„Die Wüstenkönigin“ von Ulrike Stegemann
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„Die Wüstenkönigin“ von Ulrike Stegemann
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Unerträgliche Hitze war die erste ihrer Wahrnehmungen. Mühsam versuchte sie ihre Augen zu öffnen, kniff sie jedoch sogleich wieder zusammen. Grelles Licht hatte sie getroffen. Sie hielt sich beide Hände vor das Gesicht, um die vor ihrem inneren Auge tanzenden Punkte fortzuwischen. Dabei spürte sie, wie ihre Haut von einer feinen Staubschicht überzogen wurde. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Vorsichtig blinzelte sie zwischen ihren Fingern hindurch. Sie wollte wissen, wo sie sich befand. Doch als sie es im nächsten Augenblick erkannte, wäre sie am liebsten erneut dem Schlaf verfallen. Heller Sand streckte sich zu ihren Seiten in eine unüberschaubare Weite hin. Die hohen Dünen, in deren Mulde sie saß, verwehrten ihr eine allzu ferne Sicht. Sie rieb sich ungläubig die Augen, nur um ganz sicherzugehen, dass sie ihr keinen Streich spielten. Ihre Umgebung blieb jedoch dieselbe und allmählich nahm sie wahr, wie sehr die pralle Sonne bereits ihre Haut gerötet hatte. Sie trug
zwar eine lange Leinenhose, die sie schützte, ihre Tunika war allerdings ärmellos. Mit leichtem Druck betastete sie ihre nackten Arme. Sie fühlten sich heiß an, aber nicht verbrannt. Nur langsam rappelte sie sich auf und presste ihre Füße, die in festen Lederschuhen steckten, in den Sandboden. Sämtliche Glieder schmerzten sie. Aus welchem Grund wusste sie nicht. Als sie weiter darüber nachsann, überfiel sie die erschreckende Erkenntnis, dass sie an ihre Vergangenheit überhaupt keine Erinnerung besaß. Ein dicker Kloß bildete sich in ihrer Kehle. Hilflos drehte sie sich um ihre eigene Achse, darauf hoffend, irgendjemanden in ihrer Nähe vorzufinden, den sie bislang übersehen hatte. Aber es war niemand da. Wut und Trauer überwältigen sie und ließen sie für einen Moment auf die Knie sinken. Dabei fiel etwas aus einer kleinen Tasche, die in ihre Tunika eingenäht war. Ein silbernes Plättchen schimmerte in den starken Strahlen 2
der Sonne auf. Die junge Frau riss sich zusammen und streckte ihre Hand nach dem Silberstück aus. Es hing an einem dunklen Lederband. Offenbar war es als Halskette gedacht. Doch aus welchem Grund trug sie es dann in der Tasche ihrer Tunika? Mit beiden Händen hielt sie die Kette hoch und drehte das Silberplättchen, bis sie schließlich eine Gravur erkannte. „Leandra“, stand darauf. Konnte dies ihr Name sein? Andererseits fiel ihr kein anderer ein, der es sein könnte. „Mein Name ist Leandra.“ Sie zog das Lederband auseinander und legte es sich um den Hals. Mit diesem Talisman, einem Teil ihrer vermeintlichen Vergangenheit, fühlte sie sich bestärkt und stand ein zweites Mal auf. Nun würde sie sich nicht wieder von ihren Gefühlen in die Knie zwingen lassen. Die Kette deutete darauf hin, dass sie eine Vergangenheit hatte. Vielleicht befand sich ihre Heimat ganz in der Nähe, in einer Wüstenstadt. Sie musste nur danach
suchen. Zumindest hatte sie einen Namen. Leandra. Voller Tatendrang erklomm Leandra die erste Düne. Sie verweilte auf deren höchstem Punkt und blickte um sich. Nichts als Sand, so schien es ihr im ersten Moment. Viel länger wollte sie auch nicht stehen bleiben, da sie nicht wusste, wie weit der Weg noch sein mochte. Unermüdlich kämpfte sie sich weiter durch die Hitze der Wüste, die ihr mehr und mehr wie eine unerträgliche Last vorkam. Die Sonne brannte sich in ihr Gesicht und ihre Arme hinein und der Schweiß lief in Strömen an ihr hinab. Ihre Füße wurden schwerer. Sie schienen nicht weitergehen zu wollen, so dass Leandra sie mit Gewalt dazu zwingen musste. Einer Ohnmacht nahe, erklomm sie eine weitere hohe Düne. Auf dem Gipfel setzte sie sich in den Sand um einen Moment auszuruhen. Mit halbherzigem Blick betrachtete sie ihre Arme, die mittlerweile sonnenverbrannt waren. Doch die Schmerzen 3
spürte sie nur wenig. Vielmehr fehlte ihr die Kraft, überhaupt etwas zu empfinden. Da vernahm sie mit einem Mal Geräusche. Menschliche Geräusche. Sie sah ruckartig auf und konnte kaum fassen, was sie dort erblickte. Das elendige Bild der immer gleich bleibenden Wüste wurde von einer prächtig gebauten Stadt unterbrochen. Große und kleine Gebäude aus hellem Stein reihten sich dicht aneinander. Menschen liefen hektisch hin und her und auf einer Seite sah Leandra eine Horde Kamele stehen. Die Tiere kauten gelangweilt vor sich hin. Ihre Augen waren ausdruckslos. Leandra konnte sich plötzlich daran erinnern, wie sie einst auf dem Rücken eines solchen Kamels die Wüste durchquert hatte. Es war ein Anfang, der sie auf weitere Erkenntnisse aus ihrer Vergangenheit hoffen ließ. Doch in diesem Augenblick saß sie noch immer ratlos auf einer Sanddüne. Sie zwang sich zum Aufstehen und näherte sich schleppenden Schrittes der Wüstenstadt. Einige Menschen drehten sich nach ihr um,
starrten sie an, aber niemand schien sie zu erkennen. Ohne ein Wort gingen sie an ihr vorbei. Leandra sah sich ihre Gesichter genau an, versuchte sie sich einzuprägen. Sie tauchte in der Masse der sich in den Gassen tummelnden Menschen unter. Einem Impuls folgend steuerte sie direkt auf die nächste Taverne zu. Die Tür klemmte ein wenig und sie musste sich heftig dagegen lehnen, um sie zu öffnen. Als sie aufsprang, drang ein Übelkeit erregender Geruch aus dem Inneren der Taverne. Alkohol, Zigarrenqualm und Parfum mischten sich darin. Leandra musste kurzzeitig den Atem anhalten, wich jedoch nicht zurück, sondern trat ein und bahnte sich einen Weg hin zu der Theke. Ein ungepflegter rundlicher Mann fragte sie sogleich, was sie trinken wolle. Er erntete darauf einen unentschlossenen Blick, zuckte mit den Schultern und stellte ihr kurz entschlossen einen Krug mit einer gelblichtrüben Flüssigkeit vor die Nase. Dann wandte 4
er sich von ihr ab und bediente seinen nächsten Gast. Leandra nahm den Krug in beide Hände und schnupperte zaghaft daran. Es roch gar nicht mal so übel wie sie befürchtet hatte und als sie davon trank, ließ es ihre Kehle spüren, wie ausgetrocknet sie bereits war. Unbändiger Durst überfiel sie. Sie konnte nicht anders, als in einem gierigen Zug knapp die Hälfte des Kruges zu leeren. Sie erschrak über sich selbst, als sie im nächsten Moment den anerkennenden Blick des rundlichen Mannes hinter der Theke bemerkte. Ein Gast neben ihr stellte geräuschvoll einen leeren Krug auf der Theke ab. Er suchte in seiner Hosentasche nach etwas und fand schließlich einige Silberstücke, die er dem Wirt auf die Theke warf. „Danke, Meister“, entgegnete der. Da wurde Leandra bewusst, dass sie womöglich gar kein Geld bei sich trug. Sie hatte zwar bislang nicht danach gesucht, doch ihre Kleidung besaß lediglich zwei Taschen – eine in ihrer Tunika und eine weitere an der
rechten Seite ihrer Hose. In beiden vermutete sie keine Geldstücke, vergewisserte sich jedoch dieser Tatsache. Es war, wie sie es befürchtet hatte. Sie trug nichts weiter als ihre Kleidung und die Kette mit dem Silberplättchen bei sich. Die Kette würde sie in keinem Fall hergeben. Daher blieb ihr nur eine Möglichkeit. Sie musste sich in einem unauffälligen Moment verdrücken, denn der Wirt machte nicht gerade den Eindruck, als würde er Spaß verstehen. Vorher leerte sie jedoch den Krug. Sie konnte schließlich nicht wissen, wann sie das nächste Mal an etwas zu trinken gelangen würde. Das leere Gefäß in den Händen hin und her schwenkend wartete sie einen günstigen Zeitpunkt ab, um die Flucht ergreifen zu können. Doch der Wirt war alles andere als unaufmerksam. Er sah alles und jeden und bemerkte sogar, dass der Krug in Leandras Händen längst ohne Inhalt war. Sie winkte ab, als er ihr Nachschub anbot. Das hätte ihre Schuld nur vergrößert. Die Zeit zog sich erbarmungslos in die Länge. 5
Bereits dreimal wollte der Wirt ihr nun schon nachschenken, doch sie hielt sich immer noch kopfschüttelnd an dem leeren Krug fest. Winzige Schweißperlen kämpften sich den Weg aus ihrer Stirndecke ins Freie. Mehr aus Angst als aus Hitze entstanden, fühlten sie sich merkwürdig kalt an. Leandra befürchtete, sie müsse bis ans Ende ihrer Tage dort sitzen bleiben. Doch da geschah tatsächlich ein kleines Wunder. Einer der Gäste – er hatte sich bis knapp vor die Besinnungslosigkeit betrunken – streckte seine Arme über die Theke hinaus. Er wollte eine Flasche Whiskey erreichen. Dabei erbrach er sich und plumpste beinahe auf den Boden der anderen Seite. Sein Gesicht lief kreidebleich an. Er röchelte schwerfällig. Der Wirt kümmerte sich sogleich um ihn. Es lag eine Routine in seiner Handlung, als würde so etwas jeden Tag mindestens dreimal geschehen. Leandra starrte schockiert auf den halb bewusstlosen Mann und den Wirt, der ihn behände packte und in eine stabile Position brachte.
Sie musste sich von dieser Szene regelrecht losreißen. Doch es mochte wohl ihre einzige Möglichkeit zur Flucht sein. Kurz entschlossen stellte sie den Krug auf der Theke ab, drehte sich herum und lief los. Es bereitete ihr einige Mühe, sich durch die Menschenmenge zu drängen, die dem völlig betrunkenen Gast entgegeneilte, um über ihn zu lachen. Sie musste ihre Ellenbogen einsetzen. Doch bevor sie den rettenden Ausgang erreichen konnte, packte sie jemand mit solch enormer Kraft von hinten, dass sie rücklings auf dem Boden aufschlug. Benommen drehte Leandra ihren Kopf zur Seite. Sie wollte sehen, wer sie umgerissen hatte, doch sie erkannte lediglich verschwommene Umrisse. „Diebin! Betrügerin!“, brüllte eine zornige Stimme. „Schleicht sich hier ein und denkt, sie würde alles umsonst bekommen!“ Dann verlor sie das Bewusstsein. Leandras Kopf dröhnte, als sie das nächste Mal erwachte. Sie drückte beide Hände gegen 6
die Schläfen und kniff die Augen fest zusammen. Das dumpfe Geräusch wollte jedoch nicht verschwinden. Ungelenk rappelte sie sich auf und blickte sich ihre neue Umgebung an. Tatsächlich hatte sich alles um sie herum verändert. Erstaunlicherweise verrottete sie nicht in einem dreckigen Kerker, wie sie befürchtet hatte. Stattdessen ruhte ihr Körper auf einem weichen riesengroßen Bett. Der roséfarbene Stoff, der Kissen und Decken überzog, war nicht nur zart und glänzend, sondern auch von einem blumigen Duft. Goldverzierte kleine Teppiche hingen an den Wänden. Sie zeigten die verschiedensten Muster. Und überall in dem großen Raum standen Vasen mit herrlich duftenden Blumen. „Oh“, stieß eine hauchdünne Stimme aus. „Die Herrin ist erwacht.“ Als Leandra sich umsah, erkannte sie eine schleierverhüllte Frau, die auf dem Boden neben dem Bett kniete. „Ist das ein Traum?“ Leandra legte misstrauisch die Stirn in Falten.
„Gewiss habt Ihr sehr lange geschlafen, Herrin. Aber nun seid Ihr erwacht. Wir danken dem Stern der Wüste.“ Die Frau sprach, ohne sich dabei zu erheben. Nicht einmal ihr Gesicht war zu erkennen. Leandra kam dieses Verhalten merkwürdig vor. „Wer seid Ihr?“, fragte sie. „Oh, erkennt Ihr mich denn nicht, Herrin?“ Endlich hob die Frau ihren Kopf. Den Schleier, der ihr Gesicht verbarg, streifte sie zurück, so dass Leandra ihr in die Augen sehen konnte. Sie hatte ein hübsches, fein geschnittenes Gesicht. Ihre Hautfarbe glich dem Wüstensand, ihre Haare waren lang und pechschwarz und sie trug ein in grüner Farbe aufgemaltes Zeichen auf der Stirn. Leandra musste kurz überlegen, doch sie war sich nicht sicher, ob sie die Frau tatsächlich kannte. Womöglich lag es nur an der Ähnlichkeit, die erstaunlicherweise zwischen ihnen bestand. „Nein, es tut mir leid“, sagte sie. „Ich habe wohl mein Gedächtnis verloren. Ich kann mich nicht an Euch erinnern.“ Die Frau wich zurück, blieb aber einige 7
Schritte entfernt stehen und betrachtete Leandra unsicher. Sie schien über etwas zu grübeln. „Helfar, der Wirt“, begann sie schließlich, „er meinte, Ihr habt Euch äußerst merkwürdig verhalten, als er Euch gefunden hat. Er sagte sogar, er hat Euch nicht sofort erkannt. Aber als er dann Eure Kette gesehen hat, wurde ihm klar, wen er vor sich hat.“ „Meine Kette?“ Mit einer Hand tastete Leandra nach dem Band, an dem das kleine Silberplättchen hing. Es lag noch immer um ihren Hals. Sie zog es soweit wie möglich vor und warf einen Blick darauf. „Leandra“, las sie vor. „Wir haben Euch so vermisst. Ihr dürft Euer Volk nie wieder allein lassen.“ Erneut warf sich die Frau auf die Knie. Ihre Schleier rauschten durch die plötzliche Bewegung und bäumten sich in großen Beulen auf. Leandra verlangte dieser Anblick ein verschmitztes Grinsen ab. „Nun, wer seid Ihr?“, fragte sie ein zweites Mal, da die Frau ihr bislang keine Antwort
darauf gegeben hatte. „Czima, eure treue Dienerin, Herrin.“ „Czima, also“, wiederholte Leandra. „Steh auf, Czima.“ Sie sprang von dem großen Bett auf ihre Füße und stellte sich vor ihre angebliche Dienerin. Diese legte den Kopf in den Nacken, um zu ihrer Herrin aufsehen zu können. Sie wirkte verunsichert. „Aber, Herrin ...“ „Kein aber“, unterbrach Leandra sie. Unvermittelt schritt sie durch den Raum. Sie entdeckte an einer Seite, versteckt hinter dicken Samtvorhängen, zwei menschengroße Fenster. Darauf schritt sie zu und sah hinaus. Im gleichen Moment schrak sie zurück. Ein wahrer Menschenauflauf tat sich vor ihr auf. Sie trugen die feinsten Kleider und legten Geschenke am Fuße einer breiten Treppe ab. Leandra vermutete, dass diese Treppe zum Eingang des Gebäudes führte, in dem sie sich befand. Nachdem die Menschen ihre Geschenke abgelegt hatten, gingen sie jedoch nicht fort, sondern versammelten sich auf einem großen 8
Platz und beteten. Mal flüsterten sie lediglich vor sich hin, mal sprachen sie so laut, dass Leandra ihre Worte verstehen konnte. „Heil, Leandra! Heil, unserer Wüstenkönigin!“, hörte sie immer wieder aus der Menge heraus. Leandra, die Wüstenkönigin. Konnte damit wirklich sie gemeint sein? „Da seht Ihr, Herrin, wie sehr Euch euer Volk vermisst hat.“ Czima stand plötzlich hinter ihr und Leandra musste unwillkürlich zusammenzucken. „Nein, das kann nicht sein.“ Sie schüttelte energisch den Kopf. „Ihr müsst Euch irren. Ich bin keine Königin und ich kann mich nicht daran erinnern, jemals eine gewesen zu sein.“ „Oh, natürlich seid Ihr unsere Königin.“ Czima schien keine Widerrede zu akzeptieren. „Ihr seid nur ein wenig verwirrt. Aber ich bin mir sicher, dass Euer Gedächtnis bald wieder vollständig zurückkehren wird.“ Leandra konnte es nicht fassen – von einer in der Wüste Ausgesetzten und Diebin verwandelte sie sich plötzlich in eine Königin der Wüste. Ihren ersten Impuls – alles
abzustreiten – verdrängte sie nun. Denn wo sollte sie einen besseren Unterschlupf finden als an diesem Ort? Es vergingen einige Tage, in denen die Menschen sich immer wieder vor der großen Treppe des Wüstenpalastes versammelten. Von Ungläubigkeit gezeichnet betrachtete Leandra die wertvollen Geschenke, die sie dabei zurückließen. Das Volk schien seine Königin wahrhaftig zu lieben, obwohl diese sich nach wie vor an rein gar nichts erinnern konnte. Das Leben im Palast war jedoch sehr angenehm. Leandra musste sich kaum um etwas bemühen. Sie hatte eine Schar von Dienern unter sich, die ihr jeden erdenklichen Wunsch von den Augen ablasen. Einmal hatte sie Hunger auf Weintrauben, doch in der Wüstenstadt gab es diese Früchte nicht. So wurden Boten in alle vier Himmelsrichtungen ausgeschickt, um für ihre Königin Weintrauben heranzuschaffen. Leandra wunderte sich über diese Tatsache 9
sehr. Es war ein Grund mehr, der dafür sprach, dass sie nicht die Königin der Wüste sein konnte. Denn dort hatte es niemals Weintrauben gegeben und doch kannte sie diese und verspürte einen unstillbaren Appetit darauf. Czima war überzeugt, ihre Herrin hätte von den Weintrauben an einem anderen Ort gekostet. Schließlich wusste jeder, dass Leandra ihre Stadt eine Zeit lang verlassen hatte. Leandra befand es der Mühe nicht wert dagegen anzureden. So hielt sie sich zurück und wartete darauf, dass ihr eines Tages einer der Boten eine Hand voll Weintrauben bringen würde.
Glückwünsche zu überbringen. So auch eine Gestalt, die sich von Kopf bis Fuß in dunkles Leinen eingehüllt hatte. Lediglich die Hände und die Augenpartie waren freigelegt. Leandra musste lächeln, als sie diesen Einwohner vor sich treten sah. Er trug nicht einmal ein Geschenk bei sich. Seine einzige Gabe war ein Glückwunsch, gesprochen von einer Stimme, bei der es der Königin heiß und kalt den Rücken hinunter lief. Verunsichert beugte sie sich vor und sprach so leise, dass nur diese Person ihre Worte verstehen konnte. „Wer seid Ihr?“ Da zog ihr Gegenüber das Tuch von seinem Gesicht und gab sich zu erkennen. „Du weißt, wer ich bin.“ Leandra wusste nicht, ob sie glücklich oder entsetzt sein sollte. Sie hätte jede einzelne harte Kante dieses Gesichtes selbst mit verbundenen Augen wiedererkannt. Es schien beinahe, als wäre er der einzige Mensch, den sie jemals wirklich gekannt hatte. „Mendon.“ Ihr Herz machte einen Sprung, als sie sich selbst seinen Namen aussprechen
Mit der Zeit gewöhnte sich die Königin an ihr Leben im Palast. Sie begann sogar es zu genießen. Bis sie eines Tages, völlig unverhofft, ein bekanntes Gesicht erblickte. Aus Anlass ihres angeblichen Geburtstages gab der Palast ein großes Fest für sämtliche Bewohner der Wüstenstadt. Viele von ihnen traten persönlich vor Leandra, um ihre 10
hörte. „Du hast mich nicht vergessen.“ Die harten Züge seines Gesichts entspannten sich und er brachte ein liebevolles Lächeln zustande. Für einen kurzen Moment herrschte erstauntes Schweigen zwischen den beiden. „Nun hast du es also bis zur Königin gebracht“, versuchte er zu scherzen. Das hatte Leandra im Taumel der Wiedersehensfreude beinahe verdrängt. Etwas erschrocken sah sie um sich, ob sie auch niemand beobachtete. „Sie halten mich für ihre Königin, aber ich weiß, dass ich es nicht bin. Sag mir, dass ich es nicht bin!“ „Du bist meine Königin“, sagte Mendon. „Bitte, halte mich nicht zum Narren, Mendon“, gab sie zurück. „Vor einigen Tagen erwachte ich ganz alleine mitten in der Wüste und auf einmal wird in dieser Stadt eine Königin aus mir gemacht. Ich kann mich an nichts erinnern, was vorher geschah. An nichts, bis jetzt, da ich dich sehe.“ Mendon hatte nicht geahnt, dass die Dinge so lagen. Er fragte sie nach dem Grund, aus
welchem sie Leandra für ihre Königin hielten. Als Antwort hielt sie ihm die Kette mit dem Silberplättchen vor die Nase. Offensichtlich der Ausweis für die rechtmäßige Herrscherin dieser Stadt. „Dies ist die Kette der Königin?“ Mendon wurde kalkweiß. Leandra beobachtete misstrauisch den Wechsel seiner Gesichtsfarbe. Sie ahnte nichts Gutes. „Was weißt du über diese Kette? Du weißt doch irgendetwas!“ „Nun ...“ Mendon wurde kleinlaut. „Kannst du dich wirklich nicht erinnern?“ Leandra schüttelte nur den Kopf. „Wir waren schon seit Tagen in der Wüste unterwegs. Essen und Trinken hatten wir längst aufgebraucht. Da kam uns eine Karawane gerade recht. Die Kamele trugen große Gefäße bei sich, in denen sich Wasser befand. Wasser, nach dem es uns so erbärmlich dürstete.“ Mit geweiteten Augen vernahm Leandra den weiteren Verlauf der Geschichte. Zunächst hatten sie freundlich nach Wasser gefragt. 11
Doch sie trugen kein Geld bei sich und konnten somit auch nicht dafür bezahlen. Da die Karawane lediglich von vier Personen geführt wurde, davon drei Frauen und nur ein Mann, entschlossen Leandra und Mendon sich kurzerhand, sie zu überwältigen. Es ging alles ziemlich schnell. Mendon stürzte sich zuerst auf den Mann, Leandra auf eine der Frauen. Dabei musste sie dieser jene Kette entrissen haben, die sie nun um den eigenen Hals trug. Sie hatte ja nicht ahnen können, dass es sich dabei um eine Königin handelte. Am Ende des Kampfes wurden die beiden voneinander getrennt. Leandra wurde am Kopf von einem der Wassergefäße getroffen und rollte bewusstlos in den Wüstensand. Mendon hingegen verfing sich im benommenen Zustand in einem Strick, der um einen Kamelhals hing, und wurde von diesem Tier endlos weit mitgeschleift. Was aus den Menschen geworden war, die die Karawane geführt hatten, konnte er nicht sagen. „Sie wird ihren Thron einfordern, sobald sie hier wieder auftaucht“, sagte Leandra.
„Bist du dir da so sicher?“ Mendon zweifelte an dieser Theorie, betrachtete er doch die Zeit, die seitdem vergangen war. „Sie hätte längst hier sein müssen.“ Nach einigem Zögern stimmte sie ihm schließlich zu. Vor ihren Untertanen stellte sie ihn als einen guten Freund aus einem fernen Land vor. Obwohl Leandra Bedenken hatte, wagte es jedoch niemand Mendons Herkunft genauer zu hinterfragen. Die Feierlichkeiten erstreckten sich bis tief in die Nacht hinein. Die Bewohner des Palastes waren sämtlich so müde, dass sie sogleich in ihre Betten fielen und in einen festen Schlaf sanken. So konnte Mendon sich unbemerkt in Leandras Schlafgemach schleichen. Überrascht stellte er fest, dass er da jedoch nicht der Einzige war. Er beobachte eine schleierverhüllte Frau, die noch vor ihm verstohlen durch die Tür schlüpfte. Unauffällig verfolgte er sie. Als er das Gemach betreten hatte, hielt er sich im Schatten eines Vorhanges versteckt. 12
Er wollte herausfinden, was diese Frau in dem Zimmer seiner Geliebten suchte. Vorsichtig lugte er aus dem Schatten hervor und sah, wie die Frau sich vor dem riesigen Bett aufbaute. Leandra lag darin. Sie schlief offenbar längst und bemerkte somit nichts. Im nächsten Moment erkannte Mendon ein Messer, das in der Dunkelheit aufblitzte. Die Frau hielt es in einer Hand hoch erhoben. „Nun bekommst du, was du verdienst!“ Blitzschnell sprang Mendon hervor und packte die Frau an den Armen. „Leandra!“, rief er so laut, dass diese erwachte. Augenblicklich zuckte sie zusammen und sämtlicher Schlaf wich aus ihren Gliedern. Die schleierverhüllte Frau wehrte sich heftig. Sie führte einen kläglichen Schlag aus, der Leandra treffen sollte. Er verfehlte sein Ziel jedoch. „Czima! Was soll das? Wieso willst du mich mitten in der Nacht angreifen?“ „Mein Name ist nicht Czima! Mein Name ist Leandra!“ Wie vom Blitz getroffen starrte sie die wahre Königin an. Dieses Gesicht! Mit einem Mal
erinnerte sie sich wieder. Diese Frau war unter den Menschen der Karawane gewesen. Mendon hatte alle Mühe, die widerspenstige Frau im Zaum zu halten. Sie biss, schlug und trat um sich wie eine Furie. Es gelang ihr, sich aus den starken Armen ihres Angreifers zu befreien. Schneller als er reagieren konnte, hielt sie ihm auch schon das Messer an die Kehle. Die falsche Leandra fühlte sich noch immer wie versteinert. Doch nun sollte es ihrem Geliebten an den Kragen gehen. Das konnte sie nicht länger ertragen. Nicht, nachdem endlich ihre Erinnerungen zurückgekehrt waren. Sie sah sich um, suchte nach etwas, mit dem sie sich verteidigen konnte. Es befand sich jedoch nichts in diesem Raum, abgesehen von Wandteppichen, Kerzenleuchtern und Vasen. Eine der Vasen stand direkt neben ihr. Etwas Besseres konnte sie nicht vorweisen. Sie griff danach und schleuderte sie mit voller Wucht der wahren Königin entgegen. In einem spitzen Schrei erstickte deren Bewusstsein. 13
Sie sank schlaff auf dem Boden zusammen und Blut strömte aus einer gewaltigen Wunde an ihrem Kopf. „Das ...“ Leandra war verwirrt. „Das habe ich nicht gewollt.“ Mendon konnte keine Worte finden und noch bevor er seine Sprache wiedergefunden hatte, öffnete sich die Tür des Schlafgemachs und eine ganze Horde Diener strömte herein. „Was geht hier vor sich? Was ist passiert?“ Einer der Männer entdeckte die blutende Frau am Boden. Er stürzte auf sie zu und kniete sich neben sie. Besorgt tastete er sie ab, versuchte ein Lebenszeichen zu erkennen. Doch vergebens. Mit einem einzigen Schlag war sie ins Reich der Toten gegangen. Der Mann sah fragend zu Leandra und Mendon auf. Leandra wirkte selbst wie eine Leiche. Sie wusste nicht, wie sie die Situation hätte erklären sollen. „Sie ist verrückt geworden“, antwortete Mendon schließlich an ihrer Stelle und zeigte auf die am Boden Liegende. Niemand unter
der Dienerschaft schien zu wissen, dass sich unter all den Schleiern die wahre Königin verbarg. „Das wundert mich nicht! Sie kam mir von Anfang an ein wenig merkwürdig vor!“ Eine der Dienerinnen winkte ab, als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen. Sie schob die Menschen mit sich aus dem Schlafgemach der Königin hinaus. Zurück blieben einige Männer, die die tote Frau aufhoben und hinaustrugen. Nur kurze Zeit später waren Leandra und Mendon allein. „Leandra ... das ist nicht mein Name.“ Mendon blickte einer verzweifelt wirkenden Frau in die Augen. „Wie lautet mein wahrer Name?“ „Jenda.“ Ein einfacher Name, den eine einfache Bauernfamilie ihrem Kind gegeben hatte. Jenda war unentschlossen, was sie nun tun sollte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ging einige Schritte auf und ab. Mendon schwieg derweil. 14
„Was sollen wir nun tun?“, fragte sie. „Soll ich einfach hier bleiben und weiter eine Königin spielen, die ich gar nicht bin?“ Niemals hätte sie gewollt, dass alles so kommt. Es war einfach so geschehen. „Nun, du musst zugeben, dass du ihr erstaunlich ähnlich bist“, sagte Mendon. „Ihr Volk hält dich für die Königin und sie haben nun keine andere mehr.“ Damit war die Sache beschlossen.
ENDE
Die Wüstenkönigin erscheint bei vph Verlag & Vertrieb Peter Hopf, Goethestr. 7, D-32469 Petershagen. © Copyright aller Beiträge 2003 bei Ulrike Stegemann und vph. Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach schriftlicher Genehmigung durch den Verlag gestattet. Cover: Maike Niemeier
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