf das sie beide so sehnlich gewartet hatten. Dann würde er sie in seine Arme nehmen, und sie würden weinen, und niemals würde er eine Bemerkung darüber machen, dass ihr gemeinsames Kind ihm überhaupt nicht ähnlich sah, und er würde sie auch nicht umbringen, weil sie ihn betrogen hatte. Izolda blickte in seine Richtung und merkte, dass er sie beobachtete. Schuld- und Angstgefühle traten an die Stelle des Lächelns, doch Kasakov verbarg seine Gedanken, lächelte und winkte ihr zu, als ahnte
er nichts von dem, was sich da vor seinen Augen abspielte. Sie ließ sich überzeugen, zumindest so weit, dass sie ihr Lächeln wiederfand. Vielleicht würde es doch nicht der Schauspieler werden, aber dann eben jemand anders, irgendwann. »Hier, trink noch was«, ertönte da eine vertraute Stimme. »Du siehst aus, als könntest du’s gebrauchen.« Kasakov drehte sich um und starrte in ein anderes unverschämt gut aussehendes Gesicht. Tomasz Burliuk hielt zwei Champagnerflöten in der Hand. Er reichte Kasakov die eine. »Ich dachte, du wolltest gar nicht kommen.« Burliuk nippte an seinem Glas. »Ich hatte das Gefühl, ein wenig Gesellschaft würde dir guttun.« Kasakov machte eine Handbewegung. »Ich nehme an, du hast meine Frau schon entdeckt.« Burliuk starrte Izolda lange an, dann sagte er: »Sie ist ja kaum zu übersehen.« »Alle Frauen hassen sie«, meinte Kasakov. »Und alle Männer begehren sie.« Burliuk nahm einen Schluck. »Und doch gehört sie dir, dir ganz allein.« Kasakov nickte und tat so, als bemerkte er die
Blicke nicht, die sein bester Freund seiner Frau zuwarf. »Nun«, sagte Burliuk, nachdem er sich schließlich von Izoldas Anblick losgerissen hatte. »Wer ist denn unser großzügiger Gastgeber am heutigen Abend?« »Irgendein Industrieller, der sich mit Bestechung und Erpressung das Recht erkämpft hat, ehemalige staatliche Gasreserven zu verkaufen«, erläuterte Kasakov. »Heute kontrolliert er den größten Teil der Gaslieferungen nach Europa. Er ist ein Volltrottel.« »Das sagst du doch über jeden.« »In diesem Fall ist das sogar noch untertrieben. Er gibt das Geld mit beiden Händen aus, als hätte es keinerlei Bedeutung. Angeblich soll er fünfzig Autos haben. Fünfzig. Ist das zu glauben? Und drei Privatjets. Gegen ihn sehe ich aus wie ein armer Landarbeiter.« »Früher waren wir das ja auch.« »Eben deshalb wissen wir zu schätzen, was wir haben.« Kasakov versetzte Burliuk einen sanften Stoß gegen die Brust, um das Gesagte zu unterstreichen. Dann seufzte er. »Und nun verrate mir mal, mein ältester Freund, was ist eigentlich der Sinn des Ganzen?«
Burliuk wirkte verwirrt. »Was soll das denn heißen?« »Ich bin müde, Tomasz. Dieses Leben macht mir keinen Spaß mehr. Bei Geschäftsreisen muss ich mich heimlich außer Landes schleichen, und in meine Heimat kann ich überhaupt nicht mehr zurück. Ich habe keine Lust mehr, ein ganzes Reich auf meinen Schultern zu tragen. Manchmal denke ich …« Kasakovs Handy vibrierte und unterbrach seine Ausführungen. Er warf einen Blick auf das Display. »Eltsina«, sagte er. »Sie steht draußen. Ich sehe am besten mal nach, was die Hexe von mir will.« »Soll ich mitkommen?« Kasakov schüttelte den Kopf. »Bleib hier und behalte Izolda im Auge.« Burliuk blickte ihn ratlos an. »Wie meinst du das?« »Ich weiß auch nicht … behalt sie einfach im Auge.« Kasakov entdeckte Eltsina in der Einfahrt der Villa. Die zierliche Russin stand nicht auf der Gästeliste, darum hatte der Wachdienst sie nicht ins Haus gelassen. Kasakov hätte seiner spröden
Sicherheitsberaterin zwar eine Einladung besorgen können, aber eher hätte er das Boxen sein lassen und sich aufs Häkeln verlegt. Eltsina sah besorgt aus. Der Wind spielte mit ein paar Haarsträhnen, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten. »Was ist los?«, fragte Kasakov. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Eltsina die richtigen Worte fand. »Vladimir, es tut mir leid. Wir haben die Nordkorea-Lieferung verloren.« »Was soll das denn heißen? Wie können wir die verloren haben?« »Das Flugzeug mit den ersten beiden MiGs hat den afghanischen Luftraum nicht verlassen. Es ist in den Bergen abgestürzt, heute im Lauf des Tages.« Kasakov packte Eltsina an der Bluse. Wenn er gewollt hätte, hätte er die zierliche Frau mit einer Hand in die Luft heben können, aber er zog sie nur an sich.
»Abgestürzt?« Sie schluckte. »Oder abgeschossen.« Kasakov ließ sie los und stieß einen Verzweiflungsschrei aus, die mächtigen Hände zu Fäusten geballt, während die Sehnen an seinem Hals die Haut zu sprengen drohten. »Das glaube ich
einfach nicht«, presste er hervor. Eltsina zog sich Bluse und Jackett wieder zurecht. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Er versetzte Eltsina einen Stoß gegen die Schulter. Sie verzog das Gesicht und taumelte rückwärts. »Als Erstes sagst du mir mal, wie es sein kann, dass wir Ware im Wert von hundertvierzig Millionen Dollar, ein Frachtflugzeug im Wert von sechzig Millionen Dollar und dazu noch meine erfahrenste Besatzung verloren haben.« Er versetzte ihr einen zweiten Schlag, noch kräftiger als der erste. Sie geriet erneut ins Stolpern und konnte nur mit knapper Not einen Sturz verhindern. »Und wenn du damit fertig bist, dann kannst du mir erzählen, wie ich den Nordkoreanern klarmachen soll, dass sie die ersten beiden Kampfflugzeuge nicht wie versprochen erhalten werden.« »Ich …« Kasakov blickte zurück zur Villa. Die Wachleute beobachteten sie zwar, waren aber klug genug, sich nicht einzumischen. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, dachte nach. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Das ist der dritte schwere Rückschlag innerhalb einer Woche. Zuerst kontrolliert dieser UN-
Inspektor in Äthiopien rein zufällig unsere Lastwagen mit den Flugabwehrraketen. Und seit gestern werden unsere Repräsentanten in Syrien vermisst.« »Man hat sie in einem Straßengraben außerhalb von Damaskus gefunden«, meldete Eltsina sich zu Wort. »Alle tot, mit aufgeschlitzter Kehle.« Er schien Eltsina mit seinem wütenden Blick zu durchbohren. »Einmal ist Zufall, zweimal ist Pech, aber dreimal ist ein Angriff. Also wer, verfluchte Scheiße noch mal, tut uns das an?« Eltsina schüttelte den Kopf. »Wage es nicht«, zischte Kasakov. »Wage es nicht, mir zu sagen, dass du nichts darüber weißt. Ich bezahle dir ein Vermögen dafür, dass du alles weißt.« »Ich habe noch keine Beweise«, fing sie an. »Die UNO hat zwar die Waffen in Äthiopien beschlagnahmt, aber sie würden niemals unsere Leute umbringen oder ein Flugzeug abschießen. Aber derjenige, der auch der UNO den Tipp mit unserem Konvoi gegeben hat, dem wäre das durchaus zuzutrauen.« »Wer?«, sagte Kasakov ungeduldig. »Außer Baraa Ariff fällt mir niemand ein, der
genügend Informationen besitzt, um uns solchen Schaden zuzufügen.« »Das ist doch absolut lächerlich. Ariff ist ein wehleidiges, jämmerliches ägyptisches Schwein. Er würde es niemals wagen, mich anzugreifen. Sogar du hast mehr Eier in der Hose als er.« Kasakov knöpfte seinen Smoking auf, um sich etwas Luft zu verschaffen. »Und außerdem … welchen Grund sollte er haben?« »Vielleicht hat er ja erfahren, dass du ihn umbringen lassen willst?« »Aber wie?« »Er hat seine Augen und Ohren überall, Vladimir, genau wie wir. Wir haben die Meldung gestreut, dass wir für eine große Sache ein Killerteam suchen. Womöglich ist er dahintergekommen, wie der Auftrag lautet.« Kasakov schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Es sei denn, du hast dich ausdrücklich an dreckige Araber gewandt.« »Natürlich nicht«, versicherte sie ihm. »Ich habe ein paar allgemein anerkannte Makler und meine Kontaktleute beim SVR und beim FSB
angesprochen.« »Dann dürfte er eigentlich keine Ahnung haben, welches Schicksal ihn erwartet, es sei denn, einer deiner Ansprechpartner hat auch Kontakte zu Ariff.« Eltsina meinte: »Ich habe gehört, dass Ariffs Geschäftspartner, Gabir Yamout, vor einer Woche in Minsk war und bei einem Blutbad in einem Hotel beinahe getötet worden wäre.« Kasakov runzelte die Stirn. »Und was hat das alles mit dieser Sache hier zu tun?« »Vielleicht nimmt Ariff irrtümlich an, dass du hinter dem Attentat auf Yamout steckst. Burliuks Leute haben doch diesen Attentäter zur Strecke gebracht, du erinnerst dich. Das war auch in Minsk und ungefähr zur gleichen Zeit. Vielleicht haben Ariffs Leute die Männer gesehen und daraus die falschen Schlüsse gezogen.« »Julia, manchmal kannst du wirklich gleichzeitig genial und dämlich sein.« »Wie bitte?« »Wenn Yamout zur gleichen Zeit wie dieser Attentäter in Minsk war, dann besteht zwischen den beiden offensichtlich eine Verbindung. Das heißt also, dass Ariff schon die ganze Zeit hinter mir her
ist.« Er schüttelte den Kopf. Plötzlich fügte sich alles zusammen. »Dass ich in Bukarest verschont wurde, das war reiner Zufall. Tomasz hat in Minsk Ariffs Auftragskiller aus dem Verkehr gezogen, und jetzt will dieser Dreckskerl mein Imperium zerstören. Warum habe ich das bisher nicht erkannt?« »Aber wieso, was könnte dahinterstecken? Wie gesagt, er hat doch eigentlich gar kein Motiv.« Kasakov winkte ab. »Na gut, dann hat die Theorie eben noch eine undichte Stelle. Mach sie dicht. Ich hoffe, dass Ariff dahintersteckt, und ich hoffe, er weiß, dass ich ihn tot sehen will. Er soll in ständiger Angst leben. Er soll seine Familie ansehen und sich jedes Mal vorstellen, wie sie schreien vor Schmerz.« Eltsina blieb stumm. Kasakov sagte: »Jetzt sag mir ganz genau, was du unternehmen willst, um Ariff aufzustöbern.« Sie drückte den Rücken durch. »Alles, was möglich ist. Ich habe meine sämtlichen Kontakte aktiviert, um jede nur mögliche Information zu bekommen. Alle unsere Leute sind bereits verständigt, alle, mit denen wir irgendwann einmal Geschäfte gemacht haben. Wir bezahlen für jede noch so kleine Information. Ich lasse den gesamten
Nahen Osten durchkämmen. Ariff wird uns nicht entkommen.« »Aber wie viel Schaden kann er uns noch zufügen, bevor es so weit ist?« Eltsina antwortete nicht. »Wie ist der Stand, was das amerikanische Team angeht?« »Burliuk hat alle ihre Forderungen akzeptiert. Wir haben ihnen einen Vorschuss gezahlt, damit sie uns nicht von einem anderen Auftraggeber weggeschnappt werden. Jetzt warten sie ab, bis wir Ariff gefunden haben.« Kasakov sagte: »Ariff weiß, wie er uns treffen kann, weil unsere Geschäfte sich regelmäßig überschneiden, nicht wahr?« Eltsina nickte. »Gut. Dann müssen wir doch genauso viel über seine Organisation wissen wie er über unsere. Also tun wir ihm den Gefallen. Lass alle umbringen, die irgendwie mit Ariff in Verbindung stehen. Und verdreifache meine Wachmannschaft. Sorg dafür, dass alle, die für mich arbeiten, Bescheid wissen. Jeder muss wachsam sein. Dieses Stück Scheiße kann jederzeit wieder zuschlagen.«
»Unsere Leute werden alles andere als erfreut sein, wenn sie das mitkriegen, Vladimir. Die kriegen garantiert Angst, wenn sie erfahren, dass Ariff uns angegriffen hat.« »DA SCHEISS ICH DRAUF«, brüllte Kasakov. Speicheltropfen regneten auf Eltsinas Gesicht. »Dann kriegen sie eben Angst. Ich mache sie reich. Ein bisschen Angst wird ihnen wieder bewusst machen, wie dankbar sie mir sein sollten.« Sie nickte und wagte nicht, die Spucke von ihrer Wange und Lippe zu wischen. »Ich will Ariff tot sehen«, flüsterte Kasakov kalt. »Und bis dahin will ich zusehen, wie sein ganzes Imperium in Flammen aufgeht.«
Kapitel 40 Bologna, Italien
Bologna war jedes Mal wieder ein Genuss. Eine Stadt voller Schönheit und Geschichte in einem Land, das von beidem unglaublich viel zu bieten hatte. In der Innenstadt ließ er sich durch die Architektur, die Denkmäler, die Arkaden und die achthundert Jahre alten Festungsanlagen faszinieren. Er blickte von der Spitze des beinahe fünfundneunzig Meter hohen Torre degli Asinelli, des höheren der beiden berühmten schiefen Türme von Bologna, auf die ausgedehnte Stadt zu seinen Füßen. Überall nur rote Dächer und ockerfarbene Wände, mit Ausnahme der grauen, aus dem Mittelalter stammenden Türme, die aus der niedrigen Bebauung hervorstachen. Das rund neunzig Kilometer entfernte Florenz zog die Touristen in Scharen an, dadurch war Bologna noch spürbar authentischer und unverdorbener. Victor hoffte, dass es immer so bleiben möge. Die vergleichsweise geringe Zahl an Besuchern bedeutete zwar weniger Ausländer, zwischen denen man untertauchen konnte, aber eben auch weniger
Leute, die mit Kameras bewaffnet auf Motivsuche waren. Stadtspaziergänge machten hier einfach mehr Spaß. Es war heiß und trocken. Victor trug ein weißes Leinenhemd und eine weite Baumwollhose und hielt sich immer im Schatten des berühmten ArkadenLabyrinths der Stadt. Die überdachten Bogengänge hatten eine Gesamtlänge von über zweiundvierzig Kilometern und waren einfach perfekt geeignet, um eventuelle Verfolger ausfindig zu machen und abzuschütteln. Er sah aber keine und gelangte schließlich zur Via Rizzoli, wo er die zahlreichen Antiquariate und Antiquitätengeschäfte durchstöberte, nicht ohne die spiegelnden Schaufenster der Modeboutiquen regelmäßig zur Ausschau nach Beschattern zu nutzen. Sein Radar meldete keinerlei Bedrohung. Trotzdem blieb er wachsam, während er sein Mittagessen verzehrte und anschließend zwischen dreizehn und fünfzehn Uhr, als die meisten Geschäfte ihre Mittagspause machten, diverse Renaissance-Paläste besichtigte. Einer der Gründe, weshalb Victor so oft wie möglich nach Italien kam, war der, dass er hier keine unmittelbaren Feinde hatte. Nach der Konfrontation
mit diesem Überwachungsteam in Minsk musste er besonders vorsichtig sein. Wer immer deren Auftraggeber sein mochte, er war womöglich jetzt schon auf seiner Fährte. Darum wollte Victor unbedingt wissen, um wen es sich handelte. Als er sicher war, dass er alles Menschenmögliche getan hatte, um eventuelle Beschatter abzuschütteln, betrat er eine einfache Osteria und musterte die vielen unbekannten Gesichter, die sich ihm zuwandten. Er befand sich zwar immer noch in der Innenstadt, aber die Gegend hier war ärmer, schäbiger und abweisender als viele. Er suchte den Blickkontakt mit denen, die ihn anschauten, um klarzumachen, dass er kein leichtes Opfer war, brach aber so rechtzeitig ab, dass sein Blick nicht als Drohung missverstanden werden konnte. Die ins Stocken geratenen Gespräche wurden wieder aufgenommen, und er bestellte bei einer viel zu dünnen Bedienung eine Cola und setzte sich auf einen Barhocker. Er musste ein paarmal hin und her rutschen, bis er auf der harten Sitzfläche eine angenehme Position gefunden hatte. Ein alter Mann zwei Hocker weiter bat ihn um Feuer. Victor schüttelte den Kopf.
Er nippte an seiner Cola und wartete. Da die Ecktische alle besetzt waren, hatte er sich mit dem Rücken zu den anderen Gästen in der Bar an die Theke gesetzt. An der Wand hinter der Theke hing ein riesiger Spiegel, mit dem er das ganze Lokal im Blick hatte. Es dauerte ein paar Minuten, bis sich jemand auf den Hocker direkt neben ihm setzte, ein kleiner, leicht übergewichtiger Mann mit dicken Armen und einem dunklen, ungepflegten Bart. Er musste ungefähr Mitte dreißig sein, und angesichts der gelben Nikotinflecken auf seinen Händen und Zähnen hatte er seine Lebensmitte bereits deutlich hinter sich. »Wie man hört, sind Sie auf der Suche nach Giordano«, sagte der Mann, ohne Victor anzuschauen. »Er ist sehr schwer aufzuspüren. Wissen Sie, wo er ist?« »Ich weiß so vieles, ich fürchte, mein Gehirn ist zu klein, um das alles festzuhalten.« »Wo könnte ich ihn denn antreffen?« »Es tut mir sehr leid, aber das ist nicht möglich. Ich bin jedoch ein hilfreicher Mensch und hole ihn für
Sie. Er ist wirklich extrem scheu, müssen Sie wissen.« Victor wusste, dass das nicht stimmte. Aber wenn der Bärtige Victor verraten hätte, wo Giordano zu finden war, dann hätte er sich ja selbst überflüssig gemacht. Nur wenn er Victor im Dunkeln ließ, konnte er weiterhin als Mittelsmann fungieren und davon profitieren. Victor klappte sein Portemonnaie auf und blätterte die Hundert-Euro-Scheine durch. Dann nahm er einen heraus und legte ihn auf die Theke, ließ aber den Finger darauf. »Sagen Sie mir, wo ich Giordano finden kann.« Der Mann griff nach dem Schein, aber Victor zog ihn weg. »Wo?«, wiederholte er. Der Mann schnaufte. »So funktionieren diese Dinge nicht. Gestatten Sie mir, dass ich Sie von diesem hässlichen Stück Papier befreie, dann kann ich Sie bekannt machen.« »Also gut.« Victor steckte den Geldschein zurück in sein Portemonnaie. »Wann lässt sich das arrangieren?«
»Würde Ihnen morgen passen?« »Zu spät«, erwiderte Victor, der jetzt verstanden hatte, wie das Spiel funktionierte. »Aber diese Arrangements brauchen Zeit«, sagte der Mann. »Und Geld?« Jetzt legte Victor zwei HundertEuro-Scheine auf die Theke. »Wie wär’s, wenn Sie mich jetzt gleich zu ihm bringen?« Der bärtige Mann erwiderte: »Das klingt absolut annehmbar.« Sie überquerten die Piazza Maggiore. Überall auf dem beeindruckenden Hauptplatz saßen Einheimische und Touristen, genossen die Sonne und die freundliche Atmosphäre der Stadt, während Tauben um Brotkrumen stritten und sich vor heranstürmenden Kindern in Sicherheit bringen mussten. Mittelalterliche Gebäude umschlossen den Platz von allen Seiten. Auf der Südseite erhob sich die Basilica San Petronio, die die gesamte Piazza dominierte. Ihre gewaltige Fassade war unvollendet. Der untere Teil bestand aus eleganten, abwechselnd weißen und roten Steinblöcken mit zahlreichen fein gearbeiteten Steinmetzarbeiten und Bögen, der
obere Teil jedoch lediglich aus unscheinbarem, nacktem Mauerwerk. Der Anblick wirkte auf viele Besucher befremdlich, auf manche sogar unheimlich, doch Victor fühlte sich dadurch auf eigentümliche Weise angesprochen. Der Bärtige behielt seine gemächlichen Schritte bei und rauchte unterwegs eine Zigarette nach der anderen, zündete sich immer schon die nächste an, wenn die vorangegangene noch glühend im Bordstein lag. Victor versuchte, den Rauchschwaden, so gut es ging, auszuweichen. Der Duft war süß und verführerisch, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte, und seine Widerstandskraft wurde auf eine harte Probe gestellt. Die Straßen waren schmal und ohne Bäume – das einzige Minus auf der Liste der Schönheiten der Stadt. Der Bärtige führte ihn durch etliche gewundene Arkadengänge, und Victor merkte, dass die gewählte Route ähnlich gewunden war. Aber er spielte gerne mit und genoss im Vorbeigehen den Anblick der alten Terrakottahäuser. Moderne Architektur war in Bologna kaum zu finden, und es kam ihm fast so vor, als hätte die Zeit innerhalb der Stadtmauern einfach stillgestanden, während die
Welt draußen vor den Toren sich weitergedreht hatte. Schließlich ließen sie die mittelalterlichen Mauerreste, die das historische Zentrum umgaben, hinter sich und landeten wieder in der Gegenwart. Die Straßen wurden belebter, der Verkehr lauter, das Licht heller. Der Bärtige ging noch eine Viertelstunde lang vor Victor her, dann bog er in eine schmale Gasse hinter einer ganzen Reihe von Restaurants ab. »Hier trennen sich unsere Wege«, sagte er und nahm die Zigarette aus dem Mund. »Es war mir ein Vergnügen. Jetzt gehen Sie einfach weiter geradeaus, und dort vorn biegen Sie um die nächste Ecke.« Er streckte Victor die Hand entgegen. »Giordano?« »Das wäre nun wirklich zu einfach, oder etwa nicht? Unter einer Holzkiste finden Sie eine Zeitung. Schlagen Sie die Rätselseite auf. Im Kreuzworträtsel finden Sie eine Zeit und einen Ort notiert. Leben Sie wohl.« Warme Luft umgab ihn. Aus einer nahe gelegenen Kneipe drang Musik an sein Ohr. Victor setzte
langsam einen Fuß vor den anderen, behielt die Umgebung im Blick, aber es gab nichts Besorgniserregendes zu entdecken. Er sah die Kiste, schnappte sich die Zeitung und steckte die zusammengefaltete Rätselseite in eine Tasche. Die tief stehende Sonne zwang Victor, seine Sonnenbrille aufzusetzen, während er zurück ins Stadtzentrum von Bologna ging. Er schob sich durch die Menge, unauffällig, unbemerkt. In jungen Jahren hatte er sich immer gewünscht, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Heute war jeder, der ihn anschaute, erst einmal sein Feind, so lange, bis das Gegenteil bewiesen war. Ungefähr eine Stunde lang fuhr er mit verschiedenen pünktlich und zuverlässig verkehrenden Buslinien kreuz und quer durch die Stadt – aus irgendeinem Grund hielt nie ein Taxi an, wenn er winkte. Dann schließlich steuerte er den Bahnhof an, setzte sich auf einem Bahnsteig auf eine Bank und blätterte eine Oldtimer-Zeitschrift durch. Der Zug, der 18.50 Uhr nach Rom abging, fuhr ein. Victor wartete bis achtzehn Uhr achtundvierzig, dann stieg er ein. Nach ihm kamen
noch etliche Fahrgäste hinzu. Er blieb im Vorraum stehen, die Hand am Türgriff, und zählte jede Sekunde. Draußen vor dem Fenster gab der Bahnhofsvorsteher dem Zugführer das Abfahrtssignal. Victor stieß die Tür auf und sprang nach draußen. Er knallte sie wieder zu und hörte, wie einen Augenblick später die Verriegelung zuschnappte. Aus dem Augenwinkel sah er den Bahnhofsvorsteher den Kopf schütteln. Victor beachtete ihn nicht und blickte in beide Richtungen den Bahnsteig entlang. Außer ihm war niemand ausgestiegen. Das Café war klein und elegant. Um die runden Tische standen keine Stühle, sondern Hocker. Zahlreiche Spiegel hingen an den glatten, weißen Wänden. Das gefiel Victor. Endlich einmal konnte er sich genau da hinsetzen, wo er wollte, und trotzdem den Eingang, die Theke, die Toilettentüren und sogar die langen, perfekt gebräunten Beine der Blondine zu seiner Rechten im Blick behalten. Auch wenn Letzteres seiner Aufmerksamkeit eher schadete als nützte.
Der Duft nach frisch gemahlenem Kaffee lag in der Luft. Das geräumige Lokal war gut gefüllt, es ging sehr lebhaft und laut zu. Victor hatte eine Zeitung auf dem Tisch ausgebreitet, daneben stand ein großes Glas Orangensaft. Kondenswassertropfen klebten daran. Die Zeiger der Uhr über dem Tresen standen auf neun Uhr. Zehn Minuten würde er ihm noch geben – vielleicht steckte er ja wirklich irgendwo im Verkehr fest. Aber wenn er bis dahin nicht aufgetaucht war … Pech gehabt. Als Victor gerade den letzten Schluck seines Orangensafts trank, kam er zur Tür herein. Er sah aus wie immer – schlank, sonnengebräunt, blond, gepflegt, für immer jung, unerschütterlich selbstbewusst, unfassbar gut aussehend. Lächelnd trat er auf Victor zu und sagte: »Vernon, mein Lieblingshai. Bist du den ganzen Weg bis nach Bologna gekommen, um mich zu besuchen? Die ganze Stadt fühlt sich geehrt durch deine Anwesenheit.« »Ein Hai?« Der blonde Mann setzte sich ihm gegenüber. »Ich finde, das ist eine sehr passende Metapher. Sie ist
mir auf dem Weg hierher eingefallen.« Er beugte sich ein wenig über den Tisch und flüsterte: »Du gleitest unerkannt durch das Meer, schlägst ohne Vorwarnung zu, und dann verschwindest du wieder in der Tiefe.« »Ein schönes Bild«, sagte Victor. »Ich weiß, nicht wahr?« »Du kommst zu spät, Alberto.« Alberto Giordano zuckte mit den Schultern, sagte aber kein Wort. Die Geste war Erklärung genug. »Ich war schon fast wieder weg«, fuhr Victor fort. »Ohne mich zu sehen? Unsinn. Alle warten auf mich.« Giordanos Lächeln erlosch von einer Sekunde zur anderen. Er hatte bemerkt, dass Victor die rechte Hand unter dem Tisch versteckte. »Was soll denn das, Vernon?« »Was glaubst du wohl?« Giordano verzog das Gesicht. »So schlechte Manieren. Ich habe gedacht, diesen Unsinn hätten wir hinter uns. Wenn ich so eine Bedrohung für dich bin, warum wolltest du mich dann überhaupt treffen?« »Ich bin einsam.« Giordano zeigte auf Victors verborgene Hand.
»Das wundert mich nicht, wenn du die Leute so behandelst.« »Sagt der Mann, der mich heute durch die halbe Stadt gejagt hat.« Giordano grinste. »Ein bisschen Abenteuer hat noch niemandem geschadet. Und sag bloß nicht, dass es dir keinen Spaß gemacht hat. Außerdem liegst du mir doch ständig in den Ohren, dass ich vorsichtiger sein soll. Mehrschichtige Abwehrmaßnahmen und all dieses verrückte Zeug. Also bitte, ich bin vorsichtiger geworden. Wenn die Leute den großen Alberto sehen wollen, dann müssen sie zuerst nach meiner Pfeife tanzen, damit ich ihren wahren Rhythmus erkenne. Es funktioniert prima. Wir wollen doch nicht, dass irgendein Grobian dieses hübsche Gesicht ruiniert, oder? Und du brauchst gar nicht so beleidigt zu tun. Immerhin hast du einen meiner Freunde in den Zug nach Rom gelockt. Man hat ihn ohne Fahrschein erwischt. Hast du eine Ahnung, welche Strafen man hierzulande für so etwas aufgebrummt bekommt? Ich schwöre dir, die Faschisten sind immer noch an der Macht.« »Ich lasse mich nur ungern beschatten.« Eine Kellnerin trat an ihren Tisch. Sie trug eine
elegante Uniform, die sich eng an ihre Rundungen schmiegte. Als sie Giordano erkannte, lächelte sie freudestrahlend. Falls sie Victor überhaupt bemerkt hatte, dann ließ sie sich nichts anmerken. Giordano bestellte für sich einen Espresso und für Victor noch ein Glas Orangensaft. »Ich nehme an, du bist nicht nur hier, um in den offensichtlichen Genuss meiner Gegenwart zu kommen. Wahrscheinlich möchtest du auch noch das Übliche haben«, sagte Giordano. »Ja.« »Welche Nationalität?« »Ich glaube, dieses Mal italienisch.« Giordano lächelte. »Vernon, bitte. Ich glaube kaum, dass du schön genug bist, um einer von uns zu sein.« »Ich besitze innere Schönheit.« Giordano lachte, und sie plauderten ungezwungen, bis die Kellnerin ihre Getränke gebracht hatte. Sie flirtete etliche Minuten lang mit Giordano und beugte sich dabei weit genug über den Tisch, um ihre geöffneten Blusenknöpfe ins Blickfeld zu rücken. Seit wir bestellt haben, muss es
schlagartig heiß hier drin geworden sein, dachte Victor. Er nippte an seinem Orangensaft und versuchte, nicht zu stören. Schließlich, nachdem sie Giordano ihre Telefonnummer gegeben hatte, machte sie sich wieder an die Arbeit. »Es ist wirklich nicht leicht«, meinte Giordano, nachdem sie weg war. »Bei meinem Aussehen will jede Frau mit mir plaudern. Ich kann nicht ablehnen, sonst halten sie mich für unhöflich. Und bevor du etwas Unbedachtes sagst, ich rede auch mit den Hässlichen. Ich rufe sie bloß nicht an.« Victor ging nicht darauf ein. »Es muss eine echte Identität sein. Und absolut sauber.« »Für dich, Signor Haifisch, auf jeden Fall. Ein Foto hast du dabei, nehme ich an?« Victor holte ein Passfoto aus einer Jacketttasche und gab es Giordano. »Da wäre noch etwas, wobei ich deine Hilfe gebrauchen könnte.« »Ich kann natürlich versuchen, dir beizubringen, wie man mit Frauen reden muss«, meinte Giordano mit breitem Grinsen, »aber ich kann dir nicht versprechen, dass sie auch mit dir reden wollen. Meine Schwester ist zwar keine Schönheit, aber auch nicht hässlich. Ich glaube, ihr würdet euch gut
verstehen. Sie ist schweigsam, genau wie du.« »Du würdest zulassen, dass deine Schwester sich mit jemandem wie mir trifft?« »Ein Mensch ist nicht das, womit er seinen Lebensunterhalt verdient. Wir alle brauchen Geld zum Leben, oder etwa nicht? Wie wir uns letztendlich entscheiden, dieses Geld zu erwerben, das ist kein Spiegelbild unseres Herzens, sondern unserer Gesellschaft. Bin ich ein Fälscher oder bin ich Alberto Raphael Giordano, Freund, Liebhaber, Künstler, Sohn? Und außerdem, Vernon: Du bist ein guter Mensch, ob du es nun wahrhaben willst oder nicht.« »Ich weiß dein Angebot wirklich zu schätzen, aber Hilfe im Umgang mit Frauen war nicht das, was ich im Sinn hatte.« Victor zog die Hand unter dem Tisch hervor und legte eine der Funkkameras, die er in Minsk erbeutet hatte, auf den Tisch. Giordano starrte seine leere Hand einen Augenblick lang an, dann schüttelte er den Kopf und lächelte. »Also, wie kannst du nur so grausam zu mir sein und mich glauben lassen, dass du eine Pistole in der Hand hast? Das verletzt mich tief.«
»Ich bin sicher, dass die Kellnerin dir über deinen Schmerz hinweghelfen kann.« Giordano lächelte erneut und griff nach der Kamera. »Hübsch«, meinte er und besah sie sich von allen Seiten. »Mehr als hübsch.« »Was kannst du mir darüber erzählen?« »In den USA hergestellt. Funkreichweite bis fünfzig Meter in Städten, bis zu hundert in unbebauter Umgebung. Kann Farb- und Infrarotbilder machen, hochauflösend. Mit einer Neun-Volt-Batterie bleibt sie eine Woche lang betriebsbereit. Das ist neueste Technik. Wird ausschließlich an staatliche Behörden abgegeben. Vernon, ich hatte ja keine Ahnung, dass du über solch einen exquisiten Geschmack verfügst.« »Wie würdest du versuchen, an so ein Ding heranzukommen?« »Unter allergrößten Schwierigkeiten und mit mehr Geld, als nötig wäre, um das Herz von Venus persönlich zu gewinnen.« »Aber es wäre möglich, auch dann, wenn du kein Angehöriger einer US-Regierungsbehörde wärst?« »Alles ist möglich.« »Könntest du dir auch ein Dutzend davon
besorgen?« Giordano hob die Hände. »Dein Vertrauen ehrt mich, Vernon, aber so etwas würde ich nicht einmal versuchen. Ich könnte eine bekommen, sicher, vielleicht auch drei, aber ich habe keine Lust, dass irgendwelche CIA-Schlägertrupps auf meiner Fußmatte stehen und wissen wollen, was ich mit diesen nicht zugelassenen Geräten anfangen will.« Victor nickte und versuchte, sich seine Gedanken nicht anmerken zu lassen. »Könntest du mithilfe der Seriennummer rausbekommen, wer diese Kamera gekauft hat?« »Für dich würde ich das sehr gerne versuchen.« »Dann tu, was du kannst«, meinte Victor. »Aber diskret. Kein Risiko. Und die Kamera kannst du in jedem Fall behalten.« Giordano blickte zu der Kellnerin hinüber. »Vielleicht probiere ich sie ja später noch aus.« Victor schüttelte den Kopf. »Wann ist der Pass fertig?« »In ein paar Tagen.« »Ruf mich sofort an.« »Ich spüre da eine Unruhe, die dir so gar nicht
ähnlich sieht.« Victor gab keine Antwort. »Steckst du in Schwierigkeiten, Vernon?« »Das könnte man sagen.« »Warum lässt du dann den ganzen Ärger nicht einfach hinter dir und setzt dich zur Ruhe, solange du noch jung und relativ attraktiv bist? Hör auf, nur zu existieren, und fang an zu leben.« Victor nippte an seinem Orangensaft. »Als ich mit dem allem angefangen habe, da habe ich mir immer ausgemalt, was ich machen würde, wenn ich genügend Geld hätte, um mich zur Ruhe setzen zu können. Ich habe mir eine Summe zum Ziel gesetzt und mir selbst versprochen, keinen Tag länger zu arbeiten als unbedingt nötig.« »Klingt vernünftig. Wie lange dauert es noch, bis du die Summe erreicht hast?« »Ich bin schon längst darüber hinaus.« »Dann geh in Rente. Genieße das Leben.« Er lächelte und lehnte sich zurück. »So wie ich.« Victor schüttelte den Kopf. »Wenn es doch nur so einfach wäre, Alberto. Ich bin schon zu lange im Geschäft. Ich habe mir zu viele Feinde gemacht. Wenn ich mich zur Ruhe setze, dann werde ich
weich und langsam. Dann merke ich nicht, wenn sie mich irgendwann gefunden haben.« Giordanos Lächeln erlosch. »Du hattest recht, vorhin. Ich bin ein Haifisch. Sobald ich nicht mehr schwimme, muss ich ertrinken.«
Kapitel 41 Zürich, Schweiz
Zahm wurde von einem Mann mit einem niedrigen Schwerpunkt begrüßt. Er war untersetzt und übergewichtig und sah liebenswert aus, aber seine Seele war alles andere als das. Tiefe Falten teilten seine Stirn in zwei Hälften und zogen sich von den Augenwinkeln fächerförmig über die Schläfen. Leicht gebeugt stand er da, Folge einer Verkrümmung der Brustwirbelsäule. Seine Augen waren rot und wässerig. Leberflecken bedeckten die dünne, faltige Haut auf seinen Händen und Unterarmen. Bekleidet war er mit einem weißen Leinenhemd, einer Baumwollhose sowie Sandalen. In der linken Hand hielt er eine Einkaufstasche aus Segeltuch. Er war genau dreißig Zentimeter kleiner als der einen Meter dreiundneunzig große Zahm, und als er dem größeren Mann zur Begrüßung in die Augen blicken wollte, musste er den Kopf weit in den Nacken legen. Zahm trug eine Sonnenbrille. Es war warm und trocken. Kein Wölkchen trübte den makellos blauen Himmel. »Guten Tag, mein Sohn«, sagte der kleinere
Mann und lächelte, sodass seine kleinen, vollkommen weißen Zähne zu sehen waren. »Wie schön, dich wiederzusehen.« »Danke, gleichfalls, Vater«, erwiderte Zahm und bleckte die Zähne, was wie ein Lächeln aussehen sollte. »Gut seht Ihr aus.« Vater ließ seine alten Augen über Zahms muskulösen Körper gleiten. »Nicht so gut wie du, natürlich.« Trotz des Lächelns und der freundlichen Worte war zwischen den beiden keine echte Wärme zu spüren. Zahm spielte das Spiel mit, weil es für Vater wichtig war. Sie gaben einander die Hand, und Zahm passte auf, dass er nicht zu fest zudrückte. Wenn er nicht bewusst darauf achtete, dann tat er seinem Gegenüber bei einem – nach seinem Empfinden – normalen Handschlag in der Regel weh. Und Vater war ein Mann, dem man kein Leid zufügen durfte, weder körperlich noch anderweitig. Sie lösten die Hände, und Zahm sah sich aus Gewohnheit nach Beschattern um. Er war sich sehr wohl dessen bewusst, dass er aufgrund seiner Größe leicht zu verfolgen war. Daher musste er besonders aufpassen, wenn er
unbeobachtet bleiben wollte. Er und Vater hatten sich auf dem Gelände der Universität von Zürich verabredet. Überall auf den Wiesen lagen Studenten und lasen, machten sich Notizen oder genossen einfach nur die Sonne. Ein typisches Bild, sehr friedlich, aber Zahm entdeckte eine Beobachterin, eine junge Frau, die ganz in der Nähe auf einer Bank saß und ein Eis schleckte. Oberflächlich betrachtet sah sie genauso aus wie alle anderen Studentinnen auch – die gleiche Freizeitkleidung, die gleichen Ohrhörer, die gleiche abgenutzte Tasche. Auch ihre ganze Haltung war durch und durch studentisch, wie sie die Sonne und ihre Jugend genoss und den Kopf im Takt der Musik auf und ab wippen ließ. Aber ihre Unterarme verrieten sie. Sie waren schlank, doch Zahm erkannte die Muskelbündel, die nicht von normalem Fitnesstraining oder spielerischen Wettkämpfen herrührten. Diese Muskeln waren gestählt durch endlose Selbstverteidigungs- und Nahkampf-Schulungen. Genau die gleichen Schulungen, die Zahm mit so ausgezeichneten Bewertungen absolviert hatte. Zahm ließ sich nicht anmerken, dass er sie bemerkt hatte. Das wäre unhöflich gewesen. Sie war
ja keine Bedrohung, sondern lediglich eine Vorsichtsmaßnahme. Vater hatte immer gern ein paar Leute in der Nähe. Drei Mordanschläge hatte er bereits überlebt, und er war immer auf der Hut vor dem vierten. »Gehen wir ein Stück?«, schlug Vater jetzt vor. Er machte kleine Schritte, zum Teil aufgrund seines Alters und seiner Statur, aber hauptsächlich deshalb, weil er jede Eile verabscheute. Zahm kam mit dem langsamen Tempo nicht gut zurecht und musste vor jedem Schritt neu überlegen, um nicht unwillkürlich die Führung zu übernehmen. Nach einer kleinen Weile warf Zahm einen Blick über die Schulter zurück. Die junge Frau hatte sich ebenfalls in Bewegung gesetzt. Sie war gut und blickte keinen der beiden Männer direkt an. »Danke, dass du zu diesem Treffen bereit warst«, sagte Vater. »Es tut mir sehr leid, dass ich gezwungen war, dich aus deiner wie immer wohlverdienten Erholungsphase aufzuscheuchen.« Zahm erwiderte: »Kein Problem.« Vater schaute ihn an. »Du und deine Leute, ihr habt im vergangenen Monat ganz hervorragende Arbeit abgeliefert. Ich bin sehr stolz auf dich.«
Aus Zahms Sicht hatte seine Einheit nichts besonders Hervorragendes geleistet, sondern ihre Arbeit erledigt, so wie bei jedem anderen Auftrag auch. »Danke«, sagte er trotzdem, aus reiner Höflichkeit. Nach ein paar weiteren Schritten meinte Vater: »Ich fürchte, ich muss dich noch einmal losschicken.« »So schnell?« Vater nickte. »Es hat sich erst kürzlich etwas ergeben, was ich keinem anderen anvertrauen kann.« Sie gingen noch ein Stück. Zahms professionelle Neugier war geweckt, doch Vater legte zunächst einmal eine Pause ein. Er verabscheute jede Eile. Und für Fragen war es noch zu früh, daher schwieg Zahm ebenfalls. In einer stillen Ecke des Universitätsgeländes blieb Vater stehen und drehte sich zu ihm um. Die junge Frau war zwar nirgendwo zu sehen, aber Zahm war sicher, dass sie ganz in der Nähe war. »Letzte Woche habe ich vier meiner Jungs
verloren«, sagte Vater mit trauriger Stimme. »Sie waren bei einer Überwachungsoperation in Minsk und haben Verhandlungen zwischen einem weißrussischen Kriminellen und einem libanesischen Waffenschieber namens Gabir Yamout belauscht.« Den Namen Yamout hatte Zahm schon einmal gehört. Er wusste, wer er war, was er machte und für wen er arbeitete. Zahm runzelte die Stirn ob der verpassten Gelegenheit. Vater lächelte dünn. »Ich sehe, was du denkst, mein Sohn. Deine Fähigkeiten im Einsatz mögen außergewöhnlich sein, aber an deinem Pokerface müssen wir noch arbeiten.« Zahm wandte sich ab. »Ja«, fuhr Vater fort. »Wir haben gewusst, dass Yamout in Minsk war, und nein, ich habe niemanden entsandt, um ihn zu töten. Das hätte sich einfach nicht gehört, angesichts der Tatsache, dass Yamout für uns arbeitet.« Vater setzte sich wieder in Bewegung. Zahm folgte ihm und versuchte mit aller Macht, die Fragen zu unterdrücken, auf die er so dringend eine Antwort haben wollte. Beim nächsten Halt ließ Vater sich auf
den Rasen sinken und zog Socken und Sandalen aus. Er seufzte zufrieden und wackelte mit den Zehen. Zahm ging in die Hocke, die Schultern der Sonne zugewandt. Die junge Frau war wieder da. Jetzt trug sie eine leichte Jacke, eine Sonnenbrille, keine Ohrstöpsel und kein Eis, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ein oberflächlicher Beobachter hätte sie gar nicht wiedererkannt, aber Zahms geschultem Blick entging sie nicht. »Yamout arbeitet für uns«, wiederholte Vater, »aber natürlich, ohne es zu wissen.« Erneut lächelte Vater, sodass seine weißen Zähne in der Sonne blitzten. »Seit einem Jahrzehnt haben wir ihn und Baraa Ariff unter Beobachtung. In ihren Häusern, in den Restaurants, die sie besuchen, wenn sie mit ihren Kindern in den Zoo gehen, und ganz besonders, wenn sie sich mit ihren Kunden treffen. Die Logik ist denkbar einfach: Unsere Feinde werden immer Waffen kaufen wollen, und wenn sie nicht von Ariff und Yamout versorgt werden, dann eben von jemand anders. Waffenhändler sind Mittelsmänner. Sie umzubringen löst keine Probleme.« Vater machte eine kurze Pause. »Aber wenn Ariff und Yamout am Leben sind, dann können
wir sie und ihre Leute beobachten und erfahren, wen sie beliefern. Dadurch kennen wir unsere Feinde schon lange, bevor sie die Waffen gegen uns erheben können.« Zahm nickte. Die Strategie leuchtete ihm ein, und er ärgerte sich über sich selbst, weil er seiner Wut nachgegeben hatte, ohne die Tatsachen zu kennen. Vater sagte: »Da haben wir ja das Pokerface wieder.« »Was ist der Überwachungseinheit zugestoßen?«, wollte Zahm wissen. Vater wartete, bis zwei Studenten, die sich lauthals unterhielten, vorbeigegangen waren, dann fuhr er fort. »Yamout war nicht in Minsk, um Waffen zu verkaufen, sondern um zu kaufen, was wir vorher gar nicht gewusst haben. Während des Treffens mit seinem Lieferanten hat ein Attentäter versucht, ihn zu töten. Meine Jungs, leidenschaftlich und selbstlos, wie sie nun einmal waren, haben eingegriffen, um unsere Verbindung in Ariffs Organisation zu schützen.« Vater schüttelte den Kopf. »Überhastet und unvernünftig, keine Frage, aber eben auch sehr tapfer. Der Attentäter hat vier von insgesamt fünf Männern grausam ermordet.«
Sie gingen wieder ein paar Schritte. Vater sagte: »Yamout hat den Angriff überlebt. Unsere Leute waren also erfolgreich, weil sie eine unserer wertvollsten Informationsquellen am Leben erhalten haben. Gleichwohl ist ihr Tod eine schlimme Tragödie.« »Wer waren die Täter?« Vater schüttelte den Kopf. »Der Täter, Singular. Wir haben ihn gefilmt. Er hat alleine gearbeitet. Noch nie habe ich so viel Tod in so kurzer Zeit erlebt.« Er griff in seine Einkaufstasche und holte einen Aktenordner hervor. Den übergab er Zahm, der sich die Standbilder des Zwischenfalls betrachtete. »Im Augenblick wissen wir nicht, in wessen Auftrag der Attentäter gehandelt hat, aber wenn er einmal einen Anschlag auf Yamout geplant hat, dann ist das auch ein zweites Mal möglich. Auf Ariff möglicherweise auch. Wenn er damit Erfolg hat, dann wird vermutlich einer ihrer Adjutanten das Geschäft übernehmen. Unter Umständen dauert es Monate, bis wir die neue Führung ermittelt haben, und wir verlieren wertvolle Gelegenheiten, um unseren Feinden auf die Spur zu kommen. Noch
schlimmer wäre es, wenn irgendein oder auch mehrere Waffenschieber, die wir bisher noch gar nicht kennen, die entstandene Lücke füllen würden. Das dürfen wir nicht zulassen.« Zahm nickte. Vater fuhr fort. »Aber wir haben noch mehr zu bedenken als nur den Fortbestand der laufenden Operation. Ich habe vier meiner tapferen Jungs verloren. Sie haben mit ihrem Tod das Leben eines der schlimmsten Vertreter der Menschheit gerettet.« Vater unterbrach sich, während Ekel und Wut sich auf seinen schlaffen Gesichtszügen spiegelten. »Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke. Was würden ihre Angehörigen sagen, wenn sie wüssten, für wen ihre Geliebten ihr Leben gelassen haben?« Er unterbrach sich erneut, um sich zu sammeln. »Mein Sohn, ich will, dass deine Einheit dafür Rache nimmt.« »Selbstverständlich«, erwiderte Zahm ohne jedes Zögern. »Ich weiß deinen Enthusiasmus zu schätzen, aber du solltest dich und deine Männer nicht so überhastet in diese Mission stürzen. Wer weiß, wie viele andere noch daran beteiligt waren oder wie
lange es dauern mag, um sie alle ausfindig zu machen. Und vergiss nicht, dass der Attentäter selbst ein sehr gefährliches Zielobjekt ist, ein außergewöhnlicher Killer, genau wie du.« Zahm nickte beschwichtigend. »Trotzdem, ich nehme den Auftrag an. Mein Team ist das beste, mit dem ich je gearbeitet habe. Ein Mann, ganz egal, wie gefährlich, ist und bleibt ein einzelner Mann. Unsere Brüder haben Vergeltung verdient, und ich kann Euch versichern, dass meine Leute ganz genauso empfinden werden. Es wird mir eine Ehre sein, diesen Mörder und die, die ihn geschickt haben, umzubringen.« Vater tätschelte Zahm den Arm. »Also gut, mein Sohn. Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest.« »Wissen wir, wer dieser Attentäter ist oder wo er sich aufhält?« »Zweimal nein«, lautete Vaters Antwort. Noch einmal griff er in seine Segeltuchtasche und reichte Zahm eine Aktenmappe, die eine zweite Fotoserie enthielt. »Aber diese Aufnahmen hier wurden am Hauptbahnhof von Minsk gemacht, am Tag nach dem Anschlag. Du siehst hier zwei Männer, die dicht
hintereinandergehen. Das Gesicht des zweiten ist nicht zu erkennen, aber ich glaube, das ist der Attentäter, den wir suchen.« »Und wer ist der erste?« »Das kann ich dir sagen. Es handelt sich um einen gewissen Danil Petrenko, den weißrussischen Gangsterboss, mit dem Yamout in Minsk verabredet war.« Zahm betrachtete die Aufnahmen eingehend. »Darauf sieht er aus wie ein Gefangener, finde ich.« Vater nickte: »Trotzdem ist er noch am selben Tag von Weißrussland nach Barcelona geflogen, zusammen mit seiner Freundin. Vielleicht solltet ihr mal ein Wörtchen mit Petrenko reden.«
Kapitel 42 Bologna, Italien
Victor hatte sich ein Zimmer in der Villa Del Quar genommen, einem wunderbaren Fünf-Sterne-Hotel ungefähr zehn Kilometer nordwestlich von Bologna. Es war selbst für Fünf-Sterne-Maßstäbe teuer, aber fernab von allem Trubel, und die herrliche Lage des Hotels inmitten einer malerischen Umgebung bot die perfekten Voraussetzungen zur Entspannung und Erholung. Sein Zimmer war groß, makellos sauber, die Möbel allesamt Antiquitäten aus der Zeit des Klassizismus. Bilder mit italienischen Landschaften hingen an den Wänden. Übers Wochenende, während er darauf wartete, dass Giordano mit seiner Arbeit fertig wurde, hatte Victor die vielen Hektar mit Weinbergen rund um das Hotel sowie die dahinterliegende Landschaft erkundet. Er ging spazieren und legte sich in die Sonne, gab seiner Wunde Gelegenheit zu heilen und der Sonne so viel Gelegenheit wie möglich, seine Haut zu reizen. Es war jetzt fast zehn Tage her, seit die Kugel seinen Arm gestreift hatte, und die dicke Kruste begann schon abzufallen. Der Muskel
schmerzte nur noch dann, wenn man direkt auf die verletzte Stelle drückte. Am Tag zuvor hatte Victor wieder angefangen zu laufen, um fit zu bleiben, nur auf die üblichen Kraftübungen verzichtete er noch, um seinen Arm zu schonen. Von seinem Zimmer aus hatte er freie Sicht auf den großzügigen Swimmingpool des Hotels, doch er widerstand der Versuchung. Es war zwar heiß und trocken und eigentlich absolut ideal, um ein wenig zu schwimmen, aber er konnte die Blicke, die seine Wunde und die vielen Narben unweigerlich auf sich ziehen würden, nicht riskieren. Bekleidet wurde er schnell wieder vergessen. Ausgekleidet nicht. Und die Abende waren auch nicht dafür geeignet. Der Pool war hell erleuchtet, und selbst wenn eventuelle Beobachter seine Narben übersehen sollten, so würde seine Muskulatur für neugierige Blicke sorgen. Wer überleben wollte, musste immer und überall unbemerkt bleiben. Die Besitzerin des Hotels, eine Contessa, war eine besonders zuvorkommende Gastgeberin, und so war Victor gezwungen, wie alle anderen Gäste gelegentlich ein Schwätzchen zu halten. Abweisendes Verhalten hätte nur zur Folge gehabt,
dass er ihr im Gedächtnis haften geblieben wäre. Die Schar der Gäste bestand überwiegend aus älteren italienischen Reisenden und ausländischen Paaren. Alle waren geradezu unverschämt freundlich, und er wurde, ohne dass er es wollte, ständig in irgendwelche Gespräche verwickelt. Allem Anschein nach war er der einzige alleinstehende männliche Gast. Er tat sein Möglichstes, um umgänglich, aber langweilig zu wirken, und gab sich als frisch geschiedener Buchhalter aus. Niemand wollte ein zweites Gespräch mit ihm anfangen. Der Bus kam pünktlich in Bologna an. Victor stieg aus und bedankte sich beim Fahrer. Im Le Stanze del Tenente aß er zu Mittag – Kichererbsensuppe, gefolgt von einem Teller Tortellini, und dazu ein Glas frischen Pinot Grigio aus der Region. Das Restaurant befand sich im Inneren des im 16. Jahrhundert erbauten Palazzo Bentivoglio Pepoli, und er ließ sich Zeit, erfreute sich an den fünfhundert Jahre alten Wandmalereien – genauso sehr, wie er das Essen genoss. Anschließend schlenderte er durch die rostbraunen
Arkaden und Bogengänge, begegnete Studenten und Teenagern auf Inlinern, blieb stehen, um einer hitzigen Domino-Partie zwischen zwei älteren Bolognesern mit zu viel Rotwein im Blut zuzusehen. Er spendete dem Sieger Beifall, wie der Rest der Umstehenden auch, und ging weiter, als die Dominosteine gemischt und zur Revanche bereitgelegt wurden, die ganz zweifellos genauso hitzig werden würde. Obwohl er kein Anzeichen einer Beschattung bemerkt hatte, führte er auf dem Weg zum Orto Botanico, an der nordöstlichen Ecke des Stadtzentrums, die üblichen Vorsichtsmaßnahmen durch. Der Botanische Garten von Bologna ging auf das Jahr 1568 zurück und war einer der ältesten der Welt. An zwei Seiten wurde er von der mittelalterlichen Stadtmauer gesäumt. Victor war eine Stunde zu früh, und so ging er wie jeder andere Besucher kreuz und quer über das Gelände, bestaunte die riesige Vielfalt an Bäumen, Pflanzen und Blumen und die unterschiedlichen Biotope, die innerhalb des Parks geschaffen worden waren. Giordano erwartete ihn nahe der Sumpflandschaft, betrachtete die Libellen, die um die Wasserlilien
tanzten, und sah Wasserkäfer über die spiegelnde Wasseroberfläche huschen. Dieses Mal war er pünktlich gekommen. Er lächelte, als er Victor näher kommen sah. Sonst war niemand in der Nähe. »Ein bisschen Farbe im Gesicht steht dir gut, Vernon.« Victor erwiderte das Lächeln. »Wie läuft es mit deiner neuen Freundin, der Kellnerin?« Giordano stieß vernehmlich den Atem aus. »Anstrengend.« »Ich entnehme deinen Worten, dass dein Wochenende nicht nur das reine Vergnügen war.« »Natürlich nicht. Ich habe die ganze Zeit hart gearbeitet, selbst wenn ich gerade nicht hart gearbeitet habe.« Er zwinkerte Victor zu, griff in eine Außentasche seines Jacketts und zog einen gefütterten Briefumschlag hervor. »Mein Bester, wie versprochen.« Er reichte ihn Victor, der den Umschlag öffnete und einen italienischen Reisepass herausholte. Er blätterte ihn durch und stellte wenig überrascht fest, dass er genauso echt war, wie Giordano versprochen hatte, mit dem einen kleinen Unterschied, dass jetzt nicht mehr das Foto des
ursprünglichen Besitzers, sondern Victors Passbild darin klebte. »Tolento Lombardi«, las Victor laut vor. »Er ist Bauarbeiter«, erläuterte Giordano. »Ein Bauarbeiter, der sich von den falschen Leuten Geld geliehen hat. Er hat ihnen seinen Reisepass überlassen, um einen Teil seiner Schulden abzutragen, und sie waren wiederum so freundlich, ihn an mich weiterzuverkaufen. Signor Lombardi ist ein absolut sauberer Mitbürger. Nicht einmal einen Strafzettel hat er bekommen, und er war noch kein einziges Mal außer Landes. Ich würde ja sagen, er ist langweilig, aber für deine Zwecke genau der Richtige. Damit hast du überhaupt keine Probleme.« Victor nickte und strich mit dem Finger über sein Passfoto. »Der ist sogar noch besser als der Letzte, den du für mich gemacht hast. Wie schaffst du es, das Foto so auszutauschen, dass man absolut nichts merkt?« Giordano grinste. »Nun, das ist mein Geheimnis, nicht wahr? Sonst könnte es ja jeder. Aber da ich dich mag, Vernon, kann ich dir zumindest verraten, dass ich meine Technik verfeinert habe. Ich freue mich, dass es dir aufgefallen ist. Es wird ständig
schwieriger, Pässe zu ändern. Manchmal kommt es mir fast so vor, als würden sie Leuten wie mir absichtlich Steine in den Weg werfen. Faschisten. Aber ich habe eine Methode entwickelt, wie ich mit Lösungsmitteldämpfen hauchdünne Laminatschichten abtragen kann, eine nach der anderen. Absolut genial.« »Die Bescheidenheit in Person.« Giordano neigte ein wenig den Kopf. »Sobald man das Laminat abgelöst hat, ist es ein Kinderspiel. Foto austauschen und neu laminieren. Ergebnis: keine erkennbaren Manipulationen. Hört sich einfach an, nicht wahr? Und doch ist keiner so gut wie ich.« Victor steckte den Reisepass ein und gab Giordano das vereinbarte Honorar. »Darum bist du auch so günstig.« Giordano lachte. »Und ich bin jeden Cent wert, genau wie du, daran zweifle ich nicht. Aber bitte, wenn du diesen Pass benutzt, dann versprich mir, dass du deinem neuen Ich auch Ehre machst. Denk immer daran, Vernon, dass die Leute dich für einen Italiener halten werden. Also enttäusche uns nicht.«
Victor hätte gelächelt, aber er wusste, dass Giordano es ernst meinte. Eine vierköpfige Familie kam auf sie zu, darum schlenderten die beiden Männer zu den tropischen Gewächshäusern mit ihrer wertvollen Sammlung von Orchideen und Bromelien. Die Luft war heiß und extrem feucht. Victor sagte: »Bist du mit der Kamera schon weitergekommen?« »Ich habe getan, was ich konnte. Ich hätte gerne noch mehr herausgefunden, aber meine Möglichkeiten sind diesbezüglich begrenzt. Diese Art von Technologie wird, wie gesagt, sehr genau überwacht. Das bedeutet, dass man nur sehr schwer an sie herankommen kann, aber auch, dass es immer eine Spur gibt. In diesem Fall ist sie zwar nur hauchdünn, aber vielleicht hilft es dir trotzdem weiter. Ich habe die Seriennummer vom Hersteller in den USA bis nach Großbritannien verfolgt. Dort endet die Spur. Offiziell zumindest.« »Wer hat die Kamera gekauft?« »Eine Firma namens Lancet Incorporated, zusammen mit neunundzwanzig anderen desselben Typs, vor ungefähr acht Monaten. Als einer der
ersten Kunden überhaupt.« »Wer steckt dahinter?« Schweißtropfen glänzten auf Giordanos Gesicht. »Ich habe mir schon gedacht, dass du das fragen würdest, also habe ich ein paar Geschäftsfreunde gebeten, sich umzuhören. Die Firma ist in der Schweiz registriert, besitzt Grundstücke in etlichen Ländern und Aktienanteile an diversen anderen Unternehmen. Soviel ich weiß, gibt es keine Angestellten. Und die Firma wird offensichtlich nicht besonders gut geführt, da sie in den letzten Jahren regelmäßig Verluste eingefahren hat.« »Also eine Scheinfirma.« Giordano zuckte die Achseln. »Ich gebe nur weiter, was man mir gesagt hat. Was du daraus machst, bleibt dir überlassen.« Victor nickte und übergab dem Italiener einen gefütterten Umschlag. Giordano blätterte die Scheine durch. »Die Großzügigkeit in Person«, sagte er dann. Sie verließen das Gewächshaus und den Botanischen Garten. Auf der Straße sagte Victor: »Vielen Dank für deine Mühe und deine Hilfe, Alberto.« Er reichte ihm
die Hand. »Ich weiß das sehr zu schätzen.« Giordano ergriff seine Hand. »War mir ein Vergnügen, wie immer. Warte nicht so lange bis zum nächsten Mal.« »Versprochen.« Sie trennten sich. Einen Augenblick später hörte Victor, wie Giordano seinen Namen rief, und drehte sich zu ihm um. Er sah ausnahmsweise einmal ernst aus. »Vernon, hör nicht auf zu schwimmen.« Später saß Victor in seinem Hotelzimmer und nippte an einem Brandy, während der Mann am anderen Ende der Welt sagte: »Die Suite neben der Präsidentensuite war an ein paar Männer mit weißrussischen Ausweisen vermietet, die sich allerdings – und das ist keine große Überraschung – als Fälschungen erwiesen haben. Ich weiß so wenig über sie, dass ich auf ihre wahre Identität nicht einmal spekulieren könnte. Aber ich kann sagen, dass es keine Weißrussen waren und dass sie nicht von meiner Seite des Atlantiks stammen. Ich sage Ihnen Bescheid, sobald ich mehr weiß. Und, wie sieht es bei Ihnen aus, mein Freund?«
»Wie soll es bei mir aussehen?« Victor tat, als hätte er die Frage nicht verstanden. »Bemühen Sie sich nicht, mein Freund. Sie wollen mir doch nicht etwa weismachen, dass Sie die ganze Woche nur auf der faulen Haut gelegen haben, oder? Falls doch, dann leiden Sie entweder an einer kolossalen Unterschätzung meiner Fähigkeiten oder aber an einer kolossalen Überschätzung Ihres Talents als Lügenbaron. Wenn Sie ein vierköpfiges Überwachungsteam umbringen, dann wollen Sie doch garantiert wissen, wer diese Leute losgeschickt hat. Oder haben Sie in dieser Branche so lange überlebt, indem Sie immer den Kopf in den Sand gesteckt haben?« »Ich bin dem einen oder anderen Hinweis nachgegangen«, gab Victor zu. »Na, also«, gab sein Einsatz-Koordinator erfreut zurück, »Offenheit, Vertrauen und so weiter. Dann sagen Sie mir doch mal, welche Hinweise das waren, damit wir dieses Rätsel vielleicht gemeinsam lösen können.« Victor holte einmal tief Luft. Er war es nicht gewohnt, seine Erkenntnisse mit jemandem zu teilen. Er war es nicht gewohnt, überhaupt etwas zu
teilen. Schon gar nicht mit einem Auftraggeber, der sich irgendwann als sein ärgster Feind erweisen konnte. Aber er kannte lediglich den Namen eines Scheinunternehmens, und um mehr zu erfahren, würde er eine Menge Zeit investieren müssen. Je länger er aber in Bezug auf die Auftraggeber des Überwachungsteams im Dunkeln tappte, desto länger war er schutzlos. Er hatte durchaus eine Vermutung, und falls sich diese Vermutung bestätigen sollte, dann konnte er sich keine Zeitverschwendung leisten. Er sagte: »Ich habe einen Namen.« »Und der wäre?« »Lancet Incorporated. Eine Firma mit Sitz in der Schweiz. Sie hat einen Teil der Überwachungsausrüstung aus den USA nach Großbritannien importiert. Es handelt sich um ein Scheinunternehmen, das von irgendjemandem als Fassade benützt wird. Aber mehr weiß ich nicht.« »Mehr nicht? Nun stellen Sie Ihr Licht mal nicht unter den Scheffel.« Victor nahm noch einen Schluck Brandy. »Ich habe noch nie was von dieser Firma gehört«, fuhr der Einsatz-Koordinator fort, »aber morgen um
diese Zeit weiß ich alles, was es darüber zu wissen gibt.«
Kapitel 43 Beirut, Libanon
Mit einem Seufzer verließ Ariff das Apartment des spanischen Mädchens, unbefriedigt und frustriert. Sie war im Verlauf der letzten Besuche immer lauter und lauter geworden, und heute hatte sie einen neuen Gipfel des Ärgernisses erklommen. Er würde ihr noch eine letzte Chance geben, bevor er sich ein neues Geschöpf suchte, mit dem er sich vergnügen konnte. Eine Stumme vielleicht. Das Apartment gehörte Ariff. Es lag in der AlHamra-Straße, in einem der weltoffensten Bezirke von Beirut. Der ägyptische Waffenhändler hatte schon in vielen Städten des Nahen Ostens gewohnt, aber was ihm an Beirut besonders gefiel, das waren das einzigartig warme Klima sowie die Behaglichkeit, die von den baumgesäumten Straßen und den vielen sehr unterschiedlichen und eigenständigen Stadtvierteln ausging. Es gab hier zwar sehr viel Beton, was an wolkenverhangenen Tagen dumpf und leblos wirken konnte, aber wenn die Sonne schien – und das war glücklicherweise oft der Fall –, dann war Beirut eine helle und sehr
lebendige Stadt. Ariff ignorierte die beiden Wachposten vor dem Haus und setzte sich auf den Beifahrersitz seines wartenden BMW. Yamout saß am Steuer und auf der Rückbank zwei weitere Leibwächter. Ariff war schon immer vorsichtig gewesen, aber nach Kasakovs Attentat auf Yamout und den folgenden Angriffen auf sein Vertriebsnetz hatte er die Zahl seiner Bewacher noch einmal spürbar erhöht. Die beiden Wachposten bestiegen einen schwarzen Range Rover, der vor dem BMW parkte. Der Fahrer gab Yamout ein Zeichen und fuhr los. Yamout folgte ihm. Ariff machte die Augen zu. Es war eine lange Fahrt vom Apartment des spanischen Mädchens bis zu Ariffs Villa im LibanonGebirge. »Baraa«, sagte Yamout. »Ich will nichts hören, mein Freund«, erwiderte Ariff, »bis wir zu Hause sind.« Ariff spürte, dass der Libanese sich damit nicht zufriedengeben würde. Nach einigen Sekunden setzte er erneut an. »Ich störe dich wirklich nur sehr ungern, aber …« »Wenn das so ist, warum tust du es dann?«
»Es gibt Neuigkeiten.« Ariff seufzte. »Und die können keine Stunde mehr warten?« Als Yamout keine Antwort gab, schlug Ariff die Augen auf. Yamout saß regungslos auf dem Fahrersitz, mit ernster Miene. »Ich dachte, dass du es sofort erfahren willst«, sagte er dann. »Die Waffenlieferung für die Sudanesen ist von Rebellen erbeutet worden. Der Präsident ist fuchsteufelswild, weil seine fünftausend Gewehre seinen Feinden in die Hände gefallen sind.« Ariff seufzte, sagte aber nichts. »Er wird nie wieder etwas bei uns kaufen. Nie wieder. Kasakov muss den Rebellen einen Tipp gegeben haben. Baraa, wir können so nicht weitermachen.« »Kriege sind immer kostspielig.« »Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Zuerst wird Farkas in die Luft gesprengt, und wir werden beschuldigt, dann findet in Minsk ein Attentat auf mich statt, und jetzt verlieren wir unseren größten Kunden in Afrika. Ganz zu schweigen von den vielen, die verschwunden oder in aller Öffentlichkeit
abgeschlachtet worden sind oder die sich durch Flucht in Sicherheit gebracht haben. Es dauert nicht mehr lange, dann wird dieser Krieg uns zu Krüppeln machen. Wir müssen mit Kasakov Frieden schließen.« Ariff lachte. »Glaubst du wirklich, dieser ukrainische Teufel pfeift seine Hunde zurück, wenn wir auf Knien bei ihm angekrochen kommen? Sei doch kein Idiot. Er wird unsere Schwäche wittern und uns zermalmen. Lieber stecke ich mir eine Pistole in den Mund, als wie ein Weib herumzufeilschen. Und glaube ja nicht, dass wir Kasakov nicht genau so viele Schmerzen bereiten.« »Die Nachricht von diesem Krieg hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Niemand ist so verrückt, mit uns Geschäfte zu machen, wenn er dadurch ins Fadenkreuz dieses Irren gerät. Und er schlägt uns Tag für Tag neue Wunden.« »Wir halten länger durch als er. Wir sind viel mehr als er. Und wir genießen eine Loyalität, wie er sie niemals hat.« »Aber er ist sehr viel reicher als wir. So reich, dass er sich Leute und Loyalität erkaufen kann.« »Aber Kasakov verrottet als Gefangener in
Russland, während die ganze Welt nur darauf wartet, dass er endlich in echte Ketten gelegt wird. Ich hingegen kann mich frei bewegen und an all die Orte gehen, von denen er nur träumen kann. Ich kann in Ohren flüstern, die nicht einmal seine Schreie hören können. Hab Vertrauen, mein Freund. Je mehr Sandkörner durch die Sanduhr rinnen, desto brüchiger wird seine Beharrlichkeit. Also lass uns stark bleiben. Der Mann mit dem stärkeren Willen, der wird diesen Kampf als Sieger beenden.« »Was nützt uns der Sieg, wenn wir keine Kunden mehr haben? Selbst die, die wir noch ohne Probleme beliefern können, drehen uns den Rücken zu.« »Das ist Kasakovs Einfluss«, meinte Ariff. »Damit war zu rechnen, mein Freund. Er wird versuchen, uns auf jede nur denkbare Art und Weise zu schwächen.« »Es funktioniert.« »Aber nicht für alle Zeiten«, versicherte ihm Ariff. »Unsere Kundschaft wird immer nach Gewehren verlangen, trotz Kasakovs Bestechungsversuchen und trotz seiner Drohungen, sie nicht mehr mit
schweren Waffen zu beliefern. Die Kriege dieses Jahrhunderts werden mit der Guerilla geführt, nicht mehr mit Bataillonen. Kasakov hat mehr zu verlieren als wir. Unsere Kunden wollen keine Panzer, sie brauchen Gewehre und Munition. Sie werden wieder zu uns zurückkommen.« Ariff blickte Yamout an. »Hab Geduld.« Schweigend fuhren sie weiter. Ariff genoss die warme Sonne auf seinem Gesicht, aber er konnte sich nicht recht entspannen. Die Ruhe, die er gegenüber Yamout an den Tag gelegt hatte, war nur vorgetäuscht. Der Konflikt mit Kasakov bereitete ihm ernsthaftes Kopfzerbrechen. Yamout saß angespannt auf dem Fahrersitz, die Hände fest um das Lenkrad gekrallt. Ariff gähnte. »Jetzt, wo du mir jede Möglichkeit auf ein bisschen Schlaf geraubt hast, kannst du mir auch verraten, was unsere Leute bisher alles erreicht haben. Berichte mir von unseren Siegen gegen Kasakov.« »Das Flugzeug, das unsere Freunde in Afghanistan abgeschossen haben, war eine Antonov AN-22. Wir wissen nicht, was sie geladen hatte, aber die Maschine allein ist zig Millionen wert.
Kasakov besitzt nur drei davon.« »Und jetzt noch zwei.« Ariff lachte. »Du siehst, Gabir, Kasakov muss stärker bluten als wir. Mit diesen Antonovs lässt er Panzer und Flugzeuge transportieren. Die Fracht ist also auch noch einmal zig Millionen wert. Was meinst du? Wird er noch mal ein Frachtflugzeug über Afghanistan fliegen lassen? Ich glaube nicht.« Siebenstöckige Wohnblocks warfen ihre Schatten auf die zweispurige Einbahnstraße. Der Verkehr kam nur langsam vorwärts. Farbenfrohe Schilder machten auf die verschiedenen Geschäfte aufmerksam, die die Bürgersteige säumten. Ein tapferer Kerl auf einem Motorroller demonstrierte seine Verachtung für das System, indem er sich gegen die Fahrtrichtung zwischen den Fahrzeugen hindurchschlängelte. Als Reaktion bekam er ein vielstimmiges Hupkonzert zu hören. »Von dem Anschlag in Syrien habe ich dir erzählt, oder?«, sagte Yamout, und Ariff nickte. »Seither haben wir noch ein paar seiner Schlepper getötet. In Tunesien diesmal. Nach allem, was sie kurz vor ihrem Tod noch gestanden haben, hatten sie wichtige Funktionen in Kasakovs Organisation.«
Ariff grinste. »Ausgezeichnet, Gabir. Wirklich ausgezeichnet. Dieser ukrainische Schweinehund wird sich zu Tode grämen, weil er tatsächlich geglaubt hat, er könnte gegen uns in die Schlacht ziehen. Ganz egal, wie oder weshalb dieser Krieg begonnen hat, wir werden als Sieger daraus hervorgehen, nicht er.« Yamout nickte. Ariffs bekräftigende Worte hatten ihn zumindest so weit überzeugt, dass er sich ein wenig entspannen konnte. Er schaltete das Radio ein. Arabische Popmusik wummerte aus den Lautsprecherboxen des BMW. Yamout klopfte mit den Fingern auf das Lenkrad. Ariff lächelte verstohlen. Der Riesenkerl hatte absolut kein Rhythmusgefühl. Mittlerweile befanden sie sich auf einer Schnellstraße quer durch die Stadt. Der Verkehr floss zügig dahin, und man brauchte Erfahrung und schnelle Reflexe, um sicher im Strom mitzuschwimmen. Auf dem Mittelstreifen wuchsen Palmen. Geradeaus war eine gigantische Reklametafel für einen McDonald’s zu erkennen, komplett mit einem riesigen gelben Pfeil, der anzeigte, welche Abfahrt man nehmen musste. Für
Ariff war es vollkommen unbegreiflich, was einen Menschen dazu veranlassen konnte, einfach nur einen Burger zu essen, wo doch im Libanon die beste Küche der Welt zu Hause war. Der BMW war jetzt in einem der älteren Stadtbezirke angelangt und rollte durch eine schmale Straße mit beeindruckend großen Sandsteinhäusern. Am Straßenrand parkten glänzende Geländewagen und Limousinen. Dazwischen blieb gerade genügend Platz, dass zwei Autos aneinander vorbeifahren konnten. An der nächsten Kreuzung, etwa zwanzig Wagen vor ihnen, staute sich der Verkehr. Hupen dröhnten. Der BMW blieb hinter dem Range Rover der Leibwächter stehen. Weder Ariff noch Yamout konnten die Ursache für den Stau erkennen, aber Yamout hupte munter mit. Fußgänger nutzten die Gelegenheit, um mit schnellen Schritten die Straße zu überqueren. Ein schmächtiger alter Mann zwängte sich zwischen Ariffs BMW und dem dahinter stehenden ToyotaGeländewagen hindurch, während zwei dicke, mit Burka und Schleier verhüllte Frauen zwei Autos
weiter vorn vom gegenüberliegenden Bürgersteig aus auf die Straße traten. Sie kamen nur langsam und unsicher voran, und dann waren sie nicht mehr zu sehen. Ariff schüttelte den Kopf. Ganz egal, wie oft er sich diese unterdrückten Geschöpfe noch ansehen musste, er würde sich nie daran gewöhnen, das wusste er. »Was für eine Religion«, sagte er zu Yamout, der nickte. Die Explosion war ohrenbetäubend. Ariff wurde von Kopf bis Fuß durchgeschüttelt und stieß einen entsetzten Schrei aus. Yamout war gleichermaßen geschockt. Rauch stieg aus dem Range Rover der Leibwächter auf. Ariff und Yamout sahen einander an, ungläubig, verwirrt. Ängstlich. Mehrere Menschen lagen auf dem Bürgersteig neben dem Range Rover und wanden sich vor Schmerzen. Eine Frau kreischte. Schüsse. Die beiden Männer zuckten zusammen. Automatisches Schnellfeuer dröhnte ganz in der Nähe. Ariff saß wie festgewurzelt auf seinem Sitz. Er wusste nicht, was er machen sollte. Er sah Mündungsfeuer hinter dem Range Rover, und ihm
wurde klar, dass da irgendjemand seine Leute unter Beschuss nahm. Er hörte die Kugeln mit dumpfem Tschack in die gepanzerte Karosserie des SUV einschlagen. Funken flogen durch die Luft. Querschläger ließen die kugelsichere Windschutzscheibe direkt vor Ariff reißen. Yamout hatte schon den Rückwärtsgang eingelegt, bevor Ariff brüllen konnte: »Bring uns hier
raus.« Die beiden Bodyguards hinter Ariff hatten ihre Ingrams schussbereit gemacht. Der BMW kam nur ein paar Zentimeter weit, dann prallte er auf den hinter ihm stehenden Toyota. Yamout drückte wiederholt auf die Hupe, doch der Geländewagen rührte sich nicht von der Stelle. Die Maschinenpistolen ratterten erbarmungslos weiter. Blut spritzte von innen gegen das Heckfenster des Range Rover vor ihnen. Ariffs Augen wurden groß. »Yamout …« In der Mitte der Straße kam ein Mann auf sie zu. Er hatte sich eine Sturmhaube über den Kopf gezogen. In den Händen hielt er ein ArmaliteSturmgewehr mit aufgesetztem Granatwerfer. Eine schwarze Burka hing wie ein Umhang über seiner
Schulter. Er zeigte mit seiner Waffe auf Yamout, dann jagte er einen Feuerstoß in die Luft. Die Leute auf der Straße fingen an zu schreien und stoben beiseite. Fahrzeuginsassen flohen aus ihren Autos. Yamout versuchte zu wenden, wollte aus dem Stau auf den Bürgersteig ausscheren, aber er hatte nicht genügend Raum. Die vordere Stoßstange bohrte sich in das Heck des Range Rover. Kugeln prallten direkt vor Yamouts Nase auf die Windschutzscheibe, ohne sie jedoch zu durchschlagen. Er rief den beiden Bodyguards im hinteren Teil des BMW einen Befehl zu. Der Mann hinter Yamout stieß seine Seitentür auf und sprang auf die Straße. Sofort eröffnete der Gewehrschütze das Feuer. Die Kugeln prallten vom Metall und von den kugelsicheren Fensterscheiben ab. Der Bodyguard schoss mit der Ingram zwischen Tür und Wagen hindurch. Die kleine, schachtelförmige Maschinenpistole sah nach nichts Besonderem aus, aber ihre Kadenz betrug zwölfhundert Schüsse pro Minute. Voller Panik riss der Bodyguard den Abzug durch und leerte das Magazin innerhalb weniger Sekunden. Dreißig Kugeln trafen die Straße, den Range Rover,
umstehende Autos, aber keine einzige den Schützen, der gerade in die Knie ging und sein Sturmgewehr nachlud. »JETZT, JETZT« , brüllte Yamout. »LEGT IHN UM.« Der zweite Bodyguard war blitzschnell aus seiner Tür. Er jagte an Ariffs Seitenfenster vorbei und sprang auf die Motorhaube des BMW, um den Kerl zu durchsieben, bevor er nachgeladen hatte. Stattdessen krümmte er sich zuckend zusammen, noch bevor sein durchlöcherter Körper erst auf der Motorhaube und dann auf dem Bürgersteig aufschlug. Blut sickerte über die Windschutzscheibe des BMW.
»Da ist noch einer.« Jetzt entdeckte Ariff auf der anderen Seite des Range Rover einen zweiten Mann mit Sturmgewehr und Burka. Er kniete auf dem Bürgersteig. Der einzige noch verbliebene Leibwächter lud hastig seine Ingram nach. Yamout streckte den Arm an Ariff vorbei, klappte das Handschuhfach auf und holte eine Pistole heraus. »Auf den Rücksitz, Baraa«, brüllte er. »Mach die
Tür zu.« Mühsam kletterte Ariff vom Beifahrersitz nach hinten. Sein Herz hämmerte in höchster Panik. Er ließ sich auf die Rückbank plumpsen und streckte den Arm aus, um die Tür zuzuziehen. Der Bodyguard neben ihm gab ein paar kontrollierte Feuerstöße ab. Das Gegenfeuer ließ den BMW erzittern. Ariff lag auf dem Rücksitz, keuchte heftig, wagte nicht, den Kopf zu heben. Seine Ohren brannten von dem ständigen Geballer. »Hier können wir nicht bleiben«, sagte Yamout. Er kauerte auf seinem Sitz, die Pistole in der einen Hand, während er mit der anderen an seinem Handy herumfummelte. Ariff erwiderte nichts. Hier konnten sie nicht bleiben, aber wegfahren konnten sie auch nicht. Der Leibwächter schoss noch einmal, dann war die Ingram leer. Schnell ließ er das leere Magazin aus dem Schacht fallen und schob ein frisches hinein. Keine Schüsse mehr. Ariff konnte nicht erkennen, warum. Vielleicht hatte sein Bewacher ja beide Angreifer umgebracht. Bitte, lass das wahr sein. Der Leibwächter hatte jetzt nachgeladen, aber
bevor er einen einzigen Schuss abgeben konnte, tauchte hinter ihm ein Mann auf – urplötzlich, alarmierend. Noch ein maskierter Angreifer. Er stieß dem Bodyguard ein Messer in die Kehle und nahm ihm gleichzeitig, in einer einzigen, fließenden Bewegung, die Ingram ab. In hohem Bogen sprudelte das Blut aus dem riesigen Loch im Hals des Mannes, und er stürzte gurgelnd zu Boden. Yamout wollte sich umdrehen, da spuckte die Ingram bereits Feuer und sprengte kleine Löcher in die Rückenlehne des Fahrersitzes. Yamout bäumte sich auf und sackte dann leblos in sich zusammen. Die Schüsse verstummten. Yamouts Kopf baumelte schlaff nach vorn. An seinem Rücken und an den Armen waren zahlreiche blutige Schusswunden zu erkennen. Ariff schrie. Sein Gebrüll wurde noch lauter, als eine Handgranate durch die offene Tür in den Wagen segelte. Er sah sie irgendwo im Fußraum des Beifahrersitzes, außerhalb seines Blickfelds, verschwinden. Bei der Explosion gab es einen ohrenbetäubenden Knall und einen gleißend hellen Lichtblitz. Ariff sah nur noch Weiß, hörte nichts als
gellendes Pfeifen. Er war vollkommen desorientiert, konnte sich nicht rühren, konnte nicht einmal mehr schreien. Hände packten ihn an den Füßen und zerrten ihn über die Rückbank. Er fiel als Häufchen Elend auf die Straße und landete auf seinem blutüberströmten, röchelnden Leibwächter. Noch mehr Hände griffen nach ihm und zerrten ihn in die Höhe. Er besaß keine Kraft mehr, um sich zu wehren. Seine Schuhspitzen schleiften über den Boden. Als Erstes erlangte er sein Gehör wieder. Er vernahm Gebrüll und Geschrei, aber nur sehr leise und sehr weit entfernt. Bis er wieder etwas sehen konnte, dauerte es länger, und alles wurde von einem Standbild aus dem Wageninneren überlagert – das, was er vor der Explosion als Letztes gesehen hatte. Nur mit größter Mühe konnte er einen der Angreifer erkennen, der brüllend vorauslief und verängstigte Fußgänger beiseiteschubste. Die beiden anderen hatten Ariff in ihre Mitte genommen, hielten ihn an den Achselhöhlen gepackt. Sie kamen um eine Ecke. Dort stand ein Lieferwagen. Der erste Kidnapper klappte die Hecktür des Fahrzeugs auf, und Ariff wurde ins
Innere geschoben. Seine beiden Begleiter kletterten hinterher. Ariff rief um Hilfe, doch dann traf ihn ein Gewehrkolben im Gesicht und brach ihm die Nase. Ariff verlor das Bewusstsein.
Kapitel 44 Colonial Beach, Virginia
Möwen kreischten über Procters Kopf. Er stand am Ende des schmalen Anlegers und blickte durch seine Sonnenbrille über den Potomac nach Osten. Es war mild, der Himmel blau, dazu ein paar wenige Wolken. Windig. Genau so, wie Procter es gerne mochte. Am Strand war nicht viel los – ein alter Mann, der mit seinem Labrador spielte, ein paar Jogger –, aber auf dem Fluss tummelten sich jede Menge Wassersport-Enthusiasten. Segel- und Ruderboote, so weit das Auge reichte. Procter selbst war zwar nur ungern auf dem Wasser, sah aber anderen sehr gerne dabei zu. Dann hörte er Schritte auf den Holzdielen des Anlegers. »Herrlicher Tag«, sagte Clarke, als er sich neben Procter stellte. Er klang ausgeglichen und zufrieden, kein Stress, keine Anspannung war aus seiner Stimme zu vernehmen. »Nein«, widersprach Procter, »ist es nicht. Ariff ist verschwunden.« Clarke stammelte: »Was soll das denn heißen?«
»Das soll heißen, dass es vor zwei Tagen in der Innenstadt von Beirut eine Schießerei gegeben hat. Am helllichten Tag, ob Sie’s glauben oder nicht. Attentäter in Burkas haben Ariffs Fahrzeugkonvoi angegriffen, mit einem M203-Granatwerfer den kugelsicheren SUV seiner Leibwächter auseinandergesprengt und ungefähr sechzig Kugeln hineingejagt. Gabir Yamout und sechs Bodyguards sind tot. Die ganze Sache hat keine Minute gedauert, dann war alles vorbei. Ariff ist nicht unter den Toten, aber Augenzeugen haben gesehen, wie die Angreifer einen Mann, auf den seine Beschreibung passt, weggeschleppt haben.« Clarke sah noch blasser aus als sonst. »Großer Gott. Aber Augenzeugen sind oft sehr unzuverlässig. Wir können uns nicht sicher sein, dass Ariff wirklich …« »Das ist noch nicht alles«, fiel Procter Clarke ins Wort. Erst jetzt drehte er sich zu ihm um. »Kurz, nachdem Ariff entführt worden ist, wurde seine Villa angegriffen. Dabei sind noch etliche andere Leibwächter ums Leben gekommen. Gabir Yamouts Frau und Sohn wurden erschossen. Ariffs Frau sowie seine drei Töchter wurden entführt. Ein
Kindermädchen, das sich in einem Schrank versteckt hatte, hat alles mit angehört. Bis jetzt gibt es kein Lebenszeichen von den Entführten.« »Großer Gott«, wiederholte Clarke. »Wie zum Teufel ist Kasakov bloß so verdammt schnell an Ariff rangekommen?« Clarke unternahm nicht einmal den Versuch einer Antwort. »Ich kann mir absolut nicht erklären, wie er es geschafft haben soll, diesen Typen innerhalb von ein paar Wochen aufzuspüren. Ich meine, nicht einmal die Agency hat gewusst, wo er sich versteckt hält. Es hat Monate gedauert, bis wir Callo als Verbindungsglied zu Ariffs Organisation zweifelsfrei identifiziert hatten. Dann mussten wir den Drecksack entführen und verhören, nur um zu erfahren, in welcher Stadt Ariff wohnt. Und danach waren jede Menge Leute nötig, um sich umzuhören, bis wir endlich seinen genauen Wohnort kannten. Aber Kasakov erledigt das alles in einem Zehntel der Zeit.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Dieser Kerl kann einem fast unheimlich werden.« Gemeinsam starrten sie einen Moment lang auf das Wasser. Ein Bürschchen im College-Alter raste
auf einem Jet-Ski an ihnen vorbei. »Ich bin genauso überrascht wie Sie«, sagte Clarke schließlich zögerlich. »Aber das ist doch die Grundlage für unseren Plan, dass Kasakov und Ariff so viel übereinander wissen, dass sie sich gegenseitig Schaden zufügen können.« »Ihren Organisationen«, verbesserte ihn Procter. »Es gibt doch keinen Grund, weshalb Kasakov wissen sollte, wo Ariff wohnt. Der ist seit zwanzig Jahren untergetaucht. Geschäftlich haben sich ihre Wege zwar immer wieder gekreuzt, aber persönlich sind sie sich noch nie begegnet. Was Kasakov mit Sicherheit nicht gewusst hat, als diese ganze Geschichte losgegangen ist, das war Ariffs Adresse. Aber die hat er rausgekriegt, einfach so.« Procter schnippte mit den Fingern. »Der Kerl kommt mir vor wie der Teufel in Menschengestalt.« »Er ist nur ein Mensch.« Procter grinste zynisch. »Ein Monster, meinen Sie. Ariff ist garantiert schon tot oder aber er hat keinen sehnlicheren Wunsch, als tot zu sein. Und was mit seiner Frau und den Kindern passiert ist, das will ich mir gar nicht erst ausmalen.« »Das ist nicht unsere Schuld«, sagte Clarke und
tippte Procter gegen die Brust. »Dafür trägt alleine Ariff die Verantwortung. Mit jedem Gewehr, das er verkauft hat, mit jeder Kugel, die einen Unschuldigen getötet hat, mit jeder Tretmine, für die er den Sprengstoff geliefert hat, hat er das Todesurteil für seine engsten Angehörigen unterzeichnet. Er hat ihnen das angetan, nicht wir.« Procter nickte und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich weiß, Peter. Sie haben ja recht, wie immer. Aber jetzt ist unser schöner Krieg schon wieder zu Ende, nur einen Monat, nachdem er angefangen hat. Die ganze Arbeit, all unsere sorgfältigen Planungen, mit denen wir erreichen wollten, dass Kasakov und Ariff ihre Imperien gegenseitig zerschlagen, das alles war jetzt völlig umsonst.« Clarke wandte sich ab. »Wir haben noch keine konkreten Zahlen, welchen Schaden Ariff Kasakovs Netzwerk zugefügt hat. Aber ich bin mir sicher, dass er ganz erheblich sein wird. Und vergessen Sie nicht, dass Ariff und Yamout tot sind. Ihre Organisation ist führerlos und durch die Streitigkeiten mit Kasakov zunächst einmal
ungeordnet. Der Nachschub an leichten Waffen ist also vorerst unterbrochen.« »So lange, bis andere Waffenschieber in die Bresche springen.« »Ja«, pflichtete Clarke ihm bei. »Aber selbst wenn wir den Versorgungsfluss nur für wenige Monate unterbrochen haben, haben wir bestimmt Dutzenden von Amerikanern das Leben gerettet. Vielleicht sogar noch mehr. Und nicht nur Amerikanern. Denken Sie doch an all die Todesschwadronen und Terroristen überall auf der Welt, die jetzt ohne Waffen, Munition und Sprengstoff dasitzen.« Procter stieß einen Seufzer aus. »Aber dieser Krieg hätte Monate, vielleicht sogar Jahre dauern sollen. Wir wollten, dass Ariff und Kasakov einander verstümmeln, so lange, bis nichts mehr von ihnen übrig ist. Wir hätten Tausende, ja Zehntausende Leben retten müssen, und nicht nur Dutzende.« »Wir mussten ja immer damit rechnen, dass das Ganze früher zu Ende geht, als wir es uns gewünscht haben. Natürlich ist es bitter, dass es so schnell passiert ist, aber kein Plan funktioniert perfekt.« Clarke klopfte Procter auf die Schulter. »Trösten Sie sich damit, dass wir nicht auch noch aufgeflogen
sind. Und wir haben so viel Gutes getan, Roland. Das haben wir wirklich.« Procter verzog spöttisch die Mundwinkel. »Das klingt, als müssten Sie eher sich selbst überzeugen als mich.« Clarke starrte Procter an. »Wir können die Welt nicht verändern, Roland. Aber wir haben sie ein kleines bisschen angenehmer gemacht. Wenn auch nur für eine begrenzte Zeit.« »Ich sage Tesseract, er soll Kasakov eliminieren, dann ist die ganze Geschichte abgeschlossen. Wenn wir ein bisschen Glück haben, dann streiten sich seine Adjutanten um die Führung des Imperiums, und es zerfällt in seine Einzelteile und wird dadurch geschwächt. Und da wir gerade von Tesseract sprechen, es gibt da noch ein anderes Problem, von dem Sie wissen sollten.« »Ja?«, erwiderte Clarke misstrauisch. »Es betrifft die vier Zivilisten, die Tesseract in Minsk erschossen hat und die sich als Überwachungsteam erwiesen haben. Tja, er hat in dem Zusammenhang einen Firmennamen erwähnt, Lancet Incorporated, und ich habe mich ein bisschen umgehört. Es handelt sich um ein Schweizer
Unternehmen, das sich auf die Beförderung inoffizieller Handelsware spezialisiert hat.« »Für wen?« »Für uns«, lautete Procters Antwort. »Für Sie und mich. Nicht speziell für die CIA oder das Pentagon, aber eben für die guten alten Vereinigten Staaten von Amerika.« Clarke sagte kein Wort. »Lancet transportiert alle möglichen Dinge von der Ostküste über den Atlantik. Wie zum Beispiel Hightech-Überwachungskameras. Oder HellfireRaketen.« »Für wen denn?« Clarke riss die Augen weit auf. »Für die Leute, die samstags beten.« Es dauerte eine Sekunde, bis Clarke Procters Worte verstanden hatte. »Die Israelis?« Procter nickte. Clarke meinte: »Wenn Lancet als Bindeglied zwischen Amerika und Israel fungiert, dann müsste dieses Überwachungsteam aller Wahrscheinlichkeit nach …« »Die Wahrscheinlichkeit brauchen Sie in diesem Fall gar nicht erst zu bemühen. Wir haben absolute Gewissheit. Tesseract hat es nur mit vieren zu tun
bekommen, aber insgesamt waren es fünf MossadAgenten, die Yamout überwacht haben, und zwar im Rahmen einer dauerhaften Operation mit dem Ziel, jederzeit über Ariffs Organisation Bescheid zu wissen. Einfach, aber sehr effektiv. So erfahren sie, wer von Ariff und Yamout mit Waffen versorgt wird. Sollte es sich um Feinde Israels handeln, dann bekommen die Besuch von ein paar KidonAttentätern oder von einer der eben erwähnten Hellfires. Anscheinend waren die Überwacher in diesem Fall ein bisschen übermotiviert. Jedenfalls haben sie eingegriffen, um Tesseract daran zu hindern, eine ihrer wichtigsten Informationsquellen zu neutralisieren.« Clarke schnaufte. »Wie lange geht das schon so?« »Schon lange. Zehn Jahre, vielleicht sogar noch länger.« Clarke machte die Augen zu und fummelte an seiner Nase herum. »Woher wissen Sie das?« »Dazu komme ich gleich. Glücklicherweise weiß der Mossad nicht allzu viel über die Ereignisse in Minsk, die zum Tod seiner Mitarbeiter geführt
haben.« »Hört sich an, als würde da gleich noch ein ›Aber‹ folgen.« »Aber«, fuhr Procter fort, »sie suchen den Mann, der sie umgebracht hat.« Procter hatte gewusst, dass Clarke die Bedeutung dieser Worte sofort erfasste. »Nicht: die Männer?« Procter schüttelte den Kopf. »Wenn sie wissen, dass es nur einer war, dann müssen sie Tesseract gesehen haben.« Procter nickte, sagte aber nichts, sondern wandte den Kopf ab. »Wenn sie nach Tesseract suchen«, fuhr Clarke fort, »dann werden sie auch wissen wollen, wer ihn geschickt hat. Und er kennt Ihr Gesicht, vielleicht sogar Ihren Namen. Und selbst wenn er nicht weiß, dass Sie bei der CIA sind, wird er schlau genug sein, sich das zusammenzureimen.« Procter nickte langsam. »Aber Europa ist groß und, wie Sie nicht müde werden zu betonen, Tesseract ein außergewöhnlicher Mensch. Die Israelis werden ihm nicht auf die Spur kommen, stimmt’s?«
Procter gab keine Antwort. Er klimperte mit dem Kleingeld in seiner Hosentasche. »Was verheimlichen Sie mir, Roland?« Procter schaute Clarke in die Augen und sagte: »Ich muss Ihnen etwas zeigen.« Daraufhin holte er sein Smartphone aus der Tasche und gab ein paar Zahlen ein. Er reichte es Clarke, der das Display aufmerksam betrachtete. Auf dem Handy-Bildschirm war ein kostspielig eingerichtetes Zimmer mit einem weißen Teppich und weißen Wänden zu sehen. Zwei Männer standen im Zimmer, ein breitschultriger im Hintergrund, am Rand des Kamerablickfelds. Der zweite Mann befand sich genau im Fokus. Er war groß, trug einen Anzug, hatte das Gesicht der Kamera zugewandt, gut ausgeleuchtet, hervorragend zu identifizieren. »Verdammter Mist«, sagte Clarke. »Das ist er.« Procter nickte. »Blättern Sie ruhig weiter, es gibt noch mehr. Nicht dass es nötig wäre, weil dieses eine Bild schon alles sagt. Videoaufnahmen gibt es auch noch, mit Ton. Auf Russisch zwar, aber trotzdem ist seine Stimme eindeutig erkennbar.« »Wie zum Teufel sind Sie denn an die Aufnahmen gekommen?«
»Der Mossad hat alle verfügbaren Unterlagen zu dem Fall an uns weitergeleitet.« Clarke starrte Procter lange wortlos an, dann sagte er: »Weil die CIA ihnen bei der Suche behilflich sein soll.« »Und diese Hilfe ist ihnen zugesagt worden«, fuhr Procter fort. »Satellitenaufklärung, Gesichtserkennung, Geheimdiensterkenntnisse aller Art. Der Direktor will damit die tiefe Verbundenheit mit einem unserer engsten Verbündeten demonstrieren.« »Das ist übel, Roland«, sagte Clarke. »Das ist wirklich übel. Sind Sie aktiv beteiligt?« Procter schüttelte den Kopf. »Chambers hat die Gesamtleitung. Wir sind jetzt schon seit einer Woche damit befasst. Ich werde zwar gelegentlich informiert, aber Einfluss kann ich keinen ausüben.« Noch nie hatte Clarke so ängstlich ausgesehen wie jetzt. »Was sollen wir jetzt machen?« »Wir hetzen Tesseract auf Kasakov, wie besprochen, und sagen ihm, dass er unmittelbar danach von der Bildfläche verschwinden soll.« Clarke hob die Augenbrauen. »Oder …?« »Das sollten Sie nicht mal denken, Peter.
Tesseract kann schließlich nichts dafür, dass der Mossad Yamout beobachtet hat. Das konnte er nicht ahnen. Nicht mal wir haben das geahnt, verdammt noch mal. Ich habe ihn ins Boot geholt und werde ihn nicht bei der nächstbesten Windbö gleich wieder über Bord werfen.« »Windbö? Roland, machen Sie Witze? Das ist ein Sturm, und zwar einer von der allerschlimmsten Sorte. Die haben sein Gesicht, seine Stimme. Sie wissen, wo er war und wann. Glauben Sie ernsthaft, das reicht denen nicht, um Witterung aufzunehmen? Wir haben es mit dem Mossad zu tun. Die halten sich nicht an die Spielregeln. Die werden alles unternehmen, was notwendig ist, so lange, bis sie ihn gefunden haben. Sie schicken eine KidonEinheit los, und irgendwann haben sie ihn, das wissen Sie ganz genau. So läuft das bei denen. Dann bringen sie ihn zum Reden. Zuerst werden Sie identifiziert, dann ich. Im günstigsten Fall fliegt uns die ganze Operation um die Ohren, und wir landen vor einem Untersuchungsausschuss. Aber nur, wenn wir großes Glück haben. Den Israelis ist Rache immer noch am liebsten, wenn sie eiskalt serviert
wird, vergessen Sie das nicht. Glauben Sie etwa, die würden uns verschonen, bloß, weil wir zu ihren Verbündeten gehören?« Clarke schüttelte den Kopf. »Es ist vorbei. Er soll Kasakov umbringen, anschließend betreiben wir Schadensbegrenzung.« Nach einer Minute des Schweigens entgegnete Procter: »Er kann doch untertauchen. Irgendwann ist Gras über die Sache gewachsen. So ist es doch jedes Mal. Wenn man nach einem Monat noch nicht weitergekommen ist, dann werden die Kräfte wieder umverteilt. Allein werden die Israelis ihn nicht finden. Da habe ich vollstes Vertrauen in seine Fähigkeiten.« Clarke reckte den Zeigefinger. »Sie sind ihm ja auch schon mal auf die Spur gekommen, wissen Sie noch?« »Aber das waren völlig andere Umstände. Damals war er allein. Dieses Mal kann ich ihm helfen.« »Das wollen Sie wirklich riskieren?« Procter gab keine Antwort. Er hörte Gelächter und schaute zum Strand hinunter, wo ein kleines Mädchen zusammen mit seinem Vater einen Drachen steigen ließ. Procter musste unwillkürlich
lächeln. Er schaute Clarke an. »Falls bei dem Anschlag auf Kasakov irgendetwas schiefgehen sollte oder der Mossad ihm zu nahe kommt, dann ziehe ich die Reißleine. Zufrieden?« Diesmal blieb Clarke die Antwort schuldig.
Kapitel 45 Ljubljana, Slowenien
Die slowenische Hauptstadt lag Victor zu Füßen. Sein Hotelzimmer befand sich im vierzehnten Stock. Damit war er höher als jedes andere Gebäude in der Umgebung, sodass er sich den seltenen Luxus geöffneter Vorhänge leisten konnte. Die Stadt selbst lag noch als graue Masse unter grauen Wolken vor seinem Fenster, doch die Morgenröte, die sich langsam über die schneebedeckten Gipfel der Steiner Alpen schob, ließ den Anblick zum Genuss werden. Sein Auftraggeber hörte sich ein bisschen an wie ein Vater, der das Gespräch mit seinem Sohn sucht: »Wir müssen reden.« Victor setzte sich an den wackeligen kleinen Tisch mit dem Laptop. Er trank sizilianische Zitronenlimonade aus einer Mattglasflasche. Erneut drang die Stimme aus den Laptoplautsprechern. »Es gibt da ein ernsthaftes Problem, über das Sie sich im Klaren sein müssen. Bezüglich Lancet.« »Sie spielen wahrscheinlich auf die Tatsache an,
dass die Leute, die ich in Minsk getötet habe, israelische Mossad-Agenten waren.« »Woher wissen Sie …?« »Ich habe mich gefragt, wer ein Motiv, die Mittel und die Hinterhältigkeit besitzen könnte, eine Überwachungsoperation gegen Gabir Yamout zu unterhalten, und wem die Vereinigten Staaten streng geheime Technologie verkaufen würden. Darauf gibt es nur eine einzige Antwort.« »Ich hoffe, Ihnen ist der Ernst dieser Situation bewusst.« »Selbstverständlich«, erwiderte Victor. »Ihr Tonfall im bisherigen Verlauf des Gesprächs lässt da ja keinen Spielraum für Interpretationen.« »Jetzt ist nicht die Zeit für Witze. Die Israelis haben wunderbare Schnappschüsse von Ihnen gemacht, als Sie sich in der Suite umgesehen haben. Ich muss sagen, das hat mich sehr verblüfft. Eigentlich habe ich Sie für vorsichtiger gehalten. Die Kameras haben Sie von vorn, von hinten und von allen Seiten erfasst. Ich habe die Standbilder gesehen. Gestochen scharf.« Victor nickte lediglich. Er hatte damit gerechnet, dass die Videostreams noch zusätzlich irgendwo
abgespeichert worden waren, aber in einem solchen Fall machte es keinen Spaß, recht zu behalten. Seine Feinde kannten jetzt also sein Gesicht, seine Stimme – wenn auch auf Russisch – und würden auch seine Größe und sein Gewicht ermitteln. Damit hatte der Mossad ein Profil mit allem, was nötig war. Die beste Form der Verteidigung war immer noch die Anonymität. War sie nicht mehr gegeben, dann war er verwundbar. »Angesichts des sehr begrenzten Zeitrahmens war das absolut unvermeidlich.« Er unterbrach sich und fügte dann hinzu: »Dann hat der Mossad also die CIA um Unterstützung gebeten. Darum haben Sie die Standbilder gesehen.« »Ich bedaure sehr, aber die Israelis bekommen in diesem Fall das ganze Paket mit Schleife. Im Prinzip stellen wir ihnen die gesamten Kapazitäten der US-Geheimdienste zur Verfügung.« »Die müssen wirklich sehr hinter mir her sein.« »Das sind sie in der Tat, mein Freund, das sind sie in der Tat. Der Mossad ist mit Sicherheit der rachsüchtigste Geheimdienst der Welt. Erschwerend kommt noch hinzu, dass der Chef ihrer Operativabteilung sich persönlich in diesen Fall
eingeschaltet hat. Er ist wahrscheinlich genauso alt wie das Volk Israel selbst und nimmt sich Angriffe auf seine Leute immer sehr zu Herzen. Als wären sie so was wie eine einzige, weitverzweigte Familie. Er wird übrigens auch von allen ›Vater‹ genannt, ob Sie’s glauben oder nicht.« »Soll ich verschwinden?« »Nein, nein, auf gar keinen Fall«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. »Ich brauche Sie noch für einen Auftrag. Dazu komme ich gleich. Wir müssen sehr eng zusammenarbeiten, damit die Israelis Ihnen nicht auf die Pelle rücken, okay? Schließlich will ich genauso wenig wie Sie, dass die Sie finden. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Ihnen zu helfen, aber mehr, als Sie über den Stand der geheimdienstlichen Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten, kann ich leider nicht machen. Ich darf auf keinen Fall auffallen. Darum muss ich mich so weit wie möglich von den konkreten Ermittlungen fernhalten. Wenn ich den Verdacht irgendwie auf mich lenke, dann machen wir es ihnen nur einfacher. Sie sind also die meiste Zeit auf sich allein gestellt.« Damit hatte Victor gerechnet. Er war daran
gewöhnt, alleine zu handeln, während gleichzeitig Feinde hinter ihm her waren. Zumindest hatte er dieses Mal den Vorteil, Bescheid zu wissen und seine Gegner zu kennen. Und wenn sein Auftraggeber Wort hielt und ihn regelmäßig informierte, dann würde es ihm ein bisschen leichterfallen, dem Fadenkreuz der Israelis auszuweichen. »Sie haben bereits eine Kidon-Einheit losgeschickt«, sagte sein Gegenüber. »Ich glaube, im Augenblick suchen sie in Minsk nach irgendwelchen Hinweisen. Über die Kidon brauche ich Ihnen nichts mehr zu erzählen, oder?« »Sondereinheiten des Mossad, spezialisiert auf Attentate und Entführungen. Operieren ausgesprochen unabhängig, führen Nachforschungsund Überwachungstätigkeiten selbstständig aus. Eine komplette Einheit kann bis zu zwölf Männer und Frauen umfassen. Normalerweise vier, die die eigentliche Operation durchführen, während der Rest die Überwachung, Unterstützung, Spurenbeseitigung und Logistik übernimmt.« »Und sie sind gut«, fügte der Einsatz-Koordinator
überflüssigerweise hinzu. »Sie sind wirklich gut.« »Darüber bin ich mir vollkommen im Klaren.« »Dann hoffen wir, dass Sie ihre Qualitäten nicht am eigenen Leib erfahren müssen.« »Ich werde die Augen offen halten, falls irgendwelche Typen in Tenniskleidung in meinem Hotelfahrstuhl auftauchen.« Victor konnte sich noch gut an die Tötung des Hamas-Führers Mahmoud alMabhouh in Dubai erinnern. »Netter Scherz, aber denken Sie immer daran: Die Kidon sind der Grund dafür, dass jeder Ganove im gesamten Nahen Osten vor dem Schlafengehen einen Blick unter sein Bettchen wirft.« »Ich werd’s mir merken.« »Gut so. Irgendwann wird die CIA ihre Kräfte wieder umverteilen, ganz egal, wie groß das Bedürfnis ist, unseren jüdischen Vettern unter die Arme zu greifen. Nehmen Sie’s mir nicht übel, mein Freund, aber da draußen schwimmen noch dickere Fische herum, als Sie es sind. Und wenn wir uns wieder auf andere Dinge konzentrieren, dann sind die Israelis mit ihrem Latein am Ende. Auf sich alleine gestellt verfügt der Mossad weder über das nötige Personal noch über die Technologie, um Sie
zu finden, vorausgesetzt, Sie machen keinen Blödsinn. Und das machen Sie nicht, das weiß ich. Rufen Sie mich an, wenn Ihnen irgendetwas Verdächtiges auffällt. Ich gebe alles weiter, was ich über die Fortschritte der Kidon-Einheit in Erfahrung bringen kann.« »Selbstverständlich«, erwiderte Victor. »Denn wenn die mich finden, dann bringen sie mich irgendwohin, um sich ein wenig mit mir zu unterhalten. Und wir beide wissen, wie solche Unterhaltungen normalerweise ausgehen. Sie werden mir alles aus der Nase ziehen, was ich über Sie weiß. Das ist zwar nicht viel, aber es reicht, um sie in die richtige Richtung zu locken. Sie helfen mir, so gut Sie können, weil Sie nicht der Nächste sein wollen.« »Das will ich ganz bestimmt nicht, da haben Sie absolut recht. Wir stehen alle kurz vor dem Abgrund.« »Wir alle?« »Wir beide sind nicht die Einzigen, die in diese Operation eingebunden sind.« »Jetzt ist es also eine Operation? Nicht bloß ein paar zusammenhanglose Attentate?«
»Ich habe nie behauptet, sie seien zusammenhanglos.« »Aber Sie haben auch nie gesagt, dass sie zusammenhängen.« »Das war etwas, was Sie nicht zu wissen brauchten«, erwiderte der Koordinator. »Verhalten Sie sich möglichst unauffällig, dann ist die ganze Geschichte in null Komma nichts Schnee von gestern.« Victor war sich zwar nicht sicher, ob er das glauben sollte, aber der erste Monat war mit Sicherheit der gefährlichste. Wenn die Kidon ihn bis dahin nicht gefunden hatten, dann konnte er sich ein kleines bisschen entspannen, allerdings niemals ganz. Israelis besaßen ein gutes Gedächtnis. Er hatte sich seit Minsk nicht mehr rasiert und trug jetzt einen kurz gestutzten Bart, der half, sein Aussehen ein wenig zu verändern. Die Haare waren seit Rumänien auch nicht mehr geschnitten worden, aber kaum gewachsen. Er hätte sie noch kürzer schneiden können als in Minsk, aber je länger sie waren, desto mehr Möglichkeiten hatte er, seinen Stil zu verändern. Er musste sich unbedingt eine Brille mit Fensterglas und farbige Kontaktlinsen
besorgen. Die frisch erworbene Sonnenbräune würde ebenfalls helfen. Die üblichen Gesichtserkennungsprogramme würden sich dadurch zwar nicht überlisten lassen, aber ein normaler Beschatter vielleicht schon. »Jetzt, da wir das mit den Israelis geklärt hätten«, fuhr sein Einsatz-Koordinator fort, »können wir uns Ihrem nächsten Auftrag zuwenden. Ich schicke das Dossier jetzt ab.« Die E-Mail landete in seinem Postfach, und Victor lud sich das angehängte Dokument herunter. Es enthielt das Bild eines Mannes mit kantigem Kinn, slawischen Zügen und kurzen schwarzen Haaren. Er musste ungefähr Ende vierzig sein. Auch ohne die deutlich erkennbare Narbe am Ohr hätte Victor das Gesicht sofort erkannt. Es gehörte dem Mann, der ihn vor über einem Monat im Grand Plaza Hotel in Bukarest so intensiv gemustert hatte, dem Mann, der ihm einen neuen Anzug angeboten hatte, dem Mann, dem Victor das Leben gerettet hatte. Dem Mann, den er jetzt umbringen sollte. »Sie kennen ihn sicherlich noch aus Bukarest«, drang die Stimme aus den Lautsprechern. »Er heißt
Vladimir Kasakov, ein ukrainischer Waffenhändler. Falls es den Antichrist tatsächlich geben sollte, dann könnte dieser Mann es sein.« »Ich weiß, wer das ist«, sagte Victor schmallippig. »Dann wissen Sie auch, dass Sie der gesamten Welt einen Riesengefallen tun, wenn Sie Kasakov unter die Erde bringen.« Überraschungen rangierten ganz oben auf der Liste der Dinge, die Victor nicht mochte, sowohl im persönlichen als auch im beruflichen Bereich, aber dass er den Mann, den er erst kürzlich vor der Ermordung bewahrt hatte, jetzt ermorden sollte, das setzte dem Ganzen vermutlich in jeder Hinsicht die Krone auf. Irgendwie kam ihm dieser Auftrag wie ein Widerspruch zu seinen professionellen Grundsätzen vor. So etwas hatte er in seinen vielen Jahren als Profikiller noch nie erlebt. »Sind Sie noch dran?«, ließ sich der EinsatzKoordinator vernehmen. Victor blieb stumm. »Sie wollen wissen, wieso wir Sie vor fünf Wochen losgeschickt haben, um Kasakov das Leben zu retten, nur damit Sie ihn jetzt umbringen sollen«, sagte der Einsatz-Koordinator, als könnte er
Victors Gedanken lesen. Als Victor immer noch nicht reagierte, fuhr er fort: »Ich kann das verstehen. Das würde ich an Ihrer Stelle auch wissen wollen. Die Umstände haben sich geändert. Es ist kompliziert. Nichts, was Sie bis in jede Einzelheit zu wissen brauchen, aber kurz gesagt: Damals brauchten wir Kasakov lebend, aber jetzt brauchen wir ihn tot. Ich gehe davon aus, dass Sie keine Schwierigkeiten damit haben.« Sollte er zumindest nicht. Hatte er aber trotzdem. Es war ein Auftrag wie jeder andere in seiner langen Karriere, zu viele, um sie alle zu zählen. Und doch hätte er sich, wenn er es versucht hätte, an jedes Gesicht, an jeden Namen erinnern können, das wusste er. Diese Zielperson war nicht einmal ein besonders wunderbarer Mensch, dessen Tod selbst für jemanden wie Victor nur schwer verdaulich gewesen wäre. Vladimir Kasakov war einer von denen, die Krieg und Völkermord überhaupt erst möglich machten. So jemanden zu töten hätte wirklich kein Problem sein dürfen. Aber er hatte mit ihm geredet, hatte eine persönliche Begegnung mit seiner Zielperson gehabt, wie kurz sie auch immer gewesen sein
mochte. Victor hatte Kasakov in die Augen geschaut, und zwar lange, bevor er mit seiner Ermordung beauftragt worden war. Mehr als das: Er hatte diesem Mann das Leben gerettet. Das durfte eigentlich keine Rolle spielen. Tat es aber doch. »Und?«, ließ sich der Einsatz-Koordinator vernehmen. »Haben Sie damit Probleme?« »Nein«, erwiderte Victor mit Bedacht. »Gut.« »Aber ich habe ein Problem damit, dass Kasakov und seine Leibwächter mich gesehen haben. Ich bin direkt an ihnen vorbeigegangen, und sie haben mich registriert. Sie haben gewusst, dass geschossen wurde, und haben jeden genau unter die Lupe genommen. Hätte ich gewusst, dass Kasakov irgendwann einmal zur Zielperson werden könnte, dann hätte ich das nicht zugelassen. Jetzt kann ich es nicht riskieren, in Kasakovs Nähe zu kommen, weil ich möglicherweise erkannt werde. Dadurch habe ich weniger Optionen. Und je weniger Optionen ich habe, desto schwieriger und gefährlicher wird meine Arbeit.« »Aha, ich verstehe«, erwiderte der EinsatzKoordinator. »Das tut mir leid.«
»Das reicht mir nicht.« »Hören Sie mal zu, mein Freund, das mit uns beiden ist keine Partnerschaft. Ich bin Ihr Boss. Sie sind mein Mitarbeiter. Wenn ich sage, es tut mir leid, dann sollten Sie sich außerordentlich geehrt fühlen, verdammte Scheiße noch mal.« »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass Sie in meiner Gegenwart nicht fluchen sollen.« »Mein Fehler. Aber Sie brauchen nicht zu glauben, dass mich Ihre sprachliche Prüderie auch nur im Entferntesten interessiert. Ich habe mich für die Kasakov-Geschichte entschuldigt, und Sie sollten diese Entschuldigung annehmen und mit Ihrer Arbeit weitermachen. Es gibt da eine Zielperson, mit der Sie sich vertraut machen müssen, also fangen Sie an damit.« »Es wäre schön, wenn das Dossier dieses Mal vollständig wäre und nicht nur das enthält, was ich Ihrer Meinung nach wissen muss, sondern wirklich alles, was ich wissen muss. Falls das nicht so sein sollte oder falls es noch mehr Überraschungen von dieser Sorte gibt, dann wäre ich alles andere als glücklich.«
Die Stimme des Einsatz-Koordinators wurde etliche Dezibel leiser. »Mit Drohungen kann ich gar nicht gut umgehen.« »Ich drohe nicht. Ich stelle lediglich fest. Wie Sie damit umgehen können, geht mich nichts an.« Einige Sekunden lang waren nur schwere Atemzüge zu hören. Victor wartete, bis der EinsatzKoordinator das Wort ergriff. »Am besten, wir beruhigen uns wieder. Alle beide«, ließ sich die Stimme schließlich vernehmen. »Okay?« »Ich bin immer ruhig.« »Tja, also ich nicht«, meinte sein Auftraggeber. »Aber ich bin groß und hässlich genug, um zuzugeben, wenn ich falschliege. Entschuldigt habe ich mich schon. Ich hätte Ihnen schon vor Bukarest sagen sollen, dass Kasakov irgendwann einmal zur Zielperson werden könnte.« »Bis jetzt habe ich drei Aufträge für Sie erledigt: in Bukarest, in Berlin und in Minsk. Jedes Mal unter großem Zeitdruck oder mit unvollständigen Informationen. Jetzt ist mir der Mossad auf den Fersen, und Sie wollen, dass ich einen Mann umbringe, der weiß, wie ich aussehe. Und danach
wollen Sie mir noch einmal einen Auftrag geben, entgegen unserer ursprünglichen Vereinbarung.« »Soll das vielleicht heißen, dass Sie sich weigern wollen?«, hakte sein Einsatz-Koordinator nach. »Für einen Mann mit so vielen Feinden wäre das nicht gerade die klügste Entscheidung.« »Ich weigere mich nicht, diesen Auftrag auszuführen. Aber ich sage, dass unsere Vereinbarung mit Kasakovs Tod zu Ende ist. Das ist der letzte Auftrag, den ich für Sie erledige.« Schweigen. Victor starrte zum Fenster seines Hotelzimmers hinaus. Die aufgehende Sonne stand über den Berggipfeln. Schließlich sagte sein Gegenüber: »Also gut, Sie haben gewonnen, Kasakov ist der Letzte. Danach sind Sie ein freier Mann. Von mir aus können Sie dann auf den Straßen von Bangkok Blumenkörbe verkaufen. Aber Sie arbeiten nicht mehr als Auftragskiller. Auf keinen Fall. Entweder Sie nehmen Aufträge von mir an, oder Sie setzen sich zur Ruhe, und zwar für immer. Sollte ich auch nur den leisesten Hinweis bekommen, dass Sie bei einem Mord Ihre Finger im Spiel haben, werde ich alle Hebel in Bewegung setzen, um Sie zur Strecke zu bringen.
Haben wir uns verstanden?« »Ich verstehe Sie. Und ich hoffe, Sie verstehen mich.« »Also gut«, sagte sein Einsatz-Koordinator. »Können wir uns dann wieder der Kasakov-Sache zuwenden?« »Das kommt darauf an«, erwiderte Victor. »Ich habe noch eine letzte Bedingung: Ich will die Sache genau so erledigen, wie ich es für sinnvoll halte.« »Das überlasse ich ganz Ihnen. In einer Woche fährt er zur Erholung in seine Datscha am Schwarzen Meer. Seine Schutztruppe ist natürlich mit dabei, aber vielleicht ist er dort leichter zu erwischen als zu Hause in Moskau. Sie bekommen bald noch mehr Einzelheiten, aber für den Augenblick müsste es reichen. Er will zwei Wochen lang dort bleiben, Sie haben also genügend Vorbereitungszeit.« »Gut«, erwiderte Victor und trank den letzten Schluck Limonade. »Und dieses Mal«, versicherte ihm der Mann, »wird es garantiert keine Überraschungen geben.«
Kapitel 46 Flughafen Heathrow London, Großbritannien
Es war ein langer Flug von Washington bis hierher gewesen. Die ersten vier Stunden hatte Clarke gearbeitet – Berichte gelesen, Dokumente unterzeichnet, eigene Berichte verfasst –, die restliche Zeit geschlafen. Er wurde von der sanften Stimme einer Stewardess geweckt, die ihm mitteilte, dass sie im Landeanflug auf Heathrow seien und er sich anschnallen müsse. Der Himmel draußen war blau und kaum bedeckt. Keine einzige Regenwolke in Sicht. So viel zum Thema Klischees. Unmittelbar nach der Landung schaltete Clarke sein Telefon ein und checkte seine Nachrichten und E-Mails. Es waren rund ein Dutzend, aber ihn interessierte nur eine einzige. Ihr entnahm er, dass seine Atlantiküberquerung keine Zeitverschwendung war, und das war gut so. Clarke hatte nur wenig für die Engländer oder Briten, oder wie zum Teufel die korrekte Bezeichnung für dieses selbstgerechte Völkchen lauten mochte, übrig. Die Schotten waren gar nicht so übel, wenn man sie nur verstehen könnte, und einen Waliser hatte Clarke noch nicht
kennengelernt, aber was den Rest des Vereinigten Königreichs anging, der konnte ihm gestohlen bleiben. Offiziell diente sein kleiner Ausflug diversen Besuchen im Verteidigungsministerium, in der Zentrale des Secret Intelligence Service, also des Auslandsgeheimdienstes, besser bekannt als MI-6, sowie bei den Government Communications Headquarters, einem weiteren britischen Nachrichtendienst, der sich vor allem mit den technischen Aspekten der Informationsgewinnung befasste. Er war, auf seinen eigenen Vorschlag hin, als Repräsentant des Pentagons gekommen, aber falls sich irgendwann einmal jemand entschließen sollte, etwas genauer hinzusehen, dann kam der Betreffende womöglich dahinter, dass ein persönlicher Besuch eigentlich gar nicht erforderlich gewesen wäre. Geheimdiensterkenntnisse konnten auch auf anderem Wege ausgetauscht werden, und man musste auch nicht jeden Vorgang mit einem freundlichen Lächeln begleiten. Im Grunde genommen gab es überhaupt keinen Grund, die Zusammenarbeit irgendwie zu fördern. Ungeachtet seiner persönlichen Abneigung empfand Clarke
großen Respekt in Bezug auf die Loyalität der Briten gegenüber ihren Verbündeten. In Heathrow herrschte das erwartete Chaos. Mit gemächlichen Schritten durchquerte Clarke den Terminal. Er hatte eine Wechselgarnitur im Handgepäck, aber sonst nichts weiter dabei, da er nur im äußersten Notfall übernachten wollte. Sein Rückflug war bereits gebucht, auf eine Maschine, die in knapp vierzehn Stunden abheben sollte. Den würde er garantiert komplett verschlafen. Clarke kam an einem Laden vorbei, wo alkoholfreie Getränke, Konfekt, Zeitungen und Bücher angeboten wurden. Er stellte sich vor die Bücherregale und schaute sich ein paar Minuten lang die Aussteller mit den Bestsellern an. Bei den gebundenen Büchern fanden sich zahlreiche Biografien britischer Prominenter, die eigentlich viel zu jung aussahen, um etwas erlebt zu haben, was sich zu erzählen lohnte. Er wandte sich den Taschenbüchern zu. Dort gab es überwiegend Belletristik. Clarke war ein eifriger Leser, aber er hatte nur selten Zeit für Romane. Geschichte und Politik, das war das, was ihn interessierte. Er
entdeckte ein paar Bücher, die er auch schon in den Staaten gesehen hatte, und entschied sich für ein Taschenbuch mit einem schönen Umschlag. Offensichtlich wurden Buch-Cover in Großbritannien sehr viel künstlerischer gestaltet als in den USA. Er las sich den Klappentext durch. Irgendetwas mit Terroristen, die Amerika zerstören wollten. Eine Frau zu seiner Rechten sagte: »Es soll sehr gut sein, wie ich gehört habe.« »Ich schätze mal, dass die Guten es schaffen werden, die Terroristen kurz vor Schluss aufzuhalten, und dann ist alles in Ordnung«, erwiderte Clarke, ohne sie anzuschauen. Die Frau kicherte. »Nicht Ihr bevorzugtes Genre?« Clarke schüttelte den Kopf und stellte das Buch zurück ins Regal. »Mir sind Fakten lieber als die Fantasie.« »Ein Intellektueller also.« »Gelegentlich«, erwiderte Clarke. Er wandte sich der Sprecherin zu, die ihrerseits lächelte und den Kopf neigte, ganz leicht nur, in Andeutung eines Nickens. Sie trug einen eleganten Anzug, war Mitte vierzig und immer noch attraktiv. Klein und schlank stand sie vor ihm, aber ihre
Haltung offenbarte eine große innere Stärke. Kleine Augen mit einem intelligenten und kalten Blick. Sie nahm ein anderes Buch in die Hand und gab es Clarke. »Dann dürfte dir das hier vielleicht besser gefallen, Peter.« Clarke nahm es, ohne einen Blick darauf zu werfen. »Danke. Ich werd ihm eine Chance geben.« Die Frau wirkte erfreut. »Der Schluss ist jedenfalls nicht ganz so leicht zu erraten.« Clarke nahm sich etwas Zeit, um den Klappentext zu lesen und gelangweilt die Seiten durchzublättern, dann sagte er: »Ich weiß nicht, ob dieses Treffen wirklich eine gute Idee war, Julia.« »Es gibt keinen besseren Ort, um sich zu unterhalten«, erwiderte Eltsina. »Wir befinden uns auf dem belebtesten Flughafen der Welt. Sieh dich doch um. Weißt du eigentlich, wie viele Leute hier Tag für Tag durchgeschleust werden? An die zweihunderttausend, habe ich irgendwo gelesen. Eine ganze Stadt, die ununterbrochen in Bewegung ist. Wir sind hier praktisch unsichtbar.« »Es sei denn, der britische Geheimdienst weiß, dass du hier bist.«
»Unmöglich. Außerhalb Russlands wissen nur die wenigsten überhaupt etwas von meiner Existenz, ganz zu schweigen von meiner Arbeit. Für die Briten ist Julia Eltsina eine einfache, wenngleich erfolgreiche Geschäftsfrau. Sie ist nach London gekommen, um ihre Kunden zu besuchen. Außerdem bin ich ein sehr umsichtiger Mensch. Ich treffe viele Vorkehrungen.« Sie machte eine fließende Handbewegung. »Ich bin nicht mehr als ein Geist, der zwischen den Lebenden hindurchgleitet.« Clarke blätterte weiter in dem Buch, um den Schein zu wahren. »Was zum Teufel war das in Beirut?« »Was meinst du denn damit, Peter?« Eltsina war so ruhig und gefasst, dass die kalte Wut in Clarke aufwallte. Er runzelte die Stirn. »Lass doch das Versteckspiel, Julia. Die Ahnungslose ist nicht gerade deine stärkste Rolle.« Sie sagte: »Meine hochempfindlichen telepathischen Sensoren sagen mir, dass du von dem Angriff auf Baraa Ariff sprichst.« »Wovon denn sonst? Meinst du, ich würde um den halben Erdball fliegen, um irgendetwas anderes zu
besprechen?« Eltsina schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. »Ich warte, Julia.« »Worauf?« »Auf eine Erklärung.« »Und was, lieber Peter, willst du von mir hören?« »Wir hatten eine Übereinkunft, Julia. Eine Abmachung. Lange, bevor ich dir verraten habe, wo Ariff sich aufhält, haben wir uns ausdrücklich darauf verständigt, dass du erst dann etwas gegen ihn unternimmst, wenn ich das Startsignal gegeben habe. Wir waren uns einig, dass dieser Krieg Monate dauern soll und nicht nur wenige Wochen.« Eltsina hob die zarten Hände. »Peter, du musst meine Situation verstehen. Ich hatte keine andere Wahl. Im Lauf der letzten Wochen hat Ariff acht unserer Leute umgebracht. Wichtige Leute. Außerdem hat er vier bedeutende Lieferungen vernichtet, mit einem Gesamtwert von fast einer halben Milliarde Dollar.« »Na, und? Es war doch klar, dass so etwas passieren würde. Wir haben hundert Mal darüber gesprochen, dass Ariff euch empfindlich treffen
kann, also spiel doch jetzt nicht die Ahnungslose.« »Aber mit einer solchen Wucht habe ich nicht gerechnet. Die Schäden, die er unserer Organisation damit zugefügt hat, waren viel zu groß. Von so einem Ausmaß war in unseren Gesprächen nie die Rede. Noch zwei Monate, und von Kasakovs Imperium wäre nur noch ein zerstörtes Reich übrig geblieben.« Clarke seufzte. »Ich hätte dir beim Wiederaufbau geholfen. Das weißt du doch.« Eltsina seufzte ebenfalls. »Kasakov hat die Sache persönlich angeheizt. Er wollte sich um jeden Preis an Ariff rächen, und zwar schon, bevor der uns überhaupt angegriffen hat. Und da ich seine Sicherheitsbeauftragte bin, hat er seine ganze Wut an mir ausgelassen. Er war überaus enttäuscht von mir. Wenn ich ihm Ariff nicht sofort ans Messer geliefert hätte, ich müsste mir über mein zukünftiges Leben keine Gedanken mehr machen.« Clarke schnaubte. »Jetzt werd mal nicht übertrieben dramatisch, Julia.« Sie starrte Clarke an. »Mein lieber Peter, du kennst Kasakov nicht so, wie ich ihn kenne. Ich arbeite seit vielen Jahren für ihn und habe schon oft
miterlebt, wozu sein Zorn imstande ist. Noch nie habe ich einen Menschen erlebt, der so rachsüchtig und so gewissenlos sein kann wie er. Aber alles, was ich bisher gesehen habe, ist nichts gegen das, was in letzter Zeit aus ihm geworden ist.« Eltsina flüsterte fast. »Ich könnte dir erzählen, zu welcher Brutalität er imstande ist, aber glaub mir … das willst du gar nicht hören.« Clarke unterbrach den Blickkontakt. »Dann behalt’s für dich.« »Es tut mir wirklich fürchterlich leid, dass ich gegen unsere Absprache gehandelt habe, aber ich war in einer unerträglichen Zwickmühle. Ist es Feigheit, am Leben bleiben zu wollen? Wenn das so ist, dann, ja, dann bin ich feige. Aber wäre ich jetzt tot, dann wären auch deine Pläne gescheitert. So können wir unsere Ziele immer noch erreichen.« »Du hast mich in eine sehr schwierige Lage gebracht, Julia. Der Mann, dessen Hilfe wir benötigen, um unser Vorhaben in die Tat umzusetzen, hat nicht dieselben Ziele wie wir. Für ihn war es wichtig, dass dieser Krieg eine gewisse Zeit lang dauert. Du hättest mir sagen müssen, dass du so früh schon gegen Ariff losschlagen willst. Du
hättest mich warnen müssen.« »Das Leben ist ein langer Fluss, und wir müssen uns nach seinem ständig wechselnden Lauf richten.« »Was soll denn der Blödsinn nun wieder? Es passt mir überhaupt nicht, wenn ein sorgfältig ausgearbeiteter Plan so plötzlich verändert wird. Mein Partner ist ein kluger Kopf. Wenn er Verdacht schöpft …« Eltsina beugte sich ein wenig dichter zu ihm und legte ihre Handfläche sanft auf Clarkes Brust. »Du bist doch ein kreativer und intelligenter Mann, Peter. Vielleicht der klügste, den ich je kennengelernt habe. Du wirst ganz bestimmt eine Möglichkeit finden, um deinen Partner zu besänftigen.« »Wen hast du engagiert, um Ariff zu entführen?« Jeder Anflug von Ärger war aus Clarkes Stimme gewichen. »Ein amerikanisches Team. Sehr kostspielig, aber sie sind mir von vielen Seiten empfohlen worden und können auf eine beeindruckende Bilanz verweisen. Was ich alles unbesehen glauben kann, da die Entführung Ariffs und seiner Familie völlig reibungslos geklappt hat.« »Gut«, meinte Clarke. »Kasakov macht ja
demnächst Urlaub in seiner Datscha am Schwarzen Meer. Dort wird mein Partner ihm seinen Killer auf den Hals hetzen. Du musst dich also darauf einstellen, schnellstmöglich die Zügel in die Hand zu nehmen.« Eltsina nickte. »Wie gesagt, das Netzwerk ist sehr schwer getroffen worden. Die Stimmung bei unseren Leuten war noch nie so schlecht wie heute. Sie alle haben durch diesen Krieg Geld verloren und werden durch die Nachwirkungen noch weitere Verluste erleiden. Sie wissen, dass Kasakov aus persönlichen Gründen ihr Leben aufs Spiel setzt. Sie lehnen ihn ab, und ich habe genügend Gift gestreut, um sicherzustellen, dass diese Ablehnung auch Burliuk gilt. Die anderen sind bereit für eine neue Führung und werden jeden akzeptieren, der den Schaden beheben kann, selbst wenn es eine Frau ist. Wenn Kasakov tot ist, dann habe ich genügend Unterstützung, um Burliuks Aufstieg zu verhindern.« »Und dann würde ich der neuen Führung dringend raten, nicht zu vergessen, wem sie diese Machtposition zu verdanken hat.« »Das werde ich nicht vergessen, Peter. Du
solltest wirklich ein bisschen mehr Vertrauen zu deinen Freunden entwickeln. Ich werde deine kleine Waffenschieber-Marionette und nur die Kunden beliefern, die du abgesegnet hast. Und jetzt, wo Ariff aus dem Weg geräumt ist, kann ich seine Geschäfte gleich mit übernehmen. Dann kontrolliere ich alleine den gesamten Welthandel mit leichten und schweren Waffen. Die Feinde Amerikas werden feststellen müssen, dass der Nachschub versiegt. Immer noch sind wir beide die Sieger, Peter. Und gemeinsam stehen wir kurz davor, ein neues Kapitel Weltgeschichte zu schreiben.« Clarke verließ den Buchladen und wartete draußen auf Eltsina. Die Russin hielt einen Schokoriegel in der Hand und biss herzhaft hinein. Er sagte: »Was muss ich über Kasakovs Urlaubspläne wissen?« »Kasakov und seine Frau nehmen fünf seiner besten Wachmänner mit. Bisher waren es immer nur zwei, aber er rechnet mit Revanche-Attacken von Ariffs Leuten und trifft entsprechende Vorsorge. Die Datscha steht bis zu seiner Ankunft leer, nur eine Frau aus dem Dorf macht vorher sauber. Ich schicke dir die genauen Reisedaten, sobald ich sie habe.«
»Sehr gut«, meinte Clarke. »Außerdem brauche ich noch ein bisschen mehr Kapital.« »Selbstverständlich. Ich überweise dir etwas, sobald ich wieder in Moskau bin.« Eltsina blickte auf ihre Armbanduhr. »War das dann alles, Peter? Ich muss los.« Clarke blickte sich erst noch einmal nach allen Seiten um. »Ich bräuchte noch etwas anderes.« Eltsinas sorgfältig gezupfte Augenbrauen hoben sich. »Was kommt denn jetzt? Etwa eine dieser Veränderungen an einem sorgfältig ausgearbeiteten Plan, die du nicht leiden kannst?« »Touché.« Clarke nahm einen schmalen Aktenordner aus seiner Tasche. Er gab ihn Eltsina, die sich den Rest ihres Schokoriegels in den Mund steckte, bevor sie die Akte aufschlug. Dann sah sie den Inhalt durch. »Und wer könnte das sein?« »Ein Problem. Das ist der Auftragskiller, den mein Partner bisher immer benützt hat. Er hat sich als sehr nützlich erwiesen, für uns alle. Allerdings hat diese Nützlichkeit sich erschöpft. Solange dieser Mann noch am Leben ist, stellt er eine extreme Gefährdung für alles dar, wofür wir gearbeitet
haben.« »Und ich soll dieses Problem beseitigen?« Clarke nickte. »Und wie genau soll ich das anstellen?« »Vielleicht mithilfe deiner neu gewonnenen amerikanischen Freunde?«, erwiderte Clarke. »Sie haben sich ja als ausgesprochen fähig erwiesen.« »Warum machst du das nicht selber? Wir sind alte Freunde, Peter. Aber gerade habe ich den Eindruck, als würdest du mich mit deinem eigenen Müll belasten, anstatt ihn, wie es sich gehört, selber vor die Tür zu bringen.« »Es darf auf keinen Fall eine Verbindung zu mir geben«, sagte Clarke. »Und ich habe sonst niemanden, den ich darum bitten könnte. Vergiss nicht: Er ist nicht nur für mich eine Bedrohung, sondern auch für dich.« Clarke legte ihr eine Hand auf den Arm. »Und denk immer daran, wie verständnisvoll ich auf deine eigenmächtige Änderung unserer Pläne hinsichtlich Ariffs Ableben reagiert habe. Wenn du jetzt dieses Problem für mich beseitigst, dann sind wir quitt.« Eltsina runzelte die Stirn, nickte aber. »Du bist ein harter Verhandlungspartner, Peter. Aber ich bin
einverstanden. Wie soll es geschehen?« »Machen wir es nicht unnötig kompliziert, oder? Sobald Kasakov tot ist, sollen deine amerikanischen Freunde seinen Mörder töten.«
Kapitel 47 Winnfield, Louisiana, USA
Der Amerikaner war vierzig Jahre alt – durchschnittlich groß, durchschnittlich schwer, braune Haare, braune Augen, sonnengebräunte Haut. Er trug Turnschuhe, Jeans und ein weißes TShirt. Sein millimeterkurzes Haar steckte unter einer Baseballkappe, die Augen lagen hinter einer Sonnenbrille. Er hatte sich heute Morgen rasiert und hätte schon jetzt wieder eine Rasur vertragen können. Seine Armbanduhr war eine Casio GShock. Seine behaarten Arme waren hart, drahtig und muskulös. Auf der Außenseite seines linken Bizeps, halb unter dem Ärmel seines T-Shirts, war eine verblasste Tätowierung zu erkennen. Ein Dolchgriff zwischen zwei gekreuzten Pfeilen, darunter ein Banner mit dem Schriftzug De Oppresso liber. Er stand im Garten seiner Ranch in Winnfield, freute sich an einem Johnny-Cash-Song im Radio und am Duft des ein Pfund schweren Steaks, das auf einem Holzkohlegrill brutzelte. Die Sonne brannte, und sein T-Shirt war feucht unter den
Achseln. Er ging in die Küche, rührte aus Brausepulver und Wasser einen Krug mit Limonade an und kippte etwas davon in ein bereitstehendes Glas mit Jim Beam und Eiswürfeln. Wieder zurück im Garten nippte er an seinem Gebräu und drehte das Steak um. Säfte zischten. Das Handy in seiner Gesäßtasche piepste. Eine neue E-Mail. Er las sie einmal, zweimal. Am Computer in seinem Arbeitszimmer öffnete er einen Internet-Browser und kontrollierte die Zahlungseingänge auf einem bestimmten Konto bei einer Bank in einer Steueroase. Erfreut registrierte er, dass erst kürzlich eine sehr große Summe eingegangen war. Der Amerikaner lud eine andere Seite und gab ein alphanumerisches Passwort in das entsprechende Fenster ein. Er wartete ein paar Sekunden, dann erschienen detaillierte Angaben zu einer Lieferung auf dem Bildschirm. Er gab einen Zielort ein und stellte zufrieden fest, dass der ganze Posten pünktlich dort eintreffen würde. Auf einer dritten Webseite buchte er die Flüge. Als er wieder bei seinem Steak angelangt war, musste er feststellen, dass es zu lange über dem Feuer gelegen hatte. Er mochte es gerne blutig.
Jetzt war es gut durch, aber er aß es trotzdem auf. Er war kein Verschwender. Danach schob er den Kühlschrank in seiner Garage beiseite und gab den neunstelligen Code in die Tastatur des Tresors ein, der dort im Betonboden versenkt war, holte zwei fertig gepackte Sporttaschen heraus und warf sie auf den Beifahrersitz seines Pick-ups. Er setzte sich hinter das Steuer und griff nach einem Handy, das noch nie zuvor benutzt worden war und nie wieder benutzt werden würde. Er schrieb eine SMS und schickte sie an zwei Nummern.
Kapitel 48 Sotschi, Russland
Feiner Regen fiel vom aschgrauen Himmel. Bis auf das Plätschern der Tropfen war es still im Wald. Victor kniete im Unterholz auf dem weichen Boden eines Felsvorsprungs. Von hier aus konnte er über die Baumkronen hinwegblicken, die sich wie eine Decke über den Berghang unterhalb ausbreiteten. Nebel umhüllte die Bäume. Der Regen war fein, aber kräftig. Unter operativen Gesichtspunkten war ihm dieses Wetter deutlich lieber als strahlender Sonnenschein, trotz des kalten Rinnsals, das ihm den Rücken hinunterrieselte. Lieber nass und unsichtbar als trocken und sichtbar. Das Fernglas verschaffte ihm einen deutlichen, wenn auch etwas eingeschränkten Blick auf Kasakovs Ferienhaus etwa sechshundertfünfzig Meter weiter westlich, am Fuß des Hügels. Die Datscha lag knapp dreihundert Meter vom Ostufer des Schwarzen Meers entfernt. Wälder umgaben das ummauerte, rund neun Hektar große Grundstück, auf dem sich, nach den Plänen, die Victor bekommen hatte, nicht nur die prachtvolle
Datscha selbst, sondern auch ein Gästehaus und ein Swimmingpool befanden. Von seinem Aussichtspunkt aus konnte Victor jedoch nur die Rückseite des Daches und einen Teil des ersten Stockwerks sehen, da der überwiegende Teil der Datscha sowie der Swimmingpool und das Gästehaus, das direkt daneben stand, von Bäumen verdeckt wurden. Sie sicherten den Bewohnern der Datscha nicht nur ein ungestörtes Privatleben, sondern waren gleichzeitig eine sehr wirksame Schutzmaßnahme. Ein schmaler Pfad schlängelte sich vom Haus weg in nordwestlicher Richtung durch den Wald und stieß schließlich auf die Hauptstraße, die parallel zur Küste am Meer entlangführte. Die Datscha lag einsam, die nächsten Nachbarn waren alle mindestens einen knappen Kilometer entfernt. Auch das war gut für ein ungestörtes Privatleben, gab jedoch Abzüge in puncto Sicherheit. Nicht umsonst wurde die Schwarzmeerküste mit ihrem subtropischen, feuchtwarmen Klima die russische Riviera genannt. Aber heute nicht, dachte Victor, während kalter Regen von seiner Nase tropfte. Die nächstgelegene Stadt war das fünf Kilometer südöstlich gelegene Sotschi, das vor
allem durch Stalins hiesige Datscha Berühmtheit erlangt hatte. Victor war mit einem Frachtschiff von Istanbul hergekommen. Die Reise war ohne Zwischenfälle verlaufen, und Victor hatte endlose Stunden mit dem Studium sämtlicher Informationen über Kasakov, seine Datscha und die Stadt Sotschi verbracht. Als das Schiff den Hafen erreicht hatte, wusste er alles, was es über den Schauplatz seines Attentats, das Terrain, das Wetter, die einheimische Bevölkerung, Verkehrsverbindungen, Polizeitruppenstärken und seine ukrainische Zielperson zu wissen gab. Seit seiner Ankunft regnete es ununterbrochen. Er hatte sich in einem einfachen Hotel nahe beim Hafen ein Zimmer genommen. Es war klein, bot aber einen schönen Blick aufs Meer. Der Internationale Flughafen lag zwanzig Kilometer weiter südlich, ebenfalls an der Küste. Wie bei dem Bukarest-Auftrag hatte auch hier eine unauffällige Limousine auf dem Langzeitparkplatz des Flughafens auf ihn gewartet. Dieses Mal hatte er das Fahrzeug benutzt. Victors Auftraggeber hatte alles besorgt, was er verlangt hatte, und das Dossier war ausführlicher
ausgefallen als alle anderen, aber irgendetwas fühlte sich seltsam an. Falls sein Gegenüber am anderen Ende der Welt ihre Geschäftsbeziehung endgültig beenden wollte, dann war jetzt die ideale Gelegenheit dafür. Und nicht nur das. Das ungute Gefühl, das ihn befallen hatte, als er die Identität seiner Zielperson erfahren hatte, war nach wie vor präsent, auch wenn er sich nach Kräften bemühte, es zu verdrängen. Er musste sich voll und ganz auf seinen Auftrag konzentrieren, einen Auftrag, der außergewöhnliche Herausforderungen und Gefahren barg, auch ohne die latente Bedrohung durch seinen Auftraggeber und die Mossad-Agenten, die gerade versuchten, ihm auf die Spur zu kommen. Er konnte es sich schlicht und einfach nicht leisten, von Gefühlen abgelenkt zu werden, die er eigentlich sowieso nicht haben durfte. Behutsam stellte Victor seine Wasserflasche aus Metall am höchsten Punkt des Felsvorsprungs auf den Boden, gut erkennbar, sodass sie nicht von irgendwelchen Pflanzen verdeckt wurde. Dann ging er den Hügel hinab. Er bewegte sich langsam, vorsichtig, blickte permanent von links nach rechts und wieder zurück. Alle hundert Meter blieb er
stehen und lauschte, bevor er sich wieder in Bewegung setzte. Er trug eine grüne Gore-texJacke, eine Goretex-Hose und Wanderstiefel. Es war düster im Wald. Dichter, schwerer Nebel hing in der Luft. Weiter als zwanzig Meter konnte man durch die Bäume und das dichte Unterholz hindurch nicht sehen. Er näherte sich dem Grundstück von Osten. Regentropfen klatschten auf Blätter. Er sog die kühle Luft ein. Sie roch nach feuchter Erde und verfaulenden Pflanzen. Zwischen den Bäumen tauchte jetzt eine Steinmauer auf. Sie war drei Meter hoch und lief einigermaßen quadratisch rund um das gesamte Grundstück. Die Seitenlänge betrug etwa dreihundert Meter. Victor nahm ein paar Schritte Anlauf und rannte auf die Mauer zu. Etwa einen Meter zwanzig davor sprang er ab, traf mit dem rechten Ballen auf die Mauer und nutzte den Schwung, um sich möglichst senkrecht nach oben zu katapultieren. Einen Sekundenbruchteil später stieß er sich mit dem linken Ballen noch ein Stückchen weiter nach oben und bekam den oberen Mauerrand zu fassen. Er zog sich hinauf. Geduckt stieg er über die Spitzen,
drehte sich um und ließ sich auf der anderen Seite langsam wieder hinunter. Dann landete er auf dem Boden. Die Datscha lag genau in der Mitte des Grundstücks, etwas mehr als hundertfünfzig Meter entfernt. Der Wald war auch auf dieser Seite der Mauer vollkommen naturbelassen. Es hatte aufgehört zu regnen, und Stille war eingekehrt. Victor hörte nichts weiter als das Rascheln der Blätter in der sanften Brise. Er schob sich durch das Unterholz vorwärts, ließ sich Zeit, um möglichst wenig Geräusche zu verursachen, blieb regelmäßig stehen, lauschte ununterbrochen. Der matschige Untergrund schmatzte unter seinen Füßen. Blätter glitzerten. Da er sich auf einem Erkundungsgang befand, hatte er lediglich eine MK23 in die rechte Außentasche seiner Jacke gesteckt. Der Schalldämpfer lag in der linken. Er rechnete nicht damit, dass er sie benutzen musste, da Kasakov erst übermorgen erwartet wurde, aber man konnte nicht ausschließen, dass ein paar seiner Leute schon hier waren. Trotzdem würde Victor die Waffe nur einsetzen, wenn sein Leben unmittelbar bedroht war. Leichen am Ort eines geplanten Attentats
hatten nicht selten eine abschreckende Wirkung auf die Zielperson. Nach gut hundert Metern ließ Victor den Wald hinter sich und betrat den kultivierten Teil des Geländes. Ungefähr sechshundert Quadratmeter Rasen lagen zwischen ihm und dem Hinterausgang der Datscha. Das Gras war sehr grün und erst kürzlich gemäht worden. Am westlichen Rand der Rasenfläche stand ein kleiner Holzschuppen, am östlichen das Gästehaus, dazwischen ein paar vereinzelte Bäume. Ihre Blätter behinderten von Victors Aussichtspunkt aus die Sicht auf das Haupthaus. Am hinteren Ende der Rasenfläche lag der Swimmingpool und dahinter die Datscha selbst, die zwar groß, aber nicht riesig war – laut Grundriss sechs Schlafzimmer und etwa dreihundertfünfzig Quadratmeter Wohnfläche im Erdgeschoss. Die Garage bot Platz für vier Limousinen. Im Haus brannten ein paar wenige Lichter. Victor kauerte sich an den Waldrand und nahm das Fernglas zu Hilfe. Nach einer Weile sah er eine Frau hinter einem Fenster im ersten Stock entlanggehen. Im Dossier stand, dass die Datscha vor Kasakovs
Ankunft geputzt und vorbereitet werden sollte. Er blieb noch eine halbe Stunde lang auf seinem Beobachtungsposten, konnte aber sonst niemanden mehr entdecken. Schließlich überprüfte er mithilfe des Fernglases, ob die Überwachungskameras sich an den Stellen befanden, an denen sie laut Plan sein sollten. Sie hingen genau dort, wo er vermutet hatte, an zwei verschiedenen Stellen unter dem Dachüberhang, sodass sie mit ihren überlappenden Sichtfeldern den hinteren Teil der Datscha, die Terrasse, den Swimmingpool und einen Teil des Rasens abdeckten. Es waren kleine, hochmoderne Geräte, die garantiert glasklare Bilder lieferten. Jetzt fing es wieder an zu regnen. Victor schob sich weiter durch das Unterholz, in Richtung Westen, auf den Schuppen zu. Darin lag aller Wahrscheinlichkeit nach das Gärtnerwerkzeug und sonst nicht viel, aber es gab keinen Grund, das nachzuprüfen. Die Tür zeigte zum Rasen hin und war von der Datscha aus nicht zu sehen. Er schlug einen Bogen ostwärts durch den Wald und gelangte zum Gästehaus auf der anderen Seite der Rasenfläche. Die zweigeschossige, frei stehende Hütte lag dicht
am Swimmingpool und hätte in einer hübschen Vorstadtgegend einer dreiköpfigen Familie bequem Platz geboten. Auch hier waren keine Kameras zu entdecken. Victor näherte sich der Hütte von hinten her, verließ die schützende Deckung des Waldes an der Stelle, von wo er am wenigsten offenes Gelände zu überqueren hatte. Mit schnellen Schritten legte er die sieben Meter bis zur Hauswand zurück. Er lehnte sich dagegen. Lauschte. Hier gab es zwar keine Kameras, aber das Gästehaus verfügte über eine eigene Alarmanlage. Er schaute durch ein paar Fenster. Nichts Besonderes. Dann umkreiste er die Datscha, immer im Schutz der umgebenden Bäume. Zwischen Grundstücksmauer und Hauswand lagen ungefähr hundertvierzig Meter. Der Baumbestand reichte bis etwa zehn Meter vor die Datscha, dann folgten rund zehn Meter offene Fläche bis zu den Blumenbeeten, die sich an der Hauswand entlangzogen. Auf der gegenüberliegenden Seite war es das Gleiche. Vor dem Haupteingang des Hauses befand sich noch eine große Auffahrt, dahinter Rasen und dahinter
wieder Wald. In der Auffahrt stand ein Kleinwagen, vermutlich das Auto der Putzfrau. Jetzt öffnete sich die Haustür, und die Frau, die er hinter dem Fenster gesehen hatte, kam heraus. Sie war jung, knapp über zwanzig, zierlich und trug einen dicken, gefütterten Mantel. Die Schultern hatte sie hochgezogen. Da ihr Mantel keine Kapuze hatte, hielt sie sich zum Schutz vor dem Regen eine zusammengefaltete Zeitung über den Kopf. Hastig ging sie zu ihrem Auto. Die Eingangstür der Datscha ließ sie offen stehen. Victor sah, wie sie eine Zigarette rauchte und etwas trank, vermutlich Kaffee aus einer mitgebrachten Thermoskanne. Sie würdigte die Datscha keines Blickes, und Victor hätte ohne Probleme unbemerkt ins Innere schlüpfen können. Allerdings hätte er zuerst seine schlammigen Stiefel ausziehen müssen, und dafür war keine Zeit. Es gab aber ohnehin keinen Grund, die Datscha zu inspizieren, da Victor nicht die Absicht hatte, seinen Auftrag aus nächster Nähe zu erledigen. Er wusste noch aus Bukarest, wie aufmerksam Kasakovs Wachen waren. Die Haushälterin rauchte die Zigarette bis auf den
Filter herunter, dann kippte sie den Rest des Kaffees auf die Einfahrt und hastete wieder zurück in die Datscha. Victor harrte noch eine ganze Stunde lang in seiner Position aus, so lange, bis sie Feierabend machte. Er sah ihr nach, dann machte er sich wieder auf den Weg zur Rückseite der Datscha. Jetzt war er alleine und konnte seine Vorbereitungen treffen. Er achtete darauf, nicht ins Sichtfeld der Kameras zu geraten, betrat den Rasen und näherte sich der Datscha, so weit es möglich war. Er drehte sich um und schaute zu den Hügeln hinauf. Die Zweige und Blätter der vereinzelten Bäume auf der Rasenfläche verdeckten ihm die Sicht. Wieder wandte er den Blick zur Datscha zurück, auf den hinteren Ausgang. Dann erneut zurück zum Hügel, um den Winkel abzuschätzen. Ein kleiner Sprung und ein Klimmzug, mehr war nicht nötig, um auf den Baum zu kommen. Victor zog sein Messer aus der Tasche und klappte es auf. Er benützte den gezackten Teil der Klinge und sägte einen dünnen Zweig ab. Er fiel zu Boden. Diesen Vorgang wiederholte er noch etliche Male.
Anschließend kletterte er auf einen zweiten und dann auf einen dritten Baum, und jedes Mal sägte er ein paar Zweige ab. Als er fertig war, lag vielleicht ein Dutzend dünner Äste auf dem Rasen verstreut. Victor sammelte sie ein und verteilte sie an verschiedenen Stellen im Wald. Dann kehrte er zum ersten Baum zurück und kletterte noch einmal hinauf, ging in die Hocke, um den richtigen Winkel zu bekommen, und blickte nach links, wo sich die Hintertür der Datscha befand. Er holte sein Fernglas hervor, schaute nach rechts oben, durch die Blättertunnel, die er geschaffen hatte, bis er seine metallene Wasserflasche auf dem Felsvorsprung entdeckt hatte. Er schnitt noch ein paar Zweige ab, um das Sichtfeld ein wenig zu vergrößern, dann kletterte er vom Baum. Vom Boden aus sahen die Bäume kein bisschen anders aus als vor seiner kleinen Manipulation. Nach Abschluss seiner Aufklärungsmaßnahmen zog Victor sich in den Wald im rückwärtigen Teil des Grundstücks zurück. Er folgte dem Pfad, auf dem er gekommen war, bis zur Mauer. Seine Spur war klar und deutlich erkennbar, aber wenn Kasakov und seine Leibwächter eintrafen, würde nichts mehr zu
sehen sein. Und bis dahin würde niemand etwas bemerken. In diesem Punkt allerdings täuschte er sich.
Kapitel 49 Izolda Kasakov schreckte aus einem Alptraum hoch. Ihr Herz pochte wie wild, und ihre Kehle war wie ausgedörrt. Sie fasste auf die andere Seite des Bettes, um ihren Mann und die tröstliche Sicherheit seiner Gegenwart zu spüren, doch das Bett war leer. Sie knipste das Licht an und blinzelte. Legte die Hand an die Stirn. Sie war schweißnass. »Vladimir?« Keine Reaktion, kein Geräusch aus dem angrenzenden Badezimmer. Sie sah auf die Uhr. Vor zwei Stunden waren sie zu Bett gegangen, und sie war schnell eingeschlafen. Die Kühle des Kissens neben ihr sagte ihr, dass Vladimir schon vor einer ganzen Weile aufgestanden sein musste. Das sah ihrem Ehemann gar nicht ähnlich. Er war ein Bär von einem Mann, der eigentlich immer gut und laut schlief. In den ersten fünf Jahren ihrer Ehe hatte Izolda Ohrstöpsel benutzt, um sein Schnarchen zu dämpfen. Aber jetzt hatte sie sich so an die lauten, regelmäßigen Geräusche gewöhnt, dass sie sogar manchmal nicht schlafen konnte, weil er nicht da war.
Allerdings, nach seinem Verhalten in letzter Zeit zu urteilen, war es kein Wunder, dass er unruhig war. Irgendetwas war im Busch. Irgendetwas, worüber er nicht mit ihr sprechen wollte. Schon seit ungefähr einem Monat war er nicht mehr der gute alte, herzliche Vladimir gewesen. Ständig war er launisch, geistesabwesend und gereizt. Sie hatte ihn immer wieder gefragt, was denn los sei, aber er hatte ihr jedes Mal versichert, dass alles in Ordnung war. Sie bohrte nicht weiter nach, genau wie Vladimir sich nicht in Izoldas Privatleben einmischte. Alle beide trugen sie das eine oder andere dunkle Geheimnis mit sich herum, von dem ihr Ehepartner nichts erfahren sollte. Schließlich schlug ihr Herz wieder im normalen Takt. An den Alptraum selbst konnte sie sich gar nicht mehr erinnern, nur noch an die Angst, die er bei ihr ausgelöst hatte. Vielleicht belastete der Stress zwischen Vladimir und ihr sie doch stärker, als sie gedacht hatte. Oder es war die neue Schuld, die sie auf sich geladen hatte. So oder so, in absehbarer Zeit würde sie jedenfalls nicht wieder einschlafen können. Izolda schlüpfte in ihren Morgenmantel und trat
hinaus auf den Flur. Am Mittwochmorgen waren sie in der Datscha eingetroffen. Izolda liebte Sotschi, zum Glück, da es eines der wenigen Urlaubsziele war, die Vladimir ohne Risiko besuchen konnte. Die Datscha war ein edles, großzügiges Haus, aber nichts im Vergleich zu dem Anwesen, das sie vor den Toren von Moskau bewohnten. Das war wirklich riesig, weit jenseits aller Bedürfnisse und jedes Luxus. Es besaß einen kompletten Flügel nur für das Zimmermädchen, den Koch, den Butler, den Fahrer, den Gärtner und die Leibwächter. Den Rest bewohnte sie gemeinsam mit Vladimir. Sie wusste nicht einmal, wie viele Zimmer das Haus hatte, und manche betrat sie oft wochenlang kein einziges Mal. In die Räume, die Vladimir und sie einst als Kinderzimmer vorgesehen hatten, hatte sie seit Jahren keinen Fuß mehr gesetzt. Izolda drückte jeden Lichtschalter, an dem sie vorbeikam. Sie mochte zwar eine erwachsene Frau sein, aber durch den Alptraum war sie immer noch ein wenig angeschlagen. Und eine einsam gelegene Datscha war auch nicht gerade das beste Mittel, um ihre Fantasie im Zaum zu halten. Die Slipper dämpften ihre Schritte auf den roten Eichendielen.
Ein sanfter Lichtschimmer aus dem Arbeitszimmer verriet ihr, wo sie Vladimir finden würde. Als sie eintrat, hob er den Kopf. Er saß im Seidenpyjama hinter seinem Schreibtisch, die Augen zur Tür gewandt. Manche Männer wurden ja mit zunehmendem Alter immer attraktiver, und auch wenn Vladimir vielleicht nicht zu diesen gehörte, verlieh ihm das ergrauende Haar eine gewisse Würde, während die Falten seinen ansonsten langweiligen Zügen einen gewissen Charakter hinzufügten. Aber er war immer noch genauso stark und mächtig wie immer. Einzige Lichtquelle war der Computerbildschirm. Vladimir klickte mit der Maus und nahm die Ohrstöpsel heraus. »Izzy«, sagte er. »Ich dachte, du schläfst tief und fest.« Sie lehnte sich gegen den Türrahmen. »Ich hatte einen Alptraum.« »Mein armes Baby.« Er sah so besorgt aus. »Was denn für einen Alptraum?« »Ich weiß nicht mehr.« »Ist es so nicht am besten?« Sie zuckte mit den Schultern. »Was hält dich denn
um diese Zeit noch wach?« Der Ausdruck auf Vladimirs Gesicht war glücklich und traurig zugleich. »Die Arbeit, mein Liebling. Nur die Arbeit.« »Kann die denn nicht bis morgen warten? Wir haben doch Urlaub, oder etwa nicht?« »Es ist nichts Dringendes«, erwiderte er. »Aber ich konnte nicht einschlafen, und da dachte ich: Warum soll ich das nicht ausnützen, und bin aufgestanden. Hoffentlich habe ich dich dabei nicht geweckt.« Izolda schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Ich bin ja nur wegen dieses Alptraums aufgewacht. Wie lange bist du denn schon auf?« »Noch nicht lange.« »Oh, ich dachte …« Vladimir lächelte. »Du hast so süß ausgesehen. Und du hast geschnarcht.«
»Hab ich nicht.« »Hast du doch.« »Ich schnarche nicht.« Sie lächelte scheu. »Ich bin eine Dame.« »Eine wunderschöne Dame.«
Ihr Lächeln wurde unwillkürlich ein wenig strahlender. »Ich kann ohne dich nicht schlafen. Komm doch bitte wieder zurück ins Bett.« »Gib mir fünf Minuten, damit ich das hier zu Ende bringen kann, dann komme ich. Wie hört sich das an, mein Liebling?« Kasakov blickte Izolda nach. Er log seine Frau nur äußerst ungern an, aber manchmal ließ sich das eben nicht vermeiden. Das, was er machte, hatte nichts mit Arbeit zu tun. Burliuk und Eltsina führten in seiner Abwesenheit die Geschäfte, und er hatte Anweisung hinterlassen, dass er unter keinen Umständen gestört werden wollte. Burliuk war dagegen gewesen, dass Kasakov ausgerechnet jetzt Urlaub machen wollte, wo die Organisation durch die zahlreichen Attacken der vergangenen Wochen in einer tiefen Krise steckte, aber Kasakov war trotzdem gefahren. Er hatte nicht die Geduld, sich mit verängstigten Mitarbeitern und wütenden Kunden zu beschäftigen, und von beiden Sorten gab es zurzeit eine ganze Menge. Vor allem die Nordkoreaner schäumten vor Wut, zunächst, weil ihre Lieferung sich verzögert hatte, und es war nicht
besser geworden, als sie erfahren hatten, dass sie statt der versprochenen zwanzig Kampfflugzeuge nur achtzehn erhalten würden. Es würde sehr viel Mühe und Arbeit kosten, diesen Makel auf Kasakovs Reputation wieder zu tilgen. Aber dass er nicht schlafen konnte, das war nicht gelogen. Zwar war es nicht die Arbeit, die ihn wach hielt, und jetzt, wo Illarion gerächt war, hatte er endlich auch seinen Frieden mit dem Tod seines Neffen gemacht. Aber Kasakovs Gedanken kreisten ständig um seine Frau. Darum konnte er nicht schlafen. Ihre Zurückhaltung auf seine Annäherungsversuche war ihm nicht entgangen, genauso wenig wie die häufigen Einkaufstouren und Salonbesuche und Mittagessen mit Freundinnen. Ihre Schritte waren so leise, dass Kasakov sie nicht hören konnte, daher wartete er ein paar Minuten, bis er sicher sein konnte, dass sie nicht plötzlich wieder auftauchte. Dann steckte er die Ohrstöpsel wieder ein, machte es sich auf seinem Stuhl bequem und ließ das Video mit einem Mausklick weiterlaufen. Die Aufnahme war mit einer sehr guten Kamera gemacht worden, genau wie von Kasakov verlangt, und Bild- und Klangqualität waren
hervorragend, auch wenn die Kameraarbeit an der einen oder anderen Stelle etwas zu wünschen übrig ließ. Wenn er vorher daran gedacht hätte, dann hätte er einen professionellen Kameramann engagiert. Allerdings, angesichts des Inhalts des Videos hätte sich so jemand wohl kaum finden lassen. Eine Stunde Film hatte Kasakov bereits gesehen, und zwei lagen noch vor ihm. Er würde gleich noch einmal nach Izolda sehen, um sicherzugehen, dass sie wirklich schlief. Wenn nicht, dann wollte er sich zu ihr ins Bett legen und warten, bis sie wieder zu schnarchen begann, um anschließend zu seinem Video zurückzukehren. Kasakov sah es bereits zum zweiten Mal, und es war wie bei jedem guten Film: Bei der Wiederholung war es noch besser. Er blinzelte ein paar Tränen weg und schloss die Augen, um sich Illarions Gesicht vorzustellen, während in seinen Ohrhörern Ariff und seine Familie ganz exquisite Schreie von sich gaben.
Kapitel 50 Es hatte die ganze Woche geregnet. Victor lag seit Mittwochabend im Unterholz und hatte auf Kasakov gewartet. Von seinem hinter der Datscha gelegenen Beobachtungsposten aus hatte er zwar nicht mitbekommen, wie der Waffenschieber eingetroffen war, aber gesehen, wie seine Wachen über das Grundstück patrouillierten. Kurze Zeit später war der Ukrainer hinter einem Fenster im ersten Stock aufgetaucht, allerdings nicht lange genug, dass Victor das Fernglas ablegen und ihn mit einem präzisen Schuss hätte erledigen können. Victor hatte nicht ernsthaft mit einer solchen Möglichkeit gerechnet, aber genau aus diesem Grund hatte er die Bäume auf der Rückseite der Datscha beschnitten. Kasakov wurde von einer außergewöhnlich schönen Russin begleitet, seiner Ehefrau Izolda, wie Victor aus dem Dossier wusste. Sie war groß und schlank, und aus ihrer Haltung sprach die beherrschte Selbstsicherheit eines LaufstegModels. Ansonsten waren keine weiteren Gäste gekommen. Victor zählte alles in allem fünf
Leibwächter, genauso viele, wie man ihm angekündigt hatte. Sie schliefen im Gästehaus, immer in Schichten, sodass mindestens drei von ihnen jederzeit wach und einsatzbereit waren. Wie die Männer in Minsk waren auch sie nicht besonders muskulös, aber das waren Elitesoldaten und Spezialagenten eigentlich nie. Ihr Gang und ihre Körperhaltung machten jedenfalls deutlich, dass sie sehr ernst zu nehmende Gegner waren, und im Dossier stand, dass Kasakov eine Vorliebe für ehemalige Angehörige der Spetsnaz hatte, einer Spezialeinheit des einstigen sowjetischen Geheimdienstes. Victors, verspürte nicht das geringste Bedürfnis, das, was er bei seiner letzten Begegnung mit den Spetsnaz erlebt hatte, zu wiederholen. Er lag in einer Kuhle zwischen zwei Bäumen auf dem Felsvorsprung, den er schon zuvor genutzt hatte. Sein Fernglas war ununterbrochen auf die Rückseite der Datscha gerichtet. Die abgeschnittenen Zweige hatten im dichten Laubwerk der Bäume einen schmalen Korridor hinterlassen. Die Sicht war zwar nicht ideal, aber immerhin konnte er den Hintereingang sowie ein schmales Stück des
davor befindlichen Eingangsbereichs erkennen. Ein sehr eingeschränktes Blickfeld, aber ausreichend, um Kasakov eine Kugel in den Kopf zu jagen, sollte er irgendwann zur Tür herauskommen. Victor hatte die Stelle, an der er lag, sorgfältig von Steinen und Zweigen befreit und den Erdboden eingeebnet. Er wusste, dass er unter Umständen etliche Tage hier verbringen musste. Jede kleine Unebenheit, die am ersten Tag nur ein kleines Ärgernis war, würde am fünften zur Qual werden. Jede Beeinträchtigung konnte einen Fehlschuss verursachen, aber er wollte nur ein einziges Mal abdrücken und anschließend sofort verschwinden. Über seinem Kopf zwitscherten die Vögel. Sie hatten sich mittlerweile an ihn gewöhnt und stießen nicht einmal mehr Warnrufe aus, wenn er gezwungen war, sich zu bewegen. Zwischen den beiden Bäumen hatte er eine wasserdichte Plane gespannt, die einen improvisierten Unterschlupf bildete. Er passte zwar nicht in ganzer Länge darunter, aber sie hielt zumindest einen Teil des Regens ab und sorgte dafür, dass seine Waffen und seine Ausrüstung trocken blieben. Das Gewehr, das die CIA ihm besorgt hatte und
mit dem er Kasakov erschießen wollte, war eine Dakota T-76 Longbow mit .338-Lapua-MagnumPatronen. Victor wollte Kasakov aus möglichst großer Entfernung töten, und abgesehen von den wuchtigen Kaliber-50-Patronen war die .338Munition in Bezug auf Reichweite und Durchschlagskraft die beste Wahl. Die LapuaMagnum-Patronen konnten auf tausend Meter noch fünf übereinandergeschichtete militärische Schutzwesten durchdringen und hatten danach immer noch genügend Energie, um einen Menschen auf der Stelle zu töten. Victor hatte sehr schmerzhaft am eigenen Leib erfahren, wozu diese Patronen bei einer Begegnung mit angeblich kugelsicherem Glas in der Lage waren. Die Longbow brachte es aber nicht nur auf eine Mündungsenergie von 7,12 Kilojoule, sie war außerdem auch noch außergewöhnlich präzise. Der Hersteller garantierte eine maximale Abweichung von 0,5 Bogenminuten auf fünfzehnhundert Meter. Das war ein beeindruckender Wert, aber Victor würde nur aus halb so großer Entfernung schießen. Solange er keine Fehler machte, würde die Longbow auch keine machen.
Er hatte keinen Schalldämpfer aufgeschraubt, um Präzision und Durchschlagskraft nicht negativ zu beeinflussen, und eine .338 machte eine Menge Krach. Die Hintertür der Datscha lag sechshundertfünfzig Meter entfernt, also würde der Knall knapp zwei Sekunden nach dem Schuss dort ankommen. In diesem Zeitraum konnte er noch zwei weitere Schüsse abgeben, falls es nötig war, aber Victor war es lieber, wenn gleich beim ersten Mal alles klappte. Die ursprünglich mattschwarze Lackierung der Longbow hatte er mit grüner und brauner Farbe übersprüht. Er trug die gleichen grünen GoretexSachen wie bei seinem Erkundungsgang über das Grundstück der Datscha, ungewaschen, genau wie er selbst. Er wollte vermeiden, dass die Tiere in seiner Umgebung durch den Seifen- und Shampoogeruch unruhig wurden und ihn womöglich verraten konnten, falls Kasakovs Leibwächter besonders gewissenhaft waren und auch außerhalb des Grundstücks patrouillierten. Dicht bei ihm lag der Rucksack mit der Verpflegung und anderen notwendigen Dingen. In
den Taschen seines Kampfanzugs steckten geladene Magazine, eine Fackel, wasserfeste Streichhölzer, ein Fernglas, ein Kompass, ein GPSEmpfänger und ein Kampfmesser. Eine Flasche und mehrere Plastikbeutel dienten als Toilette. Er konnte ja nicht wissen, wann Kasakov sich in dem sehr begrenzten Zielbereich blicken ließ. Daher durfte er seinen Platz keine Sekunde verlassen, auch nicht, um dem Ruf von Mutter Natur zu folgen. Für den Fall, dass etwas schiefgehen sollte, entweder beim Attentat oder bei seinem Rückzug, hatte Victor noch zwei zusätzliche Waffen dabei. In einem Halfter an seinem rechten Oberschenkel steckte eine Heckler & Koch MK23. Neben dem Rucksack lag eine MP7A1 mit vierzigschüssigem Magazin. Die MK23 war eine sehr schöne Pistole, speziell auf die Bedürfnisse US-amerikanischer Sondereinsatztruppen zugeschnitten. In dem zwölfschüssigen Magazin steckten FünfundvierzigerACP-Patronen. Die Waffe galt als sehr präzise – man konnte damit auf fünfzig Meter Entfernung alle Kugeln in einem Umkreis von fünf Zentimetern ins Ziel bringen. Außerdem besaßen die Fünfundvierziger-ACP-Patronen eine ziemliche
Wucht, obwohl es sich um Unterschallmunition handelte, sodass die Schüsse bei Verwendung eines Schalldämpfers fast nicht zu hören waren. Die MP7, ebenfalls von Heckler & Koch, war irgendwo zwischen Maschinenpistole und Sturmgewehr anzusiedeln und wurde als sogenannte »Personal Defense Weapon«, also als Waffe zur persönlichen Verteidigung, gehandelt … aus Victors Sicht eine irreführende Bezeichnung. Diese Waffe hatte nichts Defensives an sich. Die MP7 war voll und ganz auf Offensive ausgelegt. Mit einem Gewicht von eintausendneunhundert Gramm und einer Länge von 41,5 Zentimetern mit eingeklapptem Schaft war die Waffe selbst auf Entfernungen von über dreihundertfünfzig Meter noch sehr effektiv. Sie war mit 4,6 x 30-MillimeterHochgeschwindigkeitsprojektilen geladen, die statt Blei und Bronze über einen Kern aus gehärtetem Stahl verfügten. Damit war die Wirkung auf Ziele mit Schutzwesten deutlich besser als bei der sonst in Maschinenpistolen üblichen PistolenkaliberMunition. In Bukarest hatten Kasakovs Männer Schutzwesten getragen. Falls Victor also mit ihnen in
einen Kampf verstrickt werden sollte, dann sollten seine Kugeln nicht in deren Westen hängen bleiben. Bei Hochgeschwindigkeitsmunition war ein Schalldämpfer ohnehin sinnlos, und die Verwendung von Unterschallmunition hätte sämtliche Vorteile der MP7 zunichtegemacht. Bis jetzt hatte Kasakov sich noch nicht einmal in der Hintertür sehen lassen. Das war auch nicht weiter verwunderlich, da es seit seiner Ankunft ununterbrochen geregnet hatte. Stunde um Stunde in Lauerstellung zu liegen war ermüdend, doch Victor blieb aufmerksam. Durch das eingeschränkte Sichtfeld musste er ununterbrochen konzentriert sein. Eine Sekunde, nachdem Kasakov gefallen war, würde er sich in nordöstlicher Richtung durch den Wald schlagen und drei Kilometer weit um den Hügel herumwandern, bis zu dem mit Blättern, Zweigen und Erde bedeckten Netz, unter dem er sein Fluchtfahrzeug versteckt hatte. Er ernährte sich von Nüssen, Schokolade und Nahrungsergänzungstabletten. Er wollte möglichst viele Kalorien und Proteine, aber möglichst wenig Nahrung zu sich nehmen, um sich so wenig wie nur möglich mit einer Plastiktüte beschäftigen zu
müssen. Er hatte einen Fünf-Liter-Behälter mit Wasser dabei, der mithilfe eines Trichters vom Regen regelmäßig wieder aufgefüllt wurde. Falls es nicht ausreichend regnete, dann konnte er seinen Urin mit speziellen Wasserreinigungstabletten aufbereiten. In regelmäßigen Abständen dehnte und streckte er die Muskeln und änderte jede Stunde seine liegende Position, damit er nicht zu steif und die Schmerzen nicht übermächtig wurden. Da bei Nacht die Wahrscheinlichkeit, dass Kasakov zur Hintertür herauskam, am geringsten war, gönnte Victor sich in dieser Zeit etwas Schlaf. Dazu legte er den Kopf auf ein kleines, luftgefülltes Kissen. Einen Schlafsack oder ein Zelt hatte er nicht. Solche Dinge waren zwar wunderbar geeignet, um warm und trocken zu bleiben, aber wenn man sich schnell und plötzlich bewegen musste, waren sie eher hinderlich. Er schlief immer nur wenige Stunden am Stück, bevor er durch ein Geräusch oder einen Krampf geweckt wurde. Es gab keine Anzeichen dafür, dass Kasakovs Männer auch in dem Wald jenseits der Mauer
patrouillierten, aber der Wald war groß, und Spetsnaz-Typen wussten, wie man sich unauffällig im Gelände bewegte. Victor ging davon aus, dass er sie erst bemerken würde, wenn sie schon dicht in seiner Nähe waren. Genau für diesen Fall lag die MP7 in Reichweite. Heute Morgen hatte es nicht geregnet, es war trocken und relativ warm. Die Wettervorhersage, die er vor dem Beginn seiner Wartezeit gelesen hatte, hatte einen klaren Himmel und warme Temperaturen versprochen, und nach allem, was er durch das dichte Blätterdach erkennen konnte, war der Himmel tatsächlich blau und wolkenlos. Wenn die Vorhersage zutraf, dann wurde es hoffentlich warm genug, um im Swimmingpool ein paar Bahnen zu ziehen. Auch wenn nur Izolda schwimmen gehen wollte, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihr Mann sie zumindest begleitete. Im Normalfall versuchte Victor, seine Zielpersonen nicht im Beisein geliebter Menschen zu töten, aber in diesem Fall würde es sich unter Umständen nicht vermeiden lassen. Er musste die erste sich bietende Möglichkeit nutzen. Weil es womöglich keine zweite mehr gab.
Er steckte sich ein paar Nüsse in den Mund und wartete. Ein Mann ganz in der Nähe ließ Victor nicht aus den Augen. Er trug einen Kampfanzug, Stiefel und eine Sturmhaube. Darüber hatte er einen speziell angefertigten Poncho mit Kapuze gestreift. An dem Poncho war ein feines Nylonnetz befestigt, das mit groben Flicken aus Sackleinen in unterschiedlichen Grün- und Brauntönen bestückt war. Zwischen den Flicken hingen Zweige und Blätter. Getrocknete Erde sorgte dafür, dass sie nicht abfielen. Auch die Arme und Beine seines Kampfanzugs waren mit Leinenflicken beklebt worden. Eine dicke Schicht Tarnfarbe bedeckte sein Gesicht und seine Hände. Drei Tage zuvor hatte er einen schmalen Pfad aus niedergetretenen Zweigen auf dem Grundstück der Datscha entdeckt und wusste ganz genau, wer der Verursacher gewesen war. Diese Spur hatte ihn bis zu dem Versteck geführt, das er jetzt beobachtete. Die Zielperson wusste zwar nicht, dass sie beobachtet wurde, war jedoch aufmerksam und sehr versiert. Der Amerikaner hielt sich trotz des Tarnanzugs, der ihn in einem Gelände wie diesem
so gut wie unsichtbar machte, immer im Unterholz und wollte auf keinen Fall riskieren, noch dichter heranzugehen. Er war mit einer Heckler & Koch MP5SD-N1 bewaffnet. Sie war ebenfalls mit grüner und brauner Farbe sowie zusätzlich mit Blättern und Zweigen getarnt. In der Modellvariante N1 besaß die MP5 einen abnehmbaren Kolben aus Metall sowie einen integrierten Edelstahl-Schalldämpfer, hergestellt von der Knight Armament Company. Sie war so leise, wie eine Schusswaffe nur sein konnte, und daher die perfekte Waffe für den Nahkampf. Eine weitere Besonderheit war der Schalter für automatische Dreifach-Salven. Mit dieser Einstellung jagten bei einer einzigen Berührung des Abzugs drei NeunMillimeter-Parabellum in das Ziel, und auch wenn die Neun-Millimeter-Kugeln bei Unterschallgeschwindigkeit und durch den Schalldämpfer eine deutlich verringerte Durchschlagskraft besaßen, so machte die Wirkung der hydrostatischen Schockwellen, ausgelöst durch drei unmittelbar nacheinander in den Körper einschlagende Projektile, diesen Nachteil mehr als wett.
»Hier Cowboy Daddy«, ertönte eine raue Stimme in seinem Ohrhörer. »Cowboy Gamma, erbitte Lagebericht. Ende.« Eine andere Stimme erwiderte: »Cowboy Gamma. Befinde mich zehn Meter südöstlich vom Gästehaus. Mr. und Mrs. VIP sind noch nicht in Sicht. Ein Gorilla bewacht den Swimmingpool. Ende.« »Bericht bestätigt, Cowboy Gamma. Melde dich, sobald du Mr. und Mrs. VIP zu sehen kriegst. Wie sieht es bei der Zielperson aus, Cowboy Bravo? Ende.« »Cowboy Bravo. Die Zielperson ist wach und genehmigt sich ein Frühstück. Hat keine Ahnung, dass er es vermutlich nicht mal mehr verdauen kann. Ende.«
Kapitel 51 Kasakov erwachte aus dem Schlaf und atmete hörbar aus, das Gesicht tief in einem großen Gänsedaunenkissen vergraben. Einer von Izoldas schlanken Armen lag quer über seiner Hüfte. Eine Minute lang blieb er regungslos liegen, genoss die intime körperliche Nähe seiner Frau, ihre weiche Haut, ihr warmes Fleisch. Als er sich schließlich auf den Rücken drehte, ließ sie einen schläfrigen Laut hören. Behutsam küsste er sie auf die Stirn, auf die Spitze ihrer süßen Nase und schließlich auf den Mund. Lächelnd erwiderte sie seinen Kuss. So früh am Morgen, wenn er der Einzige war, der sie sehen konnte, fand er sie immer besonders schön. »Wie viel Uhr ist es?«, fragte sie ihn mit geschlossenen Augen. »Kurz vor acht.« »Wow.« Sie hob die Augenbrauen. »Und du liegst immer noch im Bett. Ich fühle mich geehrt.« »Ich habe ja schließlich Urlaub, oder etwa nicht?« »Heißt das, du gehst nicht ans Telefon, falls Julia oder Tomasz anrufen?« »Ich werde mein Möglichstes tun. Wie hört sich
das an?« Sie knurrte leise. Dann küssten sie sich noch einmal. Kasakov setzte sich auf und gähnte. »Was hättest du denn gerne zum Frühstück, mein Liebling?« Sie streichelte seine breite Brust. »Hmm, eine Portion von deinem berühmten Rührei, bitte. Dazu Orangensaft und ein paar Stückchen Melone. Und Kaffee, jede Menge Kaffee.« »Das ist ja ein komplettes Bankett.« Er kratzte sich am Hinterkopf. »Was habe ich wohl als Gegenleistung für ein solches Festmahl zu erwarten?« Izolda grinste ihn spitzbübisch an. »Das Vergnügen, es zuzubereiten und es deiner wunderschönen Frau zu servieren.« »Ah«, erwiderte Kasakov. »Was sonst könnte ein Mann sich wünschen?« »Ganz genau.« Er stieg aus dem Bett und zog die Vorhänge auf. Das Schlafzimmer lag auf der Vorderseite der Datscha, und der Blick auf das Schwarze Meer war schlicht atemberaubend. Kasakov streckte sich, während er den Möwen zusah, die über dem Strand
ihre Kreise zogen. Das hier war aus seiner Sicht das schönste Fleckchen in ganz Russland. Da Auslandsreisen ein Risiko darstellten, auf das er sich nur zu den allerwichtigsten geschäftlichen Anlässen einlassen wollte, fuhr er wenigstens etliche Male im Jahr mit Izolda nach Sotschi. Nirgendwo in Russland war es so heiß wie hier, und das machte seine Sonnenanbeterin glücklich. Sotschi war das beliebteste Urlaubsziel Russlands. Hier gab es nicht nur Sandstrände und wunderbares Wetter, sondern ganz in der Nähe auch den Kaukasus mit seinen hervorragenden Wintersportbedingungen. Millionen Menschen kamen jeden Sommer hierher. Kasakov mied die von Touristen überlaufene Stadt genau wie die Lokale, in denen die russische Elite so schamlos ihren Reichtum zur Schau stellte. Die Einsamkeit seiner Datscha war ihm wesentlich lieber. Sie besaß einen Privatstrand, der auf einem Pfad durch den Wald erreichbar war. Dort konnte er sich erholen und entspannen, ohne von anderen Leuten oder, schlimmer noch, von deren Kindern belästigt zu werden.
»Wie ist das Wetter?«, erkundigte sich Izolda. »Blauer Himmel, die Sonne scheint«, erwiderte Kasakov. »Endlich mal ein schöner Tag.« »Prima«, meinte Izolda. »Vielleicht gehe ich ja nach dem Frühstück ein bisschen schwimmen.« Victor sah hinter einem der Fenster im ersten Stock der Datscha einen Schatten vorbeihuschen. Der schmalen Statur nach zu urteilen, musste das Kasakovs Frau gewesen sein. Dessen kräftigere Silhouette folgte wenige Augenblicke später, aber wieder ging es zu schnell, um einen Schuss zu riskieren. Vor allem, da die Temperaturen kontinuierlich stiegen und der Himmel nach wie vor wolkenlos war. Noch ein paar Grad, dann war es ein perfekter Swimmingpool-Tag. Die Dakota Longbow lag direkt neben Victor. Eine wasserdichte, mit Steinen beschwerte Decke schützte sie vor den Elementen. Wenn die Zeit gekommen war, würde es nur Sekundenbruchteile dauern, die Decke beiseitezuziehen und das Gewehr in Anschlag zu bringen. Das Zielfernrohr war bereits auf die richtige Entfernung eingestellt. Im Augenblick herrschte wenig Wind. Vier, fünf
Stundenkilometer vielleicht, mehr nicht. Bis auf das fröhliche Zwitschern der Vögel über seinem Kopf war kein Geräusch zu hören. Unter anderen Umständen hätte Victor einen CampingAusflug im Wald vermutlich richtig genießen können. Vielleicht kehrte er ja eines Tages genau deshalb nach Sotschi zurück. Aber dann sicher nicht an diese Stelle hier. Er griff nach dem Strohhalm und trank einen Schluck Wasser, während er die Datscha im Blick behielt. Bald war der Auftrag beendet, und Victor war seinem namenlosen Auftraggeber endlich nicht mehr verpflichtet. Noch einmal abdrücken, dann war er wieder ein freier Mann. Der Amerikaner mit der Funkkennung Cowboy Bravo kniete unverändert im Unterholz, ungefähr zwanzig Meter rechts von der Zielperson. Aus seiner Position konnte er lediglich die Beine, die Ellbogen und das halbe Fernglas des Mannes erkennen. Der Rest wurde von Bodenpflanzen, Bäumen oder dem Regenschutz verdeckt. Aber das genügte ihm vollauf.
Erst wenn er den Befehl zum Schuss bekam, musste er mehr sehen. Es knisterte in seinem Ohrhörer. »Hier Cowboy Daddy. Erbitte Lagebericht, Cowboys. Ende.« Eine andere Stimme: »Cowboy Gamma. Ich bin acht Meter südwestlich der Datscha, neben dem Schuppen. Ich sehe Mr. und Mrs. VIP durch das Küchenfenster. Sie kochen Kaffee. Zwei Gorillas sind auch in der Gegend. Mrs. VIP trägt einen Badeanzug. Ende.« »Hier Cowboy Bravo«, sagte der Mann mit dem Tarnumhang. »Ich befinde mich genau zwanzig Meter nördlich der Zielperson. Erwarte neue Befehle. Ende.« »Verstanden«, erwiderte Cowboy Daddy. »Cowboy Gamma, Sichtkontakt zu Mr. VIP aufrechterhalten. Sobald er fällt, sagst du uns Bescheid, dann machen wir hier oben den Sack zu. Falls unser Mann darauf wartet, dass Mr. VIP nach draußen kommt, dann könnte es bald so weit sein. Bereithalten, Bravo. Ende und aus.« Der Amerikaner war geduldig, aber er freute sich auf den Abschluss der Mission. Es würde ganz einfach werden.
Nur einmal abdrücken, und die Zielperson war ein toter Mann. Izolda beendete ihr Frühstück und gab ihrem Ehemann einen Kuss auf die Wange. Sie saßen nebeneinander an der Frühstückstheke in der Küche der Datscha. »Das war göttlich, Vladimir«, sagte sie. »Danke.« Kasakov nickte und schlürfte an seiner Kaffeetasse. »War mir ein Vergnügen, wie immer.« Sie schlang ihre schlanken Arme um seine breiten Schultern, streckte sich, um die Finger hinter seinem Rücken verschränken zu können, und gab ihm noch einen Kuss. »Ich bin so froh, dass wir weggefahren sind. Zuerst war ich mir nicht sicher, ob es wirklich eine gute Idee ist, so angespannt, wie es in letzter Zeit zwischen uns war, aber jetzt finde ich es einfach wundervoll.« »Und wo jetzt sogar die Sonne zum Vorschein kommt, wird es bestimmt noch besser werden.« Sie grinste. »Wie schade, dass wir nicht immer hier wohnen können. Hier ist es so viel schöner als in Moskau. Kein Lärm, kein Stress, keine Ablenkungen. Nur wir beide. In Moskau muss ich
dich mit so vielen anderen teilen. Und du hattest in letzter Zeit so viel zu tun, dass es mir manchmal fast so vorgekommen ist, als hättest du vergessen, dass ich überhaupt existiere.« Er legte ihr die Hände auf die Wangen. »Das könnte ich niemals vergessen.« »So wörtlich war es ja gar nicht gemeint. Aber du warst so sehr mit deinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, dass ich es wirklich genieße, wieder deine volle Aufmerksamkeit zu haben. Endlich gehörst du wieder mir, und ich beabsichtige, diese Tatsache voll und ganz auszunutzen.« »Habe ich richtig gehört?« Sie hob die Augenbrauen. »O ja.« »Nun«, setzte Kasakov an, »das ist wirklich sehr schön. Ich werde dir nämlich in Zukunft deutlich mehr Aufmerksamkeit schenken als bisher.« Sie musterte ihn misstrauisch. »Was soll das denn heißen?« Er holte tief Luft und sagte: »Ich glaube, es wird allmählich Zeit, dass ich in geschäftlicher Hinsicht ein wenig kürzertrete.« Sie entließ ihn aus ihrer Umarmung und drehte sich ein wenig, um ihn besser anschauen zu können.
Entgegen seinen Hoffnungen machte sie jedoch kein glückliches, sondern ein zweifelndes Gesicht. »Wirklich?« Kasakov nickte. »Warum nicht? Wir haben so viel Geld, dass wir Ewigkeiten allein damit beschäftigt wären, es zu zählen. Und außerdem, ich habe einfach genug von alldem. Einfach genug.« Izolda schüttelte den Kopf, nicht, weil sie nicht seiner Meinung war, sondern weil sie es nicht glauben konnte. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das kommt so plötzlich.« »Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, alles bis ins kleinste Detail zu planen. So langsam wird es Zeit, ein bisschen spontaner zu werden.« »Was passiert mit deiner Firma?« Kasakov zuckte mit den Schultern. »Tomasz und Julia kommen auch gut ohne mich zurecht. Ich bleibe natürlich der Besitzer, aber sie können den Laden am Laufen halten. Zumal ich das ungute Gefühl habe, dass sie ohne mich sowieso viel besser zurechtkommen.« »Es ist dir wirklich ernst damit, nicht wahr?« Er nickte. »Es hat lange gedauert, aber inzwischen habe ich begriffen, dass es Dinge gibt,
die wichtiger sind als Geld oder Macht. Ich möchte dich auf keinen Fall verlieren, Izzy.« Sie blieb einen Augenblick lang stumm. »Du wirst mich nicht verlieren.« Und ohne ihn anzublicken, fuhr sie fort: »Warum sagst du denn so was überhaupt?« Sanft streichelte er ihre Wange. »Ich bin kein Narr, mein Liebling. Ich weiß, dass ich dir nicht der Ehemann gewesen bin, den du verdient hast. Ich habe zugelassen, dass alle möglichen Dinge sich zwischen uns gedrängt haben. Meine Firma, Illarions Tod, unser Problem.« Er schluckte schwer, und sie drückte seine Hand. »In letzter Zeit sind ein paar Dinge geschehen, die meinen Blick verändert haben. Ich will nicht auf die Einzelheiten eingehen, aber das Entscheidende ist, dass ich mich verändert habe. Und ich glaube, es ist an der Zeit, mir einzugestehen, dass unser Problem in Wirklichkeit mein Problem ist. Aber heutzutage können die Ärzte praktisch alles reparieren. Und wenn nicht, dann gibt es andere Möglichkeiten. Es ist noch nicht zu spät.« Kasakov zog Izolda an sich und hielt sie fest. »Es tut mir so leid, dass ich dich weggestoßen habe.« Er spürte ihre Tränen auf seiner Schulter.
Kurz nach neun sah Victor Izolda Kasakov durch die Hintertür der Datscha kommen, eine Erscheinung mit einem gemusterten Seidenkimono, einem breitrandigen Hut und einer großen Sonnenbrille. Die Zehennägel an ihren bloßen Füßen waren rubinrot lackiert. In der Hand hielt sie, soweit Victor das beurteilen konnte, ein Glas Eistee mit einer Limonenscheibe. Sie saugte an einem langen Strohhalm und ging in Richtung Swimmingpool, verschwand aus Victors Blickfeld. Er nahm an, dass sie sich auf einen der Liegestühle setzen wollte, um ihren Tee zu trinken. Von Kasakov war weit und breit nichts zu sehen. Victor ließ die Halswirbel knacken und trank noch einen Schluck Wasser. Die Temperaturen waren mittlerweile selbst im Schatten auf über zwanzig Grad gestiegen. Immer noch wehte eine leichte Brise und sorgte dafür, dass es Victor nicht zu heiß wurde. Über ihm erklang Vogelgezwitscher. Victors ornithologische Kenntnisse waren bestenfalls ausreichend, und er hatte keine Ahnung, um welche Vogelart es sich handelte, aber er freute sich an dem vielstimmigen Gezwitscher, das während der endlos langen Wartezeit ein wenig zu seiner
Entspannung beitrug. Eine Stunde verging, dann zwei. Izolda Kasakov trat wieder in Victors Blickfeld. Dieses Mal trug sie nur einen schwarzen Badeanzug. Die feuchten Haare hingen ihr bis über die Schulterblätter. Sie betrat die Datscha und machte die Tür hinter sich zu. Der Mittag kam und ging, und es wurde kontinuierlich wärmer. Victor wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Der Wind hatte ein wenig aufgefrischt, aber es war immer noch ziemlich heiß. Obwohl die Hitze ihn schläfrig machte, blieb er hoch konzentriert. In unregelmäßigen Abständen griff er nach dem Gewehr und legte auf die Hintertür an, damit die Bewegung schnell und flüssig blieb. Um vierzehn Uhr erschien Izolda erneut in der Tür. Sie trug immer noch den Badeanzug, aber jetzt hatte sie ein Tuch um die Hüften geschlungen, das ihre Beine bedeckte. Sie hielt einen Teller mit Salat in der Hand. Von Kasakov war immer noch nichts zu sehen. Izolda ließ die Tür offen stehen. Vielleicht, weil ihr Mann gleich nachkommen wollte. Victor hatte ihn, seitdem er vor Stunden hinter dem Fenster vorbeigehuscht war, nicht mehr zu
Gesicht bekommen. Aber Victor hatte Vertrauen zu seinem Plan. Ganz egal, ob es eine Stunde oder eine Woche dauerte, irgendwann würde Kasakov zur Hintertür der Datscha herauskommen. Zwanzig Minuten später ließ Izolda sich erneut in der geöffneten Tür blicken. Ein Leibwächter marschierte an ihr vorbei, suchte das Gelände ab, umrundete die Datscha. Er war mit einer kompakten AK-74u bewaffnet, trug über dem T-Shirt eine Kevlarweste der Schutzklasse 1 und hielt den Blick im Vorbeigehen deutlich länger auf Mrs. Kasakov gerichtet, als es aus taktischer Sicht erforderlich gewesen wäre. Victor musste unwillkürlich lächeln. Ex-Spetsnaz-Bodyguards waren auch nur Menschen. Aus der Haltung, mit der Izolda am Türrahmen lehnte und gestikulierte, schloss Victor, dass sie mit jemandem redete, vermutlich mit ihrem Mann. Victor schob mit der freien Hand die Decke von der Dakota und zog das Gewehr dichter zu sich heran. Hinter Izolda tauchte jetzt eine Silhouette auf. Sofort nahm Victor die Zweige der Bäume auf dem Rasen hinter der Datscha in den Blick und schätzte den Seitenwind auf ungefähr fünfzehn
Stundenkilometer. Also musste er auf eine Entfernung von sechshundertfünfzig Metern bei einem Projektil vom Kaliber .338 eine Abweichung von ungefähr sechzig Zentimetern einkalkulieren. Er legte das Fernglas weg und nahm das Gewehr, stellte den Windausgleich am Zielfernrohr ein und legte das Gewehr an. Sein rechtes Auge lag genau zweieinhalb Zentimeter vor dem Okular. Er machte das linke zu. Der Amerikaner mit der Funkkennung Cowboy Bravo sah, wie die Zielperson sich schussbereit machte, und sagte in sein Kehlkopfmikrofon: »Cowboy Bravo. Zielperson nimmt sich das Gewehr. Sieht nicht nach Übung aus. Ich glaube, er macht sich fertig zum Schuss. Ende.« »Cowboy Daddy. Verstanden, Bravo. Kannst du bestätigen, dass Mr. VIP zu sehen ist, Gamma? Ende.« »Hier Cowboy Gamma. Moment mal, ich habe Mr. und Mrs. VIP aus dem Blick verloren. Musste einem Gorilla ausweichen. Versuche, Sichtkontakt herzustellen. Ich kann sie reden hören. Ja, jetzt sehe ich ihn in der Küche, in der Nähe der Tür. Sieht so
aus, als würde er jeden Moment nach draußen kommen. Er kommt definitiv gleich raus. Ende.« »Verstanden, Cowboy Bravo«, erwiderte Cowboy Daddy mit Reibeisenstimme. »Sobald er draußen ist, jagt unser Mann dem Arschloch eine Kugel in den Schädel, jede Wette. Bereithalten. Ich nähere mich der Zielperson von Süden, du von Norden, Cowboy Bravo. Ende und aus.« Der Amerikaner erhob sich aus dem Kniestand und schlich behutsam auf sein Opfer zu, im Halbkreis, um sich von hinten anzunähern. Er entsicherte seine MP5 und warf einen Blick auf den Einstellhebel an der Abzugsgruppe, um sicherzugehen, dass er auf Dreier-Salve gestellt war. Die Silhouette hinter Izolda trat aus dem Schatten. Vladimir Kasakov trug eine lange Badehose. Sein mächtiger Oberkörper war stark behaart. Seine Frau verdeckte ihn zwar zum großen Teil, doch Victor richtete das Fadenkreuz genau zwischen Kasakovs Augenbrauen. Er atmete ruhig und gleichmäßig. Sein Puls wurde langsamer. Er konzentrierte sich auf den Rhythmus, nahm den Takt auf, den Finger
am Abzug, jederzeit bereit, zwischen zwei Schlägen abzudrücken, sobald Izolda den Weg freigemacht hatte. Victor sah, wie sie ihrem Mann ein Glas Eistee abnahm und dann einen Schritt nach vorn machte, damit Kasakov ebenfalls herauskommen konnte. Der massige Ukrainer trat durch die Tür. Die Vögel über Victors Kopf zwitscherten nicht mehr. Er streichelte den Abzug der Longbow.
Kapitel 52 An Kasakovs rechter Schläfe sauste etwas vorbei, dann war ein lautes Tschak zu hören, wie ein Nagel, der in ein Stück Holz geschlagen wird. Er zuckte überrascht zusammen, ohne zu begreifen, was das alles zu bedeuten hatte. Er griff sich an das rechte Ohr und drehte sich verwirrt um. »Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Izolda. »Ja«, gab Kasakov zurück. »Ich glaube, da ist gerade eine Wespe an mir vorbeigeflogen.« Verblüfft betrachtete er das kleine Loch im Türrahmen. Die Ränder waren ausgefranst. »War dieses Loch eigentlich schon immer da?« Da grollte eine Art Donner über sie hinweg. Kasakov und Izolda schauten einander an. »Was war denn das?«, sagte sie, nippte an ihrem Eistee und blickte zum Himmel. Kasakov folgte ihrem Blick. Ein paar Wolken waren zu sehen, aber keine Gewitterwolken. Wo war dann der Donner hergekommen? »Vielleicht ein Flugzeug?«, meinte Izolda. Da zersplitterte links von Kasakov ein Fenster, und Izolda schrie erschrocken auf. Sie ließ ihr Glas
fallen, und es zersprang auf den Gehwegplatten. Glassplitter und Eiswürfel spritzten über den Boden. Der Eistee bildete eine Pfütze. Mauerwerk explodierte. Kasakov zuckte zusammen, als die Splitter auf seinen Arm und seinen Rücken trafen. Eine Sekunde später ertönte erneut dieses Donnergrollen. Besorgnis breitete sich auf Kasakovs Miene aus.
»Was verdammt noch mal …?« Einer der Leibwächter kam im Laufschritt um die Ecke der Datscha. »AUF DEN BODEN!«, brüllte er und ruderte voller Panik mit beiden Händen. »AUF DEN BODEN!« Izolda kreischte. Kasakov verfluchte sich, weil er so schwer von Begriff gewesen war, und stürmte auf seine Frau los. Er warf sie zu Boden und legte sich schützend auf sie. Da dröhnte der nächste Schuss durch die Luft. Dem Amerikaner mit der Funkkennung Cowboy Bravo klingelten die Ohren von den Schüssen. Er befand sich gerade noch drei Meter hinter der Zielperson, die Mündung der MP5 auf deren
Rückgrat gerichtet, um dort drei Kugeln zu platzieren. Jeden Augenblick konnte das Kommando kommen. »Cowboy Gamma, hier Cowboy Daddy«, zischte es in seinem Ohrhörer. »Er hat geschossen. Lagebericht, verdammt noch mal. Ende.« »Daneben«, meldete sich Cowboy Gamma. »Dreimal daneben, verfluchte Scheiße. Mr. und Mrs. VIP haben kapiert, was los ist, und liegen auf dem Boden. Die Bodyguards sichern sie. Ende.« »Scheiße«, gab Cowboy Daddy zurück. »Der Typ soll doch angeblich so gut sein. Cowboy Bravo, Position halten. Nicht schießen, ich wiederhole, nicht schießen. Wir dürfen das Arschloch erst ausschalten, wenn er seine Zielperson ausgeschaltet hat. Ende und aus.« Victor verlor Kasakov und seine Frau aus dem Blick. Kurz, nachdem der dritte Schuss ein Loch in das Mauerwerk der Datscha geschlagen hatte, landeten sie auf dem Boden. Mindestens drei Leibwächter waren mittlerweile aufgetaucht und schirmten ihre Schützlinge ab, bis sie sicher aus der Gefahrenzone gebracht werden konnten. Sie blickten in Victors
Richtung, da der Hügel der wahrscheinlichste Ort für einen Heckenschützen war, aber er war zu weit entfernt, als dass sie ihn hätten sehen können. Im Gegenzug war auch Kasakov aus Victors Blickfeld verschwunden. Er packte die MP7 und stürmte los in Richtung Datscha. Cowboy Bravo flüsterte in sein Mikro: »Hier Cowboy Bravo. Zielperson hat das Gewehr liegen lassen und ist mit einer MP auf dem Weg zum Haus. Sieht so aus, als wollte er das Ganze jetzt aus nächster Nähe erledigen. Ende.« »Verstanden«, gab Cowboy Daddy zurück. »Verfolgen und Sichtkontakt halten. Ende und aus.« Der Amerikaner umging die zwei Bäume, zwischen denen die Zielperson gelegen hatte, und jagte die steile Seite des Felsvorsprungs hinunter. Die Zielperson rannte schnell nach Westen den Berg hinab, hatte vielleicht fünfzehn Meter Vorsprung, sprintete durch das Unterholz, zertrat dabei kleinere Büsche und brach dünne Zweige ab. Victor rannte, so schnell er konnte. Der Abhang war relativ steil. Nackter Fels ragte aus dem Untergrund
oder bildete zerklüftete, von einer dicken Schicht Erde und Pflanzenrückstände bedeckte Stufen. Überall wuchsen dünne Bäumchen, und dazwischen kämpften Büsche und andere Pflanzen um das wenige Sonnenlicht, das durch das Blätterdach hereindrang. Auf Baumstämmen, abgefallenen Ästen und Felsen hatte sich Moos ausgebreitet. Victor wich Bäumen aus, duckte sich unter Zweigen hindurch, sprang über Felsen. Er entdeckte einen umgestürzten Baum – absolut perfekt – und lief darauf zu, sprang darüber hinweg, kauerte sich dahinter, wirbelte herum und riss die MP hoch. Wie erwartet kam eine Gestalt zwischen den Bäumen hervor, fünfzehn Meter entfernt, folgte Victors Spur. Er war zunächst schwer zu erkennen, weil er halb von den Bäumen verdeckt wurde und sich durch den Tarnumhang kaum von der Umgebung abhob, aber es war zweifellos ein Mann mit einer MP5SD. Der Verfolger war von der plötzlichen Veränderung der Situation vollkommen überrascht. Automatikfeuer hallte durch den Wald. Der Mann mit dem Tarnumhang fiel um und war
nicht mehr zu sehen. Lediglich ein blutiger Nebel hing in der Luft. Victor ließ den Blick von links nach rechts wandern. Er wusste, dass das nicht der Einzige gewesen sein konnte. Da, im Unterholz, machte er eine verwischte Bewegung aus. Noch ein Mann im Tarnanzug, zwanzig Meter entfernt, halb links, im dichten, hochgewachsenen Unterholz. Hätte er sich nicht bewegt, hätte Victor ihn, genau wie den ersten, nicht so schnell bemerkt. Der zweite Mann hatte eine halbe Sekunde mehr Reaktionszeit als der erste und lag schon am Boden, als Victor anfing zu schießen. Seine 4,6-Millimeter-Kugeln rissen die Rinde von einem Baum in der Nähe. Der Mann erwiderte das Feuer. Durch den dicken, integrierten Schalldämpfer machte die MP5SD fast kein Geräusch, und auch Mündungsfeuer war nicht zu erkennen. Kugeln zischten über Victors Kopf hinweg. Er machte sich kleiner, nutzte die Deckung des umgestürzten Baumstamms so gut wie möglich aus. Dann erwiderte er das Feuer, schoss zwar auch wieder daneben, aber immerhin so dicht, dass sein Gegner es für angeraten hielt, sich eine etwas solidere Deckung zu suchen.
Victor stützte den linken Arm auf den quer liegenden Baumstamm, den Blick über Kimme und Korn der MP7 hinweg auf die Stelle gerichtet, an der der andere verschwunden war. Falls er sich den Hang hinauf zurückziehen wollte, würde Victor ihn sehen, aber wenn er sich quer zur Falllinie bewegte, konnte er sich die ganze Zeit hinter hohen Büschen und Pflanzen verstecken. Die Bäume waren zwar alle noch sehr klein und schwach, aber dafür umso zahlreicher. Jeder schwankende Zweig, jedes fallende Blatt zog Victors Blicke an. Ihm war klar, dass er froh sein konnte, noch am Leben zu sein. Wenn der Kerl, den er gerade erschossen hatte, nicht die Vögel so irritiert hätte, dass sie ihr Gezwitscher eingestellt hatten, dann wäre er jetzt tot. Er hätte, wie geplant, eine .338 Lapua Magnum durch Kasakovs Schädel gejagt und wäre danach an Ort und Stelle selbst erschossen worden. Doch in dem Moment, als er die plötzliche Stille registriert hatte, war ihm klar geworden, dass er nicht alleine war. Und dass er immer noch am Leben war, war für Victor ein klares Signal: Die Typen, die ihm ans Leder wollten, hatten Kasakovs Tod abwarten wollen.
Einer ausgeschaltet. Ein Zweiter ganz in der Nähe. Victor wusste nicht, wie viele es insgesamt waren, aber es musste mindestens noch ein Dritter dabei sein, der Sichtkontakt zu Kasakov gehalten hatte, um seinen Tod bestätigen zu können. Er hatte also immer noch einen Gegner im Rücken, allerdings in gut sechshundert Metern Entfernung. Den konnte er für den Augenblick vergessen. Drei Kugeln bohrten sich in den umgestürzten Baumstamm, direkt unterhalb seines Arms. Der Schalldämpfer der MP5SD unterdrückte nicht nur das Schussgeräusch, sondern auch das Mündungsfeuer. Und auch der Schütze war aufgrund seines Tarnanzugs nicht zu sehen. Victor schickte eine Antwortsalve auf die Reise. Die ausgestoßenen Patronenhülsen prallten gegen den Baumstamm, und er duckte sich dahinter. Dann streckte er die Hand durch die dichte Vegetation, nahm eine Handvoll feuchte Erde und rieb sich Gesicht und Hals damit ein. Er vergaß auch nicht, die Augen zuzumachen und die Augenlider ebenfalls einzureiben. Jedenfalls waren die Angreifer nicht vom Mossad,
so viel stand fest. Eine Kidon-Einheit hätte ihn im Schlaf überrascht, ihn an irgendeinen dunklen, verlassenen Ort verschleppt und jedes letzte bisschen an Informationen aus ihm herausgeschnitten. Und zu Kasakov gehörten sie ganz offensichtlich auch nicht. Alle anderen, die Victor zu seinen Feinden rechnete, hätten nicht erst gewartet, bis er Kasakov umgebracht hatte. Es gab nur einen, der sowohl Kasakov als auch Victor tot sehen wollte. Doch dann verdrängte er alle diese Gedanken aus seinem Bewusstsein. Er musste sich konzentrieren. Adrenalin flutete seine Blutbahnen, und er atmete so langsam und gleichmäßig, wie er nur konnte, um die Wirkung so gut wie möglich unter Kontrolle zu halten. Er musste seinen Pulsschlag deutlich unter den Wert drücken, den sein Körper eigentlich verlangte. Je schneller das Herz schlug, desto schneller konnte er laufen. Aber desto schlechter konnte er zielen. Noch mehr Kugeln schlugen in den schützenden Baumstamm ein. Holzsplitter und Rindenstückchen wurden in die Luft geschleudert und regneten auf ihn herab. Er blieb, wo er war, weil er wusste, dass
Neun-Millimeter-Unterschallmunition den dicken Stamm niemals durchschlagen konnte. Selbst seinen panzerbrechenden Überschallprojektilen wäre das nicht gelungen, aber die MP7 war einer MP5SD an Reichweite und Feuerkraft weit überlegen. Das Problem war nur, dass Feindkontakte in einem Gelände wie diesem in aller Regel aus sehr kurzer Distanz stattfanden. Durch die Bäume und das Gestrüpp konnte man keine dreißig Meter weit sehen, daher konnte Victor aus der Überlegenheit seiner Waffe kein Kapital schlagen. Die praktisch lautlose MP seines Gegners mit dem so gut wie unsichtbaren Mündungsfeuer war für diese Auseinandersetzung sehr viel besser geeignet als Victors Waffe. Er rutschte nach links, bis er so dicht am Wurzelballen des umgestürzten Baums lag, dass er den Kopf seitlich aus der Deckung strecken konnte. Er suchte die Stelle, an der er seinen Gegner zum letzten Mal gesehen hatte, doch noch bevor er sie gefunden hatte, jagten Geschosse auf ihn zu, durchschlugen das Blattwerk, bohrten sich in die Erde. Er warf sich zurück in die Deckung. Der Schütze feuerte von einem erhöhten Punkt
aus, knapp fünfundzwanzig Meter entfernt und perfekt getarnt. Wenn Victor versucht hätte, aus der Deckung zu kommen, hätte er mit Sicherheit länger gebraucht als sein Gegner, um zu zielen. Und Victor wusste aus Erfahrung, dass derjenige, der bei einer Schießerei als Zweiter schoss, als Erster tot war. Wenn er hier lebend herauskommen wollte, musste er seinem Angreifer zumindest einen Vorteil aus der Hand nehmen, bevor der Dritte sich einschalten konnte. Er sprang auf, schlängelte sich im Laufschritt zwischen den Bäumen hindurch, stürmte, von brennenden Muskeln angetrieben, in einem Rechtsbogen nach Osten, den Hügel hinauf. Kugeln verfolgten ihn, sprengten Rinde von Baumstämmen und mähten dünne Zweige nieder, doch die Bäume und das Gestrüpp boten sehr gute Deckung, und er war ein bewegliches Ziel. Als Victor etwa auf derselben Höhe wie sein Angreifer angelangt war, brachte er sich hinter einem dicken Baumstamm in Sicherheit. Dann kroch er rückwärts und dann seitlich durch das Unterholz, bis er noch einmal zwei Meter höher gekommen war. Der Schütze würde auch nicht lange am selben Ort bleiben, sondern
ebenfalls weiter nach oben steigen. Victor schob sich auf Knien und Ellbogen vorwärts, Zentimeter um Zentimeter. Der Untergrund war felsig. Stille herrschte im Wald. Bis auf das sanfte Rascheln der Blätter und seinen eigenen Atem war nichts zu hören. So dicht am Boden wurde er vollständig von der dichten Vegetation verdeckt, konnte gleichzeitig jedoch auch kaum etwas sehen. Er veränderte seine Lage so, dass er durch das Gewirr der Pflanzen und Äste bis zu der Stelle blicken konnte, wo sein Gegner zuletzt gewesen war. Dann legte er die MP7 an, zielte und wartete. Zehn Sekunden später nahm er eine Bewegung wahr, zwar nicht den Mann im Tarnanzug, aber ein gesundes Blatt, das langsam zu Boden schwebte. Victor drückte ab und jagte drei 4,6-MillimeterKugeln in das Dickicht. Zweige und Blätter wurden zerfetzt, aber ob er sein Ziel getroffen hatte, konnte er nicht erkennen. Dann zischten ein paar Kugeln über seinen Kopf hinweg. Das reichte ihm als Antwort. Aus Victors Position war der Schütze unmöglich auszumachen. Er sah auch keine zerfetzten Blätter oder Zweige,
die ihm den Weg, den die Kugeln genommen hatten, hätten zeigen können. Direkt neben Victors Kopf zerplatzten ein paar Blätter. Er schoss zurück, streute im Bogen durch das Dickicht, zielte niedrig, in dem Wissen, dass der Schütze, genau wie er, dicht am Boden kauerte. Das Antwortfeuer hörte auf. Zumindest hatte er den Kerl gezwungen, ebenfalls den Kopf einzuziehen. Angestrengt versuchte er herauszufinden, von wo die Schüsse gekommen waren, aber sein Gegner war einfach zu gut, genau wie sein Versteck. Er kauerte irgendwo regungslos dicht am Boden, verließ sich nicht nur auf seinen Tarnanzug, sondern nutzte auch alle Vorteile, die das Gelände ihm bot. Professionell, militärische Vergangenheit, viel Erfahrung. Hervorragend ausgebildet. Bei einem solchen Gegner gab es, falls sich an der Gesamtsituation nichts änderte, nur einen denkbaren Ausgang. Victor krabbelte erneut ein Stück zurück, bis er in einer kleinen Senke Deckung fand. Dicke Wurzeln ragten um ihn herum aus der Erde. Er wischte sich den Schweiß aus den Augen und lud die MP7 nach. Das Magazin war zwar noch nicht leer, aber es waren nur noch sechs oder
sieben Patronen übrig. In der Automatikstellung war es nicht leicht, den genauen Überblick zu behalten. Er hatte insgesamt drei Magazine dabei. Das fast leere steckte er zurück in seine Weste, nur für den Fall, dass diese sechs oder sieben Schüsse den entscheidenden Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen sollten. Sein Gegner hatte innerhalb kurzer Zeit sieben identische Feuerstöße abgegeben. Die MP5 ließ sich auf Dreier-Salve einstellen, also waren bis jetzt einundzwanzig Schüsse verbraucht. Neun waren noch übrig, falls er in der Zwischenzeit nicht nachgeladen hatte, aber das war unwahrscheinlich. Neun waren immerhin noch fast ein Drittel des gesamten Magazins. Drei Feuerstöße noch. Mehr, als Victor lieb waren, aber damit musste er leben. Falls sein Gegenüber wider Erwarten nachgeladen hatte, dann war das Ganze eben schnell vorbei. Victor drehte sich um, ging in die Hocke und sprintete aus der Deckung, in nördlicher Richtung den Hügel entlang, schlug möglichst viele Haken. Er hörte das schnelle Klicken der MP in seinem Rücken und die Kugeln, die die Vegetation durchschlugen. Er rannte weiter nach Norden. Zweige verfingen
sich in seinen Kleidern und zerkratzten ihm das Gesicht. Noch mehr Kugeln kamen in seine Richtung geflogen, zerfetzten Blätter, bohrten sich in Baumstämme. Ein paar Rindenstückchen prallten gegen seinen Nacken. Dann hörten die Schüsse urplötzlich auf, und Victor wusste, dass der Kerl keine Munition mehr hatte. Er lief weiter, mit voller Kraft. Die Bäume standen jetzt nicht mehr ganz so eng beisammen, aber das Dickicht war höher und bremste ihn spürbar. Der Boden war von einer dichten, knietiefen Pflanzenschicht vollständig bedeckt. Aus diesem Teppich stachen Büsche und junge Bäume hervor, die Victor zum Teil weit überragten. Sein Fluchtauto war drei Kilometer entfernt. Der Kerl mit der MP5 konnte nicht nachladen und gleichzeitig so schnell laufen wie Victor, aber mit einer leeren Waffe würde er sich auf keinen Fall an die Verfolgung machen. Diese paar Sekunden Vorsprung reichten Victor vermutlich, um sich außer Reichweite zu bringen und sicher zu seinem Wagen zu gelangen. Er hätte dem Angreifer zwar liebend gern noch alle möglichen Informationen entlockt, aber ein Versteckspiel mit einem Gegner von dieser
Qualität, der dazu noch einen Tarnanzug trug und eine schallgedämpfte Maschinenpistole in der Hand hatte, war für Victor vermutlich nicht zu gewinnen. Der Mann hatte mit Sicherheit mittlerweile nachgeladen und konnte sich jetzt wieder mit dreißig Patronen am Spiel beteiligen. Aber er war auch vierzig, fünfzig Meter weit weg. Immer noch in Reichweite der MP5SD, doch durch den Wald aus Pflanzen war Victor nicht zu sehen. Also konnte der andere auch nicht auf ihn schießen. Er war in Sicherheit. Da erfasste Victor im Augenwinkel eine Bewegung … Zweige wippten auf und ab, aber die Ursache war nicht der Wind. Zwanzig Meter vor ihm tauchte plötzlich der dritte Gegner auf, die Waffe im Anschlag, und drehte sich in seine Richtung.
Kapitel 53 Durch die wippenden Zweige gewarnt, konnte Victor sich gerade noch auf die Erde werfen, bevor die ersten Schüsse fielen. Auch wieder so gut wie lautlos. Zerfetzte Blätter und Aststückchen regneten auf seinen Rücken und seinen Kopf. Er wälzte sich nach links, hügelabwärts, um möglichst schnell aus der Schusslinie zu gelangen. Der Neuankömmling war sehr schnell gewesen. Er hatte sich mit dem anderen über Funk abgestimmt und Victor den Weg abgeschnitten. Aber ein Sprint über siebenhundert Meter, der einen bewaldeten Hügel hinaufführte, dazu noch die Überwindung einer drei Meter hohen Mauer, das alles musste dem Kerl einiges abverlangt haben, ganz egal, wie fit er war. Sein Puls raste, und darunter litt die Zielgenauigkeit. Aber besonders gut brauchte er ja auch nicht zu schießen, um Victor festzunageln, während der andere Gegner unaufhaltsam näher kam. Da der eine zwanzig Meter vor ihm und der andere vielleicht vierzig Meter hinter ihm war, aber schnell aufschloss, blieben Victor nur zwei
Möglichkeiten. Wenn er nach links auswich, dann überließ er seinen Angreifern die erhöhte Position, nur um nach fünfhundert Metern vor einer Mauer zu stehen, die er niemals überwinden konnte, bevor er ein paar Kugeln in den Rücken bekam. Außerdem hätten ihn auf der anderen Seite fünf schwer bewaffnete Bodyguards in Empfang genommen. Nach rechts würde bedeuten, dass er den Hügel hinaufmusste, und ein langsames Ziel war sehr schnell ein totes Ziel. Aber da, wo er war, konnte er auch nicht bleiben. Jede Sekunde, die er verstreichen ließ, gab dem anderen Bewaffneten noch mehr Zeit, um näher zu kommen und den tödlichen Schuss abzugeben. Victor entschied sich für rechts, rannte los, geduckt. Kugeln aus der Waffe des Neuankömmlings durchschlugen das Dickicht, aber so ungenau, dass der Schütze entweder deutlich schlechter war als sein Partner oder aber unter dem Einfluss eines pochenden Herzens und eines viel zu hohen Adrenalinspiegels stand. Mit aller Kraft katapultierte Victor sich bergauf, widersetzte sich der Schwerkraft, wusste, dass er kein einziges Mal stolpern und seine Schritte nicht verlangsamen
durfte, weil sein Gegner ihn dann nicht mehr verfehlen würde. Um ein Haar wäre er auf einem bemoosten Stein ausgerutscht, rannte aber weiter, bis er einen Baum entdeckte, der dick genug war, um ihm Deckung zu bieten. Er stellte sich seitwärtsgewandt dahinter, um so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten, und rang um Atem. Einen Angreifer hatte er ausgetrickst, aber zwei, die zudem noch Funkkontakt zueinander hatten, würden sich nicht austricksen lassen. Der Baum hatte zwei Stämme, die im Fünfundvierzig-Grad-Winkel aus der Erde kamen, sich mehrfach kreuzten und umeinanderwanden. Victor stellte sich hinter den dickeren Teil und spähte durch die Lücke. Ein Gecko flitzte davon. Der zweite Angreifer kam auf ihn zugelaufen. Er wollte die Gelegenheit nutzen, solange seine Zielperson sich in der Deckung verkroch. Er war noch ungefähr dreißig Meter entfernt, halb verdeckt von einem Gebüsch, die Waffe im Anschlag. Auch er trug einen Tarnanzug und eine MP5SD. Die linke Schulter an die Baumstämme gestützt, beugte sich Victor kurz aus der Deckung und gab einen Feuerstoß ab. Der Kerl tauchte ab und war nicht
mehr zu sehen. Victor drehte sich um, wusste, dass der erste Angreifer die Gelegenheit beim Schopf packen und näher kommen würde. Schon nach einer Sekunde hatte er ihn erspäht. Er huschte von Baum zu Baum, geduckt, aber schnell, eilig, aber ohne Hast. Gerade, als der Kerl hinter einer dichten Wand aus tief hängenden Zweigen verschwand, drückte Victor den Abzug. Panzerbrechende Projektile durchschlugen das Blattwerk. Victor konnte nicht damit rechnen, einen seiner Gegner zu treffen – bewegliche Ziele in einem Gelände, das vielfältige Deckung bot, waren keine einfache Aufgabe –, aber ihm war klar, dass sie immer dann versuchen würden, näher zu kommen, wenn sie davon ausgehen konnten, dass er gerade Deckung suchte. Und Männer in Tarnanzügen waren in der Bewegung deutlich leichter zu erkennen als in Ruhe. Die paar Sekunden, in denen seine Gegner sich in der Deckung verkrochen, nutzte Victor, um noch ein Stück den Hang hinaufzugelangen. Wieder schaffte er es bis hinter einen Baum, der dick genug war. Er merkte aber auch, dass er müde wurde, dass seine Brust sich hob und senkte, dass sich in
seinen Muskeln Milchsäure bildete. Er brauchte sich nur eine Sekunde zu lang aus der Deckung zu wagen, und schon hatte er eine Kugel im Rücken. Er keuchte. Seine Lippen schmeckten nach Erde und Schweiß. Er wehrte sich gegen das instinktive Bedürfnis, sich einfach zu verschanzen und zurückzuschießen. Ihm war klar, dass die beiden zu weit voneinander entfernt waren. Er konnte sie nicht beide gleichzeitig unter Beschuss nehmen, und wenn er zu lange an einer Stelle verharrte, dann nahmen sie ihn in die Zange. Er musste in Bewegung bleiben, sonst kam er nie wieder lebend aus diesem Wald heraus. Er musste sich einen kleinen Felsvorsprung suchen, ein paar große Felsbrocken oder eine Schlucht – irgendetwas, das er nutzen konnte, um den Kampf ausgeglichener zu gestalten. Er machte sich zum nächsten Sprint bereit. Da prasselte es in den Blättern über seinem Kopf. Zweige schwangen hin und her. Etwas Hartes prallte gegen einen Baumstamm und fiel ein Stück weiter oben ins Unterholz, vielleicht fünf Meter östlich von ihm.
Unmittelbar, bevor die Handgranate explodierte, warf Victor sich zu Boden. Erde und Pflanzenteile flogen durch die Luft. Heiße Metallsplitter bohrten sich in den Baumstamm über Victors Kopf. Rinde zischte. Er roch den Sprengstoff. Obwohl die Explosion in seiner unmittelbaren Nähe stattgefunden hatte, war er unverletzt. Eine moderne Splittergranate tötete eigentlich alles im Umkreis von gut fünf Metern. Der Verletzungsradius betrug ungefähr fünfzehn Meter, aber die Splitter wurden bei der Explosion nach oben weggeschleudert, und Victors Position hatte unterhalb der Granate gelegen. Er blieb regungslos liegen, in der Hoffnung, dass die beiden Angreifer ihn für tot hielten und sich aus der Deckung wagten. Da hörte er eine zweite Granate durch das Blätterdach segeln und drei Meter oberhalb landen. Er drückte sich fest an den Boden und presste die Hände auf die Ohren. Sie explodierte und schleuderte noch mehr Erde und Pflanzenteile in die Luft. Granatsplitter rasierten das Unterholz. Rauchwolken stiegen in die Luft. Also würden sie sich nicht so leicht von seinem Tod überzeugen lassen. Nur wenige Meter näher,
dann würde der Hang ihm nicht mehr das Leben retten. Da hörte er eine dritte Handgranate das Blätterdach durchschlagen, noch bevor er aufspringen und die Flucht ergreifen konnte. Dieses Mal klang es flacher, dichter. Sechzig Zentimeter vor Victors Nase schlug sie auf dem Boden auf. Eine normale Splittergranate besaß eine Zündverzögerung von drei bis fünf Sekunden. Nach einer Flugzeit von einer Sekunde blieben also noch zwei bis vier Sekunden, bevor extrem beschleunigte, rot glühende Stahlpartikel Victors Schädel zerfetzten. Alles, was dann noch übrig war, würde von der nachfolgenden Druckwelle zunichtegemacht werden. Zwei bis vier Sekunden, falls der Werfer sie sofort nach dem Abzug des Sicherheitsstifts geworfen hatte. Nicht genug Zeit, um aufzustehen und aus der Todes- oder gar der Verletzungszone zu flüchten. Er hatte nur eine Wahl. Victor schnappte sich die Granate und warf sie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war, riss den Arm zurück, hörte den mächtigen Knall, spürte die Druckwelle über sich hinwegsausen und
hörte Splitter in den Baum einschlagen, hinter dem er Schutz gesucht hatte. Seine Ohren dröhnten. Er glaubte nicht, dass einer seiner Gegner durch die Explosion verletzt worden war, aber sie waren vermutlich überrascht und vielleicht sogar ein bisschen desorientiert. Und mehr brauchte er nicht. Victor sprang auf und rannte los, aber nicht wieder bergauf, sondern in südlicher Richtung quer zum Hang, auf den Felsvorsprung zu. So langsam nahm ein Plan in seinem Kopf Gestalt an. Zwei Sekunden, nachdem er losgerannt war, hörte er das gedämpfte Klicken einer MP5SD – wahrscheinlich der erste Angreifer, der sich rechts von Victor befand, im Westen. Der zweite war wohl noch zu weit im Norden, um freie Sicht zu haben. Victor sprintete den Abhang entlang, fünf Meter weiter, zehn, sein Herz schlug schneller und schneller, das lodernde Feuer in seinen Beinen brannte immer heftiger, so kämpfte er sich durch das dichte Unterholz und wich den Bäumen aus. Die Schüsse verstummten, und er wusste, dass der Schütze ihn nicht mehr sehen konnte. Beide würden sich an seine Fersen heften, aber genau das wollte Victor auch. Nach weiteren zwanzig Metern blieb er
kurz hinter einem moosbewachsenen Felsbrocken stehen, jagte ein paar Kugeln in die Richtung, aus der er gekommen war, um seine Verfolger abzubremsen, dann spurtete er erneut los. Lianen schlängelten sich auf dem Boden entlang. Er sprang darüber hinweg. Nach vierzig Metern warf er sich auf den Waldboden. Hier waren die Bäume höher, sodass darunter holzige Büsche gedeihen konnten. Er wirbelte herum und schob ein frisches Magazin in die MP7. Danach saugte er die warme Luft tief in seine Lunge. Jetzt konnte er in östlicher Richtung, gut zwanzig Meter oberhalb, den Felsvorsprung erkennen, auf dem immer noch die Longbow lag. Das Gewehr interessierte Victor nicht – auf kurze Entfernungen war es absolut nutzlos –, aber die exponierte Stelle war ein hervorragender Orientierungspunkt. Er ging in die Hocke. Kein Laut war zu hören. Die beiden bewegten sich also nur vorsichtig vorwärts, rechneten mit einem Hinterhalt. Dadurch gewann er wieder etwas Zeit. Wenn sie dachten, er würde sich in sein Versteck zurückziehen, umso besser. Er blickte sich um, entdeckte glitzernde
Blutflecken an einem Baumstamm, ungefähr dort, wo er vermutet hatte. Am Fuß des Baums lag der Kerl, den er erschossen hatte, auf dem Rücken, Arme und Beine weit von sich gestreckt, mit vier winzigen Löchern in der Brust. Gar nicht so schlecht, schließlich hatte Victor kaum Zeit zum Zielen gehabt. Er nahm dem Leichnam den mit Leinenflicken, Blättern und Zweigen bestückten Tarnumhang ab und streifte ihn über. Dann nahm er sich das Funkgerät mitsamt dem Headset, machte es an seiner Kampfweste fest, setzte den Kopfhörer auf, stülpte die Kapuze über den Kopf und tauschte seine Waffe gegen die MP5SD des Toten ein. Jetzt waren die Chancen also ein klein wenig gleichmäßiger verteilt. Victor kroch weiter, wühlte sich in ein dichtes Gebüsch, kniete sich an die Seite eines Baums und wartete. Er neigte den Kopf leicht nach vorn, damit die Kapuze ihre größtmögliche Wirkung erzielte. Fünf Sekunden vergingen, dann zehn. Zwanzig. Eine Reibeisenstimme ertönte leise im Kopfhörer. Der Mann sprach amerikanisches Englisch, Südstaatenakzent. »Hier Cowboy Daddy. Bin bei seinem Versteck. Da ist er nicht. Gamma, siehst du
was? Ende.« Eine Sekunde später kam die Antwort. Auch wieder ein Südstaatenakzent, dieses Mal noch etwas deutlicher ausgeprägt. »Cowboy Gamma. Negativ. Ende.« »Wie ist deine Position?« Nach einer kurzen Pause sagte der zweite Kerl: »Bin ungefähr zwanzig Meter westlich, nähere mich dem Fuß der Klippe. Ende.«
Recht herzlichen Dank. »Verstanden. Augen offen halten. Ende und aus.« Victor verlagerte sein Gewicht und starrte ins Unterholz. Knapp fünfzehn Meter halb links versetzt bemerkte er einen zitternden dünnen Zweig, nahe dem tiefsten Punkt der Felsnase. Der Mann bewegte sich langsam, geduckt und wäre mit seinem Tarnanzug absolut unsichtbar gewesen, hätte Victor nicht genau gewusst, wo er nach ihm suchen musste. Der Kerl sah genau in Victors Richtung, doch dank des Umhangs erkannte er ihn nicht. Im Normalfall war der Poncho alleine natürlich nicht so wirkungsvoll wie ein vollständiger Tarnanzug, wo auch die Arme und Beine mit Leinenflicken übersät waren, aber seine Feinde
rechneten mit einem sehr viel auffallender gekleideten Gegner. Victor zielte genau auf die Brust des Mannes und legte den Schalter auf Einzelschuss. Dann schoss er einmal. Zweimal. Eine Doppelsalve. Die schallgedämpften Klacks hallten durch den Wald. Der Mann im Tarnanzug stürzte rückwärts ins Gebüsch. Victor huschte hastig näher, nutzte jeden Baum als Deckung, falls der, der sich Cowboy Daddy nannte, die Schüsse gehört hatte und von weiter oben nachsehen wollte, was passiert war. Victor sah den Leichnam auf dem Waldboden liegen, mit zwei Einschusslöchern in der Brust, auf Höhe des Herzens. »Cowboy Gamma, waren das Schüsse? Ende«, ertönte eine Stimme in Victors Ohrhörer. »Positiv«, erwiderte Victor und ahmte den starken Südstaatensingsang des Toten nach. »Hab ihn erwischt.« Victor hoffte, dass seine Imitation gut genug gewesen war, und wartete ab. Den Blick hielt er ostwärts auf sein ursprüngliches Versteck gerichtet. Die Steigung war zwar so stark, dass er das
Versteck selbst nicht sehen konnte, aber den anderen Angreifer, falls dieser ihm entgegenkam. »Gut gemacht«, kam schließlich die Antwort. »Cowboyehre gerettet und wieder mal ’nen Stier von der Weide geholt.« »Da kannst du verdammt noch mal einen drauf lassen«, fügte Victor hinzu. »Aber hör mal«, sagte Cowboy Daddy jetzt. »Wir haben da noch ein Problem. Der Kerl hat seine Zielperson ja noch gar nicht abgeknallt, das heißt, unser Kunde wird ganz schön sauer sein. Ich weiß ja nicht, wie das mit dir ist, aber ich will die ganze Kohle haben. Lass uns mal zusehen, ob wir Mr. VIP nicht selber das Licht auspusten können. Ende.« »Verstanden. Ende«, gab Victor zurück. »Also schwing deinen Arsch noch mal über die Mauer und sieh nach, ob du Mr. VIP irgendwo zu sehen kriegst. Falls ja, dann leg ihn um. Leg von mir aus alle um, wenn es sein muss. Ich schnapp mir mal das Gewehr unseres Freundes, vielleicht kann ich damit ja besser umgehen als er. Wir müssen uns beeilen, wenn wir das noch hinbiegen wollen. Ende und aus.«
Victor zählte in Gedanken bis zehn, dann kroch er zwanzig Meter nach Norden, bevor er sich nach Osten wandte und noch einmal dreißig Meter bergauf kletterte. Langsam näherte er sich seinem Versteck, vorsichtig, trotz des vorangegangenen Funkkontakts. Erst, als er den Lauf seines Gewehrs langsam von links nach rechts schwenken sah, entspannte er sich. Er umkreiste den Mann, bis er direkt hinter ihm stand und seine Beine unter der Wetterfolie hervorragen sah. Zehn vorsichtige Schritte, und Victor stand anderthalb Meter hinter seinen Stiefelsohlen. »Hier Cowboy Daddy«, sagte der Kerl mit dem Gewehr. »Von hier oben kann man überhaupt nichts sehen. Kein Wunder, dass der Vollidiot danebengeschossen hat. Cowboy Gamma, sieh zu, dass du so schnell wie möglich da runterkommst und dieses Arschloch umlegst. Wo steckst du gerade? Ende.« Victor war zu dicht bei ihm und konnte nicht einmal ein Flüstern als Antwort riskieren. Darum blieb er stumm und kroch noch näher an den Mann heran. »Cowboy Gamma, hier Cowboy Daddy. Bestätige
deine Position. Ende.« Victor kroch weiter, bis er nur wenige Zentimeter von den Füßen des Mannes entfernt war. Er stupste seine Stiefelsohle an und huschte dann hinter den Baum auf der rechten Seite, sodass er nicht mehr zu sehen war. Bis der Kerl sich aufgerappelt hatte, um nachzusehen, was da eigentlich los war, war Victor schon um den Baum herumgeschlichen und stand jetzt im Rücken seines Gegners. Manchmal waren die einfachsten Tricks die besten. Victor rammte dem Mann den Kolben der MP5 in den Nacken, genau dort, wo die Wirbelsäule in den Schädel überging. Er plumpste leblos nach vorn und blieb einfach liegen.
Kapitel 54 Victor schüttete seinem Gefangenen Wasser übers Gesicht. Langsam kam der Amerikaner zu Bewusstsein, schlug die Augen auf, verzog das Gesicht, als er die Schmerzen in seinem Hinterkopf registriert hatte, und analysierte gleichzeitig seine Situation. Er saß mit dem Rücken an einen moosigen Baumstamm gelehnt, die Arme nach hinten gebogen, die Handgelenke zusammengebunden. Er zerrte an den Fesseln. »Gib dir keine Mühe«, sagte Victor. »Ich war früher mal Pfadfinder.« Der Mann stellte seine Bemühungen ein. Headset, Waffen sowie die Kampfweste hatte Victor ihm abgenommen. Abgesehen von ein paar Lutschbonbons hatte Victor nichts Nützliches darin entdeckt. Die grünen hatte er sich genommen, den Rest nicht angerührt. Der Amerikaner wirkte benommen, schien aber keine bleibenden Schäden davongetragen zu haben, was wirklich gut war. Der Hirnstamm war der empfindlichste Teil des Schädels, und ein Zusammenstoß mit einem zwei Kilogramm schweren Gewehr war für das
Gesamtbefinden nicht unbedingt förderlich. Victor ging neben ihm in die Hocke. Sein Gefangener blickte ihm voller Verachtung ins Gesicht, aber Victor sah die Angst, die hinter dieser aufgesetzten Feindseligkeit lauerte. Der Kerl sah aus wie Ende dreißig, Anfang vierzig, braune Haare, braune Augen, muskulös und athletisch. Seine Haare waren sehr kurz, sein Gesicht sonnengebräunt, und die Krähenfüße hatten sich tief in seine Haut gegraben. Er hatte seit etlichen Tagen nicht mehr geduscht oder sich rasiert. Er roch ziemlich übel, aber Victor musste davon ausgehen, dass er selbst die gleichen Düfte verströmte. Sogar im Schatten war es heiß. Victor spritzte sich ein bisschen Wasser ins Gesicht und über den Kopf. Das Wasser war lauwarm, aber trotzdem erfrischend. »Ich muss dir bestimmt nicht sagen, dass es eine einfache und eine schwierigere Möglichkeit gibt, wie wir das, was jetzt kommt, hinter uns bringen können.« Der Amerikaner starrte ihn wütend an. »Ich merke schon, du bist ein harter Bursche«, fuhr Victor fort. »Sehr gut ausgebildet. Auf deinen Oberarm hast du dir die Worte De Oppresso liber
tätowieren lassen: ›Freiheit den Unterdrückten‹.« Victor nahm noch einen Schluck Wasser. »Das ist das Motto der Special Forces der Armee der Vereinigten Staaten.« Der Amerikaner blieb stumm. »Leugnen hat keinen Zweck. Spielt sowieso keine Rolle. Ich wette, die beiden anderen haben ganz ähnliche Tätowierungen. Die sind übrigens beide tot.« Der Amerikaner sagte kein Wort. »Ich schätze, ihr habt damals alle zur gleichen Einheit gehört, oder? Muss ja ein ziemlich verschworener Haufen gewesen sein, dass ihr jetzt so was zusammen macht. An deinen Falten sieht man, dass du oft mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne gesehen hast. Das heißt, du warst im Irak oder in Afghanistan im Einsatz. Bist noch nicht lange raus, ein paar Jahre höchstens. Hast vermutlich irgendwo in Bagdad oder Kabul als privater Sicherheitsberater gearbeitet. Hast damit zwar sehr viel mehr verdient als in der Army, aber du warst ziemlich unterfordert, weil du immer bloß irgendwelche Diplomaten oder Presseteams bewachen musstest. Es ist frustrierend, wenn die
Fähigkeiten, die man sich ein Leben lang antrainiert hat, wieder verloren gehen, einfach nur, weil man sie nicht mehr anwendet, hab ich recht?« Der Amerikaner antwortete noch immer nicht. »Dann, eines Tages, bietet dir ein alter Bekannter, der schon ein bisschen länger aus der Army entlassen ist, einen anderen Job an, ebenfalls privat, aber anders. Mehr so wie das, was du früher in Diensten von Uncle Sam gemacht hast, und sogar noch besser bezahlt als die Babysitterei für irgendwelche Journalisten. Trotzdem hast du zunächst mal gezögert, einfach wegen der Art des Auftrags, hast am Anfang vielleicht sogar Nein gesagt, aber dein Bekannter hat dich davon überzeugt, dass es um einen richtig miesen Typen geht und dass du im Grunde genommen sogar ein gutes Werk tust. Es hat alles prima geklappt, so prima, dass du über kurz oder lang noch einen Auftrag bekommen hast und dann noch einen und noch einen. Ehe du dich’s versiehst, machst du nichts anderes mehr. Jedes Mal wird dein Bankkonto ein bisschen dicker und die Stimme in deinem Hinterkopf ein bisschen leiser, so lange, bis du nicht einmal mehr weißt, was sie eigentlich
gesagt hat.« Victor machte eine kleine Pause. »Und ehe du dich’s versiehst, bist du ein Auftragskiller.« Der Kerl starrte ihn an, verwirrt und mehr als nur ein bisschen verunsichert. »Worauf willst du eigentlich raus?« »Aber ich wette, du siehst dich im Grunde immer noch als Söldner«, fügte Victor hinzu. »Glaub mir, noch ein Jahr, und du hättest dir nicht mehr die Mühe gemacht, dir selbst in die Tasche zu lügen. Und um deine Frage zu beantworten: Ich will darauf hinaus, dass es jetzt, wo deine Kollegen tot sind, keinen Menschen mehr gibt, der dich besser kennt als ich. Und ich weiß, dass du nur mein Gegner bist, weil es dein Job ist. Es ist nichts Persönliches.« Der Blick des Amerikaners wurde hart. »Abgesehen davon, dass du meine beiden Kumpels umgebracht hast.« Victor nickte. »In Notwehr. Du hast schon mehr als einen Kameraden verloren. Das hier ist nichts anderes. Du wirst drüber wegkommen. Aber so lange kann ich nicht warten. Du musst dich hier und jetzt entscheiden, ob ich für dich bloß ein Job bin oder dein Feind.«
»Wieso?« Victor starrte ihn durchdringend an. »Du weißt, wieso.« Der Amerikaner ließ seinen Kopf auf die Brust sinken und holte einmal tief Luft. Als er wieder aufschaute, sagte er: »Es ist so, wie du gesagt hast. Für mich ist das ein Job. Nichts weiter. Im umgekehrten Fall hätte ich genauso gehandelt wie du. Ich nehm’s dir nicht übel.« Victor deutete auf die Wasserflasche, und der Amerikaner nickte. Victor hielt ihm die Flasche hin, damit er aus dem Strohhalm trinken konnte. Er schluckte mehrmals. Victor stellte die Flasche wieder auf den Boden. »Für wen arbeitest du?«, wollte er dann wissen. Der Amerikaner runzelte die Stirn. »Ach, komm schon, Mann, du weißt, dass ich dir das nicht sagen kann.« Victor nickte verständnisvoll und zog das Messer aus seiner Kampfweste. »Ich bin kein Freund von Folter«, sagte er. »Aber nicht, weil ich irgendwie zimperlich wäre. Je mehr Blut man sieht, desto weniger macht es einem aus, das weißt du so gut wie ich.« Er tippte die Spitze der Klinge an. »Ich
finde es vor allem deshalb so unangenehm, weil ich eigentlich ein sehr reinlicher Mensch bin und Foltern in eine ziemliche Schweinerei ausarten kann. Ich veranstalte nur ungern Schweinereien, aber manchmal lässt es sich eben nicht vermeiden.« Der Blick des Amerikaners war starr auf das Messer gerichtet. »Das muss doch nicht sein.« »Dann versuch’s doch noch mal mit einer Antwort auf meine Frage.« Der Amerikaner schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht genau.« »Das reicht mir nicht.« »Warte doch. Shane hat die Kontakte zu den Kunden gehabt. Sonst keiner. Das war sein Job. Ich hab immer bloß geschossen. Er war der Boss.« Victor zog eine Augenbraue in die Höhe. »Deine Funkkennung war Cowboy Daddy.« »Also gut«, sagte der Mann nach einer Pause. »Also gut.« »Du hast die ganze Organisation gemacht, alles, was vor und nach dem Einsatz zu erledigen war. Wie ist das gelaufen? Über tote Briefkästen, per Telefon, online?« »Alles am Computer. Das ist das Sicherste. Für
jeden Auftrag ein neuer E-Mail-Account. Die Hälfte als Vorschuss, die andere Hälfte sobald der Job erledigt war. So mach ich das immer. Dann können die Kunden dich nicht so leicht verarschen.« Victor nickte. »Ich mach’s genauso, aus genau demselben Grund.« Er holte ein Smartphone aus seiner Kampfweste, schaltete es ein und öffnete einen Browser. Der Empfang war ganz hervorragend. Die oberen Zehntausend von Sotschi erwarteten das. »Gib mir die Daten für den aktuellen E-MailAccount.« »Das geht nicht«, erwiderte der Amerikaner. »Da komme ich bloß von meinem Computer zu Hause aus ran.« »Wie hätten deine beiden Kumpels die zweite Hälfte des Honorars bekommen, wenn du draufgegangen wärst?« Der Amerikaner zögerte. »Wie meinst du das? Verstehe ich nicht.« »Verstehst du sehr wohl. Ihr habt gemeinsam bei der Army gedient und getötet. Ihr habt euch gegenseitig das Leben gerettet. Es gibt nichts, was Menschen so sehr zusammenschweißt. Sie waren
d e i ne Kumpels, hast du selbst gesagt. Und Freunde, die einander in der Schlacht den Rücken frei halten, hören niemals auf, füreinander zu sorgen. Du hättest sie unter keinen Unständen im Stich gelassen, und wenn du dir selbst eine Kugel eingefangen hättest. Wenn du einen Safe hast, dann kannten sie die Kombination, wenn du alles in einem Schließfach deponiert hast, dann haben sie einen Schlüssel dafür. Ein Computer, zu dem nur du Zugang hast, hätte ihnen nichts genützt. Also frage ich dich jetzt zum letzten Mal, bevor ich die Wahrheit aus dir herausschneide: Wie lauten die Daten?« Geschlagen wandte der Amerikaner den Blick ab. »Bevor wir losgefahren sind, habe ich jedem den Namen und das Passwort für den E-Mail-Account gegeben. Nur für den Fall.« »Wie ein guter Kumpel eben.« Der Amerikaner gab Victor alle notwendigen Angaben, und er loggte sich ein. Im Posteingang fanden sich fünf E-Mails des anonymen Kunden oder Maklers. Victor las sie in chronologischer Reihenfolge durch. Die erste E-Mail enthielt das Angebot mitsamt Honorar und dem geeigneten
Zeitfenster. Im Anhang der zweiten befand sich Victors Dossier. Die letzten drei dienten der Klärung von Einzelheiten. Victor öffnete den Anhang der zweiten Mail und las die Datei. Vor sieben Monaten hatte er schon einmal ein ähnliches Dokument vor sich gehabt. Damals hatte es lediglich ein einziges Blatt Papier mit einer ungefähren Beschreibung seiner äußeren Kennzeichen sowie ein Phantombild umfasst. Dieses Dossier hier war deutlich umfangreicher. Es enthielt genaue Angaben über Größe, Gewicht, Haar- und Augenfarbe, dazu eine, wenn auch mehr als unvollständige Liste der Sprachen, die er beherrschte. Auf einer Seite wurden seine Nahkampffähigkeiten beschrieben. Etliche seiner Identitäten waren auch aufgeführt. Am verräterischsten jedoch waren die Fotos von seinem Gesicht, Porträtaufnahmen von vorn und von beiden Seiten. Darauf waren seine Haare nur wenige Millimeter lang. Auf seiner Stirn war getrocknetes Blut zu erkennen, und allem Anschein nach hatte er auch noch andere Verletzungen. Diese Bilder waren ohne sein Wissen entstanden, und zwar während eines Krankenhausaufenthalts vor seiner
Rekrutierung durch die CIA. Eine wertvolle Versicherungspolice für seinen Auftraggeber. Es war schlimm genug, dass er Victor überhaupt betrogen hatte, aber die Erkenntnis, dass dieser Betrug von langer Hand geplant gewesen war, machte es noch viel schlimmer. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, darauf zu reagieren. Das Dossier erläuterte, dass Victor den Auftrag hatte, Kasakov zu beseitigen und dass er selbst auch beseitigt werden musste, aber erst im Anschluss an die Ermordung des Waffenhändlers. Seine Leiche sollte irgendwo entsorgt werden, wo sie nie wieder auftauchen konnte. Erbitte sofortige
Bestätigung nach Eliminierung der Zielperson. Victors Kiefermuskeln spannten sich. »Wie viele Aufträge habt ihr für diesen Kunden zuvor schon gemacht?« Der Amerikaner zuckte mit den Schultern, soweit seine Haltung das zuließ. »Nur einen.« »Erzähl.« »Vor ein paar Wochen. In Beirut. Sollten einen ägyptischen Waffenhändler mitsamt seiner Frau und seinen Kindern entführen.«
Zwischen Victors Augenbrauen bildete sich eine steile Falte. »Ägyptischer Waffenhändler?« »Genau.« »Name?« »Keine Ahnung, Mann. Irgend so ein Araber. Du weißt doch, wie das ist.« »Baraa Ariff«, sagte Victor. Der Amerikaner nickte. »Ja, genau. Woher weißt du das?« »Wem habt ihr Ariff und seine Familie übergeben?« »Gar niemandem.« »Was habt ihr mit ihnen gemacht?« Der Amerikaner schaute ein wenig betreten drein. »Was hast du denn gedacht? Wir haben sie umgebracht.« Victor runzelte die Stirn. »Wieso habt ihr sie dann überhaupt entführt, wenn ihr sie sowieso umbringen wolltet?« »Der Kunde wollte, dass sie gefoltert und dabei gefilmt werden.« Erneut runzelte Victor die Stirn. Er versuchte, sich die Bilder nicht auszumalen. »Wie lautet der Account für diesen Auftrag?«
»Den habe ich gelöscht. Das mache ich jedes Mal nach …« »Schon gut.« Victor nickte. »Ich glaub’s dir. Mach ich auch immer.« Victor las die E-Mails noch einmal durch, um ein Gespür für die Wortwahl und den Ton des Amerikaners zu bekommen, dann verfasste er eine Bestätigung seiner eigenen Ermordung. Es wäre sinnlos gewesen, das dem Amerikaner zu überlassen … entweder hätte er absichtlich versucht, die Nachricht zu sabotieren, oder der Stress, dem er im Augenblick ausgesetzt war, hätte sich unbewusst darin niedergeschlagen. Victor schickte die Bestätigung ab. Seine Sachen waren bereits gepackt, und er hatte das Areal so gründlich wie nur möglich gesäubert. Er schaltete das Handy aus, setzte den Rucksack auf und zog die MK23 aus dem Oberschenkelhalfter. »He«, sagte der Amerikaner mit weit aufgerissenen Augen. »Was soll denn das?« »Vorhin habe ich gesagt, dass das zwischen uns nichts Persönliches ist. Aber da habe ich noch nicht gewusst, dass du Kinder umgebracht hast.« Victor
entsicherte die Pistole und richtete die Mündung zwischen die Augen des Amerikaners. »Sogar für Leute wie uns gibt es gewisse Grenzen.«
Klack. Klack.
Kapitel 55 Bologna, Italien
Alberto Giordano saß vor einem seiner LieblingsCafés im Herzen der Altstadt, spürte die wärmende Sonne auf seinem Rücken, nippte an seinem Espresso, und wenn eine oder mehrere hübsche Bologneserinnen an ihm vorbeigingen, erfreute er sich jedes Mal aufs Neue an deren Anblick. Giordano war zwar in Rom geboren, aber schon vor vielen Jahren hatte er sich in Bologna verliebt. Es war eine großartige Stadt – lebendig, offen, unterhaltsam, unverfälscht und wunderschön –, und Giordano schätzte sich glücklich, dass ihn die Geschäfte in ihre mittelalterlichen Mauern verschlagen hatten. In seiner Jungend hatte er davon geträumt, Künstler zu werden, hatte gehofft, als Schöpfer moderner Meisterwerke dieselbe Verehrung zu erfahren wie die Meister der Renaissance, die er so sehr bewunderte. Aber als Not leidender Maler war es schwer, die Rechnungen zu bezahlen, und so hatten Giordanos geschickte Hände irgendwann, vermittelt durch den Freund eines Freundes, ein profitableres Betätigungsfeld
gefunden. Bei dem Gedanken, dass all seine Jugendträume der harten Realität zum Opfer gefallen waren, wäre ein anderer womöglich traurig geworden, aber wie konnte Giordano traurig sein, wo das Leben so gut zu ihm war? Zwei wohlgeformte junge Frauen gingen an ihm vorüber. Ihre Absätze klackerten über das Kopfsteinpflaster, und Giordano applaudierte ihnen höflich. Aus irgendeinem Grund, den Giordano bis heute noch nicht begriffen hatte, empfanden Ausländerinnen ein solches Kompliment als peinlich oder gar unanständig. Nur die Italienerinnen freuten sich darüber, dass ihre Bemühungen gebührend honoriert wurden. Diese beiden bildeten keine Ausnahme. Sie warfen Giordano verstohlene Blicke zu und lächelten, während sie miteinander flüsterten. Bei anderer Gelegenheit wäre Giordano ihnen vielleicht nachgegangen, aber wenn er seinen Kaffee getrunken hatte, stand ein Treffen mit einem Kunden bevor. Also winkte er ihnen einfach nur charmant zu und freute sich, als die Geste erwidert wurde. Giordano war der einzige Gast im Freien, bis ein
zweiter Mann sich an einen der Tische in der ersten Reihe setzte. Ein Kellner nahm seine Bestellung entgegen, und Giordano verlangte nach der Rechnung. Als er den letzten Rest seines Espresso austrank, merkte er, dass sich hinter ihm irgendetwas verändert hatte. Er drehte sich um und sah, dass eine Frau sich an den Tisch hinter ihm gesetzt hatte. Er hatte ihre Ankunft nicht bemerkt, und jetzt wurde ihm auch klar, wieso. Sie hatte ein gewöhnliches Gesicht, eine gewöhnliche Figur und kurzes, jungenhaftes Haar. Ihre triste Kleidung verbarg alles, was sie irgendwie als Frau hätte kenntlich machen können. Giordano drehte sich wieder zurück, verärgert über die Störung seines angenehmen Nachmittags. Mit den Fingern nahm er ein paar CiabattaKrümel von seinem Teller auf und wartete, bis der Kellner mit der Rechnung kam. Da hörte er, wie ein Wagen am Randstein anhielt. Er dachte sich nichts dabei, bis er eine Schiebetür hörte und ein Schatten auf seinen Tisch fiel. Er drehte sich um und registrierte gleichzeitig, dass der Mann, der in der ersten Reihe gesessen hatte, von seinem Stuhl aufsprang. Giordano
erschrak und wollte gerade ebenfalls aufstehen, da wurde er von kräftigen Händen an den Schultern gepackt. Er hörte ein elektrisches Surren und spürte einen kreischenden Schmerz, der von seinem Lendenbereich ausging und seinen gesamten Körper durchschüttelte. Unter unkontrolliertem Zucken rutschte Giordano von seinem Stuhl, aber die kräftigen Hände verhinderten, dass er zu Boden fiel. Noch mehr Hände packten seine Beine, und er merkte, wie sein gelähmter Körper in die Luft gehoben wurde. Er konnte sich nicht rühren, konnte nicht schreien und wurde in den Laderaum des Transporters geschoben. Die Tür knallte zu, und er lag auf dem kalten Metallboden, umgeben von Gestalten, die er nicht erkennen, und Worten, die er nicht verstehen konnte. Der Transporter fuhr los. Seine Hände wurden gepackt und mit Plastikhandschellen gefesselt, die sich schmerzhaft in seine Haut fraßen. Klebeband wurde ihm auf den Mund geklebt, und ein Sack wurde ihm über den Kopf gestülpt. »Du wehrst dich«, sagte eine Frau auf Italienisch mit einem seltsamen Akzent, »dann kriegst du noch
mal einen Elektroschock. Wenn du verstanden hast, dann nickst du.« Giordano gehorchte. »Wir fahren irgendwohin, wo wir reden können«, fuhr sie fort. »Wenn wir da sind und du unsere Fragen alle vollständig und wahrheitsgemäß beantwortest, wird dir nichts geschehen. Wenn du verstanden hast, dann nickst du noch mal.« Er nickte wieder, aber er hörte auch, dass sie ihn angelogen hatte. Und begann unter seinem Sack zu schluchzen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht lag Giordano auf dem harten Metallboden, während der Transporter durch die Straßen von Bologna kurvte. Sein unterer Rücken tat weh … so, als hätte er sich verbrannt. Seine Entführer sprachen kein Wort mehr, weder mit ihm noch untereinander. Er wusste, dass es mindestens vier sein mussten: Einer fuhr den Wagen, dann der Mann, der im Café vor ihm, und die Frau, die hinter ihm gesessen hatte, und dann noch der Kräftige, der ihn an den Schultern gepackt hatte. Er wusste nicht, wer sie waren. Er wusste nicht, was sie von ihm wollten. Sich zu wehren war sinnlos. Im besten Fall würden
sie ihm noch einen Elektroschock verpassen. Und was sie im schlimmsten Fall mit ihm anstellen mochten, das wollte er sich lieber gar nicht erst ausmalen. Nach schätzungsweise einer Viertelstunde hielt der Wagen an. Giordano spannte die Muskeln, dachte voll Entsetzen an das, was ihm möglicherweise bevorstand. Die Schiebetüren wurden aufgezogen, und Licht drang durch den Sack über seinem Kopf. Hände packten seine Gliedmaßen und zerrten ihn aus dem Laderaum. Giordanos Füße landeten auf dem Untergrund, und kräftige Hände hielten ihn aufrecht. Die Frau sagte: »Denk daran. Wenn du unsere Fragen vollständig beantwortest, dann geschieht dir nichts.« Er wurde durch eine Art verlassene Fabrikhalle oder Lagerhaus geführt. Das Echo ihrer Schritte hallte durch den Raum. Sie gingen schnell, und Giordano hatte Mühe, Schritt zu halten. Starke Hände sorgten dafür, dass er nicht stolperte. »Stopp«, sagte die Frau nun, und Giordano blieb stehen. Dann rasselte etwas.
Ketten legten sich um seine Handgelenke, und dann wurden seine Arme von einer starken Kraft in die Senkrechte gezogen, so weit, bis er nur noch mit den Ballen den Boden berührte. Er spürte einen ziehenden Schmerz in den Schultern und verzog das Gesicht. Noch immer konnte er nichts sehen. Klebeband wurde um seine Knöchel gewickelt. Räder quietschten, dann rumpelte irgendetwas über einen unebenen Fußboden. Es blieb direkt vor Giordano stehen. Sein Puls wurde schneller, sein Atem ging stoßweise, und er hatte Angst vor dem unbekannten Ding. Der Sack wurde ihm vom Kopf gezogen, und obwohl es düster war, kniff er die Augen zusammen. Es dauerte einen Moment, bis sie sich auf die Lichtverhältnisse eingestellt hatten. Sie befanden sich tatsächlich im Inneren einer Fabrik oder Lagerhalle. Sie war so riesig, dass die Wände nicht zu erkennen waren, weil sie irgendwo weit weg im Schatten lagen. Vor ihm standen eine Frau und ein Mann. Er erkannte das gewöhnliche Gesicht und die jungenhafte Frisur der Frau aus dem Café wieder. In dem trüben Licht wirkten ihre Züge noch härter. Den
Mann sah Giordano zum ersten Mal. Er war muskulös und sehr groß, mit einem militärischen Kurzhaarschnitt und dichten Augenbrauen, die fast zusammengewachsen waren. Völlig ausdruckslos stand er da, und doch schien eine gewisse Brutalität von ihm auszugehen. Neben der Frau stand ein rostiger Werkzeugwagen, wie ihn Mechaniker gelegentlich benutzten. Auf dem Rollwagen lagen eine Zange, ein Bolzenschneider, diverse Klingen, ein Bandschleifer, eine Kreissäge und ein Schweißbrenner. Giordano stieß einen unterdrückten Schrei aus. Die Frau sagte: »Wenn du uns offen und ehrlich antwortest, dann brauchen wir das alles gar nicht.« Giordano hörte ihre Worte kaum. Sein Blick hing wie hypnotisiert an dem Werkzeugwagen. Er riss und zerrte an seinen Fesseln, erreichte jedoch lediglich, dass seine Füße sich vom Boden hoben und er sanft hin und her schaukelte. Der muskulöse Mann trat vor und stieß Giordano die Faust in den Magen. Der Schmerz durchzuckte seinen Unterleib, er krümmte sich, hustete und prustete in das Klebeband, das immer noch über seinem Mund lag.
»Wir brauchen nur ein paar Informationen«, sagte die Frau. »Informationen. Über die du verfügst, Alberto. Gib uns diese Informationen, dann ist die ganze Affäre schnell wieder vorbei. Weigerst du dich, dann ist das hier nur der Anfang.« Als er sich halbwegs erholt hatte, riss der Muskulöse ihm das Klebeband vom Mund. Die Frau strich mit den Fingerspitzen über die diversen Klingen und entschied sich für einen Teppichschneider. »Nein, bitte«, flehte Giordano. Die Frau hob den Teppichschneider und trat näher. Giordano kreischte und versuchte, der Klinge auszuweichen. Der Muskulöse packte ihn an den Beinen, damit er ruhig blieb. Giordano kreischte weiter, während die Frau sein T-Shirt vom Hals bis zum Bauchnabel auftrennte. Sie schlug die beiden Hälften auseinander, enthüllte sein nacktes Fleisch und setzte die Klinge auf seinen Bauch. Die Haut gab nach, doch der Druck reichte nicht, um sie zu durchdringen. Noch nicht. Giordano war gelähmt vor tödlichem Schrecken. Tränen strömten aus seinen Augen. Die Frau hielt ihm ein grobkörniges Bild vor die
Nase und sagte: »Wo ist dieser Mann?« »Das weiß ich nicht. Ich schwöre.« »Du lügst«, sagte sie, und Giordano spürte den Druck der Klinge stärker werden. »Er war hier bei dir in Bologna, vor zwei Wochen. Du hast dich zweimal mit ihm getroffen. Das haben deine Leute bereits bestätigt.« »Aber ich weiß nicht, wo er jetzt ist«, brüllte Giordano und versuchte, dem Messer auszuweichen. »Ich weiß es nicht.« »Warum hat er dich aufgesucht? Was wollte er?« »Informationen.« »Worüber?« »Er hatte eine Kamera. Er wollte, dass ich herausfinde, woher sie stammt.« »Und, hast du?« »Ich habe ihm den Namen einer Firma genannt – Lancet Incorporated. Mehr habe ich nicht gefunden.« Die Frau wechselte ein paar Worte mit dem muskulösen Mann in einer Sprache, die Giordano nicht verstand. »Was hast du ihm sonst noch gegeben?«, wollte die Frau wissen.
»Gar nichts. Ich schwöre.« Die Frau musterte Giordano durchdringend. »Ich weiß, dass du ihm gegenüber loyal bist, aber ich erkenne, dass du auch Angst hast vor ihm. Ist es nicht so, Alberto?« Giordano gab keine Antwort. »Du musst es nicht bestätigen«, sagte sie. »Ich finde das amüsant. Ich finde es amüsant, dass du es wagst, mich anzulügen, obwohl ich die Macht besitze, dir die grässlichsten Schmerzen zuzufügen, die du dir vorstellen kannst.« »Ich lüge nicht«, wagte Giordano zu sagen. »Aber natürlich nicht.« Mit einer schnellen Bewegung zog die Frau die Klinge des Teppichmessers quer über den Unterleib des Italieners. Die Haut platzte auf. Blut sickerte heraus. Giordano heulte auf. Er zuckte und warf sich hin und her, versuchte, sich aus den Ketten und dem Griff des muskulösen Mannes zu winden, der seine Beine festhielt. »Du bist ein meisterhafter Fälscher«, sagte die Frau mit lauter Stimme, um Giordanos Geheul zu übertönen. »Was hast du für ihn gemacht? Einen
Ausweis? Reisepass?« »Ja«, stieß Giordano zwischen den Schmerzensschreien hervor. »Einen Reisepass. Ich
hab ihm einen Reisepass gemacht.« »Schon besser«, meinte die Frau zufrieden. Sie legte das Teppichmesser auf den Rollwagen und wandte sich von Giordano ab. »Viel besser. Wie lautet der Name auf dem Reisepass, den du für diesen Mann angefertigt hast?« »Tolento Lombardi«, erwiderte er. »Kannst du dich erinnern, dass ich gesagt habe, ich würde dir nichts tun, wenn du die Wahrheit sagst?«, fragte sie ihn, ohne sich umzudrehen. Und fügte, noch bevor Giordano antworten konnte, hinzu: »Bedauerlicherweise hast du beschlossen, mich anzulügen. Und jetzt kann ich dir kein Wort mehr glauben.« Giordano verzog das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse. Er konnte das warme Blut spüren, das über seinen Unterbauch lief. Schweiß bedeckte seinen ganzen Körper. »Es tut mir leid. Bitte. Ich lüge nie wieder. Bitte.« »Es gibt Menschen, die halten Folter für uneffektiv«, sagte die Frau. Immer noch hatte sie
Giordano den Rücken zugewandt. »Aber sie ist nur dann uneffektiv, wenn sie von ungeübten Personen angewandt wird. Ich studiere diese Kunst seit über einem Jahrzehnt, überall auf der Welt. Ich habe jede nur vorstellbare Technik erlernt, die modernen ebenso wie die alten. Aber ich komme leider viel zu selten dazu, meine Fähigkeiten einzusetzen.« Jetzt endlich drehte sie sich um, den Schweißbrenner in der Hand. »Nun, Alberto, ich bin außerordentlich froh darüber, dass du dich entschlossen hast, mich anzulügen. Herzlichen Dank dafür.« Mit einem lauten Wusch entzündete sie die Flamme.
Kapitel 56 Moskau, Russland
Julia Eltsina stand in einem der vielen Lagerhäuser, die der Organisation gehörten. Obwohl der Waffenhandel ein sehr weit verzweigtes Unternehmen war, gab es weder ein Bürogebäude noch eine Zentrale. Die Organisationsstruktur ähnelte vielmehr einem terroristischen Netzwerk mit vielen Zellen, die weitgehend unabhängig voneinander operierten. Jede Zelle erhielt ihre Anweisungen von einem höherrangigen Mitglied der Organisation, das wiederum einem Angehörigen des Führungsstabes unterstellt war. Den Kopf der Organisation bildete ein Vorstand, in dem Burliuk und Eltsina als Vizepräsidenten fungierten. Den Posten des Vorstandsvorsitzenden nahm selbstverständlich Kasakov ein. Bis jetzt. Von den sieben einfachen Vorstandsmitgliedern waren nur fünf zu der Sitzung erschienen. Die anderen waren zu weit weg und hätten es nicht rechtzeitig geschafft, würden jedoch im Anschluss über die neuesten Entwicklungen informiert werden. Eltsina erlebte einen Machtrausch, der ihre Hände
zittern ließ. Noch nie hatte sie sich so lebendig gefühlt. Die Lagerhalle stand leer. Sie war lediglich ein Bestandteil der legalen Fassade der Organisation. Der saubere, glänzende Fußboden reflektierte das weiße Licht der Neonröhren an der Decke, die in gerader Linie von einer Wand zur anderen liefen. Stahlpfeiler stützten die Decke. Klimaaggregate hingen ungenutzt an Seilen. Das riesige Rolltor am einen Ende der Halle stand offen, um den Vorstandsmitgliedern die Einfahrt zu ermöglichen. In einem lockeren Halbkreis aufgereiht fanden sich dort zwei Bentleys, ein Rolls-Royce, eine ZilLimousine und zwei BMW. Eltsinas Mercedes parkte draußen vor der Halle. Burliuk und die fünf Vorstandsmitglieder standen als lockeres Grüppchen beisammen. Ihre Fahrer und Leibwächter warteten am anderen Ende der Lagerhalle, außer Hörweite. Die Vorstandsmitglieder waren alle sehr gut gekleidet, so, wie Kasakov es verlangte. Die meisten waren grauhaarig und übergewichtig. Ein Haufen langweiliger Männer, genauso skrupellos wie geldgierig. Und allesamt Chauvinisten. Es hatte
Jahre gedauert, um ihnen wenigstens so viel Respekt beizubringen, dass dieser Moment überhaupt möglich war. Eltsina wusste, dass sie sich der Unterstützung dieser Machos so lange sicher sein konnte, wie sie glaubten, dass sie sie noch reicher machen konnte. »Meine Herren«, begann sie. »Es tut mir sehr leid, dass ich Sie alle in solcher Eile hierherbitten musste, aber ich habe sehr schlechte Nachrichten.« Sie richtete den Blick erst zu Boden und ließ ihn dann in der Halle umherschweifen, als suchte sie verzweifelt nach Worten. Mit gebrochener Stimme sagte sie schließlich: »Vladimir ist tot.« Stille. Zuerst lag ungläubiger Zweifel auf den Gesichtern, dann Schock. »Was soll das denn heißen?«, sagte einer. »Wie? Wann?«, wollte Burliuk wissen. Eltsina setzte eine schmerzvolle Miene auf, bemühte sich aber gleichzeitig, nicht allzu gequält zu wirken, um nicht als schwache Frau dazustehen. »Soweit ich weiß, ist es gestern geschehen, während seines Urlaubs mit Izolda. Er ist erschossen worden.« Ein besonders fettleibiges Vorstandsmitglied
schnaufte: »Unmöglich. Das glaube ich nicht.« »Es ist wahr«, versicherte Eltsina. »Was ist mit Izolda?«, erkundigte sich Burliuk. Seine Stimme klang verzweifelt. »Ist sie in Sicherheit?« »Soweit ich weiß.« Jetzt murmelten alle durcheinander, fassungslos und wütend. Burliuk wirkte eher geschockt als zornig, genau, wie sie angenommen hatte. Vermutlich überlegte er bereits, was er sagen sollte, um das Kommando zu übernehmen. »Wie Sie alle wissen«, fuhr Eltsina fort, »führt Baraa Ariff seit einigen Wochen einen Krieg gegen Vladimir. Aufgrund seiner beispiellosen Attacken haben wir bis jetzt schon etliche hundert Millionen Dollar und zahlreiche Mitarbeiter verloren. Aber durch die Ermordung Vladimirs hat er uns einen noch viel größeren Schaden zugefügt.« Sie senkte den Blick und schluckte. Nicht übertreiben, sagte sie sich. »Aber wie ist das möglich? Ariff ist doch tot«, rief ein Vorstandsmitglied. Zustimmendes Gemurmel schloss sich an. »Ich nehme an, Ariff hatte die Attentäter bereits
beauftragt, bevor er selbst umgebracht wurde«, meinte Eltsina. »Oder seine Adjutanten sind dafür verantwortlich, aus Rache.« Überall Nicken und Flüche. Burliuk blickte sie an, doch seine Miene gab seine Gedanken nicht preis. »Wir haben noch genügend Zeit, um Vladimir zu trauern«, sagte sie. »Aber er hat dieses Imperium mit eigenen Händen aufgebaut, und es würde ihn unfassbar traurig machen, wenn er mit ansehen müsste, wie es in seine Einzelteile zerfällt. Wir müssen unsere Kräfte bündeln, die Schäden reparieren und stärker werden als jemals zuvor.« »Ja.« »Hört, hört.« »Aus diesem Grund«, fuhr Eltsina fort, »müssen wir entschlossen und schnell handeln, bevor andere die Lücke füllen, die Vladimirs Tod hinterlassen hat.« »Dann brauchen wir einen neuen Vorsitzenden.« »Aber wen?« Eltsina ließ die Stille einen Augenblick wirken, dann sagte sie, mit einem Seitenblick auf Burliuk: »Selbstverständlich ist Tomasz der logische
Thronfolger. Er hat Vladimir nähergestanden als wir alle zusammen und war länger als jeder andere an seiner Seite. Aber«, fügte sie hinzu und schickte jedem der Vorstandsmitglieder, die sie im Lauf des vergangenen Monats mit gezielten Lügen manipuliert hatte, einen wohlüberlegten Blick, »auch er hat, genau wie Vladimir, nach Ariffs Blut gelechzt. So sind sie gemeinsam dafür verantwortlich, dass Ariffs Todesschützen bis vor unsere Haustür gekommen sind.« Mit einem Blick in die Gesichter der Vorstandsmitglieder wusste Burliuk alles, was er wissen musste. Keiner von ihnen hätte es gewagt, das zu sagen, was sie gerade gesagt hatte, aber sie waren alle ihrer Meinung und hatten zumindest ihren Lügen und Übertreibungen geglaubt. Burliuk starrte Eltsina durchdringend an, sagte aber nach wie vor kein Wort. Er war klug genug, um nicht blindlings zurückzuschlagen, ohne genau zu wissen, was hier eigentlich vor sich ging. »Solchen Leichtsinn können wir uns in Zukunft nicht erlauben«, fuhr sie fort. »Daher schlage ich vor, dass in Ermangelung eines anderen geeigneten
Kandidaten ich die Geschäfte von Vladimir übernehme. Natürlich nur, wenn der ehrenwerte Vorstand sich damit einverstanden erklärt.« Die Vorstandsmitglieder schauten einander an. Die Mutigeren warfen auch Burliuk einen Blick zu. Sie waren zwar alle reiche, mächtige Männer, aber jeder Einzelne war im Herzen ein Feigling. Schließlich nickte einer und sagte: »Ja. Ich finde, Julia soll übernehmen.« »Einverstanden«, meinte ein anderer. Wie fallende Dominosteine signalisierten auch die drei anderen ihr Einverständnis. Eltsina widerstand dem Drang zu lächeln und blickte Burliuk an. Ein Hauch von Angst schlich sich auf seine Miene. »Möchtest du vielleicht noch etwas sagen, Tomasz?« Ihr war ganz schwindelig vor Macht. Das Adrenalin, das ihre Adern durchströmte, fühlte sich göttlich an. »Hast du denn überhaupt nichts zu sagen?« »Ich schon«, ließ sich da eine tiefe Stimme vernehmen. Sie hallte durch die Lagerhalle. Alle drehten sich um und sahen Kasakov, gefolgt von seinen fünf Leibwächtern, eintreten.
Eltsina konnte es nicht glauben. Kasakov kam mit langen Schritten auf sie zu – riesig, Achtung gebietend, lebendig. Furchterregend. Kraftlos griff Eltsina nach ihrer Pistole. Doch noch bevor ihre Hand den Griff berühren konnte, hatte Kasakovs Elitetruppe die Waffen gezogen und gebrüllt: »Keine Bewegung!« Sie streckte ihnen die geöffneten Handflächen entgegen. »Ich verstehe das nicht«, brachte sie hervor, während Kasakov näher kam. »Das brauchst du auch nicht zu verstehen«, erwiderte Kasakov und landete eine mächtige rechte Gerade in ihrem Gesicht, sodass sie mit gebrochenem Jochbein und Kiefer bewusstlos zu Boden fiel. Kasakov verzog das Gesicht und schüttelte seine Hand. Dann wandte er sich an den Vorstand. »Meine Herren«, setzte er an. »Ich entschuldige mich für das Schmierentheater, aber ich kann Ihnen versichern, es war unumgänglich. Lediglich zwei Menschen haben gewusst, wo ich meinen Urlaub verbringe: Tomasz und Julia. Trotzdem hat man versucht, mich dort zu ermorden. Nach Julias kleiner Ansprache dürfte wohl allen klar sein, wer
dahintersteckt.« »Nein«, presste Eltsina trotz des gebrochenen Kiefers hervor, während sie langsam wieder zu Bewusstsein kam. »Ruhig, meine Süße«, sagte Kasakov. »Später kannst du dann so viel Lärm machen, wie du willst.« Er lächelte, und sein Schatten fiel über das Gesicht der Russin. »Und du hast gedacht, schon das, was ich Ariff angetan habe, sei sehr grausam gewesen.« Es war beinahe Mitternacht, als Kasakov und Burliuk in Kasakovs Datscha eintrafen. Der Flur war mit Tüchern ausgelegt. Überall lagen Backsteine, Metallstangen, Schrauben, Werkzeuge sowie stapelweise zehn Zentimeter dicke Platten aus Polykarbonatglas. Jedes Fenster der Datscha bekam eine hochwertige kugelsichere Scheibe aus dem besten Material, das für Geld zu bekommen war. In jedem Zimmer wurden Bewegungsmelder und Kameras installiert. Kasakovs Datscha war schon immer sicher und gut bewacht gewesen, aber jetzt wurde sie in eine Festung verwandelt. »Bitte entschuldige das Durcheinander«, sagte Kasakov zu Burliuk, nachdem sie die Treppe
hinaufgestiegen waren, »aber ich glaube, du kannst nachvollziehen, dass ich meine Sicherheitsmaßnahmen verstärken lasse. Du kannst froh sein, dass meine Wachen nicht darauf bestanden haben, einen Blick in deine Körperöffnungen zu werfen.« Ein bewaffneter Leibwächter war auf dem oberen Treppenabsatz postiert, mit Blick auf das Treppenhaus. Ein zweiter am unteren Ende. Einer an jedem Ende des lang gestreckten Flurs. Kasakov brachte Burliuk in sein Arbeitszimmer und machte die Tür zu. »Nimm Platz, Tomasz.« Burliuk setzte sich. »Izolda ist unten«, sagte Kasakov und setzte sich an seinen Schreibtisch. »Sie hat das Attentat überraschend gut verkraftet, finde ich. Sie ist eine starke Frau, aber ich habe sie schon viel zu lange alleine gelassen, nur in Begleitung irgendwelcher Bodyguards.« »Nimm dir eine Zeit lang frei«, sagte Burliuk. »Bleib bei Izolda. Kümmere dich um deine Frau und überlass mir den Rest.« Kasakov musste lächeln. »Genau das habe ich
vor, alter Freund. Aber sag mir zuerst, Tomasz, wie ist der Stand mit den Nordkoreanern?« »Ich fürchte, sie haben die MiG-Bestellung zurückgezogen und sich für die Inder entschieden.« »Das habe ich mir schon gedacht«, erwiderte Kasakov. »Diese Leute plustern sich dermaßen auf und haben doch Angst vor ihrem eigenen Schatten. Aber das ist ihr Pech, nicht meines.« »Ich wünschte, du hättest recht. Dieses Geschäft war lebenswichtig für uns, nicht nur im Hinblick auf das Geld, sondern auch für unseren Ruf. Es wird lange dauern, bis man uns wieder Vertrauen schenkt. Und wer soll jetzt noch bei uns kaufen? Wie viele Konflikte werden heutzutage noch mit Panzern und Kampfflugzeugen ausgetragen? Der Krieg hat sich gewandelt. Wir befinden uns in der Ära der Terroristen und der Guerilla, und die führen ihre Kämpfe mit Gewehren und Sprengsätzen.« »Da hast du natürlich recht«, pflichtete Kasakov ihm bei, »aber trotzdem ist mir das alles egal. Wie viel Macht und Reichtum kann man als einzelner Mensch schon besitzen?« »Ich verstehe nicht, was du meinst.« »Ich ziehe mich zurück.«
»Wie kommst du denn darauf?« »Ich denke schon eine ganze Weile darüber nach, aber als ich erfahren habe, dass ich Vater werde, musste ich nicht mehr länger überlegen.«
»Was?« Kasakov stand auf. »Izolda ist schwanger. Wir bekommen ein Baby. Endlich.« Burliuk starrte ihn mit offenem Mund an. Er rang um Worte. »Du hast wirklich grässliche Manieren«, meinte Kasakov. »Das ist für gewöhnlich die Stelle, wo man dem werdenden Vater gratuliert.« »Tut mir leid, Vladimir. Gratulation. Ich bin einfach nur sprachlos, das ist alles.« Er stand auf, und die beiden Männer umarmten sich. Kasakov drückte seinen Freund fest an sich, doch dessen Erwiderung fiel sehr kraftlos aus. »Das ist ja wirklich eine gewaltige Überraschung.« Sie lösten sich aus der Umarmung. »Was glaubst du, wie überrascht ich war oder erst Izolda? Gestern Abend, nach dem Attentat, hat Izolda über Bauchschmerzen geklagt. Du musst wissen, dass ich sie bei den ersten Schüssen zu Boden gerissen
habe. Ich dachte, vielleicht hat sie sich dabei verletzt. Also sind wir ins Krankenhaus gefahren und haben sie untersuchen lassen.« Kasakov lächelte. »Und dabei stellt sich heraus, dass sie überhaupt nicht verletzt ist. Du müsstest sie sehen, Tomasz. Sie ist so glücklich, so überglücklich. Sie hat sich nichts sehnlicher gewünscht, als Mutter zu werden, und jetzt geht dieser Wunsch endlich in Erfüllung.« »Sie wird eine wunderbare Mutter sein.« »Ich weiß. Und ich werde mein Möglichstes tun, um ein guter Vater zu sein. Ich werde das Kind so behandeln, als wäre es mein eigen Fleisch und Blut.« Burliuk riss vor Erstaunen die Augen auf. »Wie bitte?« »Hast du dich noch nie gefragt, warum Izolda und ich schon so lange kinderlos sind? Wir haben nie darüber gesprochen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich nie gewundert hast. Der Grund ist, dass ich keine Kinder zeugen kann, Tomasz. Das habe ich natürlich nie jemandem verraten. Ich und Izolda, wir haben kein einziges Mal darüber gesprochen, obwohl sie es seit Jahren
gewusst haben muss. Aber sie hatte immer Angst vor meiner Reaktion.« Burliuk schüttelte den Kopf. »Aber wenn du nicht der Vater bist, wer denn dann?« »Mein erster Gedanke war, dass du es sein könntest.«
»Wie bitte?« »Mein Freund, du solltest mich mittlerweile gut genug kennen, um zu wissen, dass ich kein Narr bin. Ich habe durchaus bemerkt, wie du Izolda anschaust. Wie du sie von Anfang an angeschaut hast.« Burliuk streckte ihm die geöffneten Handflächen entgegen. »Vladimir, niemals, nie im Leben, habe ich …« Kasakov winkte ab. »Ich glaube dir. Du liebst sie, das weiß ich. Es war nur eine verrückte Idee, und ich habe schnell wieder Abstand davon genommen. Ich weiß, dass Izolda dich wie einen Bruder betrachtet. Sie würde mich nicht mit dir betrügen. Mit einem anderen, ja. Aber mit dir, niemals.« Burliuk kniff für einen Moment die Augen zusammen. Er wandte sich ab. »Ich werde das Spiel mitspielen«, sagte Kasakov. »Ich werde mir nicht anmerken lassen, dass ich
weiß, dass das Kind nicht von mir ist. Ich kann es Izolda nicht verübeln. Wenn ich die Kraft gehabt hätte, mir dieses Problem einzugestehen, dann hätten wir schon vor langer Zeit Hilfe bekommen können. Das tue ich für Izolda. Nicht für mich.« »Sehr edel«, murmelte Burliuk. Kasakov stellte sich vor Burliuk. »Bedauerst du mich, Tomasz? Oder doch eher dich?« Burliuk sagte kein Wort. »Es muss dich sehr geschmerzt haben, Izolda all die Jahre über zu begehren, während sie mit mir das Bett geteilt hat. Und jetzt, wo du weißt, dass sie nicht dich, sondern einen anderen Mann gewählt hat, muss der Schmerz noch größer sein. Vielleicht waren es sogar mehrere, nach allem, was ich weiß.« »Vladimir …« »Sag jetzt nichts. Lass mich reden. Du warst all die Jahre an meiner Seite. Mein einziger, echter Freund. Du bist der einzige Mensch auf dieser Welt, außer meiner Frau, dem ich trauen kann.« Kasakov rieb Burliuks Schultern. »Da fällt mir ein … wir wissen immer noch nicht, wer eigentlich hinter diesem Mordanschlag in Bukarest steckt.« »Bestimmt Eltsina.«
Kasakov schüttelte den Kopf. »Sie hat unter allergrößten Qualen nur zugegeben, dass sie den gestrigen Mordanschlag in Auftrag gegeben hat. Doch ihr Plan basierte darauf, dass du und ich durch den Krieg mit Ariff unsere Glaubwürdigkeit verlieren. Das hätte nicht funktioniert, wenn sie mich schon vor dem Krieg hätte umbringen lassen. Dann wärst du mein Nachfolger geworden und nicht sie. Also, nein. Nicht Julia.« Kasakov drückte Burliuks Schultern. »Du hingegen hast immer wieder darauf beharrt, dass ich unbedingt persönlich nach Bukarest fliegen soll, um die Verhandlungen mit dem Makler der Nordkoreaner zu führen. Warum hast du das gemacht, obwohl sie bereit gewesen wären, nach Moskau zu kommen?« »Vladimir. Ich …« Kasakov legte seine riesigen Hände um Burliuks Hals und drückte zu. Burliuk schnappte nach Luft und packte Kasakovs Handgelenke, zog mit aller Kraft daran. Kasakovs Hände blieben, wo sie waren. »Ich habe mich mit deinem Freund Danil Petrenko unterhalten«, fuhr Kasakov fort. »Er hat mir erzählt, dass du einen Deal mit Gabir Yamout eingefädelt hast. Du hast für ihn den Kontakt zu Petrenko
hergestellt, und er hat dir dafür einen Gefallen getan. Ich frage mich, was das wohl gewesen sein könnte. Vielleicht hat er dir einen Killer geliehen. Einen, dessen Spur sich nicht bis zu dir zurückverfolgen lässt.« »Nein …«, würgte Burliuk mühsam hervor. »Ich weiß, dass du niemals Eltsinas Ehrgeiz geteilt hast«, stellte Kasakov fest, »daher frage ich mich natürlich, was sonst der Grund gewesen sein könnte. Wenn du nicht mein Imperium übernehmen wolltest, warum wolltest du mich umbringen lassen? Die Antwort liegt auf der Hand. Wegen Izolda natürlich. Aber dennoch hätte ich niemals gedacht, dass du mir tatsächlich so etwas antun würdest. Bis jetzt. Als ich dir von Izoldas Affäre erzählt habe, da konntest du deine Wut nicht länger verbergen. Das hat dich verraten.« Kasakov drückte noch fester zu. Burliuks Gesicht wurde zusehends röter, seine Adern schwollen immer weiter an. Um Atem ringend und voller Verzweiflung schlug er auf Kasakov ein, der keinem Hieb aus dem Weg ging, sondern jeden einzelnen akzeptierte – als Preis für vierzig Jahre
Freundschaft. »Wärst du doch bloß Schwergewichtler, Tomasz.« Burliuks Lippen liefen blau an. Seine Augen traten aus den Höhlen. Seine Schuhspitzen kratzten über den Fußboden. »In gewisser Hinsicht kann ich dir nicht einmal einen Vorwurf machen«, gestand Kasakov. »Du hast sie damals zuerst gesehen, aber dann hat sie sich für mich entschieden, trotz deines guten Aussehens. Im umgekehrten Fall hätte ich bestimmt genauso gehandelt wie du. Bloß, dass ich natürlich nicht versagt hätte.« Burliuk ließ leblos die Arme sinken, seine Beine gaben nach, und sein Kopf sackte nach vorn. Kasakov hielt die Arme weiterhin gestreckt, sodass Burliuk noch lange nachdem sein Herz zu schlagen aufgehört hatte, aufrecht vor ihm stand. Irgendwann rief er dann den Sicherheitsdienst, damit dieser die Leiche seines besten Freundes entsorgte, während er selbst nach unten ging, um gemeinsam mit seiner Frau die Farben für das Kinderzimmer auszusuchen.
Kapitel 57 Washington, D. C., USA
Procter fuhr auf den Parkplatz eines Burgerladens, der schon einmal bessere Tage gesehen hatte. Das galt auch für die quadratische Fläche auf der Rückseite mit den zahlreichen Rissen im Asphalt. Am hinteren Ende entdeckte Procter einen rückwärts geparkten blauen Lincoln und hielt darauf zu. Die anderen Autos standen alle sehr viel dichter am Eingang des Restaurants. Die Kundschaft machte eben keinen Schritt mehr als unbedingt nötig. Procter ließ seinen Buick mit dem Bug voraus neben den Lincoln gleiten und hielt an. Es roch nach Abgasen und Frittierfett. Procter hatte sein Fenster bereits heruntergelassen. Clarke tat es ihm nach. »’n Abend, Roland.« Procters Miene war hart, abweisend. »Tesseract hat versagt.« Clarke stieß die Luft aus. Er sagte kein Wort, aber seine Enttäuschung war mit Händen zu greifen. Und es schien, als ob auch ein wenig Angst mit dabei war.
»Die ganze Agency spricht davon, dass irgendjemand versucht hat, Kasakov während seines Urlaubs ins Jenseits zu befördern. In der Nähe seiner Datscha in Sotschi wurden mehrere Leichen gefunden.« Clarke blickte Procter an. »Ist er tot?« »Bis jetzt gibt es drei unidentifizierte Leichen. Ich habe die Bilder gesehen. Er ist nicht dabei.« Clarke hielt den Blick starr über den Parkplatz gerichtet. Procter hatte ihn noch nie so nervös erlebt wie jetzt. Damit hatte Procter nicht gerechnet. Er hatte erwartet, dass er wütend reagieren würde, aber bis jetzt hatte Clarke weder die Stimme erhoben noch ihm irgendwelche Vorwürfe gemacht. »Mir scheint, als hätten Sie von Anfang an recht gehabt«, sagte Procter so mitfühlend, wie er nur konnte. »Jetzt hat er es schon zum zweiten Mal vergeigt und dabei eine Riesensauerei angerichtet. Es tut mir leid, dass ich nicht schon früher auf Sie gehört habe.« »Ich kann mich leider nicht so recht darüber freuen, das können Sie mir glauben. Wissen Sie, was genau da schiefgelaufen ist?« Procter zog eine Grimasse und zuckte mit den
Schultern. »Keine Ahnung. Tesseract hat sich noch nicht gemeldet. Aber welche Rolle spielt das schon? Ich habe keine andere Wahl mehr. Ich breche ab. Kasakov kriegen wir jetzt auf keinen Fall mehr zu fassen. Nicht nach diesem Fiasko. Nicht nach zwei gescheiterten Attentaten innerhalb von zwei Monaten. Er wird sich in Zukunft mit einer kleinen Armee umgeben. Wenn wir ihn umbringen wollen, dann müssen wir eine Cruise Missile auf Moskau abfeuern.« Procter schüttelte den Kopf. »Dieser ganze Druck, all die Fragen, die man uns stellen wird, und wofür? Kasakov ist gesund und munter, und wir haben nicht einmal den Krieg bekommen, den wir so gerne haben wollten, sondern bloß ein kleines Geplänkel.« Clarke meinte: »Wir sollten uns für eine ganze Weile nicht mehr sehen.« »Sehe ich genauso.« »Was ist mit Tesseract?« »Wir müssen ihn loswerden.« »Wie?«, wollte Clarke wissen. »Ich ziehe die Reißleine«, erläuterte Procter. »Dieser Bursche hat einen Haufen Feinde, das dürfen Sie nicht vergessen. Vor allem in Kreisen des
SVR.« »Sehr effizient.« Procter nickte. »Da brauchen wir uns die Hände gar nicht schmutzig zu machen. Wir übergeben denen einfach seine Akte, verraten ihnen vielleicht noch, wo er sich aufhält. Anonym, selbstverständlich. Wenn es darum geht, Probleme zu beseitigen, arbeiten die Russen sehr viel effektiver als wir. Sollen sie das doch für uns erledigen.« Eine Stunde später saß Procter kraftlos im Sessel seines Arbeitszimmers im ersten Stock seines Hauses in Georgetown. Normalerweise trank er nur wenig, aber die Flasche Merlot, die jetzt vor ihm stand, leerte sich zügig. Alles, worauf er so hart und so voller Entbehrungen hingearbeitet hatte, war auseinandergefallen. Patricia lag im Bett und sah sich Seifenopern an, und Roland junior war Gott sei Dank eingeschlafen, sodass Procter sich in aller Ruhe bemitleiden konnte. Er gehörte im Normalfall nicht zu den Menschen, die sich im Selbstmitleid suhlten, aber in diesem Fall, so dachte er, hatte er ein Recht dazu. Was blieb ihm sonst noch übrig? Er ließ sich die
vergangenen Wochen noch einmal durch den Kopf gehen, dachte an die Monate und Jahre davor. Der Plan war doch eigentlich gut gewesen. Sicher, irgendwas konnte immer schiefgehen, normales Risiko eben, aber Procter hatte wirklich fest mit einem Erfolg gerechnet. Er hatte sich in Clarke die richtige Unterstützung besorgt und mit Tesseract den richtigen Mann fürs Grobe. Der Plan hätte eigentlich funktionieren müssen. Er nahm noch einen großen Schluck. Ein paar Tropfen Wein liefen ihm über das Kinn, und er wischte sie mit dem Handrücken ab. Er hatte sich Tesseracts Akte auf den Monitor geladen. Sie enthielt zwar nicht allzu viele Informationen, aber genug, damit die richtigen Leute ihn ausfindig machen konnten. Es widerstrebte Procter zutiefst, dieses Dossier abzuschicken. Schließlich hatte er Tesseract diesen Auftrag gegeben, also lag der Schwarze Peter im Grunde genommen bei ihm, aber trotzdem … Es war eine notwendige Vorsichtsmaßnahme. Der Mann hatte eine Menge Staub aufgewirbelt, zu viel, als dass man ihn weiter frei herumlaufen lassen konnte. Procter verfasste eine E-Mail, die nicht zurückverfolgt werden konnte,
und hängte Tesseracts Akte an. Er wusste genau, an wen er sie schicken musste. Procter nahm den letzten Schluck aus seinem Glas und wischte sich den Mund ab. Sein Zeigefinger schwebte über der linken Maustaste. Tut mir leid, mein Freund. Kurz bevor er auf »Senden« drücken konnte, piepste der Computer. Ein ankommender Anruf, Voice over IP. Procter zog die Augenbrauen in die Höhe, zögerte eine Sekunde, dann nahm er den Anruf an. »Gerade habe ich an Sie gedacht«, sagte er. Die Stimme, die aus den Computerlautsprechern drang, sprach Englisch, aber Procter wusste nicht genau, mit welchem Akzent. Manchmal klang er irgendwie amerikanisch, dann wieder britisch und manchmal weder noch. Er hatte keine Ahnung, woher Tesseract stammte. »Sie haben genau eine Minute, um mich davon zu überzeugen, dass Sie mit den Ereignissen vom Freitag nichts zu tun haben.« Tesseracts Stimme klang leise und eiskalt. »Dann lege ich auf und nehme die nächste Maschine in die Staaten. Was folgt, können Sie sich bestimmt vorstellen.«
Procter runzelte die Stirn und überlegte. »Was reden Sie denn da, verdammt noch mal?« »Noch siebenundfünfzig Sekunden.« Procter setzte sich auf. Er sammelte seine Gedanken. »Wenn etwas passiert ist, dann müssen Sie mit Ihren Spielchen aufhören und mir verraten, was Sie eigentlich meinen.« »Fünfzig Sekunden.« »Mein Gott, was soll denn das? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.« »Sechsundvierzig Sekunden.« »Also gut«, meinte Procter. »Jemand wollte Sie umbringen, richtig? Darum sind Sie so sauer. Sie glauben, dass ich dahinterstecke. Aber das stimmt nicht, ich schwöre.« »Siebenunddreißig Sekunden.« »Na gut, das war noch nicht überzeugend. Ich weiß doch nicht, was ich sagen soll, wenn ich gar nicht weiß, was passiert ist.« »Einunddreißig Sekunden.« Procter klammerte sich mit beiden Händen an seinen Schreibtisch. Er beugte sich nach vorn. »Du meine Güte, jetzt seien Sie doch nicht so stur. Ich tue
ja, was ich kann. Irgendjemand wollte Sie umbringen, so weit sind wir ja schon. Sie glauben, dass ich dahinterstecke. Also, das bedeutet, dass es passiert ist, während Sie mit dem KasakovAuftrag beschäftigt waren. Richtig? Die haben auf Sie gewartet, darum glauben Sie, dass ich Sie in die Falle gelockt habe.« »Achtzehn Sekunden.« Procter stand auf. »Ich verstehe, wie Sie darauf kommen. Aber Sie liegen falsch. Sie müssen mir glauben. Ich weiß doch, wie gut Sie sind. Ich weiß doch, was los war, als Ihnen das letzte Mal jemand eine Falle gestellt hat. Ich will auf keinen Fall auf Ihre Abschussliste geraten.« Tesseracts Stimme schnitt mitten durch Procter hindurch. »Sie stehen bereits drauf. Neun Sekunden.« »Bitte.« Procter fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Sie müssen mir glauben.« »Sieben Sekunden.« »Nicht auflegen! Wir können versuchen, das Ganze zu entwirren. Aber dazu brauche ich ein bisschen mehr Zeit.«
»Drei Sekunden.« »SCHEISSE!« Procter ließ die flache Hand auf die Tischplatte knallen. »Tun Sie das nicht.« »Zwei Sekunden.« Procter holte tief Luft. »Also gut, Sie haben gewonnen. Mein Name ist Roland Procter. Ich bin Mitarbeiter der Central Intelligence Agency, stellvertretender Direktor des National Clandestine Service. Ich habe eine Frau und zwei Kinder. Wir wohnen in Washington, D. C. In Georgetown.« Keine Reaktion. »Wie ich aussehe, wissen Sie ja bereits«, fuhr Procter fort. »Jetzt kennen Sie noch meinen Namen, meine berufliche Stellung und meinen Wohnort. Ohne diese Angaben hätten Sie einen Monat gebraucht, um mich zu finden, jetzt nur noch einen Tag.« Er holte Luft, kam langsam wieder zu Atem. »Wenn ich Ihnen eine Falle gestellt hätte, hätte ich das alles dann preisgegeben?« Stille. Procter keuchte. Sein Herz hämmerte gegen die Rippen. »Also gut«, sagte Tesseract schließlich. »Ich glaube Ihnen.« Procter stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. Er
legte eine Hand an die Brust. »Großer Gott, mein Herz rast wie verrückt.« »Keine Gotteslästerung, schon vergessen?« Procter ließ sich gegen die Stuhllehne sinken. Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Sie müssen mir genau erzählen, was passiert ist.« »Ich habe tagelang auf Kasakov gewartet, um genau zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Aber unmittelbar bevor ich abdrücken wollte, habe ich gemerkt, dass ich beobachtet werde. Sie waren zu dritt, Profis. Amerikaner. Ehemalige Angehörige der Special Forces. Sie haben nur darauf gewartet, dass ich Kasakov erschieße. Im nächsten Augenblick hätten sie das Gleiche mit mir gemacht. Dann wäre Kasakov jetzt tot, und Sie müssten sich nicht überlegen, wie Sie mich am besten loswerden können. Nur jemand, der gewusst hat, dass ich in Sotschi bin, kann diese Typen beauftragt haben.« Procter blieb stumm. »Dieser Jemand hat ihnen ein Dossier über mich zugespielt. Ein Dossier, das unter anderem auch Aufnahmen von mir enthält, aus dem Krankenhaus,
in dem wir uns kennengelernt haben. Also, wenn Sie mich nicht in die Falle gelockt haben, wer dann?« Procter kniff sich in die Falte zwischen den Augen und sagte: »Mein Partner. Nur er und ich haben gewusst, dass Sie Kasakov töten sollen. Und nur er und ich hatten Zugang zu diesen Fotos.« »Geben Sie mir seinen Namen.« »Nein«, entgegnete Procter. »Das mache ich nicht.« »Sie sollten sich ernsthaft fragen, ob Sie sich das nicht noch einmal überlegen wollen.« »Hören Sie, ich weiß nicht, warum das alles passiert ist, aber ich liefere ihn nicht einfach seinem Mörder aus. Er ist mein Freund.« »Kein besonders guter Freund. Er hat Sie betrogen.« Procter setzte sich auf. »Er hat lediglich versucht, uns beide zu schützen. Es war dumm, aber mir ist klar, warum er das getan hat. Ich rede mit ihm. Sie rühren ihn nicht an. Das können Sie vergessen.« »Ich habe den Anführer dieser Killer befragt. Er hat gesagt, dass sie vor diesem Job schon einmal einen Auftrag bekommen hatten, vom selben Auftraggeber. In Beirut. Sie haben Baraa Ariff und
seine Familie entführt, gefoltert und umgebracht. Und sie haben das Ganze auch noch gefilmt.« »Was?« Mehr brachte Procter nicht heraus. »Also, für mich klingt das nicht nach einem normalen Attentat. Sondern eher nach einer Racheaktion von jemandem, der Ariff aus tiefstem Herzen hasst. Jeder Auftrag, den ich von Ihnen bekommen habe, hatte irgendwie mit Ariff und Kasakov zu tun. Zuerst musste ich Kasakov das Leben retten, weil Ariff wohl kaum zu überzeugen gewesen wäre, dass ein toter Kasakov hinter dem Anschlag auf Yamout in Minsk steckt. Und ich nehme an, dass dieser ganz bestimmte Sprengstoff, mit dem ich Farkas umgebracht habe, irgendwie der Grund dafür war, dass Kasakov Ariff an die Gurgel wollte. Das eine muss ich Ihnen lassen, der Plan war nicht schlecht: die beiden größten Waffenschieber der Welt – einer eher auf leichte, der andere auf schwere Waffen spezialisiert – in einen Krieg zu locken, damit sie sich gegenseitig schwächen.« »Der Plan war gut«, verbesserte Procter. »Aber warum hat Ihr Partner dann ein amerikanisches Killerkommando auf Ariff
angesetzt? Wenn dieser Krieg irgendwann vorbei gewesen wäre, dann hätten Sie mich doch bestimmt losgeschickt, um alle die zu erledigen, die ihn überlebt haben. Aber dass Ariff und Kasakov einander einfach gegenseitig umbringen, das kann doch nicht Ihr Ziel gewesen sein. Das hätten Sie ja schon vor Wochen haben können. Sie wollten doch, dass die beiden zuerst ihre jeweiligen Netzwerke in Stücke hauen. Sie wollten den illegalen Waffenhandel niederschlagen und nicht einfach die Führungsfiguren austauschen. Es ergibt also überhaupt keinen Sinn, dass Ihr Partner zu diesem Zeitpunkt gegen Ariff vorgegangen ist. Es sei denn, er möchte erreichen, dass Ariff den Krieg verliert. Aber ein Verbündeter von Kasakov kann er auch nicht sein, denn der hätte ja kein Killerkommando auf mich gehetzt, das erst abwarten sollte, bis ich Kasakov getötet habe. Es muss sich also um einen seiner Adjutanten handeln, der Kasakovs Geschäfte übernehmen wollte. Tut mir leid, dass ich Ihnen das sagen muss, aber Ihr Freund hat die ganze Zeit ein falsches Spiel mit Ihnen gespielt.« Procter schlug die Hände vors Gesicht und zog sie dann langsam über Augen und Wangen nach
unten. »Und Sie sind sicher, dass Sie mir nicht verraten wollen, wer er ist?« Es dauerte eine Weile, bis Procter antwortete. Seine Stimme klang leise und überlegt. »Ich regele das.« »Das würde ich Ihnen dringend raten«, sagte Tesseract. »Ich habe nämlich noch eine schlechte Nachricht für Sie.« »Raus damit.« »Vorhin haben Sie gesagt, ich würde einen Monat brauchen, um Sie zu finden. Das war ein Irrtum.« »Was?« »Es hat achtundvierzig Stunden gedauert. In der näheren Umgebung von Langley gibt es deutlich weniger Läden, die Steak-Sandwiches anbieten, als Sie vielleicht glauben. Heute Nachmittag war ich in Nelson’s Diner. Die Angestellten haben sich rührend bemüht, mir bei der Suche nach meinem lange vermissten Dad behilflich zu sein. Ich kann verstehen, dass Sie gerne dort essen. Sehr lecker, aber jeden Tag? Ist nicht gut für Ihre Arterien. Bei Ihrem Gewicht sollten Sie wahrscheinlich ein bisschen besser aufpassen und sich mehr bewegen.
Ich maile Ihnen bei Gelegenheit ein paar Fitnessübungen zu.« Procter riss die Augen weit auf. »Was?« »Ach, und wenn ich Sie wäre, dann würde ich mal unter meinen Buick schauen, bevor ich das nächste Mal den Motor anlasse. Schneiden Sie den grünen Draht durch, nicht den blauen.« Die Leitung war tot. Procter schoss aus seinem Stuhl, ging zum Fenster und riss die Jalousie nach oben. Sein Wagen stand in der Einfahrt, wie üblich. Nichts Verdächtiges zu sehen. Er holte sich in der Garage eine Zange und eine Taschenlampe und hastete nach draußen. Dort legte er sich auf den Rücken und leuchtete mit der Taschenlampe den Unterboden seines Wagens ab. Unter dem Fahrersitz war eine Bombe montiert. Die Drähte liefen zum Anlasser. Procter holte tief Luft, hielt den Atem an und kappte den grünen Draht. Nichts passierte. Er atmete aus und nahm das Kästchen vorsichtig ab. In seinem Arbeitszimmer angekommen, legte er eine Hand auf die Brust. Es dauerte lange, bis sein Puls sich wieder normalisiert hatte. Er kippte den
letzten Rest aus der Weinflasche in sein Glas und trank es aus. Im Verlauf eines einzigen kurzen Gesprächs war seine Welt vollkommen auf den Kopf gestellt worden. Clarke hatte ihn hintergangen. Tesseract hatte gedroht, ihn zu töten. Beides machte ihm schwer zu schaffen. Mit einem Mausklick öffnete er die E-Mail, die er vor dem Gespräch hatte abschicken wollen. Er kratzte sich für einen Moment am Kinn. Tesseract war ein gefährlicher Mann, sehr unberechenbar. Procter hatte gedacht, er könnte ihn unter Kontrolle halten, doch das hatte sich gerade eben als schwerwiegender Irrtum herausgestellt. Wenn er diese E-Mail jetzt abschickte, dann konnte Tesseract nie wieder irgendwelche Bomben unter seinem Auto anbringen. Aber unter den gegebenen Umständen war das ja eine beinahe nachvollziehbare Reaktion gewesen, und, verdammt noch mal, Procter fing an, diesen Kerl zu mögen. Er löschte die E-Mail und machte sich auf die Suche nach einer neuen Flasche Wein.
Kapitel 58 Potomac River, Virginia
Der Fisch, der da so wild am Haken zappelte, war ein Schwarzbarsch. Clarke holte ihn mit einem Hauch von Triumphgefühl ein. Er war nicht besonders groß, gut dreißig Zentimeter lang vielleicht und so um die anderthalb Kilo schwer, aber ein Fang war ein Fang. Er saß alleine in seinem Kahn, spürte die Sonne auf den nackten Unterarmen und im Gesicht. Es war fast windstill. Das Wasser war ruhig. Bäume säumten die Ufer. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Sein Dad hatte ihm schon in jungen Jahren das Angeln beigebracht, und Clarke genoss es jedes Mal, obwohl er nicht oft die nötige Zeit dafür hatte. War auch gut für den Blutdruck, wie sein Hausarzt ihm immer wieder sagte. Clarke hielt den Barsch in die Höhe und betrachtete ihn eingehend. Sein Mündchen klappte ununterbrochen auf und zu, in dem vergeblichen Versuch zu atmen. »Du bist wirklich mal ein hässlicher Fisch«, sagte Clarke. Er warf ihn zurück ins Wasser und nahm eine
Dose Heineken aus seiner Kühltasche. Bevor er den Verschluss knacken ließ, hielt er sie sich gegen die Stirn. Der erste Schluck war kalt und erfrischend und ließ Clarke für einen Augenblick vergessen, dass es ihm beinahe gelungen wäre, das Unmögliche zu vollbringen und den illegalen Waffenhandel zu regulieren. Aber eben nur beinahe. Clarke nahm noch einen zweiten, größeren Schluck. Sein Handy klingelte. Verblüfft stellte er fest, dass Procter der Anrufer war. Clarke meldete sich mit den Worten: »Ich dachte, wir wollten für eine Weile jeden Kontakt vermeiden.« »Das hier duldet keinen Aufschub«, gab Procter zurück. »Wo sind Sie gerade?« Clarke traf Procter, der einen Büroanzug und eine Sonnenbrille trug, bei dessen Auto. Er hatte am Rand eines Feldwegs geparkt, wenige Hundert Meter vom Flussufer entfernt. Niemand sonst war in der Nähe. Procter sah stinksauer aus. »Sie haben mich verarscht, Peter. Sie haben mich echt verarscht.« »Also, ich muss doch sehr bitten.« Procter stürmte auf ihn los. »Sie brauchen gar
nicht erst zu versuchen, es abzustreiten. Ich weiß, was Sie gemacht haben, von Anfang an.« »Ich habe geangelt.« Procter grinste zynisch. »Sehr hübsch. Wie schön, dass Sie Ihren Sinn für Humor behalten haben, aber ich rede von Ihrem kleinen Arrangement mit Julia Eltsina.« Clarke schaffte es tatsächlich, nicht vollkommen zu erbleichen, was unter den gegebenen Umständen eine große Leistung war. »Sagen Sie das noch einmal.« »Sie haben Tesseract während des KasakovAuftrags ein Killerkommando auf den Hals gehetzt, um uns vor dem Mossad zu schützen, nicht wahr? Ich bin alles andere als glücklich darüber, Peter, aber ich kann Sie verstehen, selbst wenn Sie dadurch den Anschlag auf Kasakov vereitelt haben. Das Lustige daran ist, dass das genau das gleiche Kommando war, das auch Ariff und seine Familie entführt hat. Und das soll ein Zufall sein?« Clarke hob beide Hände in die Luft. »Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Informationen haben, aber sie sind falsch.« Procter schüttelte wutschnaubend den Kopf.
»Wollen Sie mir vielleicht verraten, warum Sie vor zwei Wochen in Heathrow waren, genau zur selben Zeit wie Eltsina? Haben Sie etwa geglaubt, ich würde nicht dahinterkommen? Es kränkt mich, dass Sie so wenig von mir halten.« »Roland, bitte …« »Halten Sie die Klappe, Peter. Halten Sie verdammt noch mal die Klappe. Sie haben mich die ganze Zeit nur benutzt. Sie haben nie auf meiner Seite gestanden, oder? Was hatten Sie denn in Wirklichkeit vor? Wollten Sie Eltsina helfen, an die Macht zu kommen?« Clarke holte Luft und blinzelte in die Sonne. »Das war nur die eine Seite.« »Und was war die andere? Jetzt sagen Sie nicht, Sie haben das alles für eine schnelle Nummer gemacht.« »Machen Sie sich doch nicht lächerlich. Sobald sie Kasakovs Imperium kontrolliert hätte, hätte sie nur an Kunden verkauft, die ich abgesegnet habe.« Procter riss die Augen auf. »Und das haben Sie ihr geglaubt?« »Ja«, keifte Clarke. »Selbstverständlich habe ich das geglaubt. Ich kenne Julia seit dem Höhepunkt
des Kalten Krieges. Ich vertraue ihr. Und außerdem, Roland, Ihr Plan hätte sowieso niemals funktioniert. Irgendwann wären Kasakov und Ariff dahintergekommen, dass wir sie gegeneinander ausgespielt haben. Sie hätten ihren Krieg beendet, und wir hätten gar nichts erreicht. Aber bei meinem Plan hätte Eltsina Ariffs Organisation gleich mit übernommen. Sie wäre zur mit Abstand bedeutendsten Waffenschieberin weltweit aufgestiegen, sie hätte den illegalen Handel mit leichten Waffen ebenso dominiert wie den mit schweren. Und ich hätte die Kontrolle über sie gehabt. Ich. Ich hätte dafür sorgen können, dass die Feinde Amerikas keinen Nachschub mehr bekommen. Und damit hätten wir beide unsere Ziele erreicht.« »Sie hätten mich informieren sollen.« Clarke lachte. »Roland, Sie sind genauso stur wie ein Fettfleck. Sie wären doch niemals damit einverstanden gewesen.« »Sei es, wie es will, aber das gibt Ihnen noch nicht das Recht, mich anzulügen und mich zu hintergehen. Ich nehme an, Sie haben auch Callos Ermordung veranlasst.«
Clarke zuckte die Achseln. »Ihn am Leben zu lassen wäre ein unnötiges Risiko gewesen. Und durch seinen Tod war unsere List noch glaubwürdiger, das haben Sie doch selbst zugegeben.« »Es tut Ihnen nicht einmal leid, stimmt’s?«, sagte Procter anklagend. »Es tut mir leid, dass der Plan nicht funktioniert hat«, sagte Clarke. »Aber dass ich versucht habe, etwas Gutes zu tun, das tut mir nicht leid. Unsere Freundschaft bedeutet mir viel, aber anderen Amerikanern das Leben zu retten bedeutet mir noch mehr.« Procter wandte sich um und ließ ihn stehen. »Unsere Freundschaft ist hiermit beendet, Peter.« »Roland«, rief Clarke ihm nach. »Jetzt seien Sie doch nicht so furchtbar melodramatisch.« Procter drehte sich nicht mehr um. Dreißig Minuten später war Clarke wieder auf dem Fluss und warf erneut seine Leine aus. Er hatte versucht, Eltsina zu erreichen, doch die Russin war nicht ans Telefon gegangen. Entweder wollte sie Clarke aus dem Weg gehen, war auf der Flucht oder
tot. Alle drei Möglichkeiten waren gleich wahrscheinlich, aber Clarke ging von der letztgenannten aus. Eltsina hatte ihn ja deutlich vor den Folgen gewarnt, falls Kasakov noch einmal angegriffen werden sollte. Ob Kasakov ihr erst noch irgendwelche Informationen entlockt hatte? Falls Eltsina ermordet worden war, weil sie als Sicherheitsbeauftragte versagt hatte, dann hatte er sie vermutlich einfach nur erschossen. Falls aber ihre Pläne ans Licht gekommen waren, dann hatte Kasakov sie garantiert vorher noch leiden lassen. Und dann hatte sie mit Sicherheit alles preisgegeben, nur damit die Schmerzen endlich aufhörten. Vorausgesetzt, Kasakov kannte Clarkes Namen, würde er es tatsächlich wagen, gegen einen Amtsträger der US-amerikanischen Regierung vorzugehen? Unwahrscheinlich angesichts der drohenden Vergeltungsmaßnahmen, aber trotzdem hatte Clarke seine Fünfundvierziger Taurus immer dabei, nur für den Fall. Er dachte an Procter und seufzte. Clarke war nie besonders froh darüber gewesen, dass er seinen Freund auf diese Art und Weise benutzt hatte, aber
es hatte sich nun einmal nicht vermeiden lassen. Und jetzt spielte es sowieso keine Rolle mehr. Das unverkennbare Dröhnen eines Außenbordmotors durchbrach die Stille. Es wurde lauter, und dann kam das dazugehörige Boot um die nächste Flussbiegung. Es fuhr schneller, als eigentlich gut war, und Clarke merkte, wie sein eigenes Boot anfing, auf den Wellen auf und ab zu schwanken. Er sah, wie das Boot auf ihn zuhielt. Zwei Typen waren an Bord. Einer winkte Clarke zu. Clarke rückte seine Sonnenbrille zurecht und warf einen Blick auf die Taurus zu seinen Füßen. Ist immer besser, eine Waffe zu haben und keine zu brauchen, als eine zu brauchen und keine zu haben, dachte er. Dann steckte er die Pistole hinten in den Bund seiner Shorts. Als das andere Boot näher kam, stand er auf. »Kann ich euch irgendwie helfen, Jungs?«, sagte er. Die beiden Typen waren Mitte zwanzig und reinrassige Hinterwäldler, ganz eindeutig. Der Typ, der ihm zugewunken hatte, trug den linken Arm in einer improvisierten Schlinge. Er verzog das Gesicht.
»Mein Kumpel hat sich verletzt«, sagte der Typ am Außenborder. »Ich glaub, das Handgelenk ist gebrochen.« »Autsch«, erwiderte Clarke. »Wie ist das denn passiert?« Der Typ mit der Schlinge zuckte mit den Schultern und machte ein dämliches Gesicht. »Ich wollte ’nen dicken Brummer an Bord ziehn und bin hingefallen.« »Ich hoffe, ihr habt ihn trotzdem erwischt.« Der Typ schüttelte den Kopf. »Schade«, meinte Clarke und fühlte sich sofort nicht mehr so mies wegen seines mickrigen Barschs. »Tut mir leid, dass wir Sie stören, Mister«, sagte der Typ am Außenborder, »aber ham Sie vielleicht ’nen Erste-Hilfe-Kasten dabei. Und ’n paar Aspirin?« »Na, klar«, meinte Clarke. »Aber Ibuprofen ist wahrscheinlich besser.« Er drehte sich um und griff nach dem Erste-HilfeKasten. Als er sich wieder zurückgedreht hatte, waren die beiden Typen aufgestanden. Sie sahen überhaupt nicht mehr aus wie Hinterwäldler. Der Typ mit dem gebrochenen Handgelenk hatte den Arm
jetzt nicht mehr in der Schlinge. Stattdessen hielt er eine Pistole mit Schalldämpfer auf Clarke gerichtet. Der andere Typ auch. »Was soll denn das?«, sagte er, obwohl er die Antwort bereits kannte. Clarke dachte an die Taurus in seinem Hosenbund. Da kam er jetzt niemals mehr ran. Er versuchte, ruhig zu bleiben, aber die Panik überwältigte ihn. Er neigte den Kopf von einer Seite zur anderen. Der Typ ohne die Schlinge blickte den anderen an, und der nickte und sagte: »Schöne Grüße von Vladimir Kasakov.« Clarke spürte den Schmerz, als die erste Kugel direkt unterhalb des Brustkorbs einschlug. Danach spürte er gar nichts mehr.
Kapitel 59 Sofia, Bulgarien
Victor war vor vierundzwanzig Stunden in Sofia eingetroffen, nachdem er die USA über die kanadische Grenze verlassen hatte. Auf dem Hinweg hatte er dieselbe Route gewählt, um den Fingerabdrücken und den Fotos zu entgehen, die er bei einem Direktflug unweigerlich über sich hätte ergehen lassen müssen. Er saß am Schreibtisch seines Hotelzimmers vor seinem neuen Laptop und rief zur vereinbarten Zeit Procter an. Procter meldete sich mit den Worten: »Mein Partner ist tot.« »Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.« »Ich mir auch nicht«, gab Procter mit gepresster Stimme zu, »aber seine Geschäftspartner waren anscheinend der Meinung, dass sie mit den Aufräumarbeiten beginnen müssten.« »Ich kann nicht behaupten, dass mir das leidtäte«, meinte Victor. »Er war ein guter Mann.« »Wenn Sie das sagen.« »Sie können mir glauben.«
»Aber Sie wollen jetzt nicht, dass ich seinen Tod räche?« »Nein«, erwiderte Procter. »Das würde ich nicht von Ihnen verlangen, selbst wenn ich das wollte. Die Suppe hat er sich selber eingebrockt, und jetzt ist er daran erstickt …« »Was bedeutet das für unser Verhältnis?« »Na ja, ich bin immer noch ein bisschen sauer wegen der Bombe unter meinem Auto.« »Ich habe Ihnen doch gesagt, welchen Draht Sie durchschneiden sollen, oder etwa nicht?« »Ja, das haben Sie. Also sind wir quitt, schätze ich. Sie haben meine Nachricht bekommen, dass der Mossad in Barcelona nach Ihnen sucht?« »Habe ich. Und ich war jahrelang nicht mehr dort.« »Na, bitte. Sie jagen Gespenster. Verhalten Sie sich weiterhin unauffällig, dann bleibt es auch dabei. Die Kräfte bei der Agency werden bereits wieder auf andere Ressorts verteilt. Bald schon müssen wir uns beide keine Sorgen mehr machen. Und ich weiß ja nicht, wie das mit Ihnen ist, aber ich fahre demnächst in Urlaub. Am besten weit weg, irgendwohin, wo es heiß ist.« »Hört sich gut an.«
»Das sollten Sie auch machen. Sie können es sich leisten. Ich habe Ihnen die zweite Hälfte des Kasakov-Honorars überwiesen.« »Was für eine Überraschung.« »Sie haben den Auftrag schließlich nur deshalb nicht zu Ende gebracht, weil mein Partner sich eingemischt hat. Das war nicht Ihre Schuld. Das Gleiche gilt für den Yamout-Auftrag. Sie konnten nicht damit rechnen, dass der Mossad seine Finger im Spiel hat.« »Ich weiß diese Geste zu schätzen.« »Das ist eine clevere Art, sich zu bedanken, ohne tatsächlich Danke sagen zu müssen.« »Genau das habe ich mir auch gedacht.« In der anschließenden Pause konnte Victor Procters Lächeln nachgerade spüren. »Also dann, mein Freund. Wir sind am Ende unseres Wegs angelangt. Sie wollten die Kasakov-Sache wirklich durchziehen, wie vereinbart, und ich bin ein Mann, der sein Wort hält. Sie sind mir nicht mehr länger verpflichtet. Sie sind ein freier Mann. Genießen Sie den Ruhestand. Sie brauchen einfach nur zuzugreifen.« Victor überhörte diese Bemerkung, zumindest
vorerst. »Eine Frage hätte ich noch: Warum haben Sie sich für diesen Weg entschieden, um Kasakov und Ariff das Handwerk zu legen?« »Wie meinen Sie das?« »Warum diese konspirative Heimlichtuerei, warum mit mir als Handlanger, anstatt mit einem CIA-Team? Kasakov und Ariff haben doch in Washington garantiert nicht viele Freunde.« »Das ist richtig«, pflichtete Procter ihm bei. »Aber Kasakov ist schon seit ewigen Zeiten das Schoßhündchen des Kremls. Er hat dem russischen Staat mit seinen Waffengeschäften viele Milliarden eingebracht. Falls es auch nur den leisesten Hinweis auf eine Beteiligung der CIA an seinem Tod gegeben hätte, dann wäre die Hölle los gewesen. Hätte mich das irgendwie gekratzt? Nein, Sir. Nur ist man auf dem Capitol Hill diesbezüglich ganz anderer Meinung. Aber mit Ariff in der Rolle des Hauptverdächtigen sieht die Sache gleich ganz anders aus.« »So weit die eine Hälfte der Geschichte.« »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.« »Es wäre doch bestimmt besser gewesen, Ariff einfach entführen zu lassen. Sie wussten ja, wo er
wohnt. Dann hätte man ihm einerseits die Schuld an Kasakovs Tod in die Schuhe schieben können, aber gleichzeitig hätten Sie ihn aufgrund diverser Kriegsverbrechen vor den Internationalen Gerichtshof bringen können. Das wäre doch ein riesiger PR-Erfolg gewesen.« Victor unterbrach sich kurz. »Es sei denn, Sie wollten unter allen Umständen vermeiden, dass Ariff von den Anklagevertretern in Den Haag in die Mangel genommen wird. Was hat er gegen Sie in der Hand gehabt?« Nach kurzem Schweigen sagte Procter: »Ich habe früher einmal mit Ariff zusammengearbeitet, vor langer Zeit. Es ist ja kein Geheimnis, dass die CIA in den Achtzigerjahren die afghanischen Mudschaheddin mit Stinger-Raketen versorgt hat, um damit Sowjethubschrauber vom Himmel zu holen. Ariff hat schon damals mit Eselkarawanen Maschinengewehre von Pakistan nach Afghanistan gebracht. Und dann hat er in meinem Auftrag eben auch die Stingers geschmuggelt.« »Warum sollte das heute überhaupt noch jemanden interessieren?«
»Weil Ariff schon lange, bevor er die Feinde Amerikas im Irak und in Afghanistan mit Schusswaffen und Sprengkörpern versorgt hat, ein allseits bekannter Schweinehund war. Damals hat er mit der PLO, dem Schwarzen September, der Hisbollah und jeder anderen terroristischen Vereinigung zwischen Tripolis und Teheran Geschäfte gemacht. Der Sprengstoff, mit dem 1983 der Anschlag auf den Stützpunkt der Internationalen Streitkräfte im Libanon verübt wurde, den hat Ariff geliefert. Das alles habe ich gewusst, und trotzdem habe ich ihn für mich arbeiten lassen, ohne Genehmigung der CIA. Unsere Welt ist die Welt nach dem Elften September, mein Freund, und wenn Ariff in Den Haag meinen Namen erwähnt hätte, hätte mir das einen Haufen Schwierigkeiten eingebrockt. Darum, ja, ich habe auch meinen ganz persönlichen Vorteil aus dem Ganzen gezogen. Zufrieden?« »Überraschenderweise, ja.« »Jetzt haben Sie also Ihre Antworten bekommen und Ihre Freiheit dazu«, sagte Procter. »Ist das der Punkt, an dem sich unsere Wege trennen?« Victor hatte im Verlauf der vergangenen Tage
kaum an etwas anderes gedacht. Procter hatte ihm Informationen vorenthalten, und daraus hatten sich für ihn viele zusätzliche Gefahren und Risiken ergeben. Andererseits hatte er seine Identität preisgegeben, zum Beweis dafür, dass Victor ihm vertrauen konnte. Das bedeutete eine Menge. Er sagte: »Mein Bedürfnis nach einer endgültigen Trennung hat sich spürbar abgeschwächt.« »Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen würden. Aber gerechnet habe ich nicht damit.« »Sobald meine Handlungen vorhersehbar sind, ist mein Leben Vergangenheit.« »Soll das heißen, dass Sie mir jetzt endlich vertrauen?« »Wir sollten wirklich nichts überstürzen.« Noch eine Pause, vielleicht ein erneutes Lächeln, dann sagte Procter: »Ich melde mich, wenn ich Sie wieder brauche.« »Wann wird das sein?« »Ich weiß nicht. Könnte eine Weile dauern.« »Ist mir recht«, entgegnete Victor. »Die letzten zwei Monate waren sehr lang.« »Für uns beide.« Procter machte eine kurze Pause. »Passen Sie auf sich auf.«
Dann war die Leitung tot. Victor öffnete einen Internet-Browser und fragte seine anderen E-MailAccounts ab. Wieder eine Nachricht von Alonso und zwei von anderen Maklern. Allesamt Aufträge mit viel Honorar und wenig Risiko. Einfach auszuführen, ohne dass Procter davon erfahren würde. Victor löschte die E-Mails und löschte die Konten. Zum ersten Mal nach langer Zeit fühlte er sich wirklich entspannt. Er griff zum Telefon und wählte eine Nummer. Adrianna meldete sich mit einem fröhlichen
»’allo«. »Hier ist Emmanuel«, sagte Victor. »Hättest du Lust, einen Tag in Sofia zu verbringen?«
Kapitel 60 Victor und Adrianna trafen sich im Foyer des Grand Hotel Sofia. Das mächtige Gebäude besaß eine Fassade aus Marmor, Granit und Glas und lag im Herzen der Stadt, mit Blick über den Stadtpark. Nach ihrer Zusage hatte er die Unterkunft gewechselt. Das eher bescheidene Hotel, für das er sich zuvor entschieden hatte, hätte Adrianna nicht gefallen. Sie trug ein langes, fließendes Kleid, das ihren Körper zu umschweben schien, und zog einen kleinen Rollkoffer hinter sich her. Das lockige braune Haar fiel offen über ihre Schultern, und sie hatte eine Sonnenbrille auf die Stirn geschoben. »Du siehst so anders aus«, sagte sie, als Victor auf sie zutrat. »So braun und mit längeren Haaren. Das gefällt mir. Sehr sexy.« Sie wischte sich eine Locke aus dem Gesicht, als wollte sie das Gesagte unterstreichen, dann umarmten und küssten sie sich. Victor achtete darauf, sich rechtzeitig wieder von ihr zu lösen, noch bevor ihre Hände über seinen Rücken streichen und die FN Five-seveN entdecken konnten, die hinten in seinem Hosenbund steckte.
»Du hast ein bisschen abgenommen«, sagte er. Sie strahlte: »Du hast es gemerkt.« Hatte er nicht. »Wie war dein Flug?« »Das reinste Vergnügen.« Sie holte einen Reiseführer aus ihrer Handtasche. »Ich weiß jetzt alles über Sofia.« Sie brachten ihren Koffer in Victors Zimmer und machten sich ein wenig frisch, dann gingen sie los, um Sofia zu erkunden. Die Kunstgalerie lag in unmittelbarer Nähe, also fingen sie dort an, sprachen über die verschiedenen Objekte und diskutierten ihre jeweiligen Vorlieben. Anschließend fuhren sie mit den gelben Straßenbahnen durch die Stadt und suchten etliche der zahlreichen alten orthodoxen Kirchen auf. Den Höhepunkt bildete die beeindruckende Alexander-Nevsky-Kathedrale mit ihrer fünfundvierzig Meter hohen, vergoldeten Kuppel. Abgesehen von etlichen hässlichen Wohnblocks aus der kommunistischen Ära war Sofia eine typisch europäische, wunderschöne Stadt. Victor gefiel die bunte Mischung der verschiedenen Architekturstile – west- und mitteleuropäisch, klassizistisch und stalinistisch, römisch und byzantinisch. Der ständige
Wechsel verlieh jeder der mit Bäumen gesäumten Straßen eine eigene Identität, ein unverwechselbares Gepräge. Die Straßen im Stadtzentrum schienen fast durchgehend aus gelben Pflastersteinen zu bestehen. »Aus Wien«, beeilte Adrianna sich zu sagen. Im Gegensatz zu Adrianna war Victor schon etliche Male in Sofia gewesen. Bei jedem Besuch hatte er die Bulgaren als ausgesprochen freundlich und herzlich empfunden. Das war dieses Mal nicht anders. Das Klima gefiel ihm auch, warm, aber nicht zu heiß. Heute hatte es vielleicht zwanzig Grad. In einem der vielen Straßencafés nahmen sie ein spätes Mittagessen zu sich, genossen den Sonnenschein und das hektische Geplapper der Bulgaren um sie herum. Victor beherrschte die Sprache zumindest halbwegs und brachte Adrianna den einen oder anderen Satz bei. Gemeinsam versuchten sie, dem Stakkato der Gespräche zu folgen, mussten jedoch jedes Mal schnell aufgeben und dachten sich dafür irgendwelche Übersetzungen aus. »Er gibt ihr gerade den Laufpass«, meinte Adrianna, während sie verstohlen ein bulgarisches
Paar im mittleren Alter belauschten, »weil ihr Atem nach Schweißsocken riecht.« Er lächelte. Aus reiner Gewohnheit suchte er in der Menschenmenge nach möglichen Beschattern, die Augen hinter der Sonnenbrille versteckt. Als der Abend näher kam, kehrten sie ins Hotel zurück, duschten und zogen sich um. Das Radio spielte Chopins Andante Spianato et Grande Polonaise in Es-Dur, und Victor knöpfte sich mit einer Hand das Hemd zu, während die Finger der anderen sich sanft zur Musik bewegten und nicht vorhandene Tasten drückten. Adrianna, die gerade mit ihren Ohrringen beschäftigt war, sah es. »Spielst du Klavier?« »Schon seit Monaten nicht mehr.« Für die restlichen Knöpfe nahm er beide Hände. »Gibt es dafür einen bestimmten Grund?« »Ich hatte einfach keine Gelegenheit.« Er hatte unwillkürlich eines seiner kostbarsten Besitztümer vor Augen, ein Klavier, genauer gesagt ein Square Grand von Vose & Sons aus dem 19. Jahrhundert, das mittlerweile nur noch ein Haufen Staub und Asche war.
»Ich glaube, in einer der Hotelbars steht ein Klavier. Die lassen dich bestimmt spielen, wenn wir fragen.« »Ich bin zu eingerostet. Ich will mich nicht blamieren«, sagte er und versteckte sich hinter seiner angeblichen Schüchternheit. Der wahre Grund für seine Scheu war, dass er schon so viele Jahre versuchte, sich so unauffällig wie nur möglich zu benehmen. So etwas wie Klavierspielen in der Öffentlichkeit wäre schlicht und einfach unvorstellbar gewesen. Er machte sich fertig und steckte, während Adrianna im Badezimmer war, seine Pistole rechts in den Hosenbund. Er würde darauf achten, dass sie immer an seiner linken Seite blieb. »Was sagst du dazu?«, wollte Adrianna wissen, als sie zurück ins Zimmer kam. Sie trug ein schwarzes Abendkleid, hatte sich einen Schal aus Kaschmir und Seide um die Schultern geschlungen und die Haare hochgesteckt. Sie sah fantastisch aus. Victor enttäuschte sie nicht und sagte: »Atemberaubend.« Ihre glänzenden Lippen verzogen sich zu einem
breiten Lächeln. Das Nationaltheater lag nur eine Querstraße vom Hotel entfernt. Elegante, aufwärtsgerichtete Scheinwerfer tauchten das beeindruckende, Anfang des 20. Jahrhunderts errichtete Gebäude in einen goldenen Schimmer. Victor ging zum Ticketschalter und ließ sich zwei vorbestellte Eintrittskarten für Puccinis Turandot geben. Sie saßen in einer Loge auf der Südwestseite und sahen sich die Vorstellung mit Operngläsern an. Adrianna ging voll und ganz in dem Spektakel auf und war durch die Arien zu Tränen gerührt. Anschließend spazierten sie durch den Park vor dem Opernhaus und sprachen über die Inszenierung. Andere Besucher taten es ihnen gleich, während Touristen das Theater fotografierten. Paare, die Händchen hielten, saßen auf den Steinbänken. Adrianna hängte sich auf Victors linker Seite ein und sagte: »Das war wirklich ein wundervoller Tag. Vielen Dank für die Einladung.« »War mir ein Vergnügen«, erwiderte Victor. »Als wir uns in Linz verabschiedet haben, da war ich mir nicht sicher, ob wir uns je wiedersehen
würden.« »Wieso denn das?« Sie zögerte mit der Antwort, entweder, weil sie Mühe hatte, ihre Gedanken in Worte zu fassen, oder weil es ihr schwerfiel, das, was ihr auf der Zunge lag, auszusprechen. »Ich weiß auch nicht, irgendwie warst du so anders beim letzten Mal. Wie ein ganz anderer Mensch. Und ich war mir nicht sicher, ob ich dann noch zu dir passe.« »Ich wusste gar nicht, dass ich mich verändert habe«, sagte er, ohne es wirklich zu meinen. »Oh, keine Sorge«, erwiderte sie, weil sie einen Unterton gehört hatte, der von ihm gar nicht beabsichtigt gewesen war. »Ich finde das sehr positiv.« Sie betrachtete ihn und fuhr ihm mit schlanken Fingern durch das Haar. »Eine sehr positive Veränderung.« Er lächelte, um zu signalisieren, dass er ihrer Meinung war, auch wenn es nicht stimmte. »Ich bin froh, dass du das so siehst. Dann hast du dich also über meinen Anruf gefreut?« Sie lächelte und knuffte ihn sanft auf den Oberarm. »Aber natürlich hab ich das.« Sie gingen noch ein Stück.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte eine Frau auf Englisch mit britischem Akzent und stellte sich ihnen in den Weg. Sie war Ende zwanzig und in Begleitung eines Mannes, der aussah wie dreißig, vermutlich ihr Freund oder Ehemann. Sie trugen beide Freizeitkleidung, Jeans, T-Shirts, Turnschuhe. Der Mann war dunkelhaarig, die Frau blond. Sie hielt eine Kamera in der Hand. Beide lächelten. Breites, aufgeregtes Grinsen. Touristen. »Entschuldigen Sie bitte«, wiederholte die Frau langsam, wobei sie Silbe für Silbe betonte. »Könnten Sie vielleicht ein Foto von uns machen?« Umständlich deutete sie zuerst auf die Kamera und dann auf den Mann und sich selbst. »Aber sicher, selbstverständlich«, erwiderte Victor. Obwohl es nach menschlichem Ermessen nicht mehr möglich schien, wurde das Lächeln der beiden noch breiter. »Oh, Sie sprechen Englisch. Wunderbar. Danke vielmals.« Adrianna sagte: »Sie sind aus England, nicht wahr?« Die blonde Frau lachte kurz. »Ist das so
offensichtlich?« Victor zog eine Augenbraue in die Höhe. »Engländer im Ausland haben eine ganz bestimmte Art zu reden.« »So ist es, nicht wahr? Genau so ist es. Danke nochmals, dass Sie uns fotografieren wollen.« Er erwiderte: »Kein Problem«, obwohl es in Wirklichkeit sehr wohl ein Problem war. Wäre er alleine gewesen, dann hätte er so getan, als spräche er die Sprache nicht, und wäre weitergegangen. Er vermied eigentlich jeden Kontakt, der ihm von außen aufgezwungen wurde, aber das brauchte Adrianna nicht unbedingt zu erfahren. Die Touristin reichte ihm ihre Kamera. »Wenn Sie im Hintergrund das Opernhaus mitfotografieren könnten, das wäre wunderbar.« »Kein Problem.« Er machte eine Handbewegung. »Vielleicht stellen Sie sich ein bisschen dichter zusammen.« »Oh, ja, natürlich.« Sie schmiegte sich ein wenig enger an ihren Freund, schlang ihren Arm um seine Hüfte, als könnte er sonst jeden Augenblick davonlaufen. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Das sah alles ein
bisschen steif und unterkühlt aus. Typisch Engländer. Victor trat ein Stück zurück und ließ sich auf ein Knie nieder, um die beiden im Bildmittelpunkt und das Opernhaus im Hintergrund zu haben. »Jetzt sagen Sie mal Cheese«, meinte er und drückte auf den Auslöser. Danach gab er die Kamera zurück. »Ihr erstes Foto in Sofia«, erkannte er nach einem Blick auf das Display. »Ich fühle mich geehrt.« Das Pärchen sah sich die Aufnahme an. »Oh, das ist perfekt. Ganz herzlichen Dank, wirklich.« Sie stieß ihren Freund an. »Ich freu mich schon, wenn wir das Andy und Meg zeigen können.« Schließlich verabschiedeten sich die beiden, und Adrianna und Victor waren wieder alleine. Adrianna nahm seine Hand. »Das war ja ein richtig süßes Pärchen«, sagte sie. Victor nickte. Er hatte keine konkrete Vorstellung davon, was ein süßes Pärchen war und was nicht. »Ich kann mir die beiden gut vorstellen, alt und grau, aber immer noch genauso verliebt wie heute.« Victor nickte noch einmal. So etwas konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Sie strich ihm über die Arme. »Denkst du eigentlich manchmal daran, dich irgendwo niederzulassen, Emmanuel? Dir eine nette Frau zu suchen, die dir dann die Hausschuhe bringt?« »Machen Frauen das heutzutage eigentlich noch?« »Ich weiß nicht«, erwiderte sie und zuckte mit den Achseln. »Für den richtigen Mann vielleicht schon.« In ihrem Blick lag ein bestimmter Ausdruck, aus dem Victor nicht schlau wurde. »Was möchtest du jetzt unternehmen?«, fragte er. »Ich weiß nicht. Hast du Hunger?« »Ich könnte schon etwas essen, wenn du auch Appetit hast.« »Ich habe seit Stunden schon Appetit. Diese Diät bringt mich noch um.« Victor kannte ein gutes indisches Restaurant, ungefähr zwanzig Minuten zu Fuß entfernt, aber Adrianna war so hungrig, dass sie ein Taxi nahmen. Er bestellte sich als Vorspeise Aloo-Tikki-Bällchen und als Hauptgericht Paneer Makhani. Adrianna nahm Bhelpuri und anschließend ein Matar Hara Pyaz mit Pilzen. Das Essen war hervorragend, sehr
aromatisch und intensiv gewürzt, aber nicht zu scharf. Zum Nachtisch hatten sie beide ein MangoEis, das in Kegelform serviert wurde, wie eine umgestürzte Eiswaffel. Zum Abschluss nahmen sie noch eine Tasse milchigen indischen Tee, und Adrianna erzählte, dass sie daran dachte, an die Universität zurückzukehren. »Ich überlege, ob ich eine Doktorarbeit schreiben soll«, sagte sie. »Irgendwie fehlt mir die Uni. Das Geschichtsstudium in Cambridge war eine der schönsten Phasen meines Lebens. Ich vermisse die Bücher, das ganze akademische Leben. Heutzutage komme ich kaum einmal dazu, die Zeitung zu lesen. Das hört sich jetzt übertrieben dramatisch an, ich weiß, aber manchmal habe ich einfach das Gefühl, dass meine Intelligenz mir zwischen den Fingern zerrinnt.« »Das klingt danach, als stünde dein Entschluss bereits fest.« »Das stimmt, nicht wahr? Ich glaube, du hast recht.« »Würdest du gerne wieder nach Cambridge gehen, oder willst du irgendwo ganz neu anfangen?« Bei Cambridge musste Victor noch einmal an das
englische Pärchen denken. Besonders an die blonde Frau. Normalerweise wurde er von anderen Leuten nicht gebeten, Fotos zu machen. Victor strahlte unterschwellig gewisse Signale aus, die die meisten Menschen davon abhielten, ihn anzusprechen. Aber es funktionierte nicht immer. Und er durfte es mit der negativen Körpersprache nicht übertreiben. Wenn er zu unnahbar war, dann blieb er den Leuten im Gedächtnis haften. Lieber ab und zu angesprochen werden, als so abweisend zu wirken, dass man nicht mehr vergessen wurde. Und in Begleitung von Adrianna wirkte er sowieso zugänglicher. »Was ist denn?«, wollte sie wissen. »Du merkst wirklich alles, nicht wahr?«, sagte er und wunderte sich erneut darüber, wie gut sie seine Gedanken lesen konnte. »Ich habe bloß an die Arbeit gedacht. Tut mir leid.« »Möchtest du darüber reden?« Er schüttelte den Kopf. »Meine Arbeit ist langweilig. Reden wir lieber über dich. Cambridge, also, hmm?« »Ich weiß nicht so recht. Ich habe mich dort wirklich wahnsinnig wohlgefühlt, aber vielleicht wäre
es ja gut, etwas Neues anzufangen. Ich bin ganz wild auf neue Erfahrungen.« Er nickte und ging begeistert mit, während sie von ihren Plänen sprach, dachte dabei aber unentwegt an die englischen Touristen. Sie hatten durch und durch harmlos gewirkt. Der Mann hatte keinen Ton gesagt und im Vergleich zu seiner sehr offenen Partnerin einen eher zurückhaltenden Eindruck gemacht. Nein, die Ursache für seine Besorgnis waren nicht diese beiden Engländer, sondern er selbst, weil er einfach nicht in der Lage war, seinen Schutzschild wenigstens ein Mal zu lüften und ein paar dämliche Touristen zu fotografieren, ohne sich gleich angreifbar zu fühlen, bloß, weil er nicht damit gerechnet hatte, angesprochen zu werden. Wie war er bloß zu diesem Abziehbild eines menschlichen Wesens geworden, zu einem Puzzle, bei dem ein paar Teile fehlten? Ob sich das jemals ändern würde? Adrianna machte weiter: »Die Columbia University hat natürlich einen sehr guten Ruf, und ich liebe New York wirklich. Aber womöglich würde ich dann mehr einkaufen gehen als studieren.« Victor nickte, trank seinen Tee und sagte sich,
dass sein Verfolgungswahn in diesem Fall wirklich übertrieben war. Procter hatte doch gesagt, dass der Mossad in Barcelona nach ihm suchte. Und dort würden sie absolut nichts finden, was auf Bulgarien hindeuten könnte. »Du bist der erste Mensch, dem ich das erzähle«, fügte Adrianna mit scheuem Lächeln hinzu. Victor erwiderte: »Ich fühle mich geehrt.« Und augenblicklich musste er daran denken, dass er dieselben Worte vorhin schon einmal gebraucht hatte, gegenüber der Engländerin, nachdem er festgestellt hatte, dass sein Foto die erste Aufnahme auf ihrer Kamera gewesen war. Die Frau hatte überhaupt nicht auf seine Bemerkung reagiert. Mit keinem Wort, mit keiner Geste. Eine offene und mitteilsame Touristin, als die sie sich präsentiert hatte, hätte doch irgendeine Erklärung dafür geliefert. Vielleicht waren sie gerade erst angekommen, oder sie hatten eine neue Speicherkarte in die Kamera eingesetzt. Aber nichts dergleichen. Victor verfluchte sich selbst dafür, dass er nicht früher darauf gekommen war.
Er wusste nicht, ob sie ihm irgendwie gefolgt waren oder sich von Adrianna zu ihm hatten führen lassen. Aber das war nicht mehr wichtig. Wichtig war nur, dass sie ihn gefunden hatten. Die Kidon waren in Sofia. Die Scharade mit der Kamera hatte nur dazu gedient, ihn eindeutig zu identifizieren. Mit den längeren Haaren, der gebräunten Haut und dem Bart sah er deutlich anders aus als der Mann, der vor einem Monat vor der Linse ihrer Überwachungskamera gestanden hatte. Sie hatten so dicht an ihn herankommen müssen, um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich ihre Zielperson war. Das war ziemlich verwegen und riskant, aber sie wussten ja auch nicht, dass Victor wusste, dass sie hinter ihm her waren. Procter hatte in Bezug auf Barcelona unrecht gehabt. Vielleicht waren seine Informationen nicht auf dem neuesten Stand gewesen. Ihm gegenüber saß Adrianna und plauderte über Universitäten und das Studium und hatte nicht den Hauch einer Ahnung, in welch tödlicher Gefahr sie sich beide befanden. Victor wusste, dass sie jetzt in diesem Augenblick
beobachtet wurden. Im Restaurant selbst waren keine Beschatter zu entdecken, das wäre zu dicht gewesen, aber draußen hielten sich mehrere bereit, um ihm und Adrianna zu folgen, sobald sie das Lokal verließen. Er besaß jedoch einen Vorteil. Sie wussten nicht, dass er Bescheid wusste. Wann würden sie zuschlagen? Er wusste es nicht. Wahrscheinlich nicht in seinem Hotel. Hotels waren für Attentate bekanntermaßen ungeeignet – kaum jemand wusste das besser als er selbst –, aber wenn sie ihn einfach nur umbringen wollten, dann würde eine KidonEinheit sich davon nicht abschrecken lassen. Niemand hatte so viele erfolgreiche Mordanschläge in Hotels durchgeführt wie der Mossad. Aber wenn sie ihn einfach nur umbringen wollten, dann hätten sie ihn auch vor dem Opernhaus erschießen können, unmittelbar nachdem sie ihn eindeutig identifiziert hatten. Aber sie wollten ihn nicht nur umbringen, sie wollten Antworten. Eine Entführung war schwieriger als ein Attentat, darum mussten sie es auf der Straße probieren, irgendwo, wo möglichst wenig Augenzeugen mitbekamen, wie er gepackt und in einen Lieferwagen gesteckt wurde.
In Begleitung von Adrianna würde Victor den Kidon auf keinen Fall entkommen. Alleine hatte er vielleicht eine Chance. »Du siehst also«, drangen Adriannas Worte in sein Bewusstsein, »irgendwie kann ich mich nicht zwischen der Columbia und Cambridge entscheiden.« Sie lachte. »Vielleicht promoviere ich ja an beiden.« »Eine schwierige Entscheidung«, sagte Victor und erhob sich. »Bitte entschuldige mich für einen Moment.« Er ging zur Toilette, wohl wissend, dass seine Beschatter ihn sehen konnten. Doch da Adrianna am Tisch sitzen geblieben war, würden sie sich keine Gedanken machen. Solange sie da saß und auf ihn wartete, konnte Victor Zeit gewinnen. Die Restaurant-Toilette war klein und sauber. Hoch über der letzten Kabine, fast unter der Decke, befand sich ein schmales Fenster. Victor betrat die Kabine, klappte den Toilettendeckel herunter, stellte sich darauf und machte das Fenster auf. Kühle Luft wehte herein. Er warf einen Blick in die Gasse vor dem Fenster. Dunkel und verlassen lag sie da. Die Kidon beobachteten die Vorderseite. Es gab keinen
Anlass, auch die Rückseite besetzt zu halten. In drei Minuten würden sie anfangen, sich zu wundern, in fünf würden sie sich Sorgen machen. In sechs würden sie jemanden ins Restaurant schicken, um nachzusehen. Aber mit sechs Minuten Vorsprung war er schon längst über alle Berge, mit dem Taxi oder dem Bus auf dem Weg aus der Stadt. Sie würden ihn nicht bekommen. Dann würden sie sich Adrianna zuwenden, in der Annahme, dass sie eine sichere Verbindung zu ihm war, auch wenn das nicht stimmte. Sie würden ihr nicht glauben, dass sie absolut nichts über ihn wusste. Sie würden sich Gewissheit verschaffen. Er versuchte, sich nicht vorzustellen, was sie ihr antun würden, um ihr Informationen zu entlocken, die sie gar nicht besaß. Und anschließend würden sie sie unter keinen Umständen wieder laufen lassen. Aber gemeinsam konnten sie ihnen niemals entkommen, und wenn Victor Adrianna zuerst wegschickte, würden die Kidon misstrauisch werden, und damit wäre jede Chance auf eine Flucht zunichtegemacht. Victor besaß keine wirklichen Freunde. Es gab
niemanden, der ihm ans Herz gewachsen war. Das war einer der Gründe, warum er noch am Leben war. Seine Beziehung zu Adrianna war ein Stück, in dem sie beide eine Rolle spielten, und sie spielte ihre für Geld. Nichts anderes. Sie benutzte ihn, genauso, wie er sie benutzte. Zwischen ihnen war nichts, was ihn jetzt noch aufhalten konnte. Er kletterte zum Fenster hinaus in die Nacht.
Kapitel 61 Adrianna blickte auf ihre Armbanduhr. Emmanuel war jetzt schon über vier Minuten weg. Sie nippte an ihrem Tee und musterte die Speisenden an den umliegenden Tischen. Zahlreiche Paare, dazu die eine oder andere Familie, und alle genossen sie das gute Essen und amüsierten sich. Indische Kellner und Kellnerinnen glitten mühelos zwischen den dicht besetzten Tischen hindurch, nahmen Bestellungen entgegen und servierten, und das alles mit einer anmutigen Gelassenheit. Sie hatte zum Essen wahrscheinlich ein Glas Rosé zu viel getrunken und fühlte sich ein wenig gelöster, als ihr eigentlich lieb gewesen wäre, aber sie amüsierte sich. Das war nicht vorgetäuscht. Das Essen war fantastisch gewesen – sie hatte schon lange nicht mehr so gut gegessen. Das Matar Hara Pyaz mit Pilzen war ein Gedicht, so unglaublich sahnig. Und das Mango-Eis war genau das Richtige, um wieder einen frischen Atem zu bekommen. Sie leerte ihre Tasse und dachte an Emmanuel. Ein Mann voller Geheimnisse, groß und schlank, mit
einem athletischen Körper, der von Narben übersät war, immer aufmerksam, niemals wirklich entspannt und mit einem Lächeln, dessen Falschheit sie genauso bewusst ignorierte wie die Leblosigkeit in seinem Blick. Sie hätte ihn am liebsten in den Arm genommen – richtig in den Arm genommen –, aber es war gefährlich, sich mit einem Kunden auf so etwas einzulassen. Selbst wenn Emmanuel dem Bild des idealen Kunden hundertprozentig entsprach. Jederzeit der perfekte Gentleman. Hatte immer anstandslos bezahlt. War niemals eifersüchtig auf ihre anderen Kunden. Schlug sie nie. Hatte nie versucht, ihr Arrangement in etwas zu verwandeln, was es nicht war. Hatte ihr nie das Gefühl gegeben, eine Hure zu sein. Ein junger Kellner stand lächelnd an ihrem Tisch und fragte, ob sie noch etwas haben wollte. Sie dankte, lehnte jedoch ab. Als er gegangen war, warf Adrianna noch einen Blick auf ihre Armbanduhr. Jetzt war er schon über sechs Minuten lang weg. Da sah sie einen Mann das Restaurant betreten, schmächtig, blasse Haut, schwarzes, lockiges Haar. Mit seiner Jeans und dem Nylon-Jackett wirkte er in einem Restaurant wie diesem eindeutig fehl am
Platz. Als der Kellner ihm einen Tisch anbieten wollte, winkte er ab. Adrianna sah ihn zur Toilette gehen. Er kam ihr irgendwie bekannt vor, als hätte sie ihn zuvor schon einmal gesehen, aber nur im Vorbeigehen. Vielleicht im Flugzeug oder nach der Landung auf dem Flughafen. Er schaute sie aus dem Augenwinkel an, und Adrianna wandte sich schnell ab, damit er nicht merkte, dass sie ihn beobachtet hatte. Sie vergaß den Fremden, wer immer er sein mochte, und dachte wieder an Emmanuel. Adrianna hatte das seltsame Gefühl, dass er nicht an den Tisch zurückkehren würde, auch wenn diese Vorstellung lächerlich war. Sie wusste, dass nur dieses eine Glas Wein zu viel daran schuld war, aber vielleicht hatte sie ihn auch mit ihrem Gerede, dass er bei ihrem letzten Treffen so anders gewesen sei, irgendwie verschreckt. War er deswegen vielleicht sauer auf sie? Eigentlich durfte sie sich mit einem Kunden niemals so persönlich einlassen, das war ihr schon klar. Die Männer, die für ihre Gesellschaft Geld bezahlten, wollten nicht analysiert werden, und das galt für einen Mann, der so zurückgezogen und eigenartig war wie Emmanuel,
ganz besonders. Adrianna verfluchte sich im Stillen deswegen. Warum hatte sie das bloß gesagt? Aber sie kannte die Antwort. Ganz egal, welches Spiel sie miteinander spielten, nach Linz hatte sie gedacht … nein, befürchtet, dass sie Emmanuel nie wiedersehen würde. Und jetzt war diese Furcht wieder da. Noch einmal sah sie auf die Uhr. Sieben Minuten. Sie fragte sich, wie lange sie noch warten sollte und ob es wohl irgendjemandem auffallen würde, wenn sie ohne ihren Begleiter das Lokal verließ. Der Mann im Nylon-Jackett trat aus der Toilette. Er machte einen nervösen Eindruck und zog, während er mit hastigen Schritten den Ausgang ansteuerte, ein Handy aus der Jacketttasche. Sie spürte, dass er sie anschaute, aber sie war es gewohnt, dass Männer sich nach ihr umdrehten. Nicht alle wussten, wie sie das halbwegs unauffällig bewerkstelligen konnten. Der Kellner reagierte auf ihr Handzeichen und kam an ihren Tisch. »Darf es noch etwas sein, Madam?« Sie schüttelte den Kopf. »Kann ich bitte die
Rechnung haben?« »Selbstverständlich.« Adrianna klappte ihre Handtasche auf und holte ihr Portemonnaie heraus. Sie zog eine Kreditkarte hervor. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Ich musste dringend telefonieren.« Adrianna hob den Blick und sah, wie Emmanuel seinen Platz auf der anderen Tischseite wieder einnahm. Sie hatte nicht einmal bemerkt, wie er sich genähert hatte. Sie empfand Erleichterung und kam sich gleichzeitig ziemlich töricht vor, aber jederzeit die Beherrschung zu wahren war ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit. »Warst du lange weg?«, fragte sie. »Das habe ich gar nicht so richtig bemerkt. Ich habe die Rechnung bestellt.« »Vergiss die Rechnung«, sagte er und beugte sich dichter zu ihr. »Du musst mir jetzt sehr genau zuhören, Adrianna. Du musst mir jedes einzelne Wort glauben und genau das tun, was ich sage. Keine Fragen.« Er schaute sie so ernsthaft an, dass es fast schon
wieder lustig war. »Okay«, sagte sie und setzte ebenfalls eine übertrieben feierliche Miene auf. »Ich höre.« »Sobald wir fertig gesprochen haben, stehst du auf und gehst auf die Damentoilette. Dort betrittst du die letzte Kabine, klappst den Toilettendeckel zu und ziehst die Schuhe aus.« »Meine Schuhe?« Er ging nicht darauf ein. »Dann kletterst du auf die Toilette und machst das Fenster auf. Falls es sich nicht öffnen lässt, musst du die Scheibe einschlagen und die Scherben mit deiner Handtasche nach draußen fegen. Was jetzt kommt, wird nicht ganz einfach werden, aber du musst es tun, und zwar so schnell wie möglich. Mach dir keine Gedanken, dass du dabei schmutzig werden könntest. Beeil dich einfach.« »Ich verstehe das nicht.« »Hör mir nur zu, Adrianna, du brauchst es nicht zu verstehen. Wir haben keine Zeit für Erklärungen. Du musst einfach nur ganz genau das machen, was ich sage. Du musst durch das Fenster klettern, dann landest du in einer schmalen Gasse. Es geht nicht sehr weit nach unten, und ich habe ein paar Kartons
unter das Fenster gestellt, die den Aufprall etwas abdämpfen, sodass du dir nicht wehtust. Sobald du in der Gasse bist, gehst du links und dann noch einmal links. Du landest in einer Seitenstraße. Dort wartet ein Taxi auf dich. Setz dich auf die Rückbank, direkt hinter den Fahrer. Lass dich direkt zum Flughafen fahren. Unterwegs nimmst du dein Handy und wirfst es aus dem Fenster. Sag dem …« »Mein Handy? Wieso denn das? Was ist denn los? Du machst mir Angst.« »Sag dem Fahrer, er soll sich beeilen«, fuhr er fort. »Sag ihm, dass du ihm das Doppelte bezahlst, wenn er ordentlich Gas gibt. Zeig ihm dein Bargeld. Am Flughafen hebst du so viel Geld ab, wie der Bankautomat dir geben will. Dann nimmst du die nächstbeste Maschine, ganz egal, wohin. Sobald du dort gelandet bist, nimmst du wieder die nächstbeste Maschine. Es ist völlig egal, wohin. Wenn du dann gelandet bist, kannst du weiterfahren, wohin du willst, aber nimm auf jeden Fall den Zug oder den Bus. Den Fahrschein bezahlst du in bar. Benutz nie wieder eine Kreditkarte.« Tränen standen ihr in den Augen. Sie verstand das alles nicht. Emmanuel war ein vollkommen
anderer Mensch geworden. Hitzig. Furchterregend. Er griff nach einer Serviette und kritzelte eine lange Zahlenreihe darauf, dann eine alphanumerische Zeichenfolge sowie den Namen und die Adresse einer Bank. »Das ist ein Nummernkonto. Es gehört ab sofort dir. Damit müsstest du ein paar Jahre über die Runden kommen, wenn du einigermaßen bescheiden lebst. Hörst du mir zu?« »Ja, ja. Aber ich verstehe nicht …« »Das, was jetzt kommt, ist sehr, sehr wichtig. Du darfst nicht mehr zurück nach Genf. Du darfst nicht mehr nach Hause gehen. Du musst immer in Bewegung bleiben. Du darfst weder mit deinen Freundinnen noch mit deinen Kunden Kontakt aufnehmen und auch nicht mit deinem Bruder in Amerika. Du musst sämtliche Kontakte zu deinem bisherigen Leben abbrechen.« Ihr wurde schlecht. »Wieso … wieso weißt du von David?« »Hör mir zu, Adrianna. Du bist in großer Gefahr. Das ist meine Schuld, und es tut mir furchtbar leid, aber wenn ich dich beschützen soll, dann musst du genau das tun, was ich dir sage.« Er kritzelte noch
eine Nummer auf die Serviette. »In einer Woche rufst du diese Nummer an. Ich werde dir eine Nachricht hinterlassen und dir hoffentlich sagen können, dass alles in Ordnung ist und dass du nach Hause gehen kannst, oder aber ich gebe dir weitere Instruktionen. Ich werde einen Code benutzen, damit du weißt, dass die Nachricht wirklich von mir ist.« »Welchen Code?« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich ihn jetzt schon wüsste, dann könnten sie mich zwingen, ihn zu verraten. Aber du wirst wissen, dass er von mir ist, in Ordnung? Falls du keine Nachricht hörst oder kein Code genannt wird oder wenn du in der Nachricht aufgefordert wirst, dich irgendwo mit mir zu treffen, dann vergisst du das alles und rufst diese Nummer nie wieder an, unter gar keinen Umständen. Und dann kannst du nie wieder nach Hause zurückkehren.« Er unterbrach sich. »Aber ganz egal, was passiert, du wirst mich nie wiedersehen.« Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie streckte die Hand aus und wollte sie auf seine legen. »Hör auf zu weinen«, herrschte er sie an. »Hör
sofort auf damit. Wenn sie sehen, dass du weinst, dann wissen sie sofort Bescheid.« »Wer? Wer kann das sehen? Wer weiß Bescheid? Wer zwingt dich, irgendwelche Geheimcodes zu verraten?« »Steck die Serviette in deine Handtasche und verlier sie nicht. Es ist Zeit. Du musst jetzt gehen.« »Ich will aber nicht.« »Hast du dir alles gemerkt, was ich gesagt habe?« »Ich verstehe nicht, warum du das machst.« Sie drückte seine Hand, suchte Trost. »Wer kann uns zusehen? Emmanuel, was geht denn hier vor?« Er riss sich los. »Geh«, fuhr er sie an. »Wer bist du?«, sagte sie, die Augen weit aufgerissen. »Jemand, den du gar nicht kennen willst.« Adrianna faltete die Serviette zusammen, tupfte sich unauffällig die Augen, stand auf und machte sich auf den Weg zur Toilette. Sie drehte sich nicht um. Victor war erleichtert. Er wollte ihr nicht ins Gesicht sehen, wollte dem tödlichen Schrecken, den er ihr
versetzt hatte, nicht begegnen. Sie stieß die Toilettentür auf. Dann war sie verschwunden, für immer. Er trank seinen Tee aus, bezahlte die Rechnung in bar und schlug noch hundert Prozent Trinkgeld obendrauf. Lieber gab er sein Geld dem Kellner als dem Mossad. Wenn er jetzt sofort aufstand und ging, dann waren sie vielleicht verwirrt, weil Adrianna nicht mitkam, und diese Verwirrung konnte ihm möglicherweise ein bisschen Vorsprung verschaffen. Aber womöglich registrierten eventuelle Aufpasser in der näheren Umgebung dann ein Taxi und den weiblichen Fahrgast, der schluchzend auf der Rückbank saß. Solange er hier an seinem Tisch sitzen blieb, konnte Adrianna unbehelligt zum Flughafen kommen. Nach zehn Minuten würden sie wissen, dass sie nicht mehr zurückkehren würde und zur Hintertür hinausgeschlüpft sein musste. Und dann wussten sie auch, dass Victor wusste, dass sie da draußen auf ihn warteten. Dann war es zu spät, um Adrianna noch einzuholen, aber dafür würden sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit über ihn herfallen.
Kapitel 62 Als auf seiner Armbanduhr elf Minuten seit Adriannas Weggang verstrichen waren, stand Victor auf, knöpfte sein Jackett zu und trat nach draußen. Die Luft war kühl, der Himmel wolkenlos. Der Vollmond schien, das indische Restaurant befand sich ein wenig außerhalb der Innenstadt von Sofia in einem dicht bebauten Geschäftsviertel. Tagsüber war die Straße vor dem Lokal stark befahren, aber um diese Zeit hatten nur wenige Restaurants noch geöffnet, und auf der Straße war es auffallend ruhig. Auch Fußgänger waren nur sehr wenige unterwegs. Die Schaufenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren dunkel, einige mit Metallgittern gesichert. Die beiden Straßenseiten waren mit Autos zugeparkt, aber es herrschte kaum Verkehr. Victor musterte jeden, der ihm begegnete, gründlich. Er wandte sich nach links, weil das der Weg in die Innenstadt war. Dort gab es mehr Menschen, mehr Autos, mehr Busse. Mehr Optionen. Darunter auch die neu gebaute U-Bahn. Das Netz war relativ klein, aber er konnte jede Fluchtmöglichkeit gebrauchen. Da er nicht wusste, wo oder wann die Kidon
zuschlagen wollten, musste er versuchen, es ihnen so schwer wie möglich zu machen und sich selbst gleichzeitig jeden erdenklichen Vorteil zu verschaffen. Ein Taxi zu nehmen schied von vornherein aus. Damit war er leichter zu verfolgen als zu Fuß, und sie brauchten sich einfach nur mit einem Wagen davor- und einem zweiten dahinterzusetzen, schon hatten sie ihn. Hastig ging er voran. Es hatte keinen Sinn, den Ahnungslosen zu spielen. Sie wussten, dass er Bescheid wusste. Er lief vier Minuten lang immer dieselbe Straße entlang. Vor ihm, hinter ihm, auf der anderen Straßenseite, überall waren Menschen unterwegs. Hauptsächlich Männer, ab und zu auch ein Paar. Keine unbegleiteten Frauen. Er überquerte die Straße und suchte in den spiegelnden Schaufensterflächen nach möglichen Verfolgern auf der anderen Straßenseite. Niemand, aber auf seiner Straßenseite sah er einen Mann und eine Frau. Nicht das Pärchen mit der Kamera. Das wäre zu offensichtlich gewesen. Die beiden waren Mitte dreißig, schienen in guter körperlicher Verfassung zu sein, trugen unauffällige Kleidung. Möglich. Seine Hand schwebte die ganze Zeit auf Höhe
seines Hosenbunds, dicht bei der Pistole. Das Pärchen beachtete ihn nicht und ging ungerührt an ihm vorbei. Er setzte seinen Weg fort. Nach zwei Minuten blieb das Pärchen bei einer Bushaltestelle stehen und setzte sich. Ein absolut normales Verhalten oder aber eine clevere Möglichkeit, sich zurückzuziehen, jetzt, wo sie die Zielperson hinter sich gelassen und aus dem Blick verloren hatten. Victor ging in unvermindertem Tempo an ihnen vorbei. Er nutzte jede Fensterscheibe, die ihm noch einen Blick auf die beiden ermöglichte, aber schon nach wenigen Sekunden war der Winkel zu ungünstig geworden. In unregelmäßigen Abständen kamen Autos die Straße entlang. Victor ging auf der linken Straßenseite, sodass die Autos ihm auf seiner Seite entgegenkamen und die Kidon sich nicht mit dem Wagen von hinten nähern konnten. Es herrschte wenig Verkehr. So wenig, dass er es bemerkt hätte, wenn ein Lieferwagen sich neben ihn geschoben hätte. Die vorbeifahrenden Autos waren überwiegend europäische Kleinwagen. Auch ein blauer, viertüriger Peugeot, der ihm irgendwie bekannt vorkam, war darunter, aber sicher war er
sich nicht. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Adrianna musste mittlerweile fast schon am Flughafen sein. Er lag nicht allzu weit von der Innenstadt entfernt. Selbst wenn die Kidon kapiert hatten, was los war, und ihr ein paar Leute hinterhergeschickt hatten, würden sie zu spät kommen. Er hoffte inständig, dass sie seine Anweisungen befolgte und den erstbesten Flug nahm, ganz egal, wohin. Jetzt kam ein Minivan auf ihn zugefahren und schien langsamer zu werden. Er blickte auf die Ladenzeile zu seiner Linken. Keine schmalen Gassen, keine Seitenstraßen. Keine schwächlichen Türen oder offenen Fenster. Er spannte alle Muskeln an. Die beste Möglichkeit war, über die Straße zu sprinten, sobald der Minivan dicht bei ihm war, die Pistole zu ziehen, den Fahrer zu erschießen und dann so lange weiterzuballern, bis das Magazin leer war und er das brennende Stechen spürte, wenn die erste Kugel sich in sein Fleisch bohrte. Doch der Lieferwagen fuhr weiter, ohne seine Fahrt zu verlangsamen. Schon nach wenigen Minuten war Victor der einzige Fußgänger weit und
breit. Die Abstände zwischen den einzelnen Autos waren so groß, dass er sich ernsthaft sorgte. Er musste zusehen, dass er von der Straße wegkam, und nahm die nächste Abzweigung. Er ging eine kleine Seitenstraße entlang, dann noch eine, bis zu einer Kreuzung. Hier war es dunkler, ruhiger, die Straßen schmaler. Noch weniger Menschen. Er war immer noch in Richtung Stadtzentrum unterwegs, allerdings nicht auf direktem Weg. Es begann leicht zu regnen. Innerhalb von siebenundzwanzig Minuten legte er etwas über drei Kilometer zurück, hetzte durch enge Gassen, schlug Haken, unternahm alles, was in seiner Macht stand, um sie abzuschütteln, und wusste trotzdem ganz genau, dass sie in seiner Nähe waren und er das Unvermeidliche lediglich hinauszögerte. Er blickte erneut auf seine Armbanduhr und stellte sich vor, wie Adrianna in der Abflughalle oder vielleicht sogar schon in einem Flugzeug saß und dabei war, sich anzuschnallen. Traumatisiert, aber in Sicherheit. Mit der Zeit würde sie lernen, mit ihrer Angst zu leben. Er hoffte, dass sie ihm eines Tages verzeihen konnte, aber ihm war auch klar, dass das
eine falsche Hoffnung war, so, wie er mit ihr geredet hatte. Wenn er verständnisvoll auf sie eingegangen wäre, dann vielleicht. Aber er war hart und abweisend gewesen, hatte ihr Angst eingejagt, um ihr das Leben zu retten. Er ließ die Hände aus den Taschen und das Jackett offen. Achtete auf jedes Geräusch, jeden Schatten. Immer, wenn er ein Auto hörte, versuchte er, genau festzustellen, wie weit es entfernt war und in welche Richtung es fuhr. Jedes menschliche Wesen war ein potenzieller Kidon-Agent und wurde auf Verhalten, Alter, Aussehen, Körperhaltung und Kleidung genauestens taxiert. Victor ging durch eine Kopfsteinpflasterstraße, die zu beiden Seiten von fünfstöckigen Häusern gesäumt wurde. Der Bürgersteig auf der linken Seite war asphaltiert und besaß einen niedrigen Randstein, rechts gab es keinen Gehweg. Die Häuser bestanden aus tristem grauem Backstein. Ein paar Ladenschilder über Metallgittern sorgten für den einen oder anderen matten Farbtupfer. Feiner, kalter Regen fiel vom Himmel. Kein Wind. Außer ihm war nur noch eine einzige Person auf der Straße zu sehen. Fünfzig Meter vor ihm, bei der
Kreuzung, telefonierte eine Frau auf ihrem Handy. Dabei ging sie unter einer Straßenlampe hin und her. Victors Schritte hallten durch die Straße. Nur wenige Fenster über den geschlossenen Geschäften waren erleuchtet. Er hätte sich jetzt wahnsinnig gerne eine Zigarette angezündet. Warum bloß hatte er das Rauchen aufgegeben? Wenn er den Stadtplan von Sofia richtig abgespeichert hatte, dann musste ungefähr eine Querstraße weiter eine U-Bahn-Station kommen. Nur noch ein paar Minuten, dann saß er in der relativen Sicherheit eines sauberen, modernen U-Bahn-Waggons. Er würde bis zum Hauptbahnhof fahren und den nächsten Zug aus der Stadt nehmen. Er war so dicht davor. Da hörte er Schritte in seinem Rücken. Irgendjemand war gerade eben hinter ihm in die gleiche Straße eingebogen, auf der gegenüberliegenden Straßenseite … ein Mann, dem Gewicht und dem Tempo der Schritte nach zu urteilen. Victor ging weiter. Er spürte ein Prickeln im Nacken. Mit ihm waren sie nun schon zu dritt. Das war viel für eine abgelegene Seitenstraße, um diese
Zeit. Die Frau telefonierte immer noch. Sie hatte nicht einmal in seine Richtung geblickt. Er beschleunigte seine Schritte. Hier gab es keinerlei Abzweigungen mehr, keine Seitengässchen, die lagen alle schon hinter ihm. Die Kreuzung war noch vierzig Meter entfernt. Die Frau unter der Straßenlaterne war klein und schlank. Flache, praktische Schuhe. Victor sah nach oben. An den Fenstern und auf den Dächern war niemand zu sehen. Ein Auto kam näher, rumpelte über das Kopfsteinpflaster. Die Schritte in seinem Rücken waren nicht leiser geworden. Obwohl sie das eigentlich sollten. Der Mann ging genauso schnell wie er. Jetzt bog ein Wagen bei der vor ihm liegenden Kreuzung in seine Straße ein. Die Scheinwerfer glitten über die Frau. Victor wandte sich ab, damit seine Pupillen sich nicht verengten. Der Wagen kroch vorwärts. Eine unauffällige Limousine. Ein Peugeot. Blau. Vier Türen. Die ihm zugewandten Fenster waren geschlossen. Der Wagen wurde nicht langsamer und nicht schneller. Victors rechte Hand schwebte über dem Kolben der FN. Der Peugeot fuhr rechts an ihm vorbei.
Ein weiterer Wagen bog in die Straße ein. Victor hörte, wie der Peugeot in seinem Rücken langsamer wurde. Gleichzeitig steckte die Frau ihr Handy in die Tasche und drehte sich in seine Richtung. Sie war zwanzig Meter von ihm entfernt. Dunkle Haare, jungenhafter Schnitt, unscheinbare Gesichtszüge. Victor warf einen Blick über die Schulter nach hinten. Der Mann auf der anderen Straßenseite war groß, gut eins neunzig vielleicht, und sehr kräftig gebaut. Militärischer Kurzhaarschnitt. Alles andere war bei den Lichtverhältnissen nicht zu erkennen. Der Peugeot wurde noch langsamer, und gleichzeitig hörte Victor, wie der andere Wagen scharf beschleunigte. Zwei Autos, zwei Fußgänger. Victor konnte unmöglich alle gleichzeitig im Blick behalten. Und genau das war beabsichtigt. Er ließ den Blick zu der Frau zurückschnellen und brauchte keine weiteren Beweise. Er zog seine Waffe. Die Frau hatte die Hand bereits in der Manteltasche. Victor brauchte sich nicht erst umzuschauen, um zu wissen, dass der kräftige Kerl auf der anderen Straßenseite auch gerade dabei
war, seine Waffe zu ziehen. Da sie auf verschiedenen Straßenseiten postiert waren, konnten sie ihn von beiden Seiten unter Beschuss nehmen, ohne einander zu gefährden. Scheinwerfer schwenkten in seine Richtung und blendeten ihn, als er den ersten Schuss abfeuerte. Der Knall aus der ungedämpften Five-seveN hallte zwischen den Häusern wider. Er konnte nicht erkennen, ob er getroffen hatte, und es blieb auch keine Zeit, um nachzusehen. Das zweite Auto jagte direkt auf ihn zu. Noch ein französisches Modell, ein Renault. Zehn Meter entfernt, dann fünf. Er konnte entweder auf den Fahrer schießen oder beiseitespringen. Wenn er den Fahrer erschoss, würde das Auto ihn trotzdem über den Haufen fahren. Victor sprang nach rechts, auf die Straße. Der Renault röhrte an ihm vorbei, und Victor rollte sich auf den Pflastersteinen ab, absorbierte die Energie des Sturzes, sonst hätte er sich unweigerlich verletzt. Noch bevor der Renault angehalten hatte, sprangen die Türen auf. Zwei Gestalten stürmten heraus. Eine Frau vom Beifahrersitz, ein Mann von
der Rückbank. Victor kam auf die Knie, nahm den Mann, der nicht so weit entfernt war wie die Frau, ins Visier und wollte abdrücken. Doch die Rufe des Muskulösen auf der anderen Straßenseite und der Frau mit dem unscheinbaren Gesicht hielten ihn davon ab. Sie hielten ihn aus zwei Richtungen in Schach, und Victor hatte keine andere Wahl. Wenn er abdrückte, würde er sterben. Die FN fiel klappernd auf das Kopfsteinpflaster, und Victor hob die leeren Hände. Der Peugeot stand sechzig Meter weiter hinten auf der Kreuzung und blockierte die Zufahrt. Der Renault war keine zehn Meter entfernt. Er erkannte die Frau, die jetzt zur Beifahrertür des Renault heraussprang und auf ihn zugelaufen kam, auch wenn sie sich erheblich verändert hatte. Statt der Kamera hielt sie jetzt eine Pistole in der Hand, und statt des freundlichen Lächelns hatte sie nur kalte Blicke für ihn übrig. Fünf Meter vor ihm blieb sie stehen, die Waffe auf ihn gerichtet. Der Fahrer blieb hinter dem Lenkrad sitzen. Der Mann von der Rückbank war blass und hager und hielt die gleiche Pistole in der Hand wie sie. Eine Beretta 92FS mit Schalldämpfer. Victor sah sich um und entdeckte die
schlanke Frau mit dem nichtssagenden Gesicht in der Nähe der Straßenlampe. Mit gespreizten Beinen stand sie da und zielte auf seinen Rücken. Der Mann mit der Beretta rief: »Keine
Bewegung.« Er sprach Russisch, wie Victor in Minsk. Der große Kerl kam näher. Er war ausgesprochen muskulös, aber gleichzeitig schlank und geschmeidig. Gewicht schätzungsweise hundert Kilo. Keine überflüssigen Muskelberge. Weite Hose, offenes Sportsakko, T-Shirt. Er durchsuchte Victor, hatte das Keramik-Klappmesser schon nach wenigen Sekunden gefunden und warf es weg. »Hände«, sagte er barsch. Victor streckte sie ihm in Schulterbreite entgegen. Der Kerl packte ihn mit enormer Kraft an den Handgelenken, umwickelte sie mit Plastikhandschellen und zog sie so fest zusammen, dass die Haut rings um die Riemen weiß wurde. Er packte Victor am rechten Trizeps und schubste ihn auf die Rückbank des Renault hinter den Fahrersitz. Victor ließ sich die Schmerzen nicht anmerken und leistete keinen Widerstand. Der Muskulöse gab irgendeinen Befehl auf Hebräisch,
und die beiden, die aus dem Auto ausgestiegen waren, stiegen wieder ein – der Mann auf die Rückbank neben Victor, die Frau auf den Beifahrersitz. Die kleine Frau unter der Straßenlaterne steckte ihre Pistole wieder ein und ging mit hastigen Schritten zu dem Peugeot. Sie setzte sich auf die Rückbank, während der Muskulöse auf den Beifahrersitz plumpste. Victors Hände fingen schon jetzt an zu kribbeln, da die Blutzufuhr unterbrochen war. Er setzte sich aufrecht. Der Kerl neben ihm hielt so viel Abstand wie möglich, ließ Victor jedoch keine Sekunde aus den Augen und hielt auch seine Pistole unentwegt auf ihn gerichtet. Es war eine Beretta mit Spannabzug, entsichert und einsatzbereit. Er brauchte nur abzudrücken, dann bekam Victor eine Neun-Millimeter-Kugel in die Brust. Der Israeli hielt die Waffe in der rechten Hand, parallel zu seinem Brustkorb. Zu weit entfernt, zu riskant, selbst mit ungefesselten Händen. Die blonde Frau auf dem Beifahrersitz drehte sich zu ihm um. »Anschnallen«, bellte sie. Den englischen Akzent hatte sie beibehalten.
Wahrscheinlich war sie ursprünglich Engländerin. Victor zeigte ihr seine gefesselten Hände. Sie grinste spöttisch. »Das schaffst du schon.« Victor griff über die linke Schulter nach hinten, zog den Gurt über die Brust und steckte die Schnalle in das Schloss. Dabei stellte er sich so ungeschickt wie möglich an. Als das Schloss einrastete, drehte die Frau sich wieder nach vorn und sagte ein paar hebräische Worte zu dem Fahrer. Die drei Israelis hatten keine Gurte angelegt, um möglichst schnell und ungehindert agieren zu können, während er jetzt an seinen Platz gefesselt war. Der Renault fuhr los, dicht hinter dem Peugeot. Alles einstudiert. Der Fahrer fuhr knapp über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit, wie jeder, der keinen Strafzettel riskieren wollte und nichts zu verbergen hatte. Sie fuhren durch die schmalen Straßen von Sofia und blieben immer unmittelbar hinter dem Führungsfahrzeug. Die Beifahrerin drehte sich in regelmäßigen Abständen zu Victor um. Der Israeli auf der Rückbank ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Victor spürte, wie das Adrenalin seinen Herzschlag beschleunigte. Er hörte den Puls in
seinen Ohren dröhnen. Er starrte durch das Fenster nach oben und sah blinkende Lichter am nächtlichen Himmel. Ein startendes Flugzeug. Er sah den Lichtern nach, bis sie in der Dunkelheit verschwunden waren.
Kapitel 63 Die Schmerzen in Victors Handgelenken, die durch die Fesseln eng aneinandergepresst wurden, nahmen zu, und auch das Kribbeln wurde immer schlimmer. Er konnte die Hände zwar zu Fäusten ballen, aber mehr nicht. Bald schon würden sie so taub werden, dass er sie überhaupt nicht mehr bewegen konnte. Sie bogen einmal nach rechts und zweimal nach links ab und landeten auf einer breiten Straße, näherten sich einer Ampel. Rotes Licht schimmerte durch die Regentropfen auf der Windschutzscheibe. Der Renault wurde langsamer und blieb schließlich ganz stehen. Vielleicht konnte er ja die Tür aufmachen und sich auf die Straße fallen lassen, bevor die anderen reagieren konnten, aber eine Kidon-Einheit würde niemals vergessen, die Kindersicherung zu aktivieren. Er konnte es trotzdem versuchen – womöglich funktionierte die Sicherung nicht richtig –, aber Victor wollte ihre Aufmerksamkeit nicht durch eine Aktion, die von vornherein zum Scheitern verurteilt war, noch mehr anheizen. Stattdessen saß er regungslos und
geschlagen auf seinem Sitz. Seine einzige Chance lag darin, dass sie ihn unterschätzten. Er stieß mit den Knien an die Rückenlehne des Fahrersitzes. Dort saß der andere falsche Tourist. Er besaß lange Beine und hatte seinen Sitz darum ganz nach hinten geschoben. Victor konnte sich kaum bewegen. Er schaute nach rechts, wo der Israeli mit der Pistole saß. Er war schmächtig gebaut, mit blassem Gesicht unter dunklen Locken. Er trug eine Jeans und eine Nylonjacke und wirkte ruhig, fast schon entspannt. Seine Beretta war leicht nach unten gerichtet, auf Victors Körperschwerpunkt. Der Kerl sah aus, als hätte er am liebsten auf der Stelle abgedrückt, aber seine Befehle lauteten, dass er nur im äußersten Notfall schießen sollte. Ein Toter konnte schließlich nicht mehr reden. Die Ampel sprang auf Grün, und der Renault fuhr los, eine Wagenlänge hinter dem Peugeot. Sie fuhren Kolonne, auch wenn es nicht danach aussah. Es war still im Wagen. Das Radio war ausgeschaltet. Niemand sagte ein Wort. Die Frau auf dem Beifahrersitz drehte sich noch einmal um und schaute Victor an, diesmal mit einem eher versonnenen Lächeln, bevor sie den Blick abwandte.
Es fiel ihm immer schwerer, die Finger zu bewegen. Er konnte seine Armbanduhr zwar nicht sehen, besaß aber ein gutes Zeitgefühl. Seit seiner Gefangennahme waren neun Minuten vergangen. Die Szenerie vor seinem Fenster wandelte sich, während sie die Innenstadt von Sofia hinter sich ließen. Er sah Fabriken und Lagerhallen, Autohandlungen, Wohnblocks, Brachflächen. Er spürte, dass das Ziel der Fahrt nicht mehr weit sein konnte. Und damit wurden seine Fluchtchancen dramatisch schlechter. Der Mann mit der Nylon-Jacke hörte nicht auf, ihn anzustarren. Er blinzelte regelmäßig, hielt die Augen feucht und reduzierte dadurch das Risiko, unwillkürlich im falschen Moment zu zwinkern. Selbst, wenn Victor es irgendwie schaffen sollte, seiner Kugel auszuweichen, konnte er den Mann unmöglich entwaffnen, solange er an den Händen gefesselt und angeschnallt war, von der Frau auf dem Beifahrersitz ganz zu schweigen. Genauso wenig konnte Victor den Fahrer angreifen, solange er von dem Kerl auf dem Rücksitz beobachtet wurde. Vielleicht ergab sich ja eine Möglichkeit, wenn sie am Ziel angekommen waren und der Wagen stehen blieb.
Das Problem war nur, dass auch der zweite Wagen der Kidon-Einheit dort sein würde. Er holte tief Luft und ließ sich die unterschiedlichsten Szenarien durch den Kopf gehen. Das Ende war jedes Mal das gleiche. Währenddessen setzte der Renault seine Fahrt ungerührt fort. Sie kamen auf eine vierspurige Schnellstraße. Das Wetter wurde schlechter. Regen trommelte auf das Dach. In Sturzbächen lief das Wasser an den Fenstern herab. Die Scheibenwischer sausten gleichmäßig hin und her. Der Schmerz in Victors Handgelenken wurde zur Folterqual. Der Israeli zu seiner Rechten starrte ihn weiter an. Die Frau auf dem Beifahrersitz wandte ihm den Blick zu. »Ach, übrigens«, sagte sie, »vielen Dank für das Foto. Das wird ein hübsches Andenken. Ich sehe darauf ja wirklich gut aus.« Victor zog die Augenbrauen in die Höhe. »Und dabei heißt es doch, dass die Kamera niemals lügt.« Sie grinste. Der Fahrer sagte etwas auf Hebräisch, und sie
drehte sich blitzartig wieder nach vorn, verkrampfte sich augenblicklich und erwiderte etwas. Der Fahrer nickte. Victor sah ein Scheinwerferpaar auf der Gegenfahrbahn sehr schnell näher kommen. Einen Augenblick später war ihm auch klar, weshalb es diese Reaktion hervorgerufen hatte. Ein Streifenwagen mit Blaulicht und eingeschalteter Sirene, die mit ihrem Jaulen sogar den tosenden Regen übertönte. Die Frau sagte noch etwas. Es klang, als wollte sie sich und die beiden Männer beruhigen. Victor holte einmal tief Luft und drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, um die Nackenmuskeln zu lockern. Fertig. Er sah, wie die Frau den Kopf nach links drehte, um dem Streifenwagen nachzusehen. Das war reine Gewohnheit, lag in der menschlichen Natur. Wenn ein Polizeiauto vorbeifuhr, musste man einfach hinsehen. Besonders, wenn man etwas zu verbergen hatte. Der Israeli auf dem Rücksitz machte es auch. Teil der menschlichen Natur. Er löste den Blick von Victor. Nur für eine Sekunde.
Eine Sekunde zu viel. Victor beugte sich nach vorn, hob die Hände, stülpte sie dem Fahrer über den Kopf und riss sie mit Schwung wieder zurück. Die harte Kante der Plastikfesseln grub sich in den Nasenrücken des Israelis. Victors Handgelenke verdeckten ihm die Augen. Der Fahrer schrie laut vor Schmerz, Verblüffung und Panik. Er konnte nichts mehr sehen. Der Renault schwankte zur Seite, als der Fahrer eine Hand vom Lenkrad nahm und an Victors Handgelenken zerrte. Aber Victor konnte beide Arme benutzen, hatte den besseren Hebel und außerdem einen unbändigen Überlebenswillen. Er bohrte das Plastikband noch tiefer in die Nase des Fahrers. Blut rann ihm übers Gesicht. Der Kerl auf der Rückbank und die Frau auf dem Vordersitz befahlen Victor lautstark, den Fahrer in Ruhe zu lassen, und kämpften gleichzeitig mit den Fliehkräften. Victor, der die Knie an die Rückenlehne des Fahrersitzes und die Arme auf das Gesicht des Fahrers presste, saß relativ ruhig. Außerdem waren die anderen nicht angeschnallt. Er schon.
Victor zog noch kräftiger, schnitt mit der Plastikfessel immer tiefer in die Nase des Fahrers, der heulend vor Schmerz und Angst dasaß und den Kopf nicht von der Kopfstütze lösen konnte. Der Israeli auf dem Rücksitz versuchte, seine Beretta auf Victor zu richten, schoss aber nicht. Eine Tötung Victors kam nur als letzter Ausweg infrage. Er wollte seinen Vorgesetzten nicht erklären müssen, warum das Verhör ergebnislos und für alle Zeit geendet hatte. Außerdem bestand, so, wie der Wagen durch die Gegend schlingerte, immer die Gefahr, dass er dabei versehentlich den Fahrer traf. Die Beifahrerin hatte sich nach hinten gedreht. Sie hatte ebenfalls ihre Waffe gezogen und zielte auf Victor. Ihr Winkel war zwar günstiger, aber sie wurde auch heftiger hin und her geschleudert als der Kerl auf der Rückbank. Es gelang ihr jedenfalls nicht, die Waffe ruhig zu halten. »Lass ihn los«, brüllte sie. »SOFORT!« Victors Blick schnellte zwischen ihr und dem Kerl auf der Rückbank hin und her. Er merkte, dass der Wagen seine Fahrt verlangsamte. Fingernägel bohrten sich in seine Haut, und er fing an zu bluten, aber er ließ nicht los. Der Fahrer brüllte etwas
Hebräisches. Andere Fahrzeuge hupten. Sie näherten sich einer Ausfahrt. Wenn der Fahrer es schaffte abzufahren, dann konnte er den Wagen anhalten. Dann war es vorbei. Der Fahrer war zwar blind, aber die beiden anderen konnten ihm Anweisungen zurufen. Victor zwang seine Hände weiter nach unten, schabte Haut von der Nase des Fahrers, bekam den Plastikriemen unter das Kinn des vor ihm Sitzenden und zog mit aller Kraft. Seine Handgelenke pressten sich von links und rechts in den Hals des Mannes. Er bekam keine Luft mehr. Der Wagen geriet erneut ins Schlingern, noch heftiger als zuvor. Die Frau wurde gegen die Tür geschleudert. Der Kerl auf dem Rücksitz verlor völlig das Gleichgewicht und sank in Victors Richtung. Er versuchte sich zu stabilisieren, stützte sich mit der linken Hand auf der Rückbank ab, wollte Victor auf keinen Fall zu nahe kommen. Zu spät. Victor ließ den Fahrer los, packte den Israeli am Handgelenk, zog ihn zu sich und rammte ihm den rechten Ellbogen ins Gesicht. Dann noch einmal. Und noch einmal. Benommen und orientierungslos sackte der Israeli in sich zusammen.
Die Beifahrerin hatte sich mittlerweile wieder aufgerichtet und den Kopf in Victors Richtung gedreht. Der Lauf ihrer Pistole schwang nach oben. Victor packte die rechte Hand des benommenen Israelis mit seinen beiden, zwang den Arm, so gut es ging, in die richtige Richtung und drückte mit dem Finger des Mannes ab. Das gedämpfte Klack war laut und deutlich zu hören. Die Kugel traf den Fahrer seitlich in die Rippen, zwischen Achselhöhle und Hüfte. Der Wagen geriet erneut ins Schlingern, und die Kugel aus der Waffe der Frau schlug ein Loch in die Heckscheibe. Glaskörnchen rieselten herab. Wind und Regen drangen herein. Der Renault schleuderte auf die andere Fahrbahn und prallte seitlich gegen einen Geländewagen. Victor wurde gegen die Tür geworfen und ließ die Beretta fallen. Sie landete hinter dem Fahrersitz, genau zwischen Victors Füßen. Der benommene Israeli fiel auf ihn. Metall kreischte auf Metall. Der Fahrer stöhnte. Hupen heulten. Andere Autos wichen ihnen aus. Die Frau packte mit einer Hand das Lenkrad, wollte
einen drohenden Unfall verhindern, während sie gleichzeitig versuchte, ihre Waffe wieder in den Griff zu bekommen, die sie bei dem Aufprall um ein Haar verloren hätte. Der Kerl von der Rückbank versuchte Victor zu packen, worauf dieser einen Kopfstoß mitten in das blutverschmierte Gesicht des Angreifers platzierte, ihn an der Jacke packte und zwischen die Vordersitze und auf die Frau schubste. Sie musste die Hand vom Lenkrad lösen, und der Wagen änderte urplötzlich die Richtung. Reifen quietschten auf dem nassen Asphalt. Victor versuchte, irgendwie an die Beretta im Fußraum zu kommen, aber seine Beine waren ihm im Weg. Der Fahrer sackte über dem Lenkrad zusammen, sodass der Wagen wieder nach rechts schlingerte. Die Frau bekam das Lenkrad erneut zu fassen, dieses Mal mit beiden Händen, und ließ den Wagen geradeaus fahren. Der Israeli zwischen den Sitzen drehte sich mühsam herum und schlug nach Victor. Er war in einer miserablen Position, brachte so gut wie keinen Druck hinter seine Schläge, und so gelang es ihm nicht, Victor entscheidend zu stören. Dieser löste seinen Sicherheitsgurt und rammte dem Angreifer
seinen Ellbogen in den Magen, dann noch einmal, mit gefalteten Händen, sodass der linke Arm dem rechten zusätzliche Kraft verleihen konnte. Der Israeli schnappte keuchend nach Luft und krümmte sich zusammen. Victor warf ihn zurück auf die Rückbank, hielt sich an der Kopfstütze des Fahrersitzes fest, drehte sich und versetzte dem Israeli einen Fußtritt an den Hals. Er spürte, wie der Kehlkopf unter seinem Absatz knackte. Der Israeli stieß ein ersticktes Röcheln aus und fasste sich an die Kehle. Jetzt, da seine Beine nicht mehr im Weg waren, streckte Victor die Hände in den Fußraum. Die Frau auf dem Beifahrersitz sah es, ließ das Lenkrad los und suchte hastig nach ihrer eigenen Waffe, die irgendwo zwischen den Beinen des zusammengesackten Fahrers lag. Ihre Blicke begegneten sich. Da niemand mehr das Lenkrad festhielt, schlingerte der Renault unkontrolliert hin und her. Die Beretta rutschte von einer Seite auf die andere und glitt Victor aus den steifen Fingern. Regen prasselte auf seinen Hinterkopf. Die Frau war bereits dabei, ihre Pistole unter den Oberschenkeln des Fahrers herauszuziehen, als Victor endlich das kalte Metall
spürte, die Beretta packte, sie mit beiden Händen hochhob. Er sah, wie die Frau ihre Arme zurückzog, um den richtigen Schusswinkel zu bekommen. Ihr Weg war nur halb so lang wie seiner. Er schoss zuerst, ohne zu zielen, drückte in rasender Folge ab, die Beretta noch unterhalb des Sitzes, den Lauf nach oben gerichtet. Neun-Millimeter-Kugeln durchschlugen das Schaltgehäuse und den Beifahrersitz und trafen sie in Oberschenkel und Hüfte. Sie schrie auf und wurde nach hinten geschleudert. Victor hörte nicht auf zu schießen, richtete den Lauf noch etwas höher. Blutige Einschusslöcher in ihrem Bauchraum und ihrer Brust waren die Folge. Sie ließ die Pistole fallen. Der Wagen brach erneut nach rechts aus. Eine Hupe dröhnte. Durch die Regentropfen auf der Windschutzscheibe waren Scheinwerfer zu erkennen, die näher kamen. Er wirbelte herum und stemmte die Füße in den Fußraum. Mit den gefesselten Händen griff er über die linke Schulter nach hinten und packte die Schnalle des Sicherheitsgurts.
Unablässiges Gehupe dröhnte in Victors Ohren. Er zog sich den Gurt über die Brust. Die Scheinwerfer wurden heller, kamen noch näher. Er schob die Schnalle in das Schloss und hörte es klicken. Der plötzliche Aufprall schleuderte Victor nach vorn. Der Gurt rastete ein. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Sein Kopf prallte gegen die Kopfstütze. Er hörte Metall kreischen und sich verbiegen. Glas splitterte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht fiel er wieder gegen die Sitzlehne. Der Fahrer hing leblos über dem Lenkrad. Der Israeli vom Rücksitz war auf den Beifahrersitz geprallt, der dabei zu Bruch gegangen war. Regungslos lag der Mann da, machte langsame, von gurgelnden Geräuschen begleitete Atemzüge. Blut glitzerte auf seinem Gesicht, lief ihm übers Kinn. Die Frau lag unter dem Sitz, die starren Augen direkt auf Victor gerichtet. Er hustete und schnallte sich wieder ab. Mithilfe der Beretta schlug er die Scherben aus dem zersplitterten Fenster in seiner Tür, schob sich durch die Öffnung und ließ sich auf den kalten, nassen
Asphalt fallen. Mühsam kam er auf die Beine und entfernte sich mit taumelnden Schritten. Der Renault war frontal gegen einen ähnlich großen Wagen geprallt. Dessen Fahrer war angeschnallt gewesen, und Victor sah, wie er sich den Nacken rieb. Ringsumher säumten riesige Lagerhallen und Fabrikgebäude die vierspurige Straße. In beide Richtungen staute sich der Verkehr. Ein Lieferwagen hatte einen Maschendrahtzaun durchbrochen. Etliche Leute stiegen aus ihren Autos. Alle Blicke waren auf Victor gerichtet. Bei einem Ford ganz in der Nähe öffnete sich die Tür, und der Fahrer kam auf Victor zu. Er beachtete ihn genauso wenig wie alle anderen. Dann sah er den blauen Peugeot, ein Stück weiter hinten. Der Renault musste ihn im Lauf des chaotischen Kampfes überholt haben. Das Kidon-Fahrzeug war fünfzig Meter entfernt. Victor ließ sich auf das eine Knie sinken, stützte, so gut es eben ging, mit der linken Hand die rechte und richtete die Beretta auf die Windschutzscheibe des Wagens. Zielte. Fünfzig Meter war deutlich weniger als die maximale Reichweite der Beretta,
aber mit der Unterschallmunition musste er sehr genau treffen. Risse zogen sich über die Windschutzscheibe des Peugeot. Er konnte nicht erkennen, ob er einen seiner Gegner getroffen hatte, schoss aber trotzdem unverdrossen weiter. Der gute Samariter neben Victor fiel zu Boden, überwältigt vom Schock und von der Angst. Er suchte auf allen vieren das Weite. Vier Israelis aus dem Peugeot – der Muskulöse, zwei andere Männer und die kleine Frau mit den kurzen Haaren – stürmten aus dem Wagen und machten sich ebenfalls schussbereit, aber Victor war bereits losgerannt. Ein Feuergefecht mit vier Mossad-Agenten würde er niemals gewinnen, nicht einmal mit ungefesselten Händen. Er sprintete in die entgegengesetzte Richtung davon.
Kapitel 64 Victor rannte, die gefesselten Handgelenke dicht vor der Brust, die Beretta fest in beiden Händen. Er verließ die Schnellstraße, überquerte den Parkplatz vor einer Zeile mit verschiedenen Handwerksbetrieben und sprintete in eine schmale Gasse zwischen zwei Gebäuden. Sie war eng, dunkel und lang, kaum mehr als einen Meter fünfzig breit, und bot Schutz vor dem Regen. Er wich Kartons und Müllsäcken aus und sah sich dabei pausenlos nach irgendetwas um, mit dem er seine Plastikfessel durchschneiden konnte. Er konnte kaum etwas sehen. Dann stolperte er über etwas Metallisches, stützte sich an der Hauswand ab und schürfte sich am rauen Mauerwerk den Arm auf. Die Gasse führte auf eine riesige Asphaltfläche. Dahinter war ein Stück braches Land zu erkennen. Dazwischen blitzte im Schein des Mondes ein Maschendrahtzaun. Er befand sich jetzt auf der Rückseite der Werkstätten, die um diese Zeit schon längst geschlossen hatten. Es gab nur eine Möglichkeit zur Flucht, und die führte über den Zaun und das dahinterliegende Brachland, aber wenn die
Israelis aus dem Peugeot ihm gefolgt waren, würde er es nicht einmal bis auf die andere Seite des Zauns schaffen. Er drehte sich um und stellte sich am Ende der Gasse in Position, gleich links neben der Öffnung, die linke Schulter an die Wand gelehnt. Sechs Sekunden vergingen, dann hörte er, wie einer der Verfolger die Gasse betrat. Victor wartete noch zwei Sekunden, bis der Betreffende weit genug vorgedrungen war, um in der Falle zu stecken. Durch die gefesselten Hände konnte er nicht einfach die Pistole in die Gasse halten und schießen, also drehte er sich nach links, während er gleichzeitig einen Schritt nach rechts machte. Er merkte sofort, dass das ein Fehler gewesen war, als der Mond seinen Schatten auf die Wand in der Gasse warf. Ein Schuss ertönte, einen Sekundenbruchteil, bevor Victor in voller Größe zu sehen war. Die Kugel riss einen dicken Brocken aus der Backsteinmauer. Victor sprang zur Seite, schoss zurück, wusste aber, dass er nicht getroffen hatte. Er hastete an der Hauswand entlang, entfernte sich von der Gassenmündung, rückwärts, mit schussbereiter
Waffe, auch wenn nicht davon auszugehen war, dass sein Gegner noch näher kam. Er würde sich zurückziehen und die Häuserzeile auf einem anderen Weg umgehen. Gut möglich, dass die anderen bereits damit angefangen hatten. Wenn sie ihn in die Zange nehmen konnten, dann war alles vorbei. Er jagte je eine Kugel in die äußersten Ecken der Gassenmündung, um sicherzugehen, dass der Angreifer sich auch wirklich zurückzog. Dann rannte er auf den Zaun zu. Jeden Augenblick rechnete er damit, eine Kugel in den Rücken zu bekommen. Er erreichte den Zaun, warf noch im Laufen die Pistole auf die andere Seite, sprang ab, bekam den Maschendraht auf halber Höhe zu fassen, stieß sich mit den Füßen ab. Das letzte Stück legte er im Klettern zurück, hielt sich mit der einen Hand fest, während die Finger der anderen versuchten, sich wenige Zentimeter weiterzuhangeln. Diesen Vorgang wiederholte er immer wieder, so schnell wie nur möglich, und stemmte sich mit den Füßen pausenlos nach oben. Der Zaun war mit einer Lage Stacheldraht gekrönt, aber er hatte keine Wahl. Er schwang den
rechten Ellbogen hinauf. Scharfe Metallklingen schnitten durch seine Kleider und sein Fleisch. Victor ignorierte den Schmerz, drückte sich mit den Füßen weiter nach oben, bekam seinen linken Ellbogen ebenfalls auf den Zaun und schwang dann den Rest seines Körpers hinüber. Er ließ sich fallen. Der Stacheldraht zerriss die Ärmel seiner Jacke, sein Hemd und die Haut darunter. Sobald seine Füße den Boden berührten, rollte er sich ab, um den Aufprall abzumildern. Die regennasse Erde war mit Steinen übersät. Regenwasser und Blut hatten seine Finger klebrig werden lassen. Er konnte sie nicht mehr fühlen. Dann suchte er die Beretta, nahm sie in beide Hände, drehte sich um und stützte sich auf ein Knie. Siebzig Meter entfernt, auf der anderen Seite des Zauns, stand die Häuserzeile mit den Handwerksbetrieben. In Tausenden Regentropfen spiegelte sich das Mondlicht. Kein Mensch war zu sehen. Er hörte das leise Klacken eines schallgedämpften Schusses und sah die Funken fliegen, als die Kugel einen Zaunpfahl streifte, aber den Schützen sah er nicht. Zu viele Möglichkeiten, in
Deckung zu gehen, zu viele Schatten. Er konnte wirklich überall sein. Womöglich schlich er – oder die anderen – sich im Schutz der Dunkelheit bereits näher, um es aus kürzerer Distanz noch einmal zu versuchen. Victor sprang auf und rannte los, hoffte, dass die beiden, die bisher auf ihn geschossen hatten, seine einzigen Verfolger waren, und wusste gleichzeitig doch sehr genau, dass ein Dritter vermutlich bereits einen Bogen geschlagen hatte, um ihm den Weg abschneiden zu können. Einer war beim Renault geblieben, um nach Überlebenden zu suchen, sich um die Indizien zu kümmern und Verstärkung anzufordern. Vielleicht hatte Victor ja Glück gehabt und einen seiner Feinde im Peugeot getroffen. Vielleicht. Aber Victor glaubte nicht an Glück. Der Mond schien so hell, dass Victor den Boden erkennen konnte, aber die vielen Furchen und Steine waren nicht zu unterscheiden. Er stolperte und torkelte, konnte die Arme immer noch nicht benutzen und wusste genau, dass jeder, der ihn verfolgte, schneller vorankam als er. Da tauchte vor ihm ein Fabrikgebäude auf. Kein
Licht. Nachdem er noch ein Stück näher gekommen war, sah er die riesigen Löcher in dem schräg geneigten Wellblechdach. Stillgelegt. Dem Verfall preisgegeben. Hier konnte er zwar kein Auto stehlen, aber vielleicht fand er wenigstens etwas Scharfes, um die Plastikfesseln zu durchtrennen. Er rannte weiter. Der Regen durchnässte seine Kleider, seine Haare, seine Haut. Jetzt hatte er den höchsten Punkt des Brachlands erreicht, und das Gelände neigte sich hin zu einer ebenen Asphaltfläche, die das Fabrikgebäude umgab. Grashalme zwängten sich zwischen den Ritzen hervor. Das Gebäude war weit über hundert Meter lang und zehn Meter hoch. Dort begann das Schrägdach, das auf der anderen Seite und noch einmal sechs Meter höher endete. In der Backsteinmauer befanden sich riesige, rechteckige Fenster, die jeweils aus Dutzenden kleineren, vielfach zerbrochenen Scheiben bestanden. Victor lief auf das Gebäude zu und an der Außenwand entlang, geduckt, suchte nach einer Möglichkeit, ins Innere zu gelangen. Hier draußen würden die Israelis durch ihre zahlenmäßige Überlegenheit über kurz oder lang die Oberhand
gewinnen. Aber innen konnte er ihnen möglicherweise ausweichen oder sich so lange versteckt halten, bis sie gezwungen waren, den Rückzug anzutreten. Falls er endlich seine Hände frei bekam. Die Fenster kamen nicht infrage. Er müsste erst ein paar Scheiben einschlagen, um ein Loch zu schaffen, durch das er hindurchpasste, aber mit gefesselten Händen konnte er sich nicht emporziehen. Und die Kidon rückten Sekunde um Sekunde näher. Da kam er an eine Doppeltür. Er untersuchte das Vorhängeschloss. Edelstahl, sehr robust. Selbst wenn er alle vier seiner kostbaren noch verbliebenen Patronen dafür opferte, würde es sich nicht knacken lassen. Er schlich weiter. Dann wagte er einen Blick zurück, aber seine Verfolger waren nicht zu sehen. Sie konnten ihn auch nicht sehen, aber sie hatten bestimmt gehört, wie er gegen die Tür getreten hatte. Nach wenigen Sekunden stand er wieder vor einer Tür, dieses Mal mit nur einem Flügel. Auch sie war durch ein Vorhängeschloss gesichert, aber irgendein abenteuerlustiger Mensch hatte die untere Hälfte der Tür einfach eingetreten. Victor bedankte sich im
Stillen bei allen Vandalen dieser Welt und kroch durch das Loch. Holzsplitter zerrten an seinem Jackett. Im Inneren war es kalt. Draußen wahrscheinlich auch, aber das hatte er gar nicht registriert. Er stand in einer riesigen und praktisch leeren Fabrikhalle. Regen fiel durch die großen Löcher in dem geneigten Wellblechdach, das auf dicken Stahlpfeilern ruhte. Überall auf dem Boden hatten sich Pfützen gebildet, in denen sich das Mondlicht spiegelte. Dort, wo regelmäßig Sonne hereindrang, waren ein paar Gräser und andere Pflanzen gewachsen. Metallrohre, Holzstücke und Plastikplanen lagen überall verstreut. Man konnte durchaus das eine oder andere erkennen, aber etliche Bereiche der Halle verschwanden im undurchdringlichen Schwarz der Schatten. Victor ließ die Tür mit hastigen Schritten hinter sich. Er hörte eine Scheibe klirren und wusste, dass seine Verfolger sich gerade durch eines der riesigen Fenster Zutritt verschafften. Ein zweiter Attentäter würde Victor folgen und schon in wenigen Sekunden durch das Loch in der Tür gekrochen kommen. Er konnte sich natürlich auf die Lauer
legen und seinen Verfolger attackieren, aber damit wäre er wahrscheinlich so lange beschäftigt, dass der zweite oder dritte Israeli ihn bequem von hinten erschießen konnte. Keine Zeit, nach irgendetwas zu suchen, womit er die Fesseln durchschneiden konnte. Diverse Gänge führten tiefer ins Innere der Fabrik. Victor nahm den nächstgelegenen. Angestrengt starrte er in die Finsternis, aber je weiter er kam, desto undurchdringlicher wurde sie. Er wusste nicht, wohin der Korridor führte, aber er musste weiter. Wasser tropfte von oben auf ihn herab. Er kam an einer Tür vorbei, drückte die Klinke, stellte fest, dass sie verschlossen war, und ging weiter. Schließlich schlich er um eine Ecke und lehnte sich schwer atmend mit dem Rücken an die Wand. Victor zwang sich weiterzugehen. Es wurde heller, und der Korridor endete in einem Innenhof, der zu allen Seiten von hohen Fabrikwänden umschlossen wurde. Es gab nur einen Ausgang, und der lag genau gegenüber. Eine rostige Metalltür. Mit Vorhängeschloss. Unüberwindlich. Die Wände waren zu hoch und zu glatt, um daran
emporzuklettern. Es gab keinen Ausweg. Er hatte sich in die Falle manövriert. Victor drehte sich um und hastete zurück in den Korridor. Als er wieder vor der verschlossenen Nebentür stand, trat er sie ein. Aus dem Augenwinkel nahm er einen Schatten wahr, unmittelbar, bevor er durch die Türöffnung stürmte. Der Mond schien durch das zerfallende Dach in einen großen Saal. Victor erkannte schemenhaft Maschinen, Holzkisten, Werkzeuge, Regale, ein Fließband, Fässer. An einer Wand zogen sich gewaltige, leere Metallregale entlang, davor stand ein verlassener Gabelstapler. Victor zog sich sofort wieder in die Dunkelheit zurück. Er musste einen Weg nach draußen finden. Die Israelis wussten das, darum würde einer von ihnen die Fabrik umgehen und die gegenüberliegende Gebäudeseite, von der er ins Innere gelangt war, abdecken. Wenn alle drei ihm nach drinnen folgten und er es schaffte, wieder nach draußen zu gelangen, dann könnte er entkommen. Diesen Fehler würden sie nicht begehen. Er hielt sich von den fahlen Lichtstreifen fern, die durch das löcherige Dach hereinfielen, einerseits,
damit seine Pupillen möglichst weit geöffnet blieben, zum anderen, um nicht gesehen zu werden. Am Ende jeder Regalreihe hing ein runder Spiegel an der Wand, der die Arbeit mit dem Gabelstapler erleichtert hatte. Die meisten davon waren kaputt. Große Holzkisten türmten sich in mehreren Reihen übereinander. Victor kauerte sich keuchend dahinter und wischte sich mit dem Jackettärmel Schweiß und Regen aus dem Gesicht. Er tastete den Fußboden ab, in der Hoffnung, etwas Scharfkantiges zu finden, mit dem er die Plastikfesseln durchschneiden konnte, wurde jedoch nicht fündig. Er warf einen Blick um die Kisten herum und sah, wie eine groß gewachsene Gestalt die Halle betrat und sich mit ein paar schnellen Schritten seitwärts von der Tür entfernte. Victor schoss sofort, aber nicht schnell genug, sodass der Israeli in Deckung gehen konnte. Von irgendwo war ein Schuss zu hören, dann rissen mehrere Kugeln große Splitter aus einer der Holzkisten. Victor wich zurück. Er konnte den Angreifer nicht sehen und konnte auch keine Schießerei riskieren. Seine Handgelenke waren immer noch gefesselt, und die Beretta hatte nur noch
drei Patronen im Magazin. Links befand sich ein Durchgang. Victor nahm an, dass er auf diesem Weg wieder in die große Fabrikhalle gelangen konnte. Er riskierte es, kam im Sprintertempo aus seiner Deckung hervor, verließ sich auf seine Schnelligkeit. Eine Kugel prallte sirrend von einer Maschine ab. Er schaffte es, behielt sein Tempo bei, rannte den breiten Korridor entlang, sah die riesigen, zerbrochenen Fenster in der Ferne. Er lief hinaus in die Fabrikhalle und bog sofort nach rechts ab, um eventuellen Verfolgern keinen direkten Sichtkontakt zu ermöglichen. Ob der zweite Attentäter in seiner Nähe war, wusste er nicht. Er musste es riskieren. Ihm blieb einfach keine Zeit, um noch länger in der Dunkelheit herumzufummeln und auf irgendeinen scharfen Gegenstand zu hoffen, mit dem er die Fesseln durchtrennen konnte. Darum steckte Victor die Beretta in seinen Hosenbund, hob ein Metallrohr vom Boden auf und schlug damit auf die Ecke eines Stahlpfeilers ein. Ein lautes Klang ertönte. Er schlug noch dreimal zu, jedes Mal genau auf die gleiche Stelle. Dann ließ er das Rohr fallen und rieb den Plastikstreifen, der seine Handgelenke fesselte,
immer wieder über die Stelle, wo er Farbe, Rost und Schmutz beseitigt und den kalten Stahl freigelegt hatte. Er sägte wie besessen und spürte, wie sich Reibungshitze entwickelte. Die Rohrschläge hatten seinen Feinden seine exakte Position verraten, aber er hatte keine andere Wahl. Wenn er überleben wollte, brauchte er seine Hände. Er sägte noch wilder, drückte noch fester und rechnete jeden Augenblick mit dem stechenden Schmerz einer eindringenden Pistolenkugel. Das Plastik zerriss. Er war frei, endlich. Victor hastete weiter, mied das Licht, das strahlenförmig den Raum durchschnitt und sich in den Regentropfen spiegelte. Er gelangte unter eine verrostete Treppe. Sie führte auf eine Art Balustrade, die sich in der Dunkelheit verlor. Er blieb stehen, drehte sich um und zog die Beretta. Seine Hände waren immer noch taub, und seine Handgelenke prickelten, aber es war gut, sie wieder frei bewegen zu können. Schritte knirschten über Splitt und Schutt, ohne dass Victor den Verursacher sehen konnte. Er musste in Bewegung bleiben. Solange er unter der
Treppe stand, gab er den anderen Gelegenheit, ihn einzukreisen. Knapp zwanzig Meter entfernt sah er eine Türöffnung. Er schlich darauf zu, immer dicht an der Wand entlang, so langsam und so leise wie nur möglich. Am liebsten hätte er die Schuhe ausgezogen, aber der Boden war übersät mit spitzen Gegenständen, und er hätte sich, lange, bevor er die Türöffnung erreicht hätte, die Fußsohlen aufgerissen. So setzte er vorsichtig einen Fuß vor den anderen, ohne zu sehen, wohin er trat, und in dem Bewusstsein, dass ein falscher Schritt genügte, um seinen Gegnern zu verraten, wo er war. Fünf Meter von der Öffnung entfernt blieb er stehen, um nicht in den umgebenden Lichtschimmer zu geraten. Gut möglich, dass seine Feinde die Tür ins Visier genommen hatten und sofort abdrückten, sobald Victor zu erkennen war. Er holte Luft, machte sich bereit und wollte erneut seiner Schnelligkeit vertrauen. Etwas anderes blieb ihm ohnehin nicht übrig. Da streifte etwas an Victors Ohr vorbei. Er zuckte zusammen, hob die Hand und entdeckte ein Stückchen Rost auf seiner Schulter. Instinktiv wandte er den Blick nach oben. Er konnte nichts erkennen,
aber er wusste, dass die Balustrade sechs, sieben Meter über seinem Kopf verlief. Irgendetwas hatte dieses Stückchen Rost losgetreten. Der zweite Attentäter. Es war genau, wie Victor gedacht hatte. Sie wussten, wo er sich versteckte, und während der eine in der Fabrikhalle auf ihn wartete, versuchte der zweite, ihn einzukreisen, aber nicht von rechts oder links, sondern von oben. Victor drehte sich in Richtung Treppe. Dort musste der Israeli herunterkommen, durch das Licht. Victor positionierte sich so, dass er einen besseren Winkel zur Treppe bekam. Wenn er diesen einen Gegner erschießen konnte, dann blieb im Inneren des Gebäudes nur noch einer übrig. Und das war eine Chancenverteilung nach Victors Geschmack. Er stieß mit der Fußspitze gegen etwas Kleines. Es schlitterte platschend in eine Wasserpfütze. Nicht laut, aber laut genug. Ein Schalldämpfer klackte, und eine Kugel bohrte sich nur wenige Meter entfernt in den Fußboden. Eine zweite landete in der Pfütze. Wasser spritzte auf. Die Schüsse kamen von oben, durch die Holzdielen der Balustrade. Der genaue Standort des
Schützen ließ sich nach nur zwei Schüssen allerdings noch nicht bestimmen. Victor blieb vollkommen regungslos stehen, hoffte inständig, dass der Israeli noch einen Schuss ab- und dadurch seine Position preisgab. Er tat ihm den Gefallen und schoss ein drittes und ein viertes Mal. Die letzte Kugel prallte so dicht neben Victor auf, dass er die umherspritzenden Betonsplitter an seinen Schienbeinen spürte. Der Mond schien zu einem Loch im Dach herein. Victor schätzte den Winkel ab und schoss. Er hörte, wie die Kugel das Holz durchschlug. Ein Stöhnen, ein Stolpern. Victor lauschte und riskierte noch einen zweiten Schuss. Nach einer Sekunde der Stille schlug etwas Kleines, Hartes auf den Bodenbrettern auf. Etwas Großes, Schweres folgte. Tot, vielleicht auch nur verletzt. Oder er tat nur so. Er hatte noch eine Kugel in der Beretta. Eine zu wenig, um noch einen blinden Schuss zu riskieren, schon gar nicht mit einem weiteren Gegner so dicht in der Nähe. Er tastete mit der Hand über den Boden, fand eine schwere Schraube und schleuderte sie durch die Türöffnung. In dem Moment, in dem die Schraube auf dem Fußboden
auf der anderen Seite aufschlug, sprintete er los. Er wusste, dass der Israeli in der Fabrikhalle zumindest für einen kurzen Augenblick durch das Geräusch abgelenkt würde. Victor gelangte zur Treppe und sprang mit schnellen Schritten nach oben, hörte, dass sich unterhalb etwas bewegte. Der Attentäter machte sich schussbereit, eine Kugel prallte auf das Metallgeländer, und Victor zuckte zusammen, aber dann hatte er es geschafft, hatte das obere Ende der Treppe erreicht und war mit einem Satz durch eine geöffnete Tür auf der Balustrade. Er war in einem verlassenen Büroraum gelandet. Der Mond schien durch ein breites, ausgeschlagenes Fenster. Victor hatte die Pistole im Anschlag und ging mit schnellen Schritten durch den Raum. Die Zeit der Heimlichkeiten war vorbei, aber falls der Israeli hier oben tot war, dann spielte das auch keine Rolle. Wenn er aber nur verletzt war, dann wollte Victor so schnell wie möglich bei ihm sein, zum einen, damit er sich nicht wieder erholen und zur Waffe greifen konnte, zum anderen, damit der Mann von unten nicht vorher nach oben kam. Abgesehen von einem verbeulten Aktenschrank an
der einen Wand gab es keine Möbel mehr. Die Schubladen waren alle herausgezogen worden und standen senkrecht auf dem Boden. Provisorische Hocker. Zerknüllte Bierdosen und zerbrochene Schnapsflaschen lagen überall auf dem Fußboden verteilt. Durch eine weitere Tür gelangte Victor in ein größeres Büro, eine Art Konferenzzimmer vielleicht. Dort, wo früher einmal Teppichboden gelegen hatte, waren jetzt Holzdielen zu sehen. Regen fiel durch das löcherige Dach. Überall lagen stapelweise kaputte Stühle und anderer Müll, rostige Aktenschränke und leere Wasserkanister aus Plastik herum. Es war zu dunkel, um die Einschusslöcher im Fußboden zu sehen. Am anderen Ende des Raums befanden sich zwei Türen. Kein toter oder verletzter Attentäter. Victor erstarrte. Ihm war klar, dass er nicht wieder zurückkonnte. Falls der Israeli aus der Fabrikhalle immer noch da unten war, konnte er Victor auf der Treppe ganz bequem erschießen. Er musste also weiter, obwohl er wusste, dass er von mindestens einem Attentäter erwartet wurde.
Er umrundete die Müllberge. Hier drin konnte sich niemand mehr versteckt halten, aber der Raum hatte zwei Ausgänge. Beide standen offen. Hinter jeder Tür konnte sich ein Hinterhalt verbergen. Mindestens zwei Gegner waren ganz in der Nähe. Eine Kugel.
Kapitel 65 Victor näherte sich den beiden Türöffnungen und erkannte, dass die nächstgelegene nicht infrage kam. Das Zimmer dahinter war voller Unrat – kaputte Stühle, Pappschachteln und anderer Müll bildeten eine unüberwindliche Barriere. Also ging Victor zur zweiten Tür. Er schlich den dahinterliegenden Korridor entlang, langsam, vorsichtig, setzte einen lautlosen Schritt vor den anderen. Das dämmerige Halbdunkel reichte gerade aus, um die Wände zu erkennen – abgerissene Tapeten, lose Kabelenden dort, wo einst Lampen befestigt gewesen waren, von Haken und Schrauben hinterlassene Löcher. Der Teppichboden war herausgerissen worden, aber an manchen Stellen klebten noch Reste auf den Bodenbrettern. Das Dach war intakt und der Fußboden trocken. Kurz bevor der Korridor wieder in einen größeren Raum mündete, gab es zwei geschlossene Türen, eine, die näher gelegene, links, die zweite, weiter entfernte, rechts. Von der Breite der Balustrade ausgehend nahm er an, dass sie jeweils in einen
kleinen Büroraum führten. Und am hinteren Ende des größeren Raums musste sich die zweite Treppe befinden. Der sanfte, kühle Luftzug sagte ihm, dass dort vorn irgendwo auch eine Öffnung sein musste, vielleicht ein eingeschlagenes Fenster. Er hörte das beständige Prasseln des Regens auf dem Asphalt. Victor ging an den beiden Türen vorbei. Ein Kidon-Attentäter hätte sich niemals in einem kleinen Büro mit nur einem Ausgang verschanzt. Er – oder sie – hatte mit Sicherheit irgendwo am Ende des Korridors oder noch weiter hinten Stellung bezogen. Noch einmal zwölf Schritte, dann hatte er das Ende des Korridors so gut wie erreicht. Ein vergammeltes Sofa und ein leerer Wasserspender machten deutlich, dass hier früher eine Art Empfangsbereich gewesen sein musste. Durch ein großes Loch in der Decke fiel der Regen und nässte den Boden. Das Sofa besaß keine Polster mehr. Die nackten Sprungfedern waren verrostet. Am anderen Ende des Aufenthaltsbereichs führte ein Durchgang ohne Tür in eine Küche. Dort konnte Victor die Überreste der weiß gestrichenen Einrichtung erkennen. Mit schnellen Schritten trat er auf die offene Fläche hinaus, schaute zuerst nach
links, dann nach rechts, ließ die Beretta mitwandern. Keine Spur eines Angreifers, und nirgendwo war ein potenzielles Versteck zu sehen. Scherben zerbrochener Glasflaschen und zerknüllte Dosen lagen auf dem Boden herum. Durch eine offene Tür zur Rechten sah er einen Stahlbalkon und eine weitere Treppe. Die Balkontür stand weit offen und ließ das nächtliche Dämmerlicht hereinfallen. Spitze Glassplitter ragten aus dem viereckigen Loch in der Mitte der Tür, wo einst eine Glasscheibe gewesen war. Victor trat noch ein Stück weiter in den Raum, um einen besseren Blick in die Küche und auf den Balkon zu bekommen, aber immer noch blieben genügend Stellen, die er nur dann einsehen konnte, wenn er anderen den Rücken zukehrte. Er wusste, dass sich hier irgendwo ein Attentäter versteckt hielt, aber wo? Die Tür zum Balkon mit der Treppe konnte schon vorher offen gewesen sein – das musste keinen Zusammenhang mit seinen Gegnern haben –, aber vielleicht war sie auch absichtlich offen gelassen worden, um Victor anzulocken, damit er von hinten
erschossen werden konnte. Möglicherweise kauerte ein Attentäter auf dem Balkon, weil er davon ausging, dass Victor die offene Tür für eine Falle hielt und in die Küche gehen würde. Vielleicht war es aber auch ein doppelter Bluff oder ein dreifacher, eine unendliche Folge an potenziellen Fallen. Mit Taktik kam man hier nicht weiter. Und Erfahrung brachte auch nichts. Letztendlich lief es auf eine Chance von fünfzig zu fünfzig hinaus. Er musste sich entscheiden, und zwar schnell. Hier konnte er nicht stehen bleiben. Der zweite Kidon-Attentäter kam immer näher. Gut möglich, dass sie den dritten, der bislang draußen gewesen war, auch schon hergeholt hatten, jetzt, da Victor auf der Balustrade in der Falle saß. Er rückte in Richtung Treppe vor, damit, falls er die falsche Entscheidung getroffen hatte und der Attentäter ihn von der Küche aus angriff, sich das Mondlicht in seinen oder ihren Augen spiegelte, sobald er die Deckung verließ. Victor bewegte sich seitwärts vorwärts, damit er die Küche im Blick behalten konnte. Einen halben Meter vor dem Balkon blieb er stehen. Wäre er noch näher gegangen, dann hätte er
sich verraten, noch bevor er seinen Feind ins Blickfeld bekommen konnte. Gleichzeitig wäre er auch von der Küche aus zu sehen gewesen. Aber beide Richtungen zugleich konnte er nicht abdecken. Also warf er mit einer schnellen Handbewegung die Balkontür ins Schloss, damit sie, falls er sich geirrt hatte, Hindernis und Alarmanlage gleichzeitig war. Schon bevor die Tür zuknallte, wirbelte er herum und nahm die Küchentür ins Visier. Er hatte sich nicht geirrt. Die kleine Frau mit dem unscheinbaren Gesicht und der jungenhaften Frisur trat aus der Dunkelheit, die Waffe im Beidhandgriff, die Ellbogen leicht angewinkelt. Sie hatte die Augen zusammengekniffen, weil sie davon ausging, gleich ins Licht zu sehen und Victors Rücken vor sich zu haben. Er schoss zuerst, in die Körpermitte, weil er mit seiner letzten Kugel keinen Kopfschuss auf ein bewegliches Ziel riskieren wollte. Die leere Patronenhülse landete leise klirrend auf den Dielenbrettern. Die Israelin stieß einen dumpfen Schrei aus,
stolperte nach hinten und landete rückwärts auf dem Küchenboden. Sie war nicht tot – vermutlich trug sie eine Kevlarweste. Eine Neun-MillimeterUnterschallkugel hatte nicht genug Wucht, um sie zu durchschlagen, aber der harte Stoß auf das Brustbein hatte sie außer Gefecht gesetzt. Ihr Zwerchfell war gelähmt, und sie bekam erst einmal keine Luft mehr. Victor lief hinüber, um sie zu töten und ihre Waffe und ihr Funkgerät an sich zu nehmen, falls sie eines hatte, doch dann hörte er ein Geräusch zu seiner Linken – aus dem Korridor, durch den er gekommen war –, wirbelte herum und schleuderte seine leere Beretta durch die Türöffnung. Die Pistole traf den hünenhaften Israeli an der Stirn, als dieser gerade aus dem Schatten trat. Die Stirn ist der härteste Teil des menschlichen Schädels, aber die Beretta wog selbst mit leerem Magazin noch fast ein Kilogramm, und sie war aus solidem Stahl. Der Attentäter wankte, fuchtelte mit den Armen, und Victor nutzte die Zeit, um auf ihn zuzulaufen. Mit der linken Hand packte er die Beretta des Mannes, solange dieser sie nur mit einer Hand festhielt. Er
legte den Daumen auf das Ende des Zeigefingers, der im Abzugsbügel steckte, und presste den Fingernagel des Mannes gegen die harte Metallkante, während er ihm gleichzeitig die Hand verdrehte. Der Israeli ließ seine Waffe los. Victor packte sie mit der rechten Hand am Lauf, versuchte, sie besser zu fassen zu bekommen, doch bevor ihm das gelang, rammte der Attentäter ihn mit der Schulter gegen die Wand und hielt ihn mithilfe seines Größen- und Gewichtsvorteils fest, klemmte ihm den Arm ein, sodass er sich nicht mehr wehren konnte. Victors Gegner war nur wenige Zentimeter größer als er selbst, besaß aber knapp zwanzig Kilogramm mehr Muskelmasse. Er ließ seinen Unterarm auf Victors Handgelenk krachen, und dieser musste die Pistole loslassen, bevor sie ihm aus der Hand geschlagen werden konnte. Klappernd landete sie auf dem nassen Holzboden. Victor verlagerte sein ganzes Gewicht auf den linken Fuß, hob das rechte Bein an, wickelte es um das Standbein seines Angreifers und hebelte ihn aus. Der Israeli fiel auf den Rücken, Victor landete auf
ihm, rollte sich ab, wollte die Pistole zu fassen bekommen, auf Händen und Knien, fügte sich an den Glasscherben zahlreiche Schnittwunden zu. Er packte die Beretta und wirbelte herum. Der Attentäter warf sich auf Victor, bevor dieser zielen konnte, schlug die Pistole beiseite und traf Victor mit der Faust voll ins Gesicht. Obwohl er nicht seine ganze Kraft in den Schlag legen konnte, brannte Victors Kinn wie Feuer, und der stechende Schmerz machte ihn für einen Moment orientierungslos. Er ließ sich die Waffe ohne Gegenwehr aus der Hand winden. Victor hob eine Handvoll Glasscherben vom Boden auf und schleuderte sie seinem Gegner ins Gesicht, während dieser den Lauf der Beretta in seine Richtung drehte. Der Angreifer stöhnte, hechtete zur Seite. Glassplitter steckten in seiner Wange und in seiner Stirn. Ein harter Tritt gegen das Handgelenk zwang ihn, die Beretta fallen zu lassen, und die Waffe schlitterte über den Boden. Victor sprang auf und umkreiste seinen Feind, bewegte sich auf die Pistole zu. Der Israeli war genauso schnell auf den Beinen, versperrte Victor mit ein, zwei Schritten zur Seite
den Weg, noch bevor er in die Nähe der Waffe gelangen konnte. Der Attentäter schnellte auf Victor los, mit ausgestreckten Armen, zum Kampf bereit … einhundert Kilogramm durchtrainierte, hervorragend ausgebildete Muskelmasse. Victor sah genau hin, wartete, bis der Israeli den Kopf senkte, um Victor unterhalb seines Schwerpunkts zu packen, dann rammte er ihm das Knie ins Gesicht. Er erwischte seinen Gegner unter dem Kinn, doch er hatte bereits so viel Schwung, dass er mit Victor zusammenprallte und diesen rückwärts gegen eine Wand schleuderte. Gips barst. Victor versetzte dem Israeli einen Ellbogenschlag auf den Kopf, der ihn aber nicht daran hindern konnte, Victor mit beiden Händen zu packen und ihn wegzuschleudern. Er landete unsanft auf dem Boden, nasse Dielenbretter knackten. Victor rollte sich rückwärts ab und kam wieder auf die Füße. Blut, Schweiß und Regen liefen über das Gesicht des Israelis. Das Mondlicht glitzerte in den Glasscherben, die sich in seine Wange gebohrt hatten. Victor holte etliche Male tief Luft. Der Kampf Mann
gegen Mann war schon gegen einen gleich großen Gegner sehr anstrengend, aber gegen einen größeren und stärkeren noch viel mehr. Die Frau lag immer noch benommen auf dem Küchenboden, aber das würde nicht mehr lange dauern. Victor entdeckte die Pistole. Sie lag zu weit entfernt. Er konnte sie unmöglich holen, bevor der Israeli ihn zu fassen bekam. Die Miene seines Gegenübers war unschwer zu deuten. Er würde es ebenfalls nicht riskieren. Brauchte er auch nicht. Der Israeli packte eine Glasscherbe aus dem zerbrochenen Fenster der Balkontür und nahm sie wie ein Messer in die Hand. Sie war schlank und schmal, etwa zwölf Zentimeter lang. Er hielt sie fest in der Hand, und es war ihm egal, dass er sich dabei zahlreiche Schnitte beibrachte. Er ging zum Angriff über, versuchte, mit schnellen Stößen Victors Unterleib zu treffen, wollte nicht riskieren, dass das Glas auf eine Rippe traf und zerbrach. Victor wich nach links aus, um größtmögliche Distanz zwischen sich und seinen rechtshändigen Angreifer zu bekommen. Der Israeli drehte sich mit Victor, zielte auf seinen Hals. Victor duckte sich unter der Scherbe hindurch und entfernte
sich. Sein Gegner war beherrscht, geduldig, nutzte seinen Reichweitenvorteil, indem er den Arm fast ganz gestreckt in Victors Richtung hielt. Er besaß ohnehin die längeren Arme, aber mit den zusätzlichen Zentimetern der Glassscherbe hatte Victor keine Chance, einen Wirkungstreffer zu landen, ohne sich gleichzeitig in allergrößte Gefahr zu bringen. Er wich zurück, umkreiste seinen Gegner, nutzte die Größe des Raums. Hastig sah er sich um, auf der Suche nach einer Waffe. Das Sofa war ohnehin ungeeignet, der Wasserspender zu groß und viel zu sperrig. Die Scherben rund um das kaputte Fenster waren zu klein und taugten nicht als Waffen. Victor wich den Attacken des Attentäters aus, immer im Kreis, wartete auf eine Gelegenheit zurückzuschlagen, doch der Israeli drängte ihn langsam immer dichter an die Wand, schränkte seine Bewegungsfreiheit mehr und mehr ein. Schweiß und Regen liefen ihm in die Augen. Er blinzelte alles weg. Milchsäure breitete sich schmerzhaft in seinen Muskeln aus. Victor tat so, als würde er stolpern, und der Israeli
wollte diesen Vorteil nutzen und sprang nach vorn, wurde vom Schwung noch einen Schritt weiter getragen, verschaffte Victor dadurch die Zeit, seitlich auszuweichen und die rechte Hand des Angreifers zu packen. Er drückte fest zu. Der Israeli brüllte auf. Blut spritzte zwischen seinen Knöcheln hervor, während seine Hand gegen die scharfen Kanten der Glasscherbe gedrückt wurde. Der Attentäter holte mit dem Ellbogen des anderen Arms aus und traf Victor an der Schläfe, bevor dieser den Kopf wegdrehen konnte. Er verlor das Gleichgewicht. Sein ganzer Körper erschlaffte. Der Israeli riss sich los, ließ die Scherbe fallen. Sie landete auf dem Fußboden, ohne zu zerbrechen. Die untere Hälfte war blutverschmiert. Victor wurde von zwei Händen am Hemd gepackt und rückwärtsgestoßen. Er war immer noch benommen durch den Schlag auf die Schläfe. Der Attentäter baute sich vor Victor auf, rammte ihm die Schulter in den Brustkorb, drehte gleichzeitig die Hüfte und schlug ihm die Beine unter dem Körper weg. Victor landete unsanft und ohne den Sturz abfangen zu können auf dem Boden. In seinem Kopf drehte sich alles. Der Israeli setzte sich auf ihn, je ein
Knie links und rechts von Victors Hüfte, und nahm die Glasscherbe in die linke Hand. Die Spitze kam in höllischem Tempo näher, wollte sich in Victors Gesicht bohren. Er bekam gerade noch rechtzeitig einen klaren Kopf, um das Handgelenk des Attentäters mit beiden Händen zu packen und den Weg der Scherbe fünf Zentimeter vor seinem linken Auge zu stoppen. Sofort nahm der Israeli seine verletzte rechte Hand zu Hilfe. Sie war zwar von Schnittwunden übersät und beileibe nicht voll einsatzfähig, aber das war auch nicht nötig. Er war stärker, schwerer und außerdem in der deutlich besseren Position. Victors Arm zitterte unter dem Druck. Immer näher kam die Scherbenspitze seinem Auge. Victor konnte sie nicht aufhalten, er konnte sie lediglich verlangsamen. Das Gesicht des Attentäters war direkt über ihm, Glassplitter ragten aus seiner Wange und seiner Stirn. Victor stemmte den linken Fuß neben dem rechten Knie seines Gegners auf den Boden und drückte dann mit der Hüfte nach oben, versuchte, sich nach rechts zu wälzen, doch der Israeli hatte zu
viel Kraft in den Beinen und blockte Victors Bemühungen problemlos ab. Dann versuchte Victor mit dem Knie, die Nieren seines Angreifers zu treffen, doch dessen Position war gut, und Victor bekam nicht genügend Wucht in seine Tritte. Währenddessen setzte die Scherbe ihren Weg nach unten unerbittlich fort, war jetzt vielleicht noch zwei Zentimeter von Victors Augapfel entfernt. Mit der Scherbe kam auch das Gesicht des Israelis immer näher. Das Blut aus seiner verletzten Hand rann über die gläserne Kante. Die Spitze setzte ihren Weg unaufhaltsam fort. Das Brennen in Victors Muskeln steigerte sich mit jeder Sekunde um ein Vielfaches. Glas blitzte direkt vor Victors Auge. Wenn er blinzelte, dann streiften seine Wimpern bereits die Spitze. Der Israeli hatte die Augen weit aufgerissen, Mordlust im Blick. Sein Gesicht schwebte nur wenige Zentimeter über seinen Händen. Schweiß und Blut tropften auf Victors Haut. Die Schmerzen in seinen Ellbogen waren unerträglich. Die Spitze der Glasscherbe war nur noch einen Hauch davon entfernt, seine Hornhaut zu durchstoßen und durch die Augenhöhle direkt in sein Gehirn einzudringen.
Er spürte, wie die Kraft ihn verließ. Noch zwei Sekunden Leben. Eine. Victor drehte den Kopf zur Seite und gab im selben Augenblick jeden Widerstand auf. Die Glasscherbe sauste senkrecht nach unten, so schnell, dass der Attentäter sich nicht rechtzeitig fangen konnte. Die Spitze streifte Victor seitlich am Kopf, rasierte eine gerade Linie in seine Kopfhaut und sein Ohr und bohrte sich in den Fußboden. Der Israeli sackte nach vorn, reagierte aber so rechtzeitig, dass er nicht mit seiner Nase auf Victors Gesicht prallte. Blut strömte aus der Schnittwunde an Victors Schläfe. Die Spitze der Glasscherbe hatte sich in eines der nassen Dielenbretter gebohrt. Seine Arme waren zwischen seinem und dem Körper des Israelis eingeklemmt. Er hatte nicht die Kraft, sie herauszuziehen. Jetzt würde sein Gegner keine Mühe mehr haben, ihm den Todesstoß zu versetzen. Aber nun hatte er den Israeli auch genau da, wo er ihn haben wollte. Haut platzte auf, Knorpel barst, und Knochen splitterten zwischen Victors Zähnen, als er seinem
Feind die Nase abbiss. Blut spritzte über Victors Gesicht, und der Attentäter schrie auf. Laut. Schrill. Er warf sich nach hinten und riss dabei die letzten Gewebefetzen ab, die seine Nase noch mit seinem Gesicht verbunden hatten. Victor spuckte die Nase aus und kam auf die Füße. Der Attentäter taumelte rückwärts, von Schmerz, Schock und tödlichem Schrecken gezeichnet, die Hände vors Gesicht gepresst. Blut spritzte zwischen seinen Fingern hervor. Er brüllte. Victor wollte sich auf die Beretta stürzen, da nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. In der Küche. Die Angreiferin hatte sich so weit erholt, dass sie sich wieder bewegen konnte, und tastete nach ihrer eigenen Waffe. Und sie würde schneller sein als er. Victor änderte die Richtung, schaffte den kreischenden Israeli mit einem Stoß aus dem Weg, riss die Balkontür auf und jagte die Treppe hinunter. In seinem Rücken hörte er einen gedämpften Knall, splitterndes Glas, dann sprang er mit einem Satz die restlichen Stufen hinab. Er landete auf den Füßen und stürmte vorwärts,
geriet ins Stolpern, fand das Gleichgewicht wieder, wusste, dass die Dunkelheit ihn verschluckt haben würde, sobald die Frau aufgestanden und zur Balkontür herausgekommen war. Sie feuerte trotzdem, hoffte auf einen Glückstreffer, verteilte die Schüsse in breiter Streuung. Schnell aufeinanderfolgende Klacks hallten durch die Fabrikhalle. Kugeln pfiffen durch die Luft, schlugen auf dem Boden auf, prallten gegen Pfeiler und Maschinen. Victor verlangsamte seine Schritte nicht, jagte so schnell wie nur möglich geradeaus, da die Schreie des nasenlosen Israelis seine Schritte übertönten und die Fabrikhalle so groß war, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine winzige Pistolenkugel und er zur selben Zeit am selben Ort aufeinandertrafen, zu vernachlässigen war. Victor gelangte zu der Wand mit den großen Fenstern, entdeckte jenes, durch das seine Feinde eingestiegen waren, schwang sich nach oben und ließ sich auf der anderen Seite zu Boden fallen. Regentropfen prallten auf sein Gesicht. Der dritte Attentäter deckte entweder die andere
Seite der Fabrik ab, oder er hatte bereits auf die Schreie seiner Kollegen reagiert. Victor rannte los. Er nahm den Weg, den er gekommen war, rannte den Hügel hinauf, rannte über das Brachland. Er hörte Sirenen. Auf der anderen Seite der Handwerksbetriebe würde er auf Polizisten und Krankenwagen treffen. Ein Risiko, aber wenn er die Wahl hatte, dann wollte er lieber verhaftet werden als umgebracht. Es fiel ihm schwer, den Maschendrahtzaun zu überklettern, so geschwächt, wie er war, und bei der Überquerung der Stacheldrahtkrone fügte er seinen Armen und Beinen noch eine Anzahl neuer Wunden hinzu. Auf der anderen Seite sank er, von Erschöpfung überwältigt, auf die Knie. Der Regen mischte sich mit dem Blut auf seinem Gesicht. Er legte den Kopf in den Nacken und wartete, bis sich genügend Regenwasser in seinem Mund gesammelt hatte. Dann spuckte er es zusammen mit dem Blut und den Geweberesten wieder aus. Er befühlte die Schnittwunde an seiner Schläfe. Die gewaltigen Adrenalinmengen, die durch seinen Körper gepumpt wurden, sorgten dafür, dass er den Schmerz überhaupt nicht spürte. Der obere Teil
seines Ohrs war zwar noch da, hing aber nur noch an einem dünnen Hautfetzen. Die Glasscherbe hatte zwar die Schläfenvene angeritzt – das war die Verletzung, die am stärksten blutete –, aber daran würde er nicht sterben. Mithilfe des Regens wusch er sich das Gesicht und den Kopf sauber, so gut es ging. Als die Kraft langsam wieder in seine Glieder zurückkehrte, stand er auf. Eine Hand auf die Wunde gedrückt, um die Blutung zumindest teilweise zu stillen, ging er parallel zu den Werkstätten weiter. Immer wieder sah er durch Gassen und Lücken die Blinklichter der Streifenwagen. Mögliche überlebende Israelis waren mit Sicherheit vor dem Eintreffen der Polizei geflohen. Die Augenzeugen würden zweifellos die verrücktesten Räuberpistolen erzählen. Irgendwann würde das ganze Gebiet dann abgesperrt und durchsucht werden, aber wenn die Suchtrupps schließlich bis zu der Fabrik vorgedrungen waren, dann waren die KidonAttentäter schon längst über alle Berge. Victor hastete weiter. Der Regen prasselte ihm auf den Kopf, durchnässte ihn bis auf die Haut. Nach einer Viertelstunde hatte er anderthalb Kilometer
hinter sich gebracht, befand sich am Rand von Sofia, ging durch eine ruhige Straße. Er gab einem Obdachlosen fünfzig Euro für seine Wollmütze, dann stieg er in einen Bus. Er setzte sich auf die Rückbank, drückte die verletzte Schläfe an das kalte Fensterglas und sah aus wie jeder andere müde und durchnässte Fahrgast auch. Insgesamt saßen fünf Personen in dem Bus. Niemand beachtete Victor. Die Wirkung des Adrenalins ließ langsam nach, und die Schmerzen wurden stärker. Er sah auf seine Armbanduhr. Kurz nach Mitternacht. Ein neuer Tag. Verletzt, aber am Leben, die verbliebenen Mitglieder der Kidon-Einheit weit weg. Die Israelis würden die Suche nach ihm zunächst einstellen. Sie würden sich zurückziehen, genau wie er, würden versuchen, so viel Distanz wie möglich zwischen sich und die fehlgeschlagene Entführung zu bringen. Sie waren – genau wie er – bestimmt nicht scharf darauf, auch noch mit den bulgarischen Behörden Ärger zu bekommen. Die überlebenden Mitglieder der Einheit würden noch an diesem Tag nach Israel zurückkehren und versuchen herauszufinden, was eigentlich schiefgelaufen war. In den folgenden Tagen gab es
dann Berichte zu schreiben, Leichen zu bergen, Beerdigungen zu besuchen und eine Nase zu rekonstruieren. Vorerst stellten sie keine Bedrohung für ihn dar, aber Victor wusste, dass die Gefahr nicht vorüber war. Nach diesem Abend wollte der Mossad ihn bluten sehen, und zwar mehr als je zuvor. Am besten, sie reihten sich hinter den anderen in die Schlange ein. Sein Spiegelbild starrte ihn an. Regungslose schwarze Pupillen in einem ausdruckslosen Gesicht, von Regentropfen verzerrt. Ein durchsichtiger Schemen vor der dahinter liegenden Welt. Der Bus fuhr aus der Stadt hinaus. Wohin, wusste er nicht. Es war ihm eigentlich auch gleichgültig. Victor machte die Augen zu und ließ sich vom Schlaf überwältigen.