JOHN E. STITH ZEITSCHICHTEN Roman Aus dem Amerikanischen von NORBERT STÖBE Deutsche Erstausgabe
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JOHN E. STITH ZEITSCHICHTEN Roman Aus dem Amerikanischen von NORBERT STÖBE Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/5968 Titel der amerikanischen Originalausgabe REDSHIFT RENDEZVOUS Deutsche Übersetzung von Norbert Stöbe Das Umschlagbild ist von doMANSKI Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1990 by John E. Stith Erstausgabe: Ace Books, published by The Berkley Publishing Group, New York Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Paul & Peter Fritz AG, Literarische Agentur, Zürich Copyright © 1999 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany Februar 1999 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-453-13991-7
Für Jean Archibald, Margie und Pete Cotton, Rita und Northwood Kenway und Julie und James Peace. Und für Anette.
Inhalt Hinweise für Passagiere Vorspiel zum Hyperraum Ein Fischessen im Hyperraum Tod im Hyperraum Jäger auf der Redshift Die Tür zum Hyperraum Hyperraumschwimmer Gefangene der Redshift Reise durch den Hyperraum Zielpunkt Xanahalla Odyssee im Hyperraum Vorstoß nach Xanahalla Jasons Flucht Im Untergrund von Xanahalla Die Fallen von Xanahalla Wer kommt denn da gesprungen? Rund um die Redshift ANHANG: Phänomene an Bord der Redshift Wie ich die Redshift erfunden habe Zeichnung Tabellen
Hinweise für Passagiere ACHTUNG: Lesen Sie vor Betreten der Redshift diese Hinweise. Die Umgebung an Bord eines Hyperraumschiffs ist völlig sicher, solange Sie achtsam sind. Die Direktion weist Sie darauf hin, daß die Lichtgeschwindigkeit an Bord dieses Schiffes zehn Meter pro Sekunde oder etwa ein Dreißigmillionstel des Normalwerts beträgt. Daher werden Sie häufig mit relativistischen Effekten und optischen Sinnestäuschungen zu tun haben. SPIELEN SIE NICHT AN IHREM LIFEBELT HERUM UND VERSUCHEN SIE KEINESFALLS, IHN ZU LÖSEN. DAS FELD, DAS ER ERZEUGT, GESTATTET ES DEN NEUROTRANSMITTERN, MIT NORMALGESCHWINDIGKEIT ZU ARBEITEN, DESHALB IST ER UNVERZICHTBAR FÜR IHRE GESUNDHEIT. 1. Orientieren Sie sich ausschließlich an den offiziellen Borduhren. Verlassen Sie sich nicht auf Ihre Armbanduhren; diese messen zwar Ihre persönliche, subjektive Zeit, stimmen aber erst dann wieder mit anderen Zeitanzeigen überein, wenn Sie sie bei Verlassen des Schiffes neu einstellen. 2. Vergessen Sie nicht, daß alles, was Sie sehen und hören, zumindest der nahen Vergangenheit angehört, in Abhängigkeit von der Ausbreitungsgeschwindigkeit von Schall und Licht. Räumlich nähere Ereignisse sind auch die jeweils aktuelleren. 3. Vertrauen Sie eher den Informationen Ihrer Hände als denen Ihrer Augen. Aufgrund der Lichtbrechung kann es vorkommen, daß Ihnen ein konvexer Boden konkav erscheint. Die Farben können verschoben, die Formen der Gegenstände verzerrt werden. 4. Gehen Sie langsam. Bewegen Sie sich solange, bis Sie mit der Umgebung vertraut sind, nur im Schritttempo. Bitte beachten Sie die Verkehrsregeln. Beim Laufen kann unter Umständen die Schallgeschwindigkeit überschritten werden, da diese lediglich 6,7 Meter pro Sekunde beträgt. 5. Verlassen Sie sich nie auf den Augenschein. 6. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Reise. In dem Leitfaden >Phänomene an Bord der Redshift< am Schluß finden Sie weitere Informationen sowie die leider unumgängliche Nichthaftungserklärung.
Kapitel 1
Vorspiel zum Hyperraum Entweder sie wollte gefunden werden, oder ich hatte einfach Glück, sie gerade im richtigen Moment anzutreffen. Da ich mit dem Glück noch nie auf sonderlich gutem Fuß gestanden habe, nahm ich natürlich an, Jenni Sonders habe auf jemanden gewartet. Ich befand mich auf Ebene Zwei der Redshift und machte gerade meine Runde, um mich mit eigenen Augen zu vergewissern, was ich den Schiffsinstrumenten entnahm oder vom Rest der Besatzung erfuhr. Nicht, daß ich den Anzeigen oder den Menschen mißtraut hätte - ich verließ mich bloß nicht gern ausschließlich auf mittelbare Beobachtungen, auch wenn meine Augen wegen der optischen Sinnestäuschungen an Bord der Redshift weniger verläßlich als die Sensoren waren. Im starken Schwerefeld der Ebene Zwei schlurfte ich den Äquatorialkorridor entlang. Dicht hintereinander angeordnete Deckenlampen erhellten die grauen Wände und den pechschwarzen Decksboden. Die Frachträume, die ich bislang überprüft hatte, waren vollgestopft mit wertvollem Gerät, mit Containern voll seltener Metalle, exotischer Nahrungsmittel, kostbarer Stoffe… die typische Ladung bei einem Hyperraumflug: Waren, die nicht überall erhältlich und teuer genug waren, um die Transportkosten zu rechtfertigen. Bis jetzt hatte es keine ungewöhnlichen Vorkommnisse gegeben, doch vor mir auf der rechten Seite war eine Frachtraumtür nicht ganz geschlossen. Die Tür stand einen Handbreit offen. Ich spähte durch den Spalt und drückte dann die Tür ganz auf. Der Frachtraum war mit etikettierten Kisten gefüllt, die meisten davon rechteckig, in unterschiedlichen Größen. Etwa in der Mitte des Frachtraums saß auf einem hohen Kistenstapel ein weiblicher Passagier, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, verloren und müde wirkend, wie ein Kind, das sich verlaufen hat. Mit dem Kopf stieß die Frau beinahe an die Decke. Sie mußte mehrere Kisten als Treppe benutzt haben, um zu dem Sitzplatz nahe dem Mittelgang zu gelangen. Die Frau war Jenni Sonders. Ich erinnerte mich, sie beim Einschiffen gesehen zu haben, und einmal hatte ich kurz beim Essen mit ihr gesprochen. Sie schien Ende Zwanzig zu sein, etwa in meinem Alter. Sie hatte rotes Haar, schmale Hüften und wirkte ständig traurig - zumindest hatte ich sie nicht lächeln sehen, seit sie auf Megorath an Bord gekommen war. Das rotgelockte Haar hing ihr in der hohen Schwerkraft etwas weiter hinunter als gewöhnlich. Sie trug eine Hose in gebrochenem Weiß und eine dazu passende langärmlige Bluse. Hosenbeine und Ärmel waren in einem schicken paramilitärischen Stil mit violetten Bändern gesäumt, was ihr gut stand. Jenni war so weit von mir entfernt, daß ich an der Tür stehenblieb und abwartete, bis sie mein Eintreten bemerkte. Nachdem das Licht einmal hin und zurück gewandert war, wandte sie den Kopf in meine Richtung. Plötzlich regte sie sich, kletterte von ihrem Ausguck und versteckte sich hinter einer Kiste, die fast an die Decke stieß. Ich runzelte die Stirn und versuchte mir vorzustellen, was sie dort oben machte und was wohl in ihrem Kopf vorging. Stehlen wollte sie bestimmt nichts; jede einzelne Frachtkiste war
gesichert. Außerdem war sie mit der Hyperraumumgebung anscheinend schlecht vertraut; ansonsten hätte sie gewußt, daß ich sie sehen würde, bevor sie Zeit hatte, sich zu verstecken. Ich wartete eine Weile schweigend, einerseits weil ich nicht wußte, was ich sagen sollte, andererseits weil ich neugierig war, was sie als nächstes tun würde. Sie ließ sich nicht blicken. Schließlich rief ich: »Ich weiß, daß Sie da sind, Ms. Sonders. Weshalb kommen Sie nicht raus?« Es entstand eine Pause, die länger währte, als die Schallübermittlung dauerte, woraus ich schloß, daß sie sich Gedanken über ihr weiteres Vorgehen machte. Dann streckte sie den Kopf hinter der Kiste hervor. Sie sagte nichts. »Was machen Sie da oben?« fragte ich und setzte mich in Bewegung. Ihr Gesicht nahm einen erschreckten Ausdruck an, und ihre Lippen bewegten sich, bevor ich sie sprechen hörte. »Kommen Sie nicht näher.« Ihre Stimme schwankte, als stünde sie kurz vor einem Tränenausbruch. Ich blieb stehen. Die Situation entwickelte sich ganz anders, als ich erwartet hatte. »Ich bin Jason Kraft, der Erste Offizier, Ms. Sonders. Ist etwas nicht in Ordnung?« »Gehen Sie weg«, sagte sie, mehr nicht. Ich hatte den Eindruck, selbst diese drei Worte kosteten sie einige Mühe. Sie kletterte wieder auf die oberste Kiste und rutschte näher an den Rand. »Gehen Sie weg.« »Hören Sie, ich kann nicht einfach wieder weggehen. Ich bin verantwortlich für…« »Gehen Sie weg, sonst springe ich.« In ihrer Stimme lag soviel Schmerz, daß ich einen Moment lang erwog, ihrer Aufforderung nachzukommen, doch ich konnte es nicht. Nach einer Weile wurde mir klar, worum es überhaupt ging. Anscheinend stand sie kurz davor, sich umzubringen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte. Ich hätte den Schiffsarzt rufen können, doch bis dahin wäre sie womöglich schon von dem Kistenstapel gesprungen. Vielleicht hätte jemand, der sich mit derartigen Dingen auskannte, anders gehandelt. Ich tat das einzige, was mir einfiel; ich beschloß, sie von ihren Problemen abzulenken. »Ich hätte eigentlich gedacht, die Betten in den Passagierkabinen wären bequemer als ein Stapel Kisten.« Ungeduldig wartete ich auf ihre Antwort. Sie blieb stumm am Rand der Kiste hocken. Mit ruhiger, leiser Stimme sagte ich: »Die Pausen zwischen den Sätzen erschweren die Unterhaltung. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich näher komme?« »Bleiben Sie weg«, erwiderte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Ich wich an die Wand zurück und verharrte dort eine Weile, ohne mich zu rühren. Schließlich sagte ich: »Kommen Sie oft hierher? Wie ein regelmäßiger Besucher wirken Sie nicht gerade.«
Jenni schluchzte einmal auf, dann war sie wieder still. Ihr Mund ging mehrmals lautlos auf und zu, dann sagte sie so leise, daß ich sie kaum verstand: »Das ist nicht komisch.« »Ms. Sonders, ich weiß, wie man ein Besatzungsmitglied feuert, wenn es seine Aufgaben nicht erfüllt. Ich weiß, wie ich’s der Skipperin beibringen muß, wenn sie mal eine falsche Entscheidung getroffen hat. Aber ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie ich mich einer Person gegenüber verhalten soll, die sich umbringen will.« Stillschweigend bestätigte sie ihre Absichten dadurch, daß sie meine Unterstellung nicht zurückwies, sondern mich anstarrte, als sollte ich wissen, wie man mit einem Selbstmörder umging, als gäbe es für dieses Problem eine ebenso praktische Lösung wie künstliche Beatmung bei einem komatösen Patienten. Ich kam mir unzulänglich vor und fühlte mich gleichzeitig wie ein Störenfried. Vielleicht hätte jemand anders an meiner Stelle es für ratsam gehalten, sie einfach in Ruhe zu lassen, doch das konnte ich nicht. Während sie dort nervös auf der Kiste herumrutschte und über den Rand in die Tiefe sah, verlagerte ich ein wenig mein Gewicht, um notfalls möglichst rasch bei ihr sein zu können. Ich zerbrach mir den Kopf nach einer Möglichkeit, sie von den Problemen, die sie bedrückten, abzulenken. »Wissen Sie«, sagte ich schließlich, »ein Sturz aus dieser Höhe muß keineswegs tödlich sein. Womöglich handeln Sie sich bloß eine Menge Schmerzen ein.« Entweder sie sprach zu leise, oder ihre Aussprache war undeutlich. »… herablassend…« »Ich war nicht herablassend«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Sie haben doch bestimmt die Broschüre gelesen, in der es heißt, die Schwerkraft betrüge auf dieser Ebene zweieinhalb Ge, aber das gilt nur am Boden. Nach oben hin nimmt die Schwerkraft ab. Dort, wo Sie sind, beträgt sie nur noch eins Komma fünf bis eins Komma sieben Ge. Das heißt, der Durchschnitt von Ihnen bis zum Boden liegt bei zwei Ge. Deshalb wird Ihre Endgeschwindigkeit lediglich um den Faktor der Quadratwurzel aus der Differenz größer sein als ein Sturz bei einfacher Erdgravitation. Glauben Sie im Ernst, Sie werden garantiert tot sein, wenn Sie einskommaviermal schneller aufprallen als normal?« Meine Absicht dabei war, sie mit meiner Fachsimpelei gedanklich in ein anderes Fahrwasser zu bringen. Man konnte die Zahlen auch so interpretieren, daß die Aufprallgeschwindigkeit von ihrer gegenwärtigen Position aus einem Fall aus doppelter Höhe unter Normalschwerkraft entsprochen hätte, doch diese Ermutigung brauchte ich ihr nicht zu geben. Während sie offenbar über das Gesagte nachsann, überlegte ich, ob ich zu ihr hinlaufen sollte. Da die Lichtgeschwindigkeit in dieser Schicht des Hyperraums so niedrig war, hätte ich nahezu Lichtgeschwindigkeit erreichen können. Mit Sicherheit konnte ich die Schallmauer durchbrechen. Wenn ich nun so schnell lief, wie ich konnte, hätte ich die junge Frau wahrscheinlich erreicht, ehe sie reagieren konnte. Ich zögerte, denn ich hielt es für besser, ihr ihren Plan auszureden oder sie solange zu beschäftigen, bis ihre Stimmung verflogen war. «Fühlen Sie sich schon lange so?« fragte ich, das Thema wechselnd. Nach langem Schweigen sagte sie: »Wie meinen Sie das?« »Ich weiß nicht, wie Sie sich fühlen. Über Selbstmord hab ich mir noch nie Gedanken gemacht. Ich hatte schon mal den Wunsch, jemand anders umzubringen, aber das ist wohl nicht das gleiche. Weshalb sind Sie dort oben?« »Weil ich nicht mehr leben will.«
Ich war mir nicht sicher, ob die Tatsache, daß sie dies laut aussprach, einen Fortschritt bedeutete. »Warum wollen Sie nicht mehr leben?« »… geht Sie nichts an.« Mit noch größerer Unsicherheit sagte ich: »Das geht mich nichts an? Wie kommen Sie darauf? Haben Sie etwa eine Ahnung, wie viele Formular ich ausfüllen muß, wenn Sie Ihr Vorhaben ausführen? Und ich war dabei?« Abermals schluchzte sie. Sie war eine Weile still, dann holte sie tief Luft. Mit klarer Stimme sagte sie: »Ich verstehe Sie. Aber ich muß es tun.« »Ms. Sonders, als ich den Gang entlangkam, stand diese Tür offen. Ich weiß nicht, ob es Ihr ausdrücklicher Wunsch war, mit jemandem zu reden, oder ob es sich dabei um eine unbewußte Absicht handelte. Aber irgendwo in Ihrem Kopf ist eine Stimme, die Ihnen sagt, daß Sie reden möchten. Hier bin ich. Das ist vielleicht Ihre letzte Gelegenheit. Wie wär’s, wenn Sie’s mir erzählen würden?« Verstörend lange Zeit schwieg sie, sagte aber schließlich: »Es ist wegen allem. Eins kam zum anderen. Das sollte meine Hochzeitsreise sein.« Ihre Stimme brach. Sie schluckte mühsam und fuhr dann fort: »Zwei Tage vor der Abreise eröffnete er mir, er halte alles für einen Fehler. Er ist immer noch auf Megorath.« Sie holte tief Luft. »Zuerst dachte ich, es würde mir helfen, wenn ich allein losfliegen und mich ohne ihn amüsieren würde, aber da hab ich mich getäuscht.« Das alles bloß, weil man sie sitzengelassen hatte? Mit schuldbewußter Genugtuung sagte ich mir, daß ich mich niemals so verletzen lassen würde. »Und das bereitet Ihnen solchen Kummer, daß Sie nicht mehr weiterleben wollen?« fragte ich schließlich, darum bemüht, sie zu verstehen. »Oder wollen Sie ihn wiederhaben?« Ihr Kopf ruckte zu mir herum, als meine Worte sie erreichten. »Wie können Sie sagen, ich täte dies, um…« Sie brach ab und starrte mich eine Weile an, dann senkte sie den Blick. Sie ballte die Fäuste und sagte: »Er ist nicht der Grund. Er nicht.« Ihre Stimme klang undeutlich, da sie mich beim Sprechen nicht ansah. »Also, ich habe eine Idee«, sagte ich, in dem Bewußtsein, daß es einer meiner schlechteren Einfälle gewesen war, dieses Thema anzuschneiden. »Ich komme um vor Hunger. Lassen Sie uns zur Küche hochgehen und einen Spätimbiß einnehmen. Layne Koffer macht einen exzellenten Kaffee.« Als ich geendet hatte, schüttelte sie den Kopf und rückte näher zur Kante. »Warten Sie«, sagte ich rasch. »Fast hätte ich’s vergessen. Übers Netzwerk ist soeben eine Nachricht für Sie eingetroffen. Sie lautet…« Ich brachte die Lüge nicht zu Ende. Statt dessen rannte ich los. Ich stieß mich von der Wand ab und beschleunigte, so rasch es mir unter der hohen Schwerkraft möglich war. Hätte ich ohne Verzögerung Lichtgeschwindigkeit erreicht, würde Jenni erst dann gemerkt haben, daß ich unterwegs war, wenn ich sie erreichte. Wie die Dinge lagen, überholte ich ein paar meiner Worte, ließ ihr aber trotzdem einen kleinen Vorsprung. Ich rannte geradewegs zwischen den Kistenstapeln entlang, während ich Jenni erst blau und
dann violett wahrnahm, da ich mittlerweile so schnell war, daß sich die Umgebung aufgrund des Dopplereffekts verfärbte. Die Kistenstapel zu beiden Seiten schienen zu schrumpfen. Jenni mußte wohl einen violetten Schemen wahrgenommen haben, denn während ich mich ihr näherte, stieß sie sich vom Kistenstapel ab, wobei sie sich nach hinten neigte, weil sie mit dem Kopf aufschlagen wollte. Beinahe wäre ich zu spät gekommen. Im Laufen streckte ich die Arme aus. Es würde schwer sein, sie aufzufangen, wenngleich ich mich für das erhöhte Gewicht auf dieser Ebene zu wappnen versuchte. In dem Moment, als mir der Überschallknall, den ich selbst hervorgerufen hatte, in den Ohren dröhnte, schlug sie auch schon in meinen Armen auf. Zunächst glaubte ich, ich hätte sie, doch dann ließ ich sie doch noch fallen. Zumindest hatte ich ihren Fall verlangsamt und sie so gedreht, daß sie mit Fersen und Hintern gleichzeitig auf dem Boden aufprallte. Ich stürzte seitlich hin. Von dem Moment an, da ich sie berührte, hatte sie geschrieen. »Gehen Sie weg. Was sind Sie doch - autsch!« Der Aufprall ließ sie einen Moment lang verstummen; als sie weitersprach, klang ihre Stimme schmerzverzerrt. »Sie haben kein Recht dazu. Verschwinden Sie!« Ihr verbliebener Widerstand war gebrochen, und sie trommelte mir mit den Fäusten auf die Brust. Ich packte sie bei den Handgelenken und zwang sie, damit aufzuhören. Selbst auf diese kurze Distanz machte sich die Lichtverzögerung bemerkbar, und es fiel mir schwer, Jennis Bewegungen vorherzusehen. Meine ersten Versuche, sie zu bändigen, schlugen fehl, denn sie ahnte meine Absicht und änderte ihre Taktik. Sie schlug mir ins Gesicht, und im nächsten Moment spürte ich die feuchte Spur ihrer vier Fingernägel, mit denen sie mir die Wange blutig gekratzt hatte. Endlich bekam ich sie richtig zu packen, so daß sie mich nur noch treten oder mit dem Knie bearbeiten konnte. Sie zögerte nicht. Zum Glück brachte sie nur zwei Tritte an, dann zwang ich sie aufs Deck nieder, setzte mich rittlings auf sie und drückte sie mit den Händen zu Boden. Sie lag schwer atmend auf dem Rücken und sah zu mir auf, denn etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Während sich mein Adrenalinspiegel allmählich wieder normalisierte, erwiderte ich ihren Blick. Was aus der Ferne wie Sonnenbräune gewirkt hatte, stellte sich nun als Sommersprossen heraus. »Zum Teufel mit Ihnen!« schimpfte sie. Während sich ihre Stirn vor Zorn in Falten legte und sie mich wütend anfunkelte, verharrte sie lange Zeit regungslos. Dann auf einmal wurde sie wild, bewegte die Hüften, wand sich, versuchte, ihre Arme meiner Umklammerung zu entziehen. Ich kam mir vor wie ein Vergewaltiger und wußte nicht, was ich tun sollte. Es gelang Jenni nicht, sich zu befreien. Es dauerte eine Weile, dann dämmerte ihr, daß sie solange in der Falle saß, bis ich sie freigab. Sie lag still und sah zu mir auf, während ihr die Tränen kamen. Sie wandte den Blick ab, biß die Zähne zusammen und atmete mehrmals tief durch, wobei sie an meinem Kopf vorbei ins Leere starrte. In ihrem Gesicht spiegelte sich die Anstrengung wider, die es sie kostete, nicht zu weinen. Im nächsten Moment schien sie sich wieder zu fassen, und gerade als ich dachte, sie würde vielleicht doch nicht weinen, entspannte sie sich unvermittelt, und die Tränen strömten ihr aus den Augenwinkeln.
Ich war ärgerlich auf mich, weil ich geglaubt hatte, auf jede mögliche Frage eine Antwort zu wissen, und jetzt vergrößerte ich ihren Schmerz womöglich noch, anstatt ihn zu lindern. Ich lockerte meinen Griff, und Jennie begann zu schluchzen. Als ich ein Handgelenk vollständig freigab, blieb ihr Arm schlaff, während ihr Schluchzen heftiger wurde und sich jeder einzelne Muskel in ihrem Gesicht anzuspannen schien. Ich lehnte mich zurück und ließ ihre beiden Arm ungehindert über ihrem Kopf liegen. Ich wich noch ein Stück zurück, und nach einer Weile bedeckte sie die Augen. Als wollte sie nicht, daß ich sie weinen sah, hob sie Kopf und Oberkörper und schlang die Arme um mich, vergrub ihr Gesicht an meiner Brust. Sie schluchzte krampfhaft. Ich nahm sie in die Arme und ließ sie sich ausweinen. Sie weinte lange und hielt hin und wieder inne, um Atem zu schöpfen, bis ihr Schluchzen allmählich schwächer wurde. Als sie eine Weile ruhig gewesen war und ich den Eindruck hatte, sie werde nicht wieder anfangen zu weinen, sagte ich in sanftem Ton: »Der Boden hier bietet wahrscheinlich auch keine bessere Unterlage als die Kisten. Ich bringe Sie besser in Ihre Kabine, dann können Sie sich ausschlafen.« Sie nickte an meiner Brust. Dann trocknete sie sich die Augen mit meinem Hemdsärmel trocknen. Als ich ihr beim Aufstehen half, hatte ich weiche Knie. Ich schrieb das der erhöhten Schwerkraft zu. »Wie lautet Ihre Kabinennummer?« fragte ich. Sie ließ nicht erkennen, ob sie mich verstanden hatte. Als ich die Frage wiederholte, bekam ich wiederum keine Antwort. Sie schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein. Ich geleitete sie langsam zur Tür. Auf dem Gang rief ich von einem Komm-Terminal aus Bella Fendell, die Skipperin, an. Aufgrund der unterschiedlichen Lichtgeschwindigkeiten auf dem Frachtdeck der Ebene Zwei und der Brücke auf Ebene Vier klang Bellas Stimme mädchenhaft und erregbar. Beides traf auf Bella nicht zu. »Ist der Doc in der Nähe?« sagte ich. »Was gibt’s?« fragte Bella. »Ein unbedeutender Zwischenfall. Alles unter Kontrolle. Ich erklär’s Ihnen, wenn ich wieder auf der Brücke bin, aber würden Sie ihn bitten, sich in der Kabine von Jenni Sonders mit mir zu treffen? Ich bin schon unterwegs.« »Mach ich. Noch etwas?« »Ja. Wie lautet ihre Kabinennummer?« Es dauerte eine Weile, bis Bella die Nummer nachgeschaut hatte. Sie verstand es
hervorragend, ihre Neugier in Zaum zu halten. Im Aufzug drückte ich den Schalter zur fünften Ebene, auf der die meisten Passagiere untergebracht waren und die weiter vom Zentrum der zwiebelförmigen Redshift entfernt lag. Jenni lehnte sich an die Kabinenwand. Als ich sie ansah, wich sie meinem Blick aus. Ich hatte keine Ahnung, ob ich mir nun einen Feind fürs Leben gemacht hatte - ganz gleich, wie kurz ihr Leben auch sein würde -, oder ob sie zwischen Dankbarkeit und Verlegenheit schwankte. Statt dessen blickte ich an die Aufzugdecke. Als wir auf Ebene Zwei eingestiegen waren, hatte es so ausgesehen, als sei sie an den Ecken nach oben gewölbt. Als wir aus dem Bereich mit erhöhter Schwerkraft herauskamen und das Licht sich wieder gerade ausbreitete, senkten sich die Ecken nach und nach, bis die Decke nahezu eben wirkte. Da die Schwerkraft auf Ebene Fünf weniger als ein halbes Ge betrug, hatte ich auch dann noch den Eindruck, der Aufzug werde abgebremst, als die Türen sich bereits auf einen breiten, grauen, mit schwarzen Handläufen versehenen Gang öffneten. Der Gang senkte sich in beide Richtungen immer weiter ab, bis er außer Sicht verschwand. Die Redshift war ein kugelförmiges Schiff, dessen Gravitationsfalte in der Mitte lag. Hier waren wir weit genug davon entfernt, um eine angenehme Schwerkraft zu haben. Jenni ging neben mir, starr geradeaus blickend, ein recht attraktiver Zombie mit blutunterlaufenen Augen. In der Ferne sah man Köpfe und Schultern mehrerer Passagiere, doch wir erreichten Jennis Kabine, ohne jemandem so nahe zu kommen, daß wir ihn hätten grüßen müssen. Jenni zögerte am Tastenfeld so lange, daß ich schon den Generalschlüssel benutzen wollte, doch dann öffnete sie die Kabinentür. Das schien mir ein gutes Zeichen zu sein. Das Licht aus dem Gang strömte in die Kabine und wurde solange von den Wänden reflektiert, bis ein Gleichgewicht erreicht war. Das gleiche Phänomen wiederholte sich, als ich die Deckenbeleuchtung einschaltete. Auf den ersten Blick wirkte die Kabine unbewohnt; offenbar hatte Jenni ihre Habseligkeiten in den Einbauschränken untergebracht. »Jenni, ich möchte, daß Sie sich hinlegen«, sagte ich in meinem schönsten Befehlston. Ich ging zum nächsten Nachttisch und öffnete die Schublade. Abgesehen von der Guten Nachricht für Reisende war sie leer. Jenni trat lustlos an das breite Bett und ließ sich langsam rückwärts darauf fallen. Ihr schlaffer Körper prallte einmal ab, bevor er zur Ruhe kam. Die Arme hatte sie über den Kopf gelegt, und die violetten Bänder an ihren Ärmeln wirkten einen Moment lang wie Handschellen. Ich setzte die Durchsuchung fort, während mein Schatten an der Wand hinter meinen Bewegungen zurückblieb. Auch im zweiten Nachttisch und in den Wandschubladen waren weder Medikamente noch Waffen. Ich wollte gerade ins Bad gehen, als ein akustisches Signal einen Besucher meldete. Ich öffnete Rory Willett die Tür. Er stand da mit seinem Koffer in der Hand. Seine langen Koteletten und der kahle Fleck auf seinem Schädel deuteten darauf hin, daß er bald eine Glatze bekommen würde. In den Augenwinkeln hatte er auffallende Lachfältchen. Das weiße Jackett war für seine kräftige Figur etwas zu klein. Er wirkte eher wie ein gealterter Spieler als wie ein fähiger Arzt. »Kommen Sie rein, Doc«, sagte ich.
»Was ist denn mit Ihnen passiert?« fragte er und blinzelte mehrmals; wahrscheinlich hatte er gerade geschlafen, als ich ihn hatte rufen lassen. Zunächst begriff ich nicht, was er meinte, dann erinnerte mich sein Blick, der auf meiner Wange verharrte, daran, wie scharf Jennis Fingernägel waren. »Mir fehlt nichts«, sagte ich. »Die Dame hier braucht Ihre Hilfe.« Ich erklärte ihm kurz, was sich im Frachtraum zugetragen hatte. Rory nickte wiederholt und blickte an mir vorbei zu Jenni Sonders, die auf dem Bett lag. Rory war für mich ein guter Bekannter; man konnte auch sagen, uns verband eine flüchtige Freundschaft. Wenn keine Spannung in der Luft lag, war er stets humorvoll; war rasches Handeln gefragt, bewahrte er einen kühlen Kopf, ohne distanziert zu wirken. Als ich mit meinen Erklärungen fertig war, sagte ich: »Ich weiß nicht, was Sie für sie tun können, aber ich hab mir gedacht, hier sind eher Sie gefragt.« »Das möchte ich wohl meinen.« Rory neckte mich bisweilen wegen meiner angeblichen Unnahbarkeit, wußte aber, daß ich ihn mochte. Er trat ans Bett, und ich ging ins Bad, um die Durchsuchung abzuschließen. Vor dem Spiegel stellte ich fest, daß die Kratzer an meiner Wange schlimmer aussahen, als sie sich anfühlten. Ich wusch das geronnene Blut ab. Wie erwartet gab es nichts in der Kabine, das als Waffe hätte dienen können, es sei denn, sie verfiel darauf, sich mit einem Kleidungsstück zu erdrosseln. Falls sie sich den Tod tatsächlich so sehr wünschte, würde ich ihr dabei nicht im Weg stehen. Als ich wieder in die Kabine trat, saß Rory neben ihr auf der Bettkante und redete leise mit ihr. Jennis Blick wanderte von Rorys Gesicht über seine Schulter zu mir. Anscheinend fiel es ihr schwer, ihren Blick scharfzustellen, außerdem machte sie einen verwirrten Eindruck. »Was immer er Ihnen sagt«, meinte ich zu ihr, »hat bestimmt Hand und Fuß. Der Doc kennt sich mit derlei Dingen aus.« Rory holte eine Injektionspistole aus der Tasche, die wohl einen Tranquilizer enthielt. Er sagte etwas Unverständliches zu Jenni, worauf sie ihn wieder ansah. Sie reichte ihm den Arm, und er spritzte ihr das Medikament nahe der Ellenbeuge unter die Haut. Als sie wieder zu mir aufsah, wirkte sie immer noch verwirrt. Sie wandte erst dann den Blick von mir, als sie die Augen nicht mehr offenhalten konnte. Gleich darauf entspannte sich ihr Gesicht. Rory nahm den Deckel von einem Gläschen ab. Er strich Jennis Haar beiseite und rupfte ihr das Medikament hinters Ohr. Als er fertig war, sah er zu mir hoch. »Was für eine Nacht, finden Sie nicht auch, Jason?« »Was tun die Frauen nicht alles, um in meine Nähe zu kommen.« Rory nickte, als habe er eine solche Bemerkung erwartet. Er wühlte kurz in seiner Tasche und reichte mir eine kleine Tube. »Tun Sie sich davon zweimal täglich was auf die Wange. Dreimal täglich, wenn Sie sich lange auf Ebene Zwei aufhalten. Dann heilt es schneller.«
»Und was haben Sie mit ihr vor?« »Ich werde mit ihr reden, wenn sie ausgeruht ist. Ich weiß nicht, ob das bei ihr chronisch ist, oder ob es das erste Mal für sie war. Jedenfalls behalte ich sie im Auge.« Er hob die Augenbrauen und sah mich fragend an. »Es sei denn, Sie möchten diese Aufgabe übernehmen. Entweder sie haßt Sie, weil Sie ihr in die Quere gekommen sind, oder sie ist Ihnen dankbar, weil sie eher Aufmerksamkeit erregen als sich umbringen wollte.« »Versuchen Sie gar nicht erst, mich da reinzuziehen. Von Medizin habe ich keine Ahnung.« »Darum geht es nicht, und das wissen Sie auch. Wahrscheinlich würde es ihr gut tun, wenn Sie sich etwas engagieren würden. Und ein bißchen menschliche Nähe würde Ihnen auch nicht schaden.« Darüber wollte ich nicht reden. Statt dessen grinste ich ihn an und sagte mit tiefer Stimme: »Ein Mann muß tun, was er tun muß.« »Stimmt nicht, Jason. Ein Mann tut, was er tun will.«
Ich ließ mir Zeit auf dem Weg zur Brücke. Offiziell war ich sowieso nicht im Dienst. Als ich dort eintraf, saß Bella Fendell zurückgelehnt in einem bequemen Sessel, den sie vor langer Zeit aus ihrer Kabine auf die Brücke geschafft hatte. Sie hatte die Füße auf die Steuerkonsole gelegt und blickte auf die kreisförmig angeordneten Statusanzeigen, die den Zustand sämtlicher Systeme an Bord der Redshift anzeigten. Wir bewegten uns mit neun Metern pro Sekunde durch die Hyperraumschicht Zehn, was neun Zehnteln der in dieser Schicht geltenden Lichtgeschwindigkeit entsprach. Im Verhältnis zur Nullschicht flogen wir mit tausendfacher Lichtgeschwindigkeit. Und der Fahrtwind zauste mir nicht mal das Haar. »Sie sehen heute ja richtig hübsch aus«, meinte sie zu meinen frischen Kratzern. »Ich nehme an, Ihrem Gegner ist es auch nicht viel besser ergangen.« Sie erkundigte sich nicht direkt, was vorgefallen war, sondern tat so, als interessiere es sie gar nicht. Ich verzichtete darauf, ihr freiwillig die gewünschten Informationen zu geben, so daß sie gezwungen war, mich danach zu fragen. Das war eins unserer Rituale. Bella Fendell war eine hochgewachsene Frau, die manche als mütterlich bezeichneten. Da ich meine Mutter nie kennengelernt habe, kann ich mich dazu schlecht äußern, aber Bella hatte eine Riesenscheu davor, persönliche Fragen zu stellen, ganz gleich, ob sie nun zudringlich waren oder nicht. Dabei war ihr die Neugier deutlich anzumerken. Sie wartete noch einen Moment auf meine Erwiderung, dann schüttelte sie amüsiert den Kopf. Sie grinste, wobei ihre rundlichen Wangen noch weiter hervortraten, dann sagte sie: »Schießen Sie schon los. Worum ging es bei dem unbedeutenden Zwischenfall?« »Eine Passagierin, Jenni Sonders, wollte sich umbringen.« Ich berichtete ihr, was vorgefallen war. Als ich fertig war, fragte Bella: »Glauben Sie, sie wird es noch mal versuchen?« »Fragen Sie Rory. Ich kann dazu nichts sagen. Wie weit fliegt sie mit?«
»Bezahlt hat sie bis Far Star.« Bella wußte das, ohne extra nachgesehen zu haben. Als ich um Jennis Kabinennummer nachgefragt hatte, hatte sie offenbar über Jenni in Erfahrung gebracht, was es zu wissen gab. Ich schaute auf den Flugplan auf einem der Wandmonitore. »Noch zehn Tage. Ich nehme an, Rory würde Schwierigkeiten bekommen, wenn er sie solange mit Beruhigungsmitteln vollstopft.« Bella grinste gequält. »Sie ist eine zahlende Passagierin. Wir können sie nicht wie ein krankes Haustier behandeln.« »Aber sie ist doch krank, oder? Ich meine, schließlich wollte sie sich umbringen.« »Wer kann schon sagen, was krank ist und was nicht? Sogar Sie könnten so etwas tun, wenn Ihnen jemand so nahe stünde und Sie dann fallenließe. Bei Ihnen steht da natürlich ein großes Fragezeichen dahinter.« »Heute nacht sind Sie und Rory zuständig. Ich hab nicht mal Dienst.« Bella blickte nachdenklich zu mir hoch. »Das ist eben Ihr Problem, Jason. Sie sind immer im Dienst.« Am nächsten Tag sollte die Redshift auf Vestry andocken. Ich war auf der Brücke, um das Manöver zu überwachen. Die Anzeige mit der Schicht-Zehn-Geschwindigkeit hatte jetzt, da wir uns dem Dock näherten, von Lichtgeschwindigkeit in Prozent auf Mikrometer pro Sekunde umgeschaltet. Die Nullschicht-Anzeige zeigte die Normalraumgeschwindigkeit im Kilometer-pro-Sekunde-Maßstab an. Razzi Luxon, die Zweite Offizierin, hatte sich das blonde Haar hinten mit einer Spange festgesteckt. Wenigstens sie stellte meinen Lebensstil nicht in Frage. Abgesehen davon, daß sie im Moment mit dem Andockmanöver beschäftigt war, erteilte sie mir nur selten Ratschläge. Razzi hatte sich erwartungsvoll vorgebeugt, obwohl ihre Steuerbrille die Effekte der Lichtverzögerung eliminierte. Es wunderte mich immer wieder aufs neue, daß Razzi so energisch und kompetent war, nicht weil sie unprofessionell gewirkt hätte, sondern weil sie ihre Aufgaben an Bord lediglich als Mittel zum Zweck betrachtete, nämlich um zu reisen. Sie genoß es, Sternsysteme zu besuchen, wohin wir auch kamen und wann immer es die Aufenthaltsdauer des Schiffes erlaubte. Auf der Zentralanzeige sah man das Orbital-Dock von Vestry, dem wir uns näherten. Ein Scanner wechselte ständig zwischen der Redshift in der Schicht Zehn und dem Normalraum, Schicht Null, hin und her. Die Funkfeuer des Docks brachten unser Raumschiff allmählich in Position. Das Dock von Vestry bestand aus einem langen, schmalen Gang in einer Raumstation. An Bord der Redshift wurden Luken und Türen selten gebraucht. Da man einen Passagier oder ein Frachtstück unmittelbar von einer Ladeplattform der Nullschicht in den gewünschten Gang an Bord des Schiffes befördern konnte, mußte man lediglich darauf achten, daß Ausgangs- und Zielpunkt überlappten. Allerdings hätte ein ungeschützter Passagier, der vom komfortablen Ladedock ins Vakuum der Schicht Zehn trat, den Vorgang kaum wiederholen können.
In Wirklichkeit verfügten die Passagiere über einen gewissen Schutz, genau wie die Besatzung. Wir alle trugen Lifebelts, die ein Feld erzeugten, das es dem Körper ermöglichte, mit Normalgeschwindigkeit zu funktionieren. Hätte man einen Menschen ungeschützt nach Schicht Zehn verfrachtet, wo die Geschwindigkeit der Synapsenübertragung durch die Lichtgeschwindigkeit begrenzt wurde, wäre er gestorben. Auch die Standarduhren und bestimmte Geräte an Bord wurden durch solche Felder geschützt, doch wäre der Aufwand, die ganze Redshift zu schützen, viel zu groß gewesen. Razzi drückte einen Schalter, lehnte sich zurück, schob sich die Brille in die Stirn und wandte sich zu mir um. »Scheint alles glatt zu laufen.« Die Redshift glitt langsam in Position, wobei sie sich mit Rückstoßdüsen der Bewegung des Docks anpaßte, da das Schiff in Schicht Zehn nicht die Planetenmasse in Schicht Null dazu benutzen konnte, in einen natürlichen Orbit einzuschwenken. »Wir sind synchron«, sagte Razzi, als die Instrumente vollständige Überlappung anzeigten. Das Kontrollsystem des Schiffes würde die Redshift so manövrieren, daß sie sich mit dem Dock im Orbit überlagerte. »Danke«, sagte ich. »Ich überwache den Ladevorgang, falls Sie mich brauchen.« Razzi nickte und konzentrierte sich wieder auf den Monitor, auf dem man gerade sah, wie sich das Portal, das im Moment mit Ebene Sieben der Redshift überlagerte, für den Frachtverkehr öffnete. Ich verließ die Brücke und überlegte, wie es kam, daß sich der eine das Leben nehmen wollte, während ein anderer anscheinend glücklich war mit den Zufallsbeziehungen, die sich auf den Welten ergaben, auf die es ihn verschlug.
Ich überlegte, ob es überhaupt notwendig war, auf Ebene Sieben nachzuschauen, da die meiste Fracht an Bord blieb, ging jedoch trotzdem hin. Die Entladung machte gute Fortschritte, daher wechselte ich bald darauf zu Ebene Sechs über. Die Decken der Ebene Sechs waren über fünfzig Prozent höher als die Decken der anderen Ebenen, und in dieser Entfernung vom Schiffsmittelpunkt herrschte nur etwa ein Drittel Ge, daher wurde hier der Großteil der Fracht normalerweise in riesigen Containern verstaut. Die Frachtcontainer verschwanden einer nach dem anderen durch das Portal, das zum Dock in der Nullschicht führte. Sobald alle Ebenen vollständig entladen waren, würde das Portal umgepolt werden, damit es die von Vestry stammende Ladung aufnehmen konnte. Wir hätten auch ein in beide Richtungen durchlässiges Portal einrichten können, doch konnten wir nur eine beschränkte Anzahl von Leuten für den Ladevorgang abstellen, daher war es übersichtlicher, wenn wir Schritt für Schritt vorgingen. Da es auf Ebene Sechs keine Probleme gab, ging ich zu Ebene Fünf hinunter, wo die meisten Passagiere untergebracht waren. Bensode, der Dritte Offizier, hatte Dienst. Obwohl ich mir sicher war, daß ihm die Arbeit Spaß machte, wirkte er nie sonderlich glücklich. Seine großen, dunklen Augen erweckten den Eindruck, er wolle sich ständig entschuldigen. Er erinnerte mich an einen Nachtmenschen, der nach zu wenig Schlaf früh hatte aufstehen müssen. Mit seinem angegrauten Haar wirkte er um Jahre älter als ich, obwohl das nicht stimmte.
»Sind nur zwei Passagiere von Bord gegangen«, berichtete er, als er mich sah. »Wir sind gerade dabei, das Portal umzupolen.« »Nur zu.« Ich hatte den Moment gut abgepaßt, denn mir war wohler, wenn ich die neuen Passagiere an Bord kommen sah. Die erste Passagierin auf Bensodes Liste war eine gewisse Marj Lendelson. Als ich zum Portal blickte, schob sich gerade eine spitze Schuhkappe in die Schicht Zehn. Wie jedesmal begann die Oberfläche des Portals zu leuchten, als sie durchdrungen wurde. Als die Passagierin vorwärtstrat, breiteten sich von der Schuhkappe irisierende Wellen aus. Weitere Wellen gingen von Marj’ Umriß aus, als diese vollständig zum Vorschein kam und dann ins Stolpern geriet. Conrad Delingo, der verhältnismäßig neu an Bord war, faßte sie beim Arm und sagte mit einem breiten Lächeln: »Willkommen an Bord der Redshift, Ms. Lendelson. Darf ich Ihnen zeigen, wie Sie zu Ihrer Kabine kommen.« Normalerweise tat Conrad woanders Dienst, doch er war so umtriebig und interessiert an allen Vorgängen an Bord, daß Bensode ihn wohl als Freiwilligen eingeteilt hatte. Bensode und Conrad wirkten zusammen wie ein Invalide, der ein neues Hündchen an der Leine spazieren fuhrt. Conrad hatte offenbar viel Zeit auf Ebene Sieben verbracht, denn in seinem Gesicht zeigten sich bereits dunkle Stoppeln. Marj Lendelson gab keine Antwort, da sie anscheinend von der vorübergehenden Desorientierung betroffen war, die sich beim Durchtritt durchs Portal bisweilen einstellte. Sie schien um die fünfundvierzig zu sein - mindestens fünfundvierzig, wenn sich das anhand ihres Aussehens beurteilen ließ. Ihr Kleid hatte einen schlichten Schnitt, bestand aber offenbar aus einem teuren Material. Ihre Augen wirkten klar und wachsam. Das Kinn hatte sie stolz gereckt. Geistesabwesend kratzte sie sich an der Hüfte. Das tat fast jeder als erstes, denn man mußte sich an die Lifebelts, die auf der nackten Haut getragen wurden, erst gewöhnen. Schließlich nickte sie Conrad zu, und dieser führte sie davon - ein junger Schnösel, der eine Königin zu ihren Gemächern geleitete. Als nächstes erschien ein kleiner, dunkelhäutiger Mann namens Daniel Haffalt. Er trat gewandt durch das Portal und zeigte keinerlei Anzeichen von Desorientierung. Sein kurzgeschnittenes Haar lag flach an und bedeckte seinen Schädel wie kurzes, niedergetrampeltes Gras. Seine durchdringenden dunklen Augen vermittelten mir das Gefühl, er könne eine Münze auf hundert Metern Entfernung erkennen. Als ihm ein Besatzungsmitglied anbot, ihn zu seiner Kabine zu geleiten, sagte er: »Ich finde schon allein hin« und schritt über den Gang dem sich absenkenden Horizont entgegen. Man merkte ihm den erfahrenen Reisenden auf den ersten Blick an. Auf der Passagierliste war noch ein Ehepaar ausgewiesen, das Haffalt folgte. Der Mann, Wade Pesek Midsel, kam als erster. Er war stämmig gebaut und blinzelte ein paarmal mit schweren Lidern, dann drehte er sich zum Portal um, durch das er soeben gekommen war. Er bewegte sich gewandt, als wäre auch er häufig unterwegs, doch wirkte sein Gesicht offener und neugieriger als das von Haffalt. Er lächelte nicht richtig, doch schien ein verborgenes Lächeln unter der Oberfläche zu warten, so als habe er angenehme Gedanken. Midsels Frau, Tara Pesek Cline, folgte ihm. Als erstes zeigte sich ihre Hand, während sich schimmernde Wellen über das Portal ausbreiteten. Sie trat unerschrocken lächelnd hindurch und strich sich Strähnen ihres langen, schwarzen Haars aus den blauen Augen. Tara ergriff die
ausgestreckte Hand ihres Mannes, obwohl sie sichtlich keinen Beistand brauchte. Sie war mit einem kurzärmligen Pullover und Hose bekleidet. Im Unterschied zu den anderen Neuankömmlingen nahm sie mehr wahr als das nächststehende Besatzungsmitglied und den vor ihr liegenden Gang. Als ihr Blick mich streifte, nickte sie mir lächelnd zu. Ihr Lächeln wirkte irgendwie schelmisch und ließ sie jünger erscheinen, als sie wahrscheinlich war. Fast ohne eigenes Dazutun lächelte ich zurück, sie aber setzte ihre Musterung so rasch fort, daß ihr die Geste aufgrund der verlangsamten Lichtgeschwindigkeit wahrscheinlich entging. »Komm schon, Liebling«, sagte Wade Midsel zu ihr, während er das Angebot eines Besatzungsmitglieds, ihnen behilflich zu sein, mit einer Handbewegung ausschlug. Er legte Tara den Arm um die Taille. Während sie sich entfernten, blickten beide eifrig umher. Sie wirkten noch begeisterter als Conrad Delingo an seinem allerersten Arbeitstag. Ich beobachtete versunken, wie sie entlang des Gangs verschwanden. Auch später hätte ich nicht sagen können, ob ich nun einfach von der Energie gefesselt war, die Tara Cline ausstrahlte, oder ob irgend etwas an ihr mir eine Vorahnung vermittelte, daß meine Routine ein Ende haben sollte.
Kapitel 2
Ein Fischessen im Hyperraum Ich sah Jenni Sonders früher wieder, als ich erwartet hatte. Da ich meinen rituellen Machtkampf mit Bella verloren und die Skipperin darauf bestanden hatte, daß ich mit den Passagieren speiste, begab ich mich in den Speisesaal auf Ebene Vier. In dem Raum gab es etwa zwei Dutzend Tische für jeweils zehn Personen. Da das Schiff fast vollständig belegt war, waren die meisten Stühle besetzt. An meinem Tisch war ein einziger Stuhl frei: meiner. Der Rest des Tisches war üblicherweise den zuletzt eingetroffenen Passagieren vorbehalten, doch hatte es über Nacht anscheinend Umbesetzungen gegeben. Am Tisch saß nicht nur Jenni Sonders, sondern auch Amanda Queverra. Und Amanda saß unmittelbar neben mir. Am Rand des Speisesaals spielte ein junges, blondes Mädchen, wahrscheinlich um sich vor dem Essen die Zeit zu vertreiben, vor einem der Spiegel. Sie drehte sich genau mit der richtigen Geschwindigkeit um die eigene Achse, so daß sie sich jedesmal, wenn sie in den Spiegel blickte, von hinten sah. Während ich mich dem Tisch näherte, bemühte ich mich, mein Unbehagen über die Sitzordnung zu verbergen. Daß Jenni bei mir saß, machte mir weniger aus; das hatte wahrscheinlich Rory so arrangiert. Mit Amanda hatte ich jedoch bereits mehr Zeit verbracht, als mir recht war. Amanda war hübsch und die ersten zehn Minuten über auch ganz amüsant, flirtete aber zwanghaft und schien zu glauben, das Wörtchen >Nein< bedeute das Gegenteil. Vielleicht betrachtete sie mich auch als Herausforderung. Wenn dem so war, so hatte sie recht. Entweder sie war nicht besonders helle, oder sie verstand es ausgesprochen gut, Männern das Gefühl zu geben, sie seien ihr überlegen. Mir war es egal, ob sie nun schauspielerte oder nicht. Wenn einem jemand einen schweren Gegenstand auf die Finger fallen ließ, dann war es erst einmal zweitrangig, ob es sich um Vorsatz oder einen Unfall handelte. Natürlich bemerkte Amanda mich als erste. »Hallo, Jason«, begrüßte sie mich freundlich. Sie trug eine schlichte, allerdings tief ausgeschnittene Bluse und einen dazu passenden Rock. Die mäßige Schwerkraft auf dieser Ebene kam ihrer Figur ausgesprochen gut zustatten. Ich rang mir ein schwaches Lächeln ab und ging tapfer weiter. »Wir dachten schon, Sie kämen nicht mehr«, sagte sie und strich sich das lange blonde Haar über die Schulter zurück. Ihre Lider waren dunkelblauviolett angemalt. »Sie sind ziemlich spät dran.« »Tut mir leid. Ich hatte zu tun«, sagte ich und blickte mich am Tisch um. Eigentlich kam ich immer zu spät und ging so früh wie möglich. Jenni Sonders saß mir gegenüber am anderen Tischende. Sie sah blaß aus, reagierte aber, als ich ihr zunickte. Ihr rotes Haar wirkte hübscher in der besseren Beleuchtung der Ebene Vier. Sie schaute gleichgültig drein, so daß ich nicht erkennen konnte, ob sie beschämt, dankbar, verlegen, zornig, benommen oder was auch immer war.
Amanda übernahm die Rolle der Gastgeberin und stellte mich den anderen Gästen am Tisch vor. Einige kannten mich bereits. Neben Amanda saßen Emil Frankton, ein älterer, beleibter Geschäftsmann, und sein Assistent Juan Absome, der zu jung schien für sein sauertöpfisches Gesicht. Zwischen ihm und Jenni saß ein lächelnder, stattlicher Mann Mitte Zwanzig, der Karl Welmot hieß. Vielleicht sollte ich ihn auf Amanda ansetzen, damit sie mich endlich in Ruhe ließ. Auf Jennis anderer Seite waren Tara Pesek Cline und ihr Gatte, Wade Pesek Midsel, plaziert. Tara schaffte es, noch immer schelmisch auszusehen, und Wade wirkte immer noch ein wenig blasiert. Ich fragte mich, worüber sie wohl gerade gesprochen hatten. Beide nickten mir zu, nachdem man sie vorgestellt hatte, und ich hatte Mühe, den Blick von Tara loszureißen. Neben Wade saß ein junger Mann mit sandfarbenem Haar namens Merle Trentlin, der kaum alt genug schien, um allein zu reisen. Er war der einzige am Tisch, der nervös auf dem Stuhl rumrutschte. Zwischen Merle und mir saß Daniel Haffalt, vollkommen entspannt, wenn nicht gar gelangweilt. Als er die Kratzer auf meiner Wange bemerkte, lächelte er allerdings sarkastisch. Als die Vorstellungen beendet waren, brachte ich einen Toast auf unsere neuen Passagiere und neue Anflughäfen aus - die Standardsprüche, die Bella vom Stapel gelassen hätte, wäre sie selbst erschienen. Das aber tat sie nie. Auch aus diesem Grund beneidete ich sie um ihren Job; in ihrer Stellung konnte ihr niemand vorschreiben, sich unter die Passagiere zu mischen. Die erhobenen verschüttsicheren Becher wurden den Tisch entlang nacheinander wieder abgesetzt. Ich sah die mir Nächstsitzenden trinken, bevor mich das Geräusch des Anstoßens als Abfolge von Klickgeräuschen erreichte. Zwei Becher stießen so fest zusammen, daß einer aus der Hand fiel; wahrscheinlich hatte einer der Anstoßenden die Verzögerung aufgrund der niedrigen Lichtgeschwindigkeit unterschätzt. Jenni trank scheinbar als letzte, da sie am weitesten wegsaß. Da Neuankömmlinge sich zunächst einmal an die wahrnehmbaren Zeitverzögerungen an Bord der Redshift gewöhnen mußten, wirkten sie bisweilen etwas verkatert. Ein Paraderegiment hätte unter diesen Bedingungen wahrscheinlich die Versetzung in den Ruhestand beantragt. Jenni machte heute einen entspannteren Eindruck. Ich beobachtete sie eine Weile und fragte mich dabei, ob es ihr wirklich besser ging, oder ob sie ihrer Umgebung bloß etwas vormachte. Im nächsten Moment blickte Jenni verwundert in meine Richtung. Ich sah weg, denn ich wußte, daß sie mich noch den Gutteil einer Sekunde lang zu ihr hinschauen sehen würde. Zum Glück kam das Essen pünktlich, daher waren die Leute vorübergehend beschäftigt. An Bord der Redshift sahen die meisten Speisen scheußlich aus und schmeckten köstlich. Es dauerte eine Weile, bis sie sich daran gewöhnt hatten, daß sämtliche Speisen entweder grau oder schwarz aussahen, doch schon bald machten sie sich klar, daß der Farbverlust eine Folge der bizarren Umgebung war und der Geschmack davon unberührt blieb. Genau wie alle anderen Gegenstände an Bord der Redshift, die durch kein Feld geschützt waren, reflektierten die Nahrungsmittel den größten Teil des Lichts, das darauf fiel. Ich nahm an, daß Laynes neue Assistentin für das Abendessen verantwortlich war. Layne, der Chefkoch, bevorzugte die üblichen drei Gänge. Seine Assistentin zog vier Gänge vor und neigte zu exotischeren Gerichten als Layne. Wahrscheinlich würde es nicht lange dauern, und
Layne würde sich herausgefordert fühlen und seinerseits für mehr Abwechslung auf dem Speiseplan sorgen. Heute gab es Tiefseefisch von einem Wasserplaneten namens Misty. Der Fisch war mit Röhrenpflanzen von Archon gefüllt. Layne sollte besser auf der Hut sein. Während wir aßen, beobachtete ich gelegentlich die Passagiere. Ich blickte häufiger in Jennis als in Amandas Richtung, ertappte mich aber immer wieder dabei, wie ich Tara aus den Augenwinkeln beobachtete und daß mir ihre Sommersprossen und ihr flüchtiges, spielerisches Lächeln auffielen. Und daß sie ebenfalls bisweilen zu mir hersah, wobei ihre dunkelblauen Augen beinahe schwarz wirkten. Tara führte ein kleines Stückchen Fisch mit der Gabel an den Mund. Als der Happen zwischen ihren Lippen verschwand und dabei in ihr Körperfeld eindrang, wurde er indigoblau. »Wo haben Sie eigentlich gesteckt, Jason?« fragte Amanda, während sie mit dem Knie >zufällig< mein Bein streifte. Ich hatte mich vom Passagierdeck ferngehalten. Ich zog mein Bein zurück. »Ich war ziemlich beschäftigt.« »Das bezweifle ich nicht«, sagte Daniel Haffalt, der Amanda gegenüber saß. Grinsend fixierte er meine Kratzer. »Bloß ein Unfall«, meinte ich leise, ohne Jenni anzusehen. Während Daniel Haffalt das Thema anscheinend nicht weiterverfolgen wollte, fragte Amanda plötzlich: »Wovon sprechen Sie eigentlich?« Ich bemerkte, daß Tara auf einmal ernst wurde. Daniel sagte: »Über nichts Besonderes. Der Erste Offizier hat bloß ein paar Schrammen auf der Wange. Ist wahrscheinlich gegen eine Tür gerannt.« Ich bemühte mich, die Angelegenheit ins Scherzhafte zu ziehen. »Eigentlich«, sagte ich, »habe ich mich mit meiner Enthaarungscreme geschnitten.« Daniel lächelte vielsagend und nickte. Wade kicherte blasiert. Amanda legte ihre Hand auf mein Kinn und drehte meinen Kopf herum, bis sie die Kratzer sehen konnte. »Jason«, sagte sie mit einer Mischung aus Belustigung und Erstaunen, »das ist ja die reinste Kriegsbemalung. Also sind Sie doch nicht so schüchtern, wie Sie immer tun.« Sie lächelte mich an. Es war das Lächeln eines Raubtiers. »Es war bloß ein Unfall«, sagte ich ruhig. »Sollen wir nicht über etwas anderes sprechen?« »Aber, Jason, ich…« »Haben Sie denn keine Fragen mehr zum Schiff, Amanda? Mir scheint, daß jeder, der zum erstenmal im Hyperraum reist, mehr Fragen hat, als die Broschüre beantwortet.« Ich verschwieg, daß sie weniger Fragen gehabt hätte, wenn sie die ganze Broschüre gelesen hätte. Ich versuchte, nicht an Jenni zu denken. Amanda interessierte sich offenbar mehr für meine Kratzer als für die Phänomene des
Hyperraums, doch im Moment gab sie Ruhe. »Na schön. Als wir an Vestry angedockt haben, hatte ich nicht das Gefühl, daß wir abbremsen, und anschließend habe ich nicht gespürt, daß wir uns in Bewegung gesetzt haben. Bewegen wir uns überhaupt?« Ich setzte gerade zu einer Antwort an, als mir Merle Trentlin, unser jüngster Passagier, zuvorkam. »Ich weiß, warum das so ist. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich darauf antworten würde, Mr. Kraft?« Merle interessierte sich für dieses Thema offenbar weit mehr als für meine Kratzer. Er sah erst mich, dann Amanda und dann wieder mich an, ohne zu blinzeln. Sein dunkles Haar war in die Stirn gekämmt und zu einem dermaßen perfekten Bogen geschnitten, daß man unwillkürlich meinte, man habe einen Kompaß dazu benutzt. Er hatte stark abstehende Ohren. Froh darüber, endlich nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen, sagte ich: »Sicher. Schießen Sie los.« »Das kommt daher, daß der Raum gekrümmt wird. Ich weiß - das klingt seltsam, aber das ist es nicht. Man projiziert eine Raumkrümmung außerhalb des Schiffes, wissen Sie. Die ist wie Gravitation - oder wie ein Tümpel. Und wenn man neben einem schwimmenden Holzstück Wasser aus dem Tümpel schöpft, dann wandert das Holzstück zu der Stelle hin. Der Raum außerhalb des Schiffes wird deshalb gekrümmt, damit sich eine Senke bildet und das Schiff in diese Richtung wandert. Wenn man nun die Raumkrümmung in eine fixe Entfernung projizieren würde, würde sich das Schiff nicht darauf zubewegen, denn das wäre so, als hielte man sich einen Magneten vor die Gürtelschnalle, um sich vorwärtszuziehen. Deshalb wird eine Raumkrümmung erzeugt und freigegeben, denn es dauert eine gewisse Zeit, bis sie sich auflöst. Während sie sich auflöst, zieht sie das Schiff an. Und wenn das Schiff erst einmal in Bewegung ist, bewegt es sich aufgrund seiner Trägheit auch weiter.« Er hielt inne und wandte sich fragend zu mir um. »So in etwa«, sagte ich. »Aber man kann das Vakuum doch nicht wie Wasser ausschöpfen«, bemerkte Amanda. »Ich meine, es gibt da doch nichts, das man schöpfen könnte.« »Das ist bloß eine Analogie«, erwiderte ich. »Das Schiff wendet Energie auf, um außerhalb des Schiffes eine Gravitationssenke zu erzeugen - die gleiche Art Senke, die von einem nahen Objekt von großer Masse erzeugt würde. Wir erzeugen eine Senke und fallen ein Stück weit hinein, ehe sie zusammenbricht. Die gleiche Technik benutzen wir dazu, um an Bord Schwerkraft zu erzeugen. Auf der Ebene Null befindet sich eine Raumkrümmung, eine Gravitationssenke, welche die gleiche Wirkung hat, als wenn sich ein kleiner, sehr dichter Planet im Mittelpunkt des Schiffes befände.« »Okay«, meinte Amanda. »Aber weshalb merken wir nichts davon, wenn das Schiff beschleunigt oder abbremst?« Auch darauf hatte Merle eine Antwort parat. »Das liegt daran, daß wir alle zusammen fallen - das Schiff und wir, alles bewegt sich, als befänden wir uns in freiem Fall. Die interne Schwerkraft des Schiffes wird davon nicht betroffen.« Ich war beeindruckt. Die meisten Passagiere kamen nicht mal so weit, daß sie verstanden, weshalb man beim Laufen einen Überschallknall erzeugen konnte, und es verwirrte sie, daß ihre Armbanduhren niemals mit der Bordzeit übereinstimmten.
Amanda hatte wohl meine Gedanken gelesen. Ihre nächste Frage lautete: »Wieso stimmt meine Armbanduhr eigentlich nie mit den Borduhren überein?« Auf einmal war ich heilfroh, daß Merle bei uns am Tisch saß. Als ich merkte, daß er mich ansah, nickte ich ihm aufmunternd zu. Merle beugte sich vor. »Das liegt daran, daß die Zeit an Bord ortsabhängig ist. Entsprechend der allgemeinen Relativitätstheorie verlangsamt sich die Zeit, je näher man dem Schiffsmittelpunkt kommt. Und zwar weil die Gravitation die Zeit verlangsamt.« »Aber die Zeit scheint nicht mal dann konstant zu sein, wenn ich auf einer Ebene bleibe.« »Natürlich nicht. Ich meine, die Zeit ist nicht mal innerhalb einer Ebene konstant. In Fußnähe verstreicht sie langsamer als in Kopfhöhe, weil die Schwerkraft nämlich nach unten hin zunimmt. Wenn Sie Ihre Armbanduhr über den Kopf halten, wird sie schneller. Das gilt im Grunde auch für den Normalraum, aber da dort die Lichtgeschwindigkeit viel größer ist, ist der Effekt nicht so leicht zu messen.« »Stimmt das auch wirklich, Jason?« fragte Amanda, deren Skepsis sich an ihrem schiefgelegtem Kopf und den gespitzten Lippen deutlich zeigte. »Ganz genau. Aus demselben Grund muß man sich hier die Fußnägel auch nicht so oft schneiden wie die Fingernägel.« Sie musterte mich scharf. »Ich mache keine Witze. Oder zumindest sage ich nicht die Unwahrheit. Allerdings gibt es noch andere Gründe, weshalb Ihre Armbanduhr nicht richtig geht.« »Das stimmt«, nahm Merle den Faden wieder auf. »Wenn Sie rennen - oder wenn Sie auch nur schneller gehen - verlangsamt sich Ihre Eigenzeit. Das kommt alles daher, daß die Lichtgeschwindigkeit so niedrig ist. Bei niedriger Lichtgeschwindigkeit kommt es halt zu relativistischen Effekten.« Einigen der Anwesenden war anzusehen, daß dies nicht nur für Amanda neu war. »Das stimmt«, sagte ich. »Je schneller man geht, desto langsamer verstreicht für einen die Zeit, deshalb kann man sagen, Joggen verlängert das Leben.« Einige Passagiere nickten ernst. Lediglich Daniel Haffalt lächelte. Amanda waren anscheinend die Fragen ausgegangen, und sonst meldete sich auch keiner zu Wort. Die Passagiere begannen sich über ihre Arbeit, ihre Reiseziele und das Essen zu unterhalten. Ich dachte schon, es wäre mir gelungen, vom ursprünglichen Thema abzulenken, als Amanda sagte: »Jetzt hab ich’s!« Ich blickte alles mögliche an, bloß nicht Amanda oder Jenni. Amanda legte mir die Hand auf den Arm. »Heute morgen hat mir ein Steward gesagt, es habe heute nacht einen Zwischenfall mit einem der Passagiere gegeben. Ich wette, daher haben Sie die Kratzer.«
Wenn das alles war, was Amanda wußte, hätte ich das Thema wohl auch diesmal abwürgen können, doch im nächsten Moment setzte Jenni ihren Becher auf Taras Becher ab, von wo er lautstark herunterkippte. Jenni wurde blaß. Amanda wußte entweder mehr, als sie gesagt hatte, oder sie hatte Jennis Reaktion richtig gedeutet. »Das waren Sie, hab ich recht?« fragte sie, beugte sich vor und blickte Jenni direkt an. Ich sagte: »Das reicht jetzt. Würden Sie bitte aufhören?«, doch Jenni hatte bereits genickt, bevor meine Worte sie erreicht hatten, so als bliebe ihr keine andere Wahl; wie ein ungezogenes Kind, das von seiner Mutter mit unwiderleglichen Beweisen überführt worden war. Alle Köpfe am Tisch wandten sich Jenni zu. Die am anderen Tischende Sitzenden hatten ihr Nicken zuerst gesehen, mich jedoch erreichte ihre Reaktion als letzten. Lange Zeit sagte niemand etwas. »So«, meinte Amanda gedehnt und sah wieder mich an. Sie blinzelte mit ihren tiefblauen Lidern. »Amanda«, sagte ich, »jetzt reicht’s. Es war bloß ein kleiner Zwischenfall, der keinen der Anwesenden etwas angeht.« »Ach, hören Sie doch auf!« sagte Jenni plötzlich mit erstaunlicher Lebhaftigkeit. »Hören Sie auf, dem Mann zuzusetzen. Er ist zu sehr Gentleman, um zuzugeben, daß ich es war.« Jenni sah auf ihren Schoß hinab, dann blickte sie wieder zu mir und in acht erwartungsvolle Gesichter. Tara hob die Augenbrauen. Jenni fuhr fort: »Es war anders, als Sie denken. Mr. Kraft - Jason - hat mir einen Gefallen getan.« Vielleicht hätte sie es dabei belassen sollen, doch da bemerkte Wade Midsel: »Hat er Ihnen einen Gefallen getan, oder eher sich selbst?« Er grinste Tara breit an, doch seit sie ihr schelmisches Lächeln abgelegt hatte, blieb sie ernst. Ich war froh, daß ihr eisiger Blick nicht mir galt. Jennis gequältem Gesichtsausdruck nach zu schließen, hatte sie nicht die geringste Lust, neun Fremden ihre persönlichen Probleme zu schildern. Sie sagte: »Ich brauchte - das heißt, ich war - ach, zum Teufel damit! Ich war in Schwierigkeiten und bin in Panik geraten. Jason hat mir geholfen.« Den letzten Satz hatte sie an mich gerichtet, zusammen mit einem derart sanften Lächeln, daß ich Mühe hatte, mir die Wildheit in Erinnerung zu rufen, die vergangene Nacht in ihren Augen gelegen hatte. Layne Koffers würde betrübt sein; niemand aß. Jetzt sahen alle mich an, als sei dies ein bizarrer Wettkampf und die Reihe sei nun an mir, den Ball zu Jenni zurückzuschlagen, damit sich die acht Köpfe wieder umwenden und das Spiel seinen Fortgang nehmen konnte. Da Jenni die geballte Aufmerksamkeit meiner Ansicht nach nicht gut tat, sagte ich: »Morgen ist die Sache wieder vergessen. Ich glaube, wir haben uns jetzt eingehend genug mit Jennis persönlichen Angelegenheiten beschäftigt. Falls sich jemand nach dem Essen entspannen möchte, steht Ihnen der Salon zur Verfügung.« Wade Midsel schnaubte vernehmlich. Offenbar hätte ich ihn nicht mehr verärgern können, wenn ich meinen Schläger hingeworfen und vom Tenniscourt gestürmt wäre, doch verzichtete
er darauf, die Aufmerksamkeit wieder auf Jenni zu lenken. Niemand machte Anstalten, sich zu erheben. Das Schweigen währte eine Weile, dann platzte Amanda heraus: »Wollten Sie sich umbringen?« Vom wem sie die Informationen auch bekommen hatte, er mußte ihr einen Hinweis gegeben haben. Jenni warf Amanda einen eisigen Blick zu, den ich mühelos deuten konnte: Was geht dich das an? Emil Frankton, der Geschäftsmann, nahm meine Anregung endlich auf. Er stand auf und bedeutete seinem Assistenten Juan Absome, ihm zu folgen. »Ich glaube, wir gehen mal in den Salon hinüber. Kommt jemand mit?« Emil schien sich unwohl zu fühlen, doch konnte ich nicht erkennen, ob der Grund dafür die Spannungen während des Essens waren, die Schwierigkeit, sich an den Tag-und-Nacht-Zyklus an Bord zu gewöhnen, oder das Leiden, das so manchen in dieser ungewohnten Umgebung befiel: die C-Krankheit. Niemand nahm Emils Einladung an. Emil jedenfalls trug sein Teil dazu bei, die Situation zu entspannen. »Dann vielleicht später«, sagte er und ging mit seinem Assistenten hinaus. »Sie haben doch bestimmt noch mehr Fragen zum Schiff«, wandte ich mich an die verbliebenen Passagiere. Wade Midsel hatte sich offenbar entschieden, nicht kooperativer als Amanda zu sein. Wahrscheinlich war ihm klargeworden, daß Jenni mit ihrem Schweigen ihre Selbstmordabsichten eingestanden hatte. »Sie haben unsere Neugier geweckt, Jenni. Stimmt das, was Amanda gesagt hat?« Einen Moment lang war ich angesichts seiner Taktlosigkeit sprachlos, doch dann wurde mir klar, daß er lediglich dieselbe Frage stellte, die auch ich mir in der vergangenen Nacht gestellt hatte, und diesmal hörte ich die unterschwellige Botschaft heraus, die auch ich wahrscheinlich ausgesandt hatte: Sie wollen sich das Leben nehmen? Wie kommen Sie dazu, etwas derart Abwegiges tun zu wollen? Ich wollte gerade meine Bitte, das Thema zu wechseln, wiederholen und diesmal darauf bestehen, als Jenni ruhig antwortete. Vielleicht mußte sie darüber reden, auch wenn es bedeutete, es in Gesellschaft zu tun. Möglicherweise fiel es ihr jetzt, da die Gruppe kleiner geworden war, auch leichter. »Hatten Sie noch nie solche Anwandlungen - zumindest hin und wieder?« fragte sie. »Zeiten, in denen Sie einfach nicht mehr weiterleben wollten? Bisweilen wird das Leben einfach zu kompliziert.« Jenni sah mich an, als wäre ich ihr einziger Gesellschafter bei Tisch. »Diese Stimmungen kommen und gehen, mich aber begleiten sie jetzt schon so lange, daß sie mir ganz normal vorkommen.« Sie blickte wieder zu Wade, als wollte sie ihm bedeuten, daß die Antwort an ihn gerichtet gewesen war, auch wenn sie mich dabei angeschaut hatte. Ich wußte nicht, ob sie weiter über den Schmerz sprechen wollte, der sie soweit gebracht hatte, oder lieber darüber, wie es weitergehen sollte. Ich stellte mir vor, daß ich an ihrer Stelle lieber vorwärtsblicken würde, deshalb sagte ich: »Weshalb ist der Tod eine Lösung?« Sie sah mich verwundert an, dann antwortete sie: »Es stimmt nicht, daß der Tod eine Lösung wäre; das Leben ist es aber auch nicht. Es ist nicht so, daß ich mir wünschen würde, tot zu sein; ich will manchmal bloß nicht mehr weiterleben.«
Anscheinend stand ich unter dem Zwang, ihr das Vorhaben ausreden zu wollen. Ich wußte genug über das Thema, um zu wissen, daß es dabei um ein emotionales Problem ging, doch hielt mich das nicht davon ab, es rationalisieren zu wollen. »Aber einmal angenommen, nach dem Tod wird es nur noch schlimmer?« sagte ich. »Sind Sie mit einer Religion großgeworden, die an ein Leben nach dem Tod glaubt?« Sie nickte. »Haben Sie sich jemals gefragt, ob diese Vorstellungen vielleicht bloß dazu dienen, den Menschen die Angst vor dem Sterben zu nehmen? Und ihnen womöglich eine um so größere Angst davor zu machen, anderen Leid zuzufügen, weil sie dafür später bestraft werden? Wenn aber das Leben nach dem Tod in Wahrheit noch schlimmer ist als das Leben davor? Es könnte nämlich durchaus sein, daß es das gleiche ist, als müßten wir im Wartezimmer eines Arztes auf die Ewigkeit warten, während wir gezwungen sind, uns alte Vorsorge-Videos anzuschauen.« Jennis Augen umwölkten sich. »Sie verstehen mich einfach nicht.« »Das stimmt. Ich verstehe Sie nicht. Aber ich bemühe mich. Wenn Ihnen das Leben nun nicht gefällt, wenn Sie nicht mehr weiterleben wollen, wenn Sie aufhören wollen, Anteil zu nehmen, aufhören zu fühlen, weshalb gehen Sie dann nicht nach Xanahalla?« An Bord der Redshift, bei der dort herrschenden niedrigen Lichtgeschwindigkeit, waren die Verzögerungen in den Unterhaltungen zumeist lästig. Diesmal kam mir die Verzögerung gerade recht. Ich hatte bereits aufgehört zu reden und beobachtete Jenni, als ich bemerkte, wie sich zwei Köpfe zu mir umwandten, jäh innehielten und sich dann wieder beiläufig zu Jenni herumdrehten. Es handelte sich um Wade und Tara. »Was ist Xanahalla?« fragte Jenni. Tara öffnete langsam den Mund, als wollte sie antworten, doch Karl Welmot kam ihr zuvor. »Ich dachte, davon hätte jeder schon gehört.« Er blickte erst uns an, dann sah er wieder zu Jenni. »Xanahalla ist ein religiöser Zufluchtsort. Ich weiß nicht, wo es liegt, doch hin und wieder höre ich davon. Anscheinend muß man sich dort einkaufen - entweder durch großzügige Spenden, oder indem man eine Menge gemeinnützige Arbeit leistet. Angeblich ist es eine Art Paradies, eine Belohnung für Leute, die ihren Beitrag geleistet haben. Jedermann führt dort ein angenehmes Leben, meditiert über die Mysterien des Universums und betet zu Gott.« Karl schwenkte die Hände, als riefe er Gott an. Jenni sah mich an. »Ich verstehe Sie nicht. Wieso vergleichen Sie das mit dem Selbstmord?« Ich erwiderte: »Ich habe bloß gesagt, es gäbe eine ganze Gruppe von Menschen, die sich aus dem Universum abgemeldet haben. Sie haben genug davon, ihre Lebensqualität zu verbessern oder was es an trivialen populären Zwecken sonst noch gibt. Sie haben eine ähnliche Entscheidung getroffen wie die, mit der Sie sich herumschlagen, aber sie haben den Vorteil, es sich später wieder anders überlegen zu können. Sie sind nichts weiter als Selbstmörder, denen es an der Kraft mangelt, ihre Entscheidung unumkehrbar zu machen.« »Sie scheinen ja ein richtiger Experte für Xanahalla zu sein, Mr. Erster Offizier«, bemerkte Tara Cline ruhig. Sie hatte eine angenehme Altstimme, doch ihre Wortwahl und ihr Tonfall verrieten mir sogleich, daß ich wohl einen wunden Punkt getroffen hatte. »Sie scheinen ja gut Bescheid zu wissen über die Leute, die dorthingehen, daß Sie so viele Menschen mit ein paar
kurzen Sätzen verurteilen.« Ich blickte ihr tief in die Augen. »Ich möchte mich entschuldigen, falls ich Ihnen zu nahe getreten sein sollte, Mrs. Cline. Manchmal sage ich etwas, weil ich auf die Reaktion gespannt bin, und zwar eben deshalb, weil ich nicht alles weiß. Aber mir scheint, daß Sie auf diesem Gebiet vielleicht Expertin sind.« Wade machte eine Handbewegung, als wollte er seine Frau von einer Antwort abhalten, doch Tara ließ sich dadurch nicht beirren. »Das mag schon sein. Ich war nämlich schon auf Xanahalla, wissen Sie.« In dem Moment, als Tara zu sprechen begann, fühlte ich eine Hand auf meinem Bein. Ich nutzte die Gelegenheit, meinen Stuhl ein Stück zurückzuschieben und mich bequemer hinzusetzen, weiter von Amanda weg. Als ich aufsah, hatten sich alle Gesichter Tara zugewandt. »Ich habe noch nie jemanden getroffen, der auf Xanahalla war«, sagte ich. »Haben Sie gesündigt oder einen Wochenpaß bekommen oder was?« Wade blickte mich finster an. »Sie ist aus eigenem Entschluß gegangen. Die Gründe gehen nur sie etwas an.« Auch Tara schaute finster in meine Richtung. Ob das an mir lag oder daran, daß ihr Mann Fragen beantwortete, die an sie gerichtet waren, konnte ich nicht sagen. Was immer der Grund war, es störte mich. Karl Welmot beugte sich vor. »Wir brauchen nicht zu wissen, weshalb Sie von dort fortgegangen sind. Aber erzählen Sie uns von Xanahalla, würden Sie das tun?« Tara zögerte, war aber schon zu weit gegangen, und so entschloß sie sich, seiner Bitte zu entsprechen. »Es ist eine idyllische Welt, vollkommen friedlich. Die Gründer haben jedes einzelne Bauwerk unter dem Aspekt errichtet, daß es in Einklang steht mit der Schönheit der Pflanzen von Dutzenden von Welten«, sagte sie, wobei sich ihre Miene wieder aufhellte. Während mich ihre Worte erreichten, merkte ich, wie sie sich für das Thema allmählich erwärmte. Offenbar konnte sie einem nicht lange böse sein. »Wenn man in der Nähe des Turms der Verehrung steht, erstreckt sich das tiefe Grün und Blau bis zum Horizont; dort leben Tausende von Menschen, ohne die Schönheit der Natur zu zerstören. Gepflasterte Wege verbinden die Gebäude, und jedes einzelne davon ist exakt an die lokalen Gegebenheiten angepaßt. Wollten die Erbauer ein Gebäude in einem Fluß haben, dann haben sie es auf Stelzen gesetzt, damit der Fluß darunter hindurchfließen kann, oder aber sie haben es so konstruiert, daß der Wasserlauf durch ein großes Atrium führt. Ich habe noch nirgends so viele Atrien und Oberlichte gesehen wie dort. Ein Netzwerk von unterirdischen Gängen verbindet den Turm der Verehrung mit allen anderen Gebäuden.« Taras Augen hatten einen träumerischen, vielleicht auch wehmütigen Ausdruck angenommen. Ich fragte mich, ob sie gern wieder dorthin zurückgekehrt wäre. Vielleicht stellte einem auf Xanahalla niemand unangenehme Fragen. Oder vielleicht hatten sie dort auch schon alle Antworten gefunden. »Was ist der Turm der Verehrung?« fragte Karl. »Der größte Tempel, den ich je gesehen habe. Er ist großartig. Er hat die Form einer
Pyramide, und es gibt Aufzüge und Treppen, die fast bis in die Spitze führen. Der Turm ist so hoch, daß oben ein anderes Wetter herrscht als am Boden, Er ist bestimmt fünfhundert Meter hoch.« Wade blickte Tara an, und diese setzte ihre Beschreibung fort. »Es ist einfach ein wunderschöner und heiterer Ort.« Das nachfolgende Schweigen war drückend. Als klar war, daß Tara nichts mehr hinzufügen würde, kam Amanda wieder auf die Andeutungen zu sprechen, die ich gemacht hatte, als ich nicht über die Kratzer hatte sprechen wollen. »Wissen Sie«, sagte Amanda, »eigentlich habe ich schon noch ein paar Fragen zu diesem tollen Schiff, Jason. Hätten Sie heute abend vielleicht Zeit, sie mir zu beantworten?« Die Tische in unserer Nähe leerten sich bereits. Wenn ich jetzt nicht ging, lief ich Gefahr, bei Amanda hängenzubleiben, wenn ich nicht grob weiden wollte. Ich erhob mich abrupt. »Tut mir leid, Amanda. Ich glaube, ich muß mich entschuldigen, meine Damen und Herren. Wenn Sie noch weitere Fragen zur Redshift haben, wird sie Ihnen Merle bestimmt beantworten können. Oder wenden Sie sich an ein Besatzungsmitglied. Ich wünsche Ihnen noch eine angenehme Reise. Guten Abend.« Amandas Augen verengten sich fast unmerklich, als sie die verborgene Botschaft begriff, dennoch lächelte sie freundlich in Merles Richtung. Ich bemerkte, daß Wade jetzt entspannter wirkte als noch vor wenigen Minuten. Merle senkte verlegen lächelnd den Kopf, bevor er sich am Tisch umsah, ob noch jemand Fragen habe. Ich zog mich zurück. Der Andrang am Ausgang war jetzt so groß, daß ich nicht rennen konnte, daher zwängte ich mich behutsam durch eine Gruppe plaudernder Passagiere hindurch und wandte mich zur Tür. Ich hatte sie fast erreicht, als jemand meinen Namen rief. Ich drehte mich um und stellte fest, daß Jenni Sonders unmittelbar hinter mir war. »Ich wollte… mich wegen gestern bei Ihnen entschuldigen«, sagte sie. »Und dafür, daß Sie wegen mir in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt wurden. Dank Doktor Willetts Medikamenten kann ich jetzt wieder klarer denken.« Sie faßte sich hinters Ohr. Jenni wirkte nüchtern, doch der Schmerz, den ich gestern in ihren Augen gesehen hatte, war verschwunden. Sie wirkte hübscher, wenn sie sich nicht so quälte. »Lassen Sie uns auf den Gang hinausgehen«, schlug ich vor. Auf dem Äquatorialkorridor wandten wir uns nach rechts und gingen schweigend ein paar Meter. Ich wußte nicht so recht, was ich sagen sollte. »Sie brauchen sich nicht bei mir zu entschuldigen, Ms. Sonders. Eher müßte ich mich entschuldigen. Kein Gesetz verbietet Ihnen, Selbstmord zu begehen, wenn Sie es wünschen. Ich weiß immer noch nicht, ob ich richtig gehandelt habe.« »Sagen Sie Jenni zu mir. Und in einer ähnlichen Situation würden Sie wieder genauso handeln.« »Ja«, gab ich zu. »Wahrscheinlich haben Sie recht.« Wir gingen weiter. Wir kamen am Serviceeingang vorbei, der zur Küche führte, und wandten uns am nächsten Nord-Süd-Korridor nach rechts. Von der Mitte der Kreuzung aus
betrachtet senkten sich alle vier Gänge ab, bis sie außer Sicht verschwanden, was einem das Gefühl vermittelte, am höchsten Punkt der Welt zu stehen. Auch wenn es eine kleine Welt war. Ich musterte Jenni eingehender, als ich es am vergangenen Abend getan hatte. Ihre Augen waren grün, mit blauen Sprenkeln darin. »Geht es Ihnen heute besser?« fragte ich, da ich annahm, es werde ihr gut tun, das zuzugeben. »Ja. Und nein. Ich bin immer noch sehr durcheinander. Vielleicht fühle ich mich etwas besser. Ja, ich glaub schon.« »Und das alles wegen der Ereignisse der letzten Zeit?« Sie schüttelte den Kopf. »Das hab ich eine Weile gedacht. Aber ich glaube, da steckt mehr dahinter. Ich war schon lange nicht mehr glücklich.« »Seit wann nicht mehr? Seit früher Kindheit?« »Sie auch?« fragte sie und sah mich unvermittelt an. »Volltreffer«, antwortete ich und schluckte. Als wir einem Passagier begegneten, verfielen wir in Schweigen. »Aus welchem Grund sind Sie gestern ursprünglich zur Ebene Zwei runtergegangen?« wechselte ich das Thema. »Wenn Sie wissen wollen, ob ich in der festen Absicht hinuntergegangen bin, mich umzubringen, dann lautet die Antwort nein. Ich erkunde gern meine Umgebung. Ich fühlte mich sehr niedergeschlagen und dachte, das würde mich aufmuntern. Aber es hat nicht gereicht.« Sie lächelte kläglich. »Erzählen Sie mir von Ihren Eltern.« Jenni verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schwenkte die Schultern beim Gehen hin und her. Ich interpretierte ihre Haltung dahingehend, daß sie lässig wirken wollte, doch ihr Tonfall klang angespannt, gehetzt. »Auf einer Skala für Strenge, die bis zehn geht, hätte sie vielleicht eine Elf verdient gehabt. Oder eine Zwölf. Ich war das erste von drei Kindern, daher war ich das Testobjekt. Mein Bruder und meine Schwester wurden ein wenig mehr als eigenständige Persönlichkeiten behandelt, aber erst nachdem ich gekämpft hatte - gekämpft und gekämpft. So lange, bis ich alle Bindungen zwischen mir und meinen Eltern zerstört hatte. Einmal schloß mich mein Vater zur Strafe in ein leeres Zimmer ein. Ich hatte eine Schulveranstaltung und war zu spät nach Hause gekommen. Haben Sie eine Ahnung, wie lang vierundzwanzig Stunden sein können, wenn man nichts weiter spürt als den Haß, der sich in einem aufbaut?« Jenni wäre an den letzten Worten fast erstickt, daher sagte ich längere Zeit nichts. Der weiche, verzögerte Widerhall unserer Schritte war das einzige Geräusch. »Wissen Sie«, sagte ich schließlich, »die Botschaft, die empfangen wird, ist häufig eine andere als die, die man gesendet hat.«
»Bis jetzt habe ich das meiste von dem, was Sie sagt haben, verstanden.« »Ich weiß, ich sollte eigentlich nicht spekulieren. Aber wenn Sie sich umbringen, dann könnte es doch teilweise deshalb sein, weil Sie Ihren Eltern eine Botschaft übermitteln wollen. Etwa: >Seht nur, was mit mir passiert ist, weil ihr mich so schlecht behandelt habt.O je, was waren wir doch für böse Eltern, daß wir unsere Tochter so weit getrieben haben?< Oder würden sie eher sagen: >Jenni hat sich umgebracht, und all unsere Opfer waren umsonst. Das ist also der Dank dafür? Ich weiß nicht’ sagen mußte.« Rory sah mich erwartungsvoll an, doch mir war noch weniger danach zumute, über mich zu reden, als sonst. Jennis Leichnam lag nebenan im Kühlfach, eine stete Mahnung, wie teuer es einen zu stehen kommen konnte, wenn man andere Menschen zu nahe an sich heranließ.
»Ja, ich habe gestern abend mit Jenni Sonders gesprochen - im Salon, nach dem Essen«, berichtete mir Wade Midsel. »Tara ebenfalls.« Wade und ich saßen uns im Geschäftszimmer gegenüber, das in unmittelbarer Nähe der Brücke lag. Hinter Wade war an der Wand ein riesiger Querschnittsplan der Redshift befestigt. Sie war aufgeschnitten wie eine Orange, von der mehrere Stücke fehlten, so daß ein Teil jeder einzelnen Ebene abgebildet war. Daneben gab es mehrere kreisförmige Orientierungspläne, auf denen für jede einzelne Kreisebene der Äquatorialkorridor, die Breiten- und die Längskorridore sowie jeder einzelne Raum samt Verwendungszweck verzeichnet waren. Auf Ebene Vier war ein kleiner Pfeil mit der Überschrift >Sie befinden sich hier< abgebildet. Ich wußte, daß Wade mir die Wahrheit sagte; die gleiche Information hatte ich gestern abend im Salon bereits von drei verschiedenen Personen erhalten. »Welchen Eindruck hat Jenni auf Sie gemacht?« fragte ich. Wade senkte geringfügig die Augenlider, während er sich die Antwort zurechtlegte. Aus diesem Grund wirkte er schläfrig, obwohl nichts an ihm darauf hindeutete, daß er erschöpft
war. Er wirkte ruhig, beherrscht und allen nervösen Gesten, die eine unnötige Energieverschwendung bedeutet hätten, abhold. »Deprimiert, würde ich sagen. In meiner Gegenwart hat sie nicht von Selbstmord gesprochen, doch es war nicht zu übersehen, daß sie eine unglückliche Frau war. Einmal mußte sie mitten im Satz innehalten, um die Fassung zu wahren. Sie wirkte nicht einmal dann entspannt, wenn sie lächelte. Sie zappelte ständig.« Ich war nicht der Meinung, daß seine Beobachtungen allein für Frauen typisch waren, doch er hatte meine Frage beantwortet, daher sagte ich nichts. Er fuhr fort: »Es wundert mich ein wenig, daß sie es tatsächlich getan hat, aber das kommt wahrscheinlich daher, daß ich mit Selbstmord nicht so vertraut bin. Das Verhalten mancher Frauen ist schwer vorhersehbar.« »Ich glaube, das gilt für jeden. Ich habe schon zahllose Geschichten über Leute gehört, die durchgedreht sind und einen Haufen unschuldiger Menschen umgebracht haben, und wenn man dann ihre Freunde interviewt, heißt es jedesmal: >Aber der war doch immer ganz normal. Wer hätte das gedacht?« »Das stimmt; alles ist möglich. Aber ich fürchte, das ist alles, was ich Ihnen über Jenni Sonders sagen kann.« »Ich danke Ihnen, Mr. Midsel. Vielleicht kann Ihre Frau mir ja mehr sagen. Wie ich höre, ist sie noch mit Jenni im Salon geblieben, nachdem Sie gegangen waren.« »Das wäre reine Zeitverschwendung. Tara weiß nichts, was Ihnen weiterhelfen könnte.« »Danke, aber das zu beurteilen überlassen Sie besser mir.« Noch während ich dies sagte, wurde mir bewußt, daß ich mir mein Urteil wieder einmal durch Gefühle trüben ließ. Ich wollte mehr über die Stimmung herausfinden, in der Jenni sich gestern befunden hatte, doch ich interessierte mich auch für Tara.
»Ja, ich bin überrascht, daß sie es getan hat«, erklärte Tara Cline. »Sehr überrascht. Ich hatte den Eindruck, Jenni ginge es wieder erheblich besser.« Tara saß auf demselben Stuhl, auf dem zuvor Wade gesessen hatte. Sie wirkte nicht annähernd so glücklich wie zu Anfang, als sie an Bord der Redshift gekommen war. Außerdem mangelte es ihr an Wades Gefaßtheit. Jennis Tod schien sie viel tiefer berührt zu haben als Wade. Taras dunkelblaue Augen blickten traurig, und es fehlte ihnen die muntere Wißbegier, die sich noch tags zuvor darin gezeigt hatte. In diesem Moment wirkte sie gar nicht schelmisch. Sie wirkte verletzlich. Eigentlich war ich froh, daß Wade und Tara verschiedener Meinung waren. Dies deutete darauf hin, daß sie sich nicht abgesprochen und sich keine Geschichte zurechtgelegt hatten. Dennoch weckte die Diskrepanz ihrer Schilderungen mein Interesse. »Ihr Mann hat mir gesagt, Jenni sei gestern abend immer noch sehr deprimiert gewesen. Aus Ihrer Schilderung gewinne ich eher den Eindruck, daß es so schlimm nicht war.« »Mr. Kraft…« »Jason.«
»Jason.« Sie nickte. »Wade ist nicht lange bei uns geblieben. Ich habe mich anschließend noch mindestens eine halbe Stunde mit Jenni unterhalten. Ich glaube, die Zeit reichte für ihn einfach nicht aus, um sich ein Bild von ihrem Zustand zu machen.« Tara schlug die Beine übereinander. »Sie und Jenni haben den Salon zusammen verlassen - etwa zwei Stunden vor Mitternacht?« »Das stimmt. Sie ging zu ihrer Kabine, und ich ging zu meiner. Zu unserer Kabine.« »Hat Jenni erwähnt, sie habe noch etwas vor?« »Nein. Ich glaubte, sie wolle sich schlafen legen. Sie bedankte sich bei mir für das Gespräch - ich meinte, sie brauchte sich nicht für etwas zu bedanken, das ich gern getan hätte - und sagte etwas Ähnliches wie: >Ein bißchen Schlaf würde jetzt nicht schaden.anderen< Werber? Sind Sie denn jetzt auch einer?« »Ja. Das Anwerben erscheint mir sinnvoller, als dort zu bleiben.« Tara schien sich zu entspannen, wenn sie über ein Thema sprechen konnte, das nichts mit Jenni zu tun hatte. Sie legte die Arme auf die Stuhllehnen. »Worin besteht die Aufgabe eines Werbers? Versuchen Sie auch während dieser Reise, andere Leute anzuwerben?« »Nein, nicht unmittelbar; das ist hauptsächlich eine Vergnügungsreise. Überall, wo ich hinkomme, sperre ich vor allem Augen und Ohren auf. Wenn ich von jemandem erfahre, der erhebliche Anstrengungen unternommen hat, Menschen in Not zu helfen, oder wenn ich auf eine reiche Person aufmerksam werde, die man vielleicht dazu bewegen könnte, für eine gute Sache zu spenden, dann spreche ich mit ihnen und gebe bei Interesse Anweisung, Kontakt mit ihnen aufzunehmen.« »Und was haben Sie gespendet?« Was für sie anscheinend bloß eine mittelgroße Geldsumme war, bedeutete für mich ein Vermögen. Sie nannte eine Zahl, die das überstieg, was ich in zwanzig Standardjahren verdienen würde - selbst dann, wenn ich jedesmal Überstunden berechnet hätte, wenn mich jemand fragte, weshalb die Armbanduhren nicht mit den Borduhren übereinstimmten. »Das kommt Ihnen wahrscheinlich viel vor«, sagte sie, »aber ich habe das Geschäft meiner Mutter übernommen und hatte Glück, es rasch vergrößern zu können. Ich beschloß, mein Vermögen für einen guten Zweck zu verwenden.« »Dann haben Sie Wade also erst kennengelernt, nachdem Sie von Xanahalla fortgegangen sind?« Aus irgendeinem Grund fiel mir die Vorstellung schwer, Wade könnte auf einen Teil seines Vermögens verzichtet haben. Vielleicht auch bloß deshalb, weil ich nicht sonderlich wohltätig veranlagt bin. »Ja. Er hat mir sehr gutgetan. Er interessiert sich sogar für Geschichte.« Tara strich sich ein paar schwarze Haarsträhnen aus den Augen. Irgendwie hatte sie sich seit unserer ersten Begegnung verändert. Zu Anfang war sie eine durchschnittlich attraktive Fremde für mich gewesen. Jetzt, da ich ein wenig mehr über sie wußte, oder vielleicht auch bloß deshalb, weil ich sie häufiger gesehen hatte, erschien sie mir aus unerfindlichen Gründen wunderschön. Ich war mir sicher, daß die Bezeichnung >strahlend< auf sie zutreffen würde, wenn sie erst einmal wieder glücklich war und Jennis Tod verarbeitet hatte. Im Moment wartete das Strahlen im Hintergrund auf bessere Zeiten.
»Geschichte?« wiederholte ich; das ursprüngliche Thema hatte ich für den Moment aus den Augen verloren. »Ja. Geschichte ist mein Hobby. Vor allem alte Volkssagen und Märchen für Kinder. Die Vergangenheit fasziniert mich.« »Irgendwie scheinen Sie mir eher der Gegenwart zugewandt zu sein.« »Ich wollte damit nicht sagen, daß ich in der Vergangenheit lebe. Allerdings glaube ich, daß wir alle stark von der Vergangenheit beeinflußt werden. Wir reagieren ebenso häufig auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart.« Ich stimmte darin mit ihr überein, sagte jedoch: »Dann müßten Sie sich auf der Redshift ja wie zu Hause fühlen.« »Ich kann Ihnen nicht folgen.« »Ich meine, alles, was Sie hier sehen, ist Vergangenheit. Läßt einen ganz schön alt aussehen, was?« Tara lächelte, und meine Gedanken kehrten wieder an den Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurück. Ich sagte: »Eigentlich wollte ich nicht so weit abschweifen. Fällt Ihnen noch eine Erklärung dafür ein, daß Jenni es sich anders überlegt haben könnte?« »Nein. Es bedeutete ihr viel, Sie zum Freund gewonnen zu haben.« »Ich habe wirklich nichts Besonderes getan. Es schmeichelt mir, wenn Jenni geglaubt haben sollte, durch mich habe sich etwas für sie geändert, aber ich glaube…« »Wissen Sie, ich glaube, Sie blicken leichter nach draußen als nach drinnen.« »… wir sollten… - Wie bitte?« »Sie verstecken sich hinter Ihrem Panzer, aber Sie blicken nach draußen. Jenni hat davon gesprochen, und ich verstehe, was sie gemeint hat. Sie scheuen vor allem zurück, was das Gespräch auf Sie lenken könnte - als hätten Sie keine Gefühle. Ich glaube, der Panzer bedeutet nicht, daß Sie keine Gefühle haben - Sie haben genauso viele Gefühle wie jeder andere Mensch, aber Sie fürchten sich davor.« »Ich finde wirklich…« »Sie haben gesagt, die Menschen, die nach Xanahalla gehen, begingen Selbstmord auf eine sozial verträgliche Weise. Ich glaube, Sie tun vielleicht das gleiche, indem Sie den Rest der Welt aussperren.« Ich war sprachlos. Ich machte den Mund auf, doch dann wurde mir klar, daß ich keine Ahnung hatte, was ich überhaupt sagen wollte. Tara senkte unvermittelt den Kopf und blickte auf ihre Hände hinunter, ehe sie wieder zu mir aufsah. »Tut mir leid. Ich weiß wirklich nicht, was mich veranlaßt hat, Ihnen all das zu sagen, wo ich Sie doch kaum kenne.« Sie erhob sich. »Vergessen Sie alles, was ich gesagt habe, Jason. Ich habe kein Recht dazu,
mich in Ihr Leben einzumischen. Ich… ich sollte jetzt besser gehen. Es sei denn, Sie haben noch weitere Fragen?« Noch immer sprachlos, schüttelte ich den Kopf. Tara ging hinaus und schloß behutsam hinter sich die Tür. Erst später fragte ich mich, ob ihre Bemerkungen dazu gedacht gewesen waren, mich aufzubringen, oder ob sich mich davon hatten abhalten sollen, Fragen zu Jennis Tod zu stellen.
Auf der Brücke war es ruhig, die Stimmung war noch immer gedämpft. Es kam nur selten vor, daß man einen Passagier verlor, und dies wirkte sich offenbar auf die ganze Besatzung aus. Die Leute wirkten bedrückt, nachdenklich. Ich lehnte mich im Stuhl zurück und beobachtete, wie die Sterne vorbeizogen - was nicht hieß, daß die Bewegung leicht festzustellen gewesen wäre; die augenfälligsten Veränderungen traten auf, wenn ein naher Stern einen weiter entfernten verdeckte. Die Tatsache, daß die Monitordarstellung zweidimensional anstatt räumlich war, nahm dem Sternenfeld etwas von seiner Erhabenheit. Trotzdem war der Anblick eindrucksvoll. Wir waren dem Zentrum der Galaxis so nahe, daß die Sterne dichter angeordnet waren als Schneeflocken bei einem Schneetreiben. Die Anzeige vermittelte jedoch nur einen bedingt zutreffenden Eindruck unserer Umgebung, denn sie wurde ständig anhand von Positionsdaten errechnet, die das Netzwerk übermittelte. Das Netzwerk bestand aus einer Reihe von Sendern, die in der Hyperraumschicht Fünfzehn positioniert waren. Diese Schicht war gefährlicher für Menschen als Schicht Zehn, jedoch nicht so unwirtlich, daß gehärtete elektronische und photonische Systeme nicht eine Zeitlang darin funktioniert hätten. Da die effektive Übertragungsrate dieser Schicht zweiunddreißigmal höher war als die der Schicht Zehn, konnten wir recht schnell mit Planeten der Konföderation und anderen Schiffen kommunizieren. Zu jedem Sender gehörte ein Sensor, der in rascher Folge zwischen Normalraum und Schicht Fünfzehn hin und her wechselte; an Bord der Redshift befand sich ein Sender, der zwischen Schicht Fünfzehn und Schicht Zehn oszillierte. Ein Signal weckte mich aus meinen Träumereien. Als ich aufsah, nahm Razzi gerade den Funkspruch entgegen. »Für Sie«, sagte sie. Razzi war im allgemeinen nicht viel gesprächiger als ich; an dem Tag aber war sie besonders still. Sie wirkte müde, doch das war vielleicht bloß eine Täuschung. Sie hielt sich mit Laufen fit, was den willkommenen Nebeneffekt hatte, daß sich die Schiffszeit dadurch beschleunigte. Sie hätte auch die Tretmühle im Gymnastikraum benutzen können, doch dadurch hätte sich ihre Freizeit an Bord verlängert. Sie wollte nur dann, daß ihre Freizeit langsam verstrich, wenn sie Urlaub von Bord hatte. Ich schaltete die hereinkommende Nachricht auf den Monitor. Es war die Antwort auf eine Anfrage, die ich unmittelbar nach dem Bekanntwerden von Jennis Tod losgeschickt hatte. Nein, nach Kenntnis der Angehörigen reisten keine Freunde von Jenni auf der Redshift mit. Der Name des Ex-Verlobten lautete Todd Armentio. Zum Schluß wurde die Erlaubnis zur Autopsie erteilt. Ein kurzer Blick auf die Passagierliste sagte mir, daß weder Todds noch Armentios an Bord waren. Nur zwei Passagiere hatten die Initialen T. und A. und beide waren weiblich.
Ich leitete die Nachricht an Rory Willett weiter und schaltete wieder auf das Sternenfeld um. Ich lehnte mich zurück und verlor mich in dem hypnotisierenden Anblick. Wo immer Jenni jetzt war, ich hoffte, sie hatte Frieden gefunden. Und Tara. Lange Zeit war es mir gut gegangen, ich hatte meine Einsamkeit kultiviert und Erfüllung im Beruf gefunden. Jetzt aber schien es so, als meldete sich Jasons drittes Gesetz der Emotionen zurück: für jede Emotion gibt es eine entsprechende, aber genau gegensätzliche Emotion. Ich fühlte mich erstaunlicherweise zu Tara hingezogen und hatte gleichzeitig Schuldgefühle deswegen. Sie war eine Bindung mit Wade eingegangen und schien glücklich damit. Meine Gedanken wandten sich wieder Jenni zu. Meine erste Reaktion war normal für mich gewesen; wieso hatte ich mich so engagiert? Nun aber stellte ich mir die Frage, was wohl passiert wäre, wenn ich mich mehr engagiert hätte. Selbst dann, wenn man sich dem Müßiggang hingibt, ist die Zeit relativ. Scheinbar nur einen Augenblick später unterbrach Bensodes Erscheinen auf der Brücke meine Gedankengänge. »Ich fürchte, es ergeben sich neue Probleme, Jason«, sagte er. Er nahm neben mir Platz und lockerte sich den Uniformkragen. Sein düsterer Blick erweckte den Eindruck, er sei schuld an dieser Entwicklung, obwohl er bestimmt bloß der Überbringer der Nachricht war. »Schießen Sie los«, forderte ich ihn auf. »Fenn Melgard ist der Wechselschicht auf Ebene Sechs zugeteilt. Er hat sich heute nicht zum Dienst gemeldet und meldet sich auch nicht auf Anrufe in seiner Kabine.« Bensode hatte allen Grund zur Sorge. Besatzungsmitglieder, die ihre Verantwortung nicht ernst nahmen, machten es auf der Redshift nicht lange. Fenn Melgard würde seinen Dienstantritt wohl kaum verschlafen oder vergessen haben.
Kapitel 4
Jäger auf der Redshift »Können Sie sich das erklären, Jason?« fragte Bella. Sie lehnte sich in ihrem bequemen Sessel zurück und schüttelte den Kopf. »Bis jetzt noch nicht. Es gibt zu viele Möglichkeiten. Daß Melgard etwa zur gleichen Zeit verschwunden ist, als Jenni Sonders zu Tode kam, erscheint verdächtig, aber ich glaube, wir sollten nach allen Seiten hin offen bleiben.« Fenn Melgard hatte sich auf einen allgemeinen Rundruf hin nicht gemeldet. Das Komm-Terminal meldete sich. Razzi beugte sich vor und nahm das Gespräch entgegen. Im nächsten Moment ertönte Rory Willetts Stimme. »Würden Sie Jason bitte sagen, daß Melgard nicht in seiner Kabine ist? Das Bett ist gemacht. Alles ist ordentlich. Seine persönlichen Habseligkeiten sind anscheinend alle noch da. Keinerlei Anzeichen von einem Kampf.« »Er hat’s gehört«, sagte Razzi. »Danke.« Ohne die Instrumentenanzeigen um uns herum zu beachten, saßen wir im Kreis auf der Brücke: Bensode, Razzi, Bella und ich. Bella war zu uns gestoßen, kurz nachdem ich ihr Bensodes schlimme Nachricht übermittelt hatte. Die bedrückte Stimmung nach Jennis Tod hatte tiefer Beklommenheit Platz gemacht. Bella trommelte mit den Fingernägeln auf die Sessellehne. »Ich glaube, jetzt ist eine gründliche Durchsuchung des Schiffes angebracht. Hat irgend jemand Einwände?« »Die habe ich bereits angeordnet«, sagte ich. »Ich habe mir gedacht, wir könnten die Suche immer noch abbrechen, falls Sie die Passagiere nicht beunruhigen wollen, und die Wahrscheinlichkeit, daß Melgard einfach bloß verschlafen hat, erschien mir zu gering. Die Suche wurde auf Ebene Sechs begonnen.« Bella nickte, anscheinend ohne sich darüber zu wundern, daß ich ihrem Befehl zuvorgekommen war. »Also gut. Sie leiten die Suche, Jason. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie ihn gefunden oder eine Ebene auf Ihrer Liste abgehakt haben. Wie lange wird es dauern, was glauben Sie?« »Wir können ihn jederzeit finden. Wenn er sich aber irgendwo aufhält, wo er nicht entdeckt werden will, kann es auch mehrere Stunden dauern. Oder noch länger, falls er uns absichtlich aus dem Weg geht. Ich kann dazu noch nichts sagen.« Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, daß sich die Tür zum Gang geöffnet hatte. Conrad Delingo schritt eilig auf uns zu, und im nächsten Moment erreichte uns das gedämpfte >Plopp< des Überschallknalls, den er erzeugt hatte. »Sie haben mich rufen lassen, Sir?« sagte er und nahm Haltung an. »Richtig. Aber setzen Sie sich doch.«
Conrad holte sich einen freien Stuhl, und wir machten ihm Platz. Er nahm steif Platz und sah mich direkt an. Seine weiße Uniform war makellos, und sämtliche Taschen waren ordentlich verschlossen. Ich sagte: »Wir brauchen bloß ein paar Auskünfte von Ihnen. Für irgendwelche Formalitäten besteht kein Anlaß. Wie ich höre, sind Sie mit Fenn Melgard gut befreundet.« Nachdem Conrad genickt hatte, fuhr ich fort: »Sie haben bestimmt gehört, daß er verschwunden ist. Berichten Sie uns, was Sie über ihn wissen, alles, was uns bei der Suche helfen oder Aufschluß über sein Verschwinden geben könnte.« Conrad schluckte schwer und blickte sich im Kreis der ernsten Gesichter um. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen da weiterhelfen kann, Sir, aber ich werde Ihnen sagen, was ich weiß. Fenn… ah… Melgard ist… das sieht ihm gar nicht ähnlich. Er ist verläßlich. Freundlich. Er hat mir sehr bei der Einarbeitung in mir fremde Aufgabenbereiche geholfen. Ich habe keine Ahnung, was dahintersteckt.« »Gibt es unter den Besatzungsmitgliedern jemanden, mit dem er besonders viel Zeit verbringt?« »Nein, Sir. Fenn hat ebenso gern Gesellschaft wie jeder andere auch, aber soviel ich weiß, hat er keine feste Beziehung. Er sagt immer, er mag die Abwechslung.« »Wie steht es mit den Passagieren?« »Sie meinen, ob er sich mit einem der weiblichen Passagiere angefreundet hat? Nein, kann man nicht sagen. Er weiß, das wird nicht gern gesehen, und er findet, die Besatzung sei groß genug, um zwischen den Häfen… äh… seinen Spaß zu haben.« Conrad vermied es, Bella und Razzi anzusehen, als sei dies ein Gespräch unter Männern. »Dann hat er also nicht erwähnt, sich mit Jenni Sonders getroffen zu haben?« »Nein, Sir.« »Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?« »Gestern abend. Als die Schicht halb rum war, gegen acht. Wenn wir heute auf Tangente andocken, müssen wir Fracht entladen, die hinter Kisten verstaut war, die für Far Star bestimmt sind, daher haben Fenn, Thompsil und Hendern die Ladung umgesetzt.« Ich kratzte mich an der Stirn. »Machte Melgar einen normalen Eindruck auf Sie? Bedrückte ihn irgend etwas?« »Er wirkte normal. Vielleicht etwas stiller als gewöhnlich, aber auch nicht so still, daß ich Verdacht geschöpft hätte.« Conrad hatte seine anfängliche Nervosität anscheinend überwunden. »Steckt er in finanziellen Schwierigkeiten?« »Nicht, daß ich wüßte. Er kam mit seinem Gehalt gut zurecht.« Ich lehnte mich zurück und breitete die Arme aus. »Sonst noch jemand?« Niemand hatte noch Fragen an Conrad, daher schickte ich ihn wieder an die Arbeit.
Ich wandte mich an Bella. »Solange Melgard verschwunden ist, können wir die Passagiere auf Tangente nicht von Bord lassen.« »Das geht auf keinen Fall. Wenn wir sie hierbehalten, müssen wir solange warten, bis die Suche abgeschlossen ist, oder wir nehmen sie mit, setzen sie unterwegs ab und lassen sie von dort aus zurückfliegen. In beiden Fällen müßten wir mit einem Aufstand rechnen. Also beeilen Sie sich, Jason.« Ich saß einen Moment lang schweigend da, dann sagte ich: »Ich glaube, ich gehe mal rauf und schaue nach, welche Fortschritte die Suche macht.« »Halten Sie mich auf dem laufenden.« Bensode und ich standen auf. Ich erreichte die Tür zum Gang als erster. In dem Moment, als ich die Tür aufschob, ertönte das laute Plopp eines Überschallknalls, und ein Junge, der halb so groß war wie ich, rannte vorbei. Das tiefe Geräusch der Schritte folgte der kleinen, rotverschobenen Gestalt, die auf dem Gang verschwand. Der Schatten des Läufers folgte hinterdrein, als wäre er ein eigenständiges Wesen, ein dahingleitender dunkler Gefolgsmann, der einen respektvollen Abstand einhielt. Eigentlich hatte ich im Moment Besseres zu tun, machte mich aber trotzdem sogleich an die Verfolgung. Während ich schneller wurde, näherte sich das Laufgeräusch des Jungen wieder der gewohnten Tonhöhe an, und sein Rücken wurde erst orange, dann nahm er wieder normale Farbe an. Seine Füße, die bei jedem Schritt abwechselnd rot und blau erschienen, bewegten sich immer schneller, während sich meine Eigenzeit verlangsamte. Ich spürte, wie der Luftwiderstand zunahm, und als ich die Schallmauer durchbrach, brach das Laufgeräusch jäh ab. Rufen war zwecklos, da ihn der Schall niemals erreichen würde. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn einzuholen. Auf Ebene Vier betrug die Umlaufgeschwindigkeit etwa achtzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit, daher brauchte man sich nicht bis zum äußersten anzustrengen - es sei dann, man wollte sich in eine Umlaufbahn befördern. Das war gar nicht so schwer; komplizierter war es, wieder zu landen. Man trudelte zunächst einmal langsam dahin, und wenn man aufgrund des Luftwiderstands wieder so weit abgebremst wurde, daß man auf dem Boden landete, war kaum damit zu rechnen, daß die Füße in der richtigen Position waren. Jasons Gesetz des Orbits besagt, daß der Körperteil, mit dem man auftrifft, so gut wie immer der Hinterkopf ist. Zum Glück rannte der Junge nicht mit äußerster Kraft. Vielleicht konnte er auch nicht so schnell laufen. Ich hielt mich dicht am Boden, lief so schnell, wie ich mich traute, und holte allmählich auf. Wenn er sich nicht umsah, würde er mich nicht bemerken. Der Gang hatte mittlerweile merklich kontrahiert. Die Wände hatten eine blaue Färbung angenommen. Ich schloß immer weiter auf, bis ich einen Schritt hinter dem Jungen war. Meinen gleichmäßigen Atem hörte ich nur in meinem Kopf. Ich streckte die Hand aus, bekam den Jungen am Kragen zu packen und hob ihn hoch. Der Junge kreischte. Wir waren der Umlaufgeschwindigkeit so nahe, daß ich keine Mühe hatte, ihn hochzuheben. Während seine Beine noch in der Luft ruderten, bremste ich unvermittelt ab. Der Gang gewann seine normale Länge zurück, und der Junge wurde schwerer. Ich ließ ihn runter, hielt ihn aber weiterhin fest am Kragen gepackt.
Dann erreichte uns der Überschallknall, ein mehrere Sekunden währendes Grollen, das schließlich wie ferner Donner verhallte. Wären wir etwas langsamer gewesen, nur knapp oberhalb der Schallgeschwindigkeit, dann wäre der Knall schärfer, kürzer, lauter gewesen. So aber erschreckte er den Jungen noch mehr als mein plötzliches Erscheinen. Als ich ihn zu mir herumdrehte, merkte ich, daß ich keinem Jungen, sondern einem Mädchen nachgejagt war. Es war das Mädchen, das sich im Speisesaal vor dem Spiegel im Kreis gedreht hatte. Zwischen den Schneidezähnen hatte sie eine kleine Lücke. Ihre Sommersprossen erinnerten mich auf verstörende Weise an Jenni, doch war ihr Haar blond statt rot. Obwohl sie im Moment ängstlich dreinschaute, war ich mir sicher, daß sie in ein paar Minuten wieder ebenso sorglos sein würde wie eben noch. In ihrem Gesicht zeigte sich kein Schmerz, bloß erschrockene Verwunderung, die besagte: »O je. Jetzt hat man mich erwischt.« Ich kniete neben ihr nieder, so daß unsere Köpfe auf einer Höhe waren. »Junge Dame, an Bord gibt es Vorschriften für das schnelle Laufen. Sind dir diese Regeln bekannt?« Ihre Augen weiteten sich noch mehr, als sie das Rangabzeichen an meinem Kragen sah, doch ihre Stimme klang vollkommen unbeeindruckt. »Nein, Sir. Wie lauten die?« »Erstens, wenn man auf einem belebten Gang rennt, sollte man sich stets rechts halten. Zweitens, wenn man nicht rennen muß - wenn man es einfach so zum Spaß tut -, sollte man sich an die speziell zum Laufen ausgewiesenen Gänge halten. Oder gibt es einen Notfall, von dem ich wissen sollte?« Sie schüttelte ernst den Kopf. »Nein, Sir. Den gibt es nicht.« Ich mußte über ihre Ernsthaftigkeit lächeln. Ich konnte mir denken, daß sie weiterrennen würde, kaum daß ich ihr den Rücken zuwandte, aber sie machte ihre Sache gut. »Wie heißt du?« »Becky.« »Also, Becky, der nächste Korridor, auf dem man rennen darf, befindet sich auf Ebene Eins, zwei Abzweigungen weiter in diese Richtung. Er führt von Nord nach Süd. Wie wär’s, wenn du es mal dort probieren würdest?« »Ja, Sir. Heißt das, ich kann jetzt gehen? Sie sperren mich nicht ein?« Ich war mir immer noch nicht darüber im klaren, ob sie sich lediglich über mich lustig machte und hinterher ihren Spielkameraden erzählen würde, sie habe den Ersten Offizier zum Narren gehalten, oder ob sie bloß Angst hatte und dies nach Kräften verbarg. Ich ging auf Nummer Sicher und sagte: »Wir sperren hier keine Kinder ein, die beim Raumrennen erwischt werden. Wir wollen bloß nicht, daß jemand zu Schaden kommt. Wenn du schnell läufst, dann bleibt den Leuten vor dir womöglich keine Zeit zum Ausweichen, und du stößt mit ihnen zusammen. Deine Eigenzeit verlangsamt sich beim Laufen; deshalb scheinen sich andere Leute schneller zu bewegen. Da sich deine Eigenzeit verlangsamt hat, kannst du ihnen auch nicht mehr so leicht ausweichen. Hast du das verstanden?« »Ja, Sir. Tut mir leid, Sir. Ich werd’s nicht wieder tun - das heißt, bloß noch dort, wo es erlaubt ist.« »Diesmal ist ja gottlob nichts passiert.« Ich richtete mich auf und wandte mich zum Gehen.
»Sind Sie wirklich der Erste Offizier?« fragte sie plötzlich. »Ja. Kann ich irgend etwas für dich tun?« Becky schüttelte den Kopf und lächelte mich auf einmal schüchtern an. Sie trat drei Schritte zurück und drehte sich um. Erst wurde sie schneller, dann hielt sie inne und ging anschließend im Laufschritt weiter. Sie sah sich noch einmal zu mir um, als wollte sie mir sagen, sie habe sich meine Ermahnungen zu Herzen genommen. Während ich beobachtete, wie sie über den Gang verschwand, mit ruckartig vor und zurück rudernden Armen, die abwechselnd rot und blau gefärbt waren, verspürte ich einen schmerzhaften Stich. Ob es nun Neid auf jemandem war, der das Privileg einer glücklichen Kindheit genoß, oder der unwillkommene Wunsch, jemandem wie ihr eine glückliche Kindheit zu gewährleisten, oder ein mir noch fremderes Gefühl, konnte ich nicht sagen. Vielleicht hatte Tara auch recht gehabt, als sie gemeint hatte, es fiele mir schwer, in mich hineinzublicken.
Die Suche auf Ebene Sechs hatte bislang noch keine Hinweise auf Fenn Melgards Verbleib ergeben. Sonderlich wundern tat mich das nicht; in letzter Zeit gehörte schon mehr dazu, mich in Erstaunen zu versetzen. Die Ebene Sechs nahm etwa ein Viertel der nutzbaren Grundfläche des Schiffes ein. Hätte man sie in mittelgroße Büros von etwa zehn Metern Durchmesser unterteilt, hätten über 400 Büros hineingepaßt. Eine Menge Platz, falls sich jemand verstecken wollte. Oder falls jemand anders ihn verschwinden lassen wollte. In dem Frachtraum, in dem Jenni gefunden worden war, hielten sich keine Besatzungsmitglieder auf. Die Suchmannschaften schwärmten bereits in immer weiteren Kreisen um das Epizentrum herum aus. Ich schritt über den Mittelgang zwischen den Frachtkisten einher und überlegte, was der Grund für Melgards Verschwinden sein könnte. Vielleicht hatte er Jenni entdeckt, als es schon zu spät gewesen war, um ihr noch zu helfen, und jetzt machte er sich Sorgen, der Selbstmord könne wie ein Mord erscheinen. Vielleicht hatte Jenni ihn bei irgend etwas Verbotenem ertappt, und er hatte sie getötet. In diesem Fall würde er abwarten und sich solange verstecken, bis er beim nächsten Andocken von Bord gehen konnte. Ich trat ans Komm-Terminal und rief auf der Brücke an. Razzi ging ran. »Ich möchte, daß drei Besatzungsmitglieder am Portal Aufstellung nehmen, wenn wir heute auf Tangente andocken«, sagte ich. »Niemand verläßt das Schiff, der nicht dazu befugt ist.« Razzi bestätigte und schaltete ab. Ich wanderte langsam durch den Frachtraum, ließ die Gedanken ziellos schweifen und erwog die unterschiedlichsten Möglichkeiten. Jennis Tod war kein isoliertes Ereignis. Melgard war unabhängig von ihr verschwunden. Es gab irgendeine Verbindung zwischen Jenni und Melgard. Die stummen Kisten boten mir auch keine Hilfe. Keine von ihnen war offen, was darauf hätte hindeuten können, daß Jenni Melgard dabei ertappt hatte, wie er sich vergewisserte, daß sein Schmuggelgut noch da war. Nirgendwo gab es Blutflecken. Auf
keiner Kiste stand GEHEIME VERSCHLUSSSACHE. NICHT OHNE AUFSICHT LASSEN. Es waren halt bloß rechteckige Kisten, angefangen von kleinen Behältnissen, in denen allenfalls ein gut gepolstertes Ei Platz gehabt hätte, bis zu großen Kisten, die einem mehr als mannsgroßen Generator Platz geboten hätten, jede mit einem Sicherheitsschloß ausgestattet, jede seitlich mit einem phantasielosen Aufkleber versehen, auf dem Eigentümer, Herkunfts- und Bestimmungsort verzeichnet waren. Ich rief noch einmal auf der Brücke an. »Razzi, ich brauche eine vollständige Liste aller Frachtgutbehälter in dem Raum, in dem Jenni Sonders gefunden wurde. Nicht bloß das, was bereits in den Papieren steht. Ich brauche eine Liste der Herstellungsplaneten und der Zielorte, die Namen der Firmeninhaber, Informationen über die Geschäfte, die sie tätigen, die Namen der Firmen, die ihnen gehören, sowie eine Aufstellung der Direktoren und leitenden Angestellten. Und holen Sie diese Informationen auch für die angrenzenden sechs Frachträume ein. Gleichen Sie jeden einzelnen Namen mit der Besatzung ab - und mit der Passagierliste.« »Das dürfte eine Weile dauern. Auch die Übertragung braucht Zeit.« »Es ist mir gleich, wie lange es dauert. Aber geben Sie mir Bescheid, sobald irgend etwas vorliegt.« An der Tür schaltete ich das Licht aus. Dunkelheit strömte in den Frachtraum, wirbelte in jeden einzelnen Winkel, und zurück blieb das Nachbild einer Reihe von Särgen in unterschiedlichen Größen und Formen - als wären die Bewohner eines ganzen Zoos verstorben und würden nach Hause geschickt, um ihre letzte Ruhe zu finden.
Ehe die Suchmannschaft mit Ebene Sechs fertig war, dockten wir auf Tangente an. Tangente war ein geschäftiges Handelszentrum, das eher vom hohen Umschlagvolumen lebte als vom inhärenten Wert des Planeten selbst. Auf Ebene Fünf beobachtete ich frustriert, wie die Passagiere von Bord gingen. Emil Frankton und Juan Absome, sein Assistent, verließen uns auf Tangente. Emil wirkte immer noch ein wenig durcheinander. Auch Marj Lendelson ging von Bord, angetan mit einer tiefblauen Bluse und dazu passendem Rock, worin sie ebenso anmutig und königlich wirkte wie bei ihrer Ankunft. Noch ein Dutzend weitere Passagiere, die ich bei früheren Zwischenstops hatte an Bord gehen sehen, verließen das Schiff, doch keiner von ihnen wies auch nur die geringste Ähnlichkeit mit Fenn Melgard auf. Bensode und zwei Helfer standen bereit, für den Fall, daß ein Passagier Hilfe brauchen sollte.
Die Suche wurde auf Ebene Sieben fortgesetzt, um die Passagiere auf Ebene Fünf nicht vorzeitig zu beunruhigen. Da Ebene Sieben am weitesten vom Mittelpunkt entfernt lag, war sie die größte Ebene, nämlich um die Hälfte größer als Ebene Sechs. Ich persönlich durchsuchte den Hauptraum mit den Computern und Kommunikationseinrichtungen. Der Zugangscode war ausschließlich Offizieren bekannt, und da ich nun mal gerade in der Nähe war, wollte ich mich auch nützlich machen. Der Raum war
nicht größer als das Wartezimmer des Arztes, doch anstelle von abgeschlossenen grauen Schränken war er mit halbmeterbreiten Regalen voller schmaler, horizontaler Fächer ausgestattet, die allesamt auf der Abdeckung beschriftet und mit Anzeigen versehen waren. Für jede einzelne wichtige Komponente im Raum gab es für den Notfall ein Ersatzgerät, und der ganze Raum hatte wiederum ein Gegenstück auf der anderen Seite des Schiffes, ebenfalls auf Ebene Sieben. Da die Computer auf Ebene Sieben anstatt in der Nähe der Brücke auf Ebene Vier untergebracht waren, konnten sie langsamer sein und beanspruchten daher nicht so viel Platz. Die Zeit verstrich hier um fünfundzwanzig Prozent langsamer als auf der Brücke. Die Durchsuchung dieses Raums bestand aus einer einzigen Handlung: ich blickte hinter den Schreibtisch. Fenn Melgard war nicht da, weder lebendig noch tot. Allmählich wurde ich immer skeptischer, ob wir ihn je wiedersehen würden.
Als nächstes durchsuchten wir Ebene Drei, so daß wir die Benachrichtigung der Passagiere abermals hinausschieben konnten. Ebene Drei war die seltsamste Ebene an Bord der Redshift. Ebene Drei enthielt vor allem große Frachträume. Scheinbar herrschte hier größere Betriebsamkeit, da der Korridor aufgrund einer optischen Täuschung gerade erschien und über die ganze Länge einsehbar war. Wenn ich etwa sieben Sekunden lang wartete, konnte ich mich in der Ferne sogar selbst sehen. Nach vierzehn Sekunden hätte ich ein weiteres Abbild meiner selbst gesehen, allerdings doppelt so weit entfernt. Auf Ebene Drei entsprach die Lichtgeschwindigkeit in Augenhöhe ungefähr der Umlaufgeschwindigkeit. Daher folgte ein horizontal gestartetes Photon dem Umkreis des Gangs. Da es im Auge gerade auftraf, hatte man den Eindruck, es käme von vorn anstatt von hinten. Dieses Phänomen war der Grund dafür, daß Ebene Drei flach erschien, obwohl Boden und Decke wie auf jeder anderen Ebene des Schiffes kugelförmig waren. Hätte ich ein Fernglas gehabt, hätte ich damit feststellen können, ob Melgard in letzter Zeit hier gewesen war. Seit Jahrhunderten müssen sich die Astronomen damit abfinden, daß sie durch ihre Okulare und auf ihren Bildschirmen lediglich die Vergangenheit sehen. Man brauchte eine Weile, um sich daran zu gewöhnen, aber in eingeschränktem Maße galt das auch für die Redshift. Der Gang verlor sich ebenso im Unendlichen wie ein Blick zwischen einander gegenüberstehenden Spiegeln, die Geländer verschwanden in der Ferne wie frei schwebende Eisenbahnschienen. Die Suche auf Ebene Drei ergab keinerlei Hinweise auf Melgards Verbleib, daher gab ich Anweisung, mit der Durchsuchung von Ebene Zwei zu beginnen. Ich stieg über die nächste Treppe nach unten. Die Treppenbeleuchtung bildete einen gequantelten Regenbogen, blau in der Nähe meiner Füße, grün und gelb weiter unten, bis zu einem düsteren Rot am nächsten Absatz. Der folgende Treppenabschnitt war so weit ins Schwarze rotverschoben, daß er gar nicht mehr zu sehen war. Während ich hinunterstieg, hielten die Farbtöne der Beleuchtungskörper Schritt mit mir. Sie erzeugten die Illusion, ich verharrte an Ort und Stelle, während ich in Gegenrichtung eine aufwärtsführende Rolltreppe hinunterstieg. Das Violett blieb in Augenhöhe, das Blau bei meinen Füßen, und weiter unten war es rot. Als ich mich dem Absatz von Ebene Zwei näherte, wurde die Sicht schlechter, und die Schwerkraft nahm zu.
Ich schloß hinter mir die Tür zum Treppenschacht, wandte mich seitlich und ging in östlicher Richtung am Äquator entlang. Da Ebene Zwei kleiner war als Ebene drei, gab es dort nur zwei Gänge - einen kreisförmigen rund um den Äquator und einen Meridialgang, der Nord und Süd verband. Meine Füße schlurften über den Boden, und wegen des tieferen Schwerpunkts ging ich leicht vorgebeugt. Aufgrund des Gravitationsgradienten hatte man hier das Gefühl, man wate durch Wasser. Der Gang war nach oben gekrümmt und verschwand in einiger Entfernung außer Sicht, als befände ich mich am Boden einer riesigen Schüssel, anstatt auf einer der sieben an Zwiebelhäute erinnernden Ebenen der Redshift. Aufgrund der Lichtkrümmung wirkte alles verfremdet. Die Zerrspiegel auf einem Jahrmarkt waren nichts dagegen. Die Deckenlampen waren hier dichter angeordnet als auf den höheren Ebenen. Auf den gebrochen weißen Wänden lagen in Deckennähe, zwischen den Lampen, V-förmige Schatten. Die Suchmannschaft holte gerade Taschenlampen aus einem Werkzeugschrank auf dem Gang, als ich dazukam. Conrad Delingo war der letzte in der Reihe und reichte mir eine Lampe. Er hielt die Lampe wie einen Wasserschlauch nach oben geneigt, da sich das Licht in unmittelbarer Nähe vom Mittelpunkt des kugelförmigen Schiffes rasch absenkte. Wenn man vom Boden aus mit einer gelben Lampe senkrecht nach oben leuchtete, war das Licht in Augenhöhe rot und näherte sich in Deckenhöhe bereits dem Infraroten. Leuchtete man waagerecht auf eine fünf Meter entfernte Wand, dann war das Licht bereits auf der Hälfte des Weges versiegt. Die Suche ging hier rascher vonstatten als auf Ebene Drei, da Ebene Zwei nur etwa die halbe Grundfläche aufwies; dies wurde jedoch teilweise dadurch ausgeglichen, daß die Zeit hier langsamer verstrich. Melgard war auch hier nicht zu finden, daher schickte ich alle Leute bis auf Conrad zur Ebene Vier, um dort die Suche in den nichtöffentlichen Abschnitten fortzusetzen. Am nächsten Aufzug rief ich auf der Brücke an. Bella hatte gerade Dienst. »Conrad Delingo und ich gehen jetzt zur Ebene Eins runter«, sagte ich. »Können Sie mal nachsehen, wenn wir in ein paar Minuten nicht zurück sind?« »Wird gemacht. Heißt das, die Suche auf Ebene Zwei hat ebenfalls nichts gebracht?« »Leider nein. Ich rechne auch nicht damit, daß wir dort unten etwas finden, aber nachsehen müssen wir wohl.« Bella machte Schluß, und Conrad und ich traten in den Aufzug und tippten eine >Eins< ein, gefolgt vom schiffsinternen Zugangscode. Die Schwerkraft auf Ebene Eins betrug fast viereinhalb Ge. Selbst in Augenhöhe waren es noch mehr als anderthalb Ge. Man konnte dort zwar gehen, doch das war keine leichte Aufgabe, und es war sicherer, das Buddy-System zu benutzen. Als der Aufzug auf Ebene Eins hielt, knackte es mir in den Ohren; die erhöhte Schwerkraft vermittelte mir das Gefühl, der Aufzug mache nach einem Sturz über fünfzig Stockwerke eine Notbremsung. Die Tür ging auf.
Ich hatte den Handscheinwerfer dabei, doch der war keine große Hilfe, da der Lichtstrahl selbst dann, wenn man ihn im Fünfundvierzig-Grad-Winkel nach oben richtete, nicht besonders weit reichte. Außerdem war die Decke voller Lampen. Wir schlurften auf den einzigen Gang der Ebene Eins hinaus. Der Gang schien so steil anzusteigen, daß man meinte, man brauchte eine Treppe, um hinaufzukommen. Dennoch schlurfte ich weiter, und meine Füße sagten mir, daß der Gang in Wirklichkeit abfiel, während wir den Mittelpunkt der Redshift umkreisten. Hier unten schien sich einem alles entgegenzuneigen. Der Boden war gemustert von den Fugen der Verkleidungen, die Zugang boten zu den Innereien des Warp-Generators. Ich verzichtete darauf, sie zu öffnen; jeder, der diesen Abschnitt betreten hätte, solange der Generator arbeitete, wäre auf der Stelle erst in Moleküle, dann in Atome und schließlich in subatomare Teilchen zerfallen. Selbst wenn man nur die Verkleidung abnehmen wollte, brauchte man einen Druckanzug, denn die Luft wurde in diesem Fall augenblicklich in die Gravitationssenke hineingesaugt. »Ich war noch nie hier unten«, sagte Conrad. »Kommt mir ein bißchen unheimlich vor.« Aufgrund der Schwerkraft hatte er Hängebacken. »So groß ist der Unterschied gar nicht«, meinte ich. »Es gelten die gleichen physikalischen Gesetze wie überall; aufgrund der hohen Schwerkraft treten sie bloß deutlicher hervor.« Wir gingen weiter. Es war, als befänden wir uns im Innern eines großen, gut erleuchteten Reifens, und es erforderte einige Aufmerksamkeit, das Gleichgewicht zu wahren. Möglicherweise war die Fortbewegung unter erhöhter Schwerkraft etwa so, als habe man ein gewaltiges Übergewicht, wenn es auch nicht ganz so einfach war. Einige Schwierigkeiten ähnelten sich: das zusätzliche Gewicht lastete auf Füßen, Beinen, Wirbelsäule. Der große Unterschied lag darin, wie schnell man das Gleichgewicht verlor, wenn man sich etwas zu weit vorbeugte, und wie schnell man dann hinfiel. Die Fortbewegung auf Ebene Eins vermittelte einem das Gefühl, alt und müde zu sein. Conrad griff an der Mittellinie an die niedrige Decke und zog die Hand gleich wieder zurück. »Die Decke fühlt sich warm an.« Als ich ihn von der Seite ansah, veränderte sich die Perspektive, als schwenkte man ein Fischaugeobjektiv. »Alles in Ordnung. Die Lampen geben Licht im Infraroten ab, weil sich die Wellenlänge beim Herabfallen ins Sichtbare verschiebt.« »Natürlich«, sagte er beschämt. Auf Ebene Eins gab es zwei Frachträume. Ich übernahm den Südteil, Conrad den Nordteil. Die Wände waren etwa eine Handspanne dick, und die Frachträume waren durch weitere dicke Stützwände mehrfach unterteilt. Die Kisten hier unten ähnelten denen auf den höheren Ebenen, waren allerdings auf fahrbaren Untersätzen gelagert. Als ich zwischen den Kisten herging, hatte ich das Gefühl, durch ein Visier zu blicken, das meine Sicht erheblich verzerrte. Eine Kiste, die, wie ich genau wußte, rechteckig war, hatte von vorne betrachtet eine Oberseite, doch die Kanten waren nach oben gekrümmt. Wenn ich seitlich neben der Kiste stand, wirkten die Kanten gerade, und die Vorderseite und die Hinterkanten waren noch oben gekrümmt. »Hier ist nichts«, sagte ich, als ich kurz darauf wieder auf dem Gang stand. »Hier auch nicht«, erwiderte Conrad.
Wir gingen noch ein Stück weiter und gelangten wieder zum Aufzug. Von Ebene Zwei aus rief ich Bella an. »Mit Ebene Eins sind wir fertig«, sagte ich. »Negativ.« »Die Mannschaft auf der Vier hat auch nichts gefunden. Wir müssen in Kürze die Passagiere informieren. Ach, bevor ich’s vergesse, ich habe eine Nachricht von Razzi für Sie. Sie hat gemeint, der Frachtraum südlich des Raums, in dem wir Jenni Sonders gefunden haben, enthielte Fracht einer Gesellschaft die einem gewissen Daniel Haffalt gehört, einem Passagier. Und vier Räume weiter befindet sich Frachtgut der Firma Sunrise Limited, bei der ein Passagier namens Harold Summertree angestellt ist.« »Darum kümmere ich mich später«, sagte ich. »Übrigens glaube ich nicht, daß wir Melgard finden werden.« Ich blickte Conrad an, doch der verzog keine Miene. »Es muß aber eine Erklärung geben.« »Entweder es fehlt ein Sprunganzug, oder er hat sich in einer Kiste versteckt, die für Tangente bestimmt war. Ich wette, es ist der Sprunganzug. Verstreutes Frachtgut hat niemand entdeckt.« Sprunganzüge verfügten über einen eigenen Hyperraumgenerator für den Notfall. »Klingt riskant.« »Wenn er was mit Jenni Sonders Tod zu tun hatte, war’s ihm das Risiko wohl wert.« »Wenn das so ist, dann hätte er auf Tangente aussteigen können«, meinte Bella. »Oder er fliegt auf der Außenhülle des Schiffes mit. Oder er hat sich verrechnet, treibt jetzt im Raum, in welcher Schicht auch immer, und wartet darauf, daß ihm die Luft ausgeht.« »Während Sie die Suche abschließen, werde ich die Anzüge überprüfen lassen. Und ich glaube, wir sollten allmählich die Passagiere darauf vorbereiten, daß wir ihre Räume durchsuchen werden.« Ich blickte auf die Uhr am Terminal. Noch knapp zwei Stunden bis Mitternacht. »Mir wär’s lieber, Sie würden keine offizielle Mitteilung machen. Dann würden alle auf die Gänge strömen. Was würden Sie davon halten, wenn wir von Tür zu Tür gehen und sie bitten würden, einige Stunden in ihrer Kabine zu bleiben? Das würde Melgard einen Ortswechsel erschweren, falls er sich überhaupt noch an Bord befindet.« »Zahlende Passagiere bitten, sich in ihrer Kabine einzusperren, könnte uns ein paar Stammgäste kosten, auch wenn sie wahrscheinlich sowieso schlafen würden. Was sollen wir ihnen sagen?« »Sagen Sie ihnen, ein Krügerbär sei entlaufen. Sagen Sie ihnen, der Bär sei brünstig und achtmal so schwer wie ein Mensch. Sagen Sie ihnen, während der Brunst könne er einen Menschen nicht von einem anderen Krügerbären unterscheiden, von Männlein und Weiblein ganz zu schweigen.« Der Lautsprecher blieb für einen Moment stumm. Ein Lächeln stahl sich in Conrads Züge, dann wandte er sich von mir ab und musterte angestrengt den Boden.
Schließlich sagte Bella: »Haben Sie einen Vorschlag, wie wir ihnen die Anwesenheit eines solchen Tieres an Bord des Schiffes erklären sollen?« »Klar. Sagen Sie ihnen, das sei Teil eines Trainingsprogramms für Offiziere. Warten Sie! Ich habe eine bessere Idee. Wir könnten ihnen die Wahrheit sagen.« »Dann probieren wir es halt einmal mit der Wahrheit, Jason.«
Das Pech blieb mir treu. Die nächste Passagierkabine auf meiner Liste war die von Amanda Queverra. Bedauerlich, daß wir Ebene Fünf nicht in Schutzanzügen durchsuchten. Dies war nicht die erste Schicht, doch es fühlte sich so an. Man brauchte nicht auf einem Hyperraumschiff zu arbeiten, um zu wissen, daß die erste Schicht immer länger dauerte als die letzte. Es war kurz vor Mitternacht, als ich Amandas Türsummer betätigte. Ich hoffte, sie wäre unterwegs, denn dann hätte ich den Generalschlüssel benutzen, die Kabine rasch durchsuchen und wieder weg sein können, ehe sie zurückkam. Soviel Glück hatte ich jedoch nicht. Erst bildete sich ein Spalt zwischen Tür und Rahmen, dann glitt die Tür weit auf, und Amanda erschien darin, bekleidet mit einem hauchdünnen blauen Nachthemd, das mir zunächst einmal die Sprache verschlug. »Jason, das ist aber eine Überraschung«, sagte Amanda. »Kommen Sie rein.« »Ich bedaure, aber das ist kein privater Besuch. Ich bin im Dienst, und wir durchsuchen sämtliche Kabinen nach einem Vermißten.« »Oh, Sie wollen mich durchsuchen?« meinte Amanda. Sie hob die Arme und drehte sich langsam nach rechts und wieder zurück, wobei das Licht das Nachttischlampe durch ihr Nachthemd fiel. Fenn Melgard versteckte sich offenbar nicht dahinter. Abgesehen vom Umriß ihres Lifebelts, hätte Amanda nicht mal ein Muttermal verstecken können. Einen Moment lang dachte ich, ein wenig Filzen habe noch niemandem geschadet, doch dann meinte ich zu meiner Überraschung Tara Cline anstelle von Amanda Queverra vor mir zu sehen. Der Moment ging vorüber, und ich sagte: »Tut mir leid. Es ist wirklich dienstlich. Ich bin mir zwar sicher, daß Sie keinen Flüchtigen bei sich verstecken würden, aber ich muß trotzdem nachsehen.« Amanda zog eine Schnute und machte mir Platz. Ihre Kabine wirkte bewohnter als die von Jenni. Amanda hatte doppelt soviel Gepäck dabei, wie ich für erforderlich gehalten hätte. Das Bord im Bad war mit Kosmetika vollgestellt, und an der Tür zur Dusche hingen drei Kleider. In einer Passagierkabine gab es nur wenige Stellen, an denen sich ein Erwachsener hätte verstecken können, daher war ich im Nu fertig. Als ich wieder gehen wollte, stellte ich fest, daß Amanda die Tür geschlossen hatte. »Also wirklich, Jason, Sie brauchten mir doch bloß zu sagen, daß Sie mich besuchen wollten. Diese Scharade war überhaupt nicht nötig.« Ihre Stimme klang atemlos, so als formte sie die Worte ausschließlich mit dem Mund. Bevor ich reagieren konnte, hatte sie die Arme um mich geschlungen.
Verwirrt wich ich zurück und zog sie dabei mit, wobei ich mich unabsichtlich dem Bett näherte. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb sie mir so bereitwillig folgte und sich ihr Lächeln vertiefte. »Tut mir leid«, brachte ich heraus. »Das war mein voller Ernst. Wir durchsuchen wirklich die Kabinen. Ich muß wieder an die Arbeit.« Damit löste ich mich aus ihrer Umarmung und wandte mich eilig zur Tür. »Aber, Jason…« Ich öffnete die Tür, trat auf den Gang und schob die Tür hinter mir so rasch zu, daß ich den Rest nicht mehr mitbekam. Dort blieb ich für einen Moment stehen, schwerer atmend als nach dem Wettlauf mit Becky. »Alles in Ordnung, Sir?« Eines der jüngeren Besatzungsmitglieder, eine dunkelhaarige junge Frau, deren Eltern beide bei der Handelsmarine gewesen waren, musterte mich besorgt. Ich straffte mich sogleich wieder. »Ja, sicher. Bloß ein Krügerbär«, platzte ich heraus. »Sir?« »Ach, nichts, kein Problem.« Ich durchsuchte noch vier weitere Kabinen, wobei die Reaktionen zwischen Belustigung, Abenteuerlust, Unverständnis und Verärgerung schwankten. Ich wollte mir gerade die nächste Kabine auf meiner Liste vornehmen, die von Tara Pesek Cline und Wade Pesek Midsel, als das Rufsignal ertönte. Ich trat ans nächste Komm-Terminal. Es war Rory von der Brücke. Als ich ihm sagte, er könne offen reden, sagte er: »Ich habe soeben die Voruntersuchung von Jenni Sonders’ Leichnam abgeschlossen. Bedauerlicherweise hat sie nicht Selbstmord begangen. Sie wurde ermordet.«
Kapitel 5
Die Tür zum Hyperraum Ich traf mich mit Rory und Bella in der Abgeschiedenheit der Brücke. Ein öffentliches Terminal war nicht der passende Ort, um Rorys Nachricht zu diskutieren. Die Anzeigen meldeten ausnahmslos normale Werte, als beharrten sie stur darauf, daß ein Todesfall und eine verschwundene Person für das Geschick eines so großen Raumschiffs wie der Redshift nur von untergeordneter Bedeutung waren. Die Standarduhren zählten lautlos die Sekunden. Eine Reihe weiterer Uhren in der Nähe, die ein wenig schneller gingen, zeigten die Ortszeiten der planetarischen Docks auf unserer Route an, einschließlich der von Tangente und von Leviathan, unserer nächsten Zwischenstation. Noch bevor ich die Brücke erreicht hatte, wurde mir klar, daß ich mir wünschte, Rory möge recht haben. Aus irgendeinem Grund wollte ich gern glauben, daß Jenni mir die Wahrheit gesagt hatte, als sie meinte, sie werde mich anrufen. Die Folgerung, daß ein Mörder an Bord der Redshift war, falls man Jenni tatsächlich ermordet hatte, erschien mir im Moment weniger bedeutsam. Vielleicht mißfiel mir die Vorstellung, sie habe das Handtuch geworfen; oder aber ich wollte nicht, daß sie mich angelogen hatte. Während ich mich bemühte, meine Gefühle zu verstehen, rief ich mir noch einmal in Erinnerung, was Tara über meine Unfähigkeit zur Selbsterkenntnis gesagt hatte. Ich war zwar in der Lage, meine allgemeine Gefühlslage zu erkennen - das Resultat aus mehreren, einander überlagernden Gefühlen -, doch gelang es mir nicht, unter die Oberfläche zu blicken und die einzelnen Gefühlskomponenten herauszulösen. Das war etwa so, als wollte man das Rezept eines exotischen Gerichts dadurch herauszufinden, daß man es lediglich kostete. Vielleicht war ich in emotionaler Hinsicht ein Schwarzes Loch; ich vermochte zu erkennen, was außerhalb meines Horizonts lag, jedoch nichts von dem, was sich darin befand. An Rory gewandt, sagte ich: »Sind Sie sich auch vollkommen sicher, daß Jenni Sonders ermordet wurde?« Rory seufzte und nickte bedächtig. Er wirkte müde. Wahrscheinlich war meine ergebnislose Suche nach Melgard erheblich weniger anstrengend gewesen als die Autopsie eines Menschen, den man gekannt hatte. »Das steht völlig außer Zweifel. Die Totenstarre hat schneller als normal eingesetzt, selbst wenn man davon ausgeht, daß zwischen dem Aufsuchen der Kabine und ihrem Tod lediglich eine Viertelstunde lag. Daraus folgt, daß ihr Stoffwechsel auf vollen Touren arbeitete, als sie starb - wahrscheinlich weil sie sich wehrte, nicht bloß aufgrund der Panik des Erstickens. Außerdem ist ihr Zungenbein gebrochen. Das ist ein Knochen in der Kehle, unmittelbar über dem Adamsapfel. Der Strick kann keine solche Verletzung hervorgerufen haben, wohl aber Strangulieren mit der Hand. Jemand muß sie gewürgt, ihr das Zungenbein gebrochen und sie anschließend, als sie bereits zu schwach war, um sich zu wehren, mit dem Strick vollends erstickt haben.« Die Lufttemperatur auf der Brücke schien zu fallen, während Rory redete. Einen Moment lang war mir eiskalt, dann wärmte mich die Wut. Ich schwieg. Fenn Melgard war zu wünschen, daß ihn jemand anders fand als ich.
»Also gut«, sagte Bella. »Dann sollten wir die Suchmannschaft besser warnen.« »Genau«, meinte ich. Ich rief Bensode an. Als er sich von einem Korridor aus meldete und meinte, er sei allein, sagte ich: »Der Arzt ist der Ansicht, daß Jenni Sonders ermordet wurde. Warnen Sie die restliche Mannschaft und lassen Sie Neutralisatoren austeilen. Wenn jemand Melgard sieht, dann soll er Alarm geben; ich möchte nicht, daß sich ihm jemand allein nähert.« Während ich meine Anweisungen gab, blickte ich zu Bella, um mich zu vergewissern, ob sie irgendwelche Einwände hatte. Sie hatte keine. Als ich abgeschaltet hatte, hob Rory die Augenbrauen. Er sagte: »Ich dachte, Sie gingen davon aus, er befinde sich nicht mehr an Bord und die Durchsuchung sei bloße Formsache.« »Das glaube ich noch immer. Allerdings ist es mir lieber, die Passagiere ein wenig zu beunruhigen, als daß ich das Risiko eingehen möchte, noch jemanden zu verlieren.« »Der Meinung bin ich auch«, sagte Bella. »Ich würde auch so schon am liebsten in den Ruhestand gehen.« Bella war dem Ruhestand wahrscheinlich nicht näher als ich; solche Sachen sagte sie halt, wenn es längere Zeit schlecht lief. »Gab es sonst irgendwelche Zwischenfälle?« fragte ich mehr aus Höflichkeit. »Nein. Zumindest keinen, der mit Sonders oder Melgard vergleichbar wäre. Ein weiblicher Passagier ist auf Tangente ausgestiegen, um sich ein wenig umzusehen. Sie kam nicht mehr zurück. Jetzt können wir wohl mit einer Beschwerde wegen vorzeitigen Abflugs oder ähnlichem Unsinn rechnen.« »Wer war das?« fragte ich. Bella lehnte sich noch weiter in ihren Sessel zurück. »Marj Lendelson. Sie kam in Vestry an Bord.« Ich erinnerte mich an sie. Mittleren Alters, förmlich, frostiges Lächeln. Koinzidenzen sollte man stets nachgehen, doch bestand keine unmittelbare Verbindung zwischen Lendelson auf der einen und Fenn Melgard oder Jenni Sonders auf der anderen Seite. Außerdem erinnerte ich mich an die Anweisungen, die ich Bensode erteilt hatte. Ich stand auf, trat zum Waffenschrank und befestigte einen Neutralisator an meinem Gürtel. »Falls sonst nichts anliegt, schließe ich mich wieder der Suchmannschaft an«, sagte ich zu Bella. Bella schüttelte bedrückt den Kopf. Vielleicht dachte sie tatsächlich daran, sich zur Ruhe zu setzen. »Kopf hoch«, meinte ich und setzte leichtsinnigerweise hinzu: »Was soll denn schon noch schiefgehen?«
»Sie wollen was?« Wade Pesek Midsel spähte durch die einen Spalt weit geöffnete Kabinentür zu mir heraus. Er wirkte noch schläfriger als sonst. »Ich sagte, ich muß Ihre Kabine durchsuchen.« Ich versuchte gelassen zu bleiben, doch im Laufe des Tages war ich immer gereizter geworden. »Jenni Sonders hat sich nicht selbst umgebracht.«
»Sie meinen, sie wurde ermordet? Dann hält sich also ein Mörder an Bord auf?« »Das wissen wir nicht. Jemand, der sich mit Sprunganzügen auskennt, könnte das Schiff auf Tangente verlassen haben. Zur Sicherheit führen wir jedoch eine gründliche Durchsuchung durch.« Wade blickte auf seine Armbanduhr, dann bemerkte er seinen Fehler und sah auf die Standarduhr neben der Tür. »Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?« »Sagen Sie’s nicht; lassen Sie mich raten. Ich weiß, es ist spät. Für gewöhnlich setzen wir Notfälle für kurz nach dem Mittagessen an, damit niemand über Gebühr belästigt wird, aber unsere Schichtplanerin hat Urlaub, und ihr Ersatzmann kennt die Regeln noch nicht. Ich kann nicht solange warten, bis Marly wiederkommt.« Einen Moment lang beschränkte Wade sich darauf, mich anzublinzeln. Schließlich mußte mein Sarkasmus wohl zu ihm durchgedrungen sein, denn er sagte: »Na schön. Warten Sie einen Moment« und schloß die Tür. Von seinem Standpunkt hinter der Tür aus mußte er den Anschlag sehen können, dem zu entnehmen war, daß ich zu diesem Schritt durchaus berechtigt war. Ich wartete auf dem Gang, bis die Tür nach kurzer Zeit wieder geöffnet wurde. Wade war barfuß und mit einem türkisfarbenen Morgenmantel bekleidet. Der Saum des Mantels war so weit vom Feld des Lifebelts entfernt, daß er schmutzig wirkte. Er forderte mich höflich zum Eintreten auf. Die Kabine der Peseks war größer als die letzten paar Kabinen, die ich durchsucht hatte. Über die kleine, L-förmige Diele gelangte man in ein hell erleuchtetes Schlafzimmer. An dem zerknautschten Bettlaken an einer Seite des Bettes sah man, wo Wade sich aufgehalten hatte, bevor er mir aufgemacht hatte. Auf der anderen Bettseite saß Tara, ebenfalls mit einem türkisfarbenen Morgenmantel bekleidet. Sie wandte den Blick ab, als wäre sie verlegen, obwohl der Mantel weit weniger Haut zeigte als Amandas Dinnerkleid. Das Bett war etwa so groß wie mein eigenes, wirkte jedoch kleiner, da sich noch jemand darin aufhielt. »Bitte entschuldigen Sie die Störung«, sagte ich. Ich trat ins Bad, wo ich lediglich eine leere Dusche sowie ein Bord mit Parfüm, Seife und Zahnspray und einen Haufen Unterwäsche samt Enthaarungscreme, einem Deostift und einem Kamm vorfand. Ich bewegte mich so rasch, daß ich mich im Spiegel gerade meinen Kopf wenden sah, als ich zu meinem Spiegelbild blickte. Wieder im Schlafzimmer angelangt, öffnete ich vorsichtig den Schrank, entdeckte jedoch nichts Verdächtigeres und Gefährlicheres darin als auf Kleiderbügel gehängte Kleider. Ohne etwas zu sagen, wandte ich mich zur Tür, als mich Tara ansprach. »Sie sagten, Jenni sei ermordet worden?« Ich hätte sie fast nicht verstanden, denn gleichzeitig mit ihr hatte Wade gesagt: »Ich beabsichtige, eine Beschwerde einzureichen, damit Sie Bescheid wissen.« Ohne Wade zu beachten, wandte ich mich an Tara. »Ja, das stimmt. Der Bordarzt ist überzeugt davon. Abgesehen davon, daß ich ihm vertraue, bin ich auch erleichtert darüber. Der, nach dem die Besatzung sucht, ist möglicherweise der Mörder.«
»Suchen Sie ihn, weil er einen Passagier getötet hat, oder weil er Jenni Sonders umgebracht hat?« Unwillkürlich ärgerte mich ihre seltsame Frage. »Ich tue bloß meinen Job. Für Sie oder Ihren Mann würde ich das gleiche tun.« Na ja, für sie ganz bestimmt. Ich hob entschuldigend die Hand und wandte mich zur Kabinentür. »Bitte bleiben Sie bis um sechs in der Kabine.« Wade kam näher und sagte: »Das ist mein voller Ernst. Ich werde mich beschweren.« Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um. »Dann sollten Sie sich besser beeilen. Wenn wir tatsächlich einen Mörder an Bord haben, könnten Sie das nächste Opfer sein.« Als ich mich abwandte und hinausging, wirkte er noch aufgebrachter als zuvor. Ich schob die Kabinentür hinter mir fester zu als beabsichtigt. Mag sein, daß ich reizbar werde, wenn ich müde bin.
Eine knappe Stunde später war ich wieder auf der Brücke. Neben Bella saßen Razzi und Bensode, und alle drei schauten unglücklich drein. Die Suche hatte keinerlei Hinweise auf Fenn Melgards Verbleib erbracht. Wundern tat mich das nicht. »Nun«, sagte ich zu Bella, »das kann eigentlich nur bedeuten, daß die Überprüfung der Sprunganzüge ergeben hat: einer fehlt.« »So ist es«, sagte Bella. »Auf Ebene Sieben fehlt einer im Frachtraum in der Nähe des Nordpols.« »Dann sollte wohl mal jemand auf der Außenhülle nachsehen, um die Suche abzuschließen.« »An wen haben Sie gedacht?« erkundigte sich Bella. Nach einem solch langen Tag brachte ich es nicht über mich, jemandem eine Aufgabe zuzuweisen, die sich wahrscheinlich doch bloß wieder als Zeitverschwendung erweisen würde. »An mich.« Bella nickte, denn sie kannte mich und war sich zweifellos darüber im klaren, daß die Arbeit getan werden mußte. »In Ordnung, Jason. Solange Sie draußen sind, werden wir uns bemühen, die Kurskorrekturen auf ein Minimum zu beschränken.« Ihr angedeuteter Humor sollte mich wohl aufmuntern. »Das wäre mir recht.« »Übrigens habe ich eine Nachricht nach Tangente geschickt. Sobald man Melgard gefunden hat, gebe ich Ihnen Bescheid.« »Danke. Aber rufen Sie mich nur im Notfall an. Wenn er tatsächlich dort draußen ist, würde er mithören, und ich hätte um so größere Schwierigkeiten.«
Ich ließ den Sprunganzug unmittelbar vor der Nordpol-Schleuse auf Ebene Sieben auf den Boden plumpsen und kniete mich hin. Ich schloß die Vorderseite des leeren Anzugs, sicherte den Helm und drückte den Diagnoseschalter am Anzugkragen. Prompt wurde der Sprunganzug größer, entfaltete Arme und Beine, die Falten glätteten sich mit leisen Quietsch- und Ploppgeräuschen. Die Anzeige auf der Brust meldete, daß der Innendruck fünf Atmosphären betrug und der Anzug dicht war. Das zweiminütige Diagnoseprogramm überprüfte noch die übrigen Funktionen, dann gab es den Anzug zur Benutzung frei. Als ich den Bestätigungsschalter drückte, bildeten sich wieder Falten, und der Anzug sackte in sich zusammen. Ich legte ihn an und betrat die Luftschleuse. Ich hatte eine Taschenlampe und eine 180 Meter lange Sicherheitsleine dabei, die ich prompt an einem Ring in der Wand befestigte. Das andere Ende der Leine klinkte ich am Gürtel des Anzugs ein. Das Geräusch meines Atems, das begleitet wurde vom leisen Rauschen der zirkulierenden Luft, klang lauter im Innern des geschlossenen Helms. Eine kurze Überprüfung ergab, daß alle Innensysteme des Anzugs einwandfrei arbeiteten; die Anzeigen wurden an die Innenseite des Visiers gespiegelt, und wenn ich den Blick erst auf das Befehls- und dann auf das Ausführungssymbol richtete, reagierte der Anzug sogleich. Das Luftrauschen wurde lauter. Ich schaltete die Helmanzeige vorübergehend aus. Ich schob die Schleusentür möglichst leise hinter mir zu und verriegelte sie. Nachdem ich ein paar Tasten auf dem Bedienungsfeld der erleuchteten Schleuse gedrückt hatte, wurde die Luft aus der Schleusenkammer so langsam in das Schiff zurückgepumpt, daß keine Geräusche durch die Hülle übertragen wurden. Ich bezweifelte noch immer, daß Fenn Melgard dort draußen auf der Hülle war, und daß er unmittelbar über der Schleuse wartete, hielt ich für noch unwahrscheinlicher, doch die Vernachlässigung von Vorsichtsmaßnahmen hatte an Bord von Hyperraumschiffen schon eine erkleckliche Zahl von Menschenleben gefordert. Übrigens galt das wohl auch für Badewannen. Als Vakuum angezeigt wurde, schaltete ich das Licht aus. Innerhalb weniger Sekunden ließ die Helligkeit so stark nach, daß ich nichts mehr erkennen konnte. Ich wartete noch eine Weile, bis es in der Kammer völlig dunkel geworden war, dann öffnete ich von Hand die Ausstiegsluke an der Decke, wiederum so langsam, daß keine Vibrationen durch die Hülle weitergeleitet wurden. Falls Melgard dort draußen war, dann würde es die Suche erheblich vereinfachen, wenn er seine Position beibehielt, anstatt mir auszuweichen. Zumindest gab es draußen kein Licht, so daß er mich nicht sehen konnte. Scheinwerfer waren bei einem Hyperraumschiff ebenso überflüssig wie Scheibenwischer und Überrollbügel. Schließlich war die Öffnung groß genug und die Dunkelheit so vollkommen, daß ich nur noch die von der Netzhaut ausgelösten Lichtblitze sah, die mit der Zeit nachlassen würden. Über mir erstreckte sich die sternenlose Leere des Hyperraums der Schicht Zehn bis in die Unendlichkeit. Vom Kopf her war mir das klar; allerdings hätte ich auch dann keinen Unterschied gemerkt, wenn ich mich im Innern eines verschlossenen Frachtbehälters befunden hätte. Ich wußte bloß, daß ich nicht das geringste sah. Ich kletterte die Wandleiter hoch und vergewisserte mich, daß die Luke tatsächlich geöffnet war, dann kletterte ich wieder hinunter und stellte mich in die Mitte der Schleusenkammer. Ich holte tief Luft und sprang mit aller Kraft hoch.
Schwerelosigkeit setzte ein. Als ich den Eindruck hatte, ich sei am höchsten Punkt angelangt, schaltete ich die Manövrierdüsen ein. Noch immer in totaler Dunkelheit gefangen, ohne eine Möglichkeit, herauszufinden, ob ich mich womöglich langsam um die eigene Achse drehte, vertraute ich darauf, daß mich die vorprogrammierten Düsen in gerader Linie von der größten Masse, die der Anzug ausmachen konnte, wegbefördern würden. Der Beschleunigungsdruck drehte mich kurz auf die Seite, dann stabilisierte sich meine Lage wieder. Nach der vorprogrammierten Zeitspanne schalteten sich die Düsen aus. Ich schaltete die Helmanzeige ein und beobachtete, wie mein Abstand zum Schiff größer wurde. Als ich die gewünschte Position erreicht hatte, wies ich die Steuerung an, mich um neunzig Grad nach vorne zu drehen, und schaltete kurz die Taschenlampe ein. Zunächst sah ich nur den Lichtstrahl, der sich entlang meiner Nabelschnur ausbreitete, als wäre das Seil eine überlange Zündschnur, die rasch der Redshift entgegenbrannte und hinter sich Dunkelheit zurückließ. Während sich das Licht entfernte, wies ich die Steuerung an, mich noch weiter vom Schiff wegzubringen, um die Leine zu straffen. Kurz darauf gab es einen Ruck, und ich stellte die Düsen so ein, daß ich gerade so eben über dem Schiff in der Schwebe blieb. Nach einer guten halben Minute hatte das Licht der Taschenlampe endlich das Schiff erreicht und wurde zu mir reflektiert. Als erstes sah ich die offene Schleuse, dann breitete sich das Licht ringförmig aus. Ein paar Sekunden später hatte der Lichtkreis den Rand der Redshift erreicht, und die ganze Halbkugel unter mir war erleuchtet. Die ganze leere Halbkugel. Von hier aus war die Redshift kleiner, als wenn ich einen Basketball mit ausgestreckten Arm vor mich hingehalten hätte. Fenn Melgard wäre nurmehr ein Insekt gewesen, das auf der Oberfläche krabbelte, doch ich hätte ihn gesehen, wäre er denn dagewesen. Also war er entweder auf der anderen Seite, oder er war nicht mehr bei uns. Die mattschwarze, kugelförmige Schiffshülle gab nichts preis. Ich aktivierte wieder den Antrieb, diesmal in einem Winkel, der die Sicherheitsleine straff hielt und mich gleichzeitig in einen Orbit um das Schiff beförderte, in eine Umlaufbahn, die in dem Maße enger werden würde, wie sich die Leine um das Schiff wickelte. Ich behielt die Zeitanzeige im Auge. Zum Glück nahm die Schwerkraft nur allmählich ab, so daß ich die Zeitverschiebung aufgrund des Gravitationsgradienten ignorieren konnte. Als ich in Position war, stellte ich die Taschenlampe so ein, daß sie in Zehn-Sekunden-Intervallen blinkte. Diesmal wurde das Schiff rascher sichtbar. Es war wesentlich größer als zuvor, doch die Hülle war nach wie vor leer. Jedesmal, wenn ich die Hülle der Redshift aufleuchten sah, hielt ich aufmerksam Ausschau. Jedes Bild war näher und größer als das vorherige. Als ich die Redshift fast umrundet hatte, schaltete ich die Schulterleuchten ein und ließ sie brennen. Die offene Schleusentür lag unmittelbar unter mir, und ich schaltete noch ein letztes Mal die Düsen ein, um den Aufprall abzubremsen. Da ich mich aufgrund der für die Lichtübertragung erforderlichen Zeit verschätzt hatte, prallte ich von der Hülle ab und sank mit einem sechstel Ge dann langsam darauf hinunter.
Während meine Füße wieder Halt fanden, entwirrte ich die Sicherheitsleine. Ich ging ein paar Schritte zur Schleusenkammer zurück, wobei ich die übriggebliebenen paar Meter Leine mit einem Fußtritt aus dem Weg beförderte. Ein Druck auf einen Schalter neben der offenen Tür, und die Beleuchtung ging wieder an. Ich sprang behende in die Öffnung hinunter. In der Schleuse klinkte ich ein kürzeres Seil von meinem Anzug an einem Wandhaken ein, löste die lange Leine und wickelte sie auf. Erst jetzt ließ ich den Blick umherschweifen und entdeckte das Blut. Jedenfalls nahm ich an, daß es Blut war. So viele andere Möglichkeiten gab es nämlich nicht. Da in dieser Umgebung alles, was nicht von einem Feld geschützt wurde oder spezialbehandelt war, farblos erschien, hatten die Flecken auf dem Boden fast die gleiche graue Färbung wie der Rest, wirkten aber dennoch wie Blutspritzer - mehrere kreisförmige Tropfen unterschiedlicher Größe, ein jeder mit welligem Rand. Auf einmal revidierte ich meine Vermutungen hinsichtlich Fenn Melgards Verbleib. Wenn ich recht hatte, war er längst tot. Ich war dermaßen auf Tara Cline und Jenni Sonders fixiert gewesen, daß ich nicht alle Möglichkeiten bedacht hatte. Dabei hatte ich übersehen, daß Jenni und Fenn Melgard auch von einem dritten ermordet worden sein konnten. Oder hatte Fenn etwa ein zweites Opfer gefunden? Diese Möglichkeit ließ ich einstweilen außer acht, da niemand sonst bislang als vermißt gemeldet worden war. Wenn Fenn geblutet hatte, als er in die Schleuse gekommen war, dann hatte er mit Sicherheit keinen Sprunganzug getragen. Er mußte seinen Raumspaziergang auf Veranlassung eines Dritten unternommen haben, vorausgesetzt, daß er zu dem Zeitpunkt überhaupt noch am Leben war. Und dieser Dritte hatte entweder zusammen mit Fenn einen Sprunganzug über Bord geworfen oder irgendwo versteckt, oder er hatte die richtigen Knöpfe gedrückt und den Anzug in eine andere Schicht des Hyperraums befördert. Doch wie es sich auch zugetragen hatte, der Unbekannte hatte mit Sicherheit gewußt, daß uns ein Vermißter ohne fehlenden Sprunganzug dazu veranlassen würde, nach einem Mörder zu suchen. Somit hatten wir nicht nur einen Mörder an Bord, wir hatten auch nicht den geringsten Hinweis auf seine Identität. Während ich die verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander abwog, hatte ich die Sicherheitsleine aufgewickelt. Meine ursprüngliche Absicht, Bella auf der Brücke anzurufen und sie zu warnen, verwarf ich wieder als unklug, noch ehe ich die Schleusentür an der Decke geschlossen hatte. Wenn der Mörder zur Besatzung gehörte, würde er den Sprechverkehr überwachen. Der einzige Vorteil, den wir im Moment hatten, war, daß der Mörder möglicherweise glaubte, es habe noch niemand Verdacht geschöpft. Als die Deckenluke die ewige Nacht wieder ausgesperrt hatte, ließ ich Luft in die Schleuse. Die Digitalanzeige des Luftdrucks in Prozenten des Normalwerts kletterte rasch von 00 auf 90, dann verlangsamte sich der Anstieg, bis schließlich die 100 erreicht war. Selbst nach einem so kurzen Ausflug nach draußen war ich doch froh, wieder aus dem Sprunganzug herauszukommen. Den Oberkörper drehen zu müssen, wenn ich den Rand meines Gesichtsfelds sehen wollte, ließ mich immer leicht klaustrophobisch werden, daher löste ich den Helm, bevor ich den Schalter drückte, der die innere Schleusentür öffnete. Es gelang mir nicht mehr, die Schleusentür zu öffnen. Ich bekam nicht mal den Helm ganz
herunter. Ich hatte die Halsdichtung gelöst und wollte den Helm gerade abnehmen, als ich einen süßlichen Geruch bemerkte - einen Geruch, der nicht hierher gehörte. Ich versuchte, den Helm wieder zu befestigen, doch die Finger versagten mir den Dienst. Ein schwarzer Nebel am Rand meines Gesichtsfelds wurde immer dichter und breitete sich zur Mitte hin aus, bis er alles verdeckte. Ich glaube, ich spürte nicht mal mehr, wie ich zusammenbrach.
Ein durchdringender Schmerz seitlich am Hals war das erste, was ich spürte, als ich wieder zu mir kam. Zunächst meinte ich, wieder auf Redwall zu sein, und mich von einer Tracht Prügel zu erholen, die mir ein paar der Älteren verabreicht hatten. Ich fluchte bitterlich auf meine Eltern, weil sie mich dorthin gebracht hatten. Aber irgend etwas stimmte nicht. Ich lag auf keiner schmuddeligen Pritsche, die in einem sogenannten >Schlafsaal< untergebracht war. Das Licht, das durch meine teilweise geöffneten Augenlider drang, stammte nicht aus einem hohen, vergitterten Fenster. Schließlich wurde mir klar, daß der Schmerz vom Rand des Helms hervorgerufen wurde, der mir gegen den Hals drückte. Ich lag auf dem Boden einer geschlossenen Schleuse, einer Schleuse an Bord der Redshift. Ich richtete mich mühsam in eine sitzende Haltung auf und nahm den Helm ab, wobei ich mich wieder an den Geruch erinnerte, den ich wahrgenommen hatte, kurz bevor ich das Bewußtsein verlor. Ich wandte den Kopf zur Standarduhr. Die Schleuse drehte sich. Ich fühlte mich, als hätte ich einen Kater. Dann stellten sich meine Augen wieder scharf. Ich war mehrere Stunden bewußtlos gewesen. Darauf konnte ich mir keinen Reim machen. Weshalb hätte mich jemand in der Schleuse betäuben sollen, bloß um mich dann liegenzulassen, ohne mich zu töten oder mir sonstwas anzutun? Und warum war niemand nach mir sehen gekommen, wenn ich so lange hier gelegen hatte? Vielleicht war ich ja nicht als einziger betroffen, dachte ich, als mein Kopf allmählich wieder klarer wurde. Jemanden in einer Schleuse unter Gas zu setzen und ihn dann in Ruhe zu lassen, erschien sinnlos. Vielleicht hatte man das ganze Schiff unter Gas gesetzt, und vielleicht war niemand bei Bewußtsein, der wußte, daß ich mich hier in einer geschlossenen, selten benutzten Schleuse befand. Ich stand auf und lehnte mich an die Wand. Kurz darauf hörten meine Beine auf zu zittern. Ich schüttelte den Kopf, der zum Glück noch fest auf den Schultern zu sitzen schien. Ein widerlicher Geruch hing in der Luft, doch die Überreste des Betäubungsgases waren mittlerweile anscheinend wirkungslos geworden. Ich streckte die Hand zum Komm-Terminal aus, dann zögerte ich. Nach wie vor mit der Theorie beschäftigt, die besagte, daß es keinen triftigen Grund gab, mich unter Gas zu setzen und dann untätig zu bleiben, so daß man annehmen mußte, das
ganze Schiff sei unter Gas gesetzt worden, verfolgte ich die Argumentationskette weiter. Als Luft aus dem Schiff in die Schleuse gedrungen war, hatte ich das Bewußtsein verloren. Angenommen, die Wirkung verflog nach einer bestimmten Zeitspanne, dann kam im Moment jeder zu Bewußtsein, der sich auf Ebene Sieben aufgehalten hatte. Die Menschen weiter im Innern, wo die Zeit langsamer verstrich, würden nach und nach zu sich kommen: erst Ebene Sechs, dann Ebene Fünf, bis zur Ebene Eins. Bis die Brückenbesatzung zu sich kam, würde wohl noch eine Stunde vergehen. Wenn ich also jetzt auf der Brücke anrief, würde ich nicht nur keine Antwort bekommen, sondern obendrein noch den oder die Verantwortlichen für die Gasattacke aufmerksam machen. Auf einmal schien es mir geraten, die Schleuse schleunigst zu verlassen. Der Sprunganzug wäre zu geräuschvoll gewesen, um heimlich Erkundigungen einzuholen, daher löste ich die Verbindung und schälte mich heraus. Ich konnte mir notfalls jederzeit einen neuen Anzug besorgen. Ich entriegelte die innere Schleusentür und schob sie einen Spalt weit auf. Ich lauschte mehrere Sekunden lang. Nichts. Ich schob die Tür so weit auf, daß ich einen Blick auf den Gang werfen konnte. Leer. Ich öffnete sie ganz und blickte vorsichtig erst in die eine, dann in die andere Richtung. Niemand da. Ich schloß hinter mir die Schleusentür und näherte mich behutsam der nächsten Kreuzung. Dort hockte ich mich hin, um weniger aufzufallen. In dem kreuzenden Gang war ebenfalls niemand unterwegs. Der nächste Treppenschacht war der, über den ich hergekommen war. Ich lauschte eine Weile an der Tür, bevor ich sie öffnete. Als ich den Treppenschacht betreten hatte, schloß ich sanft hinter mir die Tür und stieg so leise wie möglich die Treppe hinunter. Durch einen schmalen Spalt in der Tür zu Ebene Sechs machte ich keinerlei Bewegung aus. Ich ging weiter zu Ebene Fünf. Auf Ebene Fünf war ich noch vorsichtiger. Auf dem Gang tat sich etwas, denn im Türrahmen war eine leichte Vibration zu spüren. Dann war also jemand wach, obwohl eigentlich Schlafenszeit war. Ich öffnete einen Spalt weit die Tür und spähte hindurch. Zunächst sah ich nichts, doch dann rannten zwei schwarzgekleidete Gestalten durch mein Gesichtsfeld. Die Gesichter der Männer waren aufgrund ihrer Geschwindigkeit geschrumpft und verzerrt, dennoch war ich mir sicher, sie noch nie gesehen zu haben. Beide Männer trugen Messerscheiden am Gürtel. Und es waren bestimmt keine Besteckmesser darin. Ich drückte die Tür wieder zu und überlegte, ob ich mich solange in einem Frachtraum verstecken sollte, bis sie zu dem Schluß kamen, daß ich nicht mehr am Leben war, und mich vergaßen. Der Haken bei dem Plan war, daß >sieneinnein< will ich nie wieder von Ihnen hören. Das habe ich schon oft genug gehört. Wir werden irgend etwas unternehmen. Ich weiß noch nicht was, aber sagen Sie nicht >neinnein< gesagt, doch sie überraschte mich. »Wenn Sie mir anschließend von sich erzählen, dann sage ich Ihnen alles, was Sie wissen wollen.« »Wieso wollen Sie - wir verschwenden bloß unsere Zeit.« »Versprechen Sie’s.« In ihren klaren, blauen Augen lag keinerlei Arg, bloß eine Sturheit, die mir sehr vertraut war. »Was immer Sie wollen, wenn Sie bloß reden. Wohin bringt man die Neuankömmlinge?« Ich war mir sicher, sie notfalls so lange bequatschen zu können, bis es ihr langweilig wurde, so daß ich nicht über Redwall sprechen müßte. Tara holte tief Luft, als wollte sie lange an einem Stück reden. »Xanahalla verfügt über eine kleine Orbitalstation, wie jeder Planet abseits des Hyperraumnetzes. Aber ich sollte der Reihe nach berichten. Man trat bei einem Zwischenhalt an mich heran und brachte mich zu einem Dock, wo ich an Bord eines kleinen Hyperraumfahrzeugs ging - ein Modell mit Schwerelosigkeit an Bord, das nur wenigen Personen Platz bot. Wir waren etwa acht Stunden unterwegs. Anschließend stiegen wir auf ein größeres, konventionelles Schiff um.
Das größere Schiff brachte uns zur Orbitalstation von Xanahalla. Der Planet hat eine kurze Rotationsdauer - für eine Umdrehung benötigt er lediglich acht Stunden -, und wir flogen tief. So tief, daß der Turm der Verehrung vom Orbit aus zu sehen war. Er befindet sich ungefähr im Zentrum eines kreisförmigen, tiefgrünen Gebiets, das etwa fünf bis zehn Prozent der Planetenoberfläche umfaßt. Soviel ich weiß, ist der Rest der Oberfläche unbewohnt. Von da aus flogen wir in einem Atmosphärenshuttle mit zwanzig Sitzen zu einem Raumhafen auf der Oberfläche hinunter. Auf der Orbitalstation mußten wir uns umziehen. Sie verlangen, daß jeder ein Gewand trägt, keine normale Straßenkleidung. Aber ich komme schon wieder durcheinander.« »Das macht nichts«, sagte ich. »Erzählen Sie mir einfach, was Ihnen einfällt.« »Auf der Station ist mir etwas aufgefallen. Es war auch gar nicht zu übersehen. Man bat uns, keinem Außenstehenden davon zu erzählen, aber ich nehme an, jetzt kann es nicht mehr schaden. Xanahalla ist ein Ringplanet.« »Wie passend.« »Verzeihung?« »Nichts. Ein Ring scheint mir bloß ausgesprochen geeignet, den Menschen den Eindruck zu vermitteln, dieser Planet beherberge zu Recht eine bedeutende religiöse Institution.« »Bei Ihnen klingt das eher nach einer Geschäftsstrategie als nach einer simplen Tatsache.« »Das ist unwichtig. Was ist mit den Menschen, die dorthin gehen? Gehören sie alle derselben Religion an?« »Nein. Xanahalla steht allen Religionen offen. Die einzige Einschränkung besteht darin, daß nur zugelassen wird, wer an die Dritte Heraufkunft glaubt.« ‘ Ich machte wohl ein skeptisches Gesicht, denn sie sagte: »Was ist schon dabei? Ich werde Ihnen alles sagen, was Sie über Xanahalla wissen wollen, aber deshalb brauchen Sie nicht darüber zu urteilen, bloß weil die Menschen dort etwas anderes glauben als Sie. Woran glauben Sie eigentlich?« Ich stand auf und überprüfte die Tür, bloß auf die unwahrscheinliche Möglichkeit hin, daß sie nicht verschlossen war. Die Tür rührte sich nicht von der Stelle. »Woran ich glaube? Ich glaube, daß wir manchmal glauben, was andere uns weismachen wollen. Manchmal glauben wir, was wir glauben wollen. Und hin und wieder erhaschen wir einen Zipfel von der Wahrheit.« »Und Sie glauben an sich selbst.« Beinahe hätte sie mich damit zum Widerspruch herausgefordert. »Ja, das kann schon sein. Aber zurück zum Thema. Wie ging es weiter?« Tara zögerte, als hätte sie lieber über andere Dinge gesprochen oder Schlaf nachgeholt, doch dann fuhr sie fort. »Also gut. Wir landeten auf einem kleinen Raumhafen auf Xanahalla. Wissen Sie übrigens, woher der Name stammt?« »Nein.«
»Er ist zusammengesetzt aus >Xanadu< und >Walhallaund deren Lebenserwartung vielleicht nur noch eine Woche beträgtPumpen und Gießen< zutreffender gewesen. Auf den Arbeitsflächen standen die Speisen, die gerade in Zubereitung gewesen waren, als das Gas die Küche erreicht hatte. Alle möglichen Behälter standen offen, deren Eigenzeitmesser die verbliebene Haltbarkeitsdauer anzeigten. Layne Koffer wäre entsetzt gewesen, hätte sie uns bei der Essenszubereitung zugeschaut. Unter der >Aufsicht< von Daniel und seinen beiden Kumpanen schafften wir mit einem Handwagen einen großen zylindrischen Behälter aus einer der Kisten der Schwarzbekleideten auf Ebene Sechs in den Aufzug, fuhren zur Küche auf Ebene Fünf hinunter, schütteten den Inhalt in einen großen Kochkessel und gaben Wasser dazu. »Was ist das für ein Zeug?« fragte ich. »Dehydrierte Leber?« Tara rümpfte die Nase, behielt ihre Vermutungen jedoch für sich. »Das haben die Marines der Konföderation gegessen, wenn sie auf R & R waren«, antwortete Daniel aus sicherer Entfernung. Das heißt, aus sicherer Entfernung vor mir. Nicht vor dem Geruch. »Es ist nahrhaft und leicht zuzubereiten. Für richtiges Kochen haben wir keine Zeit.« »Was bedeutet eigentlich >R & R