1
Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Fantasy Spezial
Zauberträume 8
'Zauberträume' ist eine kost...
11 downloads
623 Views
149KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
1
Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Fantasy Spezial
Zauberträume 8
'Zauberträume' ist eine kostenlose Fantasy Anthologie von www.WARP-online.de, dem Fantastik Magazin. Alle Rechte der Geschichten und Bilder verbleiben bei den jeweiligen Autoren und Künstlern.
Zauberträume 8 Copyright 2003 WARP-online Herausgeber: www.WARP-online.de Satz und Layout: Bernd Timm Alle Texte und Bilder sind bereits jeweils einzeln bei www.WARP-online.de erschienen und zur Veröffentlichung durch WARP-online freigegeben. Die Magazin-Reihe ist eine Sammlung von Beiträgen, die zusätzlichen Kreis interessierter Leser anspricht und die Namen der Autoren und Künstler bekannter macht. Weder das Fehlen noch das Vorhandensein von Warenzeichenkennzeichnungen berührt die Rechtslage eingetragener Warenzeichnungen.
1000 Seiten Fantastik www.WARP-online.de bringt das ganze Spektrum der Fantastik: Bilder, Geschichten, Artikel, Projekte, Reportagen, Interviews, Wissenschaft, Comic, Kostüme, SF-Kabarett, Lyrik, Film-& TV-Projekte, Modelle und mehr!
2
Inhalt Cover von Sylvia Polster Die Hexe Walli und ich
4
von Sabine Böhringer War die merkwürdige Nachbarin wirklich eine Hexe, wie alle sagten? Eines Tages fand ich es heraus...
Maries Gabe
9
von Carolin Wentzel Marie und Heinrich sind ein Paar, doch Eifersucht soll ihr Glück zerstören. Da erfährt die junge Frau Erstaunliches...
Der Schlüssel zur Magie
16
von Catrin Hahne Calile will ihre Schwester Ila retten. Und wenn es durch Magie ist...
Zwei Magier und das Problem mit dem Reißerrüden
22
von Ulrike Stegemann Die Königin soll ein besonderes Geschenk bekommen! Aber wie kriegt man den wilden Hund zahm?
Sonnenfinsternis
24
von Ruth Jahn Terald will die Welt beherrschen. Und dazu gebraucht er einen kühnen Trick...
Hexenmechanik
28
von Frank Ahrens Kann eine Maschine Magie analysieren? Ein Kriminalfall gibt Antwort
Falsche Vorstellung
35
von Kirsten Lang Ninias Schwester wurde von einem bösen Zauberer entführt. Kann das Mädchen sie befreien?
Der Konqistador von Miklos Muhi Er kam im Namen himmlischer Mächte. Aber das dachte er nur.
3
40
Die Hexe Walli und ich von Sabine Böhringer
War die merkwürdige Nachbarin wirklich eine Hexe, wie alle sagten? Eines Tages fand ich es heraus...
Meine Kindheit war einsam auf dem Land, meine Mutter streng und ungerecht und meine beiden Zwillingsbrüder lästig. Mein Vater war seit einigen Jahren tot. Die wenigen Einwohner in dem winzigen Ort, meine Mitschüler und Lehrer - ja, selbst meine Mutter hielten mich für sonderbar, weil ich das Brauen meiner „Zaubersüppchen“ und das Pflegen meines Kräutergärtchens jeglicher Geselligkeit vorzog. Ich selbst hielt mich für ein normales Mädchen. Was war schon dabei, dass ich am liebsten „Hexe“ spielte! Was später einmal daraus werden könnte, darüber verschwendete ich keinen Gedanken. Wenn es überhaupt etwas gab, worüber ich nachdachte, dann über die merkwürdige, alte Walli aus dem noch älteren, maroden Nachbargehöft. Sie lebte dort ganz alleine, schottete sich von allen ab und man mied sie - genauso wie mich. Sie hatte noch nie mit irgend jemandem gesprochen – auch nicht mit mir. Keiner besuchte sie oder wusste, was sie so trieb – und sie verließ ihr Haus so gut wie nie. Auch ich sah sie selten – obwohl nur ein Holzzaun unser Gelände von ihrem trennte. Ihr Gehöft war für mich streng verbotenes Territorium, denn Mutter und alle anderen im Dorf hielten Walli für verrückt. Und man munkelte, sie sei eine Hexe. Es war ein ganz normaler, sonniger Frühlingstag. Fast normal, denn ich hatte Geburtstag, war zehn Jahre alt geworden. Wie an allen Tagen verbrachte ich die Zeit nach der Schule alleine in meinem Gärtchen. Ich war die einzige, die meinen Geburtstag nicht vergessen hatte. Dachte ich jedenfalls. Mein Gärtchen lag in einem Rasenstück hinterm Haus und bestand aus einem Stück Erde rings um den dicken Stamm eines alten Apfelbaumes, in dem ich versuchte, Kräuter und Gräser zu züchten. Unkraut gedieh hier gut, Blumen gingen ein. Kein Wunder, ständig stieß ich beim Graben auf Lehm und Baumwurzeln. Mutter, eine leidenschaftliche Gärtnerin, die jede Ecke ihres Gartens bepflanzte, wusste genau, warum sie mir gerade dieses unfruchtbare Stück überlassen hatte. Zur Feier des Tages braute ich mir einen Zauber-Geburtstagstrank - aus Ritterspornblüten, die ich in Mutters Garten holen musste, weil in meinem Gärtchen ja keine wuchsen. Und Urin – meinem eigenen. Mit einem kleinen Stock stampfte ich die Blüten in einer weißen Schale in die gelbe Flüssigkeit und langsam bildeten sich lila Schlieren. Es wäre ein guter Zaubertrank geworden, wenn Mutter mich nicht gestört hätte. „Grit, wo bist du?“ hörte ich ihre ungeduldige, laute Stimme. Mutter mochte es natürlich nicht, wenn ich ihre Gartenblumen köpfte. Deshalb versteckte ich hastig die Blüten unter meinem Hintern und schüttete den schönen Zaubertrank in die lehmige Erde des Gärtchens. Sie wusste, wo ich mich aufhielt. Und so brauchte sie mich nicht lange zu suchen. Schon nach wenigen Sekunden stand sie neben mir. Mit einer strengen Falte zwischen den Augenbrauen, an den Händen meine vierjährigen Brüder Jochen und Jan. „Warum antwortest du nicht? Pass bitte auf die Zwillinge auf, während ich koche. Die zieh’n mir sonst noch was Heißes vom Herd!“ Etwas ähnliches hatte ich mir schon gedacht, denn Mutter kam immer nur dann zu mir, wenn sie etwas wollte. Wahrscheinlich hatte sie mir mein schlechtes Gewissen an der Nasenspitze angesehen. Jedenfalls hatte sie plötzlich genauer hingesehen, worauf ich sitze. „Was ist das? Du hast schon wieder Blüten abgerissen!“ Ihre Falte zwischen den Brauen wurde tiefer. „Warum immer meine Gartenblumen? Auf der Wiese gibt es doch genug!“ Mit grimmiger Miene überlegte sie wohl, wie sie mich bestrafen sollte. Dann fiel ihr 4
wahrscheinlich das Essen ein, das auf dem Herd vor sich hinköchelte. Im Umdrehen konnte sie sich eine verächtliche Bemerkung nicht verkneifen, die sie immer von sich gab, wenn sie sich besonders über mich ärgerte: „Du wirst immer sonderbarer, bist schon fast wie die Walli!“ Sie wusste wohl nicht, dass ich das als ein Kompliment empfand. „Das hat noch Konsequenzen! Ich rate dir, pass wenigstens gut auf die Kleinen auf“, fügte sie drohend hinzu, bevor sie um die Hausecke verschwand. Als Mutter weg war, fischte ich zwei Stricke unter einer Hecke hervor, fing meine Brüder ein, die in verschiedene Richtungen davongelaufen waren und streifte jedem von ihnen eine Schlinge um den Bauch. Ich band sie nebeneinander an einem der Pfirsichbäume fest - wie zwei kleine Hunde, damit sie nicht weglaufen konnten. Einen Meter Auslauf gab die Leine her, das war genug für sie. Die beiden wanden sich, protestierten und heulten und ich dachte für einen Moment, dass es gar nicht schlecht wäre, wenn sie tatsächlich Hunde wären. Die gehorchten besser als kleine Kinder. Als ich mir die Hosen runterziehen wollte, um ein weiteres Mal in ein Schälchen zu pinkeln, hatte ich plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. Aus den Augenwinkeln nahm ich gerade noch rechtzeitig eine Gestalt wahr, die mich vom Zaun aus beobachtete. Ich schielte hinüber und musste nochmals genauer hinsehen, bis ich meinen Augen traute. Es war tatsächlich die Walli. Mir stockte für einen Moment der Atem. Ich hatte sie weder aus der Tür kommen sehen - noch hatte ich das Knarren einer Tür gehört. Niemals hörte ich sie. Wenn ich das Glück hatte, sie zu sehen, bewegte sie sich völlig lautlos – oder stand plötzlich da, so wie jetzt: Bewegungslos wie eine Statue. Unsere Augen begegneten sich, grüngraue, wache Augen sahen mich aus dunklen Höhlen an. Ich konnte ihren Blick auf meinem Körper fühlen. Zu meinem größten Erstaunen verzog sie ihren runzligen Mund zu einem Lächeln. Walli hatte mich noch nie angelächelt. Sie hatte mich manchmal heimlich beobachtet und war, sobald ich sie bemerkt hatte, schnell wie ein Schatten um die Ecke ihres Hauses verschwunden. „Ich wünsche dir Glück zu deinem Geburtstag!“ flüsterte sie mir zu. Und ich bekam den Mund nicht mehr zu. Warum redete sie plötzlich mit mir? Woher wusste sie überhaupt, dass ich Geburtstag hatte? „Du wirst Glück brauchen!“ zischte sie, bevor sie so plötzlich und lautlos verschwand, wie sie gekommen war. Ich dachte über die Begegnung mit ihr nach und erinnerte mich, dass ich oft so ein Gefühl hatte wie jetzt gerade. Das Gefühl, dass ihre Augen auf mir ruhten und jede meiner Bewegungen verfolgten. Vielleicht stand sie hinter einem ihrer Fenster und beobachtete mich, wie ich mich im Gärtchen aufhielt. Und ich hielt mich hier das ganze Jahr über auf, bei Wind und Wetter. Weil die Zwillinge seit Wallis Erscheinen sehr unruhig waren und ich den Vorfall in Ruhe verdauen musste, beschloss ich, mit ihnen einen Ausflug zur Halbinsel zu unternehmen bevor Mutter durch ihr Geschrei zum Gärtchen gelockt wurde. Die Halbinsel, das war eine Stelle, wo der Fluss im Tal eine Schlinge bildete. Daraus war so etwas wie eine Halbinsel entstanden. Unter dickstämmigen, uralten Bäumen fand ich dort die besten Gräser für mein Gärtchen. Mutter wollte nicht, dass ich mit den beiden Kleinen unser Grundstück verließ. Sie mochte es erst recht nicht, wenn ich sie mit ans Wasser nahm. Natürlich konnten die beiden noch nicht schwimmen. Ich setzte mich trotzdem über ihre Vorschriften hinweg, schließlich blieb mir nichts anderes übrig, wenn ich die Kleinen ständig hüten musste. Um zur Halbinsel zu gelangen, mussten wir den steilen Hang hinter unserem Haus hinablaufen, an einem dunklen Tannenwald vorbei zum Fluss. Ich brauchte nur „Insel“ zu sagen, dann setzten sich die Kleinen schon in Bewegung. Sie hatten zwar Angst vor dem dunklen Waldstück, aber sie liebten Wasser über alles. Unten ging es ein gutes Stück am Bach entlang über eine Brücke, die über die Landstraße führte, und wieder den Bach entlang. Ich hatte Mühe, meine Brüder vom Wasser fernzuhalten. Deshalb nahm ich sie auf der 5
Halbinsel wie immer mit den Stricken „an die Leine“, band sie wie zu Hause an einem Baum fest und machte mich auf die Suche nach Gräsern. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ein schlimmes Unglück passieren und dass sich dadurch mein Leben völlig verändern würde. Jan war es irgendwie gelungen, sich - von mir unbemerkt - aus seiner Leine zu befreien. Natürlich ging er ans Wasser. Ich hatte ein Plätschern gehört, dachte, es sei ein Fisch, der aus dem Wasser schnalzt - und hatte nicht weiter darüber nachgedacht. Erst, als Jochen zu weinen begann, bemerkte ich, dass Jan verschwunden war. Ich fand ihn im Wasser treibend. Mit dem Kopf nach unten. Ein dicker Ast, der vom Ufer ins Wasser hing, hielt ihn an seinem Pullover fest, sonst wäre er den Fluss hinabgetrieben. „Jan!“ Mein Herz begann im Brustkorb zu toben, als wolle es ihn zersprengen und ich stürzte ins Wasser und holte den Kleinen heraus. Ich legte ihn ans Ufer und schüttelte ihn, hielt mein Ohr an seine Nase. Er schien nicht mehr zu atmen, lag da, als ob er tot wäre. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, fühlte mich schrecklich hilflos. Meine Angst vor Mutter war zu groß, deshalb beschloss ich, dass nur eine Person mir helfen konnte: Die Walli. Schließlich hatte sie mir ausgerechnet heute zum Geburtstag gratuliert. Vielleicht war das ja ein gutes Zeichen. Ich band Jochen von seinem Strick los und zog ihn schwitzend an der Hand hinter mir her nach Hause. Langsam wie eine Schnecke, aber brav wie ein Lämmchen folgte er mir. Er schien den Ernst der Lage begriffen zu haben. Jan musste ich zurücklassen. Zu Hause hob ich Jochen vom Garten aus über den Zaun, dann stieg ich selbst darüber. Als ich Wallis Hintertür öffnete, gähnte uns eine große, dunkle Scheune entgegen. Ich schob den Kleinen hinein. Ängstlich klammerte er sich an mein Bein und ich musste mich immer wieder befreien, um laufen zu können. „Walli!“ rief ich verzweifelt, aber vorsichtig. „Walli, wo bist du?“ Niemand antwortete. Meterlange, zusammengeklebte Spinnwebenstränge hingen von der hohen Decke, verrostete landwirtschaftliche Geräte, Sensen, Sicheln, Beile, Gabeln und Rechen standen und hingen an den kahlen Steinwänden wie Trophäen. Es roch nach Staub und Heu. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Jochen begann zu zittern und zu jammern vor Angst. Ich drückte seine kleine Hand fester. Plötzlich standen wir vor einer ausgetretenen, steilen Holztreppe. „Da hoch!“ bestimmte ich und schupste den Kleinen vor mir her, während ich dicht hinter ihm die knarrenden Stufen hinaufstieg. Oben angelangt führte eine angelehnte grüne Holztür durch einen winzigen Flur ins Wohnhaus. Da standen wir auch schon in einer kleinen Küche mit einem großen steinernen Spülbecken, um die Ecke thronte ein uralter, gusseiserner Herd auf eisernen Füßen. Darauf stand ein riesiger Eisentopf, in dem etwas köchelte. Es war heiß in der Küche und es roch nach getrockneten Kräutern und nach Tee. „Walli!“ rief ich wieder, zögernd und ängstlich. „Hier bin ich!“ hörte ich ihre Stimme aus der Ecke hinter mir. Der Kleine zuckte zusammen und ich drehte mich um. Walli saß an einem alten, dunklen Holztisch auf einem Schemel und zerhackte völlig lautlos getrocknete Kräuter mit einem spitzen, großen Messer. Sie sah mich aus den Augenwinkeln scharf an und ich schluckte. Bevor ich ein Wort herausbrachte, kam sie mir zuvor. „Du hast ein Problem?“ Ich nickte verlegen. Sie musterte Jochen und der Kleine klammerte sich jammernd an mir fest. „Der andere fehlt! Wo hast du ihn gelassen?“ „Ich, ich glaube, er ist ertrunken! Meine Mutter wird mich umbringen. Sie müssen mir helfen, bitte! Sie sind die einzige, die mir helfen kann!“ „Ich weiß, ich bin die einzige, der du vertraust!“ Sie lächelte für einen kurzen Moment, dann wurde ihr Blick plötzlich sehr streng und ihre Augen blitzten auf. „Aber du verlangst viel!“ Mit jedem Wort sprach sie schneller und ihre Stimme wurde lauter. Ich zuckte zusammen. „Ich, ich dachte, Sie haben vielleicht einen Zaubertrank, der Jan wieder zum Leben erwecken kann!“ stotterte ich. „Das wird nicht helfen!“ Sie runzelte die Stirn und sah mich vorwurfsvoll an. „Das Leben deines Bruders erfordert den Tod, verstehst du?“ Ich erschrak. “Welchen Tod?“ „Meinen - oder deinen!“ erwiderte sie drohend und ließ mich nicht aus den Augen. 6
Ich schluckte und überlegte. Nein, sterben wollte ich nicht, dazu war ich zu feige. „Es, es tut mir leid, dass ich Sie um Hilfe gebeten habe!“ Ich ergriff die Hand des Kleinen und wandte mich zum Gehen. „Warte!“ zischte sie und plötzlich stand sie hinter mir. Ich spürte ihre knöchrige Hand auf meiner Schulter. „Ich bin alt. Du könntest an meine Stelle treten! Willst du?“ Ich zögerte. Sie trat mir gegenüber und ihre grüngrauen Augen hakten sich in meinen fest. „Du weißt doch, dass ich eine Hexe bin! Sonst hättest du mich nicht gebeten, dir zu helfen, oder?“ Wieder wurde ihre Stimme lauter und höher. „Ich, ich wusste es nicht genau!“ stammelte ich. „Wir haben keine Zeit mehr. Wenn du dich jetzt bereit erklärst, kann ich deinen Bruder retten!“ Ihre Augen durchdrangen mich und ich schluckte und nickte. „Tun Sie mit mir, was notwendig ist!“ sagte ich, so tapfer ich konnte. Was hatte ich schon zu verlieren, tröstete ich mich! Ich war zu aufgeregt und bereit, alles zu tun - für Jan, der da unten am Wasser lag. „Hier im Haus wirst du finden, was du brauchst. Geh jetzt, und hol deinen Bruder ab!“ befahl sie mir. „Und verlass dich immer auf dein Gefühl!“ rief sie mir durch die Küche nach, als wir die Holzstufen nach unten kletterten. Das Sonnenlicht blendete mich, als ich aus dem Dunkeln ins Freie trat. Mit Jochen im Schlepptau rannte ich zur Halbinsel hinunter. Meine Augen wurden feucht und es fiel mir so etwas wie ein großer Stein vom Herzen, als Jan uns entgegenlief, quietschlebendig, als wäre nichts gewesen. Ich schloss ihn in die Arme und zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir klar, wie sehr ich meine Brüder liebte. Zu Hause angekommen brachte ich die Kleinen zu Mutter. Ich erzählte ihr nichts, machte, dass ich wieder wegkam, bevor sie begann, mich auszufragen oder die Kleinen etwas ausplapperten. Ich lief schnurstracks zum Gärtchen und stieg über den Zaun, wollte mich bei Walli bedanken. Merkwürdigerweise war mein Gedächtnis wie ausgelöscht, was das Gespräch mit ihr betraf. Während ich denselben Weg durch die Scheune in die Küche nahm wie zuvor, erinnerte ich mich langsam daran, dass sie vom Tod gesprochen hatte. Als ich Walli in der Küche nicht antraf, überfiel mich eine große Angst. Ich erschrak fast zu Tode, als ich auf den Marmorplatten des Küchenbodens ein Messer liegen sah. An dem Messer klebte Blut. Da erkannte ich Wallis Messer, mit dem sie zuvor die Kräuter gehakt hatte. Ich starrte es an. War es ihr Blut? Hatte sie sich selbst geopfert? Für mich - und für meinen Bruder? In diesem Moment hörte ich ein Flüstern in meinem Ohr: „Du bist jetzt eine Hexe!“ Ich sah mich um. „Walli?“ fragte ich leise. Niemand war da. Ich sah zu Boden. Das Messer! Es war plötzlich blitzsauber, kein Blut klebte mehr daran. „Nimm das Messer und geh in den Keller!“ hörte ich das Flüstern wieder. Und wieder konnte ich niemanden sehen. Klopfenden Herzens bückte ich mich und ergriff das Messer. Es lag schwer in meiner Hand. Dann stieg ich damit vorsichtig Stufe für Stufe die Holztreppe zur Scheune hinunter. Gegenüber der Treppe entdeckte ich einen dunklen Eingang. Das musste der Keller sein. Eine Steintreppe führte steil nach unten. Ich drückte den Griff des Messers immer fester, als ich Stufe für Stufe hinabstieg. Ein modriger Gestank stieg mir in die Nase, als ich es wagte, die schwere, runde Holztür am Ende der Treppe zu öffnen. Die Angeln knarrten und ich betrat einen dunklen, feuchten Gewölbekeller. Der modrige Gestank mischte sich mit dem beißenden Geruch nach Vergorenem. Ich tastete mit der freien Hand nach einem Lichtschalter, weil ich kaum etwas sehen konnte. Ich fand keinen. Nur leicht erkannte ich die Umrisse von großen Fässern. Und dann so etwas wie einen Schatten, nein, eine Gestalt, die hinter einem der Fässer lautlos hervorschlich. Ich spürte, wie sie auf mich zukam und nur ein paar Schritte vor mir stehen blieb. „Du bist jetzt eine Hexe!“ hörte ich eine hämische Stimme. „Du wirst ein Feind der Menschen, wirst deine Brüder in 7
Hunde verwandeln und einsam sein - und du wirst dieses Gehöft nicht mehr verlassen können – so wie ich,“ drohte sie mir. Ich hielt die Luft an und mein Brustkorb zerbarst fast vor Angst, aber ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. „Ich werde meine Brüder nicht in Hunde verwandeln!“ sagte ich laut und entschlossen und es hallte im Keller wider. „Du wirst mir dienen müssen!“ drohte das Wesen und kicherte auf unheimliche Weise. „Ich werde dir nicht dienen. Ich werde eine gute Hexe werden- wie die Walli!“ „Wer sagt, dass die Walli eine gute Hexe war?“ „Ich weiß es!“ sagte ich bestimmt, obwohl mir das Herz bis zum Hals klopfte. „Sie hat sich geopfert. Für mich und für meinen Bruder!“ Das Wesen kicherte. „Nur dein Bruder hat etwas davon. Er hat die gute Seite von Walli abbekommen – und die ist jetzt tot, weil dein Bruder lebt. Aber du wirst die böse Seite abbekommen. Und was von ihr übrig ist, das bin ich!“ Wieder dieses unheimliche Kichern. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, ich konnte die Gestalt immer besser erkennen. Und ich erkannte - einen hässlichen Gnom. „Verschwinde!“ schrie ich ihn an. Mehr verzweifelt als mutig. „Verschwinde, oder ich werde dich töten!“ Der Gnom kam immer näher und kicherte immer lauter, bis sein Lachen den ganzen Keller ausfüllte und er nur noch ein paar Zentimeter von mir entfernt stand. Ich fühlte, dass ich es tun musste – ich rammte ihm das Messer irgendwo in die Mitte seines Leibes. Während ich noch überlegte, was ich getan hatte, geschah etwas völlig Unerwartetes. Vor meinen Augen verwandelte sich die hässliche Gestalt - in eine alte Frau. Und plötzlich stand die sterbende Walli vor mir. Ich sah sie entsetzt an. „Walli! Was hab’ ich getan? Das wollte ich nicht!“ Ihre grüngrauen Augen leuchteten in der Dunkelheit auf wie Lichter – aber das Leuchten ließ sichtbar nach - wie eine Glut, die langsam erlosch. Sie sackte zu Boden. Mit dem Messer in ihrem Bauch. „Du hast gut daran getan!“ flüsterte sie. „Der Gnom war das Böse in mir, das noch lebte. Das mich ein Leben lang quälte und von der Welt abschirmte. Du musstest ihn töten. Sonst wärst auch du eine Gefangene des Bösen gewesen in diesem Gehöft.“ Ich stützte sie und beugte mich über sie, litt mit ihr und hatte das Gefühl, als ob mit ihrem Sterben ein Teil von mir selbst abstarb. „Was soll ich tun?“ fragte ich sie hilflos. „Bin ich jetzt eine Hexe?“ „Hör auf dein Gefühl und geh den Menschen nicht aus dem Weg! Dann kannst du eine gute Hexe werden! Verstehe dich selbst, und verstehe die anderen. Sie werden spüren, dass sie dir vertrauen können – so, wie du mir vertraut hast. Und du wirst ihnen in ihrer Not helfen können – so, wie ich dir geholfen habe.“ Das waren die letzten Worte der Hexe Walli, bevor sie in meinen Armen starb. Kaum war die Glut in ihren noch offenen Augen erloschen, befand ich mich plötzlich in meinem Gärtchen. Und dort bemerkte ich zuerst, dass nichts wie zuvor war. Denn auf meinem unfruchtbaren Stück Erde wuchsen die schönsten Blumen. Später bemerkte ich, dass auch die Menschen anders waren: Mutter, die Nachbarn - und ich erkannte mich selbst nicht wieder. Alles war wie verhext. Wallis Gehöft wurde nach ihrem Tod abgerissen, ihre Leiche hatte man nicht gefunden, ihre letzten Worte aber behielt ich in meinem Herzen. Das ist jetzt zehn Jahre her. Es macht mich zufrieden, dass ich anderen helfen kann. Weniger durch Zaubersüppchen, wie ich es mir ursprünglich vorgestellt hatte. Sondern einfach nur durch meinen Rat. Sie meiden mich nicht mehr, weil sie begriffen haben, dass ich ihnen helfen kann. Sie akzeptieren, dass ich anders bin als sie - weiser, klüger. Ich glaube, ich bin eine gute Hexe geworden.
8
Maries Gabe von Carolin Wentzel
Marie und Heinrich sind ein Paar, doch Eifersucht soll ihr Glück zerstören. Da erfährt die junge Frau Erstaunliches...
,,Wo warst du denn so lange? Ich habe auf dich gewartet.“, fragte Gustav Burger wütend, als Marie knarrend die Haustür öffnete. Er saß am Kamin und las die Bibel, so wie er es jeden Abend tat, bevor zu Bett ging. Gustav Burger war ein sehr stiller Mann von kräftiger Gestalt und vollem grauen Haar, der sich nie besonders zu anderen Menschen hin gezogen fühlte. Doch für seine beiden Töchter Marie und Annegret pflegte er sehr viel Fürsorge. Marie war ein kleine, zierliche junge Frau mit langem blonden Haar und hervor stechenden, grünen Augen. ,,Ich musste noch bei der alten Johanna vorbei. Ihre Nachbarin hat nach mir schicken lassen, da sie einen Fieberanfall nach dem anderen durchlitt. Ich hoffe ich konnte ihre Qualen etwas lindern“, entgegnete Marie besorgt. Nachdem er Marie angehört hatte widmete er sich wieder seiner Bibel und schien für weitere Geschichten kein Interesse zu haben. ,,Gute Nacht“, murmelte Marie flüchtig und eilte die alte, rustikale Treppe hinauf, die von einigen Öllampen erhellt wurde. In ihrer Kammer war es stockdunkel und kalt. Marie zündete mit einem Streichholz eine Kerze, die neben ihrem Bett stand. Ihr Zimmer war sehr karg eingerichtet. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein alter Kleiderschrank und ein riesiges Regal, in dem sie all ihre Bücher über Kräuter unter gebracht hatte, die ihr ihre Mutter kurz vor ihrem Tot vermacht hatte. Sie lehrte Marie auch die Kunst der Herstellung von Medizin in den langen Nächten, in denen Marie sich um sie kümmerte, als es langsam mit ihr zu Ende ging. Seitdem die Mutter verstorben war, regelte Marie den ganzen Haushalt. Ach wenn Annegret ihr viel half, die meiste Arbeit blieb immer an Marie hängen. Doch das machte ihr nichts aus. So konnte sie sich wenigstens etwas ablenken . Der Holzboden knarrte, als sie fröstelnd unter die Bettdecke kroch. Sie musste sich immer wieder dazu zwingen die Augen offen zu halten, um nicht einzuschlafen. Die Stufen knackten. Das hieß, dass Gustav Burger sich zu Bett begab und es nicht mehr lange dauern würde, bis sie Heinrich treffe. Marie nahm die Kerze und schlich auf den Flur hinaus. Es schien alles ruhig. Sie schritt auf dem roten Teppich entlang bis zur Außentreppe, von der Sie ungesehen zum Stall gelangen konnte. Marie fror. Sie hörte das Klappern ihrer Zähne, die vor Kälte aufeinander schlugen. Im Schatten des Stalles erkannte sie seine Umrisse. Heinrich war ein großer, schlaksiger Mann mit strubbeligem, blonden Haar. Heinrich arbeitete als Knecht auf Gustav Burgers Gut. Und er würde nie eine Ehe zwischen Marie und Heinrich erdulden. Heinrich war sehr lebenslustig und fast immer gut gelaunt. Als er Marie erkannte, kam er ihr entgegen und umarmte sie stürmisch. „Warum hast du mich so lange warten lassen?“, fragte er vorwurfsvoll. ,,Mein Vater ging erst s spät zu Bett.“, entgegnete sie entschuldigend. Jetzt lächelte Heinrich wieder und Marie wurde gleich leichter ums Herz. Sie schlenderten zum See, in dessen Wasser sich der Vollmond spiegelte. Marie erzählte von der alten Johanna und ihren Fieberanfällen. Heinrich hörte die ganze Zeit interessiert zu. Und als Marie zu Ende erzählt hatte, gab er ihr einen Kuss. ,,Lass uns umkehren, ich habe Angst das uns jemand sehen könnte.“, befürchtete Marie. Heinrich nickte zustimmend und sie eilten im Schutz der Dunkelheit zurück zum Haus. Als sie die Tür ihrer Kammer erreicht hatte, bemerkte sie einen Lichtstrahl, der durch den Türspalt fiel. Mit zitternder Hand, öffnete sie langsam die Tür. Sie erblickte eine Kerze, die auf ihrem Schreibtisch stand. Die Kerze war nicht weit abgebrannt und rußte. Auf Maries Bett 9
lag Rebecca, das Dienstmädchen und blätterte in einem Kräuterbuch, dass eindeutig aus Maries Regal stammte. Als sie Marie bemerkte, schaute Rebecca auf und strich sich eine Strähne ihres braunen, lockigem Haar aus dem Gesicht, die aber sofort wieder zurück glitt. Rebecca und Marie waren nie gute Freundinnen gewesen und jeder wusste, dass Rebecca ein Auge auf Heinrich geworfen hatte. ,,Man könnte dich glatt für eine Hexe halten Marie Burger.“, sprach Rebecca hochnäsig. Ihre Augen funkelten vor Wut. Marie brachte kein Wort heraus. ,,Warum liegst du denn um diese Zeit nicht im Bett?“, fuhr sie weiter fort. ,,Weil ich nicht schlafen konnte und frische Luft geschnappt habe“, log Marie und versuchte ihrer Stimme einen sicheren Ton zu verleihen. ,,Lüg mich nicht an!“, keifte die Andere. ,,Du gehst mit dem Knecht Heinrich und hattest ein heimliches Treffen mit ihm. Wenn das dein Vater wüsste.“ Marie schluckte zweimal. Wie hatte Rebecca das heraus bekommen? ,,Du weißt ganz genau, dass ich schon lange versuche ihn für mich zu gewinnen. Das tust du nur um mich zu demütigen.“, klagte Rebecca Marie an. Langsam fasste sich Marie wieder. ,,Aber das ist nicht wahr“, versuchte sie Rebecca zu überzeugen. ,,Du wirst dich nicht mehr mit ihm treffen!“ befahl Rebecca. ,,Das geht nicht!“ sprach Marie ein. ,,Ich werde dich sonst beim Richter als Hexe anklagen. Genug Beweise habe ich ja!" drohte sie und schaute in die Richtung in der das Regal mit den Kräuterbüchern stand. ,,Ach ja, und da wären noch die seltsamen Geräusche und diese widerlichen Gerüche, die Nachts aus deiner Kammer kommen.“, fügte Rebecca hinzu und grinste gemein, weil sie genau wusste, dass was sie sagte nicht stimmte. Sie klappte mit einem Mal das Buch mit einem lautem Knall zu und verschwand aus der kalten Kammer. Marie stand da wie erstarrt, unfähig sich zu bewegen. Ihr war klar das Rebecca ihre Drohung ernst meinte. Und jeder wusste was passiert, wenn man als Hexe an den Pranger gestellt wird. Sie würden sie so lange foltern bis sie zugibt mit dem Teufel im Bunde zu sein. Aber sie war keine Hexe. Davon war Marie fest überzeugt. Steif legte sie sich in ihr Bett und blieb noch lange wach. Den ganzen nächsten Tag lang, versuchte sie so zu sein wie immer und so wenig mit Heinrich zu sprechen wie möglich. Doch er merkte das etwas nicht stimmte und fing sie gegen Nachmittag in der Küche ab. Marie war gerade dabei ein paar Kräuter zu sortieren, die sie später der alten Johanna bringen wollte, als sie Heinrich entdeckte, der im hölzernen Türrahmen stand. ,,Hast du etwas?“, fragte Heinrich schließlich. Marie schüttelte mit dem Kopf. Heinrich ging zum Tisch. Dann schaute er sie mit seinen blauen Augen hilflos an. ,,Habe ich etwas falsch gemacht, oder etwas Dummes gesagt?“, drängte er weiter. ,,Ich kann es dir nicht sagen“, flüsterte Marie. Heinrich wurde langsam ungeduldig. Marie überlegte einige Zeit, bis sie sich dazu durchrang, ihm doch von Rebeccas Drohung zu erzählen. Er war sehr erschrocken und außer sich. ,,Was bildet sich dieses Weib eigentlich ein? Du und eine Hexe, das ich nicht lache.“, schimpfte er und knallte dabei mit der Faust auf den Tisch. „Pssst, nicht so laut!“ warnte ihn Marie. In diesem Moment betrat Ruth, die Köchin die Küche. Sie war eine ältere, etwas molligere aber gutmütige Frau. In einem Korb schleppte sie Bohnen, die sie für das Abendessen gepflückt hatte. ,,Alles in Ordnung mit euch?“ fragte sie misstrauisch, da sie von Draußen Heinrichs Wutausbruch wahrgenommen hatte. ,,Natürlich.“, entgegnete Marie mit gespielter Leichtigkeit und verließ schnell die Küche. Auf 10
dem Weg in den Keller begegnete sie abermals Rebecca. Marie schaute erschrocken in ihre wässrigen Augen, die sie überlegen anschauten. ,,Ich habe dich gewarnt Marie. Doch du wolltest mir anscheinend nicht glauben. Bei so viel Dummheit blieb mir nichts anderes übrig“, sprach sie in einem arroganten Ton. ,,Das kannst du nicht machen. Ich tue alles was du willst!“ bettelte Marie mit zittriger Stimme. ,,Du hast deine Gelegenheit verspielt. Ich war bereits beim Richter. Oder glaubtest du, ich sei so dumm wie du?“, konterte Rebecca und ließ Marie allein zurück. Sie konnte ihre Tränen der Verzweiflung nicht länger zurück halten. Doch dieser Zustand hielt nicht lange an. Ehe Marie zur Besinnung kam, rannte sie in ihre Kammer und packte ein paar wichtige Sachen zusammen. Aus der Vorratskammer nahm sie ein wenig Brot und Wasser. Als Marie eilig das Haus durch den Dienstboteneingang verließ, begegnete sie Annegret, die gerade vom Pilze sammeln aus dem Wald zurückgekehrt war. ,,Marie, wo willst du hin?“ fragte Annegret erschrocken, als sie das Bündel in ihrer Hand entdeckte. ,,Schnell weg. Annegret, was ich dir jetzt sage, darfst du Niemanden erzählen. Versprichst du mir das?“ Annegret nickte verwirrt. ,,Rebecca hat mich der Hexerei beschuldigt. Ich muss fliehen, damit ich nicht auf dem Scheiterhaufen ende“, erklärte Marie rasch. ,,Aber warum tut sie das?“ wollte Annegret wissen. Marie erzählte ihr die ganze Geschichte mit Heinrich und Rebeccas nächtlichem Besuch. Annegret versprach ihr, das ihr Mund versiegelt sei und das sie zu Niemanden auch nur ein Sterbenswörtchen über Maries Flucht verlieren würde. Zum Abschied umarmten sich die beiden Schwestern herzlich. ,,Pass auf dich auf“, bat Annegret. ,,Und du auf dich“, erwiderte Marie. Sie löste sich aus der Umarmung und lief in Richtung Stadttor. Die Sonne stand schon sehr tief, als Marie die Stadt endlich verließ. Die Bettler vor den Toren bettelten um ein wenig Brot. Doch Marie konnte ihnen leider nichts geben. Als die Sterne am Himmel standen, erreichte sie ein kleines Wäldchen. Ihre Füße schmerzten und ihr Magen knurrte. Marie suchte sich eine geeignete Stelle, an der sie ungestört die Nacht verbringen konnte. Sie breitete eine Decke aus und ließ sich darauf nieder. Jetzt erst kam sie dazu daran zu denken, was heute alles passiert war. Sie war der Hexerei angeklagt worden und hatte ihr Heim verlassen. Ihren Heinrich, ihre Schwester und ihren Vater, der sich sicher schreckliche Sorgen machte. Doch daran durfte sie jetzt nicht denken. Es war ja so schon schwer genug. Nachdem sie ein Viertel ihres Brotes verspeist hatte, verfiel sie in einen unruhigen Schlaf. Marie erwachte durch den lauten Schrei eines Vogels. Es musste schon um die Mittagszeit sein, denn de Sonne stand bereits hoch am Himmel. Schnell packte sie ihre Habseligkeiten zusammen, da sie Angst hatte verfolgt zu werden. Sie lief quer durch den Wald, ohne genau zu wissen wo sie war und wo sie überhaupt hin wollte. Plötzlich wurde sie von einem lautem Schrei aus ihren Gedanken gerissen. Was war das? Nicht dieser Vogel, der sie eben geweckt hatte. Es war eine Menschenstimme. Hatte sich jemand weh getan? Oder war das vielleicht eine Falle? Aber vielleicht brauchte ja jemand ihre Hilfe. Sie konnte jetzt nicht einfach so weiter gehen. Marie rannte in die Richtung aus der der Schrei gekommen war. Doch auf einmal war es ganz still. Marie blieb ruhig stehen und hörte nur noch das Rascheln der Blätter in den Bäumen und ihre eigenen schweren Atemzüge. Der Wald schien auf einmal so friedlich. Marie erschrak. Schon wieder dieser Schrei. Es musste hier ganz in der Nähe sein. Und tatsächlich, hinter einem Busch wurde sie fündig. Dort lag ein alter Mann mit langen, weißem Haar und einem schwarzen, langem Gewand. Er krümmte sich vor Schmerzen auf dem Boden. Jetzt entdeckte Marie die Fuchsfalle, die sich um seinen Fuß schlang. Der Fuß 11
war schon blutüberströmt. Als der alte Mann Marie entdeckte, stöhnte er: ,,Bitte, hilf mir. Ich halte das nicht mehr aus.“ Sofort kniete Marie sich auf den Boden und versuchte seinen Fuß von der Falle zu befreien. Doch das war gar nicht so einfach. Nach einiger Zeit und vielen Stöhnen und Schreien des Alten, war der Fuß aus der Falle gelöst. ,,Sie bluten ja immer noch. Ich muss die Blutung stoppen“, stellte Marie aufgeregt fest. Sie riss ein Stück Stoff von ihrem Unterrock ab und wickelte es fest um die wunde Stelle. Der Alte lehnte regungslos an einem Baumstamm. Erst jetzt bemerkte Marie seine feinen Gesichtszüge und die vielen Lachfalten, die ihn sehr sympathisch wirken ließen. Langsam wurde sein Atmen immer ruhiger. ,,Schmerzt es noch sehr?“ fragte Marie vorsichtig. Der Alte nickte. ,,Möchten sie etwas trinken?“ Marie holte ihre Flasche aus dem Bündel hervor und streckte sie ihm entgegen. Er griff nach der Flasche und nahm einige Schlucke. ,,Ich danke dir. Wie heißt du mein Kind?“ wollte der Alte schließlich wissen. ,,Marie.“ Plötzlich schaute der Mann ihr wie erstarrt in die Augen. Er murmelte etwas Unverständliches. Marie verstand nur: ,,Das ich das nicht gleich bemerkt habe.“ ,,Was haben sie nicht gleich bemerkt?“ forschte Marie nach. ,,Deine Augen“, sprach der Alte bewundernd. ,,Was ist mit meinen Augen?“ fragte Marie erstaunt. ,,Sie sind grün“, fuhr er weiter fort. ,,Ich weiß. Na und?“ Marie wusste nicht was der Alte von ihr wollte. ,,Deine grünen Augen bedeuten, dass du eine Gabe hast. Weißt du das denn nicht?“ erklärte er. ,,Was für eine Gabe?“ Marie wurde langsam ungeduldig. ,, Du bist eine Hexe, mein Kind.“ Erschrocken fuhr Marie hoch. Was wollte dieser Mann von ihr? Wurde er von Rebecca geschickt? War es doch eine Falle? Marie wollte davon rennen, doch irgendeine übernatürliche Kraft hielt sie davon ab. ,,Wer sind sie? Was wollen sie von mir? Wer gibt ihnen das Recht so über mich zu urteilen?“ fragte Marie wütend um ihre Angst zu überspielen. ,,Darf ich vorstellen. Ich bin Marlo der Zauberer. Und ich urteile nicht über dich mein Kind, ich spreche die Wahrheit“, entgegnete er mit einem Lächeln. Marie schüttelte verzweifelt den Kopf. ,,Ein Zauberer. Es gibt keine Zauberer. Genauso wenig, wie es Hexen gibt“, sprach sie in einem verächtlichen Ton. ,,Wer sagt das es keine Hexen gibt? Wovor hast du so große Angst?“ Marlo versuchte sich weiter auf zusetzten, doch seine Schmerzen im Fuß verhinderten das. ,,Falls sie noch nichts davon gehört haben, Hexen werden in diesem Land auf dem Scheiterhaufen verbrannt!“ schrie sie wütend. ,,Keine richtigen Hexen. Die wissen sich gut zu verbergen“, erwiderte er ruhig. ,,Ich werde dir beweisen, dass ich kein Scharlatan bin.“, sagte Marlo überzeugt. Er holte einen Apfel aus seinem Gewand. Der Apfel sah ganz gewöhnlich aus. Marie schaute gespannt auf die Frucht. Marlo strich ein paar mal mit der Hand über das rote Fruchtfleisch. Und was Marie dann sah, konnte sie kaum glauben. Aus diesem gewöhnlichen Apfel, war ein Apfel aus purem Gold geworden. ,,Das ist doch ein Trick.“, zweifelte Marie. ,,Nein, sieh selbst.“, entgegnete Marlo und reichte ihr den Apfel. Marie begutachtete ihn misstrauisch. Doch sie fand nichts das dagegen sprach das das Gold echt war. ,,Ja, aber was können denn Hexen?“ 12
Jetzt lächelte Marlo wieder. ,,Warum lachen sie?“ wollte Marie wissen. Ohne auf Maries Frage einzugehen, sprach Marlo weiter: ,,Sag mir mein Kind, wovor hast du Angst?“ Und schließlich erzählte Marie Marlo alles, was ihr auf der Seele brannte. Sie erzählte von ihrer Flucht, von Rebecca und von Heinrich. Kein einziges mal wurde Marie von Marlo unterbrochen und sie fühlte, dass sie ihm vertrauen konnte. ,,Das ist schrecklich, aber lass uns nicht mehr darüber sprechen. Ab heute beginnt für dich ein neues Leben“, erklärte Marlo feierlich. ,,Aber warum?“, fragte Marie verwirrt. ,,Weil ich dir jetzt beweisen werde, dass du eine Hexe bist. Halte deine Hand ganz flach über diesen trockenen Zweig!“ wies er Marie an und zeigte auf einen Brombeerbusch. Marie schritt hinüber und hielt ihre Hand über den Zweig, wie Marlo gesagt hatte. ,,Und jetzt, denk an etwas Grünes!“ fuhr er weiter fort. ,,An etwas Grünes?“ fragte Marie ungläubig. ,,Ja, an eine Gurke meinetwegen.“ Marie konzentrierte sich angespannt auf ihre virtuelle Gurke. Plötzlich verfärbte sich das eben noch trockene Braun in ein saftiges Grün, an dem Blätter sprossen und dicke Brombeeren hingen. ,,Das ist ja wunderbar!“ rief Marie überrascht aus. ,,Und du wolltest mir nicht glauben“, sagte Marlo selbstsicher. ,,Und das ist so einfach? Können sie mir nicht noch mehr zeigen Marlo?“ drängelte Marie aufgeregt. ,,Das kann ich leider nicht. Ich bin keine Hexe. Das ist alles, was ich weiß. Aber ich habe ein paar gut Bekannte, die das können. Aber bitte Marie, du kannst ruhig du zu mir sagen.“, sagte Marlo. Marie wurde leicht rot. Sie half Marlo aufzustehen und stützte ihn. Er erzählte ihr von einigen Hexen, die ganz in der Nähe auf einem Berg hausten und immer gerne Anfängerinnen aufnahmen. Marie war ganz begeistert, so das sie den Kummer der letzten Tage ganz vergaß. Nach ein paar Stunden, erreichten sie eine alte Burg. Sie war nicht sehr groß und sah ziemlich verlassen aus. Ein einziger Turm reckte sich gen Himmel, an dem schon die Sonne unterging. Die Burg war umringt von einer lächerlich kleinen Mauer, über die sogar ein alter Mann wie Marlo hinüber gekommen wäre. Zum Schutz konnte sie also nicht sein. Vor der Mauer erstreckte sich ein alter und riesiger Eichenbaum. ,,Sag Marlo, warum hat diese Burg eine Mauer, wenn diese sie doch nicht schützen kann?“ fragte Marie. Marlo ließ sich erschöpft auf einem Stein nieder. ,,Die Mauer ist nur eine Fassade“, keuchte er, ,,In Wirklichkeit wird die Burg von Flüchen und Zaubersprüchen beschützt.“ Marlo rieb sich seinen kranken Fuß, der jetzt mehr schmerzte als zuvor. Marlo stützte sich wieder auf Marie und sie schritten langsam auf das hölzerne Tor zu. Marlo sagte Marie, sie solle dreimal kräftig auf den Boden stampfen. Marie tat wie ihr geheißen und das hölzerne Tor öffnete sich. Sie konnte kaum ihren Augen glauben, als Marie erblickte was sich hinter den schlichten Mauern befand. Ein riesiger Garten mit hohen Bäumen und bunten Blumen. Ein Fluß erstreckte sich durch den ganzen Garten. Vögel zwitscherten und Kaninchen und Katzen liefen frei herum. Bevor Marie sich satt sehen konnte, kam eine junge Frau mit langem, schwarzem Haar, das in der Sonne glänzte und einem weißen Kleid auf sie zu. ,,Marlo, wie schön dich wieder zu sehen. Aber was hast du denn mit deinem Fuß gemacht?“ begrüßte sie Marlo herzlich. ,,Ach, diese elenden Fuchsfallen. Man müsste sie verbieten“, schimpfte Marlo. ,,Oh, ich sehe du hast noch jemanden mitgebracht“, bemerkte die schöne Frau und lächelte Marie zu. 13
,,Oh ja, das habe ich. Diese liebe Geschöpf hat mich aus dieser Falle befreit. Sie heißt Marie und ist ebenfalls eine Hexe“, erklärte Marlo. ,,Herzlich Willkommen Marie. Ich bin Marite. Wurdest du von jemanden geschickt?“ wollte Marita wissen. Marie war verwirrt. Von wem sollte sie denn geschickt worden sein? ,,Nein, nein. Damit du das nicht falsch verstehst Marite“, warf Marlo ein, ,,Das arme Ding wusste doch bis heute nichts von ihrer Gabe.“ ,,Ach so, also eine Anfängerin. Und du wolltest bei uns bleiben? stellte Marite fest, während der Wind mir ihrem Haar spielte. ,,Ist das nicht in Ordnung?“ befürchtete Marie. ,,Oh doch“, entgegnete Marite einladend und musste über Maries überraschtes Gesicht lachen. Marite führte sie in die Burg, die von Innen viel schöner war als es von Außen schien. Viele Bilder hingen an den Wänden, die von dem Licht erhellt wurden, das durch das gläserne Dach fiel. Marite ging durch einen langen Flur auf einen großen Raum zu, der keine Türen besaß. Marie und Marlo folgten ihr. Der Raum war gefüllt mit Blumen und Kissen, auf denen noch viele andere Frauen saßen. Einige kamen auf sie zu und begrüßten Marlo stürmisch. Er ließ sich erschöpft auf einem blauen Kissen nieder. Die Frauen musterten Marie neugierig und stellten ihr viele Fragen. Barbara, eine etwas ältere Hexe mit grauen Locken und einem freundlichen Gesicht, brachte Marie etwas zu Essen. Christina, eine Hexe etwa im gleichen Alter wie Marie, kümmerte sich um Marlos Fuß. Sie streute etwas weißes Pulver auf die Wunde und murmelte etwas vor sich hin. Marlos Schmerzen schienen gleich nachzulassen. ,,Danke Christina, du bist ein Engel“, bedankte sich Marlo. Christina lächelte und wurde leicht rot. ,,Ihr seid sicher müde. Ich werde euch eure Gemächer zeigen“, bemerkte Marite. Wieder folgten ihr Marie und Marlo durch die Burg. Sie öffnete eine Tür, die zu klein war um aufrecht durch gehen zu können. Das Gemach war sehr klein und gemütlich. Es hatte ein großes Fenster, durch das die Abendröte schien. Daneben stand ein großes Himmelbett und ein Schrank. ,,Gute Nacht Marie“, wünschte Marite mit einem Lächeln und verschwand aus dem Schlafraum. Marie schlüpfte in das weiße Nachthemd, das auf dem Bett lag und kroch unter die Decke. Obwohl heute so viel passiert war, schlief sie sofort erschöpft ein. Am 1. Morgen wurde sie früh von Marite geweckt. Marlo fühlte sich schon wieder fit und verließ sie noch am selben Tag. So war Marie auf sich allein gestellt. Sie blieb viele Monate bei den Hexen. Sie lehrten Marie in der Kunst der Hexerei. Ihr gefiel es sehr gut in der alten Burg un dem schönen Garten. Auch zu Marite entwickelte sie ein inniges Verhältnis. Aber trotzdem fühlte sie sich nicht heimisch. Ihr Heinweh und ihre Sehnsucht nach Heinrich wurde mit jedem Tag stärker. In zwischen war es so schlimm geworden, dass sie Marite davon erzählte: ,,Mir gefällt es wirklich sehr gut bei euch, aber ich wünsche mir nichts sehnlicher, als meine Familie wieder zu sehen.“, klagte Marie. ,,Warum tust du es denn nicht einfach? Wir würden nichts dagegen haben“, schlug Marite vor. Marie war begeistert. ,,Ist das dein Ernst? Dann müsste ich am besten Nachts mit dem Besen fliegen.“ ,,Meinst du denn, dass zu mit dem Besen schon zurecht kommst?“ zweifelte Marite. Marie war überzeugt, dass sie schon weit genug wäre. Und so verließ Marie Nachts die sichere Burg und flog ins unbekannte Dunkel. Sie war sehr aufgeregt. Wie wohl ihre Schwester, ihr Vater und erst recht Heinrich reagieren würden? Aber sie musste sich vor Rebecca hüten. Wenn sie ihr über den Weg laufen würde, wäre das ihr Ende. Doch das würde nicht passieren. Da war sich Marie sicher. Der Wind blies ihr ins Gesicht und zerwühlte ihre Haare. Die Welt sah so friedlich von oben aus. Ab und zu entdeckte sie ein paar hell erleuchtete Häuser. Von weitem sah sie schon die Stadtmauern. Jetzt musste Marie landen. Es 14
wäre zu gefährlich über die Stadt zu fliegen. Sie beendete ihren Flug in einem kleinen Wäldchen und ging das letzte Stück zu Fuß. Es war ein merkwürdiges Gefühl, als sie nach so langer Zeit das vertraute Haus wieder sah. Es sah noch alles genauso aus, wie an dem Tag als sie das Haus verließ. In der Küche schimmerte das schwache Licht einer Kerze durch das Fenster. Marie schlich sich näher heran und lugte durch die Scheibe. Dort saß Heinrich am Tisch, mit einem sorgenvollem Gesicht. Ihr Herz pochte. So erst kannte sie ihn gar nicht. Sie öffnete die Tür und trat vorsichtig herein. Heinrich blickte auf und schien Marie im ersten Moment nicht zu erkennen. ,,Marie?“, fragte er ungläubig. Als sie nickte lächelte er und fiel ihr um den Hals. Marie war total glücklich. ,,Setz dich.“, bat er. ,,Wo warst du denn? Wir haben alle geglaubt, sie hätten dich bekommen.“ Marie erzählte ihm alles und wurde zwischendurch immer wieder von seinen ungläubigen Fragen unterbrochen. Er konnte das alles nicht fassen. Marie war also doch eine Hexe. Heinrich erzählte das Gustav Burger Rebecca von seinem Gut gejagt hatte und nicht mehr gesprochen habe nachdem Marie verschwunden war. ,,Wo sind Annegret und Vater?“ fragte Marie schließlich. ,,Die sind für ein par Tage verreist“, entgegnete Heinrich. ,,Wie schade“, sagte Marie traurig. ,,Marie, ich bin so froh das du lebst“, freute er sich und küsste sie. ,,Hier ist etwas, das ich dir geben wollte, an dem Tag als du verschwunden bist.“ Er holte ein Säckchen hervor, das aus schwarzem Samt war und mit einer roten Kordel zugeschnürt war- Aus dem Säckchen blitzten zwei goldene Ringe hervor. ,,Das sind Verlobungsringe“, erklärte Heinrich erwartungsvoll. ,,Die Steine sind zwar keine Smaragde, aber ich dachte sie passen gut zu deinen Augen.“ Marie strahlte über das ganze Gesicht und umarmte Heinrich. , ,Ich danke dir. Aber ich muss jetzt wieder zurück bevor es hell wird. Aber ich verspreche dir, ich komme wieder“, sprach Marie traurig. Sie verließ schnell das Haus, damit Heinrich sie nicht weinen sah. Aber sie wusste, dass sie wiederkommen würde und das dann alles anders wird.
15
Der Schlüssel zur Magie von Catrin Hahne
Calile will ihre Schwester Ila retten. Und wenn es durch Magie ist...
Der Lärm des Marktes war nicht mehr zu hören, als Caliles eilige Schritte die enge gepflasterte Straße entlang hallten. Sie glaubte, noch ein anderes Geräusch bemerkt zu haben und drehte sich um, doch da war niemand. Sie ging weiter, bis sie zu einem völlig menschenleeren Gässchen kam. Hier blieb sie stehen und sah sich erneut um. Dann zog sie den grauen Pergamentfetzen hervor, den ihr die unter einem Kapuzenumhang verborgene Gestalt im Vorübergehen zugesteckt hatte. „Heute, zwei Glockenschläge nach Sonnenuntergang.“ Caliles Lippen bewegten sich lautlos, während ihre Blicke die Schrift entlang wanderten. Dann zerknüllte sie das Pergament, rollte es zwischen zwei Fingern zu einem Kügelchen und nahm sich vor, es später zu verbrennen. Der Klang der großen Messingglocke des Taira-Tempels ertönte. Calile beschleunigte ihre Schritte. Sie war schon ganz außer Atem, und sie wusste, die anderen würden es ihr übel nehmen, wenn sie sich verspätete. Am vergitterten Tor blieb sie stehen und holte den kleinen Schlüssel aus ihrem Beutel. Sie schloss das Tor geräuschlos hinter sich und stieg die schmale Treppe hinab. Unten war es kühl. Die Luft stand still, sie roch feucht und modrig. Calile wünschte sich nicht zum ersten Mal, das Treffen würde an einem angenehmeren Ort abgehalten werden, doch Malko bestand auf diesem Treffpunkt. Er sagte immer, kein anderer Ort wäre angemessener für ihr Vorhaben. Die Decke wurde immer niedriger, und Calile konnte gerade noch darunter hergehen ohne sich zu bücken. Das Gewölbe schien wie ein Gewicht auf ihr zu lasten. Rechts und links von ihr standen in langen Reihen die spinnwebenumflochtenen Särge, in denen die wohlhabenden Bürger der Stadt im langen Schlaf ruhten, Calile fühlte sich nicht besonders wohl dabei, zwischen ihnen herzugehen, und sie hoffte, dass die Toten in ihrer Ruhe nicht gestört wurden. Doch selbst das würde sie in Kauf nehmen, wenn sie nur zu ihrem Ziel gelangen würde, zur Magie, die das einzige war, was ihrer Schwester jetzt noch helfen konnte. Ihr Weg führte sie tief ins Innere der Totenstadt, dorthin, wo seit langer Zeit niemand mehr begraben worden war. Schließlich erreichte sie den Raum, den sie „Halle der Ehrenwerten“ nannten. Malko war davon überzeugt, dass unter diesen Ehrenwerten auch Magier gewesen waren. Er saß nun zusammen mit Talka und Aras auf dem staubigen Steinboden. „Ach, sieh an! Unser verlorenes Schaf kommt doch noch angetrottet.“ „Da war der Schäferhund wohl nicht wachsam genug“, erwiderte Calile und nahm ihren Platz in der Runde ein. Der herablassende Ausdruck verschwand nicht von Malkos Gesicht, aber dazu gesellte sich nun ein halbes Lächeln. „Beginnen wir also“, sagte Aras und sah der Reihe nach jeden mit seinen tiefbraunen Augen an. Malko stand langsam auf und zog sich dann die Kapuze seines grauen Umhangs über den Kopf. „Da wir nun vollständig sind, erkläre ich die heutige Versammlung der Gesellschaft zur Belebung der Magie für eröffnet.“ Er hob die Arme und beschrieb mit ihnen einen weiten Kreis. „Die Versammlung ist eröffnet“, sprachen alle im Chor. 16
Calile mußte sich zusammennehmen, um nicht die Augen zu verdrehen. Für ihren Geschmack war das Ganze viel zu theatralisch. Aber so war bis jetzt jede Versammlung abgelaufen, und es würde sich nicht ändern, solange sich niemand Malko entgegenstellte. Und wer würde das schon tun, denn er war die treibende Kraft, die sie alle näher zu ihrem Ziel brachte. Sie schaute verstohlen zu Talka, die von Malko nicht besonders viel hielt und das auch schon laut ausgesprochen hatte. Doch Talka blickte nur ausdruckslos auf Malko. „Ich habe Euch heute Großes zu verkünden. An diesen Tag werden wir uns noch lange erinnern.“ Malko machte eine lange Pause. Calile überlegte, ob es wirklich etwas Wichtiges sein konnte oder ob er das nur so dahersagte. Sie versuchte, kein Zeichen von Interesse zu zeigen. „Was ist denn, nun sagt schon!“ rief Aras. Er knetete seine Finger und sah aus, als würde er gleich aufspringen. Malko lächelte. „Ich habe eine große Entdeckung gemacht. Wir sind unserem Ziel so nah! Wir brauche nur eine Hand auszustrecken, um es zu fassen.“ Er griff unter seinen Umhang und holte eine Schriftrolle hervor. „Das ist der Schlüssel, nach dem wir so lange gesucht haben. In dieser Schriftrolle verbirgt sich der Schlüssel zur Magie.“ Calile sah, wie um sie herum viele den Atem anhielten und Malko anstarrten. Auch sie selbst konnte es nicht vermeiden, gespannt zu warten, was nun kommen würde. „Ach. Wollt Ihr uns nicht mitteilen, wie Ihr auf so wundersame Weise zu diesem Schlüssel gekommen seid?“ sagte Talka und warf ihm einen herausfordernden Blick zu. Malko erwiderte ihren Blick. „Ich habe ihn in den Gängen unter dem alten Tempel gefunden. Durch unsere Nachforschungen konnte ich endlich herausbekommen, an welcher Stelle er verborgen war.“ „Du hast die ganze Zeit gewußt, daß etwas im Tempel versteckt war? Du hast es uns nie erzählt!“ „Nun, ich war mir nicht sicher“, sagte Malko. Er entrollte die Schriftrolle vorsichtig und rezitierte mit erhobener Stimme: Verborgene Kräfte der Magie Werden sich dem eröffnen Werden durch seine Adern fließen Der das Tote zu wecken weiß Wenn der Mond aufgeht Über der dunklen Stadt Seine Stunden länger werden Kann nur ein Blick Leben bringen Ein Blick in das Antlitz des Todes Eine Weile herrschte Schweigen, und Calile dachte über die geheimnisvollen Worte nach. „Was bedeutet das, Malko?“ fragte sie schließlich. „Könnt Ihr Euch das nicht denken?“ „Nein. Es könnte alles Mögliche bedeuten.“ Talka lachte. „Es ist das Gestammel eines Wahnsinnigen! Wie könnt Ihr nur glauben, daß so ein lächerliches Gedicht der Schlüssel zur Magie ist!“ „Ihr werdet schon sehen“, sagte Malko. „Morgen wird der Tag wird genauso lang wie die Nacht sein, danach werden die Stunden des Mondes länger werden. Wir werden in dieser Nacht das erreichen, auf das wir so lange hingearbeitet haben.“ „Was werden wir denn tun? Wie können wir die Magie zurückrufen?“ In Aras Gesicht konnte Calile freudige Erwartung lesen, aber auch Furcht. „Nun, es scheint klar zu sein, daß diese Schriftrolle von einem Ritual spricht“, sagte Calile. „Einem Ritual, das wir bei Mondaufgang durchführen müssen. Das Tote, was geweckt 17
werden soll, ist natürlich die Magie, die wir in unser Leben zurückrufen wollen. Aber was bedeutet das Antlitz des Todes?“ „Das ist doch ganz einfach.“ Malko setzte sich wieder und machte eine ausholende Geste, als wollte er den ganzen Raum umfassen. „Schaut Euch doch einfach um. Sind wir hier etwa nicht in der dunklen Stadt? Und ist nicht der Tod überall um uns herum?“ „Ihr meint ...“ Aras runzelte die Stirn. „Wir sollen einen Sarg öffnen?“ „Was sonst, mein Lieber, was sonst.“ „Ihr seid Euch sicher, dass das alles ist, was wir tun müssen?“ fragte Calile. Talka schüttelte den Kopf. „Die Magie wird sich von ein paar alten Knochen nicht beeindrucken lassen.“ „Was wisst Ihr schon über Magie?“ sagte Malko. „Weitaus mehr als Ihr. Ihr scheint zu glauben, es handele sich hier um ein Kinderspiel. Ein paar schöne Worte und eindrucksvolle Gesten, dazu noch ein bisschen Grabschändung, um die Vorstellung abzurunden. Meint Ihr denn wirklich, das würde etwas bewirken?“ „Diese Schriftrolle stammt von einem Magiers!“ Malko hatte sehr laut gesprochen und senkte nun seine Stimme. „Wenn wir die Anweisungen befolgen, werden wir schon morgen ebenfalls Magier sein.“ „Ihr werdet Euch zum Narren gemacht haben, aber mehr nicht.“ „Wenn Ihr Euch so genau mit der Magie auskennt, warum habt Ihr sie nicht längst selbst zurückgerufen?“ „Genau, das würde ich auch gern wissen“, warf Aras ein. „Das ist weder so einfach, noch so ungefährlich, wie Ihr denkt.“ „Es steht Euch jederzeit frei zu gehen“, sagte Malko ruhig. „Niemand zwingt Euch, an dem Ritual teilzunehmen.“ „Ich möchte mir Eure lächerlichen Versuche gern anschauen. So einen Anblick bekommt man ja nicht jeden Tag geboten.“ Talka schüttelte erneut den Kopf, und wandte sich von Malko ab. Während Malko in allen Einzelheiten erläuterte, wie sie morgen bei Mondaufgang vorgehen würden, bemerkte Calile den Blick Talkas, der auf ihr ruhte. Calile sah sie an und hob fragend die Augenbrauen. „Calile“, begann Talka leise, „ich sehe, dass Ihr immer noch nachdenkt. Diese Sache gefällt Euch genauso wenig wie mir. Ihr seid nicht so leichtgläubig und so dumm wie dieser Hofnarr Malko und sein Hündchen Aras.“ Calile musste unwillkürlich grinsen, aber sie erwiderte nichts. „Euch kann man so leicht nichts vormachen, und das will ich auch nicht. Ich werde offen zu Euch sprechen. Ihr seid die einzige in dieser Runde von Hohlköpfen, die dazu fähig wäre, mit Magie umzugehen. Ich weiß, daß Ihr einen starken Willen habt und alles tun würdet, um Euer Ziel zu erreichen. Genau wie ich.“ „Worauf wollt Ihr hinaus?“ „Ich denke, ich habe den wahren Schlüssel gefunden“, flüsterte Talka. „Ich kann Euch nicht mehr verraten. Aber wenn Ihr Euch morgen an meiner Seite haltet, kann es auch Euch gelingen.“ „Was kann mir gelingen? Was muss ich tun?“ Talka lächelte, aber ihre Augen blieben kalt. „Nicht ungeduldig sein. Ihr werdet es schon sehen.“ Eine Stunde, bevor der Mond aufging, waren alle in der Halle der Ehrenwerten versammelt. Malko, der eine bodenlange, tiefrote Robe trug, begrüßte die Anwesenden. Er hatte eine Sanduhr mitgebracht, die er nun vor ihnen aufstellte, damit sie den genauen Zeitpunkt des Mondaufgangs nicht verpassen würden. Die Schläge hallten laut, als sie den ersten Steinsarg aufmeißelten. Um den Deckel hochzuheben mussten sie alle vier ihre ganze Kraft einsetzen. Calile fühlte sich mehr als nur 18
ein wenig unbehaglich und fragte sich, ob der hier Begrabene jemals Ruhe finden würde. Schließlich hatten sie vier Särge geöffnet, und vier Haufen von bleichen Knochen, die einmal Menschen gewesen waren, lagen vor ihnen. Der Sand war gerade zur Hälfte herabgerieselt. Calile warf einen verstohlenen Blick zu Talka, die sie aber nicht beachtete. Malko zeichnete mit Kreide einen Kreis auf den Boden und wies jedem seinen Platz zu. Im Kreis waren vier Totenschädel angeordnet, deren leere Augen in die vier Himmelsrichtungen schauten. Malko rezitierte noch einmal den Vers von der Schriftrolle. Die Sanduhr war fast abgelaufen. „Wir müssen nun die Magie erspüren“, sagte Malko und nahm die Hände von Aras und Talka, die wiederum nach Calile griffen. Alle schlossen die Augen. Calile spürte keine Magie. Alles, was sie spürte, war Aufregung. Sie umklammerte die Hände von Talka und Aras stärker, um nicht zu zittern. Wenn es gelingen würde ... Wenn die Magie zurückkehren würde ... Calile wünschte es sich so sehr. Sie würde ihre Schwester heilen können. Es musste ihnen gelingen. Malko wusste schon, was er tat. Aber was, wenn Talka recht hatte, und das Ritual überhaupt nichts bewirken würde? Calile rätselte immer noch, was Talka ihr hatte sagen wollen. Sie nahm sich vor, sie nicht aus den Augen zu lassen. „Es ist soweit“, sagte Malko. Das letzte Körnchen fiel in die untere Hälfte der Sanduhr. Calile griff nach dem Totenkopf, der vor ihr stand, und schaute in seine Augenhöhlen. In diesem Moment würde der Mond sein Licht über den Horizont werfen. Calile spannte ihre Muskeln und bereitete sich auf einen Blitz aus Magie vor. Nichts geschah. Sie hielt ihren Blick weiter auf den Schädel gerichtet, versuchte aber dabei, Talka aus den Augenwinkeln zu beobachten. Tatsächlich, Talka bewegte sich nun, sie sprang auf und ließ ihren Totenkopf fallen, so dass er über den Boden kullerte. Mit einem Satz war sie bei Malko, und Calile sah mit Schrecken, wie etwas in ihrer Hand blitzte. Ein kurzer Schrei zerriss die Stille. Talka beugte sich über den am Boden liegenden Malko und schien plötzlich von einem Krampf erfasst zu werden. Sie zuckte, als wäre sie von einem Blitz getroffen. Dann war es vorbei, und sie richtete sich langsam auf. Sie streckte ihren Arm aus, auf dem winzige Lichtpünktchen prickelten. Calile stand stocksteif da und krallte sich am kalten Boden fest, die Augen weit aufgerissen. Talka drehte sich zu ihr um, ein verzücktes Lächeln war auf ihrem Gesicht. Ihre Finger lösten sich vom Dolch, er traf genau vor Caliles Füßen auf den Boden. Ein weiterer Schrei ertönte, hoch und langgezogen. Calile schaute zu Aras, der aufgesprungen und an die Wand zurückgewichen war. Auf sein Gesicht war eine Landschaft des Entsetzens gemalt. Calile drehte sich wieder um. Talka nickte ihr zu, immer noch lächelnd. Calile blickte auf den Dolch zu ihren Füßen, und sah dann wieder zu Talka hoch. Talka breitete die Arme aus, und ein Bogen aus gleißendem Licht erschien dazwischen. Stolpernde Fußschritte sagten Calile, daß Aras den Weg zum Ausgang gefunden hatte. Sie schüttelte den Kopf, schüttelte ihn immer schneller, begriff erst jetzt. Aras rannte davon, immer noch schreiend. „Ich hatte mehr von Euch erwartet“, sagte Talka. Calile gelang es endlich, sich aus ihrer Starre zu lösen. Sie sprang auf und rannte. Sie drehte sich nicht um, um zu sehen, ob Talka ihr folgte. Sie war ihr nicht gefolgt. Calile wusste nicht, warum. Sie war überrascht, selbst noch am Leben zu sein, aber konnte keine Erleichterung darüber spüren. Sie fühlte nichts, weder Entsetzen noch Verzweiflung, als sie sich auf den Heimweg machte. Ila, ihre Schwester, würde dort auf sie warten, todkrank, falls sie überhaupt noch lebte. Calile 19
hatte lange Jahre mit der Suche nach einer Heilmöglichkeit verbracht. Die Magie war ihre einzige Hoffnung gewesen. Nun wusste sie, dass die Magie wirklich in die Welt zurückgekehrt war. Sie hatte es gesehen. Doch sie hatte nicht geahnt, welcher Preis dafür zu zahlen war. Malko war tot. Calile wurde schlecht, wenn sie nur daran dachte, wie Talka gelächelt hatte, nachdem sie ihn getötet hatte. Nein, der Preis war zu hoch. Calile würde kein Menschenleben nehmen, um an Magie zu gelangen. Selbst für Ila nicht. Ihre eigene Schwester, die sie damit zum Sterben verdammte. Calile wurde den Gedanken daran nicht los. Sie sah Ila vor sich, so wie sie ausgesehen hatte, als sie sich heute morgen von ihr verabschiedet hatte. Blass, von Schmerzen gezeichnet, vom Fieber geschüttelt. Sie würde es nicht mehr lange durchhalten. Sie würde sterben. Sterben, weil Calile ihr nicht helfen konnte. Nein, ihr nicht helfen wollte. Sie würde die Schuld an Ilas Tod tragen. Wenn es nur einen anderen Weg geben würde, die magischen Kräfte zu erhalten ... Vielleicht würde sie ihn noch finden. Doch Calile wusste, sie machte sich nur etwas vor. Was Talka getan hatte, war der einzige Weg. Magie war untrennbar verbunden mit Blut und Tod. Calile war nun nur noch ein paar Minuten von ihrem Haus entfernt. Beinahe wünschte sie sich, Ila würde schon tot sein, wenn sie hereinkäme. Dann wäre es zu spät, nie in ihrer Macht gewesen, etwas zu tun. Ein Geräusch riss Calile aus ihren Gedanken. Jemand hustete. Ein Bettler saß dort in einem Hauseingang, zitternd, in eine zerfetzte Decke gewickelt. Sein Husten war trocken und heftig, es hörte sich an, als würde er gleich ersticken. Er sah zu Calile hoch, seine Augen waren müde und glasig. Calile erschrak über den Impuls, der sie durchfuhr. Ein Teil von ihr wehrte sich und wandte sich ab, doch ihre Hand bewegte sich und legte sich an den Griff des Messers, das in ihrem Gürtel steckte. Sie zog es hervor, und es glitt über die Kehle des alten Bettlers. Sein Husten wurde zu einem gurgelnden Krächzen und erstarb. Calile sah in seine starren Augen, in denen sich der Mond spiegelte. Wie ein Schwall aus eiskaltem Wasser spülte die Magie über sie, rann wie siedendes Gold durch ihre Adern, entlud zischende Energie in ihrem Körper, wirbelte sie davon in sternbespickte Leere. Sie hatte nun, wovon sie so lange geträumt hatte. Das war Magie. Das war Macht. Sie konnte alles tun. Lachend ließ sie einen Feuerball zwischen ihren Fingerspitzen erscheinen und schickte ihn hinaus in die Nacht. Ihr Körper zitterte von den magischen Schwingungen, überall auf ihrer Haut prickelte es. In ihrem Kopf schienen sich Bienenschwärme eingenistet zu haben. Lange stand Calile da, von der Magie eingenommen, bis ihr Blick auf den Toten zu ihren Füßen fiel. Eine eisige Schwärze griff nach ihr. Was hatte sie getan? Er war alt und krank gewesen, doch Calile konnte sich nicht einreden, dass es so besser war, dass er sowieso gestorben wäre. Sie hatte ihn umgebracht. Sie war eine Mörderin, nicht besser als Talka. Entsetzt trat Calile einen Schritt zurück und würgte. Sie hatte es für Ila getan, nur für Ila, doch das Kribbeln der Magie ließ sie selbst daran zweifeln. Sie drehte sich um und rannte. Sie war völlig außer Atem, als sie die Tür aufriss und in den Raum stolperte, in dem Ila lag, regungslos. Calile berührte sie mit den Fingerspitzen. Sie lebte noch. Calile kniete sich an die Seite des Bettes, schloss die Augen und rief die Magie. Wogen aus magischer Kraft hörten ihren Ruf und schäumten gegen ihr Bewusstsein. Sie griff danach und zog sie zu sich hin, nahm sie zu sich auf. Ein Orkan rauschte durch ihren Körper und benebelte ihre Sinne. Calile legte die Hand auf Ilas heiße Stirn und goss die Magie darüber aus. Flutwelle um Flutwelle sandte Calile aus. Sie spürte, wie Ila von der Magie erfüllt wurde, wie sie sanft von innen zu glühen begann und das, was falsch und krank war, geheilt wurde. 20
Ein breiter Strom floss durch Caliles Hände, und langsam aber stetig schwand ihre Kraft. Sie durfte nicht aufhören, sie durfte nicht aufgeben. Sie musste Ila heilen. Der Strom wurde zu einem Fluss, der Fluß wurde zu einem Bächlein. Schließlich waren es nur noch vereinzelte Magietropfen. Calile fühlte sich leer, wie ausgesaugt. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, doch sie sah nur Finsternis. Mit jedem Herzschlag, mit jedem Tropfen wurde sie schwächer. Sie musste aufhören. Aufhören. Doch die letzte Lebenskraft sickerte durch sie hindurch wie durch ein Sieb. Sie konnte sie nicht aufhalten. Sie wusste nicht, wie sie den Fluss der Magie beenden konnte. Als Ila erwachte, lag eine eiskalte Hand auf ihrer Stirn.
21
Zwei Magier und das Problem mit dem Reißerrüden von Ulrike Stegemann
Die Königin soll ein besonderes Geschenk bekommen! Aber wie kriegt man den wilden Hund zahm?
In einem fremden Land zu einer unbekannten Zeit, taten sich zwei Magier zusammen, um ein Geburtstagsgeschenk für ihre geliebte Königin zu finden. Doch dies war nicht so einfach, wie die beiden es sich gedacht hatten. Das Geschenk sollte etwas ganz besonders sein. So entschloss Warron, einer der beiden Magier, auf einem Jahrmarkt ein gefährliches Tier namens Reißerrüde zu erstehen. Er glaubte, da er Magier war, das Tier so beeinflussen zu können, dass es am Ende lieb wie ein Schoßhündchen sein würde ... Das Knurren nahm lautstarke Dimensionen an. Ein beißender Geruch drang durch den Kerkerraum, der unwechselbar aus den Mäulern des riesigen Tieres kommen musste. Es kläffte, knurrte und fletschte die Zähne zugleich. Die Gitterstäbe, die es zurückhalten sollten, begannen bedrohlich zu zittern, wie Eric selbst, dessen Gestalt immer mehr in ein Häufchen Elend zusammen sank. Einen dreiköpfigen Reißerrüden zu beschwören, um ihn der Königin als Wachhund zum Geburtstagsgeschenk zu machen – auf diese lächerliche Idee hatte auch nur Warron kommen können! „Warron?“ flüsterte Eric in den dunklen Raum hinein. Doch Warron gab keine Antwort. Er stand mit dem Rücken gegen eine der Steinwände gelehnt und feilte konzentriert den schwarzen Nagel seines sogenannten „Zauberzeigefingers“. „Warron!“ zischte Eric und drehte sich erbost zu seinem Magier-Kollegen um. Der Reißerrüde muckte durch den lauten Tonfall Erics merklich auf. Einer seiner Köpfe sog scharf Luft ein und stieß sie wütend in Erics Richtung aus. Der Magier wurde von der plötzlichen Welle erfasst und stolperte mit einem gepressten „Verdammt noch mal!“ einige Schritte nach vorne. Warron richtete seinen Blick auf und verzog das Gesicht zu einer ulkigen Maske, als er den erbosten Eric vor sich stehen sah. „Grins bloß nicht so dämlich, Du Scharlatan!“, stieß Eric zwischen seinen Zähnen hervor. Warron hob eine Augenbraue. Er hielt im Feilen seines Nagels inne. „Ich bin kein Scharlatan! Ich bin ein Magier!“, sagte er und löste sich von der Steinwand. Einen Moment machte er den Eindruck, als müsse er zunächst seine Kräfte sammeln, bevor er mit seinem Zauberzeigefinger herum zu fuchteln begann. „Karazumbaaa!“, rief er und zeigte mit dem Finger direkt auf den Reißerrüden. Nichts geschah. Eric stützte seine geballten Fäuste in den Hüften ab und wartete. „Karazumbabaaa!“, startete Warron einen zweiten Versuch, der ebenfalls rein gar nichts bewirkte. Warron sah seinen ausgestreckten Finger böse an. Er schüttelte ihn ein paar mal heftig. Glitzernder Staub fiel von ihm auf den Boden herab, der in Rauchwolken verpuffte sobald er aufkam. „Ladehemmungen“, schlussfolgerte Warron und rieb den Finger mit der anderen Hand. „Das sind keine Ladehemmungen“, sagte Eric. „Es funktioniert einfach nicht! Kein Magier hat es bisher geschafft ein solches Tier zu beschwören, aber Du wolltest ja nicht auf mich hören!“ Doch Warron schien seinen Wutausbruch gar nicht wahrzunehmen. „Ich könnte jetzt einen Kaulquappenshake vertragen“, sagte er völlig zusammenhanglos. „Möchtest Du auch einen?“ Mit schlurfenden Schritten ging Warron auf ein Holzregal zu, in dem allerlei Bücher und Zaubermaterialien vorzufinden waren. Eric knurrte vor Zorn. Röte stieg ihm unaufhaltsam ins Gesicht. „Warron! Es funktioniert nicht!“ „Möchtest Du Deinen Shake mit Vanille- oder mit Erdbeer-Geschmack?“ Warron 22
feuerte mit seinem Finger einige Blitze auf das Regal ab und aus ihm heraus trat eine merkwürdige Apparatur, die mit Metallarmen zwei Gläser hervor streckte „Oh, ich glaube, Schoko habe ich auch noch.“ Der Apparat füllte die beiden Gläser mit einer schleimigen Flüssigkeit. „Warron, es funktioniert nicht“, sagte Eric zum wiederholten Male. Der Reißerrüde wurde angesichts der ihm nicht zuteil werdenden Aufmerksamkeit mehr als unruhig. Er schnaufte schwerfällig und stieß mit seinen prankenartigen Pfoten gegen die unbeugsamen Gitterstäbe. „Was ist nun?“ Warron sah Eric fragend an, der gequält aufseufzte. „Hörst Du mir überhaupt zu?“ „Was?“ fragte Eric entgeistert. „Vanille, Erdbeer oder Schoko?“ Eric winkte ab. „Völlig egal“, sagte er schließlich. Warron nickte und ließ den Apparat ein rötliches Pulver in die Gläser füllen, woraus Eric schloss, dass es Erdbeergeschmack sein musste. „Was machen wir nun mit dem Reißerrüden?“, fragte Eric und sah Warron ernst an. „Mit wem?“ Warron tat, als verstünde er nicht, wovon Eric eigentlich sprach. „Dem Tier da hinter den Gitterstäben!“ Eric zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das Tier und löste damit ein erneutes grauenvolles Brüllen von ihm aus. „Oh“, stieß Warron aus. Er ging zu seinem Apparat und nahm die beiden Gläser heraus. Eines davon drückte er Eric in die Hand. Mit seinem Zeigefinder deutete er einmal auf sein eigenes Glas und sogleich rutschte aus dem Nichts ein Strohhalm hinein. Genüsslich sog Warron die dickflüssige Masse ein. „Hmmm ... Ich liebe Schoko.“ Eric starrte verwirrt den rötlichen Inhalt des Glases an. „Vielleicht möchte unser Freund auch einen Kaulquappenshake.“ Warron ging auf das Tier zu und blieb in kurzer Entfernung vor den Gitterstäben stehen. „Hallo, Kleiner! Wie geht es Dir?“ Er hatte sich vorgebeugt und schaute einem der drei Köpfe in die Augen. Der Kopf fletschte die Zähne und stieß ein unfreundliches Grunzen aus. Warron rümpfte die Nase „Er hat Mundgeruch!“ Eric verdrehte die Augen. „Nun, ich glaube, ein Kaulquappenshake ist nicht ganz das Richtige für unseren Freund“, stellte Warron nach eingehender Begutachtung des Tieres fest. „Was Du nicht sagst.“ Eric verschränkte die Arme vor der Brust und sah Warron zu, wie er geschäftig vor dem Käfig hin und her hüpfte. Mit dem weiten schwarzen Umhang, den er trug, sah er aus wie eine wild gewordene Fledermaus. „Kazubadubaduuuum!“ rief Warron und deutete erneut mit seinem Zauberzeigefinger auf den Reißerrüden. Unbeeindruckt erwiderte das Tier den Blick des Magiers. „Kazubaaa!“ Stille. Vorsichtig lugte Eric auf den Käfig an Warron vorbei und versuchte zu erkennen, was dort vor sich ging. Die Stille wurde durch das schlürfende Geräusch unterbrochen, dass Warron mit dem Strohhalm seines Kaulquappenshakes verursachte. Danach war ein angenehmes Schnurren zu hören und Warron wagte doch tatsächlich, zum Entsetzen Erics, die Käfigtür zu öffnen. Sofort sprang Eric hinter den nächsten Felsvorsprung. Doch das erwartete fleischzerfetzende Geräusch war nicht zu hören. Eric blickte hinter dem Felsvorsprung hervor. Er konnte Warron sehen, der direkt neben dem Reißerrüden stand. In der einen Hand hielt Warron sein Glas und mit der anderen streichelte er das zu einem Schoßhündchen gewordene Untier. Lächelnd sah er zu dem verängstigten Eric hinüber. „Ich sagte doch: Ladehemmungen!“
ENDE
23
Sonnenfinsternis von Ruth Jahn
Terald will die Welt beherrschen. Und dazu gebraucht er einen kühnen Trick...
Terald zupfte ein paar unsichtbare Flusen von seinem Umhang und lehnte sich im Sessel zurück. „Nein, meine liebe Urika, da weiß ich auch keinen Rat. Und Ihr sagt, allen ist das Haar geraubt worden?“ Gelangweilt betrachtete er das geschorene Haar der zierlichen Hexe, die in dem Sessel gegenüber fast versank. „Das kann ich gar nicht glauben!“ Urika schnippte mit dem Finger, und Terald schaute überrascht auf die Wand seines Empfangssaales. Dort war auf einmal ein riesiges Bild zu sehen, so verblüffend echt, dass er einen Moment nicht sicher war, ob die Hexen und das Feuer, um das sie herum saßen, nicht tatsächlich in diesem Raum waren. „Das war gestern bei einer Hexenversammlung“, sagte Urika. Terald nickte. Die Hexen auf dem Bild hatten alle stoppelkurze Haare. „Da scheint sich einer einen Scherz übelster Art mit Euch Hexen zu erlauben. Aber warum hext Ihr es nicht einfach wieder lang?“ Urika zupfte an einer Haarfranse. „Keiner Hexe ist das bisher gelungen. Also bitten wir Euch um Hilfe, wo Ihr doch einer der größte Zauberer aller Zeiten seid!“ Terald erhob sich, strich über sein sorgfältig frisiertes graues Haar und machte einen Schritt auf die Hexe zu. „Urika, ich fühle mich geehrt, dass Ihr mich um Rat fragt. Ich werde mir die Zeit nehmen, über Euer Problem nachzudenken.“ Urika schob sich aus dem Sessel. Aber sie ging noch nicht, sondern fragte: „Erinnert Ihr Euch an das Problem, das ich Euch letztes Mal vortrug?“ Terald nahm ihren Arm, um sie hinaus zu begleiten. „Ihr meint, dass ein paar Hexen, Elfen und Feen verschwunden sind? Ich konnte mir bisher keinen Reim darauf machen. Na, hoffentlich hört das bald auf!“ Im Gehen klopfte er Urika auf die Schulter und sagte: “Toller Hexenzauber übrigens, das Bild an der Wand, den Trick müsst Ihr mir bei Gelegenheit mal verraten.“ Urika lächelte. „Aber sicher, lieber Terald.“ Sie kamen an dem großen Fenster vorbei und Urika blieb wieder stehen. „Terald, seid Ihr dem Alkohol verfallen?“ Terald sog hörbar Luft ein, trat neben sie und schaute hinaus. Auf dem Schlosshof wurden kistenweise Flaschen aus schwarzem Glas von einer Kutsche geladen und ins Schloss gebracht. Er zog die Augenbrauen hoch und trommelte mit den Fingern auf den marmornen Fenstersims. „Meine Liebe, stehen uns nicht angenehmere Mittel als simpler Wein zur Verfügung, wenn wir uns berauschen wollen? Das ist ein, hm“, er räusperte sich „eine Art Antifaltenelixier, ich meine auch unsereins altert schließlich. Ich habe das Rezept selbst zusammengestellt und es brauen lassen.“ Als Urika das Schloss verlassen hatte, ließ sich Terald wieder auf seinen Sessel fallen, verdrehte die Augen und seufzte laut. „Diese blöde Hexe!“ Er äffte Urikas Stimme nach: „‘Einer der größten Zauberer der Zeiten!‘ Ha, dass ich nicht lache! Ich bin der Zauberer der Zauberer!“ Er schob beide Zeigefinger in den Mund und stieß einen grellen Pfiff aus. „Feodor!!!! Hierher!“ „Bin ja schon da!“ Eine fette Spinne seilte sich von der Decke herunter und hing unmittelbar 24
vor Teralds Gesicht. Terald schrak zusammen, fasste sich aber sofort wieder. „Wie weit seid ihr da unten?“, fragte er. „Großer Meister, wir sind bald fertig, es kann nicht mehr sehr lange dauern.“ Terald stand auf. Fast unmerklich bogen sich seine Mundwinkel herunter, als er der Spinne den Handrücken anbot. „Ich will es sehen.“ Die Hand weit von sich gestreckt, wanderte Terald mit Feodor durch die Gänge seines Schlosses, die fünf Treppen hinunter bis in den untersten Keller. Er holte ein Schlüsselbund hervor und schloss mehrere Türen auf, bevor er in ein Kellergewölbe kam, das von Fackeln erhellt war. Der ganze Raum schien sich zu bewegen, denn unendlich viele Spinnen krabbelten herum. Sie spannen aus langen roten Haaren ein feines Netz. Feodor holte mit dem einen Spinnenbein aus, als preise er auf einem Markt seine Ware an: „Ihr seht ja, wir sind fleißig. Wir gönnen uns kaum eine Pause.!“ Teralds Augen leuchteten. Er nahm ein Stück des Netzes zwischen die Finger und breitete es aus. Eine Spinne verirrte sich und krabbelt an seinem Hosenbein hoch. Terald schüttelte sie herunter und zertrat sie mit dem Schuh. Feodor zuckte zusammen. „Ich glaube, das Netz ist fertig, es ist groß genug!“ „Aber es fehlen noch ein paar Zentimeter!“ „Ach was, das reicht! Der große Moment ist gekommen. Ich lasse es nach oben bringen. Du hast wirklich gute Arbeit geleistet!“ „Werdet Ihr mir denn jetzt sagen, was Ihr mit dem Netz vorhabt?“ „Wenn die Zeit reif ist, mein Lieber, wenn die Zeit reif ist! Jetzt muss ich erst mal ein paar Vorbereitungen treffen, damit wir gleich nicht im Dunkeln stehen!“ Gegen Mittag stand die Sonne hoch am Himmel, und ein leichter Wind wehte über die Terrasse. Terald hatte einen schwarzseidenen Umhang umgelegt. Er hielt das rötlich schimmernde Netz eine lange Weile in den Händen und lächelte glücklich. Dann ging ein Ruck durch seine Schultern. Er warf das Netz in die Luft, schloss die Augen, zeichnete mit dem Zauberstab rechtswirbelnde Schnecken in die Luft und murmelte lateinische Verse vor sich hin. Das Netz tanzte federleicht im Kreis um seinen Erschaffer herum. Terald riss die Augen wieder auf. Er richtete den Zauberstab auf die Sonne und brüllte: „Nun flieg‘ und lege dich auf die Sonne. Das ist deine Bestimmung!“ Das Netz öffnete den Kreis und flog davon. Terald starrte hinter ihm her. „Flieg!“, brüllte er noch mal. Die Hände raufend, begann er auf der Terrasse hin und her zu gehen. Immer wieder schaute er hoch, aber es tat sich nichts. Dann plötzlich wurde es dunkel. Als hätte jemand mitten am Tag die Sonne ausgeknipst, war der Himmel pechschwarz. Nur das Schloss war hell erleuchtet und aus den Fenstern fiel Licht auf die Terrasse. Terald sprang hoch und jubelte: „Ich werde der einzige sein! Der einzige Zauberer, und ich werde die Welt beherrschen!“ Er hüpfte wie ein Kind, tanzte auf einem Bein, drehte sich und lachte. „Warum werdet Ihr der einzige sein?“ „Weil ohne das Sonnenlicht kein Zauberer und keine Hexe dieser Welt...wer spricht da?“ Terald blieb stehen und zog seinen Zauberstab aus dem Hosenbund. „Ich bin es, Feodor!“ „Feodor, du spionierst mir nach?“ Terald suchte mit den Augen die Terrasse ab. „Ihr habt versprochen, mir zu sagen, wofür das Netz gut ist, wenn wir fertig sind. Und Ihr habt versprochen, uns alle wieder frei zu lassen. Ich glaube jetzt ist der rechte Zeitpunkt dafür!“ „Komm her, damit wir zusammen in den Keller gehen können.“ 25
„Oh, ich glaube ich gehe diesmal lieber zu Fuß! Mir wird immer so schnell übel auf Eurem Handrücken!“ „Ganz wie du willst!“ Terald wollte gerade das Schloss betreten, als ein Schatten an ihm vorbei sauste, gegen ein Fenster knallte und stöhnend auf den Boden in eine dunkle Ecke stürzte. Terald riß seinen Zauberstab hoch und brüllte: „Wer auch immer du bist, bleib wo du bist oder du wirst zu einem Spinnentier!“ „Das macht er wirklich!“, kam es zaghaft vom Boden. Terald trat nach Feodor. „Feodor halt sofort den Mund!“ „Ich bin es, Urika! Verdammt, das helle Licht hat mich geblendet.“ „Was wollt Ihr denn noch? Ihr wisst doch, wie knapp bemessen meine Zeit ist!“ „Ich war noch nicht weit, als es auf einmal dunkel wurde! Ich sah, dass in Euer Schloss hell erleuchtet war, als hättet Ihr damit gerechnet. Könnt Ihr mir vielleicht sagen, was geschehen ist?“ Terald wirbelte mit seinem Zauberstab eine Acht in die Luft. Blitzschnell grabschte er in die Ecke und schnappte sich die kleine Spinne und Feodor, der zur Hilfe eilen wollte. Er sperrte beide in ein Säckchen und machte sich auf den Weg in den Keller. „Urika, dich hätte ich für schlauer gehalten! Kennst du nicht die alte Sage von der Sonnenfinsternis?“ „Ja, ich kenne die Sage, aber bisher ist es niemandem gelungen...!“ Urikas Stimme aus dem Säckchen klang ängstlich. „Ich habe es geschafft! Es hat Jahrhunderte gedauert, aber dann fand ich das Geheimnis heraus!“ Teralds Augen glitzerten im Dunkeln, als er immer schneller redete. „Der einzige Stoff, mit dem man die Sonne abdecken kann, ist ein Tuch aus Hexenhaaren! Und wie du siehst, es funktioniert!“ „Aber was habt Ihr denn davon? Es ist doch nur eine Sage, es stimmt doch gar nicht, dass wir Sonnenstrahlen brauchen, um zaubern und hexen zu können!“ „Doch, es ist wahr!“ Diesmal antwortete Feodor. „Er hat alle unerwünschten Schlossbesucher in Spinnen verwandelt, und im fünften Kellergeschoss in einem Gewölbe gesperrt. Schon nach drei Stunden konnten die sich nicht mal mehr die Knoten aus den Beinen zaubern.“ „Sonnenlicht!“ Teralds Stimme schraubte sich hoch. „Wir brauchen das Sonnenlicht, um unsere Zauberenergie aufzutanken. Und wenn die Sonne nicht mehr da ist, verlieren alle vom zaubernden Volk die Zauberkraft. Nach einer Weile sterben wir sogar. Gehen jämmerlich zugrunde wie Blumen ohne Wasser! Aber du wirst es selber sehen!“ „Wie schützt Ihr Euch selbst davor, Eure Zauberkraft zu verlieren?“ fragte Urika. „Antifaltenelixier, haha! In den Flaschen ist konzentriertes Sonnenlicht. In meinem Weinkeller lagern Tausende Sonnenlichtflaschen, genug, um die Erde ein Jahr und länger im Dunkeln zu lassen. Und dann werde ich der einzige Zauberer sein, der überlebt hat. Ich werde die Welt beherrschen!“ Als Terald die Kellertür zum Gewölbe aufschloss, um das Säckchen hinein zu werfen, schrie er auf. Aus dem schmalen Türspalt quollen Spinnen heraus. Wie wild gewordene Furien rannten sie die Wände entlang, krabbelten über die Decke und scharenweise über den Boden. Terald machte einen Schritt rückwärts, stolperte und fiel hin. Innerhalb von Sekunden war er über und über von Spinnen bedeckt. Er strampelte, schlug um sich und schrie, die Spinnen krochen in seinen Mund, und er verschluckte sich. Dann fiel er in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, setzte er sich auf. Ihm war schwindelig und er brauchte eine Weile, bis er seine Gedanken einigermaßen geordnet hatte. Er stemmte sich hoch und schleppte sich zum Weinkeller. Wie lange mochte er hier gelegen haben, dass er sich so elend 26
fühlte? Schwaches Licht schimmerte im Weinkeller und auf dem Boden lagen geöffnete Weinflaschen. „Das war Urika, die dumme Hexe. Bestimmt hat sie versucht die Spinnen zurück zu hexen. Das werde ich ihr heimzahlen!“ Er fand eine verschlossene Flasche und öffnete sie. Sofort war der Raum gleißend hell. Terald seufzte erleichtert auf, als er spürte, wie seine Kräfte zurückkamen. Als Terald die Kellertreppe hoch gestiegen war, glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. Draußen stand die Sonne am Himmel, als wäre sie nie weg gewesen. Nur er kannte die Zauberformel, wie man sie befreien konnte! Hatte er Urika so unterschätzt? Terald schaute sich um. Niemand war zu sehen. Er schloss die Augen, murmelte und malte mit dem Zauberstab rechtswirbelnde Schnecken in die Luft. Dann riss er die Augen auf und brüllte: „Und jetzt bedecke die Sonne wieder!“ Nichts passierte. Er versuchte es noch mal und immer wieder. Er begann auf der Terrasse hin und her zu gehen, die Hände im Rücken verschränkt, die Haare hingen in sein Gesicht. Hatte er die Zauberformeln für das Verdecken und Befreien der Sonne vertauscht? Er blieb stehen und versuchte es noch einmal. Als er diesmal mit geschlossenen Augen murmelte, zeichnete er linkswirbelnde Schnecken in die Luft. Jemand riss ihm den Zauberstab aus der Hand, Finger krallten sich an ihm fest, Fäuste schlugen auf ihn ein, seine Arme wurden nach hinten gerissen. Er schrie, wehrte sich, aber die ganze Terrasse war auf einmal voller Hexen, Zauberer, Elfen und Feen und alle stürzten sich auf ihn. Dann sah er Urika. „Du dumme Hexe! Was hast du getan? Wie konntest du die Sonne befreien?“ „Ich hätte dich für klüger gehalten, mein Lieber!“ Urika lachte „Du bist auf ein Bild herein gefallen! Sieh doch!“ Terald schaute nach oben. Am Himmel standen zwei Sonnen nebeneinander. Urika schnippte mit den Fingern, und die eine Sonne verschwand. „Und nun ab mit ihm ins Kellergewölbe! Aber vergesst nicht, ihm die Haare abzurasieren und ihm acht Beine zu zaubern!“
ENDE
27
Hexenmechanik von Frank Ahrens
Kann eine Maschine Magie analysieren? Ein Kriminalfall gibt Antwort
Der Schlüssel passte gar nicht. Vielleicht sollte er ihn umdrehen? Viel besser. Hinter ihm viel die Tür ins Schloss, erst jetzt sah er wie seine Suite aussah. „Meine Güte.“ Was war hier passiert? Das Zimmer war total verwüstet, als wäre ein Bulldozer einfach durch die Räume gefahren und hatte alles was ihm im weg war platt gedrückt. Ein Geräusch auf der Terrasse lies ihn herumfahren. Da eine Bewegung. Reflexartig lief er auf die Terrasse hinaus um nach zu sehen was dort draußen war. An der Wand war eine Feuerleiter angebracht. Zwei Gestalten kletterten hinauf. „Hey, stehen bleiben ihr Vandalen. Ich informiere die Rezeption.“ Er folgte ihnen sogar ein paar Meter, bis er nach unten sah. OH GOTT! Warum war er hier hinauf geklettert? Musste am Alkohol liegen. Alles fing an sich zu drehen, ohne dass er es wollte verkrampften sich seine Hände um die Leiter und er war wieder in der dritten Klasse. Deutlich hörte er die Stimme von Todd wie sie flüsterte: „Los schafft das Schwein aufs Dach hinauf. Wollen doch mal sehen was der Hosenschisser alles kann.“ Die Jungs schuppsten und zerrten ihn lachend die Treppen hinauf und alles weinen und flehen half ihm nichts, eher stachelte es sie in ihrem Vorhaben noch weiter an. Oben angekommen hielten sie ihn lachend über die Kante des Daches. „Tibi! Wie wär´s wenn du uns heute mal zeigen könntest wie das mit dem Fliegen war, was uns Herr Thomson erklärte? Ich hab es nicht ganz verstanden.“ Das Grinsen Todds war an diesem Tag noch fieser gewesen und nacktes entsetzen hatte seine Kehle zugeschnürt. „Jungs, lasst ihn los. Ich will sehen wie das Arschloch fliegen kann.“ Als er nach unten stürzte, löste sich die Starre und ein Mark durchdringender Schrei hallte über den unter ihm liegenden Schulhof. An die Schmerzen konnte er sich nur noch wage erinnern, doch die Ärzte sprachen von einem Wunder. Er hörte wie sie mit seinem Vater sprachen. „Warum bremste ihr Sohn den Fall nicht ab?“ „Er besitzt keine Magie!“ Nie mehr, hatte er sich mehr geschämt als in diesem Augenblick. Er wünschte sich mehr als einmal an diesem Tag gestorben zu sein. Wenige Minuten später fanden ihn die Bediensteten so vor. Mehrere waren nötig um den schreienden Herrn Glück von dort herunter zu holen. „Mann Tib, was machst du für Sachen?“ „Ulf, mein Freund! Gott sein dank bist du da, es waren zwei Männer in meinem Zimmer.“ „Ja, ruh dich erst mal aus. Sie haben dich in eine andere Suite gegeben. Sie haben auf dem Dach eine Leiche gefunden!“ Seltsam unzusammenhängend erschienen ihm die Worte seines Freundes und Schwärze umschloss ihn wieder. Verdächtigungen „Was bin ich?“, Entsetzen schwang deutlich in seiner Stimme. 28
„Ich muss sie bitten, in den nächsten Tagen Teufelsdorf nicht zu verlassen Herr Glück!“ Die Stimme des Hexenkommissars klang kalt, gefühllos, mit dieser gewissen professionellen Distanz, die allen Beamten zu Eigen scheint. „..aber, aber, ich versteh das nicht. Mein Zimmer wurde verwüstet, es hätte noch viel schlimmer kommen können und nun stehe ich unter Mordverdacht?“ Gelassen schnippte der Kommissar die Asche seiner Zigarette auf den Boden. „Herr Glück, lassen sie mich das so formulieren. Nach gründlichen und erschöpfenden Untersuchungen der Hexenspürer sind im Moment sie der einzige Tatverdächtige in diesem Mordfall. Es entspricht dem üblichen Verfahren sie am Ort der Tat festzuhalten, bis der zuständige Obermagister aus Magierstadt eingetroffen ist. Das wird morgen sein. Wenn sie nun so freundlich wären dieses Sicherungselexier einzunehmen.“ Das Fläschchen, das er ihm unter die Nase hielt schimmerte in einem ekligen Spinatgrün. Er hörte sich bereits mit seiner Mutter kämpfen. „Ich will das nicht essen, Mum.“ „Doch du willst. Jetzt iss´ endlich, es ist gesund!“ „Ich kann das nicht trinken! Was ist das?“ „Das kennt doch jedes Kind. Das Sicherungselixier verhindert nur, dass sie diesen Ort verlassen können. Absolut ungefährlich, ohne Nebenwirkungen. Also wenn sie jetzt die Güte hätten, ich habe noch zu tun.“ Mit einem lauten –Plopp- entkorkte der Beamte das Fläschchen und ein Geruch nach alten Autoreifen breitete sich aus. Voller Abscheu nahm er das Elixier entgegen und blickte in das ausdruckslose Beamtengesicht. Er wollte gerade einen erneuten Protestversuch wagen, als sich eine bedrohlich wirkende Zornesfalte auf der Stirn des Hexers zeigte. Den letzten Widerstand vergessend schluckte er die Flüssigkeit hinunter. Zäh, rann das Zeug seine Kehle hinunter und erinnerte ihn stark an diesen Drink seines Bruders -Green Bull- oder so hieß er. Der Kommissar schien zufrieden und verkorkte das Fläschchen sorgfältig. „Sie werden sich zur Verfügung halten Herr Glück. Der Obermagister wird sie dann sprechen wollen. Einen schönen Tag noch.“ Der Beamte verschwand einfach aus seinem Hotelzimmer und lies einen sehr verwirrten und ratlosen Herrn Glück zurück. Er musste unbedingt mit Ulf darüber sprechen. Der Scharlatan „Ulf, das ist doch total absurd. Wie soll ich einen auf dem Dach ermordet haben?“ „Ich weis Tib, aber den Beamten kannst du hier nicht mit deiner Höhenangst kommen. Du hättest das sehen sollen. Diese Hexenspürer sind wirklich unheimlich. Wo die Hinblicken gefriert das Wasser, dass kann ich dir sagen.“ Frustriert lief er auf und ab. Ulf lümmelte dagegen in einem Sessel und hatte seine Beine über eine Armlehne geworfen. „Wenn du mich fragen würdest, würde ich dir sagen, dass wir auf den Obermagister warten sollten. Dürfte das vernünftigste sein.“ „Ulf! Ich bin des Mordes angeklagt. Glaubst du tatsächlich ich würde hier herum sitzen und auf das Urteil warten?“ „Reg dich ab, war doch nur ein Vorschlag. Du hast selbst gesehen, dass die absolut keine Informationen rausrücken.“ „Vielleicht sollte ich meinen Anwalt einschalten?“ „Das ist bestimmt das vernünftigste was du heute gesagt hast.“ Ein forderndes Klopfen unterbrach die beiden. Verständnislos blickte Tibernius Glück seinen Freund an, der zuckte allerdings nur mit den Schultern. „Ja?“, selbst in seinen Ohren klang seine Stimme wie das Wimmern eines Schuldigen. 29
„Mein Name ist Morgen und ich würde gerne zu Herrn Glück. Dies ist doch sein Suite?“ „Äh, ja. Um was geht es?“ „Ich würde mich gerne mit ihnen wegen ihres Problems unterhalten.“ „Ich gebe keine Interviews.“ „Oh, da haben sie mich falsch verstanden ich bin kein Reporter, sondern der ortsansässige Scharlatan.“ Nun siegte die Neugierde über die Angst und er öffnete die Türe einen Spaltbreit. Ein großer Fleischberg stand dort vor ihm. Hatte einen dieser alten Hüte auf und einen dazu passenden alles verbergenden Mantel. In seinem Mundwinkel flitzte ein Streichholz hin und her. „Herr Glück?“ Als er nicht reagierte. Stellte der Berg von einem Mann einen massiven Koffer zu Boden. Ein leichtes vibrieren schien sich durch den Boden auszubreiten. Seine rechte Pranke schoss vor und fand seine Hand. „Wenn ich mich erst einmal richtig vorstellen dürfte. Mein Name ist Ray T. Morgen und ich bin hier der Scharlatan am Ort.“ Eine schlichte Visitenkarte wanderte in seine Hand. Darauf stand: Dr. Ray T. Morgen Staatlich anerkannter Scharlatan und Detektiv Sie haben ein Problem, dass sie nicht mit Magie lösen können? Ich helfe ihnen mit Logik und Mechanik in allen Lebenslagen! Sie können mich jederzeit unter 04Logik-9090mech erreichen. „Wie ich hörte haben sie magische Probleme, die sich nicht einfach so in Wohlgefallen auflösen werden. Schenken sie mir einen kurzen Moment ihrer Zeit und urteilen sie selbst, ob sie meine Dienste benötigen.“ Seine Pranke lies seine Hand los und verblüfft bemerkte er, dass sie nicht zerquetscht war. Ulf tauchte an der Türe auf und blickte auf die Visitenkarte. „Verschwinden sie! Wir haben andere Sorgen als uns das Geschwätz eines Verrückten anzuhören.“ Krachend schlug die Türe ins Schloss. „Leute gibt’s, die gibt es gar nicht.“ Doch Tib blickte auf die Visitenkarte, die nun auf dem Boden lag. Logik und Mechanik. Die beiden Worte brannten wie zwei Lavabecken in seinem Verstand. Vielleicht doch nicht das falsche? Er öffnete die Türe wieder. „Herr Morgen? Entschuldigen sie, kommen sie doch herein.“ Der Riese grinste freundlich und hob seinen Koffer auf, als ob es nur ein Paar Tennisschuhe wären. Erstaunlich! Die Couch stöhnte protestierend auf, als sich der Scharlatan darauf setzte. „Etwas zu trinken?“ „Nein danke.“ „Um es kurz zu machen Herr Glück. Durch gewisse Kontakte habe ich von ihrem – sagen wir - „Problem“ gehört und ich denke ich könnte ihnen helfen herauszufinden was genau an diesem Abend passiert ist.“ „Ach Tib, schmeiß diesen Penner raus, der erzählt doch nur mist.“ „Nein, ich bin sehr daran interessiert was Herr Morgen zu sagen hat. Immerhin wartet ein Verfahren auf mich und noch ist uns nichts Brauchbares eingefallen. Bitte fahren sie fort.“ 30
Die Augen des Scharlatans glitten von Ulf zu Tib und wieder zurück. „Nun gut. Vielleicht sind sie mit den Elementen der Magie – Chaos, Unberechenbarkeit und Eitelkeit vertraut.“ Er lachte über seinen eigenen Witz. „Entschuldigen sie, manchmal geht es mit mir einfach durch. Der Punkt ist nun, dass ich eine Maschine gebaut habe, die es versteht die magischen Elemente zu erkennen und zu analysieren. Ich erspare ihnen hier die Details, möchte ihnen allerdings soviel verraten, dass ich mich auf der Wertmaierskala im n-magischen Bereich bewege.“ „Ja, ja und ich bin der König der Todesmagier.“ „Ulf, wärst du bitte ruhig! Deine ständigen Spitzen sind unnötig und nerven.“ Ulf setzte sich in seinem Sessel auf. „Wir sind Freunde und ich will dich doch nur von dieser Zeitverschwendung abhalten. Rufen wir lieber deinen Anwalt an, der kann uns bestimmt mehr sagen, als dieser Typ!“ „Ich möchte ihm weiter zuhören Ulf, - verstehst du dass?“ „Nein, versteh ich nicht. Der erzählt nur Scheiße Tib. Absolute, durchgequirlte Scheiße. Wie willst du mit einer Maschine Magie erklären können? Das geht nicht, das weiß jedes Schulkind. Und das solltest du auch wissen.“ Mit hochrotem Kopf blickte er Tib an, wie immer wenn er sich aufregte. Wie jedes Mal lief er zu einer roten, Blankpolierten Billardkugel hinaus. „Ok, wenn das deine Meinung ist. Gut! Dann bitte ich dich jetzt mein Apartment zu verlassen. Wir sehen uns dann später.“ „Das ist nicht dein ernst?“ „Absolut!“ Unangenehmes schweigen lag im Raum, die durch Ulfs Schritte unterbrochen wurden. Das donnernde zuschlagen der Türe, hallte in Tib wie ein Schlag in die Magengegend wieder. Sie waren doch Freunde! „Es tut mir leid er Morgen, sie können nichts dafür. Er ist manchmal einfach ein Arsch.“ „Kein Problem. Hab ein dickes Fell.“ Das grinsen des Scharlatans war fast unheimlicher als seine Größe. Wie konnte ein Mensch nur so weit den Mund aufreißen? Unglaublich! „Dann lassen sie uns zum geschäftlichen kommen. Es hilft ihnen nicht wenn wir hier reden und nichts herausfinden. Ich denke, es macht am meisten Sinn sie sehen einfach mal meine Maschine in Aktion, dann können sie besser beurteilen ob sie mich engagieren wollen oder nicht.“ Mit einem flüssigen Ruck. Stand er auf und blickte sich um. „Ich nehme nicht an, dass dies ihr ursprüngliches Apartment ist?“ „Nein, das Hotel hat mir dieses zugeteilt, da meins völlig verwüstet war und es von der Polizei für die Ermittlungen gesperrt wurde.“ „Mmmmhh!“ Das klang wie das Grollen eines Bären, der in seinem Winterschlaf gestört wurde. „Nicht gut, aber kein Problem, dann beginnen wir auf dem Dach!“ „Mit was denn?“ „Das zeige ich ihnen dann.“ Mein Gott dieses Grinsen, war beängstigend! Spuren Herr Morgen führte sie zielsicher um mehrere Schornsteine, Abgasleitungen und Kühlrippen herum, bis sie an einem abgesperrten Areal stehen blieben. Sein Blick kontrollierte die Umgebung, bevor er die Absperrung überwand. Herr Morgen stellte den riesigen Koffer auf den Boden und winkte ihn heran. „Die Polizei hat eine sehr genaue Vorstellung über den Tathergang. Das Opfer soll die Feuerleiter dort heraufgekommen sein“, dabei zeigte auf den südlichen Dachrand. „Die Türen 31
nach unten waren mit magischen Sicherungen verschlossen, er konnte also nicht nach unten und wurde hier oben von ihnen gestellt und auf abscheuliche Weise ermordet. So zumindest laut den Polizeiakten. Wir sind nun hier um zu sehen, ob sie unschuldig sind. Wie sie ja sagen.“ „Und wie soll das gehen?“ „Lassen sie mich machen.“ Die Kofferschlösser schnappten hörbar auf und seltsame Gerätschaften kamen ans Tageslicht. Schon bald verlor er jeglichen Überblick, was Herr Morgen auf dem Dach aufbaute. Es erschien ihm wie eine Ansammlung Altmetall, gemischt mit Spiegeln und Schläuchen. Herr Glück erkundete in der Zwischenzeit die Umgebung, vermied aber dem Dachrand zu nahe zu kommen. „Ich bin fertig!“ „Und was genau haben sie damit nun vor?“ Sein Blick glitt über unzählige Rohre, Spiegel, zischende Räder und quietschendes Räderwerk. Besonders vertrauenserweckend wirkte es ja nicht gerade. Herr Morgens Hand strich liebevoll über die Kontrollpanele. „Sie ist den Hexenspürern nachempfunden, funktioniert aber rein mechanisch. Nichts magisches an dem guten Stück. Sie beruht auf der reinen Logik. Sehen sie hier.“ Er wies auf ein besonders seltsam geformtes Teil der Maschine, das in seinen Augen wie ein zerquetschtes Fahrrad aussah. „Hier werden die Informationen verarbeitet, die ich über Sensoren sammele. Das Ergebnis wird dann hier ausgegeben.“ Selbst für das Hexenreich war dieser Monitor mit weißer Schrift auf schwarzen Grund eine Antiquität. „Also dann wollen wir mal.“ Herr Morgen drückte ein paar Tasten und drehte an Knöpfen und die Maschine fing brummend zum arbeiten an. Zumindest hoffte Herr Glück dies, denn bei all den Bewegungen lies sich dies nicht so genau erkennen. „Das dauert jetzt ein bisschen.“ „Was machen wir so lange?“ „Ich werde mir nun ihr altes Apartment anschauen. Es ist immer gut den Ort des Verbrechens bis aufs kleinste Detail zu kennen.“ Er wartete auf den Scharlatan und beobachtete das tuten und zischen der Maschine. Gewaltige Schritte ließen ihn aufblicken. „Der Teil, ist von unten kaum einzusehen, also kaum eine Chance, dass jemand etwas gesehen haben könnte.“ Mit einem Dampfkonzert, der besonderen Art, kehrte Ruhe in die Maschine ein. „Oh, schon fertig. Wunderbar.“ Unverständliche Zeichenkolonnen erschienen auf dem Bildschirm und ein langer Papierstreifen wurde seitlich ausgespuckt. Nickend lies Herr Morgen den Papierstreifen durch seine grobschlächtigen Hände wandern. „Sehr interessant“ „Ja was denn, sagen sie schon.“ „Die magischen Elemente wurden hier massiv manipuliert.“ „Ist das gut oder schlecht?“ „Ja, wenn ich das wüsste! Es ist auf jeden Fall ungewöhnlich. Sehen sie hier auf diese Zahlenreihe.“ Sein Zeigefinger tippte dabei auf den Bildschirm. „Alle Werte sind Null oder negativ. Was es überhaupt nicht geben dürfte. Ein Hexer würde sagen – unmöglich. Es gibt keine negative Lebensenergie, das ist total verrückt und hier die Werte des magischen Flusses. Völlig absurd anzunehmen sie könnten alle 6 Richtungen zur 32
selben Zeit einnehmen, was ein absinken auf Null bedeutet und das ist unmöglich.“ Diese fachlichen Erklärungen waren ja wunderbar. „Und was bedeutet dies Konkret?“ „Hier wurde extrem in die natürlichen Werte eingegriffen. So etwas hab ich noch nie gesehen. Diese Strahlungslinie der Betamagie ist völlig abwegig. Schauen sie sich das nur an.“ Der Scharlatan schien in seinem Element zu sein. Er verglich, überprüfte und stellte Spekulationen an, für ihn war es mehr als langweilig. Was bedeutete dies für ihn? Lies sich damit seine Unschuld beweisen? „Herr Morgen dies ist bestimmt interessant, aber kann ich damit nun meine Unschuld beweisen? „Und ob, und ob!“ Er kramte in seinen Taschen herum und förderte eine Zigarette hervor, die er an einer Flamme ansteckte, die aus einem Rohr seiner Maschine leckte. „Wir haben Glück, ich habe erst vor wenigen Wochen die Zertifizierung des Hexenrates erhalten. Die Ergebnisse sind Beweiskräftig. Ich benötige nur ihre magische Resonanzwerte und schon können wir die Daten genauer analysieren. Dürfte nicht das Problem sein. Ich würde meinen Koffer dafür verwetten, dass wir ihre Werte in den Ergebnissen finden werden.“ „Aber das wäre doch schlecht?“ „Im Normalfall schon, allerdings wurden die Werte hier manipuliert, dies konnte ich schon mit dieser kurzen Analyse herausfinden. Ich bin sicher wir können sogar herausfinden, wie es gemacht wurde.“ Verwirrend und unverständlich waren die Worte. „Ich sehe schon, ich muss es ihnen genauer erklären. Wir finden ihre Resonanz hier oben nur, weil sie durch die Manipulation imitiert wurde. Stellen sie sich einfach vor, man hätte ihren Geruch eingefangen und hier oben verstreut. Jeder Hund würde ihre Witterung sofort wahrnehmen. Der Vergleich hinkt etwas, stimmt aber ansonsten.“ „Gut, so weit kann ich ja noch folgen, aber warum konnten dies die Hexenspürer nicht feststellen?“ „Ganz einfach. Nehmen wir den Hund wieder. Er kann ihnen nicht sagen ob der Duft den er wahrnimmt auch hier oben entstanden ist, er kann sie nur dorthin führen wohin ihn seine Nase führt.“ So langsam kam er hinter alles. Doch was jetzt tun? Klatschen unterbrach das Gespräch der Beiden und sie drehten sich herum. Ulf stand vor ihnen und hatte wieder sein verächtliches Lächeln auf dem Gesicht. „Sehr gut Herr Morgen, damit hatte ich nicht gerechnet. Was sehr bedauerlich ist, denn nun werden wir den Plan etwas ändern müssen. Wenn sie bitte so freundlich wären und von ihrer Maschine zurück treten würden und ich möchte eure Hände gut sichtbar sehen. Gut so!“ Er stellte sich zwischen sie und die Maschine. In seinem Kopf drehte sich alles. Ulf?? Konnte das sein? Aber weshalb? „Und nun Herr Morgen würde ich sie bitten dieses Vergessenselixier zu trinken, dann werden sie diesen Ort hier lebend verlassen können. Bei dir alter Freund wird es leider nicht so ausgehen können.“ „Was hast du vor? Mich zu töten? Aber warum?“ „Ach Tib, mein alter Freund, du verstehst immer noch nicht. Ich liebe deine Frau, oder besser gesagt deine Verlobte. Ich muss eure Heirat verhindern. Ich wollte dich nicht töten, aber nun bleibt mir keine Alternative mehr übrig.“ Entsetzt blickte er ihn an. Das konnte nicht die Wahrheit sein. „Du weißt selber einmal im Hexenreich verheiratet – immer verheiratet. Das durfte ich nicht zulassen. Ich wollte dich für ein paar Jahre beseitigen, aber nun gut, nun halt für immer. Ich hab dich gebeten ihn weg zu schicken, aber du wolltest nicht auf mich hören. Das hat alles 33
etwas verkompliziert. Hier ihr Elixier.“ Herr Morgen blickte zu ihm, seine Augen schienen um Verzeihung zu bitten. „..tut mir leid Herr Glück, aber dies ist nur ein Job und dafür zu sterben…“ Er schluckte das Elixier und seine Augen schwärzten sich für einen Moment. „Gut so! Packen sie ihre Maschine zusammen und vergessen sie den heutigen Tag, sie haben einen schrecklichen Kater von ihrer Sauftour gestern Abend gehabt.“ Die ersten Teile begannen bereits in dem Koffer zu verschwinden. „Und Tib, mach bitte keine Dummheiten. Du kennst meine Fähigkeiten und ich deine Nichtvorhanden.“ Das Grinsen war das von Todd aus der sechsten Klasser und ihm fröstelte. Ulfs Hand wies ihn bestimmend an den Rand des Daches. „Es wird wie ein einfacher Selbstmord aussehen. Begangen aus Verzweiflung. Keiner wird Fragen stellen und ich, der trauernde Freund, werde mein möglichstes tun, damit du deine wohlverdiente Ruhe erhältst. Er blieb mit den Fußspitzen am Rand stehen. Er hätte Wut oder Hass erwartet, doch nichts dergleichen fühlte er. Nur diese Leere in ihm war beängstigend. „Tib! Ich wünsch dir einen guten Flug und grüße mir die Andere Seite!“ Der Stoss war nicht stark. Dreizehn Stockwerke waren doch nicht zuviel oder? Er hatte schon einmal einen Sturz von einem Dach überlebt. Warum nicht auch dieses Mal? Er öffnete die Augen und wusste was er tun musste. Er schrie um sein Leben!
ENDE
34
Falsche Vorstellung von Kirsten Lang
Ninias Schwester wurde von einem bösen Zauberer entführt. Kann das Mädchen sie befreien?
Nichts hatte darauf hingewiesen, dass hier der Eingang lag. Der Wald dehnte sich nach allen Seiten, grün und braun soweit das Auge reichte, und niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass hier ein Gebäude stand. Es war nichts zu sehen. Außer diesem Tor im Nirgendwo. Ninia wäre daran vorbeimarschiert ohne etwas zu ahnen, so, wie sie seit drei Tagen ohne zu überlegen durch den Wald marschierte. Aber dann erschien auf einmal das Tor und die uralte Holztür öffnete sich knirschend. Ninia blieb wie angenagelt stehen und starrte es sekundenlang nur an. Sie wusste sofort, was es war und wohin es führte und um so wütender wurde sie, als sie sich vorstellte, wie einfach sie es übersehen hätte. Sie wäre weitergelatscht bis ans Ende der Zeit. Dann lächelte sie. Jetzt ging es los. Sie fühlte das Schicksal wie ein aufmunterndes Schulterklopfen, lächelte noch einmal, um sich selbst zu ermutigen und trat durch das Tor. Kein Licht reichte aus dem Wald durch das Tor, der Tag hörte wie abgeschnitten an der Schwelle auf. Ninia hatte keine Angst vor dem Dunkeln, aber ihr fiel auf, wie überstürzt ihr Aufbruch drei Tage zuvor gewesen war. Sie hatte nur das Schwert ihres Vaters und ein paar Brote mitgenommen; an eine Fackel hatte sie nicht einmal gedacht. Dann muss es eben ohne gehen, dachte sie trotzig und rückte das Schwert an ihrer Seite zurecht. Als sie ihren Vater um den alten Zweihänder gebeten hatte, war er wütend geworden und hatte ihr verboten, ihn auch nur zu berühren. Das war der Grund für ihren fluchtartigen Aufbruch gewesen; sie hatte das Schwert in der Nacht gestohlen und war sofort gegangen. Ninia hatte ein schlechtes Gewissen wegen dieser Sache, aber sie war überzeugt, wenn ihr Vater sie jetzt sehen könnte, wäre er stolz auf sie. Sie entdeckte die Treppe ziemlich schmerzhaft, in dem sie ungebremst gegen die unterste Stufe lief. Tapfer verbiss sie sich einen Schmerzensschrei und fing humpelnd an zu klettern. Ihre Schwester hatte inzwischen mit Sicherheit Schlimmeres erlebt. Wieder einmal machte sich dieses seltsame Gefühl in ihr breit, eine Mischung aus bodenloser Wut und Genugtuung. Kalte Wut erfüllte sie, wenn sie an diesen Scharlatan – einen Zauberer wollte sie ihn nicht nennen – dachte, der es gewagt hatte, ihr Zuhause zu überfallen und ihre geliebte große Schwester zu entführen. Aber irgendwie war es auch richtig. Tanja hatte ihr Leben lang auf Ninia aufgepasst, sie vor allem Unglück bewahrt und aus Schwierigkeiten herausgeholt. Ninia, die solange sie denken konnte immer nur so perfekt wie Tanja sein wollte, war stets nur die Rolle des dankbaren Opfers zugefallen. Aber jetzt war ihre Zeit gekommen. Eisern stapfte sie weiter, Stufe um Stufe, in völliger Finsternis. Bei jedem zweitem Schritt beglückwünschte sie sich, keine Angst im Dunkeln zu haben. Es wäre sehr schlecht, würde sie jetzt Angst bekommen. Bloß weil es dunkel war. Dunkel. Sie fasste das Schwert fester. Von wegen Angst! Zeit verging. Ninia wusste nicht, wie lange sie schon lief, oder wie viele Stockwerke sie schon passiert hatte. Sie wusste nicht einmal mehr mit Sicherheit, ob die Stufen immer noch nach oben führten, aber das ihre Füße mit jedem Schritt stärker schmerzten uns zogen, das wusste sie. Vor einiger Zeit hatte sie versucht die Stufen zu zählen; bei fünftausend hatte sie sich verzählt 35
und fast die Nerven verloren. Manchmal ist Unsicherheit dem Wissen vorzuziehen. Sie war müde und hatte Hunger. Seit heute morgen – gestern morgen? – hatte sie nichts mehr gegessen und der Hunger war das einzige, was sie noch auf den Beinen hielt. Ninia machte sich nichts vor: Sie brauchte eine Pause. Wenn sie auch nur die geringste Chance gegen den Zauberer haben wollte, musste sie so satt und ausgeruht wie möglich sein. Aufstöhnend sank sie auf eine der breiteren Stufen. Wie hätte sie auch ahnen können, dass diese verdammte Treppe so lang war? Sie packte ihr letztes Wurstbrot aus und biß hinein. Schinken, dick mit Butter unterstrichen und das Brot noch nicht ganz hart. Sie stöhnte noch einmal, diesmal vor Vergnügen und weil sie mit vollem Mund kein anderes Geräusch zu Wege brachte und vertiefte sich schmatzend in private Welten des Genusses. Als sie den letzten Krümel von den Fingern geleckt hatte und ihr Magen zufrieden mit seinem Teil der Arbeit begingen konnte, lehnte sie sich zurück und dachte nach. Das hier war ohne Zweifel die Burg des Zauberers, und folglich musste hier irgendwo Tanja gefangengehalten werden. Ninia versuchte gar nicht erst, sich vorzustellen, was er ihr angetan hatte oder antun würde, wenn sie ihn nicht aufhielt. Sie fragte sich, ob sie sich zuerst um Tanja kümmern oder dem Zauberer einen Besuch abstatten sollte. Sie entschied sich schließlich für den Zauberer, denn er konnte ihr den Weg zu Tanja zeigen, wenn sie mit ihm fertig war und außerdem konnte er sie dann nicht mehr überraschen, während sie ihre Schwester befreite. Lächelnd schlief sie ein. Sie kuschelte sich tiefer in die warmen Polster und drehte sich halb sitzend auf die andere Seite, noch nicht bereit, vollständig aufzuwachen. Es war so warm und bequem - wie zu Hause. Aber tief in ihr drinnen war ein Gefühl erwacht, dass etwas nicht stimmte. Ninia versuchte, es zu ignorieren, aber der kleinen Plagegeist gab nicht auf und piekste sadistisch lächelnd in ihrem Unterbewusstsein herum. Was sollte schon falsch daran sein, dösend in einem Sessel zu liegen? Wenn man auf kalten Treppenstufen eingeschlafen ist? Fragte der Zwerg hysterisch. Was nicht?! Sie riss die Augen auf. Es war hell. Goldgelbes Licht von vielen Kerzen und einem flackernden Kamin glänzte und leuchtete in ihren Augen. Sie saß tatsächlich in einem hochlehnigem, dick gepolsterten Sessel und jemand hatte sie in eine bunte Steppdecke eingewickelt. Es war alles so heimelig und gemütlich, das Ninia wahrscheinlich sofort wieder eingeschlafen wäre, wäre nicht der Zwerg in ihrem Hinterkopf gewesen, der sie lautstark an den Anfangsort dieser Nacht erinnerte. Sie war immer noch müde, aber auf eine angenehme, friedliche Art, in die man sich hineinkuscheln konnte wie in diese Decke. Alles lief auf zwei Fragen hinaus, dass war Ninia klar. Wo war sie? Wie kam sie hierher? Sie entschied mit Frage eins zu beginnen. Sie schloss die Augen, gähnte lautstark und markierte ein langsames Aufwachen. Sie gähnte noch einmal, dieses Mal mit mehr Nachdruck und fragte, wie sie hoffte verschlafen: ”Wo bin ich?” ”Na, da scheint ja jemand aufgewacht zu sein.” sagte eine freundliche Stimme links von ihr. Sie drehte den Kopf und begegnete einer Weste. Einer Veränderung des Blickwinkels verdankte sie es, auch den Mann erkennen zu können, der in die Weste gehörte. Er war nicht klein, wirkte aber so, weil man seine ganze Erscheinung nur als rund bezeichnen konnte. Er hatte kurze Beine, über dem ein tonnenförmiger Bauch thronte, der unbemerkt in die Brust überging, einen kurzen Hals und ein rundes, verschmitztes Gesicht, dass von einer weißen 36
Halbglatze gekrönt wurde. Auf der Nase trug er eine kleine Brille. ”Gut geschlafen?” fragte er lächelnd. Ninia erinnerte sich an ihre Erziehung und bestand deshalb nicht auf ihrer Frage, sondern erwiderte: ”Sehr gut, vielen Dank für ihre Gastfreundschaft.” ”Gern geschehen, gern geschehen.” Er hielt zwei Tassen hoch, ”Kakao zum Frühstück?” Ninia nickte nur und nahm die Tasse mit beiden Händen. Ihr Gastgeber behielt die andere und setzte sich zu ihren Füßen auf einen Schemel. Schweigend tranken die beiden einen Schluck. Der Kakao war heiß und kräftig, nicht so süß, wie ihre Mutter ihn kochte, aber den mochte Ninia sowieso nicht so gerne. ”So meine kleine Ninia, was hast du so allein da draußen auf der Treppe gemacht?” Der Zwerg ermahnte sie nachdrücklich zur Vorsicht, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Herr eine Bedrohung für sie sein sollte und selbst wenn er es gewesen wäre, sie hatte lange genug geschlafen, oder? ”Ich suche meine Schwester Tanja – sie wurde von einem bösem Zauberer entführt und die Treppe gehört zu seiner Burg.” ”Das ist ein heldenhafter Auftrag, aber, wenn du mir die Frage gestattest, wie kommst du darauf, dass der Zauberer so böse ist?” Ninia starrte ihn entrüstet an. ”Er hat meine Schwester mitten in der Nacht entführen lassen! Meine Familie und ich mussten hilflos mit ansehen, wie sie von riesigen Raben davon geschleppt wurde! Er muss böse sein!” Er trank einen Schluck und dachte nach. ”Das klingt wirklich sehr böse, so wie du es schilderst. Und deine Familie hat dich ganz allein geschickt, um so einen bösen Menschen zu stellen?” Ninia spürte, wie sie rot wurde und senkte den Kopf. Auf ihrem Kakao schwammen Schaumflecken. ”Sie haben mich gar nicht geschickt. Ich bin allein losgezogen. Ich musste doch Tanja retten!” Der Fremde nickte. ”Natürlich, das musstest du. Das hätte nicht jeder für seine Schwester getan, aber als ich dich auf meiner Treppe fand, wusste ich gleich, dass du etwas besonderes sein musst. Und ich habe mich nicht getäuscht. Du bist eine Heldin, weißt du das?” Sie sah ihn verlegen an. Es dauerte zwei Sekunden, bis sie begriff, was er gerade gesagt hatte, dann traf sie der Hammer . ”DU!” schrie sie und sprang aus dem Sessel. Sie versuchte, das Schwert zu ziehen, ihre Arme verhedderten sich in den Falten der Decke und die Waffe war nicht zu erreichen. Der Zauberer war sitzen geblieben und sah traurig zu ihr auf. ”Wenn ich wirklich so böse wäre, wie du behauptest,.” begann er leise, ”warum habe ich dich dann hereingeholt, warum habe ich dich nicht eingesperrt oder gleich verhext und warum sitzen wir dann hier und reden freundlich miteinander?” ”Und warum hast du Tanja entführt, wenn du nicht böse bist?” giftete Ninia zurück, aber sie ließ sich wieder in den Sessel fallen, weil es schon ziemlich peinlich war, in einer Steppdecke gefesselt und mit Kakaobart seinem Erzfeind gegenüberzustehen. Ein großer Hund, irgendeine Jagdmischung, tappte herein und ließ sich zwischen die beiden fallen. Der Zauberer kraulte ihn gedankenverloren zwischen den Ohren, während der Hund Ninia unverwandt mit großen, traurigen Augen anstarrte. Der Zauberer lächelte, während er das Tier betrachtete. ”Weißt du,” meinte er versonnen, ”Es ist furchtbar schwer, den richtigen Jagdhund zu finden. Sie müssen klug sein, stur und trotzdem treu. Wenn sie dir nicht treu sind, kommen sie nicht zurück. Wenn sie nicht stur sind bleiben sie nicht auf der Spur, wenn sie nicht klug sind, finden sie die Spur gar nicht erst oder jagen die Beute zu Tode, statt sie zu stellen. Deshalb ist ein Jagdhund allein nichts wert. Keiner von ihnen hat alle diese Fähigkeiten. Sie müssen sich gegenseitig ergänzen. Dieser hat noch keinen Partner. Armer Freund.” er starrte träumend ins Nichts. ”Eine Antwort.” quetschte Ninia zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. 37
Sichtlich betroffen kehrte der Magier in die Wirklichkeit zurück. ”Aber natürlich. Entschuldige, alte Männer und ihre Marotten. Der arme Kerl tut mir leid, einsam wie er ist, dass ist alles. Nun gut. Du hast gesehen, wie Tanja von den Raben fortgemacht wurde und hast daraus geschlossen, dass sie entführt wird. Ein verständlicher Schluss, aber ein falscher.” ”Ach ja?” fragte Ninia herausfordernd, ”Und wie ist der richtige?” ”Sie ist freiwillig mitgekommen. Das ginge auch gar nicht anders, denn weißt du, Magie funktioniert nur mit Vertrauen. Wenn Tanja mir nicht vertrauen würde, hätten die Raben sie niemals tragen können, denn eigentlich sind die nur so” er zeigte es mit den Händen, ”groß.” ”Das glaube ich nicht.” zur Bekräftigung ihrer Worte prostete sie ihm zu und nahm einen Schluck. Aber während der Zauberer weitersprach, spürte sie, wie seine Worte in ihrem Inneren Schaltungen auslösten. Was er sagte kannte sie nur zu gut. ”Deine Schwester ist etwas Besonderes. Ich habe noch nie einen so starken und selbstbewussten Menschen getroffen. Und das ist sie mit Recht. Ich habe sie lange beobachtet und sie ist immer mit jeder Situation fertig geworden, ohne die Nerven zu verlieren. Und sie ist klug. Sogar außerordentlich klug. Ich habe lange vergebens nach jemandem mit ihrer Mischung aus Intelligenz und Stärke gesucht – Jahrhunderte, um genau zu sein – nach jemandem, der mein Nachfolger werden kann. Tanja ist diese Person.” Er machte eine Pause und ließ seine Worte einsickern. Dann holte er tief Luft. ”Sag mir ehrlich, glaubst du allen Ernstes, deine Schwester war mit ihrem Leben bei Euch zu Hause glücklich? Sicher, ihr seid ihre Familie und sie liebt Euch alle von ganzen Herzen, aber für eine Frau von Tanjas Potential kann das doch unmöglich alles gewesen sein. Es wäre eine Sünde, solch ein Talent zu vergeuden. Tanja hat das letztendlich auch eingesehen.” Der letzte Satz klang wie ein Hammerschlag in Ninias Ohren. Natürlich hatte Tanja es eingesehen. Schließlich war es die Wahrheit. Jeder einzelne von ihnen hatte immer gewusst, das Tanja etwas besonderes war, zu gut für den Hof ihrer Eltern. Und obwohl ihre Schwester sich gegen solche Behauptungen gewehrt hatte, war es ganz klar, dass sie schließlich die Wahrheit erkannt hatte. Ninia kam sich schrecklich dumm vor. Wie immer. Tapfer schluckte sie die Tränen herunter und sah dem Zauberer direkt ins Gesicht. ”Wo ist sie? Ich würde mich gern verabschieden.” Er lächelte verständnisvoll und streichelte immer noch den Kopf des Hundes. ”Sie ist leider nicht hier. Ich habe sie zum Rat der Hexer geschickt, um ihre Lehrgenehmigung zu erbitten. Sie müssen entscheiden, ob Tanja würdig ist – dabei habe ich nichts zu suchen. Ehrlich gesagt habe ich auch nicht damit gerechnet, dass man uns so schnell einen Besuch abstatten würde.” Er lächelte und flüsterte beruhigend auf den Hund ein, der unruhig mit den Ohren zuckte. ”Außerdem,” fuhr er eindringlich fort, ”weiß ich keinen Grund, warum du dich von ihr verabschieden solltest. Willst du wirklich nach Hause?” Ninia wollte praktisch automatisch nicken, aber dann fiel ihr die Tracht Prügel ein, die sie von ihrem Vater für den Raub des Schwertes kassieren würde und wie einsam und traurig der Hof ohne Tanja sein würde. Und wie sehr sie sich mit ihrer Rettungsmission blamiert hatte. Niedergeschlagen schüttelte sie den Kopf. Der Zauberer nickte verständnisvoll und tätschelte ihre Armlehne, als würde er nicht wagen, sie wirklich zu berühren. ”Das musst du auch nicht. Genauso wenig, wie du dich von Tanja trennen musst.” ”Aber ich will keine Magierin werden!” begehrte sie auf, denn auf einmal verstand sie den Plan des Zauberers. Aber der lächelte nur leicht belustigt und schüttelte den Kopf. ”Ich will dich nicht verletzten, aber ich glaube nicht, dass du dazu in der Lage wärest. Deine Talente liegen in anderen 38
Gebieten. Lass mich erklären, was ich meinte, bitte. Wenn Tanja vom Rat gebilligt wird, muss ich zur Akademie ziehen, damit sie in allen Fächern der Kunst auf die richtige Art ausgebildet wird. Ich allein könnte das niemals schaffen. Auf der Akademie werden aber nicht nur Zauberer ausgebildet, sondern auch viele andere Handwerke. Unter anderem befindet sich dort eine ausgezeichnete Schule der Kriegskunst. Würde es dir nicht gefallen, eines Tages der Leibwächter deiner Schwester zu sein?” Kriegerin? Eine Heldin? Sie würde ihre Schwester beschützen, nicht umgekehrt! Ihr Traum konnte immer noch wahr werden. Der Zauberer war aufgestanden und sah nun auf sie herab. Sie spürte, wie ein glückliches Lächeln auf ihrem Gesicht wuchs und ihm entgegen strahlte. Ninia sprang auf, kämpfte ihre Arme aus dem Gewirr der Steppdecke und fiel ihm um den Hals. Den kleinen Zwerg, den sie schon seit einer Weile erfolgreich überhörte, setzte sie endgültig vor die Tür. Die Arme des Zauberers schlossen sich fest um sie, er würde sie nie mehr alleine lassen. Seine Augen begannen zu glühen und Ninia spürte, wie der Blick sie anzog und festhielt, bis sie das Einzige waren, was sie noch sehen konnte und wollte. Sie fühlte eine Veränderung beginnen, und einen winzigen Augenblick lang hatte sie Angst, aber dann fiel ihr wieder ein, dass dieser Mensch ihr niemals etwas Böses tun würde und ließ sich freudig fallen. Sie spürte eine Treue zu diesem Mann, ihrem Herren in sich wachsen, der so gut zu ihr war, der sie streichelte und versorgte, der zum wichtigsten Teil in ihrem Leben wurde. Sie reckte sich höher, um ihm näher zu sein, rieb ihren Kopf an seiner Wange und spürte das Kitzeln der Haare. Sie wurde weniger, ging verloren im warmen Gelb und fühlte sich so glücklich wie noch nie. Ihre Hinterbeine wollten sie nicht mehr tragen und zitternd vor Erregung fiel sie zurück auf alle Viere, um sofort wieder hochzuspringen und jaulend zu versuchen ihren Herren abzulecken. Ihr Schwanz zuckte hin und her, als der Zauberer sie lachend wieder nach unten schob und ihre Nase den so lange vermissten Geruch endlich erkannte. Ihre Schwester begrüßte sie mit einem ungestümen Stupser und gemeinsam umkreisten sie die Beine ihres Menschen, aufgeregt und freudig, denn ihr Meister liebte sie und sie waren endlich wieder vereint. ”Jaja, meine Lieben,” lachte der Zauberer, ”Euer Vertrauen soll ja belohnt werden! Wir werden jagen gehen, was denkt ihr, meine kleinen Lieblinge?”
ENDE
39
Der Konqistador von Miklos Muhi
Er kam im Namen himmlischer Mächte. Aber das dachte er nur.
- Ich, Don Cortes, Konquistador, nehme im Namen Gottes und im Namen des Königs dieses Land im Besitz und... - Hört mal, mein Sohn, ich denke nicht, dass Ihr hier das machen sollt... Der Konquistador schaute überrascht und beleidigt um. Es konnte ja nicht sein, dass hier, in diesem neuen Land, jemand ihn in seiner Sprache angesprochen, und so aufgefordert hat, seine Arbeit nicht zu machen. Wer konnte denn so was wagen? Der Mann stand genau vor ihm, er war sehr alt, weiß gekleidet, trug einen langen, grauen Bart, lächelte gutmütig, und schaute genau in Cortes' Augen. Der Konquistador vergaß seine Wut für ein Moment und glotzte den Greis an. Er konnte sich nicht vorstellen, woher der alte Mann so urplötzlich aufgetaucht ist, und wie es sein konnte, dass er ihn verstand. Seine Wut kam aber allmählich zurück und verdrängte die Bewunderung und die Überraschung. Der alte Mann für ihn wieder nur ein Verrückter, ein gottloser Heiden, der ihm und seinem heiligen Auftrag im Wege steht. Er war mit im Auftrag des größten Königs dieser Welt gekommen, unterstützt vom Papst, dem Vertreter Christi auf der Erde, über tausend Gefahren, in Schlachten gestärkt... und dann kommt plötzlich ein Greis, und sagt, dass er alles bleiben lassen soll! - Im Namen Gottes befehle ich dir, das Schweigen, alter Narr, sonst lasse ich dich strangulieren! - Und von wem lässt Ihr mich strangulieren? – fragte der Alte, und sein Grinsen wurde immer breiter. Cortes hob seine Hand und gab den Befehl an einem gewissen Juan, den alten Mann gefangen zu nehmen, und seine Hinrichtung baldmöglichst zu organisieren. Juan kam aber nicht. Cortes wiederholte verärgert seinen Befehl, aber niemand rührte sich. Der Alte lächelte immer noch. Cortes drehte seinen Kopf hastig um, und musste feststellen dass er allein war; sein Geleit war einfach verschwunden. Er drehte den Kopf wieder zurück und schaute den Alten fest an. Die Augen des Konquistador spiegelten seine wachsende Angst während er einen Kruzifix aus seiner Ledertasche holte und diesen in die Richtung des Alten vor sich ausstreckte. - Sei verflucht, Teufel! Im Namen Christi befehle ich dir meine Männer zurückzugeben und zu verschwinden! - Ihr seit aber schwer im Kopf, Don Cortes. Bitte, hört mir zu! Das, was Ihr gerade macht, greift hier nicht, und das aus gutem Grund. Ihr seit ja ein guter Soldat, ein treuer Diener des Königs und ein guter Christ. Gerade deshalb sollt Ihr... - Schweig, Teufelskerl! Ich, Don Cortes, der Konquistador des Königs, nehme dieses Land im Namen des allmächtigen Gottes im Besitz der Krone! - er sprach diese Wörter hastig aus, als wären sie ein Zauberformel, das alles richtet - Jetzt bist du ein Untertan des Königs, und ich vertrete Ihn, also du musst meinen Befehlen Folge leisten. Als wirst du getauft... - Das darf ja wohl nicht wahr sein! - der Alte war schon sichtlich verärgert - Wisst Ihr überhaupt wo Ihr seid? - Natürlich weiß ich das! Ich bin in Indien, und Indien gehört ab jetzt der Krone... - Indien, was? Warum lässt Ihr mich nicht ausreden? Vielleicht weiß ich besser wo wir sind. - Schweig, und führe mich zu deinem König! - Gut, Don Cortes, Ihr habt das gewollt, Ihr könnt das haben. Bitte. Plötzlich war Cortes wieder allein, der Alte verschwand und alles um ihn kleidete sich in ein grelles, weißes Licht. Er hörte einen leisen Gesang und versuchte herauszufinden, woher dieser kommt. Aus der Richtung der Stimmen kam auch das Licht, das so hell und grell war, 40
dass er nichts sehen konnte. - Seit Ihr der König Indiens? - fragte Cortes laut und hielt seine Hände vor seinen schmerzenden Augen. - Ja, das bin ich auch. - antwortete eine ruhige Stimme - Ab jetzt... - fing an Cortes zu sprechen, aber er konnte keinen Laut mehr rausbringen. - So ist es gut. Cortes, du hast Recht. Ich bin der König von Indien, denn ich bin der König der ganzen Welt und des Himmels. Ich wollte dich in mein Land rufen, denn du hast dein Leben in meinem Dienste verbracht. Aber du hast dich über den Wärter des Tores und Bewahrer der Schlüssel lustig gemacht, du hast ihn beschimpft und du wolltest mein Königreich erobern! Deshalb bist du nunmehr verdammt, bis in allen Ewigkeiten! Unter Cortes spaltete sich das Licht und, er fiel runter in die dunkele Tiefe.
41