Zaduks Schädel
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 105 von Jason Dark, erschienen am 12.12.1989, Titelbild: Eggleton
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Zaduks Schädel
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 105 von Jason Dark, erschienen am 12.12.1989, Titelbild: Eggleton
Die Babylonier hatten ihn angebetet, die Israeliten hatten ihn verflucht, die Kreuzfahrer wollten ihn zerstören. Aber er lebte. Er war da und tötete. In Rom, Paris und London fand er seine Opfer. Er erwürgte und vergiftete Menschen. Suko und ich mußten die Fälle aufklären. Es wurde eine Reise durch die halbe Welt. Als wir den Schädel schließlich fanden, war es zu spät... Da hatte er uns bereits als Opfer vorgesehen...
Nur Auserwählte durften den mächtigen Tempel auf der Kuppe des Hügels betreten, und Asianis zählte zu dieser Kaste. Er war ein Priester, ein Geweihter, ein den Göttern und Dämonen höriger Mensch, der besonders Baal, den Größten aller, anbetete. Menschen zollten ihm Respekt, suchten seinen Rat, seine Hilfe und brachten ihm Geschenke mit, um die Götter und den Himmel gnädig zu stimmen. Geschenke allein reichten nicht aus. Auch er mußte etwas tun, um mit den Dämonen Kontakt zu bekommen. Er brachte ihnen ebenfalls etwas mit, aber das nannte er Opfer. In dieser dunklen, schwül heißen Sommernacht hatte sich Asianis schon sehr früh auf den Weg gemacht. Von der Wüste wehte es feinsten Sand herüber. Irgendwo dort war es zu einem gewaltigen Sandsturm gekommen. Asianis gelangte in das Gebiet der Felsen, wo die Steine die Hitze des Tages gespeichert hatten und damit begannen, sie wieder zurückzugeben. Er schwitzte. Der Inhalt seines über den Rücken gelegten Jutesacks drückte stark. Das Volk der Babylonier mochte dieses Wetter nicht, man legte sich an derartigen Abenden und Nächten früh zur Ruhe, und den Weg zum Tempel schlug man sowieso nicht ohne Grund ein. Des öfteren blieb der Babylonier stehen, um sich über seine Stirn zu wischen. Es war zu warm, der laue Wind, Hitze, der Schweiß, der Staub. Vor das Erreichen des Ziels hatten die Götter den Schweiß gesetzt, das bekam Asianis deutlich zu spüren. Vergebens suchte er den Mond und die Sterne. Sie waren hinter langen, dunklen Wolkenbändern verschwunden, als sie sich schämten, hervorzukriechen. Er wischte einmal über sein scharfäugiges Geiergesicht und blickte den Weg hoch, der dort endete, wo die Kuppe sich rundete und der Tempel auf den breiten Säulen stand. Ein Bauwerk, an dem sehr lange gearbeitet worden war. Viele Sklaven hatten es in mühevoller Arbeit errichtet und letztendlich zu dem gemacht, was es nun war. Bet- und Opferstätte, wo die alten Blutrituale nicht in Vergessenheit geraten waren. Auch Asianis kannte sie. Einige von ihnen hatte er vom Text her erweitert und neue Beschwörungsformeln gefunden. Dabei galt es, nur einen Götzen zufriedenzustellen. Einen, der noch älter war als das alte Babylon, der die große Katastrophe überlebt hatte und auf den Namen Zaduk hörte. Dieser Name wurde nur flüsternd ausgesprochen und nie, ohne daß Menschen eine Gänsehaut bekommen hätten. Zaduk war etwas
Besonderes. Zaduk verhieß Tod, Grauen und furchtbare Qualen, falls er nicht durch Opfer besänftigt wurde. Asianis ging den schweren Weg. Hin und wieder hob er den Kopf, um zum Tempel zu schauen. Trotz der Dunkelheit malte sich das wuchtige Gebäude scharf konturiert vor dem tiefblau wirkenden Nachthimmel ab. Unhörbare Gesänge schienen um seine Mauern zu wehen. Manchmal zeigte sich die Luft wie aufgeladen. Da tanzten Lunken über das geschwungene Dach des Tempels, und aus dem dunklen Himmel schienen schmale Blitze wie lange Pfeile zu schießen. Es war ein ungewöhnliches Wetterleuchten bei dieser Trockenheit, aber die Wüste brachte oft Dinge mit, die kaum erklärbar waren. Dieses Land steckte eben voller Geheimnisse, von denen nur die wenigsten Menschen wußten. Wer den Hügel betrat, nahm einen bestimmten Weg. Ein schmaler Pfad schlängelte sich in die Höhe. Er endete erst dort, wo sich das Portal des Tempels öffnete wie ein großes Maul. Es dauerte sehr lange, fast bis zur Tageswende, dann hatte es Asianis geschafft. Auch er war geschafft. Obwohl er von manchen Menschen als Wissender, fast als Gott verehrt wurde, zeigte auch er körperliche Erschöpfung. Er stand zwar auf dem Fleck, aber schwankte von einer Seite zur anderen und sah aus, als würde ihn der nächste Windstoß einfach von den Beinen werfen. Der Staub duchtanzte auch hier die Luft, prallte gegen sein Gesicht, drang überall ein. Er schmeckte ihn auf der Zunge und im Rachen, sogar die Nase füllte er aus. Der Sack auf seinem Rücken war noch schwerer geworden, als hätte man ihn mit den Steinen gefüllt, die zu beiden Seiten des Pfads lagen wie auf dem Boden festgebacken. Die Nacht war still und trotzdem voller Geräusche, die der Wind von irgendwoherbrachte. Asianis stand da, atmete keuchend und starrte auf den Eingang des Tempels, wo die beiden breiten Türhälften ein finsteres Gesicht zeigten, das den Götzen Baal darstellen sollte. Ein widerliches Gesicht, eine Fratze mit hoher Stirn und Hörnern! Das war Baal, ihm gehörte der Tempel, und er gewährte Zaduk nur das Gastrecht. Den Sack hatte der Priester von der Schulter gleiten lassen und auf den Boden gestellt. Er wartete noch einige Minuten, bis er auf das Portal zuging und den Sack hinter sich herschleifte, hinweg über Steine und Kanten, durch Rinnen, die mit Staub gefüllt waren, der nun in die Höhe wirbelte. Außer ihm befand sich niemand in der Nähe dieses mächtigen Bauwerks, an dem Asianis seine Blicke hochgleitcn ließ. Der Tempel war etwas Wunderbares, ein regelrechtes Kunstwerk. Die Menschen, die ihn geschaffen hatten, konnten stolz auf ihn sein.
Dennoch strahlten seine Mauern etwas Unheimliches und Gefährliches ab. So als wäre sein Innenleben auch nach außen gedrungen, um einen Schirm des Grauens um die Mauern zu legen. Der Babylonier öffnete die Tür. Asianis wußte, wo er seine Hand hinzulegen hatte, um Bewegung in das gewaltige Tor zu bekommen. Er brauchte nicht einmal stark zu drücken, die Berührung allein reichte fast aus, damit die rechte Hälfte nach innen schwang und die eingravierte Fratze Baals in der Mitte teilte. Außer einem leisen Kratzen gab die Tür keinen Laut von sich, als sie in die Finsternis hineinschwang. Nein, es war nicht nur dunkel zwischen den mächtigen Innenmauern, etwas Helligkeit gab es schon. Kein normales Licht, sondern ein unheimliches, eigentlich glanzloses Leuchten in der Mitte der weiten Tempelhalle. Auf den kalt wirkenden, blauen Fliesen befand sich der eigentliche Mittelpunkt, der Schädel! Er war gewaltig . .. Um ihn rankten sich Sagen und Legenden, denn es war nur wenigen vergönnt, den Schädel zu sehen. Die einen behaupteten steif und fest, daß Zaduk ein turmhohes Gebilde wäre. Die anderen wiederum sprachen von einem Götzen, der nicht größer als ein Mensch war und wiegelten nur ab. Keine der Gruppen hatte recht. Man hätte sich etwa in der Mitte einigen können. Er bestand aus einem mächtigen Umfang. Bleiches Gebein, etwas leuchtend, dazu mit gewaltigen Löchern versehen, die einmal Augen gewesen waren. Auch der Mund bildete nur mehr ein riesiges Loch, aber aus ihm wuchsen noch zwei lange, spitze, degenartige Zähne hervor, die sich sehr deutlich von den anderen abhoben. Zaduk konnte einmal ein Vampir gewesen sein . .. In der großen Tempelhalle selbst war es finster. Woher das Licht kam, wußte selbst der einsame Besucher nicht zu sagen. Jedenfalls stand der Schädel nicht in völliger Finsternis, sein bleiches Gebein leuchtete, als würden sich in seinem Innern kleine Lichtquellen befinden. So weit wie möglich stand das Maul offen, das Kinn schloß dabei mit dem blauen Steinboden ab. In dieser Halle regierte das Grauen. Unsichtbar lag es zwischen den Wänden. Es war nicht zu erklären, nicht zu fassen, es war einfach vorhanden. Wie ein kaller Hauch strahlte es ab, hätte Schauder verursacht, aber Asianis empfand keine Furcht. Höchstens ein geringes Zittern und so etwas wie Unterwürfigkeit. Er wußte genau, wie Zaduk gnädig zu stimmen war. Nicht grundlos hatte er den weiten Weg auf sich genommen.
Als er näher kam und die Konturen des mächtigen Totenkopfs noch deutlicher für ihn erkennbar wurden, entdeckte er auch den rötlichen Schimmer, der sich wie ein dünner Film nicht nur auf der Stirn verteilte, sondern auch die knöchernen Wangen mit einschloß, wo sich regelrechte Mulden gebildet hatten. Und auch innerhalb des Mauls war der rötliche Schimmer zu erkennen. Asianis behielt die Demutshaltung bei, als er sich dem Totenkopf näherte. Den Jutesack, er war gut verschnürt worden, schleifte er hinter sich her und blieb erst stehen, als ihn und der Schädel etwa zwei Körperlängen trennten. Das war genau die Entfernung, die der benötigte. Er beugte sich nieder. Dreimal erwies er Zaduk seine Referenz. Dabei glaubte er fest daran, daß der unheimliche Geist des Schädels dies genau bemerkte und ihm wohlgesonnen war. Nach diesem Ritual richtete er sich wieder auf, breitete seine Arme aus und begann zu singen. Es waren kaum Worte zu verstehen. Nur ein hohler Singsang, mal hoch, mal tief, verteilte sich zwischen die nackten Mauern und Säulen, wurde gebrochen und kehrte als schaurig klingendes Echo wieder an die Ohren des Singenden zurück. Es gehörte dazu. Die alte Melodie sollte den Schädel auf das einstimmen, was bald folgen würde. Mit einem letzten, langgezogenen Klagelaut verstummte der Gesang des Priesters. Er selbst beugte wieder seinen Oberkörper vor und sah so aus, als wollte er in die gewaltige Maulöffnung hineinkriechen, um sie zu erforschen. Nach einer Weile richtete er sich auf, jetzt sicher, daß Zaduk sein Opfer nicht abweisen würde. Er drehte sich um und öffnete die Hanfverschnürung des Jutesacks, der die Opfergabe bisher verborgen gehalten hatte. Er zerrte die Ränder dem Boden entgegen, und schon bald konnte er die dunkle Haarflut der Frau sehen, die bisher durch den Sack verborgen geblieben war. Sie war Zaduks Opfer — noch jung, noch Jungfrau. Sie sah aus wie tot, das jedoch war sie nicht, denn aus ihrem Mund strömte noch leichter Atem. Nur war sie an den Händen gefesselt worden, nicht an den Füßen, aber die konnte sie auch nicht bewegen, denn das Gift, das ihr eingeflößt worden war, hatte sie für eine lange Zeit bewußtlos werden lassen. Asianis stülpte den Sack an den beiden Seiten so weit nach unten, daß er den Körper der Frau ohne Schwierigkeiten von den letzten Hindernissen befreien konnte. Sie war auf den Rücken gefallen. Ihr Haar breitete sich fächerartig unter dem Kopf aus. Schwarz wie das Gefieder eines Raben war es. Auch ihre Haut zeigte einen dunklen Ton. Sie stammten aus dem Süden, wo viele Sklaven herkamen. Sie alle waren hochgewachsen und sehr kräftig,
jedenfalls die Männer, die zu den niedrigsten Arbeiten herangezogen wurden. Die Frauen halten im 1 laus, sie waren auch bekannt für ihre Liebesdienste, denn sie gehörten zu den sehr hübschen Mädchen, an denen kein >Herr< vorbeigehen konnte. Asianis wußte nicht einmal, wie das Opfer hieß. Er hatte es einem Herrn abgekauft, mehr war für ihn nicht wichtig. Er bückte sich, um die noch junge Frau anzuheben, die genau in diesem Augenblick, als sie die Berührung spürte, die Augen aufschlug. Beide starrten sich an. Im Gesicht des Babyloniers zeigte sich keine Regung. Finster starrte er in die schreckgeweiteten Augen, hörte das Flüstern und schüttelte den Kopf, bevor er das Opfer endgültig in die Flöhe riß Lind es so drehte, daß es den mächtigen Schädel anschauen konnte. Asianis stand hinter der Frau und hielt sie fest. Zunächst sagte sie nichts. Sie reagierte überhaupt nicht, sah nur den mächtigen Schädel, das Leuchten auf seiner knochenbleichen Fratze und den roten Schimmer auf der Stirn, als wäre dort eine sehr dünne Blutschicht verteilt worden. Sie wußte genau, was ihr bevorstand. Allmählich kam das Begreifen. Hatte sie sich zunächst auf den Beinen gehalten und so gut wie keine Furcht gezeigt, änderte sich dies schlagartig. Durch ihren Körper rann ein Zittern. Sie gab Laute von sich, die an ein ersticktes Stöhnen erinnerten, und schüttelte einige Male den Kopf, als könnte sie das Furchtbare einfach nicht begreifen. Asianis wiederum reagierte nicht. Er blieb gelassen. Er wollte sie diese Angst auskosten lassen und hielt sie nur fest, mehr tat er nicht. Sie zitterte, sie bebte, er hörte sie schluchzen und wußte, daß Tränen an ihren Wangen herabliefen. Die Angst vor dem nahen Ende schüttelte sie durch, und sie hörte die flüsternde Stimme des mächtigen Priesters dicht an ihrem rechten Ohr. »Zaduk liebt Frauen wie dich. Er mag sie, wenn sie noch Jungfrau sind. Es sollte dir zur Ehre gereichen, daß du es bist, für die er sich entscheiden wird. Hast du gehört?« Die Sklavin stammelte etwas, das auch der Mann nicht verstand. Es waren irgendwie sinnlose Worte, unterbrochen von keuchenden Geräuschen und langem Atemholen, das sich anhörte, als wollte sie noch einmal alle ihre Not ausschluchzen. Ihre Beine gaben nach, sie warf den Kopf zurück, ein langer Wehlaut der Klage drang aus ihrem Mund. Asianis' Keuchen füllte ihr Ohr aus. »Stell dich nicht so an, Sklavin. Sei dankbar, daß du Zaduk geopfert werden darfst!« Er schob sie vor.
Sein harter Griff lockerte sich nicht. Und als er einen Schritt auf den Schädel zugegangen war, da wußte er plötzlich, daß Zaduk das Opfer annehmen würde. Hinter dem offenen Mauleingang bewegte sich etwas. Wie eine Qualle schien es aus der Tiefe des Gaumens steigen zu wollen, verließ die rote Masse und peitschte vor. Es war eine Zunge! Keine normale, obwohl sie einen dichten, dunkelroten Farbton zeigte. Sie roch nach Moder und Blut, war im hinteren Teil breiter als vorn, wo sie zu einer Spitze zusammenlief. In ihrer Mitte befand sich eine rinnenähnliche Vertiefung. Sie sah aus wie eine Trennlinie für die beiden Zungenhälften. Asianis gab einen zufriedenen Laut ab, während die Sklavin vor Angst fast verging und mit gestammelten Worten alle Schutzgeister anrief, die sie kannte. Der Priester beobachtete die Zunge. Sie schien sich auf die neue Nahrung zu freuen, denn sie bewegte sich von einer Seite zur anderen und schlug dabei aus wie ein Pendel. Manchmal schnellte sie auch vor und huschte über die untere Zahnreihe hinweg. Dann glitt sie wieder zurück, um Sekunden später den nächsten Versuch zu unternehmen. Die Zunge war da, sie suchte, sie tastete, und Asianis schob das Mädchen vor. »Dort hinein!« flüsterte er. »Dort wirst du hineingestoßen, um ihn, den großen Zaduk gnädig zu stimmen. In Baals Namen, du mußt sterben, Sklavin!« Er stieß sie vor. Sie konnte sich nicht wehren, die Hände waren gebunden, aber auch die Zunge schnellte plötzlich aus dem Maul, als besäße sie die Länge einer Riesenschlange. Sie peitschte über den Kopf des Mädchens hinweg auf den wesentlich größeren Priester zu. Der wußte plötzlich, daß er sich diesmal in Zaduk geirrt hatte, daß dieser Dämon unberechenbar war. Das Wissen kam zu spät. Zuerst spürte er den harten Schlag am Hals, dann drehte sich die lange Zunge um seine dünne Haut und zog sie noch stärker zusammen. Er bekam keine Luft mehr, seine Hände rutschten vom Körper der Sklavin ab, die Augen traten ihm aus den Höhlen, und er spürte gleichzeitig den Ruck, als die Zunge ihre Kraft bewies und dafür sorgte, daß er den Boden unter den Füßen verlor. Auf einmal schwebte er, und die verfluchte Zunge zerrte ihn einfach weiter. Er röchelte, er gurgelte, er konnte trotzdem überhaupt nichts mehr tun. Sein Kampf war schon verloren, bevor er überhaupt begonnen hatte. So mußte die Sklavin zusehen, wie die Zunge den Priester zur Seite und an
ihr vorbeizerrte, noch einmal drehte, damit sie das Opfer in ihr offenes Maul ziehen konnte. Sie ließ sich Zeit. Das Mädchen konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und sank zusammen. Aus ihrer knienden Haltung beobachtete sie den fürchterlichen Vorgang. Asianis versuchte sich zu wehren. Seine Schläge waren zu matt, um etwas erreichen zu können. An einem der spitzen Zähne riß er sich die Haut auf. Die Wunde war ein blutender Streifen auf seinem Handrücken, wo das Blut hervorquoll und vor dem offenen Maul zu Boden tropfte. Noch ein Ruck, und der Priester befand sich inmitten des Mauls. Der Schlund schluckte ihn wie ein Tunnel. Zaduks Killerzunge hatte sich aufgerollt, und dann klappte der Oberkiefer langsam zu. Schreien konnte Asianis nicht, weil die Zunge ihm die Luft abschnürte. Was später zwischen den malmenden Geräuschen zu hören war, glich einem Todesrö-cheln. Dann wurde es still — totenstill... Die Sklavin kniete noch immer in sich zusammengesunken vor dem mächtigen Totenschädel. Ihr Denken war ausgeschaltet. Irgendwann jedoch begriff sie, was geschehen war, daß Zaduk sie gerettet und verschont hatte. Zuerst wollte sie es nicht glauben, doch als sie den Kopf hob, da sah sie das geschlossene, lippenlose Maul. Aus einer kleinen Lücke zwischen den Knochen rannen dünne, rote Streifen hervor. Das Blut des Priesters . .. Dieser Anblick versetzte ihr einen Schock. Sie warf sich zurück, fiel auf den Rücken, rollte sich zur Seite und schaffte es schließlich, mit einem gewaltigen Satz auf die Füße zu kommen. Ein panikhafter Ausdruck entstellte ihr Gesicht, als sie anfing zu rennen. Das mächtige Portal hatte sich nicht geschlossen. So konnte die Sklavin ins Freie rennen. Sie würde nicht mehr zurück in die Stadt laufen. Sie wollte weg, nur weg von diesem Ort des Schreckens. Noch einmal schrak sie zusammen, als sich das Tor des Tempels schloß. Dann lief sie, was ihre Beine hergaben. Zaduk aber hatte wieder einmal bewiesen, wie unberechenbar er war. Denn er gehörte zu den eigentlich Mächtigen, die es schafften, alle anderen zu überleben. Zeit spielte für ihn keine Rolle... *** Es war die Zeit, als der König David das Reich der Israeliten zur großen Blüte gebracht hatte und die Berichte über gewonnene Schlachten von einem Lagerfeuer zum anderen getragen wurden.
Es war auch die Zeit, wo der König sich um andere Frauen kümmerte und ziemlich unleidlich war. Und es war die Zeit, wo man ihm die Nachricht überbrachte, daß man einen gewaltigen Schädel unter dem Wüstensand vergraben gefunden hatte. »Welch ein Schädel, Hauptmann?« Der Offizier wußte es nicht. »Wir haben noch keine Weisen zu Rate gezogen, König.« »Dann tut es.« Der Hauptmann strich über seine Augenbrauen. »Er ist sehr groß, dieser Schädel.« »Ja?« »Groß wie ein Haus fast.« In den Augen des Königs blitzte Unglauben. »Nein, du erzählst mir etwas, Hauptmann.« »Nein, König, gehe hin und schaue ihn dir an. Ich und meine Soldaten möchten dich darum bitten. Sie haben Angst bekommen, denn in seiner Nähe fanden sie bleiches Gebein.« David atmete tief durch. Er drehte sich um und schaute durch die Zeltöffnung gegen die allmählich untergehende Sonne, die den Himmel wie einen roten Ball ausfüllte. Er dachte lange nach, schließlich nickte er und drehte sich wieder um. »Laß mein Pferd satteln, Hauptmann, wir werden gemeinsam zu dieser Stätte reiten.« »Danke, Herr, danke.« Der Offizier verbeugte sich und verließ das Zelt des Königs. Es gefiel David nicht, sich mit diesen Dingen beschäftigen zu müssen. Sie befanden sich im Krieg, die Philister waren ein unangenehmer Gegner, aber er wollte die Berichte auch nicht einfach zur Seite schieben, denn er hatte schon einiges gehört. Es gab da ein Tal, in dem vor langer Zeit die Babylo-nier einen Tempel gebaut hatten. Nach einer großen Katastrophe war der Tempel unter dem Wüstensand verschwunden, doch die Gerüchte über einen mächtigen Götzen, der zwischen den Mauern gehaust hatte, hielten sich weiter. Denen wollte der König auf den Grund gehen. Er wußte, daß Gerüchte Unruhe in der Truppe verbreiten konnten. Er aber brauchte Soldaten, die kämpften. Das Heer der Philister war ebenfalls gut ausgebildet, deshalb wollte er jegliche Ablenkung im Keim ersticken. Zudem bewegten sie sich in einem Gebiet, das ihnen unbekannt war und sie noch nicht ganz erobert hatten. Der Hauptmann kehrte zurück. »Die Pferde sind gesattelt, o König!« meldete er. David nickte. Er schnallte sein Gurtgehänge um und steckte die blanke Schwertklinke in die Scheide. »Wie viele Männer werden uns begleiten?«
»Ich habe an eine Patrouille gedacht. Außer uns werden es zwölf tapfere Soldaten sein.« Der König nickte, bevor er das Zelt verließ. »Das wird reichen.« Draußen war es heiß, Staub lag fahnengleich in der Luft. Der Boden war von zahlreichen Hufen zerwühlt worden. Die Staubballen sahen aus, als wollten sie der knalligen Sonne entgegentreiben, um sie vollends verstecken zu können. Aus dem Süden wehte ein warmer Wind. Es gab kein Wasser in der Nähe. Soldaten hatten weiter entfernt ein Loch gefunden und Esel mit dem kostbaren Naß beladen. Die Tiere transportierten es ins Lager. Der Hauptmann persönlich hielt das Pferd des Königs, als dieser sich in den Sattel schwang. David setzte sich an die Spitze der kleinen Schar, gab das Zeichen zum Kitt und sprengte als erster, eingehüllt in eine Staubwolke, los. Sie ritten nach Osten, hatten die Sonne im Rücken. Vor ihnen lag die weite, flache, schüsselartige Mulde, gefüllt mit Sand und Steinen. Eine wilde, verlassene, menschenfeindliche Gegend, die nach jedem Sturm ihr Gesicht änderte. Dünen wanderten oder veränderten zumindest ihr Aussehen. Manchmal glänzten die Steine wie geschliffen. Wind und Wetter hatten dafür gesorgt. Die Soldaten trieben ihre Pferde an. Noch vor Einbruch der Nacht wollten sie ihr Ziel erreicht haben. Dumpf trommelten die Hufe auf den Boden. Die Reiter hatten Tücher vor ihre Gesichter gebunden, um sich gegen den Staub zu schützen. Der Hauptmann hielt sich an der Seite seines Königs. Als er den rechten Arm hob, die Gangart des Pferdes veränderte, so daß sein schweißbedecktes Tier allmählich auslaufen konnte, parierten auch die anderen ihre treuen Begleiter. »Hier muß es sein!« erklärte der Hauptmann und deutete nach vorn. Der König sagte nichts. Er ließ seinen Blick über das unwirtliche Gelände schweifen, schüttelte den Kopf und sagte: »Ich sehe nichts. Hauptmann. Hast du dich geirrt?« »Nein.« »Dann laß uns noch reiten, aber im Schritt!« Es tat den Pferden gut, nicht mehr angetrieben zu werden. Und so ritten die Soldaten mit ihrem König an der Spitze noch tiefer in das heiße, menschenfeindliche Gebiet hinein, wo die aufgeheizten Steine Backöfen glichen und an manchen Stellen, die von Sonnenstrahlen getroffen wurden, bunt schimmerten. Es war der König, dessen scharfer Blick als erster einen Teil des Grauens erfaßte. Er wußte, daß Wächter zurückgeblieben waren. Auch
jetzt konnte er sie sehen, aber sie lagen auf dem Rücken, halb begraben unter dem feinen Sand. Sofort stieg der Heerführer aus dem Sattel. Er beugte sich zu ihnen und entdeckte das Schreckliche. Wer immer sie getötet hatte, er war so grausam gewesen, daß man es mit Worten kaum beschreiben konnte. Aschfahl wie der Staub drehte sich der König um und starrte seinem Hauptmann ins Gesicht. »Kann ich von dir verlangen, daß du mir etwas erklärst?« »Nein, Herr, das kann ich nicht.« David schritt die Front seiner Soldaten ab. »Das Grauen ist über unsere Freunde gekommen«, sprach er. »Wir werden uns aufteilen und es suchen. Wir müssen die anderen finden.« Niemand widersprach, und so machten sie sich mit starren Gesichtern an die schlimmste Arbeit. Sie fanden die beiden anderen Leichen an den Felsen. Es war ebenso schlimm wie der erste Fund, denn die Soldaten waren kaum zu erkennen. Das Blut bildete auf dem Gestein eine Kruste, die von zahlreichen Insekten umflattert wurde. Die Toten wurden in Decken gehüllt und auf einen Pferderücken geladen. Mit steinernem Gesichtsausdruck durchschritt der König das Gelände. Niemand wagte jetzt, ihn anzusprechen, jeder konnte sich vorstellen, was hinter seiner Stirn tobte. David gehörte zu den Siegern und zu den Menschen, die sich so etwas nicht gefallen ließen. Schließlich blieb er stehen. Dann drehte er sich langsam um, damit er seine Soldaten anschauen konnte. »Ich will den haben, der meine Soldaten tötete. Nein, abschlachtete. Wir werden ihn suchen, wir werden ihn.. .« Es war der Hauptmann, der ihn unterbrach. In der Wüste kam die Nacht fast übergangslos. So war es auch hier. Genau zwischen dem dunklen und dem hellen Streifen, also an der Grenze zwischen Tag und Nacht, schwebte der unheimliche Schädel in der Luft. Ein monströses Gebilde, grausam und schrecklich anzusehen, mit weit geöffnetem Maul, leeren Augenhöhlen und einer Zunge, die wie eine rote Riesenschlange aus dem Maul hervorschlug und mit der Spitze ihre Kreise drehte. König David zog sein Schwert. Er tat es mit einer wilden, wütenden Bewegung, und er schrie dabei, um seiner Wut, seinem Haß und seinem hilflosen Zorn Luft zu verschaffen. »Das ist der Mörder!« brüllte er schließlich. »Das ist die Vergeltung des Herrn! Womit haben wir das verdient? Weshalb strafst du dein auserwähltes Volk mit diesem Grauen?« Der König und die wie erstarrt dastehenden Soldaten bekamen keine Antwort. Weiterhin schwebte der riesige Totenschädel an der Grenze
zwischen Hell und Dunkel. Dabei wurde er immer mehr von den langen Schatten berührt, so daß es aussah, als würde er sich allmählich auflösen. »Ich verfluche dich, du finsterer Götze!« schrie David in die Leere und Weite des menschenfeindlichen Landes hinein. »Ich verfluche dich jetzt und für alle Zeiten!« Seine letzten Worte waren kaum verklungen, da verschwand auch der Schädel. Die Nacht hatte ihn aufgesaugt. Der König aber fiel auf die Knie und betete. Seine Soldaten taten es ihm nach. Wie lange sie unbeweglich im Sand gekniet hatten, wußten sie nicht zu sagen. Als sich David wieder bewegte und aufstand, war es bereits empfindlich kalt geworden, und auf die Haut der Männer hatte sich ein Schauer gelegt. Lr drehte sich um und stieg auf sein Pferd. Wesentlich langsamer ritten sie wieder zurück zum Lager, wo die anderen Soldaten ihren Gesichtern ansahen, daß sie etwas Grauenvolles hinter sich hatten. Die Toten wurden bestattet. Flüsternd hatte sich herumgesprochen, was geschehen war, und man redete auch über den Fluch des Königs David. Würde er noch etwas ändern? Keiner glaubte daran, keiner sprach es aus. In dieser Nacht lag der König auf seinem Lager, fand keinen Schlaf und haderte mit dem Schicksal. Seit Beginn des Feldzugs war er sich noch nicht so allein vorgekommen. Irgendwann fielen ihm die Augen zu. In seinen wilden Träumen aber verfolgte ihn ein riesiger, bleicher Totenschädel, der sein Maul weit aufgerissen hatte, um all das zu verschlingen, was sich in seiner Nähe befand. Menschen, Tiere — einfach alles. Dieser Totenschädel war unersättlich... *** Jerusalem! Jahrhunderte später. Das Christentum hatte Einzug gehalten und sich ausgebreitet. Es war wie eine Woge über Europa geschwemmt, doch an seiner eigentlichen Wiege hatte sich eine andere Glaubensrichtung manifestiert. Der Islam! Die Ungläubigen, wie sie genannt wurden. Von Reisenden hörten die Ritter, die Bischöfe, Kardinäle und Könige schlimme Nachrichten, die sich um die Stadt rankten und vor allen Dingen um das Heilige Grab, das in die Hände der Ungläubigen gefallen war.
Die Christenheit schloß sich zusammen. Um Grenzen und Machtinteressen hinweg schloß man einen gewaltigen Pakt und schmiedete ebenso große Pläne, die zu einem Begriff des Mittelalters werden sollten. Zum Kreuzzug! Heere schlossen sich zusammen, zogen in Richtung Süden, dem Heiligen Land entgegen. Sie selbst wurden auf der langen Reise von anderen Völkern angegriffen, die ebenfalls raubten und plünderten, verloren viele Soldaten in den Schlachten, aber schafften es schließlich doch, in die Heilige Stadt Jerusalem zu gelangen. Dort tobte der Kampf. Die Moslems wurden zurückgeschlagen, Jerusalem ertrank in einem Meer von Blut. Die Christen gebärdeten sich manchmal wie die Tiere, von ihrem wahren Glauben und der Lehre eines Jesus Christus weit entfernt. Ihnen kam auch das Gerücht zu Ohren, daß sich am Rande der Stadt, in einer Arena Menschen zurückgezogen hatten, die einen bestimmten Götzen anbeteten. Weder Allah noch Mohammed wurde von ihnen verehrt, sondern ein gewaltiger Totenschädel, der nur zu bestimmten Zeiten dort erscheinen sollte und stets aus dem Nichts auftauchte. Immer wenn die Nacht besonders dunkel war, schlichen die Anhänger der Götzensekte in die Arena, um auf den 'Totenkopf zu warten. So war es auch in dieser Nacht, als sie sich aus den Hütten lösten und ihre Gesichter verhüllten, um nicht so schnell erkannt zu werden. Erst als die Stadtmauern hinter ihnen lagen und der Brandgeruch nicht mehr in ihre Nasen drang, zogen sie die Tücher von den Gesichtern weg und versammelten sich vor dem Tor, das von einem halbnackten Nubier bewacht wurde. Erst als keiner mehr fehlte, löste der Muskelprotz den schweren Holzriegel und ließ die Männer eintreten, die sich im großen Kund verloren vorkamen und die Plätze auf den treppenartig verlaufenen Steinstufen einnahmen. Einige von ihnen entzündeten ein gewaltiges Feuer, dessen glutrote Flammen in den nachtdunklen Himmel stießen, als wollten sie sämtliche Finsternis fortreißen. Die Männer blieben auf den Rängen, rückten aber näher an das Feuer heran und begannen mit ihrem beschwörenden Singsang, der den Schädel herbeilocken sollte. Der nur mit einem Lendenschurz bekleidete Nubier stellte sich hinter das Feuer, reckte beide Arme und schloß die Hände zu Fäusten, während er heisere Schreie ausstieß, die das Prasseln der Flammen übertönten. Zeit verging. Niemand wurde ungeduldig, der Singsang blieb und schwebte monoton durch die Arena, bis zu dem Augenblick, als der
Himmel über dem Feuer zu explodieren schien, denn eine gewaltige Kraft hatte ihn regelrecht gesprengt. Und er kam . . . Er fiel herab aus den Wolken. Er leuchtete knochenbleich, seine dunklen Augenhöhlen glichen geheimnisvollen Gängen, und aus dem offenen Maul zuckte die Zunge wie eine dicke Peitsche. Hinter dem Feuer sank er allmählich dem Boden der Arena entgegen, wo der Sand eine fast kniehohe Schicht gebildet hatte. Das Singen verstummte. Nur mehr das Fauchen und Prasseln der Flammen war zu hören. Alle Augen richteten sich gegen den Schädel, der wie eine Drohung in die Arena eingeschwebt war und nicht einmal zitterte. Nur der Widerschein des Feuers hinterließ auf seinem bleichen Gebein ein unheimliches Muster aus rötlichem Licht und tanzenden, tiefdunklen, langen Schatten. Der riesenhafte Nubier übernahm die Initiative, als er den Namen des 'Totenschädels laut in die Finsternis über der Arena hineinschrie. »Zaduk, Zaduk! Du Gott der Götter, der Mächtige unter den Mächtigen. Erhöre uns. Sieh auf uns nieder, schau dir deine Diener an und nimm sie als Opfer!« Nach den Worten begann er zu tanzen. Es war mehr ein ungelenkes Stampfen, mit dem er einen Kreis um den riesenhaften 'Totenschädel schlug. Er wirkte dabei lächerlich, doch es war niemand unter den Zuschauern, der auch nur die Lippen zu einem Lächeln verzogen hatte. Jeder wußte, daß es der Totentanz war. Stumm und drohend stand der Schädel auf seinem Fleck. Das Feuer glitt an ihm hoch. Es schien mit seinem Widerschein in die Augenhöhlen hineinkriechen zu wollen, um sie von innen her zu erleuchten und alles aufzuhellen, mit dem der mächtige Schädel ausgefüllt war. Dreimal stampfte der Nubier seinen Kreis, dann blieb er vor dem offenen Maul stehen, die Hitze der Flammen in seinem Rücken spürend, als wollten sie die Haut rösten. Langsam hob er die Arme. Die Bewegung glich einem Ritual, das den Schädel anflehte, endlich das zu tun, was vorgeschrieben war. Er streckte ihm die Hände entgegen, bewegte seine Finger und gab einen Laut des Triumphs von sich, als er sah, wie sich in der Mundhöhle etwas bewegte. Es war die lange widerliche Zunge, die sich zunächst aufstellte, dann vorzuckte. Sie schnellte aus dem Maul, klatschte breit auf das Gesicht des Nubiers, der durch diesen Schlag zurückfiel, sein Nasenbein gebrochen hatte, aber nicht kippte, denn die Zunge war schneller als er, ringelte sich um seinen Körper und hielt ihn fest.
In einer Schräglage blieb er, die Arme noch immer vom Körper abgespreizt, als wollte er den knochenbleichen Riesenschädel umfangen und eins mit ihm werden. Dann zuckte die Zunge zurück. Mit ihr verließ auch der Nubier seinen Standplatz. Das Maul mit seinem zuckenden, pulsierenden Innengaumen wartete auf ihn, das große Opfer. Er hatte sich freiwillig gemeldet, er wollte den Göttern zu Diensten sein. Nicht ein Laut der Klage drang über seine Lippen, als ihn der stinkende Schlund schluckte. Atemlos schauten die anderen Männer zu. Auf ihren Gesichtern lag die Spannung wie hingezeichnet, ihre Augen leuchteten. Sie rieben ihre Handflächen gegeneinander. Die Diener warteten ab. Sie atmeten heftig, manche verbeugten sich, und in den tiefen Augenhöhlen des Schädels glomm es düster auf. Eine Mischung aus Schwarz und Rot, als würde dort selbst ein unheimliches Feuer glosen. Es war schon etwas Besonderes, was die Menschen zu sehen bekamen. Obwohl sie den Vorgang kannten, faszinierte er sie jedesmal, wenn sich Zaduk seine Opfer holte. Bis der Schrei ertönte. Einer der zurückgelassenen Wächter hatte ihn ausgestoßen. Der Mann stand auf dem Mauerrand der Arena und schaute dorthin, wo die Stadt Jerusalem lag. »Die Christen kommen!« Er hatte die Warnung kaum geschrien, als es alle hörten. Das dumpfe Trommeln zahlreicher Hufe auf dem Boden, das Vibrieren der Erde, der mächtige Donner, der als gewaltiges Grollen dem düsteren Nachthimmel entgegen flog. Wenn jemand ein Feind des Schädels war, dann zählten die Christen dazu. Sie mußten von ihm gehört haben und waren nun unterwegs, um ihn zu zerstören. Obwohl die Männer gewarnt worden waren, kamen die Kreuzritter über sie wie ein Orkan. Ihre Vorhut rammte das Tor der Arena auf. Der Wächter oben auf der Mauer stand dort zu lange. Er hätte fliehen oder sich verstecken sollen. So aber durchbohrte ein zielsicher geschossener Pfeil seine Brust und schleuderte ihn in die Arena hinein. Zaduks Diener gerieten in Panik, als die ersten Christen mit gezogenen Schwertern in die Arena ritten. Mit den Klingen, den Lanzen, den Morgensternen hieben sie erbarmungslos zu und richteten ein fürchterliches Gemetzel an. Nur wenige konnten fliehen, und von denen wurden die meisten noch von den Soldaten eingeholt. Vom Rücken cier Pferde aus droschen sie zu und hämmerten ihre Waffen in die Körper der Wehrlosen.
Der Schädel aber stand wie ein Denkmal. Die ersten Reiter hatten sich den Weg zu ihm freigekämpft. Ein besonders mutiger trieb sein Pferd durch das Feuer auf den Schädel zu, um ihn mit seinem Schwert anzugreifen. Er wollte das Gebein zerschlagen, doch der Schädel öffnete plötzlich sein Maul. Pfeilschnell war die Zunge und bewies wieder ihre Kraft, als sie den Körper des Pferdes umschlang und das Tier samt Reiter zu sich ins Maul holte. Dort starben beide einen furchtbaren Tod. Beobachtet worden war der Vorgang von zwei anderen Rittern, die ihre Pferde herumrissen, bevor es auch sie noch erwischen konnte. Dafür sahen sie mit an, wie sich der riesige Totenkopf allmählich bewegte. Er stieg dem dunklen Himmel entgegen. Er entwischte ihnen! Schreie gellten ihm nach. Pfeile flogen gegen ihn, prallten ab und fielen deformiert zu Boden. Die Kreuzritter schafften es nicht, Zaduk zu vernichten. Er war ihnen überlegen. Als er eine gewisse Höhe erreicht hatte, kam er zur Ruhe. Wie ein grausamer Beobachter blieb er in der Luft stehen. In den Augen glühte es tödlich auf. Dann öffnete er sein Maul. Die zuschauenden Kreuzritter erkannten mit Schrek-ken, was nun folgte. Der Schädel spie das aus, was er als Opfer nicht mehr haben wollte. Ein Pferd und ein Mensch . .. Die Reste fielen zwischen die Krieger, und der wie angesägt aussehende Pferdekopf landete auf der Schulter eines Reiters, der von diesem Druck zu Boden geschleudert wurde. Dieses war der letzte tödliche Gruß des Schädels, bevor ihn die Finsternis verschluckte. > Die Kreuzritter aber waren entsetzt. Daß sie selbst große Schuld durch die zahlreichen Morde auf sich geladen hatten, kam ihnen nicht in den Sinn. Nur an ihren letzten Toten erinnerten sie sich. Mit grauen Gesichtern gingen sie davon. Zurück ließen sie ein Schlachtfeld mit zahlreichen Toten. Zaduk aber verschwand. Über Jahrhunderte hinweg hörte und sah man nichts mehr von ihm. Die alten Legenden, die sich einmal um ihn gerankt hatten, gerieten in Vergessenheit, aber sie waren nicht verschwunden. Zeiten konnten sich ändern, Menschen auch, aber das Böse blieb leider immer gleich... *** Mitten in der Nacht war er plötzlich da!
Ich hatte noch nicht lange geschlafen, bei diesem verflucht schwülen Wetter war das so gut wie unmöglich, zudem standen die Fenster offen, auch das in meinem Schlafzimmer. Daß ich wach wurde, verdankte ich meinem Instinkt. Etwas hatte mich gestört, drang in mein Gehirn wie ein Warnsignal. Ich öffnete die Augen und setzte mich aufrecht. Automatisch glitt mein Blick zum Fenster hin, das noch immer nicht geschlossen war. Da stand er! Ein mächtiger Eindringling, größer als ein Mensch, auch breiter und mit einem ungewöhnlich geformten Rücken. Er kam mir zwar bekannt vor, ich erinnerte mich allerdings nicht so schnell, woher ich ihn kannte. Bis ich die Stimme hörte, da aber umklammerte meine Hand bereits den Griff der mit Silberkugeln geladenen Beretta. »Tut mir leid, John, daß ich dich mitten in der Nacht auf derart ungewöhnliche Art und Weise besuchen muß, aber es ging leider nicht anders, denn ich möchte dir etwas zeigen.« Erleichtert ließ ich mich zurückfallen und löste auch die Hand von der Waffe. Ich kannte den »Eindringlinge Er gehörte zur Mannschaft meiner ungewöhnlichen Freunde und wurde der Eiserne Engel genannt, weil er eben so aussah. Der Eiserne stammte aus dem längst versunkenen Kontinent Atlantis, dessen Kraft und Magie allerdings auch die Menschen von heute noch manches Mal berührte. Gerade meine Freunde und ich wurden davon nicht verschont. Hinter dem Eisernen lag ein schweres Schicksal, dessen letzte Klippen er erst vor kurzem gemeistert hatte, als es ihm gelungen war, sich aus den Fesseln der Serena zu lösen, die ihn ganz fürsich haben wollte. Jetzt lebte er wieder bei Myxin und Kara zwischen den /7a-ming stones, den geheimnisvollen Flammenden Steinen, die irgendwo in Mittelengland existierten und nur auf eine besondere Art und Weise zu erreichen waren, da sie für das menschliche Auge nicht sichtbar waren. »Darf ich eintreten?« fragte er. Ich lachte. »Du bist doch schon drin.« »Nun ja, ich bin eben höflich.« Er ging zwei Schritte vor. Durch diese Veränderung konnte ich auch den Rücken besser erkennen, wo ihm tatsächlich zwei Flügel wuchsen, was ihn wiederum von den Menschen unterschied, so daß er etwas Engelhaftes an sich hatte. Ich hatte mich aufgesetzt. Der klebrige Schweiß lag auf meinem nackten Oberkörper. Als die Lampe ihr Licht in das Zimmer streute, stand der Eiserne vor meinem Bett, nickte mir lächelnd zu und sah so verdammt frisch und
munter aus, was mich wiederum ärgerte, denn in meinen Augen klebte noch der Schlaf. »Müde, John?« Ich lachte auf. »Du kannst fragen! Klar, ich war kaputt, das Wetter geht mir auf die Birne.« »Ja, es ist nicht gut.« »Okay und jetzt?« »Möchtest du duschen? Du siehst verschwitzt aus.« Ich verzog das Gesicht. »Bist du gekommen, um mir das zu sagen, mein Freund?« »Nein.« Ich stand auf. »Vorsichtshalber werde ich duschen. Bei dir weiß man nie, was auf einen zukommt.« Leider gab er mir keine Antwort. So verließ ich voller Neugierde das Schlafzimmer und öffnete die Tür zum kleinen Bad oder zur Dusche. Auf die Uhr hatte ich auch geschielt. Gut zwei Stunden war der neue Tag erst alt. Der Eiserne hatte mich aus dem ersten Tiefschlaf herausgerissen, das war auch zu merken. Ich spürte, daß ich gegen eine Wand lief, die sich immer weiter vor mir öffnete. In der Dusche spülte ich mir mit lauwarmem Wasser den Schweiß ab, trocknete mich ab und stieg in die luftigste Kleidung, die ich hatte. Im Wohnzimmer saß der Eiserne. Er hatte es sich auf dem Boden bequem gemacht, dicht neben dem offenen Fenster. »Der Himmel ist klar«, sagte er, stand auf und deutete hinaus. »Wie meinst du das?« »Nur so.« »Darf ich mich in einen Sessel hocken?« »Sicher.» Ich streckte die Beine aus und ärgerte mich darüber, daß ich schon wieder schwitzte. »Du weißt, daß ich dich mag, Eiserner, aber sage nur nicht, daß du mal kurz vorbeigeflogen bist, um mir einen guten Tag zu wünschen. Das glaube ich dir nämlich nicht.« »Du hast recht.« »Wie schön. Und wie geht es nun weiter?« Er drehte sich um, schaute an mir vorbei und fragte mit tonloser Stimme: »Erinnerst du dich noch an unseren letzten Fall, den wir gemeinsam erlebt haben?« »Nicht im Moment, es liegt etwas zurück, nicht?« »Einige Monate. Die kleine Insel in der Card igan Bay, die Vogelmenschen, die Pyramide, die von Glarion-Merete erschaffen worden ist und zum Schluß zerschmolz.« Ich hielt mein Gesicht in den Luftzug. »Klar, wo du es sagst fällt es mir wieder ein. Endete der Fall nicht mit einem Mißklang?« Der Engel nickte. »Und ob er so endete. Erinnere dich daran, wie die Pyramide zerschmolz und zu einem Spiegel wurde. In ihm haben wir ein
schreckliches Gesicht gesehen, eine riesige Totenkopffratze, aus deren Maul eine Zunge hervorschoß.«* »Stimmt genau. Und du hast mir sogar einen Namen genannt, wenn ich mich recht erinnere. Ich habe ihn allerdings vergessen.« »Es war Zaduk!« Ich schnickte mit den Fingern. »Genau. War er nicht so etwas wie ein Verräter?« »Ja, leider. Er war der Anführer der verräterischen Vogelmenschen, die einmal auf meiner Seite gestanden hatten, damals auf dem mächtigen Kontinent. Zaduk entkam, die Vogelmenschen haben wir vernichtet, aber ihn nicht. Es geistert nach wie vor umher.« Ich legte die Stirn in Falten. »Jetzt bist du gekommen, um mir zu sagen, daß er noch immer oder wieder da ist.« »Stimmt.« Allmählich verschwand meine Müdigkeit, denn ich sah wieder das Gesicht des Eisernen damals auf der Insel vor mir, als er auf die schmelzende Masse und das Abbild der Totenkopffratze gesehen hatte. Da war der Eiserne Engel sehr erschrocken gewesen, was man bei ihm nicht sehr oft sah. »Wo ist er?« Mein Freund hob die Schultern. »Wenn ich das wüßte, John, wäre mir viel wohler.« »Aber du hast es erfahren, daß er da ist?« »Ja, durch die Steine.« Als er merkte, daß ich keine Antwort gab, redete er weiter. »Sie warnten Kara, Myxin und mich. Wir sahen ihre Veränderung. Sie zeigten in ihrem Innern sehr schwach nur das schlimme Bild Zaduks.« »Seinen Schädel?« »So ist es.« Ich räusperte mich. »Wir haben nie mehr über ihn gesprochen. Wenn es den Schädel gibt, wo befindet sich eigentlich sein Körper? Müssen wir ihn auch suchen?« »Nein. Soviel mir bekannt ist, existiert er nicht mehr.« »Dann hat er auch Gegner gehabt.« »Ja, den Schwarzen Tod. Ich bin der Meinung, daß dieser Dämon ihm mit seiner Sense den Kopf vom Rumpf getrennt hat. Aus welchem Grund nur der Schädel überlebte, kann ich nicht sagen, aber es soll der Schwarze Tod gewesen sein.«
* Siehe John Sinclair Nr. 572: »Terror der Vogelmenschen«
Da hatte der Eiserne etwas gesagt. Der Schwarze Tod war mein erster Supergegner gewesen. Ich hatte ihn besiegen können, aber auf Spuren seiner grausamen Taten stieß ich immer wieder. Wie jetzt, als mich der Eiserne aufklärte. »Trotzdem verstehe ich eines nicht. Wenn Zaduk ein Verräter war, weshalb hat ihn dann der Schwarze Tod gekillt? Das will in meinen Kopf nicht hinein.« »Er wußte damals noch nicht, daß Zaduk die Seiten gewechselt hatte. Möglicherweise hat er es erst nach der Tat erfahren. Das ist zumindest meine Version.« »Verändern wir das Wort und sagen mal Vision. Du hast sie also bei den Steinen gehabt.« »Nicht nur ich, auch die anderen.« »Klar, ihr drei. Frage: Wie sicher sind diese Visionen? Entsprechen sie den Tatsachen?« Der Eiserne runzelte die Stirn. »Ich kann es dir nicht sagen und nur von der Wahrscheinlichkeit ausgehen. Wenn die Steine sich offenbart haben, war es eigentlich nie ein Irrtum oder eine Täuschung. Ich bin der Ansicht, daß der Schädel seinen Weg durch die Zeiten gefunden hat und wieder erscheinen wird.« Ich nickte. »Okay, gehen wir mal davon aus, daß du recht hast. Er wird sich also blicken lassen. Wo?« Der Eiserne bekam einen fast traurigen Gesichtsausdruck. »Steht ihm nicht die gesamte Welt zur Verfügung? Er kann überall auftauchen und seinen Schrek-ken hinterlassen.« »Er tötet also?« »Sicher. Von damals her war er gewohnt, daß man ihn anbetete. Er hat sich zu einem Götzen hochstilisiert, und meine Vogelmenschen sind zum Teil auf ihn hereingefallen. Ein Götze, das ist seit Beginn der Zeiten nicht anders geworden, benötigt Opfer. Da macht auch Zaduk keine Ausnahme. Er nimmt ebenfalls Opfer an.« »Menschen?« »Ja, er holt sie sich mit seiner Zunge und verschlingt sie.« Ich holte scharf Luft und spürte, daß sich im Nacken Schweißperlen bildeten. Diese Aussichten gefielen mir nicht gerade. Wenn er das schaffte, mußte er eine gewaltige Größe besitzen, denn normal gewachsene Menschen sind nicht eben klein. »Das war nicht gut, Eiserner.« »Ich weiß. Ein Schock in der Nacht. Ich dachte mir, daß ich dich früh genug warne. Du mußt auch Suko Bescheid geben. Er war schließlich auch damals mit auf der Insel.« Ich erinnerte mich noch gut. Der Eiserne hatte mir sogar das Schwert mit der goldenen Klinge mitgebracht, das Kara gehörte. Mit dieser Waffe hatte ich gegen die verräterischen Vogelmenschen gekämpft. Damit
hatte ich auch die Pyramide des Architekten Gla-rion-Merete zerstört, in der sich das Bild eines Totenschädels zeigte. Ich hatte noch niemals einen so häßlichen Schädel gesehen. Je länger ich darüber nachdachte, um so klarer wurde die Erinnerung. Der Schädel war von einer bleichblauen Farbe gewesen mit leeren Augenhöhlen und einem ebenfalls leeren Maul. An die widerliche Zunge erinnerte ich mich auch und auch an das Innere des Mauls, das rötlich wie ein normaler Gaumen schimmerte. »Du willst doch sicherlich etwas unternehmen?« fragte ich ihn. »Sonst wärst du nicht gekommen.« »Das stimmt. Ich habe Myxin und Kara bewußt zurückgelassen. Sie sollen die Steine beobachten und mir Bescheid geben, falls sich etwas tut. Ich möchte dich bitten, mich noch einmal auf die kleine Insel in der Car-digan Bay zu begleiten, wo wir den Terror der Vogelmenschen erlebt haben. Bist du einverstanden?« »Sofort?« »Das dachte ich mir«, gab er etwas verlegen zu. Ich grinste. Zu versäumen hatte ich nichts. »Aber nur weil du es bist«, gab ich meine Zustimmung. »Mal im Ernst, glaubst du daran, daß ersieh auf der Insel gezeigt hat?« Der Eiserne hob die Schultern, was bei ihm sehr eckig aussah. »Es ist möglich, nur mehr eine Hoffnung. Etwas anderes kann ich dazu nicht sagen.« »Welchen Grund sollte er haben, sich gerade dieses gottverlassene Eiland auszusuchen. Oder gehst du nur davon aus, daß er hinkommt, weil damals die verräterischen Vogelmenschen es besetzt hielten und die Bewohner terrorisierten?« »Genau.« »Wir werden sehen.« Ich dachte an das Paar, das wir auf der Insel kennengelernt hatten. Iris hatte das Mädchen geheißen, Monty Heller der Mann. Ihn hatten wir aus dem verfluchten Kreislauf der Vogelmagie erlösen können. Wieder entstand das Bild vor meinen Augen, als die Pyramide zu einem Spiegel zusammengeschmolzen war. Ja, ich erinnerte mich an den Kopf, an das Maul mit den beiden harten Zähnen. Wie bei einem Vampir. Und gegen Vampire war ich in der letzten Zeit sehr allergisch, weil ich wußte, daß sich Will Mallmann als Dracula II ansah und das Erbe des echten Blutgrafen als noch schlimmere Zeit übernehmen wollte. Ich sprach den Eisernen auf die Zähne an und unterstrich meine Vermutung, daß es sich bei Zaduk um einen alten Vampir handeln konnte. »Vampir und Vogelmensch«, sagte ich.
»Da bin ich überfragt«, erwiderte der Eiserne. »Ich habe auch nicht viel mit ihm zu tun gehabt. Er hielt sich zurück, agierte im Verborgenen.« »Gut, wir werden sehen.« Ich deutete auf das offene Fenster. »Soll ich auf die Bank klettern?« »Nicht nötig. Du brauchst es auch nicht zu schließen, wir sind bald wieder da.« Der Eiserne kam auf mich zu und umfaßte meine Taille. Ich wurde hochgehoben, glitt mit ihm zusammen auf das offene Fenster zu, dann tauchten wir blitzschnell ein in die Nacht. Himmel, Gestirne, der volle Mond, die Lichter der Millionenstadt, diese Dinge drehten sich vor meinen Augen und wurden zu einem gewaltigen Kreisel, der mich mitschleifte... *** Dann war alles anders. Keine stickige, schwülwarme Luft mehr, die das Atmen erschwerte, sondern ein Wind, der frisch schmeckte und zudem Frische mit sich brachte. Es roch nach Salz, nach Meer, nach Strand und einer gewissen Weite. Auch der Geruch von frischem Heu drang in meine Nase, so stark, daß ich in dem Augenblick niesen mußte, als mich der Eiserne absetzte. Er hatte mich mit einem Griff von seinem Rücken geholt. »Wir sind da!« sagte er. »Ja, das habe ich bereits gesehen.« Oder auch nicht gesehen, denn über der kleinen Insel lag die Dunkelheit wie ein unendlich erscheinendes schwarzes Tuch. Doch auch hier grüßte mich das Licht der Sterne, die einen Mond umstanden, der wie ein bleiches Glotzauge auf uns niederschaute. Eine klare Luft lud zum tiefen Atemholen ein, was ich mehrere Male wiederholte. Es ging mir gut. Der Eiserne war ein Stück zur Seite gegangen. Da wir erhöht standen, konnten wir auch dorthin schauen, wo sich die Häuser jenseits der kleinen Hafenanlage gruppierten und die Wellen des Meeres von einer quergebauten Kaimauer gebrochen wurden. An anderen Stellen der Insel liefen sie am Strand aus und schoben den schimmernden Schaum wie einen breiten Bart vor sich her. Die Bewohner der Insel lebten von zwei Dingen, dem Fischfang und der Schafzucht. Monty Heller war auch Schäfer gewesen, bevor ihn das Unheil überraschte. Ihn und seine Freundin Iris würden wir hier nicht linden. Sie hatten vorgehabt, die Insel zu verlassen und waren bestimmt nicht geblieben. Aber die anderen Menschen mußten hier noch leben, wie der weißbär-
tige Alte, der so etwas wie ein Sektenführer gewesen war und eine Weltuntergangsstimmung verbreitet hatte. An ihn mußte ich denken, als wir den Weg einschlugen, der uns zu den Häusern führte. Es gab kein Licht, selbst am Hafen brannten nur vereinzelt Laternen und Positionsleuchten der auf dem Wasser dümpelnden Fischerboote. Es war noch zu früh, aber bald würden die Männer hinausfahren und nach dem Fang suchen. Der Wind tocknete den klebrigen Schweiß. Rechts neben mir schritt der Eiserne. Im Vergleich zu ihm kam ich mir fast schon winzig vor. Manchmal drehte er den Kopf und lächelte mir zu, als wollte er mir Mut machen. Wir erreichten den Weg oder die Straße, die uns zum Dorf führte. »Sieht wie ausgestorben aus«, murmelte ich. »Ein schlechtes Zeichen?« »Keine Ahnung. Hoffentlich kein Beweis dafür, daß sich Zaduk hier gezeigt und den Menschen seinen Stempel aufgedrückt hat. Das wäre verdammt schlimm.« »Er kennt kein Erbarmen, wenn jemand nicht zu seinen Dienern gehört«, sagte der Eiserne. »Und was macht er mit seinen Dienern?« Der Engel hob die Schultern. »Tut mir leid, so genau bin ich nicht informiert.« Die ersten Häuser erschienen. In der Finsternis kamen sie mir vor wie kompakte Schatten, die jemand modelliert und dann aufgestellt hatte. Das bleiche Mondlicht badete die Dächer, so daß sie einen silbrig glänzenden Schein bekamen. Diesen Weg kannte ich. Ich war ihn gegangen und hatte auf die Vogelmenschen und deren Angriff gewartet. Später mit dem Schwert der Kara in der Hand, hatten der Eiserne und ich uns diesen wilden Horden gestellt. Das lag lange zurück, kein Schatten zeigte sich am Himmel. Er schien völlig ausgestorben zu sein. Vor dem ersten Haus blieb ich stehen, was den Eisernen verwunderte. »Was willst du?« »Nachschauen, was mit den Menschen ist.« Ich stand schon an der Tür. Sie war nicht verschlossen. Auf so etwas konnten die Bewohner dieses Eilands verzichten. Ich stieß sie nach innen und betrat einen dunklen Flur. Die Bleistiftleuchte verschaffte mir das nötige Licht. Ich strahlte in die Runde, sah auch andere Türen und landete zunächst in einem Schlafzimmer, wo mir die zerwühlten Betten auffielen, die den meisten Platz unter der niedrigen Decke einnahmen. Kein Mensch befand sich im Raum.
Ich schaute sicherheitshalber woanders nach und entdeckte nur leere Zimmer. Mit einem nicht sehr guten Gefühl im Magen verließ ich das Haus. Den Eisernen suchte ich vergebens. Er war nicht da. Bevor ich mir Sorgen machen konnte, verließ er das gegenüberliegende Haus. Mit raschen Schritten ging ich auf ihn zu. Selbst bei dieser Beleuchtung las ich die Sorgen von seinem Gesicht ab. »Leer?« fragte ich ihn. Er nickte. »Ja, es ist niemand da. Die Zimmer sahen so aus, als wären sie in aller Eile verlassen worden.« »Genau wie bei mir.« Für einen Moment starrte der Eiserne zu Boden. »Es ist schon wahrscheinlich, daß ich mit meiner Vermutung richtig gelegen habe«, erklärte er. »Das wäre schlimm.« »Dann ist er hier?« »Ich will es nicht hoffen. Vielleicht war er hier. Wir sollten die Menschen suchen. Ich frage mich nur, wo sie sein könnten?« »Das weiß ich. Es gab damals ein Versammlungshaus, in dem der weißbärtige Alte seine großen Reden geschwungen hat. Deshalb könnte ich mir vorstellen, daß wir die Bewohnerdort finden, falls sie noch auf der Insel sind.« »Und leben.« »Wie?» »Zaduk ist schlimm.« Mehr sagte der Eiserne nicht. Aber seine Worte hatten bei mir eine Gänsehaut hinterlassen. Ich mußte wieder an den Weißhaarigen denken, der auf dieser Insel so etwas wie Lehrer, Bürgermeister und Sektenanführer gewesen war. Er hatte die Lehre vom sehr einfachen Leben vertreten und sich dabei um die Kräfte der Natur bemüht. Wenn ich ihn noch fand, mußte er reden. Das Versammlungshaus stand ein wenig abseits von den anderen, gewissermaßen auf der grünen Wiese. Den Weg kannte ich noch und ging schneller, als ich das Haus sah. Hinter den Fenstern brannte kein Licht. Eigentlich hätte ich nicht nachzuschauen brauchen, daß ich es trotzdem tat, damit wollte ich nur mein Gewissen beruhigen. Und ich sah sie. Männer, Frauen und Kinder hockten bewegungslos wie Statuen auf ihren Stühlen. Sie hielten die Hände gefaltet und die Köpfe gesenkt. Sie sahen aus wie Leichen, die man dort hingesetzt hatte. Erst bei genauerem Hinsehen entdeckte ich, daß sie atmeten. Ich winkte dem Eisernen zu. »Da, schau es dir an. Sie sitzen tatsächlich zusammen.« Er begriff nicht, auch mir war es ein Rätsel, dessen Lösung ich bald finden würde, denn ich sagte: »Dann werden wir die Andacht mal stören und erfahren, was passiert ist.«
»Zaduk«, flüsterte der Eiserne. »Er war hier. Er muß einfach hier auf der Insel gewesen sein. Das spüre ich. Ich . . . ich merke seine Ausstrahlung, die noch zurückgeblieben ist.« »Wirklich nur sie?« Der Eiserne stand da, als würde er frösteln. »Ja, du kannst mir vertrauen. Für so etwas habe ich eine Antenne. Dennoch ist es gut, daß wir hergekommen sind. Vielleicht können wir von hieraus seine Spur aufnehmen und ihn finden.« Ich war etwas beruhigter, blickte noch einmal zurück, aber Verfolger entdeckte ich keine. Man hatte unsere ungewöhnliche Landung auf dem Eiland noch nicht bemerkt. Der Eingang zur Versammlungsbaracke lag an der Schmalseite des Hauses. Suko hatte in diesem Gebäude agiert, ich kannte es bisher nur von außen, was sich änderte, als ich die Tür vorsichtig und dabei sehr leise aufgezogen hatte. Der Eiserne blieb hinter mir, er wollte, wenn eben möglich, die Menschen durch sein Aussehen nicht erschrecken. Es war fast still innerhalb des mehr langen als breiten Raumes. Wir konnten auf die Rücken der Bewohner schauen und entdeckten auch den schwachen Lichtkranz. Drei Kerzen gaben ihn ab. Sie steckten in den Armen eines Leuchters und standen ziemlich weit vorn. Hinter mir fiel die Tür wieder leise zu. Der Engel hatte sie geschlossen. Das gepreßte Atmen der Versammelten hörte sich irgendwie unheimlich an. Jeder Mensch schien unter einem Druck zu stehen oder unter einer schweren Last zu leiden. Wenn ich die Leute so sah, kam es mir vor, als würden sie den Trauergottesdienst für einen Toten abhalten. Ich ging vor und winkte dem Eisernen zu, zunächst einmal stehenzubleiben. Die Stühle verteilten sich zu beiden Seiten eines Mittelgangs, durch den ich ging. Auch jetzt setzte ich meine Schritte leise. Erst als ich ein Drittel der Strecke zurückgelegt hatte, wurden die Bewohner aufmerksam. Ich hörte nichts, aus den Augenwinkeln nahm ich die Bewegungen der Köpfe wahr. Die einen schauten nach rechts, die anderen nach links, um zu erfahren, wer sie störte. Die Gesichter kamen mir vor wie modelliert. Bleich, mit einem erschreckenden Ausdruck. Ich lächelte schmal, es sollte auch beruhigend wirken, und ging weiter. Hinter mir begann das Flüstern. Erstes Zeichen einer Unruhe, durch die ich mich nicht beirren ließ und schließlich dort stehenblieb, wo die drei Kerzen ihren Flammenschein abgaben und ihn so verteilten, daß er auf den Körpereines Menschen fallen konnte. Der Mann war tot! Ich kannte ihn. Bei unserem ersten Fall hatte er gegen uns opponiert. Es war der Alte, der Weißbärtige, den man starr auf einem niedrigen Tisch gelegt hatte.
Das Licht fiel direkt in sein Gesicht, es tanzte in den offenen Augen, und ich bekam einen Schauer, als ich den Ausdruck darin las. Es war schlimm. Entsetzen und Angst vereinigten sich darin. Auch fiel mir auf, daß der Kopf etwas verdreht stand. Ich hörte hinter mir ein Schlurfen. Aus der ersten Reihe war einer der Männer aufgestanden und kam gebückt auf mich zu. »Wir kennen dich noch«, sagte er, »wir erinnern uns. Weshalb bist du zurückgekommen? Wußtest du, daß etwas passieren würde?« Ich holte durch die Nase Luft. »Ja und nein«, erwiderte ich. »Damals habe ich nicht alle Vogelmenschen vernichten können. Es gibt einen, der übrig blieb.« »Zaduk!« Seine Antwort überraschte mich. »Du kennst ihn?« Der Mann strich über seinen mausgrauen Oberlippenbart. »Ich habe ihn nicht gesehen, aber der Tote sah ihn, kurz bevor er starb. Er wußte, daß Zaduk kommen würde. Er hat uns gewarnt.« »Woher wußte er das?« Der Sprecher hob die Schultern. »Das kann ich dir nicht genau sagen. Doch du müßtest es wissen. Ist nicht die Pyramide zerbrochen?« »Das stimmt.« »Genau an der Stelle«, flüsterte der Mann, »hat unser Anführer das Furchtbare gesehen. Er ... er wollte nicht mit uns darüber sprechen, rief uns zum Gebet und wollte versuchen, Zaduk zu stoppen. Sogar den Namen hatte er erfahren.« »Was unternahm er genau?« »Wir wissen es nicht. Wir wissen gar nichts. Er ging hin, schaute, dann fanden wir ihn. Tot, in einer seltsam verrenkten Haltung lag er auf dem Boden. In seinen Augen stand der Schrecken, sein Genick war gebrochen. Wir untersuchten seinen Körper und entdeckten unter der Kleidung verfärbte Stellen. Bißflecken oder so etwas Ähnliches. Das alles ist uns bekannt gewesen, mehr nicht.« Ich nickte einige Male und schaute über die Köpfe der Bewohner hinweg. »Ich habe jemand mitgebracht, aber es scheint, daß wir zu spät gekommen sind.« Nach diesen Worten winkte ich dem Eisernen, in der Hoffnung, daß er die Bewegung sah. Ja, er kam. Das Flüstern der Anwesenden verstärkte sich. Man erinnerte sich ebenfalls an den Eisernen, denn er war ein Wesen, das man nicht vergessen konnte. Majestätisch und hochaufgerichtet schritt er durch den Gang und blieb bei mir stehen. In seinem Gesicht bewegte sich nichts, als er den Toten sah. »Zaduk?« fragte er. »Ja, er war hier.«
Der Eiserne nickte. »Ich wußte es, ich habe es gewußt, daß er die Insel besucht hat. Hier gab es ein magisches Tor, durch das er in diese Zeit eilen konnte. Er gibt niemals auf, er hat schon damals nicht aufgegeben, und er wird weitermorden«, sagte der Eiserne bitter und schaute den Toten an. 11 »Was hat er ihm getan?« »Nichts«, erwiderte ich. »Er hat nur gespürt, daß etwas Böses auf die Insel kommen würde. Dann versuchte er, das Böse zu stoppen, war aber nicht stark genug.« »Gegen Zaduk kommt keiner an!« »Auch du nicht?« wurde der Eiserne von dem Einheimischen gefragt. »Du hast uns gezeigt, wie man die Vogelmenschen ausschaltet.. .« »Zaduk ist kein Vogelmensch mehr.« »Was ist er dann?« »Ein Relikt, ein Überbleibsel, ein riesiges Gebilde. Zaduk kann nicht in normale Worte gefaßt werden. Er ist ein Monster, ein gieriges Tier, einfach furchtbar.« Der Mann senkte den Kopf. »Müssen wir damit rechnen, daß er uns vernichtet?« »Nein!« erklärte der Eiserne entschieden. »Für Sie und die anderen hier ist alles ausgestanden.« Skepsis prägte den Blick des Inselbewohners. »Ich weiß es nicht, ich kann es nicht glauben. Meine Frau sagte zu mir, als die Leiche gefunden wurde: Matt, jetzt bist du an der Reihe. Jetzt mußt du das Schicksal der Insel in deine Hände nehmen und natürlich auch das der Bewohner. Ich wollte nicht, denn was soll ein Mensch ohne Hoffnung schon sagen können?« »Es gibt wieder Hoffnung!« widersprach ich. »Wenn der Engel sagt, daß es vorbei ist, dann hat er recht damit.« Matt reckte sein Kinn vor. »Woher willst du das wissen?« »Zaduk hat andere Aufgaben. Euch und die Insel hat er nur als Sprungbrett genutzt. Was er will, sind andere Dinge.« »Aber er kann immer wieder zurückkehren und sich hier verstecken!« zischelte Matt. »Wo erschien er?« »Das müßtest du wissen, Eiserner. Die Pyramide zerschmolz, dort entstand etwas, und da muß er auch hergekommen sein. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« »Wir sollten hingehen«, schlug ich vor. Der Eiserne war einverstanden. Matt druckste herum. Es war ihm anzumerken, daß er lieber hier in der Baracke geblieben wäre, doch ich überredete ihn, uns zu begleiten. »Es ist besser, Matt. So kannst du den anderen sagen, daß sie sich vor Zaduk nicht mehr fürchten brauchen. Euer Leben läuft wieder in geregelten Bahnen.«
»Das gibt es nicht. Die Fische werden weniger, die Erinnerungen werden bleiben. Wir müssen noch . . .«, er winkte ab. »Ja, wir müssen den Toten begraben.« Dann hielt er sich an meiner Seite, denn ich war bereits vorgegangen. Man sprach uns nicht an. Nur die Blicke verfolgten uns bei dem Gang durch die Mitte des Raumes. Bevor Matt die Baracke verließ, erklärte er den Zurückgebliebenen, daß er bald wieder da sein würde. Der Eiserne wartete draußen auf uns. Er hatte den Kopf zurückgelehnt und blickte in den schwarzblauen Nachthimmel, wo der Mond als helles Auge glotzte. »Suchst du Zaduk?« Er hob die Schultern. »Natürlich suche ich ihn. Der Dämon ist ungemein beweglich, sein Schädel trampt durch die Zeiten. Er ist heute hier und morgen dort. Für ihn gibt es kaum natürliche Grenzen. Wenn er will, kann er alles überwinden. Wir werden sehen.« Matt blieb an meiner Seite. Er schaute sich vorsichtig um, ging geduckt und kam mir vor wie ein Fremder, der zum erstenmal die Insel betreten hatte. Vom Strand her hörten wir das Anlaufen der Wellen, sahen auch die breiten, schaumigen Streifen oder die hochfliegenden Gischtspritzer, wenn das Wasser an der Kaimauer gebrochen wurde. Die Fischerboote schaukelten im ewigen Rhythmus, ihre Masten wirkten wie träge, lange Bleistifte. »Wann fahren die Fischer hinaus?« fragte ich. »In den folgenden beiden Tagen werden wir nichts machen, nur trauern. Drei Tage dauert die Zeit, so schreiben es unsere Gesetze vor, die wir uns selbst gegeben haben.« »Lebt ihr auch weiterhin nach diesen Regeln?« Ich hatte etwas über das Leben der Bewohner erfahren, die sich wieder auf die einfachen Dinge besonnen hatten und fast jede Neuerung der Technik ablehnten. »Wir können uns nicht selbst untreu werden.« Die Antwort paßte zu ihm. Ob Freude oder Schmerz, sie nahmen es als gottgegeben hin. Dann hatten wir die Stelle erreicht, wo die Pyramide geschmolzen war. In der Dunkelheit konnten wir kaum etwas erkennen. Das änderte sich, als ich meine Bleistiftleuchte hervorholte und mit dem scharfen Strahl einen Kreis schlug. Wir drei bekamen den Eindruck, auf einem völlig fremden Grund zu stehen. Der Boden wirkte verbrannt, als wäre ein Feuer dabei gewesen, sich in ihn hineinzufressen. Ich bückte mich, der Eiserne zog sein Schwert und kratzte mit der Spitze über die verbrannten, lavaähnlichen Steine. »Ja, hier war es. Und es wird nicht mehr zurückkehren. Das Tor ist geschlossen.«
Hoffnungsfroh schaute Matt ihn an. »Kann ich dir das glauben, Eiserner?« »Ich würde ja sagen.« Der Mann lächelte zuckend. »Das wäre riesig!« flüsterte er, »endlich wieder in Ruhe und Frieden leben können. Ich weiß nicht, womit wir die Strafe verdient haben, aber ich will auch nicht danach fragen.« »Geh wieder zu den anderen«, sagte der Eiserne und legte Matt eine Hand auf die Schulter. »Sage ihnen, was du gesehen hast und daß alles in Ordnung ist.« »Ja, natürlich.« Er verengte seine Augen. »Aber was wollt ihr unternehmen? Was habt ihr jetzt vor?« »Wir verlassen die Insel«, erwiderte ich. »Mehr nicht?« »Doch.« Der Engel nickte. »Wir werden den verdammten Schädel jagen, verstehst du? Zaduk darf keine Menschen mehr in seine Gewalt bringen, um sie zu töten.« »Seid ihr wirklich stärker als er?« »Das kommt auf einen Versuch an.« Matt nickte und ging. »Viel Glück«, sagte er noch und winkte uns zum Abschied zu. »Ja, ich wünsche euch viel Glück. Das werdet ihr gebrauchen können.« »Danke.« Der Eiserne lächelte. »Er macht sich große Sorgen, der gute Matt.« »Grundlos?« »Bestimmt nicht, obwohl ich wirklich nicht glaube, daß sich Zaduk hier noch einmal sehen läßt. Die Insel hat er gebraucht, um das Treiben zwischen den Zeiten zu überbrücken. Hier hatte er eine Anlaufstelle, aber jetzt hat er zugeschlagen. Leider weiß ich nicht, was er nach dem Untergang unseres Kontinents alles getan und wo er sich herumgetrieben hat. Irgendwo zwischen den Dimensionen hat er gesucht und geforscht, bis er den Weg in diese Zeit fand.« »Er kann doch nicht einfach losziehen und morden. Auch für ihn muß es Motive und Gründe geben.« »Darüber habe ich auch schon nachgedacht.« »Bist du zu einem Entschluß gekommen?« Der Eiserne schwieg und ging neben mir weiter. Wir wollten wieder vom Hügel aus die Insel verlassen. Er sprach erst wieder, als wir den Platz erreicht hatten. »Wenn ich mich recht erinnere, hat Zaduk stets Freunde und Begleiter gehabt. Er war auch in Atlantis niemals allein. Ich kann mir vorstellen, daß sich daran nichts geändert hat.« »Die Vogelmenschen existieren nicht mehr. Also ist Zaduk gezwungen, sich nach anderen Helfern umzuschauen?«
»Stimmt.« Der Eiserne lächelte traurig. »Nichts gegen euch Menschen, John, aber denke daran, wie schwach ein Mensch ist, wie leicht er sich verführen läßt. Ich könnte mir gut vorstellen, daß Zaduk unter den Menschen neue Verbündete findet, um sein Reich aufzubauen. Bitte, das ist nicht bewiesen, ausschließen können wir es wohl beide nicht.« »Stimmt«, murmelte ich. »Leider habe ich bisher keinen Hinweis auf Aktivitäten dieser Art erhalten. Es gibt keine Spuren. Von einer Gruppe, Bande oder Clique, die Zaduk verehrt, habe ich bisher nichts gehört.« »Eure Welt ist groß. Sie steht ihm zur vollen Verfügung. Außerdem ist er noch nicht lange da, aber ich bin sicher, daß wir auf Spuren stoßen. Dabei setze ich mein volles Vertrauen in die Flammenden Steine. Sie können uns bestimmt Hinweise in diese Richtung geben. Oder denkst du anders darüber?« »Nein, bestimmt nicht. Wenn die Steine dein Vertrauen haben, werden sie es wohl nicht enttäuschen.« »Das meine ich auch.« Der Eiserne ging bis zum Rand der Hügelkuppe, wo kleine Sträucher geduckt aus dem Gras wuchsen und einen intensiven Geruch ausströmten. Von hier aus schaute er den bleichen Mond direkt an, als wollte er ihn hypnotisieren. »Ich habe dir vorhin gesagt, John, daß ich dich wieder nach Hause bringen werde. Dieses Versprechen halte ich unbedingt ein. Komm, es geht los.« Es klingt unwahrscheinlich, aber es war eine Tatsache. Wiederum kletterte ich auf den Rücken der mächtigen Gestalt und setzte mich so hin, daß ich die Flugbewegungen der Schwingen nicht störte, wenn er sich in die Luft erhob. »Fertig?« fragte er. »Alles klar.« »Dann Achtung!« Er startete. Wie immer spürte ich leichte Beklemmungen, als er sich kurzerhand ins Leere warf, als wollte er abstürzen. Schon mit dem ersten Schlag der Flügel änderte er die Richtung. Wir jagten schräg in die Höhe, der Wind peitschte gegen uns. Wie schnell wir waren, konnte ich nicht sagen, da ich den Kopf zur Seite gedreht hatte, um dem Wind zu entgehen. Innerlich richtete ich mich darauf ein, in den folgenden Sekunden in London zu sein, denn der Eiserne war unwahrscheinlich schnell. Ein Irrtum meinerseits. Nicht das dumpfe Brausen aus den Häuserschluchten der Millionenstadt drang an meine Ohren, sondern ein schriller Ruf, fast schon ein Schrei. Ich öffnete die Augen. Gleichzeitig war der Eiserne langsamer geworden, so daß es mir vorkam, als würden wir in der Luft stehen.
Unter uns schwamm dunkel das Meer, gezeichnet von langen Wogen mit hellen Kämmen. Vor uns lag der Himmel, und wir hätten auch den Mond sehen müssen, denn wir waren in seine Richtung gestartet. Ich sah ihn nicht mehr. Vor ihn hatte sich ein gewaltiger, ungemein häßlicher Totenschädel geschoben. Zaduk war da! *** Myxin und Kara waren natürlich eingeweiht worden, und sie hatten den Schädel auch selbst innerhalb der Steine gesehen, als sie ihre Magie abstrahlten. Er hatte schrecklich ausgesehen, als wäre er durch mächtige Hände in die Steine hineingepreßt worden. Sie waren die Wegweiser in andere Welten und andere Zeiten. Sie waren oft genug auch Anzeiger und wiesen auf bestimmte Ereignisse hin, die sie spürten, wobei sie die wissenden Vibrationen weiterleiteten und ein Bild formen konnten. Dieses Gebiet lebte nach rein magischen Gesetzen. Da war die Physik fast völlig ausgeschaltet. Ruhe konnten weder die Schöne aus dem Totenreich finden noch der kleine Magier. Sie blieben auch nicht in der Blockhütte. Im Freien ließ es sich besser aushalten. Myxin sah aus wie immer. Seine grünlich schimmernde Haut war in der Dunkelheit nicht zu sehen. Die Farbe hatte sich bei diesen Lichtverhältnissen angeglichen. Er spürte weder Hitze noch Kälte, kannte in dem Sinne keinen Durst und auch keinen Hunger. Er war gewissermaßen ein Neutrum, stand aber nicht mehr auf der Seite des Bösen wie damals in Atlantis, sondern zählte John Sinclair und seine Freunde ebenso zu seinen Verbündeten wie Kara, die früher einmal eine Todfeindin gewesen und jetzt nicht von seiner Seite wegzudenken war. Es gab Zeiten, da hatte sie stets ein knöchellanges Kleid getragen und um die Hüften gebunden das Gehänge mit der Scheide, die für das Schwert mit der goldenen Klinge vorgesehen war. Aber das war vorbei. Kara hatte sich für eine andere Kleidung entschieden. Moderner und praktischer. Dazu gehörten nun einmal Jeans jeglicher Couleur. Sie ließ sich neben Myxin nieder, in einer Hand ein Glas haltend, aus dem es duftete. Kräutertee, den Kara liebte, weil er nicht nur belebte, sondern auch beruhigte. Ihn zu trinken, war für sie einfach etwas Wunderbares. Sie trank einige Schlucke, stellte das Glas zur Seite und sagte: »Er ist schon lange weg.« »Sicher.«
»Denkst du, daß der Eiserne es schafft?« Myxin hob die Schultern. »Allein wird er es schwer haben. Zaduk ist sehr stark.« »Du kennst ihn ja.« Der kleine Magier nickte. »Und ob ich ihn kenne. Ich habe ihn erlebt, als ich noch selbst mitmischte. Er lebte dort, wo auch der Schwarze Tod seine Heimat hatte, in den Bergen des Schreckens!« »Weshalb tötete ihn der Schwarze Tod?« »Darüber haben wir damals gerätselt und rätseln wir noch heute. Außerdem hat man ihn nicht getötet. Er lebt weiter, wie du in den Steinen gesehen hast.« Kara warf einen Blick auf die flaming stones. Sie bestanden aus vier Steinen, wobei jeder die Ecke eines Quadrats bildete. Wie kantige Finger oder Türme ragten sie in den Himmel. Im Hintergrund geschützt durch die dunklen Wellen des Mischwaldes, der an den Hängen wuchs, die dieses kleine Paradies einrahmten. In der Tat herrschten hier Zustände, die andere Menschen sich gern herbeigesehnt hätten. Ein kleiner Flecken Erde, gleichzeitig eine magische Zone, durchflössen von einem schmalen Bach, in dessen Bett kristallklares Wasser floß. Ein Wunder der Natur, in das sich Myxin und Kara zurückgezogen hatten. Sie lebten in einer Blockhütte, wo auch der Eiserne Engel seinen Platz gefunden hatte. Und noch etwas war wichtig. Dieses Gebiet lag irgendwo in Mittelengland. Nicht sichtbar für den normalen Menschen. Niemand, außer wenigen Eingeweihten, wußte über die Flammenden Steine Bescheid. Und diejenigen, die es wußten, würden sich hüten, etwas zu verraten. Wenn Magie die Steine erfaßte, dann glühten sie auf. Da wirkten sie, als würde Feuer in ihnen lodern. Aus diesem Grunde waren sie auch zu ihrem Namen gekommen. Sie hatten die Fratze gezeigt, und der Eiserne war losgeflogen, um John Sinclair zu warnen. »Du weißt auch nicht, ob John und der Engel schon etwas unternehmen wollten?« »Nein, Kara.« Sie hob die Schultern. »Ich traue dem Engel nicht. Er ist vorbelastet, er haßt Zaduk, er will, daß er vernichtet wird. Er möchte ihn weghaben.« »Das wollen wir auch.« »Sicher, Myxin, bei uns ist es etwas anderes. Wir würden den Fall kälter angehen.« Der kleine Magier lächelte. »Warte erst einmal ab, Kara. Noch sind es nur Theorien.« »Ich wollte, daß schon alles vorbei wäre.«
»Mal sehen.« Der Magier stand auf. Er schritt auf die Steine zu und betrat das Quadrat. Das bestand aus einem Rasenteppich, der wiederum die beiden diagonal verlaufenden Linien verdeckte, die alle vier Steine miteinander verbanden und somit magische Verbindungen zwischen ihnen schufen. Kara schaute Myxin nach. Seine Gestalt hob sich kaum vom Dunkel des Untergrunds ab. Zudem war es still geworden. Nur das Plätschern des Bachs drang an ihre Ohren. Myxin drehte sich. Jeden Stein schaute er an. Kara wußte, daß er versuchte, Verbindungen aufzunehmen, er wollte Bilder erkennen, die sich, wie von einem magischen Telefax gesendet, innerhalb der Steine abzeichneten. Es tat sich nichts ... Stumm blieben die aus Atlantis und später Stone-henge stammenden Erbstücke in der Dunkelheit der Nacht stehen. Myxin gab es auf. Achselzuckend kehrte er zu Kara zurück. »Sie sind ruhig.« »Zu ruhig?« Er strich mit einer Hand über das dichte, pechschwarze Haar der Frau. »Du bist nervös, Kara. Du willst es förmlich herausfordern, habe ich recht damit?« »Ja und nein. Ich weiß, daß etwas passiert, daß etwas passieren muß. So geht es nicht weiter. Ich bin mir sicher, daß uns die Steine ein Zeichen geben werden. Sie haben Zaduk aufgespürt, die bleiben mit ihrer Magie praktisch an ihm, und sie werden senden, das sind sie uns einfach schuldig. So sehe ich es. Die Steine sind gegen das Böse eingestellt. Alles, was mit der Vergangenheit unseres Heimatkontinents zu tun hat, läuft über sie.« »Wenn sich etwas tut, werden sie uns Bescheid geben!« erklärte der kleine Magier. »Wie gefährlich kann Zaduks Schädel sein?« Myxin legte seine Stirn in Falten. »Er ist, da machen wir uns nichts vor, tödlich.« »Wegen der Zunge?« »Sicher. Sie ist Zaduks stärkste Waffe. Wenn sie dich einmal umschlungen hat, hast du keine Chance. Du kannst ihr nicht entwischen. Sie ist stark. Sie zerrt dich in das gewaltige Maul, wo der Tod auf dich wartet. Der Schwarze Tod hat ihm zwar den Körper mit seiner Sense abgetrennt, das Wichtigste aber gelassen. In diesem Kampf ist alles Böse vereint, das du dir nur vorstellen kannst. Er ist unbeschreiblich.« »Zu stark für den Eisernen?« »Der Engel steht nicht allein, Kara. Wir sind und werden an seiner Seite sein.«
»Das hoffe ich nur.« Kara trank ihren Tee, der längst kalt geworden war und trotzdem noch schmeckte. Auch ohne auf eine Uhr zu schauen, wußte sie, wie spät es war. »Der neue Tag ist schon längst angebrochen, noch immer keine Nachricht vom Eisernen.« Myxin lachte leise, bevor er wieder aufstand. »Ich werde nachschauen«, sagte er und ging auf die Steine zu. »Wo?« »In Johns Wohnung.« Kara nickte. Da stand der kleine Magier bereits im Zentrum der Steine. Er breitete die Arme aus und konzentrierte sich. In diesen Augenblicken förderte er die Kraft der Steine. Da aktivierte er sie und brachte sie zusammen mit seinen magischen Fähigkeiten. Auch ohne daß er die Totenmaske aus Atlantis aufsetzte, schaffte er das kaum Glaubliche. Plötzlich fingen die Steine an zu glühen. Zunächst war es nur ein schwacher Schein, der dicht am Boden seinen Ursprung hatte, sich verstärkte und auch die beiden diagonal verlaufenden Linien nicht ausließ, so daß sie wirkten wie rote Bänder. Myxin wurde von dieser Kraft erfaßt — und war verschwunden! Kara kannte den Vorgang, sie selbst hatte ihn oft genug am eigenen Leibe erlebt, dennoch war sie aufgestanden und schaute auf die jetzt leere Fläche. Myxin war schon längst in London, diese magischen Reisen dauerten nicht länger als einen Augenblick. Da spielte es auch keine Rolle, wie weit die Entfernungen waren. Sie glaubte nicht daran, daß Myxin in Sinclairs Wohnung Hinweise auf John und den Eisernen fand, aber man wollte nichts unversucht lassen. Wieder glitt ihr Blick hin zu den Steinen. Das rote Leuchten war nicht ganz verschwunden, noch immer hielt sich ein Teil der Magie innerhalb des Gefüges. Aber etwas anderes kristallisierte sich ganz allmählich hervor und war ebenfalls nur als magisches Phänomen zu umschreiben. Kara sah keine Menschen, auch keine Dämonen, sondern gewisse Silhouetten, wie man sie von Postkarten oder bebilderten Büchern her kannte, wenn der Betrachter auf Städtebilder schaute. So war es hier. Drei Steine waren davon in Mitleidenschaft gezogen worden. Kara war etwas von der Rolle. Sie wußte nicht, welchem Stein sie zuerst ihr Interesse schenken sollte. Die drei zeigten unterschiedliche Motive. Noch nie zuvor hatte Kara dieses Phänomen erlebt. Ihr Körper reagierte sehr menschlich, denn sie merkte, wie ihr der Schweiß ausbrach und die Handflächen benetzte. Gern hätte sie in diesem Augenblick Myxin an ihrer Seite gehabt, aber er
konnte noch nicht zurückkehren, denn die Steine zeigten eben die anderen Bilder und waren besetzt. Kara konzentrierte sich und dachte stark nach. Die erste Silhouette war auch für sie gut und deutlich zu erkennen. Die Tower Bridge im Hintergrund, die Themse, Big Ben war ebenfalls zu sehen, das gehörte einfach zu London. Und die zweite Abbildung? Ja, das war der Eiffelturm, der alles andere überragte. Paris also . . . Blieb noch das dritte Bild, mit dem Kara nicht zurechtkam. Jedenfalls lag die Stadt nicht in einer flachen Ebene, sondern war auf Hügeln gebaut worden, die eine unterschiedliche Höhe aufwiesen. Die Türme mächtiger Kirchen, und die Kuppel eines gewaltigen Domes stach ihr ebenfalls ins Auge. Die Schöne aus dem Totenreich überlegte verzweifelt, woher sie das Bild kannte. Sie hatte diesen Umriß schon einmal gesehen, nur kam sie nicht auf den Namen der Stadt. Und aus welch einem Grund waren die Bilder überhaupt entstanden? Wer konnte sie geschickt haben? Myxin sicherlich nicht, sie mußten mit Zaduks Erscheinen in Zusammenhang stehen. Drei Städte, drei wichtige Stationen für ihn, um seine Pläne zu verwirklichen. Bilder und Szenen, die vielleicht in seinem Schädel entstanden waren und nun - magisch verstärkt — sich in den Steinen abzeichneten. Die Gedanken eines Monsters. Sie schüttelte den Kopf. Selbst für sie, die magisch Geschulte, war das kaum zu fassen. London,Paris — und . .. Plötzlich hatte sie es. Nun wußte sie, welches Panorama das letzte Bild zeigte. Es war Rom! Kara spreizte sogar die Finger, als sie die drei Städte abzählte. Es wollte ihr nicht in den Kopf, weshalb sich die Umrisse innerhalb der Steine zeigten. Diese Bilder jedoch mußten in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Auftauchen des Schädels stehen. Die Bilder blieben nicht lange. Plötzlich sah es so aus, als hätte jemand mit einem Tuch über die Steine gewischt. Allmählich verschwanden sie. Zurück blieb die glatte Fläche. Verwirrt strich Kara über die Stirn. Dabei verrieb sie den kalten, fettigen Schweiß. Sehr allein kam sie sich vor. Jetzt hätte sie sich Myxin oder den Eisernen an ihrer Seite gewünscht. Die beiden wußten möglicherweise eine Antwort auf die bohrenden Fragen. Als sie das Flimmern innerhalb des magischen Quadrats sah, wußte sie Bescheid. Einen Moment später konnte sie die Umrisse des kleinen Magiers erkennen.
Ein wenig verwirrt, wie es ihr vorkam, blieb er stehen. Er runzelte die Stirn und verließ mit unsicheren Schritten das Zentrum der magischen Zone. Kara lief ihm entgegen. Durch das Auflegen ihrer Hände an seinen Schultern stoppte sie ihn. »Was ist denn?« fragte er. »Hast du John gesehen?« »Nein, ich traf ihn nicht. Seine Wohnung war menschenleer. Er wird noch mit dem Eisernen unterwegs sein. Ich habe auch keinen Hinweis auf das Ziel finden können.« »Aber hier hat sich etwas getan.« »Wieso?« Kara deutete auf die Steine. »Sie haben sich gemeldet, und zwar auf eine Art und Weise, wie ich es zuvor noch nie bei ihnen erlebt habe. Sie zeigten sich von einer ganz neuen Seite.« »Laß schon hören!« Kara berichtete einem aufmerksam zuhörenden Myxin, der ebenfalls einige Male den Kopf schüttelte und noch während ihrer Worte über eine Erklärung nachdachte. »Kannst du dir vorstellen, was das zu bedeuten hat?« erkundigte sie sich. Die türkisfarbenen schimmernden Augen des kleinen Magiers hatten einen nachdenklichen Ausdruck bekommen. »Es ist ein Hinweis gewesen, Kara. Ein Tip, den uns Zaduk sicherlich nicht freiwillig gegeben hat. Die Steine müssen gespürt haben, was in seinem Schädel vorging. Dort haben sich bereits seine Pläne manitestiert, eine andere Erklärung habe ich nicht und wird es auch nicht geben.« »Das heißt, wir haben eine Spur!« »Richtig und falsch, Kara. Wir haben drei Spuren. Eine führt nach Rom, die zweite nach Paris, die dritte nach London. Wir wissen jedenfalls, daß Zaduk dort etwas unternehmen will.« Kara erbleichte in Zeitlupe. »Wir kennen ihn«, flüsterte sie. »Ich habe jetzt schon Mitleid mit den Menschen, die in seine Teufeleien mit hineingezogen werden...« *** Es war unglaublich und dennoch wahr. Die freie Sicht auf den Mond wurde uns durch Zaduks verfluchten Schädel genommen. Er bot ein Bild, das an Scheußlichkeit nicht mehr zu überbieten war. Noch bleicher als das Mondlicht schimmerte sein Gebein. Es war fast zu vergleichen mit einem Licht, das sich strahlenförmig um die Knochen gelegt hatte.
In den Tiefen der Nasen- und Augenhöhlen lauerte die Finsternis des Alls. Licht- und irgendwie hoffnungslos. Das Maul stand ebenfalls offen. Wir konnten sogar erkennen, daß sich darin etwas bewegte. Dies mußte die Zunge sein, von der der Eiserne gesprochen hatte. Eine gefährliche, eine tödliche Waffe. Ob sich dahinter rotes Fleisch bewegte, war nicht zu sehen. Jedenfalls machte der Schädel auf mich einen abstoßenden Eindruck, auch deshalb, weil sein blasses Gebein an bestimmten Stellen einen rötlichen Schimmer zeigte, als wäre dort viel Blut zu einer dünnen Schicht verschmiert worden. Ich hatte meine Lage auf dem Rücken des Engels verändert und saß nun. Meine Kehle schien voll Staub zu sein, so trocken präsentierte sie sich. Als ich die Frage formulierte, hatte ich mich zuvor räuspern müssen. »Kannst du mir sagen, was sein Erscheinen zu bedeuten hat?« »Noch nicht.« »Angriff oder Warnung? Etwas anderes kommt für mich nicht in Frage. Auf was tippst du?« »Ich weiß es nicht.« »Wir könnten näher heran.« »Und dann?« Ich lachte leise. »Denk an dein Schwert. Oder besitzt es nicht die Kraft, den Schädel zu zerhacken?« »Eigentlich ja«, murmelte der Eiserne so leise, daß ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Ich bin dennoch skeptisch. Zaduk besitzt Kräfte, über die wir uns kaum Vorstellungen machen können. Wenn es so einfach wäre, ihn zu vernichten, wäre er nicht erschienen.« »Stimmt auch.« Etwas lenkte mich ab. Es kam von der rechten Seite. Eigentlich hatte ich gedacht, daß auch die Seevögel in der Nacht Schlaf suchten. In unserem Fall ab huschten sie heran. Möglicherweise besaß der Schädel noch eine besondere Anziehungskraft auf diese Tiere. Es waren Möwen, die ihre hellen Körper durch die Luft segeln ließen, uns passierten, dabei abgehackte und schrille Schreie ausstießen und plötzlich ihre Flugrichtung änderten, denn sie nahmen direkten Kurs auf das weit geöffnete Schädelmaul. »Das hat etwas zu bedeuten«, sagte der Eiserne. Seine Stimme klang dabei sehr ruhig. »Und was?« »Wahrscheinlich will er uns etwas demonstrieren, seine Macht zeigen. Gib acht!« Was folgte, war abstoßend und faszinierend zugleich. Der in der Luft schwebende gewaltige Schädel zuckte, als würde er von Stromstößen geschüttelt. Es war nur der Anfang, denn gleichzeitig fegte die widerliche Luft aus dem Maul und traf das Ziel!
Es war nicht nur eine Seemöwe, die sie erwischte. Wegen ihrer Breite und des raffiniert angeschnittenen Schlags holte sie gleich drei Vögel auf einmal. Sie ringelte sich um die Körper, die nicht mehr fliegen konnten. Die Möwen klebten an der Zunge, als hätte man sie dort angeleimt. Dann fuhr die Zunge wieder zurück in das Maul. Beide Kiefer schlossen sich, bewegten sich weiter, während die anderen Möwen schreiend davonstoben. Daß ich ein Knacken oder Schmatzen hörte, war wohl nur Einbildung, aber der Eiserne Engel sagte etwas sehr Treffendes: »Nicht nur mit Vögeln geht Zaduk so um.« Mehr brauchte er nicht hinzuzufügen. Mir war klar, was er gemeint hatte. Noch immer schwebte der gewaltige Totenkopf vor uns. Dann schnellte sein Maul auf. Die Zähne glitten auseinander, so daß ich wieder die beiden langen Eckzähne erkennen konnte. War Zaduk früher einmal ein Vampir gewesen? Die Zunge trat wieder in Aktion. Sie schleuderte Gefieder und Klumpen aus dem Maul. Der widerliche Kopf wollte die Reste der Möwen nicht mehr schlucken. Ich kommentierte diesen Vorgang sarkastisch. »Das war die Vorspeise. Hoffentlich hat er bei seiner Hauptmahlzeit nicht an uns gedacht!« »Dann werden wir sie ihm versalzen!« erwiderte der Engel. Jetzt endlich zog er sein breitklingiges Schwert. Seine Bewegung war dermaßen schnell, daß die Klinge wie ein Schatten durch die Luft glitt. Wollte Zaduk den Kampf? Nein, er zog sich zurück. Ich hätte meine Beretta ruhig steckenlassen können, denn schnell wie ein Komet raste er in die Tiefe der Nacht und war verschwunden. Hatten wir einen Spuk erlebt? Einen bösen Traum? Nichts von dem, Zaduk war real gewesen. Er hatte sich uns gezeigt, damit wir ermessen konnten, was uns noch blühte. Und er wußte auch sehr genau, wer seine Gegner waren. Wahrscheinlich hatte er uns schon auf der Insel von Ferne unter Kontrolle gehalten. »Und jetzt möchte ich ganz gern nach Hause«, erklärte ich dem Eisernen, der seine mächtige Waffe wieder einsteckte. »Ja, das ist versprochen. Halte dich fest!« Mehr Worte fielen nicht. Der scharfe Windstoß schnitt in mein Gesicht, wühlte die Haare auf, stoppte nicht, und dann sah ich plötzlich London unter mir und auch die sich von Osten her allmählich heranschiebende Dämmerung, die aus den Tiefen eines anderen Landes zu steigen schien.
Durch das noch offenstehende Fenster gelangte ich in mein Wohnzimmer, bedankte mich bei dem Eisernen, der sich irgendwie seltsam benahm und suchend im Raum auf- und abging. »Was ist los?« »Du hast Besuch gehabt.« Ich grinste. »Woher weißt du das?« »John, das spüre ich. Es war kein normaler Besuch. Er hat etwas hinterlassen.« »Dämonen?« »Nein, auch nicht. Es war Myxin, ich merke es an der von ihm hinterlassenen Aura.« Das überraschte mich. Ich sah keinen Grund, dem Engel nicht zu glauben und fragte: »Was kann er gewollt haben?« »Keine Ahnung. Es muß aber mit Zaduk zusammenhängen. Einen anderen Grund kann ich mir nicht vorstellen.« »Ja, er hat ihn gesehen.« Der Eiserne nickte. »Ich werde mich zu den Flammenden Steinen begeben und ihn fragen.« »Sagst du mir anschließend Bescheid?« »Klar.« »Dann werde ich mal Suko wecken. Der soll auch nicht so lange schlafen.« Der Eiserne ging zum Fenster und verschwand wie ein Spuk in der Nacht. Ich aber begab mich in die Küche, weil ich Durst bekommen hatte. Als ich die Kühlschranktür aufzog und mein Blick über die dort stehenden Flaschen glitt, schüttelte ich den Kopf. Daß ich in dieser Nacht über dem Atlantik geflogen und einen Schädel gesehen hatte, konnte ich ebensowenig fassen wie den Besuch auf der einsamen Insel. Es gelang eben meinen Gegnern immer noch, mich zu überraschen. Den Durst löschte am besten eine Flasche Bier, die ich öffnete und auf das Glas verzichtete. Aus dem Wohnraum telefonierte ich mit Suko, der sich relativ verschlafen meldete. »Aufstehen, frühstücken.« »Wer spricht da überhaupt?« »Alf, der Retter aller Weltraummonster.« »Ach, hast du dich umtaufen lassen, Alter. Du tickst wohl schräg, mich um diese Zeit aus den Träumen zu holen.« »Waren sie gut?« »Jedenfalls habe ich nicht von dir geträumt.« »Du kannst mich gleich sehen, denn ich möchte dir gern von einem kleinen Ausflug erzählen, den ich zusammen mit dem Eisernen Engel unternommen habe. Es war eine wunderbare Nacht. So mond-, Sternenund schädelklar.«
»Bist du betrunken?« »Keineswegs. Ich nuckle zwar an einer Bierflasche, aber betrunken bin ich nicht.« »Okay, laß mir was übrig, ich bin gleich da.« Bevor Suko meine Wohnung betrat, holte ich eine zweite Flasche, die er kommentarlos ansetzte, sich in einen Sessel fallen ließ und die Beine ausstreckte. »Und jetzt mal raus mit der Sprache, Alter! Wohin hat dich dein Ausflug geführt?« Ich erzählte es ihm, und Sukos Augen wurden groß wie Untertassen. Später wurde er so ernst wie ich, denn wir dachten daran, daß Zaduk uns noch einigen Ärger bereiten würde. »Und du hast tatsächlich gesehen, wie er diese Vögel fraß?« »Sicher.« Suko schielte auf seine halbleere Bierflasche. »Ich glaube nicht, daß er nur bei Vögeln bleibt. Der hat andere Pläne.« »Das stimmt!« Wir schraken beide zusammen, als wir die fremde, uns dennoch bekannte Stimme hörten. Myxin war erschienen. Klein und irgendwie harmlos aussehend stand er im Raum. Ich drückte mich aus dem Sessel. »Ist es dein zweiter Besuch bei mir in dieser Nacht?« »Richtig.« »Und du weißt mehr?« »So ist es«, sagte er, ging zur Seite und ließ sich auf der Couchlehne nieder. »Die Steine haben geredet.« Wenn er das so sagte, konnten wir uns darauf verlassen. Wir wußten dann, daß sie ein Bild oder eine Vision gezeigt hatten. Der kleine Magier gab mit sehr ernster Stimme seinen Bericht. Gespannt hörten wir zu und waren überrascht, die Namen dreier Weltstädte zu erfahren. »Wieso gerade London, Paris und Rom?« fragte Suko. »Was hat das zu bedeuten?« »Sie sind eben für Zaduk wichtig.« Ich hatte bisher nichts gesagt, griff Myxins letzte Bemerkung auf und meinte nur: »Warum? Warum sind diese drei Städte so ungemein wichtig für Zaduk, daß sie sich sogar in den Steinen abzeichneten?« Darauf wußte auch Myxin keine Antwort. Er konnte nur seine Schultern heben. Ich schaute der Feuchtigkeit nach, die außen als Tropfen an der Bierflasche entlangrann. »Allein kann Zaduk kaum etwas unternehmen. Er benötigt Verbündete, Menschen, die er auf seine Seite ziehen kann, die ihm treu ergeben sind.«
Suko hatte mich verstanden. »Du gehst davon aus, daß er sie in diesen drei Städten hat?« »Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen.« Ich schaute den kleinen Magier an. »Was ist deine Ansicht, Myxin? Liege ich mit meiner Prognose derart daneben?« »Ich kann überhaupt nichts sagen«, erwiderte er. »Ich mußte euch nur über das Phänomen der drei Städtebilder informieren.« »Es kann euch eine Warnung gewesen sein«, murmelte Suko. Dagegen sprach ich. »Nein, keine freiwillige Warnung. Ich schätze, daß die Magie der Steine wie ein Magnet gewirkt hat, der die Gedanken aus dem Schädel des Zaduk zog und sie auf die magische Fläche der Steine projizierte.« Suko lächelte. »Etwas weit hergeholt, John.« »Weiß ich, aber fällt dir etwas Besseres ein?« »Nein. Was ist mit dir, Myxin?« Der kleine Magier dachte nach. »Ich weiß nur, daß Zaduk unterwegs ist und diese drei Städte etwas mit seinem Auftauchen zu tun haben müssen. Deshalb würde ich euch etwas vorschlagen, das man mit dem Begriff Arbeitsteilung umschreiben kann.« Myxin redete hin und wieder etwas geschwollen. Ich wußte sofort Bescheid. »Wir sollen also in die verschiedenen Städte reisen.« »Genau, und zwar getrennt.« »Wer reist wohin?« fragte Suko. Auch da hatte sich der kleine Magier schon eine Antwort zurechtgebastelt. »Die Sache ist ganz einfach. John und Suko bleiben in London. Der Eiserne Engel übernimmt Rom, Kara und ich werden uns in Paris umschauen. So ist es abgesprochen.« Wir schauten uns an. Suko schabte über sein Kinn. »Ja, hört sich gut an«, murmelte er ohne Begeisterung. »Hört sich wirklich gut an, hat nur einen Nachteil. Das ist zu simpel. Ich will einfach nicht glauben, daß der Eiseine nach Rom kommt und dort plötzlich Zaduk am Himmel oder was weiß ich nicht wo sieht. Die Rechnung kann meines Erachtens nicht stimmen. Ich würde mich freuen, wenn ich mich irrte, aber ich habe meine Bedenken, das wollte ich noch gesagt haben.« Ich nickte. »Stimmst du mir zu, John?« »Im Prinzip ja, trotzdem halte ich den Vorschlag für gut. Wenn Kara und Myxin nach Paris reisen, ist das eine Sache von Sekunden oder was weiß ich. Das gleiche gilt für den Eisernen Engel, wenn er sich nach Rom begibt. Für uns bleibt London, wir sind also direkt am Ort und können hier nachforschen. Nicht schlecht, wirklich nicht schlecht.« Ich lehnte mich zurück und lächelte zufrieden.
Suko hob die Schultern. »Ich habe nichts gesagt, Freunde. Etwas Besseres kann uns nicht passieren.« Myxin übernahm das Wort. »Es ist natürlich klar, daß wir miteinander in Verbindung bleiben und die Informationen austauschen. Entweder Kara oder ich werden ab und zu in London erscheinen und uns erkundigen, wie bei euch der Fall steht.« »Richtig.« Ich nahm noch einen Schluck Bier. Suko hatte eine ganz konkrete Frage. »Gibt es denn schon Spuren, denen du folgen kannst?« »Wenn du damit meinst, daß Zaduk welche hinterlassen hat, und zwar blutige, dann muß ich verneinen.« »Wie willst du ihn dann finden?« Myxin zeigte ein feines Lächeln. »Er kann sich kaum verstecken, denn die Steine haben ihn einmal aufgespürt. Sie werden es sein, die uns immer wieder Hinweise geben. Kara und ich werden über die Entfernung hinweg eine gedankliche Verbindung mit den Steinen halten müssen. Wir gehen also aufdie mentale Ebene.« Das klang für Suko und mich sehr kompliziert, aber Myxin und Kara waren eben nicht mit normalen Menschen zu vergleichen. »Alles klar?« fragte der kleine Magier. »Von uns aus ja«, grinste ich. »Dann haltet die Augen offen.« »Wann willst du nach Rom?« Myxin hob die Schultern. »Ich habe mit Kara darüber schon gesprochen. Sobald es finster wird, der nächste Abend anbricht.« »Nicht tagsüber?« »Nein. Ich glaube kaum, daß sich der Schädel am Tage zeigen wird. Er würde zuviel von seiner Wirkung verlieren. Der Einbruch der Dunkelheit ist genau seine Zeit.« »Nun ja, dann kann ich dir nur viel Glück wünschen.« »Wir alle brauchen es. Zaduk ist gefährlich und brutal. Denkt daran, daß er keine Rücksicht nimmt. Auf nichts und niemand . . .« Myxin nickte noch einmal, bevor er sich umdrehte und Sekunden später aus meinem Wohnraum verschwunden war. Suko und ich schwiegen uns an. Erst nach einer Weile nickte mein Freund und Kollege. »Wir werden sehen«, sagte er, »wie sich der Fall weiterhin entwik-kelt.« Er reckte sich. »Eigentlich könnte ich mich noch für einige Stunden aufs Ohr legen. Das würde ich dir auch raten. Wenn Zaduk sich London vornimmt, haben wir den vollen Streß.« Da sollte er recht behalten. Und was seinen Vorschlag anging, ausgeschlafen war ich nicht. Trotz des Wetters ging ich noch einmal in das Schlafzimmer und legte mich aufs Bett. Der Durchzug hatte einen Teil der stehenden Hitze vertrieben. Es ließ sich einigermaßen aushalten.
Ich war tatsächlich geschafft. An Zaduk dachte ich nicht mehr, denn wie von selbst fielen mir die Augen zu... *** Wenn das Wetter klar war, konnte Naldo Cabrini von der Felsenterrasse seines Hauses aus bis zum Meer schauen, wo der Lido di Ostia, der bekannte Streifen Strand, der von zahlreichen Römern besucht wurde, in der Sonne gleißte. Italien hatte Ferien, und das war furchtbar. Die Menschen reisten wie die Wilden, die Römer zog es zum Lido, den sie massenweise bevölkerten. Immer wenn Cabrini daran dachte, bekam er einen Schauer. Da brauchte er nur an die öligen Körper zu denken, an die Hitze, den Staub und den Geruch. Rom kochte mal wieder. Die Dunstglocke wurde von keinem Windzug weggeschafft. Nur an der Küste wehte es kühler, in der Stadt selbst, dem Brutkessel, irrten nur Touristen mit stumpfen Blicken umher, weil sie von einer historischen Stätte zur anderen wollten. Die Sonne brannte erbarmungslos, ließ die Menschen träge und eine leichte Beute für Diebe werden, die auch auf den Straßen Roms lauerten. Davon bekam Naldo Cabrini nichts mit. Er lebte in den Bergen südwestlich der Stadt, aber noch so nahe daran, um sich selbst als Römer bezeichnen zu können, und darauf war er stolz. Geld hatte er, darum brauchte er sich nicht zu kümmern. Sein Haus, auf einem felsigen Hochplateau gelegen, paßte sich hervorragend in die Landschaft ein. Wenn er Mauern hatte bauen lassen, dann aus dem gleichen Gestein wie auch die Felsen waren. Ansonsten hatte er Glas verwendet, das Gelände erschließen lassen und Nachbargrundstücke schon Vorjahren gekauft, sie dann wieder verkauft und mit den Gewinnen Milliarden gemacht. Ein bißchen Mafia kam auch noch hinzu, doch direkt wollte Cabrini mit der Ehrenwerten Gesellschalt, wie sich die Bande selbst nannte, nichts zu tun haben. Er pflegte andere Hobbies. An diesem Tag stand er — ganz in weites und weißes Leinen gehüllt — auf der Felsenterrasse, wo sich auch das gewaltige Becken des Pools befand und das Wasser in einem wunderbaren Türkis schimmerte. In der Hand hielt er ein Glas mit Weißwein. Der Blick streifte über die Region und verlor sich im Dunst über der Stadt. Die Sonnenbrille schirmte seine Augen gegen das grelle Licht ab. Es paßte sich dem hellblauen Himmel an, der wolkenlos über Land und Meer lag. Cabrini freute sich auf den Tag, er sollte etwas Besonderes
sein, denn schon am frühen Nachmittag hatte er die ersten Gäste eingeladen, um die Sommerfete zu feiern. Ein Riesenspaß mit viel Champagner, teurem Essen, schönen Frauen und all den chicken Beaus, die er kannte, und die sich wie Geier auf alles stürzen würden. Naldo selbst war nicht verheiratet, hatte allerdings stets einige Damen zur Hand, wenn er sie brauchte. Das Personal bereitete die Fete bereits vor, er brauchte sich um nichts zu kümmern. Mit einem letzten Schluck leerte er das Glas, bevor er zurück ins Haus ging und sich die den Felsen angepaßte Glasscheibe der Tür langsam in den Boden senkte, damit Cabrini ungehinderten Zutritt hatte. Fr schritt über den mit kostbaren kleinen Steinen belegten Boden. Die Steine besaßen Terracotta-Farben, sie waren warm und wirkten nahezu modisch, weil eben diese Farben die neue Winterkollektion diktierten. Er blieb vor einem Spiegel stehen, der die Umrisse einer Frauengestalt zeigte. Cabrini sah sein Ebenbild. Für 45 hatte er sich noch gut gehalten, auch wenn er sein Haar schwarz färben mußte, um die dunkle Farbe zu behalten. Cabrini hatte es glatt nach hinten gekämmt und mit Gel eingerieben. Er bewegte sich wie manche Dressman in den Modemagazinen, die er oft las. Die Haut hätte straffer sein können, als er darüber hinwegfuhr. Er nahm sich vor, wieder einmal eine Schönheitsfarm aufzusuchen und sich ein wenig zu regenerieren. Maria kam aus einer Für. Sie war die Perle des Hauses, schon lange bei ihm, hatte etwas Mütterliches an sich und verzieh ihm auch seine Launen. Maria kannte sich aus, sie sorgte für alles, man konnte sich auf sie verlassen. Cabrini blieb stehen und stemmte die Hände in die runden Hüften. Maria trug einige Pfunde zuviel mit sich herum, was ihr aber nichts ausmachte, das gehörte dazu. »Was ist mit der Feier?« fragte sie. »Es läuft doch — oder?« »Ja und nein. Der Weinhändler rief an. Er wollte wissen, ob er noch etwas bringen soll.« »Haben wir nicht genug im Keller?« »Das schon, aber . . .« Sie hob die Schultern. »Man kann ja nie wissen. Deshalb wollte ich Sie fragen.« Cabrini nickte. »Si, es ist gut. Er kann noch hundert Flaschen bringen.« »Gut. Wann treffen die Gäste ein?« »Am Nachmittag.« »Der Pool wird benutzt?« Cabrini lachte. »Sicherlich, meine Liebe, es wird alles benutzt werden.« Maria nickte und ging davon. Ihr Gesicht hatte sich wütend verzogen. Sie kannte das Spiel, wenn die wilden Parties gefeiert wurden. Da wurden Menschen zu Tieren, da gingen sie aus sich heraus, da drehten sie
durch, da waren die Frauen oft schlimmer als die Männer. Maria konnte sich an Szenen erinnern, für die man sich eigentlich schämen mußte, so widerlich und schlimm waren sie. Cabrini störte das nicht. Grinsend schaute er Maria nach, ihre Gedanken kannte er wohl. Lässig schüttelte er den linken Unterarm, wo eine Kette um das Gelenk geschlungen war. Sie bestand aus kleinen, goldenen Kugeln. Erst wenn jemand genauer hinschaute, stellte er fest, daß es keine Kugeln, sondern Totenköpfe waren, die zwischen den einzelnen Gliedern hingen. Die Kette wurde von Naldo in Ehren gehalten, sie war ungemein wichtig. Er schaute auf die Uhr und stellte fest, daß es eine gute Zeit für ihn war. Nach wenigen Schritten erreichte er eine breite Nische, die ebenfalls aus Natursteinen gehauen worden war. Die Rückseite schloß mit einer Stahltür auf, an dessen rechten Rahmen eine Leiste mit zahlreichen Knöpfen angebracht worden war. Der Lift war für ihn wichtig, besonders deshalb, weil er in den Keller und damit direkt in die Felsen führte, wo sich Cabrini sein zweites Reich geschaffen hatte. Er drückte keinen Knopf. In einen Schlitz steckte er eine Kennkarte, die nur er trug. Wenn dieser Kontakt geschlossen war, brachte ihn der Lift in die Tiefen des Felskellers, der noch unter dem normalen lag. Bewegungslos blieb er stehen, starrte mit verdrehten Augen gegen die Decke und wartete, bis die Kabine durch einen kurzen Ruck anzeigte, daß die Fahrt zu Ende war. Automatisch öffnete sich die Tür. Der Lift war für andere gesperrt. Nur Cabrini konnte ihn noch benutzen. Naldo betrat eine andere Welt. Es war das Reich unter der Erde, düster und unheimlich, von Schatten durchzogen und auch von Kälte durchweht. Hier zeigte der Fels dunkle Farbe, hier schimmerte er feucht, hatten Schimmelpilze eine grünweiße Schicht hinterlassen, taten sich Risse und kleine Spalten auf, in die jemand seine Hand schieben konnte. Es war kaum vorstellbar, daß ein Mann wie Naldo sich hier unten wohl fühlte, dennoch wollte er diesen Teil seines Hauses auf keinen Fall missen. An bestimmten Stellen hatte er Lampen installieren lassen, die ein mattes Licht abgaben. Sie baumelten von der Decke wie zitternde Ballons und warfen Reflexe aus Licht auf den glatten Boden. Cabrinis Gesicht blieb starr und bewegungslos, als er dieses Reich durchschritt und sich einem bestimmten Ziel näherte. Es war eine Höhle innerhalb der Höhle, das Zentrum und gleichzeitig ein Refugium, wo erzürn erstenmal Kontakt bekommen hatte. Damals, vor einigen Monaten, er konnte sich noch gut daran erinnern, wie der Schädel plötzlich erschienen war. Von ihm war eine dermaßen große Macht ausgegangen, der Cabrini nicht hatte widerstehen können.
Er war von dem Schädel fasziniert gewesen und hatte sich in dessen Bann ziehen lassen. Noch war nicht viel passiert, doch dieser Tag sollte zu einem Wendepunkt werden. Zaduk hieß der Schädel, der stärker war als ein Götze, ein Relikt aus dem Land Atlantis. Man mußte ihn mögen, oder man lehnte ihn ab, Naldo war von der Ausstrahlung fasziniert gewesen. Sein ganzes Denken und Fühlen war von dem anderen Geist überschwemmt worden. Daß es ein böses Denken und Fühlen war, störte ihn nicht. Er war gern zu einem Diener des Schädels geworden. Die Lampe warf ihr breites Licht gefächert über den Steinboden, wo es golden schimmerte. Pfützen glänzten, nicht weit entfernt steckten bleiche Knochen in schmalen Spalten und Rissen. Auch eine Hinterlassenschaft des Schädels . . . Naldo lächelte, als er an Zaduk dachte. Noch nie hatte er ihn im Stich gelassen, auch heute würde er erscheinen, und er spürte plötzlich den Strom, der über seine Haut floß. Es war das Zeichen dafür, daß sich Zaduk auf den Weg gemacht hatte und bald kommen würde. Urplötzlich war er da! Es hatte für ihn kein Hindernis gegeben, keine Felsen, keine Wand, einfach nichts. Er durchschwebte alles und stand raumausfüllend vor dem staunenden Naldo. Trotz der Dunkelheit war der riesige Totenkopf zu sehen, denn in seinem bleichen Gebein schienen kleine Lampen zu leuchten. Langgezogen, häßlich und rötlich schimmernd, dabei mit blauen Schatten unter den Augenhöhlen versehen. Mit der bleichen Platte kratzte er fast an der Höhlendecke. Naldo sagte nichts. Er hatte allerdings Mühe, sich unter Kontrolle zu halten. Innerlich zitterte er stark, auch sein Herz schlug schneller als gewöhnlich. Er warein Mensch, derdie Reaktionen einesanderen gern vorausberechnete, was ihm in diesem Fall nicht gelang. Alles war anders, dieser Schädel konnte einfach nicht in eine Bahn gelenkt werden. Dann klappte das Maul auf. Unwillkürlich schritt Naldo zurück. Er wußte, was kommen würde, man hatte es ihm gesagt, und er fürchtete sich vor diesem Augenblick, da er nicht wußte, ob der Dämon es ehrlich gemeint hatte oder nicht. Naldo starrte in den Schlund. Groß, dunkel, eine Mischung aus roten und schwarzen Farben. Angefüllt mit einer pulsierenden und zuckenden Masse, die sich bewegte, die aufquoll, die Blasen warf, sie zerplatzen ließ und in der sich eine Zunge befand, die noch wie eitle Roulade aufgerollt worden war.
Wenig später sah er die Zunge besser, wie sie in die Höhe stieg, sich dabei drehte, als wäre ein Fakir dabei, eine Melodie zu spielen, um sie tanzen zu lassen. Das offene Maul und die darin zuckende Zunge faszi-nierten ihn. Daß ihr eine besondere Bedeutung zukam, wußte er etienfalls. Er würde heute mehr erfahren. Dann schnellte sie vor. Cabrini erschrak. Er drehte sich auf der Stelle, um entwischen zu können, aber die Zunge war dermaßen schnell, daß ihm nichts mehr gelang. Gleichzeig mit dem Klatschen spürte er den wahnsinnig harten Aufprall an der Brust. Für einen Moment wurde ihm die Luft geraubt, und er verdrehte die Augen. Die Zunge glitt über seinen Körper von oben nach unten, bevor sie ihre Richtung änderte und ihn von der Seite her regelrecht verschnürte, wie das Band bei einem Paket. Jetzt hing er fest. , Dicht unter seinem Hals hatte die Zunge einen Halbkreis hinterlassen. Der Druck raubte ihm zwar nicht den Atem, er machte es nur schwieriger, Luft zu holen. Was wollte Zaduk? Die Antwort bekam er sehr schnell geliefert, denn ein Ruck riß ihn nach vorn und ließ ihn gleichzeitig den Kontakt mit dem Erdboden verlieren. Die Zunge hielt ihn wie eine Fessel und zerrte den Mann direkt dem Ziel entgegen. Es war das Maul des Schädels! Zu einer furchtbaren Größe wuchs es vor ihm auf, und Cabrini bekam schreckliche Angst, sich übernommen zu haben. Er hatte dem Schädel vertraut, doch jetzt sah er dieses Vertrauen schwinden. Würde Zaduk alles einhalten, was er versprochen hatte? Die Zunge hielt ihn eisern. Sie besaß zumindest die Kraft einer Riesenschlange. Wenn sie wollte, konnte sie ihm mit einem gewaltigen Druck die Knochen brechen. Etwas wehte ihm aus dem Maul entgegen. Es war ein widerlicher Geruch, der sich zusammensetzte aus einer Mischung zwischen Fäulnis, Blut und Moder. Er ekelte sich. Seine Augen hatten sich geweitet, die Angst loderte in den Pupillen. Die Arme konnte er nicht bewegen, weil sie von der Zunge an seinen Körper gedrückt wurden. Dann hatte ihn der Schädel geschluckt. Cabrini schloß die Augen, er wollte nichts sehen, wenn er in das Reich des Todes glitt. Alles war anders. Statt dessen löste sich die Zunge von seinem Körper, so daß er sich wieder normal bewegen konnte. Er spreizte die Arme ab. Erst jetzt glaubte er an seine Freiheit, die er trotzdem in einem
Gefängnis bekommen hatte, denn er steckte inmitten des gewaltigen Mauls und stand auf einer weichen Fläche. Sie brachte ihm kaum Druck entgegen. Der Vergleich mit einem Teppich oder Sumpfboden kam ihm in den Sinn, nur wurde er nicht hineingedrückt, und die Zunge vor ihm rollte sich auf wie ein gewaltiges Schneckenhaus. Cabrini kam sich vor wie in einem Film, in dem alles groß war, nur er als kleine Person inmitten der Kulisse stand. Es dauerte noch immer, bis sein Gehirn erfaßte, was mit ihm geschehen war. Erlebte im Maul des Schädels. Mit scheuen Blicken durchforschte er sein Gefängnis. Irgendwo mußte es doch einen Hinweis auf das geben, was man mit ihm vorhatte. Er drehte sich sogar, konnte aber nichts entdecken, weil das Maul des Totenschädels sich geschlossen hatte. Trotzdem war es nicht stockfinster. Ob die Masse die Beleuchtung abstrahlte, war nicht erkennbar, das Licht war auch nicht hell, eher dunkel und schimmerte in rötlichen Farben, die ihn von allen Seiten trafen. Schleim bedeckte die Innenwände des Mauls. An einigen Stellen hing er in langen Fäden nach unten und zitterte auch über dem Kopf des Mannes. Die Gaumenwand erinnerte ihn zudem an Gummi, das sich an gewissen Stellen hin- und herbewegte, sich mal zusammenzog, dann vorquoll, als wollte es das Innere des Gaumens verändern. Es war auch nicht still. Blasen entstanden aus dem Schleim, bekamen Druck, die Oberfläche hielt ihn nicht aus, so daß sie mit lauten Geräuschen zerplatzten. Auf seine Haut hatte sich ein Film aus Feuchtigkeit gelegt. Immer wenn er die Hände zu Fäusten ballte, spürte er die widerliche Nässe. Dann hörte er die Stimme. Obwohl niemand direkt . mit ihm sprach, war sie vorhanden. Sie drang aus irgendeiner Tiefe an seine Ohren, als wäre sie Lichtjahre entfernt. »Zaduk, ich bin Zaduk, und ich habe dich zu meinem Diener erwählt. Bist du bereit?« »Ja . . .«, keuchte Cabrini, dem alles recht war, wenn er nur das Maul verlassen konnte. »Ich werde dir jetzt etwas sagen, und du wirst genau zuhören, denn es ist ungemein wichtig. Du bist ein Drittel meines Planes. Denk daran, daß die folgende Nacht wichtig wird.« »Gut«, flüsterte Naldo zurück, »gut... Was er anschließend hörte, durfte er nicht vergessen, denn das hätte seinen Tod zur Folge gehabt. »Einen fürchterlichen Tod würdest du erleiden, mein Diener. Ich würde dich wieder in mein Maul holen, dann aber andere Seiten aufziehen. Lebend würdest du nicht herauskommen.«
Cabrini glaubte ihm aufs Wort. Er hatte sich allerdings auch vorgenommen, nichts dergleichen zu unternehmen, was den Zorn des Mächtigen herausfordern könnte. Nahezu linkisch verbeugte er sich, um so seine Zustimmung zu geben. Das Maul hinter ihm klappte auf. Er sah es nicht, er spürte nur den Luftzug, der seinen schweißfeuchten Nacken traf und ihn schaudern ließ. Noch einmal vernahm er die Stimme. »Feiere dein Fest, denn es ist wichtig . . .« »Si, Sir«, flüsterte Cabrini, drehte sich um und verließ fluchtartig das Maul des Schädels. In die Höhle fiel er hinein, rutschte auf dem feuchten Boden aus, prallte zu Boden und holte tief und keuchend Luft. Vor seinen Augen drehte sich alles. Obwohl er nicht körperlich gefordert war, fühlte er sich ziemlich am Ende. Auf dem Weg zum Lift zitterten die Beine noch immer. Stromstöße schienen durch die Kniekehlen zu schießen. Erst an der Tür drehte er sich wieder um. Seine Augen weiteten sich. Der Schädel war verschwunden. Keine Spur mehr von Zaduk. Er hatte sich einfach aufgelöst. »Verdammt!« keuchte er. »Verdammt noch mal, ich . . . ich muß es durchstehen, ich bekomme Macht, viel Macht. Die alte Kraft aus Atlantis, sie wird mich stärken.« Auf einmal ging es ihm wieder besser. Als er in die Höhe fuhr, füllte sein gellendes Lachen die Kabine und hallte noch von den Wänden wider. Oben angekommen, wischte er die Nässe aus dem Gesicht und sah erst dann Maria in der Nähe stehen, die ihn kopfschüttelnd und gleichzeitig sorgenvoll anblickte. »Was ist? Was haben Sie?« fragte die Frau. Er hob die Schultern. »Nichts Besonderes, Maria.« »Doch, Signore Cabrini. War etwas mit dem Keller? Sie müssen es mir sagen!« Er hob nur die Schultern. »Nein, was soll schon gewesen sein . . .?« Dann ging er schweigend weg und dachte dabei an den Abend, der sein Leben ändern würde... *** Paris — Metropole an der Seine. Weltstadt, in dem in diesem Jahr sich die Feste und Feiern gegenseitig die Hände reichten, denn man feierte den zweihundertsten Jahrestag der Revolution. Eine Stadt, die in der Hitze des Sommers kochte, stöhnte, schrie. Manchmal voller Lust, dann wieder gequält, als wäre es ihr unmöglich, all das zu fassen, was auf sie zugekommen war.
Besonders die Ströme von Menschen, die Paris durchwanderten und den Bistros, den Kneipen und Hotels Hochbetrieb bescherten. Alles war im Fluß, alles ging ineinander über. Man lebte und liebte, man weinte und lachte. C'est la vie! Auch für Yves Balzac, der tatsächlich mit Hausnamen so hieß und sich nicht den berühmten Namen des Dichters als Pseudonym angehängt hatte. Balzac liebte Paris, er mochte die Menschen, aber er wählte sehr genau aus. Ihm waren die Touristen, die Reichen und die Bürgerlichen suspekt. Wo er sich herumtrieb, da lebten diejenigen, über die kein Klatschblatt berichtete, die Menschen aus dem Bauch von Paris, wo es stank, wo die Straßen schmal waren und das Pflaster Lücken zeigte. Wo Haus an Haus stand, oft mit Fassaden, die beschmiert waren, weil man den längst abgeblätterten Putz damit überdecken wollte. Das waren die Ecken, wo sich Balzac herumtrieb, wo man ihn kannte und zu einem Führer gemacht hatte. Von Beruf war er vieles, doch er nannte sich, wurde er danach gefragt, Menschenfreund und Künstler. Er hatte vieles in seinem fünfzigjährigen Leben gemacht, sich in der Welt herumgetrieben und war immer wieder in den Bauch der Stadt zurückgekehrt, wo er seine Freunde wußte, die an seinen Lippen hingen, wenn er mit den Männern und Frauen im Bistro saß und von seinen Erfahrungen berichtete. Einmal etwas Tolles zustande bringen. Einmal richtig zuschlagen, es allen zeigen und die Bourgeoisie - die Bürgerlichkeit — ins Wanken bringen. Davon träumten die Menschen im Viertel, die Farbigen, die Schwarzen, die Weißen, die Zigeuner, die Polen, die Flüchtlinge. Balzac hatte sich die Worte genau gemerkt, und als er die Versammlung ins Leben gerufen hatte, stand sein Plan längst fest. Er durfte damit nicht warten, weder Wochen noch Tage, höchstens Stunden, mehr gab er ihnen auf keinen Fall. Sie trafen sich bei Max. Er war ebenfalls eine Institution im Viertel. Ein ehemaliger Fremdenlegionär, der nicht in die rechte Szene gedriftet war, sondern erlelit hatte, daß Farbige auch Menschen waren und nicht zur zweiten Klasse gehörten. Bei Max gab es alles, auch mal Kredit, wenn jemand keinen Sou in der Tasche hatte. Über Paris stand die Sonne wie ein gelber Ball. Sie brannte ihre Strahlen in den Straßenwirrwarr, ließ frischen Asphalt weich werden und dampfen. Sie war heiß, sie war unbarmherzig, wobei sie dem Wind nicht einmal erlaubte, etwas Kühlung zu bringen.
Es stank in den engen Straßen. Faulig, an manchen Stellen auch nach Kot und Erbrochenem. Kein Regen spülte die staubtrockenen Gassen leer. Die Gewitter, die hatten kommen sollen, waren irgendwo über der Weite des Landes hängengeblieben. Yves sah aus wie immer. Ein wenig erinnerte er an den großen Yves Montand. Auch Balzac trug - da konnte es noch so heiß sein — seine Schiebermütze, und er verzichtete auch nie auf sein Jackett, ein graues Stück Stoff, das im Sommer angeblich kühlen und im Winter wärmen sollte. Darunter war er mit einem blauen Stehkragenhemd bekleidet, das locker über seiner Hose flatterte, die ebenfalls bessere Zeiten gesehen hatte und deren Taschen ausgebeult waren wie Halbkugeln. Wenn Yves unterwegs war und gesehen wurde, zollte man ihm großen Respekt. Ob Männer, Frauen oder Kinder, wer ihn sah, der nickte ihm zu. Da wurde gegrüßt. Zumeist wurde der Gruß noch von einem herzlichen Lächeln begleitet, und besonders für die Kinder hatte der Mann mit dem faltenreichen, sonnenbraunen Gesicht stets freundliche Worte parat. Seine Augen verschwanden fast in den schmalen Schlitzen. Im Gegensatz dazu fiel die wuchtige Nase auf, die bei ihm tatsächlich wie ein Erker aus dem Gesicht schaute. Eine Frau kam auf ihn zu. Sie drückte ihm frisches Obst in die Hand. »Ich habe es selbst geschenkt bekommen. Es sind Pfirsiche aus dem Süden, du wirst sie mögen.« Yves bedankte sich mit einem Kuß auf die Wangen der Frau. Beim Weitergehen aß er die Pfirsiche und konnte, nachdem er in eine schmale, etwas ansteigend verlaufene Gasse eingebogen war, bereits das Bistro von Max sehen, das einen guten Standort besaß, denn er hatte es um eine Ecke gebaut. Im Haus selbst lebten zahlreiche Menschen. Da waren die Wohnungen verändert worden, um mehr Platz zu schaffen. Asylanten hielten sich dort ebenso auf wie Schwarze, die keine Arbeit fanden. Der kleine Lebensmittelladen gegenüber gehörte ebenfalls zum Viertel. Dort verkaufte Madame Sestakis, eine Griechin, all die Dinge, die die Fremden aus ihrer Heimat kannten. Ihr Mann war dabei, Nachschub von seinem Lastwagen abzuladen. Zwei Neger halfen ihm dabei. Sie würden ein paar Francs dafür bekommen. Wegen der unerträglichen Temperaturen stand die Tür offen. Musikfetzen drangen auf die Straße. Schwarzafrikanische Soulklänge, die drei dunkelhäutige Jugendliche zum Tanz animierten. Sie führten ihn auf der Straße auf, beobachtet von den Gästen, die vor dem Bistro standen und ihre Getränke schlürften. »Bonjour Yves, hallo Yves . ..« So und ähnlich wurde der Ankömmling begrüßt. Es war bekannt, daß er eine Versammlung abhalten wollte, und
alle waren sie schon da, saßen, standen oder hockten im Bistro und hielten sich auch an der langen Holztheke auf, hinter der Max und sein jüngerer Freund aus Tunesien standen und alle Hände voll zu tun hatten. Kami lebte mit Max zusammen. Er war ein schmalhüftiger Typ, stets in ein modisches Schwarz gekleidet, mit ebenfalls schwarzen Haaren, die zwar nach hinten gekämmt waren, aber ein welliges Eockenmuster aufwiesen. Max, der Graubärtige mit den muskelstarken und tätowierten Armen, goß Rotwein in ein Glas, das andere dem Ankömmling reichten, der einen halben Schritt vor der Tür stehenblieb, das Glas hob und es zur Hälfte leerte. Damit spülte er sich den Staub aus der Kehle, der sich dort regelrecht festgebacken hatte. Sie hatten ihm seinen Platz freigehalten. Nur wenn Yves es ausdrücklich erlaubte, durfte sich dort jemand anderer hinsetzen. Es war der runde Tisch in der Ecke. Ein Metallstuhl stand dort, und Yves ließ sich nieder. Sofort verließ Max seinen Platz hinter der Theke. An seinem linken Ohrring schaukelte ein breiter Ring aus Gold. »Was möchtest du noch?« »Nichts mehr, nur einen Schluck Wein.« »Kein Essen?« »Nein, ich bekam unterwegs Pfirsiche aus dem Süden. Sie waren sehr gut und haben mich satt gemacht.« »Also den Roten?« »Oui.« Max legte seine Hand auf Yves' Schulter. »Und wie geht es dir sonst, mon ami?« Yves grinste. »Jetzt gut. Ich freue mich, daß ich bei dir bin und daß alle hier sind, die ich erwartet habe.« »Merci.« Max drehte sich um und winkte Rami, dem Tunesier, zu. Der wußte Bescheid und brachte die Rotweinflasche, die von einem Geflecht aus Korb umwik-kelt wurde. Der Platz war insofern noch günstig, daß die Sonne ihn erst am späten Nachmittag erreichte. So hockte Yves im Schatten und in der schlechten, rauch- und gerüchegeschwängerten Luft, die man kaum noch atmen konnte. Sie gehörte nun einmal dazu, ebenso wie das Sägemehl auf den Holzdielen, die zertretenen Kippen und die eingetrockneten Weinlachen, die niemand wegscheuerte. Am Abend wurde zwar gefegt, das war auch alles. Yves trank den Wein in kleinen Schlucken und ließ seine Blicke schweifen. Sie waren alle gekommen, die er auch erwartet hatte. Das ganze Viertel hier schien entvölkert zu sein.
Die Mädchen mit ihren glänzenden Augen, den biegsamen Körpern und dem auffallenden Schmuck. Die Männer, ob alt oder jung. Die Arbeitslosen, die Älteren und die Jüngeren, in deren Augen der Wahnsinnshunger nach Leben stand. Irgendwann würde dieser Hunger verschwinden und der Depression Platz schaffen. Das wußte Yves, und er hatte sich vorgenommen, etwas dagegen zu tun. Er wollte den echten Menschen hier einen Teil der I loffnung zurückgeben, das klappte nur, wenn sie etwas Außergewöhnliches taten, was auch Aufsehen erregte. Aus den Tiefen seiner Tasche puhlte er eine Schwarze hervor und klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen. Jemand reichte ihm Feuer, und er paffte einige Wolken, in die er hineinschaute. »Kann ich mal um Ruhe bitten?« rief er gegen den Lärm an. Rami stellte die Box aus. Die fremden Klänge verstummten mit Jaultönen, was bei einigen Schwarzen Murren erzeugte. Max brachte sie durch wenige Worte zum Schweigen. »Hört zu, ihr alle! Yves ist gekommen, um etwas von seinen neuen Plänen zu berichten. Wir alle sollen darin eine Rolle spielen. Habt ihr das verstanden?« Ein Nicken war die Zustimmung. »Bon, Yves, fang an.« Er war es gewohnt, auch mit der Zigarette im Mundwinkel zu sprechen. Die Gäste rückten noch enger zusammen, so daß sie seinen Tisch wie eine Mauer umstanden. Er nahm die zahlreichen Gerüche und Ausdünstungen der Körper wahr, was Yves nicht weiter störte. Das gehörte einfach dazu. Ohne dies wäre er sich fremd vorgekommen. »Frankreich feiert, Paris feiert, sie alle feiern . . .« »Ja, die Scheiß-Bonzen!« schrie jemand im Hintergrund. »Ruhe!« brüllte ein anderer. »Laß mich reden!« fuhr Yves mit einer so lauten Stimme fort, daß er auch im letzten Winkel des Bistros gehört wurde. »Wenn sie alle feiern, weshalb sollen wir dann vergessen sein? Auch wir müssen uns etwas einfallen lassen, und zwar ein Fest.« Nach dieser Einleitung wurde es still. Niemand konnte etwas mit den Worten anfangen. Die Gäste schauten sich gegenseitig an, hoben die Schultern, selbst Max hinter der Theke schüttelte den Kopf. Er war von Yves enttäuscht. Der saß da, qualmte an der Schwarzen, trank einen Schluck Rotwein und lächelte vor sich hin. »Es gefällt euch wohl nicht, was ich gesagt habe, wie?« So recht wollte niemand mit der Wahrheit herausrük-ken. Man hob nur die Schultern.
»Nun ja«, meinte der alte Marick, schon fast neunzig und jeden Tag für einige Stunden im Bistro. »Wenn wir ehrlich sind, haben wir etwas anderes von dir erwartet.« Er wischte über seine fettigen Lippen und war froh, daß die meisten nickten. »Das habe ich mir gedacht, mes amis. Kennt ihr mich eigentlich?« rief Yves und hob seine Arme, um die Hände anschließend klatschend auf die Tischplatte fallen zu lassen. »Nein, ihr kennt mich nicht. Dann hättet ihr nicht an meinen Worten gezweifelt, verdammt noch mal. Wenn ich sage, wir feiern ein Fest, dann feiern wir auch ein Fest, aber es wird ein ganz besonderes werden und nicht so ein Mist wie alle anderen, die ihre Stühle und Tische auf die Straßen stellen, Radio hören und anfangen, nach der Musik zu tanzen oder sich verbrüdern, wenn sie genügend getrunken haben. Nein, ein derartiges Fest wird es nicht geben. So etwas lehne ich ab. Wenn wir feiern, dann wird Paris von uns sprechen, dann ist das wie ein Aufbruch zu neuen Ufern, dann erhebt sich der Bauch dieser Stadt, um zu zeigen, was er enthält. Klar?« Diesmal reagierten die Gäste anders. Sie schauten ihn an, nickten anerkennend, und Yves merkte, daß er wieder einmal gewonnen hatte, was ihm persönlich gut tat. Der greise Marick stellte wieder eine Frage: »Was hast du dir denn gedacht, Yves? Welches Fest soll es werden?« »Um darüber mit euch zu reden, bin ich hergekommen.« Er trank sein Glas leer. Sofort war jemand da, der ihm nachschenkte. »Danke, cherie.« Er klopfte der Kleinen auf den strammen verlängerten Rücken. Die Kleine zwinkerte ihm zu. »Wir sehen uns sicherlich später«, sagte er und kam wieder zum Thema. »Wenn wir dieses Fest machen, müssen wir hier raus. Weg aus dem Viertel, wo wir beengt sind und überhaupt nicht auffallen. Man wird uns sehen, die Schultern heben und sagen: »Nun ja, laß sie mal . . .« »Stimmt!« rief Max. »Du hast recht, Yves, das wäre wirklich nichts und deiner nicht würdig.« Yves nickte, leckte über seine dünnen Uppen und machte es noch einmal richtig spannend. »Ich habe mir deshalb gedacht, daß wir alle hier . . .« Er breitete die Arme aus und bewegte sie, weil er sämtliche Gäste veranlassen wollte, das Viertel zu verlassen. Pause! Keiner reagierte. Die Gäste hatten den Vorschlag gehört, der sie überraschte, denn sie waren zu keiner Antwort fähig. »Und wohin?« fragte ein zwergwüchsiger Mensch, dereinen flachen Strohhut auf dem Kopf trug. »Das ist die Sache, mes amis. Es wird euch komisch vorkommen, aber ich habe alles genau durchdacht. Wir werden uns schon am Nachmittag auf den Weg machen und zu unserem Ziel hingehen.« »Wohin denn?«
Yves lachte breit. »Ich frage euch, was ist das Wahrzeichen dieser verdammten und doch so herrlichen Stadt. Was ist das Wahrzeichen außer uns? Wo finden wir den Mittelpunkt? Wo starren alle Besucher mit Glotzaugen hin? Besonders in diesem Jahr!« »Auf die Weiber!« schrie der Kleine mit dem Strohhut. »Ja, das auch. Du kannst ihnen sogar unter den Rock gucken, wenn sie normal gehen.« Lachsalven erschütterten das Bistro. Einige Kommentare wurden abgegeben und die Situation noch weiter ausgebaut. »Das meint er bestimmt nicht!« rief Rami. »Du hast recht, Junge!« Yves sprach weiter, weil man sich wieder beruhigt hatte. »Ich denke an das andere Wahrzeichen dieser Stadt, das alles andere überragt.« Fast jeder wußte die Antwort. Aus zahlreichen Kehlen gesprochen, klang sie wie ein einziger Schrei. »Der Eiffelturm. Es kann nur der Eiffelturm sein.« Yves ließ seinen Zigarettenstummel fallen und zertrat die restliche Glut mit dem Absatz. »So ist es, Freunde. Ihr habt es erfaßt. Wir werden uns für unser Fest den Eiffelturm aussuchen.« Jetzt, wo es offenkundig war, schwiegen die Gäste. Das mußten sie erst einmal verdauen. Yves ließ ihnen Zeit, trank Wein, zwinkerte dem Mädchen zu und streckte die Beine unter dem runden lisch aus. »Na, habt ihr euch mittlerweile gefangen?« »Oui, aber wieso? Was willst du da?« rief Max. »Wie sollen wir . . .« »Wir fahren hoch!« »Ach . . .« »Ja, auf die Plattform, wo die Gaffer immer stehen. Von dort haben wir den perfekten Ausblick, da werden wir die Feier ansetzen, so daß der Turm anfängt zu wak-keln. Ich sage euch, so ein Fest hat Paris in diesem Jahr noch nicht erlebt.« »Willst du ein Feuerwerk starten, Yves?« schrie jemand. Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, das habe ich nicht vor, aber es wird trotzdem eine Überraschung geben, denn ich habe einen Gast eingeladen.« »Wer ist es?« »Das sage ich nicht.« »Ist es ein Künstler, ein Politiker . . .?« »Nein, keiner von den Volksverdummern.« Yves winkte mit beiden Händen, und es wurde wieder ruhig. »Ihr werdet von mir keine Antwort bekommen. Ich kann euch nur sagen, daß ihn bisher keiner von euch gesehen hat. Er ist etwas Besonderes, mes amis. Und jetzt laßt uns trinken. Es geht alles auf meine Rechnung.« Ein Jubelsturm brach los.
Keiner achtete auf das kalte Lächeln in Yves' Gesicht. Er wollte, daß die Gäste angetörnt das Lokal verließen. Dann war er gespannt darauf, wie sie das Erscheinen des Ehrengastes Zaduk aufnehmen würden... *** Am späten Vormittag hatten wir uns endlich durch den Verkehr und die Hitze gequält, um das Yard Building zu erreichen. Im Büro empfand ich es direkt als angenehm, wenn ich es mit den Außen-Temperaturen verglich. Der Meinung war auch Suko. Uns ärgerte nur, daß wir in dem Fall keinen Schritt weitergekommen waren. Zaduks Schädel lastete wie ein Fluch über unseren Köpfen. Glenda, die betont lange auf ihre bunte Armbanduhr schaute, schüttelte den Kopf. »Auch schon da?« »Wie du siehst.« Sie schaute uns an. »Besonders du, John, siehst aus, als hättest du die Nacht durchgemacht.« »Vielleicht.« »Wie hieß die Frau?« »Es war ein Engel.« »O wie schön.« »Sogar aus Eisen.« Jetzt begriff sie. »Der Eiserne Engel hat dich besucht? Was war denn los?« »Das wissen wir selbst nicht so genau. Es wird sich noch alles herausstellen.« Ich deutete auf das Telefon. »Ist Sir James im Hause oder sitzt er irgendwo in der Sonne?« »Wenn er sich schon draußen aufhält, dann im Schatten. Aber keine Sorge, er ist im Haus.« Sie beugte sich vor und griff nach dem Telefonhörer. Dabei klaffte der Ausschnitt der Bluse weiter auf. Mein Einblick war schon jugendgefährdend, und ich konnte mir die Frage nicht verkneifen: »Nahtlos braun?« »Was dagegen?« »Nein, überhaupt nicht. Aber du legst dich ja immer ohne mich ins Freibad.« »Pech gehabt, John. Es gibt genügend andere, die mich begleiten wollen.« »Kann ich mir denken.« Glenda hatte die Verbindung bekommen. Sir James hörte sich knurrig an, wollte aber, daß wir kamen. »Der ist sauer«, sagte Glenda. »Weshalb?« »Keine Ahnung. Möglicherweise liegt es an der verflixten Hitze. Die quält auch mich.« »Dann geh weniger ins Freibad und in die Sonne.« »Neidhammel.« Selbst Sir James trug kein Jackett, als wir ihn hinter dem Schreibtisch sitzen sahen. »Nun?« fragte er. »Wollen Sie mir den Grund der Verspätung erklären?« »Auch das«, sagte Suko.
»Verschlafen?« »Nein, Sir.« Ich grinste ihn an. »Wir haben fast die ganze Nacht durchgemacht.« »Ach ja?« »Und wie.« Er merkte, daß wir keinen Spaß machten und bat uns, Platz zu nehmen. Wenig später bekam er noch größere Augen hinter seinen Brillengläsern, als er erfuhr, was uns widerfahren war. »Und das stimmt?« flüsterte er. »Ja.« Der Superintendent schluckte. »Zaduk, den Namen habe ich nie zuvor gehört. Irgendwie klingt er gefährlich, meinen Sie nicht auch?« »Zaduk ist auch gefährlich«, gab ich zu bedenken. Sir James nickte. »Was will er? Menschen an sich reißen, sie töten, sie verschlingen?« »So ungefähr.« »Und das in drei Städten zugleich?« »Es sieht so aus.« »Finden Sie das nicht unwahrscheinlich, John? Rom, Paris und London.« Er hob die Schullern. »Ich weiß nicht, da scheint sich jemand doch zuviel vorgenommen zu haben.« »Das glaube ich nicht, Sir. Nein, auf keinen Fall. Zaduk ist raffiniert, brutal und clever. Er gehl genau nach Plan vor, da können Sie sagen, was Sie wollen. Zum Glück haben es Kara, Myxin und der Eiserne bemerkt. Ich glaube daran, daß sie es sind, die den Fall besser lösen können. Unter Umständen bleiben wir als Einsatzreserve im Hintergrund.« »Nur dann nicht, wenn sich der Fall nach London verlagern sollte«, fügte Suko hinzu. »Das stimmt dann wohl.« Sir James räusperte sich. »Etwas anderes will mir trotzdem nicht aus dem Kopf. Wo könnte er hier in London erscheinen und zuschlagen? Was wäre für seine Pläne günstig? Haben Sie sich darüber schon Gedanken gemacht?« »Ja und nein. Leider ohne Ergebnis.« »Was sagt der Computer?« »Nichts.« Ich hob die Schultern. »Er hat nichts über Zaduk gespeichert. Außerdem sind die Informationen, was den Kontinent Atlantis angeht, sehr spärlich eingegeben. Wir waren bereits unten bei den Kollegen, die uns nicht helfen konnten.« »Dann müssen Sie warten.« Suko und ich nickten synchron. Sir James räusperte sich. »Verflucht, das gefällt mir nicht. Das gefällt mir überhaupt nicht. Da geht mir einiges quer die Kehle runter bis in den Magen.« »Uns auch.« »Was ist mit Myxin und Kara?«
Suko gab die Antwort. »Wir bekommen von ihnen Bescheid, falls sich etwas Neues ergeben hat.« »Das kann dauern.« »Wahrscheinlich, Sir. Wir können über Zeiten nicht einmal spekulieren.« Der Superintendent schüttelte den Kopf. »Das paßt mir nicht, das paßt mir überhaupt nicht.« Er schaute auf die Uhr. »Leider muß ich zu einem Treffen mit den Führungsspitzen der Metropoliten Police. Geben Sie mir Nachricht, wenn sich etwas tut.« »Das ist klar, Sir.« Er reichte uns die Hand, atmete dabei tief durch und räusperte sich. »Dieser Zaduk müßte schon allein wegen seiner Größe auffallen, wenn er über London erscheint.« »Sicher, Sir.« Unwillkürlich schaute ich zum Fenster. »Wir können nur hoffen, daß es dann nicht schon zu spät ist.« Auch Sir James wußte, was es bedeutete, von einer atlantischen Magie überfallen zu werden. Oftmals waren wir mit unseren Waffen nicht in der Lage, etwas dagegen auszurichten, auch mein Kreuz reagierte nicht auf diese Art von Gefahr. Ziemlich nachdenklich, wenn nicht bedrückt, verließen wir das Büro unseres Chefs. Eigentlich war Mittagszeit, nur verspürten wir beide keinen Hunger. »Das ist mir auf den Magen geschlagen«, sagte ich und schielte zum KaffeeAutomaten herüber, den wir soeben passierten. »Braunes Wasser?« fragte Suko. »Nein und wenn, dann von Glenda.« Unsere Sekretärin war ebenfalls nicht zum Essen gegangen. Sie saß da, hatte die Beine hochgelegt und löffelte Joghurt aus dem Becher. »Fettarm«, sagte sie, bevor wir noch einen Kommentar abgegeben hatten. »Wegen mir brauchst du das nicht«, grinste ich. »Weiß ich.« Sie deutete auf eine Zeitung, die neben ihr lag, wohl ausgebreitet auf dem Teppichboden. »Wenn du in der Lage bist, dich zu bücken, John, heb sie mal auf.« »Und dann?« »Lies die vorletzte Seite, wo die zahlreichen Anzeigen abgedruckt sind. Wenn dir etwa auffällt, würde es mich freuen.« »Du machst es aber spannend.« »Lies selbst.« Sie hatte auch Suko neugierig gemacht. Gemeinsam schauten wir die Seite mit den Anzeigen durch. Da war alles vertreten. Jemand bot preiswerte Abführpillen an, daneben sah ich einen mageren Jüngling mit Hängeschultern, der erst richtig in Form kam, wenn er gewisse Kraftpillen schluckte. Ein anderer suchte Brieffreunde in aller Welt; wieder ein anderer wollte allen erzählen, wie leicht es doch letztendlich ist, Millionär zu werden, ohne etwas dafür zu tun.
»Den Trick soll er mir mal verraten«, sagte Suko. »Welchen?« »Den mit dem Millionär.« »Würdest du ihn verraten?« Suko grinste. »Niemals.« »Ich auch nicht.« Wir lasen weiter und hörten Glenda zwischen zwei Löffeln Joghurt mosern. »Noch immer keinen Erfolg, ihr Schlaffies?« »Nein.« Sie verdrehte die Augen. »Unten rechts, wo einige Theater und Kinos auf ihre Programme hinweisen.« Ich schaute gezielt hin, und es durchlief mich als kaltes Rieseln. Suko hatte die Anzeige im gleichen Augenblick bemerkt. »Das darf doch nicht wahr sein«, flüsterte er. »Es ist wahr«, sagte ich mit kratziger Stimme und bemerkte, daß auch Glenda aufstand. Dann las ich vor. »Heute abend die Premiere eines neuen Theaterstücks. Titel: Zaduks Schädel...« *** Die Zeitung rutschte mir zwar nicht aus der Hand, viel aber hatte nicht gefehlt. Zischend ließ ich die Luft über die Lippen strömen und strich quer gegen mein Haar. »Das ist es!« flüsterte ich. Glenda tippte gegen den Rand der Zeitung. »Zufall?« fragte sie leise. »Nie!« rief Suko. »Das kann kein Zufall sein. Denk daran, was Kara und Myxin in den Steinen gesehen haben. Drei Städte, eine davon war London. Verdammt, das ist die Spur.« Ich las den Text noch einmal und schüttelte den Kopf. »Kann mir jemand sagen, wer . . .?« »Ich habe schon angerufen«, unterbrach Glenda mich, »und herausgefunden, daß die Vorstellung nicht ausverkauft ist. Leider habe ich am heutigen Abend keine Zeit, aber ich bin sicher, daß ihr die beiden Karten nehmen werdet, die ich habe reservieren lassen.« »Darauf kannst du dich verlassen!« flüsterte ich und sah gleichzeitig Sukos Nicken. »Wo ist der Schuppen?« erkundigte sich mein Freund. »Nicht weit entfernt, in Soho, in einem dieser neuen alten Theater, die umgebaut worden sind.« »Okay. Wann beginnt die Vorstellung?« Ich schaute nach den Anfangszeiten. »Du kannst nur einmal hin. Um einundzwanzig Uhr.« Suko überlegte. »Ziemlich spät.« »Da wird es auch kühler.«
»Und mittlerweile dunkler.« »Das auch.« Glenda hatte sich wieder hingesetzt. »Das Theater kenne ich«, sagte sie. »Fs ist in einem ziemlich alten Gebäude untergebracht worden, in einer Fabrik.« »Und weiter?« »Mehr nicht. Ich wollte mal hin, bin nicht dazu gekommen. Aber ehrlich gesagt, von diesem Stück habe ich auch nie gehört. Das ist in keiner Kulturausgabe irgendwelcher Zeitungen besprochen worden.« »Geht auch nicht, denn es läuft nur heute.« Suko nickte. »Wenn das kein Beweis ist, fresse ich den Hut vom alten Tanner.« »Laß mir die Krempe wenigstens übrig.« Ich faltete die Zeitung zusammen. »Ihr könnt sagen, was ihr wollt. Aber ich habe das Gefühl, als stünde uns ein heißer Abend bevor.« »Meinst du das klimatisch?« »Nicht nur, Suko, nicht nur...« *** Die flaming stones Ein ruhiges, wunderschönes Gebiet, doch in der letzten Zeit mit einer Unruhe erfüllt, wie man sie selten erlebt hatte. Keine äußerliche, sie hielt sich mehr innerlich, und sie hatte die drei Personen umfaßt, die hier lebten. Kara, Myxin und der Eiserne Engel! Die Nacht war verschwunden und hatte einer strahlenden Helligkeit Platz geschaffen, die ein heißer Sonnenball verbreitete. Nur gut, daß das Areal von dicht bewaldeten Hängen umgeben war, die einen großen Teil der Strahlen abhielten und die Hitze nicht so durchkommen ließen. Schon seit dem Sonnenaufgang war der kleine Magier voller Unruhe aufund abgewandert. Immer wieder war er in das Quadrat zwischen den Steinen gegangen, um nachzuforschen, was sich getan hatte oder ob sich überhaupt etwas tat. Die Steine blieben stumm. Sie glühten nicht, sie sandten keine Botschaften aus und ragten als stumme, graue, klotzige Finger in den hellblauen Himmel. Irgendwann kam Kara aus der Blockhütte. Sie sah den kleinen Magier bei den Steinen stehen und ging auf ihn zu. »Nun, hast du etwas feststellen können?« »Nein, nichts. Es meldet sich niemand. Keine Anzeichen, daß Zaduk unterwegs sein könnte.«
»Er wird sich bereits in eine der drei Städte zurückgezogen haben«, sagte die Schöne aus dem 'Totenreich. »Dessen bin ich mir sicher. Daran glaube ich fest.« »Das kann sein.« Myxin lächelte. »Da brauchst du dir nur noch auszusuchen, welche Stadt das ist.« »London wäre mir lieb.« »Wieso?« »Da könnten John und Suko direkt mitmischen, aber soviel Glück werden wir nicht haben.« Sie strich ihr Haar zurück und begrüßte den Eisernen, der ebenfalls die Blockhütte verlassen hatte. »Nichts?« fragte der Engel. »So ist es.« Er ballte die mächtigen Hände. »Wir können nichts anderes tun, als zu warten.« Er schaute sich die Steine an und deutete auf den leeren Raum zwischen ihnen. »Am besten ist es natürlich, wenn wir hingehen und versuchen, die Magie so rasch wie möglich aufzufangen, falls sie uns trifft. Oder was meint ihr?« Die beiden nickten. Myxin machte den Anfang, Kara folgte. Zuletzt betrat der Eiserne Engel das Quadrat. Nun zeigte es sich, daß es noch eine Eigenschaft gab, die sie von den normalen Menschen unterschied. Es war die Geduld. Sie gelben mit keiner Regung zu verstehen, wie sehr sie darauf warteten, daß endlich etwas geschah und der verfluchte Schädel unfreiwillig eine Botschaft zu den Steinen schickte. Die Sonne wanderte weiter, Zeit verrann. Minuten addierten sich zu Stunden. Kaum jemand sprach ein Wort. Nur das Summen der Insekten und das Plätschern des Bachs war zu hören. Bis Myxin plötzlich zusammenschauderte, als hätte ihn ein kalter Hauch gestreift. Kara hatte es gemerkt. »Was ist los mit dir?« Er zwinkerte mit den Augen. »Ich . . . ich habe die Magie gespürt, Kara. Sie ist auf dem Weg zu uns.« »Die Steine?« »Einer nur.« »Und welcher?« fragte der Eiserne, dessen Stimme ebenfalls vor Spannung vibrierte. Myxin streckte Arm und Zeigefinger aus. Mit der leicht grünlich schimmernden Spitze deutete er auf den schlanken Stein, der ihm gegenüber stand. »Schaut dort hin . ..«
Sosehr die beiden anderen sich auch konzentrierten, es war nichts zu sehen. Myxin mußte einem Irrtum erlegen sein, was bei ihm sehr selten vorkam. Er drehte sich zu seinen Freunden um und schaute sie hilflos an. »Das begreife ich nicht. Es war etwas vorhanden, nur kommt es nicht durch. Zaduk ist aktiv.« »Wo denn?« Myxin lächelte Kara zu. »Ich kann dir keine Stadt nennen, aber ich werde auch nicht aufgeben.« Wieder konzentrierte er sich auf den schlanken Stein. Es dauerte Minuten, bis sich etwas ereignete. Im Gefüge des Steins bewegten sich die Einschlüsse. So kam es den Zuschauern jedenfalls vor. Sie zitterten, als würden von verschiedenen Seiten Teile eines Bildes aufeinander zulaufen, um sich zu einem Gesamteindruck zusammenzufügen. Wenn dies tatsächlich geschah, gab es trotzdem keinen klaren Blick für die drei Beobachter. Das gedanklich entstandene Bild blieb einfach zu verschwommen, um etwas erkennen zu können. Sie sahen Schatten, helle und dunkle Flecken, die sich bewegten, aber kein Bild bekamen, denn es verlief immer wieder und war auf einmal ganz verschwunden. Myxin, der alles versucht hatte, sackte fast ineinander und schüttelte den Kopf. »Es klappt nicht, tut mir leid. Ich habe daran nichts ändern können.« »Was stört dich?« »Die Schwäche, Kara. Es ist einfach zu schwach. Das Bild will nicht richtig raus.« »Spielen Gegenkräfte eine Rolle?« fragte der Eiserne. Myxin schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß dem so ist. Nein, es liegt einfach an unserer nicht vorhandenen Stärke. Schade, ich hätte es gern erfahren.« Die drei Freunde verließen den unmittelbaren Bereich der Steine. Sie hatten Zeit, einen Tag lang und noch mehr, und sie wußten, daß Zaduk unterwegs war. Welche Stadt? Die Frage stand unausgesprochen zwischen ihnen. London, Paris, Rom . ..? »John hat auch nichts von sich hören lassen«, murmelte Kara. »Wie kann er das?« Der Eiserne schüttelte den Kopf. »Er weiß nicht, wo sich unser Refugium befindet.« »Ja, leider . . .« Myxin nickte entschlossen. »Ich werde mit ihm Kontakt aufnehmen und mich erkundigen.« »Gut.« Der kleine Magier stellte sich in das Zentrum und konzentrierte sich. Diesmal reagierten die Steine. Durch ihre Kraft und seine Magie sorgten sie für eine Reise nach London.
Kara und der Eiserne blieben zurück. »Stell dir vor, er schlägt an zwei oder drei Orten gleichzeitig zu, Kara.« »Dann müssen wir uns trennen.« »Das meine ich auch.« Die Schöne aus dem Totenreich legte den Kopfschief und blickte den Eisernen fragend an. »Hast du eigentlich noch niemals darüber nachgedacht, wie es möglich ist, daß Zaduk noch existiert, obwohl der Schwarze Tod ihm damals den Kopf vom Körper abgeschlagen hat?« »Nein, ich habe nicht damit gerechnet. Ich hatte ihn auch vergessen. Er war Vergangenheit für mich. Ich führe keine Vogelmenschen mehr an, das ist Vergangenheit, und über die Auseinandersetzungen zwischen ihm und dem Schwarzen Tod hörte ich auch nichts.« »Da können wir ja nur hoffen, daß die Steine ihre Magie . . .« Myxin kehrte zurück. Er stand plötzlich zwischen den flaming stones. Seinem Gesicht war anzusehen, daß er nichts erreicht hatte, obwohl er lächelte, als er auf Kara und den Eisernen zuschritt. »Nun?« Er nickte der dunkelhaarigen Frau zu. »Einen kleinen Erfolg können wir für uns buchen. John Sinclair und Suko haben eine Spur gefunden, die nach London weist. Am heutigen Abend wird dort ein Theaterstück aufgeführt mit dem Titel >Zaduks Schädel«, und das kann kein Zufall sein, wie wir alle annehmen.« Kara lachte, auch der Engel zeigte einen erleichterten Ausdruck. »Das ist unsere Chance, Myxin. Wir werden ihn in London stellen können. Gut, dann sind wir. . .« Der kleine Magier hatte Bedenken. »Ich weiß nicht, ob du da so recht hast, Kara.« »Weshalb nicht?« »Denk an die Städte wie Rom und Paris. Aus welch einem Grunde hätten uns die Steine ihre Silhouetten zeigen sollen? Kannst du mir das erklären?« »Nein.« »Ich weiß es auch nicht, und ich will auch nicht daran glauben, daß man uns in die Irre geführt hat. Nach wie vor bin ich davon überzeugt, daß London nicht alles ist.« »Das heißt, wir bleiben vorerst hier!« faßte der Eiserne zusammen. »So ist es.« Wieder warteten sie. Allmählich schwanden die Stunden dahin, und auch der sehr warme Tag neigte sich seinem Ende entgegen. Die Sonne stand schräg am Himmel. Sie überdeckte die Hänge mit einem goldroten Schein. Kara trank einige Gläser Wasser und aß Obst. Sie war sehr unruhig. In der Blockhütte hielt sie es nicht aus. Außerdem durften die Steine nicht ohne Überwachung bleiben.
Endlich kam die Dämmerung. Fast schon von ihnen herbeigesehnt. Wenn sich jetzt durch den Kontakt innerhalb der Steine Szenen zeigten, konnten sie besser erkannt werden. Als letzter verließ der Eiserne die Hütte. Er sah Myxin in einer angespannten Haltung vor dem magischen Quadrat stehen, als würde der kleine Magier auf etwas Bestimmtes warten. Kara legte einen Zeigefinger gegen ihre Lippen. Der Engel verstand und konzentrierte sich auf die Steine. Vier waren es, aber nur zwei von ihnen reagierten. »Es waren die, die Paris und Rom zeigten!« hauchte Kara. »Genau die beiden.« Diesmal ließen sie die Steine nicht im Stich. Aus den Tiefen des Gefüges schälte sich tatsächlich etwas hervor. Es drang nach vorn, war nicht mehr aufzuhalten. Bilder entstanden. Der Nachthimmel über Rom und der dunkle über Paris. Der Eiffelturm warzu sehen, in Rom sahen sie die Lichtereines Gartenfestes. Menschen standen auf einer großen Terrasse, tranken, feierten und waren fröhlich. »Noch ist der Schädel nicht da«, murmelte Kara. »Aber er wird kommen«, erklärte der Eiserne. »Dessen bin ich mir sicher.« Schon längst hatte er seine Entscheidung getroffen. »Ich werde Paris übernehmen.« Myxin und Kara waren einverstanden. »Dann bleibt uns Rom.« »Viel Glück.« Sie sprachen ernst, denn jeder wußte, was auf dem Spiel stand. Gemeinsam betraten sie das magische Quadrat und gaben sich der unerklärlichen Kraft hin. Ihre Konzentration sorgte dafür, daß sie die Reisen zu unterschiedlichen Zielen antreten konnten. Unbewacht blieb das Gebiet der flaming stones zurück... *** »Nun, Carlotta, gefällt Ihnen der Ausblick?« Die Angesprochene lachte, als die weiche Stimme des Mannes an ihre Ohren drang. »Gefallen ist kein Ausdruck. Er ist einfach wunderbar. Rom liegt mir zu Füßen.« »Nicht nur Rom!« flüsterte Cabrini. »Ich kann, wenn Sie wollen, Ihnen die ganze Welt zu Füßen legen.« Carlotta mußte lachen. »Nun übertreiben Sie aber, Naldo.« »Nein, bestimmt nicht.« Er stand dicht hinter ihr, so daß sie sein Parfüm riechen konnte, das einen sehr männlichen Duft verbreitete. Sie spürte
weiche Lippen auf ihrer nackten rechten Schulter und schauderte zusammen. »Wissen Sie eigentlich, daß ich die kleine Feier nur Ihretwegen gegeben habe, Carlotta?« »Oh, Sie übertreiben.« »Nein, es stimmt.« Sie spürte seine Hände an ihren Hüften und lehnte sich zurück. Es war ihr nicht unangenehm, und sie sah Naldo Cabrini als einen interessanten Mann an. Sie selbst war in Rom ebenfalls bekannt. Als Moderatorin beim staatlichen Fernsehsender RAI berichtete sie einmal im Monat über Klatsch, Tratsch und Mode, was die Oberen Zehntausend anging. Modisch war sie ebenfalls angezogen. Das schwarze Kleid lag hauteng und bedeckte kaum die Schenkel. Zum Busen hin weitete es sich, so daß es dort wirkte wie der Körper einer Fledermaus, die ihre Flügel ausgebreitet hatte. Das Schwarz stand Carlotta gut, trotz ihrer ebenfalls dunklen Haare, die sie streng zurückgekämmt und im Nacken zu einem kleinen Knoten zusammengebunden hatte. Eine blutrote Spange lockerte es auf. Dieses Blutrot fand sich auch in einer Brosche wieder, die sie angelegt hatte. »Ich mag Sie, Carlotta.« »Nun ja, mich mögen viele.« »Keine Sorge, ich rede von Ihnen persönlich. Ihre Sendungen sehe ich kaum. Wenn ich sie einschalte, dann will ich Sie persönlich sehen, nicht Ihre Gäste.« »Hören Sie auf, Naldo. Die Modelle sind viel jünger als ich. Die Dreißig habe ich schon hinter mir.« »Da werden die Frauen erst interessant.« Carlotta lachte. »Sie Schmeichler, Sie. Aber Sie haben recht, was die Frauen in diesem Alterangeht.« Sie strich durch ihr glattes Haar. Im Gegensatz dazu stand das etwas hell geschminkte Gesicht, in dem keine Falte zu sehen war. Darauf achtete Carlotta sehr. Sie gehörte zudem zu den emanzipierten Frauen, die es mit Mut und Geschick verstanden hatten, sich in der harten Männerwelt durchzusetzen. Trotzdem gefielen ihr die Komplimente und Schmeicheleinheiten. Als sie Schritte hörte, drehte sie den Kopf nach rechts. Ein Ober brachte Champagner. Naldo hatte ihn herangewinkt. Die anderen Gäste, die Musik, die schaukelnden Lampions im Wind, das große Büffet, es lag weit hinter ihnen, und auch das Lachen der Partygäste prallte irgendwie ab. Naldo Cabrini nahm ein Glas und reichte es der Frau. »Salute«, sagte er, »auf die schönste Frau, die es in Rom gibt.« »Oh, wo ist die?« Carlotta schaute sich um. »Vor mir.« Die Moderatorin lachte. »Sie Schmeichler, Sie.« Dann nippte sie und nickte anerkennend. »Der ist hervorragend. Ein Franzose, nicht?«
»Ja, der König unter den Champagnern, Dom Perignon.« Er schaute in ihre Augen, die sehr dunkel und geheimnisvoll waren. »Sie lieben auch das Ungewöhnliche, Carlotta?« »Sicher.« Ein Bein schob sie vor, drehte sich und schaute über die Brüstung aus Stein hinweg in den Nachthimmel. »Ich frage mich, wie Sie das geschafft haben, Naldo.« »Was geschafft?« »Das alles hier. Ein Haus integriert in die Berge, in die Felsen, in die Natur. Es ist der perfekte Wahnsinn. Ich kann Ihnen da nur die Hand schütteln. Kompliment, mein Lieber, das ist außergewöhnlich. Das ist einfach phänomenal. Wissen Sie, ich habe schon viel gesehen. Allein durch meinen Beruf lerne ich die außergewöhnlichsten Menschen und deren Behausungen kennen. Das, was Sie hier geschaffen haben, stellt alles andere in den Schatten.« »Herzlichen Dank für dieses Kompliment.« »Sie haben ein Refugium errichtet, hieroben auf dem Berg.« Ihr Blick glitt über sein schneeweißes Jackett und blieb dann an seinen Augen hängen, die ein spöttisches Funkeln zeigten. »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Die Idee dazu ist mir soeben gekommen.« Sie lachte perlend. »Meine spontan gefaßten Ideen und Pläne sind immer etwas Besonderes gewesen. Ich habe daraus meine besten Sendungen gemacht. Deshalb möchte ich die nächste von hier aus starten. Wäre Ihnen das recht, Naldo? Würden Sie uns Ihre Terrasse zur Verfügung stellen?« »Aber gern.« Wieder lachte sie. »Bitte, nicht sofort zustimmen. Sie ahnen nicht, welch einen Wirbel es gibt, wenn ich mit meiner Mannschaft bei Ihnen erscheine.« »Das werde ich überleben.« »Bestimmt.« »Sie sind also ein Mensch, der die außergewöhnlichen Dinge liebt, Carlotta?« Für einen Moment schaute sie in seine Augen. Etwas zögernd gab sie die Antwort. »Eigentlich ja. Alles Spießige ist mir suspekt. Ich mag Menschen, die das Besondere lieben, die leben können, die das Leben genießen. Die aber auch hinter die eigentlichen Dinge schauen können, wenn Sie verstehen, was ich meine?« »Nein.« Die Haut auf Carlottas Wangenknochen zuckte. Sie fühlte sich irritiert, schaute auf ihre Schuhe, deren Absätze sie größer erscheinen ließen. Auf dem roten Leder blinkten vereinzelte Straßperlen. »Was wollten Sie damit sagen, Naldo?« »Ich hatte versucht, Sie auf das hinter dem Normalen liegende anzusprechen.« »Aha.«
»Es gibt metaphysische Gesetze, denen wir uns unterworfen haben, ohne es zu merken.« »Aha.« Er lachte. »Sie haben mich nicht begriffen, das weiß ich. Es ist auch nicht tragisch.« Er trank das Glas leer. »Ich frage Sie jetzt direkt. Sind Sie bereit, mit mir das Außergewöhnliche zu erleben?« »Wann?« »Heute. Jetzt, noch in dieser Nacht. Es wird gleich etwas geschehen, das Ihnen den Atem raubt. Sie werden eine Situation erleben, die Sie niemals vergessen. Nur sind Sie im Gegensatz zu den anderen Gästen darauf vorbereitet.« »Wirklich? Dann ist es keine Überraschung mehr?« »Es bleibt trotzdem eine.« Er schaute an Carlotta vorbei, die ebenfalls das Glas leerte, den Kopf schüttelte und meinte, daß es genug Champagner war, den sie getrunken hatte. Naldo gab darauf keine Antwort. Sein Blick schweifte über die Weite des Himmels, und sein Gesicht bekam einen angespannten Ausdruck. Die Augen wurden hart und lauernd, und plötzlich schrak er zusammen, wobei er gleichzeitig tief Luft holte. »Was haben Sie, Naldo?« »Carlotta!« Er lachte rauh. »Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie etwas Ungewöhnliches, Unglaubliches erleben werden. Tun Sie mir den Gefallen, drehen Sie sich um!« »Gern.« Sie lachte leise, ahnte nichts Böses und machte noch auf der Stelle kehrt. Beide schauten in dieselbe Richtung. Und beide sahen den gewaltigen Totenschädel am Himmel . .. Er hatte geahnt, daß Carlotta nach dieser Entdeckung schreien würde, was er zu verhindern verstand. Blitzschnell legte er seine Handfläche auf ihren Mund. Carlotta roch den Rauch, der sich an seinen Fingern festgesetzt hatte. Sie schluckte, und seine flüsternde Stimme wisperte die Worte in ihr Ohr. »Ganz ruhig, Signora. Wir wollen den anderen doch nicht den Spaß verderben. Bene?« Sie nickte. Naldo ließ die Hand sinken und hörte, daß sie tief und fest durchatmete. Sehr rasch hatte sich die Frau wieder gefangen und schaute dorthin, wo sich der Schädel so scharf von dem dunklen Himmel abzeichnete, als hätte man ihn gemalt. »Mein Gott — was ist das?« »Zaduk!« erwiderte er leise. »Das ist der Schädel des Zaduk.« »Den Namen habe ich noch nie gehört. Wer ist Zaduk? Ein Monstrum, eine Halluzination?« »Er ist echt.« »Ja, aber . ..« »Und er ist mehr als zehntausend Jahre alt. Er stammt aus dem langst versunkenen Kontinent Atlantis. Er wird uns mitnehmen, uns entführen in Wunderwelten, wie Sie noch nie welche gesehen haben. Ich kann Ihnen
nur sagen, daß Sie noch heute Dinge erleben werden, die Sie selbst in Ihren Träumen nicht für möglich gehalten hätten. Es ist einfach grandios, es ist eine andere Welt.« Carlotta tastete nach der Hand ihres Begleiters und hauchte: »Ich habe Angst. Ja, ich habe schreckliche Angst vor diesen Dingen. Ich . . . ich will nicht.« »Doch, Sie müssen.« »Und wenn ich fliehe?« »Das wird Ihnen nicht gelingen. Nein, es kann niemand von hier fliehen, glauben Sie mir. NichtSie, nicht ich, nicht die anderen. Er wird uns alle holen.« Carlotta drängte sich an Cabrini. Seine Sicherheit erschreckte sie, dennoch blieb sie bei ihm. »Das ist eine Spiegelung, möglicherweise auch ein Hologramm. Wie haben Sie das geschafft, Naldo? Bitte, verraten Sie es mir.« »Nichts von beidem, Carlotta. Es ist weder künstlich noch ein Hologramm oder was immer Sie auch meinen. Der Schädel ist eine Tatsache, er ist echt, Signora. Er stammt aus einer anderen Zeit und hat es geschafft, die Vergangenheit zu überwinden.« Carlotta wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte schon viel erlebt und auch an außergewöhnlichen Feten und Parties teilgenommen. Das hier aber setzte allem die Krone auf und überstieg einfach ihr Begriffsvermögen. Dafür gab es keine Erklärung, wenn es wirklich stimmen stillte, was ihr Cabrini gesagt hatte. »Was geschieht denn nun?« Der Mann lachte leise. »Er wird zu uns kommen und uns mitnehmen, Carlotta.« »Wie?« »Konzentrieren Sie sich aufsein Maul. Schauen Sie es sich an. Messen Sie es nach. Es ist gewaltig. Dort findet sich Platz für alle. Ich freue mich schon darauf.« Die Erklärungen hatten Carlotte einen Schock versetzt. Sie konnte nicht glauben, was ihr der Mann da unter die Weste schieben wollte. »Moment mal, meinen Sie, daß wir . . . also, daß die Gäste Ihrer Party in den SChädel steigen sollen?« »Ganz recht.« »Sie . . .« Carlotta lachte unecht, während sie einen Schrill zurückging. »Es tut mir leid, Naldo, es tut mir schrecklich leid, aber ich kann Ihnen nicht glauben. Bitte, sorgen Sie dafür, daß dieser Totenkopf verschwindet. Er ist nicht nur häßlich, ich finde ihn auch widerlich, grauenvoll und ekle mich vor ihm. Nehmen Sie ihn weg.« Er legte seine Hand auf ihre nackte Schulter. »Nein, Carlotta, nein, ich kann es nicht. Zaduk hat seine Aufgabe bekommen. Ich habe diese Party für ihn gemacht. Noch haben die anderen ihn nicht gesehen. Die
kleine Felsmauer trennt sie, aber der Schädel wird zu ihnen kommen und sie ebenfalls holen.« Carlotta wollte zurückgehen. Sie konnte es einfach nicht mehr hören, aber sie blieb stehen, denn alles, was ihr Cabrini gesagt hatte, trat ein. Der bläulichweiß schimmernde 'Totenschädel mit dem verriebenen Blut auf der Knochenstirn bewegte sich. Er schwebte auf sie zu. Es war kein Geräusch zu vernehmen, lautlos wehte er heran und wuchs dabei. Cabrini freute sich. Sie hörte sein Lachen, das dem Schädel entgegenwehte. Die Frau mußte zugeben, es mit einem Halbirren zu tun zu haben. Bis vor kurzem hatte sie ihn noch toll gefunden. Er war charmant gewesen, sie hatte sich einfangen lassen, nun aber sah sie sein zweites Gesicht, und das glich dem einer Bestie. »Cabrini!« keuchte sie. »Machen Sie diesem verdammten Spuk ein Ende! Los, Sie haben ihn hergeholt. Sie werden ihn auch vernichten können. Ich will nicht mehr.« Da packte er zu. Seine Finger waren eisenhart. Die Kuppen drückten in ihre Haut und hinterließen dort kleine Kultien. »Du bleibst bei mir, Carlotta. Wirbeide sind die ersten, die von ihm geschluckt werden.« »Neiinnnn!« knurrte sie fast wie ein Wolf, »ich will es nicht. Ich werde schreien, wenn Sie . ..« »Tu das, Mädchen, tu das! Schrei doch!« Carlotta öffnete den Mund und spürte einen Augenblick später das Brennen auf ihren Uppen, denn der Mann hatte mit dem Handrücken zugeschlagen. Er hielt die Taumelnde fest, die sonst gefallen wäre. »Willst du noch immer weg?« Carlotta gab keine Antwort. Durch den Treffer waren beide Lippen aufgeplatzt. Das Blut vermischte sich mit der Farbe des Stifts. Durch einen heftigen Ruck zerrte sie der Mann wieder näher an die Brüstung. Sie stieß mit dem Knie gegen den rauhen Stein und spürte dann den Griff seiner linken Hand im Nacken. Er hielt sie dort ebenfalls fest und hob ihren Kopf so an, daß sie genau gegen den Schädel schauen mußte, der fast zum Greifen vor ihnen schwebte und sein starres Maul weit geöffnet hatte. Trotz der Dunkelheit erkannte Carlotta, daß sich innerhalb dieses widerlichen Mauls etwas bewegte, das sie an eine widerliche, aufgequollene Masse erinnerte. Noch wußte sie nicht, was es war. Wenig später sah sie es. Etwas Längliches, das vorn relativ spitz zulief, löste sich aus der gewaltigen Öffnung. Es war eine Zunge! Ein breites, rötlich schimmerndes Band, naß und klebrig auf der einen Seite, ekelerregend auf der anderen.
»Der Fänger, die Zunge ist der Fänger, liebe Carlotta. Sie wird uns beide holen.« »Nein, bitte.« »Doch.« Dieses eine Wort war so etwas wie ein Startsignal, denn die Zunge schwang noch einmal mit einem peitschenartigen Schlag vor und schlug gleichzeitig einen Bogen. Carlotta konnte keinen Schrei mehr ausstoßen, denn etwas ringelte sich unwahrscheinlich hart um beide Körper und preßte sie mit Naldo Cabrini zusammen, dessen triumphierend verzogenes Gesicht sie dicht vor sich sah. Seine Augen waren übergroß geworden. In den Pupillen lag ein Blick, wo sich Wahnsinn und Triumph miteinander mischten. Carlotta bekam nicht einmal Zeit, ihr Dasein bei dieser Party zu bereuen. Es gab nichts mehr, worüber sie nachdenken konnte. Sie sah nur das große, widerliche Maul und das sich bewegende, rötliche Innere, das zuckte, aufquoll, zitterte, als wäre das Maul mit einem rötlichen Sumpf gefüllt worden. Dann schnappte es zu. Cabrini lachte. Carlotta konnte an nichts anderes mehr denken. Ein nie erlebter Geruch umwehte sie, einfach widerlich, nach Moder und Fäulnis stinkend, als würde das gesamte Innere allmählich verwesen. Die Knie gaben ihr nach. Normalerweise hätte sie sich nicht mehr auf den Füßen halten können, aber Cabrini hielt sie so umfangen, daß sie nicht fallen konnte. »Schau hin, Carlotta, schau hin. Ich habe von dergroßen Überraschung gesprochen. Wir sind der Anfang, die anderen wird er sich noch holen. Alle Gäste, verstehst du? Seine Zunge ist mächtig genug, um abräumen zu können.« Carlotta hörte die Worte zwar, allein ihr fehlte der Glaube. Es war unmöglich, so etwas zu begreifen. Das war Grauen pur. So etwas hatte es nicht einmal in irgendwelchen Filmen gegeben. Wie vom Wahnsinn unklammert wirkte dieser Mensch, der ihr plötzlich so fremd vorkam. Sie zuckte und keuchte. Immer dann hatte sie das Gefühl, ihre Lungen und der Magen würden sich mit einer Wolke aus Moder füllen. Sie schwebten tatsächlich weiter, überquerten die Mauer. . . Vieles hatte sich für Carlotta verändert, trotzdem war die Umgebung normal geblieben. Sie befanden sich jetzt über der Terrasse, schwebten lautlos wie auf einer Wolke. Der Schädel brauchte sich nur um den Vorsprung zu drehen, um dorthin zu gelangen, wo die anderen Gäste feierten. Da geschah es! Carlotta hatte die bisherigen Vorgänge nicht fassen können und begriff das andere auch nicht. Wie aus dem Nichts standen zwei Gestalten auf der Terrasse.
Ein kleiner Mann mit grünlich schimmernder Haut, einem langen Mantel und eine Frau, deren schwarze Haarflut ein bleiches Gesicht umwallte. Sie war auch so faszinierend, doch am ungewöhnlichsten war das Schwert, dessen Griff sie mit der rechten Hand festhielt. Es besaß eine goldene Klinge... *** Yves Balzac war sehr zufrieden, denn er hatte genau zweiunddreißig Menschen gezählt, die ihn begleiteten. Sie nahmen nicht die Metro, sie gingen durch Paris. Mit jedem Meter, den sie zurücklegten, wuchs ihre innere Kraft und das Wissen, es den anderen zu zeigen. Da sie sich Zeit lassen konnten, gingen sie parallel zur Seine. Sie sahen links von sich den Quai D'Orsay, wo die Massen strömten, die Autos hupten und mit ihren Abgasen die stickige Luft noch mehr verunreinigten. Paris kochte, die Stadt befand sich in einem Taumel. Das Feiern nahm kein Ende, und natürlich war auch der gewaltige Eiffelturm miteinbezogen worden. Selten zuvor war er von so vielen Gästen besucht worden. Die Busse karrten die Menschen scharenweise heran, die nach ihrem Besuch durch den den Turm umgebenden Park spazierten und nie genug von ihm bekommen konnten, denn pausenlos klickten die Kameras. Die Gruppe erreichte ihr Ziel, als die größte Hitze verschwunden war und die Dämmerung ihre langen, grauen Schatten über den Himmel schob. Erste Lichter flammten auf. Auch der Turm erstrahlte, als wäre er kurz zuvor erst geputzt worden. Noch herrschte in seiner unmittelbaren Nähe viel Betrieb. Die Verkäufer der kleinen Imbißbuden, die ihr Zeug überteuert abgaben, hatten alle Hände voll zu tun, um hungrige Mäuler satt zu bekommen. Dazwischen hatten Künstler ihre Plätze gefunden. Sie malten Szenen aus dem Jahr der Revolution. Musiker spielten alte Weisen, oft übertönt vom Hupen der Busfahrer, die ihre schweren Fahrzeuge aus den Parklücken bringen wollten. Nicht weit von der tschechoslowakischen Botschaft entfernt blieben sie stehen. Yves sammelte seine Schäfchen um sich und deutete hoch zum Turm. »Da werden wir bald sein.« »Und was ist dann?« Es war die Kleine, deren Hinterteil er getätschelt hatte. Sie stand neben ihm. »Mach dir keine Sorge, che-rie. Zaduk wird alles weitere für uns unternehmen.« Er hatte den Namen ausgesprochen und schaute in die staunenden Gesichter, denn niemand wußte, wer Zaduk war. »Ihr kennt ihn nicht?«
Auch Max und Kami waren mitgekommen. »Nein!« rief der Wirt, »woher sollen wir ihn kennen?« »Er ist alt, uralt!« erklärte Yves. »Und er ist einfach wunderbar, wenn ihr versteht.« »Wie alt? Zehn Jahre, hundert oder noch mehr?« »Noch mehr. Zehntausend.« Yves hatte laut gesprochen. Jeder hörte die Zahl, aber niemand wollte es glauben. Einige lachten, andere wiederum schimpften, sie fühlten sich auf den Arm genommen. Balzac kaute auf seiner Schwarzen und wartete ab, bis sich die Gemüter beruhigt hatten. »Er ist tatsächlich so alt. Dieser Zaduk stammt aus Atlantis.« »Das hat es nicht gegeben!« »Doch, ich weiß es besser. Es ist versunken, aber einiges hat überlebt. Ihr seid die Auserwählten, denn ihr werdet einen Rest dieses Kontinents kennenlernen.« »Ist Zaduk denn ein Mensch?« »Nein, ein Schädel. Ein gewaltiger, weißblau schimmernder Knochenschädel.« Jetzt sprach keiner mehr, und Yves wollte auch keine weiteren Erklärungen geben. Er erkundigte sich nur noch einmal, ob sie ihm vertrauten und ging erst weiter, als es alle bestätigt hatten. Um hochfahren zu können, mußten sie zahlen. Das erledigte Yves für alle. Dann stiegen sie in die Fahrstühle. Es wurde eine kurze Fahrt. Neben Yves stand die Kleine und drückte ihren Körper gegen den seinen. Hin und wieder strich er über ihre Figur, was sie lächelnd zur Kenntnis nahm, denn sie fühlte sich geschmeichelt, von Yves begehrt zu werden. »Junge Männer mag ich nicht«, sagte sie plötzlich. »Wir werden sehen.« »Sagst du mir mehr über Zaduk? Ist er interessant?« Yves strich über ihren Nasenrücken. »Unwahrscheinlich interessant und auch geheimnisvoll, wenn du verstehst. Er kennt die Geheimnisse der Antike, er ist einfach wunderbar. Man muß ihm nur vertrauen, und er braucht uns.« »Wozu?« »Theater, cherie. Wir werden gemeinsam später auf einer Bühne stehen und Theater spielen. Er wird sich seine Schauspieler holen, und nicht allein aus Paris.« »Wo werden wir auf der Bühne stehen?« »In London!«
Das Mädchen erschrak. Hätte es mehr Platz gehabt, wäre es zurückgegangen, so aber blieb es stehen und schaute nur zu Yves hoch. »Das . . . das sagst du doch nur so — oder?« »Nein, es ist wahr.« »Aber wie sollen wir nach London kommen? Mit dem Flugzeug? — Ich fliege nicht gern.« »Zaduk sorgt für uns.« »Da bin ich aber gespannt.« »Das kannst du auch sein.« Sie hatten sich auf der höchsten Aussichtsplattform verteilt, wo es immer windig war, auch wenn die Luft in den Straßenschluchten der Stadt stand und kaum geatmet werden konnte. Außer ihnen befanden sich noch andere Besucher in dieser Höhe. Menschen, die fremd in Paris waren und die Gruppe der Einheimischen mit argwöhnischen Blicken bedachten. Sie hielten sich fern von ihnen, was Yves und seinen Freunden sehr recht war, denn sie mußten sich um andere Dinge kümmern. Sie hatten sich dort hingestellt, wo tief unter ihnen das blau aussehende Band der Seine floß, auf deren Wellen ab und zu Eichtreflexe tanzten. Ihr Blick glitt über Paris hinweg in Richtung Nordwesten und bis zum Bois de Bologne. Ein Himmel wie gemalt spannte sich über ihre Köpfe. Ein weites Tuch, deren Dunkelheit hin und wieder durch das Blitzen eines Sterns unterbrochen wurde. Die dreiunddreißig Personen hatten das Glück, sich nebeneinander aufbauen zu können. Sie alle schauten in eine Richtung, der Wind trocknete ihre Gesichter vom Schweiß, aber sie bekamen nichts zu sehen. Zaduk zeigte sich nicht. »Wann kommt denn dein Besuch?« fragte Max, der Wirt. Er hatte sich neben Yves gestellt. »Keine Sorge, du wirst ihn bald sehen.« »Wie sieht er denn aus?« »Bleich«, erwiderte Yves, »sehr bleich und auch sehr knochig. Ein ungewöhnlicher Dämon.« »Wie? Dämon?« Rami hatte es gehört und die Worte gekreischt. Er wollte sich drehen, um den anderen Bescheid zu geben, aber Yves war schneller und hielt ihn eisern fest. »Keinen Laut, mein Freund. Kein Wort zu den anderen. Zaduk würde dich vernichten.« »Dann . . . dann ist er gefährlich?« »Für seine Feinde ja. Wer jedoch zu ihm hält, den wird er nicht vergessen.« »Und das stimmt wirklich alles, was du gesagt hast?« fragte der Wirt mit leiser Stimme. »So ist es.«
Max konnte es nicht fassen. Zum erstenmal hatte er Yves von einer anderen Seite kennengelernt, und er fragte sich, was er überhaupt von ihm gewußt hatte? Eigentlich nichts. Yves war immer ein guter Gast gewesen, der Land und Leute kannte und in die Welt hineinpaßte. Jetzt zeigte er sich verändert, so anders, so ernst und mit einem Blick versehen, der irgendwie lauernd und wissend zugleich war. Max zog Rami zu sich heran und wisperte: »Laß ihn mit deinen Fragen zufrieden.« »Ja, werde ich auch.« Plötzlich hob Yves Balzac den rechten Arm, um über die Brüstung hinwegzudeuten. »Da«, sagte er nur, »da tut sich etwas. Schaut in den Himmel, seht genau hin.« Noch sahen die anderen nichts. Auf dem schwarzen Tuch zeichneten sich nur die Sterne ab, die aussahen, als hätte jemand blitzende Diamantsplitter verstreut. Aber der Punkt, der sich innerhalb der Schwärze bewegte, der war kein Stern. Auch keine Sonde, kein Raumschiff, kein Komet. Erstand plötzlich da, als hätte ihn jemand aus der Finsternis entlassen oder aus den Tiefen des Alls hervorgeschleudert. »Und? Soll er das sein?« Yves nickte vor seiner Antwort. »Ja, meine Freunde, das ist er. Das ist Zaduk.« Es wurde keine Frage mehr gestellt. Andere Gäste hatten die Aussichtsplattform verlassen, die Einheimischen hielten sich nur mehr allein dort auf. Zaduk kam. Für die einen schnell, für die anderen langsam, aber er war nicht mehr aufzuhalten. Ein jeder von ihnen sah sehr bald, wer Zaduk wirklich war — ein überdimensionaler Totenschädel. . . Cabrini hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit einem Auftauchen dieser beiden Personen, die ihm so fremd waren wie das Spielzeug eines Kleinkindes. Wer waren die beiden Personen, die wie zwei Filmgestalten wirkten und dem Schädel den Weg versperrten? Carlotta und Naldo spürten den Ruck, als sich die Zunge löste. Sie standen jetzt auf dem roten Fleisch oder der Masse des Gaumens und hielten dort auch ihren Platz. Auch Zaduk hatte das Ungewöhnliche erkannt. Normalerweise hätte er weiterschweben müssen, um die anderen Gäste zu erreichen, aber er blieb stehen, als wäre er von einer Mauer abgesperrt worden. Carlotta hatte sich ein wenig gefangen. »Was . . . was hat das zu bedeuten? Wer sind die beiden?«
»Ich weiß es nicht. Sie gehören nicht zu mir.« Naldo verzog das Gesicht. »Aber ich bin sicher, daß Zaduk sie vernichtet. Fr wird sie mit seiner Zunge packen und zermalmen.« Cabrini hatte den Satz kaum ausgesprochen, als der Untergrund schwankte, weil sich die Zunge heftig bewegte und aus dem breiten Maul schleuderte. »Jetzt packt er sie!« keuchte Cabrini. Fr irrte sich. Fs hatte so ausgesehen, als wollte die Zunge die dunkelhaarige Frau umschlingen, doch sie bewegte die goldene Klinge nach rechts und gleichzeitig in einem Halbbogen. Fast hätte sie das widerliche Band getroffen. Im letzten Augenblick zog sich die Zunge zurück, was Cabrini kaum fassen konnte, denn er hatte den Schädel bisher für unbesiegbar gehalten. »Das . . . das verstehe ich nicht!« keuchte er. »Verdammt, was kann das nur sein?« Der kleine Mensch neben der Frau bewegte sich ebenfalls. Er hatte unter seinen Mantel gegriffen und holte einen Gegenstand hervor, den Cabrini zunächst nicht erkannte. Erst als er sie in Gesichtshöhe anhob, sah der Italiener, daß es sich dabei um eine mit fünf Augen versehene Holzmaske handelte. Er selbst hatte von dieser Maske nie etwas gehört, aber der Schädel schien sie zu kennen. Auf einmal bewegte er sich wieder. Carlotta und Cabrini spürten den Ruck. Die Frau kippte, als der Schädel in die Höhe glitt und sich so schnell zurückzog, daß die Terrasse und die beiden ungewöhnlichen Personen innerhalb kürzester Zeit verschwunden waren. Die Zunge bewegte sich in der Höhle. Myxin sah, daß sie zuckte. Sie schlug mit der Spitze gegen den Gaumen, durchdrang den Schädel. Zaduk war geschwächt. Damit hatte Cabrini nicht gerechnet. Für ihn war der Schädel die große Hoffnung gewesen, an Dinge heranzukommen, die tief in der Vergangenheit begraben lagen und aus denen er für die Gegenwart lernen wollte. An einen Rückzug hatte er gedacht. Neben ihm erhob sich Carlotta. Sie starrte ihn an, er schaute zurück und schrie sie an. »Stell keine Fragen, verflucht! Stell nur keine Fragen!« »Wieso? Was ist denn . . .?« »Etwas ist schiefgelaufen. Die beiden . . . diese Frau und der verfluchte Zwerg. Wer sind sie?« Carlotta schüttelte den Kopf. »Ich kenne sie nicht. Sie sind mir fremd, Naldo.« »Nein, du hast sie geholt, wie?« Er packte sie hart, würgte sie sogar und war unberechenbar in seiner Wut. Irgendwann ließ er sie loß. Carlotta schwankte und halte den Eindruck, in eine Moderwolke hineinzutauchen, so sehr ekelte sie sich vor dem Geruch.
Der Schädel aber bewegte sich weiter. Cabrini hoffte, daß der Geist des Zaduk mit ihm Kontakt aufnehmen würde, das wiederum tat er nicht. Er ließ dem Mann allerdings die Chance, durch das geöffnete Maul nach draußen schauen zu können. Da sah Cabrini, was sich verändert hatte. Noch immer schwebten sie durch die Nacht, doch in der Schwärze erhob sich aus der Tiefe ein gewaltiger Gegenstand, unten sehr breit und nach oben hin spitzerzulaufend. Der Eiffelturm, das Ziel Nummer zwei! *** Myxin hatte sich auf die Magie der Maske verlassen. Kam auf das Schwert mit der goldenen Klinge, doch beiden stand das Pech an diesem Abend zur Seite. Bevor Sheila hatte zuschlagen können, war die gefährliche Zunge wieder im Maul verschwunden. Zaduk hatte genau gewußt, welche Gefahr auf ihn zukam. Und Myxin konnte die Kraft der Maske nicht einsetzen, denn Zaduk zog sich blitzartig zurück. Ein enttäuschter Laut drang aus dem schmalen Mund des kleinen Magiers. Er hatte seine Hoffnung auf die Maske gesetzt und war ebenso enttäuscht worden wie Kara, die den entsprechenden Kommentar gab, als sie sagte: »Zu spät, viel zu spät.« »Und jetzt?« »Wir müssen zurück.« »Aber nicht zu den Steinen.« »Nein, nach Paris.« »Wäre nicht London besser?« fragte Kara. Myxin dachte nach. »Ja, das kann sein. John hat von diesem Theater gesprochen. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir Zaduk dort wiedertreffen werden.« »Falls es dem Eisernen nicht zuvor gelungen ist, ihn in Paris zu zerstören.« Der Magier lächelte schief. »Hast du tatsächlich die Hoffnung, Kara?« »Nun ja, ich ...« »He . . . ha, ha, ha . . .« Sie hörten den Aufschrei der Männerstimme und auch das Lachen hinter sich. »Was seid ihr denn für komische Gestalten. Habt ihr euch verlaufen, oder seid ihr später gekommen.« Gemeinsam drehten sie sich um. Vor ihnen stand ein Partygast, der seine Jacke längst ausgezogen hatte. Das Hemd war ihm an der rechten Seite aus dem Hosengurt gerutscht und flatterte wie ein Stück Fahnentuch an seiner Seite. »Wir gehören nicht dazu.«
»Ach so.« Der Mann torkelte auf Kara zu. »Verflucht, du bist ein heißer Ofen. Komm her, Süße, ich . ..« Kara stieß ihn nur mit der flachen Hand vor die Brust. Der Mann verlor das Gleichgewicht und landete am Boden. Dort blieb er fluchend und lallend liegen. Myxin schüttelte den Kopf. Sarkastisch sagte er: »Das liebe ich an manchen Menschen so. Sie sind stets für Überraschungen gut.« »Wie wir«, erklärte Kara und kletterte als erste auf die Steinbrüstung. Myxin folgte ihr. Der Betrunkene, der sich allmählich aufrichtete und dabei ihre Rückansichten anstarrte, glaubte, im Delirium tremens zu sein, als sich die beiden vor seinen Augen buchstäblich auflösten, als wären sie von der Nacht geschluckt worden... *** Soho war noch immer der Platz, wo sich die meisten Theater auf engstem Raum konzentrierten. Für den Chronisten war es nicht einfach, die Bühnen zusammenzuhalten, denn manche Theater verschwanden ebenso schnell wieder von der Bildfläche, wie sie entstanden waren. Zumeist, weil sich die Gründer finanziell übernommen hatten und sich die Besucher an wenigen Händen abzählen ließen. Moderne Theater waren eben nicht gefragt, zudem wurden sie von der Stadt nicht subventioniert, was ich persönlich schade fand, denn gerade die Kunst sollte Räume bekommen, wo sie sich entwickeln konnte. Wir fanden das Theater auch erst nach einigem Suchen und Fragen. Es lag in einem Hinterhof. Als wir durch die schmale Einfahrt fuhren, rechneten wir damit, auf eine Wellblechbude oder Ähnliches zu treffen, das allerdings stellte sich als Irrtum heraus. Suko pfiff durch die Zähne, während er dorthin schaute, wo die Scheinwerfer einen hellen Lichterglan/ gegen eine breite, mit zahlreichen Farben gemalte Mauer warfen. »So ist das Ding nicht.« »Das wundert mich auch.« »Aber wo sind die Besucher?« »Wir.« Der Inspektor lachte. »Das wird den Kassierer nicht mal freuen. Da kann er gleich vor einem leeren Zuschauerraum spielen. Wir werden sehen.« Suko drehte den Wagen und stellte ihn parallel zur Hauswand ab. Es war noch nicht völlig dunkel geworden. Im letzten grauen Licht, das in den Hinterhof floß, konnten wir einiges erkennen, auch das komische Haus, in dessen Innern sich das Theater befinden mußte.
Es besaß ein fabrikähnliches Aussehen. Die Fenster konnte man an einer Hand abzählen. Sie lagen ziemlich hoch, fast schon unter dem flachen Dachrand. Die Mauern hatten den Sprayern als Ziel gedient. In bunten Farbvariationen konnte der Betrachter die Sprüche lesen, die allesamt auf die Gesellschaft und ihre etablierten Künstler zielte. Das Etablissement wurde fertiggemacht. »Kunst kommt von Können und nicht von den Banken!« Suko hatte den Spruch vorgelesen. »Was sagst du dazu, John?« »Irgendwo hat der Sprayer recht.« »Meine ich auch.« »Trotzdem ist es komisch, Alter. Sollten wir die einzigen Zuschauer sein, die sich heute abend das Stück ansehen wollen?« »Sieht so aus.« »Weshalb dann die Werbung?« »Vielleicht hat sie keiner gelesen.« Ich verzog die Lippen. »Glaubst du daran?« »Nein.« »Ich auch nicht.« Wir waren vor dem Eingang stehengeblieben. Früher mochte es hier ein Eisentor gegeben haben, das war nun durch eine mit Plakaten beklebte Glastür ersetzt worden. Ich klopfte gegen das Material und wunderte mich über seine Stärke. Suko nickte gegen die Tür. »Dahinter brennt wenigstens Licht.« Es leuchtete ein Treppenhaus aus. Zwei breite Treppen führten nach verschiedenen Seiten hin weg. Möglicherweise zur Bühne und zum Zuschauerraum, der höher liegen mußte. Nach einer Klingel suchten wir vergeblich. Zudem war die Tür abgeschlossen, und Suko, der sich gebückt hatte, schüttelte den Kopf. »Das werden wir schwer aufbekommen, fürchte ich. Sie haben sich hier etwas Besonderes einfallen lassen.« »Dann schauen wir uns mal die Rückseite an!« schlug ich vor, doch dazu kam es nicht mehr. »Haut ab, ihr Penner!« Die >freundliche< Stimme gehörte einem Mann, der sich in unserem Rücken aufhielt. Wir drehten uns um. Ein bartiger Aufpasser, in dessen breitem Gürtel eine Taschenlampe neben dem Schlagstock steckte, starrte uns an. Der Mann roch nach Knoblauch und Parfüm, eine tolle Mischung. Sein Kraushaar schimmerte feucht. »Wird hier nicht gespielt?« fragte ich. »Nein.« »Weshalb nicht?« fragte Suko. »Es fällt aus.« »Sehr intelligent«, sagte ich. »Aber in der Zeitung lasen wir eine Anzeige . . .«
»Das war von gestern. Heute fällt das Stück aus.« »I laben Sie es schon gesehen, Mister?« »Nein.« »Was tun Sie dann hier?« Der Kerl starrte mich an. »Das geht dich einen Scheißdreck an, mein Junge.« Suko lächelte harmlos. »Wir möchten trotzdem rein, Mister. Das heißt, wir müssen hinein.« »Niemals.« »Sind Sie hier der Boß?« »Auch das nicht. Aber ich bekomme fünf Pfund die Nacht, damit ich hier aufpasse und Typen, die einen alten Rover fahren, nicht in das Theater lasse.« »Ist das der einzige Grund?« erkundigte sich Suko. »Klar.« Ich wollte mich von dem Burschen nicht länger auf den Arm nehmen lassen. Als ich den Ausweis hervorholte und er meine Bewegung falsch deutete, legte er die rechte Hand auf den 1 lartgummiknüppel. »Machen Sie es lieber nicht.« Ich hielt ihm den Ausweis entgegen. »Den können Sie anleuchten. Da werden Sie etwas von Scotland Yard lesen. Jetzt frage ich Sie, ob der Befehl auch für Polizisten gilt?« »Ja, auch das.« »Schließ trotzdem auf!« sagte ich. Der Mann wurde unsicher und sprach davon, daß er sich wegen fünf Pfund Lohn nicht mit den Bullen anlegen wollte. »Ja, nur unter Protest öffne ich euch.« »Wie schön«, sagte Suko. »Kennen Sie sich auch innen aus?« »Etwas.« Er bückte sich. Den Schlüssel, ein ultraflaches Ding, hatte er aus der rechten Hosentasche geholt und ließ ihn in den schmalen Schlitz gleiten. Er bewegte ihn zwei Umdrehungen nach rechts und nickte uns zu. »Jetzt ist offen.« »Danke.« Suko drückte die Tür auf und betrat als erster das umgebaute Gebäude. Vor einem Plakat blieb er stehen. Es zeigte einen bleichen Totenschädel und darunter den Titel des Stücks. ZADUKSSCHÄDEL Ich sollte gehen, ließ den Nachtwächter jedoch voranschreiten und atmete wieder die Mischung aus Parfüm und Knoblauch. Zu dritt standen wir vor dem Plakat. »Sieht stark aus, dieser Schädel«, murmelte ich. »Das kann man wohl sagen.« »Haben Sie ihn schon gesehen?« Der Parfümierte hob die Schultern. »Nein, nur das Plakat. Wenn ich das mit nach Hause nehme, zieht meine Alte endlich freiwillig aus. Die hat immer Schiß vor diesen Dingen.«
Das Plakat zeigte nur den Schädel, keine Menschen. Aus dem offenen Maul stieß die Zunge wie eine böse Pfeilspitze hervor, die jeden Augenblick gegen unsere Gesichter rammen wollte. »Steht der Schädel auch auf der Bühne?« fragte ich. Der Wächter strich über sein Haar. »Kann ich nicht sagen. Da war ich noch nicht.« Suko schüttelte den Kopf. »Sie nennen sich doch Aufpasser.« »Aber nur für hier unten.« »Ach so.« »Wie heißen Sie eigentlich?« fragte ich. »Sean Krayman. Wollen Sie die Bühne nun sehen oder nicht? Wir müssen dann nach oben.« »Okay, gehen Sie vor.« Er bewegte sich wie ein alter Mann, schimpfte dabei über sein Schicksal und die schlechte Bezahlung. Es stank im Theater. Ein irgendwie alter Geruch, nicht genau definierbar. Staub, Bohnerwachs, dazwischen Moder oder Ähnliches. Jedenfalls kein Geruch nach Schminke oder anderen Utensilien, die in eine Garderobe gehörten. In der ersten Etage machte Krayman Licht. Wir standen in einem Foyer, das diesen Namen nicht verdiente. Staubige Stühle reihten sich aneinander. Man hatte sie aus den normalen Stuhlreihen herausgebrochen und hier abgestellt. Ein paar künstliche Palmen gehörten ebenso dazu wie eine Garderobe in der Ecke und die beiden Eingänge, die in den Zuschauerraum führten. Die Umgebung hatten wir mit einem einzigen Blick erkannt und auch festgestellt, daß nichts auf Zaduks Schädel oder überhaupt auf den Beginn einer Vorstellung hinwies. Ich wandte mich an Krayman. »Sagen Sie mal, ist hier eigentlich schon gespielt worden?« »Wie meinen Sie das?« »Hier riecht alles nach Moder. Das Theater kommt mir leer vor. Ich habe wirklich den Eindruck bekommen, als wäre in dieser Bude seit Jahren kein Stück gelaufen.« Krayman schabte über sein Kinn. »Das dürfen Sie mich auch nicht fragen, Mister. Ich weiß nur, daß die Bude hier vermietet wird. An wen, das entzieht sich meiner Kenntnis. Der Bau steht auf der Liste einer Agentur. Von ihr bin auch ich engagiert worden. Alles andere ist Nonsens, verstehen Sie? Schwachsinn oder so . . .« »Wer hatte das Theater für heute abend gemietet?« wollte Suko wissen. »Das Stück fällt aus.« »Ich hatte Sie etwas anderes gefragt, Mann.« Krayman hob die Schultern. »Keine Ahnung. Bin ich hier der Boß? Nein, nur ein unterbezahlter Nachtwächter, der sich seine Stunden um die
Ohren schlägt. Was ich weiß, das habe ich euch gesagt, basta. Ansonsten ist Hängen im Schacht.« »Hoffentlich nicht zu tief«, sagte ich. »Wie . . . wie meinen Sie das?« »Ach, nur so.« i Suko war durch das Foyer gegangen und hatte sich jede Ecke angeschaut, aber nichts Verdächtiges gefunden. Keine Spur wies auf Zaduks monströsen Totenschädel hin. Auch der Eiserne Engel hatte uns im Stich gelassen. Draußen nahm die Dämmerung immer stärker zu. Ich rechnete damit, daß sich die eigentlichen Vorgänge woanders abspielen würden. In Paris oder Rom. London stand dabei als letzte Stadt auf der Liste. Sean Krayman stäubte Schnupftabak auf sein Handgelenk und fragte: »Brauchen Sie mich noch?« »Im Prinzip nicht.« »Das ist gut. Ich muß nämlich meine Runde machen.« Ich deutete auf die beiden Eingänge. »Sind die offen, Mr. Krayman?« »Klar doch.« »Gut, dann schauen Sie sich draußen mal weiter um.« Er legte den Kopf schief und gab sich etwas verlegen. »Ich will ja nicht neugierig sein, Mister, aber wollen Sie und Ihr Kollege tatsächlich hier im Theater bleiben?« »Ja.« Er saugte den Tabak durch seine Nasenlöcher, nieste, schluckte und schüttelte den Kopf. »Sorry, Sie werden keinen Besuch mehr bekommen«, erklärte er. »Das wissen wir.« »Na, ich gehe dann.« An der Treppe drehte er sich noch einmal um und schüttelte den Kopf. Er konnte nicht fassen, daß es jemand gab, der freiwillig in diesem verstaubten und auch stinkenden Bau blieb. Für uns war es ein Job, und wir glaubten zudem beide nicht, daß man uns auf falsche Spuren gelenkt hatte. Dieses Theater hatte irgend etwas mit Zaduk zu tun. Die Türen unterteilten sich jeweils in zwei Hälften. Da sie ein gutes Stück voneinander getrennt lagen, nahmen wir an, daß in dem Raum zwischen ihnen die Zuschauerreihen aufgebaut worden waren. »Du rechts, ich links«, sagte Suko. Damit war ich einverstanden. Ich drückte gegen die rechte Hälfte der Tür und stieß sie nach innen. Sie schwang auf, wieder zurück, da aber war ich schon in den Zuschauerraum hineingehuscht und konnte bis zur breiten Bühne schauen. Die Plätze waren so angeordnet wie in einem alten Kino. Zudem stieg der Boden an oder fiel ab. Es kam darauf an, aus welcher Richtung man es sah.
Das alles juckte mich nicht. Es interessierte mich auch nicht die indirekte Beleuchtung. Ich starrte auf die Bühne, die von keinem Vorhang verdeckt wurde. Dafür zeigte sie an der Rückseite ein gemaltes Bühnenbild. Eine furchtbare Gestalt hatte dort jemand abgebildet. Grauenhaft und unheimlich. Gezeichnet in einer grauen Farbe und mit einer gewaltigen Sense in der rechten Hand. Ein Skelett, aber nicht irgendeines. Es war die Zeichnung des Schwarzen Todes! *** Die Menschen vergaßen zu atmen, so überrascht und auch geschockt waren sie. Sie konnten es einfach nicht fassen, daß dieser riesenhafte Totenschädel durch die Luft schwebte, als würde er von irgendwelchen Strömungen getragen. Es war eine unheimliche, bleiche Erscheinung, die auch aus der Ferne Schrecken verbreiten konnte, denn von ihm floß eine Aura ab, die den Menschen wie ein grausamer Willkommensgruß entgegenwehte. Nur Balzac lächelte. Er war sehr zufrieden, denn er hatte als einziger gewußt, was geschehen würde. Und sein Freund Zaduk hatte ihn nicht im Stich gelassen. In der Dunkelheit war die Entfernung zwischen dem Schädel und den Menschen schlecht abzuschätzen. Für manche wirkte er zum Greifen nahe, für andere wiederum war er meilenweit entfernt. Eines stand fest. Der Schädel hatte etwas vor, denn er bewegte sich auf die Plattform zu, wo die Zuschauer standen und nicht wußten, was sie sagen sollten. Yves Balzac hatte sich etwas abgesondert. Er stand so, daß sie ihn sehen mußten. Max, der Wirt, schaute ihm nach. Er hatte sich auch als einer der ersten gefangen. »Kann man dir eine Frage stellen, Yves? Willst du eine Antwort geben?« »Bitte!« »Du . . . hast gewußt, daß er kommen würde.« »Natürlich.« »Kennst du ihn?« Yves wartete, bis keiner der Anwesenden mehr sprach. »Ja, ich weiß von ihm und kenne seinen Namen. Er heißt Zaduk. Das ist Zaduks Schädel, versteht ihr?« Kopfschütteln . . . »Der Schädel eines Dämons, der schon im alten Atlantis gelebt hat. So ist es zu verstehen.«
Jemand lachte schrill. Mit der gleichen schrillen Stimme stellte er auch eine Frage. »Was ist das? Bin ich in Paris oder in einem Horror-Film?« »Beides.« »Und was soll das mit dem Schädel?« rief der Wirt. «Er ist unseretwegen gekommen. Ja, ich habe ihn gelockt, denn wir wollten etwas erleben. Er ist der Ehrengast in dieser Nacht. Er wird uns mitnehmen.« »Wie?« Yves Balzac kam sich vor wie ein Dirigent, als er seinen Arm ausstreckte, sich nach links drehte und über die Brüstung hinwegwies. Die Köpfe der Männer, Frauen und Kinder folgten dieser Bewegung, und sie sahen auch, wie Yves seine Finger ausstreckte, als wollte er dem Schädel einen bestimmten Befehl geben. Der riesige Totenkopf reagierte. Sehr gemächlich öffnete er sein gewaltiges Maul, so daß alle in diesen Schlund hineinschauen konnten, in dem es nicht nur dunkel war, denn sie sahen etwas anderes. Zwei Menschen standen dort! Sie hatten sich innerhalb des Schädels wie in einem Gefängnis befunden, ein Mann und eine Frau. Beide waren sommerlich gekleidet, als kämen sie von einem Fest. Balzac kümmerte sich nicht um die hastigen Fragen der Menschen, er hatte die Hände geballt, denn er wußte, daß irgend etwas schiefgelaufen sein mußte. Eigentlich hatte er mit mehr Menschen gerechnet, die sich innerhalb des Schädels aufhielten, aber es waren nur zwei. Eben der Mann und diese Frau. Was war geschehen? Yves wirkte nervös, was seine >Schützlinge< nicht merkten. Die besonders Ängstlichen unter ihnen waren vom Rand der Plattform zurückgewichen, einige bewegten sich auf den Aufzug zu, was Yves überhaupt nicht gefiel, denn er holte sie mit barsch gesprochenen Worten zurück und wollte, daß sie blieben. »Nein, wir wollen weg!« »Ihr bleibt! Es ist die große Überraschung, die ich angekündigt habe, zum Henker.« »Was will er von uns?« Yves lachte rauh. »Das werdet ihr gleich sehen, keine Sorge. Verlaßt euch nur auf mich. Ich mache es euch vor. Aufgepaßt, Freunde. Der Schädel ist unser Beschützer.« Balzac beantwortete keine weiteren Fragen mehr. Er trat dicht an die Brüstung heran und kletterte hinaus. Hinunterstürzen konnte er sich nicht. Man war aus Schaden klug geworden und hatte Auffangnetze gespannt, um Selbstmörder von ihren Taten abzuhalten.
Dennoch war das Verhalten des Yves Balzac ungewöhnlich. Wollte er nur provozieren? Keiner hielt ihn zurück, weil jeder spürte, daß es sinnlos gewesen wäre, dies zu versuchen. Er richtete sich auf, die Arme hatte er gespreizt, um das Gleichgewicht halten zu können. Ein Unding, der Wind blies in dieser Höhe zu kräftig, er würde Yves von dem schmalen Steg pusten und kurzerhand wegschleudern. Aber der Mann hielt sich. Sein Gesicht zeigte eine sehr harte Anspannung. Die Haut hatte sich wie Gummi über seine Knochen gelegt. Manchmal zuckten die Lippen. Noch stand er gebückt und den Oberkörper nach vorn geschoben. Sehr langsam richtete er sich auf. Aus dem Hintergrund lösten sich die Menschen, um näher an das Geschehen herangehen zu können. Sie waren perplex, den Schädel hatten sie vergessen, doch der wußte genau, was er zu tun hatte, denn er schwebte näher. Nicht übermäßig schnell, sehr bedächtig, als würde er vom Wind getragen. Der Mann und die Frau innerhalb des Mauls hatten sich zur Seite gedrückt, um einem Gegenstand nicht im Wege zu stehen, der wie ein aufgerolltes Stück Band im Maul des Totenkopfs lag. Noch hatte keiner der Zuschauer das Ding identifizieren können, erst als es sich löste und aus dem Maul schnellte, da wußten sie Bescheid. Eine breite Zunge, dunkelrot schimmernd, jagte der Plattform und ihnen entgegen. Schreiend wichen die ersten Menschen zurück. Für sie bedeutete die Zunge eine große Gefahr. Sie war so kraftvoll aus dem Maul hervorgejagt, daß sie Menschen durchaus erschlagen konnte. Als die Zunge auf die Plattform zupeitschte, hatte sich auch Yves Balzac gedreht. Und er tat das, was niemand für möglich gehalten hatte. Er stieß sich ab und sprang der Zunge entgegen. Mit sehr viel Schwung hatte ersieh waagerecht in die Luft katapultiert, damit er nicht sofort nach unten fiel. Als ihn der freie Fall in die Tiefe reißen wollte, war die Zunge da und wickelte sich gedankenschnell um seinen Körper. Er konnte nicht einmal die Arme bewegen, sie wurden gegen ihn gedrückt, und die Zunge hielt ihn auch. Tänzelnd schwang sie für einige Sekunden hin und her, bevor es ihr gelang, sich zu stabilisieren und sich auch zu drehen, denn Yves konnte hin zur Plattform und zu den dort Zurückgebliebenen schauen. Sie standen da wie künstliche Menschen. Der Schrecken zeichnete ihre Gesichter. Einige von ihnen weinten, andere hatten die Hände zu Fäusten geballt und holten keuchend Luft.
Was sich vor ihren Augen abspielte, war unwahrscheinlich. Dieser Totenschädel, möglicherweise aus einer anderen Zeit stammend, machte mit ihnen, was er wollte. Und er hatte sein Opfer gefunden, das sich in der Umklammerung wohl zu fühlen schien, denn Balzac schickte ihnen sein scharfes, helles Lachen entgegen. »Ich werde es schaffen!« brüllte er. »Wir alle werden es schaffen. Die Magie des Zaduk wird uns reich machen, wartet es ab, wartet auf ihn, meine Freunde.« Er hatte die Worte kaum gesprochen, als sich die Zunge wieder bewegte. Diesmal jedoch dem Maul entgegen. Der Schädel zog sie an sich, als wäre er ein Magnet. Und das Maul stand offen. Im Innern waberte die rote, sumpfartige Masse, als würde sie immer wieder Nachschub bekommen, der alte Lücken auffüllte. Cabrini und Carlotta hatten von ihrem Platz aus alles sehen können. Als die Zunge das neue Opfer hereinbrachte, traten sie vor, um den Mann zu begrüßen. »Du auch?« fragte Cabrini. Die Zunge glitt nach unten. Schleim blieb nich an der Kleidung hängen, und Balzac wischte ihn an einigen Stellen ab. »Ja, auch ich, und die Zunge wird meine Freunde holen. Ich habe sie hergeführt. Sie alle sollen Zaduk zu Diensten sein. Aber was ist mit euch? Ich habe mich darauf verlassen, daß auch der Mann aus Rom viele Diener mitbringt, die Zaduk wohlgesonnen sind.« Cabrini sah aus, als würde permanent Wasser über sein Gesicht laufen, so sehr schwitzte er. Die Antwort gab er mit gehetzt klingender Stimme. »Es kam etwas dazwischen.« »Was?« fragte Yves. »Ich kannte es nicht. Es war stärker. Es bestand aus zwei Personen, wenn ihr versteht.« »Wirklich?« »Ja, aus einer Frau und einem . . .« Das Wort Mann wollte ihm nicht so recht über die Lippen. »Er war klein und mit einer grünlichen Haut versehen. Ich kannte ihn nicht. Die beiden haben es geschafft, den Schädel zu vertreiben. Zum Glück befanden wir uns bereits in seinem Maul, da ging dann alles gut.« Yves schaute auf Carlotta. »Gehört sie zu dir?« »Nein, sie ist so mitgekommen.« Balzac sagte nichts. Er spürte auch, daß Carlotta nicht ansprechbar war, weil sie litt. Sie wirkte wie ein Häufchen Elend, stand zwar auf den Beinen, aber hatte sich klein gemacht. Schutz- und hilflos war sie in diesen langen Augenblicken.
Der Franzose lächelte. »Gut«, sagte er, »gut ist das nicht, aber wir haben hier die Chance, Diener zu Zaduk zu holen. Schau sie dir an, die ich mitgebracht habe.« »Ja, ich sah sie bereits.« »Die Zunge wird sie holen!« flüsterte Yves. Er trat im Maul ein Stück zur Seite, um dieser widerlichen Peitsche den nötigen Platz zu schaffen. »Hol sie her, los, es ist genügend Platz.« Die Zunge, aufgerollt wie ein Gartenschlauch, bewegte sich zitternd, als sie wieder auseinanderglitt. Ihre Spitze schwang schon von einer Seite zur anderen. Es sah aus, als wollte sie genau maßnehmen, dann aber schnellte sie aus dem Maul. Sie nahm den direkten Weg auf die Plattform, wo die Menschen standen und die immense Peitsche auf sich zuflogen sahen. Erste Schreie gellten auf. Einige von ihnen duckten sich, andere drückten sich zurück. Die Panik war nicht mehr aufzuhalten, und beim ersten Schlag fegte die breite Zunge wie eine gewaltige Schleuder über ihre Köpfe hinweg, ohne ein Opfer zu erwischen. Sie schnellte wieder zurück. Nicht bis in das Maul hinein. Dicht davor drehte sie sich noch einmal und schlug einen Halbkreis, um neuen Schwung zu holen. Auch der Schädel bewegte sich dabei und glitt etwas in die Höhe, damit die Zunge den richtigen Schlagwinkel bekam. »Jetzt!« keuchte Cabrini. Es geschah auch etwas. Allerdings etwas anderes, als er gedacht hatte. Wie aus dem Nichts tauchte eine gewaltige Gestalt auf und stellte sich zwischen die Plattform und Zaduks Schädel. Es war kein Mensch, es war ein Engel, der sein mächtiges Schwert gezogen hatte, um Zaduks Reste zu zertrümmern... *** Der Eiserne war im letzten Moment erschienen. Er vernahm nicht nur die Schreie der unschuldigen Menschen, er hörte auch die Flüche der im Maul stehenden Personen. Cabrini, schon in Rom geleimt, befürchtete plötzlich, noch einmal reinzufallen. Yves Balzac, der Franzose, kam damit überhaupt nicht zurecht. Er mußte die Figur immer wieder anstarren, die ihre Flügel ausgebreitet hatte, von der Seite her heranschwebte und die Zunge mit einem kräftigen Schwerthieb zerhacken wollte. Sie war schnell, zu schnell. .. Der Hieb zischte ins Leere, als hätte er irgendwelche Luftteilchen zerschlagen wollen. Nur gab der Eiserne nicht auf. Er drehte sich dabei und flog den Schädel direkt an.
Wieder löste sich die Zunge aus dem Maul. Sie peitschte dem Eisernen entgegen, fiel dicht vor ihm nach unten, drehte sich wieder hoch und wollte ihn dort packen. Der Eiserne glitt nach rechts weg. Beide Beine hatte er dabei anziehen wollen. Mit dem rechten gelang es ihm, das linke aber hinkte etwas nach und wurde zur Beute der Zunge. Gedankenschnell wickelte sie sich um den Knöchel. In diesem Fall glich sie einem perfekt geworfenen Lasso, das seine Beute nicht mehr loslassen würde. Der Eiserne kippte in eine Rücklage weg — und spürte den Ruck, als er hängenblieb. Hatte Zaduk gewonnen? Noch behielt die Zunge nur den Knöchel umklammert, seine Arme konnte er noch bewegen und ebenfalls die Flügel. So war er nicht wehrlos. Er schwang sich hoch. Geschickt hatte er das angestellt, wie ein Turner am Reck. Dabei kämpfte er gegen die Kraft der Zunge an, die ihn in die Tiefe drücken wollte. Der Eiserne gab nicht auf. Waagerecht lag er in der Luft, streckte seine Arme nach hinten und zeigte den Menschen auf der Plattform ein Schauspiel, das ihnen nicht alle Tage geboten wurde. Mit beiden Händen hielt er den Schwertgriff umklammert, schlug einmal einen Kreisbogen um seinen Kopf, um für sich und die Waffe genügend Schwung zu holen — und richtete sich noch in der Luft liegend auf, wobei er mit dem Schwert gegen die Zunge zielte, um sie zu zerhacken. Der Eiserne glaubte, daß die Zeit verlangsamt würde. Er konnte den Weg der Klinge genau verfolgen und rechnete damit, daß sie die verfluchte Zunge teilen würde, aber die Schwertspitze streifte diesen widerlichen, roten Lappen nur. Ein Zucken durchlief die Masse, die gleichzeitig die Kraft verlor. Auch der Eiserne fiel zurück, durch einen Schlag seiner Flügel aber gelang es ihm, sich noch einmal aufzurichten und zu einem zweiten Schlag auszuholen, der diesmal besser gezielt war. Keiner der Zuschauer verließ die Plattform. Was sie hier geboten bekamen, das hatten sie nicht einmal im Kino gesehen. Das war eine Mischung aus Action und Fantasy. , Hier kämpften zwei Gegner einen mörderischen Fight aus, ein Duell, das auf des Messers Schneide stand, wobei beide gleich stark waren und es eigentlich keinen Siegergeben konnte. Wieder hieb der Eiserne zu. Die Klinge befand sich schon auf dem Weg, als Zaduk reagierte. Er wußte, wie empfindlich seine Zunge war, und er löste sie gedankenschnell vom Fuß des Eisernen, an dessen Knöchel ein dunkler Ring zurückblieb, als hätte sich eine Säure in das Material gefressen.
Vom eigenen Schwung getragen, wirbelte der Eiserne nach vorn und kippte gleichzeitig weg. Es sah so aus, als würde er in die Tiefe rasen und auf dem großen Platz vor dem Eiffelturm zerschellen, wo sich ebenfalls zahlreiche Neugierige angesammelt hatten, um das Schauspiel zu verfolgen. Er drehte sich aber geschickt und breitete dabei seine Flügel aus. Durch zwei Bewegungen stoppte er den Fall und glitt sofort wieder in die Höhe auf seinen Todfeind zu. Der hatte das Maul geschlossen. Nicht ein Stück Zunge schaute noch aus dem Gebein hervor. Dem Eisernen war es egal. Er wollte den Schädel direkt attackieren und ihn zertrümmern. Zaduk machte ihm einen Strich durch die Rechnung. So schnell wie der Engel war er auch. Mit einer huschenden Bewegung tauchte er ein in den Nachthimmel über Paris, auf dem sich der Lichterglanz der Stadt an gewissen Stellen widerspiegelte wie ein Sternenmeer. So schnell der Engel auch war, den Totenschädel bekam er nicht mehr zu fassen. So drehte er ab und flog auf die Menschen zu, die zurückwichen, als er in seiner gewaltigen Gestalt vor ihnen auftauchte. »Er ist weg!« erklärte er den staunenden Zuhörern. »Und er wird nicht mehr zurückkehren, das kann ich euch versprechen.« »Aber Yves!« rief der Wirt. Der Engel hob die Schultern. »Yves hat mit ihm paktiert. Er ist selbst schuld, wenn so etwas passiert. Er ist den falschen Weg gegangen, ihr hättet nicht auf ihn hören sollen.« »Er war unser Freund ...« »Ihr hattet ihn nicht genug gekannt.« Der Eiserne hob die linke Hand. »Viel Glück noch«, wünschte er. Im nächsten Augenblick war er verschwunden wie ein Spuk in der Nacht und ließ die fassungslosen Zuschauer zurück, die an einen Traum glaubten... *** Ich starrte auf den dünnen Vorhang im Hintergrund der Bühne und wischte über meine Augen. War es wirklich der Schwarze Tod, den jemand dort aufgezeichnet hatte? Ja, es gab keinen Zweifel. Zu genau war mir diese mächtige und widerliche Gestalt noch in Erinnerung. Ein schwarzes monströses Skelett, bewaffnet mit einer mörderischen Sense, unter deren Hieben schon zahlreiche Menschen ihr Leben ausgehaucht hatten.
Ich hatte ihn vernichtet. Meinem Bumerang war es gelungen, ihm den Schädel abzuschlagen. Dabei war er zerplatzt, selbst die Horror-Reiter hatten ihm nicht helfen können. Suko sprach mich leise an. Ich drehte den Kopf nach links und schaute über die Stuhlreihen hinweg. »Er ist es, John.« »Klar. Hast du eine Erklärung?« »Die gleiche wie du — keine.« »Okay, dann laß uns die Bühne mal etwas näher untersuchen. Eine derartige Dekoration interessiert mich immer.« Wir hatten es eilig, weil wir wissen wollten, wie diese Dekoration zustande gekommen war und ob hinter ihr noch mehr lauerte. Aber wir ließen auch Vorsicht walten. Durch das leere Theater schritten wir der Bühne entgegen. Über uns zeigte die Decke einen hellen Anstrich. An den Wänden brannten kleine Lampen, die nicht mehr Schein gaben, als für die Notbeleuchtung nötig war. Der Untergrund war mit dünnem Filz belegt worden, über den unsere Füße schleiften. Es war stickig und verdammt warm. In meinem Nak-ken sammelte sich der Schweiß, bevor er in kleinen, kalten Bahnen den Rücken hinablief und von der Kleidung aufgesaugt wurde. Vor der Bühne stoppte ich. Auch Suko stand auf der anderen Seite. Bei mir und ihm führte eine Trittleiter den Brettern entgegen, die angeblich die Welt bedeuteten. Für uns konnten sie auch das Ende werden . .. Die Bretter selbst waren mit dünnem Stoff belegt. Sie knarrten kaum, wenn wir über sie hinwegliefen. Daß wir die Bemalung so deutlich sahen, lag auch am im Hintergrund brennenden Licht. Die Lampen strahlten gegen die Abdeckung und holten den Schwarzen Tod deutlicher hervor. Unsere Schußwaffen hatten wir steckenlassen, aber ich holte mein Kreuz hervor und hing es mir um. Bei der Vernichtung des Schwarzen Todes damals hatte es reagiert. Heute tat sich nichts. Völlig normal blieb es vor meiner Brust hängen, ohne daß irgendwelche Reflexe über die Balken hinweghuschten. Wenn ich atmete, hatte ich den Eindruck, Staub zu schlucken. Er hing überall in der Luft, typisch für ein Theater. Suko hatte die Bühne auf der anderen Seite erklommen, war stehengeblieben und hob die Schultern, bevor er sich auf mich zubewegte. In der Mitte ungefähr würden wir uns treffen. Wir blieben stehen. Von irgendwoher drang ein Windzug auf die Bühne und traf auch den dünnen Vorhang, der Falten bekam, die sich in einem bestimmten Rhythmus bewegten, so daß es aussah, als würde der dort aufgezeichnete Schwarze Tod sich schlangengleich bewegen.
»Das Stück heißt >Zaduks SchädeL«, sagte Suko, »und nicht der Schwarze Tod. Ich frage dich, John, wo befindet sich der verdammte Totenschädel jetzt?« »Paris, Rom?« »Aber er wird kommen.« »Ohne Zuschauer läuft heute nichts.« »Dann spielt er eben für uns.« Suko drehte sich auf der Stelle. »Ich halte es hier nicht aus, John. Warte du auf der Bühne, ich schaue mich mal hinten um.« »Okay.« Suko hob kurz die Hand und ging nach links, wo sich eine schmale Gasse auftat. Aus ihr traten normalerweise die Schauspieler, wenn sie ihren Auftritt hatten. Ich blieb allein zurück. Schon sehr bald waren auch Sukos Schritte verklungen. Diese Momente waren mir nicht fremd. Allein irgendwo zu stehen und darauf zu warten, daß sich etwas ereignete. Zudem brauchte ich die Atmosphäre dicht vor der Explosion. Zumeist kündigt sich ein schreckliches Ereignis auf irgendeine Art und Weise an, und ich besaß dafür einen guten Indikator, eben mein Kreuz. Es verließ mich. Ich merkte keine Erwärmung, als ich mit den Fingerkuppen darüber hinwegstrich. Trotzdem lauerte es im Hintergrund. Nicht sichtbare Augen, das Beobachten aus dem Unsichtbaren, das Wissen darüber, daß bald etwas geschehen würde, ließ mich kribblig werden. Ein polterndes Geräusch aus dem Raum hinter der Bühne drang an meine Ohren. Ich schrak zusammen, wollte hinlaufen, als ich Sukos Fluch hörte. »Keine Panikjohn, da war nichts. Ich habe nur einen Karton umgeworfen, der etwas schief stand.« »Okay und sonst?« »Es läuft alles normal, aber ich habe noch nicht alles durchsucht. Wir müssen abwarten.« Seine Stimme hatte sich angehört, als wären die letzten Worte regelrecht verschluckt worden. Es lag wohl an der dumpfen, staubgeschwängerten Luft, die meines Erachtens vieles verzerrte und nichts normal bleiben ließ. Eine Bühne ohne Dekoration. Okay, das gab es, besonders bei sehr modernen Stücken, aber Zaduks Schädel war sicherlich nicht modern. Dieses Drama konnte durchaus in Atlantis geschrieben worden sein. Ich ging davon aus, daß ein Requisit besonders wichtig war, und zwar der Schädel.
Mit den Blicken nahm ich die Maße der Bühne ab und dachte gleichzeitig daran, wie der Eiserne und ich vor dem Schädel in der Luft geschwebt hatten. Ja, von der Größe her mußte es passen. Der Schädel würde auch in der Höhe genügend Platz haben und nicht mit seiner bleichen Kopfplatte durch das Dach stoßen. Der Druck traf mich urplötzlich. Auf einmal peitschte etwas gegen meinen Kopf. Ich taumelte zur Seite und wäre fastvon der Bühne gefallen. Im letzten Augenblick konnte ich mich zur Seite werfen und blieb auch auf den Beinen. Ich sah Zaduk! Sein massiger, bleicher Schädel mit dem offenen Maul war aus dem Nichts gekommen und hatte sich mitten auf der Bühne materialisiert. Ein schrecklicher, unheimlicher Anblick, eine Orgie des Grauens, die selbst mich in ihren Bann zog. Ich war bis an den seitlichen Rand zurückgewichen, konnte schräg auf den Schädel schauen und dachte in diesen Augenblicken nicht daran, nach Suko zu rufen, denn der riesenhafte Totenkopf des Monsters Zaduk nahm meine Aufmerksamkeit gefangen. Er öffnete sein Maul. . . Dabei bewegte er nur den Oberkiefer, der wie eine Klappe in die Höhe gezogen wurde und mir freie Sicht auf den unheimlichen Schlund gab. In ihm waberte die rötliche Masse, die auf mich den Eindruck von blutigem Fleisch machte. Bisher hatte ich den Schädel nur leer erlebt. Das war nicht mehr der Fall. Im Maul Zaduks zeichneten sich drei Personen ab, die mir unbekannt waren. Eine Frau und zwei Männer! Die Frau hielt sich im Hintergrund auf. Sie trug ein schwarzes Partykleid, zitterte vor Furcht. Ihr Haar hatte sich gelöst. Teilweise hing es in fettigen Strähnen nach unten. Die Hände hielt die Frau zusammengekrampft, sie hielt sich bestimmt nicht freiwillig im Maul dieses Totenkopfs auf. Im Gegensatz zu den Männern. Wie gesagt, ich kannte sie nicht, ihren Gesichtern allerdings war anzusehen, daß sie sich als Sieger fühlten. Das kalte Grinsen auf den Lippen, der Triumph in den leuchtenden Augen. Wie sie sich bewegten, zeigte ebenfalls an, daß sie gewillt waren, mich als nächstes Opfer zu holen. Mit sehr sicheren Schritten verließen sie das Innere des Mauls. Nicht mehr als vier Schritte trennten mich von Zaduks Schädel. Ich konnte ihn jetzt sehr gut erkennen und sah auch, daß die Wangen seitlich regelrecht eingerissen waren, so daß dort das rohe Fleisch hervorquellen konnte. Ein widerliches Bild, das auf mich mehr als abstoßend wirkte. Wie auch der rote Schmier auf der Stirn.
Die beiden betraten die Bühne. Ich zog meine Waffe. »Keinen Schritt weiter, Freunde!« Sie ließen sich nicht beirren, schauten zuerst sich an, dann mich und lachten. »Was willst du unternehmen? Weißt du, wer im Hintergrund steht und uns helfen wird?« »Zaduk!« »Richtig«, sagte der Mann, der eine Schiebermütze auf dem Kopf trug. »Es ist Zaduks Schädel. Und er hat vor mehr als 10000 Jahren schon existiert. Damals aber gehörte er noch zu einem Körper, bis der Schwarze Tod ihn zerstörte. Der Körper verging, der Schädel aber blieb bestehen. In ihm vereinigten sich die gesamten Kräfte, die einmal in Körper und Kopf vorhanden gewesen waren. Klar?« »Ja. Nur frage ich euch, was er hier in dieser Welt will? Wir haben keinen Platz für ihn.« »Doch!« Jetzt sprach der zweite Mann. »Wir haben sogar sehr viel Platz, darauf kannst du dich verlassen. Atlantis, das von vielen Menschen abgelehnt und deren Existenz bestritten wird, soll weiterleben. Es ist nicht vernichtet.« »Das weiß ich«, entgegnete ich locker. »Auch ich kenne mich mit Atlantis aus. Ich gehöre nicht zu den Ignoranten. Nur bin ich der Meinung, daß die Dinge, die damals schon schlecht gewesen waren, nicht unbedingt über all die Zeiten hinweg gerettet werden müssen. Das Negative soll vernichtet werden, das Positive aber muß bleiben. Das ist meine Art, mit Atlantis umzugehen.« Die beiden nickten. »Es ist schade, daß wir heute keine Zuschauer haben. Wir hätten sie mitgebracht, so hätte jeder von ihnen sehen können, daß sich die Vergangenheit wie ein Trichter öffnete. Nun, es hat nicht sollen sein, so müssen wir auch mit einem Zuschauer zufrieden sein, nämlich mit dir.« »Weshalb habt ihr sie nicht geholt? Sollte euch jemand gestört haben?« Ihren Gesichtern sah ich an, daß ich mit dieser Bemerkung ins Schwarze getroffen hatte. »Du kennst die drei?« fragte der Franzose. »Es sind Freunde von mir.« »Auf die du dich jetzt nicht mehr verlassen kannst. Sie haben zwar den Weg nach Rom und Paris gefunden, aber nicht nach London. Hier stehst du Zaduk allein gegenüber. Er wird dich holen!« Und er holte mich. Ich hatte mich zu sehr auf die beiden Männer konzentriert und den Schädel dabei nicht beachtet. In seinem Maul hatte sich etwas getan. Nicht die rote, schwammartige Gaumenmasse war in Bewegung geraten, sondern die Zunge. Schnell wie ein Pfeil schoß sie hervor!
Ich hatte noch zur Seite springen wollen, es klappte nicht. Dafür hörte ich, wie die verfluchte Zunge einmal hart auf den Bühnenboden schlug, dann hatte sie schon beide Knöcheln umklammert. Der heftige Ruck wirbelte mich zurück und schleuderte mich auf den Rücken. Zum Glück konnte ich mich noch etwas abstützen, so war der Aufprall gegen den Bühnenboden nicht so stark. Meine rechte Hand mit der Waffe flog in die Höhe. Das nutzte der Franzose aus. Mit einem gezielten Tritt traf er mein Handgelenk und schleuderte mir die Beretta aus den Fingern. Wo sie hinrutschte, blieb mir verborgen. Zudem hatte ich genug zu tun, mich gegen die mörderische Kraft der verfluchten Zunge anzustemmen, was mir nicht gelang. Sie war stärker als ich, viel stärker, und sie zerrte mich über den Bühnenboden ihrem verdammten Ziel, dem weit geöffneten Maul des Totenkopfs entgegen. Es war wie ein Schlund, in dem es kochte und brodelte. Er wollte mich verschlingen, auflösen, fressen. Die Warnungen des Eisernen Engels fielen mir ein. Seine Freunde schützte er, seine Feinde aber zermalmte Zaduk! Dieses Wissen ließ meine Kräfte noch einmal ansteigen. Mit den Handflächen stemmte ich mich ab, doch sie rutschten auf dem glatten Stoff des Bühnenbodens weiter, so daß ich keine Chance bekam, mich gegen den Schädel zu wehren. Er wollte mich, er bekam mich. Noch größer wurde er. Aus dem Schlund wehte mir ein widerlicher Blutund Modergeruch entgegen. Irgendwo im Hintergrund schimmerte etwas Weißes, das aussah wie angenagte Knochen. Er hörte die Frau, eine Leidensgenossin, leise wimmern. Dafür lachten die Männer. Sie hatten einen Heidenspaß daran, meinen Tod erleben zu können. Mit einem Ruck hob mich die verfluchte Zunge an und schleuderte mich in die Höhle hinein. Ich stand plötzlich senkrecht, erlebte wieder den Ruck, schaute zu der Frau hin, die vor meinen Augen verschwand, als ich, rutschend, wie auf einer schieren Ebene, nach vorn kippte. Der Gaumen, die blutige Schwammasse, sie verschluckten mich, und hinter mir schloß sich das Maul... *** Suko war aus Schaden klug geworden. Bevor er noch mehr von dem umherstehenden Gerümpel umwerfen konnte, suchte er nach einem Lichtschalter, fand ihn auch und drehte ihn herum.
Hinter der Bühne wurde es zwar nicht hell, aber einige staubbedeckte Birnen gaben doch so etwas wie Licht ab, in dessen Schein sich der Inspektor umschauen konnte. So ein Durcheinander hatte er selten gesehen. Kulissen, Werkzeug, Stoffe, alles lag herum, als hätte jemand bewußt darin gewühlt und das Chaos hinterlassen. Nichts stand mehr auf seinem Platz. Kisten, Tonnen, ein Bottich aus Kunststoff, der von Suko zur Seite geräumt werden mußte, damit er in den schmalen Gang hineingehen konnte. Die Tür war aus den Angeln gehoben worden. Sie lehnte an der rauhen Backsteinwand. Suko tauchte in den Gang. Das Schild mit der Aufschrift GARDEROBEN fiel ihm auf. Sollte sich dort jemand aufhalten? So leise wie möglich bewegte er sich auf die erste Tür zu, öffnete sie und sah die Kammer - mehr war es nicht — menschenleer. Nur der Geruch von Puder und Schminke hing noch in der Luft, vermischt mit Staub. Suko schaute sicherheitshalber noch in andere Räume hinein, ohne jemand zu sehen. Wer immer hier gewesen sein mochte, er hatte sich früh genug aus dem Staub gemacht. Der Inspektor hatte die letzte Tür soeben geschlossen, als er aus dem Hintergrund Geräusche hörte. Er blieb stehen, lauschte und wußte dann, wo sie ihren Ursprung besaßen. Auf der Bühne! Und dort war John Sinclair allein zurückgeblieben. Suko rann es kalt den Rücken hinab. Wenn sich auf der Bühne etwas ereignete, konnte es sich nur um den verdammten Schädel handeln, der dort erschienen war. Noch wußte er nichts Genaues, hastete aber mit einer gewissen Angst im Nacken zurück und blieb erst stehen, als er den dünnen Vorhang mit dem aufgemalten Schwarzen Tod erreicht hatte. Er vernahm Stimmen. Keine davon gehörte John Sinclair. Die beiden Männer, die miteinander redeten, waren ihm fremd, obwohl sie unmittelbar mit dem Fall zu tun hatten. »Es ist gut, daß der Schwarze Tod aufgezeichnet ist. Zaduk hat sich nicht mehr erschreckt.« Der Mann sprach französisch. »Nein, das hat er hinler sich.« Auch der zweite antwortete in französisch, sprach die Worte allerdings ziemlich hart aus und rollte dabei das R wie ein Italiener. Durch den dünnen Vorhang erkannte Suko den gewaltigen Schatten des Schädels. Das war schon ein Koloß, mächtig, nahezu unantastbar.
Ungefähr in der Mitte des Vorhangs befand sich ein Spalt. Kaum zu erkennen, Suko hatte ihn auch nur mehr durch Zufall entdeckt, sich die Stelle allerdings genau gemerkt. Er umklammerte mit der linken Hand die Falte, in der rechten hielt er die Beretta. Dann riß er urplötzlich den Spalt weiter auf, sprang auf die Bühne und hörte den Schrei. Ein dunkelhaariger Mann hatte ihn ausgestoßen, der andere, er trug eine Schiebermütze, war vor Schrecken stumm, als Suko urplötzlich wie ein Geist erschienen war. »Okay«, sagte er und kümmerte sich zunächst nicht um den rechts von ihm hochragenden Schädel. »Okay, es reicht. Sie werden jetzt die Hände hochnehmen und mir einige Erklärungen abgeben. Klar?« Noch immer starrten ihn die beiden an wie ein Gespenst. »Wer bist du?« keuchte Cabrini schließlich. »Nicht der Weihnachtsmann. Raus mit der Sprache! Wo befindet sich John Sinclair?« »Wer?« »Mein Freund John Sinclair.« Suko zielte genau zwischen die Augen des Italieners. Die Antwort gab Yves Balzac. »Schau dir den Schädel an, sieh auch auf das Maul. Willst du raten, wo dein Kumpan steckt? Ich kann es dir sagen. Er hat ihn gefressen, ja, gefressen!« schrie Yves und wollte sich ausschütteln vor Lachen. Suko hätte am liebsten die Augen geschlossen und wäre gleichzeitig im Erdboden versunken. Nein, verflucht, das konnte nicht wahr sein. Das war eine Lüge, ein Ablenkungsmanöver. Sollte denn alles umsonst gewesen sein? Die Kraft, die 1 letze, die . . .? Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube euch nicht. Zaduk hat ihn nicht gefressen.« »Er ist Zaduks Feind. Und Feinde verschlingt der Schädel sehr, sehr rasch.« Suko nickte. »Okay, ich glaube euch nicht eher, als bis ich es gesehen habe.« »Klar doch!« Cabrini übernahm die Antwort. »Darf ich mich bewegen, Chinese?« »Bitte.« Cabrini drehte sich um, damit er den Schädel anschauen konnte. Er streckte eine Hand aus, als wollte er das bleiche Gebein leicht streicheln. Dabei flüsterte er rauhe Worte, möglicherweise so etwas wie ein Sesamöffne-dieh. Und der Schädel gehorchte. Es war kaum glaublich, aber er öffnete sehr langsam sein Maul. Der Oberkiefer wanderte in die Höhe, als hätten Hände an ihm gezogen.
Suko konnte hineinschauen, dabei lenkte ihn das gequälte Wimmern einer Frau derartig ab, daß er nicht auf die Zunge achtete. Sein Fehler. Wie bei seinem Freund John schnellte sie plötzlich vor. Selbst Suko kam nicht dazu, ihr auszuweichen. Sie umschlang seine Hüfte, riß ihn um, und die beiden Männer freuten sich tierisch. »Ja, jetzt wird der nächste gefressen!« Dunkel war es, so verdammt dunkel. Aber keine finstere Schwärze, sie war anders, irgendwie rötlicher, und sie besaß auch den widerlichen Geruch von Moder und altem Blut. Ich stand auf einem sehr weichen Boden. Normal gehen konnte ich nicht. Allein durch die Weichheit bedingt, hatte ich Mühe, mein Gleichgewicht zu halten. Wenn ich einen Vergleich finden wollte, so kam ich mir vor wie in einer lebenden Höhle eingeschlossen. Etwas schmatzte und bewegte sich in meiner Nähe. Spritzer klatschten gegen mein Gesicht. Ich hatte den Eindruck, in eine unheimliche Tiefe schauen zu können, die kein Ende besaß. Jemand kam auf mich zu. Es war die Frau. Sie sprach italienisch. »Man wird uns beide umbringen. Dieses Monster frißt Menschen.« »Noch leben wir.« Ihre Hände strichen über meine Schultern und glitten an den Armen entlang nach unten. »Ja, wir leben, aber was ist das für ein Leben? Mehr tot sein als . . .« »Bleiben Sie nicht bei mir, bitte.« »Wo soll ich denn .. .?« »Weg. Gehen Sie dorthin, wo Sie gestanden haben. Ich habe nämlich nicht vor, mich kampflos zu ergeben.« Sie lachte schrill. »Ohne Waffe? Ich sah, daß Sie Ihre Pistole verloren.« »Es gibt auch andere«, erwiderte ich und dachte dabei an den Dolch und an mein Kreuz. Die Frau traute mir nicht, verständlich. Ich schob sie zur Seite. Erst durch den Druck meiner Hand ging sie. Dann holte ich die kleine Lampe hervor und strahlte in die Runde. Der helle Strahl ließ das Ausmaß dieses Schlundes erkennen. Es war widerlich, furchtbar. Über, neben und unter uns arbeitete es. Der Gaumen zuckte, er drehte sich, er erzeugte Blasen und Gestank, manchmal auch dünnen Rauch, der wie Nebel durch die widerliche Höhle trieb. Ich suchte die Zunge, sie war am gefährlichsten. Stand ich auf ihr, hatte sie sich irgendwo zusammengerollt?
Noch sah ich sie nicht. Wahrscheinlich bildete sie eine Einheit mit der gesamten Masse und konnte, wenn sie wollte, sich gedankenschnell lösen. Von links nach rechts wanderte der Lichtkegel. Nichts blieb ihm verborgen. Er riß Spalten und Furchen aus dem Untergrund. An den Seiten hatten sich schleimige Inseln gebildet, die immer mehr Nachschub bekamen und durch das Gewicht nach unten flössen. Da schrie die Frau! Es war ein Schrei, der mich erschreckte, geboren aus einer unwahrscheinlichen Angst. Ich drehte mich und sah, wie sie einsank. Wollte der verdammte Schädel nicht fressen? Alles wies darauf hin. Bis zu den Oberschenkeln steckte der Körper bereits in diesem schwammigen Blutsumpf. Sie hatte die Arme hochgerissen, wedelte mit den Händen, als suchte sie irgendwo übersieh nach einem festen Halt. Aber die Masse war stärker. Der Lichtkegel huschte über ihr grauenhaft verzerrtes Gesicht, innerhalb des Mauls bildeten sich dichte Nebelschwaden. Ich hörte neue Geräusche, ein Ächzen und Stöhnen, als würde ein fürchterliches Leben zurück in den Schädel kehren, das lange Zeit in Atlantis gelauert hatte. Waren es die Schreie der Toten, der Vernichteten? All derjenigen Personen, von denen nichts anderes als Knochen zurückgeblieben waren? Ich hatte keine Ahnung, ich wußte nur, daß ich die Frau retten und aus dem Sumpf ziehen mußte. Ich lief hin. Da erwischte es auch mich. Es mußte wohl eine bestimmte Stelle geben, wo Zaduks Opfer einsanken in eine Masse, für die ich keine Erklärung hatte. Innerhalb kurzer Zeit steckte ich bis zu den Knien in diesem widerlichen Sumpf. Dabei konnte ich nachfühlen, wie es der Erau ergehen mußte. Daß sie die Todesangst in den Klauen hielt. Sie streckte mir ihre Arme entgegen. Dabei schüttelte sie den Kopf. »Wir schaffen es nicht!« röchelte sie. »Nein, wir können es nicht schaffen. Er ist zu stark.« Auch ich streckte die Arme vor. Unsere Handflächen berührten sich. Ich merkte ihr Zittern, und zugleich taten wir das Richtige, als wir Zugriffen. »Festhalten!« keuchte ich. Es war eine fast lächerliche Hoffnung, denn ich schaffte es nicht, die unbekannte Frau aus dieser Masse zu zerren. Im Gegenteil, wir sanken beide tiefer.
Was half? Das Aktivieren des Kreuzes? Sollte ich die Formel rufen? Richtete sie gegen die atlantische Magie überhaupt etwas aus? Es kam auf den Versuch an. Bisher hatte mein Kreuz nicht reagiert. Das Schicksal allerdings hatte seine Weichen anders gestellt. Während wir uns noch festklammerten, die Frau herzzerreißend jammerte und zwischendurch Gebete sprach, vernahm ich ein anderes Geräusch. Ein widerlich klingendes Schmatzen, als wäre irgend etwas dabei, sich auseinanderzudrücken. Ich starrte in die Finsternis, denn die Lampe hatte ich mittlerweile weggesteckt. In der Ecke bewegte sich ein Gegenstand, der bisher zusammengerollt dagelegen hatte. Es war die Zunge! Gleichzeitig klappte der Schädel auf. Von der Bühne her fiel Helligkeit in den Schlund. Noch immer auf der Stelle stehend und weiter leicht einsinkend, drehte ich den Kopf. Suko war da, hatte die Beretta gezogen, aber die Zunge war schneller als mein Freund. Eine Warnung konnte ich ihm nicht mehr zurufen, denn sie raste aus dem Maul und umklammerte ihn wie eine Fessel... *** Auch Suko erlebte diesen absoluten Horror innerhalb weniger Sekunden, als er die Härte der verfluchten Zunge spürte, die seinen Körper wie ein scharfes Stahlband umwickelte. Zwar hatte er die Hände frei, nur konnte er durch sie den Griff nicht lösen. Die Hüfte war und blieb gefesselt. . . Suko arbeitete verbissen, während die Zunge ihn über den Boden schleifte und auf das offene Maul zuzerrte. Der Italiener sprang hin und entriß ihm die Beretta. Als Suko nach ihm schlug, drehte Cabrini ab, zielte jedoch auf den Kopf des Chinesen, wobei sein Finger den Abzug umklammerte. »Jetzt zerschieße ich dir den Schädel!« »Non!« brüllte Yves dazwischen. »Laß es den Schädel machen! Wir haben ihm Opfer versprochen, er soll sie bekommen!« Cabrini nickte, ließ wieder von Suko ab, der es einfach nicht schaffte, stärker zu sein als die Zunge. Aber er verfiel nicht in Panik. Die beiden Männer schauten kalt grinsend zu, auch dann noch, als Suko seine Hand unter die Jacke verschwinden ließ und die Finger um den Gegenstand krallte, der wie ein braungrüner, völlig harmloser Stab aussah, es aber in sich hatte. Wenn Suko ein
bestimmtes Wort rief, dann sorgte er dafür, daß die Zeit für fünf Sekunden angehalten wurde. Jede sich in Rufweite befindliche Person erstarrte, konnte sich nicht mehr rühren. Diese Magie half dem Träger des Stabs nicht allein bei menschlichen Gegnern, auch Dämonen waren davor nicht gefeit, und Suko hoffte stark, daß selbst Zaduks Schädel nicht stärker war. Die halbe Strecke hatte er bereits zurückgelegt, als seine Finger den Stab berührten und er das eine Wort schrie. »Topar!« Es war wie ein Wunder. Suko spürte noch den Ruck, aber er wurde nicht mehr gezogen. Alles war erstarrt. Die beiden Männer, die Zunge, John Sinclair und die Frau innerhalb des Schädels, nur Suko selbst konnte sich bewegen. Ihm blieben nur die fünf Sekunden, um sich zu befreien. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zuviel. Er kämpfte verbissen. Seine karategestählten Finger schoben sich zwischen seine Kleidung und den breiten roten Zungenstreifen. Er wühlte wie ein Berserker, hatte das Gefühl, seine Finger würden dabei auseinanderbrechen, keuchte, schrie, achtete nicht auf den Schweiß, der bitter in seine Augen rann und merkte dann, daß sich die Zunge bewegte und er dies ebenfalls schaffte. Der Inspektor war frei! Auf dem Bühnenboden rollte er sich herum. In dem Augenblick waren die fünf Sekunden vorbei. Alles lief normal ab. Und auch die verdammte Zunge bewegte sich. Nur ohne Beute, sie zuckte zurück und damit dem offenen Maul entgegen. Cabrini brüllte fürchterlich, als er sah, daß sich Suko bewegen konnte. »Reingelegt hat er uns!« Er streckte den Arm aus. Die Beretta zielte gegen den Inspektor... *** So schnell Suko auch war, einer Kugel aus dieser kurzen Distanz konnte er nicht entwischen. Das wußte er, das wußte auch ich, und Sukos Magen zog sich schmerzlich zusammen. Noch steckte ich fest, aber bewegen konnte ich mich, und den Dolch besaß ich ebenfalls. Er steckte in der Scheide an meinem Gürtel. Dieser Griff zur Waffe war fließend. Da gab es nichts Abgehacktes, kein Zögern, es war eine glatte, wunderbare Sache, tausendmal eingeübt, sicher und schnell. Normalerweise ist ein geschleuderter Dolch nicht so rasch wie eine Kugel. Aber es kam auch auf die Situation an, denn auf mich achtete
keiner, und ich hielt den Silberdolch zudem schneller in der Hand als der andere die Beretta. Bewegen konnte ich mich nicht, dafür drehen. Und ich brachte meinen Oberkörper nach rechts fast in eine Schräglage, holte dabei aus und schleuderte den Dolch mit voller Wucht auf das Ziel zu. Ich konnte mir keine Stelle des Körpers aussuchen, wichtig war, daß ich traf. Der Dolch flog. Es war ein Wahnsinn. Bei einem Spielberg-Film wäre der Flug dieser Waffe sicherlich verlangsamt gezeigt worden und auch dessen Einschlag. Aber das hier war kein Film. Ich hörte das Sausen, sah den Treffer und nahm den Schrei wahr, der über die Bühne hallte. Der Italiener zuckte zusammen. Eine clownhafte, groteske Bewegung ließ ihn zurückweichen. Er wollte gehen, setzte auch den rechten Fuß auf, da sah ich das Blut und bekam mit, wie er zusammensackte. Sein Kumpan brüllte fürchterlich. Mit einem Hechtsprung stürzte er Suko entgegen, wahrend gleichzeitig ein Vibrieren durch den Schädel lief, als wäre er inmitten eines Erdbebens gelangt. Ich wußte nicht, was geschehen war, hörte ein Krachen und sah, wie Suko den Franzosen gepackt hielt, herumschleuderte und im hohen Bogen von der Bühne warf. Der Mann krachte irgendwo zwischen die Sitzreihen, wo er sich nicht mehr rührte. Das Vibrieren veränderte sich. Über mir ertönte ein Splittern und Bersten. Die Zunge spielte verrückt. Sie wischte zurück in das Maul und stellte sich senkrecht. Dabei streifte sie meine Schulter und schleuderte mich auf die Frau zu, die mir vorkam wie eine stehend Bewußtlose, denn sie reagierte auf nichts mehr. Ich schaute nach oben, hing noch immer fest und konnte erkennen, daß sich in der Schädeldecke ein breiter Spalt gebildet hatte. Etwas schob sich hervor, drang nach unten, bekam Farbe, einen gelben Schimmer. Es war das Schwert mit der goldenen Klinge! *** Wie ein weiblicher Triumphator hockte Kara, die Schöne aus dem Totenreich, auf dem Gebein des Schädels. Sie, Myxin und der Eiserne Engel waren in London und im Theater gerade zum richtigen Zeitpunkt eingetroffen. Der kleine Magier hielt sich im Zuschauerraum auf, Kara auf dem Schädel, der Eiserne stand als mächtige Gestalt und mit dem Schwert in der Hand vor dem Totenschädel.
Suko konnte dies am besten überblicken. Er wollte ebenfalls eingreifen, doch der Engel schob ihn mühelos und auch ein wenig unwillig zur Seite. »Nein, Suko, das ist unsere Sache!« Und Suko ließ sie. Er wußte, daß die drei aus Atlantis die älteren Rechte besaßen. Der Engel ging vor. Wie eine Maschine schritt er, den Blick seiner kalten Augen auf die Schädelöffnung gerichtet. In seinem Gesicht rührte sich nichts. Nach wie vor sah es aus wie gegossen. Die Zunge im Maul spielte verrückt. Sie tanzte der inneren Schädeldecke entgegen, aber da war die goldene Klinge im Wege. Myxin blieb zurück als Rückendeckung, das Kämpfen überließ er Kara und dem Eisernen. Mit dem dritten Hieb hatte die Schöne aus dem Totenreich das harte, bleiche Gebein noch stärker gespalten. Löcher mit sternförmigen Rissen waren entstanden, groß genug, um mit der Waffe hineinschlagen zu können. Kara drosch wieder zu. Diesmal schlug sie an den Rändern eine Zacke des Gebeins ab. Die lange Zunge schnellte ihr entgegen, sie wollte sich um die goldene Klinge drehen, wogegen Kara nichts hatte. Als es soweit war, zog sie die Klinge nach links und hinterließ in der Killerzunge des Schädels eine lange, tiefe Wunde. Sie zog sich zurück, peitschte in den sumpfartigen Gaumen, wo das Schleimzeug in die Höhe spritzte wie Wasser und ich den Kopf einzog, weil ich von der stinkenden Masse nicht erwischt werden wollte. Dann war der Eiserne da. Und sein Schwert räumte furchtbar auf. Er zerdrosch die beiden Kiefernhälften. Raketenartig spritzten die Trümmer in die verschiedensten Richtungen weg. Er bohrte seine Klinge in die weiche Masse, schlug sich den Weg frei und vergaß dabei nicht, mir zuzuwinken. Wir sanken nicht mehr tiefer, aber wir spürten, daß mit der Masse etwas geschah. Sie war längst nicht mehr so weich, sondern trocknete langsam aber sicher aus. Zuerst wurde sie fest, beinahe schon hart wie Beton. Noch immer hielt sie uns umschlungen, bis zu dem Zeitpunkt, als der Eiserne noch einmal voll zudrosch und Kara von oben her herabsprang, neben dem Engel landete und sich um die Zunge kümmerte. Sie zerhämmerte sie, obwohl die Zunge versuchte, ihr zu entkommen. Stücke von ihr wirbelten durch die Luft, wurden grau, unansehnlich und zerfielen zu Staub.
Plötzlich ließ auch der Druck an unseren Beinen nach. Ich zog die Frau einfach mit. Wir bewegten uns fast durch knöchelhohen Staub dem Eingang entgegen, wo Suko wartete und uns zusammen auf die Bühne und in Sicherheit zerrte. Der Eiserne und Kara ließen nicht locker. So verschieden ihre Schwerter auch waren, so sehr glichen sie sich in der Wirkung. Sie schafften es tatsächlich, das zu vernichten, was einmal Zaduk gewesen war. Den Schwarzen Tod hatte er nicht mehr zu fürchten brauchen, seinen Konkurrenten hatte ich damals aus der Welt geschafft, aber er kam gegen die geballte Macht der überlebenden Atlanter nicht an. Ich erlebte den Eisernen in einer wahren Raserei. Jeden Schlag begleitete er mit Kommentaren. Er sprach davon, daß der Terror der verräterischen Vogelmenschen nie mehr über die Menschen hereinfallen dürfe, und mit einem gewaltigen, schräg angesetzten Hieb zertrümmerte er auch die letzten Reste des Gebeins. Wir hörten das Krachen, sahen den Staub, der über die Bühne wirbelte, und vernahmen zuletzt einen gellenden Schrei, den weder Kara noch der Eiserne ausgestoßen hatte. Es mußte der Geist gewesen sein, der seinen Platz im Gebein gefunden hatte. Der Schrei verebbte, der Staub blieb, aus dem zwei Sieger abgekämpft, aber glücklich hervortraten. Kara und der Eiserne Engel... *** Cabrini war schwer verletzt. Suko hatte schon nach einem Arzt telefoniert. Mein Silberdolch steckte in seiner rechten Brusthälfte, und ich hoffte, daß der Mann durchkam. Die Frau hieß Carlotta, stammte aus Rom und berichtete mit stockenden Sätzen, was sie erlebt hatte. Fassen konnte sie es noch immer nicht. Wir rieten ihr, auch nicht weiter darüber nachzudenken. Der Franzose lag jammernd zwischen den Stuhlreihen, wo Suko ihn hingeschleudert hatte. Irgend etwas war mit seinem Kreuz nicht okay. Die Ärzte würden sich um ihn kümmern. »Das hätten wir geschafft«, sagte Myxin. Ich hatte eine Frage. »Was wollte dieser verdammte Zaduk eigentlich? Kann mir das jemand erklären?« Der Eiserne gab die Antwort: »Nur seine Macht beweisen. Der Schwarze Tod ist nicht mehr, sein Schädel überlebte. Er wollte die alten Zeiten wieder aufleben lassen. Und das ist ihm nicht gelungen.«
»Klar, bei diesem Theaterstück haben wir auch Regie geführt!« rief Kara voller Stolz und steckte ihr Schwert wieder weg. Sie brauchte es nicht mehr...
ENDE