Wittich – der Schrecken vom Hotzenwald von Joachim Honnef scanned by : horseman kleser: Larentia Version 1.0
Sebastian...
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Wittich – der Schrecken vom Hotzenwald von Joachim Honnef scanned by : horseman kleser: Larentia Version 1.0
Sebastian Müller fluchte. Ein Baumstamm blockierte den Waldweg hinter der Biegung. Sebastian war ein erfahrener Fuhrmann. Er handelte schnell und besonnen. Während er das Gespann zügelte, warnte er den Fahrer des nächsten Wagens mit einem Alarmschrei, damit der nicht auffuhr. Es gelang Sebastian, den Wagen gerade noch vor der hohen Barriere anzuhalten. Die Begleitreiter des Transports hatten sofort bei
Sebastians Alarmschrei »Überfall!« schrie einer.
die
Schwerter
gezückt.
Die Blicke der Männer tasteten angespannt über die Hänge des Hohlwegs. Kein Räuber war zu sehen. Eines der Gespannpferde wieherte. Dann herrschte plötzlich gespenstische Stille. Staub senkte sich. »Zurück!« rief Klaus Petereit, der Führer der vierköpfigen Eskorte. »Und wie?« brüllte Sebastian, und er fügte ganz leise hinzu: »Du Hornochse!« Sein Ärger war berechtigt. Es gab keine Möglichkeit zum Wenden. Sie steckten in der Falle. * Immer noch ließ sich niemand blicken. Nichts geschah. Die Stille hatte etwas Unheimliches. »Vielleicht ist das nur ein Zufall«, sagte Klaus Petereit mit rauher Stimme. »Ein vom Blitz gefällter Baum ...« Dummbeutel! dachte Sebastian. »Habt Ihr schon mal erlebt, daß der Blitz einen Baum sauber absägt?« rief er. Sein Blick tastete nervös und angespannt über die Hänge. Nichts rührte sich zwischen den Büschen und Bäumen. Plötzlich ertönte ein Lachen. Ein seltsam schrilles Lachen. Die Männer des Transports starrten nach rechts empor. Von dort oben zwischen den Buchen war das Lachen erklungen. Doch niemand war zu sehen. - Klaus Petereit fluchte lästerlich. »Aber, aber«, erklang dann eine Stimme zwischen den Buchen. »Wer wird denn so etwas Böses von sich geben!« Wieder war das schrille Lachen zu hören. Klaus Petereit verlor die Nerven. Oder er wollte allen seine Tapferkeit beweisen. »Attacke!« schrie er seinen Männern zu, trieb sein Roß wild an und jagte mit hocherhobenem Schwert zwischen die Büsche am Wegesrand. Tollkühn wollte er den Hang hinauf, geradenwegs zu
den Buchen, wo er den Wegelagerer wußte. Er kam nicht weit. Sein Pferd brach, von einem Pfeil getroffen, zusammen. Wiehernd stürzte es den Hang hinunter. Wild zuckten die Hufe. Klaus Petereit flog in hohem Bogen aus dem Sattel, überschlug sich im Sturz und prallte gegen das Vorderrad von Sebastians Wagen. Er schrie auf, als er sich den Kopf stieß. Dann verstummte der Schrei wie abgeschnitten. Ein Pfeil ragte plötzlich aus seiner Brust. Klaus Petereit, der längst das Schwert verloren hatte, umklammerte unbewußt den Pfeilschaft mit beiden Händen. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Er bäumte sich noch einmal auf, dann sank er mit einem röchelnden Laut in den Staub. Sebastian starrte entsetzt. Ebenso die anderen Fahrer und die Männer der Eskorte, die sofort ihre Rösser pariert hatten. Klaus Petereit hatte sich während der langen Fahrt als großer Meister und Besserwisser aufgespielt, der mit seinem ständigen Herumkommandieren allen Kutschern und Begleitreitern auf die Nerven gegangen war. Doch ein solches Ende hatte er gewiß nicht verdient. »Werft eure Schwerter und Messer weg, oder ihr seid alle des Todes!« ertönte die Stimme von den Buchen her. Als wollte der Mann seinen Worten Nachdruck verleihen, flogen jetzt weitere Pfeile heran. Von allen Seiten, wie es schien. Jenseits des Baumstamms tauchte eine Gestalt auf, zu beiden Seiten des Hohlwegs und sogar hinter dem letzten Wagen war ein Bogenschütze zu sehen. Pfeile schwirrten heran. Sebastian zuckte zusammen und erschrak bis ins Mark, als ihm ein Pfeil den Schlapphut löcherte. Zögernd ließen die Männer der Eskorte ihre Waffen fallen. Sebastian dachte an Frau, Geliebte und Kinder und hob unaufgefordert die Hände. Andere Fahrer folgten seinem Beispiel. Der Räuber oben bei den Buchen lachte. »So ist's brav, Leute. So dürft ihr noch ein bißchen am Leben
bleiben. Nicht lange, aber ein bißchen ist besser als gar nichts.« Abermals erklang das seltsam schrille Lachen. Den Männern des Transports lief ein kalter Schauer über den Rücken. Trotz der schwülen Sommerhitze, die ihnen an diesem Tag so sehr zu schaffen gemacht hatte ... * Sie hieß Helga Altenmayer, und sie war das bezauberndste Geschöpf, das Ritter Roland auf dem langen Ritt in den Schwarzwald kennengelernt hatte. Nun, er war nicht unterwegs, um sich die Schönen dieser Gegend anzusehen. Die Zeit drängte. Die Knappen Louis und Pierre erwarteten ihn in Peterzell. Sie hatten eine heiße Spur im Fall der vielen verschollenen Menschen und ebenso spurlos verschwundenen Frachtwagen. Doch daran dachte Roland im Augenblick nicht. Helga nahm ihn mit ihrem Liebreiz gefangen. Sie war von anmutiger Gestalt, klein und grazil, und wenn sie lächelte, funkelten ihre graublauen Augen, und um die Winkel ihrer sinnlich geschwungenen Lippen bildeten sich lustige Grübchen. So wie jetzt. Roland hatte sie am Ufer des Wildbaches weinend angetroffen, einsam und verloren wie ein verirrtes Täubchen. Natürlich gebot es Roland die Ritterpflicht, die arme Maid zu trösten. Sie war voller Scheu, ja Furcht gewesen, verständlich nach dem, was ihr widerfahren war. Irgendein Haderlump hatte ihr Roß gestohlen, während sie Pilze gesammelt hatte. Nun, ihre Tränen waren schnell versiegt, als Roland ihr galant angeboten hatte, sie auf seinem Roß bis nach Peterzell mitzunehmen. Und ebenso schnell hatte sie ihre Scheu verloren. Nie hätte Ritter Roland die betrübliche Lage dieser Maid ausgenutzt. Nie hätte er Hand an diesen zarten Mädchenkörper gelegt - wenn er nicht das Gefühl gehabt hätte, daß sie ihn dazu ermunterte. »Ein Ritter seid Ihr?« Sie musterte ihn prüfend, als er sich
vorgestellt hatte. Ihm waren die Zweifel in ihrem Blick und Tonfall nicht entgangen. »So ist es, schöne Frau.« Erst jetzt fiel ihm ein, daß er sich in Peterzell eigentlich als Händler hatte ausgeben wollen, und er ärgerte sich. Helga hatte ihn verwirrt. Er nahm sich vor, sie unterwegs um Stillschweigen zu bitten. Ihre Wangen röteten sich leicht ob seines Kompliments. Ein kurzes Auf und Ab der langen Wimpern, und dann senkte sie den Blick. Ritter Roland hatte Gelegenheit, einen weiteren Blick auf ihre Gestalt zu werfen, auf die kleinen, lockenden Hügel unter ihrer dünnen Leinenbluse, auf den Schwung ihrer Hüften, um die sich der lange braune Rock spannte. Als sie aufblickte, kam er sich wie ein ertappter Sünder vor, denn sie hatte noch seinen Blick aufgefangen. »Mich dünkt, Ihr seid ein Mannsbild wie jedes andere«, sagte sie, und es klang leicht tadelnd. »Ritter reiten in blitzender Rüstung, mit Schild und Schwert und Knappen im Gefolge ...« »Nicht immer«, erwiderte Roland lächelnd. »Ich werde Euch unterwegs erzählen, weshalb ich wie ein Krämer gekleidet bin.« Dann wollte er ihr galant auf sein Roß helfen, und dabei geschah es dann. Als er sie hochhob, sank sie ihm gegen die Brust. Fast hatte Ritter Roland das Gefühl, sie werde in seinen Armen ohnmächtig. Sie zitterte wie ein frierendes Vögelchen, obwohl es heiß und schwül an diesem Sommertag war. Er nahm den Duft ihres Haares wahr, spürte ihren geschmeidigen Körper, und ein prickelndes Gefühl stieg in ihm auf. Er wußte nicht, was über ihn kam. Vielleicht wollte er ihr die Angst nehmen, das Zittern. Jedenfalls küßte er diese weichen, schwellenden Lippen. Zunächst wurde sie stocksteif. Doch das Zittern hörte auf. Dann erwiderte sie den Kuß. Heftig atmend bog sie dann den Kopf zurück. »Ein Mannsbild wie jedes andere«, seufzte sie.
Ihr Blick verwirrte ihn. Es lag etwas Wissendes in diesen Augen, etwas Erfahrenes, obwohl sie doch noch recht jung war. »Verzeiht, ich bitte Euch ...« »Oh, Ihr bittet?« In ihren Augen schienen plötzlich Funken zu tanzen. Er vermochte sich keinen Reim auf ihre Worte und ihre Miene zu machen. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er sie immer noch auf den Armen hielt. Sie war leicht wie eine Feder - wie die Poeten zu übertreiben pflegten. »Ja ... ich wollte nicht...« Ritter Roland ärgerte sich über seine Verlegenheit. Dieser Blick! Er schien bis in die Tiefen seiner Seele zu dringen und seine geheimen Gedanken zu erraten. Ihr Gesäß, das er mit einer Hand untergefaßt hatte, bewegte sich. Dann streckte sie die Beine aus und stellte sich auf den Boden. Sie spielte mit dem obersten Knopf ihrer Bluse. Leise sagte sie: »Ihr seid verschwitzt und staubig vom Ritt. Ihr solltet Euch im Bache baden, bevor wir ... reiten.« Sie errötete von neuem und senkte den Blick. »Ich werde derweil meinen Korb mit Pilzen holen, den ich im Walde zurückließ«, fügte sie hinzu. Und flugs eilte sie mit anmutigem Gang davon. Ritter Roland blickte ihr ein wenig benommen nach. Mit heftig pochendem Herzen fragte er sich, wie sie ihre Worte gemeint hatte. Er glaubte noch, ihre weichen warmen Lippen auf seinem Mund zu spüren. Ihr Blick, ihr Lächeln waren fast einladend gewesen. Oder hatte sie ihn zum Bade aufgefordert, weil er nach Schweiß und Pferd roch und ihr das nicht gefiel, wenn sie mit ihm auf einem Roß saß? Er blickte an sich hinab. Er war in der Tat staubig und verschwitzt. Ein langer Ritt lag hinter ihm. Er hatte ebenso wie die Knappen eine Spur verfolgt - allerdings ohne Erfolg. Nur kurz dachte er daran, daß Louis und Pierre ihn erwarteten. Aber er mußte seinem Roß ohnehin noch eine Pause gönnen. Warum nicht hier? Und ein Bad konnte gewiß nicht schaden.
Gedacht, getan. Er genoß das erfrischende klare Wasser des Baches, als Helga zurückkehrte. Sie trug einen Korb aus geflochtener Weide. Lächelnd blickte sie zu ihm herüber. Roland tauchte schnell etwas tiefer ins Wasser. Noch war er sich nicht ganz im klaren, wie sie ihre Worte gemeint hatte. Noch geziemte es sich nicht, den nackten Ritter zu zeigen. Doch im nächsten Augenblick verloren sich seine Zweifel. »Ich komme gleich zu dir«, rief sie, während sie mit leicht schwingenden Hüften zu Rolands Roß schritt. Ritter Roland frohlockte. Seine Haut kabbelte im kühlen Naß, und sein Puls beschleunigte sich. Der Zufall hat es gut gemeint, dachte er voller Vorfreude. Eine dunkle Wolke schob sich vor die Sonne. In der Ferne war ein dumpfes Grollen zu vernehmen. Ein Gewitter zog herauf. Es würde Abkühlung nach der drückenden Schwüle bringen. Ritter Roland lächelte. Dann erstarb sein Lächeln von einem Augenblick zum anderen. Er sah, wie Helga behende auf sein Roß stieg, das tänzelnde Tier mit hartem Zügeldruck parierte und dann zum Galopp trieb. »He, was ...«, begann er. »Bade wohl, du Schmutzfink!« rief Helga. Und lachend galoppierte sie davon. Zurück blieb nur der Korb mit ein paar Pilzen. Und Ritter Roland, der sich in diesem Augenblick reichlich dumm vorkam. Die ersten Regentropfen fielen. * »Das gibt ein Gewitter«, murmelte der Knappe Pierre mit einem Blick zum wolkenverhangenen Himmel. »Wurde auch Zeit nach diesen Hundstagen«, brummte Louis und wischte sich über die schweißnasse Stirn. »Diese Affenhitze ist ja
nicht auszuhalten.« »Die Affen müßten sich darin doch wohlfühlen«, bemerkte Pierre mit einem anzüglichen Grinsen. Louis kratzte sich am schwarzen Bart. »Freut mich, daß es dir gutgeht«, brummte er. »Ich schwitze jedenfalls.« Der Himmel weinte die ersten Regentropfen. »Möchte wissen, wo Roland bleibt«, sagte Pierre. »Ob er unsere Botschaft nicht erhalten hat?« Louis zuckte mit den breiten Schultern. »Vielleicht hat er selbst eine heiße Spur gefunden. Wir können nur warten.« In der Ferne, im Norden, grollte Donner. »Der Regen wird alle Spuren auslöschen«, murmelte Pierre. »Wir wissen immerhin, wo der letzte Transport verschwand«, sagte Louis. »Wenn Roland eintrifft, suchen wir von dort aus weiter.« Pierre erhob sich vom Rand des Brunnens auf dem Marktplatz. »Ich schlage vor, wir nehmen in der Schenke einen zur Brust«, sagte er. »Gute Idee«, brummte Louis. Dann fiel ihm ein, daß er sich mit der drallen blonden Krämerstochter Almuth verabredet hatte. Um drei Uhr bei der Brücke am Bach. Außerhalb des Ortes. Diskret. Auf einen Spaziergang in allen Ehren - so hatte Louis gesagt, doch Almuths Blick und ihr Lächeln hatten ihn mehr erhoffen lassen. Hoffentlich fällt das Stelldichein nicht ins Wasser, dachte Louis mit einem besorgten Blick zum Himmel. »Geh nur schon zur Schenke, Pierre«, sagte Louis. »Ich komme nach.« Und als er Pierres fragenden Blick auffing, fügte er hinzu: »Ich will mich noch ein wenig beim Krämer umhören. Ich vergaß ihn zu fragen, wer von dem Transport wußte, der auf dem Weg hierhin spurlos verschwand.« Der Vorwand klang reichlich dünn, doch Pierre schien es nicht zu bemerken. »Soll ich mitkommen?« fragte Pierre. »Nein, nein«, sagte Louis hastig. »Ich schaff das schon alleine.
Geh nur und nimm dir einen Schoppen Wein zur Brust.« Ich nehme mir derweil etwas anderes zur Brust, dachte er vergnügt. »Du bist sehr pflichtbewußt«, sagte Pierre mit anerkennendem Blick. »Nun ja, man tut, was man kann, lieber Pierre.« Louis grinste. »Und mach dir keine Sorgen, wenn es etwas länger dauert.« »Nimm dir nur Zeit«, sagte Pierre lächelnd. Er schlenderte zur Schenke hinüber. »Und grüß mir Almuth«, rief er über die Schulter, bevor er die Schenke betrat. »Ihr solltet einen Schirm mitnehmen.« Louis blickte verdutzt. »Woher weiß er ...?« murmelte er und kratzte sich am Bart. Er konnte nicht wissen, daß Pierre durch Zufall den Flirt der beiden in der Kammer hinter dem Krämerladen belauscht hatte, als sie bei dem Krämer Erkundigungen über den verschwundenen Warentransport eingeholt hatten. Der Krämer war in seine Wohnung gegangen, um die Liste der bestellten Waren zu holen. Pierre hatte sich müßig im Laden umgesehen und dabei gehört, wie Louis und die Krämerstochter die ersten zarten Bande geknüpft hatten ... Louis zuckte mit den Schultern und ging über die Straße. Er ahnte nicht, daß er Pierre so bald nicht wiedersehen sollte. * Vier Männer hielten sich in »Wöhrles Gasthof« auf. Sie waren schäbig gekleidet und wirkten wie wilde Gesellen. Vermutlich Holzfäller, dachte Pierre. Ihr Gespräch verstummte bei Pierres Eintreten, und sie musterten ihn mit finsteren Blicken. Pierre sah zum Schanktisch. Von Wöhrle, dem Wirt mit dem rosigen Mondgesicht, war nichts zu sehen. Pierre setzte sich an einen der blankgescheuderten Eichentische unter die Galerie der Hirschgeweihe, die die Wand zierten. Zwei Hirschköpfe blickten irgendwie vorwurfsvoll auf Pierre hinab. Den
Eindruck hatte Pierre schon gehabt, als er zusammen mit Louis zum ersten Mal diese kleine gemütliche Schenke besucht hatte. »Na klar blicken die ärgerlich«, hatte Louis lachend gesagt, als Pierre ihm von seinem Eindruck erzählt hatte. »So würdest du auch glotzen, wenn, sie deinen Schädel an die Wand nageln.« Pierre schreckte aus seinen Gedanken und blickte auf. Ein Mann war an seinen Tisch getreten. Nicht der Wirt, sondern einer der Holzfäller. Ein graubärtiger Riese mit rotgeäderter Knollennase und kleinen grünen Augen. »Wo ist der andere?« fragte der Hüne mit rauher Stimme. »Welcher andere ...?« begann Pierre. Dann blieb ihm das Wort im Halse stecken. Der Graubart hielt plötzlich wie durch Zauberei einen Dolch in der Faust. »Quatsch nicht«, zischte er. »Wo ist der Schwarzbart, mit dem du hier herumschnüffelst?« Pierre starrte auf den Dolch, den ihm der Kerl drohend vor die Brust hielt und schluckte. Schlagartig wurde ihm klar, daß der Mann kein Holzfäller war und daß er auf sie gewartet hatte. Schließlich hatten er und Louis in diesem Gasthof eine Kammer genommen, und früher oder später hätten sie sich dort ohnehin blicken lassen müssen. Angst stieg in Pierre auf. Sie hatten vorsichtig Ermittlungen angestellt, doch irgend jemand mußte geplaudert haben. Oder sie hatten gar in Unkenntnis einem Mitglied der Räuberbande Fragen nach den verschwundenen Menschen und Transporten gestellt. Oder die Bande hatte Spitzel im Ort. Oder ... Pierres Gedanken jagten sich. »Ich weiß nicht ...«, begann er. Dann wurde er stocksteif. Der Graubart hielt ihm jetzt den Dolch an die Kehle! Aus den Augenwinkeln heraus sah Pierre, wie sich die anderen drei Kerle grinsend erhoben, und schlagartig erkannte er, daß von ihnen
keine Hilfe zu erwarten war: Es mußten Kumpane des graubärtigen Hünen sein. Grüne, kalte Augen starrten Pierre drohend an. Pierre verspürte ein flaues Gefühl im Magen. Als krabbelten Ameisen darin herum. »Ich frage nicht noch einmal«, zischte der Mann, und die Dolchspitze ritzte Pierres Haut. »Alfons, beeil dich«, sagte einer der anderen. »Der Wirt könnte aufwachen.« »Dann verpaß ihm noch eine!« sagte Alfons gereizt. »Es könnten auch Gäste kommen«, sagte einer der Männer, der sich bei der Tür postiert hatte und hinausspähte. »Am besten nehmen wir ihn mit und kitzeln ihn, bis er ...« Alfons wandte sich ärgerlich dem Mann zu, der ihn zur Eile gemahnt hatte. Unbewußt hatte er dabei die Hand mit dem Dolch herumgeschwenkt, fort von Pierres Kehle. Und in diesem Moment handelte Pierre mit dem Mute der Verzweiflung. Er konnte sich vorstellen, was der Kerl mit »Kitzeln« meinte. Und er war kitzlig. Deshalb setzte er alles auf eine Karte. Er ließ sich mitsamt dem Stuhl hintenüber fallen und riß dabei die Stiefelspitze hoch. Er traf Alfons am Handgelenk. Brüllend ließ der Kerl den Dolch fallen. Pierre prallte zu Boden, rollte sich herum und sprang auf. Der Knappe wollte weg, nichts wie weg. Doch da schnellte Alfons schon auf ihn zu. Im Hechtsprung wollte er sich auf Pierre werfen. Der Knappe wich gedankenschnell aus. Alfons konnte seinen Schwung nicht mehr abfangen. Er konnte nur noch schützend die Arme vor den Kopf reißen, dann krachte er auch schon auf die Dielen der Schenke. Er schrammte ein Stück über den Boden und schlug gegen ein Tischbein. Benommen blieb er liegen und überlegte wohl, wie er dort hingekommen war. Pierre blieb keine Zeit zum Aufatmen. Er konnte weder flüchten,
noch sein Messer ziehen. Denn indessen waren die anderen drei Kerle heran. Einer hatte einen Stuhl hochgerissen und schwang ihn jetzt wie eine Keule. Instinktiv riß Pierre noch seinen Kopf zur Seite. Doch ganz schaffte er es nicht mehr. Ein Stuhlbein streifte ihn an der Wange und brach ab. Pierre schwankte und war sekundenlang vor Schmerzen wie betäubt. Ein Fußtritt schleuderte ihn zu Boden. Pierre riß in seiner Verzweiflung das Messer aus der Lederscheide am Gürtel. Ein Stiefel traf ihn am Arm. Das Messer entglitt ihm. Einer der Angreifer riß es an sich. Wie durch einen blutigen Schleier nahm Pierre das verzerrte Gesicht des Kerls über sich wahr. Er sah, wie der Mann mit dem Messer ausholte. »Nein!« Er wußte nicht, daß er es in Todesangst schrie. Die Messerklinge stieß auf ihn zu. Aus! durchfuhr es den Knappen. Dann schienen Blitz und Donner seinen Schädel zu sprengen, und Messer und Mann verschwammen vor seinen Augen und gingen in tiefe Finsternis über. * »Haaar, ihr vierbeinigen Schnecken! Schneller, ihr lahmen Mistviecher! Schneller, sonst geraten wir mitten in das Gewitter!« Paul Ockenfels trieb das Gespann mit der Peitsche an. Paul ließ seinen Blick durch das grüne Tal gleiten. Der Fahrweg führte am Ufer des plätschernden Baches entlang und wand sich durch einen Kiefernwald. Es war ein idyllischer Anblick, doch Paul hatte keinen Blick für die Schönheiten der Natur. Besorgt schaute er zurück. Dunkle Wolken zogen heran. In der Ferne grollte Donner. Wind war aufgekommen. Paul bezweifelte, es bis Peterzell zu schaffen, bevor das Unwetter losbrach.
Die Gespannpferde streckten sich. Die Kutsche schlingerte über den ausgefahrenen Weg. Ein Reh brach voraus aus seiner Waldschneise, äugte zu dem herandonnernden Etwas hin und sprang flugs in die Sicherheit des Waldes zurück. Paul ließ von neuem die Peitsche knallen. Die Passagiere werden ganz schön durchgerüttelt, dachte er, und sein faltiges Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Dann sah er die Passagiere vor seinem geistigen Auge, und sein Grinsen wurde noch breiter. In der Kutsche saßen drei Damen. Und was für welche. Nun, der Begriff »Dame« paßte nicht so ganz genau. Sagen wir eher Weiber! dachte Paul schmunzelnd. Eine Hellblonde, eine Schwarze und eine Rothaarige - wenn man nur mal nach der Haarfarbe ging. Eine war groß und schlank, eine klein und mollig und eine war besonders vollbusig - das war die Blonde. Sie alle trugen Nonnenkleidung, doch Paul wußte, daß sie keine Nonnen waren. Schließlich hatte er sie abgeholt, und das Haus, in dem sie lebten, war gewiß kein Kloster. Und auch ihre Herrin, die sie als »Mutter« bezeichneten, war alles andere als eine Schwester Oberin. Sie hatten die Verkleidung aus Sicherheitsgründen gewählt. In letzter Zeit war es gefährlich, im Schwarzwald zu reisen. Kutschen verschwanden spurlos mitsamt den Passagieren. Wagen verschwanden mit Fahrern und Fracht als hätte sie der Erdboden verschlungen. Manch abergläubische Seele dachte an bösen Zauber und Übernatürliches. Andere Leute vermuteten, daß eine Räuberbande ihr Unwesen trieb. Doch auch sie konnten sich nicht erklären, weshalb die Menschen spurlos verschwanden. Niemals hatte es irgendeine Lösegeldforderung gegeben. Arm und Reich, Jung und Alt waren verschwunden, überwiegend Männer, doch in letzter Zeit auch einige Frauen. Die Angst ging um im Schwarzwald. Deshalb hatten sich die drei Damen als Nonnen verkleidet. Selbst
die hartgesottensten Räuber würden eine Dienerin des Herrgotts verschonen - oder? Die Blonde gefiel Paul am besten. Vielleicht lag das auch daran, daß sie ihm bei der Abfahrt einen Zusatzlohn versprochen hatte. Und das war ein gar nicht nonnenhafter Vorschlag: Er durfte eine Nacht lang ihr Gast sein ... Paul dachte an die üppige Blondine in der Nonnentracht Roswitha hieß sie - und freute sich auf das Ende der Fahrt. Dann traf ihn der Pfeil, und er freute sich nicht mehr. Der Pfeil ratschte ihm nur über die Schulter, riß eine blutige Furche und knallte hinter ihm in den Sitz. Doch Pauls Schreck war groß, und als er die finsteren Gestalten zwischen den Bäumen am Wegesrand hervorspringen sah, erkannte er jäh, daß aus der Nacht mit Roswitha wohl nichts mehr werden würde. Er sah, wie einer der Kerle, die vielleicht fünfzig Klafter voraus aufgetaucht waren, von neuem einen Pfeil auf die Sehne legte und den Bogen spannte. Außerdem funkelten Schwerter im Schein der grellen, stechenden Sonne, die für einen Augenblick zwischen düsteren Gewitterwolken hervorbrach, als wollte sie einen schnellen Blick auf das erhaschen, was sich dort auf Erden tat. Paul beeilte sich, das erschreckte Gespann zu zügeln. »Gnade!« rief er. Und noch flehender: »Gnade!« Mit einem Ruck hielt die Kutsche. Paul drehte die Bremse fest und reckte die Arme in die Höhe. »Gnade!« flehte er von neuem. »Ich bin nur ein armer Fuhrmann mit Weib und Kindern und fahre drei Nonnen zum Kloster.« Im Nu war die Kutsche von wilden Gesellen umringt. Einer von ihnen, ein hagerer Bursche mit einem wuchernden braunen Vollbart und einer auffällig spitzen, leicht gekrümmten Nase, lachte schrill und rief: »Nonnen, äh?« Paul nickte und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß die Kerle auf die Verkleidung hereinfielen und sie verschonten. »Na, dann steigt mal aus, ihr scharfen Nönnchen, auf daß wir euch
begutachten können!« Wieder lachte der Mann schrill. Trotz der Schwüle vor dem nahenden Gewitter überlief es Paul kalt. Das hatte ja gerade geklungen, als wüßte der Haderlump bereits Bescheid! Paul wandte den Kopf und schaute bangen Herzens zu, wie die drei vermeintlichen Nonnen aus der Kutsche stiegen, nachdem der Räuber den Schlag geöffnet und sie zum Aussteigen aufgefordert hatte. Roswitha kletterte als erste aus der Kutsche. Die schwarze Nonnentracht verbarg zwar ihre Formen, doch es war nicht zu übersehen, daß sie von üppiger Gestalt war. Ihr Busen hob und senkte sich unter aufgeregten Atemzügen. Auf ihren Wangen waren hektische rote Flecke. Zornig blickte sie die Räuber an. Sie ignorierte die Blicke der Männer, die sie grinsend anstarrten. »Der Herr sei mit euch«, sagte sie. »Auch wenn ihr verirrte Kinder Gottes seid, so werden wir für euch beten.« Die Kerle lachten. Roswitha schluckte. »Wir sind arme Schwestern des Herrn ...« Der Bandit mit dem braunen Bart lachte wieder, so gräßlich und schrill, daß Roswitha und ihre beiden Gefährtinnen zusammenzuckten. »He, Schwester, so ärmlich siehst du mir nicht aus. Eher mächtig reich, wenn ich mir das so ansehe.« Und dann tat er etwas, das bis auf ihn alle auf dem Waldweg überraschte. Seine Hand schoß vor, krallte sich in den schwarzen Stoff, und bevor Roswitha zu einer Regung fähig war, riß der Räuber den Stoff vom Kragen bis zum Bauchnabel herunter. Grinsend starrte er auf Roswithas entblößten Oberkörper. Einer der Räuber, ein noch recht junger Bursche mit hungrigem Blick, rief: »He, Paul, sollen wir gleich mal eine kleine Kostprobe...« »Halt's Maul, du Nonnenschänder. Alles zu seiner Zeit.« Er stieß wieder sein seltsam schrilles Lachen aus.
Da habe ich aber einen verdammten Namensvetter, dachte Paul Ockenfels, der Kutscher. Roswitha raffte die zerfetzte Nonnentracht zusammen, um ihren Busen zu bedecken. Sie blickte hilfesuchend und voller Angst zu Paul Ockenfels. Paul zuckte mit den Schultern. Er konnte nichts tun. In ohnmächtiger Wut ballte er die Hände. »Ihr lustigen Nönnchen könnt wieder einsteigen«, sagte der Räuber Paul, nachdem er alle drei der Reihe nach gemustert hatte. Wie ein Viehhändler Kühe auf einem Markt ansieht, dachte Paul Ockenfels angewidert. Sein übler Namensvetter drängte Roswitha und ihre Freundinnen in die Kutsche zurück. Roswitha schrie auf, als er sie hart am Arm packte. Der Räuber lachte nur. »So zimperlich warst du doch nicht in dem Kloster, in dem du bis jetzt gearbeitet hast«, sagte er spöttisch. »Falls du mich nicht mehr wiedererkennst, ich hab' mal vor Monaten bei dir gebetet. Hat mich meine ganze Barschaft gekostet. Und als ich von deiner Reise erfuhr, dachte ich mir, daß mir für damals noch eine Entschädigung zusteht.« Er stieg hinter Roswitha in die Kutsche. Sie wissen also Bescheid! dachte Paul Ockenfels. Ein anderer Räuber kletterte zu ihm auf den Kutschbock. Er drückte Paul sein Schwert in die Seite. Paul schrie schmerzerfüllt auf. »Nun wein mal nicht, du Nonnenfahrer«, sagte der Kerl grinsend. »Fahr zu!« »Aber - wohin?« fragte Paul benommen. »In die Hölle, mein Freundchen. In die Hölle! Aber erst mal geradeaus. Ich sag dir dann schon, wo's langgeht.« In diesem Augenblick schrie Roswitha gellend in der Kutsche. Das schrille Lachen des Räubers folgte. Und Paul Ockenfels lief ein Schauer über die Wirbelsäule. Voller Angst löste er die Bremse und trieb das Gespann mit den
Zügelenden an. Die ersten Regentropfen fielen. * Louis hielt derweil Almuth in den Armen. Sie war ein heißblütiges Frauenzimmerchen, voller Lebenslust und origineller Einfälle. Es war ihr Vorschlag gewesen, auf den Hochsitz am Rande der Waldlichtung zu steigen, um Schutz vor dem Gewitter zu haben. Nur zu gerne war Louis auf die Anregung eingegangen. Es hatte ihn von Anfang an nicht sonderlich interessiert, mit Almuth nur spazierenzugehen, und schon gar nicht im strömenden Regen. Auf dem Hochsitz war es recht eng, doch sie brauchten nicht viel Platz. Der Wind peitschte Regentropfen hinein, und Almuth drängte sich dicht an den großen Knappen, um nicht vom Regen naß zu werden. Sie war eine dralle Zwanzigjährige, hellblond und blauäugig und langbeinig. Letzteres sah Louis, als er ihr aus dem Rock half höflich, wie es sich für einen galanten Kavalier geziemt. »Damit er nicht zerknittert und schmutzig auf dem Hochsitz wird«, wie Almuth nach Louis' ersten Küssen gesagt hatte. Nun, Almuth war eine recht offene Maid, und sie zierte sich nicht lange. »Du hast mir gleich gefallen, als du in den Laden kamst«, seufzte sie in Louis Armen, und ihr Blick wurde ob Louis' Zärtlichkeiten ein wenig verschleiert. »Du hast so etwas Wildes ... Abenteuerliches ... Fast wie ein Räuber«, sagte Almuth. Darauf erwiderte Louis nichts. Sie brauchte nicht zu wissen, daß er in der Tat sogar ein Räuberhauptmann gewesen war, bevor er Ritter Rolands Knappe geworden war. Louis lenkte sie mit gekonntem Liebesspiel von diesem Thema ab, und die Wonnen, die er Almuth bereitete, brachten ihr heißes Blut so in Wallung, daß sie sich und alles andere vergaß.
Diese Almuth war voller Feuer. Doch bevor Louis es löschen konnte, brach der Hochsitz zusammen. Almuths Ekstase war wohl zuviel für ihn gewesen. Ein Bersten und Krachen als hätte der Blitz eingeschlagen - und pardautz knallte das wackelige Ding zu Boden. Das trübte ein wenig die lustvolle Stimmung. Zwischen den Trümmern des Hochsitzes fanden sich Louis und Almuth immer noch in tiefer Umarmung im nassen Grase wieder. Es war alles so schnell gegangen und sie waren so heftig miteinander beschäftigt gewesen, daß sie wie von einer rosaroten Wolke zur Erde gestürzt waren. Nun, es gab keine rosarote, sondern nur dunkel dräuende Wolken am finsteren Himmel, und der Regen prasselte auf ihre nackte Haut. »Oh Gott«, seufzte Almuth auf Louis' Schoß und barg die Wange an seinem Bart. »Hab' ich mich erschrocken!« Ein Blitz zuckte über den Himmel. »Hast du dir wehgetan?« fragte Louis besorgt. Almuth lachte leise. »Nein, ich bin ja weich gefallen, aber es war halt doch ein mächtiger Stoß, als wir zu Boden plumpsten.« Louis grinste leicht säuerlich und rieb sich über den Hintern, mit dem er im nassen Gras gelandet war. »Und du?« fragte Almuth und musterte ihn voller Zärtlichkeit. »Es geht«, sagte er und küßte sie. »Dieser verdammte Hochsitz! Komm, laß uns in den Wald gehen. Hier im Regen holen wir uns noch einen Hexenschuß.« Er packte sie an den Po-Backen und hob sie von seinem Schoß. Sie klaubten ihre Kleidungsstücke zwischen den Trümmern des Hochsitzes hervor. Almuths Rock war nun doch schmutzig geworden, und ihre Bluse war sogar eingerissen. Auch Louis Hose sah nicht zum Besten aus. Als sie dann unter einer mächtigen Fichte im Moos lagen, waren sie klatschnaß vom Regen. Doch bald verdampften die Regentropfen auf ihren Körpern unter der Glut ihrer Leidenschaft. Ein Eber, der sich nur ein paar Dutzend Klafter entfernt unter eine
andere Fichte gestellt hatte, um Schutz vor dem Regen zu haben, spähte neugierig zu den Zweibeinern hinüber. Sein Herz begann zu hämmern, und er grunzte erregt bei diesem Anblick. Vortreffliche Position! dachte er. Und flugs lief er durch den Wald davon - heim zu seiner Sau. Louis und Almuth hörten es nicht einmal. Sie hörten weder den Gewitterdonner, noch das Rauschen des Regens. Irgendwann hörte Louis dann doch etwas. Zunächst einmal Almuths von Wonne erfüllte Stimme: »Oh ... mein Louis ... oh ...« Und dann war da noch etwas anderes zu vernehmen. Ein Trommeln, das nichts mit dem Gewitterdonner zu tun hatte. Louis verharrte. »Louis«, seufzte Almuth und umklammerte ihn fester. »Bitte ...« Dann erkannte Louis das Geräusch. Hufschlag von Norden. Er spähte über die Lichtung. Da sah er den Reiter. Nein, es war eine Reiterin, wie er an den fliegenden langen Haaren erkannte. Tief über den Pferdehals gebeugt jagte die Reiterin in gestrecktem Galopp über die Lichtung, vom Regen gepeitscht. Das Pferd flog förmlich über einen niedrigen Busch hinweg. Die Reiterin hatte ihm kein Kommando gegeben. Der Sprung überraschte sie offensichtlich. Sie ruckte hoch, schwankte leicht im Sattel und fing sich wieder. Louis sah, daß ihre völlig durchnäßte dünne Bluse wie durchsichtig auf ihrem Busen klebte. Doch nicht dieser Anblick ließ ihm den Atem stocken. Das Pferd! Es gab keinen Zweifel: Es war Ritter Rolands prächtiges Roß! Die Reiterin preschte nur ein Dutzend Klafter entfernt an ihnen vorbei und hielt auf den Waldweg zu, der zum nahen Ort führte. »Louis, was ist...?« Verlangend preßte sich Almuth gegen ihn. Er löste sich mit sanfter Gewalt von ihr und sprang auf. »Halt!»brüllte Louis und hetzte auf die Lichtung. Erschrocken
setzte sich Almuth auf. Sie hatte den Hufschlag zuvor gar nicht wahrgenommen. Jetzt sah sie die Reiterin und blickte verwundert zu Louis, der ihr nachschrie und heftig gestikulierte. Die Reiterin warf einen Blick zurück, zuckte zusammen, warf den Kopf wieder herum und trieb Ritter Rolands Roß heftig an. Im Grunde war ihre Reaktion verständlich. Welche anständige Reiterin würde schon anhalten, wenn ein bärtiger nackter und nasser Mann in einsamem Wald sie brüllend und wie der Leibhaftige gestikulierend dazu auffordert? Allerdings kann sie nicht ganz so anständig sein, wenn sie ein Pferd reitet, das ihr nicht gehört, dachte Louis und knurrte seinen wildesten Fluch. Zum Glück hörte Almuth es nicht, weil es just donnerte und irgendwo der Blitz einschlug. Der Hufschlag verklang im Rauschen des Regens. Louis kehrte zu Almuth zurück. »Hast du mit mir nicht genug?« sagte sie schmollend. Er blickte auf sie hinab. Sein Zorn verrauchte schnell. »Doch«, versicherte er ihr. »Dann komm«, sagte sie mit einem verliebten, lockenden Lächeln und breitete die Arme aus, um ihn zu empfangen. Louis kämpfte mit sich. Ritter Roland hätte längst eintreffen müssen. Doch jemand anders ritt sein Roß. Was war da passiert? Sein Gefühl sagte ihm, daß irgend etwas geschehen sein mußte. Die Reiterin war völlig durchnäßt. Vielleicht rastete sie im Ort. Wenn er sich beeilte, konnte er sie vielleicht noch erwischen und ihr ein paar harte Fragen stellen ... »Es - es geht jetzt nicht«, sagte Louis mit belegter Stimme. Almuths Lächeln erlosch. Ihr Blick glitt prüfend an seinem Körper hinunter. »Wieso nicht?« fragte sie erstaunt. In ihren Augen blitzte es auf, oder vielleicht war das auch nur der Widerschein eines wahren Blitzes, der am Himmel aufzuckte. »Wer war diese Reiterin?« fragte sie mißtrauisch. »Was hast du mit ihr?« Sie schluchzte auf. Louis nahm Almuth in die Arme. »Ich habe ein Hühnchen mit ihr zu rupfen«, sagte er. Und dann erklärte er ihr kurz, weshalb er sich
beeilen mußte. Das besänftigte sie. Sie war zwar ein bißchen enttäuscht, weil er sie verlassen wollte, doch er versprach ihr, sie in der Nacht, wenn alle sonst im Haus des Krämers schliefen, in ihrer Kammer zu besuchen. Da leuchteten ihre schönen Augen wieder, und sie lächelte voller Vorfreude. Sie ahnte nicht, daß sie eine schlaflose einsame Nacht verbringen würde, weil Louis sein Versprechen nicht halten konnte... * Sie kann doch nicht einfach verschwunden sein! dachte Thomas Himperich verzweifelt. Seit vier Tagen suchte er seine Tochter Edeltraut. Sie war mit drei Begleitern auf dem Weg nach Peterzell gewesen, wo er sie bei Verwandten erwartet hatte. Der Kommandant der Stadtgarde zu Freiburg hatte seine dienstfreien Tage wie fast jedes Jahr in Peterzell verbringen wollen. Dort war er geboren, dort lebten seine Verwandten. Voller Freude hatte er auf seine einzige Tochter gewartet. Sie war nicht gekommen. Nach zwei Tagen des Wartens hatte Thomas Himperich es nicht mehr in Peterzell gehalten. Voller Sorge war er nach Freudenstadt geritten, wo seine Tochter im Hause eines Arztehepaares arbeitete. Dort hatte er erfahren, daß Edeltraut wie abgesprochen von den drei jungen Freunden abgeholt worden war, und daß sie pünktlich von dort losgeritten waren. Thomas Himperich ahnte Schlimmes. Voller Sorge ritt er über den Weg nach Peterzell zurück. Einer der Begleiter war Himperichs Neffe, und auch die beiden anderen kannte er gut genug, um ihnen zu vertrauen. Dennoch machte sich der Kommandant der Stadtgarde jetzt Vorwürfe, daß er seine Tochter nicht selbst abgeholt hatte. In diesen Zeiten war es
gefährlich, im Schwarzwald zu reisen. Aber er hatte erst verspätet in die Sommerfrische fahren können. Zweimal hatte er den Termin verschieben müssen. Der stellvertretende Kommandant, Briegel, war erkrankt Lungenentzündung - und dann auch noch der Stellvertreter des Stellvertreters - er war beim Apfelpflücken vom Baum gefallen und hatte sich ein Bein gebrochen, diese Pfeife! So war Thomas Himperich im Amt geblieben. Er war ein pflichtbewußter Mann ... Bei einem Köhler, etwa zwanzig Meilen nördlich von Peterzell, erfuhr Thomas Himperich, daß seine Tochter und ihre Begleiter dort die Pferde getränkt und gerastet hatten. Irgendwo auf den letzten zwanzig Meilen bis Peterzell mußten sie verschwunden sein. Voller Sorge ritt Thomas zurück gen Peterzell. Etwa acht Meilen von dem Ort entfernt fand er dann die Brosche seiner Tochter. Es war Zufall, daß er sie entdeckte. Sie lag am Rande des Weges, halb vom Sand verdeckt, und er hätte sie gewiß übersehen wie alle anderen Leute bisher, die des Weges gekommen waren, wenn er nicht ausgerechnet ein paar Schritte entfernt zu einer Rast angehalten hätte, um ein Schmalzbrot zu essen und kalten Pfefferminztee aus der Flasche zu trinken. Sofort vergaß er sein Schmalzbrot. Kein Zweifel, das war die Brosche seiner Tochter. Eine feine Arbeit. Ein güldenes Herz mit einer Rose darüber. Die kunstvolle Arbeit eines Goldschmiedes. Er hatte sie ihr zum 20. Geburtstag geschenkt. Edeltraut war nach dem Tode ihrer Mutter für Thomas Himperich ein und alles. Er schaute sich genauer um. Dann entdeckte er die Spuren, die vom Weg fort in ein Waldstück hineinführten. Sieben oder acht Reiter waren dort vom Weg abgebogen, genau war das nicht zu erkennen. Ihre Rösser hatten tiefe Hufabdrücke im weichen Boden hinterlassen. Thomas wurde immer unruhiger. Er wußte, daß in den letzten Wochen einige Reisende spurlos verschwunden und Warentransporte nie an ihrem Ziel eingetroffen waren. Edeltrauts Brosche und die Fährte der Reiter!
Es wurde Thomas heiß und kalt zugleich. Er spürte, daß er einem Geheimnis auf der Spur war. Er folgte der Fährte. Sie führte über einen Waldweg, dann aus dem Waldstück hinaus und durch eine tiefe Schlucht, in der ein Wildbach rauschte. Bei einer Weggabelung fand er dann einen Schuh von Edeltraut. Allmächtiger! dachte er. Was ist mit meinem Kind passiert? Einen Augenblick lang zögerte er. Er mußte sich zwingen, den Ritt fortzusetzen. Er befürchtete, am Ende der Fährte etwas Grauenvolles zu finden. Edeltraut war ein schönes Mädchen. Wenn sie Räubern in die Hände gefallen war ... Er wagte kaum, den Gedanken fortzusetzen. Nach einer halben Stunde verloren sich die Spuren. Er war so mit seinen quälenden Gedanken beschäftig gewesen, daß er gar nicht bemerkt hatte, wann die Fährte aufgehört hatte. Er überlegte, ob er zurückreiten sollte. Möglicherweise waren die Reiter irgendwo abgebogen. Dann sah er auf einem Busch etwas Rosafarbenes. Er ritt hin. Es war Edeltrauts Seidentüchlein. Ihre Initialen waren aufgestickt. Es gab keinen Zweifel mehr für Thomas: Edeltraut war in der Gewalt dieser Reiter, und sie hatte Brosche, Schuh und Seidentuch nicht verloren. Sie hatte damit den Weg markieren wollen, den ihre Entführer eingeschlagen hatten. Ungeduld und Sorge trieben Thomas weiter. Schon lange war er bis auf die Haut vom Gewitterregen durchnäßt. Es kümmerte ihn nicht. Er gönnte sich keine Pause. Der Regen würde die Spuren auslöschen, und dann war alles aus. Dann konnte er Edeltraut niemals wiederfinden - oder ihre Leiche... Er erschauerte bei diesem Gedanken. Er fand wieder Spuren, doch bald waren sie zu Ende. Sie hörten in einem Gestrüpp zwischen mächtigen Felsen auf. Thomas zügelte das erschöpfte Roß und saß ab. Er untersuchte den Boden. Er umrundete das Gestrüpp, sein Blick tastete über den
Felsen und suchte nach einer Fortsetzung der Fährte. Doch er konnte keine finden. Es war, als wären die Reiter davongeflogen. Unfug! dachte Thomas. Er war ein, in langen Jahren Dienstzeit als Kommandant der Stadtgarde, erfahrener Mann. Er glaubte nicht an Hexerei. Des Rätsels Lösung mußte irgendwo zwischen diesen Felsen liegen, irgendeine versteckte Spalte, der verborgene Zugang zu einer Schlucht oder einem Tal. Dann entdeckte er einen abgeknickten Zweig im wuchernden Gestrüpp. Der Zweig war noch nicht lange geknickt. Der Knick war noch grün. Sein Blick tastete den Boden ab. Dann entdeckte er einen Fußabdruck. Regenwasser sammelte sich darin, doch der Abdruck war deutlich zu erkennen. Er wischte sich unbewußt eine triefendnasse Haarsträhne aus der Stirn. Erregung erfaßte ihn. Zugleich warnte ihn eine innere Stimme. Er lauschte und blickte angespannt in die Runde. Er glaubte im Rauschen des Regens einen Kuckucksschrei vernommen zu haben, doch er war sich nicht ganz sicher. Sein Roß schnaubte und schüttelte den Kopf, als wollte es sich darüber beschweren, daß er es im Regen, stehenließ. Ein Blitz zuckte über den Himmel und tauchte alles in grelles, gespenstisches Licht. Donner hallte zwischen den Bergen wider. Thomas zögerte. Unbewußt griff er in die Hosentasche, und seine Hand schloß sich um das Taschenmesser. Für einen Augenblick bedauerte er, daß er sein Schwert bei den Verwandten in Peterzell gelassen hatte. Aus Sorge um seine Tochter war er übereilt aufgebrochen. Er hatte nicht mal bedacht, daß der Ritt durch die Einsamkeit der Wälder auch für ihn, einen einzelnen Reiter, gefährlich sein konnte. Dann schalt er sich einen Narren. Wenn seine Tochter von einer Räuberbande entführt worden war, dann hatte er allein auch mit noch so vielen Schwertern keine Chance
gegen die Übermacht. Er mußte Hilfe holen. Das Versteck der Bande finden, die Kerle beobachten und dann Verstärkung holen. Vielleicht gab es im Schutz der Dunkelheit sogar eine Möglichkeit, Edeltraut heimlich zu befreien. Wenn sie noch lebte ... Von neuem schluckte er hart. Dann gab er sich einen Ruck und bahnte sich entschlossen einen Weg durch das nasse Gestrüpp. Er kam genau fünf Schritte weit. Er nahm noch ein schemenhafte Bewegung zu seiner Rechten wahr und zuckte herum, dann traf ihn das Schwert in die Brust. Thomas Himperich taumelte zurück und war schon tot, bevor er zu Boden stürzte. Die Wasserlache unter ihm färbte sich mit seinem Blut... Der Mörder schritt heran. Ein großer, breitschultriger Mann in einem ledernen Umhang und einem schwarzen Schlapphut, von dem der Regen tropfte. »Der ist hin, Franz«, rief er. Eine zweite Gestalt tauchte hinter ihm auf. Der Mörder zog das Schwert aus der Brust des Toten und wischte die blutige Klinge an der nassen Hose der Leiche ab. »W-wwer ist dddas, Heinrich?« stammelte Franz. Er stotterte, wenn er aufgeregt war. Er sah auf die gebrochenen Augen des Mannes, die weit aufgerissen waren und blicklos in den Regen starrten. »W-wweiß iich doch nicht«, äffte Heinrich ihm nach. Franz machte sich nichts daraus. Er war es gewohnt, von den Kumpanen verspottet zu werden. Von diesen üblen Kerlen war kein Verständnis und Mitgefühl zu erwarten. »Sieh dich mal in der Nähe um«, sagte Franz im Kommandoton und untersuchte die Taschen des Toten. »Du meinst, es kö-könnten noch mehr in der Näh-Näh- ... Gegend sein?« fragte Franz verdattert. »Papperlapapp. Wir haben doch nur einen Reiter gesehen. Hol sein Roß.«
Franz nickte eifrig und eilte davon. Nach fünf Minuten kehrte er zurück. »Kein Gaul zu finden«, meldete er und wischte sich Regen aus dem Gesicht. »Muß weggelaufen sein.« Heinrich zuckte nur mit den Schultern. Das Roß des Toten interessierte ihn herzlich wenig. Sie hatten genügend Pferde in letzter Zeit erbeutet. Er hatte Franz nur weggeschickt, um in Ruhe die Leiche fleddern zu können. Er teilte nicht gern mit Kumpanen ... * Louis betrat den Stall neben der Schmiede. Wenn die Reiterin in Peterzell eine Rast einlegte, ließ sie das Pferd vielleicht im Stall versorgen. Eine Lampe verbreitete schwaches Licht. Die Kerze in dem verrußten Glas war fast heruntergebrannt und flackerte. Ein Pferd wieherte, als ein Blitz den Stall für einen Sekundenbruchteil in Licht tauchte. Louis hielt vergebens nach dem Stallburschen Ausschau, der sonst hier seinen Dienst versah. Er nahm die Lampe vom Haken am Pfosten und leuchtete damit in die Boxen. Er sah Pierres Roß und dann sein eigenes. Sie hatten die Pferde bei ihrer Ankunft der Obhut des Stallburschen übergeben. Drei andere Tiere standen in den Boxen, doch Louis hielt vergebens nach Ritter Rolands prächtigem und unverkennbaren Roß Ausschau. Er wandte sich ab. Am besten fragte er Pierre, ob er die Reiterin gesehen hatte. In diesem Moment ging das Stalltor auf. Vier Männer betraten den Stall. Louis sah an der Spitze der vier den fuchsgesichtigen Stallburschen. »Da ist er ja«, sagte der Stallbursche und bliebt abrupt stehen. Er wirkte erschrocken. Einer der anderen schob ihn zur Seite. Louis blickte verwundert.
»Sucht ihr mich?« Er musterte die Männer kurz. Finstere Gestalten. Einer von ihnen, ein Graubart, trat näher. »Grüß Gott«, sagte er höflich. »Wir sollen Euch Grüße von Eurem Freund bestellen.« Louis entspannte sich. »Pierre ...?« Dann verstummte er. Denn der Graubart zog blitzschnell einen Dolch hervor. Sein Bartgestrüpp klaffte auf, und er zeigte grinsend eine Zahnlücke und einen braunen Zahnstummel. Doch Louis sah es nicht. Es war nicht das erste Mal, daß er in Gefahr war, und in seiner Zeit als Räuberhauptmann hatte er so einiges gelernt, was ihm auch später als Knappe zugute gekommen war. Er war fast so schnell wie der Blitz, der gerade am Himmel aufzuckte. Fast ansatzlos warf er dem Graubart die Lampe ins grinsende Gesicht. Die Lampe traf den Kerl an der Nase. Glas klirrte, ein Schrei ertönte, und zugleich hallte Donner durch das Prasseln des Regens auf dem Stalldach. Der Graubart, der sich wieder einmal überschätzt hatte, taumelte zurück, Blut schoß aus seiner Nase. Die Reste der Lampe waren zu Boden gefallen, die Kerze drohte zu erlöschen, doch dann fand die Flamme Nahrung im Streu und züngelte auf. Louis war mit einem Satz bei dem Graubart, packte das Handgelenk des immer noch überraschten Mannes und verdrehte es. Zum zweiten Mal jaulte der Kerl auf und ließ den Dolch fallen. Und bevor er wußte, wie ihm geschah, packte Louis ihn am Kragen und schleuderte ihn gegen seine Kumpane, die angreifen wollten. Der Graubart prallte gegen einen Mann und riß ihn mit sich zu Boden. Der andere wich geschickt aus. Louis sah noch, wie der Kerl ein Messer aus der Lederscheide am Gürtel riß. Dann hatte der Stallbursche das Feuer ausgetreten, und es war völlig dunkel im Stall. Louis schnellte sich zur Seite.
Gerade noch in letzter Sekunde. Er hörte etwas zischen und vernahm dann einen dumpfen Einschlag. Der Kerl hatte sein Messer geworfen. Ein Blitz erhellte den Stall, und Louis sah huschende Gestalten. Das Dumme war, daß sie ihn ebenfalls sahen. Louis wich einem heranstürmenden Schatten aus und packte zu. Er erwischte den Kerl, riß ihn hoch und schleuderte ihn aus der Drehung heraus von sich. Etwas klirrte, und Louis erkannte, daß er den Mann aus dem Fenster geworfen hatte. Pferde wieherten erschreckt und stampften mit den Hufen. Mit einem Schrei sprang Louis auf die nächste Gestalt zu, die er nur schemenhaft im Dunkel ausmachen konnte. Wilder Zorn erfüllte den Knappen. Wer immer diese Haderlumpen auch sein mochten und was auch immer sie vorgehabt hatten, sie sollten sich verrechnet haben! Der Mann vor ihm bewegte sich, und dann traf etwas Hartes des Knappen Schulter. Ein Besen, über den der Kerl gestolpert war und den er flugs hochgerissen hatte. Doch das sah Louis erst, als wieder das Licht eines Blitzes den Stall kurz erhellte. Louis strauchelte. Seine Stiefel waren naß und schlammig nach seinem Ausflug mit Almuth. Er rutschte aus. Sofort war einer der Kerle über ihm. Hände krallten sich um des Knappen Hals. Er packte die Handgelenke und befreite sich mit einem heftigen Ruck aus der Umklammerung. Der andere schlug mit dem Besen auf ihn ein. Kurz dachte Louis mit Groll daran, daß er ebenso wie Pierre das Schwertgehenk im Gasthof gelassen hatte. Mit seinem Schwert hätte er den Kampf schnell beendet. Doch sie hatten sich als die Burschen eines Händlers ausgegeben, um ohne Aufsehen ermitteln zu können. Fremde mit Schwertern fielen in einem kleinen Ort auf. Auch Roland würde nicht in Kettenhemd, mit Schild und Schwert kommen, sondern sich als Händler ausgeben, auf den sie warteten. Es galt das Verschwinden der Menschen und Transporte aufzuklären und die Nachforschungen unauffällig zu betreiben, auf daß der oder die
Missetäter nicht gewarnt wurden. Doch man hatte offenbar den Braten gerochen. Louis warf den Mann von sich, der ihn von neuem umklammern wollte. Wieder streifte ihn ein Besenhieb. Louis sprang auf. Er dachte keine Sekunde lang an Flucht. Zornig wollte er sich den Kerl schnappen und ihm den Besen um die Ohren schlagen. Doch dazu kam es nicht mehr. Etwas Spitzes bohrte sich schmerzhaft zwischen seine Schulterblätter, und ein scharfe Stimme zischte ihm in den Nacken: »Wenn du auch nur laut atmest, hast du das Messer im Kreuz, du Hundsfott!« * Zum Teufel mit Helga! Das hatte Ritter Roland oft genug auf seinem langen Fußmarsch gedacht. Das Gewitter hatte ihn überrascht. Bevor er sich irgendwo hätte unterstellen können, war er bis auf die Haut durchnäßt gewesen. Da hatte er darauf verzichtet, irgendwo das Ende des Gewitters abzuwarten. Seit zwei Stunden marschierte er klatschnaß gen Peterzell, und er war von wildem Grimm erfüllt. Oh, wie sie ihn hereingelegt hatte! Ihn, den berühmten Ritter mit dem Löwenherzen. Eine kleine Pilzsammlerin. Es nagte an seinem Stolz, daß er auf ihren simplen Trick hereingefallen war. »Wenn ich dieses Luder wiederfinde...« knurrte er. Dann blieb er stehen und blinzelte durch den Regenschleier. Ein Roß stand dort am Wegesrand und drehte schnaubend den Kopf, als es ihn witterte. Ein schönes Tier, dunkelbraun mit einer schneeweißen Stirnblesse und vier, fast gleichmäßigen weißen Strümpfen. Wo war der Reiter? Roland näherte sich dem Tier. Das Roß lief ein Stück zwischen das Farnkraut und die Büsche. Roland redete mit sanften, dunklen Worten beruhigend auf den Braunen ein und hatte Erfolg. Das Roß blieb stehen, und Roland konnte die Zügel ergreifen. Er tätschelte
das nasse Fell am Hals und band das Tier an den Stamm einer Birke. Dann hielt er Ausschau nach dem Besitzer. Er fand niemand in der näheren Umgebung. Er rief und lauschte, doch nur Donnergrollen und das Rauschen des Regens antworteten ihm. Er hockte sich unter eine Blutbuche, wo er vor Wind und Regen geschützt war und wartete unschlüssig. Wo mochte der Reiter sein? Wenn er im Gewitter abgeworfen worden war und jetzt irgendwo verletzt und hilflos im Regen lag ... Der Gedanke ließ Ritter Roland keine Ruhe. Von neuem begab er sich auf die Suche. Fast eine Stunde lang durchstreifte er die Umgebung, doch er fand nichts. Vielleicht war der Braune entlaufen? Roland kramte in den Satteltaschen. Er fand ein angebissenes Schmalzbrot, eine Flasche mit Tee, Verbandszeug, eine Kerze und Schwefelhölzer. Nichts, was auf den Besitzer Aufschluß gegeben hätte. Im Grunde war es Ritter Roland ganz recht, daß kein Pferdebesitzer da war. So brauchte er nicht lange zu bitten, daß man ihn bis Peterzell mitnahm, ein Ansinnen, das leicht ausgeschlagen werden konnte. Doch andererseits widerstrebte es Roland, sich das Roß einfach zu nehmen. Er war ein Ritter und kein Pferdedieb. Er wartete noch eine Weile, doch dann war sein Entschluß gefällt. Er hinterließ einen Zettel an der Birke am Wegesrand, genau an der Stelle, an der er das Roß gefunden hatte. Sollte der Besitzer das Tier suchen, würde er erfahren, daß er es im Stall von Peterzell gut versorgt wiederfinden würde. So saß Ritter Roland auf und ritt zu dem Ort. Als er dort eintraf, war es Abend. Das Gewitter war vorüber gezogen, und der Schein der Lampen erhellte die Fenster der Häuser. Es war ein Anblick, der Behaglichkeit versprach. Roland war hungrig. Bis auf das halbe Schmalzbrot hatte er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Er freute sich auf trockene Kleidung, eine warme Mahlzeit und ein Bier im Dorfkrug. Und er war gespannt darauf zu erfahren, was die Knappen zu berichten wußten.
Ein Mann trat aus einem der Häuser und starrte ihn an wie einen Geist. Ritter Roland blickte an sich hinab und lächelte. Er sah in seiner durchnäßten und vom Ritt verschmutzten Kleidung und den schlammbedeckten Stiefeln gewiß nicht sehr vertrauenerweckend aus. Roland grüßte den Mann höflich und fragte ihn nach dem Stall. Immer noch starrte ihn der Mann offenen Mundes an. Stumm wies er dann mit zitternder Hand die Straße entlang. Bevor sich Roland bedanken konnte, warf sich der Mann herum und verschwand im Haus. Die Tür knallte zu. Seltsamer Kauz, dachte Roland und ritt weiter. Er passierte die Schenke, die einladend erhellt war. Er wäre gern gleich dort eingekehrt, doch erst wollte er das Pferd abliefern. Flüchtig dachte er an sein prächtiges Roß und Helga. Natürlich würde er nichts unversucht lassen, um seinen Hengst wiederzufinden. Gleich wollte er dem Stallmann Roß und Reiterin beschreiben und fragen, ob man sie in Peterzell gesehen hatte. Roland ritt in den dunklen Stall und rief nach dem Pferdepfleger. Nur durch das scheibenlose Fenster fiel ein Streifen schwachen Lichts von einer Laterne herein. In den Winkeln des Stalls nistete die Dunkelheit. Rolands Ruf war noch nicht verklungen, als aus dem Dunkel rechts von ihm eine aufgeregte Stimme sagte: »Keine Bewegung, oder du bist des Todes!« Roland zuckte zusammen. Er blieb stocksteif im Sattel sitzen, doch dann drehte er den Kopf, langsam, ganz langsam, denn er wollte nicht des Todes sein. Er sah einen großen, stämmigen Mann, der ein Schwert in der vorgereckten Hand hielt. »Nimm die Hände hoch, du Lump!« sagte der Mann. Seine Stimme klang angespannt. Ein nervöser Mann mit einem Schwert in der Hand war eine Gefahr, die nicht unterschätzt werden durfte. Roland gehorchte. Gewiß handelte es sich um ein Mißverständnis, und der Bursche
würde sich bald entschuldigen müssen. Während Roland langsam die Hände hob, zog er die Füße aus den Steigbügeln. »Begrüßt du immer so deine Kunden?« fragte Roland. »Solche Kunden wie dich sollte man auf der Stelle aufhängen«, sagte die Stimme aus dem Dunkel. Langsam stieg Unmut in Ritter Roland auf. »Mäßige deine Worte«, sagte er ruhig. »Was immer dieses Spielchen zu bedeuten hat - es gefällt mir nicht. Nun nimm das Schwert weg und erkläre mir, was dein garstiges Betragen zu bedeuten hat.« »Der Mann trat einen Schritt näher. »Runter mit dir!« Der unfreundliche Gesell beging einen Fehler, indem er das Roß umrunden wollte, um den Reiter beim Absitzen im Auge behalten zu können. Roland handelte schnell und entschlossen. Er stieß dem Roß die Hacken in die Flanken. Das Tier machte einen Satz und rammte den völlig überraschten Mann. Mit einem Aufschrei stürzte er zu Boden. Und jetzt saß Roland ab. Doch anders, als der Mann es sich gedacht hatte. Roland schnellte sich aus dem Sattel, flog auf den benommenen Mann zu und fegte ihm mit einem Hieb aufs Handgelenk das Schwert aus der Hand. Bevor der Mann wußte, wie ihm geschah, hielt Roland das Schwert in der Hand und tippte ihm die Klinge auf die Brust. Der Mann schrie, als hätte Roland bereits zugestoßen. Doch das wäre dem Ritter nie in den Sinn gekommen. Es verstieß gegen die Ritterehre, einem wehrlosen Gegner den Todesstoß zu versetzen. »Hör mit dem Gebrüll auf und erkläre mir ...« Roland wirbelte herum, denn er vernahm ein Geräusch bei der Tür. Ein Schatten sprang in den Stall, holte mit einem Arm aus. Roland duckte sich geistesgegenwärtig. Die Keule streifte ihn dennoch an der Schläfe. Roland taumelte zurück. Der Mann am Boden vergaß seine Angst und sprang Roland von hinten an. Roland stürzte zu
Boden. Aus der Drehung heraus schlug er mit dem Schwert zu. Der Gegner gab einen röchelnden Laut von sich und erschlaffte auf Roland. Roland stieß ihn mit dem Ellenbogen von sich und sprang auf. Der andere Angreifer stürmte heran. Vermutlich sah er im Dunkel das Schwert in Rolands Faust nicht. Denn sonst hätte er lebensmüde sein müssen. Fast wäre er in die Klinge hineingerannt. Er verdankte es dem Großmut des Ritters, daß sein Bauch nicht aufgeschlitzt wurde. Blitzschnell drehte Roland die Klinge zur Seite, und der Kerl prallte nicht gegen das Schwert sondern gegen Roland. Roland hatte keine Lust, lange mit dem Angreifer herumzutändeln. Er schlug den Mann mit der Breitseite der Klinge nieder. Dann atmete er auf. Die Gefahr war gebannt. Ein unerfreulicher Empfang, der ihm da zuteil geworden war. Der Mann, der Roland mit dem Schwert so unfreundlich begrüßt hatte, regte sich. Roland piekte ihm die Schwertspitze in die rechte Gesäßbacke. »Steh auf!« Schwankend richtete sich der Mann auf. »Gibt es in diesem Stall eine Lampe?« fragte Roland. Der Mann wies wortlos zur Seite. »Na los, worauf wartest du? Zünde sie an!« Der Mann gehorchte. Schließlich fiel der Schein der Lampe auf sein Gesicht. Es war ein rundes Gesicht mit Pausbacken, einem Doppelkinn, einer breiten Nase und wulstigen Lippen. Angst flackerte in den Augen des Mannes, die auf das Schwert in Rolands Hand gerichtet waren. Dann irrte sein Blick an Roland vorbei zu der reglosen Gestalt des zweiten Mannes. »Erbarmen!« sagte er voller Furcht und wich von Roland fort. »Darüber können wir reden«, sagte Roland. »Aber erst wirst du mir einige Fragen beantworten. Wer bist du?« »Ich bin der Besitzer dieses Stalles.«
»Hast du auch einen Namen?« »Waldemar Esch.« »Gut, Waldemar. Und wer ist der andere unfreundliche Patron?« Roland wies mit dem Schwert zu dem Bewußtlosen. »Das ist Hohkeppel - der Polizist.« Roland blickte verblüfft. »Und was wollte er? Weshalb ging er wie ein Räuber auf mich los? Weshalb empfingst du mich mit dem Schwert?« »Das fragst du noch?« »So ist es. Und jetzt will ich endlich eine Erklärung.« In diesem Augenblick regte sich der Polizist. Stöhnend setzte er sich auf und betastete seinen Kopf. Dann setzte wohl seine Erinnerung ein. Krächzend fragte er: »Waldemar, hast du dem Hundsfott einen über den Latz geknallt: »Nein«, bekannte Waldemar bekümmert. »Er ließ mich nicht.« Der Polizist wandte den Kopf, und erst jetzt sah er anscheinend wieder ganz klar. Er fluchte. Dann besann er sich offenbar auf sein Amt, setzte eine grimmige Miene auf und erklärte mit einem wütenden Blick von unten herauf: »Du bist verhaftet!« Roland mußte lächeln. »Und warum?« Der Polizist blinzelte mit seinen kleinen schwarzen Äuglein. »Warum? Das fragst du noch? Was hast du mit Thomas Himperich gemacht?« »Wer ist Thomas Himperich?« fragte Roland. »Der Besitzer des Pferdes, das du gestohlen hast.« Jetzt fiel es Roland wie Schuppen von den Augen. Bald klärte sich alles auf. Das auffällige Pferd war in Peterzell ebenso bekannt wie der Kommandant der Stadtgarde zu Freiburg. Sofort bei Rolands Eintreffen hatte man den Polizisten und den Stallbesitzer alarmiert. Noch bevor er nach dem Stall gefragt hatte. Man wußte, daß Himperich voller Sorge um seine Tochter losgeritten war, und jetzt kam ein Fremder auf seinem Pferd in den Ort! Der Fremde mußte ein Pferdedieb sein, wenn nicht gar schlimmeres.
Roland erklärte, daß er das Pferd reiterlos gefunden hatte. Er erzählte, daß man ihm das eigene Roß gestohlen hatte und beschrieb Pferd und Reiterin. Nein, beide waren nicht in Peterzell gesehen worden. Das Mißtrauen der beiden Männer verschwand offensichtlich. Sie glaubten Roland, Jedenfalls hatte es den Anschein. Sie überlegten mit bangen Mienen, was mit Himperich geschehen sein könnte. Roland beteuerte, daß er nach dem Besitzer des Pferdes gesucht hatte. Er beschrieb die Stelle, an der er das Pferd gefunden hatte und bot sich an, den Polizisten dorthin zu führen. Nachdem alles geklärt war, fragte Roland nach Louis und Pierre. Er gab sich als Händler aus, der seine zwei Burschen vorausgeschickt hatte. Ja, die beiden waren in Peterzell bekannt. »Sie haben Peterzell mit einem Wagen verlassen«, sagte Waldemar. »Mit einem Wagen?« fragte Roland verwundert. »Ja, so hörte ich in der Wirtschaft.« Roland nagte an der Unterlippe. Es war fest abgemacht, daß die Knappen auf ihn warteten und nichts auf eigene Faust unternahmen, wenn sie eine Spur finden sollten. Sie mußten schon einen triftigen Grund gehabt haben, mit einem Wagen wegzufahren. Gewiß hatten sie beim Wirt des Gasthofes eine Nachricht für ihn hinterlassen. Er wollte sogleich dorthin gehen. Hohkeppel, der übrigens wie ein Landmann gekleidet war, streckte die Hand aus. »Jetzt, da alles aufgeklärt ist, braucht Ihr das Schwert nicht mehr«, sagte er höflich und mit einem freundlichen Lächeln. Roland nickte und reichte ihm das Schwert ohne Argwohn. Das hätte er besser nicht getan. Denn schlagartig veränderte sich die freundliche Miene des Mannes. Er drückte Roland die Schwertspitze gegen die Brust, in Höhe des Herzens, und sagte mit boshaftem Grinsen: »Ha, hab ich dich reingelegt, du Lump! Du Dieb und Mörder! Am
Galgen sollst du hängen und in der Hölle für deine Untaten büßen!« * Hohkeppel war kein Polizist. Es gab gar keinen in dem kleinen Ort. Doch das erfuhr Ritter Roland erst viel später. Auf einen Pfiff Hohkeppels hin tauchten ein halbes Dutzend Männer auf. Sie schlugen Roland nieder, fesselten ihn an Händen und Füßen und schleppten ihn aus dem Stall. Sie sperrten ihn in irgendeinen Keller. Als er zu sich kam, umgaben ihn tiefe Finsternis und modriger Geruch. Etwas huschte über sein Bein. Eine Maus? Eine Ratte? Er bäumte sich in den Fesseln auf. Vergebens. Sie hatten ihn so fest verschnürt, daß ihm die Stricke in die Haut schnitten. Lange lag er dort auf dem Steinboden und hing seinen Gedanken nach. Mit Helga hatte alles angefangen. Vermutlich war sie jetzt mit seinem Roß über alle Berge. Vermutlich würde er das Roß auch nicht mehr brauchen ... Sie wollten ihn aufhängen! Man hielt ihn für einen Pferdedieb und Mörder. Er konnte nur hoffen, daß der Besitzer des auffälligen Pferdes bald auftauchte und sich alles aufklärte. Natürlich konnte man ihm keinen Mord beweisen. Im Grunde nicht mal einen Pferdediebstahl. Er hatte das reiterlose Roß, das durch die Wälder irrte, mitgenommen, um es im nächsten Ort abzuliefern. Dennoch hatte Roland ein äußerst unbehagliches Gefühl. Die Männer waren aufgeregt und voller Feindschaft gewesen, eine wütende Horde, die offenbar nur einen Schuldigen suchte ... Und wo waren die Knappen? Wie anders wäre alles verlaufen, wenn sie zur Stelle gewesen wären! Schließlich fielen Roland doch die Augen zu. Alpträume quälten ihn in unruhigem Schlaf. Irgendwann weckten ihn Geräusche.
Etwas knirschte und quietschte, dann fiel eine Tür zu. Blinzelnd öffnete er die Augen und drehte den Kopf. Lampenschein näherte sich und geisterte über kahle Wände. Schritte hallten dumpf über den Gang bis zum Keller. Es war Hohkeppel mit vier anderen Männern. Hohkeppel blieb drei Schritte von Rolands Stiefelspitzen entfernt stehen und hob die Hand mit der Lampe. »Willst du ein Geständnis ablegen?« fragte er. »Wo hast du die Leiche verscharrt?« Roland bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. Er schilderte noch einmal, was er im großen und ganzen schon gesagt hatte. Stumm hörten Hohkeppel und die anderen zu. Roland sah Hohkeppel an den Augen an, daß ihm der Mann kein Wort glaubte. Und einer der anderen sprach aus, was gewiß auch Hohkeppel dachte: »Er lügt das Blaue vom Himmel herunter. Thomas ist ebenso verschwunden wie seine Tochter. Er war auf der Suche nach ihr und ist gewiß in eine Falle geraten. Der Kerl da ist einer der Räuber. Er hat Thomas umgebracht und sich sein Roß genommen. Wir sollten ihn auf der Stelle aufknüpfen!« »Dann erfahren wir nichts«, wandte Hohkeppel besonnen ein, schien aber grundsätzlich nichts gegen das Aufknüpfen zu haben. »Ich könnte schon dafür sorgen, daß er wie eine Nachtigall singt«, sagte einer der Männer, tauschte einen bedeutungsvollen Blick mit den anderen und putzte sich mit einem Messer die Fingernägel. Dann sah er Hohkeppel erwartungsvoll an. Hohkeppel starrte nachdenklich auf Roland nieder. »Du hast es gehört. Also mach das Maul auf, oder Philipp bearbeitet dich mit dem Messer.« »Das würdest du zulassen?« fragte Roland. Und bitter fügte er voller Verachtung hinzu: »Feiner Polizist!« »Ich bin kein Polizist«, sagte Hohkeppel, hakte die Daumen hinter die Hosenträger und wippte auf den Zehenspitzen. »Das hat Waldemar nur gesagt, um dich zu täuschen. Er dachte sich, du würdest geschwind das Weite suchen, wenn du etwas von Polizei
hörst. Ich bin ein Schwager von Himperich, den du ermordet hast, um dir sein schönes Pferd zu nehmen oder weil er hinter dir her war. Denn er ist Polizist. Wo sind übrigens die ändern?« »Welche anderen?« »Deine Räuberkumpane. Du willst uns doch wohl nicht weismachen, du treibst dich allein hier in den Wäldern herum?« Hohkeppels kleine Augen blickten lauernd. »Vielleicht lassen wir dich am Leben, wenn du uns euer Versteck verrätst.« »Ich bin kein Räuber, ich bin ...« Roland verstummte. Es hatte keinen Sinn. Er spürte, daß er diese Männer nicht überzeugen konnte. Hohkeppel gab Philipp einen Wink. Philipp näherte sich. Die Messerklinge funkelte im Schein der Lampe. »Wer nicht reden will, muß fühlen«, sagte Philipp. Rolands Gedanken jagten sich, Verzweiflung erfaßte ihn. Kurz spielte er mit dem Gedanken, seine Rolle als Händler aufzugeben und preiszugeben, daß er Ritter Roland war. Doch hätte ihm das etwas genützt? Das konnte schließlich jeder behaupten. Erst vor zwei Monaten hatte man einen Zechpreller und seine beiden Kumpane entlarvt, die durch die Lande gezogen waren und sich als Ritter Roland und seine Knappen ausgegeben hatten. Obwohl sie gar nicht mal so ähnlich ausgesehen hatten, waren sie in abgelegenen Ortschaften reich bewirtet worden, bevor sie sich aus dem Staub gemacht hatten ... »Fangen wir mit dem kleinen Finger an«, sagte Philipp in Rolands Gedanken hinein, und Roland spürte, wie der Kerl die Messerklinge ansetzte. »Ich sage euch alles, was ich weiß«, erklärte Roland hastig. Hohkeppel atmete hörbar auf. Auch Philipp wirkte erleichtert. Roland spürte, daß die Männer ihn nur einschüchtern und ihre Drohung vielleicht gar nicht wahrmachen wollten. Es waren Bürger des Ortes und keine Verbrecher. Ihr ungesetzliches Vorgehen war nicht zu entschuldigen, doch Roland spürte, daß sie ni Sorge um einen der ihren handelten. Und wenn er
gerecht war, mußte er zugeben, daß es schon sonderbar war, daß ein Fremder auf einem Pferd in den Ort ritt, dessen Besitzer auf der Suche nach seiner verschollenen Tochter ebenfalls verschwunden war. Dazu das spurlose Verschwinden von vielen Menschen und Transporten, das die Leute im Schwarzwald in Angst und Schrecken versetzte ... Roland tat, was er versprochen hatte. Er sagte alles, was er wußte. Das war natürlich so gut wie nichts, aber dabei versuchte er noch einmal, die Männer zu überzeugen. »Wenn ich ein Pferdedieb wäre, dann hätte ich mich doch über alle Berge gemacht. Dann wäre ich doch nicht hergeritten. Ich hätte doch damit rechnen müssen, daß jemand das auffällige Pferd und dessen Besitzer kennt.« »Da ist was dran«, murmelte Hohkeppel. »Ach was. Ich sage euch, der Kerl will uns einen Bären aufbinden!« Philipp schnitt seine finsterste Miene und fuchtelte mit dem Messer herum. In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Schritte polterten über die Kellertreppe heran. »Hohkeppel?« rief eine aufgeregte Stimme. »Ja?« Ein kleiner, schmächtiger Mann eilte so hastig die Treppe herunter, daß er fast gestolpert wäre. »Wir haben ihn gefunden«, sagte er atemlos. »Wen?« fragte Hohkeppel. »Euren Schwager.« Roland atmete auf. Der Besitzer des Pferdes war gefunden worden. Jetzt würde sich alles aufklären. Doch da sagte der kleine Mann in die erwartungsvolle Stille: »Er lag tot in der Nähe der Stelle, wo der Kerl angeblich das Pferd reiterlos gefunden hat.« *
Wittich spießte eine Scheibe des saftigen Wildschweinbratens mit der Gabel auf und schob sie in den Mund. Eine Weile kaute er schmatzend und trank dazu Wein aus einem silbernen Becher. Der Schein des Lagerfeuers zuckte über sein Gesicht. Es war einst ein gutaussehendes Gesicht gewesen. Jetzt war es von Brandnarben entstellt. Doch von den Narben war so gut wie nichts zu sehen, denn ein dichter schwarzer Bart bedeckte Wangen und Kinn, und dazu trug er die schwarzen Haare lang wie eine Frau. Bis auf die Schultern fielen die Haare und umrahmten sein scharfgeschnittenes Gesicht, das von grünen Augen beherrscht wurde. Es waren schöne, weiche, glänzende Haare. Frauenhaare. Wittich trug eine Perücke auf dem kahlen Schädel, der mit roten, wulstigen Narben bedeckt war. Der Bart war ebenfalls nicht sein eigener. Er war unter der Perücke befestigt und verdeckte die Brandnarben an den Wangen, auf denen keine Haare mehr wuchsen. Auch am Körper hatte Wittich Narben davongetragen. Fast wäre er damals bei lebendigem Leibe verbrannt. Damals, in jener schrecklichen Nacht, in der das Feuer all seine Träume und sein Glück zerstört hatte ... »Was ist, Liebling, schmeckt es dir nicht?« fragte er und sah kurz zu dem Mädchen, das bei ihm auf einer Decke beim Feuer saß. Das Mädchen hatte keinen Bissen gegessen. »Gefällt es dir nicht in meiner Gesellschaft? Möchtest du lieber für meine Männer tanzen wie Roswitha?« Sein Blick glitt durch das Lager zu den anderen Feuern, an denen finstere Gestalten hockten und die Frau anstarrten, die zum Klang einer Laute tanzte. Die Frau war in zerfetzter Nonnentracht in das Versteck der Räuberbande gebracht worden. Jetzt mußte sie nackt tanzen. Das Mädchen, das abseits von den anderen mit Wittich allein am Lagerfeuer saß, folgte Wittichs Blick und schluckte. »Es gefällt mir in Eurer Gesellschaft«, versicherte sie hastig. »Ich möchte nicht tanzen.«
Wittich lächelte. »Dachte ich mir. Du bist keine Hure wie die da. Du bist zu schade für diese ungehobelten Kerle. Du bist genau die Richtige für mich.« Wohlgefällig tastete sein Blick über Edeltrauts Körper, und ihr Anblick erregte ihn mehr als die nackte Roswitha. Denn sie ähnelte Beatrix. Beatrix, die einzige Frau, die er jemals von Herzen geliebt hatte. Beatrix, die damals bei dem Feuer ums Leben gekommen war. Edeltraut hatte das gleiche madonnenhafte Gesicht mit großen haselnußbraunen Augen, die so seelenvoll blickten, die gleichen feingeschwungenen Lippen, das gleiche blonde Haar und den schlanken, doch wohlgerundeten Körper. Bald würde sie ihm gehören. Bald ... Er hätte sie mit Gewalt nehmen können, doch das widerstrebte ihm. Er hätte das Gefühl gehabt, Beatrix etwas Böses zu tun, der sanften Beatrix, um derentwillen er damals ein anständiges Leben begonnen hatte. Ja, er war glücklich mit ihr gewesen, hatte geglaubt, nach der dunklen Vergangenheit eine selige Zukunft vor sich zu haben. Bis die Feuersbrunst alles vernichtet hatte. Es war ihm, als lebte Beatrix in Edeltraut weiter ... Edeltraut hatte ihm ihr Wort gegeben, ihn zu ehelichen, wenn dies hier alles vorüber sein würde. Vielleicht hatte sie es aus Angst getan, er könnte ihr Gewalt antun oder sie seinen wilden Mordgesellen überlassen wie die drei falschen Nonnen und die vier anderen Mädchen, die seine Männer nebenbei entführt hatten, um eine Abwechslung in der Einsamkeit dieses Verstecks zu haben. Sein Blick glitt zu den Feuern, in dessen Schein Roswitha unter Zwang tanzte. Die Männer johlten und hatten ihren Spaß. Sollten sie. Geld, Weiber und Saufen - mehr kannten sie nicht. Was wußten diese verkommenen Kerle schon von wahrer Liebe! Die konnten keine echte Perle von einer falschen unterscheiden. Hätte er Edeltraut ihnen überlassen, so wäre das Perlen vor die Säue geworfen ... Diese Männer Waren für Wittich Pöbel, dessen er sich bediente, solange er es noch brauchte.
Wenn erst der Schatz gehoben war ... Er schaute über die Feuer hinaus zu dem dunkel gähnenden Schlund in der Felswand. Dort, oberhalb des Lagers gab es eine große Höhle. Wie ein Kerker der Natur. Darin waren die Gefangenen. Vierunddreißig Männer, die tagsüber den Staudamm bauten. Es konnte allenfalls noch zwei Wochen dauern, bis der Damm fertig war, bis der sagenhafte Schatz im dann trockengelegten See aus dem Schlick ausgegraben werden konnte... In seinen Augen leuchtete es auf. Dann kehrte sein Blick zu Edeltraut zurück. Ja, sie würde ihm gehören. Er würde ihre Bedingung erfüllen und alle Gefangenen freilassen, bevor er sich mit ihr für immer davonmachen und irgendwo weit fort ein neues Leben beginnen würde, reich wie ein König ... »Du wirst meine Königin sein«, sagte er mit belegter Stimme. Edeltraut hielt seinem Blick stand. »Ja, ich werde Eure Königin.« »Wir werden reich und glücklich sein«, fügte er hinzu wie so oft, in einem beschwörenden Tonfall, als müßte er nicht nur sie, sondern auch sich selbst überzeugen. Er blickte sie durchdringend an, als sie schwieg. »Ja, wir werden reich sein ...« sagte sie hastig. »Und glücklich. Du wirst mich lieben wie ...« Wie Beatrix hatte er sagen wollen, doch er unterbrach sich schnell. Davon durfte sie nichts wissen. Das war sein Geheimnis für alle Zeiten. Um Edeltrauts Mundwinkel zuckte es kaum merklich. Furcht war in ihren Augen aufgeflackert, als er von »lieben« gesprochen hatte. »Ich bitte Euch«, sagte sie beschwörend, »laßt mir noch Zeit, auf daß sich meine Gefühle entwickeln können. Noch kenne ich Euch erst eine Woche.« Er ergriff ihre feingliedrige Hand und drückte sie leicht. Die Berührung weckte ein prickelndes Gefühl in ihm. Seit Beatrix hatte es keine andere Frau mehr für ihn gegeben. »Nenn mich Wittich und sprich nicht so förmlich«, sagte er und
drückte ihre Hand fester. »Ja, Wittich.« Sie senkte scheinbar demütig den Kopf. Er streichelte über ihr blondes Haar, das rötlich im Schein des Feuers schimmerte. Unmerklich zog sie den Kopf zurück. Scheu wie damals Beatrix, als ich sie kennenlernte, dachte er. Sie war jung, und er mußte ihr Zeit lassen, sie weiterhin umwerben. Sie hatte ja recht. Liebe auf den ersten Blick konnte er nicht verlangen. Er mußte sie nach und nach für sich gewinnen. Und wenn sie erst den Schatz sah ... Nichts erobert das Herz einer Frau leichter als Reichtum, dachte er. »Du sollst nicht mehr bei diesen verkommenen Weibern in der Hütte schlafen«, sagte er mit belegter Stimme und zog seine Hand von ihrem Haar. »Du wirst fortan mit mir die Hütte teilen, wie es sich für eine zukünftige Herrin geziemt.« Sie blickte auf, überrascht, aber auch ein bißchen erschrocken, wie er fand. Er lächelte sie beruhigend an. »Ich werde dich nicht drängen. Mein Wort gilt.« Ein Lächeln huschte über ihre schönen Züge. Ein zärtliches Lächeln, dachte er, doch es war ein Lächeln der Erleichterung. »Sag mir noch einmal, daß auch dein Wort gilt«, forderte er, und seine Stimme klang voll angespannter Erwartung. »Mein Wort gilt, wenn Ihr ... du ... deines hältst«, beteuerte sie schnell. »Du wirst mir gehören, sobald ich den Schatz habe.« »Ja«, sagte sie. »Sobald du den Schatz hast.« Sie lächelte dabei, doch es kostete sie unsagbare Beherrschung, nicht in Tränen auszubrechen. Sie betete des Nachts, daß es noch lange dauern würde, bis der Staudamm fertig sein würde. Sie betete, daß ihr Vater auf der Suche nach ihr die Zeichen finden würde, die sie hinterlassen hatte. Daß er mit einem ganzen Reiterheer kommen und sie und ihre ebenfalls
entführten Begleiter und all die anderen Gefangenen befreien würde. Sie konnte nicht wissen, daß ihr Vater tot war, ermordet von einem der Wachtposten am unteren Zugang zur Schlucht. Sie war nicht dabei gewesen, als der Räuber Wittich von dem Eindringling berichtet und gefragt hatte, was mit dem Toten geschehen solle ... Wittich hatte befohlen, die Leiche in die Schlucht zu bringen und damit allen Gefangenen zu zeigen, daß niemand lebend in das Versteck hinein oder heraus kam. Doch dann hatte Heinrich die Habe des Toten gezeigt - abzüglich der unterschlagenen Dinge. Es war so üblich, daß die Beute abgeliefert wurde und daß Wittich dann einen Teil an seine Räuber abgab. Sie ordneten sich ihm widerspruchslos unter. Es waren Kerle, von denen die meisten weder lesen noch schreiben konnten, und sie kuschten, solange er sie gut entlohnte. Sie waren wie Wölfe, die sich dem Leitwolf unterordneten. Und in früheren Zeiten hatte er bewiesen, daß er kampfstark und gerissen war und zu führen wußte. Wittich hatte den Wachen großzügig die paar Dinge von Wert überlassen, die Heinrich nicht unterschlagen hatte. Nur flüchtig hatte er den Brief angeschaut, den Heinrich bei der Leiche gefunden hatte. Dann war sein Blick auf den Namen Edeltraut gefallen. Er kannte ihre Schrift. Sie hatte für ihn ein Gedicht aufgeschrieben, das er ihr diktiert hatte. Es gab keinen Zweifel: Der Tote war ihr Vater. Sie durfte nicht erfahren, daß seine Räuber ihn umgebracht hatten. Sie würde ihn hassen, wenn sie die Wahrheit erfuhr ... Wittich hatte Heinrich den Auftrag gegeben, die Leiche irgendwo außerhalb der Schlucht zu begraben. Für Wittich war Edeltrauts Vater für immer verschwunden ... Von alledem konnte Edeltraut nichts ahnen. Sie hatte diesem Verbrecher, der ihr mit seinem sonderbaren Getue und Gerede wie ein Wahnsinniger vorkam, nur ihr Wort gegeben, um ihn hinzuhalten. Sie hatte in ihm die Hoffnung genährt, sich mit einem Schatz kaufen zu lassen. Eher wollte sie sterben, als diesem widerwärtigen Kerl zu Willen
zu sein. Sein Gerede von wahrer Liebe! Er verachtete die üblen Burschen, die seine Befehle ausführten, und hielt sich für etwas Besseres. Dabei war er der Schlimmste von allen. Sie erschauerte unter seinen Berührungen, und der Gedanke, mit ihm die Hütte teilen zu müssen, erfüllte sie mit Übelkeit. Aber sie mußte alles tun, um diesen Verbrecher in seiner fixen Idee zu bestärken. Nur so gab es vielleicht die Rettung für sie und die anderen Gefangenen ... Er hob den Becher mit dem Wein, prostete ihr zu und sagte mit theatralischer Gebärde: Glücklich preise sich der Mann, der, ohne daß er's lang besann ein liebend Weib für sich gewann. Beifallheischend blickte er sie an. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ihr seid ... du bist ein wahrer Dichter«, sagte sie in gespielter Anerkennung. Sie wußte, daß er Anerkennung wollte, wenn er irgendwelche Verse zum Besten gab. Wittich nickte geschmeichelt. Und er nahm sich vor, den alten Sigismund nach weiteren galanten Versen zu fragen. Sigismund war einer der Gefangenen. Ein echter Poet. Von ihm stammten die Verse, die Wittich bei Edeltraut als seine eigenen ausgab. Der gute alte Sigi, dachte Wittich, der Mann aus dem Südschwarzwald, den man auch Hotzenwald nannte. Ihm verdankte er praktisch alles. Ohne ihn hätte er nie von dem gewaltigen Schatz aus dem Morgenland erfahren, der auf dem Grunde des Sees nur darauf wartete, geborgen zu werden ... Der Kuckucksruf riß ihn aus seinen Gedanken. Er blickte zum südlichen Zugang zur Schlucht. Hufschlag klang auf. Der Schatten eines Reiters schälte sich aus dem Dunkel. Dann folgten weitere berittene Männer. Sie brachten zwei Gefangene. Die Gefangenen hockten mit verbundenen Augen gefesselt auf abgetriebenen Pferden. Wittich erhob sich und blickte ihnen entgegen.
Der kleine Trupp hielt beim Feuer. »Weitere Arbeiter, Alfons?« fragte Wittich den graubärtigen Anführer des Trupps. Der Graubart blickte grinsend zu den anderen Feuern. Roswitha beendete dort ihren Tanz, weil die Laute verstummt war. Einige Getalten erhoben sich und schlenderten herbei. »He, wo habt ihr denn diese Vögel her?« fragte einer und lachte schrill. Es war Paul, neben Alfons der zweite Unterführer der Bande, die insgesamt außer Wittich siebzehn Räuber zählte. »Spann mich nicht auf die Folter«, sagte Wittich grollend. »Wer sind die beiden?« Alfons kratzte sich am Bart. »Sie schnüffelten in Peterzell herum. Der Blonde da heißt Pierre, der mit dem schwarzen Bart schimpft sich Louis. Sie gaben sich als Mitarbeiter eines Händlers aus, der Sorge um seine Fracht hat. Doch wir belauschten einige Fragen, die sie im Ort stellten. Für mich gibt es keinen Zweifel - sie wollten herausfinden, wer die Leute und die Warentransporte gekapert hat.« »Verdammte Brut!« rief Paul. Er trat an einen der Gefangenen heran, packte ihn und riß ihn vom Roß. Es war Pierre, der unsanft auf dem Boden aufschlug. Obwohl Pierres Hände hinter dem Rücken gefesselt waren, rollte er sich geschickt von den Hufen des scheuenden Pferdes fort. Wieder ertönte Pauls schrilles Lachen, das manchem der Gefangenen einen Schauer über den Rücken gejagt hatte, als sie überfallen worden waren. Zwei andere Männer warfen Louis vom Pferd. Dann schauten alle abwartend zu Wittich - bis auf einen, der nur Augen für Edeltraut hatte, die wie erstarrt am Feuer saß und auf die beiden neuen Gefangenen starrte. »Erzähle genauer«, forderte Wittich den Graubart auf. Alfons zuckte mit den Schultern. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir haben die Schnüffler flachgelegt, unauffällig in einen Wagen verfrachtet, und einer von uns hat im Wirthaus erzählt, die beiden Fremden seien abgereist. Wir sind dann zu unserem Freund
Rainald gefahren. Er war es übrigens, der uns informierte, daß sich zwei Fremde in Peterzell herumtreiben und Fragen stellen. Auf Rainalds Hof haben wir den Wagen zurückgelassen, sind auf Pferde umgestiegen, und hier sind wir.« »Habt ihr alle Spuren beseitigt?« fragte Wittich. »Wie immer, Herr«, versicherte Alfons unterwürfig. Wittich nagte an seiner Unterlippe. »Habt ihr sie schon - befragt?« erkundigte er sich lauernd. Alfons grinste. »Sie behaupten stur und steif, sie arbeiteten nur für einen Händler. Ich hielt es für das Beste, Sie verschwinden zu lassen.« »Ja, das war in der Tat das Beste«, sagte Wittich nachdenklich und blickte finster zu den beiden Männern, die am Boden lagen. »Sie werden uns schon erzählen, wer sie geschickt hat.« Paul lachte schrill. »Ich schlage vor, wir unterhalten uns ein bißchen mit ihnen.« Er zog sein Messer aus der Scheide am Gurt. Wittichs Blick glitt zu Edeltraut, die eine Hand auf den Mund preßte. »Geh in meine Hütte«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln. Sie erhob sich zögernd. Mit einem besorgten Blick zu den beiden Gefangenen raffte sie ihr Kleid und schritt davon. Wittich blickte ihr immer noch nach, und diesmal war sein Lächeln echter. Dann gewahrte er, daß auch die anderen dem Mädchen mit funkelnden, begehrlich glitzernden Augen nachschauten, und seine Miene verfinsterte sich. »Steht nicht herum und haltet Maulaffen feil!« fuhr er sie an. »Werft die beiden ins Feuer, bis sie uns sagen, wer sie geschickt hat und was sich da gegen uns zusammenbraut!« * Derweil lag Ritter Roland in einem Kastenwagen, der gen Freiburg rollte. Er war gefesselt und lag im Dunkel allein mit seinen
quälenden Gedanken. Eigentlich konnte er von Glück sagen, daß man ihn nicht auf der Stelle in Peterzell am nächstbesten Baum aufgehängt hatte. Er glaubte noch das Toben der aufgebrachten Bürger zu hören: »Mörder! Mörder!« »Hängt ihn auf!« Wie ein Lauffeuer hatte sich in dem Ort und in der Umgebung die Kunde verbreitet, daß der Fremde den angesehenen Sohn des Ortes ermordet hatte: Thomas von Himperich, den Kommandanten der Stadtgarde zu Freiburg, der in Peterzell wie fast jedes Jahr zur Sommerfrische geweilt hatte, bevor er sich auf die Suche nach seiner Tochter begeben hatte. Für die empörten Verwandten und die meisten Einwohner des Ortes gab es keinen Zweifel: Der Fremde war ein Mörder und Pferdedieb. Vermutlich sogar ein Mitglied der Bande, die für die Überfälle und das spurlose Verschwinden von Menschen in der letzten Zeit verantwortlich war. Die Volksseele hatte gekocht, und man hatte kurzen Prozeß mit Roland machen wollen. Und Ritter Roland wäre wohl des Todes gewesen, wenn sich nicht zwei Menschen für ihn eingesetzt hätten: Almuth und der Pater. Almuth, voller Enttäuschung darüber, daß Louis sein Versprechen nicht eingehalten hatte, hatte für den Gefangenen gesprochen. Sie hatte zwar nichts von dem Hochsitz-Abenteuer mit Louis erzählt die Tochter des Krämers galt in Peterzell als wohlbehütete keusche Jungfer - doch sie hatte sich an das erinnert, was Louis ihr außer Liebesworten geflüstert hatte. Außerdem hatte sie berichtet, daß sie beim Spaziergang im Walde eine Reiterin wilder Jagd gesehen hatte, auf dem Pferd, das dem Gefangenen gehörte. Louis hatte ihr ja die Zusammenhänge in groben Zügen erklärt. Ihre Worte lösten zumindest bei einigen besonneneren Bürgern leichte Zweifel an der Schuld des Fremden aus. Doch die Scharfmacher hätten sich gewiß durchgesetzt, wenn nicht der Pater mit der Heiligen Schrift in der Hand und Worten daraus im Munde zur Vernunft gemahnt hätte. Die meisten der Einwohner von
Peterzell waren sehr fromm, und plötzlich hatte sich keiner mehr gefunden, der gegen das Gebot verstoßen wollte: Du sollst nicht töten. »Dann lassen wir das eben andere erledigen«, hatte Wöhrle, der Wirt, in der allgemeinen Ratlosigkeit, pfiffig gesagt. »So geschieht Gerechtigkeit, und wir waschen unsere Hände in Unschuld.« Damit war auch der Pater einverstanden gewesen, und so hatte man flugs beschlossen, den fremden Hundsfott nach Freiburg zu bringen und dem Gesetz zu übergeben. Bevor Roland in den Wagen geworfen worden war, hatte er noch einen Reiter in den Ort traben sehen. Ein großer Mann auf Rolands prächtigem Hengst. Doch Roland war es versagt geblieben, sein Roß auch nur länger als drei Sekunden zu sehen. Bevor er etwas hatte sagen können, hatte man die Tür des Wagens zugeknallt, der Wagen war losgefahren, und keiner hatte sich um Rolands Rufe gekümmert. Roland dachte an die Knappen. Wo mochten sie jetzt sein? Der. Weg nach Freiburg war lang, und wenn Louis und Pierre nach Peterzell zurückkehrten und erfuhren, was inzwischen geschehen war, würden die wackeren Knappen gewiß alles Menschenmögliehe tun, um ihn zu befreien oder seine Unschuld zu beweisen. In Freiburg würde man ihn nicht gleich aufhängen. Das Gesetz würde ihm die Rechte gewähren, die man jedem armen Teufel zubilligte. Man würde ihn zumindest anhören und nicht so voller Vorurteile sein wie die wütenden Leute von Peterzell... Bei diesen Gedanken wurde Ritter Roland von neuer Zuversicht erfüllt. Wie konnte er auch ahnen, daß sich des Satans Mächte gegen ihn verschworen hatten! * Pierres Hosenboden war angesengt. Flammen züngelten über das Hosenbein. Es roch verbrannt. Verzweifelt wollte sich Pierre aus der
Glut des Lagerfeuers fortwälzen, doch zwei Räuber hielten ihn fest. Louis erging es nicht besser. Ihn mußten allerdings drei Kerle bändigen, obwohl seine Hände gefesselt waren. Der ehemalige Räuberhauptmann war in seinem Zorn kaum zu halten. Die Knappen mußten die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzuschreien. Die Räuber weideten sich mit kaltem Grinsen an ihrer Qual. Es waren völlig verrohte Burschen, die kein Mitleid kannten. »Wer hat euch geschickt?« wiederholte Wittich mit drohender Stimme und starrte finster auf Louis hinab. »Fahr zur Hölle!« brüllte Louis und bäumte sich auf. Wittich zuckte zusammen, als Louis ihm ins Gesicht spuckte. »Feuer nachlegen!« brüllte Wittich. »Nein!« Der helle Schrei hallte durch die Schlucht. Wittich und die Räuber wandten die Köpfe. Edeltraut lief aus der Hütte des Räuberhauptmanns. Sie hatte vom Fenster aus alles gesehen und konnte den schrecklichen Anblick der gepeinigten Gefangenen nicht länger ertragen. Ihr blondes Haar flog, als sie zum Feuer lief. »Habt Gnade mit diesen Männern!« flehte sie. »Ihr könnt sie doch nicht bei lebendigem Leibe ...»Sie verstummte schluchzend. Wittich nagte an der Unterlippe. Er stellte sich vor sie und verdeckte die Sicht auf die Gefangenen. »Geh wieder in die Hütte. Das ist kein Anblick für dich«, sagte er mit rauher Stimme. »Zieh den Vorhang vors Fenster!« »Es ist grausam, das darfst du nicht tun!« Voller Empörung funkelte sie ihn an. »Du bist ein ...« Fast hätte sie in der Erregung hinausgeschrien, was sie von ihm hielt. Vielleicht warnte sie das Aufblitzen in seinen Augen. Oder ihr weibliches Gespür. »... König«, fuhr sie jedenfalls nach kurzem Zögern fort. »Und das ist eines großmütigen Königs nicht würdig.« Der ärgerliche Ausdruck verschwand sofort aus seinen Augen. »Diese Männer wollen nicht zugeben, daß sie im Auftrag von
jemanden herumschnüffeln«, sagte er. »Und dieser Jemand könnte möglicherweise zu einer Gefahr für mich werden - und für dich. Deshalb gilt es, Vorkehrungen zu treffen ...« »Ich bitte, ich flehe ...»Und Edeltraut fiel auf die Knie, ohne daran zu denken, daß das Gras abseits des Feuers noch feucht vom Gewitterregen war. Sie war voller Menschlichkeit und wollte einfach helfen. Wittich schaute auf sie hinab, und es gefiel ihm, wie sie demütig vor ihm verharrte wie eine Dienerin. Seine Dienerin. »Ein paar kleine Brandwunden sind nicht so schlimm«, sagte er mit plötzlich weicherer Stimme, und er dachte an seine Narben. Bald würde Edeltraut sie sehen und vielleicht erschrecken. Es war gut, wenn er sie schon ein wenig darauf vorbereitete. Die Situation forderte geradezu dazu heraus. »Auch ich habe einige Brandmale davongetragen, als ich eine arme Frau aus tobender Feuersbrunst errettete. Du wirst sie sehen, diese Male der Tapferkeit und Barmherzigkeit!« Es war eine Lüge, doch das wußte nur er. Er war im Vollrausch gewesen, als das Feuer vom Wind gepeitscht im Wald getobt hatte, als die Hütte lichterloh in Flammen gestanden hatte. Er hatte nicht daran gedacht, Beatrix zu retten. Er war zu betrunken gewesen, um überhaupt einen klaren Gedanken fassen zu können. Da waren nur das tobende Feuer gewesen, die Hitze, der Rauch. Er wußte nicht mehr, wie er sich auf die Lichtung geschleppt hatte. Irgendwann war er halbtot von einem Kräutersammler gefunden worden. Ihm hatte er sein Leben zu verdanken. Doch Beatrix war nicht mehr zu retten gewesen. Bei ihrem Anblick war etwas in ihm zerbrochen. Früher war er ein kaltberechnender Räuber gewesen, der um der Beute willen zu jeder Schandtat bereit gewesen war, sofern sie nicht mit zu großem Risiko behaftet war. Doch seit Beatrix' Tod hatte er sich verändert. Er schreckte zwar nicht vor Schandtaten zurück, doch das Risiko war ihm im Grunde genommen gleichgültig. Sein ganzes Denken galt allein Beatrix, seinem Traum. Und jetzt war Beatrix für ihn in Edeltraut wieder auferstanden. Für ihn war es kein Zufall, daß seine Männer sie gefangengenommen hatten. Nein, sie war nicht
gefangengenommen worden. Sie war aus dem Jenseits zurückgekommen ... All das ging ihm in sekundenschnelle durch den Kopf. Es war ein verwirrter Kopf, doch ihm selbst war das gar nicht klar. Ebensowenig den abgestumpften Räubern. Sie wunderten sich gelegentlich über das sonderbare Verhalten ihres Anführers, doch sie wußten nichts von Beatrix. Sie dachten, Wittich hätte einfach die seiner Meinung nach schönste der Weiber für sich ausgesucht, wie es einem Anführer zustand ... Einer der Gefangenen schrie. Es war Pierre, aus dessen Hose Flammen schlugen. »Ich habe damals nicht geheult wie diese Jammerlappen«, sagte Wittich verächtlich, und das war eine weitere Lüge. »Ich habe ...« Er wollte sich noch ein wenig brüsten, doch da sprang Edeltraut auf und warf sich ihm an die Brust. Sie umklammerte ihn, und er spürte ihren Körper und glaubte Beatrix in den Armen zu halten. »Gebiete Einhalt!« Edeltraut schrie es fast. Da gab Wittich seinen Männern einen schroffen Wink. Sie zogen die Gefangenen aus dem Feuer. Wittich drückte Edeltraut fest an sich und küßte sie. Sie spürte seinen seltsam weichen Bart, roch seinen Atem, und ihr wurde fast übel, als er seine Lippen auf ihren Mund preßte. Doch es ging vorüber. Die Männer hatten die Gefangenen vom Feuer weggezerrt. Auf einen Befehl Wittichs hin klopften sie die Flammen an der Kleidung aus. Sie machten sich einen Spaß daraus, recht heftig zu klopfen, und die Knappen trugen außer Brandwunden auch noch blaue Flecke davon. Doch das Feuer war gelöscht. »Schafft sie mir aus den Augen«, sagte Wittich mit einer herrischen Geste. »Arnold soll ihnen Salbe auf den Hintern schmieren, und morgen früh werden sie mit den anderen am Staudamm arbeiten.« *
Gunzelin von der Traube war an diesem Morgen mürrischer Laune. Er war der Stellvertreter des Stellvertreters von Kommandant Himperich, und er mußte mit geschientem Bein Dienst versehen, weil der gerade von der Lungenentzündung genesene Briegel von neuem erkrankt war. Der Bader konnte noch nichts Genaues sagen, außer daß Briegel hohes Fieber hatte und das Bett hüten mußte. Deshalb mußte Gunzelin ihn jetzt vertreten, zwar nur bei unerledigter Schreibarbeit, doch gerade das war Gunzelin verhaßt. Die Pest wünschte er Briegel an den Hals! Ärgerlich saß Gunzelin hinter dem Sekretär aus Eiche und quälte sich mit Amtsgeschreibe. Jeden Mann der Garde, der sich blicken ließ, hatte er schon angeschnauzt. Das Resultat war, daß sich keiner mehr in die Amtsstube wagte ... Gunzelins Laune besserte sich dann etwas, als gegen Mittag die Kunde eintraf, daß Kommandant Himperich Opfer eines Raubmordes geworden sei. Der Wagen mit dem Mörder sei auf dem Wege nach Freiburg; ein Bote war ihm vorausgaloppiert. Gunzelin trauerte nicht lange um Himperichs Tod. Der Vorgesetzte war ihm nie sympathisch gewesen. Gunzelin dachte vielmehr daran, daß der Posten jetzt frei war und daß Briegel nach Lungenentzündung und neuer Krankheit gewiß noch einige Zeit dienstuntauglich sein würde. Zeit, in der es galt, genügend Ansehen zu sammeln, um sich als Himperichs Nachfolger zu empfehlen. Briegel war schon älter und in den letzten zwei Jahre kränklich. Außerdem waren ihm einige Fehler passiert. Vielleicht raffte ihn gar das Fieber dahin ... Gunzelin sah sich mit einem Schlag ganz oben auf der Leiter des Erfolges ... Dann dachte er an die verdammte Leiter, deren oberste Sprosse unter seinen Füßen zusammengebrochen war, als er auf dem Apfelbaum gewesen war, und seine Miene wurde säuerlich als hätte er zum Frühstück statt des Hagebuttentees Essig getrunken. Flugs wandte er sich erfreulicheren Gedanken zu. Im Grunde konnte er sich jetzt schon als stellvertretender
Kommandant fühlen - derzeit sogar als Kommandant! Eigentlich konnte er dem Schicksal – sprich Himperichs Mörder recht dankbar sein. Aber es würde keinen Pardon für diesen nichtswürdigen Kerl geben! Gut, daß man ihn gleich erwischt hatte. Jetzt brauchte er, Gunzelin, nur noch dafür zu sorgen, daß genügend Ruhm für ihn abfiel, wenn er den Mordfall so schnell zu einem Abschluß bringen konnte. Ganz Freiburg würde bei der Hinrichtung zugegen sein, und er konnte sich gut dem Volke und den Oberen bekannt machen, bevor Briegel die Chance zu nutzen vermochte. Bei diesem Gedanken lächelte Gunzelin von der Traube vergnügt vor sich hin und zwirbelte seinen dünnen Schnauzbart. Er sah sich schon als neuer Kommandant ... * Der Reiter kam am frühen Nachmittag in die Schlucht. Es war einer der Räuber, die sich ständig in der weiteren Umgebung des Verstecks und in den umliegenden Ortschaften herumtrieben und unauffällig Erkundigungen einholten. Diesmal brachte der Mann Wittich keine erfreuliche Kunde von einem Warentransport, der leicht überfallen werden konnte. Dabei mußten die Vorräte für all die vielen Esser ergänzt werden. Beim letzten Überfall hatten die Räuber zwar zwei Wagen mit Salz erbeutet - eine äußerst kostbare Beute - doch von Salz allein ließ sich nicht leben. Die Gefangenen arbeiteten hart und brauchten kräftige Nahrung. Es wurde Zeit, daß wieder für Proviant gesorgt wurde. Doch in dieser Hinsicht brachte der Mann keine Neuigkeiten. Er berichtete, daß man Thomas Himperichs Leiche unweit des Verstecks der Bande gefunden hatte. Voller Zorn ließ Wittich den Räuber Heinrich zu sich kommen, der den Auftrag gehabt hatte, den Toten zu begraben. »Du solltest die Leiche für immer verschwinden lassen«, grollte Wittich.
»Jaja«, stammelte Heinrich, dem Schlimmes schwante. »Und wie erklärst du dir, daß man die Leiche doch gefunden hat?« »Das war so. Ich ...« Fast ansatzlos schlug Wittich mit dem Handrücken zu. Mit einem Aufschrei taumelte Heinrich zurück. Wittich schlug die weite Tuchjacke zurück. Langsam, fast bedächtig zog er die Peitsche hervor, die um seine Hüfte gewickelt war. Er rollte die Peitsche aus. Die lange, geflochtene Lederschnur ringelte über den Boden wie eine Schlange. Heinrich starrte voller Furcht darauf. »Du solltest dir schnell eine Entschuldigung einfallen lassen!« zischte Wittich. »Das war so. Ich ...« Die Peitsche knallte dicht vor Heinrichs Nasenspitze, und erschrocken sprang er zurück. »Eine knappe, vernünftige Antwort, die mich vielleicht versöhnlich stimmen könnte!« sagte Wittich und holte drohend mit der Peitsche aus. Und Heinrich sprudelte die Worte förmlich hervor: »Ich wollte tun, was mir befohlen, Herr. Doch da tauchten Reiter auf. Aus Peterzell. Ich habe den Schmied erkannt. Sie suchten nach der Leiche. Da versteckte ich mich schnell. Mir blieb keine Zeit mehr, um auch die Leiche zu verstecken. Sie hätten mich erwischt und dann ...« Er griff sich an den Hals, als schnürte ihm ein unsichtbarer Galgenstrick die Luft ab. »Wie konnten sie in der Nähe unseres Verstecks nach der Leiche suchen?« fragte Wittich zweifelnd. Heinrich wußte keine Erklärung darauf. Doch sein Kumpan Wenzel kam ihm zu Hilfe. Er berichtete, was er in Peterzell erfahren hatte. »Der Mann, der den Gaul mitnahm, hat ihnen die Stelle beschrieben, wo er ihn fand.« Und er erzählte, daß man den Fremden des Pferdediebstahls und Mordes verdächtigte und nach Freiburg brachte, auf daß er dort am Galgen hänge.
Wittichs Augen hatten einen nachdenklichen Ausdruck angenommen. »Sagten nicht die beiden Schnüffler, sie hätten in Peterzell auf einen dritten Mann gewartet, angeblich auf einen Händler?« Sowohl Wenzel als auch Heinrich nickten. »Und der dritte Mann fragte in Peterzell nach seinen beiden Burschen, wie ich hörte«, sagte Wenzel. In Wittichs Augen leuchtete es auf. »Dann ist dieser dritte höchstwahrscheinlich ebenfalls ein Schnüffler. Jedenfalls gehört er zu den beiden. Und man will ihn hängen?« Wenzel nickte. »In Freiburg, wenn die Beweise reichen, sagte der Pater in Peterzell.« Wittich überlegte kurz, dann klaffte sein falscher Bart auf, und er zeigte grinsend ein kräftiges Gebiß, dessen Schneidezähne ein wenig schiefgewachsen, doch sehr weiß waren. »Wir werden dafür sorgen, daß die Beweise reichen«, murmelte er. »Der Schnüffler wird als Mörder baumeln. So vermeiden wir, daß hier noch jemand nach Spuren oder sonstwas herumsucht. Es ist immer gut, wenn man einen Sündenbock präsentieren kann.« Er dachte an Edeltraut, seine neue Beatrix. Irgendwann konnte sie erfahren, daß ihr Vater in der Nähe der Schlucht ermordet worden war. Da war es gut, wenn man damit aufwarten konnte, daß der Täter ein fremder Pferdedieb gewesen war, der am Galgen gestorben war. So würde sie nie den Mord mit ihm oder seinen Männern in Zusammenhang bringen ... »Ja, wir werden dafür sorgen, daß der Mann aufgehängt wird«, murmelte Wittich. »Aber wie?« fragte Wenzel neugierig. »Das laß mal meine Sorge sein«, erklärte Wittich. »Ich habe schon einen Plan.« Dann heftete er seinen Blick auf Heinrich, und seine Miene verfinsterte sich wieder. »Auf jeden Fall hast du Fehler begangen. Du hättest das Roß des Eindringlings suchen müssen.«
Heinrich wäre am liebsten im Erdboden verschwunden. Er vergaß in seiner Aufregung, seinem Kumpan Franz in diesem Punkt die Schuld zu geben. »Und du hast die Leiche nicht verschwinden lassen«, fuhr Wittich mit dumpfer Stimme fort. Er wandte sich um und gab einigen Räubern, die müßig um ein Feuer saßen und herüberblickten, einen Wink. Sofort eilten sie herbei. Wittich faßte einen Hünen mit blondem Bart ins Auge. »Josef, beklagtest du dich nicht, daß Heinrich dich neulich beim Würfeln um sieben Dukaten betrog? Wolltest du ihm nicht den Schädel einschlagen, was ich verbot, weil ich bei den vielen Gefangenen auf keinen Mann verzichten kann?« Der Hüne warf einen wütenden Blick zu Heinrich und nickte ein paarmal. »Nun, du kannst dich mit Heinrich beschäftigen«, sagte Wittich. »Er hat Patzer begangen, die uns in Schwierigkeiten hätten bringen können. Und du weißt, was ich von Versagern halte.« Josef grinste erfreut, ballte die massigen Hände zu Kürbisfäusten und rieb sich über die Knöchel. Er blickte zu Heinrich, als wolle er schon Maß nehmen. Wittich hielt ihm die Peitsche hin. »Du darfst ihm dreißig Hiebe verpassen.« Josef nahm die Peitsche. Er wußte nichts Rechtes damit anzufangen, und der kurze Stiel verschwand fast in seiner Kürbisfaust. Unschlüssig blickte er auf die Lederschnur. Man sah ihm an, daß er sein Mütchen an Heinrich lieber mit den Fäusten gekühlt hätte. »Schafft Heini weg«, sagte Wittich zu den anderen. »Hinten zum Staudamm, damit Josef ungestört seines Amtes walten kann.« Er wollte vermeiden, daß Edeltraut zusah. Sie lag ihm ständig in den Ohren und bettelte, er möge auf Gewalt verzichten. Die sanfte liebe Edeltraut. Sie hatte ein gutes Herz wie Beatrix . ., Zwei Männer packten Heinrich. Er ließ sich widerstandslos von seinen eigenen
Kumpanen wegführen, denn der Hüne Josef drohte, ihn sonst zusammenzuschlagen. »Josef?« rief Wittich ihm nach. »Ja, Herr?« Wittich grinste kalt. »Heinis Schädel sollst du dranlassen, doch sonst brauchst du dich nicht in Zurückhaltung zu üben.« Josef nickte und folgte mit der Peitsche in der Hand den anderen. Er ließ die Peitsche ein paarmal knallen, um ein bißchen zu üben. Wittich wandte sich derweil an Wenzel. »Hör zu, ich will dir erklären, was wir tun werden ... « Louis und Pierre sahen bei der Arbeit am Staudamm auf. Sie hörten einen gräßlichen Schrei und ein Klatschen. Dann sahen sie, wie einer der Räuber einen anderen auspeitschte, hörten die grauenvollen Schreie und beobachteten dann, wie der gepeinigte Mann zusammensank und verstummte. »Mein Gott, der schlägt ihn tot«, flüsterte Pierre und starrte entsetzt hin. Louis zuckte mit den Schultern. »Es ist einer der Räuber. So leid er einem auch tun kann, es wäre das Beste für uns, wenn sich die Dreckskerle gegenseitig totschlagen. Besonders diesen Wittich, der uns hier wie Sklaven schuften läßt.« Er hatte so leise gesprochen, daß nur Pierre und einer der anderen Gefangenen ihn hatte hören können. »Ganz meine Meinung«, raunte der andere Gefangene neben Louis. Es war Paul, der Kutscher, der mit den drei als Nonnen verkleideten Mädchen den Räubern in die Hände gefallen war. Auch er hatte leise gesprochen, doch einer der Aufseher, die mit vorgereckten Lanzen dastanden, die Gefangenen bewachten und ständig zur Arbeit antrieben, wurde aufmerksam. »Was ist, wollt ihr auch die Peitsche spüren?« rief er. »Weiterarbeiten und Schnauze halten, oder ihr seid reif!« Die Knappen und Paul arbeiteten weiter. Sie hatten erlebt, was mit Gefangenen geschah, die aufmuckten. Das wollten sie sich ersparen. Pierre tastete einmal über sein schmerzendes Hinterteil. Die Salbe hatte die Schmerzen gelindert, doch es brauchte noch einige Zeit bis
zur Heilung. Während der Arbeit dachte er mit Wehmut an seine Zeit als Page auf Schloß Camelot. Wie so oft bedauerte er, die seidenen Sessel bei Hofe gegen das harte Handwerk des Knappen eingetauscht zu haben, das ihn schon in viele Gefahren geführt hatte. Und er dachte schweren Herzens an Ritter Roland. Wie sollte Roland sie hier finden? Gewiß war er längst in Peterzell eingetroffen und wartete auf sie. Daß es anders war, erfuhr Pierre später. Louis hatte einen Aufseher gefragt, weshalb einer der Räuber ausgepeitscht worden war. Grinsend erzählte der Mann, was er inzwischen erfahren hatte. Und er hatte hinzugefügt: »Euren Freund, den Händler könnt ihr übrigens vergessen. Der liegt in Freiburg im Kerker und wartet auf seine Hinrichtung. In spätestens drei Tagen wird er baumeln, euer Freund!« * Rolands Hoffnung, daß sich alles aufklären würde, hatte sich in Nichts aufgelöst wie Morgennebel in der Sonne. Gunzelin von der Traube hatte all seine Aussagen pedantisch genau zu Papier gebracht, obwohl er von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht hatte, daß er von Rolands Schuld überzeugt war. Aus seinen Äußerungen hatte Roland erkannt, daß der ehrgeizige Mann nur zu gerne die Lorbeeren anderer eingeheimst hätte, die eigentlich gar keine waren. Ein aufsehenerregender Mordfall, eine prompte Aufklärung und eine prächtige Hinrichtung für das Volk, das gerne ein Schauspiel genoß - all das konnte ihm von Nutzen in seinem Amt sein. »Ein Ritter wollt Ihr sein«, hatte er spöttisch gefragt und die höflichere Anrede gewählt, obwohl er zuvor Roland wie einen Strolch herablassend geduzt hatte. »Nun, ich bin bereit, das zu überprüfen. Derweil biete ich Euch meine Gastfreundschaft. Leider
kann ich nicht mit einem Schlosse dienen. Ihr müßt schon mit dem Kerker vorlieb nehmen.« Das tat Roland nun seit zwei Tagen. Dann brachte ihm Gunzelin die niederschmetternde Kunde: »Zwei völlig untadelige Herren haben gegen dich ausgesagt, Ritter.« Das hatte er genüßlich und spöttisch betont. »Sie haben dich beobachtet, wie du Thomas Himperich heimtückisch auflauertest und ihn ermordetest. Sie haben die Schwurhand gehoben und den heiligen Eid auf ihre Aussage geschworen. Du wirst hängen, Ritter.« Und im Selbstgespräch hatte er hinzugefügt: »Vielleicht wäre es ganz gut, wenn er wirklich ein Ritter wäre. So erhielte das dumme Volk einen Beweis, daß vor dem Gesetz alle gleich sind ...« Dann war Roland allein mit der Dunkelheit, bei Wasser und Brot in einem kahlen Verlies der Kommandantur. Er dachte an die Knappen. Wo blieben sie nur? Aber was konnten sie überhaupt tun, wenn sie in Peterzell von den Ereignissen erfahren hatten? Sie konnten nichts gegen den Schwur zweier untadeliger Herren tun, wie Gunzelin sie bezeichnet hatte. Weshalb hatten die Kerle einen Meineid geleistet? Vermutlich hatten sie das im Auftrag der Bande getan, die Menschen und Frachttransporte verschwinden ließ. Sie mußten herausgefunden haben, daß man Nachforschungen anstellt, was ja nur zu erwarten war, aber vor allem, wer versuchte, ihnen auf die Schliche zu kommen. Und sie hatten schnell gehandelt, bevor die Nachforschungen überhaupt zu einem Resultat geführt hatten ... Die Knappen! Sie hatten eine Spur gefunden, wie sie ihm mitgeteilt hatten. Dann waren sie mit einem Wagen aus Peterzell fortgefahren. Ob sie in eine Falle getappt waren? Roland überlegte, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Diebstahl seines Hengstes und den anderen Ereignissen geben konnte. Helga hatte ihn raffiniert hereingelegt. Im Auftrag der Bande? Damit sie ihm ein anders Pferd förmlich aufdrängen konnten, das auffällige Roß eines hohen Polizisten, der ermordet worden war? Damit sie ihm zum Mörder stempeln konnten?
Er glaubte Helga vor sich zu sehen, und seine Gefühle waren zwiespältig. Die Überlegungen führten zu nichts. Selbst wenn er eine Erklärung für alles fand, konnte er nichts tun. Er lag zwar nicht in Ketten gefesselt, doch es gab kein Entrinnen aus dem Kerker. Er konnte nur noch hoffen. * Nun, Wunder sind recht rar, und auch auf eine gute Fee kann man oft recht lange warten, selbst wenn man fest davon überzeugt ist, daß es sie gibt. In Ritter Rolands Fall gab es eine. Und sie war schon emsig damit beschäftigt, für das Wunder zu sorgen. Gunzelin betrachtete wohlgefällig die hübsche, grazile Maid. Rotblonde Locken lugten unter dem buntkarierten Kopftuch hervor. Gunzelins Blick streifte kurz die kleinen, neckisch spitzen Hügel, die sich unter der dünnen Bluse abzeichneten. Nicht allzuviel, dachte er, doch fest und knackig. Sie lächelte, und um ihre Mundwinkel bildeten sich lustige Grübchen. Das Lächeln gefiel Gunzelin. Er war Junggeselle, und wenn ihn eine Maid anlächelte, noch dazu eine solch hübsche, dann überlegte er manchmal, ob er immer einer bleiben mußte. Nicht, daß er auf alle Freuden des Lebens verzichtet hätte - im Gegenteil, er kaufte sich so einige leibliche Genüsse. Doch meist blieben dann nicht genug Dukaten übrig, um auch die Plagen des Lebens aus der Welt zu schaffen: Zum Beispiel Kochen, Putzen, Flicken, Aufräumen und all die anderen Unannehmlichkeiten, die einen sonst recht zufriedenen Junggesellen auf den Gedanken bringen konnten, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Ja, bisweilen spielte er mit dem Gedanken, in den Hafen der Ehe zu segeln, wie die Seefahrer zu sagen pflegten. Gunzelin war also ob des Lächelns der Maid recht angetan und
ihren Wünschen aufgeschlossen. »Was kann ich für Euch tun, schöne Dame?« fragte er galant und lächelte ebenfalls. »Ich habe einen Wunsch, Kommandant.« Die langen Wimpern flatterten scheu. Der »Kommandant« ging Gunzelin herunter wie Bienenhonig von süßesten Waldblumen. Er verzichtete darauf, zu erklären, daß es noch nicht ganz soweit war und sagte statt dessen mit einem tiefen Blick in ihre Augen: »Aber jeder Wunsch von Euch ist mir Befehl, schöne Dame!« »Dann laßt mich bitte zu dem Gefangenen.« Ihre Hand spielte nervös mit dem Zipfel des blauweißkarierten Tuchs, das den Korb aus Weidenrute abdeckte, den sie auf den Schreibtisch gestellt hatte. Gunzelin blinzelte ein wenig enttäuscht. Er zwirbelte seinen Schnauzbart. »Zu welchem Gefangenen? Wir haben derzeit drei Haderlumpen, die ...« »Zu dem Mann, der als Mörder und Pferdedieb aufgehängt werden soll. Roland heißt er.« Sie lächelte zaghaft, doch diesmal freute sich Gunzelin nicht so sehr darüber. Das war es also! Deshalb hatte sie ihn so flammend angeschaut. Aus purer Berechnung! Diese Weiber! Womöglich war sie gar ein Liebchen von diesem Kerl... Gunzelin bereute, so voreilig versichert zu haben, ihr Wunsch sei ihm Befehl. »Wie gerne würde ich Eure Bitte erfüllen«, sagte er mit einem säuerlichen Lächeln. »Jedoch, mir sind die Hände gebunden. Vorschriften, versteht Ihr? Niemand darf mit dem Gefangenen sprechen, es sei denn ...« »Es sei denn?« hakte sie hoffnungsvoll nach. Abermals bereute Gunzelin seine Voreiligkeit. »Es sei denn, Ihr wärt eine nahe Verwandte.« »Das bin ich ... eine sehr nahe Bekannte ...« Und als sie Gunzelins
bedauerndes Kopfschütteln sah, fügte sie hastig hinzu: »Ich bin seine Braut.« Gunzelin unterdrückte ein Seufzen. Die miesesten Kerle haben so oft die nettesten Weiber, dachte er mißmutig und ein wenig neidisch. »Ihr hättet gewiß einen Besseren verdient«, sagte er. »Ich rate Euch, schöne Dame, vergeßt diesen Mann. Es gibt genügend gute und anständige Männer in Freiburg.« Er reckte sich in Positur. »Wenn Ihr erlaubt, werde ich Euch helfen, diesen Unwürdigen zu vergessen ...« Sie errötete leicht. »Ja, ich werde sehr einsam sein nach seinem Tode. Ich werde in meiner Kammer in der Hubergasse sitzen und mir die Augen ausweinen. Und ich werde ewig mit dem Schicksal hadern, weil ich ihn nicht ein letztes Mal sehen konnte...« Sie verstummte schluchzend. »Gemach, gemach«, sagte Gunzelin hastig, und er notierte im Geiste »Hubergasse«. »Wenn Ihr seine Braut seid, kann ich vielleicht eine Ausnahme machen. Schließlich führe ich hier das Kommando.« »Oh, das würdet Ihr tun? Ihr würdet mich seine letzte Nacht mit ihm teilen lassen?« »Nun, keine ganze Nacht«, schwächte Gunzelin ab. Das gönnte er dem Kerl nicht. »Aber ich werde Euch genügend Zeit lassen, von ihm Abschied zu nehmen.« »Oh, ich danke Euch für Euer gutes Herz! Das werde ich Euch nie vergessen.« Hoffen wir es, dachte Gunzelin. »Führt Ihr mich jetzt zu ihm?« fragte sie. »Ich kann schlecht gehen mit meinem geschienten Bein«, sagte er. »Mein Adjutant wird Euch begleiten.« Er erhob sich schwerfällig und rief nach einem gewissen Mühlberger. Die junge Frau nahm den Korb vom Schreibtisch. Es entging Gunzelin nicht, daß sie wiederum nervös mit dem Zipfel des Tuches spielte, das den Inhalt des Korbes abdeckte. Da ist doch was faul! dachte Gunzelin.
Er humpelte zu ihr. Er ergriff ihre feingliedrige Hand und zog sie von dem Tuch fort. Dabei hielt er die Hand länger, als es nötig gewesen wäre und schaute ihr tief in die Augen. Sie lächelte, doch sie wirkte sichtlich angespannt. Die Hand zitterte leicht in seiner. Er nahm ihr den Korb ab und stellte ihn auf die Schreibtischplatte. »Was ist denn da drin?« fragte er wie beiläufig. Sie erschrak. »Oh, nur etwas zu essen und trinken«, sagte sie schnell. »Die Henkersmahlzeit, wenn Ihr so wollt.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist verboten, etwas zu den Arrestierten mitzunehmen.« Während er sich sorgfältig den Inhalt des Korbes ansah, fügte er im Tonfall eines Vaters, der einer dummen Tochter etwas erklären möchte, hinzu: »Man könnte ihm eine Waffe einschmuggeln oder...« »Eine Waffe?« Es klang bestürzt. Ein Mann betrat die Amtsstube. In diesem Augenblick zog Gunzelin einen Dolch aus dem Korb. Die Krümel von Sandkuchen klebten an der Klinge. Triumphierend hielt er den Dolch hoch. »Nun, was haben wir denn da?« fragte er mit einem breiten Grinsen. »Ein Dolch!« Die junge Frau schlug die Hand vor den Mund. Es sollte wohl überrascht klingen, doch Gunzelin sah ihr das schlechte Gewissen an. »Ein Dolch!« sagte fast gleichzeitig Mühlberger, der Adjutant. »Erraten.« Es war Gunzelin anzumerken, daß er die Situation und seine Überlegenheit genoß. »Diese Dame wollte ihn zu dem Gefangenen schmuggeln«, erklärte er seinem Adjutanten, der verwundert vom Dolch in Gunzelins Hand zu der jungen Frau blickte. »Nie hätte ich ...« begann die Maid, doch sie erkannte wohl selbst, daß das reichlich schwach klang und verstummte. Tadelnd schüttelte Gunzelin den Kopf. »Ihr werdet mich gewiß
nicht für dumm gehalten haben, schöne Dame.« »Aber gewiß nicht!« »Nun, dann will ich zu Euren Gunsten annehmen, daß jemand den Dolch ohne Euer Wissen in den Kuchen gesteckt hat. Ich will noch einmal gnädig sein. Ihr sollt Eurem Bräutigam Lebewohl sagen dürfen. Wie lautete noch Eure Wohnadresse, schöne Dame?« »Hubergasse, neben der Spenglerei, Kommandant... wieso?« »Nun, es könnte ja sein, daß ich mal zufällig hereinschaue bei Euch - um zu kondolieren. Vielleicht erinnert Ihr Euch dann meiner Großherzigkeit.« Sie nickte benommen. Sie ließ die Schultern hängen, senkte den Kopf und schien den Tränen nahe zu sein. Gunzelin trat zwei Schritte zur Seite und winkte seinen Adjutanten zu sich. Im Flüsterton sagte er: »Bring sie zu dem Gefangenen, der morgen hängen soll. Sie ist seine Braut. Beobachte die beiden durch den verborgenen Sehschlitz und erzähle mir, was sie so getrieben haben.« »Jawohl, beob ...« Mit ärgerlichem Wink und Blick schnitt Gunzelin seinem Adjutanten das Wort ab. »Ich gewähre der Dame zwei Stunden«, sagte er und warf einen Blick zu ihr. »Das müßte doch reichen oder?« Sie senkte erneut den Kopf. Sie wirkte immer noch wie eine ertappte Sünderin. Gunzelin blickte ihr dann lächelnd nach, als sie mit Mühlberger hinausging. Er pickte eine Rosine aus dem Kuchen und schob sie sich in den Mund. Du kleines Dummerchen, dachte er. Mit einem simplen Trick wolltest du mich hereinlegen!« Er schüttelte grinsend den Kopf. Er war sehr stolz auf sich. * Schritte näherten sich auf den Gang. Ein Schlüssel rasselte.
Roland öffnete blinzelnd die Augen und blickte zur dicken Eisentür des Kerkers, die er in der Dunkelheit nur an den Geräuschen erahnen konnte. Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Kamen sie, um ihn abzuholen? Um ihn zum Galgen zu schleppen? Er hatte jedes Zeitgefühl in der Dunkelheit und Stille verloren. Mit leisem Quietschen schwang die Tür auf. Einer von Gunzelins Männern tauchte in der Tür auf. In einer Hand hielt er ein Schwert, in der anderen eine Lampe. Roland war aufgesprungen. Doch er wußte, daß er keine Chance hatte. Und selbst wenn es ihm gelang, den Mann zu überwältigen, gab es keine Entkommen für ihn. Es gab weitere Wachen. Mühlberger grinste ihn an. »Da will sich jemand verabschieden«, sagte er und gab jemand auf dem Gang einen Wink. Dann sah Roland die Maid, die den Kerker betrat. »Helga!« entfuhr es ihm überrascht. Und dann war er noch überraschter. Denn Helga lief auf ihn zu und umarmte ihn stürmisch. »Geliebter!« rief sie dabei. Sie küßte und herzte ihn. Bevor Ritter Roland einen klaren Gedanken fassen konnte, sagte Mühlberger mit anzüglichem Grinsen: »Dann viel Spaß.« Er stellte die Lampe ab und zog die Tür zu. Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Schritte entfernten sich, verstummten aber erstaunlich schnell. Sofort löste sich Helga von Roland. »Wir werden beobachtet, wisperte sie. »Ich erkläre Euch gleich alles. Küßt mich!« Nun, das tat Ritter Roland. Er war aber so verwirrt, daß er gar keinen rechten Genuß dabei fand, obwohl Helga sich voller Leidenschaft gebärdete. Schließlich bog Helga den Kopf zurück, hielt immer noch die Arme um seinen Nacken und blickte zu ihm auf.
»Es hat leider nicht geklappt, Liebling«, sagte sie laut, zwinkerte ihm dabei beschwörend zu und schickte ein trockenes Schluchzen hinterher. »Er - hat den Dolch gefunden, den ich dir bringen wollte. Jetzt kann ich dir nichts als meine Liebe geben.« Sie löste sich von ihm. Sie streifte das Kopftuch ab und schüttelte ihr Haar aus. Dann zog sie die Bluse aus! Roland blickte verdutzt. Und sie knöpfte den Rock auf! Sie zog ihn langsam an den Hüften hinunter! »Sagt kein Wort«, wisperte sie kaum hörbar. Es hatte ihm ohnehin die Sprache verschlagen. Er starrte sie gebannt an, nahm ihre Schönheit in sich auf - und dann sah er noch etwas anders: Der Knauf eines Messers ragte aus ihrem seidenen Unterhöschen! »Nimm mich in die Arme«, sagte sie laut und schmiegte sich an ihn. Das tat Roland nur zu gerne. Er hatte zwar keine Vorliebe für Damen mit Messern im Schlüpfer, doch in diesem Fall hatte er das Gefühl, Helga sei ihm samt Messer vom Himmel geschickt worden. Mit einer Waffe konnte er sich eine Chance erhoffen. Zum Beispiel, wenn sie ihm die Henkersmahlzeit brachten ... Er nahm Helga in die Arme. Ihr Körper war weich und warm und anschmiegsam, doch das Messer drückte gegen seinen Schoß. Mit einem schnellen Blick vergewisserte sich Ritter Roland, daß Helga mit dem Rücken zur Tür stand und somit die Sicht auf ihn verdeckte. Wir werden beobachtet, hatte sie gesagt. Es galt also, vorsichtig zu sein. Aber allzuviel war im schwachen Schein der Lampe ohnehin nicht zu erkennen, erst recht nicht, wenn man sie in inniger Umarmung sah. Mit geschickten Fingern zog er das Messer aus ihrem Höschen, langsam und tastend, damit er ihr nicht mit der scharfen Klinge die seidene Haut verletzte, und schob es unauffällig in seinen
Stiefelschaft. »Danke«, flüsterte er. »Ihr kommt mir vor wie eine gute Fee.« »Ich hörte, was Euch widerfahren ist - gewissermaßen durch meine Schuld. Mein Bruder, den ich mit Eurem Roß zum nächsten Ort schickte, berichtete mir alles.« Sie blickte ihn verlegen an, doch offenbar genierte sie sich nicht wegen ihres entblößten Busens, denn sie traf keinerlei Anstalten, die Bluse zuzuknöpfen. »Ich dachte mir, wenn Euch etwas an dem Roß liegt, spaziert Ihr zum nächsten Ort. Aber ich getraute mich nicht selbst dorthin. So schickte ich meinen Bruder. Es tut mir alles so leid. Nicht auszudenken, wenn Ihr durch meine Schuld am Galgen geendet hättet! Deshalb ritt ich mit meinem Bruder sofort nach hier um das Schreckliche zu verhindern.« »Ihr glaubt mir also, daß ich kein Mörder bin«, stellte Roland fest, und ein warmes Gefühl durchflutete ihn. Es tat gut, Vertrauen zu spüren, nachdem er Feindseligkeit und Mißtrauen, ja gar Haß ausgesetzt gewesen war. »Ich danke Euch für Euer Vertrauen.« »Ich Weiß, daß Ihr unschuldig seid«, bekräftigte sie. »Aber woher?« Roland war verblüfft. Diese Helga wartete doch immer wieder mit Überraschungen auf. »Niemand war dabei, als ich das reiterlose Pferd fand. Ich habe es nicht getan, aber rein theoretisch hätte ich den Besitzer töten können, um mir sein Pferd anzueignen.« »Laßt uns nicht untätig herumstehen«, flüsterte sie. »Ich sagte schon, wir werden beobachtet. Deshalb mußte ich auch mein frivoles Spiel treiben.« Jetzt war sie wirklich verlegen, das spürte er. Sie blickte wieder auf. »Aber es geht um Euer Leben.« Er nahm sie in die Arme, und wie von selbst sanken sie zu Boden. Roland hielt sie in den Armen. »Ihr seid der ruhmreiche Ritter Roland«, flüsterte Helga. »Nie hätte ich gedacht, Euch jemals kennenzulernen. Aber es ist so. Und Ihr haltet mich in Euren starken Armen ...« Nun, so stark fühlte sich Ritter Roland im Kerker nicht, obwohl er im Augenblick das Gefühl hatte, die Mauern des Verlieses mit
bloßen Händen einreißen zu können. »Ihr seid hier, um das Verschwinden der Menschen und Frachten aufzuklären«, fuhr Helga fort. »Hat sich das herumgesprochen?« fragte Roland verdutzt. »Nein. Doch die beiden Männer, die in Peterzell waren und sich als die Burschen eines Händlers ausgaben, sind Eure Knappen. Mein Bruder hat mal mit Ihnen gezecht, damals, als er sich im Bayerischen Wald als Holzfäller verdingt hatte, während Ihr dem Schrecken vom Höllensteinsee das Handwerk legtet. Eure Knappen kamen zu uns auf den Hof und sprachen mit meinem Bruder. Er versprach ihnen, nichts zu verraten. Und dann sah er in Peterzell, wie man Euch mit einem Wagen wegbrachte. Er erkannte Euch wieder. Doch er konnte nichts für Euch tun. Zudem verlor er viel Zeit, weil er nach Euren Knappen suchte.« »Hat er sie informiert?« fragte Roland angespannt. Sie schüttelte den Kopf. Ihr Haar streifte seine Wange. »Sie waren nirgends zu finden. Aber ich habe einen von ihnen gesehen. Ich erkannte ihn wieder, denn ich sah die beiden zuvor, als sie auf unserem Hof mit Albert sprachen - Albert ist mein Bruder. Erst später, als er mir alles berichtete, sagte er: >Die Knappen waren die beiden, die auf unserem Hof waren