Tom ist unsterblich in Britta verliebt. Doch als er zweimal hintereinander Verabredungen absagen muß, glaubt Britta, daß...
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Tom ist unsterblich in Britta verliebt. Doch als er zweimal hintereinander Verabredungen absagen muß, glaubt Britta, daß er nur mit ihr spielt...
1985 by CORA Verlag
Band 42 (62) 1985
Scanned & corrected by SPACY Diese digitale Version ist FREEWARE und nicht für den Verkauf bestimmt -1-
Elaine Harper
Wiedersehen mit Britta Um sich sein Taschengeld aufzubessern, arbeitet Tom abends in einer Pizzeria – und sieht dort das Mädchen seiner Träume: Blonde Haare, blaue Augen und so hübsch, daß er ungeduldig auf ein Wiedersehen wartet. Statt in der Pizzeria trifft er sie allerdings direkt vor seinem Elternhaus. Denn Britta kommt mit ihrem Vater, dem Biologieprofessor Holmstrom, um drei entflohene Pfauen abzuholen, die sich zufällig in Toms Garten verirrt haben. Doch obwohl Tom jetzt weiß, wie seine Angebetete heißt, findet er nicht den Mut sie anzurufen – bis die Pfauen erneut bei ihm auftauchen, und er ein Alibi hat. Aber der Zufall will es, daß Tom die nun endlich getroffene Verabredung nicht einhalten kann, was Britta leider total mißversteht...
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1. KAPITEL Tom Roberts stand am Fenster seines Zimmers im ersten Stock. Er beob-achtete, wie das Postauto die Merrygold Lane entlangfuhr und sich langsam dem Haus der Roberts näherte. Vielleicht würde er heute endlich Post von Janine kriegen. Tom rannte die Treppen hinunter. Er wollte unbedingt beim Briefkasten sein, bevor seine jüngere Schwester Sandy oder seine Mutter die Post herausholten. Falls Janine ihm wirklich geschrieben hatte, sollte das keiner wissen. Tom sprintete durch den Vorgarten und dachte an den Brief, den er Janine geschickt hatte. Ihre beste Freundin, Sarah, hatte ihm Janines Adresse in Uruguay gegeben, wo sie als Austauschschülerin ein halbes Jahr lebte. Sarah hatte ihn sanft vorgewarnt. "Du weißt doch sicher, daß Janine ziemlich fest mit Craig Matthews ging, bevor sie abreiste. Er hat sie damals sogar zum Flugplatz gebracht." "Klar weiß ich das", hatte Tom rasch versichert, ich wollte mich auch nur mal bei ihr bedanken, weil sie mich bei der Wahl zum Oberstufensprecher so toll unterstützt hat." Tom hatte sich in diesen Sommerferien oft einsam gefühlt. Deshalb hatte er einfach so getan, als ob es überhaupt keinen Craig Matthews gäbe, und Janine einen langen Brief geschrieben. Er hatte Ihr gestanden, daß sie das einzige Mädchen war, daß er gemocht hatte, und daß er sie gern zum nächsten Schulfest einladen würde, wenn sie aus Südamerika zurück war. Den Brief hatte er vor sieben Wochen abgeschickt, und jetzt müßte,ihre Antwort irgendwann eintreffen. -3-
Ungeduldig zerrte Tom die Post aus dem Briefkasten. Eine Illustrierte, ein Brief an seine Mutter von Tante Margaret, eine Probe von einem neuen Waschmittel, zahlreiche Werbeprospekte und ein Brief für seine Schwester Sandy waren angekommen. Tom sah den ganzen Stapel noch einmal durch, um sicherzugehen, dass er Janines Brief nicht übersehen hatte. Langsam schlenderte er dann zum Haus zurück. Er fühlte sich leer und einsam. Plötzlich hörte Tom über sich ein merkwürdiges Geräusch, ein lautes Rauschen und Flattern. Etwas Ufoähnliches schoß über ihn hinweg. Tom duckte sich und ließ vor Schreck die Post fallen. Es war unwirklich und furchterregend, als ob Wesen von einem anderen Stern direkt über ihm gelandet wären. Was Tom dann sah, konnte er kaum glauben. Drei riesige Vögel setzten zur Landung auf dem Rasen vor dem Haus an. Der größte war blau, und die anderen schimmerten bronzefarben. Auf den Köpfen hatten sie kleine Federkronen. Wie Könige stolzierten sie durch den Vorgarten, pickten nach Samen und Insekten und fraßen Mrs. Roberts Geranien an. Wenn ich mich nicht irre, müssen das Pfauen sein, überlegte Tom. Sandy und ihre Freundin Vicky stürzten aus der Haustür. "Das kann ja wohl nicht wahr sein", schrie Sandy. "Die müssen aus dem Zoo abgehauen sein", überlegte Tom. "Ich glaube, das sind Pfauen." Die Nachbarin, die gerade ihre Rosen geschnitten hatte, schaute neugierig über den Zaun und kam dann durch die Gartenpforte, um sich die seltsamen Vögel anzusehen. "Beinahe hätten die mich skalpiert", sagte Tom lachend. Ein paar Kinder aus der Nachbarschaft, die mit Ihren -4-
Fahrrädern die Straße entlangkamen, entdeckten die Vögel und blieben staunend stehen. Doch sofort sausten sie wieder los, um wenige Minuten später mit ihren Freunden zurückzukommen. Die Menschenmenge vor dem Vorgarten wurde immer größer. "Was sollen wir bloß machen?" fragte Mrs. Roberts. "Irgend jemandem müssen die doch gehören." "Rufen Sie doch beim Zoo an", schlug ein Nachbar vor. In diesem Moment verschwand eine weitere rote Geranienblüte in dem langen blauen Hals des größten Vogels. "Tom, ruf sofort im Zoo an", bat Mrs. Roberts verzweifelt. "Pfauen? Wahrscheinlich ein Hahn und zwei Hennen", vermutete die Stimme am anderen Ende der Leitung. "Die gehören bestimmt Mr. Holmstrom. Sie reissen öftermal aus. Wir werden häufig deswegen angerufen. Ich habe mir seine Telefonnummer notiert. Moment bitte." Tom schrieb sich die Nummer auf. Sie gehörte zu einem anrenzenden Vorort, nicht allzu weit weg. Er wählte die Nummer und erzählte der weib-lichen Stimme am anderen Ende, dass ihm drei Pfauen zugeflogen seien. "Diese kleinen Strolche!" rief die Stimme. "Sagen Sie mir Ihre Adresse? Wir kommen sofort und holen sie." Tom ging aus dem Haus und schnappte sich eine Tüte Puffreis. Wenn er den Reis auf dem Rasen verstreute, konnte er damit vielleicht die Pfauen von Moms Blumen ablenken. Inzwischen hatte sich die Geschichte von den Pfauen in Roberts Garten in der ganzen Nachbarschaft herumgesprochen. Eltern kamen mit ihren Kindern in Autos, auf Fahrrädern, mit Rollern und sogar mit Babys in Kinderkarren. "Kommen Sie nicht zu dicht heran!" rief Tom. "Sonst verscheuchen Sie die Vögel, bevor ihr Besitzer sie einfangen -5-
kann. Und halten Sie den Hund zurückl Der erschreckt die Pfauenl" Herr und Hund verschwanden zwar, doch immer mehr neue Leute kamen, um sich das Schauspiel anzusehen. "Die haben ja gar keine Schwanzfedern", rief ein Junge. "Ja, sie sehen so aus, als ob jemand ihnen die ausgerissen hat", vermutete ein anderer. Als endlich der Besitzer mit seinem Kombi in die Einfahrt einbiegen wollte, mußten ein paar Kinder erstmal ihre Fahrräder wegschieben, um dem Auto Platz zu machen. Ein Mädchen sprang vom Beifahrersitz und rannte auf die Pfauen zu. Der größte Vogel ergriff die Flucht und ließ sich auf dem Dach des Nachbarhauses nieder. "Jupiter, du Frechdachs!" rief das Mädchen. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah zum Dach hinauf. Die beiden Hennen ließen sich überhaupt nicht stören und pickten nach dem Puffreis, den Tom für sie verstreut hatte. Fasziniert starrte Tom die Besitzerin der Vögel an. Ein solches Mädchen hatte er noch nie gesehen. Ihre langen, weichen Haare waren weißblond, ihre Wimpern und Augenbrauen jedoch dunkel. Ihre Augen strahlten vor Vergnügen, als sie mit Jupiter schimpfte. Wenn sie lachte, bildeten sich zwei Grübchen auf ihren Wangen. Tom bewunderte ihre zarte, schimmernde Haut. "Wer hat uns angerufen?" fragte das Mädchen. "Ich war das." Tom fand das Mädchen so toll, daß er total durcheinander war. Er warf einen verstohlenen Blick auf ihre schlanke Figur in den weißen Jeans und dem blauweißen Top. Sie war einfach hinreißend. "Ich muß mich für diese drei Eindringlinge entschuldigen", sagte sie. "Ab und zu kommt es mal über sie, und dann müssen sie einfach ausreißen." Inzwischen war ein braungebrannter, sportlich -6-
durchtrainierter Mann aus dem Auto gestiegen, hatte die Heckklappe geöffnet und sich mit ruhigen Bewegungen den Vögeln genähert. "Nimm du Hera, Daddy, ich schnappe mir Juno", sagte das Mädchen. Ihre Stimme klang hell und selbstbewußt. Mit ausgebreiteten Armen gingen der Mann und das Mädchen auf die Hennen zu, packten sie und trugen sie zum Wagen. Dort standen drei Kisten bereit, und sie steckten jeden Pfau in eine davon. Die Kisten hatten Löcher an den Seiten, durch die die Pfauen ihre Hälse stecken konnten. "Wir müssen sie in diese Kisten sperren", erklärte das Mädchen einem kleinen Jungen, der mit offenem Mund danebenstand. "Sonst flattern sie im Auto herum und beschädigen Ihre Federn." Der Vater des Mädchens stand vor dem Nachbarhaus und imitierte Pfauenstimmen, um den Hahn vom Dach zu locken. Der Pfau schrie Mr. Holmstrom an. Dann pickte er in der Regenrinne herum. "Wenn ich eine Leiter hätte, könnte ich.raufklettern und ihn einfangen", bot Tom an. "In der Garage ist eine Leiter", sagte die Nachbarin, und Tom lief los, um sie zu holen. Wenn er den Hahn einfangen könnte, würde er dieses unglaubliche Mädchen bestimmt damit beeindrucken. Tom lehnte die Leiter gegen das Haus und kletterte die Sprossen hinauf. Vorsichtig robbte er auf allen Vieren über die Dachpfannen. Bis auf wenige Zentimeter kam er an den Pfau heran. Gerade als er ihn packen wollte, stieß das Biest einen Schrei aus, flog davon und rettete sich in den Wipfel eines Eukalyptusbaues. Höhnisch blickte der Pfau auf Tom herab. Tom war echt sauer. Dieser blöde Vogel hatte ihn vor allen Leuten blamiert. Niemand beachtete ihn jetzt mehr, alle sahen zum Baum hinauf. -7-
Vom Dach aus sah Tom, wie der Wagen seines Vaters in die Straße einbog. Mr. Roberts arbeitete in einer Bank und kam immer früh am Nachmittag nach Hause. Tom's Vater schaute verwirrt auf die Menschenmenge im Garten und auf den Kombi, der seine Einfahrt blockierte. Tom kletterte über das Dach zurück zur Leiter. Vorsichtig tastete er mit dem Fuß noch der obersten Sprosse. Es fehlte gerade noch, daß jetzt die Leiter umkippte und er damit ein noch lächerlicheres Bild abgab. Hauptsächlich dachte er dabei natürlich an das Mädchen. Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, sucht er sie In der Menschenmenge. Mr. Holmstrom gackerte immer noch wie ein Pfau, aber der Vogel beäugte nur regungslos seinen Besitzer aus seiner sicheren Position in den Eukalyptuszweigen. "Warum lassen wir ihn nicht einfach hier, Dad?" sagte das Mädchen. "Wenn wir Juno und Hera mitnehmen, kommt er spätestens, wenn es dunkel wird, hinterher." "Gute Idee, Britta", sagte ihr Vater. "Lassen wir den alten Knaben einfach hier. Soll er doch sehen, wie er nach Hause kommt." Erstaunt sah Tom ihn an, obwohl es ihm schwerfiel, seinen Blick von Britta zu lösen. "Normalerweise kommen sie zum Schlafen nach Hause", erklärte Mr. Holmstrom. "Mach dir keine Sorgen. In ein paar Stunden bist du ihn bestimmt los." "Warum haben diese Pfauen keine so schönen Schwanzfedern wie sonst immer auf den Bildern?" wollte ein kleines Mädchen von Britta wissen. "In dieser Jahreszeit verlieren sie immer ihre Federn. Später wachsen ihnen neue, so daß sie wieder wunderschön aussehen", erklärte Britta. "Erst zu Weihnachten ungefähr sind die Federn wieder vollständig nachgewachsen. Dann stolziert -8-
Jupiter oft ganz hochmütig herum und schlägt ein Rad nach dem anderen." "Die Federn, die der Pfau zum Rad aufrichtet, sind gar nicht die eigentlichen Schwanzfedern", fügte Brittas Vater hinzu. "Das sind unscheinbare, braune Federn, die dazu dienen, die langen Federn mit den Pfauenaugen zu stützen, wenn sie aufgerichtet werden." Tom fühlte, wie eine Hand leicht seinen Arm drückte. Er sah auf und blickte in die sanften, dunklen Augen von Britta Holmstrom. Durch die Berührung ihrer Hand war ihm ganz heiß geworden. "Danke für alles, vor allen Dingen dafür, daß du uns so rasch gesagt hast, wo die Ausreißer sind. Ich hoffe, sie haben nicht allzu viel kaputtgemacht, obwohl die Geranien ziemlich schlimm aussehen. Es wäre schön, wenn wir sie vom Ausreißen abhalten könnten. Aber das läßt sich nur dadurch verhindern, daß wir ihnen die Flügel stutzen, und... "Nein, das kann man doch nicht tun", sagte Tom. Fasziniert betrachtete er die beiden Grübchen auf Brittas Wangen. "Außerdem brauchst du dich nicht zu entschuldigen. Im Gegenteil, ich fand das alles sehr witzig." Britta strahlte ihn an. Tom merkte, wie er rot wurde. Britta drückte nochmal seinen Arm. "Vielen Dank", sagte sie einfach. Mr. Holmstrom schüttelte kräftig Toms Hand. "Also, wenn dieser Strolch morgen immer noch hier rumsitzt, dann ruf mich doch bitte noch einmal an. Hier ist meine Karte. Aber ich denke, wir werden nicht allzu lange auf Jupiter warten müssen. Tut mir leid, daß wir so viel Aufregung verursacht haben." Toms Vater verabschiedete sich mit einem freundlichen Händeschütteln von Mr. Holmstrom. Dann stiegen Vater und Tochter in ihr Auto und fuhren davon.
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Alle betrachteten gespannt Jupiter, aber der saß immer noch majestätisch auf seinem Thron im Eukalyptusbaum und blickte gelangweilt auf die Menge, Bald darauf gingen die Leute auseinander. Tom sah auf die Karte, die er in der Hand hielt. Brittas Vater war Doktor Neilson Holmstrom. Professor für Biologie an der staatlichen Universität. Wahrscheinlich hielt er die Pfauen für Beobachtungen. Tom trödelte hinter seinem Vater ins Haus. Er sammelte die Post auf, die auf dem Rasen gelegen hatte und jetzt schmutzig und zertrampelt aussah. Als er zu seinem Zimmer ging, verfinsterte sich seine Miene. Die Tür stand offen, und Sandy und Vicky schossen heraus, als sie ihn hörten. "Was habt ihr in meinem Zimmer zu suchen?" schimpfte Tom. "Ihr wißt genau, daß hier der Zutritt für euch verboten ist!" "Wir waren ja nur drinnen, weil man von deinem Fenster aus die Pfauen besser sehen konnte als von meinem", verteidigte sich Sandy. Vicky plinkerte Tom verliebt an. Das kannte er schon. Sandys Freundinnen versuchten immer, ihn anzumachen. Entweder sie saßen in Sandys Zimmer, ließen die Tür offen stehen, kicherten und lächelten ihn an, wenn er vorbeiging, oder sie taten so, als ob sie etwas in der Küche zu tun hatten, wenn er dort einmal mit einem seiner Freunde saß. Daß diese dummen Hühner nun auch noch einfach so in sein Zimmer einfielen, war ja wohl wirklich das allerletzte. Hoffentlich hatten sie nichts entdeckt, was sie nicht sehen sollten! Zum Beispiel das Poster von dem Mädchen, das Steve Atkins ihm mitgebracht hatte. Steve war gestern abend dagewesen und hatte eine Dose - 10 -
Bier mitgebracht, die immer noch in Toms Zimmer stand. Wenn Sandy und Vicky die entdeckt hatten und das seinen Eltern erzählten, würden die einen Herz-anfall kriegen. Nirgends war man ungestört! Zu seiner Erleichterung sah Tom, daß die Bierdose immer noch hinter seinern Schreibtisch stand, wo man sie nicht sehen konnte. Er beschloss, daß er sich den Schlüssel für seine Zimmertür von Eltern holen wollte, damit er abschließen konnte, wenn er nicht da war. Bis zu seinem Job in einer Pizzeria, wo er sich ein wenig Geld verdiente, hatte Tom noch Zeit. Er nahm sein Skateboard und ging auf die Straße. Er versuchte ein paar Tricks, bis Vicky und Sandy ebenfalls mit Skateboards herauskamen. Vicky warf ihm schmachtende Blicke zu. Tom fand das unheimlich blöd. Er nahm sein Board und ging wieder ins Haus. Im Flur blieb er vor dem Spiegel stehen und betrachtete sich prüfend. Er fand, daß er sich in der letzten Zeit ziemlich verändert hatte. Mit zusam-mengezogenen Augenbrauen versuchte er, energisch und finster zu blik-ken, Anschließend probierte er den männlichen, verführerischen Blick, schnitt sich selbst ein paar Fratzen und strich sich dann mit den Fingerspitzen über seine Bartstoppeln.' Für einen Schnurrbart würde sein Bartwuchs bestimmt schon reichen. Leider war es nicht üblich, daß Jungen einen Bart trugen. solange sie noch zur Schule gingen. Vielleicht nächstes Jahr, wenn er studierte. Wie er wohl aussehen würde mit einem Bart? Tom ging ins Bad und schloß die Tür hinter sich ab. Mit dem Augen-brauenstift seiner Mutter malte er sich einen Schnurrbart auf die Oberlippe. So sah er richtig wild aus! Er wusch die Malerei wieder weg und strichelte sich einen neuen - 11 -
Bart. Diesmal einen mit heruntergezogenen Enden. Jetzt sah er aus wie ein berufsmäßiger Pokerspieler aus einem Western. Tom stellte fest, daß seine Gesichtszüge nicht mehr so weich waren wie im vergangenen Jahr, und auch seine Nase hatte sich verändert. Sie war nicht mehr so stupsig. Welchen Eindruck habe ich wohl auf Britta gemacht? Jemand hämmerte mit den Fäusten gegen die Badezimmertür. "Komm raus, du bist schon den ganzen Nachmittag da drinnen!" jammerte Sandy. "Hau bloß ab!" schimpfte Tom. Hastig wusch er sich seine Bemalung ab, öffnete die Tür und ging an Sandy und der ewig kichernden Vicky vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. In seinem Zimmer betrachtete Tom kritisch das Mädchen auf dem Poster. Sie war höchstens halb so schön wie Britta Holmstrom. Britta wirkte einfach umwerfend, obwohl sie kein bißchen aufgedonnert war. Sie war so natürlich und temperamentvoll, so frisch und locker. Dagegen waren all diese Fern-sehstars und Mode-Modells total künstliche Püppchen. Britta war wirklich einzigartig - wie sie mit dem Pfau geredet hatte! Und wie selbstverständlich sie ihre Hand auf Toms Arm gelegt hatte. Tom kannte kein Mädchen, das so frei und ungezwungen war. Und dabei hatte sie ihn doch gerade erst kennengelernt. Als ihre Hand ihn berührt hatte, hatte er gespürt, wie ihre Wärme und Herz-lichkeit auf ihn übergeströmt war. Tom wünschte sich, daß Jupiter, der Pfau, nicht nach Hause fliegen würde. Dann hätte er wenigstens einen Grund, Britta morgen anzurufen. Tom sah aus dem Fenster. Gerade kam sein Freund Steve - 12 -
Atkins angera-delt. Er ging hinunter, um Steve die Tür zu öffnen. Als er an Sandys Zimmer vorbeikam, warnte er die beiden Mädchen eindringlich. "Ich kriege jetzt Besuch, und ich will nicht, daß ihr uns stört. Laßt euch nicht einfallen, in mein Zimmer zu kommen. Auch nicht, um irgendwelche Platten auszulei-hen!" Sandy und ihre Freundin waren jetzt in der zehnten Klasse. Tom befürch-tete, daß diese Mädchen im nächsten Schuljahr eine wahre Plage für ihn werden würden, zumal Sandys Freundinnen alle hinter ihm her waren. Als Oberstufensprecher konnte er sich nicht erlauben, sich durch eines dieser Küken ins Gerede bringen zu lassen. Tom und Steve gingen über den Flur. Sofort öffnete sich Sandys Zimmertür einen Spalt, und die beiden kichernden Mädchen schielten neugierig heraus. Die beiden Jungen verschwanden schnell in Toms Zimmer und machten die Tür hinter sich zu. Sie hörten Schallplatten. Steve trank das Bier, das er gestern stehengelassen hatte. "Nimm bloß die leere Dose wieder mit", sagte Tom. Seit er zum Oberstufensprecher gewählt worden war, hatte Tom das Gefühl, daß er sich in Zukunft immer total korrekt benehmen mußte. Je näher der erste Schultag rückte, desto unbehaglicher fühlte er sich. Worauf hatte er sich nur eingelassen, als er sich zur Wahl gestellt hatte? "Am Freitag kommt Art aus Texas zurück. Wir wollen am Samstag eine Fete zum Ferienende feiern", berichtete Steve. "Sarah hat das vorgeschla-gen. Wir feiern bei ihr zu Hause. Du sollst mit Jennifer Baines kommen. Und Art kommt mit Connie Campbell." "Jennifer Baines?" fragte Tom stirnrunzelnd. "Warum hast du ausgerechnet die für mich eingeladen?" "Sie hat Sarah erzählt, daß sie dich gut findet, und sie hat Sarah gebeten das mit dir klarzumachen." - 13 -
"Letztes Jahr hat diese Jennifer Baines mich überhaupt nicht wahrgenom-men, wenn wir uns begegnet sind", sagte Tom zynisch. "Naja, seit du zum Oberstufensprecher gewählt bist, reißen sich die Mäd-chen eben um dich. Aber wart's erstmal ab. Vielleicht findest du Jennifer ja doch ganz nett. Außerdem hat Sarah jetzt schon alles arrangiert. "Sarah nimmt sich ganz schön viel raus, seit sie ins Schülerparlament gewählt worden ist. Hätte ich sie bloß nicht mit auf meiner Liste kandidieren lassen." "Also, Tom, nun sei aber kein Spielverderber." "Gehst du eigentlich fest mit Sarah?" "Wir haben nie darüber gesprochen. Aber eigentlich gehe ich immer nur mit ihr weg, und sie trifft sich auch nie mit einem anderen. Schade übrigens, daß Janine immer noch in Südamerika ist, sonst könnten wir sie auch einladen." "Muß ich Jennifer etwa auch noch zu Hause abholen, oder kommt sie allein? Und muß ich sie etwa auch noch wieder zurückbringen?" "Ich glaube schon." Tom runzelte erneut die Stirn. Das paßte ihm alles überhaupt nicht. Wenn er Jennifer abholte, müßte er ihre Eltern begrüßen. Dadurch würde ihm automatisch eine gewisse Verantwortung übertragen, die er aber nicht wollte. Er dachte an Britta, die er heute nachmittag völlig überraschend kennenge-lernt hatte. Wenn er doch bloß mit ihr hingehen könnte! "Ich denke nochmal drüber nach und sage dir Bescheid, Steve." Tom wollte gerade von Britta erzählen, doch dann ließ er es lieber. Inzwischen wirkte alles, was passiert war, so unwirklich. Britta erschien ihm wie ein Wesen aus einer anderen Welt, das nur für kurze Zeit die Erde besucht hatte. "Heute nachmittag waren so'n paar komische Pfauen in - 14 -
unserem Garten" erzählte er Steve statt dessen. "Pfauen!" "Ja, sie gehörten einem Biologieprofessor von der Uni. Er kam her und hat zwei davon wieder eingefangen." Tom merkte, daß er den wichtigsten Teil der Geschichte ausgelassen hatte. Er dachte an die Hand auf seinem Arm und an das strahlende Gesicht mit den Grübchen. "Einer ist wohl immer noch da. Guck mal in den Eukalyptusbaum." Tom hatte Angst, daß der Vogel inzwischen weggeflogen war, doch dann entdeckte er einen leuch-tend blauen Schimmer zwischen den grünen Blättern. Die beiden Jungen gingen in den Garten hinaus. Steve bückte sich nach einem Kieselstein und warf ihn in den Baum. Er wollte sehen, ob er den Pfau dadurch aufscheuchen konnte. "Mensch, laß das!" brüllte Tom wütend. "Du kannst ihn treffen, und dann wird sein Professor bestimmt sauer." Tom wünschte sich, daß Jupiter von nun an für immer in diesem Baum leben würde. Dann müßte Britta jeden Tag kommen, um ihn zu besuchen. Tom und Steve gingen rüber zur Garage, wo über dem Tor ein Korb zum Basketballspielen angebracht war. Sie übten ein paar Zielwürfe und merk-ten, daß Sandy und Vicky sich ihre Nasen am Fenster plattdrückten, um ihnen zuzusehen. "Es ist wirklich irre, wie toll du in diesem Sommer gewachsen bist", sagte Steve, als sie mit dem Ball In der Einfahrt dribbelten. "Wenn du letztes Jahr schon so groß gewesen wärst, hätten sie dich bestimmt in die Basketballschulmannschaft geholt." "Kann sein." Etwas traurig dachte Tom daran, wie Craig Matthews, der Basketballstar der Schule, ihm letztes Jahr Janine vor der Nase weggeschnappt hatte. Vielleicht hätte er bessere Chancen bei Janine ge-habt, wenn er auch In der - 15 -
Schulmannschaft gewesen wäre. Aber inzwi-schen schien es ihm gar nicht mehr so wichtig zu sein, ob Janine ihn mochte oder nicht. Er stellte sich Rücken an Rücken mit Steve, und sie fanden heraus, daß Tom etwa fünf Zentimeter größer war als sein Freund. "Du bist jetzt bestimmt der größte von unserer Clique." Steves Stimme klang fast ein wenig neidisch. "Aber wenn man so schnell wächst, wird man automatisch auch ganz schön dünn", fügte er mit einem Seitenblick auf Toms schlacksige Gestalt hinzu. "Laß uns mal nachsehen, ob wir Dads Hanteln finden", schlug Tom vor und öffnete die Garagentür. "Wir können ein bißchen trainieren." Sie fanden die Hanteln, und jeder stemmte sie ein paarmal. Dann ging Steve zum Essen nach Hause, und Tom mußte sich für seinen Job in der Pizzeria fertigmachen. "Und überleg dir das mit der Party bei Sarah nochmall" erinnerte ihn Steve zum Abschied. "Ich komme nur, wenn Jennifer Baines schon da ist und ich nichts mit Abholen oder Nachhausebringen zu tun habe." Tom verzog das Gesicht. "Okay, ich werd's Sarah sagen." Tom sah hinter Steve her. Diese Sarah Sampson hatte Steve ganz schön im Griff. Ihn dürfte kein Mädchen so herumkommandieren. Höchstens, wenn es sich um so ein Supergirl wie Britta Holmstrom handelte. Er dachte daran, wie Britta auf dem Rasen hinter den beiden Pfauen hergelaufen war. Es machte Spaß an sie zu denken. Alles Unangenehme wurde klein und unwichtig bei dem Gedanken in dieses Mädchen. Tom ging in sein Zimmer. Auf seinem Schreibtisch - 16 -
entdeckte er einen Briefumschlag, der vorher noch nicht dort gelegen hatte. Ärgerlich machte Tom ihn auf. Diese lästigen kleinen Biester waren also doch wieder in sei-nem Zimmer gewesen! Er riß das Blatt aus dem Umschlag. "Vicky möchte wissen, ob du sie magst." Sandy hatte die Nachricht auf ihr blümchenumranktes Briefpapier geschrieben. "Bitte kreuze an: 0 sehr 0 ein bißchen 0 gar nicht." Was mußte er eigentlich noch alles ertragen. Erst diese zickige Jennifer Baines und nun auch noch diese kindische Vicky! Tom griff sich einen Kugelschreiber und schrieb quer über den Briefbogen. "Laßt mich in Ruhe und betretet mein Zimmer nie wieder!" Wütend pfefferte er den Umschlag in Sandys Zimmer und rannte die Treppen hinunter. "Tschüß, Mom, ich muß losl" rief er. Die Sonne ging gerade unter, als er aus der Haustür trat. Der Himmel war mit kleinen Schäfchenwolken bedeckt, die im Abendlicht rotgolden schimmerten. Aus dem Wipfel des Eukalyptusbaums hörte er ein Rascheln. Das mußte Jupiter sein. Da kam auch schon der große blaue Vogel zum Vorschein. Mit einem krächzenden Schrei erhob er sich aus der Baumkrone und flog mit kräftigen Flügelschlägen gegen die untergehende Sonne davon. Ein wirklich ein-drucksvoller Anblick! Dieser glückliche Vogel! Er konnte nach Hause - zu Britta. Tom stellte sich vor, wie Brittas schlanke, zarte Hand die farbenprächtigen Federn des Vogels streichelte. Der Pfau war verschwunden und damit auch der letzte lebende Beweis dafür, daß das wunderbare Erlebnis am Nachmittag tatsächlich stattgefunden hatte. Immer mehr erschien das Mäd-chen Britta Tom wie eine Traumgestalt.
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2. KAPITEL Tom band sich eine weiße Schürze um und setzte die hohe, weiße Kochmütze auf. Ein paar andere Jungen, deren Job es war, den Pizzateig mit Käse, Salami, Tomaten und anderen Zutaten zu belegen, lachten ihm zu. "Unser Teigwerfer ist angekommenl Da kann die Show ja starten!" rief einer von ihnen.' Toms Aufgabe war es, den Pizzateig ordentlich durchzukneten. Das war eine Kunst, denn um den Teig so richtig schön dünn und gleichmäßig zu kriegen, mußte er immer wieder in die Luft geworfen und aufgefangen werden. Dadurch wurde aus dem Klumpen ein gleichmäßig dünner, großer Fladen. Dieses Kunststück führte Tom vor einem Schaufenster vor, um Kunden anzulocken. Die Leute blieben stehen und bewunderten Toms Geschicklichkeit beim Teigwerfen. Tom war bekannt dafür, daß er seine Sache gut machte und ab und zu ein paar witzige Gags in seine Vorstellung einbaute. Er selbst hatte allerdings keine große Lust mehr zu seinem Job, den er nun schon einige Monate lang machte. "Kann ich nicht mit einem von den anderen Jungs tauschen und vielleicht die Pizzas belegen oder kassieren?" hatte er den Manager gefragt. Der hatte seine Bitte leider nicht ernst genommen und nur gegrinst. "Du bist doch unsere große Zugnummer, Tom. Die Leute kommen von weit her angereist, um dich zu sehen." Das war nun wirklich übertrieben, aber Tom mußte zugeben, daß er ein Talent hatte, andere mit seiner witzigen - 18 -
Einmann-Show zu unterhalten. Nicht zuletzt wegen seiner lustigen Art war er auch zum Oberstufen-sprecher gewählt worden. Doch In Zukunft würde er es hoffentlich nicht mehr nötig haben, durch BlödeIeien aufzufallen. Wenn die Schule am Montag wieder begann, gehörte er durch sein Amt zu den wichtigen Persönlichkeiten, und alle würden ihn wichtig finden und sich um ihn kümmern, Für das Herumjonglieren mit dem Teig brauchte er ganz schön viel Kraft. Letzten Winter war er so gut drauf gewesen, daß er seine Nummer sogar mit zwei Teigklumpen gleichzeitig vorführen konnte. Aber heute war er nicht in Form. Trotzdem blieben ein paar Passanten stehen und lächelten ihn bewundernd durch das Schaufenster an. Einmal hatte er sich sogar zur allgemeinen Belustigung einen Teigklumpen auf den Kopf fallen lassen und ihn den ganzen Abend wie einen Helm getragen, obwohl der Teig antrocknete und sein Haar scheußlich verklebt war. Dieser Blödsinn war ein großer Erfolg gewesen, denn die Leute hatten sehr über ihn gelacht. Der Besitzer war nicht sauer gewesen über die Teig-Verschwendung, denn alles, was Kunden anlockte, stimmte ihn fröhlich. Tom stellte sich vor, daß Britta Holmstrom zufällig vor seinem Schaufenster auftauchte. Was sie wohl von ihm denken würde? Wahrscheinlich würde sie ihn unheimlich doof finden. Britta war ganz schön selbstbewußt. Schon die Art, wie sie mit ihrem Vater redete, so partnerschaftlich, hatte Tom beeindruckt. Wie alt sie wohl sein mochte? Bei Mädchen konnte man das immer schlecht schätzen. Sech-zehn vielleicht, sie reichte ihm gerade bis zur Schulter. Tom überlegte, wo sie wohl zur Schule ging. Bestimmt nicht zu seiner, sonst hätte er sie mit Sicherheit schon einmal gesehen. Wahrscheinlich ging sie zur Orchard High School. - 19 -
Toms Schule stand mit dem anderen Gymnasium in ständigem Konkurrenzkampf bei Leichtathletikwettkämpfen. Im Laufe des Abends kamen mehrere Mitschüler von Tom vorbei. Einige begrüßten ihn lautstark. "Hallo, Präsident!" Sie schienen es unheimlich witzig zu finden, daß der neue Oberstufensprecher hier den Pizzateig in der Gegend herumschleuderte. Irgendwann kam auch Steve mit ein paar Freunden vorbei. "Sarah meint, das mit Jennifer geht klar. Du brauchst sie nicht abzuholen. Sarah hat die Fete so umfunktioniert, daß es offiziell ein Mädchenfest ist, bei dem wir Jungs dann irgendwann dazukommen." "Okay", sagte Tom wenig begeistert. "Ich brauche Sonnabend nicht zu arbeiten. Allerdings könnte ich mir schon etwas besseres für den Abend vorstellen, zum Beispiel, wenn Art, du und ich pokern würden." Eigentlich dachte er auch daran, wie toll es wäre, wenn er mit Britta ins Kino gehen könnte. Aber das sagte er nicht laut. "Hast du Lust, morgen mit mir ein paar Autos zu testen?" fragte Tom. "Darfst du dir etwa eins kaufen?" "Wenn ich ein gutes finde, kann ich meinen Vater vielleicht überreden, daß er ja sagt. Jedenfalls habe ich eine Menge Geld gespart." Tom sah sich in Gedanken in einem silberblauen, offenen Sportwagen durch die Gegend düsen. Natürlich saß Britta neben ihm, und ihre langen, blonden Haare wehten im Fahrtwind. Am Samstag gingen Tom und Steve zum Gebrauchtwagenmarkt. Leider gab es für Toms Ersparnisse kein vernünftiges Auto zu kaufen. Nachmittags versuchte Tom, seinen Vater zu überreden, ihm etwas Geld für ein Auto dazuzugeben. Schließlich brauchte ein Oberstufensprecher - 20 -
seinen eigenen Wagen. "Ich muß wahrscheinlich alle möglichen Sachen für die Schule organisieren und werde viel unterwegs sein", argumentierte er. "Mit dem Kauf des Autos ist es ja nicht getan, Tom", belehrte ihn sein Vater. "Denk zum Beispiel mal an die Versicherungskosten, die sind gerade für Leute in deinem Alter enorm hoch. Und dann das Benzin und die Repara-turen, und, und, und..." "Bei uns in der Schule gibt es Kurse, in denen man lernt, wie man ein Auto selbst repariert. Da kann ich ja mitmachen", bettelte Tom. "Dann mach das zuerst, und danach können wir nochmal über das Thema Auto reden. Inzwischen mußt du eben weiterhin den Familienwagen neh-men, natürlich nur, wenn ihn sonst keiner braucht." Tom beschloß, zu Sarahs Party zu Fuß zu gehen. Wenn er allein hinging, konnte er auch wieder allein verschwinden, wenn er keine Lust mehr hatte. Als Tom ankam, zündeten die anderen gerade die Grillkohle auf der Terrasse an. Jeder hatte etwas zu essen mitgebracht. Vielleicht würde es ja doch nicht ganz so furchtbar werden. Acht Leute waren da. Auf dem Rasen war ein Hufeisenwurfspiel aufgebaut, mit dem sie sich beschäftigten, bis die Holzkohle richtig durchgeglüht war. Tom hatte Hunger wie ein Wolf. Die anderen machten sich über seinen Appetit lustig. Das brutzelnde Fleisch auf dem Grill verbreitete einen verfüh-rerischen Duft. Die Mädchen hatten sich schon am Nachmittag getroffen und eine große Schokoladentorte gebacken. Tom aß auch davon riesige Stücke und fühlte sich schließlich rundum satt, wohlig und entspannt. "Kommt, laßt uns ins Wohnzimmer gehen und ein bißchen - 21 -
tanzen", schlug Sarah später vor. "Ich hab gehört, daß du ein toller Tänzer bist", sagte Jennifer zu Tom. Hast du nicht im letzten Jahr beim Rock'n Rollwettbewerb einen Preis gewonnen?'" "Ja", sagte Tom gedehnt. "Letztes Jahr war ich auch noch viel besser drauf. Inzwischen bin ich älter und müder geworden." Die anderen lachten. Tom blieb nichts anderes übrig als mit Jennifer zu tan-zen. Sie hing fast wie eine Klette an ihm und wich auch nicht von seiner Seite, als er sich wieder hinsetzte. "Ich habe übrigens einen Brief von Janine aus Uruguay gekriegt", erzählte Sarah, die auch keine Lust mehr zum Tanzen hatte. "Es gefällt ihr dort sehr gut, obwohl sie uns alle vermißt. Sie lebt da in einer Familie. Der Vater arbeitet in der Lederwarenbranche. In Uruguay wird anscheinend massen-haft Viehzucht betrieben." "Wo liegt Uruguay überhaupt?" fragte Art. "Zwischen Brasilien und Argentinien, an der Ostküste von Südamerika. Es ist ziemlich klein", sagte Sarah. "Wir haben damals im Atlas nachgeguckt, als Janine erfuhr, daß sie dahin fahren sollte." "Es muß ganz schön hart sein, in ein fremdes Land zu gehen, wo man keinen kennt, in einer total fremden Familie lebt, und wo sie auch noch eine andere Sprache sprechen", meinte Jennifer. "Sie bleibt noch drei Monate", sagte Sarah. "Zu Weihnachten wird sie wie-der hier sein." "Dann laßt uns doch für sie eine Silvesterfete veranstalten", schlug Jennifer vor. "Meine Eltern haben bestimmt nichts dagegen, wenn wir das bei uns machen. Ihr seid natürlich alle eingeladen." Dabei warf sie Torn einen viel-sagenden Blick zu. "Dann mußt du Craig Matthews aber auch einladen", bemerkte Arts Begleiterin Connie. "Janine und er sind wohl - 22 -
ziemlich dick befreundet. Er hat ihr sogar einen Ring zum Abschied geschenkt." Sarah wußte Bescheid. "Das stimmt. Ich habe Janine auch zum Flughafen gebracht. Sie ist schließlich meine beste Freundin. Die beiden konnten mit ihrem Abschiedskuß überhaupt nicht mehr aufhören. Ich habe schon ge-dacht, daß Janine das Flugzeug verpaßt. Craig war ganz schön down, als sie weg war." Sarah warf Tom einen Blick zu, um seine Reaktion zu testen. Sie wußte genau, daß Tom letztes Jahr einigermaßen in Janine verknallt gewesen war. Verlegen rutschte er auf seinem Stuhl hin und her, als er Sarahs Blick spürte. Klar, er war hinter Janine hergewesen, aber es machte ihm jetzt nichts mehr aus, solche Stories über Craig und sie zu hören. Offensichtlich war seine Leidenschaft für Janine abgekühlt. "Wahrcheinlich gehen sie weiterhin fest zusammen, wenn Janine zurück-kommt", sagte Art. "Aber Craig geht doch jetzt in Berkeley zur Uni", seufzte Connie. Auch sie hatte letztes Jahr für Craig geschwärmt. "Ist euch eigentlich klar, daß wir in diesem Schuljahr die ältesten Typen an der Schule sind?" fragte Sarah. "Ja, die Senioren", sagte Steve. "Und Tom ist der wichtigste von uns allen." Tom fühlte sich unwohl. Alle sahen ihn so prüfend an. "Was wirst du für uns tun, Tom?" fragte Jennifer. "Wir wollen viele Schulfeste", forderte Connie. "Und an jedem Freitag muß für die ältesten Schüler schulfrei sein", schlug Art lachend vor. "Außerdem dürfen wir in der Cafeteria immer ganz nach vorn gehen, egal, wie lang die Schlange ist", wünschte sich Sarah. Tom fühlte sich immer unbehaglicher. Er wußte selbst gar - 23 -
nicht genau, welche Aufgaben er als Oberstufensprecher hatte. Zwar war er mit seinem Vorgänger die wichtigsten Einzelheiten durchgegangen, aber viel war für Tom bei dem Gespräch nicht herausgekommen. Sarah wurde wieder ernst. "In diesem Jahr müssen wir uns entscheiden, zu welcher Uni wir gehen wollen." Jennifer seufzte. "Außerdem müssen wir auch noch diesen Aufnahmetest über uns ergehen lassen." "Und wer den nicht gut besteht, hat kaum eine Chance, überhaupt an irgendeiner Uni zugelassen zu werden", sagte Tom. Voller Sorge dachte er an sein letztes Zeugnis, das nicht gerade blendend ausgefallen war. Hätte er doch bloß mehr Interesse und Zeit für den Unterricht aufgebracht, anstatt immer nur den Klassenclown zu spielen. "Wo willst du eigentlich studieren, Tom?" wollte Jennifer wissen. "Wahrscheinlich an der staatlichen Uni." "Aber das ist doch viel zu nah. Das ist gar nicht richtig wie studieren. Ich möchte ganz weit von zu Hause weg, zum Beispiel nach San Diego, wo meine Eltern mir nicht dauernd auf die Pelle rücken können." "Ich möchte gern Biologie studieren. Und hier an der staatlichen Uni ist ein unheimlich guter Bioprofessor, ein Dr. Neilson Holmstrom." "Ich wußte gar nicht, daß du im Bio-Leistungskurs bist." "War ich auch noch nicht, aber jetzt nach den Ferien werde ich ihn belegen' "Willst du Wissenschaftler werden?" "Mal sehen." Tom gähnte. "Ich geh' nach Hause. Morgen früh muß ich zeitig aufstehen und meinem Vater helfen." Jennifer war enttäuscht. - 24 -
"Mensch, du kannst doch noch ein bißchen bleiben", versuchte Steve ihn zu überreden, nachdem Sarah ihm ein Zeichen gemacht hatte. "Nichts zu machen." Tom zog, los. Er war froh, daß er sich nicht hatte über-reden lassen. Unterwegs dachte er an Britta. Wie gern würde er sie am Montag sehen, wenn die Schule wieder anfing. Während der nächsten Woche hatte Tom das Gefühl, daß die Schüler an seiner Schule immer jünger wurden. Es war ein komisches Gefühl, zu den ältesten zu gehören. Niemand war mehr da, zu dem man aufsehen konnte. Viele Mädchen grüßten ihn im Vorbeigehen oder hielten ihn in der Pausenhalle an, um mit ihm zu reden. Und wenn sie in einem seiner Kurse waren, diskutierten sie mit ihm über den Unterricht. Einige Mädchen, die ihn letztes Jahr nicht eines Blickes gewürdigt hatten, fingen nun an, mit ihm zu flirten. Tom nahm an, daß er nur deshalb so im Mittelpunkt stand, weil er jetzt Oberstufensprecher war. Aber wenn er in den Spiegel schaute, mußte er zugeben, daß er auch wesentlich besser aussah und irgendwie männlicher wirkte. Drei Wochen nach Schuljahresbeginn ließ der Schulleiter Tom zu sich rufen. Das altbekannte Schuldgefühl stieg in Tom hoch. Hatte er mal wieder etwas angestellt? Tom wartete im Vorzimmer des Direktors. Hier war er schon oft gewesen. An den Wänden hingen große Farbfotos von Kalifornien: vom Lake Tahoe, von den Weinanbaugebieten und den Bergen. Tom dachte an das letzte Mal, als er zum Direktor zitiert worden war. Ein Klassenkamerad von ihm hatte einen neuen Windgleiter. Er hatte Tom angeboten mit diesem Segel- 25 -
Drachen zu fliegen, aber dafür mußten sie ihren Nachmittagsunterricht schwänzen und zur Halfmoonbay fahren. Einem so verführerischen Vorschlag hatte Tom nicht widerstehen können. Natürlich hatte der Lehrer eine Entschuldigung von den Eltern sehen wollen. Bei Tom hatte es zu Hause einen Mordskrach gegeben. Auch der Schulleiter war ziemlich sauer auf die beiden Jungen gewesen. Ein anderes Mal hatte Tom auf dem Klo geraucht. Es war die erste und einzige Zigarette seines Lebens. Aber ausgerechnet in dem Moment hatte der stellvertretende Schulleiter die Toiletten inspiziert. Wieder gab's ein Heidenspektakel. Andere Male war er zum Direktor zitiert worden, weil er den Unterricht durch seine ständigen Witzeleien unmöglich gemacht hatte. Seine Mitschüler hatten während seiner Clownereien das Lernen total vergessen. Sogar sein Vater hatte schon einmal zum Schulleiter kommen müssen. Natürlich hatte er sich für seinen Sohn eingesetzt und etwas von fehlgeleiteter Energie aber hoher Intelligenz geredet. Auch als der Stuhl des Direktors geklaut worden war und Tom überhaupt nichts damit zu tun hatte, war er hier verhört worden. Der Schulleiter rief Tom nun herein und unterbrach seine Erinnerungen. Heute machte der Direktor nicht sein übliches finsteres Gesicht. Er stand sogar auf, kam Tom entgegen, lächelte ihn an und schüttelte ihm freundlich die Hand. "Tja, Mr. Roberts, wir haben ja schon mehrfach miteinander gesprochen. Diesmal treffen wir uns endlich aus einem angenehmen Grund. Sie sind der neue Oberstufensprecher." Der Schulleiter sah so aus, als ob er sich über die Wahl Toms wunderte. "Ja", bestätigte Tom. "Ich habe aber mit der Arbeit für mein neues Amt noch nicht angefangen." - 26 -
"Setzen Sie sich doch." Der Schulleiter zeigte auf einen Stuhl neben sich. "Das ist auch gut so, weil wir beide uns zuerst einmal unterhalten sollten. Wir müssen uns darüber einigen, welche Möglichkeiten und Grenzen für die Aktivitäten der Oberstufe bestehen." "Ja, Sir." "Sie werden sicherlich ein paar gesellschaftliche Ereignisse veranstalten wollen, Tanzfeste und Ähnliches. Nun, solche Dinge müssen, wenn sie offiziell als Schulveranstaltung ausgegeben werden, auch hier in unseren Gebäuden stattfinden. Aus versicherungstechnischen Gründen und auch wegen der Aufsicht geht das nicht anders." "Ja, sicher", antwortete Tom. "Wenn wir ein Fest planen, können wir es ja in der Turnhalle oder in der Cafeteria veranstalten." "Ich erwarte von Ihnen, daß Sie mir rechtzeitig über eventuelle Feste Mitteilung machen, so daß wir Ihre Aktivitäten mit anderen schulischen Veranstaltungen abstimmen und für ordnungsgemäße Aufsicht sorgen können." "Natürlich. Ich werde Ihnen rechtzeitig Bescheid geben Tom kriegte richtig ein bißchen Panik. Was wurde bloß alles von ihm erwartet? Alles, was er tat, würde vom Direktor genau geprüft werden. "Ich würde es begrüßen, wenn Sie recht bald eine Oberstufenvollver-sammlung einberufen würden und alle diesjährigen Aktivitäten planen und beschließen." "So macht man das also?" fragte Tom. "Ja. Sie kündigen die Vollversammlung an. Ich stelle Ihnen einen Klassen-raum dafür zur Verfügung. Der beste Zeitpunkt ist direkt nach Unterrichts-schluß. Wenn Sie sich jetzt gleich auf ein Datum festlegen können, gebe ich den Termin im Mitteilungsblatt bekannt." "Normalerweise bilden sich in unserer Oberstufe in jedem - 27 -
Schuljahr Arbeitsgruppen. Ich nehme an, daß das unter Ihrer Leitung nicht anders sein wird. Sie sollten zum Beispiel eine Gruppe zusammenstellen, die für die Vorbereitung und Durchführung von Festen verantwortlich ist. Dann hat-ten wir immer eine Gruppe für die Abiturvorbereitung und weitere Komitees, die uns bei der Schulorganisation unterstützt haben. Ihr Vorgänger zum Beispiel hatte eine Gruppe ins Leben gerufen, die den Lehrern bei der Aufsicht in der Bibliothek und in der Cafeteria half." "Gut." Tom brummte der Schädel. "Lassen Sie uns gleich in den Kalender schauen und einen Termin für Ihre Vollversammlung suchen." Sie einigten sich auf einen Miftwochnachmittag. "Denken Sie daran, daß sie eine Tagesordnung aufstellen." "Eine Tagesordnung?" "Ja, eine Zusammenstellung der Themen, über die Sie diskutieren wollen. So vergessen Sie nichts Wichtiges." Der Direktor half Tom, die Themen zusammenzustellen, die man auf so einer Versammlung behandeln sollte. Als sie mit ihrer Besprechung fertig waren, verabschiedeten sie sich mit einem freundschaftlichen Händedruck. "Ja, Mr. Roberts, es freut mich sehr, daß Sie sich inzwischen für wichtigere Dinge engagieren, als Sie es früher getan haben. Das waren doch recht infantile Aktivitäten. Ich wünsche Ihnen ein erfolgreiches Jahr als Oberstu-fensprecher." Für Tom war es eine völlig neue Erfahrung, mit dem Schulleiter sozusagen von Mann zu Mann zu reden. Er wünschte sich, daß Professor Doktor Neilson Holmstrom und seine Tochter Britta ihn jetzt sehen könnten. Tom dachte über die Schuffeste nach. Es wäre schön, wenn man am Valentinstag einen großen Ball veranstalten könnte. Er konnte sich gut vorstellen, daß er Britta zu solch einem Ereignis einladen würde. - 28 -
Tom ging zu seinem Englischkurs. Der Direktor hatte ihm einen Zettel mit-gegeben, um dem Lehrer zu bestätigen, daß Tom bei ihm gewesen war. Nach der Stunde suchte Tom im Lexikon nach dem Wort "infantil". Es be-deutete kindisch. Als Tom seine Sachen ins Schließfach packen wollte, traf er Art. "Hey, Tom." Art strahlte ihn an. "Rate mal, was wir heute abend vorhaben?" "Eirie Reise zum Mond, stimmt's?" "Wir wollen in Connies Garten einen Papier-Happening machen. Wenn du in der Pizzeria fertig bist, dann komm doch bei mir vorbei. Wir warten auf dich." Tom runzelte die Stirn. Eigentlich hatte er keine Lust, durch irgendwelche dummen Streiche in anderer Leute Gärten Ärger zu kriegen. Solcher Blödsinn machte ihm keinen Spaß mehr. "Geht lieber ohne mich. Ich bin immer ziemlich geschafft nach dem Job." "Das kannst du uns einfach nicht antun. Wir brauchen deinen geübten Arm. Du bist der beste Papierrollenwerfer, den wir kennen." "Ach was, das schafft ihr schon ohne mich." "Ach, Tom, das macht doch nur Spaß, wenn alle dabei sind.," Tom zögerte. Er konnte seine Freunde ja eigentlich nicht im Stich lassen. Die Sache war ja auch nichts Verbotenes, sondern nur ein harmloser Spaß. "Na gut, aber hinterher mache ich nichts mehr mit euch. Ich habe die ganze Woche hart gearbeitet, und am Montag muß ich diesen blöden Biotest schreiben." "Meine Güte! Heute ist doch erst Freitag. Wer setzt sich schon Freitags hin, um für einen Test zu üben, der erst am Montag stattfindet?" - 29 -
Nach dem Job ging Tom lustlos rüber zu Arts Haus. Eigentlich ärgerte er sich, daß sein Freund ihn, überredet hatte. Wenn Art vorhatte, in Connies Garten einen Papier-Happening zu veranstalten, so bedeutete das, daß er etwas mit ihr anfangen wollte. Wahrscheinlich würde er bald fest mit ihr gehen, und dann war Art derjenige, der freitagsabends die Clique im Stich ließ. Er hatte eine Schwäche für Mädchen, die einen festen Freund suchten. Schon letztes Jahr war er mit einer fest liiert gewesen, doch die war jetzt nach Los Arigeles gezogen. Die Jungen warteten schon auf Tom. Sie hatten achtzehn Rollen Toilet-tenpapier. Es war gegen Mitternacht, als sie sich auf den Weg zu Connies Haus machten. Dort war alles dunkel. Art verteilte die Rollen. Jeder nahm sich einen Baum vor, über den er die Toilettenpapierrolle immer wieder hin und her warf. Dabei rollte sich das Papier ab, so daß die Bäume wie eingewickelt aussahen. Die Jungen huschten leise im Garten herum, bis alle Pflanzen mit dem weißen Papier behängt waren. Ab und zu prustete einer von ihnen vor Lachen los. Gottseidank wurde niemand von Connies Familie dadurch geweckt. Als die achtzehn Rollen Klopapier aufgebraucht waren, verdrückten sich die Jungen durch den Garten hinterm Haus. Tom drehte sich noch einmal um und betrachtete ihr Werk. Durch das von den Bäumen hängende weiße Papier wirkte der Garten wie ein abstraktes Gemälde. Art war begeistert. "Jungs, so gut waren wir noch nie." Tom nahm sich fest vor, daß dies wirklich das allerletzte Mal gewesen war, daß er bei so einem Blödstinn mitgemacht hatte. Solche kindischen Spiele paßten nicht zu einem Oberstufensprecher. Trotzdem mußte er zugeben, daß sie heute abend in Connies Garten eine super Arbeit geleistet hatten. Bei der Vorstellung, wie sowohl Connies Familie als auch die - 30 -
Nachbarn auf den Anblick reagieren würden, mußte er grinsen. "Ihr werdet sehen, das haut Connie um!" prophezeite Art. "Ich würde nur zu gern ihre Gesicht morgen früh sehen." "Ja, das ist der einzige Nachteil an der Sache, daß wir nie die Reaktion mitkriegen", bedauerte Steve. "Ich weiß, wie das ist", sagte Tom. "Bei uns haben das neulich ein paar Jungen aus Sandys Klasse gemacht. Da wacht man morgens auf und sieht die Bescherung. Alle tun dann so, als ob sie unheimlich empört sind, doch in Wirklichkeit finden sie es toll. Dadurch weiß doch die ganze Nachbarschaft, daß in diesem Haus ein Mädchen wohnt, das heißbegehrt ist. Das einzig Blöde ist, daß es so schwer ist, das Papier wieder aus den Bäurnen zu kriegen. Am schlimmsten ist es, wenn es über Nacht anfängt zu regnen, dann kriegt man das Zeug überhaupt nicht wieder weg." "Los, wir gehen noch zu mir", schlug Art vor. "Ohne mich, ich muß nach Hause", sagte Tom. "Du bist ein richtiger Langweller geworden", meckerte Art. "Bis dann." Tom blieb standhaft. Er wußte ganz genau, daß Connie morgen herausfinden würde, daß Art hinter den verkleideten Bäumen steckte. Dann würden Art und sie ständig zusammen rumhängen. Tom stellte sich vor, wie er die Bäume in Brittas Garten einwickelte. Das wäre unmöglich! Britta würde es infantil finden. Außerdem machte man so etwas nicht auf dem Grundstück eines Professors. Eigentlich hatte sich Tom vorgenommen, vor dem Einschlafen noch in seinem Biologiebuch zu lesen. Er wollte bei dem Test am Montag unbedingt gut abschneiden. In der Zeitung hatte er einmal gelesen, daß sich Dinge, die man abends lernte, über Nacht besonders gut einprägen. Heute war aber so viel passiert, daß Tom schon nach dem ersten Absatz die Augen zufielen. Das Biobuch rutschte ihm - 31 -
aus der Hand und knallte auf den Boden. Er schreckt hoch, legte das Buch auf den Nachttisch, knipste das Licht aus und schlief auch schon wieder ein. Als Tom morgens aufwachte und aus dem Fenster sah, war seine Überraschung bestimmt noch größer, als die bei Connies Familie. Unten auf dem Rasen stolzierte doch tatsächlich Jupiter, der Pfau, herum. Er war zurückgekommen! In der Zwischenzeit schien er noch größer geworden zu sein. Auch seine Schwanzfedern waren ein Stück gewachsen und schillerten in leuchtenden Farben. Tom rannte im Pyjama die Treppe hinunter, schnappte sich im Vorbeilaufen eine Tüte Puffreis und stürzte nach draußen. Die beiden Hennen, Hera und Juno, waren auch wieder da und fraßen Geranien. Tom hätte am liebsten vor Freude laut geschrien. Fieberhaft suchte er in seinem Zimmer nach der Visitenkarte von Professor Doktor Holmstrom. Er fand sie in der obersten Schublade seines Schreib-tisches. Tom rannte zum Telefon. "Hey, mein Sohn, wen rufst du denn um diese Zeit an?" fragte seine Mutter erstaunt. "Es ist doch erst halb sieben!" "Die Pfauen sind wieder da." Toms Stimme klang vor Aufregung ganz heiser. "Das darf doch nicht wahr sein!" rief Mrs. Roberts verzweifelt. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Britta, frisch und ausgeschlafen. Offensichtlich hatte er mit seinem Anruf bei den Holm-stroms niemanden aus dem Bett geholt. Einen Moment lang war Tom so aufgeregt, daß er gar nicht reden konnte. "Hallo, wer ist denn da?" fragte Britta verwundert. "Hey", krächzte Tom", hier ist Tom Roberts." "Möchen Sie meinen Vater sprechen?" Britta sagte sein - 32 -
Name offenbar gar nichts. "Gehören Sie zu den Studenten, die an der Exkursion teilnehmen?" "Nein", stotterte Tom. "Ich bin derjenige, dem die Pfauen neulich zugeflogen sind. Und jetzt sind sie schon wieder hier." "Ach, jetzt weiß ich, wer du bist. Die sind schon wieder bei euch? Was machen wir denn da? Mein Vater ist nicht hier, denn er holt gerade ein paar Leute ab, die mit ihm auf Exkursion gehen wollen. Er hat das Auto. Nachher kommt er nochmal kurz vorbei, aber nur ganz kurz. Vor heute nachmittag kann er die Ausreißer gar nicht abholen." "Vielleicht kann ich sie ja vorbeibringen." Toms Herz raste bei dem Gedanken, Britta heute noch zu sehen. Mit ihr zusammenzusein war so furchtbar aufregend, selbst jetzt, wo er nur am Telefon mit ihr sprach. "Es ist aber gar nicht so einfach, sie einzufangen." ."Ich versuch's mal. Gib mir eure Adresse. In der Garage haben wir ein paar große Kartons rumstehen. Da drinnen kann den Tieren nichts passieren. Ich frage mal den Jungen von nebenan, ob er mir beim Einfangen hilft. Vielleicht klappt es ja." Wenn du dir die Mühe machen willst, finde ich das ganz toll." Britta nannte ihm ihre Adresse und beschrieb den Weg zu ihrem Haus.
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3. KAPITEL Tom rannte in die Garage und suchte nach den Pappkartons. Ein Glück! Sie waren groß genug für die Pfauen. Dann lief er zu den Nachbarn und fragte Mrs. Candall, die in der Küchb gerade das Frühstück zubereitete, ob ihr Sohn Bobby schon wach sei. "Wenn Bobby mir hilft, die Pfauen einzufangen, zahle ich ihm einen Dollar für jeden, den er schnappt." Tom war so aufgeregt, daß er jetzt erst merkte, daß er immer noch seinen Pyjama anhatte. "Wenn er Geld verdienen kann, steht Bobby vielleicht auf", sagte Mrs. Candell. Sie holte ihren Sohn, der völlig verschlafen und zersaust in die Küche kam."lst mir noch zu früh", nörgelte er."ich gehe wieder ins Bett." "Ich gebe dir zwei Dollar", bettelte Tom. "Naja, dafür..." "Du brauchst dich nicht extra anzuziehen. Ich habe ja auch noch meinen Pyjama an. Komm, ich habe es eilig." Tom und Bobby schlichen sich an die Pfauen heran. "Laß uns zuerst den Hahn fangen", entschied Tom. "Sonst fliegt er wieder aufs Dach." Er lief in die Küche, nahm das Brotmesser und schnitt kreisförmige Löcher in die Deckel der Kartons. Dann holte er extra starkes Klebeband und stellte die Kisten vor der Garagentür bereit. Die Pfauen tummelten sich inzwischen munter in Mrs.Roberts Blumenbeeten. Tom beschloß, Jupiter selbst zu fangen. Vorsichtig pirschte er sich heran. - 34 -
Es war ganz einfach. Jupiter sah Tom neugierig an, er ahnte nichts. Tom konnte ihn so greifen, wie er es bei Britta und Mr. Holmstrom gesehen hatte. Er stopfte Jupiter in den Kasten und achtete darauf, daß er die Schwanzfedern der Pfaus nicht beschädigte. Um den Deckel zu schließen, versuchte er, Jupiters Kopf durch das Loch zu strecken, aber die Öffnung war zu klein. "Bobby, komm schnell her, du mußt das Vieh mal eben festhalten, damit ich das Loch größer machen kann", brüllte er. Während Bobby den zeternden Vogel festhielt, schnitt Tom das Loch größer. Jetzt konnte er den Deckel zuklappen und an der Seite festkleben. Jupiter schien es ganz bequem zu haben. Ungeduldig dachte Tom an Britta. Wenn sich die Hennen auch so problem-los einfangen ließen würde er sie in einer halben Stunde sehen. Bobby hatte schon eine der Hennen gefangen, die sie nun in den zweiten Karton steckten, während die andere draußen ganz friedlich weiterpickte. Sie einzufangen, war auch ein Kinderspiel. Vielleicht war es diesmal so einfach gewesen, weil keine Zuschauer da waren. Tom hob die Kartons in den Kombi seines Vaters und zahlte Bobby den versprochenen Lohn für seine Hilfe. Schnell zog er sich an, denn die Vögel veranstalteten ein irres Gekreisch in ihren Kisten. Er bat seine Mutter um den Autoschlüssel. "Sei vorsichtig, Tom, diese Vögel sind so unruhig, daß sie dich stören könnten, während du fährst. Laß dich nicht von ihnen ablenken! Ich verstehe überhaupt nicht, warum diese Leute ihr Viehzeug nicht selber abholen." Brittas Vater ist mit dem Auto unterwegs", erklärte Tom. "Na gut, aber komm bitte sofort zurück." Auf der Fahrt ärgerte sich Tom, daß er sich nicht mehr Zeit zum Anziehen genommen hatte. Er hätte sich gern noch die Haare gewaschen und sich rasiert, um gut auszusehen, wenn er - 35 -
Britta traf. Im Rückspiegel sah Tom Jupiters bösen Blick. Das Federkrönchen auf seinem Kopf zitterte vor Wut. Der Weg, den Britta ihm beschrieben hatte, führte durch ein Obstanbau-gebiet. Tom bog an der Stelle, die Britta genannt hatte, von der Hauptstraße ab. Die Gegend hier wirkte sehr ländlich. Irgendwann sah Tom die Einfahrt zum Grundstück der Hommstroms. Der Weg führte zu einem hübschen Farmhaus. Vor der Haustür lief noch ein weiterer Pfau herum, der ganz weiß war. Britta mußte am Fenster gestanden und auf ihn gewartet haben. Sobald Tom den Motor abstellte, kam sie aus dem Haus gelaufen. Zwei kleine, strohlblonde Jungen rannten hinter ihr her. Die beiden waren Zwillinge und mußten ihre Brüder sein. Es war unglaublich, wie umwerfend Britta schon wieder aussah. Ihr volles Haar hatte sie am Hinterkopf zusammengebunden und zu einem dicken Zopf geflochten. So ähnelte sie einer griechischen Göttin. Britta trug einen grünen Jogging-Anzug, der ihre schlanke Figur betonte. Tom fand sie heute noch viel schöner als er sie in Erinnerung hatte. Britta entdeckte die Pfauen in Toms selbstgebastelten Käfigen. Sie brach in schallendes Gelächter aus. Tom stieg aus. Brittas Gegenwart, ihre Schön-heit und ihr Lachen verzauberten ihn so sehr, daß er keinen Ton heraus-brachte. "Das ging ja wirklich schnell. Und du hast alle drei! Warte, bis mein Vater diese Kisten siehtl Das haut ihn glatt um." Tom hatte die Sprache wiederge-funden. "Vielleicht sollten wir sie doch lieber da rausholen. Ich habe extra aufgepaßt, daß ihre neuen Federn nicht beschädigt werden." "Das war sehr schlau." Britta blickte Tom mit ihren strahlend blauen Augen an. Tom wurde es ganz heiß. Gemeinsam hoben sie die Kisten aus dem Wagen, rissen die - 36 -
Klebestreifen ab und zogen den Vögeln die Kartondeckel über die Köpfe. "So, zur Strafe werde ich die drei erstmal ins Vogelhaus stecken", sagte Britta. Hinter dem Haus gab es eine riesige Voliere mit zahlreichen exotischen Vögeln."Was sind das alles für welche?" fragte Tom. "Da sind ganz seltene Vogelarten drunter. Daddy zieht sie groß. Er studiert ihre Verhaltensweisen." "Der da, mit den vielen Farben, was ist das für einer?" "Das ist eine Waldschnepfe. Er ist unheimlich schön, nicht?" In diesem Moment hörten sie, wie Brittas Vater mit dem Auto vorfuhr. Zwei weitere Wagen folgten. Brittas Vater stieg aus. "Ein Auto fehlt noch, dann sind wir komplett", sagte er. "Wir machen heute eine Exkursion nach Año Nuevo", erklärte Britta. "Wir hoffen, daß wir See-Elefanten beobachten können." "See-Elefanten!" rief Tom. "Die habe ich noch nie gesehen." "Dann komm doch mit", schlug Britta vor. "Ich frage Dad." Sie lief zu ihrem Vater, der inzwischen von seinen Studenten umringt war. Alle waren aus ihren Autos ausgestiegen. Auf der Veranda erschien eine hübsche blonde Frau, die sicher Brittas Mutter war, mit einer Kanne Kaffee und einem Teller Kuchen. "Jungs,da gibt's was zu essen",rief einer der Studenten. "Dad", fragte Britta. "Weißt du, was schon wieder passiert ist? Jupiter ist mit seinem Harem noch einmal ausgerückt, und zwar genau dahin, wo er neulich war. Wie heißt du?" Sie drehte sich zu Tom um. "Tom Roberts." Er fühlte sich plötzlich ganz unbedeutend. Anscheinend hatte er sie überhaupt nicht beeindruckt. "Tom hat sie zurückgebracht. Und er ist noch nie in Año Nuevo gewesen. Haben wir noch Platz für ihn? Kann er - 37 -
mitkommen?" Brittas Vater runzelte die Stirn. "Eigentlich darf ich niemanden mitnehmen, der nicht bei uns eingeschrieben ist. Das geht aus versicherungstech-nischen Gründen nicht." Britta war enttäuscht. "Dad, wo er doch so viel Mühe mit den Pfauen gehabt hat." Mr. Holmstrom überlegte und nickte dann. "Naja Tom, nach der vielen Arbeit, die du unseretwegen hattest, hast du wohl wirklich eine Belohnung verdient. Ich glaube, ich kann dich, als meinen persönlichen Gast unter die Teilnehmer schummeln." Britta nahm ihren Vater in die Arme. "Danke, Daddy", sagte sie und lächelte Tom an. Der wurde vor Aufregung ganz rot. Es sah doch so aus, als ob ihr wirklich etwas daran lag, daß er mitkam. Sie mußte ihn also wenigstens ein bißchen mögen. "Ich hole dir ein Fernglas", rief Britta und rannte ins Haus. Mit vier Autos wollten sie zu der Exkursion fahren. Nachdem die Studenten Kaffee und Kuchen verputzt hatten, stiegen sie ein. Brittas Vater sprachen sie mit "Dr. Holmstrom" an. Er sah sich um, ob in irgendeinem der Wagen noch ein freier Platz war. "Ihr könnt doch noch jemanden mitnehmen, oder?" Tom durfte einsteigen. Er fühlte sich unwohl zwischen all den Studenten, und Britta fuhr nicht einmal mit ihm im selben Auto. "Gehörst du zu unserem Seminar?" fragte ein dickes Mädchen. "Nein, ich bin nur ein Freund von Britta." "Ach so, dann bist du bestimmt Joe", vermutete jemand. Tom versteifte sich. Wer war Joe? Brittas Freund? Tom fühlte sich fehl am Platze. Die anderen beachteten ihn nicht mehr. Etwa eine dreiviertel Stunde lang fuhren sie auf einer kurvigen Straße durch den Redwood Forest. Tom wünschte - 38 -
sich, neben Britta zu sitzen. Nachdem sie die Berge hinter sich hatten, kamen sie auf die Küstenstraße, von der aus man einen wunderschönen Blick auf den Pazifischen Ozean mit seinen zahlreichen Sandbuchten hatte. Nach ein paar Kilometern bogen sie in eine Nebenstraße ab und parkten. Alle stiegen aus. Tom beeilte sich, um von seinen Mitfahrern wegzukommen und Britta zu finden. "Wo sind die Robben?" fragte er, als er sie entdeckt hatte. "Ach, da bist du ja." Brittas Lächeln und ihre Grübchen verzauberten ihn. "Ich hatte gehofft, wir beide könnten in einem Auto fahren." "Ich auch", sagte Tom. "Außer dir kenne ich ja sonst keinen." Britta hängte ihm das Fernglas um den Hals. Ihre Bewegungen waren so leicht und natürlich. Am liebsten hätte er ihre Hände genommen und festge-halten. Diese Britta hatte ihn total in ihren Bann gezogen. Brittas Vater teilte Gruppen ein und erklärte, was sie zu sehen bekommen würden. Zuerst wollten sie alle möglichen Arten von Enten an einem Süß-wasserteich beobachten. Danach sollten sie nach Lerchen und anderen Singvögeln Ausschau halten. Erst später würden sie an den Klippen die Seevögel betrachten. Zum Schluß des Ausflugs würden sie zum Strand hinuntergehen, wo die See-Elefanten ihre Jungen aufzogen. "Interessierst du dich für Vögel?" wollte Britta von Tom wissen. "Seit heute." Tom grinste. "Aber frag' mich nicht, ob ich Ahnung davon habe. Ich habe zwar in der Schule Bio als Leistungskurs gewählt, aber bis jetzt haben wir noch nichts über Vögel gelernt. Im Moment nehmen wir gerade den Blutkreislauf des Menschen durch." - 39 -
Britta lachte. "Das hier sind alles Ornithologen. Heute geht's aber nicht um das Innere der Vögel. Sie sollen lernen, die verschiedenen Arten zu erkennen und ihr Verhalten und ihre Gewohnheiten zu beobachten." "Du studierst aber doch noch nicht, oder?" "Nein, noch lange nicht. Ich gehe in die zehnte Klasse." "Ich bin im letzten Semester in der Oberstufe", sagte Tom. Leider konnte er ihr nicht erzählen, daß er sogar Oberstufensprecher war, das wäre zu angeberisch. Sie machten sich auf den Weg zum Teich. Die meisten Jungen hingen um Britta rum, nannten sie Prinzessin und alberten mit ihr herum. Die lnsider-sprüche und -witze konnte Tom natürlich nicht verstehen, deshalb fühlte er sich wieder ausgeschlossen. Einmal, als sie an eine matschige Stelle kamen, nahm einer der Studenten Britta auf den Arm und trug sie hinüber. Genau dieser Student verunsicherte Tom völlig. Er war der Superstar der Truppe. Immer, wenn es etwas Interessantes zu sehen gab, war er es, der es zuerst entdeckte und es laut verkündete. "Zur Linken ein Eisvogel im Schilf!" schrie er gerade, als sie am Teich ankamen. Alle rissen sofort ihre Ferngläser hoch und starrten in die angegebene Richtung. Dr. Holmstrom hatte ein besonders starkes Fernglas mit einem Stativ. Die Studenten stellten sich der Reihe nach auf, um hindurchgehen zu können. "Schau dir den Eisvogel auch mal an. Er sieht toll aus", forderte Britta Tom auf. Tom sah einen Vogel mit einem ziemlich großen Kopf und einem auffälligen Federkamm. Mitten auf der Brust hatte er einen leuchtenden Streifen. "Toll. Von so nah habe ich noch nie einen Vogel gesehen." Tom hatte sich allerdings auch noch nie sonderlich, für Vögel - 40 -
interessiert. Doch jetzt schienen sie ganz schön in sein Leben einzugreifen, angefangen mit den Pfauen. "Vielleicht fange ich nächstes Jahr an, am staatlichen College Bio zu studieren", sagte er zu Brittas Vater. "Dann ist das heute ja ein guter Auftakt für dich", meinte Dr. Holmstrom. Er hob die Stimme und hielt seinen Studenten einen kleinen Vortrag über die unterschiedlichen Entenarten. Tom suchte mit dem Fernglas die Wasseroberfläche ab. Hunderte von verschiedenfarbigen Enten schwammen, quakten und tauchten dort. Er drehte sich zu Britta um. "Dein Vater kann wahrscheinlich jede dieser Enten beim Namen nennen, oder? Und du womöglich auch." "Wenn du sooft hier wärst wie wir, würdest du sie auch alle kennen. Dieses ist übrigens die beste Jahreszeit, um Enten zu beobachten, weil sie jetzt alle zum Überwintern in Kalifornien eingetroffen sind. Ich werde dir sagen, wie man einige von ihnen erkennen kann." Britta zeigte auf die Stockente mit dem grünen Hals und den gekräuselten Schwanzfedern, auf die Bergente, die an den Seiten schneeweiß war und die Büffelkopfente, die man am schwarz-weiß gefleckten Kopf erkennen konnte. "Und das hier ist die Löffelente. Du kannst selber sehen, woher sie ihren Namen hat." Sie zeigte auf eine Ente, deren Schnabel wie ein Löffel geformt war. "So, Tom, wenn wir heute nachmiftag wieder hier vorbeikommen, werde ich testen, ob du all diese Enten wiedererkennst." Britta sah ihn mit einem strengen Lehrerinnen-Blick an. Sie mußten beide darüber lachen. "Hey, Britta, hast du einen neuen Freund?" rief ein Mädchen aus der Gruppe plötzlich. "Nicht schlecht!" Britta ließ sich überhaupt nicht verunsichern. Sie sah Tom an und lächelte. "Eine Rohrdommel!" meldete "Mr. Superstar" lautstark. - 41 -
"Ungefähr eineinhalb Meter links neben dem Schilf!" "Seht sie euch gut an", riet der Professor. "Sie zeigt sich äußerst selten, so scheu ist sie. Vielleicht werdet ihr nie wieder eine Rohrdommel zu sehen bekommen." "Das ist wirklich ein Ereignis", flüsterte Britta. "ich habe auch noch nie eine gesehen." Sie griff Toms Arm und zog ihn in die Schlange vor dem Fernrohr. Tom wurde es ziemlich heiß, weil Britta ganz dicht hinter ihm stand. Ihr Gesicht berührte seine Schulter. Ganz nah war ihm ihre zarte Pfirsichhaut, und er konnte genau die dichten, langen Wimpern erkennen, die ihre klaren, blauen Augen umrahmten. Als sie zu ihm aufsah, fühlte er sich wie magisch von ihr angezogen. Nur zu gern hätte er ergründet, was sich in diesem Blick verbarg, was sie fühlte und mochte und worüber sie sich freute. Ein neuer Abschnitt in Toms Leben hatte begonnen, und das machte ihn froh. Sanft drückte Britta Toms Arm. "Du bist dran." Außer einem Dickicht von Schilf und Gräsern erkannte Tom überhaupt nichts. In seiner Aufregung stieß er gegen das Fernglas und verstellte es versehentlich. "Mensch, du bist dagegengekommen", meckerte auch sofort jemand. Dr. Holmstrom korrigierte die Einstellung. Tom wurde beiseite gedrängt. Jetzt war-Britta an der Reihe. Tom konnte den Blick nicht von ihr lösen Tom blieb dicht neben Britta, als sie vom Teich weg über die Wiesen gingen. Von Dr. Holmstromse Vortrag über Finken, Lerchen und Spatzen kriegte er nicht viel mit. Seine Gedanken kreisten um Britta. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er das Gefühl, ein Mädchen zu lieben. Janine hätte er letztes Jahr zwar sehr gemocht, und er wäre gern mit ihr gegangen. Aber das konnte man nicht Liebe - 42 -
nennen, das wußte er jetzt. Verliebtsein war ein wahnsinniges Gefühl. Für nichts und niemand anderen außer der Person, die man liebte, hatte man Interesse. Die Gruppe war inzwischen zur Steilküste gegangen. Tief unter ihnen lag der Strand. "Kommt man da irgendwie runter?" fragte Tom. "Klar. Ich war schon da. Vielleicht können wir unseren Lunch da unten essen", schlug Britta vor. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Es mußte Mittagszeit sein. "O je, ich habe gar nichts zu essen mit", sagte Tom. "Kannst du ja auch gar nicht, du wußtest ja nichts von dem Ausflug heute. Du kannst von uns etwas bekommen. Dad packt immer mehr ein, als wir zu zweit aufessen können." Britta fragte ihren Vater, ob sie nicht Mittagspause machen könnten. Alle waren einverstanden. Britta holte Brote und Äpfel von ihrem Vater. Dann zeigte sie Tom einen schmalen Pfad, auf dem man zum Strand klettern konnte. Toms Hoffnung, mit Britta dort unten allein sein zu können, erfüllte sich nicht. "Mr. Superstar" entdeckte sie, als sie sich gerade an den Abstieg machten und schrie los. "Kommt, wir klettern mit der Prinzessin da hinunter." Selbst unterwegs mußte er mit seinem Wissen angeben. Lautstark wies er die anderen auf Vögel hin, die in den Klippen brüteten. Ab und zu hatte Tom auf dem Weg nach unten Gelegenheit, Britta die Hand zu reichen oder ihr sogar den Arm um die Taille zu legen, um ihr über einen Felsbrocken zu helfen. Irgendwie gelang es Tom, für sich und Britta hinter einem Felsvorsprung ein ungestörtes Plätzchen zu finden. "Diese Studenten hängen ja wie Kletten an dir." Britta zog die Nase kraus und lächelte müde. "Das machen sie nur, weil sie bei meinem Vater Pluspunkte sammeln wollen. Ich finde es langsam ein bißchen nervig, schließlich bin ich - 43 -
kein kleines Kind mehr." Tom betrachtete sie und stellte fest, daß sie wirklich einer Göttin glich. Aber er sagte nichts. Stattdessen biß er von seinem Brot ab. Am liebsten hätte er sie an sich gezogen und geküßt. Bevor er jedoch nicht genau wußte, ob Britta das auch wollte, würde er es auf keinen Fall tun. Nur zu genau war ihm die Szene in Erinnerung geblieben, wie er im letzten Jahr versucht hatte, nach einem Tanzfest in der Schule Janine zu küssen. Der hatte das gar nicht gefallen, weil sie in Craig Matthews verliebt gewesen war. Einen solchen Mißerfolg wollte er bei Britta nicht erleben. Schließlich gab es diesen Joe, der ihr Freund sein mußte. Tom beschloß, die Dinge leicht zu nehmen. Seine Gefühle für Britta durften auf keinen Fall tiefer werden, als sie es jetzt schon waren. Nach dem Essen liefen sie ein Stück am Wasser entlang. Dann mußten sie wieder nach oben klettern, denn für die Exkursion stand noch viel auf dem Programm. "Am Strand gefällt es mir am allerbesten", sagte Britta zu Tom, als sie oben angekommen waren." Ich glaube, ich könnte mein ganzes Leben am Meer verbringen." "Geht mir genauso", antwortete Tom. "Am Meer habe ich immer das Gefühl von unendlicher Weite. Außerdem mag ich das Meeresrauschen und den Geruch von Salz und Tang." Britta streckte die Hand aus und zog Tom über den Rand der Klippe. Ihr Lächeln schien Tom sagen zu wollen, wieviel Gemeinsames sie miteinan-der hatten. Tom spürte fast körperlich, wie seine Liebe zu Britta immer tiefer wurde. "Gleich kommen wir an eine Stelle, wo du so tun kannst, als ob du Lawrence von Arabien wärst", sagte Britta. Riesige Sänddünen erhoben sich vor ihnen, denen der Wind bizarre - 44 -
Formen und Muster gegeben hatte. Sie rannten über die Hügel und durch die Täler, wobei ihre Füße tief in den weichen Sand einsanken. Der tiefblaue Himmel über den goldgelben Dünen ließ Brittas Augen noch mehr leuchten. Sie sah wunderschön aus. Die anderen Exkursionsteilnehmer trotteten hinter ihnen her. "Jetzt müßt ihr vorsichtig sein", mahnte Dr. Holmstrom. "Hier gibt es Robben, die können gefährlich werden." Sie hatten die Strandwärter-Station erreicht. Dr. Holmstrom wies sich mit einer Karte aus, daß er Biologe sei und die Aufzuchtplätze der See-Elefanten betreten dürfe. Vorsichtig näherten sie sich dem Strand. Große Felsbrocken lagen dort, vom Meer ganz rund geschliffen. "Die Robben sind manchmal völlig vom Sand zugeweht. Es kann passieren, daß man versehentlich auf eine drauftritt", warnte Dr. Holmstrom. Britta und Tom entdeckten eine riesige Robbe, die an einem geschützten, sonnigen Plätzchen hinter einer Düne lag. Mit den Flossen schaufelte sie Sand auf ihren Rücken. "Hier ist eine, Dad", rief Britta. Dr. Holmstrom betrachtete prüfend das Tier. Es war eine trächtige, weibliche Robbe. Unten am Strand tummeite sich eine ganze Herde von SeeElefanten. Brittas Vater zeigte auf ein großes, männliches Tier. Es hatte eine komische, faltige Nase, die ein bißchen wie ein Rüssel aussah. Deswegen hießen sie also See-Elefanten. In diesem Moment kam ein weiterer Bulle hinzu. Es sah komisch aus, wie schnell das riesige, unförmige Tier auf seinen Flossen über den Strand robbte. Der erste, der größere Bulle, streckte den Kopf hoch hob die rüsselartige Nase, riß das Maul auf und brüllte laut, um den Rivalen zu vertreiben. Tom hatte das Gefühl, in eine andere Welt versetzt zu sein. - 45 -
Irgendwie kam es ihm vor, als ob er selbst sich durch den heutigen Tag verändert hatte. Brittas Vater erklärte, daß die Robbenbabys bald geboren würden und ungefähr bis März hierblieben. "Der große Bulle da ist so aggressiv, weil er sich hier am Strand aufhalten und seine Familie bewachen muß, bis die Jungen selbständig sind. Zur Zeit kann er also nicht raus ins Meer und sich seine Fische fangen. Bestimmt hat er ziemlichen Hunger", fügte Dr. Holmstrom hinzu. "Guck mal durch das Fernglas zu der kleinen Insel da hinten, Tom", sagte Britta. "Da siehst du eine richtige Robbenstadt." Tom richtete sein Fernglas auf die kleine Insel, die etwa hundert Meter vom Strand entfernt lag. "Das gibt's ja gar nicht", rief er verblüfft. "Die liegen ja fast übereinander." Nachdem sie genug von den Robben gesehen hatten, gingen sie über die Dünen und Klippen am Süßwassersee vorbei zurück zu den Autos. "Ich wäre froh, wenn ich mit dir im selben Auto sitzen könnte", flüsterte Tom Britta ins Ohr, als sie am Parkplatz angekommen waren. "Klar, wir steigen einfach in Dads Auto. Dann muß eben einer von denen, die vorhin hier mitgefahren sind, in das Auto einsteigen, in dem du ge-sessen hast." Britta lächelte Tom verschwörerisch an. Auf dem Heimweg saß Tom ganz dicht neben Britta, spürte ihre Wärme und ließ sich vom Klang ihrer Stimme verzaubern. Trotz aller guten Vorsätze verliebte er sich immer mehr in sie. Sie unterhielten sich über die Schule, welche Unterrichtsfächer sie gewählt hatten und weiche Vorzüge und Verdienste die jeweilige High School hatte. Natürlich redeten sie auch über ihre Familien. Britta erzählte von ihren beiden jüngeren Zwillingsbrüdern, Jackie und Jamie, und Tom berichtete von Sandy. - 46 -
Als sie bei Brittas Haus ankamen, wußten sie schon ein wenig mehr voneinander. Tom hatte beschlossen, daß Britta seine Freundin werden sollte. Inzwischen war es schon spät am Nachmittag. Als Tom das Auto seiner Eltern vor dem Haus stehen sah, wurde er mit einem Schlag aus der Traumwelt gerissen, in der er den ganzen Tag gelebt hatte. Er hatte den Wagen einfach so da stehen lassen, und weder seine Mutter noch sein Vater wußten, wo er war. Britta hatte ihn total verhext. Jetzt saß er in der Tinte! "Willst du noch ein bißchen mit reinkommen?" fragte Britta. "Dann kannst du dich noch ein wenig ausruhen, bevor du,nach Hause fährst." "Das geht leider nicht. Ich bin schon den ganzen Tag weg, und meine Eltern wissen überhaupt nicht, wo ich bin." Tom war nervös geworden. "Außerdem muß ich heute abend arbeiten. Ich habe einen Job in einer Pizzerla." Zögernd blickte er Britta an. "Vielleicht kann ich dich ja demnächst mal anrufen. Am nächsten Sonnabend habe ich frei. Hast du Lust, mit mir ins Kino zu gehen?" Britta starrte nachdenklich ins Leere. Hatte sie eventuell schon eine Verabredung mit Joe? "Ja, klar, warum nicht?" sagte sie dann. Es hörte sich so an, als ob der Gedanke an ein Treffen mit Tom ihr vorher noch nicht selbst gekommen war. "Gut, dann rufe ich dich Mitte der Woche an." Auf dem Nachhauseweg strahlte Tom vor Freude. Die Liebe zu Britta schien einen ganz neuen Menschen aus ihm gemacht zu haben. Ihretwegen würde er noch große Taten vollbringen. Und eines Tages, wenn er erstmal an der staatlichen Uni studierte, würde - 47 -
er sich zu einer richtigen lntelligenzbestie entwickeln. Er würde immer als erster seltene Tiere ausfindig machen und mit Brittas Vater auf bestem Fuß stehen. Später dann wollte er Britta heiraten und im-mer und ewig mit ihr zusammenbleiben, Seine Zukunft lag klar vor ihm. Und das verdankte er dem unternehmungslustigen Pfau Jupiter. Sein Vater stürmte aus der Haustür, als Tom in die Einfahrt bog. "Wo bist du den ganzen Tag mit dem Auto gewesen?" schimpfte er. Die rosa Wolken, auf denen Tom eben noch geschwebt hatte, waren wie weggeblasen. Leider hatte ihn die grausame Wirklichkeit wieder. Hinter seinem Vater erschienen Sandy und Mrs. Roberts mit anklagenden Gesichtern in der Tür. "Deinetwegen konnte mich keiner zum Ballettunterricht fahren", zeterte Sandy. "Was glaubst du eigentlich, wie ich meine Einkäufe ohne Auto erledigen soll?" schimpfte Mom. "Dein Vater hatte einen wichtigen geschäftlichen Termin heute nachmittag. Auch er hat das Auto dringend gebraucht." "Steve und Art waren da. Mit denen warst du fest verabredet und hast dich nicht sehen lassen", fügte Mr. Roberst noch hinzu. Zaghaft setzte Tom zur Verteidigung an." Ich habe nicht daran gedacht, weil ich doch diese Pfauen dahin zurückbringen mußte, wo sie hingehören. Und der Besitzer, Dr. Holmstrom, machte gerade eine Exkursion zu den See-Elefanten. Er hat mich eingeladen. Und ich hab doch noch nie welche gesehen. Da bin ich einfach mitgefahren und habe ganz vergessen, daß ihr das Auto braucht." "Für einen ganzen Monat lang darfst du das Auto jedenfalls nicht mehr fahren", verkündete Dad. "Strafe muß sein." - 48 -
"Einen ganzen Monat?" "Wir haben uns Sorgen gemacht", hielt ihm seine Mutter vor. "Wir wußten ja nicht einmal, wo du überhaupt hingefahren bist." "Nach Berryville", antwortete Tom. "Jedenfalls tut es mir furchtbar leid. Es war unüberlegt von mir." "Das kannst du wohl sagen", keifte Sandy. "Ich mußte Vicky anrufen, damit sie mich mitnimmt. Wir sind zu spät gekommen und haben die Aufwärmübungen versäumt. Deinetwegen haben wir jetzt beide eine Muskelzerrung. Tom fühlte sich miserabel. "Ich muß jetzt los. Mein Job in der Pizzeria fängt bald an." "Dann beeil dich, denn du mußt zu Fuß gehen", erinnerte ihn sein Vater. "Und das mußt du den ganzen Monat lang." Tom fiel seine Verabredung mit Britta am nächsten Samstag ein. Zu blöd, daß er jetzt kein Auto hatte.
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4. KAPITEL Tom rannte nach oben in sein Zimmer. Die ganze Familie blickte ihm verärgert nach. Auf seiner Kommode lag eine Postkarte, die wohl heute angekommen war. Tom drehte die Karte um. "Vielen Dank für deinen Brief. Ich freue mich schon darauf, dich in ein paar Wochen wiederzusehen. Wir gehen hier fast täglich an den Strand. Ich habe unheimlich viel erlebt. Liebe Grüße, Janine." Nun hatte sie ihm also doch noch geschrieben, wenn auch nur eine Karte, was im Vergleich zu seinem seitenlangen Brief ziemlich mickrig war. Was für eine blöde Situation! Janine würde erwarten, daß Tom immer noch in sie verknallt war, aber inzwischen hatte er sich in eine andere verliebt. Craig Matthews, Janines alte große Liebe, würde schon auf der Uni sein, wenn sie wiederkam. Janine dachte sicher, daß Tom dann mit ihr gehen würde. Aber jetzt, wo er Britta kennengelernt hatte, interessierte ihn Janine nicht mehr. Wie peinlich! Und dann war da ja auch noch diese Jennifer, die dauernd hinter ihm her war. Manchmal kam aber auch wirklich alles auf einmal. Tom zog rasch den weißen Kittel mit dem Schriftzug der Pizzeria auf der rechten Brusftasche an und hetzte aus dem Haus. Er lief zum Restaurant. Unterwegs wurde ihm klar, wie verfahren seine Lage war. Er hatte Britta versprochen, daß er - 50 -
sie anrufen würde. Was sollte er nur machen? Als er an der Pizzeria ankam, war er total fertig. Er holte seine Kochmütze aus dem Schrank. Heute war er bestimmt fünfzehn Kilometer gelaufen, um die Robben zu sehen. "Mit mir ist heute nicht viel los", erklärte er seinen Kollegen. Während er den Pizzateig herumschleuderte, versuchte er, gutgelaunt auszusehen. In Wirklichkeit grübelte er darüber nach, wie er die Verabredung mit Britta retten konnte. Eventuell ließ sich etwas mit Steve und Sarah arrangieren. Wenn man einfach ein Treffen zu viert daraus machen würde, könnten sie mit Steves Auto fahren. Britta und er würden dann hinten sitzen, was gar nicht so schlecht wäre. Wenn man wirklich so verliebt war wie er, ergab sich dabei sicher eine Gelegenheit, sie zu küssen. Aber irgendwie widerstrebte es Tom, bei seiner ersten Verabredung mit Britta, Steve und Sarah dabei zu haben. Wer weiß, worüber alles geredet würde, überlegte Tom. Steve und ich haben so viel Blödsinn angestellt, davon braucht Britta nichts zu wissen. Er wollte nicht, daß Britta ein falsches Bild von ihm bekam, gerade jetzt, wo er doch so gute Vorsätze gefaßt hatte. Außerdem wollte er nicht, daß die Leute in seiner Schule etwas von Britta erfuhren. Zunächst einmal mußte er sie selbst besser kennenlernen. Sie sollte sein Geheimnis bleiben. Keiner seiner Mitschüler sollte sich über seine Liebe zu Britta mit irgendwelchen dummen Sprüchen lustig machen. Den ersten Beweis dafür, das er ein ernstzunehmender Mensch geworden war, würde Tom am nächsten Mittwoch bei der Oberstufenvollversammlung liefern müssen. In den nächsten Tagen las er immer wieder die Tagesordnung durch, die er gemeinsam mit dem Direktor aufgestellt hatte. Manchmal stand er in seinem Zimmer vor dem Spiegel und versuchte, so wichtig wie möglich zu blicken. - 51 -
Mit einem Hammer, den er sich heimlich aus der Werkzäugkiste geholt hatte, klopfte er auf die Kommode. "Die Vollversammlung der Oberstufe ist hiermit eröffnet", sagte er laut und deutlich. So hatte er es jedenfalls im Fernsehen gesehen. "Hast du Besuch?" Neugierig steckte Sandy ihren Kopf durch die Tür. "Wie oft soll ich dir noch sagen, daß du in meinem Zimmer nichts zu suchen hast!" schimpfte Tom. Die Vollversammlung fand im großen Hörsaal statt. Tom war schon früh da. Er war ziemlich aufgeregt. Hoffentlich würde er es schaffen, den Überblick zu behalten. Immerhin gab es zweihundertundfünfzig Oberstufenschüler. Wenn die alle versammelt waren, konnte es schon mal hektisch zugehen. Sarah und Steve kamen auch etwas früher. Sarah sollte das Protokoll schreiben. Die Tagesordnung kannte sie. Während sie darauf warteten, daß die Schüler eintrafen, bereute es Tom zutiefst, jemals als Sprecher kandidiert zu haben. Das hier, war eigentlich überhaupt nicht sein Ding. Da kam Betty Babcock in den Hörsaal. Sie hatte kein Amt, war aber eine der besten Schülerinnen der gesamten Oberstufe. Daß sie so früh gekommen war, konnte ja nur bedeuten, daß Betty sich für die Probleme der Schule interessierte. Tom beschloß, sie für irgendein Komitee verant-wortlich zu machen. In Gedanken ging er die Arbeitsgruppen, die in dieser Versammlung gegründet werden sollten, noch einmal durch. Die Gruppe, die den Lehrern bei der Aufsicht in der Bücherei und Kantine helfen sollte, war bestimmt das Richtige für Betty. Sie war ein Organisationstalent. Sie strahlte eine natürliche Autorität aus. Die Haare trug sie straff zurückgekämmt zu - 52 -
einem Pferdeschwanz. Ihre Mitschüler blickte sie stets mit strenger, entschlossener Miene an. Wenn sie für dieses Komitee verantwortlich wäre, würde die Arbeit dort perfekt laufen. Als nächstes kam Ken Garcia. Er war Toms Stellvertreter. Falls Tom einmal aus irgendwelchen Gründen sein Amt nicht wahrnehmen konnte, mußte Ken für ihn einspringen. Danach tauchte Art mit Connie auf. Tom hatte das ungute Gefühl, daß Art durchaus imstande war, ihm vom Zuschauerraum aus ein paar saublöde Bemerkungen zuzurufen. Nach und nach kamen noch ein paar Leute, natürlich auch Jennifer Baines. Tom machte sich Sorgen, daß der Kassenwart aus seinem Schulsprecher-team noch nicht da war. Er war wichtig, denn er mußte von den Schülern Geld einsammeln für die Feste und Einladungen und all das. Tom merkte erst jetzt, wie viele Dinge eigentlich anlagen. Die Verantwor-tung schreckte ihn. Wo bleiben die alle nur? Bis jetzt waren nur ungefähr zwanzig Leute ab. Gerade kam Andy Pearson der schon bei allen möglichen Anlässen Reden gehalten hatte. "Wir sollten endlich mal anfangen", sagte Betty Babcock ungeduldig. "Wir haben schon zwanzig Minuten Verspätung." "Aber es sind doch noch längst nicht alle da", meinte Tom besorgt. "Da fehlen doch bestimmt noch zweihundert Leute." "Diejenigen, die Interesse haben, sind jedenfalls hier", meinte Andy Pearson. "Normalerweise kommen sowieso immer nur ganz wenige Leute zu diesen Versammlungen. In der Mittelstufe zum Beispiel sitzen die meistens allein mit den Klassensprechern da." "Das stimmt", sagte Betty. Sie war im letzten Jahr stellvertretende Mittelstufensprecherin gewesen. "Na gut", sagte Tom. Er erinnerte sich, daß er selbst ja auch nie zu solchen Treffen gegangen war. "Dann eröffne ich - 53 -
hiermit die Versammlung." "Los geht's!" gröhlte Art. Connie kicherte und strahlte ihren Art an. Tom erzählte den Zuhörern, welche Aufgaben erledigt werden müßten und schlug Betty als Vorsitzende der "Lehrerhilfstruppe" vor. Andy Pearson wurde Vorsitzender der Gruppe für Prüfungsangelegenheiten. Jennifer Baines meldete sich freiwillig für die Organisation von Festen. Tom paßte das nicht ganz. Er hätte lieber ein Mitglied der Schulband auf diesem Pos-ten gesehen. Aber er wollte Jennifer nicht enttäuschen und schwieg deshalb. Die Vorsitzenden der einzelnen Komitees suchten sich anschließend jeweils ein Team zusammen, so daß jeder der Anwesenden schließlich irgendeinen Job aufs Auge gedrückt bekam. Alles lief ganz prima. Sarah meldete sich zu Wort. "Ich schlage vor, daß wir zu Weihnachten einen großen Ball veranstalten. Der letzte Schultag vor den Ferien wäre ein guter Termin." "Da bin ich anderer Meinung", widersprach Tom. "Zu Weihnachten finden genügend Parties statt. Ich wäre dafür, nach den Ferien, in der trostlosen, regnerischen Jahreszeit, ein Fest zu feiern. Ich bin für einen Ball am Valen-tinstag, am vierzehnten Februar." Sarah blieb stur. "Weihnachtsfeten sind viel stimmungsvoller, mit Tannen-baum und so." Auch Tom beharrte auf seinem Standpunkt. Ihm war dieser Valentinstag so wichtig, weil er dazu unbedingt Britta Holmstrom einladen wollte. Er träumte jetzt schon von diesem Tag, an dem sich verliebte Leute gegenseitig ein Geschenk machten. "Vor Weihnachten sind wir alle völlig gestreßt von den Klassenarbeiten, und außerdem verreisen viele." Zum Glück unterstützte Connie Toms Vorschlag. "Er hat recht. Wir fahren zum Beispiel in den Ferien nach - 54 -
Südkalifornien." Die beiden Vorschläge wurden abgestimmt. Der Valentinsball wurde angenommen. Außerdem wurde beschlossen, gegen Ende des Jahres kurz vor den Abschlußprüfungen eine Grillfete zu veranstalten. Damit waren alle Punkte der Tagesordnung erledigt, und Tom schloß die Veranstaltung. Sarah mußte das Protokoll noch in Reinschrift schreiben, denn der Schulleiter sollte eine Kopie davon bekommen. Bestimmt würde er überrascht sein, wie gut Tom seine Sache als Schulsprecher machte und was für vernünftige Leute er sich als Mitarbeiter ausgesucht hatte. Auf dem Nachhauseweg dachte Tom, daß es sehr schön gewesen wäre, wenn Britta ihn heute in Aktion gesehen hätte. Das Amt war doch nicht so schwierig, wie er befürchet hatte. Es war nur viel Arbeit damit verbunden. Plötzlich fiel Tom ein, daß er wegen der Verabredung mit Britta etwas unternehmen mußte. Am Donnerstag war Tom unheimlich genervt. Er nahm Dr. Holmstroms Visitenkarte in die Hand und legte sie wieder in die Kommodenschublade zurück. Aus lauter Frustration knallte er die Faust auf den Tisch. Wie schön wäre es, wenn er Britta einfach anrufen und ihr erzählen könnte, daß am Samstag alles klar ging. Er brauchte nur zu ihr rüberzufahren und sie abzuholen. Dann konnte er mit ihr einen herrlichen Abend verbringen. Tom bat seinen Vater, eine einzige Ausnahme zu machen. Aber er stieß auf taube Ohren. Tom ging in sein Zimmer und sah sich zum x-ten Mal Brittas Telefonnum-mer an. Er versuchte, Schularbeiten zu machen, konnte sich aber überhaupt nicht konzentrieren. Unaufhörlich dachte er an Britta. Er stellte sich vor, wie sie - 55 -
da zwischen all den exotischen Vögeln saß und auf seinen Anruf wartete. Wahrscheinlich überlegte sie gerade, welchen Film sie gern sehen wollte und was sie anziehen sollte. Möglicherweise hatte dieser Joe sich auch mit ihr verabreden wollen, und sie hatte ihm abgesagt, weil Tom ihm zuvorgekommen war. Bestimmt hielt sie ihn für cool und selbstsicher. Es war ganz schön peinlich, daß er anrufen und zugeben mußte, daß sein Vater ihm das Auto nicht geben wollte. Wie blöd sich das anhörte! Vielleicht war es besser, ihr vorzuschwindeln, er sei krank, oder daß er wegen einer dringenden Familienangelegenheit verreisen mußte. Seine Überlegungen endeten damit, daß er am Donnerstag nicht mehr anrief. Am Freitag war die letzte Gelegenheit. Er mußte wenigstens einen Tag vorher absagen. "Laß uns doch nach der Schule noch ein bißchen Basketball spielen", schlug Steve vor. "Geht nicht. Ich muß heute nachmittag ein wichtiges Telefongespräch erledigen." "Ein Telefongespräch? Aber das kann doch nur ein paar Minuten dauernl" "Vielleicht dauert es sehr lange, bis ich die Person an den Apparat bekomme." "Was ist das denn für ein wichtiger Typ?" wollte Steve wissen, Tom reagierte schroff. "Geht dich nichts an." "Aha, es handelt sich also um ein Mädchen", kombinierte Steve. "Interes-sierst du dich jetzt doch für Jennifer?" "Nein, Jennifer Bains ist es bestimmt nicht." "Du traust mir also nicht mehr!" Steve war beleidigt. "Darum geht es nicht. Es ist einfach nur meine Privatsache. Ich muß los." Tom wollte Steve nicht vor den Kopf stoßen. - 56 -
Doch die Sache mit Britta war noch viel zu frisch, um mit anderen darüber zu reden. Tom hatte nur am Nachmittag Zeit, Britta anzurufen, denn abends mußte er in die Pizzeria. Als er nach Hause kam, hing Sandy am Telefon und kicherte mit einer Freundin rum. Nach zehn Minuten war sie immer noch nicht fertig. Tom ging in den Flur und stellte sich neben sie. "Kannst du mich nicht einmal in Ruhe telefonieren lassen?" nörgelte Sandy. "Du hängst schon seit Stunden am Apparat", beschwerte sich Tom. "Kannst du dir nicht vorstellen, daß ich auch mal telefonieren möchte?" "Ich bin noch nicht fertig", zischte Sandy. Tom ging nervös in seinem Zimmer auf und ab. Die Visitenkarte von Dr. Holmstrom hielt er in der Hand, knickte sie zusammen, faltete sie auseinander, solange, bis sie schließlich in der Mitte zerriß. Tom klebte die beiden Hälften mit Tesafilm aneinander. Schließlich ging er wieder auf den Flur und setzte sich genau neben Sandy auf die Treppe. Ungeduldig sah er auf die Uhr. Sandy wart ihm einen giftigen Blick zu. Aber sein Trick funktionierte, denn bald knallte sie den Hörer auf die Gabel. Mit zitternden Händen wählte Tom die Nummer und verwählte sich prompt. Tom konzentierte sich und wählte noch einmal. Am anderen Ende der Leitung nahm jemand den Hörer ab. Es war Brittas Mutter. "Kann ich Britta sprechen?" Toms Stimme klang vor Aufregung eine Oktave höher als gewöhnlich. "Tut mir leid, sie ist noch beim Training. Ruf doch gegen sechs noch mal an, Joe!" Joe! Das war ein Schock für Toms ohnehin schon strapazierte Nerven. Gegen sechs mußte er bereits in der Pizzeria sein. Jetzt war klar, daß dieser Joe regelmäßig bei - 57 -
Britta anrief, sonst hätte ihre Mutter ihn nicht so selbstverständlich mit Joe angesprochene "Okay", sagte Tom knapp. Er wollte sich nicht zu erkennen geben und legte auf. Nach diesem vergeblichen Versuch hätte er noch mehr Angst vor der unangenehmen Aufgabe, Britta abzusagen. Aber ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Er konnte und durfte es nicht länger als bis heute abend hinauszögern. In der Pizzeria war es freitags immer besonders voll. Um sechs Uhr war das Telefon besetzt. Auf dem Weg zur Arbeit hatte Tom beschlossen, daß er Britta einfach die Wahrheit sagen wollte. Sie würde ihn verstehen, denn sie war offen und ehrlich und sagte, was sie dachte. Mit einer Lügengeschichte konnte er ihr nicht kommen. Tom war inzwischen auch klar geworden, daß Britta ihn sehr gern mögen mußte, wenn sie eine Verabredung mit ihm annahm. Schließlich gab es ja diesen Joe. Als der Gast die Telefonzelle endlich verließ, legte Tom schnell den Teig beiseite, wischte sich die Mehlfinger in der Schürze ab und rannte in die Telefonzelle. Er wählte und hörte das Freizeichen. Sein Herz klopfte so wild, daß er schon fürchtete, es würde seinen Brustkorb zerschlagen. Britta meldete sich, und Tom spürte, wie ihn beim Klang ihrer hellen Stimme ein heißer Schauer überlief. "Britta, hier ist Tom Roberts." "Hallo Tom", rief sie fröhlich. "Ich freue mich schon auf morgen abend." "Tja, weißt du, deswegen rufe ich an. Es ist leider etwas ganz Blödes pasiert." "Oh! Was denn?" Durch das Telefon konnte Tom Brittas Enttäuschung spüren. "Du erinnerst dich doch noch an die Exkursion zu den SeeElefanten?" - 58 -
"Natürlich. Das war ein ganz besonders schöner Tag." Tom war verzweifelt. Sagte sie das, weil er dabeigewesen war? Er mußte sie einfach wiedersehen! "Ich habe doch das Auto vor eurem Haus stehen lassen. Und ich habe meinen Eltern vorher eure Adresse nicht gegeben. Als ich nach Hause kam, waren alle unheimlich sauer, weil sie den ganzen Tag ohne Auto dasaßen. Deshalb darf ich einen ganzen Monat lang den Wagen nicht haben. Das bedeutet, daß ich morgen nicht zu dir kommen kann." "So ein Mist! Aber eigentlich ist es ja auch unsere Schuld, weil wir dich zu der Exkursion eingeladen haben. Vielleicht kann ich morgen unseren Wagen kriegen. Dann könnte ich rüberkommen und dich abholen." "Aber, Britta, du müßtest die weite Strecke ganz allein fahren." Die Idee gefiel ihm überhaupt nicht. Er fand, daß er eigentlich derjenige sein mußte, der sie zu einer Verabredung abholte und auch sicher wieder nach Hause brachte. Trotzdem freute es ihn, daß Britta ihn offensichtlich sehr gern treffen wollte. "Ach, das macht mir nichts aus. Ich sehe sowieso nicht ein, warum immer die Jungen die Mädchen abholen müssen. Das ist eine blödsinnige Tradition. Bleib mal dran, ich frage mal eben meinen Dad." Tom wartete. Er schwebte im siebten Himmel. Britta war nicht nur schön, sondern auch noch einfallsreich. Ein Abend mit ihr würde bestimmt ein Ereignis sein. Brittas Stimme klang nicht mehr so optimistisch, als sie den Hörer wieder aufnahm. "Mein Vater findet es zu gefährlich, wenn ich nachts allein eine so weite Streckte fahre. Ich habe meinen Führerschein nämlich erst seit drei Monaten. Außerdem wollten Mom und er morgen abend sowieso irgendwo zum Essen fahren. Aber weißt du, was er vorgeschlagen hat? Er meint, du könntest mitkommen. Wir - 59 -
würden dich bei dir zu Hause abholen." Das war schon ziemlich komisch. Ein Treffen mit Britta und ihren Eltern. Ein sonderbarer Vorschlag! Was sollte er dazu sagen?" Hast du denn Lust dazu?" erkundigte er sich vorsichtig. "Ach, Britta, ich finde das alles ziemlich blöde." "Ist doch nicht so schlimm", antwortete Britta. "Ich finde es gut, wenn wir beide mitgehen. Besser jedenfalls, als wenn jeder für sich allein zu Hause rumsitzt." "Na gut, wenn du willst, ist es in Ordnung." "Dann holen wir dich um halb sieben ab." Tom ging zurück an seine Arbeit. Je mehr er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm die Lösung. Immerhin war es Brittas Idee, sie wollte sich auf jeden Fall mit ihm treffen, auch wenn es nur auf diese Weise möglich war. Tom stellte sich die Fahrt zum Restaurant vor. Mr. und Mrs. Holmstrom würden vorn im Wagen sitzen, Britta und er hinten. Die Holmstroms würden sich bestimmt über ihre eigenen Angelegenheiten unterhalten. Vielleicht könnte sich sogar die Gelegenheit ergeben, Britta zu küssen, wenn ihre Eltern gerade ins Gespräch vertieft waren. Andererseits, falls Britta ihn nicht auch küssen wollte, konnte es ganz schön peinlich für ihn werden, wenn sie laut protestierte. Besser wäre es wohl doch, wenn er ihr ganz vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter, immer nähen kommen würde. Solange, bis er sich ganz sicher war, daß sie ihn nicht wegschubsen würde, wenn er sie küßte. Am nächsten Tag mußte Tom seinem Vater bei der Gartenarbeit helfen. Während er die Hecke stutzte, dachte er schon wieder mit Skepsis an den bevorstehenden Abend. Würden sie nur hupen, oder würde Britta reinkom-men, um ihn abzuholen? - 60 -
Tom duschte ausgiebig, rasierte sich und benutzte Dads Rasierwasser. Er zog seinen dunkelblauen Blazer und graue Flanellhosen an. Der Blazer stand ihm phantastisch. Britta würde sicher umfallen, wenn sie ihn sah. Doch was nützte das schon? Vor den Augen ihrer Eltern würde sich sowie-so nicht viel abspielen. Eine Viertelstunde bevor die Holmstroms kommen sollten, war Tom fertig und schaute immer wieder ungeduldig aus dem Fenster. Dr. Holmstrom klingelte an der Tür, um ihn abzuholen. Überrascht regis-trierte er Toms förmliche Kleidung. Der Professor trug eine Daunenjacke und lässige Khakihosen. Draußen war es schon dunkel. Tom konnte nicht sehen, wer hinten im Wa-gen saß. Erst als der Professor ihm die Wagentür öffnete und die Innenbe-leuchtung anging, sah er, daß nicht nur Britta auf dem Rücksitz saß, sondern daß zwischen seinem und ihrem Platz zwei Kindersitze installiert waren. Darin saßen Jackie und Jamie, Brittas Zwillingsbrüder. Britta lächelte ihn an. Toms Herz raste. Immer, wenn er sie sah, überraschte ihn erneut ihre natürliche Schönheit. "Ich glaube, ich habe dich noch nicht meiner Mutter vorgestellt. Mom, dies ist Tom Roberts." "Ich habe dich letzten Sonnabend schon mal kurz gesehen." Brittas Mutter drehte sich um und lächelte ihn an. Sie sah sehr gut aus. Britta hatte viel Ähnlichkeit mit ihr. "Und seitdem habe ich schon viel von dir gehört." "Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Mrs. Holmstrom." Tom hoffte, daß seine Stimme ernsthaft und männlich klang. Wäre er doch nur so selbstsicher und unbefangen wie Britta. Im stillen freute er sich unheimlich, daß Britta über ihn gesprochen hatte. "Erinnerst du dich an meine beiden kleinen Brüder, Tom? - 61 -
Jackie und Jamie, das ist Tom." "Tom, bomm", reimte Jamie. "Bomm, komm, momm", äffte Jackie ihn nach. Die beiden Kleinen setzten ihr Spielchen fort, bis sie sich vor Lachen nicht mehr halten konnten. "So, ihr zwei, jetzt reicht's, beruhigt euch", schimpfte Mrs. Holmstrom. "Ja, seid ruhig, Jackie und Jamie", mahnte Britta und warf Tom einen mit-fühlenden Blick zu. "Tom ist bestimmt nicht an solche Strolche wie euch gewöhnt." "Strolche, Molche", fing Jamie schon wieder an. Sie reimten und lachten sich schief, bis ihnen keine Wörter mehr einfielen. "Was ist das denn?" fragte Jackie, grabschte nach Toms Schlips und zerrte daran. "Jetzt laß Tom endlich in Frieden", drohte Britta. "Tut mir leid" Tom, heute sind sie besonders biestig." "Das ist doch okay. Es sind eben hochintelligente Kinder mit einem Über-schuß an ungenutzter Energie." Diese Redewendung hatte Toms Vater einmal genauso über seinen Sohn beim Direktor angebracht. Brittas Vater hielt vor einem Restaurant. Es war im Stil des Hexen-häuschens aus dem Märchen "Hänsel und Gretel" gebaut. "Das ist ein deutsches Restaurant. Hoffentlich magst du die deutsche Küche", sagte Britta. "Doch, ganz bestimmt", versicherte Tom. Ganz egal, was der Abend bringen würde, hauptsache, er war in Brittas Nähe. Die Kellnerin führte sie zu einem runden Tisch und brachte zwei Kinderstühle für Jackie und Jamie. Mr. und Mrs. Holmstrom saßen nebeneinander und Britta und Tom ebenfalls. Zwischen den beiden Paaren saß an jeder Seite des Tisches einer der beiden Zwillinge. - 62 -
"Habt ihr deutsche Vorfahren?" fragte Tom Britta. "Meine Mutter. Die Familie meines Vaters kommt aus Skandinavien. Das merkt man ja auch an unserem Nachnamen." "Na, Tom, sind die Pfauen diese'Woche nochmal bei euch eingefallen?" Dr. Holmstrom lächelte Tom an. "Nein, diese Woche nicht, aber ich fand es gar nicht so schlimm." "Was sagst du denn zu den See-Elefanten?" "Toll. Ich hätte nie gedacht, daß es so viele wären." Dr. Holmstrom erzählte Tom, daß die See-Elefanten erst seit wenigen Jah-ren zu diesem Platz kamen, um ihre Jungen aufzuziehen. "Gehen Sie jedes Jahr mit Ihren Studenten dorthin?" "Ja, das ist eine unserer Standard-Exkursionen." "Dann bin ich vielleicht nächstes Jahr wieder dabei, denn ich möchte zur staatlichen Uni gehen." "Hast du dich schon eingeschrieben?" "Noch nicht. Erst muß ich noch den Aufnahmetest machen." Dr. Holmstrom erkundigte sich, welche Leistungskurse Tom in der Schule gewählt hatte. Es schien ihn zu freuen, daß es Bio war. Während dieses Gesprächs lächelte Mrs. Holmstrom ihn freundlich an. Tom hoffte, daß sie ihn nett fand und ihn als Freund von Britta nicht ablehnen würde. Der kleine Jamie schnappte sich einen Löffel, fuchtelte damit in der Luft herum und ließ ihn auf Toms Teller fallen. Es schepperte laut. Das Gespräch wurde unterbrochen, weil die gesamte Familie Holmstrom damit beschäftigt war, den Kleinen zu beruhigen. Seine Mutter gab ihm eine Packung Kekse. Jamie schaffte es, die Kekse völlig zu zerkrümeln, während er versuchte das Zellophanpapier abzu-kriegen. Britta legte ihre Hand auf Toms Arm, genau wie damals, als - 63 -
sie sich zum erstenmal getroffen hatten. "Du bist bestimmt nicht daran gewöhnt, mit wilden kleinen Kindern an einem Tisch zu sitzen." "Kein Problem." Tom lächelte, sie an. "lch habe gerade überlegt, daß ich wahrscheinlich in dem Alter ganz genauso war." "Na, dann können wir ja hoffen, daß sie sich eben vorteilhaft entwickeln wie du." Tom errötete bei ihrem unerwarteten Kompliment. Dauernd überlegte er, wie er ihr gestehen konnte, daß er in sie verliebt war, ohne daß es sich allzu blöd anhörte. Plötzlich merkte Tom, daß etwas über den Tisch spritzte. Jackie hatte seine kleine Faust in eine Schüssel mit Apfelmus gesteckt und fuchtelte damit in der Gegend rum. Der Brei klebte auf Toms Jacke und seiner Krawatte, "Wir sollten diese beiden Rabauken lieber zwischen uns setzen.".Dr. Holmstrom stand auf und stellte die Kinderstühle um. Britta wischte mit einer Serviette, die sie mit Mineralwasser angefeuchtet hatte, Toms Jackett sauber. Sie hatte ihre niedliche Stirn in Falten gelegt. "Schade, du hast so gut ausgesehen." Dr. Holmstrom und seine Frau waren so sehr mit den Zwillingen beschäf-tigt, daß sie nicht auf Tom und Britta achteten. Der Moment war günstig. "Macht nichts. Das ist alles unwichtig. Haupt-sache, ich kann mit dir zusammen sein", sagte er leise und sah Britta tief in die Augen. Britta antwortete mit ihrem hinreißenden Lächeln. Konnte er hof-fen, daß auch sie ihn sehr gern mochte? Während des Essens versuchten sie, nicht mehr auf die Zwillinge einzu-gehen und unterhielten sich über alles mögliche. Ein paarmal gelang es Tom, Brittas Hand zu drücken und einen vielsagenden Blick mit ihr zu wechseln. - 64 -
Es war gut, daß er das im Restaurant wenigstens geschafft hatte, denn auf dem Rückweg waren die Zwillinge so quirlig und aufgedreht, daß Britta und Tom jeder einen von ihnen aus dem Kindersitz heraus auf den Schoß nehmen mußten. "Würdest du gerne zur nächsten Exkursion mitkommen, Tom?" fragte Dr. Holmstrom, als sie vor Toms Haus hielten. "O ja, gern! Wann denn?" Tom war begeistert. "Heute in vierzehn Tagen. Sei um acht Uhr morgens bei uns." "Kommst du auch mit, Britta?" fragte Tom und blinzelte ihr über Jackies Blondschopf hinweg zu. "Natürlich. Es wird bestimmt ganz toll. Wir gehen wieder zum Strand. Dieses Mal beobachten wir Seevögel." Tom setzte Jackie in seinen Kindersitz zurück und schnallte ihn an. Zu gern hätte er Britta zum Abschied geküßt. Bei der Exkursion, schwor er sich, finde ich garantiert eine Gelegenheit!
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5. KAPITEL Alle möglichen Leute kamen mit ihren Problemen in der Schule zu Tom. Das lag nur an seinem neuen Amt. Nie hätte er gedacht, daß er sich jemals mit Andy Pearson, dem großen Redner, zum Essen treffen würde. Aber nun war es gerade Andy, der ihn immer wieder ansprach, um mit ihm irgendeine Sache zu diskutieren. Obwohl das Schuljahr gerade erst angefangen hatte, wollte Andy jetzt schon festlegen, wie die Einladungskarten aussehen sollten, die zur Abschlußfeier verschickt wurden. Und er wollte auch jetzt bereits bestimmen, welches Programm ablaufen sollte. "Laß uns zuerst entscheiden, ob wir gedruckte oder geprägte Schrift für die Einladungen nehmen." Er zeigte Tom verschiedene Muster. "Ich finde, wir nehmen die geprägten", entschied Tom. "Schließlich haben wir nur einmal im Leben eine Schulabschlußfeier." "Finde ich auch", stimmte Andy zu. "Außerdem wollte ich vorschlagen, daß wir die Programme mit dunkelbrauner Schrift auf beiges Papier drucken lassen. Das sieht edel aus." Jedes Detail wollte Andy mit Tom besprechen. Sämtliche Unterlagen für die Abschlußfeier trug er in einem Ordner mit sich herum. Andy war ein durch und durch ordentlicher Mensch. Tom beschloß, sich für den Papierkram, der in seinem Amt anfiel, auch einen Aktenordner anzuschaffen. "Wir müssen die Redner rechtzeitig einladen", sagte Andy. "Diese wichtigen Leute haben immer viele Termine - der - 66 -
Bürgermeister zum Beispiel." "Der Bürgermeister?" Tom schluckte. Er hatte überhaupt nie daran gedacht, mit dem jemals etwas zu tun zu haben. "Selbstverständlich. Er soll eine Rede halten. Er kann ja nach dir sprechen." "Nach mir?" "Klar, als Oberstufensprecher mußt du auch eine Rede halten. Da du in der ganzen Schule den Ruf eines Spaßvogels hast, habe ich mir vorgestellt, daß du etwas Witziges, Humorvolles zu unserem Abschluß sagst. Weißt du, auf einer ähnlichen Ebene, wie du deine Wahlrede gehalten hast. Das kommt bei den Schülern gut an. Der Bürgermeister hält mit Sicherheit eine bierernste Rede mit den üblichen Sprüchen und Allgemeinplätzen. Meine eigene Rede kommt ganz als letzte dran, nach dem Schulrat." Andy plante und organisierte ohne Unterbrechung. Manchmal rief er sogar bei Tom zu Hause an, um irgendwelche Einzelheiten mit ihm zu besprechen. Warum nervt der mich dauernd mit diesem lästigen Kram, dachte Tom . Etwas selbständiger könnte Andy ruhig sein. Auch andere Leute fragten Tom pausenlos um Rat. Jennifer Baines zum Beispiel lag ihm andauernd in den Ohren. Entweder rief sie ihn an, oder sie drängte ihn, mit ihr nach der Schule noch eine Cola trinken zu gehen, um die Vorbereitungen für den Valentinsball zu besprechen. Die Turnhalle hatte sie bereits beim Direktor für diesen Termin reserviert. Tom hatte das ungute Gefühl, daß Jennifer erwartete, von ihm zu diesem Ball eingeladen zu werden. Deshalb war er ihr gegenüber oft absichtlich ziemlich eklig. Dabei sah Jennifer sehr gut aus. Sie hatte dunkles, kurzes Haar und trug eine witzige Fön-Frisur, die gut zu ihrem hübschen Gesicht paßte. Letztes Jahr hatte sie sich überhaupt noch nicht für Tom - 67 -
interessiert. Sie war mit einem Jungen aus dem Abschlußsemester gegangen, der ein Star in der Fußballmannschaft gewesen war. Jetzt studierte er irgendwo anders. Tom hatte überhaupt keine Lust, der Nachfolger dieses Typs zu werden, obwohl Jennifer kein Geheimnis draus machte, daß sie unheimlich gern mit Tom gehen würde. Gerade, als Tom Britta anrufen wollte, um ihr zu sagen, daß er das Essen mit ihrer Familie toll gefunden hatte, klingelte das Telefon. Jennifer war mal wieder dran. Endlos quatschte sie über rotweißes Kreppapier, Luftballons und die Kiste, in die die Geschenke gepackt werden sollten. Sie rechnete ihm vor, wieviel das alles kosten würde und erzählte ihm, wie eifrig Connie und sie die Geschäftsleute in der Stadt abklapperten, um Spenden zu sammeln. Es war so üblich bei einem Valentinsball, daß jeder Gast ein kleines Geschenk kriegte. "Das ist ja alles ganz prima", sagte Tom ungeduldig. Er wollte sie schnell wieder loswerden, um endlich Britta anrufen zu können. Als er Britta dann schließlich am Apparat hatte, redeten sie ziemlich lange miteinander. Sie entschuldigte sich für die nervige Art der Zwillinge. Tom sagte ihr, daß er es super gefunden hatte, ihre Familie kennengelernt zu haben. Dann berichtete Britta, daß sie in ihrer Schule gerade eine Projektwoche durchführten, in der sie an einem Psychologiekurs teilnahm. Tom erzählte einige witzige Geschichten von seinem Job in der Pizzeria. "Ich würde so gern mit dir ins Kino gehen", sagte Tom. "Aber damit müssen wir wohl warten, bis mein Strafmonat rum ist." "Dafür können wir ja wenigstens übernächstes Wochenende an der Exkursion teilnehmen." - 68 -
Tom lachte. "Diesmal lasse ich mich von meinem Vater zu euch fahren. Und ich bringe auch mein eigenes Lunchpaket mit." Am Anfang der folgenden Woche rief Tom noch einmal bei Britta an. Aber er erreichte sie nicht, weil sie gerade Volleyball spielte. Allmählich erfuhr er immer mehr über sie. Jetzt wußte er also auch, daß sie sportlich war. Abends rief er noch einmal an, um ihr zu sagen, wie sehr er sich auf die Exkursion freute. "Wie ich höre, spielst du Volleyball", sagte er. "Stimmt. Ich bin in der Schulmannschaft. Heute haben wir gewonnen." "Mit einem Superstar wie dir könnt ihr ja auch gar nicht verlieren!" "Schmeichler!" War das vielleicht eine Nummer zu verliebt? überlegte Tom. Ich glaube, ich sollte lieber etwas cooler tun. "Bis Sonnabend dann", beendete er rasch das Gespräch. "Ich zähle die Stunden", antwortete Britta. Tom konnte kaum glauben, daß sie das ernst meinte. Jedenfalls mochte sie ihn und war nicht zu schüchtern, ihm das auch zu zeigen. Die Woche zog sich endlos dahin. In Gedanken beschäftigte sich Tom nur mit Britta. Während des Unterrichts mußte er sich mit aller Macht dazu zwingen, sich auf den Stoff zu konzentrieren. Schließlich hatte er sich vorgenommen, gute Noten zu kriegen um Britta zu imponieren. Aber wie sollte ihm das gelingen, wenn er statt der Formeln an der Tafel ständig Szenen vor Augen hatte, in denen er Hand in Hand mit Britta am Strand entlanglief. Ausgelassen und glücklich waren sie, weil sie zusammen sein konnten. Er hatte das Gefühl, als ob es nie Sonnabend werden wollte. Am Freitagnachmittag traf er Steve im Aufenthaltsraum. - 69 -
"Sollen wir dich morgen früh abholen zum Aufnahmetest? Meine Mutter fährt mich und Sarah hin. Wir könnten bei dir vorbeikommen und dich mitnehmen." "Der Test!" Tom war total geschockt. "Morgen! Das kann doch nicht wahr sein! Morgen gehe ich doch auf die Exkursion." "Das geht aber nicht. Du hast dich doch für morgen angemeldet und auch schriftlich Bescheid bekommen." "Bist du sicher, daß das morgen ist?" "Logisch. Ich habe doch schon seit Wochen Angst davor. Was glaubst du, wie froh ich bin, wenn ich das morgen endlich hinter mir habe." Tom war verzweifelt. Mein Gott, war er doof. So etwas ließ sich ein Mädchen wie Britta bestimmt nicht bieten. "Ich rufe dich heute abend an und sage dir, ob du mich abholen sollst." Tom war völlig fertig. Er rannte nach Hause und wühlte den Stapel von Papieren in seiner Schreibtischschublade durch. Wenn er doch nur so ordentlich wäre wie Andy Pearson! Dann hätte er die Benachrichtigung über seine Teilnahme am Test sofort gefunden. Ohne diesen Test bestanden zu haben, wurde er an keiner Uni zugelassen. Endlich fand er den Zettel. Steve hatte recht, der Test war morgen. Sie mußten sich im Hörsaal einfinden, und es würde fast den ganzen Tag lang dauern. Alle Schüler des letzten Semesters nahmen daran teil. Wie hatte er das nur vergessen können? Was sollte er bloß Britta erzählen? Zum zweitenmal mußte er sie anrufen und eine Verabredung absagen. Nein, das würde er nicht bringen. Besser, er würde einfach nicht bei ihr erscheinen. So ein Feigling bist du nicht, Tom Roberts, entschied er. Er konnte schließlich nicht alle auf sich warten lassen. Britta - 70 -
würde enttäuscht und tief getroffen sein, wenn er einfach nicht käme. Rausschieben brachte auch nichts, das würde ihn total fertigmachen. Zur Essenszeit wählte er ihre Nummer. Inzwischen kannte er sie auswendig. Als Britta sich meldete, blieb ihm die Luft weg, und er konnte nicht reden. "Britta?" sagte er schließlich ängstlich. "Ja?" Auch ihre Stimme klang unsicher, als ob sie etwas ahnte. "Hier ist Tom. "Weiß ich. Deine Stimme erkenne ich sofort. Ist irgend etwas nicht in Ordnung?" "Überhaupt nichts ist in Ordnung." "Was ist los? Ist dir etwas passiert?" "Etwas ganz Schlimmes." "Was denn?" Tom zögerte. "Tom, was ist los?" Britta war echt in Sorge. Er durfte sie nicht länger im Unklaren lassen. "Ich kann morgen nicht mitkommen zur Exkursion." "Du kannst nicht! Da ist doch schon seit Ewigkeiten geplant!" Brittas Stimme klang ein wenig kühl. "Ich habe völlig vergessen, daß morgen der Aufnahmetest für die Uni stattfindet." "Das wußtest du doch auch schon länger." "Ich habe es aber verdrängt, weil ich so gern mit zur Exkursion gehen wollte." "Naja, daran läßt sich ja wohl jetzt nichts mehr ändern." Britta klang echt sauer. Offensichtlich hatte seine Nachricht ihr total die Laune verdorben. Sie mußte ihn für einen völligen Chaoten halten, bei dem nichts klappte. Bestimmt hatte sie jetzt. von ihm die Nase voll. "Britta", sagte Tom verzweifelt. "Bald kann ich doch das Auto wieder haben.,Vielleicht können wir beide dann mal - 71 -
allein zum Strand fahren und die Seevögel beobachten." "Vielleicht", sagte sie kurz angebunden. "Ich muß jetzt Schluß machen. Wir wollen essen." Tom meinte, etwas wie ein Schluchzen in ihrer Stimme gehört zu haben, aber er war sich nicht sicher. Er selbst war viel zu genervt. "Gut, ich ruf dich später wieder an." "Bis dann", sagte Britta schnell und legte auf. Sie war wirklich sauer, denn normalerweise redete sie nicht so mit ihm. Jetzt war alles im Eimer. Tom konnte sich überhaupt nicht auf den Test konzentrieren. Jetzt, wo mit Britta alles aus war, hätte er am liebsten mit Absicht die falschen Antworten angekreuzt. Dann wäre der Traum vom Biologiestudium eben ausgeträumt, und er würde keinen Unterricht von Brittas Vater kriegen. Schade, daß die Sache mit Britta so schief gelaufen war, bevor sie überhaupt richtig angefangen hatte. Tom grübelte über der nächsten Frage. Irgendwo hatte er mal gehört, daß man im Zweifelsfall bei diesem Test nie die Antworten a, c oder e ankreuzen durfte. Das Leben war wirklich ganz schön kompliziert. Ein paar simple Bleistiftkreuze entschieden über sein weiteres Schicksal. Wenn er diesen Test in den Sand setzte, verdarb er sich damit jegliche Möglichkeit, Britta irgendwann mal zu heiraten oder wenigstens zur Uni zu gehen. Völlig niedergeschlagen kam Tom aus dem Hörsaal. Er fuhr mit Steve und Sarah wieder nach Hause. Seine Gedanken waren bei Britta. Er stellte sich vor, wie sie jetzt gerade am Strand herumtobte, umringt von vielen Studenten. Vielleicht versuchte dieser "Mr. Superstar" gerade, sie in die Brandung zu - 72 -
werfen. Britta war sechzehn, sie war bestimmt nicht zu jung für diese Studenten. Wahrscheinlich hatte einer von ihnen bereits ein Auge auf sie geworfen, kein Wunder, wo sie doch so süß war und alle ihrem Vater imponieren wollten. "Na, wie lief's bei dir?" wollte Steve wissen. "Miserabel", antwortete Tom verdrossen. "Bei mir auch", bekannte Steve. "Den Mathetell fand ich am schlimmsten." "Mathe war die reinste Katastrophe", klagte Sarah. "Wir können nichts anderes tun als abwarten. Sarah und Steve wollten in Los Angeles studieren. Sie hatten vor, sich bei allen möglichen Unis zu bewerben, und da, wo sie beide angenommen würden, wollten sie hingehen. Die nächste Woche brachte Tom viel Arbeit in seinem Job als Oberstufensprecher. Andy Pearson hatte wieder dringende Kleinigkeiten mit ihm zu besprechen, und Jennifer mußte unbedingt mit ihm essen. Sie erzählte ihm, daß Connie sechs Schüler gefunden hatte, die bei der Dekoration der Turnhalle für den Valentinsball helfen wollten, und daß zahlreiche Geschäftsleute bereits Spenden geschickt hätten. Unzählige Päckchen mit Süßigkeiten, Büchern, Anstecksträußchen und Parfum waren angekommen. Jennifer und ihre Helfer wollten jedes gespendete Teil einpacken, für die Mädchen in weißes Papier mit einer roten Schleife und für die Jungen in rotes Papier mit einer weißen Schleife. "Du machst das alles wirklich gut." Tom lobte sie. Er hatte ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen und er fühlte sich wenigstens zu einer Anerken-nung verpflichtet. Aber verlieben, konnte er sich einfach nicht in sie. "Dank deiner Hilfe wird man von diesem Ball noch in zehn Jahren reden." Jennifer warf Tom einen verliebten Blick zu. "Denkst du eigentlich auch daran, daß bald bei mir die Silvesterparty stattfindet?" - 73 -
"Doch, doch, ich hab's mir in meinem Kalender notiert." Jennifer plinkerte im kokett zu, Tom hoffte nur daß sie nicht darauf wartete, mit ihm als Partner den Silvesterabend zu feiern. Gelegentlich traf sich Tom auch mit Betty Babcock. In Bettys Lehrerhilfs-truppe lief alles bestens. Sie hatte ihre Leute gut im Griff. "Die Lehrer haben sich schon lobend darüber geäußert, daß es in der Cafeteria viel gesitteter zugeht. Sie haben nicht mehr soviel Ärger mit irgendwelchen Rowdies, seit du 0berstufensprecher bist." Tom wehrte sich gegen so viel Lob. "Quatsch, Betty. Das liegt doch nicht an mir, sondern daran, daß du diese Gruppe leitest." "Aber du hast mich dafür ausgesucht." Offenbar fand es Betty gut, daß Tom Oberstufensprecher war. Bettys Urteil schmeichelte Tom ungemein, denn schließlich war sie die beste und intelligenteste Schülerin der gesamten Oberstufe. Noch im vergangenen Jahr hätte Tom sich überhaupt nicht vor-stellen können, mit so ernstzunehmenden Leuten wie Betty und Andy nähe-ren Kontakt zu haben. Doch es hatte sich herausgestellt, daß sie.prima zusammenarbeiten konnten. Überhaupt hatte das Amt Toms Leben verändert. Dabei hatte er sich da-mals nur als Kandidat aufstellen lassen, um Janine Anderson zu imponie-ren. Inzwischen war es ihm egal, ob sie ihn mochte oder nicht. Sein Freundes- und Bekanntenkreis hatte sich durch das Amt vergrößert. Tom freute sich, daß er mit allen so gut klar kam, vor allem, weil sie so ganz anders waren als seine alte Clique um Steve und Art. Manchmal wurde Tom jedoch alles zuviel. Er wunderte sich, daß er seine Jobs immer wieder in den Griff kriegte. Er mußte lernen, in der Pizzeria arbeiten und seine Pflichten als Oberstufensprecher erledigen. - 74 -
Am Freitagabend, eine Woche nach dem Test, setzte er sich gerade mal wieder pflichtbewußt die Kochmütze auf, griff sich einen riesigen Teigklum-pfen, und los ging die Show. Gegen zehn, als die erste Kinovorstellung zu Ende war, füllte sich die Pizzeria mit jungen Typen. Viele von ihnen kannte er aus der Schule. Doch plötzlich war Tom wie vom Schlag getroffen. Da hinten in,der Ecke war ein Tisch mit lauter Fremden - und mittendrin saß Britta Holmstrom. Sie wußte genau, daß er hier arbeitete. War sie gekommen, um ihn zu ärgern, weil er die Verabredung hatte platzen lassen? Britta saß neben einem großen, dunkelhaarigen Jungen. Tom suchte alle möglichen Vorwände, um immer wieder an dem Tisch vorbeizugehen. Einmal hörte er, wie jemand den Jungen neben Britta mit "Joe" anredete. "Oh! Hallo Tom!" Britta tat ganz spontan, als. Tom wieder einmal am Tisch vorbeikam. "Ich habe mich schon gefragt, ob das hier wohl die Pizzeria ist, in der du arbeitest." Die anderen Mädchen am Tisch musterten Tom verstohlen, und dieser Joe warf ihm einen neugierigen, aber arroganten Blick zu. Tom sah sich die ganze Clique genau an. Das waren also Brittas Freunde. Ganz netter Verein, fand er. Bloß dieser Joe, der störte. Britta stellte Tom den anderen vor. Sie erzählte, sie hätte ihn bei einer Ex-kursion mit ihrem Vater kennengelernt. Tom behielt die Namen von Brittas Freunden nicht. Es fiel ihm schwer, Britta gegenüberzustehen und nicht mit ihr zusammen-sein zu können. Alle anderen am Tisch schienen sich ausgezeichnet mit ihr zu verstehen. Sie lachten und witzelten herum, nur Joe verhielt sich anders. Als Tom gerade gehen wollte, mußte Joe sich selbst und den anderen unbedingt beweisen, wie man mit so einem kleinen Kellner umsprang. - 75 -
"Hey, du", befahl er, "mach uns mal ne extra scharfe Pizza mit reichlich Pepperoni." Tom nickte nur und ging zum Tresen. Er bat seinen Kollegen, der den Pizzateig belegte, die Pizzas für Brittas Tisch besonders gut mit allen möglichen Zutaten zu dekorieren. Aus den Augenwinkeln schielte er zu der Gruppe rüber und sah, daß Britta ihn beobachtete. Er lächelte ihr zu und ging zu seinem Teig zurück, krampf-haft bemüht, nicht noch einmal zu ihn hinzusehen. Sie sah so schön aus, und es tat ihm weh, wenn er daran dachte, wie blöd er gewesen war, daß er durch seine Vergeßlichkeit alles kaputt gemacht hatte. Dann und wann mußte er einfach einen Blick zu ihrem Tisch riskieren. Sie aßen jetzt alle. Einmal traf er Joes Blick, der sehr feindselig auf ihn wirkte. Diesen Joe mochte Tom überhaupt nicht. Klar, wenn ein Mädchen so attraktiv war wie Britta, hatte sie natürlich einen Freund, wenn nicht sogar mehrere. Er hatte das Gefühl, daß Joe in ihm einen Rivalen sah. Und dann gingen sie. Britta winkte ihm zum Abschied lässig zu. Tom fühlte sich ziemlich down. Es quälte ihn, Britta mit einem anderen Jungen zu sehen. Was hatte sie hier eigentlich gewollt, rätselte er. Wollte sie ihn ihrer Clique vorführen? Nein, das war nicht Brittas Art. Sie war zu offen und ehrlich. Vielleicht wollte sie durch diese Show in der Pizzeria nur erreichen, daß Tom sich an sie erinnerte. Ich werde es herausfinden, schwor sich Tom. Sobald ich das Auto wieder kriege, rufe ich sie an. Tom beschloß, sie zur Silvesterfete einzuladen. Jennifer hatte alle mögli-chen Leute eingeladen, die auch ihre festen Freunde oder Freundinnen mitbrachten. Warum sollte Tom das nicht auch tun? Er vermutete zwar, das Jennifer annahm, er würde an diesem Abend ihr Partner sein, aber wenn er Britta früh genug einlud und Jennifer Bescheid sagte, daß er mit - 76 -
seiner Freundin käme, hätte diese Zeit, sich einen anderen Partner einzuladen. Die Zeit bis zu den Weihnachtsferien verging in Windeseile. Tom wußte, daß er Britta sobald wie möglich einladen mußte, wenn er schneller sein wollte als Joe. Anfang der nächsten Woche telefonierte er mit Britta. Er meldete sich am Telefon mit italienischem Akzent. "Hier ist die Pizzeria", sagte er. "Wir wollten uns erkundigen, ob Ihnen unsere Pizza neulich abend geschmeckt hat." Britta lachte und versicherte ihm, daß sie noch nie zuvor so exzellent gegessen hätte. Tom wurde ernst. "Ich fand's nicht gut, dich mit einem anderen zu sehen." Er fragte sich, ob er überhaupt ein Recht hatte, das zu sagen, denn schließ-lich kannte er Britta noch nicht sehr lange. "Ach, du meinst Joe." Britta klang überrascht. "Den kenne ich schon seit dem Kindergarten." "Das ist viel zu lange. Dann wird's Zeit, daß du mal mit einem anderen ausgehst. Wie wär's, wenn du mit deinem treuesten Fan zu einer Silvester-party gehen würdest?" "O Tom." Britta war ganz aufgeregt. "Du glaubst gar nicht, wie gern ich mit dir hingehen würde, aber es klappt leider nicht. Ich fahre mit meinem Dad in den Süden zu einer Exkursion. Am fünfzehnten Dezember geht's los, und am dritten Januar sind wir erst wieder zurück." "Das ist ein Hammer für mich", beschwerte sich Tom. "Sag mal, Britta, bist du noch böse wegen neulich? Ich konnte wirklich nicht, den Test durfte ich auf keinen Fall verpassen." "Weiß ich. Tom, es tut mir leid, daß ich mich ziemlich kindisch benommen habe. Aber ich war so enttäuscht, weil du nicht mitkommen konntest. Ich hatte mich so auf dich gefreut. - 77 -
Dad sagte, daß es noch nie so viele Seevögel wie in diesem Jahr gegeben hat, und ... ich ... ich habe dich vermißt." "Britta, am Sonnabend, nachdem du zurückkommst, könnten wir beide da nicht - ganz allein - an den Strand fahren? Du könntest mir die Vögel zeigen. Wir können nach Pescadero fahren oder an irgendeinen anderen Strand zwischen Half Moon Bay und Santa Cruz." "Okay." Er konnte hören, wie sehr sich Britta freute. "Das ist also eine feste Verabredung. Sieh aber bitte nochmal in deinem Terminkalender nach, ob du an diesem Tag auch wirklich frei hast. Und frage deinen Vater rechtzei-tig, ob du auch das Auto kriegen kannst." "Mach ich. Keine Sorge, es wird nichts dazwischen kommen. Diesmal pack ich's." "Du, Tom..." Britta zögerte. "ich würde wirklich gern mit dir auf diese Silves-terparty gehen." "Ich wünschte mir auch, du würdest mitkommen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr." "Nun dann wünsche ich dir jetzt schon Frohe Weihnachten, Tom." "Ach, Britta, ich kann's kaum erwarten, daß du wieder zurückkommst." Toms Stimme verriet all seine Gefühle. Britta lachte leise. "Noch bin ich ja gar nicht weg." Tom wußte genau, daß es mit der neuen Verabredung klappen würde. Sie freuten sich beide wahnsinnig aufeinander. Tom konnte sich um die Neujahrsfete nicht herumdrücken, obwohl er ohne Britta überhaupt keine Lust hatte, zu Jennifer zu gehen. Jedenfalls mochte er kein anderes Mädchen einladen. Er wußte, daß Jennifer Baines erwar-tete, daß er ihren Partner spielen würde. Vielleicht war das gar nicht so schlecht. - 78 -
Jennifer würde als Gastgeberin viel zu tun haben, und er mußte sich nicht allzu viel um sie kümmern. Er würde einfach hingehen, kurz dableiben und wieder abhauen. Es war die erste Silvesterparty, zu der er eingeladen war. Sonst war er immer bei sei-nen Eltern zu Hause geblieben. "Stellt euch vor", verkündete Sarah, als sie gerade mit ein paar Klassenka-meraden beim Lunch in der Cafeteria saßen, "bald kommt Janine wieder. Dann wird sie uns alles über Südamerika erzählen." Tom ärgerte sich erneut über diesen schmalzigen Brief, den er Janine ge-schrieben hatte. Wie sollte er sich ihr gegenüber verhalten? Damals, als er gerade zum Oberstufensprecher gewählt worden war, hatte er ihr über-schwenglich versichert: "Nächstes Jahr kandidiere ich für den Posten als dein fester Freund." "Craig Matthews kommt übrigens auch zu meiner Silvesterfete", erzählte Jennifer. "Ich habe bei ihm zu Hause angerufen. Seine Mutter wollte es ihm ausrichten. Sie hat gestern bei mir zurückgerufen und gesagt, daß Craig erst mit Janine zu einer Fete von seinem alten Basketballteam geht. Aber danach wollen sie bei mir vorbeikommen." Am Silvesterabend war Tom total genervt. Die Party sollte erst um neun Uhr losgehen. Er hing in seinem Zimmer herum und wußte nichts mit sich anzufangen. Zu allem Übel hatte sich Sandy ein paar Freundinnen eingeladen. Die rann-ten kichernd im Haus herum und riefen alle möglichen Leute an, um ihnen ein frohes neues jahr zu wünschen. Tom ging in die Küche und schmierte sich aus lauter Langeweile ein Brot mit Erdnußbutter. Vicky und ein anderes - 79 -
Mädchen holten sich gerade eine Cola aus dem Kühlschank. Gottseidank konnte er bald gehen. Bei Jennifer war es auch nicht viel besser. Aller warteten auf Janine und Craig. Tom stopfte Unmengen von Chips und Erdnüssen in sich hinein und trank mindestens sechs Dosen Cola, um die Zeit rumzukriegen. "Sieh mal, was ich mitgebracht habe. Die können wir um Mitternacht knallen lassen." Art grinste Tom verschwörerisch an und zeigte ihm eine Plastiktüte mit Feuerwehrkskörpern. Die hatte ihm sein Vater, der als Pilot bei der Navy arbeitete und oft in ferne Länder kam, von da mitgebracht. "Du kannst mir nachher helfen." Warum tanzt ihr denn nicht?" Jennifer scheuchte die Jungen hoch und schnappte sich Tom als Tanzpartner. Tom mochte die laute Rockmusik, und er machte eine wilde Show. Er war froh darüber, daß endlich etwas passierte. Bei der nächsten Platte tauschten sie die Partner, und er tanzte mit Sarah. "Wenn sie doch bloß bald kommen würden." Sarah war schon ganz ungeduldig. "Hoffentlich noch vor zwölf", sagte Tom. "Craig Matthews hat ziemlich viele Freunde, die er begrüßen muß. Schließlich war er einer der besten Sportler unserer Schule." Tom wurde immer aufgeregter. Er fürchtete sich vor dem Zusammentreffen mit Janine. Wenn doch nur Britta hier wäre. Dann wären die Verhältnisse klar, und weder Craig noch Janine brauchten sich Gedanken darüber zu machen, ob er immer noch hinter ihr her war. Um halb zwölf kamen sie endlich. Es klingelte, und alle drängten sich im Flur. Es gab ein lautes Hallo. Jeder wollte Janine umarmen. Sie sah toll aus in ihrem spitzenbesetzten Folklorekleid aus Uruguay. Craig war immer noch der strahlende Typ wie eh und je. Sein Stern war längst noch nicht verblaßt, obwohl er schon seit - 80 -
einem halben Jahr studierte. Er trug eine kurze, schwarze, knapp sitzende Jacke, die auf den Revers mit Blumen bestickt war. "Die hat mir Janine zu Weihnachten geschenkt", erzählte er voller Stolz. "Das ist eine Gaucho-Jacke aus Uruguay. Ich habe mir gedacht, heute ist genau der richtige Anlaß dafür, sie zutragen." Die Gäste bewarfen Craig und Janine mit Papierschlangen und Konfetti. "Die Cowboys in Uruguay tragen diese Jacken zu festlichen Anlässen", erklärte Janine. Als alle sie ausgiebig begrüßt hatten, legte Craig den Arm um ihre Schultern, als ob er sie vor der Menge beschützen wollte. Er schien überglücklich, sie nach sechs Monaten endlich zurückzuhaben. Tom hatte einen Kloß im Hals. Die beiden liebten sich so sehr. Wieder dachte er an Britta, die jetzt da unten in Baja California saß und Pelikane beobachtete.
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6. KAPITEL Craig und Janine gingen ins Wohnzimmer.Beide trugen, wohl noch von der vorherigen Party, goldene Neujahrshüte mit roten Federn. "Du mußt uns ganz genau erzählen, wie's war", forderte Jennifer Janine gespannt auf. "Es war Klasse", sagte Janine. "Aber ich habe heute auf der anderen Party alles schon mal erzählen müssen. Außerdem werde ich, wenn die Ferien vorbei sind, in der Schule einen Vortrag halten. Du müßtest dir dann die ganzen Geschichten zweimal anhören. Also, lassen wir das besser für heute. Erzähl mir doch lieber, was hier inzwischen so alles gelaufen ist. Ich habe überhaupt nichts mehr gehört, seit ich weggegangen bin." Plötzlich entdeckte sie Tom. "Tom Roberts!" rief sie und ging auf ihn zu. "Das ist ja kaum zu glauben. Was ist denn mit dir passiert? Du bist ja wohl bestimmt zwanzig Zentimeter gewachsen." Sie schaute Craig an. "Findest du nicht auch, daß sich Tom unheimlich verändert hat?" "Mensch, du bist wirklich in die Höhe geschossen", stimmte Craig zu. "Wie hast du das bloß gemacht? Unmengen von Spinat gegessen, oder?" "Ich muß mich immer so strecken, wenn ich den Pizzateig in die Luft werfe", lachte Tom. Das war sein Standard-Spruch, wenn ihn Leute; auf sein plötzliches Wachstum ansprachen. Janine hängte sich bei Tom und Craig ein. "Kommt, laßt uns noch ein bißchen reden." Sie setzten sich alle drei auf die Couch. - 82 -
"Das letzte Mal, als wir dich sahen, warst du gerade zum Oberstufensprecher gewählt worden", erinnerte sich Craig. "Ach, das ist keine so große Sache", wehrte Tom ab. "Ich bin erstaunt, daß du dich überhaupt daran erinnerst. Schließlich gehst du doch inzwischen zur Uni. Wie geht's dir denn da überhaupt?" "Och, ist ganz gut dort", sagte Craig. "Aber ich bin froh, wenn Janine auch endlich da studiert." Zärtlich lächelte er seine Freundin an. "Vielleicht werde ich ja gar nicht angenommen. Die haben immer so viele Bewerber", gab Janine zu bedenken. Sie blickte Craig bewundernd an. Tom fühlte sich ziemlich überflüssig. Jennifer verteilte Papierhüte, Pappnasen und Knaller. "Es ist fast Mitternacht", verkündete sie. "Ihr müßt euch fertigmachen. Der Countdown läuft gleich!" Tom nahm einen Hut und bekam ein aufforderndes Lächeln von Jennifer. Mit Schrecken fiel ihm ein, daß es ja so üblich war, am Silvesterabend um zwölf seine Partnerin zu küssen. Craig würde Janine küssen, Steve seine Freundin Sarah, Art Connie, und überhaupt würde jeder seine Begleiterin küssen. Jennifer und er würden übrigbleiben. Tom überlegte, wie er vor dem unvermeidlichen Kuß fliehen konnte. Er stand auf, setzte den Papphut, der wie die Mütze eines Spielzeugsoldaten aussah, auf den Kopf. "Ich muß um Mitternacht etwas Wichtiges erledigen", erklärte er Janine und Craig. "Wir sehen uns später noch." "Hey, Art", rief er seinem Freund zu. "Wollten wir nicht um zwölf die Böller loslassen?" "Klar", sagte Art. "Connie, kommst du mit raus? Wir gehen, nach hinten in den Garten. Da können wir prima knallen und die Nachbarn schocken. Dann merken die wenigstens auch, daß das neue Jahr angefangen hat." "Es ist aber ziemlich kalt draußen." - 83 -
"Dann hol doch deinen Mantel." Connie schien gar nicht begeistert zu sein, im Gegenteil. Sie rührte sich nicht vom Fleck. Art war so fasziniert von seinen Knallkörpern, daß er sich nicht weiter um seine Freundin kümmerte. Tom und er liefen in den Garten, und sobald sie den ersten Glockenschlag von der Kirchturmuhr hörten, zündeten sie einen Böller. Es krachte eindrucksvoll. Art und Tom hörten, wie auch andere Leute in der Nachbarschaft einen Heidenlärm veranstalteten. Sie läuteten Glocken, trommelten auf Pfannen herum und starteten ebenfalls Knaller. Direkt über ihnen explodierte am nachtschwarzen Himmel eine rote Rakete. "Wahrscheinlich in China-Town gekauft", sagte Art. Er war ganz wild darauf, die nächsten Kracher zu zünden. Draußen war es dunkel, nur das Licht aus den Fenstern fiel auf den Hof. Man konnte in das Wohnzimmer hineinsehen. Craig und Janine saßen immer noch auf dem Sofa. Craig hatte den Arm um Janine gelegt, und sie waren völlig versunken in einem langen, zärtlichen Neujahrskuß. Tom dachte daran, wie er einmal versucht hatte, Janine zu küssen. Damals hatte er keinen Erfolg gehabt, weil sie so sehr in Craig verliebt war. Die beiden sahen so aus, als ob sie zusammengeschweißt wären. Tom beobachtete, wie Steve Sarah küßte. Und auch die anderen tauschten Neujahrsküsse aus und wünschten sich fröhlich ein gutes neues Jahr. Konfetti und Papierschlangen flogen durch den Raum. Es herrschte ein unglaublicher Trubel. Craig und Janine kriegten aber anscheinend überhaupt nichts davon mit, so sehr waren sie mit sich und ihren Gefühlen beschäftigt. Wenn Britta hier bei ihm wäre, hätten sie sich sicher ähnlich wie Craig und Janine gefühlt. So aber konnte Tom einfach - 84 -
nicht länger hinsehen. Er hatte Sehnsucht nach Britta. Ein warmes, erregendes Gefühl stieg in ihm auf, als er an ihre Verabredung am kommenden Sonnabend dachte. Den ganzen Tag würde er mit ihr am Strand verbringen. Art und Tom schossen die restlichen Feuerwerkskörper ab und stimmten in die Neujahrsrufe, die in der ganzen Nachbarschaft erklangen, mit ein. Erst als der Lärm und die Stimmen leiser wurden, traute sich Tom wieder hinein. Die allgemeine Küsserei war zum Glück beendet. Selbst Craig und Janine hatten sich voneinander gelöst, und es bestand wohl keine Gefahr mehr, daß Tom Jennifer küssen mußte. Ein leichtes Schuldgefühl beschlich ihn nun allerdings doch, weil Jennifer ihn als ihren Partner für heute abend ansah. Bisher hatte er sich überhaupt noch nicht um sie gekümmert. "Was ist denn mit Connie los? Sie hat sich ja gar nicht draußen bei uns blicken lassen", merkte Art erst jetzt. "Ist ihr wohl zu kalt." "Laß uns mal die Papierreste hier mitnehmen", sagte Art. Dann gingen sie hinein. Connie und Jennifer sahen ziemlich sauer aus. "Hey, wie fandet ihr denn unser Feuerwerk?" Tom strahlte die beiden an. "Wir haben das neue Jahr ausgiebig begrüßt." Jennifer sah ihn kühl an, und auch Connie zeigte Art die kalte Schulter. Art merkte sofort, daß etwas nicht in Ordnung war und versuchte, Connie zu versöhnen. "Was ist denn mit dir los? Warum bist du denn nicht nach draußen gekommen?" "Wenn es am Silvesterabend zwölf Uhr schlägt, so ist das ein ganz besonderer Zeitpunkt", sagte Connie anklagend. Jennifer schoß bitterböse auf Tom ab. Mensch, war die sauer! Er dachte daran, wie wichtig sie für ihn war. Er mußte sich auf Jennifer verlassen können, wenn die geplanten - 85 -
Schulfeste ein Erfolg; werden sollten. Deshalb durfte er es sich auf keinen Fall mit ihr verderben. "Du, Jennifer, ich habe dir ja überhaupt noch kein frohes neues Jahr gewünscht." Tom gab ihr einen freundschaftlichen Stubs und einen leichten Kuß auf die Wange. "Art und ich waren so damit beschäftigt, deiner Party den richtigen KnallEffekt zu geben." "Vielen Dank", sagte Jennifer mit schneidender Ironie. "Wollen wir tanzen?" schlug Tom vor. Er gab sich jetzt echt Mühe, um wieder Gnade vor ihren Augen zu finden. "Okay." Jennifer war zum Giück einverstanden. "Und danach werden wir alle zusammen essen." "Ich helfe dir beim Vorbereiten. Du weißt ja, daß ich ein berufsmäßiger Koch bin." Für den Rest des Abends kümmerte er sich intensiv um Jennifer. Janine brachte den anderen einen südamerikanischen Tanz bei, den "Pericón": "So tanzen die Cowboys, die man in Uruguay Gauchos nennt, auf Festen. Dazu haben sie dann so eine Jacke an wie Craig", erklärte sie. Danach aßen sie ausgiebig. Es gab Rühreier, Schinken und Würstchen. Janine erzählte nun doch von Uruguay. "Ich wette, du bist unheimlich aufgefallen mit deinen blonden Haaren zwischen all den dunklen Südamerikanern", sagte einer der Gäste. "Nein, nicht besonders", sagte Janine. "In Uruguay gibt es viele blonde Menschen. Damals ist das Land nämlich nicht nur von Spaniern und Portugiesen besiedelt worden, sondern auch von vielen Mitteleuropäern." "Was macht die Basketballspielerei?" wollte Tom von Craig wissen. "Wir haben schon ein paar Trainingsspiele gehabt. Die Saison beginnt offiziell am nächsten Freitag", sagte Craig. - 86 -
"Ach, Tom, du bist ja auch ein Basketballfan. Wie wär's, wenn ich dir für nächsten Freitag ein paar Frei-karten besorge?" "Es ist ganz schön weit bis Berkeley", sagte Tom. "Aber vielleicht kann ich kommen. Meine Eltern fahren nächstes Wochenende zu einer Tagung. Meine Tante kommt und versorgt meine Schwester und mich. Ich kann dann das Auto haben." "Na also, warum kommst du dann nicht einfach rüber?" Craig zog zwei Ein-trittskarten aus seiner Brieftasche. Bevor er weitersprach, nahm er Tom etwas zur Seite. "Du, Tom, ich habe gerade eine prima Idee. Janine und du, ihr habt euch doch immer gut verstanden, und ich weiß, wie gern sie sich ein Spiel ansehen möchte. Kannst du nicht mit ihr zusammen kommen? Nach dem Spiel zeige ich euch dann die Stadt, und wir machen einen Zug durch die Studentenkneipen." "Klasse", sagte Tom, "das wäre super." Er stellte sich vor, wie toll es sein würde, mit einem berühmten Basketballspieler aus dem Uni-Team an seiner Seite durch die Stadt zu ziehen. Andererseits kam es ihm doch komisch vor, Janine zu einer Verabredung mit ihrem Freund zu fahren. Craig runzelte die Stirn. "Weißt du, für Janine und mich ist es nicht so einfach, uns zu treffen, weil ich am Wochenende immer spielen muß. Deshalb wäre ich froh, wenn du sie mitbringen würdest. Ich zahle dir auch das Benzin, weil es ja ein ziemlich weiter Weg ist." "Das brauchst du doch nicht. Aber, weißt du, ich muß am Wochenende auch noch ans Meer fahren. Und da würde es mir eigentlich doch helfen." Was Craig wohl von ihm halten würde, wenn er von dem Brief wüßte, den er Janine geschrieben hatte, um sie Craig auszuspannen. "Komm, wir besprechen das mal mit Janine", sagte Craig und zog Tom zu seiner Freundin hinüber. Craig ging freudestrahlend zu Janine. "Stell dir vor, Tom - 87 -
kommt nächsten Freitag zu unserem Spiel nach Berkeley, und er hat nichts dagegen, dich mitzunehmen. Danach werden wir uns alle drei in das Nachtleben stürzen." Janirie lächelte Tom an."lst das wahr? Wie toll!" Bevor er am Freitag Janine abholte, rief Tom bei Britta an. Er wollte wissen, ob sie aus Baja California zurück war, und ob sie ihre Verabredung für den Sonnabend nicht vergessen hatte. Natürlich nicht. Sie freute sich schon darauf., Eigentlich hatte Tom nun überhaupt keine große Lust mehr, nach Berkeley zu fahren. Lieber wäre er zu Hause geblieben und früh schlafen gegangen, um sich auf den Tag mit Britta vorzubereiten. Janine schien seine fehlende Begeisterung sofort zu spüren. "Das wird eine ganze schön lange Fahrt für dich. Craig hätte dich nicht darum bitten sollen. Nur um ein Basketballspiel zu sehen, ist es wirklich zuviel Aufwand." Tom fühlte sich nicht wohl. Hoffentlich dachte Janine nicht, daß er immer noch in sie verknallt war. Er wollte so unverbindlich wie möglich sein. "Nein, ich fahre wirklich gern hin. Sonst mache ich doch nur jeden Abend das-selbe. Entweder gehe ich in einen blöden Film, oder ich treffe mich mit Steve und Art, und wir veranstalten irgendwelchen Unsinn. In so einer Uni-versitätsstadt ist bestimmt viel mehr los." "Nächstes Jahr gehen wir auch zur Uni', sagte Janine. "Ich schreibe gerade meine Bewerbung für Berkeley." "Ich gehe da nicht hin", erklärte Tom. "Wahrscheinlich schreibe ich mich an der staatlichen Uni ein. Erzähl mir doch noch ein bißchen von Südamerika. Wie war denn die Stadt, in der du gelebt hast?" "Montevideo? Sehr malerisch und unheimlich alt. Die Stadt - 88 -
liegt an einem Fluß, dem Rio de la Plata. Bevor er ins Meer fließt, ist er so breit, daß man das gegenüberliegende Ufer nicht mehr sehen kann. Einmal sind wir mit einem Boot quer rübergefahren. Da kommt man in Buenos Aires an. Das liegt in Argentinien. Auf diese Weise habe ich noch ein südamerikanisches Land gesehen." Janine erzählte weiter von der Familie, in der sie gelebt hatte und von ihrer Freundin, Esperanza. "Eine Sache finde ich an so einem Auslandsaufent-halt nicht so gut. Wenn du bei einer Familie wohnst, wirst du in deren Leben total mit einbezogen. Du findest neue Freunde, und gerade, wenn du dich etwas eingelebt hast, ist das halbe Jahr um, und du mußt wieder weg. Ich bin zwar gern wieder nach Hause gekommen, aber irgendwie ging mir das alles viel zu schnell. Ich habe das Gefühl, daß ich dort eine Menge unerle-digter Dinge zurückgelassen habe." "Hattest du dort einen festen Freund?" "Da unten geht doch alles sehr viel strenger und konservativer zu als bei uns. Esperanza zum Beispiel geht in eine katholische Mädchenschule, zu der ich dann auch ging. Wir durften uns überhaupt nie allein mit einem Jungen treffen. Ich habe Esperanza erzählt, wie locker wir uns hier verabreden und miteinander ausgehen. Sie ist ganz wild drauf, mich zu besuchen und zu sehen, ob das wahr ist." Soll ich Janine erzählen, daß ich mich in Britta verliebt habe, überlegte Tom. Aber bevor er sich dazu durchringen konnte, waren sie schon am Stadtrand von Berkeley angekommen. Craig hatte Janine erklärt, wie sie zur Basketballhalle fahren mußten. Sie hatte es sich aufgeschrieben und dirigierte Tom, der sich jetzt ganz aufs Fahren konzentrieren mußte, durch den Verkehr. "Da vorn mußt du links abbiegen." Sie parkten vor der - 89 -
Halle, stiegen aus und suchten drinnen nach ihren Plätzen. "Komisch, wenn man bei so einem Spiel gar keinen kennt", sagte Tom. Er sah sich in der riesigen Halle um. "Ja", stimmte Janine zu. "Ganz anders als letztes Jahr. Weißt du noch, da haben wir immer unseren Freunden Papierschwalben zugeworfen, wenn wir bei einem Spiel waren. Und überhaupt, wenn ich daran denke, wieviel Quatsch wir gemacht haben!" "Aus dem Alter bin ich inzwischen raus." "Du hast dich ganz schön verändert, Tom. Viel mehr als alle anderen, die ich kenne." "Immerhin bist du sechs Monate weggewesen. In der Zeit ist viel passiert." "Du hast eine große Verantwortung als Oberstufensprecher!" "Ja, und außerdem..." Tom wollte gerade anfangen, ihr von Britta zu erzählen, doch da wurde das Spiel angepfiffen. "Wo ist denn Craig?" Janine suchte ihn unter den Spielern, die auf dem Spielfeld herumliefen. "Ich sehe ihn nicht", sagte Tom. "Das ist doch seine Mannschaft, oder. Die in den roten Trikots." "Ja, das sind sie. Mein Gott, sind die alle groß. Aber ich kann Craig nicht entdecken." Das Spiel war in vollem Gange. Tom und Janine waren verwirrt. Endlich sah Tom Craig. Er stand außerhalb des Spielfeldes bei der Trainerbank und winkte wie wild, um Janine auf sich aufmerksam zu machen. "Du, Janine, da drüben ist Craig." Tom zeigte auf ihn. "Er spielt ja gar nicht." Janine war enttäuscht. "Wahrscheinlich wird er später eingewechselt." Das Spiel lief weiter. Einmal merkte Tom, daß Janine gähnte. Es war ihr peinlich. "Ich habe die Zeitverschiebung zwischen Montevideo und hier - 90 -
noch nicht überwunden." Ab und zu lächelte Craig zu ihnen herüber. Seine Mannschaft lag im Rückstand. "Wenn sie doch endlich Craig hineinnehmen würden", jammerte Janine. "Erst waren sie so wild drauf, daß er hierherkommt, und dann lassen sie ihn nicht spielen!" "Du darfst nicht vergessen, daß er für diese Mannschaft ein Neuling ist", tröstete Tom sie. "Hoffentlich ist das Spiel bald vorbei. Ich habe Lust, mir das Nachtleben anzusehen." "Ich auch. Vielleicht werde ich ja auch bald hier leben." Tom und Janine warteten vor den Umkleideräumen auf Craig. Es dauerte nicht lange. Er schlich sich von hinten an Janine heran und umarmte sie. Erschreckt schrie sie auf. Die beiden küßten sich, und dann schüttelte Craig Tom die Hand. "Wir sind früh dran. Ich brauchte nicht zu duschen, weil ich nicht gespielt habe. Also, Freunde, erster Programmpunkt ist das Essen. Es gibt einen guten italienischen Laden." "Bloß nicht", wehrte Tom ab. "Denk dran, daß ich in einer Pizzeria arbeite." "Na gut." Craig lachte. Er legte seinen Arm um Janines Schultern. "Dann suchen wir was anderes. Ich habe unheimlichen Hunger." Sie schlenderten die Straße entlang. Craig entdeckte ein chinesisches Restaurant. "Das soll gut sein. Ich war aber noch nie selber dort." "Ich mag chinesisches Essen gern", sagte Tom. "Vor allen Dingen kriegt man da immer schöne große Portionen." Sie bestellten Krabben und Curryhuhn. Die Sojabohnensprossen und den Reis, die Beilagen zum Essen, versuchten sie mit Stäbchen zu essen. Craig erzählte von seinem Leberi an der Uni. "Nachher zeige ich euch, wo ich wohne", kündigte er an. "Weil ich dieses Stipendium wegen meiner Basketballspielerei - 91 -
habe, wohne ich mit den anderen aus dem Team zusammen in einem Studentenwohnheim. Wir müssen alle ganz schön hart arbeiten, denn die Konkurrenz ist groß. An dieser Uni gibt es viele schlaue Typen und klasse Sportler. Wer bei den Klausuren und Zwischenprüfungen schlecht abschneidet, fliegt aus der Mannschaft raus." Neben jedem Teller lag ein Knallbonbon. Craig öffnete seins zuerst."Das beste an dir ist dein sonniges Lächeln", las er. "Das stimmt", sagte Janine und faltete ihren Zettel auseinander. "Du bist glücklich verliebt", stand da. "Vor der Morgendämmerung ist es immer am dunkelsten", las Tom. "Was soll das denn bedeuten? Hoffentlich nicht, daß ich eine Pechsträhne habe." Nach dem Essen zeigte Craig ihnen sein Zimmer. Sein Mitbewohner, ein großer, farbiger Student, machte sich gerade zum Ausgehen fertig. "Er hat auch nicht gespielt", erzählte Craig. "Beim Training hat er sich das Knie verletzt." Danach gingen sie durch die Stadt zum dem Platz, wo sich die meisten Studenten-Cliquen von Berkeley trafen. Es war unheimlich viel los. In einem kleinen Café tranken sie einen Cappuccino. "Warum haben sie dich denn eigentlich nicht spielen lassen?" fragte Janine. Craig lachte. "Vielleicht hätten sie mich für ein paar Minuten hineingenommen, wenn wir am Gewinnen gewesen wären. Weißt du, ich bin hier nicht der Star!" Das stimmte. Niemand schien Craig zu kennen. In der Schule waren immer tausend Leute auf ihn zugekommen, wenn er sich irgendwo blicken ließ. "Ich kann nicht so lange bleiben", sagte Tom schließlich. "Morgen muß ich früh aufstehen. Ich habe eine Verabredung zu einem Ausflug ans Meer." "Ich bin auch ein bißchen müde", sagte Janine. "Wann - 92 -
kommst du mal wieder zu uns?" fragte sie Craig. "Das wird schwierig, weil wir ja jedes Wochenende ein Spiel haben. Ich rufe dich an." "Du solltest es auf jeden Fall so einrichten, daß du zu unserer großen Schulfete am Valentinstag kommen kannst", drängte Tom. "Das wird die stärkste Fete, die es je an unserer Schule gegeben hat. Wir haben eine Superband engagiert." Gemeinsam gingen sie zum Parkplatz. Craig und Janine hielten Händchen. Tom stieg schon ins Auto. Er kam sich überflüssig vor, erst recht, als Craig seiner Freundin einen langen Abschiedskuß gab. Endlich. trennten sich die beiden. Craig öffnete die Beifahrertür für Janine und kam dann zu Toms Seite hinüber, um ihm noch einmal zu danken, daß er Janine hergefahren hatte. "Du weißt gar nicht, was für einen riesigen Gefallen du mir damit getan hast." Tom grinste breit. "Doch, das kann ich mir sogar sehr gut vorstellen." Sie fuhren los. Craig stand winkend auf dem Parkplatz. Er sah einsam und verlassen aus. Es war eine lange Fahrt von Berkeley durch San Francisco bis zu dem Vorort, in dem Tom und Janine wohnten. Tom mußte sich bei dem starken Verkehr total aufs Fahren konzentrieren. Erst als er die richtige Ausfahrt gefunden hatte, sprach er wieder. "Meine Güte. Dieser Verkehr ist irre. Hier kannst du dir ganz schnell mal 'ne Beule am Auto holen." "Du, Tom, ich weiß, daß es für dich ganz schön nervig war, mich nach Berkeley zu kutschieren. Eigentlich war es nicht ganz fair, daß wir dich darum gebeten haben." Der Brief, den Tom an Janine geschickt hatte und der - 93 -
Versuch im letzten Jahr, sie zu küssen, standen unausgesprochen zwischen ihnen, "Es war nicht nervig. Mir hat es Spaß gemacht. Schließlich hat Craig mich zum Essen eingeladen, und ich habe eine der tollsten Unistädte des Landes kennengelernt." "Mir hat es auch gefallen. Aber weißt du, Tom, irgendwie kam mir Craig verändert vor. Oder irre ich mich?" Tom horchte auf. Hoffentlich hatte Janine jetzt nicht genug von Craig und wollte mit ihm gehen. Da war dieser blöde Brief, in dem Tom ihr seine Gefühle gestanden hatte. Sie konnte ja nicht wissen, daß nichts mehr von dem was er geschrieben hatte, stimmte, jetzt, wo es Britta gab. "Ich glaube, das kommt dir nur so vor, weil er bei uns in der Schule immer der Supertyp gewesen ist. Jeder kannte ihn. In Berkeley ist er eben einer unter Tausenden. Hunderte von gutaussehenden Typen rennen da rum. Du bist vielleicht nur ein wenig enttäuscht, weil er sich nicht aus der Masse hervorhebt, sondern auf der Bank sitzt und in der Menge untergeht." "Du hast recht. Die anderen Basketballspieler sind alle älter und besser als er. Und kein Mensch auf dem Campus oder in den Kneipen kennt ihn." "Ja, so kann's einem gehen. Wenn man an einer riesigen Uni studiert, ist es leicht möglich, daß man vom Superstar zu einem ganz normalen Menschen wird." "Ein kleiner Fisch in einem großen Teich." Janines Stimme klang traurig. Eine Zeitlang schwiegen sie. Dann sagte Tom:"lch weiß noch ganz genau, daß ich das gleiche Gefühl hatte, als ich von der Grundschule in die High School wechselte. Plötzlich waren da furchtbar viele Leute, und alle sahen so groß und wichtig aus." "Ja, daran erinnere ich mich auch noch", sagte Janine. - 94 -
"Wahrscheinlich wird es uns nächstes Jahr wieder so gehen." "Jedenfalls werde ich dann kein Sprecher von irgendetwas sein", vermutete Tom. "Und niemand wird es interessant finden, daß ich mal ein halbes Jahr im Ausland war. In Berkeley gibt es bestimmt mehrere Dutzend ehemalige Austauschschüler, falls ich dort angenommen werde." "Na ja, das ist alles ganz egal, Janine. Craig ist zwar in einer anderen Umgebung und scheint nicht mehr so eine große Nummer zu sein, aber er sollte für dich doch so wichtig wie früher bleiben." Tom wollte sichergehen, daß Janine sich nicht gegen Craig und für ihn entschied. "Craig ist doch echt verrückt nach dir. Und er ist immer noch ein genauso toller Typ wie damals. Er selbst hat sich doch nicht verändert. Lediglich seine Umgebung und sein Status. Wenn er länger da ist, wird er auch wieder der Star sein. Also, gib ihn nicht auf. Du hast den stärksten Typen von der Welt, Janine!" "O nein, ich denke gar nicht daran, ihn aufzugeben", rief Janine. "Mir ist es ganz gleich, ob er ein Star ist. Im Gegenteil, ich habe mir sogar oft gewünscht, daß er nicht so beliebt ist, weil er dadurch so hoch über mir schwebte. Es würde mir aber trotzdem leid tun, wenn er sich da nicht wohlfühlt und in der Menge untergeht." "Er doch nicht!" sagte Tom. "Craig ist nicht der Typ, der sich unterbuttern läßt. Ich vermute aber, daß er dich unheimlich vermißt und sich wünscht, daß du endlich bei ihm bist." Tom machte eine Pause. Dann fragte er: "Sag mal, Janine, erinnerst du dich an den Brief, den ich dir nach Uruguay geschickt habe?" "Das war ein sehr netter Brief, Tom. Aber ich war ganz durcheinander, als ich ihn las. Es ist natürlich toll, wenn man - 95 -
weiß, daß es jemanden gibt, der einen gern mag. Aber andererseits machte es mich traurig, weil ich doch schon so lange in Craig verliebt war und genau wußte, daß ich deine Gefühle nicht erwidern konnte. Du bist immer ein sehr guter Freund für mich gewesen. Irgendwie habe ich mich schuldig gefühlt und mich deshalb nicht getraut, dir eine enttäuschende Antwort zu schreiben." Janine sah betroffen aus. "Du brauchst dir meinetwegen keine Sorgen mehr zu machen." Tom lächelte. "Gleich nachdem ich dir den Brief geschrieben hatte, lernte ich ein Mädchen kennen und habe mich ganz schön verliebt. Morgen fahre ich mit ihr zusammen ans Meer." "Mensch, Tom!" Janine war überrascht und erfreut zugleich. "Das ist ja toll. Wer ist sie? Ich habe gehört, daß du dich öfter mit Jennifer Baines triffst." "Das ist nur ein Gerücht. Jennifer ist nett, aber sie ist nicht mein Typ. Ich habe sie nur mal auf ein paar Feten getroffen, aber sonst nie. Das andere Mädchen ist umwerfend. Ich bin richtig verknallt." "Also los, erzähl schon, Tom." "Sie heißt Britta, aber sie geht nicht bei uns zur Schule, sondern in die Orchard High School." "Ganz schön weit weg. Wie hast du sie kennengelernt?" "Das ist eine unglaubliche Geschichte. Zuerst waren da diese Pfauen..." Tom erzählte Janine, wie er Britta begegnet war. "Weißt du, ich habe vorhin zu dir gesagt, daß Craig für dich der beste Typ ist. Und Britta ist das beste Mädchen für mich. Sie wirkt wie eine Prinzessin. Das ist übrigens auch iher Spitzname." "Du machst mich richtig neugierig. Ich möchte sie unbedingt kennenlernen." "Vielleicht klappt das ja bald mal. Im Moment ist alles noch ganz neu für mich, ich lerne sie doch gerade erst ein wenig - 96 -
besser kennen. Übrigens weiß keiner von ihr, außer dir. Sag es bitte auch niemandem, nicht Steve und Art oder Sarah. Ich habe es dir nur erzählt, damit du dir wegen meiner Gefühle dir gegenüber keine Gedanken machst." Janine lachte erleichtert. "Tom, vielleicht werde ich es sogar vermissen, daß du nicht mehr mit mir gehen willst. Es gibt einem Mädchen Selbstvertrauen, wenn sich ein gutaussehender Typ für sie interessiert. Du bleibst für mich immer einer meiner besten Freunde, und ich hoffe, das wird sich nicht ändern. Wir beide haben schon soviel Spaß zusammen gehabt." Sie waren inzwischen vor Janines Haus angekommen. Tom drückte ihre Hand. "Freunde für immer." Er lächelte und öffnete ihr die Autotür. Janine gab ihm zum Abschied einen Kuß auf die Wange "Danke für alles", sagte sie. "Und dein Geheimnis mit Britta ist bei mir gut aufgehoben."
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7. KAPITEL Der Wecker klingelte früh am Sonnabendmorgen und riß Tom, aus dem tiefsten Schlaf. Er stöhnte sprang aus dem Bett und ließ sich kaltes Wasser über das Gesicht laufen. Da fiel ihm ein, was heute für ein Tag war. Seine Verabredung mit Brittal Plötzlich war er hellwach und hatte tolle Laune. Das Wetter hätte für solch einen Ausflug zwar besser sein können. Aber was machte das schon wenn er mit Britta unterwegs war? Tom zog einen dicken Schafwollpullover an und griff nach seiner dunkel-blauen Regenjacke. Die hatte eine Kapuze gegen den Seewind, der zu dieser Jahreszeit so kalt sein konnte, daß einem glatt die Ohren abfroren. Tom machte sich ein Lunchpaket zurecht. Er packte Obst, ein Sandwich und ein paar Dosen Cola ein. Dann fuhr er los. Uterwegs dachte er über den gestrigen Abend nach. Alle seine Probleme mit Janine waren gegessen, sie waren weiterhin so gute Freunde, wie sie es immer gewesen waren. Und er hatte sich ausgezeichnet mit Craig Matthews verstanden. Tomm pfiff vor sich hin. Er war richtig gut drauf. Fast hätte er Zeus, den weißen Pfau, überfahren, als er in das Grundstück der Holmstroms einbog. Die Bremsen quietschten, und Zeus stieß einen lauten Schrei aus. Britta kam aus dem Haus gerannt. Sie trug weiße Cordjeans und einen leuchtend blauen Anorak mit Kapuze. "Das war ja knapp", rief sie lächeln und strahlte Tom an. - 98 -
Zeus hatte seine Schwanzfedern ausgebreitet und ging wütend auf Toms Auto los, so als ob er es angreifen wollte. "Komm mal hier rüber, Tom. Von hier aus kannst du die Pfauenaugen in seinen Federn sehen." "Dieser Pfau ist doch schneeweiß." Tom wunderte sich. "Was für Augen?" Britta zog ihn in die richtige Position, so daß er die schöne Zeichnun in den weißen Federn erkennen konnte. "Du hast recht. Da sind ja tatsächlich Pfauenaugen. Ist ja irre." Tom lachte. "Manchmal greifen Pfauen sogar Autos an. Sie sehen nämlich ihr Spiegelbild im Lack und denken, es sei ein Feind. Aber nun komm erst mal rein. Ich muß noch mein Lunchpaket holen. Du kannst Mom und Dad begrüßen." Wie ein Wirbelwind fegte Britta durchs Haus, in die Küche dann nach hinten ins Wohnzimmer. "Mom und Dad, Tom Ist hier. Wir wollen los", rief sie. Jackie kam in den Flur und zog ein Holzauto mit einem Kätzchen drin hinter sich her. Jarnie ging neben ihm und hielt die Katze fest, als sie weglaufen wollte. Mrs. Holmstrom kam durch den Hintereingang ins Haus und hielt einen riesigen Strauß lila Blumen in der Hand. Dr. Holmstrom tauchte aus einem der Zimmer auf. "Wohin fahrt ihr?" fragte er.' "Runter nach Pescadero oder an eine andere Bucht." "Nicht gerade ideales Strandwetter." "Ich konnte an der letzten Exkursion zu den Seevögeln nicht teilnehmen", erklärte Tom dem Professor. An dem Tag mußte ich den Aufnahmetest für die Uni schreiben. Deshalb will Britta mir heute ein paar Seevögel zeigen." "Heute sind bestimmt viele da, Uferschnepfen, Regenpfeifer, Steinwälzer und Austernfischer. Vergeßt die Ferngläser nicht." - 99 -
Dann fuhren sie los. Endlich allein! Tom schaute Britta an. Sie hatte die Ka-puze über den Kopf gezogen, so daß ihr wunderschönes Haar nicht zu se-hen war. Britta lächelte. "Es ist so toll. Ich hatte schon Angst, daß wieder etwas dazwischenkommen würde." "Nein, nie wieder!" "Kriegst du keinen Ärger, wenn du das Auto den ganzen Tag hast?" "Nein, meine Eltern sind dieses Wochenende gar nicht da. Meine Tante ist bei uns, und die hat ihr eigenes Auto." "Dann können wir also so lange bleiben, wie wir Lust haben?" "Ich muß erst um halb sechs in der Pizzeria sein." "Prima, dann haben wir den ganzen Tag Zeit." Sie fuhren inzwischen die Küstenstraße entlang. Von hier oben hatten sie einen weiten Blick über die zahlreichen breiten Sandbuchten, die immer wieder von riesigen Felsvorsprüngen unterbrochen wurden. "Zwischen solchen Felsen leben Austernfischer und Steinwälzer", erklärte Britta. Tom parkte das Auto oben an der Steilküste. Sie stiegen aus. Die Lunchpakete hatten sie in ihren Nylonrucksäcken verstaut. "Heute ist kein Mensch am Strand", stellte Tom fest. "Viele Leute lassen sich vom Wetter abschrecken. Aber ich mag es besonders gern, wenn die Wellen so auf den Strand klatschen. Ich gehe auch gern im Regen hier spazieren." Eine ganze Schar von Seevögeln tummelte sich in der auslaufenden Brandung. Wie aufziehbare Spielzeugvögel sahen sie aus. "Diese Strandläufer sind so schnell, daß es aussieht, als ob sie Räder statt Beine hätten." Tom lachte. Sie beobachteten, wie die Vögel im Rhythmus der Wellen vor- und zurückliefen - 100 -
und unsichtbare Nahrung aus dem Sand pickten. "Du, Britta, sieh mal, da draußen auf der Schaumkrone. Was ist das denn für ein Vogel?" Britta sah durch ihr Fernglas. "Das ist kein Vogel, das ist ein Fuß." "Stimmt." Tom blickte jetzt auch durch das Fernglas. "Und da ist noch einer." Er beobachtete, wie außer den Füßen ein auf dem Rücken liegender, pelziger brauner Körper und ein großer dreieckiger Kopf sichtbar wurden. Das Tier schaukelte auf den Wellen. "Ein Seeotter!" rief Britta. "Und so nah am Strand." Tom und Britta sahen zu, wie der Otter sich in den Wellen wiegte. Dann hielten sie den Atem an, als ein riesiger Brecher von hinten kam und den Otter auf den Sand schleuderte. "Du lieber Himmel! Aber das scheint dem überhaupt nichts auszumachen." Tom sah, wie der Otter sich von der nächsten Welle wieder ins tiefere Wasser hinaustragen ließ. Irgend etwas hielt er zwischen den Flossen. "Wahrscheinlich hat er eine Muschel gefunden", rief Britta. Sie berührte Toms Hand, und er hielt sie fest. Der Otter lag auf dem Rücken im Wasser und hielt die Muschel auf seinem Bauch. "Kannst du das sehen, Tom?" Britta starrte durch ihr Fernglas. "Er hat einen Stein auf dem Bauch, um die Muschel aufzuschlagen." Der Otter schaukelte in den rauhen Wellen hin und her und fraß seine Muschel auf. Tom hielt immer noch Brittas Hand. Sie fühlte sich so weich und sanft an. Am liebsten hätte er sie nie wieder losgelassen. Der Otter tauchte unter einer Welle hindurch und kam noch einmal zum Vorschein. Dabei schlug er sich mit einer Flosse - 101 -
auf den Bauch. Danach schwamm er weiter hinaus aufs offene Meer. Britta und Tom gingen schweigend Hand in Hand den Strand entlang. Tom zeigte auf eine Gruppe von gesprenkelten braunen Vögeln mit langen Beinen und sehr langen Schnäbeln. Eifrig wühlten sie damit im Sand. "Was sind das denn für welche?" wollte er wissen. "Uferschnepfen sind das", erklärte Britta ihm. "Ich werde dir erzählen, woran man sie erkennen kann. Wenn sie den Schnabel aus dem Sand ziehen, kannst du sehen, daß er leicht nach oben gebogen ist." "Wonach graben sie?" "Im Sand gibt es alle möglichen Lebewesen. Krabben, kleine Krebse, Insekten und Würmer. Die Natur hat es so eingerichtet, daß alle Strandvö-gel ihren Teil abkriegen. Die kleinen Strandläufer zum Beispiel haben nur kurze Schnäbel. Sie fressen das, was sie oben auf dem Sand finden." Britta lachte hell. "Weißt du was? Ich höre mich bestimmt schon an wie mein Vater. Das liegt daran, daß ich schon so oft bei seinen Vorträgen zugehört habe und jedes Wort auswendig kann." "Du weißt unheimlich viel." Tom bewunderte Britta. "Die Uferschnepfe da drüben hat den längsten Schnabel von allen. Sie sieht aus wie Pinocchio." Tom zeigte auf einen großen, langbeinigen, braungesprenkelten Vogel, dessen Schnabel genauso lang war wie sein Körper. "Das ist keine Uferschnepfe", verbesserte Britta. "Das ist ein Brachvogel. Ich habe dir doch gerade erzählt, daß die Schnäbel der Schnepfen nach oben gebogen sind. Und der da biegt sich nach unten. Daran erkennt man den Brachvogel." "Ich bin überwältigt", stöhnte Tom. "Es gibt zu viele verschiedene Vogelar-ten, die sich äußerlich kaum voneinander unterscheiden." - 102 -
"Los, laß uns einen Wettlauf machen", schlug Britta vor. Sie ließ Toms Hand los und lief davon. Tom nahm die Verfolgung auf, und bald rannten sie in vollem Tempo. Britta war schnell. Tom brauchte seine ganze Kraft, um sie zu überholen. Irgendwann konnte er nicht mehr und warf sich atemlos auf einen Felsvorsprung, der bis ins Meer hineinragte. Britta japste nach Luft, als sie ihn erreichte. "Unfair! Du hast viel längere Beine als ich!" "Du kannst ganz schön rennen!" lobte Tom sie. "Beim nächstenmal schlage ich dich", kündigte Britta an. Zwischen den Felsen entdeckte Britta einen schwarzen Steinwälzer und zeigte ihn Tom. "Einige der Seevögel halten sich in den Felsen auf, nicht am Strand. Sie finden ihre Nahrung unter Steinen und in Felsspalten. Der Steinwälzer hat einen kurzen aber starken Schnabel, der ein klein wenig nach oben gebogen ist. Damit dreht er die Steine um und sucht darunter nach Insekten oder Krebsen." Leider flog der Vogel davon, ohne daß Tom sah, wie er einen Stein umdrehte. Sie gingen weiter den Strand entlang und sahen noch viele verschiedene Seevögel: Schlammläufer, Gelbschenkel und die unterschiedlichsten Variationen von Strandläufern. Sie kamen an einer Gruppe von Vögeln vorbei, die weiße Brustfedern und zwei schwarze Streifen am Hals hatten. "Das sind Regenpfeifer." Britta rannte auf sie zu, und die Vögel flogen mit lautem Geschrei davon. "Diese Vögel tun so, als ob sie einen gebrochenen Flügel hätten, solange sie ihre Jungen beschützen. Der Regenpfeifer gehört übrigens zur Familie der Kibitze." "Britta, frag mich bloß nicht auf dem Rückweg nach irgendeinem dieser Vögel. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Wahrschein-lich kriege ich sie alle durcheinander." - 103 -
"Na gut, der Unterricht ist vorbei. Wollen wir eine Burg bauen?" "Klar." Tom fand die Idee prima. Er suchte eine Stelle aus, wo der Sand naß und fest aussah. Dann fingen sie an zu graben und Sand aufzuschichten. Sie bauten Türme, Wassergräben und Brücken. Britta sammelte Federn und steckte sie oben auf die Türme. Als der Prachtbau fertig war, legten sie ringsum Straßen an, die in die Burg hineinführten. Tom dachte nicht mehr an all die Aufgaben, die vor ihm standen - an sein Amt als Schulsprecher, den Job in der Pizzeria, seinen Entschluß, gute Noten zu kriegen - alles das war weit weg. Er genoß diese Stunden einfach nur aus vollem Herzen. "Du bist Dornröschen im Schloß", sagte er nach einer Weile zu Britta. "Und du der Prinz." "Dann muß ich dich jetzt wachküssen." Tom ging auf Britta zu, die im Sand hockte und eine Straße baute. Sie lächelte ihn an. "Erst mußt du mich kriegen." Britta sprang plötzlich auf und rannte in die schäumende Gischt. Sie schleuderte die Schuhe weg, krempelte die Hosenbeine hoch und watete ins flache Wasser hinein. "Nicht, Britta. Es ist viel zu kalt. Hast du denn vergessen, daß wir Winter haben?" Tom nahm schnell ihre Schuhe und Strümpfe und brachte sie vor dem Wasser in Sicherheit. "Wenn du nicht aufpaßt, werden sie ganz naß." Britta stand bis zu den Knien im Wasser. Sie schaffte es gerade noch, vor einer riesigen Welle davonzulaufen. Der Himmel war jetzt dunkeigrau, und das Meer sah bleiern und bedrohlich aus. - 104 -
Wieder rannte Britta ins Wasser. "Klar ist das kalt. Aber man kann es aushalten. Los, komm auch rein, Tom!" "Britta", warnte Tom. "Die Wellen sind viel höher als sonst. Sei vorsichtig, und komm vor allen Dingen raus, denn ich komme da bestimmt nicht rein!" Tom wollte zwar nicht gern wie ein Feigling wirken, aber er wollte sich auch nicht zu einem totalen Blödsinn hinreißen lassen, nicht einmal von Britta. Diese waghalsige, impulsive Seite ihres Charakters kannte er noch nicht. Sie stand im Wasser und neckte ihn. Tom kämpfte dagegen an, seine Schuhe und Strümpfe auszuziehen, zu ihr zu gehen und sie so lange zu küssen, bis sie wieder vernünftig war. Britta rannte vor einer riesigen Welle davon. Plötzlich schrie sie auf, bückte sich und hob etwas hoch. Es mußte schwer sein, denn sie,ging gebeugt unter der Last, als sie auf Tom zukam. Er entdeckte einen großen Fuß, der aussah wie der einer Ente. "Was ist das? Lebt es?" "Glaube ich nicht." Tom nahm Britta das Federbündel aus den Armen und legte es in den Sand. "Das ist irgendein großer Vogel, der sich in einer Angelschnur verfangen hat." "Guck dir den Schnabel an. Es ist ein Pelikan! Schnell, wir müssen ihn befreien!" "Er lebt", sagte Tom. "Gerade hat er ein Auge geöffnet." Der Vogel hatte oben und unten Augenlider, die sich wie die Blende eines Fotoapparates von beiden Seiten öffneten und scharfe, gelb umringte Pupillen zeigten. "Da steckt der Angelhaken, in der Haut unter seinem Schnabel." "Paß auf, daß du ihn nicht verletzt", mahnte Britta. - 105 -
"Ich war oft mit meinem Vater zum Fischen", sagte Tom."Deshalb weiß ich, wie man einen Angelhaken rauszieht." Ruhig und sicher entfernte er den Haken. Britta streichelte den Pelikan, während Tom versuchte, die Schnur zu entwirren. Sanft strichen ihre Finger über die weißen Federn am Hals des Vogels. "Glaubst du, er ist okay?" fragte sie besorgt. "Jedenfalls lebt er. Allerdings könnte er sich was gebrochen haben, als er mit der Leine gekämpft hat." Durch die Schnur war der Schnabel des Pelikans dicht gegen seine Brust gepreßt, die Flügel und ein Bein waren am Körper festgebunden. Tom befreite als erstes den Schnabel. Der Vogel streckte den Hals und stieß einen lauten Schrei aus. Vor lauter Angst schnappte er nach Tom. Seine Augen funkelten böse. "Paß auf", rief Tom. "Mit dem Schnabel kann er dich ganz schön verletzen." Danach befreite er das Bein, und sofort trat der Pelikan um sich. "Das Bein ist bestimmt nicht gebrochen", stellte Tom fest. Britta hielt den riesigen Vogel fest, der an die zehn Kilo wog. Immer noch streichelte sie ihn. Seine Augen öffneten und schlossen sich träge. "Ich glaube, er fängt an, uns zu vertrauen", meinte sie. Jetzt hatte Tom einen Flügel befreit. Der Pelikan breitete ihn aus. "Wahnsinnig", sagte Tom. "Der ist bestimmt einen Meter lang." "Und er ist in Ordnung", stellte Britta erfreut fest. "Nichts gebrochen, jedenfalls keine von seinen Flugfedern." "So, das war's. Tom zog das letzte Stückchen Schnur von dem zweiten Flügel. Der Vogel blieb ganz still in Brittas Armen sitzen. "Er mag uns." Britta freute sich. "Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet, daß wir hier - 106 -
heute noch einen Pelikan retten würden." "Wer hat schon jemals einen aus dieser Nähe gesehen. Alle Einzelheiten kann man an ihm erkennen." Tom berührte vorsichtig die geribbelten, elastischen Hautlappen, die unter dem Schnabel des Pelikans hingen. Doch jetzt wurde der Vogel unruhig. Nervös bewegte er den Kopf hin und her. "Er will weg", sagte Britta. "Wir sollten ihn lieber freilassen." "Gute Reise, Pelikan! Und nimm dich in Zukunft vor Angelschnüren in Acht." "Komm, wir bringen ihn dahin ans Wasser, wo ich ihn gefunden habe", schlug Britta vor. Sie trugen den Riesenvogel an den Rand der Brandung. Der Pelikan stand auf zitternden Beinen und breitete die Flügel aus. Die Gischt wirbelte um seine Füße. Tolpatschig rannte er umher und schlug mit den Flügeln. Schließlich erhob er sich in die Luft. Tom sah, daß Britta Tränen in den Augen hatte. Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. Gemeinsam sahen sie dem Vogel nach, wie er sich durch die Lüfte schwang. Noch nie hatte Tom etwas so Beeindruckendes erlebt. Vor Freude wurde ihm ganz heiß. "Er ist frei, und er wird leben", jubelte Britta. "Es war Schicksal, daß wir gerade hier waren, als der Pelikan an den Strand geschleudert wurde." "Ja, jemand da oben hat das beobachtete stimmte Tom zu und sah hoch zum Himmel. "Fast wäre dieses schöne Tier nie mehr geflogen." Arm in Arm gingen Tom und Britta langsam am Strand entlang, überwältigt von ihrem Erlebnis. Sie liefen nah am - 107 -
Wasser, bis eine kalte Welle sie überraschte und bis zu den Knien durchnäßte. "Mist, jetzt sind unsere Schuhe patschnaß", schimpfte Tom. Der Himmel hatte inzwischen eine merkwürdig grüne Färbung angenommen. "Es sieht so aus, als ob das Wetter schlechter wird. Vielleicht sollten wir nicht mehr allzu lange hierbleiben." m "Im Moment habe ich jedenfalls Hunger", sagte Britta. "Sie zitterte vor Kälte in ihren feuchten Sachen. "Ich auch. Laß uns an die Felsen gehen, da weht es nicht ganz so doll. Da können wir essen." Die hohen Felsen begrenzten in einer ununterbrochenen Linie den Strand. In halber Höhe waren ein paar Höhlen in die Felswände gewaschen worden. "Weißt du, was toll wäre?' fragte Britta. "Wenn wir da oben raufklettern würden. Dann hätten wir es irre gemütlich beim Essen." "Hast du denn eine Leiter mitgebracht?" witzelte Tom. "Oder wie willst du da raufkommen?" "Überhaupt kein Problem. Da kommt man ganz leicht hoch. Hast du schon mal Bergsteigen gemacht?" "Nein, noch nie. Ich bin nur mal in den Bergen gewandert aber nicht geklettert." "Mein Vater hat es mir beigebracht", sagte Britta selbstbewußt. Sie stand vor den Felsen und betrachtete prüfend den Eingang zu einer Höhle, ungefähr in halber Höhe. "Da oben sind wir vor dem Wind geschützt. Ein toller Platz, um unseren Lunch zu essen." "Für mich sieht das unerreichbar aus." Tom schüttelte den Kopf. Im stillen wunderte er sich erneut über Brittas tollkühne Art. "Ein Kinderspiel", rief sie, nachdem sie die Klippen genau untersucht hatte. Erstaunt beobachtete Tom, wie schnell und - 108 -
sicher Britta an den scheinbar glatten Felsen hinaufkletterte. Jetzt hatten ihre Hände den Boden des Höhleneingangs erreicht. Sie zog sich hoch und blickt triumphierend auf Tom hinunter. "Sie ist größer, als man denkt", rief sie. "Wir können richtig drinnen sitzen. Es gibt sogar eine Bank aus Stein. Los, komm!" "Du, Britta", antwortete Tom, der es immer noch nicht fassen konnte. "Du bist vielleicht eine menschliche Fliege, aber ich bin noch nie einen Felsen hochgektettert." "Dann machst du es eben jetzt zum erstenmal." Britta lachte. "Du mußt eine, Stelle suchen, wo deine Zehen Halt finden. Es gibt ganz viele kleine Vorsprünge. Dann mußt du einen Halt für deine Hände suchen, damit du zugreifen.kannst." "Ich bin schwerer als du." "Versuch es. Hier oben ist es irre. Und was kann dir schon passieren, wenn du runterfällst? Unter dir ist weicher Sand. So hoch ist es ja nun auch wieder nicht." "Naja, gut." Tom gab nach. Brittas lachendes Gesicht da oben am Höhleneingang zog ihn wie ein Magnet an. Tom fand Halt für seine Füße, dann eine Art Griff, an dem er sich hochziehen konnte. Ungefähr auf halbem Weg zur Höhle wußte er nicht weiter. "Was jetzt?" schrie er. "Ich kann überhaupt nichts sehen." "Heb einen Fuß und eine Hand und such dir damit Halt, du bist ja schon fast da. Ich reiche dir die Hand, wenn du nahe genug bist." Tom hob einen Fuß und suchte mit einer Hand nach einer Lücke in den glatten Steinen. Da verlor er das Gleichgewicht, fiel runter in den Sand und mußte von vorn anfangen. "Komm, das war doch schon ganz toll", ermutigte Britta ihn. Tom sah zu ihr hoch. Sie winkte ihm aufmunternd zu. Aber war da nicht auch ein winziger Anflug von Spott in ihrem Gesicht zu lesen? Tom konnte das aus der Entfernung nicht - 109 -
erkennen, aber er beschloß, daß er auf keinen Fall kneifen wollte, obwohl er ein kleines bißchen wütend auf sie war. Was sollte so eine unmögliche Sache? Sie hätten genauso gut hier unten im Sand sitzen und essen können. Aber er würde sich nicht vor ihr blamieren. Und wenn sie da rauf kam, dann konnte er es auch. Tom merkte, daß seine Hände kalt und steif wurden. Der Wind wehte schärfer. Deshalb beeilte er sich, nach oben zu kommen, bevor seine Finger zu unbeweglich wurden. Konzentriert machte er sich an den Aufstieg. "Du bist fast da. Noch einen Schritt, dann bist du in Höhe des Eingangs. Ich nehme dann deine Hand und zeige dir, wo du hingreifen kannst", sagte Britta. Tom holte tief Luft und bewegte sich vorsichtig aufwärts. Da spürte er Brittas sanfte Hand, und seine Finger legten sich unter ihrer Führung um den Höhleneingang. Mit dem linken Fuß stemmte er sich ab, und dann hatte er beide Hände oben. "Toll, du hast es geschafft." Brittas Begeisterung stärkte Tom. Mit einem Klimmzug zog er sich in die Höhle. Britta freute sich. "Siehst du, wenn wir da unten gegessen hätten, würden wir frieren. Der Wind ist eisig." Das stimmte. Es piff jetzt richtig draußen vor der Höhle. "Außerdem hätten wir Sand auf unseren Broten." Britta schnallte ihren Rucksack ab. "Ist das nicht Spitze hier?" Ihre Augen funkelten vor Vergnügen. "Laß uns so tun, als ob wir vor ein paar Millionen Jahren leben würden und Höhlemenschen wären." "Und dies ist kein Thunfischsandwich." Tom ging auf ihren Spaß ein. "Es ist ein Stück roher Fisch, den wir gerade aus dem Meer geholt haben." "Auf meinem Sandwich ist ein Stück Fleisch von einem Dinosaurier." - 110 -
Sie mußten lachen. "Vielleicht wohnt hier ein Seelöwe", überlegte Tom. "Der schickt uns wohlmöglich noch eine Räumungsklage!" "Quatsch! Ein Seelöwe kommt hier doch gar nicht rauf." Brittas fröhliche Stimme hallte in der Höhle. Sie machten sich über ihre Brote her. Von der Seeluft habe ich Hunger wie ein Wolf", sagte Tom. "Schade, da ich mir nur ein Brot geschmiert habe." "Ich habe noch Kekse. Nimm dir welche." Britta holte das Päckchen aus ihrem Rucksack. Sie zog ihre feuchte Jacke aus, damit sie trocknen konnte. Das silberblonde Haar floß über ihre Schultern und rahmte ihr hübsches Gesicht ein. Ihre Augen strahlten. Tom überlegte, wie er es am besten anstellen konnte, sie zu küssen. Es mußte auf jeden Fall passieren, bevor sie die Höhle verließen. Der Platz war ideal, einsam, gemütlich und schummrig. Tom hoffte, daß Britta sich gern von ihm küssen lassen würde. Soll ich mich links oder lieber rechts neben sie setzen, fragte er sich, denn im Moment saßen sie sich gegenüber. Er wollte sich so setzen, entschied er, daß er mit dem Rücken zum Höhleneingang saß. Und dann würde er sie in die Arme nehmen und ... Britta hatte ihr Jacke auf den Steinen ausgebreitet. Auch ihre Bluse war feucht geworden und klebte an ihrem Körper. Tom zwang sich, nicht so genau hinzusehen oder sich gar vorzustellen, wie es wäre, sie zu berühren. Er durfte nichts überstürzen. Schließlich war sie die Tochter eines Professors. Zuerst einmal wollte er sie nur sehr sanft küssen. Vielleicht merkte er an ihrer Reaktion, ob er weitergehen durfte. Jedenfalls hatte er das Gefühl, daß Britta enttäuscht sein würde, wenn sie die Höhle nachher verließen und gar nichts passiert wäre. - 111 -
Tom stand auf. Er mußte am Höhleneingang vorbeigehen, um neben Britta auf die steinerne Bank zu rutschen. Da fiel ihm plötzlich auf, daß sich das Geräusch des Meeres verändert hatte. Er konnte das Aufschlagen der Wellen auf dem Strand und das Ablaufen des Wassers nicht mehr hören. Dieser ständig gleiche Rhythmus hatte sich irgendwie zu einem stampfenden Dröhnen gesteigert. Es klang unheimlich. Tom lehnte sich vor und blickte aus der Höhle. Was er sah, versetzte ihn in Angst und Schrecken. Der Strand, an dem sie eben noch so fröhlich langgelaufen waren, war überflutet. Das Meer war bis zu den Felsen angestiegen und brodelte wild und böse ungefähr zwei Meter unterhalb des Höhleneingangs. Meterhohe Brecher schlugen krachend gegen die Felswand. Sie saßen in der Falle! Es gab keine Möglichkeit, aus der Höhle herauszukommen!
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8. KAPITEL Britta ahnte nichts. Sie hatte es sich in ihrer Felsenecke gemütlich gemacht. "Regnet es rein?"' fragte sie. "Dann machen wir uns wohl besser auf den Rückweg. Oder wollen wir warten, bis es aufhört?" Tom warf Britta einen kurzen Blick zu. Sie war so unschuldig und schön. Er mochte ihr gar nicht sagen, was draußen los war. Mühsam versuchte er, das Gefühl von Panik zu unterdrücken. "Es ist erst halb drei", redete Britta weiter. "Wir haben viel Zeit und können ruhig warten, aber wir müssen nicht. Diese Höhle langweilt mich etwas, und außerdem gehe ich gern im Regen am Strand spazieren. Aber vielleicht ist es doch schon später. Es kann sein, daß meine Uhr vorhin naß geworden ist, als ich den Pelikan aus dem Wasser gezogen habe. Vielleicht ist sie stehengeblieben." Sie hielt die Uhr dicht ans Ohr. Toms Augen weiteten sich vor Angst. Er traute sich nicht zu sprechen. "Was ist denn los, Tom? Du siehst aus, als wäre dir ein Seeungeheuer begegnet." "Wenn es bloß das wäre. Britta, die Flut ist gekommen, und das Wasser ist gestiegen. Da unten ist kein Strand mehr, an dem wir spazierengehen könnten." "Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, Tom Roberst!" Verzweiflungstränen stiegen Tom in die Augen. "Nein, es ist bitterer Ernst." Alarmiert schob Britta ihn zur Seite, um nach draußen zu sehen. Der Sturm wehte ihr Haar zurück in die Höhle. - 113 -
Sie schloß die Augen, um sie vor dem salzigen Regen zu schützen, der auf ihrer Haut biß. "Das darf doch nicht wahr sein! Was machen wir jetzt?" "Es gibt nur eine Möglichkeit, hier rauszukommen. Wie müßten fliegen." "Bis hier rauf kommt die Flut nicht. Irgendwann fällt das Wasser wieder, und wir können raus. In sechs Stunden ist Ebbe. In vier Stunden ist das Wasser bestimmt schon so weit abgelaufen, daß wir einen schmalen Streifen Strand zum Zurücklaufen haben." "Britta, da draußen tobt ein wahnsinniger Sturm. Heute ist das mit den Gezeiten nicht so wie sonst. Die Wellen sind so hoch wie die Rocky Mountains." "Der Sturm wird sich auch wieder legen. Das kann doch nicht ewig dauern." Tom schwieg. Voller Sorge betrachtete er Brittas niedliches, unbekümmertes Gesicht. Sie wollte sich einfach nicht beunruhigen lassen. "Was macht das schon? Dann bleiben wir eben ein paar Stunden länger als geplant hier drinnen. Dabei können wir froh sein, daß wir hier oben und nicht da unten sind." Tom sah wieder hinaus. Die See kochte unter ihnen. Gischt spritzte an den Felsen hoch, wenn die Wellen dagegen brandeten. Britta kramte in ihrem Rucksack. "Vor ein paar Wochen habe ich bei meiner Freundin geschlafen. Da habe ich ein Kartenspiel eingepackt. Hoffentlich habe ich es nicht bei ihr vergessen. Sonst könnten wir jetzt Rommé spielen. Das lenkt uns von dem Sturm ab. Wirklich Tom, wenn du dich sehen könntest! Dir steht die Angst ja regelrecht ins Gesicht geschrieben." Tom wünschte sie, er könnte in dieser Situation cool bleiben und Britta mit seiner Ruhe und Überlegenheit beeindrucken. Wahrscheinlich fand sie es unmännlich, daß er solche Angst - 114 -
hatte. "Mensch, Bhtta, ich fühle mich eben für uns beide verantwortlich. Schließlich habe ich dich hierher gebracht und muß dich auch wieder heil zu Hause abliefern." "Das wirst du auch. Reg dich ab. Der Sturm wird sich legen. Außerdem, warum sollst du eigentlich allein verantwortlich sein? Ich wollte doch auch hierher. Tatsächlich war ich ja diejenige, die in die Höhle klettern wollte. Wenn wir nicht raufgeklettert wären, hätten wir gemerkt, daß das Wasser steigt und hätten Zeit genug gehabt, zum Auto zurückzugehen." "Das Auto steht ziemlich weit weg", überlegte Tom. "Wir sind ganz schön lange gegangen. An all den Uferschnepfen und Steinwälzern vorbei. Erinnere dich an die Sandburg, die wir gebaut haben. Die gibt's jetzt auch nicht mehr." "Ja. Und dann der Pelikan. Wenigstens ist der frei. Er kann einfach vor dem Sturm.wegfliegen." "Was machen eigentich Pelikane bei solchem Wetter? Suchen sie sich einen geschützten Platz, schwimmen sie auf den Wellen, oder fliegen sie woanders hin?" "Weiß ich nicht. Da muß ich mal meinen Dad fragen." Tom hoffte, daß sie nicht,solange in der Höhle bleiben mußten, daß Brittas Vater sich Sorgen machte. "Hier sind meine Karten ja! Laß uns Rommé spielen." Britta holte ein abgegriffenes Kartenspiel aus dem Rucksack, das mit einem Gummiband zusammengehalten war. "Ich habe auch mein Vogelbestimmungsbuch dabei. Komm, ich zeige dir die Bilder von denen, die wir gesehen haben. Dann merkst du dir, wie sie heißen." Tom spürte, daß er etwas ruhiger wurde. Die Liebe zu Britta überflutete ihn wie das Meer die Felsen. Seine zärtlichen Gef'ühle halfen ihm, die Angst wenigstens zeitweise zu vergessen.
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"Hier am Eingang ist es ganz schön naß. Es regnet rein." Tom hatte einen salzigen Geschmack auf den Lippen. Sein Plan, Britta heute endlich zu küssen, fiel ihm wieder ein. Aber daran war jetzt wohl kaum zu denken. "Komm hier rauf auf die Felsenbank. Hier ist es trocken." Britta mischte die Karten. Sie spielten eine Zeitlang und verdrängten ihre gefährliche Lage. "Du bist ein richtiges Karten-As", staunte Tom, nachdem Britta die meisten Spiele gewonnen hatte. Sie lächelte ihn stolz und dankbar an. Eigentlich hatte Tom keine Lust mehr zum Kartenspielen, aber er wollte Britta bei Laune halten, damit sie nicht an ihre unglückliche Situation dachte. Verstohlen warf Tom zwischen zwei Spielen schnell einen Blick nach draußen. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er sah, daß das Wasser um gut einen halben Meter gestiegen war. Ab und zu spritzte die Gischt sogar bis in den Höhleneingang. Unterhalb der kleinen Mauer, auf der Britta und er saßen, hatte sich eine Pfütze gebildet. "Ich zeig' dir ein paar Kartentricks", schlug er Britta vor. "Du weiß noch gar nicht, daß ich sowohl Zauberer als auch Jongleur bin." Er griff drei Steinchen vom Boden und führte ihr ein paar Kunststücke vor. Dann bat er Britta, eine Karte aus dem Stapel zu ziehen und sie sich zu merken. Anschließend überraschte er sie damit, daß er die richtige Karte aus der Kapuze ihres Anoraks zog. Er erzählte ihr die besten Witze, die ihm einfielen. Aber dann wurde er wieder unruhig und starrte erneut auf den brodelnden Ozean hinaus und horchte auf den tobenden Sturm. "Meine Uhr steht tatsächlich." Britta zeigte Tom, daß sie immer noch auf halb drei stand. "Wahrscheirilich ist es schön viel später, als wir gedacht haben. Ich glaube sogar, es wird - 116 -
schon dunkel." "Das kommt durch das schlechte Wetter. So spät kann es doch noch gar nicht sein. Die Wolken sind nur so dunkel." Tom sagte es, ohne selbst davon überzeugt zu sein. Nein, es wird Abend. Wenn wir nicht bald hier rauskommen, ist es stockfinster." Panik klang jetzt in Brittas sonst so selbstbewußter Stimme. "Stürme dauern nicht ewig. Das hast du gerade noch selbst gesagt. Es muß ja bald aufhören." "Weißt du was?" Britta hatte eine Idee. "Wir könnten auf die gleiche Art und Weise rauskommen, wie wir hier reingekommen sind, indem wir die Klippen hochklettern. Damit müssen wir uns nur beeilen, weil wir Licht brauchen, um Halt für Hände und Füße zu finden." "Auf keinen Fall." Tom blickte Britta finster an. "Das wäre garantiert Selbstmord." "Warum? Wir sind doch auch so hier raufgekommen", drängte Britta. "Bis ganz nach oben ist es auch nicht weiter als vom Strand bis zur Höhle. Ich versuche es jedenfalls." "Britta, vorhin war es ungefährlich, weil man in den weichen Sand fallen konnte. Schau dir doch an, wo du jetzt reinfällst, wenn du den Halt verlierst." Unter ihnen brodelte die See. "Die Wellen könnten dich zerschmettern. Überleg mal, das Wasser kann sogar Höhlen in die Felsen waschen." "Du bist so ein Pessimist, du denkst so.negativ", schimpfte Britta. "Es ist die einzige Möglichkeit für uns. Merkst du denn nicht, daß das Wasser immer noch steigt? Warum sollen wir hier tatenlos sitzen und darauf warten, daß wir ertrinken, wenn wir eine Chance haben, uns zu retten?" "Schöne Chance. Vergiß es, Britta!" "Vielleicht bist du ja zu feige. Ich nicht." "Ich glaube, du hast einen Höhlenkoller, Britta", konterte Tom. Das Zittern in ihrer Stimme beunruhigte ihn. - 117 -
Ihre sonst so fröhliche und ausgeglichene Art schien vom Sturm wie weggeblasen zu sein. "Egal, ich versuch's." Britta stand am Höhleneingang und schwang einen Fuß nach draußen, um einen Halt zu suchen. Mit den Händen hielt sie sich am Felsen fest. Tom faßte sie um die Hüfte, um sie wieder hineinzuziehen. Er fühlte, wie sie zitterte. Sie kämpfte gegen seinen Griff an und zog ihn fast mit hinaus. Tom sah sie beide schon in den lebensgefährlichen Wellen treiben. Mit aller Kraft riß er Brittas Hände vom Felsen los und versuchte, das sich sträubende Mädchen an sich zu ziehen. In diesem Moment knallte eine Riesenweite gegen den Eingang der Höhle. Es wurde ganz dunkel. Britta gab den Kampf auf. Tom merkte, wie sie in seinen Armen nachgab. Als die Welle zurücklief, gab es einen starken Sog, der die Luft aus der Höhle zog. Tom riß Britta vom Eingang weg. Für einen Moment konnte er kaum atmen. Ein Angstschauer überlief ihn. "'Siehst du, wenn du jetzt rausgekletterst wärst, hätte der Sog dich vom Felsen gerissen." Tom hob Britta auf die Steinbank. Der ganze Höhlenboden stand inzwischen unter Wasser. "Das war blöd von mir. Ich war nur so verzweifelt", schluchzte Britta. "Wir sind jetzt beide klatschnaß", stöhnte Tom. "Wenn wir sitzengeblieben wären, hätten wir wenigstens noch trockene Klamotten an." "Meine Schuld, ich mache alles nur noch schlimmer", gab Britta zu. Tom nahm sie in die Arme. Sie legte den Kopf an seine Schulter und weinte. Tom erinnerte sich, daß er mal in der Zeitung eine Geschichte über ein paar Leute gelesen hatte, die in einer Höhle in den Klippen gefangen waren. Aber es fiel ihm nicht mehr ein, wie die Sache ausgegangen war. - 118 -
Die Gefahr, daß Britta und er dieses Abenteuer nicht überleben würden, war jedenfalls nicht mehr zu leugnen. Zum erstenmal dachte Tom ans Sterben. Er hielt Britta fester in den Armen. Tante Margaret fiel ihm ein. Auch für sie war es ganz schön schlimm, denn sie war extra gekommen, um ihn und seine Schwester Sandy zu betreuen. Auch an Ken Garcia mußte er denken, der sein Nachfolger als Oberstufensprecher werden würde. Und wie es wohl in der Pizzeria ohne ihn lief? Es wurde dunkel. Jetzt sollte er eigentlich seinen Job anfangen. Der Besitzer war bestimmt sauer, weil er nicht kam. Er wußte ja nicht, daß Tom in Lebensgefahr schwebte. Tom dachte an alle Leute, die betroffen sein würden. Janine und Craig wären sicher geschockt. Gestern abend noch hatten wir so viel Spaß, würden sie denken, und jetzt gibt es ihn nicht mehr. Das Bioreferat für Montag, das angefangen auf seinem Schreibtisch lag, würde nie fertig werden. Mom und Dad würden nicht darüber hinwegkommen, daß ihr Sohn so früh sterben mußte. Der letzte Lichtschein verschwand aus der Höhle. Tom wurde immer trauriger. Vielleicht hatte er nicht mehr sehr lange zu leben, möglicherweise nur noch ein oder zwei Stunden. Sollte er nicht versuchen, diese kurze Zeit zu genießen, so gut es eben ging? Sanft legte er die Hand unter Brittas Kinn und hob ihr Gesicht zu sich empor. Zärtlich preßte er seine Lippen auf ihren Mund. Er fühlte sich weich an, aber kalt und salzig. Dann spürte er, wie sie den Druck seiner Lippen erwiderte, als ob sie auf seinen Kuß gewartet hätte. Sie kuschelte sich - 119 -
ganz eng an ihn. Am Klang ihrer Stimme erkannte er, daß sie nicht mehr weinte, sondern lächelte. "O Tom", sagte sie. "Ich wollte nicht weinen. Es war nur die Angst, aber jetzt ist es schon wieder besser. So nahe bei dir ist alles nicht mehr so schlimm." "Ich weiß", beruhigte er sie, "es ist furchtbar, aber bald haben wir es überstanden." Tom küßte sie noch einmal. Dieses Mal waren ihre Lippen warm und verführerisch. Wenn er Britta küßte, dachte er nicht ans Sterben. Also küßte er sie weiter, länger und intensiver. "Ich bin verrückt nach dir, Britta", flüsterte er heiser. "Ich auch nach dir", antwortete sie leise. Tom preßte sie an sich und wünschte sich einen fliegenden Teppich, der sie aus der Gefahr herausbringen konnte. Die See donnerte, und die Wellen krachten immer noch mit der gleichen Gewalt gegen die Felsen. Es roch nach Fisch und Seetang. Britta gewann etwas von ihrer Lebensfreude zurück. "Mir ist gerade etwas eingefallen. Als ich neulich bei meiner Freundin war, habe ich auch eine Taschenlampe eingepackt, weil ich im Dunkeln zu ihr rübergegangen bin. Die muß noch im Rucksack sein." Sie wühlte darin herum und fand die Taschenlampe. Als sie Tom ins Gesicht leuchtete, lachte sie. "Ich wollte nur sehen, ob du wirklich da bist." Tom sah die Umrisse ihres Gesichts und die großen, sanften Augen im schummrigen Licht. Der Lichtkegel wanderte zum Höhleneingäng. Gischt spritzte hinein. Das Wasser stand fast bis zur Felsbank. Britta stellte die Taschenlampe darauf ab, so daß die rauhe Höhlendecke beleuchtet wurde. "ich habe auch noch was im Rucksack", sagte Tom. "Eine Dose Cola." "Vielleicht sind auch noch ein paar Kekse da", hoffte Britta. "Dann hätten wir sogar etwas zum Abendbrot." - 120 -
Es waren noch drei Kekse übrig. Tom und Britta teilten sich die Cola und aßen jeder einen Keks. Den letzten packten sie wieder weg für später. Tom dachte kurz, daß dies möglicherweise seine letzte Mahlzeit sein könnte. Britta holte ihr Vogelbestimmbuch heraus, beleuchtete mit der Taschenlampe die Seiten und las ihm vor. "Erinnerst du dich noch an den Schlammläufer?" fragte sie. "Ist das der mit dem hoch- oder dem runtergebogenen Schnabel?" "Weder noch. Er hat einen geraden Schnabel, einen kurzen Hals und kurze Beine." "Sag mal, Britta, diese ganzen Strandvögel, wo bleiben die, wenn der Strand weg ist, so wie jetzt?" "Vielleicht sitzten die auch in einer Höhle und warten ab, bis der Sturm vorbei ist." Britta lachte. Tom war froh darüber. Das bedeutete, daß sie keine Angst mehr hatte, oder die Situation akzeptierte, weil sie sowieso nichts ändern konnte. Nach einer Weile bekam Tom selbst wieder Angst, denn er merkte, daß das Wasser an der Steinbank weiter gestiegen war. Die Höhle stand jetzt ungefähr dreißig Zentimeter unter Wasser und ab und zu platschte eine Welle hinein. Tom versuchte, ganz ruhig zu klingen und Britta nicht zu ängstigen. "Laß uns ein bißchen weiter nach hinten rutschen", sagte er. Die Steinbank stieg schräg nach hinten an. Da, wo er jetzt saß, stand schon fast alles unter Wasser. Brittas Augen wirkten riesengroß im Licht der Taschenlampe. Sie rückten in das höher gelegene Ende der Höhle. Tom küßte Britta. "Es kommt alles in Ordnung", versicherte er ihr. Sie legte die Arme um seinen Nacken. "Wenn uns etwas Schlimmes passiert, bin ich froh, daß du dabei bist", sagte sie. Toms Gefühle schwankten zwischen Freude über Brittas - 121 -
zärtliche Worte und Angst davor, daß eine Welle sie jeden Moment aus der Höhle in die tödliche Flut da draußen ziehen konnte. Eine Weile schwiegen sie, bis Tom etwas einfiel, was er unbedingt wissen wollte. "Vielleicht ist das hier nicht der richtige Moment, um das Thema anzusprechen, aber ich bin einfach neugierig." "Worauf?" "Dieser Joe, mit dem du neulich in der Pizzeria warst, ich hatte den Eindruck, daß er dein fester Freund ist. Und jetzt wundere ich mich..." "Joe?" Britta klang erstaunt und fast ein wenig ärgerlich, daß er diesen Namen jetzt und hier nannte. "Ja. Ich wollte nur wissen, was er dir bedeutet, weil ich dich doch so sehr liebe." "Über Joe mußt du nicht nachdenken. Ich kenne ihn seit dem Kindergarten. Seit der Zeit ist er immer da. Du hast ihn ja gesehen. Er ist ziemlich groß und aggressiv. Jeden anderen, der in meine Nähe kommt, versucht er zu vertreiben. Seinetwegen habe ich bisher kaum andere Jungs kennengelernt. Bei allen Schulfeten war immer klar, daß ich mit ihm hingehe. Keiner hätte sich getraut, mich überhaupt zu fragen. Ich kann seine besitzergreifende Art schon lange nicht mehr leiden. Manchmal bin ich lieber überhaupt nicht weggegangen, weil ich ihn nicht sehen wollte." "Dann ist er also der einzige, mit dem du dich verabredest?" "Ich konnte zuerst gar nicht an mein Glück glauben, als ich dich getroffen habe. Ein gutaussehender Typ, der in eine anderen Schule geht. Jemand, den Joe nicht so einfach aus meinem Leben verdrängen kann." "Du magst mich lieber als ihn?" "Das weißt du doch ganz genau." Britta kuschelte sich an ihn, und er küßte sie. - 122 -
"Heute abend wollte ich mit ihm und der Clique ins Kino gehen. Dieselben Leute, mit denen ich in der Pizzeria war. Wir haben immer viel Spaß zusammen. Joe ist ja nicht fies oder so, eben nur langweilig für mich. Was Mom und Dad wohl sagen, wenn ich nicht nach Hause komme? Vielleicht benachrichtigen sie die Polizei, damit sie nach uns sucht." "Das würde uns ja auch nichts nützen. Um uns zu finden, brauchte man Polizisten mit Schwimmflossen. Meine Tante Margaret ist bestimmt auch schon verrückt vor Angst. Die ist sogar imstande und ruft meine Eltern in Denver an." "Wie furchtbar das alles ist." Britta klang schläfrig. "Tom, mir ist so kalt, und ich bin so müde." "Wenn ich könnte, würde ich für dich ein Feuer anmachen. Vielleicht kannst du ein bißchen schlafen, wenn du dich an mich anlehnst. Ich bleibe wach und beschütze dich vor Haien." "Wenn es so kalt ist, kann man nicht gut einschlafen. Schade, daß wir keine Decken mithaben." "Die wären ja genauso naß wie wir."' Britta legte den Kopf an Toms Schulter und schloß die Augen. Tom sah auf ihr Gesicht herab und überlegte, wie er sie retten konnte. Er stellte sich vor, daß er die Höhlendecke sprengte und mit Britta durch das riesige Loch entkam. Er dachte an einen großen Baumstamm, der in die Höhle geschwemmt wurde, auf dem er mit Britta in Sicherheit paddeln konnte. Tom döste und träumte von einem großen, weißen Pelikan, der sie auf seinem Rücken davontrug. Das Krachen der Wellen weckte ihn. Eine neue Ladung eiskaltes Wasser schwappte in die Höhle. Tom versuchte, die Taschenlampe und ihre Rucksäcke trocken zu halten. Das - 123 -
Wasser reichte ihnen jetzt bis zur Hüfte. Noch ein paar solcher Brecher, dann ... Tom küßte Brittas Haar. Er war froh, daß sie schlief. Die Situation wurde immer bedrohlicher. Der Sturm pfiff und heulte ohne Unterlaß. Man würde sie inzwischen vermissen, aber was konnte schon zu ihrer Rettung getan werden? Selbst die Küstenwache würde bei diesem Seegang nicht in der Lage sein, etwas zu unternehmen. Ein Hubschrauber konnte in dem Sturm ebenfalls nicht fliegen. Außerdem wußte niemand, wo sie waren. Das Auto war ein paar Kilometer entfernt geparkt. Auch wenn Britta und er je mit eigener Kraft hier herauskommen sollten, konnten sie es in ihrer augenblicklichen Verfassung nicht bis zum Auto schaffen. Sehnsüchtig träumte Tom von dem warmen Bett in seinem Zimmer. Vielleicht würde er sein Zuhause nie wiedersehen. Er stellte sich vor, wie er sich eine Tasse heiße Schokolade kochte. lrgendetwas Glibberiges berührte seinen Ellbogen. Ängstlich fühIte er danach. Aber es war nur Seetang. Was wohl mittlerweile noch alles in der Höhle herumschwamm? Aale oder Krebse? Alles konnte hereingeschwemmt worden sein. Tom kämpfte gegen seine Müdigkeit an. Er durfte auf gar keinen Fall einschlafen. Sie könnten von der Bank rutschen, ins Wasser fallen und ertrinken. Der Wasserspiegel stieg immer höher. Bald mußten sie sich wohl hinstellen, um die Köpfe über Wasser zu halten. Britta war kleiner als er. Vielleicht mußte er sie sogar auf seine Schultern heben, um sie vor dem Ertrinken zu retten. Er fragte sich, ob er die Kraft dazu hatte. Durch eine neue Welle reichte ihnen das Wasser bis zu den Schultern, aber dann fiel es wieder. Die unerwartete Überflutung weckte 8ritta auf. Es dauerte einige Zeit, bis sie wußte, wo sie war. Tom knipste die Taschenlampe an, und langsam wurde sich Britta ihrer scheußlichen Lage bewußt. Sie zitterte so, daß ihre Zähne klapperten. Hoffentlich macht sie - 124 -
nicht schlapp, dachte Tom. Ihm selbst ging es auch nicht besonders gut. Plötzlich hatte er den Eindruck, daß das Toben des Windes nicht mehr ganz so laut klang. Es konnte allerdings auch sein, daß seine Stimme ihm einen Streich spielte. "Britta, ich glaube, der Sturm läßt etwas nach." Sie antwortete nicht. Total erschöpft lehnte sie an seiner Schulter. Tom schaltete die Taschenlampe ab, um die Batterien zu schonen. Schweigend saßen sie im Dunkeln. Ab und zu stieg das Wasser bis zur ihren Schultern. Der Abstand zwischen ihren Köpfen und der Höhlendecke betrug einen knappen Meter. "Glaubst du, daß du stehen kannst, Britta?" fragte Tom leise. "Du kannst dich gegen mich lehnen." Britta taumelte. Sie standen am hintersten Ende auf der Steinbank. Tom hielt sie fest im Arm. Wie leicht konnten sie hier runterrutschen! Durch den hereingespülten Seetang waren die Felsen glatt und schlüpfrig. Tom stützte Britta und fragte sich immer wieder, wie lange er es wohl noch aushalten könnte. Wann würde auch er vor Erschöpfung umkippen? Dann würden sie beide in das Wasser fallen, das sich unregelmäßig hob und senkte. Langsam wurden die Umrisse der Höhe erkennbar. "Es wird hell", sagte Tom. Britta antwortete nicht. Sie hatte die Augen geschlossen. Tom bekam einen Schreck. War sie ohnmächtig geworden? Er schüttelte sie. Da öffnete sie die Augenlider einen Spalt. Aber sie hielt sich nur aufrecht, weil er sie stützte. Das Wasser war inzwischen bis zu ihren Schultern angestiegen. Tom kämpfte mit sich, um seinen Lebenswillen zu erhalten. In wenigen Minuten schon konnte die Höhle bis obenhin vollgelaufen sein. Er hatte kaum noch Kraft. Es wäre so leicht, sich einfach hängen zu lassen - 125 -
und sich dem Schicksal zu ergeben. Aber er mußte Britta so lange wie möglich aufrecht halten, egal, wie diese schreckliche Sache auch immer ausgehen würde. Bildete er es sich nur ein, oder nahm der Sturm tatsächlich ab? Wieder hatte Tom den Eindruck, daß der Wind draußen weniger heulte, und daß auch die Wellen nicht mehr ganz so brutal gegen die Felsen schlugen. Es wurde heller in der Höhle. Eigentlich hätte Tom lieber nicht gesehen, was um ihn herum los war. Sie standen in einer schmutziggrauen Brühe, in der Treibholz und Abfall schwammen. Britta sah schrecklich mitgenommen aus. Nichts war übrig geblieben von ihrer Frische und Lebendigkeit. Die silberblonden Haare klebten naß und strähnig an ihrem Kopf. Tom schüttelte sie erneut. Mühsam öffnete sie die Augen. "Habe ich geschlafen?" fragte sie gequält. "Versuch' bitte, wach zu bleiben, Britta. Wir müssen stehen." "Aber das hat doch auch keinen Sinn mehr, oder?" fragte sie hoffnungslos. "Doch, natürlich." Tom nahm alle Kraft zusammen, um zuversichtlich zu klingen. "Bald können wir nach draußen schwimmen, wenn das Meer dann noch mehr steigt, erreichen wir den oberen Rand der Klippen und sind wieder auf trockenem Boden. Dann gehen wir zum Auto und fahren nach Hause." Tom glaubte, in Brittas Gesicht den Anflug eines Lächelns zu erkennen, aber offenbar hatte sie nicht einmal dafür genug Kraft. Er liebte sie mit jeder Faser seines Herzens. "Weißt du was?" sagte er etwas später. "Es kann tatsächlich sein, daß das Wasser sinkt. Vorhin ging es uns bis zu den Schultern, jetzt nicht mehr." Das Wasser reichte nur noch bis - 126 -
zu seiner Burst. "Vielleicht haben wir Ebbe." "Kann sein, aber ich bin fast sicher, daß auch der Sturm abflaut." Durch die Lücke, die vom Höhleneingang geblieben war, konnte Tom einen Blick auf die Wasseroberfläche nach draußen werfen. Der Sturm hatte sich tatsächlich beruhigt, und auch die Wellen wurden schwächer. Eine Möwe flog am Eingang vorbei. Es regnete. "An unserer Situation ändert sich dadurch auch nicht viel", meinte Britta verzagt. "Wir werden sehen. Das Meer ist unheimlich schnell gestiegen, vielleicht läuft es genauso schnell wieder ab." Tom zerbrach sich den Kopf darüber, wie er Britta wach halten konnte. Er mußte etwas tun, damit sie sich nicht aufgab. Kunststücke vormachen war nicht drin, wenn man bis zur Brust im Wasserstand. Ob ich ihr nochmal sage, wie sehr ich sie liebe? Überlegte Tom. Aber er fand das unangebracht in ihrer Lage, wo es nur noch ums nackte Überleben ging. Sie schwiegen beide. Doch dann hörten sie zwischen dem Prasseln des Regens, dem Tosen der Wellen und dem Glucksen des Wassers in der Höhle ein neues Geräusch: einen laufenden Motor. Es wurde lauter und wieder leiser. "Britta, da ist eben ein Hubschrauber über uns geflogen", sagte Tom zögernd. "lch habe es gehört. Aber die können ja gar nicht wissen, daß wir hier sind." "Das stimmt. Trotzdem ist es doch toll! Wir wissen jetzt wenigstens, daß sie nach uns suchen. Wahrscheinlich haben sie das Auto entdeckt." "Das steht kilometerweit weg. Die glauben bestimmt, daß wir ertrunken sind und geben die Suche auf." "Nein, Britta. Das tun sie nicht. Und überleg mal, das - 127 -
Wetter muß sich gebessert haben, wenn ein Hubschrauber fliegen kann." Britta schien etwas aufzuleben und neue Hoffnung zu schöpfen. "Mensch, Tom, du hast doch den knallroten Rucksack. Kannst du den irgendwie so in den Eingang hängen, daß man ihn von draußen sehen kann?" "Tolle Idee!" rief Tom. Seine Stimme hallte von den Höhlenwänden zurück. "Wie wir den raushängen können, weiß ich zwar nicht, aber er wird ihnen zeigen, wo wir sind." "Falls der Hubschrauber zurückkommt.", gab Britta zu bedenken. "Wenn ich der Pilot wäre, würde ich denken, daß an diesem Strand bestimmt niemand überlebt hat, dann würde ich zurückfliegen." "So läuft das aber nicht. Sie suchen tagelang, bevor sie aufgeben."
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9. KAPITEL Stundenlang lauschte Tom, ob das Hubschraubergeräusch zurückkam. Wenn er zum Eingang ging, um den Rucksack hinauszuhalten, mußte er von der Steinbank hinab in das tiefere Wasser steigen. Die Gefahr dort am Eingang bestand darin, daß einer dieser dicken Brecher ihn hinausziehen könnte. Er überlegte, wie er es anfangen sollte, den Rucksack so weit hinauszuhalten, daß der Pilot ihn entdecken konnte. Und die Frage war auch, ob er den Eingang überhaupt schnell genug erreichte, wenn er das Geräusch hörte. Britta versuchte, munter zu bleiben und zu lächeln, aber nach einiger Zeit schwieg sie wieder. Es war Nachmittag geworden, und sie zweifelte daran, daß der Hubschrauber wiederkommen würde. Tom stand neben Britta in der Ecke der Höhle. Er war der einzige Halt, der verhinderte, daß sie umkippte und ins Wasser fiel. Seine Knie wurden schwach. Er hatte Angst davor, daß Britta schlappmachen würde und er ihren Kopf mit Gewalt über Wasser halten mußte. Er erzählte ihr alle möglichen Geschichten, die ihm gerade einfielen. Wie er einmal mit anderen zusammen in einem Pfadfinderlager die Schuhe der Jungen auf dem Fußboden festgenagelt hatte. Oder den Inhalt von Filmen und Büchern. "Der Wasserspiegel sinkt tatsächlich", verkündete er dann mit gespielter Fröhlichkeit. "Das schlimmste ist vorbei. Wenn wir noch ein bißchen warten, ist das Wasser wieder da Unten, wo es hingehört." Sein Optimismus war nicht echt. Im stillen machte sich Tom - 129 -
bittere Vorwürfe, daß er Britta in eine so aussichtslose Lage gebracht hatte. Ihm fiel ein, wie fröhlich sie gestern noch gewesen war. Und jetzt saß sie hier gefangen, war naß bis auf die Haut und verzweifelt, und vielleicht mußte sie sogar sterben. Tom brachte ihr Unglück, das war klar, Jedesmal, wenn sie sich verabredet hatten, wurde entweder gar nichts daraus oder es entwickelte sich zu einer Katastrophe. Am Reißverschluß seiner Jacke erkannte Tom, wie das Wasser fiel. Immer mehr Zacken wurden sichtbar. Wenn er und Britta das alles nur durchstehen konnten. Sie mußten die Köpfe über Wasser halten, bis das Wetter besser wurde. Hoffentlich mußten sie nicht noch eine Nacht in der Höhle verbringen! Plötzlich hörte Tom in der Ferne den Hubschrauber. "Britta!" schrie er. Er schüttelte sie heftig. "Du mußt allein stehen. Er ist wieder da. Ich gehe nach vorn und halte den Rucksack raus." "Gut." Britta brachte ein schwaches Lächeln zustande. Es sah so aus, als hätte sie nicht die Kraft, sich allein auf den Füßen zu halten. Tom kletterte von der Bank. Das eiskalte Wasser stieg ihm bis zur Brust, und als er auf dem Höhlenboden stand, reichte es ihm bis zum Kinn. Im Salzwasser konnte er kaum gehen. Der Rucksack war völlig durchtränkt. Hoffentlich sackte er nicht einfach ab wie ein Stein! Tom hörte, daß der Helikopter näherkam. Mit einer Hand hielt er sich, so gut es ging, an der Felswand des Höhleneingangs fest, um nicht von den Wellen hinausgezogen zu werden. Den Rucksack nahm er in die andere Hand und streckte den Arm so weit wie möglich hinaus. Es war schwierig, den Arm über Wasser zu halten. Eine Welle warf ihn wieder nach drinnen. - 130 -
So ging es nicht. Man würde den roten Fleck von draußen nicht sehen können. Der Hubschrauber war jetzt ganz nah. Eine Welle lief über Toms Kopf hinweg. Der Sog riß ihm den Rucksack aus der Hand und zog ihn ins Freie. Tom schluckte und spuckte Wasser. Es brannte höllisch in der Nase, weil es so salzig war. "Das hat nicht funktioniert." Tom paddelte zu Britta zurück. "Deine Stütze ist wieder da." Er schaffte es irgendwie, sein frechstes Grinsen aufzusetzen. "Hör doch, Tom", rief Britta mit weitaufgerissenen Augen. "Der Helikopter!" "Ja, er fliegt wieder vorbei." "Nein, er wird langsamer, hör doch!" "Du, vielleicht - vielleicht hat der Pilot den Rucksack entdeckt." Tom versuchte, nach draußen zu sehen. "Tom, da, da schwimmt er, siehst du? Das Rot hebt sich ganz deutlich vom Wasser ab." Tom duckte den Kopf. Tatsächlich, der knallrote Rucksack trieb auf den Wellen. Sie hörten, wie sich das Rotorgeräusch des Hubschraubers veränderte. Tom und Britta sahen sich an. Beide schöpften wieder Hoffnung. "Was machen wir jetzt?" fragte Britta. "Wenn ich sicher bin, daß der Hubschrauber über uns steht, schwimmen wir raus." "Glaubst du, wir schaffen das?" "Für ein paar Minuten können wir uns schon über Wasser halten." Der Krach des Hubschraubers wurde lauter. "Komm, Britta. Ich habe letzten Sommer meinen Rettungsschwimmer gemacht, Allerdings haben wir nie bei rauher See trainiert." "Ich hab ihn auch gemacht. In einem Zeitlager. Wenn ich nicht so erschöpft bin, kann ich ziemlich lange schwimmen." - 131 -
Tom und Britta wateten zum Höhleneingang. Britta hatte ihren Rucksack umgeschnallt. "Laß ihn hier", sagte Tom. "Der zieht dich nur runter. Ich gehe zuerst. Wenn die im Hubschrauber mich sehen, schreie ich." Tom verließ die Sicherheit der Höhle und schwamm hinaus in die tosende See. Mühsam kämpfte er sich durch die Wellen. Er sah, daß der Hubschrauber über ihm kreiste und sich zur Seite drehte. Der Pilot hatte ihn gesehen und ließ ein Seil herab. Tom drehte sich zur Höhle. "Komm raus, Britta, wir werden gerettet!" schrie er. Er versuchte, zurück zur Höhle zu schwimmen und Britta zu helfen. Er konnte sehen, wie Brittas Kopf vom Eingang verschwand. Sie kämpfte mit aller Kraft, die noch in ihr steckte. Das Seil vom Hubschrauber schlingerte im Wind. Tom schwamm darauf zu und versuchte, es ruhig zu halten, damit Britta sich daran hochziehen konnte. Aber sie schaffte es nicht bis dahin. Ihr Kopf verschwand unter Wasser. Die Angst verlieh Tom ungeheure Energie. Mit kräftigen Stößen schwamm er auf Britta zu. Der Helikopter drehte sich über ihnen wie ein riesiges Insekt. Aus den dunkelgrauen Wolken tauchte von irgenwoher ein zweiter Hubschrauber auf. "Kanal sechs, Nachrichten." Tom konnte sie Aufschrift gut entziffern. Der erste Hubschrauber ging tiefer, als Tom Britta fand. Er klemmte ihren Kopf unter den Arm, so wie er es im Rettungsschwimmkurs gelernt hatte. Der Hubschrauberpilot manövrierte vorsichtig das Seil in Höhe der beiden Schwimmenden. Britta war völlig hilflos. Tom verknotete das Seil unter ihren - 132 -
Armen, während er gleichzeitig mit den Wellen kämpfte. Er sah zu, wie ihr bewegungsloser Körper in den Hubschrauber gezogen wurde. Er selbst hatte jetzt auch keine Kraft mehr. Ein riesiger Brecher erhob sich hinter ihm. Tom schaffte es nicht mehr, drunter durchzutauchen. Er konnte nicht mehr, es war zu viel gewesen. Die Welle erfaßte ihn und schmetterte ihn gegen die Felsen. Tom kam wieder zu sich. Er hörte das Geräusch der Rotorblätter. Jemand beugte sich über ihn und betrachtete ihn besorgt. Tom war nicht mehr im Wasser, sondern lag in eine warme Decke gewickelt im Hubschrauber. "Er ist bei Bewußtsein", sagte jemand. "Wo ist Britta?" schrie Tom. "Da drüben. Sie ist okay, sie hat aber einen Schock." Tom drehte den Kopf. Das tat weh. Er entdeckte Britta. Sie war auch in eine warme Decke eingewickelt. Ein Mann kümmerte sich um sie, wahrscheinlich ein Arzt. Tom seufzte erleichtert und entspannte sich. Alles strengte ihn an, sogar das Seufzen. Der Hubschrauber flog durch die grauen Wolken. Dann hörte Tom, wie sich das Geräusch erneut veränderte. Mit einem leichten Ruck landeten sie. "Sie scheinen mit dem Schrecken davongekommen zu sein", sagte der Arzt zu Tom. "Sie sind wirklich ein tapferer junger Mann! Und Ihre Freundin auch! Wir werden Sie im Krankenhaus kurz durchchecken. Ihre Familie ist benachrichtigt." Die Hubschraubertüren gingen auf. Tom wurde auf einer Trage in den Krankenwagen gebracht. Ein Mann mit einer Kamera lief neben ihm her. - 133 -
Irgendjemand rief: "Wie fühlen Sie sich?" Andere Stimmen kreischten, "Wie hoch stand das Wasser in der Höhle?" "Wie haben Sie die Nacht in der Höhle überstanden?" "Wie sind Sie überhaupt in die Höhle gekommen?" "Wann haben Sie zuerst gemerkt, daß Sie gefangen sind?" "Lassen Sie ihn in Ruhe. Der Junge hat genug durchgemacht." Der Arzt drängte die sensationslüsternen Reporter weg. Tom merkte, wie er in den Krankenwagen geschoben wurde. Mit einem Knall fiel die Tür hinter ihm zu. Es wurde schon dunkel. Tom sah hinüber zu dem regungslosen Bündel, das neben ihm lag. Britta! "Was ist mir ihr?" fragte er besorgt. Der Arzt beruhigte ihn. "Sie ist total erschöpft. Aber sie wird er überstehen." Tom fühlte sich furchtbar, wenn er daran dachte, was Britta hatte durchmachen müssen. Wie schön war sie gewesen, als er sie zum erstenmal gesehen hatte. Und jetzt lag sie hier, stumm und durchnäßt. Alles Leben war aus ihr gewichen. "Ihre Familie wird wahrscheinlich bald im Krankenhaus ankommen", sagte der Arzt nach einer Weile. Tom dachte an Sandy und Tante Margaret. Lieber wäre es ihm, wenn sie nicht kommen würden. Tante Margaret wurde leicht hysterisch, und Sandy gehörte zu den Leuten, die man in so einem Notfall nicht gern um sich hatte. Wenn sein Vater aus Denver zurückkam, dann hatte Tom wohl mit allerhand Ärger zu rechnen. Was hatte ihm sein Vorsatz genützt, sich in diesem Jahr vorbildlich zu benehmen? Das hier war mit Abstand das schlimmste, was er überhaupt je angestellt hatte. Schlimm genug, um in den Fernsehnachrichten gesendet zu werden. Jeder, aber auch jeder würde es wissen. Im Krankenhaus wurde Tom gründlich untersucht. Britta hatte man in ein anderes Zimmer gelegt. Es war ein schönes Gefühl, warm und trocken zu sein. - 134 -
Alles, was Tom jetzt anhatte, war mollig. Er trug eins von diesen komischen Krankenhausnacht-hemden, und er war mit mehreren Decken zugedeckt. Langsam fühlte er sich wieder wie ein Mensch. Man brachte ihm eine Tasse Brühe, die Tom genüßlich schlürfte. Die Reporter fotografierten ihn sogar beim Suppelöffeln. "Wann senden Sie das im Fernsehen?" fragte Tom. "Wohl erst in den Elf-Uhr-Nachrichten und wahrscheinlich morgen noch mal um sechs." Jede Bewegung, die Tom machte, schien für diese Leute interessant zu sein. Tom war überrascht und gerührt, als seine Eltern unerwartet auftauchten. Sie sahen mitgenommen und aufgeregt aus. Sein Dad schnaufte, als ob er den ganzen Weg gelaufen wäre. Mom umarmte und küßte ihn. Die Fotografen knipsten wie wild. Mr. Roberts paßte das gar nicht. "Ich habe dir trockene Sachen mitgebracht", sagte Toms Mutter. "Sie haben uns erlaubt, dich gleich mit nach Hause zu nehmen." "Ich habe gedacht, ihr wäret in Denver." "Waren wir auch, aber Tante Margaret hat uns angerufen. Wir sind sofort gekommen." "Tut mir leid, daß ich euch das Wochenende verdorben habe." "Wir hatten den Freitag und den Samstag. Am Sonntag wären wie sowieso abgefahren. Wichtig ist nur, daß dir nichts passiert ist." "Mir geht's gut. Vielleicht kriege ich einen Schnupfen. Als ich hier ankam, waren meine Hände vom Wasser völlig aufgeweicht. Wie Backpflaumen. Jetzt sind sie wieder in Ordnung." Tom zeigte seine Hände. Er wunderte sich, daß ihm seine Eltern gar nicht die Hölle heiß machten. Statt dessen waren sie ausgesprochen nett und schienen froh zu sein, ihn zu - 135 -
sehen. "Das Auto steht noch oben auf den Klippen", sagte er schuldbewußt. Dann zog er seine eigenen Sachen an. Jemand hatte sein nasses Zeug in eine Plastiktüte gestopft. "Onkel Ed und ich holen das Auto nachher. Erstmal wollen wir dich nach Hause bringen", sagte sein Vater. Er war überhaupt nicht wütend. "Onkel Ed? Ist der hier?" "Tante Margaret hat ihn angerufen. Er ist sofort gekommen, als er hörte, was los ist." "Was ist mit Britta? Ist jemand da, um sie abzuholen? Wie geht es ihr?" "Als wir kamen, haben wir bei der Anmeldung nach ihr gefragt. Die Schwester hat uns gesagt, daß sie keinen Besuch haben darf. Aber ich denke, daß man auch ihre Eltern benachrichtigt hat." "Ich möchte sie gern sehen, bevor wir losfahren." "Das wird nicht gehen. Sie werden dich nicht zu ihr lassen. Komm, Onkel Ed, und Sandy warten im Auto." "Wir haben gedacht, du wärst tot", empfing Sandy ihren Bruder. "In den Elf-Uhr-Nachrichten haben sie gesagt, daß ihr wahrscheinlich nicht überlebt habt. Sie haben Bilder davon gezeigt, welche Schäden der Sturm angerichtet hat. Über dich und deine Freundin haben sie auch gesprochen. Euer Auto hat man oben auf den Klippen gefunden, aber keine Spur von euch beiden. Man befürchtete, ihr wäret ertrunken. Bei uns sind Reporter gewesen, weil sie ein Bild von dir haben wollten. Von deiner Freundin hatten sie auch eins. Ihr wart im Fernsehen." "Sandy, jetzt reicht's", schimpfte Toms Mutter. Doch Sandy war nicht zu bremsen. "Heute morgen haben alle angerufen, weil es in der Zeitung stand. Auf der Titelseite waren Fotos von dir und deiner Freundin. Steve und Art sind sogar vorbeigekommen. Weißt du, wer noch angerufen hat? - 136 -
Der Direktor von der Schule! Alle haben gedacht, du wärst.tot. Die Polizei war da. Sie wollten wissen, wie groß du bist und was du anhattest, aber das wußten wir nicht, weil du schon so früh losgefahren bist." "Mein Gott, ich wußte gar nicht, daß ich so viel Wirbel verursacht habe", murmelte Tom. "Steve und Art haben jede Stunde angerufen und gefragt, ob wir schon was von dir gehört haben. Sie sind ziemlich geschockt." "Tom hat bestimmt kein Bedürfnis, noch mehr davon zuhören. Er soll ein bißchen schlafen", sagte Mrs. Roberts besorgt. Tom schloß die Augen und lehnte sich gegen den Rücksitz. "Weißt du, wer noch angerufen hat? Andy Pearson." Sandy konnte immer noch nicht aufhören. "Ich war am Telefon, als er anrief. Er ist doch der berühmte Redner aus unserer Schule. Der Pastor war da, kurz bevor Mom und Dad ankamen. Onkel Ed und ich wollten gerade los und sie vom Flughafen abholen. Wir haben Vicky mitgenommen und zu Hause abgesetzt. Sie hat letzte Nacht bei uns geschlafen. Sie war so durcheinander, daß sie ihre Kulturtasche und ihr ausgestopftes Einhorn bei uns vergessen hat. Daß du lebst, weiß sie noch gar nicht." "Du fliegst gleich raus, wenn du nicht still bist", drohte Mr. Roberts."Wie ein Wasserfall!" "Tom, wenn wir zu Hause sind, nimmst du ein heißes Bad, und dann gehst du sofort ins Bett", sagte Mrs. Roberts. "Du bist ganz blaß, mein Junge." "Und du stinkst nach Seetang." Sandy rümpfte die Nase. "Oh, das wollte ich dir noch erzählen. Gestern abend hat dein Chef aus der Pizzeria angerufen. Er wollte wissen, wo du bleibst." "Jetzt reicht's aber wirklich, Sandy", schimpfte Mr. Roberts. Vor dem Haus der Roberts' stand ein - 137 -
Fernsehübertragungswagen. "Der Junge ist völlig fertig", erklärte Mr. Roberts den neugierigen Reportern. "Er kann kaum reden." "Wie fühlen Sie sich wieder daheim?" fragte ein Reporter. "Was haben Sie gedacht, als Sie hörten, daß Ihr Sohn lebt?" wollte ein anderer von Mrs. Roberts wissen. "Wir müssen ihn ins Bett bringen", sagte diese nur. "Ich glaube, meine Knie knicken gleich ein", stöhnte Tom. Sandy baute sich vor der Kamera auf. "Als ich meinen Bruder sah, habe ich geschworen, daß ich ihn nie wieder ärgern will." Mrs. Roberts führte Tom ins Haus. Sandy und Onkel Ed blieben im Garten bei den Fernsehleuten. "Du mußt ja halb verhungert sein", sagte Mrs. Roberts. "Ich mache dir was zurecht, während du dein Bad nimmst." "Lieber nicht, Mom. Ich habe im Krankenhaus eine Brühe gekriegt. Jetzt will ich nur noch schlafen." Nach dem heißen Bad lag Tom in seinem Pyjama in warme Decken gewickelt im Bett. Er kriegte noch mit, daß Sandy mit ihrer Freundin Vicky telefonierte. "Stell dir vor, Vicky, ich bin heute abend vielleicht im Fernsehen", hörte er sie losplatzen, dann schlief er ein. Erst am Nachmittag des nächsten Tages wachte Tom auf. Es regnete nicht mehr. Die Sonne schien in sein Zimmer. Er hatte einen ziemlichen Heiß-hunger. Deshalb stand er auf, zog seinen Bademantel an und ging nach unten. "Wie zäh diese jungen Leute doch sind", rief Tante Margaret und drückte Tom an sich. "Gestern bist du eingeschlafen, bevor ich dich sehen konnte. Du hast uns eine ganz schöne Angst eingejagt." - 138 -
"Wenn ein Telefon in der Höhle gewesen wäre, hätte ich dich angerufen", grinste Tom. "Heute siehst du schon viel besser aus, Tom." Seine Mutter freute sich. "Ja, ich glaube, ich hab's überstanden." Komisch, niemand war wütend auf ihn. Wahrscheinlich hatten sie gemerkt, wie es wäre, wenn er nicht mehr da war. Mom und Tante Margaret bereiteten für Tom ein üppiges Frühstück zu. Während er Rühreier mit Schinken, Leberpastete und Obst in sich hineinstopfte, dachte er an Britta. Hoffentlich hatte sie sich inzwischen auch erholt. Er würde sie gleich anrufen. Es kam Tom so vor, als würde das schreckliche Erlebnis in der Höhle schon Wochen zurückliegen. Hier, in der sonnigen, warmen Küche, hatte er das, Gefühl, als ob er von dem Albtraum in dar Höhle und dem Kampf mit der rauhen See nur gehörte hätte, als ob es einem anderen Menschen passiert sei, nicht ihm selbst. Trotzdem, einiges könnte auch zu einem sehr schönen Traum gehören. Als er Britta geküßt hatte, und sie sich gegenseitig gestanden, daß sie sich liebten. Das war doch so gewesen, oder? Er erinnerte sich daran, daß er so oft geküßt hatte, bis sie beide sich zu schwach dazu fühlten. Ob sie ihn immer noch mochte? Oder war nur die Situation in der Höhle verantwortlich für ihre Gefühle gewesen? Ich werde es bald wissen, dachte Tom, ich rufe sie an und verabrede mich für das nächste Wochenende mit ihr. Tom wollte all seine freie Zeit mit ihr gemeinsam verbringen. Zum Valentinsball würde er sie einladen und über-haupt nur noch mit ihr weggehen. Er beeilte sich mit dem Frühstück und rannte nach oben, um zu duschen. Danach würde er Britta anrufen, und ihre - 139 -
Freundschaft könnte endlich richtig anfangen. Als Tom aus dem Badezimmer kam, hörte er von unten Stimmen. Ein paar seiner Freunde waren nach der Schule vorbeigekommen. Schnell zog sich Tom an. Der Anruf mußte warten, er wollte Zeit haben, wenn er mit Britta sprach. ' Er erkannte die Stimmen von Steve, Art und Janine, dazu noch einige andere. Sie warteten unten an der Treppe auf ihn. "Da ist ja unser Fernseh-star", rief Steve. Alle lachten und redeten aufgeregt durcheinander. "Yeah", schrie Art. "Steve, Connie und ich saßen bei Sarah vor dem Fernseher. In den Nachrichten haben sie einen Bericht über den Wahnsinnssturm an der Küste und die Verwüstungen gebracht. Dann kamen die Bilder von dir und diesem tollen Mädchen. Sie haben gesagt, daß sie euer Auto gefunden haben, und daß man vermutet, daß ihr ertrunken seid." "Ich sage dir, du hättest eine Stecknadel fallen hören können, wir haben uns nur angestarrt", bestätigte Sarah Arts Bericht. Steve legte den Arm um Toms Schultern. Sie gingen ins Wohnzimmer hinüber. Toms Mutter brachte Cola und Chips. "Also, erzähl mal, was ist passiert?" fragte Sarah. "Wir sind in die Höhle geklettert, um unseren Lunch zu essen", begann Tom. "Wer war denn das hübsche Mädchen bei dir? Ich habe Steve gefragt, ob er sie schon mal gesehen hat, aber er kannte sie auch nicht", unterbrach Art ihn. "Junge, Junge, die ist vielleicht super. Wo lernt man sowas tolles kennen?" stimmte Steve ein. "Jetzt hört doch auf!" Tom merkte, daß er sauer wurde. Ihm stand deutlich vor Augen, wie er Britta in den Armen gehalten hatte. Er fühlte noch einmal ihre Angst und die Nähe, die sie füreinander empfunden hatten. Irgendwie schienen seine - 140 -
Freunde ganz weit von ihm entfernt zu sein. Eigentlich hatte er keine Lust, ihrem Geschwätz noch länger zuzuhören. Innerlich kapselte sich Tom ab. "Nun sag schon, wer sie ist. In unsere Schule geht sie doch nicht, oder", drängte jemand. "Sie heißt Britta", sagte Tom. Er wünschte, sie würden endlich gehen, damit er Britta anrufen konnte. Janine warf ihm einen verständnisvollen Blick zu. Sie hatte bis jetzt noch gar nichts gesagt. "Wo hast du sie denn kennengelernt?" wollte einer wissen. "Ich glaube, Tom hat im Moment überhaupt keinen Nerv für eure Fragen", sagte Janine und zwinkerte Tom zu. "Meine Mutter hat in den Nachrichten gehört, daß man euch gefunden hat. Sie hat mich bei Steve angerufen, um es mir zu erzählen. Wir haben dann alle informiert und beschlossen vorbeizukommen, um zu hören, wie das alles passiert ist", sagte Art. "Ich habe Craig angerufen und ihm gesagt, daß ihr gerettet seid. Er war sehr froh", meinte Janine. Tom dachte wieder an Britta. Er fragte sich, ob ihre Freunde jetzt wohl auch alle bei ihr zu Hause saßen. Vielleicht war sogar Joe dabei. Wenn sein Besuch weg war, mußt er sofort mit ihr telefonieren. Auch wenn es seine besten Freunde waren, im Moment konnte er sie nur sehr schwer ertragen. "Es bewölkt sich schon wieder", sagte Connie. "Ja, sie haben auch vorhergesagt, daß es heute abend wieder losgehen soll mit dem Sturm", verkündete Art. Der Wind begann zu heulen. Sandy und Vicky kamen rein. "Es fängt schon wieder an zu regnen. Gibt's nicht bald Nachrichten? Vielleicht bin ich zu sehen. Sie haben Onkel Ed und mich draußen im Hof gefilmt. Kanal sechs." - 141 -
Sandy und Vicky setzten sich wie selbstverständlich zu Toms Freunden und nahmen sich Cola. Tom hatte das Gefühl, das alles von weitem wie durch ein Fernglas zu sehen, so als ob er gar nicht hier bei den anderen säße. "Ja, laßt uns mal den Fernseher anstellen. Vielleicht bringen sie was über eure Rettung", meinte Steve. "In ein paar Minuten ist es halb sechs", sagte Sarah. "Dann gibt's Nachrichten." Tom hoffte, daß sie ihn nicht zeigen würden, wie er mit dem Krankenhausnachthemd im Bett saß und Brühe schlürfte. Eigentlich wünschte er sich, daß sie in den Nachrichten überhaupt nichts über ihn bringen würden. Er wollte nichts mehr von der Sache hören. Die Erinnerung an die Schrecken in der Höhle war schlimm genug. "Es geht los." Sandy hockte sich erwartungsvoll vor den Fernseher. Zunächst kam eine Reportage über Unruhen in Mittelamerika und dann über den Mittleren Osten. Danach berichtete der Sprecher von verheerenden Stürmen an der nordkalifornischen Küste. Es wurden Bilder vom Highway Nummer eins gezeigt, der wegen Überflutung streckenweise gesperrt werden mußte und von völlig zerstörten Wochenendhäusern. "In einer dramatischen Rettungsaktion wurden zwei junge Leute von der Küstenwache aus einer Feisenhöhle gerettet. Sie waren die ganze Nacht lang darin eingeschlossen gewesen." "Da, das ist es!" schrie Steve. Die Kamera zeigte ein Bild vom Hubschrauber. Deutlich konnte man das Seil erkennen, das daran herunterhing. In den tosenden Wellen sah man die Köpfe von Tom und Britta, und sogar der rote Rucksack war zu erkennen. "Durch den Rucksack haben wir ihn auf uns aufmerksam machen können", erklärte Tom. - 142 -
Die Kamera zeigte, wie Britta das Seil verpaßte. Tom hielt ihren Kopf über Wasser und knotete das Tau um sie. "Der siebzehnjährige Tom Roberts riskierte sein Leben, um seine Begleiterin, die sechzehnjährige Britta Holmstrom, zu retten. Nach seiner heldenhaften Aktion wurde er von einer Welle erfaßt und gegen die Felsen geschmettert. Bill Pendleton, Mitglied der Küstenwache, barg den Bewußtlosen." Tom sah, wie sein Retter an einem Seil heruntergelassen wurde, ihn aus dem Wasser fischte, und wie sie beide in den Hubschrauber gezogen wurden. "Das habe ich gar nicht mitgekriegt", sagte Tom. "Mann, ist das ein komisches Gefühl, wenn man sich selbst auf dem Bildschirm sieht." In den Nachrichten wurde jetzt über einen Brand in San Francisco berichtet. "Mich haben sie überhaupt nicht gezeigt", meckerte Sandy. "Dabei sind sie doch extra hierher gekommen, um Aufnahmen zu machen." "Sie haben gesagt, daß du ein Held bist!" rief Janine. "Und das stimmt ... Du hättest genauso gut selbst nach dem Seil greifen können, statt deiner Freundin zu helfen." Nein, das hätte ich nicht, dachte Tom. Immer noch spürte er die Distanz zwischen sich und seinen Freunden. Sie würden nie nachvollziehen können, was er erlebt hatte und wie tief seine Gefühle für Britta durch die Zeit in der Höhle geworden waren. Eine solche Erfahrung hatte kaum jemand in seinem Alter gemacht. "Tom, du solltest an den Mann von der Küstenwache schreiben und dich bedanken", schlug Mrs. Roberts vor, die hereingekommen war, um auch die Nachrichten zu sehen. "Wie heißt er?" "Bill Fendleton", erinnerte sich jemand. - 143 -
"Ich schreibe es auf, dann kannst du es morgen erledigen." "Ein Held! Wow!" Steve hielt die Luft an. "Mom, glaubst du, daß sie die anderen Bilder in den Spätnachrichten zeigen?" quengelte Sandy. "Hoffentlich nicht. Wir sollten diesen Zwischenfall so schnell wie möglich vergessen." "Das finde ich auch", sagte Tante Margaret. "Ich habe die schlimmste Nacht meines Lebens hinter mir." "Aber das war doch eben nur so kurz", jammerte Sandy. "Man konnte Torn noch nicht mal richtig erkennen. Sie hätten ruhig mehr zeigen können." "Hoffentlich hat Craig die Nachrichten gesehen", sagte Janine. "Der flippt aus, wenn er diese Rettungsaktion sieht." Ob Britta es auch gesehen hat? fragte sich Tom. "Tom, du siehst noch gar nicht gut aus", sagte Mrs. Roberts. "Leg dich lieber wieder hin." "Wir gehen jetzt besser auch", schlug Janine vor. "Tom ist bestimmt noch sehr erschöpft." "Ja, gönnen wir dem Helden seine Ruhe", stimmte Art zu. "Ich habe zwar schon ziemlich lange geschlafen. Aber so ganz bin ich noch nicht wieder da." Tom war froh, daß sie ihn endlich allein ließen. Er wollte jetzt unbedingt Britta anrufen, ihre Stimme.hören und wissen, daß es ihr gut ging.
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10. KAPITEL Als seine Freunde endlich weg waren, ging Tom sofort zum Telefon. "Ich möchte ein privates Gespräch führen", sagte er zu Sandy. Das überstandene Abenteuer mußte ihm eine gewisse Autorität verschafft haben, denn seine kleine Schwester zog widerspruchslos ab. Brittas Mutter war am Telefon. Im Hintergrund hörte Tom die Stimmen von Jackie und Jamie. "Es tut mir leid, Tom, Britta kann nicht mit dir sprechen. Sie ist sehr krank, Lungenentzündung. Der Arzt hat absolute Ruhe angeordnet. Ihr Zwei habt uns ja einen schönen Schrecken eingejagt. Wie geht es dir denn?" "Ich bin nicht krank, nur müde", erzählte Tom ihr. "Ich würde so gern vorbeikommen und Britta sehen." "Ruf lieber am Ende der Woche nochmal an. Am Sonnabend oder so. Dann werden wir sehen, wie es ihr geht." "Es tut mir wirklich leid, daß es ihr so schlecht geht. Sagen Sie ihr bitte, daß ich angerufen habe." Tom legte auf. Er war unzufrieden. Brittas Mutter schien ihm keine Vorwürfe zu machen, aber er mußte unbedingt von Britta selbst wissen, ob sie ihn noch genauso mochte wie in der Höhle. Britta beherrschte seine Gedanken, und Tom wollte auch an nichts anderes mehr denken. Er sehnte sich nach ihr und wollte sie umarmen, wenn sie warm, trocken und fröhlich war. Als Tom am nächsten Tag wieder zur Schule ging, wurde er umringt von Leuten, die alle alles über sein Abenteuer von ihm wissen wollten, Sogar Leute, die er überhaupt nicht kannte, - 145 -
sprachen ihn an: Lehrer, die Frauen, die in der Cafeteria arbeiteten, die Sekretärinnen. Immer wieder mußte Tom die ganze Geschichte in allen Einzelheiten erzählen. "Ich werd's auf Pappe schreiben und mir um den Hals hängen", sagte Tom zu Art. "Ja,ich kann mir gut vorstellen, daß du es satt hast." Ein Schüler ging an ihnen vorbei. "Das war ja eine heiße Schnalle, mit der du die Nacht in der Höhle verbracht hast", rief er, wobei er eine Augenbraue hochzog und Tom wissend angrinste. "Dem würde ich am liebsten eine reinhauen." Zornig verzog Tom den Mund. "Naja, die haben doch die Bilder von dir und deiner Freundin im Fernsehen gezeigt. Natürlich rätseln jetzt alle, wer das schöne Mädchen ist, von dem noch keiner was gehört hat." Nach der Schule kaufte Tom eine Postkarte, die er Britta schicken wollte. Er fand eine mit Karikaturen von Seevögeln. Britta würde bestimmt darüber lachen. Dem einen Vogel malte er eine Sprechblase. "Ich liebe dich", schrieb er hinein. In der Schule war in dieser Woche sehr viel los. Janine hielt ihren Vortrag über das Leben in Uruguay. Vorweg kam eine kurze Ansprache des Direktors. Er erwähnte auch, wie froh man war, den Oberstufensprecher nach einem so gefährlichen Abenteuer heil wiederzuhaben. Die Zuhörer klatschten, pfiffen und trampelten begeistert, so daß es Tom schon peinlich war. Danach stellte der Schulleiter Janine vor. Sie erzählte ihren Mitschülern alles Interessante über Land und Leute, Sitten und Gebräuche. Von Festen, Märkten, Landschaften und Stränden sprach sie, von der politischen und wirtschaftlichen Situation in dem von einer Militärjunta regierten Land. Tom beobachtete sie während sie redete. - 146 -
Der Auslandsaufenthalt hatte Janine verändert. Wie erwachsen sie jetzt wirkte. Sie beide, Janine und Tom, hatten unabhänging voneinander in letzter Zeit unheimlich viel erlebt. Über Langeweile konnten sich beide wirklich nicht beschweren. Es machte Tom froh, mit Janine so gut befreundet zu sein. Nach Janine sprach ein junger Finne, der als Austauschschüler an Toms Schule war, über seine, Eindrücke von Kalifornien und die Unterschiede zu seinem Heimatland. Außer dieser Veranstaltung fand in dieser Woche eine weitere Oberstufenvollversammlung statt. Die Einzelheiten für den Vatentinsball mußten besprochen werden, und die zu Beginn des Schuljahres gebildeten Arbeitsgruppen berichteten von ihren Erfolgen. Vor der Veranstaltung sprach Steve Tom an. "Ich soll dir von Sarah ausrichten, daß Jennifer erwartet, daß du sie zum Ball einlädst, nachdem sie so viel dafür getan hat. Sie hat unheimlich viel Zeit in die Vorbereitungen investiert. Hast du schon gehört, daß sie für den Ball mehrere hundert rotweiße Luftballons organisiert hat? Jennifer hat sechs Leute, die ihr helfen. Einmal in der Woche treffen sie sich bei ihr zu Hause, um alles zu organisieren. Das allein ist schon viel Arbeit. Und weil du doch Oberstufensprecher bist und Jennifer für den Ball verantwortlich ist, meint Sarah, ist es eigentlich logisch, daß du sie einlädst. Schließlich hat sie eine Belohnung verdient. Außerdem warst du auch auf ihrer Silvesterfete mit ihr zusammen. Sie hat bereits eine andere Einladung abgelehnt, weil sie fest damit rechnet, daß du mit ihr hingehst." "Ach, du Schande", stöhnte Tom. "Ich will unbedingt Britta zum Valentinsball einladen. Seit wir den Ball geplant haben, habe ich das vor. Ich weiß auch gar nicht, wie Jennifer darauf - 147 -
kommt, daß ich mit ihr hingehen würde. Weißt du, Steve, ich finde Jennifer nett, und sie sieht auch gut aus. Aber sie ist nicht mein Typ, und ich habe schon eine andere Verabredung." "Sarah macht mich fertig", beschwerte sich Steve. "Und Jennifer wird so beleidigt sein, daß sie alles hinschmeißt." "Nein das macht sie nicht. Nachdem sie schon so viel Zeit investiert hat.'“ "Nun sag mal, Tom, wie würdest du es denn finden, wenn du so viel getan hättest und der Typ, mit dem du gern zum Ball gehen würdest, kreuzt dort mit einer anderen auf?" "Sie kriegt ihre Einladung", versprach Tom. "Nur nicht von mir." "Aber sie wird nicht mit jedem hingehen wollen", gab Steve zu bedenken. "Das muß schon ein guter Typ sein. Ich habe Sarah versprochen, daß ich die Sache mit dir für Jennifer klarmache." "Dann mußt du Sarah eben sagen, daß ich mit Britta. hingehe. Keine Chance für eine andere. Ich werde für Jennifer jemanden suchen, der ihr gefällt." "Na, dann viel Spaß!" Nach der Versammlung sprach Tom mit Ken Garcia. "Du, Ken, es geht um den Valentinsball. Wir beide als Oberstufensprecher sollten dafür sorgen, daß alle, die in dem Festausschuß gearbeitet haben, eine Verabredung für den Ball haben. Ich habe gehört, daß Jennifer Baines noch nicht weiß, mit wem sie hingehen soll. Und da habe ich mir gedacht, daß du als mein Stellvertreter mit ihr..." "Jennifer Baines! Ich hätte gewettet, daß sie als allererste eingeladen wird. Übrigens, ich habe schon eine andere gefragt." Die Situation wurde langsam brenzlig. Tom hatte selbst ja auch noch keine richtige Verabredung. Vielleicht wollte Britta gar nicht mit ihm auf einen Ball gehen, - 148 -
wo sie sonst niemanden kannte. Aber eines war klar: Spaß würde das Fest ihm nur mit Britta zusammen machen. Er sehnte sich furchtbar nach ihr. Am Freitag rief er wieder bei den Holmstroms an. Britta war immer noch zu krank, um Besuch empfangen zu können. Der Arzt meinte, sie sei nächste Woche außer Gefahr. "Komm doch am nächsten Sonnabend zu uns, Tom", lud Brittas Mutter ihn ein. "Britta freut sich bestimmt." Am Sonnabend! Dann würde er sie endlich zum Valentinsball einladen können. Tom wollte Britta unbedingt persönlich einladen, denn er träumte davon, sie dabei zu küssen. Allein der Gedanke daran ließ sein Herz vor Erwartung schneller klopfen. Aber da war immer noch die blöde Aufgabe, einen passenden Ball-Partner für Jennifer zu finden. Er sprach mit Quentin Pierce, der sich bereiterklärt hatte, auf dem Ball als Sänger aufzutreten. Er sah unheimlich gut aus und galt in der Schule als Playboy. "Ob ich mich schon verabredet habe? Weiß ich gar nicht." Quentin sah in seinem Terminkalender nach. "Ach ja, zwei Mädchen haben mich gefragt. Stimmt überhaupt. Mit der einen esse ich zusammen, bevor der Tanz losgeht, und mit der anderen bin ich nach meinem Auftritt verabredet. Gut, daß du mich erinnert hast. Einer von beiden muß ich ja wohl absagen.' "Warum sagst du nicht beiden ab und tust so, als ob du mit der Organisationstruppe zu tun hast? Dann wäre dein Problem gelöst." Quentin überlegte. "Naja, aber mit Marybelie Williams war ich noch nie verabredet. Ich denke, ich werde mit ihr essen gehen, bevor ich auftreten muß." Erst als Andy Pearson ihn wegen irgendeines Problems - 149 -
ansprach, hatte Tom die rettende Idee. Er würde Jennifer und Andy verkuppeln. Eine interessante Kombination - Andy, der ernsthafte, strebsam Schüler und Jennifer, das flippige, vergnügungssüchtige Mädchen. "Hast du schon eine Verabredung für den Ball?" fragte Tom. "Den Ball? Meinst du das Abschlußfest?" "Nein, natürlich nicht. Das ist doch noch so lange hin. Den Valentinsball." "Ach so, dafür? Darüber habe ich mir überhaupt noch keine Gedanken gemacht. Ich hatte soviel zu tun mit der Abschlußfeier. "Du denkst immer viel zu weit im voraus, Andy!" "Das muß man auch, wenn man das beste erreichen will." "Trotzdem kannst du ruhig mal eine Pause machen und dir ein bißchen Spaß gönnen. Du kommst doch auf den Valentinsball, oder?" Andy zog eine Grimasse."Eigentlich hatte ich das nichtvor." "Aber du gehörst doch zu den wichtigsten Leuten aus der Oberstufe. Außerdem hast du eine Funktion als Vorsitzender des Ausschusses. Wir wollen alle, die irgendein Amt haben, auf dem Fest vorstellen und ihnen als Dank für ihre Arbeit ein kleines Geschenk überreichen." "In dem Fall ist es ja wohl sinnvoll, wenn ich komme. Obwohl ich nie ein besonderer Freund von Tanzfesten gewesen bin." "Du mußt dich doch auch mal erholen, nicht immer nur arbeiten. Ich denke, alle diejenigen, die in Ausschüssen sind, sollten zusammen an einem Tisch sitzen. Ich habe schon überlegt, ob du vielleicht mit Jennifer Baines zusammen kommen könntest?" "Jennifer Baines? Ist sie nicht für den Ball verantwortlich?" "Ja, sie wird viel zu tun haben. Deshalb wäre es gut, wenn sie einen Begleiter hätte, der sie ein bißchen unterstützen kann - 150 -
und einen kühlen Kopf behält." "Und du denkst, sie würde auch mit mir gehen wollen?" Tom schaute Andy nachdenklich an. Eigentlich sah er sehr gut aus. Leider war er aber immer so ernsthaft und vernünftig. Ein Arbeitssüchtiger. Es wäre schön, wenn ihn jemand etwas lockerer machen könnte. Jennifer würde das spielend schaffen. Tom griff zu einer Notlüge. "Ich habe gehört, daß sie dich schon sehr lange heimlich bewundert. Sie hat nur ein bißchen Angst davor, daß du zu intellektuell bist, um dich für sie zu interessieren." Andy schien sich zu amüsieren. "Es gibt so‘n altes Sprichwort, das sich Gegensätze anziehen. Vielleicht ist das der Beweis dafür." Vor Toms Augen verwandelte sich der strebsam Andy in einen entspannten, erwartungsvollen Jungen, dessen Augen vor Abenteuerlust strahlten. "Frag sie lieber sofort, bevor sie dir ein anderer wegschnappt", riet ihm Tom. "Sie wäre bestimmt enttäuscht, wenn sie schon eine andere Einladung angenommen hätte und du zu spät kämst." "Ach so, ich dachte, du machst das klar?" "Könnte ich, aber ich glaube, Jennifer freut sich viel mehr, wenn du sie persönlich einlädst." "Jennifer Baines!" Andy schüttelte verwundert den Kopf. "Gut, dann werde ich mal sofort sehen, ob sich das arrangieren läßt." Tom sah Andy nach, der sich auf die Suche nach Jennifer machte. Er drückte ihm ganz doll die Daumen. Wenn Jennifer endlich einen Partner hatte, mußte er sich noch um eine Verabredung für Betty Babcock kümmern. Das würde nicht ganz so einfach sein. Doch als er mit Betty sprach, stellte sich heraus, daß es hier überhaupt keine Probleme gab. Sie wollte mit ihrer - 151 -
Arbeitsgruppe gemeinsam gehen. Tom dachte an Britta. Wenn es doch bloß erst Sonnabend wäre und er seine Verabredung mit ihr klarmachen könnte!" Am Sonnabend suchte Tom sorgfältig aus, was er anzog. Er wollte gut aussehen, wenn er zu den Holmstroms kam. Er rasierte sich viel gründlicher als sonst, denn er wollte Britta nicht kratzen, wenn er sie küßte. Er benutzte Rasierwasser, griff nach seiner Jacke und ging zu seinem Vater, um sich die Autoschlüssel zu holen. "Aber unternimm bitte nicht wieder einen von diesen Zweitagesausflügen", ermahnte ihn Mr. Roberts. "Ja, ja, ich habe meine Lektion erhalten", sagte Tom. "Ich will nur schnell sehen, wie es Britta geht. Schließlich habe ich sie seit dem Sturm noch nicht wiedergesehen." "Du solltest die Sache mit diesem Mädchen nicht zu wichtig nehmen", meinte sein Dad. "Sie scheint dich in schwierige Situationen zu bringen. Es wäre besser, wenn du dich für ein Mädchen interessieren würdest, das hier in der Nähe wohnt, anstatt immer bis nach Berryville zu fahren." "Nein, Dad, Britta kannst du für nichts verantwortlich machen. Außerdem gibt es in unserer Gegend kein so tolles Mädchen wie sie. Du weißt gar nicht, wie sie ist. In unserer ganzen Schule gibt es kein Mädchen, das so gut aussieht wie sie oder so nett und gleichzeitig intelligent ist. Und auch ihre Familie finde ich super." "Na gut, Tom. Ich fürchte, du idealisierst dieses Mädchen, weil du sie so selten siehst." "Ich war eine lange Zeit mit ihr zusammen. Sie ist wirklich so phantastisch." - 152 -
"Ich hoffe, du verlierst nicht den Blick für die Realität. Es ist in Ordnung, wenn du mit diesem Mädchen befreundet bist, aber du solltest aufpassen, daß die Sache nicht zu intensiv wird. Und es sieht ganz so aus, als ob du auf dem besten Wege bist, den Kopf zu verlieren. In deinem Alter kann das Ärger geben. Hat es ja auch schon." "Das war höhere Gewalt, Dad. Du würdest auf der ganzen Welt kein Mädchen mit mehr gesundem Menschenverstand finden, als Britta ihn hat. Du solltest froh sein, daß ich ein Mädchen wie sie liebe." "Du bist noch zu jung, um jemanden zu lieben. Tom. Du solltest lieber mit vielen verschiedenen Mädchen flirten." "Ich will ja auch nur zu ihr fahren um sie zum Valentinsball einzuladen. Ich will ihr ja keinen Heiratsantrag machen." "Ich möchte nicht, daß du dich in etwas verrennst. "Mein Gott, Dad, nun mach bloß keine Staatsaktion daraus. Ich besuche sie doch nur." "Komm nicht so spät zurück. Wir wollen uns nicht schon wieder Sorgen um dich machen müssen." Tom hafte es so eilig, daß er beim ersten Starten den Motor abwürgte. Er versuchte es wieder. Sein Vater sah ihn finster an. "Ich frage mich, wie du deinen Führerschein bekommen hast." Schließlich war Tom auf dem Weg zu Britta. Heute gab es keinerlei Anzeichen für ein Unwetter. Nach dem vielen Regen bekamen die Felder einen ersten grüngen Schimmer, und vereinzelt entdeckte Tom die ersten Frühlingsblumen unter den Obstbäumen, die die Straße säumten. Hier und da brachen an den Mandelbäumen einzelne Knospen auf. Tom war unheimlich gut drauf. Es war ein wunderschöner Tag, und gleich würde er Britta sehen. Laut sang er vor sich hin, aber so falsch, daß er doch lieber das Radio anschaltete. Es war ein aufregender Gedanke, mit Britta auf den Ball zu gehen. - 153 -
Alle hatten sie ganz toll gefunden, als sie ihr Bild im Fernsehen gesehen hatten. Was sie wohl erst sagen würden, wenn sie Britta live erlebten! Tom stellte sich vor, wie sie mit ihren leuchtenden Haaren und ihrem strahlenden Lächeln seine Freunde begrüßen würde. Die würden glatt umfallen! Tom konnte es kaum erwarten, endlich mit ihr durch die Tür in den Ballsaal zu treten. Er würde den Arm um ihre Schultern legen. Von seinen Ersparnissen würde er sich einen Smoking leihen. Nicht jeder würde einen tragen, und Tom hatte auch noch nie einen angehabt. In seiner Funktion als Oberstufensprecher mußte es ja aber wohl sein. Britta wußte noch gar nichts von seinem Amt. Das würde eine Überraschung für sie werden! Außerdem würde sie auch noch feststellen, daß er ein ausgezeichneter Tänzer war, ein weiterer Pluspunkt für ihn. Der Valentinstag würde der absolute Höhepunkt werden. Britta würde für immer ihm gehören. Er konnte sie küssen und umarmen, so oft er wollte. Und das wollte er ständig. Endlich bog Tom in die Einfahrt der Holmstroms ein. Alles war ihm hier schon vertraut. Er fuhr den verwitterten Zaun entlang, der bis zum Haus reichte. Frischer Duft von Akazienund Mandelblüten erfüllte die Luft. "Vier dicke, weiße Enten überquerten schnatternd den Weg. Tom liebte dieses Grundstück. Es war so ländlich und ursprünglich. Die Holmstroms lebten viel unkomplizierter als die Leute in Toms Nachbarschaft. Jupiter lief hinter dem Zaun herum. Als Tom näherkam, rannte er mit aufgestellten Schwanzfedern davon. Tom hielt den Atem an, so wunderschön sah das aus. Vor dem Haus stand ein anderes Auto, ein blauer Kombi. Als Tom parkte, kam jemand aus der Haustür auf die Veranda. Es war Joe. Er sah schlecht gelaunt aus. Auf der kleinen - 154 -
Treppe, die von der Veranda in den Garten führte, blieb er stehen und beobachtete, wie Tom das Auto parkte. Seine Augen verengen sich. Tom fühlte sich unbehaglich, wie ein Eindringling unter Joes ablehnendem Blick. Dann fiel ihm Brittas Antwort auf seine Frage in der Höhle wieder ein: ,Du magst mich lieber als ihn, oder?' ,Das weißt du doch genau.' Und dann hatte er sie geküßt. Tom wünschte sich, daß Joe nicht so feindselig aussehen würde. Hätte er doch bloß irgendetwas für Britta mitgebracht, Blumen zum Beispiel. Die hätte er in die Hand nehmen und einfach ganz unbefangen an Joe vorbeigehen können, wie jemand, der einen kranken Bekannten besucht. Joe starrte ihn ganz finster an. Entschlossen ging Tom auf die Treppe zur Veranda zu. Joe stand oben mit wütend vorgestrecktem Kinn. Man hätte denken können, er sei der Wachhund der Holmstroms. "Du bist der Typ, der Schuld hat, daß Britta in der Höhle gefangen war", griff Joe ihn an, als Tom den Fuß auf die erste Treppenstufe setzte. Seine Stimme klang drohend. Tom gefiel die Formulierung von Joes Beschuldigung nicht. "lch war mit ihr dort gefangen", verbesserte er. "Deinetwegen schwebte sie in Lebensgefahr. Mich wundert, daß du den Nerv hast, hier aufzukreuzen." "Mrs. Holmstrom hat mich eingeladen." Tom hatte die Veranda, erreicht. Joe baute sich ihm gegenüber auf. Tom war größer als Joe, aber Joe war bulliger. "Britta und ich gehen fest zusammen", knurrte Joe. "Wir würden es besser finden, wenn du verschwindest und sie in Ruhe läßt." "Du redest für dich", sagte Tom mit eiskalter Stimme. "Von Britta habe ich was ganz anderes gehört." "Du hast dich bei der Exkursion eingeschlichen und es - 155 -
geschafft, daß sie sich einmal mit dir verabredet hat. Aber inzwischen ist ihr klargeworden, wie unmöglich du bist. Nie wieder würde sie mit dir losziehen. Also, hau ab, geh dahin, wo du herkommst. Du bist hier nicht erwünscht." "Ich bin nicht hierhergekommen, um mich mit dir zu unterhalten." Tom wollte sich von Joe nicht provozieren lassen. Joe stand vor der Eingangstür, um Tom den Weg zu versperren. Toms Nerven waren inzwischen gespannt wie Drahtseile. Dort hinter der Tür, die Joe verbarrikadierte, wartete Britta. Tom sehnte sich danach, sie endlich zu sehen. Und jetzt stand dieser Idiot im Weg. Nur zu gern hätte Tom ihm eins auf die Nase gehauen, aber er war nicht ein so primitiver Typ wie Joe. "Mach doch die Tür auf und laß Britta entscheiden, ob sie mich sehen will", schlug Tom vor. Er legte mehr Selbstvertrauen in seine Stimme, als er wirklich hatte. Joe machte die erste Bewegung. Er griff nach Tom und drückte seine Schultern gegen die Hauswand. Dann knallte er ihm die Faust in den Magen. Trotz des Schmerzes und des Schocks reagierte Tom schnell. Er holte tief Luft. Die Wut gab ihm ungeheure Energie. Er schlug Joe zu Boden, warf sich auf ihn und drosch auf ihn ein, bis es Joe gelang, Tom unter sich zu bringen. Sie wälzten und prügelten sich auf der Veranda. Einmal sah Tom die erschrockenen Gesichter der Holmstroms hinter den Fenstern. Die beiden Kämpfer rollten die Treppe hinunter auf den staubigen Hof. Vier Pfauen rannten schreiend davon, nur Jupiter wagte es, den beiden mit ausgebreitetem Schwanz näherzukommen. Die Eingangstür öffnete sich. Britta stand dort. "Hört sofort auf", flehte sie. "Sofort, alle beide!" "Britta, halt dich da raus. Geh zurück ins Haus. Ich werde mit diesen beiden Lumpen schon allein fertig werden." Das war - 156 -
die Stimme des Professors, aber nicht seine normale, wohltönende, dozierende Stimme, sondern ein wütendes Gebrüll. Tom hörte, wie die Tür geschlossen wurde. Es gelang ihm, Joe die Faust ins Gesicht zu schlagen. Torn war zu beschäftigt, um mitzukriegen, was um ihn herum sonst noch geschah. Er mußte aufpassen, daß er im Kampf oben blieb und mehr Treffer bei Joe landete als Joe bei ihm. Tom zog sein Knie an und rammte es Joe irgendwo hin. Dann wurden die beiden Feinde plötzlich ernüchtert. Ein kalter Wasserstrahl traf sie. Tom ließ Joe los und kam auf die Knie. Joe wischte sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Erstaunt blickten sie auf Dr. Holmstrom, der mit einem Gartenschlauch auf sie zielte. "So haben wir Hundekämpfe beendet, als ich noch ein Kind war", sagte Dr. Holmstrom angeekelt. "Und da ihr zwei euch wie Tiere benehmt, ist diese Behandlung für euch genau richtig. Jetzt verschwindet alle beide, und laßt euch hier nie wieder blicken. Ihr braucht auch nicht mehr anzurufen. Britta ist zu schade für euch. Keiner von euch ist hier in Zukunft willkommen.'“ "Aber ich habe Britta überhaupt noch nicht gesehen", protestierte Tom. "Seit zwei Wochen warte ich schon darauf." "Du wirst noch viel, viel länger warten müssen. In Zukunft wird meine Tochter nur noch mit zivilisierten. Menschen umgehen", sagte der Professor. "Joe, dich habe ich schon mal gewarnt, und meine Geduld ist zu Ende. Ich möchte dich samt deinem Auto verschwinden sehen." Dr. Holmstrom hatte einen grimmigen, unnachgiebigen Zug im Gesicht. Er meinte, was er sagte. Joe war schon auf dem Weg zu seinem Auto. Er stieg ein, fuhr aber noch nicht los. Joe wollte sichergehen, daß Tom nicht blieb und doch noch - 157 -
zu Britta ging. Sobald er Tom in seinem Auto sitzen sah, fuhr er los. Tom fuhr viel langsamer. Er wollte nicht gern dicht hinter Joe herfahren.
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11. KAPITEL Völlig fertig fuhr Tom nach Hause. Er hatte Britta zwar gesehen, aber dann war er fortgejagt worden, ohne daß er ein einziges Wort mit ihr hatte reden können. Er hatte allerdings ihre Stimme gehört. Sie war total außer sich gewesen. Und nun hatte Tom sich mit Dr. Holmstrom verkracht. Was brachte es überhaupt noch, wenn er zur staatlichen Uni ging, wo doch der Professor jetzt einen absolut schlechten Eindruck von ihm hatte? Alles war kaputt, auch seine Klamotten. Er war dreckig von Kopf bis Fuß. Tom fühlte sich erniedrigt. Es war einfach unfair. Wäre er doch nur zehn Minuten später losgefahren, um Britta zu besuchen. Dann hätte er diesen verdammten Joe nicht getroffen. Alles wäre ganz anders gekommen. Tom kam sich zerschlagen mißhandelt und verletzt vor. Sein Arm tat weh, und an seiner rechten Wange hatte er eine tiefe Schramme. Seine Haut war von dem rauhen Verandaboden abgeschürft. Tom parkte das Auto hinter dem Haus. Er hoffte, daß er in sein Zimmer kam, ohne gesehen zu werden. Aber das klappte natürlich nicht. "Was ist denn mit dir passiert?" Mrs. Roberts war ganz erschrocken. Tom murmelte etwas von ausrutschen, was ja nicht völlig gelogen war. Von der Prügelei wollte er nichts erzählen. "Ich ziehe mich lieber um", sagte er. Nachdem er geduscht hatte, wurde Tom richtig sauer auf Mr. Holmstrom. Schließlich war er den ganzen Weg nach Berryville gefahren, und dann ließ er ihn nicht mal zu Britta. - 159 -
Tom malte sich aus, wie der Empfang eigentlich hätte sein müssen. Dr. Holmstrom hätte rauskommen und Joe befehlen sollen: Verschwinde, Joe! Du hast schon viel zu lange um Britta rumgehangen, und jetzt greifst du auch noch ihre Gäste an.' Dann hätte er Tom freundlich hineinbitten und ihm danken müssen, daß er sie von diesem unmöglichen Joe befreit hatte. Tom beschloß, noch nicht aufzugeben. Er überlegte, wie er vorgehen sollte. Am besten war es wohl, erstmal abzuwarten, bis Dr. Holmstrom sich beruhigt hafte. Dann wollte er anrufen. „Du bist ja nicht lange geblieben", sagte Mr. Roberts, als Tom die Treppe herunterkam. "Das ist gut. Dann kannst du die Gartenarbeit erledigen, die du letzte Woche nicht fertiggemacht hast. Du hast zwar den Rasen gemäht, aber nicht die Kanten geschnitten. Und dann solltest du noch die Büsche bei der Garage beschneiden." Das Leben war einfach ungerecht! Heute hatten es aber auch alle auf Tom abgesehen. Widerwillig erledigte er seine Arbeit im Garten. Dabei dachte er darüber nach, wie schnell die Holmstroms vergessen hatten, daß er es gewesen war, der Britta gerettet hatte. Selbst Britta schien ihn nicht mehr zu mögen. Sonst wäre sie doch hinausgerannt und hätte gegen die Art, wie ihr Vater Tom behandelte, protestieren müssen. Sie hätte sich auch zwischen ihn und Joe werfen können. ,Hau ab, Joe, ich liebe Tom', hätte sie sagen müssen. Außerdem hätte sich sein Vater darüber freuen können, daß Tom sein Taschengeld in der Pizzerla verdiente. Die Gartenarbeit hätte er ihm nicht auch noch aufs Auge drücken sollen. Zusätzlich zu allem Unglück sah Tom auch noch Sandy und Vicky die Straße entlangkommen. Jetzt würde ihn diese Vicky wieder mit ihrer Schwärmerei verfolgen. Aber statt dessen machten die beiden Teenager geheimnisvolle Andeutungen. - 160 -
"Heute abend ärgern wir dich nicht", platzte Sandy.heraus. "Wir sind nämlich verabredet." Vicky mußte es ganz genau erklären. "Meiner sieht unheimlich gut aus, es ist Bobby McCord." Triumphierend sah sie Tom an. "Und ich bin mit seinem Freund Chuck Ellis verabredet. Er ist im Schwimm-Team." "So? Und was sagen Mom und Dad dazu?" Tom wußte, daß die Eltern Sandy noch keine Verabredungen mit Jungen erlaubten. "Wir wollen es ihnen gerade erzählen. Aber sie haben bestimmt nichts dagegen, denn wir gehen alle zusammen zu Cindy Rasmussens Geburtstagsfeier. Erst essen wir in einer Snack-Bar, und dann gehen wir ins Kino." "Habt ihr die Typen eingeladen oder die euch?" fragte Tom. "Das kann man nicht so genau sagen." Vicky kicherte. Die Mädchen rannten ins Haus. Tom fühlte sich leer. So sehr ihn Vickys Bewunderung auch genervt hatte, irgendwie hatte es ihm doch gefallen, daß Sandys Freundinnen ihn so gern mochten. Aber ausgerechnet heute kümmerte sich niemand um ihn. Alle hatten eine Verabredung, nur er nicht. Alle waren zu zweit, aber er hatte niemanden. Das Mädchen seiner Träume war unerreichbar. "Was hast du da für eine Schramme auf der Wange?" fragte seine Mutter, als er sich für seinen Job in der Pizzerla umziehen wollte. "Habe ich dir doch erzählt. Ich bin ausgerutscht und habe mich dabei verletzt." "Tupf' dir Salbe drauf, damit es sich nicht entzündet. Übrigens, wie geht es eigentlich Britta?" "Alles in Ordnung", murmelte Tom und machte sich auf den Weg in die Pizzeria.
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Tom bereitete den Teig zu und fing mit seiner Show im Schaufenster an. Sein Lächeln wirkte heute abend gequält. Er war überhaupt nicht gut drauf. Auch der Teig wirbelte nicht so hoch wie sonst. Einmal landete er sogar auf dem Fußboden. Der Besitzer sprach Tom an. "Was ist los?" "Nichts, ich fühl' mich bloß heute abend nicht ganz so gut. "Du hast dich verändert seit dem Sturm", stellte der Besitzer fest. „Vielleicht solltest du doch lieber den Job am Tresen übernehmen. Einer der anderen möchte gern mit dem Teig arbeiten." Tom tauschte seinen Job mit einem Kollegen. Er mußte nun den Teig mit Tomaten, Käse, Zwiebeln, Anchovis und Pilzen belegen. Da brauchte er wenigstens keinem Zuschauer irgendeine Show vorzufahren, sondern er hatte soviel Zeit zum Nachdenken, wie er wollte. Er konnte von Britta träumen. Was sie wohl gemacht hatte, nachdem ihr Dad ihre Freunde rausgeschmissen hatte? Wenigstens wußte er nun, daß sie gesund war. Er fühlte sich von ihr magisch angezogen. Nie würde er aufhören, sich nach ihr zu sehnen. Was sie wohl heute abend machte? Eigentlich gab es kein Gesetz, das ihm verbieten konnte, bei ihr anzurufen. Sobald Tom einen Moment Zeit hatte, ging er zum Telefon. Doch niemand nahm bei den Holmstroms ab. Ob sie mit ihrer Familie zum Essen gefahren war? Mit Joe war sie bestimmt nicht unterwegs. Aber wenn Joe weg vom Fenster war, stand dann vielleicht schon einer der Studenten auf der Matte? Wahrscheinlich würden die sich um sie reißen, und Tom würde überhaupt keine Chance mehr bekommen. Hausverbot hatte er ja schon gekriegt. Tom ärgerte sich. Er würde sich das einfach nicht gefallen lassen. Er mußte um Britta kämpfen, und deshalb wollte er wieder hinfahren. Warum hatte er nur immer so viel Pech in der Liebe? - 162 -
Letztes Jahr hatte er Janine an Craig verloren. Nur konnte er seine Gefühle für Janine überhaupt nicht mit denen für Britta vergleichen. Britta war die große Liebe seines Lebens. Nie konnte er aufhören, an sie zu denken. Britta streichelte einen Pfau, Britta rannte am Strand entlang, Britta kletterte die Klippen hinauf, Britta erklärte die besonderen Merkmale eines Vogels. Britta, die mit einem Otter redete, Britta, wie sie über eine Blumenwiese lief, wie sie lachte, wie sie küßte. Alles an ihr war unvergleichlich und unvergeßlich. Die Sehnsucht verzeh-rte Tom wie ein Fieber. Wenn er schlafen ging, dachte er an sie. Pläne entstanden in seinem Kopf, wie er wieder mit ihr zusammenkommen konnte. Morgens, wenn er aufwachte, erschien als erstes ihr Bild vor seinen Augen. Während der nächster Woche in der Schule fühlte sich Tom zum ersten-mal in seinem Leben einsam. Seine Freunde Art und Steve hatten keine Zeit für ihn, weil sie dauernd mit ihren Freundinnen verabredet waren. Einmal traf er Jennifer Baines auf dem Flur. Sie bat ihn, mit ihr die letzten Vorbereitungen für den Ball zu besprechen. Es war nicht mehr lange hin bis zum Valentinstag. "Du machst das ganz toll", lobte Tom sie. "Ich wette, so eine Fete hat's noch nie gegeben." "Man wird überhaupt nicht merken, daß wir in einer Turnhalle feiern", sagte Jennifer zufrieden. "Und es wird keine langweilige Minute geben. Die Mu-sik ist Klasse, und wir haben uns alle möglichen Aktionen ausgedacht, um die Leute in Schwung zu bringen. Du mußt die Preisverteilung übernehmen. Ach, ich muß dir noch sagen, daß du nicht auf mich als - 163 -
deine Part-nerin zählen kannst, falls du so etwas im Sinn haben solltest. Ich bin bereits mit Andy Pearson verabredet." In Jennifers Blick lag Genugtuung. "Andy Pearson." Tom tat völlig überrascht. "Ich wußte gar nicht, daß ihr euch so gut kennt." "Um den Valentinstag herum ereignen sich erstaunliche Dinge." Jennifer sah glücklich und stolz aus. "Ja." Tom lächelte Jennifer an. "Du kommst wahrscheinlich mit dem Mädchen, mit dem du in der Höhle warst", fragte Jennifer so beiläufig wie möglich. "Weiß ich noch nicht." Tom wich aus. "Sie kennt hier ja niemanden außer mir. Vielleicht hat sie keine Lust dazu, dann komme ich allein." Jennifer zog die Augenbrauen hoch. "Es macht einen sehr merkwürdigen Eindruck, wenn der Oberstufensprecher allein kommt. Tut mir leid, aber ich habe Andy schon versprochen, daß ich mit ihm hingehe." "Klar, das verstehe ich." Der bevorstehende Valentinsball war das Hauptgesprächsthema in der Schule. Wahrscheinlich würden alle Oberstufenschüler kommen, sogar die, die normalerweise kein Interesse an solchen Festen hatten. Jennifer hatte eine wirklich gute Werbung gemacht. Eines Nachmittags, als Tom nach Hause ging, wünschte er sich, er könnte sich mehr für den Ball interessieren. Bevor er Britta kannte, war er derje-nige gewesen, der sich am wildesten drauf gefreut hätte, weil er unheim-lich gern tanzte. Aber ohne Britta würde ihm das ganze Fest keinen Spaß machen. Tom entdeckte Janine, die vor ihm ging. Auch sie war allein. "Janine", rief er, "warte doch." Sie blieb stehen und lächelte Tom an. "Wie geht's?" fragte er, als er sie eingeholt hatte. "Ganz gut." - 164 -
"Nur ganz gut? Das klingt ja nicht sehr überzeugend." "Das ist wohl so eine Art Frühjahrsmüdigkeit, vermute ich." Janine lächelte schwach. "Dazu kommt auch noch der Klimawechsel. Vielleicht war das im letzten Jahr alles viel zuviel - die Reise nach Südamerika und so. Und außerdem passiert überhaupt nichts Aufregendes mehr." "Und ein gewisser junger Mann geht nicht mehr hier zu Schule." Tom grinste. "Ja, ich vermisse ihn sehr. Es ist schlimm." "Er kommt aber doch bestimmt zum Valentinsball." Janine verzog das Gesicht. "Ich fürchte nicht. Dieser blöde Basketball! Sie haben an dem Abend ein Spiel. Also, ich werde wohl zu Hause sitzen und lesen." "Es ist doof, mit jemandem zu gehen, der in einer anderen Stadt lebt", bemitleidete Tom sie. "Besonders, wenn er jedes Wochenende beschäftigt ist. Jedenfalls hoffe ich, daß wenigstens du bei dem Fest viel Spaß hast. Du nimmst doch deine Freundin mit?" "Wenn ich ehrlich sein soll, da hat's Ärger gegeben." Tom erzählte ihr von seinem Pech. Janine war seine einzige Vertraute. "So stehen die Dinge also. Ich bin bei den Holmstroms in Ungnade gefallen." Tom brachte ein trauriges kleines Lächeln zustande "So was habe ich ja noch nie gehört!" rief Janine empört. "Und das, nach-dem du ihr das Leben gerettet hast. Offensichtlich hatte der andere Typ doch die Schuld an der Rauferei." "Ich glaube, daß ihr Vater mich für die ganze Situation verantwortlich macht. Deshalb zählt es nicht, daß ich sie gerettet habe. Du, Janine, ich habe immer wieder überlegt, wie ich sie wiedersehen kann. Mir geht's wirklich unheimlich schlecht." "Du bist immer so ein Witzbold gewesen", erinnerte sich - 165 -
Janine. "Denk mal dran, wie du deine Wahlkampagne auf dem Skateboard gemacht hast. Und unser Spanischkurs! Den mochten alle am liebsten, weil du Mr. Rodriguez immer so schön hochgenommen hast." "Stimmt. Seit ich Britta getroffen und wieder verloren habe, nehme ich alles viel ernster. Mir macht einfach alles keinen Spaß mehr." "Komm, Tom, sei nicht so deprimiert. Laß uns ein Eis essen gehen." "Na gut, das ist wenigstens eine Idee." Tom und Janine bestellten sich ihr Eis, nahmen die Waffeln im Empfang und schlenderten nach Hause. "Janine", rief Tom, "gerade habe ich eine von diesen Wahnsinnsideen, für die ich bekannt bin.' Janine lachte. Ihre Augen funkelten. "Was heckst du denn jetzt aus?" "Wie wär's, wenn wir zwei als Paar zum Valentinsball gingen? Warum sol-len wir beide traurig und einsam sein? Craig vertraut mir doch, sonst hätte er mich nie gefragt, ob ich dich mit nach Berkeley nehme. Außerdem kön-nen wir ideal zusammen tanzen. Erinnerst du dich daran? Der Oberstufensprecher sollte wirklich nicht allein zum Valentinsball gehen, oder? Also, auch wenn wir beide in jemand anderen verliebt sind, warum sollten wir nicht unseren Spaß zusammen haben?" "Wirklich, warum eigentlich nicht?" Janine strahlte über das ganze Gesicht. "Das machen wir, Tom. Ich brauche dringend ein bißchen Spaß." "Wir werden Rillen in den Turnhallenboden tanzen", versprach Tom. "Craig ruft mich fast jeden Abend an", sagte Janine. "Ich werde ihm erzäh-len, daß wir beide zusammen hingehen. Er freut sich bestimmt für mich, denn er hat schon ein ganz schlechtes Gewissen, daß er nicht öfter herkommen und mit - 166 -
mir etwas unternehmen kann." "Spaß ist unser Motto für den Valentinstag", rief Tom fröhlich. Trotzdem mußte er an Britta denken, und er wünschte sich, daß sein ur-sprünglicher Plan, mit ihr hirizugehen, funktioniert hätte. Jedenfalls konnte keiner - auch nicht ihr Vater - ihn davon abhalten, ihr einen Valentinsgruß zu schicken. Tom suchte in einem Papiergeschäft nach einer schönen Karte. Schließ-lich entschied er sich für eine altmodische, mit einem gebogten Spitzen-rand umrahmte Karte. Darauf war ein Herz mit einem Pfeil hindurch gemalt, und die Inschrift lautete: ,Sei mein.‘ Bevor er die Karte in den Briefkasten steckte, schrieb Tom darunter: Ich werde dich immer lieben.'
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12. KAPITEL Wenn jemand Tom fragte, mit wem er zum Valentinsball kommen würde, murmelte er etwas von einer geheimen Verabredung. Janine spielte mit. Sie erzählte allen, daß sie an diesem Abend zu Hause bleiben würde, weil Craig nicht kommen konnte. "Craig findet es übrigens in Ordnung, daß wir beide zusammen hingehen, aber er ist ein bißchen traurig, weil er nicht selbst mitkommen kann", er-zählte Janine Tom am Tag vor dem Ball. "Er würde wirklich gern dabeisein." "Du bist gut dran, daß er dich wenigstens angerufen hat", sagte Tom. "Ich habe Britta diese riesige Valentinskarte geschickt und überhaupt nichts von ihr gehört. Wahrscheinlich ist sie über die Prügelei immer noch genauso entsetzt wie ihr Vater." "Trotzdem werden wir zwei uns bestimmt gut amüsieren." Janine lächelte. Am Morgen des Valentinstages zog Tom in seinem Zimmer die Gardine auf, um nach dem Wetter zu sehen. Auch wenn Britta nicht mitkam, wollte er den Smoking tragen, den er beim Kostümverleiher bestellt hatte. Er hoffte, daß es nicht regnete, wenn er zum erstenmal in so einer Aufmachung antanzte. Der Himmel war wolkenlos. Das war schon mal gut. Dann fiel Toms Blick auf die Straße. Was er da sah, schockierte ihn. Es war dieses, wie nannte man das noch? Es war ein "Deja vu"Erlebnis: Etwas, was man schon mal gesehen hatte, wiederholte sich exakt. Zweifellos war das Jupiter Holmstrom, der da auf dem Rasen mit seinem wunderschönen Pfauen- 168 -
schwanz herumstolzierte und nach Würmern pickte! Tom raste die Treppen runter. "Der Pfau", schrie er. "Er ist wieder da!" Sandy erschien oben an der Treppe. "Ich würde mir etwas anziehen, wenn ich du wäre", sagte sie mit einem wissendem Ton in der Stimme. "Vieileicht ist er nicht allein." "Sind die Hennen auch da?" "Sagen wir mal, Jupiter könnte mit einem Hühnchen da sein. Jedenfalls, geh lieber nicht im Pyjama raus." Tom rannte in sein Zimmer, zog Hemd und Jeans an, griff eine Handvoll Puffreis und ging nach draußen zu Jupiter. "Was –" Tom entdeckte den Briefumschlag, der um Jupiters Hals gebunden war. Vorsichtig schlich er sich an den Pfau heran. Jupiter flog auf einen niedrigen Ast des Mandelbaums. Dort saß er, atemberaubend schön. Sein schimmernder, blaugrüner Schwanz hing elegant vom Zweig herab. Langsam und leise bewegte sich Tom auf ihn zu. Sandy beobachtete ihn vom Küchenfenster aus. Tom grabschte nach dem Briefumschlag und erwischte ihn, bevor Jupiter schreiend davonflog. Tom riß den Umschlag auf. Es war ein Valentinsgruß! Das Bild auf der Karte zeigte einen Pfau mit ausgebreitetem Schwanz. Sei mein, Britta.' stand da. Tom schrie begeistert auf. Jupiter floh auf das Dach. "Wo hat sie so eine Karte nur gefunden? Und wie hat sie es geschafft, daß Jupiter sie hierher gebracht hat?" fragte Tom aufgeregt Sandy, die in den Garten hinausgekommen war. "Wenn ich mich recht erinnere, habe ich vorhin einen verdächtig aussehenden Kombi vor unserem Haus halten sehen. Der Pfau ist ausgestiegen. Ich glaube allerdings nicht, daß er selbst gefahren ist. Irgendetwas Witziges läuft hier ab." Aufgeregt sah sich Tom um. Unten an der Straße erschien das Auto der Holmstroms. Langsam fuhr es zu Toms Haus und hielt an. - 169 -
Britta sprang heraus und rannte in Toms Arme. Sie hob ihr strahlendes, lachendes Gesicht zu ihm empor und ließ sich von ihm küssen, was Sandy fasziniert beobachtete. "O Britta", sagte Tom. "Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen." „Aber Tom." Britta freute sich über die gelungene Überraschung. "So etwas kann uns beiden doch nicht passieren." Tom zog sie eng an sich. Nie wieder würde er sie fortlassen. "Diese Wochen, in denen ich dich nicht gesehen habe, waren die reinste Folter." "Für mich auch. Übrigens habe ich Dad davon überzeugen können, daß du keine Schuld an der Prügelei hattest. Er wußte es im Grunde selber, denn er kennt Joe sehr gut. Eigentlich waren wir beide froh, daß wir bei dieser Gelegenheit Joe ein für alle Mal losgeworden sind. Dad wollte mir nur einen Denkzettel erteilen, daß ich nicht so unbedacht sein soll. Deshalb durfte ich dich bis heute nicht sehen. Aber am Valentinstag konnte er mir ein Treffen mit dir nicht verweigern." "Du hast eine sehr romantische Art, deine Botschaft zu überbringen." "Bist du mein Liebster?" "Klar. Solange es gegenseitig ist." Tom küßte sie und konnte überhaupt nicht mehr damit aufhören. Dann hörten sie, wie Toms Mutter sich laut räusperte. Sie stand in der Eingangstür. "Tom, du hast noch nicht gefrühstückt. Willst du nicht deine Freundin dazu einladen?" "Ich könnte Berge verschlingen", rief Tom und zog Britta ins Haus. Er hatte den Arm um ihre Taille gelegt. Sie strahlte ihn glücklich an." Tom stellte Britta seiner Mutter vor. Sandy kam rein und - 170 -
starrte Britta bewundernd, fast ehrfurchtsvoll an. Tom war sehr stolz darauf, Britta seirier Familie vorstellen zu können, und er freute sich, daß alle sie offensichtlich gern mochten. "Ich weiß, daß es sehr kurzfristig ist, Britta", sagte Tom ängstlich. "Aber wir haben heute diesen Valentinsball bei uns in der Schule. Ich wollte dich gern dazu einladen. Als dein Dad mir verboten hat, dich anzurufen, hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben." "Ein Grund, aus dem ich Jupiter in deinen Garten schickte, war die Hoffnung, daß wir eine Valentinsverabredung treffen würden", gab Britta zu. Ihre Augen leuchteten. "Ich gehe gern mit dir zum Ball." Tom strahlte wie nie zuvor, und Britta lächelte ihn zärtlich an. Als sich Tom und Britta tief in die Augen sahen, versank die Welt um sie herum. Mrs. Roberts und Sandy gaben vor, irgend etwas erledigen zu müssen. Nachdem sie verschwunden waren, fielen sich Tom und Britta erneut in die Arme. Doch als Tom Britta gerade wieder küssen wollte, fiel ihm ein, daß er sich ja mit Janine zum Ball verabredet hatte. "Was ist los?" fragte Britta ängstlich, als sie merkte, daß Tom sich irgendwie verkrampfte. "Mir ist gerade eingefallen, daß ich einem anderen Mädchen versprochen habe, mit ihr zum Ball zu gehen." "Ein anderes Mädchen!" Britta war verletzt. Tom legte beruhigend den Arm um ihre Schulter. "Es ist nicht so, wie du denkst. Es ist nur Janine. Sie geht fest mit einem Studenten, der heute abend Basketball spielen muß, deshalb kann er nicht kommen. Und weil ich dachte, daß ich nicht mit dir gehen könnte, haben wir beschlossen, zusammen hinzugeben." "Na dann", Britta lächelte wieder glücklich "gehen wir doch zu dritt." "Das könnte wohl gehen." Tom zögerte. Toll wäre es nicht, - 171 -
zwei Mädchen begleiten zu müssen. Besonders, wenn eins davon Britta war. Er wollte auf diesem Ball nur für sie da sein. "Komm, so machen wir's", sagte Britta. "Ich möchte nicht, daß du sie enttäuschst." "Na gut. So wird's gehen." "Jetzt muß ich nach Haus", sagte Britta. "Ich habe Dad versprochen, daß ich nicht so lange wegbleibe, und plötzlich bin ich zu einem Valentinsball eingeladen. Was soll ich denn bloß anziehen?" "Du könntest in deinen ältesten Jeans kommen, und trotzdem würdest du die Schönste sein." "Du Schmeichler! Hilf mir, Jupiter einzufangen. Mal sehen, wer ihn als erster kriegt." Jupiter saß auf dem Dach und suchte in der Regenrinne nach Insekten. Tom stieg auf die Leiter und fing ihn ein. "Ich weiß nicht, wie ich die Zeit bis heute abend überstehen soll! Acht Stunden, bis ich dich wiedersehe!" sagte Tom zum Abschied. Tom hatte vor, zuerst Britta abzuholen und dann bei Janine vorbeizufahren. Er überlegte, ob er Jarline vorher auf die Änderung vor-bereiten sollte. Aber sie war so feinfühlig, daß sie bestimmt absagen wür-de, und Tom wollte nicht, daß Janine am Valentinstag allein zu Hause saß. Trotzdem mochte er sie auch nicht dadurch schocken, daß er einfach so mit einem anderen Mädchen zu ihr kam. Er beschloß, zu Janine zu gehen und ihr ganz offen und ehrlich zu erzählen, was passiert war, auch, daß Britta sich freuen würde, wenn Janine mitkäme. Zufällig traf er Janine auf halbem Weg. "Ich wollte gerade zu dir", sagte Tom. - 172 -
"Wie klein doch die Weit ist. Ich wollte zu dir." Janine hatte anscheinend ausgesprochen gute Laune. Sie strahlte. Die Sonne ließ ihr rot-braunes Haar schimmern. "Was ganz Tolles ist passiert", sagte sie. "Craig hat sich den Ellbogen verstaucht." Tom war verwirrt. "Toll?" "Ja. Es tut nicht allzu weh, hat er gesagt. Aber er braucht nicht zu spielen, und deshalb kommt er zu unserem Ball. Das soll dich aber nicht irritieren, Tom. Craig möchte, daß wir zu dritt hingehen. Du weißt ja, daß er für Rockmusik nichts übrig hat, sondern nur langsame Tänze mag. So kann ich abwechselnd mit ihm und mit dirtanzen." "Das ist ja kaum zu glauben! So ein Zufall! Ich habe auch Neuigkeiten für dich!" rief Tom. Er erzählte ihr von Britta, Juiter und dem Ball. "Unglaublich" geradezu gespenstisch", lachte Janine. "Ich freue mich auf Britta." "Sie hat das gleiche wie Craig gesagt, als ich ihr von unserer Verabredung erzählt habe, nämlich, daß wir drei gemeinsam gehen sollten." "Ich habe ihn seit drei Wochen nicht gesehen, ich weiß gar nicht, wie ich es bis heute Abend aushalten soll." "Wollen wir uns nicht alle an der hinteren Eingangstür der Turnhalle tref-fen?" schlug Tom vor. "Das steht die Kiste mit den Valentinsgeschenken." "Gut, bei der Kiste um viertel vor neun." Die beiden verabschiedeten sich und gingen wieder nach Hause. "Ein hübsches Mädchen, Tom", empfing ihn seine Mutter. "Ich freue mich, daß du eine so nette Freundin gefunden hast." "Sieht ganz so aus, als ob sie Tom gefunden hat", sagte Sandy. "Ich hab's genau beobachtet. Erst hat sie den Pfau mit der Karte um den Hals in den Garten gelassen. Dann ist sie die - 173 -
Straße entlang gefahren, bis man ihr Auto nicht mehr sehen konnte. Ganz schön eindeutig, wenn man mich fragt." "Sie kann tun und lassen, was sie will." Tom war glücklich. Er schwebte in den Wolken. Das wunderbare Gefühl hielt den ganzen Tag an und wurde noch intensiver, als er den Smoking anzog und losfuhr, um Britta abzuholen. Auf diesen Abend hatte er sein ganzes Leben lang gewartet. Dr. Holmstrom begrüßte Tom. Britta war noch nicht fertig. Der Professor war überrascht, daß Tom so elegant und erwachsen aussah. Tom,war kaum kleiner als Brittas Vater. "Der Zwischenfall mit Joe tut mir leid", sagte Dr. Holmstrom herzlich. "Es war einfach zu viel los in der Woche, und ich fürchte, mir sind die Nerven durchgegangen." „Es ist okay", lächelte Tom. "Ich selber war ja auch ganz schön nervös." "Erzähl mir von der Party, zu der ihr geht", bat Brittas Vater. "Britta ist ziemlich aufgeregt." "Sie wird nicht enttäuscht werden", sagte Tom und erzählte dem Professor von den umfassenden Vorbereitungen für den Ball und daß sie den bekannten Basketballspieler Craig Matthews und seine Freundin kennenlernen würde. Dann erschien Britta. "Viel Spaß wünsche ich euch", sagte Professor Holmstrom. "Und bleibt nicht so lange weg wie bei eurer letzten Verabredung." "Dieses Mal passe ich besser auf sie auf", versprach Tom. Draußen im Auto umarmte er Britta und bedeckte ihr Gesicht mit unzähligen Küssen. Unterwegs erzählte ihm Britta alles, was seit ihrer Rettung aus der Höhle und ihrer langen Krankheit passiert war. - 174 -
Tom nahm ihre Hand, als sie bei der Turnhalle ankamen. Sie betraten eine fröhliche Welt. An der Decke hingen rot-weiße Luftballons, und solche, die wie Blumen oder Pflanzen geformt waren, schwebten an unsichtbaren Fäden zwischen den Tischen und an den Wänden der Turnhalle. Die Tische waren mit weißen Kreppapiertischdecken bedeckt. Vasen mit rot-weißen Blumensträußen standen darauf. Tom suchte die Geschenkkiste. Es war beeindruckend. Die Kiste war wirklich riesengroß. Jennifer und ihre Helfer hatten sie rundherum mit Bordüren, Herzchen, Amorfiguren mit Pfeil und Bogen und Blümchen verziert. Tom sah Janine und Craig Hand in Hand danebenstehen, intensiv in ein Gespräch vertieft. "Komm, Britta, da sind meine Freunde, von denen ich dir erzählt habe." Tom zog sie zu den beiden hinüber, und Craig und Jahine begrüßten sie erfreut. "Das ist also das Supergirl, das Tom so lange vor uns versteckt hat", lächelte Craig, charmant wie immer. "Und ich habe nichts anderes als Britta und noch mal Britta von Tom gehört. Endlich lerne ich dich kennen", sagte Janine. "Jetzt kann ich verstehen, daß Tom von den Mädchen an unserer Schule nichts mehr wissen will." "Nun ist es aber genug", meinte Tom gutgelaunt. Jennifer schwebte am Arm von Andy Pearson heran. "Also Jennifer, ich hätte nie geglaubt, daß man aus einer Turnhalle so viel machen kann", lobte Tom sie. Dann stellte er Britta vor. "Normalerweise geht das auch nicht, aber schließlich hat es ja Jennifer in die Hand genommen." Andy warf Jennifer einen glühenden Blick zu. Tom war stolz auf sich. Das hatte er ja gut hingekriegt mit den beiden. "Hört zu. Ich habe euch was neues zu erzählen", kündigte Janine an. "Selbst Craig habe ich noch nichts davon gesagt, weil ich es bis heute abend geheimhalten wollte." - 175 -
"Nun sag's schon", bat Craig. „Gut. Also, ich habe heute meine Zulassung für Berkeley gekriegt." „Mensch, ist das toll. Endlich sind wir wieder zusammen. Keine einsamen Wochenenden mehr!" Craig stieß einen Freudenschrei aus und umarmte Janine stürmisch. Tom zog Britta an sich. Die Band stimmte ihre Instrumente, und bald würde der Tanz losgehen. Als der erste Song gespielt wurde, konnte Tom nicht länger stillstehen. Er führte Britta auf die Tanzfläche. Sie waren das erste Paar. Die anderen klatschten, schrien begeistert und bildeten einen Kreis um ihren Oberstufensprecher und seine Freundin. "Tom, ich wußte nicht, daß wir hier eine Solovorstellung abgeben sollten." Tom und Britta tanzten so harmonisch zusammen, als ob sie es ihr Leben lang geübt hätten. "Warum denn nicht?" lachte Tom. "Es macht Spaß, mit dir zu tanzen, Tom. Du kannst das wahnsinnig gut." Tom war irre glücklich. Das Leben war einfach schön! Später stellte Tom die Klassensprecher und die Ausschußvorsitzenden den anwesenden Gästen vor. Britta stand neben ihm. "Tom", rief sie, als er fertig war. "Du hast mir überhaupt nichts von dir erzählt. Bist du wirklich Oberstufensprecher?" "Ja. Aber das ist nicht Besonderes. Eigentlich wollte kein anderer den Job, und ich bin auch gar nicht sichere ob ich es gut mache." "Ich finde das ganz schön wichtig. Und du hast wirklich interessante Freunde. Wenn ich gewußt hätte, in was für einer tollen Clique du bist, hätte ich nie gedacht, daß du dich für mich interessierst. Übrigens ist mir schon bei unserem ersten Treffen aufgefallen, daß du nicht übel aussiehst. Aber heute abend siehst du einfach umwerfend aus. Wenn ich das gewußt - 176 -
hätte - nie hätte ich gewagt, dich zu fragen, ob du mein Liebster sein willst." Quentin Pierce sang ,Love, Love, Love'. Jemand drehte die Deckenbe-leuchtung ab. Es wurde schummrig. "Ich habe dich zuerst gefragt." Tom schlang seine Arme um Britta.
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