Wolfslegende von Adrian Doyle
Satan ruft seine Heere zusammen. Auch die Werwölfe sollen in der finalen Schlacht gegen ...
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Wolfslegende von Adrian Doyle
Satan ruft seine Heere zusammen. Auch die Werwölfe sollen in der finalen Schlacht gegen das Gute eine entscheidende Rolle spielen. Satans Ruf weckt ein schlafendes Erbe in ihnen. Selbst Chiyoda, der längst glaubte, den Wolfsfluch in sich besiegt zu haben, entkommt seiner Bestimmung nicht. Er verwandelt sich in eine reißende Bestie. Und auch in Nona bricht das Tier durch, das zu jeder Vollmondnacht Besitz von ihr ergreift. Mordend irrt sie durch Jerusalem – und begegnet dem, der alles von ihr weiß. Alles über sie und über ihre Art. Der Moment scheint gekommen, da Nona Sinn und Zweck ihrer Verdammnis erfahren soll, die Wahrheit über die Herkunft der Werwölfe …
Was bisher geschah … Im Dunklen Dom, der Heimstatt der Hüter, ist Anum erwacht, einer der Vampirfürsten, die vor Urzeiten über die Menschheit regierten. Durch Liliths Schuld wurden fast alle Schläfer getötet. Nur Anum und Landru existieren noch. Als Anum von Landrus Machtgelüsten und Versagen erfährt, nimmt er das Schicksal seines Volkes, der Alten Rasse, in die eigenen Hände. In Uruk trifft er auf die Halbvampirin Lilith, die dort Erinnerungen an ihr früheres Leben sucht, und Beth MacKinsay, Liliths ehemalige Freundin, die einen Weg zurück in die Zukunft finden wollte, denn in Uruk besteht ein Korridor durch die Zeiten. In ihm erfüllte sich Beth’ Schicksal, als ihr Körper sich im Zeitstrom auflöste und nur ihr Geist übrig blieb. In der Gegenwart empfängt Lilith beim Betreten des Zeitkorridors einen Hilferuf von Beth. Anum, dessen Geist in den Korridor eingedrungen ist, droht sie zu vernichten. Lilith rettet Beth’ Seele, indem sie sie in sich aufnimmt – und damit ihre verlorene Identität mit der von Beth auffüllt! Sie verläßt den Zeitkorridor und schließt das Tor, noch bevor Anum nachfolgen kann. Dann stößt sie auf dessen Körper, der im Vorraum zurückgeblieben ist, und nimmt ihn mit sich nach Jerusalem. Sie verfällt ihm, obwohl Anum in todesähnlichem Schlaf liegt, da sein Geist vor Schließen des Korridors nicht zurück in den Körper fahren konnte. Nur der Lilienkelch hält noch die Verbindung zum Zeitentunnel. Nun fallen der Kelch und Anum in die Hände einer entarteten Vampirsippe. Remigius, ihr Führer, konnte als ehemaliger Illuminat den Vampirkeim unterdrücken, als Landru ihn einst damit infizierte. Er schwor sich, alles Böse von Jerusalem abzuwenden. Auch Landru, der im Auftrag des Satans (der in der Gestalt des Knaben Gabriel wiedergeboren wurde) hierher reiste, befindet sich seit Tagen in der Gewalt der entarteten Sippe.
Jetzt erforscht Remigius den Lilienkelch, auf dessen Grund er ein Bewußtsein spürt. Zu spät erkennt er, daß es Anums Geist ist, der endlich zurück in den Körper fahren kann. In das folgende Gemetzel greift auch Lilith ein, und es gelingt ihr, Landru zu pfählen! So jedenfalls scheint es … … denn es war nicht Landru! Gabriel hat den einst von Herak geschaffenen Genvampir aus dem ewigen Eis befreit und ihm Landrus Aussehen und Gedächtnis verliehen! Der echte Landru erfüllt indes den Gefallen, den er dem Teufel schuldet: Im Weißen Tempel von Uruk befreit er eine dort eingekerkerte Loge des Satans, die Archonten, und führt sie nach Jerusalem. Von Stonehenge aus strahlt Gabriel die gebündelte Seelenenergie von 350 Verbrechern, die er aus einer nahen Psychiatrie befreit hat, in den nächtlichen Himmel. Dieser Strahl trifft den Mond und taucht ihn in ein sonderbares Licht. Und überall auf der Welt machen sich seine »Soldaten« auf, ebenfalls gen Jerusalem zu ziehen und sich dort zur schrecklichsten Armee zu sammeln, die es je unter Sonne und Mond gegeben hat …
In ihrem langen Leben hatte die Wolfsfrau Abertausende sterben gesehen – Menschen und Vampire. Jener Tod aber, dessen Zeuge sie in den Katakomben von Jerusalem geworden war, schien ihr grausamer, schmerzlicher und in seiner Konsequenz unabsehbarer als alles Sterben davor. Es war, als hätte der spitze Pflock ihr eigenes Herz durchbohrt und mitten im Schlag angehalten. Chiyoda – hilf! dachte Nona verzweifelt. So kann es nicht enden! Unternimm etwas, ich flehe dich an! Rüttele mich wach und sag mir, daß auch dies nur eine weitere Vision ist, deren Wahrwerden ich noch vereiteln kann …! Blindwütig wollte Nona aus dem Versteck stürmen. Doch ein Rest von Vernunft hielt sie zurück. Der Mond, der über Jerusalem wachte, war eine schmale Sichel, weder Freund noch Feind. Ohne seine volle Kraft aber, dachte die Wolfsfrau in heillosem Entsetzen, werde ich Landrus Mörder nicht zur Rechenschaft ziehen können. Bei allen dunklen Mächten – wie konnte es soweit kommen …? LANDRU WAR TOT! Er lag in Sichtweite im Schmutz der verfallenen Kirche, die Teil der Unterwelt war, in die Nona auf der Fährte ihres Geliebten hinabgestiegen war. Chiyoda, der greise Seher, der Gänger zwischen den Wirklichkeiten, hatte Landrus Tod vorausgesehen, unmittelbar nachdem er Nona in einer Vision die Hohe Zeit hatte durchleben und durchleiden lassen – das, was diesem Planeten drohte, falls es Anum gelang, die Weltherrschaft an sich zu reißen.* Einst hatte Anum mit Landru und achtzehn weiteren Geschwistern über die frühe Hochkultur Sumer regiert. Mit Fähigkeiten, von denen die letzten heute noch lebenden Vampire, allesamt Kelchkinder, nur träumen konnten. Anum war wieder im Vollbesitz seiner damaligen Macht, während *siehe VAMPIRA T41/42
Landru … Wie flüssiges Feuer rann noch immer der Schock durch Nonas Adern. Sie wußte nicht, wie lange sie hier schon zitternd in ihrem Versteck kauerte und versuchte, das Geschehene auch zu begreifen. Zu glauben, was unablässig in ihrem Gehirn wisperte: Zu spät. Dieses Mal bist du zu spät gekommen, und nun hast du ihn für immer verloren … Ihre Hände krampften sich um die Erhebungen eines der Felsen, hinter denen sie sich verbarg. Scharfe Kanten bohrten sich in ihr Fleisch. Blut floß. Aber der Gedanke, sich damit vielleicht dem Feind zu verraten, der ihr Blut würde wittern können, kam ihr nicht. Sie war nicht dazu in der Lage. Landru war tot. Noch einmal sah sie in ihrem Geiste Anum an den bereits Gepfählten herantreten und dessen Leichnam einäschern. Landru war kein Kelchgetaufter, dessen Hülle automatisch zerfiel, sobald der Tod ihn ereilte. Landru war wie Anum – – gewesen. Aber getötet hatte ihn nicht sein Bruder, sondern … … du verfluchter Bastard! Nonas Blick brannte auf Lilith Eden. Sie war die Erzfeindin der Vampire, ein Zwittergeschöpf, aus der Verbindung eines Sterblichen mit einer Vampirin hervorgegangen. Eine Mischung aus Mensch und Vampir also, der Körper eine furchtbare Waffe, und die Seele … Was ist aus deiner Seele geworden, Geliebter? Nona schloß die Augen. Für einen kurzen Moment glaubte sie den Boden unter den Füßen zu verlieren – im nächsten war ihr, als triebe sie Wurzeln. Absurde Wurzeln, die überall aus ihrer Haut hervorbrachen, selbst härtesten Stein durchbohrten, sich darin verankerten und sie für alle Zeit an den Ort binden wollten, an dem Landru an seinem eigenen schwarzen Blut erstickt war. Nur mühsam fand Nona wieder in die Realität zurück. Chiyoda. Ob er bereits weiß, daß mein Vorhaben gescheitert ist? Ob er
mich zusammen mit Esben Storm und Makootemane, die ihm geholfen haben, mich nach Jerusalem zu versetzen, aus der Traumzeit heraus beobachtet? Schritte ließen Nona zusammenzucken. Im ersten Moment duckte sie sich tiefer hinter den Haufen Geröll, bis sie begriff, daß niemand auf sie zukam, sondern nur nahe an ihr vorbeiging. Lilith und Anum entfernten sich vom Ort ihrer Schandtat! Ich muß ihnen nach, dachte Nona. Ich darf sie nicht aus den Augen verlieren – solange nicht, bis mein Verbündeter am Nachthimmel erscheint und ich Gelegenheit finde, Rache zu üben. Schreckliche Rache! Sie lauschte den Schritten, bis sie kaum noch zu hören waren. Dann huschte sie geschmeidig und leise wie auf Katzenpfoten hinterher. Erst ganz allmählich sickerte in ihr von Trauer getrübtes Bewußtsein, daß sich hier in der Realität bereits andeutete, womit sie in vollendeter Form während ihrer Vision konfrontiert worden war: Lilith und Anum … … ein Paar? Was war geschehen, seit sie Lilith in der Nähe der Hermetischen Stadt Mayab verlassen hatte? Seit der Teufel mir meine Erinnerung an Perpignan * zurückgegeben hat; Perpignan im Jahre 1635 … Erstaunt stellte sie fest, daß der letzte Hüter und die Frau im netzartigen Catsuit und mit der rabenschwarzen Haarpracht nicht zur Erdoberfläche strebten, sondern sich lediglich in einen Nebenraum des Kirchenschiffs zurückzogen. Nonas Staunen wich blankem Haß, als ihr der Grund für die Aufenthaltsverlängerung hier unten klar wurde. Wie sehr wollten sie Landrus Würde noch beschmutzen? Das Stöhnen des Hurenbalgs und ihres Komplizen hallte weithin *siehe VAMPIRA T38: »Das Gift des Bösen«
durch Jerusalems vergessene unterirdische Regionen …
* Nona unterdrückte jede Anfechtung von Müdigkeit. So nah, wie es zu verantworten war, hatte sie sich an die Kammer herangeschlichen, in der die beiden wie ausgehungert übereinander hergefallen waren. Zwei, die von Natur aus unversöhnliche Feinde hätten sein müssen. Hatte das Böse, mit dem Lilith im Urwald Yukatans vergiftet worden war, seinen Stachel noch immer nicht verloren? Hatte sie – wie von Gabriel behauptet – die Fronten gewechselt? Ihr Verhalten schien dies zu untermauern, aber nach dem Mord an Landru würde sie Nonas ewige Feindin bleiben. Es gab nichts, was diese Tat verzeihlich gemacht hätte. Ich werde dich töten, dachte die Wolfsfrau. Egal, wie, aber du mußt sterben! Sie versuchte zu verdrängen, daß Gabriel sie offenbar zu Verbündeten hatte machen wollen. Aber dann hätte er nicht zulassen dürfen, was hier geschehen war! Nona rann es kalt über den Rücken, sobald ihre Gedanken Gabriel auch nur streiften: den Leibhaftigen in Gestalt eines verschlagenen, heimtückischen Knaben, der inzwischen fast zum Mann gereift war. Sie konnte nicht vergessen, was er ihr eröffnet hatte. Was er ihr auf die Frage nach den Ursprüngen des Werwolffluchs geantwortet hatte: Daß er den Ursprung kenne. Und daß sie, wenn sie ihn eines Tages ebenfalls erführe, sich wünschen würde, nie danach gefragt zu haben! Was für ein fürchterliches Geheimnis konnte hinter dieser orakelhaften Auskunft stecken? Nichts, was mich jetzt noch schrecken könnte, dachte Nona in voller Überzeugung. Ich habe alles verloren, was mir wertvoll war. Mein ein und alles …
Ein Geräusch ließ sie zusammenfahren. Als sie sah, wie Lilith sich neben Anum vom Boden erhob, wähnte sie sich erneut entdeckt, obwohl das Geräusch aus entgegengesetzter Richtung kam. Der Raum hatte zwei Zugänge. Nonas Innerstes krümmte sich in Erwartung des Triumphes, mit dem Lilith Eden sie gleich aus ihrem Versteck zerren und vor Anum in den Staub werfen würde. Tatsächlich kam Lilith genau auf Nona zu. Bis – – sie jäh wendete und wie eine Furie dorthin hetzte, von wo das Geräusch erklungen war! Nona wagte es noch nicht, aufzuatmen. Doch dann sah sie in dem vagen Schimmer, den Anum in die Wände der Kammer gezaubert hatte, Lilith mit einem anderen Körper zusammenprallen und hörte ihren dumpfen, jäh abbrechenden Aufschrei. Dieser Laut weckte Anum, der sich mit unheimlicher Schnelligkeit orientierte und dann dorthin jagte, wo Lilith zusammengebrochen war. Kurz darauf ertönten helle Schreie von Kindern. Als sie verstummten, erkannte Nona einen Jungen und ein Mädchen, beide zehn, zwölf Jahre alt. Der Junge stand weiter wie erstarrt da, als Anum seine Hand von seinem Arm löste. Dem Mädchen, das weniger gebannt als der Junge wirkte, fauchte er zu: »Ich bekomme deinen Geist nicht zu fassen, aber hör gut zu und glaube mir: Ich werde deinen Freund oder Bruder hier augenblicklich töten, solltest du auch nur versuchen zu fliehen!« Für Nona war es nicht zu erkennen, ob und in welcher Weise sich das Mädchen von dieser Drohung beeindruckt zeigte. Jedenfalls blieb es stehen, als Anum sich um Lilith kümmerte, die der Junge offenbar mit einem Stein bewußtlos geschlagen hatte. Wenig später erwachte sie. Nona erwartete, daß ihr Zorn sich gegen die Kinder richtete. Offenbar erwartete auch Anum dies. Das Gegenteil war der Fall: Sie schien die Kinder zu kennen und
nahm sie vor dem Vampir in Schutz, dem es nach ihrem Blut gelüstete. Anum sagte: »Ich verstehe dich nicht. Wir können sie teilen. Du den Jungen und ich das Mädchen. Wir brauchen Kraft. Wir müssen uns stärken, und dann …« »Du verstehst nicht«, hielt sie ihm entgegen. »Zunächst müssen wir hier verschwinden. Ich habe keine Lust, auch nur eine Stunde länger als nötig in diesen Katakomben zuzubringen. Die Kinder werden uns in das Haus ihrer toten Eltern führen. Dort können wir bleiben, bis wir weiterziehen.« »Wir könnten in die nobelste Herberge ziehen«, erwiderte Anum scharf. »Wozu in ein erbärmliches Haus, in dem es nach Tod und Armut riecht?« Nach kurzem Zögern sagte Lilith: »Weil ich es so will.« Schulterzuckend kehrte Anum ihr den Rücken. »Gut, wenn du meinst … Für den Moment lassen wir sie am Leben.« Kurz darauf verließen sie die Unterwelt. Nona hörte Lilith die Kinder bei ihren Namen rufen. Rahel und David. Besonders das Mädchen faszinierte Nona so sehr, daß sie fast übersah, wie Lilith während des Aufstiegs überraschend noch einmal innehielt. Im letzten Moment konnte Nona sich in eine Nische drücken. »Was ist?« hörte sie Anums Stimme. Eine Weile hörte man nur Atem. Dann sagte Lilith: »Nichts.« Und setzte ihren weg fort. Noch vorsichtiger als zuvor heftete Nona sich an ihre Fersen. Im grauenden Morgen folgte sie den Gestalten durch Jerusalems Gassen, bis sie in einem kleinen schiefen Haus verschwanden, dessen Tür halb offen stand. Lilith verschloß sie hinter ihnen. Erst als der Riegel von innen hörbar vorgeschoben wurde, schossen Nona Tränen in die Augen. Eine Flut von Tränen.
Landru war tot, während seine Mörder weiterlebten! Nona wollte alles tun, um das zu ändern. Flehend richtete sie ihren Blick auf den trotz des frühen Tages immer noch sichtbaren Mond. Als könnte sie die fahle Sichel allein kraft ihres Willens vor der Zeit zum magischen Rund vollenden. Doch der bleiche Geselle am Himmel widerstand. Zumindest an diesem Tag. Und ihrem Willen …
* Das Tal blühte. Rings um die tempelartige Anlage und dazwischen erstreckte sich ein buntes Blumenmeer, das in der besinnlichen Heiterkeit, die es ausstrahlte, wie ein Kontrapunkt zu den schwermütigen Gedanken wirkte, die der greise Chiyoda hinter seiner zerfurchten Stirn wälzte. Die zerbrechlich dünne Scheibe, die Chiyoda am Fenster des Sanktuariums von der sonnenbeschienenen Landschaft draußen trennte, erinnerte den weißhaarigen und -bärtigen Chinesen daran, wie allzu leicht auch das Gefüge zerbrochen werden konnte, das die Menschen dieser Ebene ihre Wirklichkeit nannten und als solche empfanden. Von solcherlei Beschränkung hatte er sich seit langem losgesagt. Er war in vielen Wirklichkeiten zu Hause, und nur er selbst wußte, wie schwer es ihm manchmal fiel, in jene zurückzukehren, der er entstammte. Nicht, weil er Mühe gehabt hätte, sie wiederzufinden, sondern weil es bessere Welten als diese gab. Welten ohne – »Hier bist du …« Die Stimme holte ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Noch bevor er sich umdrehte, wußte er, wer in sein privates Reich abseits der Meditationsräume eingetreten war. »Makootemane.« Chiyoda hob grüßend die Hand. Eine Geste, die
der alte Arapaho-Häuptling erwiderte. »Was führt dich zu mir?« »Errätst du es nicht?« »Geht es um Wyando?« Der Indianer vom Oberlauf des Mississippi nickte kaum merklich. Auch sein Gesicht war faltenübersät, aber bartlos und rötlich braun wie gegerbtes Leder, nicht wächsern wie Chiyodas Teint. Das lange blauschwarze Haar hatte er im Nacken gebunden, dort wo sich auch der schmale Streifen Gefiederflaum entlangzog, der seine Verbundenheit mit dem Totemtier seines Stammes, dem Adler, dokumentierte. Der Raum war nicht etwa aufgesetzt, er sproß aus der Haut des Arapaho, wie auch in den Nacken der anderen noch lebenden Mitglieder seiner Sippe. 1688 war Makootemane von Landru einer Kelchtaufe unterzogen und zum Oberhaupt über die ihm nachfolgenden Täuflinge erhoben worden. Mit Hilfe ihrer Totemtiere hatten die Arapaho jedoch im Laufe der Zeit dem Bösen abgeschworen, und als vor nicht allzu langer Zeit das große Sterben über die Kelchkinder gekommen war, war es Makootemane gewesen, der den unersättlichen Todbringer in einer gewaltigen mentalen Schlacht wenigstens von seinem Stamm abgewehrt hatte.* Am Ende des Kampfes hatte Makootemane das Tor in eine andere Realität aufgestoßen, in die er schließlich erschöpft hinübergeglitten – und auf Chiyoda getroffen war. Seither waren sie unzertrennlich, und so grundverschieden sie optisch auch sein mochten, charakterlich waren sie einander sehr ähnlich. »Was ist mit ihm?« »Er sagt, es fruchtet nicht.« »Was fruchtet nicht? Die Übungen, die ich ihn lehrte und die er sich nun verinnerlichen soll?« Die Iris von Makootemanes Augen sah aus wie mit Pech überzogen. »Er ist sehr ungeduldig, aber das hat seinen Grund. Er vermißt *siehe VAMPIRA T06, T12 und T14
sein Seelentier. Er hat schon einmal erlebt, was aus ihm wird, wenn die Trennung zu lange dauert. Er will es nicht noch einmal durchleiden.« Chiyoda schüttelte sanft den Kopf. Verständnis, aber auch Strenge legten sich um seinen Mund. »Er will ein Wunder. Aber für Wunder bin ich nicht zuständig. Das einzige, was ihm helfen kann, ist Ausdauer, Fleiß und eiserne Disziplin. Ich weiß, wovon ich rede. Bin ich nicht der sichtbare Beweis, daß es funktioniert?« Makootemanes Miene blieb undurchschaubar. »Hat es je bei einem anderen funktioniert? Ich meine, auf Dauer?« »Es gab gute Ansätze …« »Also nein?« Chiyoda löste sich vom Fenster und überwand die Kluft, die ihn von seinem indianischen Freund trennte. Ja, er betrachtete ihn als Freund und Seelenverwandten. »Was bedeutet ›auf Dauer‹?« fragte er, ohne in einen anderen Ton zu verfallen als zuvor. »Ist es nicht schon ein Gewinn, den Feind in sich für eine gewisse Zeit zu bezähmen und seinen verderblichen Einfluß einzudämmen? Ich habe viele Schüler. Sie finden aus allen Teilen der Welt in dieses abgeschiedene, selbstgewählte Exil. Es sind Unglückliche, Verzweifelte, die es aus eigener Kraft nicht eine einzige Vollmonddauer schaffen würden, dem mörderischen Drang zu widerstehen oder die körperliche Entartung in diesen Stadien zu unterdrücken. Hier aber, mit demjenigen vor Augen und als Ratgeber, dem es nun schon seit Jahrzehnten gelingt, den Wolf in sich zu geißeln, gelingt ihnen, was sie nicht mehr für möglich gehalten hätten: Zunächst überstehen sie die fluchbeladenen Mondnächte in meiner Obhut nur, indem ich sie zu ihrem eigenen Besten einschließe. Aber wenn sie dann keinem anderen Menschen in der Zeit ihres blutrünstigen Wahns ein Haar gekrümmt haben, hilft ihnen das, ihr Ich zu festigen und irgendwann, Monate, vielleicht erst Jahre später dem Vollmond auch in Freiheit zu entsagen.« Chiyoda lächelte Makoo-
temane freundlich zu. »Bist du nicht meiner Meinung, daß jede Drangphase, die auf diese Weise übersprungen wird, die Opfer wert ist, die meine Schüler aus eigenem Willen erbringen? Sie retten die Leben derer, die sie anderenfalls nicht hätten schonen können.« Makootemane senkte den Blick. »Ich wollte deine Leistungen nicht in Frage stellen. Aber ich leide mit Wyando, der mir wie ein wahrhaftiger Sohn ans Herz gewachsen ist. Und ich wünschte, er würde auch seinen Drang dauerhaft zu bezähmen – ohne Lilith Eden.« Als die Halbvampirin vor Monaten Wyando – oder Hidden Moon, wie sein »zivilisierter« Name lautete – begegnet und unter dem Einfluß der Seuche dessen Seelenadler getötet hatte, war die Kraft auf sie übergegangen, das Böse von ihm zu nehmen. »Er wird es lernen müssen, denn ich glaube nicht, daß sie ihm je wieder abnehmen wird, was er sich an dunkler Energie auflädt«, entgegnete Chiyoda. »Warum nicht? Ist sie …?« Chiyoda schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist nicht tot. Sie wird noch lange leben. Auf jeder Ebene, in die ich schaue, ist Lilith Eden präsent. Aber sie hat sich verändert. Das Band zwischen ihr und Wyando ist seit der letzten Begegnung zerschnitten. Für immer. Nicht nur seine Alpträume sind in sie gefahren, sondern noch etwas anderes, das nun untrennbar mit ihr verschmolzen ist wie eine zweite … wie eine zweite Seele.« Makootemane blickte fragend. »Erwarte nicht Antworten auf alle Fragen von mir«, wies Chiyoda ihn, immer noch freundlich, ab. »Ich bereue bereits, Nona von dem berichtet zu haben, was ich zu erkennen glaubte.« »Du redest von der Vision, die du die Hohe Zeit genannt hast?« Chiyoda schüttelte den Kopf. »Ich rede vom Ende des Kelchhüters, den sie seit Jahrhunderten verehrt. Daß Landru in Jerusalem umkommen könnte. Es schien so klar, Nona dorthin zu schicken, mit deiner und Esben Storms Hilfe; schließlich müssen wir Landru
als Verbündeten gegen Anum gewinnen. Aber nun …« Chiyodas Miene wurde steinern. »Was ist?« drängte der Arapaho. Schulterzuckend wandte sich Chiyoda wieder dem Fenster zu. Als könnten die Blumen draußen seine Selbstzweifel zerstreuen. Sie konnten es nicht. Er sah sie gar nicht, denn sein Blick blieb nach innen gerichtet. »Ich bin mir nicht mehr sicher. Vorhin, als ich erneut nach Landru Ausschau hielt, hatte ich das Gefühl, ihn zweimal zu spüren … Doppelt …« »Was bedeutet das?« »Ich wünschte, ich wüßte es.« Makootemane schwieg nachdenklich. Dann sagte er: »Ich halte es immer noch für ein gewagtes Experiment, die Rettung eines Wesens, das soviel Unheil über Generationen von Menschen gebracht hat, überhaupt zu unterstützen. Was das angeht, bleiben mir deine Beweggründe kaum nachvollziehbar.« Chiyodas Miene lockerte sich auf. »Wie sollte einer, der selbst Bosheit, Niedertracht und unmenschliche Gier in sich trägt, sie nur beherrscht, andere mit derselben Natur verdammen? Und ist es bei dir nicht ähnlich? Du hast das Böse nicht aus dir verbannt, du hast damit umzugehen gelernt. Wyando kann dich ebenso zum Vorbild nehmen wie mich.« Makootemane trat neben Chiyoda ans Fenster. »Manchmal frage ich mich, ob ich dort in der Höhle im Heiligen Berg, im Kampf gegen den Purpurdrachen, nicht doch gestorben bin. Ob ich all das, was danach gekommen ist – auch dich – nicht nur geträumt habe. Vielleicht ist der Tod nichts anderes als ein ewiger Traum …« »Ein Traum mag vieles sein«, widersprach Chiyoda, »aber nicht der Tod. Im Traum liegt die Kraft, die Welt aus den Angeln zu heben.« Makootemane hob abwehrend die Hand. »Lassen wir das. Ich
komme mir jedenfalls wie jemand vor, der ein Radio benutzt, obwohl er niemals in der Lage wäre, eines zu bauen. Ich durchwandere unglaubliche Welten mit dir. Aber ich weiß nicht, wie ich das tue. Und ob ich es auch ohne deine führende Hand könnte.« »Eines Tages wirst du es versuchen – und schaffen.« »So spricht ein großer Motivator.« Chiyoda lachte leise. Aber seine Augen erreichte dieses Lachen nicht. Kalt und leer blickten sie immer noch in eine Ferne, die jenseits der Horizonte zu liegen schien. »Ich mache mir Sorgen«, sagte er. »Um Landru oder um Nona?« fragte der Arapaho. »Um Nona. Sie trägt nicht mehr in sich, was Landru ihr einst einflößte: die Kraft, die über ihr Wolfsein hinausgeht. Seit dem Besuch im Dunklen Dom altert sie wieder. Der Zauber des Lilienkelchs ist verflogen. Jeder kann sie nun bezwingen … und töten …« »Das glaubst du nicht wirklich.« Makootemanes erste Begegnung mit Nona lag mehr als dreihundert Jahre zurück. Sie war in Landrus Begleitung gewesen, als der Kelchhüter die Unsterblichen des Arapaho-Stammes erschaffen hatte. Bereits zweihundert Jahre davor war sie geboren worden. Und ein halbes Jahrtausend an Lebenserfahrung war nicht in Gold aufzuwiegen. »Ich hoffe es nicht.« Chiyodas Stimme klang plötzlich rauh und keineswegs mehr so souverän wie bisher. »Das ist ein gewaltiger Unterschied …«
* Nona observierte das Haus des Gemüsehändlers Chaim (der Name prangte auf der Markise über dem Ladeneingang) auch die nächsten Tage, ohne daß Anum oder Lilith es auch nur kurzzeitig verlassen hätten. Nur das Mädchen Rahel war noch einmal in Erscheinung getreten. Am ersten Tag hatte sie das Gebäude verlassen und die nähe-
re Nachbarschaft aufgesucht, wo sie wohl mit Bekannten gesprochen hatte. Wieder nach Hause zurückgekehrt, hatte sie ein Schild an die Glastür gehängt, auf dem seither VORÜBERGEHEND GESCHLOSSEN zu lesen stand. Nona war Rahel ein Stück weit gefolgt und hatte mit dem Gedanken gespielt, den rehäugigen Lockenschopf offen anzusprechen. Doch letztlich war ihr das Risiko, sich damit selbst ein Bein zu stellen und Chancen zu verbauen, doch zu groß erschienen. Unbehelligt war Rahel wieder in ihr Elternhaus zurückgekehrt. Ein Mädchen, das, wenn Nonas Eindruck in den Katakomben nicht getäuscht hatte, absolut immun gegen jedwede hypnotische Beeinflussung war. Solange aber andere aus der Familie als Faustpfand mißbraucht werden konnten, erwuchs Rahel daraus kein Vorteil. Sie müßte schon so skrupellos sein wie ich, dachte Nona am Morgen des vierten Tages. Verdammt! Wie lange wollen sie sich denn noch in diesem Bau verkriechen? Was treiben sie darin? Treiben sie es miteinander? Aber irgendwann müssen sie auch davon genug haben und wieder etwas unternehmen! Nach Rahels Rundgang hatte Nona herauszufinden versucht, was sie mit den Nachbarn beredet hatte. Sie beherrschte das Hebräische nicht, aber ein junger, gutaussehender Mann, der sich von ihrem Charme hatte einfangen lassen, sprach ebenso perfekt Englisch wie sie selbst. Und auf ihre Frage, ob er vielleicht wisse, warum der Gemüseladen der Chaims geschlossen sei und auch in der Privatwohnung niemand auf Klingeln und Klopfen reagiere, hatte er ihr bereitwillig geantwortet: »Die Besitzer sind für ein paar Tage nach Ramallah hinauf gefahren. Rebecca, Gershoms Frau, verträgt die Sommerhitze in der Stadt nicht mehr. Sie leidet an Asthma. Deshalb sind sie jetzt, wo die Touristenströme wieder abflauen, in die Berge gefahren. Das Klima dort ist wesentlich gemäßigter.« »Sie alle Chaims fortgegangen?« »Natürlich. David und Rahel wären noch viel zu klein, um alleine hierzubleiben.«
Offenbar war die Einkehr zweier Fremder ins Haus der Chaims keiner Seele aufgefallen, und genauso offenbar wunderte sich niemand, daß man die Chaims nicht mit Koffern hatte fortgehen sehen. »Das ist dumm«, hatte Nona erwidert. »Warum? Wolltest du sie besuchen? Kennst du sie persönlich?« »Mein Vater kannte einen Gershom Chaim, er kannte ihn sehr gut aus seiner eigenen Jugend, und auf seinem Sterbebett bat er mich, diesen alten Freund noch einmal zu besuchen und ihm letzte Grüße auszurichten …« Nonas Antwort entsprang purer Eingebung und konnte leicht schiefgehen. Sie wußte nicht das Geringste über Gershom Chaims Vergangenheit. Vielleicht war er ein Fremdenhasser gewesen, der Ausländer prinzipiell verabscheute. Solche Intoleranz gab es, und daß Nona nicht hier aufgewachsen war, konnte sie beim besten Willen nicht verhehlen. »Tut mir leid, das mit deinem Vater.« Der Mann war nett gewesen. Vielleicht netter, als es seiner Gesundheit zuträglich war … »Es war für ihn eine Erlösung. Er hat eine lange Leidenszeit durchmachen müssen.« »Wenn du willst, besorge ich dir die genaue Adresse, unter der sie in Ramallah abgestiegen sind.« »Danke. Es eilt nicht. Ich habe alle Zeit der Welt. Ich werde warten und mich hier in der Nähe einquartieren, bis sie zurück sind. Das gibt mir Gelegenheit, die Stadt, von der mein Vater so oft schwärmte, selbst näher kennenzulernen.« Die Augen des Mannes hatten aufgeleuchtet. »Ich heiße Caleb. Freunde von Gershom sind auch meine Freunde. Wenn du willst, besorge ich dir ein Zimmer und zeige dir die Sehenswürdigkeiten der Stadt …« Den Blick senkend, hatte er hinzugefügt: »Aber ich will mich nicht aufdrängen.« Nur der Form halber hatte sich Nona ein wenig geziert, dann aber
eingewilligt. Seither wohnte sie mit einem gichtkrummen alten Mann unter dem Dach eines Hauses, das schräg gegenüber dem Chaim-Laden und in nächster Nähe einer Moschee lag, von deren Minarett jeden Morgen – auch heute wieder – die Stimme des Muezzins erschallte, der die Gläubigen zum Gebet zusammenrief. Nona hatte die Miete für eine Woche im voraus auf den Tisch geblättert. In amerikanischen Dollars, die mindestens ebenso gern akzeptiert wurden wie israelische Schekel. Bis zum nächsten Vollmond würden noch etliche Tage verstreichen. Und an eine wirklich permanente Überwachung des ChaimHauses war einfach nicht zu denken. Nona schloß nicht aus, daß Landrus Mörder sich schon längst nicht mehr darin aufhielten, sondern unbemerkt weitergezogen waren. Sämtliche Türen und Fenster, auch die rückwärtigen, waren unmöglich ständig im Auge zu behalten. An ausreichender Gelegenheit, ihren Unterschlupf zu verlassen, hätte es Lilith und Anum gerade bei Nacht nicht gemangelt. Zumal sie des Fliegens mächtig waren. Nona überlegte, wie sie – ohne sich selbst in Gefahr zu bringen oder zu erkennen zu geben – mehr über die aktuelle Situation im Chaim-Haus herausfinden konnte. Caleb hatte in den vergangenen vier Tagen viermal bei ihr angeklopft und sein Angebot, ihr die Altstadt zu zeigen, erneuert. Jedesmal hatte sie unter Vorwänden abgelehnt und damit gerechnet, Caleb vor den Kopf gestoßen zu haben. Doch er schien unzermürbbar und nahm die Absagen trotz teilweise leichter Durchschaubarkeit kein einziges Mal persönlich. Als sich in die Rufe des Muezzins auch zu dieser frühen Stunde ein Klopfen gegen die Tür von Nonas Zimmer mischte, wußte sie gleich, wer da Einlaß begehrte. Doch sie irrte. Nicht Caleb, sondern der krumme, spindeldürre Vermieter stand draußen auf dem dämmrigen Flur, in dem ein Hau-
saltar aufgebaut war, um den Nona jedesmal einen großen Bogen machte. Nicht weil das Symbol an sich sie gestört hätte, sondern weil der Gestank der ihn zierenden »Altertümer« und modernder Pflanzen kaum zu ertragen war. »Beim Schaitan, darf ich endlich erfahren, wie lange Ihr meine Gastfreundschaft noch strapazieren wollt?« fauchte Jeb Holski ohne Gruß. »Ist es vielleicht zuviel verlangt, mit einem alten Mann darüber zu reden?« Verdutzt starrte Nona ihn an. Sie sah Holski nur selten. Gesprochen hatte sie ihn ebenso selten. Als Caleb sie zu ihm geführt hatte, war er ihr wie ein knorriger Einsiedler vorgekommen. Es war schon frappierend, wie sehr er den verdorrten Gewächsen auf seinem Hausaltar ähnelte. Selbst innerhalb des Hauses trug er über seinem Anzug einen Schleier, wie er den Leuten draußen bei heftigem Wind diente, um sich vor Sandflug zu schützen. Holski schien ihn nur zum Schlafen abzulegen. Vielleicht wollte er damit Fortschrittsfeindlichkeit bekunden. Immerhin hatte in seiner Jugend die Verschleierung noch einen ganz anderen Stellenwert in der arabischen Welt besessen als heute. »Strapazieren?« echote Nona, als sie ihre Verblüffung überwunden hatte. »Ich wußte nicht, daß ich Ihnen unangenehm geworden bin. Wenn es aber so ist, werde ich noch heute –« »Dummes Zeug!« zischte Holski und gestikulierte wild dazu. »Ich will nur, daß man mit mir spricht! Das ist mein Haus! Ich bestimme, wer hier schläft und wer nicht! Aber man darf sich wohl Gedanken über Leute machen, die so gut wie nie aus dem Haus gehen, oder? Stimmt etwas nicht? Fühlt Ihr Euch krank, unwohl? Habt Ihr –?« »Mir geht es gut, danke. Ich bin momentan nur gern allein. Mir geht so vieles durch den Kopf.« »Caleb sagte, Euer Vater sei gestorben.« »Das stimmt.« »War er alt?«
»Etwa in Gershom Chaims Alter.« »Und wie alt ist Gershom Chaim?« Nona zuckte leicht zusammen. Zum ersten Mal fiel ihr in Jeb Holskis Gesichtsausdruck etwas auf, was ihr augenblicklich klar machte, daß sie keinen vertrottelten Alten vor sich hatte, sondern einen Verstand, der nicht zu unterschätzen war. Schulterzuckend sagte sie, das Alter der Kinder David und Rahel berücksichtigend: »Mitte vierzig?« Holski gab nicht zu erkennen, ob er mit dieser Antwort zufrieden war. »Mein Neffe hat einen Narren an Euch gefressen«, sagte er unzusammenhängend. Und schwieg dann wieder, als erwarte er eine Stellungnahme Nonas dazu. »Ich wußte nicht, daß er Ihr Neffe ist.« »Jetzt wißt ihr es. Also?« »Was also?« »Mögt Ihr ihn nicht?« »Doch … Er ist sehr sympathisch …« Holski klatschte so heftig in die knochigen Hände, daß es laut durch den Flur hallte. »Warum gebt Ihr ihm dann einen Korb nach dem anderen? Er kann damit schon einen Handel betreiben! Und das lasse ich nicht zu! Eine solche Behandlung hat mein Neffe nicht verdient!« Nona schürzte die Lippen. Der flackernde Blick des alten Kupplers brachte sie auf eine Idee. »Drüben«, sagte sie und deutete zum Fenster hinter sich, aus dem man zum Haus der Chaims schauen konnte, »sah ich vorhin Bewegung hinter den Vorhängen. Sind die Chaims zurückgekehrt?« Der Ausdruck auf Holskis Gesicht veränderte sich sekundenschnell. »Bewegung?« Es klang ungläubig, aber auch … alarmiert. »Ja. Ich bin sicher, jemanden gesehen zu haben, der den Vorhang kurz beiseite schob und dann wieder verschwand.«
»Das ist unmöglich.« »Unmöglich? Wieso?« »Weil ich es bemerkt hätte, wenn sie heimgekommen wären.« »Habt Ihr sie auch – weggehen sehen?« Holski zögerte. »Nein«, räumte er schließlich ein. »Aber Caleb erzählte es. Und Caleb lügt nicht – warum sollte er auch?« Nona hob beschwichtigend die Hände. »Ich wollte Ihren Neffen nicht der Lüge bezichtigen. Bestimmt nicht. – Vielleicht habe ich mich doch getäuscht.« Sie lächelte einfältig. Die Wirkung ließ nicht auf sich warten. »Schon gut. Warum seht Ihr nicht nach und läutet an der Tür? Dann wird sich zeigen, ob sie wieder da sind. Es wäre möglich. Möglich wäre es. Sie sind mit dem Bus gefahren. Sie haben kein Auto …« »Danke für den Rat. Ich werde nachher vorbeigehen.« Jeb Holski äugte mißtrauisch wie ein Rabe. »Ich kann mich nicht erinnern, daß in den letzten Jahren irgendwo in der Nähe eingebrochen wurde. Aber die Zeiten ändern sich. Die Zeiten sind nicht mehr das, was sie einmal waren … Ich werde nachsehen. Am besten gehe ich gleich mal vorbei und sehe nach, ob das Schild noch hängt. Ich werde klingeln und fragen, wie es Rebecca geht. Ich werde …« Seine Stimme verebbte allmählich wie tuckerndes Motorengeräusch, wenn sich ein klappriger, alter Wagen entfernte. Ebenso grußlos, wie er gekommen war, drehte sich Holski um und ging auf die Treppe zu. Nona schloß leise die Tür hinter ihm und ging zum Fenster. Sie brauchte nicht lange zu warten, bis der Jude über die Straße humpelte, sich die Nase am Geschäftseingang platt drückte und dann zur Wohnungstür wechselte. Oft und lange drückte er die Klingel, und als er nicht aufgab, sondern mit der Faust gegen das Türholz zu hämmern begann, glaubte Nona tatsächlich eine Bewegung hinter dem Vorhang im Erdgeschoß wahrzunehmen.
Sie öffnete das Fenster einen Spalt weit und hörte Holski rufen: »Ist jemand zu Hause? Gershom? Bist du wieder da? Antworte, wenn du mich hörst! Los, ant-« Holski verstummte, als hätte ihm jemand die Stimmbänder durchgeschnitten. Die verstümmelte letzte Silbe ging in einen seltsamen Klagelaut über, der Nona eine Gänsehaut verursachte. Wie erstarrt stand Holski da, die Faust immer noch gereckt und Zentimeter vor der Tür in der Luft schwebend, als hätte er urplötzlich vergessen, was er damit tun wollte. Plötzlich näherte sich von der anderen Straßenseite eine weitere Gestalt. Eine bildhübsche Frau in Minikleid und Sonnenhut. Zuerst glaubte Nona, die Frau und Holski würden sich kennen. Doch als sie ihn erreichte, schenkte sie ihm keinerlei Beachtung. Die Tür, an der Holski stand, ging auf. Er trat ein, und die Frau folgte ihm auf dem Tritt. Dann schloß sich die Tür. Und öffnete sich den ganzen Tag nicht wieder.
* Nona richtete sich darauf ein, künftig sämtliche Räume von Jeb Holskis Wohnung in Anspruch nehmen zu können. Daß der alte Mann je wieder zurückkehren würde, damit rechnete sie nicht. Daß sie dafür aber anderen Besuch aus dem Heim der Chaims erhalten könnte, schloß sie nicht aus. Die Mörder jedenfalls, das hatte der Vorfall bewiesen, waren noch immer da, hatten sich noch nicht klammheimlich aus dem Staub gemacht. Beide, Anum und Lilith, waren auf Menschenblut angewiesen. Vielleicht hatten sie neue Opfer zu sich geholt, weil von den Chaims keiner mehr am Leben war, auch die Kinder nicht … Beim Durchstöbern von Holskis Schränken war Nona auf einen funktionsfähigen Karabiner und mehrere Schachteln Munition ge-
stoßen. Damit ausgerüstet, kehrte sie in das Zimmer zurück, von dem aus sie die beste Sicht auf den Laden hatte. Gegen Mittag kam Caleb vorbei. Er fragte nach seinem Onkel, der ihm sonst immer die Tür aufmachte. »Er ging noch mal weg«, sagte Nona. Caleb zog ihre Aussage nicht in Zweifel. Keine Sekunde. »Hast du schon den Felsendom besucht, dessen goldene Kuppel ihren Glanz über ganz Jerusalem wirft?« fragte er. Nona verneinte. Und wußte, wie die nächste Frage lauten würde. »Darf ich ihn dir zeigen? Es ist der Ort mit der ältesten Heiligkeit auf der ganzen Welt … Sollen wir uns gemeinsam in den Strom der Pilger einreihen – oder interessiert dich das Bauwerk nicht? Du wärst die Erste …« »Du redest wie ein Fremdenführer«, kanzelte Nona ihn barsch ab. Es war das erste Mal, daß er ihr eine Absage übelzunehmen schien. Er schluckte, und Nona setzte noch eins drauf: »Dann bin ich eben die Erste, die Eure verdammte Heiligkeit nicht wertschätzt, was soll’s? Ich bin nicht hier, um irgendwelche Suren von irgendwelchen vergoldeten Wänden abzulesen. Oder mir den angeblichen Fußabdruck Mohammeds auf einem Felsbrocken anzuschauen! Ich –« Ihre geringschätzigen Kommentare ließen Caleb immer wieder zusammenzucken, bis er ihr ins Wort fiel: »Ich weiß, du willst die Chaims besuchen, Gershom Chaim. Aber ist das ein Grund, den Glauben deiner Gastgeber mit Füßen zu treten?« Er sah aus, als wollte er gleich in Tränen ausbrechen. Nona hatte seine Sensibilität richtig eingeschätzt. Er war etwas größer als sie und genauso schlank. Ein femininer Zug im Gesicht eines Mannes hatte sie noch nie fasziniert; bei Caleb war es anders. Caleb schien die Charakterzüge von Mann in Frau in einem beispiellosen Gleichklang in sich zu vereinen. Diese Balance war es, die Nona für ihn einnahm, obwohl sie nicht vorhatte, irgend etwas mit ihm anzufangen.
Landru war erst wenige Tage tot! Ihr einziger Geliebter, der all ihre Geheimnisse gekannt hatte, war nicht mehr. Der Einzige, mit dem sie über alles hatte sprechen können … »Beruhige dich. Es tut mir leid. Besser, du gehst jetzt.« Caleb hatte sich schon halb umgedreht, als er sich ihr abrupt wieder zuwandte und in einem regelrechten Temperamentsausbruch schrie: »Nein! Ich werde nicht gehen! Nicht, bevor du mir gesagt hast, warum du wirklich hier bist! Die Story mit deinem Vater und seiner Bitte auf dem Sterbebett stinkt doch zum Himmel! Du verhältst dich nicht wie die pflichtschuldige Tochter, die den letzten Wunsch eines geliebten Menschen erfüllen will. Du besuchst diese Stadt nicht, du vergräbst dich darin!« Caleb schwieg kurz, aber nur um Luft zu holen. »Meinst du, ich hätte es nicht gemerkt? Meinst du, es macht mir Freude, meinen Onkel mit in so eine Geschichte zu ziehen?« »So eine Geschichte?« In Nonas Hirn schlossen sich Verknüpfungen, die ein Urteil fällten. Das Urteil über Caleb. »Was willst du damit sagen?« »Dein Hiersein mag mit den Chaims zu tun haben – aber ich bezweifele, daß deine Erklärung, warum du sie suchst, der Wahrheit entspricht! Ich beobachte dich täglich, wie du hinter dem Fenster stehst und den Laden beobachtest. Wie du es tust, wie du auf irgend etwas dort wartest, ist nicht normal!« Nona wich einen Schritt vor Caleb zurück. »Du hast recht«, sagte sie rauh. Er nickte fast ein wenig entsetzt, daß sie seine Vorwürfe bestätigte und nicht abstritt. Dann forderte sein Blick sie auf, endlich den wahren Grund ihres Hierseins aufzudecken. Nona entfernte sich noch zwei weitere Schritte von Caleb, beugte sich über das Bett und zog den durchgeladenen Karabiner unter dem Kopfkissen hervor. Der junge, unorthodoxe Jude war gerade dabei gewesen, seiner-
seits auf Nona zuzugehen, als er abrupt wieder stehenblieb. Ein Gemisch aus Wut, Ohnmacht und Enttäuschung entstieg seiner Kehle. Abwehrend hob er die Hand. »Dreh jetzt nicht völlig durch …« Nona lächelte kalt. Ruhig umfaßte sie Kolben und Lauf des Gewehrs. Der Zeigefinger ihrer Rechten lag am Abzugshahn. Caleb starrte genau in die Mündung. »Ich drehe nicht durch, keine Angst.« Die Beherrschtheit ihrer Stimme, nachdem sie sich entschieden hatte, das Spiel zu beenden, machte Caleb eindringlicher als die Worte selbst klar, daß er sie nicht unterschätzen durfte. Sie würde schießen, wenn er sie dazu zwang. »Wer bist du? Und wo … ist mein Onkel wirklich?« Nona nickte in die Richtung, in die Jeb Holski Stunden zuvor gegangen war. »Im Haus der Chaims.« »Im Haus der Chaims?« Caleb glaubte ihr nicht. »Ja. Jemand machte ihm die Tür auf, und seitdem ist er drüben. Wahrscheinlich haben sie ihm den Hals umgedreht.« Die Wut in Calebs Augen wich einer ganz außergewöhnlichen Form von Mitleid. Nona ahnte seine Gedanken. »Ich bin nicht verrückt. Ich weiß einfach mehr als du. Mehr, als du dir erträumen könntest …« »Leg die Waffe weg. Wir können über alles reden. Wo ist Onkel Jeb?« Nona schüttelte den Kopf. Sinnlos, ihm die Sache erklären zu wollen. Und warum auch? Er würde sterben. Sie konnte ihn nicht am Leben lassen. »Komm her!« winkte sie ihn zu sich. Sie stand immer noch neben dem Bett, dessen Kopfseite an die Wand anschloß. Caleb näherte sich zögernd von der anderen Seite. »Leg dich hin!« befahl sie. »Warum?« »Ich werde dich fesseln und knebeln. Dann werde ich von hier
verschwinden.« »Wohin?« »Darauf erwartest du nicht wirklich eine Antwort, oder?« Caleb kniff die Lippen zusammen. Als er die Schuhe auszog, bevor er sich auf das Bett legte, kitzelte in Nonas Rachen ein böses, mühsam unterdrücktes Lachen. Aber sie sagte nichts. Caleb sah zu ihr auf. »Worauf wartest du?« fragte er. »Fessele mich!« Ohne den Finger vom Abzug zu nehmen, griff Nona nach dem Kopfkissen und zog es unter Calebs Nacken hervor. Zwei schnelle Aktionen, die ineinanderfließen, dachte Nona. Das Kissen auf sein Gesicht pressen und den Lauf tief in die Daunen bohren. Sofort abdrücken. Die Fenster waren geschlossen. Trotzdem würde der Knall draußen oder in den angrenzenden Häusern zu hören sein. Aber die wenigsten Menschen würden vermuten, einen Gewehrschuß gehört zu haben. Wirklich nicht? Dies war nicht irgendein Land und nicht irgendeine Stadt. Der unterschwellige Kriegszustand, in dem die Bürger Jerusalems, die Bürger Israels lebten, war Nährboden für permanente Wachsamkeit. Immer und überall war man auf der Hut, berechtigterweise, denn Terroranschläge gehörten zum Alltag dieser Leute … … die vom wahren Terror nichts ahnen, dachte Nona. Von Vampiren und Werwölfen, die unter ihnen leben, die töten, um dunkle Triebe oder einfach nur ihr eigenes, unzählige Male beflecktes Leben zu verlängern … »Warum nimmst du mir das Kissen weg?« Weil ich – Caleb glaubte immer noch nicht, daß er um sein Leben fürchten mußte. In all seinen Schrecken, all seine Ohnmacht mischt sich immer noch … Bewunderung für mich.
Nona fröstelte. Sie blickte auf Caleb hinab und dachte – obwohl keinerlei Ähnlichkeit die beiden verband – an Landru. »Sei endlich still!« preßte sie hervor. Kissen und Karabiner. Tu es! »Wer bist du? Warum erklärst du mir nicht, was hier geschieht? Niemand hat dir etwas getan – warum gehst du so mit anderen um? Sag! Sag mir, warum du mich so erniedrigst!« Calebs Gesicht verschwamm. Es brach wieder über Nona herein, ohne daß sie etwas dagegen tun konnte. Ein halbes Jahrtausend der Abhärtung, die aus einem so langen Leben erwuchs … umsonst! Die Trauer und Traurigkeit waren stärker. Caleb sah ihre Tränen, und die Reaktion, die sich auf seinem Gesicht spiegelte, machte es Nona unmöglich, die geplante Tat auszuführen. In hilfloser Wut über die eigene Unzulänglichkeit warf sie das Kissen aufs Bett zurück. Der Lauf des Karabiners neigte sich langsam zu Boden, ehe sie ihn jäh wieder hochriß und auf Caleb herabfahren ließ. Wuchtig traf Nona die Schläfe des Mannes, dessen Augen sich schlossen wie zwei herabfallende, stählerne Schotte.
* Der Adler kreiste im Abendrot. Dann – als hätte er eine Beute ausgemacht – stieß er urplötzlich im Sturzflug auf das Tal hinab. Der am Boden sitzende, nur um die Lenden bekleidete Mann zeigte kein Erschrecken, nicht einmal Überraschung, als der stolze Vogel direkt vor seinen Augen vom Himmel fiel und sich in einen athletisch gebauten Indianer mit markanten Zügen verwandelte. »Hidden Moon«, sagte er. Die Nennung des Namens ersetzte den
Gruß. Mit einem Gesicht wie aus Stein gemeißelt kam der Arapaho-Vampir auf den Schamanen vom anderen Ende der Welt zu. »Ich hörte, du selbst nennst dich Oodgeroo Noonuccal, Esben Storm. Stimmt das?« Wie er dasaß, ähnelte der Aboriginal einem aus der Meditation erwachten Guru. Seine Handkanten ruhten auf den Oberschenkeln der überkreuzten Beine. Sein flaches, von Kerben und Wülsten geprägtes Gesicht blieb in sich maskenhaft. »Es stimmt, Wyando, der sich Hidden Moon nennt.« Nur ein Hauch von einem Lächeln materialisierte auf den Zügen des Arapaho. »Sicher kennst du die Bedeutung meines zweiten Namens. Aber was bedeutet Oodgeroo Noonuccal?« »Muß es etwas bedeuten?« Esben Storm blieb sitzen, machte keine Anstalten, sich zu erheben, wie andere es fast zwanghaft getan hätten, wenn sich jemand aufrecht unmittelbar vor sie gestellt hätte. Es unterstrich das Selbstbewußtsein dieses der Gestalt nach unscheinbaren, fast schmächtigen Aboriginal, der auf noch seltsameren Wegen als Makootemane in Chiyodas Sphäre gefunden hatte. »Ich bin sicher.« »Du hast recht.« »Du willst es mir nicht verraten?« »Es bedeutet Niemandes Freund.« »Niemandes Freund …« Wyando legte den Kopf schief, so daß Storms Blick auf den Gefiederflaum im Nacken des Arapaho fiel. Der Flaum war einmal von derselben Schwärze wie das darüber fallende Haar gewesen. Nun war er grau, weiß beinahe. »Wie ist das passiert?« fragte Esben Storm ruhig. Der auf den Flaum gerichtete Blick ließ keinen Zweifel, was er meinte. »Wie, weiß ich nicht. Aber es geschah über Nacht. Als ich heute früh aufwachte, entdeckte ich es.«
»Wir haben noch nie miteinander gesprochen, seit du mit der Wolfsfrau angekommen bist«, sagte Esben Storm. »Was erwartest du von mir? Hilfe dabei?« Er hob die Hand und zeigte auf den Flaum. »Du lebst eine besondere Beziehung mit Makootemane und Chiyoda«, sagte Hidden Moon. »Beziehung?« Zum ersten Mal erschien überhaupt ein Ausdruck in Esben Storms Augen. Es war Spott. »Euch verbindet etwas, wozu ich keinen Zugang finde.« »Das ist wahr.« »Makootemane, der in gewissem Sinn ein Vater für mich ist, hat mir von dir erzählt. Er war beeindruckt von deinem Wissen und deinem Verständnis der Natur. Indianer und Aborigines scheinen sich sehr ähnlich zu sein. Nur die Traumzeit unterscheidet uns.« Esben Storm schüttelte fast belustigt den Kopf. »Sie unterscheidet uns nicht. Die Traumzeit ist allgegenwärtig. Sie ist Bestandteil jeder Mythologie. Ihre Gesetze finden sich in jeder Kultur. Ob Jahwe, Buddha, Allah oder Manitou – die Wondjinas waren immer Werkzeuge des vielnamigen Einen. Sie halfen ihm, die Welt mit Formen und Leben zu füllen. Die besungenen Linien, die sie zurückließen, sind unsichtbar. Aber den Wissenden erlauben sie Reisen in Welten, in die Unwissende niemals Zutritt haben werden. – Hast du das verstanden? Nein, sicher nicht. Geh jetzt. Ich möchte allein sein.« »Du willst mir nicht helfen?« »Ich sagte doch, wer ich bin: niemandes Helfer, niemandes Freund.« »Du hast Chiyoda und Makootemane unterstützt, als sie Nona und mich aus dem Dschungel und von Lilith wegholten …« »Sie brauchten viel Energie, um zwei Körper durch das Labyrinth der Wirklichkeiten zu lotsen. Sehr viel mehr Energie, als ihnen zur Verfügung stand.« »Du hast ihnen geholfen«, beharrte Wyando. »Hilf auch mir!«
»Wobei?« »Sieh mich an … Nein, nicht hier, nicht mit den Augen, die alles ebenso sehen wie meine Augen. Wechsele einmal auf die Pfade, die ich nie betreten werde, und sag mir hinterher, wie du mich gesehen hast. Ob dir etwas an mir aufgefallen ist!« »Du bist ein Vampir.« »Davon rede ich nicht.« »Aber ich. Wenn du wüßtest, wie deinesgleichen für mich aussehen, würdest du –« »Ich will wissen, wie der Flaum aussieht. Ob du daran eine Besonderheit erkennst – oder die Ursache seiner Veränderung.« »Es scheint dich tatsächlich zu beunruhigen, und wahrscheinlich sogar mit Recht.« Wyando verschränkte die Arme vor der Brust. »Es hat begonnen, nachdem ich Chiyodas Rat befolgte und das erste Mal intensiv an mir gearbeitet habe.« »Unter gearbeitet verstehst du, das Böse in dir bekämpft zu haben, die Dunkelheit?« »Ja.« »Einverstanden. Ich werde einen Blick auf dich werfen. Es dauert nicht lange. Warte hier.« Esben Storm schloß die Augen. Und als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, begann sein Körper damit, unscharf zu werden. Kurz darauf war er gegangen.
* Als Caleb die Augen wieder aufschlug, war es Nacht. Im Zimmer war es dunkel geworden, nur von der lampenerhellten Straße fiel etwas Licht herein. Sie hat es also wahr gemacht, dachte der Jude und zerrte an seinen
Fesseln. Das Stoffknäuel in seinem Mund wurde von einem hinter dem Kopf verknoteten Band daran gehindert, ausgespuckt zu werden. »Gib dir keine Mühe. Die Stricke halten«, sagte eine Stimme aus der Dunkelheit. Nona stand neben dem Fenster, nicht davor, deshalb brauchte es eine Weile, bis Caleb sie ausgemacht hatte. Davor hatte es den Anschein gehabt, als wäre sie mit der Dunkelheit verschmolzen gewesen – selbst zum Schatten geworden. Regungslos lag er auf dem Bett. Beim Versuch, die Fesseln abzuschütteln, hatten sie sich noch enger zusammengezogen und schnürten ihm fast das Blut ab. »Laß dich von mir nicht stören. Wenn dir danach ist, quäl dich ruhig selbst.« Im selben Tonfall hätte Nona über das Wetter oder eine andere Belanglosigkeit reden können. Caleb versetzte es einen Stich, und einen Moment lang wünschte er sich, genauso kaltschnäuzig, genauso hartgesotten zu sein. Aber der Wunsch wurde ihm nicht erfüllt. Die schlanke Gestalt, die er selbst in dieses Haus geführt hatte, schaute nicht zu ihm, sondern auf die Straße hinaus. In Richtung des Gemüseladens. Ob Onkel Jeb wirklich dorthin gegangen ist? Oder hat sie ihn …? Der ins leere laufende Gedanke verursachte Caleb heftigere Bauchschmerzen, als ihm lieb war. Auch wenn er nie eine sehr harmonische Beziehung zu seinem antizionistischen Onkel gepflegt hatte, die Vorstellung, ihm könnte durch sein Mitverschulden etwas zugestoßen sein, legte sich ihm wie ein Gewicht auf die Brust. Ohne sich die Folgen vor Augen zu halten, zerrte er erneut an seinen Hand und Fußfesseln, die mit den Bettpfosten verknotet waren. Erst der Schmerz ließ ihn innehalten. Caleb stöhnte. Die Frau am Fenster fragte: »Wird man dich vermissen? Wird es auffallen, daß
du nicht heimgekommen bist? Lebst du allein oder mit anderen zusammen? Mit deiner Familie, mit Freunden, einer Freundin …?« Sie schien ihm zuzutrauen, daß er sich auch um sie bemüht hätte, wenn er bereits in einer festen Partnerschaft gelebt hätte. Wie wenig sie von ihm wußte. Und er von ihr. Er antwortete in den Knebel hinein. Nona bewegte sich nicht von ihrem Platz weg. »Es genügt«, sagte sie, »wenn du nickst oder den Kopf schüttelst.« Er zögerte, dann verneinte er ihre Frage, was er aber augenblicklich bereute. Vielleicht hätte sie ihr Handeln neu überdacht, wenn sie sich etwas mehr Sorgen über die drohenden Konsequenzen hätte machen müssen … Sie sagte: »Das ist gut. Gut für dich. Vielleicht kann ich dir dein Leben tatsächlich lassen.« Der Gleichmut ihrer Stimme in Verbindung mit dem, was sie sagte, erhöhte Calebs Pulsschlag. Durch die Nase atmete er tief ein und aus. Obwohl es nicht kalt war, fror er. Es war ein ähnlich übertriebenes Kälteempfinden wie an dem Morgen, der ihm immer noch in Erinnerung war; vor Jahren, als er mit Freunden eine Nacht durchgezecht und sich tags darauf absolut miserabel, zum Sterben elend gefühlt hatte. Er versuchte an etwas anderes zu denken, aber Nonas Stimme unterbrach ihn dabei. »Wenn er mich verraten hat«, flüsterte sie, »werden sie wahrscheinlich herüberkommen, um sich zu vergewissern, wer bei Jeb Holski eingezogen ist. Lilith kennt mich. Falls Holski mich ausreichend beschrieben hat, wird sie ganz bestimmt kommen. Was auf dem Bett liegt, wird sie ablenken. Solange, bis sich die Kugel in ihren Schädel gebohrt hat. Ich muß sorgfältig zielen. Wenn ich nicht beim ersten Mal genau treffe, habe ich verloren. Und wenn sie zu zweit kommen – auch …«
Daß sie immer noch den Karabiner in ihren Händen hielt, fiel Caleb erst nach diesem Monolog auf. Von wem redete sie überhaupt? Wessen Erscheinen fürchtete sie? Er erhielt keine Antworten auf die Fragen, die unaufhörlich in seinem Kopf kreisten, bis … … er trotz der mißlichen Lage in einen tiefen Schlaf fiel.
* Esben Storm kam zurück. Die Wirklichkeit, die Wyando wahrzunehmen imstande war, schien beim »Wiedereintritt« des Aboriginal regelrecht aufzuseufzen. Ein seltsamer Klang wehte durch das Tal. Als wäre das, das Esben Storms Platz vorübergehend eingenommen hatte, nun wieder von ihm verdrängt worden. »Du warst länger weg, als ich es mir vorstellte. Über eine Stunde.« »Dort, wo ich wandere, unterliegt die Zeit anderen Gesetzen.« Wyando überlegte kurz, was der australische Ureinwohner damit zum Ausdruck bringen wollte – daß er aus seiner Sicht länger oder kürzer unterwegs gewesen war? Letztlich spielte es keine Rolle. »Hast du etwas … herausfinden können?« Der Arapaho-Vampir war in Storms Abwesenheit hin und her gewandert, nun stand er wieder still und aufs höchste angespannt. »Das habe ich.« Die Mimik des Schamanen, der mit überkreuzten Beinen dasaß, als hätte er sich nie auch nur einen Schritt weit entfernt, gab Hidden Moon keinen Anhaltspunkt über die Art der Entdeckung, die er gemacht hatte. »Dann sag es mir!« »Das würde ich – wenn ich es selbst verstanden hätte.« »Du hast es nicht verstanden?« »Nein.«
Wyando beugte sich nach vorn und nötigte Esben Storm förmlich, sich zu erheben und ihm Auge in Auge gegenüberzustehen. »Was ist das? Eine billige Ausrede, weil du mir gar nicht sagen willst, was du drüben gesehen hast?« Ein nachsichtiger, fast mitleidsvoller Ausdruck fiel wie ein Schatten über Esben Storms Gesicht, der keinen Versuch unternahm, die Berührung seines Gegenübers abzustreifen. »Ich sah«, sagte er, »einen Anfang.« »Was meinst du mit Anfang?« Hidden Moon war drauf und dran, sich umzudrehen, ins Sanktuarium zurückzukehren und Esben Storm nie wieder mit einer Bitte wie dieser zu belästigen. Im Grunde war der Versuch, Niemandes Freund um einen Gefallen zu bitten, schon gescheitert gewesen, bevor Wyando seine Bitte überhaupt formuliert hatte. »Den Anfang von etwas, was ich nur einmal, und da auch nur ähnlich, sah«, fuhr Esben Storm stoisch ruhig fort. »Wann und wo war das?« »Als die Schöpferwesen auf dem Grund und Boden von Liliths Edens magischem Geburtshaus entarteten.« Verblüfft und am Ende seiner Geduld starrte Wyando den Eingeborenen an. »Darüber weiß ich nichts … Ich will wissen, was du gesehen hast!« Esben Storm blickte zu ihm auf. »Ich sah, daß der Flaum entartet ist. Seine Wurzeln halten ihn nicht nur unmittelbar unter der Hautoberfläche fest, sondern …« »Sondern?« »Sie dringen tief in deinen Körper ein. In dein Rückenmark und von dort aus noch weiter. Nach oben.« »Wie weit – nach oben?« Der Arapaho schluckte. Zugleich beschlich ihn eine nie dagewesene dumpfe Furcht. Und in seine Züge brannte sich ein Ausdruck, der sagte: Hätte ich nur nie gefragt! Ich hätte es auf sich beruhen lassen sollen …
»Bis in dein Gehirn«, sagte Oodgeroo Noonuccal. Wyandos Hand fuhr in den Nacken. Seine Finger gruben sich in den zarten weißen Flaum und formten eine Faust. Einen Augenblick war er versucht, sich das Büschel mit Brachialgewalt herauszureißen. Nur der Gedanke an das, was er noch – und ungewollt – mit herausreißen könnte, von ganz weit oben, ließ ihn die Faust wieder öffnen. Er beschloß, Makootemane aufzusuchen. Auch Makootemane trug dieses Stigma, das der innigen Verbindung der Arapaho-Vampire mit ihren Seelentieren, den Adlern, entsprossen war. »Kannst und willst du mir mehr darüber sagen?« fragte er Esben Storm mit bebender Stimme. »Nein«, lautete die unbefriedigende Antwort. »Kannst du oder willst du nicht?« Esben Storm lächelte ein Lächeln, das Wyando für einen kurzen Moment noch größeres Grauen einflößte als die Frage, was in ihm zu wachsen begonnen, und was Storni einen Anfang genannt hatte. Den Anfang wovon …?
* Die Nacht war vergangen, ohne daß Jeb Holskis Haus ein Besuch abgestattet worden wäre. Nona begann daran zu glauben, daß das Verschwinden von Calebs Onkel für sie selbst folgenlos bleiben würde. Nachdenklich schaute sie auf den jungen Juden, der mit geschlossenen Augen auf dem Bett lag und den Anschein zu erwecken versuchte, daß er noch schlafe. Doch vor ein paar Minuten hatte sich seine Atemfrequenz verändert, lag er stocksteif da, und Nona, die es gelernt hatte, auf Kleinigkeiten zu achten, war überzeugt, daß er nach knapp drei Stunden wieder aus unruhigen Träumen aufgewacht war.
Beim Gemüseladen hatte sich seit Jeb Holskis und dem Verschwinden einer Unbekannten nichts mehr getan. Die ganze Nacht hindurch hatte kein noch so schwacher Lichtschimmer verraten, daß sich zwei Ungeheuer darin eingenistet hatten. Ungeheuer … In Anbetracht der eigenen Übeltaten hätte Nona die Verwendung solcher Bezeichnungen eigentlich scheuen müssen. Daß sie es nicht tat, bewies nur, wie vielschichtig ihre Moral- und Wertvorstellungen waren. Ein Mensch ohne »Leichen im Keller« hätte dies nicht verstanden, und der Einzige, der sich je in ihr facettenreiches Ich hatte hineinversetzen und es akzeptieren können, war nun tot. In der Stille der Nacht hatte Nona sich wieder und wieder gefragt, ob auch Landrus Seele von seinen Mördern ausgelöscht worden war. Oder ob sie aufgestiegen war in Gefilde, in denen sie ihren Frieden gefunden hatte – nach einer kleinen Ewigkeit irdischen Seins. Eine Antwort hatte sie nicht gefunden. Nicht einmal Trost. Was bin ich bloß für ein Janusgesicht, dachte sie, als der Muezzin wieder zu rufen begann. Was pflege ich für eine heuchlerische Doppelmoral? Auch der junge Mann auf dem Bett, Caleb, war auf ihre mächtigste Waffe zwischen den Monden hereingefallen: Auf die liebreizende Unschuld, die sie vorzugaukeln vermochte … Sie verließ ihren Fensterplatz und trat neben den Dunkelhaarigen. Als sie sich an dem Band zu schaffen machte, das den Knebel festhielt, schlug er die Augen auf. Obwohl Nona damit gerechnet hatte, zuckte sie unter dem brennenden Blick des Mannes leicht zusammen. Dennoch machte sie unbeirrt weiter. Das Band fiel zu Boden. Danach befreite sie Caleb mit spitzen Fingern von dem Knebel. »Warum tust du das?« fragte er, die Stimme rauh, kaum verständ-
lich. Er räusperte sich. Hustete. »Du darfst nicht schreien. Du darfst mein Entgegenkommen nicht enttäuschen«, sagte sie langsam, »sonst …« »Sonst bringst du mich für immer zum Schweigen?« Nona ging zum Fenster zurück, und ihr Blick heftete sich wieder an die Fassade von Gershom Chaims Ladengeschäft. »Ich wollte ein wenig plaudern«, sagte sie. »Die Zeit totschlagen.« Er lächelte. Sie sah nicht hin, und trotzdem spürte sie die in ein falsches Lächeln verpackte Verachtung, mit der er zu ihr herüber starrte. Als er nichts sagte, löste sie den Blick vom Haus der Chaims und fand ihren Verdacht bestätigt. »Hör auf, mich so anzusehen!« Er gehorchte. Schloß Augen und Mund. Danach erinnerte er trotz der Fesselung an einen aufgebahrten Toten. Er schwieg auch die nächsten Stunden und strafte sie mit ihren eigenen Mitteln. Mit Nichtachtung. Nona hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Sie wartete darauf, daß Anum und Lilith endlich die Initiative ergriffen. Daß sie ihren Unterschlupf verließen. Urplötzlich überkam sie dieses Gefühl, in Richtung des Ölbergs blicken zu müssen. Sie tat es. Der fahle Mond stand dort im Blau des Himmels. Die Sonne, die über die Altstadtmauer gekrochen war, schaffte es nicht, ihn gänzlich zu überstrahlen. Zum vollen Rund fehlte ihm noch gut ein Viertel. So lang wie diesmal war Nona die Zeit zwischen den Nächten ihrer persönlichen Verdammnis noch nie erschienen. In diesem Moment – veränderte sich das bleiche Auge am Himmel, verhüllte der Mond sein bleiches Antlitz in blutiger Röte. Später würde sich Nona fragen, ob nur sie und Wesen ihrer Art diese Veränderung hatten wahrnehmen können, oder ob sie jedem
zufällig zum Mond aufblickenden Geschöpf aufgefallen war. Später, sehr viel später vermochte sie sich darüber wieder den Kopf zu zerbrechen. Zuvor aber löschte der nie gesehene Glanz am Himmel jeden klaren Gedanken in ihr aus. Spülte aus den Tiefen hervor, was sie sehnlichst erwartet hatte – und wovor sie nun doch instinktiv erschrak. »Heh, was ist?« Caleb war durch das Geräusch aufmerksam geworden, mit dem sie gegen einen kleinen Tisch gestoßen war und ihn umgeworfen hatte. Das Poltern hatte seine Augen geöffnet. Und das Entsetzen weitete sie, wie sie noch nie geweitet gewesen waren. »Heh! Heh! Bleib – stehen! Ich schreie! Du Miststück, bleib stehen, bleib stehen, oder ich –« Seine Schreie endeten in Blut. Blut, das durch das Zimmer spritzte, Blut, das Wände und Möbel besudelte, Blut, das Laken und Matratze tränkte …
* Ernst betrachtete Makootemane den Mann, der ihm nahestand wie ein Sohn. »Du wirkst bedrückt«, sagte er, als Wyando den Raum betrat, den Chiyoda ihm zur Verfügung gestellt hatte. »Was kann ich für dich tun?« Hidden Moon berichtete ihm von seiner Begegnung mit Esben Storm. Er verschwieg nichts. Auch nicht, daß die Angst in ihm angeschwollen war, als wollte sie den dunklen Trieb ersetzen, den er mit Chiyodas Lektionen zu zähmen versuchte. »Laß mich sehen«, forderte Makootemane ihn auf, und Hidden Moon kehrte ihm den Rücken zu, fühlte, wie die schwieligen Hände des Oberhaupts der Arapaho-Vampire in sein Haar tauchten, es teilten und dann den Flaum berührten.
»Schneeweiß«, hörte er Makootemane sagen. »Wie sonderbar.« »Eigentlich bin ich gekommen«, sagte Hidden Moon, »um zu fragen, ob du an dir auch eine ähnliche Veränderung bemerkt hast.« Der alte Indianer verneinte, schränkte aber ein: »Die Spiegel leugnen unsere Art. Mir selbst würde es schwerfallen, eine Veränderung des Gefieders zu bemerken. Wie bist du darauf aufmerksam geworden?« »Einer von Chiyodas Schülern sprach mich darauf an.« Makootemane nickte. »Was machen deine Fortschritte?« Hidden Moon zuckte hilflos die Achseln. »Ich weiß es nicht. Es ist anders als früher. Aber ob es besser geworden ist, wage ich noch nicht zu beurteilen. Zumal Storms Worte mich verunsichert haben.« »Weiß ist normalerweise nicht die Farbe des Bösen«, sagte Makootemane. »Es könnte ein äußeres Zeichen für den Prozeß sein, der in dir begonnen hat.« »Du meinst, ich beginne das Dunkle in mir in den Griff zu bekommen? Auch ohne die Unterstützung eines Seelentiers?« »Wäre es nicht die naheliegendste Erklärung?« Hidden Moon schüttelte den Kopf. »So schnell?« fragte er zweifelnd. Hidden Moon merkte, daß Makootemane aufrichtig zu ihm sprach. Dennoch sprang der beruhigende Funke, auf den er gehofft hatte, nicht auf ihn über. Der alte Arapaho-Häuptling merkte es. »An welche andere Möglichkeit, die dir soviel Angst bereitet, denkst du?« »Ich denke nicht nur daran, ich fürchte sie wie die Pest, die über unser Geschlecht gekommen ist!« sagte Hidden Moon. Und stöhnend hob er die Hände, um sein Gesicht sekundenlang darin zu vergraben. Als er es wieder daraus löste, glitzerten seine Augen wie ein sternenübersätes Firmament. Nur in ihrer Mitte war einsame Schwärze, die Makootemane an Hidden Moons Kelchtaufe während einer Mondfinsternis erinnerte, als er fortfuhr: »Ich stand
lange im Bann des leibhaftigen Satans. Er bewegte mich wie eine Figur auf dem Schachbrett. Und alles nur, um zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein und die in mir angesammelte Finsternis auf Lilith abzuwälzen. So wollte er den Teil ihres Selbst, der den Einflüsterungen des Bösen Widerstand leistet, schachmatt setzen. Und ganz offenbar ist Gabriel sein Vorhaben gelungen!« »Gabriel …«, dehnte Makootemane den eben gehörten Namen. »Ist das der Name des Teufels?« »Sein Name in diesem Leben. Er muß schon viele Hüllen durchwandert haben. Wie ich schon sagte, war ich lange in seinem Bann …« »… und nun fürchtest du, er könnte etwas in dich gepflanzt haben, das dich auch weiterhin beherrscht?« Makootemane berührte sacht Hidden Moons Stirn und schloß kurz die Augen. »Ich kann keine fremde Macht in dir spüren«, sagte er dann. »Was nichts bedeuten muß«, warf Hidden Moon ein. »Gabriel ist ein Meister in verborgenen Ränkespielen.« Makootemane seufzte schwer und fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. »Ich bin erschöpft«, sagte er. »Geh jetzt, bitte. Du darfst den Mut nicht verlieren. Und schon gar nicht den Glauben an den Sinn, sich gegen das Dunkle in dir zu stemmen.« »Und du? Dir scheint alles ganz leicht zu fallen. Auch du hast dein lebendes Totem nicht mehr verfügbar. Auch du müßtest unter der Last des Bösen ersticken.« »Ich wende Chiyodas Lehre an, seit ich davon erfahren habe.« »Und trotzdem ist dein Gefieder noch immer schwarz wie das eines Raben!« »Ein paar hellere Stellen wird es schon geben.« »Aber ihr Ursprung ist ein anderer als bei mir«, erwiderte Hidden Moon in felsenfester Überzeugung, obwohl er keinerlei Beweis für
diese These hätte vorlegen können. Makootemane wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment stürmte Chiyoda den Raum. »Was für ein unverzeihlicher Fehler!« rief er mit rauher Greisenstimme. »Wir müssen Nona sofort zurückholen! Sie schwebt in höchster Gefahr – und vielleicht war es völlig sinnlos, daß sie sich überhaupt in die Höhle des Löwen begab …« »Sinnlos?« fragte Makootemane. »Was heißt das?« »Das heißt, daß ich noch einen Landru gefunden habe – in unserer Realität. Fernab von Jerusalem. Und bei bester Gesundheit!« »Wo?« fragten Hidden Moon und sein Oberhaupt wie aus einem Mund. »Nicht weit von Uruk. Nicht weit vom Korridor der Zeit …« »Wie konntest du Uruk mit Jerusalem verwechseln?« ereiferte sich Hidden Moon, während Makootemane nur wie geistesabwesend den Blick zu Boden richtete. »Ich habe es nicht verwechselt. Er war an beiden Orten – und an einem ist er bereits genau so gestorben, wie ich es vorausschaute.« Ohne abzuwarten, bis diese Information ganz in seinen Verstand gesickert war, fragte Hidden Moon: »In Jerusalem?« »Ja, aber es muß ein Doppelgänger des Kelchhüters gewesen sein. Der echte Landru ist unversehrt. Er schart gerade sonderbare Gestalten um sich, die er anschließend nach Jerusalem führen soll …« »In wessen Auftrag?« »In Gabriels Auftrag – auf Satans persönlichen Befehl …« Offenbar wollte er noch mehr dazu erläutern, aber in diesem Augenblick ging ein solcher Ruck durch seine greisen Knochen, daß die beiden Arapaho ihm schon entgegeneilten, um ihn vor einem Sturz zu bewahren. Er wehrte sie und hielt sich mühsam auf den Beinen. Von draußen wehten Schreie durch ein offenstehendes Fenster herein. Nein, keine Schreie … Heulen!
Hidden Moons Haut schien sich wie unter einem jähen Kälteschock zusammenzuziehen. Er sah nur noch zu Chiyoda, der sichtbar um seine Fassung rang. Und nicht nur das: Der sich verwandelte! Aus dessen verklärt-friedfertigen Zügen hervorbrach, was Jahrzehnte darunter geschlummert und ihn in Sicherheit gewiegt hatte! Nun aber, zu einer Stunde, einem Tag, an dem er geglaubt hatte, den Fluch nicht fürchten zu müssen, riß dieser alle Blockaden und Barrikaden nieder, die Chiyoda in sich errichtet hatte. Die Dämme brachen mit einem Geräusch, das nur Chiyoda selbst und einige seiner eifrigsten Schüler in dieser Weise zu hören bekamen. Für Hidden Moon und Makootemane, die in diesem Moment bei ihm waren, spielte sich die Katastrophe in den Köpfen der Betroffenen fast lautlos ab. Bis er in den Gesang einstimmte: den Gesang der Wölfe. Den Chor der Männer und Frauen, die in diesen Sekunden alles von sich warfen, alles vergaßen, wofür sie sich kasteit hatten. Und das Heulen, das von draußen kam, schwoll immer lauter an und entfachte das anfangs noch schwache, kaum erkennbare Feuer in Chiyodas Augen. »Verschwinden wir!« flüsterte der eine Arapaho dem anderen zu. Aber sie kamen nicht einmal mehr bis zur Tür. Hidden Moon spürte zuerst den Glutatem des zweibeinigen Wolfs in seinem Nacken – und dann bereits die hornigen Krallen, die sich genau in den erbleichten Gefiederflaum hineinbohrten, der sich augenblicklich dunkel zu färben begann. Schwarz wie die Marmorierung in Chiyodas entmenschten Augen …
* Zwischenspiel
Stonehenge, England Ein nackter Teufel durchkreuzte die beiden steinernen Kreise des in alter Pracht neuerstandenen Kromlechs und stolzierte auf den dritten Kreis zu, die Wand aus Menschenleibern. Dreihundertfünfzig an der Zahl. Dreihundertfünfzig wie zu Salzsäulen erstarrte, im Innersten verheerte, äußerlich aber unversehrt gebliebene und noch immer von warmem Blut durchströmte Menschen. Um den Mund des nackten Teufels prägte sich ein zynischer Zug, als er an den Vertrag dachte, den er mit diesen Narren geschlossen hatte. Mit diesen … Irren. In Highgate Hall, der nahegelegenen Psychiatrie, waren sie inhaftiert gewesen. Von cleveren Anwälten und Gutachtern für unzurechnungsfähig erklärt, um auf diese Weise das zu verhängende Strafmaß auf ein Minimum zu reduzieren. Mörder, Kidnapper, Vergewaltiger. Jetzt waren sie zu dem geworden, was sie ihrer Umwelt über Monate und Jahre hin nur vorgegaukelt hatten. Die Freiheit hatte Gabriel ihnen als Lohn für einen Gefallen versprochen, einen ganz speziellen Gefallen, und jetzt waren sie frei! Denn gab es größere Freiheit als die eines zerrütteten Verstandes? Eines ausgebrannten Gehirns, das keine einzige Sorge, keine einzige Sehnsucht mehr zu formulieren vermochte? Gabriels Lachen wurde vom wahren Stonehenge verschluckt. Zuvor hatte es die Energie aus den Hirnen der Dreihundertfünfzig abgezapft und aufgesogen, um sich wie eine Doppelbelichtung über das zerfallene Monument aus Monolithen und Trilithen zu schieben. Seither erstrahlte der Kromlech wieder ebenso makellos wie vor mehr als einer Million Tagen – in einer Nacht, die trotz des Mondes und der Sterne am Himmel finsterer wirkte als jede Nacht davor. Abseits des dritten Kreises, dem aus Fleisch und Blut und Knochen, hätte kein zufälliger Beobachter das wahre Stonehenge zu er-
blicken vermocht. Aber noch existierte es dort, wohin lodernde Seelen es geholt hatten … Der nackte Teufel erreichte die Menschenwand und stellte sich vor einen Mann, dessen stierer Blick dorthin gerichtet war, wohin alle blickten: nicht zum Kromlech, sondern hinauf zum immer noch blutrot verhüllten Mond. Dorthin hatte das Instrument aus Steinen den Impuls der Menschenhirne geschickt – und der Mond hatte ihn, vermischt mit der Magie, die ihm selbst zueigen war, wieder zurück zur Erde geschleudert. In andere Hirne. Mehr als dreihundertfünfzig. Viel, viel mehr … Eine Armee von »Schläfern« hatte den Weckimpuls empfangen. An welchem Fleck des Erdballs sich seine Soldaten auch befunden haben mochten, der Ruf hatte sie erreicht. Er hatte das tief in ihnen Schlummernde entfesselt und sie wissen lassen, wohin sie eilen sollten. Unverzüglich. Unaufhaltsam. Dorthin, wohin auch ich mich wenden werde, dachte der Teufel. Und wo ich den Anführer meiner Soldatenschaft ernenne. Er hob die Hand und strich über das fiebrig heiße Gesicht des ihm am nächsten stehenden Mannes, aus dessen Mund sich ein seliger Ton löste. Sein Blick war in den Himmel gerichtet, wo sich allmählich die blutigen Schleier verzogen. Auch hinter Gabriel geschah das Erwartete: Das kurzlebige, wahre Stonehenge begann wieder zu verblassen, wieder zurückzustürzen in frühere, längst vergangene Zeiten. Damals, dachte Gabriel, als der erste Wolf entstand. Der erste MenschWolf … Einen Moment lang hatte es den Anschein, als wollten seine Gedanken ins ferne Gestern schweifen und dort verweilen. Aber das Gebrabbel derer, die nun nach und nach dem Bann entglitten, der den Kreis zusammengehalten hatte, erstickte die Verlockung, in Erinnerung zu schwelgen. Der Erinnerung eines seiner Vorgänger.
Ich bin die Summe vieler. Seit es ihm gelungen war, die Höllenpforte im Monte Cargano für kurze Zeit zu öffnen, war er sich seiner eigenen Bedeutung und Identität ganz und gar bewußt geworden. Als ahnungsloses und nach Antworten hungerndes Kind war er geboren worden. Und lange hatte er selbst nicht geahnt, wessen Sohn, wessen Gesandter er war. Inzwischen waren jegliche Zweifel verschwunden und die Macht in Gabriel zur vollen Blüte gereift. Dem Vater jenseits der Schwelle war es schwergefallen, sich nach der vernichtenden Niederlage im Jahre 1666 gegen den Erzengel Michael in einem neuen Körper diesseits zu etablieren. Frühere Inkarnationen waren sich ihrer Aufgabe und Herkunft stets sofort und ohne Einschränkung bewußt gewesen. Gabriel nicht. Gabriel hatte erst die Hölle auf Erden durchwandern müssen, ehe die Hölle in ihm an die Oberfläche kam. Nun aber sammelte er Verbündete, schloß er Pakte. Und erweckte er Armeen, die andere seiner Art im Laufe ihres Wirkens rekrutiert hatten … Als er das nächste Mal hinter sich blickte, erhob sich wieder der vom Zahn der Zeit zerstörte Kromlech in der Dunkelheit. Aller Zauber war verflogen. Am Horizont kündete bereits ein erster Silberstreif vom neuen Tag. Der dritte Ring zerfiel nun völlig, und überall krabbelten Menschen wie stumpfsinnige Käfer durchs Gras. Bald würden sie eingesammelt und dorthin zurückverfrachtet werden, von wo sie geflohen waren. Gabriel verschwendete keinen Blick mehr auf sie. Sie hatten ihre Schuldigkeit getan, und auf ihn wartete bereits die nächste Herausforderung, der nächsten Schritt zum großen Ziel. Ob Landru die Archonten bereits aus ihrem Kerker befreit hatte? Es hätte nur eines Gedankens bedurft, um sich dorthin zu wenden
und es herauszufinden. Doch Gabriel zog es zu einem anderen Ort. Um seinen sehnigen Körper und das unbehaarte Geschlecht woben sich Schatten, die die Illusion von Kleidung formten, wie sie dort üblich war, wohin er sich nun beruhigt wenden konnte. Auf den unsichtbaren Schwingen, die sein höllischer Vater ihm für die Dauer seines hiesigen Aufenthalts geschenkt hatte …
* Jerusalem Durch die engen Gassen irrte ein Monster. Frühlicht fiel auf sein glänzendes Fell. Belebte Straßen mied es, obgleich die Gier es drängte, sich gerade dorthin zu begeben und in Blut zu baden. Als unmittelbar vor ihm eine Gestalt aus einem Hauseingang trat, warf sich das Ungetüm ohne Zögern zähnefletschend auf den kleinen fetten Mann, dem sein Schweißgeruch vorauseilte. Sie stürzten beide auf das harte Pflaster. Der Mann schrie. Im Liegen schlug und trat er um sich. Bis das Monster ihm die Kehle durchbiß. Eine messerscharfe Kralle schlitzte ihm Anzug und Brust im selben Streich auf. Da krachte ein Schuß. Die Kugel hackte in die Schulter des Monsters, das aufheulte und herumwirbelte. Aus einem Fenster des Nachbarhauses ragte ein Gewehrlauf. Als das Ungetüm seinen Blick dorthin lenkte, verschwanden die Waffe und die Fäuste, die sie gehalten hatten. Aber der Rückzug erfolgte zu spät. Das Monster reagierte sofort. Es wandte sich der neuen Beute zu und hebelte die verriegelte Haustür aus ihren Angeln. Die Schußwunde blutete, behinderte das Wesen aber kaum in seinem Tun und Wüten. Als es in den dämmrigen Hausflur tauchte und auf die Treppe zu-
hetzte, hörte es im Stockwerk darüber eine panikverfärbte Stimme. Der Schütze von eben telefonierte. Bis die zuschnappenden Kiefer ihm das Fleisch aus der Hüfte rissen, hielt er den Hörer fest ans Ohr, die Muschel dicht an den Mund gepreßt. Am anderen Ende der Leitung hörte ein Polizist, wie der Mann schrie, als sich die Pranke in seinem schütteren Haar verfing und ihm den Kopf weit nach hinten bog, so daß die Haut am Hals sich spannte. »Nein– bitte …!« Gnade war dem Monster fremd. Seine wulstigen Lippen stülpten sich über die Kehle des Opfers. Die Augen des Mannes trübten sich, und kaum war er verstorben, verlor das Monster jegliches Interesse an dem erlegten Menschenwild. Der Tod machte Fleisch und Blut ranzig. Ungenießbar. Es floh vom Ort der Greueltat, hetzte von einem Haus ins nächste. Und übernächste. Eine Spur von Blut und Leid markierte seinen Weg. Es schien unersättlich. Rausch, nicht Hunger zwang es zu seinem Tun und Handeln. Halb wahnsinnig und nicht Herr über die in ihm erwachten, von fremder Magie geschürten Triebe lief es Amok. Es … Sie … Nona hielt abrupt inne, als ihr eine Gestalt den Weg verstellte; eine Gestalt, die nicht in ihr sonstiges Beuteschema paßte. »Genug!« seufzte das Geschöpf in der bunt bestickten Tracht eines reichen Juden. Das Geschöpf, das sie in jeder Kleidung erkannt – und respektiert hätte. Und dessen bloßer Anblick die animalischen Attribute, in die ihr Körper sich verstiegen hatte, augenblicklich ausradierte. Als wäre sie damit auch ihres stützenden Skeletts beraubt worden, knickte Nona erschöpft ein und sank auf die Knie. »Gabriel …« »So sieht man sich wieder«, sagte der Jüngling in amüsierten Ton – einem Ton, der der Situation hohnsprach. »Ich freue mich, denn nun
ist der Tag gekommen, da du deine Bestimmung erfährst. Deine und die eines jeden deiner Rasse.« Wie betäubt blieb Nona am Boden knien. Streiflichtartig durchzuckten die Gesichter derer ihre Erinnerung, die sie seit dem Morgengrauen getötet hatte. Mit Caleb hatte es begonnen und mit einem Namenlosen – zumindest vorläufig – geendet … Sie hob die blutüberströmten Hände vor das Gesicht und starrte darauf. Wenig später bohrte sich ihr Blick am Teufel vorbei in den Himmel. »Wen hoffst du dort zu finden? Den Mond?« »Aber er ist … noch nicht voll«, keuchte Nona. »Ich …« »Du wunderst dich, weil du geglaubt hast, dich genau zu kennen – verläßlich zu wissen, wann deine ›Tage‹ beginnen. Und ebenso sicher, wann sie wieder endet, deine Periode der Mordlust …?« »Ja!« »Und wie war es, einmal außerhalb der gewöhnlichen Nächte aus dir herauszugehen?« »Willst du darauf wirklich eine Antwort?« Der Teufel in Menschengestalt lächelte abgründig. »Nein. Wir haben Wichtigeres zu bereden.« »Wir?« Gabriel nickte. Gelassen stand er inmitten einer schmalen Gasse, irgendwo in Jerusalem, und störte sich nicht am Heulen der Polizeisirenen, die darauf schließen ließen, daß das ein oder andere von Nonas Opfern inzwischen entdeckt worden war. Gabriel hatte nie widernatürlicher gewirkt. In seiner Nähe schwand Nonas Einschätzung, selbst ein Monster zu sein. Ein schlimmeres Ungeheuer als ihn konnte es nicht geben. Nirgendwo auf der Welt. »Wie viele hast du getötet?« rutschte es ihr heraus. Zu ihrem Erstaunen ging er darauf ein, auch wenn er nicht erschöpfend antwortete. »Heute? Dreihundertfünfzig«, sagte er.
Nona keuchte abermals. Ihre Abscheu vor Gabriel wuchs noch weiter an, obwohl sie das nicht mehr für möglich gehalten hatte. Als sie schwieg, fragte er: »Interessiert es dich gar nicht mehr?« »Was?« »Das, wonach du dich bei mir schon zweimal erkundigt hast: der Ursprung der Werwölfe, die Wurzeln deiner Art …« Ihr schwindelte. »Du willst mich nur quälen – und verhöhnen!« »Gequält habe ich dich lange genug – seit du geboren wurdest. Nun aber ist die Zeit gekommen, da ich dich belohnen werde.« »Belohnen?« Mißtrauen flackerte neben tausend anderen Vorbehalten in ihren goldfarbenen Augen. »Wofür?« »Dafür, daß es dich gibt – ich könnte mir keine geeignetere Heerführerin vorstellen.« »Heerführerin? Von welchem Heer redest du?« »Von dem, das unterwegs hierher ist, unterwegs nach Jerusalem. Aus aller Herren Länder eilen sie herbei, meine Soldaten … und könntest du dir einen absurderen Kreuzzug vorstellen?« Stumm tastete Nona dorthin, wo ihr Blut aus der Schulterwunde strömte. Gabriel beugte sich herab und legte kommentarlos die Hand auf ihre Verletzung. Nona wollte es sich verbitten, doch er war schneller als jeder Protest. Schwarz und heiß schlug ein Blitz in sie ein. Eine Weile hatte sie das Gefühl, als würde das bleierne Projektil in ihrem Fleisch unter der Gewalt dieses Feuers einfach verdampfen, ohne das umliegende Gewebe anzugreifen. Danach gab es keine Wunde mehr, nicht einmal eine Narbe. Nona verspürte den unwiderstehlichen Drang, sich zu erheben. Gabriel ließ es zu. Oder hatte er es ihr befohlen? »Du willst es mir wirklich sagen, wie wir Werwölfe entstanden sind? Was die Ursache unserer Verdammnis ist?« »Warum nicht?«
Nona fand kein Mittel gegen die Traurigkeit, die ganz plötzlich und hemmungslos wieder in ihr zu toben begann. Das tiefe Bedauern, daß ihr Geliebter Landru erst hatte sterben müssen, ehe sie nun Antwort auf die brennendste ihrer Fragen erhalten würde. Würde sie? »Hast du nicht erst behauptet, ich könnte die Wahrheit gar nicht ertragen?« fragte sie den Teufel. »Ich würde nicht weiterleben wollen mit dem Wissen um die Ursprünge meiner Art?« Gabriel lächelte sein Lächeln ohne jede Milde, ohne jedes Gefühl. »Ich habe die volle Wahrheit gesagt. Du wirst danach nicht mehr weiterleben wollen – aber du wirst es müssen.« Sein Blick durchdrang sie, als könnte er in ihr lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch. Dann nahm er sie behutsam, fast zärtlich, bei der Hand und zog sie mit sich fort. An den Ort, an dem alles begonnen hatte. In ferner Zeit …
* … ZZZUUUWWW! Es war so hell wie dort, woher sie gerade kamen. Aber diese Helligkeit hatte andere Farben, andere Düfte, andere Formen. »Wo sind wir?« fragte Nona. Gabriels Finger umfaßten noch ihr Handgelenk. Es war ein Symbol: Ich bin in seiner Hand, dachte die Wolfsfrau. Ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Chiyoda, Makootemane und Esben Storm waren nicht, wie in Yukatan, auf den Plan getreten, um sie aus der prekären Situation zu erretten. Vielleicht auch deshalb nicht, weil sie es nicht hatten riskieren wollen, einen Gegner von Gabriels Format auf sich aufmerksam zu machen … In Satans Nähe hatte Nona keine Mühe, den Wolf unter ihrer Haut
zu halten, den Werwolf, der sich in Jerusalem wie tollwütig gebärdet hatte. Aber er blieb präsent, lauerte unter einem allzu leicht verletzbaren Make-up auf die nächste sich bietende Gelegenheit, wieder hervorzubrechen, neues Blut zu vergießen, Leid und Angst zu verbreiten! »Du wirst bald selbst am besten wissen, wann und wo du es dir leisten kannst, über die Stränge zu schlagen und dein wahres Gesicht preiszugeben«, sagte Gabriel, als hätte er … nein, Nona war sicher, daß er ihre Gedanken gelesen hatte. »Wo sind wir hier?« Nona befreite sich aus der Fessel, die seine Hand geformt hatte, und sah sich um. Unmittelbar vor ihr gähnte ein Abgrund, und in der Tiefe brandeten türkis leuchtende Wellen gegen die Uferklippen. Hinter ihr erstreckte sich ein lichter Zypressenwald, dazwischen Ruinen, zwischen denen Menschen liefen. Touristen, die Nona und Gabriel so wenig Beachtung schenkten, als wären sie gar nicht existent. Vielleicht sind wir es tatsächlich nicht. Für sie, dachte die Werwölfin. Da sie weitgereist war, erkannte sie sofort hellenische Einflüsse an den zerfallenen Bauten. »Griechenland … Eine der Inseln …?« »Fast«, sagte Gabriel. Er wies den Küstenverlauf hinauf und sagte: »Dort, genau dort erhob sich einst der eherne Riese Talos. Er wachte über Kreta.« »Kreta gehört zu Griechenland.« »Damals nicht. Damals war diese Insel ein souveräner und übermächtiger Gegner für das angrenzende Festland. Athen war den Kretern zu Tribut verpflichtet. Bis –« Nona verzog das Gesicht. »Die Sage von König Minos und seinem Reich … Sind wir wieder nur zusammen, damit du mir ein neues Märchen auftischen kannst? Was sollte dieser Ort mit mir zu tun haben?« Gabriel blickte sie kurz an, ließ dann aber seinen Blick weit ins
Landesinnere schweifen. Dabei erweckte er den Eindruck, als könnte er bedeutend mehr – und anderes – sehen, als sich Nona offenbarte. »Mehr, als du ahnst. Hier begann alles«, sinnierte er schließlich, so düster und weltentrückt, als rufe er unentwegt Informationen aus seinem Gedächtnis ab. Einem Gedächtnis, in dem nicht allein die Erfahrungen dieser Inkarnation wohnten, sondern die sämtlicher Leben, die er je durchlaufen hatte! Wann mag es überhaupt begonnen haben? durchzuckte es Nona. Wann nach seinem Fall gelang es Luzifer erstmals, einen Teil von sich wieder in der Schöpfung zu etablieren, aus der er verbannt worden war? Schon vor der Sintflut? Unmittelbar danach? Oder doch erst sehr viel später? Ohne daß es ihr bewußt wurde, verknüpfte sie Wissen, das Landru ihr einst geschenkt hatte, mit Wissen, das vom Teufel selbst in sie geflossen war. »Hier begann was?« drängte sie ihn zu einer konkreten Äußerung. »Du wirst es erfahren – mit eigenen Augen sehen und erleben. Gib mir noch einmal deine Hand und laß dich führen!« »Was hast du vor? Du kannst nicht in der Zeit zurückgehen. Könntest du es, bräuchtest du niemandes Unterstützung – dann könntest du selbst aus deinen früheren Niederlagen Siege machen!« Gabriels Augen spiegelten nicht das Geringste von ihrer Umgebung wider. Pure Schwärze, pure Drohung wogte darin. Es erinnerte Nona daran, keinem Menschen gegenüberzustehen, sondern einem dunklen Gott. Dem Antichristen. »Wir werden nicht in der Zeit zurückgehen«, pflichtete er ihr indirekt bei. »Aber ich werde die alte Zeit für dich noch einmal erstehen lassen. Du wirst sie sehen, wie andere sie einst sahen. Und danach wird es für dich kaum noch offene Fragen geben – was den Sinn und Zweck deiner Art betrifft!« Ehe Nona etwas erwidern konnte, hatte er sich ihre Hand genom-
men. Und die Wolfsfrau dorthin verschleppt, wo alles begonnen hatte. Wo ihre und die Wurzeln noch vieler anderer Verdammter lagen …
* Vergangenheit Kreta, lange vor Christi Geburt Sotiris Dakaris war so sehr in die rituelle Eingeweideschau vertieft, daß er die hinter ihm den Raum betretende Gestalt gar nicht bemerkte. Zumal düstere Vorahnungen seine Aufmerksamkeit für die Umwelt einschränkten. Knöcheltief stand er im Blut des fetten Stiers, der ihm, wie jeden Monat, auf Geheiß des Königs zugebracht worden war. Dakaris galt als das zur Zeit beste Orakel bei Hofe. Dieser Ruf war nicht nur Ehre, sondern in noch viel größerem Maße Verpflichtung. Der Augure aus dem uralten Sehergeschlecht der Iamiden stand unter enormem Druck. Denn am Himmel über dem Reich zogen immer mehr dunkle Wolken auf. Daß alles auf eine neue Katastrophe, eine neue Heimsuchung zusteuerte, war selbst für Unkundige kaum noch zu übersehen. Im zweiten Jahr nach dem Tod des Minotaurus und Theseus’ Rückkehr nach Athen dämmerte das Reich immer noch dahin, als würde es ganz langsam von der dunklen Schuld erstickt und aufgezehrt, die König Minos auf sich geladen hatte. Vor Dakaris waren schon andere berühmte Auguren nach Knossos gerufen worden. Aber den Fluch von Minos zu nehmen oder ihm wenigstens einen Ausweg daraus aufzuzeigen war keinem von ihnen gelungen … Wieder und wieder setzte Dakaris die scharf geschliffene Klinge
an, wühlten seine Hände in dem aufgeschlitzten Tier. Umsonst. Erst als er alles durchsucht, jeden Winkel des Kadavers abgetastet hatte, hielt er einen Moment inne und schleuderte das Messer fluchend zu Boden, wo es klirrend aufschlug. »Was ist? Warum seid Ihr so außer Euch?« Die Stimme klärte seinen Blick. Ernüchtert fuhr er herum und sah ins Gesicht von Gortyn, dem Verbindungsmann zwischen Dakaris und dem König. Gortyn überbrachte üblicherweise die Resultate der Eingeweideschauen, deshalb herrschte der Augure ihn unfreundlich an: »Ihr seid zu früh! Ich bin noch nicht fertig, Ihr müßt Euch noch gedulden!« Gortyn war blutjung. Und schön wie ein Knabe es nur sein konnte. Dakaris hatte Gerüchte gehört, wonach Minos ihn auch in mancher Nacht bei sich hatte, um sich in seinen Armen über Pasiphaes Untreue hinwegzutrösten. Aber der Augure schätzte Gortyn als zu klug ein, um dieses Gerücht zu glauben. Minos hatte sich mit vielen Geliebten über die Untreue seiner Gemahlin hinweggetröstet, aber so wenig, wie er Trost gefunden hatte, hatte es für sie Glück bedeutet. Alle, ausnahmslos alle – und das war kein Gerücht – waren in seinen Armen gestorben, ohne daß äußere Todesumstände entdeckt worden wären. Seine bloße Nähe schien sie umgebracht zu haben – und weiter umzubringen, wer immer es wagte, ihm etwas Liebe und Zärtlichkeit schenken zu wollen. Minos war zum einsamsten König der Welt geworden … »Das sah eben anders aus«, sagte Gortyn forsch und mit wohlklingender Stimme. »Auf mich machte es ganz und gar den Eindruck, als wärt Ihr fertig, als hättet Ihr etwas entdeckt …« Dakaris schnitt eine Grimasse. Er konnte Gortyn leiden, auch wenn sein vorheriger barscher Ton dies nicht unbedingt hätte erahnen lassen.
»Ich sagte auch nicht, daß ich noch gar nichts entdeckt habe – aber ich bin noch nicht fertig.« »Dann werdet Ihr es auch vor Eurer Rückkehr nicht mehr.« Der Augure schaute so tief in Gortyns Augen, wie er sonst nur in dampfenden Eingeweide und zerteilte Organe blickte, und fragte: »Meiner Rückkehr? Rückkehr von wo?« Der Jüngling mit dem gelockten schwarzen Haar lächelte. »Ich wurde geschickt, um Euch zu Minos zu bringen. Er will Euch sehen. Und vor allem will er, daß Ihr es Euch anseht.« »Wir sollten unsere Aufgaben tauschen«, grollte Dakaris. »Wie Ihr daherredet, wärt Ihr das talentiertere Orakel von uns beiden!« Gortyn lächelte, als wäre er derselben Überzeugung. Dakaris hob das besudelte Messer auf und wischte die Klinge schneller als Gortyn ausweichen oder abwehren konnte an dessen Gewand ab. Minos’ Bote führte einen Veitstanz auf und schüttete Beschimpfungen über dem Auguren aus. Zufrieden schob Dakaris das Messer in seinen Gürtel. Dann schritt er auf den Ausgang zu. »Halt! Wartet! So könnt Ihr nicht –« Dakaris drehte sich um. »So kann ich was nicht?« »Ihr wißt doch überhaupt nicht, wohin Ihr gehen sollt!« »Nicht in den Palast?« Gortyn gewann seine Fassung zurück. Fast triumphierend schüttelte er den Kopf. »Wo anders sollte ich den König treffen?« »Das werdet Ihr schon noch früh genug erfahren. Ich habe Euch ein gesatteltes Pferd mitgebracht. Vor Sonnenuntergang sollten wir den Treffpunkt erreicht haben.« Dakaris trat vor die Tür und spähte mißmutig über die Dächer der Stadt, wo der glutrote Sonnenball vom Horizont in zwei Hälften geschnitten worden war, die eine bereits unsichtbar.
»Sie geht bereits unter!« »Dann«, erwiderte Gortyn mit einem Ernst, der nur neuerlicher Bosheit entspringen konnte, »sollten wir uns lieber beeilen …!«
* Gortyn galoppierte in halsbrecherischem Tempo auf den Zypressenhain zu, der auf der Anhöhe über der Stadt wuchs. Unter diesem Hügel lag das Labyrinth, in das Minos das Monstrum, halb Mann, halb Stier, verbannt hatte, das seine Frau ihm geboren und das sie, ihren eigenen Worten zufolge, mit einem dem Meer entstiegenen Stier gezeugt hatte. Mit wem auch immer sie tatsächlich gebuhlt und dem König Hörner wie die eines Stieres aufgesetzt hatte, es war der Anfang gewesen. Der Beginn einer nicht mehr enden wollenden Serie schrecklicher Geschehnisse und Unglücksfälle … Dakaris unternahm nicht einmal den Versuch, Gortyn einholen zu wollen. Mit riesigem Vorsprung erreichte dieser eine kleine Gruppe von Reitern, die am Rand des Wäldchens Rast eingelegt hatte. Einer der Rastenden war so vermummt, daß er sofort Dakaris’ Aufmerksamkeit auf sich zog, und der Verdacht, daß es sich dabei um Minos handelte, bestätigte sich, als Dakaris seinen Hengst vor ihm zügelte und die Stimme des Königs unter der Kapuze hervordrang: »Du bist spät, aber Gortyn hat dich entschuldigt. Du bist gerade bei der Zerlegung des Stiers gewesen. Was hast du aus ihm gelesen, Augure? Gute oder schlechte Omen? Gortyn meinte …« Dakaris schielte schon die ganze Zeit zu dem Jüngling, der bereits aus dem Sattel gestiegen war und in unterwürfiger Pose wie die restliche Gefolgschaft des Königs dastand. Und offenbar bemerkte nur Dakaris das spöttische Lächeln um die Lippen des Boten. Minos räusperte sich. Plötzlich war die Anspannung fühlbar, die ihn quälte. »… Gortyn meinte, du seist richtig erschrocken gewesen,
als er dich aufsuchte. Sind die Aussichten so schlecht? Steht uns so Übles bevor? Gibt es immer noch keinen Silberstreif der Hoffnung am Horizont?« Dakaris zögerte nur einen einzigen Moment. »Nein, noch nicht, fürchte ich.« »Was veranlaßt dich zu dieser Prognose?« »Der Stier hatte kein Herz im Leib.« Ein Raunen ging durch die Männer. Nur der König und Gortyn waren daran nicht beteiligt. Nur sie brachten die Beherrschung auf, ihr Entsetzen nicht zu zeigen. »Kein – Herz? Aber der Stier lebte noch und war unversehrt, als er dir gebracht wurde, oder?« »Ich habe ihn selbst getötet, wie es eines Auguren Pflicht ist. Man half mir nur, ihn auf den Teilungstisch zu heben. Danach öffnete ich seinen Leib ohne fremde Hilfe. Ein feindliches Komplott scheidet aus, und ein fehlendes Herz … nun, es könnte kaum ein schlimmeres Omen geben. Ich fürchte …«, Dakaris leckte sich mit der Zunge über die spröde gewordenen Lippen, »… ich fürchte, daß sich schon bald neues Unheil zusammenbrauen wird.« Der Vermummte schob die Kapuze zurück, unter der er sein Gesicht verborgen hatte. Er schüttelte den Kopf, und sein nächster Satz, sein düsteres Credo lieferte dem Auguren zugleich die Antwort, warum Gortyn nach ihm geschickt worden war: »Das muß es nicht erst«, sagte Minos. »Es ist bereits da.« »Wo?« fragte Dakaris nach einem kurzen Überraschungsmoment. »Dort drüben«, sagte der König und wies in die Richtung, wo der Eingang zum Labyrinth lag, in dem der Minotaurus gestorben war. Minos hatte dafür gesorgt, daß nie wieder ein Mensch in den Irrgang gelangen konnte, der zu einem Denkmal des Hasses geworden war. Seines Hasses. »Ist das – Tor nicht mehr versiegelt?« fragte Dakaris rauh. »Brach
es jemand auf und –« »Nein. Es ist noch verschlossen.« »Was dann? Was ist dann geschehen?« Minos war alt geworden. Uralt. Nicht nur äußerlich, auch seine Seele schien von greisenhafter Lähmung ergriffen zu sein, die er erst abschütteln mußte, ehe er seiner Gefolgschaft und dem Auguren einen Wink gab und mit brüchiger Stimme sagte: »Ich zeige es dir.«
* Betroffen starrte Dakaris auf den Riß im Boden, den Riß im Fels … … und das, was am Grund des Spaltes im letzten Tageslicht mehr zu erahnen, denn zu sehen war. Ein – Monstrum. Der Kadaver eines Hybridwesens, halb Mensch, halb Stier! »Bei Apollon!« keuchte Dakaris. »Das kann nicht sein! Oder stimmt es nicht, daß Theseus Euch das abgeschlagene Haupt des Minotaurus als Beweis für seinen Sieg vor die Füße legte?« Er mußte den Blick mit Gewalt aus der Tiefe zurückholen, um ihn auf Minos richten zu können. »Das dort unten kann nicht der Minotaurus sein!« Minos erwiderte seinen Blick starr. »Und das Omen? Der Stier ohne Herz, den du gerade über die Zukunft befragt hast?« »Ich hatte noch keine Zeit, mich genauer damit zu befassen und eine konkrete Vorhersage zu erstellen. Es kann etwas völlig anderes betreffen. Eine noch unbekannte Gefahr. Nicht – das hier …« »Ich bin anderer Meinung.« Minos erteilte den Männern seiner Eskorte den Befehl, mit Seilen in die Spalte hinabzusteigen und das dort liegende Monstrum zu bergen. Dakaris erzitterte innerlich. »Wann und von wem wurde das entdeckt?« fragte er. Gortyn trat neben ihn und sagte an Minos’ Stelle: »Ein Hirte, der ein verlorenes Schaf aus seiner Herde suchte, stieß darauf. Gegen
Mittag. Der Mann erschrak beinahe zu Tode, als ihm klarwurde, was er statt des Schafes gefunden hatte. Er alarmierte sofort den Palast. Wir mußten ihn festhalten.« »Festhalten?« »Die Öffentlichkeit darf nichts davon erfahren«, ergriff wieder Minos selbst das Wort. »Das Reich steht auf tönernen Füßen. Die geringste Unruhe kann das Faß zum Überlaufen bringen. Wenn durchsickert, daß –« »Ich verstehe.« Dakaris richtete seine Aufmerksamkeit auf die Männer, die vorsichtig in den Bauch der Erde hinabstiegen. Falls sie Angst hatten, war es ihnen nicht anzumerken. Natürlich hatte Minos nur die Besten und Verschwiegensten seiner Leibwache ausgewählt, um sich mit ihnen vor Ort zu begeben und herauszufinden, was hinter der Entdeckung des Hirten steckte. Der Augure schloß nicht aus, daß der arme Mann seinen Fund mit dem Leben bezahlen mußte. Wenn Minos wirklich so großen Wert darauf legte, seine Untertanen in trügerischer Unwissenheit zu halten … »Heute Nacht«, murmelte Dakaris, »erwachte ich durch einen schwachen Erdstoß. Ob er diesen Riß im Boden verschuldet hat? Ein Spalt, der bis ins Labyrinth des Daidalos hinabreicht …?« Die bloße Erwähnung des Baumeisters, der den Irrgang für Minos entworfen und gebaut hatte, brachte den König zum Erbleichen. Seine Lippen flatterten. Ein dünnes Rinnsal aus Speichel lief in sein Barthaar. Dakaris hatte Gortyn noch nie so ehrlich entsetzt gesehen. Mit einer versteckten Geste gab er dem Auguren zu verstehen, daß er sofort sein Mundwerk zügeln sollte. Der flüchtige Daidalos, der Minos’ Gemahlin Pasiphae erst zur Untreue angestiftet hatte, und der kretische König waren wie Feuer und Wasser. Unversöhnlicher Haß trieb den einen, den anderen zu verfolgen. Jüngsten Meldungen zufolge sollte er sich bei Agrigent, im Palast von König Kokalos, ver-
bergen. Aber Kokalos leugnete dies. Vielleicht würde wegen Daidalos sogar ein neuer Krieg entflammen, in dem Tausende ihr Leben verlieren mußten … Dakaris preßte die Lippen zusammen. Er wollte zu einer Entschuldigung ansetzen, doch Minos entspannte sich wieder. Seine Haltung gab jedem im Umkreis zu verstehen, daß er dem Auguren seine Äußerung nicht ankreiden würde, wenn dieser sich künftig in der Wahl seiner Worte etwas zurücknahm. Dakaris gab sich der Erleichterung nur ein paar tiefe Atemzüge lang hin. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Bergung des Ungeheuers, das mit der vereinten Kraft eines halben Dutzends Männer aus dem Loch gehievt wurde, als die Dunkelheit bereits hereingebrochen war. Feuer, rings um den Spalt entzündet, erhellten den leblosen, abscheulichen Koloß, dessen Körper förmlich aus dem klaffenden Riß hervorquoll, ehe er noch ein gutes Stück weit über Geröll und Sand geschleift wurde und endlich still und schrecklich liegenblieb. »Was wurde aus dem Schädel des Minotaurus?« fragte Dakaris, während er zu verdrängen versuchte, daß die Augen dieses Schädels offenstanden, weit offen, und ihn anstarrten. Selbst im Tode. »Wurde er verbrannt?« »Er wurde vergraben«, sagte Minos. »Und jetzt fang endlich an! Beantworte mir die einzige Frage, die zählt: Ist er es – kann er es überhaupt sein – oder nicht?« Der Augure wußte, was von ihm erwartet wurde. Er sollte dem König die Erklärung liefern, wie ein vom Torso getrennter Kopf wieder dorthin zurückkehren konnte, und zwar so, daß es aussah, als wäre er nie davon getrennt gewesen. »Vergraben«, wiederholte Dakaris. »Seid Ihr sicher?« »Genug! Fang an!« »Schon gut.« Der Augure senkte das Messer, das er sich in der Stadt an Gortyns Kleidern abgewischt hatte und an dem sich noch
Blutspuren jenes anderen Stiers befanden, an dem Dakaris die Eingeweideschau vollzogen hatte. Routiniert wollte er die Klingenspitze in die glatte, unbehaarte Brust des Monstrums treiben. Wollte. Aber die Klinge, die ihn zahllose Male bei der Ausübung seiner Disziplin unterstützt hatte, brach beim ersten geringen Krafteinsatz mit einem häßlich singenden, in der Luft gespenstisch lange nachklingenden Ton entzwei! Umgebende Stimmen schwollen zu einem Chor, in den sich auch Dikaris’ Stöhnen mengte. Fassungslos starrte er auf den nutzlos gewordenen Schaft, den er noch in der Faust hielt. »Ein neues Messer!« übertönte Minos’ Stimme alle anderen. »Hier, nimm meinen königlichen Dolch! Nimm ihn und mach weiter!« Dakaris griff fast mechanisch nach dem edelsteinbesetzten Kleinod. »Er wurde auf der berühmtesten Waffenschmiede meines Reiches hergestellt!« fuhr Minos fort. »Er wird dich nicht im Stich lassen. Niemals …« Die letzte Silbe seiner Worte war noch nicht verklungen, als sich das schon einmal erklungene Geräusch wiederholte. Danach hielt der Augure wiederum nur einen Schaft mit abgebrochener Klinge in der Hand. Die Unruhe wuchs. Angst stieg in die Augen der Leibwache. Selbst Gortyn litt unter Dakaris’ Unvermögen, den Kadaver zu öffnen … … weil er und jeder andere nicht an simples Unvermögen glaubten! Etwas anderes mußte dahinterstecken. Etwas Grausiges wie der Anblick des toten Hybriden! Nachdem auch der zweite Versuch fehlgeschlagen war, wurde der Augure von herbeieilenden Soldaten des Minos beiseite gedrängt. Sie hatten ihre unter den Umhängen verborgenen Kurzschwerter ge-
zogen und hackten nun ungestüm damit auf den Leichnam ein. Jede Leibwache hatte einen Schlag – an dem auch ihre Klingen brachen! Dakaris schwindelte. Er war der Seher. Er war der Mann, der über die Eingeweideschau die Zukunft voraussehen konnte. Doch was er hier mit eigenen Augen erlebte, ging selbst über seinen Verstand. Ein Kadaver härter als Bronze und Eisen …? Es half ihm wenig zu wissen, daß es sich um keinen gewöhnlichen Leichnam handelte. Mühsam wahrte er seine Haltung. Dann hörte er Minos neue Befehle verteilen. »Errichtet einen Scheiterhaufen, tränkt den Kadaver in flüssiges Pech und verbrennt ihn zu Asche. Ein Schiff soll sie aufs Meer hinaustragen und verstreuen!« »Nein!« rief Dakaris dazwischen, wobei er unverzüglich die demütigste Haltung einnahm, zu der er überhaupt fähig war. »Ich bitte Euch, weiser König, überlaßt ihn mir! Ich werde einen Weg finden, ihn zu öffnen! Er birgt ein gewaltiges Geheimnis …« All das, was er sonst noch einwenden und an Argumenten aufbieten wollte, vergaß er, als sein Blick plötzlich eine Stelle streifte, an der der schmucklose Lendenschurz, den der Kadaver trug, von den Attacken der Klingen zerfetzt worden war. »Bei Zeus!« Er stieß einen der Soldaten, die ihm den Blick behinderten, grob aus dem Weg. Der Mann grunzte verärgert. Aber Dakaris war bereits dort, wohin es ihn gezogen hatte, und riß den Schurz auseinander, so daß das Hybridwesen nun völlig nackt vor ihm lag. Der folgende Schrei stammte von keinem anderen als Minos selbst, der wie ein Schatten neben den Auguren drängte und wie vom Donner gerührt stammelte: »Das ist er nicht! Das … kann nicht der Bastard sein, den die Hure Pasiphae gebar! Das hier …« Auch wenn Minos in diesem Moment nicht mächtig war, auszusprechen, was ihn bewegte, so sahen doch alle Umstehenden genau, was ihn in aus dem Gleichgewicht geworfen hatte.
Eine Frau, dachte Dakaris, kaum weniger erschüttert als der König. Unter dem Rock ist das Stiermonstrum beschaffen wie eine Frau …
* Mehr Öllichter als sonst erhellten den Zeremonienraum des Auguren. Der Tisch, auf dem der sezierte »normale« Stier gelegen hatte, war abgeräumt und ebenso sorgfältig von einer Dienerschar gesäubert worden wie der Boden. Ein wenig von dem Gestank hing jedoch immer noch in der Luft und machte Sotiris Dakaris darauf aufmerksam, daß der Kadaver, der nun langgestreckt auf dem Tisch lag, überhaupt nicht roch. So wenig, wie er irgendein Symptom üblicher Verwesung zeigte. Wie lange mag er dort gelegen haben, wo wir ihn fanden? Vielleicht würden sie es nie erfahren. König Minos hatte Befehl gegeben, Dakaris den grotesken Leichnam zumindest eine Zeitlang zu überlassen, damit er noch einmal versuchen konnte, ihm Antworten über das Woher und Warum zu entlocken. Während Dakaris also seinen Nachtschlaf ausfallen ließ, durchkämmten Soldaten das Labyrinth auf der Suche nach den Überresten des echten Minotaurus, die – vom Haupt abgesehen – nie ihren Weg an die Oberfläche gefunden hatten. Unmittelbar nach Theseus siegreicher Rückkehr hatte Minos das Labyrinth versiegeln, den Eingang zuschütten lassen. Gewaltige Massen von Sand und Steinen ruhten auch jetzt noch davor. Die Männer, die der König – vielleicht um zwei Jahre zu spät – losgeschickt hatte, waren durch das Loch hinabgestiegen, das durch den Erdstoß der vorigen Nacht entstanden zu sein schien. Ein zweiter, kleinerer Trupp war zu der Stelle unterwegs, an der damals der abgeschlagene Kopf des Ungetüms in Minos’ Beisein begraben worden war. Der Schädel sollte ausgegraben werden, um zu
beweisen, daß dieses neue Wesen nicht identisch mit Pasiphaes Bastard sein konnte. An die beiden anderen Unternehmungen dieser Nacht verschwendete Dakaris aber kaum einen Gedanken. Er konzentrierte sich völlig auf das Unbegreifliche, mit dem er sich auseinanderzusetzen hatte. »Ach, wenn du noch erzählen könntest«, murmelte er. »Deine Geschichte muß atemberaubend sein! Gebar Pasiphae am Ende zwei Stierkinder, die ihr Gemahl vom Antlitz der Welt bannen ließ? Aber warum tat er dann so verblüfft? Nein, das war nicht gespielt, der Schock kam aus dem Innersten. Er sah dich nie zuvor …« Fasziniert strich seine Hand über die Haut des Kadavers. Nur Kopf und Hals waren von Fell überzogen. Der Rest war glatte, alabasterbleiche Haut, das Fleisch so warm wie Dakaris’ Haut, nicht kalt wie sonst bei Toten üblich. Den kurz aufflackernden, wirren Verdacht, gar nichts Totes, sondern lediglich etwas auf geheime Weise Schlafendes vor sich zu haben, hatte der Augure rasch widerlegt. Er besaß ein Hörrohr, wie es Ärzte zum Abhören von Herz, Lunge und Gedärmen benutzten. Damit und mit einem Spiegel, den er vor die Nüstern der Stierfratze gehalten hatte, hatte er jeden Zweifel am Tod des Monstrums ausgeschlossen. Aber warum traten dann keine Totenstarre und kein Zerfall ein? Das wollen sie von dir erfahren, du Narr, also fang endlich an! Rück ihm zu Leibe! Das hatte er fest vor, und zwar mit einem ganzen Arsenal von Werkzeugen und Waffen, die er neben dem Untersuchungstisch auf einem zweiten, etwas kleineren aufgereiht hatte. Als erstes untersuchte er die Halspartie genauer, als es draußen in der Nacht möglich gewesen war. Doch auch hier, unter besten Bedingungen, fand er keinerlei Hinweis, daß irgend jemand das Haupt entfernt und später wieder kunstvoll angenäht hatte – aus welchen
Gründen auch immer. Beide, Kopf und Rumpf, waren nie voneinander getrennt gewesen! Dakaris arbeitete die ganze Nacht hindurch, wobei er völlig ungestört blieb. Aber auch vollkommen erfolglos. Was auch immer er versuchte, um die Kadaverhülle zu öffnen, es scheiterte. Der Körper war unzerstörbar. Ein Mysterium. Mehr aus Frustration als aus Erschöpfung fiel der Augure gegen Ende der Nacht in einen kurzen, nervösen Schlaf. Als er daraus wieder aufschreckte, graute gerade der Morgen, und die meisten Öllichter waren herabgebrannt. Unter stechenden Kopfschmerzen richtete er sich neben dem Tisch auf, wo er sich hatte hinsinken lassen. Erst als er wieder aufrecht stand, bemerkte er, daß sich während des Schlafs etwas Phantastisches verändert hatte. Nicht im eigentlichen Sinn an dem Kadaver selbst, sondern … zwischen dessen leicht gespreizten Schenkeln. Dort lag etwas, was vorher nicht dagewesen war. Ohne einen Fuß von der Stelle zu bewegen, schrie der Augure so schrill und so lange, bis König Minos’ Leibwächter und schließlich der König selbst, die nebenan übernachtet hatten, hereinstürmten. Und die Bescherung ebenfalls sahen.
* Der Hautsack barst unter dem ersten, routiniert geführten Schnitt eines Soldaten. Darunter kam ein Wesen zum Vorschein, mindestens ebenso entsetzlich anzuschauen, aber völlig anders als der Kadaver, der aus dem Labyrinth geholt worden war. »Welch grausige Mißgeburt!« rief Minos, als die Hülle an dem Geschöpf herabsank.
Es hatte kindliche Größe und entsprach dabei ganz dem Bild, das man sich von einem Kentauren, halb Mensch, halb Pferd, machte. Und es war tot. Genauso tot wie das Stiermonstrum. »Ich wollte, daß es aufhört«, seufzte Minos, als niemand sonst das Wort ergriff. Sprachlos entsetzt standen alle da, auch Dakaris. »Ich habe keine Schuld auf mich geladen, die solche Heimsuchungen rechtfertigen würde! Augure – hilf mir! Ich werde dich mit Reichtümern überschütten, wenn es dir gelingt, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten! Totes, das Totes gebiert … Was muß noch alles geschehen, bis die unter- und die überirdischen Mächte den Fluch wieder von mir und meinem Geschlecht nehmen? Habe ich nicht schon all meine Kinder verloren? Meine Söhne sind tot, und auch wenn meine Töchter noch leben, so doch so fern in der Fremde, daß ich sie vielleicht nie mehr in meinem Leben wiedersehen werde …! Ich bin ein gebrochener Mann. Das Unglück klebt mir an den Händen. Dabei wollte ich meinem Volk stets ein guter und gerechter König sein. Ich wollte …« Er brach mitten in der Rede ab. Die Blicke seiner Krieger erfüllten ihn mit Scham. »Was ist?« herrschte er Dakaris an. »Kannst du mir helfen? Kannst du machen, daß es aufhört?« Dem Auguren zerriß es fast das Herz, die Frage seines Königs nicht bejahen zu können. »Ich weiß noch zu wenig«, wich er aus. »Gebt mir Zeit. Stellt mir Ärzte und andere Gelehrte zur Seite. Gemeinsam werden wir vielleicht eine Erklärung dafür finden. Und einen Weg, es zu stoppen – falls es weitergeht.« »Es wird. Es wird nicht mehr enden, bis ich mein Ende gefunden habe! Aber warum? Ich wurde betrogen. Alles, was ich tat, war der Schmach zu begegnen, die man mir zufügte! Ich verstehe es nicht. Ich begreife es wirklich nicht …« Er wandte sich ab.
Und wie ein verwirrter alter Mann verließ er das Refugium des Auguren. Am Abend desselben Tages hatte die tote Minotaurin sich ein weiteres Mal vermehrt. Diesmal in Gestalt eines Schweines mit zwei Köpfen und einem zur übrigen Häßlichkeit gar nicht passenden, schlanken Horn aus Elfenbein auf jeder Stirn …
* Am siebten Tag nach dem Fund des weiblichen Ungeheuers empfing König Minos den Auguren Dakaris zum Einbruch der Nacht in den intimsten Gemächern seines Palastes, um ihm ein Angebot zu unterbreiten. Zuvor hatte der Seher tagelang nichts mehr von Minos gehört und bereits gefürchtet, in Ungnade gefallen zu sein, weil er keine schnellen – nicht einmal langsame – Erfolge vorweisen konnte. Doch Minos begrüßte ihn überaus freundlich und wohlwollend. Er wirkte erholt, auch wenn Dakaris sich nicht vorstellen konnte, daß dieser Augenschein das Innenleben des Königs widerspiegelte. Es gab keinen Grund zur Erleichterung. Überhaupt keinen. Im Reich gingen merkwürdige Dinge vor, die sogar Dakaris zu Ohren kamen, der kaum Zeit für regelmäßige Mahlzeiten fand, weil er Tag und Nacht nur noch mit dem beschäftigt war, was durch unbekannte Einflüsse ins Rollen gekommen war. Inzwischen hatte das tote Stiermonstrum acht »Kinder« geboren, an jedem Tag seit seiner Bergung eines. Und Minos hatte Dakaris bald nach ihrer letzten Zusammenkunft durch seinen Boten Gortyn wissen lassen, daß er ihm eine Frist einräume, der Sache auf den Grund zu gehen, ihr Herr zu werden. Zwanzig Totgeborene wollte er erdulden, keinen einzigen mehr.
Dann aber sollte der Scheiterhaufen errichtet werden, um die Mißgestalten zu vertilgen. Falls die Monstren auch den Flammen trotzten, sollte ein Schiff auslaufen und sie, mit Gewichten beschwert, an der tiefsten bekannten Stelle im Meer versenken! Der Augure hatte für diese Richtweisungen vollstes Verständnis. Er selbst an Minos Stelle hätte wahrscheinlich weniger Geduld aufgebracht. Als nun die Einladung erfolgte, war die gesetzte Frist also noch nicht abgelaufen. Dennoch spürte der Augure beim Wiedersehen mit Minos glasklar, daß dieser eine Entscheidung gefällt hatte, die ihn, Dakaris, ganz persönlich betraf. »Setz dich mit mir auf die Terrasse«, sagte der König. »Wein oder Wasser?« »Wasser«, sagte Dakaris. Minos klatschte in die Hände, um ein stummes Mädchen in Bewegung zu setzen, das aussah, wie man sich Artemis, die dralle Göttin der Fruchtbarkeit, vorstellte. »Vielleicht solltest du lieber Wein wählen«, riet er Dakaris in scherzhaftem Ton. »Er macht nicht nur trunken, manchmal weckt er auch geniale Ideen … Und nichts bräuchten wir dringender als den helfenden Genius.« Dakaris hielt im Gehen inne und fühlte, wie er innerlich versteifte. »Soll das ein Vorwurf sein, König? Haltet Ihr mich nicht für den geeigneten Mann, diese Angelegenheit zu meistern?« Minos nahm Dakaris am Arm und führte ihn aus dem Gemach hinaus auf einen Balkon des Palastes über den Klippen. Es war eine wunderschöne Nacht, und das funkelnde Diadem am Himmel ließ den Auguren für kurze Zeit beinahe vergessen, bei wem er zu Besuch war, worüber sie sprachen – und was in seinem Stadthaus unverändert auf ihn wartete, wenn er dorthin zurückkehrte. »Ich mache keine versteckten Vorwürfe. Wenn ich mit jemandem unzufrieden bin, bekommt er es unmißverständlich zu spüren. Nein,
sei beruhigt, ich habe gelernt, mein Schicksal zu erdulden, wie könnte ich da Ungeduld zeigen, wenn ich sehe, wie sehr du dich bemühst. Gortyn berichtet mir täglich über deine Anstrengungen und deine eifersuchtsfreie Zusammenarbeit mit den Ärzten und Gelehrten. Ich habe vollstes Vertrauen in dich und deine Fähigkeiten! Hätte ich es nicht, würden wir jetzt nicht miteinander sprechen.« Der Augure schwieg. Die Dienerin brachte sein Wasser. Der König wählte einen Kelch mit Wein. Dakaris netzte nur die Lippen an der kühlen Nässe, während Minos den Inhalt des Kelchs förmlich hinunterstürzte. Die Dämonen, die in dir nagen, nährt dies eher, als daß es sie vertreibt, dachte Dakaris. Aber er schwieg. Und wartete, daß Minos auf den Grund der Einladung zu sprechen kam. Sie traten bis an die kunstvoll verzierte Balustrade und schauten in den dunklen Abgrund, in dem die brandenden Wellen nur zu ahnen und zu hören waren. Wenn Dakaris nach links blickte, konnte er am Palast vorbei die Ausläufer der Stadt Knossos sehen. Das Zentrum des kretischen Reiches. In dem die Unzufriedenheit wie ein Geschwür wucherte. Und wo sich geheimer Widerstand gegen den König formierte. Tagtäglich wurden Schmierereien an Mauern und auf dem Straßenpflaster entdeckt. Haßparolen, die zum Aufstand gegen den ungeliebten Herrscher anstachelten. Noch standen die Armeen und ihre Befehlshaber fest hinter Minos. Wie lange dies noch so bleiben würde, verrieten auch Dakaris’ Zukunftsschauen nicht. »Heute mußte ein öffentlicher Brunnen versiegelt werden, weil sich tote Kröten in den Eimern befanden, die man heraufzog. Das Wasser, das man Tieren zu trinken gab, war vergiftet. Sie starben elendig«, sagte Minos. Er stand ganz nah neben Dakaris und strahlte Kälte aus wie ein Eisklotz. »Gestern raffte eine unbekannte Krankheit den gesamten Viehbestand des größten Bauern hinweg, der in meinem Reich lebt. Und vorgestern …«
»Ihr glaubt, all diese Ereignisse und das, was vor sieben Tagen begann, hängen zusammen?« Dakaris stellte seinen Becher ab und legte beide Handflächen auf das rauhe Geländer aus Stein. »Das glaube ich, ja.« »Aber –« »Jede Mißgeburt eine Plage«, sagte Minos. »Ich kann sie dir alle aufzählen, wenn es dich interessiert.« »Natürlich interessiert es mich, aber –« »Was ich dir sagen will, und warum ich dich von deiner Arbeit fortrufen ließ, ist dies«, sagte der König. »Ich kann und will die Frist, die ich dir einräumte, nicht mehr gutheißen. Zwanzig Mißgeburten bedeuten zwanzig damit einhergehende Plagen, Mißernten, was auch immer …! Mein Volk hat viel erduldet unter meiner Ägide. Aber es verzeiht nicht mehr alles. Die Spitzel, die sich in meinem Auftrag unter die Leute gemischt haben, berichten von stündlich wachsender Unzufriedenheit, von kleinen Ausbrüchen der Wut, die sich im Handumdrehen in einen Sturm ausweiten können! – Nein, ich breche ungern mein Wort, aber es gibt keinen anderen Weg. Ich habe lange nachgedacht und mit jedem gesprochen, von dem ich mir Rat versprach. Nun habe ich eine unumstößliche Entscheidung gefällt. Und ich wäre sehr froh, wenn du sie unterstützen würdest.« »Ihr wollt die Zeichen verbrennen lassen?« »Zeichen?« Minos hob die Brauen. »Es sind Zeichen. Warnungen. Ich muß sie nur entschlüsseln. Dann …« »Dann?« »… hören sie vielleicht auf.« Minos nickte, als hätte er nie eine Garantie, sondern nur eben dieses »Vielleicht« erwartet. »Die Ratschlüsse der Götter sind unergründlich«, sagte er, so leise, daß Dakaris es kaum verstand. Der Blick des Königs war ins Schwarz des Himmels gerichtet. In die Endlosigkeit und Ewigkeit, die dort zu Hause war. »Vielleicht kann
ich tun und wagen, was ich will, und es ändert ohnehin nichts mehr. Zeus, der Göttervater, mag sich von mir abgewandt haben und mich nie mehr in Gnade aufnehmen. Dann ist das Ende gekommen. Das Ende meiner Herrschaft. – Damit muß und werde ich mich auseinandersetzen. Und wenn nur mein Tod die Lähmung, den Haß und die Krankheit aus den Herzen meines Volkes nehmen kann, dann will ich auch diesen Tribut leisten … Doch letzte Nacht –« Minos stockte. Dakaris glaubte Tränen auf den Wangen des Königs zu erkennen, aber das Sternenlicht mochte täuschen. Die Stimme jedenfalls schwankte nicht, als er den Faden wieder aufnahm und weiterspann: »Doch letzte Nacht hatte ich einen Traum, der mehr war als bloßes Hirngespinst. Eine Stimme sprach zu mir in dem süßesten Ton, den ich je gehört habe. Von ihr fühlte ich mich seit einer unglaublich langen Zeit zum ersten Mal wieder verstanden und ehrlich bedauert. Sie gab mir einen Rat zur Hand, wie ich den Fluch, der auf mir lastet, vielleicht doch noch besiegen kann.« Seltsam berührt fragte Dakaris: »Was schlug die Stimme vor?« »Sie erzählte von einem geheimnisvollen Volk, das jenseits des Nordwinds auf einer Insel wohnt. Die Stimme hieß die Angehörigen dieses mächtigen Volkes Hyperboreer. Ihre Götter haben Namen wie Bran oder Belinus. Bäume sind ihnen heilig, und bestimmte Pflanzen dienen ihren Beschwörungsritualen, mit denen sie ihre Götter gnädig stimmen.« Minos preßte die Lippen zusammen. »Ihr wollt der Stimme folgen?« fragte Dakaris. »Ich will es wagen, ja. Es mag der Starrsinn sein, der mich dazu treibt. Und die bitteren Enttäuschungen, die unsere Götter mir zugefügt haben, aber ganz egal, wer oder was es mir einflüsterte: Ich werde Schiffe dorthin entsenden, wo das Reich der Hyperboreer liegt! Und wenn du mein verlängerter Arm auf dieser Reise sein wolltest, die ich selbst nicht mitmachen kann, weil niemand auch
nur ahnen darf, was im Herz meines Reiches vorgeht, wäre ich unsagbar froh.« Unsere Götter, hallte es im Kopf des Auguren nach. Minos hatte gesprochen, als gäbe es noch andere Himmelsmächte neben dem Pantheon! Absurd … Laut fragte er: »Ich? Wie kommt Ihr ausgerechnet auf mich? Ich bin kein Krieger, und bei einer Reise ins völlig Ungewisse –« »Die Krieger gebe ich dir mit – eine ganze Armee«, sagte Minos, ohne zu ihm herüberzusehen. Statt des Weines schien er das Licht der Sterne zu trinken. Mit funkelndem Blick. »Und vieles mehr! In meinen Kerkern schmachtet seit Jahren ein sonderbarer Fremder, der von einem unserer Schiffe auf hoher See aufgegriffen wurde, als einziger Überlebender eines Unglücks. Er trieb auf einer Planke dahin. Und als man ihn fand, leistete er größten Widerstand, so als wollte er gar nicht gerettet werden. Im Wahn tötete er zwei kretische Kaufmänner, die ihn bei ihrer Ankunft im Hafen meiner Gewalt übergaben. Ich schonte sein Leben nur, weil der Aufenthalt in der Wasserwüste ihn den Verstand gekostet zu haben schien. Er verschwand in einem Kerker, und ich vergaß ihn. Bis zur gestrigen Nacht. Denn so wie die Stimme mir die Hyperboreer beschrieb, genauso sah dieser Fremdling aus.« »Habt Ihr ihn daraufhin besucht?« fragte Dakaris, den die Geschichte mitriß, auch wenn er sonst auf Träume, die nicht von Sehern geträumt wurden, wenig gab. »Lebt er noch?« »Er lebt noch und hat in der Zwischenzeit sogar unsere Sprache erlernt. Seine Wärter beschreiben ihn als gutmütigen Narren. Als ich selbst mit ihm sprach, wurde mir klar, daß er weniger närrisch als die meisten Leute ist, die mich umgeben.« »Hat er Euch vom Land seiner Herkunft erzählt?« »Es ist eine Insel. Wie man hingelangt, sagt er, wisse er nicht, und das glaube ich ihm. Ein Unwetter muß ihn dereinst überrascht ha-
ben. Sein Schiff ist gekentert. Er könnte dennoch hilfreich sein – falls das Ziel gefunden wird. Schon morgen werden Schiffe auslaufen. An Bord eines dieser Schiffe wird sich eine versiegelte Kiste befinden, die erst bei den Hyperboreern wieder geöffnet werden darf …« Jäh riß Minos seinen Blick von den Sternen los und packte Dakaris an den Schultern. Seine Hände gruben sich so hart und schmerzhaft ins Fleisch des Auguren, als bestünden sie nur noch aus blanken Knochen. »Willst du diese Expedition für mich leiten? Willst du mit all deiner Kraft, deinen Talenten und deinem Willen dafür einstehen, daß sie ihre Mission erfüllt?« Dakaris schluckte krampfhaft, als stecke eine der Kröten, von denen Minos zuvor gesprochen hatte, wie ein Kloß in seinem Hals. »Was … was genau habt Ihr vor?« Minos’ Augen glühten wie im Fieber, als er dem Auguren seinen Plan haarklein auseinanderlegte. Während Dakaris zuhörte, spürte er die Kälte des Königs über dessen Hände auch in sich kriechen, und zum ersten Mal begriff er das wahre Ausmaß der Dunkelheit, die Minos aushöhlte, als wäre er kein Mensch aus Fleisch und Blut mehr, sondern nur noch sein eigenes Denkmal, eine Figur aus mürbem Stein. Nachdem sie sich beide eine Weile stumm gegenübergestanden hatten, verlangte der König eine Entscheidung. »Willst du tun, worum ich dich gebeten habe?« Und Sotiris Dakaris erschrak bis ins erkaltete Mark, als er seine Zunge bedenkenlos antworten hörte: »Ihr seid mein König. Was immer Ihr auch befehlt – ich werde es tun! Mit all meiner Kraft und Treue …!«
* Wie tief muß ein Mann gesunken, wie sehr in seinem innersten Kern verletzt worden sein, daß er fremde Götter den eigenen vorziehen will? Fürch-
tet Minos nicht die Rache des Zeus? Dakaris stand an Deck der HYPERBOREER, einem von sechs der größten Kriegsschiffe, die Kreter je gebaut hatten, und starrte auf das Objekt, das seiner stummen Frage die Antwort verweigerte. Es war fast in der Decksmitte vertäut und reichte in seiner Höhe bis unmittelbar unter das Großsegel. Eine Kiste. Die versiegelte Kiste, von der Minos gesprochen hatte. Der Augure war der einzige an Bord, der wußte, was sich darin befand. Keiner derer, die die Kiste erbaut oder beladen hatten, war mit auf diese Reise gegangen. Seeleute und Krieger hatten die HYPERBOREER erst betreten dürfen, nachdem der dunkle Klotz bereits darauf verankert worden war. Seit die kleine Kriegsflotte die Meere durchkreuzte, wurde nicht nur unter der Besatzung der HYPERBOREER, sondern auch an Bord der anderen Schiffe wild über den rätselhaften Inhalt der Kiste spekuliert. Der Wahrheit auch nur nahe kam niemand. Weil niemand von den Mißgeburten weiß, in deren Gefolge neues Unheil über das Reich kam, dachte Dakaris. Minos hatte die Größe der Kiste so auslegen lassen, daß nicht nur der weibliche Minotaur und sämtliche seiner Ausgeburten bis zum Tag, da die Flotte in See stach, darin Platz fand, sondern er hatte auch die Möglichkeit einkalkuliert, daß die Vermehrung auf See weiterging. Dakaris schauderte. Nicht, weil er es abwegig fand, sondern aus dem genau gegenteiligen Gefühl heraus. Sie waren seit zehn Tagen bei günstigen Winden unterwegs – hieß das, daß sich still und heimlich zehn weitere tote Mischwesen hinter die Bretter dieses Verschlags aus schwarzem Zedernholz geschlichen hatten? Daß der Ausstoß nie aufhören würde und die Kiste, falls nicht vorher Land in Sicht kam und man sie samt ihrem Inhalt
ihrer Bestimmung zuführte, irgendwann dem inneren Druck nicht mehr würde standhalten können und auseinander barst …? Die Vorstellung hatte neben allem Grauen auch etwas Faszinierendes. Der Augure kehrte der Kiste den Rücken und schlenderte zwischen Grüppchen von würfelnden, dösenden oder ihn mißtrauisch beäugenden Soldaten hindurch zu dem hölzernen Aufbau, von dem aus die Ruderbänke überblickt werden konnten, die bei voll gehißtem Segel nur teilbesetzt waren, um jederzeit Steuermanöver ausführen zu können. Auf dem Podest standen der Befehlshaber des Heeres, das Minos für diese Expedition aufgeboten hatte, und der Schiffsführer. Der Feldherr hieß Thalius. Er grüßte Dakaris höflich und widmete ihm sofort die Aufmerksamkeit, die er vorher Parask, dem Kapitän, geschenkt hatte. Auch Parask nickte dem Auguren, über dessen Rolle sich ein jeder so unklar war wie über den Sinn und Zweck der Frachtkiste, nach außen hin freundlich zu. Daß die beiden größte Vorbehalte gegen ihn hegten, empfand Dakaris angesichts der besonderen Situation als völlig normal. Der Status, den Minos dem Auguren offiziell verliehen hatte, brachte automatisch nicht nur Vorteile mit sich. Selbst Thalius war ihm unterstellt, und bedachte man dies, hielt sich der verdienstreiche Feldherr geradezu bewundernswert gut. »Wahrscheinlich wollt Ihr uns auch heute nicht verraten, was für ein Gastgeschenk wir den Bewohnern der Insel, nach der wir suchen, mitbringen?« Thalius lächelte fröhlich, wenn er sein Gesicht Dakaris oder Parask zuwandte. Wann immer er aber einen Kontrollblick auf seine Leute warf, ersetzte pure Autorität das Lächeln. Dakaris fiel es nicht schwer, sich vorzustellen, wie streng und souverän der Feldherr seine Krieger in einer Schlacht führte. Gleichzeitig hoffte er, daß die Lage es nie erfordern würde, daß
Thalius sein Kriegsgeschick unter Beweis stellte. Die Krieger sollten die Bitte von König Minos an die Hyperboreer unterstreichen, aber keinesfalls den Eindruck erzeugen, die Kreter seien auf einem Eroberungszug. Nicht Waffen, sondern diplomatisches Geschick und Fingerspitzengefühl werden darüber entscheiden, ob sie uns glauben, unsere verzweifelt Lage akzeptieren und uns ihre Hilfe anbieten – oder uns mit Gewalt begegnen. In letzterem Fall gäbe es keine Sieger, nur Verlierer … »Ihr habt recht«, ging Dakaris auf Thalius’ Scherz ein. »Mögt Ihr keine Überraschungen?« Das Mienenspiel des Feldherrn wechselte. »Nein. In meinem Metier enden sie meist böse.« »Wissen wiegt schwerer als Unwissenheit«, philosophierte Dakaris. »Hinterfragt es nicht, glaubt mir einfach, wenn ich Euch versichere, daß Ihr froh sein könnt, die wahre Bedeutung unserer Mission nicht einmal zu ahnen!« »Beruhigend klingt das nicht«, mischte sich erstmals Parask in die kurze Unterhaltung ein. »Ein wenig Unruhe schadet nicht. Sie ist ein besserer Verbündeter als einschläfernde Arglosigkeit. Bleibt wachsam – zu jeder Stunde unserer Reise. Denn wenn wir das sagenhafte Land, die sagenhafte Insel nicht finden, werden wir unsere Heimat bei unserer Heimkehr vielleicht nicht mehr wiedererkennen …« Der Augure lächelte, um das gerade Gesagte ein wenig in seiner Wirkung zu dämpfen. Um vollends abzulenken, fragte er: »Wo ist Manogan?« »Unter Deck«, antwortete Parask. »Wenn Ihr mich fragt, sieht er nicht aus wie der Angehörige eines Volkes, das uns in welcher Hinsicht auch immer helfen könnte. Er wirkt … primitiv.« Obwohl Dakaris genau denselben Eindruck bei seiner ersten Begegnung mit dem ehemaligen Schiffbrüchigen gewonnen hatte, widersprach er Parask: »Auch bei uns gibt es unendlich viele, die das
schlichte Volk vertreten, und einige wenige, die dem herrschenden Geblüt entstammen oder über Gaben verfügen, die die Götter ihnen geschenkt haben. Es wäre nicht richtig, von Manogan auf die Hyperboreer als Ganzes zu schließen. Alles, was ich mir von ihm erwarte, ist, daß er unsere Sprache übersetzt. Nicht mehr und nicht weniger.« Thalius lächelte grimmig. »Stimmt es, daß wir ihn viele Jahre gefangen hielten?« Dakaris bejahte. »Dann schlage ich vor, ihn lieber gleich den Haien zum Fraß vorzuwerfen, bevor er bei den Seinen schlecht über uns redet!« Er meinte es ernst. Dakaris ersparte sich weitere Diskussionen über etwas völlig Indiskutables. Er ließ Thalius und Parask stehen und begab sich unter Deck zu Manogan.
* »Ich sprach gerade mit jemandem, der dich lieber gleich über Bord werfen würde, weil er offenbar an deiner Zusage zweifelt, uns zu helfen, eine friedliche Verständigung mit deinem Volk herzustellen«, sagte Dakaris, als er die von flackerndem Licht erhellte Kammer betrat, in der Manogan abseits der übrigen Besatzung untergebracht war. Er war nicht angekettet, sondern durfte sich an Bord frei bewegen. Aber davon machte er nur selten Gebrauch. Wahrscheinlich spürte er die Ablehnung, die ihm von allen Seiten entgegenschlug. Er war ein Fremder unter Fremden und hatte keinen einzigen Freund an Bord. Nicht einmal Dakaris konnte sich ganz von Mißtrauen lossagen, wenn er dem Hyperboreer gegenüberstand und mit ihm sprach. »Du weigerst dich standhaft, über deine Heimat zu erzählen. Wie die Menschen dort leben. Wie eure Städte aussehen. Wer euch regiert … Und ich kann nicht glauben, daß du dich an all das nicht
mehr erinnerst.« Der Augure schüttelte den Kopf. »Es wundert mich, daß Minos dir in dieser Hinsicht blind vertraute. Ebensogut hätte er befehlen können, dich unter der Folter zum Reden zu bringen …« Manogan saß zwischen Taurollen. Er war groß und abgemagert. Seine Rippen waren so erhaben, daß sie die Blicke auf sich zogen, noch bevor man das Gesicht anschaute. Dunkles, wirres Haar und ein Vollbart verdeckten sein Antlitz so umfassend, daß Dakaris dem Hyperboreer Absicht unterstellte. Er will nichts von sich preisgeben. Nicht einmal seine Gefühle. »Euer König glaubt mir, weil es die Wahrheit ist. Ich erinnere mich nur verschwommen. Dennoch zieht es mich mit Macht in die Heimat zurück. Dort – nicht unter Menschen, deren Tun und Handeln ich nicht verstehe – will ich sterben und begraben werden.« »Ihr begrabt eure Toten?« »Nicht unter Erde. Unter Steinen. Wir schichten sie über die Körper.« »Seltsam, daß du das noch weißt, alles andere aber nicht …« »Euer Mißtrauen ist unbegründet. Ich bin froh, dem Kerker entronnen zu sein. Was immer ihr in meiner Heimat sucht, es gibt mir die Chance, sie wiederzusehen. Dafür bin ich dankbar. Ich halte meine Versprechen.« »Ich hätte nichts dagegen.« »Wann sind wir am Ziel?« Manogan schien davon auszugehen, daß die Kreter den Kurs genau kannten, über den sie an ihr Ziel gelangen konnten. Dakaris hatte auch nicht vor, ihn zu entmutigen, indem er ihm die Wahrheit sagte: daß sie in Wirklichkeit in der Weite der Ozeane herumstocherten, als suchten sie eine Nadel im Heuhaufen. Im Wunderglauben, so das sagenhafte Reich aus König Minos’ Traum zu finden. Jedesmal, wenn er selbst darüber nachdachte, wie blind sie in See gestochen waren, kam die Kälte wie eine Erinnerung an die Nacht
auf König Minos’ Balkon über den Auguren. Während er in Manogans nervös zuckende Augen blickte, faßte er den Entschluß, einen der Fische zu Rate zu ziehen, die sporadisch mit einem Schleppnetz an Bord gezogen wurden. Vielleicht würde dessen Eingeweide einen Hinweis liefern, wie lange sie noch die Meere kreuzen oder wo genau sie nach dem Land, das dem Schiff seinen Namen gegeben hatte, zu suchen hatten. Alle Zeit der Welt stand ihnen nicht zu Verfügung. Das Verhängnis in der Kiste bestimmte die Frist, die ihnen blieb. Denn falls es den Verschlag tatsächlich irgendwann sprengte, konnten die Folgen nur fürchterlich sein. Es wäre das Ende, dachte Dakaris. Das sichere Ende nicht nur unserer Mission, sondern auch deines Traums, ferner König … Der Augure wurde durch eine Vielzahl kehliger Schreie aus seinen Gedanken gerissen. Ohne Gruß verließ er Manogan und eilte zurück an Deck. Als er kurz zuvor hinabgestiegen war, hatte noch allerbestes Wetter geherrscht. Ein kräftiger Wind hatte die Großsegel aufgebläht, und am Himmel hatte sich kaum eine Wolke gezeigt. Nun war alles anders geworden. Windstille empfing Dakaris und eine schwüle Wärme, die sich augenblicklich auf seine Brust legte und ihm das Gefühl suggerierte, durch einen porösen Schwamm hindurch Atem schöpfen zu müssen. Die Luft »stand«, trotzdem wogte ringsum gespenstisches Weiß. Ein unglaublich dichter Nebel war aufgezogen und gestattete kaum die Sicht bis zur nahen Reling. Himmel und Umgebung waren verschwunden. Tastend bahnte sich Dakaris den Weg auf das Podest zurück, wo er mit Thalius und Parask gesprochen hatte. Sie waren beide noch da und versuchten von der erhöhten Warte aus ihre wild durcheinanderplärrenden Männer zu beruhigen.
»Parask, sagt mir, ob ihr das schon einmal erlebt habt!« drängte sich Dakaris dazwischen. »Wie kann –« »Ich bezweifele, daß Poseidon dahintersteckt«, fuhr Thalius dem Auguren ins Wort. »Jetzt ist der Moment, da Ihr uns sagen müßt, was in der Kiste ist, sonst kann ich für nichts mehr garantieren! Schaut, die Männer! Sie sind außer sich, weil es kein normaler Nebel ist, der uns umhüllt, weil dieser Dunst wie der faulige Atem eines Ungeheuers in ihre Lungen quillt! – Spürt Ihr das nicht auch?« Dakaris hielt kurz inne, um die völlig veränderte Atmosphäre auf sich wirken zu lassen. Er hat recht, dachte er. Dieser Gestank … Als trieben wir durch Jauche. »Ich verstehe trotzdem nicht, was es mit unserer Fracht zu tun haben sollte …« Unwillkürlich lenkte Dakaris seinen Blick durch die Schwaden dorthin, wo die Kiste stand. Und dann begriff er – noch bevor Thalius’ Stimme ihn erneut erreichte –, was die Männer in solche Panik versetzte. »Ihr versteht es nicht?« fragte der Feldherr mit krächzender Stimme. »Der Nebel strömt aus dieser Kiste, und ich will auf der Stelle tot umfallen, wenn dahinter nicht der Hades steckt …!«
* Nachdem der Seher gegangen war, lenkte ein Geräusch Manogans Blick zu dem Lager, das er sich selbst aus alten Säcken und Lumpen hergerichtet hatte, um nachts nicht auf dem harten Boden schlafen zu müssen. Er glaubte eine Ratte verscheuchen zu müssen. Aber sein Blick prallte vor etwas viel Schrecklicherem zurück. »Marcia …?« Daß er den Verstand ausgerechnet auf dem Weg zurück in die Heimat verlor, daß der Irrsinn ihn also gerade in einer Situation verhöhnte, in der er nach Jahren der Gefangenschaft wieder vage Hoff-
nung zu schöpfen gewagt hatte, traf ihn wie ein Keulenhieb. Eisig war die Hand, die sich um sein Herz krampfte. »Marcia …« Noch einmal rann der Name der Truggestalt entgegen, mit der ihn seine Sinne narrten. Ohne es zu wollen (o doch, er wollte es – und wie sehr er es wollte!), erhob er sich von der Taurolle, auf der er gesessen und sich die Zeit mit Knoten vertrieben hatte, und wankte der schönsten Frau der Welt entgegen. Seiner Frau. Von der er getrennt worden war von einem Sturm, der sein Fischerboot in finsterer Nacht überrascht und zum Kentern gebracht hatte! An einer Planke hatte er sich festgehalten und war immer weiter von der Küste fortgetrieben worden, bis das fremde Schiff, die fremden Seeleute ihn aufgegriffen und in ein unbekanntes Land verschleppt hatten! »Marcia!« Mit jedem Mal, da er ihren Namen aussprach, schien die Gestalt wahrer und wirklicher zu werden. Als könnte bloßes Sehnen solches bewirken … »Manogan!« Wie sie seinen Namen betonte, und wie sie die Hand nach ihm ausstreckte, schüchtern blinzelnd, die Wangen wie von Morgenröte überpudert, und dabei doch auch so frech, so voller verborgenem Temperament, war sie ganz und gar Marcia, die Frau des Fischers Manogan, seine verlorene, aber nie vergessene einzige Liebe. Es konnte nicht sein. Ich bin verrückt geworden, übergeschnappt, von unzähligen Nächten der Angst und der Isolation besiegt … »Manogan, du hast es in deiner Hand!« Sie winkte ihn noch näher, so nah, daß er sie riechen und spüren
konnte, noch bevor seine Hand ihr warmes Fleisch berührt hatte. »Was habe ich in meiner Hand?« »Dort weiterzumachen, wo das Schicksal das Band unser beider Leben durchtrennte.« »Ich – verstehe nicht.« »Wir können beide nur gewinnen. Ich, die ich mich ein Jahr, nachdem du vom Meer nicht in unser kleines Haus heimgekehrt bist, selbst dem kalten Wasser übergab – und du, der zwar überlebte, aber mich in der Heimat nicht mehr finden wird.« Manogans Knie wurden so weich, daß er dem Trugbild fast entgegenstürzte. Es fing seinen Fall ab. Sanft. Zärtlich selbst diese Berührung, die ihr alle Geschicklichkeit und Kraft abverlangte. »Du – bist keine Gaukelei …!« »Noch bin ich nicht sehr viel mehr«, erwiderte sie. »Noch wurde mir keine Dauer verliehen. Aber es liegt in deiner Hand, uns beide zu beschenken.« »Wovon redest du? Bei Bran, Marcia, wovon redest du bloß?« »Von einem Gefallen. Und dem Lohn, den du dafür erhältst – den wir dafür erhalten!« Er verstand nicht, was sie meinte. Wie sollte er auch? Aber er fühlte ihre Hand, die sich in seinen Nacken schob und ihn dort streichelte, liebkoste, wie er es immer so gemocht und dabei geschnurrt hatte wie eine sattgefressene Katze nach der Rückkehr aus dem Kornspeicher, wo sie auf Mäusefang gegangen war. »Was für einen Gefallen meinst du, und wer sollte mich belohnen?« »Der, der mich in deiner Erinnerung fand. Und der sich meinen Mund geliehen hat, um mit dir zu verhandeln.« Zu verhandeln … Manogan hatte nie geglaubt, daß der Wahnsinn sich solche Mühe
machte, um ein Menschenhirn zu übermannen. »Was – müßte ich tun, um dich wieder ganz und für den Rest meines Lebens zurückzuerhalten?« Warum den Wahn nicht weiterspinnen, ihn bis zur Neige auskosten? »Das werde ich dir danach sagen.« »Danach?« Sie zog ihn auf sich. Ihre Schenkel waren gespreizt. Dazwischen schimmerte es feucht. Manogan erhaschte einen flüchtigen Blick, ehe seine Lippen ihren Mund erreichten. Ehe sich ihre Zunge einen Weg zu seiner Zunge suchte und sie lustvoll umgarnte. Er versuchte zu widerstehen. Einen winzigen Moment lang ahnte er den wahren Preis für dieses Wunder, das zu vollbringen jeder Gott abgelehnt hätte. »Wer … wer will meine Dienste?« seufzte er, den Mund von ihrem wegdrehend. Er fing an zu zittern, obwohl alles an ihr stimmte. Jedes Detail. Selbst ihre Art zu küssen. Nur die Situation stimmte nicht. »Etwas, das Macht hat – und nun auch auf diese Seite zu gelangen vermag. Zum allerersten Mal, seit –« Sie brach so plötzlich ab, als hätte sie bereits mehr verraten, als sie durfte. Manogan sah sie wieder an, trank die Liebe, die er so lange vermißt hatte, aus ihren Augen. Diese Augen logen nicht! Sie wird mir wieder gehören – und ich will, daß sie mir wieder gehört. ICH WILL! Er tastete an sich herab, öffnete den Knoten, der seine Hose im Bund festhielt, und zerrte sie nach unten. Sein hartes Geschlecht sprang ihr förmlich entgegen, und im nächsten Moment fühlte er schon ihre weiche Hand daran, die es lenkte. Dorthin, worauf sich in diesen Augenblicken sein ganzes Wünschen konzentrierte. Ganz leicht drang er in sie ein.
Sie lachte vor Glück. So hatte sie gelacht, als er sie entjungfert hatte. Sie hatten beide Angst gehabt, es könne ihr wehtun. Aber die Wollust hatte jeden Schmerz erstickt. Es war die pure Glückseligkeit gewesen. Für sie beide. Und jetzt wieder. Jetzt – Manogan spürte, wie er sich in sie entlud. Zu lange hatte er darauf verzichtet, um sich jetzt länger als ein paar Stöße beherrschen zu können. Sie wand sich unter ihm, stieß leise Schreie aus, als wäre sie im genau gleichen Moment gekommen wie er. Und dann lagen sie noch eine wunderbare Weile eng umschlungen, bis ihr Mund ihn mit harter, veränderter Stimme fragte, als wollte sie den Zauber bewahren, aber auch gleichzeitig zeigen, wie gefährdet er war, wenn Manogan jetzt die falsche Antwort wählte: »Willst du mir einen Gefallen tun?« Manogan spürte die Flüchtigkeit, die Unwiederholbarkeit dieser Chance, und er stieß hervor: »Ja! Was muß ich tun, um dich zu behalten?« »Behalten kannst du mich erst, wenn du getan hast, was ich von dir erwarte. Bis es vollbracht ist, werden wir uns nicht wieder sehen.« Manogans Glied war immer noch steif, und es war immer noch in ihrem Schoß. Er erschauerte, als bloße Worte einen zweiten Orgasmus in ihm auslösten. Als er sich wieder gefangen hatte, stammelte er: »Bei der Heimat und bei dir, Marcia, was muß ich tun?« Marcia sagte es ihm.
* Zur gleichen Zeit, im Nebel …
Thalius war nicht tot umgefallen. Niemand ließ sein Leben, zumindest vorerst nicht, wenngleich die Hysterie an Bord besorgniserregend und auch verständlicherweise weiter anstieg. Nicht einmal Dakaris konnte sich davon völlig freimachen, und er fragte sich, wie weit der »Nebel«, der offenkundig keiner war, wohl noch um sich greifen würde. Er glaubte Rufe von jenseits der Bordwand zu hören. Auf den anderen Schiffen mochte man noch an ein seltenes Naturschauspiel glauben. Vielleicht hatte man die HYPERBOREER nicht als den Quell der Heimsuchung ausgemacht. Hier an Bord selbst aber geriet alles aus den Fugen. Selbst eine Meuterei schloß Dakaris nicht mehr aus; eine Meuterei allerdings, die ihren Namen nicht verdiente, denn sie würde sich nur gegen eine einzelne Person richten: gegen ihn! Denn Parask und Thalius hatten ihm unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß sie auf Seiten derer standen, die nach sofortiger Aufklärung verlangten und die Kiste eigenhändig aufbrechen wollten! »Bringt die Leute zur Räson!« rief Dakaris. »Und haltet sie zurück! Die Kiste muß verschlossen bleiben, sonst wird unsere Reise hier und jetzt ein Ende nehmen!« »Das wird sie ohnehin – wenn wir nichts unternehmen!« gab Thalius ebenso laut zurück. »Was befindet sich darin? Sagt es wenigstens Parask und mir, sonst –« Was er sonst noch hatte schreien wollen, ging in einem Ton unter, der ebenso gewaltig, ebenso monströs auch den Untergang der ganzen Welt hätte begleiten können. Er war schmerzhaft und schien die Köpfe derer, die ihn hörten, in zwei Hälften zu reißen – nicht wie mit einer scharfen Axt zu spalten, sondern ganz langsam zu brechen. Ein Geräusch wie ein bis ins Unerträgliche hinausgedehntes …
… ZZZZZZZZUUUUUUUUWWWWWWWWW … … das den Nebel mit sich fortriß und in einer gewaltigen Erschütterung ebenso abrupt wieder stoppte, wie es begonnen hatte. Alle Menschen an Bord sämtlicher Schiffe verloren das Bewußtsein. Als Dakaris wieder zu sich kam, fand er sich auf den schrägen Planken der in Schieflage befindlichen HYPERBOREER wieder. Er hatte Mühe, klar zu sehen. Erst dachte er, sein Augenlicht hätte durch den Aufprall auf die Planken gelitten, doch dann wurde ihm klar, daß die Dämmerung über das Land hereingebrochen war. Das Land … Das Erste, was der Augure hörte, war ein einzelner, völlig verzückter Schrei, dessen Begeisterung er erst zu verstehen begann, als Manogans Gestotter in sein Bewußtsein drang. »Bei Bran! Sie ist es … Kein Zweifel! Ich bin wieder … zu Hause …!«
* Von allen Schiffen der kleinen Flotte war nur die HYPERBOREER auf felsigem Strand aufgelaufen. Die anderen dümpelten vollkommen unversehrt im seichten Gewässer einer kleinen Bucht. Noch bevor Dakaris zu Manogan eilte, suchte er der Kiste auf, die so viel Furcht über die Besatzung gebracht hatte. Sie befand sich nicht mehr an der Stelle, wo sie sturmfest vertäut gewesen war. Nur zerfetzte Taureste lagen noch dort herum, mehr nicht. Im ersten Moment war der Augure deshalb der Überzeugung, daß der widernatürliche Nebel die Fracht aus Knossos mit sich genommen hatte, wohin auch immer. Doch dann wiesen Kriegerarme ins Hinterland der Bucht, und er erkannte seinen Irrtum. Was er so wenig wie die anderen begriff und auch niemandem erklären konnte, war, wie die Kiste so weit hatte rollen können und dabei auch noch unversehrt geblieben war. Sie lag neben einem hohen
Stapel gefällter, entasteter und zugeschnittener Baumstämme. Selbst Manogans Ausrufe außer acht gelassen, wäre dies der Beweis gewesen, daß dieses Eiland von Menschen bewohnt war. Die Lage der Stämme mußte Zufall sein. Bist du sicher? Gibt es auf dieser Mission überhaupt einen Zufall? Dakaris versuchte die mahnende Stimme seines Unterbewußtseins zu ignorieren. In diesem Augenblick trat Manogan, der Hyperboreer, hinter ihn und raunte ihm zu: »Ich weiß, wie der Fluch von König Minos genommen wird. Ich weiß, was du mit den Mißgeburten tun mußt, um eure Götter zu besänftigen.« Dakaris drehte sich zu ihm um, aschfahl im Gesicht. Die Zeit, bis er zu einer Erwiderung fähig war, nutzte er, um sich zu vergewissern, daß niemand nahe genug stand, um ihr Gespräch zu belauschen. Schließlich fragte er mit heiserer Stimme: »Woher weißt du, was in der Kiste ist? Hat Minos …?« »Minos?« Manogan schüttelte den Kopf. »Nein. Das, was in der Kiste ist, hat es mir gesagt.« Der Augure überlegte, ob er den Dolch, der in seinem Gürtel steckte, ziehen und ihn dem Hyperboreer ins Herz treiben sollte, solange dazu noch die Möglichkeit bestand. Dieser Besessene! Besessen wovon? Von Geistern, die in toten Mißgeburten hausten? In Geschöpfen, halb Mensch, halb … sonst etwas? Dakaris blickte zum Meer, wo die anderen Schiffe nun im letzten Licht des Tages im Rudertakt langsam auf den Strand zukamen, um ihre Truppen landen zu lassen. »Wofür sind die Baumstämme neben der Kiste?« fragte er Manogan, als hätte er dessen veränderte Rolle bereits akzeptiert. »Damit unterlegt ihr die Kiste und rollt sie ans Ziel.« »Wo liegt das Ziel? Weit von hier? Liegt dort eine eurer … eine der
Städte der Hyperboreer.« »Hier leben keine Hyperboreer. Wir sind Kelten.« »Kelten …« Dakaris hatte diesen Namen nie gehört. »Dann hat Minos also Falsches geträumt …« »Er hat nicht falsch geträumt. Er wurde lediglich betrogen.« Bei diesem schamlosen Eingeständnis war der Augure zum zweiten Mal versucht, Manogan auf der Stelle zu töten. Doch wieder gelang es ihm, sich klarzumachen, daß etwas anderes aus dem ehemaligen Gefangenen sprach. Etwas, das immer noch behauptete, den Fluch von König Minos und ganz Kreta nehmen zu wollen. »Was müssen wir tun? Was soll mit der Kiste und ihrem Inhalt geschehen?« »Sie muß dorthin gebracht werden, wo solche wie ich hierzulande auf die Vereinigung hingewirkt haben.« »Vereinigung?« Manogan schwieg. »Wer sagt mir, daß dies nicht auch nur eine Hinterlist ist?« »Du mußt mir vertrauen.« »Dir – oder dem Toten dort in der Kiste?« Auch darauf schwieg Manogan. Der Augure fragte: »Ist es weit bis zum Ort der … Vereinigung?« »Zwei oder drei Tagesreisen.« »Was soll ich dem Feldherrn und den Schiffsführern sagen?« »Was immer dir einfällt.« Mit anderen Worten, dachte Dakaris, an seiner Hilflosigkeit fast erstickend, es ist dir egal.
* Es hatte Dakaris große Überzeugungskraft gekostet, Thalius und sein Heer dazu zu bringen, die Kiste auf Stämmen ins Landesinnere
zu rollen, und mehr als einmal hatte er sich gefragt, was wohl geschehen wäre, wenn er die Krieger nicht hätte überreden können. Die Antwort kannte nur das Unheimliche, das durch Manogans Mund zu ihm gesprochen hatte. Und Manogans Mund schwieg beharrlich auf alle Fragen, die der Augure diesbezüglich an ihn richtete. Am dritten Tag der mühseligen Fortbewegung erreichten sie ein Plateau und gegen Abend desselben Tages ihr Ziel. Schon von weitem hatten sie festgestellt, daß die Hochebene alles andere als menschenverlassen war. Und daß ein Bauwerk aus ihr emporragte, das nicht gewaltig in seinen Ausmaßen, aber doch imposant war. Magisches haftete den steinernen Ringen an. Eine unbeschreibliche Aura. »Dorthin ziehen wir?« fragte Dakaris. »Ja«, sagte Manogan. »Dort werden wir erwartet. Und dort vollzieht sich die erste Aussaat.« »Was für eine Aussaat?« Die Andeutungen wurden immer mysteriöser. Und als auch Thalius kam und ihm dieselbe Frage stellte, die er gerade an Manogan gerichtet hatte, erwog der Augure, dem Krieger alles zu erzählen – alles, was bislang nur ihn allein in Angst und Sorge versetzte. Doch dann tat er es doch nicht. Minos verläßt sich auf mich. Minos glaubt an unsere Mission. Wir können nur gewinnen. So lullte er sich selbst ein. Und vertat die letzte Chance, das zu verhindern, was der besessene Manogan »die Aussaat« genannt hatte. Bei der weiteren Annäherung an die beiden Steinkreise erkannten sie, daß dort Gestalten in weißen Kutten am Boden hockten. Sie wirkten eingeschüchtert, ängstlich. »Fürchten sie sich vor uns? Sind das … Kelten?« wandte sich Dakaris an Manogan. »Du wolltest unsere Sprache übersetzen. Fühlst du dich an dieses Versprechen immer noch gebunden?«
Manogan lachte. »Es sind Druiden. Mächtige Zauberer. Und dies ist der Ort, an dem sie alle neunzehn Jahre einmal zusammenkommen. Aus dem ganzen Land.« Dakaris blieb stehen. Plötzlich konnte er spüren, daß da mehr war, als das Auge ihm verriet. Auch Manogan war stehengeblieben, während die Krieger die riesige Kiste weiter durch das hüfthohe Gras schoben, es niederwalzten und für die dahinter Folgenden eine Art Straße schufen, die genau auf den steinernen Reigen zuführte. »Ich mißtraue Zufällen schon länger«, sagte Dakaris. »Und diesem absolut! Alle neunzehn Jahre, sagst du? Und wir treffen hier genau zu diesem Zeitpunkt ein? Zufällig?« Manogan legte den Kopf schief. In seinen Augen erschien das Bild des toten Minotauren, den der Augure zu zerteilen versucht hatte. Der aller Gewalt getrotzt und schließlich die absonderlichsten Mischwesen totgeboren hatte … Alles, was sich jetzt in der Kiste befindet! Dakaris schwindelte. Es beschämte ihn, daß ausgerechnet Manogan die Hand ausstreckte und ihm Halt bot. »Du bist klug«, sagte das Fremde aus seinem Mund, »wenn du an Zufall nicht glaubst. Die üblichen neunzehn Jahre sind tatsächlich noch nicht um. Seit der letzten Zusammenkunft der Druiden sind erst acht vergangen, nicht einmal die Hälfte.« »Und trotzdem sind sie da …« Manogan nickte. »Aber nicht aus freien Stücken. Sie wurden hierher getrieben. Alle Gaben, die sie besitzen, halfen ihnen nicht, sich zu widersetzen.« »Getrieben? Meinst du gezwungen? Von wem?« »Von … ihnen.« Manogan machte eine Geste, die die ganze Hochebene einzuschließen schien. Im selben Moment wuchsen die aus den Gräsern, vor denen sich
selbst die Druiden ängstlich duckten und aneinander kauerten. Eine Übermacht von fremdartigen Kriegern, so zahlreich wie Ähren auf einem Feld stürmte den Kretern entgegen, die wie erstarrt aufhörten, die Kiste weiterzubefördern. »Kelten«, sagte Manogan lapidar. »Sie werden alle töten. Und nur schonen, was bereits tot ist.« Wozu? dachte der Augure, während er mitansehen mußte, wie Thalius als erster von allen Kriegern fiel. Wozu das alles? Nur um zu sterben, hätten wir keinen Fuß auf dieses Land setzen müssen … In diesem Moment glaubte er nicht, je eine Antwort auf die quälenden Fragen zu erhalten. Auch auf ihn stürmte ein Kelte mit erhobener Streitaxt zu. Und Dakaris machte keinen Versuch, seinem sicheren Schicksal zu entrinnen.
* Als er die verquollenen Augen aufschlug und die Schmerzen aus seinem wie zerbrochenen Schädel erfuhr, wurde ihm klar, daß die Macht, die für seinen Aufbruch ins »sagenhafte Hyperboreer« verantwortlich war, noch immer mit ihm spielte. Sonst hätte nicht die stumpfe Seite der Axt, sondern die scharfe seinen Schädel getroffen. Mühsam hob er den Kopf. Die Nacht war hereingebrochen. Daß sie nicht vollends dunkel war, lag an dem vollen Mond, dessen silbernes Licht die Szenerie beleuchtete. Man hatte Dakaris ebenfalls in den innersten von zwei Steinkreisen verbracht. Zu den Druiden. Und zu … Wer ist das? Im Zentrum der Anlage kniete eine Frau vor einem Mann, der auf den ersten Blick wie aus Stein gehauen aussah. Widernatürlich perfekt von Gestalt. Und von einer Aura umgeben, die keinen Zweifel
daran ließ, warum sich die Frau vor ihm fürchtete. Er strahlte nicht nur Böses aus – er war das Böse. Dakaris versuchte das Wort zu erheben, aber ein einziger flüchtiger Blick aus steingrauen Augen hieß ihn zu schweigen. Und er gehorchte. Die Frau war zierlich, bis auf den runden Bauch, den sie mit beiden Händen abdeckte, als könnte sie dadurch das ungeborene Leben darin beschützen. Dakaris empfand Mitleid mit der Unbekannten. Er wußte, daß sich ihre insgeheime Hoffnung, durch Gehorsam wenigstens das Leben ihres Kindes erkaufen zu können, nicht erfüllen würde. Er wußte es, ohne sagen zu können, woher er solches Wissen nahm. Durch die Lücken zwischen den Steinen des äußeren Ringes sah er, wie keltische Krieger dabei waren, die von Knossos bis hierher transportierte Kiste mit ihren Streitäxten aufzubrechen. Das Holz hielt den Schlägen nicht lange stand. Splitternd lösten sich die ersten Bretter. Kurz darauf war eine komplette Wand der Kiste entfernt, und Dakaris konnte die übereinandergestapelten Kadaver der Mischwesen sehen. Dutzendfach erdachte Spielarten nackten Horrors. Binnen kürzester Zeit hatten die Keltenkrieger, die der Anblick der Kadaver nicht zu schrecken schien, die Fracht entladen und rings um die Steinkreisanlage verteilt. Dakaris wartete noch immer, daß der Minotaur herausgetragen wurde, den er in einer Ecke der Kiste liegen sah. Doch darum kümmerte sich jener, der die ganze Zeit bei der Frau gestanden hatte – und einer derselben Art, der Dakaris Blick bis dahin verborgen geblieben war. Mit einem Geräusch, wie Dakiris es schon einmal gehört hatte – ZZZUUUWWW – flogen sie in den Verschlag und … … verschmolzen mit dem Kadaver darin!
Die Vereinigung! durchzuckte es den Auguren, der wie zu einem Stück Holz erstarrt war. Mehr Zeit, als zu diesem Gedanken nötig war, dauerte es nicht, bis das, was verschmolzen war, die Kiste aus eigener Kraft wieder verließ. Und fürchterlich zu wüten begann.
* Dakaris sah nicht, womit das WESEN die Köpfe von den Hälsen der Druiden trennte. Auf jeden Fall bewegte es sich schneller, als sich je ein Geschöpf auf Erden bewegt hatte, und so konnte es geschehen, daß der Augure die Häupter aller Druiden in einem einzigen grausigen Moment durch die Luft fliegen sah, derweil das Blut ihre weißen Kutten befleckte. Die alleingelassene Frau schrie gellend auf, schien aber nicht fähig, die Chance zu ergreifen und aus den Steinkreisen zu fliehen. Ebenso wenig wie Dakaris, der feststellte, daß auch ihn keine Fesseln daran gehindert hätten. Aber um ihn, das begriff er im selben Atemzug, während die Zeit für einen Moment stillzustehen schien, ging es nicht. Ob er hier sein Leben ließ oder nicht, war ohne Belang. Es ging um die Frau! Und um den dritten Kreis, den die Krieger gezogen hatten. Mit Mischwesen, die jedem Menschen das Blut in den Adern zum Stocken bringen konnten! Als der letzte Druide sein Leben gelassen hatte, bildete sich um die Kultstätte ein Glanz von abseitiger Schönheit. Das Wesen, das eben noch der Minotaur gewesen war und sich nun zu einem mehr menschlichen, aber nichtsdestotrotz grauenhaften Ding verwandelt hatte, kam im Zentrum der Steinkreise zur
Ruhe. Es hob die Arme und reckte sie dem Mond entgegen, der voll und rund am Himmel stand. »Der Bund ist geschlossen!« donnerte seine Stimme. »Nun gib mir die Macht, höllischer Vater, das Werk zu vollenden!« Er wandte den Blick vom Nachtgestirn fort und deutete auf die Frau. »Nun wähle die Gestalt des ersten Kindes, das den Bund besiegelt! Des ersten Kriegers Armageddons!« Und dann hatte Dakaris nur noch Augen für die Frau. Die sich veränderte, rasend schnell. Über deren Züge sich Fratzen von unbeschreiblicher Häßlichkeit stülpten; Köpfe von Stieren, Hunden, Katzen, Schweinen und einem Dutzend anderer Tiere, eines bedrohlicher das Gebiß fletschend als das andere! Die Frau selbst verwandelte sich für die Dauer der Gesichterschau in sämtliche Mischwesen, die der Minotaur geboren hatte! Am Ende blieb eines länger sichtbar als alle anderen. Eines, das nicht einfach verschwand, sondern in die Frau zu kriechen schien: der Kopf eines Wolfes! Der »höllische Vater« hatte sich entschieden. Die Frau brüllte unter Wehen auf. Ihr Atem floh als weißer Nebel von ihren raubtierhaften Lefzen. Und sie gebar inmitten der Leichen … … ein Kind.
* Gegenwart, Jerusalem Nona hatte dem Sog, mit dem Gabriel ihren Geist aus den Nebeln der Vergangenheit wieder in die Stadt zurückzog, nichts entgegenzusetzen. Sie fand sich im Haus von Jeb Holski wieder. Neben dem zugerichteten Leichnam Calebs.
»Nun, was hältst du von der Geschichte, die ich dich erleben ließ?« wollte Gabriel wissen. Nona stand immer noch ganz unter dem Eindruck der Bilder. »So entstand meine Art?« fragte sie atemlos. »Kein Fluch? Kein unheiliger Keim wie der der Vampire? Geboren aus einer Frau im Steinkreis von Stonehenge?« Gabriel lächelte. »Nicht einfach geboren. Geschaffen durch die Urmacht des Bösen von jenseits der Wirklichkeit. Meine damaligen Inkarnationen brachten den Samen aus, den ich nun ernte. Es war ein Roulettespiel voller Magie. Das Urböse selbst erwählte das Tier, von dem es sich den meisten Nutzen und das größte Durchsetzungsvermögen in dieser Welt erwartete: den Wolf. Und weil er durch die Kraft des Mondes erschaffen wurde, brach seither das Böse immer dann aus seiner menschlichen Maske hervor, wenn seine Scheibe am vollsten war.« Nona schluckte. Dann sagte sie: »Aber ich sah die Frau ein Kind gebären, keinen Wolf.« »Das geschieht noch heute so, um meine künftigen Krieger zu schützen, solange sie wehrlos sind. Du erinnerst dich, wie es bei dir war?« »Ich verwandelte mich zum ersten Mal, nachdem ich meine Tage bekam, nachdem ich zur vollwertigen Frau geworden war«, entgegnete Nona. Gabriel nickte. »Diese Gesetzmäßigkeit habe ich in meinen Kriegern verankert. Erst als Erwachsene erwacht der Wolf in ihnen. Sie reifen ohne Blutvergießen, aber dann gewinnt der Mond Macht über sie. So war es zumindest bisher. Denn von nun an ist der Wolf allgegenwärtig in euch. Ihr könnt ihn erwecken, wann immer ihr wollt – oder wenn ich es befehle.« Nona sah in das sanfte Gesicht des Teufels. »Was wirst du uns befehlen?« fragte sie und suchte vergebens nach einem Zeichen, daß Gabriels Schilderung der lange vergange-
nen Ereignisse die rastlose Suche nach ihren Wurzeln befriedigt hatte. Daß sie nun Frieden zumindest in dieser quälenden Frage finden würde. Aber wie sollte sie Frieden finden? Landru war tot! Für alle Zeiten verloren … In Gabriels Augen blitzte es auf. »Bist du da so sicher?« fragte er amüsiert. »Noch ist er nicht tot. Aber er wird sterben – sobald er Jerusalem an der Seite meiner bleichen Kinder erreicht …« ENDE des ersten Teils
Der Garten Leserstory Meine Lebensgeschichte ist eine Chronik über den Hunger. Hunger, der mein Leben bestimmt hat und mich zum Killer werden läßt. Aber wenn ich zum Überleben töte, ist es dann noch Mord? Ich versuche mich zu beherrschen, doch immer wieder überkommt mich das Böse. Dann verliere ich die Kontrolle über meinen Körper und meinen Geist. Eine Transformation beginnt, die jeden, der mir in diesem Zustand begegnet, den Tod bringt. Mit meiner Gabe könnte ich viel Gutes tun. Ich habe es probiert, habe Menschen das Leben gerettet – aber noch viel mehr getötet. Könnte ich mich doch nur von anderen Dingen ernähren als nur von diesen roten Saft! Tierblut erhält mich zwar auch am Leben, doch ist sein Geschmack und der Nährgehalt dem des menschlichen Blutes nicht annähernd identisch. Ich benötige eine vielfache Menge davon, um meinen Hunger zu stillen. Und es gibt auch immer wieder Phasen, in denen ich auf menschliches Blut angewiesen bin. Ich sehe auf die Uhr. Es wird wieder Zeit. Ich spüre meist schon im voraus, wenn diese Phasen eintreten. Ich will nichts dem Zufall überlassen, habe alles vorbereitet. Ich rufe meine Dienerin. In der heutigen Zeit eine Dienerin zu halten, ist ungewöhnlich, doch durch meine suggestiven Fähigkeiten habe ich alle diesbezüglich Bedenken bei den Menschen, mit denen ich zu tun habe, unterdrückt. Jenny, meine Dienerin, habe ich vor ein paar Wochen erst auf der Straße aufgelesen und ihr diesem Job angeboten. Natürlich habe ich bei ihrer Entscheidung ein bißchen nachgeholfen. Sie ist zwanzig Jahre alt und hat ein wunderschönes Gesicht. Eigentlich schade um dieses erlesene Geschöpf, doch ihr Blut ist süß und rein. Noch weiß
sie nichts von meiner wahren Natur. Die Tür öffnet sich. Meine Muskeln spannen sich an, mein Stuhl dreht sich in Richtung meiner Dienerin. Sie kommt auf mich zu und fragt nach meinen Wünschen. Ich möchte mein Abendmahl zu mir nehmen, doch ich verschweige ihr, daß sie dabei mein Hauptgericht sein wird. Doch zuerst die Vorspeise. Ich schaue ihr kurz in die Augen, und schon stellt sie sich breitbeinig vor mich hin. Ihre Hände fahren die Hüften auf und ab; dabei vollführt sie mit ihrem Becken laszive, kreisende Bewegungen. Oh, wie ich diese Vorspiele liebe! Mein schwarzes Blut gerät in Wallung, ihr Tanz erregt mich. Doch dann, wie aus heiterem Himmel, ändert sich meine Stimmung abrupt. Der Hunger meldet sich mit Macht. Nein, ich will genießen! Doch da verwandele ich mich schon. Meine Eckzähne wachsen; die Vernunft und die Selbstbeherrschung müssen dem Überlebenswillen und dem Instinkt weichen. Ich schaue Jenny in die Augen und kann so ihren Schrei unterdrücken. In ihren Augen war Angst zu lesen, doch nun zeigt ihr Gesicht ein von mir erzwungenes Lächeln. Ich erhebe mich aus meinem Stuhl. Sie steht wie angewurzelt da, mit dem Lächeln auf ihrem Gesicht. Ich strecke meine Hände aus. Nein, ich will sie zurückziehen – doch die dunkle Seite ist stärker. Meine Hände werden zu Pranken, mit Fingernägeln so scharf wie Rasierklingen. Jennys Augen starren immer noch geradeaus, auch als ich meine Zähne durch das weiche zarte Fleisch ihrer Schulter stoße. Sie bäumt sich kurz auf, doch dann scheint alles in ihr zu erlöschen. Ihr warmes Blut quillt aus der Wunde hervor. Mein Saugen ist erst wild, ohne Empfinden, als ob ich ein kleines Kind wäre, das seit Tagen nichts mehr zu Essen bekommen hat. Doch langsam kommt auch das Genießen. Warm läuft mir der rote Saft die Kehle hinunter. Ein Geschmack, Ambrosia gleich, breitet sich in meinem Mund aus. Ich schluchze ein wenig vor Vergnügen. In diesen Momenten frage
ich mich, warum ich mich nicht öfter dem Verlangen hingebe. Doch das Monster in mir ist zurückgewichen, Vernunft und Einsicht sind wiedergekehrt. Ich löse meinen Mund von der Wunde und schaue auf das, was mein unstillbarer Hunger angerichtet hat. Ein wenig Reue überkommt mich, aber ich schüttele sie ab. Meine Zunge streicht noch einmal über die beiden Einstiche, um auch die letzten Blutreste von Jennys Schulter zu tilgen. Ich habe einem schönen jungen Mädchen das Leben genommen, aber damit anderen das Leben bewahrt. Auch hatte sie in den letzten Wochen ein besseres Leben als manch anderes junges Ding. Ich nehme sie auf meine Arme und verlasse den Raum. Aus der Hintertür heraustretend, begebe ich mich in den großen Garten. Meinen Gärtner habe ich darum gebeten, ein neues Beet mit Rosen anzulegen. Dies waren die Jennys Lieblingsblumen. Eine Grube teilt das angehende Beet, dahinter steht Jack, mein Gärtner. Ich steige hinunter in Jennys Grab, gehe in die Knie und lege sie behutsam auf die nackte Erde. Zärtlich fährt ein letztes Mal meine Hand über ihre Wange, dann straffe ich mich und entsteige dem Grab. Ein kurzer Blick zu Jack, und er beginnt die Grube zu schließen. Ich habe ihm suggeriert, daß es Dünger ist, den ich ins Beet einbringen wollte. Wie überaus makaber! denke ich bei mir. Mein Blick streift den Garten. Viele Beete mit den unterschiedlichsten Blumen haben sich mit der Zeit angesammelt, aber alle werden sorgsam gepflegt. Denn jedes Beet war ein Menschenleben. Eine Träne bahnt sich aus meinem Auge den Weg hinaus auf die Wange. Ich weine; dabei sollte unsereins doch keine Emotionen haben. Mit geneigten Haupt suche ich mir ein stilles, unbeobachtetes Plätzchen. Dort wird meine Körper kleiner, die Ohren empfindlicher, Schwingen bilden sich. Ich werfe mich in die Luft, die ledernen Flughäute tragen mich höher.
Mein Flug soll mich die Stadt führen. Dort suche ich mir eine neue Dienerin, ein Opfer, ein junges Ding, das auf der Straße lebt und dem ich die letzten Wochen seines Lebens noch versüßen möchte. Ein Platz für ein neues Beet ist auch schon gefunden. ENDE
Vampira-Lexikon ANUM – Eines der zwanzig Kinder, die Adams erste Frau Lilith im Garten Eden gebar, die das Urböse aber vor Gott verbarg. Sie waren die ersten Vampire, die gottgleich über die Menschen herrschten. Nach der Sintflut jedoch schwand ihre Macht, und sie wurden in Schlaf versetzt; nur jeweils einer durfte für tausend Jahre mit dem Lilienkelch das Geschlecht der Vampire verbreiten. Die letzten zwei dieser »Kinder« sind Landru und Anum, doch während Landru seine Mission eigennützig verriet, wurde Anum die »zweite Weihe« zuteil, die ihn wieder gottgleich machte. Nun sieht er Landru als Feind an und will ihn zur Verantwortung ziehen. ARCHONTEN – Eine geheime Loge des Satans, im Jahre 1635 in Perpignan aus toten Kindern rekrutiert. Auffällig an ihnen sind die weiße Haut, die roten Augen und fehlende Behaarung. Satan benötigt sie aus bislang ungeklärten Gründen für seinen großen Plan. GABRIEL – Die Inkarnation Satans in unserer Zeit; ein Knabe, der von einer jungfräulichen Nonne geboren wurde und rasch heranwuchs. Er paktiert mit Menschen und Vampiren – auch mit Lilith und Landru – und strebt die Herrschaft des Bösen an. Einst war er der Engel Luzifer, in dem sich das Urböse einnistete. Seine Brüder wollten ihn daraufhin isolieren – was ihnen zwar gelang, doch auch sie selbst in einer Zwischendimension festsetzte. Seitdem sucht Satan nach einem Weg auf die Erde, wo er durch Inkarnationen wie gegenwärtig Gabriel Einfluß zu gewinnen sucht. STIFTER, TOBIAS – Als einer der Illuminaten lernte Tobias Stifter im Jahr 1666 Elisabeth MacKinsay kennen und lieben. Gemeinsam fochten sie gegen Satan und konnten 1666 dessen damalige Manifestation für lange Zeit von der Erde tilgen. Sie heirateten, doch während Beth als Zeitvampirin (>) nicht älter wurde, starb Tobias Ende 1704 im Kloster Monte Cargano bei Rom.
ZEITVAMPIRIN – Als Beth MacKinsay von Lilith Eden im Zeitkorridor von Uruk getötet wurde, geriet ihre Seele in die Vergangenheit und manifestierte sich dort 1618 in einem Pseudo-Körper aus gestaltgewordener Zeit. Um weiter existieren zu können, stahl sie die Lebenszeit der Menschen; so wurde sie zur Zeitvampirin. Nach dem Tod von Tobias Stifter (>) wollte Beth zurück in den Korridor, um in die Gegenwart zu reisen, doch ihr Pseudo-Körper löste sich auf, und ihre Seele war für Jahrhunderte gefangen, bis Lilith Eden sie entdeckte und in sich aufnahm. So lebt von Beth nur noch deren Wissen und deren Erinnerungen in Lilith weiter.
Kind des Grals von Adrian Doyle Mit dem Lilienkelch wurde einst das Geschlecht der Vampire gegründet und überall auf der Erde verbreitet. Und mit dem Lilienkelch sollten die Blutsauger dereinst, in der »Hohen Zeit«, wieder über die menschliche Rasse herrschen. Doch der Gral ist entweiht und nutzlos geworden. Eine Tatsache, mit der sich Anum, Mächtigster der Vampire, nicht abfinden will. Er wagt ein Experiment, eine noch nie dagewesene Taufe. Ganz besonderes Blut soll einem Menschenkind die Unsterblichkeit und den ebenso ewigen Durst einflößen. Blut wie es auf der ganzen Welt nur in einem einzigen Geschöpf pulsiert. Die Taufe gelingt. Aber folgenschwerer, als es irgend jemand hätte vorhersehen können …