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Zauberschwester Magische Geschichten von Marion Zimmer Bradley Magische Geschichten - Nr. 5 erschienen 1993-10 ISBN 3-596-22744-5
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Verlagsangaben Zauberschwester von Marion Zimmer Bradley Übersetzt von Rosemarie Hundertmarck Titel der englischen Ausgabe: »Sword and Sorceress V« © 1988 2.Auflage Dezember 1993 Scan: Karl Napf Korrektur: Karl Napf Datum: 2004-09-11
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Eine Art Einführung von MARION ZIMMER BRADLEY Jedes Jahr wird es schwieriger für mich, Geschichten abzulehnen – obwohl ich recht genau weiß, was ich nicht will. Doch es fällt mir immer schwerer, einen guten Grund für die Ablehnung zu finden. Falls ich also Ihre Geschichte abgelehnt habe und Sie trotzdem glauben, es sei eine gute Geschichte, halten Sie sich vor Augen, daß ich nicht vom Berg Sinai auf Steintafeln herabspreche. Wenn ich Ihre Geschichte aus einem Grund ablehne, der Ihnen kein guter Grund zu sein scheint, liegt das nur an dem unmittelbaren Eindruck, den ich beim Lesen hatte – oder vielleicht dachte ich auch nur: Wie soll ich dem begabten Einsender (wahrscheinlicher: der Einsenderin) klarmachen, daß ich zwar diese Geschichte nicht kaufen kann, weil ich schon zu viele ähnliche habe, aber vielleicht die nächste kaufen werde? Und dann muß ich Jahr für Jahr immer wieder und wieder die gleichen Geschichten lesen; falls ich Ihre Drachen- oder Einhorn- Geschichten nicht gekauft habe – und wahrscheinlich haben Sie mir eine geschickt, ich glaube, jeder hat mir eine geschickt –, denken Sie bitte daran, wie viele ich dieses Jahr bereits gelesen habe. Nichts ist ein für allemal abgemacht, nicht wahr? Jedes Jahr protestiert jemand in einem Brief gegen meine Politik, keine Geschichte zu kaufen, in der irgendwer sagt: »Aber das ist doch keine Frauenarbeit!« Meine feste Überzeugung ist, daß alles Frauenarbeit (oder, was das angeht, Männerarbeit) ist, wenn eine Frau oder ein Mann stark genug ist und den Wunsch hat, sie zu tun. Manchmal danke ich dem Himmel, daß ich nicht dazu bestimmt worden bin, Leitungsmasten hinaufzuklettern, aber wenn Frauen es tun wollen, ist es mir ein Rätsel, warum sie es nicht sollten. Also, ich kaufe keine Geschichten, in denen Frauen gesagt wird – für gewöhnlich von den Männern in ihrem Leben –, daß dieses oder jenes, das Ersteigen von Leitungsmasten, das Hüten von Drachen oder, häufiger, Schwertkampf und Zauberei keine Frauenarbeit sei. Ja, ich weiß, daß die Schlacht im wirklichen Leben noch nicht gewonnen ist, ich weiß, daß den Frauen im wirklichen Leben gesagt wird, sie könnten keine Drachen hüten und keine Leitungsmasten ersteigen und was es sonst geben mag – aber das ergibt keine gute Geschichte. Wir Frauen müssen wissen, daß uns das in der Dichtung nicht gesagt wird. In Erzählungen, die ich herausgebe, bekommt keine Frau zu hören, sie könne keine
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Drachen hüten. Obwohl es mir immer noch ein Rätsel ist, warum Frauen es wollen. Was ist übrigens schlecht daran, hübsche Kleider zu tragen? Ich, ein Kind der Depression, wäre selig gewesen, welche zu haben! (Das spielt natürlich auf die Stelle in »The female man« an, wo jemand sagt, Männer müßten dieses oder jenes tun und Frauen müßten hübsche Kleider tragen.) Ich habe keine getragen – und ich hätte es so gern getan. Sei dem, wie ihm wolle, ich sehe die Fantasy nicht als eine Möglichkeit, Schlachten zu schlagen, die längst gewonnen sein sollten. Deshalb erfinden Sie in Ihrer Geschichte das Rad nicht von neuem. Es mag notwendig sein, zu sagen, daß Frauen Drachen hüten (oder mit Drachen kämpfen) können, aber nicht in der Dichtung, außer indem sie es tun. Und das tun sie. Und sie werden es weiterhin tun. Zumindest in den von mir ausgewählten Beiträgen zu dieser Anthologie. M.Z.B.
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Margaret L. Carter Jedes Jahr schließt die erste Geschichte, die ich kaufe, ein Dutzend anderer möglicher Geschichten aus. Kritiker sagen zuweilen, ich zöge »Schwert«-Geschichten denen vor, die von Magie handeln. Hier ist nun eine, in der es um beides geht. In gewisser Weise ist sie »typisch«, weil die Heldin eine Söldnerin ist, und sie ist insofern »durchschnittlich«, als jede Fantasy durchschnittlich sein kann. Aber sie enthält zudem eine Menge anderer Dinge, einschließlich Gestaltwandlung und Zauberei. Wir eröffnen also eine weitere Anthologie mit dieser Geschichte von Margaret Carter, die auch an die Darkover-Anthologien eine verkauft hat. – M.Z.B.
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Das Haustier des Zauberers Die große, magere Frau mit dem rostbraunen Haar schreckte aus dem leichten Schlaf neben der Glutasche des Lagerfeuers hoch. Ihre Hand flog an den Dolchgriff. Ihr Blick ging zu den Bäumen, von wo das Rascheln kam, das sie geweckt hatte. Die Schatten der Dämmerung fielen schräg durch die dunkelgrünen und bläulich-purpurnen Blätter. In dem Unterholz neben ihr regte sich etwas, und ein Tier kam zum Vorschein – ein zottiges Tier mit Reißzähnen, dessen graues Fell unregelmäßige Flecken von der Farbe alten Weins zeigte. Es trug ein totes Schlappohr im Maul. Die Frau entspannte sich, nahm die Hand vom Gürtel. »Von allen unverantwortlichen…« Das Tier ließ das fette Schlappohr fallen und schlug mit dem Schwanz nach ihr. Seine leuchtenden Türkisaugen hatten einen flehenden Ausdruck. Die Tiergestalt waberte wie eine Spiegelung auf Wasser und löste sich zu einer Säule gräulich-braunen Rauchs auf. An ihre Stelle trat sodann der nackte Körper eines noch nicht zwanzigjährigen Jungen. Rotblond und schlank, war er ebenso groß wie die Frau, aber sein Umriß hatte sich noch nicht zu dem eines Mannes ausgefüllt. Die blauen Augen, unverändert, sahen mit spöttischem Schimmer in ihre violetten. »Dachte, du hättest vielleicht gern frisches Fleisch zum Abendessen statt dieser zähen getrockneten Streifen.« »Kriechendes Chaos, Bronn! Ich schlafe für ein paar Minuten ein, verlasse mich darauf, daß du Wache hältst, und du stellst so etwas an! Ich weiß nicht, warum ich dich mitgenommen habe.« Grinsend hockte sich der Junge neben seinen Rucksack und nahm Hose und Jacke heraus. »Weil auch eine mächtige Kriegerin wie du eine Aufgabe wie diese nicht allein erfüllen kann.« »Oh, halt den Mund und bring das Feuer wieder in Gang! Ich werde das Ding inzwischen abhäuten. Es sieht aus, als sei es zart, aber trotzdem ist es nicht wert, eine Wandlung darauf zu verschwenden. Wenn ich Mutter und Vater erzähle, wie du dich benommen hast…« »Na, Laenie, was werden sie deiner Meinung nach dann tun? Ich bin schon ein bißchen zu alt, um ohne Essen ins Bett geschickt zu werden. Reg dich nicht auf, ich habe immer noch zwei Wandlungen übrig.« Er knöpfte sich die Hose zu und schürte das Feuer an. Seine Jacke stand immer noch offen. Er hatte gerade erst seine Lehrzeit als Gestaltwandler hinter sich gebracht und war unmäßig stolz auf die eine Form, die er beherrschte: die des Rauhzahns. Deshalb ließ er keine Gelegenheit aus, damit anzugeben. »Und mit den zwei Wandlungen mußt du bis morgen früh auskommen«
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erinnerte Laenie ihn und schlitzte dem Schlappohr wütend den Bauch auf. »Zum erstenmal habe ich einen Job ergattert, der aufregender ist als das Übliche; Leibwache für Reisende zu spielen, die zu faul oder zu ungeschickt sind, sich selbst zu verteidigen. Ich lasse ihn mir von dir nicht versauen.« Bronn bedachte sie mit einem listigen Lächeln. »Ich weiß, was Meister Osswen dazu sagen würde, daß du für Meisterin Moraya arbeitest. Hat er nicht immer behauptet, sie sei korrupt?« Laenie weidete das Schlappohr mit einer einzigen Drehung der Klinge aus. »Was weiß Meister Osswen von der Welt? Er verbringt sein Leben in dieser Villa, die zwei Stunden vom nächsten Dorf entfernt ist. Wie Vater liest er die Hälfte der Zeit für Lords und Fürsten und gutbetuchte Kaufleute die Zukunft aus einer Kristallkugel, die andere Hälfte vergräbt er sich in Tor-Experimente, um die Geheimnisse des großen Jenseits oder so etwas auszuloten. Er hat kein Verständnis für Leute wie uns, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen müssen.« »Du warst an dem großen Jenseits eine Weile recht interessiert.« Laenie hatte nicht ganz ein Jahr als Lehrling bei Meister Osswen verbracht, bis sie zu dem Schluß kam, die Zauberei sei dem wirklichen Leben zu fern, um ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Sie bewahrte dem alten Mann, ihres Vaters Blutsbruder seit der Kinderzeit, ihre Zuneigung, aber sie bereute es nicht, daß sie zu dem Beruf der Kriegerin übergewechselt war. »Meister Osswen sagte, ich hätte einen scharfen Verstand und könne mir schnell etwas merken, aber die Tiefe der Auffassung, die eine Zauberin haben muß, fehle mir. Und wenn das bedeutet, ich verstände die Philosophie der Magie nicht, hat er recht.« Sie bereitete das Schlappohr für den Bratspieß vor und dachte dabei an die Hunderte von Stunden, die sie Osswens Predigten über magische Ethik zugehört hatte. Sie hatte zu seinen Füßen gedöst, während er endlose moralische Probleme wälzte, unter deren mannigfachen Lösungen sie keinen Unterschied von Haaresbreite erkannte. Was hatten das Numerieren der Existenzebenen oder das Anlegen von Karten für die Schnittpunkte zwischen der Schattenwelt und der materiellen Welt mit »gut« und »böse« zu tun? Osswen hatte versprochen, sie werde es verstehen, sobald sie genug Wissen aufgesaugt habe, aber sie hatte die Geduld nicht besessen zu warten. Deshalb nahm sie seine ominösen Bemerkungen über Meisterin Moraya mit Skepsis auf. Für Osswen mochte »korrupt« nichts weiter bedeuten, als daß die Frau die Worte irgendeines uralten Zauberspruchs veränderte oder in ihrer Kristallkugel Reptilienblut anstelle von Vogelblut benutzte. Moraya hatte Laenie wegen ihres kurzen Studiums bei Osswen für diese Aufgabe ausgewählt. »Du weißt gerade genug über Magie, um dich vor ihr in acht zu nehmen« hatte die Zauberin gesagt, »aber nicht genug, um her-
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umzupfuschen und die Zielperson zu warnen. Anders als die meisten Kriegerinnen, die ich kennengelernt habe, hast du wahrscheinlich so viel Verstand, daß dir die Schwerthand nicht mit dem Gehirn davonläuft.« Obwohl sie für ihre Auftraggeberin persönlich ebensowenig Sympathie empfand wie Osswen, hatte Laenie ihr die Beschimpfung der Kriegerinnen durchgehen lassen. Ein Job war ein Job. Laut Morayas Aussage hatte sich Gelvon, ihr früherer Partner, mit ihr gestritten und sich, statt die Vermögenswerte ehrlich mit ihr zu teilen, mit dem von Moraya höchstgeschätzten Besitz davongemacht. »Halte nach einem Käfig Ausschau. Darin befindet sich ein – ein Tier, an dem ich sehr hänge.« Laenie hatte ihr innerliches Hohnlächeln hinter einem freundlichen Gesicht verborgen. Glaubte Moraya tatsächlich, als ehemaliger Lehrling eines Zauberers sei sie so naiv, daß sie »Tier« nicht mit »Schutzgeist« gleichsetzen würde? Sicher, weibliche Magier, die einen Schutzgeist benutzten, waren selten, da diese Art der Zauberei im Stil eher maskulin ist, aber es kam durchaus vor. Laenie hegte den Verdacht, dieser Gelvon habe ein ebenso großes und größeres Anrecht auf das »Tier« aber es stand ihr nicht zu, über die Rechte an okkultem Eigentum ein Urteil zu fällen. Ihre Loyalität gehörte dem Auftraggeber, der sie bezahlte. Die Geschwister zerteilten das heiße, fetttropfende Fleisch, und Bronn fragte Laenie nach ihren Plänen. »Sobald es dunkel wird« antwortete sie, »steigen wir den Berg hinunter, damit wir näher an Gelvons Haus herankommen.« Wie die meisten Angehörigen seines Berufs zog Gelvon es vor, abseits anderer Behausungen zu leben, um sowohl seine Privatsphäre vor Eindringlingen als auch seine Nachbarn vor seinen Experimenten zu schützen. »Du wirst Rauhzahngestalt annehmen und auf Erkundung ausgehen. Ich möchte, wenn möglich, wissen, wo er den Käfig stehen hat, bevor ich ins Haus stürme. Und unterlaß diesmal deine Späße!« »Ja, Schwester« erklärte Bronn mit spöttischer Unterwürfigkeit. Etwa eine Stunde nach Einbruch der Dämmerung meinte Laenie, die Schatten seien jetzt tief genug, daß Bronn in seiner vierbeinigen Gestalt unbemerkt bis ans Haus kriechen könne. Sie sah ihm zu, wie er sich verwandelte und den Hang hinuntersprang, und dann verbarg sie sich bis zu seiner Rückkehr zwischen den Bäumen. Es kam ihr sehr lange vor, bis sie ihn herankeuchen hörte. Was auch seine Fehler sein mochten, ihre Eltern würden ihr nie verzeihen, wenn sie zuließ, daß er ernsthaft verletzt würde. Er floß in seine menschliche Gestalt zurück. »Der Käfig ist da, das stimmt. Die Werkstatt ist der große Raum gleich hinter der Diele, und der Käfig steht mitten auf dem größten Tisch. Ich konnte ihn mir nicht genau ansehen. Er – er glüht irgendwie. Es tat meinen Augen weh.« »Wahrscheinlich liegt ein Zauber darauf, die Nebenwirkung eines magischen Schutzes« meinte Laenie. »Aber hast du genug gesehen?«
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»Ja, ersieht genauso aus, wie Moraya ihn dir beschrieben hat eine Kugel aus Gitterwerk, ein bißchen größer als ein Männerkopf.« »Aus polierten Knochen hergestellt, und an jeder Kreuzung der Gitterstäbe sitzt ein weißer Kristall« rief sich Laenie ins Gedächtnis zurück. »Und sie sagte, er sei sehr zerbrechlich. Deshalb müssen wir vorsichtig sein, wenn es mit Gelvon in diesem Raum zu einem Kampf kommt.« Als es vollständig dunkel geworden war, drangen sie bis in Sichtweite von Gelvons Häuschen vor. Mehr als ein Häuschen war es nicht, keine so große Villa wie die Osswens. Allerdings brauchte Laenies früherer Meister den Raum für Schüler; vielleicht nahm Gelvon keine auf. Von dem, was Laenie über ihn in der nächsten Stadt gehört hatte, lebte Gelvon noch zurückgezogener als ein durchschnittliches Mitglied seines Berufs. Bei einem der Fenster fiel ein Lichtschimmer durch die Läden. Es war ganz gut, dachte Laenie daß Gelvon wach und bei der Arbeit war, denn sie hatte nicht vor einzubrechen. Das Haus war umgeben von magischen Sicherungen – der Grund, warum Moraya nicht einfach ihre eigenen Kräfte benutzt hatte, um den Käfig zurückzugewinnen –, und es würde auch gegen die Künste eines gewöhnlichen Diebes geschützt sein. Die Anwendung von Werkzeugen bei Tür oder Fenster löste den Alarm bestimmt ebenso aus wie der Geruch nach Magie. Laenie hoffte, es mit einem Trick zu schaffen, daß der Eigentümer ihr die Tür öffnete. Sie hatte sich entschlossen, die Rolle einer von der Nacht überraschten Reisenden zu spielen, die von einem Raubtier verfolgt wurde. Sollte Gelvon, was wahrscheinlich war, kein Mitgefühl für eine junge Frau in Not haben, würde ihn hoffentlich die Neugier veranlassen, nachzusehen, was der Lärm bedeutete. Oder vielleicht führte ihn auch nur der Ärger darüber, daß er in seiner Zauberei gestört wurde, hinaus. Bronns Gestaltwandlung würde bei Gelvon trotz seines okkulten Wahrnehmungsvermögens keinen Argwohn hervorrufen. Denn das war keine echte Magie, sondern eine angeborene Begabung (seine blauen Augen waren ein Zeichen dafür), die nur hatte entwickelt werden müssen. Laenie merkte, daß sie den Plan aus nervöser Unentschlossenheit immer wieder von neuem durchging. Sie winkte Bronn, die Gestalt zu wechseln. Als er fertig war, stieg sie den Hang zur Eingangstür des Häuschens hinunter. In Hörweite angekommen, stimmte sie ein durch Mark und Bein gehendes Geschrei an, wie es eine Tragödienspielerin auch nicht besser fertiggebracht hätte. Sie rannte zur Tür und hämmerte mit beiden Fäusten dagegen. Bronn spielte seine Rolle mit Eifer, zwickte sie in die Fersen und sabberte schon fast zu realistisch. Bis die Tür endlich aufflog, hatte Laenie einen rauhen Hals. »Unaussprechlicher Name! Was ist das für ein Schwachsinn?«
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Für einen Augenblick brachte das Äußere des Magiers sie aus dem Konzept. Sie hatte einen Graubart wie Osswen erwartet. Gelvon erwies sich jedoch als ein schlanker, muskulöser Mann im besten Alter. Sein Gesicht war glatt bis auf die Fältchen um die Augen. Er trug eine knielange, ärmellose Robe mit einem Gürtel. Schnell gewann Laenie ihre Geistesgegenwart zurück. Sie fiel auf die Knie und umklammerte einen seiner Knöchel, als sei sie vor Angst von Sinnen. In Wirklichkeit hielt sie die Beine so, daß sie sofort aufspringen konnte. Gelvon, immer noch eher verärgert als beunruhigt, versuchte, sich von ihr loszumachen. »Laß los, du dummes Mädchen!« Bronn – als Rauhzahn – schleuderte sich in einem geschmeidigen Bogensprung gegen die Brust des Zauberers, der flach auf den Rücken fiel, und sprintete an ihm vorbei ins Haus. Laenie sprang auf und folgte ihm, bevor Gelvon wieder zu Atem kommen konnte. Auf die kleine Diele, die sie durchquerte, warf sie nur einen flüchtigen Blick – sie war leer bis auf das übliche Wasserbecken in der einen Ecke, besetzt mit Blitzfinnen. Hinter sich hörte sie Gelvons in weichen Schuhen steckende Füße die Verfolgung aufnehmen. Dann war sie in der Werkstatt. Sie war ganz ähnlich eingerichtet wie das Laboratorium Osswens oder sonst eines Magiers. Mehrere grobe Holztische und Stühle standen ohne bestimmte Anordnung umher, Regale bedeckten die Wände, und ein Durcheinander von Gerüchen, muffig, stechend und süß, erfüllte die Luft. Auf dem Tisch in der Mitte stand der »Käfig« genau wie Bronn ihn beschrieben hatte. Mit Magie vertrauter als Bronn, konnte Laenie das Objekt besser erkennen als er. Die Sphäre war mit einer schillernden rosa Substanz gefüllt, die wie von einer inneren Flamme leuchtendes Fleisch aussah. Nein, nicht wie Fleisch, denn je länger sie hinsah, desto weniger fest kam sie ihr vor. Sie wogte wie ein Klacks Gelee, der von einem zu närrischen Streichen neigenden Zauberlehrling animiert worden ist. Sie brauchte nur Sekunden, um dieses Bild in sich aufzunehmen und zu erkennen, was die Substanz war. Es war kein Glanz, um den Bewohner der Sphäre zu verbergen. Laenie hatte erwartet, das »Haustier« werde ein Reptil oder ein Nager sein, darauf dressiert, dem Zauberer zu dienen. Statt dessen war dieses sich kräuselnde Gelee selbst das Tier, eine Lebensform, wie sie in der Natur nicht vorkommt. Sie und Bronn fuhren herum und sahen sich dem wütenden Gelvon gegenüber. Der waffenlose Magier strebte einem Tisch zu, auf dem ein Ritualdolch mit dünner Klinge lag. Bronn sprang ihm in den Weg. Gelvon gelang es, das Messer zu ergreifen, bevor der Rauhzahn ihn packte. Bronn warf sich auf Gelvon, wurde jedoch von der Klinge abgewehrt, die dicht vor seinen Augen hin und her fuhr. Dem Plan entsprechend hätte Bronn
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den Zauberer niederwerfen und festhalten sollen, damit Laenie ihn fesseln konnte. Doch das Blitzen von Gelvons Messer beschränkte das Tier darauf, an seinen Beinen zu zerren, um ihn womöglich umzureißen. Gelvon hielt sich mit mehr Behendigkeit, als Laenie jemandem von seinem Typ zugetraut hätte, auf den Füßen. Der Magier konzentrierte sich darauf, nach den Augen des Rauhzahns zu stechen. Augen – es war nur eine Sache von Minuten, bis Gelvon einen guten Blick auf sie erhaschte. Sein Zusammenzucken verriet Laenie, daß er etwas gemerkt hatte. Kein richtiges Tier besaß blaue Augen. Gelvon wußte jetzt, daß Bronn ein verwandeltes menschliches Wesen war. Zu Laenies Überraschung ließ Gelvon das Messer fallen und krümmte die Finger wie Klauen. Aus seiner Kehle sprudelte ein Sturzbach unverständlicher Wörter. Die kehligen Laute ließen die Luft knistern, als sei ein Gewitter im Anzug. Der Zauber wirkte auf der Stelle; Bronn stand als nackter Junge vor seinem Gegner. »Bronn, du Tölpel!« schrie Laenie. »Verwandele dich zurück!« Er warf ihr einen kläglichen Blick zu. Sie erinnerte sich, daß er seine drei Umwandlungen pro Tag verbraucht und keine mehr übrig hatte. Als Tier war Bronn großartig. Als Mensch hatte er an Kampfausbildung nicht mehr genossen als jeder durchschnittliche junge Mann seines Alters. Er sah kurz zu der offenen Tür hinüber. Doch statt zu fliehen hob er die Arme in einer amateurhaften Pose und drang auf Gelvon ein. Laenie rückte näher. Den Dolch in der Hand, wartete sie auf eine Blöße, durch die sie angreifen konnte, ohne ihren Bruder zu verletzen. Gelvon war kein schwacher Gelehrter. Er zielte mit dem Fuß nach Bronns Lenden. Bronn fiel auf die Finte herein; er duckte und krümmte sich. Gelvon drehte sich und rammte dem Jungen die Handkante gegen den Hals. Bronn fiel zu Boden und schlug auf dem Weg nach unten mit dem Kopf an einen Tisch. Mit einem Wutschrei warf sich Laenie auf Gelvon. Er intonierte einen weiteren tiefkehligen magischen Spruch. Sofort erstarrten ihre Glieder in lähmender Kälte. Ihre Finger öffneten sich und ließen die Waffe fallen, ihre Beine knickten ein. Gelvon schob ihren unbeweglichen Körper auf einen Stuhl und fesselte sie, die Hände hinter dem Rücken, die Knöchel an die Stuhlbeine. Bronn, der immer noch bewußtlos war, band er da, wo er lag, Hände und Füße zusammen. Nach einigen tiefen Atemzügen sprach der Zauberer Laenie zum erstenmal an. »Wer bist du, Mädchen? Keine gewöhnliche Diebin – die hiesige Bevölkerung hätte eine solche vor einem Versuch bei mir gewarnt. Hinter was bist du her? Wer hat dich geschickt?« Laenie antwortete nicht. »Du wirst dich weniger hartnäckig zeigen, wenn du siehst, welchen Ge-
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brauch ich von deinem – was? Nicht Liebhaber, glaube ich. – Ich erkenne eine gewisse Ähnlichkeit um das Kinn. Zweifellos ist es dein Bruder. Er wird eine gute Mahlzeit für mein Haustier abgeben.« Laenie konnte ein Keuchen nicht unterdrücken. Gelvon lächelte. »Siehst du diese Kreatur?« Er legte seine Hand auf den kugelförmigen Käfig. »Dieser Gegenstand ist eine Matrix, die das Wesen von seiner Welt in unsere zieht. Besser gesagt, teilweise hereinzieht. Es ist kaum zu glauben, daß sich innerhalb dieser Sphäre eine Tasche des Schattenreiches befindet, ein Tentakel, in unseren Raum hinausgestreckt und hier durch meine Macht festgehalten. Man stelle sich vor, daß eine zerbrechliche Konstruktion wie dieses Netzwerk eine solche Kraft gefangenhalten kann. Wenn man das kristalline Muster zerstörte, kehrte das Wesen augenblicklich in seine eigene Welt zurück. Erstaunlich, nicht wahr?« Er sah Laenie in die Augen, als erwarte er tatsächlich, von ihr bewundert zu werden. Dann hob er den Ritualdolch vom Boden auf und stach sich in den Finger. Er quetschte ein paar Blutstropfen auf die Oberfläche des Käfigs. Sie verschwanden, wurden sofort aufgesaugt. »Der Geschmack meines Blutes erhält mir seine Treue« sagte er. »Aber es braucht viel mehr Nahrung, um zu gedeihen und stark zu werden. Eines Tages wird es stark genug sein, daß es selbständig für mich handeln kann, statt ständig von meinen Gedanken geleitet werden zu müssen. Laß mich dir zeigen, wie es frißt. Es wird dich faszinieren, wie dein Bruder von innen nach außen verzehrt wird, als sei er ein von Larven befallener Kürbis.« Er wandte ihr den Rücken zu und begann zu singen. Im Gegensatz zu den harten Ausrufen der beiden vorigen Sprüche war dieser Zauber ein leises Lied. Allerdings war es deshalb nicht angenehmer. In Laenies Ohren klang es mehr nach dem Summen eines Insekts als nach einer menschlichen Stimme. Das glühende Wesen sickerte durch die Zwischenräume der Sphäre wie ein zerschmetterter Wurm. Einmal draußen, wirkte es noch weniger stofflich. Es sank wie schwerer Rauch auf den Fußboden und schlängelte sich darüber hin wie verfärbtes Öl. Das Ding kroch auf Bronn zu. Laenie verfluchte stumm ihre Lähmung. Das Ding zog sich auf den Körper des Jungen und bedeckte seine Brust. Dann entsprossen ihm geschwollene, pulsierende Finger, die nach seinem Gesicht tasteten. Einzelne Tentakel legten sich auf seine Augen und bohrten sich in seine Nasenlöcher, seine Ohren und seinen Mund. Laenie drehte sich der Magen um. Sie biß die Zähne zusammen. Erst jetzt merkte sie, daß die Betäubung nachließ. Sie konnte Finger und Zehen ein bißchen bewegen. Jetzt, da der Lähmzauber sie nicht mehr festhielt, überlegte sie, ob sie Gelvons Fragen beantworten sollte. Sie hatte keine Skrupel, Moraya zu betrügen, um Bronn zu retten. Was sie zurückhielt, war die Überzeugung, daß Gelvon
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mit ihnen beiden spielte. Hatte er einmal die Informationen, nach denen er verlangte, würde er sie beide trotzdem töten. Laenie sah, daß Bronn wieder zu sich kam. Verzweifelt spannte sie die Armmuskeln an. Aus seiner Brust drang ein tiefes Stöhnen. Sie hörte Qual aus diesem Stöhnen heraus und erkannte, daß er nur deswegen nicht schrie, weil das Ding ihm die Luft absaugte. Bronn war manchmal unbedacht, aber er hatte dafür nicht den Tod verdient. Und als er hätte fliehen können, war er geblieben und hatte sich Gelvon mit bloßen Händen zum Kampf gestellt. Gab es nichts, was sie für ihn tun konnte? Sie sprach ein stummes Gebet. Als erhalte sie darauf Antwort, erinnerte sie sich plötzlich an die eine Fertigkeit, die sie während ihrer Zeit bei Osswen gründlich erlernt hatte: Sie hatte ihr Talent entdeckt, kleine Gegenstände zu bewegen. Ihr Meister sah darin eine Spielerei, aber ihr hatte es die endlosen Lehrlingsarbeiten erleichtert, das mühselige Sortieren, Fegen und Schrubben. Sie begann zu flüstern; es war kaum mehr als ein Vibrieren in ihrer Kehle. Gelvon hatte sich so vollständig konzentriert, daß er nichts merken würde, solange sie vorsichtig war. Am leichtesten waren Gegenstände zu animieren, die irgendwie mit ihr in Verbindung standen – zum Beispiel ihr Dolch, der in Armeslänge von ihr entfernt auf dem Fußboden lag. Sie wob ein Netz aus geheimen Lauten und lockte den Dolch zu sich. Er glitt über die Dielen wie eine zahme Schlange und zerschnitt die Stricke, die ihre Knöchel fesselten. Die Schneide würde später neu geschärft werden müssen, aber im Augenblick fuhr die Klinge durch die Fasern wie durch weichen Käse. Laenie setzte ihr einschmeichelndes Wispern fort. Das Messer schob sich an den Stuhlbeinen zu ihren Händen hoch. Innerhalb von Sekunden waren die Bande zertrennt. Laenie faßte nach dem Dolch und wechselte dann den Griff, daß er ihr richtig in der Hand lag. Nun noch ein anderes kleines Kunststück. Nichts Extravagantes wie das Heraufbeschwören von etwas aus nichts, nur eine leichte Verzerrung und Übertreibung von etwas, das bereits existierte. Sie konzentrierte sich auf eine Nußöl-Lampe, die an einem Brett nicht weit von dem mittleren Tisch brannte. Ihre Lippen bewegten sich beinahe tonlos. Die Lampe begann zu zittern, als werde sie von den Vibrationen erfaßt, die einem Erdbeben vorausgehen. Die Flamme darin wuchs. Das Vibrieren wurde schneller. Laenie spannte die Kniegelenke zum Sprung. Die Lampe explodierte in einem Regen von Tonscherben. Die Flamme schoß im Bogen wie eine Sternschnuppe auf den Saum von Gelvons Robe. Knurrend fuhr er herum. Laenie schleuderte dem Feuer einen letzten Befehl zu. Es loderte auf und verzehrte die halbe Robe des Magiers in einem Atemzug. Gelvon warf sich auf den Boden und rollte umher, um die
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Flammen zu ersticken. Dann sprang er auf. Sein Gesicht verzerrte sich in dem Versuch, einen weiteren Zauber auszusprechen. Bevor er die Worte bilden konnte, fetzte ihm Laenies Dolch waagerecht über die Mitte. Er krümmte sich, faßte nach dem Schnitt. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Laenie wechselte den Griff und stieß mit dem Dolch nach oben. Er traf Gelvons Kehle und durchschnitt die große Ader dort. Laenie ließ das Heft los und trat zurück, aber nicht schnell genug, um dem Blut zu entgehen, das über ihr Handgelenk strömte. Schwer atmend blickte sie auf die Leiche des Zauberers nieder. Sie hatte nicht vorgehabt, ihn zu töten. Der Zorn hatte den Verstand übermannt. Das war nun das erste Mal gewesen, ging ihr durch den Sinn, und es hatte so schludrig und unüberlegt geschehen müssen. Ihre Waffenhand an der Hose abwischend, drehte sie sich zu Bronn um. Sobald Gelvons Aufmerksamkeit abgelenkt wurde, war das Wesen wie von einem Miniatur-Wirbelwind in den Käfig zurückgesaugt worden. Es knallte laut, als sich der leere Raum wieder mit Luft füllte. Bronn öffnete die Augen. Erleichtert stellte Laenie fest, daß das Licht des Bewußtseins darin schimmerte. Sie half ihm auf die Füße. Obwohl die Beule an seinem Kopf und die Quetschung an seinem Hals scheußlich aussahen, schien er, abgesehen von seiner Schwäche, ganz er selbst zu sein. Auf Zehenspitzen schlich Laenie zu dem Tisch, auf dem der Käfig stand. Blöd, dachte sie, als ob das Ding sie hören könne! »Da ist deine Beute!« stieß Bronn heiser hervor. »Könntest du – könntest du das Ding für die Reise einwickeln? Ich mag es nicht sehen.« Laenie stieß den angehaltenen Atem aus. Erst als sie ihren Entschluß aussprach, wurde ihr bewußt, daß sie ihn längst gefaßt hatte. »Ich nehme es nicht mit.« »Was? Dein Auftrag…« »Ich hatte unrecht«, sagte sie, »und Meister Osswen hat recht. Es ist schlecht, ein Ding wie dieses in unsere Welt zu bannen.« Gelvons Worte fielen ihr ein – »eine zerbrechliche Konstruktion – wenn man das kristalline Muster zerstört.« Ihr Blick überflog das Durcheinander auf dem Tisch. Sie ergriff einen facettierten Steinbrocken, etwa doppelt so groß wie eine Faust, und schmetterte ihn auf die Sphäre nieder. Das zarte Netzwerk aus Knochen brach sofort. Drei weitere Schläge machten ein Häufchen Splitter und trüber Kristalle daraus. Von dem Wesen aus dem Schattenreich war keine Spur mehr zu sehen. Bronn schüttelte den Kopf und strich sich das Haar zurück, als kläre sich jetzt erst seine Sicht. »Was ist mit deinem Ruf als Kriegerin? Ganz zu schweigen von deinem Honorar?« »Das laß meine Sorge sein.« »Moraya wird das nicht gefallen.«
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»Ich werde ihr sagen, Gelvon habe das Ding im Augenblick seines Todes zerstört, um es nicht in andere Hände fallen zu lassen« sagte Laenie. Bronn seufzte. »Ich glaube, ich war dir keine große Hilfe.« Laenie dachte an seinen unüberlegten, hoffnungslosen Angriff auf Gelvon. Sie zog sich Bronns Arm um die Schultern, um ihn zu stützen. »Du hast deine Sache gut gemacht, kleiner Bruder. Gehen wir.«
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Charles de Lint Charles de Lint, ein gebürtiger Holländer, der augenblicklich in Kanada lebt, ist in diesen Sammlungen kein Fremder. In dem Jahr, seitdem er das letzte Mal hier erschien, hat er zwei Preise für Fantasy erhalten – und zwar wohlverdiente. In dieser Zeit habe ich ihn auch persönlich kennengelernt und seine Fertigkeit auf der Gitarre entdeckt. Manche Leute, pflegte der vor kurzem verstorbene Ted Sturgeon zu sagen, benutzen ihre Gitarre auch dazu, ein Kanu zu paddeln, und das könnten die meisten »Folk«-Sänger von mir aus auch getrost tun. Aber de Lint ließ das Instrument eher wie eine irische Harfe klingen. Ich verabscheue Volksmusik und die ganze sogenannte »Folk«-Musik, die mir immer vorkommt, als ob Leute, die keine Musik machen können, so tun als ob; aber seine Musik ist die wahre. (Warum möchte jemand schreiben, wenn er singen kann?) Ich finde, wir haben einfach Glück gehabt, daß Charles Zeit und Kraft hatte, beides zu tun. – M.Z.B.
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Ins grüne Land Steinwände halten eine Kesselflickerin fest, kaltes Eisen bindet eine Hexe, aber die Musik einer Musikantin kann nicht in Band geschlagen werden, denn sie lebt zuerst in ihrem Herzen und ihrem Kopf. Die Harfe wurde Garrow genannt. Geboren aus einem alten Leid, machte sie müde Herzen froh. Es war eine kleine Schoßharfe, leicht zu tragen, mit einer Resonanz, die die Musik bis in die hintersten Ecken des überfüllten Gastzimmers trug. Die langen Finger der rothaarigen Frau konnten ihren Saiten Tanzmelodien entlocken, beschwingte Gigues und Dreher, die die Füße tappen ließen, bis die Dielenbretter bebten und die Dachbalken klangen. Aber in manchen Nächten kehrte die Erinnerung an das alte Leid zurück. Es lag auf der Lauer wie Sumpfnebel, und wenn es kam, bewölkte es ihre Augen. In diesen Nächten war die Musik, die sie aus Garrows metallenen Saiten zog, eher bitter als süß, langsame Weisen, die Bedauern in den Herzen wachriefen und zur Qual der Zuhörer unerwünschte Erinnerungen aufsteigen ließen. »Jetzt reicht es!« sagte der Gastwirt. Die Melodie stockte, und Angharad blickte in sein ärgerliches Gesicht hoch. Sie legte ihre Hände über die Saiten und brachte das klagende Singen der Harfe zum Verstummen. »Ich habe gesagt, du könntest Musik machen«, schalt der Gastwirt, »nicht, daß du meine Gäste vertreiben sollst.« Angharad brauchte ein paar Augenblicke, um von jenem Ort in ihrem Gedächtnis, an den die Musik sie geführt hatte, in die Wirtschaft zurückzukehren, wo ihr Körper saß und Musik aus den Seiten der Harfe zog. Das Gastzimmer war halbleer und merkwürdig still, während zuvor jeder Tisch besetzt gewesen war. Schulter an Schulter hatten Männer an der Theke gestanden, Witze gerissen und sich immer üppiger ausgeschmückte Geschichten erzählt. Die wenigen, die jetzt sprachen, taten es mit gedämpften Stimmen; noch weniger wollten ihrem Blick begegnen. »Du wirst gehen müssen.« Die Stimme des Wirtes war jetzt nicht mehr so barsch. Angharad sah in seinen Augen, daß auch er an ein vergessenes Leid erinnerte. »Es…« Wie sollte sie ihm erklären, daß das Leid in Nächten wie diesen kam, ob sie es wollte oder nicht? Daß sie, wenn sie die Wahl gehabt hätte, es auch lieber vergessen würde? Aber die Harfe war ein Geschenk von Jacky Lanterns Sippe, und die Musik, die sie den Saiten entlockte, war es auch. Angharad benutzte sie auf ihren Reisen durch die Königreiche der Grünen In-
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seln, um das Sommerblut zu wecken, wo es in Leuten schlief, die gar nicht wußten, daß sie Hexen waren. Auf diese Weise überlebte das Mittlere Königreich – durch Erinnerungen, durch seine kleinen Zaubereien, durch den Austausch von Weisheit und Klatsch zwischen den Menschen und jenen, mit denen sie die Welt teilten. Manchmal waren die Erinnerungen, die die Musik erweckte, nicht so fröhlich und bezaubernd. Sie taten weh. Doch auch sie dienten einem Zweck, wie die Musik sehr wohl wußte. Sie halfen, die Kreise der Geschichte zu brechen, damit Fehler nicht wiederholt wurden. Aber wie sollte sie all das diesem hochgewachsenen, grimmig dreinblickenden Wirt erklären, der nichts weiter als eine abendliche Unterhaltung für seine Gäste gewollt hatte? Wie sollte sie in Worte fassen, was nur die Musik ausdrücken konnte? »Es… es tut mir leid«, sagte sie. Er nickte. Dann wurden seine Augen hart. »Geh!« Sie erhob keinen Einwand. Sie wußte, was sie war – Kesselflickerin, Hexe und Harfnerin. So weit südlich von Kellmidden erlaubte ihr allein die letztere Eigenschaft, Kontakt mit denen aufzunehmen, die eine Straße bereisten, nur um von hier nach da zu kommen, nicht um des Reisens selbst willen. Um der Straße willen, die ins grüne Land führt, wo Poesie und Harfenspiel sich treffen, um von dem Mittleren Königreich zu singen. Angharad stand auf. Sie schwang sich die Harfe auf die eine und ein kleines Reisebündel auf die andere Schulter. Ihr rotes Haar war in zwei langen Zöpfen zurückgezogen. Sie trug den Faltenrock und die weiße Bluse der Kesselflickerin und darüber die Lederweste eines Jägers. An der Tür ergriff sie ihren Stab aus weißem Ebereschenholz. Hexenholz. Erst als die Tür hinter ihr zugefallen war, kehrte das übliche Maß an Unterhaltung und Gelächter in das Gastzimmer zurück. Aber die Leute würden sich erinnern. An sie. An ihre Musik. Da war dieser Mann, der sie aus einer Ecke beobachtet hatte, das Gesicht dunkel vom Grübeln. Sie wollte fort sein, bevor sie sich an noch anderes erinnerten. Bevor der eine oder andere sich lau fragte, ob die Haut einer Hexe tatsächlich verbrennt, wenn man sie mit kaltem Eisen berührt – wie es bei dem Kowrie-Volk der Fall ist. Angharad trat von der Tür weg. Eine große, dunkle Gestalt erhob sich da, wo sie an einem Fenster gekauert hatte. Angharads Puls hämmerte schneller, als sie sah, daß es ein Mann war – ein mißgestalteter Mann. Seine Brust war massig, seine Arme und Beine glichen kleinen Bäumen. Aber ein Buckel erhob sich von seinem Rücken, und sein Kopf stieß fast schon von seiner Brust in einem merkwürdigen Winkel vor. Seine Beine waren krumm, als sei sein Gewicht zuviel für sie. Mehr schlurfend als gehend durch. querte er den geringen Raum zwischen ihnen.
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Licht aus den Fenstern fiel über seine Züge. Ein Auge saß höher in dem breiten Gesicht als das andere. Die Nase war gebrochen – öfter als einmal. Sein Haar war ein verknotetes Dickicht, sein Bart ein Vogelnest aus verfilzten Strähnen. Angharad führte ihren Stab zwischen ihn und sich. Das weiße Ebereschenholz konnte ein Hexenfeuer entzünden, das für wenig mehr taugte, als am Lagerplatz feuchtes Holz aufflammen zu lassen, aber es konnte erschrecken. Das mochte reichen, daß ihr die Flucht gelang. Der monströse Mann streckte die Hand nach ihr aus. »Schschön«, sagte er. Bevor Angharad reagieren konnte, kam eine Gestalt schnell um die Seitenwand des Gasthauses. »Geh weg!« rief sie. Es war das Schankmädchen aus dem Gasthaus, eine schlanke Blauäugige, deren blondes Haar ihr in einem dicken Zopf über die Brust hing. Der Wirt hatte sie Jessa gerufen. »Geh weg von ihr, du großer Lümmel!« Sie machte eine scheuchende Handbewegung. Der Mann drehte sich um, und Angharad sah in seinen Augen etwas kurz aufflackern. Ein strahlendes Licht. Ein Aufblitzen des Bedauerns. Jetzt erkannte sie, daß er von ihrer Musik gesprochen hatte, nicht von ihr. Er hatte die Hand ausgestreckt, um die Harfe zu berühren, nicht sie. Angharad wollte ihn zurückrufen, aber das Schankmädchen drückte ihr ein Paket in die Hand, das in ungebleichte Baumwolle eingewickelt war. Der Mann war davongeschlurft und in der Zeit, die Angharad brauchte, um von dem Paket zu der Stelle zu sehen, wo er gestanden hatte, in der Dunkelheit verschwunden. »Etwas für unterwegs«, sagte Jessa. »Es ist nicht viel – etwas Käse und Brot.« »Ich danke dir«, antwortete Angharad. »Dieser Mann…?« »Oh, achte nicht auf ihn. Das ist nur Pog – der Dorftrottel. Fael läßt ihn für das an Arbeit, was er rund um das Wirtshaus tun kann, in der Scheune schlafen.« Sie lächelte plötzlich. »Er hat das Kowrie-Volk gesehen, weißt du. Wie er erzählt – und man würde die Geduld eines von Daths Priestern brauchen, um die ganze Geschichte anzuhören –, tanzen sie in Nächten wie dieser um die Steine.« »Was für eine Nacht ist es denn?« »Vollmond.« Jessa zeigte nach Osten. Dort erhob sich der Mond geschwollen und rund über die Bäume. Angharad fiel ein, daß sie auf der Straße, die sie zu dem Wirtshaus geführt hatte, an einem Kreis von alten Langsteinen vorbeigekommen war. Sie standen von der Straße entfernt auf einem Hügel, etwa drei Meilen westlich des Dorfes. Wie stumme Wächter blickten sie auf das Graue Meer hinaus. Ein Ort, wo Kowries tanzen würden, dachte Angharad, wenn sie Lust dazu
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hatten. »Du gehst besser«, sagte Jessa. Angharad sah sie fragend an. Das Schankmädchen nickte zu dem Wirtshaus hin. »Da drin reden sie über Hexen und Zauber, der mit Musik bewirkt wird. Es sind keine bösen Männer, aber jeder Mann, der trinkt…« Angharad nickte. Eine harte Tagesarbeit, und dann wurde den ganzen Abend getrunken. Für manche genügte das als Entschuldigung für jede Tat. Schließlich waren sie anständige Leute. Keine Kesselflicker. Keine Hexen. Sie berührte Jessas Arm. »Ich danke dir.« »Wir sind beide Frauen«, meinte das Schankmädchen einem Lächeln. »Wir müssen zusammenhalten, nicht wahr?« Gesicht, halb im Düster versteckt, wurde ernster. »Halte dich der Straße fern, wenn du kannst«, setzte sie hinzu. »So wie die Dinge laufen… Da gibt es welche, die haben Pferde.« Angharad dachte an einen mißgestalteten Mann und einen Kreis stehender Steine, an Mondschein und tanzende Kowries. »Das werde ich tun«, sagte sie. Jessa lächelte ihr noch einmal schnell zu, dann schlüpfte sie im die Ecke des Wirtshauses und lief in die Küche zurück. Angharad lauschte ihren leisen Schritten nach. Mit einem nachdenklichen Blick auf das Wirtshaus stopfte sie das Essenspaket in ihr Reisebündel und wanderte, den Stab in der Hand, die Straße hinunter. Von den Menhiren und Steinkreisen, mit denen die Königreiche der Grünen Inseln übersät sind, werden viele Geschichten erzählt. Die Zauberer nennen sie heilige Orte, dem Sommerherrn geweiht, Becken, in denen die alten Kräfte von Hügel und Mond durch die Rituale der Druiden und ähnlichem Volk gesammelt werden können. Die Priester Daths nennen sie böse und warnen die vor ihrem Einfluß. Das gemeine Volk nimmt sich nur vor ihnen in acht – sieht in ihnen weder Gutes noch Böses, sondern Orte, wo die Geheimnisse für gewöhnliche Leute zu tief liegen. Und sie bergen tatsächlich Geheimnisse, dachte Angharad. Von da, wo sie stand, konnte sie die Umrisse der hohen Steinfigur vor dem Himmel sehen. Dichter Nebel umlagerte ihren Hügel – heraufgezogen von der See, die einen Steinwurf oder entfernt murmelte. Der Mond stand jetzt höher; die Nacht war so still wie ein angehaltener Atem. Erwartungsvoll. Angharad verließ die Straße und ging auf den Steinkreis zu, wo die Kowries, wie Pog behauptete, in Vollmondnächten tanzten. Es waren die Nächte, in denen ihre Harfe ältere Melodien spielte, als kannte, und es war, als rühre der Wind die Saiten. Der Stechginster unter ihren Füßen war feucht. Im Nu waren ihre blo-
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ßen Beine naß. Sie umging zwei Felsblöcke und gelangte schließlich von der Seite nach oben, die dem Meer zugewandt Das Gemurmel seiner Wellen war jetzt sehr deutlich zu sehen. Der scharfe Geruch seines Salzes hing in dem Nebel. Angharad konnte in diesem Nebel nicht tiefer als zu ihrer Taille sehen, aber der Gipfel war klar. Der Kreis der Steine auch. Grau und verwittert ragten sie vor ihr auf, viermal so hoch wie selbst. Bevor sie den Kreis betrat, legte sie ihr Reisebündel und ihren Stab auf die Erde. Aus einer Scheide an der Innenseite Jacke zog sie ein kleines Messer und ließ auch das zurück. Da dies ein Ort war, an den die Kowries kamen, würden sie niemanden willkommen heißen, der kaltes Eisen bei sich trug. Als letztes knöpfte sie ihre Schuhe auf und stellte sie neben ihr Bündel. Erst dann betrat sie den Kreis, barfuß, nichts als die Harfe in der Hand. Es überraschte sie nicht, den Buckligen aus dem Dorf innerhalb Kreises zu finden. Er hockte auf dem Königsstein und ließ seine kurzen Beine baumeln. »Hallo, Pog«, sagte sie. Ohne jede Angst vor ihm durchquerte sie den Kreis bis zu dem, wo er saß. Sie waren miteinander näher verwandt als mit irgend jemandem außerhalb dieses Kreises. Ihr Sommerblut band sie. »Ha-haha…« Sein ganzer Körper verkrampfte sich unter der Anstrengung, das Wort auszusprechen. »Hal-lo…« Angharad trat näher und legte ihm die Hand an die Wange. Welche Lieder wurden von dieser stammelnden Zunge gefangengehalten? fragte sie sich. Denn sie sah Poesie in seinen Augen, die seiner Stimme versagt blieb. Eine Sehnsucht, die keine Erfüllung fand. »Willst du für mich singen, Pog?« bat sie. »Willst du mir helfen, die Steine zum Tanz zu rufen?« Der Eifer, mit dem er nickte, brachte sie beinahe zum Weinen. Aber nicht aus Mitleid war sie heute nacht hier, sondern um mit einer verwandten Seele zu kommunizieren. Er faßte ihre Hand, und sie drückte die seine, bevor sie ihre Finger sanft befreite, sich unten an den Stein setzte und die Harfe auf ihren Schoß zog. Unbeholfen kletterte Pog von seinem hohen Sitz, um sich einen Platz zu suchen, von dem aus er sie beobachten konnte. Finger an die Saiten. Einmal, leise, einen nach dem anderen, um zu prüfen, ob die Harfe gestimmt war. Und dann begann sie zu spielen. Es war die gleiche Musik, die das Instrument in dem Wirtshaus erzeugt hatte, aber an diesem Ort schwebte sie so frei dahin, daß es keinen Vergleich gab. Hier gab es nichts, was den Klang der Saiten dämpfen konnte. Keine Steinwände, kein hölzernes Dach. Keine metallenen Einrichtungsgegenstände und Zierate. Keine Herzen, die überlistet werden mußten, zuzuhören. Der Mond stand jetzt genau über ihnen, und die Musik hallte zwischen
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ihm und dem heiligen Hügel des Steinkreises wider. Sie erweckte Echos wie das Pfeifen von Dudelsäcken, wie das Donnern von Hufen auf Grasboden. Sie erweckte Lichter in den alten grauen Steinen – ein flackerndes Leuchten, das von einem der hohen Menhire zum anderen sprang. Sie erweckte in Angharads Brust einen so hellen Klang, daß ihr die Brust weh tat. Sie erweckte einen Tanz in ihrem Gefährten, so daß er sich auf die Füße stellte und zwischen den Steinen umherschlurfte. Pog sang dabei ein tonloses Lied, das seltsame Harmonien mit Angharads Harfenspiel ergab. Gegen den Mondschein ihrer Harfentöne war es das Geräusch sich verlagernder Erde, schleifender Steine. Als es eine Baßfärbung wie das Röhren eines Hirsches annahm, glaubte Angharad ein Geweih aus seiner Stirn sprießen zu sehen, und die Enden zeigten himmelwärts zum Mond wie die Menhire. Der Rücken des Tanzenden war gerade, der Buckel verschwunden. Das ist Hafarl, dachte Angharad, von Ehrfurcht überwältigt. Er ist von dem Sommerherrn besessen. Die Musik steigerte sich zu einem wilden Frohlocken, das von den Steinen hin und her geworfen wurde. Die Lichtfunken bewegten sich so schnell, daß sie wie flatternde Bänder waren, hell wie der Mondschein. Der Nebel wogte herein und wirbelte umher, so daß Angharad nur noch gelegentlich einen Blick auf den mit einem Geweih gekrönten Tänzer erhaschte. Seine Bewegungen waren flüssig, sie gaben jedes Steigen und Fallen der Musik wieder. Angharads Herz flog ihm entgegen. Er war… Etwas traf sie am Kopf. Die Musik stockte, taumelte und erstarb, als ihr die Harfe aus den Händen geschlagen wurde. Eine Hand packte einen ihrer Zöpfe und zog sie auf die Füße. »Habt ihr es gesehen? Habt ihr es gehört?« fragte eine harte Stimme. Angharad erkannte sie jetzt – Männer aus dem Wirtshaus. Ihre Stimmen waren laut in der plötzlichen Stille. Ihre Gestalten wirkten im Nebel übermäßig groß und bedrohlich. »Wir haben es gesehen, Macal.« Der, den sie Macal nannten, war es, der sie geschlagen hatte. Der sie im Gastzimmer des Wirtshauses so scharf beobachtet hatte. Der sie an ihrem Zopf festhielt. Der sie von neuem schlug. Er stank nach Schweiß und Alkohol. Und nach Angst. »Sie hat einen Fluch auf uns herabgerufen!« rief Macal. »Und was könnte es einen besseren Ort dafür geben als diese verdammten Steine?« Andere Männer faßten nach ihr. Sie fesselten ihre Handgelenke mit kaltem Eisen und zogen sie mit einer Kette, die an diesen Fesseln hing, aus dem Kreis. Sie fiel auf die Knie und blickte zurück. Da war kein Zeichen von Pog, kein Zeichen von irgend etwas außer ihrer Harfe, die auf der Seite neben dem Königsstein lag. Die Männer zerrten Angharad in die Höhe.
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Endlich fand sie ihre Stimme wieder. »Laßt mich in Ruh…« begann sie. Macal schlug sie zum dritten Mal. »Du wirst nicht mehr sprechen, Hexe. Nicht, bis der Priester dich verhört. Verstanden?« Sie rissen Streifen von ihrem Rock und knebelten sie damit. Sie rissen ihr die Bluse auf und betasteten und kniffen ihre Brüste, während sie sie ins Dorf zurückführten. Sie stießen sie in den kleinen Lagerraum der Mühle. Vier Steinwände. Eine Tür, die von außen durch einen Holzbalken verrammelt wurde. Zwei Betrunkene, lachend und singend, als Wachposten davor. Angharad brauchte lange Zeit, um ihren verletzten Körper von dem Steinboden aufzurichten und den Knebel zu entfernen. Sie bemühte sich, ihre Bluse einigermaßen zu schließen, indem sie die Enden zusammenband. Sie hämmerte mit ihren gefesselten Fäusten gegen die Tür. Es kam keine Antwort. Schließlich sank sie auf die Knie und legte den Kopf gegen die Wand. Sie schloß die Augen, versuchte, sich den Augenblick zu vergegenwärtigen, bevor dieser Schrecken begann. Aber alles, an was sie sich erinnerte, war der Weg von dem Steinkreis zu diesem Gefängnis. Die grausamen Männer und die Freude, die ihnen ihr Schmerz machte. Dann dachte sie an Pog… Hatten sie ihn auch gefangen? Als sie sich seine Züge ins Gedächtnis zurückrufen wollte, erschien nichts als das Bild eines Hirsches auf einem Hügel, der den Mond anröhrte. Sie sah… Den Hirsch. Pog. Von der Musik zu einem Bild Hafarls verwandelt. Als Hirsch in dem Steinkreis zurückgeblieben, weil die Männer aus dem Wirtshaus fluchend und betrunken gekommen waren, eine Hexe zu fangen. Die Männer hatten ihn nicht gesehen. Aber während Angharad weggezerrt wurde, traten graugekleidete Gestalten aus den Steinen, wo die Zeit sie festhielt, außer in Nächten wie dieser, wenn der Mond voll war. Es waren Kowries, dünn und drahtig, mit schmalen, dunkelhäutigen Gesichtern und wilden Augen. Ihr dunkles Haar war mit Muscheln und Federn durchflochten; ihre Jacken, Hosen, Stiefel und Mäntel hatten die graue Farbe der Steine. Einer nach dem anderen traten sie in den Kreis, bis so viele von ihnen da waren, wie es Steine gab. Dreizehn Kowries. Der Hirsch röhrte den Mond an, ein trompetender Ton. Die Kowries berührten Angharads Harfe mit Fingern, dünn wie Ebereschenzweige. »Fort jetzt«, sagte eine, ihre Stimme ein heiseres Flüstern. Ein anderer zupfte einen klagenden Ton aus Angharads Harfe. »Musik gestohlen, Mondschein verdorben«, sagte er. Eine dritte legte ihre schmalen Hände auf die zitternden Flanken des Hirsches. »Führe uns zu ihr, Sommergeborener«, bat sie. Weitere Kowries traten zu dem Tier. »Das kalte Eisen schließt uns aus ihren Wohnungen aus«, sagte einer. Eine zweite nickte. »Aber nicht dich.«
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»Führe uns zu ihr.« »Öffne uns ihre Behausungen.« »Wir erwachten gerade.« »Wir sind um unseren Tanz betrogen worden.« »Hundert Monde ohne Musik.« »Wir konnten ihre Harfe hören.« »Wir wollten unserer Sippe folgen.« »Ins grüne Land.« Das grüne Land, wo sich Poesie und Harfenspiel treffen und eine Tür in das Mittlere Königreich öffnen. Der Hirsch scharrte den Boden, hörte die Not in ihren Stimmen. Er hob seinen mit dem Geweih gekrönten Kopf, schnaubte den Himmel an. Die Männer. Wohin hatten sie sie gebracht? Der Hirsch erinnerte sich an einen Ort, wo Menschen in Häusern wohnten, die dicht bei dicht standen. Es war Schmerz an diesem Ort… Angharad öffnete die Augen. Was hatte sie gesehen? Einen Traum? Pog mit den Augen voller Poesie war zu einem Hirsch geworden, umgeben von wildäugigen Kowries… Sie stieß sich von der Wand ab, setzte sich auf die Fersen und hielt die gefesselten Handgelenke vor sich auf dem Schoß. Die Steinwände ihres Gefängnisses banden sie. Die kalten Ketten beschwerten sie. Trotzdem, ihr Herz schlug, ihre Gedanken waren ihre eigenen. Die Stimme hatte man ihr nicht genommen. Sie begann zu singen. Es war die Musik von Hügel und Mond, eine herabrufende Musik, klagend und wild. Es klang das Röhren eines Hirsches darin, das Murmeln der See gegen das Ufer. Es klang der Mondschein darin und das langsame Mahlen von Erde gegen Stein. Es klang Harfenspiel darin und das Geräusch des Windes, der über die ginsterbewachsenen Hügel fegt. In einer Nacht wie dieser, dachte Angharad, kann eine solche Musik nicht erstickt werden. Weder Wände noch Fesseln können sie halten. Sie läuft frei aus ihrem Gefängnis, aus dem Dorf, in die Nacht, in die Hügel. Sie wird dort gehört, von Kowrie und Hirsch. Sie wurde auch in größerer Nähe gehört. An dem weit entfernten Ort, zu dem die Musik sie entführt hatte, hörte Angharad den Tumult vor ihrem Gefängnis. Der Holzbalken scharrte über die Tür, wurde zurückgezogen. Die Tür flog auf, und in der kleinen Kammer, wo ihr Körper singend saß, wurde es hell von brennenden Fackeln. Aber sie war kaum noch dort. Sie war draußen auf den Hügeln, lief mit dem Hirsch und den Kowries, führte sie mit ihrem Lied zu sich, war eine weitere geisterhafte Gestalt in dem Nebel, der ins Dorf hinunterwallte. »Hör auf damit, du«, sagte einer der Wächter. Sein Unbehagen offenbarte sich in Stimme und Haltung. Wie auch sein Gefährte, war er plötz-
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lich nüchtern geworden. Angharad hörte ihn, aber nur aus großer Entfernung. Ihre Musik schwankte keinen Augenblick. Die beiden Wächter hielten sich an der Tür, starrten sie an, wußten nicht recht, was sie tun sollten. Dann kam Macal mit seinem Haß auf Hexen, und sie folgten seiner Führung. Er schlug Angharad, bis sie verstummte. Die Musik jedoch tönte weiter von ihrem Herzen in die Nacht, unhörbar für diese Männer, aber lauter und lauter, als sie sie hinauszerrten. Die Erde unter ihnen dröhnte von ihrem stummen Lied wie ein Paukenfell. Der mondhelle Himmel über ihnen erbebte. »Holt Holz!« rief Macal und schleifte Angharad an ihren Ketten über den Boden. »Wir werden sie gleich verbrennen.« »Aber der Priester…«, protestierte einer der Männer. Macal sah ihn finster an. »Wenn wir auf ihn warten, wird sie uns alle verzaubern. Wir tun es gleich.« Keiner rührte sich. Nun erwachten andere Dorfbewohner – Fael, der Gastwirt, und das Schankmädchen Jessa, der Müller, der von Angharads Gesang aus dem Schlaf gerissen war und nachsehen kam, was Macal in seiner Mühle anstellte, Fischer, mürrisch, denn es war noch Stunden bis zum Morgengrauen, wenn sie aufzustehen und ihre Netze hinter den Sandbänken auszulegen pflegten, die Hausfrauen des Dorfes. Sie betrachteten die rothaarige Frau, die zu Macals Füßen auf dem Boden lag, die Hände gefesselt, die Ketten in Macals Händen. Seine früheren Anhänger zogen sich von ihm zurück. »Bist du wahnsinnig geworden?« wollte der Müller von ihm wissen. Macal wies auf Angharad. »Dath verdamme dich, bist du blind? Sie ist eine Hexe. Sie belegt uns alle mit einem Zauber. Kannst du den Gestank in der Luft nicht riechen?« »Laß sie laufen«, sagte der Gastwirt ruhig. Macal schüttelte den Kopf und zog sein Schwert. »Feuer ist am besten – es brennt die Magie aus ihnen heraus –, aber ein Schwert kann die Sache ebensogut erledigen.« Der Nebel drang jetzt in das Dorf ein, wallte die Straßen hinunter, gefüllt mit geisterhaften rennenden Gestalten. Angharad hob den Kopf vom Boden und erkannte die Kowrie, erkannte den Hirsch. Sie sah ihren Feind an und verstand plötzlich, was ihn zu seinem Hexenhaß trieb. Auch er hatte das Sommerblut in den Adern. »Das ist… das ist nicht notwendig«, sagte sie. »Wir sind verwandt…« Aber Macal hörte sie nicht. Er starrte in den Nebel. Er sah die flackernden Gestalten der Kowries. Und sie alle überragte der Hirsch. Sein vielendiges Geweih schimmerte im Mondschein, und die Poesie in seinen Augen brannte wie Feuer. Macal ließ die Ketten fallen. Sein Schwert mit beiden
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Händen schwingend, lief er auf das Tier zu. Die Dorfbewohner rannten herbei, um ihn aufzuhalten, aber sie kamen zu spät. Macals Schwert stieß tief in die Kehle des Hirsches. Das Tier brach in die Knie. Blut spritzte. Macal hob die Klinge zu einem zweiten Streich, aber starke Hände entwanden ihm das Schwert. Als er aufzustehen versuchte, schlugen die Dorfbewohner ihn mit den Fäusten. »Mörder!« rief der Müller. »Er hat dir nie etwas getan!« »Es war ein Tier!« schrie Macal. »Ein Dämonentier – von der Hexe gerufen!« Jetzt ließen sie ihn aufstehen, damit er erkannte, wen er erschlagen hatte. Pog lag dort, sein letzter Atemzug verröchelte, die Poesie starb in seinen Augen. Nur Macal und Angharad mit ihrem Sommerblut hatten einen Hirsch gesehen. Für die Dorfbewohner hatte Macal den Dorftrottel getötet, der niemals etwas Böses getan hatte. »Ich…«, begann Macal und machte einen Schritt vorwärts, doch die Dorfbewohner stießen ihn weg. Der Nebel wirbelte dicht um ihn. Nur er und Angharad konnten die flackernden grauen Gestalten sehen, die sich darin bewegten. Die wilden Augen leuchteten, die schlanken Finger kniffen und zwickten seine Haut. Er floh, rannte Hals über Kopf zwischen die Häuser. Der Nebel ballte sich um ihn zusammen, als er den Rand des Dorfes erreichte. Ein heftiger Wind fegte von den Hügeln herunter. Hafarls Atem, dachte Angharad. Der Wind fegte den Nebel weg. Angharad sah die Kowries mit ihm fliehen, dreizehn schlanke Gestalten, die in die Hügel rannten. Wo Macal hingefallen war, lag jetzt nur ein viereckiger Stein, für alle Welt wie ein sich duckender Mann aussehend, der Arme und Beine dicht an den Körper gezogen hat. Er war vorher nicht dagewesen. Die Dorfbewohner schlugen das Zeichen des Horns, um sich zu schützen. Angharad hielt dem Gastwirt ihre gefesselten Arme hin. Schweigend ließ er sich von einem der Gefährten Macals den Schlüssel geben. Ebenso schweigend zeigte Angharad auf die Männer, die sie in dem Steinkreis angegriffen hatten. Sie sah einem nach dem anderen in das beschämte Gesicht. Dann zeigte sie auf die Stelle, wo Pog lag. Die Männer holten eine Planke und rollten Pogs Leiche darauf. Angharad wartete, bis sie damit fertig waren. Dann ging sie ihnen voran zum Dorf hinaus bis zu dem Steinkreis. Erst als die Männer ihre Bürde zu den Steinen oben auf dem Hügel getragen hatten, sprach sie. »Geht jetzt.« Sie rannten davon. Angharad blieb stehen, bis sie außer Sicht waren. Dann sank sie langsam neben der Leiche auf die Knie. Sie legte den Kopf auf die faßförmige Brust und weinte.
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Die Kowries höhlten den Boden unter dem Königsstein aus und legten Pog in die Grube. Und die Kowries drückten Angharad die kleine Harfe in die Hände und baten sie zu spielen. Sie konnte keine Freude in der Musik fühlen, die ihre Finger den Saiten entlockten. Der Zauber war verschwunden. Aber sie spielte trotzdem, den Kopf über das Instrument gebeugt, während die Kowries sich in einem langsamen Tanz zwischen den Steinen bewegten, um den Toten zu ehren. Der Nebel verdichtete sich von neuem. Angharad hörte Hufgetrappel und hob den Kopf. Ihre Musik stockte. Der Hirsch stand da und sah sie an, und die Poesie in seinen Augen lebte. Bist du wirklich da? fragte sie das Tier. Oder bist du nur ein Phantom, das ich gerufen habe, um meinem Herzen Linderung zu verschaffen? Der Hirsch trat vor und drückte seine feuchte Nase an ihre Wange. Sie streichelte seinen Hals. Die Haare waren grob. Es gab keinen Zweifel, daß das unter ihrer Hand Fleisch und Muskeln waren. Als der Hirsch zurücktrat, begann sie von neuem zu spielen. Die Musik wuchs aus eigener Kraft unter ihren Fingern, diese wilde, frohlockende Musik, die bitter und süß war, alles gleichzeitig. Zwischen ihrer Musik und der Poesie in den Augen des Hirsches spürte Angharad, wie die Scheidewand, die diese Welt von den Mittleren Königreichen der Kowries trennt, dünn wurde. Ganz dünn. Wie Nebel. Einer nach dem anderen tanzten die Kowries hindurch, dreizehn Gestalten in grauen Mänteln. Lachend traten sie von dieser Welt in die andere, und die Zähne schimmerten in ihren dunklen Gesichtern. Als letzter ging der Hirsch. Er sandte ihr noch einen Blick, die Poesie leuchtete in seinen Augen, dann verschwand er. Die Musik verklang in Angharads Fingern. Die Harfe verstummte. Sie waren jetzt fort, Pog und seine Kowries. Fort von diesem Hügel, von dieser Welt. Gegangen. Ins grüne Land. Die Harfe an die Brust gedrückt, wartete Angharad darauf, daß die aufgehende Sonne ihre Strahlen über den alten Steinkreis sandte, und versuchte, sich nicht so allein zu fühlen.
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Janet Fox Janet Fox ist seit dem ersten dieser Bände nicht mehr bei uns gewesen; sie war zu sehr damit beschäftigt, anderes zu schreiben. Doch dann schrieb sie eine Scorpia-Geschichte, und ich freue mich, daß sie sie uns anbot… – M.Z.B.
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Die Augen des Laemi Die Landschaft bestand aus kahlen, alten, erodierten Hängen und grobem Gras, gebleicht von der Sommersonne. Scorpia saß lässig im Sattel des kleinen, in den Bergen aufgewachsenen Pferdes, das mit dem Terrain wie mit ebenem Land fertig wurde. Sie hatte es für ein altes Tier gehalten, als sie es auf dem Marktplatz betrachtete – ein übergroßer Kopf, eine Mähne, die wie eine Bürste in die Höhe stand, und ein barbarisches dunkles Muster auf dem zottigen braunen Fell. In den Sonnenglast hineinspähend versuchte sie, irgendeine Landmarke zu entdecken. Ihre Kehle war trocken. Den letzten Schluck lauwarmen Wassers hatte sie schon vor Meilen getrunken. Weit weg erkannte sie das Glitzern, mit dem weißgetünchte Wände die Sonnenstrahlen reflektieren. Im Näherreiten sah sie, daß die Stadt in den Berghang hineingebaut war. Weiße Würfel drängten sich so dicht zusammen wie Waben in einem Bienenstock. Leitern lehnten an den Mauern, denn der Zugang war oft von oben. Hier und da umschloß eine ausgedehnte Villa einen grünenden Garten, in diesem kargen Land ein unbezahlbarer Luxus. Die Straßen waren eng und stellenweise von ehrgeizigen Konstruktionen beinahe überdacht. Sie ritt eine von ihnen entlang und kam zu einem offenen Platz, auf dem sich ein öffentlicher Brunnen befand. Um ihn herum saßen alte Männer in kleinen Gruppen und schwatzten, und gelegentlich kamen Hausfrauen, um ihre Wasserkrüge zu füllen. Kinder mit scheuen Augen folgten ihnen oder hingen an ihren Röcken. Scorpia glitt aus dem Sattel und überließ es ihrem Tier, den für seine Art vorgesehenen Trog zu finden. Sie beugte sich über die Mauerkappe des Brunnens, streckte die Arme weit nach unten, schöpfte mit den zusammengelegten Händen Wasser und führte sie gierig an den Mund. Als sie sich sattgetrunken hatte, füllte sie ihre Hände von neuem und ließ sich das Wasser über den Kopf rinnen. Es klebte ihr das ungeschnittene lohfarbene Haar an den Schädel, lief ihr in köstlicher Frische den Hals hinunter und unter das einem Chiton ähnliche Kleidungsstück aus weichem Leder, das sie im letzten Basar gekauft hatte. »Langer Ritt?« Sie schüttelte sich das Wasser aus den Augen. Ein alter Mann stand vor ihr, gestützt auf einen Knotenstock. Er hatte vor langer Zeit eine schwere Verwundung davongetragen; eine schartige Narbe lief ihm über das Gesicht und verdunkelte ein Auge. Scorpia nannte ihren letzten Halt, und der alte Mann pfiff durch sein lückenhaftes Gebiß. Seine Freunde hinter ihm tuschelten und kicherten un-
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tereinander wie Kinder bei einem Spiel. »Achtet nicht auf sie. Sie sind nie aus diesem Dorf hinausgekommen, wo die Frauen sich an ihrem Küchenfeuer beschäftigen oder mit bedeckten Gesichtern ausgehen. Ich aber habe solche, wie Ihr seid, schon gesehen.« Er erwähnte eine Schlacht, die für Scorpia etwas aus einer Sage war. »Da habe ich mir das hier geholt«, berichtete er. »Eine rothaarige Frau mit einer Axt. Aber gegen Euch habe ich nichts, obwohl ich sehe, daß Ihr von ihrer Art seid.« Wie nett von ihm, dachte Scorpia ironisch. Damals war sie noch gar nicht geboren gewesen. »Ihr habt jedoch übel daran getan, durch diese Berge zu reiten«, fuhr er fort, »auch wenn Ihr ein Schwert an der Hüfte tragt. Hier treiben sich immer Räuber herum, und, wie manche sagen… Dämonen.« »Ich habe nichts als Steine, eine dünne Erdkrume und verkrüppelte Bäume gesehen«, antwortete Scorpia mit leisem Lachen. »Oh, sie lassen sich nicht sehen, es sei denn, sie wollen gesehen werden.« Der alte Mann hustete und spuckte einen Schleimklumpen in den Staub der Straße. Scorpias Aufmerksamkeit wurde vorübergehend durch eine Gestalt abgelenkt, die auf den Brunnen zuglitt. Der Sonnenglast machte sie zu einem in die Länge gezogenen, verzerrten Wesen, und dann erkannte Scorpia, daß es eine der Dorffrauen war, in schwere Schleier gehüllt. Nur ein Gaukelspiel des Lichts hatte sie so seltsam erscheinen lassen. Der alte Mann hatte inzwischen weitererzählt und war sich ihrer Geistesabwesenheit gar nicht bewußt geworden. »Bluttrinker, heißt es, stärker als jeder Mann – und jede Frau«, berichtigte er sich, ihre Statur zur Kenntnis nehmend. »Ich bin weit herumgekommen, und anscheinend hat jedes Land seine Schreckgespenster, mit denen man kleine Kinder ängstigt – und Reisende.« »Es ist aber die Wahrheit. Schon mehr als einer ist in dieser Gegend ums Leben gekommen. Der Dämon hängt sich an die Leute und saugt sie Nacht für Nacht aus. Es heißt: Sieh einem Laemi nie in die Augen.« Er geriet in Verwirrung. »Ich habe nur vergessen, warum.« »Ich werde es vermeiden, wenn das überhaupt möglich ist«, versicherte Scorpia. Plötzlich gab es Unruhe auf der Straße, Staub wirbelte auf. Eine Gruppe Berittener stürmte auf den Marktplatz, vertrieb die Müßiggänger, die Schwatzenden. »Macht Platz, der Zug!« rief ein korpulenter, rotgesichtiger Mann. Er lenkte sein wildäugiges Tier genau auf Scorpia zu, um sie wie die anderen Leute in die Flucht zu jagen. Mit der einen Hand faßte sie den ihr näheren Zügel, und mit der anderen zog sie das Schwert. Während das
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Pferd wie verrückt um sie herumtanzte, gab sie dem Reiter einen scharfen Schlag über den Rücken – mit der flachen Klinge, obwohl sie die Waffe ebensogut im Ernst hätte benutzen können. Der Rotgesichtige faßte nach seiner eigenen Waffe, gerade als der Zug den Platz erreichte. Vier Männer trugen eine Bahre, auf der ein mit Blumen überhäufter schmächtiger Körper lag. Schnell steckte Scorpia das Schwert in die Scheide, trat zurück und hob beide Handflächen zum Zeichen des Friedens. Sie hatte nicht gewußt, daß es sich um einen Leichenzug handelte. Nicht etwa, daß der Tod sie besonders erschreckte; auf etwas in dieser Art hatte sie gewartet. Die Bahre wurde vorbeigetragen. »Das ist Lady Leliah«, flüsterte der alte Mann. Der Leichnam war nur unvollkommen mit einer Gazedrapierung und Haufen von Blumen bedeckt. Scorpia sah, daß die Tote zwar dünn und ausgemergelt, ihr ruhiges Gesicht aber immer noch von. hinreißender Schönheit war. Es gab eine weitere Störung, als jemand sich durch die verschleierten Frauen und schöngekleideten Männer des Leichenzuges drängte – ein hagerer Mann mit zerwühltem schwarzem Haar und hektischen Flecken auf den Wangen. Seine halbgeöffnete Kleidung war zerknittert und beschmutzt. Wie ein Wahnsinniger stürzte er sich auf die Bahre, und bevor man ihn daran hindern konnte, riß er die Leiche in seine Arme. »Wohin bringt ihr sie?« schrie er. »Sie ist nicht tot. Sie ist noch gestern abend zu mir gekommen. Sie hat mit mir gesprochen.« Der Dicke, den Scorpia verhöhnt hatte, erreichte ihn als erster. Mit einer beinahe sanften Berührung und beruhigenden Worten zog er den jungen Mann von der Leiche weg. »Das ist es, wovon ich Euch erzählt habe«, bemerkte der alte Mann. »Leliah soll einen Dämonenliebhaber gehabt haben – den Laemi. Der junge Mann ist Lord Peri, ihr Verlobter. Ein trauriger Tag.« Peri lehnte am Brunnenrand. Die dunkelgekleidete Frau, die Scorpia vorhin schon gesehen hatte, ging mit diesem scheinbar mühelos gleitenden Schritt unter dunklen Röcken an ihm vorbei. »Da ist sie!« rief Peri. »Leliah, Leliah, komm zurück!« Seine Gefährten hielten ihn fest, und als die Aufregung sich gelegt hatte, war die Frau verschwunden. Bald war der ganze Leichenzug vorübergezogen. Der Brunnen lag verschlafen unter der Mittagssonne, als sei nichts geschehen. Von neuem stieg das Stimmengesumm der alten Männer auf, die sich gegenseitig neckten und von längst vergangenen Ereignissen plauderten. »Liebe bringt manchmal Leiden«, bemerkte der alte Mann. Die Augen gingen ihm über. Grob wischte er eine Träne weg. »Davon weiß ich wenig«, antwortete Scorpia, »außer daß das, was manche Liebe nennen, nichts als… Begehren ist.« Sie holte ihr Tier und
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sprang leichtfüßig in den Sattel. Denn sie wußte, wenn sie zu lange wartete, kam der Zug ihr zu weit voraus und mochte ihr in den Hügeln verlorengehen. »Zieht in Frieden«, sagte der alte Mann. Scorpia grüßte ihn in der Art ihres eigenen Volkes. Es überraschte sie, daß ihr die Geste wie von selbst kam. Dann fiel das Pferd in Galopp. Scorpia hatte gleich hinter einem Grat gewartet, bis sich die Teilnehmer an dem Leichenzug, dem sie gefolgt war, zu zweit und zu dritt langsam auf den Rückweg machten. Jetzt lenkte sie ihr Tier auf den Kamm und überließ es ihm, sich vorsichtig einen Weg bergab über gebrochenen schwarzen Fels, der durch eine dünne Erddecke drang, zu suchen. Dieses Land war zu nichts anderem gut als zu dem Gebrauch, der von ihm gemacht wurde, dachte sie, aber dazu eignete es sich sehr gut. Schon in weiter Entfernung von der Stelle sah sie die langsam kreisenden Geier. Eckig vor dem Horizont erhoben sich die Gestelle, auf die die Dorfbewohner ihre Toten legten. Das Pferd roch den Ort, noch bevor Scorpia die schwarzen Schwingen bemerkte, aber der frische, kühle Wind auf diesem freien Hang trug den größten Teil des Gestanks nach verwesendem Fleisch davon, und die Geier waren eifrig bei der Arbeit. Zwei der Vögel gerieten auf einem hölzernen Gerüst in Streit. Ein Schädel, sauber von allem Fleisch entblößt, fiel herab und rollte dem Pferd vor die Füße. Es schnaubte und trat erschrocken zur Seite. Wenn die Knochen gesäubert waren, so hatte Scorpia es gehört, kamen die Verwandten und holten das Skelett ab, das feierlich unter dem Fußboden ihres Hauses beerdigt wurde. Sie wußte, das war nichts als vernünftig, aber der Anblick dieser dunklen, zustoßenden Schnäbel, der glitzernden Augen und der schwebenden Schwingen machte sie schaudern. Sie zog den Gedanken an Feuer vor – in ihren Augen war das der einzige zivilisierte Brauch. Sie sah sich kurz um, bevor sie eine Bahre auswählte. Aus einiger Entfernung erkannte sie die Stelle, die der Ruheplatz Lady Leliahs sein mußte, denn die Blumengirlanden waren noch frisch, aber sie entschied sich statt dessen für ein höheres, kunstvolleres Gerüst. Daran hingen ein schön bemalter Schild und andere kostbare Artefakte – Zeichen, daß der Verstorbene eine gewichtige Persönlichkeit gewesen war. Scorpia lächelte schief bei dem Gedanken; jetzt tummelte sich ein Schwarm Geier kreischend und flatternd darüber. Das Erklettern der primitiven, leiterartigen Konstruktion entlang der einen Seite war nicht das Angenehmste, was sie je getan hatte, aber sie war zu kampferprobt, um aus Zimperlichkeit zu zaudern, und an den Anblick von Leichen war sie längst gewöhnt. Sie hatte gehofft, die Aasvögel würden davonfliegen, doch das taten sie nicht. Schließlich war dies seit Jahrhunderten ihr Herrschaftsgebiet. Scor-
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pia sah sich einem riesigen alten Königsvogel gegenüber. Er hielt den Hals ausgestreckt, so daß man die Schlange unter den Federn sah. Ein Fetzen Haut hing ihm aus dem Schnabel, die Klauen hielten einen teilweise abgefleischten Brustkorb, als sei er sein rechtmäßiges Eigentum. Scorpia zog das Schwert und kam sich dumm dabei vor. Da erhielt sie einen betäubenden Schlag mit dem Flügelknochen, der sie beinahe auf den Boden geworfen hätte, und sie stürzte sich mit ganzem Herzen in den Kampf. Sie schickte ein paar Federn himmelwärts, bevor sich der Geier mit zornigem Krächzen in die Lüfte erhob. Schnell machte sich Scorpia an die Arbeit, zog goldene Ringe von den steifen und eingeschrumpften Fingern, entfernte eine schwere Goldkette mit Rubin-Anhänger, die wie ein glitzerndes Herz innerhalb des Brustkorbs hing. Es war keine ehrliche Arbeit, dachte sie. Sie war nicht besser als die Aasgeier, die jetzt mit aufgeplusterten schwarzen Federn dasaßen und sie mit bösartiger Geduld beobachteten. Aber sie hatte frühzeitig entdeckt, daß sie keine verkäuflichen Talente besaß, falls sie sich nicht als Schwertkämpferin verdingte, und um dem zu entgehen, hatte sie ihr eigenes Land überhaupt verlassen. Ein Ruf von unten riß sie aus ihren Gedanken. Dieser Ort war so abgelegen und galt bei den Dorfbewohnern als tabu – bestimmte Zeiten und bei Beachtung bestimmter Rituale ausgenommen –, daß sie die Möglichkeit, entdeckt zu werden, nicht ernsthaft in Erwägung gezogen hatte. Ein sonnengebräuntes Gesicht mit struppigem Bart blickte zu ihr hoch. Sie hörte schwere Laufschritte und weitere Rufe. Ohne eine Sekunde zu verschwenden, sprang sie von dem Gerüst und griff den Eindringling mit dem Schwert an. Er wich zurück, dummerweise, dachte sie, denn das bedeutete seinen Tod. Sie brauchte einen Augenblick, um ihre Klinge zu befreien, einen Augenblick zu lange, denn etwas traf sie mit betäubender Kraft von hinten. Sie brach in die Knie, versuchte immer noch, ihr Schwert ins Spiel zu bringen, aber wer es auch sein mochte, schlug sie von neuem, und sie verlor das Bewußtsein. Ihr war, als erwache sie gleich darauf wieder, doch es mußte einige Zeit verstrichen sein, weil die Sonnenstrahlen jetzt in einem anderen Winkel einfielen. Als Scorpia versuchte, ihre Augen vor ihnen zu beschatten, konnte sie es nicht. Beide Arme ließen sich nur ein Stückchen bewegen. Es tat weh, den Kopf zu drehen. Sie drehte ihn trotzdem und sah, daß ihre Handgelenke und Knöchel mit Stricken gefesselt und an Stangen festgebunden waren. Sie lag an einer freien Stelle; die Sonne brannte auf sie hernieder. Während sie bewußtlos war, hatte man sie ausgezogen, und in kurzer Zeit würde das Sonnenlicht möglicherweise nicht nur schmerzen, son-
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dern tödlich sein. Zuerst glaubte sie, man habe sie allein gelassen, aber jetzt hörte sie näher kommende Schritte. Zwei Gestalten ragten über ihr auf, schwarz vor der Sonne. Der eine Mann war nicht so groß wie der andere und hatte ein fettiges, dicklippiges Gesicht mit Tränensäcken unter den kleinen Augen, die immer wieder zu ihrem Körper zurückkehrten. »Ich finde immer noch, wir hätten…«, sagte er zu seinem Gefährten, einem eckigen Mann mit zerfurchtem braunem Gesicht und prätentiösem Benehmen. Beim Sprechen machte er nervöse Bewegungen, als wasche er sich die Hände. »Bist du nicht bei Verstand, Mann? An diesem Ort, wo die Diener der Götter über uns schweben? Ebenso könnte man die Totengötter ins Gesicht hinein verfluchen. Nein, wir haben es gehalten, wie der Brauch es verlangt. Wer in das Heiligtum der Toten eindringt, soll sich ihnen beigesellen.« Der kleinere Mann sah mit zusammengekniffenen Augen zu dem Spiralmuster schwarzer Flügel hoch. »Der Wille der Götter geschehe«, meinte er, »aber wenn wir nicht auf heiligem Boden wären, hätte ich eine bessere Verwendung für…« »Hör auf mit deinen Blasphemien«, sagte der andere, und dann gingen sie. Nach einer Weile spürte Scorpia, daß ihre Haut Blasen zu werfen begann, obwohl die mattgoldene Farbe ihrer Rasse ihr einen Vorteil gegenüber helleren Menschen gewährte. Sie versuchte, den Schmerz zu ignorieren. An der Sonne würde sie wahrscheinlich doch nicht sterben; sie hatte die Vögel vergessen. In einiger Entfernung von ihr hatten sich Geier niedergelassen, die anfangs von ihren Versuchen, sich zu befreien, zurückgehalten worden waren. Jetzt warteten sie bloß, umherstolzierend und sich putzend, und ihre Federn schillerten bronzefarben in der Sonne. Sobald sie von ihrem Kampf erschöpft war oder die Sonnenhitze sie überwältigt hatte, würden sie näher kommen. Möglicherweise erwachte sie davon, daß sie Streifen aus Haut und Fleisch von ihr abrissen. Sie mochte unter diesen Umständen sogar noch einige Zeit am Leben bleiben. Bei diesem Gedanken zerrte sie mit aller Macht an den Stricken und fühlte, wie die Haut sich abscheuerte und ihr das Blut über die Handgelenke lief. Von Anfang an hatten ihr die Fesseln ein bißchen Spielraum gelassen, und sie hatte ihn durch das Ziehen und Reißen etwas erweitert, aber die Knoten erreichte sie immer noch nicht. Obwohl ihre Handgelenke jetzt gefühllos waren, spürte sie, daß etwas tief in ihr Fleisch eindrang, und sie sah einen glitzernden, dunklen Felsauswuchs unter ihrem linken Arm. Sie begann, den Strick daran zu reiben. Es schien eine unlösbare Aufgabe zu sein, und dabei versengte die Sonne ih-
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ren ganzen Körper. Doch Scorpia fuhr fort, den Strick über den Stein zu ziehen, und jede Faser, die riß und hochschnellte, gab ihr neuen Mut. Der Schweiß brannte ihr in den Augen, und manchmal konnte sie nichts mehr sehen, nur das trockene Gleiten des Stricks über ihr rohes Fleisch spüren. Sie erwachte. Sie hörte rauhe Schreie, Schwingen verdunkelten die Sonne. Aus dieser geringen Entfernung konnte sie weiße Parasiten sehen, die über die bronzenen Brustfedern krochen. Die Größe des Geiers sagte ihr, daß es der alte Königsvogel war, dem sie die Beute weggenommen hatte. Die Haut seines Halses war grau und schuppig, der schwarze Schnabel fuhr auf ihr Auge zu. Sie wich ihm aus, und er traf ihren Wangenknochen. Der Schlag erschütterte ihren Schädel. Beinahe hätte sie von neuem das Bewußtsein verloren. Von Panik erfaßt, zerrte sie an den Stricken, und der an ihrem linken Handgelenk riß. Bevor der Vogel von neuem zuschlagen konnte, gelang es ihr, mit ihrer linken Hand einen ausgestreckten Flügel zu fassen. Der Geier schlug wie verrückt um sich, die klauenbewehrten Füße kämpften um das Gleichgewicht. Scorpia hätte sich von ihm befreien können, einfach indem sie ihn losließ, aber sie dachte nicht mehr klar. Sie hob den schweren Geier über ihren Kopf, daß die Muskeln an ihren Armen hervortraten, und schmetterte ihn auf die Erde, wo er liegenblieb. Wieder versank sie in Bewußtlosigkeit, sosehr sie auch dagegen ankämpfte. Sie fürchtete sich, die Augen zu öffnen (daß sie ihre Augen noch besaß, fühlte sie). Geräusche waren zu hören – nicht die rauhen Schreie und das Scharren der Aasfresser, sondern Schritte. Kamen die Dorfbewohner zurück? Wie durch ein Wunder war der Mond aufgegangen. Zwischen ihr und seinem kühlen, blassen Licht stand eine schmale Gestalt, eingehüllt in einen grobgewebten Mantel mit einer Kapuze um das Gesicht. Scorpia war sich nicht sicher, was sie tun sollte. Sie wollte sprechen, um dem Fremden zu danken, daß er die Geier verscheucht hatte, denn bestimmt wären sie andernfalls über sie hergefallen. Und doch war im Mondschein etwas irgendwie Verkehrtes, Mißgestaltetes an dem Mann. Er war zu groß, zu schlank, und die eine freie Hand war von einem kreidigen Weiß. Er kniete neben ihr nieder, und plötzlich merkte sie, daß sie frei war. Sie entdeckte, daß man ihr ihre eigenen Kleider wieder angezogen hatte. Nichts konnte sie daran hindern, schnell zuzuschlagen und davonzulaufen. Ein Arm legte sich um sie, stark bei aller Magerkeit, und aus einem Wasserschlauch wurde ihr kaltes Wasser in den Mund getröpfelt. Das würde ein Feind nicht tun. Sie hörte auf, sich ohnmächtig zu stellen, würgte und schob das Wasser für einen Augenblick beiseite, bis sie es ohne Gefahr trinken konnte.
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»Danke«, sagte sie dann. Mit einer anmutigen Bewegung wurde die Kapuze zurückgeworfen. Scorpia hielt aus Angst, im Mondschein werde sich ein fremdartiges, nichtmenschliches Gesicht zeigen, den Atem an. Seine Augen waren riesig, sie glühten beinahe, doch als sie in sie hineinblickte, beruhigte sie sich. Abgesehen von dem etwas unirdischen Ausdruck seiner Augen sah er recht gut aus. Ohne Bart, nicht mehr ganz jung, aber auch nicht alt. Braunes Haar legte sich ihm schräg über die Stirn und lockte sich an den Schläfen. Sie fragte sich, warum sie ihn für blaß gehalten hatte, denn er war sonnengebräunt, sogar an den Händen. »Ich entschloß mich, Euch zu befreien«, sagte er; »als ich Zeuge wurde, was Euren Feinden widerfährt.« Er wies auf den toten Geier, ein schlaffes Bündel schwarzer Federn, jetzt ebenso Aas wie seine Beute. Fliegen sammelten sich um ihn in einer scheußlichen Wolke. In Scorpia stieg der unbehagliche Gedanke auf, er habe sie vielleicht stundenlang beobachtet, bis er schließlich zu der Überzeugung gelangt war, sie sei es wert, daß er ihr helfe. Sie wollte sich erheben und schrie auf; die Sonne hatte sie schlimm verbrannt. Ihr Retter machte eine schnelle Bewegung und stellte sie mühelos auf die Füße. »Wir können hier nicht bleiben«, meinte er beinahe entschuldigend. »Wenn jene, die Euch gebunden haben, zurückkommen, um nachzusehen, wie die Dinge stehen, wäre es ihnen eine besondere Freude, mich gleichfalls zu überraschen.« »Seid Ihr eine Art von Grabräuber?« begann Scorpia und konnte gerade noch das Wort »auch« hinunterschlucken. Sie schritten rasch aus, hauptsächlich weil er so drängte. Er paßte aber auf und hielt sie fest, als sie stolperte. »Eine Art von Räuber«, antwortete er mit diesem Lächeln, das ihr anfangs merkwürdig vorgekommen war, einem Zucken der Lippen, das Geheimnisse vermuten ließ. Ihre Reise endete am Eingang einer Höhle oben auf einem steinigen Hang. Er führte Scorpia hinein. »Aber das sieht wie der Unterschlupf eines Tieres aus«, protestierte sie. »Mein Unterschlupf, wenn Ihr so wollt«, erklärte er mit einem Lachen. In Wandnischen standen Lampen und verbreiteten einen stetigen Schein. Der Boden war mit würzig duftenden Tannenzweigen bestreut. »Nun, eigentlich ist es kein…«, begann sie. »Kein was?« »Nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Es ist beinahe wohnlich.« »Mein Unterschlupf, Euer Unterschlupf.« Er bückte sich und baute eine Liege aus dem Berg von Zweigen und dem herrlichen Pelz irgendeines Tieres. Scorpia setzte sich hin, und der scharfe Geruch der Tannennadeln
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stieg um sie auf. Sie teilten ein kärgliches Mahl aus getrocknetem Fleisch, Brot und Wein – einfache Kost, aber sie hatte einen pikanten Geschmack für den Scorpia ebensowenig eine Erklärung fand wie für die Tatsache, daß ihr das Gesicht des Räubers irgendwie bekannt vorkam. Manchmal sah sie ihn von der Seite an und meinte, gleich werde ihr der Name einfallen, und dann flackerte das Lampenlicht, und er war ein Fremder. Als sie ihn fragte, wie er heiße, schwieg er einen Augenblick, bevor er »Zaer« antwortete, so daß sie überzeugt war, das sei ein Deckname. Doch als sie ihm ihren Namen anvertraute, sah sie sich gezwungen, die Silben ihres wahren Namens auszusprechen – des Namens, den ihr ihre Mutter gegeben hatte und den sie an ihre eigene Tochter weitergeben konnte (falls sie eine haben sollte). Sie riß sich zusammen. »Scorpia.« Er sprach das Wort aus, als prüfe er seinen Geschmack. »Das klingt nach Feindseligkeit.« »Es ist mein Kriegsname«, erklärte sie etwas steif. Sie wußte nicht, warum, aber sie hatte das Gefühl, er habe im vorhinein gewußt, was sie sagen wollte – ja, vielleicht kannte er in diesem Augenblick schon ihren Geburtsnamen. »Ihr müßt verzeihen, die Müdigkeit gibt mir seltsame Gedanken ein«, sagte sie in der Hoffnung, ihren Kopf von dem zu klären, was doch gewiß eine Täuschung war. »Ihr habt mir gar nicht erzählt, was Ihr auf dem Feld der Toten getan habt«, sagte Zaer. »Vermutlich das gleiche wie Ihr.« Sie war zu müde, um zu lügen. »Ein Dieb könnte Schlimmeres tun, als die Toten zu bestehlen.« Er stand auf und ging in den Hintergrund der Höhle, und dabei fuhr er in seinen Überlegungen fort. »Schließlich brauchen sie ihre Schmuckstücke nicht mehr und schreien nicht, wenn man sie ihnen wegnimmt.« Er kam mit einem herrlichen Onyx und einem goldenen Kragen zurück. »Ich selbst habe wirklich keine Verwendung dafür, also könnt Ihr es ebensogut haben.« Bevor sie antworten konnte, befestigte er den Kragen an ihrem Hals und berührte sie mehr, als notwendig war, um ihn auf ihrer Brust anzulegen. »Es heißt, Onyx schütze vor den Laemi oder anderen Dämonen der Finsternis. Aber ich glaube nicht, daß Ihr den Schutz brauchen werdet«, setzte er hinzu, beugte sich vor und küßte sie. »Nur diese eine Nacht – ich verspreche es.« Als seine Arme sich um sie legten, schoß es ihr durch den Kopf, daß sein Versprechen irgendwie verkehrt klang. Lautete der Schwur nicht: »Für immer?« Seine Hände waren kälter, als sie hätten sein sollen. Sie drückte sie an sich, um sie zu wärmen. Sanft öffnete er ihr Gewand und zog es auseinander. Scorpia zuckte zusammen und schrie auf (es war beinahe, als müsse sie die rote Entzündung
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ihrer Haut sehen, um sich zu erinnern, daß sie schwer verbrannt worden war). Entschlossen umarmte sie ihn von neuem. Die Sache war schon zu weit gegangen, um jetzt noch damit aufzuhören, aber sie wußte: Verbrannt, wie sie war, wäre nur ein Akrobat fähig gewesen, es zu etwas anderem als einer schmerzhaften Erfahrung zu machen. Sie erwachte ohne eine Erinnerung daran, irgendwann eingeschlafen zu sein. Apathisch und erschöpft lag sie auf dem duftenden Bett, und dann kehrte ihr die Erinnerung wieder. Aber es war ein Durcheinander, die Gedanken sprangen wie verrückt zu anderen Männern und anderen Gelegenheiten zurück. Irgendwie war es ihm gelungen, ihr keinen Schmerz zu bereiten, ganz im Gegenteil. Lächelnd drehte sie sich auf die Seite und erwartete, in Zaers Gesicht zu sehen. Sie sah jedoch nur, daß sie sich allein in der Höhle befand, daß alle Lampen leergebrannt waren und daß blasses Morgenlicht durch den Eingang sickerte. Vielleicht war er hinausgegangen, um Wasser zu holen oder einem Ruf der Natur zu folgen, sagte sie sich. Matt ließ sie sich zurücksinken. Es lohnte sich, zu warten. Erst jetzt merkte sie, wie sich ihr die Zweige, aus denen das Bett gebaut war, in Rücken und Schultern gruben. Die Luft war dick vom Geruch irgendeines Tieres. Das mußte von dem modernden Fell kommen, auf dem sie lag, oder… Merkwürdig, daß ihr diese Unbequemlichkeiten gestern abend gar nicht aufgefallen waren. Scorpia hatte gerade erst begonnen, darüber nachzudenken, da hörte sie Schritte. Als sie erkannte, daß es die von mehr als einem Mann waren, sich aufsetzte und nach etwas Ausschau hielt, das sich als Waffe benutzen ließ, war es bereits zu spät. Im nächsten Augenblick war die Höhle voll von bewaffneten Männern. Einer von ihnen hielt ihr eine Schwertspitze unter das Kinn, bevor sie irgend etwas unternehmen konnte. Überrascht erkannte sie den schieferblauen Stahl ihrer eigenen Waffe und gleich darauf den korpulenten Mann, der sie hielt. Er hatte an dem Leichenzug teilgenommen. »Weg«, sagte eine Stimme, und sie erkannte den jungen Edelmann namens Peri. »Dieses Schwert gehört mir«, erklärte Scorpia. »Woher habt Ihr es?« »Das mag wohl sein«, antwortete der Dicke. »Ich dachte doch gleich, die Gossenratte, die es mir verkaufte, könne nicht auf ehrliche Weise drangekommen sein. Du bist bei dem Leichenzug gewesen.« Die Augen in dem teigigen Schweinsgesicht zwinkerten. »Ja, wahrscheinlich ist es deine Waffe, weil du ohne sie nackt wirkst.« Peri bückte sich, hob Scorpias Gewand auf und warf es ihr mit einem leisen Fluch zu. »Laß sie in Ruhe, Jul, laß sie sich bedecken obwohl sie sein Zeichen trägt, so daß alle es sehen können, ebenso wie Leliah es getragen hat. Ihr Götter, wenn ich es nur rechtzeitig erfahren hätte!«
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Ein anderer Mann kam mit einer Handvoll von Anhängern, Ringen und Armbändern. »Seht her, er zögert nicht einmal, die Toten zu berauben!« »Und seine Hure in die Beute zu kleiden«, bemerkte Jul. Scorpia kämpfte sich in das zerknitterte Gewand. Sie erinnerte sich, daß sie immer noch den goldenen Kragen trug, faßte mit den Fingern danach und entdeckte eine rauhe Stelle an ihrer Kehle wie einen Ausschlag. »Das ist Tand im Vergleich zu dem, was er mir geraubt hat«, sagte Peri. »Aber ich schwöre, wir werden ihn finden und ihm das Herz herausschneiden.« Er blickte in diesem Augenblick beinahe ebenso wahnsinnig drein wie bei dem Leichenzug, und Scorpia durchfuhr es wie ein Stich, daß Zaer das Leben eines gejagten Tieres führen mußte. »Ich glaube nicht, daß ihr ihn finden werdet«, sagte sie. »Er ist irgendwann in der Nacht gegangen. Er kann jetzt schon weit von hier sein.« »Überlaßt sie mir, und ich werde herausfinden, wohin er gegangen ist.« Jul leckte sich die dicken Lippen. »Ich habe eine bessere Idee«, erwiderte Peri. »Wir nehmen sie mit – als Köder.« Scorpia stand auf einem engen Balkon. Die Düfte von dichtem Blattwerk und exotischen Blumen stiegen aus dem Garten unten auf. Peris Haus war eins von denen, die sie auf dem Weg in die Stadt gesehen hatte, umgeben von einem prächtigen Garten, den eine Mauer aus weißgetünchtem Stein abschloß. Sie sah die Silhouette einer Schildwache auf der Mauerkrone. Wie immer wanderte ihr Blick zu dem Ast eines Baumes, der vor dem Balkon wuchs, nicht nahe genug, um ihn fassen zu können, auch wenn sie auf das Geländer hochstieg. Aber sie konnte ihn mit einem Sprung erreichen. Dann würde ihr Gewicht den Ast nach unten ziehen, bis sie den Boden erreichte. Jedenfalls hoffte sie das. Möglich war es immerhin, es sei denn, sie sprang zu kurz und stürzte in die Tiefe. Mattigkeit befiel sie, eine immer wiederkehrende Schwäche, die sie sich nicht erklären konnte. Wie sie es schon ein paar Dutzend Male getan hatte, riß sie den Blick von dem verlockenden Ast los. Es wurde dunkel, aber Scorpia konnte noch gut genug sehen, um einen Mann zu erkennen, der sich zwischen den Bäumen bewegte. Sie wußte, daß es Peri war, den sie oft nach Sonnenuntergang bei Spaziergängen im Garten beobachtet hatte. Heute abend war er nicht allein; eine mit einem Mantel verhüllte Gestalt hielt mit ihm Schritt. Als sie eine Lichtung erreichten, einen Ring von Bäumen um einen Zierteich, der im Mondschein flimmerte, sah es beinahe so aus, als umarmten sich Peri und die fremde Gestalt. Aber es wurde schnell dunkel, und es mochte eine Täuschung von Licht und Schatten gewesen sein. Scorpia strengte ihre Augen an. Doch dann fuhr sie zusammen. Eine schwere Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie drehte sich um und sah in Juls kleine Augen.
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»Was tut Ihr hier?« »Ich habe diese Wache übernommen. Ich habe mich gefragt, ob… ob du dich vielleicht einsam fühlst.« Scorpia schüttelte seine Hand ab. »Nicht so einsam.« Sie musterte ihn, und ihre Augen blieben an dem Griff ihres eigenen Schwertes hängen, das an seiner fetten Hüfte schaukelte. Wahrscheinlich wog er doppelt soviel wie sie, aber… Er packte sie und versuchte, ihr Gesicht an seines heranzubringen, und als sie sich wehrte, merkte sie, daß Muskeln unter all dem Fett lagen. »Euer Herr ist in Hörweite, sollte es mir einfallen, zu schreien!« Sie wies auf die Lichtung im Garten. »Ich bezweifle, daß er dich hören würde; er ist in letzter Zeit sehr beschäftigt«, erwiderte Jul, ließ sie jedoch los. »Ich habe ihn dort spät am Abend herumspazieren sehen, als warte er auf jemanden. Wahrscheinlich auf eine Dirne aus der Stadt. Soviel für seine Treue zu Leliah«, spottete Scorpia. »Du weißt nichts von seiner Qual. Er hat mir anvertraut, daß er Leliahs Schatten gesehen und sie nach ihm rufen gehört hat. Sicher glaubt er jetzt, dort mit ihr zu wandeln.« »Großartig. Ich bin die Gefangene eines Wahnsinnigen.« »Und ebenso meine.« Ein Seufzer ließ Juls Wanst erzittern. »Was mir das auch nützen mag.« Er stolzierte davon, um vor ihrer Tür Posten zu beziehen. Sie brachte ihr Nachtgewand wieder in Ordnung, das wie die gesamte Kleidung, die man ihr gegeben hatte, aus zartem Stoff oder unpraktisch oder beides war. Warum legte sie sich nicht hin? Schließlich konnte sie nur eine bestimmte Zeit in der Kammer hin und her gehen, ohne es satt zu bekommen, die Fresken an den Wänden zu betrachten. Einige Zeit später erwachte sie von einem Geräusch, das sie nicht gleich identifizieren konnte, und blieb still wartend liegen. Jemand durchquerte die Kammer. Zuerst dachte sie an Jul, aber diese Gestalt bewegte sich leichtfüßig und sicher. Hätte sie doch eine Waffe! So blieb ihr nichts übrig, als die Fäuste zu ballen und sich schlafend zu stellen. Als der Eindringling sich über das Bett beugte, boxte sie nach ihm, spürte jedoch den erwarteten Treffer nicht, weil ihr Handgelenk eingefangen und in einem eisenharten Griff festgehalten wurde. »Deine Begrüßung ist enthusiastisch wie immer«, sagte Zaer. Seine Augen spiegelten das Mondlicht wider wie die eines Tieres. Unerklärlicherweise empfand Scorpia Angst, doch gleich darauf beruhigte sie sich. Auch wenn er sprach, war es, als störe nichts die Stille. Sie sagte sich, er müsse wohl ganz leise flüstern. »Du hättest nicht kommen sollen.« »Ich habe versucht, wegzubleiben.« Er legte sich in der Dunkelheit neben sie. »Ich handle eben impulsiv.«
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Sie wollte ihm sagen, dies sei eine Falle, aber sobald er sie berührte, war es ihr unmöglich, nicht darauf zu reagieren. Ihre nächste deutliche Erinnerung war, daß sie aus dem Bett geworfen wurde und mit einem Schmerzenslaut auf den gefliesten Boden fiel. Es sah aus, als sei eine Armee in ihr Schlafzimmer eingedrungen. Die Wachposten drängten Zaer, der waffenlos war, mit dem Rücken gegen die Wand. Scorpia schlug dem Mann, der ihr am nächsten war, beide Fäuste in den Nacken. Er brach zusammen, und als sei dies ein Signal, sprang Zaer zwischen die Angreifer. Scorpia sah ihn die Hand schwingen. Ein Mann ging zu Boden, ein anderer faßte nach seinem Gesicht. Blut, schwarz im Mondschein, tröpfelte durch seine Finger. Zaer ging durch seine Feinde wie ein Schnitter durch ein Kornfeld. Er mußte einen Dolch an sich versteckt gehabt haben, überlegte Scorpia. Seine Gestalt, grotesk durch die Schatten der windgezausten Bäume, schwang sich auf das Balkongeländer und war verschwunden. Hatte er den Sprung getan, den sie so oft in Erwägung gezogen hatte? fragte sich Scorpia. Mit den beiden Wachposten, die noch auf den Füßen waren, rannte sie auf den Balkon und blickte nach unten. Sie kam noch rechtzeitig, um zu sehen, wie er eine freie, vom Mond beschienene Stelle überquerte und zwischen den Bäumen verschwand. Der Ast war da, wo er immer gewesen war; er schwankte nur ein bißchen im Wind. Am nächsten Morgen trat zu Scorpias Überraschung Peri in ihre Kammer. Sie hatte ihn, solange sie hier gefangengehalten wurde, nur von weitem gesehen. »Laßt mich gehen«, bat sie. »Macht der Sache ein Ende. Ihr habt bereits einen Mann verloren.« »Zwei. Aber das beweist nur, daß ich recht habe. Ich werde den Körper dieser Schlange ausbluten lassen, und Leliah wird gerächt sein. »Ja, ich habe jeden Abend von meinem Balkon aus gesehen, wie Ihr ihr Andenken ehrt.« »Ein Teil von mir wird ihr immer treu bleiben.« »Ich weiß, welcher Teil ihr nicht treu bleiben wird.« Peri trat näher, hektische Flecken auf den Wangen. Etwas fiel Scorpia an ihm auf: eine entzündet aussehende Spur wie von Nadelstichen an seiner Kehle, die bis in seinen Kragen lief. »Treibe es nicht zu weit. Ich brauche dich nur, um dieses Tier anzulocken.« »Er ist zweimal der Mann, der Ihr seid, trotz Eurer Armeen. Nennt ihn bei seinem Namen, wenn Ihr von ihm sprecht.« »Nun gut«, antwortete Peri mit langsamem Lächeln. »Ich werde ihn bei seinem Namen nennen. Laemi!«
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An diesem Abend betrachtete Scorpia den nahen Ast und machte sich daran, den Saum von ihrem Nachtgewand abzureißen; der überflüssige Stoff sollte sich nicht um ihre Beine wickeln und ihr im Weg sein. Sie versuchte, nicht an Zaer zu denken, denn wenn sie es tat, würde sie auf ihn warten wollen, obwohl es, logisch betrachtet, nicht gerade ein Akt der Liebe war, wenn sie als Köder in Peris Falle hierblieb. Sie stellte sich mit zitternden Muskeln auf das Geländer, duckte sich und sprang. Dunkelheit flackerte vorbei, die zackigen Umrisse von Blättern, und dann wurden ihre Hände zu Klauen, die sich um die rauhe Rinde klammerten, und ihr Gewicht zog den Ast nach unten. Sie hatte dabei ein gutes Gefühl; es ist sinnlos, endlose Spekulationen über eine Situation anzustellen, bei der man einfach nicht das richtige Gefühl hat. Immer noch mehr oder weniger auf den Füßen, kam Scorpia unten an. Da hörte sie einen Ausruf hinter sich und fuhr herum. Jul rannte auf sie zu. Wahrscheinlich hatte immer eine Schildwache im Garten gestanden, sagte sie sich. Jul mußte sich im Schatten des Balkons gehalten haben und für sie außer Sicht gewesen sein. Sie lief los, denn sie traute es Jul nicht zu, ihr länger als für ein paar Meter auf den Fersen zu bleiben. Eine schimmernde weiße Gestalt tauchte vor ihr auf. Scorpia schwenkte zur Seite ab und erkannte zu spät, daß es nichts als eine Statue war. Ihr Umweg führte sie auf die Lichtung, wo sie Peri und die Hure, die er sich für den Abend bestellt hatte, überraschte. Peri war still wie der Tod; er hatte den Kopf zurückgeworfen, seine Äugen blickten leer. Das Etwas, das ihn festhielt, hatte eine kalkweiße Haut, die langen Hände endeten in dunklen, klauenartigen Nägeln, der Kopf war eine sich wölbende haarlose Kuppel. Der Teil des Gesichts unterhalb der schönen dunklen Augen besaß keinen Mund, sondern ein starrendes Durcheinander von dünnen, durchscheinenden Tentakeln, dunkel jetzt und geschwollen, da sie an Peris Kehle hingen. Für einen Augenblick stand Scorpia vor Schreck wie gelähmt da. Peri hatte recht gehabt – der Dämon, der Laemi. Das Krachen im Unterholz kündete Jul an; auch er sah es, und Scorpia hörte ihn nach Luft schnappen. Er trug das Schwert – ihr Schwert – vor sich her, und in diesem Augenblick des Schocks nahm sie ihm die Waffe aus der keinen Widerstand leistenden Hand. Das Ungeheuer hatte sie gespürt oder gesehen. Es drehte sich um, und Scorpia fiel die Warnung des alten Mannes ein: »Sieh einem Laemi nie in die Augen.« Die Augen fest geschlossen, schwang sie blindlings das Schwert. Sie hoffte, Peri nicht zu verletzen, aber ihr Abscheu vor dem Wesen war so groß, daß sie das Risiko einging. Der vertraute Ruck, mit dem die Klinge tief eindrang, sagte ihr, daß sie etwas getroffen hatte. Feuchtigkeit spritzte ihr ins Gesicht.
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Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie Blut in einer satten Purpurfarbe aus einer tiefen Wunde im Hals des Ungeheuers strömen. Sie beugte sich mit erhobener Waffe vor, um es ganz zu töten, und wurde von dem Schimmer dieser Augen gefangen. »Zaer«, stöhnte sie voller Qual, »ich wußte nicht, daß du es warst.« Das Gesicht bewegte sich, verschwamm, und ihr wurde klar, daß sich in ihm die Gesichter aller Männer mischten, die sie gekannt hatte. Und trotzdem konnte sie nicht anders, als dem Ungeheuer zu versichern, wie leid es ihr tue. Wie aus weiter Ferne hörte sie das rasselnde Gurgeln seiner letzten Atemzüge, aber es hob ihr eine lange Hand entgegen, und ihr Geburtsname fiel in ihr Gedächtnis zurück, als wisse es, daß er etwas Kostbares sei, und als wolle es ihn ihr zurückgeben. »Ich hatte Mitleid mit dir, und die ganze Zeit hielt das Ding mich in seinem Bann«, sagte Peri. »Gib mir das Schwert – gib es mir. Es wollte uns beide umbringen.« Einen Augenblick hielt sie ihn auf Armeslänge fern, bis Jul kam und ihn wegzog. Auch Scorpia ging. Sie wußte, wenn diese dunklen Augen glasig wurden, würde sie einem Horror ins Gesicht blicken. »Es brauchte uns.« Scorpia sagte es in sachlichem Ton. Sie wünschte, sie könnte das Bild Zaers aus ihren Gedanken vertreiben, doch auf gewisse Weise würde sie niemals aufhören, ihn zu lieben. Wenn Liebe eine Illusion war, dann eine mächtige. »Ein Ungeheuer«, schimpfte Peri. »Es hatte nur… Hunger.«
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Linda Gordon Noch eine Geschichte über eine Söldnerin – aber sie könnte sich von der ersten Geschichte in diesem Band nicht stärker unterscheiden. – M.Z.B.
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Kleinode »Deinen Sohn für das Kleinod.« Die lavendelblauen Augen des grauhaarigen Mannes wanderten über Schwarzholzens Gestalt, sprangen von ihren wohlgeformten Beinen zu ihren geschwungenen Hüften, den breiten Schultern, der üppigen Brust, den kräftigen Armen, dem Schwert an ihrer Seite. Mit aufflammendem Begehren begegnete er ihrem dunklen Blick. Schwarzholz kniff die Augen zusammen. Eine Brise tanzte über den Balkon und ließ eine Strähne ihres kohlschwarzen Haars flattern. »Ich brauche Geld.« Und meinen Sohn, dachte sie. »Wie notwendig brauchst du dein Kleinod?« »Geld?« Der Mann lachte. Seine verrunzelten Hände umfaßten seinen Stock. »Ich habe vor langer Zeit gelernt, daß es wichtigere Besitztümer gibt als das.« Seine Lustigkeit verging, und er hustete. »Deinen Sohn für das Kleinod«, forderte er entschlossen. Schwarzholz knirschte mit den Zähnen. »Ich werde Ausgaben haben, Hexer.« Der Zauberer blickte in die Ferne und dachte nach. Schließlich willigte er ein. »Gut, Kopfjägerin, du sollst das Geld für deine Ausgaben haben.« Er zog eine Börse unter seinem dunklen Mantel hervor und warf sie ihr zu. Die Frau fing sie auf, wog sie abschätzend in der Hand, nickte. »Die Zeit spielt eine Rolle dabei.« Wieder hustete der Zauberer. »Ich brauche das Kleinod, sonst werde ich bald…« Er brach ab und zuckte die Schultern. »Ja«, erwiderte Schwarzholz eisig, »du hast dich ihm verschrieben.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen. »Deine Seele für die Kräfte.« Sein Lächeln wirkte fast entschuldigend. Ihre dunklen Augen wurden kalt. »Und du hast deine Kräfte mißbraucht, hast sie zu etwas Bösem gemacht.« Mit leicht gebeugtem Rücken stützte er sich auf den Stock und kehrte von dem Balkon ins Innere zurück. Ein Feuer prasselte in dem Kamin, der die eine Wand einnahm, und der Mann stellte sich davor. Die Flammen flackerten, tanzten und spiegelten sich in seinen nach unten gerichteten Augen. Schwarzholz folgte dem Zauberer und blieb ebenfalls vor dem Feuer stehen. »Oder«, fuhr sie fort, »deine Kräfte haben dich böse gemacht.« Sie forschte in seinem Gesicht nach einer Reaktion. »Man spricht von mir, wie ich sehe.« »Ja, Zuriel.« Ihr Blick verlagerte sich von ihm auf das Feuer. »Die Dorfbewohner fürchten sich vor dir. Sie können keinen dafür bezahlen, daß er dir in die Nähe kommt, abgesehen von deinen kostbaren Opferga-
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ben!« Die letzten Wörter spie sie beinahe aus. »Sie haben dich gefunden.« Zuriel drehte sich ihr rasch zu, das Gleichgewicht mit Hilfe des Stocks bewahrend. »Es sind nicht meine Opfergaben! Ich verlange nichts dergleichen.« Sein Unterkiefer arbeitete vor Zorn und gab seinem gealterten Gesicht ein eigenes Leben. Schwarzholz trat näher an den Zauberer heran, die Hand auf dem Schwertgriff. »Ich sollte dich auf der Stelle erledigen.« Er lächelte dünn. »Dann würdest du deinen Sohn niemals finden.« Schwarzholz zwang sich, die Hand von der Waffe zu nehmen. »Lüg mich nicht an.« »Lügen?« Er zuckte die Schultern. »Ich bin über das Lügen hinaus, Frau.« »Warum hast du das Feuer draußen, wenn du keine Opfergaben wünschst?« Ihre Augen verengten sich. »Ist es kein Signal für die Leute im Dorf, daß du welche verlangst?« »Ich –«, er stieß sich mit dem Finger gegen die Brust, »– ich habe niemals eine Opfergabe verlangt. Das war dieses elende Kleinod.« »Natürlich.« Sie hielt inne, die Stirn gefurcht. »Das ist der Grund, warum du das Kleinod zurückhaben möchtest.« Sie ballte die Fäuste, dann öffnete sie sie wieder. »Der Grund, warum du meinen Sohn für die Wiederbeschaffung des Steins festhältst.« Zuriel stand ruhig da, die Hand auf den Kaminsims gelegt. »Ich bedaure, daß der Junge hineingezogen werden mußte.« Schwarzholz gab ein ungläubiges Knurren von sich. »Und die anderen Jungen hast du ebenso bedauert. Alle Nachkommen der Leute da unten, die dir geopfert wurden, damit es dem Dorf wohlergehe.« »Es war ihre Entscheidung, nicht meine.« »Wo ist mein Sohn?« Schwarzholz kreuzte die Arme vor der Brust. Die dunklen Augen sahen den Zauberer durchbohrend an. »Meine…« »Diener?« unterbrach sie ihn wütend. »Meine Diener«, bestätigte er, »haben ihn sicher eingeschlossen.« »Sicher?« Ihre Haut kribbelte. »Wo? In einem deiner dunklen, feuchten Verliese? An die Wand gekettet?« Ihre Hand glitt an den Schwertgriff. Zuriel lachte amüsiert. »Und du glaubst, er werde bei jedem Sonnenuntergang gefoltert?« Die Fröhlichkeit verließ ihn. »Ich besitze das Kleinod nicht mehr. Denk darüber nach, Frau!« Schwarzholz schnaubte. »Darauf kommt es nicht an. Sobald du einmal mit dem Bösen zu schaffen hast, wirst du für immer Teil von ihnen. Mein Sohn…« »Hat er seines Vaters Augen?« »Was!« Sie runzelte die Stirn. »Du hast ihn nicht gesehen?«
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Der Zauberer wandte sich wieder dem Feuer zu. »Ich habe keine Zeit, solche Dinge zu betrachten.« »Natürlich. Solche Unschuld zu betrachten würde bestimmt in dir zum Vorschein bringen, was menschlich ist. Falls du noch etwas davon übrig hast. Wo ist mein Sohn?« »Hat er sie?« »Was? Seines Vaters Augen?« Sie nickte. »Ja.« Zuriel lächelte, und die tanzenden Flammen spiegelten sich in sein n Augen wider. »Ah.« »Er hat auch das dichte blonde Haar und die breiten Schultern seines Vaters.« »Er muß drei, vielleicht vier Jahre alt sein. Kann er seinem Vater so ähneln?« »Ja. Er zeigt sogar die Intelligenz, die sein Vater einst hatte.« Der Zauberer sah Schwarzholz an, und ihr Blick hielt den seinen fest. »Der Mann, den ich damals kannte, ist jetzt fort. Es wird nur einen wie meinen Sohn geben.« »Ja.« »Hexer, wo ist er?« Zuriel lachte. »Ich sage es dir, und dann gehst du dorthin, und ich bekomme mein Kleinod nicht wieder.« Er grinste. »Hältst du mich für dumm?« »Wieviel Zeit bleibt dir, bis du das Kleinod wiederhaben mußt?« Schwarzholz musterte den Körper des Zauberers. Schwindet er sichtlich dahin? Die Dunkelheit um seine Augen ist tiefer geworden; er wirkt älter und gebeugter als zu Anfang. Der Zauberer hustete, und seine Stimme hatte jetzt einen rasselnden Klang. »Ich sterbe langsam vor deinen Augen. Das Kleinod, Frau, finde es und bring es her! Schnell!« »Woher soll ich wissen, daß mir mein Sohn unverletzt zurückgegeben wird, wenn ich dir den Stein bringe?« »Du hast mein Wort.« Schwarzholz wandte sich dem Feuer zu. »Dein Wort?« Sie grunzte. »Damit und mit etwas Geld könnte ich mir eine männliche Hure kaufen.« »Mein Wort!« Er drehte sich um und ging langsam zur Tür, den Rücken auffällig gebeugt, sein Gewicht auf den Stock stützend. Schwarzholz wartete, sah ihm nach und folgte ihm dann. »Mein Wort ist gut, Hexer.« Der Magier ging stumm weiter, führte sie durch den von Fackeln beleuchteten Gang zu der großen, dicken Holztür. Dort blieb er stehen. »Du bist eine Kopfjägerin, eine, die menschliche Beute jagt.« Er wies auf sich selbst. »So etwas habe ich niemals getan.« Dann winkte er zudem großen
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Metallring in der Tür hin. Schwarzholz faßte ihn widerwillig und zog die Tür auf. »Ich jage nur solche, die Unrecht getan haben. Keine anderen.« Sie folgte ihm nach draußen. Die Tür schloß sich langsam von selbst. »Warum solltest du auch jagen, wenn dir die Beute vor die Füße gelegt wird? Wenigstens fordere ich keine Opfer.« »Und du hast nie getötet?« Der Zauberer ging einen Steinweg zu dem großen Außenhof entlang. Seine Füße schlurften über den Boden, der Stock war jetzt eine echte Stütze. Mit zitternder Hand berührte er im achtsamen Vorübergehen sanft hier eine Blume, dort eine Ranke. »Natürlich habe ich getötet. Manche verdienen es.« »Man billigt die eigenen Taten immer bereitwilliger, als es ein anderer tun wird.« »Warum hast du mich, die nichts als eine Kopfjägerin ist, dann kommen lassen?« Zuriel blieb stehen und drehte sich ganz langsam zu ihr um. Da machte auch Schwarzholz halt. »Eine Kopfjägerin kennt nur wenige Ängste. Die anderen…« Er zuckte die Schultern. »Sie fürchten die Gerüchte und wollten nicht kommen, auch dann nicht, als ich sie rufen ließ.« »Gerüchte!« Ihr Blick wanderte zu dem großen Feuer, das in einiger Entfernung brannte. »Die Opfer sind kein Gerücht, Hexer. Die Dorfbewohner versammeln sich in diesem Augenblick, um dir wieder einen Jungen zu bringen.« »Abergläubisches Pack.« Zuriel sah in Richtung des Dorfes. »Irgendwer da unten hat den Stein. Aus Gründen, die du nicht zu wissen brauchst, war ich im Dorf, und da hat ihn mir jemand gestohlen.« »Wie? Worin hast du ihn getragen? In einem Beutel an deinem Gürtel?« Sie grinste, als sei der Gedanke so unvorstellbar, daß er komisch war. »Ja.« Der Zauberer ging weiter auf das Feuer zu. Er bewegte sich vorsichtig, als bereite jeder Schritt ihm Schmerzen. »Die Wärme tut meinen Knochen gut.« Schwarzholz dachte flüchtig daran, ihn mit dem Schwert zu durchbohren, aber das war nicht ihre Art. Er mußte ihr das Gesicht zukehren, und sie wollte erst erfahren, wo ihr Sohn war. Sie standen vor dem riesigen Feuer und wirkten klein im Vergleich zu den hochlodernden Flammen. Schwarzholz trat zurück; die Hitze war mehr, als sie ertragen konnte. »Du hast diesen kostbaren Stein in einem Beutel getragen! Das kann ich nicht glauben.« Sie schüttelte den Kopf. »Einer wie du ist vorsichtig, sollte ich meinen.« »Die Dorfbewohner fürchten mich, das stimmt, aber der, der mir den Stein gestohlen hat, ist neu hier. Er wußte nicht, welche Stellung ich bei den anderen einnehme.«
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»Also hat er Vorteil aus den Beutelschnüren gezogen.« »Das hat er.« Sie kniff mißtrauisch die Augen zusammen. »Er? Du weißt, daß es ein Mann war, der dir den Stein gestohlen hat?« Zuriel wandte sich von ihr ab, betrachtete den Himmel, die Bäume, das Feuer. »Nur eine Vermutung, Frau.« Sie kreuzte die Arme und sah ihn mit ihren dunklen Augen scharf an. »Sag mir, nach wem ich Ausschau halten muß.« »Ich weiß es nicht. Geh einfach ins Dorf und frage. Irgendwer wird es dir sagen.« »Sie werden es mir sagen, dir aber nicht?« Sie lachte. »Hier stimmt etwas nicht, Hexer.« »Finde das Kleinod, und bringe es mir zurück.« Er sah sie an. »Deinen Sohn für das Kleinod.« »Mein Sohn ist kostbarer als irgendein dummer Stein von dir!« Sie rückte näher an ihn heran. »Wo ist er?« »Hier. Er ist hier, Frau. Eingeschlossen, wo ihn nicht einmal die Sonne finden kann, wo es nichts gibt außer Dunkelheit und Einsamkeit, wo die dunklen Geister warten.« »Du Schurke!« Schwarzholz zog das Schwert und hielt dem Magier die Spitze an die Kehle, wodurch sie ihn zwang, sich ein bißchen aufzurichten. »Wenn ihm etwas zustößt, wirst du zu deinem Gott um die Süße des Todes beten.« »Versuche, mich zu töten!« forderte er sie heraus. Die Versuchung, zuzustoßen, war groß, aber sie zog die Klinge zurück. »Nein. Jede Sekunde, die ohne deinen kostbaren Stein vorübergeht, leidest du. Du bist seit meiner Ankunft gealtert.« »Ja«, räumte er ein, »aber ich werde ab einem bestimmten Punkt nicht weiter altern.« Er lächelte schief. »Schwer zu glauben, daß ich im selben Jahr wie du geboren wurde, nicht wahr?« »Ja.« Schwarzholz senkte das Schwert. »Wir verschwenden Zeit. Dein Sohn wird blaß in der Dunkelheit, die ihn umgibt.« Zuriels Stimme nahm einen hämischen Ton an. »Es gibt viele Wesen der Finsternis, Frau, viele, die in eben diesem Augenblick von der Wärme seines Körpers angelockt werden. Er…« »Hör auf!« Schwarzholz stieß dem Zauberer die Schwertspitze über dem Herzen in die Brust. »Fang an zu beten!« Ihre Lippen zogen sich zurück, entblößten die Zähne. »Beeile dich, Hexer…« »Ja, und er ist an die kalte, feuchte Wand angekettet; er wimmert Tag und Nacht und verweigert das Essen, das ich ihm bringe. Er beklagt sich über das Ungeziefer, das im Brei herumkriecht. Weiß er nichts über den Wert von Essen, ganz gleich, aus welcher Quelle es kommt?«
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Schwarzholz trat näher an den Magier heran, drückte mit dem Schwert ein bißchen stärker zu. Ihre Augen funkelten. »Und er heult, seine Arme täten ihm weh, weil seine Füße den Boden nicht berühren«, höhnte Zuriel. »Ich kann nichts dafür, daß die Ketten in der Höhe eines Mannes angebracht sind.« »Nein!« Schwarzholz kämpfte gegen den Drang an, mit ihrer ganzen Kraft zuzustoßen. »Das Wasser, das ich ihm bringe, kommt frisch aus dem Abwassergraben, aber er beschwert sich über den Geruch und will es nicht trinken.« »Genug!« Schwarzholz zwang sich, von dem Zauberer zurückzutreten und das Schwert wegzustecken. Sie zog einen kleinen Beutel aus ihrer Jacke. »Hier, hier ist dein verdammter Stein!« Sie zerrte so an dem Beutel, daß der Lederriemen riß. »Dein Kleinod, Hexer, hier in meiner Hand.« Sie achtete nicht auf den brennenden Schmerz rings um den Hals, der vom Zerreißen des Riemens kam. Zuriel trat näher ans Feuer und zog Schwarzholz zu sich. Er streckte die Hand aus. »Gib es mir.« »Wie du gesagt hast, meinen Sohn für das Kleinod.« Sie umklammerte den Beutel, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Wie kommst du dazu, mein Kleinod…« Er hielt kurz inne. »Ah, die Dorfbewohner.« »Ja«, zischte sie, »die Dorfbewohner. Sie wußten, du würdest jemanden anheuern lassen, der deinen Stein suchen und dir zurückbringen sollte. Sie brauchten nur zu warten.« »Und wenn ich Rache auf sie herabbeschworen hätte?« »Sie hatten den Stein und wußten, daß deine Kraft in dem Stein war.« »Ich verstehe. Sie warteten also nur auf den Augenblick, in dem ich anderswohin sah, um meinen Beutel zu stehlen.« Schwarzholz runzelte verwirrt die Stirn. So mochte es tatsächlich gewesen sein. »Ja, vielleicht.« Sie folgte dem Zauberer, der näher an das Feuer herangetreten war. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Haut. »Es war unvorsichtig von dir, einen Gegenstand von solcher Bedeutung in einem Beutel mit Schnüren zu tragen.« Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. »Sehr unvorsichtig.« Sie musterte sein Gesicht. Tiefe Furchen zogen sich durch seine Haut, und es traten Flecken von weißblauer Farbe hervor. »Sie wissen, daß man mich nur töten kann, wenn man das Kleinod in ein Feuer wirft.« Schwarzholz warf den Beutel in die Luft und fing ihn wieder auf. »Ich werde es ins Feuer werfen, wenn du mir meinen Sohn nicht zeigst, Zuriel.« Sie machte eine Bewegung, als wolle sie werfen. »Nein!« Der Magier hob die Hände. »Warte!« Er hustete. »Wenn du das tust, werde ich umkommen.«
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»Ja.« Wieder fintierte sie. »Warte!« Er grinste höhnisch. »Deinem Sohn bleibt nur noch wenig Zeit. Er hat bereits Bißwunden erlitten, und auf seinen Händen hat sich die schwarze Haut gebildet. Gib mir das Kleinod.« Mit zornig flammendem Blick warf Schwarzholz den Lederbeutel mit aller Kraft ins Feuer. Er verschwand irgendwo tief in den Flammen. Ihr Gesicht war rot von der Hitze. Der Schweiß lief ihr zwischen den Brüsten hinunter und rief dunkle Flecken auf der Vorderfront ihrer Jacke hervor. Zuriel zuckte, als winde sich sein ganzer Körper in Krämpfen, und krümmte sich. So blieb er für eine Weile, dann richtete er sich langsam wieder auf. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, den Schwarzholz nicht zu deuten wußte. Es war, als fühle er sich erleichtert. »Dein Sohn ist frei.« »Was?« Schwarzholz bemerkte weitere Veränderungen am Körper des Magiers. Die blaue Farbe auf der Haut vertiefte sich, es erschienen weitere Runzeln, das Haar wurde schneeweiß. Sein Blick traf den ihren, aber anstelle von Zorn lag in dem seinen nichts als Mitgefühl. »Nicht einmal ich konnte die Kraft finden, das zu tun, was du eben getan hast.« Schwarzholz stand mit offenem Mund da. »Das Feuer – das Opfer. Du!« »Geh zu deinem Sohn.« Zuriel lächelte herzlich. Ein schmerzliches Schuldbewußtsein mischte sich mit einem qualvollen Gefühl der Einsamkeit und fuhr Schwarzholz wie ein Messer durchs Herz. »Du möchtest sterben.« »Das Kleinod gab mir Kräfte, aber es machte mich auch zu etwas, das ich nicht war: böse.« Er hustete. »Es war ein böses Ding, und ich merkte das nicht, bis es zu spät war.« Er sah sie mit seinen violetten Augen an. »Ich freue mich, jetzt davon frei zu sein.« Eine Weile blickte er schweigend ins Feuer. »Hast du den Vater deines Sohnes geliebt?« fragte er leise. Schwarzholz faßte in ihre Tasche und holte das echte Kleinod hervor. Sie betrachtete es kurz mit ihren dunklen feuchten Augen. »Ich liebe ihn noch.« Sie warf es ins Feuer. Plötzlich berührte etwas ihr Bein. Schwarzholz fuhr herum, blickte nach unten. Ihr Gesicht verzog sich vor Freude zu einem breiten Lächeln. Der kleine blonde Junge streckte die Hände nach ihr aus. Schwarzholz stellte fest, daß die Händchen von der gleichen Farbe wie früher waren, nicht schwarz, wie Zuriel gesagt hatte. Sie hob den Jungen hoch und drückte ihn fest an die Brust. »Ich fürchtete, ich würde es nicht mehr erleben, daß du das Alter erreichst, in dem du einen eigenen Namen wählen kannst.« »Mir hat es hier gefallen, aber du hast mir gefehlt, Mutter.« Holz-Sohn schlang Schwarzholz die Arme um den Hals und drückte sie.
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»Es hat dir hier gefallen?« Schwarzholz runzelte die Stirn. »Ja, Zuriel hat mir Lieder beigebracht und mir Geschichten erzählt.« »Er hat dir nichts getan?« Holz-Sohn schüttelte den Kopf, dann zog er an einem dünnen Lederriemen um seinen Hals. »Sieh mal!« Er zog einen Gegenstand aus der Jacke, der an dem Riemen hing. »Das hat er gemacht.« Schwarzholz sah sich das kleine geschnitzte Holzstück am Ende des Lederriemens an. Linien und Kreise waren in die Oberfläche eingegraben. »Ist das ein Zauber?« Holz-Sohns violette Augen richteten sich erst auf den Gegenstand, dann auf Schwarzholz. »Ja! Er sagte, es werde mich immer beschützen.« Irgendwie glaubte Schwarzholz das. »Er hat es wirklich für dich gemacht?« »Ja, und er sagte, es sei für mich, damit ich mich immer an ihn erinnere.« Von neuem umarmte Schwarzholz ihren Sohn. »Erinnere dich gut an ihn.« »Wenn ich alt genug für meinen Namen bin, darf ich ihn dann auswählen?« »Das sollst du sogar.« »Dann möchte ich Zuriel heißen.« »Ja.« Schwarzholz drückte Holz-Sohn rasch. »Das ist ein guter Name.« »Wo ist Zuriel?« Die dunklen Augen der Frau richteten sich auf das Feuer. Sie meinte, die dunklen, ungleichmäßigen Umrisse eines Mannes tief in den Flammen stehen zu sehen, aber es war zu schnell vorbei.
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M. R. Hildebrand von Jedes Jahr versuche ich, wenigstens eine »erste Geschichte« von einem neuen Schriftsteller zu präsentieren. Und diese hier hat mir sehr viel Vergnügen bereitet – nicht nur, weil sie gut ist, sondern auch, weil die Autorin eine alte Freundin ist. Hildy – so ist sie bei den Fans im PhoenixGebiet weit und breit bekannt – ist die Ehefrau des Fans und Autors B.D. (Bruce) Arthurs. Er, wie Hildy Mitglied einer lokalen Schriftsteller-Gruppe, gegründet von Jennifer Roberson (die an anderer Stelle in diesem Band erscheint), hatte sein Debüt auf diesen Seiten mit »Death and the Ugly Woman«. Hildy organisiert außerdem (und das vom Rollstuhl aus) eine Reihe von Cons und so weiter, die einen starken Mann erbleichen lassen würden. Jetzt hat sie es dazu noch fertiggebracht, mir eine Geschichte zu schicken. – M.Z.B.
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Der Tanz der Heilerin Sherlin ging durch die dunklen Straßen, und die funkelnden Sterne am Himmel leisteten ihr stumme Gesellschaft. Das einzige Geräusch war das stetige leise Klicken der Meditationsperlen, die sie durch die Finger gleiten ließ. Eine lange und schwierige Entbindung hatte erfolgreich mit einer gesunden Mutter und einem gesunden Kind geendet. Sie fühlte sich befriedigt, doch ebenso stark war eine reine körperliche Müdigkeit. In der ersten Zeit war sie in Heracilis zweimal von Straßenräubern angegriffen worden. Während sie sie auf Verletzungen untersuchte und ihre gebrochenen Knochen einrichtete, hatte Sherlin ihnen erklärt, was eine Tänzerin ist und was das bedeutet. Seit damals hatte sie die Gewohnheit angenommen, in der Nacht die Perlen leise klicken zu lassen und so ihre Gegenwart anzukündigen. Vor ihrem Haus stellte Sherlin fest, daß etwas nicht stimmte. Cermis, ihr Lehrling, hätte ein Licht für sie brennen lassen sollen. Nicht schon wieder… Sie schob den sich aufdrängenden, angsterregenden Gedanken beiseite, glitt mit einer fließenden Bewegung durch die Tür und ins Zimmer und knallte die Tür gegen die Wand zurück. Nichts bewegte sich. Sie lauschte. Nichts atmete. Vorsichtig umging sie den Tisch und andere Gegenstände, die auf dem Fußboden verstreut waren. Am Kamin angekommen, nahm sie eine Kerze herunter und steckte sie an. Das Licht zeigte sie als eine Frau von mehr als mittlerer Größe, kräftig gebaut, in einem langen, engen, bis zu den Hüften geschlitzten Oberkleid. Als sie sich drehte, flatterte das Oberkleid ein wenig und verriet, daß das Unterkleid in Wirklichkeit eine weitgeschnittene Hose war. Da war kein Zeichen von Cermis – ausgenommen vielleicht die Blutspuren, die auf dem Fußboden zu erkennen waren. Das Blut konnte durchaus von den Leuten stammen, die Cermis angegriffen hatten; Sherlin hatte ihren Lehrling fünf Jahre lang in den Tänzen des Lebens und des Todes sowie in denen der Heilkunst und der Meditation unterrichtet. Essen und Geschirr waren von dem umgekippten Tisch auf den Fußboden gefallen. Sherlin bückte sich und fühlte ein Stück Brot. Was auch geschehen sein mochte, es hatte gestern am frühen Abend stattgefunden. Die Heilerin ging zu ihrer Werkbank hinüber. Ihre dunklen Augen überprüften die Vorräte. An der gegenüberliegenden Wand öffnete Sherlin eine große Truhe und betastete schnell den Inhalt. Stirnrunzelnd richtete sie sich auf. Ihre Hände begannen, mit den Perlen an ihrem Gürtel zu spielen, während sie in Gedanken versunken dastand. Dann ging Sherlin zur Tür und stieß einen auf- und abschwellenden, durchdringenden Pfiff aus. Die Tür angelehnt lassend, kehrte sie zum Ka-
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min zurück und zündete das Feuer wieder an. Ehe sie damit fertig war, schlüpfte eine kleine Gestalt, formlos in Schichten von schmutzigen Lumpen, ins Zimmer. »Was ist los, Tänzerin?« piepste sie, die Unordnung im Raum betrachtend. »Cermis ist verschwunden.« Sherlins leise Stimme behielt ihre übliche Ruhe und verbarg die Angst, die sie empfand. »Wahrscheinlich wurde sie gestern abend entführt, etwa eine Stunde nach dem Dunkelwerden. Weißt du etwas darüber?« »Nein. Ich war da in der Straße der Fische, in Merliks Torweg. Ich habe sie gestern nicht gesehen, aber ich dachte, sie sei mit dir zusammen.« »Danke, Kaninchen.« Sherlin hängte den Wasserkessel über das jetzt knisternde Feuer. »Geh und suche mir Schlange. Sag ihm, ich brauche ihn.« Schlange kam, als die ersten Sonnenstrahlen die Tür trafen. Seine dunklen Locken waren zerzaust, seine Kleidung hing etwas schief an seinem schlanken, eben heranwachsenden Körper. Seine Stimme bebte leicht trotz seines Bemühens, unbesorgt zu wirken. »Kaninchen sagte, Cermis sei verschwunden – entführt worden!« Sherlin blickte von ihrer Teetasse hoch. Im frühen Morgenlicht wirkte ihr ruhiges, goldenes Gesicht wie eine exotische Maske. »Sie wurde etwa um die zweite Stunde nach Dunkelwerden gewaltsam von hier entführt.« Sie betrachtete den Jungen mit ihren dunklen Schlitzaugen und sah, wie betroffen er war. »Was machen wir jetzt?« »Ich werde schlafen gehen.« Die Heilerin erhob sich, nahm einen kleinen Beutel aus der Truhe und reichte ihn dem Jungen. »Du wirst alle deine Fähigkeiten und Nachrichtenquellen benutzen, um herauszufinden, wer Cermis entführt hat und wohin.« Instinktiv wog Schlange den Beutel in der Hand. Überraschung malte sich auf seinem Gesicht. »Du wirst vielleicht alles brauchen.« Sherlin faltete ihre Schlafmatte auseinander. »Du wirst natürlich die Bordelle und Sklavenkarawanen überprüfen, aber ich fürchte, so einfach wird es nicht sein.« Sie ließ sich auf der ausgebreiteten Matte nieder und fuhr fort: »Dieser Beutel blieb unangetastet, ebenso meine Vorräte. Einiges davon ist sogar noch wertvoller.« Die Stimme der Heilerin klang ruhig, aber ihre Hände betasteten nervös die Perlen. »Halte nach allem Ausschau, was vom Normalen abweicht. Heute ist Neumond und die längste Nacht des Jahres.« Schlanges Gesicht war blaß vor Furcht. Er nickte wortlos und ging. Im Echo der zuschlagenden Tür hätte ein scharfes Ohr hören können: »Mögen die Götter mit dir gehen. Kind, oh Kind…«.
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Der Gestank toter Fische, der zu dem üblichen Geruch der Stadt nach Holzrauch und Abwässern kam, verriet Sherlin, daß ihr kleiner Führer sie zum Flußufer brachte. Dieses Viertel kannte sie nicht gut; dort war man, falls das möglich war, noch weniger gesetzestreu als in ihrer eigenen Nachbarschaft. Eine plötzliche Kehre, und sie kamen an Lagerhäusern vorbei, großen verwitterten Schuppen, die diesen Teil des Flusses säumten. »Kaninchen, bist du sicher, daß dies der Ort ist, an dem wir Schlange treffen sollen?« Sherlin eilte der voraustrippelnden Gestalt nach, und der Mantel klatschte ihr um die Beine. Sie hatte das Versteck eines Magiers erwartet, nicht das eines Kaufmanns. Die Entführung Cermis kurz vor der einflußreichen Konjunktion von Neumond und Sonnenwende war ein zu bedeutungsvolles Zusammentreffen, als daß man es hätte ignorieren können. »Ja, und er sagte, wir sollten uns beeilen. Es sei keine Zeit zu verlieren.« Die Beinchen stampften noch schneller. In dem Sack, der auf dem kleinen Rücken hüpfte, zappelte es. Eine Biegung der Straße enthüllte plötzlich ein altes, verwittertes Haus. Seine Mauern hielten Abstand zu denen seiner Nachbarn – eine Seltenheit in diesem überfüllten Viertel. Die länger werdenden Schatten ließen das alte Haus noch düsterer wirken. Auf der anderen Straßenseite stand Schlange und betrachtete den Himmel. »Was hast du herausgefunden, Schlange?« fragte Sherlin. »Ich hoffe, das ist der Ort, wo Cermis ist«, antwortete der Junge leise mit etwas schwankender Stimme. »Ich konnte nichts Bestimmtes finden, aber dieses Haus hat einen schlechten Ruf. Hier soll ein Schwarzer Magier leben. Der alte Nimian meint, es verschwänden regelmäßig Huren.« Er zuckte die Schultern. »Gerüchteweise verlautet, sie wurden dazu benutzt, das Leben des Magiers zu verlängern. Man behauptet, der Magier sei über hundert Jahre alt. Die Tore sind ständig verschlossen, und es kann niemand hineingelangen.« Schlange sah Sherlin herausfordernd an. »Jopa der Dieb hat versucht, über die Mauer zu klettern, aber irgend etwas hielt ihn auf. Er kann sich nicht erinnern, was es war – aber er ist seitdem auch nicht mehr nüchtern geworden.« Wieder richtete der Junge den Blick zum Himmel, weg von den Augen der Heilerin. »Vielleicht bin ich verrückt, aber wenn ich dicht an die Mauer oder das Tor herangehe, prickelt meine Haut. Noch etwas: Ich habe beinahe eine Stunde aufgepaßt und keinen Vogel gesehen, der dem Haus nahe gekommen wäre. Sie fliegen den Fluß hinauf und hinunter. Sie landen auf anderen Dächern. Aber sie meiden das Haus und die Bäume im Gar-
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ten. Ich möchte etwas ausprobieren, aber du solltest erst hier sein, am es zu sehen.« Er wandte sich Kaninchen zu. »Hast du die Ratten mitgebracht?« Kaninchen grinste und hielt ihm den sich windenden Sack hin. Sherlin sah genau zu, wie Schlange eine zappelnde Ratte an der Mauer in die Höhe warf. In der Höhe der Krone wurde das Tier mitten in der Luft angehalten. Quiekend vor Schmerz fiel es auf die Straße zurück und blieb bewußtlos liegen. »Versuche es noch einmal« bat Sherlin nachdenklich. Kaninchen wollte in den Sack fassen. »Nein, nein«, wehrte sie ab. »Nimm wieder die hier.« Die Heilerin nickte zu der bewußtlosen Ratte hin. Diesmal segelte die Ratte ungehindert über die Mauer. Nachdem mehrere andere Ratten nicht über die Mauer hatten gelangen können, falls sie nicht bewußtlos oder tot waren, sagte Sherlin zu Schlange: »Ich brauche eine Decke und ein paar kräftige Leute.« »Was soll es Cermis nützen, wenn du auf der anderen Seite der Mauer, aber bewußtlos bist?« fragte der Junge. Er schüttelte den Kopf. »Wir wissen nicht einmal sicher, ob sie drinnen ist.« »Dieses Haus ist von einem starken Zauber umgeben, der aus zehn Schritt Entfernung nicht mehr zu erkennen ist. Es gehört große Macht dazu, einen so starken und so genau abgegrenzten Bann auszusprechen.« Sherlin sah dem Jungen gerade ins Gesicht. »Ein Zauberer, der heute nacht eine Jungfrau opfert, besonders wenn es eine ist, die die Tänze des Universums gelernt hat, würde unglaubliche Macht gewinnen.«. Schlange starrte mit vorgeschobenem Unterkiefer zurück. »Ich weiß, du kannst besser heilen als irgendwer von dem ich je gehört habe, aber was vermagst du gegen einen so guten Zauberer auszurichten? Es wird Cermis nichts helfen, wenn du auf der Stelle umgebracht wirst.« »Ich kann nicht sagen, daß ich nicht ums Leben kommen werde, Schlange, aber völlig hilflos werde ich auch nicht sein. Nicht alle Tänze des Universums sind so einfach wie die Tänze des Lebens und des Todes.« Sherlin sah sich die kriechenden Schatten an, das Gesicht angespannt vor Angst. »Die Sonne geht bald unter, und ich möchte lieber nicht im Dunkeln über die Mauer gehen.« Offensichtlich war Sherlin entschlossen, ins Haus zu gelangen, und das bald. Schlange sagte zu Kaninchen: »Klettere auf das Dach da drüben, und sieh nach, welches für sie die beste Stelle ist, über die Mauer zu kommen. Ich will sie nicht auf etwas werfen, das ihr den Hals brechen wird.« Dann wandte sich Schlange der Heilerin zu. »Ich mag nicht viel über Magie wissen, aber dieses lange Oberkleid eignet sich nicht dazu, in ein Haus einzubrechen. Zieh lieber das schwarze Zeug an, das du trägst, wenn du Cermis im Tanzen unterrichtest.«
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Die Sonne berührte gerade den Horizont, als Sherlins in Trance versetzter Körper über die Mauer flog. Nur ein leichtes Muskelzucken markierte das Durchqueren der Barriere. »Sie ist unten. Sieht nicht aus, als hätte sie sich etwas gebrochen!« rief Kaninchen vom Dach des Lagerhauses herunter. Die Straßenbewohner, die sie hinübergeworfen hatten, blickten erleichtert drein. Auf diese Versicherung hin begann Schlange, Sherlin von der Straße aus leise zu bitten, aufzuwachen und Cermis zu helfen. Kaninchens Schweigen informierte ihn, daß Sherlin nicht reagierte. Es wurde dunkel, und Schlange hielt für einen Augenblick inne. Dann rief er sich sorgfältig Sherlins Anweisungen ins Gedächtnis zurück und schrie: »Sherlin, linbao mun Chieu-li!« »Sie zuckt!« quiekte Kaninchen. Dieser Schrei war der erste bewußte Eindruck, den Sherlin empfing. Der zweite war das plötzliche Erinnern: Chieu-li brauchte sie nicht mehr, Chieu-li war tot… aber Cermis lebte noch. Das Gedächtnis kehrte zurück. Sherlin öffnete die Augen und stellte sich auf die Füße. Kaninchen verkündete es mit triumphierendem Quietschen. »Ich bin wach, Schlange.« Die Heilerin verwandte ein paar Minuten auf verschiedene schwierige Übungen, die ihre steifen Muskeln lockerten. Dann bat sie: »Wirf meine Ausrüstung herüber. Ich bin bereit, ins Haus zu gehen.« Sie fing das sperrige Bündel vorsichtig auf, entnahm ihm eine Fackel und legte diese auf den Boden. Mit schnellen Bewegungen steckte sie mehrere Päckchen in Taschen, die in ihrem knappsitzenden Gewand verborgen waren. Schließlich ergriff sie das silberne Messer, auf dessen Mitnahme Schlange bestanden hatte, und schob es in ihre Schärpe. Sie nahm die nicht angezündete Fackel auf und durchquerte den Garten. Ihre schwarzen Leder-Slipper glitten lautlos durch Gras und trockene Blätter. Die Frau war sich ihrer Furcht bewußt, war sich bewußt, daß sie dies tat, weil sie etwas tun mußte. Sie durfte nicht noch einmal eine junge Freundin verlieren. Nicht, wenn es irgendeine Möglichkeit gab, sie zu retten. An der Tür angekommen, streckte die Heilerin einfach die Hand aus und öffnete sie vorsichtig. Warum eine Tür verschließen, wenn ein so starker Zauber die Mauer um das Grundstück bewachte? Drinnen sondierte Sherlin sorgfältig ihre Umgebung. Staub und Schalheit lagen in der Luft, die schwer und still war wie in einem Grabmal. Ein schwaches blaues Glühen von Wänden und Decke zeigte, daß sie sich in einem breiten Flur befand. Er lief an der Vorderseite des Hauses entlang und setzte sich anscheinend um die Ecken herum fort. Dunkle Stellen an der inneren Wand deuteten auf Türen hin. Kein physischer Laut war zu hören, aber Zauber,
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die jetzt oder in der Vergangenheit existierten, hallten auf magische Weise in dem Haus wider. Innerhalb dieses psychischen Lärms war kein einzelner Zauber zu unterscheiden. Lautlos, vorsichtig bewegte sich Sherlin, alle Sinne angespannt. Der erste Eingang zeigte nur schwarze, muffige Stille. Sie zündete die Fackel an. Der Raum war leer bis auf ein paar schwere dunkle Möbel und ein fest verrammeltes Fenster gegenüber der Tür. Die Heilerin wollte den Flur weiter hinuntergehen, als eine schwache Luftbewegung sie alarmierte. Sie fuhr herum. Zwei große, menschenähnliche Gestalten stürmten auf sie zu. Als das erste Wesen etwas mehr als eine Armlänge von ihr entfernt war, handelte Sherlin. Sie stieß ihm die pechgeladene Fackel ins Gesicht, während sie, sich drehend und windend, schnell an ihm vorbeitanzte. Die Drehung setzte sich mit einem Tritt nach oben in den Rumpf des zweiten Ungeheuers fort. Augenblicklich wandte Sherlin sich wieder dem ersten Wesen zu. Es wimmerte vor Schmerz und schlug nach dem brennenden Pech. Zwei schnelle Tritte in die Kniekehlen schickten es zu Boden. Ein Schlag mit beiden Fäusten brach den dicken Hals mit hörbarem Knacken. Zu dem zweiten Wesen herumwirbelnd, fand sie es mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen. Eine dunkle Flüssigkeit sickerte aus seinem leblosen Mund. Sherlin nahm die tropfende Fackel auf, päppelte die Flamme wieder hoch und paßte auf, ob nicht ein zweiter Angriff aus dem Dunkel kam. Vorsichtig sah sie in den anderen Räumen an diesem Teil des Flurs nach. Alle waren leer. Sie bog um die Ecke und fand sich im Dunkeln wieder. Die Hitze der Fackel konnte sie immer noch auf der Haut spüren, aber nichts in ihrem Licht sehen. Sie kehrte um, und immer noch war sie von Finsternis eingeschlossen. Ranken aus Zauberei legten sich um den Verstand der Tänzerin und versuchten einzudringen. Sie wehrte sie mit einem planmäßigen Gedankenmuster ab. Die Ranken zogen sich abrupt zurück, nahmen sichtbare Gestalt an und flossen zu einem hellen facettierten Spiegel zusammen, in den Sherlin hineingezogen wurde. Sie wollte fliehen und sah, daß sie von Spiegeln umringt war. Sie war nackt, und ihr Bild wurde aus jedem möglichen Winkel zurückgeworfen, sogar von unter den Füßen. Sherlin schlug gegen die Spiegel, zuerst physisch, dann psychisch, doch ohne Ergebnis. Sie erkannte, daß sie außerhalb ihres Körpers erwischt worden war. Die Spiegel existierten nicht auf einer physischen Ebene. Aber wenn ihr die Flucht nicht gelang, würde ihr Körper entweder getötet werden oder aus Mangel an Essen und Wasser sterben. Sherlin setzte sich mit untergeschlagenen Beinen in Meditationshaltung hin. Ihr Geist wurde ruhiger, und ihr fiel eins ihrer Gespräche mit Meister
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Hu ein, der so viele Jahre und Meilen fern von ihr war. Er hatte gesagt, die am weitesten fortgeschrittenen Adepten könnten nicht nur ihren Geist, sondern auch ihren Körper bewegen, indem sie die neue Umgebung so vollständig in sich aufnahmen, daß sie »das Universum täuschten« und dort waren. Sherlin war nicht weit genug gekommen, um dies auf der physischen Ebene fertigzubringen, aber vielleicht… Die Tänzerin stand auf und legte die Hand gegen einen der Spiegel. Sie schloß die Augen und beschwor das Bild ihrer selbst außerhalb der Spiegelkugel herauf. Aber als sie die Augen öffnete, sah sie sich immer noch bis in alle Ewigkeit widergespiegelt. Sherlin ließ sich gegen das Glas fallen. Sie durfte nicht verzagen. Es stand nicht nur ihr eigenes Leben auf dem Spiel, sondern ebenso Cermis Leben. Von neuem schloß sie die Augen, beruhigte ihre Atmung und begann mit der mentalen Übung, die der Tanz des Vergessens genannt wird. Sie leitete die Einzelheiten ihres Gefängnisses aus ihrem Gehirn, jeden Winkel, jede Kurve sowohl der Spiegel als auch ihrer Bilder in ihnen. Dann baute sie den Korridor neu, seine Muffigkeit und seine finsteren Tiefen. Plötzlich veränderte das Universum sich. Ihre Augen flogen auf, als ihr Geist in ihren Körper zurückkehrte. Sie erhaschte eben noch einen Blick auf die Spiegelsphäre, die wie eine Seifenblase platzte. Schnell überprüfte die Tänzerin ihre Umgebung. In dem dunklen Flur hatte sich nichts verändert bis auf die Helligkeit ihrer Fackel. Sherlin stand auf, die tropfende Fackel in der Hand, und betrachtete ihren Körper. Der schlaffe Fall hatte den blauen Flecken von ihrem Flug über die Mauer neue hinzugefügt, aber eigentlich war sie noch in guter Verfassung. Sie schritt vorsichtig weiter den Korridor entlang und sah in jedem Zimmer nach. Sie waren alle leer. Es war zu leicht. Keine der beiden Fallen war unüberwindlich gewesen. Sherlin wußte, sie war nicht außergewöhnlich stark in Magie; sie hatte den Tempel verlassen, ohne ihre Ausbildung abgeschlossen zu haben. Auch war sie körperlich nicht unbesiegbar, trotz ihres Geschicks in den Tänzen. Warum kamen keine weiteren Angriffe? Das machte ihr Sorgen. Sie ging um die nächste Ecke des Flurs und blieb abrupt stehen. Vor ihr erstreckte sich eine schwarze Wand von einer Seite zur anderen und von der Decke bis zum Boden. Sherlin versuchte es mit der Fackel und stellte fest, daß sie die Oberfläche nicht ganz berühren konnte. Auch wurde das Licht der Fackel nicht reflektiert, sondern verschwand in der Schwärze. Sherlin dachte nach. Langsam schob sie ihre Hand vor und hielt an, als sie die schreckliche Kälte der Schwärze spürte. Eine so heftige Kälte konnte ebenso schlimm verbrennen wie Feuer. Dies war die eigentliche Mauer um den Magier, unberührbar sowohl durch materielle Werkzeuge als auch
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durch Fleisch und Blut. Sie roch nach scheußlichen Zaubereien. Sherlin kehrte um und betrat einen der leeren Räume. Sie schob den Riegel vor, bevor sie ihre Fackel in einen Wandhalter steckte. Eine schnelle Überprüfung des Schrankes und des muffigen Bettes mitsamt seinen Vorhängen brachte nichts Gefährlicheres zum Vorschein als Staub und zwei oder drei tote Motten. Befriedigt zog sie einen der Beutel aus einer Tasche und entnahm ihm eine kleine Handvoll geschnitzter flacher Steine. Sie hielt sie für einen Augenblick an die Stirn. Dann legte sie in jede Ecke einen Stein mit der geschnitzten Oberfläche nach außen. Vom Mittelpunkt des Raumes aus zeigte Sherlin auf jeden der Steine und sprach eine kurze Silbe… Die Silbe langsamer sprechend, zog die Tänzerin einen Bogen diagonal über ihren Kopf, drehte sich und wiederholte den Vorgang, bis der Raum von oben und von unten her geschützt war. Sherlin legte sich hin und begann ein Atmungsmantra. Der Tanz war kompliziert, und sie hatte ihn nicht mehr ausgeführt, seit sie den Tempel verlassen hatte. Als sie das notwendige Niveau der Ruhe erreicht hatte, leitete sie ihren Geist in die vorgeschriebenen Muster. Ihr drittes Auge – das Auge zur Erfassung der nichtphysischen Welt – öffnete sich. Sherlin stand auf einer nebligen grauen Ebene. Ihre schwarze Kleidung war jetzt weiße Seide, und jeder Knöchel war von einem leichten schwarzen Band umwunden. Ein schwarzer Turm erhob sich in der Nähe, höher, als das Auge reichte. Ihr astrales Ich bewegte sich so frei und schnell wie ein Gedanke, umkreiste den fensterlosen, konturlosen Turm. Im Näherkommen spürte sie von neuem die Kälte. Sie schloß die Augen und nahm die Muster des Tanzes von neuem auf. Als sie die Augen wieder öffnete, war es auf der Ebene ein bißchen heller, und die Knöchelbänder waren ein bißchen schwerer, aber der Turm stand noch – stark, schwarz und kalt. Wieder und wieder tanzte sich die Adeptin auf eine höhere Ebene hinauf. Jede war heller und deutlicher als die vorige, und die Grautöne verwandelten sich in Farben. Immer noch standen die Turmmauern ungebrochen. Bei jeder höheren Ebene erhöhte sich auch das Gewicht der Bänder. Das Gewicht wurde in den Mustern des Tanzes reflektiert, bis sie nur noch langsam und mit Anstrengung zu vollführen waren. Sherlin erkannte, daß sie nicht höher tanzen konnte. Sie öffnete die Augen. Wieder stand der Turm da. Sie hatte verloren. Die Tänzerin schlug in zorniger Verzweiflung gegen die Mauer. In plötzlichem Erkennen richtete sie sich auf. Sie hatte die Mauer berührt! Die Barriere wurde schwächer! Der Turm war noch fest, aber schwächer wurde er doch. Sie mußte höher hinauf. Meister Hu hatte gesagt, die schwarzen Bänder würden von ihr selbst erzeugt. Sie wurden aus Selbsttäuschung geformt,
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und je näher sie der Essenz des Universums käme, desto schwerer wöge die Falschheit, einfach weil ein Teil von ihr wisse, daß sie falsch sein müsse. Konnte sie die Bänder loswerden? Meister Hu hatte ihr versichert, das könne sie, aber wiederholte Versuche waren fehlgeschlagen. Um sich von den Bändern zu befreien, hätte sie sich an die schmerzlichsten Zeiten ihres Lebens erinnern müssen. Nicht einfach erinnern, sondern sie und die Gefühle, die sie damals gehabt hatte, von neuem durchleben. Nur so hätte sie ihre Schuldgefühle überwinden können. Da hatte sie den Tempel lieber verlassen, hatte das Studium der Magie aufgegeben und war eine einfache Heilerin geworden. Sie hatte die Welt durchstreift, bis sie eine Heimat in Herarilis fand, weit weg von jeder Erinnerung an die Vergangenheit. Jetzt war die Vergangenheit Cermis einzige Hoffnung. Sherlin nahm die Lotushaltung ein und begann. Sie war acht Jahre alt und sah aufgeregt zu, wie Mutter ein Teetablett für Vater und seinen wichtigen Gast herrichtete. Der Mandarin Ling-Po war der reichste und wichtigste Mann in der Stadt. Vater sollte eine Karawane führen, die Ling-Po und dessen Geschenke für den Kaiser eskortierte. Sherlin konnte es kaum erwarten, ihren besten Freundinnen davon zu erzählen! Sie ging langsam, balancierte das Tablett mit großer Sorgfalt und voller Stolz. Leise betrat sie das Zimmer. Dann geschah das Entsetzliche: Die gestikulierende Hand des Mandarins traf das Tablett. Heißer Tee ergoß sich über sie und die Robe des Gastes. »Ungeschicktes Mädchen!« schimpfte ihr Vater und schlug ihr ins Gesicht. »Heb die Schweinerei auf, und entferne deine elende Person!« Verwirrt und zornig bückte Sherlin sich, um die Scherben der Teekanne aufzuheben. »Geh, Kind!« Von ihr unbemerkt war ihre Mutter eingetreten, ein Tuch in der Hand. Sherlin eilte in die Küche. Erst dort ließ sie ihren stummen Tränen freien Lauf. Nachdem ihre Mutter den Männern ein neues Tablett gebracht hatte und zurückgekehrt war, fragte Sherlin: »Warum war es meine Schuld, daß die Kanne zerbrochen und der Tee verschüttet wurde? Lord Ling-Po hat gegen das Tablett gestoßen.« Ihre Mutter schüttelte traurig den Kopf. »Kind, du mußt die schickliche Demut lernen. Wir leben unter Barbaren, aber zivilisierte Menschen in unserer Heimat im Osten machen es der Frau zur Pflicht, die Schuld auf sich zu nehmen. Wir müssen das Gesicht unserer Väter und Gatten wahren, wo immer es möglich ist.« »Das interessiert mich nicht«, murmelte Sherlin vor sich hin. »Es ist ungerecht. Ich hasse sie beide! Ich hoffe, ich werde sie niemals wiedersehen.« Der Gedanke ging ihr an diesem Tag viele Male durch den Kopf. Ihr
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Vater verließ das Haus mit Ling-Po, um die letzten Vorbereitungen zu treffen, und als er heimkam, schlief Sherlin schon. Als sie am nächsten Morgen erwachte, war die Karawane aufgebrochen. Drei Wochen später kam ein Mann und verlangte Sherlins Mutter zu sprechen. Einige Zeit, nachdem er gegangen war, rief die Mutter sie vom Spielen herein. Das Gesicht ihrer Mutter war so gelassen wie immer, aber Sherlin merkte, daß etwas Schlimmes geschehen war. »Sherlin, dein Vater ist tot. Räuber haben ihn ermordet.« Ihre Mutter hielt inne, um ihr zu erlauben, das Gesagte zu verstehen. Sherlins erster benommener Gedanke war: Ich werde ihn niemals wiedersehen. Niemals mehr würde sie zu ihrem Vater laufen und von ihm in die Arme genommen werden. Niemals mehr würde sie seine lustigen Geschichten von anderen Orten und seltsamen Dingen hören. Kummer überwältigte sie. Dann kam der Gedanke: »Vielleicht war es meine Schuld.« Ihre Mutter strich ihr über das Haar. »Dein Vater besaß nicht genug Yaks und Maultiere für eine so große Karawane wie die Ling-Pos, deshalb mietete er sich welche von Taj Singh. Dein Vater mußte Singh ein Papier geben, auf dem stand, wenn dein Vater die Tiere nicht zurückbringe, würden Singh unser Haus und unsere Möbel gehören. Die Räuber hatten nichts zurückgelassen; jetzt gehört alles Taj Singh. Wir müssen morgen fort.« Sherlin wurde von echter Furcht gepackt. »Wohin sollen wir gehen?« fragte sie. »Ich weiß es nicht«, antwortete ihre Mutter in stiller Verzweiflung. Am nächsten Morgen aßen Sherlin und ihre Mutter das bißchen an Nahrung, das im Haus war, nahmen ihre Kleider und gingen. »Wohin gehen wir, Mutter?« fragte das verängstigte Mädchen und versuchte, nach außen hin ruhig zu scheinen. »Wir gehen zum Tempel.« Die rotgeränderten Augen der Mutter straften das unbewegte Gesicht Lügen. »Werden wir von nun an da wohnen?« »Nein.« Sherlins Mutter blieb stehen und sah ihrer Tochter ins Gesicht. »Ich kann mir durch keine andere Weise Geld verdienen, als indem ich koche, putze oder einem Mann gefällig bin. Das ist alles, was ich an Fähigkeiten besitze. Ich habe hier keine Freunde oder Verwandten, die mir helfen würden, eine Stellung als Dienerin zu finden; deshalb muß ich in ein… Freudenhaus gehen.« Ein Ausdruck der Bitterkeit huschte bei dem letzten Wort über ihre gewohnheitsmäßig ruhigen Züge. Sie fuhr fort: »Ich kann dich nicht mit mir nehmen. So jung du noch bist – man würde in dir einen weiteren Körper zum Verkaufen sehen. Ich bringe dich in den Tempel, damit du dort zur Magierin oder Heilerin ausgebildet wirst und niemals diese Wahl treffen mußt.«
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Sherlin verstand von dem, was ihre Mutter sagte, nur, daß sie zum Tempel gebracht und dort gelassen werden sollte. Sie war benommen, unfähig zu verstehen, wie oder warum ihre Welt so plötzlich zusammengebrochen war. Sie konnte an nichts anderes denken, als daß sie Spielgefährten sagen gehört hatte, böse Kinder bringe man in den Tempel und lasse sie dort. Sie mußte böse gewesen sein. Sie hatte den Tod ihres Vaters verursacht, und jetzt verließ ihre Mutter sie. Sherlin holte erschauernd Atem. Tränen strömten ihr übers Gesicht. Der Schmerz über den Verlust ihres Vaters wurde aufgewogen von der neuen Einsicht, wie sehr ihre Mutter sie geliebt, wie gut sie sie verstanden hatte. Sherlin hätte sich in einem Bordell niemals angepaßt. Sie blickte nach unten. Es war nur noch ein Knöchelband übrig. Ihre Atmung kontrollierend stürzte sich Sherlin von neuem in die Vergangenheit. »Hallo, Sherlin! Was studierst du so eifrig?« Chieu-li kam in die Zelle. Als einzige andere Person aus dem Osten hatte sie Sherlin als ihre ältere Schwester adoptiert. Ihre strahlende Fröhlichkeit hatte sie dem ernsteren, fleißigen Mädchen teuer gemacht. »Die Positionen für den Tanz des Feuerrufens«, erklärte Sherlin stolz und legte die Schriftrolle auf die Seite. »Meister Hu sagt, jetzt, da ich die Elementargeister von Luft und Wasser gerufen habe, darf ich anfangen, Feuer zu studieren. Es ist einer der gefährlichsten Tänze und ein wesentlicher Schritt auf dem Weg, Meisterin zu werden.« »Dann ist es abgemacht? Du wirst zur Meisterin ausgebildet?« Es lag ein neckender Ton in Chieu-lis Stimme. »Ich glaube schon. Meister Hu sagt, vor mir liege noch viel Selbstprüfung, bevor ich voll qualifiziert bin, aber er meint, ich habe das Talent.« Ein dunkler Kopf lugte um die Tür. »Sherlin, komm schnell! Auf der Krankenstation gibt es eine Steißgeburt, und da Yirna krank ist, ist keiner da, der das Baby drehen kann.« »Schon gut, Namling. Nur keine Panik. Ich bin in einer Minute dort.« Sherlin rollte die Schriftrolle zusammen und legte sie auf ein Regal. »Faß die Rolle nicht an«, sagte sie, sich zum Gehen wendend, und fuhr Chieu-li durch das seidige schwarze Haar. »Und mach keinen Unsinn, kleiner Affe.« Es war nicht nur eine Steißgeburt, sondern auch noch ein großes Kind. Sherlin und Namling arbeiteten die ganze Nacht, mühten sich ab, das Baby zu drehen und der Mutter ihre Aufgabe zu erleichtern. Schließlich kam das Kind unbeschadet zur Welt. Sherlin glühte innerlich vor Glück, als die Morgendämmerung den Weg zu ihrer Zelle erhellte. Sie trat ein und blieb wie angewurzelt stehen. Brandgeruch hing in der
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Luft, und ein kleiner schwarzer Klumpen lag mitten auf dem Fußboden. Ihr Blick wanderte hoch zu dem Tisch, auf dem eine lose Schriftrolle lag. Sie begann zu schreien, und alles ging ganz weit weg… Sherlin fand sich in ihrem eigenen Körper wieder, und von neuem flossen die Tränen. Heftiges Schluchzen schüttelte sie. Diesmal gestattete sie sich, eine Weile zu weinen, bevor sie sich beruhigte. Es war nichts als richtig, daß sie Tränen um die, die sie liebte, vergoß. Das hatte sie sich nie zuvor erlaubt. Jetzt erinnerte sie sich, was Meister Hu ihr gesagt hatte: »Von den siebenundzwanzig Posen und neun Mustern beim Tanz des Feuerrufens sind nur zwei in der richtigen Reihenfolge eingenommene Posen notwendig, um den Elementargeist zu rufen. Alles übrige dient der Kontrolle und Entlassung.« Ja, sie war mitverantwortlich für Chieu-lis Tod. Es war unachtsam gewesen, die Rolle in ihrem Zimmer zurückzulassen. Aber es hatten sowohl Chieu-lis Ungehorsam als auch reines Unglück dazukommen müssen, um die Tragödie zu vollenden. Sie stand auf, streckte sich und begann zu tanzen. Auf immer höhere Ebenen erhob sie sich, bis ihre eigene Essenz mit der des Universums verschmolz. Von diesem Gesichtspunkt aus war der schwarze Turm kein unzerbrechlicher Monolith mehr, sondern ein Tunnel, der in sich selbst führte. Sherlin tanzte hinunter und konzentrierte sich auf die Innenseite der Verteidigungen. Als sie sich der materiellen Ebene näherte, wurden ihre Bewegungen langsam und fließend, damit sie andere Verteidigungen, die der Zauberer aufgestellt haben mochte, nicht störte. Sherlins astrales Ich erreichte die materielle Ebene, und sie sah, daß ihre Vorsicht unnötig gewesen war. Der Zauberer hatte den Dämon bereits gerufen. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das Wesen gerichtet, das in einem großen, mit Kreide gezogenen Pentagramm festgehalten wurde. Der Dämon nahm von Sherlins Ankunft mit einem schnellen, anerkennenden Blick Notiz, ließ sich aber sonst nichts anmerken. Cermis bewußtloser Körper lag in einem zweiten Pentagramm auf der Seite. Sherlin ging zu ihr. »Ich will volle fünfzig Jahre«, feilschte der Zauberer. »Schließlich ist sie nicht nur Jungfrau, sondern noch dazu ein Zauberlehrling.« »Das kümmert mich nicht«, erwiderte der Dämon. »Ich habe die Zeit beinahe tausend Jahre lang von dir zurückgehalten. Ganz gleich, was man sich erzählt – es wird jedesmal schwieriger. Zehn Jahre ist alles, was ich fertigbringe.« Jetzt hatte Sherlin es bis an diesen Ort geschafft, aber was sollte sie tun? Während der Handel weiterging, sah sie sich um. Außerhalb der Pentagramme waren auf jeder zur Verfügung stehenden Fläche Notizen und
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Schriftrollen ordentlich aufgestapelt. Es erinnerte sie an die Tempel-Bibliothek und an ihre letzten Unterrichtsstunden bei Meister Hu. Es würde gefährlich sein, Elementargeister in diesen Raum zu rufen, aber besser das, als zuzulassen, daß der Zauberer Cermis Seele verschacherte. Sherlin begann den Tanz des Wasserrufens. Als der Wasser-Elementargeist sich zu materialisieren begann, brach der Zauberer mitten im Satz ab und sah sich um. »Na gut, zwanzig Jahre«, sagte er hastig. »Irgendwer greift mich an, und ich habe keine Zeit, mich noch weiter mit dir zu streiten. Ich brauche schnell Macht.« Er fing mit dem Ritual an, das den Dämon an die Vereinbarung binden sollte. Sobald der Wassergeist vollständig materialisiert war, hörte Sherlin mit dem Tanz auf und ließ ihn tun, was er wollte. Dann vollführte sie den Tanz des Luftrufens. Der Wassergeist bewegte sich durch den Raum, und um die Papiere und Pergamente bildeten sich Pfützen aus dunklem, tintigem Wasser. Der Zauberer hetzte durch seine Beschwörung, in der merkwürdige Pausen entstanden, wenn er scharf auf das immer stärker durchweichte Manuskript in seiner Hand niederblickte. Der Luftgeist begann sich zu materialisieren, erst als eine leichte Brise und dann als starker Wind. Die nassen Stapel kippten auf den Fußboden. Der Wassergeist wanderte an einem Kohlenbecken vorbei, das daraufhin dichten Rauch aussandte; der Luftgeist peitschte den Rauch um den belagerten Zauberer. Einer der nassen Stapel kippte über eine Ecke des Pentagramms, das den Dämon festhielt, und verschmierte die sorgfältig gezogene Linie. Mit einem schnellen Sprung überquerte der Dämon das Pentagramm und packte den Zauberer. Dessen Schrei erstarb, als sich ihm Zähne in die Kehle senkten. Sein dunkles Haar wurde weiß, und sein Fleisch verdorrte, während der Dämon sein Blut trank. Wie toll sang der Dämon: »Am Ende fällt alles mir zu, o ja. Die Mädchen und das Blut, das Blut, o ja, das Blut.« Der Wind und das Wasser tobten weiter im Raum umher und schufen eine unheimliche Begleitung zum Lied des Dämons. Sherlin erschauerte und gab sich Mühe, nicht hinzusehen und nicht zuzuhören. Der Dämon war fertig und ließ den eingeschrumpften Körper fallen, der beim Aufschlag zu Staub zerfiel und sich in den schwarzen Pfützen tintigen Wassers auflöste. Mit einem bedauernden Blick auf das intakte Pentagramm und seinen Inhalt verschwand der Dämon. In einer Woge der Müdigkeit spülte Erleichterung über Sherlin hin. Bedächtig tanzte sie die Entlassung für beide Elementargeister. Dann kehrte sie in ihren Körper zurück. Mehrere Stunden der Untätigkeit hatten ihn steif werden lassen. Langsam und unter Schmerzen schleppte Sherlin sich zu Cermis. Jetzt hielt keine schwarze kalte Wand sie auf. Die Verteidigun-
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gen des Zauberers waren mit seinem Tod verschwunden. Sherlin hielt Cermis Hirschhornsalz unter die Nase, und das Mädchen erwachte. »Los, komm, ich will nach Hause.« Sherlins Stimme klang scharf vor Erschöpfung. »Was…? » »Das erkläre ich dir morgen. Laß uns im Augenblick nur nach Hause gehen.« Als sie das Haus verließen, taumelte die Heilerin. Cermis legte den Arm um sie. Morgen, dachte Sherlin, wollte sie allen berichten, was geschehen war. Es würde ein langer Brief an Meister Hu werden, aber ein notwendiger. Sie würde auch mit Cermis reden und entscheiden müssen, ob sie versuchen sollte, in den Tempel zurückzukehren. Fürs erste wollte sie zu Bett gehen. Der Nachthimmel zwinkerte zustimmend.
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Millea Kenin Etwa die Hälfte der Geschichten, die ich erhalte, handelt von dem üblichen Konflikt – zumindest in Bänden wie diesem –, daß eine Frau entweder eine Schwertfrau oder eine Zauberin sein möchte und Talent nur für das jeweils andere hat. Solche Geschichten treffen so häufig ein, daß sie, wie ich vermute, etwas sehr Wichtiges über Frauen aussagen. Andernfalls bekäme ich vielleicht alle zwei Jahre eine statt fünfzehn oder zwanzig in jedem Jahr. Millea Kenin, verheiratet mit einem Entertainer, ist eine alte Freundin. Sie hat zwei Kinder, Rohana und Leon, die ungefähr im Alter meiner eigenen jüngeren beiden sind. (Es überrascht mich immer wieder, daß ihre Kinder – wie meine – erwachsen sind, aber ich glaube, das hört niemals auf eine Mutter zu überraschen.) – M.Z.B.
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Eine Nacht im Wirtshaus Ich habe sagen gehört, jede Gastwirtin in der Gegend von Aldery sei eine Schwertfrau die sich zur Ruhe gesetzt hat. Meine Mutter bildete gewiß keine Ausnahme. Seit sie die Wunde empfing, die sie hinken machte, war sie die Wirtin des »Goldenen Hahns« gewesen. (Grinst nicht. Ich sehe, ihr kennt die Geschichte. Die ganze Nachbarschaft kannte sie ebenfalls.) Das Bild auf dem Wirtshausschild zeigte einen Gockel und hatte schon jahrelang dort gehangen, bevor sie den Betrieb übernahm. Sie hätte den Namen gern geändert, aber die Leute hätten noch mehr gelacht, wenn sie das ohne triftigen Grund getan hätte. Den bekam sie aber nicht – bis zu der Nacht, von der ich euch erzählen will. Meine Mutter wollte, ich solle auch den Beruf einer Schwertfrau ergreifen, und ließ mich das niemals vergessen. »Im Lehrlingskorps von Lord Rakellys Leibgarde ist immer ein Platz für meine Tochter, und meine alten Kameradinnen würden dich anständig behandeln.« Stirnrunzelnd betrachtete sie das offene Kontobuch, das vor ihr auf dem Küchentisch lag, dann sah sie mich an und strich sich das Haar zurück. »Aber du mußt bald anfangen, wenn du es überhaupt tun willst, Velle; du bist schon vierzehn.« »Wie du auf den Gedanken kommst, jemand, der jedesmal blutet, wenn er eine Möhre schrappt, würde auch nur eine einzige Schlacht überleben…« Ich wickelte einen Lappen um meinen Finger. »Nein, Mutter, ich will nicht. Moranne ist bereit, mich als Lehrling zu nehmen, das hat sie mir gesagt.« »Als ob ich das Lehrgeld bezahlen könnte, das sie verlangt! Nein, Velle, in dieser Familie hat es bis heute keine Zauberer oder Zauberinnen gegeben, und ich wäre glücklicher, wenn es niemals welche geben würde. Oh, daß die süßen Brüder dieses Kontobuch verdammen!« Sie knallte das Buch zu, legte es auf ein Wandbrett und rührte die Tagessuppe um. Sie war nicht in der Stimmung, Spott zu vertragen, aber ich fragte tollkühn: »Und wie sieht es auf der Seite meines Vaters aus?« »Dein Vater war ein wandernder Musiker, wie ich dir bereits erzählt habe, und die Brüder mögen den Tag segnen, an dem er sich entschied, weiterzuwandern! Aber wenn du irgendwelche Zeichen musikalischer Begabung verraten hättest, hätte ich alles zusammengekratzt, um dir eine Ausbildung zu ermöglichen.« »Ich kann pfeifen… »Wage das bloß nicht! Wer weiß, was du herbeipfeifen könntest.« »Moranne. Und sie könnte mich unterrichten.« Meine Mutter schnaubte. »Eine Stunde lang redet sie zu dir über Kräuter, und du glaubst, du weißt schon alles.« Sie probierte die Suppe und
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rümpfte die Nase. »Du hast doch nicht schon wieder Zaubertränke in der Küche gekocht?« »Nein, Mutter. Nicht mehr, seitdem ich es dir versprochen habe.« »Und das ist gut. Was würde aus dem Dach über unseren Köpfen werden, wenn es sich herumspräche, daß unsere Gäste dazu neigen, am Tisch einzuschlafen oder Visionen zu haben – oder tot umzufallen?« Die Sonne ging unter, und die Gaststube füllte sich. Die meisten Gäste waren Einheimische, die auf ein Glas Bier und einen Plausch kamen, aber es waren auch ein paar Reisende da, die eine herzhafte Mahlzeit und ein Zimmer für die Nacht brauchten. Kep, der ältere Hausknecht, führte ihre Pferde in den Stall, ich brachte ihnen Schüsseln und Teller, und Mutter zapfte Bier und Ale aus den Fässern und goß Wein ein. Plötzlich wurde die Tür so heftig aufgestoßen, daß der Rahmen barst. Einer nach dem anderen schoben sich drei ungeschlachte Kerle herein und rissen ihn weiter entzwei. Der letzte duckte sich nicht tief genug, stieß sich auch noch den Kopf am Türsturz und fluchte. »Bring uns etwas zu trinken, Mädchen!« Die Stimme des ersten Rüpels dröhnte, daß das ganze Geschirr klirrte. Er donnerte mit der Faust so heftig auf die Theke, daß Splitter aus dem Hartholz flogen. Meine Mutter stellte ihnen drei große volle Krüge hin. Jeder leerte den seinen mit einem Zug und hielt ihn zum Nachfüllen hin. Jetzt, da der erste Durst gestillt war, nahm der Anführer einen Schluck, spuckte ihn auf den Boden und warf den Krug hinterher. »Habt ihr nichts Besseres als diese Ziegenpisse?« röhrte er. Einer seiner Gefährten probierte sein Bier, runzelte nachdenklich die Stirn und tat es dem ersten dann im Spucken und Hinterherwerfen des Kruges nach. »Hundepisse, keine Ziegenpisse«, erklärte er nach heftigem Überlegen. Der dritte hatte seinen zweiten Krug geleert, doch nun warf auch er ihn auf den Boden und brüllte angewidert: »Hühnerpisse!« »Hühnerpisse, du Arsch?« schnaubte einer der anderen. »Arschpisse!« Derjenige, der geschnaubt hatte, schlug dem dritten auf den bereits wunden Kopf. Dieser wiederum zielte einen wilden Schwinger nach seinem vormaligen Kameraden und fegte all unser kostbares Glas auf den Boden. Nach ihrer Größe, ihrer Gestalt und ihrem Geruch wie auch nach dem völligen Fehlen von Anstand konnten diese drei nichts anderes als Riesenbergtrolle sein. Was sie in unserer Gegend taten, hatten sie nicht gesagt, und ich konnte es mir nicht vorstellen. Trolle – zumindest große – reisen für gewöhnlich nur selten, weil sie jeden Tag zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang eine Stelle finden müssen, die geräumig genug als
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Versteck ist. Wenn meine Mutter ihres Hinkens wegen auch keinen aktiven Dienst in der Garde mehr tun kann, ist sie doch sehr gut imstande, einer normalen Wirtshausschlägerei ein Ende zu bereiten. Mit drei Trollen hätte sie es auch in ihrer besten Zeit allein nicht aufnehmen können, aber ich glaube, einen Augenblick lang hätte sie das beinahe vergessen. Sie sah zu ihrem Schwert hoch, das als Schmuck an der Wand hing – dann wandte sie den Blick schnell ab. Sicher hoffte sie, ebenso wie ich, die Trolle würden das Schwert nicht bemerken. Einer von ihnen hätte jemanden damit töten können, bevor er es zerbrach. Was die anderen Gäste betraf, so war von ihnen keine Hilfe zu erwarten. Keiner von ihnen war bewaffnet, keiner sah wie ein Kämpfer aus, und inzwischen hatten sie sich alle in der Ecke zusammengedrückt, die von der Theke am weitesten entfernt war. Kep steckte den Kopf in die Tür und zog sich lautlos in Richtung Stall zurück. »Was sollen wir tun?« murmelte meine Mutter und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich kann Kep schicken, die Wache von Rakellys Feste zu holen, aber wie schnell die Leute auch kommen, die Wirtschaft wird bis dahin in Trümmern liegen. Meine alten Kameradinnen wurden mir einen Gefallen tun, wenn sie könnten, aber Lord Rakelly, der alte Geizhals, wird mir für ihre Zeit einen Arm und ein Bein abfordern. Und sprich jetzt nicht von Moranne! Ihr Haus ist weiter entfernt als Rakellys Feste, und sie berechnet mehr!« Ich erwähnte Morannes Namen nicht, aber ich fing an zu überlegen, was sie in dieser Situation tun würde. Wahrscheinlich eins von tausend Dingen – aber da war eins, das ich auch fertigbrachte. »Mach dir keine Sorgen, Mutter«, sagte ich. »Ich werde schon damit fertig.« Die Trolle hatten in ihrer Schlägerei lange genug Pause gemacht, um von neuem nach etwas Trinkbarem zu brüllen und die Theke kaputtzuschlagen. »Sag ihnen, ich sei gegangen, das Beste zu holen, das wir im Hause haben, und es gehe auf Kosten des Hauses«, grinste ich. Meine Mutter stieß einen sorgenvollen Seufzer aus und versuchte zurückzugrinsen. Ich weiß nicht, warum sie glaubte, ein Tröpfchen von einem meiner Zaubertränke auf dem falschen Löffel werde zwar ungeahnte Wirkungen zeitigen, aber ein ganzer Topf voll nicht genügen, drei Trolle ruhig zu machen. Jedenfalls eilte ich in die Küche. Ein paar Minuten später kam ich zurück und gab mir Mühe, so verführerisch dreinzublicken, wie es mir nur irgend möglich war, während ich unter dem Gewicht unseres größten Kessels schwankte, der als Punschbowle zweckentfremdet war. Ich stellte ihn auf einen Tisch und lud die Trolle ein, daran Platz zu nehmen. Der erste nahm einen Stuhl, der unter seinem Gewicht zusammenbrach.
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Eine Sekunde lang fürchtete ich, er werde aus Ärger darüber die Punschbowle umkippen, was alles verdorben hätte. (Ich hatte alles verbraucht, was ich von den speziellen Ingredienzen besaß, abgesehen von dem Jungfrauenblut – einem Tropfen aus einem Schnitt in meinen Finger –, aber auch davon wollte ich lieber nichts mehr zusetzen.) Der Troll erkannte, daß der Tisch die richtige Höhe hatte, wenn er auf dem Fußboden saß. So fegte er großmütig die anderen beiden Stühle aus dem Weg und befahl: »Mädchen, hol uns ein paar Kissen!« Das tat ich und bediente sie mit einer ersten Runde von meinem speziellen Punsch. »Nicht schlecht«, räumte der Anführer ein und füllte seinen Krug von neuem. »Nicht halbschlecht.« Der zweite stieß ihn mit dem Ellenbogen aus dem Weg und platschte Punsch teils in, teils neben seinen Krug. Hoffentlich, dachte ich, verschütten sie nicht so viel, daß die Dosis, die sie abbekommen, keine Wirkung mehr hat. »Elefantenpisse«, sagte der dritte, füllte sich jedoch ebenfalls nach. Einer der anderen hob die Faust, um ihn zu schlagen. Die Punschbowle wackelte, und die beiden übrigen faßten zu und retteten sie. Die erhobene Faust hielt mitten in der Luft an und öffnete sich. Die Finger wackelten. Der Troll sah sie mit seinen Schielaugen an und begann zu kichern. »Was ist so komisch an deinen Wurstfingern?« knurrte der Anführer. Der schieläugige Troll lachte noch lauter. »Du bist auch komisch«, erklärte er. »Mit den Augen eines Schweins betrachtet«, rumpelte der erste, doch dann brach auch er in Gelächter aus. »Schweinepisse«, sagte der dritte Troll, leerte seinen Krug aber wiederum. »Mit deinen Augen«, sagte der erste Troll, und jetzt brüllten sie alle vor Lachen. »Höre, Mädchen«, wandte sich der Anführer an mich, »gib davon unseren Freunden!« Seine Handbewegung schloß die ganze in der Ecke zusammengedrückte Gesellschaft ein. »Auf unsere Rechnung.« Er wog einen Beutel mit Goldmünzen in der Hand und fing an, sie in die Gegend zu werfen. »Nicht von dem Spezialgetränk des Hauses«, antwortete ich. »Das ist alles, was ich davon habe, und es langt kaum für euch drei große Menschen.« »Menschen? Wir sind Trolle – die höchste Lebensform, Mädchen, merk dir das! Aber gib unseren guten Freunden eine Runde Hundepisse oder was immer sie getrunken haben.« Mutter und ich beeilten uns zu gehorchen. Dann vergewisserte ich mich, daß die Läden an allen nach Osten gehenden Fenstern zurückgeschlagen waren. »Warum… oh«, sagte Mutter. Die Trolle widmeten den anderen Gästen keine Aufmerksamkeit mehr und erzählten sich blödsinnige Witze.
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Nach und nach schlüpften die Einheimischen leise aus dem gesplitterten Eingang. Meine Mutter brachte die Reisenden, die über Nacht bleiben wollten, in ihre Zimmer hinauf. Ich blieb, um ein Auge auf die drei zu halten, aber notwendig wäre es nicht gewesen. »Klopf-klopf«, sagte einer. »Wer… äh, wer ist da?« fragte der zweite langsam. »Menschenpisse«, brummelte der dritte. »Verpiß dich«, schimpfte der erste, »du bringst mich raus. Ach ja… es ist… äh, Ida. Klopf-klopf, wer ist da, Ida?« »Ida… wer?« »Ida… äh, Ida weiß, wer.« »Ich aber nicht.« »Das ist… das ist die Antwort, Blödmann… Ida. weiß… wer.« »Oh.« Er dachte heftig nach und setzte hinzu: »Ist noch… ist noch etwas zu trinken da?« Der Anführer hob bedächtig den ganzen Kessel hoch und kippte ihn, sodaß ihm der letzte Rest in den Mund lief. Dann ließ er den Kessel mit einem Krach fallen. »Es war noch etwas da«, erklärte er. »Ich sollte… ich sollte dich… dafür verprügeln.« »Laß sein. Warum… warum tut das Huhn?« »Warum tut das… äh… Huhn… was?« »Ich werde dir keine… äh, Hinweise geben!« Ihr Lachen wurde nach und nach immer langsamer. Meine Mutter kam herunter, und wir setzten uns in eine Ecke, die Arme umeinander geschlungen. Uns beiden war nicht nach Schlafen oder Reden zumute. Stundenlang war kein anderes Geräusch zu hören als gelegentliche Ausbrüche von langsamem, polterndem Lachen. Die Kerzen waren verlöscht, und das Feuer war heruntergebrannt. Aber die drei Wesen der Dunkelheit achteten nicht darauf. Weniger typisch war, daß sie ebensowenig darauf achteten, wie es allmählich heller wurde. Dann fiel der erste Sonnenstrahl ins Fenster. Die drei Riesen stießen einen einzigen gräßlichen Schrei voller Qual aus – dann herrschte völlige Stille. Das stärker werdende Licht zeigte sie bewegungslos und grau – drei häßliche steinerne Statuen. »Erzähle mir nicht, was du in den Punsch getan hast, Velle«, sagte meine Mutter – und ich dachte gar nicht daran! »Die Brüder mögen dich segnen, daß du auf diesen Gedanken gekommen bist. Es ist kein allzu großer Schaden angerichtet worden, und was die Steinbrucharbeiter dafür verlangen werden, sie zu zerschlagen und wegzuschaffen, wird nicht ein Viertel soviel kosten, als wenn wir die Garde gerufen hätten.« »Außerdem haben wir das Gold der Trolle«, bemerkte ich. »Ach ja? Du weißt natürlich, wie man es vom Fluch reinigen kann.«
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»Nein, aber Mor…« Ich biß mir auf die Lippe. Meine Mutter grinste. »Moranne weiß es. Dann kann sie es als Honorar dafür haben, daß sie mir dich abnimmt.« So schickte sie Kep aus, Moranne zu bitten, sie möge so schnell wie möglich in das Wirtshaus kommen (all dieses Gold lag herum, das immer noch verflucht war). Ich bin mir nicht sicher, ob Kep einleuchtend erklären konnte, warum ihr sofortiges Erscheinen notwendig sei. Schließlich hatte er sich fast während des ganzen aufregenden Teils versteckt gehalten, und Mutter und ich hatten uns nicht die Zeit genommen, es ihm zu erklären. Jedenfalls, als Moranne hereinkam, wurde ihr blasses Gesicht noch blasser, und sie keuchte: »Was ist denn hier passiert?« Also erzählte ich ihr die ganze Geschichte und erwartete, den Kopf gestreichelt zu bekommen. Was ich bekam, glich eher einem schnellen Tritt in den Hintern. »O nein! Nein, Jolynne, das kann ich nicht annehmen – das heißt, nichts bis auf die üblichen zehn Prozent Entfluchungshonorar. Ich schulde es den Brüdern und meinem Gewissen, Velle auf meine eigenen Kosten zu unterrichten, bevor es zu spät ist, falls es nicht bereits zu spät ist.« Meine Mutter blickte ebenso eingeschüchtert und verwirrt drein, wie ich mich fühlte. »Was meinst du mit »zu spät«?« »Nun, im Namen der süßen Brüder, Jolynne, läßt du deine menschlichen Gäste umbringen, wenn sie sich nicht anständig benehmen?« »Aber das waren Trolle!« entfuhr es mir. Moranne sandte mir einen Blick zu, bei dem ich am liebsten im Fußboden versunken wäre. Doch bevor ich auf einen Einfall kam, wie ich das bewerkstelligen sollte – wer kam eilig durch die zerbrochene Tür herein? Niemand anders als der alte Lord Rakelly. Sein weißer Schnurrbart sträubte sich. Er hatte die letzten paar Worte mitbekommen. »Ganz richtig!« rief er. »Der einzige gute Troll ist ein steinerner Troll, das sage ich immer. Hörte von eurem kleinen Abenteuer hier, Jolynne, und fragte mich, was du mit diesen Burschen vorhättest.« Er wies auf die drei großen sitzenden Steinfiguren. »Ich werde sie wohl zu Schotter zerschlagen lassen«, seufzte meine Mutter und strich sich das Haar aus der Stirn. »Nein, tu das nicht ich werde zwei von ihnen kaufen und sie zu beiden Seiten meines Tores aufstellen.« Sofort besserte sich Mutters Stimmung, und sie begann zu feilschen. Aber ich horchte nicht auf die Einzelheiten, weil Moranne mich auf die Seite nahm und mir mit leiser Stimme eine Lektion erteilte, die sich mir seitdem nur allzu genau eingeprägt hat. Sie sagte, daß Trolle und Gnomen und Kobolde und so weiter schon hier in Aldery lebten, bevor wir Menschen kamen, und daß kleine Vorfälle wie dieser das Risiko eines Krieges
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zwischen unseren Rassen erhöhten und…. Aber das wollt ihr alles ja gar nicht wissen. Ihr wollt wissen, wie das jetzt mit dem Namen des Wirtshauses war? Ach ja, ich war gerade dabei, es zu erzählen. Mutter hat immer noch den größten und häßlichsten Troll im Hof, und er ist eine richtige Attraktion. Ich habe bei Moranne zuviel zu tun, als daß ich Mutter oft besuchen könnte, aber beim letzten Mal stellte ich fest, daß Mutter das Wirtshausschild neu hat malen lassen. Es zeigt alle drei Trolle, und darunter steht: »Die versteinerten Trolle«
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Mercedes Lackey Misty Lackey schickte mir mit dieser Geschichte einen Begleitbrief, der (in roter Tinte) begann: »Ich sagte, ich würde keine weitere Tarmaund-Kethry-Geschichten mehr für Sword and Sorceress schreiben. Da habe ich gelogen.« Wie kann man eine Geschichte danach noch ablehnen? Vor allem, wenn Tarma und Kethry seit ihrem ersten Auftreten hier die speziellen Favoriten der Sword-and-Sorcery-Leserschaft gewesen sind. Misty ist außerdem Autorin einer sehr guten Trilogie: ARROWS OF THE QUEEN, ARROWS FLIGHT und ARROWS FALL, ebenfalls bei DAW erschienen. Es geht darin um ein besonderes Elite-Korps von Boten. Mir zumindest hat es gefallen, und es ist nicht mehr einfach für mich, etwas zu finden, das ich gern lese. Nicht gepaßt haben mir eigentlich nur die intelligenten Pferde. Im Widerspruch zu der Tradition neige ich dazu, Mißfallen an Pferdegeschichten zu finden, weil ich ein Farm-Mädchen war und keine sentimentalen Gefühle für Pferde kannte. Für mich waren Pferde nichts als große Tiere, die zuviel Heu fraßen (das ich heranschaffen mußte) und auch in anderer Beziehung zuviel Arbeit erforderten. – M.Z.B.
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Schlüssel Sie stand ganz allein auf dem hohen, aus rohem gelbem Holz erbauten Gerüst, bewegungslos wie eine Statue. Ungeachtet der Sommersonne, die den ganzen Tag erbarmungslos auf sie herabgesengt war, fror sie; sie fror unter dem Eishauch der Furcht. Begonnen hatte sie ihre Wache, als die Sonne in ihrem Rücken aufging. Jetzt warf das letzte Licht einen roten Schein über ihr weißes Gewand und ihr ebenso weißes Gesicht und verlieh ihren blassen Wangen falsche Farbe. Die Luft war schwer und heiß und roch nach nichts als versengtem Gras und schwitzenden Körpern, aber trotzdem holte sie tief Atem. Bald jetzt, bald. Bald würde das letzte Sonnenlicht sterben und sie mit ihm. Schon hörte sie das Keuchen der Männer, die ölgetränkte Zweige und Reisigbündel unter ihrer Plattform aufstapelten. Schon gab der Herold in seinem scheckigen Kleid dem gelangweilten, müden Trompeter in der grünen Livree ihres Gatten das Zeichen zum letzten Aufruf. Für sie war es die letzte Chance, Hilfe zu bekommen. Zum letzten Mal schmetterten die drei ansteigenden Töne des Aufrufs über die Menschenmenge unter ihr hin. Zum letzten Mal rief der Herold seine Worte auf ein Meer von mitleidigen oder sensationslüsternen Gesichtern hinaus. Alle wußten, dies war das letzte Mal, der letzte farcenhafte Aufruf, und warteten auf den Höhepunkt der sinnlosen Warterei dieses Tages. »Wisset alle, daß die Lady Myria der gemeinen und ungerechtfertigten Ermordung ihres Gatten Lord Corbie von Felwether angeklagt ist. Wisset, daß sie eine Entscheidung durch einen Zweikampf verlangt, wie es ihr Recht ist. Wisset, daß sie keinen Streiter für ihre Sache nennt sondern auf die Götter vertraut, einen zu senden, der als Zeichen ihrer Unschuld in ihrem Namen kämpfen wird. Ist deshalb ein solcher hier, fordere ich ihn auf, vorzutreten und ihre Ehre zu verteidigen!« Nicht einer sah zum Tor hin außer Myria. Sie mußte notgedrungen hinsehen, weil sie mit Hanfseilen, so dick wie ihr Daumen, auf der Plattform festgebunden war. Den ganzen Tag hatte sie jedesmal, wenn die Trompete ertönte, ihre Augen angestrengt auf diesen leeren Bogen gerichtet, aber kein Retter war erschienen. Und jetzt hatte sogar sie die Hoffnung verloren. Die Schwertfrau namens Tarma trieb ihr graues Shinain-Streitroß noch einmal mit Hand und Stimme zur Eile an (nicht mit Sporen – niemals mit Sporen), als werde sie von den Schakalen der Dunkelheit verfolgt. Ihre langen ebenholzschwarzen Zöpfe flatterten hinter ihr drein. Dicht genug
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hinter ihr, um einen von ihnen zu fassen, ritt ihre bernsteinhaarige Partnerin, die Zauberin Kethry. Kethrys Stute hielt sich eine knappe Länge hinter ihrer Herdenschwester. Kethrys Geas-Klinge, Not genannt, hatte sie heute morgen beinahe noch vor Sonnenaufgang geweckt und die Zauberin (und so auch ihre BluteidSchwester) den ganzen Tag in diese Richtung getrieben. Anfangs war es ein einfaches Ziehen gewesen, wie sie es schon oft erlebt hatten. Kethry und Tarma wußten beide aus Erfahrung, daß Kethry, wenn Not einmal rief, keine Wahl blieb, ob sie dem Ruf folgen wollte oder nicht. Deshalb hatten sie ihr Lager abgebrochen und sich auf den Weg zur Quelle gemacht. Im Lauf der Stunden war der Ruf dringender geworden, bis er am Nachmittag bei Kethry heftige mentale Schmerzen hervorrief. Sie hatten Tarmas Gesellschaftstier Warrl auf sein Reisekissen gesetzt und ihre Pferde erst in schnellem Schritt, dann im Trab und dann, kurz vor Sonnenuntergang, in vollem Galopp laufen lassen. Kethry war durch die Qual, die sie auszuhalten hatte, beinahe blind. In einem solchen Fall mußten sie Not gehorchen; Kethrys Seele war an das Schwert gebunden – es verlieh ihr übernatürliches Geschick im Kampf, es hatte bei beiden Wunden geheilt, die sie andernfalls wahrscheinlich nicht überlebt hätten-, aber für diese Gaben war ein Preis zu zahlen. Kethry (und deshalb auch Tarma) war verpflichtet, jeder Frau zu helfen, die innerhalb der Spürweite des Schwertes in Gefahr war. Und es hatte den Anschein, als sei eine solche Frau jetzt in großer Gefahr. So, wie das Schwert Kethry vorantrieb, in Lebensgefahr. Auf der Straße, der sie folgten, ragte vor ihnen ein ummauertes Dorf auf, Bestandteil einer Ritterburg, wie es in dieser Gegend häufig vorkam. Die Tore standen offen, die Felder ringsumher waren leer von Arbeitern. Das war sehr seltsam. Es war Hochsommer, und es hätten Leute auf den Feldern sein müssen, die Unkraut jäteten und die Bewässerungsgräben warteten. Sonst gab es kein Zeichen, daß etwas nicht stimmte. Aber als sie sich dem Tor näherten, erkannten sie, wer die Frau war, die sie suchten. Eine junge dunkelhaarige Frau war hoch genug, daß man sie durch das offene Tor sehen konnte, auf einem Gerüst angebunden. Sie war in Weiß gekleidet, beinahe wie ein Opfer. Die letzten roten Strahlen der untergehenden Sonne berührten sie – und ebenso das aufgehäufte Holz unter der Plattform, auf der sie stand. Es sah aus, als brenne ihr Scheiterhaufen bereits. Um die lehmverputzten Mauern des Turmes und auf dem Platz innerhalb des Tores drängten sich Menschen aller Klassen und Stände, stumm, wartend. Tarma gab keinen Pfifferling um das, worauf sie warteten, obwohl man ziemlich sicher sein konnte, sie warteten, um die Frau brennen zu sehen, nicht aus Mitgefühl. Noch einmal schmeichelte Tarma ihrer müden Stute einen Galopp ab. Ein Stück vor Kethry passierte sie das Tor und hielt dich
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vor der Plattform an. Ihre Stute Höllentod in einem engen Kreis herumlenkend, zog sie das Schwert und placierte sich zwischen die Frau auf dem Gerüst und den Männern mit den Fackeln, die den Scheiterhaufen anzünden wollten. Sie war sich bewußt, einen imposanten Anblick zu bieten, auch wenn sie mit Schweiß und Straßenstaub bedeckt war: ein Habichtsgesicht, einschüchternd, eisblaue Augen, herausfordernd flammend. Ihre Kleidung war offensichtlich die einer Söldnerin: einfache braune Ledersachen und Schuppenpanzer. Ihr Schwert reflektierte das sterbende Sonnenlicht, so daß es aussah, als halte sie eine lodernde Flamme in der Hand. Sie sprach kein Wort; ihre Haltung sagte alles für sie. Nichtsdestotrotz trat einer der Männer vor, eine Fackel in der Hand. »Das würde ich nicht tun«, sagte Kethry hinter ihm. Der Torbogen bildete einen Rahmen um sie; ihr Umriß hob sich vor dem feurigen Himmel ab; ihr Reittier stand wie ein Fels, ihre Hände glühten vor magischer Energie. »Wenn Ihr nicht von Tarmas Klinge fallt, dann von meiner.« »Frieden.« Ein müder, grauhaariger Mann in einer einfachen, staubigschwarzen Robe löste sich aus der Menge, breitete beschwichtigend die Arme aus und winkte den Fackelträger zurück. »Ilvan, geh wieder an deinen Platz! Fremde, was bringt Euch gerade zu dieser Zeit hierher?« Kethry hob die Hand. Ein dünner Strahl schoß aus ihrem Finger und berührte die Stricke, die die Gefangene auf der Plattform fesselten. Sie lösten sich und fielen ab, glitten an ihrem Körper herunter und blieben zu ihren Füßen liegen. Die Frau schwankte und wäre beinahe gefallen. Im letzten Augenblick faßte sie mit einer Hand den Pfahl, an dem sie festgebunden gewesen war. Ein kleiner Teil der Menschenmenge – zumeist Frauen – trat vor, wie um zu helfen, wich jedoch wieder zurück, als Tarma sich ihnen zudrehte. »Ich weiß nicht, welches Verbrechens ihr diese Frau anklagt, aber sie ist unschuldig«, sagte Kethry zu dem grauhaarigen Mann, die Anwesenheit aller anderen ignorierend. »Das ist der Grund, der uns herführt.« Ein gemeinsamer Seufzer stieg bei diesen Worten von der Menge auf. Tarma sah wachsam von einer Seite zur anderen, aber es schien eher ein Seufzer der Erleichterung als der Erregung zu sein. Sie hatte ihr Schwert so fest in der Hand, daß die Knöchel weiß hervortraten. Jetzt lockerte sie den Griff ein klein wenig. »Lady Myria ist angeklagt, ihren Lord getötet zu haben«, erklärte der Mann in der Robe ruhig. »Sie berief sich auf das alte Recht, einen Streiter zu ihrer Verteidigung aufzurufen, als die Beweise gegen sie überwältigend wurden. Ich, der ich Priester von Felwether bin, frage euch: Fremde, wollt ihr für die Lady in den Kampf ziehen, um ihre Unschuld zu beweisen?« Kethry setzte zu einer zustimmenden Antwort an, aber der Priester
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schüttelte den Kopf. »Nein, Magierin. Ein altes Gesetz verbannt Euch aus dem Feld. Bei einer Entscheidung durch einen Zweikampf dürfen weder Zauberei noch Zauberwaffen, die Ihr, wie ich sehe, tragt, benutzt werden.« »Dann…« »Er möchte wissen, ob ich kämpfen werde, she'enedra«, schnarrte Tarma. Mit teuflischem Vergnügen sah sie den Priester beim Klang ihrer harten Stimme zusammenzucken. »Ich kenne eure Gesetze, Priester, ich bin schon einmal diesen Weg gekommen. Jetzt frage ich Euch: Wenn meine Partnerin Euch durch ihre Kunst die Unschuld der Lady beweisen kann, werdet Ihr sie dann freilassen und den Kampf abbrechen, ganz gleich, wie weit es dabei gekommen ist?« »Das gelobe ich bei den Namen und den Mächten.« Der Priester nickte beinahe eifrig. »Dann werde ich für diese Lady kämpfen.« Etwa die Hälfte der Zuschauer stürmte jubelnd vor. Drei ältere Frauen schoben sich an Tarma vorbei, um die Frau, die kaum noch bei Bewußtsein war, in den Turm zurückzutragen. Die übrigen zogen mit Ausnahme des Priesters langsam und widerstrebend ab, wobei sie nachdenkliche und abwägende Blicke auf Tarma warfen. Ein paar sahen aus, als seien sie ihr wohlgesonnen – die meisten nicht. »Was…« »Was hatte das alles zu bedeuten?« hatte Tarma fragen wollen, doch soweit kam sie nicht, denn der Priester stellte sich zwischen die Partnerinnen. »Verzeiht, Magierin, aber von diesem Augenblick an dürft Ihr mit der Streiterin nicht mehr sprechen. Jede Botschaft, die Ihr für sie habt, müßt Ihr durch mich ausrichten lassen… »O nein, noch nicht, Priester.« Tarma lenkte Höllentod vorwärts an seiner ausgestreckten Hand vorbei. »Ich sagte doch, ich kenne Eure Gesetze. Der Bann beginnt bei Sonnenuntergang. Grünauge, paß auf, ich muß schnell sprechen. Du wirst ausfindig machen, wer der wirkliche Schuldige ist. Ich werde mein Bestes tun, dir Zeit zu verschaffen. In dieser Sache heißt es Kampf bis zum Tod für den Verteidiger – ich brauche meine Gegner nur zu besiegen, aber sie müssen mich töten. Und je länger du brauchst, desto wahrscheinlicher wird das.« »Tarma, du bist besser als jeder einzelne hier!« »Aber nicht besser als zwanzig – oder dreißig.« Tarma lächelte sarkastisch. »Die Spielregeln, she'enedra, gehen dahin, daß ich kämpfe, bis niemand mehr bereit ist, gegen mich anzutreten. Früher oder später werde ich erschöpft sein und zu Boden gehen.« »Was?« »Still, ich wußte, in was ich mich einließ. Du bist in deinem Handwerk
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so gut wie ich in meinem – ich wollte dich nur ein bißchen anfeuern. Nimm Warrl mit.« Das große wolfsartige Tier, das sich mit den einziehbaren Klauen auf seinem Kissen hinter Tarma festgehalten hatte, sprang herunter. »Er mag dir von einigem Nutzen sein. Tu dein Bestes, veshta'cha, von dir hängen zwei Leben ab…« Wieder unterbrach der Priester sie. »Sonnenuntergang, Streiterin«, stellte er entschieden fest und legte die Hand auf Tarmas Zügel. Tarma neigte den Kopf und erlaubte ihm, sie und ihr Pferd wegzuführen. Kethry sah ihnen sprachlos nach. »Gut, fangen wir ganz beim Anfang an.« Kethry befand sich in Lady Myrias Frauengemach, einem weichen und farbenprächtigen Eckchen einer ansonsten trostlosen Feste. Fenster gab es nicht. Kein Luftzug bewegte die leuchtenden Wandbehänge oder ließ die Flammen der Bienenwachskerzen flackern. Die Wände waren aus verputztem dickem Stein, warm im Winter, kühl im Sommer. Dicke Federkissen bedeckten die Möbel aus hellgelbem Holz. In einer Ecke stand eine Wiege, bewacht von der in Grübeleien versunkenen Lady selbst. Es duftete angenehm nach Kräutern und Blumen. Kethry fragte sich, wie ein so verhätscheltes Wesen sich in eine solche Klemme hatte bringen können. »Es war vor zwei Tagen. Ich wollte mich am Nachmittag hier hinlegen. Ich war – müde. Ich werde seit Syrtins Geburt schnell müde. Ich schlief ein.« Aus der Nähe betrachtet erwies sich die Lady um mehrere Jahre jünger als Kethry; sie konnte kaum älter als fünfzehn sein. Ihr dunkles Haar war glatt und glanzlos, ihre Haut blaß. Kethry sah es mit Stirnrunzeln und machte mit einer Geste und zwei geflüsterten Worten einen kleinen Zauber, während Myria sprach. Das Wesen der ätherischen Ebene, das sich einverstanden erklärt hatte, ihnen als Pfadfinder zu dienen, war noch bei ihr – es wäre ein bei weitem wilderer Ritt nötig gewesen, als sie ihn gemacht hatten, um es zu verlieren. Die Antwort auf ihre Frage kam schnell. Eine dünne Stimme wisperte sie ihr ins Ohr. Kethry verzog zornig das Gesicht. »Bei den Augen der lieben Frau, Kind, ich wundere mich gar nicht, daß Ihr schnell müde werdet. Ihr seid immer noch zerrissen von der Geburt! Was für einen kläglichen Ersatz für einen Heiler habt ihr hier übrigens?« »Wir haben überhaupt keinen Heiler, Lady.« Eine der drei älteren Frauen, die Myria in den Turm zurückgetragen hatten, erhob sich von ihrem Platz hinter Kethry und stellte sich in herausfordernder Haltung zwischen sie. Sie hatte ein freundliches, aber vergrämtes Gesicht; ihr grau und braunes Kleid war aus gutem Stoff, aber altmodisch im Schnitt. Kethry vermutete, daß sie Myrias Gesellschafterin war, vielleicht eine ältere Verwandte.
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»Der Heiler starb, bevor mein Täubchen ins Kindbett kam, und ihr Lord hielt es nicht für nötig, ihn zu ersetzen. Wir hätten keine Verwendung für einen Heiler, so behauptete er, da er keine große Zahl von Kriegern halte, und das Gebären sei ein völlig normaler Vorgang, der die teuren Dienste eines Heilers gewiß nicht erfordere.« »Katran, bitte…« »Das ist nichts als die Wahrheit! Er hatte mehr für seine Pferde übrig als für dich! Als der Hufschmied wegging, wurde er schnell genug ersetzt!« »Seine Pferde waren von größerem Nutzen für ihn«, sagte das Mädchen bitter. Dann biß sie sich auf die Lippe. »Da, seht Ihr wohl, das hat mich in diese Lage gebracht – eine unvorsichtige Bemerkung zuviel ist an die falschen Ohren gekommen.« Kethry nickte. Sie mochte das Mädchen; das Kind war nicht die verhätschelte Schöne, für die sie es anfangs gehalten hatte. Keine Fenster in dieser Kammer, nur der eine Eingang – das sah eher nach einer Zelle als nach einem Frauengemach aus, schoß es ihr durch den Kopf. Mit einer unbewußten Bewegung strich sie ihr braunes Gewand glatt und zog das Schwert. »Lady, was…« Katran erschrak über die Geste. »Frieden, ich habe nichts Böses im Sinn. Hier.« Kethry beugte sich über Myria und legte die Klinge in die Hände des überraschten Mädchens. »Haltet das eine Weile.« Myria nahm das Schwert mit aufgerissenen Augen. Ein Ausdruck der Verwirrung brachte ein bißchen mehr Leben in ihr Gesicht. »Aber… »Frauenmagie, Kind. Wenn auch die Klinge im allgemeinen eine Waffe des Mannes ist, Not hier ist stark in weiblichen Zauberkünsten. Sie dient nur Frauen, und es war ihre Kraft, die mich herrief, Euch zu helfen. Wenn Ihr sie eine Stunde lang haltet, wird sie Euch heilen. Nun erzählt weiter. Ihr schlieft ein.« Myria nahm die Klinge vorsichtig, dann legte sie sich das Schwert über die Knie und holte tief Atem. »Ein Geräusch, als falle etwas, weckte mich, glaube ich. Ihr seht, daß dieser Raum mit der Kammer meines Lords in Verbindung steht. Es gibt nur einen Weg hinein und hinaus, und der führt durch seine Kammer. Ich sah eine Kerze brennen, deshalb stand ich auf, um nachzusehen, ob er etwas brauche. Er – er war über seinem Schreibtisch zusammengebrochen. Ich dachte, vielleicht sei er eingeschlafen.« »Du dachtest, er sei betrunken, wolltest du sagen«, warf die ältere Frau sarkastisch ein. »Kommt es darauf an, was ich dachte? Was ich sah, war nichts Außergewöhnliches, weil er immer dunkle Farben trug. Ich wollte ihn schütteln – und hatte die Hand voll Blut!« »Und dann schrie sie sämtliche Hausbewohner zusammen«, ergänzte
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Katran. »Und als wir kamen, mußte sie uns die Tür aufschließen«, sagte die zweite Frau, die bis jetzt geschwiegen hatte. »Beide Türen in jenem Raum waren verschlossen – die zum Flur mit dem Schlüssel des Lords die zum Zimmer des Seneschalls von der anderen Seite. Und der blutige Dolch, mit dem er erstochen worden war, lag unter ihrem Bett.« »Wem gehörte er?« »Mir natürlich«, antwortete Myria. »Und ehe Ihr fragt – es gab nur einen einzigen Schlüssel für die Tür zum Flur. Sie konnte nur mit dem Schlüssel geöffnet werden, und der Schlüssel lag unter seiner Hand. Es ist ein verzaubertes Schloß. Selbst wenn man einen Zweitschlüssel machen würde, könnte dieser die Tür niemals aufschließen.« »Warrl?« Das große Tier erhob sich aus dem Schatten, in dem es gelegen hatte, und trottete zu Kethry. Myria und ihre Frauen wichen bei seinem Anblick ein bißchen zurück. »Es mag notwendig sein, daß ich meine Kräfte spare. Du kannst entdecken, an welchen Stellen ich einen Zauber brauchen werde. Sieh bitte nach, ob magische Rückstände auf dem Riegel an der anderen Tür sind. Dann überprüfe, ob an der Verzauberung des Schlosses herumgepfuscht worden ist.« Das dunkelgraue, fast schwarze Tier trabte auf lautlosen Pfoten aus dem Zimmer. Myria erschauerte. »Ich begreife, daß die Beweise gegen Euch überwältigend sind, auch ohne an die falschen Ohren gelangte Bemerkungen.« »Ich hatte bei dieser Heirat keine Wahl«, erwiderte Myria und schob das Kinn trotzig vor, »aber ich bin meinem Lord eine treue und loyale Frau gewesen.« »Loyaler, als er es verdiente, wenn du mich fragst«, brummte Katran. »Ja, das ist das Problem, Magierin. Meine Lady ist diese Ehe widerstrebend eingegangen, und das ist allgemein bekannt. Es ist allgemein bekannt, daß er ihr nicht viel Achtung erwies. Und nicht wenige Leute haben gesagt, ihrer Meinung nach wolle Myria selbst die Herrschaft führen, wenn der Lord nicht mehr sei.« Warrl kam ins Zimmer zurückgetappt und ließ sich zu Kethrys Füßen nieder. »Nun, Pelzbruder?« Er schüttelte verneinend den Kopf, und die Frauen machten bei diesem Beweis menschenähnlicher Intelligenz große Augen. »Weder der Riegel noch das Schloß? Und wie kommt man ohne Schlüssel in einen verschlossenen Raum? Immerhin – Lady, ist in dem anderen Raum alles geblieben, wie es war?« »Ja – der Priester war als einer der ersten an der Tür und ließ nicht zu,
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daß auch nur ein Staubkörnchen verändert wurde. Er erlaubte nur, daß die Leiche weggebracht wurde.« »Der Göttin sei gedankt!« Kethry sah das Mädchen neugierig an. »Lady, warum wolltet Ihr Eure Unschuld auf diesem Weg beweisen?« »Magierin….« Kethry wunderte sich über den Ausdruck von Schuldbewußtsein und Kummer, der sich auf dem Gesicht des Kindes malte. »Wenn ich gewußt hätte, Fremde würden sich in diesem Netz verfangen, hätte ich es nicht getan. Ich dachte, meine Verwandten würden kommen, mich zu verteidigen. Ich bin diese Ehe eingegangen, weil es ihr Wille war. Ich dachte, wenigstens einer von ihnen würde es zumindest versuchen. Niemand hier würde es wagen, den Zorn der Familie auf sich zu laden, indem er einen der Söhne tötete – auch wenn die meisten von ihnen die Tochter für wertlos halten.« Langsam rollte ihr eine Träne über die Wange, und sie flüsterte die letzten Worte. »Mein jüngster Bruder, ich glaubte, wenigstens er habe mich gern.« Der Zauber, den Kethry in Gang gesetzt hatte, war noch wirksam. Sie flüsterte der kleinen Luft-Wesenheit, die sie gerufen hatte, eine weitere Frage zu. Diesmal brachte die Antwort sie zum Lächeln, obwohl es ein trauriges Lächeln war. »Euer jüngster Bruder, Kind, ist zu Fuß hierher unterwegs, nachdem er sein Pferd in dem Bestreben, Euch rechtzeitig zu erreichen, zuschanden geritten hat, und verpestet die Luft mit seinen Flüchen.« Myria stieß einen kleinen Schrei aus und begrub das Gesicht in den Händen. Ihre Schultern zuckten in lautlosem Schluchzen. Katran ging zu ihr, um sie zu trösten. Kethry stand auf und ging in das andere Zimmer. Nots Zauber war von der Art, daß das Mädchen das Schwert halten würde, bis sie seine Kraft nicht mehr brauchte; es würde nichts tun, um Kethrys magische Fähigkeiten zu verstärken; deshalb war es da, wo es sich befand, gut aufgehoben. Im Augenblick war ein Geheimnis zu lösen – und zwei Leben hingen davon ab, ob es Kethry gelang, sich die Sache zusammenzureimen. Sie sah sich den äußeren Raum an. Wie mochte es Tarma ergehen? Tarma saß still neben dem Fenster einer kleinen, kahlen Zelle mit Steinwänden. In wenigen Augenblicken würde das Licht des aufgehenden Mondes hereinfallen – erst durch das östliche Fenster, dann durch das Oberlicht. Vorerst war das einzige Licht im Raum das der Ölflamme, die auf dem niedrigen Tisch vor ihr brannte. Es lag noch etwas anderes auf diesem Tisch – die langen, groben Zöpfe aus Tarmas Haar. Sie hatte sich das Haar auf Schulterlänge abgeschnitten und dann ein schwarzseidenes Stirnband umgebunden, um es zurückzuhalten. Das war die letzte Vervollständigung des Kostüms, das sie angelegt hatte, als klei-
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de sie sich für eine Zeremonie. Die Sachen waren lange nicht mehr berührt worden und hatten sorgfältig gefaltet unten in ihrem Packen gelegen. Sie waren schwarz; von den niedrigen weichen Stiefeln bis zu dem Kettenhemd, von dem Stirnband bis zur Kniehose zeigten sie das vollständige Schwarz einer Shinain-Schwertschwester, die in einen rituellen Kampf zieht oder dem Ruf der Blutrache folgt. Jetzt saß sie mit untergeschlagenen Beinen vor dem improvisierten Altar und wartete geduldig ab, ob sie auf ihre Vorbereitungen eine Antwort erhielt. Der Mond ging hinter ihr auf. Das Viereck matten weißen Lichtes kroch langsam die nackte Steinwand ihr gegenüber hinunter, bis es zuletzt die Flamme auf dem Altar berührte. Und ohne Ankündigung, ohne Fanfarengeschmetter war Sie da, stand zwischen Tarma und dem Altarplatz. Shinain nach ihrer goldenen Haut und ihren scharfen Zügen, genauso gekleidet wie Tarma – nur Ihre Augen verrieten Sie als nicht menschlich. Diese Augen – die gestirnte Dunkelheit des Himmels um Mitternacht, ohne Weiß, Iris oder Pupille – konnte nur einem Wesen gehören, der Shinain-Göttin des Südwindes, bekannt als die Sternenäugige oder die Kriegerin. »Kind.« Ihre Stimme klang ebenso melodisch, wie die Tarmas hart klang. »Lady.« Tarma beugte ehrerbietig den Kopf. »Du hast Fragen, Kind? Keine Bitten?« »Keine Bitten, Sternenäugige. Mein Schicksal – interessiert mich nicht. Meine eigenen Fähigkeiten werden entscheiden, ob ich leben oder sterben werde. Aber Kethrys Los…« »Die Zukunft ist nicht leicht zu erkennen, Kind, nicht einmal für eine Göttin. Der morgige Tag kann dir Leben oder Tod bringen; beides ist gleich wahrscheinlich.« Tarma seufzte. »Und was wird aus meiner sh'enedra werden, sollte es der zweite Weg sein?« Die Kriegerin lächelte, und Tarma empfand ihr Lächeln wie eine Liebkosung. »Du bist deiner Klinge würdig, Kind. Dann höre. Wenn du morgen fällst, wird deine sh'enedra – sie hat weniger Bedenken als du und hätte es bereits getan, hättest du dich nicht zu diesem Kampf verpflichtet – einen Zauber wirken, der sie und Lady Myria an einen Ort meilenweit von hier entfernt versetzt. Währenddessen wird Warrl Höllentod und Eisenherz losmachen und aus dem Tor treiben. Wenn sich Kethry von diesem Zauber erholt hat, werden sie zu unserem Volk gehen, zu den Lihairden. Lady Myria wird dort einen Mann finden, der ihr gefällt. Dann werden sie mit Waisen von anderen Clans fortziehen, und Tale-sedrin wird wieder über die Ebene reiten, wie Kethry es dir versprochen hat. Die Klinge wird sie
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freigeben und in andere Hände übergehen.« Tarma seufzte und nickte. »Dann, Lady, bin ich zufrieden, wie es morgen für mich auch ausgehen mag. Ich danke dir.« Wieder lächelte die Kriegerin. Zwischen dem einen Herzschlag und dem nächsten war sie verschwunden. Tarma ließ die Flamme niederbrennen, legte sich auf den Strohsack und schlief ein. Schlaf war das letzte, an das Kethry dachte. Der Raum, der Lord Corbie gehört hatte, besaß einfache Steinwände, drei Eingänge, keine Fenster. An einem der Eingänge lag immer noch der Riegel vor der Tür. Die beiden anderen führten in Myrias Frauengemach und in den Flur draußen. In dem einfachen Holzfußboden gab es keine Geheimtüren. In den nackten Steinwänden konnten sich natürlich auch keine befinden; auf der anderen Seite lag der Hof. Die Möbel waren ein Tisch, ein Sessel, eine an der Wand stehende reichverzierte Bettstatt, ein Bücherschrank, halbgefüllt, vier Lampen. Ein paar bunte Teppiche. Kethry war, als sei ihr Kopf so leer wie die Wände. »Fang am Anfang an«, sagte sie zu sich selbst. »Folge den Ereignissen. Das Mädchen kam allein – der Mann folgte, nachdem sie eingeschlafen war – und dann was?« Er wurde an seinem Schreibtisch gefunden, erklang eine Stimme in ihrem Kopf und erschreckte sie. Wahrscheinlich ist er hereingekommen und hat sich ohne Verzug hingesetzt. Liegt etwas auf dem Schreibtisch, womit er sich beschäftigt haben könnte? Immer, wenn Warrl von Geist zu Geist mit ihr sprach, überraschte er sie. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, wie er es fertigbrachte sich verständlich zu machen, wenn sie doch keine Spur dieser besonderen Gäbe besaß. Tarma akzeptierte das blind; wie sie sich je daran gewöhnt hatte, war der Zauberin unverständlich. Tarma – die Zeit entfloh. Auf dem Schreibtisch waren ein Weinglas mit einem klebrigen Rest am Boden, ein Tintenfaß mit Feder und ein Stapel aus mehreren Kontobüchern zu sehen. Die beiden oberen waren in Unordnung geraten. Kethry nahm sie in die Hand und blätterte die letzten paar Seiten durch. Sie flüsterte der unsichtbaren Präsenz an ihrer Schulter einen Befehl zu. Die Antwort kam prompt; in beiden Büchern war die Tinte auf den letzten drei Seiten frisch genug, um noch Dämpfe abzugeben, die ein Wesen der Luft wahrnehmen konnte. Die Zahlen waren erst vor zwei Tagen geschrieben worden. Kethry ging ein paar Seiten zurück und bemerkte, daß die Handschrift von Zeit zu Zeit wechselte.
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»Wer hat außer Eurem Lord sonst noch die Konten geführt?« rief sie ins Nebenzimmer. »Der Seneschall; darum hat sein Zimmer einen Eingang in dieses«, antwortete Katran und trat in das Zimmer des Lords. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum die Tür verriegelt war. Lord Corbie hat das so gut wie nie getan.« »Damit hat er eine Menge Vertrauen in einen Mietling gesetzt…« »Oh, der Seneschall ist kein Mietling, er ist Lord Corbies Bastard-Bruder. Seit Lord Corbie Felwether erbte, ist er seine rechte Hand gewesen.« Die Sonne ging auf. Tarma war lange vorher erwacht. Falls der Priester sich darüber wunderte, daß sie andere Kleidung angelegt hatte, zeigte er es nicht. Er brachte eine einfache Mahlzeit aus Brot und Käse und mit Wasser gemischten Wein mit, wartete geduldig, während Tarma aß und trank, und winkte ihr dann, ihm zu folgen. Tarma überprüfte ihre Waffen, vergewisserte sich, daß sämtliche Verschlüsse an ihrer Kleidung in Ordnung waren, und trat hinter ihm auf den Platz, so lautlos wie sein Schatten. Er führte sie zu einem kleinen Zelt, das in einer Ecke des Übungsplatzes aufgeschlagen worden war. Die Mauern des Turmes bildeten zwei seiner Seiten, die Außenmauer die dritte, die vierte Seite war offen. Der Übungsplatz bestand aus festgestampftem Lehm und war relativ sauber. Ein Platzwart besprengte ihn mit Wasser, damit der Staub sich setzte. Als sie vor dem kleinen Pavillon standen, sprach der Priester endlich. »Der erste Herausforderer wird innerhalb weniger Minuten hier sein. Zwischen den Kämpfen könnt Ihr Euch in das Zelt zurückziehen und Euch so lange ausruhen, bis der nächste sich fertig gemacht hat, oder für eine Kerzenmarke, was jeweils länger ist. Man wird Euch zu Mittag und wieder bei Sonnenuntergang Essen bringen.« Sein Gesicht verriet deutlich, daß sie das letztere seiner Meinung nach nicht mehr brauchen würde. »Und frisches Wasser steht Euch innerhalb des Zeltes jederzeit zur Verfügung. Ich bleibe bei Euch.« Nun bat sein Ausdruck um Entschuldigung. »Um meine Partnerin daran zu hindern, mir irgendwelche magische Hilfe zuzuspielen?« fragte Tarma sarkastisch. »Höllenfeuer, Priester, Ihr wißt doch, was ich bin, auch wenn diese Dreckbuddler es nicht wissen!« »Ich weiß es, Schwertschwester. Es dient ebenso Eurem Schutz. Hier gibt es solche, die keine Bedenken hätten, die Hand der Götter ein wenig zu lenken.« Tarmas Augen wurden hart. »Priester, ich werde verschonen, wen ich kann, aber es ist nur fair, Euch zu sagen, daß, sollte ich jemanden bei einem hinterlistigen Trick erwischen, ich ihn ohne Zögern töten werde.« »Ich verlange nicht von Euch, anders zu handeln.«
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Sie sah ihn von der Seite an. »Hier geht mehr vor, als man auf den ersten Blick sieht, nicht wahr?« Er schüttelte den Kopf und bedeutete ihr, sich neben die Zeltklappe auf den Platz des Streiters für die Angeklagte zu setzen. Auf der anderen Seite des Übungsplatzes herrschte geschäftiges Treiben. Ein dunkler Mann mit dichtem Bart, gefolgt von mehreren Jungen, die Waffen und Rüstung trugen, verschwand drüben sofort wieder in einem genau gleichen Zelt. Allmählich versammelten sich Zuschauer entlang der offenen Seite und den Mauerkronen. »Leider kann ich Euch dazu nichts sagen, Schwertschwester. Ich habe mir meine Gedanken gemacht, mehr nicht. Aber ich bete, Eure kleine Partnerin möge klüger sein als ich…« »Oder ich werde heute abend kaltes Fleisch sein«, beendete Tarma den Satz für ihn. Ihr erster Gegner trat aus dem Pavillon des Herausforderers. Kethry war nicht müßig gewesen. Der klebrige Stoff im Weinglas war nicht nur der Rest eines Getränks gewesen, er hatte ein starkes Betäubungsmittel enthalten. Unglücklicherweise deutete auch das wieder auf Myria; sie benutzte seit der Geburt ihres Sohnes ein solches Mittel, um einschlafen zu können. Trotzdem – so schwer konnte es nicht sein, sich das Zeug zu verschaffen, und Kethry hatte noch eine Trumpfkarte im Ärmel – eine, von der ein gewöhnlicher Magier nichts gewußt hätte, eine, die sie benutzen würde, falls es ihr gelang, die zweite Flasche mit dem Narkotikum zu finden. Ermutigender war, was sie bei der Durchsicht der Kontobücher entdeckt hatte: Der Seneschall hatte Einkünfte für sich abgezweigt, nie viel auf einmal, aber fortlaufend. Mittlerweile mußte es sich zu einer hübschen Summe addieren. Wenn er nun den Verdacht gehabt hatte, Lord Corbie werde ihn dabei erwischen? Und weiter – wenn Lady Myria tatsächlich für schuldig befunden und hingerichtet werden würde? Der Besitz fiel dann an ihren kleinen Sohn, und wer kam eher als Vormund des Kindes in Frage als sein Halbonkel, der Seneschall? Und Kinder sterben leicht. Jetzt hatte Kethry einen wahrscheinlichen Verdächtigen und fand, es sei an der Zeit, Nachforschungen in dieser Richtung zu betreiben. Als erstes untersuchte sie die verriegelte Tür. Und auf dem Riegel fand sie einen seltsamen kleinen Kratzer im Anstrich. Er sah neu aus; ihr Luftgeist bestätigte das. Nachdem Kethry sich den Riegel noch sorgfältiger angesehen hatte, hob sie ihn, fand jedoch keine anderen Male daran als die abgenutzten Stellen, wo er gegen die Klammern stieß, die ihn hielten. Sie öffnete die Tür und prüfte jeden Zoll von Tür und Rahmen. Und
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fand ziemlich weit oben ein einziges Stückchen Hanf. Es sah aus, als habe sich ein Bindfaden im Holz der Tür verfangen. Eine weitere Untersuchung der Tür ergab nichts. Deshalb wandte Kethry ihre Aufmerksamkeit dem dahinterliegenden Raum zu. Er sah in vielen Stücken aus wie der des Lords, nur enthielt er mehr Bücher und eine weniger auffällige Bettstatt. Sie rief Warrl herein und hieß ihn nach Spuren von Magie schnüffeln. Bei diesem Trank war ein bißchen Zauberei nötig, um ihm volle Wirksamkeit zu verleihen, und wenn irgendwo eine zweite Flasche herumlag, würde Warrl sie finden. Sie selbst nahm sich den Schreibtisch vor. Tarmas erster Gegner war gut gewesen und hatte ehrlich gekämpft. Es erfüllte Tarma mit großer Erleichterung – besonders nachdem sie eine angstvoll dreinblickende Frau mit drei kleinen Kindern am Rock gesehen hatte, die jede seiner Bewegungen mit den Augen verfolgte –, daß es ihr gelang, ihn zu entwaffnen, ohne ihn ernsthaft zu verwunden. Der zweite war nichts weiter als ein Junge gewesen; er hatte hier eigentlich überhaupt nichts zu suchen. Tarma vermutete mit Recht, er sei dazu überredet worden, nur damit ein weiterer Kämpfer in der Reihe sie müde mache. Statt sich irgendwie anzustrengen, tändelte sie herum, bis er erschöpft war. Dann gab sie ihm mit dem Heft ihres Messers einen kleinen Klaps auf den Schädel, daß er sich flach auf den Rücken legte und Sterne sah. Der dritte Gegner war von ganz anderem Format. Er war schlank und geschmeidig, und für Tarma roch er so deutlich nach »Meuchelmörder«, als habe sie Warrls gute Nase. Als der Kampf begann, bestätigten seine ersten Bewegungen ihre Vermutung. Sein Stil bestand aus lauter Finten und schnellen Angriffen, ohne daß er jemals zu nahe an sie herankam. Das war ein echtes Problem. Behauptete sie ihren Platz, war sie leichter von dem vergifteten Pfeil oder einem anderen Trick, den er an seinem Körper verbarg, zu treffen. Doch wenn sie sich von ihm über den ganzen blutgetränkten Übungsplatz treiben ließ, würde er sie müde machen. So oder so mußte sie verlieren. Natürlich konnte es ihr gelingen, ihn zu überlisten. Bisher hatte sie einen rein defensiven Kampf geliefert, ihm ebenso wie ihren ersten beiden Gegnern. Ergriff sie die Offensive, wenn er es am wenigsten erwartete, erwischte sie ihn vielleicht auf dem falschen Fuß. Sie ließ es zu, daß er begann, sie zu jagen, und erkannte sofort, daß er versuchte, sie zum Umdrehen zu zwingen, damit ihr die Sonne in die Augen schien. Sie knurrte innerlich. Sollte er ruhig glauben, daß es ihm gelingen würde, und dann würde sich überraschend das Blatt wenden. Sie griff ihn mit beiden Waffen in einer Bewegungsfolge an, die sie in
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die Zeit auf der Ebene und zu ihrem ersten Lehrer zurückführte, einem alten Mann, von dem sie nicht im Traum geglaubt hätte, er könne sich so schnell bewegen, wie er es tatsächlich tat. Sie hatte die Bewegungsfolge nicht damals gelernt, sondern erst, als der alte Mann und ihr Clan vier Jahre tot waren und sie seit beinahe drei Jahren als Kethrys Partnerin durchs Land zog. Sie hatte sie von einer Schwertschwester gelernt, einer, die schon hundert Jahre vor Tarmas Geburt gestorben war. Der Angriff warf ihren Gegner aus dem Gleichgewicht. Er strampelte verzweifelt rückwärts, um den schimmernden Kreisen aus Stahl, dem größeren und dem kleineren, die ihr Schwert und ihr Dolch waren, zu entrinnen. Und als er aufhörte zu rennen, fand er sich mit dem Gesicht zur Sonne wieder. Tarma sah ihn eine leichte Bewegung mit der linken Hand machen. Als er mit seinem Schwert einen Über-und-unter-Hieb vollführte, schenkte sie seiner Schwerthand nur geringe Aufmerksamkeit. Auf die Linke paßte sie auf. Unter der Deckung seines Scheinangriffs stieß er mit der behandschuhten Linken nach Tarmas Oberarm. Sie entging einem Treffer gerade noch rechtzeitig – später brach ihr bei diesem Gedanken der Schweiß aus – und schlug mit einer Drehbewegung zu, die ihm die Hand vom Gelenk trennte. Während er den Stumpf, aus dem das Blut sprudelte, noch im Schock anstarrte, zog sie ihre Klinge im Bogen zurück und schlug ihm auch den Kopf ab. Die Zuschauer standen bewegungslos, still vor Schreck. Tarmas bisherige Leistungen hatten sie auf dieses blitzschnelle Abschlachten nicht vorbereitet. Tarma schritt währenddessen zu der Stelle, wo die behandschuhte Hand lag, und hob sie mit äußerster Vorsicht auf. In die Spitzen der Finger eingebettet waren vier tödliche kleine Nadeln, die durch leichten Druck auf die Mitte der Handfläche zurückgezogen oder losgelassen werden konnten. Zweifellos waren sie vergiftet. Tarma gedachte, dies zu ihren Gunsten auszunutzen. Sie marschierte zum Pavillon des Herausforderers, wo sich weitere Kandidaten versammelt hatten, und warf ihnen die Hand vor die Füße. »Die Tricks von Meuchelmördern, edle Lords?« Die Worte trieften vor Verachtung. »Versteht man in Felwether das unter Ehre? Lieber kämpfe ich gegen Schakale – sie sind wenigstens ehrlich in ihrer Heimtücke! Setzt ihr kein Vertrauen in die Urteilsfähigkeit der Götter – und in ihre Streiterin?« Das mußte ein bißchen Zweifel bei den Ehrlichen unter ihnen erwecken – und ein bißchen Furcht in den Herzen der anderen. Steifbeinig stolzierte Tarma zu ihrem eigenen Pavillon zurück. Drinnen warf sie sich auf die Liege und hoffte, wieder zu Atem zu kommen, bevor
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die da draußen neuen Mut faßten. Ganz hinten in einer der Schubladen fand Kethry ein sehr seltsames Gerät. Es war eine Schlinge aus einem hanfenen Bindfaden, eigentlich aus zwei Bindfäden, an deren Ende ein schwerer Angelhaken ohne Widerhaken von der Art angebracht war, wie sie Hochseefischer bei der Jagd auf Haie und den großen Seelachs benutzen. Aber die Küste lag Wochen von hier entfernt. Was in aller Welt konnte der Seneschall mit einem so merkwürdigen Souvenir vorgehabt haben? In diesem Augenblick bellte Warrl scharf. Kethry drehte sich um und sah seinen Schwanz unter der Bettstatt hervorragen. Unter den Brettern hier ist ein Geheimfach, teilte er ihr eifrig mit. Ich rieche Gold und Magie – und frisches Blut. Kethry versuchte, das Bett zur Seite zu rücken, aber es war bei weitem zu schwer, worauf der Seneschall sich wahrscheinlich verließ. So quetschte sie sich neben Warrl, der au der fremdartig riechenden Stelle des Holzfußbodens scharrte. Sie nieste mehrmals von dem Staub unter dem Bett. Dann tastete sie die Bretter ab – vorsichtig, denn es konnte eine Falle sein. Sie fand den Haken, und ein ganzer Abschnitt des Fußbodens hob sich. Und darinnen… Gold, ja, sorgfältig unten hineingepackt – aber obenauf eine blutbefleckte wattierte Jacke und eine leere Flasche. Jetzt mußte sie nur noch dahinterkommen, wie er ohne den passenden Schlüssel in einen verschlossenen Raum gelangt war. Da war kein Hinweis, kein Bodensatz irgendeiner Art von Magie. Und kein Schlüssel für die Tür, vor der der Riegel lag. Wie gelangt man in einen verschlossenen Raum? Man geht hinein, bevor er verschlossen wird, sagte Warrl in ihren Gedanken. Und plötzlich erkannte sie, welchem Zweck der Angelhaken diente. Kethry wand sich unter dem Bett hervor. Das Geheimfach ließ sie unberührt. »Katran!« rief sie. Einen Augenblick später erschien Myrias Gesellschafterin und blickte ganz verdutzt, als sie die mit Staub bedeckte Zauberin neben dem Bett des Seneschalls sah. »Holt den Priester«, sagte Kethry zu ihr, bevor sie Gelegenheit fand, eine Frage zu stellen. »Ich weiß, wer der Mörder ist – und ich weiß, wie und warum er es gemacht hat!« Tarma stand ihrem ersten ernstzunehmenden Gegner des Tages gegenüber – einem mageren, finsteren Burschen, der Zwillingsschwerter benutzte, als seien sie Verlängerungen seiner Arme. Er war ebenso flink auf den
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Füßen wie sie – und er war frischer. Der Priester war kurz vor Beginn dieses Ganges verschwunden, und Tarma hoffte inbrünstig, dies bedeute, Kethry habe etwas gefunden. Andernfalls war dieser Kampf wahrscheinlich ihr letzter. Der Göttin sei Dank, daß der hier ein ehrenhafter Krieger war; wenn sie unterlag, würde sie einem Gegner unterliegen, der Achtung verdiente. Übrigens hätte sie sich auch in diesem Fall gar nicht schlecht gehalten. Nicht einmal unter den Schwertschwestern konnten sich viele rühmen, an einem einzigen Vormittag zwölf Gegner geschlagen zu haben. Sie tat ihr Bestes, um das Seitenstechen zu ignorieren, und sie atmete hart und keuchend. Die Sonne war eine Strafe für jemanden, der von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet war; Schweiß rieselte ihren Rücken und ihre Flanken hinunter. Sie tanzte zur Seite, einem blitzschnellen Schwerthieb aus dem Weg, und erkannte, daß sie ihm genau in die zweite Klinge lief. Verdammt! In der letzten Sekunde gelang es ihr, sich fallen zu lassen und wegzurollen, doch ah sie aufsprang, war er praktisch wieder über ihr. Sie sank auf ein Knie nieder und fing seine erste Klinge zwischen Dolch und Schwert ein – aber die zweite fuhr auf sie zu… »Halt!« Und Wunder der Wunder: Die Klinge hielt ein paar Zoll vor ihrem ungeschützten Hals an. Der Priester schritt mit wehender Robe auf das Feld. »Die Zauberin hat den wahren Mörder unseres Lords gefunden und das zu meiner Zufriedenheit bewiesen«, verkündete er der wartenden Menge. »Sie wünscht, es auch euch zu beweisen.« Dann begann er, die Namen interessierter Parteien aufzurufen. Tarma sank in den Staub, schlapp vor Erleichterung und kurz davor, aus Erschöpfung das Bewußtsein zu verlieren. »Schwertschwester, soll ich jemanden rufen, der Euch in Euren Pavillon bringt?« Der Priester beugte sich besorgt über sie. Tarma fand noch ein winziges bißchen unerwarteter Kraft. »Um nichts in der Welt, Priester. Ich möchte das auch sehen!« Es befanden sich vielleicht ein Dutzend Adlige in der Gruppe, die der Priester in das Schlafzimmer des Lords führte. An ihrer Spitze ging der Seneschall, und der Priester behandelte ihn mit besonderer Aufmerksamkeit. Tarma war zu müde, als daß es ihr aufgefallen wäre; sie sparte ihr bißchen Energie, um in das Zimmer zu gelangen und sich drinnen gegen die Wand zu lehnen. »Sicher werdet ihr mir verzeihen, wenn ich ein bißchen dramatisch bin, aber ihr solltet alle genau sehen, wie diese Tat begangen wurde.« Kethry stand hinter dem Schreibtischsessel, und in diesem Sessel saß eine ältere
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Frau in Braun und Grau. »Katran hat sich freundlicherweise bereit erklärt, die Rolle Lord Corbies zu spielen. Ich bin der Mörder. Der Lord ist soeben in diesen Raum gekommen. Die Lady befindet sich im Nebenzimmer. Sie hat ein Schlafmittel genommen, um ihre Schmerzen zu lindern, und der gewohnte Klang seiner Schritte kann sie nicht wecken.« Kethry hielt ein Weinglas hoch. »Etwas von dem gleichen Schlafmittel wurde in den Wein gemischt, der in diesem Glas war, aber es kam nicht aus der Flasche, die Lady Myria benutzte. Hier ist Myrias Flasche.« Sie stellte das Weinglas auf den Schreibtisch, und Myria kam mit einer Flasche und stellte sie daneben. »Hier«, Kethry brachte eine zweite Flasche zum Vorschein, »ist die Flasche, die ich gefunden habe. Der Priester weiß, wo, und kann die Tatsache verbürgen, daß sie, bis er kam, von keiner Hand als der ihres Eigentümers berührt wurde.« Der Priester nickte. Tarma bemerkte, daß der Seneschall zu schwitzen begann. »Der Zauber, den ich jetzt bewirken werde, wird das Weinglas und die Flasche, die das Gift enthielt, das hineingegossen wurde, erglühen lassen. Euer Priester, der selbst kein geringer Kenner der Magie ist, wird es euch bestätigen.« Kethry stäubte etwas über das Glas und die beiden Flaschen. Vor den Augen der Zuschauer erglühten der Bodensatz im Glas und der Rest des Tranks in Kethrys Flasche in einem merkwürdigen grünlichen Licht. Tarma hörte einen der Adligen mit gedämpfter Stimme fragen: »Ist das ein echter Zauber, Priester?« Der Priester nickte. »So echt, wie ich je einen gesehen habe.« »Hm«, machte der Mann nachdenklich. »So – Lord Corbie ist gerade hereingekommen. Er arbeitet an den Kontobüchern. Ich gebe ihm ein Glas Wein.« Kethry reichte Katran das Glas. »Er nimmt es dankbar. Er denkt sich nichts Böses bei dieser ihm erwiesenen Höflichkeit; ich bin ein alter Freund, der sein Vertrauen genießt. Er trinkt – ich verlasse das Zimmer – er schläft ein.« Katran ließ den Kopf auf die Arme sinken. »Ich nehme den Schlüssel unter seiner Hand weg und verschließe leise die Tür zum Flur. Ich lege den Schlüssel zurück. Ich weiß, der Lord wird sich nicht bewegen, nicht einmal aufschreien, denn der Schlaftrunk ist stark. Ich ergreife Lady Myrias Dolch, den ich zuvor an mich genommen habe – ich ersteche ihn.« Kethry spielte den Mörder; Katran rührte sich nicht, doch Tarma konnte sehen, daß sie sardonisch lächelte. »Ich nehme den Dolch und schiebe ihn unter Lady Myrias Bett – und ich weiß, daß auch sie wegen des Schlaftrunks nicht erwachen wird.« Kethry ging in Myrias Kammer und kehrte mit leeren Händen zurück. »Ich habe nicht aufgepaßt – habe etwas Blut auf meine Jacke bekom-
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men. Aber was solls? Ich werde sie zusammen mit der Flasche verstecken. Übrigens, der Priester hat diese blutige Jacke, und er weiß, daß erst seine Hände sie aus dem Versteck genommen haben – ebenso wie die Flasche. Jetzt kommt der wichtige Teil… Sie zog einen riesigen Angelhaken aus ihrer Gürteltasche. »Der Priester weiß, wo ich das hier gefunden habe – seid versichert, daß es nicht in Myrias Besitz war. Oben auf dieser Tür hat sich an einer rauhen Stelle des Holzes eine Hanffaser von diesem Bindfaden verfangen. Ich werde sie holen. Dann werde ich einen weiteren Zauber bewirken – und wenn die Faser von diesem Bindfaden stammt, wird sie an die Stelle zurückkehren, von der sie gekommen ist.« Sie ging an die Tür, zupfte eine Faser ab und brachte sie zum Schreibtisch. Wieder stäubte sie etwas über den Bindfaden an dem Haken und die Faser – diesmal sang sie außerdem dabei. Ein goldener Schein wanderte an ihren Händen herunter und berührte erst den Bindfaden, dann die Faser. Und das winzige Stückchen schoß wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil auf den Bindfaden zu. »Jetzt werdet ihr den Schlüssel sehen, mit dem man einen verschlossenen Raum betreten kann – jetzt, da ich bewiesen habe, daß dies der Mechanismus ist, mit dem der Trick bewerkstelligt wurde.« Sie trat an die Tür zum Zimmer des Seneschalls. Sie trieb den Haken unter dem Riegel in die Tür und senkte den Riegel, so daß er nur noch von dem Haken festgehalten wurde. Der Haken wiederum wurde von dem Bindfaden gehalten, der über die Tür lief. Den zweiten Bindfaden fädelte Kethry unter der Tür her. Dann schloß sie die Tür. Der zweite Bindfaden ruckte, der Haken löste sich, und der Riegel rastete ein. Und die ganze Vorrichtung wurde von dem ersten Bindfaden nach oben und durch die Ritze über der Tür gezogen. Aller Augen wandten sich dem Seneschall zu – dessen weißes Gesicht als Geständnis genügte. »Lady Myria hat sich wirklich als sehr dankbar erwiesen.« »Ohne deinen Einspruch hätte sie uns alles gegeben, was der Seneschall gestohlen hatte«, erwiderte Kethry und winkte den fernen Gestalten auf der Burgmauer zu. »Ich bin froh, daß du es ihr ausgeredet hast.« »Grünauge, was sie uns gegeben hat, war reichlich. Wir müssen einen Gutteil davon der Bank in Lihairden schicken, daß sie es mit den übrigen Besitztümern des Clans aufbewahrt. Mir ist gar nicht wohl zumute, wenn ich mit soviel Geld in den Satteltaschen unterwegs bin.« »Wird sie zurechtkommen? Was meinst du?« »Ich meine, jetzt, da ihr Bruder hier ist, braucht sie sich um nichts mehr Sorgen zu machen. Sie hat die ganze Loyalität der Leute ihres Lords zu-
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rückgewonnen, und mehr. Sie hatte nur noch einen starken rechten Arm nötig, um alle unwillkommenen Freier abzuwehren, und den hat sie nun! Auf meinen Eid als Kriegerin – ich bin froh, daß dieses Ungeheuer nicht einer der Herausforderer war. Ich hätte nicht einmal die erste Runde überstanden!« »Tarma…« Die Schwertfrau hob bei Kethrys ungewohnt ernstem Ton eine Augenbraue. »Wenn du – wenn du das alles getan hast, weil du glaubst, du schuldest mir…« »Ich habe »das alles« getan, weil wir she'enedran sind«, antwortete Tarma, und ein leichtes Lächeln milderte den normalerweise strengen Ausdruck ihres Gesichts. »Einen anderen Grund brauchte es nicht.« »Aber…« »Kein »Aber« Grünauge! Außerdem weiß ich zufällig, du hättest alles, was ich hätte tun können, überreichlich zurückgezahlt. Löse dieses Rätsel, oh Entdeckerin von Schlüsseln!«
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Gerald Perkins Gerald Perkins reichte diese Geschichte auf meine Bitte hin frühzeitig für Band V ein. Er hatte sie mir im Vorjahr für Band IV geschickt, und sie hatte mir gefallen, aber die Anthologie war voll. Aber da diese Anthologie zu einem jährlich wiederkehrenden Ereignis geworden ist, kann ich darum bitten, daß etwas, das mir besonders gefallen hat, im nächsten Jahr von neuem eingereicht wird. Und wenn ich mich ein Jahr später an die Geschichte erinnern kann, bevor ich sie von neuem lese, weiß ich, daß ich eine gute Geschichte bekommen habe. – M.Z.B.
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Duell auf der Trommel »Ich fürchte, wir stecken in Schwierigkeiten, Renaya« sagte Yin leise über dem Geräusch der Trommeln. Er ließ den Türvorhang ihrer Gästehütte fallen. »Otu glaubt, ich wisse über die Waffe Bescheid, die aus der Ferne tötet, ohne Spuren zu hinterlassen.« Renaya band die silberweiße Seidenschärpe fest, die ihr als Brustband diente, und zupfte daran, damit der Knoten sich besser zwischen ihre Brüste schmiegte. Sie hob eine Augenbraue und berührte ihr Ohr: Lauscher? Yin zuckte die Schultern und nickte: Möglich. »Wo bist du gewesen?« fragte sie. »Wir werden zum Festmahl zu spät kommen.« »Ich bin auf dem Trommelberg spazierengegangen.« Yin warf die graugrüne Robe eines Drachenpriesters ab. In Lendenschurz und Sandalen ging er auf seine Seite der Hütte. Der Spiegel, ein wertvolles Stück vom Festland, gab sie für einen Augenblick beide wieder. Der Gegensatz zwischen ihnen verblüffte und reizte Renaya. Yin war klein, mager und hart. Heftige Attacken der Seekrankheit hatten ihm alles überflüssige Fleisch geraubt, aber ihn absolut nicht daran gehindert, seinen Anteil an Arbeit auf der Reise zu leisten. Sein rasierter Kopf gab ihm ein altersloses Aussehen. Während Yin klein war, war Renaya groß. Seine leicht gelbliche, sonnengebräunte Haut wirkte fahl im Vergleich zu der tiefen roten Mahagonifarbe der ihren. Sie berührte die silbernen Kämme, die die Massen ihres silberweißen Haars von ihrem Nacken fernhielten. Ihr Schwertgürtel und die flachen, bis zum Oberschenkel reichenden Stiefel hingen an der Wand. Sie fühlte sich nackt ohne sie. Yin wandte den Kopf und folgte der Richtung ihres Blicks. Er wußte von den Wurfnadeln im Futter des Bandes unter ihren Brüsten, den harten Scheiben, die ihre Hinterbacken unter dem Lendenschurz drückten, und wahrscheinlich hatte er den Verdacht, daß Gift in den Kämmen war. »Deshalb also kommst du so spät«, sagte sie. »Hast du die Aussicht genossen?« »Frieden, Renaya. Ich brauche etwas zu tun, während du und N'deas Truppe versucht, euch gegenseitig umzubringen. Die Aussicht war herrlich, wie man es vom zentralen Berg einer vulkanischen Insel wie dieser erwartet. Es überraschte mich, daß der Gipfel flach ist und nichts die Aussicht verstellt als ein niedriges Rundmäuerchen aus losen Steinen und ein Bambusstapel unter einem Schutzdach. Otus Mann sagt, daß dort bestimmte Rituale abgehalten werden.« Renaya grinste bewundernd. In wenigen desinteressierten, belehrenden
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Sätzen hatte Yin ihr mitgeteilt: Ihm war das eine Gebiet der Insel gezeigt worden, das ihnen bislang verboten gewesen war; er hatte das Ding, das sie suchen sollten, nicht gefunden, und der Oberpriester der Insel habe seinen Meuchelmörder Nummer eins ausgeschickt. Yin brachte es sogar fertig, gelangweilt zu sprechen. »Gehen wir!« Renaya hielt den Türvorhang zurück. »Sie trommeln die Gäste herbei.« Die »Gäste« waren Häuptlinge von kürzlich eroberten Inseln des Archipels. Yin ging dicht an ihr vorüber. Sie murmelte: »Noch kein Glück damit gehabt, Häuptling Hansa zu einer friedlichen Regelung zu überreden?« »Nein. Er steht vollständig unter dem Bann Otus. Hat N'dea dir irgend etwas erzählt?« »Noch nicht.« Sie gingen auf die Feuer und die sie erwartenden Männer zu. »Ich verstehe Otu nicht.« »Bist du bei all deinen Reisen auf dem Drachen und den Meeren der Umgebung niemals einem Mann mit einer Botschaft von ,höheren Geistern begegnet?« fragte Yin. »Sei vorsichtig, Renaya. Ich werde geführt, während du zurückgehalten wirst. Heute abend wird etwas passieren.« Dann trat ihre Eskorte zu ihnen. Renaya trank aus dem Kürbis mit Palmwein, den sie mit Yin teilte. Sie hielt ihren Daumen über dem Loch, so daß sie mehr zu trinken schien als in Wirklichkeit. Yin ließ die farblose Flüssigkeit über seinen Arm in einen Schwamm unter seiner Robe rinnen. Ein Schwall feuchter Luft traf Renaya, und sie war froh, spärlich bekleidet zu sein. Die Inselbewohner trugen nur Lendenschurze und Schmuck aus Muscheln und Federn. Ihre dunklen, eingeölten Körper schimmerten im Fackellicht. Yin war für den Sommer auf den Hochebenen im Drachenherzen gekleidet, viel zu warm in dieser heißen Nacht. Schweißperlen standen auf seinem Kopf und bildeten dunkle Flecke auf seiner Robe, wodurch der Weinfleck verborgen wurde. Man unterhielt sich nur gedämpft auf der Plattform. Hansa versuchte vergeblich, die anderen Häuptlinge aufzuheitern. Otu verhielt sich still. Er war jung für einen Mann in der Stellung des spirituellen Führers einer der mächtigsten Inseln der Konföderation. Renaya spürte seinen Blick im Nacken. Keiner sprach Yin oder sie an, obwohl sie auf den Ehrenplätzen saßen. Yin faßte an ihr vorbei und löffelte Wurzelbrei von dem Teller, den sie teilten. »Verflixt, ich weiß einfach nicht, was mich an dem Trommelberg so fasziniert«, sagte er. »Immer, wenn ich darüber nachdenke, kommt es mir vor, als sei da etwas ganz Offensichtliches, etwas, von dem ich bereits weiß, das zu erkennen ich aber zu dumm bin.« Renaya zuckte die Schultern.
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Gelächter klang von einer Stelle herüber, wo viele der Trommeltänzerinnen saßen. So wenige Frauen auf dem Drachen folgten dem Weg des Schwertes, daß es ein erfrischendes Erlebnis war, diese privilegierten Kriegerinnen zu sehen. Renaya lächelte im Gedanken an die erzählten Geschichten und ausgetauschten Prahlereien, die manchmal in Handgreiflichkeiten ausarteten. Aber ein Bad im Meer und ein Sonnenbad verbannten Krämpfe und blaue Flecken. N'dea, die erste Tänzerin, hatte sich angewöhnt, Renaya wegen ihrer Gewohnheit, noch lange in der Sonne liegen zu bleiben, nachdem die dunklen Inselbewohner schon vor dem tropischen Gleißen Zuflucht gesucht hatten, »Sonnenfreundin« zu nennen. N'dea stellte sich auf die Füße. Ihre Freundinnen machten ihr Platz. Sie stampfte einen kurzen, komplizierten Rhythmus in den Staub, dann setzte sie sich zur Begleitung weiteren Gelächters wieder. Als sei das ein Signal gewesen, begannen Trommeln auf der Seite des Dorfzentrums, die den Kochgruben gegenüberlag. Die ersten Tänzer waren Männer, die Keulen, Speere und Schilde trugen. »Wenigstens sind sie so höflich, daß sie nicht sagen, wie sie eine hiesige Insel erobert haben«, kommentierte Yin. Sie wurden von Frauen abgelöst, die Aufgaben des täglichen Lebens tanzten. Die Männer kehrten mit einer akrobatischen Darbietung zurück, die reichlich Gelegenheit zu Solo-Anstrengungen bot, um die zusehenden Frauen zu beeindrucken. Der zweite Tanz der Frauen war langsam und sinnlich und wurde von gedämpften Trommelschlägen begleitet. Eine der jüngeren Trommeltänzerinnen bat N'dea um Erlaubnis, sich dem wilden, unverhüllt erotischen Tanz von Männern und Frauen anzuschließen. N'dea lächelte und nickte. Als die jungen Paare in der Nacht verschwunden waren, normalisierte sich der Geräuschpegel der Unterhaltung. Einer der zu Besuch weilenden Häuptlinge hatte sich dem Gruppentanz angeschlossen. Jetzt sprachen die anderen freier. Eine Trommeltänzerin erzählte eine Geschichte, die bei den anderen lautes Gelächter hervorrief. Sie sprang auf die Füße, um den Höhepunkt darzustellen, dann brach sie unter dreckigem Lachen zusammen. Grinsend schlüpfte Renaya von der Gäste-Plattform. Vielleicht bewirkte ein Witz etwas, das sie mit einer Woche der Diplomatie und des Spionierens nicht geschafft hatte. N'dea begrüßte sie mit erhobener Hand und strahlendem Lächeln. Die anderen Tänzerinnen machten ihr Platz. »Kennt ihr die Geschichte von der Tochter des Händlers?« fragte Renaya. Auf dem Höhepunkt tanzte sie das Doppelrumpf-Kanu des Händlers, das an seinem Anker schaukelte, wobei Töpfe und Werkzeuge klapperten. Yin ließ eine leere Schüssel über die Plattform kollern. Das brachte die Tänzerinnen in Stimmung. Loorsh, zweite Tänzerin, erzählte eine unmögliche Geschichte über eine Nixe und eine Kriegerschar.
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Renaya folgte mit der Geschichte von einem Paar auf einem Berghang, das im kritischen Augenblick vom Ausbruch des Vulkans überrascht wurde. Um das langsame Schwanken und Rollen des Bodens zu verdeutlichen, tanzte sie wie auf einer elastischen Oberfläche. Als sie mit dem Witz fertig war, herrschte Totenstille. »Auf der Trommel kann man das viel besser erzählen«, sagte Otu. N'deas Gesicht wurde ausdruckslos, dann traurig. »Oh, Sonnenschwester, ich wünschte, du hättest das nicht getan.« Renaya wandte sich dem Inselpriester zu. Otu stand auf der Gästeplattform, die Arme gekreuzt, und blickte über die Versammlung hin. »In drei Tagen soll das Treffen zwischen der Leibgarde des Drachen und der Dienerin der Trommel stattfinden.« »Renaya, es soll bis zum Tod gehen«, flüsterte Yin und goß sich Öl auf die Hände. »Natürlich.« Renaya rieb sich das parfümierte Palmenöl über die Schultern und die Brüste hinunter. Die drei Tage, die sie in die Gästehütte eingesperrt gewesen war, hatte sie mit Übungen und Meditation verbracht. N'dea, Schwertfreundin, ich wollte nicht, daß es dahin kommt. Nachdem Yin ihre Befürchtungen bestätigt hatte, nahm ihre Umgebung plötzlich eine fast schmerzliche Klarheit an. Hier ging es um mehr als um Ehre oder das Suchen nach verlorenem Wissen für die Drachen-Priester. Hier ging es um ihr Leben! Sie schnaubte leise. Ging es darum nicht immer? Yin war mit dem Einölen ihrer Beine fertig und begann, ihren Rücken zu bearbeiten. »Diese Leute ahnen nicht, wieviel von dem hiesigen Dialekt ich verstehe. Renaya, N'dea hat mehr als ein Dutzend Gegnerinnen im Trommel-Duell getötet.« »Ich bin unbewaffnet.« »Nicht einmal mit diesen kleinen Wurfscheiben die du so intim versteckst?« Yin brachte ein zitteriges Lächeln zustande. »Sie würden aus meinem Lendenschurz springen. Aber ich habe das hier.« Renaya zog eine lange Nadel mit mattem Silberkopf aus ihrem Nackenknoten. Sie rollte das Haar fester zusammen und steckte die Nadel wieder hinein. »Vergiftet?« »Ja, aber das Gift hinterläßt unverkennbare Spuren. Hast du eine Fluchtroute vorbereitet?« »Natürlich. Ich habe unsere Vorräte ins Boot geschafft und das Boot unter dem Vorwand, ich wolle fischen, an eine andere Stelle gebracht. Ich bin sehr dreist und sehr beschränkt.« An diesem Abend war es auf dem Trommelberg kühler als beim Festmahl. Männer stellten im Licht lodernder Fackeln die letzten waagerech-
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ten Bambus-Barrieren zwischen den Wettkämpfern und den Zuschauern auf. Hohle Bambusstäbe die zu Bündeln, etwas über Mannshöhe, zusammengebunden waren, kennzeichneten einen Platz zwischen der Trommel und dem grasbewachsenen Mittelpunkt des Berggipfels. Renaya musterte N'dea, die in einem Lichtkreis nahe dem Eingang stand. Sie drehte sich auf der Stelle, während auch sie von ihren Begleiterinnen eingeölt wurde. Loorsh gab ihr in einem Becher zu trinken. Hinter Renaya stand die Trommel. Riesig – ihr Durchmesser betrug leicht die Länge von sechs großen Männern, ihre Oberfläche erhob sich auf halbe Mannshöhe über dem Boden. Bedeckt mit der nahtlosen Haut eines Leviathans der See, wurde sie über einer Grube von Pfosten und transportablen Steinblöcken gestützt. Der Wind drehte sich für einen Augenblick. Renaya roch den schaffen Gestank der Menge, die tropische Nacht, ihren eigenen Schweiß, den süßen, öligen Qualm der Fackeln, die den Schauplatz erhellten. Interessant, keiner der eroberten Häuptlinge war anwesend. Loorsh brachte Renaya denselben Becher, aus dem N'dea getrunken hatte. Yins Berührung sollte ihr sagen, daß das Getränk ungefährlich sei, aber sie war auch so sicher, man hatte nichts hinzugefügt. Der Inhalt roch nach Erde und schmeckte wie alter Speichel. Renaya nahm drei Schlucke. Sie spürte deutlich den Wind auf ihrem Körper; ihre Brustwarzen wurden kurz hart, bevor sich eine prickelnde Taubheit von ihrem Magen aus verbreitete. Sie probierte ihre Glieder. Sie funktionierten mit gewohnter Geschmeidigkeit. Sie kniff sich. Ah! Der Schmerz war abgetötet. Warum, wenn die Tänzerinnen waffenlos kämpften? »Yin, wie tötet man bei einem Trommelduell?« »Mit der Trommel; aber verflixt, ich weiß nicht, wie. Du kannst nur N'deas Führung folgen und versuchen, sie in dem, was sie tut, zu übertreffen. Bist du soweit?« »Ja.« Es war Zeit zu gehen. Yin legte die Hände zusammen. Renaya trat hinein und auf die rauhe Oberfläche der Trommelhaut. Die Trommel gab ein Geräusch wie ferner Donner von sich, als Renaya mit gleitenden Schritten zur Mitte ging. Auf der Bespannung waren abgenutzte glatte Stellen. N'dea bevorzugte sie. Warum? Auf den rauhen Stellen ging es sich besser. Das Publikum stand an der Abgrenzung auf dem Gras außen am Eingang und sah durch die hohlen Bambusstäbe. Hauptsächlich waren es bewaffnete Männer. Hansa und Otu besetzten die Mitte der Seite, die zum Hauptdorf lag. Hinter ihnen illuminierte ein Gewitter die nächste Insel mit geisterhaften Blitzen. Yin folgte N'deas Begleiterinnen durch den Zickzack-Eingang. Dieses Kopfschütteln bedeutete, daß er versuchte, sich etwas ins Gedächtnis zu-
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rückzurufen. Wahrscheinlich das, woran die Trommel ihn erinnerte. N'dea drehte sich in der Mitte der Trommel um. Ihr Gesicht tauchte im Fackellicht auf und verschwand wieder. »Es tut mir leid, meine Schwester im Geist«, rief sie, »aber das ist, wie es sein muß! Kennst du einmal unser Geheimnis, darfst du die Insel nicht mehr verlassen.« »Was soll ich kennen?« Renaya hätte am liebsten gebrüllt. N'dea begann zu tanzen; in einem einfachen Zweier-Rhythmus entfernte sie sich langsam. Die Spannung des Trommelfells veränderte sich mit ihren Bewegungen. Das Geräusch war so tief, daß man es fast nicht mehr hören konnte. Renaya fühlte es in ihren Knochen. Sie folgte N'deas Rhythmen und begann dann, sie zu variieren. Rum tum. Rum tum. Ruum rum, tuum rum. Rurmum ruumrum, runnum, tuumrum. Tuum rum, ruum rum. N'dea hatte nicht damit gerechnet, daß Renaya ihr den Rhythmus so schnell wegnehmen würde. Die Spielregel lautete: Passe dich dem Rhythmus der anderen an, und nimm ihn ihr dann weg! N'dea riß die Führung wieder an sich. Es hätte lustig sein können, anstrengend, aber lustig, wenn N'dea es nicht auf ihr Leben abgesehen hätte. Doch wie wollte sie sie töten? Wie? Herrlich war N'dea, wie sie sich im Tanz drehte. Sie zeigte sich Renaya als Schatten und als Schimmer, die ihre triefende ebenholzfarbene Haut reflektierten. Bekleidet war sie nur mit einem Lendentuch, das ebenso schwarz war wie ihr kurzes Haar. Ihre großen, flachen Brüste bewegten sich beim Tanz kaum. Eine weiche Masse fiel Renaya den Hals herunter und zwischen die Schultern. Wo war die Nadel? Sie stampfte und sah sie auf halbem Weg zum Rand hüpfen. Zwei Schritte später verschwand sie über der Kante. N'dea nutzte Renayas Unkonzentriertheit dazu, den Rhythmus zu beschleunigen. Rum ruum, rum TUUM! Manchmal versanken die Zuschauer halb außer Sicht, wenn die Tänzerinnen im gleichen Takt in die Mitte der Trommel sprangen, oder schwebten unter ihnen, wenn die Trommel reagierte und die beiden Tänzerinnen in die Luft flogen. Merkwürdig, wie leise die Trommel war. Sie ermüdeten sich gegenseitig nur durch die Bewegungen auf dem Fell. Eigentlich hätten sie die Insel mit dem Lärm erschüttern müssen. Wohin ging all diese Anstrengung? Und warum zog sich N'dea ständig auf bestimmte Stellen der Trommel zurück? Renaya stolperte über einen komplizierten Rhythmus N'deas, und das Publikum zuckte zusammen. Renaya wurde es heiß, ihr schwindelte, sie war müde. Sie schaffte es nicht mehr, sich N'deas Rhythmus anzupassen. Sie warf den Kopf zurück,
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um das Haar aus den Augen zu bekommen. Die Nadel war längst verschwunden, und nun hatte sie nichts mehr als ihre bloßen Hände und den Tanz. Jeder Schritt von N'deas unermüdlichen Beinen sandte einen stechenden Schmerz durch Renayas Körper. Sie glitt aus. N'dea bevorzugte in den immer komplizierter werdenden Mustern ihres Tanzes weiterhin die abgenutzten Stellen der Bespannung. Konnten sie wichtig sein? Renaya war, als setze sich jedes Stampfen in ihr fest und trage zu dem sich aufbauenden Druck bei. Es würde sie zerreißen, wenn sie noch mehr aufnehmen mußte! Seele des Welt-Eis! So also tötete eine Trommeltänzerin! Sie fand den Rhythmus, der die tiefen, nicht mehr hörbaren Töne in den Körper der Gegnerin goß, bis sie platzte! Brich den Rhythmus! Brich den Rhythmus! Schaffe einen anderen! Der Drache hole das unzuverlässige Gedächtnis! Sie kannte einen Weg, wenn er ihr nur einfallen wollte. Aber die Zeit, oh, die qualvolle Zeit! Ja! Wann? Was? Dieser törichte, wirbelnde Tanz, den sie gelernt hatte, um die Bergleute von Eisenstadt zu unterhalten? Sie ging in die Knie, bis ihr Hinterteil die Bespannung berührte, flog hinauf, machte eine Rolle und landete im Mittelpunkt. TUTUUM! Fast hätte sie N'dea damit von der Trommel geschleudert. Würde das als Sieg gelten? Ruum, ruum, tuum. Ruum, tuum, tuum. Ruum, tuurn, tuum. Ruum, tuumtumm. Ruum, tuum TUUM. Ruumruum TUUM. Ruumruum TUUM. RUUM tuumtuum. Das wars! Zumindest verschaffte es ihr eine Atempause. N'dea hatte offensichtlich bisher noch nie einen Rhythmus getanzt, der nicht auf dem Herzschlag aufbaute. Konnte sie N'deas Zerreißpunkt durch einen Dreiertakt finden, und das, bevor N'dea den Rhythmus aufnahm? N'dea blieb wie angewurzelt stehen. Die abrupte Unterbrechung des Tanzes erschütterte sie, riß sie aus ihrer Trance. Keuchend stand sie da, saugte die Luft in langen Zügen ein, versuchte, diesen neuen Rhythmus zu begreifen. Sie konnte es nicht. N'dea schrie und sprang. Renaya wich aus, aber N'dea gelang es noch, ihr die Fingernägel durch das Gesicht zu ziehen. Das Auge verfehlte sie nur knapp. Das war also legal? Jetzt befanden sie sich auf Renayas Boden. Renaya verzog das Gesicht zum Lächeln der Kriegerin. Beim Drachen, sie würde es auf ihre Weise tun! Eins, fallen lassen, springen. Auf die Seite, anhocken, treten. Verdammt, das hatte N'dea vorausgesehen. Schlechte Landung, hoch, drei. Hand steif, Ellenbogen, Ferse. N'dea war im Kampf Mann gegen Mann ebenfalls gut. Eins, hoch. Au, das Bein! Herum, zwei. Wegfallen von
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N'deas gegen das Knie gezielten Tritt. Herum. Zuschlagen. Verfehlt. Wegspringen. Sie gerieten von neuem in den Zweiertakt. Wo war N'dea? Auf der anderen Seite der Trommel; sie tanzte wieder. Es mußte ein Ende nehmen. Es mußte. Renaya sprang von ihrer Seite der Trommel zur Mitte. Ihre Hände machten sich an ihrer Taille zu schaffen, während sie von ihrem Purzelbaum aufstand. N'dea bewegte sich um einen Sekundenbruchteil zu spät. Renaya landete fast genau im Mittelpunkt und richtete sich bereits auf, als N'dea ihre ganze Kraft in den Sprung legte. Statt von der Trommel geschleudert zu werden, flog Renaya senkrecht nach oben, drehte sich in der Luft und landete auf N'deas Rücken. Sie schlang die seidene Würgeschnur, die ihr Lendentuch festgehalten hatte, um N'deas Hals und zog rasch an. Das leise Knacken war in ein paar Schritten Entfernung nicht mehr zu hören. Sie fing N'deas fallenden Körper auf und verbarg dabei den gebrochenen Hals vor den Zuschauern. Die Schnur ließ sie neben ihr Lendentuch fallen. Als sie sich auf die Füße stellte, drang Yin durch die Zickzack-Barriere zu der Arena durch. Die Trommeltänzerinnen folgten ihm dicht auf den Fersen. »Kannst du noch ein Kunststück machen, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken, während wir hier verschwinden?« signalisierte er. Renayas Beine drohten nachzugeben, als sie N'deas Leiche an den Rand zog und behutsam niederlegte. Sie sah zu der Stelle zurück, wo Yin stehen mußte, holte tief Atem und sprang ein Drittel des Weges bis zur Mitte der Trommel, schlug einen Salto und traf den Mittelpunkt mit voller Kraft. TUWUUM! Die Luft strich über ihren schweißbedeckten Körper, zerrte an ihrem Haar. Sie breitete die Hände aus, die Beine leicht gegrätscht. Ah, Liebe mit der Nacht zu machen! Yin stand am Rand und drehte ihr den Rücken zu. Renayas Füße trafen knapp vor den Stützen der Trommel auf. Sie machte eine Rolle vorwärts über den Rand und landete auf Yins Schultern. Yin grunzte. Ihre langen Beine schlängelten sich um ihn und verschränkten sich hinter seinem Rücken. Einen Augenblick blieb er vor der in sprachlosem Schweigen verharrenden Menge stehen und ging dann langsam zum Ausgang. »Du kitzelst, Renaya«, murmelte er. Renaya hätte beinahe gelacht. »Glatzkopf, dazu ist jetzt kaum der richtige Zeitpunkt.« Trotzdem wackelte sie, froh, am Leben zu sein, ein bißchen mit den Hüften. »Wenn ich deinetwegen falle, sind wir tot«, brummte Yin. »Winke der Menge zu, sei die Siegerin!« Sie tat wie geheißen. Die Trommeltänzerinnen warteten auf sie am Ausgang.
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»Du hast gut gekämpft«, sagte Loorsh, und ihr brach die Stimme. »Ddu wußtest nichts, u-und doch hast du über die beste von uns triumphiert. Wir werden euch zu eurem Boot bringen.« Inmitten der Trommeltänzerinnen trug der Drachenpriester Renaya davon. Die wimmelnde Menschenmenge tat nichts, um sie aufzuhalten. Otu war gescheit genug, sich still zu verhalten. Hundert Schritte weiter bergab begann Yin zu keuchen. Ein loser Stein auf dem Weg brachte sie beinahe beide zu Fall, aber er taumelte weiter. Renaya stöhnte, als er seine Finger in harte Muskelknoten grub. »Ich kann dich nicht weitertragen«, sagte er. »Aiiie!« Der Schrei hing in der kühlen Nachtluft. »Sie ist tot! Ihr ist der Hals gebrochen worden.« Loorsh gab ein Zeichen. Die anderen Tänzerinnen entfernten sich. »N'dea hat ihre Ehre verletzt, als sie den Tanz brach. Wir werden sie nicht aufhalten.« Sie nickte seitwärts zu der brüllenden Menge hin. »Aber wir werden ihnen auch nicht helfen.« Die Tänzerinnen verschwanden im Unterholz. Yin faßte nach Renaya. »Du mußt noch etwa dreihundert Schritte tun. Dann kommen wir an einen Bach. Er mündet in den Fluß, der sich in die Bucht ergießt, wo ich das Boot festgebunden habe. Der einzige hohe Wasserfall ist der, zu dem alle Angeber gehen, um ihre Liebsten zu beeindrucken. Weißt du, welchen ich meine?« »Ja.« »Gut. Denke daran, nach links zu springen. Von da ist es leicht, zum Boot zu schwimmen. Paß unterwegs auf Stromschnellen auf.« Am Bach angekommen, legte Yin seine Robe und seine Sandalen ab. Die Sandalen warf er ins Wasser. Die Robe folgte ihnen, nachdem er einen Streifen des dunklen Stoffes abgerissen hatte, um Renayas weißes Haar damit zu bedecken. Knapp vor den Verfolgern stürzten sie sich in den schnell fließenden, seichten Bach. Der Rest der Reise war ein Alptraum. Sie wurden über Steine gezerrt, gegen Felsen geschmettert, stürzten kleine Wasserfälle hinunter und ertranken fast in den Teichen darunter. Renayas verkrampfte Beine trugen sie kaum noch durch die seichten Stellen. Mehr als einmal dachte sie, wenn sie durch die Stromschnellen wirbelte, sie habe sich Knochen gebrochen. Ab und zu liefen Suchtrupps vorbei, und sie hielten sich am Ufer fest oder duckten sich hinter Steinblöcken. Der Sprung den hohen Wasserfall hinunter war fast eine Erlösung. Renaya saß an der Ruderpinne und genoß die strahlende Morgensonne. Das kleine Boot war ein Punkt auf einer unendlichen Fläche aus gekräuselten Blau- und Grüntönen. Kurz nach Sonnenaufgang hatte ein auffri-
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schender Wind den Inselbewohnern bewiesen, daß nicht einmal ihre besten Kriegskanus ebensogut gegen den Wind fahren konnten wie ein ordnungsgemäß getakeltes Schiff, und sie hatten die Verfolgung aufgegeben. Renaya streckte sich faul, erfreute sich der Sonne auf ihrer Haut und des salzigen Windes, der ihr das Haar um das Gesicht peitschte. Würgende Leute aus der Kabine riefen ein mitfühlendes Lächeln bei ihr hervor. »Wie geht es dir, Yin?« rief sie. »Als habe mir der Drache die Klauen in die Gedärme geschlagen und drehe sie um. Wie sonst soll es mir gehen?« lautete die Antwort. »Wenn ich so lange am Leben bleibe, daß ich auf den Drachen zurückgelange, werde ich das Festland nie mehr verlassen. Das schwöre ich; Körper, Geist und Seele; ich schwöre es.« »Komm an Deck. Vielleicht wird dir an der frischen Luft nicht besser, aber du verstänkerst dann wenigstens die Kabine nicht länger. Bring mir etwas zu essen mit, wenn du schon einmal unterwegs bist. Ich bin halb verhungert.« Yins blasses Gesicht erschien in der Luke. »Wie du essen kannst, begreife ich nicht. Oh, um des Drachen willen, du bist ja immer noch nackt!« »Die Sonne…«, begann Renaya. »Ich weiß, die Sonne ist dein Freund. Sogar die Inselbewohner wissen genug, um sich vor deinem ,Freund in diesen Gewässern zu schützen. Hier.« Er warf ihr ein leichtes Baumwollhemd mit Kapuze zu und folgte ihm mit einem Paket Schiffszwieback. »Das ist leider alles, was wir haben, bis wir die Küste erreichen«, verkündete er und übernahm die Ruderpinne. »Was, frage ich dich, tue ich hier?« rief er mit theatralischer Geste zu dem rollenden Horizont hin aus. »Ich bin Priester und Wissenschaftler. Ich sollte sicher und gemütlich in der Bibliothek zu Drachenherz sitzen.« Das Thema wechselnd, fragte Renaya: »Hast du gefunden, was Abt Lorn haben wollte?« »Ich wünschte, ich wüßte genau, was das ist«, erwiderte er. »Wenn ich es habe, bin ich mir nicht sicher, ob ich es ihm erzählen werde. Jedenfalls habe ich das, weswegen wir hergeschickt worden sind. Hast du mich gehört, während du tanztest? Dieser Wechsel vom Zweier- zum Dreiertakt war ein Geniestreich.« »Yin, ich habe dich nicht gehört. Ich hatte nur das Gefühl, dieser Rhythmus hämmere in mir, bis ich kurz davor war zu platzen. Kann das auf weite Entfernung töten? Wenn ja, warum hat es die Zuschauer nicht umgebracht? Oder N'dea?« Yins Augenbrauen wanderten erstaunt in die Höhe. Er betrachtete Renaya mit großem Respekt. Dann beugte er sich über Bord und versuchte, Essen auszuspucken, das in seinem Magen nicht vorhanden war. Als er sich
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erholt hatte, sagte er: »Ich glaube, die Rohre löschen das Geräusch irgendwie aus. Die Forscher in Drachenkopf werden sich damit beschäftigen müssen. Aber ich kann verstehen, wie die Bewohner der Trommelinsel zu ihrem Ruf gekommen sind. Wenn sich Angreifer nähern, werden die Rohre, die auf diese Bucht zeigen, entfernt, und die Tänzerinnen beginnen. Wußtest du, daß Soldaten ohne Schritt marschieren, wenn sie eine Brücke überqueren? Sie könnte sonst einstürzen. Ich glaube, die Wirkung ist die gleiche. Das Geräusch, das den Strand erreicht, braucht nicht sehr laut zu sein, aber es baut im Körper eine Spannung auf. Eine feindliche Truppe könnte schon halbtot sein, bevor sie auf die Bewohner der Trommelinsel trifft, und das nicht einmal wissen. Natürlich haben sie Krieger, die den eigentlichen Kampf ausfechten. Otu erkannte, daß die Bestandteile der Trommel leicht transportiert werden können. Die Trommelinsulaner pflegten mit den Frauen und der Trommel zu erscheinen. Niemand schenkte ihnen irgendwelche Aufmerksamkeit, weil die Krieger beider Seiten ihre Drohungen zu tanzen pflegen. Dann wurde der rituelle Kampf zu Eroberung. Ich glaube nicht, daß sie ein langes Leben haben, die Trommeltänzerinnen. Die Droge hilft, und sie wissen, wo sie sich hinstellen müssen, um so wenig Geräusch wie möglich zu empfangen, aber…« »Das ist der Grund, warum der Tanz bis zum Tod gehen sollte«, fiel Renaya ein. »Sobald wir die Trommel einmal in Betrieb gesehen hatten, konnten wir uns zusammenreimen, wie sie funktioniert. Wir müssen aufpassen, daß wir nicht in einen Hinterhalt geraten, bevor wir nach Drachenherz kommen.« Der Wind drehte, und Renaya zog das Segel ein. »Was wird wohl mit den Trommelinsulanern geschehen?« »Wahrscheinlich nichts. Otu hat zum Duell herausgefordert und gegen den Drachen verloren. Ich nehme an, die Trommel wird wieder zu einer Verteidigungswaffe werden.« Renaya sah ihn scharf an. »Sie hätte mich geschlagen, weißt du. Wenn es N'dea gelungen wäre, schnell genug zum Tanz zurückzukehren, hätte sie mich getötet. Ich mußte den Tanz verlassen, um am Leben zu bleiben.« »Es schmerzt dich, daß du eine Frau töten mußtest, die dir so ähnlich war, eine »Schwertschwester«, nicht wahr?« fragte Yin sanft. »Wie Loorsh sagte, hat N'dea ihre Ehre als erste verletzt. Außerdem erstreckt sich deine Ehre weit über die eine Insel hinaus.« Nach einer Weile erwiderte Renaya: »Ich wünschte, wir hätten meine Stiefel und mein Schwert retten können.« »Oh, habe ich dir das nicht erzählt? Sie sind unten in deiner Truhe.« Renaya wollte Yin umarmen, doch ehe sie das tun konnte, bekam er einen neuen Anfall der Seekrankheit.
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Diana L. Paxson Es ist angenehm, jedes Jahr ein Manuskript zu bekommen, von dem ich weiß, bevor ich es gelesen habe, daß es ungefähr das sein wird, was ich haben möchte. Diana Paxson schreibt seit dem ersten Erscheinen dieser Anthologien über Shanna, und ich kann mich darauf verlassen, daß ihre Geschichten immer ausgezeichnet sind. Mehr brauche ich wirklich nicht zu sagen, um die Geschichte einzuführen, aber diejenigen unter Ihnen, denen Dianas Arbeiten gefallen, freuen sich vielleicht zu hören, daß sie drei weitere Romane geschrieben hat – zwei in ihrer Westria-Serie (SILVERHAIR THE WANDERER und THE EARTHSTONE) und eine Art Fortsetzung zu BRISINGAMEN (es kommen einige der dortigen Personen darin vor) mit dem Titel PARADISE TREE. Sie hat auch einen umfangreicheren Roman über Tristram geschrieben, den ich noch nicht gelesen habe. Da ich Diana kenne, bin ich überzeugt, er wird so gut sein wie alle ihre anderen Bücher. – M.Z.B.
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Das Auge Toyurs Das Falkenweibchen hing inmitten des Himmels – ein schwarzes Kreuz vor dem Glanz der untergehenden Sonne. Shanna holte in der reinen Luft tief Atem, und als sie ihn wieder ausstieß, entließ sie damit die Anstrengung eines weiteren Reisetages. Von der Senke, wo sich die Karawane für die Nacht niederließ, klangen Rufe zu ihr, aber sie sah nicht hinunter. Eine kleine Bewegung der Flügelspitzen ließ Chai seitlich über den Himmel gleiten. Sie rüttelte ein bißchen, hielt ihre neue Position, wartete abermals darauf, daß irgendein kleines Lebewesen auf der Heide unten die Friedlichkeit des Abends falsch einschätzte und sich verriet. Das Geräusch von der Karawane wurde lauter. »Eine Hexe! Es ist eine Hexe in der Karawane! Die Geister haben mir mitgeteilt…« Eine schrille Stimme durchdrang das Gemurmel. Das Falkenweibchen faltete die Schwingen und fiel wie ein Bolzen vom Himmel nieder. Shanna hörte ein ersticktes Quieken, als es zuschlug. Ein Fetzen Fell trieb in der stillen Luft. Dann drehte Shanna sich um und sah zu der Karawane hinunter. Männer liefen zum Mittelpunkt des Kreises aus abgestellten Wagen. Dort stand schwankend und murmelnd eine hagere Gestalt, überglänzt von der Pracht des Erzpriesters Toyurs. »Hexe« war eine Bezeichnung, die im Reich von Bindir viele Bedeutungen hatte, aber im Mund von Kriegspriestern war damit Magie der schwärzesten Art gemeint – oder was immer sie als Zauberei definierten. Chais scharfer Schnabel riß an Fleisch und Fell. Shanna überließ das Falkenweibchen seinem Mahl und stieg mit langen Schritten den Hang hinab. »Ich wußte, mit den beiden würde es Ärger geben – schon auf der allerersten Meile wußte ich es. Habe ich dir das nicht gesagt?« Damit kam die Karawanenherrin aus ihrem Zelt. Shanna grinste. Die breite, ergrauende Frau mit dem roten Gesicht, gefurcht und verwittert von Jahren auf der Straße, hatte von dem Augenblick an, als sie Otey verließen, Unheil vorhergesagt. Kein Wunder, wenn eine ihrer Prophezeiungen sich schließlich erfüllte. Besonders diese hier – Shanna hatte ein wachsames Auge auf den Erzpriester und auch seine Lieblingshexensucherin gehalten. »Die Götter haben gesprochen…« Die sonore Stimme des Erzpriesters rollte über das Gemurmel der Menge hin. »Wir müssen die Schuldige herausfinden!« Bercy stemmte mit finsterem Blick die Fäuste in die Hüften. Es waren große Fäuste, durchaus imstande, einen betrunkenen Treiber mit einem
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Schlag zu Boden zu schicken, aber gegen die Mächte der Finsternis waren sie von keinem großen Nutzen. Shanna merkte, daß sich ihre eigene Hand auf den Falkenkopf-Griff ihres Schwertes gelegt hatte, und zwang sich, ihn loszulassen. Eine Klinge konnte hier auch nicht mehr ausrichten als Fäuste. »Hast du mir nicht einen leichten Dienst versprochen?« grinste sie, und nach kurzem Zaudern brachte Bercy ein schiefes Antwortlächeln zustande. Jeder Überlebende der Seuche in Otey war bestrebt gewesen, die Stadt zu verlassen, sobald die Tore wieder geöffnet worden waren. Bercy hätte wahrscheinlich alles versprochen, um die Wachen zu ersetzen, die sie verloren hatte, und Shanna war es müde, allein zu reisen. Außerdem hatte sie sofort Sympathie für diese große Frau empfunden, die mit der Hilfe ihrer drei Söhne das Transportgeschäft fortführte, mit dem sie und ihr Mann begonnen hatten. Aber in einem hatte die Hexensucherin recht – sie waren auf der Reise vom Unglück verfolgt worden. Einer der neuen Treiber war ein Unruhestifter, und es war ein bindiranischer Kaufmann dabei, der sich einbildete, sein Reichtum gebe ihm das Recht zu ständigen Beschwerden. »Es ist wahr, daß wir keine Schwierigkeiten von außerhalb der Karawane hatten, aber die Reise selbst Die Karawanenherrin hörte nicht zu. Der Kreis aus Menschen schwankte, und ein weizenblonder Strubbelkopf drängte sich durch. Er gehörte Awrdin, Bercys jüngstem Sohn. »Dieser Junge! Er wird uns ruinieren – lauter Muskeln und kein Gehirn – bei Hieras Kopfschmuck! Warum passiert so etwas immer gerade mir?« Bercy setzte sich von neuem in Bewegung, als Awrdin die Mitte des Kreises erreicht hatte, und Shanna folgte ihr. »Jetzt seht her!« Die Stimme des Jungen kippte über, und irgendwer kicherte. »Dieses Gerede von Hexen ist… ist lächerlich! Wenn ihr dieser Kreatur glaubt, seid ihr ebenso verrückt wie sie! Ihr könnt diese Karawane nicht durcheinanderbringen…« »Sei ruhig, Bürschchen, wenn du nicht willst, daß der Speer Toyurs auf dich zeigt!« So fuhr der Erzpriester Awrdin an, und dem Jungen blieb der Mund offenstehen. Dann sah er seine Mutter näher kommen und errötete. »Awrdin, verschwinde! Hast du nichts zu tun?« Bercy stellte sich zwischen den Jungen und den Priester, und er eilte dankbar davon. »Um was geht es eigentlich?« Sie betrachtete den Kreis fanatischer Gesichter. Shanna blieb einen halben Schritt hinter ihr und hielt sich zum Kampf bereit, obwohl die meisten Leute in der ersten Reihe allmählich dreinblickten, als fragten sie sich, was sie hier zu suchen hätten. Der Erzpriester stand in majestätischem Schweigen da und betastete die Amulettkästen die an sein Wehrgehenk genäht waren. Sein Medium zuckte zu seinen Füßen.
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Die Besessenheit war anscheinend so weit fortgeschritten, daß sie der Sprache nicht mehr mächtig war. »Sie sagt, es ist ein Zauberer da, Herrin – und das könnte stimmen!« informierte einer der Treiber Bercy schließlich. »Es ist natürlich, wenn ein Ochsenjoch auf einer Reise zerbricht, aber gleich drei, bevor wir zwei Wochen unterwegs sind?« »Wenn jemand an der Ausrüstung herumpfuscht, werden wir ihn uns vorknöpfen.« Bercy runzelte die Stirn. »Was hat all das Gerede von Hexen zu bedeuten?« »Ochsenjoche sind nichts…« Der Erzpriester machte eine verächtliche Handbewegung. »Aber wenn das Böse unter uns wandelt, muß es mit den Wurzeln ausgerissen werden, bevor es wächst!« »Und was genau bittest du uns zu tun?« erkundigte sich Bercy voller Unbehagen. »Ich bitte?« Der Erzpriester schüttelte den Kopf, als bemitleide er sie. Sein Blick glitt an ihr vorbei, verweilte angewidert kurz auf Shanna und wanderte weiter. »Frau, ich berufe mich auf das Gesetz Toyurs; ich herrsche jetzt hier. Wir werden diesen Ort nicht verlassen, bevor die Zauberer gefunden worden sind!« »Aber welchen Grund könnte der Erzpriester haben, einer Hexenjagd wegen haltzumachen? Ich dachte, er sei in Eile, zu irgendeiner Synode in Bindir zu kommen…« Shanna stellte ihren Bierkrug ab. »Nun, er wird wegen der Seuche sowieso zu spät kommen antwortete Bercy. »Er muß verzweifelt gewesen sein, daß er sich einer Karawane anschloß, die von einer Frau geleitet wird. Ich habe gemerkt, daß ihm das nicht paßt!« Shanna dachte daran, wie der Erzpriester sie angesehen hatte. Eine Kriegerin war sogar im Norden eine Anomalie, und Shanna hatte den Verdacht, das Vorurteil gegen sie werde um so heftiger werden, je näher sie Bindir kamen. Sie hatte bereits den Fluch der Dunklen Mutter zu tragen – sollte sie auch noch mit dem Gott in Konflikt kommen? Wie ein Echo ging ihr Bercys Ausruf durch den Kopf: Warum passiert so etwas immer gerade mir? »Vielleicht rechnet er damit, Punkte zu sammeln, wenn er als Ausgleich für die Verspätung ein paar Trophäen vorzuzeigen hat!« Bercys blühendes Gesicht wurde noch röter. »Trophäen?« »Zauberknochen – du wirst sehen. Und, verdammt noch mal, ich kann nichts dagegen tun!« Bercy stampfte durch das Zelt, blieb stehen, als ihre Nase die ausgeblichene Plane streifte, und drehte sich um. »Wegen des Krieges?« fragte Shanna.
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»Heutzutage gehört Bindir beinahe dem Speertempel. Die Dorische Allianz kann Dard gern haben. Hieras heiliger Ellenbogen, das ist es nicht, was dem Handel schadet! Es ist die Bruderschaft, die die Hundert drängt, im Namen des Notstands immer weitere Einschränkungen zu befehlen. Sie werden damit aufhören, sobald es ihnen selbst weh tut, aber bis dahin ist es aus mit uns kleinen Leuten – du wirst es sehen!« Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen. »Der Kaiser kontrolliert sie nicht?« Shanna streckte den Arm aus, und Chai hüpfte von ihm auf ihre Stange an einem Packsattel. »Dann soll er sich schämen, wie, Chai? Er bricht sein Wort!« Das Falkenweibchen streckte den Hals und gab ein verächtliches Krächzen von sich. »Shanna manchmal könnte ich schwören, der Vogel antworte dir!« sagte Bercy, für den Augenblick abgelenkt. »Es ist ein Wunder, wie du ihn ohne Kappe und all das herumlaufen laßt.« »Sie ist sehr zahm«, erklärte Shanna rasch. Das war ein Fehler gewesen. Es wäre schon schlimm genug, wenn irgendwer herausbekam, daß es sich bei Shanna um diejenige handelte, die in Otey von der Göttin überschattet worden war. Sie konnte sich vorstellen, was die Hexenjäger sagen würden, wußten sie, daß Chai eigentlich kein Vogel war. Toyur war der Gott der Gerechtigkeit ebenso wie der des Krieges. Shanna wünschte, dasselbe ließe sich von all seinen Dienern sagen. Es war Zeit, das Thema zu wechseln. Sie blickte zu Bercy hoch. »Wo sollen wir heute abend die Wachen aufstellen?« Das Licht der Fackeln flackerte und schwand und loderte wieder auf; Licht jagte Schatten wie wahnsinnig durch den Ring. Trommeln ließen das Herz rasen; die Erde erschauerte unter den Tritten bestiefelter Füße. Die Leute stampften einen Kreis aus. Chai zappelte auf Shannas Schulter. Die Kriegerin streichelte das glatte Gefieder. »Mir gefällt das auch nicht«, sagte sie leise. Sie war froh, daß ihr Dienst es ihr erlaubte, voll bewaffnet außerhalb des Ringes Wache zu stehen. »Aber es gibt nichts, was wir dagegen unternehmen könnten.« Bercy hatte recht gehabt mit dem, was sie über die Macht des Tempels sagte. Seit die Gesetze gegen Zauberei erlassen worden waren, hatte das religiöse Recht Vorrang. Keiner der Kaufleute in der Karawane würde protestieren; Shanna konnte nicht einmal auf Bercys eigene Leute zählen. Sie waren zuverlässig, wenn es darum ging, Räuber abzuwehren oder Schlägereien im Lager ein Ende zu bereiten. Aber nicht einer wagte es, sich dem Gott des Krieges zu widersetzen. Chai zirpte ärgerlich. Shanna drehte sich um und sah die goldenen Augen des Falkenweibchens im Fackellicht brennen.
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Wieviel, fragte sie sich, verstand Chai tatsächlich? In ihrem eigenen Tal konnten Chais Leute nach Belieben Vogel- oder Menschengestalt annehmen, aber als sie sich bereit erklärt hatte, den Falken nach Bindir mitzunehmen, hatte Shanna nicht daran gedacht, sich zu erkundigen, welche geistigen Prozesse in gefiederter Form möglich waren. »Der Ring aus Fackeln schließt sich dicht. Es naht des Gottes gerechtes Gericht! Keiner weiche aus diesem Rund, Bis der Schuldige ist kund!« Ein halbes Hundert von Stimmen fiel in den Gesang ein, und wenn einige Anwesende nicht aus voller Kehle sangen, so wurde ihre Schwäche von dem hypnotischen Hämmern der Trommeln zugedeckt. Der Erzpriester schritt majestätisch in die Mitte des Kreises, umhüllt von einem blutroten Chorrock, der als Wappenschmuck die Kette und den Speer Toyurs trug. Er hob seinen Stab, und die Ornamente auf seinem Wehrgehenk klingelten. Das Trommeln verstummte. Ein bißchen holperig endete der Gesang ebenfalls. »Die Götter haben gesprochen!« tönte der Erzpriester. »Böses wandelt unter uns. Es muß ausgebrannt werden, bevor wir in Bindir ankommen!« Er winkte, und sein Diener führte die Hexensucherin heraus. Sie trug ein phantastisches Kleidungsstück aus Tierhäuten, die mit klappernden Eisenstücken besetzt waren, und sie taumelte, als sei sie bereits halb in Trance. Ihr Widerstreben erweckte den Eindruck, sie fürchte sich vor den Menschen und dem Feuer. Der Priester beugte sich flüsternd über sie. Für einen Augenblick verbarg sein umfangreicher Körper sie vollständig vor allen Blicken. Shanna preßte die Lippen zusammen. Sie hatte gedacht, das Medium habe die Anschuldigungen vielleicht nur erhoben, um Aufmerksamkeit zu erregen, aber jetzt war sie sich nicht mehr sicher. Offensichtlich hatte der Erzpriester die Kontrolle über das Geschehen hier. »Schlagt die Trommel, singt den Bann, Sucht die Hexen, ob Frau, ob Mann!« Die Anwesenden fielen in den neuen Gesang ein. Die Trommeln hämmerten beharrlich, und der Rhythmus bemächtigte sich der zuckenden Bewegungen des Mediums. Lauter sangen die Menschen, immer schneller tanzte das Medium entgegen dem Uhrzeigersinn im Kreis herum. »Durch den Körper und den Knochen hat Toyur zu uns gesprochen!«
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Die Männer stampften den Rhythmus mit, so daß Shanna die Erde vibrieren fühlte. Fackellicht flackerte. Sie blinzelte, kämpfte gegen die Faszination an. Sogar außerhalb des Kreises geriet sie in den Bann des Rituals – sie sah vor ihrem geistigen Auge dunkle Schwingen flattern und widersetzte sich der Macht des Marigans, die sie an sich ziehen wollte. »Nicht schon wieder!« flüsterte sie. »Sie soll mich nicht bekommen!« Shanna ballte die Fäuste, bis ihr die Nägel in die Handflächen schnitten. Dann brachte ein heftigerer Schmerz sie ins Bewußtsein zurück. Sie blinzelte, fühlte die feuchte Wärme von Blut auf ihrem Arm und erkannte, daß Chai sie gepickt hatte. Zitterig holte sie tief Atem. Hatte sie den Vogel geängstigt, oder hatte Chai alles begriffen und den Schmerz benutzt, um sie abzulenken? Dann schrie die Hexensucherin. Der Trommelschlag schwoll an. Den Schmerz in ihrem Arm ignorierend, schob sich Shanna neben Bercy in die Reihe, um zu sehen, was los war. »Hier – hier! Der Dämon lächelt hinter seinen Augen!« Die Hexensucherin faßte plötzlich nach einem der Treiber. Im Nu hatten die Wachen des Erzpriesters ihm die Hände gefesselt. Seine Gefährten wichen auf beiden Seiten zurück, als fürchteten sie eine Ansteckung. Der Mann war ein Drückeberger und streitsüchtig; es überraschte nicht, daß ihn niemand verteidigte. Ein häßliches Gemurmel lief um den Ring. Shanna hatte dieses Geräusch schon einmal gehört, als Menschen das Seuchen-Hospital in Otey verbrennen wollten. Und die Kriegsgöttin war gekommen, es zu verteidigen – aber Unschuldige würden ebenso sterben wie Schuldige, wenn Shanna es zuließ, daß der Marigan wieder Besitz von ihr ergriff. »Ai – der Zauberknochen – seht!« Das Medium sank rückwärts in die Arme des Erzpriesters und schwenkte etwas, das im Fackellicht bleich schimmerte. Shanna schüttelte den Kopf, wies das rote Pulsieren der Gewalttätigkeit außen und innen zurück. Das Trommeln und Singen ging weiter. Die Hexensucherin rasselte und flatterte in schwankenden Kreisen. Gleich darauf schlug sie von neuem zu. Diesmal war es ein Kaufmann – aber nachdem die Menge der ersten Anschuldigung ihren Segen gegeben hatte, wurde sie jetzt in diesen Wahnsinn hineingezogen. Und von neuem wirbelte sie im Kreis herum, und diesmal pflückte sie den Zauberknochen aus der Brust von Bercys Sohn Awrdin. Shanna spürte, daß ihre Freundin sich in Bewegung setzte, und preßte ihr die Hand auf den Mund. Gleichzeitig faßte ihr ältester Sohn sie von der anderen Seite. »Bercy, sei still!« zischte Shanna. »Sonst werden sie dich ebenfalls er-
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greifen! Wir werden ihn retten, das verspreche ich dir…« Bercys Muskeln entspannten sich. In diesem Augenblick schwankte die Hexensucherin und fiel um. Die Männer des Erzpriesters trugen erst die Gefangenen, dann sie fort. Shanna ließ Bercy los, denn jetzt wurde es keine weiteren Anschuldigungen mehr geben. »Toyur hat uns die Bösen gezeigt«, intonierte der Erzpriester. »Morgen wird Seine Gerechtigkeit geschehen…« Es war Mitternacht, und die Karawanen-Herrin war endlich mit Hilfe eines Betäubungsmittels eingeschlafen. Shanna schritt den Rand des Lagers ab, Trost in der kühlen Nachtluft suchend. Die Zelte der Kaufleute und die in ihre Decken eingerollten Treiber neben den ersterbenden Feuern waren undeutliche Umrisse in der Dunkelheit, und das wellige Heideland wirkte wie eine unbestimmte Masse aus Schatten, die zu den fernen Bergen hin anstieg. »Nicht die Gerechtigkeit Gottes, sondern die Habgier der Menschen!« hatte Bercy gemurmelt, als sie in Schlaf sank. Und das war die reine Wahrheit. Die Festnahme des Treibers hatte den Weg für die Festnahme des Kaufmanns geebnet, die wahrscheinlich das eigentliche Ziel des Erzpriesters gewesen war. Der Tempel erbte den Besitz jener, die der Gott für sich gefordert hatte. Und Awrdin? Diese Anschuldigung war vermutlich reine Bosheit gewesen. »Der arme Junge! Und ich habe seiner Mutter versprochen, er werde nicht sterben – oh, Chai, war es falsch, daß ich mich still verhalten habe?« Der Falke verlagerte nervös das Gewicht auf ihrer Schulter, und Shanna seufzte. Sie hatte keine Möglichkeit gesehen, dem Treiben Einhalt zu gebieten, aber eine innere Stimme klagte sie der Feigheit an. Auch wenn Chai es verstand – in Vogelgestalt konnte sie nicht helfen. Aber hatten noch andere gezweifelt? Hätten sie sich Shanna angeschlossen, wenn sie so kühn gewesen wäre, zu erklären, hier geschehe Unrecht? Wie dem auch sein mochte – der Augenblick für einen Protest war vorbei. Ihre Wanderung hatte sie bis zur Latrine geführt. Sie machte kehrt und sah jemanden den Pfad heraufkommen. Vom Mantel beschattet, waren die Gesichtszüge nicht zu erkennen, aber es war etwas an diesem stolpernden Gang. Shanna wartete, und als die Gestalt an ihr vorbeiging, faßte sie plötzlich nach ihr. »Tu mir nichts!« Es war ein fadendünner Laut. Shanna griff fester zu und zog die Hexensucherin mit sich vom Pfad herunter. »Sei still! Ich möchte mit dir reden.«
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In dem Dickicht hinter ihnen lag ein gefallener Baumstamm. Shanna drückte die Frau darauf nieder. »Ja, Herrin…« Ihre Kapuze war zurückgefallen, und Shanna sah verkniffene Züge, die weiß im Mondschein schimmerten. »Wie lange stehst du schon im Dienst Toyurs?« fragte Shanna barsch. Die Frau zuckte die Schultern. »Lange. Meine Eltern warfen mich hinaus, als die Geister begannen, mich zu besuchen. Ich wäre in den Straßen von Straith gestorben, wenn die Priester mich nicht aufgenommen hätten.« »Und der Gott spricht durch dich?« »Der Priester sagt es, und er muß es wissen!« Das Lachen der Hexensucherin klang ein kleines bißchen nach Wahnsinn. »Ich weiß nur, daß ich mich schwer fühle, wenn der Gott sich nähert, und daß mein Körper hinterher schmerzt. Bitte, tu mir nichts…« Ihre Stimme schlug plötzlich um, und sie blickte mit ängstlichen Augen zu Shanna hoch. »Tut er dir etwas?« fragte Shanna behutsam. Die Frau wiegte sich auf dem Baumstamm vor und zurück und wandte ihr Gesicht ab. Man konnte unmöglich sagen, wie alt das Wesen war – ihr Körper war krumm vor Alter oder Krankheit, aber ihre Augen waren noch die eines Kindes. »Als ich älter wurde, kamen die Geister nicht mehr. Jetzt läßt mich der Priester heiligen Rauch einatmen, und der Gott kommt, aber er ist zu schwer, als daß ich ihn tragen könnte…« Sie beugte sich vornüber, bis ihre Stirn auf ihren Knien ruhte, und blieb zitternd in dieser Haltung. Shanna unterdrückte aufquellendes Mitleid. Auch sie hatte erfahren, was es bedeutete, von einem Gott besessen zu sein. »Was ist der Zauberknochen?« Die Frau richtete sich auf und kicherte los. »Wenn ich einen hätte, würde ich ihn dir zeigen! Die Geister reden manchmal immer noch mit mir, weißt du. Sie erzählen mir jetzt von dir, Kriegerin – sie sagen, daß du nach Magie riechst!« »Meinst du, wenn ich irgendwelche magischen Kräfte hätte, würde ich zulassen, daß du diese Unschuldigen, die du angeklagt hast, verbrennst?« rief Shanna aus. Die Augen der Hexensucherin füllten sich mit Tränen. »Es sind die Priester, die sie verbrennen. Wenn der heilige Rauch mich ergreift, weiß ich nicht, was ich sage. Du bist wie ich – es ist ein Schatten zwischen dir und der Kraft, die in deiner Seele pulsiert.« Shanna fuhr zurück und starrte die Hexensucherin an. Sie besaß keine anderen magischen Kräfte als ihre Geschicklichkeit mit dem Schwert. Wenn sie glauben mußte, etwas in ihr lenke die Aufmerksamkeit der Göttin, die sie verfolgt hatte, auf sie, würde ihre Welt zusammenbrechen. »Wenn du es nicht glaubst«, sprach eine leise Stimme in ihrem Innern, »muß Bercys Sohn sterben.«
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Das erste Mal, als Shanna sich für jemandes Kind in Gefahr begeben hatte, war ihr Lohn der Fluch Saibels gewesen. Welchen Preis würde sie diesmal zahlen müssen? Ich kann es nicht, und selbst wenn ich wollte, wüßte ich keinen Weg! »Laß mich gehen«, wimmerte die Hexensucherin. Es war keine Kraft mehr in Shannas Händen oder in ihrem Willen. Ihre Finger lösten sich, und die Frau eilte davon. Die Kriegerin blieb jedoch, wo sie war. Chai breitete die Schwingen aus und segelte durch die Luft, um auf einem toten Ast aufzubaumen. Shanna spürte die Frage in ihren goldenen Augen. »Such-Schwester«, flüsterte Shanna, »was soll ich tun?« Da war ihr, als bildeten sich Worte in ihrem Bewußtsein. Aber von woher kamen sie? »Falkenaugen sehen alles…« Das Trommeln klang am Morgen anders – es war nicht das hypnotische Hämmern, das die Menschen am gestrigen Abend zur Raserei aufgepeitscht hatte, sondern ein unheilverkündender langsamer Herzschlag, der den Willen lahmte. Hohe Wolken bedeckten den Himmel, filterten ein blasses, mitleidloses Licht, das nur zu deutlich die Spuren der Erschöpfung und der Furcht zeigte. Shanna sah Schatten wie Wunden um Bercys Augen und wußte, ihr eigenes Gesicht war ebenso ausgehöhlt. Wir sehen alle aus, ais seien wir auf dem Weg zur Hinrichtung…«, dachte sie bitter. Chais Klauen gruben sich in ihre Schulter, und sie begrüßte den Schmerz. Und wenn die Unschuldigen sterben, wird in jedem von uns, die wir es zugelassen haben, ebenfalls etwas sterben. Ihr kam zu Bewußtsein, daß sie irgendwann während der Dunkelheit eine Entscheidung getroffen hatte. Die Hinrichtungen mußten verhindert werden, auch wenn sie ihren Willen von neuem der blinden Wut des Marigan zu opfern hatte. Die Pfähle waren bereits aufgestellt. Der gräßliche Zug wand sich auf sie zu, die Wachen des Erzpriesters und die Opfer, mit Ketten beschwert. Die Hexensucherin, bleich und zitternd, hockte zu Füßen des Erzpriesters. Der leise Gesang ging Shanna durch Mark und Bein. »Toyur, Toyur, gerechter Gott…« Bercys ergrauter Kopf bewegte sich vor und zurück wie ein verwundetes Tier. Angesichts der Qual, die die Ältere durchlitt, ging es Shanna durch den Sinn, daß ihre eigene Unfruchtbarkeit vielleicht ein Segen war. Kinder machten einen zu verwundbar. In einer einzigen Nacht war die Karawanen-Herrin alt geworden. Jetzt band man die Gefangenen an die Pfähle und schichtete Holz um sie auf. Shanna holte tief Atem, ließ ihre Wahrnehmung nach innen sin-
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ken, suchte die rote Flut der Kraft. Aber dieses kaltblütige Töten war das Gegenteil des Blutrausches, der die Dame der Raben herbeigerufen hatte. Shanna fand nur Leere und reichte in ihrer Panik tiefer hinab, als sie es je zuvor gewagt hatte. »Toyur, Toyur, der Gott ist nah…« Ihr Geist schwebte in einem prekären Gleichgewicht, und langsam wurde sie sich einer ewigen wachsamen Geduld bewußt, deren Präsenz immer stärker wurde, während sie, Shanna, in den Brennpunkt ihrer leidenschaftslosen Aufmerksamkeit rückte. Nun kam es ihr vor, als stehe sie in einer weiten Halle vor einem Thron. Andere warteten entlang der Wand, aber sie waren still. Es war der Eine auf dem Thron, der die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Shanna spähte durch die Schatten, versuchte, etwas zu sehen, aber die Gestalt veränderte sich. Erst dachte sie, dort sitze ein Wolf, aber der Wolf verschwamm. Dann erkannte sie, daß es ein Krieger mit nur einer Hand war. Sie ging näher heran. Trug er einen Helm? Nein, auf menschlichen Schultern erhob sich der Kopf eines Falken, und er drehte sich, um sie mit einem bernsteinfarbenen Auge anzusehen. »Herr, siehe, wie Dein Priester Deine Gerechtigkeit entweiht!« rief Shannas Geist. Die Vision hatte sich in einem einzigen Augenblick aufgebaut. Mit doppelter Sicht sah Shanna das Leuchten des falkenköpfigen Gottes und das blasse Flackern der Fackel, mit der der Erzpriester in seinem ganzen Staat zum ersten seiner Opfer schritt. »Toyur, Toyur, der Gott ist hier!« sangen die Wächter. »Der Wille Toyurs geschehe!« rief der Erzpriester und hob seinen Brand. Und im selben Augenblick sprach eine Stimme in Shannas Seele: »Das Auge Toyurs sieht alles!« Das Auge! Das leuchtende Auge des Falken! Shanna machte einen Schritt, stieß den Arm vor, damit der Falke daran herunterlaufen konnte, warf Chai in die Luft. Höher und höher flog sie wie ein geschleuderter Speer, und sogar der Erzpriester blickte nach oben, um sie in den Himmel steigen zu sehen. Sie stieß einen durchdringenden Schrei aus, und dann, schneller, als das menschliche Auge folgen konnte, schlug sie zu. Ein Wutschrei, ein Donnern klatschender Flügel. Der Erzpriester fiel um sich schlagend auf den Rücken, die Fackel flog ihr aus der Hand. Dann ließ Chai ihn los. Sie hielt etwas in den Klauen, das sie im Hochsteigen aufzerrte, so daß der Inhalt sich über das Gras verteilte. Shanna sprang hin, griff zu, hielt ihre Beute in die Höhe. »Was ist das?« – »Was ist passiert?« wurde ringsum gefragt. Einige lachten über den Erzpriester, der stöhnend versuchte, sich aufzusetzen. Seine Wächter rückten mit gezogenen Schwertern näher, aber die zur Ka-
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rawane gehörenden Männer stellten sich ihnen entgegen. Das Medium war zu einem Lumpenhaufen zusammengebrochen und weinte leise. »Sehet die Gerechtigkeit Toyurs!« rief Shanna und zeigte, was sie in der Hand hielt – ein Stück Knochen, in das magische Zeichen eingeritzt waren. »Ein Zauberknochen!« stellte einer der Männer fest. »Ich verstehe nicht…« »Sie waren in einem der Kästen am Wehrgehenk des Erzpriesters« antwortete Shanna. »Er schickte seine Hexensucherin mit den Knochen zu dem Beschuldigten, und sie brachte sie mit einem Taschenspielertrick zum Vorschein!« »Sie ist die Hexe!« keuchte der Erzpriester und zeigte auf Shanna. »Sie hat den Vogel verzaubert, damit er mich angriff…« »Toyur selbst hat den Vogel inspiriert, und dies ist der Beweis! Scharlatan, der Gott sagt sich von dir los!« erwiderte Shanna. »Verbrennt ihn!« rief jemand. »Verbrennt die Hexensucherin und ihren Herrn!« Dumpfe Hinnahme hatte sich in Zorn verwandelt, der sich so heftig gegen den Erzpriester richtete wie vorher gegen die von ihm Beschuldigten. Männer drängten auf ihn zu, aber seine Wächter umgaben ihn; sie wollten die Hexensucherin greifen, aber dort stand Shanna. »Laßt sie in Ruhe – er hat ihr ein Rauschmittel eingegeben – sie war nur ein Werkzeug!« Shanna zeigte mit dem Schwert. »Ihr wollt doch den Mann – seht, er flieht!« Der Erzpriester hatte die Ablenkung gut zu nutzen gewußt. Er saß bereits zu Pferde, und zwei seiner Männer schwangen sich in den Sattel. Brüllend lief die Menge ihnen nach. Die Sonne brannte die Wolken weg, und das Licht wurde immer heller. Jemand hatte die Opfer des Erzpriesters losgebunden, und Bercy drückte ihren jüngsten Sohn, während seine Brüder zusahen und grinsten. Die Hexensucherin lag immer noch zusammengekrümmt im Gras. Sie sah jetzt alt aus, aber Shanna stellte fest, daß ihre Reserven an Mitleid gefährlich knapp waren. »Steh auf, Frau« sagte Shanna, »und verschwinde! Wenn der Erzpriester den Treibern entkommt, bezweifle ich, ob ich dich noch einmal retten kann. In diesem Beutel ist genug Silber, daß du eine Weile davon leben kannst. Nennen wir es ein Honorar dafür, daß du mich gelesen hast…« Sie warf ihr den Beutel zu. Shanna spürte das Rauschen verdrängter Luft und bot der niederschießenden Chai den Arm dar. »Du hast mich also verstanden, meine Freundin«, sagte sie leise, während das Falkenweibchen seinen üblichen Sitz auf Shannas Schulter erklomm. »Und ich glaube langsam, daß ich lernen werde, dich zu verste-
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hen.« Sie stand ganz still, öffnete ihr inneres Ohr, ließ ihre Gedanken frei treiben. »Endlich…« Der glatte Kopf drehte sich und richtete ein leuchtendes bernsteinfarbenes Auge auf sie. Shanna grinste. Die Hexensucherin hatte sich davongemacht, und Bercy war mit ihrer Familie auf dem Weg zu ihrem Zelt. Die übrigen Männer waren dunkle Punkte auf der Heide. Immer noch lächelnd wanderte Shanna über den Rasen und trat die Fackel aus, die im taufeuchten Gras qualmte.
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Dana Kramer-Rolls Dana Kramer-Rolls ist eine weitere Autorin, bei deren Geschichten ich mich darauf verlassen kann, daß sie völlig professionell geschrieben sind. Die erste, die sie dieses Jahr einsandte, war zu lang für mich. (Für diese Anthologie sind zwar theoretisch Geschichten bis zu 10000 Wörtern zugelassen, aber in der Praxis kaufe ich selten eine, die mehr als 4500 hat, und anscheinend glaubt jeder, bei seiner Geschichte müßte ich eine Ausnahme machen.) Ich finde es schön, wenn ich einem Profi sagen kann, die Geschichte sei gut, nur zu lang, und dabei weiß, ich werde keine scharfe Antwort, sondern eine kürzere Geschichte bekommen. Das ist der Unterschied zwischen einem Profi und einem Amateur, oder, wie jemand einmal gesagt hat: »Die Amateure saßen in der einen Ecke und sprachen über KUNST und die Profis in einer anderen und sprachen über Verträge.« Dana ist von Anfang an Profi gewesen; sie begann ihre Karriere mit dem Schreiben von Spielen und »Teilnahme-Abenteuern« – die ich nicht lese und an denen ich nicht teilnehme. Aber sie nimmt sich auch hin und wieder die Zeit, eine kunstvolle kleine Geschichte wie diese hier zu schreiben, die beweist (das mußte einmal gesagt werden), daß eine professionelle Arbeit sich nicht von vornherein disqualifiziert, was das Künstlerische betrifft. – M.Z.B.
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Piets Braut »Können wir immer noch keine Pause machen?« stöhnte Gorak. Der Karren, an den sein großer, zottiger Körper geschirrt war, rumpelte über die unebene Straße. »Hör auf zu jammern, Gorak«, fertigte Miera ihn müde ab und wischte sich den staubigen Schweiß mit dem Handrücken vom Gesicht. Sie zupfte noch einmal hoffnungslos an ihrem Lederhemd, aber es klebte an ihrem Rücken fest und rieb ihr weiter den Hals auf. »Wenigstens könntest du absteigen und zu Fuß gehen«, wimmerte das Tier. Die endlose Nörgelei eines so robusten Tieres kam Miera komisch vor. Sie grinste, zuckte die Schultern und sprang von dem weiterrollenden Karren. Außerdem hatte sie ihren Gefährten wirklich sehr gern, wenn er auch manchmal eine für ein Zugtier geradezu erschreckende Intelligenz an den Tag legte. Gedankenverloren brach sie einen Zweig von dem duftenden Blütenstrauch am Wegrand ab. »Autsch!« Sie zog ihre Hand von dem Busch zurück, als stehe er plötzlich in Flammen. Dann fuhr sie herum und schrie Gorak an: »Verdammt noch mal, laß das! Dein Sinn für Humor wird dich noch einmal in die Leimfabrik bringen…« »Was soll ich lassen?« protestierte das Tier, drehte ihr den zottigen Kopf zu und blieb so plötzlich stehen, daß der Karren gefährlich kippte. »Du meinst, du hast nichts gesagt?« »Nein!« entrüstete sich Gorak. »Autsch! Hilfe, so helfe mir doch jemand!« erschallte die Stimme von irgendwo hinter dem Busch. Miera legte vorsichtig den Kopf schief. »Du wartest hier mit dem Karren. Ich gehe nachsehen.« Sie nahm ihren Stab vom Karren, machte sich Mut und stürzte sich ins Unterholz. »Huuuuaaaaaa!« Fast sofort rutschten ihr die Füße weg, und sie sprang und glitt den steilen, sandigen Hang hinunter. Sie stieß den Stab in den Boden und faßte nach allem, was sich als Vegetation betrachten ließ; aber der einzige Erfolg war, daß sie schmerzhaft auf den Hintern fiel. Schließlich blieb sie liegen, blinzelte sich den Dreck aus den Augen und blickte gerade noch rechtzeitig in die Höhe, um Gorak und den Karren am Rand der Rutschbahn zu sehen. »Nicht, Gorak, zurück… Sie kroch der Lawine von Tier und Karren bei ihrer unvermeidlichen
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Reise nach unten aus dem Weg. »Großartig!« schnaubte sie, hievte ihren blaugeschlagenen Körper in die Höhe und ließ Gorak eine von sehr wenig Mitgefühl getragene medizinische Untersuchung angedeihen. »Sieh dir das an! Nun sieh dir das an!« rief sie und schwenkte den Arm über dem zerschmetterten, umgekippten Karren. »Das ist alles, was wir besitzen.« Sie nahm eine zerbrochene Flasche mit Zaubertränken nach der anderen auf und ließ sie wieder fallen. »Wie sollen wir uns unseren Lebensunterhalt verdienen? Crones Hölle, wie sollen wir hier wieder hinauskommen?« »O bitte, helft mir!« Miera drehte sich der Richtung zu, aus der die Stimme kam. Sie hatte ihn ganz vergessen, aber jetzt richtete sich ihr Zorn auf den schlaksigen jungen Mann, der keine zehn Fuß von da, wo sie stand, an einem Baum festgebunden war. »Dir helfen? Du… Was machst du da, an einen Baum gebunden?« Ihre Neugier war doch größer als ihr Zorn. »Ja, weißt du, damals, zur Zeit König Condols…«, begann er. »Fasse dich kurz!« verlangte Miera energisch. »Schon gut. Aber, nun, es ist peinlich. Ich bin das Opfer für einen Drachen.« »Du bist was…? »unterbrachen Miera und Gorak ihn. Der junge Mann errötete. »Also, sie brauchten eine Jungfrau, und jungfräuliche Mädchen sind schwer zu finden.« »Paß bloß auf!« fuhr Miera ihn hitzig an. »Es ist ja ein kleines Dorf und – na, nichts für ungut!« rief er kläglich. »Laßt mich einfach hier. Geht weiter. Aber«, setzte er hinzu und blickte hoffnungsvoll auf, »könntet ihr mir wenigstens diesen verdammten Zweig vom Rücken nehmen, bevor ihr geht? Das Mittagessen für einen Drachen zu sein ist schon schlimm genug, aber…« »Ach, halt den Mund«, knurrte Miera. »Du bist ebenso schlimm wie Gorak.« »Ich bin keine Jungfrau!« protestierte das ochsenähnliche Tier. Sie ignorierte es und fuhr fort: »Außerdem Junge, wie stellst du dir vor, daß wir hier rauskommen? Sollen wir fliegen? Falls du es nicht wissen solltest: Flugzauber wachsen nicht auf Bäumen.« Sie setzte sich mit einem Plumps auf die Erde und wandte dem Jungen und Gorak den Rücken zu. »Achte gar nicht auf sie«, riet das Tier fröhlich. »So ist sie manchmal. In Wirklichkeit ist Miera ein nettes Kätzchen. Mein Name ist Gorak. Und wie heißt du?« »Piet. Freut mich, dich kennenzulernen«, sagte der gefesselte Junge höflich. »Oh, jetzt geht es schon wieder los…« Seine Worte hingen noch in der Luft, als das große Schuppentier über die Gruppe hinfegte. Seine gewaltigen Schwingen schlugen heißen Rauch,
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der nach Schwefel roch. Miera blickte hoch. Die Augen traten ihr aus den Höhlen, und ihre Niedergeschlagenheit war vergessen. »Ist er das?« »Sie«, korrigierte Gorak sie beiläufig. »Gut, also sie. Woher weißt du das?« murmelte Miera. »Das ist leicht. Wenn du all diese Bücher lesen würdest, die du mich durchs ganze Land ziehen läßt…« »Fang nicht wieder damit an, Gorak. Bitte. Wie kommen wir hier raus?« fragte sie verzweifelt. »Oh, uns bleibt ein bißchen Zeit. Ich glaube, er – äh – sie will mich erst einmal taxieren. Das tut sie schon den ganzen Vormittag. Wir haben noch eine halbe Stunde. Natürlich, wenn sie nicht heikel ist, was Jungfrauen betrifft – übrigens, bist du Jungfrau…?« Miera hob ihren Stab vom Boden auf und stürzte sich auf den Jungen. »Verzeihung, es war nur eine Frage«, stammelte er. »Laß es sein!« fauchte sie. »Sie ist keine«, flüsterte Gorak, den frostigen Blick Mieras nicht beachtend. »Sie wenigstens will mich.« Sehnsüchtig starrte der Junge dem schnell verschwindenden Fleck am blauen Himmel nach. »Ihr wißt nicht, wie schrecklich es ist, in einem kleinen Dorf der letzte Dreck zu sein.« »Wollen wir wetten?« zischte Miera wie im Selbstgespräch. »Warum holst du das Zauberbuch nicht heraus und siehst nach, ob wir irgend etwas tun können, um hier hinauszukommen, bevor sie zurückkehrt?« fragte Gorak mit dick aufgetragener Geduld. »Wenn du mich losbindest, werde ich helfen«, schlug der Junge hoffnungsvoll vor. »Wenn ich dich losbinde, wirst du in den Wald rasen und mich und Gorak als ersten und zweiten Gang zurücklassen. Du bleibst, wo du bist.« Miera tauchte in das Wrack ihres wandernden Zauberladens. »Wenn du mich losbindest«, bemerkte Gorak kalt, »könnte ich die Trümmer auf die Seite räumen und es dir so erleichtern, etwas Nützliches zu finden.« Sie zerschnitt das Geschirr des Tieres, und nun stöberten sie beide im Schutt. »Hier, zieh, Gorak!« Miera gestikulierte aufgeregt. Bald darauf brachte sie einen zerfetzten Wälzer zum Vorschein, der in mattem Gold den Titel trug: Alte Zaubersprüche für alle Gelegenheiten. »Pater Omnes muß etwas Nützliches haben«, murmelte sie. »Vater Alles, in der Tat!« brummte Gorak. »Ihr Menschen seid so leichtgläubig. Ich würde vorschlagen, daß du Gregorius den Eremiten ausgräbst« »Oh, sei still. Was ist das? Sieh mal, Gorak. Die Stelle hier.« Sie hielt
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dem Tier das Buch zum Lesen hin. »Was hältst du davon?« »Was? Was?« schrie Piet mit verzweifelter Ungeduld. »Ruhig!« riefen die beiden anderen im Chor. »Ja, Miera, für mich sieht das nach einem Wandlungszauber aus. Aber man braucht dazu eine Menge Zeug… Ich weiß nicht, ob wir auch nur die Hälfte davon hatten, bevor wir abgestürzt sind.« »Wir sind abgestürzt? Wir?« explodierte sie. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit«, beschwor Piet sie. Miera und Gorak sahen wieder ins Buch, dann einander an, und beide brachen in Lachsalven aus. »Denken wir das gleiche?« fragte sie, und die Tränen stürzten ihr aus den Augen, während sie den Heiterkeitsausbruch unter Kontrolle zu bringen versuchte. »Ich glaube schon«, meinte der große Ochse und schwankte vor und zurück wie ein riesiger Heuhaufen aus braunem Fell. »Gut, Piet, wir haben es. Das hier ist ein Wandlungszauber, was bedeutet, er kann Dinge in andere Dinge verwandeln, zum Beispiel Prinzen in Frösche. Aber für gewöhnlich braucht man eine Jungfrau dazu. Oder zumindest geht es dann leichter, aus Gründen, die dich nichts angehen.« »Sie liegen auf der Hand«, erklärte Piet. »Jungfrauen sind eher zu beeindrucken.« Miera hob bewundernd eine Augenbraue. »Gut. Zu schade, daß wir uns nicht unter anderen Umständen kennengelernt haben. Aus dir hätte ein Zauberer werden können. Hast du jemals in dieser Gegend Baby-Drachen gesehen oder von ihnen gehört?« »Kann ich nicht sagen«, antwortete der Junge. »Ich auch nicht – seit ewigen Zeiten nicht mehr. Ich wette, die alte Dame Feuermund da oben hat dich noch nicht weggeputzt, weil sie verliebt oder in Brunst oder etwas in der Art ist. Es muß einsam für sie sein«, setzte die Zauberin mit Gefühl hinzu. »Du willst mich in einen Drachen verwandeln?« kreischte Piet. »Nun, es ist entweder das oder…« Gorak beendete den Satz mit einem anschaulichen Mahnen der Zähne. »Was hast du dagegen, ein Drache zu sein?« fragte Miera. »Was hast du da unten?« Sie schüttelte den Kopf in die Richtung, in der, wie sie vermutete, das Dorf lag. »Denke darüber nach. Du könntest der Vater einer ganzen Rasse neuer Drachen werden.« »Ja?« keuchte Piet. Ihm ging die Ungeheuerlichkeit des ihm unterbreiteten Angebots auf, und der Unterkiefer klappte ihm herunter. »Wir sollten lieber anfangen«, mahnte Gorak in einem Ton, den er im allgemeinen für kleine dumme Kinder reservierte. Miera schüttelte ihr langes, rabenschwarzes Haar aus und legte das Buch auf ein Regal aus zerbrochenen Karrenteilen.
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»Wenn ihr mich losbändet, könnte ich helfen. Bitte!« flehte Piet, und diesmal schnitt Miera ihn ab. »Gorak sieh zu, ob du mir ein paar Warzenbuschblätter bringen kannst. Ich bin sicher, ich kann da drüben welche riechen«, befahl sie, und das Tier trampelte davon. »Versuche, sie nicht alle zu essen!« rief sie ihm nach. »Piet, irgendwo in diesem Abfallhaufen ist eine Phiole mit rosa Zeug. Falls sie noch heil ist! Sie müßte in einem Beutelchen aus weißem Threepfell stecken.« Miera hielt ihre beiden Assistenten auf Trab damit, genug Ingredienzen für eine königliche Hochzeitstorte zusammenzubringen, die sie in gewissem Sinne ja auch zubereiten wollte. Sie stellte den Dreifuß und den Kessel auf, der mit einer neuen Delle geziert war, goß den letzten Rest Wasser aus einem Lederbeutel hinein und beschwor ein kleines, aber ausreichendes Feuer herauf. Schließlich war sie mehr oder weniger zufrieden (einige der Pflanzen waren Ersatz, und das machte sie nervös, aber es ließ sich nichts daran ändern). »Da kommt sie wieder!« rief der angehende Bräutigam aus, stellte sich aufgeregt auf die Zehen und zeigte auf die sich ihnen nähernde Rauchspirale. Miera zog einen kurzen Zeremonienmantel aus purpurner Wolle, gefüttert mit Threepfell, über. Für die Jahreszeit war er ein bißchen zu warm, aber sie hatte ihn bei der Hand. Sie hob ihren Stab und begann zu singen, unterbrach sich jedoch wieder und murmelte: »Verdammt!« Dann wühlte sie sich von neuem in den Haufen aus Karrentrümmern und warf mit Gegenständen um sich. »Vorsichtig!« rief Gorak. »Beeil dich!« rief Piet. »Da!« rief Miera und tauchte triumphierend mit einem silbernen Filigran-Helm auf, der an der Stelle über der Stirn mit einem riesigen goldenen Sonnenauge geschmückt war. Er war ihr liebstes Besitzstück. Sie drückte ihn sich auf den Kopf, richtete sich auf und begann von vorn. »Mächte der Erde, von Gesicht und Form«, intonierte sie und warf eine Handvoll Blätter ins Wasser. »Mächte des Feuers, des Geistes und der Liebe«, sprach sie weiter und ließ drei Tropfen des kostbaren rosa Stoffes hineinfallen. Sie fuhr mit der Beschwörung fort. Gorak schaukelte vor Ungeduld vor und zurück. Da fiel der Schatten des riesigen Wesens über die Lichtung. Piet stand im Mittelpunkt zitternd vor Angst und Erwartung. »Mächte der Luft…« Miera beeilte sich mit dem Zauber, so sehr sie es nur wagte. »Atem des Lebens…« Sie hoffte, sie machte alles richtig, und zerkrümelte ein paar Blätter des gleichen duftenden Strauches, der die Ursache von allem gewesen war.
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»Mächte des Wassers«, endete sie und murmelte die eigentliche Formel, die sie vorsichtshalber aus dem Zauberbuch ablas. Dann pustete sie dreimal in die Mischung und schüttete sie über dem ahnungslosen Piet aus. Nichts geschah. Der Kopf der Drachendame war bereits über dem Rand der bewaldeten Senke erschienen. Sie konnten das Klatschen ihrer Schwingen und ihren heiseren Schrei hören. »Mentu kaxon greebe nunt, verdammt noch mal!« rief Miera von neuem und stieß das Ende ihres Stabes auf den Boden. »Sie ist schön«, sagte Piet. Sein Gesicht strahlte vor Bewunderung. Langsam bildete sich ein Schimmer um den Jungen. Miera hielt den Atem an. Gorak hielt den Atem an. Der magere Junge wuchs deutlich, seine Kleider fielen ihm in Fetzen ab. Und ihm sprossen kleine Flügel. Die große Drachendame kreiste oben, mehr als neugierig. Jetzt war Piet mit glänzenden goldenen und grünen Schuppen bedeckt, die in herrlichem Kontrast zu den goldroten, leicht mit Purpur durchschossenen seiner Partnerin standen. Er wandte Miera seinen verlängerten Kopf zu und sagte: »Ich danke dir vielmals, Miera. Lebewohl, Gorak. Ich kann euch beiden niemals genug danken… krah, krah…« Dann war es vorbei. Der neugebildete Drache erhob sich zitterig auf seinen neuen Schwingen. Seine Dame leitete ihn zärtlich, und so schwebten sie zu ihrem Hochzeitstanz in den fernen Bergen davon. Gorak schnaubte sentimental. Miera wischte sich eine Träne ab. »Du würdest dir wohl nicht die Mühe machen, mich in einen Menschen zu verwandeln?« fragte Gorak und warf sie mit einem liebevollen Schubs beinahe zu Boden. »Ich werde darüber nachdenken«, antwortete sie nicht allzu barsch und kratzte dem Tier den wolligen Kopf. »Aber in der Zwischenzeit wollen wir sehen, daß wir diese Schweinerei aufräumen und einen Weg hinaus finden«, kommandierte sie in ihrer gewohnten Art. »Schließlich wachsen Flugzauber nicht auf den Bäumen. Auch keine Krüge mit Ale«, setzte sie hinzu und nahm die Schultern zurück. Sie war mit ihrer Tagesarbeit sehr zufrieden.
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A. D. Overstreet Ich werde immer wieder gefragt, warum ich gelegentlich eine KriegerGeschichte kaufe, aber die sehr ähnliche Samurai-Geschichte ausnahmslos ablehne. Das ist einfach. Fantasy ist Eskapisten-Literatur, und ich lehne jede Geschichte ab, die einen bestimmten Raum oder einer bestimmten Zeit zu fest verhaftet ist. Ich selbst bin keine Anhängerin der asiatischen Kampfsportarten und vermute, wenn ich eines von beidem sein müßte, würde ich eher Zauberin als Schwertkämpferin sein wollen. Glücklicherweise brauche ich diese Wahl nicht zu treffen. Und die verschiedenen Abenteuergeschichten über Schwertkämpferinnen treffen weiterhin Jahr für Jahr bei mir ein, und die Leute kaufen weiterhin die Bücher, so daß ich annehme, daß viele an den kriegerischen Künsten interessiert sind. Aber vor allem Autorinnen sind anscheinend der Meinung, daß eine Geschichte über eine Kriegerin unvollständig ist, falls sie nicht auch über Zauberei triumphiert. Fragen Sie mich nicht, warum – ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich weiß nur, daß diese Geschichten besser funktionieren als andere. Vielleicht liegt es daran, daß in einem Tagtraum – und wenn man es recht bedenkt, sind alle Geschichten geteilte Tagträume – nichts extra berechnet wird. Deshalb kann der Autor das Beste aus beiden Welten haben. Ich schreibe seit rund vierzig Jahren, und ich habe nie festgestellt, daß der, »der mehr als ein Leben lebt, mehr als einen Tod sterben muß…« Der Schriftsteller ist meines Wissens der einzige Mensch, der mehr als ein Leben leben kann. – M.Z.B.
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Der Weg der Kriegerin Der Blinde würde den Klang natürlich erkennen. Kwannon ließ fünf Goldmünzen – eine nach der anderen – auf den kleinen Holztisch fallen. Sie legte ihr sympathisches Aussehen in ihre Stimme: »Herr, sage mir, was du über das Auge Dhyanas weißt.« Der grauhaarige Weise faßte nach den Münzen. Die äußeren Winkel seiner leeren Augenhöhlen kräuselten sich, und ein schwaches Grinsen flackerte über seine Lippen. »Im Land der Githrodi, hoch in den Bergen der Sonne, im Tal des Windflusses, in einem alten Tempel ruht das heilige Auge Dhyanas.« »Dort ist es gewesen, Meister Keane.« Die Ungeduld nagte an ihr mit scharfen Zähnen, aber die Githrodi-Kriegerin machte sich nicht die Mühe, dem Weisen von Rotstein zu erzählen, daß das, was er einen Tempel nannte, eher ein Heiligtum als eine Stätte der Anbetung war. »Es wurde gestohlen, und ich bin seiner Spur bis hierher gefolgt.« Der Alte nickte ernst. »Zweifellos bestand die Spur aus Toten. Ich habe von dem Fluch gehört.« Die Kriegerin lachte, und der Laut war ebenso hart wie ihre eigenen durchtrainierten Muskeln. »Eine Spur, gut sichtbar für jeden, der bei jedem Tod nach einer Bedeutung sucht.« Vor dem kleinen, hübschen Häuschen stampfte Kwannons falbe Stute Jahael. Auch wenn ihre Aufmerksamkeit für kurze Zeit geteilt war, hielt die Frau den Blick unverwandt auf den alten Weisen gerichtet. »Der Fluch besteht jedoch nur in der Gier der Menschen nach einem zwei Zoll großen, fehlerfreien Smaragd.« Keane lachte ebenfalls, und der zarte Klang paßte zu seiner zerbrechlichen Gestalt. »Aber du bist keine Diebin.« »Wenn ein Diebstahl notwendig ist, um das Auge zurückzugewinnen, dann bin ich eine.« Fünf weitere Münzen klingelten auf die Holzplatte. Der Weise legte den Kopf zurück, als lausche er einer fernen Stimme. »Das Auge sieht kalte Hände um sich, doch die Hände sind jetzt da, wo niemand sie sehen kann.« »Du sprichst in Rätseln. Du meinst, jene, die es gestohlen haben, sind tot. Das weiß ich.« »Auch jene, die es hierherbrachten. Ich spreche ebenso davon, wo es jetzt ist.« Keane erhob sich steif und ging sicheren Schrittes quer durchs Zimmer zu einem Schrank. Er öffnete ihn, legte seine Hand um eine Karaffe aus Bleikristall, die mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt war, und hielt sie der Kriegerin hin. »Auch wenn es noch früh am Tag ist, möchtest du ein Schlückchen?« Kriegerinnen trinken keine solchen Gifte, aber Kwannon sagte sich, wenn sie die Gastfreundschaft des Weisen ablehnte, werde der frustrierend
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langsame Informationsfluß ganz versiegen. »Für mich bitte Wasser.« Mit dem angeborenen Anstand der Edelfrau nahm Kwannon auf dem ihr angebotenen Stuhl Platz, so daß sie dem Weisen von Rotstein gegenübersaß. Der saure Geruch des blutroten Weins stieg ihr in die Nase. Schließlich stellte Keane seinen Krug ab. Er hatte den Wein nur zur Hälfte ausgetrunken. »Alle, die das Auge bei sich trugen, waren von Anfang an zum Untergang verurteilt. Er, der es holen ließ, sorgte dafür. Ihr Blut macht den Roten Fluß noch röter.« Die nun folgende Pause kam Kwannon endlos vor, doch sie blieb ruhig und, obwohl sie saß, in Kampfhaltung. Weise haben ihre eigenen Zeitbegriffe; sie wurde ihn nicht drängen. Er nahm einen weiteren Schluck Wein, der ihm anscheinend schmeckte, und Kwannon wand sich innerlich. Auch vor einem Blinden würde sie ihren unerschütterlichen Gesichtsausdruck nicht verändern. Sie wußte, wie gut Blinde ihre Welt wahrnehmen. Da sie nichts sehen, werden sie oft selbst nicht gesehen und hören so Dinge, die man vor Sehenden nicht ausspricht. Ihre Geduld nutzte sich ab. Als habe er Augen, wandte Keane ihr den Kopf zu. »Das Auge Dhyanas ist zwischen Himmel und Erde, zwischen Wind und Wasser.« »Weitere Rätsel.« Seine Stimme war so brüchig wie billiges Glas. »Eine Kriegerin der Githrodi sollte beide Rätsel verstehen.« Langsam setzte Kwannon ihren Krug ab. Ihr Blick schoß hierhin und dahin. Woher wußte er das? Hatte er es aus dem Klang ihrer Stimme oder ihrer Schritte erraten? Oder war der Weise von Rotstein über ihre Ankunft informiert worden? Geschmeidig stand sie auf. »Meinen Dank, Meister Keane.« Auch der Weise erhob sich und streckte die Hand aus. »Ich wünschte, du könntest länger bleiben. Deine Stimme klingt so angenehm: kräftig und doch ruhig und entschlossen. Von der Art höre ich so wenige.« Kwannon nickte. Es war also in der Tat ihre Stimme, die sie verriet. Oder doch nicht? »Ein anderes Mal vielleicht. Sag mir bitte noch eins: Woher weißt du, daß ich eine Githrodi-Kriegerin bin?« »Deine Stimme ist sicher, dein Gang kräftig und selbstbewußt, und du riechst zu frisch für eine Städterin. Du bist eine Kriegerin, und nur die fürchtlosen Githrodi tragen keine Rüstung.« Kwannon ging um den Tisch und ergriff die Hand des Alten. Wirklich, die Blinden sehen mehr. Manch einer im Tiefland erkannte sie nicht als Kriegerin – und hatte es zu bereuen. Sie sah sich noch einmal in dem halbdunklen Raum um und fand ihren ersten Eindruck bestätigt. Keane stellte weder in seiner eigenen Person noch durch irgendwelche möglichen Verbindungen zu dem, der das Auge jetzt in seinem Besitz hatte, eine Gefahr für sie dar. Sie wollte dem freundlichen Weisen mehr als Gold geben.
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»Weißt du, daß der Windfluß kein Fluß ist?« Sein schnelles Grinsen verriet ihr, daß er ein Geschenk, das in Wissen bestand, zu würdigen wußte. »So?« »Er ist Wind, der so stetig über die Talsohle weht, daß es wie das Fließen von Wasser ist. Das Heiligtum Dhyanas liegt am oberen Ende des Tales, wo der Wind beginnt. Manche sagen, Dhyana schicke den Wind, aber es ist nur Luft, die von den hohen Gipfeln fällt und ins Tal bläst. Das Tal bildet einen Kanal für den Wind.« Wie immer holte die Githrodi-Kriegerin vor dem Häuschen tief Atem. Sie erstickte. Drinnen war die Luft stickig gewesen, aber draußen war sie noch weniger frisch. Alle Tiefländer-Städte stanken; ihre Bewohner konnten unmöglich wissen, daß ein Zusammenhang zwischen Sauberkeit und Gesundheit besteht. Auf ihrer Reise von den Bergen der Sonne herunter hatte Kwannon viel Krankheit gesehen. Sie schnaubte. Tiefländer! Und uns nennen sie Wilde. Ihre Stute schnaubte ebenfalls, aber diesmal wollte sie Kwannon damit nicht antworten. Sofort schwang sich die Kriegerin in den Sattel. Die Stute drehte den Kopf nach der Störung auf der anderen Seite der unbefestigten, von Furchen durchzogenen Straße. Mit zusammengepreßten Lippen sah Kwannon, wie ein in Leder gekleideter Kerl über eine junge Frau herfiel. Eine kleine Gruppe von Tiefländern, die in der Nähe der Kriegerin standen, wandte sich an sie. Einer – nach seiner selbstgefälligen Haltung und seinen feinen, nicht zerrissenen Kleidern ein Kaufmann – hob beide Hände zu ihr auf. »Du hast Waffen. Hilf ihr!« Kwannon hätte bereits den Gesichtsausdruck der sich vergeblich wehrenden Frau bemerkt. »Nein«, erklärte sie fest. »Ich mische mich nicht ein. Sie hat den Weg des Opfers gewählt. Und ihr habt es ebenfalls getan, wenn ihr euch einem Gewalttäter in eurer eigenen Stadt nicht entgegenstellt.« Ohne zurückzublicken ritt die Kriegerin an beiden Gruppen vorbei. Nur ihr scharfes Gehör blieb auf Gefahr im Rücken eingestimmt. Sie ignorierte die Beschimpfungen der Tiefländer: »Feiges Gewürm aus den Bergen!« »Abschaum des Hochlands!« Sollten sie doch die eigenen Leute beschützen, wenn es notwendig war. Frauen sind nur verwundbar, wenn sie es sein wollen. Alle Githrodi glauben, daß nur eine einzige Klasse wirklich Gefahren ausgesetzt ist, und zwar die Kinder. Wenn ein Erwachsener den Weg des Opfers wählt, hätte er – oder sie – ebenso einen anderen Weg wählen können. Die Kriegerin ritt mit erhobenem Kopf und ungefurchter Stirn. Die Augen hatte sie ein wenig zusammengekniffen. Ihre Gesichtszüge waren entspannt. Kraft floß in den Linien ihres Körpers, sogar im Haaransatz. An ihrer linken Seite hingen, durch den Gürtel geschoben, ihr leicht gekrümmtes langes Schwert und das kurze Zweitschwert, beide mit der
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Schneide nach oben in feinen Elkleder-Scheiden, die sie selbst angefertigt hatte. Ihre auch im Sattel kampfbereite Haltung war ihr beinahe unbewußt; sie hatte sie so lange trainiert, daß sie sich jetzt ständig so hielt. Sie dachte über Meister Keanes Rätsel nach. Sein Hinweis, eine Githrodi-Kriegerin müsse sie verstehen, leitete sie. Der Himmel war Feuer, die schöpferische Kraft, und die Erde die Strategie oder die nachgebende Substanz, durch die die Schöpfung sich manifestiert. Das Wasser war der Geist des beständigen Flusses das mochte die Leere sein. Dort konnte man nichts sehen. Die Leere war einer der fünf Aspekte des Lebens, der letzte, der, den sie noch nicht begriff. Die Leere war nichts, war Was-nicht-ist. Kwannon trieb die Stute an, denn sie wollte den Gestank der Stadt Rotstein loswerden. Der immerwährende Lärm war so höllisch, daß es ihr schwerfiel, einzelne Geräusche voneinander zu unterscheiden. Rotstein war kein gesunder Ort für eine Kriegerin aus den Bergen. Bald wurden die Häuser weniger, und sie standen weiter auseinander. Auf einer Bodenerhebung in einiger Entfernung sah sie einen Turm. Oben brannte ein großes Feuer, und die Flammen wurden von einem Wind gepeitscht, der auf der Straße nicht zu spüren war. Um den Fuß des Turmes wiegten sich große Eichen im gleichen Rhythmus wie die windbewegten Flammen. Rechts floß der Rote Fluß. Es war also doch ein einfaches Rätsel gewesen! Das Auge Dhyanas befand sich in jenem Turm. Kwannon lehnte sich zurück, nur geringfügig ihr Gewicht verlagernd. Die Stute blieb stehen. »Was für eine Stadt ist das?« rief die Kriegerin Arbeitern auf dem Feld zu ihrer Linken zu. Das verhutzelte Weiblein, das der Straße am nächsten war, richtete sich auf und rieb sich den Rücken. »Schwarzturm.« Herrschte bei diesen verarmten Tiefländern auch Mangel an Phantasie? Jede Stadt, durch die Kwannon gekommen war, hatte irgendeinen dunklen Turm, für gewöhnlich von einem ebenso dunklen Praktizierer der Schwarzen Kunst bewohnt. Wieder sah sie zu dem hochaufragenden Turm hinüber. Er mochte aus einem dunklen, vielleicht schwarzen Stein erbaut sein. »Ich danke dir, Großmutter. Wer lebt dort?« »Jemand, den du nicht wirst sehen wollen.« Die Alte spie geräuschvoll aus. »Und er wird dich nicht sehen wollen. Aber wenn du einen Namen hören möchtest: Er ist als Edan Eblis bekannt.« Schnell schlug sie mit der Rechten irgendein Zeichen. Kwannon bemerkte, daß andere in Hörweite ebenso verfuhren. »Ein Magier?« Das verwirrte Schielen sagte Kwannon, daß die Leute den Ausdruck nicht kannten, aber die Alte flüsterte: »Ein Todeszauberer. Laß ihn in Ruhe, junge Frau. Ich habe sagen gehört, daß er nach frischem Blut Ausschau hält. Nach jungem Blut.«
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Jetzt war Kwannon überzeugt, daß sich das Auge Dhyanas in dem dunklen Turm befand. Alte Sagen berichteten von Blutopfern, um Dhyanas sanftes Mitgefühl zu pervertieren. Die Magier im Heiligtum hatten den Verdacht, ein Nekromant habe den heiligen Stein der Meditation entwendet, denn seine verborgenen Kräfte waren größer als der ihm innewohnende Wert. Von nun ab mußte sie vorsichtig sein. Trotzdem: Sie war fähig, zehn Gegner allein mit ihrem Geist zu zermalmen – sollte sie einen einzigen Nekromanten nicht mit Geist und Schwert überwinden können? »Danke, Großmutter. Dein Tag sei gesegnet.« Die Kriegerin verlagerte ihr Gewicht ein bißchen nach vorn, um Jahael anzutreiben. Das falbe Pferd tat drei Schritte und blieb stehen, als ihm ein kleines Kind in den Weg lief. Die kampferprobte Stute hätte niemals ein Kind zertreten, denn auch sie war nach Geburt und Erziehung Githrodi. »Komm zurück, du wertloses Dreckstück!« Der Mann in dem feinen Tuchmantel und den Lederstiefeln schwang eine geflochtene Peitsche. Feldarbeiter sprangen vor ihm zur Seite. Kwannon, die ruhig auf dem stehengebliebenen Pferd saß, wandte den Kopf und sah ihn sich an. Er blieb dicht am Rand der Straße stehen und schluckte geräuschvoll. »Das ist mein Eigentum.« Er konnte sein angstvolles Stottern kaum beherrschen. Dieser Mann erkannte, wer sie war. Nur Kwannons Augen blickten auf das Kind nieder. »Ist das dein Vater?« Eine kleine zerkratzte Hand faßte nach der Stute. Das Kind schüttelte den Kopf. »Habe keinen Vater und keine Mutter. Das ist mein Herr.« Frische rote Striemen bedeckten das verkniffene Gesicht unter wirrem, verfilztem, dunkelfarbenem Haar. Die Kleidung war ebenso unordentlich und dungfarben; durch Risse zeigten sich ältere Flecke und Striemen. Der Metallkragen saß so eng, daß er die blasse Haut zusammenschob. Das kleine androgyne Geschöpf klammerte sich an Jahael und starrte zu Kwannon empor. »Bitte, hilf mir.« Mit der festen Stimme der Kriegerin sprechend, ignorierte Kwannon – für den Augenblick – den brutalen Menschen mit der Peitsche. »Weißt du nicht, was ich bin, Kind? Ich bin eine Githrodi-Kriegerin. Hast du keine Angst vor mir? Er hat Angst.« »Nicht soviel vor dir wie vor ihm.« Das Kind packte Kwannons Stiefel. »Bitte. Laß nicht zu, daß er mich wieder schlägt.« Er (sie?) zog am Bein der Kriegerin. »Bitte, Dame aus den Bergen, nimm mich mit.« Da Kriegerinnen auch die kleinsten Einzelheiten sehen, bemerkte Kwannon die winzigen Rostspuren auf dem Kragen. Sie beugte sich nieder und tastete den metallenen Ring ab, bis sie den Verschluß fand. Mit einer Hand zerbrach sie das geschwächte Eisen, dann warf sie den Kragen zu dem Mann hinüber. »Hast du etwas dagegen?« Der Ausdruck seiner Au-
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gen und die winzige Gewichtsverlagerung sagten Kwannon, daß in ihm die Absicht aufstieg, die mit einer Metallspitze versehene Peitsche gegen sie zu gebrauchen. Bevor er zu dem naheliegenden Schluß kommen konnte, daß so etwas unklug wäre, bewegte Kwannon sich beinahe unmerklich. Jahael bäumte sich auf; ihre Vorderhufe durchschnitten die Luft. Als sie den Boden wieder berührten, befand sich Kwannon genau vor dem Mann. Sie zog keins der beiden Schwerter, denn sie hatte nicht vor, den Dummkopf niederzustechen. Er war kein Krieger, nicht einmal ein Kämpfer, nur ein einfacher Bauer. »Hast du etwas dagegen?« wiederholte sie. Er quietschte etwas, das sich nach einer Verneinung anhörte. Danach schenkte die Kriegerin dem Tiefländer keine Beachtung mehr. Mit weithin schallender Stimme rief sie: »Hat sonst jemand etwas dagegen? Dem Kind steht es frei, mit mir zu kommen oder hierzubleiben.« Niemand antwortete ihr mit Worten, aber wie die Körperhaltung der Arbeiter deutlich verriet, hatte kein einziger den Wunsch, dagegen Einspruch zu erheben, daß sie das Sklavenkind rettete. »Kind, geh neben meinem Pferd her. Ich will dich nicht hier oben haben, damit sich deine Flöhe und Läuse nicht über mich und Jahael ausbreiten.« Und damit diese Tiefländer mich nicht der Kindesentführung beschuldigen. Um das magere Dingelchen nicht zu erschöpfen, hielt Kwannon ihre Stute zurück. Die feurige Jahael tänzelte seitwärts, trabte beinahe auf der Stelle. Sie warf heftig den Kopf. Oft wieherte sie, so sehr brannte sie darauf, eine bequemere, raumfördernde Gangart einzuschlagen. Obwohl es offenbar unter Schmerzen hinkte, lächelte das Kind plötzlich strahlend. »Er ist nett.« »Wer?« »Dein Pferd. Er ist einfach… echt fein.« »Sie. Jahael ist eine Stute.« »Oh. Ja, Herrin. Sie.« Das mochte zwar der ideale Zeitpunkt sein, das Geschlecht des Kindes festzustellen, aber Kwannon fand, eine solche Frage könne verletzend sein. Dem Kind war schon genug weh getan worden. »Ich bin Kwannon. Und du?« »Mein Name ist Druce, Herrin.« Diese Tiefländer fingen wahrhaftig früh an, den Kleinen das Gefühl persönlicher Identität abzuerziehen! Die Githrodi kannten wie alle Hochländer sehr genau die Verbindung zwischen dem, wer du bist, und dem, was du genannt wirst. Wenn ein Hochländer heranreifte, erhielt er einen Namen, der seiner Persönlichkeit entsprach. Namen bedeuten etwas; so bedeutete Kwannons Name Barmherzigkeit. »Wie viele Jahre zählst du?« Die Kriegerin anglotzend, runzelte Druce die Stirn. »Was, Herrin?« Verwünscht seien die Tiefländer-Dialekte! »Wie alt bist du?« Das Kind
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blieb stehen, dachte offensichtlich angestrengt nach. Sein Mund arbeitete. »Zehn, Herrin. Glaube ich.« So alt! Und noch so klein. Ein Githrodi-Kind wäre mit sechs so groß gewesen, hätte aber mehr Fleisch auf kräftigeren Knochen gehabt. Kwannon glühte in gerechter Entrüstung. Jahael, die ihre Spannung spürte, bereitete sich zur Attacke vor. »Ruhig, meine Freundin«, murmelte die Kriegerin. Druce bemerkte keine Veränderung an der Frau oder an der Stute. Kwannon hielt eine Weile an, um das am Straßenrand zusammengesunkene Kind ausruhen zu lassen, und währenddessen überwand sie ihren Zorn. Vielleicht erzeugte die allgegenwärtige Armut im Tiefland Vernachlässigung, aber auch in mageren Zeiten gaben die Githrodi ihren Kindern zuerst zu essen. Tatsächlich würde kein Hochländer es zulassen, daß ein Kind so schlecht ernährt und so schlecht behandelt wurde. Im Verlauf der nächsten Stunde machte Kwannon noch dreimal halt, um Druce ausruhen zu lassen. Endlich näherten sie sich dem Fluß, und die Kriegerin bemerkte einen Seitenweg, der zum Ufer hinunterführte. Obwohl die Sonne beinahe den Zenit erreicht hatte, bestand Kwannon darauf, daß das Kind vor dem Essen badete. An einer Biegung hatte sich ein kleines Stauwasser gebildet, das stromabwärts strudelte. Es sah dort ganz ungefährlich aus. »Nimm das hier.« Kwannon gab Druce eine irdene Phiole. »Wasch dich damit. Auch das Haar. Alles. Tauche ja mit dem ganzen Körper unter Wasser!« Die Kriegerin zog die Stiefel aus und stellte sich für den Fall, daß das Kind in dem Fluß in Gefahr geriet, dicht ans Wasser. Jenseits des geschützten Tümpels trug die schnelle Strömung Trümmer mit sich. Das Kind watete voll bekleidet ins Wasser. »Halt! Zieh erst deine Sachen aus!« Druce gehorchte eilends und ließ das widerliche Zeug neben Kwannon fallen. Jetzt sah Kwannon, daß das ehemalige Sklavenwesen ein Mädchen war. Das Kind duckte sich unter das Wasser. Nach einer Weile tauchte Druce spuckend wieder auf. »Noch länger kann ich nicht unten bleiben.« »Nicht notwendig. Sieh nur zu, daß du überall naß wirst.« Kwannon mußte beinahe lachen, als sich das Kind mit der Phiole selbst über die schmutzige Haut fuhr. »Ich werde dir helfen.« Die Kriegerin watete ins Wasser und goß flüssige Seife in die kleine Handfläche. Schließlich mußte sie Druce genau erklären, wie man badet; das Mädchen gestand, nicht zu wissen, wie man sich wäscht, weil sie es noch nie getan habe. Kein Wunder, daß die Tiefländer so schlecht rochen! Kwannon hob die zerlumpte Kleidung auf, tauchte auch sie ein und schrubbte sie eigenhändig. Sich selbst abseifend sagte sie: »Diese Seife wird deinen Körper und deine Kleider von Parasiten befreien.« Sie sah, daß Druce das nicht verstand, und setzte hinzu: »Von deinen Flöhen und Läusen.«
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Nun breitete die Kriegerin die Hose und die Jacke aus schäbigem hausgewebtem Stoff auf dem grasigen Ufer aus, um sie im Sonnenschein trocknen zu lassen, und gab Druce ihren grauen Wollmantel, damit sie nicht kalt wurde. Während die Hochländerin es hier sogar im Herbst heiß fand, war die Lufttemperatur viel zu niedrig für das Mädchen aus dem Tiefland. »Iß!« Kwannon reichte Druce ein Stück Brot mit einer Scheibe Käse darauf und dazu ein bißchen Pemmikan. Druce hatte Schwierigkeiten beim Kauen des Trockenfleisches, und so gab die Kriegerin ihr noch etwas Brot und Käse. Bald schlief das Kind im Sonnenschein, und Kwannon betrachtete es aus dem Schatten einer alten Eiche. Nach einer Weile lachte die Kriegerin. »Was habe ich da angestellt!« Um das mißhandelte Kind zu retten, hatte die Githrodi-Kriegerin ebenso spontan eingegriffen, wie sie es abgelehnt hatte, der Städterin zu Hilfe zu kommen. Was sollte sie mit Druce anfangen? Es lag eine Aufgabe vor ihr, bei der das Mädchen ihr nur hinderlich sein konnte, und doch hatte Kwannon sich die ganze Githrodi-Verantwortung für ein Kind aufgebürdet. Mit einemmal seufzte die Kriegerin. Ihre Augen weiteten sich. Eine solche Verwirrung schickte sich nicht für Kriegerinnen. Gedanken verlangsamen nur die Taten. Sich neben das Mädchen hockend, strich Kwannon ihm das Haar aus der verletzten Stirn. Alles hat seinen eigenen Zeitplan, und der des Kindes stört den meinen. Druce wimmerte im Schlaf; sie drehte sich Kwannon zu und schmiegte sich an ihre Beine. Die Flecken auf ihrem Hals wurden dunkler, aber das teigige Aussehen war verschwunden. Kwannon spürte ein Stechen an den Innenseiten ihrer Augenlider und eine plötzliche Flut von Mitleid. Abrupt stand sie auf und ging zum Fluß. Was geschah da? War etwas mit dem Zeitplan schiefgegangen, dem sie als Kriegerin folgen mußte? Ihr Weg führte doch bestimmt noch nicht abwärts. Sie war noch nicht alt, noch keine dreißig. Kwannon berührte durch ihre Kleidung die winzige Narbe auf ihrem Bauch, zurückgeblieben von der Berührung des HeilerMagiers, den die Kriegerinnen aufzusuchen pflegen. »Ich habe auf Kinder verzichtet«, sagte sie zu dem rosenroten Wasser. »Ich habe auf eine eigene Familie verzichtet. Ich biete den Feinden keine Handhabe.« Nachdem sie die Stiefel angezogen hatte, nahm Kwannon entschlossen wieder Kampfhaltung ein. Sie fixierte das Kind, bis es erwachte. »Es ist Zeit, Druce. Zieh dich an.« »Ja, Herrin. Wohin gehen wir?« »Ich werde dich irgendwo unterbringen. Ich habe weder Zeit noch Neigung, dich zu beschützen.« »Bitte, Herrin, nicht zu nahe. Er wird mir nachkommen.« »Dann also auf zu den Bergen der Sonne! Dorthin wird er dir nicht fol-
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gen.« Im Namen Dhyanas, warum hatte sie das versprochen? Natürlich würde jede Githrodi-Familie Druce aufnehmen und gut erziehen, aber die Kriegerin hatte keine Zeit – das Auge war zu nahe. Oh, schon gut, danach konnte sie beide, Auge und Kind, ins Tal bringen. »Du mußt auf dich selbst aufpassen. Tu genau, was ich dir sage.« »Ja, Herrin!« Druce lächelte und gab Kwannon den dicken Mantel zurück. Das Herz der strengen Kriegerin pochte schneller und setzte dann für drei Schläge aus. Sie stieg in den Sattel und hielt ihre Hand nach unten. »Reite jetzt hinter mir.« Der Himmel bewölkte sich. Eine kühle Brise rauschte von dem blutroten Fluß heran. Kwannon fühlte das Erschauern hinter sich, band ihren Mantel vom Sattel los und schlug ihn um sie beide. Obwohl Druce nicht hinaussehen konnte, war sie es anscheinend ganz zufrieden, sich eng an die Kriegerin zu kuscheln. Die Wärme an ihrem Rücken war Kwannon angenehm, und sie lockerte ihre zu steife Haltung. Sie nickte. Die Anspannung würde ihre Bewegungen verlangsamen. Die Anwesenheit des Mädchens schuf und erleichterte die Anspannung. Kinder! Wie frustrierend sie sind! Der Turm bestand tatsächlich aus schwarzem Stein, stumpf und glatt, sah Kwannon aus der Nähe. Sie kannte diese Gesteinsart nicht. Es. waren keine Meißelspuren zu sehen, und die Blöcke Waren ohne Mörtel nahtlos zusammengefügt. Ein schmaler Pfad führte von der Straße zum Fuß des Hügels, wo eine aus dem Fels gehauene Treppe zum Turm selbst hinanstieg. Kwannon schwang das rechte Bein über Jahaels Hals und glitt zu Boden. »Du, Druce. Rutsche in den Sattel. Tu, was ich dir sage. Warte hier auf mich. Bleibe auf Jahael sitzen. Sollte irgendwer versuchen, dich herunterzuholen, reitest du fort oder läßt sie kämpfen. Ich werde dich später finden.« »Wie lange wirst du fort sein?« »Das weiß ich nicht.« »Darf ich mitkommen? Ich könnte helfen.« »Das könntest du nicht. Gehorche mir.« Das kleine Mädchen schluckte. »Ja, Herrin.« Die Githrodi-Kriegerin schritt zum Fuß der langen Treppe. Im Turm mußte man bei dem guten Blick von oben bereits von ihrer Ankunft wissen. Langsam, entschlossen stieg sie die Stufen hinauf. Ihr Blick war nach vorn gerichtet, und doch nahm sie alles um sich wahr. Stille umgab sie. Sogar das Rauschen des Flusses klang gedämpft. Kein Vogel sang, kein Eichhörnchen raschelte in den sich herbstlich verfärbenden Eichenblättern. Der Wind sang schwach. Nur das wütende Prasseln des Feuers oben auf dem schwarzen Turm klang normal. Ein scharfer Geruch nach Rauch
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durchdrang alles. Am Kopf der ausgetretenen Steintreppe kam sie auf einen Absatz, sechs Fuß im Geviert. Die Tür war aus dem gleichen schwarzen Material wie der Turm; sie hatte keine Klinke. Auf der linken Seite stand sie um einen Zoll offen. Kwannon lächelte innerlich. Er erwartet mich also. Damit hörte ihr bewußtes Denken auf. Die Gedanken, die sie für die nächsten paar Augenblicke brauchte, waren bereits durchgedacht; alles, was sie in Jahren der Ausbildung und Übung gelernt hatte, stand ihr zur Verfügung. Mit einer glatten, bewußt ruhigen Bewegung legte sie die Rechte an den Griff des Schwertes, die Linke folgte in einem vorherbestimmten Rhythmus an das Zweitschwert. Beide Hände faßten die Waffen mühelos, leicht mit Daumen und Zeigefinger, fester mit den anderen Fingern bis hin zum kleinen. Der rechte Fuß schoß hoch und trat die Tür auf. Mit einem Kriegsruf sprang Kwannon ins Innere. Bevor ihr linker Fuß den Steinfußboden traf, hatte Kwannon sich die Halle genau angesehen. Den ganzen Innenraum des Turmes einnehmend, prunkte sie mit einem Kamin der Tür genau gegenüber. Rechts schmiegte sich eine steinerne Treppe an die Außenmauer. Ein Tisch mit vier Stühlen nahm die Mitte ein, Schränke säumten das Rund der Wand links. Fünf Männer warteten in dem runden Raum. Direkt zu Kwannons Linker war einer zum Zuschlagen bereit. Ein Mann mit einer Axt und einem Schild hielt sich am Fuß der Treppe auf, und zwei Schwertkämpfer duckten sich in seiner Nähe. Ein anderer, seiner bis zum Oberschenkel reichenden Kettenrüstung nach offenbar der Anführer, stand mit dem Rücken zum Feuer, und in seiner Rechten baumelte ein schweres Schwert. Der Schwertkämpfer zu Kwannons Linker holte aus. Kwannons linker Fuß berührte den Boden. Sich auf dem Absatz drehend, kehrte sie ihm den Rücken zu. Sie hob den rechten Arm nach hinten über den Kopf; das Schwert ruhte auf dem linken Arm, zum Parieren bereit. Der junge Mann war einen Kopf größer als sie und viel schwerer. Die Wucht seines Schlages schleuderte Kwannon gegen den Türpfosten, aber sie lenkte sein zweischneidiges Schwert mit ihrer Klinge ab, so daß es ihr über den Kopf pfiff, ohne ihr Schaden zu tun. Voraussehend, wie er sich bewegen würde, um sie zu enthaupten, stieß sie die linke Hand zurück. Das schlanke Zweitschwert schnitt durch seine schwere Lederrüstung und drang ihm in den Unterleib. Das Handgelenk nach unten drehend, zog sie die Klinge aufwärts, zwei Drehungen zur Seite durchtrennten größere Arterien. Obwohl es ein schwacher Schlag gewesen war, hob der Schock der Überraschung den Mann auf die Zehenspitzen. Er war mit offenen Augen tot, bevor Kwannon die Klinge herauszog. Schon nahte der zweite Schwertkämpfer mit einem nach unten geführten Hieb, der ihren Körper hätte spalten sollen. Das Schwert immer noch
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in der Position zum Parieren, trat sie vor. Ihre Klinge schnellte sich um sein langes Schwert, das der Schwung weiter nach unten trug, und drang ihm in die Kehle. Der dritte Mann hielt in seinem von der anderen Seite geführten Hieb inne und stellte sich mit gespreizten Beinen zum Kampf. Kwannon schlug die auf sie gerichtete Waffe beiseite, sprang nach links, schwang ihr langes Schwert herum und schnitt ihm die Kehle durch. Schon in vollem Lauf, schlug der Mann mit der Axt unter Gebrüll mit seiner massigen Waffe zu. Kwannon konnte über dem Schild nur seine glühenden Augen sehen. Sie glitt vorwärts, ihr Schwert flog zu seinem Handgelenk hoch. Die Wucht seines Angriffs half ihr, Muskeln und Knochen mit der scharfen Klinge glatt zu durchschneiden. Er hob den Schild, um sich vor dem erwarteten Schlag zu schützen, aber die kleinere GithrodiKriegerin setzte ihre langsame Drehung im Uhrzeigersinn fort. Als sie den linken Fuß aufsetzte, schnitt ihm ihr Zweitschwert durch den Unterbauch und die lederne Rüstung. Dann drang das lange Schwert unterhalb seiner Rippen ein und durchbohrte ihn beinahe bis zum Rückgrat. Während der fünf Phasen ihres Blitzangriffs sah Kwannon den Anführer um den Tisch kommen – offenbar mit der Absicht, den Kreis zu schließen, den die anderen vier um sie gebildet hatten. Jetzt verlangsamte er den Schritt. Kwannon tat es auch, doch das Schwert hielt sie bereit. Der zusammenbrechende Mann mit der Axt war noch nicht tot, aber endgültig aus dem Kampf ausgeschieden. Der Anführer blieb stehen, einen Humpen in der linken Hand, den er nicht warf, wie er ursprünglich vorgehabt hatte. Kwannon wartete, ob er sie über den Tisch hinweg anspringen würde. Dann sah sie, daß er sich nicht in die Nähe der Leichen und des schlüpfrigen Blutes wagte, das den Boden bedeckte, und gab ihm keine weitere Zeit mehr, ihre Bewegungen zu seinem Vorteil zu analysieren. Sie sprang auf den Tisch und auf der anderen Seite wieder hinunter und stand ihm nun direkt gegenüber. Er hob den Humpen in spöttischem Salut. Sie wischte ihr Zweitschwert am Hosenbein ab und steckte es zurück in die Scheide. Die Spitze des anderen Schwertes richtete sie auf seine Brust. Lässig senkte er sein eigenes sehr langes Schwert. Gleichzeitig schlug er ihre Schwertspitze nach außen. Statt ihm näher zu rücken, drehte Kwannon sich in die andere Richtung und sprang über seine tief unten zuschlagende Klinge. Sie landete auf der Kaminplatte und schlug von oben nach seinem Hals. Die metallene Halsberge oberhalb seiner Kettenrüstung milderte ihren Schlag, jedoch nicht seine Überraschung über ihre blitzschnelle Bewegung. Sie duckte sich unter seinem fortgeführten Schlag und kehrte den Leichen den Rücken. Aus voller Lunge seinen Kriegsruf brüllend, stürmte der massige Schwertkämpfer mit hocherhobener Waffe auf sie zu. Kwannon blockierte sie, den rechten Arm über dem Kopf und das Schwert auf den linken Arm
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gestützt. Sie schwankte unter der ungeheuren Wucht seines mit beiden Händen geführten Hiebes. Lächelnd schwang er das Schwert im Bogen, um diesmal von der anderen Seite zuzuschlagen. Kwannon nahm ihr Schwert in beide Hände und fing seine Klinge hoch oben ab. Seine große Kraft zwang sie beinahe in die Knie; sogar in der Hitze des Gefechts spürte sie die Erschütterung in ihren Handgelenken. Da sie den Schlag nahe dem Griff aufgefangen hatte, bewahrte sie ihr Schwert davor, entzweizubrechen. Er setzte die Bewegung nach unten und oben und herum fort. Der dritte Hieb war eine Wiederholung des ersten. Kwannon trat zur Seite, schoß vorwärts und trieb ihm die Spitze ihrer Klinge durch den offenen Mund ins Gehirn. Schnell trat sie zurück und riß die Klinge heraus, bevor der Leichnam auf den Tisch krachte. Das dicke Holz barst. Die Humpen flogen in die Luft und verschütteten die Reste eines bitter riechenden Biers. Kwannon kniete sich neben den sterbenden Mann mit der Axt. Er hatte noch lange Augenblicke zu leben; die Qual seines gewaltsamen Todes sprach ihm aus den Augen. Die Githrodi-Kriegerin zog ihr kurzes Zweitschwert und zog es ihm schnell über die Kehle, um seinen Schmerzen ein Ende zu bereiten. Das bewußte Denken kehrte zurück, als Kwannon beide Klingen sorgfältig abwischte. Ihr Atem wurde langsamer. Vom Blockieren der brutalen Hiebe tat ihr alles weh, aber sie hatte keine Wunde davongetragen. Das waren gute Fechter gewesen, sogar der jüngste an der Tür. Diese Schwertkämpfer verließen sich auf ihre längeren Klingen, und alles hing von ihrer kolossalen Kraft ab. Doch sie waren wesentlich im Nachteil gewesen, weil Kwannon ihre Kampftradition gekannt hatte, sie die ihre dagegen nicht. Mit dem Rücken zur Außenmauer schob sich die Kriegerin langsam die Treppe hinauf, fort von dem starken Geruch nach Tod. Sie prüfte jede Steinstufe, bevor sie ihr Gewicht darauf verlagerte, und mit ihrem langen Schwert überprüfte sie den Weg nach Stolperdrähten. Die Stille innerhalb des Turmes war fast greifbar. Sosehr sie ihre Ohren anstrengte, die Kriegerin hörte nichts außer dem ganz leisen Geräusch ihrer eigenen Schritte und ihres Atems. Auf jedem halbdunklen Treppenabsatz fand sie eine Tür. Sie lauschte jedesmal, ehe sie die Klinke drückte, aber sie waren alle verschlossen. Weiter und weiter tastete sie sich in der stillen Dunkelheit in immer wärmere Luft. Schweiß brach ihr aus, sammelte sich und lief ihr die Seiten, den Rücken und zwischen den Brüsten hinunter. Das gerollte Band um ihre Stirn wurde feucht, hielt jedoch den salzigen Strom aus ihren Augen. Kurz vor dem sechsten Absatz flackerte Licht auf die Treppe. Der widerliche Geruch nach Verfall zog dem Licht voran. Die Schwerter in den Händen, betrat Kwannon den höchsten Raum des Turmes. Er erwartete sie. Das fahle Gesicht des Nekromanten war glatt rasiert,
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seine edlen Züge waren von ebensolcher Schönheit wie die eines Hochländers aber sein Ausdruck war verkniffen. Er trug Jacke und Hose in Schwarz und braune, kniehohe Stiefel. Der Zobelmantel, der von seinen Schultern fiel, reichte bis auf den Fußboden. Seine Zähne waren weiß und gerade, ungewöhnlich für einen Tiefländer. »Willkommen in meiner Werkstatt, große Kriegerin der Githrodi.« Ein dünnes Kichern ertönte. »Niemand sonst hätte meine fünf Wachen überwältigen können. Obwohl du eine große Menge Blut vergießest, arbeitest du viel zu schnell. Es macht dir kein Vergnügen, Glieder abzutrennen und deine Gegner sterben zu sehen.« Seine Stimme klang matt und flach. Während Kwannon ihn betrachtete, nahm sie gleichzeitig in sich auf, was sich in dem kreisrunden Raum befand. Die Teile einer zerstückelten Katze lagen auf einem fleckigen Holztisch. Daneben flatterte ein ausgeweideter Vogel im Sterben mit seinen beschnittenen Flügeln. Flaschen und Phiolen standen in genauer Ordnung auf Regalen. Ein Kreis kleiner rechteckiger Lücken im Dach zeigte das oben lodernde Feuer. Durch die Schlitze tröpfelte geschmolzenes silbriges Metall; Hitzezungen leckten an den Fallinien. So schwarz war der umschlossene Raum, daß es war, als fließe Licht hinein, aber nicht heraus. Wenn sie den Blick in die Leere richtete, sah die Kriegerin gar nichts, nicht einmal Dunkelheit. Wandte sie die Augen wieder dem Nekromanten zu, nahm sie am äußersten Rand ihres Gesichtsfelds im Mittelpunkt der Leere ein grünliches Flimmern wahr. Zwar trug der Nekromant keine Waffen, aber Kwannon wußte, wer mit übernatürlichen Dingen umgeht, ist niemals ohne Verteidigung. Er hatte ihr bereits gesagt, daß er Möglichkeiten hatte, zu sehen, wo er nicht war. »Du bist Edan Eblis.« Sein kurzes Nicken bestätigte, was sie wußte. »Ich bin Kwannon. Ich habe keine Freude am Töten. Du weißt, daß ich eine Githrodi-Kriegerin bin. Du weißt ebenfalls, daß ich komme, um das Auge Dhyanas zu holen, das aus unserem Heiligtum im Tal des Windflusses gestohlen wurde.« Der ergrauende Zauberer machte große Augen. »Ein solcher Gegenstand wurde gestohlen? Wenn du ihn hier findest, kannst du ihn mitnehmen.« Kwannon regte sich nicht. »Das Auge ist in der Leere.« Er musterte sie lange und eingehend mit seinen kalten grauen Augen. Dann hob er die Hände mit den langen Fingernägeln bis auf Brusthöhe. Die Handrücken waren Kwannon zugekehrt; ihr fielen die langen braunen Haare auf, die sich unter den zweiten Knöcheln kräuselten. Er stieß den Kopf nach vorn. »Nimm es, wenn du es wagst, Hure.« »Du wirst es nicht zulassen.« Sie blieb stehen. »Da hast du recht.« Das Verziehen seines Mundes sollte ein Lächeln darstellen, aber ohne Mitwirkung der Augen war die Wirkung ein scheuß-
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liches Grinsen. »Du wirst bei dem Versuch sterben. Wie traurig für dich, Kriegerin. Im Versagen sterben macht deinen Tod sinnlos für dich. Tatsächlich war dann ja auch dein Leben sinnlos.« Innerlich immer noch entspannt, behielt Kwannon ihre Kampfhaltung bei. Ihr langes Schwert wies nach unten, das Zweitschwert lag an der Rückseite ihres linken Arms. »Du bist dumm oder verrückt, wenn du das denkst.« »So?« Er verließ seinen Platz nicht. »Nichtsdestotrotz ist mir bekannt, was ihr den Weg der Kriegerin nennt. Ihr handelt aus Sorge für andere.« Langsam hob sich die Schwertspitze. Seine Waffen waren ebenso Worte wie Magie. Aber sein Wissen über Kriegerinnen war unvollständig. Kriegerinnen handeln jenseits von Liebe und Leid; sie denken nicht an Erfolg oder Versagen. »Der Tod ist der Weg der Kriegerin«, höhnte er. »Du bist schon so gut wie tot, und deshalb bist du an den richtigen Ort gekommen, an dem sich dein Geschick erfüllen wird.« Kwannon zeigte die Andeutung eines Lächelns. Seine Vorstellungen waren unreif. Sie hatte sich vor langer Zeit entschieden, den Tod zu akzeptieren, und das war nicht dasselbe. »Du fürchtest dich jedoch, dich denen beizugesellen, die du liebst.« Der Todeszauberer fühlte sich weder vom Tod noch vom Sterben angezogen; die Toten lockten ihn. Es war, als werde er ein bißchen größer. Sein Kopf hob sich wieder. »Du wirst es unmöglich finden, mich zu töten.« Beide Hände flogen vorwärts. Blaue Funken sprangen von einer Fingerspitze zur anderen und strömten dann von seinen Händen. Kwannon fiel auf ein Knie und kreuzte beide Schwerter über dem Kopf. Wo sie sich berührten, schlug der Blitz ein. Der Schock traf ihre Schultern wie Schläge. Bevor der Zauberer seine Kräfte sammeln konnte, um von neuem anzugreifen, sprang die Kriegerin plötzlich vor und drang mit den Schwertern auf ihn ein. Edan Eblis riß unter seinem weiten Pelzmantel ein Kind hervor, dessen Hände mit einem rauhen Strick gefesselt waren. Kwannon blieb wie angewurzelt stehen. Druce starrte sie an. »Es tut mir leid, Kwannon! Ich habe getan, was du mir gesagt hast, ehrlich. Ich bin auf Jahael sitzen geblieben, aber er hat irgend etwas mit ihr gemacht, und da hat sie angehalten, und er hat mich gepackt.« »Hör auf mit dem Geschwätz, Kuhfladen!« Der Nekromant umklammerte den Hals des kleinen Mädchens mit seiner knochigen, langfingrigen Hand. »Du siehst, Kriegerin, ich kenne dich besser, als du meinst. Du hast doch etwas zu verlieren. Paß auf.« Er zielte mit dem linken Zeigefinger auf ein großes Becken aus schwarzem Marmor. Das rote Wasser darin wirbelte links herum und wurde dunkel. »Sieh, was ich heute gesehen habe.« Kwannon sah in das Becken, die Aufmerksamkeit zwischen dem Bild
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und dem Zauberer geteilt. Das Wasser klärte sich und zeigte das Flußufer, wo sie mit dem Kind stand. Sie berührte die befreite Sklavin zärtlich. »Gib auf, Kriegerhure. Du liebst diesen elenden Kothaufen. Von dir hängt ihr Leben ab.« Die Zuneigung, die Kwannon gegen ihren Willen für Druce empfand, bürdete ihr ein zweites Leben zu ihrem eigenen auf, das ausgelöscht werden konnte. Gedanken drangen auf sie ein. Seine Wort-Waffen waren wirksam; sie war nicht fähig, sich in den nichtdenkenden Zustand zurückzuversetzen. Die Unentschiedenheit drückte ihre Schultern nieder. Der Nekromant hatte vor, Druce zu foltern und zu töten, ganz gleich, welche Lügen er vorbrachte. Was war jetzt wichtiger – das Leben eines einzigen kleinen Kindes oder das Auge Dhyanas mit seinen unzähligen Kräften? Sollte sie versuchen, ihre kleine Schutzbefohlene zu retten, oder sollte sie sie im Stich lassen und das Auge den bösen Absichten des Todeszauberers entziehen? Die Schwerter hingen locker in ihren Händen, nutzlos in den Qualen der Unentschiedenheit. Doch ein Gedanke kam ihr überhaupt nicht: Sie dachte nicht daran, ihr eigenes Leben zu retten. Ihr Sinn war auf weit Höheres gerichtet als die Sorge um ihr eigenes Wohlergehen. Nein! Kwannon war nicht vom Weg abgekommen, denn das war der Weg der Kriegerin. Beinahe instinktiv nahm ihr Körper von neuem Kampfhaltung an, und die Schwerter bewegten sich in die richtige Stellung, als hätten sie einen eigenen Willen. Sie würde sowohl das Auge als auch Druce retten. Schon legte sich ihre Verwirrung und verschwand im Reich des Nichtdenkens, da kam ihr eine Ahnung, sie könne versagen. Der Zauberer zehrte bereits von den Kräften des Auges. Kwannons Kriegsruf füllte die Kammer. Eblis schleuderte das Kind gegen die Wand, wo es bewußtlos liegenblieb, trat zur Seite und wölbte die Hände. Ein roter Dolch flog aus seiner Rechten auf Kwannon zu, die nach rechts auswich. Die Zauberwaffe durchdrang ihre linke Lunge und verschwand. Schmerz versengte ihr die Brust. Jeder Atemzug erneuerte die Pein. Wieder stieß sie ihren Kriegsruf aus, einen kehligen Laut, um in den richtigen Rhythmus zu kommen. Als sie sicher war, den Mann zu treffen, war er plötzlich nicht mehr da, sondern einen Fuß weiter links. Ein zweiter roter Dolch verschwand in ihrem Unterleib. Mit erhobenem Schwert stürmte Kwannon vor und schlug nach unten. Eblis wich der Klinge aus und erschien zu ihrer Rechten. Kwannon hob das Schwert von neuem und verfehlte ihn wieder. Ein dritter roter Dolch flog von seiner Hand in ihre rechte Achselhöhle. Ihr Schwertarm wurde schwach. Sie ballte die Linke zur Faust und schlug nach seinem Gesicht. Wieder war er nicht da, sondern zu ihrer Linken, die Hände ausgebreitet. Sie rammte, im Ausatmen schreiend, seine Brust mit der linken Schulter, und diesmal er-
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wischte sie ihn. Er sprang ungefähr zehn Fuß zurück. Sein Gesicht verdunkelte sich zu Purpur, die Adern an seinem Hals und seinen Schläfen traten hervor. Kwannon stellte sich zwischen ihn und das am Boden liegende Kind. Um einem weiteren roten Pfeil auszuweichen, mußte sie sich auf ein Knie fallen lassen. Der Pfeil fuhr durch ihren rechten Oberschenkel. Die unsichtbaren Löcher, die die ätherischen Waffen hinterließen, raubten ihr die Kraft. Wieder sah Eblis sie mit seinem gräßlichen Grinsen an. »Müde, Mädchen? Wie lange wirst du das durchhalten können? Mit bloßem körperlichem Stehvermögen ist man der Kraft, von der ich zehre, nicht gewachsen.« Mit bebenden Nüstern schritt er auf sie zu. »Stirb jetzt, Kriegerin, durch eben die Kraft, die du gekommen bist, nur zu stehlen.« Seine Hände gegen die Schwärze kehrend, sprach er Worte, die Kwannon fremd waren. Ein Schattenfaden stieg auf und wanderte auf die gewölbten Hände des Nekromanten zu. Langsam erhob Kwannon sich. Mit Schwertern konnte sie ihn nicht besiegen. Seine Magie war auf ihre Klingen abgestimmt. Sie warf beide auf den Steinfußboden. Das Klirren lenkte den Todeszauberer für einen Augenblick ab. Als er zu ihr hinsah, zog sich der dunkle Faden zurück. »Ob du dich ergibst oder nicht, Frau aus den Bergen, du stirbst. Dann werde ich das Kind Stück für Stück auseinanderreißen, als Opfer.« Kwannon hatte alle Kraft verloren und stolperte. »Niemals, Böser!« Unter qualvoller Anstrengung schleppte sie sich einen Schritt auf die Leere zu. Der Schattenfaden erschien von neuem und näherte sich den Händen des Zauberers. Noch ein Schritt Kwannons und er schloß die Hände über dem dünnen Gebilde. Noch ein Schritt, und Kwannon wurde immer schwächer, während der Nekromant stärker wurde. Energie flutete durch seine wächserne Haut, leuchtete aus seinen Augen. Beim nächsten Schritt traf das vom Dach abschmelzende Metall ihre rechte Schulter. Beim wieder nächsten brannte das flüssige Silber sich bis auf den Knochen durch, dann in den Knochen hinein. Der hohle Schrei des Zauberers hallte von den Mauern wider. »Bei der Macht Dhyanas, Hure, du bringst dich um!« Kwannon erreichte den trüben Horizont der Leere. Sie hielt weder inne, noch bedachte sie ihr Handeln. Sie schritt vom Was-ist ins Was-nicht-ist hinüber. Sie war so blind wie der alte Weise von Rotstein, aber wie er wußte sie, wohin sie ging. Sie streckte die Hände aus. Sie fror, sie erschauerte von einer Eiseskälte, die schlimmer war als der härteste Winter in den Bergen der Sonne. Müdigkeit zerrte an ihren Gliedern, während ihre Hände sich um einen facettierten Edelstein von zwei Zoll Durchmesser schlossen. Die
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tödliche Kälte, die von ihm ausging, durchdrang ihr Fleisch und ihre Knochen. Sie hob das Auge mit beiden Händen über den Kopf. Die Leere lichtete sich zu durchscheinendem Rauch. Kwannon drehte den Kopf zu Edan Eblis um. Er sah größer aus; er hatte viel Kraft an sich gezogen, bevor sie seine Quelle abschnitt. »Stirb, törichte Kriegerin! Du weißt nicht, wie du das Mana des Auges kanalisieren mußt.« Mit verschlungenen Händen richtete der Nekromant den linken Zeigefinger auf sie. Kwannon war durchpulst von Entschlossenheit. Die Kraft kehrte zurück. Jetzt fühlte sie keinen Schmerz mehr, ob von körperlichen oder von mystischen Wunden; sie fühlte nichts als die Richtigkeit und die Fülle ihres Weges, des Weges der Kriegerin, den Geist, zu siegen, wie auch die Waffe aussehen mag. Ein Schatten wuchs von Edan Eblis Fingerspitzen und streckte sich auf sie zu. »Dein Weg ist der meine, Dhyana«, sagte die Kriegerin. »Gebiete durch mich dem Bösen Einhalt, das dich benutzen wollte, um Leben zu vernichten.« Die nebelartige Kraftlinie drang in die Leere ein und berührte Kwannon. Ohne heiß zu sein, verbrannte sie ihr Fleisch schlimmer, als das geschmolzene Silber es getan hatte. Unsichtbares Feuer kroch an ihren Händen entlang. Dunkle Gewalt und Schmerz umgaben Kwannon. Die schwarze Linie der Qual verließ den Finger des Zauberers und drängte sich in das feurige Feld ihres gefolterten Geistes. Er war jetzt in Hochstimmung, seine Augen waren groß vor Leidenschaft. »Noch langsamer und schmerzvoller als du soll das Kind sterben, als unschuldiges Blutopfer der Unendlichkeit von Dhyanas Macht da gebracht.« Schmerz durchflutete sie. Jedes einzelne Gelenk hämmerte unter dem Gefühl, auseinandergerissen zu werden. Das immaterielle Feuer buk ihre Nerven, versengte ihre Muskeln und wütete in ihren Organen. Ihre Sicht verschleierte sich, und ihr Kopf schmerzte von der wilden, unwirklichen Hitze. Da das Auge seinem eigenen Zeitplan folgte, würde sie es ebensowenig zur Eile drängen wie Meister Keane. »Laß es los«, artikulierten die Lippen des Zauberers. »Dein Schmerz wird enden.« Ja. Ja, er hatte recht. Das Auge Dhyanas war die Quelle ihrer Pein. Ein feiner Schmerz zog an ihren Sehnen und senkte ihre Hände. Jetzt, auf Augenhöhe, bebte der glitzernde Stein in ihren schwach werdenden Händen. Kwannon kannte Schmerz aus ihren vielen Kämpfen, aber kein menschliches Wesen sollte diese Folter ertragen müssen, ohne das Bewußtsein zu verlieren. Ihre Finger öffneten sich. Das Auge wackelte, rollte. Nein! rief sie sich selbst voller Zorn zu. Nicht denken! Handeln! Sie richtete ihre
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Konzentration auf den Smaragd und stieß ihren Kriegsruf aus. Edan Eblis schrie. Sein Fleisch verdorrte, und seine Knochen brannten. Bei ihm, der sich außerhalb des Was-nicht-ist der Leere befand, war das Reißen und Brennen real. Bei Kwannon innerhalb der Leere hatten die Energien keine echte Existenz. Seine Glieder trennten sich vom Rumpf, sein brennender Körper zerriß. Er schrie pausenlos. Als letztes gingen seine Augen in Flammen auf. Die Kriegerin beobachtete den Todes-Orgasmus des Nekromanten, bis die weißen Knochen schwarz wurden und die einzelnen Teile als körnige Asche auf den Steinfußboden rieselten. Sie stieß ihren Siegesruf aus, und ihre Knie knickten ein. Schmerz und Bewußtsein verließen sie gleichzeitig. Als Kwannon erwachte, war das Feuer auf dem Dach ausgegangen. Eine kleine Kerze erhellte den dunklen Raum. Druce kniete mit zugekniffenen Augen neben ihr; beide Händchen umklammerten den Smaragd. Das Kind schluchzte, stöhnte immer wieder: »Stirb nicht!« Vor Kwannons Augen schloß sich die klaffende Wunde an ihrer rechten Schulter, Knochen und Fleisch. Sie drehte den Kopf, um deutlicher zu sehen, und die Bewegung rüttelte Druce auf. »Oh, Kwannon, du lebst! Ich hatte so Angst, du würdest sterben.« »Ich sterbe nicht.« Die Githrodi-Kriegerin erhob sich und schloß ihre Hände um die Fäustchen der Kleinen, die das Smaragd-Auge hielten. Wenn Druce jetzt schon, ohne Anleitung eine so bösartige Knochenwunde heilen konnte – was würde sie durch das Auge mit einer gründlichen Ausbildung in der Meditation vollbringen? »Du bist dazu bestimmt, es zu tragen.« Kwannon zog einen seidenen Beutel aus dem Ausschnitt ihres Hemdes. »Stecke das Auge Dhyanas hinein.« Damit band sie Druce die langen Lederriemen um die Taille. Kwannon sah nach dem ausgeweideten Vogel und stellte fest, daß er den Geist bereits aufgegeben hatte. Sie nahm ihre Schwerter auf und säuberte sie sorgfältig, bevor sie sie wieder in die Scheiden steckte. In ihrem Nachdenken war sie ebenso gründlich. Das Auge Dhyanas hatte, indem es sich stehlen ließ, seinen eigenen Weg verfolgt, um eine Githrodi-Kriegerin und dieses kostbare Kind zusammenzubringen. Kwannon sah das Mädchen an, dessen Blick so unverwandt an ihr hing, und erkannte, daß sie auf dem Weg der Kriegerin hinab- und einen anderen, selteneren und schwierigeren Weg hinaufstieg. »Ich werde über dich wachen, Druce. Ich habe mich entschlossen, die Wächterin deines Lebenswegs zu werden. Komm! Wir wollen nachsehen, was er Jahael angetan hat. Dann reiten wir zu den Bergen der Sonne.« Sanft und mit großem Respekt führte Kwannon, die Githrodi-Wächterin, die zukünftige Heiler-Magierin die Treppe hinunter und aus dem schwarzen Turm der Toten.
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Jennifer Roberson Bei der Arbeit einiger Autoren, von denen ich jedes Jahr kaufe, weiß ich von vornherein, daß ich die Geschichte annehmen kann, weil sie ihre eigene Anhängerschaft haben. Die erste in dieser Kategorie ist Jennifer Roberson. Ich freue mich vermutlich ebensosehr wie die Fans darauf diese neuen Geschichten zu lesen. Aber geht es beim Schreiben nicht überhaupt darum? – M.Z.B.
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Kriegsbeute Rings um sie sangen die Pfeile. Es kam ihr vor wie ein zischendes Todeslied, winselnd, summend, sirrend… der Aufschlag von Eisen auf Holz… das Kreszendo menschlicher Schreie. Aber die Melodie gefiel ihr nicht. Das Holz lebte in ihren Händen. Es zu berühren bedeutete Sicherheit, bedeutete die namenlose Vorstufe der Befriedigung. Es war nicht angenehm, einen Menschen zu töten, aber wenn sie ihn verfehlte, tötete er vielleicht sie. Sorgfältig legte sie die Finger um den Ledergriff. Vor vier Jahren waren diese Finger schwielig gewesen, die Hände einer fähigen Bogenschützin. Jetzt waren sie weich und weiß, die Hände der Lady eines Berglords. Mit der rechten Hand legte sie den rot befiederten Pfeil auf. Der Schaft war mit Schwarz-auf-Rot-auf-Weiß gebändert, den Farben des Lords. Die Pfeile, die an ihr vorbeizischten, waren weiß befiedert und trugen drei schwarze Streifen. Das waren die Farben des Feindes, der die Burg erobern wollte. Vier Jahre. Aber sie hatte es nicht verlernt. Mauerzacken schützten beide Seiten und schnitten die Winkel ab. Aber um zu zielen, brauchte sie Platz; um zu töten, mußte sie zielen. Und so trat sie von den Zacken weg und stellte sich vor die Schießscharte, die ihr bis an die Hüften reichte, nicht weiter. Jetzt war sie in der dreifachen Jacke ihres Lords ein leicht zu treffendes Ziel. Schwarz-auf-Rot-auf-Weiß. Rings um sie sangen die Pfeile. Ohne zu lächeln, wählte sie ihr Ziel: einen Mann in Schwarz und Weiß. Ohne zu lächeln, ließ sie den Pfeil fliegen… und er sang, wie er sang, als er den Himmel zerschnitt… Sie hörte das ferne Kreszendo, hörte den Schrei des Bogenschützen. Sie nahm einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn auf, zielte, schoß, hörte das Singen und hörte den Schrei, ohne daran Freude zu haben. Sie wußte, daß der Tod auch nur eines Feindes das Leben eines Freundes retten mochte. Vielleicht das Leben ihres Lords. Ein Schritt. Sie kannte ihn. Sie kannte die Hand, die sich auf ihre legte, als sie nach einem neuen Pfeil faßte, die Finger, die sich um ihr Handgelenk schlossen und sie hinter eine Zacke zogen. Und sie kannte auch die Stimme; im Bett flüsterte sie Liebesworte. »Genug«, sagte er. »Genug. Hier ist nicht der richtige Ort für dich.« Rot-auf-Schwarz-auf-Weiß. Aber die Seide seines Rocks war zerrissen und legte das Kettenhemd bloß. Sie blickte ihm ins Gesicht und sah Blut und Schmutz und ausdauernde Kraft, Entschlossenheit in dunklen Augen. Er hatte die Haube der Kettenrüstung abgelegt, und sie sah schweißfeuchtes Haar, flach gegen den Schädel gedrückt, außer da, wo das Geflecht der
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Stahlringe ein Muster gebildet hatte. Finger verweilten auf ihrer Hand. »Genug«, sagte er noch einmal. »Ich sehe, was es dir antut.« Ihre Hand schloß sich fester um den Bogen. »Schickst du mich von der Mauer hinunter?« Er war grimmig, aber auch sanft. »Ich muß. Um meinetwillen ebenso wie um deinetwillen. Ich fürchte, daß ich dich verlieren könnte.« Ein Pfeil sang an ihnen vorbei und prallte gegen den Stein. Keiner von beiden zuckte zusammen. »Willst du mir die Ehre nehmen?« Jetzt zuckte er zusammen; ihr Ton traf genauer als der Pfeil. »Das ist keine Frage der Ehre… es ist eine Frage von Leben und Tod.« »Du setzt dein eigenes Leben aufs Spiel.« Er war so gescheit, darauf zu schweigen, denn er hatte einmal geantwortet und dafür leiden müssen. Und doch wußte er ebenso wie sie, daß es nicht notwendig war, zu sprechen. Zwischen ihnen lagen die Worte: Der Krieg ist für Männer gemacht. »Geh nach unten«, sagte er. »Vergiß nicht, daß ich dein Lord bin.« Sie rührte sich nicht, doch sie fürchtete, der Bogen werde zerbrechen. »Willst du mir die Ehre nehmen?« Die Spannung zwischen ihnen schwirrte. Seine dunklen Augen waren bodenlos. »Ich möchte dich nicht verlieren.« »Wenn du mich hinunterschickst, wirst du mich verlieren.« Er konnte barsch sein, aber jetzt war er es nicht. In seinem Gesicht sah sie Bedauern, gemischt mit Bewunderung. »Du bist eine eigenwillige Frau.« »Das weißt du seit vier Jahren.« Zu ihrer Überraschung lachte er. »O ja, das stimmt… Aus dem Grund wollte ich dich haben.« »Und jetzt führst du einen Krieg.« Grimmig erklärte er: »Ich behalte, was mein ist: Vieh, Burg, Frau.« Ihr Gesicht bemerkend, lächelte er. »Ohne bestimmte Reihenfolge.« Sie zog einen Pfeil aus dem Köcher. »Ich werde diese Mauer nicht verlassen.« Er spähte über die Mauerzacke nach dem Feind. Und dann sah er seine Frau an. »Ich werde dich deine Ehre behalten lassen, wenn du versprichst, dein Leben zu behalten.« Ohne zu lächeln, legte sie den Pfeil auf die Sehne. Vor seinen Augen ließ sie ihn fliegen und lauschte seinem Gesang. Bei Sonnenuntergang kamen sie zu ihr und sagten, der Krieg sei vorbei. Sie meldeten ihr, der Lord sei tot. Der Feind hatte gesiegt. »Ja«, sagte sie. Ihr Köcher war leer. Für sie war der Krieg tatsächlich
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vorbei. Sie führten sie zu seiner Leiche. Andere Männer standen um sie im Kreis und schützten ihren Lord vor Pfeilen. Aber einer hatte genügt. Er war durch ein Auge ins Gehirn gedrungen. Sie kniete nieder. Zum ersten Mal seit Sonnenaufgang legte sie ihren Bogen hin. Sie berührte sein Gesicht und erkannte, daß er nicht mehr da war; sein Geist war davongeflogen. Stumm schloß sie sein anderes Auge, und dann erhob sie sich und sprach seine Männer an. »Der Lord ist tot. Der Krieg ist vorbei. Der Feind hat gesiegt.« Sie sah ihnen in die Gesichter. »Legt die Waffen nieder, und öffnet die Tore; der Sieger ist jetzt der Lord.« Sie lächelte nicht. »Ich bin Teil der Beute; so ergeht es im Krieg den Frauen.« Wie ein Mann richteten sie die Augen auf ihren Lord. Und gingen, die Tore zu öffnen. Der Sieger trat in der Halle des Burgturms vor sie. Jetzt seine Halle, nicht mehr die ihres Gatten. Sie erwartete ihn auf der Estrade. Rings um sie brannten die Kerzen. Er war noch nicht alt, aber er war auch nicht mehr jung. Jahrelange Kriegszüge mit allem, was dazugehört, hatten ihm das Haar oben auf dem Schädel geraubt, so daß er jetzt eine graue Kappe trug, wo die Sturmhaube ihn kahlgescheuert hatte. Seine Kettenrüstung glitzerte, sein Rock war schwarz und weiß. Schweigend wartete sie. Sie war keine demütige Frau und zeigte ihm jetzt auch keine Demut. Stolz wartete sie. Sie betrachtete den Mann, der ihren Gatten getötet, der Vieh, Burg, Ehefrau genommen hatte. In genau dieser Reihenfolge. Er blieb vor der Estrade stehen. Er war bewaffnet, wie es einem Sieger zusteht, und stolz. »Er hat gut gekämpft.« Seine Stimme war ein heiseres Grollen; das Brüllen von Befehlen ruiniert die Kehle. »Ja«, erwiderte sie, »das hat er. Es kümmerte ihn nicht, ob er mich verlieren würde.« Etwas bewegte sich in seinen Augen. »Ich habe dich auf der Mauer gesehen.« Ohne zu lächeln, hob sie das Kinn. »Wie viele habe ich getötet?« »Wie viele Pfeile hast du verschossen?« »Dreißig«, antwortete sie präzise, »mit Streifen in Schwarz und Rot und Weiß.« Er nickte einmal »Dreißig meiner Männer.« Es freute sie nicht, einem einzigen Mann das Leben zu nehmen, aber wenn es sein mußte, wäre sie bereit, es wieder zu tun. Im Krieg war das
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nichts als vernünftig; die Unvernünftigen überlebten nicht. »Der Lord ist tot«, teilte sie ihm formell mit. »Diese Burg und alles, was sie enthält, einschließlich der Bewohner, sind dein, um damit zu tun, was du willst.« Er bewegte sich nicht, aber er sah sie an. »War er freundlich, oder war er grausam?« »Beides und keins von beidem«, antwortete sie, »wie alle Männer sind. Das hängt davon ab, was sie wollen.« »Hast du Kinder?« »Keine, mein Lord«, sagte sie ruhig. »Das war sein größter Kummer.« »Und hat er dich dafür geschlagen?« »Nein, mein Lord. Das hat er nicht getan.« Seine Stimme klang ganz leise. »Hast du deinen Mann geliebt?« Sie schluckte heftig. »Einst habe ich ihn gehaßt, als er mich meinem Vater stahl, der mich lehrte, was Ehre ist. Doch mein Vater hatte mich ebenso gelehrt, daß im Haß keine Ehre ist, und so hörte ich auf damit. Ich haßte meinen Lord nicht mehr, aber ich liebte ihn auch nicht.« »Vier Jahre«, sagte er heiser, und sie sah die Tränen in den Augen ihres Vaters. Sie ging zu ihm. Sie nahm seine vom Kampf vernarbten Hände in die ihren und küßte sie zärtlich. »Ich schwöre, es spielt keine Rolle mehr. Ich wußte, du würdest eines Tages kommen.«
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B. A. Rolls Als ich diese Geschichte las, dachte ich, die farbige Sprache und die Art, in der sie gestaltet ist, könne den Lesern zeigen, was ich meine, wenn ich von Fantasy spreche. Sie ruft in meinem Geist Bilder hervor, die mich aus irgendeinem Grund an meine früheste Fantasy-Lektüre erinnern – nachdem ich ein langes Leben damit verbrachte, eine Menge Fantasy zu lesen. Das ist der Grund, warum ich sie mit meinen Lesern teilen möchte. Ich kenne viele Geschichten über dieses Thema, und sie haben mich überhaupt nicht bewegt. Hier ist dagegen eine, die in meinen Augen erzählt, worin es in der Fantasy geht – es ist die Kunst, unsere Tagträume zu teilen. B.A. Rolls ist Britin und, soviel ich weiß, nicht mit Dana Kramer-Rolls verwandt. – M.Z.B.
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Cholin von Carnel Am Zusammenfluß von Olsen und Vital unterhalb der Connatain-Berge steht der Aldorit. Der Name bezieht sich auf den ganzen Komplex wie auch auf den Tempel selbst: Reihe auf Reihe von Kolonnaden und geschwungenen Balustraden in weißem Marmor, geschmückt mit hellgrüner Jade und Chalcedon, erheben sich unvermittelt aus der flachen, alluvialen Ebene. Cholin stand neben der weißen Straße, der Abendkühle wegen den Mantel um sich geschlagen. Die niedrig stehende rote Sonne warf seinen Schatten weit über die Piazza. Er ignorierte die argwöhnischen Blicke aus den Reihen der Bittsteller, die vor den öffentlichen Zellen warteten. Der hochgewachsene, schmale junge Mann war wie ein Adliger oder zumindest wie ein Gelehrter gekleidet, trug jedoch weder Schwert noch Schreibtafel. Er war ein Rätsel, eine Quelle der Irritation. Cholin faßte einen Entschluß. Ohne auf das Murren zu achten, schritt er ungeduldig an den Schlangen entlang, ließ die Zellen hinter sich und betrat den eigentlichen Aldoriten. »Ja?« Cholin, der sich so sehr um Selbstbeherrschung bemühte, fuhr nichtsdestotrotz zusammen. Er blinzelte. Seine Augen hatten sich dem Dämmerlicht noch nicht angepaßt. Ein Priester in hierarchischer Robe stand wenige Schritte von ihm entfernt. »Ich suche Rat und Hilfe.« »Die öffentlichen Zellen sind draußen. Sie sind gut besucht, aber auch die längste Wartezeit endet einmal.« »Mein Problem ist nicht von der Art, daß es durch einen vernünftigen Rat oder einfach durch ein Arzneimittel gelöst werden könnte«, antwortete Cholin. »Auch wünsche ich nicht, Akoluthen zu konsultieren, deren Fähigkeiten sich auf die Beschwörung von Elementargeistern und anderer Wesenheiten beschränkt. Ich suche Rache.« »Du kannst für dein Anliegen bezahlen?« Cholin faßte in seinen Beutel und ließ den Smaragd in die Hand des Priesters fallen. Es war einer der schönsten Edelsteine, die das Haus von Carnel besessen hatte. Durch Zufall hatten die Räuber ihn übersehen. Der Priester warf einen Blick darauf und sagte dann: »Warte!« Seine Robe rauschte, und er war verschwunden. Gezwungenermaßen wartete Cholin. In dem höhlenartigen Tempel rings um ihn war es niemals still: Von den Altären entlang des riesigen Schiffes glühten Streifen orangefarbenen und roten Lichtes auf Wandteppichen in Grün, Rost und Silber, begleitet von halblauten Beschwörungen und anderen Geräuschen. Das Portal, erhellt von den letzten sterbenden Strahlen der Son-
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ne, bekam plötzlich eine große Anziehungskraft. »Komm!« Cholin folgte dem Priester durch das widerhallende Gewölbe des Schiffes in einen Irrgarten von Korridoren, eng und schwarz wie eine Krypta. Dann, bevor er sich eingeschlossen fühlen konnte, tauchten sie in einem Raum auf, der von hoch an der Wand angebrachten Laternen hell erleuchtet war. Der Schein eines Kohlenbeckens flackerte über das schwärzliche Gesicht eines Priesters, der Cholin ausdruckslos musterte. »Setz dich!« Er winkte Cholin zu einer Bank. »Lege die Natur deines Anliegens dar.« Cholin bemerkte, daß sich diese Priester im Gegensatz zu den Akoluthen in den öffentlichen Zellen weder einer hochtrabenden Sprache bedienten noch unnahbar gebärdeten. Ihre Kräfte mußten so gewaltig sein, daß Dünkel unter ihrer Würde war. »Ich bin Cholin – früher von Carnel. Mein Vater war Galmer, leitender Kaufmann und Seyyid dieses Hauses.« »Ah.« Der Priester beugte sich vor. »Das Haus von Carnel.« Er winkte einem Akoluthen, der ein geöffnetes Buch vor ihn hinlegte. »Der Aldorit unterhält einen leistungsfähigen Nachrichtendienst. Ach ja, Galmer, Händler in Edelsteinen, Handwerksmeister, Witwer, zwei Kinder: Cholin, von Hauslehrern und an der Elstern-Akademie ausgebildet, Petra, im Konvent von Chieves ausgebildet.« Er blickte aus verschleierten Augen zu Cholin auf. »Ich erinnere mich, daß Galmer einen gesellschaftlichen Ehrgeiz entfaltete, der den Unwillen des Adels erregte. Als das Haus geplündert und die Mitglieder des Haushalts erschlagen wurden, fiel der Verdacht natürlich auf die Himmelsgeborenen. Und nun suchst du Rache.« Cholin nickte schweigend. »Ich verstehe.« Der Priester schloß das Buch. »Erlaube mir, ein paar Punkte zu klären, die mir entgangen sein mögen. Du bist offensichtlich nicht ohne Mittel, und Gold kauft Männer. Warum Zuflucht zum Übernatürlichen nehmen? Es sei denn, du hast den Verdacht, dein Feind habe mächtige Zauberer in seinem Dienst oder besitze Sekretionen (Als die Energien jenseits des Netzes auf die Welt trafen, bildeten sich oftmals an Strudeln Lagerstätten aus Materie, die aus dem Limbus oder vielleicht aus der Essenz des Netzes selbst stammten. Sekretionen bergen verschiedene spezifische oder allgemeine Kräfte, die magische Aktivitäten entdecken oder abwehren; einige vermitteln sogar paranormale Fähigkeiten. Gefälschte Sekretionen sind ebenfalls weit verbreitet.) von überragender Wirksamkeit.« »Ich verstehe deinen Standpunkt«, antwortete Cholin. »Ich könnte die Identität der Männer entdecken, die die Streiche geführt haben, und natürlich möchte ich sie zur Rechenschaft ziehen. Aber solche Männer handeln nicht allein. Ein Adliger oder mehrere Adlige haben die Morde befohlen. Ich möchte meinen wirklichen Feind, die Himmelsgeborenen mit einer
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furchtbaren Rache treffen. Beziehungsweise die unter ihnen, die sich weigern, den Unbewaffneten als menschlich anzusehen.« Der Priester nickte. »Du bist allein? Keine Gefolgsleute, keine Söldner?« »Eine Armee liegt jenseits meiner Möglichkeiten, und ein Dutzend Männer ist nicht besser als ein einziger.« »Du hast andere Wege erkundet, Gerechtigkeit zu finden?« »Das Kolleg des Heiligen Willens? Ich habe mir verschiedene Moralpredigten anhören müssen, daß es eine Tugend sei, den Willen zu akzeptieren, der sich dadurch manifestiere, daß er die Himmelsgeborenen über uns gestellt habe. Die Arkone vom Gerichtshof des Gottkaisers? Welcher Richter würde einen Fall übernehmen, in den ein Adliger verwickelt sein könnte?« »Du wendest dich also, zurückgewiesen von den Vertretern des Himmels, an jene der Hölle. Nun, wir vom Aldoriten haben für den Adel nichts übrig. Wir werden dir helfen. Doch zuerst eine Warnung: Wir geben keine Garantien.« Mit erhobener Hand wehrte er Cholins Protest ab. »Oh, wir erfüllen unseren Teil der Abmachung, aber die Mächte jenseits des Netzes sind bestenfalls unberechenbar und schlimmstenfalls gefährlich. Sollte die dämonische Manifestation die Hilfe verweigern, gibt es keine höhere Instanz, an die wir appellieren könnten. Bitte, entferne jetzt alle Gegenstände aus Eisen und alle Sekretionen von deiner Person. Mein Kollege wird sie in Verwahrung nehmen.« Cholin legte Messer, Schnallen und eine Sammlung von Sekretionen in Ringen und Armreifen ab. Während er damit beschäftigt war, traten zwei weitere Priester ein. Sie führten einen die Füße nachschleppenden Mann mit leerem Gesichtsausdruck, der offensichtlich von irgendeiner Droge betäubt war. Bevor Cholin etwas sagen konnte, murmelte der Priester: »Der Mann ist ein verurteilter Mörder aus den Zellen von Duval. Er wird auf jeden Fall sterben, und sein Tod wird hier weniger gräßlich sein als von den Händen des öffentlichen Erwürgers. Das Netz kann normalerweise nicht vom Willen allein durchdrungen werden; es ist dazu Lebenskraft erforderlich.« Entschlossen zwang sich Cholin zum Zusehen. Der Priester ergriff ein Messer aus vulkanischem Glas und hob es. »Teile dich, Substanz des Netzes!« rief er. »Hört uns, ihr Mächte jenseits des Netzes. Nehmt unsere Opfergabe an und manifestiert euch.« Während er sprach, wurde das Licht der Laternen matter und glühte rot. Abrupt stieß er dem Übeltäter das Messer ins Rückgrat. Ein dumpfes Grollen erklang, wie unterirdischer Donner.
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Der Streich war schnell und gnädig geführt worden; der Mann brach lautlos zusammen. Cholin, dessen ganzer Körper angespannt war, starrte vorbei an dem Kohlenbecken, in dem Harze rauchten und flackerten, zu der Stelle, wo der Raum neblig, dann rot wurde und sich schließlich klärte. Cholin und die Priester sahen sich keiner Steinmauer gegenüber, sondern einem Schauplatz der Hölle. Sie hatten den Pfad geöffnet, das Netz durchdrungen und die dämonischen Kräfte beschworen. Auf einer mit Häuten belegten Estrade saß der Dämon, schwärzer als eine sternenlose Nacht, mit Augen wie gelbe Zwillingslampen des Bösen. Um ihn lagerten geringere Bewohner der höllischen Regionen, manche von menschlicher Erscheinung, andere von abstoßendem Äußeren. Allen Naturgesetzen Hohn sprechend, floß ein spiralförmiger Blutstrom aus dem Loch im Rücken des Toten in eine geschwärzte Schüssel, die der Dämon in den Händen hielt, und ließ die Leiche weiß und schlaff zurück. Der Dämon berührte die Schüssel mit den Lippen und hielt sie dann seinen Dienern hin. Wie eine entsetzliche Flut krochen sie vor und langten nach dem rauchenden Gefäß. Schöne junge Männer und Frauen balgten sich mit scheußlichen Kreaturen, aber Cholin fiel auf, daß sie achtgaben, keinen einzigen Tropfen zu verschütten. Der Dämon richtete die Augen auf die Priester. »Das Netz ist zerrissen«, sagte er. »Raakuk ist erschienen. Er und seine treuen Gefährten haben gespeist. Was ist euer Begehr?« Der Priester trug Cholins Beschwerde und seinen Wunsch nach Rache vor. Als er fertig war, lachte der Dämon, wobei das Innere seines Mundes glühte wie ein Schmelzofen, und winkte Cholin. Cholin näherte sich ihm, und er spürte die Hitze des Landes jenseits des Netzes auf der Haut von Gesicht und Armen. Er war sich bewußt, daß der Hof des Dämons ihn genau musterte, aber er sah unverwandt in die gelben Augen. »Du zeigst keine Furcht«, knurrte Raakuk. »Das gefällt mir. Deine Motive sprechen mich an, Cholin von Carnel. Ich habe es satt, mir kleinliche Zänkereien anzuhören; es ist erfrischend, bei einem Angehörigen deiner weichen Rasse einmal echten Haß anzutreffen. Wäret ihr weniger fügsam, gäbe es bei euch längst keine Adligen mehr. Die Schafe müssen den Wolf akzeptieren oder lernen, selbst Wölfe zu sein. Die Opfergabe war gut: reich mit Sünden beladenes Blut. Ich hin geneigt, großzügig zu sein, und will dir helfen. Nicht zu sehr, denn die Entfernung jedes Hindernisses würde nur das Amüsement an der Farce schmälern, die ihr Sterblichen Leben nennt.« Er wandte sich einem Bediensteten zu. »Wirf dem Sterblichen Sternenfeuer zu.« Ein schuppiger Horror suchte in einer Truhe und förderte ein in Lumpen gehülltes Bündel zutage, das er
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Cholin zuwarf. Der Gegenstand glühte kurz auf, als er die Grenze zwischen den beiden Welten passierte. Cholin löste die Umhüllung und fand ein schweres Schwert mit Kreuzgriff aus gut getempertem Metall. Trotz seines Gewichts lag es angenehm in der Hand. »Sternenfeuer ist von Dämonen geschmiedet«, berichtete Raakuk ihm. »Es wird keine Felsblöcke spalten oder ähnliche Albernheiten vollbringen, aber es wird sich im Vergleich zu sterblichen Klingen als zuverlässiger erweisen. Natürlich ist es frei von Eisen und daher durch Thaumaturgie nicht zu entdecken.« Cholin murmelte seinen Dank und hoffte, die Gefahren, die das Annehmen von Dämonen-Geschenken angeblich barg, seien reine Propaganda seitens des Kollegs vom Heiligen Willen. »Du dienst meinen Zwecken ebenso wie deinen eigenen«, fuhr der Dämon fort. »Der Druck des Kollegs auf den Aldoriten nimmt täglich zu. Ich sage dir dies, damit du meine uncharakteristische Großzügigkeit verstehst, die niemals von desinteressierter Menschenliebe herrührt. Außerdem bin ich bereit, dir einen Schutzgeist zu gewähren.« Cholin fuhr zusammen. Ein dämonischer Schutzgeist würde ihn auf gleichen Fuß mit den größten Zauberern stellen. Und doch, sein Leben mit einer höllischen Kreatur zu verbringen, sie mit seinem Blut zu ernähren… Aber er hatte keine Wahl: Wenn irgendein Kurs noch gefährlicher war als das Annehmen eines Dämonen-Geschenks, so war es seine Ablehnung. Raakuk sah sich unter seinem Gefolge um, und von Zeit zu Zeit warf er Cholin einen Blick ironischer Belustigung zu. Endlich sprach er. »Ailuah.« Unter allgemeinem Schweigen näherte sich ein Wesen aus der Gesellschaft der Estrade. Cholins erste Reaktion war Erleichterung, daß es zumindest menschlich war. »Ailuah«, schnurrte Raakuk, »bist du einverstanden, diesem Sterblichen zu dienen, sein Blut zu nehmen und dafür die Energien des Netzes zu seiner Hilfe zu lenken?« Das Wesen hob den Kopf, und Cholin bemerkte, daß die Dämonenfrau schön war – auf eine düstere Art und Weise. Dichtes schwarzes Haar umgab ein Gesicht, aus dessen dunklen Augen der Haß brannte, und trotzdem war es fesselnd. »Dich zu zähmen war eine Herausforderung, Ailuah«, sagte der Dämon, »aber unterhaltsam. Nun?« Die Frau sah Cholin an. »Ich bin bereit, Herr.« Raakuk lächelte. Dann faßte er mit einer Bewegung, der das Auge nicht folgen konnte, die Frau beim Arm und schleuderte sie Cholin zu. Beim Passieren des Netzes glühte ihr Körper kurz auf, und ihr Schmerzensschrei hallte noch wider, als sie vor ihm niederfiel. Raakuk nickte dem Priester zu, der das Opfer dargebracht hatte. Das
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Glasmesser blitzte auf und hinterließ eine rote Linie auf Cholins Unterarm. »Sterblicher«, sagte der Dämon, »dein Schutzgeist ist jetzt Teil von dir, bis der Tod euch scheidet. Ailuah, nimm deinen neuen Herrn an.« Die Frau blickte mit nicht zu deutendem Gesichtsausdruck zu Cholin hoch. Dann beugte sie sich nieder und legte die Lippen auf den Kratzer. Ihre Zunge strich über sein Fleisch, und für einen Augenblick geriet sein Entschluß ins Wanken. Rechtfertigte selbst seine hingemetzelte Familie diese Verbindung mit dem Bösen? »Sie wird dir gut dienen«, sagte Raakuk. »Sie hat ihre eigenen Gründe, die Himmelsgeborenen zu hassen. Bringt mir bald mehr Blut, Priester. Laßt das Netz zurückkehren.« Seine Stimme verklang, und als Cholin aufsah, hatte er wieder die Steinmauer vor sich. Aber es war keine Illusion gewesen. Auf dem Boden lagen Sternenfeuer und die blutleere Leiche des Verbrechers, und neben ihm kniete das Dämonenmädchen. In einem Vorzimmer sah sich Cholin die Frau, die ihn argwöhnisch betrachtete, genauer an. Sie trug nichts als ein grobes Hemd, ihre Füße waren bloß. Cholin wandte sich an den Priester. »So kann sie hier nicht weggehen.« »Ich werde Kleider holen«, antwortete der Mann, »dazu Wasser, Salben und andere Dinge, die Frauen brauchen.« Er hielt inne. »Die Hilfe, die Raakuk gewährt, geht über meine Erwartungen hinaus, aber ich bin mir nicht sicher, ob man dir gratulieren soll.« Cholin nickte kurz. Der Priester hatte ausgedrückt, was er selbst empfand. Ein Akoluth trat mit Kleidung und Toilettenartikeln ein und legte alles vor Ailuah hin. Ein zweiter reichte Cholin eine gefälschte Lizenz, Sternenfeuer zu tragen. Ein dritter stellte das Paket mit Eisen und Sekretionen ab. Die Priester gingen hinaus. Cholin und die Frau waren allein. Er fühlte sich verlegen, wußte nicht, wie er sie behandeln sollte. »Wäre es dir lieber, wenn ich mich zurückzöge?« Sie zuckte die Schultern. »Es gibt keine Demütigung, die mir nicht widerfahren ist.« Ihre Stimme war leise und angenehm, der Ton enthüllte keine Emotion. Cholin schloß einen Kompromiß, indem er ihr den Rücken kehrte und seine Besitztümer wieder an sich nahm. Dann kam sie um ihn herum und stellte sich vor ihn. Er war überrascht. So wie jetzt, gewaschen, in Dunkelgrün gekleidet, das Haar frei von Zotteln, wäre sie eine Zierde für jede Zusammenkunft von Adligen, Kaufleuten oder Gelehrten gewesen. Sie kam näher, als er die Sekretionen öffnete und mit dem Zeigefinger hineinpiekte. »Das da – und das – sind von beschränktem, wenn auch unspezifischem Nutzen. Die übrigen Dinge sind Fälschungen, obwohl dieser Ring eine gewisse ästhetische Wirkung hat.« »Für alle besitze ich Garantien des Kollegs, und sie waren sehr teuer«,
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protestierte Cholin. »Trotzdem ist es so.« Ailuah verlor das Interesse. »Kannst du Sekretionen anfassen und die Nähe meines Stahlmessers ertragen?« »Natürlich bin ich gegen solche Dinge etwas empfindlich, aber wir Schutzgeister haben die Eigenschaften normaler Sterblicher, obwohl wir körperlich sehr stark sind. Die Situation ist anders, wenn wir die Kräfte jenseits des Netzes verwenden.« »Komm«, sagte Cholin, »gehen wir!« Im Augenblick nicht an ihren Ursprung denkend, legte er ihr die Hand auf die Schulter. Sie lächelte zu ihm auf, und er sah, daß ihre Eckzähne lang und scharf waren. Instinktiv riß er seine Hand zurück, und sie wandte sich ab. Ihr Lächeln war verschwunden. »Ein Anpassungsprozeß«, sagte sie. Keiner von beiden sagte mehr ein Wort, während sie dem wartenden Priester durch die Korridore folgten und den Aldoriten durch eine Seitentür verließen. Draußen in der Abenddämmerung fand Cholin Worte für seine Ängste. »Was die Natur unseres Vertrags angeht – stimmt es, daß du zu deiner Ernährung auf mein Blut angewiesen bist?« »Nun, nur zum Teil«, antwortete Ailuah. »Ich brauche Essen wie jeder Sterbliche – in den meisten Beziehungen bin ich eine normale Sterbliche –, aber allen, die jenseits des Netzes gewesen sind, mangelt etwas, das wir nur aus menschlichem Blut gewinnen können. Die Mengen sind gering; ich könnte mich ja nicht allein von deinem Blut ausreichend ernähren, ohne dich zu töten. Vielleicht hätte die Wissenschaft der Biochemie klären können, um was es sich bei dem uns mangelnden Stoff handelt, aber diese Kenntnisse sind vor Äonen verlorengegangen.« »Wissenschaft?« fragte Cholin belustigt. »Dann bist du wohl anderer Meinung als die modernen Gelehrten, die solche Dinge für Mythen halten.« »Es hat sie tatsächlich einmal gegeben«, erklärte Ailuah »als die Erde noch jung und die Zauberei ein Mythos war. Wissenschaft war das systematische Studium von Wissen, neutral, ohne Abhängigkeit von Willensanstrengungen oder übernatürlichen Kräften. Hätten wir heutzutage Wissenschaft, könnten wir das Netz kontrollieren.« »Woher weißt du das?« Cholin scherzte nicht mehr. »Wer bist du?« Sie zuckte die Schultern. »Eine nicht bemerkenswerte Tochter des Adels, die nichts Besseres erwartete, als zum dynastischen Vorteil an einen Ehemann verschachert zu werden. Aber mein Vater hatte viele Töchter; deshalb wurde mir erlaubt, das Weltliche Kolleg in Albdrovah zu besuchen. Dort studierte ich die Fragmente des Wissens, die aus der fernen Vergangenheit übriggeblieben sind. Die Physik, das ist die Lehre von den
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Kräften, die wirken, ob der Mensch sie beobachtet oder nicht, die seltsamen Beziehungen der Physiologie, die Geheimlehre der Mathematik, die es uns ermöglicht, Modelle der Welt in Zeichen auf einem Blatt Papier zu bauen. Mein Haus ignorierte mich, und ich war glücklich. Aber meinen Vater ärgerte das, was er als nutzloses Bücherwissen ansah, und er sagte sich, der Preis, den er für mich vom Aldoriten erhalten könnte, sei mehr wert als irgendwelche zweifelhaften Heiratsaussichten.« Cholin schwieg eine Weile. »Die Beschäftigung mit alten Lehren wurde an der Elstern-Akademie nicht gefördert, aber ich habe nur oft gewünscht, mehr zu wissen… »Und heute, Herr?« fragte Ailuah. »Was ist dein gegenwärtiger Wunsch?« »Wir reisen südwärts, um in meiner weiteren Heimat in Erfahrung zu bringen, was wir können. Ich werde für Reittiere sorgen – falls du nicht über alternative Transportmittel verfügst.« »In dieser Welt bin ich an ihre Gesetze gebunden«, sagte Ailuah. »Dämonische Kräfte dürfen nicht für kleine Bequemlichkeiten losgelassen werden.« Die erste Aufgabe der beiden war es, diejenigen zu identifizieren, die das Haus von Carnel geplündert hatten. In der Nähe der Ruinen seines Heims stellte Cholin diskrete Fragen und erfuhr, einer der Häusler habe die Räuber vorbeireiten sehen. Sie lauerten diesem Unglücklichen auf, aber er erkannte Cholin und weigerte sich zu sprechen. Vielleicht glaubte er wie die meisten Bauern, was die Himmelsgeborenen tun, dürfe nicht in Frage gestellt werden; vielleicht fürchtete er Vergeltungsmaßnahmen. Cholin bot ihm Gold, dann faßte er, außer sich geratend, nach seiner Klinge, aber eine Hand berührte sein Handgelenk. Ailuah trat vor, hielt die Augen des Mannes mit den ihren fest, fuhr mit der Zunge vielsagend über die langen Eckzähne. »Du magst den Tod nicht fürchten. Fürchtest du die Hölle? Soll ich dein Blut trinken und deine Seele den Mächten jenseits des Netzes überantworten?« Der Bauer wimmerte, sprach in großer Hast. »Es war Taifels Truppe; ich habe ihr Abzeichen erkannt. Heiliger Wille, vergib mir meine Schwäche…« Er schluchzte immer noch, als sie ihn verließen. Eine Weile ritten sie schweigend dahin. Dann fragte Cholin: »Kannst du das tun?« Ailuah schüttelte den Kopf. »Ich habe es nur gesagt, um ihm Angst einzujagen.« In einem nahe gelegenen Wirtshaus nahmen sie ein Zimmer und entfernten alle Spuren von Eisen daraus. Ailuah kniete auf dem Fußboden
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nieder, die Augen geschlossen. Bei der Willensanstrengung, die notwendig ist, das Gewebe der Realität zu verzerren und sie zu zwingen, die gesuchte Information herauszugeben, bedeckte sich ihr Gesicht mit Schweiß. Dann fielen ihre Schultern plötzlich herab, und sie wäre umgefallen, hätte Cholin sie nicht aufgefangen und auf einen Strohsack getragen. »Herr«, flüsterte sie. »Taifels Truppe ist in der Provinzhauptstadt Albdrovah.« Als Cholin sich aufrichten wollte, hielt sie seinen Arm fest. »Es tut mir leid, aber ich brauche…« Tränen der Schwäche rannen ihr aus den Augen. »Mein Blut?« Sie nickte. »Nun gut, was muß ich tun?« »Leg dich einfach hin.« Cholin beobachtete sie mißtrauisch, dann packte er ihr Handgelenk, und ein Keramik-Messer klirrte zu Boden. »Ich habe nicht vor, dir etwas zu tun«, protestierte Ailuah. »Meine Zähne würden dein Fleisch quetschen. Ein Messer verursacht weniger Schmerz, und die Wunde heilt schneller.« »Raakuk hat uns nur gebunden, bis der Tod uns scheidet.« »Ein Schutzgeist kann seinem Herrn nichts tun. Außerdem…« Cholin wartete, aber sie sprach nicht weiter. Sich seines Verdachts schämend, hob er das Messer auf und legte es ihr in die Hand. Tatsächlich war es weniger unangenehm, als er es sich vorgestellt hatte: Ihr warmer Körper neben ihm war beinahe tröstlich. »Ailuah«, fragte er freundlich, »wie ist das für dich?« Sie drehte den Kopf. Das dunkle Haar verbarg ihren Gesichtsausdruck. »Stell dir vor, du ißt so üppige Speisen, daß dir schlecht davon wird, aber du kannst nicht aufhören. Aber Schutzgeister ziehen Trost aus der Nähe ihrer Herren, auch wenn diese sie verabscheuen.« »Ich verabscheue dich nicht«, sagte Cholin. »Meine arme Ailuah. Als könnte ich den Tugendbold spielen, nachdem ich die Hilfe des Aldoriten gesucht habe.« Sie murmelte: »Wenigstens versuchst du, deine Gefühle zu verbergen.« In dieser Nacht wurde Cholin von Träumen heimgesucht, in denen er die panikerfüllten Schreie seiner Schwester hörte, die vergewaltigt und in die Flammen geworfen wurde. Er stellte sich das alles nur vor, denn er war in Elstern gewesen, und als er heimkam, war die Asche des Hauses schon kalt. Er schrie auf, schlug nach immateriellen Angreifern. Er fühlte Ailuahs Berührung und erwachte, klammerte sich an ihre Hand, bis er sich schließlich seiner Schwäche schämte und sie losließ. Als erkenne sie seine Stimmung, kehrte sie schnell auf ihren Strohsack zurück. Sie kamen nach Albdrovah. Die Straßen waren überfüllt, denn die Zeit des Festes näherte sich, an dem die jungen Männer der Himmelsgeborenen in die Welt der Erwachsenen aufgenommen werden. Zeremonien im Heili-
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gen Kolleg wechselten mit Mutproben ab, bei denen mehr als ein EmbryoAdliger ums Leben kommen sollte. Wahrscheinlich würde auch eine große Zahl von Unbewaffneten getötet werden, aber diese pflegte niemand zu zählen. Nichtsdestotrotz hoffte jeder Kaufmann und jeder Gaukler, das Mißfallen oder die Ausgelassenheit der Himmelsgeborenen werde ihn nicht treffen. Ailuah zeigte ihm, wo sie als Studentin, ignoriert von ihrem adligen Haus, gelebt hatte, und ihr Gesichtsausdruck wurde dabei weich. Die Stadt war ziemlich altertümlich mit engen, kopfsteingepflasterten Straßen. Die aus Stein erbauten Häuser trugen hohe Giebeldächer, die mit dunkelroten Ziegeln gedeckt waren. Bald hatten sie herausgefunden, daß Taifels Truppe sich in einem großen Gasthof am Rand der Stadt einquartiert hatte. Der Wirt, der sie als weder an Geld noch an Einfluß reich einstufte, zeigte ihnen ein finsteres Gesicht. »Ich nehme an, ihr stellt keine großen Ansprüche. Die Staatsgemächer sind von Taifels Truppe besetzt, und die GartenSuite ist für Seine Erlaucht, den Himmelsgeborenen Surthal reserviert. Wir haben nur noch Dachkammern frei, und für diese verlange ich den Wochentarif, zahlbar im voraus.« »Deine Bedingungen sind recht zufriedenstellend.« Cholin öffnete seinen Beutel. Der Wirt grunzte und rief seine Tochter, die neuen Gäste zu bedienen. Sie hieß Mylena und war ein dickes, träges Mädchen, hübsch auf eine leere Art. Cholin war nicht entgangen, daß Ailuah zusammengezuckt war, als der Name des Adligen fiel. »Du weißt von diesem Surthal«, sagte er, als Mylena das Gästebuch aufschlug. »Er ist nicht gerade der humanste der Himmelsgeborenen zu nennen«, antwortete sie indirekt, »doch sind die Unbewaffneten in seinen Augen seiner Aufmerksamkeit nicht würdig. Ein solches Massaker paßt eigentlich nicht zu ihm.« Mylena machte einen geistesabwesenden Eindruck; beim Eintragen der Namen zitterte ihre Hand, und Cholin mußte sie auffordern, sich die Lizenz anzusehen, die ihm, einem Mann aus dem Volk, erlaubte, Waffen zu tragen. Vielleicht war sie an dem Verdienst, den Surthal ihnen brachte, weniger interessiert. In ihrem Zimmer sagte Cholin: »Bleib du hier, ich werde versuchen, über Taifel herauszufinden, was möglich ist. Diese Mylena könnte allerhand wissen.« »Ich dachte, wir seien hergekommen, um nach Taifels Truppe zu suchen, nicht, um hinter Frauen herzulaufen«, bemerkte Ailuah gereizt. Tatsächlich fand Cholin die stumpfsinnige Mylena wenig anziehend, aber er fühlte sich ungerecht beurteilt und gab scharf zurück: »Wir müssen erfahren, wie groß ihre Zahl ist und was sie vorhaben.
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Vielleicht kannst du mich nicht direkt töten, aber wenn du mich überreden willst, alle Vorsicht fahrenzulassen, ist das kaum ein Unterschied.« »Dann laß dich ohne meine Hilfe umbringen«, fauchte Ailuah. »Wenigstens habe ich…« Sie brach ab, schniefte, lief aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Kurze Zeit später starrte Cholin mißmutig in sein Bier. Mylena hatte ihm bereitwillig mitgeteilt, was sie wußte, aber es war deprimierend gewesen. Taifels Truppe bestand aus etwa zwanzig erfahrenen Männern. Sobald der Adlige und sein Sohn da waren, würden sie alle bei der Hand bleiben. Zumindest vorerst wurde also nichts aus seinem Plan, sie einzeln oder zu zweit zu überfallen. Er versuchte, sich einzureden, Ailuah benehme sich unvernünftig, aber er war sich zu seinem Unbehagen bewußt, daß er sie schlecht behandelt hatte. Er hatte fast ebensowenig Einfühlsamkeit bewiesen wie ein Adliger, der glaubt, die Unbewaffneten spürten keinen Schmerz. Er stellte den Bierkrug hin. Von den strengen Elstern-Schulmeistern darin geübt, seinen Appetit zu beherrschen, war er zu enthaltsam in seinen Gewohnheiten, um sich dem Trunk hinzugeben. Stimmen klangen aus dem Vorraum herein, und er blickte hoch. »Meine Ehrerbietung, Hauptmann Taifel«, begrüßte der Wirt den Neuankömmling kriecherisch. »Euer Erlaucht, welche Ehre, daß Ihr und Euer edler Sohn meinen armen Gasthof besucht.« Cholin, unbemerkt im Schatten sitzend, spannte die Muskeln an. Vielleicht war es gut, daß Sternenfeuer oben in seinem Zimmer war, denn andernfalls hätte er versucht sein können, die Männer auf der Stelle anzugreifen. Er lächelte schief. Eine solche Tat würde Ailuahs abfällige Meinung über sein Urteilsvermögen bestätigen. Den Wirt ignorierend, winkte der Himmelsgeborene Mylena, die zögernd näher kam. Er drehte ihr Gesicht dem Licht zu. »Du solltest beginnen, deine Vorrechte wahrzunehmen«, sagte er zu seinem Sohn, einem blassen, reizbaren Jüngling. »Du kannst die hier benutzen, wenn wir vom Kolleg zurückkehren.« »Aber ich soll nach dem Fest verheiratet werden«, stammelte Mylena unter Tränen. »Heiliger Wille, Schlampe!« bellte Surthal. »Sprich nicht noch einmal von der Brunst unter euch Niedrigen in Verbindung mit dem Wunsch eines Himmelsgeborenen!« Das Mädchen entfloh. Cholin wurde von Mitgefühl für sie überwältigt, aber schließlich war er nicht einmal imstande, seine eigenen Interessen zu vertreten. Er schob seinen unberührten Bierkrug beiseite. Es hatte keinen Sinn, die Tatsachen zu verdrehen. Die gute Meinung des Dämonenmädchens war ihm wichtiger, als er sich hatte eingestehen wollen. Er mußte zu ihr gehen und sich entschuldigen. Was Taifels Truppe betraf, fand sich vielleicht eine bessere Gelegenheit nach
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dem Fest. Bevor er aufstehen konnte, schlüpfte Mylena in den Schankraum zurück. Sie blickte nervös über die Schulter. »Hauptmann Taifel hat erfahren, daß du Fragen über ihn gestellt hast«, flüsterte sie ihm zu. »Ich hörte ihn sagen, er werde dich lehren, weniger neugierig zu sein.« Sie faßte unter ihre Röcke und brachte Sternenfeuer zum Vorschein. »Ich dachte, das könnte helfen.« »Wo ist Ailuah?« »Im Garten. Sie weint, aber sie will nicht sagen, warum.« Cholin schloß kurz die Augen. »Richte ihr von mir aus, sie solle fliehen, um sich zu retten. Sag ihr auch noch – nein, sonst nichts. Geh schnell, ich höre Stimmen.« Taifel führte etwa zwanzig Männer herein; wahrscheinlich war es die ganze Truppe. Kein einziger Mann hatte einen Blick für Mylena übrig, die hinauseilte. »Söldner«, sagte Taifel, »du hast unverschämte Fragen gestellt.« »Ich bin ohne Dienst«, antwortete er höflich. »Ich hatte auf eine freie Stelle gehofft. Komm, laß dich zu einem Krug Bier einladen.« Taifel ignorierte das. Er wies auf einen seiner Männer. »Gessner, erteile diesem Flegel eine Lektion.« Cholin blieb bewegungslos sitzen, doch seine Gedanken wirbelten. Wenn er sich nicht wehrte, geschah vielleicht nichts Schlimmeres, als daß sie ihn zusammenschlugen – nein, er wollte nicht länger ein Schaf sein. Er umfaßte den Griff Sternenfeuers, der unter der Tischkante verborgen war. Die besten Fechtmeister hatten ihn unterrichtet; jetzt würde sein Geschick auf die Probe gestellt werden. Er sprang auf die Füße und stieß Gessner das Schwert, das in der trüben Beleuchtung schimmerte, in den Hals. Bevor der Tote umfallen konnte, stürmte er vor, zerschnitt einem anderen Mann das Gesicht und zog die Klinge im Aufschwung einem dritten über die Schulter. Inzwischen hatten die Krieger ihre Schwerter gezogen, aber die Tische der Gaststube behinderten sie in ihren Bewegungen. Einer stolperte über eine Bank; Sternenfeuer stanzte ein Loch durch seine Rüstung. Raakuk mochte sagen, was er wollte – dies war keine gewöhnliche Klinge. Taifel trieb seine Männer mit Flüchen zurück. Dann stellten sie sich in einer Reihe mit großen Zwischenräumen auf und umgingen die Tische beim Vorrücken. Cholin war klar, hatten sie ihn einmal an die Wand gedrängt, war er verloren. Wie viele hatte er ausgeschaltet? Vier? Fünf? Einerlei, es waren immer noch zu viele. Nur in Heldensagen überwindet ein einziger Mann viele ausgebildete Krieger. Nun würde sein Rachezug ruhmlos auf diesem blutdurchweichten Fußboden enden. Er hoffte, Ailuah war weit weg, wenn es
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Taifels Leuten einfiel, ihre Verluste an seiner Gefährtin zu rächen. Die Tür krachte auf, und Ailuah stand im Rahmen. Ein Krieger lachte. »Da ist unsere Unterhaltung für später…« Er faßte nach ihr, aber mit einer kleinen Bewegung entschlüpfte sie ihm und sprang ihm auf den Rücken. Ihre dämonisch verstärkten Muskeln hielten ihn einen Augenblick fest, dann fuhr sie ihm mit den Zähnen blitzschnell an die Kehle. Aschfarben im Gesicht taumelte der Mann vorwärts. Blut sickerte durch die Finger, mit denen er seinen Hals umfaßte. Die Ablenkung nutzend, schleuderte Cholin einen Schemel auf einen Mann, stieß nach einem zweiten, der unter dem Krachen von Rüstung und splitternden Bänken zu Boden ging. Ein Wirbelwind von Streichen, und er war durch. Er zog sich dahin zurück, wo Ailuah reglos stand. Ihre Hände hingen lose herab. »Lauf«, flüsterte Cholin. »Ich werde versuchen, sie aufzuhalten.« »Nein.« Es war, als wecke Ailuah sich selbst aus ihrer Trance. Sie hob die Hände wie Klauen gekrümmt über den Kopf und füllte die Lungen, daß ihre Bluse sich über den Brüsten spannte. »Mächte des Netzes«, schrie sie, »herbei!« Ein Grollen war zu hören, und der Raum hinter Cholin und Ailuah verdunkelte sich zu einem düsteren Rot. Silberne Fäden liefen Ailuahs Hände entlang und funkelten an ihren Fingerspitzen. Ihr Gesicht verzerrte sich unter der Anstrengung, in Gegenwart von so viel Eisen magische Handlungen vollziehen zu müssen. Und doch war Eisen auf einzigartige Weise gegenüber dämonischen Kräften verwundbar. Die aufblitzenden Energien sprangen von Ailuahs Fingern und benutzten die Kettenhemden der Krieger als Erdung. Geschwärzte Gestalten wurden durch den Raum geschleudert und blieben zuckend auf dem Fußboden liegen. Der Rest war ein Abschlachten. Die Mächte des Netzes und Sternenfeuer räumten unter den Kriegern auf, bis schließlich nur noch Taifel übrig war. Ailuah fiel ausgelaugt und erschöpft auf die Knie nieder. Das Knistern der Energie war verstummt. Taifels weißes Gesicht starrte in das Cholins. »Warum?« krächzte er. »Ich bin Cholin von Carnel« sagte Cholin. Begreifen und Verzweiflung zuckten über Taifels Gesicht. Heulend sprang er vorwärts und lief in die Dämonenklinge. Cholin kniete sich neben Ailuah und drückte ihre Lippen auf eine Schnittwunde in seinem Unterarm. Da öffnete sich die Tür, und beide sahen sich um. Im Eingang stand der lächelnde Surthal und hielt eine Armbinde in die Höhe, die mit einer milchigen, durchscheinenden Kugel verziert war.
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»Unverschämter Emporkömmling!« sagte er. Die Armbinde vor sich herstreckend, trat er in die Schankstube. Ailuah wimmerte. Ein unerträglicher Schmerz drang tief in Cholins Seite em. Je näher Surthal kam, desto weiter breitete sich die Qual über Hüfte und Wirbelsäule aus. »Eisen«, ächzte Ailuah. Cholin kam ein ungefähres Verständnis. Der Adlige hielt eine Sekretion, die durch das Agens des Eisens wirkte. Cholin verbiß den Schmerz und schlug mit der Hand nach unten. Das Messer fiel aus seinem Gürtel und glitt über den Fußboden. Der Schmerz ließ nach. Cholin dankte dem Schicksal, daß er alles andere Eisen mit Rücksicht auf Ailuahs Empfindlichkeit abgelegt hatte. Er hob Sternenfeuer, und der Adlige, der das einfach nicht glauben konnte, stieß die Sekretion nach dem Schwert. »Sternenfeuer enthält kein Eisen«, teilte Cholin ihm mit. Er schlug zu, die Sekretion zerbrach, die Matrix, die ihre Kraft enthalten hatte, war für immer zerstört. Bevor er von neuem zuschlagen konnte, schlüpfte Ailuah vor ihn. Sie strich sich das Haar aus der Stirn. »Hallo«, sagte sie, »lieber Vater.« Surthals Angst verwandelte sich in Entsetzen. Er lief davon, die Gesichtszüge schlaff vor Panik. Auf der anderen Seite des Vorraums stolperte er und fiel die Treppe hinunter. Cholin sprang ihm nach. Kurze Zeit später kehrte er langsam zurück. »Tot«, sagte er zu Ailuah. »Hat sich den Hals gebrochen. Er war also dein – der Mann, der dich an Raakuk verkaufte.« Sie nickte und holte mühsam Atem. »Als ich jenseits des Netzes war, pflegte ich zu schwören, ich wolle alles erdulden, wenn ich es Surthal eines Tages heimzahlen könne. Und du – du hast deine Familie gerächt.« »Ich glaube schon.« Unwillkürlich machte Cholin eine Bewegung, als wolle er seine Klinge wegwerfen. Er bezwang den Impuls jedoch und begann, sie zu säubern. »Ich empfinde nichts als Ekel darüber, daß ich diese Männer erschlagen habe. Zweifellos waren sie schlimmer Verbrechen schuldig, und das nicht nur an dem Haus von Carnel. Jetzt liegen sie tot da, andere jedoch, deren Verbrechen ebenso groß sind, stolzieren unversehrt umher. Und hätte es mich gekümmert, wenn die Opfer nicht meine Familie, meine Freunde, meine Gefolgsleute gewesen wären?« Ailuah trat näher zu ihm. »Es spricht für dich, daß du das Töten nicht liebst. Doch übertreibe nicht. Sicher, die Rechtsprechung sollte in den Händen unparteiischer Staatsdiener liegen, nur – wo sind sie? Wenn du nicht alle Verbrechen bestrafen kannst, sollst du dann nicht da Vergeltung üben, wo es in deiner Macht liegt? Auch ich hatte die Augen geschlossen und akzeptierte, was Reichtum und Macht bieten können. Aber ich lasse nicht zu, daß mir Schuldgefühle
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die Kraft nehmen; ich arbeite willig mit dir zusammen, nicht nur, weil du es mir befehlen kannst.« Cholin drehte sich ihr mit einem Ruck zu. »Ailuah, warum bist du zurückgekommen? Ich hatte deine Hilfe nicht verdient. Du hattest wieder zu Raakuk gehen und ihn bitten können, dich freizugeben.« Sie bewegte den Kopf auf diese ihm nun schon vertraute Weise so, daß ihr Haar ihr Gesicht verbarg. »Warum? Vielleicht, weil ich auf dein Blut eingestimmt bin… und hier ist es besser als jenseits des Netzes. Vielleicht, weil du versucht hast, freundlich zu mir zu sein, als sei ich kein Geschöpf des Bösen. Aber vor allem – erinnerst du dich, daß ich sagte, Schutzgeister seien in vieler Beziehung normale Menschen? Nun, ich bin eine Frau gewesen, bevor ich ein Schutzgeist wurde. Ich glaube, Raakuk sah voraus, daß ich als Ergebnis unseres intimen Kontakts an dir hängen würde, auch wenn ich dir Übelkeit erregen sollte. Das würde seinem Sinn für Humor entsprechen.« »Dieses eine Mal«, sagte Cholin, »ist Raakuk zu raffiniert gewesen.« Er streckte die Arme nach ihr aus, zog sie an sich. Sie verkrampfte sich für einen Augenblick, dann entspannte sie sich. Plötzlich fuhr Cholin zusammen. »Heiliger Wille, ich habe den Sohn vergessen.« »Pienet ist hier? Wir müssen ihn finden, bevor er Hilfe herbeiruft.« Sie hatten die Tür noch nicht erreicht, da flog sie auf, und der weibische Jüngling zerrte Mylena über die Schwelle. Die Kleider des Mädchens waren zerrissen, ihre Lippen geschwollen und blutig. »Unbewaffnete Schlampe«, keifte er, »du brauchst eine Lektion….« Er blieb angesichts des Schlachtfelds stehen, den Mund weit geöffnet. Cholin schlug die Tür zu. Ailuah blockierte den anderen Ausgang. Mylena riß sich los und wich zurück. »Was hat diese Ungeheuerlichkeit zu bedeuten?« verlangte Pienet mit nasaler Stimme zu wissen. Immer noch war er anscheinend unfähig zu begreifen, daß er sich in Gefahr befand. Cholin sprach mit leiser Stimme, die gepreßt klang vor Drohung. »Ich bin Cholin von Carnel; meine Esche (Partner(in), auch Kosewort, ungefähre Übersetzung: Liebste(r). Tatsächlich eine Zusammenziehung des derelischen Ausdrucks essiente tarache, geliebter Gefährte. Die Terminologie spiegelt die Ansicht der alten Derelier wider, daß emotionale und intellektuelle Kompatibilität von größter Bedeutung ist. Sexuelle Anpassung betrachteten sie als zufällig und von keiner großen Tragweite.) ist Ailuah. Jetzt hör zu: Wenn du am Leben bleiben willst, sag uns, warum Surthal die Vernichtung meines Hauses befahl!« Pienet sah zu Ailuah hin und riß die Augen auf, als er sie erkannte und
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ihm gleichzeitig ihr verändertes Aussehen bewußt wurde. »Ich habe nicht vergessen«, sagte Ailuah, »mit welchem Eifer du auf den Verkauf »des Mädchens, dessen Kopf mit wertlosem Wissen vollgestopft ist«, gedrängt hast. Du wärest töricht, wolltest du Mitgefühl von mir erwarten.« Der Jüngling zitterte. Seine Selbstsicherheit, sein Überlegenheitsgefühl – alles war vernichtet. »Ich weiß nur, daß ein Abgesandter vom Kolleg in Tsenelan zu Surthal kam, beauftragt vom Pontifex persönlich. Sie schlossen sich für vielleicht eine Stunde ein; ich war bei ihrem Gespräch nicht anwesend. Dann ließ Seine Erlaucht Taifel kommen und gab ihm den Befehl.« Ihm brach die Stimme. »Mehr weiß ich nicht; das schwöre ich. Du hast mir dein Wort gegeben.« Cholin zögerte. Das Bürschchen laufenzulassen war gefährlich. Doch es stimmte, daß er ihm zumindest indirekt ein Versprechen gegeben hatte. Er sah zu Ailuah hinüber, die die Schultern zuckte. Da senkte er Sternenfeuer und trat zur Seite. Ein hoher Schrei wie von einem Tier erklang. Mylena rannte durch den Raum, in der Hand das Messer, das Cholin von seinem Gürtel gerissen hatte. Pienet starrte sie an, zu erschrocken, um sich zu verteidigen; und Mylena stieß ihm den Dolch einmal, zweimal, dreimal in den Körper, bis er mit dem Gesicht nach unten über einer Bank zusammenbrach. In der nun folgenden Stille trat Ailuah zu dem Mädchen und nahm ihm das Messer aus der »Wo ist dein Vater?« fragte sie sanft. »Tot. Bis zum letzten versuchte er, mich zu schützen. Vergebens. Es ist vergebens, den Himmelsgeborenen Trotz zu bieten. Jetzt werden wir alle sterben.« »Unsinn!« erklärte Ailuah. »Den Himmelsgeborenen ist bereits Trotz geboten worden. Wasch dir das Blut von den Händen, nimm alles Geld, das vorhanden ist, fliehe mit deinem Liebhaber. Ändert eure Namen und sucht einen fernen Ort; niemand wird euch mit den Ereignissen hier in Verbindung bringen.« Die junge Frau richtete sich auf. Sie reagierte automatisch auf den aristokratischen Befehlston in Ailuahs Stimme. Als sie gegangen war, wandte sich Ailuah an Cholin. »Was nun, Herr?« »Ailuah« sagte Cholin, »laß uns Schluß machen mit dem Gerede von Herr und Sklavin. Wir haben als Kameraden gegen die Himmelsgeborenen gekämpft, als Krieger und Zauberin.« Ailuah schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht und lächelte. »Nach Tsenelan, Esche?« Cholin gab ihr das Lächeln zurück. »Wohin sonst?«
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Deborah Wheeler Jedes Jahr erhalte ich viele Geschichten über dieses allgemeine Thema. Warum nehme ich sie für gewöhnlich an, wenn sie von Deborah Wheeler geschrieben sind, und lehne sie ab, wenn sie von jemand anders kommen? Es ist die Art des Schreibens; sie versteht es wahrhaftig, eine gute Geschichte aufzubauen. Abgesehen davon, daß sie eine ausgezeichnete Schriftstellerin ist, ist Deborah auch noch eine sehr gute Chiropraktikerin. – M.Z.B.
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Ritual der Rache Tyr Schwertschwester fluchte laut und brachte ihr erschrockenes Schlachtroß wieder unter Kontrolle. Der schwarze Hengst bog den Hals und bäumte sich auf, daß der lose Schiefer unter seinen Hufen nach allen Seiten flog. Sie richtete die Spitze ihres besten Schwertes auf die Hexe, die plötzlich um eine Biegung des Pfades gekommen war. »Ein Trick, Hexe, und du bist tot.« »Keine Tricks«, versicherte die andere Frau mit sanfter Stimme. Sie schob die Kapuze ihres langen silbrigen Gewandes zurück und enthüllte ein blasses, ziemlich unscheinbares Gesicht, umrahmt von eisengrauem Haar. Sie trug ein kupfernes Stirnband und an der linken Hand einen Ring, an dem ein Blutstein schimmerte. »Ha!« Tyr ließ ihrem Temperament freien Lauf. »Wer, zum Teufel, bist du, daß du allein in diesem Land reisest?« »Wenn ich dich nach deinem wahren Namen fragte, würdest du ihn mir sagen? Würdest du solche Macht in die Hände einer Fremden legen – und das auf der Schwelle zur Djenne-Wüste? Du kannst mich Elarra nennen.« Die Hexe trat vor und legte eine Hand auf den Hengst, der unter ihrer Berührung zitterte. »Ich bin nach Norden unterwegs.« »In das Herz der Wüste?« Elarra sah auf das Schwert, das Tyr immer noch auf ihr Herz gerichtet hielt. »Ich würde mit dir reisen, wenn wir den gleichen Weg haben, Tyr Schwertschwester.« »Woher weißt du, wer ich bin?« Plötzlich schimmerte Schweiß auf den Muskeln von Tyrs Unterarmen. »Wie viele schwerttragende Frauen kennt unsere Welt? Und wie viele von diesen reiten einen schwarzen Hengst – Höllenroß wird er genannt, nicht wahr?« Tyr konnte nicht umhin zu lächeln. »Es gibt nicht viele, die verstehen können, warum ich ihn so genannt habe.« »Ein Reittier, das dich bis in die Tiefe der Hölle tragen kann… und dann wieder zurück.« Elarra streichelte dem Hengst die Nase. »Welchen Weg reitest du jetzt?« Die Kriegerin steckte das Schwert in die Scheide. »Nach Norden, wie du. Du suchst Gesellschaft?« »Denkst du, wir hätten uns zufällig getroffen?« »Ich denke, daß dem Zufall nachgeholfen werden kann«, sagte Tyr. Sie trieb den Hengst mit den Knien an. Die Hexe schritt mit schmerzhafter Langsamkeit den engen Pfad entlang. »Ich weiß nichts von deinen Zielen,
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und du weißt nichts von meinen.« »Bis zum Abend können wir ein kleines Dorf erreichen. Es sind arme Leute, die im Schatten der Djenne leben. Am besten übernachten wir dort.« »Das hört sich an, als ob du diese Gegend kennst. Bist du schon hier gewesen?« »Ja«, antwortete Elarra und beschleunigte den Schritt. Das Dorf war herzzerreißend arm, wenig mehr als eine gewundene Straße, von Hütten gesäumt, die nur einen einzigen Raum hatten. Die Hälfte von ihnen stand leer. Kinder lugten mit gehetzten, hungrigen Blicken heraus, bevor ihre Mütter sie zurückscheuchten. Tyr nahm Wasser und ein Obdach an, wollte jedoch kein Essen nehmen. Pferd und Reiterin waren gemeinsam in einer verlassenen Hütte untergebracht. »Verflucht sollen sie sein«, murmelte Tyr und verteilte Korn aus ihrem mageren Vorrat auf Höllenroß Decke. »Sie haben diesen Leuten nichts gelassen!« Elarra hatte sich an das scheibenlose Fenster gesetzt. »In deiner Stimme liegt ein solcher Haß, wenn du von den Djenne sprichst.« Sofort versteifte Tyr sich. »Ich habe niemals Djenne gesagt… »Du bist zu deiner Ausbildung nicht durch Zufall gekommen, Tyr. Du mußt zehn oder zwölf gewesen sein, als die Djenne-Räuber durch Arkadien fegten und die Schwertschwester-Clans hinmetzelten. Vielleicht bist du ihnen durch Glück entronnen, oder du wurdest als Sklavin verkauft und hast dich später selbst befreit. Was ich in deinem Herzen spüre, ist die Einsamkeit, wo dein Clan sein sollte – und die Tiefe deiner Bitterkeit.« Im Schatten glitzerten Tyrs trockene Augen. Sie setzte sich neben ihrem Sattel nieder und griff nach ihren beiden Schwertern und einem Wetzstein. »Ich habe dich schon einmal gefragt, was, zum Teufel, hast du vor, wenn du hier an ihrer Hintertür herumschnüffelst?« »Wie du möchte ich, daß Unrecht wieder gutgemacht wird.« »Durch Djenne-Blut?« »Nein.« Tyr erwachte. Der Raum war von Mondlicht überflutet. Der schwarze Hengst schüttelte unruhig den Kopf und scharrte in den Überresten seines Strohs. Elarra war fort. Geräuschlos kroch Tyr ans Fenster. Im Dorf war es still, aber es lag ein Zittern in der Luft, das von Tyrs übernatürlich empfindlichen Ohren gerade noch wahrgenommen werden konnte. Ein Zittern, wie es von Pferden erzeugt wird, die über die kahlen Hügel im Norden galoppieren. Ein Geräusch, wie es sie in ihren Alpträumen verfolgte.
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Mit steifen Bewegungen kroch Elarra in die Hütte. Ihre graue Robe war im Mondlicht beinahe unsichtbar. »Tyr…«, flüsterte sie, aber die Kriegerin sattelte bereits ihr Pferd. »Hexe, kannst du kämpfen?« »Tyr, hier ist nichts zu holen. Es werden nur wenige sein. Der Hengst tänzelte und schwitzte vor Erwartung, als die Kriegerin ihn hinausführte. Sie schwang sich in den Sattel und fühlte sein Verständnis und seinen Eifer zwischen den Schenkeln. Die Dorfbewohner strömten aus ihren Hütten und sammelten sich in kleinen verschreckten Häufchen. Sie sahen Tyrs Schwert, sahen das Feuer in den Augen ihres Schlachtrosses. Ein Baby fing an zu weinen. Sie sprengten den letzten sanften Hang herunter, fünf oder sechs Männer auf kleinen schnellen Pferden von kaum Ponygröße. Tyrs Zähne blitzten im Mondschein. Sie wartete, bis die Räuber alle in dem Engpaß am Fuß der Hügel waren. Ihre Fackeln leuchteten wie ein Widerschein der Hölle, in die sie sie gleich senden wollte. Sie berührte den Hengst mit den Fersen. Wie ein Bolzen, der von einer Armbrust abgeschossen wird, stürmte er dem vordersten Reiter entgegen und drückte das Pony, einen Braunen mit gestutzter Mähne, mit der Schulter beiseite. Das Pony taumelte. Die Lanze des Räubers schwankte, doch bevor er sich erholen konnte, stand Tyr aufrecht in den Steigbügeln und führte mit beiden Händen einen Hieb nach unten. Für einen hilflosen Augenblick wandte er ihr das unheimlich bemalte Gesicht zu, dann traf ihre Klinge auf Knochen, und sie riß sie heraus. Der kupferige Geschmack von Blut füllte die Luft. Der Schrei des Mannes erstarb plötzlich. Die anderen Reiter strömten an der Kriegerin vorbei und wendeten ihre Tiere. Höllenroß sprang auf das nächste ein, die Ohren flach an den Schädel gelegt und die Zähne entblößt. »Arkadien! Arkadien!« gellte Tyrs Schlachtruf, als ein zweiter Reiter unter ihrem blutigen Schwert fiel. Sie und der Hengst waren jetzt eine einzige Kampfeinheit und schlugen auf den gesichtslosen Feind ein. Wahnsinn raste durch ihre Adern. Plötzliche Stille sammelte sich um Tyrs letzten triumphierenden Schrei. Sie faßte nach unten, um den Hengst zu beruhigen. Sein Fell war glatt und heiß. Zwei der Djenne-Ponies waren noch auf den Beinen und liefen ziellos umher, bis sie eingefangen wurden. Die Dorfbewohner scharten sich um die Leichen und murmelten untereinander. Tyrs Ohren fingen das Stöhnen auf, das nur von einem Verwundeten kommen konnte. Sie sprang vom Rücken des Hengstes und bahnte sich mit den Ellenbogen einen Weg. Ihr Schwert sehnte sich danach, seine Arbeit zu vollenden. Der Räuber, dessen Gesicht unter der schwach leuchtenden Farbe verzerrt war, wand sich auf dem Boden. Brust und Schulter wa-
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ren mit Blut bedeckt. »Tretet zurück!« befahl Tyr den Dorfbewohnern. »Nein!« Elarra tauchte aus der Menge auf und kniete unbeholfen neben dem Mann nieder. »Ich glaube, ich kann ihn retten.« »Bist du verrückt, Hexe? Das ist ein Djenne-Teufel, von dem du redest. Die Welt wird besser daran sein ohne ihn. Außerdem, willst du, daß er zurückrennt und von uns beiden berichtet? Was werden die Djenne mit dem Dorf machen, wenn sie hören, daß seine Bewohner Widerstand geleistet haben?« »Dies war kein ernsthafter Überfall, nur eine Kinderei. Das konnte jeder Dummkopf sehen. Noch keiner dieser Jungen hat sein Mannheitszeichen verdient… »Ich soll also diesen hier am Leben lassen, damit er seins verdient – durch das Blut dieser Leute?« fragte Tyr. Elarra stand auf. Ihr Ausdruck war im flackernden Fackellicht nicht zu erkennen. »Wenn er am Leben bleibt, wird er mit einer Geschichte über eine Dämonenkriegerin nach Hause hinken, die ein übernatürliches Pferd reitet und eine unbesiegbare Klinge führt. Sein Stolz wird nicht zulassen, daß er sich mit weniger begnügt. Bis die Räuber die Geschichte hören, werden sie glauben, daß er allein durch das Eingreifen des Landgeistes persönlich davongekommen ist.« Tyr stand eine Weile nur da, und dann siegte der gesunde Menschenverstand. Sie zuckte die Schultern. »Auf dich komme es, wenn du dich irrst und diese Leute dafür leiden müssen.« »Das will ich ja gerade verhindern«, sagte Elarra und widmete sich wieder dem verwundeten Djenne. Tyr setzte sich später an diesem Abend in der Hütte mit dem Rücken an die Wand aus getrocknetem Lehm. Sie hatte die geringfügigen Schnittwunden und Muskelzerrungen behandelt, sie und der Hengst erlitten hatten; aber sie war immer noch zu aufgedreht, um zu schlafen. Nun wartete sie, daß das Adrenalin aus ihrem Körper wich, und ging derweilen ihren Angriffsplan durch. Sie wollte sich dem Djenne-Lager heimlich nähern und verborgen bleiben, bis sie nahe genug für diesen selbstmörderischen Überfall war. Es kümmerte sie nicht, was aus ihr wurde, wenn sie nur Chandros mit sich ins Grab nahm. Aber sie konnte nicht gut Verständnis für diese Besessenheit erwarten. Chandros… Chandros der Kriegsherr. Er ganz allein hatte die Djenne aus einer locker organisierten Bande nomadischer Räuber, die ihren Nachbarn das Leben ungemütlich machten, aber sonst nicht viel Schaden anrichteten, in diese blutgierige Horde verwandelt, die ihren Clan und viele andere ermordet hatte. Chandros… würde jetzt älter sein und langsamer. Dick vielleicht oder
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zumindest selbstzufrieden. Seit seinem Aufstieg zur Macht hatte niemand den Djenne-Räubern Trotz geboten. Sie ritten, wohin sie wollten, nahmen, was sie wollten – Besitz, Sklaven, Leben. Bis jetzt. Bis Tyr. Das Licht des Mondes durchtränkte den kleinen Raum, kalt und steril wie ihr Herz. Tyr trat in die kleine Hütte, die Elarra als Krankenstation eingerichtet hatte. Die Hexe blickte hoch. Auf der Wange der Kriegerin glühte ein böses Rot, wo eine Djenne-Lanze sie gekratzt hatte. Es würde eine Narbe hinterlassen. »Ist er imstande zu reiten?« fragte Tyr. »Er wird am Leben bleiben, aber ich hatte gehofft… die nächsten paar Tage noch nicht.« »Wir haben keine paar Tage mehr Zeit.« Tyr zog den Jungen mit einer Hand auf die Füße, die Finger um seine Kehle geklammert, so daß er gezwungen war, ihr in die Augen zu sehen. »Hör zu, Djenne-Schwein! Ich habe vor, deinem Heimatlager einen Besuch abzustatten, und du sollst mir dabei vorangehen. Ob du so lange am Leben bleibst, daß du es zu sehen bekommst, ist deine Sache.« Sie schob ihn auf die Tür zu. Draußen rief Tyr den Dorfbewohnern zu, sie sollten eins der eingefangenen Ponies bringen. Gerade wollte sie den Djenne-Jungen auf den Rücken des Ponys heben, als Elarra dazwischentrat. »Laß ihn hier! Laß mich statt dessen mitkommen!« rief die Hexe. »Dich? Was könntest du mir nach gestern abend noch nützen?« »Du suchst den Kriegsherrn Chandros und willst der Djenne-Tyrannei ein Ende bereiten. Das will ich auch.« »Indem du diesen Welpen verschonst, damit er von neuem töten kann?« »Du kannst mich an den Djenne-Wachen vorbeibringen… Tyr ließ den Kragen des Jungen los und starrte die Hexe an, die ganz bestimmt den Verstand verloren hatte. »Tyr, es kann dir nicht gelingen, Chandros auf deine Art zu besiegen, ob du diesen Jungen bei dir hast oder nicht. Du bist eine mächtige Kriegerin, aber du bist nicht unbesiegbar. Seiner Schwarzen Kunst bist du nicht gewachsen.« »Chandros… ich will Chandros.« Das Feuer des Hasses loderte in Tyr, wenn sie nur seinen Namen flüsterte. »Dann hör mir zu! Vereine deine Kräfte mit den meinen! Laß dieses Kind hier. Dann wollen wir zusammen ins Herz der Djenne vorstoßen. Würden wir nicht ein gutes Team abgeben?« Es widersprach all den Jahren der Bitterkeit, auch nur einem einzigen Djenne Gnade zu erweisen, selbst wenn er hilflos und verwundet wie die-
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ser war. Grob schob sie ihn Elarra zu. »Behalte ihn«, grollte sie. »Füttere ihn, verarzte ihn. Mir ist es gleichgültig, solange er mir aus dem Weg bleibt. Und das gilt auch für dich, Hexe. Ich habe genug von deinen Einmischungen. Der nächste Streich, den du mir spielst, wird dein letzter sein.« Die Djenne rechneten nicht mit irgendwelchem Ärger. Die Wachen waren lasch und hatten sich mehr gegenseitig im Blick als die Höhen. Spuren ihres nomadischen Erbes waren überall zu sehen, aber die Anordnung der Zelte, die nicht genügend Zwischenraum für einen schnellen Abbruch hatten, sprach von einer Entwicklung in andere Richtung. An der westlichen Grenze stand etwas, das den Räubern ein Greuel hätte sein müssen… ein steinernes Gebäude. Ein Tempel, dachte Tyr, den in etwa pyramidenförmigen Bau betrachtend, doch in Anbetracht der Djenne-Mentalität konnte sie nicht sicher sein. Sie hatte nie einen Hinweis darauf gefunden, daß sie irgend etwas verehrten. Tyr versenkte sich in den Rhythmus des Lebens da unten. Der Wind, der durch ihr kurz geschnittenes Haar führ, wurde kühl. Stunden vergingen. Sie zog etwas Trockenfleisch aus der Tasche, kaute es langsam, bis es zu schlucken war, und trank schales Wasser aus ihrem Lederbeutel. Es wurde Nacht, und man zündete Fackeln an. Die Aufstellung der Wachposten veränderte sich, aber da war kein Zeichen von Unruhe wegen der fehlenden Jugendlichen. Vielleicht verschwanden die jungen Heißsporne oft, und ihr Schicksal wurde für ihre eigene Angelegenheit gehalten. Um Mitternacht kroch Tyr an die Stelle zurück, wo sie ihren Hengst gelassen hatte. Sie führte ihn höher in das Ödland zu einer gut versteckten, trockenen Höhle, die sie von früher her kannte. Die Djenne-Räuber mochten mit der Zeit und durch ihre ununterbrochenen Erfolge sorglos geworden sein, aber Tyr beabsichtigte nicht, irgendein Risiko einzugehen, bevor der Augenblick des Zuschlagens gekommen war. Es lag eine ironische Gerechtigkeit in ihrem Plan, denn es war Nacht gewesen, als die Djenne über den Sitz ihres Clans hereingebrochen waren. All ihre Jahre des Kampfes, in denen sie im Blut gewatet war, um sich zur Rache vorzubereiten, verblaßten immer noch neben der Erinnerung an jene Nacht. Obwohl ihre Reittiere nur Ponies waren, hatten die Räuber überlebensgroß gewirkt, ihre bemalten Gesichter wie die Masken von Dämonen, denen kein menschlicher Krieger standhalten konnte. Und Chandros……. Sie sah Chandros vor sich, auf einem riesigen Tier sitzend, das nach Blut stank und mit unnatürlichen Zeichen behängt war. Ein Halsband aus gekrümmten, gegabelten Zähnen schwang sich von den dicken Schultern des Tieres. Hinter dem Kriegsherrn schwebte ein Phantom aus rotem
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Staub, etwas mit einem langen, gegliederten Hals, der sich wie die Peitsche eines Sklaventreibers schnellte, etwas, von dessen lauernden Fängen Gift in die Seele tropfte… etwas, vor dem auch der erprobteste Krieger erbleichte und erstarrte… und starb. Ausgenommen ein paar verängstigte Jugendliche, Tyr unter ihnen. Ich darf jetzt nicht daran denken, außer als Mahnung, was meine Sache angeht, ich muß mich an die Wut erinnern, nicht an die Furcht, Es war sowieso alles nur die Phantasie eines Kindes, die natürliche Folge einer Nacht des Horrors, redete sie sich selbst zu und prüfte zum dritten Mal die Schärfe ihres besten Schwertes. Heute nacht wird es anders sein. Sie waren vom äußersten Rand des Lagers ein gutes Stück ins Innere vorgedrungen, ehe sie entdeckt wurden. Der Wachposten stieß einen scharfen Pfiff aus und griff sie mit seinem Speer an. Tyr ließ Höllenroß eine saubere Drehung auf der Vorderhand vollführen und gab ihm die Hilfen zur Kapriole. Aufgeregt schnaubend schlug der schwarze Hengst mit den Hinterbeinen aus, gerade als der Djenne in Reichweite kam. Der Mann bekam die Hufe voller Wucht gegen die Brust. Tyr hörte das Krachen zerschmetterter Rippen. Dann zog sie den Hengst herum und trieb ihn zu einem kurzen Galopp an. Der Alarm war gegeben, und die Djenne stürzten aus ihren Zelten. Jahre leichter Siege mochten ihre Wachsamkeit eingeschläfert haben, konnten jedoch Generationen ständiger Kämpfe am Rand des Überlebens nicht auslöschen. Die Jungen, die das Dorf hatten überfallen wollen, waren im Vergleich zu den grimmigen Kriegern, die jetzt auf sie eindrangen, Kinder gewesen. Die Djenne brauchten nur wenige Augenblicke, um die eingerissene Bequemlichkeit abzuschütteln und ihre wahre Wildheit zu zeigen. Tyr ließ die Zügel auf den Hals des schwarzen Hengstes fallen und benutzte die von ihr bevorzugte zweihändige Schwerttechnik, treffend Grashüpfer des Todes genannt. Der Rausch des Kampfes stieg wie ein Nebel hinter ihren Augen auf. Den Atem anhaltend; stieß sie die Klinge einem Mann durch die Halswirbel, und dann hörte sie auf zu denken. Zack! – und mit täuschender Langsamkeit flog die Klinge herum – jetzt schwirrte ihr das Schwert an den Ohren vorbei, sang ein Lied der Vernichtung – Zack! Ein weiterer Djenne ging zu Boden, nur verwundet, bis die eisenbeschlagenen Vorderhufe des Hengstes ihn erwischten. Tyr hielt in der Orgie der Schlacht nicht inne, um sich zu überzeugen, ob er wirklich tot war – er und die anderen. Einige sah sie, andere spürte sie nur, bevor ihr Schwert ihr Fleisch zerschlitzte. Die Angriffe verdoppelten sich, sobald sie in Sichtweite der Pyramide kam. Offenbar warf das Lager, verzweifelt bemüht, sein Herz zu schützen, seine gesamte Kriegsstärke gegen sie. licht strömte von dicht bei dicht lodernden Fackeln, die von Djenne-Sklaven gehalten wurden. Höllenroß, der
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jetzt aus kreuz und quer verlaufenden oberflächlichen Wunden blutete, wieherte und trat nach den Männern aus, die hinter ihn krochen, um ihm die Sehnen durchzuschneiden. Die Pyramidentür öffnete sich. Das Djenne-Kriegsgeschrei erstarb plötzlich, sogar das Rufen der Sklaven. Die Menge wich zu einem Halbkreis zurück, gut außer Reichweite. Höllenroß hob sich zur Levade und schrie seine Herausforderung. Schwer atmend wechselte Tyr zum einhändigen Eisenfaust-Griff über und legte ihre andere Handfläche auf den heißen Hals des Hengstes. Sie hielt die Augen auf die leere Schwelle gerichtet, die kaltes, blaues Licht verströmte. Eine gekrönte Gestalt hob sich als Umriß auf der steinernen Schwelle ab. Sie hob die Arme in einer befehlenden Geste, und Tyr erkannte, daß sie in der einen Hand einen Krummsäbel und ein Zepter in der anderen hielt. »Hebe dich hinweg, der du den heiligen Boden der Djenne entweihst!« dröhnte die Stimme, gespenstisch unmenschlich in ihrer Verzerrung. Tyr erkannte sie, und ihr Magen verkrampfte sich. Das Licht hinter der Gestalt schoß plötzlich in die Höhe und erstarb dann in einer Kaskade grünlicher Funken, die sich über den Boden verteilten. Der Gestank schnürte ihr die Kehle zu. Dann stand er vor ihr, beinahe unter der Nase des schwarzen Hengstes. In dem unsicheren Fackellicht wandelte sich seine Maske von der Parodie eines menschlichen Gesichts zu etwas Dämonischem. Die Hörner und anderen Gegenstände, die seine Krone bildeten; glühten und bewegten sich. Tyr konnte seine Augen in den dunklen Höhlen der Maskenlöcher nicht sehen. Ehe ihr die Kehle ganz austrocknete, schrie sie: »Mörder von Arkadien, bereite dich auf deinen Untergang vor!« Sie drückte Höllenroß die Knie in die Flanken, legte ihre freie Hand auf das Schwert und wechselte zu dem subtilen, tödlichen Griff über, der Schwarzer Komet heißt. Sie hatte Jahre verbissenen Übens gebraucht, um ihn zu meistern, den Angriff zu Pferde, gegen den keiner ihrer Lehrer eine Verteidigung wußte. Der Hengst spürte, daß Tyr zuschlagen wollte, und sprang vorwärts, seinen Körper in die richtige Position bringend. Aber Chandros war nicht mehr da. Einen Schritt hinter die Stelle, wo der Kriegsherr gestanden hatte, entblößte statt dessen ein höllenschwarzer Drache seine schwefligen Fänge und stieß giftige Dämpfe aus. Er überragte Tyrs Kopf um eine Pferdehöhe Die Djenne Menge murmelte und zog sich zurück. Tyr spürte den schwarzen Schauder der Furcht. Dann wurde sie wieder von Wut gepackt, und sie preßte die Fersen fester an. Ein Hieb von der riesigen Tatze des Drachen warf Höllenroß aus dem Galopp. Er taumelte, rang um sein Gleichgewicht, und schon schleuderte ihn der nächste gewaltige Schlag zu Boden. Tyr zog die Füße aus den
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Steigbügeln und rollte sich bereits weg, al der Körper des Hengstes mit markerschütternder Wucht di gestampfte Erde traf. Sie drang auf den Drachen ein, die rasier messerscharfe Spitze ihres Schwertes auf seinen ungeschützter Bauch gerichtet. Hoch ragte das Monster über der Kriegerin auf Seine Ausdünstung füllte ihre Lungen. Sie stieß ihren Kriegsruf aus, und die Klinge zuckte nach oben. Doch es kam nicht soweit, daß ihr Schwert in das unreine Fleisch des Dämonendrachen eindrang. Bevor es ihn berührte, löste er sich in Nebel auf, und ein Dutzend smaragdener Augen umgab sie im Fackellicht. Tyr sah sich mitten in einem Nest von Riesenschlangen, die die Luft mit ihrem wütenden Zischen füllten. Ihre Handgelenke waren von kaltem, gesprenkeltem Fleisch gefesselt. Andere Schlangen peitschten ihr um die Füße und drohten sie aus dem Gleichgewicht zu werfen. Die größte der Schlangen richtete sich vor ihr auf, so hoch wie ein Mann. Die in ihren grünen Zwillingsaugen brodelnde Bosheit fand einen Widerhall in einem dritten Auge, so rot wie vergossenes Blut, das inmitten der fliehenden Stirn saß. Die Schlange schwankte und betrachtete die Kriegerin, als finde sie ihre Hilflosigkeit appetitanregend. Dann schlug sie zu. Tyr sah das leichte Anziehen der Schlangenmuskel , das einem Angriff vorausgeht, und warf sich gegen ihre lebenden Ketten. Die Fänge der Riesenschlange bissen nur in Luft, aber sie fing sich mit dämonischer Geschwindigkeit und ringelte sich Tyr um die Taille. Die Kriegerin wartete nicht auf den erbarmungslosen Druck, der ihrem Körper erst die Kraft und dann den Atem nehmen würde, sondern vollführte eine geschmeidige Drehung. Die kleineren Schlangen, die von der blitzartigen Bewegung überrascht wurden, ließen los. Ihr Arm war frei! Ohne anzuhalten oder den Griff zu wechseln, attackierte sie die Königsschlange mit einem Holzhacker-Hieb. Tyrs Klinge berührte die Schuppenhaut, aber bevor sie in den Knochen eindringen konnte, um das Gehirn des Reptils abzutrennen, stieß die Schlange einen unheimlichen Schrei aus und warf sich auf sie. Sogar Tyrs trainierte Reflexe waren zu langsam für diese übernatürliche Geschwindigkeit. Die Schlange schlug ihre Fänge in Tyrs Brust. Schmerz und sengende Hitze schüttelten sie, und sie fiel auf die Knie. Die kleineren Schlangen verdoppelten ihr Zischen und lösten sich von ihr, um sich ihrem Anführer beim Todesstreich anzuschließen. Die Verzweiflung trieb Tyr wieder auf die Füße. Sie wußte, wenn sie auch nur einen Augenblick zögerte, war sie verloren und alle ihre Hoffnungen auf Rache mit ihr. Sie keuchte, ihre Lungen rangen nach Luft. Ihre Augen nahmen nur noch Grautöne wahr. Das Schwert glitt ihr aus den ge-
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fühllos werdenden Fingern. In diesem Augenblick sprang Höllenroß in das Nest sich windender Schlangen. Er trompetete vor Wut und Angst. Seine eisenbeschlagenen Hufe zertrampelten die kleineren Schlangen, und mit den entblößten Zähnen langte er nach ihrem gräßlichen Anführer. Tyr hob eine Hand, aber da sie nicht fähig war zu sprechen, konnte sie dem Hengst nicht befehlen, sich in Sicherheit zu bringen. Durch die sich ausbreitende Lähmung in ihrer Brust fühlte sie ein Ziehen. Höllenroß packte die Riesenschlange hinter dem Kopf und zerrte mit der ganzen Kraft seines starken Nackens. Die Schlange ließ los und drehte sich dem neuen Angreifer zu. Höllenroß stieg in die Höhe, schlug mit den Vorderhufen aus. Für einen Augenblick baumelte die Schlange hilflos und schlaff aus seinem Maul. Dann peitschte ihr Schwanz auf die Schultern des Hengstes zu. Es war nicht mehr der allmählich spitz zulaufende Schwanz einer Schlange, sondern der giftige Stachel eines riesigen Skorpions. Die Zähne des Hengstes glitten von dem harten Panzer des löwengroßen Insekts ab. Die Scheren kniffen und zerrissen sein glattes Fell und hinterließen Blutstreifen. An den Grenzen seines Mutes angelangt, warf sich das Pferd in Panik rückwärts. Der Skorpion schlug noch einmal mit seinem Stachel zu, verfehlte Höllenroß aber, da dessen kampferprobte Reflexe ihn außer Reichweite klettern ließen. Dann richtete der Skorpion seine glitzernden Facettenaugen auf sein menschliches Opfer. Tyr schluchzte vor hilflosem Zorn. Die kleineren Schlangen lagen schlaff zu ihren Füßen, das Schwert war in ihrer Reichweite, der Feind deutlich zu erkennen vor ihr. Aber die Kälte des Schlangengifts schlich sich in ihr Herz und nahm ihr rasch die letzten Kräfte. Tyr war klar, daß sie den Skorpion niemals auf Schwertlänge erreichen konnte. Sie ließ sich zusammensinken und zwang für eine letzte Anstrengung Luft in ihre Lungen. Dann nahm sie ihr Schwert und hielt es sehr tief, bereit, es dem Insekt in den verwundbaren Bauch zu stoßen. Doch mit einer blitzartigen Bewegung ergriff der Skorpion das Schwert mit seinen Scheren und riß es Tyr aus den erschlaffenden Händen. Knack! Das Vibrieren der zerbrochenen Klinge füllte Tyrs Schädel. Wenn das Insekt ein Stück getemperten Stahls, das schon zahllose Schlachten überstanden hatte, entzweibrechen konnte, welche Chance hatte dann irgendeine andere Klinge? Welche Chance hatte sie selbst? Ob es nun hoffnungslos war oder nicht – Tyr besaß immer noch eine Waffe, abgesehen von ihren bloßen Händen und Füßen. Sie zog den Dolch aus dem einen Stiefel und hielt ihn sorgfältig verborgen. Mit hämmerndem Herzen wartete sie auf den entscheidenden Streich.
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Obwohl sie darauf vorbereitet war, erstaunte die Plötzlichkeit des Angriffs sie. Sie dachte nicht mehr. Jahrelanges Training hielt ihre Hand ruhig bis zum letzten Augenblick, als sie zwischen die gräßlich schnappenden Scheren sprang, genau unter den tödlichen Stachel. Tyr trieb die Spitze ihres Dolchs zwischen die Chitinplatten am Hals des Skorpions. Das Metall drang mühelos in die flexible Rüstung ein, und sie brauchte nur zu drücken, um die lebenswichtigen Nerven zu durchtrennen. Der Skorpion warf sich nach oben. Die gekrümmte Klaue am Ende seines Schwanzes peitschte die Luft und verstreute Gifttropfen, die verbrannten, was immer sie trafen. Tyr wurde der Dolch aus den Fingern gerissen, doch sie spürte den Schmerz kaum. Sie empfand nichts als den wachsenden Teich der Ruhe, als das Insekt sich in die Nacht zurückzog und die Djenne murmelnd näher kamen, um sie zu töten. »Höllenr…« Tyr zwang die Leute aus ihrer wunden Kehle. Der schwarze Hengst drehte sich um. Er hielt den Schwanz immer noch in einem herausfordernden Winkel, obwohl er die Ohren dicht an den Kopf gelegt hatte. Das Weiße seiner Augen war zu sehen, mit Blut vermischter Schweiß tränkte sein Fell. Er erschauerte und senkte den Kopf. Die letzten Reste ihrer Kraft zusammennehmend, faßte Tyr den ihr näheren Steigbügel mit beiden Händen. Höllenroß, darauf trainiert, einem Reiter, der auf seinen Rücken springen wollte, zu helfen, stand ganz still, aber es gab nichts, was er sonst noch hätte tun können. In wenigen Sekunden würden die Djenne dasein. Vor Anstrengung stöhnend, streckte Tyr die Hände nach dem Sattel aus – er war zu hoch, und das Gift der Schlange sang in ihren Ohren. Die vordersten Räuber mußten sie gleich packen. Sie holte tief Atem, um es ein letztes Mal zu versuchen, da galoppierte Höhenroß los. Der Ruck riß ihr die Füße unter dem Leib weg. Tyr hielt sich krampfhaft fest, hob die Oberschenkel und zog die Unterschenkel nach vorn. Sie berührte den Boden und legte ihre letzte Kraft in einen letzten Sprung, der den Unterschied zwischen einem blutigen Tod und einer Fluchtchance bedeutete. Es war, als hebe sich die Erde unter ihr. Tyrs Füße flogen nach oben und kratzten die Flanke des Hengstes. Am höchsten Punkt des Bogens hakte sie ihr rechtes Knie über den Sattel. Höllenroß raste wie ein Dämonenpferd auf die sicheren Hügel zu. Tyr hievte sich in den Sattel, verflocht die Finger in die Mähne. Der Hengst sprang den steinigen Hang hinauf. Weiter und weiter stolperte er durch die Nacht. Die Hitze seines angestrengten Körpers hüllte die Kriegerin ein. Kaum noch bei Bewußtsein, schwankte sie im Sattel. Sie erfuhr nie, ob die Djenne sie verfolgt hatten. Zu hören war nichts,
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aber ihr Gesicht und Gehör schwankten, vermischten alles zu einem alptraumhaften Kaleidoskop. Schließlich blieb der Schwarze Hengst erschöpft stehen, und Tyr ließ seine Mähne los. Sie glitt aus dem Sattel, bereits bewußtlos. Durch Wellen aus Schmerz und Hitze kam gesegnete, beruhigende Kühle – anfangs nur ein Faden, dann strich eine Liebkosung immer wieder und wieder über ihre Wange, ihre Beine, ihre Brust. die eine Stahlkassette aus Dunkelheit war. Schließlich öffnete Tyr die Augen, und da saß die Hexe. Was, zum Teufel, tust du hier? dachte Tyr, aber ihr Mund gab nur sinnlose Laute von sich. Elarra legte das mit Kräutern durch tränkte Tuch hin, mit dem sie Tyrs Wunden gewaschen hatte. »Beinahe hätte ich dich verloren«, sagte sie. »Was ist das für eine Dummheit, allein in Chandros Lager zu reiten!« Tyr lächelte schief und brachte ein Krächzen zustande. »Ich war verdammt nahe daran, ihn zu erledigen. Hätte er seine Magie nicht, wäre er jetzt tot.« »Du wolltest ja nicht auf mich hören.« Elarra blickte drein, als hätte sie Tyr am liebsten bei den Schultern gepackt und etwas Vernunft in sie hineingeschüttelt. »Ich habe dir schon im Dorf gesagt, was passieren würde.« »Du wolltest nur umsonst mitgenommen werden.« Tyr räusperte sich und fühlte sich überraschend fit. Die Hexe kannte ihre Heilmittel, was man auch sonst von ihr sagen mochte. »Ich habe dir gesagt… Oh, was hat es für einen Sinn, mit dir Zu streiten!« Elarra schob Tyr einen Reiseteller in die Hände. Tyr setzte sich hoch und betrachtete seinen Inhalt. »Gewürzte Bohnen und Blattgemüse? Ist das ein Essen für eine Kranke?« »In deiner Lage kannst du keinen Einspruch erheben. Oder soll dir beschreiben, in welchem Zustand ich dich gefunden habe? Wenn dein Pferd nicht soviel Verstand gehabt hätte, dem Weg zurück ins Dorf zu folgen, wäre ich zu spät gekommen.« »Du bist mir also gefolgt. Warum?« »Hast du überhaupt nicht gehört, was ich zu dir gesagt habe? Chandros muß entfernt werden, bevor er noch mehr Böses tut.« Tyr sah von ihrem Essen auf. Ihr Gesicht verriet Neugierde und Berechnung. »Sag mir, warum du sein Fell willst.« »Du bist in Arkadien groß geworden; du kannst dich an die Wüste, wie sie vor Chandros Zeit war, nicht erinnern. Die Djenne waren Räuber, sicher, aber keine Geißel der Menschheit. Sie sind kein richtiger Clan, weißt du. Es wird kein Mann als Djenne geboren. Sie kommen aus Dörfern und Hirten-Clans im ganzen Land – wilde Burschen, die alles zerreißen möch-
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ten, für das ihre Eltern gekämpft haben. Also laufen sie weg und zu den Djenne und tun verrückte, dumme Dinge.« »Du sprichst, als seist du damit einverstanden!« »Früher kosteten sie die Dörfer etwas, das ist wahr, aber der Schaden war geringer, als wenn die Dorfbewohner die Burschen bei sich gehabt hätten. Manche Djenne wurden nach ein paar Jahren erwachsen und kehrten zu einem Leben schwerer Arbeit nach Hause zurück. Sie bemalten ihre Gesichter, um nicht erkannt zu werden. Dann brauchten sie sich später dessen, was sie in ihrer Jugend getan hatten, nicht zu schämen. Andere blieben, bis die Wüste ihr Leben forderte. So war es vor Chandros.« »Chandros«, sagte Tyr nachdenklich. »Er hat sie verändert, nicht wahr? Sie sind nicht das Sicherheitsventil für Unruhestifter geblieben.« Elarra nickte. Ihre grauen Augen blickten trübe. »Sie schlugen in immer weiter von der Wüste entfernten Gegenden zu, plünderten und zerstörten, statt nur zu schrecken. Sie vernichteten deinen Clan.« »Deinen auch?« »Du hast nicht erraten, wieso ich so viel über die Djenne weiß? Ich bin eine gewesen.« »Eine Frau? Aber ich habe keine…« »Anders als ihr Arkadier geben die Djenne nicht zu, daß eine Frau mit den besten der Männer reiten und kämpfen kann. Ich habe sehr aufgepaßt, daß sie nichts merken. Das war leicht, bis Chandros mit seiner Magie…« Ihr Gesicht bewölkte sich in der Erinnerung. »Du hast vor Angst den Verstand verloren?« »Meinst du, Dummheiten wie diese Illusionen könnten jemandem Angst einjagen, der mit den Djenne-Räubern geritten ist und ein Geheimnis wie das meine bewahrt hat? Selbst wenn kein Hexenblut in meinen Adern flösse, hätte ich das Böse in ihm wahrgenommen. Er arbeitet nicht mit symbolischer oder natürlicher Magie, wie echte Hexen es tun. Er benutzt elementare Kräfte, die seinen Attacken Körper verleihen.« Der schwarze Drache, die Schlangen, der Skorpion… Ein atavistischer Schauder lief Tyr das Rückgrat hinunter, als sie erkannte, wie tief Chandros ihre Urängste angezapft hatte. »Ja, das alles; aber er tut noch Schlimmeres. Er beschwört die Geister des Landes und des Himmels herauf, benutzt ihre Kräfte, um seine Kontrolle auszudehnen, vergiftet langsam ihr Wesen.« »Die Wüste… ein Geist?« »Trocken, wild – wie eine drahtige alte Mutter mit Staub auf den bloßen Füßen und Unkraut ins Haar geflochten. Sauber, kompromißlos – sie tötet dich, oder sie zähmt dich. Sie zwingt dich, herauszufinden, wer du bist und was du willst – und zwar schnell. Die Wüste war kein schlechter Ort zum Leben. Aber… Spürst du, wie sie sich verändert hat, aufgeschwollen
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ist vom Lebensblut der Opfer Chandros?« Tyr schüttelte den Kopf. »Ich habe sie gespürt«, flüsterte Elarra. »Ich habe sie noch in weiter Ferne gespürt, in Riley Hexenherz, wo ich nach meiner Flucht vor dem, was die Djenne geworden waren, mein Leben wieder zusammenflickte. Wir müssen ihn aufhalten, bevor es zu spät ist.« »Zu spät?« rief Tyr bitter. »Es war schon an dem Tag zu spät, als er in Arkadien einfiel!« »Jedesmal, wenn er sie mit Blut füttert, entfernt sie sich weiter und weiter von ihrem wahren Selbst. Bald wird sie sich erheben nicht als der reine Geist, der die Wüste zu einem Hafen für die Wildheit machte, sondern als raubgieriger Todesdämon.« Tyr blieb stumm. Sie stellte sich vor, daß die Kraft hinter Chandros Künsten Gestalt annahm – eine auf obszöne Art weibliche Gestalt, die nach Blut dürstete. Jeder Tropfen, der auf das Land fiel, würde ihre Gier vergrößern. »Ich habe versucht, Chan zu töten. Ich glaube, zum Schluß habe ich ihn berührt, mehr aber auch nicht. Und wenn du und Höllenroß mich nicht gerettet hattet…« »Ich kann ihn aufhalten«, erklärte Elarra mit großer Bestimmtheit. »Aber ich könnte niemals an seinen Wachen vorbei zu ihm gelangen.« »Du, die du mit den Djenne geritten bist? Hat dein Hexenwissen dich in einen weiblichen Eunuchen verwandelt?« fragte Tyr spöttisch. Elarra zog ihren langen grauen Rock hoch. Das eine Bein war normal, muskulös und gerade unter gekräuseltem feinem Haar. Das andere endete oberhalb des Knies in einem Stumpf mit abgescheuerter Haut, aus dem Blut durch den Verband sickerte. Eine Krücke stützte es. Tyr schluckte. Sie erkannte, was es die Hexe gekostet hatte, ihr zu Hilfe zu eilen. »Nicht einmal Magie kann mir zurückgeben, was Chandros mir genommen hat«, sagte Elarra. »Tageslicht, Monddunkel – es macht nicht viel Unterschied«, bemerkte Elarra. Die beiden Frauen hockten zusammen in Tyrs Beobachtungsstand über dem Djenne-Lager. Ihre Körper berührten sich. Der Wind zerwühlte das graue Haar der Hexe. »Des Nachts würden sie auf mich warten«, meinte Tyr. »Ausgeschlossen. Sieht das nach einem Lager in Alarmbereitschaft aus? Sie sind höchst zufrieden mit sich selbst, daß ihnen ein weiterer Sieg zugefallen ist, ohne daß sie dafür kämpfen mußten.« »Und wir? Wie schwer werden wir kämpfen müssen?« »War es ein glücklicher Zufall, daß du bis zu der Pyramide gelangt bist, oder könntest du es noch einmal schaffen?« Elarra machte sich vorsichtig an den Abstieg. Die Worte der Hexe hatten die Macht verloren, Tyr zu verletzen. »Sogar
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mit meinem zweitbesten Schwert.« »Dann ist das alles, was du zu tun hast. Bring mich hin. Wir werden ein gutes Team abgeben, das verspreche ich dir.« »Was hast du vor?« fragte Tyr mit echter Neugier und folgte ihr. »Willst du ein magisches Duell mit ihm ausfechten?« Als Elarra nicht antwortete, nahm Tyr an, sie müsse sich zu sehr auf den für sie schwierigen Abstieg konzentrieren, um sprechen zu können. Erst später erkannte sie, daß es einen anderen Grund gegeben haben mochte. Trotz seiner doppelten Last durchbrach Höllenroß die äußeren Verteidigungen der Djenne, wie ein Messer durch Butter schneidet. Tyr, die ihn mit den Knien lenkte, schlug die Posten nieder, die nicht wachsamer waren als in jener schicksalhaften Nacht. Es geschah geräuschlos. Alle Kampfesfreude wurde von der Furcht ,ertränkt, was sie in der Pyramide erwarten mochte. Der Widerstand der Djenne wurde massiver, bis ihr Fortschritt einem Waten durch einen giftigen Sumpf glich. Diesmal hatten die Räuber eine Chance, zu Pferde zu steigen und zum Gegenangriff überzugehen. Für Tyrs Schwert machte das keinen Unterschied. Die DjennePonies stolperten angesichts des schwarzen ,Hengstes, quietschten vor Panik, wenn er seine großen gelben Zähne in ihr Fleisch schlug. Sie waren ausgebildet, ihre Herren zu einem blitzartigen Überfall zu tragen, nicht dazu, selbst Opfer zu sein. Chandros stand vor der Pyramide, und seine Krone glitzerte wie eine Beleidigung des Sonnenlichts. Tyr hielt Höllenroß auf einem kleinen freien Platz zu seinen Füßen an. Die Djenne zogen sich wie vorher von ihnen zurück, zufrieden, ihren Kriegsherrn für sich kämpfen zu lassen. »Hebt euch hinweg, stinkende Eindringlinge!« rief er. »Ihr könnt den heiligen Führer der Djenne nicht berühren.« »Du Schurke, hast du geglaubt, ich sei leicht umzubringen?« »Arkadien ist Staub unter der Macht der Djenne. Es war ein Fehler; von dieser Brut etwas überleben zu lassen, aber ein Fehler, der leicht zu korrigieren ist.« Chandros hob die Arme über den Kopf. Diesmal hielt er nur das Zepter in der Hand. Tyr hütete sich davor, die Ornamente im bellen Tageslicht zu genau anzusehen. Was sie von seiner Krone erkennen konnte, reichte, den stärksten Magen umzudrehen. Chandros begann einen langsamen Gesang in einer fremden, gutturalen Sprache. Seine fließende Robe umwirbelte ihn, als besitze sie eigene Lebenskraft. »Los, Hexe!« zischte Tyr über die Schulter zurück. »Es ist noch zu früh. Wir müssen ihn zwingen – kannst du ihm Zepter wegnehmen?« »Damit er sich in etwas verwandelt, mit dem ich nicht fertig werde, wenn ich so nahe an ihn herangehe? Ich habe meinen Teil getan, indem
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ich dich hergebracht habe; jetzt bist du an der Reihe. Oder läßt du deine Arbeit immer von anderen erledigen?« »Nein!« Elarra lockerte ihren Griff um Tyrs Taille und glitt auf den Boden. Ihr Holzbein gab nach, und sie taumelte, aber dann fing sie sich wieder und trat vor. »Bei dem Wind, der unser Geist ist, bei dem Salz, das unsere Kraft ist…!« rief Elarra mit klarer, klingender Stimme aus. Die Menge der Djenne wich zurück, als habe sie sie körperlich geschlagen. Chandros unterbrach seinen Gesang. Seine Robe hörte auf zu flattern. »Ich fordere dich zum Kampf, Chandros Ausländer!« »Eine Frau – aber sie kennt die Schlüsselworte!« erhob sich eine Stimme aus der Menge. »Du bist nicht dazu berechtigt!« Chandros sonore Stimme klang plötzlich rauh. »Du bist kein Djenne!« »Du bist nicht einmal dazu berechtigt, hier zu sein«, gab Elarra zurück. »Hast du zehn Tage in der Wüste verbracht, allein, nur mit den Geiern als Führern? Hast du dein Mannbarkeitszeichen gewonnen? Wer unter den Djenne trägt das Brudermesser, an dem dein Blut haftet?« Sie wandte sich den Djenne-Räubern zu, die unruhig geworden waren und ihre Zustimmung murmelten. »Hört, O Djenne, hört und entscheidet ob ich das Recht zur Herausforderung habe! Ich habe den Mond zehnmal über den Kahlen Gipfeln aufgehen sehen! Ich habe mir das rituelle Zeichen in die eigene Brust geschnitten! Und wo ist Pauce, der das Messer Ylars trägt?« Ein hochgewachsener Djenne trat vor. »Chandros ist unser Kriegsherr. Er führt uns zu Siegen, von denen wir uns früher nie haben träumen lassen. Ylar ist ein Krüppel, falls er noch lebt. Warum sollte ich auf die Worte einer Frau hören?« Mit langsamen Bewegungen, so daß einzig Tyr ihre Steifheit bemerkte, näherte Elarra sich dem Räuber. Er beugte den Kopf, um die Worte zu verstehen, die sie zu leise für die Ohren der anderen sprach. Dann zog sie etwas aus einer verborgenen Tasche und legte es ihm in die Hand. Tyr sah ihn blaß werden und zustimmend nicken. Er hob die Stimme, während Elarra auf ihren Platz vor Chandros zurückkehrte. »Sie hat das Recht!« »Aber, Pauce, eine Frau!« wurde protestiert. »Seit wann gestehen die Djenne Frauen das Recht zu?« Mit rotem Kopf, die Stirn in Falten gelegt, wandte sich Pauce dem Fragesteller zu. »Seit wann sind die Djenne zu feige, eine Herausforderung anzunehmen? Chandros ist entweder ein Djenne oder er ist tot!« Die Djenne jubelten ihm zu. Chandros schüttelte sein Zepter und rief laut: ;,Dann komm und sieh, welches Schicksal du dir selbst bereitet hast!«
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Im selben Augenblick wirbelte eine Wolke aus stinkendem gelbem Rauch um den Kriegsherrn. Undeutliche Gestalten waberten darin, und die Umrisse von Chandros Körper begannen zu verschwimmen. Bei dem Gedanken an das Grauen, dem sie nur um Haaresbreite entronnen war, stieg Tyr bittere Galle die Kehle hoch. Doch Elarra sang ebenfalls. Sie hatte die Hände zum Himmel erhoben, und der Blutstein an ihrem Ring erwachte zum Leben. Der gelbe Rauch löste sich zu Fetzen auf. Chandros rief ihr eine unflätige Beschimpfung zu. Sie lachte. »Du kannst meine Ängste nicht gegen mich verwenden, Schwindler! Ich bin kein Stammeskind, das sich durch ein bißchen Trivial-Magie einschüchtern läßt! Bringst du um der Ehre der Djenne willen nichts Besseres zustande?« Tyr erkannte, was Elarra vorhatte, und ihr Herz frohlockte. Die Hexe mußte ihn tiefer in seine Verteidigungen hineintreiben, wo sie an seiner Quelle zuschlagen konnte. Die Luft zwischen den Duellanten wurde dick, kräuselte sich von Wellen übernatürlicher Energien. Chandros schüttelte sein Zepter. Die Knochen und die scheußlichen geschnitzten Gegenstände klapperten wie die Ketten des Verhängnisses. Elarras Ring verstrahlte ein tiefrotes Licht, das wie frischvergossenes Blut auf ihren Gesichtern lag. Ihre Stimme erhob sich über die dröhnenden Zaubersprüche des Kriegsherrn. Patt, dachte Tyr. Mit einem gräßlichen Schrei riß sich Chandros von dem toten Punkt los. Er zog ein bösartig gekrümmtes Messer aus den Falten seiner Robe und richtete die Spitze gegen seine eigene Brust. »Nein! Halte ihn auf, Tyr!« schrie Elarra in echter Panik. Tyr grub dem Hengst die Fersen in die Weichen, und er schoß voran, aber sie kamen zu spät. Kein menschliches Mittel hätte Chandros Hand zurückhalten können. Blut lief seine Robe hinunter und spritzte auf den Staub zu seinen Füßen. Donner erschütterte den wolkenlosen Himmel. Mehrere der Räuber fielen auf die Knie und heulten vor Entsetzen. Tyr hielt Höllenroß an. Der Boden bebte unter ihm. Sie sprang von seinem Rücken und beruhigte ihn auf die Art der Kriegerin. Chandros trat zurück. Sein Gesichtsausdruck war hinter seiner rituellen Maske nicht zu erkennen. Der Boden, wo er gestanden hatte und wo sein Blut wie verstreute Münzen des Todes lag, wölbte sich nach oben. Aus Djenne-Kehlen stieg neues Gejammer auf, und dann wurde ihnen jeder Laut von den Lippen gerissen. Der Buckel wuchs zur Größe eines Hügelgrabs, dann zu der eines kleinen Hügels. Tyr brauchte den Hengst von der wachsenden Wölbung nicht erst fortzuziehen. Er zitterte und tänzelte nach hinten und hatte die Ohren
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furchtsam angelegt. Chandros war auf die Steinschwelle der Pyramide zurückgewichen, und die Djenne waren ein gutes Stück aus dem Weg. Nur Elarra stand noch an derselben Stelle, und die Erdwoge trug sie höher und höher. Ihr Gesicht war ruhig, ihre Stimme beherrscht. Die Hände hielt sie vor der Brust verschränkt. Tyr erkannte, daß nicht nur das Licht des Blutstein-Rings die Erde rot machte. Sie nahm tatsächlich eine rote Farbe an, als werde sie mit menschlichem Blut durchtränkt. Da teilte die Wölbung sich zu Elarras Füßen mit ohrenbetäubendem Krachen. Die Erde unter Tyr bebte, aber sie hielt die Augen auf den Gipfel des unnatürlichen Hügels gerichtet. Eine riesige, mißgestaltete Hand reckte sich unter einer Lawine aus losem Boden und Steinen aus dem Riß. »Aiiie! Die Erdmutter will uns fressen!« kreischte ein Räuber durch das Geschnatter seiner Gefährten. Tyr grub die Finger in das dicke Leder der geflochtenen Zügel und betete darum, nicht in Ohnmacht zu fallen. Eine zweite Hand kam zum Vorschein, so groß wie der Rumpf der Kriegerin, dann zwei Arme, die zu schmalen Schultern und einem vierschrötigen Nacken führten. Der Kopf hob der entsetz ten Menge blinde Augen entgegen. Die Djenne lagen auf den Knien, hatten die Gesichter in den Händen verborgen. Nur Tyr, die zu verängstigt war, um sich zu bewegen, Elarra oben auf dem Hügel und Chandros Kriegsherr standen noch auf den Füßen. Der Hügel zerbröckelte, als die monströse, blutgetränkte Gestalt herauskletterte. Tyr sah, daß sie beinahe unanständig weiblich war, eine Perversion des ernährenden Landgeistes, den Elarra beschrieben hatte. Chandros begann zu lachen. Erst langsam mit einem kaum zu erkennenden Grummeln, dann lauter bis hinauf zu einem hysterischen Kreischen. »Sie wird dich fressen! Dich, Hexe!« schrie er. Die Erdgestalt bückte sich zu Elarra nieder, die klein und zart vor ihr stand. Der Mund, der nichts weiter war als ein von Zähnen besetzter Schlitz, öffnete sich weit, um sie zu verschlingen. Elarra wirkte wie betäubt, erstarrt, hilflos vor der elementaren Blutgier, die von der Riesin ausging. Tyr schloß die Augen, kämpfte um den Mut, sich zu bewegen. Elarra hatte dies als ihre Verbündete gewagt – sie konnte sie nicht allein sterben lassen, nicht auf diese Weise… Tyr ließ die Zügel fallen und zwang sich, die Hände auf den Griff ihres zweitbesten Schwertes zu legen. Doch bevor sie die Klinge ziehen konnte, stolperte Elarra von dem Geröll weg und geriet für einen Augenblick außer Reichweite dieser massigen Hände. Auf ebenem Boden angelangt, drehte sie sich von neuem ihrer Gegnerin zu. Sie hob die Hände hoch über den Kopf. Das Licht, das von
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ihrem Ring ausstrahlte, verwandelte sich mit der ganzen Pracht des Regenbogens von Rot zu Orange und das Spektrum hinunter bis zu tiefem Violett. Funken stoben von dem Ring. Sie landeten zischend zu den Füßen der Erdriesin, die stehenblieb und Drohungen brüllte. Tyr konnte Elarra nicht mehr deutlich sehen, so eingehüllt war die Hexe von schimmerndem purpurfarbenem Licht. Sie schien größer und dünner zu werden, indem die Purpurfarbe zu Flieder und dann zu Silbergrau verblaßte. Ein kühler Wind, der Salzgeruch aus der Wüste mitbrachte, fegte durch das Lager. Jetzt war nicht mehr daran zu zweifeln, daß Elarra gewachsen war, und zwar fast zu der Höhe der monströsen Gestalt ihr gegenüber. Der Wind sang sein wildes Lied und preßte Tränen aus Tyrs Augen. Er zog Elarras Haar zu einem Nimbus von ungezähmter Glorie auseinander. Er verzerrte ihr Fleisch, hobelte ihre Kurven zu harten, knochigen Kanten ab. Die kreischende Stimme des Windes füllte Tyrs Kopf, ließ ihre Hand auf dem Schwert erstarren, betäubte sogar ihre Gedanken. Dann war es nicht mehr die Stimme des Windes, es war die Stimme Elarras oder vielmehr des Wesens, zu dem Elarra geworden war. Nicht mehr Elarra… der Landgeist der Djenne. Die Djenne selbst, ein Spiegel dessen, was sie gewesen war, was sie sein sollte. Sauber und wild stand sie vor der aufgedunsenen Scheußlichkeit, die Chandros erschaffen hatte. Sie sang, rief die Erinnerung wach, erweckte die Wahrheit. Die blutgetränkte Gestalt schwankte, ihre Gier schmolz in Elarras reinem Lied. Unter unzusammenhängendem Gebrüll stürmte Chandros auf sie los. Tyr ließ ihr Schwert fallen und rannte los, so schnell sie konnte. Bevor Chandros die Erdgestalt erreichte, faßte sie ihn um die Mitte und schleuderte ihn mit Wucht zu Boden. Er wehrte sich gegen sie mit wahnsinniger Kraft, und sie brauchte alle ihre Ringkampf-Tricks, um ihn unten zu halten. »Geh weg, misch dich nicht ein, du Schlampe!« »Damit du dieses Ding mit noch mehr Tod füttern kannst?« schrie Tyr zurück und hielt ihn um so fester. Ihre Aufmerksamkeit brauchte nur für einen Augenblick zu den beiden elementaren Wesen abzuschweifen, und er konnte sich losreißen. Sie schloß die Ohren vor dem wilden Gesang der Djenne, vor der Blutgier in dem Grollen der Erdgestalt. Endlich sackte Chandros in ihrem Griff zusammen. Seine Muskeln wurden schlaff, dann wie Papier im Vergleich zu ihren eisernen. Tyr wagte es, aufzublicken… Und sah zwei Djenne-Landgeister der eine das Spiegelbild des anderen, beide singend, beide im Wirbelwind ihrer eigenen wilden Natur schwankend. Aber welcher war Elarra, welcher der wirkliche Landgeist?
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Die nähere Gestalt drehte sich um. Ihre Gewänder wirbelten in einer Mischung aus Silber und Violett und staubigem Braun. Das Haar umfloß ihren Körper wie gesponnener Stahl, wie Seide. Ihre Augen waren blind, weiß wie Wolken oder die Krusten auf den Salzseen. Ohne einen Blick zurück schritt sie auf das Herz der Wüste zu. Ihre Füße wanderten durch die Zelte der Djenne, ohne die Spur einer Beschädigung zurückzulassen, aber als sie den massiven Steintempel berührten, zerbröckelte er zu Staub. Die zurückbleibende Gestalt schwankte in der Stille, die nach dem Weggang der anderen herrschte, und schrumpfte ein bißchen. »Elarra!« rief Tyr. »Elarra du hast gesiegt. Komm zu uns zurück!« Der Djenne-Geist, der Elarra gewesen war, sank auf die Knie, und Tyr sah Tränen auf seinem Gesicht schimmern. Aber aus seinem Gesicht sahen sie Elarras Augen an. »Elarra?« »Menschliches Fleisch…«, erklang eine Stimme, leise pfeifend wie der Wüstenwind«… kann nicht zurückkehren…« »Du hast dich diesem Ding hingegeben – um Chandros aufzuhalten?« keuchte Tyr und kämpfte gegen ihre Tränen an. Langsam nickte der Djenne-Geist. Seine Farbe verblaßte schnell, zuerst das Braun und Purpur, und zurück blieb Grau, Tonin Ton. Ich hatte gedacht, niemand könne ihn so hassen wie ich… Elarra, gefangen in der Gestalt eines Landgeistes und für immer von ihrer Art abgetrennt, führte willentlich die eigene Auflösung herbei. »Nein! Es muß einen anderen Weg geben!« Tyr stellte sich auf die Füße. Irgendwo unter den Djenne-Räubern wieherte Höllenroß als Echo auf ihre Qual. »Wo… ist jetzt noch… ein Platz für mich?« »An meiner Seite.« Tyr meinte, die Spur eines Lächelns über das Gesicht der Gestalt huschen zu sehen, bevor sie zur Seite wich und zu Staub zerfiel. Da fühlte Tyr etwas in sich zerreißen, etwas, das nicht einmal die Vernichtung ihres Clans durch die Djenne hatte brechen können. Im Lauf der Jahre hatte sie ihre Seele der Rache geweiht, und jetzt hatte nicht ihre Geschicklichkeit mit dem Schwert Chandros ein Ende bereitet, sondern das Heldentum der verkrüppelten Hexe. Sie vergrub das Gesicht in den Händen und sank auf die Erde – die Erde, der Elarra sich geopfert hatte, um sie zu reinigen. Höllenroß Wiehern erreichte sie durch Schichten von Schmerz. Er bäumte sich auf und schlug um sich, als ein Räuber versuchte, seine Zügel zu ergreifen. Tyr zwang sich zu handeln. Ihr Schwert lag im Staub; sie hob es auf. Die Djenne teilten sich vor ihr, wichen zurück. Sie schwang sich auf den Rücken des Hengstes, drehte ihn im Kreis, suchte in der Menge nach einem Zeichen, daß ein Angriff beabsichtigt war.
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Pauce hob die Stimme. »Der Kriegsherr ist tot.« »Und die Djenne sind frei, zu sein, was sie waren«,.erwiderte Tyr. Er hob die Hand, um das Brudermesser zu zeigen, das Elarra ihm zurückgegeben hatte. Ein anderer Räuber untersuchte den Boden an der Stelle, wo der Landgeist der Hexe sich aufgelöst hatte, und reichte ihm einen kleinen Gegenstand. Ihn vor sich haltend, näherte er sich Tyr. »Geh in Frieden«, murmelte er und ließ ihr Elarras Blutstein-Ring in die Hand fallen. Tyr erschrak, als das Metall ihre Haut berührte, aber sie ließ sich nichts anmerken und lenkte das schwarze Schlachtroß mit ihrem grimmigsten Kriegerinnengesicht aus dem Lager. Erst ein gutes Stück weiter bergauf begann sie, sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, der in ihr aufgestiegen war, als die konzentrierte Energie des Blutsteins sie überflutete. Die Worte hatten ganz den Klang von Elarras Stimme. »Wir geben ein gutes Team ab, nicht wahr?«
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Mary Frances Zambreno Unter normalen Umständen würde mir die Erwähnung eines Vampirs genügen, um eine Geschichte auf der Stelle abzulehnen. Vampir-Geschichten sind mittlerweile ziemlich abgedroschen, oder? Nun, eine solche wie diese ist es nicht! – M.Z.B.
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Blutstein Eine gute Diebin sollte besser darauf achten, was sie stiehlt, dachte Aeres in ihrer Zelle. Ein blaues und ein haselnußbraunes Auge betrachteten philosophisch die gegenüberliegende Wand. Eine gute Diebin sollte besonders darauf achten, nicht geschnappt zu werden, nachdem sie zufällig den Blutstein eines Vampirs gestohlen hat. Schlimm genug, daß sie hier warten und darüber nachdenken mußte, ob der Richter ihr für das Stehlen wohl die rechte oder die linke Hand abhacken ließ. Doch noch schlimmer war das Grübeln, wie lange der Vampir brauchen würde, um sie aufzuspüren, und was er machen würde, wenn er sie gefunden hatte. Was war besser – wenn einem die Kehle vor oder nach der vom Richter verordneten Verstümmelung aufgerissen wurde? In der Zelle wurde es plötzlich sehr kalt. Sie fuhr zusammen, dann zwang sie sich, die Augen halb zu schließen. Dunkelheit sammelte sich um sie. Der Vampir stand unmittelbar vor ihrer Zellentür. Lautlos wie – wie der Mond war er gekommen. Leiser als ein Dieb. Sein wildes Lächeln enthüllte spitze Zähne. Aeres schluckte und setzte sich schnell auf. »Ich habe ihn nicht«, sagte sie. Ihre einzige Chance war, schnell zu sprechen. »Ich kann ihn dir zurückstehlen. Aber das hat einen Preis.« Seine Hand berührte die Zellentür. An drei der langen Finger saßen Ringe: Saphir, Smaragd, Opal. Oh, warum hatte sie nicht einen von diesen gestohlen? »Wo ist er?« fragte er leise. Seine Stimme klang kalt und gleichmütig. Distanziert. »Im Tabernakel der Stadt-Kathedrale«, teilte sie ihm ohne Umschweife mit. »Wenn du bis auf hundert Schritt herangehst, wirst du schmelzen wie Talg.« Die langfingrigen Hände ballten sich. Er knurrte tonlos, und Aeres wich an die Wand zurück. »Du – hast das Auge Roms – der Kirche gegeben?« (Der große rote Stein besaß einen Namen? Interessant.) »Nun, meine Idee war es nicht.« Sie sprach schneller. »Ich wurde damit erwischt, und natürlich erkannte man, was es war. Ich könnte den Stein jedoch zurückstehlen – wenn du mich aus dieser Zelle herausholst.« Flache, leere Augen schätzten sie durch die Gitterstäbe der Zelle ab. »Und sobald du ihn zurückgestohlen hättest, würdest du ihn mir bringen?« »Warum nicht?« Sie wischte sich die schweißnassen Handflächen an der Jacke ab. »Schließlich ist es doch deiner! Du könntest mir folgen, wo-
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hin ich ihn auch brächte – es sei denn, es würde mir gelingen, dich zu töten. Was nicht wahrscheinlich ist, oder? Wenn ich gewußt hätte, daß es ein Blutstein ist, hätte ich ihn gar nicht erst genommen – ganz gleich, wie groß und wie prächtig er war! Jetzt ist alles, was ich will, meine Freiheit, und die kannst du mir geben.« Sie redete zuviel, aber es funktionierte. Er hörte ihr zu. Sie hielt den Atem an. »Das ist alles sehr wahr«, erklärte die kalte Stimme schließlich voller Verachtung. »Und sehr schön. Du kannst ihn stehlen heute Nacht.« Natürlich; man würde jetzt nach dem Eigentümer des Blutsteins suchen, und er mußte aus der Stadt fliehen. Ihr Diebstahl hatte ihn verraten. »Das kann ich«, sagte sie, obwohl er eigentlich keine Frage gestellt hatte. »Heute nacht wird man nicht damit rechnen.« Er drückte gegen die Tür; sie schwang auf. »Bring ihn mir ins Haus des Tuchhändlers am Fluß. Frage nach Lord Porphyro.« Aeres stellte sich auf die Füße. »Mein Lord – da ist immer noch das kleine Problem mit den Gefängniswärtern.« »Sie werden dich nicht belästigen.« Abermals lächelte er, und sie erschauerte. Die armen Wärter. »Bring mir das Auge Roms morgen vor Sonnenaufgang, kleine Diebin, oder du wirst wünschen, du wärest wieder in deiner Zelle und wartetest auf die Bestrafung.« Die Dunkelheit wirbelte. Fast ehe sie denken konnte, war er verschwunden und hatte nichts zurückgelassen als die Kälte in der Luft und in ihrem Magen. Sie verschwendete zwei volle Minuten damit, sich zu vergewissern, daß er tatsächlich fort war, bevor sie es riskierte, in den Gefängnisflur hinauszuschlüpfen. Bis morgen vor Sonnenaufgang – das war nicht viel Zeit. Behutsam stieg sie über den einen Wärter, der ihr im Weg lag. Er schnarchte, also waren sie wenigstens nicht alle tot. Und sie hatte wenigstens die Chance, um die sie gebetet hatte. Die Kathedrale war beinahe leer und nicht besser bewacht als üblich. Aeres wartete im Schatten der Apsis, daß sich ihre Augen an das Kerzenlicht gewöhnten. Sänger probten auf dem Chor für den Morgengottesdienst und zwei Priester warteten hinten darauf, späte Beichten zu hören, aber keiner war in der Nähe des Altars. Gut. Das vom Tabernakel reflektierte Licht fiel als mattgoldener Schein den rechten Gang hinunter. Wie kam sie jetzt nahe heran? Im Umkleideraum an der Rückseite der Kirche hingen Akoluthen-Roben. Aeres eignete sich eine lose Kutte mit Kapuze und einen kleinen Besen an und fegte sich ihren Weg das Mittelschiff hinauf. Eine gute Diebin arbeitete mit dem Material, das zur Hand ist, und es war nicht wahrscheinlich, daß man sie zur Rede stellen würde, wenn sie den Kopf senkte und die Kapuze aufbehielt. Sie fegte sorgfältig, blieb hier und da stehen, um
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Abfall in dunkle Ecken und unter Teppiche zu schieben, wie es ein fauler Diener tun würde. Am Altargeländer seufzte sie hörbar – nicht etwa, daß irgendwer nahe genug gewesen wäre, um es mitzubekommen, aber eine gute Diebin fällt niemals aus der Rolle –, bevor sie widerwillig ihre Verbeugung machte und mit dem Fegen der Stufen begann. In wenigen Augenblicken war sie im Seitenaltar. Mit klopfendem Herzen stützte sie sich auf ihren Besen – wie es aussah, um den Umfang der Arbeit zu bedenken, die noch vor ihr lag. Vorn lag ein Teppich auf dem Boden, so daß sie einen Vorwand hatte, hinten anzufangen. Mit gesenktem Kopf verdrückte sie sich in den Schatten. Dabei tastete sie mit einer Hand in der gestohlenen Kutte nach ihrem Taschentuch. Sie war kein Priester, daß sie einen Blutstein ohne weiteres angefaßt hätte. Lieber vorsichtig sein. Ein Arm glitt hinter die goldenen Tabernakel-Türen, tastete zwischen juwelenbesetzten Platten und anderen Artikeln umher. Zu schade, daß sie nicht wagen durfte, mehr als den Blutstein zu nehmen. Ah! Da war er. Schade auch, daß sie ihn dem Vampir zurückbringen mußte. Sie hatte noch nie zuvor etwas so Herrliches gestohlen. Der Stein war das Risiko wert, auch wenn sie dabei erwischt worden war. »Bruder, was machst du da?« Sie erstarrte, die Finger immer noch innerhalb des Tabernakels fest um den in ein Tuch gewickelten Stein gelegt. Ein Priester stand am äußersten Rand ihres Gesichtsfelds und betrachtete sie mißtrauisch. »Ich wische Staub, Vater.« Sie versuchte, mit rauher, tiefer Stimme zu sprechen. »Innerhalb des Tabernakels?« »Auf allen Flächen sammelt sich Staub, Vater«, erwiderte sie und bewegte den Arm mit der goldenen Tür, als schüttele sie Staub davon ab. Ihre Fingerspitzen glitten über eine glatte Facette; ein kleiner Schlag lief ihr zur Schulter hinauf, und sie zuckte zusammen. »Was hältst du da in der Hand, Bruder?« Der Priester packte ihren Arm und zog ihn heraus. Natürlich hätte sie die Faust, solange sie noch verborgen war, öffnen und den Stein fallen lassen sollen, aber irgendwie konnte sie es nicht. Ihr ganzer Arm kribbelte. Der Priester öffnete ihre Finger mit Gewalt. Der Stein lag matt glühend auf ihrer Handfläche, an ihre bloßen Finger geschmiegt, und beschämte die Kerzen. Der Priester keuchte. »Der Stein des Vampirs! Was…« Ohne ihren Arm loszulassen, zog er ihr mit der freien Hand die Kapuze vom Kopf. »Die Diebin mit den verschiedenfarbenen Augen! Aber die Wache hatte dich ins Gefängnis gebracht!« Ihrer Augen wegen war sie schon immer zu leicht zu identifizieren ge-
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wesen, aber Aeres war jetzt darüber hinaus, es zu bedauern. Ihre Aufmerksamkeit war auf den Stein fixiert, der zwischen ihrem Körper und dem des Priesters wie eine fette untergehende Sonne saß. Sie glaubte nicht, daß sie ihn loslassen könnte, selbst wenn sie es versuchte. »Nehmt ihn, Vater«, sagte sie unsicher. »Er brennt…« »Natürlich brennt er dich«, fuhr er sie an. »Du bist voller Sünde und eine Frau nach obendrein. Los, gib ihn mir!« So nicht, versuchte sie zu sagen. So brennt er nicht. Es ist kein Schmerz dabei, überhaupt keiner. Aber er zieht an meiner Seele. Kaltes Feuer… Die dicke Hand des Priesters bedeckte den Stein. Aeres hätte beinahe aufgeschrieen, als ihr der Anblick entzogen wurde. Erst glaubte sie sogar, es getan zu haben. Aber es war der Priester, der laut schrie. »Auweh!« jammerte er, wedelte mit der rauchenden Hand und sprang umher. Aeres sah ihm benommen zu. »Feuer! Feuer! Das brennt!« Natürlich brennt er dich, sagte ein Teil ihres Verstandes kalt zu ihm. Du bist ein Feigling und ein Heuchler und durch und durch dumm. Der Stein glühte in einem flackernden Blau wie das Herz einer Flamme. Fasziniert betrachtete Aeres den Priester in diesem Licht. Sie sah bis in den innersten Kern seiner schmuddeligen kleinen Seele hinab. Ihr blaues Auge glühte mit dem Edelstein, ihr braunes Auge verdunkelte sich, schwärzte sich, brannte. Hingerissen sah sie zu, wie er durch das Schiff zu einem Weihwasserbecken rannte und seine brennende Hand hineinstieß. Dampfwolken stiegen auf. Eine Stimme flüsterte: Er war schwach. Das Juwel belohnte Kraft und Mut und Intelligenz, erkannte sie, und von all dem besaß der Priester offensichtlich wenig. Und sie hatte genug? Ihr tat der Stein nicht weh. Aeres hob den Stein auf. Etwas sang in ihrem Blut. Ja, dieser Stein konnte benutzt werden, um einem Menschen das Leben und den Willen auszusaugen, wie der Vampir es tat; aber es steckte mehr darin, viel mehr. Wieder rief der Stein, er rief sie, und jetzt sah sie deutlich… Der Priester jammerte hysterisch: »Wache! Die Frau! Die Hexe! Wache!« Aeres steckte den Stein in ihre Jacke und sprang über das Altargitter. Die Akoluthen-Robe behinderte sie; deshalb zog sie sie beim Laufen aus. Links war der Altarraum, und dorthin rannte sie, schlitterte um die Bänke wie ein Wasserfloh auf einem ruhigen Teich. Wenn es ihr gelang, auf die Straße zu kommen… Die Tür des Altarraums war verschlossen. Aeres machte kehrt, aber der Weg wurde ihr bereits von dem Priester verstellt. Seine verbrannte Hand war schwarz und tropfte, und seine Augen blickten wild. Hinter ihm füllte sich die Kirche mit Wachen. »Hexe!« zischte er sie an. »Untote, Unreine…«
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Er hielt sie für den Vampir? Ja, natürlich – sie hatte den Stein berührt. Schwer atmend duckte sie sich vor dem Priester. Der Edelstein war ein großes brennendes Gewicht zwischen ihren Brüsten. Mit Hilfe des Steins sah sie all die kleinen Adern im Körper des Priesters, sah sein Herz pulsieren und schlagen, sah die Gedanken durch sein schwaches kleines Gehirn laufen. Sie studierte ihn, dann langte sie mit ihren Gedanken hinaus und gab ihm einen kleinen Schubs. Er brach zusammen. Tot? Nein – er umklammerte stöhnend seinen Kopf. Sie gab ihm eine Vision, die sie in einem Winkel seiner Seele fand, und er wand sich sabbernd. Dann war sie an ihm vorbei und draußen auf der Straße, unterwegs zu den verborgenen Winkeln, die jede gute Diebin kennt. Der Edelstein brannte immer noch und zeigte ihr allerlei. Beinahe wäre sie gestolpert: Ihre Verfolger waren kleine Flammen in der Dunkelheit hinter ihr, verängstigte kleine Flammen. Die Stadt um sie glühte vor Leben. Sie brauchte nichts anderes zu tun, als eine der kalten und leeren Stellen aufzusuchen und sich zu verstecken. Es war beinahe zu leicht. An einer der leeren Stellen ruhte sie sich kurz aus. Sie zog den Stein aus ihrer Jacke, um ihn sich anzusehen. Was war dieses Auge Roms nur? Sicher kein gewöhnlicher Blutstein. Und kein Wunder, daß der Vampir so großen Wert darauf legte! Das Töten mußte einfach sein, wenn man diesen Stein als Waffe besaß. Er war gut eingewickelt gewesen, als sie ihn zum erstenmal gestohlen hatte – wußte der Vampir, daß sie fähig war, das Ding zu berühren? Nein, sonst hätte er es bestimmt nicht riskiert, sie es für ihn zurückstehlen zu lassen. Oder doch? Er konnte selbst nicht in die Kathedrale gelangen, und der Stein war auf seine Weise immer noch an ihn gebunden. Würde er, könnte er überhaupt in Betracht ziehen, sie laufenzulassen, jetzt, da sie so viele seiner Geheimnisse kannte? Das war die Frage. Den Rest des Weges auf den Straßen der Stadt zurückzulegen, war nicht schwieriger, als es das Verstecken gewesen war. Allerdings achtete Aeres darauf, späten Passanten aus dem Weg zu gehen. Sie ignorierte die Tür, an der sie nach dem Vampir hätte fragen sollen. Statt dessen kletterte sie zu dem einen offenen und erleuchteten Fenster im Haus des Tuchhändlers hoch. Sie versteckte sich hinter den Vorhängen in der Fensternische und spähte durch die Risse im Stoff. Das Auge Roms ließ sie, wo es war, unbedeckt. Ja, sie konnte den Vampir sehen. Er bestand ganz aus dunkelrotem Blut, das träge pulsierte. Sein Geist war ungeduldig, mit Plänen beschäftigt. Er glaubte also nicht, daß sie es schaffen würde? Nun, sie würde ihn eines Besseren belehren. Aeres nahm allen Mut zusammen und schob einen Samtvorhang zur Seite. »Guten Abend, mein Lord«, grüßte sie förmlich. »Oder sollte ich besser sagen: guten Morgen?« Er fuhr herum; sie hatte ihn überrascht. Gut.
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»Ich hatte dir gesagt, du solltest an der Tür nach mir fragen, kleine Diebin.« Langsam richtete er sich auf. Vor ihm auf dem Tisch standen eine Flasche Wein und ein volles Glas. Das traf sich gut. »Du kommst früh.« »Nicht sehr früh«, sagte sie, den ersten Satz ignorierend. Was sollte sie ihm auch erzählen, daß sie sich erst einmal hatte umsehen wollen! Sollte er sich ein Weilchen den Kopf zerbrechen. »Es dämmert fast schon.« »Ach ja. Es dämmert.« Er lächelte träge, bezaubernd, furchterregend. »Hast du den Stein?« »Ja, hier«, antwortete sie. »Es war nicht leicht… »Gib ihn mir!« Seine Stimme brach. »Gewiß, Lord. Deswegen bin ich ja gekommen.« Sie bewegte sich näher an den Tisch heran und faßte in ihr Hemd. Der Stein blitzte auf ihrer Handfläche. »Und nun?« Er sprang in dem Augenblick los, als er sie den Stein berühren sah, aber Aeres war darauf vorbereitet. Sie schüttete ihm den Inhalt des Weinglases ins Gesicht. Er riß den Kopf zurück, schloß instinktiv die Augen und gab seine Kehle preis, und sie drückte ihm die Handfläche mit dem Juwel dagegen. Er stieß heftig mit den Händen nach ihrem Arm, aber sie hielt fest, drückte nach vorn, nach unten. Sein Atem kam in Stößen. »Ah, Vampir!« lachte Aeres. »Hast du wirklich geglaubt, ich würde dir brav vertrauen? Ich habe gesagt, ich würde dir den Stein bringen, und das habe ich getan, aber das Auge Roms gehört mir!« Die Augen sprangen ihm fast aus den Höhlen. »Du – Hexe…« »Wer, ich? Nicht die Bohne. Der Stein hat die ganze Macht, Lord, und einen eigenen Verstand. Alles, was ich habe, ist die Kraft, ihn zu benutzen, und meiner Kraft wegen hat er mich gewählt. Damit habt Ihr nicht gerechnet, was?« Das Juwel flammte jetzt und wärmte ihren Arm bis zur Schulter. Das Blut brannte in ihren Armen, und Porphyro sank auf die Knie, ohne zu verstehen. »Du – kannst nicht – du hast nicht… Von neuem ein frohlockendes Lachen. »Warum nicht? Dieser Blutstein fällt dem Stärksten zu.« Sie drückte fester, er verdorrte. Die Welt verschwamm um sie, wurde zum Echo der wundersamen blauen Flamme des Steins. Sie hörte jetzt andere Stimmen in seinen Tiefen, die nach Rache schrieen. Der mächtige Geist des Vampirs kämpfte gegen den ihren, wollte sich freimachen, aber sie war stärker. Er hatte sie unterschätzt, nicht wahr? Das taten die meisten Leute, doch der Stein wußte es besser. Die arme kleine Diebin, die sie war, mit gerade genug Witz und Willen, um am Leben zu bleiben… Es war genug. Als die Flammen ihren Geist verließen, war Aeres allein im Zimmer. Der Stein glühte noch schwach in ihrer Hand. Automatisch steckte sie ihn
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in ihr Hemd – versuchte, ihr rasendes Herz zu beruhigen. Das war geschafft. Und als nächstes? Sie hatte Hunger und war müde, aber sie mußte Pläne machen. Sie mußte irgendwohin gehen, um herauszufinden, was der Stein war und was er tun konnte. Das später. Porphyros Geist befand sich in dem Stein, gefangen zusammen mit denen, die er getötet hatte. Machte sie das zu einem Vampir? Sie glaubte es nicht – sie hatte kein durch den Stein fließendes Blut geschmeckt-, aber sie würde es herausfinden müssen. Am wichtigsten war jedoch für den Augenblick die rein praktische Frage, wie sie mit ihrer Beute ungefährdet aus der Stadt gelangte. Alles der Reihe nach: Essen und Vorräte für eine Reise. »Nun, Porphyro?« fragte sie laut und sah sich in dem Gemach um. »Was sollen wir heute abend essen? Oder hast du keinen Hunger?« Der unhörbare Wutschrei eines Geistes antwortete ihr. Sie lächelte. Zweifellos brauchte er eine Weile, bis er sich eingewöhnt hatte. Wenn es soweit war, würde es Spaß machen, seinen Geist zu erkunden, und ebenso, dieses Haus und seine möglichen Schätze zu erkunden, bevor sie die Stadt verließ. Tatsächlich, die ganze Welt verwandelte sich in einen durch und durch interessanten Ort. Jetzt, da sie ein Auge hatte, um damit zu sehen.
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Laura J. Underwood Beim Lesen der Einsendungen für diese Anthologie erhalte ich immer eine Menge Beweise dafür, daß Sie keinen zu langen Begleitbrief schreiben sollten, denn so gut wie alles Notwendige müßte sowieso auf Seite eins Ihres Manuskripts stehen. Überflüssig ist es, Veröffentlichungen außerhalb des Genres, in dem Sie Ihre Einsendung verkaufen wollen, zu erwähnen. So schrieb diese neue Autorin, daß Arbeiten von ihr in »Horse and Horseman« und in verschiedenen Zeitungen erschienen seien und daß sie Gedichte geschrieben habe. Ich brauche jedoch absolut nichts weiter zu wissen als Ihre früheren Verkäufe auf dem Gebiet der Fantasy. – M.Z.B.
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Die Schwertsängerin Nebel kroch die Straße entlang, die sich durch das Moor schlängelte. Er wallte um die Beine des eisengrauen Hengstes, der unter dem Drängen seines Reiters nervöse Schritte machte. Der Mann war in einen Mantel gehüllt, der ihn weniger vor dem Wetter schützen sollte als davor, erkannt zu werden. Trotzdem strahlte er Herrenhaftigkeit aus, wie er stolz im Sattel saß und das Tier zwang, der alten Straße zu folgen. Endlich gelangte er zu einer baufälligen Hütte, die von Nebengebäuden flankiert war. Er stieg von dem nervösen Hengst, zog ein Schwert mitsamt der Scheide von seinem Sattelpack und betrachtete beides voller Ehrfurcht. Das scharfe Kreischen eines Sumpfvogels in den nahen Bäumen riß ihn aus seinen Gedanken und scheuchte irgendein kleines Tier aus dem Unterholz. Es lief dem Pferd zwischen die Beine und erschreckte es, so daß es sich aufbäumte und vor Furcht stampfte. Fast hätte es dem Mann auf den lederbeschuhten Fuß getrampelt. Er fluchte, zog an den Zügeln, um den Hengst wieder unter Kontrolle zu bringen, und schlug das Tier als Dreingabe zornig mit der flachen Hand. Immer noch schimpfend, band der Mann den Hengst an eine Pumpe. Dann wandte er sich der Tür der Hütte zu. Licht drang durch die Ritzen um das Holz. Er roch den beißenden Rauch eines Holzfeuers und den Duft eines kochenden Eintopfs. Schwert und Scheide an sich drückend, warf er einen flüchtigen Blick auf den Nebel und die Dunkelheit, bevor er an die Tür klopfte. Die Tür bebte, als jemand den Riegel zurückzog. Sie öffnete sich, und eine sehr junge Frau lugte durch den Spalt. Sie hatte sanfte braune Augen und ein hübsches Gesicht. Ihr Haar war dunkel und fiel ihr in Zöpfen den Rücken hinunter bis zur Taille, aber er erkannte den silbernen Streifen, der, die satte Kastanienfarbe unterbrach – das Zeichen ihrer Art. Bekleidet war sie mit einer Jacke und einer ledernen Hose. »Kann ich Euch helfen?« fragte sie mit einer melodischen Stimme, die die Worte beinahe sang. »Seid Ihr die Schwertsängerin namens Marta?« erkundigte er sich. »Ja«, antwortete sie. »Ich habe Arbeit für Euch«, sagte er. »Der Schmied ist nicht da«, teilte Marta ihm mit. »Er ist ins Dorf zum Einkaufen gegangen, und ich erwarte ihn nicht vor morgen zurück.« »Ich brauche keinen Schmied«, versicherte er ihr, »sondern Eure Dienste.« Marta runzelte die Stirn. »Wollt Ihr mir sagen, um was es sich handelt?«
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»Darf ich hineinkommen?« fragte er zurück. »Ich soll mich in der Abwesenheit meines Vaters nicht mit Gästen unterhalten.« Der Mann seufzte. »Ich habe all diese Meilen nicht zurückgelegt, um mich von einem Mädchen unterhalten zu lassen, das nach Schwefel und Stahl riecht.« Es klang grimmig. »Kennst du mich nicht, Mädchen?« Marta schüttelte den Kopf. Damit machte sie ihn nur noch wütender. »Ich bin Brak Wolfssohn, Kriegsherr der Nordhalle!« donnerte er. »Ich brauche eine Schwertsängerin, keinen Bettwärmer!« Marta zuckte zusammen und schluckte eine Entgegnung hinunter. Sie hatte von diesem Brak Wolfssohn und seiner barbarischen Nordhalle erzählen gehört. Gutes war es nicht gewesen, und seine Anwesenheit hier machte ihr Angst. »Ihr habt einen schrecklich weiten Weg zurückgelegt, nur um eine Schwertsängerin aufzusuchen?« Sie wich seinem grausamen Blick aus. »Gibt es keine in den Schmieden der Nordhalle?« »Bist du so reich, Mädchen, daß dein Vater es gutheißen würde, wenn du mir den verlangten Dienst verweigerst?« Brak wies auf die heruntergekommenen Baulichkeiten. »Ich tue nur das, was alle meiner Art tun.« Marta gab sich Mühe, ihre Stimme nicht beben zu lassen. »Ich singe dem Schwert vor, während es geschmiedet wird, und da mein Vater nicht vor morgen zurückkehrt…« »Und ich habe dir gesagt, daß ich keinen Schmied brauche!« unterbrach Brak sie heftig. »Nur die Schwertsängerin!« »Dann braucht Ihr mir nur zu sagen, was für eine Aufgabe es ist, und ich werde Euch wissen lassen, ob ich sie erfüllen kann«, verlangte sie nochmals. Sein Gesicht erstarrte zu einer Maske der Bestürzung. »Nun gut«, sagte Brak. »Manche Schwertsängerinnen können die Makel einer schlecht geschmiedeten Klinge beseitigen. Ich habe keine in meiner Halle, die dies so gut kann, wie ich es von Euch habe erzählen hören, Marta. Man sagt, Ihr hättet die Macht, eine gebrochene Klinge zu heilen.« Sie schüttelte den Kopf. »Nur wenn ich die Sängerin bin, deren Stimme es geschmiedet hat. Hat eine andere dem Schwert beim Schmieden ordnungsgemäß vorgesungen, kann ich es nicht.« »Das ist hier nicht der Fall«, versicherte er ihr. »Das Schwert ist schlecht geschmiedet worden und ohne daß das Lied einer Schwertsängerin ihm geholfen hätte. Es trägt einen Makel in seinem Stahl.« »Wie könnt Ihr sicher sein, daß ihm beim Schmieden nicht vorgesungen worden ist?« »Ich war dabei«, antwortete Brak. Marta seufzte. Dieser Kriegsherr war wie so viele seiner Art hartnäckig
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und grob. In Anwesenheit ihres Vaters hätte es ihr nichts ausgemacht, ihm zu sagen, er solle in seine Nordhalle zurückkehren, aber so fühlte sie sich unsicher. Ihr Instinkt riet ihr, schnell die Tür zu verriegeln und ihn gar nicht erst hereinzulassen. Er war ein großer starker Mann, und sie zählte erst sechzehn Winter. Nicht etwa, daß sie nicht imstande gewesen wäre, sich zu verteidigen. Schließlich war sie Schwertsängerin. Sie hatte die beste Lehrerin gehabt – ihre eigene Mutter. Diese war einst Schwert-Sängerin bei einem Schmied der Nordhalle gewesen und Martas Vater dessen Lehrling. Sie verliebten sich ineinander, aber der Schmied war von der eifersüchtigen Sorte und verweigerte ihnen die Erlaubnis zur Heirat. Sie hatten keine andere Wahl als durchzubrennen, und sie ließen die Grenzen der Nordhalle in ihrem Wunsch, dem Zorn des alten Schmieds zu entrinnen, weit hinter sich. Martas Vater machte seine eigene Schmiede auf, und das war keine leichte Sache gewesen. Der alte Schmied schickte eine Zeitlang Sucher aus und zwang das junge Paar, sich weitab vom normalen Verkehr niederzulassen. Hier draußen im Moor hatten sie Geschäfte mit Reisenden gemacht, bis die neue Handelsstraße angelegt wurde. Der Weg war weiter, aber nicht so häßlich wie der durch den Sumpf. Mit der Zeit war das Geschäft auf beinahe nichts zurückgegangen. Doch sie hatten die harten Zeiten durchgestanden. Dann war Martas Mutter vor ein paar Jahren krank geworden und gestorben. Um sie trauerten der Gatte, der Sohn und die Tochter, die mit dem »Kuß des Schwertes« geboren war, dem Silberstreifen, der sie als Schwertsängerin kennzeichnete. Marta wollte schon ihrem Instinkt folgen und die Tür schließen, als Brak schnell einen Beutel aus dem Gürtel zog. Er ließ ihn vor ihren Augen klimpern. Marta keuchte beinahe auf. Sie kannte das Klingen von Gold, und der Beutel war schwer davon. »Das«, erklärte Brak und sah sie kalt an, »wird alles dir gehören wenn du meinem Schwert vorsingst und seinen Fehler heilst. Es müßte genug Gold darin sein, um davon eine ganze neue Schmiede zu kaufen.« »So viel«, stammelte Marta. »Warum?« »Das ist meine Sache, Mädchen. Alles, was ich von dir will, ist, daß du den Fehler aus meinem Schwert heraussingst.« Brak lächelte, und Marta erkannte die Bosheit hinter dem Lächeln. Sie hätte sich gern zurückgezogen – aber all das Gold! Ihres Vaters Amboß war geborsten – der Hauptgrund, warum er ins Dorf gegangen war. Er hoffte, von dem Bauernvolk genug Aufträge zusammenzukratzen, um einen neuen bezahlen zu können. Braks Gold würde ein Segen sein. »Nun?« fragte Brak halb neckend und schüttelte den Beutel.
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Marta nickte trotz ihrer unheimlichen Ahnungen. Brak schob sie beiseite und fegte in die Hütte hinein. Leise schloß Marta die Tür. Er sah sich in dem Raum um. 'Dein Vater läßt dich also allein, und du bist noch so jung«, stellte er überflüssigerweise fest. »Daran bin ich gewöhnt, seit meine Mutter tot ist«, erwiderte sie. »Aber ganz allein bin ich nicht. Mein Bruder wird bald zurückkommen.« Eine Lüge, schalt sie sich in Gedanken. Sie hatte keine Ahnung, wann ihr älterer Bruder Hanson zurückkommen würde. Da er wußte, ihr Vater konnte nicht vor morgen wieder dasein, war er die Dame besuchen gegangen, der er insgeheim den Hof machte. Vater billigte das nicht. Die Dame war mit einem alten, fetten Kaufmann verheiratet, der oft auf Reisen war. Brak nickte. »Wir müssen schnell arbeiten, damit ich mich wieder auf den Weg machen kann. Hier ist das Schwert.« Er hielt ihr die Scheide hin. Marta nahm sie und bemerkte die kunstvolle Handwerksarbeit an dem Leder. Sie faßte den verzierten Griff. Das brachte die gefürchtete Kälte zurück. Langsam zog sie das Schwert aus der Scheide. Marta hielt beinahe den Atem an, als sie die perfekteste Klinge erblickte, die ihr je vor die Augen gekommen war. Ihr Vater war ein ausgezeichneter Schmied, aber nichts, was er je hergestellt hatte, ließ sich mit diesem Schwert vergleichen. Sie konnte einfach nicht glauben, daß ein Schmied eine so feine und scharfe Klinge fertigbrachte, ohne daß eine Schwertsängerin ihr mit ihrem Lied Kraft verlieh. Sie wandte sie in den Händen und versuchte, die tödliche Kälte zu ignorieren, die von ihr ausging. »Wo ist der Fehler?« wollte Marta wissen. »Innen«, antwortete Brak. Marta runzelte die Stirn. »Woher wißt Ihr das?« »Ich habe das Schwert prüfen lassen, nachdem es geschmiedet war, weil mit seinem Gleichgewicht etwas nicht stimmte. Die Schwertsängerin in meiner eigenen Schmiede fand den Fehler, war aber nicht fähig, ihn zu heilen.« »Und Ihr erwartet, daß ich dazu fähig bin?« fragte Marta. »Das sollte einer, die eine zerbrochene Klinge heilen kann, nicht schwerfallen«, behauptete Brak. »Das hat meine eigene Schwertsängerin auch gemeint.« Marta war sich nicht sicher. Sie seufzte und trug das Schwert die Tür, die in die Schmiede führte. Dicht neben dem Feuer war ihr magischer Kreis. Brak folgte ihr. Er blieb im Schatten zurück und beobachtete, wie Marta die Vorbereitungen zu dem Ritual traf, das sie von ihrer Mutter gelernt hatte. Sie legte das Schwert auf die eingeätzten Zeichen in der Mitte des Kreises und nahm ihren Platz am nördlichen Ende ein. Mit unterge-
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schlagenen Beinen sitzend, holte sie mehrmals tief Atem und schloß die Augen. Als sie sich innerlich ruhig fühlte, stimmte sie ein Lied an, das sie innerhalb des Kreises schützen und böse Einflüsse draußen halten sollte. Sie spürte den Energiefluß hereinströmen und die Luft um sich leise den Kreis schließen. Marta ging zu einer anderen Melodie über und richtete sich damit an das Schwert. Ihre Magie zwang das Schwert, sich aufzurichten. Es begann zu glühen. Seine Spitze richtete sich von selbst auf die Erde, die sein Metall geboren hatte. Mit ihrem Lied rief Marta den Geist des Schwertes an, und er antwortete ihr. Wellen aus Kälte gingen von ihm aus. Martas Gesicht verfinsterte sich, aber sie sang weiter. Es war, als zögere der Stahl, seinen Makel zu enthüllen. Sie intensivierte ihren Gesang zu einem Lied des wahren Sehens, und als sie das tat, gab das Schwert sein Geheimnis preis. Mit ihrem geistigen Auge erkannte sie die Stelle, wo der Fehler saß. Die Kälte nahm zu. Der Fehler war nicht von gewöhnlicher Art. Er ging tief in das Metall hinein, ein Haarriß vom Griff bis zur Spitze, als habe der Schmied dem Metall absichtlich etwas angetan. Marta erschauerte. Warum sollte jemand so etwas tun? Sie sang weiter das Lied des wahren Sehens und ließ dabei ihr geistiges Auge über die ganze Länge der Klinge wandern. Jetzt wurden Zeichen sichtbar, glühten dort, wo vorher nichts gewesen war. Marta sah Runen unbekannter Art. Anscheinend ging die Kälte von ihnen aus. Vorsichtig wechselte sie zu dem besonderen Lied des Heilens über. Bei der Spitze des Schwertes beginnend, bewegte sie sich immer ein paar Zoll auf einmal den Riß entlang und benutzte das Lied, um das Metall neu zu schmelzen. Fast ihre ganze Konzentration richtete sie auf ihre Arbeit. Ein sehr kleiner Teil ihres Ichs blieb losgelöst und neugierig. Wozu dienten diese Runen? Wie kam es zu einem solchen Riß? Was hatte die Kälte zu bedeuten? Warum schob sich Brak immer näher heran? Warum… »Zu viele Fragen!« schalt eine Stimme. »Heile mich, und mach voran! Ich habe selbst noch Arbeit zu tun!« Marta hatte die Augen geschlossen gehalten, aber jetzt öffnete sie sie und richtete sie genau auf das Schwert. Eine Wesenheit wand sich um die Klinge. Bösartige Augen sahen sie aus den Steinen im Griff an. Das Schwert war lebendig! »Ja, Kleine, flüsterte es. »Ich lebe tatsächlich. Hör jetzt auf, kostbare Zeit zu verschwenden! Auf mich wartet Arbeit!« »Was für Arbeit?« fragten Martas Gedanken, während ihr Lied mit der Heilung fortfuhr. Sie war zur Hälfte damit fertig. »Was für Arbeit gibt es für ein Schwert?« erwiderte es. »Ich wurde durch Zauberei geschmiedet, um einen Mann zu töten, der nicht durch natürliche Mittel umzubringen ist.
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»Welchen Mann?« verlangte Marta zu wissen. »Was geht das dich an, Mädchen?« gab das Schwert grob zurück. »Ich muß das wissen, wenn ich imstande sein soll, dich vollständig zu heilen.« »Dann beteilige dich am Hochverrat, Mädchen, denn indem du mich heilst, machst du dich zur Mitwirkenden an der Ermordung des Hochkönigs!« Martas Gesang stockte. Der Hochkönig war der magische Herrscher des Reiches. Es ging das Gerücht, er habe den Zorn mehrerer Kriegsherren erregt, indem er verlangte, sie sollten höhere Steuern zahlen, die ärmsten Bauern dagegen gar keine. Aber er war gut bewacht und von vielerlei Magie geschützt. Ja, sie spürte die Kraft in diesem Schwert, und sie kannte jetzt die Bedeutung der Runen. Es waren Todeszeichen, begabt mit der Macht, eine bestimmte Person zu töten. Ja, ein solches Schwert konnte den Hochkönig ermorden und das Reich der Tyrannei überantworten, wäre da nicht der Fehler in seinem Stahl. Das machte seine böse Magie zunichte. Marta beendete ihr Lied und ließ das Schwert fallen. Seine Spitze bohrte sich tief genug in den Fußboden, daß es aufrecht stehen blieb. Die Augen funkelten böse. »Verräter!« rief Marta laut und stellte sich auf die Füße. Brak stürmte bereits in den Kreis und vernichtete den magischen Schutz mit seinem Zorn. Er riß das Schwert aus dem Boden. Marta versuchte, zur Tür zu laufen, aber der Kriegsherr schnitt ihr den Fluchtweg ab und richtete das Schwert auf sie. Angstvoll wich sie zurück. »So«, sagte er. »Du hast die Wahrheit erfahren – genau wie die letzte Schwertsängerin.« »Ihr habt es durch Zauberei schmieden lassen, um den Hochkönig zu ermorden!« platzte sie heraus. »Ja – und damit wird es jetzt Erfolg haben, denn du hast seinen einzigen Fehler geheilt. Der Dummkopf, der es schmiedete, war dem Hochkönig treu. Er gab ihm insgeheim den Makel mit, während der Zauberer ihm Leben und Willen verlieh. Nur fand ich das erst heraus, als es fertig war und der Zauberer es ausprobierte. Das verdammte Schwert tötete den Zauberer aus eigenem Antrieb, und da wußte ich, daß etwas schiefgegangen war.« »Die Fehler verkehren die Bestimmung des Schwertes«, sagte Marta und drückte sich zwischen die Teile des geborstenen Ambosses. »Sehr klug«, lobte Brak. »Die letzte Schwertsängerin fand es viel schneller heraus und drohte, mich zu verraten. Ich nahm ihr Leben mit diesem Schwert – ebenso wie ich jetzt deins nehmen muß!« »Nein!« schrie Marta. Er hob das Schwert, um ihr den Todesstreich zu versetzen. Marta reagierte aus Furcht. Sie warf sich über den Amboß, als das Schwert nieder-
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fuhr. Auf dem Fußboden gelandet, füllte sie ihre Lungen, warf den Kopf zurück und sang einen einzigen langen, mächtigen Ton. Das Schwert kreischte, als der Laut den noch übrigen Zoll seines Fehlers nahe dem Griff berührte. Sein Schrei überraschte Brak mitten in der Bewegung. Das Schwert riß sich ihm buchstäblich aus den Händen und traf die Oberfläche des Ambosses. Die Klinge zerbrach. Große und kleine Stücke flogen in alle Richtungen. Marta duckte sich und bedeckte den Kopf mit den Armen. Ein paar Metallnadeln stachen sie, und sie schrie auf, aber ihr Schmerz wurde von einem rauhen Geheul voller Qual überschattet. Sie hob noch rechtzeitig den Kopf, um Brak umkippen zu sehen. Ein großes Stück von der Klinge stak ihm in der Brust. Mühsam kam Marta wieder auf die Füße. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Überall lagen Stücke des Schwertes. Ein paar kleine steckten ihr in Arm und Schultern. Schluchzend zog sie sie heraus. Ihre Hände zitterten von der schmerzhaften Arbeit. Rings um sie durchdrang die Kälte die Luft. Sie wirbelte dicht an sie heran, dann entfloh sie, als sei die Wesenheit, die dem bösen Schwert Leben verliehen hatte, befreit worden. Dummer Brak. Er hätte es sich denken können. Eine Schwertsängerin, die so gut ist, daß sie eine zerbrochene Klinge heilen kann, besitzt auch die Macht, eine Klinge zu zerbrechen.
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Steve Tymon Für gewöhnlich lehne ich eine Geschichte ohne weiteres Überlegen ab, wenn der Autor nicht weiß, wie man »Sorcerer« (Zauberer) schreibt. Denn ich sage mir, dann weiß er auch über Zauberei so wenig, daß seine Arbeit sicher nicht viel wert ist. Doch ich kann alle meine Regeln brechen, wenn die Geschichte mich richtig packt. Warum dann überhaupt Regeln aufstellen? Nun, sie sollten so manches von dem Zeug sehen, das ich bekomme. Wenn sich also jemand die Mühe nicht machen konnte, die grundlegenden Regeln für das Einreichen von Manuskripten zu lernen, warum soll ich mir dann die Mühe machen, seine Geschichte zu lesen? Es ist ja nicht so, als seien die Regeln schwer zu lernen; jede High School, die das Salz in der Suppe wert ist, verlangt heutzutage, daß die Schüler ihre Semesterarbeiten auf der Schreibmaschine mit Doppelabstand geschrieben abgeben. Wenn ich eine Anthologie herausgebe, lese ich mehr als die meisten Lehrer, und das, was von meinem Sehvermögen noch übrig ist, hat für mich einen hohen Wert. Diese Geschichte packte mich von der ersten Seite an. – M.Z.B.
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Sturmbringerin Ihr Name war Winter, und sie kam mit dem Sturm – eine Frau in einer Rüstung aus dem dunkelsten Schwarz, auf einem Flügelroß wie ein Schatten über den Blitze schleudernden Wolken reitend, während ringsumher der Donner widerhallte. Sie brachte ihre magischen Waffen mit – ein Schwert aus reinstem Licht und einen Stein von großer Macht, der warm zwischen ihren Brüsten verborgen lag. Sie besaß auch einen Dolch aus geschärftem Glas, der jedweder Magie ermangelte, der aber dünn und transparent und sehr scharf war, und er steckte unter der Rüstung des einen Arms. Und schließlich brachte sie Licht in die Dunkelheit – ein einfacher Zauber, das leichte Glühen, das sie umgab –, denn dies war ein Ort unaufhörlicher Nacht, wo die Sturmwinde ihren Namen riefen: Tote Seelen, von denen sie manche als Freunde gekannt hatte, riefen ihr Warnungen zu, rieten ihr, zu laufen, sich zu verstecken, sich von der größeren Dunkelheit, die vor ihr lag, abzuwenden, aber das wollte sie nicht. Dazu war es viel zu spät. Er wußte bereits von ihrem Kommen, davon war sie überzeugt; und so ritt sie durch die Dunkelheit und den Regen zu der großen Festung von Akmar und dem Zauberer-König, der sie dort erwartete. Nach zehn langen Jahren kam sie nach Hause. Der Usurpator sah sie natürlich. Er hatte sie immer gesehen. Das erstemal, als er seine Stieftochter berührt hatte, war die Vision gekommen – etwas über einen dunklen Kampf zwischen ihnen, mehr nicht; aber er hatte keine Angst. Er war einer der größten Zauberer in einer Zeit großer und mächtiger Zauberer, er war Merikor, und er wußte nur zu genau, daß ein bloßes Kind ihn niemals schlagen konnte. Und in diesem Wissen, ohne Angst vor der Vision, beging er damals die Ungeheuerlichkeit, die alles ausgelöst hatte. Und jetzt fiel es endlich auf ihn zurück, nahte sich auf Schattenschwingen, ein heller Fleck am Rand eines Sturmes, brachte magische Waffen mit. Voller Selbstvertrauen machte er sich zum Kampf bereit, um seinen Preis einzufordern, stellte seine Falle auf. Und oben kreiste die Sturmbringerin und zwang den Regen und die Wolken zurück, damit sie die Festung unten konnte. Was sie sah, hatte wenig Ähnlichkeit mit dem, was sie einst gekannt hatte: Die Mauern waren geborsten und zerfallen und dick mit Schlingpflanzen überwachsen, die bröckelnden Steine waren viel dunkler, als sie sie in Erinnerung hatte, und da, im Hof, war ein kleines Grabmal, ein neuer und unpassender Zusatz zu den Ruinen ringsumher. Auch ohne die darauf stehenden Runen zu lesen, wußte sie, wer dort lag; doch sie vergoß keine Tränen – sie hatte ihre Mutter schon lange vor ihrer verloren, lange vor dieser häßlichen Nacht, und die Tat hatte nur bestätigt. Sie hatte von ihrer Mutter für das, was gesche-
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hen war, statt Mitleid oder Hilfe nichts als Vorwürfe bekommen, und noch heute, nach all den Jahren, spürte sie die Wut und da Entsetzen des Augenblicks, den ganzen Schmerz des Verrats Aber ihre Wut hatte ihr die Kraft zum Leben und den Mut gegeben, die Wege der Zauberei zu suchen und zu lernen, und darin war sie erfolgreich gewesen. Sie nahm zu an Macht und Wissen, und sie wußte dabei, ihm würde sie niemals gleich sein, auch wenn sie tausend Leben darauf verwendete. Aber natürlich wurde ihr mit der Zeit klar, daß das der Schlüssel war. Sie lenkte Abraxas nach unten. Die Hufe des Hengstes schlugen Funken aus dem kalten Steinpflaster des Hofes, und dann hielt er an, faltete die Schwingen, schüttelte Kopf und Mähne und wartete auf ihren Befehl. Sie stieg ab, flüsterte ihm ein Wort ins Ohr – er würde bis zu ihrer Rückkehr bleiben oder bis zu ihrem Tod, was von beiden eher eintrat – und wandte sich dann dem Turm zu, den schweren, verschlossenen Türen. Bei ihrem Weg über den Hof fiel der Regen um sie nieder, doch berührte sie nicht. Vor den Türen blieb sie stehen und machte eine leichte Bewegung mit der einen Hand. Die dicken hölzernen Planken gingen in Flammen auf und verschwanden. Sie trat ins Innere. Es war überhaupt nicht so, wie sie erwartet hatte. Drinnen war eine weite Halle, fröhlich erleuchtet von vielen Fackeln und einem lodernden Feuer im Kamin. Kostbare Gobelins hingen an den Wänden, und nach dem Licht von den Fenstern hätte man annehmen können, draußen sei ein heller und sonniger Tag statt der stürmischen Dunkelheit, die in Wirklichkeit Unter ihren Stiefeln lag ein dicker Teppich, und vor ihr langer, kunstvoll geschnittener Tisch, auf dem sich feine Speisen und Früchte auf Silberplatten häuften. Da war Wein in Kristallkaraffen, da waren Kelche aus reinstem Gold, ihn daraus zu trinken, und sogar das Tischtuch war aus der feinsten Seide gewebt, durchsetzt mit Goldfäden und hier und da einem Edelstein. Alles in allem war die Halle für eine ganz besondere Gelegenheit hergerichtet, für ein Fest oder eine Feier. »Es mag das eine oder das andere sein«, erklang die Stimme eines Mannes. Am hinteren Ende der Tafel ballte sich Nebel zusammen, nahm Gestalt an und wurde ein bärtiger, dem Anschein nach junger Mann, der es sich in dem hohen, thronähnlichen Sessel dort bequem machte. Ihr Stiefvater lächelte ihr honigsüß zu. »Man könnte es eine Feier nennen, denke ich«, fuhr er fort, denn du bist zurückgekehrt, und ich beabsichtige, dich von neuem zu nehmen, wie ich es damals getan habe. Gewiß ein Anlaß zum Feiern.« »Krankhaft wie immer«, antwortete sie und trat näher an die Tafel heran. Sie schirmte ihren Geist gründlicher ab, dann winkte sie mit der Hand. Es blitzte, und ihr Schwert erschien in ihrem Griff. Sein Licht wurde von der Magie in der Luft seltsam gedämpft. »Aber hier, ich werde das Krebs-
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geschwür herausschneiden.« Sein Lachen rief in der weiten Halle ein Echo hervor. »Winter«, sagte er, ihren Namen aussprechend, »nach all diesen Jahren bist du noch immer so töricht wie damals. Glaubst du im Ernst, du könntest mich in irgendeiner Art des Kampfes besiegen, sei es durch Stahl oder durch Zauber?« Er stand auf und strich seine rote Seidenrobe glatt. »Nein«, antwortete er an ihrer Stelle, »du wirst nicht siegen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie du überhaupt auf die Idee gekommen bist, es wäre möglich.« Sie schüttelte den Kopf. »Du stinkst immer noch vor Arroganz«, stellte sie fest. »Ich bin nicht so schwach, wie du annimmst.« Dazu nickte er leicht. »Das mag sein.« Er sah an ihr vorbei und machte eine Bewegung, als werfe er etwas. Irgendwo hinter ihr blitzte es kurz auf. Ohne sich umzudrehen, wußte sie, daß die Tür verschwunden und durch Wand aus solidem Stein ersetzt worden war, die sie einschloß. gab keinen Fluchtweg mehr. »Du meinst vermutlich den Sturm.« Er sah sie an. »So sag mir, welchen Gegenstand hast du mitgebracht, der eine solche Macht besitzt, solche magischen Kräfte, daß er die Elemente durch sein Erscheinen in Aufruhr bringt.« »Das ist mein Geheimnis.« Sie lächelte leicht. »So?« Er zuckte die Schultern. »Macht nichts. Du kannst mich kaum überraschen, Kind, und was die Geheimnisse angeht, hast du keine vor mir, nicht einmal deinen Körper.« Sie faßte das Schwert fester, und ihre Lippen wurden schmal. »Ja«, fuhr er fort, »ich sehe, du erinnerst dich. Du hast immer besser ausgesehen als deine Mutter, und bestimmt warst du im Bett unterhaltsamer. Sollen wir es von neuem versuchen?« Sie schlug mit dem Schwertgriff heftig auf die Tafel. Tischtuch, Holz, Silber und Speisen verschwanden in einem Lichtblitz. Zwischen ihnen war nichts mehr als ein Stück Fußboden und ein Teppich. »Wir werden etwas versuchen, ja«, stimmte sie zu, »aber es wird nicht ganz das sein, was du erwartest.« Er erstickte ein gelangweiltes Gähnen. »Wie du willst«, sagte er, und dann bewegte er eine Hand vor seinem Körper. Dabei verwandelte sich seine Robe in Metall, blutrot von Farbe, und in der einen Hand erschien ein Schwert aus dunkelstem Schatten – eine Todesklinge, deren bloße Berührung tötete. »Du hast immer noch eine Chance, dich zu ergeben«, warnte er sie. »Schließlich ziehe ich dich lebendig vor. Aber wenn der Kampf einmal begonnen hat…
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»Wenn der Kampf einmal begonnen hat«, fiel sie ein, »werde dich meiner Mutter nachschicken.« Wieder lachte er. »Kleiner Dummkopf!« Seine Worte klangen merkwürdig laut, fast wie Donner. »Wie sie wählst du den Tod. Dann sei es so.« Die Fackeln gaben einen letzten Lichtblitz ab, und dann waren verschwunden, ebenso die Gobelins und der Kamin, sogar die Festungsmauern. Sie standen auf einer weiten und leeren Ebene unter einem von Sternen besetzten Himmel. Und dann, in der sternenfunkelnden Dunkelheit, kam er auf sie zu. Sie zog sich zurück, machte die schnellen Gesten, die zusätzlich Licht erzeugen sollten, mehr als das Licht, das ihr Schwert ihr spendete. Um sie beide entstand ein grünliches Glühen. Aber was es enthüllte, war nicht länger menschlich. Was sie da aus der Rüstung mit höllischen roten Augen starrte, war ein Schädel, ein Sinnbild des Todes. Die Rüstung selbst wirkte jetzt alt und rostig, und durch die Lücken waren Knochen zu sehen. Die Rüstung hob das Schwert zum Zuschlagen. Und sie brachte das ihre mit blendender Geschwindigkeit nach vorn. Die beiden Klingen trafen sich mit Donnerschall. Feuer sprang ihnen hoch, und plötzlich flammten Blitze um sie, umgaben sie mit gleißendem Licht. Keiner von beiden wich. Sie standen bewegungslos, die Klingen inmitten der Flammen gebunden. Für einen Augenblick sah es aus, als seien sie gleichwertige Gegner. Dann zwang er ihre Klinge unausweichlich nach unten. »Nein!« rief sie, dann ließ sie ihr Schwert sinken. Das andere krachte zu Boden. Winter fuhr herum und schlug nach unten – zu spät. Donnernd traf ihre Klinge die Erde, der Boden bebte von dem Aufschlag, aber er war bereits verschwunden. »Du bist stärker, als ich es in Erinnerung hatte«, stellte er fest, sie aus nächster Nähe beobachtend. »Auch schneller. Offensichtlich ziehst du Kräfte aus einer anderen Quelle.« Sie antwortete nicht, wandte ihm nur das Gesicht zu, das Schwert erhoben und kampfbereit. »Dann schweige«, fuhr er fort. »Doch laß uns gerecht sein. Ich werde mehr von meiner eigenen Kraft einsetzen.« Und dann stürmte er auf sie zu, ein verwischter Fleck in der Dunkelheit. Die Schwerter klirrten, Schatten gegen Licht, und von neuem hallte der Donner um sie wider. Obwohl Winter die Attacke blockierte, steckte solche Gewalt dahinter, daß sie durch die Luft. geschleudert wurde und in einiger Entfernung zu Boden stürzte. Er ließ ihr keinen Augenblick Zeit, sich zu erholen, lief ihr nach, das Schwert zum Todesstreich erhoben; aber diesmal war sie es, die sich duck-
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te und ihre Klinge hochbrachte. Die Schärfe traf auf die blutrote Rüstung ihres Stiefvaters und schnitt tief hinein. Er stieß einen nichtmenschlichen Schrei aus, und tiefe Dunkelheit floß aus der Wunde. Aber zu Winters Schrecken setzte er . seinen Angriff fort, und seine Kraft und seine Geschwindigkeit waren ungebrochen. Die Klingen trafen sich von neuem, und die Flammen loderten über ihnen auf. Winter fiel zurück, sowohl vor Überraschung als auch durch die Wucht des Hiebes, und der Usurpator nutzte die Gelegenheit, seinen Angriff zu verstärken. Er schlug immer wieder zu, und jedesmal wich sie vor der Wut des Angriffs zurück. Ihre Gegenschläge hatten keine Wirkung, und zum erstenmal seit ihrer Ankunft begann sie sich zu fürchten und ihren Plan in Zweifel zu ziehen. Verzweifelt rief sie einen Todeszauber herab – den, der Welten erschüttern konnte, eine ihrer stärksten Waffen – und schleuderte ihn auf ihren Feind. Ihr Stiefvater blieb unverletzt und begann zu lachen. »Wir greifen also endlich zu Zaubern.« Er warf die schwarze Klinge beiseite. Sie drehte sich aufwärts, funkelte und verschwand. »Ganz wie du willst.« Die Skeletthände hebend, rief er die Dunkelheit vom Himmel herab, von den leeren Stellen zwischen den Sternen. Und die Schatten kamen herunter wie Klauen, schwarz und lang, bedeckten den ganzen Himmel oben und spreizten sich, als wollten sie sie vom Boden pflücken. Winter wich zurück und zentrierte sich mit all ihrer Kraft darauf, Licht herbeizurufen, das weit über das grüne Leuchten ringsum hinausging. Es gab eine Lichtexplosion von blendender Helle, und die sandte sie hinauf – eine Gegenkraft, einen Strahl reinster Energie. Er traf auf die sich herabsenkenden Schatten – jetzt voller Schuppen wie die Klauen eines großen Drachen –, und sie lösten sich in einem Feuerwerk aus Funken und Flammen auf. Doch ihr Stiefvater, inmitten der fallenden Flammen stehend, lachte nur. »Ausgezeichnet, Tochter, für einen ersten Zug.« Er hob die Arme über den Kopf, als ziehe er etwas vom Boden hoch. »Aber was willst du dagegen machen?« Und der Boden hob sich in Tentakeln aus Eisen und Stein. Sie schlossen sich dicht über Winter, bevor sie sich bewegen konnte, und einen Augenblick später war nur noch ein Steinhaufen da, wo vorher eine Frau gestanden hatte. Er nahm seine wirkliche Gestalt wieder an und seufzte. Sein verdammtes Temperament. Er dachte, wie süß ihr Körper einmal gewesen war, und bedauerte, daß er sie nicht noch einmal würde berühren können. »Zu schade«, flüsterte er. »Ein tragischer Verlust.«
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Er setzte zu der Geste an, die ihn zurück in seine Festung, zurück in seine Welt bringen würde. Da stachen plötzlich Flammen vom Himmel herab, den Myriaden Sternen und Sonnen entzogen, und Feuer explodierte über ihm. Von irgendwoher erklang Winters Lachen. »Hast du geglaubt, es würde so leicht enden?« kam ihre spottende Stimme aus den Flammen. »Für wie schwach du mich halten mußt!« Er antwortete nicht. Statt dessen machte er schnelle, verzweifelte Gesten, doch das Feuer hörte nicht auf zu brennen. Schon glühte es weiß. »Es wird nicht so leicht ausgehen«, sagte Winter, »oder hast du das schon entdeckt?« »Genug!« brüllte er. Und die Welt war verschwunden. Ebenso die Flammen und sogar die Sterne. Sie waren an einem dunklen Ort, wo Licht spielte wie Wind, wo keine Substanz unter ihren Füßen war. Sie waren an einem Ort noch bar des Lebens, ungeformt, einem Ort ohne Zeit und Grenzen – einem Universum vor ihrem Beginn, in einer anderen zeit Winter war nichts als ein Schatten unter Schatten, und sie nahm auch ihn wahr. Und dann erschallte sein Gelächter, diesmal widerhallend wie in einem großen und leeren Raum. »Wir duellieren uns also in urtümlicher Dunkelheit«, sagte er, ohne sich sehen zu lassen. »Und diesen Ort, Tochter, wird keiner von uns beiden verlassen, bevor es entschieden ist. Denn dies ist alles, was es gibt – für dich, für mich, für diesen Augenblick. Dies ist alles.« Winter zögerte und traf dann eine Entscheidung. Sie zog das Juwel hervor, das ihr um den Hals hing, ein Ding aus hellem Licht. Es hatte sie viel gekostet, den Stein zu finden, die Leben vieler, um ihn zu erringen, aber für seinen Preis gab es keine bessere Waffe. Sie faßte mit ihren Gedanken hinein, spürte die Macht des Lebens, des Lichtes und der Schöpfung, und daraus zog sie neue Kraft, das beschwor sie herauf, damit bewirkte sie ihren größten Zauber. Die Dunkelheit ballte sich schnell zusammen, die Jahre raschelten in Sekunden vorbei, Äonen waren in bloßen Augenblicken vergangen. Das erste Feuer glomm auf. »Nein!« hörte Winter ihren Stiefvater kreischen. »Nein!« Und doch ging es weiter. Eine gewaltige Explosion füllte Dunkelheit mit Millionen von Lichtern, die sich ausdehnte wuchsen. Die ersten Sterne waren geboren, ihnen folgten weitere. Galaxien bildeten sich und Welten in ihnen. Winter spürte die Uranfänge des Lebens – tatsächlich war sie es, die sie hervorrief-, und der ganze Kosmos blühte auf wie eine Blume im ersten Frühlingsregen. Die Dunkelheit wurde beiseite geworfen, und wo nichts gewesen war, dort war jetzt Substanz. Und es ging immer noch weiter. Andere Welten traten ins Sein, die Feuerfunken flogen über die große
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Dunkelheit und formten sich zu Spiralen und Sphären und unregelmäßigen Gebilden, und die Zeit rauschte immer schneller dahin. Und sie war die Schöpferin, die Duellantin, die Göttin, die Licht und Leben brachte und die Winde der Zeit herabrief. Es war ihr größter Zauber, es bildete die Antithese zur Dunkelheit, zum Tod, zu ihm, und sie freute sich nicht darüber, denn es sah aus, als könne er sie nicht aufhalten. Und dann wurde ihr klar, daß er nicht wollte. Winter hörte das spöttische, triumphierende Lachen ihres Stiefvaters. Stumm sah sie zu, wie sich die Falle um sie schloß, die Sterne rot wurden. Alles, was sie getan, alles, was sie geschaffen hatte, wurde von dem Gift der Entropie befallen. Mit der Zeit würde alles zusammenbrechen, und um zu siegen, brauchte er bloß abzuwarten. Und das tat er, während die Sterne explodierten, verschwanden oder einfach schwarz und kalt wurden. Die Zeit verrann, Jahrtausend auf Jahrtausend rauschte vorüber, und dann war es vorbei, der Zauber war verbraucht, zerstört, und alles war wie zuvor, leer und leblos und dunkel. Und immerzu schallten sein Lachen und die Echos dieses Lachens, bis die letzten Sterne verblaßten. Das Duell war zu Ende, die Waffen waren erschöpft. Weitere gab es nicht. Ein Licht blitzte auf. Sie waren wieder in der großen Halle, die Tafel kehrte zurück, ebenso die Gobelins und die anderen Dinge. Es war so, wie es zuvor gewesen war, außer daß Winter sich von Anstrengung schwach fühlte, während der Kampf ihrem Stiefvater anscheinend überhaupt nichts hatte anhaben können. Er trat vor und riß ihr das Juwel vom Hals. Es vor seinen in die Höhe haltend, lächelte er. »Ein Schöpfungsjuwel«, stellte er fest. »Außerordentlich selten. Es überrascht mich, daß du es gefunden hast und daß du wußtest, wie es zu benutzen ist.« Sie schwieg. Besiegt senkte sie den Kopf, starrte auf den Boden. »Ah«, flüsterte er und berührte ihr Kinn. Seine Hände waren eiskalt. »So viel Kummer, so viel Verlust in deinem Blick.« Er zwang sie, ihn anzusehen. »Aber falls es dir ein Trost ist«, fuhr er fort, »ich wußte von Anfang an, daß du das Juwel besaßest. Ich erkannte seine Kraft, obwohl du versuchtest, es vor mir zu verbergen, und so stellte ich die Falle auf. Du hast es dir selbst zuzuschreiben, daß du hineingelaufen bist.« Er machte eine Pause. Sein Lächeln war nicht angenehm. »Und jetzt sieht es ganz so aus, als würde ich dich von neuem vergewaltigen, meine Tochter.« Er packte ihre Rüstung. In seinen Händen zerriß sie wie Seidenpapier, entblößte eine Brust. Er griff nach ihr.
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Und da bewegte sie sich. Ihr schlanker Dolch, klar wie Eis, schärfer als das schärfste Rasiermesser, glitt aus seinem Versteck in ihre Hand, und bevor er reagieren konnte, senkte sie ihn tief in sein Herz. Er starrte sie an, versuchte zu sprechen und konnte es nicht. Sein Mund bewegte sich, aber nur Blut sprudelte hervor, und dann fiel er auf die Knie. Sie kniete sich neben ihn. »Ich hatte gar nicht die Absicht zu siegen«, sagte sie und sah kalt seinem Sterben zu, »nicht mit Zauberei. Ich wußte, das konnte ich nicht, nicht gegen dich. Doch ich wußte auch, daß du davon ausgingst, du werdest mich auf diesem Feld schlagen.« Er zitterte jetzt, bebte. Es gelang ihm, den Kopf zu schütteln Die Frage stand in seinen Augen. »Ich war deine Schwäche«, antwortete sie. »Das und deine eigene Arroganz. Ich wußte, du würdest dein Verbrechen wiederholen wollen.« Plötzlich riß sie den Dolch aus der Wunde. Das Blut strömte. »Und ich wußte, du würdest niemals mit etwas so Einfachem wie einem Messer rechnen«, sagte sie, »das so offensichtlich eine Waffe ohne Magie ist. Das war meine Falle.« Sie hielt inne und setzte mit kaltem Lächeln hinzu: »Du hast es dir selbst zuzuschreiben, daß du hineingelaufen bist.« Und schlitzte ihm die Kehle auf. Es war eine besondere Klinge, aus besonderem Glas gemacht. Sie teilte Fleisch wie Luft, Knochen wie Wasser. Der Schnitt trennte ihm beinahe den Kopf ab. Auf jeden Fall beendete er sein Leben. Er fiel vorwärts in ihre Arme, und einen Augenblick später waren da nur noch Staub und seine leere Robe. Sie hatte immer den Verdacht gehabt, er habe weitaus länger gelebt, als es einem Sterblichen zusteht – einer der Vorteile der Zauberei –, und jetzt hatte sie die Bestätigung, denn die Jahrhunderte hatten ihn endlich eingeholt. Langsam hob sie das Juwel auf. Dann warf sie das Messer weg. Es zerschellte mit kristallenem Klingen auf dem Fußboden. Sie drehte sich um, winkte mit der Hand, und die Tür kehrte zurück. Draußen wartete Abraxas, den Kopf unter einen schwarzen Flügel gesteckt, als wolle er sich vor dem niederfallenden Regen verstecken. Er blickte hoch, als sie aus der Tür trat. Sie wollte auf ihn zugehen, hemmte jedoch den Schritt an dem kleinen Grabmal dort im Hof. Sanft berührte sie den regennassen Stein – er war schrecklich kalt –, und für einen Augenblick, nur eine Augenblick gab sie sich endlich den Tränen hin. Mit ihnen kehrten ferne Erinnerungen zurück – an ein Kind, an eine glücklichere Zeit, an jemanden, den sie nur undeutlich erkannte, eine Fremde. Sie fragte sich: Konnte sie das sein? Und dann, immer noch weinend, wandte sie sich schnell ab und zog
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sich auf den geflügelten Hengst, trieb ihn vorwärts und hinauf in die Nacht, bis sie nur noch ein Lichtpünktchen waren, das einmal, zweimal kreiste… Und dann in dem tobenden Sturm verschwand, um niemals wiederzukehren.
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Dave Smeds »Herrin der Möwen« war eine jener Geschichten, die für die Anthologie zu lang waren, aber ich wußte, der Autor ist professionell genug, um sie zu kürzen. Schließlich hatte er die ausgezeichnete Geschichte »Gullrider« für SWORD AND SORCERESS IV beigesteuert. In diesen Einführungen hacke ich vielleicht ein bißchen viel auf dem Professionalismus herum; ich habe so viel mit Amateuren und ihren amateurhaften Ergüssen zu tun, daß es eine Erleichterung bedeutet, etwas zu bekommen, das durch und durch professionell ist. Was ist der große Unterschied zwischen dem Profi und einem Amateur? Ich habe viele Kriterien gehört, aber meines ist, daß der Profi weiß, was er tut, und wenn der Amateur es richtig macht, ist es ein glücklicher Zufall. – M.Z.B.
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Herrin der Möwen Gan fand das Baby im Schnee, wo seine Mutter es zurückgelassen hatte. In ein dünnes Tuch gewickelt, schrie und zitterte das klein Mädchen und erschreckte die Dohlen in den schneeschwer Zweigen der Kiefern. Wenn die Vögel aufflogen, rieselte auf ihr Gesichtchen – weiße Spuren, die sofort schmolzen und in wie Tränen über die Wangen liefen. Gan hob das Kind auf. Nicht sicher, wie er es halten sollte drückte er es unbeholfen gegen seinen Körper. Neugeboren. Zwei oder drei Tage alt. Ein bißchen blau um die Lippen und Nasenspitze, aber nicht so kalt, daß es Schaden genommen hat. Er kehrte dem Wind den Rücken, wickelte es schnell aus, untersuchte es und deckte es wieder zu. Keine Deformierungen. schönes, gesundes Kind. Es war also nur weggeworfen worden weil es das Hexenglühen hatte. An Gans Brust geborgen, hörte die Kleine auf zu schreien. Ein Nimbus aus Energie schwebte in der Luft um ihr Körperchen, ein blasses lavendelblaues Strahlen, das im Tageslicht beinahe unsichtbar war. Von ihr strömte Magie ebenso unübersehbar aus, von den Geysiren in den nahe gelegenen Hügeln die Dampfwolken in der frischen Winterluft aufstiegen. Der Zauberer hatte seine Hütte einfach verlassen müssen, so rauh das Wetter war, um nach der Quelle dieser Energie zu suchen. Dieses Kind sollte nicht sterben, schwor Gan. Eine solche Begabung durfte nicht vergeudet werden. Er wollte es aufziehen, wenn es das Ende seines Junggesellenlebens bedeuten sollte. Aber das Wichtigste zuerst. Sie brauchte eine Amme. Und vorher noch einen Namen; bekanntlich stehlen die Waldgeister Kinder, die keinen Namen haben. »Kari« murmelte er und schmeckte den Laut ab. Zufrieden ging er den Weg zurück, den er gekommen war. Kari hüpfte den Pfad zu ihrem Haus hinunter bis zu dem kleinen Teich, der an der Hütte vorbeiplätscherte. Hier zog ihr Vater Flußwurz und Goldlauch für seine Tränke. Sie tanzte über die Schrittsteine und steckte den bloßen Zeh spielerisch ins Wasser. Dann segelte sie in die Werkstatt ihres Vaters hinein. Gan sah vom vergilbten Pergament auf dem Tisch hoch und hob eine zottige, grau werdende Augenbraue. Du siehst aus wie der Austernfischer, der gerade eine seltene blaue für seinen Kochtopf gefangen hat«, stellte er fest. »Es ist nichts«, wehrte sie ab. »Es war nur ein schöner Tag.« Er markierte die Stelle, die er gelesen hatte, mit einer Schneckenmuschel als Briefbeschwerer. »Bist du oben bei den Eichen gewesen und hast
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Flachpilze gesammelt, wie ich es dir gesagt habe?« Bei diesem Ton schwand Karis Übermut wie ein Herdfeuer, mit Sand bestreut wird. »Natürlich. Hier.« Sie hielt ihm ihren Korb hin. Er sah hinein. »Das sind längst nicht genug für das Elixier. Du hättest sie in einer halben Stunde sammeln können. Was hat dich so lange aufgehalten?« Kari seufzte. Sie war beinahe achtzehn. Warum bestand er darauf, sie wie ein Kind zu behandeln? »Ich habe im Dort haltgemacht.« »Ah. Um dich wieder mit diesem Jungen von Ortor zu treffen?« »Sein Name ist Ren. Und ja, ich habe mich mit ihm getroffen.« Gans Gesicht verdüsterte sich. »Setz dich!« Den Schemel verschmähend, ließ sich Kari auf den Fußboden plumpsen, zwischen allem, was in den letzten Monaten beim Zaubertrankbrauen, Weihrauchverbrennen und Beschwören ah Abfall übriggeblieben war. »Ich sitze.« »Das muß aufhören. Du hast den ganzen Sommer dein Studium zu einer Farce gemacht.« »Ich wußte noch gar nicht, daß man im Zölibat leben muß, wenn man Zauberer werden will«, gab Kari zurück. »Soviel ich gehört habe, war das zu der Zeit, als du in meinem Alter warst, noch nicht so.« Er sah sie ärgerlich an. »Ich habe all diese Jahre nicht dafür geopfert, daß du mit dem ersten jungen Burschen davonläufst, der dir schöne Augen macht.« Nicht schon wieder. Wie oft hatte sie das Wort »Opfer« schon gehört? »Pa! Ich liebe Ren.« »Du kannst von dem Sohn eines gewöhnlichen Fischers nicht erwarten, daß er Verständnis für deine Berufung aufbringt. Er will dich doch nur dafür haben, daß du seine Kinder zur Welt bringst und ihm den Haushalt führst.« »Das wäre dann ja meine Sache, oder?« »Ich will es nicht haben!« erklärte Gan. »Du bist zu Höherem berufen.« Er wies auf den Korb. »Jetzt geh und hol mir mehr Pilze!« Kari öffnete den Mund und schloß ihn wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Mit hängendem Kopf schlurfte sie hinaus. Kari strolchte am Strand umher. Sie achtete nicht auf die hereinkommende Brandung, nicht einmal, als sie ihr um die Knöchel spülte und den Saum ihres Hemdes durchweichte. Die Küste lag verlassen da. Die meisten gesunden Erwachsenen aus den nahen Weilern waren für zwei Wochen draußen auf den Tiefen und ernteten den jährlichen Zug der Schellfische ab. Einschließlich Ren. Einen Tag, nachdem sie den Streit mit ihrem Vater gehabt hatte, war er hinausgefahren. Vierzehn Tage lang hatte sie
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keinen Anlaß zum Ungehorsam, und es herrschte ein ungemütlicher Friede. Gan hatte immer viel von ihr erwartet. Aber warum sollte sie sich abplagen und Beschwörungen auswendig lernen, wenn ihr die Magie so mühelos zufiel? Sie hatte nur einen Monat gebraucht, um zu lernen, wie man Eisen aus seinem Erz lockt. Schon beim zweiten Versuch war es ihr gelungen, die Flöhe aus ihrem Bettzeug wegzuzaubern, und beim zehnten konnte sie sie ins Herdfeuer springen lassen. In wenigen Jahren würde sie Gan überflügelt haben. Warum mußte sie so viel pauken, daß sie gar kein Leben außerhalb der Zauberei mehr hatte? »Du hast das Potential, Dinge zu tun, die seit Menschengedenken kein Zauberer mehr fertiggebracht hat«, pflegte ihr Vater zu sagen. Aber er erklärte nie genauer, was das für Dinge waren. Als sie älter wurde, hatte sie erkannt, daß er die Antwort selbst nicht wußte, außer daß er ihr versichern konnte, sie habe diese Dinge bisher noch nicht getan. In einer Beziehung hatte er recht: Sie hatte ihr Studium vernachlässigt. Sie hatte die Verzauberung eines Angelhakens verdorben, einfach weil sie vergessen hatte, ihn in Salzwasser zu spülen, bevor sie den Bann erneuerte. Den Vorgang hatte sie im Alter von zehn Jahren gelernt; für einen solchen Fehler gab es keinen anderen Grund als Mangel an Aufmerksamkeit. Und im letzten Jahr waren ihr hundert ähnliche Schnitzer passiert. Auch was Rens Charakter betraf, hatte Gan recht. Andernfalls hätte seine Schelte sie nicht so getroffen. An der Landspitze erstieg sie die Klippe, stand zwischen Sukkulenten und Stachelheide und blickte aufs Meer hinaus. Die Brandung schwappte ruhig ans Ufer. Mildes Wetter. Die Schellfische würden in Scharen kommen. Der Wind preßte ihr das Hemd eng an die Waden, trocknete den feuchten Saum, spielte übermütig damit. Die Sandkrabben und Riementangschoten leisteten ihr wenigstens Gesellschaft, ohne sie zu kritisieren. Aber das war nicht genug. Sie wünschte, der Wind würde sie mitnehmen. Sie würde so gern wegfliegen. Ein Schatten zog über sie dahin. Sie duckte sich. Eine große Möwe nutzte den Aufwind, der von der Klippe hochstieg – ein großer, milchweißer Vogel. Zwei weitere Möwen folgten, zu unterscheiden, weil ihre Flügelkanten mit grauen Federn gesäumt waren. Sie landeten ein paar hundert Schritt oberhalb der Bucht. Kari sah ihnen fasziniert zu. Große Möwen besuchten das Festland normalerweise dann, wenn Stürme sie hintrieben. Selten hatte sie Gelegenheit gehabt, sie an einem schönen, klaren Tag mit Muße zu beobachten. Die drei Vögel hockten im Sand, die Schnäbel nach oben gerichtet, und prüften die Brise auf Gerüche. Gelegentlich taten sie ein paar Schritte oder schnappten gereizt nach den verhältnismäßig kleinen Seemöwen, die sich
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dort herumtrieben. Aber die meiste Zeit standen sie still, als wollten sie ihre Herrschaft über die Küste proklamieren. In Sagen hieß es, Persu aus dem südlichen Königreich sei auf einer großen Möwe zu seiner Wolkenstadt geritten, wo er fortan mit der Königin der Nebel lebte. Andere Geschichten erzählten von kühnen Männern oder klugen Zauberern, die die Vögel einfingen und ritten. Der alte Onkel des Schiffszimmermanns behauptete, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie ein Mann an einem stürmischen Nachmittag auf einer Möwe am Dorf vorbeiritt. Wenn sie nun auf einer Möwe ritte? Das würde Gan beeindrucken. Außerdem konnte eine große Möwe sie wahrscheinlich zu den Tiefen hinaustragen, wo sie Ren zuwinken würde, und zurückbringen, bevor die Sonne unterging. In Augenblicken entschloß sie sich, es zu versuchen. Sie hatte einmal eine Eule aus ihrem Nest gelockt, damit sie sich eine Schwanzfeder nehmen konnte. Alle Vögel waren gegenüber der gleichen Art von Zauber verwundbar. Kari nahm ihren Halsschmuck ab. Die frisch polierte Silberkette mit dem Anhänger aus blauem Quarz schimmerte im Sonnenlicht. Keine Möwe, ob groß, ob klein, wurde einer solchen Verlockung widerstehen, wenn man sie ihr auf die richtige Weise nahebrachte. Sie schritt zum Strand hinunter, ohne irgendwie Deckung zu nehmen. Die Möwen legten die Köpfe schief und beäugten sie mit einer Vorsicht, die bei so einschüchternden Kreaturen übertrieben wirkte. Kari sprach den Bann zuerst über den reinweißen Vogel aus. Die Möwe reagierte auf den Zauber langsamer, als es Eulen und Hausgeflügel getan hätten, aber allmählich richtete sie ein Auge auf das blitzende Schmuckstück. Ihr Körper wurde steif. Ihre Gefährten rutschten im Gegensatz dazu immer nervöser umher. Als Kari in die ersten der Fußabdrücke trat, die die Möwen im Sand hinterlassen hatten, schwangen sich die beiden Vögel mit den grauen Flügelkanten kreischend in die Luft. Der weiße wartete gelassen. Am Rand seines Schattens zögerte Kari eingeschüchtert. Sie schwenkte die Halskette in einem Oval. Anfangs drehte die Möwe den Kopf synchron mit dieser Bewegung, dann wurde sie still. Kari stieß den angehaltenen Atem aus und legte sich das Schmuckstück wieder um den Hals. Wenn der Bann funktionierte, hatte sie die Möwe vollständig hypnotisiert. Sie leckte sich die trockenen Lippen, beruhigte sich und rannte los. Sie kletterte hinauf und setzte sich auf den Schultern der Möwe zurecht. Der schnelle Vogelpuls hämmerte gegen ihre Beine. Sie umklammerte mit jeder Hand ein dickes Büschel Federn und hielt sich fest. Jetzt kam die eigentliche Herausforderung. Damit die Möwe fliegen
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konnte, mußte Kari einen kleinen Teil des Banns zurücknehmen. Andernfalls würde die Möwe unbeweglich bleiben. Sie schwächte den Zauber. Die Möwe wartete ruhig. Kari runzelte die Stirn und nahm noch ein bißchen weg. Die Möwe blinzelte nur. Kari wollte den Zauber nicht noch weiter vermindern. Statt dessen ohrfeigte sie den Vogel und schrie ihn mit voller Lungenkraft an. Als das keine Wirkung zeigte, lockerte sie den Schenkelschluß und trat ihm mit den Fersen gegen die Kehle. Plötzlich schoß der Vogel mit wilden Flügelschlägen aufs Wasser zu. Kari konnte sich gerade noch rechtzeitig festhalten, um nicht mit einem Purzelbaum hinunterzufliegen. Jetzt war ihre Selbstsicherheit erschüttert, und sie verlor die Kontrolle über den Bann. Die Möwe stieg, von Aufwinden getragen, in die Höhe und stieß ein ohrenbetäubendes Kreischen aus. Kari klammerte sich verzweifelt fest. Wie konnte ein so großes Wesen sich so schnell bewegen? Sie versuchte, den Zauber von neuem aufzubauen, aber der Vogel war viel zu aufgeregt, als daß mit Tricks etwas bei ihm zu erreichen gewesen wäre. Die Möwe flog landeinwärts, bockte. Eins von Karis Beinen glitt ab. Sie stiegen immer noch höher hinauf, stürzten dann plötzlich hinab. Federn lösten sich in Karis Händen. Sie schwankte, begann abzurutschen. Die Furcht machte sie ganz ruhig. Keine Zeit, irgendwo anders Halt zu gewinnen. Statt dessen suchte sie in ihrem Inneren nach einem bißchen Zauberei, nach einer Inspiration, die sie oben halten würde. Etwas explodierte in ihr, eine Flut von Kraft, wie sie sie noch niemals gespürt hatte. Einen Augenblick lang glaubte sie, das Mittel zu ihrer Rettung gefunden zu haben. Aber ihr Sturz setzte sich fort, nach außen, von ihrem Reittier hinunter. Als sie sich vollständig von der Möwe gelöst hatte, drehte der Vogel den Kopf herum und hackte nach ihr. Die Schnabelspitze fuhr ihr an der Seite des Unterleibs hinunter. Blut breitete sich fächerförmig in der Luft aus. In all dem Schmerz sprühten Funken. Ein Ausbruch unheimlicher Energie strömte wütend summend über der Wunde zusammen. Dann ging das Geräusch in Karis Schrei unter. Die Zeit blieb stehen. Unten wartete ein dichtes Tannenwäldchen. Über ihr zeichnete sich die Möwe vor dem Himmel ab, Weiß auf Blau, den Kopf triumphierend zurückgeworfen. Dann fiel Kari der Erde zu, und der Wind riß an ihrem Hemd. Die Luft stieß mit kalten Messern in ihr offenes Fleisch, aber sie fühlte den Schmerz nicht länger. Ihr fehlte die Zeit, ihm Aufmerksamkeit zu widmen. Sie brauchte einen besonderen Zauber, und sie mußte sich auf Anhieb genau daran erinnern.
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Sie wirkte den Zauber. Darauf verwoben sich die Zweige der Tannen und bildeten im Weg ihres Sturzes eine Reihe von Netzen. Sie traf die obersten Zweige. Sie wirkten kaum auf ihren Fall ein. Die zweite Ebene hielt sie für einen Augenblick fest, die dritte ein bißchen länger. Die vierte verringerte ihre Geschwindigkeit auf die Hälfte Das fünfte und unterste Netz fing sie auf, wiegte sie und legte sie sanft auf ein Bett von Tannennadeln. Ihre Halskette, die sie während des Falls verloren hatte, landete neben ihrem Ohr. Der Schmerz kehrte zurück. Sie verlor das Bewußtsein. In Karis Traum erhob sich ein großer Krake aus dem Ozean und schnappte sie. Je mehr sie sich wehrte, desto fester quetschten sie die Tentakel und desto mehr mußte sie leiden. Wie seltsam, daß ich Schmerz empfinden kann, wenn ich doch tot bin, dachte sie. Das sagte ihr, daß sie träumte, und sie wachte auf. Bis hinunter zum Steiß tat ihr alles weh. Verbände liefen genau über die Stellen, wo der Phantom-Krake sie festgehalten hatte. Ihre Kopfhaut juckte, als sei ihr Haar viele Tage lang nicht gewaschen worden, und sie stank nach Fieberschweiß. Schwaches Morgenlicht sickerte an den Kanten der Fensterläden ein. Ihr Vater saß neben dem Bett. Als sie sich regte, blickte er hoch und zeigte ihr blutdurchschossene Augen. Er hatte noch nie so alt ausgesehen. »Du hast mich gefunden«, murmelte sie. »Du hast mich geheilt.« »Ja.« »Wie lange?« fragte sie. »Vier Tage.« Mehr brauchte er nicht zu sagen, um sie wissen zu lassen, daß er in dieser Zeit Schlachten geschlagen hatte. Sie wollte den Kopf heben, aber ihr fehlte die Kraft. »Schlaf!« sagte Gan. Zum erstenmal fiel ihr der gehetzte Ausdruck seines Gesichts auf. »Was ist los? Hat die Heilung nicht geklappt?« »Doch, du bist außer Gefahr.« Er schluckte. »Kari«, begann er. »Gerryjill…« Letzteres war ihr Erwachsenen-Name, den sie erhalten sollte, wenn sie volljährig wurde. Noch nie hatte er sie damit angeredet. Sie kämpfte eine Welle der Erschöpfung nieder, denn jetzt mußte sie zuhören. »Das Leben ist zu kurz«, sagte er. »Doch lebe deins, wie du willst. Als Magierin, als Fischersfrau – wie immer du dich entscheidest. Ich werde mich dir nicht in den Weg stellen.« Drei Nächte später konnte Kari dem Impuls nicht widerstehen, aus dem Bett zu schlüpfen, obwohl ihr Körper jedesmal protestierte, wenn sie ihn drehte oder streckte. Sie träumte von
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dem Strand, von Wogen, die sich an Felsen brachen und sie mit salzigem Schaum küßten. Ein Sturm war im Anzug. Das wußte sie ganz genau, obwohl Magier für gewöhnlich einen solchen Wettersinn erst erwerben, wenn Nebel, Stürme und feuchte Sommer ihre Knochen mit den Geheimnissen der Natur durchtränkt haben. Ein guter Grund, im Bett zu bleiben. Als ob das Gesundwerden nicht als Rechtfertigung genügte! Aber nachdem ihr Vater sich zurückgezogen hatte, stand Kari auf und kämpfte sich in ihre Kleidung. Schmerz breitete sich von der genähten Wunde in einer messerartigen Welle aus. Kari erschauerte, blieb still stehen, bis der Schmerz nachließ, und glitt dann verstohlen aus der Tür. Graumond stand im Zenit, nahezu voll, und übergoß die Küstenlandschaft mit seinen kühlen Strahlen. Weiter westlich fügte ein zunehmender Perlmond seinen bescheidenen Glanz hinzu. Sein von Kratern bedecktes Gesicht wurde teilweise von den herankommenden Wolken verdunkelt. Der Pfad zum Strand ließ sich mühelos erkennen. Bei jedem Schritt bebte Karis Körper – nicht vor Schmerz, obwohl sie Schmerzen litt. Vielmehr kribbelten ihre Glieder, als könne sie die Energien darin nicht zurückhalten. Ihre Arme und Beine bekamen Auftrieb; die Müdigkeit der Rekonvaleszenz war vorübergehend gebannt. Wenn sie sich umdrehte und versuchte, in der anderen Richtung zu gehen, kehrte die Müdigkeit zurück. So langsam und mühselig sie auch vorankam, sie konnte sich dem Ruf nicht widersetzen. Da wartete etwas auf sie am Rand des Meeres. Mit trockenem Mund, mit pochender Wunde schob sie sich um die letzte Biegung und hatte den ganzen Strand vor sich liegen. Die weiße Möwe stand auf dem Sand, die Federn vom Wind gezaust, und leuchtete beinahe vor dem Hintergrund von dunklem Wasser. Ihr Blick hielt Kari fest. Kari zweifelte nicht, daß es der Vogel war, auf dem zu reiten sie versucht hatte. Sie trat zurück, eingeschüchtert von seiner ehrfurchtgebietenden, königlichen Haltung, aber der Vogel bewegte ich nicht. Ein Windstoß traf sie, und sie empfand wie ein Vogel den Drang, hochzusteigen, zu fliegen, dem nahen Sturm vorauszueilen. Es war, als sei es ihr eigenes Gefühl. Doch war es offenbar das der Möwe. Karis Angst verdoppelte sich. Die Zunge der Möwe schoß hervor, als schmecke sie von neuem das Blut, das sie ihr vor ein paar Tagen abgezapft hatte. Wieder empfing sie eine subtile Botschaft, wieder ausgesprochene Vogel-Gedanken, vage, aber verständlich. Der Vogel fragte, warum er da sei. Kari erkannte, daß er nicht aus eigenem Willen gekommen war. Als der Sturm ihn einmal aufs Festland getrieben hatte, war er ebenso wie sie vom Strand angezogen worden. Kari wußte darauf keine Antwort, aber die klägliche Frage beseitigte ih-
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re Panik. Sie zögerte, dann hielt sie ihre Halskette hoch. »Hallo«, murmelte sie und versuchte, den Gruß auf die Möwe zu projizieren. Noch ein Gedanke kam ihr, und sie illuminierte den Anhänger mit einem bißchen harmlosen Hexenfeuer. Der Vogel trat zurück, lebhafte Unruhe in den tiefen schwarzen Augen. Kari rief ihn von neuem, versuchte, ihn zu beschwichtigen, aber er schwang sich kreischend himmelwärts und flog eilends die Küste hinunter. Ein mentales Flackern von Angst und Verwirrung verweilte, lange nachdem er physisch verschwunden war. Mit ihm verschwand Karis übernatürliche Kraft. Die Anstrengung des Ganges machte sich plötzlich bemerkbar, knickte ihr die Knie ein. Sie wäre gefallen, hätte nicht ein Paar Arme nach ihr gegriffen. Sie drehte sich überrascht um. Es war ihr Vater. Er begegnete ihrem Blick mit dem gleichen stillen, gedankenverlorenen Ausdruck, den er seit ihrem Unfall ständig hatte. »Was tust du hier?« fragte Kari. »Ich hatte einen Zauber auf dein Bett gelegt, damit ich informiert würde, wenn du es verließest.« Sie riß die Augen auf. »Du wußtest, dies würde geschehen? Warum hast du es mir nicht erzählt?« Sie unter einem Arm stützend, geleitete er sie sorgsam zur Hütte zurück. »Es war besser, daß du es selbst herausfandest. Das Ereignis, auf das ich all diese Jahre gewartet habe, ist eingetreten. Du hast einen Weg gefunden, den Kern der Zauberei anzuzapfen, den ich in dir als Baby gesehen habe.« Er seufzte. »Ich hätte nie gedacht, daß du die Kraft für einen Bindezauber benutzen würdest.« »Der Sturz!« staunte sie. »Als die Möwe mich abwarf…« »Du sahst dem Tod ins Gesicht«, nickte Gan. »Ein guter Grund für deine tiefe Kraft, zu erwachen. Du versuchtest, dich selbst an den Vogel zu binden. Und es funktionierte, wenn auch nicht in der Weise, die du beabsichtigtest. Als ich dich heilte, wollte ich die Wirkung aufheben, aber es ging nicht. Diese Magie geht über meine Fähigkeit, Einfluß zu nehmen, hinaus. Das Band wird bis zum Tod bestehen, falls du nicht selbst einen Weg entdeckst, es loszuwerden.« Der Wind begann in den Fichten zu heulen. Er war kalt und beladen von Nebel. Kari erholte sich schnell – schneller, als daß man es dem Heilzauber hätte zuschreiben können. Eine Umwandlung fand statt. Zauberei bewegte sich durch sie auf seltsame neue Weise. Gan sagte, er sehe deutliche Netze in ihrer Aura. Sie spielte mit der Energie, lernte allmählich, sie zu organisieren. Jeden Tag floß sie ein bißchen zügiger, kam ein bißchen mehr un-
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ter Kontrolle. Es mochte Jahre dauern, bis sie die Energie manipulieren konnte, wie sie wollte, aber in der Zwischenzeit dünkte ihr gewöhnliche Magie ein Kinderspiel zu sein, und sie fühlte sich wie berauscht von Möglichkeiten zum Studium. Es reichte beinahe, ihre Furcht zu dämpfen. Sie fühlte die Präsenz der Möwe irgendwo draußen vor den Küsteninseln. In seltenen Augenblicken ertappte sie sich dabei, daß sie vom weiten Meer träumte oder von Nebelbänken, von oben gesehen. Dann erkannte sie das als von außen kommende Gedanken. Während die Tage vergingen, geschah es immer öfter. Am Ende der Woche begann ihre Narbe zu jucken. Ein Sturm kam. Mit ihm würde die Möwe kommen. Sie ging zu ihrem Vater. »Es ist Zeit«, sagte sie. Er nickte, nahm seinen Zauberbogen und die Pfeile und begleitete sie zum Ufer. Der Herbst malte die Gräser braun und grau. Der starke, fruchtbare Geruch nach faulender Vegetation mischte sich mit der Salzluft der Küste. Kari atmete tief ein. Sie liebte diese Jahreszeit. Vor einem Jahr war es an einem Tag wie diesem gewesen, daß sie und Ren ihre Liebe entdeckten. Die Erinnerung erschreckte sie. Seit ihrem Unfall hatte sie kaum noch an Ren gedacht. Für ihn würde es eine böse Zeit werden, auf See während eines Sturmes; und das war nun schon der zweite, den die Schellfisch-Flotte über sich ergehen lassen mußte. Kari hoffte, seinem Schiff werde nichts passieren. Alle Gedanken an ihn verschwanden, als sie den Strand erreichten. Die Möwe wartete auf einem Felsen im Wasser. Sie senkte den Schnabel, als sie Kari sah, und betrachtete sie argwöhnisch, sich der Fäden aus Zauberei bewußt, die den Abgrund zwischen ihnen überbrückten. Gan legte einen Pfeil auf. Kari widerstand dem Drang, sich in die Brandung zu stürzen und sich dem Vogel beizugesellen. Das Gefühl war stark, fast wie ein Sirenenruf. Sie versuchte, den Fluß der Magie abzuschwächen, doch es gelang ihr nicht. Da ihr keine andere Wahl blieb, akzeptierte sie vorerst, daß es ihn gab. Der Vogel breitete die Schwingen aus und kreischte wie in einem Echo dieser Entscheidung. Er ist schön, dachte Kari, seine glatten weißen Linien, seine starke Muskulatur, seine hellen, intelligenten Augen betrachtend. Seine. Verspätet kam ihr zu Bewußtsein, daß sie aufgehört hatte, an ihn als geschlechtslos zu denken. Er hatte sie irgendwie wissen lassen, daß er männlich war. Szenen erschienen in ihrem Kopf. Sie sah eine große felsige Insel, viele Meilen vom Festland entfernt, wo große Möwen in einem chaotischen Tanz kreisten. Als nächstes sah sie zwei Individuen, die sich gegenseitig das Gefieder putzten. Schließlich kam das Bild eines Nestes. Eine der Mö-
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wen legte ein Ei. Kari mußte lachen. Gan sah sie fragend an. »Er hält mich für ein Möwenmädchen!« sagte sie. Der Zauberer sah krank aus. »Dann schlage ich vor, daß du seinen Eindruck berichtigst!« Der arme Vogel, dachte Kari. Er verstand den Grund nicht, aus dem sie zueinandergezogen wurden. Deshalb versuchte er, es sich mit anderen Banden zu erklären – solchen, wie sie zwischen ihm und seiner Gefährtin bestanden. Kari formulierte ihre Antwort vorsichtig. Sie hielt ein ähnliches Bild für das beste, deshalb stellte sie sich eine Frau mit einem Baby an der Brust vor. Der Möwenmann reagierte, indem er den Kopf schüttelte, bis Federn flogen. Aber anscheinend begriff er die Botschaft. Seine Erwiderung bestand in kurzen Blicken auf junge Seehunde, die an ihrer Mutter tranken. So weit, so gut. Er verstand, daß sie weiblich und ein Säugetier war. Was als nächstes? Namen natürlich. Ihr Name bedeutete »Quelle« in der alten Sprache – so übermittelte sie das Bild von reinem klarem Wasser, das aus der Erde sprudelte. Zu ihrem Entzücken antwortete er sofort und ganz deutlich: Er zeigte seinen eigenen Flügel und betonte die milchweiße Farbe. »Perlflügel!« rief Kari. »Wie bitte?« fragte Gan. Sie lachte vor sich hin. »Wir haben uns einander gerade vorgestellt.« Sie gab ihm ein Zeichen, den Bogen wegzulegen. Nicht etwa, daß Perlflügel aufgehört hatte, sie zu ängstigen, aber es war Zeit für ein Gespräch, nicht für eine Konfrontation. Ren fand Kari auf den Überresten eines alten Kais, der letzten Spur eines Herrenhauses an der Küste. Vor einem Jahrzehnt war es von Seeräubern niedergebrannt worden. Dunkle Wolken hingen unheilverkündend am Himmel, aber Kari stand ungerührt an den letzten Pfählen und beobachtete das Treiben von zehn großen Möwen, die sich im Flutwasser tummelten. »Es ist also wahr«, sagte er. Sie fuhr zusammen. Die Flotte war erst gestern abend von den Tiefen zurückgekehrt, und der Klang seiner Stimme, die sie vierzehn Tage lang nicht mehr vernommen hatte, brachte Ereignisse und Gefühle zurück, die lange zurückzuliegen schienen. Sie sprang über eine verrottende Planke und fiel ihm um den Hals. Er erwiderte die Umarmung flüchtig. »Was ist los?« fragte sie stirnrunzelnd. Er wies mit dem Kinn nach den Möwen. »Die da. Mein kleiner Bruder hat dich letzte Woche gesehen, von der Klippe aus. Du redest mit ihnen!«
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Sie trat auf Armeslänge zurück. »Mit einem von ihnen. Manchmal hat er interessante Dinge zu sagen.« Ihr Liebster sah an diesem Morgen sehr hübsch aus. Sie bemerkte, daß er etwas in der Hand trug. »Was ist das?« Es war ein Pelz in schimmerndem Azur, und mit der Hand darüber zu streichen war ein sinnliches Erlebnis. »Blauer Seeotter«, sagte Ren. »Einer verfing sich in den Netzen. Wenn das Fell gegerbt ist, wird es einen schönen Muff oder ein Paar Handschuhe für dich geben.« »Es ist schön«, sagte sie und wurde durch einen Gedanken Perlflügels abgelenkt. Eine graugesprenkelte Möwe war angekommen. Offenbar billigte Perlflügel ihre Anwesenheit. Kari ertappte Ren dabei, daß er sie anstarrte. »Die Möwen sind sehr freundlich, wenn man sie einmal kennengelernt hat«, erklärte sie. »Wie Hunde.« Obwohl Hunde ihrer Meinung nach längst nicht so intelligent waren. »Sie greifen Schiffe an«, sagte Ren. »Selten. Wenn sie sich tatsächlich vornähmen, menschliche Wesen zu jagen, würden wir uns nicht mehr trauen, Segel zu setzen.« Er wies auf den Strand. »Sieh sie dir an! Sie benehmen sich sogar gegen ihresgleichen bösartig.« In diesem Augenblick waren die meisten Möwen damit beschäftigt, in Trümmern herumzupicken, die die Brandung angespült hatte. Drei Individuen zankten sich um ein großes Stück Treibholz. »Das ist ihre Art zu spielen«, sagte Kari. »Man kann sie leicht dazu bringen, daß sie damit aufhören.« Sie sprach mit Perlflügel. Die weiße Möwe kreischte. Das Trio stellte seinen Streit ein, sah ihn an und begann, das zerzauste Gefieder wieder in Ordnung zu bringen. »Sie sind zu vielem fähig«, berichtete Kari. »Sie machen sich nur nicht oft die Mühe, es uns zu zeigen.« Sie wies auf Perlflügel. »Er hat es mich gelehrt.« Ren trat einen Schritt zurück. Er starrte sie an, als habe er bei den vielen Gelegenheiten, die sie zusammengewesen waren, in ihr nichts als eine junge Frau gesehen und sehe jetzt nichts als eine Hexe. »Geh nicht!« bat sie beunruhigt. Fr maß ihren Körper mit einem verlangenden Blick, als sei es zum letzten Mal. »Es wird bald regnen. Komm mit mir in die Stadt zurück!« Der Sturm wird erst in etwa einer Stunde losbrechen. Ich möchte bleiben.« Er seufzte, sah voller Argwohn zu Perlflügel hinüber und wandte sich ab. »Wie du wünschst.« Als er fort war, spürte Kari eine zaghafte Frage von Perlflügel. »Es hat nichts zu bedeuten«, sagte sie und gab sich Mühe, ihre Gefühle nicht zu
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stark durchblicken zu lassen. Aber der Schmerz in ihrer Narbe verschärfte sich und blieb so, lange nachdem die Wolken ihre Regenlast ausgeschüttet hatten. »Ich werde Perlflügel reiten«, sagte Kari. Gan zitterte, obwohl er entschlossen war, seiner Tochter zu vertrauen, was ihre Beurteilung der eigenen Fähigkeiten anging. »Er hätte dich beinahe umgebracht. Ist euer Rapport so stark geworden?« Sie runzelte die Stirn. »Ich hätte gern mehr Zeit, aber ein längeres Abwarten kann ich mir nicht leisten. Dieser Bindezauber – mich hält er nachts wach, Perlflügel verwirrt und ärgert er. Wenn ich Perlflügel nicht reite, wird die Sache außer Kontrolle geraten.« Gan nickte widerstrebend. »Das paßt zu dem, was ich beobachtet habe. Aber es gibt eine andere Lösung. Töte die Möwe!« Sie sah ihn kalt an. »Besser das, als daß du selbst stirbst«, gab Gan zu bedenken. »Ich habe nicht die Absicht zu sterben. Ich werde Vorsichtsmaßnahmen treffen.« »Zum Beispiel?« »Ich habe einige deiner alten Bücher gelesen. In Evids Helden steht eine Geschichte von einem Mann, der eine Möwe ohne irgendwelche Magie zähmte. Wie es heißt, war er sehr stark.« »Das trifft kaum auf dich zu.« »Nein, aber er machte sich eine Methode zunutze, auf die ich nicht gekommen wäre: Er band sich auf den Schultern seines Reittiers fest und verwendete Zaum, Gebiß und Zügel, als reite er ein Pferd zu.« Gans Besorgnis nahm ein bißchen ab. »Willst du mir helfen, Zaumzeug anzufertigen, das groß genug für eine große Möwe ist?« fragte Kari. Kari sandte ihre sondierenden Gedanken aufs Meer hinaus. Sie merkte nichts von der steifen Brise, die versuchte, ihr den Schal vom Hals zu wickeln. Gan lief auf dem Sand hin und her. Er trug das Zaumzeug. Perlflügels charakteristische psychische Signatur erreichte sie, schwach und immer wieder unterbrochen, über eine weite Strecke der sonnenbeschienenen Wellen. Kari konzentrierte sich auf die Quelle und rief von neuem. Es war ein Test. Noch nie zuvor hatte sie versucht, den Möwenmann zu rufen. Wenn er jetzt kam, bei klarem Wetter, wäre es ein Zeichen, daß er ihr auch in anderer Beziehung gehorchen mochte. Perlflügel antwortete beinahe sofort. Er sprach sie mit ihrem Namensbild an. »Er kommt«, sagte Kari zu Gan. Der Zauberer zog sich zu einem Spalt zwischen zwei Felsblöcken zu-
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rück, damit das Mädchen Perlflügel allein begrüßen konnte. Sie wählte eine Stelle weit weg von der Klippe, wo der Sand nach der Ebbe dunkel, schwammig und mit Tangstücken bestreut dalag. Der Vogel kam in Sicht. Kari hob ihren Anhänger. Perlflügel erkannte das Glitzern, kreischte, glitt herab und landete ein paar Meter entfernt. Der dabei entstehende Luftzug hätte Kari beinahe umgeworfen. Perlflügel beäugte sie neugierig. Sie machte ihr Gehirn leer, verbarg ihre Absicht. Irritiert durch ihren Rückzug, kratzte er im Sand. Kari schluckte, holte tief Atem und schwenkte noch einmal die Halskette. Eigentlich war es ein Witz: Diesmal war es schwierig, ihn mit dem Bann zu belegen. Doch sie wußte jetzt, wie stark Perlflügel war und was es für eine Möwe bedeutet, frei und unbeschwert dahinzugleiten. Er klappte laut mit seinem Schnabel. Kari zitterte, war sich völlig klar darüber, wie schnell sie sterben würde, sollte er zuschlagen. Irgendwie gelang ihr die notwendige Konzentration. Das aufgeregte Flattern hörte auf, der Bann beherrschte ihn. Kari ließ den Anhänger fallen. Langsam wie ein arthritischer alter Mann senkte Perlflügel seinen Körper auf den Sand. Karis Vater erschien. Die Möwe ragte immer noch über seinen Kopf auf, war jetzt aber niedrig genug, daß er ihr das Zaumzeug anlegen konnte. Kari achtete sorgfältig darauf, ihren Zauber unter Kontrolle zu halten, während Gan den Zaum über Perlflügels Schnabel schob und das Gebiß einsetzte. Die Zügel bogen sich über den riesigen Kopf. Kari ließ sich von ihrem Vater hinaufhelfen. Er zog den dicken Sicherheitsgurt um den Körper der Möwe und reichte Kari die Enden. Der Schweiß brach ihr aus. Sie schnallte sie an ihren eigenen Gurt. Sie hatte das beste Leder benutzt, das aufzutreiben gewesen war, und es mit wirksamen Zauberformeln verstärkt. Ihr Rücken würde weitaus eher brechen als die Gurte – ein unerfreulicher Gedanke, den sie aus ihrem Gehirn verbannte. Als sie festgezurrt war, winkte sie Gan zur Seite. Sie war soweit. Perlflügels mentale Proteste wurden immer heftiger. Kari hatte geplant, ihn unbeweglich zu halten, bis sie seine Ängste beschwichtigt hatte, aber jetzt machte sie sich Sorgen, jede weitere Verzögerung werde ihn in Panik treiben. Sobald ihr Vater in Sicherheit war, löste sie den Bann. Perlflügel kreischte und raste in den Himmel hinauf. Kari fühlte, wie seine furchtbaren Muskeln sich unter ihrem Rumpf bewegten, und sie verlor alle Sicherheit. Die Verbindung war durchtrennt. Was sie aus Perlflügels Gedanken lesen konnte, war nichts als Entrüstung. Sie hatten kaum Gleitflughöhe erreicht, als er sich drehte und bockte. Ihr Sicherheitsgurt zog sich straff und riß sie auf ihrem Sitz zurück.
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Sie zerrte an den Zügeln, zog in der Richtung, in der Perlflügel sich drehte, hoffte, ihm die Initiative abzunehmen. Er ruckte einmal mit dem Kopf zur anderen Seite und riß ihr die Zügel völlig aus den Händen. Sie flatterten über die Wellen dahin. Schon sanken Karis Arme kraftlos nieder. Ihre Narbe schmerzte von der Überanstrengung der Bauchmuskeln. Ob mit oder ohne Zügel – ihr fehlte die Kraft, mit ihm fertig zu werden. Ihr einziges Hilfsmittel war die Magie. Die Mauer aus Angst und Zorn, die Perlflügel aufgerichtet hatte, wich nicht. Kari sandte ihm ein Bild zu, das heitere Gelassenheit vermittelte, und begann gleichzeitig eine Beschwörung, die die Heftigkeit seiner Reaktionen dämpfen mochte. Perlflügel wurde nur noch gewalttätiger. Er kippte nach links, dann nach rechts. Kari gelang es, die Zügel zu ergreifen, gerade als er zum Sturzflug ansetzte. Sie zog mit aller Kraft, unterstützte ihre Bemühungen mit etwas Zauberei. Schließlich hob sich sein Kopf wieder. Perlflügel zischte ein bißchen herum und ging knapp über den Wellen zum Horizontalflug über. Kari keuchte. Ein Aufwind trug sie in wolkenlose Höhen. Perlflügel schwenkte hierhin und dahin und schüttelte sich. Die Zügel drohten ihr trotz der dicken Handschuhe in die Handflächen zu schneiden. Die Beschwörung hatte keine Wirkung. Er wehrte ihre Kontrollversuche ab, als sei er ein Meister-Magier. Er war einfach zu groß und zu stark, als daß sie ihn hätte beeinflussen können. Kari empfand die aufsteigende Panik wie einen kalten Knoten, der sich um ihre Narbe konzentrierte. Das hatte sie nicht vorhergesehen. Perlflügel hatte sich dem Bann so widerstandslos ergeben, daß sie überzeugt gewesen war, er werde sich auch bei ihren anderen Zaubereien gefügig erweisen. Ihr Griff um die Zügel lockerte sich; die Finger hielten die Spannung nicht länger aus. Sie ließ los und packte Händevoll Federn, drückte sich an den Hals des Vogels, so eng sie konnte, und gab alle Bemühungen auf, seinen Flug zu lenken. Perlflügel reagierte auf die Freiheit, indem er aufs Meer hinausflog. Die Küste wurde zu einer schwarzen Linie. Kari stöhnte. Die Möwe schüttelte sich wie ein nasser Hund, der aus dem Regen hereinkommt. Karis Zähne schlugen zusammen und zerbissen die Zunge. Wieder rettete nur der Sicherheitsgurt sie davor, abgeworfen zu werden. Die Möwe schüttelte sich wieder und wieder. Beim vierten Mal schlugen Karis Glieder hoffnungslos um sich. Sie griff nach Federn, hielt sich fest, verlor den Halt von neuem. Die Erschütterungen nahmen ihr den Atem. Blaue Flecken entstanden auf ihrem Rumpf und ihren Oberschen-
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keln. Jetzt kämpfte sie nur noch darum, bei Bewußtsein zu bleiben. Ein übler, bitterer Geschmack füllte ihren Mund, ebenso wie an dem Tag, als sie abgestürzt war, in den Sekunden, als die Bäume zu ihr hochrasten. Sie gab auf. Sie hing nur noch vom Sattel, ließ Perlflügel tun, was er wollte, war kaum noch fähig, ihr Entsetzen zu verbergen. Sie war überzeugt, sterben zu müssen. Hilf mir. Diese klägliche Botschaft rang sie sich ab. Sofort stellte Perlflügel das Schütteln und Bocken ein. Benommen, fast im Schock reagierte Kari auf sein sanftes Dahingleiten erst mit Verwirrung, dann mit Unglauben. Eine Frage kam von Perlflügels Verstand. Sie blinzelte. Er machte sich Sorgen um sie! Kari fluchte. Endlich dämmerte es ihr – das Mittel, Perlflügels Barriere zu durchbrechen, war nicht Gewalt. Ihre Versuche, ihm zu befehlen, waren die Ursache seiner heftigen Reaktion gewesen. Sie hätte Vertrauen zu ihm haben sollen. Eine große Möwe war niemandes Sklave. Jetzt, da sie aufgehört hatte, eine Drohung darzustellen, hatte er seine Verteidigungen mit Freuden fallengelassen. Bilder eilten von seinem Geist zu ihrem. In der ersten Szene flogen sie beide zu einer großen Insel am Horizont, die zweite zeigte sie über offenem Meer dahingleitend, und die dritte schilderte ihre Rückkehr zur Küste. Kari war überwältigt. Er wollte mit ihr fliegen. Sie konnte das Ziel auswählen. Benommen bat sie ihn, das Festland anzusteuern. Die Mühelosigkeit und Klarheit ihrer Kommunikation erstaunte sie. Aber als sie nachdachte, sah sie auch den Grund: Der Bindezauber hatte seine Wirkung getan. Sie waren jetzt, wenn man so sagen durfte, wie eine Hexe und ihr Schutzgeist. Nach und nach tauchte sie aus ihrer Benommenheit auf, beugte sich vor und griff wieder nach den Zügeln. Die Möwe hatte nichts dagegen einzuwenden. Kari starrte die Lederriemen in ihren Händen an, ohne zu wissen, was sie damit machen sollte. Schließlich zog sie nach rechts. Nichts geschah. Sie verstärkte den Zug. Perlflügel antwortete mit Verärgerung. Sie korrigierte sich. Wieder zog sie, aber diesmal projizierte sie gleichzeitig ein Bild von ihm, wie er nach rechts schwenkte. Perlflügel tat es. Lächelnd lehnte sich Kari zurück und sandte ein Bild, wie er langsamer wurde. Er gehorchte. Beide Male vollzogen sich seine Bewegungen nicht ganz synchron mit den Hilfen der Zügel, aber er hatte es begriffen. Er trillerte ihr seine Begeisterung zu. Es war ein Spiel für ihn geworden, diese Aufgabe, einen Reiter zu tragen. Er machte ihr Vorschläge, was sie im Lauf der Zeit alles tun könnten – Bilder von der Jagd auf junge Kraken
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zum Essen in den Wassern der Tiefe oder vom Fliegen durch Wolken, wobei der Nebel sich als Perlen auf die Federn setzte wie Tautropfen auf ein Spinnennetz. Kari lachte. Ja, das alles wollten sie tun, versicherte sie ihm. Aber für den Augenblick war sie erschöpft. Jetzt wußte sie, daß es getan werden konnte, und sie hatte eine Menge Zeit, das Reiten an einem anderen Tag zu üben. Die Küste raste heran. Ihr Vater kam oben auf der Klippe in Sicht. Sie lenkte Perlflügel nach unten. Gan verzog das Gesicht, als er sah, wie steif Kari abstieg, aber seine Sorgen verflogen unter dem triumphierenden Schimmer in ihren Augen. Sie sah anders aus, hatte ein erwachsenes Auftreten. »Würdest du gern eine Möwe reiten?« fragte sie. »Jetzt?« entfuhr es ihm, und er warf Perlflügel einen mißtrauischen Blick zu. »Nein. Dies ist meine Möwe. Aber ich könnte dir helfen, eine andere zu zähmen. In den Sagen wird davon berichtet. Wenn wir nun eine ganze Gruppe von Leuten zu Möwenreitern heranbildeten?« Die Worte überstürzten sich. »Wir könnten die zahmsten, kooperativsten, intelligentesten Möwen aussuchen. Vielleicht könnten wir sie züchten, eine Rasse entwickeln, die Reiter akzeptiert, wie es Pferde tun.« »Zu welchem Zweck?« Kari wies mit den Händen auf das bekannte Land und das weite Meer hinter ihr. »Um in nur einem Tag Botschaften vom Haus des Königs zu den Lords der Provinzen zu transportieren. Um in Seenot geratene Schiffe zu finden und Hille für sie zu holen. Um Heiler zu den Schwerkranken zu bringen. Da gibt es tausend Dinge!« »Es gibt Menschen, die einer großen Möwe niemals trauen würden.« Doch noch während er sprach, wurde Gan von Begeisterung gepackt. Hier war eine Herausforderung, die eines großen Magiers würdig war. »Wir wissen es besser«, sagte Kari. Gan lächelte. Es war freundlich von Kari, im Plural zu sprechen, aber er wußte sehr genau, die Geschichte würde ihm nur einen kleinen Platz reservieren. Die Berichte würden von Gerryjill der Zauberin sprechen, der Frau, die die Möwen zähmte. Das Kind in der Schneewehe war erwachsen. Endlich sah er die Erfüllung seiner Prophezeiung klar vor sich.
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Josepha Sherman Um eine ganz andere Definition des Wortes »Amateur« zu benutzen, ist hier eine von einem Amateur geschriebene Geschichte und ich meine damit jemanden, der etwas aus Liebe zur Sache tut und nicht unbedingt, um sich damit den Lebensunterhalt zu verdienen. Wir wären alle Amateure, wenn wir könnten, aber wenn man etwas lange genug tut, wird man auf jeden Fall zum Profi. Ihrer Technik nach ist Josepha Sherman natürlich ein Profi; ich habe ihre Geschichte »The Ring of Lifari.« für SWORD AND SORCERESS IV gekauft. – M.Z.B.
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Die Flüchtlinge Zerah erstarrte, die Hacke in der Hand, und beobachtete das plötzliche wilde Flattern der Vögel. Dann warf sie die Hacke hin und griff statt dessen nach ihrem Bogen. Jemand kämpfte sich durch den dichten Wald herauf… ein Mädchen! Ein schlankes, junges, heilhäutiges Ding in Seidenkleidern, die kaum für die Wildnis geeignet waren. Sie rannte, und eine Wolke hellen Haars flatterte hinter ihr her. Zerah betrachtete die Erscheinung ungläubig und fragte sich, ob die Einsamkeit ihr nun doch den Verstand geraubt habe. Unsinn. Das junge Ding war wirklich. Außerdem war es offensichtlich allein und unbewaffnet, und Zerah ließ den Bogen sinken. Das Mädchen kam stolpernd, Entsetzen in den Augen, zum Stehen, als es Zerah erblickte. Bin ich tatsächlich so furchterregend geworden? dachte die Frau nüchtern. Sie machte sich keine Illusion darüber, was das Mädchen sah: Bestimmt keine große Schönheit, sondern eine magere, kräftige Gestalt in Wildleder, das kastanienbraune, mit Grau durchsetze Haar zu einem dicken Zopf geflochten, ein wettergegerbtes Gesicht, auf dessen Stirn die komplizierte blaue Tätowierung noch deutlich zu sehen war. Nie hatte sie jemand schön gefunden außer Raned, und Raned war… Aber jetzt stammelte, flehte das Mädchen: »O bitte, bitte, helft mir! Ich – Terach – Terach ist verletzt, ich kann ihn nicht weiterbringen, und ich – wir… Warum starrt Ihr mich so an? Er ist verletzt! Er braucht Hilfe! Begreift Ihr das nicht?« »O Doch.« Zerah hörte, wie rostig ihre eigene Stimme herauskam, rauh vom langen Nichtgebrauch. »Habe nur lange keinen solchen Sturzbach von Worten mehr gehört, das ist alles.« Sie musterte das aufgeregte süße Gesicht kurz und wunderte sich, wie das Mädchen es fertigbrachte trotz seiner Angst irgendwie kühl und makellos zu wirken. Eine Dame. »Wer bist du?« Das Mädchen blinzelte. »Ailetha, Tochter von… Bitte, darauf kommt es jetzt nicht an! Terachs Wunde ist von neuem aufgerissen, und ich glaube, er weiß nicht einmal, was vor sich geht, und – und ohne Obdach wird er sterben!« Wunderschöne blaue Augen führen wild in der kleinen Lichtung umher. »Ist hier jemand?« »Ja, ich.« »Aber – aber diese Hütte?« »Meine.« Zerah zögerte. Sie wäre lieber allein geblieben, doch… »Kommt! Ich will mir Euren Terach ansehen.« Er lag da, wo er zusammengebrochen war – auf halber Höhe des Berges, ein Haufen zerlumpter Seide. »Terach«, schmeichelte das Mädchen,
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»ahh, Terach…« Das war ein Junge, mehr nicht, dem noch kaum der Bart sproß. Das braune Haar verfilzt die Augen geschlossen, die Atmung zu schnell, die Wangen zu rot. Wundfieber, daran gab es keinen Zweifel. Zerah zog vorsichtig die Fetzen dessen, was einmal eine teure Jacke gewesen war, beiseite, gespannt darauf, was sie finden würde. Tatsächlich. Eine Speerwunde. Ein klaffender Spalt lief schräg nach oben über die Rippen. Das war die Arbeit eines Speers, der von unten und aus einiger Entfernung geworfen worden war. ,Alles in allem betrachtet war es keine allzu schwere Verletzung, kein Zeichen einer Vergiftung, kein Geruch nach Tod. Aber Ailetha hatte recht: Eine Nacht im Freien würde den Jungen wahrscheinlich das Leben kosten. »Wer verfolgt euch?« Ailetha blickte ruckartig hoch. »Was meint Ihr?« »Junge Leute in Seide laufen nicht zum Spaß im tiefen Wald umher. Es werden ihnen auch keine Speere nachgeworfen. Wer verfolgt euch?« Das Mädchen kniff den Mund zusammen. »Bringt Terach erst ins Haus. Dann werde ich alles erzählen, das verspreche ich.« Von daheim durchgebrannt – das war klar. Zerah seufzte. Sie sah zornige Väter auf einer Verfolgungsjagd und ein Ende ihres Friedens vor sich. Nun, ihr Friede hatte bereits ein Ende gefunden, wenigstens vorerst. »Ich will nicht schuld sein an dem Tod des Jungen. Bringen wir ihn hinein.« Sie bedachte Ailetha mit einem grimmigen Blick, der einst, zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, Feinde bezwungen hatte. »Und dann, Mädchen, wirst du mir alles erzählen.« Terach, dessen Wunde gesäubert und verbunden war, sank auf Zerahs Bett in Schlaf. Ailetha beugte sich schützend über ihn und sprach murmelnd auf ihn ein. Zerah schnaubte. So jung Terach noch war – eine leichte Bürde war er nicht gewesen. Sie selbst schwitzte noch von der Plackerei. Und doch wirkte das Mädchen immer noch so frisch und makellos wie zuvor. »Mädchen. Ailetha. Du kannst ihn im Augenblick ruhig allein lassen.« Die blauen Augen sahen sie kalt an. Aber dann irrten sie ab, und Ailetha sah sich in dem einzigen Raum der Hütte um, als nehme sie ihn erst jetzt richtig wahr: die Feuerstelle, über der Schwert und Dolch in Scheiden hingen, Tisch und Stuhl und sonst nicht viel auf dem gestampften Lehmboden. Eine Andeutung von etwas, das Verachtung sein mochte, huschte über ihr Gesicht. »Ich weiß, es ist einfach!« Zerahs Stimme klang tonlos. »Aber es ist sauber. Er wird sich hier kein Fieber einfangen.« Ailetha zuckte zusammen. »Verzeiht mir.« Behutsam löste sie sich von
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dem unruhig schlafenden Jungen und kam näher, blieb aber außer Reichweite wie ein mißtrauisches Tier. Sie sah Zerah ins Gesicht. »Ich habe Euch unsere Geschichte versprochen.« »Das hast du.« »Es gibt nicht viel zu erzählen. Ich – Kennt Ihr Lord Ereian? Nein? Ich… bin seine Tochter. Terach… ist nicht von hoher Stellung. Aber wir lernten uns kennen und – und verliebten uns ineinander und…« Ihre Augen flehten. »Mein Vater würde ihn umbringen, wenn er uns einfinge! Wir mußten fliehen. Er würde Terach töten!« »Wer hat den Speer geworfen?« »Oh, das weiß ich nicht! Ich glaube, irgendein Bauer sah uns rennen und hielt uns für Räuber. Ich weiß es nicht! Terach…« »Er wird wieder gesund werden.« »Ahh!« Das Mädchen lief wieder zum Bett, beugte sich besitzergreifend über ihn, wilde Entschlossenheit im Gesicht. »Terach…« Zerah schüttelte den Kopf. Mit einemmal kam ihr die Hütte viel zu klein vor, da sie mit so vielen Leben gefüllt war. Sie ging nach draußen, atmete die Irische Luft und die sauberen, wilden Düfte ein. Aber die Waldvögel flatterten schon wieder hoch. Die Muskeln der Frau spannten sich. Aus der Ferne klang Hufgetrappel herüber. Hätte ich mir denken können. Der zornige Vater. »Ailetha! Komm her!« »Ich – ich höre sie.« Die Stimme des Mädchens klang scharf vor Angst. »Ihr müßt uns verstecken! Sie werden Terach töten!« Zerah ballte die Hände zu Fäusten. Ihr Götter, nicht noch mehr Blutvergießen, nicht hier! »Komm wieder hinein.« Sie rückte den Tisch zur Seite und scharrte mit dem Fuß über die Erde, bis sie es gefunden hatte… »Hier.« »Eine – eine Falltür.« »Mein Keller. Und Hinterausgang. Keine Bange, ich habe ihn groß genug gebaut, daß man Luft bekommt. Ersticken kann man nicht.« »Terach…« »Ihr verschwindet beide nach unten. He, danke mir nicht. Hilf mir nur, deinen Jungen hinunterzuschaffen. Puh, ist der schwer. So. Jetzt bleib, wo du bist, und verhalte dich ruhig.« Sie schloß die Falltür, scharrte schnell Erde darüber, rieb sie hastig so glatt wie den Rest des Fußbodens, sah sich dann in der Hütte um. – Ah. Sie zog die Bettdecke zurecht. Dann nahm sie ihren Bogen und ging nach draußen, wo sie vorausschauend ein halbes Dutzend Pfeile mit der Spitze nach unten in den Boden steckte – nahe zur Hand, falls sie sie in aller Eile brauchen sollte. Und dann wartete Zerah, einen Pfeil auf der Sehne und den Bogen halb gespannt.
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Da kamen sie. Acht….neun….zehn Reiter auf keuchenden, schweißbedeckten Pferden. Es war kein leichter Aufstieg für die Tiere gewesen. Neun gutbewaffnete Wachen, Vertrauensleute. Sie erkannte den Typ auf der Stelle, durch ihre Ehre gebundene Männer, die ihrem Herrn treu sind. Und ihr Herr? Über die erste Jugendblüte hinaus, ja, aber immer noch kräftig und breit von Schultern. Haar und Bart in ergrauendem Schwarz wie ihr eigener Zopf, kantige Züge und kühle dunkle Augen. Eben blickte er überrascht drein, denn er bemerkte die Stirntätowierung, die Ailetha übersehen hatte, und erkannte sie. Seine Männer erkannten sie nicht. Einer von ihnen beäugte den schußfertigen Bogen und schloß die Hand bedeutungsvoll um seinen Speer. »Wirf nur!« forderte Zerah ihn auf. »Du wirst eher tot sein als ich.« »Das ist ihr Ernst«, sagte der Schwarzhaarige ruhig. »Komm, Mann, siehst du nicht, daß du eine Chenri-Kriegerin vor dir hast?« Er verbeugte sich höflich im Sattel. »Wir möchten Euch nicht stören, Lady.« »Dann unterlaßt es.« »Ah. Es war ein langer Anstieg, der durstig macht.« Sie ruckte mit dem Kopf. »Da ist der Brunnen. Haltet die Pferde aus meinem Garten heraus.« Er glitt aus dem Sattel, eine unerwartete Höflichkeit, da es sie beinahe auf eine Höhe brachte, und reichte einem Gefolgsmann die Zügel. Dabei hielt er die ganze Zeit die Augen auf Zerah gerichtet. »Wir jagen einen Jungen und ein Mädchen, Lady…« »Um sie zu töten?« »Nein!« Sein Schreck mochte echt sein. »Lady, ich bin Liern na Serai, der Bruder Lord Ereians. Sein Sohn wird vermißt, Terach, mein Neffe.« Ereians Sohn? Zerah zuckte nicht mit der Wimper, aber ihr schoß die Frage durch den Kopf: Warum hatte Ailetha gelogen? »Und das Mädchen?« Liern zögerte. »Ahh sie ist im Grunde niemand«, antwortete er endlich. »Wenigstens in meinen Augen. Ein Dienstmädchen oder jemandes Hofdame. Ehrlich gesagt, ich erinnere mich nicht, das Mädchen jemals gesehen zu haben, aber offenbar war sie am Hof meines Bruders, und offenbar hat sie Terach kennengelernt, und…« Er zuckte die Schultern. »Jetzt sind sie davongelaufen, wie es romantische junge Leute tun.« Seine Augen trafen die ihren und forderten sie auf, seinen sarkastischen Humor zu teilen. »Mein Bruder durchsucht die Täler nach ihnen, ich habe die Hügel übernommen. Lady, auf halber Höhe des Berges sind Spuren, daß dort ungeschickte Menschen in aller Eile vorbeigekommen sind. Ich bezweifle, daß es Eure Spuren sind.« »Sind sie auch nicht. Doch der Berg ist groß.« »Dann… dann habt Ihr sie nicht gesehen? Terach ist von mittlerer Grö-
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ße, hat braunes Haar und die Anfänge eines Bartes, das Mädchen ist, soviel man hört, eine hübsche Blondine.« Ein Mädchen ohne den Schutz einer Familie. Oh, jetzt ergab Ailethas durchsichtige Geschichte Sinn! Als Tochter eines Lords konnte sie Schutz verlangen. Als ein Niemand mußte sie um ihr eigenes Leben fürchten, um das schnelle, ruhige Ersticken eines keimenden Skandals. Nicht auf meinem Land! dachte Zerah entschlossen. »Ich nehme keine Fremden bei mir auf« Ihre Augen bohrten sich mit dem alten, vielgeübten Nachdruck in die seinen, und nach einer Weile wandte Liern mit der Andeutung eines Seufzers den Blick ab. »Nun, dann danke ich Euch, Lady. Wir wollen Euch nicht länger stören.« Aber er zögerte, sah von neuem zu der blauen Stirntätowierung hin, und sein kräftiger Körper wirkte plötzlich unbeholfen vor Unentschlossenheit. »Ich…« Er brach ab, ärgerlich über sich selbst. Dann begann er von neuem. »Lady, es gibt da etwas, das ich gern mit Euch diskutieren würde. Wenn ich darf.« »Sprecht!« Er streifte seine wartenden Männer mit einem Blick. »Vor so vielen Ohren zum Zuhören? Können wir drinnen miteinander reden?« Versuchte er, herauszufinden, ob sie Terach drinnen versteckt hatte? Oder ging es um etwas anderes? Zerah stellte belustigt fest, daß sie ihre Neugier noch nicht ganz abgelegt hatte. Nun, die Kellertür war gut versteckt; sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, daß er die jungen Leute finden könnte. Und sie war ja gewiß kein dummes kleines Mädchen, das sich fürchtet, mit einem fremden Mann allein zu sein. »Tretet ein!« Seinen schnellen Augen entging nichts, und ihr ehrlicher Blick sagte, daß in ihm weder Verachtung noch Herablassung wohnte. Liern trat vor die Feuerstelle, sah zu Schwert und Dolch hoch, die darüber hingen, ließ ein verblüfftes kleines Lachen hören und streckte eine Hand nach dem Griff des Dolches aus. »Laßt das!« »Aber – ein Steindolch? Ihr kennt die alten Geschichten, in denen es heißt, steinerne Messer könnten töten, was von Metall nicht umzubringen ist?« »Ich kenne sie.« Blitzartig stieg ein Bild von Raned vor ihr auf, dem lachenden, goldenen Raned, der ihr mit einer halb scherzenden kleinen Verbeugung den Dolch reichte und sagte, jetzt sei sie gegen jedes Unheil gut bewaffnet. Gegen jedes Unheil bis auf das Leid. »Ihr wolltet mit mir sprechen. Sprecht!« »Ah. Ich weiß etwas über den Chenri-Clan, Lady, sein Geschick mit
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den Waffen, seine Ehre und daß seine Mitglieder sich nur von jemandem anheuern lassen, dessen Sache sie für gerecht halten.« »Das ist allgemein bekannt.« »Warum Ihr den Clan verlassen habt, geht mich nichts an. Aber ich weiß, daß es in Ehren geschehen ist. Andernfalls wäret Ihr nicht mehr am Leben.« Er hielt inne. Ihr ausdrucksloses kaltes Starren schuf ihm Unbehagen. »Es geht mich ebensowenig etwas an, warum Ihr dieses Exil gewählt habt. Aber…« »Was versucht Ihr zu sagen? Daß eine Chenri ein zu wertvolles Werkzeug ist, um es verrosten zu lassen? Daß ich mit Euch den Berg hinabziehen sollte, um wieder eine Kriegerin zu sein, diesmal für Euch und Euren Bruder?« Sie hielt inne, erschrocken über ihren eigenen Ausbruch. »Ich habe die Chenri verlassen«, erklärte Zerah, »weil ich des Todes müde geworden war.« Sie hätte schwören können, in den dunklen Augen Sympathie aufblitzen zu sehen. »Es gibt andere Dinge im Leben als den Krieg, Lady! Mein Bruder würde Euch in jeder Stellung, die Ihr wähltet, willkommen heißen. Als Lehrerin im bewaffneten Kampf vielleicht, im Bogenschießen, im Heilen – was auch immer. Ihr würdet niemandes Dienerin sein. Niemandes Werkzeug.« »Ihr geht großzügig mit dem Willkommen Eures Bruders um. Warum?« »Ich kenne ihn. Er empfindet hohe Wertschätzung für die Chenri, ebenso wie ich. Und… er haßt Verschwendung ebenso wie ich.« Liern trat einen Schritt näher, musterte sie. Es beunruhigte Zerah, daß sie sich der Wärme seines Körpers, des gesunden Männergeruchs so stark bewußt war – und des Mitleids. »Um wen Ihr auch trauert«, murmelte er, »er war Euer würdig. Aber, Lady, ich glaube nicht, daß es sein Wunsch gewesen wäre, Ihr solltet seinetwegen auf die Welt der Lebendigen verzichten.« »Geht!« »Wie Ihr wollt.« Liern hielt sich noch lange genug auf, um einen Ring von seiner Hand zu ziehen. »Er trägt mein Siegel. Behaltet ihn. Denkt darüber nach, was ich gesagt habe. Und solltet Ihr Euch jemals entscheiden, Euren Berg zu verlassen, werdet Ihr bei uns einen ehrenvollen Platz finden.« Er hielt ihr den Ring hin, aber Zerah hielt die Arme steif an den Seiten und machte keine Bewegung, ihn zu nehmen. Nach einer peinlichen Pause legte der Mann ihn statt dessen auf den Tisch. »Ich muß meine Suche fortsetzen, Lady, guten Tag.« Er verbeugte sich und ging. Zerah trat an die Tür, sah ihm nach, haßte ihn dafür, daß er die unter so viel Schmerzen errungene Ruhe gestört, daß er vergangenes Leid von neuem heraufbeschworen und daß er sie an die Welt erinnert hatte. Sie wartete, bis die erschrockenen Waldvögel sich alle wieder niedergelassen hatten und ihr so mitteilten, daß Liern und seine
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Männer endgültig fort waren. Dann riß sich Zerah grimmig zusammen und ging ins Haus, um Terach und Ailetha wieder ans Tageslicht zu holen. Mit der Genesung des Jungen ging es nicht recht vorwärts. Seine Wunde heilte anscheinend gut, aber das Fieber wollte nicht weichen. Er nahm nur Ailetha wahr und rief nach ihr. Zerah schüttelte den Kopf, dachte an das Schlachtfeldfieber und innere Infektionen. Wenn das noch lange so weiterging, würde sie die Wunde wieder öffnen und den Eiter abziehen müssen. Was das Mädchen anging… ständig kringelte sie sich um ihn wie eine Katze mit nur einem Jungen. Zerah sprach ihren Gedanken laut aus. »Du hilfst dem Jungen bestimmt nicht, wenn du ihn erstickst.« Das trug ihr einen Blick reinsten Abscheus ein. »Das versteht Ihr nicht! Ich liebe ihn, ich liebe ihn so! Wenn er stirbt, werde ich auch sterben!« »Wer hat etwas vom Sterben gesagt?« »Er darf nicht sterben! Ich lasse es nicht zu!« »Sei nicht dumm!« Das kam zu scharf heraus; Ailethas Besessenheit ging Zerah allmählich auf die Nerven. Ach, Raned, habe ich mich deinetwegen auch einmal so aufgeführt? Götter, bin ich jemals so… jung gewesen? seufzte Zerah. »Komm«, sagte sie, diesmal beinahe sanft. »Laß ihn in Ruhe. Schlafe. Es nützt ihm doch nichts, wenn du zusammenbrichst.« »Ich bin nicht müde.« Man konnte es ihr glauben. Irgendwie wirkte ihre helle Schönheit so frisch wie immer. Unzerknittert, Ungezeichnet. Und für einen Augenblick witzelte Zerah in Gedanken mißmutig mit sich selbst über Bluttrinker, für immer jung… Geschmacklos. Geschmacklos, wenn Terach trotz Ailethas Flehen an der Schwelle des Todes stand. Eifersüchtig! schalt Zerah sich. Du bist eifersüchtig auf sie! »Komm, Ailetha, es ist spät. Nun komm schon, Mädchen. Das hilft keinem von euch beiden. Laß Terach jetzt schlafen, und leg dich hin.« Als Ailetha kein Zeichen von sich gab, daß sie es auch nur gehört hatte, nahm Zerah das Mädchen bei den Schultern, ganz: sanft, aber Ailetha entzog sich schnell ihren Händen und fuhr sie wütend an: »Laßt mich in Ruhe! Laßt uns beide in Ruhe!« Zerah zuckte die Schultern. Sie öffnete die Tür der Hütte, stellte sich in den Eingang, blickte in den Wald, der hell war von kaltem Mondschein, und dachte an Raned, so weh es ihr tat. Doch dann riß sie plötzlich den Kopf hoch. In die Erinnerungen an Raned hatte sich… was gemischt? Was war ihr vorhin seltsam vorgekommen, als sie Ailethas Haut berührte? Was war an dieser sauberen, kühlen Schönheit, zu sauber, zu kühl… O nein, nein. »Lächerlich! Die Eifersucht vernebelt mir den Verstand!«
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Und doch, und doch… Leise kehrte Zerah in die Hütte zurück, unbemerkt von der Koseworte murmelnden Ailetha. Leise nahm sie den Dolch mitsamt der Scheide von der Wand. Sie zog die dünne, schöne Feuersteinklinge, die warm im Licht des Feuers schimmerte. »Ailetha.« Der blonde Kopf wandte sich ihr scharf zu. Und dann sprang Ailetha weg von Terach, weg von Zerah, die Augen vor Entsetzen aufgerissen. »Was macht Ihr da? Seid Ihr verrückt geworden? Nehmt dieses – dieses Ding von mir weg!« »O nein«, seufzte Zerah. »Durchaus nicht verrückt. Und auch nicht im Irrtum, oder?« »Was meint Ihr? Terach…« »Nein. Ich lasse dich nicht wieder in seine Nähe.« »Ihr seid tatsächlich verrückt! Verrückt!« Ailetha schoß auf den Jungen zu, aber Zerah war schneller. Die dünne Steinklinge schimmerte zwischen ihnen. Ailetha stieß einen scharfen, unartikulierten Schrei aus und wich zurück. »Irre! Vertrocknete, nutzlose alte Irre! Ich – ich werde dich töten!« »Kannst du nicht. Du hast deine ganze Kraft an Terach gebunden. Wenn du stirbst ist er frei. Aber wenn er durch etwas anderes als deinen Willen stirbt – stirbst du auch. Ha, deshalb jagte dir die Speerwunde ein solches Entsetzen ein! Habe ich recht? Du sahst deinen eigenen Tod darin.« »Nein! Du – nimm das weg!« Bevor Zerah sie fangen konnte, war sie draußen auf der kleinen Lichtung, keuchte in der kühlen Nachtluft. »Laß mich gehen. Ich habe nichts Böses getan.« »Mir nicht. Aber Terach…« »Ich habe ihn nicht verletzt!« »Du hast ihm Stückchen für Stückchen seinen Willen gestohlen, und dann sagst du, du habest ihn nicht verletzt? Du ernährst dich von seiner Essenz – kein Wunder, daß er sich von dem Fieber nicht erholt! Du hast ihm dazu keine Kraft übriggelassen!« »Das – das ist nicht wahr!« »Oh, Mädchen, du verletzt ihn nicht, du tötest ihn!« »Nein! Ich – ich liebe ihn!« »Wie das Raubtier seine Beute liebt.« »Nein!« »Was bist du, Ailetha? Nicht menschlich, soviel weiß ich.« »Was für ein lächerlicher…« »Aber eine gute Imitation. Du hast sogar mich getäuscht. Die Leute am Hof zu täuschen, muß leicht gewesen sein, weil da immer welche kommen und gehen. Wo Damen keinerlei Arbeit tun, bei denen ihnen der Schweiß
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ausbrechen könnte.« »Das ist doch sinnloses Gerede!« »Wirklich? Denke nach. Kein Schmutz, keine Andeutung von Schweiß, nicht einmal, nachdem du mir geholfen hattest, Terach den halben Berg hochzutragen. Anfangs kam ich nicht darauf. Aber eben, als ich versuchte, dich von dem Bett wegzuziehen, bin ich dir das erste Mal nahe gekommen. Ich habe einen sehr scharfen Geruchssinn. Und weißt du was? Du riechst nach gar nichts, Ailetha, nach absolut gar nichts. Du bist eine Serenin, nicht wahr?« »Nein!« »Du kennst das Wort? Seltsam. In dieser Gegend sind sie nicht häufig, die schlauen, hungrigen Dinger.« »Und – und wieso weißt du von ihnen?« »Ach, die Chenri sehen auf ihren Reisen alles mögliche.« Und da hatte es einmal einen gegeben, vor langer Zeit, als sie noch schmerzhaft jung gewesen war, einen mit dem Aussehen eines Menschen, glatt und schön und ganz geruchlos. Raned hatte ihn erschlagen, bevor er ihr wirklichen Schaden zugefügt hatte, vor ihren verwirrten Augen erschlagen. So hatten sie sich kennengelernt, und Raned war voller Zorn über eine Chenri gewesen, die sich von einem Essenz-Stehler hereinlegen ließ. »Komm schon. Habe ich recht?« Plötzlich sackte Ailetha zusammen. »Das verstehst du nicht«, murmelte sie. »Es war nie meine Absicht, ihn zu lieben. Aber Terach war so süß, so sauber. Er verlockte mich so sehr, daß ich mich sogar an seines Vaters Hof wagte. Ahh es war so einfach, mich als eine von ihnen unter die Leute zu mischen, unter all diesen ahnungslosen Seelen zu jagen, bis ich den einen fand, den ich haben mußte!« »Und du behextest den Jungen, damit er mit dir durchbrannte. Du wolltest ihn ganz für dich, nicht wahr? Deine süße Beute. Bis dieser Bauer und sein Speer dir den Spaß verdarben.« »Nein, du verstehst das falsch! Ich liebe ihn!« »Ich will dir etwas sagen, Serenin. Dies ist deine Chance, es zu beweisen. Du behauptest, Terach zu lieben? Dann bringe seinetwegen ein Opfer: Laß ihn gehen. Verlasse ihn.« Ailetha holte unter Schluchzen Atem. »Nein, o nein! Hast du nicht zugehört? Hast du nicht ein Wort verstanden? Terach gehört mir, mir! Ich liebe ihn, und ich werde niemals von ihm lassen, und wir werden auf immer und ewig glücklich sein…« »Bis du ihn tötest.« »Nein!« »Sieh den Tatsachen ins Gesicht, Serenin. Du saugst Terach aus, einfach indem du bei ihm bleibst. Du wirst ihn töten.«
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»Das werde ich nicht! Das werde ich nicht!« Die blauen Augen flehten. »Gib mir eine Chance! Bitte! Laß mich in Ruhe!« Wie leicht war es, nichts als ein verängstigtes junges Mädchen zu sehen! Wie leicht war es, die Wahrheit zu vergessen. Zerah seufzte. »Du weißt, das kann ich nicht tun«, sagte sie leise. »Gib dem Jungen sein Leben zurück. Verlasse ihn.« »Nein, ahh nein! Was stimmt nicht mit dir? Warum bist du so – so kalt? So herzlos? Du haßt schon den Gedanken an Liebe, nicht wahr? Ja, natürlich, das ist es! Du haßt schon den Gedanken an Liebe und an Liebende! Alles nur, weil dein eigener Mann tot ist!« Zerah erstarrte. »Woher… wie kannst du das wissen?« »Ich weiß es, es strahlt von dir aus! Darum haßt du mich, nicht wegen Terach. Terach bedeutet dir nichts! Du haßt mich, weil du – mich beneidest!« »Lächerlich!« »So ist es! Deine Liebe ist tot, und deshalb bist du fortgerannt, um dich hier oben zu verstecken! Aber mein Liebster lebt! Und du wirst ihn mir nicht wegnehmen!« Die blauen Augen fingen sie ein, hielten sie fest. Die blauen Augen waren plötzlich sehr groß, sehr kalt, sehr fremdartig. Dummkopf! schrie Zerah sich an, doch es war bereits zu spät. Sie sah nichts anderes mehr als diese Bläue, diese kalte, kalte Bläue und dahinter eine Spur der Leere… Aber jetzt… Raned, ahh Raned! Der Schrei war nicht weniger qualvoll, weil er stumm war. Denn da war er, vor ihrem geistigen Auge durch ihre Erinnerung oder einen Serenin-Trick ganz deutlich heraufbeschworen, so warm, so liebevoll, so lebendig, wie er es damals gewesen war. Raned, Raned, die langen goldenen Tage, wir beide zusammen, lachend durch Schlachten, unserer selbst sicher, unverwundbar, unbesiegbar. Bis zu dem plötzlichen Pfeil und dem Ende der Freude. Zerah zwang sich, sich auch daran zu erinnern, und kehrte mit einem schmerzhaften Ruck in die Wirklichkeit zurück. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, in die Vergangenheit zu wandern, und verdammt wollte sie sein, wenn sie es noch einmal zuließ, daß Ailetha ihre Erinnerungen gegen sie verwandte! Ich habe ihn in Wahrheit sterben gesehen. Wie kann mich etwas, das du heraufbeschwörst, schlimmer verletzen als das? Aber wieso konnte eine Serenin mit Emotionen spielen? Sie hatte wegen Terach geschluchzt und gefleht – konnte eine Serenin denn überhaupt etwas empfinden? Zerah erschauerte in plötzlichem Begreifen und widerwilligem Mitleid. Ailetha war eine Ausgestoßene. Als die einzige, die sich der Leere im Innern bewußt war, gab sie sich so schreckliche Mühe, die atmenden, fühlenden Menschen nachzuäffen! So schreckliche Mühe, daß
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sie glaubte, es sei Liebe. Götter, das war lächerlich! Ebensogut konnte sie Mitleid mit einer Schlange haben! Und doch… Die Trance hatte, so kurz sie gewesen war, der Serenin Zeit gegeben, sich ihr Schwert anzueignen! Ihren Chenri-Instinkten folgend, tat Zerah, als gebe sie sich immer noch ihren Erinnerungen hin. Sie hörte Ailetha nervös murmeln: »Jetzt habe ich sie. Ich – ich werde sie mit ihrer eigenen Klinge töten. Ich werde sie töten, und dann ist Terach… Aber – aber wenn sie recht hat? Wenn er stirbt, und ich mit ihm?« Die Serenin zitterte, verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, leckte sich die trockenen Lippen. »Nein, nein, ich weiß! Es gibt einen Weg! Ich selbst werde ihm das Leben nehmen! Ich werde ihn nicht töten, ich werde seine ganze Essenz auf einmal in mich einziehen! Ich werde mich um seine Seele wickeln und sie zum Teil von mir machen, Terach zu einem Teil von mir, der mich niemals mehr verlassen wird, mein Liebster auf immer und ewig!« Sie schwang das Schwert unbeholfen zurück. »Ja!« »Nein!« sagte Zerah grimmig und sprang sie an. Sie hörte Ailetha keuchen, als die Steinklinge sie traf. Sie hörte ihr eigenes Schwert fallen. Ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehend, sah Zerah die blauen Augen groß und leer werden. Dann ließ sie schnell den Griff des Dolches los, denn die Serenin sank langsam zu Boden. Rasch wich die Farbe aus Haar, Augen und Haut. In einem kalten, leblosen Weiß lag die schmächtige Gestalt unter dem Licht des Mondes. Der Scheiterhaufen hatte nach nichts anderem gerochen als nach Feuer und Holz. Und als sie die abkühlende Asche vorsichtig mit dem Fuß bewegte, war von Ailetha nichts übriggeblieben als das im Feuer brüchig gewordene Messer. Zerah empfand keinen Triumph bei dem Anblick, nichts als dieses traurige, unfreiwillige Mitleid. Aber als Zerah ging, nach Terach zu sehen, stellte sie fest, daß das Fieber endlich gewichen war und der Junge friedlich schlief, und zum ersten Mal in dieser Nacht lächelte sie. »Ihr seid sicher, daß Ihr nicht mitkommen wollt? Mein Vater würde sich dankbar erweisen, das wißt Ihr.« »Ach, du brauchst mich nicht, Junge. Du hast dich völlig erholt. Los, ab mit dir!« Aber Terach blieb stehen und blickte schüchtern zurück. »Ich dachte, sie… liebte mich.« »Das tat sie auch.« »Wir haben niemals… Ihr wißt schon. Aber ich mußte ihr folgen. Ich konnte nichts dagegen tun.« Er verstummte, biß sich auf die Lippe. »Als
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ich erwachte und feststellte, daß sie fort war, ich meine, aus meinen Gedanken fort war, da war auch diese erstickende Wärme verschwunden, und ich konnte wieder denken… Ich danke Euch. Danke.« Nach einem weiteren kurzen Zögern stieg der Junge den Bergpfad hinunter. Zerah hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah ihm nach. Dann schüttelte sie den Kopf und ging in die Hütte. Lange Zeit stand die Frau da und genoß die plötzliche Wiederkehr der Stille. Aber etwas glitzerte auf dem Tisch, zog ihren Blick auf sich… Lierns Ring lag noch da, wo er ihn hingelegt hatte. Zerah zischte ärgerlich, nahm den Ring und wollte ihn wegschleudern, um ihn ein für allemal los zu sein. Und doch… Ich glaube nicht, daß es sein Wunsch gewesen wäre, Ihr solltet seinetwegen auf die Welt der Lebendigen verzichten. Zerah dachte an Liern und Ereians Hof und das Leben und schloß nachdenklich die Finger um den Ring. »Vielleicht«, sagte sie laut und lächelte.
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Morning Glory Zell Ich habe es wohl schon erwähnt, daß die Geschichten für diese Anthologie dazu neigen, in Zyklen aufzutreten. Im ersten Jahr schrieben alle über Vergewaltigung und Rache, im zweiten Jahr entschieden sie sich aus irgendeinem Grund für die auserwählte Jungfrau. Dieses Jahr, das fünfte der Sword-and-Sorcery-Reihe, hat mir jeder (und seine Schwestern, seine Kusinen und seine Tanten) eine Drachengeschichte geschickt. Nun schicke ich sie für gewöhnlich zurück, sobald ich sie als solche identifiziert habe. Meiner Meinung nach hat Anne Mc Caffrey das Drachen-Thema mit einem Schleifenband darum gestaltet, und ich habe wirklich keine Lust, mit ihr zu konkurrieren. Aber ich habe dieses Jahr so viele gute Drachengeschichten erhalten, beginnend mit dieser hier. In einer Gruppe sagen sie vermutlich etwas über den Drachen in der Fantasy aus, das auf keine andere Weise gesagt werden kann. Deshalb präsentiere ich eine Gruppe von Drachengeschichten. Und dann wollen wir die Drachen ein paar Jahre ruhen lassen. – M.Z.B.
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Das goldene Ei Die Hexe war sehr zornig. Valla sah sie näher kommen, sich als Silhouette vor dem Eingang der kleinen Felsenhöhle abheben. Vallas Schwertband, purpurn von getrocknetem Drachenblut, schloß sich fester um den Griff ihres Rapiers, und sie beugte sich schützend über das Drachen-Ei, das sie gestohlen hatte. Jetzt konnte Valla die blitzenden grünen Augen der Hexe und das Pulsieren des violetten Zaubersteins sehen, der ihr am Hals hing. Trotz aller Schreckensgeschichten, die Valla über Hexen gehört hatte, dachte die rothaarige Schwertfrau bei sich, der Kopf dieser hier werde ebenso leicht von ihrem schönen weißen Hals springen wie der des Drachen, den sie eben erst mit einem einzigen sauberen Hieb ihrer Klinge getötet hatte. Doch sie würde sich schnell bewegen müssen, bevor sich die Augen der Hexe an das Dämmerlicht gewöhnten und Valla der Vorteil verlorenging. Valla sprang geräuschlos auf die Füße, schob sich um das große Drachen-Ei, hob ihr Rapier und sprang die Zauberin an, die immer noch am Eingang stand. Aber irgendwie war die Hexe nicht mehr dort. Vallas Klinge begann in ihrer Hand zu vibrieren, drehte und wendete sich und griff ihre Eigentümerin an. Während Valla mit der sich windenden Waffe kämpfte, schlossen sich lange, kalte Finger dicht am Nacken um ihre Schulter. Danach spürte sie nichts mehr. Das Nichts wurde endlich zu einem dunstigen violetten Pulsieren, das sich langsam klärte. Valla stellte fest, daß sie mit dem Rücken am Stamm einer riesigen Blau-Eiche lehnte. Sie wollte nach ihrer Klinge fassen, aber die Arme waren ihr an den Seiten festgebunden. Wenn sie den Kopf drehte, pulsierte die Welt immer noch, aber ihre Augen nahmen jetzt das Grün und Gold sonnenbeschienener Blätter wahr. Sie hörte, daß ein großer Körper sich bewegte, und sah einen großen weiblichen Drachen näher kommen. Wie die Hexe war diese Drachenfrau sehr zornig. Tellergroße, karmesinrote Schuppen hatten sich wie die Nackenhaare eines Hundes den ganzen Hals und Rücken hinunter hochgestellt. Ein schillernder Kehlfleck pochte wie eine durchtrennte Arterie, und die dünne Haut zwischen den Ohrstacheln zuckte. Die Drachenfrau peitschte mit dem stacheligen Schwanz und knirschte mit den schimmernden Zähnen. Sie senkte den Kopf (von Pferdegröße), öffnete die Kiefer und gab ein Geräusch von sich wie ein zischender Teekessel. Dann trat die Hexe neben die zornige Drachenfrau. »Tarragon und ich wissen, daß du wach bist, Wilddiebin, und wir wollen Informationen.« »Ich bin keine Wilddiebin!« antwortete Valla hitzig. »Mein Name ist Valla, und ich bin eine ehrenwerte Schwertfrau in der Leibgarde der Köni-
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gin von Lorth.« »Nun, Valla, oder wer immer du sein magst, ich weiß nicht, welche Bezeichnung Ihre Königliche Hoheit für Leute hat, die in ein Naturschutzgebiet eindringen, um das Mitglied einer gefährdeten Spezies zu töten und seine Jungen zu stehlen. Aber hier in Verdeveldt nennen wir solche Leute Wilddiebe.« Valla wurde so rot wie ihre Haarwurzeln. Sie war in ihrer Verzweiflung überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, sie könne etwas Illegales oder vielleicht Unmoralisches tun; sie versuchte nur, ihr eigenes Leben zu retten. »Ich… ich… habe das nicht so gesehen. Ich mußte ein Drachen-Ei haben.« Die Hexe schüttelte ihr langes Haar zurück – es hatte die Farbe von Pfeffer und Salz und legte eine Hand auf die Haut des zitternden Drachen. »Du und alle anderen, ihr »müßt einfach ein Drachen-Ei haben«. Was glaubst du, warum die Drachen beinahe ausgestorben sind? Was wird geschehen, wenn es gar keine mehr gibt? Es sind nur noch ein paar Dutzend auf der ganzen Welt übrig, alle in Naturschutzgebieten wie diesem hier, alle an einem Zuchtprogramm beteiligt. Der Orden von Artemet hat Dutzende loyaler Hüter eingesetzt und viele Jahre auf den Versuch verwendet, die letzten der mythologischen Wesen vor der völligen Ausrottung zu retten, und irgendein selbstsüchtiger, kurzsichtiger Schwachkopf hat immer einen »dringenden Bedarf« und eine gute Entschuldigung. Aber wir haben sie hier alle schon gehört, und ein Wilddieb ist ein Wilddieb. Wir haben unsere eigenen Strafen für solche wie dich.« Mittlerweile fühlte Valla sich beunruhigt und mehr als nur ein bißchen schuldig, doch ihre Stimme klang verdrossen, als sie sich verteidigte: »Was interessieren mich eure Regeln! Mach schon voran, keine Strafe kann schlimmer sein, als es mein Geschick bereits war. Ich habe mir von einem reisenden Harfner die Schwundkrankheit eingefangen, und der königliche Arzt sagte, das einzige Heilmittel sei ein Drachen-Ei. Ohne das bin ich sowieso tot.« Die Hexe runzelte die Stirn und blinzelte den Drachen an, der seinen massigen Kopf senkte, um die gefesselte Schwertfrau eingehend zu mustern. Die Augen des Drachen waren groß und golden mit sternförmigen Pupillen; es war, als schwimme in ihren Tiefen etwas wie Mitleid und Verständnis. »Nun sag deinem Haustier schon, daß es mich fressen soll! Aber wahrscheinlich wird es sich bei mir mit der Schwundkrankheit anstecken, und was willst du dann machen?« Valla bemühte sich, kriegerisch zu sprechen. Die Hexe unterdrückte ein Lächeln. »Tarragon ist durchaus kein Haustier! Sie ist meine Lehrerin – und es sieht aus, als könntest du ebenfalls ein paar Unterweisungen brauchen, Wilddiebin. Niemand, der auch nur
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halb bei Verstand ist, würde sein Leben aufgrund der Diagnose eines einzelnen Arztes riskieren, und sei der noch so berühmt. Außerdem werden Drachen niemals krank. Sie wären buchstäblich unsterblich, wenn die Menschen sie nicht bis an den Rand der Ausrottung jagen würden. Tarragon hier ist vierhundert Jahre alt und immer noch in der Blüte der Jugend. Absinthe, ihr Partner, den du ermordet hast, war über sechshundert Jahre alt und erinnerte sich an Wissen aus der Zeit, bevor der Große Kometenschwarm die Jahreszeiten veränderte.« Die Zauberin holte Atem. »Es tut mir Leid um dich. Selbsterhaltung ist die ultimate Motivation und kann sogar die anständigsten menschlichen Wesen zu Schurken machen. Doch geht es hier nicht um die Menschheit, ob anständig oder nicht, denn man kann sie nicht gerade eine gefährdete Spezies nennen, und es steht mehr auf dem Spiel als ein einzelnes Leben. Als vereidigte Hüterin des Verdeveldt-Naturschutzgebiets und Dienerin von Artemet, unserer Dame der Tiere, kenne ich meine Pflicht.« »Wenn du das Leben eines Tieres über das eines menschlichen Wesens stellst«, gab Valla ihrer Wut und ihrer Verachtung Worte, »dann mach voran, du scheinheiliges Hexenweib, und töte mich, damit wir es hinter uns bringen!« »Dich töten?« Die Augen der Hexe schimmerten in dem Grün von Schmetterlingsflügeln und schienen plötzlich ebenso groß wie die des Drachen zu sein. »Wir werden dich nicht töten; wir werden dich verändern.« Der amethystene Zauberstein glühte auf und begann, im gleichen Rhythmus wie Vallas Herz zu pulsieren. Sie fühlte sich von neuem in der violetten Leere versinken und kämpfte mit ganzer Willenskraft dagegen an. Zu ihrem Erstaunen und ihrer Verzweiflung nahmen ihre Bemühungen den Rhythmus auf und wurden zum Tanz. Sie hörte das Echo eines Gesangs: »Sie verändert alles, was sie berührt; alles, was sie berührt, verändert sich…« Valla war es, als werde sie in einen großen schwarzen Strudel mit Regenbogenschleiern, Sternen und Schneeflocken gezogen. Sie hatte das Gefühl, von innen nach außen umgestülpt, auf den Kopf gestellt und wieder ausgespieen zu werden. Der Schlund wirbelte um sie, lautlos schreiend, mit einer Bedeutung schwanger, die sich ihrem Begreifen gerade eben entzog. Sie meinte, ein Teil von ihr werde durch zertrümmerten Raum gespritzt, oder vielleicht war sie es, die zertrümmert wurde. Und dann verstummte das lautlose Gebrüll, und die kristallinen Scherben des Universums fielen zu seltsam glühenden Mustern zusammen. Valla versuchte, das alles zu verstehen, und gab auf. Sie lauschte dem Geräusch ihres Atems. Er klang ihr hart in den Ohren; sie zuckte mit ihnen, und die Häute raschelten. Sie erschauerte und fühlte das Rasseln von Schuppen. Ihre Sicht klärte sich, war nicht länger zertrümmert, und sie sah grünes Gras,
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bestirnt mit leuchtenden, purpur-weißen Blüten. Das Licht der Sonne selbst schien eine neue Dimension dazugewonnen zu haben. Die Luft war voller fremder Düfte, aber sie alle überlagerte der fade Geruch nach Blut. Das Blut sprenkelte ein Paar Arme mit glatten Muskeln und befleckte den uniformierten Körper einer Frau, die an einen alten Baum gebunden war. Das Blut war getrocknet und viel dunkler als der Schopf wirrer roter locken, die über das Gesicht der Schlafenden fielen… Es war ihr eigenes Gesicht! Valla entrang sich ein erstickter Schrei, der nach einem Nebelhorn klang. Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Ihre Hände hatten immer noch fünf Finger, doch da endete die Ähnlichkeit. Sie waren mit feinen kupferroten Schuppen bedeckt, und die Daumen waren von langen, krummen Klauen geschmückt. Kürzere Klauen zierten die nächsten beiden Finger, die zusätzliche Glieder besaßen, und die letzten beiden Finger verschwanden in scharlachroten Häuten. Als sie die Arme ausstreckte, entfalteten sich Flügel an ihren Seiten. Valla stöhnte, und ihre Stimme klang immer noch wie ein Nebelhorn. Sie sah, daß die Hexe zu ihr hochstarrte, und versuchte zu sprechen, sie anzuschreien: »Was hast du mir angetan?« Das einzige Resultat ihrer Bemühungen war ein blechernes Kreischen. Doch anscheinend verstand die Hexe ihre Frage trotzdem. »Ich fand, du solltest einmal für eine Weile sehen, wie es ist, ein Drache zu sein. Unsere Strafe für einen Wilddieb ist, daß er drei Mondzyklen im Körper eines der Wesen verbringen muß, die er zu töten pflegt, um die Lebenskraft des anderen zu erfahren und durch seine Augen zu sehen. Jede Spezies ist einzigartig und hat ihren unersetzlichen Beitrag zum Gewebe des Lebens zu leisten. Vielleicht bekommst du Gelegenheit, darüber von einem… äh, sagen wir, einem anderen Gesichtspunkt aus zu meditieren. Vallas Gedanken strahlten qualvolle Verwirrung aus: »Ich verstehe nicht.« Ihr Herz klopfte wie eine große Trommel. Die Zauberin schüttelte ihren nachtgekrönten Kopf. »Ich habe dich durch die Macht unserer Dame Artemet verändert. Alle Tiere sind ihre Kinder, sogar die Menschen, obwohl viele es vorziehen, diese Verwandtschaft zu vergessen. Was dich betrifft, so wird deine Seele für drei Monde im Körper der Drachenfrau Tarragon leben, deren Partner du getötet hast. Ist der Zyklus vollendet, mußt du zu diesem Baum zurückkehren und mir berichten, was du gelernt hast.« »Aber was wird aus meinem…. Körper?« Vallas Herz schlug so laut, daß sie die Antwort der Hexe kaum noch hörte, aber die Worte erklangen lautlos innerhalb ihres Kopfes: »Dein Körper enthält die schlafende Seele Tarragons. Im Tempel der Dame wird man für ihn und Tarragons Ei sorgen. Geh jetzt!« »Aber… aber ich weiß nicht, wie man ein Drache ist. Ich weiß nicht, wie Drachen fliegen, und nicht einmal, was sie essen!« erklärten Vallas
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furchtsame Gedanken. »Nun, vielleicht wirst du etwas über die Wesen lernen, an deren Ausrottung du gearbeitet hast, bevor es zu spät ist für sie… und für dich.« Eine Krähe flog herab und setzte sich auf die Schulter der Hexe. Andere Tiere traten aus dem Wald hervor. Die Zauberin hob den Körper der Schwertfrau auf den Rücken eines großen Hirsches. Valla wollte auf ihren Körper zugehen, aber die Krähe flog ihr krächzend entgegen, und andere Krähen kamen – Dutzende, Hunderte, die die Luft schwarz machten und mit Lärm erfüllten. Sie schossen auf ihren Kopf zu. Da wanderte die Drachenfrau davon, blind vor Tränen. Ein alter Weiser hat einmal bemerkt: »Die Zeit fliegt, wenn man nicht weiß, was man tut.« Die Drachenfrau, die einst Valla gewesen war, lehnte sich in den umspringenden Wind und zog ihre Schwingen zum Landen an. Sie brachte ihren schweren Körper so leicht hinunter wie ein Schmetterling. Der Wind trug ihr jetzt Botschaften zu, Geräusche aus Meilen in der Runde und Düfte von Tieren und Blumen. Aber das größte Wunder von allen war ihr gesteigertes Sehvermögen. Drachen sehen im ultravioletten und im infraroten Bereich. Das gibt allen Farben eine vibrierende glühende Tiefe, die fast wie Bewegung ist. »Sich daran zu gewöhnen war am schwersten«, dachte Valla, »aber es war auch die lohnendste Anstrengung… beinahe.« Sie hatte im Körper der Drachenfrau Tarragon gelebt, während der Mond zweimal zunahm und abnahm, und jetzt stand er im letzten zunehmenden Viertel vor dem Vollmond. Sie hatte ihre Strafe fast abgebüßt, und sie hatte so viel gelernt, daß es sie überwältigte. Zum Beispiel betrachtete sie ihre Umwandlung nicht mehr als schreckliche Katastrophe, als eine demütigende Rückführung von der überlegenen menschlichen Gestalt auf die eines dummen Tieres. Statt dessen erkannte sie jetzt durch direkten Vergleich, daß Drachen größere Gehirne als Gedächtnisspeicher besitzen und daß sie beinahe ewig leben. Sie verfügen über Sinne, die den Menschen fehlen. Sie fliegen mittels Levitation und sind fähig, die Gefühle anderer Wesen wahrzunehmen. Doch sind sie keine echten Telepathen und sprechen nicht von Geist zu Geist, einige bestimmte Fälle ausgenommen wie bei den Hexenpriesterinnen von Artemet. Ihre Stimmen sind wie Musikinstrumente, und ihre einzige Sprache besteht aus langen, komplizierten Gesängen, die über weite Entfernungen zu hören sind. Aber das kostbarste Wissen von allem war das Geheimnis um die Heilkräfte der Drachen. »Die Hexe wird feststellen, daß ich ein paar eigene Geheimnisse besitze, von denen sie nichts weiß.« Valla lachte vor sich hin, denn sie hatte der Zauberin längst verziehen, daß sie sie verwandelt hatte. Doch es war eine schmerzliche Lektion gewesen. Sie dachte an die Bruchlandungen und den
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Hunger, doch dann waren Tarragons Instinkte in Aktion getreten. Valla hatte einen unsicheren Frieden mit ihrem Drachen-Ich geschlossen, bis sie zu meditieren und die vorgezeichneten Instinktmuster zu absorbieren begann. Drachen sind tatsächlich die weisesten Geschöpfe auf der Welt. Das wußte sie jetzt, und jetzt verstand sie auch, warum sie erhalten werden müssen. »Und ich habe meine eigenen Drachen zu erhalten«, grinste Valla, rieb einen Augengrat mit der Daumenklaue und setzte sich auf dem Moosnest zurecht, das sie innerhalb eines Kreises von Steinblöcken gebaut hatte. Es waren drei Eier – jeden Monat hatte sie eins gelegt –, und die anfangs weichen Schalen hatten sich zu einem vielfach facettierten Goldhort gehärtet. Sie rückte sorgsam ihren Körper zurecht, bis das Stück nackter roter Haut, der Brutfleck, das mittlere Ei berührte. Glücklich summte und brummte sie in der Kehle. »Was wird die Hexe staunen!« Plötzlich fingen ihre ungeheuer empfindlichen Ohren ein Geräusch auf, das sie beinahe vergessen hatte: das Zischeln einer gezogenen Schwertklinge. Valla richtete sich auf; ihr Kopf schnellte herum. Sie sah die geduckte Gestalt eines Schwertkämpfers der auf sie zukroch. Vorsichtig erhob sie sich von dem Nest, schrie: »Nein!« mit Trompetenstimme. Zu ihrem äußersten Entsetzen kannte Valla den Mann. Es war Corvis, ihr alter Freund, ein Kamerad in der Leibgarde der Königin – und er war offensichtlich gekommen, um Drachen-Eier zu stehlen. Nur war sie jetzt der Drache, und die Eier gehörten ihr. Vallas Herz raste mit der Angst einer Drachenmutter, aber was menschlich an ihr war, schätzte den näher kommenden Mann ab. Sie mußte schnell denken: Wie konnte sie mit ihm kommunizieren? Als erstes mußte sie ihn von den Eiern weglocken. Sie sprang ihm in den Weg, und er trat einen Schritt zurück. Sie stöhnte und bückte sich, um mit der Klaue sein Namenszeichen in den Staub zu schreiben. Sein Schwert fuhr nieder. Sie riß die Hand zurück. Der abgetrennte Daumen blieb, sich windend, auf der Erde liegen. Dunkles Drachenblut sprudelte aus ihrer verwundeten Hand. Sie sprang dem Mann aus dem Weg und benutzte ihren starken Stachelschwanz, um ihn umzuwerfen. Mit einem Purzelbaum kam er wieder auf die Füße. »Dame der Tiere, beschütze mich«, dachte Valla, »Ver ist einfach zu schnell, und er wird nicht warten, bis ich ihm gezeigt habe, daß ich Vernunft besitze.« Sie flog von seinem erneuten Angriff weg, doch als sie landete, erkannte sie, daß er sich jetzt zwischen ihr und dem Nest befand. »Welchen Nutzen hat diese umfassende Drachenweisheit, die ich mir errungen habe, wenn ich mich nicht einmal vor diesem verdammten Eierdieb retten kann?« dachte Valla und suchte verzweifelt in ihrem Gedächtnis. Dann erinnerte sie sich an ein Märchen der Menschen und fügte es mit einem bißchen Drachenerfahrung zusammen. »Es könnte funktionieren« be-
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tete sie, »es muß funktionieren.« Damit stürmte sie auf ihn los, vermied die blitzende Klinge, donnerte gegen den Mann und drückte ihn mit ihrem Gewicht zu Boden. Er zog seine Klinge herum, doch da hob sie die verletzte Hand und schob ihm den blutenden Stumpf des abgetrennten Daumens in den Mund. Er würgte und schluckte im Reflex. Dann traten ihm die Augen aus den Höhlen. Schreck und Staunen standen in ihnen geschrieben. »Duu – ffft!« sagte er und ließ sein Schwert fallen. Valla nahm ihre Hand aus seinem Mund. »Du bist es«, wiederholte er, diesmal verständlicher. Valla dachte stumm. »Ja, Corvis, ich bin es wirklich – deine Freundin Valla. Eine Hexe hat mich in diese Drachengestalt verwandelt. Bitte, töte mich nicht!« »Wie kann ich sicher sein, daß du es bist und es sich nicht um einen weiteren Hexentrick handelt?« fragte er mißtrauisch, und Valla sandte ihm einen Gedanken zu, der sein abgebrühtes Gesicht erröten ließ. »Okay Mädchen, jetzt glaube ich dir. Aber warum hast du mir das nicht gleich gesagt, bevor ich dich verletzt habe?« Valla drückte auf die Arterie in ihrem Handgelenk, und das Blut floß in dem Daumenstumpf langsamer. Ihre lange, gelbe gegabelte Zunge schoß hervor und leckte die aussickernden Tropfen ab. »Ich habe versucht, es dir zu sagen, aber du konntest meine Sprache nicht verstehen, und dann fiel mir ein, daß der Genuß von Drachenblut die Gabe verleiht, die Sprache aller Tiere zu verstehen, auch die der Drachen selbst.« »Also deswegen hast du mir deinen blutigen Daumen in den Mund gesteckt.« Er nickte ihr zu. »Das war sehr klug gehandelt«, erklang eine Stimme hinter den Felsen, und die Hexe trat mit ihrem Krähengefolge hervor. Valla zulächelnd, fuhr sie fort: »Und was hast du sonst noch für kleine Tricks gelernt, während du in deinem ausgeliehenen Körper stecktest?« Die Drachenfrau zeigte ihr das Gelege, und die meergrünen Augen der Hexe wurden feucht. »Und das ist nicht einmal das wichtigste«, teilte Valla ihr mit. »Die Heilkraft der Drachen ist so stark, daß sie nicht nur in dem Embryo, sondern auch in den Eierschalen steckt. Wenn die kleinen Drachen ausschlüpfen, könnte man die zerbrochenen Schalen zu einem Pulver mahlen, das menschliche Krankheiten heilt. Die Menschen brauchten nie wieder einen Drachen zu töten.« Corvis unterbrach ihre Gedanken. »Aye ich war für die Königin persönlich auf der Suche nach einem Drachen-Ei, denn auch sie hat die Schwundkrankheit. Willst du ihr die Schalen nicht bringen und mit mir nach Lorth zurückkommen?« Valla zeigte ihr breites Drachenlächeln und antwortete zu seiner Überra-
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schung: »Nein, Corvis. Ich werde dir die Schalen schicken, wenn die Kleinen ausgeschlüpft sind; aber nachdem ich meinen Körper zurückerhalten habe, möchte ich hierbleiben.« Sie sah zu der Hexe hinüber. »Das heißt, falls ich mich darum bewerben darf, eine Hüterin von Verdeveldt zu werden.« Die Hexe legte die langfingrige Hand auf eine von Vallas scharlachroten Bauchschuppen. »Schwester«, sagte sie freundlich, »du kannst mich Andred nennen. Wenn du dich von der Umwandlung erholt hast, werden wir mit deiner Ausbildung beginnen. Aber den ersten Schritt auf dem Pfad der Weisheit hast du getan, als du erkanntest, daß du den Drachen nicht zu töten brauchst, um das goldene Ei zu erlangen.«
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Rick Cook Hin und wieder, wenn ich eine Geschichte ablehne, weil sie zu durchsichtig oder vielen anderen, die ich dieses Jahr gelesen habe, zu ähnlich ist, zitiere ich die alte Karikatur: Ein Schriftsteller sieht verzweiflungsvoll seine Schreibmaschine an, und ein Ablehnungsschreiben teilt ihm mit »Wir wünschen frische, originelle Geschichten, die sich streng an unsere Schemata halten.« Schemata? Ja, ich benutze Schemata, die schließlich seit vorgeschichtlichen Zeiten die Grundlage für eine gute Geschichte bilden. Der erste existierende Roman, die Odyssee, erzählt die Geschichte »eines sympathischen Helden, der trotz beinahe unüberwindlicher Hindernisse durch eigene Anstrengungen ein erstrebenswertes Ziel erreicht. Und falls jemand meint, es gebe nichts Neues mehr über das bekannte Thema zu sagen, daß ein Mädchen einem Drachen geopfert werden soll, fordere ich ihn auf, diese Geschichte hier zu lesen. – M.Z.B.
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Die revidierte Standard-Jungfrau Ich wachte frierend und nackt auf einer strohgefüllten Matratze auf. Draußen krähte ein Hahn und verkündete der Welt seine Lüsternheit. Es war zu dunkel, um etwas zu sehen. Deshalb fuhr ich mit den Händen über meinen Körper. Schlanke Hüften, knospende Brüste, hauptsächlich aus Brustwarzen bestehend, und ein leichter Haarflaum, der eben begann, sich zwischen meinen Beinen zu kräuseln. Ich hatte das Gefühl, ungefähr vierzehn zu sein. Die Mutter lasse sie verfaulen! Weiter zu wichtigeren Dingen. Ich bog versuchsweise den Arm ab und spürte Bizeps und Unterarm. Viel an Muskeln war nicht da, aber das, was da war, war fest und hart. Gut. Ich war weder ein halbverhungertes Waisenkind noch die verhätschelte Tochter eines Adligen – nicht etwa, daß letzteres sehr wahrscheinlich gewesen wäre. Ich schwang meine Füße über den Rand des Strohsacks und stand auf. Eine schnelle Erkundung zeigte, daß der Raum, in dem ich mich befand, etwa zwei Armspannen in jeder Richtung maß. Der Boden war aus Lehm, und die Wände bestanden aus entrindeten Baumstämmen. Ich begann mit meiner Gymnastik, sowohl um meine Kräfte zu erproben als auch, um warm zu werden. Während des Streckens und Keuchens wurde das verriegelte Fensterchen über dem Strohsackheller und heller, und die Dunkelheit verwandelte sich in das Grau vor Sonnenaufgang. Ich hörte ein Kratzen draußen, und die Tür öffnete sich. Ich sprang auf den Strohsack zurück. Ein magerer alter Mann mit langem weißem Haar und Bart erschien. Er trug die weiße Robe und den goldenen Halsring eines Priesters des All-Vaters. »Komm, mein Kind.« Er streckte mir die Hand entgegen. »Es ist Zeit.« Sanft führte er mich in den Nebenraum, wo drei Frauen warteten. Im Licht rauchender, stinkender Talglampen zogen sie mir ein neues Gewand aus weißem Leinen mit weißer Plattstickerei an. Dann verschwanden die Frauen, sich verbeugend, und der Priester führte mich in die kühle, frische Morgendämmerung hinaus. Alle warteten sie auf mich. Die Dorfbewohner drängten sich außerhalb des Kreises aus Fackellicht, die Krieger innerhalb des Kreises mit dem Gesicht nach außen. Dazu kamen die Priester und Akoluthen, der alte König, der diesen Misthaufen regierte, und neben ihm sein Sohn, blond, fleischig und auf leere Art hübsch. Mein Vater war da, durch Sondererlaubnis innerhalb des Fackelkreises. Sein gegürteter Kittel und seine groben Hosen waren frisch gewaschen und geflickt, und seine Augen waren rot vom Weinen. Er umarmte mich
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rauh und trat dann zurück. Erspare mir deine Tränen, du alter Schwindler, dachte ich. Du hattest nichts einzuwenden, wenn es die Tochter von jemand anders war. Aber trotzdem flog ihm mein Herz zu. »Komm, mein Kind«, sagte der alte Priester. »Sei tapfer.« Verdammter alter Schurke, dachte ich. Du weißt nicht einmal meinen Namen. Krieger faßten mich bei den Armen. Dann stellten wir uns hinter zwei Männern mit gewundenen Bronzehörnern, die sie um den Körper geschlungen trugen, zu einer Prozession auf. Ein Mann mit einer Trommel nahm den Platz hinter mir ein. Andere Krieger schlossen sich an, und der Priester und seine Akoluthen setzten sich an die Spitze vor die Hornisten. Der Priester winkte mit seinem Stab; die Soldaten machten uns einen Weg durch die Menge frei. Mit Täterä und Bumbumbum marschierten wir los. Als die großen hölzernen Torflügel in der Wand aus Baumstämmen aufschwangen, sah ich die Sonne blutrot über den Horizont lugen. Ich fragte mich, ob ich sie auch untergehen sehen würde. Nach dem Passieren des Tores folgten wir einem Fußweg, vorbei an betauten Feldern, die im ersten Morgenlicht glitzerten. Es ging auf eine dunkle Linie aus Bäumen zu. Der Pfad wand sich zu einem tief in den Fels eingeschnittenen Wasserlauf hinunter, auf dessen sandigem Grund die Prozession flußabwärts zog. Die Hörner bliesen, und der Trommler hinter mir schlug mit aller Kraft auf sein Instrument ein. Wir kamen an eine Stelle, wo es steil nach unten ging. In der Regenzeit mochte hier ein Wasserfall sein; jetzt war es nur eine Klippe. Stufen, abgenutzt von Zeit und Wasser, waren neben dem Fall in den Fels gehauen. Rauhe Hände führten mich die Treppe hinunter. Mutter, dachte ich, wie lange geht das schon so? Wie viele Mädchen haben diesen Weg genommen? Das Flußbett vertiefte und erweiterte sich zu einem kleinen, düsteren Cañon. Links und rechts standen Bäume, und zwischen ihnen rieselte ein seichter Bach. Die Krieger, die sich bemühten, ungezwungen zu wirken, lockerten die Schwerter in den Scheiden, oder sie warfen ihre Mäntel zurück, wobei sich das rote Futter zeigte, und machten ihre Arme frei. Die ganze Gesellschaft drängte sich enger zusammen, und zweimal wäre mir der Trommler beinahe auf den Saum meines Gewandes getreten. Schließlich kamen wir um eine Biegung und an eine Stelle, wo der Canon ein natürliches Amphitheater bildete. Eine große Sandbank füllte den größten Teil des Areals, und das Bächlein staute sich vor einer nackten Klippe aus rosenrotem Sandstein zu einem Teich. Die aufgehende Sonne verwandelte die Klippe in Flammen, und wie eine Schallmuschel warf sie metallische Echos der Trommel und der Hörner zurück. Am Fuß der anderen Wand, immer noch in tiefem Schatten, lag ein
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Durcheinander von Felsblöcken. Den größten in der Mitte hatte man mit Handschellen an Ketten versehen. Sie waren mit eisernen Krampen befestigt, die tief in den Stein getrieben waren. Scheiße. Manchmal bringt man das Opfer einfach zu der bestimmten Stelle und läßt es dort. Meistens wird es mit Stricken gefesselt. Es würde mich Zeit kosten, aus diesen Armbändern zu kommen. Dann sah ich mir die Sache genauer an: Die Handschellen waren nicht von dem Dorfschmied aus weichem Raseneisen angefertigt. Sie waren aus Stahl und hatten raffinierte Schlösser. Das war offensichtlich die Arbeit eines Spezialisten. Es gab keine Möglichkeit, mich von etwas Derartigem zu befreien. Okay, gehen wir zu Plan B über. Ich trat dem Soldaten, der meinen rechten Arm hielt, fest auf den Fuß. Er heulte auf bei dem unerwarteten Schmerz und lockerte den Griff. Ich riß meinen Arm los, drehte meinen Körper und stieß den Handballen gegen das Kinn des Mannes zu meiner linken. Er fiel um wie ein Sandsack, und ich schlüpfte an ihm vorbei aus der Reihe, wobei ich im Vorübergehen seinen Speer mitnahm. Die Prozession geriet in Verwirrung. Der Trommler stand mit offenem Mund da, die Stöcke in der Luft. Einer der Hornisten erstickte beinahe. Die Krieger rückten gegen mich vor und blieben stehen, als ich den Speer schwang. »Mein Kind…«, begann der alte Priester. Er versuchte, zu sprechen, war aber offensichtlich über die Unterbrechung ärgerlich. »Nicht dein Kind, du Sohn einer verseuchten Hure«, knurrte ich. Er kniff die Augen zusammen, behielt aber seine onkelhafte Art bei. »Komm, das entehrt dich in den Augen des All-Vaters. Es tut dir nicht gut.« »Es tut mir auch nicht gut, von einem Drachen gefressen zu werden!« fuhr ich ihn an. Aus dem Augenwinkel sah ich Männer zu beiden Seiten ausschwärmen. Bevor sie mich einkreisen konnten, stach ich mit einem schnellen Ausfall nach dem Priester, legte mein ganzes Gewicht hinein und brachte meine Schafthand nahe an die vordere Hand heran. Der Priester quiekte und sprang zurück. Ich drehte mich, wirbelte den Speer über meinem Kopf herum und trieb dem Mann zu meiner Rechten den Schaft in den Magen. Er ging kotzend zu Boden. Bevor die übrigen reagieren konnten, erschreckte ich die Menge mit einer Finte und nahm mir den Mann zu meiner Linken vor, der gerade den ersten Schritt in meine Richtung tat. Ein schneller Aufwärtshieb mit dem Schaft traf ihn im Schritt, wo sein geteiltes Ochsenhaut-Hemd keinen Schutz bot. Er fiel um. Ich stampfte auf seine Schwerthand und fühlte die Knochen brechen. Ich nahm sein Schwert und sprang rückwärts, um mehr Raum zwischen mich und die an-
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deren zu legen. Ein paar Männer sahen aus, als wollten sie stiftengehen. Der alte Priester schlug das Zeichen gegen den bösen Blick. »Besessenheit!« pustete er. »Sie ist besessen.« »Ich bin alles, was du möchtest«, keuchte ich. »Wollt ihr jetzt abhauen, oder soll ich eure elenden Körper als Drachenspeise aufschlitzen?« Der Priester öffnete den Mund. Von weiter flußabwärts war ein Klatschen zu hören, als springe ein großer Fisch in dem stillen morgendlichen Wasser. »Packt sie! Schnell!« brüllte der Priester. Drei Männer rückten näher, um seinem Befehl zu gehorchen. Von hinten aus der Menge kamen zwei Speere geflogen, mit dem Schaft voraus, um mich zu betäuben. Ich wich dem einen aus, wehrte den zweiten mit meinem Speer ab und blockierte einen Hieb des vordersten Kriegers mit dem Schwert. »Beeilt euch!« Der Priester tanzte vor Ungeduld. Ich schlüpfte zur Seite, als die Männer kamen. Der nächste schlug nach mir, und dann schrie er auf und ließ sein Schwert fallen, weil ich pariert und ihm mit einer Konterparade den Arm aufgeschlitzt hatte. Ich duckte mich unter der Klinge seines Gefährten weg und schlug ihn mit dem Speerschaft nieder. Für einen Augenblick stand ich dem dritten Mann gegenüber. Dann riß er die Augen auf, und sein Gesicht wurde blaß. »DER DRACHE!« rief jemand, und die Gesellschaft löste sich zu einem verwirrten Mob auf. Vor Angst schreiend, floh alles zurück nach oben. Die Verwundeten hinkten hinterher, und bis sie um die Kurve waren, hatte der alte Priester schon beinahe wieder die Spitze der Prozession gewonnen. Die weiße Robe flatterte ihm bei jedem Schritt um die spindeligen Beine. Ich lachte laut. Dann drehte ich mich nach dem Geräusch um, mit dem etwas flußaufwärts geplatscht kam, und das Lachen erstarb. Es gibt so 'ne und solche Drachen. Der hier war ein Drache. Bis zum Kamm war er doppelt so groß wie ich, und er war leicht viermal so lang. Er war nicht der größte Drache, von dem ich je gehört hatte, aber der größte, den ich je gesehen hatte. Er war nicht alt, und schwach schon gar nicht. Das ölige Schillern der schwarzen Schuppen und der federnde Gang über den Sand verrieten mir, daß er in der Blütezeit seines Lebens stand. Wenn er es erleben sollte, alt zu werden, würde er ein Weltrekord-Drache sein. Im Augenblick war er ein Weltrekord-Problem. Der Trick bei diesem Spiel ist die Überraschung. Entweder greift man den Drachen aus dem Hinterhalt an, oder man spielt die verängstigte Jungfrau, bis man nahe genug heran ist, um zuzuschlagen. Aber für beides war
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es zu spät. Jetzt mußte ich mich mit einem Drachen in einen Nahkampf einlassen. Mir war während der Ausbildung eingehämmert worden, das um jeden Preis zu vermeiden. Das Tier blieb stehen und legte den Kopf schief. Es wirkte beinahe menschlich in seiner Verwirrung. Die Bartfäden um seine großen Kiefer zitterten, als er die Luft prüfte, und seine Augen verengten sich zu bösen gelben Schlitzen. Dann knirschte er zum Ufer. Ich wich zurück, um Raum zum Manövrieren zu gewinnen, und der Drache folgte ein bißchen schneller, ein bißchen zuversichtlicher. Keine Zeit mehr, zwischen die Felsblöcke zu gelangen. Ich stemmte den Speer auf die Erde, den Schaft dicht an meinem Fuß, und richtete die Spitze auf die Kehle des Drachen. Das Schwert hielt ich mit der Spitze nach oben auf dem Rücken. Dann schrie ich in gespieltem Entsetzen – naja, jedenfalls in zur Hälfte gespieltem Entsetzen. Im Gegensatz zu ihrem Ruf sind Drachen nicht besonders helle. Zum größten Teil sind sie Gewohnheitstiere. Die Trommel und die Hörner hatten ihn gerufen, und der Schrei einer Jungfrau bedeutete, daß das Essen serviert war. Mit offenem Maul stürmte der Drache heran. Ich zielte mit der Speerspitze in sein Maul, aber er schlug sie beiseite. Da zog ich Arme und Beine an und rollte mich so dicht unter dem Hieb seines großen Klauenfußes weg, daß ich den Luftzug spürte. Das Zuschnappen der Drachenkiefer hallte von dem Felsen wie eine Explosion wider. Gerade richtete ich mich auf ein Knie hoch, als der Drache zu mir herumfuhr und dabei eine Menge Sand hochwarf. Wieder wollte er sich auf mich stürzen, und wieder blickte ich in diesen roten Schlund, besetzt mit Reihen elfenbeinweißer Zähne. Ich duckte mich und stieß zu, als der Drache vorüberkam. Der Speer kratzte über die Schuppen des Drachen und rutschte ab. Den Zähnen und den Klauen entging ich, aber nicht seiner anderen Waffe. Das Tier schlug mit seinem großen Schwanz zu, und ich flog durch die Luft. Der weiche Sand und mein Training darin, mich wie eine Kugel abzurollen, retteten mich, aber ich lag betäubt auf der Erde und spuckte Sand, und das Ungeheuer rückte schon wieder an. Ich sah alles verwischt und doppelt, aber ich sah, daß der massige Körper das Tageslicht blockierte, daß eine gewaltige Tatze in die Höhe stieg, die Klauen spreizte und niederfuhr, um mich zu zermalmen. Mehr aus Instinkt als einem Plan folgend stieß ich das Schwert nach oben. Die Spitze traf auf die sich wie eine Ramme senkende Tatze, und mein Arm wurde in den Sand geschmettert. Die Wucht des großen Beins trieb die Spitze durch den Fuß des Drachen. Vor Wut und Schmerz brül-
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lend, zuckte das Tier zurück, wobei es mich mit einer Klaue zur Seite warf. Es wälzte sich immer wieder herum, wand sich und schnappte nach dem verletzten Glied. Der Cañon hallte von seinen Schreien wider. Ich rollte mich in die andere Richtung, schüttelte den Kopf, um ihn zu klären, und hob den Speer auf. Vorsichtig begab ich mich auf die blinde Seite des Drachen. Er widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem Versuch, sich das Schwert aus der Tatze zu beißen wie eine Katze, die sich einen Dorn eingetreten hat. Er lag auf dem Bauch, den Kopf auf die verletzte Tatze gebeugt, so daß die Nackenschuppen auseinanderklafften. Ich schlich mich auf Zehenspitzen näher, bis ich beinahe längsseits war, und stieß den Speer mit aller Kraft in den Spalt zwischen die Schuppen und in den Hals. Heißes, stinkendes Blut spritzte über mich. Das Gebrüll des Drachen wurde zu einem hohen, trillernden Schrei. Schnappend und um sich schlagend drehte er sich mir zu, erwischte meinen Speer und brach ihn entzwei. Ich sprang zurück, fiel auf den Hintern und rollte und rollte, während der fürchterliche Lärm in meinem Kopf widerhallte. Schließlich stieß ich gegen einen Felsblock am Rand des Cañons, blieb bewegungslos liegen und sah dem Drachen zu. Er kam nicht wieder auf die Füße, aber er brauchte lange Zeit zum Sterben. Als es endlich wieder still war, ruhte ich mich am Rand des Teiches aus, versuchte, wieder zu Atem zu kommen, und sah mir meine Wunden an. Kratzer und blaue Flecken, aber abgesehen von der Rißwunde an der Seite nichts Ernsthaftes. Ich zog das zerrissene und blutbefleckte Kleid aus und wusch die Wunde im Bach. Das Wasser war so eiskalt, daß ich zusammenzuckte. Dann benutzte ich die Speerspitze dazu, den Saum abzutrennen, verband die Wunde damit und zog an, was von dem Kleidungsstück übrig war. Es war immer noch früher Morgen. Die Sonne schien knapp halbwegs über den Sand, der Kadaver des Drachen lag teilweise im Schatten. Zu Hause im Tempel würden meine Schwestern einem sehr verängstigten Beinahe-Opfer erklären, wieso sie sich im Körper der leitenden KampfInstruktorin aus der Elite-Garde der Mutter befand statt im Magen eines Drachen. Wenn sie Glück hatten, gelang es ihnen, ihr auch noch ein paar andere Dinge zu erklären und vielleicht ihre Denkprozesse in Gang zu setzen, bevor wir in unsere angestammten Körper zurückkehrten. Irgendwann im Lauf des morgigen Tages würde die Stimme der Mutter das Dorf erreichen und erklären, was geschehen war und wem sie für ihre Befreiung zu danken hatten. Ich würde bis dahin fort sein; der Übertragungszauber wirkt nur von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. »Du siehst grauenhaft aus«, sagte ich zu meinem Spiegelbild. Aber in-
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nerlich war ich voller Freude, daß ich meine Aufgabe so gut erfüllt hatte – und schwindelig vor Erleichterung, daß ich noch am Leben war. Wie oft war ich schon als jungfräuliches Opfer zu einem dieser unheiligen Altäre geführt worden? Sechsmal? Siebenmal? Nach dem heutigen Erlebnis mußte meine Glückssträhne bald zu Ende sein. Nun, meine Nachfolgerin entwickelte sich sehr gut. Sie würde soweit sein, wenn die Zeit gekommen war. Inzwischen machten wir überall in den Acht Königreichen Schluß mit der Ermordung von Jungfrauen. Es sprach sich allmählich herum, daß Drachen von den Händen ihrer »Opfer« gestorben waren, und so kam es jedes Jahr zu weniger Greueln. Diese Misthaufen-Adligen würden lernen, daß sie, wenn sie Monster bestechen wollten, es mit Kühen oder Schafen tun mußten, nicht mit kleinen Mädchen. Ich seufzte und hob den Speerschaft auf. Ihn als Stock benutzend, kletterte ich den Canon hoch. Ich brauchte mich nur noch im Dorf zu zeigen und zu berichten, daß der Drache tot war. Dann war meine Arbeit getan. Der Prinz wartete am Kopf der Steintreppe auf mich. Er hatte sich hastig zum Kampf angekleidet, ohne Kappe unter dem Helm und den Schild über den Arm gehängt. »Der Drache?« fragte er mit aufgerissenen Augen. »Tot, Euer Hoheit.« »Man sagt, ein Dämon…« »Kein Dämon. Nur die Gnade der Mutter.« »Ah«, stöhnte er. Dann lächelte er. »Du hast deinem König einen großen Dienst erwiesen, und zweifellos steht dir eine hübsche Belohnung zu.« »Nicht mir, Euer Hoheit«, antwortete ich mit Kleinmädchenstimme. »O doch.« Er kam näher. »Mein Vater wird erfreut sein.« Er lächelte breiter. »Ebenso wie ich erfreut bin. Ich sagte meinem Vater heute morgen, es sei zu schade, daß ein so hübsches Mädchen wie du für einen Drachen verschwendet werden solle.« Besitzergreifend legte er mir den Schildarm um die Taille und zog mich an sich. Seine rechte Hand fuhr über meinen Körper, streichelte mein Kinn und meinen Hals, umfaßte meine Brust, zog die Linie meines Bauches nach und endete, indem sie sich gegen meine Lenden drückte. Innerlich seufzte ich. Nun, war es nicht wirklich ein zäher Drache gewesen, hatte ich es mir nicht verdient, mich ein bißchen zu amüsieren? Man besteht doch schließlich nicht vollständig aus Pflichterfüllung. Also lächelte ich schüchtern, errötete bescheiden und spreizte meine Schenkel ein bißchen unter dem Druck seiner sich vortastenden Hand. Dann brach ich ihm den verdammten Arm.
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Cynthia Drolet Auch diesmal versuche ich, die Anthologie mit etwas Lustigem zu beenden – »Lasse das Publikum immer lachend zurück« –, und den Menschen muß ich erst noch kennenlernen, der diese Geschichte liest und nicht herzlich darüber lachen kann. Wenigstens ist sie einmal etwas anderes; ich habe noch nie eine Drachentotschlagegeschichte gelesen, in der behauptet wird, ein Drache habe etwas mit der Spinne gemeinsam, die man die Schwarze Witwe nennt. – M.Z.B.
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Drachenliebe Das wegmüde Pony stand geduldig am Tor und schlug sich mit dem Schweif über die staubigen Flanken. Ein Berg-Pony, dachte der Baron angewidert, nicht einmal ein richtiges Pferd. Ein Sherka – wie seine Eigentümerin Nur ungern wandte der Baron seine Aufmerksamkeit wieder der Mesha zu, die ruhig vor ihm stand. Ihr Mantel und ihre Hose waren wie ihr Pony staubig von der Reise, aber sie saßen ausgezeichnet und waren in gutem Zustand. Ihre Stiefel würden, war einmal der Lehm von ihnen abgekratzt, fast neu sein. Ihr weizenblondes Haar war vernünftig in zwei Zöpfe geflochten, damit es ihr beim Reiten nicht ins Gesicht flog. Also eine Dame aus dem geringeren Adel, vermutete der Baron. Was es schwieriger für ihn machte, sie einfach wegzuschicken. Sie war klein, und unter der grobgewebten Jacke zeichneten sich nur andeutungsweise die Rundungen einer Frau ab. Aber immer wieder wanderten die Augen des Barons zu einem Punkt oberhalb ihrer Schulter, denn über den Rücken geschlungen trug sie ein Kurzschwert mit breiter Klinge. Es war nicht länger als der Arm des Barons, sah aber immer noch zu groß für die kleinen Hände der Mesha aus. »Ihr seid also gekommen«, der Baron gab sich keine Mähe, die Verachtung in seiner Stimme zu verbergen, »um mit Diadom, dem Seelenfresser, zu kämpfen.« Den Ton des Barons ignorierend antwortete die Mesha: »Wenn Ihr immer noch eintausend in Gold für den Kopf des Drachen bietet, dann ja, darum bin ich hier.« Der Baron höhnte: »Und auf welche Weise wollt Ihr ihm den Kopf nehmen? Mit Eurem Mäusestecher da?« Er wies beleidigend auf ihr Schwert. »Ich wußte nicht, daß es darauf ankommt, wie der Drache erschlagen wird.« Die gleichmütige Stimme der Mesha verriet nichts. »Dann zieht Ihr eine bestimmte Methode vor, Exzellenz?« »Mesha« erklärte der Baron langsam, von ihrer Haltung verärgert, »habt Ihr jemals einen Drachen gesehen? Habt Ihr eine Vorstellung von der Größe eines Drachen? Diadom ist dafür bekannt, daß er Mastochsen von der Weide wegträgt. Mit nicht mehr als einem Sherka als Reittier und einem Schnitzmesser als Waffe werdet Ihr niemals auf ein Dutzend Schritte an das Tier herankommen! Falls Ihr Selbstmord begehen wollt, Mädchen, tut das anderswo. Ich will Euer Blut nicht auf meinem Land haben!« Er bezwang den Impuls, das Mädchen zu schlagen, ihr ein bißchen Vernunft einzubleuen. Statt dessen machte er scharf auf dem Absatz kehrt. »Exzellenz.« Ihre ruhige Stimme zwang ihn, stehenzubleiben. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, verfinsterten sich seine Augen. »Welcher
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Weg führt zu Diadoms Höhle?« Der Baron hatte solche Mühe, seinen Zorn zu beherrschen, daß seine Stimme bebte. »Ich finde, eine kluge Drachentöterin wie Ihr sollte imstande sein, ihre Beute selbst aufzuspüren. Oder nicht?« Er lachte grausam. Doch das Lachen erstarb ihm in der Kehle. Das Gesicht der Mesha verschwamm. Ihr Körper verschwamm. Der Boden und die Luft um sie verschwammen. Vor den Augen des Barons erschienen Schwanz und Klauen und hefteten sich an die Gestalt, die jetzt keine zarte Frau mehr war, sondern ein ansehnlicher und sogar fürchteinflößender Drache. »Gestaltwandlerin!« Das Wort kam wie ein Hauch über die Lippen des Barons. Die Drachen-Mesha gewöhnte sich mit ein paar kläffenden lauten an ihre Stimme und ließ dann ein Gebrüll los. Von den grünen Hügeln im Norden kam ein antwortender Schrei. Die Drachen-Mesha stampfte in dieser Richtung davon. Das kleine Bergpony sah ihr eine Weile nach. Dann ließ es den Kopf hängen und machte sich auf eine weitere lange Nacht ohne Gefährten gefaßt. Der kleine Spinnenmann balancierte vorsichtig über die Fäden des fremden Netzes. Schritt für Schritt von einem Instinkt vorangetrieben, gegen den er machtlos war, drang er bis zum Mittelpunkt vor, wo das glatte schwarze Weibchen ihn erwartete. Das Männchen zögerte, aber die Spinne fiel schnell über ihn her. Sie umschlang ihn mit ihren Beinen, zwang ihn, sich mit ihr zu paaren, bewegte sich an seinem Körper mit einer grimmigen und unverkennbaren Freude. Dann, noch bevor der Akt beendet war, klammerten sich die Beine der Spinne fester um den kleinen Körper zwischen ihnen, der heftig zappelte und bald darauf still wurde. Seelenruhig begann sie, an seinem Kopf zu knabbern. Der Baron erwachte schweißgebadet. Aus der Ferne klang das Röhren und Stöhnen und Quietschen von Drachen herüber, und die fremdartigen und unheimlichen Laute in Verbindung mit seinem abstoßenden Traum ließen ihn erbeben. Gegen Tagesanbruch hörte er ein lautes und zorniges Brüllen, das abrupt verstummte, als die ersten Sonnenstrahlen die grünenden Hügel berührten. Das Traumbild der letzten Nacht von einem Spinnenweibchen, in dessen Maul der beinahe abgetrennte Kopf des Männchens steckte, schoß dem Baron durch den Sinn.
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Später fand der Baron die Mesha in seinem Hof stehen. Auf dem Boden neben ihr lag Diadoms großer blutiger Kopf. Dankbar drückte der Baron einen Beutel mit Goldstücken in die kleine Hand. »Meine Dame, vergebt mir, was ich gestern gesprochen habe. Ich habe die ganze Nacht die Schreie des Drachen gehört. Es muß… furchtbar gewesen sein!« »Nein, Exzellenz.« Ein zufriedenes Lächeln umspielte die Lippen der Mesha. »Ich glaube, Ihr habt das völlig mißverstanden. Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite gewesen. Wirklich. Ich habe in der Tat eine höchst befriedigende Nacht verbracht.« Ihr Blick wanderte kurz in die Ferne. »Aye, eine höchst befriedigende Nacht. Und im Vertrauen«, sie beugte sich vor und dämpfte die Stimme zum Flüstern, »es braucht eine Menge, um mich zu befriedigen.« Grinsend bestieg sie ihr Sherka. »Oh, in einem Punkt hattet Ihr recht, Exzellenz«, rief sie über die Schulter zurück. »Ich wußte wirklich nicht, wie groß ein Drache sein kann.« Mit den Knien trieb sie ihr Pony an. »Aber jetzt weiß ich es. Ah, ihr süßen und gesegneten Göttinnen, und ob ich es weiß!« Die Zufriedenheit in ihrem Lächeln verstärkte sich, und so ritt die Mesha hinein in den Morgen.
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