HEYNE‹
WILLIAM KING
Wolfsschwert
Roman
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
WILLIAM KING
Wolfs...
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HEYNE‹
WILLIAM KING
Wolfsschwert
Roman
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
WILLIAM KING
Wolfsschwert
Wir schreiben das einundvierzigste Jahrtausend. Seit über hundert Jahrhunderten sitzt der Imperator bewegungsunfähig auf dem Goldenen Thron der Erde. Er ist durch den Willen der Götter Herr über die Menschheit und durch die Stärke seiner unerschöpflichen Armeen Herr über eine Million Welten. Er ist ein verfaulender Kadaver, der sich unsichtbar in Kräften windet, die aus dem Finsteren Zeitalter der Technologie stammen. Er ist der Leichenfürst des Imperiums, dem jeden Tag tausend Seelen geopfert werden, auf dass er niemals leibhaftig sterben möge. Doch auch in seinem untoten Zustand hält der Imperator weiter ewige Wacht. Gewaltige Schlachtflotten wechseln in das von Dämonen verseuchte Miasma des Warpraums, der einzigen Verbindung zwischen entfernten Sternen, deren Routen durch den Astronom erleuchtet werden, der psychischen Willens-Manifestation des Imperators. Riesige Armeen kämpfen in seinem Namen auf unzähligen Welten. Seine besten Soldaten sind die Adeptus Astartes, die Space Marines, genmanipulierte Superkrieger. Ihre Waffenbrüder sind Legion: die Imperiale Garde und unzählige planetare Verteidigungsstreitkräfte, die immer wachsame Inquisition und die Techpriester der Adeptus Mechanicus, um nur einige zu nennen. Doch trotz ihrer großen Zahl reichen sie kaum aus, um sich der allgegenwärtigen Bedrohung durch Nichtmenschen, Ketzer, Mutanten und Schlimmerem zu erwehren. In diesen Zeiten ein Mensch zu sein bedeutet einer von unzähligen Milliarden zu sein. Es bedeutet, unter dem grausamsten und blutigsten Regime zu leben, das man sich vorstellen kann. Dies sind die Geschichten dieser Zeiten. Vergesst die Macht der Technologie und Wissenschaft, denn unendlich viel wurde vergessen und nie wieder neu gelernt. Vergesst das Versprechen von Fortschritt und Verständnis, denn in der grimmigen finsteren Zukunft gibt es nur Krieg. Es gibt keinen Frieden zwischen den Sternen, nur eine Ewigkeit des Gemetzels und des Abschlachtens und des Gelächters durstiger Götter.
Prolog
Ringsumher herrschte Totenstille. Die alten Bäume mit ihrer grauen Rinde und den durch die Umweltvergiftung längst abgestorbenen Blättern erhoben sich aus den Schatten wie gequälte Geister. In der Dunkelheit spürte Ragnar die Anwesenheit Bewaffneter, die sich bewegten. Er fürchtete sich nicht. Es waren seine Männer, die geschworen hatten, ihm zu folgen und auf seinen Befehl zu sterben, wenn es sein musste. Er fragte sich, woher dieser Gedanke gekommen war. In dieser Nacht würde niemand von seinen Männern sterben − nicht, wenn es nach ihm ging. Er betrachtete den weichen Boden. Zwar bewegte er sich nahezu lautlos, aber er hatte keine Möglichkeit, Fußabdrücke zu vermeiden. Dafür sorgte das Gewicht seiner Rüstung. Nach wochenlangen Kämpfen in den Ruinen der Makropolen von Hesperida befand er sich nun fast wieder in der Natur. Fast. Die Gegend hier musste früher ein Park oder eine Waldkuppel gewesen sein, bevor die Kultisten sich erhoben hatten, ein Ort des Vergnügens, den die Wohlhabenden aufgesucht haben würden, um nachzuerleben, wie früher einmal die Oberfläche ihrer Welt ausgesehen hatte. Jetzt war es eine Stätte des Todes, die große geodätische Kuppel war zerschmettert, und die ekelhafte Luft des gequälten Planeten konnte ungehindert eindringen. Überall lagen Panzerglassplitter von dem Kollaps, von denen einige fast menschengroß waren. Die Nachtluft war eine eigenartige Mischung verschiedener Gerüche: die Fäule abgestorbener Bäume, die Sporen der schnell wachsenden Pilze, die an ihren Stämmen wuchsen, Industriegifte, die schwachen Ausdünstungen von Tieren, die vor nicht allzu langer Zeit hier vorbeigekommen waren. Und überall und beständig war der schwache, schleichende Gestank, den das Chaos hinterließ, wenn es sich auf einer Welt für wie lange auch immer eingenistet hatte. Es
war der Gestank der Verdorbenheit, voll, süß und widerlich. Plötzlich ging Ragnar auf, dass er die Quelle kannte. Einige der Bäume lebten noch − die von Pilzen überwucherten, die blassesten, die grauesten, die am kränksten aussehenden. Sie wurden nicht durch irgendeinen Parasiten getötet, erkannte er. Sie wurden von ihm oder in ihn verwandelt. Es war die einzige Möglichkeit, wie irgendein lebendiges Etwas in einer derart rapide veränderten Umwelt überleben konnte. Aus irgendeinem Grund dachte er an Gabriella und die Navigatoren und lächelte grimmig. Diese Gedanken kamen ihm seit Jahrzehnten das erste Mal. Er schüttelte den Kopf. Er musste sich auf seine unmittelbare Aufgabe konzentrieren. In dieser vergifteten Nacht liefen Feinde frei herum, Feinde, die ihn und seine Männer unbedingt tot sehen wollten. Und im Augenblick war Verstohlenheit ihr einziger Schutz. Ragnar wusste nicht, was oben im Orbit schief gegangen war, aber irgendwas war falsch gelaufen. Zuletzt hatte er eine kurze, verstümmelte Nachricht über Kommnetz empfangen, welche die Ankunft einer riesigen Feindflotte meldete. Dann hatte sich alles in statisches Rauschen aufgelöst. Das war ihm wie ein Signal erschienen, das den Beginn der Feindoffensive verkündete. Die Kultisten hatten mit Unterstützung schwerer Waffen und seltsamer Zauberei angegriffen. Ragnar hatte seine Männer die Stellung so lange wie möglich halten lassen, aber ihm war von Anfang an klar gewesen, dass sie ein Rückzugsgefecht austrugen und sie letzten Endes ihre Stellung würden aufgeben müssen. Er hatte mehrfach versucht, die Einsatzleitung zu erreichen, aber das gesamte Netz war zusammengebrochen. Ob dies auf Zauberei zurückzuführen war oder auf irgendeinen verrückten Klimaeffekt, spielte keine Rolle. Seine Vorgesetzten konnten nicht wissen, was passiert war, und es gab keine Möglichkeit, Unterstützung anzufordern. Jedenfalls brauchte er keinen Zugang zum Kommunikationssystem, um zu wissen, dass kein Entsatz kommen würde.
Das Getöse der Chaos-Titan-Waffen und der Schlachtenlärm verrieten ihm alles, was er wissen musste. Der Feind hatte eine gewaltige Offensive an allen Fronten begonnen. Ragnars Blutwolf-Kundschafter waren mit der Nachricht zurückgekehrt, dass die beiden angrenzenden Abschnitte der Front, die von der Imperialen Garde und planetaren Einheiten gehalten wurden, bereits nachgegeben hatten. Seine Männer und die Einheiten der hiesigen Dienstverpflichteten, die sie unterstützten, waren jetzt ein Keil in der Masse des feindlichen Hauptvorstoßes. Und bald würde ihnen der Rückzug abgeschnitten sein. Im Angesicht des auf sie niederfallenden Schmiedehammers hatte er keine andere Wahl gehabt, als den Befehl zum Rückzug zu geben. Der Befehl war auf wenig Gegenliebe gestoßen. Der ehrenhafteste Tod eines Wolfskriegers war der Tod in der Schlacht, und es lag nicht in ihrer Natur, vor dem Feind zurückzuweichen. Ragnar grinste. Ein Wolflord brauchte keine Liebe, sondern Gehorsam, und den bekam er. Es war nicht seine Pflicht, grundlos Leben zu opfern. Es war seine Pflicht, den Feind zu besiegen. Wenn das jedoch nicht möglich war, würde er so viel von seiner Streitmacht erhalten, wie er konnte, sodass sie bei anderer Gelegenheit zurückkehren und den Feind überwinden konnten. Sie hatten so lange ausgehalten, wie sie konnten, und den Männern Gelegenheit gegeben, sich durch die Trümmer der großen Kuppel zurückzuziehen. Tatsächlich hatten sie mit der Abwehr der feindlichen Angriffe die Arbeit einer Armee von zehnfacher Größe geleistet. Es war nicht leicht gewesen. Sie hatten die meiste Zeit in tiefen Bunkern verbracht, inmitten der Trümmer, den Kopf heruntergenommen und einen Artilleriehagel über sich ergehen lassen in dem Wissen, dass der Feind vorrücken würde, sobald der Beschuss endete. Vielleicht sogar eher, denn die Heerführer der Finsteren Götter des Chaos gingen achtlos mit dem Leben ihrer Anhänger um. Sie waren aus ihren Löchern gekrochen, um Sondierungsangriffe und noch eine massive Angriffswelle abzuwehren, die sie denkbar knapp zurück-
geworfen hatten. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte Ragnar gewusst, dass die Zeit zum Rückzug gekommen war. Er hatte Befehl gegeben, die versteckten Sprengsätze überall in ihren Stellungen scharf zu machen, und zugesehen, wie die ersten Trupps mit der Nacht verschmolzen. Irgendwo hinter ihm wartete die Nachhut und feuerte sporadisch auf den Feind, um den Eindruck zu erwecken, sie würden ihre Stellung noch halten. Er fragte sich, wie eng die Schlinge um ihren Hals lag. Wenn die Einschließung vollkommen war, würden die Kundschafter bald auf feindliche Posten und Streifen stoßen. Sie hatten Befehl, sich zurückzumelden, ohne sich in Kämpfe verwickeln zu lassen, aber es war immer möglich, dass es den Söhnen von Fenris irgendwie gelang, einen Kampf anzufangen. Er hatte sein Möglichstes getan, um insbesondere den Blutwölfen klar zu machen, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Gewalt war. Ein einziger Fehler konnte das Ende ihrer gesamten Kompanie bedeuten. Sie hatten den Anschein erweckt, als begriffen sie den Ernst der Lage, aber wer wusste schon, wie sie sich draußen im Feld verhalten würden? Ragnar schob diese Überlegungen beiseite. Er hatte getan, was er konnte, und die Dinge lagen nicht in seiner Hand. Er musste sich auf das konzentrieren, was er beeinflussen konnte. Er hob die Nase in den Wind und witterte seine Kameraden, aber auch etwas, bei dem sich seine Nackenhaare sträubten − den Makel von Wahnsinn und Mord, der ihm so vertraut war. Tief in ihm rührte sich etwas. Er verspürte den Drang, zu knurren und zu zerreißen. Seine Sorge um die Kundschafter kehrte zurück. Wenn der Gestank des Chaos noch nach so vielen Jahren Einfluss auf ihn hatte, was war dann mit diesen jungen Burschen …? Es hatte keinen Sinn, sich Sorgen zu machen, erinnerte er sich. Sie waren ebenso gut ausgebildet, wie man ihn selbst ausgebildet hatte. Sie wussten, was zu tun war. Er musste nur darauf vertrauen. Der Boden erbebte unter seinen Füßen, als weitere Hochgeschwin-
digkeitsgranaten einschlugen. Er erstarrte instinktiv in dem Versuch, mit seiner Deckung zu verschmelzen. Diese Granaten waren ganz in der Nähe heruntergekommen. Hatte der Feind sie gesichtet und aufs Korn genommen? Es war schwer zu sagen, wie das mit konventionellen Mitteln bewerkstelligt worden sein sollte, aber das Chaos war nicht ausschließlich auf konventionelle Mittel angewiesen. Es verfügte über Zauberer und Dämonen und alle möglichen divinatorischen Zauber und Hilfsmittel. In seiner Laufbahn hatte Ragnar genügend Beweise dafür gesehen, um dies nicht im Geringsten anzuzweifeln. Ihre eigene Stellung war angeblich durch die Zauber der Runenpriester geschützt, aber diese waren schon vor Tagen gewirkt worden und hatten die Angewohnheit, sich gerade in dem Augenblick abzuschwächen und aufzulösen, wenn sie am dringendsten gebraucht wurden. Ragnar richtete ein kurzes Stoßgebet an Russ und zwang sich, seinen Weg fortzusetzen. Überall ringsumher taten seine Krieger dasselbe. Wegen der Rudelmentalität der Wolfskrieger hatten sie instinktiv auf seine Reaktion gewartet. Jetzt wurden sie wieder aktiv. Schritt für Schritt arbeiteten sie sich vorsichtig durch die Schatten der großen verkrüppelten Bäume, graue Geister in einer grauen Landschaft, zu einer vergänglichen Zuflucht vor. Ragnar wusste nicht einmal, ob es überhaupt noch eine Zuflucht gab. Was die Kundschafter zuvor gemeldet hatten, mochte jetzt keinen Bestand mehr haben. In einer Schlacht veränderte sich ständig die Lage. Starr erscheinende Linien schmolzen plötzlich dahin wie Spuren im Sand bei Flut. Vielleicht waren die Männer hinter ihnen von der vorrückenden Flut des Bösen überrannt worden. Das würde er erst wissen, wenn er dort war. Wieder verfluchte er die Schlacht, die über ihnen tobte. Ohne Zugang zum Kommnetz und ohne divinatorische Sensoren in der Umlaufbahn waren sie blind und taub. Wenigstens hoffte er, dass über ihnen noch die Schlacht tobte. Wenn die imperiale Flotte eine Niederlage erlitten hatte, waren sie abgeschnitten und schon so gut wie tot, ohne es zu wissen.
Durch ein Loch in den Wolken schaute er zum Himmel und zu den seltsamen Sternen. Sie glänzten und funkelten merkwürdig, da die Verschmutzung der Luft das Licht brach. Einige dieser Lichter waren vielleicht Schiffe, dachte er, und manche davon mochten gerade Waffen von unvorstellbarer Gewalt auf Feinde abfeuern, die durch titanische Energien geschützt wurden. Das ließ sich nicht sagen. Er konnte nur warten und hoffen. Wie rasch eine Situation sich ändern kann, dachte er. Vor einer Woche hatte es noch so ausgesehen, als seien sie Herr der Lage. Seine Truppen hatten die meisten umliegenden Gebietsquadranten vom Feind gesäubert und waren bereit für einen Vorstoß ins Herz des Feindes − die große Zitadelle, wo die Rebellion ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Das Auftauchen der Feindflotte und eine unerwartet große Anzahl feindlicher Truppen hatten alle sorgfältigen Berechnungen über den Haufen geworfen. Ragnar sagte sich, dass noch kein Grund zur Verzweiflung bestand. Er hatte sich schon in aussichtsloserer Lage befunden. Er hatte schon Situationen überstanden, neben denen diese hier sich wie Feiertagsruhe ausnahm. Aber es war schon merkwürdig, dass verblasste Erinnerungen an längst überwundene Gefahren nie an Gefühle heranreichten, die durch gegenwärtige Bedrohungen ausgelöst wurden. Er hatte genug Männer sterben sehen, um zu wissen, wie ihre Aussichten waren. Wie gut ausgebildet oder erfahren man auch war, es bestand immer die Möglichkeit, von einer verirrten Kugel getroffen zu werden. Nicht einmal Chancen von tausend zu eins kamen einem so abwegig vor, wenn man schon an tausend Kämpfen teilgenommen hatte. Woher kamen diese Gedanken?, fragte er sich. Ein Anführer mit einer imperialen Streitmacht zu seiner Verfügung hätte sie eigentlich gar nicht haben dürfen. Normalerweise war er nicht so. Und er fühlte sich schlechter als ein normaler Anführer, weil sein Rudel seine Stimmung über die Witterung aufnahm, die es von ihm bekam, und diese Stimmung auf seine Männer abfärbte.
Wurde er irgendwie angegriffen? War irgendeine Chemikalie in der Luft, die zu subtil für seine Detektoren und seine Nase war, um sie auszumachen? Oder war ein Zauberer der Dämonen-Anbeter am Werk? Nicht alle Zauber drehten sich um Feuerbälle oder beschworen irgendeine Höllenbrut. Er war vor offensichtlichen Angriffen geschützt und wusste, wie man sich eines direkten Vorstoßes in seinen Geist erwehrte. Aber das hier konnte etwas viel Raffinierteres sein, überlegte er, ein flankierender Angriff auf die Zitadelle seines Geistes. Er begann mit dem Rezitieren einer Schutzlitanei, leise und fast unhörbar. Sofort fühlte er sich besser, obwohl er nicht wusste, ob das am Trost lag, den ihm die Worte spendeten, oder an der Macht des Gebets selbst. Sergeant Urlec tauchte neben ihm auf. In seiner Witterung lag Bitterkeit. Der Sergeant zog bei sich viele von Ragnars Entscheidungen in Zweifel. Zwischen ihnen gab es Reibereien, und Ragnar wusste um ihre Ursachen. Es handelte sich um die Spannung zwischen dem jüngeren Wolf und dem älteren angesichts der Frage, wer das Rudel führen würde. Diese Reibereien waren seit den uralten Zeiten der Ersten Gründung inhärenter Bestandteil der Gensaat jedes Wolfs. Ragnar war früher auch so gewesen, und er fragte sich, wann die Herausforderung kommen würde. Es war seltsam, sich in dieser Situation als der Ältere zu sehen. Er hatte seine Führungsposition früh errungen und war vermutlich an Jahren jünger als Urlec, obwohl das keinen Einfluss darauf hatte, wie sie beide die Situation betrachteten. »Die Kundschafter melden Feinde voraus«, sagte Urlec. »Sieht ganz so aus, als wären wir abgeschnitten!« »Haben die Kundschafter das gesagt, Sergeant?«, erwiderte Ragnar. Sie unterhielten sich so leise, dass nur ein anderer Wolfskrieger ihre Worte hätte aufschnappen können und das auch nur, wenn er sehr nahe gewesen wäre. Urlecs Witterung wurde stechender. »Nein, Lord Ragnar«, sagte er widerstrebend. »Sie haben nur gesagt, dass der Feind zugegen ist.«
»Dann gibt es noch keinen Beweis für eine Einkreisung, Sergeant«, sagte Ragnar, dessen Nackenhaare sich sträubten, als er die gegenteiligen Worte sprach. »Nur weil der Feind da ist, sind wir nicht notwendigerweise abgeschnitten. Senden Sie die Kundschafter aus und beauftragen Sie sie, die feindlichen Stellungen auszuspionieren. Der Rest des Rudels soll in der Zwischenzeit langsamer vorrücken. Wir wollen im Dunkeln nicht in ein Feuergefecht stolpern.« »Das wurde bereits veranlasst«, sagte Urlec mit einiger Befriedigung. Ragnar widerstand dem Drang zu knurren. Natürlich hatte Urlec das veranlasst. Er war fähig. Deswegen hatte Ragnar ihn nach Vitulvs Tod befördert. Er wünschte nur, der Mann wäre weniger selbstzufrieden gewesen. Gerade jetzt konnte er diesen Wettstreit des Willens und des Verstandes mit seinem ältesten Sergeant überhaupt nicht gebrauchen. Es gab wichtigere Dinge. Ragnar zwang sich, langsamer zu atmen. Das Problem hier war seines. Die Torheit Urlecs war nur ein Hindernis mehr, das er überwinden musste, wenn er seine Kompanie am Leben erhalten wollte. Um den Mann würde er sich später kümmern, aber im Augenblick musste Ragnar mit seiner Anwesenheit und Einstellung leben. »Sehr gut«, sagte er in dem Wissen, dass Urlec Ragnars Stimmung dessen Witterung entnehmen konnte. Er erwog noch einmal kurz die Möglichkeit eines psychischen Angriffs. Vielleicht war dies mehr als instinktive Feindschaft, vielleicht war es irgendeine Form eines magischen Angriffs. Ragnar wünschte, Bruder Hrothgar wäre zugegen, um eine Divination auszuführen. Aber das war so wie der Wunsch nach einer Flotte, die sie zum Mond transportieren würde. Vor drei Tagen war Hrothgar zur Einsatzleitung beordert worden, und seitdem hatte er nichts von ihm gehört. Das war ein Jammer. Vielleicht hätte er mit einer Sendung herausfinden können, was dort vor ihnen vorging. Ragnar verlangsamte sein Tempo, als er und der Sergeant auf Gruppen von Wölfen stießen, die in Deckung kauerten. Wenigstens nahmen sie die Lage ernst. Sie wussten, dass vor ihnen wie auch hin-
ter ihnen möglicherweise die Katastrophe lauerte. Er bewegte sich still wie ein Schatten durch ihre Reihen. Er machte weniger Lärm als Urlec, obwohl er der Größere von beiden war. Er wollte so dicht wie möglich an die Front und die Berichte der Kundschafter bei ihrer Rückkehr aus deren eigenem Mund hören. Er ging seine Möglichkeiten durch. Einer der Vorteile, auf diesem Terrain zu kämpfen, lag darin, dass er damit vertraut war. In den vergangenen Wochen hatte er es selbst mehrfach erkundet und dabei ausgiebig Bekanntschaft damit gemacht. Er hatte auf alles vorbereitet sein wollen, wie abwegig die Möglichkeit eines Rückzugs da auch noch gewesen sein mochte. Er wusste, dass es in der Kuppel von Bodenwellen, Senken und Kammlinien nur so wimmelte, die Deckung für Abwehr und Angriff bot. Dass die Hügel künstlich angelegt waren, spielte keine Rolle − sie sahen so natürlich aus wie diejenigen auf seiner Heimatwelt Fenris. Er wusste, dass es zwei gewundene Täler gab, die sich wie Schluchten durch den Park zogen, und dazu viele künstlich angelegte Bäche und Wasserfälle. Im Augenblick hielten sie sich an die Innenseite dieser Täler und nutzten die Deckung aus. Auf der anderen Seite der Anhöhe konnten flankierende Kundschaftertrupps dafür sorgen, dass sie nicht in einen Hinterhalt durch Angreifer auf den Anhöhen gerieten. Dies war die leichteste Rückzugslinie, aber auch die offensichtlichste für einen Feind, der mit dem Gelände vertraut war. Er hatte sie gewählt, weil sie nicht nur verstohlen, sondern auch schnell sein mussten, und er hatte Zutrauen in die Fähigkeit seiner Männer, sich einer Entdeckung durch den Feind zu entziehen. Er hoffte, dass sich sein Vertrauen als berechtigt erwies. Warum die ständigen Zweifel?, fragte er sich. Er kannte die Antwort. Sie waren nicht Gegenstand eines psychischen Angriffs. Die Zweifel waren vielmehr das Produkt dessen, was geschah. Es war leicht, absolutes Vertrauen in sich und seine Männer zu haben, wenn man auf der Siegerstraße war. Es war weitaus schwerer, wenn sich das Blatt gegen einen wendete. Sicher war es kein Zufall, dass Urlec
mit seinen subtilen Herausforderungen begonnen hatte, als die Dinge eine Wendung zum Schlechten nahmen. Er nahm an, dass es nur natürlich war, aber es gefiel ihm nicht. Gewöhn dich daran, sagte er sich, du kannst nicht immer auf der Seite der Sieger stehen. Jedenfalls nicht, wenn man nicht das Imperium ist. Das war ein Witz, der beim Militär kursierte, dass das Imperium immer siegte, auch wenn es tausend Jahre dauerte. Einzelpersonen, Regimenter und Armeen mochten in aufreibenden Feldzügen ausgelöscht werden, aber am Ende triumphierten immer die Truppen des Imperators − das mussten sie auch, weil sie einfach zu zahlreich für eine andere Möglichkeit waren. Ein Teil von ihm wusste, dass dies nur Einbildung war. Im großen kosmischen Maßstab war das Imperium trotz seiner zehntausendjährigen Geschichte noch jung. Dort draußen gab es Rassen, die schon alt gewesen waren, als die Menschheit gerade erst begonnen hatte, aus den Höhlen einer einzigen Welt zu den Sternen zu blicken. Ragnar hatte selbst die Überreste von Zivilisationen gesehen, die einst so viele Welten wie die Menschheit heute besiedelt hatten und vielleicht noch mächtiger gewesen waren. »Seht meine Werke, Ihr Mächtigen, und verzweifelt«, wie er einst auf dem Sockel einer umgestürzten Statue auf einer weit entfernten Wüstenwelt gelesen hatte. Sie war vor langer Zeit im Finsteren Zeitalter der Technologie von Menschen errichtet worden, aber dieser Spruch hätte sich auf jede der ausgestorbenen Rassen in den Zeiten vor der Menschheit beziehen können. Er zwang seine Aufmerksamkeit wieder zurück zu seiner unmittelbaren Aufgabe und schob sich vorwärts zur besten Deckung in der vordersten Linie seiner zurückweichenden Truppe. Er wartete auf die Rückkehr der Kundschafter. Urlec kauerte neben ihm und wartete ebenfalls. Er hatte immer noch etwas Herausforderndes an sich, sagte aber nichts. Ragnar fragte sich, ob der Mann berechtigterweise an ihm zweifelte. Er zweifelte selbst an sich, und Urlec würde die Schwäche spüren und darauf einschlagen. Das war die Art der Wölfe. Er witterte die zurückkehrenden Kundschafter. Sie schnappten sei-
ne Witterung auf und gingen trotz der Dunkelheit sicheren Schrittes zu ihm. Rasch, selbstsicher und angefüllt vom Blutdurst der Wolfskrieger. »Was habt ihr gesehen?«, fragte er. »Der Feind ist da, Lord. Er versucht uns mit mindestens zwei Kompanien der Ketzer einzukreisen. Einige der verfluchten Tausend Söhne sind auch da, an ihrer Spitze. Sie haben magische Schutzvorrichtungen gewirkt und arbeiten an bösen Zaubern. Die Gegend stinkt danach.« Das klang nicht gut. Gewöhnliche Infanterie hätten sie mit Tempo und Überraschung leicht überwinden können, aber die Tausend Söhne waren Space Marines wie seine eigenen Männer. Nein − das stimmte nicht, sie waren in sehr wichtigen Beziehungen anders. Sie waren Marines, die das Imperium am Anfang seiner Geschichte verraten und den Finsteren Göttern des Chaos die Treue geschworen hatten. Sie hatten sich von den raffinierten Zauberkünsten des Dämonengottes Tzeentch umgarnen lassen und sich dem Studium seiner schwarzen Magie verschrieben. Sie waren uralt, feindselig und vom tiefgreifendsten und raffiniertesten Bösen erfüllt. Und sie waren tödliche Kämpfer. Ragnar hatte bei Dutzenden von Gelegenheiten gegen sie gekämpft, und es hatte den Anschein, als sei es ihm bestimmt, immer wieder ihren Weg zu kreuzen. Einige dieser Begegnungen hatten den Lauf seines Lebens verändert. »Sonst noch etwas?«, fragte er. »Ihre Linie hat Löcher. Ich weiß nicht, ob sie selbst davon wissen oder ob es eine Falle ist«, sagte der Kundschafter. Er skizzierte die Stellungen in den Dreck. Die gezeichneten Linien waren nicht so sehr zu sehen, sondern vielmehr anhand der Witterungsspur seiner Finger wahrzunehmen. »Hier und hier sind Löcher, tote Winkel für ihre Streifen. Ich könnte zwischen ihnen hindurchkriechen und würde von ihnen nicht bemerkt.« »Es sei denn, sie haben einen bösen Zauber gewirkt, der durch unsere Anwesenheit aktiviert wird.«
»Das war auch meine Überlegung, Wolflord«, sagte der Kundschafter, indem er sich niederkauerte. Ragnar dachte über seine Worte nach. Es spielte keine Rolle, ob es eine Falle war. Sie saßen zwischen Hammer und Amboss. Sie konnten nicht abwarten, denn im Morgengrauen würden sie für ihre Feinde sichtbar werden. Sie konnten nicht zurück, denn ihre alte Stellung würde bald überrannt. Sie mussten durch die Lücke stoßen und versuchen, die Sicherheit ihrer eigenen Linien zu erreichen. »Horus’ Sklaven«, sagte Ragnar. »Beschäftigen sie sich mit uns oder mehr mit den Garderegimentern hinter uns?« »Sie schienen sich mehr mit uns zu beschäftigen, Lord.« Nicht weiter überraschend, dachte Ragnar. Sie würden keine befestigte Stellung mit Wolfskriegern hinter sich zurücklassen wollen, wenn sie weiter vorrückten. Das würde die Möglichkeit eines Ausbruchs offen lassen und prinzipiell ihre Nachschublinien bedrohen. Sie würden ihren Feind töten wollen, wenn das machbar war. »Es war merkwürdig, Lord. Ich weiß nichts über diese Dinge, aber ich habe gespürt, dass sie ihre magischen Energien ganz auf uns konzentrieren. Jedenfalls waren ihre Hexenlichter zu uns unterwegs.« »Wenn sie uns aufs Korn genommen hätten, wüssten wir das mittlerweile«, sagte Ragnar. Zu seiner Überraschung nickten sowohl der Kundschafter als auch Urlec. »Ihr böses Werk richtet sich zweifellos gegen unsere aufgegebene Stellung.« Die wir gerade noch rechtzeitig verlassen haben, dachte Ragnar. Er richtete ein Gebet an Russ, die Nachhut möge die Stellung bereits geräumt haben. Was die Tausend Söhne auch planten, es würde nicht angenehm sein, dessen war er sicher. Er dachte an die Düsternis in seinen Gedanken. Jetzt erkannte er sie wieder. Sie war die Folge eines bösen Zaubers, der in der Nähe gewirkt wurde, durch die Kräfte schwarzer Magie in die normale Welt durchgesickerte böse Energie. Sie beeinträchtigte die Stimmung jedes Lebewesens in ihrer Nähe und war manchmal so subtil, dass sie erst bemerkt wurde, wenn es zu spät war. Angesichts dieser Erkennt-
nis besserte sich Ragnars Laune. Wenn man wusste, was man bekämpfte, konnte man ihm besser widerstehen. Ihm kam noch ein anderer Gedanke. Wenn das Gefühl hier schon intensiv war, wie musste es dann erst in ihrer aufgegebenen Stellung sein? Zweifellos weitaus intensiver. »Wie viele Tausend Söhne?«, fragte er. »Ich habe ein Dutzend gezählt, Wolflord, aber es könnten noch mehr sein.« »Nicht viele«, sagte Ragnar. »Für eine ganze Kompanie Wölfe.« Wenn die Magier in ihr Ritual vertieft waren und nicht einmal wussten, dass sie da waren, bestand die Möglichkeit, einen massiven Schlag zu führen, bevor der Feind sich dessen überhaupt bewusst wurde. In der Tat, wie rasch sich die Dinge ändern, dachte Ragnar. Gerade hatte er sich noch geschlagen gefühlt, und jetzt erwog er bereits einen raschen Angriff. So war das Auf und Ab des Krieges. »Ich muss wissen, wo sich jeder einzelne dieser Bastardsprösslinge von Magnus aufhält«, sagte Ragnar. Er spürte, dass er jetzt die volle und ungeteilte Aufmerksamkeit des Kundschafters und Urlecs hatte. »Bis zum Morgengrauen will ich sie alle tot sehen.« Beifall strahlte jetzt von ihnen aus, wenngleich vom Sergeant widerstrebend. »Macht sie alle ausfindig. Urlec, geben Sie die Parole an die Männer weiter. Wenn ich das Zeichen gebe, werden wir den Chaos liebenden Abschaum an die Säuberung Prosperos erinnern.« Beide Männer nickten und machten sich daran, ihre Aufgaben zu erledigen. Ragnar dachte über seine Möglichkeiten nach. Wenn die Tausend Söhne sich in bösen Ritualen verloren hatten, konnten seine Männer die Oberhand gewinnen. Sie mussten die Magier vernichten und sich dann entlang der Linie des geringsten Widerstands durch das feindliche Gebiet kämpfen. Wenn alles gut verlief, konnten sie das Ritual unterbrechen und es zurück zu ihren eigenen Linien schaffen. Wenn nicht, würden sie zumindest ein paar würdige Feinde mit sich in die Hölle nehmen.
Tat er das Richtige? Vielleicht war es das Beste zu versuchen, eine Lücke in den feindlichen Linien auszumachen und sich hindurchzuschleichen. Er schüttelte den Kopf. Nein, dies war der kühne Weg − der Weg der Wolfskrieger. Der Feind wusste ganz offensichtlich nicht, dass sie hier waren. Das Überraschungsmoment war ein zu großer Vorteil, um ihn einfach so wegzuwerfen. Das Warten auf die Rückkehr der Kundschafter schien ewig zu dauern. Jede Minute ließ das Morgengrauen näher kommen. Jeder Herzschlag erhöhte die Möglichkeit einer Entdeckung. Ragnar konzentrierte sich darauf, sich zu entspannen, zu warten und Dinge, über die er keine Kontrolle hatte, einfach Dinge sein zu lassen. Liebevoll überprüfte er seine Waffen, ein Ritual, dass nie seine beruhigende Wirkung auf seinen Geist verfehlte. Er betastete den Knauf seiner Frostklinge, die Erinnerungen an Gabriella und die Navigatoren und an seinen Aufenthalt auf der Herzwelt Terra vor langer Zeit zurückbrachte. Er ließ seine Gedanken einen Moment zu jenen uralten Ereignissen abschweifen, doch dann kehrte er schlagartig in die Gegenwart zurück. Die Kundschafter kamen. »Ein Dutzend, Wolflord, ich bin ganz sicher. Wenn ich mich nicht sehr täusche, haben sie sich in einem bösen arkanen Muster aufgestellt. Hexenfeuer springt zwischen ihnen hin und her, und sie skandieren in irgendeiner widerwärtigen Sprache.« Ragnar nickte und befahl den Kundschaftern, seine Anweisungen, die er rasch und präzise vortrug, den Zugführern zu übermitteln. Es hatte keinen Sinn, das Kommnetz zu benutzen, im Augenblick nicht einmal auf lokaler Ebene. Vielleicht wurde es sogar abgehört. Nachrichten mussten auf die alte Art weitergegeben werden, durch Sehen, Hören und Riechen. Er schnüffelte und witterte. Er roch die Veränderung in der Ausdünstung des Rudels. Seine Befehle machten die Runde, und Männer bereiteten sich auf den Vorstoß vor. Vor seinem geistigen Auge stellte Ragnar sich vor, wie sie sich immer näher an die bezeichneten dreizehn Punkte schlichen. Plötzlich flackerte ein helles Licht am Himmel, nicht so hell wie eine Leuchtkugel, aber
dennoch intensiv. Ragnar erkannte darin ein Raumschiff, dessen Schirme überladen wurden und dessen Reaktorkern zur Nova wurde. Hoch über ihnen war ein Schiff voller Menschen gestorben. Er hätte viel um das Wissen gegeben, welcher Seite sie angehörten. Unwichtig, sagte er sich. Bleib mit deinen Gedanken im Hier und Jetzt. Die Krieger seiner Leibgarde waren ganz in seiner Nähe. Sie waren die Besten der Besten. Er selbst bildete die Speerspitze des Angriffs, denn er wusste, dass es jetzt kaum noch einen Unterschied machen würde, ob er lebte oder starb. Er hatte in der Vorbereitungsphase getan, was er konnte. Jetzt ging es nur noch darum, zu kämpfen oder zu sterben. Rasch und lautlos glitten sie durch die Dunkelheit, vorbei an Wachvorrichtungen und über Stolperdrähte. Die meisten Menschen hätten sie nicht bemerkt, doch für Ragnar und seine Krieger verriet der Gestank des Chaos ihre Position. Plötzlich erblickte er durch eine Lücke im Unterholz einen leuchtenden Gegenstand. Er hielt inne und hob die Hand. Sofort verharrten seine Männer, wo sie gerade waren. Er studierte, was er sehen konnte, nahm alles mit einem einzigen raschen Blick auf. Da war ein großer, blasser Stab aus gelblichen Knochen, die an den Gelenken verschmolzen waren. An seiner Spitze war ein Schädel wie der von einem Pferd, nur dass er gehörnt war und die Andeutung von etwas Humanoidem an sich hatte. Der Schädel leuchtete schwach, und feurige Linien sprangen von ihm weg und rasten zu anderen Stellen, wo zweifellos ähnliche Stäbe standen. Auf den Knochen leuchteten rote Runen. Der Stab strahlte eine Aura der Macht aus, aber der größte Teil von Ragnars Aufmerksamkeit wurde von dem in Anspruch genommen, was daneben stand. Er konnte einen hochgewachsenen Mann in leuchtender Rüstung sehen, die wie eine alte barocke Kopie von Ragnars eigener aussah. Jeder Zentimeter der Rüstung war entweder mit Runen wie jene auf dem Stab oder mit winzigen Dämonenköpfen aus gegossenem Metall bedeckt, die höhnisch grinsten und sich aus eigenem Antrieb bewegten. Die Arme des Kriegers waren weit ausgebreitet, und Ragnars
scharfe Ohren schnappten die Worte eines uralten Zauberspruchs auf, der in der Sprache der Dämonen rezitiert wurde. Der Mann war von Chaos-Kultisten umringt. Das waren normale Menschen, obwohl manche die Stigmata der Mutation aufwiesen. Alle trugen die geflickten Uniformen, die besagten, dass sie früher einmal, in besseren Zeiten, zur planetaren Miliz gehört hatten. Sie sahen hager aus und schienen von Furcht und gleichzeitig Hochstimmung erfüllt zu sein, aber ihre Waffen sahen brauchbar aus. Ihr Anführer, der die Schulterabzeichen eines Leutnants trug, erweckte den Eindruck, als wolle er etwas zu dem Chaos-Marine sagen, traue sich aber nicht. Neben dem Chaos-Marine nahmen sich gewöhnliche Menschen wie Zwerge aus, wie es auch bei Ragnar und seinen Männern der Fall war. Der Magier leierte seinen Zauber weiter herunter, wobei sich seine Stimme kaum wahrnehmbar hob und sich der Sprechrhythmus beschleunigte, als nähere der Spruch sich einem finsteren Höhepunkt. Die Luft war förmlich aufgeladen mit einer fremdartigen Ausstrahlung, und in Ragnar wallte allmählich ein Gefühl der Furcht auf. Er hatte keine Ahnung, was für ein übles Ritual hier vollzogen wurde, aber es war an der Zeit, es zu beenden. Er sprang auf und gab einen Schuss auf den Zauberer ab. Die Boltpatrone traf dessen Rüstung und ließ ihn kopfüber in den Dreck stürzen. Ragnar glaubte, das schwache Flackern eines Kettenblitzes über die Rüstung huschen zu sehen, nachdem er abgedrückt hatte, ließ sich davon aber nicht stören. »Angriff!«, bellte er und gestikulierte mit seiner gezückten Frostklinge. Die Männer seiner Garde eilten vorwärts. Entlang der ganzen Linie hörte er sporadische Boltgewehrschüsse, da andere Trupps gegen den Feind vorrückten. Ragnar stieß einen lang gezogenen Kriegsruf wie ein Geheul aus, der hundertfach verstärkt durch die Wälder der Umgebung hallte. Er tauchte aus dem Gebüsch auf, hieb nach dem nächsten Gegner und trennte ihm mit einem gewaltigen Hieb den Kopf ab. Augenblicke
später war er zwischen den Kultisten und schlug wild um sich, und mit jedem Hieb schickte er eine weitere Seele zu ihren finsteren Herren in die Hölle. Seine Männer taten alle dasselbe. Sie tauchten wie der Blitz zwischen den Bäumen auf und mähten sich durch die Feinde, als seien sie mit Holzschwertern bewaffnete Kinder. Das Anfangsstadium dieser Schlacht war kein Kampf, sondern ein Massaker. Ragnar sah, dass ihr Leutnant seine Männer hektisch aufforderte standzuhalten. Er jagte dem Mann eine Boltpatrone in den Schädel, und seine Versuche, seine Männer zum geordneten Widerstand zu sammeln, waren für immer beendet. »Ach, ich hätte wissen müssen, dass die sagenhaften Wölfe auftauchen und alles verderben«, spottete eine wunderschöne Stimme, die über das Schlachtfeld trug. »Das war schon immer eure Art.« Ein Blick zurück verriet Ragnar, dass der Chaos-Krieger sich erhoben und ein dunkel leuchtendes Runenschwert gezogen hatte. Als er damit zuschlug, sah Ragnar den Roten Eric, ein Mitglied seiner Leibgarde, zu Boden gehen. Die Chaos-Klinge hatte seine Rüstung glatt durchschlagen, als sei sie gar nicht vorhanden. Das war eine beeindruckende Leistung, denn Eric war ein erfahrener Krieger von nicht geringem Geschick. Der nächste Hieb des Chaos-Kriegers durchschnitt Urlecs Kettenschwert, und dann holte er den Sergeant mit einem Schlag seiner gepanzerten Faust von den Beinen. Jetzt stand der Chaos-Krieger über ihm und machte Anstalten, seine Waffe nach unten zu stoßen. »Ich sollte euch wohl dafür danken, die Langeweile des Rituals unterbrochen zu haben, und für die Möglichkeit, meinem Schutzherrn einige halbwegs würdige Seelen anbieten zu können. Ihr seid ganz sicher würdiger als die wimmernden, kotzenden Verteidiger dieses armseligen Planeten, obwohl das, um die Wahrheit zu sagen, kaum eine Empfehlung ist.« Ragnar fuhr herum, raste zu dem Chaos-Krieger und fing die abwärts zuckende Klinge mit seiner eigenen ab. »Es ist mir egal, was du glaubst«, sagte er. »Es ist mir egal, was dein Schutzherr glaubt.
Ich will nur deinen Tod.« »Gesprochen mit der ganzen Arroganz eines Wolfs! Aber du bist kein Gegner für den Hochmagier Karamanthos«, sagte der ChaosKrieger. Er sprach mit dramatischer Intonation, wie ein Schauspieler, und schien ein Wiedererkennen zu erwarten. Selbst wenn Ragnar ihn gekannt hätte, er hätte dem Dämonen-Anbeter diese Genugtuung verweigert. »Schade, dass du nicht die deinem aufgeblasenen Ego entsprechende Kraft hast.« Funken flogen, als ihre Klingen aufeinander prallten. Die roten Runen leuchteten heller. Sie kämpften über dem benommen daliegenden Sergeant. »Habe ich die nicht?«, entgegnete Karamanthos spöttisch. »Vielleicht hast du sie ja auch nicht.« Ragnars Waffe fuhr mit einem furchtbaren Kreischen gequälten Metalls an dem Runenschwert entlang. An der Parierstange der Klinge des Chaos-Kriegers verharrte sie wie angeschmiedet. Die beiden gewaltigen Krieger standen Brust an Brust, für einen Moment gleich stark. Ragnar registrierte den seltsamen Geruch nach Ozon und heißem Metall, der aus dem Visier des Chaos-Marines drang. Wer wusste schon, was sich in der Rüstung befand, aber er war bereit, darauf zu wetten, dass es nichts mehr auch nur entfernt Menschliches war. Seine Muskeln schmerzten. Vielleicht hatte diese Kreatur der Zauberei gar keine Sehnen mehr, die ermüden konnten. Vielleicht verspürte sie gar keine Erschöpfung mehr. Vielleicht hatte sie die unerschöpfliche Kraft eines Dämons. »Nein, mein lieber Junge, du hast sie nicht«, sagte der Chaos-Krieger und machte Anstalten, seine Waffe zu bewegen. Ragnar hielt sie an Ort und Stelle. Sein Atem kam jetzt stoßweise. Der Zauberer schien seine Meinung zu ändern und fing plötzlich an zu skandieren − zweifellos einen Zauberspruch. Mit einer gewaltigen Willensanstrengung ließ Ragnar die Stacheln an seinen Stiefeln ausfahren. Er machte einen Schritt zurück, trat dann zu und traf den Chaos-Krieger an einer exponierten Stelle hinten am Knie, wo sich Waden- und O-
berschenkelschutz seiner Rüstung trafen. Er spürte, wie die Stacheln eindrangen, und sah Karamanthos langsam wegkippen. Ragnar nutzte die Gelegenheit aus. Er sprang vor, wobei er der verzweifelt um sich schlagenden Klinge auswich, und bohrte seinem Feind die eigene Waffe tief in den Hals. Der Singsang des begonnenen Zaubers verstummte abrupt. Funken stoben an der Einstichstelle und stiegen, begleitet von einem furchtbaren Gestank nach geschmolzenem Metall, Rost und Fäulnis gen Himmel. Dunst so heiß wie Dampf, aber weitaus verdorbener, erhob sich ebenfalls. Es war, als fliehe die Seele des uralten Zauberers aus ihrem Wirtskörper. Ragnar schlug danach, aber seine Klinge fuhr hindurch, und vorübergehend zerstreute sich der Dunst. Dann fügte er sich wieder zusammen und strömte dem Stab mit der Schädelspitze entgegen. Ragnar heulte trotzig und schlug auf den Stab ein. Einen Moment widerstand der gesinterte Knochen, das Produkt fremdartiger Zauberei, seiner Klinge, doch dann brach er. Das Leuchten verblasste. Die Feuerlinien erloschen, als habe es sie nie gegeben. Von verschiedenen Stellen in der Ferne hörte Ragnar Schreie wie von verirrten, gemarterten Seelen. Er nahm an, die Zerstörung des Brennpunkts ihres finsteren Rituals hatte keine vorteilhafte Wirkung auf die daran beteiligten Zauberer gehabt. Er empfand kein Mitleid. Jene, die sich mit den finsteren Mächten einließen, verdienten, was sie bekamen. Er pflanzte den Stiefel auf den leuchtenden Schädel und zermalmte ihn. Sofort verschwand der Eindruck einer finsteren Ausstrahlung. Er heulte triumphierend, und seine Männer fielen in das Heulen ein. Dann warf er sich in die wogende Masse der Chaos-Kultisten und zerstückelte sie mit frischem Eifer. Er trieb sie vor sich her wie ein Held aus einer primitiven Sage, den man wieder auf die Welt losgelassen hatte. Seine Männer folgten ihm zum Sieg. Triumphgeheul entlang der Front verriet ihm, dass die Wölfe gesiegt hatten. Ragnar saß im Hauptlager der imperialen Truppen. Die Mauern hat-
ten einiges abbekommen, aber er sah, dass sich frische Truppen sammelten und darauf vorbereiteten, die Chaos-Anbeter zurückzudrängen. Das Kommnetz war wieder in Betrieb. Anscheinend war die Chaos-Flotte in die Flucht geschlagen worden, und der Strom der Verstärkungen, den sie auf die Planetenoberfläche geschickt hatten, war versiegt. Seine Männer lagerten etwas tiefer und unterhielten sich leise. Die Verluste waren gnädigerweise leicht, aber sie hatten keine Informationen über die Nachhut, die sich noch nicht zurückgemeldet hatte. Ragnar war klar, dass er einen Suchtrupp würde aussenden müssen, aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Der unterstützende Beschuss der imperialen Artillerie wühlte bereits den Boden rings um sie auf. In Kürze würde er ein paar Thunderhawks requirieren und mit der Suche beginnen. Er würde die Männer entweder finden oder ihre Gensaat einsammeln und dem Orden zurückbringen. So war es Brauch bei den Wölfen. Ragnar streckte die Beine aus und entspannte sich, solange er noch konnte. Bald würde er wieder in den Kampf ziehen. Er nahm die Witterung des sich nähernden Urlec wahr und schaute auf, während er sich fragte, was der Sergeant diesmal wollte. Urlec lächelte verschämt und sagte: »Ich will Ihnen für die Rettung meines Lebens danken, Wolflord.« »Das war doch nichts, Sergeant. Sie hätten dasselbe für mich getan.« »Wohl kaum, Wolflord. Ich bezweifle, dass ich den Chaos-Zauberer hätte besiegen können.« »Vielleicht nicht heute, Urlec, aber Sie werden es noch lernen.« »Ich bezweifle, dass ich es am besten Tag meines Lebens könnte. Er war der Anführer der Chaos-Anbeter. Keiner von den anderen hat unsere Männer vor solche Probleme gestellt. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so schnell und so stark wie Sie war, Lord. Und seine Klinge war in böse Magie getaucht! Keine normale Waffe hätte ihr standgehalten. Es überrascht mich, dass Ihre es gekonnt hat.«
Ragnar inspizierte die Klinge. »Mich nicht«, sagte er. Urlec starrte die Klinge an, als sehe er sie zum ersten Mal. Natürlich wusste er von der Waffe, aber von ihr zu wissen und sie in Aktion zu sehen, das waren zwei ganz verschiedene Dinge. »Das ist eine tödliche Waffe«, sagte er schließlich. »Und sie wurde nicht auf Fenris geschmiedet.« »Sie haben Recht«, erwiderte Ragnar. »Wie sind Sie dann in Ihren Besitz gelangt?«, fragte der Sergeant. »Sie war ein Geschenk«, sagte Ragnar. »Ein Geschenk, das eines Primarchen würdig wäre«, sagte Urlec. »Und doch stammt es von keinem Primarchen.« »Von wem dann, Lord? Und warum sollte jemand so ein Geschenk machen?« »Von einer Frau, der ich das Leben gerettet habe, obwohl es einen Preis hatte. Es ist eine lange Geschichte«, sagte Ragnar mit Blick auf den Stand der Sonne. »Und jetzt ist nicht die Zeit, sie zu erzählen.« Doch als Urlec sich entfernte, erinnerte er sich unwillkürlich daran.
1. Kapitel
»Bei Russ, ich kann nicht glauben, dass sie dir das antun«, sagte Sven. Sein ehrliches, aber hässliches Gesicht verriet Verärgerung. Er schlug sich mit seiner neuen Handprothese auf die Innenseite seiner noch menschlichen Hand. »Es gibt eine Million Gründe, deinen Kopf auf einen Speerschaft zu spießen: Eitelkeit, Hässlichkeit, primitive Dummheit und einen überragenden Mangel an Tapferkeit und Charisma, aber das ist wirklich dämlich!« »Vielen Dank, Wolfbruder«, sagte Ragnar. »Deine Unterstützung überwältigt mich.« Ragnar versuchte zu lächeln. Er war froh, seinen alten Freund wiederzusehen, und noch froher, dass er von der Höllenklingenwunde genesen war, die er im Kampf gegen die Tausend Söhne erlitten hatte. Doch er konnte seinen üblichen scherzhaften Tonfall nicht beibehalten − die Lage war zu ernst. Er war in großen, sehr großen Schwierigkeiten. Die Versammlung der Wolflords hatte daran keinerlei Zweifel gelassen. Dass sich alle auf Garm anwesenden Wolflords getroffen hatten, um über sein Schicksal zu beraten, war ein Zeichen dafür, wie ernst die Lage war. So ernst, dass er in seiner Zelle eingesperrt war, während der Rest seiner Schlachtbrüder die Welt von den verbliebenen Ketzern säuberte. Sven war sein erster Besuch seit Tagen, und er hatte eine kurze Verschnaufpause während des Feldzugs zu einer kurzen Visite genutzt. Es gab keine Wächter, aber es wurde auch niemand zu einem Besuch dieses Teils des Schrein-Komplexes ermuntert. »Ich meine, was macht es schon, dass du Russ’ Speer verloren hast?«, sagte Sven. »Ich bin sicher, du hattest die besten Absichten.« »Darüber macht man keine Witze, Sven.« Das war eine Untertreibung, dachte Ragnar. Russ’ Speer war vielleicht die heiligste aller
heiligen Reliquien der Wolfskrieger. Er war die mystische Waffe, die der legendäre Ordensgründer in der Frühzeit des Imperiums in die Schlacht getragen hatte. Mit ihm hatte der Primarch Ungeheuer und Dämonen getötet und ganze Welten gerettet. Man sagte, seine erste Amtshandlung bei seiner Rückkehr werde die Inbesitznahme seines Speers aus eben diesem Schrein sein. Alles in allem würde er das nun ein wenig schwierig finden, dachte Ragnar. »Was du sagst, grenzt an Blasphemie.« »Ich bin sicher, wenn der gute alte Leman Russ unser Gespräch belauscht, wird er mir zustimmen.« »Und woher willst du das wissen, Bruder Sven?«, fragte eine strenge Stimme aus dem hinteren Teil der Kammer. »Berät sich die Seele des Primarchen insgeheim mit dir, wenn er eine besonders dämliche Meinung hören will? Solltest du in diesem Fall deinen Schlachtbrüdern das Geheimnis nicht verraten? Es wird sie ganz sicher freuen zu hören, dass sie so ein Orakel in ihrer Mitte haben.« Ragnar und Sven drehten sich um. Zu ihrer Verblüffung sahen sie, dass Ranek der Wolfpriester die große Kammer betreten hatte. Es verriet einiges über die Verstohlenheit des Mannes, dass es ihm gelungen war, sich ihnen trotz ihrer unnatürlich scharfen Sinne unbemerkt zu nähern. Er muss gegen den Wind gekommen sein, dachte Ragnar. Er prüfte die Richtung, aus der die aufbereitete Luft wehte. Entweder das, oder wir waren einfach zu beschäftigt, um ihn zu bemerken. Das ist eine wahrscheinlichere Erklärung, entschied er. Ragnar musterte den alten Mann. Er war massig und grimmig und sah grau aus. Die Reißzähne, die unter der Oberlippe hervorragten, sahen fast aus wie Hauer. Seine Haare waren so grau, dass sie weiß wirkten. Doch seine Augen waren scharf und blickten durchdringend. Sie hatten das kalte Blau des Gletscherwassers vor der Küste Asaheims. Seine Augenbrauen waren unglaublich buschig, während sein Bart lang und fein war. Wie lange war es her, dass Ragnar ihn auf der langen Reise zu den Inseln der Eisenmeister zum ersten Mal erblickt hatte? Ein ganzes Leben, lautete die schlichte Antwort unabhängig davon,
wie man es in imperialen Standardjahren maß. Damals hatte sein Vater noch gelebt und war Kapitän seines eigenen Drachenschiffs gewesen. Sein Volk − die Donnerfäuste − war noch ein geeinter Klan gewesen. Es war noch nicht niedergemetzelt oder zu Leibeigenen und Sklavinnen der Grimmschädel gemacht worden. Das war noch vor seinem Tod und seiner Wiedergeburt gewesen, als die Grenzen seines Universums die grauen stürmischen Himmel und bleiernen Meere seiner Heimatwelt Fenris waren. Bevor er erfahren hatte, wie groß das Universum wirklich war. Und wie seltsam und gefährlich. Bevor er ein Wolfskrieger geworden war, einer aus der Legion genetisch veränderter Kämpfer, die dem Imperium der Menschheit bei dessen galaxisweiten Kriegen dienten. Bevor er gegen Menschen und Ungeheuer und gegen die Dämonen anbetenden Diener des Chaos gekämpft hatte. Sogar noch bevor er gewusst hatte, was ein grünhäutiger Ork war. »Nun, Sven? Willst du mich nicht in die Mysterien deiner neuen Theologie einführen? Als Wolfpriester wäre es mir eine Ehre, an deiner Weisheit teilzuhaben.« Sven schaute beschämt drein. Es gab nur wenige Dinge in diesem Universum, die das vermochten, aber dieser alte Mann hatte die Gabe. »Ich bin sicher, Sven hat sich nichts bei seinen Worten gedacht«, erwiderte Ragnar. »Aha«, sagte Ranek. »Also bist du der erwählte Übersetzer des Propheten, Ragnar, ja? Er spricht jetzt nur noch durch dich, nicht wahr? Er steht zu hoch über dem Rest von uns Sterblichen, um sich dazu herabzulassen, mit uns zu reden.« »So habe ich es nicht gemeint«, sagte Ragnar. »Dann halte bitte den Mund!«, sagte Ranek. »Du steckst auch so tief genug in Schwierigkeiten, auch ohne dich durch den unbedachten Einsatz deiner Zunge noch tiefer hineinzureiten. Und jetzt verschwinde, Sven.« Sven stahl sich zum Ausgang davon. Als er in der Tür war, sagte Ranek in freundlicherem Ton: »Es gereicht dir zur Ehre, dass du
hierher gekommen bist, Junge. Aber es würde nicht zu deinem Nutzen sein, wenn die Wolflords davon erführen.« Sven nickte, als verstehe er. Dann verschwand er ganz einfach. Ragnar bedauerte seinen Abgang sofort. Jetzt war er dem strengen Blick des Priesters ganz allein ausgesetzt. Der alte Mann ging um ihn herum und musterte ihn aus jedem Winkel, als sei er ein Rätsel, das mit ausreichender Betrachtung gelöst werden konnte. Ragnar stand stocksteif da, entschlossen, keine Nervosität angesichts dieser eisigen Begutachtung erkennen zu lassen, auch wenn Ranek sie an ihm riechen konnte, was höchstwahrscheinlich der Fall war. »Tja, mein Junge«, sagte Ranek, »du hast einen ziemlichen Aufruhr verursacht, daran besteht kein Zweifel.« »Das war nicht meine Absicht«, sagte Ragnar. »Und was war deine Absicht, als du Russ’ Speer in das Reich des Chaos geworfen hast?« »Ich habe versucht, die Ankunft des Primarchen Magnus durch das Höllentor zu verhindern, das er in seinem Tempel auf dieser Welt erschaffen hatte. Ich habe versucht, die Wiederauferstehung der Tausend Söhne und die Vernichtung unseres Ordens zu verhindern. Ich glaube, es ist mir gelungen.« »Aye, Junge, und ich weiß, dass du das glaubst. Die Frage ist, ob es auch die Wahrheit ist. Magnus ist ein mächtiger Zauberer, vielleicht der mächtigste, der je gelebt hat. Er hätte dir diesen Gedanken eingeben können. Er hätte dir auch noch andere Gedanken eingeben können.« »Haben die Runenpriester mich deswegen vom Orden getrennt und Tag und Nacht ihre Zauber um mich skandiert?«, fragte Ragnar. »So ist es. Deswegen und aus anderen Gründen.« »Und die wären?« »Das wird man dir noch früh genug mitteilen, wenn du es wissen musst und wenn die Wolflords beschließen, dich am Leben zu lassen.« »Mich am Leben zu lassen?« Ragnar war schockiert. Er hatte gewusst, dass die Lage ernst war, aber nicht so ernst. Er hatte sich Ge-
fangenschaft vorgestellt, Exil, sogar Verbannung in die niederen Regionen von Fenris oder auf irgendeinen isolierten Asteroiden. Den Tod hatte er sich nicht vorgestellt. »Aye − ein gefallener Wolfskrieger wäre furchtbar, wenn man ihn auf das Imperium losließe, Junge, und man könnte nicht zulassen, dass ein vom Chaos befleckter Wolfskrieger weiterlebt. Er wäre eine zu große Bedrohung.« Ragnar dachte darüber nach und verstand es. Die Orden waren klein, aber ihre Stärke resultierte aus ihrer Fähigkeit, als Einheit zu kämpfen. Jeder Mann verließ sich bedingungslos auf jeden, der neben ihm kämpfte. Einen Verräter im Orden zu haben war undenkbar. Er wusste, dass er keiner war, aber … Natürlich würde er das auch denken, wenn er unter irgendeinem Bann stand. Bis zu einem Augenblick nach Magnus’ Wahl mochte er sich für vollkommen loyal halten und dann … Er wusste, dass solche Dinge möglich waren. Psioniker konnten Gedanken lesen, Erinnerungen austauschen und die Gedanken und Gefühle von Leuten verändern. Er war ausgebildet worden, solchen Dingen zu widerstehen, aber Magnus war Primarch der Gefallenen, ein Wesen nur unwesentlich weniger mächtig als der Gott-Imperator persönlich. Außerdem war Magnus von allen Primarchen derjenige, welcher sich am intensivsten in die Zauberei vertieft hatte. Wenn also jemand zu so einer Tat fähig war, dann er. Ragnar erwog kurz, dass er ohne sein Wissen korrumpiert worden war. Was dann? Konnte er damit leben, wenn er eine Gefahr für Sven und alle seine Freunde und Kameraden und sogar für den Orden war, der seine Heimat geworden war? »Sie glauben nicht, dass ich korrumpiert worden bin, oder?«, sagte Ragnar stolz darauf, dass es ihm gelungen war, einen flehentlichen Unterton aus seiner Stimme herauszuhalten. Ranek zuckte die Achseln. »Was es auch wert sein mag, Junge, das tue ich nicht. Nach allem, was ich mit dir erlebt habe, könnte nicht einmal der Rote Magnus
einen Zauber durch deinen Dickschädel jagen. Aber bald wissen wir es mit Sicherheit. Du bist ebenso gründlich von den Runenpriestern geprüft worden wie Logan Grimnar vor seiner Inbesitznahme des Wolfsthrons. Die Sonden, die sie benutzt haben, reichen tiefer und sind feiner als diejenigen, mit denen du vor Mordekais Tor Bekanntschaft gemacht hast. Die Runenpriester werden der Versammlung ihr Urteil über dich bei deiner Verhandlung bekannt geben. Nur sie wissen, was sie glauben, und sie werden sich erst vor dem Großen Wolf und seinen Lords äußern. So ist es immer gewesen, und so wird es immer sein.« Ragnar war nicht im Geringsten beruhigt. Sein ganzes Leben und das Schicksal seiner Seele hing in der Schwebe. Ranek sah ihn an. Er starrte zurück. »Warum sind Sie hier?« »Ich bin hier, um dich zu beraten und für dich zu sprechen. Schließlich habe ich dich ausgewählt und bin somit für deine Mitgliedschaft bei den Wölfen verantwortlich.« »Sie wurden dazu eingeteilt?« »Ich habe darum gebeten.« Ragnar war tatsächlich gerührt ob des Vertrauens, das der alte Mann offenbar in ihn hatte. »Wann wird die Versammlung ihre Entscheidung treffen?« Das Läuten einer entfernten Glocke hallte durch die Gänge des Tempels. »Vielleicht hat sie das bereits getan. Komm, Junge, lass uns gehen und hören, was sie zu sagen haben.« Ranek führte ihn in die Kammer, in der die Wolflords zu Gericht saßen. Von den Wänden starrten große geschnitzte Wolfsköpfe herab. Alle Lords saßen im Halbkreis auf einem erhöhten Podium, in ihrer Mitte auf seinem schwebenden Thron Logan Grimnar, der Große Wolf, persönlich. Er sah so alt aus wie die Berge und so hart wie die Panzerung eines imperialen Schlachtschiffs. Seine Miene war freudlos, als er Ragnar betrachtete. Die anderen schauten allesamt gleichermaßen ausdruckslos drein.
Vor dem Podium standen drei maskierte Runenpriester. Ihr Blick ruhte auf Ragnar, als er eintrat. Ragnar stand so gerade, wie er konnte, und begegnete ihrem Blick. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, eingeschüchtert zu sein. Wie ihr Urteil auch ausfallen und sein Schicksal letzten Endes aussehen mochte, er würde allem begegnen wie ein Wolfskrieger. Er glaubte, Beifall von Ranek zu spüren, war aber nicht ganz sicher. Er schritt direkt vor den Thron des Großen Wolfs und schaute trotzig in die Höhe. Der Große Wolf erwiderte das Starren ungerührt und sagte dann mit seiner tiefen, knirschenden Stimme: »Runenpriester von Russ, ihr habt diesen Wolfbruder auf den Makel des Chaos untersucht. Was habt ihr festgestellt?« Ragnar drehte unwillkürlich den Kopf, um sie anzusehen. Der Moment schien sich in die Ewigkeit auszudehnen, da der Sprecher der Runenpriester den Blick erwiderte. Dann schlug er dreimal mit seinem Stab auf den Steinboden. »Wir haben diesen jungen Wolf bis in die Tiefen seiner Seele untersucht und festgestellt …« Ragnar beugte sich vor. Er hielt den Atem an. »… dass er unberührt ist von den Mächten der Finsternis und seinem Orden treu ergeben. Seine Entscheidung hat er in aller Aufrichtigkeit und nur mit dem Wohl seiner Schlachtbrüder vor Augen getroffen.« Ragnar gestattete sich wieder zu atmen. Also war er kein Verräter und Ketzer. Seine Seele war ohne Makel. Er sah einige der Wolflords nicken. Andere schüttelten den Kopf und sahen wütend aus. Berek Donnerfaust, sein Kompanieführer, zwinkerte ihm zu. Logan Grimnar lächelte. Ragnar spürte die Erleichterung des alten Wolfpriesters neben sich. Sigrid Trolltöter erhob sich. »Aber wie ihr alle wisst, ist da noch eine Sache.« Er hatte eine überraschend tiefe und schneidende Stimme. »Wie rein seine Motive auch waren, dieser Junge hat uns Russ’ Speer gekostet! Wenn er nicht wiederbeschafft und in den Schrein zurückgebracht werden kann, vermag Russ in den letzten Tagen auch
nicht zurückzukehren und ihn für sich beanspruchen. Durch diesen Verlust haben wir unseren geheiligten Glauben verraten und müssen alle Ansprüche aufgeben, die wahren Söhne von Russ zu sein. Ragnar hat einen geheiligten Glauben verraten.« Ragnar runzelte die Stirn. Er wusste, dass oftmals der Schein trog. Berek hatte das bereits mehr als einmal erklärt. Die Politik der Wolflords war mindestens ebenso wichtig wie ihr religiöser Glaube. Er bezweifelte, dass es einen Mann unter ihnen gab, der nicht danach trachtete, an Logan Grimnars Stelle auf dem Wolfsthron zu sitzen. Am Ende war alles nur eine Frage der Zeit. Dies war mehr als ein simpler Angriff auf ihn, so berechtigt er auch sein mochte. Ragnar konnte den Hunger und die Ambitionen Sigrids und jener riechen, die auf seiner Seite waren. Andere sahen lediglich zu und warteten ab, wie sich ein Ringen um die Herrschaft entwickeln würde. Und wieder andere, wie Berek, waren aus ihren ganz eigenen Gründen auf der Seite des Großen Wolfs. In Bereks Fall war die Motivation klar. Einer seiner Männer war der Beschuldigte. Ragnars Missetaten fielen auf ihn zurück und unterminierten sein Prestige, und Berek war kein Mann, der das kampflos geschehen ließ. Berek erhob sich, jeder Zoll der heroische Anführer. Das Lampenlicht färbte Kopf- und Barthaare golden. Seine Bewegungen und Worte strotzten vor Selbstvertrauen. »Ragnar hat eine Heldentat vollbracht, als er ganz allein einen Primarchen angriff in dem kühnen Versuch, seine Schlachtbrüder zu retten. Wer hier kann ihn für derartige Heldenhaftigkeit tadeln?« Ragnar sah einiges Kopfnicken und hörte gedämpftes Beifallsgemurmel. Heldenhaftigkeit war unter den Wolfskriegern wohl gelitten und genoss einen hohen Stellenwert. Sie waren stolze Krieger und hatten Hochachtung vor Courage. Ragnar sah den betagten Kopf von Egil Eisenwolf grimmig nicken. Nichtsdestoweniger fiel Ragnar auch auf, dass die meisten Beifallsbekunder Bereks Fraktion angehörten. Wie Sigrid versuchte auch Donnerfaust sich als natürlicher Nachfolger von Logan Grimnar zu etablieren.
Sigrid lächelte kalt. Verglichen mit Berek war er blass. Sein Gesicht war dünn und fahl. Die Augen waren kalt, und seine langen Schnurrbartenden hingen traurig herab. Doch in ihm war Stahl, das wusste Ragnar. Andernfalls wäre er nicht Wolflord geworden. Außerdem hatte er einen eisigen Intellekt, der vielen seiner Schlachtbrüder fehlte. Seine Stimme klang spöttisch wie meist, wenn er nicht gerade Befehle auf dem Schlachtfeld brüllte. »Ragnar ist tapfer. Daran kann kein Zweifel bestehen. Ich respektiere seine Heldenhaftigkeit. Was ich in Zweifel ziehe, ist seine Intelligenz. Ich ziehe außerdem unsere Fähigkeit als Orden in Zweifel, uns als würdige Erben unserer Vorfahren zu erweisen. Und das ist unabhängig von seinen Motiven Ragnars Schuld. Es mag sein, dass es eine Möglichkeit gibt, wie der Junge seine Tat sühnen kann, aber eine Strafe muss gegen ihn verhängt werden.« Ranek erhob sich und schritt vor den Rat der Wolflords. Er fixierte Sigrid und sprach ruhig und deutlich. »Eine Prophezeiung ist eine Prophezeiung. Sie wird erfüllt, wenn die Zeit gekommen ist, und auf ihre ganz eigene Weise, sonst ist es keine echte Prophezeiung. Russ wird zurückkehren. Russ wird seinen Speer zurückbekommen. Russ wird diesen Orden in den endgültigen Konflikt mit dem Bösen führen. Daran kann kein Zweifel bestehen.« Sigrid ließ sich nicht einschüchtern. Eher wurde sein Lächeln noch spöttischer. »Dann willst du also andeuten, Bruder Ranek, es war irgendwie Russ’ Wille, dass dieser grüne Junge seine heilige Waffe in die Leere geworfen hat?« »Wenn die Prophezeiung eine wahre Prophezeiung ist, dann ist das vollkommen unerheblich. Der Speer wird irgendwann zu uns zurückkehren.« »Mir wird klar, warum du ein großer Priester bist, Ranek. Ich wünschte, ich könnte die Stärke deines Glaubens teilen.« Gelächter, diesmal von Sigrids Anhängern, begrüßte diesen Spruch. Die meisten versammelten Wolflords sahen schockiert aus. Dass Sigrid einen Priester verspottete, kam bei ihnen nicht gut an.
»Vielleicht solltest du dir mehr Mühe geben«, sagte Ranek. Das Gefühlskaleidoskop, das über das Gesicht des Wolflords huschte, zeigte, dass er seinen Fehler erkannt hatte. Als er darauf antwortete, klang seine Stimme versöhnlicher. »Du schützt den Jungen, weil du ihn erwählt hast, Ranek, und deine Loyalität ist löblich. Aber ich sage dennoch, dass er für seine Taten bestraft werden muss.« Sigrid hielt inne und ließ die Implikationen seiner Aussage einen Moment in der Luft hängen. Er wollte alle Anwesenden die Verbindung zwischen Ranek, Ragnar und Berek sehen lassen. Der Makel an dem einen fiel zurück auf alle drei. »Und ich glaube nicht, dass es sich für einen Priester Russ’ ziemt zu behaupten, alles werde gut und der Speer werde schon von sich aus zu uns zurückfinden. Ich bezweifle, dass der Warpraum seine Beute so leicht wieder hergibt. Ich stimme zu, dass es wunderbar wäre, tatsächlich sogar ein Wunder, wenn er es täte. Aber was sollen wir tun, wenn der Speer nicht freiwillig zu uns zurückkehrt? Was sollen wir tun, wenn die Letzten Tage kommen? Alle Vorzeichen sagen, dass sie nicht mehr fern sind. Was dann? − Und ob der Speer nun zu uns zurückkehrt oder nicht, ist nicht die eigentliche Frage. Wollen wir wirklich einen Krieger in unserer Mitte haben, der ihn so leicht wegwerfen konnte? Wir brauchen niemanden, der so achtlos ist. Wer weiß, wohin uns seine nächste Heldentat führt?« Logan Grimnar und die anderen dachten darüber nach. Ragnar musste sich wider Willen eingestehen, dass Sigrid nicht ganz Unrecht hatte. Er hatte seine Tat nicht durchdacht. Er hatte gehandelt, ohne auch nur einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden. Er hatte die Schuld auf sich geladen, den Heiligen Speer verloren zu haben. Ihm war danach, vorzutreten und dies auch zu sagen, als er sah, dass ein Bote die Ratskammer betreten hatte. Er flüsterte dem Großen Wolf kurz etwas ins Ohr. Sigrid hielt inne, und alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf Grimnar. Und sie wurden nicht enttäuscht. Grimnar rieb sich müde
die Augen und verkündete: »Betrübliche Nachrichten, Brüder. Adrian Belisarius ist tot und unser alter Kamerad Skander ebenso.« Trauriges Geheul von einigen der älteren Wolflords hallte durch die Kammer. »Es wird noch schlimmer«, fuhr Grimnar fort. »Sie sind beide einem Anschlag auf dem geweihten Boden des Heiligen Terra zum Opfer gefallen. Dies ist in der Tat eine schwerwiegende Angelegenheit. Ich schlage vor, dass wir uns vertagen, um uns eine Antwort darauf zu überlegen.« Alle Anwesenden bis auf Sigrid gaben ihre Zustimmung. Ragnar wurde von Ranek wieder in seine Zelle gebracht. Er fragte sich, was genau eigentlich vorging.
2. Kapitel
Im Schrein war es ruhig. In den riesigen Hallen hingen Trauerfahnen auf Halbmast. Ragnar fragte sich, warum er in den stillen Stunden der Nacht in die Gemächer des Großen Wolfs gerufen wurde. Das verhieß nichts Gutes. Es trug nicht zu seiner Beruhigung bei, dass er Berek und Sigrid gemeinsam aus dem Thronsaal kommen sah. Keiner von beiden sah glücklich aus. Sigrid funkelte ihn im Vorbeigehen an. Berek schaute melancholisch drein. Keiner redete mit ihm. Augenblicke später winkte Lars Höllenzunge, Grimnars steingesichtiger Herold, Ragnar vorwärts. Er fand sich in dem langen Saal wieder, dessen Wände mit Bannern und Trophäen aus alten Schlachten behangen waren, unter den Augen der Leibgarde des Großen Wolfs. Am anderen Ende des Saals saß der Herr über alle Wölfe auf seinem schwebenden Thron, eine Schriftrolle in den Händen. Beim Eintreten des jungen Wolfs schaute er auf und bedeutete Ragnar, vor seinen Thron zu treten. Ragnar kniete kurz nieder und erhob sich dann, wie ein Krieger es vor seinem Herrn tut. Grimnar betrachtete ihn, nicht unfreundlich, halb belustigt, halb verärgert. Dann grinste er. »Tja, Ragnar Schwarzmähne, du hast uns vor ein ziemliches Problem gestellt, nicht wahr?« Er gestikulierte mit der Schriftrolle. »Du darfst hier offen reden.« Grimnar wartete offenbar auf eine Antwort, also sagte Ragnar: »Und welches Problem ist das, Großer Wolf?« Grimnar lachte. »Ich würde meinen, dass es heute bei der Konklave mit lobenswerter Klarheit erklärt worden ist, Welpe.« Die Anrede störte Ragnar nicht, wie es der Fall gewesen wäre, hätte ihn irgendein anderer so bezeichnet. Grimnar war jahrhundertealt,
und verglichen mit ihm war Ragnar immer noch ein Kind. »Was ich getan habe, würde ich unter ähnlichen Umständen wieder tun, Großer Wolf.« »Es freut mich, das zu hören. Unter denselben Umständen hätte ich vielleicht dasselbe getan wie du, Ragnar. Andererseits aber vielleicht auch nicht. Es auf dich zu nehmen, die Waffe von Russ persönlich zu benutzen, könnte man als anmaßend betrachten. Manche meinen, du solltest dafür bestraft werden, andere glauben, es ist ein Zeichen dafür, dass du für große Dinge bestimmt bist.« »Was glaubt Ihr, Großer Wolf?« »Ich glaube, dass du ein Junge mit sehr vielversprechenden Ansätzen bist, Ragnar. Mehr weiß ich nicht. Ich will diese Ansätze nicht vergeuden, aber gleichzeitig bist du ein Quell der Uneinigkeit unter den Wölfen. Und gegenwärtig können wir uns keine Uneinigkeit leisten. Ich fürchte, wenn ich nichts gegen dich unternehme, könnten andere das tun.« Ragnar wusste, was er meinte. Kaltblütige Tötungen waren selten bei den Wölfen, aber andere Dinge konnten geschehen. In der Hitze der Schlacht mochte ihn eine verirrte Kugel treffen. Kameraden kamen ihm in einem Augenblick tödlicher Gefahr vielleicht nicht schnell genug zu Hilfe. Über solche Dinge wurde nie geredet, obwohl sie passierten. Und wenn man ihn für einen Gotteslästerer oder einen Verräter hielt, mochten sie auch ihm zustoßen. »Was soll ich tun, Großer Wolf?« »Ich werde dich aus der Schusslinie nehmen und dich an einen Ort versetzen, wo du einiges ausrichten könntest.« »Exil, Großer Wolf?« »Das wäre eine Möglichkeit, es zu sehen. Sag mir, Ragnar, was weißt du über die Wolfsklingen?« Ragnar ging die Erinnerungen durch, die ihm als Anwärter von den Lehrmaschinen implantiert worden waren. »Das sind Wolfskrieger, die nach dem Heiligen Terra gesandt werden, um unsere Vertragsverpflichtungen gegenüber Haus Belisarius
zu erfüllen. Als Gegenleistung für die Navigatoren, die sie uns zur Verfügung stellen, bekommen sie von uns Leibwächter.« »Das ist zwar richtig, Ragnar, aber Wolfsklingen sind noch viel mehr. Sie bilden den Celestarchen der Truppen von Haus Belisarius aus und führen sie in die Schlacht. Sie sind sein starker Arm, wenn einer benötigt wird. Sie töten seine Feinde in offenem Kampf und auch in aller Heimlichkeit, wenn es sein muss.« Ragnar sah, wohin das führte. »Ihr wollt mich auf das Gesegnete Terra schicken, Großer Wolf?« »Es muss sein. Adrian Belisarius, Celestarch und ein guter Freund unseres Ordens, ist tot. Einer unserer Schlachtbrüder ist mit ihm gestorben, Skander Blutige Axt, ein alter Kamerad von mir aus meinem Blutwolf-Rudel.« Ragnar konnte Trauer im Gesicht des alten Kriegers erkennen. Im Orden waren nur noch wenige aus dieser Generation übrig, und Grimnar und dieser Skander mussten zu den Letzten gehören. Im Orden gab es keine engeren Gefährten als jene, die Initiation und Grundausbildung gemeinsam hinter sich gebracht und gemeinsam in ihrer ersten Einheit gedient hatten. In einem sehr wirklichen Sinn waren sie beinahe Geschwister. »Ja, Ragnar, ich will, dass du zur Erde gehst. Und ich will, dass du die Ohren offen hältst. Einer von uns Wölfen ist auf heiligem Boden gestorben, und ich will wissen, was passiert ist. Was wirklich passiert ist! Ich habe Berichte bekommen. Ich will wissen, ob sie stimmen.« »Wollt Ihr Vergeltung, Großer Wolf?« Das war eine anmaßende Frage, aber Ragnar fühlte sich gezwungen, sie zu stellen. Grimnar schüttelte bedächtig den Kopf. »Wenn es im Interesse des Ordens ist, Ragnar, werde ich Vergeltung üben. Wenn nicht, würde ich immer noch gern wissen, was passiert ist.« Ragnar dachte über die Worte des Großen Wolfs nach. Offensichtlich konnte er den Orden nicht in ein groß angelegtes Blutvergießen auf dem heiligen Boden Terras verwickeln. Und er konnte auch nicht
einfach die Ermordung irgendeines mächtigen Mannes dort anordnen, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Er wusste auch, was immer der alte Mann sagte, Logan Grimnar hatte ein langes Gedächtnis und würde einen Weg finden, wenn es sein musste, den Blutzoll für das Leben seines alten Kameraden einzufordern. Das war fenrisischer Brauch. »Ich werde mein Bestes tun«, sagte Ragnar. »Tu das, Ragnar, und lass niemanden wissen, dass du diesen Dingen nachgehst.« »Wie übermittle ich Euch meine Erkenntnisse?« »Es gibt Mittel und Wege, Ragnar, Verbindungskanäle zwischen Fenris und Belisarius. Man wird sie dir vor deiner Abreise mitteilen. Außerdem ist Adrian Belisarius einem Anschlag zum Opfer gefallen. Seine Tochter ist hier bei uns auf Garm, muss aber zurückkehren, um seinem Nachfolger die Treue zu schwören. Du wirst dafür sorgen, dass ihr auf ihrer Reise zur Erde nichts Unvorhergesehenes zustößt.« »Ihr glaubt, das könnte geschehen, Großer Wolf?« »Wenn jemand den Herrscher von Haus Belisarius ermorden konnte, obwohl er ständig von Wachen umgeben ist, dann hat dieser Jemand einen sehr langen und mächtigen Arm.« »Ja, Großer Wolf.« »Du kannst gehen, Ragnar.« Ragnar kniete nieder und ließ den alten Mann gedankenverloren über seine Schriftrollen grübelnd zurück. »Das ist verflucht noch mal nicht gerecht«, sagte Sven. »Du verlierst Russ’ Speer, und sie schicken dich nach Terra. Was hätten sie erst gemacht, wenn du ihn zerstört hättest? Dich zum Großen Wolf ernannt?« »Darüber macht man keine Witze, Sven«, sagte Ragnar. »Wer macht hier Witze?« Sven zeigte mit unbestimmter Geste auf seine Meditationszelle mit ihrer Schlafmatte, dem Rüstungsständer und den Waffengestellen als Mobiliar. »Ich bekomme das hier! Du
bekommst die Fleischtöpfe im Herzen des Imperiums!« »Die Erde ist ein heiliger Planet, Sven.« »Die Erde ist so heilig wie die Vision eines Spitzkrautsüchtigen. Sie ist der Hauptplanet des Imperiums. Alle großen Tiere sind dort, und ich glaube nicht, dass die ihre Zeit mit Fasten und Meditieren verbringen.« »Du wärst vielleicht überrascht.« »Ich wäre es sogar sehr, wenn sie das täten! Ich kann nicht glauben, dass sie dich schicken. Gebraucht wird ein Mann mit Takt, Diplomatie und Vorstellungsvermögen, ein Mann mit so viel Verstand, den Speer von Russ nicht zu verlieren. Ein Mann wie ich! Glaubst du, Grimnar lässt mich mitkommen, wenn ich ihn frage?« »Ich glaube, wenn du Grimnar fragst, lässt er dich einsperren. Ein hirnloser Affe, der auf den Straßen des Heiligen Terra Amok läuft, hätte uns gerade noch gefehlt!« »Warum schicken sie dann aber dich?« »Weil es ihnen in den Kram passt«, sagte Ragnar ernst. »Jedenfalls bin ich nur gekommen, um mich zu verabschieden. Anscheinend startet das Schiff in sechs Standardstunden, und ich muss mich fertig machen.« Eine längere Stille trat ein. In den Jahren seit ihrer gemeinsamen Anwartschaft waren Ragnar und Sven gute Freunde geworden. Mehr als einmal hatten sie einander das Leben gerettet. Doch nun war Sven eine Graumähne, und Ragnar war etwas anderes, vielleicht für den Rest seines Lebens für ein Leben im Limbus als Wolfsklinge auserkoren. Eine große Kluft hatte sich zwischen ihnen aufgetan, und die bestand nicht nur aus der Entfernung. Trotz des Wortgeplänkels wussten sie das beide. Sven würde mit dem Orden in den Krieg ziehen und kämpfen, während Ragnar die verwöhnten Aristokraten der Navigatorenhäuser beschützen durfte. Alle Träume, die er in Bezug auf ein ruhmreiches Schicksal, auf das Einstanzen seines Namens in die Annalen des Ordens gehabt haben mochte, würde er aufgeben müs-
sen. Man würde sich wahrscheinlich an ihn als den Mann erinnern, der Russ’ Speer verloren hatte. Er würde Gegenstand von Witzen und Verwünschungen von jeder neuen Aspirantengeneration sein. Er erwog kurz, zu Grimnar zu gehen und ihn zu bitten, man möge ihm gestatten zu bleiben, aber er wusste, dass er das nicht konnte. Sein Schicksal war besiegelt. Es war seine Pflicht, zur Erde zu reisen. In gewisser Hinsicht war es eine Bestrafung für seine Taten und eine Möglichkeit, für seinen Fehler zu büßen. Aber ich würde dasselbe wieder tun, dachte er trotzig. Sven hatte die Hand ausgestreckt, und sie umklammerten gegenseitig ihr Handgelenk. »Pass auf dich auf«, sagte er. »Ohne mich, der dich immer wieder aus dem Feuer zieht, wirst du reichlich Schwierigkeiten haben.« »Die meisten meiner Schwierigkeiten waren das Resultat deiner stümperhaften Hilfsversuche«, sagte Ragnar halbherzig. »Bis zu deiner Rückkehr werde ich mich zum Wolflord hochgestümpert haben«, sagte Sven. »Man wird in den Sagen Loblieder auf mich singen.« »Warum in den Sagen Loblieder auf dich singen, wenn du es selbst so gut kannst!« »Jetzt verschwinde schon! Du musst ein Schiff erwischen.« Ragnar stellte zu seiner Überraschung fest, dass er einen Kloß im Hals hatte, als er sich zum Gehen wandte, aber er schaute nicht zurück. Ragnar meldete sich in Raneks Kammer. Seine persönlichen Besitztümer waren bereits zur Fähre geschickt worden. Er trug nur seine Waffen und die Ausrüstung, die man von einem Wolfskrieger in die Schlacht zu tragen erwartete. »Eine Wolfsklinge, wie?«, sagte der alte Priester. »Damit hast du einen interessanten Weg eingeschlagen.« »Wie meinen Sie das?«, fragte Ragnar. Der alte Mann lachte grimmig. »Die Erde«, sagte er. »Das Heilige
Terra. Der Gesegnete Planet. Der Sitz des Imperators. Der Dreh- und Angelpunkt des Imperiums. Die größte Schlangengrube in der Galaxis.« »So schlimm kann es nicht sein.« »Nicht? Was weißt du von solchen Dingen, Junge?« »Nicht viel, aber …« »Die Erde ist der Mittelpunkt des Imperiums. Sie ist das Zentrum der Regierung, der Standort der größten Tempel der Menschheit, die Heimat der reichsten und mächtigsten Handelshäuser. Und der korruptesten.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich will damit sagen, wo es eine Regierung gibt und wo es Geld gibt, da gibt es auch Korruption. Und es gibt keinen Ort in diesem Universum, an dem es mehr Regierung und mehr Geld gibt als auf der Alten Erde. Sei dort vorsichtig, Junge.« »Ich werde nur ein Leibwächter sein«, sagte Ragnar. »Glaubst du das? Sei nicht so naiv. Man wird in dir einen Abgesandten unseres Ordens sehen, und das völlig zu Recht. Sie werden uns nach dir beurteilen und Dinge in deine Handlungen hineininterpretieren, mit denen du niemals rechnen würdest. Du wirst ein lebendes Symbol dessen sein, wer und was wir sind, und vergiss das ja niemals.« »Ich werde es versuchen.« »Du wirst mehr tun, als es zu versuchen, Junge. Denk an diese Worte und richte dich nach ihnen, sonst komme ich persönlich zur Erde und reiße dir das Herz aus der Brust.« »Also gut, Runenpriester.« Die Stimme des alten Mannes klang jetzt freundlicher. »Es gibt keinen Grund, eingeschnappt zu sein, Junge. Vergiss nur nicht, was ich dir gesagt habe, und tu dein Bestes. Das wird mehr als genug sein.« »Was werden meine Pflichten sein?« »Du wirst ein Soldat des Celestarchen sein. Du wirst ihm gehor-
chen, wie du deinem eigenen Wolflord gehorchen würdest. Du wirst unter seinem Befehl kämpfen, und du wirst sterben, wenn es sein muss. Was würdest du sonst erwarten?« »Und wenn man mir befiehlt, gegen das Imperium zu kämpfen oder gegen meine Schlachtbrüder? Wenn die Erde so korrupt ist?« Ragnar ging plötzlich auf, dass er mürrisch klang, dass er die Frage nur um des Widerspruchs willen stellte. Doch die Antwort überraschte ihn. »Was würdest du tun, wenn dein Wolflord dir befehlen würde, eine Ketzerei zu begehen?« »Ich würde ihn seines Amtes entheben.« »Und wenn sich herausstellen würde, dass er ein dem Chaos verschworener Verräter ist?« »Würde ich ihn töten.« »Einen Leibwächter zu haben kann ein zweischneidiges Schwert sein, nicht wahr, jung Ragnar?« Ragnar macht sich klar, was man ihm sagte. Wenn er den Wolfpriester richtig verstand, hatte er die Erlaubnis, den Celestarchen des Hauses Belisarius zu töten, falls dieser sich dem Imperium gegenüber als illoyal erwies. Ranek schien seine Gedanken zu lesen. »Unser Pakt mit Haus Belisarius reicht noch in die Zeit vor dem Imperium zurück. Einigen Mitgliedern des Administratums missfällt das, aber sie müssen sich damit abfinden. Sie wissen, dass wir ein Garant für Ehrlichkeit innerhalb dieses Navigatorenhauses sind. Die Celestarchen von Belisarius waren immer gute Männer und Frauen, Ragnar. Sie sind uns und dem Imperium treu ergeben, und wir waren immer ein Teil des Grundes dafür. Was immer du auf Terra siehst oder hörst, daran solltest du denken, bevor du dir dein Urteil bildest.« »Der Große Wolf hat gesagt, dass Adrian Belisarius einem Anschlag zum Opfer fiel wie auch unser Bruder Skander. Wer könnte so etwas getan haben? Ketzer vielleicht?« Ranek lachte. »In den Berichten heißt es, dass es Fanatiker irgendeines neuen Kults waren, aber so etwas könnten viele Leute getan haben, Ragnar. Es könnten diese angeblichen Fanatiker gewesen sein.
Es könnte ein rivalisierendes Haus gewesen sein oder eine Fraktion aus dem Administratum, die diese Rivalen unterstützt. Es könnte sogar ein ehrgeiziger Verwandter des Celestarchen selbst gewesen sein.« »Was?« »Nicht jeder folgt unserem Kodex, Ragnar. Wie ich schon sagte, die Erde ist der Ort der größten Konzentration von Macht und Reichtum in unserem Universum. Diese Dinge haben es so an sich, die Moral zu verzerren. Ich wiederhole − pass auf dich auf.« Ragnar wusste nicht recht, ob der Priester meinte, er solle ein waches Auge auf jene in seiner Umgebung haben oder auf seine Moral. Vielleicht meinte er beides. Anscheinend würde er anderen Gefahren ausgesetzt sein als jenen der Schlacht. »Abgesehen von Attentätern, welche anderen Gefahren könnte es geben?« »Man könnte dir auftragen, Haustruppen zu führen oder heimlich Aktionen zur Unterstützung der Wünsche des Celestarchen auszuführen. Bei deiner Ankunft werden dich die anderen Wolfsklingen einweisen. Hör auf sie. Manche von ihnen sind schon länger auf Terra, als du lebst, und kennen die Fallstricke und Gefahren.« Ragnar spürte, wie sein Mut sank. Anscheinend stand ihm ein langes Exil bevor. Ranek schien seine Gedanken zu lesen. »Wolfskrieger können Jahrhunderte leben, Ragnar. Im großen Plan der Dinge sind ein paar Dekaden kein großer Verlust.« »Ich wäre lieber hier in Bereks Kompanie, als Kindermädchen für Navigatoren zu spielen.« »Deine Wünsche sind in dieser Angelegenheit ohne Bedeutung, Ragnar. Und behalte solche Gedanken über deine Pflichten für dich. Wir erwarten beispielhafte Leistungen und beispielhaftes Verhalten von dir. Vergiss nie, dass einige der Leute, denen du begegnen wirst und die mitunter sehr mächtig sind, uns nach dir beurteilen werden. Und manche von ihnen werden deine Verfehlungen gegen uns benutzen. Wir haben viele Feinde unter den Fraktionen des Administra-
tums, aber auch viele Verbündete. Die imperiale Politik ist ein riesiges kompliziertes Netz.« Ragnar folgte den Worten des alten Mannes nicht mehr richtig. Seine Ausbildung hatte sich auf Schlachten und Kriegführung konzentriert, nicht auf Politik. Es sah so aus, als würden seine Pflichten komplizierter sein, als er erwartet hatte. »Der Große Wolf sagte, es würde Mittel und Wege der Kommunikation mit Fenris geben, sollte sich die Notwendigkeit ergeben. Er sagte, ich würde vor meiner Abreise davon erfahren.« Ranek lächelte grimmig. »Hat er das gesagt? Ich frage mich, warum er das tun sollte … Nein, sag es mir nicht. Sollte sich die Notwendigkeit ergeben, geh zu Bruder Valkoth von den Wolfsklingen. Er wird wissen, was zu tun ist. Aber sei umsichtig. Und, Ragnar, eine Sache noch …« »Ja?« »Viele große Anführer unseres Ordens waren Wolfsklingen. Es schadet uns nicht, wenn wir Krieger in unseren Reihen haben, die wissen, wie das Imperium funktioniert, und die persönliche Verbindungen innerhalb seiner Hierarchie haben. Nutze deine Zeit auf der Erde gut. Logan Grimnar tut nichts ohne Hintergedanken. Vergiss das nicht!« Ragnar spürte, wie sein Mut wieder stieg. Vielleicht wurde er auf eine umständliche Weise auf eine Führungsposition vorbereitet. Oder vielleicht war das auch nur Raneks Art, seine Moral zu stärken. Was auch immer, es funktionierte. »Und achte auf dem Weg nach Terra sorgfältig auf Gabriella. Sie ist Adrian Belisarius’ Tochter und könnte selbst Ziel eines Anschlags sein.« Ragnar schaute in das runzlige, wie gemeißelt wirkende Gesicht des Wolfpriesters. »Sie glauben, einige von unseren Leuten könnten sie töten wollen?« »Du fährst nicht auf einem unserer Schiffe, Ragnar. Wir können keines erübrigen. Ihr werdet mit dem Kurier zurückkehren, der die
Nachrichten von Terra gebracht hat. Die Belisarius’ Herold ist nicht sicher. Bleib in der Nähe des Mädchens, und sieh zu, dass ihr nichts zustößt. Du kannst jetzt gehen.« Ragnar ging zur Tür der Kammer. »Und, Ragnar …« »Ja?« »Sieh auch zu, dass dir nichts zustößt. Leb wohl.« »Leben Sie wohl.« Ragnar hatte schon wieder einen Kloß im Hals. Er mochte Ranek und vertraute ihm. Und ihm war klar, dass er den alten Mann vielleicht nie wiedersehen würde. Das Alter und der Krieg mochten ihnen zum Verhängnis werden. Aber das waren die Realitäten im Leben eines Wolfs, sagte er sich. Während Ragnar durch die stillen Gänge schritt, ging ihm auf, wie isoliert er war. Er würde ganz auf sich allein gestellt sein, für eine unbestimmte Zeitspanne unmessbar weit weg von seinen Schlachtbrüdern und zum ersten Mal, seit er sich dem Orden angeschlossen hatte. Er empfand einen Stich der Einsamkeit, beinahe wie einen Schmerz. Dann wurde ihm unerklärlicherweise leichter ums Herz. Er würde auch frei sein, auf eine Weise, wie schon seit Jahren nicht mehr. Er brach zu einem großen Abenteuer auf, zur heiligsten und tödlichsten Welt des Imperiums. Er würde die Tempel und Paläste Terras und ihre schillernden Bewohner sehen. Und es klang so, als würde es dort genug Gefahren und Intrigen geben, um ihn zu beschäftigen. Langsam verlängerten sich seine Schritte, und er stellte fest, dass er zuerst trabte und schließlich zu den Hangars rannte, wo die Fähren warteten.
3. Kapitel
Ragnar schritt neben Gabriella Belisarius durch die Belisarius’ Herold. Raumfahrer und Gefolgsleute begrüßten sie förmlich und respektvoll. Viele von ihnen zuckten zusammen, wenn sie den massigen Wolfskrieger neben ihr sahen. Er konnte ihren Witterungen entnehmen, dass er bei manchen Unbehagen hervorrief und bei anderen sogar Angst. »Ihre Besatzung scheint sich vor mir zu fürchten«, murmelte er. Gabriella drehte sich um und lächelte ihn an. Sie war eine streng aussehende Frau: hochgewachsen, schlank, mit sehr langen schwarzen Haaren und einem Gesicht, das nur aus Ecken und Kanten zu bestehen schien. Auf eine unmenschliche Weise war sie schön, und die schwarze Galauniform betonte diese Schönheit noch. Nun, da sie auf ihrem Schiff war − ihrem Heimatterritorium −, hatte sie den Schal von ihrer Stirn abgenommen und ihr drittes Auge enthüllt. »Sie sind die Mannschaft eines Kauffahrers. Sie sind nicht daran gewöhnt, einen der sagenhaften Wolfskrieger an Bord zu haben. Die Leute auf Terra sind da ein wenig kosmopolitischer, werden Sie sicher feststellen.« Es war offensichtlich, dass sie die Nervosität ihrer Mannschaft nicht teilte, aber warum hätte sie auch nervös sein sollen? Sie hatte gerade eine Dekade mit den Männern aus dem Reißzahn verbracht. Er wünschte, er hätte ihre Stimmungen besser erkennen können. Die Navigatoren rochen anders als andere Menschen. Ihre Witterung hatte etwas Fremdartiges an sich. Etwas Fremdartiges und beinahe Unergründliches. Ragnar wusste, dass man sie unzählige Generationen dafür züchtete, Raumschiffe durch die interstellare Leere zu steuern. Das hatten sie schon vor der Gründung des Imperiums getan. Irgendwann hatten
sich ihre Genlinie und diejenige der übrigen Menschheit voneinander getrennt. Ragnar wusste, dass sie keine Menschen mehr waren, vom Imperium aber geduldet wurden, weil man sie brauchte. Ohne Navigatoren würden interstellare Reisen Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern, falls sie überhaupt möglich wären. Reisen durch den Warpraum waren selbst mit einem Navigator tückisch. Ohne einen Navigator konnten sie tödlich sein. Das bedachte Ragnar, während er über die Frau vor sich nachdachte. Ihre Fähigkeiten hatten den Navigatorenhäusern unvorstellbaren Reichtum gebracht. Belisarius hatte ein Schiff gesandt, um den Wölfen die Nachricht vom Tod von Gabriellas Vater zu bringen. Zugegeben, es hatte außerdem Handelswaren und das Ersuchen um eine neue Wolfsklinge gebracht, aber dennoch war die Vorstellung überwältigend. Schiffe waren unglaublich teuer. Belisarius besaß seine eigene Flotte, die erheblich größer war als diejenige der Wolfskrieger. Ragnar wusste dies aus der Geschichte. Sie hatten den Wölfen Schiffe zu sehr günstigen Bedingungen verpachtet, wenn sie gebraucht wurden. Das war ein Aspekt des uralten Bündnisses zwischen dem Orden und dem Navigatorenhaus. »Woran denken Sie gerade?«, fragte Gabriella, während sie zur Kommandozentrale gingen. Sie würde das Schiff zurück nach Terra steuern. Der Navigator, der es gebracht hatte, ein Cousin, würde als ihre Vertretung bei den Wölfen bleiben. »Ich denke an das Bündnis zwischen unseren Häusern.« »Es ist einer der Grundpfeiler der Macht meiner Familie«, sagte sie. »Inwiefern?« »Es hilft, unsere Rivalen in Schach zu halten. Nur wenige würden offen gegen uns vorgehen aus Angst vor der Vergeltung der Wolfskrieger.« »Auf Terra würden ohnehin nur wenige offen gegen Sie vorgehen. Terra ist heiliger Boden. Blutvergießen ist dort nicht erlaubt.« Gabriella lachte. »Blut wird auf der Erde genauso vergossen wie
überall sonst auch. Es wird nur vorsichtiger getan. Und wir haben nicht nur auf der Erde Besitzungen.« Darüber dachte Ragnar nach. »Die Wölfe sind Ihnen früher bereits zu Hilfe gekommen.« »Aye, das sind sie, und sie würden es wieder tun, falls es nötig wäre. Wer weiß, sie würden vielleicht sogar auf Terra kämpfen, wenn es sein müsste. Ihr Orden ist für seine Wildheit und Unbezähmbarkeit bekannt, als etwas mit eigenen Gesetzen.« »Alle Space-Marine-Orden sind so. Ihre Privilegien und Vorrechte datieren sogar zurück in die Zeit vor dem Imperium.« »Aye, aber Ihre Brüder stehen in dem Ruf, unberechenbarer zu sein als Angehörige anderer Orden.« »Das hat uns nie davon abgehalten, gut zu kämpfen und dem Imperator treu ergeben zu sein.« »Das sollte keine Kritik sein. Aus der Sicht meines Hauses ist es sogar ein Lob. Unsere Feinde hätten uns vielleicht schon vor Jahrtausenden geschluckt, wären sie nicht der Ansicht gewesen, dass Ihr Orden uns rächen würde.« »Ich dachte, Belisarius wäre eines der mächtigsten Navigatorenhäuser?« »Jetzt schon, und wir waren auch schon öfter in der Vergangenheit so mächtig. Aber diese Dinge verlaufen zyklisch. Alle Häuser erleiden Rückschläge. Das liegt in der Natur des Handels und des Wettbewerbs. In unserer Geschichte hat es viele Perioden gegeben, in denen wir Rückschläge erlitten und einen Niedergang erlebten. Das Führen eines Hauses ist wie das Steuern eines Schiffs. Manchmal reicht eine falsche oder unglückliche Entscheidung, um eine Katastrophe heraufzubeschwören.« »So weit ist es mit Belisarius noch nie gekommen. Wir sind seit über zehn Millennien Ihre Verbündeten.« »Und wir wollen hoffen, dass noch weitere zehn hinzukommen. Obwohl ich so eine Ahnung habe, dass die Ereignisse gerade eine Wendung zum Schlechteren für Haus Belisarius nehmen.«
Ragnar wollte ihr widersprechen, aber er konnte die Traurigkeit in ihrem Gesicht sehen. Ihm ging plötzlich auf, dass er es mit einer Frau zu tun hatte, die gerade ihren Vater verloren hatte, einen Vater, der Führer seines Hauses gewesen war, Celestarch, ein Navigator aller Navigatoren. Sie passierten mehr Raumfahrer in dem breiten Gang. Automatisch brachte Ragnar sich in eine Stellung, die ihm ein rasches Eingreifen gestattete, falls sie sich als Bedrohung erwiesen. Die Menschen spürten dies und machten einen weiten Bogen um ihn. »Es gibt keinen Grund, die Mannschaft zu verängstigen«, sagte Gabriella. »Ich bin hier, um Ihre Sicherheit zu gewährleisten. So lauten meine Befehle.« Sie sah ihn an. »Schön und gut, aber es ist nicht nötig, dass Sie im Dienst so finster dreinschauen.« »Mir war nicht klar, dass ich finster dreinschaue.« »Euch Fenrisiern scheint das nie klar zu sein. Ihr seid so wild. Was ihr denkt, steht euch immer ins Gesicht geschrieben, und meistens denkt ihr an Gewalt.« »Wenn diese Reise vorbei ist, sind Sie vielleicht froh darüber.« »Vielleicht. Ich bin trotzdem froh, dass Sie hier sind.« »Warum?« »Weil ich glaube, wenn es eine Bedrohung für mein Leben gibt, werden Sie damit fertig.« »Ist Ihr Leben in Gefahr?« »Ja. Wir leben in unruhigen Zeiten. Mein Vater ist soeben einem Anschlag zum Opfer gefallen. Wenn man zu ihm vordringen konnte, kann man auch zu mir vordringen.« »Sie scheinen das sehr gelassen aufzunehmen.« »Es kommt vor. Es kommt sogar innerhalb der Häuser vor. Man weiß von Geschwistern, die versucht haben, jene zu beseitigen, die sie für Rivalen hielten.« »Glauben Sie, man könnte sie töten, um einen Mitbewerber für den
Thron auszuschalten?« »Jetzt denken Sie wie ein Fenrisier, Ragnar. Ich bin kein Mitbewerber für den Thron. Jedenfalls jetzt nicht. Die Celestarchen werden wird nicht von den Eltern auf das Kind vererbt. Unsere Herrscher werden vom Ältestenrat aus einer kleinen Liste verfügbarer Kandidaten ausgewählt.« »Sind das die Ältesten und Weisesten Ihres Stammes?« »So etwas in der Art.« Die Tür glitt auf, und sie trafen in der Kommandozentrale ein. Techadepten machten sich an Befehlsaltaren zu schaffen, die über Kabel, welche in Hinterhauptanschlüssen endeten, mit uralten Vorrichtungen verbunden waren. Es roch nach Ozon und technischem Räucherwerk. Offiziere in der Hausuniform der Belisarius nahmen bei Gabriellas Eintreten Haltung an. »Navigator an Deck!«, schnauzte jemand, und die anderen neigten ehrerbietig den Kopf. »Stehen Sie bequem«, sagte Gabriella. »Möge uns das Glück lächeln und uns Wohlstand bringen.« »Möge uns das Glück lächeln«, erwiderte die Besatzung. Gabriella ging in die Mitte der Kommandozentrale und begann ein Gespräch mit der Mannschaft. Sie unterhielten sich im technischen Jargon ihres Gewerbes, der für Ragnar ein unverständliches Kauderwelsch war, sodass er die Gelegenheit wahrnahm, seine Umgebung zu studieren. Die Kommandozentrale war groß und rund. Sie befand sich in einer Art Blase oben auf dem massigen Rumpf der Belisarius’ Herold. Es gab mehrere große runde Bullaugen aus Panzerglas. Auf der Steuerbordseite war die große blauweiße Kugel von Garm zu sehen. Sich rasch bewegende Punkte belegten, dass noch andere suborbitale Schiffe unterwegs waren. Verschiedene technische Altare waren rings um eine zentrale Hologrube angeordnet. Eine Art riesiger Thron stand auf seinem eigenen Podest auf dem Balkon mit Blick auf die Grube. Der Thron war der Kommandosessel des Navigators.
Verschiedene Besatzungsmitglieder erstatteten Gabriella Bericht. Sie hörte ihnen zu und nickte, bevor sie Ragnar heranwinkte. »Wenn wir die Umlaufbahn verlassen, sind wir noch ungefähr zwölf Stunden von unserem Eintauchpunkt entfernt. Bis dahin wird der Kapitän dieses Schiff steuern. Ich werde etwas essen und mich ausruhen.« »In Ordnung«, sagte Ragnar. »Ich werde Sie begleiten.« Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu. »Ich habe bereits Anweisung erteilt, Ihnen die Kabine neben meiner zu geben. Ihre Ausrüstung wurde bereits dort verstaut.« »Ausgezeichnet.« Die Navigatoren des Hauses Belisarius sorgten sehr gut für sich, fand Ragnar. Er war die nackten Zellen militärischer Raumschiffe gewöhnt. Dieses Gemach schien eher dem Wasserpfeifentraum eines Slaanesh-Anbeters entsprungen zu sein. Das riesige Bett war am Boden befestigt. Die Matratze war weich. Es gab Sitzmöbel, die aus den Elfenbeinzähnen eines Leviathan geschnitzt waren, und Tische und Mobiliar aus kostbaren Dufthölzern. Ein leicht narkotisierender Duft lag in der Luft. Eine Wand wurde von einem riesigen Spiegel beherrscht. Die Armaturen darunter ließen erkennen, dass er auch als Televisor diente. Er hatte die Leibdiener bereits entlassen, die nur darauf gewartet hatten, jede auch noch so abwegige Grille von ihm zu befriedigen. Er hatte zu ihnen gesagt, er wolle lediglich etwas zu essen. Eine Glocke verkündete, dass das Essen eingetroffen war. »Herein«, rief er. Eine Reihe livrierter Diener trat mit Silbertabletts ein. Auf jedem Tablett befand sich eine Ansammlung emaillierter Terrinen, die wiederum, wie seine scharfen Sinne ihm verrieten, alle möglichen stark gewürzten Delikatessen enthielten. Die Diener wuselten durch den Raum und deckten einen Tisch mit einer Decke und Warmhaltevorrichtungen, damit die Speisen nicht vorzeitig erkalteten.
Ein älterer weißhaariger Mann, der eine unglaublich hochnäsige Miene aufgesetzt hatte, entfernte mit einer verschnörkelten Bewegung den Deckel von jedem Gericht. »Eingelegte Schleimaale«, sagte er stolz. Ragnar nickte. »Gebratene Drachenvogellende in einer Giftbeerensoße. Ich denke, das wird Ihrem Gaumen munden, mein Herr«, sagte er mit einem schmeichlerischen Lächeln. »Tatsächlich«, sagte Ragnar. »Gekochte Nagaziegenkutteln in Aussatzbranntwein.« Das Gericht sah aus, als habe sich jemand darin erbrochen, fand Ragnar. Er ignorierte den Rest der Beschreibungen, bis der alte Mann versuchte, sich hinter ihn zu begeben. Ohne nachzudenken, fuhr der junge Wolfskrieger zum Zuschlagen bereit herum. Der Diener erbleichte. »Ihre Serviette, mein Herr«, sagte er, indem er eine Serviette von der Größe eines kleinen Bettlakens vorzeigte. Ragnar funkelte ihn an. »Versuchen Sie nicht noch mal, hinter mich zu kommen«, sagte er. »Aber wie soll ich Sie sonst auf das Essen vorbereiten, mein Herr?« »Ich brauche keine Hilfe bei Tisch«, sagte Ragnar. Der Diener sah beleidigt aus. »Aber mein Herr, die Etikette am Hofe der Belisarius schreibt vor, dass …« »Die Etikette in den Hallen von Fenris schreibt vor, dass man einen Mann zum Essen allein lässt, wenn er es wünscht. Ein Bruch der Etikette kann nur durch ein Duell wieder gut gemacht werden.« »Durch ein Duell, mein Herr?« »Persönliche Beleidigungen ziehen eine Herausforderung nach sich«, sagte Ragnar. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, mein Herr. Wir müssen alle Zugeständnisse machen und Nachsicht üben, wenn zwei Kulturen aufeinander treffen.« Ragnar grinste und bleckte dabei die Zähne. »Das müssen wir in
der Tat. Und jetzt wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich meinem Essen und meinen Meditationen überließen. Andernfalls …« »Natürlich, mein Herr. Gewiss.« Der alte Diener klatschte in die Hände, und alle flohen aus der Kabine. Ragnar wurde allein gelassen. Er begutachtete das Essen und kam zu dem Schluss, dass es ein kleines Vermögen gekostet haben musste, es hierher zu schaffen. Die Auswahl der Weine, Branntweine und Käsesorten stammte von Terra. Wenn man bedachte, was Navigatoren für ihre Dienste in Rechnung stellten, schien es eine Sünde zu sein. Nichtsdestoweniger setzte er sich zum Essen hin. Die Gerichte schmeckten interessant, aber er hätte einfaches fenrisisches Seehundoder Karibufleisch vorgezogen. Vielleicht würde er sogar fragen, ob er welches bekam. Genau in diesem Augenblick hörte er einen leisen panikerfüllten Ruf aus der angrenzenden Kabine. Ohne nachzudenken, riss er seine Boltpistole heraus und stieß die schwere Luftschleuse auf. Glücklicherweise war sie nicht verschlossen, sonst hätte er einige Schwierigkeiten gehabt. Er konnte Gabriella auf der anderen Seite der Kabine sehen. Etwas Glitzerndes, Metallisches huschte über das Bett auf sie zu. Die Situation war gefährlich. In dieser kleinen, schwer gepanzerten Kammer würden Boltpatronen abprallen und als Querschläger herumfliegen. Ragnars Rüstung würde ihn schützen, aber es bestand jede Möglichkeit, dass er die Frau verletzte, die er beschützen sollte. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf das Ding, das sie offenbar angriff. Für normale Menschen musste es sich blitzschnell bewegen, aber Ragnar war ein Wolfskrieger, und seine Wahrnehmungen und Reflexe waren übermenschlich. Er befand sich jetzt im Kampfmodus, und für ihn bewegte es sich in Zeitlupe. Sein Geruch verriet es. Es war eine Mischung aus Metall, Öl und raffinierten Giften, eine Art Robotspinne, erschaffen von den schwarzen Künsten irgendeiner degenerierten Fremdrasse. Zwei lange Giftzähne wie Nadeln ragten aus der Vorderseite. Kameraaugen funkelten auf dem Rücken.
Offensichtlich eine Attentatsvorrichtung, wahrscheinlich von jemandem in der Nähe gesteuert. Ragnar warf sich vorwärts auf das Bett und hieb mit dem Kolben seiner Waffe darauf ein. Er ging damit ein Risiko ein. Wenn das Ding einen Sprengsatz enthielt, mochte er ihn zur Detonation bringen, aber er verließ sich darauf, dass dieses Ding raffinierter war. Man versah so ein Gerät nicht mit Giftzähnen, wenn man die Absicht hatte, es in die Luft zu sprengen. Die Spinne platzte auf. Blaue Funken stoben in alle Richtungen. Ein starker Ozongeruch lag plötzlich in der Luft. Ragnar hob die Spinne mit seinem Panzerhandschuh auf und zerquetschte sie. Er schaute sich nach anderen Bedrohungen in der unmittelbaren Umgebung um und fand keine. Er bedeutete Gabriella, ihm in seine Kabine zu folgen, wo er die mechanische Spinne in einen Krug mit Wasser warf in der Hoffnung, sie dauerhaft kurzzuschließen. »Sind Sie verletzt?«, fragte er. »Hat das Ding Sie gestochen?« Die Navigatorin wirkte vollkommen gefasst, aber ihr Gesicht war weiß und die Pupillen waren geweitet. Das dritte Auge auf ihrer Stirn hatte sich geöffnet. Es war viel kleiner und weniger störend, als er erwartet hatte. »In diesem Fall wäre ich jetzt tot. Das ist eine Jokaerotodesspinne. Eine Waffe, die Zarthax enthält, eines der tödlichsten Gifte in der Galaxis.« Ragnar fluchte. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit der Anwendung dieser heimtückischen fremdrassigen Technologie. Ihm kam ein anderer Gedanke. »Sie scheinen sehr gut über diese Dinge informiert zu sein«, sagte Ragnar. »Jedes Kind der Navigatorenhäuser weiß über solche Dinge Bescheid. Ihr Einsatz ist allgemein verbreitet. Das Gerät ist klein genug, um durch Belüftungsschächte zu kriechen, und leise genug, um unbemerkt in ein Anwesen einzudringen. Ich hatte Glück. Ich wollte mir gerade das Gesicht waschen, als ich hörte, wie es aufs Bett fiel.
Ich habe mich nicht bewegt und sofort um Hilfe gerufen. Die Kameraaugen hätten jede Bewegung registriert. Der Bediener kann mich nicht gesehen haben, sonst wäre ich jetzt tot.« Ragnar blieb äußerlich ganz geschäftsmäßig, aber seine Gedanken überschlugen sich. Ihr Einsatz war allgemein verbreitet? Solche schändlichen fremdrassigen Werke waren praktisch im ganzen Imperium verboten. Er nahm an, dass die Navigatorenhäuser natürlich Zugang zu diesen Dingen hatten, aber trotzdem … »Wer dieses Ding gelenkt hat, muss an Bord des Schiffes sein.« »Ja.« »Wir werden ihn finden.« »Vielleicht.« »Sie scheinen nicht sehr zuversichtlich zu sein.« »Wie können Sie auf einem so großen Schiff wie diesem herausfinden, wer es getan haben könnte?« »Solange es ein Mensch war, habe ich Mittel und Wege«, sagte Ragnar in dem Wissen, dass jemandem der Gestank der Schuld anhaften und seine Nase ihn wittern würde. Ihm kam noch ein Gedanke. »Der Angriff war zeitlich gut geplant. Sie waren in Ihrer Kabine, und ich war beim Essen.« »Ja.« »Wer weiß über diese Dinge Bescheid?« »Der Quartiermeister des Schiffs, der Majordomus und viele Bedienstete. Eigentlich eine ganze Reihe von Leuten.« »In Zukunft werden wir uns eine Kabine teilen.« Sie dachte einen Augenblick darüber nach. »Wie Sie wollen.« »Jetzt lassen Sie uns Ihre Sicherheitsleute rufen und sehen, ob wir der Sache auf den Grund gehen können.« Ragnar fluchte. In einem Ausrüstungsspind in der Nähe der Kabine war eine Leiche gefunden worden. Das Steuergerät für die Spinne lag
bei der Leiche. Der Mann hatte Gift aus einem hohlen Zahn geschluckt. Anscheinend war er auf ein Scheitern vorbereitet gewesen. Ragnar war überrascht. Das kündete von einem Grad der Vorbereitung und des Fanatismus, den er nicht erwartet hatte. »Das überrascht mich nicht«, sagte Gabriella, als er es ihr sagte. »Solche Dinge sind schon öfter vorgekommen.« »Der Mann muss ein Fanatiker gewesen sein«, sagte Ragnar. Zu seiner Überraschung lachte sie. »Was ist daran so komisch?« »Dass ein Space Marine jemand anders beschuldigt, ein Fanatiker zu sein.« Ihre Miene wurde plötzlich wieder ernst. »Aber vielleicht haben Sie Recht.« »Der Mann muss ein Fanatiker gewesen sein, da er seinem Leben so bereitwillig ein Ende gesetzt hat.« »Vielleicht hat er meine Familie gehasst. Vielleicht hat er einem der Kulte angehört, die Navigatoren hassen. Aber vielleicht hatte er überhaupt kein Motiv.« »Wie meinen Sie das?« »Vielleicht war er hypno-konditioniert oder ist einer Gehirnwäsche unterzogen worden, um ihn zu dieser Tat zu veranlassen. Es gibt viele Möglichkeiten, so etwas zu tun.« »Wir sollten die Leiche auf Spuren untersuchen. Manchmal haben Kultisten Tätowierungen oder Stigmata des Chaos an sich.« »Ich bezweifle, dass Sie irgendetwas finden werden«, sagte Gabriella, »aber nur zu. Ich muss jetzt in die Zentrale und die Steuerung des Schiffs übernehmen. Der Eintauchpunkt in den Warpraum ist weniger als eine Stunde entfernt.« »Ich komme mit Ihnen in die Zentrale.« Bei seinen Worten entkleidete Ragnar die Leiche. »Ich bezweifle, dass mich jemand angreifen würde, während wir im Warpraum sind. Sie wissen ebenso gut wie ich, dass das Schiff verunglücken und wir alle sterben würden.« Das Mädchen hatte Recht. Es gab keine Tätowierungen und keine
wie auch immer gearteten Stigmata. Sogar die Ausdünstung war völlig normal für eine Leiche, wenn man von dem leicht bitteren Anflug von Gift absah. »Wenn der Attentäter in irgendeiner Form konditioniert ist, warum sollte er sich dann daran stören?« »Ein berechtigter Einwand. Aber sobald wir im Warpraum sind, bin ich isoliert in einem Lebenserhaltungssystem in der Kommandoblase und so sicher wie in einer Festung. Die Blase muss so sein.« »Warum?« »Sie muss mich vor allem abschirmen, was uns im Warpraum begegnen könnte. Mehr kann ich dazu nicht sagen.« »Es besteht auch kein Grund, mehr zu sagen.« Er bedeutete den Sicherheitsleuten, die Leiche mitzunehmen und zu beseitigen. Sie gehorchten. Einige von ihnen blieben in der Nähe. Sie schienen verlegen zu sein und sich zu schämen, dass eine ihrer Obhut unterstellte Navigatorin um ein Haar einem Anschlag zum Opfer gefallen war. Ragnar konnte nachvollziehen, wie sie sich fühlten. »Wie schwierig wäre es für einen Feind, einen Agenten auf eines Ihrer Schiffe einzuschleusen?«, fragte er, als sie unterwegs zur Kommandozentrale waren. »Alle unsere Leute werden sorgfältig abgeschirmt, besonders jene, die auf Hausschiffen wie diesem dienen. Aber kein System ist vollkommen sicher. Ich könnte mir vorstellen, dass ein wirklich entschlossener Feind jemanden einschleusen könnte. Oder jemanden korrumpieren könnte, der abgeschirmt wird.« »Das ist ein beunruhigender Gedanke«, sagte Ragnar. Er war verblüfft darüber, wie gelassen die Navigatorin das aufnahm. Sie schien es als Teil des alltäglichen Lebens zu betrachten. »Es ist auch möglich, dass jemand aus meinem eigenen Haus meinen Tod will«, sagte sie. »Von innen ließe sich das viel leichter bewerkstelligen als von außen.« Jemand war bereits zum Anführer des Hauses vorgedrungen, dachte Ragnar. Und der war mit Sicherheit schärfer bewacht worden, als
man Gabriella je bewachen würde. Als sie die Zentrale erreichten, überlegte er, dass dieses Kommando sich als erheblich interessanter erwies, als er gedacht hatte, und dabei hatten sie Terra noch nicht einmal erreicht.
4. Kapitel
Ragnar schaute auf die merkwürdige Kugel unter sich. Die Hemisphäre funkelte im Tageslicht metallisch silbern. Rote Flecken darauf sahen aus wie Meere aus Rost. Die Konturen der alten Kontinente waren verschwunden. Übrig waren nur noch vage Umrisse, wo die Gebäudedichte entlang der ehemaligen Küstenlinien noch höher war. Jetzt war die gesamte Oberfläche dieser Welt von einer Metallrüstung bedeckt. Das kam ihm irgendwie passend vor. Ragnar lächelte. Es war ein erstaunliches Gefühl. Das Bild war vertraut. Dies war die Geburtswelt der Menschheit. Er hatte ihr Antlitz so oft gesehen, dass es seltsam war, zu wissen, dass der Planet jetzt tatsächlich unter ihm hing, ein funkelndes Juwel vor dem schwarzen Samt des Universums. Ragnar spürte, wie sich Erregung in ihm aufbaute. Hier hatte die Menschheit zuerst nach den Sternen gegriffen, hier hatte der Imperator der Menschheit das Licht der Welt erblickt, und hier hatte sein großer Kreuzzug seinen Anfang genommen. Hier hatte Horus den imperialen Palast belagert, und hier war das zukünftige Schicksal der Galaxis entschieden worden. Dieser Planet war der Dreh- und Angelpunkt des größten Imperiums, das je existiert hatte, und der Sitz einer Regierung von unvorstellbarer Macht. Irgendwo dort unten entschieden die Lords des Administratum über das Schicksal unzähliger Milliarden. Irgendwo dort unten lag der Imperator halb lebendig in seinem goldenen Thron. Die Primarchen waren dort zwischen den Gärten und Wolkenkratzern aus Plastistahl gewandelt. Russ hatte die entfernten Vorfahren des Ordens auf diesem Boden in die Schlacht geführt. Dies war die Erde, alt und mit Millennien der Geschichte beschwert. Bald würde er auch zu den zahllosen Trillionen gehören, die hierher gepilgert waren. Bald würde
er Teil des alltäglichen Lebens dort unten sein. Er dachte noch einmal über die Reise hierher nach. Er wusste, dass sie nach ihrem Auftauchen in einem der ultra-solaren Sprungpunkte unzählige Festungen und Flotten passiert hatten, dazu die waffenstarrenden Monde des Jupiters und die Waffenschmiede Mars. Sie waren hundertmal angefunkt und gescannt worden, und zweimal waren Kontrolltrupps an Bord gekommen. All das hatte den Vorgang der Planetenannäherung sehr in die Länge gezogen, aber das war nicht anders zu erwarten gewesen. Die Welt dort unten war besser geschützt als jeder andere Planet in der Geschichte der Menschheit. Es würde keine zweite Schlacht um die Erde geben, wenn die furchtbaren Herren des Imperiums es verhindern konnten. Auch jetzt war der Himmel mit Satellitenfestungen angefüllt, großen Waffenansammlungen mit genügend Feuerkraft, um ganze Schlachtflotten zu zerstören. Der gesamte sublunare Raum wimmelte von Kriegsschiffen. Zum ersten Mal in seinem Leben kam Ragnar sich wirklich bedeutungslos vor. Gabriella tauchte neben ihm auf. Sie trug die offizielle Tracht ihres Hauses, eine schwarze Tunika, in deren Knöpfe jeweils das Auge und das Wolfssymbol des Hauses eingestanzt waren. Die Epauletten kündeten von ihrem Rang, dem eines Meisternavigators. Auf der mit Litzen besetzten Jacke prangten Orden und Abzeichen, die zweifellos auf ihre Abstammung und ihren Status hinwiesen. Manche davon enthielten auch starke Sensoren. Sie trug ein Paradeschwert und eine Pistole am Gürtel. Trotz seiner polierten Rüstung und sorgfältig gepflegten Waffen kam Ragnar sich fast schlampig neben ihr vor. »Es wird Zeit«, sagte sie. »Die Fähre hat an der Belisarius’ Herold angelegt. Wir haben Landeerlaubnis bekommen.« Ragnar war fast ein wenig nervös, als er mit ihr zur Luftschleuse ging. Sie glitt auf, und eine Staffel Haustruppen in Uniformen, die nur ein wenig schlichter waren als Gabriellas, trat vor. Ihre Waffen sahen brauchbar aus, und sie bewegten sich mit einer Präzision, die
auch einer Eliteeinheit der Imperialen Garde keine Schande gemacht hätte. Ihr Befehlshaber baute sich vor Gabriella auf und salutierte förmlich. Er überraschte Ragnar, indem er vor ihm ebenfalls salutierte. »Lady Gabriella, willkommen daheim«, sagte er. »Die neue Celestarchin hat meine Männer als Ehrengarde geschickt. Ich möchte nur sagen, dass die Ehre ganz auf meiner Seite ist.« Ragnar unterdrückte ein Lächeln. Der Offizier war jung und hatte einen dünnen Schnurrbart, der wie eine Raupe auf seiner Oberlippe klebte. Seine Haare waren lang, die Züge scharf und die Lippen dünn. Er war genau die Sorte Soldat, welche die Wolfskrieger nicht waren. »Und Sie sind?«, fragte Gabriella. »Leutnant Kyle, Mylady, zu Ihren Diensten, jetzt und zukünftig.« »Nun, Leutnant, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns die zwanzig Stufen von der Luftschleuse zur Fähre begleiten würden. Ich freue mich sehr darauf, den Fuß wieder auf meine Heimatwelt zu setzen.« »Wie Ihr wünscht, Mylady.« Die beiden Reihen der Gardisten schlugen die Hacken zusammen, vollführten eine Vierteldrehung und bildeten einen Korridor, durch den Ragnar und Gabriella in die Luftschleuse marschierten. Ragnar wollte sich schon auf einen der militärischen Klappsitze hocken und anschnallen, doch Gabriella bedeutete ihm, ihr zu folgen. Durch eine zweite Luftschleuse traten sie in einen unendlich luxuriöseren Salon mit den Hausinsignien an den Wänden. Die Beschleunigungsliegen ähnelten großen gepolsterten ledernen Armsesseln und waren weitaus weicher als die militärische Ausrüstung, die Ragnar gewöhnt war. Hinter ihnen schloss sich zischend die Luftschleuse. Ragnar versicherte sich, dass sie versiegelt war, bevor er sich anschnallte. »Das war sehr förmlich«, sagte er schließlich. »Weit förmlicher als üblich, das kann ich Ihnen versichern. Aber mein Vater ist tot, und meine Tante unternimmt alles nur Mögliche, um mich zu schützen. Es war eine Botschaft, dass Schutz das Gebot
der Stunde ist.« »Ich glaube, die Jokaerospinne beweist, dass sie Recht hat.« »In der Tat. Was halten Sie von unseren Haustruppen?« »Sie waren sehr gut gekleidet.« »Dann halten Sie nicht viel von ihnen als Krieger? Sie können ganz offen sein.« »Ich glaube, gegen eine Kompanie Orks würden sie sich keine zwanzig Sekunden halten. Sie scheinen mehr Zeit mit dem Üben von Marschieren als mit dem von Kämpfen verbracht zu haben. Natürlich ist das nur meine Meinung. Ich habe sie noch nicht kämpfen sehen.« »Sie sind nur Sicherheitstruppen. Die echten Krieger werden Sie später kennen lernen. Vielleicht werden Sie von denen mehr beeindruckt sein.« »Sie scheinen das nicht zu glauben.« »Ich denke, meine Zeit im Reißzahn hat mich verändert, Ragnar. Früher haben Männer wie sie mich beeindruckt. Das war vor meiner Zeit bei den Wölfen. Ach, übrigens, bei unserer Ankunft werden wir von einigen Ihrer Brüder in Empfang genommen.« »Ich freue mich darauf«, sagte Ragnar. Durch das Bullauge konnte er sehen, dass die Fähre bereits von der Belisarius’ Herold abgelegt und den Flug zur Oberfläche der dunkelnden Welt unter ihnen begonnen hatte. Als sie die Wolkendecke durchbrachen, sah er, dass sie etwas entgegenstrebten, das aussah wie eine riesige Insel, die vom Rest der Welt durch mindestens einen Kilometer hohe Barrieren und Türme getrennt war. Eine Festung in einer Festung, dachte er − die sagenhafte Inselenklave, die das Ghetto der Navigatoren war. Ragnar trat in das Licht des Tages auf einer neuen Welt. Er blinzelte in der grellen Sonne. Ein leicht stechender, chemischer Geruch lag in der Luft. Zum Teil wurde er hervorgerufen von den Verbrennungsrückständen des Fährentriebwerks, zum Teil war er aber auch Bestandteil der Luft. Vom Plastibeton stieg ein schwaches Flimmern auf.
Fr schritt vor Gabriella die Rampe hinunter. Dann schaute er sich um und vergewisserte sich, dass alles in Ordnung war, bevor er ihr bedeutete, ihm zu folgen. Die Ehrengarde formierte sich bereits vor ihnen. Ragnar bemerkte mehrere kleine gepanzerte Fahrzeuge in der Nähe. Eine Gestalt in Rüstung, um Kopf und Schullern größer als die Einheimischen, lehnte an einem davon. Ihre Haltung hatte etwas an sich, das sowohl amüsierte Verachtung als auch vollkommene Wachsamkeit in Bezug auf die Vorgänge ringsumher vermittelte. Als der Mann Ragnar sah, richtete er sich auf und kam zielstrebig auf ihn zu. Ragnar war nicht im Geringsten überrascht, als er sah, dass der Mann ein Wolfskrieger war, obwohl viele Dinge an ihm einen vom durchschnittlichen Waffenbruder abweichenden Eindruck vermittelten. Als er näher kam, konnte Ragnar erkennen, dass seine Haare kurz, aber nicht stoppelig waren, und sein Schnurrbart wie der des jungen Offiziers der Ehrengarde bleistiftdünn rasiert war. Ein schwacher Duft nach parfümierter Pomade umgab ihn. Viele seltsame Amulette und Schmuckstücke waren an seiner Rüstung angebracht. Er lächelte freundlich, während Ragnar ihn von oben bis unten begutachtete. Ragnar bezweifelte nicht, dass der Mann ihn trotz seiner gelassenen Miene ebenfalls studierte. »Sei gegrüßt, Sohn von Fenris«, sagte der Fremde in der Sprache von Ragnars Heimatwelt. »Willkommen auf dem Heiligen Terra.« Die Soldaten hatten begonnen, Gabriella in das größte und am schwersten gepanzerte der wartenden Fahrzeuge zu verfrachten. Ragnar machte Anstalten zu folgen, als der Fremde sagte: »Deine Pflichten als Begleitschutz sind beendet, Ragnar. Du sollst mich zum Belisarius-Palast begleiten.« Der Mann war offensichtlich ein Wolfskrieger, doch Ragnar widerstrebte es, Gabriella aus seiner Obhut zu entlassen. Nachdem er auf einer so langen Reise für ihre Sicherheit gesorgt hatte, wollte er sie auch auf der letzten kleinen Etappe begleiten. »Sie ist jetzt sicher«, sagte der Fremde. »Zumindest so sicher, wie
jemand wie sie es auf dieser Welt überhaupt sein kann.« Er zeigte nach oben. Schnittige Gleiter schwebten über ihnen, zweifellos Teil der gerade laufenden Sicherheitsunternehmung. »Ihr Vater war nicht sicher«, sagte Ragnar. Ein schmerzvoller Ausdruck huschte über das Gesicht des anderen Marines. »Oder?« »Glaubst du, deine Anwesenheit hier hätte irgendwas geändert, Bruder Ragnar?« »Vielleicht.« Der Fremde lächelte. »Ich spiele auch mit dem Gedanken, dass meine Anwesenheit vielleicht etwas geändert hätte, aber leider hat die Pflicht mich an jenem fatalen Tag abberufen.« Eine kurze Pause trat ein. »Ich bin Torin der Wandersmann«, sagte er. »Ragnar Schwarzmähne.« »Diese Dinge sollten nicht in der Öffentlichkeit besprochen werden. Es gibt hier viele mit Televisor, die Lippen lesen können.« »Sprechen sie auch die Sprache von Fenris?« »Ragnar, du wärst überrascht, wie viele verschiedene Fähigkeiten man hier auf dem alten Terra findet. Ich lebe jetzt seit fast zwanzig Standardjahren hier, und es verblüfft mich immer noch.« Gabriella war mittlerweile in dem gepanzerten Fahrzeug verschwunden. Ragnar stellte fest, dass er neben Torin blieb, als dieser zu der kleineren Maschine ging. Aus der Nähe sah sie fast wie die kleinere, schnittigere Version eines orkischen Buggys aus. Wenngleich viel stromlinienförmiger, sah sie genauso zusammengestückelt aus. Torin sprang in die offene Kanzel, und Ragnar nahm den Sitz neben ihm. Ein Schalter wurde umgelegt, und eine getönte Kuppelhaube schloss sich. Augenblicke später drückte ihn die Beschleunigung in den Sitz, als sie Gabriellas Gefährt folgten. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Ragnar aufging, dass sie gerade genug Abstand hielten, um im Falle eines Raketenangriffs von der Explosion nicht in Mitleidenschaft gezogen zu werden, aber auch nicht zu viel, um bei
einem Angriff noch reagieren zu können. Trotz seiner unbeschwerten Art schien Torin durchaus fähig zu sein. Tatsächlich hatte Ragnar bereits den Verdacht, dass Torin mehr als fähig war. Instinktiv schnappte Ragnar die Tödlichkeit des Mannes auf, die umso wirkungsvoller war, weil sie zum Teil durch seine Art verborgen wurde. »Das ist schon besser«, sagte Torin. »Diese Haube dürfte uns vor den beiläufigen Schnüffeleien schützen, und der Wagen selbst ist mit divinatorischen Schutzvorrichtungen gespickt. Wir können uns jetzt etwas freier unterhalten.« »Begrüßt du jedes landende Schiff?«, fragte Ragnar, der laut sprechen musste, um den Motorenlärm zu übertönen. »Nur diejenigen mit neuen Wolfsklingen an Bord.« »Davon kann es nur wenige geben.« »Du bist die erste seit fünf Jahren. Irgendwelche Schwierigkeiten auf dem Flug hierher?« Ragnar erzählte ihm von der Jokaerospinne. Torin schien nicht im Geringsten überrascht zu sein. Er hielt lediglich den Kopf ein wenig schräg, ohne in seiner Aufmerksamkeit für den Verkehr nachzulassen. »Fällt dir dazu irgendwas ein?«, fragte Ragnar schließlich. »Es könnte jeder gewesen sein, von einem eifersüchtigen Rivalen im eigenen Haus bis hin zu einem Außenseiter, der die Stellung der neuen Celestarchin erschüttern will. Angesichts des Attentats auf Adrian Belisarius halte ich es für das Beste, Letzteres anzunehmen, aber wer kann das schon mit Sicherheit sagen?« Ragnar konnte seiner Witterung und seiner ganzen Art entnehmen, dass Torin unter den gegebenen Umständen nicht mehr sagen wollte. »Wie ist es hier so?«, sagte Ragnar. Mittlerweile betrachtete er die gewaltigen Gebäude ringsumher. Sie waren weitaus kunstvoller als alles, was er auf Fenris und auch sonst wo gesehen hatte. Riesige Zinnen ragten in den Himmel. Jeder Zentimeter ihrer alten Fassaden schien mit kunstvollen Verzierungen geschmückt zu sein. Hunderte von Statuen säumten die Bögen an den Seiten. Steinerne Gargyle und
Heilige mit Engelsflügeln standen auf den Dächern Wache. Überall war üppige Vegetation, aber sie hatte nichts von dem exzessiven, unkontrollierten Leben in den Dschungeln, die Ragnar gesehen hatte. Sie schien gezähmt und kultiviert und mit Blick darauf konzipiert worden zu sein, ein zusätzliches Element der sorgfältig geplanten Schönheit zu sein, die sie umgab. »Es ist schon so wie das, was du siehst«, sagte Torin, während er mit einem beiläufigen Rucken an der Steuerung einen riesigen Springbrunnen umfuhr. Wasser sprudelte aus einem Drachenmaul. Irgendeine Wirkung des Lichts ließ es wie flüssiges Feuer aussehen. »Wunderschön an der Oberfläche, aber darunter verfault. Zweifle nie auch nur eine Sekunde daran, dass dies der gefährlichste Planet der ganzen Galaxis ist.« »Er sieht nicht sehr gefährlich aus. Verglichen mit einigen anderen Welten, auf denen ich schon gewesen bin, sieht er eigentlich ziemlich friedlich aus.« »Gefahr hat nicht immer die Form eines Orks mit einem Boltgewehr, Ragnar. Auf dieser Welt hat sich die Elite des Imperiums versammelt. Wir reden jetzt über die rücksichtsloseste, ehrgeizigste, skrupelloseste Ansammlung von Schurken, die jemals von einer Million Planeten zusammengestellt wurde. Hierher sind sie gekommen, um ihre Ambitionen zu verwirklichen, und auf Terra können und werden sie sich durch nichts aufhalten lassen. Nicht durch mich, nicht durch dich und auch nicht von ihresgleichen, wenn es sein muss.« »Ich hätte gedacht, dass auf so einer Welt Loyalität ganz groß geschrieben würde.« »Hier ist niemand loyal, Ragnar. Trau keinem außer deinen Schlachtbrüdern.« »Nicht einmal der Celestarchin?« »Ihr ganz besonders nicht.« »Warum?« »Für sie sind wir nur ein Werkzeug. Eines, das man einsetzen kann,
wo List, Diplomatie und Geld versagt haben. Sie empfindet keine Loyalität gegenüber uns als Einzelwesen. Als Verbindungsglied zu den Wolfskriegern sind wir wichtige Verbündete. Aber wir sind hier entbehrlich, Ragnar.« »Glaubst du?« »Ich weiß es. Versteh mich nicht falsch, das heißt nicht, dass sie unser Leben billig verkaufen oder sich freuen würde, uns sterben zu sehen. Aber wenn die Umstände entsprechend wären, würden wir geopfert.« »Das hört sich nicht richtig an!« »Es ist genau so, wie es sein sollte.« »Inwiefern?« »Die Celestarchin muss sich nicht vor uns verantworten. Sie ist für Haus Belisarius verantwortlich und muss sich vor den Ältesten verantworten. Es ist ihre Pflicht, die Interessen ihres Hauses zu schützen, wie es Logan Grimnars Pflicht ist, dasselbe für die Wölfe zu tun.« »Aber ist es nicht Grimnars erste Pflicht, dem Imperator gegenüber loyal zu sein?« Zu Ragnars Überraschung lachte Torin. »Ach, es tut mir gut, mich mit dir zu unterhalten, Junge. Früher war ich wie du, frisch von Fenris und vom Reißzahn weg. Manchmal glaube ich, dass ich schon zu lange auf Terra bin. Natürlich gilt Grimnars erste Loyalität dem Imperator, und so ist es auch bei der Celestarchin und bei allen anderen hier auf der Erde und im Imperium. Aber du wärst überrascht, wie oft die Leute diese Loyalität auf eine Weise ausnutzen, die ihren eigenen Interessen förderlich ist.« Torins Einstellung bereitete Ragnar langsam ein wenig Unbehagen. Sie erinnerte ihn an das Verhalten, das einige Wolflords an den Tag legten. Er bezweifelte nicht, dass zum Beispiel Sigrid und Berek glaubten, im besten Interesse des Ordens zu handeln und ihre letztendliche Besteigung des Wolfsthrons sicher war. »Du bist ein sehr zynischer Mann, Bruder Torin«, sagte er.
»Vielleicht, Bruder Ragnar«, erwiderte Torin lächelnd, »aber vielleicht bin ich auch nur realistisch. Bleib unvoreingenommen, bis du mehr gesehen hast.« »Das versuche ich immer.« Sie schwiegen ein paar Minuten. Ragnar betrachtete die herrlichen Gebäude, die vorbeirauschten. Generationen von Handwerkern schienen ihr ganzes Leben mit der Bearbeitung kleinerer Mauerabschnitte verbracht zu haben. Selbst für Ragnars ungeübtes Auge war offensichtlich, dass die Skulpturen und Fresken Meisterwerke waren. »Wann erreichen wir den Belisarius-Palast?«, fragte Ragnar. »Bald. Wir befinden uns bereits auf dem Anwesen der Belisarius. Ihnen gehört alles in diesem Sektor, vom Landefeld angefangen über die Geschäfte bis hin zu den Wohngebäuden. Das ist ein Maß für ihren Reichtum.« »Inwiefern?« »Nirgendwo in der Galaxis sind die Grundstückspreise so hoch wie auf Terra. Für den Preis von einem Quadratmeter dieses Landes hier könnte man sich auf jeder beliebigen Makropolwelt einen Palast kaufen. Eigentlich auf den meisten Welten des Imperiums, um die Wahrheit zu sagen.« »Der geheiligte Boden Terras«, sagte Ragnar. »Der geheiligte und sehr teure Boden Terras, Bruder Ragnar. Für Gebiete von der Größe eines kleinen Bauernhofs auf einer der Inseln von Fenris sind Tausende gestorben.« »Ich dachte, Kriege wären auf Terra verboten.« Torin grinste. »Ragnar, sieh dir diesen Wagen an und sag mir, was du siehst.« »Ein schnelles, manövrierfähiges Vehikel mehr oder weniger konventioneller Bauweise.« »Von mehr oder weniger konventioneller militärischer Bauweise. Der Wagen ist so gepanzert, dass er allem unterhalb einer Sprenggranate widersteht. Er enthält jede Art von Schutzmaßnahme, welche die Adeptus Mechanicus zu ihrer Verfügung haben. Er hat eine Signalbo-
je, um Hilfe aus dem Palast zu rufen. Wenn es auf Terra friedlich zuginge, glaubst du, all das wäre dann nötig?« Ragnar dachte darüber nach. »Meine Unterweisung hat begonnen, nicht wahr?« »Guter Junge, Bruder Ragnar. Ich wusste, dass du eine rasche Auffassungsgabe hast.« »Ich bin kein Junge, Bruder Torin«, sagte Ragnar gefährlich ruhig. Torin grinste wiederum. »Nein. Ich sehe, dass du keiner bist. Auch wenn dir die Farben einer Graumähne fehlen. Ich werde das in Zukunft nicht vergessen. Was hat es damit überhaupt auf sich? Du bist kein Blutwolf und du bist auch keine Graumähne …« Ragnar war sicher, dass der Mann neben ihm bereits die Antworten kannte und ihn verspottete. »Das musst du bereits wissen«, sagte er grimmig. »Nehmen wir mal an, dass ich es tatsächlich weiß«, sagte Torin, während er den Wagen über eine breite Fahrbahn zu einem gewaltigen Gebäude steuerte, das sich vor ihnen erhob. Sie fuhren auf eine Hängebrücke über einen tiefen Abgrund, der das Bauwerk umgab. Ein Blick nach unten zeigte Ragnar, dass die Dinge etwas trügerisch waren. Das Gebäude schien in die Tiefen unter ihnen zurückzuweichen. Er sah in Tausenden von Fenstern Licht brennen und noch mehr Brücken mit Verkehr darauf. »Nicht alles steht in den Berichten, die wir bekommen, glaub mir. Nehmen wir einfach an, dass ich deine Version der Geschichte mit deinen eigenen Worten hören will.« »Die erzähle ich dir, wenn ich dazu bereit bin.« »Das reicht mir, Bruder. Wir haben eine Menge Zeit. In den nächsten Jahrzehnten werden wir uns häufig sehen.« Die Worte hatten die Endgültigkeit einer Zuchthausstrafe. Ragnar erkannte, dass sein Schicksal tatsächlich besiegelt war. Ob es ihm gefiel oder nicht, er saß mit diesem Mann und weniger als zwei Dutzend seiner Brüder auf der Erde fest. Die Erkenntnis legte sich mit
der ganzen Last des großen gepanzerten Tors aus Plastistahl auf ihn, das sich hinter dem Buggy herabgesenkt hatte.
5. Kapitel
»Wir sind jetzt im Palast, Ragnar. Sei diskret. Wähle jedes Wort mit Bedacht, wenn du nicht sicher bist, dass du nicht belauscht werden kannst«, sagte Torin. Der Buggy hielt im Hof hinter dem Tor. Er sah, dass die Wachen bereits aus dem größeren gepanzerten Wagen ausgestiegen waren und Gabriella durch einen Torbogen führten. Torin drückte auf einen Knopf. Die Bedienhebel verschwanden im Armaturenbrett, und das getönte Kuppeldach fuhr zurück. Beide Wölfe stiegen aus. Ragnar studierte eingehend seine Umgebung. Sie befanden sich in einem riesigen Atrium. Hoch über ihnen gestattete eine Decke aus Panzerglas den Einfall natürlichen Lichts. Von seinem Standort sah er unzählige Balkone im Innern des Gebäudes. In jeder Mauer gab es einen riesigen durchsichtigen Fahrstuhlschacht. Obwohl Ragnar wusste, dass dieser Ort nicht annähernd so gewaltig sein konnte wie der Reißzahn, vermittelte er das Gefühl, als sei er es, und ein Neuankömmling konnte rasch die Orientierung verlieren. Während der Reißzahn einem das Gefühl vermittelte, sich in einer Basis von Waffenbrüdern zu befinden, hatte dies hier mehr Ähnlichkeit mit einem Basar. Es wimmelte von Menschen aus der gesamten zivilisierten Galaxis. Er sah Catachaner in grüner Seide und Boreaner in Gewändern aus Walhaut. Es gab auch Menschen in Metallrüstungen von den Waffenschmieden aus dem Talean-Rand. Ein unglaublich fettleibiger Mann ruhte auf einem Suspensor-Palankin, während zwei wunderschöne, spärlich bekleidete Mädchen seinen rasierten Schädel befächerten und schwitzende Sklaven ihn durch das Gedränge zogen. Überall waren Gefolgsleute in der eleganten Uniform des Hauses Belisarius unterwegs. Viele besaßen bionische Augen und Gliederprothesen. Manche waren bewaffnet. Das Bauwerk war das Produkt einer großen künstlerischen An-
strengung. Die Mauern waren mit Fresken übersät. Gargyle hielten Lichtkugeln in ihren Klauen. Heiligenscheine von Heiligen leuchteten auf Plattformen über der Menge. Eine eingehendere Betrachtung verriet Ragnar, dass einige der Statuen Televisoraugen hatten. Er sah, dass hier sehr viele Geschäfte abgewickelt wurden. Nischen in den Wänden führten in Hallen, aus denen der Lärm angeregten Feilschens und getätigter Abschlüsse drang. Waren wurden gegen andere Waren eingetauscht. Zukünftige Kontakte wurden vereinbart. Übereinkünfte über die Verwendung von Schiffen, Flotten und Navigatoren wurden getroffen. Unzählige Gerüche lagen in der Luft: von Menschen und Tieren, von Gewürzen, Seide und Tierfellen. Maschinenöl vermischte sich mit technischen Schmiermitteln und halluzinogenen Düften. Für einen Mann mit Sinnen so scharf wie Ragnars war all das ein wenig überwältigend, bis er damit begann, die Stimuli einzuordnen und seine Umgebung in den Griff zu bekommen. Er folgte Torin über den Mosaikboden durch einen der Torbogen und in einen Fahrstuhl. Augenblicke später und ohne die Bewegung zu spüren, waren sie hundert Stockwerke tiefer und von Wänden aus verstärktem, gepanzertem Plastibeton umgeben. Torin führte ihn durch die plötzlich ruhigen Korridore. Hier roch es viel stärker nach Wolfskriegern. Dies war offenbar ein Bereich, der öfter von Schlachtbrüdern frequentiert wurde. Vor ihnen glitt eine Tür auf, und sie betraten eine andere Kammer. Diese hatte holzvertäfelte Wände. Auf dem Boden lagen Felle des großen Fenris-Wolfs. Alkoven in den Wänden enthielten Schriften und Bücher. Was wie ein echtes Kaminfeuer aussah, tatsächlich aber eine geschickt platzierte holografische Simulation war, wärmte den Raum. All das nahm Ragnar mit einem Blick wahr, bevor er sich dem Mann hinter dem Schreibtisch näherte, welcher den Raum beherrschte. Auf seine ganz eigene Art war er ebenso beeindruckend wie Berek Donnerfaust oder die anderen Wolflords. Für einen Wolfskrieger war er dünn, geradezu hager. Sein Gesicht war lang und traurig und
schien unerklärlich düster zu sein. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und tiefe Furchen im Gesicht. Seine Haare waren lang und grau. Sein Bart war kurz geschnitten und mit schwarzen Streifen durchsetzt. Seine Augen waren kalt, blau und berechnend. Sie schienen ihn im Zeitraum eines einzigen Moments abzuschätzen und ihre Schlussfolgerungen tief im Innern eines eisigen Verstands abzuspeichern. Als er das Wort an ihn richtete, war seine Stimme tiefer und voller, als Ragnar erwartet hatte. »Willkommen auf Terra, Ragnar Schwarzmähne. Und willkommen bei unserem kleinen Trupp von Brüdern. Ich bin Valkoth, und ich habe das Kommando über das Kontingent Wolfsklingen hier.« Ragnar verspürte nicht den Drang, ihn herauszufordern. »Ich habe Torin gebeten, mit deiner Einweisung zu beginnen. Er wird dich in dein Quartier bringen und dafür sorgen, dass du dich einlebst. Wenn du irgendwelche Fragen hast, wende dich vertrauensvoll an ihn. Die Celestarchin ist momentan beschäftigt, aber sobald sie Zeit hat, wirst du zu ihr gebracht, um deinen Treueeid zu leisten. Bis dahin solltest du dich immer so verhalten, als hättest du den Eid bereits geleistet. Benimm dich so, als hinge der Ruf der Wolfskrieger davon ab − denn so verhält es sich.« »Aye«, sagte Ragnar. »Ich hörte, es hat einen Anschlag auf Gabriella Belisarius’ Leben gegeben«, sagte Valkoth. »Erzähl mir davon.« Das tat Ragnar, und der alte Mann lauschte ihm eingehend und ohne ihn zu unterbrechen. Als Ragnar fertig war, sagte er: »Sei wachsam. Es wird noch mehr Anschläge auf Gabriellas Leben geben und auf das Leben aller, die sich in unserer Obhut befinden.« Ragnar nickte, und Valkoth richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das offene Buch vor sich und machte sich mit einem Griffel Notizen. Es war offensichtlich, dass sie entlassen waren. Torin führte Ragnar zurück in den Flur und tiefer in ein Labyrinth aus Korridoren. Es gab hier viel weniger Bedienstete und Gefolgsleute und keine Spur von Wolfskriegern außer ihm selbst und Torin.
»Das war der Alte«, sagte Torin. »Er ist eine Art Gelehrter, aber lass dich davon nicht täuschen. Er kann es als Krieger mit jedem aufnehmen und ist so schlau wie Logan Grimnar persönlich.« Ragnar teilte das allgemein übliche Vorurteil der Fenrisier gegen Gelehrte nicht. Für ihn war offensichtlich, dass Torins Worte stimmten. »Wo sind die anderen?« »Hast du vielleicht eine Begrüßungsparty erwartet?« »Nein, ich dachte nur, es könnten mehr von uns in der Nähe sein.« »Tatsächlich sind mehr Wölfe im Palast als je zuvor, seitdem die neue Celestarchin den Thron bestiegen hat, aber das ist ziemlich ungewöhnlich. Normalerweise sind wir über das ganze Imperium versprengt.« »Warum?« »Verschiedenste Aufträge. Manche bilden Truppen des Hauses aus. Andere müssen Geheimaufträge erfüllen. Einige werden als Leibwächter für Navigatoren eingesetzt, die sich in besonders gefährliche Situationen begeben müssen.« »Ich höre immer wieder etwas über die Ausbildung von Truppen des Hauses. Wie ich es verstehe, haben die Navigatoren gar keine Truppen.« »Ja und nein. Sie haben keine offiziellen Soldaten, aber sie haben Sicherheitsleute in praktisch derselben Funktion. Und sie haben Söldnerkompanien unter Dauerverträgen, die ihnen schon so lange dienen, dass man sie durchaus als Bestandteil des Hauses betrachten kann. Sie sind in jedem Sinn − außer einem legalen − Haussoldaten.« Ragnar war nach Ausspeien zumute. »Was haben Gesetze für einen Sinn, wenn Leute Mittel und Wege finden, sie zu umgehen? Zivilisation!« »Du hörst dich an wie Haegr. Ihr zwei müsstet eigentlich großartig miteinander auskommen.« Ragnar war gar nicht sicher, ob er tatsächlich so rechtschaffen war, wie er sich gab. Im Augenblick fühlte er sich ziemlich verloren und zog sich auf den Kodex seiner Heimatwelt zurück. Torin interpretier-
te auch diesmal seine Stimmung ganz richtig. »So schlecht ist es gar nicht!« In diesem Augenblick kam eine gewaltige Gestalt durch einen Torbogen. Einer seiner Füße steckte in einem riesigen Alekrug, und er hielt einen abgenagten Schinkenknochen in einer Hand. Er war gewiss der massigste Mann, den Ragnar je gesehen hatte, und sogar nach den Maßstäben der Wolfskrieger gigantisch, der einzige, den man mit Fug und Recht fett nennen konnte. Seine winzigen Augen lagen in tiefen Höhlen über dicken rosigen Wangen. Seine Rüstung schien verändert worden zu sein, um einen gewaltigen Bauch einschließen zu können, was sie zu einer Art Triumph der Schmiedekunst machte. »Hat da jemand meinen Namen unnütz in den Mund genommen?«, bellte er mit einer Stimme, die Ragnar an einen wütenden Elchbullen erinnerte. »Warst du es, kleiner Mann?« Torin grinste den Riesen an. »Wie ich sehe, versuchst du eine neue Stiefelmode zu kreieren.« Der ungeschlachte Fremde schaute nach unten und blinzelte. »Ich habe meinen Krug neben dem Bett stehen lassen, als ich mich zu einem kurzen Nickerchen hingelegt habe. Ich muss hineingetreten sein, als ich mannhaft aufsprang, um jeden zu fordern, der meinen guten Namen verspottet.« Ragnar ging auf, dass der Neuankömmling nach Ale stank. In seinem Bart klebten Essensreste. »Du weißt, dass ich das nicht tun würde, Haegr«, sagte Torin. »Ich habe unserem jüngsten Rekruten hier lediglich aufgezeigt, dass ihr beide etwas gemeinsam habt.« Haegr blinzelte eulenhaft, als sehe er Ragnar zum ersten Mal. »Ein Neuankömmling von der gesegneten Welt Fenris, wo der kalte Wind den zerklüfteten Boden von Verunreinigung und Korruption säubert. Ich fürchte, du bist hier am falschen Ort, Junge. Dieser widerliche, schwärende Sündenpfuhl ist ein Gräuel für unsere Art, für die vielen Tugenden der mächtigen Wolfskrieger …« »Haegr macht so viel Wind wie die Welt, die ihn geboren hat«, sag-
te Torin. »Machst du dich über mich lustig, kleiner Mann?« »Das würde ich nicht wagen. Ich habe nur dein neues Ehrenabzeichen bewundert.« »Ich habe kein Ehrenabzeichen.« »Ist das nicht die Fettfleckmedaille, mit der die Rüstung des mächtigsten Essers ausgezeichnet wird?« Haegr betastete den Fettfleck auf seiner Rüstung und leckte dann an seinem Finger. »Wüsste ich es nicht besser, würde ich glauben, du verspottest mich, Torin. Aber ich weiß ja, dass das kein Mensch wagen würde.« »Deine Logik ist wie immer unwiderlegbar, alter Freund. Jetzt muss ich Ragnar sein Quartier zeigen und über seine Pflichten aufklären.« »Lass ihn auf jeden Fall wissen, dass er von kraftlosen Feiglingen ohne die geringsten männlichen Tugenden umgeben sein wird. Diese Welt ist nicht Fenris, Junge. Vergiss das bloß nicht!« »Ich glaube, das kann ich gar nicht«, sagte Ragnar. »Auf die eine oder andere Art hält mir das jeder ständig unter die Nase.« »Dann sehen wir uns später und trinken Ale auf die heroische Art der Söhne von Fenris. Jetzt muss ich zusehen, dass ich diesen Krug von meinem Fuß bekomme.« Er machte kehrt und stapfte in sein Zimmer zurück. »Das war Haegr«, sagte Torin. »Er ist nicht der hellste Mann, den die Erwähler der Erschlagenen je für unsere Reihen auserkoren haben, aber er ist vielleicht der tapferste von allen, wenn es um den Verzehr von Ale und Fleisch geht.« »Das habe ich gehört!«, bellte eine gedämpfte Stimme jenseits der geschlossenen Tür. »Es war ein Kompliment für deine heroische Tüchtigkeit!«, rief Torin, wobei er plötzlich schneller ausschritt. »Ich will dich nicht schon wieder schlagen wollen«, rief Haegr, indem er den Kopf zur Tür herausstreckte. Sein gewaltiger buschiger
Schnurrbart erinnerte Ragnar an ein Walross. »Ich warte immer noch auf das erste Mal«, sagte Torin. »Wie war das?« »Geh und zieh dir den Krug vom Fuß«, sagte Torin, als sie um eine Ecke bogen. »Er würde dich nicht wirklich schlagen?«, fragte Ragnar. Torin hob eine Augenbraue. »Er wünschte, er könnte es. Haegr ist sehr stark, aber seine Körperfülle macht ihn ziemlich langsam. Im unbewaffneten Kampf habe ich noch nie gegen ihn verloren.« Torin hatte eine ruhige, selbstbewusste Art, die das genaue Gegenteil von Haegrs aufbrausender Prahlerei war. Ragnar sah keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. »Wie ist er so dick geworden? Ich dachte, wir wären genetisch so verändert, dass wir Nahrung extrem effektiv verbrennen. Ich glaube, bis heute habe ich noch nie einen übergewichtigen Wolfskrieger gesehen.« »Es sind mehr Muskeln als Fett, wie du herausfinden wirst, solltest du dich je auf ein Armdrücken mit ihm einlassen. Was sein Übergewicht angeht, so ist etwas schief gegangen, als Haegr ein Space Marine wurde. Lange Zeit hat es sich gar nicht bemerkbar gemacht. Die Wolfpriester glaubten nur, er hätte einfach einen großen Appetit. Erst als er zunahm, ging ihnen auf, dass er irgendeinen Fehler hatte. Keinen großen, der ihn zu einem Wolf gemacht oder ins Exil der Eiswüsten getrieben hätte, ihn aber das hat werden lassen, was er jetzt ist. Du wirst feststellen, dass die meisten Wolfsklingen nicht richtig in den Reißzahn passen. So hat es die meisten von uns hierher verschlagen.« »Was hat dich hierher geführt?« »Ich habe darum gebeten.« »Du wolltest die Heilige Welt sehen?« »Etwas in der Art. Und hier sind deine neuen Gemächer. Nicht viel, aber ein Zuhause«, sagte er.
Ein Blick durch die Tür verriet Ragnar, dass Torin wieder Witze machte. Die Gemächer waren ausgedehnt und sehr gut eingerichtet. Neben ihnen wirkte seine Suite auf der Belisarius’ Herold spartanisch. Seine Ausrüstung war bereits hergeschafft worden und lag inspektionsbereit auf einem massiven Eichentisch. »Es ist nicht ganz, was ich erwartet habe«, sagte er. »Das bringt die Arbeit so mit sich. Die Belisarier halten uns gern bei Laune. Sie wollen nicht, dass jemand unsere Treue kauft, also bekommen wir von allem nur das Beste.« »Sie glauben, jemand könnte die Treue eines Wolfskriegers kaufen? Dann kennen sie uns nicht sehr gut«, sagte Ragnar. Er nahm die implizite Beleidigung der Ordensehre übel. »Vielleicht kennen sie uns besser als wir uns selbst, Ragnar. Oder vielleicht schließen sie nur von sich selbst auf uns. Richte dich ein. Du wirst bald deine Arbeit aufnehmen.« Bevor Ragnar noch etwas sagen konnte, hatte Torin sich bereits zurückgezogen und die Tür hinter sich geschlossen. Ragnar begutachtete seine Räumlichkeiten und versuchte den ungewohnten Luxus in sich aufzunehmen. Die Ausstattung war von allerbester Qualität. Es gab Armsessel, Sofas und Schreibtische sowie ein Suspensorbett, auf dem man in einem Repulsorfeld über der Matratze schweben konnte. Es gab einen Waschraum mit einer in den Boden eingelassenen Marmorbadewanne. Ein Hologrammfenster wechselte die Aussicht, wenn man mit der Hand über eine Rune strich. Er schaltete vom Blick auf Fenris auf eine Wüstenwelt mit gewaltigen Ruinen, auf die Halle der Kaufleute weiter oben und auf ein riesiges Bauwerk, bei dem es sich um den Imperatorpalast mit einer endlosen Schlange von Pilgern davor handeln mochte. Entspannende Düfte lagen in der Luft, und leise Musik wurde eingespielt. Ragnar hielt weiterhin nach verborgenen Überwachungsvorrichtungen Ausschau. Er entfernte Kameras im Stuck der Decke. Er spürte Wanzen unter den Betten auf. Er fand ein Kameraauge in dem
Giftschnüffler über dem Tisch. Er mochte es nicht, beobachtet zu werden, und wollte ganz sichergehen, dass diejenige Person, welche die Vorrichtungen angebracht hatte, das auch mitbekam. Nachdem er alle Räume durchgesehen hatte, legte er sich auf das Bett, starrte an die Decke und fragte sich, was er tun sollte. Dieser Ort war ganz und gar nicht so, wie er erwartet hatte. Er stank nach Argwohn und Intrige, und jeder, der ihm begegnete, warnte ihn davor. Anscheinend sollte er davon ausgehen, dass jeder, den er kennen lernte, heimtückisch und hinterhältig war, wie sie dasselbe von ihm denken würden. Das war keine Art zu leben, fand er, und dann ging ihm auf, dass er keine andere Wahl hatte. Anschläge auf das Leben anderer waren hier offenbar eine Lebensart. Leute begingen heimtückische Morde zu ihrem eigenen Vorteil. Und anscheinend konnte alles gekauft werden. Warum war das so? Er war von Reichtümern umgeben, welche die kühnsten Träume der meisten Bürger des Imperiums überstiegen. Alle Würdenträger des Imperiums und alle Navigatoren hatten Anteil an diesem gewaltigen Reichtum. Warum brauchten sie noch mehr? Vielleicht kämpften sie nicht um Reichtümer, sondern um Macht. Er hatte gesehen, was das Verlangen nach Macht unter den vergleichsweise asketischen Kriegern von Fenris anrichten konnte. Und was war mit seinen neuen Kameraden? Wie vertrauenswürdig waren sie? Torin schien ein Mann mit vielen Geheimnissen zu sein und war mit seiner spöttischen Art ganz anders als alle Wolfskrieger, die Ragnar kannte. In seiner ganzen Art, sich zu kleiden, zu reden und zu denken, schien er mehr ein Belisarier geworden zu sein. Haegr machte einen schlichten Eindruck, aber Torin hatte einen Makel erwähnt, der vielleicht zu seinem Exil hier geführt hatte. Vielleicht ging dieser Makel noch tiefer. Ragnar zwang sich zu entspannen. Ihm fehlte es an jeder Grundlage, seine Kameraden beurteilen zu können. Er fühlte sich einfach nur unbehaglich, weil er aus seiner gewohnten Routine bei seinen
Schlachtbrüdern herausgerissen und in die trüben Gewässer dieses Ortes geworfen worden war. Er war wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er war ausgebildet worden, mit den harten Wirklichkeiten des Kampfes zurechtzukommen, wo Ziele und Feinde klar definiert waren. Man hatte ihn aber nicht in Palastintrigen ausgebildet. Vielleicht war er deswegen hierher geschickt worden. Vielleicht musste er diese Herausforderung meistern. Er wusste, was immer hier geschah, ihm bot sich eine Gelegenheit. Seine Position gestattete ihm, den dunklen Unterleib des imperialen politischen Systems aus der Nähe zu studieren. Er würde sein Bestes tun, daraus zu lernen und es zu meistern. In diesem Augenblick war Ragnar allein, unwissend und verwundbar, aber es war seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es nicht so blieb. Er würde sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Er würde lernen, was nötig war, und über die Umstände triumphieren. Dies war eine Prüfung, die er bestehen würde. Nachdem er diese Entscheidung getroffen hatte, fühlte Ragnar sich besser. Ihm ging auf, dass er sich seit dem Verlust von Russ’ Speer und nachdem er erfahren hatte, dass er sich dafür würde vor dem Wolfsrat verantworten müssen, hatte treiben lassen und unsicher geworden war. Diese Zeit war jetzt vorbei. Welche Herausforderungen auch vor ihm lagen, er würde sich ihnen stellen wie ein echter Sohn von Russ. An seiner Tür klopfte es. Er öffnete und stellte fest, dass Torin und Haegr auf ihn warteten. »Die Celestarchin gelüstet es nach dem Vergnügen einer Audienz mit ihrer neuesten Wolfsklinge«, sagte Torin halb im Scherz. »Sie hat uns geschickt, damit du dich nicht verläufst«, sagte Haegr und leckte sich die Lippen. »Eigentlich hat sie mich geschickt«, sagte Torin, »damit ihr euch nicht beide verlauft.« »Du weißt genau, dass ich mich im Palast besser auskenne als jeder neu eingetroffene Welpe.«
Ragnar strahlte sie an. »Ich muss mich entschuldigen. Ohne diesen Eimer an deinem Fuß habe ich dich gar nicht erkannt, Haegr.« »Machst du dich über mich lustig, Junge?« »Würde ich so etwas tun?«, entgegnete Ragnar. »Besser nicht«, sagte Haegr. »Ich glaube, du wirst dich hier schnell einleben«, bemerkte Torin, als er sie durch das Gewirr der Gänge zum entfernten Fahrstuhl führte.
6. Kapitel
Sie traten aus einem Fahrstuhl in einem anderen Teil des Palasts. Ragnar schwirrte der Kopf von all den neuen Anblicken, Geräuschen und Stimuli, aber auch wegen der Riesigkeit des Palasts. Aber der Vorgang der Anpassung an die neue Umgebung hatte bereits begonnen. Unterwegs hinterließen sie eine Duftspur, die er benutzen konnte, um den Rückweg zu finden. Je weiter die Wege, die sie zurücklegten, desto mehr Marken würden sie hinterlassen. Den Rückweg zu seinem Quartier würde er jetzt schon mit verbundenen Augen finden. Die Leute in diesem Bereich waren besser gekleidet. Es gab mehr Navigatoren und augenscheinlichere Anzeichen von Reichtum. Holografische Wandbehänge aus gesponnenen Goldfäden bedeckten die Wände. Die Perspektive der dargestellten Szenen änderte sich im Vorbeigehen auf eine Weise, die das Auge vollständig täuschte. Hier waren Bilder von Vertragsabschlüssen und Schiffe vor einem Sternenhintergrund sowie Landschaften von hundert fremden Welten. In jeder Landschaft wehte das Banner der Belisarius. Auf jedes Schiff war das Siegel ihrer Macht gemalt. Ein Navigator in Hausuniform spielte eine Hauptrolle bei jeder Verhandlung. Am verblüffendsten war das Bild von einem Belisarier neben drei Gestalten mit einem Heiligenschein. Eine war geflügelt wie ein Engel, eine hatte die langen Eckzähne eines Wolfskriegers, und die dritte hatte eine strahlende Aura. Ragnar betrachtete das Bild mit mehr als nur einem beiläufigen Blick. Wenn er sich nicht vollständig im Irrtum befand, zeigte das Bild einen der Vorgänger der gegenwärtigen Celestarchin neben dem Imperator, Leman Russ und Sanguinius, dem Primarchen der Blutengel. Beim Anblick des Speers in Russ’ Hand zuckte Ragnar ein wenig zusammen. Er ballte die Finger zur Faust und streckte sie wieder.
Auch sie hatten die heilige Waffe kurz gehalten. Angesichts der Akkuratesse der Darstellung bezweifelte Ragnar nicht, dass der Künstler die Waffe gesehen hatte. Das Gemälde erinnerte auf nicht allzu subtile Art an die uralte Abstammung der mächtigen Verbindungen von Haus Belisarius. Er nahm sich die Zeit, die Leute ringsumher zu studieren. Die Menschen betrachteten sie mit einer Mischung aus Respekt und Furcht, wenn sie an ihnen vorübergingen. Ihre Nervosität zeigte sich auch in ihrer Witterung. Die Navigatoren waren wie üblich viel schwerer zu durchschauen. Sie hatten etwas ebenso Fremdartiges und Unmenschliches an sich wie ein Ork. Torin und Haegr schienen sich daran nicht im Geringsten zu stören, aber sie hatten auch viele Jahre Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen. Vor ihnen spannte sich ein riesiger Torbogen. Die Stützpfeiler wurden von zwei Raumschiffen gebildet, die von Engeln mit dem dritten Navigatorenauge umgeben waren − ein Bild, das für manche fast schon an Blasphemie heranreichen würde. In die Mitte des Torbogens war die Sigille der Belisarius geprägt, ein Auge, das von zwei sich aufbäumenden Wölfen flankiert wurde. Die Wachen am Eingang salutierten und gestatteten ihnen den direkten Durchgang in den Audienzsaal. Auch hier wurde Macht und Reichtum zur Schau gestellt. Die kuppelförmige Decke des Saals war eine juwelenbesetzte Darstellung des Nachthimmels. Sie spiegelte sich im schwarzen Marmor des Fußbodens. Auf einem schwebenden Podest aus poliertem schwarzem Stein ruhte die gegenwärtige Celestarchin auf einem Thron aus massivem Silber. Sie war eine hochgewachsene Frau von altersloser Schönheit und trug ein langes schwarzes Kleid mit einem Silbergürtel. Die Gürtelschnalle trug ebenso das Zeichen des Auges mit den zwei sich aufbäumenden Wölfen wie das Diadem auf ihrer Stirn. Im Fall des Diadems war das Metallauge so positioniert, dass man das dritte Auge der Celestarchin durch es sehen konnte. Zwei Männer standen neben dem Thron. Einer war groß, aber ge-
beugt und hatte lange, dünne weiße Haupt- und Barthaare. Seine Kleidung entsprach derjenigen der Celestarchin, war aber am Kragen mit weißem Pelz verbrämt. Der andere Mann war kleiner und sah mit seinen grau melierten schwarzen Haaren und einem ordentlich gestutzten Kinnbart angespannter aus. Er trug die Gala-Uniform des Hauses mit Helmbusch und sah aus, als wisse er mit dem Schwert und der Boltpistole an seinem Gürtel umzugehen. Alle drei sahen einander und auch Gabriella auffallend ähnlich. Sie waren alle hochgewachsen und schlank und hatten feinknochige Glieder und Gesichter, leicht eingefallene Wangen und große Augen. Die Navigatoren sahen auf, als die drei Wolfsklingen eintraten. »Ich grüße Sie, Torin von Fenris«, sagte die Frau. Ihre Stimme war tiefer, als Ragnar erwartet hatte. »Wie ich sehe, haben Sie unseren jüngsten Rekruten mitgebracht.« »Das habe ich, Lady Juliana. Darf ich Euch Ragnar Schwarzmähne von Fenris und den Wölfen vorstellen.« »Wir freuen uns, Ihre Bekanntschaft zu machen, Ragnar Schwarzmähne. Treten Sie vor, damit wir Sie in Augenschein nehmen können.« Ragnar tat es. Er bewegte sich mit allem Selbstvertrauen, das er aufbringen konnte, entschlossen, sich vom Reichtum seiner Umgebung und der uralten Abstammung der Celestarchin nicht einschüchtern zu lassen. Ihm ging plötzlich auf, dass die offensichtliche Zurschaustellung auf dem Weg zum Audienzsaal genau darauf abzielte, einen Besucher zu beeindrucken und einzuschüchtern. Er würde sich davon nicht aus der Fassung bringen lassen, sondern die Celestarchin nur aufgrund ihrer persönlichen Merkmale beurteilen, wie sie ihn beurteilen musste. So verhielt es sich auch schon seit unvordenklichen Zeiten mit den Kriegern auf Fenris und ihren Anführern. Er stand vor dem Podest und schaute zur Celestarchin auf. Wenn sie daran Anstoß nahm, ließ sie es sich nicht anmerken, und dasselbe galt für den älteren Navigator. Der uniformierte Mann schaute finster drein, sagte aber nichts zu Ragnars großspurigem Auftreten. Ragnar
glaubte, so etwas wie Belustigung von Torin und Beifall von Haegr zu spüren. »Ich sehe, dass Sie ein wahrer Sohn von Fenris sind«, sagte Lady Juliana nicht unfreundlich. »Treten Sie auf das Podest.« Ragnar tat es und registrierte nicht die leiseste Schwankung im Suspensorfeld, als es durch seine gerüstete Gestalt zusätzlich belastet wurde. Die Plattform mochte aussehen wie ein Floß im Strom, aber wenn man einmal darauf stand, fühlte sie sich wie fester Boden unter den Füßen an. »Sie sind gekommen, um uns die Treue zu schwören, Ragnar?« »Das bin ich. Ihr habt mein Wort als Wolfskrieger, dass ich Euch folgen und schützen und Euren Befehlen gehorchen werde, wie ich es beim Großen Wolf persönlich täte.« »Mehr kann ich nicht verlangen«, sagte die Celestarchin. »Seien Sie willkommen im Hause Belisarius, Ragnar Schwarzmähne.« »Ich danke Euch, Lady.« Ein Nicken verriet Ragnar, dass er entlassen war, also verbeugte er sich, stieg vom Podest und ging rückwärts zu Torin und Haegr zurück. »Sie können gehen«, sagte Lady Juliana. Alle drei Wolfsklingen salutierten und zogen sich durch den Torbogen zurück. »Ich glaube, sie mag dich«, sagte Torin. »Wie kommst du darauf?« »Sie hat die Formalitäten sehr knapp gehalten.« »Wer waren die beiden anderen?« »Der alte Mann ist Alarik, Schatzmeister und außerdem Leiter der Sicherheit. Der Geck ist Skorpeus. Er ist ein Cousin der Celestarchin und hält sich für ihren Berater.« »Wen interessiert das?«, sagte Haegr. »Lasst uns lieber große Mengen Bier trinken auf eine Weise, die sich für Helden von Fenris ziemt.« »Ein ausgezeichneter Vorschlag«, sagte Torin. »Komm, Ragnar, wir werden dich jetzt mit einem der Vorzüge von Terra bekannt machen − den Tavernen des Handelsviertels.«
Ragnar war danach zu sagen, er sei müde und wolle sich von der Reise erholen, aber in den Blicken seiner beiden Begleiter lag eine Herausforderung. Torin schien ihn zu prüfen, und Haegrs Art und Weise ließ keinen Zweifel daran, dass sich kein wahrer Sohn von Fenris so eine Gelegenheit entgehen lassen würde. Bei genauerem Nachdenken kam Ragnar zu dem Schluss, dass es gar keine schlechte Idee war. Er war darauf erpicht, mehr von seiner neuen Heimatwelt zu sehen, und wenn er seinen Dienst erst einmal aufgenommen hatte, bekam er vielleicht keine Gelegenheit mehr dazu. Ihm ging auf, dass dies auch für die beiden anderen so sein mochte. Vielleicht hatten sie sogar die Anweisung bekommen, ihn herumzuführen, und würden einen anderen Auftrag bekommen, wenn er nicht mitkam. In diesem Fall … »Geht voraus«, sagte Ragnar. In diesem Augenblick trat der uniformierte Navigator Skorpeus aus dem Audienzsaal. Er wurde von einer ungeschlachten Gestalt mit einem vernarbten Gesicht begrüßt. Die beiden wechselten ein paar Worte und gingen dann zu den drei Wolfskriegern. »Willkommen auf Terra, Ragnar Schwarzmähne«, sagte der Navigator. Sein Gehabe war glatt und beiläufig, vielleicht ein wenig zu glatt und zu beiläufig, fand Ragnar. »Ich wünsche Ihnen mehr Glück als Ihrem Vorgänger.« »Skandar ist in Ausübung seiner Pflicht gestorben. Kein Wolf könnte sich einen besseren Tod wünschen.« »Vielleicht wäre es besser für uns alle gewesen, wenn ihm bei der Ausübung seiner Pflicht mehr Erfolg beschieden gewesen wäre. Schließlich bestand sie darin, Adrian Belisarius’ Leben zu schützen. Für meinen Cousin wäre es jedenfalls mit Sicherheit besser gewesen.« Haegr grunzte und spie aus. Torin sagte: »Ich bin sicher, Sie an seiner Stelle hätten einen Weg gefunden, Ihrer beider Leben zu retten, edler Skorpeus. Zweifellos hätten die Sterne Sie gewarnt, sich fern zu halten. Vielleicht haben sie das sogar … und Sie waren deshalb nicht
zugegen, als der Angriff erfolgte.« »Die Sterne waren mir in der Tat wohlgesinnt. Obwohl es mich natürlich sehr betrübt, dass mein Cousin nicht auf meine Warnungen gehört hat.« Ragnar betrachtete den ungeschlachten Begleiter des Navigators. Er hörte dem Wortwechsel aufmerksam zu und zeigte keine Gefühlsregung. Er hatte etwas an sich, das von harter Befähigung sprach und Ragnar an die Eliteeinheiten der Imperialen Garde erinnerte. »Haben die Sterne nicht auch geweissagt, dass Sie Celestarch würden?«, sagte Torin glatt. Skorpeus bedachte ihn mit einem herablassenden Lächeln. »Sie glauben, die Tatsache, dass die Ältesten Cousine Juliana gewählt haben, macht die Weissagung ungültig, nicht wahr, Wolfsklinge?« »Für einen ungebildeten Barbaren wie mich würde es so aussehen.« Skorpeus’ Grinsen wurde breiter. Er sah aus wie ein Spieler, der noch einen hohen Trumpf in der Hand hat, den er gerade ausspielen will. »Die Sterne haben nicht vorhergesagt, wann ich Celestarch werde. Nur, dass ich es werde. Das sollten Sie nicht vergessen. Eines Tages werde ich Ihr Herr und Meister sein.« »Ich glaube, Sie missverstehen die Beziehung zwischen Fenris und Belisarius«, sagte Torin. Ragnar bemerkte einen leichten Anflug von Verärgerung in seiner Witterung. Obwohl er es gut verbarg, war ziemlich klar, dass der Wolfskrieger Skorpeus nicht leiden konnte. »Vielleicht definiere ich sie neu, wenn ich auf dem Thron sitze«, sagte der Navigator. Er entfernte sich in der beschwingten Art eines Mannes, der weiß, dass er das letzte Wort gehabt hat. »Was hatte das zu bedeuten?«, fragte Ragnar, als Skorpeus außer Hörweite war. »Dieses erlesene Exemplar eines stolzen und selbstverliebten Navigators glaubt, die Sterne hätten ihm geweissagt, dass er den Thron besteigt«, sagte Torin, während er rasch in die andere Richtung ging. »Falls es dir entgangen sein sollte, er ist davon überzeugt, dass er Ce-
lestarch sein sollte und werden wird. Sein Lakai, der Affe Beltharys, ist ganz seiner Meinung.« »Glaubst du, Skorpeus würde etwas tun, um die Sache ins Rollen zu bringen?« Torin schüttelte den Kopf. »Er würde, wenn er könnte, aber er kann die Wahl der Ältesten nicht beeinflussen.« »Wer sind sie?« »Frag nicht«, sagte Haegr. »Trink lieber Bier.« »Ich bin neugierig«, erwiderte Ragnar. »Sie sind sehr mysteriös«, sagte Haegr. »Und du willst es wirklich nicht wissen.« »Zur Abwechslung hat mein großer Freund einmal Recht«, sagte Torin. »Inwiefern mysteriös?«, wollte Ragnar wissen. »Die meisten Leute bekommen sie nie zu sehen. Für die meisten Leute im Palast sind sie so unsichtbar wie Haegrs gesunder Menschenverstand.« »Ich hoffe, ich muss dich nicht schon wieder verprügeln, Torin.« »Jeder weiß, dass gesunder Menschenverstand eine Eigenschaft ist, Haegr, und deshalb zwar erkennbar, aber nicht wahrnehmbar ist.« »Dann ist es ja gut.« »Du willst damit sagen, niemand bekommt die Leute zu sehen, die den Herrscher über das Haus Belisarius bestimmen.« »Es gibt Kuriere, die sich in die Gewölbe in der Tiefe wagen. Sie sind blind. Und die Navigatoren begeben sich manchmal ebenfalls dorthin. Und ich glaube, dass Valkoth schon dort war. Und auch Skander.« »Dort unten sind Gewölbe?« »Unter dem Palast ist ein Labyrinth, Ragnar. Es ist befestigt und vom Rest der Unterwelt durch einen zehn Meter dicken Streifen verstärkten Plastibetons getrennt. In den Gängen wimmelt es von Sensoren und Fallen und Detektoren. Die Ältesten leben in diesen Gewölben.«
»Vielleicht fürchten sie einen Anschlag«, gab Ragnar zu bedenken. »Du hast eine rasche Auffassungsgabe, jung Schwarzmähne«, sagte Haegr sarkastisch. »Und vielleicht fürchten sie etwas anderes«, sagte Torin. »Was meinst du damit?« »Hier und jetzt ist weder die Zeit noch der Ort, um darüber zu reden.« »Das ist eines der schuldbeladenen Navigatorengeheimnisse, richtig?« »Spotte nicht, Ragnar. Es könnte sein.« »Wollen wir reden oder trinken?«, drängte Haegr. »Zweifellos ist dir aufgefallen, dass unsere Schritte uns in die Richtung der Schweber-Hangars führen, Freund Haegr«, sagte Torin. »Und zweifellos hat dein gewaltiger Verstand daraus geschlossen, dass uns eines dieser Gefährte ins Tavernenviertel bringen wird. Viele von uns können zwei Dinge gleichzeitig, wie zum Beispiel gehen und reden.« »Willst du damit sagen, ich kann das nicht?« »Du hast schon oft deine Fähigkeiten in dieser Beziehung unter Beweis gestellt. Jetzt gerade bewältigst du beides mit Eifer und Sorgfalt. Warum sollte ich also etwas anderes andeuten?« »Du hast so eine glatte Art an dir, die mir nicht gefällt, Torin. Vielleicht wäre Prügel angebracht.« »Spar dir deine Energie fürs Trinken, mein Freund.« »Ich werde deinen Rat in Erwägung ziehen.« Torin führte sie zu einem ausgedehnten Hangar irgendwo hoch oben an der Seite des Palasts. Aus seinem höhlenartigen Innern bot sich ihnen ein Panoramablick auf die Stadt. Eine Reihe riesiger Bauwerke leuchtete in der Ferne, jedes Fenster ein kleines Leuchtfeuer. Die Positionslichter bildeten Leuchtstreifen am Himmel. Gigantische Züge wanden sich zwischen den Gebäuden und der endlosen Flut Zehntausender von Menschen hindurch. Es roch nach Umweltgiften. Ragnar fühlte sich sehr weit weg von der kalten Wildnis auf Fenris.
Torin führte sie zu einem kleinen Vier-Personen-Schweber. Er trug das Kennzeichen von Haus Belisarius, ein schnittiges, insektenartiges Gefährt in den Farben Schwarz und Silber. Sie stiegen ein, und Torin übernahm die Steuerung, mit der er sich so gut auszukennen schien wie ein Thunderhawk-Pilot. Er ging rasch die Beschwörungsformeln vor dem Start durch, und der Antrieb erwachte zum Leben. Augenblicke später glitt das Vehikel rasch hinaus in die Nacht. Ragnar fühlte sich vorübergehend desorientiert, als er auf das unter ihm weggleitende Gemisch aus Metall und Plastibeton schaute. Sie waren tausend Meter hoch und stiegen. Torin richtete seine Aufmerksamkeit auf ihre Umgebung und die Instrumentenanzeigen in der Holokugel. Hinter ihnen wurde der Belisarius-Palast kleiner. Aus dieser Perspektive konnte Ragnar erkennen, dass es sich um einen riesigen schwarz-silbernen Rhombus mit eingestanztem Hauswappen handelte. Er wusste jetzt, dass der Wolkenkratzer nur die Spitze eines Eisbergs war. Die eigentliche Domäne des Hauses reichte tief unter die Oberflache bis in die mysteriösen Gewölbe. Was mochte dort unten vor sich gehen? Warum waren die Navigatoren so heimlichtuerisch? Was verbargen sie? Ein weiterer Blick verriet ihm, dass sämtliche Schweber Routen am Himmel folgten, die ebenso ausgeprägt waren wie die Straßen unter ihnen. Es gab große freie Flächen, die von einsamen Gebäuden besetzt waren und die gemieden wurden. Er fragte nach dem Grund. »Das sind die Heime der anderen Häuser. Niemand verletzt ihren Luftraum ohne Einladung und Freigabe. Andernfalls riskiert man, abgeschossen zu werden.« Das verstand Ragnar. Derartige Schutzzonen waren der einfachste Weg, einen Oberflächenangriff zu verhindern, und ermöglichten jedem Kanonier im Gebäude freie Sicht auf jedes potenzielle Ziel − was unmöglich wäre, wenn es im Himmel über ihnen von Fliegern wimmeln würde. Es war so, wie er vermutet hatte, aber er war froh, dass seine Überlegungen Bestätigung fanden. »Ich dachte, die Inquisition und die Arbites hätten ein engmaschi-
ges Sicherheitsnetz auf Terra gespannt.« »Das haben sie auch, aber nicht überall. Du bist jetzt im Navigatorviertel. Die ganze Insel ist eine freie Zone. Die Familien werden in Ruhe gelassen und unterhalten ihre eigene Sicherheit. Die Inquisition kommt nur hierher, wenn sie dazu aufgefordert wird oder ganz offensichtlich Gesetze übertreten werden. Die Familien und die Inquisition haben wenig füreinander übrig.« »Aye«, sagte Haegr. »Die schwarz gewandeten Bastarde hassen die dreiäugigen Teufel. Keiner von ihnen ist auch nur einen Furz wert. Abgesehen natürlich von ein oder zwei Belisariern.« »Es gefällt dir hier nicht?«, fragte Ragnar. »Der Planet widert mich an. Ich wünschte, ich wäre wieder auf den Eisfeldern von Fenris und hätte eine Herde Elche vor mir und einen Speer in der Hand.« »Das ist seltsam«, sagte Torin. »Damals, als du den alten Adrian vor diesen Fanatikern gerettet hast, hat er dir, glaube ich, die Erfüllung deines Herzenswunsches angeboten. Er hätte dich nach Hause geschickt, wenn du darum gebeten hättest. Stattdessen wolltest du eine Fleischpastete.« »Es war eine große Pastete«, sagte Haegr. Er klang fast ein wenig verlegen. »Das ist wahr«, sagte Torin. »Sie haben einen Ochsen geschlachtet und in Teig eingewickelt. Und Haegr hat sie auch ganz allein aufgegessen.« »Das war meine Belohnung. Mir ist nicht aufgefallen, dass du irgendwelche Kugeln abgefangen hast.« »Stimmt es, dass du mehrere Bedienstete zu Tode getrampelt hast, als du zum Tisch gestürmt bist?«, sagte Torin. »Nein. Niemand würde es wagen, sich zwischen mich und so eine Belohnung zu stellen.« Ragnar hörte den beiden amüsiert zu. Ihr Geplänkel erinnerte ihn an die fröhlichen Beleidigungen, die er und Sven sich oft gegenseitig an den Kopf geworfen hatten. Aber er kam sich hier immer noch fehl
am Platz vor. Er registrierte, dass der Schweber an Höhe verlor und sich einer Gruppe nah beieinander stehender Gebäude näherte. Der Himmel über ihnen leuchtete strahlend hell. »Du hast gesagt, die Inquisition kommt nicht hierher.« »Wenig unterhalb eines offenen Krieges zwischen den Häusern würde ihr einen Grund liefern«, erklärte Torin. »Die Navigatoren geben genügend Bestechungsgelder aus, um einen kleinen Planeten dafür kaufen zu können. Damit bewahren sie sich ihre Privatsphäre.« Ragnar war ein wenig schockiert über das Bestechungsgerede. Dass das Herz des Imperiums so korrupt sein sollte, enttäuschte ihn und rief ein Gefühl der Naivität in ihm wach. Die anderen schienen es gelassen hinzunehmen. Vielleicht würde er das auch tun, wenn er so lange hier war wie sie. »Willst du damit sagen, dass die Inquisition Bestechungsgelder annimmt?« »Nichts so Offensichtliches«, sagte Torin. »Du musst verstehen, wie das Imperium funktioniert, Ragnar. Alle Hohen Lords auf Terra verbringen ihre Zeit damit, gegeneinander zu intrigieren und um Macht, Einfluss und Prestige zu ringen. Dafür brauchen sie Geld. Die Navigatoren haben viel Geld. Die Hohen Lords und viele hochrangige Beamte sorgen dafür, dass die vertrauenswürdigen Verbündeten, die sie mit Geld versorgen, nicht belästigt werden.« »Der ganze Planet wäre besser daran, wenn wir Virusbomben auf ihn abwerfen würden«, sagte Haegr. »Nur nicht auf den Imperatorpalast.« Torin sah ihn an. »Und natürlich auch nicht auf die Belisarier«, fügte Haegr hinzu. »Nur du könntest auf die Idee kommen, Virusbomben auf das Heilige Terra abzuwerfen«, sagte Torin. »Das würde die Lage verbessern«, sagte Haegr. »Sag das nicht zu laut, wenn jemand anders mithören könnte.« »Was willst du machen, wenn ich es doch tue?« »Ich gehe zu deiner Beerdigung, nachdem die Zeloten dich auf dem
Scheiterhaufen verbrannt haben.« »Lass sie nur kommen. Ich fürchte mich weder vor ihnen noch vor der Inquisition. Haegr fürchtet sich vor nichts in dieser Galaxis.« »Zeloten?«, fragte Ragnar. »Religiöse Fanatiker. Auf Terra wimmelt es von ihnen, wie nicht anders zu erwarten. Es ist nicht alles nur Korruption und Luxus. Nicht jeder kann sich das leisten. Hier auf dem heiligen Boden gibt es Milliarden, deren einziger Trost ihr Glaube ist. Ein gewisser Prozentsatz davon findet Trost darin, jeden zu töten, der nicht ihrer Vorstellung von Tugendhaftigkeit entspricht.« »Das ist einer der Gründe, warum die Navigatoren es vorziehen, ganz für sich inmitten dieses Schlammmeers zu leben«, sagte Haegr. »Die Zeloten hassen sie. Sie nennen sie Mutanten.« »Sie würden Navigatoren töten?«, entfuhr es Ragnar. »Was glaubst du, wer Adrian Belisarius getötet hat?«, wollte Torin wissen.
7. Kapitel
Die Taverne war mit Hunderten von Leuten brechend voll. Raumfahrer, Soldaten sowie Kaufleute und ihre Leibwächter von tausend Welten hatten sich hier versammelt. Musik dröhnte ohrenbetäubend. Halb nackte Frauen tanzten auf Tischen, während andere den Kunden Speisen und Getränke brachten. Der Gastraum war so eingerichtet, dass er Ähnlichkeit mit der hölzernen Taverne auf irgendeiner Grenzwelt hatte, aber Ragnars Sinne verrieten ihm, dass das nur eine Illusion war. Die Träger an der Decke waren tatsächlich aus entsprechend bemaltem Plastibeton und nicht aus Holz. Die Wände waren Paneele auf Stein. Seltsamerweise war das Kaminfeuer echt. An den Wänden hingen viele Tierköpfe. Ragnar erkannte einen Wolf und einen Elch. Komisch, dass man Abarten dieser Tiere auf Tausenden von Welten fand. Ragnar nahm an, dass sie von den ursprünglichen Auswanderern von der Erde mitgenommen worden waren. Dieser Gedanke führte ihn wieder zurück zu der Erkenntnis, dass hier alles begonnen hatte. Dies war die Heimatwelt des Imperators − von hier stammte die Menschheit ursprünglich. Das war ein Ehrfurcht gebietender Gedanke, obwohl er bezweifelte, dass er gerade einem der Anwesenden ringsumher durch den Kopf ging. Es war ein Zeugnis für den Kosmopolitismus der Menge, dass niemand ihnen auch nur die geringste Beachtung schenkte, als Torin und Haegr einen Tisch ansteuerten. Daran war Ragnar nicht gewöhnt. Auf jeder Welt außer auf Fenris konnte ein Wolfskrieger damit rechnen, mit Ehrfurcht und nicht wenig Ehrerbietung begrüßt zu werden. Natürlich war es auch möglich, überlegte Ragnar mit einem Blick auf die Menge, dass die Gäste ganz einfach zu betrunken waren, um drei gerüstete Riesen in ihrer Mitte zu bemerken. Haegr hatte bereits nach Essen und Trinken gerufen. Der Wirt be-
grüßte ihn wie einen lange vermissten Bruder. »Das Übliche?«, fragte er. »Das Übliche!«, bellte Haegr. Augenblicke später wurde ein gewaltiger Krug Ale vor Ragnar abgestellt. »Skal!«, röhrte Haegr und hob seinen Krug. »Willkommen auf Terra, Ragnar«, sagte Torin. »Freut mich, hier zu sein«, sagte Ragnar und stellte zu seiner Überraschung fest, dass es stimmte. Das Ale war kalt und schmeckte gut. »Es ist nicht so gut wie fenrisisches Ale, aber es reicht«, sagte Haegr. Er hatte bereits einen Krug ausgetrunken und nahm sich den nächsten vor. Eine Menge Ale war nötig, um die Fähigkeit eines Space Marines auszuschalten, Gifte abzubauen, und Haegr half offenbar mit einem Becher Whisky nach. Augenblicke später wurde vor ihm etwas auf den Tisch gestellt, das wie zwei am Spieß gebratene Schafe aussah. »Werden wir all das essen?«, fragte Ragnar. »Das ist meins«, sagte Haegr. »Da kommt eures!« Seine Geste machte klar, dass sie noch ein gebratenes Tier bekommen würden. »Für Haegr ist das nur ein Appetithappen«, bemerkte Torin und fügte hinzu, als er Ragnars Blick sah: »Ich mache keine Witze. Greif zu, sonst hat er deines auch verschlungen, bevor du den Mund aufmachen kannst.« Von der anderen Seite des Tisches kam ein Geräusch wie von einem Kettenschwert, das ein Stück Fleisch durchschneidet. Ragnar nahm mit Erstaunen zur Kenntnis, wie viel von dem Fleisch an einem von Haegrs Schafen bereits verschwunden war. Zwei Brotlaibe und eine entsprechende Menge Butter hatten es begleitet. Er riss sich selbst einen Schenkel ab und biss hinein. Es schmeckte gut. Der Bratensaft lief über seine Zunge und in seine Kehle. Er spülte alles mit mehr Ale, etwas Whisky und dann etwas Brot hinunter. Als er aufschaute, sah er zu seiner Überraschung, dass Torin nach Art der Einheimischen Messer und Gabel benutzte und sein Essen sorgfältig in kleine, bissengroße Portionen zerteilte, bevor er sie aß.
Ein gläserner Pokal von der Größe eines Eimers enthielt Wein. Das war sein einziges Zugeständnis an die fenrisische Art zu essen. Er lächelte Ragnar an. »Sensorischer Traumwein. Er enthält irgendwelche starken halluzinogenen Pilze. Die Wirkung ist ziemlich stark. Ich stelle mich mit solchen Dingen gern auf die Probe.« Haegrs Rülpsen klang wie Donnergrollen. »Torin ist völlig dekadent geworden. Ich mache dafür den Einfluss dieser verweichlichten Erdlinge verantwortlich. Nur meine regelmäßigen Prügel halten noch einen Anschein wahrer fenrisischer Härte in ihm aufrecht.« »Pass auf deinen Arm auf, Ragnar«, sagte Torin. »Haegr hätte beinah irrtümlich danach gegriffen. Mehrere Männer haben nach einem gemeinsamen Essen mit ihm schon Prothesen gebraucht.« »Ein skurriles Gerücht, das von meinen Feinden in die Welt gesetzt wurde«, sagte Haegr, während er das zweite Schaf mit den Zähnen zerriss. »Ich bin kein Ork.« »Manchmal ist das schwer zu sagen«, erwiderte Torin. »Hat deine Mutter deinen Vater gut gekannt? Ich bin ganz sicher, dass deine Haut manchmal einen grünlichen Schimmer hat.« »Der einzige grünliche Schimmer hier ist der auf deiner Haut, und der kommt von deinem Neid auf meine männlichen Tugenden.« »Wenn ich mich recht entsinne, hast du gestern nach unserem Trinkgelage auch ein wenig grün ausgesehen. Da hast du behauptet, du hättest dir das letzte Alligator-Curry verkneifen sollen, obwohl ich den Verdacht habe, dass es eher die beiden Fässer Feuerwein waren, die dir nicht so gut bekommen sind.« »Woher willst du das wissen?«, fragte Haegr selbstzufrieden. »Da warst du doch längst bewusstlos. Was mich daran erinnert, dass du mir noch die verlorene Wette schuldig bist.« Ragnar sah sich in der Taverne um. Der Whisky hatte seinen Bauch gewärmt und das Essen schmeckte gut, aber aus irgendeinem Grund fühlte er sich unbehaglich. Seine Nackenhaare kribbelten ein wenig. Er spürte, dass er unter feindlicher Beobachtung stand, und versuchte die Quelle auszumachen. Mittlerweile sahen sie viele Leute an, aber
das konnte auch daran liegen, dass sie wetteten, wie viel Haegr essen konnte. Wenn er aufmerksam lauschte, konnte er sogar hören, wie an den anderen Tischen Wetten abgeschlossen wurden. Es gab auch noch andere Gespräche, über Politik und den üblichen Tavernenklatsch. Einige der Fremden redeten über den Tod von Adrian Belisarius, und ihre Unterhaltung wurde recht lebhaft. Anscheinend war der ehemalige Celestarch nicht der einzige hochrangige Navigator, der kürzlich gestorben war, offenbar waren auch auf andere Attentate verübt worden. Immer wieder schnappte Ragnar das Wort Bruderschaft auf. Er wollte schon aufstehen, hinübergehen und sich danach erkundigen, aber ein warnender Blick von Torin verriet ihm, dass dies keine gute Idee war. »Anscheinend wird über Adrian Belisarius’ Tod viel geredet«, sagte Ragnar. Torin zuckte die Achseln. »Männer reden, worüber Männer eben reden.« Ragnar ließ sich das Gehörte durch den Kopf gehen. »Ist er wirklich bei einem Schweberabsturz ums Leben gekommen?« »Das könnte man sagen.« Haegr grunzte etwas, aber seine Worte waren wegen des vielen Essens in seinem Mund unverständlich. Trotz des freundlichen Betriebs fühlte Ragnar sich immer unbehaglicher. Ein paar Leute beäugten ihn feindselig. Als er darüber nachdachte, fiel ihm wieder ein, dass mehrere Freunde dieser Männer die Taverne vor Kurzem verlassen hatten. »Anscheinend sind wir hier nicht sehr beliebt.« »Wolfskrieger sind das nie auf Terra«, sagte Torin. »Warum nicht?« »Frag die Einheimischen, nicht mich! Man sollte meinen, dass sie uns dankbar sein müssten nach allem, was wir für sie getan haben.« Ragnar trank sein Ale und ließ sich die Sache durch den Kopf gehen. Er konnte einfach zu den Fremden gehen und sie herausfordern. Als sie seinen Blick sahen, standen die Männer auf und huschten zur Tür. Vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht waren sie einfach nur
neugierig oder mochten Fremdweltler ganz allgemein nicht. Andererseits konnten sie Zeloten sein, obwohl sie sicherlich keinen Eifer hatten erkennen lassen, noch zu bleiben, als es so ausgesehen hatte, als wolle er mit ihnen reden. Immer mehr Essen wurde auf den Tisch gestellt, aber Haegr und Torin schienen um die Wette zu trinken, um sich aufzuwärmen. Becher mit Whisky und große Alekrüge standen auf dem Tisch, und beide schienen in der Lage zu sein, sie in kürzester Zeit zu leeren. Ragnar trank nur noch schlückchenweise. Die Atmosphäre drohender Gefahr hatte sich nicht verändert − eher hatte sie sich noch verdichtet. Ein Blick verriet ihm, dass Torin zwar genauso ausgiebig zu trinken schien wie Haegr, aber ebenfalls heimlich ihre Umgebung studierte. Er tat es äußerst verstohlen, und hätte Ragnar nicht dasselbe getan, wäre es ihm nicht aufgefallen. Als sich ihre Blicke trafen, zwinkerte Torin ihm heimlich zu. Ragnar beruhigte sich sofort. Wenn es Ärger gab, war er nicht der Einzige, der damit rechnete. Ein Berg von Essen tauchte vor Haegr auf. Er schmatzte mit den Lippen und bedeutete der Kellnerin, mehr zu bringen. Brote, Bratenstücke und Fische von der Größe kleiner Haie verschwanden weiterhin zusammen mit kleinen Bergen von Butter und Käse. Mehr Männer waren gekommen. Manche von ihnen brachten den seltsamen Gestank von Hass und Bedrohung mit sich. Er war scharf wie ein Messer und bitter wie die Seele eines Geizhalses, der eine Goldmünze verloren hatte. Ragnars Nackenhaare sträubten sich noch mehr, aber abgesehen von Torin war er der Einzige in der Taverne, der nicht diese merkwürdige Witterung an sich hatte oder Anzeichen von Unbehagen an den Tag legte. Alle Augen waren jetzt auf Haegr gerichtet. Ausrufe ungläubigen Staunens wurden laut, als die Fressorgie ihren Fortgang nahm. Haegr fraß sich jetzt durch ganze Knochen, zermalmte sie mit den Zähnen und verschlang sie. Torin hatte sich erhoben, um Haegr auf die Schulter zu klopfen und ihm zu gratulieren, aber Ragnar bekam mit,
wie er sich vorbeugte und seinem Kameraden etwas ins Ohr flüsterte. Haegrs Wangen waren gerötet, und auf seiner Stirn stand der Schweiß. Obwohl seine ganze Konzentration auf seine Fressorgie gerichtet zu sein schien, nickte er kaum merklich und trank einen großen Schluck Ale. Torin setzte sich nicht wieder hin, sondern hielt vielmehr nach der Quelle der drohenden Gefahr Ausschau. Ein Mann stieß gegen Ragnar. Er hatte eine verärgerte Miene aufgesetzt, als nehme er es übel, geschubst worden zu sein. Der Ärger war echt, aber der Grund war es nicht. Seinem Gestank konnte Ragnar entnehmen, dass er bereits vor ihrer Berührung am Rande einer Berserkerwut gestanden hatte. Die Pupillen des Mannes hatten die Größe von Stecknadelköpfen, und aus seinem Mundwinkel rann ein dünner Speichelfaden. Aus der Nähe witterte Ragnar auch den stechenden, ungesunden Chemikaliengeruch seines Schweißes. An der Stirn des Mannes pulsierte eine Ader. Seine Lippen waren zu einem Knurren gebleckt und enthüllten gelbliche Zähne. »Aus dem Weg, Fremdweltlerschwein«, lallte er. Die meisten hätten angenommen, seine undeutliche Sprechweise sei auf Alkohol zurückzuführen, aber Ragnar wusste es besser. Dies war eine der vielen Nebenwirkungen von Furie, einem alchemischen Gebräu, das in der Schlacht Männer zu Berserkern werden ließ. Das Imperiumsmilitär hatte den Einsatz der Droge schon vor Jahrhunderten verboten, weil sie die Truppen unzuverlässig machte und ihre Empfänglichkeit für die Einflüsse des Chaos erhöhte. Immerhin war sie bei mehreren planetaren Aufständen, bei deren Niederschlagung Ragnar geholfen hatte, von den Ketzern eingesetzt worden. Die Entdeckung, dass die Droge auch hier auf der Erde benutzt wurde, schockierte ihn. Es konnte ihn nicht einschüchtern. Ein Mann auf Furie konnte launisch, unglaublich stark und nahezu immun gegen Schmerzen sein, aber das machte ihn nicht zu einer Bedrohung für einen Wolfskrieger. Der Mann sah das offensichtlich ganz anders. Er streifte sich etwas über die Hand und knurrte: »Ich sagte, aus dem Weg, Fremdweltlerschwein. Ich will mich nicht noch mal wiederholen müssen.«
Ragnar witterte mehr Männer, die sich ihm näherten. Ihr Schweiß hatte denselben ungesunden Geruch. Ragnar grinste und zeigte dabei die Zähne. Wenn der Mann so benebelt war, dass er danach nicht zurückwich, hatte er sich die Konsequenzen selbst zuzuschreiben. Der Fremde schlug nach ihm. Der Schlag kam schneller, als er von einem normalen Menschen gekommen wäre, doch Ragnar parierte ihn mit Leichtigkeit. Eine Hand schloss sich um das Handgelenk des Fremden. Ein Stechen zuckte durch seinen Arm, als ein blauer elektrischer Bogen von dem Band an den Fingern des Mannes auf Ragnars Arm übersprang. Der Mann trug elektrische Cestii, welche die Kraft eines Hiebs durch einen elektrischen Schlag verstärkten. Auf Maximum eingestellt, konnte der Stromschlag einen Mann betäuben oder sogar töten, wenn er ein schwaches Herz hatte. Ragnar lächelte und verpasste dem Angreifer beiläufig eine Ohrfeige. Zähne flogen in alle Richtungen, und Knochen brachen, als sein Gegner durch den Schankraum flog. Er landete auf einem Tisch, rappelte sich aber sofort wieder auf, da die Drogen in seinem Körper ihn offenbar zäher machten. Einer der Männer am Tisch war verärgert darüber, plötzlich einen Fremden in seinem Essen zu haben. Er zeigte sein Missvergnügen, indem er dem Angreifer eine Weinflasche über den Kopf zog, die daraufhin zerbarst. Das war ein Fehler − der Berserker fuhr herum und ging ihm an die Kehle. Rotwein und Blut vermischten sich, da ihm beides über das Gesicht lief. Schreie, Rufe und Warnungen ertönten, während sich das Chaos ausbreitete und die Schlägerei um sich griff. Ragnar machte mehr Angreifer aus, die auf ihn losgingen. Sie waren ein schurkisch aussehender Haufen. Viele hatten bionische Hände oder Augen. Einige der Prothesen waren mit ausfahrbaren Dolchen versehen, die wie Nägel aus den Fingerspitzen ragten. Manche trugen elektrische Cestii, andere beschwerte Schlagstöcke. Alle warfen sich mit einer unbedachten Wut auf Ragnar, die von den Drogen in ihrem Körper kündete. Ragnar packte den Ersten am Hals, hob ihn hoch und schleuderte ihn auf seine Freunde, sodass drei von ihnen zu Bo-
den gingen. Ein anderer stürzte sich mit ausgestreckten Krallen auf ihn, um Ragnar die Augen auszustechen. Ragnar erwischte ihn an seiner Armprothese, drehte sich wegen der Hebelwirkung und zog. Er riss das mechanische Glied in einem Funkenregen sauber aus dem Gelenk und benutzte es als Keule, um seinen Angreifer zu Boden zu schlagen. Dann versetzte er ihm einen Tritt an den Kopf. Weitere Hiebe regneten jetzt auf ihn herab. Elektrische Cestii erzeugten Funken auf seiner Rüstung, und es roch plötzlich stark nach Ozon. Ragnars Rüstung konnte weit mehr verkraften als das, also ignorierte er es und konzentrierte sich darauf, seine Gegner niederzuschlagen. Er schlug mit den Fäusten um sich. Jeder Hieb fällte einen Mann, aber eine überraschend hohe Anzahl von ihnen stand wieder auf und ging erneut in die Offensive. Es schien offensichtlich zu sein, dass diese Männer speziell zu dem Zweck geschickt worden waren, diese Schlägerei anzufangen, und sich in keiner Weise zurückhielten. Die Drogen machten jedes Zögern unmöglich. Sie hätten ihn getötet, wenn sie gekonnt hätten. Tatsächlich hätten sie mittlerweile einen normalen Menschen zehnmal getötet. Zum Glück war Ragnar ein Space Marine. Seine Rüstung war wie ein Teil seines Körpers, und seine Knochenstruktur und Muskulatur war so modifiziert worden, dass er eine Menge verkraften konnte. Dennoch hatte er mittlerweile ein paar Schnitte und Schrammen abbekommen. Er spürte das Brennen auf der Haut, wo sein ultragerinnungsfähiges Blut bereits eine Kruste darauf gebildet hatte. Er schaute sich nach seinen Kameraden um. Torin schwang an einem der Suspensor-Kronleuchter hin und her. Er pflanzte einem Angreifer den Fuß ins Gesicht, bevor er losließ und in eine Gruppe anderer Angreifer flog. Jede seiner Bewegungen war schnell und sicher, jeder Hieb endgültig. Eher hatte er noch weniger Grund zur Sorge als Ragnar. Er bewegte sich so schnell, dass es selbst für einen Mann mit einer Schusswaffe schwer gewesen wäre, ihn richtig ins Visier zu be-
kommen, und das war auch eindeutig seine Absicht. Dann geschah es. Bis hierher hatte Haegr die Schlägerei ringsumher ignoriert und sich darauf konzentriert, sich voll zu stopfen. Einer der Berserker prallte auf den Tisch, sodass Essen in alle Richtungen flog und Wein, Whisky und Ale umherspritzte. Haegr sah ihn einen Moment an, als könne er nicht ganz begreifen, was passiert war. Ein Ausdruck der Verwirrung huschte über sein Gesicht, als er nach Essen griff, das nicht mehr da war. Dann verengten sich seine Schweinsäuglein, und er stieß ein lautes Gebrüll aus. Ein Schwenk seines Arms fegte den Berserker vom Tisch. Haegr erhob sich wie ein Mammut aus einem Schlammloch. Er hatte dieselbe Masse und Kraft, aber plötzlich war er noch größer und bedrohlicher. Er hob den Metalltisch auf. Die Bolzen, die ihn am Boden hielten, brachen ab, und er warf den Tisch der Masse anstürmender Fanatiker im Drogenrausch entgegen. Der Tisch kegelte sie über den Haufen, und sie blieben unter seiner Last liegen. Haegr streckte die Arme aus und hob zwei auf, je einen pro Hand, um dann mit ihnen als Keulen ihre Kameraden bewusstlos zu schlagen. Er pflügte durch sie wie ein außer Kontrolle geratener Behemoth, so unaufhaltsam wie ein anstürmendes Rhinozeros. Binnen Sekunden hatte er eine Spur aus verstümmelten und ramponierten Gegnern hinter sich gelassen. Jeder, der aufzustehen versuchte, wurde einfach niedergestampft. Hände und Beine, ob Prothesen oder Knochen, splitterten und brachen. Ragnar warf sich wieder ins Getümmel und hieb auf seine Gegner ein, wobei er darauf achtete, nur solche auszuwählen, die nach der Droge stanken. Plötzlich stand er Torin gegenüber. Sein Kamerad schlug gerade die Köpfe einiger Berserker zusammen, bis sie nicht einmal die Droge noch wach halten konnte. »Am besten schnappen wir uns Haegr und verschwinden von hier«, rief er. »Warum?« »Es könnte die Celestarchin in Verlegenheit bringen, wenn wir einen der Arbites verprügeln, die zur Untersuchung des Falles kommen
werden.« »Klingt vernünftig«, sagte Ragnar mit einem Blick auf Haegr. Er hatte irgendein Stück Fleisch am Spieß aufgehoben und schlug damit auf jene rings um ihn ein. Ab und zu hielt er inne, um ein Stück Fleisch herauszureißen und zu verspeisen. »Aber ihn hier herauszuschaffen könnte leichter gesagt als getan sein.« Torin nickte. »Er amüsiert sich prächtig, aber es ist nur zu seinem Besten. Du nimmst einen Arm, ich den anderen.« Ragnar nickte, und sie stürmten zu Haegr. Ragnar schnappte sich den linken Arm, Torin den rechten, und gemeinsam zerrten sie ihn Richtung Ausgang. Obwohl er durch das Stück Fleisch am Spieß abgelenkt war, hatten sie das Gefühl, an einem Bullen zu zerren. Es bedurfte mehrerer Versuche. Ab und zu wurden sie unterbrochen, wenn Haegr Hiebe an die überlebenden Berserker austeilte. Aber schließlich zerrten sie ihn hinaus in die Nachtluft und begannen damit, ihn zu beruhigen. »Lasst mich los«, sagte Haegr. »Da sind noch Feinde, die ich verprügeln muss!« »Wir machen besser, dass wir verschwinden. Die Sirenen, die du hörst, sind die Arbites.« »Na und? Wir können sie alle erledigen. Ihr wisst, dass wir das können.« »Aye, aber es könnte Lady Juliana Ungemach bereiten, wenn wir in den Straßen des Handelsviertels einen Haufen tote oder sterbende Polizisten zurücklassen.« Haegr war nicht überzeugt. Ragnar konnte die Positionslichter vieler Schweber sehen, die sich ihnen näherten. Auch die Scheinwerfer normaler Wagen. »Sie sind nicht unsere Feinde«, sagte er. »Sie tun lediglich ihre Pflicht, wie sie es für richtig halten. Außerdem müssen wir ohnehin noch mal hierher zurück. Wir müssen ein Rätsel lösen.« »Und das wäre?«, fragte Haegr. »Warum diese Männer uns angegriffen haben und wer sie überhaupt geschickt hat. Die Arbites werden uns dabei nicht helfen, wenn
wir einige von ihnen in die Heiltanks schicken.« »Also gut. Ich sehe, dass ihr beide euch entschieden habt. Ich gehe mit euch und sorge dafür, dass ihr nicht in Schwierigkeiten geratet.« Eine Bewegung auf einem Dach in der Nähe erregte Ragnars Aufmerksamkeit. Er schaute hoch und sah eine schattenhafte Gestalt aus seinem Blickfeld verschwinden. Er war nicht sicher, ob das Licht seinen Augen keinen Streich spielte.
8. Kapitel
Das Läuten einer entfernten Glocke riss Ragnar aus seinen Träumen von Fenris. Er war sofort wach und erhob sich aus dem Bett. Wie durch seine Bewegungen gerufen, tauchten Bedienstete mit Schüsseln voll Elchragout und Fischgulasch auf − traditionellem fenrisischem Essen oder jedenfalls so dicht daran, wie es auf Terra überhaupt nur möglich war. Er war mehr als nur ein wenig erschrocken über die Tatsache, dass sie eingetreten waren, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. »Wer hat euch geschickt?«, fragte er den ältesten Diener, einen hageren Mann mit Raubvogelartigen, kalten, gelassenen Zügen und silbernen Haaren. Er trug die Belisarius-Uniform mehr wie ein Soldat denn wie ein Leibeigener. »Niemand, Herr. Wir haben angenommen, dass Sie gleich nach dem Aufstehen würden frühstücken wollen. Haben wir uns geirrt?« »Nein.« Der Diener wartete höflich ab, ob Ragnar noch mehr zu sagen hatte. Dem war nicht so. Anscheinend waren Bedienstete hier unsichtbar, gingen unaufgefordert ihren Pflichten nach und änderten ihre Routinen nur, wenn sie dazu angehalten wurden. Sie schienen außerdem Zugang zu den meisten Orten zu haben. Ihm ging auf, dass die Diener immer noch warteten. »Weitermachen«, sagte er, und sie nahmen ihre Pflichten prompt wieder auf. Ragnar erinnerte sich an die Ereignisse des vergangenen Abends. Nachdem sie Haegr in den Schweber gezerrt hatten, war Torin über die nächsten Dächer geflogen. Falls dort jemand gewesen war, hatte er sich in den paar Sekunden aus dem Staub gemacht, die sie gebraucht hatten, um aufzusteigen. Entweder das oder er war so gut getarnt, dass er sogar die scharfe Nachtsicht der Wolfskrieger täuschen konnte. Ragnar wusste, dass dies nicht unmöglich war, aber in diesem Fall musste Militärgerät benutzt worden sein. Auch das war
nicht unmöglich, hatte er entschieden. »Herr Ragnar, ich habe eine Botschaft für Sie. Von Herrn Valkoth.« »Ja?« »Nach Beendigung Ihres Frühstücks sollen Sie sich bei ihm melden, damit er Ihnen Ihre Pflichten zuweisen kann. Es eilt nicht, aber er würde es zu schätzen wissen, wenn Sie vor der neunten Stunde bei ihm sein könnten. Das ist in fünfundvierzig Minuten und zweiundzwanzig Sekunden, Herr.« »Danke«, sagte Ragnar, während er mit dem Frühstück begann. »Dann habe ich ja noch reichlich Zeit.« »Ja, Herr.« Auf dem Weg durch den dicht bevölkerten Teil des Palasts grübelte Ragnar wieder über die Ereignisse der vergangenen Nacht nach. Er war sicher, dass es keine einfache Tavernenschlägerei gewesen war. Es sei denn, die Männer gingen hier mit Furie in der Tasche und Gewalt im Sinn trinken. Wahrscheinlich war diese Variante nicht völlig von der Hand zu weisen. Nach allem, was er gehört hatte, ging es im Handelsviertel ziemlich wild zu, zumindest nach den Maßstäben Terras. Viele gingen dorthin, um Dampf abzulassen. Vielleicht war das eine Möglichkeit, dies zu tun. Und vielleicht würden Haegr Flügel wachsen und er fliegen lernen! Zu seiner Überraschung stellte Ragnar fest, dass Torin neben ihm ging. Er musste sich gegen den Wind aus einem Seitengang genähert haben. »Guten Morgen«, sagte er. »Wir freuen uns wohl schon auf die heutigen Pflichten, was?« »Ich weiß nicht mal, wie sie aussehen.« »Na, das wirst du noch früh genug erfahren. Wie hat dir das kleine Abenteuer letzte Nacht gefallen?« »Es war interessant. Obwohl ich mich immer noch frage, warum diese Männer uns angegriffen haben.« »Zweifellos wird der Bericht der Arbites mittlerweile auf Valkoths
Schreibtisch liegen. Er wird uns sagen, ob sich etwas Neues ergeben hat, obwohl ich das bezweifle.« »Warum? Was glaubst du, wer diese Männer waren?« »Es könnten alle möglichen Leute gewesen sein: Zeloten, Schläger, die keine Fremdweltler mögen, Agenten eines anderen Hauses, die uns auf die Probe stellen und die Belisarier in Verlegenheit bringen wollten, oder junge Gecken, die versucht haben, einen langweiligen Abend aufzupeppen.« »Wären diese wirklich so dumm, drei Wolfskrieger anzugreifen?« »Du wärst überrascht, was ein Mann unter Alkohol oder Furie alles zu tun bereit ist.« »Ich wäre sehr überrascht, wenn er uns drei angreifen würde.« »Um ehrlich zu sein, ich auch. Es sah mehr nach einer geplanten Aktion aus, oder?« »Ja.« Sie passierten ein goldenes Freudenmädchen, das lediglich in durchsichtige Gewänder gehüllt war. Die Frau bewegte sich, als sei sie nicht halb nackt. Eine Schwade anziehender Pheromone folgte in ihrem Kielwasser, dann war sie vorbei. »Was meinst du?«, fragte Ragnar, während Torins Blicke dem Mädchen folgten. »Sie ist sehr attraktiv.« »Ich meine wegen der Angreifer.« »Irgendwelche Agenten, obgleich ich keine Ahnung habe, zu wem sie gehören. Oder warum sie uns angegriffen haben. Auf Terra weiß man nie − obwohl die Lage im Moment ein wenig dramatischer ist.« »In welcher Hinsicht?« »In politischer. Zwischen den Häusern gibt es ein ziemliches Hin und Her.« »Ich dachte, das wäre immer so.« »Mehr als sonst.« »Warum?« »Der Alte Sarius, der Repräsentant der Navigatoren vor den Hohen Lords Terras, liegt im Sterben.«
»Warum sollte das irgendeinen Einfluss haben?« »Jeder will mitbestimmen, wer seinen Nachfolger wählt.« »Ist er so mächtig?« Torin lächelte ein paar Serviermädchen zu, die mit einigen Schalen einer parfümierten Flüssigkeit vorbeigingen. »Ganz im Gegenteil. Der Repräsentant der Navigatoren vor den Hohen Lords war immer nur wenig mehr als eine Galionsfigur.« »Warum ist es den Leuten dann so wichtig, wer sein Nachfolger wird?« »Weil der Stimme der Navigatoren große Bedeutung zukommen kann. Das gilt für alle Hohen Lords. Sarius ist machtlos, weil er aus einem eher kleinen Haus stammt und von den bedeutenden Häusern nur geringe Unterstützung erhält. Keines der großen Häuser würde irgendeinem seiner Rivalen gestatten, diese Position einzunehmen. Zumindest hat das kein Haus in den letzten zweitausend Jahren geschafft. Es würde die Vorherrschaft unter den Häusern zementieren. Die Häuser neigen dazu, sich gegen jedes Haus zusammenzurotten, das den Eindruck erweckt, als könne es ihm gelingen. Ein schwacher Mann aus einem schwachen Haus kann von jedem beeinflusst werden. Und man kann sich darauf verlassen, dass er nichts tut, was das Gleichgewicht der Macht stören würde.« »Für mich hört sich das alles ziemlich albern an. Anführer sollten stark sein, nicht schwach.« »Gesprochen wie ein wahrer fenrisischer Krieger, Ragnar, alter Junge. Aber kein Navigator will einen starken Anführer für die Häuser, es sei denn, man wird es selbst.« »Aber diesmal läuft es anders?« »Vielleicht. Es ist immer eine angespannte Zeit. Jedes große Haus hat Angst, dass die anderen versuchen, ihm ein Schnippchen zu schlagen. Sie beobachten einander mit Argusaugen. Es wird viel geschachert und um Einfluss gerungen.« »Faszinierend«, sagte Ragnar. Er wollte nicht zu interessiert erscheinen. All das schien irgendwie unter der Würde eines Wolfskrie-
gers zu sein. Torin gluckste. »Du erinnerst mich an mich selbst, als ich hierher gekommen bin«, sagte er. »Beschäftige dich mit diesen Dingen, Ragnar, und lerne etwas darüber. Sie sind wichtig. Sie könnten bestimmen, gegen wen wir morgen kämpfen oder nächsten Monat oder nächstes Jahr − und warum. Es kann nie schaden, die politische Lage zu verstehen.« »Ein Wolfskrieger kämpft, wo man es ihm sagt.« »Eines Tages bist du vielleicht derjenige, der das Sagen hat.« Sie hatten Valkoths Gemächer erreicht. Der ältere Marine saß bereits hinter seinem Schreibtisch. Es war fast so, als habe er ihn nie verlassen. Ein Stapel Papiere lag verstreut herum. Ragnar fragte sich, ob er und Torin in den Unterlagen erwähnt wurden. »Guten Morgen, Brüder«, sagte Valkoth, als sie eintraten. Er machte einen noch melancholischeren Eindruck als sonst. »Ihr habt einen geschäftigen Tag vor euch und einen abwechslungsreichen noch dazu. Ihr werdet einen Ort sehen, den erst wenige Wolfsklingen zu sehen bekommen haben, zumindest nicht ohne einen Angriffstrupp im Rücken.« »Und der wäre?«, fragte Ragnar. Torin grinste. »Der Feracci-Palast. Ihr werdet Lady Gabriella bei einem Besuch ihrer Tante begleiten. Sorgt dafür, dass sie in einem Stück nach Hause kommt, ja? Geht jetzt zu ihren Gemächern und wartet dort auf sie.« Seine Worte und sein Gehabe waren beiläufig, aber es war klar, dass sie entlassen waren. Wenn Ragnar gedacht hatte, seine eigenen Räumlichkeiten seien opulent, kam er sich jetzt wie ein Almosenempfänger vor. Der kleinste Raum in Gabriellas Suite war noch größer als sein gesamtes Quartier. Sie war mit antikem Mobiliar gefüllt. Bücherregale mit alten, muffigen Wälzern bedeckten die Wände. Ein gewaltiger Schreibtisch dominierte das Gemach. Bei einem Blick aus den hohen, oben runden Fenstern ging Ragnar
auf, dass sogar ihr Balkon größer war als sein Quartier. Alles war mit dem Hausemblem gekennzeichnet. Serviermädchen kamen und gingen nach Belieben. Ragnar wartete. Torin betrachtete die Gemälde an den Wänden. Es handelte sich um Darstellungen fremdartiger Landschaften. »Celebasio«, sagte er. »Was?« »Der Maler. Ein ziemlich berühmter. Von ihm stammen die Wandgemälde in den nördlichen Audienzsälen. Die Belisarier waren seine letzten und vermögendsten Mäzene. Jedes dieser Bilder ist ein Vermögen wert.« Ragnar fand sie schön, aber wenig funktional. »Auf Fenris würden wir sie als Feuerholz benutzen.« »Du bist jetzt nicht auf Fenris, Ragnar, und hör auf so zu tun, als wärst du Haegr. Du müsstest hundert Kilo zulegen und dir einen Schnurrbart wachsen lassen wie ein Walross, bevor du damit durchkämst.« Ragnar lachte wider Willen. »Wer sind die Feraccis?« »Eines der anderen großen Navigatorenhäuser − vielleicht das größte. Sie sind die tödlichsten Rivalen der Belisarier.« »Ich dachte, Gabriella wollte ihre Tante besuchen.« »Die Sache bei den Navigatoren ist die, alter Junge, dass sie alle miteinander verwandt sind. Sie heiraten immer nur andere Navigatoren. Das tun sie, um die Blutlinien zu erhalten, denen sie ihre Gabe verdanken. Aber kein Navigator kann innerhalb seines eigenen Hauses heiraten, und zwar aus Gründen, die du dir sehr gut vorstellen kannst − obwohl ich gehört habe, dass es trotzdem schon vorgekommen ist.« »Also heiraten sie ihre Feinde?« »Sie heiraten, wen sie heiraten sollen. Jede Heirat ist mit Blick auf die Erhaltung der Stärke einer Blutlinie arrangiert. Es gibt große Bücher der Genealogie, in denen die Stärken und Schwächen einer Blutlinie ganz genau aufgeführt sind. Die Navigatoren pflanzen sich ge-
nauso fort, wie die Leute Pferde und Hunde züchten.« Ragnar ließ sich das durch den Kopf gehen. Natürlich hatte er das gewusst oder wenigstens hatten die Lehrmaschinen diese Information in seinen Kopf verpflanzt. Aber Wissen irgendwo im Hinterkopf vergraben zu haben war nicht dasselbe, wie davon aus erster Hand zu erfahren. Vorher war es so etwas wie eine Überlieferung gewesen -interessant, aber scheinbar unnütz. Nun, da er die Beteiligten kannte, kam ihm alles ein wenig inhuman vor. Torin nahm seine Miene zur Kenntnis. »Das ist nun mal ihre Art«, sagte er. »Und die Navigatorenhäuser sind sogar noch älter als die Orden der Space Marines, also muss es funktionieren.« Er deutete auf die prächtige Umgebung. »Manche würden sagen, sie hat ihnen gute Dienste geleistet.« »Manchmal frage ich mich, warum jemand noch mehr haben will, wenn er doch schon so viel besitzt«, sagte Ragnar. »Frag Haegr. Er kann hundert Süßigkeiten essen und will trotzdem noch mehr. Horus war nach dem Imperator der mächtigste Mann im Imperium. Irgendwas trieb ihn zur Rebellion.« »Das Böse«, sagte Ragnar schockiert darüber, dass Torin gerade dieses Beispiel anführte. »Ehrgeiz«, sagte Torin. »Jedenfalls zu Beginn.« »Ich glaube nicht, dass die Runenpriester dich gern so reden hören würden«, sagte Ragnar. »Da bin ich ganz deiner Meinung, alter Junge. Aber , bleib lange genug auf diesem Planeten, und du wirst verstehen, warum ich so denke, wie ich es tue.« Ragnar dachte an Berek, Sigrid und die anderen Wolflords mit ihrem Hunger nach Ruhm und ihrem Drang, den Wolfsthron zu besteigen. Man musste gar nicht bis nach Terra gehen, um Ehrgeiz zu finden. »Für manche Leute gilt einfach, je mehr sie haben, desto mehr wollen sie. Und die Herrscher der Navigatorenhäuser gehören zu den reichsten und mächtigsten Leuten im Imperium. Tatsächlich behaup-
ten manche sogar, sie seien die mächtigsten.« Ragnar kannte diese Ansicht. Ohne Navigatoren würde der Handel praktisch zum Erliegen kommen, und die imperialen Flotten könnten nur noch zwischen nahe beieinander gelegenen Sternen hin und her kriechen. Die Orden der Space Marines wären in einer ähnlichen Lage. Riesige Gebiete des Imperiums würden plötzlich unerreichbar sein und der Barbarei anheim fallen oder von fremden Mächten erobert. Die Navigatorenhäuser hatten das Monopol auf interstellares Reisen. Wenn jemand die zerstrittenen Häuser zu einem einzigen Gebilde zusammenschweißen konnte, würde er nahezu das gesamte Imperium beherrschen, so groß würde seine politische Macht sein. Vielleicht hatte der Imperator deswegen die Gründung so vieler rivalisierender Häuser angeregt, überlegte Ragnar. Vielleicht hatte er die Konsequenzen vorhergesehen, die eine vereinte Navigatorengilde mit sich gebracht hätte. Oder vielleicht ging auch nur seine Phantasie mit ihm durch. Er beschloss zu warten, bis er einen besseren Überblick über die Fakten hatte, bevor er seine Schlüsse zog. »Wie sind die Feraccis?«, fragte er. »Rücksichtslos, besessen und intrigant, mehr als die meisten Navigatoren. Ihren Herrscher, Cezare, halten viele für den ehrgeizigsten Mann im Imperium. Und für den rücksichtslosesten und grausamsten.« »Er hat reichlich Mitbewerber für diese drei Titel, wie es scheint.« »Die Tatsache, dass er in diesem Ruf steht, sollte dir einiges verraten.« »So schlimm kann er doch gar nicht sein.« »Des Teufels Advokat spielen, um mich aus der Reserve zu locken, was? Sehr schlau, alter Junge.« Ragnar schämte sich ein wenig, dass er so leicht zu durchschauen war. Torin redete trotzdem weiter. »Oh, er ist ein glatter Teufel, das stimmt schon, und ein großer Förderer der Künste − das sind alle großen Herrscher. Ich nehme an, sie müssen irgendwas mit ihrem Geld anstellen, aber unter der Fassade
ist er ein Ränkeschmied. Und schlau. Offensichtliche Intrigen verbergen verschlagene Komplotte, Finten in Finten in Finten.« »Du hörst dich an, als würdest du ihn bewundern.« »Ich habe einen gewissen Respekt vor ihm.« »Du hast ihn auch studiert, das ist offensichtlich.« »Ragnar, alter Junge, er ist der Feind. Was er auch sagt, was du auch hörst, was dir auch jemand erzählt, vergiss niemals diese Tatsache. Die Feraccis würden nichts lieber sehen als die Vernichtung der Belisarier oder wenigstens ihre Demütigung. Zwischen den beiden Häusern herrscht eine uralte Feindschaft. Haus Belisarius ist ein bedeutendes Hindernis auf Cezares Weg. Er hat die Angewohnheit, solche Hindernisse aus dem Weg zu räumen.« »Und doch wird Lady Gabriella ihm einen Höflichkeitsbesuch abstatten.« »Rivalen, Partner, Verwandte, so ist es hier. Die Geschäfte müssen trotz allem weitergehen. Dass du vorhast, einem Mann die Kehle durchzuschneiden, heißt noch lange nicht, dass ihr in der Zwischenzeit nicht beide von einem Handel profitieren könnt.« »Das klingt alles sehr kompliziert.« »Nur weiter so, Ragnar. Du spielst den einfältigen Fenrisier sehr gut. Du wirst dich sehr schnell eingewöhnen.« »Und welche Rolle spielst du, Torin?« »Vielleicht habe ich mehr von dem einfältigen Fenrisier an mir, als es den Anschein hat.« Ragnar fand das sehr schwer zu glauben. In diesem Augenblick kam Lady Gabriella aus ihrem Gemach. Sie trug die offizielle Gala-Uniform einer Navigatorin mit dem Abzeichen ihres Hauses auf Jacke und Gürtelschnalle. Am Gürtel hingen ein Schwert in der Scheide und eine Pistole im Halfter. »Wollen wir gehen?«, sagte sie. Ihr Gesicht hatte einen etwas mürrischen Ausdruck. Ragnar fragte sich, ob sie zugehört hatte. Er hatte allmählich den Verdacht, dass jede Kammer in diesem Palast geheime Lauschvorrichtungen enthielt.
»Geschmackvolles Understatement, nicht wahr?«, murmelte Torin, als er den Schweber über dem Feracci-Palast anhielt. Gabriella lachte laut. Ragnar verkniff sich ein Lächeln. Der Feracci-Palast sah aus, als sei seine ein Kilometer hohe Zinne vergoldet. Statuen und Gargyle besetzten Tausende von Nischen in den Mauern und flankierten jedes Buntglasfenster. Daneben hätte ein Imperiumstempel aus der Periode der Hohen Dekadenz elegant ausgesehen. Und doch ließ sich nicht abstreiten, dass es beeindruckend war. Der Palast war viel größer als der von den Belisarius und eindeutig das höchste bis zum Horizont sichtbare Bauwerk. Ragnars scharfe Augen machten darin verborgene Waffenstellungen aus. Er bezweifelte nicht, dass die Mauern dick und stark gepanzert waren. Noch vor der Landung wurden sie abgefangen und von zwei sehr schwer gepanzerten Kampfhubschraubern eskortiert, die beide die Insignien der Feracci trugen, den sich aufbäumenden goldenen Löwen in einem Auge. Er flatterte auch auf den Tausenden von Fahnen, die das Bauwerk schmückten. Bewaffnete erwarteten sie auf dem Landeplatz auf dem Dach. Sie wurden von einem hochgewachsenen, dünnen, jungen Navigator begleitet. Er sah auf eine hagere Art gut aus mit seinen rabenschwarzen Haaren, die ihm bis auf die Schultern fielen. Torin stieg auf der einen Seite aus und Ragnar auf der anderen. Erst als sie sich beide nach offensichtlichen Gefahren umgesehen hatten, gaben sie Gabriella das Zeichen zum Aussteigen. »Seien Sie gegrüßt, Cousine Gabriella«, sagte der junge Mann nach einer förmlichen Verbeugung. Als er sich wieder aufrichtete, lächelte er sie warm an. Er behandelte die beiden Wolfskrieger, als seien sie nicht vorhanden. Ragnar war es nicht gewöhnt, ignoriert zu werden. Es verriet einiges über die Selbstbeherrschung des jungen Mannes, dass er dazu fähig war. Nicht viele Sterbliche waren es. »Seien Sie gegrüßt, Cousin Misha.« Gabriella erwiderte die Verbeugung ebenso höflich. Sie lächelte. Ragnar stellte zu seiner Überraschung fest, dass dieses Paar sich aufrichtig zu mögen schien. Es
sei denn, sie waren beide unglaublich gute Schauspieler. Da sie Navigatoren waren, gab ihm ihre fremdartige Witterung keinerlei Aufschluss darüber. »Mein Vater wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ihn in seinen Gemächern aufsuchen würden«, sagte Misha. »Er wird nicht viel von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen. Er weiß, dass Sie erpicht darauf sind, Ihre Tante zu besuchen.« »Es ist mir eine Ehre«, erwiderte sie. »Das stand nicht auf dem Plan«, sagte Torin so leise, dass nur ein Wolfskrieger ihn verstehen konnte. »Mal sehen, was sich daraus ergibt.« Augenblicke später brachte sie ein Aufzug in die Eingeweide des Feracci-Palasts. Das Schließen der Türen war wie das Zuschnappen einer Falle.
9. Kapitel
Ragnar war überrascht, in welcher Umgebung Cezare Feracci sie empfing. Es war ein Garten, ein riesiges Treibhaus, geodätisch auf einem der niedrigeren Flügel angelegt, die aus den Seiten des turmartigen Palasts sprossen. Es war heiß und feucht und roch nach allen möglichen exotischen Blumen von fremden Welten. Sie wurden über ein Dutzend gewundene Pfade ins Zentrum dieses Ortes geführt. All das gehörte zusammen mit den scheinbar endlosen Sicherheitsüberprüfungen und Sensorabtastungen, die sie unterwegs hatten über sich ergehen lassen müssen, zur Routine. Inmitten einer Ansammlung wunderschöner Orchideen stand ein hochgewachsener Mann. Er ähnelte Misha, obwohl er korpulenter war. Er hatte ein kleines Doppelkinn und Pausbacken. Sein fließendes Gewand verbarg einen Bauchansatz, aber trotz alledem hielt Cezare sich gut. Es war offensichtlich, dass unter dem Fett harte Muskeln waren. Sein Lächeln war angenehm, aber seine Augen waren raubtierhaft. Sein Gesicht war sehr bleich und bildete einen krassen Gegensatz zu den dunklen Augenbrauen und Bartstoppeln. Sein drittes Auge war unter einem Diadem aus reinem Platin verborgen. Zwischen ihm und Misha gab es eine eindeutige Familienähnlichkeit, die noch ausgeprägter war als diejenige zwischen Gabriella und Lady Juliana. Als die Wölfe eintraten, sah Cezare auf. Er musterte sie mit Interesse und ohne Furcht. Er war lediglich neugierig. Seiner Witterung haftete eine seltsame Flauheit an, worin sie sich von derjenigen aller anderen Navigatoren unterschied. Dadurch war er eher noch schwerer zu durchschauen. Ragnar hatte das Gefühl, sich in Gegenwart eines nicht menschlichen Wesens zu befinden, das nur zufällig die Gestalt eines Menschen hatte. Torins Witterung verriet ihm, dass die andere Wolfsklinge ebenso empfand. Andere Witterun-
gen waren präsent, die teilweise von den Düften der Pflanzen überlagert waren. Sie gehörten zu Männern − Wachen und Beobachter in unmittelbarer Nähe. Cezare lächelte. In seinem Lächeln lagen Wärme und Charme. Seine Zähne waren weiß und ebenmäßig. »Willkommen, Cousine. Wie gefällt Ihnen mein Garten?« »Er ist sehr schön. Es muss sehr viel Arbeit erfordern, ihn so zu halten.« »Das gilt für alle großen und komplexen Unternehmungen«, sagte Cezare. »Einen Garten zu pflegen ist wie das Führen eines Hauses. Man muss wissen, welche Pflanzen man hegt und pflegt und welche man ausrupft.« Ragnar empfand jetzt geradezu Verachtung für diesen Mann mit seinem Gerede über Gärten. Dann fiel ihm auf, womit er die Pflanzen fütterte. Er hatte einen kleinen zappelnden Nager aus einem Sack geholt und schob ihn lebendig und sich immer noch windend in die Glocke der Orchidee. Nach einigen Momenten hörte das Tier auf, sich zu wehren, und seine Augen nahmen einen glasigen, ekstatischen Ausdruck an. Ragnar schnappte den Hauch eines narkotisierenden Dufts auf. Seine Haut kribbelte leicht, als sein System ihn analysierte und neutralisierte. Die Pflanze hatte die Ratte jetzt nach Art einer Schlange verschlungen. Als Cezare Ragnars Miene sah, wurde sein Lächeln noch breiter. »Das hier ist ein ganz besonderes Exemplar, eine Rote Fallenorchidee von Makos Welt. Manche werden so groß, dass sie einen Menschen verschlingen können.« »Ich weiß«, sagte Torin. »Ich habe dort gekämpft.« Ragnar ging auf, dass dieser Wahnsinn Methode hatte. Tausende von unterschwelligen Düften lagen in der Luft, und viele von ihnen waren narkotisierend. Die bloße Menge machte es verwirrend, wenn er sich nicht konzentrierte. Er kam sich vor wie ein Mann, der ein Gespräch in einem Raum zu verfolgen versuchte, in dem laute Musik spielte. Wusste Cezare über die empfindlicheren Sinne der Wolfs-
krieger Bescheid? Mit Sicherheit. Befürchtete er, dass sie in der Lage waren, seine Gefühle zu deuten, oder fand die Besprechung aus einem anderen, raffinierteren Grund hier statt? Cezare klatschte in die Hände, und Bedienstete tauchten aus dem Pflanzenwald auf. Ragnar nahm an, dass es irgendwo verborgene Antigravschächte geben musste − so rasch und übergangslos trafen sie ein. Das Geräusch fließenden Wassers übertönte mühelos die Luftverdrängung. Die Männer sahen wie Bedienstete aus, aber Ragnar war sicher, dass sie Waffen trugen. Er fühlte sich ein wenig verletzlich. Sie waren allein im Palast eines der größten Feinde der Belisarier, eines Mannes, der über tausend bewaffnete Männer gebot. Was würde passieren, wenn sie verschwanden? Er verwarf den Gedanken. Wenn Cezare ihren Tod wollte, würde er zweifellos einen raffinierteren Weg finden. Er war nur aus dem Gleichgewicht, verwirrt wegen der unerwarteten Umgebung und der Witterung. Ragnar ging auf, dass alles genauso arrangiert worden war, damit er sich so fühlte. Ohne eine offene Drohung auszustoßen, hatte Cezare es geschafft, dass er sich unbehaglich und unausgeglichen fühlte. Torin hatte Recht. Der Mann war raffiniert und gefährlich. Trotzdem, selbst unter den gegebenen Umständen war Ragnar sicher, dass er dem Mann das Genick brechen konnte, bevor ein normaler Mensch reagieren konnte. Cezare wusste das mit Sicherheit und schien vollkommen entspannt zu sein, obwohl Gabriellas Leibwächter viel näher waren als seine eigenen. Also war er mutig und selbstsicher. Die Bediensteten stellten einen Suspensortisch und zwei schwebende Stühle auf. Speisen und Wein wurden rasch zusammen mit Essbesteck aus Platin und einer Tischdecke angerichtet. Das Essen roch sehr stark gewürzt, aber das bedeutete wahrscheinlich, dass es für die Navigatoren eine Delikatesse war. Ragnar postierte sich auf einer Seite der Lichtung, während Torin die andere übernahm. Die dichte Vegetation verbarg fast alle Annähe-
rungslinien. Hundert Männer hätten sich dort verbergen können. Plötzlich und so fein, dass Ragnar fast daran gezweifelt hätte, spürte er die federleichte Berührung einer seltsamen Energie in seinem Bewusstsein. Psioniker, dachte er. Sofort war er auf der Hut, und in seinem Unterbewusstsein wurden automatische Schutzvorrichtungen aktiviert. Er begann leise mit der Rezitation schützender Litaneien. Er wusste, dass er nicht in Gefahr war − dies war kein kühner oder starker Angriff. Er überlegte kurz, was er tun konnte. Sollte er den Psioniker suchen? Sollte er Cezare Feracci der Anwendung von Zauberei gegen ihn beschuldigen? Vernünftiges Nachdenken verriet ihm, dass die Antwort nein lautete. Es gab keinen Beweis, nur seinen Verdacht. Cezare würde den Vorwurf einfach bestreiten und Ragnar damit wie einen Narren aussehen lassen. Er hielt den Mund. »Ihr wolltet mit mir sprechen, Lord Feracci«, sagte Gabriella mit einem freundlichen Lächeln. »Ich bin sehr neugierig zu erfahren, warum der Herrscher dieses Hauses mit mir zu sprechen wünscht.« »Zwei Dinge«, sagte er. »Mein Sohn Misha mag Sie. Er mag Sie seit dem ersten Ball, auf dem Sie beide waren. Ich bin ein äußerst nachsichtiger Vater. Ich möchte wissen, wie Sie in Bezug auf ihn empfinden.« Ragnar spürte, wie Torin sich versteifte. Damit hatte er nicht gerechnet. Gabriella schien ebenfalls ein wenig durcheinander und aus dem Gleichgewicht zu sein. Zweifellos war das Cezares Absicht gewesen. Vielleicht war die subtile psionische Sondierung aus einem ähnlichen Grund gegen ihn unternommen worden. »Ich mag ihn. Reden wir hier über ein Verlobungsangebot?« »Sagen wir, ich will herausfinden, wie Sie und Ihre Familie über ihn als potenzielle Partie denken.« »Das müsst Ihr mit meiner Familie besprechen.« »In der Tat. In dieser Angelegenheit müssen wir Konsultationskanäle öffnen.« Ragnar sah sofort, dass solche Kanäle auch für andere Dinge würden benutzt werden können. Im Rahmen der Verhandlungen über ei-
ne Ehe konnten die beiden Häuser auch über andere Dinge verhandeln. In der Tat sehr subtil. »Ich werde meiner Familie Euren … Vorschlag unterbreiten.« Cezare lachte herzlich und erinnerte Ragnar dabei an einen schnurrenden Tiger. Er griff nach seinem Essen und machte sich mit Appetit darüber her. »Esst! Esst!«, sagte er. »Ihr habt noch von einer anderen Angelegenheit gesprochen«, sagte Gabriella, wobei sie einen kleinen silbernen Fisch, der in ihrer Suppe schwamm, mit der Gabel aufspießte. »In der Tat. Eine äußerst wichtige Angelegenheit«, sagte Cezare herzlich. »Jemand verübt Anschläge auf Navigatoren. Wie ein Anschlag auf Ihren verstorbenen Vater verübt wurde. Es hat Anschläge auf mein Leben gegeben. Zwei meiner Söhne sind verschwunden. Auch einige andere Häuser mussten Verluste hinnehmen.« »Es wäre im Interesse unserer beider Häuser, herauszufinden, wer es ist«, sagte Gabriella, die ihre Worte offensichtlich sehr sorgfältig wählte. »Ich glaube, ich weiß es bereits«, sagte Cezare. »Was wissen Sie über die Bruderschaft?« »Die Bruderschaft ist eine Geheimgesellschaft von Zeloten, die bei den unteren Schichten sehr beliebt ist. Sie predigen in den alten Katakomben unter Terra. Sie nennen uns Mutanten. Sie hassen Navigatoren, aber nicht mehr als andere Kulte.« »Ich glaube, dass sie die Werkzeuge unserer Feinde sind. Ihre Fanatiker haben Ihren Vater getötet. Zwei von ihnen wäre es beinahe gelungen, mich bei einem Besuch des Schreins der Heiligen Sonnenwende vor zwei Tagen zu töten. Sie sind unheimlich genau informiert. Wenige waren über meinen Besuch im Bilde, und alle waren vertrauenswürdig. Ich bekenne, dass ich zuerst dachte, Alarik könnte dahinter stecken, aber angesichts des Schicksals Ihres Vaters bin ich davon nicht mehr überzeugt.« Ragnar ließ sich das bisher Gesagte durch den Kopf gehen. Warum gestand Cezare vor einem Abgesandten seines größten Feindes eine
Schwäche ein? Hier ging mehr vor als das Offensichtliche. Gabriella dachte ganz eindeutig ebenso. Warum hatte er zuerst den Schatzmeister der Belisarius genannt und dann wieder verworfen? Zwischen Orden der Space Marines wäre so eine Beschuldigung einer Kriegserklärung gleichgekommen. Sei vorsichtig, sagte sich Ragnar. Du hast es hier nicht mit Space Marines zu tun, sondern mit etwas unendlich Verschlagenerem. »Ich kann Euch versichern, dass Alarik damit nichts zu tun hat«, sagte Gabriella. Ragnar war vollkommen klar, dass sie mehr gar nicht sagen konnte. »Ich glaube Ihnen«, sagte Cezare nach wie vor lächelnd, obwohl sein Tonfall genau das Gegenteil verriet. »Was sollen wir deswegen unternehmen?« »Wir könnten Mittel, Einfluss und Informationen zusammenlegen. In diesem Rahmen bin ich bereit, Ihnen Dossiers unseres Geheimdiensts zur Verfügung zu stellen. Ich werde sie vor Ihrer Abreise zu Ihrem Schweber bringen lassen.« »Das ist äußerst großzügig.« »Nein. Es liegt in meinem eigenen Interesse. Wir leben in unruhigen Zeiten. Unsere Feinde mehren sich. Die Navigatorenhäuser müssen zusammenhalten, sonst werden wir einzeln geschluckt.« »Ihr habt mir viel zum Nachdenken gegeben. Seid versichert, dass ich Eure Worte der Celestarchin übermitteln werde.« »Mehr kann ich nicht verlangen. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss gehen. Das Auf und Ab des Handels wartet auf niemanden. Mögen Sie gedeihen und frei sein«, sagte er, indem er sich erhob. Auch Gabriella erhob sich. »Bitte essen Sie doch auf«, sagte er, indem er die Hand mit der Innenseite nach oben ausstreckte. »So köstlich es auch ist, ich bin nicht sehr hungrig, und meine Tante wartet.« »Ihre Loyalität gegenüber Ihrer Familie ist löblich. Der Majordomus wird Sie hinführen. Seien Sie versichert, dass sie die beste Pflege erhält, die es auf Terra gibt. Das ist das Mindeste, was ich für
die erste Frau meines verstorbenen Bruders tun kann.« Cezare verbeugte sich vor Gabriella und nickte den beiden Wölfen freundlich zu, bevor er sich entfernte. Binnen Sekunden war er zwischen den Pflanzen verschwunden. Die drei waren für einen Moment allein. Ragnar registrierte Torins warnenden Blick. Natürlich war Ragnar sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass dies nicht der richtige Ort war, irgendetwas zu besprechen. »Ich nehme an, Sie hatten ein angenehmes Mahl, Mylady«, sagte Torin. »Köstlich«, erwiderte sie. Offensichtlich hatten sie ein verschlüsseltes Signal ausgetauscht, in das Ragnar noch nicht eingeweiht war. Vielleicht ließ Torin sie einfach wissen, dass sie nicht allein waren, denn einen Moment später trat ein mit einem langen, fließenden rotschwarzen Frack makellos gekleideter Mann ein. Seine Haare waren stoppelkurz geschnitten, und sein lebhafter Gang ließ darauf schließen, dass er kein Bediensteter, sondern ein Soldat war. Er verbeugte sich und sagte: »Mein Gebieter hat angeordnet, Sie zu den Gemächern Ihrer Tante zu führen, Mylady. Wenn Sie so freundlich wären, mir zu folgen?« Gabriella nickte, und der Mann drehte sich um. Je länger Ragnar ihn betrachtete, desto überzeugter war er, dass er kein einfacher Bediensteter war. Bewegungen und Witterung ließen auf Kompetenz und eine Menge subdermale Implantate schließen. Ein vorsichtiger Blick enthüllte, dass die Hände des Mannes bionisch und mit Kunsthaut verkleidet waren. Auch eines seiner Augen schien mechanisch zu sein, obwohl es so natürlich aussah, dass es den meisten nicht aufgefallen wäre. Er fühlte sich an die Männer erinnert, die sie letzte Nacht in der Taverne angegriffen hatten. Gab es da irgendeinen Zusammenhang? Seine Gedanken eilten zurück zu der psychischen Sondierung. Hier ging wesentlich mehr vor, als offensichtlich war. Lady Elanor lag auf einem großen Suspensordiwan, der über dem
Marmorboden schwebte. Durch ihr Rundbogenfenster konnte Ragnar auf Hunderte kleinerer Türme im Handelsviertel schauen. Unzählige Menschen in langen Roben flossen in endloser Flut die Straßen entlang. Ragnar hatte noch nie so viele Menschen gesehen, nicht einmal auf einer Makropolwelt. Doch dies war das Navigatorenviertel auf Terra, und ein beachtlicher Anteil des gesamten imperialen Handelsvolumens wurde hier umgeschlagen. Lady Elanor sah krank aus. Eine ihrer Hände war eingegipst. Ihre Haut war fahl und gelbsüchtig, und ihre Augen hatten die Farbe von Zitronen. Ihre Züge waren eckig und hager und wiesen alle Merkmale der Belisarius-Abstammung auf. Gabriella stellte das kleine Geschenkpäckchen auf den Tisch neben dem Bett und nahm die freie Hand ihrer Tante. »Es ist schön, dich zu sehen, Kind«, sagte ihre Tante, wobei sie ihre Wange zum Kuss darbot. »Du bist gewachsen.« »Gleichfalls, Lady Elanor. Obwohl es mich schmerzt, Sie so schwach zu sehen.« »Das wird vergehen. Es ist die alte Krankheit«, sagte sie. »So viele unseres Klans haben darunter gelitten.« Gabriella erbleichte. Ragnar hörte sie scharf einatmen, bevor sie die Reaktion unterdrücken konnte. »Wie lange haben Sie noch?« »Monate, vielleicht Wochen.« »Sind alle Vorkehrungen getroffen worden?« »Cezare ist ein sehr effizienter Mensch. Er hat mir versichert, dass ich in den Belisarius-Palast und in die Gewölbe gebracht werde, sobald es nötig wird.« Ragnar fragte sich, ob die Frau starb. Waren die Gewölbe auch noch eine Art Nekropole? Vielleicht machten die Navigatoren deshalb so ein Geheimnis daraus. In Verbindung mit dem Tod hatte Ragnar schon viele merkwürdige Riten und Rituale kennen gelernt, und er war sich der massiven Sicherheit in Verbindung mit dem Schutz von Leichnamen bewusst. Lady Elanor schien jedenfalls ziemlich krank zu sein. Ihre Haut
war so dünn, dass sie fast durchsichtig war. Vom Bett stieg ein widerlich süßer Geruch auf wie die Fäulnis im Herzen einer ansonsten gesunden Pflanze. »Jedenfalls bin ich froh, dass du mich besuchen konntest. Erzähl mir von deinen Reisen und was es bei den Belisarius Neues gibt. Ich habe gehört, dass du auf Fenris warst.« Sie warf Ragnar und Torin einen amüsierten Blick zu, in dem ein pfiffiger Humor lag. Ragnar stellte fest, dass er sich für diese zerbrechliche, alt aussehende Frau erwärmte. »Und unter Wölfen gelebt hast.« »Aye, das habe ich.« In den nächsten Stunden plauderten die beiden Frauen scheinbar belangloses Zeug, obwohl Ragnar verborgene Bedeutungen unter der Oberfläche spürte wie Fische in einem Tidebecken. Er fragte sich, ob er die Navigatoren je verstehen würde, denen zu dienen er geschickt worden war. Zwei Stunden später trat ein Mann in der weißroten Uniform eines gebundenen Arztes ein. »Ich fürchte, mehr Unterhaltung kann ich heute nicht gestatten. Die Patientin muss sich schonen.« Gabriella nickte. Lady Elanor drückte ihr noch einmal die Hand. Sie war dünn, und Ragnar konnte alle Adern sehen. »Komm wieder und besuch mich«, sagte sie. In ihrer Stimme lag ein flehentlicher Unterton. »Natürlich, Tante«, sagte Gabriella, während sie die Hand der Frau in ihre beiden nahm. »Aber jetzt gehe ich wohl besser.« Misha Feracci wartete vor den Gemächern. Ein Lächeln lag auf seinem hübschen Gesicht. »Ich dachte, ich könnte Sie zu Ihrem Schiff begleiten«, sagte er. »Das würde mir gefallen«, sagte Gabriella. Torin überprüfte den Schweber, bevor sie einsteigen konnten. Ein Uniformierter überreichte ihnen vor ihrem Abflug einen kleinen Ordner. Gabriella verstaute ihn sorgfältig in der Ablage des Schwebers, während Torin ins Kommnetz sprach. Ragnar wusste, dass er eine Logbuchaufzeichnung machte für den Fall, dass ihnen etwas zustieß.
Misha stand am Boden unter ihnen und winkte zum Abschied. Das Lächeln war auf dem ganzen Rückmarsch nicht von seinem Gesicht gewichen. Die beiden hatten sich sehr freundschaftlich unterhalten. Ragnar gefiel diese Entwicklung nicht. Sie weckte Unbehagen in ihm, und er empfand eine instinktive Abneigung den Feracci gegenüber, obwohl er sie beeindruckend fand. Ihr Palast war noch imposanter als derjenige der Belisarier, und er hatte so viel Energie wie möglich darauf verwandt, sich seinen Weg darin zu merken. Es war unwahrscheinlich, dass er noch einmal zu denselben Orten musste, aber man konnte nie wissen. Jedenfalls war ihm das unglaublich dichte Überwachungsnetz aufgefallen. Televisorlinsen und an Suspensoren schwebende Augen waren überall, und es gab sie in weit größerer Anzahl als auf dem Belisarius-Territorium. Aber vielleicht hatten die Belisarier sie auch nur besser verborgen. So oder so sprach es Bände über das Wesen des Hauses und seiner Herrscher. Kaum hatte sich das Kuppeldach des Schwebers geschlossen, als Torin sagte: »Tja, wir leben noch.« »Das ist kaum eine Überraschung«, sagte Gabriella. »Cezare Feracci würde uns nichts tun, solange wir uns auf seinem Territorium befinden. Das könnte Klagen vor dem Rat der Navigatoren provozieren oder unwillkommene Aufmerksamkeit seitens der Inquisition erregen.« »Wir sind noch nicht zu Hause«, sagte Ragnar. Torin zog den Schweber steil hoch und flog ihn durch die Wolken in hohem Bogen zum Belisarius-Palast zurück. »Was halten Sie von dem Palast?«, fragte Gabriella. »Die Sicherheit war sehr umfangreich und auffällig«, sagte Ragnar. »Lass dich nicht täuschen«, sagte Torin. »Diese Vorrichtungen sollen auch entdeckt werden. Dahinter existiert noch eine zweite Schicht raffinierterer Sensoren.« »Woher weißt du das?« »Ich bin darin so etwas wie ein Experte«, sagte Torin. »Ich habe mich seit meiner Ankunft auf Terra ausgiebig damit beschäftigt.«
»Ich glaube, mein Vater hat keine Kosten und Mühen gescheut, um Ihnen eine gute Ausbildung zu verschaffen.« »Sie vermuten richtig, Mylady.« »Glauben Sie, was er über die Attentatsversuche gesagt hat?«, fragte Ragnar Gabriella. »Es ist gewiss möglich. Religiöse Fanatiker unterscheiden nicht zwischen den Navigatorenhäusern. Sie wollen uns alle tot oder wenigstens nicht mehr auf dem geheiligten Boden Terras sehen. ›Duldet kein Mutantenleben‹, so sagen sie.« »Glauben Sie, dass Cezare sein Bündnisangebot ernst gemeint hat?« »Es war kein Bündnisangebot, Ragnar. Nicht einmal im Ansatz. Er hat lediglich angeboten, Informationen auszutauschen. Wir werden sehen, was sein Dossier enthält. Es könnte vollkommen nutzlos sein. Selbst wenn es nützliche Informationen enthält, könnte das auch einfach nur ein Versuch sein, unser Vertrauen zu gewinnen oder uns von Cezares eigenen Plänen abzulenken.« Rädchen innerhalb von Rädchen, Pläne innerhalb von Plänen, dachte Ragnar. »Niemand nimmt hier irgendwas für bare Münze, nicht wahr?« »Wahrscheinlich wäre es gut für Sie, wenn Sie das ebenfalls lernen würden, Ragnar«, sagte Gabriella. »Er hat bereits damit begonnen, Mylady. Lassen Sie sich von Ragnars Barbarenmaske nicht täuschen. Hinter seiner Stirn ist ein Verstand am Werk. Ich kann beinahe sehen, wie sich die Rädchen drehen.« Ragnar wusste nicht, ob er Torins Worte erfreulich oder beleidigend finden sollte, und er nahm an, dass dies auch die Absicht der anderen Wolfsklinge war. »Ein paar Jahre auf Terra und Ragnar wird genauso ein glatter Intrigant sein wie der alte Cezare.« Das war offensichtlich ein Scherz. »Wenn er so lange lebt«, fügte Torin hinzu. Gabriella warf einen Blick auf Ragnar und lächelte. »Wie finden Sie Misha?«, fragte sie. »Er gefällt mir nicht.«
»Warum?« »Er erinnert mich zu sehr an seinen Vater.« »Ich finde ihn durchaus nett.« »Nett genug, um ihn zu heiraten?« »Ich werde ihn nur heiraten, wenn es mir befohlen wird.« »Warum?« »Ich traue ihm auch nicht. Und die Blutlinie der Feraccis hat eine seltsame wilde Ader. Sie bringt viele merkwürdige Eigenarten hervor − Wahnsinn und Grausamkeit sind darunter weit verbreitet. Sie sind brillant, aber mit Makeln behaftet, doch ich nehme an, das könnte man auch von allen anderen Blutlinien sagen.« »Ihre Tante hat hineingeheiratet.« »Cezares Bruder Lucio war einer von den guten Feraccis.« »Was ist mit ihm passiert?« »Er starb unter mysteriösen Umständen, bevor Cezare den Thron bestiegen hat. Was ein Jammer ist, weil er ein besserer Kandidat gewesen wäre.« »Wie mysteriös?« »Eine seltene Krankheit. Das wurde jedenfalls gesagt.« »Wie die Ihrer Tante?« »Nein, das ist etwas anderes.« In ihrem Tonfall lag etwas, das Ragnar verriet, dass sie dieses Thema nicht vertiefen wollte. »Manche behaupten, Cezare habe hinter Lucios Krankheit gesteckt«, sagte sie. »Und er ist trotzdem Herrscher geworden«, sagte Ragnar ungläubig. »Die Feraccis sind sehr seltsam«, sagte sie nachdenklich. »Es heißt, ihre Ältesten hielten die Mitglieder ihres Klans dazu an, um den Posten des Herrschers zu streiten, und sie würden den Rücksichtslosesten und Gefährlichsten erwählen. Wenn Cesare wirklich hinter Lucios Tod steckt, hat ihm das nur zum Vorteil gereicht.« »Das kommt mir sehr verschwenderisch vor«, bemerkte Ragnar. »Einen Navigator zu töten. Man sollte meinen, jedem Haus, das so
verfährt, würden bald die Angehörigen ausgehen.« »Nur sehr wenige sind überhaupt im Rennen, um Herrscher der Feraccis zu werden, und das wissen sie von frühester Kindheit an. Es wäre verschwenderisch und sinnlos, jemanden zu töten, der kein Rivale ist. Dafür würden einen die Ältesten nicht belohnen.« Ragnar ließ sich das durch den Kopf gehen. Anscheinend waren die Häuser so verschieden voneinander, wie es die Bewohner unterschiedlicher Welten waren. Das war verständlich. Im Laufe der Jahrtausende würde jedes Haus seine eigene Kultur und Überlebensmethode entwickelt haben. Es war eine große Galaxis. Es gab viel Platz für unzählige alternative und widerstreitende Sichtweisen. Tatsächlich war es vermutlich sogar besser so. Wenn in der Strategie einer Blutlinie eine Schwäche offensichtlich wurde, waren die anderen davon nicht betroffen und würden überleben. Jedes Haus, dem es gelungen war, sich seine Macht und sein Prestige seit einer Zeit noch vor den Anfängen des Imperiums zu bewahren, musste in der Tat sehr wirkungsvolle Strategien entwickelt haben. Cezare lehnte sich zurück und betrachtete den tödlichen Mann vor sich. Es machte ihm nichts aus zuzugeben, dass Xenothan ihn nervös machte − mehr noch als Gabriellas kostbare Leibwächter. Der hochgewachsene, schlanke, scheinbar harmlose Mann war durchaus fähig, jeden in diesem Raum zu töten − sogar Wanda, seine Lieblingspsionikerin − und lebendig aus dem Palast zu entkommen. Nicht zum ersten Mal zog er die Weisheit seines eingeschlagenen Kurses in Zweifel. Er lächelte und zuckte die Achseln. Kein großes Wagnis wurde jemals ohne Risiken unternommen und keine wertvolle Beute ohne Wagemut errungen. Seine eigene Laufbahn hatte das immer wieder bewiesen. Die Ältesten hatten ihn wegen seiner Neigung zu Rücksichtslosigkeit und List ausgewählt und wogen der Tatsache, dass er alle anderen Kandidaten eliminiert hatte, darunter auch seinen eigenen lieben Bruder. Er würde sie nicht enttäuschen. »Nun, was meinen Sie?«, fragte er. Seine Stimme war klar, ruhig
und gebieterisch. Sie verriet keine Spur von Nervosität. »Der Ältere der beiden ist ein sehr gefährlicher Mann. Der jüngere könnte mit der Zeit außergewöhnlich werden. Beiden war klar, was in der Taverne los war.« »Wir werden dafür sorgen, dass er die Zeit nicht bekommt. Sie haben sie sich eingeprägt?« »Ihr Aussehen, ihre Stimmen, ihren Geruch.« »Können Sie sie töten?« »Wenn Ihr es wünscht. Wann?« »Die Zeit wird bald kommen«, sagte er. Xenothan lächelte. Es lag keine Drohung darin, aber es ließ einen dennoch frösteln. Cezare sagte sich, dass das nur daran lag, dass er wusste, was dieser Mann war − falls »Mann« überhaupt die richtige Bezeichnung für ein derart modifiziertes Wesen war. »Dann habt Ihr Euch entschieden?« »Ja. Sagen Sie Ihrem Herrn, dass wir bald zuschlagen und unsere gemeinsamen Feinde ein für alle Mal vernichten werden.« Der Hauch einer Drohung schlich sich in Xenothans Gehabe. »Ich habe keinen Herrn. Nur Gönner.« »Dann wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie Ihren Gönner informieren würden. Wir werden bald anfangen.« Er warf einen Blick auf Wanda. Sie würde schon bald eine Nachricht an ihre Kollegen in den Katakomben schicken müssen.
10. Kapitel
»Was meinst du?«, fragte Valkoth. »Wie waren deine Eindrücke? Sag es mir!« Ragnar beobachtete den Übungsbereich. Die Hausgardisten von Belisarius absolvierten unter Valkoths wachsamem Auge den Sturmangriffs-Parcours. Die Soldaten waren alle Terraner. Viele hatten lange Haare und einen hängenden Schnurrbart nach fenrisischer Art. Sie gaben sich große Mühe, aber Ragnar wusste, dass auch der jüngste fenrisische Krieger mit Leichtigkeit drei von ihnen hätte töten können. Andererseits war Fenris auch eine härtere Welt als Terra. Im Angesicht albtraumhafter Elemente, schrecklicher Ungeheuer und noch schrecklicherer Menschen lernten Männer dort sehr früh, wie man überlebte. Jene, die es nicht lernten, starben rasch. Er ließ sich die Ereignisse der letzten Stunden durch den Kopf gehen. Der Schweber war vor kaum zwanzig Minuten auf dem Dach gelandet. Alle drei waren von einem Sicherheitsteam gründlich untersucht worden, um sicherzugehen, dass sie keine Langstrecken-Schnüffelvorrichtungen in den Palast brachten. Gabriella hatte die Dokumente einem der Männer zur Durchsicht und vollständigen Divination übergeben, bevor sie sich zur Celestarchin begab. Torin hatte Ragnar aufgetragen, Valkoth Bericht zu erstatten, und sich dann an die Ausführung irgendeines mysteriösen Auftrags gemacht. »Cezare ist ein gefährlicher Mann.« Valkoth musterte ihn eingehend, und Ragnar wusste, dass er eingeschätzt und beurteilt wurde. »Inwiefern?« »Er ist schlau, ein Ränkeschmied. Er hat den Ort und das Thema für das Gespräch extra so gewählt, um uns aus der Fassung zu bringen. Er kann seine Gefühle sehr gut verbergen. Für mich sind alle
Navigatoren schwer zu durchschauen, aber er kam mir noch weniger menschlich vor als die anderen.« »Ich glaube nicht, dass du viele Leute finden würdest, die nicht deiner Meinung sind, zumindest privat. Leute, die sich in der Öffentlichkeit abfällig über Fürst Feracci äußern, neigen in der Regel zu einem kurzen und unangenehmen Leben.« »Das überrascht mich nicht.« »Die Feraccis sind unserer Definition nach geistig nicht gesund, Ragnar. Die meisten Navigatoren können nicht nach menschlichen Maßstäben beurteilt werden, aber sie noch weniger. Sie haben eine wahnsinnige Ader.« »Warum bringt man sie nicht zur Strecke wie tollwütige Hunde?« »Weil sie eben diese wahnsinnige Ader auch zu überragenden Navigatoren macht. Feracci-Schiffe können dank der Fähigkeiten ihrer Navigatoren schneller und weiter fliegen als die meisten anderen. Nur Belisarius, Helmsburg und True bringen ebenso gute Navigatoren hervor. Das Imperium braucht sie. Es braucht alle Navigatorenhäuser. Es duldet sie, solange alles hinter verschlossenen Türen bleibt.« Auf dem Übungsgelände waren die Männer jetzt mit Übungsscharmützeln beschäftigt. Sie waren auf zwei Seiten verteilt worden und mit Pistolen bewaffnet, die Farbkleckse verschossen. Die Farbe war mit einem Adstringens versehen, das Schmerzen verursachte, aber keinen dauerhaften Schaden anrichtete. Sie bewegten sich zwischen offenbar wahllos aufgestellten Hindernissen Zielen an beiden Enden des Felds entgegen. »Sonst noch etwas?« »Ich habe keinen Zweifel, dass wir vom Augenblick des Eintretens an mit Tiefenscannern beobachtet wurden. Es gab alle möglichen Arten der Überwachung − von Dienern, die uns folgten, bis hin zu Televisoren auf Suspensoren. Ich bin auch sicher, dass unser Weg so gewählt wurde, dass wir durch Sensorfelder mussten. Ich glaube außerdem, dass ein Psioniker in der Nähe war.«
»Es gibt Gerüchte, dass Cezare eine zahme Hexe hat. Eine sehr mächtige. Vielleicht sogar mehrere.« »Natürlich gebunden.« »Nicht einmal er wäre so verrückt, sich eine potenzielle Ketzerin in seinem Palast zu halten. Sonst noch etwas?« »Der Mann will uns allen schaden.« »Natürlich will er das. Die beiden Häuser sind Erbfeinde. Aber sie sind auch die Anführer der beiden größten und mächtigsten rivalisierenden Fraktionen unter den Navigatoren.« »Dann glauben Sie nicht, dass sein Angebot gegenseitiger Hilfe ernst gemeint ist?« »Vielleicht, aber nur, wenn er auf lange Sicht daraus mehr Vorteile ziehen kann als wir. Wir sollten uns fragen, was er sich davon verspricht.« »Ich weiß nur, dass er etwas will«, sagte Ragnar. »Und ich habe den Verdacht, dass er für die nahe Zukunft etwas Unangenehmes geplant hat.« »Wie kommst du darauf?« »Instinkt.« »Du bist gut beraten, diesem Instinkt zu vertrauen, Ragnar. Ich bin sicher, dass Cezare eine Falle stellt. Wir müssen nur dafür sorgen, dass wir den Kopf nicht in die Schlinge stecken.« »Was ist mit der Verlobung?« »Das könnte ernst gemeint sein. Gabriella ist eine überragende Navigatorin, weshalb wir sie bekommen haben. Wenn ihre Kinder ihr Talent vererbt bekommen, werden sie ebenfalls überragend. Solche Kinder sind die größten Aktivposten für ein Haus.« »Dann will Cezare Gabriella also haben?« »Vielleicht, aber vielleicht will er auch seinen Sohn bei Belisarius einschleusen. Wer zu wem ginge, würde vom Ehevertrag abhängen.« »Ist das nicht gefährlich? Das wäre so, als hätte man einen Spion im Haus.« »Vielleicht. Adoptierte Söhne und Töchter werden zu Mitgliedern
ihres neuen Hauses. Sie sollen ihm treu ergeben sein. Und sie werden streng überwacht.« »Das klingt verrückt.« »So ist es eben bei ihnen. Manche würden sie als Geiseln betrachten. Es hängt von der Beziehung zwischen Eltern und Kind ab.« »Nach allem, was ich von Cezare gesehen habe, glaube ich nicht, dass er zögern würde, einen Sohn zu opfern.« »Er könnte dich überraschen, auch wenn ich es bezweifle. Aber glaubst du nicht, er muss wissen, dass Lady Juliana das vollkommen klar ist?« »Ich weiß nur, dass mir vom Nachdenken darüber der Kopf schwirrt.« »Dann habe ich etwas für dich, das mehr nach deinem Geschmack sein wird.« »Was denn?« »Wir haben eine Spur zu den Zeloten, die Adrian Belisarius getötet haben.« »Woher?« »Von Lady Elanor.« »Wie das?« »Sie hat ihre Nachricht weitergegeben, als ihr bei ihr wart.« Ragnar dachte darüber nach. Er hatte nicht gesehen, dass etwas den Besitzer gewechselt hatte, aber er wusste, dass es Mittel und Wege gab: Dermalpflaster, Mikrosporen. Die beiden Frauen hatten sich wahrscheinlich in einem komplizierten Code unterhalten, wie er schon bei den Feraccis vermutet hatte. Alternativ dazu mochte es auch ein subtiles psychisches Band zwischen verwandten Navigatoren geben. »Wie ist das vor sich gegangen?« »Sie haben ihre Methoden, und die teilen sie uns nicht mit. Aber die Information wurde weitergegeben.« »Unter Cezares Nase! Das scheint fast ein zu großer Glücksfall zu sein.«
»Durchaus«, sagte Valkoth. »Aber die Informationen bestätigen Hinweise von Alariks anderen Quellen.« »Wie ist sie an diese Informationen gelangt? Warum sollte sie riskieren, sie uns mitzuteilen? Ich würde alles mit einigem Vorbehalt betrachten. Es könnte leicht eine falsche Spur sein.« »In der Tat. Die Tatsache, dass sie uns überhaupt etwas mitgeteilt hat, bedeutet, dass sie ziemlich verzweifelt ist. Sie scheint zu glauben, dass das Überleben des ganzen Hauses Belisarius auf dem Spiel steht.« »Hätte sie nicht noch zwei Wochen warten können?« »Es ist gut zu sehen, dass du mehr Gebrauch von deinem Verstand machst als Haegr. Aber selbst wenn es so wäre, verrät uns schon die Tatsache an sich einiges.« Ragnar war jetzt fasziniert. »Wie zum Beispiel?« »Wie zum Beispiel, wenn die Information falsch ist, werden wir Gelegenheit haben, die Sache im Detail durchzugehen, wenn Lady Elanor in den nächsten zwei Wochen in die Gewölbe zurückkehrt. Wie zum Beispiel, dass sie nicht glaubt, dass uns noch zwei Wochen bleiben.« Ragnar ließ sich das kurz durch den Kopf gehen, bevor er sagte: »Dadurch wird eine zeitliche Grenze festgelegt. Es verrät uns, dass, wenn alles Teil eines größeren Plans ist, Cezare damit rechnet, ihn in den nächsten zwei Wochen vollständig ausgeführt zu haben.« »Torin hat Recht: Du hast Verstand. Bedenke außerdem die Möglichkeit, dass die Information nützlich und wahr sein könnte.« »Eine Sprotte, um einen Meerdrachen zu fangen.« »Genau. Die Feracci könnten versuchen, uns mit einer nützlichen Information in ihr Netz zu holen.« »Ist es wirklich wahrscheinlich, dass Cezare ihr gestattet, in die Gewölbe zurückzukehren, wenn die Zeit gekommen ist?« »Ja.« In seiner Stimme lag absolute Gewissheit. »Sie scheinen dessen sehr sicher zu sein.« »Ragnar, gewisse Dinge sind den Navigatoren heilig, und es gibt
Grenzen, die selbst Cezare nicht überschreiten würde. Die Rückkehr von jemandem wie Elanor gehört dazu.« »Warum?« »Wenn du es wissen musst, werde ich es dir sagen.« Ragnar war schockiert. Valkoth schien die Belisarier seinen eigenen Wolfbrüdern vorzuziehen. Was war das Geheimnis? Warum war es so wichtig, eine kranke Frau ihrer Familie zur Beerdigung zurückzugeben? Offensichtlich würde Valkoth es ihm nicht sagen, also beschloss er, es anders zu versuchen. »Wie lautet die Information?« »Es gibt einen Kaufmann, Pantheus, über den die Geldgeschäfte der verschiedenen Bruderschaften der Zeloten abgewickelt werden. Es gibt eine Verbindung zwischen ihm und Haus Feracci.« »Und die wäre?« »Geld. Macht. Einfluss. Wir haben ihn schon seit einiger Zeit im Auge. Wir halten ihn für das Bindeglied zwischen Feracci und gewissen Bruderschaften der Zeloten.« »Wenn wir ihn die ganze Zeit im Auge hatten, muss Cezare wissen, dass er kompromittiert ist. Er verliert nichts, wenn er ihn ans Messer liefert.« »Wiederum gut überlegt, Ragnar. Pantheus ist vor einiger Zeit verschwunden. Er ist kurz vor dem Attentat auf Adrian Belisarius untergetaucht. Wir glauben, wir wissen jetzt, wo er ist. Elanor hat uns das letzte Puzzleteil geliefert.« »Oder einen netten Köder für eine Falle.« »Wenn du dich einmal in etwas verbissen hast, lässt du wohl nicht mehr los, Ragnar, wie? Bei einem Wolfskrieger ist das eine bewundernswerte Eigenschaft.« »Wo können wir diesen Kaufmann finden?« »Er hat ein Anwesen im Asteroidengürtel, das er für sicher hält. Wir werden beweisen, dass es das nicht ist. Wir starten noch heute Abend. Du bist dabei.« Ragnar nickte. Falle oder nicht, das gefiel ihm schon besser. Plötzlich war er aufgeregt. Die Aussicht auf einen Kampf war ansprechend. Zumindest war der Feind klar definiert und das Ziel fest um-
rissen. Der Besprechungsraum war nicht sehr groß, was kaum eine Überraschung war, da er sich in einem kleinen, schnittigen Kurierschiff der Belisarier befand. Anwesend waren Valkoth, Torin, Haegr und Ragnar sowie ein Trupp Gardisten. Alarik, der Geheimdienstchef und Schatzmeister des Hauses, war ebenfalls zugegen. Im Augenblick stand er an der Hologrube im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Er war genauso gekleidet wie bei Ragnars erster Begegnung mit ihm im Thronsaal der Celestarchin. »Pantheus ist ein reicher Mann, weil er für verschiedene religiöse Bruderschaften auf der Erde die Geldgeschäfte abwickelt. Wir haben Zugang zu gewissen Berichten der Inquisition erhalten, welche den Schluss zulassen, dass einige dieser Bruderschaften Rekrutierungsplätze für unsere Feinde sind. Alle haben Zugang zu geheimen Finanzierungsnetzwerken, über die sie Waffen und Ausrüstung für ihre Unternehmen kaufen. Manche betreiben auch nette Nebengeschäfte als Erpresser. − Pantheus hat außerdem geschäftlich sehr viel mit den Feraccis zu tun. Er hat mit ihnen vor fünfzig Jahren im Gellan-System begonnen, bevor er sich selbständig gemacht hat. Wir glauben, dass sein ursprüngliches Startkapital von den Feraccis kam. Interessanterweise hat er direkt mit Cezare zusammengearbeitet, als dieser oberster Vertreter des Hauses in diesem Sektor war.« »Es gibt eine direkte Verbindung zwischen Cezare Feracci und den Bruderschaften?«, fragte Valkoth. »Er hat mit Sicherheit seine Agenten eingeschleust. Das haben die meisten Häuser.« Also auch die Belisarier, dachte Ragnar. Macht, Geld, Religion und Politik. Eine absonderliche Mischung. »Jedenfalls ist Pantheus kein netter Mensch. Er handelt auch mit einer Vielzahl illegaler Substanzen und Güter: Narkotika, Kampfstoffe und Waffen. Jeder darf seinen Lebensunterhalt verdienen, aber dies geht zu weit. Wir werden Pantheus einen kleinen Besuch abstatten und ihm eine geeignete Strafe verabreichen. Ich werde das Verhör
leiten.« Ragnar spürte, dass es zwischen dem Schatzmeister und diesem Kaufmann echte persönliche Animositäten gab. Er schien sich auf die Befragung zu freuen. »Wir werden uns gewaltsam Zutritt zu seinem Asteroidenanwesen verschaffen. Wir werden seine Wachen töten und ihn und seine Geschäftsunterlagen dingfest machen. Bei unserem Abflug werden wir den Asteroiden vernichten und mit ihm jede Spur unseres Besuchs. Zuvor müssen wir uns in den Besitz des Hauptsicherheitsdatenspeichers bringen. Störsender werden sämtlichen Funkverkehr unterbinden, sodass niemand erfahren wird, was passiert ist, es sei denn, Pantheus hat einen Astropathen bei sich.« »Sind Sie sicher, dass er sich dort aufhält?«, erkundigte sich Valkoth. »Lady Elanor hat unseren Verdacht bestätigt. Wir überwachen den Asteroiden seit einiger Zeit insgeheim. Sein Schiff traf dort einen Tag nach dem Anschlag auf Adrian Belisarius ein. Die Annahme, dass Pantheus selbst an Bord war, scheint naheliegend. Lady Elanor hat angedeutet, dass wir rasch herausfinden müssen, was er weiß, wenn es uns etwas nützen soll.« »Die Wachen?«, fragte Torin. »Er hat einen Sicherheitstrupp aus den Reihen der Bruderschaftsstrolche rekrutiert. Sie sind zäh und gut bewaffnet. Einige haben bionische Verstärkungen. Alle haben Zugang zu militärischen Waffen und alchemistischen Kampfstoffen. Alle sind Fanatiker. Vielleicht sind sie hypno-konditioniert, aber das bezweifle ich. Ich glaube, dass sie wirklich so sind.« »Wie viele Wachen?«, fragte Ragnar. »Hundertundfünf.« »Das ist eine Menge Sicherheit.« »Dieser Dienst ist eine Belohnung für Loyalität. Auf dem Asteroiden gibt es viele Zerstreuungsmöglichkeiten. Nicht alle Männer werden Dienst haben, obwohl alle in kürzester Zeit kampfbereit sein können.«
»Abwehrsysteme?« »Der Asteroid hat die üblichen Piratenabwehrsysteme. Wir werden sie vor dem Angriff neutralisieren. Dieses Schiff hat die Fähigkeiten dazu.« Ragnar fragte nicht, warum man sich dessen so sicher war. Normalerweise konnte es in einer Schlacht zwischen einem Schiff und einem befestigten Asteroiden nur einen Sieger geben. Auf einem ausgehöhlten Felsbrocken konnte man mehr Feuerkraft montieren als auf den meisten kleinen Schiffen. Aber die anderen schienen sicher zu sein. Wahrscheinlich waren Belisarius’ Quellen zuverlässig. Oder dieses Schiff war weitaus besser bewaffnet, als es den Anschein hatte. »Schwerkraft?«, fragte Torin. Das konnte wichtig sein. »Keine künstlichen Quellen. Sie stammt von der Eigenrotation.« Ragnar überlegte kurz. Das bedeutete, je tiefer sie zum Kern des Asteroiden vordrangen, desto geringer würde die Zentripetalkraft sein. Das konnte jähe Gewichtsschwankungen hervorrufen. Solche Dinge konnten beim Kampf in Nullgravitation von ausschlaggebender Bedeutung sein. »Was ist mit Überlebenden?«, fragte Ragnar. »Es wird keine geben. Wenn wir wieder verschwinden, wird es so aussehen, als habe es eine unglückliche, aber katastrophale Kollision mit einem verirrten Meteor gegeben. Solche Dinge kommen vor.« Die anderen Wölfe grinsten. Ragnar dachte über die Gefechtsaussichten nach. Sie waren nur zu viert, aber nachdem der Plan langsam Gestalt annahm, kam er zu dem Schluss, dass er höchstwahrscheinlich funktionieren würde. Sie würden mithilfe von Sprungtornistern vom abgeschirmten Schiff zum Asteroiden wechseln. Einmal gelandet, würden sie mit Thermalladungen einen großen Abschnitt der Wandung sprengen und in die Tunnel eindringen. Es hatte keinen Sinn, es auf irgendeine raffinierte Art zu versuchen. Jedes Öffnen einer Luftschleuse würde man bemerken, und Luftschleusen konnten leicht zu Todesfallen werden, wenn man in einer festsaß.
Der explosive Druckverlust würde zum Anspringen der Sicherheitssysteme führen. Unter den gegebenen Umständen würde drinnen Verwirrung herrschen, während man nach der Ursache des Systemversagens forschte. Der Feind würde Zeit damit vergeuden, in die Druckanzüge zu steigen und den bei Druckverlust geltenden normalen Prozeduren zu folgen. Die Schließung der Druckschleusen würde ihre Feinde in Gruppen aufteilen und zugleich in einzelnen Abschnitten einschließen, sodass es leichter wurde, sie zu erledigen. Die Wölfe würden sich nach innen zum zentralen Datenspeicher vorarbeiten und dabei alles töten, was sich ihnen in den Weg stellte. Sie würden den Datenspeicher sicherstellen und wieder verschwinden. Der Plan war simpel, was gut war. Aber Ragnar hatte genügend Erfahrung, um zu wissen, dass kein Plan, wie simpel er auch war, jemals glatt verlief, nicht einmal dann, wenn er von Wolfskriegern in die Tat umgesetzt wurde. Ragnar packte die Steuerelemente des Sprungtornisters und gab Gas. Ein Strahl verdichteten Gases schoss in den Raum, und er schwebte seitlich vom abgeschirmten Schiff weg. Er war unterwegs zu dem entfernten Asteroiden. Er hörte nichts, spürte aber unterwegs ein leichtes Beben im Tornister. Der Gasstrahl erzeugte keine Wärme. Und Energie wurde auch keine benutzt, sodass sie durch Sensordivination nicht aufzuspüren waren. Für die Magnetschirme trugen sie zu wenig Metall bei sich. Ein menschliches Wesen war zu klein, um bei den normalen Annäherungssensoren Alarm auszulösen, die vor Zusammenstößen mit Schiffen und größeren Asteroiden warnten. Es war zwar unwahrscheinlich, aber durchaus möglich, dass jemand bei genauem Hinsehen die Verdunkelung der Sterne bemerken würde, aber hier im Asteroidengürtel kam das angesichts der vielen umherfliegenden Gesteinsbrocken häufiger vor. Die Wahrscheinlichkeit, dass Objekte ihrer Größe ausgemacht wurden, war unendlich klein, aber die Möglichkeit bestand. Sie war real genug, um in Rag-
nar kleine Schauder kontrollierter Furcht zu erzeugen. Es war eine Sache, in der wilden Hektik einer Schlacht zu sterben, aber es war eine ganz andere, in der kalten, stillen Leere des Weltraums von einem Abwehrlaser zerstrahlt zu werden. Sein Helm war geschlossen, und die Aufbereitungssysteme funktionierten perfekt. Wenn es sein musste, konnte er hier draußen in der Leere Wochen überleben. Wie alle seine Schlachtbrüder war er buchstäblich ein kleines, sich selbst versorgendes Raumschiff. Nicht, dass es einen Unterschied machen würde, wenn sie hier strandeten. Wenn sie es nicht zurück zum Schiff schafften, hatten sie keine Möglichkeit, auch nur in die Nähe der Zivilisation zu gelangen. Wenn etwas schief ging, würde er nur noch eines von vielen Trümmerstücken hier im endlosen Orbit um die Sonne sein. Er fragte sich, wie viele andere es dort draußen bereits gab. Wenn er bedachte, wie viele Schlachten hier schon lange vor dem Imperium und der Horus-Ketzerei in diesem System ausgetragen worden waren, mussten es nicht wenige sein. Der Asteroid wurde größer in seinem Gesichtsfeld. Er konnte an den Seiten Lichter blinken sehen und die große geodätische Kuppel der Gärten erkennen, die das Anwesen mit einem Teil seiner Atmosphäre versorgten. An dem einen Ende des Asteroiden befand sich ein Wald aus Antennen und Schüsseln, welche den Asteroiden mit dem Kommnetz verbanden. In wenigen Minuten würden sie vom Kurierschiff der Belisarier gestört werden. Er fragte sich, ob dort unten jetzt jemand war und in seine Richtung schaute, ohne zu wissen, wie wenig Zeit er noch zu leben hatte. Es ist erstaunlich, wie lange man von alten Vorstellungen begleitet wird, dachte er. In der immensen Leere des Weltraums war »unten« eine bedeutungslose Vorstellung. Die Schwerkraft des Asteroiden reichte nicht, um ihn anzuziehen. Von dessen Oberfläche konnte ein Mensch in den Weltraum springen, so niedrig war seine Fluchtgeschwindigkeit. Jede Richtung konnte »oben« und »unten« sein. Doch sein Gehirn bestand darauf, in diesen Kategorien zu denken. Der As-
teroid war unten. Das Schiff war oben. Er sagte sich, dass solch eine Wahrnehmung im Raumkampf gefährlich sein mochte, weil man in der Lage sein musste, in drei Dimensionen zu denken. Sich mit Vorstellungen wie oben und unten einzuschränken konnte fatal sein. Der Asteroid wurde größer, schwoll zunächst zur Größe eines Apfels an, dann eines Felsens, dann eines Hauses. Er war so groß wie die Eisberge im Drachenmeer im Winter. Tunnel reichten tief unter die Oberfläche. Ihre Pläne, mit denen die belisarischen Spione sie versorgt hatten, waren in den Anzugsystemen gespeichert. Er fragte sich, wie genau sie waren. Wahrscheinlich waren sie gut, wenn die Navigatoren bereit waren, ihretwegen bei diesem Unternehmen so viel zu riskieren, aber man konnte nicht immer sicher sein. Der Informant brauchte nur einen Abschnitt oder eine verborgene Abwehranlage übersehen zu haben, und das Resultat würde furchtbar sein. Aber das waren die Risiken, die man einging. Ragnar war zuversichtlich, alles überwinden zu können, was ihm in die Quere kam. Schließlich war er einer von Russ’ Auserwählten. Sei vorsichtig, sagte er sich. Übersteigertes Selbstvertrauen hat schon mehr Männer getötet als Boltpatronen. Dies war eine höllisch unwirtliche Umgebung, und jeder Fehler konnte leicht der letzte sein. Er schaute sich nach seinen Kameraden um. Irgendwie sah jeder von ihnen genauso aus, wie Ragnar es sich vorgestellt hatte. Torin hatte die Arme vor der Brust verschränkt und hielt die Sprengladungen fest, während auf Bauchhöhe ein schweres Boltgewehr an einer Schlinge baumelte. Er war ganz entspannte Zuversicht. Haegr sah mit dem Helm und seiner Spezialrüstung seltsam aus. Seine klobige Silhouette erinnerte in keinerlei Hinsicht an einen Wolfskrieger. Ein riesiger Hammer war um seine Brust geschnallt. Valkoth sah sogar im freien Fall streng und bedrohlich aus. Sein Rücken war gerade, die Hände lagen fest auf den Steuerelementen. Ragnar schaute wieder zum Asteroiden. Er wusste, dass hier ein perfektes Timing nötig war. Es bedurfte eines Fünf-SekundenStrahls, um seine Geschwindigkeit vor dem Aufprall abzubremsen.
Eine harte Landung mochte zu einer Verletzung, einem Leck in der Rüstung oder sogar zum Tod führen. Das würde kein ruhmreiches Ende sein. Ragnar wollte nicht als der Mann in die Annalen des Ordens eingehen, der Russ’ Speer verloren hatte und dann beim Aufprall auf einen Felsbrocken gestorben war. Der Näherungssensor an seiner Rüstung gab Alarm. Ragnar machte sich an den Kontrollen seines Sprungtornisters zu schaffen. Aus dem Augenwinkel sah er seine Kameraden dasselbe tun. Einen Augenblick später wappnete er sich für die Landung. Seine Stiefel berührten die harte Oberfläche des Asteroiden. Sie waren unten. Der leichte Teil war vorbei.
11. Kapitel
Der Asteroid drehte sich unter ihm. Seine Bewegung drohte Ragnar wegzuschleudern. Er hob die Füße, da die Oberfläche unter ihm rotierte. Er benutzte den Sprungtornister und bewegte sich mit langsamen, kontrollierten Gasstößen. Die anderen taten dasselbe. Sie ähnelten Fischen, die über dem Meeresboden schwammen. Binnen Sekunden hatten sie die Stelle erreicht, wo sie eindringen wollten − ein großes Fenster über der Aussichtsplattform. Von innen sah es vermutlich eher wie ein Glasboden aus. Die Rotation des Asteroiden, mit der Schwerkraft simuliert wurde, zog die Leute zu den Außenwänden. Torin brachte die Thermalladung an. Sie entfernten sich von der Detonationsstelle und nahmen in Spalten Deckung, mit denen die felsige Seite des Asteroiden übersät war. Einen Moment später vertrieb ein greller Blitz die Schatten in der kleinen Schlucht. Ragnar schaute nach oben und sah eine funkelnde Kette kristallener Trümmer in den Raum schießen. Luft kristallisierte, als sie ins All entwich. Pflanzen, Gemälde und kleine Möbelstücke folgten ihr. Sie drangen ein. Ragnar erhöhte die Schubkraft der Düsen, um den Gegendruck der entweichenden Luft zu kompensieren. Sie hätten auch warten können, bis der Druckverlust vollständig war, aber Zeit war jetzt kostbar. Gleißende Lichtbahnen und Explosionen, die den Boden erschütterten, verrieten ihm, dass der Kurier zugeschlagen hatte und die Antennen und äußeren Abwehranlagen ausschaltete. Ein Gefühl der Desorientierung überkam Ragnar, als er durch das Sprengloch schwebte. Plötzlich schien sich oben und unten zu verkehren. Er war von der Außenseite auf die Innenseite dieser Hohlwelt gewechselt, und die Richtungen hatten sich jetzt vertauscht. Er überschlug sich in der Luft, landete auf den Füßen und drückte mit einer
Hand auf den Entriegelungsknopf für das Haltegeschirr des Sprungtornisters, während er mit der anderen seine Boltpistole zog. Bevor der Sprungtornister auf dem Boden lag, hielt er das Kettenschwert in der Hand und eilte bereits durch den Korridor. Auf dem Boden lagen Männer, die aus Nase, Ohren und Mund bluteten. Sie wanden sich vor Schmerzen, da ihnen der Druckverlust Lunge und Trommelfelle zerriss. Er schwang das Kettenschwert, da er keine Boltpatronen vergeuden wollte, um die Feinde von ihrem Elend zu erlösen. Die Temperatur sank rapide. An den Wänden blinkten Warnrunen und meldeten allen Überlebenden die Gefahr. Das gefiel Ragnar nicht. Der Helm schränkte seine Sinne ein. Er musste sich jetzt auf seine Augen verlassen. Gehör und Geruchssinn, die primären Informationsquellen der Wolfskrieger, waren nutzlos, wenn sie eingesperrt waren. Er nahm lediglich seine Atemgeräusche und den wiederaufbereiteten Gestank seines eigenen Körpers wahr. Er schaute sich um und sah seine Kameraden mit gezogenen Waffen in Stellung gehen. Torin warf sich sein schweres Boltgewehr über die Schulter und suchte in seinem Vielzweckgürtel nach Werkzeug. Haegr schwang seinen gewaltigen Hammer. Einstweilen waren sie vergleichsweise sicher. Etwaige Feinde hatten noch keine Zeit gehabt, ihre Anzüge anzulegen. Zweifellos waren sie verwirrt und wussten nicht, was passiert war. Torin war zu einer der internen Luftschleusen gegangen. Dies war der riskante Teil. Wenn sie Pantheus lebendig fangen wollten, mussten sie in das mit Luft gefüllte Innere des Anwesens eindringen. Das bedeutete, dass sie eine Luftschleuse benutzen mussten. Die Verwirrung würde ihnen hoffentlich helfen, aber es war trotzdem eine heikle Angelegenheit. Torin kniete sich neben die Tür. Er hatte einen Satz Werkzeuge gezückt und entfernte rasch die Abdeckung des Schlosses. Im Augenblick des Druckverlusts hatten sich alle Schleusen automatisch geschlossen, aber sie konnten immer noch manuell geöffnet werden. Sekunden später entwich wieder ein Schwall gefrierender Luft, als sich die Schleuse öffnete. Augenblicke später standen sie in der
Schleuse. Jetzt wurde es gefährlich. Wenn jemand in diesem Augenblick das System der Luftschleusen überwachte, war ihre Position jetzt bekannt. Das Personal an den Kontrollaltaren hatte jedoch hoffentlich andere Dinge im Sinn. Sie mochten das Öffnen einer Luftschleuse für einen Systemfehler halten, aber selbst wenn sie das taten, würde es noch ihre Aufmerksamkeit erregen. Jede Fehlfunktion einer Luftschleuse in einer versiegelten Umgebung würde das tun. Wenigstens konnte er jetzt wieder hören, nachdem sich die Außenschleuse geschlossen hatte und Luft in den Schleusenraum strömte, in dem wenig Platz für vier massige Marines und deren Waffen war. Wiederum wurde ihm unübersehbar deutlich gemacht, warum Luftschleusen sich den Ruf erworben hatten, Todesfallen bei derartigen Unternehmungen zu sein. Es bedurfte lediglich einer gut platzierten Granate, und die vier würden zu Russ’ Eisenhallen auffahren, um dort auf die Letzte Schlacht zu warten. Ragnar hielt den Atem an, den Blick starr auf die Innenschleuse gerichtet. Seine Waffe war bereit. Wenn jemand darauf wartete anzugreifen, war er sicher, vor ihnen einen Schuss abgeben zu können. Seine Reflexe waren weitaus schneller als diejenigen eines normalen Menschen, außer wenn sie unter Gefechtsdrogen standen. Dieser Gedanke hielt sich hartnäckig in seinem Hinterkopf. Die Schleusenkammer war jetzt mit Luft gefüllt. Grüne Lampen zeigten an, dass sich der Druck angeglichen hatte. Torin öffnete die Innenschleuse. Sie waren drinnen. Auch hier gab es Luft, und der Schall pflanzte sich gut genug fort. Ragnar hörte das Jaulen von Warnsirenen. Vor ihnen lag ein Gang und ein aufwärts führender Fahrstuhlschacht. Auch Fahrstühle waren Todesfallen, die es zu meiden galt. Ragnar öffnete seinen Helm und kostete die Luft. Sie war rein und atembar. Andernfalls hätte sich sein Helm gar nicht öffnen lassen. Unbekannte Gerüche stürmten auf ihn ein: Reinigungsessenzen, Körpergerüche, die niemals gänzlich tilgbaren Gerüche menschlicher
Ausscheidungen in einer versiegelten Umgebung. Er begrüßte sie alle wie alte Freunde, nahm tiefe Atemzüge davon und orientierte sich. Sofort fühlte er sich zuversichtlicher und fähiger, fühlte sich als Herr seiner Umgebung. Er hakte den Helm in seinen Gürtel ein. Seine Kameraden hatten dasselbe getan. »Meidet den Aufzug. Um die Ecke müsste es eine Wartungsrampe geben«, sagte Valkoth. Sein dunkles, hageres Gesicht sah grimmiger und ernster aus als sonst. Aber er hielt sein Boltgewehr gerade, und weder seine Haltung noch seine Witterung ließen Anspannung erkennen. Sie eilten an dem Aufzug vorbei, Ragnar voran, Torin am Ende und die beiden anderen in der Mitte. Ragnar spürte, wie Adrenalin freigesetzt wurde und ein absonderliches Gefühl der Freude mitbrachte. Vielleicht starb er hier, aber er fühlte sich vollkommen lebendig in dem Wissen, dass jede Minute seine letzte sein konnte. Ein Schwall von Witterungen warnte ihn, bevor er um die Ecke bog, dass er dort Menschen vorfinden würde. Eine Gruppe verwirrter Männer war gerade unterwegs zu ihren Notpositionen. Einer rief etwas in ein Interkom und wollte wissen, was passiert sei. Alle trugen Handfeuerwaffen. Ragnar wartete nicht darauf, von ihnen entdeckt zu werden. Er jagte Boltpatronen in den Anführer und sah den Kopf des Mannes explodieren, wie von einem Hammerschlag getroffen. Einen Moment später war Haegr an ihm vorbei und verwandelte den Rest des Mannes in blutige Fetzen roten Fleisches. »Was ist da los? Ich will eine Meldung!«, verlangte eine Stimme am anderen Ende des Interkoms. Torin stürmte vorbei und bellte: »Wandungsleck, Druckverlust und was sonst noch!«, dann zerschmetterte er das Gerät mit seinem Panzerhandschuh. Sie rannten die Rampe empor und betraten einen großen, offenen Flur. Die Wandbehänge waren luxuriös. Die Beleuchtung war matt und indirekt. Viele religiöse Bilder bedeckten die Wände, Darstellungen des goldenen Throns und des Gemetzels an den Mutanten. Man
hätte diesen Ort auch mit dem Kloster einer besonders sybaritischen religiösen Sekte verwechseln können. Vielleicht war er das sogar. Ragnar war durch diese äußerliche Zurschaustellung von Frömmigkeit nicht beeindruckt. Er hatte in der Vergangenheit schon viel zu oft Anhänger der Finsternis den Mantel der Heiligkeit tragen sehen. Ragnar fiel auf, dass er sich leichter fühlte, je höher sie kamen. Immer mehr Witterungen lagen in der Luft, verflüchtigten sich, da die Ventilatoren die Geruchsspuren vermischten, und verblassten. In diesem Anwesen gab es jedenfalls reichlich Männer. Einer von ihnen tauchte im Torbogen am anderen Ende des Flurs auf. »Wer, zum Teufel, seid ihr?«, fragte er. Ragnar schoss ihn nieder. Sie eilten weiter zu einer anderen Rampe. Mehr Männer tauchten hinter dem ersten auf, und eine Salve der Wölfe streckte sie nieder. Ragnar hörte sich entfernende Schritte. Offensichtlich versuchte einer zu entkommen. Sie durften nicht zulassen, dass er Alarm auslöste. Ragnar sprintete vorwärts, hechtete durch den Torbogen und kam geduckt in der Hoffnung hoch, sich unterhalb der Schusslinie eines Feindes zu befinden. Ein braun gekleideter Mann stand am anderen Ende des Gangs. Er schrie etwas in ein Interkom. Ragnar zielte und schoss. Der Mann ging mit einer riesigen Brustwunde zu Boden. Der nächste Schuss zerstörte das Interkom. Zu spät. Das Heulen der Sirene war jetzt nicht mehr stetig, sondern schwoll auf und ab. Ragnar nahm an, dass dies der Sicherheitsalarm war. »Sieht so aus, als hätte man uns entdeckt«, sagte Haegr hinter ihm. »Wirklich?«, sagte Torin. »Darauf wäre ich nie gekommen.« »Gut«, verkündete Haegr. »Ich habe noch nie gern Leute getötet, die sich nicht wehren konnten.« »Ihr tötet jeden, den ihr töten müsst, um diesen Auftrag zu erfüllen«, sagte Valkoth. »Vergesst das nicht!« Haegr grunzte. Sie eilten weiter. Ragnar spürte, wie sich überall ringsumher der Feind aufstellte. Die Wölfe erhöhten ihr Tempo. Je schneller sie sich von der Stelle ihrer Entdeckung entfernten, desto
schwerer würde es dem Feind fallen, seine überlegene Zahl und seine Kontrolle über die Anlage gegen sie zum Einsatz zu bringen. Je näher sie dem Kern des Asteroiden kamen, desto üppiger und verschwenderischer wurden die Zurschaustellungen der Frömmigkeit. Glasvitrinen in den Wänden enthielten Reliquien, die mit goldenen Plaketten gekennzeichnet waren. In rascher Folge passierten sie die Fingerknochen von Heiligen, Propheten und Gelehrten, die Totenmasken imperialer Helden sowie ein Boltgewehr, das Kommissar Richter getragen hatte. Alle Reliquien hatten eines gemeinsam. Sie waren mit berühmten Männern verbunden, die Abweichler leidenschaftlich gehasst hatten. Normalerweise hätte Ragnar dies nicht abgelehnt. Seine ganze Erziehung und Ausbildung hatte ihm die Vorstellung eingetrichtert, dass der Mutant der größte Feind der Menschheit war. Seltsam, überlegte er, dass er nun für die Verteidigung jener kämpfte, die viele als Mutanten betrachteten. Er schob diese Überlegungen beiseite. Er näherte sich gefährlich der Sünde der Relativierung. Eine Geruchswolke verriet ihm, dass sich weiter hinten Türen zu diesem Gang geöffnet hatten. Als er daraufhin herumfuhr, sah er eine Gruppe bewaffneter und gerüsteter Männer. Manche trugen eine Ganzkörperrüstung, um alle waren mit Lasergewehren bewaffnet. Bevor einer von ihnen schießen konnte, eröffnete Ragnar das Feuer. Seine Schlachtbrüder fielen ein. Mehr Männer wurden nieder gemäht. Laserstrahlen zuckten hinter Ragnar gegen dir Wand und warfen Blasen auf seiner Rüstung. Er duckte sich und sprang hin und her, um den Gegnern das Zielen zu erschweren. In dieser Enge und bei dieser Konzentration von Feuerkraft konnte der Feind gar nicht vermeiden, sie zu treffen. Ein kleiner eiförmiger Gegenstand flog von hinten über Ragnar hinweg. Er fiel auf den Boden und rollte durch den Gang in den Raum, wo die Wachen lauerten. Einen Augenblick später wurden sie von einer Explosion erfasst. Schreie und der Geruch nach Blut verrie-
ten Ragnar, dass sie sogar jene außer Sicht erwischt hatte. Sie eilten weiter. Ein statisches Knistern in Ragnars Ohrhörer verriet ihm, dass es dem Kurierschiff gelungen war, sich in das interne Kommnetz des Asteroiden einzuklinken. Er hörte ein Dutzend Stimmen plappern. »Es sind ein paar Dutzend!« »Wandung an drei Stellen durchbrochen!« »Feind in Quadrant vier gesichtet.« »Leichen gefunden. Anzeichen für Verstümmelung.« »Ich schwöre, dass ich Space Marines gesehen habe.« »Was?« »Was geht eigentlich vor?« »Wölfe.« »Belisarius. Es muss Belisarius sein.« »Möge der Imperator über euch wachen!« Ragnar drehte die Lautstärke seines Ohrhörers herunter, sodass die Stimmen seine Konzentration nicht beeinträchtigten. Es hörte sich an, als seien die Verteidiger schockiert und verwirrt. Was nicht weiter überraschend war. Die Runen auf seinem Chronometer verrieten ihm, dass erst Minuten seit Beginn des Einsatzes verstrichen waren. An dieser Stelle würden viele der Überlebenden immer noch damit beschäftigt sein, sich für den Kampf zu rüsten und sich um das Loch in der Wandung zu kümmern. So weit, so gut, dachte er und fragte sich, wann die ersten Dinge schief gehen würden. Sie fanden die Tür von Pantheus’ Gemächern verschlossen und verriegelt vor. Offenbar hatte er beschlossen, sich zu verbarrikadieren, bis der Grund für den Notfall klar war. Ragnar betrachtete das Portal. Es war eine massive Schutztür mit einem komplizierten Sicherheitsschloss. Um sie zu öffnen, war schweres Schneidewerkzeug vonnöten. Sie hatten dieses Werkzeug nicht. Er schaltete sich ins Kommnetz ein. Stimmen verrieten ihm, dass der Feind sich neu gruppierte und den Asteroiden nach ihnen durchsuchte. Offensichtlich war ihnen noch nicht klar, dass ihr Feind sich in ihr Kommnetz eingeschaltet hatte und somit ihre Schritte ver-
folgen konnte. Valkoth sah Torin an. »Wie lange?«, fragte er. »Das ist ein altes Modell. Reagiert auf Digitalcode und Netzhautscan.« »Ich habe nicht gefragt, was es ist. Ich habe gefragt, wie lange es dauert, es zu öffnen.« »Dreißig Sekunden«, sagte Torin. Er kniete sich mit seinen Werkzeugen hin und fing an, in dem Schloss herumzustochern. Ragnar fragte sich, wo Torin diese Fähigkeiten erworben hatte. Jedenfalls nicht bei seiner Ausbildung zum Wolfskrieger. »Ragnar, hör auf, Torin anzugaffen, und decke den Korridor ab. Haegr, du übernimmst die andere Richtung. Vielleicht könntest du den Hammer verstauen und zur Abwechslung eine weiter reichende Waffe benutzen.« »Das ist unsportlich«, sagte Haegr, indem er den Hammer in einen Halteriemen an seinem Rückengeschirr einhakte und dann zwei Boltpistolen zog. Ragnar richtete seine Aufmerksamkeit auf den Korridor und hielt seine Boltpistole bereit, falls ein Feind auftauchen sollte. Ein lautes Rülpsen verriet ihm, dass Haegr sich langweilte. Ragnar schaltete sich wieder ins Kommnetz ein. Ihre Feinde kamen näher. Einige von ihnen hatten schwere Waffen geholt. Es sah ganz so aus, als würden sich die weiteren Kämpfe weitaus schwieriger gestalten. Das eigentliche Problem war, Pantheus lebendig durch das Feuergefecht zu transportieren. Dabei würden sie ihre sämtlichen Fähigkeiten benötigen. Ein Zischen entweichender Luft verriet ihm, dass das Schloss nachgegeben hatte. »Das waren fünfundvierzig Sekunden«, sagte Valkoth. »Am Mechanismus war eine scharfe Brandladung gekoppelt. Ich hielt es für besser, mir etwas mehr Zeit zu nehmen, anstatt das Schloss zusammenschmelzen zu lassen und dabei meine Hand zu verlieren.« »Er könnte sich den Schnurrbart nicht mehr kämmen, wenn er eine
Hand verlöre«, sagte Haegr. »Eine echte Tragödie.« Torin war bereits in dem Gemach und hatte sein Boltgewehr im Anschlag. Das Mobiliar hätte auch einem Navigatorfürst zur Ehre gereicht. Eine Wand wurde von einem riesigen Spiegel beherrscht. »Er muss genauso eitel sein wie du, Torin«, sagte Haegr. »Aber nicht so hübsch«, versetzte Torin, während er sein Spiegelbild bewunderte. »Weniger Scherze, mehr Tempo«, sagte Valkoth. »Wo ist das Schwein?« Er ging weiter in das Gemach. Einen Moment später griff er in eine riesige Garderobe und schob einen Haufen schwerer, pelzbesetzter Gewänder beiseite. Rasch zog er einen unglaublich fetten Mann heraus. Ragnar erkannte Pantheus anhand der Beschreibung aus der Einsatzbesprechung wieder. In der niedrigen Schwerkraft des Kerns schwebte er leicht wie eine Feder. Zweifellos hatte er sich deshalb diesen Ort als Quartier ausgesucht. »Nicht so hübsch wie ich, aber fast so fett wie du«, sagte Torin. »Ihm fehlt meine raue fenrisische Vornehmheit«, sagte Haegr. »Haegr, deck die Tür«, befahl Valkoth. »Eine gute Wahl«, antwortete Haegr. »Torin würde zu viel Zeit damit vergeuden, sich im Spiegel zu bewundern.« Valkoth presste Pantheus an die Wand und schob ihm die Mündung seines Boltgewehrs in ein Nasenloch. Es war ein wenig zu eng. »Wo bewahrst du deine Unterlagen auf?« Die Furcht des Mannes war greifbar, aber er beherrschte sich sehr gut. »Das ist empörend. Ich werde eine Beschwerde einreichen …« »Du bist genau einen Herzschlag vom Tod weg«, sagte Valkoth. Bei seinem kalten Lächeln wurden seine langen Eckzähne entblößt. In diesem Augenblick hatte seine Miene nichts auch nur entfernt Menschliches an sich. Pantheus hätte ebenso gut einen grässlichen legendären Oger ansehen können. Valkoths Witterung verriet Ragnar, dass er Pantheus nicht töten würde, aber das konnte der Kaufmann nicht wissen.
Er griff sich an die Brust. Valkoths freie Hand schloss sich um Pantheus’ Handgelenk. Der Kaufmann zuckte zusammen. »Ich verwahre meine Aufzeichnungen in einem Speicherkristallmedaillon. Ich greife nicht nach einer Waffe.« »Das wäre das Letzte, was du je tun würdest«, sagte Valkoth. »Glaubst du, das wüsste ich nicht?« Pantheus zückte ein funkelndes Juwel an einer Halskette aus Platin. Ragnar spürte, wie die Anspannung in seinen Kameraden ein wenig nachließ. Sie waren zur Reaktion bereit gewesen, hätte der Kaufmann eine Schutzvorrichtung hervorgeholt. Das Juwel hatte nichts sonderlich Bedrohliches an sich. Valkoth nahm es und ließ es in einen kleinen Scanner fallen, den er seinem Vielzweckgürtel entnahm. Runen zeigten an, dass es ungefährlich war und Daten enthielt. »Und der Rest?«, sagte Valkoth. Pantheus zeigte mit einem Kopfnicken zur Wand. Dort hing ein Porträt von ihm, auf dem er bedeutend jünger und schlanker aussah. Das Bild war so verschieden von ihm, dass es eine andere Person hätte darstellen können. »Öffnen«, sagte Valkoth. »Keine Tricks, sonst stirbst du.« Der Angstgeruch verstärkte sich. Pantheus erwartete offenbar das Schlimmste von den Wolfskriegern. Der Kaufmann ging zu dem Bild und strich mit der Hand über eine Reihe von Runen. Er murmelte leise eine Öffnungsformel. Das Bild glitt zur Seite. Schätze funkelten dahinter. Nicht nur Speicherkristalle, sondern Juwelen aller Art. Der Kaufmann bewahrte hier einen kleinen Hort für Notfälle auf. Der Art nach zu urteilen, wie Torin alles in einem leeren Kissenbezug verstaute, würde er bald die Schatztruhen der Belisarier füllen. Valkoth fuhr mit seinem Scanner über den Kissenbezug. Er summte, und Runen kündeten vom Vorhandensein von Speicherkristallen. Es sah so aus, als hätten sie, weswegen sie gekommen waren. Jetzt mussten sie es nur noch zu einer Rettungskapsel schaffen und das Kurierschiff erreichen. Ein Kinderspiel, dachte Ragnar sarkastisch. Er wusste es besser. Alles war viel zu glatt gegangen. Die Dinge
mussten jeden Augenblick eine Wendung zum Schlechten nehmen. Das Krachen von Haegrs Pistolen verriet ihm, dass er sich nicht geirrt hatte. Die Schwierigkeiten hatten sie bereits gefunden.
12. Kapitel
»Nehmt es, nehmt alles!«, sagte Pantheus. »Lasst mich nur laufen.« Valkoth lächelte grimmig. Seine hängenden Schnurrbartenden und langen Eckzähne ließen das Lächeln sehr grausam wirken. »Du wirst uns begleiten.« »Was? Wohin?« Der Kaufmann sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Er sah kaum wie ein tödlicher Verschwörer aus. Vielleicht befand er sich nur im Schockzustand. Es kam nicht jeden Tag vor, dass vier Wolfskrieger in einen sicheren Asteroiden einbrachen und einen aus seinem Schlafgemach entführten. Das würde die meisten Leute aus der Bahn werfen. »Du wirst uns begleiten. Mehr brauchst du nicht zu wissen.« »Aber meine Sammlung. Ich kann doch meine kostbaren Reliquien nicht zurücklassen.« »Sie werden dich noch früh genug verlassen.« »Was soll das heißen?« Valkoth hob sein Boltgewehr und richtete es direkt auf Pantheus’ Kopf. »Schluss mit dem Geplauder. Du kommst mit uns. Ragnar, pass auf ihn auf.« Valkoth drehte sich um und ging mit Torin zur Tür. Ragnar drückte Pantheus seine Boltpistole ins Kreuz »Beweg dich«, sagte er. »Oder ich puste dir ein Loch in den Bauch, das groß genug für deinen Kopf ist.« Pantheus bewegte sich. Haegr war in den Korridor vorgerückt. Das konnte Ragnar dem Krachen der Boltpistolenschüsse entnehmen. Laserstrahlen klatschten gegen die Wände. Die Oberfläche war geschmolzen und zerlief, und die Farbe warf Blasen und platzte weg, sodass der harte Fels darunter sichtbar wurde. Torin und Valkoth rückten vor. Torin deckte
sie nach hinten ab, während Valkoth in der geringen Schwerkraft nach vorn sprang und Haegrs Boltpistolenfeuer mit seinem Boltgewehr verstärkte. Im Korridor war jetzt nicht mehr viel am Leben. Ein Haufen Leichen schwelte vor sich hin. Haegr und Valkoth gingen an ihnen vorbei. Ragnar stieß Pantheus mit seiner Boltpistole an. Der Kaufmann war die niedrige Schwerkraft gewöhnt und bewegte sich mühelos. Einstweilen schien er keine Mühe zu haben, mit den Wölfen Schritt zu halten. Sie würden sehen, was passierte, wenn sein Gewicht in den unteren Ebenen des Asteroiden zunahm. Die Gespräche im Kommnetz verrieten Ragnar, dass die Besatzung des Asteroiden sich zusammengereimt hatte, was vorging. Sie wussten, dass jemand in Pantheus’ Gemacher eingedrungen und der Kaufmann gefangen genommen worden war. Es musste ziemlich leicht für sie sein, darauf zu kommen, was als Nächstes geschehen würde, obwohl dies offenbar noch niemand geschafft hatte. Hätte er das Kommando gehabt, hätte er alle Luftschleusen nach draußen und alle Rettungskapseln bewachen lassen. Vielleicht war er den feindlichen Kommandanten gegenüber ungerecht. Sie hatten andere Dinge im Kopf, und normale Menschen waren einfach nicht in der Lage, so schnell zu denken und zu reagieren wie Space Marines. Die Wandung ihres Asteroiden war durchbrochen, und wenn sie sie nicht wieder versiegeln konnten, waren sie tot. Er bezweifelte, dass es genügend Luftreserven gab, um den Verlust ersetzen zu können. Und dann war da noch der Kurier, ein starkes Feindschiff, das ihre Langstreckenkommunikationsantennen und Abwehrstellungen vernichtet hatte. Es sah so aus, als sei das Element der Überraschung ein überwältigender Erfolg gewesen. Sein Chronometer verriet ihm, dass seit Beginn des Unternehmens weniger als zehn Minuten verstrichen waren. Je tiefer sie kamen, desto zäher wurde der Widerstand. Jedermann wusste, dass Feinde an Bord waren. Sie waren wachsam und bewaff-
net, und die meisten trugen eine leichte Raumrüstung. Die Marines rückten so schnell vor, dass sie jeden überwältigten, dem sie begegneten. Sie gaben immer den ersten Schuss ab, und oft war das der letzte. Pantheus atmete keuchend und stoßweise, und er schien einer Ohnmacht nahe zu sein. Ragnar vermutete, dass er jedes zusätzliche Kilo spürte, obwohl die Schwerkraft hier immer noch viel geringer war als auf der Erde. Er fragte sich, was der Mann machte, wenn er auf Terra war. Zweifellos benutzte er Suspensoren, um sein Gewicht zu verringern. Vor ihnen lag die Rettungskapsel, die sie sich zur Flucht ausgesucht hatten. Sie betraten gerade den Korridor, als eine Gruppe von Männern in brauner Uniform am anderen Ende auftauchte. Haegr eröffnete das Feuer und mähte sie nieder. Ragnar stieß Pantheus in die Rettungskapsel. »Geh mit ihm, Ragnar«, sagte Valkoth. Obwohl er den Drang verspürte, zu bleiben und zu kämpfen, befolgte Ragnar den Befehl. Sie konnten das Risiko nicht eingehen, dass der Kaufmann die Kapsel ohne sie aktivierte. Ohne ihren Peilsender würde das Kurierschiff die Kapsel zerstören. Die Belisarier würden nicht das Risiko eingehen, dass jemand entkam und herumerzählen konnte, was passiert war. Ragnar folgte dem Kaufmann mit vorgehaltener Waffe. Draußen feuerten die anderen weiter. Ragnar war klar, warum. Wie Aufzüge konnten Rettungskapseln zur Todesfalle werden, wenn sie im falschen Moment angegriffen wurden. Wenn jemand eine Granate warf, solange die Schleuse geöffnet war, konnte die Explosion in dem beengten Raum katastrophale Folgen haben. Laserstrahlen umtanzten jetzt die Wölfe. Manche trafen. Die Keramitrüstung warf an mehreren Stellen Blasen. Einer nach dem anderen sprangen die Wölfe durch die Schleuse, bis nur noch Haegr draußen war. »Reiß dich los und komm jetzt!«, sagte Valkoth, als es so aussah, als wolle Haegr den ganzen Tag kämpfen. Der massige Wolfskrieger
knurrte. Sein Bart sträubte sich, und seine Schweinsäuglein blinzelten. Einen Moment sah es so aus, als wolle er den Gehorsam verweigern. Valkoth knurrte kehlig, und die Drohung und der Befehl waren nicht zu überhören. Es war, als rufe ein Wolfsrudelführer einen jungen, unerfahrenen Herausforderer zur Ordnung. Ein wenig beschämt gab Haegr noch ein paar Schüsse ab und warf sich dann ebenfalls in die Kapsel. »Schnall dich an«, bellte Valkoth den Kaufmann an. Die anderen Wölfe schlossen bereits die Gurte und ließen die Helme einrasten. Torin drückte auf die Notstartrune, und die Rettungskapsel löste sich aus ihren Haltevorrichtungen und glitt die Abschussrampe entlang ins All. Im Kommnetz der Wölfe wurde es endlich still, da ihre Peilbojen zu senden anfingen. Die Beschleunigung presste sie in die Polsterliegen. Pantheus’ Fett kräuselte sich wie Wellen. Dieser Effekt war besonders an seinem Doppelkinn bemerkenswert. »Tja, wir haben’s geschafft«, sagte Torin. »Nur, wenn es den Belisariern gelingt, uns nicht in Fetzen zu schießen«, sagte Haegr. Ragnar schaute durch das Bullauge und sah den Asteroiden hinter ihnen kleiner werden. Augenblicke später fegte ein Inferno von Explosionen über dessen Oberfläche hinweg, als der Kurier anfing, ihn in Schutt und Asche zu legen. »So viel zu einem Zusammenstoß mit einem Asteroiden«, sagte Torin. »Ich glaube nicht, dass so schnell jemand kommt und nachsieht. Und wenn sie erst mit den Sprengladungen fertig sind, gibt es ohnehin nicht mehr viel zu finden.« Pantheus schnappte nach Luft. Er war sehr blass. Ragnar war nicht überrascht. Der Kaufmann sah zu, wie Milliarden Dukaten in Gestalt seines Anwesens zerstört wurden. Und er befand sich in der Gewalt von Männern, die nicht davor zurückschrecken würden, ihm auch persönlich schweren Schaden zuzufügen. Pantheus hatte zweifellos schon bessere Zeiten erlebt.
Es dauerte fast eine Stunde, bis der Kurier sie aufnahm, und Warten war unangenehm für Ragnar. Wie immer bestand die Möglichkeit, dass irgendetwas schief ging. Ein verirrter Felsbrocken oder sonst etwas konnte sie treffen. Die Systeme mochten versagen und Pantheus töten. Solche Dinge waren schon vorgekommen. Er war froh, als die massige Form des Kuriers im Bullauge auftauchte und sie in sein Maul schaufelte, als verschlinge ein Wal Krabben. Alarik wartete im Hangar. Raumfahrer auf dem Kurier hielten Lasergewehre auf die Rettungskapsel gerichtet, zweifellos für den Fall, dass sie einen Fehler gemacht und die falsche Kapsel an Bord geholt hatten. Valkoth stieg als Erster aus, das Boltgewehr nach oben gerichtet. Unter diesen Umständen ging man besser nicht das Risiko ein, dass es ein Missverständnis gab. »Wie ich sehe, habt ihr ihn erwischt«, sagte Alarik. »Gab es daran irgendwelche Zweifel?«, fragte Haegr. »Manchmal entwickeln sich Dinge anders als gedacht«, sagte Alarik. »Wie gut Truppen und Plan auch sein mögen.« »In diesem Fall nicht«, sagte Haegr. Er klang fast ein wenig hochmütig. »Das tun sie nie, wenn der gewaltige Haegr beteiligt ist.« »Haegr kämpft für zwei«, sagte Torin. »Was ihm nicht schwer fällt, weil er genug Masse für vier hat.« »Wie ich sehe, habe ich deine üblichen Prügel zu lange vernachlässigt, Torin«, entgegnete Haegr. »Alle hier wissen, dass ich die Tapferkeit von fünf Männern habe.« »Und genug Eitelkeit für zehn.« »Du scheinst entschlossen zu sein, die Wahrheit zu verleugnen und das letzte Wort zu haben«, brummte Haegr. »Zum Glück bin ich nicht so niederträchtig wie du.« Alariks Männer führten Pantheus ab. Er sah besiegt und geschrumpft aus, wie eine Blase, aus der man die Luft gelassen hatte. Ragnar fiel auf, dass er hinkte. Er war offenbar nicht daran gewöhnt, sein Gewicht zu tragen, und wusste genau, was ihn in den Verhör-
zimmern erwartete. »Er braucht dir nicht Leid zu tun, mein Freund«, sagte Torin. »Pantheus ist für den Tod vieler guter Männer verantwortlich.« »Ich habe Hunger«, sagte Haegr. »Töten regt immer meinen Appetit an.« »Das gilt normalerweise auch fürs Schlafen«, sagte Torin. »Holt euch etwas zu essen und ruht euch aus«, sagte Valkoth, der sich bereits entfernte, um dann noch hinzuzufügen: »Gut gemacht.« Nach der Gewalt des Angriffs auf den Asteroiden war Ragnar ein wenig erschüttert. Die Augenblicke des Kampfes blieben ihm mit sonderbarer Intensität im Gedächtnis haften, und alles andere kam ihm vergleichsweise matt und farblos vor. Er hatte schon öfter sagen hören, dass Wolfskrieger eben so waren. Teile ihres Gehirns waren verändert worden, damit sie genauso reagierten, sodass sie versessen auf den Kampf waren. Ragnar wusste nicht, ob dies tatsächlich der Fall war. Vielleicht war es auch einfach nur ein Resultat des Vorgangs, der die Bestie in ihm geweckt hatte. Vielleicht waren die schärferen Erinnerungen lediglich ein Produkt seiner schärferen Sinne, die sich alle Mühe gaben, ihn am Leben zu erhalten. Er schlich im Schiff herum wie ein Wolf auf der Suche nach einer Rotwildwitterung. Er wollte nicht schlafen. Es gelüstete ihn nicht nach Wein oder Ale. Er war nicht hungrig. Er fühlte sich unbehaglich. Das lag zum Teil auch an den unvertrauten Gerüchen, von denen er umgeben war. Wenn er sonst aus der Schlacht heimkehrte, waren da immer die Witterungen vieler Schlachtbrüder. Wenn sie auf einem Schiff waren, lag immer der vertraute Geruch von Fenris und der Leiber jener in der Luft, die in den Flotten des Ordens Dienst getan hatten. Jetzt war er woanders. Die Duftbeimischungen in den Wiederaufbereitungsanlagen, die Bilder und Runen auf den Schiffswänden, die Uniformen jener in seiner Umgebung waren anders als das, was er gewohnt war. Nur die schwachen Duftspuren der anderen Wolfsklin-
gen erinnerten ihn an zu Hause. Doch selbst die waren anders. Ihnen hafteten die vielen Jahre des Aufenthalts auf Terra an, der lange Verzehr anderer Nahrung und das Umgebensein von anderen Dingen. Er war jetzt weit von zu Hause entfernt. Gewöhne dich daran, sagte er sich. Es ist deine Pflicht, dem Imperator und dem Orden zu dienen, wohin man dich auch schickt. Wenn du lange genug lebst, wirst du zweifellos auch noch zu merkwürdigeren und weniger gastlichen Orten als diesem geschickt. Es war eine Sache, vom komplizierten Netzwerk imperialer Politik zu wissen. Es war jedoch eine ganz andere, sie zu erleben und aus erster Hand davon zu erfahren, wie es auch ein gewaltiger Unterschied war, die Geschichte einer Schlacht zu lesen und tatsächlich einem Feind Aug in Aug gegenüberzutreten. Seine Schritte hatten ihn in einen Teil des Schiffs geführt, den er zuvor gemieden hatte. Ein sofort identifizierbarer Geruch lag in der Luft. Blut, dachte er. Und Schweiß und Schmerzen, all das mit Spuren von Ozon durchsetzt. Er ging näher, und seine Ohren, die schärfer als die jedes gewöhnlichen Menschen waren, schnappten etwas auf, das nur Schreie sein konnten, die durch eine vorgeblich schalldichte Tür drangen. Als er um eine Ecke bog, hoben zwei Männer in der Uniform der Belisarius-Garde ihre Waffen. Ihre Bewegungen kamen Ragnar absurd langsam vor. Bevor sie die Waffen auf ihn gerichtet hatten, hätte er seine eigene ziehen oder vorspringen und beiden das Genick brechen können. Sie erkannten ihn und senkten die Waffen wieder. Ihm fiel unwillkürlich auf, dass sie beide blass aussahen und ihre Stirn von einem dünnen Schweißfilm bedeckt war. Sie wussten ganz eindeutig, was hinter der verschlossenen Tür vorging. Ragnar wusste es auch. Pantheus wurde verhört. Im Vorbeigehen schüttelte er angewidert den Kopf. Solche Dinge gefielen ihm nicht. Es war eine Sache, die Feinde im offenen Kampf zu töten, es war eine ganz andere, sie zu foltern, um Informationen aus ihnen herauszuholen. Er schüttelte wiederum den Kopf, diesmal über seine
Weichheit. Folter war eines der Instrumente der imperialen Herrschaft. Die Inquisition wandte sie an. Planetare Statthalter wandten sie an, wenn Informationen vonnöten waren. Er kannte alle Argumente für sie. Besser, ein Dutzend Ketzer litt als auch nur ein Unschuldiger. Verdienten Ketzer nicht jede Strafe, die man ihnen aufbürdete? Vielleicht. Er begriff die Logik dahinter, aber auch in diesem Fall waren Wissen und Wirklichkeit zwei verschiedene Dinge. Und er wusste, solange er lebte, würde er die Folter nie gutheißen können. Die Vorstellung, dass Pantheus vielleicht nicht einmal ein Ketzer, sondern ein ergebener Anhänger des Imperators war, nagte an ihm. Was hier vorging, hatte nichts mit dem Schutz des Imperiums oder der Erhaltung der Menschheit zu tun. Es ging lediglich darum, dass eine Fraktion versuchte, einen politischen Vorteil gegenüber einer anderen zu erringen. Es war nur eines von vielen Scharmützeln in dem langen Ringen, in dem eine unendlich reiche und mächtige Gruppierung innerhalb des Imperiums die Oberhand zu gewinnen trachtete. Die Bestie in ihm rührte sich. Sie begriff Grausamkeit und Finsternis und den Zwang, über Konkurrenten triumphieren zu müssen. Sie flüsterte ihm zu, dass sein Leben von dem Wissen abhängen mochte, das hier gewonnen wurde, aber auch seine Ehre und die Sicherheit von Haus Belisarius, die hochzuhalten sein Orden geschworen hatte. Aber vielleicht auch nicht, kam die Antwort. Der Mann, der jenseits der Masse versiegelten Metalls wimmerte, mochte gar nichts wissen. Das konnte nur die Zukunft enthüllen. Er schritt durch den Korridor und wünschte, er könnte seine bösen Gedanken abschütteln, wusste aber, dass es ihm nicht möglich war. »Was ist los mit dir, Ragnar?«, fragte Valkoth, als er die Kammer betrat, wo die anderen meditierten. »Du siehst aus, als hätten dir Orks in dein Ale gepisst.« »Auf Terra gibt es einige Alesorten, die dadurch gewinnen würden«, sagte Haegr kenntnisreich.
»Ich bin an dem Raum vorbeigekommen, in dem Pantheus verhört wird.« »Und?« Valkoth klang aufrichtig interessiert, und seine Witterung bestätigte diesen Eindruck. Die anderen schenkten ihm ihre volle Aufmerksamkeit. »Es hat sich angehört, als schnitten sie ihm den Blutadler in den Rücken.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Navigatoren etwas derart Primitives tun würden«, sagte Torin. »Sie benutzen Maschinen. Neurale Induktionsspulen, Elektroden. Auch Drogen, könnte ich mir vorstellen.« Für Ragnars Geschmack klang auch er etwas zu kenntnisreich. »Die alten Methoden sind die besten«, sagte Haegr. »Obwohl ich bezweifle, dass irgendeiner von diesen verweichlichten Terranern den Adler verkraften könnte. Dabei könnte ja etwas Blut auf ihre netten Uniformen spritzen.« »Vielleicht solltest du hingehen und ihnen zeigen, wie es gemacht wird«, sagte Valkoth verdrossen. »Schlagen Sie das besser nicht vor«, warf Torin ein. »Haegr würde nur vergessen, was er fragen soll, und stattdessen versuchen herauszufinden, wo er sein Essen aufbewahrt.« Ragnar fand den Witz nicht lustig. Ihre Einstellung schockierte ihn. Offensichtlich teilten sie sein Unbehagen über die Vorgänge nicht. Das konnte er ihrem Verhalten, ihrer Stimme und ihrer Witterung entnehmen. War es möglich, dass er der Einzige war, der hier ein Unrecht sah? Wenn ja, war es möglich, dass er derjenige war, der im Unrecht war, der mit seinen Kameraden und seiner Welt nicht mehr im Gleichschritt marschierte? War all das nur ein Zeichen für irgendeine Schwäche in ihm? Er schüttelte den Kopf und starrte freudlos aus dem Bullauge. Die in Stahl gehüllte Masse Terras war wieder zu sehen. Er freute sich nicht über die Rückkehr.
13. Kapitel
Ragnar lag in seinem Quartier im Palast und starrte an die Decke. Er nahm unwillkürlich die kunstvollen Stuckmuster wahr, komplexe Wirbel aus Blättern und Münzen, die etwas formten, das er für den Sternhimmel über Fenris hielt. Die tatsächlichen Sterne wären ihm sehr viel lieber gewesen, aber anscheinend wurde er nicht gefragt. Die Schwerkraft zerrte wieder an ihm, und es roch nach der Alten Erde. Er dachte darüber nach. Diese Luft war schon Milliarden und Milliarden und Milliarden Male geatmet worden. Sie war mit dem Staub vieler Zeitalter durchsetzt. Das Gewicht der Gebäude ringsumher kam ihm unglaublich und bedrückend vor. Ihm ging auf, dass dieser Palast sogar noch älter als der Reißzahn war. Doch der Reißzahn war ein einsames Wunder, eine gewaltige Basis, verborgen in einem gigantischen Berg, der eines der Wunder der Galaxis war. Dieser Palast war von ebenso alten Bauwerken umringt und stand auf den Ruinen von Bauten, die noch älter waren. Er hatte sagen hören, alle alten Zivilisationen der Erde seien hier immer noch zu finden, in den Erdschichten vergraben. Und wenn man tief genug grub, würde man sogar die Überreste solch legendärer Orte wie Atalantys und Nova Yoruk finden. Jedenfalls schien es möglich zu sein. Eine seltsame melancholische Trägheit erfüllte ihn. Die Ereignisse des vergangenen Tages hätten auch jemand anderem in einem anderen Leben widerfahren sein können. Der dicke Veloursteppich, die schweren Holzmöbel und die alten Kunstwerke verschworen sich, um die Erinnerung an die Schlacht traumähnlich zu machen. Solche Dinge könnten hier nicht passieren, flüsterten sie. Alles war viel zu alt, zu zivilisiert, zu behaglich. Er zwang sich hoch. Er wusste, dass das eine Illusion war. Viele, viele Male waren die Straßen und Katakomben des alten Terras rot
vom Blut gewesen. Zweifellos waren auch innerhalb der Mauern dieses Palasts Kämpfe ausgetragen worden. Und es hatte mit Sicherheit reichlich Tötungen und heimtückische Morde gegeben. Jemand klopfte an die Tür. Die Witterung verriet ihm, wer es war, bevor er sagte: »Herein.« »Seien Sie gegrüßt, Ragnar von Fenris.« »Seien Sie gegrüßt, Gabriella von Belisarius. Was führt Sie her?« Sie hielt kurz inne. »Ich wollte sehen, wie Sie die Dinge hier finden.« Ragnar erhob sich von seinem Lager und ging durch den Raum zu dem Tisch, wo das Essen stand. Es war einfache fenrisische Kost. »Seltsam«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Nicht so, wie ich erwartet habe.« »Was haben Sie denn erwartet?« »Heiligkeit. Ideale. Die leuchtende Ausstrahlung des Imperators.« »All das werden Sie auf Terra finden, wenn auch nicht in den Häusern der Navigatoren. Unsere Religion ist der Handel. Für uns hat Gold eine ganz eigene Heiligkeit.« Ragnar wusste, dass er über diese Worte hätte schockiert sein müssen, aber er war es nicht. Sie sprachen nur allzu deutlich das aus, was er selbst dachte. »Sie klingen so, als wären Sie damit nicht einverstanden.« Jetzt lächelte sie. »Ich fürchte, ich habe zu viel Zeit bei den strammen Kriegern von Fenris verbracht. Es könnte einige Zeit dauern, bis ich mich wieder daran gewöhnt habe, hier zu sein.« »Es sollte besser nicht zu lange dauern«, sagte Ragnar. »Das könnte sich sonst als tödlich erweisen.« »Ja. Das ist das Schwierige. In meiner Zeit bei den Wölfen habe ich viele Kämpfe erlebt und war nicht selten in Gefahr, aber ich bin nie von denjenigen in meiner unmittelbaren Umgebung bedroht worden. Ich brauchte mit meinen Worten und Gedanken nicht auf der Hut zu sein. Ich wusste, wer meine Feinde waren. Sie haben nicht gelächelt und mir Wein angeboten oder Interesse an einer Unterhaltung geheuchelt. Sie haben mit Waffen über den Abgrund des Alls hinweg auf
mich geschossen. Ich vermisse diese Einfachheit. Und ich fürchte, in den nächsten Tagen werde ich sie noch mehr vermissen.« Er musterte sie eingehend und fragte sich dabei, ob er ihre Worte für bare Münze nehmen sollte. Er betrachtete sie von allen Seiten, wie er es immer tat. Es war ein Kennzeichen dafür, wie seine wenigen Tage auf dem heiligen Boden Terras ihn verändert hatten. Wenn er ihre Worte für bare Münze nahm, konnte er sie nachempfinden. Er fühlte sich im trüben Gewässer der Navigatorpolitik ebenfalls fehl am Platz. Aber es gab noch andere Dinge zu berücksichtigen. Wenn sie nicht allgemein sprach − und er bezweifelte, dass sie es tat, denn er hatte gelernt, dass Navigatoren nur sehr selten etwas ohne Absicht taten −, dann hatte sie mit jenen geredet, von denen sie glaubte, dass sie ihre Feinde waren. Es war möglich, dass sie um ihr Leben fürchtete. »Warum erzählen Sie mir das?« »Weil Sie ein vertrautes Gesicht aus der Zeit vor meiner Rückkehr hierher sind. Sie sind ein Bindeglied zu jener einfacheren Zeit.« Das war möglich, überlegte Ragnar. Es ergab einen gewissen emotionalen Sinn, obwohl er kaum war, was sie einen engen Freund nennen konnte. Und er hatte ihr das Leben gerettet, also fühlte sie sich vielleicht bei ihm sicher. Außerdem hatte sie allen Grund, sich bedroht zu fühlen. Ihr Vater war vor Kurzem einem Anschlag zum Opfer gefallen, und ihr Klan war von mächtigen Feinden umringt. »Sind Sie von jemandem bedroht worden?«, fragte er. »Nicht direkt.« »Wie meinen Sie das?« »Ich meine damit, dass ich mich unwohl fühle und ich manchmal in den simpelsten Dingen verborgene Bedeutungen sehe.« »Das kann ich verstehen.« »Vielleicht, aber ich bezweifle, dass sie ganz genau begreifen können, wie kompliziert mein Leben ist.« »Erklären Sie es mir.« »Für Sie sind die Dinge sehr einfach, nicht wahr?«
»Sind sie das?« »Wie ich sehe, haben Sie Ihre Zeit hier nicht verbracht, ohne davon zu profitieren.« »Sie haben mir Ihre Lage nicht erklärt. Möchten Sie das nicht?« Sie machte eine kurze Pause und redete dann sehr klar und deutlich. »Im Hause Belisarius gibt es genauso Fraktionen wie in den anderen Navigatorhäusern. Sie wissen, was man sagt: Wenn sich zwei Navigatoren treffen, kommen dabei drei Verschwörungen heraus. Da ich fort war, habe ich keinem politischen Lager angehört. Jetzt sind mehrere davon an mich herangetreten, um festzustellen, ob ich sie unterstützen werde.« »Ist das so schlecht?« »Nein, das war zu erwarten. Aber es gibt die üblichen Andeutungen und versteckten Drohungen.« »Von wem?« »Von verschiedenen Leuten, Skorpeus eingeschlossen.« »Nehmen Sie sie ernst?« »Nach dem, was meinem Vater zugestoßen ist und was auf dem Schiff passiert ist? Ich nehme alles ernst. Die Dinge sind jetzt im Fluss. Die ganze Familie schwankt am Abgrund. Es gibt Leute, die das ausnutzen wollen, und die haben keine Skrupel.« Ragnar überlegte, dass die Dinge vielleicht genauso waren, wie sie sagte. Vielleicht redete sie nur mit ihm, weil er außerhalb der familiären Machtstruktur stand und eigentlich keine Gefahr für sie war. Vielleicht. Aber vielleicht hatte sie auch ein verborgenes Motiv. Versuchte sie ihn zu rekrutieren? Er hatte sie einmal gerettet. Vielleicht war es praktisch, wenn er es noch einmal tat. Er dachte darüber nach und konnte nichts Falsches darin erkennen. Er war hier, um die Belisarier zu beschützen, auch voreinander. Trotzdem wollte er sicher sein, dass er ganz genau begriff, was vorging. »Wollen Sie mich als Leibwächter haben?« »Nein. Diese Entscheidung können Sie ohnehin nicht treffen. Sie müssen die Aufgaben erfüllen, die Ihnen Lady Belisarius überträgt.«
»Das stimmt, aber nichts kann mich daran hindern, Augen und Ohren offen zu halten. Sie vor allen Leuten müssten eigentlich wissen, wie scharf sie sind.« »Würden Sie das tun?« In ihrer Stimme lagen Hoffnung und Dankbarkeit, und noch vor wenigen Tagen wäre er gerührt gewesen. Das war er auch jetzt, aber es machte ihn auch misstrauisch. Er fühlte sich, als werde er enger in ein Netz verwickelt. Er wusste, dass eine Zeit kommen würde, wo seine persönlichen Loyalitäten in Konflikt mit seinen Pflichten kommen mochten, wenn er dies hier fortdauern ließ. Er bleckte die Zähne zu einem Knurren. Diese Brücke würde er überqueren, wenn er davor stand. »In einer Stunde treffe ich mich mit meinem Cousin Skorpeus. Es wäre mir eine Freude, wenn Sie mich begleiten könnten.« »Ich bezweifle, dass Ihr Cousin in meiner Anwesenheit offen reden würde.« »Vielleicht ist das meine Absicht.« Ragnar zuckte die Achseln. »Es wird mir ein Vergnügen sein, Sie zu begleiten.« Der Blick von der Spitze des Belisarius-Palasts war umwerfend. Ragnar konnte durch den Dunst der Luftverschmutzung bis zum Horizont schauen. Die Verunreinigungen streuten und brachen das Sonnenlicht und schufen so einen Regenbogeneffekt am ganzen Himmel. Er konnte all die zerklüfteten alten Wolkenkratzer und die gewaltigen Paläste und Tempel des Navigatorenviertels sehen. Gabriella zeigte ihm die Wohnsitze verschiedener Navigatorfamilien und deren persönliche Landefelder. Sie schien jetzt glücklicher zu sein und eine angenehmere Gesellschaft. Ihre Sorgen waren von ihr abgefallen. Sie wirkte beinah verspielt, obwohl das angesichts ihrer Navigatorselbstbeherrschung vielleicht ein zu starkes Wort war. Hinter der Maske der Verspieltheit spürte er stählerne Selbstbeherrschung. Überall ringsumher herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Bediensteten. Sie schien sich ihrer nicht bewusster zu sein als
der Möbel. Ragnar war sich ihrer dagegen sehr wohl bewusst. Er musste es sein. Jede Person, die in Schlagdistanz kam, war eine potenzielle Bedrohung und musste auch als solche behandelt werden. Es hatte bereits einen Anschlag auf Gabriellas Leben gegeben, und ihr Vater war gestorben, obwohl er von seinen Wachen umringt gewesen war. Er fragte sich, wie leicht es sein würde, noch einen Attentäter in den Palast zu schleusen. Leicht genug, nahm er an, wenn man die richtigen Verbindungen hatte. Es war so ermüdend wie eine Nacht auf Streife, da er beständig auf der Hut sein und sich gleichzeitig auf die Unterhaltung konzentrieren musste. Er wusste, dass er aufmerksam sein musste. Navigatoren machten keine unnötigen Worte. Vielmehr glaubten sie daran, dass ein Satz so viele Bedeutungen haben sollte wie möglich, die meisten davon mehrdeutig. War das Teil ihrer Mutation?, fragte er sich. Dachten sie auf diese verschlungene Art, weil sie so geboren waren oder wegen der Gesellschaft, in die sie geboren wurden? Vielleicht ein wenig von beidem, entschied er. Ein Bediensteter kam ihnen zu nahe, und Ragnar funkelte ihn an. Der Mann wich erschrocken zurück. Ragnar konnte seine Furcht riechen und das Panikgefühl, das er in einem Mann wachrief. Er fand das schon ein wenig ärgerlich. Er stand hier neben einem Mutanten, und er, einer der Auserwählten des Imperators, war derjenige, vor dem sich die normalen Menschen fürchteten. Das ergab nicht viel Sinn. »Worüber denken Sie nach?«, fragte die Navigatorin. »Warum haben die Leute hier solche Angst vor mir? Manche hassen mich sogar, obwohl sie mich nicht einmal kennen.« »Sie sind ein Space Marine«, sagte sie, als erkläre das alles. »Und?« »Die Bewohner Terras haben schlechte Erinnerungen an Space Marines.« »Schlechte Erinnerungen? Die Orden verteidigen die Menschheit seit zehntausend Jahren. Sie sollten uns dankbar sein.« Ragnar war
überrascht über die Inbrunst seiner Erklärung. Etwas hatte einen Nerv getroffen. »Der Kriegsmeister hat diesen Planeten zerrissen. Er hat Gebiete mit der Bevölkerung einer Makropolwelt in Schlacke verwandelt. Sein Volk hat seinen finsteren Göttern Millionen geopfert.« »Horus war kein Space Marine«, erwiderte Ragnar sofort, aber noch während er die Worte aussprach, bedauerte er sie bereits. »Nein. Er war ein Primarch. Seine Anhänger waren Space Marines.« »Das kommt einer Beleidigung gefährlich nahe.« »Außerdem entspricht es zufällig der Wahrheit.« So gerne er es auch bestritten hätte, Ragnar konnte es nicht. »Die Leute hier wissen doch sicher, dass die Wölfe mit Horus’ Rebellion nichts zu tun hatten? Wir sind hierher gekommen und haben dagegen gekämpft.« »Aye, und Ihre Vorfahren waren auch nicht sehr freundlich. Sie haben viele Leute getötet.« »Viele Ketzer.« »Das mag sein, aber für die Leute hier waren sie auch Nachbarn, Freunde und Verwandte. Sie hingegen sind für sie Fremdweltler, die Feuer und Tod nach Terra gebracht haben.« Ragnar schwieg. Seine Ausbildung und Indoktrination hatten ihn auf so etwas wie das hier nicht vorbereitet. Er hatte sich die Mitglieder seines Ordens immer als Helden vorgestellt, dass all jene, die sie kannten, sie zumindest respektieren würden, während andere sie bewunderten. Er hatte nicht damit gerechnet, gehasst zu werden. Und diese Frau erzählte ihm, dass die Bewohner der heiligsten Welt des Imperiums sie fürchteten und hassten. »Feuer und Tod sind die Schirmherren des Krieges.« »Und Sie halten das für gut. Aber Leute, deren Gewerbe nicht der Krieg ist, sehen das anders.« »Sie sind schwach.« »Ich bin sicher, dass Sie sich mit dieser Art von Verachtung eine
Menge Freunde machen.« Ragnar sah ein, dass er diesen Streit nicht gewinnen konnte, vor allem deshalb, weil er den Verdacht hatte, dass Gabriella eine unangenehme Wahrheit aussprach. Änderte das irgendetwas? Ragnar glaubte es nicht. Die Wölfe würden ihre Pflicht erfüllen, ob sie von den Leuten, welche sie schützten, geliebt oder gehasst wurden. In Wirklichkeit fühlten sie sich nur unbedeutend. Die Navigatorin lächelte, als könne sie seine Gedanken lesen. »Sie sehen sicher, warum meine Leute und Ihre Ordensbrüder natürliche Verbündete sind«, sagte sie. »Wir sind beide mächtige Gruppierungen, die zu lieben die Herren des Imperiums keinen Grund haben.« Vielleicht stimmte das, aber es war nicht der Grund, warum sie Verbündete waren. »Die Wölfe sind durch das Wort von Russ gebunden. Deswegen sind wir Verbündete.« »Und glauben Sie, Russ hätte die Gründe nicht gesehen, warum so ein Bündnis nötig sein würde? Auch er war ein Primarch und sehr vorausschauend.« Ragnar wusste nicht, ob das wirklich stimmte. In den meisten Geschichten wurde Russ als kühner Krieger geschildert, ein wenig leichtsinnig und achtlos gegenüber den Erfordernissen der Politik, wenn Ehre im Spiel war. Aber er war ein Primarch, und wer konnte sagen, welche Visionen so ein Geist haben mochte? Diese Überlegungen brachten ihn wieder zu Russ’ Speer zurück, den er so gedankenlos verloren hatte. War es möglich, dass Russ dies vorhergesehen hatte, oder glaubte Ragnar dies, weil er es glauben wollte? Eine schwache Parfümwolke und die Pheromone des Navigatorgens verrieten Ragnar, dass sich jemand näherte. Er wandte den Kopf und sah, dass es sich um Skorpeus und dessen immer präsenten Handlanger handelte. Wenn es den Möchtegernbesitzer des belisarischen Throns aus der Fassung brachte, ihn zu sehen, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er lächelte glatt und verbeugte sich zuerst vor seiner Cousine und dann vor Ragnar. Ragnar nickte zurück.
»Liebste Cousine, es ist ein Vergnügen, Sie wiederzusehen. Wollen wir ein wenig spazieren gehen?« Er bot ihr seinen Arm an, und sie hakte sich bei ihm ein. Cousin und Cousine schritten gemeinsam über das Dach, und Ragnar und Beltharys folgten ihnen. Sie waren so weit hinter ihnen, dass sie nichts hören konnten, aber doch so nah, dass Ragnar jedes Wort verstand. »Ich höre, dass von einer Heirat die Rede ist, liebste Gabriella«, sagte Skorpeus. »Wessen?« »Na, Ihrer eigenen! Es gibt keinen Grund, schüchtern zu sein. Der ganze Palast redet darüber. Wir alle kennen den Zweck Ihres Besuchs bei diesem alten Ungeheuer Cezare.« »Ich habe den Feracci-Palast besucht, um unsere Tante zu besuchen. Sie ist krank.« »Natürlich«, sagte Skorpeus mit einem sarkastischen Hüsteln. »Aber es wurde auch über andere Dinge geredet. Das ist immer so.« »Es wurde auch über andere Dinge geredet, aber warum ist das für Sie von Interesse?« »Eine Heirat zwischen einem Feracci und einer Belisarius, eine Stärkung der Bande zwischen unseren beiden Häusern, wo gerade der alte Gorki auf dem Sterbebett liegt. Halten Sie das für einen Zufall?« »Es hat schon viele Heiraten zwischen unseren Häusern gegeben. Zweihundertzwölf, um genau zu sein.« »Wie ich sehe, haben Sie die Bücher des Bluts gründlich gelesen, liebste Cousine, da Sie die Zahl so genau kennen.« »Offensichtlich habe ich ein Interesse daran.« »Offensichtlich. Finden Sie es nicht … bemerkenswert, dass der alte Cezare unserem Haus seinen Sohn anbietet, während er gleichzeitig den kleineren Häusern beständig die Arme nach rechts und links dreht, um eben diesen Sohn in den Hohen Rat des Administratums wählen zu lassen?« Gabriella blieb wie angewurzelt stehen. Sie drehte sich um und sah
ihrem Cousin zum ersten Mal direkt ins Gesicht, wobei sie ihre Hand auf seine legte. Aus irgendeinem Grund schien er vor diesem Kontakt zurückzuschrecken. »Das ist mir neu.« »Das ist den meisten Leuten neu, aber dennoch versichere ich Ihnen, dass es stimmt. Lady Juliana weiß es ebenso gut wie ich.« »Woher wissen Sie es? Stand es in den Sternen?« »Ich habe andere Quellen als meine Tabellen. Wenn Sie sich daran nicht mehr erinnern können, waren Sie zu lange weg.« »Die anderen Häuser würden dem nie zustimmen. Einem Feracci auf dem Thron der Navigatoren. Das wäre ein Bruch des alten Vertrags und gäbe Cezare zu viel Macht.« »Trotzdem hält Cezare es offenbar für möglich, sonst würde er den Versuch gar nicht erst unternehmen. Er ist zu schlau, um etwas zu versuchen, das mit Sicherheit scheitern würde.« »Es ist unmöglich. Jedes Mal, wenn eines der großen Häuser es versucht, stößt es auf den erbitterten Widerstand der anderen. Deswegen werden immer Leute wie der alte Gorki ausgewählt − ein Niemand aus einem der kleinen Häuser, der nicht einmal etwas bewirken könnte, wenn er sich die größte Mühe gäbe.« Skorpeus gab ein grausames kleines Lachen von sich. »Ich fürchte, es ist ein wenig geschmacklos von Ihnen, so schlecht von einem Sterbenden zu reden, so wahr Ihre Worte auch sein mögen.« »Geschmacklos oder nicht, wir wissen beide, dass es stimmt. Wenn Cezare Feracci die Absicht hat, das zu ändern, wird er etwas zerstören, das in den letzten zwei Millennien für Frieden zwischen den Häusern gesorgt hat.« »Und Sie glauben, das würde unseren lieben angeheirateten Verwandten bekümmern? Seien Sie nicht so naiv, liebe Cousine. Er ist der rücksichtsloseste und ehrgeizigste Mann in dieser Galaxis, und er hat Freunde in den höchsten Stellen. Ich sage Ihnen, Cezare will einen aus seiner Brut auf den Thron setzen und Primus inter pares werden.« »Seit Jormela dem Wahnsinnigen hat niemand mehr diesen Titel für
sich beansprucht.« »Nur weil es niemand getan hat, heißt das nicht, dass nicht viele daran gedacht haben.« »Vielleicht Sie selbst eingeschlossen.« »Wie könnte ich danach trachten? Ich sitze nicht einmal auf dem Thron meines eigenen Hauses.« »Nein, aber das gilt auch für Misha Feracci.« »Es freut mich, dass Sie das, was ich Ihnen sage, so ernst nehmen.« »Halten Sie es wirklich für möglich?« »Sehen Sie sich doch um. Cezare gibt sein Geld aus wie Wasser. Die Anführer dreier großer Häuser sind praktischerweise tot. Neue, unerfahrene Herrscher regieren. Jetzt schlägt er ein Heiratsbündnis mit uns vor: zwischen Ihnen und seinem jungen, unerfahrenen und gefügigen Sohn. Das könnte man als ein Angebot der Machtteilung betrachten.« »Aber Sie glauben nicht, dass es das ist.« »Cezare wird mit niemandem Macht teilen. Das müssen Sie ebenso gut wissen wie ich.« »Wollen Sie ernsthaft andeuten, er hatte seine Hand bei der Ermordung von drei Herrschern im Spiel − beim Tod meines Vaters?« »Ich sage nur, es ist doch ein seltsamer Zufall, dass sie alle in dem Augenblick sterben, als Fürst Feracci den größten Coup seit zwei Millennien plant.« »Er muss doch wissen, dass er damit nicht durchkommen kann.« »Meine Liebe, Sie wiederholen sich. Cezare kommt damit durch.« »Er muss doch wissen, dass es Vergeltung geben wird.« »Wird es? Wenn seine Hauptkonkurrenten tot sind und sein Sohn auf dem Navigatorenthron sitzt, wird er sich als mächtigster Navigator seit Tareno bewiesen haben. Die kleinen Häuser werden sich anstellen, um ihm die Ehre zu erweisen. Die hohen Lords aus dem Administratum werden ihn hofieren. Die großen Häuser werden sich alle Mühe geben, ihn nicht zu beleidigen.« »Es ist unmöglich.«
»Liebste Cousine, die großen Häuser sind fett, selbstzufrieden und ihres Erfolgs gewiss geworden. In solchen Zeiten kommen immer die Raubtiere aus dem Gebüsch. Cezare Feracci ist ein Raubtier.« »Warum erzählen Sie mir das?« »Mir kommt es so vor, als müssten wir uns entweder mit einer neuen Ordnung anfreunden oder zuschlagen, bevor Cezare zu mächtig wird, um noch aufgehalten werden zu können.« »Das ist ein Gespräch, das Sie mit Lady Juliana führen sollten.« »Das ist bereits geschehen, aber sie braucht Zeit, um darüber nachzudenken.« Der höhnische Unterton war schwach, aber hörbar. »Warum führen Sie es dann noch mit mir?« »Sie sind diejenige, die in die Feracci-Familie einheiraten soll.« Mehr brauchte er nicht zu sagen. Selbst Ragnar konnte der Gedankenkette folgen. Gabriella heiratete vielleicht in die Feracci-Familie ein. Ihr Vater war von Cezare getötet worden, wenn das stimmte, was dieser raffinierte Mann sagte. Deutete er wirklich an, sie solle die Ermordung des Fürsten der Feraccis in Erwägung ziehen? »Ich werde über Ihre Worte nachdenken, Cousin«, sagte Gabriella, indem sie sich von ihm löste und sich förmlich mit einer Hand auf dem Herzen verbeugte. »Überlegen Sie nicht zu lange«, sagte Skorpeus, indem er sich vor ihr und dann vor Ragnar verbeugte, bevor er sich zurückzog. Ragnar hatte den Eindruck, dass der Navigator ihn wissend ansah, bevor er endgültig ging.
14. Kapitel
Torin untersuchte den Raum noch einmal mit dem Lausch-Augur, dann entspannte er sich und lächelte. Ragnar war froh, dass er gleich nach dem Treffen von Skorpeus und Gabriella zu ihm gegangen war. Torin schien genau der Mann zu sein, den man unter den gegebenen Umständen um Rat fragte. »Ach, Ragnar, alter Junge«, sagte er. »Noch keine Woche hier und bereits knietief in Verschwörungen verstrickt. Das ist der richtige Geist.« Ragnar hörte den Spott in seinem Tonfall und spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Torins Lächeln wurde breiter, als wisse er, wie Ragnar empfand, und dann war es plötzlich wie weggewischt. »Skorpeus ist ein raffinierter Mann«, sagte er. In seiner Stimme lag Verachtung. Ragnar wusste nicht, ob sie auf Skorpeus’ unterstellter Raffinesse beruhte oder darauf, dass Torin glaubte, der Navigator sei nicht raffiniert genug. Er sah sich im Gemach seines Schlachtbruders um. Es war das genaue Gegenteil seines eigenen. Es gab ein Suspensorhimmelbett und alte Gemälde entfernter Landschaften. Eines zeigte einen einarmigen Krieger auf einem Pferd, der Befehle rief, während er dramatisch durch den Schnee ritt. Zweifellos war er in seiner Zeit ein großer Krieger gewesen. »Hat er Recht?«, fragte Ragnar. »Beinahe mit Sicherheit. Die Navigatoren reden schon seit Monaten darüber. Sie sind sehr gut darin, sich nicht belauschen zu lassen, aber manchmal vergessen sie, wie scharf unsere Ohren sind.« »Was würde es für uns bedeuten, wenn Cezare sein Werkzeug auf den Thron bekommt?« »Meinst du mit ›uns‹ die Wölfe?«
»Wen sollte ich sonst meinen?« »Du bist jetzt Gefolgsmann des Hauses Belisarius, Ragnar.« »Unsere Interessen in dieser Angelegenheit sind identisch.« »Du bist raffinierter, als du aussiehst, junger Wolf«, erwiderte Torin. Er goss sich ein Glas eines narkotisierenden Weins ein und nippte vornehm daran. Das Kristallglas und der verzierte Dekanter sahen in seinem Panzerhandschuh unpassend aus, und seine Miene wäre auch auf dem Gesicht eines Navigators nicht fehl am Platz gewesen. »Du glaubst, er will Gabriella benutzen, um Cezare zu ermorden?« »Glaubst du wirklich, sie könnte das?« »Vielleicht um den Preis ihres eigenen Lebens. Jeder ist verwundbar, wenn man nahe genug herankommt.« »Fürst Feracci wird außerordentlich gut geschützt sein.« »Dann sagst du also nein.« »Sie könnte es nicht, aber es gibt einen Anwesenden, der es könnte.« »Du meinst entweder Beltharys oder mich?« »Jetzt stellst du dich dümmer, als du bist, Ragnar. Warum sollte Skorpeus diese Angelegenheit mit ihr besprechen, wenn er die Absicht hätte, Beltharys zu benutzen?« »Er könnte nicht gewusst haben, dass ich zuhöre.« »Männer wie Skorpeus vergessen solche Dinge niemals, alter Junge.« »Warum hat er mich dann nicht direkt angesprochen?« »Weil er es nicht abstreiten könnte, wenn er es getan hätte. Aber wenn ein gewisser heißblütiger junger Wolfskrieger sich in den Kopf gesetzt hätte, Skorpeus’ Attentate für ihn auszuführen, könnte er sogar unter Wahrheitsmaschinen ehrlich sagen, dass er niemals mit dir darüber geredet hat.« »Das scheint mir eine sehr spitzfindige Unterscheidung zu sein.« »Du musst anfangen, wie ein Navigator zu denken.« »Woher sollte er gewusst haben, dass ich sie begleiten würde?« »Vielleicht haben sie es zusammen ausgeklügelt.«
»Was?« »Du hast mich schon verstanden.« »Willst du damit sagen, dass die beiden gemeinsame Sache machen?« »Ich sage nur, dass es möglich ist. Ein galanter, naiver junger Wolfskrieger, der eine Gefahr für eine junge Frau wittert, der er bereits einmal das Leben gerettet hat, handelt, um sie vor möglichem Schaden zu bewahren. Das hat einen gewissen Anflug von tragischer Romantik.« »Es klingt sehr unwahrscheinlich.« »Ragnar, wenn du so lange auf Terra warst wie ich, wirst du wissen, dass nichts zu weit hergeholt ist, um es zu berücksichtigen, wenn es um das Ränkeschmieden der Navigatoren geht. Wenn Skorpeus Cezares Tod will und auch nur die geringste Aussicht besteht, dass du es tun könntest, warum sollte er die Gelegenheit nicht ergreifen? Er hat nichts zu verlieren und alles zu gewinnen.« Darin konnte Ragnar eine gewisse Logik erkennen. Die Frage war, hielt er Ragnar wirklich für dumm genug, darauf hereinzufallen? Wahrscheinlich war auch das möglich. »Willst du damit andeuten, dass die Navigatoren zu viel von ihrer eigenen Intelligenz und zu wenig von unserer halten?« »Wir sind Barbaren für sie, Ragnar. Nützliche Barbaren, aber trotzdem Barbaren. Aber unterschätze sie nicht. Die meisten Navigatoren sind tatsächlich so clever, wie sie glauben. Anders würden sie nicht überleben. Sie sind für Verschwörungen geboren und ausgebildet, wie wir für den Krieg geboren und ausgebildet sind.« »Das ist ein interessanter Gedanke.« Außerdem konnte Ragnar erkennen, dass er auch noch richtig war. Wilde, gefährliche Welten wie Fenris brachten robuste Krieger hervor. Reiche, alte Welten würden einen anderen Typus formen. Eine neue Idee schlich sich in seine Überlegungen. Ihm kam der Gedanke, wenn die Navigatoren nur sahen, was sie zu sehen erwarteten, wenn sie ihn anschauten, würden sie ihn wahrscheinlich auch weiterhin unterschätzen. Sehr wenige
Feinde würden das jemals auf dem Schlachtfeld tun, aber dies war eine ganz andere Arena, und er musste jeden Vorteil ausnutzen, der sich ihm bot. »Du siehst aus, als plantest du eine Falschheit, alter Junge.« »Bin ich so leicht zu durchschauen?« »Nur für einen Wolfbruder.« »Ich habe mir überlegt, dass es gut für mich wäre, wenn sie auch weiterhin einen Barbaren in mir sehen.« »In der Tat. Und da ist noch etwas, das du niemals vergessen solltest.« »Und das wäre?« »Du bist ein Barbar.« »So wie du.« »Ich behaupte nicht, etwas anderes zu sein.« Das bezweifelte Ragnar, hatte aber nicht die Absicht, das auszusprechen. »Wir haben dieselbe Abstammung, Ragnar. Wir haben dieselben Prüfungen bestanden. Wir dienen demselben Orden. Das habe ich nicht aus den Augen verloren.« Er hörte sich an, als versuche er sich selbst zu überzeugen. Vielleicht war er schon zu lange auf Terra, und es hatte ihn durchdrungen. Es kam Ragnar unwahrscheinlich vor, aber man konnte nie wissen. Trotz seiner Schläue und seines Selbstvertrauens schien Torin sich in keiner seiner beiden Welten wirklich wohl zu fühlen. »Glaubst du wirklich, Gabriella und Skorpeus könnten gemeinsame Sache machen?«, fragte er. Torins Lächeln blitzte wieder auf, als habe jemand einen Schalter umgelegt, aber es hatte etwas Maliziöses. »Vielleicht. Oder vielleicht will er auch eine Konkurrentin loswerden.« Ragnar begegnete seinem Blick und spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. »Und sie töten?« »Und sie töten.« »Warum dann diese Mühe, sie zu rekrutieren?« »Komplotte in Komplotten, Ragnar. Vielleicht will er sie wirklich
davon überzeugen, dass sie versuchen sollte, Cezare zu töten. Vielleicht will er auch erreichen, dass sie in ihrer Wachsamkeit nachlässt. Wenn das eine nicht funktioniert, dann vielleicht das andere. Außerdem glauben die Navigatoren, dass man seine Freunde nahe bei sich haben sollte, aber seine Feinde noch näher.« »Vor ein paar Minuten hast du noch gesagt, sie würde mit ihm gemeinsame Sache machen. Jetzt erklärst du, dass er sie töten könnte.« »Eins schließt das andere nicht aus, Ragnar. Außerdem habe ich nicht gesagt, dass sie gemeinsame Sache machen. Ich habe lediglich festgestellt, dass die Möglichkeit besteht.« »Was soll ich deiner Ansicht nach tun?« »Ist irgendetwas davon wirklich deine Sache, Bruder?« Sein Blick war plötzlich sehr forschend, und Ragnar spürte, dass Torins gesamte Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war. Ihm war klar, worauf der ältere Wolf hinauswollte. Seine Treue sollte seinem Orden und der Celestarchin gehören. Es war nicht richtig, sie auf andere Dinge auszudehnen. Er analysierte seine Gefühle und Gedanken sehr sorgfältig. Er hatte Gabriella das Leben gerettet, und er mochte sie. Er würde nicht daneben stehen und zusehen, wie sie getötet wurde, wenn sie in Gefahr war. »Ich mache es zu meiner«, sagte er schließlich. Torin nickte, als habe er nichts anderes erwartet. »Gut gesprochen«, sagte er. »Aber du kannst nur Augen und Ohren offen halten, mehr nicht. Lass dich nicht zu tief in diese Dinge verwickeln. Betrachte es wie ein Navigator. Betrachte es als Spiel.« Ragnar wusste, dass er dazu nicht fähig war. Es überraschte ihn, dass ein Wolf dies überhaupt vorschlagen konnte. »Ein Spiel, wo der Einsatz Leben und Tod ist.« »Wahrscheinlich«, sagte Torin, »aber so wird es hier gespielt, und niemand will es anders haben. Und hier ist noch ein letzter Rat …« »Und der wäre?« »Vergiss nie, dass du auf Terra niemals das ganze Bild siehst.« Ragnar suchte noch nach einer passenden Antwort, als das Komm-
netz sie zu Valkoth rief. »Wir haben einen weiteren Auftrag«, eröffnete ihnen Valkoth. Seine Miene war noch grimmiger als üblich, und die Linien darin traten noch deutlicher hervor als sonst. »Pantheus hat geredet?«, fragte Ragnar. »Am Ende reden sie immer«, sagte Valkoth. »Was hatte er zu sagen?« Torins Tonfall war fast so schleppend wie der eines Navigators. »Eine Menge. Er sagt, dass Geld von den Feraccis zur Bruderschaft fließt.« »Was?«, fragte Ragnar. »Das ergibt keinen Sinn. Der Kult würde Cezares Kopf auf einen Pfahl spießen, wenn er könnte.« »Das macht diese Leute nicht weniger nützlich für ihn, wenn sie seine Feinde töten«, gab Valkoth zu bedenken. Er sprach sehr leise, aber seine Worte waren trotzdem perfekt zu verstehen. »Was hat er sonst noch gesagt? Gab es irgendwelche Beweise?«, wollte Torin wissen. »Nichts, womit die Celestarchin vor ein Tribunal der Häuser treten könnte. Cezare könnte einfach behaupten, dass der Mann unter der Folter alles sagen würde, und hätte sogar Recht damit.« Ragnar dachte an die Inquisitoren, die er kennen gelernt hatte. »Ein Inquisitor könnte die Wahrheit herausfinden − einer mit psychischen Kräften.« »Richtig, aber die Häuser würden der Inquisition niemals Einblick in ihre Angelegenheiten gewähren. Zwischen ihr und den Navigatoren herrscht keine Zuneigung. Das würde der Inquisition zu viele Einflussmöglichkeiten geben, und sie wittert außerdem immer noch den Makel der Ketzerei an den Navigatoren, noch nach zehn Millennien.« Valkoths Witterung hatte etwas Seltsames an sich, ging Ragnar plötzlich auf. Es war, als verberge der Mann etwas. »Sie haben uns nicht hier antreten lassen, nur weil der Fettsack irgendwas über Cezare ausgeplaudert hat«, sagte Haegr. Das war eine
überraschend intelligente Feststellung von ihm. Dann verdarb er den Eindruck, indem er einen Bissen von der gebratenen Haxe irgendeines Tiers nahm. Sekunden später knackte er die Knochen mit seinen Reißzähnen. »Du hast Recht«, sagte Valkoth. »Ich habe euch holen lassen, weil die Celestarchin eure Dienste benötigt.« »Gut«, sagte Torin. »Ich könnte ein wenig Aufregung vertragen.« »Ich dachte, die hättest du, wenn du deinen Schnurrbart kämmst«, sagte Haegr mit vollem Mund. »Und dich im Spiegel bewunderst.« »Bei Russ, ein sprechender Wal ist in Ihr Gemach geschommen, während wir Ihnen zugehört haben, Valkoth«, sagte Torin. »Bei deinem Grad von Wachsamkeit könnte sich vermutlich wirklich ein sprechender Wal einschleichen«, sagte Haegr. »Es überrascht mich, dass du neben dem Gestank deiner Pomade überhaupt noch etwas anderes riechen kannst.« »Es reicht«, sagte Valkoth. Seine Stimme war leise, aber der Befehl hatte Gewicht. Torin schloss unwillkürlich den Mund, und die Erwiderung, die ihm auf der Zunge gelegen hatte, blieb für immer ungehört. »Es gibt Arbeit.« »Was sollen wir tun?«, brach Ragnar die jähe Stille. »Pantheus hat uns verraten, wo wir noch ein Nest voller Vipern finden«, sagte Valkoth. »Ihr werdet hingehen und es ausheben.« »Wo ist es?«, sagte Torin. »In der Unterstadt«, sagte Valkoth. »Tief unten in der Unterstadt.« Allein sein Tonfall ließ es ominös klingen. »Wurde der Hinweis bestätigt?«, fragte Torin. »Es könnte eine Falle sein.« Valkoths Lippen verzogen sich zu etwas, das ein Lächeln sein mochte. »Ich bin kein Blutwolf, Torin. Unsere Agenten haben das Gebiet bereits durchkämmt. Die Bruderschaft stellt dort seit Wochen ihre Truppen auf. Irgendwann hätten wir ohnehin etwas dagegen unternehmen müssen. Sie sind jetzt zu nahe. Sie haben direkt unter dem Navigatorenviertel ein Munitionsdepot und ein Basislager.«
»Das gefällt mir nicht. Die Dinge entwickeln sich viel zu schnell«, sagte Torin. »Wir reagieren ständig und agieren selbst nicht. Es ist so, als würden wir einem Weg folgen, den ein anderer für uns abgesteckt hat, und ich glaube, wir können uns alle denken, wer dieser andere ist. Das hier ist eine ziemlich gewichtige Ablenkung, und sie kommt sehr gelegen, jetzt, da die Häuser den Navigatorthron neu besetzen müssen.« Valkoth nickte kaum merklich. Seiner Witterung konnte Ragnar entnehmen, dass er mit Torin übereinstimmte, aber er konnte deswegen nicht viel unternehmen. »Ja, aber die Gefahr ist trotzdem da.« »Ihr zwei seid viel zu schlau«, sagte Haegr. »Das ziemt sich nicht für zwei wahre Söhne von Fenris. Wie kann das ein riesiges Komplott sein? Woher hätte Cezare wissen sollen, dass der alte Gorki bald zur Hölle fährt?« Die Frage konnte sogar Ragnar beantworten. »Vielleicht hat er ein wenig nachgeholfen.« »Es gibt viele Giftsorten, mit denen man die Symptome einer Krankheit hervorrufen kann. Wenn jemand einen Weg findet, sie zu verabreichen, dann Cezare.« »Aber es wäre ein großes Risiko, oder nicht?«, sagte Ragnar. »Niemand hat je behauptet, Cezare hätte keine guten Nerven«, erwiderte Torin. »Ob du Recht hast oder nicht, Torin, ihr habt trotzdem einen Auftrag auszuführen«, sagte Valkoth. »Also los.« Der Korridor war dunkel und finster. Die bröckeligen Wände sahen aus, als gäbe es sie schon seit der Errichtung der ersten Städte auf dem alten Boden Terras. Es roch nach Pilzen, Fäulnis, verschmutztem Wasser und Rost. Große Ratten huschten vor ihnen in die Dunkelheit. »Ich war schon an netteren Orten«, sagte Ragnar. »Dies ist eine Seite Terras, die die Pilger nie zu sehen bekommen.« »Ich hätte fröhlich und unbeschwert weiterleben können, ohne sie
zu sehen«, sagte Torin, während er eifrig an einem Schmutzfleck auf seinem Schulterpolster rieb. Er war mit der Reinigung seiner Uniform beschäftigt, seit Wasser von der Decke tropfte. Hinter ihnen schlich eine volle Kompanie Hausgardisten durch die Düsternis. Sie waren die besten Soldaten, die das Haus hatte. Sie würden die Spitze des Angriffs bilden. Valkoth war oben geblieben und bewachte die Celestarchin. Torin war Einsatzführer. »Das habe ich nicht erwartet«, sagte Ragnar leise. Das verseuchte Wasser war jetzt knöcheltief. Er fragte sich, ob irgendjemand hier unten es tatsächlich trank. Ohne das Verdauungssystem eines Space Marine würden die Betreffenden wahrscheinlich binnen Wochen vergiftet sein oder mutieren. »Das erinnert mehr an eine Makropolwelt. An eine abgewirtschaftete Makropolwelt in einem Sektor, der sich seit hundert Jahren industriell auf dem absteigenden Ast befindet.« Torin ging neben ihm, das Boltgewehr lässig im Anschlag. Er hatte die Führung übernommen, seit sie am Einstiegsschacht abgesetzt worden waren, der in die Tiefen der Erde führte. »Das hier würdest du auf keiner Makropolwelt finden, die du je besucht hast, Ragnar. Wir sind von hundert Gebäudeschichten umgeben. Jede von ihnen repräsentiert ein Jahrhundert der Geschichte oder mehr. Dieser Teil Terras ist bebaut und überbaut und wieder überbaut worden. Teile wurden ausgeschlachtet, um die nächsthöheren Schichten zu bauen, und der Rest ist von der Last darüber langsam zusammengedrückt worden. Wir marschieren durch die Geschichte. Einige der Wände rings um uns wurden gebaut, bevor der Imperator seinen goldenen Thron bestiegen hat. Viele dieser Korridore waren schon so, als Russ vor zehntausend Jahren auf der Erde wandelte.« »Du hörst dich an wie einer von diesen Tempelführern für die Pilger«, sagte Haegr und rülpste laut. »Die immer die Wunder des Alten Terras anpreisen und versuchen, Haarlocken des Imperators zu verkaufen.« »Wenn sie versuchen würden, dir eine Wurst aus Horus’ Fleisch anzudrehen, würdest du sie kaufen«, sagte Torin. »Höchstwahr-
scheinlich auch essen.« »Ruhe«, sagte Haegr, indem er die Hand hob. Zuerst rechnete Ragnar mit einem weiteren Scherz, doch Haegrs Miene belehrte ihn eines Besseren. Er lauschte angestrengt, um mitzubekommen, was der massige Marine gehört hatte. Ragnar glaubte, voraus etwas zu hören. Stimmen. Sie näherten sich dem bewohnten Bereich dieser unheimlich leeren Zone. Gut, dachte er. Ihm gefiel das Gefühl nicht, welches ihm das Bewusstsein von Zehntausenden von Tonnen Plastibeton über sich einflößte. Sie sollten tun, weswegen sie geschickt worden waren, und verschwinden. Sie sollten dieses Nest der Bruderschaft ausräuchern und falls möglich ihre Anführer zwecks eingehender Befragung lebendig fangen. In erster Linie sollten sie ein Exempel statuieren, sodass sie es sich in Zukunft zweimal überlegen würden, die Navigatorenhäuser anzugreifen. Ragnar zweifelte an der Klugheit dieser Vorgehensweise. Diese Männer wurden von unnachgiebigem Hass getrieben. Wenn sie einige von ihnen töteten, würde das ihren Hass und ihren Groll nur noch vertiefen. Andererseits war es nicht seine Aufgabe, die Strategie der Celestarchin zu kritisieren. Seine Aufgabe war, sie auszuführen. Wiederum würde der Gegner zahlenmäßig weit überlegen sein. Der Gedanke beunruhigte Ragnar nicht sonderlich. Zehn oder hundert zu eins, das Verhältnis spielte keine Rolle. Sie würden viel besser bewaffnet und gerüstet und weitaus stärker und schneller sein als jene, die sie angreifen würden. Und sie hatten das Element der Überraschung auf ihrer Seite. Aus diesem Grund schickten sie auch so eine kleine Streitmacht. Torin bedeutete den Haustruppen zu bleiben, wo sie waren. Er signalisierte den anderen Wolfsklingen, vorzurücken und ihr Ziel auszukundschaften. Ragnars Nasenflügel blähten sich, als er eine neue Witterung aufschnappte. Vor ihnen waren eindeutig Leute. Seine scharfen Augen machten eine Störung in der Oberfläche des Wassers vor Torin aus.
Sein Wolfbruder hatte sie bereits gesehen. Er schritt darüber hinweg. Dicht unter der Oberfläche war etwas verborgen. »Ein Stolperdraht, Haegr«, sagte er. »Nur für den Fall, dass du zu beschäftigt damit bist, an Essen zu denken, um ihn zu bemerken.« »Da selbst du ihn bemerken konntest, gibt es keinen Grund, warum der immer wachsame Haegr es nicht können sollte«, erwiderte Haegr. »Keinen anderen als den, dass du kein Hirn hast, mit dem du Dinge bemerken könntest«, murmelte Torin so leise, dass nur die Ohren eines Wolfskriegers seine Worte aufschnappen konnten. Seine Vorsicht hatte beträchtlich zugenommen, nun, da sie sich ihrem Ziel näherten. Sie umgingen und entschärften die Stolperdrähte. Andere Männer hätten sie in der Dunkelheit nicht bemerkt, aber Wolfskrieger waren nicht wie andere Männer. Vor ihnen waren noch mehr Lichter zu sehen. Es roch nach wiederverwertetem Methan, was kaum überraschend war. Ein Gebiet wie dieses konnte nicht mit den großen elektrischen Heizkesseln verbunden werden, welche die Oberfläche mit Energie versorgten. Umso besser, dachte Ragnar. Normales menschliches Sehvermögen war in dieser Düsternis weitaus weniger leistungsfähig als die Ohren und Nasen der Marines. Er spürte eine Anspannung im Magen, da er sich auf den Kampf vorbereitete. Er wusste, dass die Leute, denen sie bald entgegentreten würden, verzweifelte, abgebrühte Männer waren. Nach allem, was Valkoth gesagt hatte, waren sie von der Oberfläche der Welt geflohen und hatten die alten Privilegien von Arbeit und Kaste hinter sich gelassen, um hierher zu kommen. Er wusste auch, dass sie mit den besten Waffen bestückt sein würden, die sich aus den gut sortierten Rüstkammern Terras stehlen ließen. Sie kamen über einem weit offenen Raum heraus. Wasser tropfte aus dem Zugangstunnel als träger Wasserfall in einen verschmutzten Teich darunter. Die ganze schattige Gegend wurde von flackernden Gaslichtern erleuchtet. Ragnar nahm alles mit einem langen, entsetzten Blick zur Kenntnis. In den alten, bröckelnden Kavernen wimmelte es von Leben. Hier und da mündeten Dutzende anderer Tunnel in
der Höhle. In ihren Eingängen gab es Unterstände aus Stahlresten und Pappe. Eine zusammengewürfelte Mischung von Bruchbuden klebten an Wänden und Boden. Hunderte bewaffneter Männer bewegten sich. Alle trugen Kapuzengewänder und die rotschwarzen Armbänder der Bruderschaft. Hoch oben auf einem improvisierten Altar aus zusammengeschweißten Rohren und Metallplatten bellte ein maskierter Mann seinen begeisterten Zuhörern einen Sermon aus Hass entgegen. Er sprach von den bösen Mutanten, die an der Oberfläche lauerten und den geheiligten Boden Terras besudelten. Er redete über die Hure des Handels, der die Werte ihrer Vorfahren korrumpierte. Er erzählte von dem Bösen, das die Navigatoren unter der Maske der Loyalität und dem Gewand der Rechtschaffenheit verbargen. Es war eine feurige, leidenschaftliche Rede. Ragnar sah, dass sie die Flammen des Hasses im Herzen jedes Zuhörers höher lodern ließ. Der Mann erzählte seinem Publikum einfach, was es hören wollte, er spielte mit seinen Ängsten, seinem Hass und der Ablehnung des von den Navigatoren genossenen Reichtums und Luxus. Es war leicht zu sehen, dass dies ein Funke war, der auf trockenen Zunder fiel. Die Männer hier unten waren Exilanten, die ein Leben wie Ratten führten. Sie hatten nichts zu verlieren. Ihr Leben hatte nicht einmal für sie selbst größere Bedeutung. »Was für ein schönes Rattennest hier unten«, murmelte Torin. »Man könnte meinen, dass sie sich auf einen Krieg vorbereiten.« »Vielleicht tun sie das«, sagte Ragnar. Er hatte genug Aufstände und Erhebungen auf anderen Welten erlebt, um zu wissen, dass sie so anfingen. Ketzer und Fanatiker brauchten einen harten Kern von Kriegern, um ihre Revolten anzuzetteln. Sie brauchten Waffen, die sie den Leichtgläubigen geben konnten, welche sie dazu beschwatzten, mit ihnen zu kämpfen, und auch, um die erbärmlichen Narren auszubilden. Er hatte Abarten dieses Nagers auf einem Dutzend verschiedener Welten gesehen. Es war eine Saat der Zerrüttung und der Ketzerei, und es war seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie niemals
aufging. Die kleine Gruppe vor ihnen mochte nach nicht viel aussehen, wenn man sie mit den massierten Truppen verglich, die diese Welt bewachten, aber es würde andere wie sie geben. Und selbst wenn nicht, waren solche Gruppen oft der kleine Kiesel, der einen Erdrutsch in Gang setzte. Auf einer so dicht besiedelten Welt wie dieser gab es Horden Bettler, Enteigneter und Wütender. Manchmal bedurfte es nicht viel, um Ärger in Wut zu verwandeln und dann diese Wut auf den Krieg zu konzentrieren. Er hatte es schon oft erlebt. Während ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, entsetzte ihn die schiere Unverfrorenheit der Leute vor sich. Dies war Terra, die Mutterwelt, der Nabel des Imperiums, der heiligste Boden in der Galaxis, und diese Männer hatten die Absicht, ihn zu entweihen. Und warum auch nicht? Die meisten von ihnen hatten wahrscheinlich das Gefühl, dass sie nur den geheiligten Boden von den Ungerechten säuberten. Auch diese Rhetorik hatte er schon zahllose Male gehört. Ohne seine spezielle Wortwahl zu kennen, konnte er die Rede des fanatischen Predigers dort unten wahrscheinlich mühelos rekonstruieren. Alarmierend daran war, dass sie den Dingen so nahe kam, die man ihn gelehrt hatte. Eine der Schwächen des imperialen Dogmas war, überlegte er, dass man die Worte, mit denen man eine Gemeinde stärken konnte, auch dazu benutzen konnte, sie zu unterminieren. Das Gewand der Religion konnte die Gestalt des fanatischen Revolutionärs ebenso leicht verbergen wie die des loyalen und ergebenen Staatsbürgers. Doch jetzt war nicht die Zeit für Philosophie. Es war die Zeit zu handeln. Er sah Haegr und Torin an. Er wusste, dass sie dasselbe dachten. Es wurde Zeit, die restlichen Truppen zu rufen. Während Ragnar dieser Gedanke durch den Kopf ging, berührte der Prediger plötzlich sein Ohr und schaute auf. Er konnte sie unmöglich gesehen haben, dachte Ragnar. Aber irgendwie hatte er sie entdeckt. Er gestikulierte mit der rechten Hand und zeigte anklagend auf die Schatten, in denen die Wölfe lauerten.
Torins Finger krümmte sich um den Abzug seines schweren Boltgewehrs. Ein Kugelhagel zerfetzte den Prediger förmlich. Seine entsetzten Anhänger brauchten ein, zwei Herzschläge, um zu begreifen, was geschah. »Wir müssen die Sache auf die harte Tour erledigen«, sagte Torin. »Sieht so aus, als wäre die Munition dort drüben! Machen wir sie unbrauchbar!« »Gut, das Kräfteverhältnis gefällt mir«, knurrte Haegr. Einen Moment später sprang er mit überraschender Behendigkeit über das provisorische Geländer und landete auf dem Wellblechdach einer der Hütten. Ragnar sah Torin an, dann zuckte er die Achseln und folgte ihm. Zweifellos brauchte der massige Mann jemanden, der ihm bei seinem verrückten Angriff den Rücken freihielt. Augenblicke später stürmten sie der dichten Menge der Fanatiker entgegen. Ragnars Boltpistole ruckte in seiner Hand, als er erst einen Mann und dann noch einen ausschaltete. Sein Kettenschwert durchschnitt Haut, Muskeln und Knochen und bespritzte die Umstehenden mit Blut. Haegrs monströser Hammer richtete noch mehr Schaden an, da er jeden zerschmetterte, der ihm zu nahe kam. Der massige Mann rannte durch die Menge wie ein durchgegangenes Mastodon. Ragnar hatte alle Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Die Fanatiker hatten noch nicht erkannt, dass sie es nur mit wenigen Angreifern zu tun hatten. Viele wandten sich ab und rannten in Deckung. Andere ergriffen Waffen und feuerten in die Düsternis. Mündungsblitze zuckten und Laserstrahlen erhellten die Dunkelheit, was zur allgemeinen Verwirrung beitrug. Noch ehe sie wussten, was geschah, kämpften einzelne Gruppen gegeneinander, da sie sich gegenseitig für einen tödlichen Feind hielten. Andere waren gedankenlos in die Dunkelheit geflohen. Ragnar rannte weiter, wobei er zunächst Haegr Deckung gab, während Torin ihnen vom Balkon aus Feuerschutz gab, da sie sich ihrem Ziel näherten. Er verhielt einen Moment im Schatten einer der Hütten, als er plötzlich eine mächtige Stimme Befehle brüllen hörte. »Haltet stand! Es sind nur drei. Macht euch bereit zum Kampf. Die
Rechtschaffenen werden siegen!« Ragnar staunte. Woher kannte dieser Neuankömmling die genaue Zahl der Angreifer? Es gab nur eine Möglichkeit. Sie waren verraten worden.
15. Kapitel
»Bei Russ’ Gebeinen«, fluchte Ragnar. Er sah sich um. Von allen Seiten drangen Feinde in die Höhle ein. Sie waren schwer bewaffnet und offenbar vorbereitet. Sie mussten abseits der Route der Wölfe gewartet haben. In ihrem Streben nach Schnelligkeit und Überraschung hatten sie die Gegend nicht vollständig erforscht. Dafür würden sie jetzt büßen. »Sie wussten, dass wir nur zu dritt sein würden«, sagte Haegr. Ragnars scharfes Gehör konnte seine Stimme trotz des Hintergrunddonnerns schwerer Waffen verstehen. In diesem Augenblick konzentrierten ihre Feinde das Feuer auf den Balkon, wo Torin stand. Ein Blick verriet Ragnar, dass die Wolfsklinge bereits in Deckung gegangen und nicht mehr zu sehen war. »Sie wussten, wann wir angreifen würden. Das bedeutet, jemand hat sie informiert − und zwar kürzlich.« Ragnar sah Haegr zucken, während er die Waffen seiner Feinde inspizierte. Die schweren Laserstrahler und Boltgewehre dort draußen konnten sogar ihre Rüstung durchschlagen. Es würde nicht leicht werden. Es gab einen Trost. In diesem Chaos konnte der Gegner sie nicht genau ausmachen. Sie konnten immer noch entwischen. »Sie sind dort drüben, zwischen den Hütten«, bellte dieselbe Kommandostimme. »Er hat gute Augen«, sagte Haegr. »Oder andere Mittel, um zu erfahren, wo wir sind«, sagte Ragnar. »Das geweihte Licht der Heiligkeit des Imperators wird die Mutantenfreunde zerschmettern!« Während die tiefe Stimme schwadronierte, blitzte über ihnen weißes Licht auf. Ragnars Versteck fing an zu leuchten. »Höre mich, ich, dein Prophet, der Prophet des Lichts, ruft dich, gesegneter Herr, und bittet dich, diese Söhne der Finsternis zu
zerschmettern.« »Pass auf!«, rief Ragnar und warf sich vorwärts. Auch Haegr bewegte sich und keinen Augenblick zu früh. Gleich darauf explodierte ihr Unterschlupf in einem Splitterregen. Ragnar hatte so etwas noch nie gesehen, aber das überraschte ihn nicht. Er hatte bereits eine gute Vorstellung davon, was dafür verantwortlich war. Ein Blick bestätigte seine Vermutung − eine Aura aus Licht hüllte eine Gestalt in gleißendes Weiß. Es hätte Ragnar geblendet, wäre sein schützendes zweites Lid nicht geschlossen worden, um sein Sehvermögen zu schützen. »Ein Psioniker!«, rief er, indem er einen Schuss abgab, während er sich abrollte. Die Boltpatrone traf ihr Ziel, prallte aber von der Aura um den Mann im rechten Winkel ab. Die Dinge entwickeln sich vom Schlechten zum Schlechteren, dachte Ragnar. »Seht, wie das heilige Licht des Imperators seine Feinde zerschmettert«, rief der Psioniker. Seine Stimme hatte einen erregenden Unterton, den Ragnar als zwingend entlarvte. Damit erübrigte sich die Frage, warum diese Mutantenhasser einer jener Personen halfen, die zu vernichten sie geschworen hatten. Ragnar hatte hundert Fälle wie diesen gesehen oder von ihnen gehört. Zweifellos behauptete der Psioniker, seine Kräfte seien ihm direkt vom Imperator verliehen worden und der Beweis seiner Heiligkeit für seine leichtgläubigen Anhänger. Eine Unterströmung des Zwangs würde ihrer willensschwachen Leichtgläubigkeit zusätzlich Nahrung verleihen. Das Wissen, wie der Trick funktionierte, würde ihm aber nicht dabei helfen zu überleben. Sie mussten einen Weg hier heraus finden, und zwar schnell. Strahlen aus gleißendem Licht fegten durch die Trümmer, in denen die Wolfskrieger in Deckung gegangen waren. Ranken aus weißgoldenem Ektoplasma tasteten nach ihnen wie die sondierenden Fühler einer riesigen Bestie. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie Kontakt herstellen würden. Während die Ranken sich wie große ölige Schlangen aus Licht durch die Trümmer bewegten, zischten Boltpatronen, Kugeln und
Laserstrahlen über seinen Kopf hinweg. Ragnar blieb tief geduckt in dem Wissen, dass ihre Feinde glaubten, sie mit ihrem Kreuzfeuer festgenagelt zu haben. Er sah Haegr an, der nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Sie konnten nur noch eines tun: angreifen. Ragnar warf sich auf den Bauch und kroch dem Psioniker entgegen. Gespenstische, geisterhafte Glieder strichen suchend über ihn hinweg. Sie kräuselten sich und bildeten Schlingen, da sie anscheinend wussten, wo er sich befand. Ragnar betätigte den Spender an seinem Gürtel und fing die ausgeworfene Granate in der Hand. Ein rascher Fingerdruck aktivierte den Zünder, und er warf sie nach dem Psioniker. Einen Moment später wurde der Mann von der Explosion getroffen. Nicht einmal seine Kräfte konnten ihn vollständig abschirmen. Er wurde rückwärts geschleudert, und das Leuchten, in das er gehüllt war, flackerte. Die ektoplasmischen Tentakel wurden vorübergehend nebelhaft. Dem Instinkt folgend, der ihnen wortlose Koordination erlaubte, griff Haegr an. Der riesige Hammer traf, bevor sich die Schutzaura wieder vollständig aufbauen konnte. Der Psioniker stieß ein gequältes Ächzen aus, riss sich dann aber zusammen. Ragnar roch Blut. Das Leuchten bildete sich wieder, obwohl seine Helligkeit schwankte und es von seltsamen venenartigen roten Säumen durchzogen war. Die Ranken kehrten zurück und tasteten nach Haegr. Es war, als sei ihr Besitzer nicht mehr in der Lage, sich auf zwei Ziele zugleich zu konzentrieren. Also war es ihnen gelungen, zumindest einen gewissen Schaden anzurichten, dachte Ragnar. Eine Sekunde später fanden die psionischen Glieder ihr Ziel und wickelten sich um die massige Wolfsklinge. Ein seltsames Zischeln ertönte, als das Keramit seiner Rüstung Blasen warf und zu schmelzen anfing. Haegr grunzte und versuchte sich zu befreien, aber selbst seine gewaltigen Kräfte waren wirkungslos gegen den Psioniker. Unaufhaltsam wurde er von seinem Feind weggezerrt. Ragnar fragte sich, wie er helfen konnte, erkannte aber, dass er lediglich wie ein
Fisch am Haken baumeln würde. Wenn der Psioniker jedoch getötet wurde, waren auch seine ektoplasmischen Tentakel kein Problem mehr. Ragnar huschte näher, um sein Ziel zu studieren. Er bezweifelte nicht, dass der Mann schwer verwundet war. Eine weitere Granate würde ihn höchstwahrscheinlich erledigen. Er warf sie und traf das Ziel, bevor sie explodierte. Diesmal fiel ihre Wirkung jedoch weit geringer aus, als Ragnar erwartet hatte. Der Schild trübte sich vorübergehend, aber er hatte sich irgendwie angepasst und schützte seinen Besitzer jetzt besser vor dieser Form des Angriffs. Der Psioniker zuckte diesmal mit keiner Wimper. So viel zu dieser Idee, dachte Ragnar. Dieser Ketzer war stark. »Es gibt mehr als eine Methode, einem Drachen die Haut abzuziehen«, sagte er, indem er loslief, um den Psioniker frontal anzugreifen. Der Mann hatte Leibwächter, aber die waren alle zurückgewichen, als er begonnen hatte, seine unheiligen Kräfte zu benutzen. Sie konzentrierten ihr Feuer auf den Balkon, wo Torin sich aufgehalten hatte. Ragnar vermutete, dass die Wolfsklinge längst nicht mehr dort war. Ragnar dankte Russ für die Ablenkung, da sie ihm den Weg zu seiner Beute frei machte und ihm gleichzeitig gestattete, sich aus der Schusslinie zu halten. Das Kettenschwert hielt er in der einen Hand und die Boltpistole in der anderen. Während er sich nach vorn warf, schoss er Patrone auf Patrone auf den falschen Propheten der Bruderschaft ab. Der leuchtende Schild wehrte alle bis auf eine ab. Alle trafen die Stelle, wo das Leuchten am schwächsten und die roten Lichtadern am dicksten waren. Eine der Patronen durchdrang den Lichtschein. Er hörte einen leisen, gedämpften Aufschrei. Anscheinend war der Prophet des Lichts keine Schmerzen gewöhnt. Ragnar hatte die Absicht, ihm noch viel mehr davon beizubringen. Er zielte mit dem Kettenschwert auf die dunkelste Stelle des Schirms und stieß zu. Einen Moment glaubte er, die Klinge werde ihn glatt durchbohren, aber sie traf auf Widerstand, und das Leuchten wurde wieder heller. Egal, dachte Ragnar, indem er
mit seiner Boltpistole auf die Stelle zielte, wo sich bei einem Menschen der Kopf befinden musste. Auch wenn der Schutzschild die Patronen abwehrte, würde die Wirkung hoffentlich so sein wie Schläge auf einen Helm. Vielleicht würden die Erschütterungen den Psioniker benommen machen und desorientieren. Wiederum belohnte ihn ein Ächzen. Die Tentakel, die über ihn hinweg zu Haegr verliefen, fingen an zu pulsieren und streckten sich. Ragnar spürte, wie sie sich ihm von hinten näherten. Er sprang zur Seite, und eine ektoplasmische Ranke zuckte an der Stelle vorbei, wo er eben noch gestanden hatte. Versuchsweise hieb er mit dem Kettenschwert danach. Die surrenden Klingen fuhren hindurch und durchschnitten sie, aber Augenblicke später hatte sich das Ding bereits wieder zusammengefügt. Ragnar gab dieses Vorhaben auf und widmete sich wieder seinem ursprünglichen Ziel. Er versetzte ihm einen Hieb nach dem anderen. Obwohl ihre Reflexe sterblich waren, reagierten nun auch die Leibwächter des Propheten. Einige von ihnen eröffneten das Feuer. Ragnar krümmte sich. Selbst harmlose Streifschüsse fühlten sich an, als sei die Rüstung von einem schweren Hammer getroffen worden. Er hatte gehofft, die Kultisten würden sich zurückhalten aus Angst, ihren Anführer zu treffen, aber jetzt ging ihm auf, dass sie ihn durch das Licht geschützt wähnten. Er sprang zur Seite und brachte den Körper des Propheten zwischen sich und die Leibwache. Ein Dutzend Treffer des leuchtenden Schirms belohnte ihn für seine Mühe. »Hört auf und lasst ab, Brüder!«, sagte der Prophet mit einer Stimme wie Donnerhall. »Mehr als der Macht des Nichts des Imperators bedarf es nicht, um diesen degenerierten Mutantenfreund zu erschlagen. Sorgt dafür, dass seine Gefährten aus diesem Gebiet entfernt werden. Um diesen kümmere ich mich selbst.« Dem Tonfall des Mannes konnte Ragnar entnehmen, dass er die Absicht hatte, ihn für die erlittenen Qualen büßen zu lassen. Die Anhänger des Propheten rannten jetzt zu Haegr. Die massige Wolfsklinge war auf dem Boden zusammengebrochen, als die Tentakel von ihm abließen. War dieser
Psioniker wirklich so zuversichtlich, ihn besiegen zu können?, fragte sich Ragnar. Das Leuchten rings um den Mann flackerte, wurde trüber und intensivierte sich. Diesmal schossen die Ranken mit unglaublicher Geschwindigkeit Ragnar direkt entgegen. Nicht einmal Ragnars übermenschliche Reflexe gestatteten ihm noch ein Ausweichen. Seine Rüstung knisterte, wo sie ihn trafen, aber schlimmer als das waren die Stoßwellen reiner Qual, die von den Berührungspunkten ausgingen. Die Schmerzen waren nicht die Folge der Hitze, sondern vielmehr der Berührung. Es erstaunte ihn, dass Haegr sie ausgehalten hatte, ohne zu schreien. Ragnar beschloss, es ihm nachzutun. Er presste die Lippen zusammen und betete zu Russ. Er spürte eine weit entfernte übernatürliche Präsenz. Vielleicht war das nur ein Erzeugnis seiner schmerzerfüllten Einbildung, aber seine Schmerzen ließen sofort nach. Außerdem fiel ihm auf, dass der Schein, der den Propheten umgab, matter geworden war und sich über seinem Herzen ein hellroter Bereich gebildet hatte. Er stach mit dem freien Kettenschwert zu. Der Winkel war schlecht und er bekam auch nicht viel Kraft hinter den Stoß, aber diesmal drang die Klinge glatt durch den Lichtschein. Er spürte, wie sie Fleisch durchschnitt und auf Knochen knirschte. Ein triumphierendes Knurren verzerrte seine Lippen, als der Schein erlosch und ein Mann in blutüberströmtem weißem Gewand sichtbar wurde. Ein Schwung von Ragnars Klinge trennte dem Propheten den Kopf samt Kapuze von den Schultern und ließ ihn in die nächste Kloake rollen. Ein weiterer Hieb zweiteilte den Kadaver. Einen Moment später eilte er Haegr zu Hilfe und stürzte sich von hinten auf die Leibwächter. Seine Klinge zuckte mit elektrischem Tempo und tötete und verstümmelte mit jeder Bewegung. Seine Boltpistole fand inmitten der dicht gedrängten Leiber reichlich Ziele. Schritt um Schritt bahnte er sich einen blutigen Weg zu seinem Kameraden. Haegr sah schlecht aus. Seine Rüstung war an einem Dutzend Stellen geschmolzen und geborsten. Die Kraft des psionischen
Angriffs hatte das Keramit platzen lassen und an vielen Stellen Blasen geworfen. Schlimmer noch, die erlittenen Schmerzen schienen ihn erschöpft und ausgelaugt zu haben. Dennoch rappelte er sich auf und schlug mit seinem Hammer um sich. Tempo und Kraft waren gewaltig reduziert, aber wenigstens war er auf den Beinen und kämpfte. Ragnar hieb sich einen Weg, und sein Kettenschwert trennte Fleisch von Knochen und durchschnitt Adern und Sehnen. Er spürte, wie eine Woge herrlicher Berserkerwut langsam Besitz von ihm ergriff. Eine wilde, unheilige Freude an Blut und Kampf wogte durch seine Adern. Er drängte sie zurück. Jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, seinem Blutdurst nachzugeben. Er brauchte einen klaren Kopf, wenn er sich aus dieser verzweifelten Lage befreien wollte. Es war schwierig, aber er kämpfte gegen die Bestie in sich an, bis sie unter Kontrolle war. Er riskierte einen weiteren Blick nach oben, wo er Torin vermutete. Keine Spur von ihm. Er hoffte, sein Schlachtbrüder lag nicht auf dem Balkon in einer Lache seines eigenen Bluts. Mit einem brutalen Seitwärtstritt brach er einem Mann die Rippen wie morsches Holz und stieß ihn, während ihm das Blut aus dem Mund lief, in die Reihen seiner Kumpane. Er ertrank in seinem eigenen Blut. Ein heftiger Schlag mit dem Knauf seiner Boltpistole schlug einem Mann, der sich an seine Beine klammerte, den Schädel zu Brei. Er senkte die Pistole und schoss aus nächster Nähe in das Gesicht eines anderen, sodass die Umgebung mit Blut- und Hirnspritzern verziert wurde. Dann stand er Rücken an Rücken mit dem schwankenden Haegr und verteidigte ihn vor der anstürmenden Horde. Der Pöbelhaufen schien jetzt alle Disziplin verloren zu haben, was zum Vorteil der Wölfe war. Hätten die Ketzer standgehalten und sie mit einem steten Kugelhagel eingedeckt, hätten sie dank der schieren Übermacht an Feuerkraft gewonnen. Doch ihr verzweifeltes Bestreben, ihren Propheten zu retten, hatte sie zugrunde gerichtet. Sie ließen sich auf ein Handgemenge mit zwei Männern ein, die ihnen kör-
perlich weit überlegen waren, und sie erlitten immense Verluste. Trotzdem war es nur eine Frage der Zeit, bis sich ihre zahlenmäßige Überlegenheit auswirken oder jemandem aufgehen würde, dass sie wieder zu einem Feuergefecht zurückkehren mussten. Bevor dies geschah, musste er sich etwas überlegen, wie er sich und Haegr aus dieser Falle befreien konnte. Ein massig gebauter Mann prallte gegen seine Brust. Er hatte sich einen Weg durch die Reihen der Fanatiker gebahnt und sich mit einem gewaltigen Satz vorwärts gestürzt. Er war riesig, mindestens so groß wie Ragnar, und offenbar daran gewöhnt, seine Feinde durch schiere Körperfülle zu überwinden. Doch diesmal war es ein Fehler. Ragnar federte den Anprall in den Knien ab, und die internen Gyrostabilisatoren in seiner Rüstung absorbierten die Wucht. Der Krieger griff nach Ragnars Kehle, fand jedoch die Luftröhre nicht und umklammerte so den Hals mit beiden Händen. Er machte eine Drehbewegung, offenbar in der Absicht, dem Marine das Genick zu brechen. Idiot, dachte Ragnar, als er die Boltpistole auf den Bauch des Mannes richtete und abdrückte. Die verstärkten Muskeln und Knorpel in seinem Nacken konnten weitaus mehr Belastung vertragen als ein Normalsterblicher. Ragnar war jedoch klar, dass der Mann dies ebenso wenig hatte wissen können wie die Tatsache, dass Ragnars veränderte Lunge ihn weit länger am Leben erhalten konnte als einen gewöhnlichen Mann, selbst wenn die Luftzufuhr abgeschnitten war. In einer blitzartigen Eingebung wusste Ragnar plötzlich, wie sie fliehen konnten. Es war offensichtlich. »Haegr«, rief er. »Zum Wasser!« Die massige Wolfsklinge schien verstanden zu haben und nickte benommen. Sofort setzte er sich in die Richtung in Bewegung, aus der der Gestank des verschmutzten Stroms drang. Ragnar gab ihm Rückendeckung und verteilte Hiebe nach rechts und links, wobei er ständig in Bewegung blieb, um kein klares Ziel zu bieten. Binnen Sekunden war Haegr am Ufer. Er blieb stehen, schaute zurück und schwang seinen Hammer in einem Hieb, der die Männer in Ragnars
Nähe fällte. Dann stolperte er rückwärts ins Wasser wie ein Erschossener. Die Wellen schlossen sich über seinem Kopf, und er verschwand außer Sicht. So weit, so gut, dachte Ragnar. Er folgte Haegr ans Ufer. Aus der Dunkelheit blitzte jetzt ein Hagel von Laserstrahlen. Hunderte von Leuchtspurgeschossen jagten durch sein Gesichtsfeld. Über ihm hatten Männer offenbar die Absicht, ihn aus der Ferne zu töten. Mittlerweile schien ihnen egal zu sein, ob sie ihre Kameraden trafen, denn die Schüsse richteten verheerenden Schaden unter den Männern rings um Ragnar an. Laserstrahlen trafen seine Rüstung. Eine schwere Boltpatrone traf seine Brust, und er spürte, wie die Rüstung an dieser Stelle aufplatzte. Es wurde Zeit zu verschwinden. In diesem Augenblick warfen sich zwei weitere Männer unter völliger Missachtung des tödlichen Beschusses vorwärts. Sie packten Ragnar und versuchten ihn festzuhalten, während sie dem Mann, der ihren Propheten erschlagen hatte, Flüche und Todesdrohungen entgegenschleuderten. Sie hatten nur noch Vergeltung im Sinn. Ragnar war das egal. Er warf sich einfach vorwärts, und sein Schwung riss sie mit. Instinktiv atmete er tief ein. Augenblicke später hüllte ihn Nässe ein, und das widerliche Wasser schlug über seinem Kopf zusammen. Er hielt seine Waffen fest, da er auf den Boden sank. Das Gewicht seiner Rüstung zog ihn nach unten, während die Kraft der Strömung ihn fortschwemmte. Seine Haut kribbelte von den Giften und Verschmutzungen. Eine Kette von Blasen verriet ihm, wo die beiden Männer, die ihn angesprungen hatten, an die Oberfläche zurückkehrten. Die Membrane, die sein Auge vor chemischen Reizstoffen schützte, ließ ihn auch in der Düsternis des Wassers recht gut sehen. Wenn sie keine Filter benutzten, hatten die Männer ihre Lebenserwartung durch das Trinken des verseuchten Wassers verringert. Ragnar bezweifelte jedoch, dass sich diese den Tod suchenden Fanatiker über solche Dinge Gedanken machten. Er sah sich nach Haegr um. Von ihm war nichts zu sehen, aber
Ragnar machte sich keine Sorgen. Wenn seine Rüstung nicht extrem ramponiert war, würde ihre Peilboje es Ragnar ermöglichen, ihn wenn nötig zu finden. Es sah so aus, als seien sie dem Hinterhalt doch entkommen. Der Gedanke ging ihm gerade durch den Kopf, als es gewaltig bebte und er von einer Welle unglaublicher Wucht und Gewalt durch das Wasser getrieben wurde. Es dauerte nur einen Herzschlag, bis er erkannte, was los war. Die Fanatiker warfen Granaten ins Wasser. Wenn er nicht rasch etwas unternahm, würden sie ihn töten.
16. Kapitel
Wiederum wirbelten enorme Beben das Wasser durcheinander. Kondensstreifen zeigten an, wo mehr Granaten niedergingen. Alle waren auf die Stelle gezielt, wo er untergetaucht war. Niemand hatte daran gedacht, auch dorthin zu zielen, wohin der Fluss ihn tragen mochte. Aber das würde sich rasch ändern. Die Erschütterungen verursachten Ragnar große Schmerzen, da sein empfindliches Trommelfell unter den Druckveränderungen litt. Ein Wolfskrieger war davon weit stärker betroffen als ein normaler Mensch. Er halfterte mühsam sein Schwert und seine Boltpistole. Sie waren Waffen von Space Marines, und das Wasser konnte ihnen keinen Schaden zufügen. Er musste die Zähne zusammenbeißen, schwimmen und sich so schnell wie möglich von den Explosionen entfernen. Die Sprengladungen gingen jetzt näher bei ihm nieder. Ragnar erwog, zum Ufer zu schwimmen, erkannte aber, dass er dort leichter zu sehen und verwundbarer sein würde. Er musste in Bewegung bleiben und versuchen, sich die Freiheit zu erschwimmen. In diesem Moment war er sehr froh, bereits als kleiner Junge in den turbulenten Gewässern von Fenris schwimmen gelernt zu haben. Trotzdem war es schlimm, wie der Versuch, mit dem Mahlstrom im Auge eines Sturms zurechtzukommen, während überall ringsumher riesige Ungeheuer brüllten und einem nach dem Leben trachteten. Ein weiteres Beben pflanzte sich ganz in der Nähe durch das Wasser fort, und Ragnar überschlug sich im Wasser. Er verlor völlig die Orientierung und wusste nicht mehr, wo oben und wo unten war. Sein Kopf fühlte sich an, als müsse er jeden Moment platzen. Aus irgendeinem Grund zog das Wasser stärker an ihm. Die unsichtbaren Finger der Strömung waren wie jene der Hexenmaiden der fenrisischen Legende, von denen es hieß, dass sie ertrinkenden Seefahrern
auflauerten. Ragnar unterstützte die Strömung mit starken Beinschlägen und ließ sich von ihr ans andere Ende der Kaverne tragen. Dabei ließen die Beben langsam nach. Überall brodelte und blubberte das Wasser. Ein weiterer Donnerschlag pflanzte sich durch das Wasser fort, und plötzlich wurde er vorwärts und in die Luft geschleudert Ringsumher donnerte überall Wasser und doch spürte er Luft um seine strampelnden Gliedmaßen. Er wusste jetzt, was passiert war. Der unterirdische Fluss hatte ihn durch die Kaverne zur anderen Seite befördert. Er stürzte in irgendein Sammelbecken und fiel in unbekannte Tiefen. Während das Wasser gegen ihn schlug, mühte Ragnar sich, eine gerade Eintauchhaltung einzunehmen. Vages Entsetzen erfüllte ihn. Er hatte keine Ahnung, wie tief er fallen würde oder was ihn am Grund erwartete. Vielleicht gab es zerklüftete Felsen oder Metallhaken, die ihn aufspießen würden, vielleicht einen morastigen Sumpf, der ihn verschlucken würde. Entsetzen und Zweifel drohten ihn zu überwältigen. Jeder Augenblick dehnte sich zu einer Ewigkeit, bis er das Gefühl hatte, eine Stunde zu fallen. Es war weniger seine Notlage, die ihn ängstigte, sondern vielmehr die Ungewissheit, was geschehen würde. Er wünschte beinahe, er wäre aus dem Wasser aufgetaucht und hätte seine Haut in dem anschließenden Gemetzel so teuer wie möglich verkauft. Dieser Tod wäre eines Mannes würdig gewesen. Jetzt stürzte er vielleicht irgendwohin, wo seine Kameraden ihn nicht finden und seine Gensaat retten konnten. Es war möglich, dass seine sterblichen Überreste niemals gefunden wurden. In diesen kurzen Augenblicken war Ragnar der Verzweiflung näher als je zuvor in seinem ganzen Leben. Die Bestie in ihm heulte vor Wut und Furcht. Ihr Affenhirn schnatterte und rüttelte am Käfig geistiger Gesundheit. Doch plötzlich endete sein langer Fall, und er fiel in schwarzes Wasser. Wucht und Geschwindigkeit seines Sturzes ließen ihn tief eintauchen. Mit kräftigen Zügen schwamm Ragnar aus dem Bereich der Strö-
mung und in die Richtung, die seine Rüstung ihm als oben anzeigte. Es war möglich, dass seine Sensoren beschädigt worden waren und nicht richtig funktionierten, aber sie waren seine einzige Hilfe. Augenblicke später durchbrach sein Kopf die Wasseroberfläche. Er sah einen Lichtstrahl und spürte Planschen in unmittelbarer Nähe. Haegrs schmerzerfüllte Stimme rief: »Wie ich sehe, hast du es ebenfalls geschafft, Ragnar.« Erleichterung erfüllte ihn. Er lebte noch und hatte seinen Kameraden gefunden. Oder, richtigerweise, sein Kamerad hatte ihn gefunden. Sie waren der Todesfalle entkommen und am Leben. »Aye, Haegr, ich bin es.« »Wie ich sehe, hat Torin es wieder mal geschafft, einem Bad zu entgehen.« »Hoffen wir, dass er heil und gesund entkommen ist.« »Mach dir um ihn keine Sorgen. Es ist mehr nötig als ein paar Hundert wütende Kultisten und ihr Zauberer, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Wenn sie ihn in eine Halle locken wollten, hätten sie ein Spiegelkabinett anlegen müssen.« »Jetzt ist kaum die richtige Zeit für solche Witze«, sagte Ragnar, indem er näher schwamm. »Wir müssen selbst einen Weg hier heraus finden.« »Das dürfte nicht allzu schwer sein. Wir müssen uns nur nach oben orientieren, dann kommen wir irgendwann schon an.« Ragnar machte sich nicht die Mühe, ihn zu fragen, warum er nicht vorgeschlagen hatte, ihre Peilbojen zu aktivieren. Ein Feind, der gewusst hatte, dass sie kamen, würde sie vermutlich damit ausfindig machen können. Dazu brauchte er sich nur in die richtige Kommnetzfrequenz einzuschalten und die Verschlüsselung zu kennen. Noch vor ein paar Stunden hätte er gesagt, dass das unmöglich war. Jetzt war er nicht mehr so sicher. »Ich glaube, wir wurden verraten«, sagte er. Den Echos ringsumher nach zu urteilen, befanden sie sich in einer großen Höhle oder einem Tunnel. Die Wände konnten nicht zu weit entfernt sein. Die einzige
Frage war, ob es dort trockenen Boden gab. Sie hatten nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. »Vielleicht«, sagte Haegr. »Der selbst ernannte Prophet war ein Psioniker. Womöglich hat er unser Kommen vorhergesehen.« Ragnar ließ sich das durch den Kopf gehen. Es war nicht von der Hand zu weisen, aber er wollte seine eigene Theorie deswegen noch nicht aufgeben. Es gab noch zu viele andere Faktoren, die auf einen Verräter in den Reihen von Haus Belisarius deuteten. »Vielleicht.« »Du glaubst es nicht, oder?« Seine Witterung musste es verraten. Er schwamm zum Ufer und hielt dabei den Kopf über Wasser, damit sie reden konnten. Die Möglichkeit, nach hier unten verfolgt zu werden, zog er nicht in Betracht. Die Mitglieder der Bruderschaft mussten schon Selbstmörder sein, um sich in den Wasserfall zu stürzen. »Es ist möglich.« »Aber?« »Da ist das Attentat auf Adrian Belisarius und auf Gabriella. Zu viele Dinge deuten auf einen Verräter in den eigenen Reihen.« »In den Navigatorenhäusern gibt es immer Verräter in den eigenen Reihen, Ragnar. Du bist nicht mehr auf Fenris. Jedes Haus steckt voller Spione. Jedes einzelne von ihnen ist kompromittiert.« »Aber gerade hast du noch gedacht, wir seien verraten worden.« »Das war mein erster Gedanke, bis ich den verwünschten Zauberer gesehen habe.« Haegrs Worte hatten etwas für sich. Ein Psioniker konnte ihr Kommen vorhersehen und vielleicht auch ihre Anzahl erkennen. Solche Dinge lagen durchaus im Bereich der Fähigkeiten einiger Runenpriester seines Ordens. Es war nur vernünftig anzunehmen, dass auch andere Psioniker dazu in der Lage waren. Er wusste nicht, welche Vorstellung ihm weniger gefiel: Verräter in ihrer Mitte oder mächtige Psioniker in den Reihen ihrer Feinde. »Ein schurkischer Psioniker hier auf dem heiligen Boden Terras«, sagte Ragnar. »Wer sagt, dass er ein Schurke ist, Ragnar? Hier gibt es viele Frak-
tionen, die an den Fäden der Bruderschaft ziehen. Einige von ihnen haben auch Psioniker in ihren Reihen.« Ragnar fielen auf Anhieb nur zwei ein. Es kam ihm lächerlich vor, dass die Astropathen sich aller Navigatoren bis auf einen entledigen wollten. »Willst du damit sagen, die Inquisition könnte dahinter stecken?« «Nein. Das ist nicht ihre Art. Aber du vergisst viele der Hohen Lords von Terra, Ragnar, und die Organisationen, für die sie stehen, haben auch Zugang zu Psionikern.« Das Ufer lag jetzt vor ihnen. Ragnar hörte Wasser gegen Felsen schwappen. Einen Moment später wurde eine Steilwand im bleistiftdünnen Strahl seiner Schulterlampe sichtbar. Er spürte eine Störung in den Tiefen unter sich. Gab es dort unten etwas Lebendiges, irgendeine mutierte Kreatur der Tiefe, die gerade auftauchte? Beobachteten ihn hungrige Augen aus den kalten Tiefen? Er schwamm zum Rand des Wassers und betrachtete die Wand aus Plastibeton vor sich. Sie ragte ungefähr drei Meter hoch steil aus dem Wasser, und darüber schien sich ein Sims zu befinden. Er löste einen Enterhaken von seinem Gürtel und warf ihn nach oben. Er verfing sich beim ersten Versuch, und Ragnar prüfte den Halt, indem er ein paarmal fest daran zog. Augenblicke später hatte er die Wand erklommen und lag auf dem Sims. Haegr folgte ihm auf den Fuß. Der massige Wolfskrieger fiel auf den Vorsprung wie ein gestrandetes Walross. Und keinen Augenblick zu früh. Etwas Großes, Leuchtendes stieg aus der Tiefe empor, erreichte aber nicht ganz die Oberfläche. Als es spürte, dass seine Beute nicht mehr da war, ließ es sich langsam wieder ins tiefere Wasser sinken. Ragnar lauschte aufmerksam. Von überall war das Geräusch fallenden Wassers zu hören. Nicht nur vom nahen Wasserfall, sondern auch aus großer Entfernung. Anscheinend wurde dieses große Reservoir oder was immer es war auch noch von anderen Zuflüssen gespeist. Er konnte die andere Seite des Sees nicht sehen − denn als See bezeichnete er ihn mittlerweile bei sich.
Er musterte Haegr, der neben ihm lag. Der ältere Marine war schwer angeschlagen. Seine Rüstung war an vielen Stellen geborsten und im Bereich des linken Arms und der Schulter komplett durchgebrochen. Sein Gesicht war furchtbar verbrannt. Auf einer Wange waren die Barthaare vollständig weggesengt. All das war nichts, was fähige Heiler nicht wieder in Ordnung bringen konnten, aber sie waren weit von jeder medizinischen Versorgung entfernt. Vielleicht hatte Haegr auch innere Verletzungen, denn er schien sich langsam zu bewegen und seine rechte Seite zu schonen. Es sah nicht sonderlich gut aus. Wenn ein Wolfskrieger so etwas tat, ließ das auf gewaltige Schmerzen schließen. »Du glaubst, einer von den Hohen Lords könnte hinter alldem stecken? Mit welchem Ziel?« »Frag mich nicht, Ragnar. Ich bin nur ein bescheidener Wolfskrieger. Torin könnte es dir zweifellos sagen.« »An dir ist nichts bescheiden, und ich bin sicher, du hast einige Ideen.« Haegr grinste verschmitzt. »Wer kann schon irgendjemandes Motive in dem verstrickten Gewirr der imperialen Politik erkennen? Ein Lord könnte versuchen, sich bei der Inquisition lieb Kind zu machen oder sich an die Spitze eines Kreuzzugs zu stellen, um seine Macht zu vergrößern. Das ist schon versucht worden, sogar hier auf Terra, und auch mit Erfolg.« Ragnar erhob sich und hätte seinem Schlachtbruder gerne Hilfe angeboten, aber dessen warnender Blick verriet ihm, dass das unklug wäre. Ein Wolfskrieger musste schon in den letzten Zügen liegen, bevor er Hilfe dieser Art akzeptieren würde. Er sah sich ihre feuchte und ungesunde Umgebung an. Wie alt war das hier?, fragte er sich. So alt, dass sogar die Gargyle zerbröckelt und die so genannten »immer brennenden« Lichter der Alten erloschen waren. Es roch muffig und feucht. Verwirbelungen in der Luft kündeten von einer intakten Wiederaufbereitungsanlage irgendwo in weiter
Ferne. Wenn er sich konzentrierte, konnte er das entfernte Summen von Maschinen hören, das im Rauschen des fallenden Wassers unterging. Sie marschierten in die Richtung der Luftwirbel. Einige Hundert Schritte führten sie zu einem riesigen Torbogen. Ein Kanal verlief hindurch, der auf beiden Seiten von einem Weg flankiert wurde. Hunderte verrosteter Metallrohre säumten die Wände. Das heraussickernde Wasser hatte Gestein und Mauerwerk entfärbt. Ein gigantisches Mosaik an der Wand über dem Bogen mochte den Primarchen Sanguinius oder einen der Engel aus der Religion der Alten darstellen. Die Gestalt stand so, dass die Beine sich über den Eingang wölbten. Ragnar konnte einen riesigen Flügel erkennen, doch als er die Umrisse der Gestalt mit seiner Schulterlampe nachzeichnete, wurde mehr sichtbar. Hatte Sanguinius je ein großes Horn getragen? Ragnar glaubte es nicht. Oder ein flammendes Schwert, mit dem er Dämonen erschlug? Hier hatte der Künstler eine Menge falsch gemacht, dachte Ragnar, während er dem hinkenden Haegr am Kanalufer entlang folgte. »Manchmal wünsche ich mir, ich wäre wieder auf Fenris. Das Leben dort ist mir viel einfacher vorgekommen.« »Vielleicht, aber wenn du jetzt zurückkehren würdest, bezweifle ich, dass du immer noch so denken würdest.« »Wie meinst du das?« »Terra verändert die Menschen, Ragnar. Wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, Intrigen hinter jedermanns Handlungen zu sehen, ist es sehr schwer, damit aufzuhören. Wenn du nach Fenris zurückkehrst, wirst du alles mit anderen Augen betrachten.« In seiner Stimme lag ein seltsamer Unterton und im Blick ein merkwürdiges Funkeln. Es hieß, dass die Nähe des Todes bei manchen Leuten die Fähigkeit der Vorhersage mit sich brachte. »Du scheinst sehr sicher zu sein, dass ich zurückkehren werde.« »Ich kann Menschen gut einschätzen, Ragnar. Ich weiß, dass du zurückkehren wirst. Du hast diese Ausstrahlung. Dir ist Großes vor-
herbestimmt. Das ist dein Schicksal.« Ragnar dachte über Haegrs Worte nach. »Mir sind große Kalamitäten vorherbestimmt. Ich habe Russ’ Speer verloren.« »Nein, Ragnar. Du hast Russ’ Speer benutzt. Du hast einen Primarchen damit besiegt. Er hat auf dich reagiert. Glaubst du, jeder könnte so eine Waffe werfen? Oder auch jeder große Held, wie ich einer bin?« Ragnar hielt sich nicht für gesegnet, sondern für verflucht. Doch in Haegrs Stimme lag ein Anflug von Neid. Ragnar fragte sich, ob an seinen Worten etwas Wahres war. Ihm fiel keine Entgegnung ein. Stattdessen kam ihm ein anderer Gedanke. Er sollte versuchen, Verbindung mit seinen Kameraden aufzunehmen. Er schaltete sich ins Kommnetz ein, empfing jedoch nur statisches Rauschen, was ungewöhnlich war. Haegr bedachte ihn mit einem wissenden Lächeln. »Das lokale Relais auf dieser Ebene muss defekt sein.« »Hier unten werden Relais benötigt?« Ragnar war verblüfft. So etwas hatte er noch nie erlebt. »Ja. Einige dieser Ebenen sind mit Versiegelungen angelegt worden oder man hat Materialien benutzt, die undurchlässig für das Netz sind. Man muss in der Nähe eines Relais sein, um das Netz benutzen zu können, und dieses Relais muss defekt sein.« »Defekt! Das ist kriminelle Schlamperei!« »Aber es kommt vor. Vielleicht zufällig, vielleicht absichtlich. Wir müssen auf eine andere Ebene gelangen oder eine Relaisstation finden.« »Dann komm, wir müssen zurück an die Oberfläche und sehen, ob wir etwaige Verschwörer ausräuchern können.« Vor ihnen waren Lichter. Ragnar trat vorsichtig vor. Er bedeutete Haegr zu bleiben, wo er war. Er machte sich Sorgen um seinen Kameraden − er kam ihm langsam vor. Seine Wunden waren schlimm. Normalerweise hätte bei einem Marine mittlerweile längst die Selbstheilung begonnen, sofern er noch dazu fähig war. Sein System musste mit der Aufgabe ausgelastet sein, ihn am Leben zu erhalten.
Seiner Blässe nach zu urteilen, mochte es sogar daran scheitern. Dennoch schaffte Haegr es, sich über den Mangel an Nahrung zu beklagen. Während des gesamten langen, ermüdenden Marsches vom Reservoir nach oben war er ungewöhnlich schweigsam gewesen und hatte sich schleppend bewegt, als schone er seine Kräfte. Er war nur einmal etwas lebhafter geworden, als ein paar Ratten vor ihrem Lampenlicht davongehuscht waren. Er hatte sogar einen halbherzigen Versuch unternommen, ein paar von ihnen zu fangen. Vor ihnen lag eine große, leere Kammer. Sie sah aus, als sei sie einmal ein von hohen Gebäuden umgebener freier Platz gewesen. Es gab immer noch genug Mauern, Fenster und Türen, um dieser Illusion einen Hauch von Wirklichkeit zu verleihen. Wenn dieser Ort früher auch einmal unter freiem Himmel gelegen hatte, jetzt war er mit Plastibeton überdacht. Zweifellos begann dort die nächste Ebene. Ragnar konnte viele Leute sehen. Manche wohnten in großen, umgekippten Metallfässern. Andere befanden sich in durchsichtigen Blasen, die hoch oben an den Wänden zu kleben schienen. Manche kletterten an hohen Metallleitern zu den höher gelegenen Fenstern empor. Einige schienen durch Löcher in der Seite in eine dicke Metallröhre gelangt zu sein und sich dort häuslich eingerichtet zu haben. In der Mitte des Platzes befand sich ein kleines Gebäude. Auf dem Dach stand eine gerüstete Gestalt, die den Imperator aus der Zeit darstellte, bevor er im goldenen Thron seine ewige Heimat gefunden hatte. Es handelte sich um ein frühes archaisches Symbol des Imperialen Kults. Vielleicht war es das Zeichen irgendeines Ablegers der Adeptus Ministorum, das er nicht kannte. Vielleicht datierte es tatsächlich aus einer Zeit, als der Imperator noch über die Straßen dieser Welt gewandelt war. Ragnar fragte sich, ob es nicht besser sein mochte, diese Gemeinde zu umgehen. Schließlich konnte sie mit der Bruderschaft verbündet sein. Doch wenn nicht, gelang es ihnen vielleicht, einen Heiler zu finden. Haegr war in ziemlich übler Verfassung. Jede medizinische
Hilfe, wie primitiv auch immer, war jetzt lebenswichtig. Ragnar beschloss, es zu riskieren. Viele berobte und Kapuze tragende Gestalten bewegten sich in den Gängen. Aus Abwässern gewonnenes Methangas wurde benutzt, um das gesamte Gebiet zu beleuchten. Ragnar konnte sowohl das Gas als auch dessen Verwertungsanlagen riechen. Nichts davon war eine Wohltat für seine empfindliche Nase. Türen säumten die Tunnelwände. Einige waren mit Wellblech versperrt, andere mit Vorhängen behangen. Der Geruch nach gebratenem Fleisch vermischte sich mit demjenigen der Methanbrenner, über denen es geröstet wurde. Die Leute vor ihnen bewegten sich langsam. Hin und wieder war eine magere, ausgemergelte Hand oder ein ebensolches Gesicht zu sehen. Wer immer diese Leute waren, gut ging es ihnen nicht. Die meisten waren auch nicht bewaffnet. Das beruhigte Ragnar. Dieser Ort sah nicht so aus wie das Lager der Bruderschaft und roch auch nicht so. Er marschierte durch die Düsternis in der Gewissheit, dass niemand ihn entdecken würde, wenn er es nicht wollte, bis er wirklich nahe war. Vor sich sah er einen kleinen mageren Mann gehen. Sein Gang war eher ein Watscheln, als seien seine Beine verkrüppelt. Ein langer Stab, der aus Knochen geschnitzt war, half ihm beim Gehen. Ragnar tippte ihm auf die Schulter und war überrascht, als der Mann in die Luft sprang und kreischte. Er wäre weggelaufen, hätte Ragnar ihn nicht festgehalten. »Frieden, Fremder«, sagte er. »Ich will dir nichts tun, wenn du mir nichts tun willst.« Der kleine Mann drehte sich zu Ragnar um. Das Licht wurde von seiner runden Brille reflektiert und verwandelte seine Augen kurzfristig in feurige Kreise. »Im Namen des Imperators, ich bezweifle, dass meinesgleichen das möglich ist, Herr.« Seine Stimme war schrill und bebte, seine ganze Art war schüchtern und zaghaft. Er klang mehr wie ein Gelehrter oder Schreiber,
nicht wie ein Mitglied der Bruderschaft. »Wer bist du?«, fragte Ragnar. »Ich bin Linus Serpico der Dritte, Untersekretär dritter Klasse in der Imperialen Fabrik Nummer sechs wie schon mein Vater und dessen Vater vor ihm.« Er hielt kurz inne und überdachte seine Worte. »Wenigstens war ich das. Bis die Fabrik hochgegangen ist.« »Hochgegangen ist?« »Ein bedauerlicher Industrieunfall, Herr. Er lässt überhaupt keine Rückschlüsse auf die Unternehmensleitung zu. Obwohl ich habe sagen hören, dass es niemals zu dem Unfall gekommen wäre, wenn sie nicht das gesamte Sicherheitsbudget für eine vergoldete Statue des heiligen Theresius ausgegeben hätten zur Feier der Pensionierung des Ersten Vorarbeiters.« Ragnar legte den Kopf ein wenig schief, da er ebenso verblüfft darüber war, wie schnell der Mann redete, wie über die Worte an sich. Linus fasste Ragnars Schweigen falsch auf. »Nicht, dass ich derart skurrilen Gerüchten irgendwelchen Glauben schenken würde, Herr. Man kann immer Leute finden, die in alles Mögliche das Schlimmste hineinlesen. Nur weil der Erste Vorarbeiter, dessen Frau und der Zweite Vorarbeiter sich in ihre eigene private Galerie auf Unterebene Fünf zurückgezogen haben, heißt das noch lange nicht, dass sie illegal Mittel für die eigene Tasche abgezweigt haben.« »Wenn du das sagst«, bemerkte Ragnar. Der kleine Mann stieß einen tiefen Seufzer aus. »Bedauerlicherweise sage ich es nicht. Als Untersekretär dritter Klasse war es mein Unglück, dass ich die großen Rechnungsbücher führen musste, und ich habe den Verdacht, wenn ich so sagen darf − obwohl ich niemanden offiziell beschuldige −, dass es gewisse Unregelmäßigkeiten gegeben hat.« »Tatsächlich?« »Ja. Und irgendwann, wenn die Beweise entsprechend erhärtet worden wären, hätte ich sie dem Ersten Buchprüfer der Fabrik vorlegen können. Es wäre meine Pflicht gewesen, dies zu tun, und ich wä-
re vor dieser Pflicht nicht zurückgescheut. Unglücklicherweise wurde die ganze Fabrik durch die schon erwähnte bedauerliche Explosion in Schutt und Asche gelegt. Wäre ich nicht im Auftrag des Hohen Faktus unterwegs gewesen, wäre ich sehr wahrscheinlich mit der Fabrik in die Luft geflogen.« »Aha. Du wohnst hier?« »Das tue ich, Herr. Zumindest zeitweilig, obwohl ich mich der Tatsache rühme, dass ich zu einer besseren Klasse von Personen gehöre als die meisten, die Sie hier finden werden. Ich bin nicht bedürftig, aber leider gibt es für einen Schreiber aus der dritten Ebene dieser Tage wenig offene Stellen.« »Du könntest andere Arbeit in Betracht ziehen«, sagte Ragnar ein wenig verblüfft. »Andere Arbeit, Herr! Unmöglich! Schon der bloße Gedanke daran! Meine Vorväter würden sich im Grabe umdrehen, wenn ich eine schlechtere Stellung annähme. Ich bin ein Schreiber dritter Klasse wie mein Vater vor mir und sein Vater vor ihm.« Ragnar war etwas erstaunt über die Heftigkeit des Mannes. Er klang fast so, als hätten ihn die Worte des Wolfskriegers beleidigt. So sehr ihn diese Begegnung mit einem Terraner auch faszinierte, er hatte seine Pläne und musste zusehen, dass sie sich erfüllten. »Das mag sein, wie es will, ich brauche einen Heiler.« »Wenn ich so sagen darf, Herr, Sie sehen aus wie der Inbegriff der Gesundheit, obwohl Ihre Eckzähne ihrem Aussehen nach zu urteilen ein wenig bearbeitet werden müssten.« Ragnar ließ ein tiefes Knurren hören, bei dem der kleine Mann sich unwillkürlich duckte. »Nicht ich brauche Hilfe. Mein Kamerad ist verwundet.« Linus schien Ragnar zum ersten Mal richtig anzusehen. Er nahm seine Größe, seine Waffen, die verbeulte Rüstung und sein bedrohliches Aussehen zur Kenntnis. Dann zuckte er die Achseln. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Herr? Ich bin sicher, Bruder Malburius wird helfen können. Suchen wir ihn auf.« »Zuerst muss ich meinen Kameraden holen.« »Gewiss, Herr, ge-
wiss.« Er fügte sich so rasch, dass Ragnars Argwohn geweckt wurde. Wollte der kleine Mann sie in eine Falle führen? Da Haegr verwundet und er selbst auch nicht tadellos in Schuss war, mochte ihnen in diesem Fall kein Glück beschieden sein. Langsam, während er Haegr nun ein wenig stützte, gingen sie zum Tempel in der Mitte des Platzes. Als sie schließlich vor der Tür standen, war Haegr dem Zusammenbruch nahe.
17. Kapitel
Bruder Malburius war ein hochgewachsener Mann mit einem grauen, ordentlich gestutzten Ziegenbart. Seine Haare waren ebenfalls grau, und er hatte ein runzliges Gesicht und einen kleinen Buckel. Er trug die Gewänder des Adeptus Ministorum mit müdem Stolz. Er sah erschöpft und überhaupt nicht glücklich darüber aus, zwei ramponierte Space Marines in seiner Zuständigkeit begrüßen zu müssen. »Wolfskrieger, wie?«, sagte er. »Zweifellos mit Haus Belisarius im Bunde.« »Woher wissen Sie das?«, fragte Ragnar. Jetzt war sein Argwohn vollends erwacht. Er sah sich in dem umgebauten Tunnel um, der jetzt ein Tempel war. Ihm fiel nichts Bedrohliches auf − nur einige ausgebaute Kirchenbänke, abgenutzte imperiale Heilige, die aussahen, als seien sie von einer Müllhalde gerettet worden, und ein massiver Altar mit dem Imperiumsadler darauf. Der Tempel sah ebenso heruntergekommen aus wie seine Artefakte, war aber zumindest aufgeräumt und sauber. Bruder Malburius sah Haegr eingehend an und bedeutete ihnen, ihm in die Tiefen des Tempels zu folgen. Hinter dem Altar befand sich ein Vorzimmer, das mit abgenutzt aussehender medizinischer Ausrüstung voll gestopft war. Es roch nach Blut, Schmerzen und antiseptischen Flüssigkeiten. Unterwegs sagte der Priester: »Das war nicht schwer. Ein Blick auf Sie verrät mir Ihren Orden, Bruder Ragnar. Die Wolfsklingen sind die einzigen Space Marines auf Terra. Ihresgleichen ist hier seit der Ketzerei nicht sonderlich beliebt.« »Ist das so?«, sagte Haegr, dessen Miene zu einer Grimasse verzerrt war. »Darauf wäre ich nach dem Empfang, den man uns bereitet hat, nie gekommen.«
Malburius bedeutete Haegr, sich auf einen Untersuchungstisch zu legen. Sehr zu Ragnars Überraschung gehorchte der massige Mann und ließ sich darauf sinken. Der Tisch aus Bronze und Metall, eine Masse aus Universalgelenken und gegossenen Gargylköpfen, bog sich unter Haegrs Gewicht, hielt aber stand. Malburius schraubte sich ein Vergrößerungsglas in ein Auge und bückte sich, um die Wunden des Space Marines zu untersuchen. Er machte sich an einigen Knöpfen des Kontrollaltars zu schaffen und bat um den Segen des Maschinengottes. Zwei Lichtkugeln erwachten an beiden Enden des Tisches zum Leben. Malburius brachte dermale Divinationssensoren an und entzündete zwei Stäbchen mit medizinischem Räucherwerk. Ragnar wusste nicht, was sie angesichts von Haegrs Rüstung und der Veränderungen seines Körpers nützen sollten, sagte aber nichts. Kaum war die Verbindung hergestellt, als die Sensoren auch schon wild zu pulsieren anfingen. Malburius hieb mit den Fäusten auf die Maschinerie ein und rief die Techgeister an, aber es änderte nichts. Er schob Haegr einen Hitzesensor in den Mund. Linus Serpico sah mit weit aufgerissenen Augen zu, schwieg aber. »Nicht aufessen«, sagte Ragnar. Haegr schnitt eine Grimasse. Die Tatsache, dass er nicht darauf antwortete, verriet Ragnar, dass die Situation nicht sehr vielversprechend war. Nach einigen Augenblicken zog Malburius den Sensor heraus und schüttelte den Kopf. »Das sieht nicht gut aus«, sagte er. »Ich muss von inneren Verletzungen ausgehen. Ich werde die Rüstung entfernen und einen Blick hineinwerfen müssen.« »Sind Sie sicher, dass Sie dafür qualifiziert sind?«, fragte Haegr mit einem starren Grinsen. Bruder Malburius sah ihn an. »Um die Wahrheit zu sagen, nein. Ich habe eine grundlegende medizinische Ausbildung im Priesterseminar erhalten. Ich kann einfache Lazarettarbeit verrichten und alles Nötige tun, um meine Schäfchen zu versorgen. Für die Behandlung von Ihresgleichen wurde ich nicht ausgebildet. Nach allem, was meine alten Instrumente sagen, rechne
ich mit allen möglichen Veränderungen der grundsätzlichen menschlichen Lebensform. Ist das so?« In seinem Tonfall lag Missfallen. Ragnar war daran nicht gewöhnt und nahm es dem Priester übel. Haegr nickte. Malburius strahlte Kompetenz aus, die Respekt gebot. »Ich gehe davon aus, dass Ihr Schlachtbruder hier …« Eine Geste deutete auf Ragnar. »… jedwede Operation genauso kompetent ausführen könnte wie ich.« »Das ist nicht das, was ich hören wollte«, sagte Haegr. Er sah Ragnar an, als rechne er mit einer Bestätigung. Ragnar kannte die Grundlagen der Lazarettarbeit, war aber kein ausgebildeter Chirurg. »Sie haben wahrscheinlich mehr Erfahrung als ich«, sagte er. »Ich hatte reichlich Übung hier unten. Es gibt immer Unfälle und Kämpfe und sonst niemanden, der die Leute wieder zusammenflicken könnte.« Haegr sah aus, als werde er rasch schwächer. Er verbarg seine Schmerzen vor dem Priester, aber Ragnar konnte sie spüren. Er spürte auch, dass Malburius nervös war und versuchte, die Operation so lange wie möglich hinauszuzögern. Ragnar traf eine rasche Entscheidung. »Tun Sie, was getan werden muss. Ich werde Ihnen auf jede mir mögliche Art assistieren.« Malburius nickte und ging zum nächsten Schrank. Er wandte sich direkt an Haegr. »Ich habe hier Schmerzmittel, Somnabulium und chirurgisches Werkzeug. Ich kann Sie in Bewusstlosigkeit versetzen und …« »Das wird nicht nötig sein«, sagte Haegr. »Fangen Sic gleich an. Ein so gewaltiger Held wie ich braucht sich vor ein wenig Schmerz nicht zu fürchten.« »Ah, die berühmte Robustheit der Space Marines«, sagte Malburius. Er sah Linus an. »Freund Serpico, bring mir abgekochtes, gereinigtes Wasser, und zwar reichlich.« Er wandte sich an Ragnar. »Es könnte zu Blutverlust kommen. Ich bezweifle, dass Ihre Blutgruppe unter den Leuten hier oft vorkommt. Vielleicht muss ich Ihr Blut ü-
bertragen.« Ragnar wusste, wovon er redete. Viele Blutsorten passten nicht zueinander. Glücklicherweise hatten alle Wolfskrieger dasselbe Blut. Das war Teil des Vorgangs, der sie in Wölfe verwandelte. »Sie können meines nehmen«, sagte er. Malburius nickte und ging zu einer seltsamen Vorrichtung aus durchsichtigen Röhren und Blasebalgen. Er schob sie zu dem langen Tisch. »Normalerweise habe ich solche Fälle nicht oft. Meistens sind es Blinddarmoperationen oder Geburten oder Amputationen nach Stürzen von Dächern. Sie waren beide in einen Kampf verwickelt.« Es war keine Frage, obwohl er den Satz so klingen ließ. »Wir haben gegen eine Abteilung der Bruderschaft des Lichts und gegen ihren Propheten gekämpft.« Ragnar wollte Klarheit. Wenn Malburius mit den Ketzern sympathisierte, wollte er es wissen, bevor der Mann sich mit einem Laserskalpell an Haegr zu schaffen machte. Malburius nickte nur. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis jemand etwas gegen sie unternimmt«, sagte der Missionar. »Ihre Zahl nimmt hier in der Gegend schon seit einiger Zeit ständig zu. Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand gegen sie vorgeht.« Der Mann war intelligent und auf der Suche nach Informationen. Ragnar sah keinen Vorteil darin, ihm entweder zu widersprechen oder ihm Recht zu gaben, also hielt er den Mund. Malburius schlug auf den Tisch und sah Haegr an. »Wir werden den Brustharnisch abnehmen müssen«, sagte er. Haegr murmelte einen Fluch und biss sich auf die Lippe, als sie es taten. Seine großen Reißzähne mussten es schmerzhaft gemacht haben. Ragnar sah, dass die schwarze Faserschicht schwer beschädigt war. Sie hatte klaffende Löcher, durch die rosa Fleisch, sauberer weißer Knochen und glänzende Organe zu sehen waren. Linus kam mit einem Eimer dampfenden Wassers herein, und Malburius wusch sich die Hände und sprühte sie mit einer Chemikalie ein, die Krankheitskeime abtöten sollte. Sie kam aus einem normalen
Spender militärischer Herkunft, der mit dem Imperiumsadler gekennzeichnet war. Rasch und kompetent schloss er Ragnar und Haegr an die Blutmaschine an. »Wir haben hier kein Stromnetz, Bruder Ragnar«, sagte er, »also müssen Sie die Maschine bedienen. Wenn es nötig wird, müssen Sie die Pumpe mit dem Fuß bedienen. Wenn die Schmerzen zu stark werden, sagen Sie es, dann übernimmt Freund Linus diese Aufgabe.« Linus schien über seine Anwesenheit hier nicht allzu glücklich zu sein. »Ich bin ein Schreiber dritter Klasse, keine medizinische Hilfskraft«, sagte er. »Nichtsdestoweniger wirst du uns helfen«, sagte Malburius. »Das Leben dieses Mannes könnte davon abhängen. Und glaub mir, das Imperium misst seinem Leben sehr viel mehr Wert bei als deinem. Stimmt das nicht, Wolfskrieger?« Ragnar knurrte. Linus schluckte schwer und auf eine Art, die keinen Anlass zur Zuversicht bot, nickte aber. Malburius kniete nieder, richtete ein Gebet an den Imperator und nahm dann sein Laserskalpell. Ragnar beugte sich vor und sah ganz genau zu. Er war darauf vorbereitet, im Notfall einzugreifen und jeder Bedrohung Herr zu werden. Wenn Malburius irgendeine Heimtücke plante, würde er dafür sterben. Dieses Gewirr dünner Röhren würde Ragnar nicht einmal verlangsamen. Malburius ließ nicht erkennen, dass er sich bewusst war, wie nahe er einem gewaltsamen Tod war. Er schraubte sich das Vergrößerungsglas heraus und setzte eine Brille aus dickem Rauchglas auf. Ragnar sah, dass sie irgendein optisches Vergrößerungssystem enthielt. Er hob das Laserskalpell und drückte auf die Aktivierungsrune. Ein Strahl aus reinem, intensivem Licht entstand. Er war etwa eine Handbreit lang. Malburius drehte am Griff des Skalpells, und der Strahl wurde kürzer. Er beugte sich vor und machte sich langsam und vorsichtig daran, die Rüstung wegzuschneiden. Dann schnitt er ins Fleisch, um die
inneren Organe darunter freizulegen. Haegr zuckte zusammen. Plötzlich roch es nach verbranntem Fleisch. Malburius bewegte sich sehr vorsichtig. Der Priester war offensichtlich daran gewöhnt, sich um normale Menschen zu kümmern, und es gab einiges in der Anatomie und am Skelett eines Space Marine, das ihn anscheinend verwirrte. Die Knochen waren dicker und verstärkt, sodass sie stahlhart waren. Die Rippen waren viel breiter und flacher als diejenigen eines Normalsterblichen, da sie eine zusätzliche Panzerung über den lebenswichtigen inneren Organen bilden sollten. Die meisten davon befanden sich an anderen Stellen und wechselten sich mit Transplantaten ab, die in einem menschlichen Körper nichts zu suchen hatten. »Wissen Sie auch, was Sie tun, Priester?«, fragte Haegr mit zusammengebissenen Zähnen. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. »Ich habe meinen Bauch sehr gern. Es hat sehr lange gedauert, ihn zu jenem Grad der Vollendung zu entwickeln, den er heute hat. Ich will nicht, dass sie meinen männlichen Leibesumfang reduzieren.« »Vielleicht möchten Sie das selbst erledigen«, sagte Bruder Malburius. Er schüttelte missbilligend den Kopf. »Das kommt davon, wenn man seine Patienten bei Bewusstsein lässt«, fügte er hinzu. »Sie können es ja mit einer Predigt versuchen, Priester. Die lassen mich für gewöhnlich ziemlich schnell einschlafen.« »Und Blasphemie auch noch«, sagte Malburius. »Kein Wunder, dass der Imperator es für richtig gehalten hat, dich aus seiner Gunst zu entlassen.« Bei diesen Worten beugte der Missionar sich vor und schob die oolithische Niere beiseite. Ragnar sah, dass sie entzündet war. Mehrere Stellen bluteten. Die Wunden sahen nicht gut aus. Das sagte er auch zu Malburius. Der Priester ließ das Laserskalpell über die Perforationen wandern und kauterisierte sie mit geübtem Geschick, sodass sie sich schlossen. Haegr knirschte mit den Zähnen. Er wurde noch blasser, gab a-
ber keinen Laut von sich. Malburius sah ihn an, aber der Wolf bedeutete ihm fortzufahren. Der Schweiß tropfte Haegr jetzt von der Stirn. Ragnar musterte ihn eingehend und fragte sich, ob sein Freund bei Bewusstsein bleiben würde. Haegr wahrte jetzt völlige Stille, als konzentriere er sich darauf, alle seine Kräfte für eine übermenschliche Anstrengung zu schonen. Sein Atem klang seltsam, bis Ragnar aufging, dass das Geräusch von der Bewegung der Lungenflügel selbst stammte. Malburius widmete sich ihnen und brachte Saugkabel an. Blut wurde in das durchsichtige Plasmit gepumpt und abgesaugt. Ragnar spürte einen schwachen Stich, als ihm selbst Blut abgezapft wurde. Offensichtlich verlor Haegr die kostbare rote Flüssigkeit sehr rasch. Dennoch beklagte er sich mit keiner Regung. Ein leises, trockenes Würgen verriet, dass Linus Serpico Schwierigkeiten hatte, die innere Ruhe zu wahren. Offensichtlich war er Situationen wie diese nicht gewohnt. Bruder Malburius holte scharf Luft und beugte sich vor. Es war klar, dass er etwas entdeckt hatte, das nicht in Ordnung war. Er wehte irgendeinen antiseptischen Dampf auf den entsprechenden Bereich. Haegr gab ein unterdrücktes Stöhnen von sich. Malburius beugte sich wieder vor und beschrieb geübte und vorsichtige Bewegungen mit dem Skalpell. »Arterie geschlossen«, murmelte er. »Mal sehen, was wir sonst noch finden.« Er erforschte ganz vorsichtig die Wunde und sondierte mit den Fingern. Ragnar wahrte sein Schweigen, bis der Priester zufrieden zu sein schien. »Mehr kann ich nicht tun«, sagte er schließlich, während er die Wunden sorgfältig kauterisierte und mit Kunsthaut versiegelte. »Den meisten Leuten würde ich empfehlen, die nächsten Tage im Bett zu verbringen, aber Sie sind Space Marines. Ich habe schon viel von Ihren wunderbaren Heilkräften gehört. Langsam glaube ich an sie. Die meisten inneren Verletzungen begannen noch während meiner Operation mit der Heilung. Nur die größeren Risse bedurften der
Arbeit, diese aber umso dringender. Es ist erstaunlich und ein Zeugnis für die Größe und Gnade des Imperators.« »Wenn Sie das sagen«, sagte Haegr, indem er die Augen öffnete und rülpste. »Ich halte es vielmehr für ein Zeugnis meiner heldenhaften Kräfte der Erholung.« Ragnar schüttelte den Kopf. So schwach er auch sein mochte, Haegr war unverbesserlich. »Es wird Zeit, Sie wieder zuzunähen«, sagte Malburius. Erst jetzt gestattete er sich, nervös auszusehen. Ragnar sah ihn schlucken. Mit raschen und präzisen Bewegungen machte er sich an die Arbeit. »Was wissen Sie über die Bruderschaft?«, fragte Ragnar Malburius, während der Mann arbeitete. »Sie nennen sich ›Die Rechtschaffenen‹ und sie sind ganz gewiss von rechtschaffenem Hass erfüllt.« »Sie stimmen mit ihnen überein?« »Sie interpretieren die Worte des Imperators auf eine Weise, die ihren Vorurteilen entgegenkommt.« »Dulde kein Mutantenleben?«, fragte Ragnar. »Aye, aber sie spannen ihre Netze zu weitmaschig auf.« »Wie meinen Sie das?« »Sie hassen jene, welchen der Imperator Zuflucht gewährte und auf welche er den Mantel seines Schutzes ausgedehnt hat.« »Die Navigatoren?« »Aye, die Navigatoren.« »Sie halten das für falsch?« »Wenn der Imperator die Navigatoren verschont hat, wer sind sie, ihm zu widersprechen? Mir will scheinen, als vereinigten sie die Todsünden des Zorns und des Stolzes in sich. Sie sind überheblich.« »Und doch scheint es ihnen nicht an Anhängern zu mangeln.« »Die Laien lassen sich leicht in die Irre führen. Deshalb müssen meine Brüder und ich das große Werk hier auf dem heiligen Boden Terras fortsetzen. Selbst hier haben sie trotz meiner Bemühungen Sympathisanten.« Im Tonfall des Mannes lag eine offene Aufrichtig-
keit, als er von der Heiligkeit seiner Heimatwelt sprach. Sie gebot Respekt, auch wenn Ragnar anderer Meinung war. Während Ragnar zuhörte, beobachtete er ständig die Türen ebenso wie den Priester, der die Wunden seines Kameraden vernähte. Er würde allen Sympathisanten der Bruderschaft des Lichts ein warmes Willkommen bereiten, wenn sie eindrangen. »Wir danken für Ihre Hilfe, Bruder«, sagte Ragnar. Er betrachtete Haegr. Der massige Mann hatte wieder etwas Farbe bekommen. »Jetzt müssen wir einen Weg an die Oberfläche finden.« »Das wird nicht leicht«, sagte Malburius. »Es sind viele Tagesreisen bis zur großen Zugangsröhre, und dann folgt ein langer Aufstieg. Ich muss es wissen. Ich habe den Weg von oben nach unten gemacht.« »Aber wir müssen es tun«, sagte Ragnar. »Dort oben wartet Arbeit auf uns.« »Ich würde Ihnen den Weg selbst zeigen, aber ich habe hier Pflichten wahrzunehmen. Ich bin sicher, dass Linus Ihnen den Weg zeigen wird.« »Ich bin kein Führer«, erwiderte Linus. »Meine Familie würde sich niemals zu so einer Arbeit hergeben.« »Ich habe den Eindruck, dass du keine Arbeit als Schreiber mehr hast«, erwiderte der Priester. »Und ich habe auch den Eindruck, dass diese Männer die Werke des Imperators verrichten. Du musst ihnen helfen.« Ragnar fügte hinzu: »Ich bin sicher, Haus Belisarius könnte Verwendung für einen zuverlässigen Schreiber dritter Klasse finden«, sagte er. »Wenn du uns helfen würdest.« »Ich bin nicht sicher«, sagte Linus. »Meine Qualifikation gilt nur für die Imperiale Fabrik Nummer sechs. Ich weiß nicht, ob sie auch auf den oberen Ebenen gültig ist.« »Vielleicht wäre es den Versuch wert, es herauszufinden«, sagte Ragnar. »Du hast nichts zu verlieren und alles zu gewinnen.«
Linus machte einen unentschlossenen Eindruck. Ragnar wollte Bruder Malburius schon nach einem weniger ängstlichen Führer fragen, als der kleine vogelähnliche Mann sagte: »Also gut, ich mache es.« Er schien sich ebenso an seine stolzen Vorfahren zu wenden wie an die Wölfe. »Ich werde alles Nötige tun, um meine gewohnte Stellung im Leben wiederzugewinnen.« »Und sie vielleicht zu verbessern«, sagte Haegr, indem er sich vom Operationstisch erhob. Er hatte damit begonnen, seinen Brustharnisch mit Reparaturzement zu bearbeiten, um die Löcher provisorisch zu stopfen, bis sie einen Rüstmeister fanden. Linus schaute ein wenig schockiert drein. »Vielleicht sogar das«, sagte er schließlich in einem Tonfall, der darauf schließen ließ, dass ihn seine eigene Kühnheit entsetzte. »Ruht euch hier für ein paar Stunden aus«, sagte Bruder Malburius. »Ich werde euch mit Proviant für eure Reise versorgen.« »Wir brauchen keinen Proviant«, sagte Ragnar. »Nein, Sie nicht, aber Bruder Linus.« »Ich auch«, korrigierte Haegr. »Schließlich liegt meine letzte Mahlzeit schon Stunden zurück, und ich muss meine gewaltigen Kräfte zurückgewinnen.« »Bitte warten Sie hier«, sagte der Priester. Er schien überrascht zu sein, das Haegr so bald nach der Operation überhaupt nur von Essen reden konnte. »Je weniger Leute Sie sehen, desto weniger Gerede wird es geben. Zweifellos hat die Nachricht von der Ankunft der Fremden mittlerweile die Runde gemacht.« Er ging hinaus. Ragnar sah ihm nach und wusste nicht, was er tun sollte. Zweifel stiegen in ihm hoch. Was, wenn der Priester mit der Bruderschaft im Bunde war? Was, wenn er unterwegs war, sie zu holen? Er tat diese Gedanken sofort ab. Malburius gehörte nicht zu dieser Sorte. Seine Witterung ließ keinen Zweifel daran, dass er vertrauenswürdig war. Es gab keinen Hinweis auf Falschheit. Und selbst wenn er sie verriet, spielte das keine Rolle. Ragnar war sicher, dass er mit jeder Bedrohung fertig werden konnte. Er bereitete sich auf geduldiges Warten vor und hielt Wache über seinen Kameraden.
Haegr beklagte sich darüber, wie hungrig er sei, dann prahlte er damit, wie viele Mitglieder der Bruderschaft er im Kampf Mann gegen Mann erschlagen habe. Linus Serpico wurde immer unruhiger, je mehr der Marine erzahlte. Offensichtlich hatte er große Bedenken, in ihrer Gesellschaft zu reisen. Um den kleinen Mann abzulenken, fragte Ragnar: »Wie lange wird es dauern, bis wir die Röhre erreichen?« »Höchstens drei Tagesreisen«, sagte Linus. »Wenn wir schnell sind und den Schleichern im Dunkeln ausweichen.« »Den Schleichern im Dunkeln?« »Es gibt viele verschiedene Sorten. Große Spinnen. Riesenratten. Kannibalische Menschen, die außerhalb der Gesetze des Imperators leben.« »Wer hätte das auf dem Heiligen Terra für möglich gehalten?«, sagte Haegr sarkastisch. »Wir sind hier tief unter dem Heiligen Terra und weit von denjenigen entfernt, die den Gesetzen des Imperators Geltung verschaffen.« »Wir verschaffen ihm Geltung«, sagte Ragnar. »Und wir werden dich beschützen.« »Aber wie komme ich wieder zurück?«, fragte Linus. »Ich dachte, du kommst mit uns zur Oberfläche und suchst dir eine Anstellung bei Haus Belisarius.« Linus sah wieder unsicher aus. Er schien gründliche Zweifel zu haben. Wie kann mein Schicksal mit einer Maus wie Linus verbunden sein?, dachte Ragnar, tat die Frage dann aber ab. Linus Serpico war kein Sohn von Fenris, er war nicht für Krieg und Kampf gezüchtet und ausgebildet. Es sah so aus, als sei auch nur ein kurzer Marsch weg von diesem schäbigen Arbeitslager ein größeres Abenteuer. Plötzlich ging Ragnar auf, dass es das für Linus auch war. Für seinen Horizont war dies eine gewaltige Reise. Für Ragnar war es das auch einmal gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, die noch gar nicht so lange zurücklag, als er die Insel der Donnerfäuste niemals verlassen hatte. Damals wäre die bloße Vorstellung von einer interstellaren Reise undenkbar gewesen. Er lächelte bei sich, und seltsamerweise
schien das den kleinen Mann zu beruhigen. »Natürlich begleite ich Sie«, sagte er. »Natürlich werden Sie mich beschützen.« Er hörte sich an, als brauche er Unterstützung, also nickte Ragnar. Vielleicht machte er sich trotz der relativ kurzen Entfernung zu Recht Sorgen. Zweifellos wimmelte es in diesem ausgedehnten Untergrund von Gefahren. Vielleicht war es falsch, dass Ragnar so zuversichtlich war. Schließlich wurden sie von der Bruderschaft des Lichts gesucht. Und vielleicht noch von anderen. Er zuckte die Achseln. Er konnte nur auf das Schlimmste vorbereitet sein, und als Space Marine war er das immer.
18. Kapitel
Bruder Malburius kehrte mit Essen zurück. Sein hageres, bärtiges Gesicht hatte einen nachdenklichen Ausdruck angenommen. Ragnar konnte seiner Witterung entnehmen, dass er sich unwohl fühlte. Er spürte, dass auch Haegr darauf reagierte. In der kurzen Abwesenheit des Priesters hatte sein Körper bereits mit der Regeneration begonnen. Malburius untersuchte Haegr. »Erstaunlich«, murmelte er, »Sie sind schon wieder auf den Beinen.« »Von einem großen Helden von Fenris sollte man nicht weniger erwarten«, sagte Haegr. »Haben Sie etwas zu essen?« »Was ist los, Bruder Malburius?«, fragte Ragnar. »Sie scheinen nervös zu sein.« »Einige Männer sind verschwunden. Es könnte nichts zu bedeuten haben. Vielleicht sind sie nur auf Spinnenjagd gegangen.« »Aber vielleicht auch nicht …« »Die fehlenden Männer − Burke, Smits, Tobin und die übrigen − sind genau diejenigen, welche den Doktrinen der Bruderschaft am aufmerksamsten zugehört haben.« »Sie glauben, dass sie sich aufgemacht haben, mit den Zeloten Verbindung aufzunehmen?« »Sagen wir mal, ich schließe die Möglichkeit nicht aus.« »Ist es gefährlich für Sie, wenn Sie hier bleiben?« »Es wird dem Ruf der Bruderschaft, fromm zu sein, nicht sonderlich gut tun, wenn sie anfangen, Priester umzubringen, oder?« Seine Stimme war ruhig, aber Ragnar spürte, dass er keineswegs so sicher war, wie er sich gab. Dennoch war er offenbar entschlossen, bei seinen Schäfchen zu bleiben. Malburius war sicherlich ein tapferer Mann. »Sie sollten jetzt aufbrechen! Es ist ein langer Weg bis zur Oberfläche.«
»Wollen Sie wirklich nicht mitkommen?« »Ich habe hier meine Arbeit. Meine Schäfchen sind hier. Ich muss ihnen auch weiterhin die Worte des Imperators nahe bringen.« »Dann möge der Imperator über Sie wachen«, sagte Ragnar. »Und über Sie, Wolfskrieger.« »Was ist mit Essen?«, wollte Haegr wissen. »Ein Mann könnte hier unten verhungern.« »Ich weiß nicht, ob Sie etwas essen sollten«, sagte Malburius mit Humor. »Also soll die Folter andauern«, sagte Haegr. Doch der Priester hatte Brote und eine Menge ominöses Fleisch mitgebracht, das nach Riesenratte roch. Haegr war das egal. Er machte sich mit großem Eifer darüber her. »Sie sollten sich etwas für unterwegs aufbewahren«, sagte Malburius. »Mehr kann dieses Lager nicht erübrigen.« Ragnar nickte und begann mit der Überprüfung seiner Waffen. Es konnte niemals schaden, sich zu vergewissern, dass sie funktionstüchtig waren, bevor sie in feindliches Gebiet eindrangen. Haegr aß weiter, während Linus Serpico entsetzt zusah. Zumindest machten Haegr seine Wunden nun weniger zu schaffen. »Wie ist es deiner Ansicht nach Torin ergangen?«, fragte Ragnar. »Wahrscheinlich hat er irgendwo einen Spiegel entdeckt und ist damit beschäftigt, sich darin zu bewundern«, sagte Haegr. »Die Eitelkeit dieses Mannes ist überwältigend.« Seiner Witterung konnte Ragnar entnehmen, dass Haegr sich mehr Sorgen um seinen Freund machte, als er erkennen ließ. »Ganz anders als deine«, sagte er. »Mein Stolz auf meine männliche Tüchtigkeit ist durchaus gerechtfertigt«, sagte Haegr mit einem donnernden Rülpsen. Er wartete einen Moment auf eine Antwort, aber als keine kam, aß er weiter. »Wir brechen wohl besser auf«, sagte Ragnar. Die schmalen Korridore des Lagers waren leer und sehr still. Ragnar
konnte verstohlene Bewegungen in ihrer Nähe hören. Er wusste, dass Leute versuchten, sie unbemerkt zu beobachten. Die Geräusche und Witterungen hatten nichts Bedrohliches. Die Menschen waren lediglich nervös wegen der Fremden, und Ragnar verstand auch, warum. Sie waren arm, schlecht ernährt und unbewaffnet. Und zwei gewaltige Wolfskrieger mussten sehr einschüchternd sein. Er und Haegr mussten ihnen wie die legendären Dämonen der Horus-Ketzerei vorkommen. Das war ein seltsamer Gedanke, der tief in ihm schwärte. »Sieh dir die Ratten an, wie sie sich in ihren Löchern verbergen«, höhnte Haegr mit seiner üblichen Feinfühligkeit. »Macht euch keine Sorgen, wir tun euch nichts!« Deine Art wird nicht dazu beitragen, ihren Eindruck von uns zu verbessern, dachte Ragnar. Haegr spürte seine Missbilligung und beruhigte sich. Er beschränkte sich darauf, Phrasen darüber zu dreschen, was er tun würde, wenn er jemandem von der Bruderschaft des Lichts begegnen würde. Bei der Beschreibung von Verstümmelungen legte er einen beträchtlichen Einfallsreichtum an den Tag. Linus Serpico schaute zunehmend unwohl drein. Und je schlechter ihm wurde, desto lauter tönte Haegr. Der große Wolf hatte seinen Spaß am Unbehagen des kleinen Mannes. Trotz der Prahlerei seines Gefährten war Ragnar auch weiterhin besorgt. Die Operation lag erst ein paar Stunden zurück, und der große Wolfskrieger war längst noch nicht wieder auf der Höhe seiner kämpferischen Fähigkeiten. Er bewegte sich langsam, obwohl er mit seinen langen Schritten keine Mühe hatte, Linus Serpicos Tempo zu halten. Ragnar widmete sich dem Studium ihrer Umgebung. Sie waren tief unter der Erde, und es roch feucht und moderig. Irgendwo in der Ferne mussten immer noch alte Systeme funktionieren, welche die Luft umwälzten, aber alles roch schal und abgestanden. Überall waren uralte, halb begrabene Gebäude und Fragmente verunstalteter Wandgemälde zu sehen, die von einer Zeit kündeten, als diese Straßen noch Wind und Wetter ausgesetzt gewesen waren. Ihrer
Tiefe nach zu urteilen, musste das zu einer Zeit gewesen sein, als es auf Terra noch offene Meere gab und keinen Giftschlamm. Auf manchen Bildern waren Segelschiffe dargestellt, wie sie auch auf den Gewässern von Fenris nicht fehl am Platz gewesen wären. Es war nur schwer vorstellbar, dass es so eine Zeit wirklich einmal gegeben hatte. Alles war so unglaublich alt. Ragnar fragte sich, wie viele Füße schon vor ihm über diese Steine marschiert waren und jene glatten Vertiefungen hinterlassen hatten. Zu viele, um sie zu zählen. Die Last der Geschichte legte sich ebenso auf ihn wie die Last des Bodens über seinem Kopf. Er fühlte sich gefangen und klaustrophobisch und das nicht zum ersten Mal in seinem Leben. Er registrierte, dass sich sein Unbehagen Haegr mitgeteilt hatte, denn der hatte den Kopf gehoben und sah sich um. Nun, da sie die bewohnten Katakomben verließen, wurde Ragnar bewusst, dass es hier wieder lebendiger wurde. Die Leute wirkten schüchtern und ängstlich, sodass einem sogar jemand wie Linus Serpico vergleichsweise kühn vorkam. Ragnar fragte sich, ob sie irgendetwas verbargen, ein Stigma der Mutation. Doch er witterte keine einzige der verräterischen Geruchsspuren und war sicher, dass Malburius sich trotz seines Unbehagens gegenüber Navigatoren niemals für Mutanten verwendet hätte. Er schob alle Überlegungen in Bezug auf die Leute beiseite, die sie nun verließen. Es war besser, sich auf ihre Umgebung und ihr Ziel zu konzentrieren. Die Korridore wurden schmaler und bedrückender. An einigen Stellen waren es nur Tunnel, freigelegt und mit Teilen geborstener Träger und ausgeschlachtetem Plastistahl abgestützt. Es gab Spuren alter Dacheinstürze. Dass es so wenige gab, war ein Beweis für die Fähigkeiten der alten Baumeister. Der gesunde Menschenverstand legte nahe, dass kein Architekt auf Terra irgendetwas gebaut hätte, das kein neues Gebäude hätte tragen können. Die eigentliche Frage lautete, warum das so war. Warum waren all diese Schichten im Laufe der Jahrhunderte zusammengewachsen? Was hatte sie dazu veranlasst,
auf vollkommen brauchbaren Häusern, Palästen und Lagerhäusern zu bauen? Er fluchte. Neugier war sein Fluch, wie der Hunger Haegrs war. Er fragte Linus Serpico. Der kleine Mann sah ihn an wie ein Spatz einen Falken. »Das weiß ich nicht«, sagte er. »Höchstwahrscheinlich waren es bevölkerungstechnische oder ökonomische Zwänge. Geschichten erzählen, dass die Gebäude unten auch dann noch bewohnt waren, als neue darüber gebaut wurden.« »Ökonomische Zwänge?«, fragte Ragnar. Er verstand bevölkerungstechnische Zwänge. Er hatte die Welten des Imperiums gesehen, wo Milliarden in gewaltige Makropolstädte gezwängt waren, aber ökonomische Zwänge waren für ihn schwerer zu begreifen. »Land ist hier sehr wertvoll«, erklärte Linus nicht ohne Stolz. »Das teuerste in der ganzen Galaxis. Jeder Quadratmeter gehört irgendjemandem − einem Navigatorenhaus, einem wichtigen Adeligen aus dem Adeptus, einem religiösen Orden. Verkäufe gibt es nur selten. Die Mieten sind hoch. Wenn man nicht nach außen bauen kann, baut man in die Höhe. Ständig kommen neue Schichten hinzu.« Ragnar verstand genug von Ökonomie, um eine Sache zu begreifen. »Aber das würde mit Sicherheit den Wert des Landes darunter verringern.« »Das sollte man meinen! Aber so ist es nicht − es bedeutet nur, dass für den neuen Raum darüber mehr berechnet wird. Und schließlich, nach Jahrtausenden, landet man an Orten wie unserem. Die Mietbücher müssen faszinierend sein. Manche werden seit über zehn Millennien geführt.« Ragnar hatte angenommen, die Gebiete der Katakomben seien verlassen und die Leute dort Obdachlose, die keine Mieten zahlten. Linus korrigierte ihn. »Nein, wir zahlen Miete. Nicht viel nach modernen Maßstäben, aber wir bezahlen die vereinbarte Summe. Die Mieteinnehmer kommen immer noch und tragen unsere Zahlungen in das Einnahmenbuch ein. Interessante Arbeit für einen Schreiber − man bekommt
etwas von der Welt zu sehen.« »Nicht unbedingt die schönsten Gegenden«, sagte Haegr. »Diesem Ort nach zu urteilen.« »Wohl nicht«, bestätigte Linus. »Aber Sie haben auch an der Oberfläche gelebt.« Er ließ es so klingen, als redeten sie über irgendeinen entfernten Luxusplaneten und nicht über das, was direkt über ihnen lag. Ein weiterer Eindruck nistete sich in Ragnars Verstand ein − es gab unzählige Generationen, die hier lebten und starben, ohne die Sonne oder den Himmel zu sehen. Er bekam langsam eine Ahnung davon, welch ein Segen es war, dass er trotz der dortigen Gefahren auf Fenris geboren war. »Du wirst bald die Oberfläche sehen«, sagte Ragnar. »In der Tat«, sagte Linus. Er klang sowohl hoffnungsvoll als auch erstaunt über seine Verwegenheit. Sie gingen weiter durch die Düsternis, wobei sich die Schulterlampen der Wölfe automatisch einschalteten, wenn sie in einen besonders dunklen Sektor kamen. Ragnar machte sich nicht die Mühe, etwas an der automatischen Kontrolle zu verändern. Er wollte etwas Licht, um sehen zu können, und er war sicher, dass seine Augen mehr mit diesem Licht anfangen konnten als diejenigen eines normalen Menschen. Außerdem würde er in diesen gewundenen Korridoren jeden, der sich näherte, so frühzeitig wittern, dass sie die Lampen, falls nötig, immer noch löschen konnten. An einigen Stellen war die Decke so niedrig, dass Ragnar sich ducken und Haegr sich vorbeugen musste, um durchzukommen. Linus hatte keine derartigen Probleme. Ragnar fragte sich, ob seine geringe Größe eine Anpassung an seine Umgebung war und nicht die Folge schlechter Ernährung. Er lächelte. Es hatte eine Zeit gegeben, als er sich mit solchen Dingen nicht befasst hätte, aber das seltsame Wissen, das die Lehrmaschinen auf Fenris in seinem Gehirn verankert hatten, suchte sich die merkwürdigsten Momente aus, um aufzutauchen. Sie waren jetzt von
schwachen tierischen Ausdünstungen umgeben, und er nahm kleine Löcher in den Wänden wahr, aus denen längliche raubtierhafte Wesen mit einem boshaften Funkeln in den Augen glitten, die mehr Ähnlichkeit mit Wieseln denn mit Ratten hatten. Sie schauten die drei Gefährten an, als wollten sie sehen, ob sie essbar waren. Linus zuckte zurück, aber die Tiere erkannten die Gefahr, die von den Wolfskriegern ausging, und griffen nicht an. Wahrscheinlich spürten sie Haegrs Hunger. Eher würde der große Mann sie verspeisen, als dass sie einen Bissen aus ihm herausbekamen. Auch roch Keramit vermutlich nicht besonders appetitlich für sie. Aber ein feiner Bissen von Linus Serpico wäre wohl etwas anderes gewesen. Gewöhnliche Menschen wie Linus lebten in einer anderen Welt, wo sich sogar diese Nager als Bedrohung erwiesen. Auf seine ganz eigene schüchterne Art legte der Schreiber mehr Courage mit dieser Reise an den Tag als die beiden Wölfe. Linus riskierte sein Leben. Es waren nicht nur die Ratten − es waren die Krankheiten, die sie übertragen mochten, die Gifte in dem verschmutzten Wasser, alles Dinge, gegen die er nicht immun war. Indem sie ihn zum Mitkommen überredeten, hatten sie ihre Bedürfnisse über sein Leben gestellt. Ragnar fragte sich, ob Linus das bewusst und wie groß seine Courage wirklich war. Alles ist relativ, überlegte Ragnar. Ihm ging auf, dass er in gefährliche Nähe zur Ketzerei geriet. Das Imperium beruhte auf unumstößlichen Dingen: auf der absoluten Wahrheit des verkündeten Wortes des Imperators, auf der absoluten Überlegenheit des Menschen im Universum, auf dem absoluten Bösen des Chaos und der Mutation, dem die Verteidiger der Ordnung entgegentreten mussten. Diese Überzeugungen bildeten das Fundament des imperialen Glaubens. Er durfte nicht anfangen, in Begriffen der Relativierung zu denken − dieser Weg führte zu Schwäche und Schlimmerem. Die Wahrheit war, dass jeder Mann, jede Frau und jedes Kind einen Platz im großen Plan hatte. Ragnars Platz war, sich zwischen die Menschheit und ihre Feinde zu stellen. Linus’ Platz war, Fakten und Zahlen aufzu-
schreiben. Sie hatten ganz einfach Stärke und Courage im Verhältnis zu ihren Aufgaben bekommen. Es gab keinen Grund, weiter zu schauen. Das große Gefüge des Imperiums hatte zehntausend Jahre gehalten und würde noch zehntausend überdauern, solange Menschen ihrem Glauben treu blieben. Der Imperator und seine Primarchen hatten in grauer Vorzeit alles festgelegt, was es wert war, festgelegt zu werden. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Es gab keinen Grund, Linus mehr Courage zuzugestehen, als er hatte, oder sich selbst und Haegr deswegen abzuwerten. Er und Haegr waren mehr für das Imperium wert als Linus und hundert Männer wie er. Und doch … ein Teil von ihm dachte so. Es war ein Makel in ihm, dass er mit Ideen ringen musste. Nicht alle Ketzereien waren offensichtlich. Die subtilsten waren die gefährlichsten. Stolz war die größte aller Sünden, diejenige, welche den Kriegsmeister in die Irre geführt hatte. Stolz auf seinen Intellekt war am allerschlimmsten, und genau darunter litt Ragnar. Er musste darüber mit einem Wolfpriester reden, wenn er einen sah. Und ihm war klar, dass ihm Bußen auferlegt würden. Haegr konnte die Vorgänge um sich herum einfach akzeptieren und hatte ein schlichtes Zutrauen in die Richtigkeit der überlieferten Bräuche. Doch Ragnar war heuchlerisch. Er war nicht wie Haegr und wollte auch nicht so sein wie er. Wiederum Stolz, dachte er. Es gibt kein Entrinnen. Seine Gefühle waren zum Teil eine Reaktion darauf, dass er sich auf Terra befand. Er hatte etwas Besonderes erwartet, einen Heiligenschein, den Hauch des Göttlichen, wie er es im Schrein von Russ auf Garm erlebt hatte. Stattdessen hatte er politische Ränkespiele, Korruption und bröckelnde Korridore vorgefunden. Ein tief sitzendes Gefühl der Enttäuschung hatte sich eingenistet. »Ich glaube, wir sollten uns jetzt nach Osten wenden«, sagte Linus. Sie hatten eine Gabelung erreicht. Eine Abzweigung führte aufwärts und nach links, die andere abwärts und nach rechts. Aus beiden weh-
te klamme, muffige Luft, die nach Rost und alten Umwälzmaschinen roch. »Du glaubst«, sagte Haegr. »Das ist beruhigend.« »Es ist lange her, seit ich zuletzt hier war, und da bin ich aus der anderen Richtung gekommen.« »Du bist ein ausgezeichneter Führer«, sagte Haegr. Er klang übellaunig. Ragnar schob es auf die Schmerzen. »Ich bin sicher, du hast Recht«, sagte Ragnar, indem er sehr zu Haegrs Erstaunen zuversichtlich die aufwärts führende Treppe betrat. Es wurde offensichtlich, dass sie überall von Leuten umgeben waren. Diese bröckelnden Gänge waren so voll von ihnen, wie es in verfaultem Käse von Maden wimmelte. Sie waren in Winkel und Spalten gequetscht und versuchten sich scheu dem Blick der Marines zu entziehen, hatten aber keine Ahnung, wie wenig ihnen das gelang. Es gab Frauen, Kinder und alte Männer. Sie saßen neben Fallen, mit denen sie Ratten und große Insekten als Nahrung fangen wollten. Sie pumpten schmutziges Wasser aus Wassertürmen. Sie bewegten sich lautlos wie Schatten und geisterhaft wie Gespenster. Sie waren die enteigneten Armen dieses alten Planeten. Ab und zu roch Ragnar Alkohol in einem primitiven Zustand. Er war immer von gedämpftem Gelächter und leisen Gesprächen begleitet. Hier unten gab es Tavernen der übelsten Sorte, wo Brauer zuckerhaltige Abfälle zur Gärung brachten und mit verseuchtem Wasser mischten. Alles war ein Echo der helleren Welt an der Oberfläche. Diese Leute hätten ebenso gut Geister aus alten Zeiten sein können, dachte er, so viel − oder wenig − Leben steckte in ihnen. Die Reise hatte einen sonderbaren Charakter angenommen. Sie war wie eine Tour durch ein mystisches Nachleben oder eine urtümliche Zivilisation, wo die Schatten der Verstorbenen sich vom Staub nährten und seltsame Parodien der Tätigkeiten ihres früheren Lebens vollführten. Sie gingen weiter durch die gespenstische Düsternis, und Ragnar spürte wachsendes Unbehagen in sich aufsteigen. Er wünschte, er hätte mehr Brüder bei sich gehabt. Wo war Torin?, fragte er sich. Die
Schatten gaben ihm keine Antwort.
19. Kapitel
Die Korridore wurden breiter und bekamen immer mehr Ähnlichkeit mit Straßen. Alte Statuen, matt, verstaubt und vom Alter porös, säumten, was einst eine Allee gewesen war. Ragnars Unbehagen wuchs; er roch, dass auch Haegr trotz seines fröhlichen Gehabes immer angespannter wurde. Der große Wolf schonte wieder seine rechte Seite. Nicht einmal die sagenhaften Heilkräfte eines Space Marine konnten ihn völlig immun gegen die Auswirkungen seiner Verwundungen machen. Ragnar hob den Kopf und schnüffelte. Irgendwas machte ihn wachsam. Er ging vorsichtig weiter und betrachtete eine Statue. Sie war berobt wie ein Mitglied des Administratum und stellte zweifellos irgendeinen vergessenen Helden einer uralten Schlacht dar. Die linke Hand hielt ein Buch, die ausgestreckte rechte ein Boltgewehr. Wer warst du?, fragte sich Ragnar. Haben die Leute eine Statue dir zu Ehren errichtet, oder hast du sie als Monument deiner Eitelkeit errichten lassen? Die ganze Gegend kam ihm wie ein Lagerhaus für Denkmäler vergessener Kämpfe und Leute vor. »Was ist los?«, fragte Linus Serpico im Tonfall eines Mannes, dem ein Arzt gerade eröffnet hatte, er habe eine tödliche Krankheit. »Das weiß ich nicht«, sagte Ragnar, »aber irgendwas ist nicht richtig.« »Das ist mein Magen«, sagte Haegr. »Er glaubt, dass mir die Kehle durchgeschnitten wurde.« »Das könnte passieren, wenn du nicht den Mund hältst.« »Ich weiß nicht, ob mir dein Ton gefällt, kleiner Mann. Es könnte sein, dass ich dir eine Tracht Prügel verabreichen muss.« Haegr betrachtete intensiv ihre Umgebung. Vielleicht, dachte Ragnar, verbarg sich doch ein Gehirn hinter der Fassade eines Ochsen.
»Was ist los?«, wiederholte Linus seine Frage. In seiner Stimme lag ein Unterton zunehmender Verzweiflung. Ragnar sah, dass er ein kleines Klappmesser gezückt hatte. Gegen die Rüstung eines Wolfskriegers wäre es ebenso nützlich gewesen wie ein Kinderspielzeug. Aber vielleicht konnte es einem gewöhnlichen Menschen Schaden zufügen, wenn er nahe genug herankam. Ragnar konnte sich nicht vorstellen, dass der kleine Schreiber in der Lage war, es vernünftig zu benutzen. Er hatte den Geruch und den Anblick von Blut nicht gut verkraftet. »Waffenmetall«, sagte Haegr. Seine Nase war unglaublich empfindlich. Das musste beim Aufspüren von Essen sehr nützlich sein. »Was machen wir jetzt?« Ragnar war überrascht, dass er gefragt wurde. Er zuckte die Achseln und wartete. Er brauchte mehr Informationen, bevor er eine Entscheidung treffen konnte. Er spürte Leute in der Ferne, aber ihren Bewegungen haftete etwas Verstohlenes, Schleichendes an. Als wollten sie schnell vorankommen, aber mit Vorsicht. Es waren Geräusche, wie sie Truppen auf Streife in feindlichem Gebiet verursachten. Ragnar schnüffelte wieder. Schwach und aus weiter Ferne schnappte er etwas auf. »Es müssen zwanzig oder dreißig sein«, sagte Haegr. Wieder war Ragnar überrascht. Was er auch von Haegrs Verstand halten mochte, mit seinen Sinnen war jedenfalls alles in Ordnung. Wenige Männer hatten so scharfe Sinne wie Ragnar, und Haegr war ihm auf diesem Gebiet womöglich noch überlegen. Er hörte Linus Serpico schlucken. Der Gestank der Furcht klebte an dem kleinen Mann. »Warten oder kämpfen?«, fragte Haegr. Ragnar überlegte. Durch Warten konnten sie nichts gewinnen. Auch durch Kämpfen konnten sie nichts gewinnen. Vielleicht wurden sie verwundet oder verloren Linus und standen wieder am Anfang. Er zog die Möglichkeit nicht in Betracht, dass sie getötet werden konnten. »Weder noch«, sagte Ragnar. »Wir fliehen!« »Fliehen?«, sagte Haegr. Er klang empört.
»Wir haben keine Zeit zu streiten«, sagte Ragnar. »Vorwärts.« Er wartete Haegrs Reaktion nicht ab. Er hatte festgestellt, dass es, wenn man einen Befehl gab, das Beste war, sich so zu verhalten, als werde er selbstverständlich befolgt. Er verfiel in einen Laufschritt und gab sich alle Mühe, vor den Verfolgern zu bleiben. Er hoffte, dass sie ihr Ziel erreichten, bevor sie eingeholt wurden. Linus brauchte keine Aufmunterung. Ein paar Sekunden später hörte er einen Fluch, ein Grunzen und schwere Schritte, als Haegr einen Trab anschlug. Während die Statuen an Ragnar vorbeihuschten, fragte er sich, ob er das Richtige tat. Er rechnete jeden Augenblick damit, von einem Laserstrahl in den Rücken getroffen zu werden. Oder dass Haegr stehen bleiben und auf die Angreifer warten würde. Wenn das geschah, würde es schlimm enden. Ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als sich ebenfalls zum Kampf zu stellen. Ein Wolfskrieger ließ seine Schlachtbrüder nicht im Stich. »Sie wissen, wohin wir gehen«, sagte Linus. Er keuchte, konnte aber gerade noch mit den Marines Schritt halten. »Was?« »Sie wissen, dass wir zur Röhre wollen.« »Woher?«, fragte Haegr, der sich nicht viel besser anhörte als Linus. »Wohin sollten wir sonst gehen? Von hier aus ist das der kürzeste Weg zur Oberfläche.« Ragnar überdachte ihre Möglichkeiten. Wäre er der Anführer des feindlichen Trupps, hätte er eine Streitmacht voraus postiert, um ihnen den Weg abzuschneiden. Es war unvernünftig anzunehmen, dass ihre Feinde etwas anderes tun würden. In diesem Fall waren die Feinde hinter ihnen aber nicht nur Verfolger, sie waren wie Treiber bei einer Jagd, die ihre Beute in ein tödliches Netz scheuchten. »Du hast Recht«, sagte Ragnar. »Gibt es noch einen anderen Weg nach oben?« »Keinen, der so leicht zugänglich ist.«
»Ich sage, wir kämpfen uns durch.« Haegr keuchte laut. »Das ist besser als diese Lauferei.« Ragnar sah sich nach Verfolgern um. Er entdeckte niemanden dicht hinter ihnen. Sie hatten die Verfolger vorübergehend abgehängt. Er tauchte durch eine Öffnung in der Wand und fand sich in einer verlassenen Kammer wieder. Die anderen folgten. Beide sahen ihn an, als sei er verrückt. »Zuerst weglaufen und jetzt verstecken«, murrte Haegr. »Entscheide dich endlich.« Ragnar schüttelte den Kopf und lächelte freudlos. Es hatte keinen Sinn, blind vorwärts zu rennen. Sie taten einfach nur das, was ihre Feinde wollten. »Du hast gesagt, es gibt noch andere Wege, aber keine, die so leicht zugänglich sind«, sagte Ragnar zu Linus Serpico. »Es gibt einen Ort, wo die Händler nach unten kommen. Ich war erst einmal dort, um ein paar Waren zu holen.« »Kannst du uns hinführen?« »Vielleicht.« Ragnar nahm an, dass ihre Hauptfluchtroute von ihren Feinden versperrt wurde. War er gewillt, sich auf das Wagnis einzulassen, dass Linus den anderen Weg fand? Oder war es besser, dem ursprünglichen Weg zu folgen? Es gab zu viele Unwägbarkeiten, und er hatte nicht genug Informationen. Er nahm an, dass sie ihren Verfolgern, die rasch aufschlossen, eine Falle stellen konnten. »Glaubst du, du kannst es mit ihnen aufnehmen?«, fragte er Haegr. »Machst du Witze? Ein paar Dutzend dieser Erdlinge gegen den mächtigen Haegr − vielleicht sollte ich mir eine Hand auf den Rücken binden.« »Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird.« Ragnar hörte ihre Verfolger näher kommen. Sie bewegten sich schnell, voller Zuversicht, dass ihre Beute vor ihnen Hals über Kopf floh. Das war eine sehr gefährliche Annahme. »Wir bleiben«, sagte Ragnar.
»Aber sicher«, sagte Haegr. Er war empört, dass Ragnar etwas anderes in Erwägung gezogen haben mochte. »Ich will einen Gefangenen.« »Warum?« »Informationen. Wir brauchen Orientierung.« »Sprich nicht für andere«, sagte Haegr und fügte dann hinzu: »Das hätte auch Torin über mich sagen können.« Ragnar wusste, dass der massige Mann sich fragte, wo sein Schlachtbruder war. »Wir warten hier. Wir lassen sie vorbei. Ich werde einen Gefangenen machen. Du bewachst Linus.« »Warum darfst du den Gefangenen machen?« »Ich bin leiser.« »Meine heldenhafte Gestalt eignet sich nicht sonderlich zum Umherschleichen«, seufzte Haegr. »Das stimmt wohl.« »Und sie könnten dein Schnaufen kilometerweit hören.« »Ich schnaufe nicht«, sagte Haegr. »Ich hole nur tiefer Luft als ihr Knirpse. Meine mächtige Gestalt braucht mehr Sauerstoff.« »Deine Prahlerei mit Sicherheit«, sagte Ragnar. »Jetzt sei still und lass sie passieren.« Haegr wurde still. Seine Stentoratmung beruhigte sich nach einer Weile ebenfalls. Sie mussten nicht lange warten. Die Geräusche rennender Füße hallten durch die Öffnung. Ragnar und Haegr warteten mit gezückten Waffen für den Fall, dass man sie gesehen hatte und sie kämpfen mussten. Ragnar hätte es nichts ausgemacht. Die Bestie in ihm war begierig auf ein Blutvergießen. Er war regelrecht enttäuscht, dass die Verfolger vorbeiliefen. »Wie lange bis zur Röhre, zu der wir ursprünglich unterwegs waren?« »Vielleicht zwanzig Minuten«, sagte Linus. »Es wird nicht lange dauern, bis ihnen klar wird, dass sie uns verfehlt haben, und sie umkehren«, sagte Haegr, der damit ein gewisses Maß an Denkvermögen an den Tag legte. Ragnar nickte. Er musste
rasch und entschlossen vorgehen. Er bedeutete Haegr, zu warten und sich still zu verhalten, und huschte zur Öffnung. Er konzentrierte sich, spürte aber niemanden in unmittelbarer Nähe. Er glitt hinaus und eilte schnell, aber lautlos in Richtung der Witterung ihrer Verfolger. Er musste nicht weit gehen, bis er sie eingeholt hatte. Sie gehörten zu derselben Sorte Krieger, gegen die sie zuvor im Beisein des Propheten gekämpft hatten. Sie waren mit Lasergewehren mit aufgesetzten Bajonetten bewaffnet. Von einem Psioniker war nichts zu sehen, wofür Ragnar unendlich dankbar war. Er hielt sich in der Dunkelheit zurück und vertraute darauf, dass seine Augen besser waren als die der Menschen und seine Sinne schärfer. Jetzt brauchte er nur ein wenig Glück. Stattdessen hatte er Pech: Wie durch irgendeinen sechsten Sinn gewarnt, warf einer der Männer einen Blick zurück. Ragnar blieb kaum Zeit, durch eine schmale Tür zu huschen. Er hielt den Atem an und zählte lautlos bis zehn, doch nichts wies darauf hin, dass er bemerkt worden war. Er riskierte einen Blick und sah, dass der Mann wartend dastand. Tatsächlich verrieten der Geruch und ein schwach leuchtender Punkt, dass der Mann irgendeine Art narkotischen Tabakstäbchens angezündet hatte. Waren sie wirklich so zuversichtlich, fragte sich Ragnar, oder war dieser Mann einfach nur sehr süchtig? Wenn ja, würde er es bedauern. Ragnar schlich näher, das Boltgewehr locker in einer Hand. Er hörte, wie sich die Kameraden des Mannes weiter voraus entfernten, und als er näher kam, roch er süßlichen, schalen Tabakstäbchenrauch. Er hörte den keuchenden Atem des Mannes. Offensichtlich war er müde und brauchte eine Rast. Er schien nicht in so guter Verfassung zu sein wie die anderen Zeloten, vielleicht aufgrund der Droge, die er rauchte. Ragnar schlich sich von hinten an ihn an, legte dem Mann eine Hand auf den Mund und drückte ihm den Lauf der Boltgewehrs ins Kreuz. Der Mann fing an zu würgen und zu keuchen, und Ragnar
ging auf, dass er das Tabakstäbchen verschluckt hatte. Zweifellos hatte ihm die Glut die Zunge verbrannt. Das ließ sich nicht ändern. Er hob den Mann mühelos auf, die Hand immer noch auf seinem Mund, dann machte er kehrt und eilte zurück zu ihrem Unterschlupf. Bei ihrer Ankunft hatte das Gesicht des Mannes einen interessanten Violettton angenommen. Er hatte den Versuch aufgegeben, seine Pistole aus dem Halfter zu ziehen. »Was haben wir denn hier?«, sagte Haegr, als er eintrat. »Ein neues Spielzeug?« Ragnar ließ den Mann los. Er öffnete den Mund, um zu schreien, und Haegr beförderte ihn mit einem für ihn sanften Tätscheln auf die Knie. »Ich mag keine Zeloten«, sagte Haegr. »Ich glaube, dem reiße ich die Arme aus.« Er war sehr überzeugend. Selbst Ragnar fragte sich, ob er es ernst meinte. Vielleicht tat er es. Er ging jedenfalls zu dem Mann und zog ihn auf die Füße wie eine Puppe. In jeder gewaltigen Faust hielt er einen Arm. Der Zelot versuchte zu schreien, brachte jedoch keinen Ton heraus. Sein Gesicht war jetzt sehr blass. Es wurde von langen, dunklen Haaren eingerahmt. »Wie heißt du?« »Kriech auf deine Höllenwelt zurück, Fremdweltlerabschaum«, stieß der Mann hervor. Haegr zwängte die Arme des Mannes in eine Hand und knuffte ihn beiläufig mit der anderen. »Wenn du nicht redest, reiße ich dir die Eier ab und esse sie auf«, sagte er. Dabei strahlte er eine Aura kompromissloser Bedrohung aus. »Antoninus.« Im Tonfall des Mannes lag Trotz, aber er hatte auch etwas Sprödes an sich. Der Mann hatte große Angst, obwohl er sie zu verbergen suchte. »Wie viele von euch warten an der Zugangsröhre?«, fragte Ragnar. »Fahr zur Hölle, Mutantenfreund«, sagte der Zelot. Seine Stimme klang jetzt heiser und keuchend. Das brennende Tabakstäbchen verschluckt zu haben musste wehgetan haben. Es knirschte absonderlich, als Haegr die Faust schloss und der Mann aufschrie. Es klang
so, als müssten die Unterarmknochen des Mannes jeden Augenblick brechen. »Wie viele?«, wiederholte Ragnar. »Zwanzig«, sagte der Mann. Seine Witterung besagte, dass er log. »Ich rieche eine Lüge«, sagte Haegr, der wie ein böser Riese aus einem alten Märchen klang. Das Knirschen hielt an. Der Mann keuchte vor Schmerzen. »Fünfzig.« Es war offensichtlich, dass er an der Grenze seiner Leidensfähigkeit angelangt war. Ragnar war froh. Die Folter machte ihm keinen Spaß, mochte das Imperium auch noch so sehr behaupten, dass manche Leute sie verdienten. »Schwere Waffen?«, fragte Ragnar. »Ja − sie decken die Hauptzugänge. Schwere Boltgewehre.« Ragnar sah den Mann an. Das war eine militärische Bewaffnung. Er wusste nicht, warum es ihn so ärgerte, dass die Zeloten hier auf Terra Zugang dazu hatten, aber das tat es. Es nagte einen Moment in ihm, und dann ging ihm auf, warum. Wenn sie nicht ihre eigenen Waffenfabriken hatten, mussten sie sie irgendwoher bekommen. Höchstwahrscheinlich von außerhalb Terras. Der Mars war die nächste Waffenschmiede, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass die Adeptus Mechanicus innerhalb des Heiligen Systems in Waffenschmuggel verwickelt waren − obwohl schon seltsamere Dinge vorgefallen waren. Eher wurden die Waffen von weiter weg eingeschmuggelt. Er fragte sich, was er wohl finden würde, wenn er einige der Lagerhäuser der Navigatoren durchsuchte. Er bezweifelte, je die Erlaubnis dazu zu erhalten, aber vielleicht versuchte er es irgendwann auf eigene Faust. Alle diese Gedanken gingen ihm in einem Augenblick durch den Kopf, und er richtete seine volle Aufmerksamkeit auf den Zeloten. Er musste mehr erfahren. »Wer ist euer Kommandant?« »Edrik − er … er ist Pantheus direkt verantwortlich.« »Der Händler!«, sagte Haegr. Anscheinend war der fette Mann ganz oben in der Hierarchie gewesen. Vielleicht war diese Spur doch nicht so schlecht gewesen.
»Du hast von ihm gehört?« »Wer hat das nicht? Er ist reich wie Mithras und doppelt so fromm. Und er spendet immer Geld für wohltätige Zwecke.« »Und einer davon ist eure Bruderschaft?« Ragnar hatte das Gefühl, über etwas sehr Wichtiges gestolpert zu sein, dem er nur auf den Grund gehen musste. »Das hört sich an, als würde er nicht nur Geld spenden«, sagte Haegr. »Bist du sicher, dass das stimmt?«, wollte Ragnar wissen. Der Mann nickte. Er glaubte es jedenfalls aufrichtig, das konnte Ragnar seiner Witterung entnehmen. »Wie kannst du so sicher sein?« »Edrik war auf seinem Anwesen. Er war auch schon in seinem Palast im Gürtel.« »Im Asteroidengürtel?« »Er ist so fett, dass er es vorzieht, in geringer Schwerkraft zu leben«, sagte der Gefangene. In seiner Stimme lag ein Anflug von Verachtung, die sich auch im irren Blick seiner weit aufgerissenen Augen widerspiegelte. »Er will die Welt glauben machen, dass er heilig ist, aber er hat viele geheime Laster.« »So ähnlich wie du«, sagte Ragnar mit einer Geste auf die Tabakstäbchen des Mannes. Wenn der Mann Ragnars Tadel verstand, war es ihm nicht anzumerken. Die Sicherheit des Fanatikers ergriff langsam wieder Besitz von ihm, je länger sie ihn leben ließen. »Der gefällt mir«, sagte Haegr, ohne zu verraten, dass Pantheus gefangen genommen worden war. »Jedenfalls mehr als du.« Antoninus’ Sicherheit wurde von einer weiteren Drehung seiner Handgelenke erschüttert. Dabei spielten nicht nur die körperlichen Schmerzen eine Rolle. Haegrs Kraft war so überwältigend, dass sie sein Gefühl der Hilflosigkeit verstärkte und seine Zuversicht aushöhlte. Haegr stieß seinen Kopf noch ein paar Mal sanft an die Wand, nur um sicherzugehen, dass er seinen Standpunkt begriff. »Was verbindet euch mit dem Haus Feracci?«, fragte Ragnar trotz der geringen Aussicht, die Frage könne eine wertvolle Information
zutage fördern. Der Ausdruck der Verachtung auf dem Gesicht des Mannes kehrte zurück, verhärtet und tausendfach verstärkt. »Wir haben nichts mit diesen Mutantenschweinen zu schaffen«, sagte er. »Je eher der Heilige Boden Terras von ihrem wertlosen, vom Chaos verdammten Leben gesäubert wird, umso besser … Und auch von eurem«, fügte er hinzu. »Nur das reine Blut der Menschheit sollte einen Fuß auf den Heiligen Boden setzen.« Die Gewissheit und Inbrunst in seinen Worten durchdrang sein ganzes Wesen. »Warum arbeitet ihr dann für einen Mutanten?«, fragte Ragnar. Der Mann sah ihn an, als sei er wahnsinnig. Hätte Ragnar Fenrisisch mit ihm gesprochen, er hätte keinen verständnisloseren Blick ernten können. »Euer Prophet war ein Psioniker. Wir haben ihn getötet.« »Der Prophet war vom Licht gesegnet und hat seine Kräfte vom Imperator persönlich erhalten, auf dass er das Werk des Imperators fortsetzen möge. Er wird wiederauferstehen! Oder ein neuer Prophet wird kommen, um uns zu führen.« »Wenn es noch mehr gibt wie ihn, wird die Inquisition eure Katakomben auseinander nehmen, wie ein Fischweib einen Barsch ausnimmt.« »Die Inquisition hat seine Arbeit gesegnet.« Das bezweifelte Ragnar, aber der Mann schien ganz sicher zu sein. Ragnar fragte sich, ob die Inquisition die Navigatoren so sehr hasste, dass sie terroristische Anschläge gegen sie unterstützte. Er schüttelte den Kopf. Sein Fehler war, in Begriffen von Organisationen zu denken. Organisationen hatten Regeln, Richtlinien und Prinzipien. Sie dachten und fühlten nicht. Das taten nur Personen. Es bedurfte nur einer Person hoch oben in den Reihen der Inquisition. Es brauchte nicht die Inquisition als Ganzes zu sein. Er merkte sich diese Überlegung. Sie segelten in der Tat durch Gewässer, die tief und trübe waren. »Das dauert viel zu lange«, sagte Haegr. »Seine Kameraden werden bald zurückkommen. Wer weiß, vielleicht vermissen sie ihn sogar.
Ich sage, wir beenden das Ganze und töten ihn.« Ragnar schüttelte den Kopf. Dieser Mann mochte noch mehr nützliche Informationen beitragen. Ragnar wollte ihn lebend, damit die Belisarier seinen Verstand sondieren konnten. Zweifellos waren sie darin besser, als er und Haegr je sein konnten. Antoninus hob den Kopf und spie Haegr an. »Tu dein Möglichstes. Ich habe keine Angst vor dem Tod.« Haegr lachte. »Bei näherem Nachdenken lassen wir ihn besser leben, damit ich ihm den Blutadler in den Rücken schneiden kann. Ich glaube nicht einmal, dass ich ihn schneide, ich würde ihm einfach nur die Rippen brechen und die Lunge mit bloßen Händen herausreißen.« Antoninus’ Blick fiel unwillkürlich auf Haegrs Panzerhandschuhe. Sie wussten beide, dass dies keine leere Drohung war. Der massige Marine war tatsächlich dazu in der Lage, seine Worte in die Tat umzusetzen. In diesem Augenblick hob Haegr den Kopf und schien angestrengt zu lauschen. »Ich glaube, seine Kameraden kommen jetzt zurück.« Wiederum war Ragnar erstaunt über die Schärfe seiner Sinne. Erst jetzt vernahm er die leisen Geräusche in der Ferne. »Wir müssen weg!«, sagte er.
20. Kapitel
Antoninus grinste triumphierend. Haegr hielt ihn fest und sagte: »Du wirst nicht mehr am Leben sein, um deine Freunde zu begrüßen. Aber du könntest ihnen vielleicht in der Hölle guten Tag sagen.« »Ich habe keine Angst vor dem Tod!«, sagte der Zelot. »Das hast du jetzt zum zweiten Mal gesagt«, erwiderte Haegr. »Aller guten Dinge sind drei. Vergiss nicht, dass nicht jeder Tod leicht ist.« Antoninus dachte ganz offensichtlich nach. Ragnar hielt ihm die Mündung seiner Pistole an die Schläfe. »Du kannst jetzt deine Wahl treffen. Du kannst mit uns kommen, oder wir können dein Hirn auf dieser Wand verteilen.« Es war eine Sache, zu sagen, man fürchte nichts, wenn man sich im Kreis seiner Freunde befand, aber es war eine ganz andere, wenn man seine Feinde anstarrte. Es war eine Sache, dem Feind zu trotzen und sich einzureden, man habe keine Angst, aber es war eine ganz andere, tatsächlich zu entscheiden, ob man leben oder sterben wollte. Im Augenblick der Krise konnten die meisten Leute viele gute Gründe finden, warum sie leben wollten. Dies war kein heldenhafter Tod in der Schlacht oder das glorreiche Ende eines Märtyrers auf dem Scheiterhaufen. Dies war eine anonyme Hinrichtung. Sie hatte keinen Sinn. Und Ragnar hatte die brüchige Natur von Antoninus’ Courage gespürt. Antoninus schluckte. Ragnar konnte die Gedanken, die ihm durch den Kopf schossen, in seinem Gesicht sehen. Lebend konnte er seinen Kameraden vielleicht dabei helfen, die Wölfe zur Strecke zu bringen. Lebend konnte er noch ein Tabakstäbchen rauchen und seine Familie sehen, falls er denn eine hatte. Plötzlich rann die gespielte Tapferkeit aus ihm heraus wie Wein aus einem durchlöcherten
Schlauch. Er fiel sichtlich in sich zusammen. Seine Augen behielten den fanatischen Glanz, aber sein Blick hatte jetzt etwas Verstohleneres. Sein Gesicht hatte jetzt einen schuldbewussten Ausdruck, der sich mit Hass vermischte, wenn er Ragnar ansah. Dieser Mann würde ihm nicht dafür danken, dass er ihm die brüchige Wahrheit über sich selbst enthüllt oder dass er Zeuge dieser Enthüllung gewesen war. Ragnar empfand einen Moment Mitgefühl für ihn, obwohl sie Feinde waren. Und er verspürte Scham, die das Spiegelbild von Antoninus’ Selbsthass war. Das alles passte nicht zu seinem heroischen Selbstbildnis von einem Wolfskrieger. Er zwang sich zu einem freudlosen Grinsen. Er würde damit leben. »Sollten wir ihn nicht knebeln?«, fragte Linus. »Ich könnte ihm die Zunge herausreißen«, erbot Haegr sich hoffnungsvoll. »Kneble ihn und fessle ihm die Hände«, sagte Ragnar zu Linus. »Benutze sein Hemd.« Er wandte sich an Antoninus. »Bei der geringsten unverhofften Bewegung und bei dem geringsten Versuch, uns zu verraten, übergebe ich dich Haegr.« Der Witterung des Mannes konnte er entnehmen, dass es keine Heimtücke und keinen Verrat geben würde, wenigstens nicht im Augenblick. »Was nun?«, fragte Haegr. Ragnar ging im Geiste ihre Möglichkeiten durch. Die Männer konnten nicht ewig an der Zugangsröhre warten. Oder doch? Er verfluchte den Mangel von Kommnetzrelaisstationen hier unten und die Abschirmung, für die so viele Gebäudeschichten sorgten. Dann dämmerte es ihm. »Ihr verfügt über Mittel und Wege der Kommunikation mit der Oberfläche?«, fragte er Antoninus. »Natürlich«, antwortete dieser und sah ihn dabei an, als sei er ein Idiot. »Es gibt Kommnetzrelaisbeuger für den Notfall bis ganz nach oben, die sich in die Oberflächennetze einklinken.« »Wo ist der nächste Zugangspunkt?«
»Das ist die Anacondastation. Sie ist eine Tagesreise von hier entfernt und eine Ebene höher.« »Bewacht?« »Natürlich. Das ist unser Hauptschrein.« »Ich nehme an, du wirst sagen, dass es nicht infrage kommt, sie zu stürmen«, sagte Haegr im beleidigten Tonfall eines Kindes, das genau weiß, dass seine Eltern ihm einen Herzenswunsch abschlagen werden. Linus räusperte sich. »In der Imperialen Fabrik Nummer sechs war auch ein Beuger«, sagte er. »Bevor sie zerstört wurde.« »Wir haben im Moment keine Zeit, den Schutt wegzuräumen.« »Fünfhundert Meter entfernt gibt es einen Notfallknoten. Damit kann man sich auch in das Netz einklinken.« »Wie weit weg?« »Auf der nächsthöheren Ebene.« »Warum hast du nichts davon gesagt?« »Niemand hat mich danach gefragt.« Ragnar unterdrückte seine Frustration. Linus hatte Recht. Haegr war nicht so verständnisvoll. »Hast du sonst noch irgendwas vergessen zu erwähnen? Ihr hattet dort nicht zufällig auch noch einen Notaufzug bis zur Oberfläche oder einen Schweber oder eine dort stationierte Abteilung der Imperialen Garde oder …« »Natürlich nicht.« Linus’ Tonfall verriet, für wie absurd er diese Unterstellungen hielt. Offensichtlich sah er das Komische daran nicht. »Dann funktioniert der Beuger also noch.« »Das müsste er eigentlich. Er hat jedenfalls die letzten zehn Millennien funktioniert. Ich sehe nicht, warum er beschließen sollte, gerade jetzt damit aufzuhören.« »Wenn wir uns dort einklinken, können wir Verbindung mit der Oberfläche aufnehmen und Unterstützung anfordern.« »Dann sollten wir uns auf den Weg machen«, sagte Haegr. Ragnar nickte. Er führte sie wieder auf die Straße. »Geh voran,
Linus«, sagte er. Der kleine Mann warf einen nervösen Blick die Straße entlang in die Richtung, wo die Zeloten sein mussten. Da er nicht über die scharfen Sinne der Wolfskrieger verfügte, wähnte er sie offenbar weit näher, als sie tatsächlich waren. Dann riskierte er einen Blick auf Antoninus, da er offenbar befürchtete, der Mann werde ihre Position verraten. Er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Der Zelot war geknebelt, und Haegr hatte ihm obendrein noch die Hand auf den Mund gelegt. Sie gingen in die Richtung, die Linus ihnen wies. »Was werden deine Freunde jetzt machen?«, fragte Ragnar Antoninus, nachdem er ihm den Knebel abgenommen hatte. Für einen Moment sah es so aus, als werde der Zelot nicht antworten. Haegr knurrte. »Da sie euch noch nicht gefunden haben, werden sie sich in Gruppen aufteilen und die Gegend absuchen. Wahrscheinlich werden sie Rückendeckung von unserem Tempel anfordern. Man wird euch nicht erlauben, lebend zu entkommen.« Antoninus konnte die Befriedigung nicht aus seinem Tonfall heraushalten. Ragnar dachte über die Gegend nach, in der sie sich befanden. Je weiter sie sich von den Hauptkatakomben entfernten, desto abgewirtschafteter sahen sie aus und desto niedriger wurden die Decken. Mehr gefährliche Tiere umgaben sie. Und doch näherten sie sich Linus zufolge seinem ehemaligen Arbeitsplatz. Es war schwierig, sich vorzustellen, dass Menschen in diesen Rattenlöchern lebten und arbeiteten, aber wenn der kleine Schreiber nicht log, hatten dies Hunderte getan. Die meisten waren aus ihren zellenartigen Wohnungen ausgezogen, als sie ihren Arbeitsplatz verloren hatten, obwohl einige noch in den Trümmern herumspukten und ein erbärmliches Dasein fristeten. Linus zufolge kannten sie nichts anderes. Sie hätten ihr ganzes Leben lang hier gelebt und könnten sich nicht vorstellen wegzuziehen. Ragnar revidierte seine Ansicht über den kleinen Mann. Er hatte
ihn für farblos gehalten und ihm jeglichen Unternehmungsgeist abgesprochen, aber er sah jetzt, dass Linus nach den Maßstäben seiner Umwelt viel dynamischer war als andere. Er war zumindest aus dem Gebiet weggezogen, und nun erwog er, noch weiter wegzuziehen. Wiederum war Ragnar der Sünde der Relativierung nahe. Antoninus sah sich geringschätzig um. Die Leute hier standen tief auf der gesellschaftlichen Leiter, soweit es ihn betraf. So viel war offensichtlich. Ihm ging auf, dass sie unterwegs mindestens eine Ebene der Katakomben höher gekommen waren. Die Treppe war lang gewesen und an vielen Stellen verrostet. Riesige Spinnennetze hatten ihnen den Weg versperrt, und sie konnten erst kürzlich gewoben worden sein, weil Linus behauptete, Händler und Reisende würden diese Wege immer noch hin und wieder benutzen. Der Gedanke an derart große Kreaturen trug nichts zu Ragnars Seelenfrieden bei, obwohl er sich im tiefsten Innern seines Herzens nicht wirklich vor ihnen fürchtete. Als sie um die nächste Ecke bogen, sah Ragnar, dass Haegr grinste. Einen Moment später witterte er einen vertrauten Geruch. Er konnte es nicht glauben. Es war der Geruch eines Wolfskriegers. »Ich glaube, Torin sucht uns«, sagte Haegr. »Wir werden ihn bald überraschen.« »Dein Appetit überrascht mich ständig«, sagte eine spöttische Stimme aus dem Schatten. Ragnar war verblüfft. Die Witterung war ziemlich alt, was bedeutete, dass Torin einen Bogen geschlagen und sich gegen den Wind angeschlichen haben musste. Ragnar fragte sich, wie viel Absicht dahinter steckte. Er bezweifelte, dass die Wolfsklinge es ihm je verraten würde. »Ich wusste, ihr würdet früher oder später hier vorbeistolpern.« Sie waren auf derselben Ebene, was bedeutete, dass ihre Kommverbindung über kurze Entfernung funktionieren würde. »Warum hast du nicht versucht, Verbindung mit uns aufzunehmen?«, fragte Ragnar. »Aus demselben Grund, warum ihr eure Peilbojen nicht eingeschal-
tet habt. Wenn das Unternehmen kompromittiert war, wer weiß dann schon, ob die Kanäle der Belisarius oder auch andere sicher sind? Die Relais könnten überwacht werden, und Kurzstreckenverbindungen können von Leuten mit den richtigen Divinationsapparaten abgehört werden.« Ragnar wusste, dass sein Kamerad Recht hatte. »Ich bin froh, dass ihr noch lebt«, sagte Torin. »Ich dachte schon, Haegr hätte seinen letzten Ochsen verspeist, nachdem ich seine Wunden gesehen hatte.« »Ha! Es bedarf mehr als einiger Kratzer, um Haegrs mächtige Gestalt zu beeinträchtigen.« »Was ist aus den Belisariern geworden, die uns begleitet haben?«, fragte Haegr. »Sie sind in einen Hinterhalt geraten. Ich habe mich mit einem halben Dutzend von ihnen freigekämpft und ihnen befohlen, zur Oberfläche zurückzukehren, während ich euch suchen würde. Ich wusste, du würdest Hilfe brauchen, Ragnar, weil du ja auf Haegr aufpassen musstest.« »Der gewaltige Haegr braucht keine Hilfe von Welpen.« Plötzlich redeten alle durcheinander. »Wer sind eure Freunde?« »Wie hast du uns gefunden?« »Das war leicht. Ich bin einfach nur der Spur leerer Nahrungssilos gefolgt und wusste, dass Haegr dort sein würde.« »Linus ist unser Freund. Antoninus ist ein Gefangener. Er verfügt über Informationen, die uns von Nutzen sein könnten.« »Es war keine Zeit, Silos zu leeren. Eine Gelegenheit dazu wäre eine feine Sache.« »Wohin wolltet ihr?« »Zu einer Notrelaisstation der imperialen Autofabrik. Wir wollen über die Notfrequenz Kontakt mit der Oberfläche aufnehmen.« »Schlau überlegt. Ich bin sicher, Haegr hatte damit nichts zu tun.« »Eine Tracht Prügel, Torin. Du spielst mit deinem Leben …« Ragnar war froh, dass ihr Kamerad gefunden worden war oder er
sie gefunden hatte. Torin hatte überall nach ihnen gesucht und war Streifen der Zeloten hinterhergeschlichen, um Hinweise über ihren Verbleib zu bekommen. Natürlich hatte er sie nicht alle gesehen, aber einiges hatte er doch über sie erfahren. Die Zeloten waren hier unten viel stärker, als alle vermuteten, aber ohne ihren Propheten schlugen sie derzeit nur kopflos um sich. Anscheinend war der tote Psioniker ihr Anführer gewesen, zumindest in diesem Sektor. Außerdem hatte es den Anschein, als pressten sie als Gegenleistung für Schutz Geld und Nahrungsmittel aus den hiesigen Bewohnern. Laut Torin war dies ein Unternehmen so alt wie das Leben selbst auf Terra. »Überraschend ist, wie stark die Bruderschaft hier unten ist. Ich habe den Verdacht, dass hier eine militärische Aufrüstung stattfindet. Ich fürchte, wir könnten es an der Oberfläche bald mit Aufruhr und offenem Krieg zu tun bekommen.« Ragnar überraschte das ganz und gar nicht. Es folgte einem Schema, das er schon oft gesehen hatte. »Wir müssen die Garde rufen und diese Gegend säubern.« »Ich fürchte, dafür wird die Macht des Hauses Belisarius allein nicht reichen«, sagte Torin. »Die Fanatiker sind zahlreich und gut bewaffnet. Vielleicht müssen wir neue Verbündete suchen, um damit fertig zu werden, und zwar rasch.« »Dann ist es umso besser, dass wir es herausgefunden haben«, sagte Ragnar. Während ihrer Unterhaltung folgten sie Linus und trieben den Zeloten mit der Waffe vor sich her. Torin und Haegr zankten fröhlich miteinander. Die Anwesenheit seines alten Sparringspartners schien Wunder für Haegrs Gesundheit zu bewirken. Die Decke wurde niedriger. Es roch nach Staub und zerbröckelndem Mörtel. Es gab mehr Ratten und mehr große Spinnen. Linus nickte und sagte, sie seien jetzt ganz nahe. Ein paar Augenblicke später bogen sie um eine Ecke und blickten
auf eine Metalltafel in der Wand, die mit Warnrunen und Botschaften im hiesigen Alphabet bedeckt war. »Das ist es«, sagte Linus. »Obwohl ich nicht weiß, wie wir es ohne Schlüssel öffnen sollen.« Haegr riss die Tafel mit einer Hand auf. »Das ist gegen die Regeln«, protestierte Linus. »Ich bin sicher, die Arbites werden jeden Moment hier auftauchen, um mich festzunehmen«, sagte Haegr. Torin studierte den alten Apparat aus Messingkabeln und Keramitpaneelen. Er tippte auf die Runen und veränderte die Einstellungen der grundlegenden Arbeitslitaneien. Er stellte eine Testverbindung her und schickte Augenblicke später eine Nachricht an die Oberfläche. Offenbar bekam er eine Antwort. Er hatte den Kanal versiegelt, sodass nicht einmal Ragnar und Haegr hören konnten, was gesagt wurde. »In ein paar Stunden werden wir von einem Auffangtrupp abgeholt«, sagte Torin mit zufriedener Miene. »Und dann verschwinden wir von hier.« »Und nicht zu früh«, brummte Haegr. »Wir hätten schon gestern verschwinden sollen.« »Besser spät als nie«, sagte Torin. Er warf einen Blick auf Antoninus. »Wie war’s, wenn du uns jetzt ein paar von euren Geheimnissen verrätst?« Ragnar studierte seinen Chronometer. Der Auffangtrupp verspätete sich. Drei Stunden waren vergangen, und nichts war von ihm zu sehen. Er sah Torin an, der nur die Achseln zuckte. »Vielleicht sind sie auf unerwartete Probleme gestoßen«, sagte er. »Sie werden schon kommen. Valkoth führt sie persönlich an.« »Das beruhigt mich«, sagte Haegr. »Hätte er diese geschniegelten Belisarius-Clowns allein geschickt, hätten sie sich vielleicht verirrt.« »Nicht jeder hat deinen unfehlbaren Orientierungssinn«, sagte Torin. »Obwohl ich mich erinnern kann, dass selbst du schon Fehler
gemacht hast. Da war doch dieser Zwischenfall mit den Orks auf Hera V.« »Ich wusste, du würdest darauf zu sprechen kommen«, sagte Haegr. »Ein Mann kann tausendmal Recht haben, wie es beim heldenhaften Haegr sonst der Fall ist, aber lass ihn nur einen kleinen Fehler machen, dann …« »Uns ins Lager des Ork-Befehlshabers anstatt zum imperialen Palast zu führen, war kein kleiner Fehler«, sagte Torin. »Mir ist nicht aufgefallen, dass du den Mund aufgemacht hättest, um mich über meinen Irrtum aufzuklären«, entgegnete Haegr. »Ich war bewusstlos, nachdem es dir gelungen war, mich unabsichtlich mit deinem Hammer zu treffen.« »Auch darauf kommst du immer wieder zu sprechen. Ein kleiner Unfall und …« »Es ist schwer, solche Unfälle zu vergessen, wenn dein Schädel darin verwickelt ist.« Zuerst glaubte Ragnar, Haegr ignoriere die Bemerkung, doch dann fiel ihm auf, dass der Riese lauschte. Das galt auch für Torin. »Das ist nicht Valkoth«, sagte Haegr. Ein paar Herzschläge später ging Ragnar auf, wovon er redete. Er hörte verstohlene Geräusche näher kommen und witterte schwach, aber unverkennbar Menschen. Die Witterung war ein Gemisch aus Fleisch, Räucherwerk, Tabakstäbchenrauch und einem Dutzend anderer Dinge. Es war nicht der Geruch Valkoths oder eines Belisariers. »Sie haben uns wiedergefunden«, sagte Haegr. Er klang nicht enttäuscht. »Das kann kein Zufall sein«, murmelte er. Ragnar fragte sich, ob sie wieder verraten worden waren. »Vielleicht ist das Signal zurückverfolgt worden«, sagte er. »Vielleicht«, sagte Torin. Antoninus hatte wieder angefangen zu grinsen. Ragnar war plötzlich von dem Wunsch beseelt, ihm dieses Grinsen vom Gesicht zu wischen. Torin empfand eindeutig genauso. »Wir könnten ihnen eine Falle stellen. Ihren Freund hier bewusstlos
schlagen und ihn mit Sprengladungen verminen. Sie würden alle gemeinsam zu Märtyrern für ihre heilige Sache.« Antoninus’ Lächeln gefror. Linus sah schockiert aus. »Das würdet ihr doch nicht wirklich tun, oder?«, fragte er. Torin zuckte die Achseln. Haegr sagte: »Das lohnt kaum die Mühe. Ich sage, wir gehen einfach hin und töten sie.« »Wie ich sehe, prahlst du wieder mit deinem taktischen Genie«, neckte ihn Torin. »Lasst uns wenigstens herausfinden, wie viele es sind und welche Gänge sie gesichert haben.« »Und uns den ganzen Spaß verderben?« »Du hast Recht. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ach ja, ich erinnere mich − an meine Pflicht, zurückzukehren und Haus Belisarius zu beschützen und den Verräter zu entlarven, dem wir das alles zu verdanken haben.« »Tja, wenn du es so ausdrückst …« Eine Glyphe blinkte in Ragnars Gesichtsfeld. Ein leises Läuten ertönte im Ohrhörer seines Kommnetzempfängers. Einen Augenblick später meldete sich Valkoth. »Wir sind jetzt auf derselben Ebene wie ihr und empfangen euer Signal. Diese Gänge sind ein Labyrinth, also könnte es eine Weile dauern, bis wir bei euch sind.« »Sieht so aus, als hätte der Feind uns zuerst gefunden«, sagte Torin. »Folgt einfach dem Lärm des Gemetzels.« »Wir sind auf ein paar Burschen von der Bruderschaft gestoßen, was der Grund dafür ist, dass wir nicht eher bei euch sind«, sagte Valkoth. »Haltet sie einfach bis zu unserer Ankunft hin. Gelobt sei Russ.« Torin lachte, als die Verbindung beendet war. »Es ist schön, dass der alte Mann Vertrauen zu uns hat. Mir gefällt, wie er uns beiläufig erklärt, wir mögen aushalten, bis er kommt.« »Er kennt eben die Tapferkeit des gewaltigen Haegr«, sagte dieser. »Er weiß, dass ich dich beschütze, bis er kommt, natürlich mit etwas Hilfe von Ragnar.« »Na, ich nehme an, ich könnte deine aufgeblähte Fettmasse als
Schild benutzen. Besser als Sandsäcke.« »Ich fürchte, ich muss dich wieder einmal verprügeln, Torin.« »Später«, sagte Ragnar, der in der Ferne schattenhafte Gestalten auftauchen sah. Antoninus folgte der Richtung seines Blicks, doch er konnte offenbar nichts erkennen. Er sah aus, als erwäge er eine Flucht. Haegr streckte ihn mit einem Schlag seiner hammerartigen Faust nieder. »Es wäre ein Jammer, wenn er entkäme, wo wir ihn die ganze Zeit mitgeschleift haben.« Er hob den reglosen Mann auf und warf ihn einhändig durch eine Tür. »Wir können immer zurückkehren und ihn später holen. Du leistest ihm besser Gesellschaft, kleiner Mann. Hier draußen könnte es heiß werden. Sorg nur dafür, dass er nicht entkommt.« Das Letzte war unnötig grausam, dachte Ragnar. Linus sah nervös genug aus, um in Ohnmacht zu fallen, und roch auch so. »Du beeilst dich besser«, sagte Torin. Linus huschte in Deckung und überließ die drei Wolfskrieger sich selbst und ihren anstürmenden Feinden. Der Feind schien in ziemlich großer Zahl durch alle Zugangskorridore zu kommen. Zweifellos gab es noch mehr, die sich von Kammer zu Kammer vorarbeiteten. Er hob seine Boltpistole und gab ein paar Schüsse in die Ferne ab. Die Patronen konnten die dicht gestaffelten Leiber nicht verfehlen. Ein Schrei belohnte seine Bemühungen. »Das ist wie das Aufspießen von Fischen in einer Tonne«, sagte Haegr, indem er sich auf den Schaft seines Hammers stützte und über die Ziele meditierte. Die Metallstange plusterte seine fetten Wangen noch mehr auf. »Ich hätte den Mann von hier aus mit meinem Hammer treffen können.« Ragnar sah ihn verblüfft an. »Du zweifelst an meinem Wort? Dem Wort des gewaltigen Haegr?« Beiläufig warf er den Hammer durch den Korridor. Er flog lange, und Ragnar roch Blut und hörte Knochen brechen. »Ich glaube, jetzt muss ich gehen und ihn mir zurückholen«, verkündete Haegr und stapfte los, bevor Ragnar etwas darauf entgegnen konnte. Ragnar
wechselte einen Blick mit Torin. »Er stellt seine eigenen Gesetze auf«, sagte Torin. »Aber mach dir seinetwegen keine Sorgen, irgendwie überlebt er immer.« Ragnar hörte Granaten explodieren. Er sah Haegrs gewaltige Körpermasse im Schein ihrer Explosionen. Sein wildes Gelächter hallte durch den Korridor. Offensichtlich war er derjenige, der die Granaten warf, und es klang so, als amüsiere er sich. »Vielleicht sollten wir ihm helfen«, sagte Ragnar. »Nein, er würde uns nur vorwerfen, dass wir ihm den Spaß verderben. Außerdem muss jemand hier bleiben und dafür sorgen, dass niemand in unseren Rücken gelangt.« Die beiden Wölfe deckten instinktiv zwei verschiedene Annäherungslinien des Feindes ab. Mehr Zeloten kamen durch beide. Andere arbeiteten sich von Kammer zu Kammer vor. Ragnar duckte sich in die Tür, um ein kleineres Ziel abzugeben, und schoss noch einmal. Diesmal antwortete ihm ein Boltpatronenhagel und Laserfeuer. Er bezweifelte, dass ihn auch nur einer der Angreifer sehen konnte. Sie schossen einfach wahllos, aber das würde am Ende keinen Unterschied machen, wenn ihre Patronen eine Schwachstelle in seiner Rüstung trafen. Wie lange würde es dauern, bis Valkoth eintraf?
21. Kapitel
Die Kultisten rannten weiter durch den Korridor und drangen auch durch die Kammern vor. Haegrs Gebrüll verriet Ragnar, dass der gewaltige Marine den Feind erreicht hatte. Das Knacken von Schädeln und Splittern von Knochen zeigte an, dass er wieder im Besitz seines Hammers war. Boltpatronen und die Kugeln automatischer Waffen rissen Splitter aus dem Plastibeton rings um Ragnar, während Laserstrahlen darauf Blasen warfen und den Gestank heißen Asphalts hervorriefen. Er erwog, durch die Tür zurückzuweichen, doch hinter ihm befand sich nur eine einzige Kammer ohne sichtbaren Ausgang. Eine tödliche Falle, wenn er darin eingesperrt wurde und der Feind Granaten oder eine halbwegs schwere Waffe hatte. Natürlich würde er zuvor viele von ihnen erwischen, aber sich festnageln zu lassen war grundsätzlich ein sicherer Weg in die Katastrophe. »Ich sage das nicht gerne, Torin, aber vielleicht hatte Haegr die richtige Idee!«, sagte Ragnar. »Das glaube ich langsam auch«, bellte Torin über den Kampflärm hinweg. »Gib mir Deckung!« »Ich werde mein Bestes tun«, sagte Ragnar, indem er sich duckte und Schüsse abgab, zuerst in eine Richtung, dann in die andere. Dabei raste Torin über die Straße und durch eine andere Öffnung, scheinbar ohne den Geschosshagel hinter seinen Fersen zur Kenntnis zu nehmen. Einen Augenblick später tauchte eine Hand aus der Türöffnung auf, die den Angreifern eine Granate entgegenwarf. Die Schreie verrieten Ragnar, dass sie Opfer gefordert hatte. Jetzt war Ragnar an der Reihe. Tief geduckt sprang er in den Korridor und rannte den Angreifern entgegen. Wallender Rauch hüllte ihn ein, und der Beschuss schien schwächer geworden zu sein. Ragnar war zuversichtlich, sich gegen die Angreifer behaupten zu
können. Einmal in ihrer Mitte, konnten sie nicht mehr auf ihn schießen, ohne das Leben ihrer Kameraden zu gefährden. Er würde sich nur noch darum kümmern müssen, seine gepanzerte Haut zu retten. Die Vorstellung, dass Haegr vermutlich das Richtige getan hatte, bestürzte ihn. Aber natürlich war der massige Mann ein erfahrener Tunnelkämpfer, also war es keine große Überraschung. Ragnar konnte den Feind vor sich hören: Ein Verwundeter fluchte und schrie abwechselnd, während seine Kameraden ihn aufforderten, den Mund zu halten. Eine befehlsgewohnte Stimme bellte Anweisungen. Ragnar warf eine Granate in ihre Richtung, und die Befehle verstummten und wichen mehr Geschrei und Geheul. Ragnar zog sein Kettenschwert, als er aus dem Rauch auftauchte, und sah sich einigen Kapuzen tragenden Mitgliedern der Bruderschaft gegenüber. Er wartete nicht, bis sie erkannten, in welcher Gefahr sie schwebten, sondern sprang zwischen sie und teilte Hiebe nach rechts und links aus. Er gewährte den Verwundeten kein Pardon, sondern trat im Vorbeigehen auf sie und zermalmte Hände, Köpfe und Rippen unter seinen Panzerstiefeln. Er hatte schon zu viele Verwundete erlebt, die ihre Waffen wieder aufhoben und weiter töteten, und würde kein Risiko eingehen. Die schiere Wut seines unvermuteten Angriffs löste Panik bei den Zeloten aus. Sie wussten nicht, dass sie es nur mit einem Mann zu tun hatten. Sie wussten nur, dass ein erzürnter Dämon aus dem Rauch des Kampfes aufgetaucht war und sie tötete. Ragnar fegte wie ein Wirbelwind durch sie. Nichts widerstand ihm. Das Kettenschwert durchschnitt die zu hastigen Paraden erhobenen Lasergewehre. Es ließ Funken sprühen, und das Kreischen gequälten Metalls vermischte sich mit dem Geheul der Sterbenden. Er ließ auch nicht nach, als seine Feinde die Flucht ergriffen. Er verfolgte sie, obwohl sie zwanzigfach überlegen waren. Als seine Opfer auf ihre Kameraden stießen, ging ihm auf, dass er es nur mit der Vorhut seiner Feinde zu tun hatte. Doch das verlangsamte ihn nicht. Als die Kultisten aufeinander trafen und dabei gegenseitig be-
hinderten, folgte er ihnen und teilte dabei ebenso Hiebe mit dem Kettenschwert aus wie Boltpatronen aus nächster Nähe, während er den wilden auf- und abschwellenden Kampfruf seines Ordens ertönen und durch den Korridor hallen ließ. Knochen brachen, Blut, Muskeln und Knorpel wurden von den rasch surrenden Klingen seines Kettenschwerts zermalmt. Als sie sich durch die Reibung erhitzten, ging ein furchtbarer Gestank von ihnen aus. Er hackte weiter, trennte Glieder ab, öffnete einem Mann den Schädel mit einem Hieb, wie ein Insulaner eine Kokosnuss mit einer Machete öffnete. Wieder hörte er jemanden brüllen und den Zeloten befehlen, im Namen des Lichts standzuhalten. Die Stimme versprach ihnen, dass sie siegen würden. Er strebte dieser Stimme entgegen, da er wusste, dass er noch mehr Panik und Unordnung erzeugen würde, wenn er ihren Anführer erschlug. Ein, zwei Männer versuchten jetzt Widerstand zu leisten. Einer von ihnen hatte ein automatisches Gewehr an die Schulter gehoben und zielte aus nächster Nähe auf Ragnar. Der Wolfskrieger sprang zur Seite, und die Kugeln flogen an ihm vorbei. Er gab einen einzigen Schuss aus seiner Boltpistole ab und brachte dessen Waffe damit für immer zum Schweigen. Jemand zupfte an seinen Beinen, und er spürte einen Stich in der Kniekehle. Ein Blick zu Boden verriet ihm, dass ein Verwundeter mit einem Kampfmesser das schwache Gelenk auf der Rückseite des Knieschützers durchbohrt hatte. Sein Instinkt verriet Ragnar, dass die Wunde weder ernsthaft war noch ihn verlangsamen würde, aber sie war eine Warnung an ihn, vorsichtiger zu sein. Er trat mit dem Stiefel zu. Der Kopf des Mannes wurde nach hinten geschleudert, und sein Genick brach. Ragnar hörte das Knacken der Wirbel, aber es kam ihm so vor, als verlöre er jetzt die Initiative. Immer mehr Kugeln prallten gegen seine Rüstung, und jede einzelne war wie ein Hammerschlag. Etwas prallte von Ragnars Schädel ab, der zu bluten anfing. Schmerzwellen jagten durch seinen Kopf, und ihm wurde schwarz vor Augen. Vielleicht war er zu selbstsicher
gewesen. Nicht einmal ein Wolfskrieger konnte so viele Feinde überwinden. Als er rückwärts taumelte, sammelten sie sich weiter, hoben Waffen, zückten Klingen und machten sich bereit, ihn niederzumachen. Ragnar sprang zurück und gab mehrere Schüsse aus seiner Boltpistole ab. Patronen schlugen in die Reihen der dicht gestaffelten Feinde, während er laut heulte. Ein vertrauter Kriegsruf aus der Nähe war der Lohn für seine Bemühungen. Neben dem Gestank von Blut und Eingeweiden witterte er jetzt auch den vertrauten Geruch von fenrisischem Fleisch und gehärtetem Keramit. Valkoths Entsatztrupp musste ganz in der Nähe sein. Er brauchte nur noch ein wenig länger durchzuhalten. Er knurrte trotzig. Er würde nicht durchhalten, er würde töten und wieder töten und so viele Feinde mit in die Hölle nehmen, wie er konnte − wie ein wahrer fenrisischer Krieger. Die Bestie in ihm war von Blutdurst erfüllt, während der vernünftigere Teil seines Verstandes das zu seinem Vorteil nutzte. Er wusste, wenn er weiter vorwärts drängte, würde er die Vereinigung mit Valkoth und dessen Trupp schaffen. Teils durch tierischen Instinkt geleitet und teils durch kalte Kalkulation schlug er wieder zu. Noch einmal nahm er alle Kraft zusammen, sprang vor, schlug mit dem Kettenschwert nach rechts und links, trennte mit jedem Hieb Köpfe und Gliedmaßen ab und ließ Männer zurück, die auf ihren eigenen Gedärmen ausglitten. Die Wut seines neuerlichen Angriffs überrumpelte seine Widersacher für einen Moment, und er hackte eine blutige Schneise in Richtung der sich nähernden Belisarier. Doch die Fanatiker brauchten nicht lange, um sich zu fassen. Was sie auch für Fehler haben mochten, ein Mangel an verzweifeltem Mut gehörte nicht dazu. Einige der Verwundeten griffen nach seinen Beinen und versuchten ihn aufzuhalten. Andere zielten mit ihren Waffen. Eine ganze Welle von ihnen warf sich vorwärts, versuchte mit Ragnar zu ringen und seine Arme und Beine festzuhalten. Das war ein Fehler. Keine zwei Männer waren so stark wie er. Er schüttelte sie ab und schleuderte sie von sich,
sodass sie gegen Wände oder Zeloten prallten. Anderen schlug er mit dem Kolben seiner Boltpistole den Schädel ein. Der Versuch, seinen Schwertarm festzuhalten, war so wie der Versuch, die Kiefer eines hungrigen Tigers zu fassen zu bekommen. Dennoch gingen sie weiter auf ihn los, und ihre Kameraden feuerten unverdrossen. Es kümmerte sie nicht, dass ihre Kugeln öfter ihre Kameraden trafen als Ragnars Rüstung. Alle waren dem Wahnsinn und dem Chaos der Schlacht verfallen. Ihm ging auf, dass keiner von ihnen eine so klare Vorstellung von den Dingen hatte wie er. Die Düsternis und der Rauch verwirrten sie ebenso wie das laute Echo ihrer Waffen. Sie konnten lediglich eine große schattenhafte Gestalt mitten unter ihnen sehen, die sich mit übernatürlicher Schnelligkeit bewegte. Auch wenn sie nicht in Panik gerieten, verspürten sie doch einen natürlichen Drang zu schießen, etwas zu tun − irgendetwas im Angesicht dieser Bedrohung. Ragnar trat nach dem Kopf eines Mannes, der auf dem Bauch lag und mit einer Pistole auf ihn schoss. Sein Fuß traf mit furchtbarer Gewalt und ließ gesplitterte Knochen und Zähne in alle Richtungen fliegen. Einen Moment später hatte er den Durchbruch zu Valkoth geschafft, der eine Reihe schwarz gekleideter belisarischer Gardisten anführte. In dem Wissen, was als Nächstes kommen würde, fuhr Ragnar wieder zu den Zeloten herum. Einen Augenblick später waren Valkoth und dessen Männer neben ihm und stürzten sich sofort auf den Feind. »Bei Russ, Ragnar, du hättest ruhig noch ein paar für uns übrig lassen können«, sagte Valkoth. Seine düstere Aura schien sich im Kampf noch zu vertiefen. Er bewegte den Kopf, und ein Laserstrahl zuckte vorbei. Er hob mühelos sein Boltgewehr und gab einen Schuss auf den Angreifer ab. Nur einen, aber der reichte. Valkoths Kampfesweise hatte eine Präzision an sich, die für einen Wolfskrieger seltsam, aber deswegen nicht weniger tödlich war. »Ich glaube, da sind noch ein paar«, sagte Ragnar, während er dem Stich eines Bajonetts auswich und dann mit seiner Riposte zuerst die
Waffe durchschnitt und dann den Mann. »Freut mich zu hören«, sagte Valkoth, indem er mit einem weiteren Schuss wieder einen Mann zur Hölle schickte, um dann einem anderen, der sich auf ihn stürzen wollte, mit dem Gewehrlauf die Stirn einzuschlagen. Noch während der Mann fiel, jagte Valkoth ihm eine Patrone in den Leib und rückte weiter vor. Sie kämpften sich durch den Korridor zu Torin vor, der sich hinter einer Barrikade aus Leichen der Zeloten erwehrte. Ragnar fragte sich, ob er wirklich ganz allein all diese Männer hätte töten und dann die anderen zurückdrängen können. Aber als er an die Zahl der von ihm Getöteten dachte, ging ihm auf, dass es mehr als möglich war. »Die Lage hier ist unter Kontrolle. Ich glaube, ihr solltet jetzt nach Haegr sehen«, sagte Torin. »Vermutlich steckt sein Fuß in einem Eimer fest.« Bei seinen Worten gab Valkoth der belisarischen Garde einen kurzen Befehl, die gegen Torins Angreifer vorrückte. »Gehen wir alle zusammen«, sagte Valkoth und führte sie in Haegrs Richtung. Nach hundert Metern trafen sie auf die ersten verstümmelten Leichen und hörten den sich entfernenden Lärm des Gemetzels. Irgendwo weiter weg hörten sie Haegr brüllen: »Kommt zurück und kämpft wie Männer!« »Zweifellos denkt er, wenn er laut genug schreit, gehorchen sie ihm«, sagte Torin sarkastisch. »Keine Spur von einem Eimer zu sehen«, sagte Valkoth. »Das ist nur eine Frage der Zeit«, bemerkte Torin. »Das wissen Sie ebenso gut wie ich. Am besten gehen wir zu ihm, bevor er bei dem Versuch, diese Zeloten zur Rückkehr zu überreden, um sich abschlachten zu lassen, noch in einen Fahrstuhlschacht fällt.« Sie rückten durch Szenen eines grauenhaften Gemetzels vor. Verstümmelte Leichen lagen überall, deren Köpfe seltsam verbeult oder zu Brei geschlagen waren. Gebrochene Rippen ragten aus Brustkörben. Ragnar hatte schon Leichen in besserem Zustand gesehen, die
von einem Kampfpanzer überrollt worden waren. »Es überrascht mich, dass er keine Imbisspause gemacht hat«, sagte Torin. Als er die angewiderten Blicke seiner beiden Begleiter sah, hob er eine Augenbraue. »Na ja, wahrscheinlich hat er in den letzten paar Stunden nicht mehr als einen kleinen Killerwal verspeist.« Jetzt konnten sie Haegr sehen. Er war über und über mit Blut besudelt. Blut, Hirn und weniger identifizierbare Substanzen klebten an seiner Rüstung und auf dem Hammer. Er drehte sich zu ihnen um und sagte: »Ihr habt hier nichts verpasst. Diese Würmer waren es kaum wert, getötet zu werden.« »Euer Auftrag hat etwas länger gedauert als erwartet«, sagte Valkoth mürrisch. »So ist es nun mal mit diesen Dingen«, sagte Haegr völlig ungerührt. »Kein Plan überlebt den Kontakt mit dem Feind, habe ich Sie selbst sagen hören.« »Das sind die Worte eines alten Philosophen, nicht meine.« »Na, dann sind es die ersten vernünftigen Worte von einem Philosophen, die ich je gehört habe.« »Das ist eine Premiere«, sagte Torin sarkastisch. »Wir stehen in den Ruinen unter der Erde und reden mit Haegr über Philosophie. Was kommt als Nächstes?« »Wir haben nicht über Philosophie geredet«, sagte Haegr. Sein empörter Tonfall ließ es so klingen, als habe Torin ihn beschuldigt, ein Schaf belästigt zu haben. »Ich will eure intellektuelle Debatte gar nicht unterbrechen«, sagte Torin boshaft. Haegr verfiel in mürrisches Schweigen, verschränkte seine massigen Arme vor der Brust und schnaubte hörbar. Valkoth sah Torin an. »Wir sollten jetzt gehen«, sagte er. »Schließlich habe ich euch gerettet, und ihr habt Pflichten an der Oberfläche.« »Uns gerettet!«, sagten Torin und Haegr beinahe gleichzeitig. »Die Lage war unter Kontrolle«, sagte Torin. »Der gewaltige Haegr hätte sich schon zurück an die Oberfläche
gekämpft und dabei seine beiden Kameraden mit dem schwachen Magen notfalls auch getragen«, sagte Haegr. Ragnar fiel auf, dass Valkoths lange herabhängende Schnurrbartenden seltsam verdreht waren. Macht er sich über uns lustig?, fragte sich Ragnar. War hier irgendein Sinn für Humor am Werk? »Dann holen wir besser unseren Gefangenen und unseren Führer«, sagte Ragnar. »Einen Führer?«, sagte Valkoth. Er klang ungläubig. »Er war uns eine Hilfe«, meinte Ragnar unschuldig. »Und ich finde, er sollte angemessen belohnt werden.« Ragnar sah sich in seinem Quartier um, froh, wieder an der Oberfläche zu sein, und sich der Behaglichkeit und der Sicherheit des Ortes nur allzu bewusst. Er legte sich aufs Bett und starrte an die kunstvoll verzierte Decke. Nein, das war falsch. Es gab keine Sicherheit auf der Erde. Das war eine Illusion. Es gab überall Verräter, sogar hier, und bald würden sie sie ausräuchern müssen. Es gab keinen Ort im Imperium, der wirklich sicher war, nicht in dem Sinn, wie die Alten dieses Wort verstanden haben mochten. Dies war ein Ort der Intrige und der Gefahr, ein Ort der Fanatiker, die von brennendem religiösem Hass und selbstgerechter Wut erfüllt waren. Er lächelte bei sich. Er hatte auch schon gehört, dass die Wölfe mit diesen Worten beschrieben wurden, und er wusste, dass einige Orden und Organisationen sich ihres Eifers und eines fanatischen Pflichtbewusstseins rühmten. War der Unterschied zwischen der Inquisition und der Bruderschaft wirklich so groß? Zwischen beiden gab es viele Ähnlichkeiten. Beide hatten sich verschworen, die Menschheit vor den Mutanten zu verteidigen. In beiden wimmelte es von hingebungsvollen Fanatikern. Warum nur die Inquisition heranziehen?, dachte er. Sein eigener Orden war dieser Dinge ebenso schuldig wie die Bruderschaft. Ja, aber sein Orden war im Recht. Ragnar hätte beinahe lachen mögen. Natürlich hatte man ihn das gelehrt und er glaubte es auch, und darin unterschied er sich in nichts von Anto-
ninus. Er lag lange auf dem Bett und rang mit der Sünde der Relativierung.
22. Kapitel
Zwei Tage später marschierte Ragnar durch die Flure des BelisariusPalasts. Draußen war Nacht, aber drinnen gingen die Geschäfte weiter. Über einer der Türen hing ein Schild mit der Aufschrift »Der Handel schläft nie«, und die Männer, die in den Nischen saßen und mit Handzeichen und auf Pidgingothisch boten und Verträge abschlossen, bewiesen diese Tatsache. Er hatte keine Ahnung, worum sich ihre Geschäfte drehten. Es konnte alles Mögliche sein, von der zukünftigen Industrieproduktion Necromundas bis zum Transport einer Million Groxhälften aus den Steppen der Donnerprärie. Er hatte den Verdacht, dass diesen Männern auch völlig egal war, wer sich unter dem Schutz der Navigatoren versammelte. Ihnen ging es nur ums Geschäft. Sie handelten, wo sie Gewinne machen konnten. Die Navigatoren bekamen einen Anteil für den Transport und finanzierten die Geschäfte möglicherweise. Er war jetzt lange genug im Palast, um zu wissen, dass die Häuser einen großen Teil des Handels finanzierten, obwohl sie angeblich über derartigen Dingen standen. Es gab Deckmäntel und Fassaden noch und noch. Die Mittelsmänner hatten Mittelsmänner. Es war nicht so, wie es sein sollte, aber das traf wohl auf viele Dinge auf Terra zu, überlegte Ragnar verdrossen. Er sah Linus Serpico neben einer Nische sitzen und sich hektisch Notizen auf Pergament machen. Er sah müde und gleichzeitig zufrieden aus, als bestünde sein einziger Lebenszweck darin, Dinge aufzuschreiben. Als Ragnar sich näherte, wurden die Verhandlungen abgeschlossen, und die beiden kostbar gewandeten Kaufleute erhoben sich und schüttelten sich die Hände, bevor sie ihr Siegel auf das Dokument drückten, das Linus vorbereitet hatte. Linus unterdrückte ein Gähnen,
verbeugte sich vor beiden und eilte zu Ragnar. Ragnar lächelte ihn an, und er lächelte glücklich zurück. Die Belisarier hatten ihm Arbeit gegeben, und mehr schien er nicht zu verlangen. Dann huschte ein besorgter Ausdruck über sein Gesicht. Auch seine Witterung bekam eine seltsame Schärfe. »Entschuldigen Sie, Meister Ragnar, aber ich habe äußerst bestürzende Gerüchte gehört.« Ragnar sah ihn an und wartete darauf, dass er mehr sagte. Er war nicht überrascht. Linus hatte eine rasche Auffassungsgabe und gute Ohren, und wenige Leute schienen ihn wirklich zu beachten. Aus diesem Grund hatte Ragnar den Verdacht, dass ihm eine Menge zu Ohren kam. »Gerüchte?«, lieferte er das Stichwort. »Es heißt, es hätte Zusammenrottungen gegen die Navigatorenhäuser gegeben und dass Männer sich sammeln, um sie vom Angesicht des Planeten zu fegen. Ich will Sie nicht beleidigen, ich wiederhole nur, was ich gehört habe.« »Du beleidigst mich nicht, Linus«, sagte Ragnar, »aber wo hast du diese Dinge gehört?« »Die Kaufleute reden darüber. Sie sagen, solche Dinge sind schlecht fürs Geschäft und die Inquisition sollte etwas dagegen unternehmen.« Das würde der Inquisition gefallen, überlegte Ragnar. Sie würde nur zu gern einen Fuß in die Tür zum Navigatorenviertel bekommen, und dazu brauchten sie nur einen Vorwand. Wenn die Truppen der Häuser die Proteste und Zusammenrottungen nicht unterbinden konnten, würde es die Inquisition mit allen Mitteln tun, die nötig waren. Störungen des Friedens auf dem Heiligen Terra wurden nur bis zu einem gewissen Grad geduldet. Das war beunruhigend. Ragnar hatte selbst mit der Unterdrückung mehrerer kleiner Zusammenrottungen zu tun gehabt. Er war mit dem Rest der Garde ausgerückt, um den Frieden zu wahren. Sein bloßer Anblick hatte gereicht, um viele Protestierende um ihr Leben laufen zu lassen, was gewiss auch Valkoths Absicht gewesen war.
Dennoch bestürzte ihn die Erinnerung. So viel unbegründeten Hass und Furcht hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Zudem hatte eine aufgeregte Menge etwas an sich, das ihm nicht gefiel. Ihr Verhalten erinnerte ihn an ein Rudel Wolfskrieger, aber ohne die lenkende Intelligenz oder die Fähigkeit des unabhängigen Denkens, wenn dieses gefordert war. Die Leute waren mit improvisierten Waffen bestückt und hatten jene Geschäfte niedergebrannt und geplündert, die sie des Handels mit den Navigatoren bezichtigten. Tatsächlich hatte Ragnar den Verdacht, dass all das mehr ein Vorwand für Plünderungen war als alles andere. Sie waren nicht einmal in die Nähe der Paläste gekommen, und er bezweifelte, dass die Ladenbesitzer mehr oder weniger mit den Navigatoren zu tun hatten als alle anderen im Viertel. »Wir leben in unruhigen Zeiten«, sagte Linus. »In der Tat«, erwiderte Ragnar. Der kleine Mann sah nervös zu ihm auf und leckte sich die Lippen. »Stimmt es, dass der Navigatorenthron nicht besetzt ist?«, fragte er. Beim Imperator, Neuigkeiten verbreiten sich schnell, dachte Ragnar. Selbst die Celestarchin hatte erst vor einer Stunde die Nachricht vom Tod des alten Gorki erhalten. Jetzt war er hier im Basar in aller Munde. Er wusste nicht, warum er überrascht war. Solche Informationen konnten über Gewinn und Verlust eines Vermögens entscheiden. Im Augenblick manövrierten die Fraktionen, um ihren Vertreter auf den Thron zu hieven, bevor er richtig kalt war. Status und Macht ganzer Häuser hingen in der Schwebe. Die Leute würden versuchen, den Sieger zu stützen. »Soviel ich weiß, stimmt es«, sagte Ragnar. Linus nickte, als bestätige dies, was er bereits wusste. »Es wird Ärger geben«, sagte er. Ragnar fragte ihn nicht, was ihn zu dieser Schlussfolgerung veranlasste. Wenn Mastodone kämpfen, wird das Gras niedergetrampelt. Aufmerksamkeit in politischen Dingen war eine grundlegende, überlebensnotwendige Fähigkeit für die Leute hier.
Linus schritt neben ihm durch die Flure. Er roch müde und hungrig und war zweifellos auf dem Rückweg in seine Zelle. Ragnar war seltsamerweise froh über seine Anwesenheit, weil er sich unbehaglich fühlte. Irgendwas fühlte sich nicht richtig an. Vielleicht lag es an seiner Begegnung mit der heulenden Wut des Pöbels früher am Tag, aber er bezweifelte es. Solche Dinge hatten noch nie Unbehagen oder Unruhe in ihm geweckt. Er empfand so wie bei einer Wanderung über die verschneiten Gipfel von Fenris. Die ersten Anzeichen für eine Lawine waren oft nicht besonders spektakulär. Es handelte sich um kleine, unbedeutende Dinge. Eine leichte Vibration im Boden, ein Knacken von Eis in weiter Ferne, ein seltsamer Ton im Wind. Er hatte das Gefühl, von solchen Dingen umgeben zu sein. Die Zusammenrottungen, die Erhebung der Bruderschaft, die verschlungenen Intrigen des ihn umgebenden Hauses, all das waren kleine Anzeichen, aber sie deuteten auf eine größere Bedrohung hin. Irgendwo kam es zu Ereignissen, die nichts Gutes für Haus Belisarius und seine Schlachtbrüder verhießen. Sie beschritten bei Tauwetter einen tödlichen Pfad, dachte er. Nichts von dem geschäftigen Treiben rings um ihn bewirkte eine Veränderung in seinen Gefühlen. Sie ließen die Hallen des Handels hinter sich und passierten die Gardisten, die vor dem Eingang zu den Privatgemächern Wache standen. Ragnar erwiderte den Faust-an-die-Brust-Gruß der Hauskrieger und schritt hindurch. Linus ging weiter zu den Aufzügen, die zu den engen Kammern auf den Ebenen der Bediensteten führten. Er berührte Linus an der Schulter. »Komm zu mir und erzähl mir, wenn du etwas Verdächtiges hörst, was es auch ist.« »Das werde ich, Meister Ragnar«, versprach der Schreiber, bevor er den Flur entlang davoneilte. Ragnar richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung. Ihm ging auf, dass er sich nach Stellen umsah, wo man Deckung nehmen oder Hinterhalte stellen konnte. Er betrachtete diese mit Teppich ausgelegten, stillen Flure, als seien sie ein Schlachtfeld, auf dem er würde kämpfen müssen. Dass er so dachte, war ein Maß für seine Besorgnis.
Oberflächlich besehen, gab es keinen Grund, nervös zu sein. Alles schien in bester Ordnung zu sein. Die Gardisten wirkten wachsam. Bei den Leuten, die kamen und gingen, wies nichts auf Verrat hin. Es musste an ihm liegen, entschied er. Er war nervös. Das hatte Terra ihm angetan. Dass es hier Verräter gab und sie nicht ausgeräuchert worden waren, mochte auch etwas damit zu tun haben, dachte er verdrossen. Er ging zu seinem Gemach. Er brauchte Ruhe. Er hatte noch keinen Grund, sich solche Sorgen zu machen, sagte er sich. Überhaupt keinen. »Sie schlagen heute Nacht zu«, verkündete Cezare, während er sich mit dickem Finger über die Oberlippe strich. Xenothan betrachtete das Oberhaupt des Hauses Feracci wachsam. In seinem tiefsten Innern hasste er den Mann. Trotz seiner Macht und seines Stolzes auf seine uralte Abstammung war er doch nicht mehr als ein Mutant. Es war ein Gräuel, dass seine Art den geheiligten Boden Terras besudelte. Bei diesen Überlegungen erfüllte ihn eine bittere Belustigung. Wenn dieser Mann ein Mutant ist, fragte er sich, was bist dann du? Die Antwort kam sofort. Besser. Und trotz aller Implantate und Bio-Chirurgie war er wenigstens ein Mensch. »In der Tat, Fürst Feracci. Wir werden heute Nacht zuschlagen. Ihr braucht nichts zu befürchten. Nach diesem Abend werdet Ihr weitaus weniger Feinde haben.« Cezare grinste auf eine Art, die Xenothan irritierte. Nichts wäre ihm lieber gewesen, als eines seiner interessantesten Gifte zu nehmen und es Feracci zu injizieren. Während der Mann dann starb, hätte er ihn mit Einzelheiten darüber erfreuen können, welche unerträglichen Qualen ihn als Nächstes treffen würden. Xenothan war von Natur aus kein grausamer Mann, aber Cezare war ein tollwütiger Hund und musste eigentlich auch wie einer behandelt werden. »Die Bruderschaft ist so weit?«, fragte Cezare.
»Ihre Truppen stehen bereit.« »Ihre Agenten?« »Sie wissen, was vorgeht. Sie wissen, dass heute die Nacht der Nächte ist. Gorkis Tod ist ihr Signal. Der Weg in den Belisarius-Palast wird frei sein.« »Sorgen Sie dafür, dass nichts schief geht«, sagte Feracci, während er sich vorbeugte, um an einer der Orchideen zu riechen, die in einer Suspensorvase vor ihm schwebten. Die Arroganz des Mannes ist atemberaubend, dachte Xenothan. Aber darum würde man sich noch früh genug kümmern. Wenn die Belisarier erledigt waren, würde sein Gönner auch diesen posierenden Hanswurst in den Staub treten wollen. Mal sehen, überlegte Xenothan, was würde ich gegen dich einsetzen? Etwas Langsames, das außerdem dafür sorgen würde, dass dein Stolz genauso leidet wie der Rest von dir. Von Borac müsstest du kotzen, dachte er, und du würdest wieder all diese raffinierten Köstlichkeiten schmecken, die du dir so gerne auf der Zunge zergehen lässt, obwohl sie diesmal mit deiner eigenen Magensäure gewürzt wären. Kindisch, sagte sich Xenothan, und nicht annähernd raffiniert genug. Das wäre so, als würde er Avierel benutzen, deren Opfer ihre Gedärme entleerten, wenn sie unter Qualen heulend starben. Vielleicht etwas, das ihn wimmern und flehen lassen würde? Scorse unterdrückte gewisse Hirnzentren, welche Entscheidungsfindungen ermöglichten, und machte aus seinen Opfern hirnlose Drohnen. Nein, dachte er, das war eine Droge für Lustsklaven. Er schüttelte unmerklich den Kopf. Ein hübsches Dilemma. »Sie sind sicher, dass die Wolfsklingen kein Problem für Sie sind?« Die Art, wie Cezare sich verstohlen umsah, als er dies sagte, war geradezu lachhaft, dachte Xenothan. Es war, als glaube er, die verwünschten Fenrisier könnten ihn hören. Ihm war danach zu sagen, ihre Sinne sind scharf, Fürst Feracci, aber nicht so scharf. Aber er tat es nicht. Er bewahrte sich einen sorgfältig einstudierten Ausdruck
verzückter, ehrerbietiger Aufmerksamkeit, als er sagte: »Ich bin sicher, Fürst Feracci. Wenn mir einer von ihnen in die Quere kommt, wird er sterben.« »Gewöhnlich sterben diejenigen, welche ihnen in die Quere kommen«, sagte Cezare. Die Art seines Lächelns zeigte, dass die Bemerkung nicht ausschließlich scherzhafter Natur war. »Bei allem gebührenden Respekt, keiner dieser anderen hat meine Fähigkeiten.« »Ihre Fähigkeiten«, sagte Cezare mit sanftem Spott. »Es ist an der Zeit, dass Sie diese hoch gelobten Fähigkeiten auch einsetzen.« Xenothan ließ die Worte des Mannes von sich abperlen. Er durfte sich nicht aus der Reserve locken lassen, aber er machte sich einen Vermerk in der Akte in seinem Hinterkopf, wo all jene einen Platz fanden, an denen er sich rächen würde. Die Liste der Lebenden in jener Akte war sehr kurz, die Liste der Toten sehr lang. Eines Tages in nicht allzu weiter Ferne würde Cezare von einer Seite der Liste auf die andere wechseln. Aber nicht heute, dachte Xenothan. Heute hatte er anderes zu tun. »Ich glaube, Ihr werdet die Ergebnisse passabel finden«, war alles, was er sich zu sagen gestattete. »Das will ich hoffen«, sagte Cezare. »Nach all dem Geld, mit dem ich die Schatztruhen Ihres Herrn gefüllt habe.« »Eure finanziellen Vereinbarungen solltet Ihr besser mit ihm besprechen«, sagte Xenothan glatt. Nimm die Herausforderung an, wenn du es wagst, dachte er. Nicht einmal Cezare Feracci würde sich aus einem so nichtigen Grund mit einem Hohen Lord aus dem Administratum anlegen wollen. Es war besser, ihn daran zu erinnern, dass es einige Dinge gab, die sogar das Oberhaupt eines der größten Navigatorenhäuser fürchten musste. Er sah, wie Cezare sich das durch den Kopf gehen ließ. Er wusste, dass Xenothans Herr ihn ebenso leicht zerschmettern konnte, wie er die Belisarier zerschmettern würde. Das Gute an den Navigatoren war, dass es immer ein Haus gab, das seinen Feinden an den Kragen wollte. Es war nicht schwer, Verbün-
dete unter diesen Fraktionen zu finden, sogar gegen ihresgleichen. Cezare war sich dieser Tatsache sehr wohl bewusst. Trotzdem würde er Xenothan nicht damit durchkommen lassen, einen Punkt gegen ihn erzielt zu haben. »Wie wollen Sie mit den Wolfsklingen fertig werden? Sie scheinen bemerkenswert gut darin zu sein, normalen Waffen auszuweichen.« »Sie sind Menschen wie alle anderen, etwas schneller, etwas stärker und etwas wilder, aber glaubt mir, es gibt Dinge in diesem Universum, neben denen selbst Space Marines schwach aussehen.« »Und Sie sind eines davon, wie?« Cezare machte keinen Versuch, seinen Spott zu verhehlen. »Ich bin eines davon, ja«, sagte Xenothan mit absoluter Gewissheit. »Und ich habe Waffen, gegen die sie nicht gewinnen können.« »Was könnten das für Waffen sein?«, sagte Cezare. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber sein Interesse war offensichtlich. Waffen, mit denen man sich gegen imperiale Wolfskrieger durchsetzen konnte, würden ein Vermögen auf dem freien Markt wert sein, und Cezare war trotz seiner Ambitionen, ein Aristokrat und Kunstkenner zu sein, im Herzen ein Krämer. Ein Mutant und ein Krämer, dachte Xenothan mit einiger Verachtung. Wohl kaum eine glückliche Kombination. »Es gibt gewisse Geheimnisse, in die man besser nicht eingeweiht sein sollte«, sagte Xenothan durchaus wahrheitsgemäß. »Geheimnisse, für deren Kenntnis Männer getötet wurden.« Cezare nickte, da er durchaus in der Lage war, den Wink zu verstehen, und doch konnte Xenothan sehen, wie sich die Rädchen hinter seinen Augen drehten. Cezare war ein Mann, der niemals ruhen würde, bis er herausgefunden hatte, was Xenothan meinte. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Man würde sich seiner annehmen, lange bevor alle derartigen Pläne verwirklicht werden konnten. Er durfte auf keinen Fall erfahren, was nur sehr wenige im Administratum wussten. Dass es in gewissen dunklen und nahezu vergessenen Abteilungen der Inquisition kleine Gruppen von Gelehrten und Alchimisten gab, die seit der Zeit der Ketzerei am Problem der Adep-
tus Astartes arbeiteten. Es war ein Problem, derart mächtige, unbeherrschbare und beinahe unverwundbare Gruppen im Imperium zu haben, vor allem dann, wenn sie keiner direkten Kontrolle unterstanden. Diese verborgenen Inquisitoren arbeiteten seit Millennien an Methoden zur Kontrolle und sogar Eliminierung der Space Marines, und ihre Forschungen hatten merkwürdige Früchte getragen. Xenothan lächelte, als er an die Phiole des starken Gifts dachte, die er bei sich trug. Sie wirkte direkt auf die Drüse, mit denen Space Marines Gifte neutralisierten, indem sie sie zeitweilig überlud und verwirrte. Letzten Endes verwandelte es diese Drüse in eine Waffe gegen ihren Besitzer. Wenn dieses Gift ins Körpersystem eines Space Marine eindrang, lähmte es ihn für kurze Zeit − nicht so lange, dass ein gewöhnlicher Mann daraus einen Vorteil ziehen konnte, aber für jemanden wie Xenothan war ein Herzschlag mehr, als er brauchte. Natürlich war dieses Gift selten und konnte nur aus den ersten Blüten der seltenen merkurischen Sumpforchidee gewonnen werden. Und es war sehr geheim. Feinde des Imperiums durften sich nie in seinen Besitz bringen, und die Astartes durften auch nie von all diesen geheimen Forschungsprogrammen erfahren. Aber das Gift gab es, und Xenothan besaß etwas davon. Bald würde er es benutzen. Er musste sich eingestehen, dass er sich sehr darauf freute. Es war schon lange her, seit er einen Space Marine getötet hatte. Heute Nacht, dachte er, würde er viele töten. »Sie sehen wie eine Katze aus, die gerade einen Vogel verspeist hat«, sagte Cezare. Xenothan lächelte, obwohl er innerlich schockiert über seinen Lapsus war. »Ich denke nur an Euren bevorstehenden Sieg. Heute Nacht werden auf einen Schlag alle Eure Feinde aus dem Weg geräumt, und die Belisarier werden nach Eurer Pfeife tanzen.« »Warum fällt es mir so schwer zu glauben, dass Sie die Aussicht auf meinen Sieg so glücklich macht?« »Weil es unser Sieg ist. Heute Nacht sterben Eure Feinde. Heute Nacht werde ich sie töten. Morgen werdet Ihr Primus inter Pares
sein, der Erste unter Gleichen, was, wie wir beide wissen, gleichbedeutend damit ist, dass Ihr Herr über alle Navigatoren sein werdet.« »Also gut. Sorgen Sie dafür, dass nichts schief geht.« »In meiner Verantwortung wird nichts schief gehen. Sorgt Ihr dafür, dass Euer Agent seinen Teil der Abmachung einhält. Wenn er es nicht tut, werden viele Leute Grund haben, es zu bereuen.« Nicht zuletzt du, mein überehrgeiziger Freund, dachte Xenothan. Es war zufriedenstellend, dass er die Drohung nicht laut aussprechen musste, damit Cezare sie verstand. Ragnar konnte nicht schlafen. Der Schlaf wollte nicht kommen. Etwas war nicht richtig. Er spürte es in der Luft. Die Bestie in ihm knurrte, und er verstand ihr Unbehagen, aber nicht dessen Ursache. Er erhob sich vom Bett und schritt durch die Korridore. Er passierte Haegrs Quartier, aber der massige Mann war nicht da. Heute Nacht hatte er Dienst. Er schlug den Weg zur Bibliothek ein. Er wollte sich ein Buch suchen, irgendwas, das ihn ablenken würde. Zu seiner Überraschung begegnete er Gabriella im Flur. Sie trug ihre Gala-Uniform und lächelte ihn an. »Sie sind noch spät auf«, sagte sie. »Oder stimmt es, dass Wolfskrieger niemals schlafen?« Sie lächelte, um ihm zu zeigen, dass sie scherzte. »Dasselbe könnte ich über Sie sagen.« »Ich habe der Celestarchin meine Aufwartung gemacht. Wir wurden alle zu einem Konklave gerufen. Gorkis Tod bringt viel Schachern mit sich, da die Häuser versuchen, sich über die Verhandlungen um den Thron Vorteile zu verschaffen.« »Sie glauben, Misha Feracci wird ihn besteigen?« »Nicht, wenn es nach Lady Juliana geht.« »Das Konklave ist zu Ende?« »Die Celestarchin ist in die Gewölbe gestiegen, um sich mit den Ältesten zu beraten.« Wieder die mysteriösen Gewölbe, dachte Ragnar. Was ist dort un-
ten? Sie begleitete ihn. »Wohin wollen Sie?« »Ich dachte, ich besuche mal die sagenhafte Bibliothek der Belisarier.« »Sie haben beschlossen, ein Gelehrter zu werden?« »Ich hoffe, eine Geschichte zu finden, die so zäh ist, dass sie mich in den Schlaf langweilt.« »Was ist los? Sie wirken so nachdenklich.« »Mir war nicht klar, dass ich so leicht zu durchschauen bin.« »Das wären Sie auch nicht, hätte ich nicht zehn Jahre in Diensten der Wolfskrieger verbracht. Jetzt kann ich ein nachdenkliches Stirnrunzeln von einem zornigen unterscheiden.« »Ich weiß es nicht. Heute Nacht liegt etwas in der Luft, das mir nicht gefällt.« »Sie klingen wie Valkoth. Er hat dasselbe gesagt. Er hat angeordnet, die Streifen zu verdoppeln, bevor er die Celestarchin in die Gewölbe begleitet hat.« »Ach, das hat er getan?« Ragnar war nicht beruhigt. Wenn er nicht der einzige Wolf war, der so empfand, steckte vielleicht mehr dahinter als nur Unbehagen. Valkoth war ein Veteran. Sein Instinkt würde sehr ausgeprägt sein. »Ja. Er hat die Garde mit Torin und Haegr verstärkt und etwas davon gemurmelt, er wünschte, dass mehr Wolfsklingen hier wären, aber sie würden anderswo gebraucht.« Ragnar nickte. Langsam wurde so eine Art Muster erkennbar. An diesem Abend waren weit weniger Wolfsklingen im Palast als üblich. Wenn jemand ihre Dienstpläne kannte, würde man sich so eine Nacht zum Zuschlagen aussuchen. Aber es war ein großes Wenn. Diese Fakten waren nur wenigen außerhalb des innersten Kreises des Belisarius-Klans bekannt. Trotzdem, dachte er, was konnte hier in der befestigten Hochburg der Belisarier überhaupt schief gehen?
Skorpeus ging zum unteren Eingang. Hier gab es weniger Wachen, und sie salutierten, als er sie passierte. Er erwiderte die Ehrenbezeugung lässig und nickte jenen zu, die er kannte. So weit, so gut, alles lief nach Plan. Er machte eine Runde und blieb stehen, um mit den beiden Wachen am Sicherheitspult zu reden. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er. Sie nickten und salutierten. »Sind Sie sicher?« »Ja, Herr. Lord Valkoth hat heute Abend Alarmstufe drei gegeben.« Innerlich fluchte Skorpeus. Die Wölfe waren tatsächlich wachsam. Valkoths Instinkte waren zuverlässig. Er hoffte, die Wolfsklinge hatte nichts aus seiner Witterung gelesen. Nein, das war unmöglich. Sie konnten ihn nicht durchschauen, und der Beweis dafür war die Tatsache, dass er sich noch frei bewegen konnte. Hätten sie irgendetwas gespürt, wäre er mittlerweile längst in einer Verhörzelle. Beruhige dich, sagte er sich. Es wird keine Zelle für dich geben. So oder so. Dafür wird die Giftkapsel sorgen. Es gab keinen Grund für derartige Gedanken. Hatten die Sterne nicht geweissagt, er werde Herrscher über alle Belisarier sein? Das würde auch dann so sein, wenn er Cezare Feraccis Hilfe benötigte. Hinterher war immer noch Zeit genug, Cezare zu zeigen, dass er keine Marionette sein würde. Jetzt brauchte er nur Cezares zahmen Attentäter einzulassen. Er machte sich einen mentalen Vermerk, der Frage nachzugehen, wie es Lord Feracci gelungen war, einen der tödlichsten Mörder des Imperiums zu korrumpieren. Das Wissen darum würde eine unschätzbar wertvolle Hilfe sein. »Sehr gut«, sagte er, indem er hinter die Männer an der Konsole trat und in die Holosphäre schaute. Mit der Sicherheit in diesem Bereich war tatsächlich alles in Ordnung. Mit einer Ausnahme. Er schaute nach rechts und links und sah niemanden. Er zog die Waffe aus seinem Halfter und richtete sie auf den Rücken eines der Männer. Er drückte ab. Der Mann fiel nach vorn und hustete Blut. »Was ist los?«, fragte er den anderen Wächter. Der Mann sah ihn verwirrt an. »Ist er krank?«
»Das weiß ich nicht, Herr …« Der Mann verstummte jäh, als ihn der Strahl in die Nieren traf. Der Verräter stieß ihn beiseite und setzte sich vor die Holosphäre. Er fuhr mit der Hand über die Hauptbedienungsrunen und begann mit den kryptischen Beschwörungen, welche die verschlossenen Türen öffnen würden. Er wusste, dass ihm bestenfalls ein paar Minuten blieben. Die TechAdepten würden höchstwahrscheinlich annehmen, dass dies eine Art Systemfehler war, und jemanden schicken, um den Vorgang zu untersuchen. Wenn diese verwünschten Wolfsklingen nichts spürten, dachte er. Jetzt war es jedenfalls zu spät, sich deswegen Gedanken zu machen. Grüne Lichter wechselten auf rot, als sich die Sicherheitstüren öffneten. Es gab mehrere, und ihr Standort war nur wenigen bekannt. Sie hatten lediglich den Sinn, den Palast im Falle einer Katastrophe rasch evakuieren zu können. Heute würden sie jedoch einem ganz anderen Zweck dienen. Er erhob sich vom Kommandopult und ging zu den Sicherheitstüren. Sie glitten auf und gaben den Blick frei auf einen Trupp schwarz gekleideter, maskierter Gestalten, welche von einem Mann angeführt wurden, in dem er Xenothan erkannte. »Was soll das?«, fragte er den Attentäter. »Sie brauchen Hilfe, um eine Frau zu töten?« »Es hat eine kleine Änderung des Plans gegeben«, sagte Xenothan. Erst da registrierte Skorpeus, dass die Waffe in der Hand des Attentäters auf ihn gerichtet war. Sie war das Letzte, was er in seinem Leben sah.
23. Kapitel
Xenothan schaute in den Flur. Alles war frei, wie er erwartet hatte. Die Männer der Bruderschaft schwärmten bereits aus und strebten ihren Zielen entgegen. Einige zogen ihren Overall aus, unter dem dann jeweils die Uniform der Bediensteten des Hauses Belisarius zum Vorschein kam, andere wandten sich in voller militärischer Ausrüstung den tiefer gelegenen Ebenen zu. Manche Trupps verschwanden mit gewandter Behändigkeit in den Belüftungsschächten in der Decke. Zwei Männer besetzten das Pult und schalteten sich in das Sicherheitssystem ein. Es war erstaunlich, überlegte Xenothan, wie viel Schaden ein gut motivierter Trupp in einer abgeschlossenen Umgebung wie dieser anrichten konnte. Gerade die Unabhängigkeit in Bezug auf Luft und Wasser, die aus dem Palast eine gewaltige Festung machte, konnte sich auch in eine furchtbare Schwachstelle verwandeln, wenn die Mauern einmal durchbrochen waren. Dafür würde die Kontaminierung des Wassers und der Luft sorgen. Sei nicht so sicher, sagte er sich. Es gab Ersatzsysteme für die Ersatzsysteme und viele, viele Sicherheitseinrichtungen. Es zahlte sich nie aus, sich seiner Sache zu sicher sein. Doch dieses Unternehmen war Jahrzehnte geplant worden, und er war ziemlich sicher, dass alle Eventualitäten berücksichtigt worden waren. Er lächelte, und seine Gesichtsmuskeln streckten sich und verzogen seine Haut zu einer neuen Konfiguration. Er sah jetzt fast genauso wie Skorpeus aus, und er trug die Gala-Uniform des Mannes und hatte dessen Sicherheitstalismane. Kein Blut war geflossen. Dafür hatte der Giftpfeil gesorgt. Er bezweifelte, dass irgendjemand außer einem anderen Navigator erkennen konnte, dass sein implantiertes drittes Auge eine kunstvolle Fälschung war, und wenn ein belisarischer Navigator so nahe heran-
kam, war er ein toter Mann. Dann waren da noch die vier Wolfsklingen, sagte Xenothan sich mit Genuss − sie würden die Tarnung im Nu durchschauen. Wenn auch sonst nichts, so würde ihn zumindest sein Geruch verraten. Aber auch für sie galt dasselbe wie für die Navigatoren. Wenn sie so nahe kamen, waren sie tot. »Es geht los«, sagte er. Die Fanatiker bewegten sich mit zufrieden stellender Schnelligkeit. Sergeant Hope beobachtete die neuen Dienerinnen auf ihrem Weg durch den Korridor. Eine von ihnen war sehr hübsch, fand er, vielleicht würde er sie zu einem Schwätzchen aufsuchen, sobald er dienstfrei hatte. In diesem Augenblick bemerkte er etwas im Augenwinkel. Er fuhr rasch herum und sah einen Mann, den er nicht kannte, in der Hausuniform. Der Mann schien es sehr eilig zu haben. Ein Trupp Gardisten folgte ihm. »Was ist los?«, fragte Hope. »Sicherheitsalarm«, sagte der Offizier. »Kommen Sie mit mir.« »Wir dürfen unseren Posten nicht verlassen«, sagte Hope. Er versuchte nicht so zu klingen, als wolle er sich vor der Arbeit drücken, sondern wie ein Mann, der seine Pflicht tat. »Wir müssen den innersten Kern des Palasts bewachen.« »In dieser Bibliothek sind wirklich kostbare Bücher«, sagte der Offizier. »Aber der Befehl kommt direkt von Valkoth.« In der Stimme des Mannes lag ein Unterton, der Hope nicht gefiel. »Zeigen Sie mir Ihre Autorisierung.« »Gewiss«, sagte der Mann, indem er die Hand ausstreckte. Darin war etwas Metallisches. Es war das Letzte, was Hope sah, bevor sein Hirn auf die Wand verspritzt wurde. »Was war das?«, fragte Ragnar. »Ich habe nichts gehört«, sagte Gabriella. »Aber ich habe auch nicht die scharfen Sinne eines Wolfs.« In ihrer Stimme lag ein spöttischer Unterton und ihre Miene hatte etwas Herausforderndes, das
jedoch sofort verschwand, als sie Ragnar ansah. »Warten Sie hier«, sagte er zu ihr, während er sich in Bewegung setzte und dem Korridor folgte. Seine Füße verursachten so gut wie kein Geräusch auf den alten Steinfliesen. »Ich glaube nicht«, sagte sie. »In Ihrer Nähe bin ich sicherer.« Ragnar hatte keine Zeit zu streiten. Er lief jetzt. Ein seltsamer Gestank lag in der Luft, nach Tod und noch etwas anderem. Er witterte Fremde. Als er um die Ecke bog, sah er, dass die Wachen nicht da waren. Er witterte und ging durch eine Tür in einen Lagerraum, wo er Leichen fand und eine Menge Blut. Die Wärme der Witterungsspur verriet Ragnar, dass die Mörder erst kürzlich hier gewesen waren. Er schaltete sich ins Kommnetz ein. »Es sind Eindringlinge im Palast«, sagte er. »Wir haben bereits zwei Krieger verloren, vielleicht mehr.« Er fügte die Koordinaten seiner Position im Gebäude hinzu. »Informieren Sie Valkoth und die anderen.« »Ich wurde bereits informiert«, ertönte Valkoths tiefe, melancholische Stimme. »Ich schicke Verstärkung zu deiner Position.« »Die Eindringlinge waren erst vor Kurzem hier. Ich werde nachforschen.« »Sei vorsichtig, Ragnar. Wir wissen nicht, womit wir es zu tun haben.« »Aye«, sagte Ragnar. Seine Gedanken überschlugen sich. Das konnte eine große Sache sein. Sie hatten keine Ahnung, wie diese Fremden hereingekommen waren. Eines war sicher, hier waren Morde begangen worden. Die Belisarier hatten ihre Waffen nicht gezogen. Sie waren vollständig überrumpelt worden. War dies ein Angriff? Wer konnte dahinter stecken? Die Bruderschaft oder jemand ganz anderes? Für die Fanatiker würde es unmöglich sein hereinzukommen, dachte er. Es sei denn, sie hatten Hilfe … »Bleiben Sie hier«, sagte er zu Gabriella. »In Kürze werden Haustruppen hier sein. Dann sind Sie sicher.« »Diese Männer sind Haustruppen, Ragnar«, sagte sie, indem sie auf
die Leichen zeigte. »Wie sicher waren die?« Das war ein berechtigter Einwand. »Bleiben Sie nahe bei mir, und gehen Sie in Deckung, wenn es Ärger gibt. Ich kann nicht für Ihre Sicherheit garantieren.« »Ich werde es darauf ankommen lassen.« Ragnar folgte rasch und lautlos der Witterungsspur. Sie kamen dem Eingang in die Gewölbe gefährlich nahe. Die Witterungsspuren wurden stärker. Hier waren mindestens ein Dutzend Männer, und sie stammten gewiss nicht aus dem Palast. Ragnar zog Kettenschwert und Boltpistole. Er spürte, wie sich sein Bewusstsein ausdehnte, wie es immer der Fall war, wenn ein Kampf bevorstand. Sie kamen zu einer der massiven versiegelten Türen. Sie war nicht mehr versiegelt. Jemand hatte sich an den Kontrollen zu schaffen gemacht und war in die Gewölbe eingedrungen. »Das ist unmöglich«, sagte Gabriella. »Nur die allerhöchsten Familienmitglieder haben Zugang zu diesen Codes. Und die ranghöchsten Wolfsklingen.« »Ich fürchte, es ist möglich«, sagte Ragnar schnüffelnd. »Jemand hat Zugang zu den Schätzen der Belisarier.« Und in diesem Augenblick schnappte seine Nase eine andere Witterung auf. Ihr haftete die irre Absonderlichkeit des Chaos an. Es wurde immer merkwürdiger. Hatten sich die Fremden so Zutritt verschafft? Hatten sie Chaos-Zauberei benutzt, um das Gewölbe zu öffnen, und waren dann von dort ausgeschwärmt? Die Geruchsspuren verrieten ihm etwas anderes. »Das ist schlimmer, als ich dachte«, sagte er. »Der ganze Palast stinkt nach Mutation. Anscheinend hat das Chaos sogar den geheiligten Boden Terras korrumpiert.« Gabriella sah ihn seltsam an. »Vielleicht ist es nicht das Chaos, was Sie riechen«, sagte sie. Ragnar hatte keine Zeit, ihr zu antworten. Der Knall einer abgefeuerten Waffe hallte durch den Korridor, und ein wilder, unmenschlicher Schrei ertönte. Gleichzeitig flackerten die Lampen und erlo-
schen. Völlige Dunkelheit. Ragnar zuckte die Achseln. Ihn behinderte das nicht. Er konnte sich mit Geruch- und Tastsinn und Instinkt orientieren, wenn es sein musste, aber das Mädchen würde in Gefahr schweben. Zu seiner Überraschung spürte er, wie Gabriella vor ihn trat. »Das ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Ich bin Navigatorin. Mein drittes Auge sieht auch in schlimmerer Finsternis als dieser.« Der Geruch nach Waffenmetall an ihr verstärkte sich etwas. Er spürte, dass sie ebenfalls eine Waffe gezogen hatte. Einen Moment später flackerten die Lampen und gingen wieder an, auch wenn ihr Licht jetzt viel matter war als zuvor. Ihm fiel auf, dass viel weniger Bewegung in der Luft war als zuvor. Die Belüftungssysteme des Palasts waren ausgefallen. Als seine Augen sich an die neuen Bedingungen gewöhnt hatten, sah Ragnar, dass Gabriella ein Stück weit voraus war. Sie hatte eine kleine Laserpistole in der einen und ihren Paradesäbel in der anderen Hand. Er eilte rasch vor sie. Wenn es nach ihm ging, würde der Tochter von Adrian Belisarius kein Leid geschehen. Seine Schritte wurden länger, als sie sich den Kampfgeräuschen näherten, und schließlich gelangte er in eine große Kammer, wo etwas Aufgeblähtes, Weißes und Gewaltiges auf dem Boden lag. Die Beine sahen mehr wie Flossen aus, die Arme wie Tentakel. Aber das Gesicht war menschlich und hatte drei Augen, eines in der Mitte der Stirn, das verdächtig wie das eines Navigators aussah. Hatte dieses Wesen während des Angriffs irgendwie einen Weg hier hinein gefunden? Sehr unwahrscheinlich. Was machten die Navigatoren dann aber mit diesem Ding? War es ein Gefangener, etwas, mit dem sie Experimente anstellten? Was es auch war, jetzt spielte es keine Rolle mehr. Das Wesen war tot. Jemand hatte es mit Kugeln durchsiebt. Sie hatten sich die Zeit genommen, mit seinem Blut »Stirb Mutantenabschaum« an die Wand zu schmieren. Hier war eine Menge Hass im Spiel. Gabriella trat ein und schrie leise auf. Zuerst glaubte er, es sei ein
Entsetzensschrei angesichts des Ungeheuers, aber dann ging ihm auf, dass sie offen weinte. Ihm kam ein furchtbarer Verdacht, der sich bestätigte, als sie sagte: »Sie töten die Ältesten.« »Was?« »Sie haben mich verstanden − sie töten die Ältesten!« »Diese Dinger waren Navigatoren?«, sagte Ragnar entsetzt. »Sie sind Navigatoren, sehr alte und sehr weise.« »Sie sind Mutanten.« »Wie wir alle!« »Aber Sie sehen aus wie …« »Ich sehe menschlicher aus. Das ändert nichts. Wenn man lange genug lebt und oft genug dem Warpraum ausgesetzt ist, passiert genau das. Es ist der Preis, den wir dafür bezahlen, dass die Menschheit über den Raumflug verfügt.« Ragnar schüttelte den Kopf und mühte sich zu begreifen. Die Logik ihrer Worte war zwingend, und er erinnerte sich an sein Gespräch auf Fenris mit Ranek über die Dinge, die er auf Terra lernen mochte. All das ergab jetzt mehr Sinn. Der alte Mann musste dies gewusst und auf seine Art versucht haben, ihn darauf vorzubereiten. Aber auf diese Wahrheit hätte ihn nichts vorbereiten können. »Der Imperator …«, sagte er. »Der Imperator wusste es, Ragnar. Der Imperator wusste es und hat dennoch die Freibriefe ausgestellt.« »Aber er hat es niemandem verraten.« »Vielleicht hätte er es, wenn Horus ihn nicht tödlich verwundet und zu einer Ewigkeit im goldenen Thron verurteilt hätte. Er war ein großer Mann, Ragnar, und er kannte die Wahrheit. Und während wir hier stehen und darüber debattieren, sterben andere meiner Art. Sie können es hören, wenn Sie lauschen!« Ragnar hielt inne. Er fühlte sich sehr durcheinander und sehr verunsichert. Man verlangte von ihm, dass er Mutanten verteidigte, richtige Mutanten. Die Bruderschaft hatte Recht. War die Verteidigung
dieser Mutanten ehrenwert? »Werden Sie Ihre beeidete Pflicht tun oder nicht?«, fragte Gabriella. »Werden Sie sich auf die Seite dieser hirnlosen Heuchler schlagen oder auf unsere?« Und da war es. Es ging nicht um die Navigatoren, es ging um ihn. Es war seine Wahl. Er konnte die Navigatoren verteidigen oder nicht. Es würde auf ihn zurückfallen. Was war der Unterschied zwischen Gabriella, die er mochte, und der Leiche vor seinen Füßen? Zeit. »Werden Sie …?« »Wenn ich lange genug lebe«, sagte sie, »werde ich auch einmal so aussehen. Vielleicht nicht genauso, aber so ähnlich. Und ich werde trotzdem meine Pflicht gegenüber dem Imperator erfüllt haben. Und Sie?« »Es steht Ihnen nicht zu, meine Loyalität dem Imperium gegenüber anzuzweifeln, Mädchen.« Er hatte seine Entscheidung getroffen und bewegte sich bereits. Er hatte geschworen, der Celestarchin zu dienen, und er würde ihre Familie beschützen. Er würde seine Pflicht tun und sich den Rest später zusammenreimen. Das Universum war komplizierter, als man ihn glauben gemacht hatte. Voraus waren Schlachthausgeräusche zu hören, da jemand eine Kettensäge benutzte. Schmerzensschreie und Gelächter folgten. »Ohne Beine ist es schwer, sich zu bewegen, was, Mutant?«, höhnte ein ganz schwarz gekleideter Mann, während er ein Kettenschwert über den seltsam veränderten Körper von jemandem schwang, der früher einmal eine Frau gewesen sein musste. »Ja, das ist es«, sagte Ragnar und jagte dem Mann eine Boltpatrone durch beide Kniescheiben. Es war grausam und unnötig, aber jemand würde seine Wut zu spüren bekommen. Die Kameraden des Mannes fuhren zu ihm herum. Sie waren schnell und auf Gefechtsdrogen und rissen ihre Waffen mit erstaunlicher Behändigkeit hoch. Ragnar kümmerte das nicht. Er trat zur Seite, sodass er in Deckung der Tür stand, und gab dann Schüsse ab. Jeder einzelne davon wurde mit einem Schrei belohnt. Ein Patronenhagel antwortete ihm und riss große
Brocken aus der Wand gegenüber der Tür. Er halfterte seine Pistole und warf eine Blitzgranate durch die Tür. Einen Moment nach ihrer Explosion stürmte er durch die Tür und eröffnete das Feuer. Diesmal vergeudete er keine Munition. Er schoss jedem der benommenen Männer eine Patrone durch den Kopf und ging dann zu der Navigatorin, die sie gefoltert hatten. Sie war skelettdünn und unnatürlich groß. Ihr Gesicht war schmal wie das eines Eldar, aber ihre Haut war schuppig wie die einer Schlange. Ihr Bauch war von oben bis unten aufgeschlitzt, und ihre Eingeweide quollen heraus. Keine noch so hoch entwickelte Medizin würde ihr Überleben gewährleisten können, und ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wusste sie das auch. Schreckliche Qualen verzerrten ihre Züge. »Tötet mich«, bat sie. Ragnar wandte sich an Gabriella, die nickte. Ragnar schoss der Frau eine Patrone durch ihr drittes Auge in den Kopf. Er wünschte, er hätte nicht den Anflug eines Gefühls grimmiger Befriedigung empfunden, als er das tat. Er hoffte um Gabriellas willen, dass sich davon nichts auf seinem Gesicht widerspiegelte. Seine Vorurteile saßen sehr tief. Mittlerweile waren aus allen Richtungen Schüsse zu hören. Anscheinend war dies nicht der einzige feindliche Trupp in den Gewölben der verbotenen Zone. Es gab noch andere. Gabriella sah jetzt sehr wütend aus. »Dahinter stecken Navigatoren«, sagte sie. »Woher wissen Sie das?«, fragte er, bereit, sich wieder in die Dunkelheit zu stürzen. »Nur ein anderes Navigatorenhaus kann über diese versteckten Gewölbe und ihre Bedeutung Bescheid wissen.« »Feracci?«, fragte Ragnar. »Das ist der wahrscheinlichste Kandidat, meinen Sie nicht?« »Wenn er es ist, wird er dafür büßen.« »Nicht, wenn mein Haus ausgelöscht wird. Niemand wird uns rächen.«
Ragnar ging weiter. »Die Inquisition könnte es tun.« »Nein. Sie könnte diesen Vorfall als Vorwand nutzen, um gegen die anderen Häuser vorzugehen. Aber das weiß Cezare auch, und daher muss er vorbereitet sein, sonst hätte er es nicht getan.« »Dann werden die Wölfe das Blutgeld für Ihr Haus verlangen.« »Werden sie das?« »Sie werden.« Ragnar wünschte, er wäre so sicher gewesen, wie er klang. Ehre war eine Sache, die Politik des Imperiums eine andere. Ihm kam ein Gedanke. »Wenn Cezare hinter dieser Sache steckt, ist er auch für den Tod Ihres Vaters und Skanders verantwortlich.« »Das könnten Sie niemals beweisen.« Ragnar bleckte die Zähne in einem wölfischen Grinsen. »Was bringt Sie auf die Idee, dass ich einen Beweis brauche?« Xenothan schritt durch die Gänge und gab sein Bestes, wie die von Panik erfüllten Leute rings um ihn auszusehen. Furchtbares Chaos war mitten im Herzen des Hauses Belisarius ausgebrochen. Lange gehegte Pläne wurden verwirklicht. In den kostbaren Gewölben der Navigatoren tobten sich die Fanatiker aus. Sturmtrupps vergifteten Wasser- und Luftvorräte. Die Hauptgeneratoren waren außer Betrieb. Im Kommnetz, in das er mit Ohrhörer eingeschaltet war, machte sich Panik breit. Die Nachricht über den Angriff auf die Gewölbe erreichte auch das belisarische Oberkommando. Man ging davon aus, dass die Ältesten das Ziel dieses Angriffs waren, und ergriff Maßnahmen, sie zu verteidigen. Damit war die Zeit zum Zuschlagen für Xenothan gekommen. Irreführung war der Schlüssel, er musste dem Feind zwei Schritte voraus bleiben. Das war wichtiger als Stärke oder Feuerkraft oder Reichtum. Darin war er ein Meister. Er marschierte weiter durch den Palast der Belisarier seinem Ziel entgegen. Bevor diese Nacht vorbei war, würde die Macht eines der ältesten Navigatorenhäuser gebrochen und sein Auftraggeber seinem Ziel einen Schritt näher gekommen sein.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Ragnar Gabriella. Sie sah fahl und bleich aus und entsetzt. »Ich habe mich schon schlechter gefühlt«, sagte sie. Sie hielt sich gut angesichts der Vielzahl niedergemetzelter Verwandter, die sie gesehen hatte. Aber für ihn war unübersehbar, dass sie müde und verängstigt war und unter dem Druck der Ereignisse innerlich langsam nachgab. Im Grunde konnte er es ihr nicht verdenken. Diese Art der Kriegführung hätte auch an den Nerven der erfahrensten Krieger gezerrt. Sie schlichen durch die düsteren Gewölbe. Gewaltig in der Unterzahl, war ihre einzige Möglichkeit, aus dem Schatten zuzuschlagen und sich rasch wieder zurückzuziehen. Wenn sie die Ältesten retten wollten, hatte es keinen Sinn, einen Heldentod herauszufordern. Mit Schnelligkeit, Brutalität im Angriff und rascher Flucht würden sie ihrem Ziel besser dienen. Immer wieder trafen sie auf kleine Gruppen von Fanatikern. Dann eröffnete Ragnar das Feuer auf die Männer und versuchte sie damit von ihren Opfern abzulenken. Wenn das nicht gelang, und das war oft der Fall, kehrte er zurück und tötete noch mehr. Von Blutdurst überwältigt, folterten die Eindringlinge die mutierten Ältesten, anstatt ihre Mission entschlossen fortzusetzen. Ragnar hatte den Verdacht, dass nur dieser Blutdurst die völlige Auslöschung der Navigatoren verhinderte. Wären die Krieger der Bruderschaft schneller vorgegangen und hätten sie die Ältesten rascher getötet, hätten sie ihr Ziel vielleicht erreicht. Vielleicht auch nicht. Hier und da stieß Ragnar auf massive Sicherheitsschotts. Manche waren mit Thermalladungen gesprengt worden, aber viele hatten standgehalten. Ragnar wusste, dass hinter diesen möglicherweise ein Ältester überlebt hatte. Er konnte es nur hoffen. Zumindest war die Zeit auf ihrer Seite. Immer mehr Haustruppen trafen hier unten ein und würden bald mit der Säuberung der Gewölbe von den Angreifern beginnen.
Die Fanatiker mussten gewusst haben, dass dies geschehen würde, überlegte er. Aber sie machten dennoch weiter. Die Art und Weise, wie sie ihr Leben für die Sache wegwarfen, an die sie glaubten, hatte beinahe etwas Bewundernswertes. Beinahe, machte er sich klar. Aber sie warfen ihr Leben weg, um Wesen zu töten, die sich nicht wehren konnten: verkrüppelte Mutanten, die unfähig waren, eine Waffe zu halten, geschweige denn, sie zu benutzen. Über Kommnetz empfing Ragnar Meldungen, dass sie auch andere Waffen benutzt hatten. Gifte waren in die Luftumwälzanlagen und Wasservorräte eingeschleust worden. Die Filter wurden ersetzt und die Anzahl der Opfer war gering, aber selbst für Ragnar wurde immer offensichtlicher, dass der Feind unglaublich gut vorbereitet war. Er verfügte über ein extrem detailliertes Wissen über diesen Ort und seine Schwachstellen. Alles deutete auf einen Verräter in ihrer Mitte hin. Nur so konnte jemand so viele Daten über den Palast gesammelt haben. Während er der Witterung eines weiteren Trupps von Fanatikern folgte, beschäftigte er sich geistig weiter mit dem Problem. Ein Verräter erklärte außerdem, wie der Feind hereingekommen war. Er bezweifelte nicht, dass man später bei gründlichen Untersuchungen irgendwann und irgendwo auf eine entriegelte Sicherheitstür und auf Wachen stoßen würde, die entweder bestochen oder getötet worden waren. Nur auf so eine Art konnte man sich Zutritt verschaffen. Er lugte um eine Biegung im Korridor und sah einen Trupp schwarz gekleideter Männer. Einer von ihnen sägte einem Ältesten mit einem Kettenschwert die Tentakel ab. Ein anderer Ältester lag stöhnend und blutend in der Nähe. Anscheinend waren sie auf einen Mutanten gestoßen, der entschlossen gewesen war, sich zu wehren. Während er auf den Hinterkopf des Kettenschwertbesitzers zielte, kam ihm ein neuer Gedanke. Was, wenn die Ältesten gar nicht das Primärziel der Eindringlinge waren? Er zog Schlüsse aus dem, was er gesehen hatte, und in militä-
rischen Begriffen konnte das eine gefährliche und unzulässige Methode sein, die Dinge anzugehen. Angesichts der Menge an Informationen, über die der Feind zu verfügen schien, war er zweifellos in der Lage, gegen jeden innerhalb des Palasts vorzugehen. Warum sollte er sich die Ältesten aussuchen? Sie waren zwar politisch mächtig, aber nach allem, was er mitbekommen hatte, waren sie in erster Linie mit seltsamen Forschungen beschäftigt oder hatten sich gänzlich zurückgezogen. Er drückte ab, und der Kopf seiner Zielperson explodierte in einer Wolke aus rotem Nebel. Sein Hirn zierte jetzt den Eindringling vor ihm. Ragnar sprang vor, schlug mit dem Kettenschwert nach einem anderen Angreifer und enthauptete ihn sofort. Gabriella ging ebenfalls gegen den Feind vor. Er bewegte sich rasch, um so viel Entfernung wie möglich zwischen sie beide zu legen, da er vermeiden wollte, sie im Zuge des Gemetzels unabsichtlich zu treffen. Sein Stiefel zuckte nach vorn, und der Tritt stieß einen der Angreifer gegen einen seiner Kameraden hinter ihm. Als die beiden Männer in einem Gewirr von Gliedmaßen zu Boden gingen, sprang er sie an wie ein Tiger eine angebundene Ziege. Einem der Männer brach er mit einem Faustschlag das Genick, da das Gewicht der Boltpistole in der Faust dem Hieb zusätzliche Wucht verlieh. Dem anderen trennte er mit dem Schwert den Kopf von den Schultern. Er kullerte zu Boden und blinzelte noch einen Moment verständnislos. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck völliger Bestürzung. Während sein Körper wie eine Maschine kämpfte, fragte Ragnar sich, warum der Angriff ausgerechnet jetzt erfolgt war. Vielleicht hatte es etwas mit den Schichtwechseln der Wachen und der Anwesenheit der Verräter innerhalb des Palasts zu tun. Aber der Grund konnte auch komplizierter sein. Was hatte sich im Gesamtbild verändert? Warum würde ein Angreifer ausgerechnet an diesem Abend würfeln wollen und nicht an einem anderen? Ragnar warf sich auf den Boden, als ein Fanatiker mit einer Laser-
pistole das Feuer auf ihn eröffnete. Während sich der Mann mühte, ihn ins Visier zu bekommen, wälzte Ragnar sich herum, schoss auf ihn und sprang in einer fließenden Bewegung geschmeidig auf. Dann dämmerte ihm: Morgen fand die Wahl des neuen Vertreters statt. Dieser Angriff mochte die Belisarier in einem äußerst kritischen Moment in ein Chaos stürzen. Oder, dachte er ernst, er mochte einen Verräter an die Macht bringen, wenn die Celestarchin getötet wurde. Da die Ältesten tot oder zumindest schwer angeschlagen waren, würde das Haus einen anderen Weg finden müssen, seinen neuen Herrscher zu wählen. Das würde eine Weile dauern. Aber, dachte er, während er vorsprang und das Herz eines Mannes durchbohrte, das konnte nur passieren, wenn die gegenwärtige Celestarchin tot war. Eine jähe Furcht erfüllte Ragnar. Er war plötzlich sicher, den Plan des Feindes durchschaut zu haben.
24. Kapitel
Xenothan marschierte weiter durch den Palast und folgte dabei den Richtungsanweisungen, die er über Kommnetz vom Hauptdatenspeicher erhielt. Für den Notfall hatte er sich die Örtlichkeiten anhand der Pläne eingeprägt, die der Verräter zur Verfügung gestellt hatte, aber bisher hatte er sie noch nicht zu benutzen brauchen. Einen Teil der Umgebung kannte er von seinen eigenen unzähligen Ausflügen in Verkleidung, aber dies waren die öffentlichen Räumlichkeiten und die weniger gesicherten Sektoren, die daran angrenzten. Jetzt war er im Kern des Palasts. Hinter seinen veränderten Zügen empfand er Erregung, die Erregung der Jagd. Heute beschlich er gefährliche Beute für die größte Belohnung von allen. Heute würde er den Lauf des Imperiums für viele nachfolgende Generationen ändern. Es war eine Mission, die seiner Fähigkeiten und Talente würdig war. Eine junge Bedienstete näherte sich ihm. Die Furcht stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Was geht vor, Herr?«, fragte sie. Unter dem Druck des Augenblicks hatte sie alle üblichen Protokolle missachtet und ihn angesprochen, ohne selbst angesprochen worden zu sein. »Warum der Alarm?« »Eindringlinge«, sagte Xenothan, indem er einen Anflug von Panik in seine Stimme einfließen ließ. Er wusste, je mehr Unruhe und Verwirrung er erzeugte, desto besser. »Die Wachen eilen alle in die Gewölbe«, sagte sie. »Dabei ist das doch verboten.« Das ist es tatsächlich, dachte Xenothan, und wir haben Belisarius ein ziemliches Rätsel aufgegeben. Was werden sie den Männern sagen, welche die Bewohner des Gewölbes sehen? Wie werden sie mit ihnen verfahren? Vielleicht würde man sie zu einer weit entfernten Höllenwelt schaffen und neue Wachen verpflichten. Der Tod war eine
offensichtliche Antwort, aber würde der neue Celestarch die Nerven dazu haben? Möglicherweise. Die Navigatoren waren zu allem fähig, wenn ihr Überleben davon abhing. Nun, in Kürze würden sie sich über andere Dinge Gedanken machen müssen. Xenothan strebte weiterhin dem Thronraum entgegen. Sein Ziel kam allmählich in Reichweite. Ragnar sprach rasch ins Kommnetz. »Ist die Celestarchin in Sicherheit?«, fragte er. »Sie wird von Torin und einer Kompanie Gardisten im Thronraum bewacht. Als Alarm gegeben wurde, haben wir sie nicht mehr in die Gewölbe schaffen können.« »Bringt sie weg«, bellte Ragnar. »Was?«, sagte Valkoth. Ragnar skizzierte ihm rasch seine Überlegungen. Sie mussten dafür sorgen, dass sie sich nicht an einem vorhersehbaren Ort aufhielt. Wenn es einen Verräter gab und ein Angriff erfolgte, mussten sie davon ausgehen, dass die Attentäter wussten, wo sie zuschlagen mussten. Ragnar hatte sogar den Vorschlag erwogen, sie auf ein Schiff zu bringen und in die Umlaufbahn zu schaffen, aber wahrscheinlich hatten die Eindringlinge an diese Möglichkeit gedacht und entsprechende Vorkehrungen getroffen. Mittlerweile strömten überall Truppen in die Gewölbe. »Ragnar hat Recht«, hörte er Torin sagen. »Wir können das Risiko nicht eingehen.« Valkoths Stimme meldete sich wieder. »Hier oben deutet nichts auf einen Bruch der Sicherheit hin.« »Das heißt nicht, dass es keinen gegeben hat.« »Aye, du hast Recht. Erklär der Celestarchin, dass sie von hier weg muss. Ich schlage mit allem Respekt vor, sie in die Gewölbe zu schaffen.« Sehr gut, dachte Ragnar. Mit diesem Ort würde der Feind wahrscheinlich nicht rechnen, und darüber hinaus wimmelte es dort mittlerweile bereits von Haustruppen. Natürlich musste sich die Lage
hier unten noch stabilisieren, aber das würde vermutlich bis zur Ankunft der Celestarchin auch der Fall sein. »Ragnar«, fuhr Valkoth energisch fort. »Nimm dir die fünfte Kompanie und sichere die Umgebung des Eingangs zum Schacht neun. Sag mir Bescheid, wenn du das geschafft hast. Sofort.« »Verstanden«, bestätigte Ragnar. »Kommen Sie mit«, sagte er zu Gabriella. »Wir haben zu tun.« Seine Erfahrung verriet Xenothan, dass etwas nicht stimmte. Die Sicherheit in diesem Bereich war nicht so dicht, wie sie hätte sein sollen. Er war mehrfach angehalten worden, aber dank seines Aussehens sowie der Pässe und Verhaltensmaßregeln, mit denen der Verräter ihn versorgt hatte, war er unbeschadet durchgekommen. Meistens. Jene, die sich nicht hatten täuschen lassen, hatten danach nicht mehr lange gelebt. Mittlerweile hätte man ihn ständig anhalten und kontrollieren müssen, aber es waren nicht viele Wachen zugegen. War es möglich, dass der Feind sein Kommen vorhergesehen und seine Strategie geändert hatte? War er selbst verraten worden? Er erwog kurz, das Unternehmen abzubrechen. Sehr kurz. Sein Gönner würde nichts anderes als den totalen Erfolg akzeptieren. Jedenfalls wies bisher nichts darauf hin, dass sein Vorhaben gescheitert war. Er beschloss weiterzumachen. Doch zunächst musste er eine Möglichkeit finden, sich ins Kommnetz einzuschalten, um die Fanatiker davon in Kenntnis zu setzen, dass es eine Änderung im Plan gab. Er musste wissen, ob die Celestarchin weggebracht worden war, und wenn ja, mussten sie sie irgendwie aufhalten. Er lächelte. Kleine Rückschläge gehörten mit zur Jagd. Sie würden seinen Triumph nur noch süßer machen, wenn sie einmal überwunden waren. Die Säuberung des Vorratslagers war abgeschlossen. Der Feind war zahlreicher gewesen, als Ragnar erwartet hatte, und er hatte mit überraschender Tödlichkeit gekämpft. Seine Streitmacht hatte nur wenig
Verluste erlitten, bevor sie den Feind überwunden hatten. Jetzt überwachte er die Sicherung des Gebiets. Er hatte einige seiner Männer zur Bewachung aller Zugangswege eingeteilt, hielt aber den Großteil in Reserve in dem Wissen, dass ein Angriff von jeder Seite erfolgen konnte. Gabriellas Gesicht war rußig, zerkratzt und blutig. Sie hatte bei ihren Kämpfen einige kleine Wunden erlitten. Ein Sanitäter hatte sie hastig mit Kunsthautpflastern behandelt, die rasch von der natürlichen Haut absorbiert wurden. »Ich hätte nie damit gerechnet, hier kämpfen zu müssen«, sagte sie. »Es gibt keine sicheren Orte«, sagte Ragnar. »Man muss überall auf den Kampf vorbereitet sein.« »Gesprochen wie ein wahrer Wolfskrieger«, erwiderte sie. »Aber sagen Sie mir, wie wäre Ihnen zumute, wenn Sie am Ort Ihrer Geburt und Ihrer Kindheit kämpfen müssten?« »Das habe ich«, sagte Ragnar automatisch, während seine Gedanken zu jener lange zurückliegenden Zeit eilten. »Ich habe gesehen, wie mein Vater getötet und meine Familie versklavt wurde.« »Irgendwie trägt das nicht zu meiner Beruhigung bei, Ragnar«, sagte sie. »Das hatte ich auch nicht angenommen«, sagte er, als ihm dämmerte, was er gesagt hatte. Sie lächelte. »Es geschieht mir recht, weil ich diese Frage überhaupt gestellt habe.« »Nein, keineswegs. Dies ist Ihre Heimat. Sie haben das Recht, empört zu sein. Aber Sie müssen trotzdem kämpfen, wenn Sie sie behalten wollen.« »Das sind die Worte eines Fenrisiers.« »Die Worte stimmen, vom wem sie auch kommen. In diesem Universum können wir wenig anderes tun, als um unsere Heimat zu kämpfen, wenn wir sie behalten wollen. Es gibt so viele, die sie uns stehlen wollen.«
»Das stimmt mit Sicherheit, wenn man Navigator ist.« »Das stimmt für jeden, auch für einen Space Marine.« Xenothan ging durch den Palast und beschlich seine Beute. Wie die Dinge lagen, kam er heute Nacht vielleicht nicht an sein Ziel heran, aber er hatte nicht vor aufzugeben. Er konnte im Palast bleiben, sich irgendwo verstecken und abwarten. Nein, das kam nicht in Frage. Die Identität des Verräters würde bald ans Licht kommen, und dann würde man die Sicherheit verdoppeln. Es hieß, heute Nacht oder nie. Ihm blieb nur die Entscheidung, ob er sein Unternehmen abbrechen und den Palast verlassen oder ob er weitermachen sollte. Er grinste. Die Möglichkeit einer Aufgabe hatte nie bestanden. Dies war der Höhepunkt seiner Laufbahn, eine Sache, über die seine geheimen Brüder noch in Jahrhunderten reden würden, falls er Erfolg hatte. Nein, sagte er sich, sobald er Erfolg hatte. Er sprach weitere verschlüsselte Befehle ins Kommnetz. Seine Anhänger näherten sich der mutmaßlichen Leibwache der Celestarchin. Er stellte rasch ein paar Berechnungen an. Sie konnten an dieser Stelle, zwei Ebenen tiefer, eine zeitweilige Überlegenheit erreichen. Die Belisarier machten über die Rampen mobil, was vernünftig war. Sie wollten nicht unversehens in einem Aufzug oder Antigravschacht festsitzen. Dort war die Möglichkeit viel zu groß, dass irgendwas schief ging. Er gab Befehle für das Abfangunternehmen in dem Wissen, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis der Feind herausfand, dass sie sich mit zerhackten Sendungen über das Kommnetz der Belisarier verständigten. Es blieb reichlich Zeit zu tun, was getan werden musste. Alle Zeit der Welt. Torin blieb ständig neben der Frau in der Robe, bereit, sich sofort zwischen sie und jede Gefahr zu werfen. Er witterte und registrierte die widerstreitenden Gerüche. Er nahm die Duftspuren von Fremden in der aufbereiteten Luft wahr und auch Spuren raffinierter Gifte, die
in winzigen Mengen freigesetzt worden waren. Er fragte sich, wie viele Verluste es gegeben hatte. Wie viele waren gestorben, bevor dieser spezielle Angriff abgewehrt worden war? Halte dich an deine Aufgabe, sagte er sich. Er würde die schlimmsten Nachrichten noch früh genug erfahren. Er war immer noch verblüfft über die Kühnheit dieses Angriffs. Jetzt wussten sie, warum die Bruderschaft direkt unter dem Viertel so eine Streitmacht zusammengezogen hatte. Jeder Fanatiker auf Terra musste hier sein. Wer hätte gedacht, dass jemand es wagen würde, die Navigatoren in ihrer eigenen Festung anzugreifen? Das zeigte eine Kühnheit in der Planung und eine Kompetenz in der Ausführung, die er fast bewundernswert fand. Aber morgen würde die Hölle los sein. Die Belisarier würden keine Kosten und Mühen scheuen, um herauszufinden, wer dahinter steckte, und Rache zu üben. Auch das mussten die Angreifer gewusst und entsprechende Vorbereitungen getroffen haben. Andernfalls wären sie Narren, und dieser Angriff war gewiss nicht das Werk von Narren. Es war ein bedrückender Gedanke, der ihm Grund zum Nachdenken gab, während er die Leibwache der Celestarchin durch die Flure des Palasts scheuchte. Vielleicht ging der Feind davon aus, dass nicht genug von ihnen übrig blieb, um ihm noch schaden zu können. Sie würden ihm seinen Irrtum aufzeigen. Sei vorsichtig, sagte sich Torin. Die Nacht ist noch nicht vorbei. Wer weiß, welche anderen unangenehmen Überraschungen noch auf uns warten. Vielleicht gibt es noch andere Verräter. Torin war sicher, dass es mindestens einen gab. Niemand hätte ohne Hilfe von jemandem ganz hoch oben aus dem Palast eindringen können. Anders war es ganz einfach nicht möglich. Die Frage lautete, wer war es? Die Navigatoren hatten viele Fehler, aber die Loyalität ihrem Klan gegenüber steckte ihnen im Blut. Das musste so sein. Wie hatte sich jemand darüber hinwegsetzen können? Falls sie überlebten, ließ sich die Liste der Verdächtigen gewaltig einschränken. Nur sehr wenige Leute hatten überhaupt die Möglich-
keit, zu tun, was getan worden war, also musste einer von ihnen der Verräter sein. Er selbst, Haegr und Valkoth konnten es nicht sein, dessen war er sicher. Auch Ragnar konnte es nicht sein. Er kannte den Jungen nicht sonderlich gut, aber er war gerade erst von Fenris eingetroffen und schien nicht zur korrumpierbaren Sorte zu gehören, obwohl er mit dem Frauenzimmer Gabriella gekommen war. Die hatte andererseits zehn Jahre bei den Wölfen verbracht, also würde auch sie gar nicht in der Lage sein, so rasch zum Verräter zu werden. Sie mussten sich in den obersten Etagen des Hauses umsehen. Torin hatte ein paar Ideen, wo genau. In diesem Augenblick witterte er einen seltsamen Geruch. Feinde näherten sich ihnen, und zwar eine Menge. »Macht euch bereit, die Celestarchin zu verteidigen«, sagte er zu seinen Männern, als ihre Widersacher um die Ecke bogen und das Feuer eröffneten. Er ließ ein wölfisches Heulen ertönen in dem Wissen, dass es den Feind ängstigen und seinen eigenen Männern Mut machen würde. Augenblicke später stürzte er sich kopfüber in den wirbelnden Mahlstrom der Schlacht. Er war glücklich. Nur wenige Dinge gefielen ihm besser als das Gefühl, wenn seine Klinge ins Fleisch seiner Feinde schnitt. Xenothan hörte das Wolfsgeheul und den Lärm, als die Männer der Bruderschaft den Feind angriffen. Das ist er, dachte er, der Aufschub, auf den er gehofft hatte. Er bog um die Ecke und sah den Nahkampf in den Gängen toben. Krieg herrschte zwischen Wandbehängen und Statuen, da die Wache der Celestarchin sich des Sturms der Fanatiker erwehren musste. Vom Balkon, den er zu seinem Aussichtspunkt auserkoren hatte, sah er zu, wie der Wolfskrieger nach den Fanatikern hieb, die in seine Reichweite kamen. Xenothan gestattete sich einen Moment der Anerkennung des Profis für die Tödlichkeit des Mannes und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf die Zielperson. Die Celestarchin wurde von einer Mauer ihrer Elite-Leibgarde geschützt. Diese Män-
ner gaben auch im Angesicht des heftigsten Angriffs keinen Zentimeter Boden preis. Die Anwesenheit ihrer Herrscherin und der Wolfsklinge schien ihnen beachtliches Rückgrat zu verleihen. Die Ereignisse an sich würden keinen guten Verlauf für die Bruderschaft nehmen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Verstärkungen der Belisarier eintrafen, und die Fanatiker würden dem Sturm der Klingen zum Opfer fallen. Zum Glück ging Xenothan das nichts an. Sein Auftrag war so gut wie erledigt. Er genoss noch einen Moment den Augenblick, dann hob er seine ganz spezielle Boltpistole und gab einen einzelnen Schuss ab, fast ohne zu zielen. Die Patrone traf den Kopf der Celestarchin und ließ ihn explodieren. Nur Xenothan und ein Beobachter ganz in ihrer Nähe würden bemerkt haben können, dass er ihr die Kugel direkt durch das dritte Auge verpasst hatte. Die Wolfsklinge heulte vor Wut, und ihre Reaktion überrumpelte Xenothan. Der Wolfskrieger hob seine Pistole und gab einen Schuss aufs Geratewohl ab. Es war reiner Zufall, dass die Patrone Xenothans Waffe traf, die ihm aus der Hand gerissen wurde und über das Geländer flog. Xenothan ging kein Risiko ein und sprang zurück, von einem wachsenden Triumphgefühl erfüllt, welches nur unter dem Eindruck litt, dass irgendetwas nicht stimmte. Er hatte die Treppe hinter sich gelassen und war bereits auf dem Rückzug, als ihm aufging, was es war. Das Bild der fallenden Celestarchin hatte sich in sein Hirn gebrannt und nahm seinen Platz in der Galerie seiner stolzen Triumphe ein. Es gehörte zu den Dingen, die er genießen würde, solange er lebte. Er konnte die Szene im Geiste einfrieren. Als er sie jetzt noch einmal ablaufen ließ, wurde ihm klar, dass er einen Fehler gemacht hatte. Die Frau war eine Navigatorin, aber zu klein und zu breit für die Celestarchin. Auf die Entfernung hatte sie große Ähnlichkeit mit ihr, und wenigen Leuten wäre der Unterschied aufgefallen, aber Xenothan war einer dieser wenigen. Man hatte ihn zum Narren gehalten. Die Wolfsklingen hatten einen Lockvogel be-
nutzt, um die Eindringlinge abzulenken, während sie die echte Celestarchin in Sicherheit brachten. Es war ein einfacher Plan, aber in der Verwirrung des Angriffs hatte er sich als wirkungsvoll erwiesen. Was nun?, fragte sich Xenothan. Die Zeit wurde knapp. Ragnar sah Haegr kommen. In seiner Begleitung war eine Frau in der Gala-Uniform einer gewöhnlichen Navigatorin. Ragnar erkannte in ihr augenblicklich die Celestarchin. Valkoth war ein kühnes Wagnis eingegangen, und es hatte sich bezahlt gemacht. Haegr war es gelungen, sie unversehrt in die Gewölbe zu bringen. Irgendwie hatte er es geschafft, sich unterwegs etwas zu essen zu besorgen. Lippen und Bart waren fettig, und Ragnar roch Geräuchertes in seinem Atem. »Kaum ein richtiger Kampf auf dem Weg hierher, nur ein paar Männer in Schwarz, die meinen Hammerkopf mit ihrem Hirn verziert haben.« »Wofür ich außerordentlich dankbar bin«, sagte die Celestarchin. »In der Tat, Mylady«, sagte Ragnar, als er sie in das Sicherheitsgemach führte. Es gab nur einen Weg hinein und heraus, aber etwas Besseres hatte er so kurzfristig nicht finden können. Der Raum mochte sich in eine Todesfalle verwandeln, wenn sie in überwältigender Zahl angegriffen wurden, aber er war sicher, dass es keinen anderen Zugangsweg gab. Jeder, der den Tod der Celestarchin herbeiführen wollte, würde über die Leichen von Haegr, ihm selbst und einer Kompanie belisarischer Gardisten gehen müssen, um zu ihr zu gelangen. Außerdem würden weitere Truppen eintreffen, sobald sie die Gewölbe von Eindringlingen gesäubert hatten. Es sah so aus, als sei die Lage für den Augenblick stabil. Der Tonfall der Stimme aus dem Kommnetz in seinem Ohr vermittelte Ragnar plötzlich eine böse Vorahnung. »Ragnar. Es gibt ein Problem«, sagte Torin. Seine Stimme klang eindringlich. »Ein Problem?« »Der Lockvogel ist tot. Sie haben sie tatsächlich erwischt. Ist die
Celestarchin in Sicherheit?« »Haegr ist hier, ich bin auch hier, und wir verfügen über einige Dutzend Gardisten. Wir haben die Celestarchin hier bei uns in den Gewölben. Ich sehe nicht, wie sie an uns vorbei kommen könnten.« Das Signal brach abrupt ab, als in der Ferne Schüsse ertönten. Einen Moment später sagte eine Stimme über Kommnetz: »Ragnar, hier spricht Torin. Wir wurden gerade angegriffen, und der Lockvogel ist tot.« »Ich weiß, du hast es mir gerade gesagt.« »Was? Ich war bis jetzt damit beschäftigt, unsere neuen Gäste zu töten.« »Du hast mich nicht vor dreißig Sekunden angefunkt?« »Vor dreißig Sekunden habe ich mein Kettenschwert aus den Gedärmen von irgendjemandem gezogen.« »Wer hat dann mit mir gesprochen?« »Das weiß ich nicht. Ich war es nicht. Aber ich muss dich warnen. Im Palast läuft ein Attentäter frei herum.« »Hier laufen eine ganze Menge davon herum, aber wir scheinen die Oberhand zu gewinnen.« »Nein, ich meine einen richtigen imperialen Attentäter. Er hat den Lockvogel getötet, dem Valkoth die Leibgarde mitgegeben hat. Als ich auf ihn schoss, hat er sich so schnell abgesetzt, dass ich ihn kaum noch sehen konnte. Ich bin ihm jetzt auf den Fersen, und ich nehme an, das er zu euch unterwegs ist.« »Ein imperialer Attentäter? Das will mir unmöglich scheinen. Hat sich das Administratum gegen uns gewendet?« »Das weiß ich nicht, Ragnar, aber ich bin sicher, dass so ein Wesen jetzt hier ist. Sei sehr vorsichtig. Sie sind trickreich und praktisch nicht aufzuhalten, wenn sie es einmal auf jemanden abgesehen haben. Er wird versuchen, einen Weg zu finden. Sei auf der Hut, während ich ihn jage. Gelobt sei Russ!« Ragnars Gedanken überschlugen sich. Anscheinend hatte der Feind Zugang zu den sicheren Codes des belisarischen Kommnetzes. Nicht
nur das, er konnte auch Torins Stimme imitieren. Wie war das möglich? Ragnar dachte an ihren Besuch im FeracciPalast und an all die Maschinen und Bediensteten, die zugegen gewesen waren. Dort konnten sie gewiss belauscht worden sein. Er wappnete sich. Es sah so aus, als sei der Kampf noch nicht vorbei. Eine der tödlichsten Kreaturen der Galaxis war unterwegs zu ihnen.
25. Kapitel
Xenothan gab den letzten noch lebenden Kriegern der Bruderschaft rasch Anweisungen. Er hoffte, sie würden lange genug aus ihrem Blutrausch aufwachen, um gemeinschaftlich auf ihren größten Feind loszugehen, die Celestarchin. Mittlerweile musste ihnen klar sein, dass ihr Schicksal besiegelt war, und sie waren hoffentlich bereit, ihr Leben so zu opfern, dass es die verhassten Mutanten so teuer wie möglich zu stehen kam. Das würden sie mit dem Tod der Celestarchin erreichen. Er beendete seine Funksprüche. Er musste annehmen, dass seine Täuschung mittlerweile aufgeflogen war, und er wollte es nicht darauf ankommen lassen, vor Ende seiner Mission ausfindig gemacht zu werden. Die Wolfsklingen hatten bereits bewiesen, dass sie keine Dummköpfe waren. Sie würden ihr Möglichstes tun, ihn aufzuspüren. Bleib in Bewegung, sagte er sich. Während er durch die Gänge und Flure eilte, überprüfte er noch einmal seine Auswahl besonderer Waffen. Er hatte ein paar Überraschungen im Ärmel. Er hatte immer noch seine vergifteten Klingen, die Pfeilwerfer und die mit Giftgas gefüllten Granaten. Er hatte sein Aussehen noch einmal verändert und trug jetzt die gestohlene Uniform eines Hausgardisten. Sein Gesicht war vollständig anders − breit und flach. Subdermale Pigmentsäcke hatten seine Hautfarbe von navigatorbleich zu dunkelbraun geändert. Seine Witterung bedeutete, dass er einen Wolfskrieger damit nicht täuschen konnte, aber jede normale Person, die jemanden mit seinem vorherigen Aussehen suchte. Er war nicht sicher, ob der Wolfskrieger genug von ihm mitbekommen hatte, um ihn aufspüren zu können, aber auch in diesem Fall zahlte es sich niemals aus, es darauf ankommen zu lassen.
Ein Wachmann forderte ihn auf, stehen zu bleiben. Xenothan hatte jetzt keine Zeit mehr zu verschwenden. Schnelligkeit war gefordert, nicht Heimlichkeit. Er konzentrierte sich, und sein veränderter Körper reagierte. Der Zeitablauf verlangsamte sich, als seine verbesserten Reflexe einsetzten. Der Mann schien kaum seine Waffe zu heben, bevor Xenothan bei ihm war. Er rammte dem Mann die Finger in die Augen und bohrte sie tief in die Höhlen. Sie barsten unter dem Druck seiner rasiermesserscharfen Fingernägel. Als der Wachmann zu Boden ging, streichelte Xenothan die Kehle des Mannes mit seiner Handkante und zerquetschte ihm die Luftröhre. Einen Moment später war er nicht mehr da und eilte weiter den Korridor entlang und seiner Beute entgegen. Er war entschlossen, sie in dieser Nacht nicht noch einmal entwischen zu lassen. »Das war schon besser«, sagte Haegr, indem er zufrieden mit der Zunge schnalzte, während er die verstümmelten Leiber betrachtete, die überall auf dem Schlachtfeld lagen. Ragnar erhob sich aus der hastig improvisierten Deckung und begutachtete das Gelände vor ihnen. Leichen lagen überall vor dem Eingang zum Gewölbe. Der Geruch nach brennendem, exotischem Holz drang ihm in die Nase. Die Toten lagen überall. »Ich bin sicher, dass du in den nächsten Minuten noch viel mehr Unterhaltung bekommst«, sagte Ragnar. »Ich glaube, ich kann noch mehr von diesen Wahnsinnigen kommen hören.« »Das kannst du, jung Ragnar. Und ich muss zugeben, für schwache Menschen wissen sie ziemlich gut zu sterben. Sie kämpfen wie Besessene.« »Zweifellos werden sie das als großes Kompliment betrachten.« »Das sollten sie auch, wenn es aus dem Munde des gewaltigen Haegr stammt.« In den letzten Minuten hatte sich die Lage stetig verschlechtert. Die Fanatiker hatten sich gesammelt und ihre Stellung immer wieder
massiert angegriffen. Die meisten Wachen waren verwundet. Die versprochene Verstärkung war noch nicht eingetroffen. Sie waren festgenagelt. Der einzige Trost bestand darin, dass noch kein Feind in die Kammer eingedrungen war, wo die Celestarchin und Gabriella warteten. Bis jetzt hatten sie alle diesbezüglichen Versuche vereitelt. Haegr hatte Recht. Der Feind kämpfte gut. Ragnar war erstaunt, wie koordiniert die Fanatiker vorgingen. Er bezweifelte, dass es Zufall war, dass sie plötzlich begonnen hatten, diese Stellung in großer Zahl anzugreifen. Eine behände, böse Intelligenz lenkte sie. Wie hoch hinauf reichte der Verrat innerhalb des Hauses? Auch andere würden das denken. Solche Gedanken würden ihre Seite lähmen und demoralisieren, während der Feind sich auf sie stürzte. »Ich hätte nie gedacht, dass ich ausgerechnet hier so einen guten Kampf bekommen würde«, sagte Haegr. »Anscheinend haben diese Gewölbe doch noch eine nützliche Funktion.« Wusste er von den Mutanten?, fragte sich Ragnar. Interessierte es ihn überhaupt? »Jemand hat in diese Sache eine Menge Arbeit und Mühe investiert«, sagte Haegr mit uncharakteristischem Scharfsinn. Wiederum richtig, dachte Ragnar. Es hatte der heutige Abend sein müssen, wegen der morgigen Tagung des Navigatorenrats. Wenn die Celestarchin starb, würde Haus Belisarius führungslos und die Schar seiner Verbündeten in Unordnung sein. Angesichts des Aufruhrs im Haus und der Vielzahl der toten Ältesten würde es Wochen, wenn nicht Monate dauern, einen neuen Celestarchen zu wählen. Wenn Cezare hinter alldem stand, konnte er die Gunst der Stunde nutzen, den Navigatoren im Angesicht dieser neuen und ominösen Gefahr eine starke Führung versprechen und seinen Sohn zu einem der Hohen Lords von Terra machen. Er würde einen Sieg erringen wie kein Navigatorenhaus in den letzten zwei Millennien vor ihm, und seine Macht würde unüberwindlich werden. Ragnar war klar, dass seine Phantasie mit ihm durchging und er absolut nichts davon beweisen konnte, aber es passte gut zu den Fakten. Das
einzige Problem bei seinen Überlegungen war die Tatsache, dass die Macht hinter dem Angriff nicht Haus Feracci sein musste. Es konnte auch ein anderes der großen, ehrgeizigen Navigatorenhäuser sein. Es gab keine Möglichkeit, die Theorie vor der Thronwahl morgen zu bestätigen oder zu verwerfen. »Wir müssen einfach dafür sorgen, dass sie keinen Erfolg haben.« »Gut gesprochen, jung Ragnar. Wirklich gut gesprochen.« Haegr grinste, wobei er seine gewaltigen Reißzähne bleckte, und Ragnar ging plötzlich auf, warum Torin ihn respektierte. Haegr mochte primitiv, brutal und undiplomatisch sein, aber wenn es eng wurde, war der Riese genau der Mann, den man an seiner Seite haben wollte. Er ließ weder Zweifel noch Furcht erkennen, und man musste ihn nicht beruhigen. Er war genau, was er zu sein schien − furchtlos. Sehr wahrscheinlich war er verrückt, aber er war auch ein wahrhaft hervorragender Krieger. »Der Weg zur Celestarchin führt nur über meine Leiche«, sagte Ragnar. »Und der Weg zu dir führt nur über meine«, sagte Haegr. »Ich kann doch nicht zulassen, dass irgendwelche Welpen den Ruhm stehlen, der rechtmäßig mir gehört.« Ragnar lachte, dann betrachtete er das Gemetzel, die toten, stinkenden Leichen, die gliedlosen Kadaver und die Schusslöcher in den Wänden. Er atmete den unangenehmen Geruch des Nahkampfs ein, der in den Gängen und Fluren des Palasts waberte. Den Gestank offener Leiber und von Laserstrahlen verbranntem Fleisch, von vergossenem Blut und von Exkrementen. Er sah hier nicht viel Ruhmvolles. Seine Theorien waren alle gut und schön, aber sie mussten zunächst einmal bis morgen überleben. Es war von entscheidender Bedeutung, dass sie die Celestarchin am Leben erhielten, denn wenn ihnen das gelang, würde der Plan scheitern, und dann konnten die Belisarier weiterkämpfen. Vielleicht konnten sie sogar Nachforschungen anstellen und sich an den Hintermännern dieses Angriffs rächen. Er war überrascht über seine Verzweiflung. Er hätte nie gedacht,
dass die Dinge so schnell eine derart üble Wendung nehmen würden. Bis zu diesem Abend hatte er die Macht von Haus Belisarius für unanfechtbar gehalten. Die Navigatoren waren ihm so reich und mächtig vorgekommen, aber nicht einmal ihr Bündnis mit den Wölfen hatte verhindert, dass sie kurz vor der Auslöschung standen. Ihm ging auf, dass dieses Haus in der gigantischen Maschinerie der imperialen Macht nur ein winziges Rädchen war, und dasselbe galt für seinen Orden. Es war kein angenehmer Gedanke. »Sieht so aus, als bekämen wir noch mehr Besuch«, grollte Haegr. »Ich schätze, wir machen uns besser bereit, ihn gebührend in Empfang zu nehmen.« Xenothan eilte die Rampe hinunter und hörte den Kampflärm voraus. Es war eine lange Nacht gewesen, aber sie war fast vorbei. Noch eine letzte Anstrengung, dann war die Sache erledigt. Er überprüfte seine Waffen noch ein letztes Mal und rannte dann geradewegs auf sein Ziel zu. Vor sich hörte er das Geheul von Wolfskriegern. Ragnar begegnete dem ersten Fanatiker Brust an Brust und beförderte ihn mit einem Schlag mit dem Schwertknauf zu Boden. Unglaublicherweise waren ihm die Boltpatronen für seine Pistole ausgegangen, und der Feind war jetzt so nahe, dass es ihm sinnlos vorkam, irgendeine Schusswaffe aufzuheben. Stattdessen nahm er sich ein Schwert von einem gefallenen Gardeoffizier und führte es mit der linken Hand, während die rechte sein Kettenschwert schwang. Sie waren gezwungen gewesen, hinter ihrer Deckung hervorzukommen und in den Kampf im Vorraum einzugreifen. Jetzt befand er sich im Handgemenge und schlachtete Feinde ab, während Haegr sich durch die feindlichen Krieger metzelte wie ein Bulle im Blutrausch, den man auf einen überfüllten Basar losgelassen hatte. Überall ringsumher fielen Feinde, aber jetzt waren es nur noch die beiden Marines, die sie in Schach hielten. Die meisten Wachen waren gefallen, und die Zeloten griffen immer noch an, verwegen und fanatisch.
Vielleicht lag es an den verabreichten Gefechtsdrogen, aber Ragnar hatte den Verdacht, dass die Zeloten ohne sie ebenso kühn gewesen wären. Nur wären sie nicht so unermüdlich, grimmig und stark gewesen. Haegr machte das nichts aus. Er lachte im Kampf. Sein Hammer schlug Schädel ein wie Eierschalen und brach Rippen wie dürre Zweige. Sein Bart war ebenso blutverklebt wie sein Brustharnisch. Blut tropfte überall von seinem Gesicht, was ihm ein dämonisches Aussehen verlieh. Trotz seiner Körpermasse bewegte er sich so schnell, dass kein Feind ihn richtig ins Visier bekam und nur wenige einen Schlag landen konnten. Plötzlich kam ein Pfeil aus dem Nichts geflogen. Er traf die Stirn des Riesen und blieb dort stecken. Einen Moment schien gar nichts zu passieren, dann trat ein Ausdruck des Entsetzens in Haegrs Augen, und er wurde steif und fiel vornüber wie eine gefällte Eiche. Hätte Ragnar nicht gewusst, dass es unmöglich war, hätte er vermutet, sein Kamerad sei einem tödlichen Gift zum Opfer gefallen. Etwas blitzte im Augenwinkel, und Ragnar warf sich vorwärts und auf die feindlichen Krieger vor sich. Ein Pfeil zischte an seinem Ohr vorbei und verfehlte ihn ganz knapp. Ein Kreischen vor ihm verriet ihm, dass jemand anders nicht so glücklich gewesen war. Ein Blick nach links zeigte ihm einen Mann, der sich in schrecklicher Qual am Boden wand, während sein Gesicht blau anlief und die Muskeln unter seiner Haut zuckten wie gefolterte Schlangen. Ragnar blieb in Bewegung, und mehr Pfeile prallten von seiner Rüstung ab. Er witterte einen Geruch, den Hauch der Andeutung einer unglaublich widerwärtigen Giftmischung. Er sah sich hektisch um. Noch hatte er den Mann nicht erblickt, der auf ihn schoss. Kein menschliches Wesen hätte in der Lage sein dürfen, seiner Wahrnehmung zu entgehen. Er vermutete, dass der Attentäter eingetroffen war. Xenothan fluchte. Er hatte nicht mit einer derart schnellen Reaktion
des jungen Wolfskriegers gerechnet. Bei dessen Ausweichmanöver hatte er viel zu viele seiner kostbaren Giftpfeile verbraucht und ihn dennoch nicht getroffen. Es war ihm lediglich gelungen, ein halbes Dutzend seiner Verbündeten zu töten. Was nun? Er durfte keine Zeit mehr verschwenden. Wenn er die Celestarchin töten wollte, musste er jetzt die Barrikade überwinden und ins Gewölbe eindringen. Er eilte zur Tür. Im Augenwinkel erspähte Ragnar einen hochgewachsenen, schlanken, schwarz gekleideten Mann, dessen Bewegungen verschwammen, so schnell waren sie. Er übersprang die Barrikade und strebte dem Eingang zum Gewölbe entgegen. Für einen normalen Menschen bewegte sich der Fremde viel zu schnell. Seiner huschenden Behändigkeit haftete geradezu etwas Insektenhaftes an. Das war der Attentäter, nahm Ragnar an, und wenn er nicht aufgehalten wurde, würde er in wenigen Augenblicken in die Gemächer der Celestarchin eindringen. Ragnar stufte die Aussichten der Wache, ihn von seiner Beute abzuhalten, als äußerst gering ein. Es war an der Zeit, dass er seine Pflicht tat. Ragnar sprang ebenfalls über die Barrikade und zielte auf den Rücken seines Gegners, wobei er alle Hiebe der Fanatiker ignorierte und darauf vertraute, dass seine Rüstung ihn vor größerem Schaden bewahren würde. Er schlug mit dem Kettenschwert zu in der Hoffnung, den Attentäter oben am Rückgrat zu erwischen. Fast wäre es ihm gelungen, aber im letzten Augenblick warf der Attentäter sich nach vorn und streckte sich dabei so gewaltig, als habe er keine Knochen im Leib. Mehr als das, irgendwie wand er sich auch noch aus dem Weg, rollte vorwärts ab und traf Ragnar dabei mit dem Fuß, sodass der Schwung des Wolfskriegers verstärkt wurde und er kopfüber in die Kammer flog. Ragnar musste sein Kettenschwert loslassen für den Fall, dass er auf seine eigene Klinge fiel. Er versuchte den Fall abzurollen und auf die Beine zu kommen. Das Kettenschwert rutschte über die glatten
Marmorfliesen und blieb an der nächsten Wand liegen. Ragnar sprang auf, doch der Mörder war bereit. Sein Stiefel traf Ragnars Kinn mit einer Kraft, die jedem anderen außer einem Space Marine das Genick gebrochen hätte. Wieder verlor Ragnar das Gleichgewicht, während der Attentäter über ihn hinwegsprang. Die Geschwindigkeit seines Feindes versetzte ihn in Erstaunen. Nie zuvor war er jemandem begegnet, der so viel schneller und anscheinend auch stärker war als er. Stärker waren viele, aber niemand war so schnell. Dieser Fremde war eine tödliche Kombination aus beidem. Der Attentäter ignorierte Ragnar und strebte seinem Ziel entgegen. Die Wachen waren verwirrt angesichts der sich überstürzenden Ereignisse und schossen nicht wegen Ragnars Anwesenheit. »Schießt«, rief er, indem er die Hand nach dem Knöchel des Mannes ausstreckte. Er bekam ihn zu fassen, und wieder wand sich der Fremde in dem Versuch, sich zu befreien. Die ersten Kugeln flogen durch die Luft. Mehrere trafen Ragnars Rüstung, doch er hielt eisern fest. Xenothan fluchte. Was war nötig, um diesen jungen Mann zur Strecke zu bringen? Bisher hatte er genug eingesteckt, um ein Dutzend normale Menschen umzubringen, und er griff ihn immer noch an. Schlimmer, es gelang ihm, Xenothans Bemühungen zu vereiteln, zur Celestarchin vorzudringen. Dem Attentäter ging auf, dass es ein Fehler gewesen war, zuerst Haegr zu töten. Die Wildheit des Riesen war legendär, und Xenothan hatte angenommen, er sei die größere Bedrohung. Aber jetzt war er nicht mehr so sicher. Noch ein Fehler, dachte er, den zu korrigieren ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Mit überlegener Schnelligkeit vermied es der Attentäter, getroffen zu werden, und erwiderte das Feuer mit der Waffe, die er in der linken Hand hielt. Mehr Pfeile flogen durch die Luft, und Ragnar fürchtete um das Leben der Celestarchin. Sie wäre in diesem Augenblick gestorben, hätten nicht mehrere ihrer Leibwächter eingegriffen und
sich zwischen sie und den Attentäter geworfen. Sie waren zu einem menschlichen Schild geworden. Ragnar hörte den Attentäter in einer sonderbaren Sprache fluchen, dann bückte er sich aus der Hüfte und schlug Ragnar mit der Hand. Der Hieb war auf Ragnars Augen gezielt. Der junge Wolfskrieger konnte gerade noch den Kopf drehen, bevor ihm Fingernägel wie Krallen die Haut auf seiner Stirn aufschlitzten. Er schlug mit dem Schwert zu, das er behalten hatte, aber der Mann wehrte den Hieb mit dem Unterarm ab. Ragnar rechnete damit, den Arm aufzuschneiden, doch stattdessen prallte die Klinge ab, als habe sie solides Metall getroffen. Die aufgeschlitzte Tunika des Fremden bestand aus normalem Stoff. Ragnar begriff sofort, dass er über irgendeine Form subdermaler Panzerung verfügte. Der Attentäter stampfte mit dem freien Fuß auf die Hand Ragnars, die ihn festhielt. Die Kraft war unwiderstehlich, und der Fremde war frei. Einen Moment später war der Mann in der Luft, als habe die Schwerkraft keine Gewalt über ihn. Er vollführte einen hohen Rückwärtssalto und feuerte dabei weiter tödliche Pfeile in die Leiber der Männer, welche die Herrscherin der Belisarius schützten. Ragnar hoffte um ihretwillen, dass sie keine Lücke in der Mauer aus Leibern finden würden. Er nahm an, dass das Gift in ihren Adern die Männer bereits getötet hatte. Er warf sein Schwert mit aller Kraft direkt auf den Bauch des Fremden in der Hoffnung, dass dieser nicht so gut geschützt war wie seine Arme. Der Mann drehte sich in der Luft, wedelte mit den Armen und schlug die Klinge beiseite. Sie flog weiter zu den Leibwächtern und durchbohrte einem die Kehle. Falls dies kein Zufall war − und davon musste Ragnar ausgehen −, handelte es sich um eine erstaunliche Koordinationsleistung. Ragnar wälzte sich herum und riss einem Wachmann ein Lasergewehr aus der Hand. Er richtete es auf den Fremden und drückte ab. Da er nichts hatte, woran er sich festhalten konnte, und gezwungen war, der durch die Schwerkraft vorgeschriebenen Flugbahn zu fol-
gen, war der Attentäter zur Abwechslung ein leichtes Ziel. Nicht einmal seine Reflexe waren schnell genug, um den Strahlen aus kohärentem Licht auszuweichen, und Ragnar traf ihn. Der Strahl verbrannte Stoff, versengte Haut und Fleisch und verkohlte und schwärzte die getroffene Stelle. Irgendwie gelang es dem Attentäter, seine Waffe festzuhalten, und kaum war er gelandet, als er trotz des Knisterns von Haut und Muskeln auf Ragnar losging. Zu spät bemerkte Ragnar das Messer in der unverletzten Hand. Er roch ganz schwach ein tödliches Gift wie das, welches Haegr zur Strecke gebracht hatte. Verzweifelt riss er den Arm hoch in dem Versuch, es abzulenken, doch der Fremde wich ihm mit seiner Klinge aus und stach nach Ragnars Auge. Ragnar drehte den Kopf, und die Klinge traf ihn in die Wange. Sofort durchzuckten Ragnar brennende Schmerzen. Alle seine Sinne ordneten sich neu. Aus Geräuschen wurden Farben, Licht wurde Geräusch, Tastsinn zu Geschmack, alles auf eine Weise, die er niemals würde beschreiben können. Für jemanden, der sich so stark auf seine sinnliche Wahrnehmung verließ, war dies eine Erfahrung am Rande des Wahnsinns. Die Schmerzen durchzuckten ihn in flammend roten und gelben Wellen. Sein Keuchen äußerte sich als graue und grüne Wolken. Er schmeckte das ätzende Gift in seinen Adern. Für seine gequälten, überlasteten Sinne verschmolz alles zu einem tosenden Irrsinn. Während er sich verzweifelt fragte, ob er tatsächlich tat, was er zu tun glaubte, warf er sich vorwärts, biss und krallte, spürte, wie sich seine Kiefer um etwas schlossen, und glaubte, mit seinen Armen den Feind zu umschlingen. Er versuchte immer noch, ihn zu zerquetschen und zu beißen, lange nachdem ihn die Wellen roten Wahnsinns überwältigt hatten.
26. Kapitel
Er erwachte plötzlich und schaute in Gabriellas Gesicht. Über sich sah er die Decke seines Quartiers. Er atmete tief ein, aber mit seinem Geruchssinn schien etwas nicht zu stimmen. In seiner Zeit als Wolfskrieger war er ihm noch nie so stumpf vorgekommen. »Dann muss ich am Leben sein«, sagte er. »Oder Sie haben irgendwie zufällig einen Weg in die Hallen der Hölle gefunden.« »Ja«, sagte sie. »Sie sind am Leben.« »Die Celestarchin?« »Sie ist wohlauf, alles in allem, und sie bereitet sich auf die große Versammlung vor. Es sieht so aus, als gäbe es außer der Wahl des neuen Vertreters der Navigatoren noch viele andere Dinge zu besprechen.« »Was ist passiert?« »Ich glaube, das kann ich beantworten«, sagte eine vertraute Stimme in der Nähe. Ragnar witterte ihren Besitzer jetzt auch. »Torin?« »Ja, alter Junge, ich bin hier. Ich bin in dem Moment gekommen, als du den Attentäter mit den Zähnen geschnappt hattest.« »Haegr?« »Ist zu dumm zum Sterben. Im Moment ringt er mit den Pasteten in der Küche.« »Das ist genau die Art Angriff auf die Ehre des gewaltigen Haegr, wie ich sie von einer neidischen Kröte wie dir erwarte, Torin«, sagte Haegr. Er und seine Sammlung von Fleischpasteten schoben sich nun ebenfalls in Ragnars Gesichtsfeld. »Und einer, der später seinen gerechten Lohn in einer anständigen Tracht Prügel finden wird.« »Das Gift hat dich nicht umgebracht?« »Es gibt kein Gift, das stark genug wäre, mich umzubringen«, sagte Haegr. »Obwohl ich zugeben muss, dass es mich etwas verlangsamt
hat. Außerdem scheint es vorübergehend meine Nase blockiert zu haben.« »Er ist vor dir wieder zu sich gekommen, weil er nicht ganz so viel abbekommen hatte wie du.« »Ich war vor dir in der Kammer«, sagte Haegr empört. »Einen Schritt.« »Wir beide waren dem Mörder trotz seiner giftigen Tricks mehr als gewachsen.« »Beachte diesen großen fetten Lügner gar nicht, Ragnar, alter Junge. Der Attentäter war so gut wie tot, so hattest du ihn zugerichtet.« »Nach den Boltpatronen, die der mächtige Haegr ihm verpasst hat, war er dann sehr tot.« »Ich habe noch nie gegen jemanden gekämpft, der so stark war«, sagte Ragnar. »Er war schneller als ich und stärker. Das hätte ich niemals von jemandem erwartet, außer vielleicht von einem Sklaven der Finsternis.« »Zweifellos hätte er dasselbe über dich gesagt.« »Was ist geschehen?« »Als ich ankam, hast du ihn so festgehalten, dass er sich nicht mehr rühren konnte, und warst dabei, ihn mit den Zähnen zu zerreißen. Wir haben ihn für dich erledigt und dann die Celestarchin in Sicherheit gebracht.« »Der Verräter?« »Es war Skorpeus. Oder jedenfalls nehmen wir das an. Seine Leiche wurde in der Nähe des Sicherheitstors gefunden, durch das die Angreifer eingedrungen sind.« »Warum hat er seinen eigenen Klan verraten?« »Warum tut jemand so etwas? Weil er Macht und Prestige wollte und das Gefühl hatte, übergangen worden zu sein. Zweifellos hat Feracci ihm versprochen, ihn als neuen Celestarchen einzusetzen. Er wäre der richtige Mann gewesen. Skorpeus hat sich wahrscheinlich gedacht, dass es besser ist, eine Marionette zu sein als ein Diener.« Etwas in Torins Erklärung hörte sich nicht richtig an, aber Ragnar
konnte den Finger nicht darauf legen. Noch nicht. »Können wir beweisen, dass Feracci dahinter steckt?«, fragte Ragnar. »Wir wissen nicht, dass es so ist. Unser Wort würde gegen seines stehen. Cezare würde einfach sagen, alles sei eine Verschwörung, um ihn in Misskredit zu bringen. Selbst jene, die ihm nicht glaubten, würden ihn bewundern und fürchten, weil es ihm gelungen ist, einen Belisarier zu korrumpieren. Das würde nur sein Prestige erhöhen.« »Dann kommt er also ungeschoren davon? Dann sind alle diese Leute umsonst gestorben.« »Das würde ich nicht sagen, Ragnar«, warf Torin ein. »Er wird keinen Hohen Lord kontrollieren, denn Lady Juliana wird die Ernennung seines Sohns verhindern, und das war sein Traum. Auf diesen Tag hat er jahrzehntelang hingearbeitet, so viel ist offensichtlich. Und er ist deinetwegen gescheitert. Dafür wird er Rache suchen.« »Soll er«, sagte Ragnar. »Gesprochen wie ein wahrer Sohn von Fenris«, brummte Haegr mit beinahe väterlicher Zuneigung. »Ragnar, du wirst entweder eine kurze oder eine ruhmvolle Karriere haben, wahrscheinlich beides«, sagte Torin. »Im Rahmen deines bisher noch sehr kurzen Aufenthalts auf Terra ist es dir gelungen, dir einen der mächtigsten Männer des Imperiums zum Feind zu machen. Es überläuft mich kalt, wenn ich mir vorstelle, wie deine Zugabe aussehen könnte.« »Was ist mit dem imperialen Attentäter? Wie wird in diesem Fall verfahren?« »Welcher imperiale Attentäter?«, sagte Torin. »Wenn du einige Erkundigungen einziehen würdest, dann würdest du ganz sicher herausfinden, dass er irgendein Abtrünniger war.« »Vor ein paar Stunden hast du noch ganz anders geredet …« »Ja, aber das würde das Administratum sagen, wenn wir so dumm wären, ihm die Angelegenheit vorzulegen.« »Das ist nicht gerecht.«
»Das Leben ist nicht gerecht, Ragnar, gewöhne dich daran. Aber falls dir das ein Trost ist, gilt auch in diesem Fall, dass wir heute Nacht auch jemanden ruiniert haben, der eine viel höhere Position hat als Cezare. Auch dort wird die heutige Nacht Auswirkungen haben.« »Ich würde mir etwas mehr als das wünschen.« »Keine Sorge, Ragnar«, sagte Haegr. »Ich bin sicher, es wird sich etwas anderes ergeben, worin du dich verbeißen kannst.« »Wenn das ein Witz sein sollte«, sagte Torin, »war er nicht sehr lustig.« Haegr brüllte vor Vergnügen, und Ragnar fiel unwillkürlich ein. Valkoth erschien in der Tür. »Immer noch am Faulenzen, was?«, sagte er schroff. »Es wird Zeit, dass du aufstehst und zum Dienst antrittst. Du wirst im Audienzsaal gebraucht.« Ragnar marschierte in den Audienzsaal. Er hatte sich jetzt wieder beinahe vollständig erholt. Seine Wahrnehmung kehrte langsam zurück. Der Raum war so, wie er ihn in Erinnerung hatte. Die anderen Wolfsklingen flankierten ihn. Alle sahen sehr selbstzufrieden aus, als wüssten sie etwas, das er nicht wusste. Die Celestarchin schaute ernst von ihrem Thron herab. Sie sah irgendwie älter aus, und in ihren Augen lag ein Kummer und eine Wut, die es dort bei ihrer ersten Begegnung noch nicht gegeben hatte. Sie breitete auf königliche Art die Arme aus. »Wir sind nur Ihretwegen noch da, Ragnar, und unser Haus wäre jetzt ohne Ihre Tapferkeit am Ende.« »Ich habe nur meine beeidete Pflicht getan«, erwiderte Ragnar. »Nichtsdestoweniger ist Ihnen Belisarius zu Dank verpflichtet, und ich möchte mich erkenntlich zeigen.« Ragnar sagte nichts. Alles andere wäre anmaßend gewesen. »Sie haben in Ihrem Kampf zu unserer Verteidigung Ihre Klinge verloren. Es ist an uns, sie zu ersetzen.« Sie gestikulierte, und zwei Wachen brachten eine mächtige, mit Runen übersäte Waffe. Sie war alt und sehr schön, und ihresgleichen hätte in diesem Zeitalter nicht
mehr geschmiedet werden können. »Nehmen Sie sie«, sagte sie. Ragnar streckte die Hand nach der Waffe aus. Sie passte in seine Hand, als sei sie dafür gemacht, und ihre Balance war perfekt. Die Runen strahlten eine sonderbare Kälte aus. »Ich danke Euch«, sagte Ragnar. Mehr brachte er nicht heraus. »Diese Klinge wurde zu Zeiten des Imperators von einer der ersten Wolfsklingen getragen. Sie hat Skander gehört, und jetzt gehört sie Ihnen. Erweisen Sie sich ihrer als würdig.« »Ich werde mein Bestes tun.« »Und nun«, sagte sie, »gibt es Arbeit. Wir müssen in den Rat und dafür sorgen, dass ein neuer Vertreter der Navigatoren auf korrekte Art gewählt wird. Meine Herren, wenn Sie so nett wären, uns zu begleiten, begeben wir uns sofort dorthin.« Die Herrscherin des Hauses Belisarius flankierend, marschierten sie zu einer Versammlung, die das Schicksal der Navigatoren für die nächsten Generationen entscheiden würde.
Epilog
Die seltsame Witterung riss Ragnar aus seinen Grübeleien. Er schaute auf. Es war wieder Nacht, und die Dunkelheit war vom Lärm entfernter Gemetzel erfüllt. Ragnar hatte den Eindruck, dass er näher kam. Überall waren Krieger in Bewegung und bereiteten sich auf den Kampf vor. Jemand eilte zu den Frontstellungen. Ganz in der Nähe überprüften Urlec und der Rest der Wölfe ihre Waffen. Sie sahen aus, als könnten sie sich von einem Augenblick zum anderen wieder ins Gefecht stürzen. Seine Nase zuckte. Sie witterte einen schwachen Geruch, bei dem sich seine Nackenhaare sträubten. Er schaute auf seine Klinge, da es ihm widerstrebte, sich von den Erinnerungen an diese lange zurückliegenden Ereignisse, an seine Kameraden und Feinde in jener Zeit zu lösen. Einige waren jetzt tot. Andere entehrt. Manchen war ein merkwürdigeres Schicksal beschieden. Er dachte an die seltsame Wendung des Schicksals, die ihn zur Wahrheit über den Attentäter jener lange zurückliegenden Nacht geführt hatte. Das war eine Geschichte, die niemals den Weg in die Annalen des Ordens finden würde. Er zuckte die Achseln und lächelte, während er sich erhob. Es war gut, sich an die Vergangenheit zu erinnern, dachte er, und an seine Herkunft und den weiten Weg, den er zurückgelegt hatte, aber jetzt musste er in der Gegenwart leben. Der Geruch, den er aufgeschnappt hatte, kündete von der Anwesenheit von Feinden. Als sie sahen, dass er sich erhob, folgten die Männer seinem Beispiel und machten ihre Waffen bereit. Er bedeutete ihnen, wachsam zu sein. Sie reagierten augenblicklich, indem sie sich in Deckung warfen und in Schützenlöcher und in die Finsternis starrten. Die Erde bebte, als in der Nähe eine Granate einschlug, eine Erdwolke in die Luft schleuderte und mehrere Männer von den Beinen
holte. Gegenfeuer zog eine feurige Bahn durch die Nacht. Ragnar schnüffelte wieder. Er spürte Zauberei. Seltsame Energien flossen überall. Es sah so aus, als seien die Anhänger des Chaos noch nicht am Ende ihrer Möglichkeiten. Er konzentrierte sich mit aller Kraft, um den Grund seines Unbehagens zu finden. Nun, da er sich dessen bewusst war, konnte er ihn mühelos ausmachen. In den Wäldern ganz in der Nähe sah er nun die massigen, gerüsteten Gestalten von Space Marines, die nicht zu seinem Orden gehörten und dem Imperator nicht treu ergeben waren. Sie mussten ihre Annäherung mit Magie getarnt haben. Es sah so aus, als hätten sie die Absicht, ihm seinen Überraschungsangriff heimzuzahlen. Ragnar hatte das Gefühl zu verstehen. Dieser Morgen war lediglich ein kleines Scharmützel im niemals endenden Krieg zwischen dem Imperium und dem Chaos, zwischen den Wolfskriegern und den Tausend Söhnen. Das war der Lauf des Universums − unzählige Krieg führende Fraktionen und niemals endender Hader. Er sprach leise ins Kommnetz und hieß seine Männer, sich bereit zu machen. Wenn sie schnell handelten, konnten sie diesen Überraschungsangriff zu ihrem Vorteil ausnutzen. »Feuer!«, rief er, und die letzten Fragmente seiner Erinnerungen wurden im Sturm der Kampfhandlungen davongewirbelt. Es gab einen Krieg zu gewinnen. Es gab immer noch einen Krieg zu gewinnen. ENDE