Seewölfe 139 1
Fred McMason 1.
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Seewölfe 139 1
Fred McMason 1.
Blake spürte, wie die Hitze in ihm fraß, diese Hitze, die von einem erbarmungslosen Glutball herabfiel wie heißes Feuer, das sich in seine Lungen brannte und das Atmen zu einer einzigen Qual werden ließ. Schweiß verklebte seine Haare, Schweiß rann ihm in Bächen über den Körper und saugte ihm den letzten Widerstand aus den Knochen. Bei Gott, dachte er, wenn dieser fürchterliche Glutball dort oben nicht bald erlosch, wenn nicht bald Wind wehte, kräftiger Wind, der sie weiterblies, dann würden sie in ein paar Tagen alle tot sein. Mit trüben Blicken starrte er auf die Segel. Schlaff und ausgebleicht hingen sie an den Rahen. Große, in sich zusammengefallene Leichentücher, oftmals geflickt, ausgebessert, gezeichnet von einer Zeit, als der Wind sie gebeutelt hatte, dieser lebensnotwendige Wind, von dem sie schon gar nicht mehr wußten, wie es war, wenn er wehte. Wasser, dachte er in einem plötzlichen Anfall von Panik. Wohin man sah, gab es nichts als Wasser, salzig, lebensfeindlich, ohne Land. Keine Inseln, nicht einmal eine Wolke, von einem anderen Schiff ganz zu schweigen. Er hieß Blake, Young Blake, wie sie ihn nannten, und er war der zweite Bootsmann der „Black Pearl“, dem Totenschiff, dem Seelenverkäufer, dem schwimmenden Sarg. Verdammt, dreimal verdammt, dachte er. Ich habe eine Ader dafür, wenn Land in der Nähe ist. Land, eine lausige Insel nur, aber ich spüre nichts, und ich werde nie wieder etwas spüren. Nicht mehr lange, und ich werde krepieren wie Walters, diese treue Seele von einem Kerl. Skorbut, oder wie sie es nannten, wenn einem die Zähne ausfielen, wenn der Darm blutete, und wenn man keinen Hunger mehr hatte, obwohl der Magen seit Tagen. nichts mehr zu verarbeiten hatte. Ja, Walters, Segelmacher war er gewesen, ein guter Mann, einer, der immer half, der
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immer tröstete, der immer aufmunternde Worte fand. Schillernden Schleim und Blut hatte er gespuckt, bis er zusammengebrochen war. Wann das war? Vor einer Woche vielleicht, oder vor einem Monat, vielleicht auch schon vor einem Jahr. Oder noch länger? Egal, wie lange es her war. Wem half das? Die brütende Hitze setzte dem Schweifen seiner Gedanken ein Ende. Vor seinen Augen flirrte heißer Sonnenglast, der sich über das ganze Schiff erstreckte. Blake stand auf aus seiner kauernden Stellung und lehnte sich ans Schanzkleid. Sekundenlang hatte er das Gefühl, als wäre er der einzige Mann an Bord der „Black Pearl“. Das Ruder war festgelascht, auf dem Achterdeck war kein Mensch zu sehen. Er stieß sich schwerfällig ab, um einen Schluck aus dem Wasserfaß zu trinken. Doch, einer war an Deck, und der stand mit dem Rücken zu ihm, einem fleischigen massigen Rücken und einem fetten Genick. Reverend Thornton! Der Mann mit den frommen Sprüchen, Bordgeistlicher, dem anscheinend nichts fehlte, der immer kerngesund aussah. Ob das von den frommen Sprüchen herrührte oder nur einfach davon, daß sie alle Reverend Thornton schon oft dabei ertappt hatten, wenn er heimlich das streng rationierte Wasser trank oder ebenso heimlich Proviant klaute'? Blake empfand Haß für den Mann, jäh ausbrechenden Haß auf das feiste Genick, den massigen Körper und auf Thorntons strotzende Gesundheit. Kein Wunder, daß dem Kerl nichts fehlte, überlegte er. Das, was der Mannschaft abging, verleibte er sich heimlich ein und kaschierte seine Handlungsweise mit biblischen Sprüchen. Blake wußte, daß er jetzt nicht ans Wasserfaß gehen und trinken durfte. Erst am Abend, hatte der Kapitän gesagt. Bis dahin waren es noch lange, endlose Stunden in sengender Hitze, Stunden, die nicht vergingen und ihn ausdörrten.
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Dicht neben dem Reverend blieb er stehen und sah verlangend auf das Wasserfaß. Er wußte, daß es von langen grünen Fäden durchzogen war, daß es ekelhaft schmeckte und faulig roch. Es war vielleicht noch zu einem Viertel gefüllt und mehr als lauwarm. „Möge die Versuchung nicht über dich kommen, mein Sohn“, sagte der Reverend halblaut, ohne sich umzudrehen. „Denn wer der Versuchung erliegt, ist des Teufels.“ „Dich ehrwürdigen Hurenbock soll der Teufel holen“, sagte Blake grimmig mit zusammengebissenen Zähnen. „Über dich ist doch vorhin auch die Versuchung gekommen, ich habe es gesehen, obwohl du dachtest, du wärest allein an Deck.“ „Lüge“, keuchte der Reverend. „Lüge! Das ist nicht wahr!“ „Dann stimmt es wohl auch nicht, daß du vorhin von dem Roggenbrot geklaut hast, eh?“ fragte Blake höhnisch. Thornton wurde knallrot. Mit einer überhasteten Bewegung rieb er sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Ich bin ein bescheidener Diener des Herrn“, sagte er kläglich. „Ich bin nur ein Mensch ...“ „Ein scheinheiliger, hinterhältiger“, fügte Blake hart hinzu. „Dich würden selbst die Haie wieder auskotzen, Reverend, weil sie sich an deiner schwarzen Seele die Zähne ausbeißen.“ Er verzichtete auf den Schluck Wasser, ließ Thornton stehen und ging mit schlurfenden Schritten nach achtern. „Scheiß auf den verdammten Tag, an dem ich England verlassen habe“, murmelte er vor sich hin. „Und das schwöre ich mir selbst: An dem Tag, da wir Land erreichen, werde ich verschwinden und dieses Land nie wieder verlassen, bei Gott nicht. Scheiß auf die verdammte Seefahrt!“ Im Schatten des Segels ließ er sich nieder, ausgelaugt, total erschöpft, fertig und kaputt. Etwas später döste er ein. Blake träumte von einer grünen saftigen Insel. Ein Bach klaren Wassers, erfrischend kühl, grummelte durch üppige
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Vegetation, und auf der Insel wuchsen Früchte, in die er gierig hineinbiß. Das Bild wechselte jäh. Zwei Männer gingen träge durch die üppige Vegetation und schleppten einen dritten mit sich. „…schon eine Weile tot sein“, hörte er ein undeutliches Geflüster, „der dritte jetzt. Mein Gott, wie soll das weitergehen?“ Kein Traum, dachte Blake entsetzt, bittere Wahrheit. Der Schweiß verklebte ihm die Augen, und so sah er alles wie durch einen Nebelschleier. Auf den Planken der Kuhl standen der Kapitän, der Seemann Fisher und Reverend Thornton, der leise murmelte. Dann hoben sie zu dritt eine Gestalt auf, schoben sie über das Schanzkleid und ließen sie ins Meer gleiten. Beim Aufklatschen des Körpers war Blake hellwach. „Wer — wer war das?“ stammelte er. Der Kapitän, bärtig, hohlwangig, sah ihn aus tief in den Höhlen liegenden Augen lange an. „Endicot“, sagte er schwer. „Endicot war es.“ „Aber Endicot war doch gestern noch — noch gesund.“ „Gesund? Gestern? Wann war gestern, Mann? Er lag sicher schon zwei Tage tot in seiner Koje. Gehen Sie nach unten, Blake, legen Sie sich hin!“ Blake schüttelte eigensinnig den Kopf. „Ich will nicht nach unten, Sir, da unten verreckt man nur. Ich will lieber an Deck krepieren. Darf ich einen Schluck Wasser haben, Sir?“ Endicots Tod hatte ihn aufgewühlt, er spürte, wie er am ganzen Körper zitterte. Himmel, was war bloß mit ihm los? Er hatte Endicot doch noch gesund gesehen, oder war er selber schon verrückt? „Heute abend“, sagte der Kapitän, „heute abend gibt es einen Schluck Wasser, jetzt nicht.“ Blake starrte auf die Stelle im Wasser, wo die Leiche verschwunden war. Ab und zu perlte es dort, winzige kleine Bläschen stiegen auf und zerplatzten, wenn sie die Oberfläche erreichten.
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Er wollte sich abwenden, doch in seinem Magen krampfte sich etwas zusammen, ihm wurde speiübel, und mit einem leisen Schrei erbrach er sich, bis es seinen Magen umkrempelte. Er zuckte und bebte, und sein Hals brannte wie Feuer. Danach ließ er sich erschöpft an Deck sinken. Ihn wunderte nicht einmal die Gleichgültigkeit des Kapitäns, der ihn nur stumm ansah, die Schultern hob und davonging. Alle waren sie gleichgültig und apathisch geworden, gleichgültig gegenüber den Kameraden, apathisch gegen alles, was um sie herum passierte. Nur der Haß gegen Thornton war noch da. Sie alle haßten ihn, sie vertrugen seine scheinheiligen Sprüche nicht mehr, aber niemand brachte die Kraft auf, ihn zu verprügeln oder ihn einfach über Bord zu schmeißen, wie es ihnen in Gedanken vorschwebte. Dabei hatte alles so verheißungsvoll begonnen. Im Juli 1584 waren sie im Verband mit zwei anderen Schiffen von England ausgelaufen. Drei Kauffahrer mit dem inoffiziellen Auftrag, spanische Goldschiffe aufzubringen, dem brutalen Geschäft der Spanier etwas Einhalt zu gebieten, Handelsniederlassungen zu gründen und neue Inseln zu entdecken, diesmal auf dem Seeweg um Afrika herum. Das erste Schiff hatten sie bei der Rundung um den großen Kontinent in einem Sturm verloren. Die See hatte das Schiff voller Wut zertrümmert und nur zwei Leute am Leben gelassen. Einen Seemann und Reverend Thornton, den sie selbst an Bord genommen hatten, der jetzt dick, fett und behäbig herumstand und allen ein Dorn im Auge war. Das zweite Schiff war schon vor Monaten spurlos verschwunden. Sie hatten nie wieder etwas von ihm gehört, es blieb verschollen. Die „Black Pearl“ war noch übrig, mit einer Mannschaft, die vom Tod gezeichnet war, die dahinsiechte und starb, seit sie sich in diesem verdammten Meer ohne Ende befanden.
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Es hatte Aufstände an Bord gegeben, Schlägereien. Die Männer waren mit den Messern aufeinander losgegangen, als der Proviant und das Wasser rigoros gekürzt wurden. Kapitän Stan Ellen hatte sich nur mit Mühe und Not durchsetzen können. Die meisten Männer lagen apathisch in den Kojen. Diejenigen, die sich noch einigermaßen bei Kräften befanden, verfluchten und beleidigten den Kapitän, schimpften auf die Steuerletzte und verdammten sie, weil sie den Kurs nicht fanden, weil kein Land mehr gesichtet wurde, weil niemand wußte, wo sie sich befanden. Blake schlief wieder ein, träumte wirres Zeug und schwitzte. Als er zum zweiten Male die Augen aufschlug, schloß er sie schnell wieder und blinzelte. Er tat so, als schlafe er. Reverend Thornton lungerte am Wasserfaß herum. blickte immer wieder aus seinen schmalen Augen über das ausgestorbene Deck und musterte Blake ausgiebig. Thornton rief ihm leise etwas zu, doch Blake reagierte nicht. Will doch mal sehen, ob dieser scheinheilige Kerl nicht wieder heimlich Wasser zapft, dachte er. Aus halbgeschlossenen Lidern beobachtete er den Reverend, der auf und ab ging. Dann bückte er sich, blickte noch einmal nach allen Seiten, öffnete den hölzernen Hahn und ließ sich grünliche, von Fäden durchzogene Brühe in die hohle Hand laufen, die er gierig trank. Mit einem Wutschrei sprang Blake auf die Beine, stürzte auf Thornton zu und hieb ihm die Fäuste in den fetten Bauch. Der Reverend taumelte zurück, hob matt die Hand und erhielt einen Schlag ins Gesicht, der ihn über Deck schlittern ließ. In diesem Augenblick, gerade als Thornton am Schanzkleid ächzend zusammenbrach, erschien der Kapitän. Sein Gesicht war maskenhaft starr, seine grauen Augen funkelten voll verhaltener Wut. „Was geht hier vor?“ rief er scharf. Er blickte zu Blake und dann zu Thornton, der sich gerade erhob.
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Zwei andere Männer erschienen gleichfalls an Deck. Der erste Offizier Wintham und der Rudergänger Hentrop. "Er klaut Wasser, Sir“, sagte Blake mit erstickter Stimme, bereit, sich sofort wieder auf Thornton zu stürzen. „Stimmt das, Reverend?“ fragte Ellen kalt. Thornton massierte seinen fetten Hals, hob die Augen anklagend gegen den Himmel und sah den Kapitän nicht an. „Der Herr möge ihm seine Unbesonnenheit vergeben“, salbaderte er, „schlägt er dich auf die eine Wange, so halte die andere auch noch hin.“ „Das kannst du haben!“ brüllte Blake voller Zorn und stürzte sich von neuem auf Thornton. Bevor Ellen ihn zurückreißen konnte, prasselten harte Schläge auf Thorntons Körper. „Genug jetzt!“ fluchte Ellen und riß Blake zurück. „Ich will wissen, ob das stimmt.“ „Natürlich nicht“, sagte Thornton weinerlich. „Der Hahn tropfte. Ich sah es zufällig und wollte ihn zudrehen.“ Wintham und Hentrop nahmen eine drohende Haltung ein. Blake wurde immer noch festgehalten, er schäumte vor Wut. „Er lügt, der verdammte Hund!“ brüllte Blake und riß sich los. „Er säuft dauernd Wasser, wenn er glaubt, daß niemand an Deck ist. Und der Hahn hat nicht getropft, ich beschwöre es.“ „Das wird sich gleich herausstellen“, sagte Ellen. Mit hölzernen Schritten ging er auf das Faß zu, bückte sich und sah auf die Planken. Der Hahn hatte getropft, jedenfalls konnte man das annehmen, wenn man nur einen Blick auf die Planken warf. Ellen war da aber gründlicher und so entging ihm nicht, daß sich die Tropfen an einer anderen Stelle befanden, als hätte jemand die Hand unter den Hahn gehalten und sie dann weggezogen. Die Wasserspuren wiesen von dem Faß fort. Ausdruckslos sah er den Reverend an. „Seit Sie an Bord sind, Reverend“, sagte er sehr ruhig, „wird es hier immer schlimmer. Sie kaschieren Ihre Diebstähle mit frommen Worten, stehlen Brot und Wasser, ohne sich den Teufel darum zu
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scheren, daß Sie dadurch den anderen etwas wegnehmen. Dieses Schiff ist ein halbes Wrack, die Mannschaft ein undisziplinierter zerlumpter Sauhaufen, der langsam krepiert, weil es an allem mangelt. Und Sie schüren den Haß, säen Zwietracht und klauen. Ich werde heute abend ein Bordgericht einberufen, Reverend. Das Urteil kann ich schon vorwegnehmen. Die Männer werden dafür plädieren, daß Sie einen Ehrenplatz erhalten.“ Ellens Daumen stach nach oben, wo die schlaffen Segel hingen. „Dort oben an der Rah!“ sagte er. „Lassen Sie ihn in die Piek bringen, Mister Wintham!“ befahl er knapp. „Und zwar sofort.“ In Thorntons Augen trat Furcht, seine Lippen öffneten sich, und man sah seine gesunden kräftigen Zähne. Er schielte nach oben und schüttelte sich. „Ihr Ottern und Schlangengezücht!“ schrie er bleich. „In der finstersten Hölle sollt ihr schmoren und verflucht sein ein Leben lang, dazu verdammt, ruhelos über die Weltmeere zu segeln, bis daß der ...“ „Aber, aber, Reverend“, höhnte Wintham. „Steht das etwa alles in der Heiligen Schrift?“ Sie packten ihn und schleppten ihn nach vorn in die Piek. „Erzähl deine Sprüche den Ratten“, sagte Blake, nachdem sich das schwere Schott hinter Thornton geschlossen hatte und er von innen wütend dagegenhämmerte. „Dieser Halunke!“ schimpfte der Erste. „Der hat uns von morgens bis abends beklaut, um sich einen dicken Bauch anzufressen. Aber dafür wird er bezahlen.“ Als sie an Deck zurückkehrten, merkten sie wieder überdeutlich, wie trostlos und verzweifelt ihre Lage war. Kein Windhauch rührte sich, das Meer lag da wie ein riesiges Tuch, ohne Bewegung, ohne Leben, scheinbar tot und ausgestorben. Und hoch über ihnen brannte ein greller Ofen so heiß und niederträchtig, daß er die Konturen des Schiffes verzerrte und alles verschwimmen ließ. Mitunter sah es so aus, als befinde sich das Schiff unter Wasser und nicht darüber.
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„Verfluchte Seefahrt“, stöhnte der Erste, „verfluchte Sonne, verfluchtes Meer. Wo, zum Teufel, sind wir bloß?“ „Im Vorhof der Hölle“, antwortete Blake dumpf. Irgendein Fremdkörper im Mund störte ihn; und er griff mit Daumen und Zeigefinger danach. Ein leichter Ruck, und er hielt einen Zahn in der Hand und spuckte Blut. „Skorbut nennen sie das“, sagte er. „Eine Krankheit, von der man behauptet, sie rotte ganze Schiffsbesatzungen aus. Man müßte Obst essen, viel Obst, dann wird es wieder.“ Der Erste, ein hartgesichtiger dürrer Mann, schlug ihm auf die Schulter. „Eine gute Idee“, sagte er. „Ich hole ein silbernes Tablett und werde euch Früchte bringen, herrliche, kalte, saftige Früchte, soviel ihr wollt. Und hinterher gibts einen feinen Brandy, um das alles runterzuspülen. Einverstanden?“ Blake quälte sich ein verzagtes Lächeln ab. „Fahr zur Hölle mit deinem Obst und den Früchten, Erster. Und laß dich schön knusprig braten!“ * Am Abend, als die Sonne lange Schatten warf und die Hitze kaum spürbar zurückging, wurde Reverend Thornton an Deck gebracht. Er lächelte, als wäre nichts geschehen und nickte hoheitsvoll. Vor dem Wasserfaß an Deck blieb er stehen, dann blickte er nach oben zu den Rahen. „Da soll ich hängen“, sagte er salbungsvoll, „ich, ein Mann Gottes! Der Herr möge euch verzeihen.“ Er grinste wieder und sprach weiter: „Aber wie steht es geschrieben? Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Blitzschnell hob er den rechten Fuß und trat zu. Unter dem Hieb flog der Zapfen aus dem Faß, und grünliches Wasser ergoß sich in einem dünnlichen Strahl über Deck. Dabei lächelte Thornton immer noch. Den Männern fuhr es siedendheiß durch die Knochen. Hentrop sprang mit einem Schrei des Entsetzens auf, stieß Thornton
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zur Seite und stürzte sich auf das Faß. Mit dem Finger dichtete er es ab, damit nicht noch mehr der kostbaren Flüssigkeit verlorenging. Jemand lief mit einem Gefäß herbei und fing die Tropfen auf, bis der Zimmermann einen neuen Hahn brachte und ihn vorsichtig an die Stelle des alten hineintrieb. Der Rest des Wassers wurde äußerst vorsichtig wieder in das Spundloch gegossen. Harte Fäuste stießen Thornton nach vorn. Er sah in steinerne Gesichter, aber er sah auch unauslöschlichen Haß in den Augen der abgezehrten Männer lodern, einen Haß, der ihn frösteln ließ und der ihm sagte, daß von nun an keiner mehr das geringste Mitleid mit ihm haben würde. Fast alle hatten sich an Deck versammelt, wie er sah. Harte, eiskalte Kerle, die ihn innerhalb kürzester Zeit erbarmungslos an die Rah hängen würden. Vielleicht hätten sie Nachsicht mit ihm gehabt, aber nach dem, was er sich gerade geleistet hatte, war das vorbei. Er mußte seinen letzten Weg antreten. Das Grinsen verging ihm, er spürte Hitzewellen durch seinen Körper jagen, entsetzliche Angst kroch in ihm hoch, als sie ihn in den Kreis der schweigenden Männer trieben. Stan Ellen sah ihn kalt an, aus seinen grauen Augen loderte verhaltene Wut. „Fassen wir uns kurz“, sagte er knapp. „Thorntons Verfehlungen sind jedem bekannt. Sie haben die Kameraden bestohlen, Thornton, Sie klauen Wasser und Proviant, sie haben durch Ihre Anwesenheit die Atmosphäre dieses Schiffes tödlich vergiftet. Wir können nicht mehr auf engem Raum mit Ihnen zusammenleben.“ „Sie können einen Gottesmann nicht hängen lassen“, ächzte der Reverend, „das wird Sie Ihr Leben lang begleiten.“ „Fast bezweifle ich, daß Sie Reverend sind, Thornton.“ „Aber — meine Soutane!“ rief Thornton. „Sie ist gerettet worden, sie trieb auf dem Wasser, und — und sie paßt mir.“
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„Das beweist gar nichts. Ihr Name war weder mir noch einem meiner Leute bekannt. Ihren Händen nach zu urteilen, sind Sie Decksmann.“ „Weil ich immer geholfen habe“, verteidigte sich Thornton. „Ich konnte nicht mit ansehen, wenn andere arbeiten und ich nur so herumstand.“ „Aber hier konnten Sie das. Hier haben Sie nie einen Finger gerührt, wenn die anderen schufteten. Genug jetzt, das tut nichts zur Sache, verhandeln wir weiter, und stimmen wir ab.“ Thornton sah sich gehetzt nach allen Seiten um. Der einzige Fluchtweg, der ihm blieb, war das Wasser. Darin jedoch schwammen dunkle Schatten, große Leiber. Haie, die sich den Teufel darum scherten, ob er nun Reverend war oder nicht. „Er soll hängen!“ riefen die meisten. Ein paar andere enthielten sich der Stimme. Einen Reverend hängt man nicht, meinten sie, das war ihnen suggeriert worden, sie würden damit ein Tabu verletzen. Es ging hin und her. Ein Teil der Crew wollte ihn an der Rah baumeln sehen, ein anderer Teil war dagegen, und zwei oder drei Männer hatten keine Meinung. plädierten dafür, daß man ihn auspeitschen oder kielholen solle. Für Stan Ellen der ohne weiteres als Kapitän seinen Tod beschließen konnte, war es nicht einfach, sich zu entscheiden. Ein Mann, der an der Rah baumelte, trug nicht gerade zur Verzierung des Schiffes bei. Seit hier unsichtbar Skorbut und Fieber an Bord wüteten, wollte er die Gemüter nicht noch mehr mit einer Leiche im Großmast belasten. Sie hatten so schon genug Tote zu beklagen. „Thornton wird ausgesetzt“, entschied er nach einer Weile. „Seine Chancen, irgendwo Land zu erreichen, sind so groß wie unsere Aussichten, zu überleben.“ Fast alle stimmten ihm augenblicklich zu und wirkten sichtlich erleichtert. „Zehn Hiebe und dann ab mit ihm!“ schrie einer. „Aussetzung ist eine harte Strafe“, belehrte Ellen den Sprecher. „Da braucht es der
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Schläge nicht mehr. Er ist gesund und kräftig, und er hat eine Chance. Zehn Hiebe können ihn schwer verwunden, und ich will ihn nicht unnötig quälen. Mit der Aussetzung ist er genug bestraft. Ende der Diskussion!“ Der Kapitän rief den Schiffszimmermann und erteilte ihm genaue Anweisungen. Thornton, der sich bisher mit keiner Silbe geäußert hatte, wurde für den Rest der Nacht zurück in die Piek gebracht, wo sie ihn anketteten. 2. Am anderen Morgen hatte sich immer noch nichts geändert. Es war wie in den vergangenen Tagen auch. Die Sonne stieg aus dem Meer und begann alles zu versengen. Der Zimmermann und zwei Seeleute hatten ein kleines Floß gezimmert und es über Bord gehievt. Ellen hatte darauf bestanden, daß das Floß ein kleines Segel erhielt. Als Ruder befand sich eine kleine Pinne auf dem Floß. „Man sollte dem Kerl nichts zu saufen geben“, sagte einer der Seeleute, die fürs Hängen plädiert hatten. „Der Kerl hat doch genug auf Vorrat gesoffen und gefressen.“ „Er kriegt das, was ihm zusteht, also auch Wasser und Proviant“, sagte der Kapitän. „Wir sind Christen und keine Mörder, verstanden?“ Sie holten Thornton aus der Piek. Als er in der Kuhl stand, sah er schluckend auf das kleine Floß, das winzige Wasserfäßchen und den Beutel mit Proviant. Er nahm es ziemlich gelassen hin. Lieber wollte er auf dem Floß hocken, als oben an der Rah hängen. Jemand brachte seine Klamotten und warf ihm das Bündel vor die Füße. „Das ist alles, was wir von dem Schiff gerettet haben“, sagte er verächtlich. „Deine Dienstkleidung, deine angebliche, und einen Stiefel. Den kannst du dir einmal links und einmal rechts anziehen, ganz wie du willst.“ Der Kapitän trat auf ihn zu und sah ihn ruhig an.
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„Sie werden jetzt aus unserem Gesichtskreis verschwinden“, sagte er kalt. „Mit der Pinne bewegen Sie sich so schnell wie möglich von uns fort. Sollten Sie in einer Stunde nicht aus unserer Nähe verschwunden sein, werde ich mit Musketen auf Sie feuern lassen, Thornton.“ Der Reverend gab keine Antwort. Verbissen starrte er auf das winzige Ding im Wasser. „Das Wasser reicht nicht einmal drei Tage“, murmelte er nach einer Weile. „Unser Wasser reicht auch nicht länger. Verschwinden Sie jetzt, die Leute werden schob ungeduldig.“ Ellen zog ein Messer aus seinem Gürtel und schleuderte es auf das Floß. Im Holz blieb es stecken. Thorntons Haß auf die Crew und ihren Kapitän wuchs ins Unermeßliche. Er hatte hektische rote Flecken im Gesicht, als er über das Schanzkleid kletterte und auf das bedrohlich schwankende Floß stieg. Vorsichtig balancierte er es aus, dann griff er nach der kleinen Pinne und wandte den Männern das Gesicht zu. „Fluch über euch, ihr Kanalratten!“ schrie er. „Der Teufel persönlich soll euch in die Tiefe ziehen!“ Er schrie und geiferte in ohnmächtiger Wut, drohte mit der Pinne und spie ins Wasser. Seine Flüche hallten über das totenstille Meer. Er paddelte davon, obszöne Verwünschungen ausstoßend, fluchend wie ein Kutscher. Und immer wieder hob er die Pinne und drohte herüber. Da krachte ein Musketenschuß. Der Erste hatte ihn abgefeuert, und man sah deutlich die kleine Fontäne aus dem Wasser steigen, knapp einen Yard vom Floß entfernt. Von da an schwieg der Reverend verängstigt, zog das Genick ein und paddelte das leichte Floß wie ein Wilder voran. „Wenn das ein Reverend ist“, sagte der Erste. „dann bin ich die Königin von England.“ Sie standen am Schanzkleid und starrten dem Mann nach, den sie alle haßten, und
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doch fragte sich fast jeder insgeheim beklommen, wie Thornton wohl zumute sein mochte —allein auf einem winzigen Floß, inmitten eines schier unermeßlichen Meeres, in totaler Kalme. Nein, er hatte keine Chance, Land zu erreichen, sie selbst hatten wahrscheinlich auch keine mehr. Noch am Mittag sahen sie ihn als winzigen Punkt, der sich nicht mehr bewegte und auf dem Meer wie festgenagelt schien. Auch Thornton starrte zu dem Schiff hinüber. Das lächerlich kleine Segel hing schlaff an dem kleinen Mast. Um ihn herum herrschte eine Hitze wie in einem Backofen. Er stierte auf das Wasserfaß, verkniff es sich aber, davon zu trinken. Er wollte so lange warten, bis er es vor Durst nicht mehr aushielt. Das hier war sein eigenes Wasser, und damit mußte er sparen. Hier konnte er nicht heimlich trinken und es auf andere schieben oder jede Schuld entrüstet von sich weisen. Verflucht, ich habe keinen Kompaß, dachte er, ich muß mich also am Stand der Sonne orientieren und die Himmelsrichtungen bestimmen. Wenn wirklich wieder einmal der Wind blies, mußte er sich mit dem Wind treiben lassen, entweder immer weiter aufs Meer hinaus oder vielleicht einer Insel entgegen. Er sah in dem Proviantbeutel nach. Darin befand sich ein knochenhartes Stück Schiffszwieback, in dem die Maden bohrten, dann zwei Händevoll harter Bohnen und ein Stück Salzfleisch. Das war alles, was der Beutel enthielt. Thornton streckte sich auf dem Floß aus und legte seinen Kopf unter das kleine Segel. Er lag auf dem Trockenen, aber bei der kleinsten Bewegung des Wassers würde ihn die Salzbrühe von allen Seiten umspülen, wenn das Wasser durch die Ritzen quoll. Ein paarmal schlief er ein und stöhnte laut im Schlaf. Wenn er aufschrak und trübe übers Meer blinzelte, sah er die „Black Pearl“ nur noch als verschwommenen Schatten auf dem Wasser. Mit einem Ruck richtete er sich auf. Hatte sich die Luft bewegt, oder war das eine Täuschung?
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Ein heißer Lufthauch streifte ihn von neuem, und wilde Hoffnung keimte in ihm auf. Er konnte sich das nicht erklären, aber er war deutlich von der Galeone abgetrieben worden, ohne daß er sich mit der Pinne vorwärtsbewegt hätte. Gab es hier eine leichte Strömung, die das kleine Floß langsam fort trug? Er rieb sich die Hände und lachte leise. Sollten die da drüben vor die Hunde gehen. Bald schon hatte er sie aus den Augen verloren, wenn die Strömung ihn weiter trug. Oder war es umgekehrt? Bewegte eine Strömung die Galeone fort, und er selbst blieb immer an derselben Stelle? Er wußte es nicht, döste wieder und wachte auf, als es feucht in seinem Kreuz wurde. Die Schatten waren länger geworden, und er befand sich allein auf dem Meer. Von dem Schiff war nichts mehr zu sehen, keine Spur, selbst am dunstigen Horizont war das Schiff nicht mehr zu erkennen. Jetzt erfüllte ihn wilde Freude, denn er sah, daß das Segel nicht mehr wie ein trockener Lappen am Mast hing, sondern sich ganz leicht bewegte. Und das Wasser, das ihm ins Kreuz gedrungen war, stammte von winzigen kleinen Wellen, die der schwache Luftstrom erzeugte. Er nahm einen Schluck Wasser, denn seine Kehle war ausgedörrt, und die Zunge hing ihm wie ein trockener Schwamm im Mund. Er nahm nur soviel, um sich den Mund zu spülen, die Lippen zu benetzen und sich ein wenig zu erfrischen. Danach suchte er sehr aufmerksam die Umgebung ab und hielt Ausschau nach weiteren Anzeichen von Wind oder Wolken. Es dauerte nochmals bis zum späten Nachmittag, bis sich das Segel leicht bauschte und sein plumpes Fahrzeug vorantrieb. Zwei Tage und zwei Nächte trieb der Reverend Thornton auf dem Meer, vegetierte auf seinem kleinen Floß dahin, trank ab und zu einen Schluck Wasser, das ihm Übelkeit bescherte, und aß von dem knochenharten Zwieback. Das Salzfleisch
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rührte er nicht an, sein Genuß würde nur noch mehr Durst hervorrufen. Am dritten Tag flog ihm ein hand-langer Fisch aufs Floß. Er schnellte aus dem Wasser, fiel auf das Floß, zappelte und blieb liegen. Thornton packte ihn gierig, zerriß ihn mit zitternden Fingern und aß ihn roh auf. Etwas später fühlte er sich hundeelend und glaubte, seinen eigenen Augen nicht mehr zu trauen. Nixen stiegen aus dem Wasser, mit Seetang behangene Gestalten tauchten auf und grinsten ihn an. Mitunter stand das Wasser kopf, dann war der Himmel tief unter ihm, und das Meer befand sich in unerreichbaren Höhen. Er glaubte, sich dort hoch oben entlangsegeln zu sehen. Den Anfall wurde er erst gegen Mittag los, da klärten sich seine Gedanken, und die Welt schien wieder in Ordnung zu sein. Doch etwas später begann es von neuem. Thornton sah ein Schiff, einen spanischen Zweidecker, der den Kurs änderte und auf ihn zulief. Das ist die Rettung. dachte er, oder es ist wieder ein Trugbild, das sich auflösen wird. Doch das Schiff löste sich nicht auf. Es segelte ihm beharrlich entgegen, ging etwas später in den Wind und braßte vierkant. Thorntons Herz klopfte vor Erwartung. Gleich würde er Wasser kriegen, Verpflegung, vielleicht in einer Koje schlafen können. Und die Leute von der „Black Pearl“ konnte er auch noch in die Pfanne hauen, wenn er den Spaniern eine rührselige Geschichte erzählte. Sie warfen ihm einen Tampen hinunter, banden das Floß fest und ließen ihn über die Jakobsleiter aufentern. Thornton sprach schlecht spanisch, aber zur Verständigung reichte es. „Meine Retter“, murmelte er erschöpft und ließ sich auf die Planken sinken. Der Kapitän, ein kleiner dicklicher Mann mit wäßrigen Augen, sah ihn verächtlich an.
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„Ein Engländer“, sagte er abfällig. „Hat man dich ausgesetzt, Amigo?“ Teufel, dachte Thornton, vor dem Burschen muß ich mich in acht nehmen, der hat mich anscheinend gleich durchschaut, dem kann ich nicht allzu viel vorflunkern. Auf das gespielte Theater vom total erschöpften Mann schien der auch nicht hereinzufallen. Blitzschnell erfand er eine haarsträubende Geschichte. „Ich bin Priester“, sagte er schwach. „Gott segne euch, er soll auch die nicht verdammen, die mich ausgesetzt haben. Ja, man hat mich ausgesetzt“, sagte er klagend. „Ausgesetzt, weil ich das Morden und Töten nicht länger mit ansehen konnte. Ich schäme mich für meine Landsleute, Capitan.“ „Wer hat wen getötet und warum?“ fragte der dickliche Mann kühl. „Ich war auf der ,Black Pearl' einem englischen Schiff. Sie hatte den Auftrag, spanische Schatzschiffe zu überfallen, doch das erfuhr ich erst, als wir unterwegs waren. Nie hätte ich die Planken dieses Schiffes betreten, ich schwöre es.“ Daß er Priester war, hinterließ bei diesen Leuten nicht den geringsten Eindruck. „Kann ich einen Schluck Wasser haben?“ fragte er schnell. „Bringt ihm Wasser!“ befahl der Capitan. „Erzählen Sie weiter, Amigo!“ Eine Muck Wasser wurde ihm gereicht, die er gierig an die Lippen setzte und austrank. Dann berichtete er weiter. „Unser Kapitän brachte zwei Spanier auf und kaperte sie. Die Mannschaft ließ er elendiglich ersaufen, als das Schiff sank. Zuvor stahl er noch den größten Teil der Ladung.“ Der Capitan verzog nicht einmal das Gesicht. „Wie hieß das Schiff?“ fragte er schnell. „,Black Pearl', Capitan.“ „Ich meine den Spanier!“ „Ah, ich habe mir das furchtbare Gemetzel nicht mit ansehen können, ich bin gleich unter Deck gegangen und habe gebetet für die armen Seelen.“
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„So, so, Sie haben gebetet, und den Namen kennen Sie nicht?“ „Er fing, glaube ich, mit Nuestra an oder so ähnlich.“ Wieder zeigte sich keine Regung im Gesicht des Spaniers. „Und wie war das mit dem anderen Schiff?“ „Unser Kapitän ließ es entern, nachdem die Seeleute es zusammengeschossen hatten. Sie luden Gold- und Silberbarren auf die ,Black Pearl' und segelten davon, ohne sich um das sinkende Schiff und die Männer zu kümmern. Daraufhin sprach ich mit dem Kapitän und bin wohl etwas ausfallend geworden in meinem gerechten Zorn. Ich sagte, daß er zumindest die Verantwortung für die spanischen Leute hätte und sie nicht umkommen lassen dürfe. Er lachte nur, er lachte mich aus“, sagte Thornton bitter mit gesenktem Kopf. „Welchen Kurs lief das englische Schiff?“ „Auf Ostkurs, aber wir waren in einer Kalme.“ „Wie viele Kanonen?“ „Sechs auf jeder Seite und vorn und achtern eine.“ „Was geschah weiter?“ „Der Kapitän ließ mich aussetzen, er könne meine Vorwürfe nicht mehr mitanhören, denn die anderen seien doch nur dreckige Spanier, so sagte er wörtlich.“ „Sie, einen Priester, hat man also ausgesetzt“, sagte der Capitan kopfschüttelnd. „Das ist eine harte Strafe, Mann Gottes, eine sehr harte sogar. Das muß ich unbedingt einmal meinen Leuten demonstrieren, denn einige werden aufsässig. Würden Sie mir dabei helfen, Amigo?“ „Sehr gern, Capitan.“ Der Spanier ließ seine Leute zusammenrufen. Fünfundzwanzig Mann nahmen am Schanzkleid Aufstellung. „So hat ein englischer Kapitän einen Priester ausgesetzt“, sagte der Capitan laut. „Zeigen Sie es den Kerlen einmal, steigen Sie über die Jakobsleiter auf Ihr Floß!“ Thornton grinste sich eins. Jetzt bedauerten sie ihn alle sehr, das las er in ihren
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Gesichtern, und er freute sich, daß er es demonstrieren durfte. So schnitt er ein unsagbar wehleidiges Gesicht, winkte noch einmal abschiednehmend und stieg mit traurigen Augen auf sein Floß. „Könnt ihr euch jetzt vorstellen, wie dem Mann zumute ist?“ fragte der Capitan laut. „Si, Senor!“ tönte es im Chor zurück. Thornton wollte nach der Leiter greifen, um wieder aufzuentern, doch die hing nicht mehr da. Der spanische Capitan sah ihn ausdruckslos an, griff nach einem Messer und durchtrennte blitzschnell das Tau, das das Floß mit der Galeone verband. Im ersten Augenblick begriff Thornton gar nichts. Sprachlos stand er auf seiner wackligen Unterlage und starrte nach oben. „Ihr Besuch war mir eine Ehre, Amigo“, sagte der Spanier feierlich ernst und verbeugte sich. „Segeln Sie in Gottes Namen weiter, Amigo, wir haben Sie schon viel zu lange aufgehalten!“ Er verbeugte sich noch einmal, lüftete seine Kopfbedeckung wie ein spanischer Grande und wandte sich ab. Reverend Thornton stand da, als hätte ihn der Blitz getroffen. So richtig kapierte er es immer noch nicht. Ist das alles etwa immer noch auf den Genuß des Fisches zurückzuführen, dachte er betäubt. Ist das alles nur ein Spuk? Nein, es war kein Spuk. Schon standen auf der Galeone wieder die Segel, wurden Kommandos gebrüllt, das Schiff nahm langsam Fahrt auf und ging auf Westkurs. Als es an Reverend Thornton vorüberzog, winkte der Spanier noch einmal lässig mit der Hand, gnädig, herablassend, und die lausigen Kerle, die am Schanzkleid standen, grinsten und spien ins Wasser. „Bastarde!“ kreischte Thornton, den es innerlich vor Zorn, Wut und Enttäuschung fast zerriß. „Spanische Dreckfresser, Kakerlaken, Hurenböcke!“ brüllte er. Seine Stimme ging in ein Schluchzen über, unterbrochen von pausenlosen Fluchen. „Ihr verlausten Rattenpisser, puta madre santissimo, absaufen sollt ihr mit eurem Mistkahn, ihr Schneckenfresser!“
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Thornton tobte selbst dann noch, als das Schiff bereits am Horizont verschwand. Gebrochen an Leib und Seele legte er sich nieder. Sie haben mir kein Wort geglaubt, keine einzige Silbe, dachte er. Die Kerle würden sich totlachen, und diese schmähliche Niederlage stachelte seinen Zorn nur noch mehr an. Um ein Haar wäre er bei seinem Tobsuchtsanfall ins Wasser gekippt. Nein, das gab es einfach nicht, sagte er sich immer wieder. Sie konnten keinen Schiffbrüchigen einsam ohne Wasser und Verpflegung seinem Schicksal überlassen. Ganz sicher hatten sie sich nur einen Scherz mit ihm erlaubt und würden wieder umkehren, um ihn an Bord zu nehmen. Doch sie dachten nicht daran, umzukehren, sie waren auch nicht mehr zu sehen. Er mußte versuchen, die übelste Niederlage seines Lebens zu überwinden, ohne an seinem eigenen Haß zu ersticken. Und diesen verfluchten Bastarden hatte er auch noch den Kurs der „Black Pearl“ verraten! Nun, schade war es um die Kerle nicht, sollten sie sich gegenseitig die Schädel einschlagen, wenn sie sich begegneten. Der Wind blies jetzt etwas stärker, und er ließ sich mit dem Floß in die Richtung treiben, in die er blies. Viel mehr konnte er nicht tun. Irgendwann wurde es dunkel, und er schlief wieder ein. Winzige Wellen überspülten sein Floß, aber er merkte es nicht. Das Wasser war warm und angenehm, und so schlief er weiter. 3. Auf der „Black Pearl“ wurde gegen Morgen die spanische, etwas dickbauchige Galeone gesichtet. Stan Ellen überblickte seine Crew und gelangte zu dem Schluß, daß sie nur noch aus einem abgezehrten Häuflein bestand, das wegen Skorbut nicht mal in der Lage war, die Schiffsgeschütze zu bedienen. Wintham, der Erste, pfiff die Männer an.
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„Ein Spanier!“ schrie er. „Er hält auf uns zu! Hoch, ihr faulen Hunde, oder sollen wir uns zusammenschießen lassen!“ Er lief nach unten, vom Befehl des Alten getrieben, und versuchte, die halbtoten Männer nach oben zu zerren. Doch das erwies sich größtenteils als aussichtslos. Einige waren nicht mehr in der Lage. aufzustehen. Sie hatten bereits mit dem Leben abgeschlossen und begriffen überhaupt nicht, was der Erste von ihnen wollte. Die Situation war zum Verzweifeln. Captain Stan Ellen, Blake, Fisher und zwei Seeleute hatten bereits die Kanonen geladen. Eine Handvoll Männer, die von der gesamten Crew noch einigermaßen auf den Beinen war. Dabei sahen sie selbst aus wie Gespenster. „Sie haben es auf uns abgesehen“, sagte Ellen. „Sonst hätten sie nicht den Kurs geändert. Wir feuern, sobald wir sicher sind, daß unsere Kugeln auch treffen. Leider haben wir kaum eine Chance, um zu bestehen“, setzte er leise hinzu. „Und wenn wir einmal nicht die Helden spielen und einfach vor ihnen auskneifen, Sir?“ fragte der Erste. Ellen schüttelte den Kopf. „Vor einem Don davonlaufen?“ sagte er gedehnt. „Das würde ich mir mein ganzes Leben lang nicht verzeihen – und Sie vermutlich auch nicht, Mister Wintham.“ „Allerdings nicht“ gab der Erste zu. „Wir sind zwar schneller als der Don, aber Sie haben recht, Sir: Ich würde mich vor mir selbst schämen. Ich hatte dabei auch nur an die Kranken und Halbtoten gedacht.“ Blake sagte gar nichts. Er hatte die Augen zusammengekniffen und musterte den auf Gegenkurs heransegelnden Spanier. Beide Schiffe bewegten sich nur langsam, ihre Chancen standen gleich gut, denn jeder hatte genau denselben Wind. Der blies jetzt ganz schwach aus Norden. Während die „Black Pearl“ auf Ostkurs lief, segelte der Spanier nach Westen. Niemand war dadurch im Vorteil oder Nachteil.
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„Wir müssen den Don unbedingt in Luv fassen“, sagte der Kapitän, „aber so schlau ist der natürlich auch.“ Er sah den Rudergänger durchdringend an. „Und wenn du ihm die ,Black Pearl' genau in den Bug knallst“, sagte er hart, „und wenn wir zusammenknallen und verrecken, du wirst nicht ausweichen, Hentrop. Ist das klar!“ „Aye, Sir, ganz klar. Lieber saufen wir ab, als dem lausigen Don Luv zu überlassen.“ „So ist es richtig. Wir riskieren einen Rammstoß! Außerdem gehen wir so hoch an den Wind wie nur möglich.“ Blake wußte, daß sie auf verlorenem Posten standen. Der Kampf war unausweichlich. Ausgerechnet jetzt verspürte er wieder diese harten Schmerzen im Magen, die ihn fast um den Verstand brachten. Die Folge war, daß er gleich darauf Blut spuckte und auf die besorgten Blicke des Kapitäns zu fluchen begann. „Ich kann nichts dafür, die anderen sind auch nicht besser dran“, sagte er grollend. Der Kapitän wandte sich achselzuckend ab. Ihm ging es nicht anders. Der einzige, der bei bester Gesundheit war, war der ausgesetzte Reverend, der heimlich dafür gesorgt hatte, daß es ihm an nichts mangelte. Hentrop hielt genau auf den Spanier zu und rechnete sich im stillen die Chance aus, die Luvposition zu gewinnen. Ging er jetzt weiter nach Backbord, würde der Wind ihn stoppen, denn so hoch dran konnten sie nicht mehr segeln. Der Spanier natürlich auch nicht, der außerdem plumper gebaut und deshalb nicht so beweglich war. Darin lag ihr einziger kleiner Vorteil. Hentrop schielte zu dem Kapitän, doch der sah ihn nicht an. Normalerweise wäre sein Platz auf dem Achterdeck gewesen, wo der Kapitän während eines Gefechtes hingehörte, doch diesmal waren die Umstände anders, sie waren nicht mal mehr eine halbe Mannschaft, und der Kapitän dachte gar nicht daran, seinen Platz an den Kanonen zu verlassen. Hentrop sah die glimmenden Lunten, die sie in den Fäusten hielten, die steinernen
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Züge, die zusammengekniffenen Augen und die schmalen Lippen in den mit Stoppelbärten übersäten Gesichtern. Er schwitzte Blut und Wasser, sah in die Takelage, dann wieder auf den heransegelnden Spanier und fluchte unterdrückt, weil sie bei einem Ausweichmanöver niemanden hatten, der Brassen oder Schoten klarierte. Jetzt kam es darauf an, wer die besseren Nerven hatte, sie oder die Spanier, und so hielt er weiterhin genau auf den Bug des anderen zu, ein hartes Grinsen in seinem aufgedunsenen Gesicht. Es erwies sich, daß Hentrop doch die besseren Nerven hatte. Stur und unbeirrt hielt er Kurs, bis er die Männer an Deck erkennen konnte. Dabei flatterte alles an ihm vor Nervosität. Buchstäblich im allerletzten Augenblick drehte der Spanier leicht nach Backbord ab, als er sah, daß ein Rammstoß unvermeidbar wurde. Hentrop entblößte seine Zähne wie ein angreifendes Raubtier. Seine Fäuste umkrampften das Ruder, salziger Schweiß rann ihm in die Augen. Er zuckte zusammen, als es dumpf aufbrüllte, das Deck erzitterte und Holz in einem Splitterregen davonflog. Wieder donnerte es dumpf, ein peitschender Knall folgte. Ohne nach dem Kapitän zu sehen, legte er das Ruder leicht nach Steuerbord. Auf dem Spanier schlug es zweimal hintereinander ein. Rauch stieg auf, ein Mast schwankte bedrohlich, in dem Großsegel erschien ein langer gezackter Riß. Hentrop hörte Männer schreien, Holz splittern, Musketen krachen und das Stöhnen zu Tode getroffener Männer. Wieder krachte es ein paarmal hintereinander, und dann erwischte es den Besan. Ein Teil des oberen Mastes wirbelte davon und krachte auf Deck. Gleich darauf herrschte tiefe Stille, so unnatürlich, als wäre nach dem letzten Donnerschlag die ganze Welt untergegangen.
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Der Rudergänger sah sich um. Die beiden Schiffe strebten schon wieder voneinander fort, nachdem sich ihre Geschütze todbringend entladen hatten. Allerdings beschrieb der Spanier ein Manöver, das allen Regeln der Schiffsführung widersprach. Er schwang immer weiter herum, bis er den Wind achterlich hatte, und begann dann aufzugeien. Ist der Kerl verrückt geworden? fragte sich Hentrop. In der Kuhl und auf dem Vordeck erkannte er Ellen, Blake und Wintham. Fisher hing verkrümmt am Schanzkleid und versuchte sich hochzuziehen, aber ein anderer war tot. Er lag auf dem Rücken in der Kuhl, und unter seinem Körper breitete sich eine große Lache von Blut aus. Ellen lief nach achtern. „Verfolgen!“ schrie er laut. „Wir haben ihm das Ruder zerschossen, los herum, Mann, hopp, hopp!“ Fünf Männer bedienten die Brassen, Ellen griff selbst mit zu. Dann erkannte er, weshalb der Spanier aufgeite. Der Großmast hing bedrohlich schief, und die Last der Segel drohte ihn jeden Augenblick umkippen zu lassen. Das wollte der Don nicht riskieren, denn dann gab es ein Chaos an Deck. Auf dem Spanier arbeiteten sie wie besessen mit Äxten, Beilen und schweren Schiffshauern, bis der schwere Mast endlich, von allem Beiwerk befreit, über Bord ging. Blake verpaßte dem angeschlagenen Don einen Siebzehnpfünder direkt ins Heck. Ein Teil der Galerie flog unter ohrenbetäubendem Krachen auseinander, und eine schwere Drehbasse löste sich. Mit Getöse verschwand sie in dem unteren Deck. Ellen gab seinem Rudergänger mit den Händen Befehle. Sie durften nicht in den Bereich seiner Breitseite segeln, und so ging die „Black Pearl“ wieder in den Wind. Es wurden lange und zeitraubende Manöver, den Havaristen immer wieder anzusegeln, aber es lohnte sich für sie.
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Jeder Schuß saß, meist im Heck, in das jetzt schwallartig Wasser einbrach und sich ins Innere ergoß. Nach knapp zwei Stunden war der Spanier achterlastig und begann sich hilflos zu drehen. Ellens Restmannschaft schuftete wie verrückt. Verbissen, wütend voller Zorn hieben sie ihre todbringenden Zähne immer und immer wieder in den Spanier, der langsam tiefer sackte. Pulverschleim hatte sich auf ihre schweißtriefenden Gesichter gelegt und ließ sie schwarz und rußig erscheinen. Die Knochen taten ihnen weh, sie waren kaputt und fertig, aber sie gaben nicht auf. Ellen hatte sich vorgenommen, diesen Spanier zu versenken, und so half er beim Mannen der Kugeln, schleppte selbst Pulver herbei, bediente die Wischer, gab zwischendurch Kommandos und beharkte den Spanier immer wieder aus den günstigsten Positionen. Er war allerdings so fair, nicht weiterzufeuern. als er sah, wie drüben ein großes Boot zu Wasser gelassen wurde. Er stand nur neben der verrußten Kanone und grinste. Dabei sah er schrecklich aus mit seinem ausgemergelten Gesicht, den kaum noch sichtbaren Augen und der blutenden Wange. Die Spanier gaben auf, nachdem sich der Kampf fast vier Stunden in die Länge gezogen hatte. Bevor etwa sechzehn Männer in das Boot gingen, jagte einer von ihnen ein Faß mit Schießpulver in die Luft. Danach sprang er ins Boot, das mit achterlichem Wind in Richtung Süden davonsegelte. Das spanische Schiff brannte jetzt und lag achterlastig immer weiter absackend in der ruhigen See. „Diese Schweine“, sagte Blake gepreßt. „Sie haben den Kahn nur in Brand gesteckt, damit wir nichts mehr holen können. Man sollte ihnen eins in das verdammte Boot jagen.“ „Ja, zu holen gibt es nichts mehr“, sagte Ellen, „Proviant, Wasser, alles geht mit dem Kahn unter. Dabei hätten wir es so dringend brauchen können. Aber sie
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werden uns ihre verdammten Roteiros aushändigen, sonst, bei Gott, schieße ich die Dons restlos zusammen. Wintham spricht doch Spanisch, oder?“ „Ja, sehr gut sogar.“ Kurz darauf lief die „Black Pearl“ an dem sinkenden Spanier vorbei, ging auf Südkurs und nahm die Verfolgung des Bootes auf. Hinter ihnen stiegen schwarze Qualmwolken in den blauen Himmel. Es war unmöglich geworden, das Deck des brennenden Spaniers auch nur zu betreten. Außerdem ging er jetzt auf Tiefe und verschwand langsam und majestätisch in den Fluten. Nicht lange, und sie hatten das große Beiboot eingeholt. Die Stückpforten waren immer noch hoch, und die schwarzen Schlünde der Siebzehnpfünder drohten auf das kleine Boot. das sich wie verloren in der Weite des Meeres ausnahm. Ellen sah, daß fünf oder sechs Dons ihre Musketen hoben. Sofort ließ er zur Warnung einen Schuß dicht über ihre Köpfe abfeuern. Da senkten sie die Waffen. Wintham stand furchtlos am Schanzkleid und zeigte mit dem Finger auf den spanischen Kapitän. „Werft eure Roteiros in die Kuhl!“ befahl er auf Spanisch. „Wenn das geschehen ist, könnt ihr segeln, wohin ihr wollt. Wenn nicht, versenken wir euch!“ „Die Roteiros sind an Bord!“ rief der Spanier zurück und hob bedauernd die Schultern. Ellen verstand die meisten Worte, aber er selbst sprach kaum spanisch. meist verstand er auch nur den Sinn. „Einen Schuß vor den Bug!“ befahl er. Sie hatten noch zwei Segel aufgegeit, um nicht an dem Boot vorbeizusegeln, das weitaus wendiger als die „Black Pearl“ war. Jetzt stimmte die Geschwindigkeit fast überein. Ein Schuß löste sich, fuhr donnernd in die See und überschüttete die Insassen mit einem Wasserschwall. „Der nächste Schuß sitzt genau mittschiffs!“ rief Wintham. „überlegen Sie
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es sich, ob Sie das Leben Ihrer Leute riskieren, Capitan. Entweder ihr segelt ohne Roteiros, oder ihr werdet nie mehr segeln.“ Drüben bat man sich Bedenkzeit aus. Der Spanier wollte einen Bogen schlagen und davonlaufen, aber Blake feuerte aus seiner Muskete und zauberte mit dem Schuß ein kleines Loch in das Segel. Der Capitan fluchte, beschimpfte die Engländer als eine Horde erpresserischer Halunken und behauptete, er hätte nur eine einzige Karte, aber keine Roteiros. Blake feuerte aus einer zweiten Muskete das nächste Loch in das Segel. und als sich Winthams Hand nach unten senkte, um die Lunte ans Zündkraut zu drücken, gab der Spanier auf. Sie segelten dichter heran. Ellen sah, daß der Capitan ein kleines dünnes Buch in den Händen hielt. „Wenn wir euch das gegeben haben, schießt ihr uns zusammen“, sagte er laut. „Euer Leben schert uns einen Dreck!“ brüllte Wintham. „Wir wollen nur die Roteiros, nichts anderes. Wirf das Ding herüber, Amigo, ehe wir es uns anders überlegen!“ „Werfen Sie es nicht ins Wasser, Senor Capitan!“ rief einer der Spanier beschwörend. „Die lausigen Engländer versenken uns.“ Der Capitan hätte lieber sein Leben gegeben als das Roteiro ausgerechnet einem Engländer zu überlassen, aber er hatte keine andere Wahl, wenn er nicht riskieren wollte, von der eigenen Mannschaft zerrissen zu werden. Nie trennte sich jemand von diesen Roteiros freiwillig, weil sie das Geheimste enthielten, nämlich die geographische Länge, die so schwer zu berechnen war und ohne die die meisten Schiffe einfach ins Blaue fuhren. Aber die Spanier hatten schon vor den Portugiesen diesen Trick beherrscht — und die hielten ihn streng geheim. Ellen traute sich zu, nach den Unterlagen die geographische Länge zu berechnen. Franics Drake beispielsweise beherrschte diese Kunst des Navigierens ebenfalls,
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aber der hatte schließlich auch schon die ganze Welt umsegelt. Dicht vor seinen Füßen landete das Buch. Es war in feines Leder gebunden. Der Navigator hatte Seite um Seite fein säuberlich hineingeklebt. Ellen warf nur einen kurzen Blick hinein, dann nickte er und sah Wintham an. „Laß sie weitersegeln!“ „Muchas gracias, Senor“, sagte Wintham höhnisch. „Ich werde auf dem Altar meines Herzens ewig ein Licht für Sie brennen lassen. Vaya con Dios!“ Haßerfüllte Augen sahen ihn an, als er sich verbeugte. Der spanische Capitan dachte in diesem Moment an den merkwürdigen Priester, vor dem er sich ebenso höhnisch verbeugt hatte. Die „Black Pearl“ segelte weiter, beschädigt, angeschlagen wie ein krankes Tier, lief sie vorerst auf Ostkurs weiter. Den zersplitterten Besan kappten sie, er trug das Lateinersegel nicht mehr. Anschließend wurde der im Gefecht gefallene Mann der See übergeben. Fisher lag Blut spuckend unter der Nagelbank, wo er sich hingeschleppt hatte, und röchelte, als Ellen ihn anfaßte. Er hatte ihn überhaupt nicht gesehen und entdeckte ihn erst jetzt. Wintham und der Kapitän sahen sich an, stumm, verzweifelt, dann schüttelte Ellen den Kopf. Sie konnten ihm nicht helfen, das stand nicht in ihren Kräften, und so betteten sie ihn an Deck auf dem zerfetzten Lateinersegel und sahen alle paar Minuten nach ihm. Als Blake ihn etwas später noch einmal musterte, starrte Fisher aus weitoffenen Augen in den blauen Himmel. Sein Blick war starr und gläsern, auf seinem verschmutzten Gesicht stand die ganze Entbehrung dieser verdammten Reise geschrieben. Blake verzog das Gesicht und starrte in die toten Augen. „Du bist aus allem raus“, sagte er heiser. „Du hast es hinter dir, Junge, aber wir ...“ Verbissen wandte er sich ab.
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Etwas später übergaben sie auch Fisher der See. Nur das Schiff blieb in demselben Zustand, in dem es sich befand. Wer sollte auch die Schäden reparieren, sie waren nur noch eine Handvoll Männer, die jetzt bereits erledigt waren. Stan Ellen beschäftigte sich stumm und in sich gekehrt mit der Roteiro, die sie dem Spanier abgepreßt hatten. Er brauchte lange, bis er sich zurechtfand. Das kleine Buch enthielt bis ins Detail gehende genaue Eintragungen eines Navigators, der sein Handwerk verstanden hatte. Der Mann schien nichts anderes an Bord getan zu haben, als magnetische Kompaßkurse zwischen einzelnen Häfen aufzuzeichnen. Dazu kamen anscheinend exakte Lotmessungen, Wassertiefen, Angaben über Farbe des Wassers und ab und zu auch über die Beschaffenheit des Meeresbodens, der Kaps und Landzungen. Zeiten waren notiert, wie lange sie von da nach dort gebraucht hatten, wie stark und woher der Wind wehte und mit welchen Strömungen man rechnen mußte. Auch war verzeichnet, wo es Wasser gab, wo sich kleine Eilande befanden, wo Sandbänke, Riffe und Häfen lagen. Die Kurskarten waren mit unglaublicher Sorgfalt angelegt worden. Ellen spürte, daß dieses kleine Buch mehr wert war als eine ganze Ladung Gold. Daher wunderte es ihn nicht. daß die Spanier ihre Roteiros wie ihren Augapfel hüteten. Da hatte er riesiges Glück gehabt. Er zeigte Wintham, Blake und dem Rudergänger die Kurskarten. „Ich werde versuchen, unseren Standort zu bestimmen“, sagte er. „Wenn uns das genau gelingt, können wir den Kurs des Spaniers zurücksegeln, und ich verspreche euch, daß wir bald Land finden werden, wo Früchte wachsen, wo es frisches Wasser gibt, und wo wir Proviant fassen können.“ Das hob die Stimmung und gute Laune an Bord. Blake ging nach vorn, wo noch immer ein Teil seiner Kameraden vor sich hindöste und dem Sterben näher war als dem Leben. Er wollte die frohe Botschaft verkünden, doch er traf nur auf Leute, die ihn
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überhaupt nicht begriffen und ihn nicht einmal ansahen. Sie hatten von dem Gefecht nichts mitgekriegt. Er zählte ganz automatisch die Männer, die sich jetzt noch an Bord befanden, und das Ergebnis durchzuckte ihn wie ein harter Peitschenhieb. Sie waren noch genau neun Mann, alles in allem, Kranke und Gesunde. Ein Scheißleben ist das, dachte er und beneidete die Leute, die irgendwo an Land hockten und sich die Bäuche vollfraßen. Zwei Tage später ging auch das Trinkwasser zur Neige, und damit nistete sich der Tod endgültig auf der „Black Pearl“ ein. Er hockte grinsend in den Wanten, im Vorschiff und lief mit seiner Sense ungeniert an Deck herum. Land war immer noch nicht in, Sicht. 4. Verdreckt, ungewaschen und voller Haß starrten sie sich zwei weitere Tage später gegenseitig an. Ihre Körper waren aufgedunsen, verquollen, und ihre Stimmung hatte den übelsten Punkt erreicht, den es gab. Der Haß konzentrierte sich auf Stan Ellen. Niemand respektierte ihn, sie respektierten sich gegenseitig längst nicht mehr, und Blake oder Hentrop war es völlig egal, ob der Alte brüllte, tobte, fluchte oder befahl. Auch der Erste mischte kräftig mit. „Frisches Wasser“, höhnte er, „Früchte, Inseln, was? Wo sind denn deine Inseln, Kapitän? Deine Scheiß Roteiros haben uns keinen Schritt weitergeholfen, wir segeln immer noch fast auf Ostkurs, wir sollten auf Südost gehen, da ist Land, das fühle ich ganz deutlich.“ Ellen gab keine Antwort. Aus rotgeränderten Augen sah er den Ersten an. Er ließ sich beleidigen und beschimpfen, ihm war es einerlei, er hatte genauso genug wie die anderen auch. „Drehen Sie das Stundenglas um, Wintham“, sagte er mit schwerfälliger Stimme.
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„Was geht mich das Stundenglas an, was schert mich die Zeit! Wir haben genug davon, Zeit wie Sand an den Stränden. Dreh es selbst um, wenn du willst!“ „Wo wollen Sie hin, Blake?“ fragte Ellen. „Mir was zu fressen holen“, sagte Blake. Ellen lachte sarkastisch. „Möchte wissen woher.“ „Aus der Vorpiek, da sind Ratten.“ Blake riß einen Belegnagel aus der Nagelbank und marschierte schwerfällig nach vorn. Wintham folgte ihm. „Mensch, daran hab ich gar nicht gedacht“, sagte er. „Klar, da vorn tummeln sich Ratten, Fleisch, das man rösten kann. Aber ob da überhaupt noch eine Ratte lebt?“ „Die überleben uns alle. Anfangs fressen sie uns die Vorräte weg, und wenn nichts mehr da ist, fressen sie Holz oder ernähren sich sogar von Tauwerk, Stiefeln und anderen Ratten. Die können überall leben, die stellen sich um, wenn sie nichts Richtiges mehr haben.“ Ellen, der selbst am Ruder stand, rief ihnen etwas nach, aber die beiden Männer drehten sich nicht einmal um. Sie waren ganz von dem Gedanken besessen, Ratten zu fangen, sie wollten überleben, auch wenn es ein Scheißleben war. Blake ging jedoch vorher noch einmal in den Mannschaftsraum. In der engen Koje lag einer, der sich halb aufgerichtet hatte und ihn anstarrte. „Wasser!“ rief er. „Geh an Deck!“ schrie Blake ihn an. „Du bist nicht kränker als wir anderen auch.“ „An Deck werde ich sterben“, klagte der Mann. „Besser an Deck krepieren als hier unten. Los, 'raus mit dir! Du willst dich nur drücken, ich beobachte dich schon eine ganze Weile.“ „Jesus Christus“, jammerte der Mann, „hilf mir doch, nur einen Schluck Wasser. Ich habe kaum noch Zähne im Maul, und wenn das so weitergeht ...“ Blake riß den Mann mit einem Ruck aus der Koje und ignorierte Winthams grimmigen Blick, der ihm gefolgt war.
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„Pack dich jetzt an Deck!“ schrie Blake. „Dort oben wirst du solange bleiben, bis du Land siehst oder verreckst.“ Der Mann taumelte in panischer Angst an ihm vorbei und konnte zu Blakes Verwunderung sogar laufen. „Faulenzer, Drückeberger!“ schrie der Bootsmann und sah sich wild um. Aber von den anderen rührte sich keiner, sie waren wirklich am Sterben —und niemand konnte ihnen helfen. Er ging wieder zurück, nahm aus der verwaisten Kombüse eine Lampe mit und zündete sie an. Damit marschierte er, dicht gefolgt von Wintham, zur Vorpiek und riß das Schott auf. Der blakende Schein erhellte die Vorpiek nur dürftig. Es stank entsetzlich hier drin. Träge Brühe schwappte über die Grätings, er hörte ein warnendes Pfeifen. Ratten! Ein flüchtiger Blick genügte ihm, um zu erkennen, daß es mindestens zwanzig waren, die sich hier vor langer Zeit eingenistet und vermehrt hatten. Seit sie kaum noch etwas zu fressen hatten, war ihr Paarungsdrang zurückgegangen. Er hängte die Lampe an einen Balken, sprang auf die Gräting und schlug mit dem Belegnagel zu. Die erste Ratte fiel tot auf die Gräting, die anderen flohen. Einige flitzten zwischen seinen Beinen hindurch, eine andere sprang den Ersten an, der aufschreiend zurückwich, und der Rest verschwand irgendwo. „Verdammt, halte sie doch auf!“ schrie Blake. Aber die pfeifende Schar war schon an Deck und suchte sich neue Verstecke. Blake donnerte das Schott der Piek zu und leuchtete mit der Lampe in jede Ritze und Ecke.. „Schau mal her, Erster!“ sagte er rauh. „Sieh dir das an!“ „Die fressen das ganze Schiff auf“, sagte der Erste erschreckt. „Himmel, die haben ja ganze Gänge gefressen!“ Blake nickte grimmig und leuchtete mit der Lampe weiter. Ja, es gab Gänge im Schiff, kleine Tunnel, die vom Querschott der Piek bis in die
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Laderäume führten. Überall war Holz angefressen, benagt, abgespänt worden, und überall gab es diese Gänge. Da konnte einem angst und bange werden. „Gesoffen haben sie das Bilgewasser“, stellte Blake fest. „Und sie sind nicht daran krepiert.“ „Willst du damit sagen, wir sollten es versuchen?“ „Warum nicht? Besser als gar nichts. Ratten fressen, Bilgewasser saufen, Hauptsache, wir überleben.“ „Aber — genauso gut können wir Salzwasser saufen. Weißt du, was in der Brühe alles schwimmt?“ „Bilgewasser“, zählte Blake auf, „besteht aus Schmutz- und Schwitzwasser, und natürlich ist auch ein bißchen Seewasser dabei, das durch die Nähte leckt.“ „Tote Ratten schwimmen in der Brühe“, sagte der Erste angeekelt, „ab und zu schifft mal einer rein, wenn er hier eingesperrt ist, wie unser netter Priester etwa, oder — äh ...“ Er sprach nicht weiter, als Blake die Ratte am Schwanz aufhob und sie in den Gang vor das Schott warf, nachdem sie es wieder geöffnet hatten. „Du wirst der erste sein, der sie mir aus den Fingern reißt“, verkündete Blake und deutete auf die Ratte. „Und spätestens morgen schleicht ihr euch alle in die Bilge und sauft das Wasser. Mal sehen, was stärker ist: euer Ekel oder euer Selbsterhaltungstrieb.“ Stunden später schwamm das Fell der Ratte längst irgendwo hinter ihnen im Meer, hatte jeder einen winzigen Fetzen Fleisch im Magen und schlichen die ersten tatsächlich unter den fadenscheinigsten Ausreden nach vorn. Blake stand jetzt am Steuer und lachte, bis ihm Tränen über das Gesicht liefen und sein Gelächter in ein haltloses Schluchzen überging. „Sauft nicht die Bilge leer“, sagte er keuchend, „laßt mir auch noch einen Schluck übrig.“ Sogar Stan Ellen scheute sich nicht, Bilgewasser zu trinken. Besser, als vor Durst krepieren, war seine Devise. Die
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Brühe schmeckte zwar zum Kotzen, und es würgte sie bei jedem Schluck, doch später störte sich niemand mehr daran. „Der Mensch wird zum Tier“, sagte Ellen, „sobald es ums nackte Überleben geht. Er scheut dann auch vor dem Letzten nicht zurück.“ „Und was ist das Letzte?“ fragte Blake. „Man frißt seine eigenen Artgenossen“, erwiderte der Kapitän ausdruckslos. Die Männer sahen sich beklommen an, schüttelten stumm die Köpfe und waren insgeheim doch davon überzeugt, daß Ellen recht hatte. Sie waren ja schon auf dem besten Weg dazu. Sie beteten gemeinsam und flehten ihren Gott an, daß er ein Einsehen haben möge und sie endlich zum Land führen solle, aber es änderte sich nichts. Sie waren von Wasser umgeben, von einem Himmel, der mit dem Meer manchmal zusammenschmolz, und in dem es nur noch sengende Hitze gab, nichts anderes. Das Glück hatte sie verlassen, und Gott und die Welt verflucht segelten sie dahin, in einer lauen Brise, die kaum die Segel blähte, von einer Kalme zur anderen, endlos, wie Verdammte der Meere, für die es keinen Hafen mehr gab. Selbst Ratten fingen sie nicht mehr, obwohl die in Scharen herumliefen. Aber diese listigen Nager waren gewitzt und hatten sich ihren Feinden längst angepaßt. Sie verkrochen sich in ihre Gänge und ließen sich nicht blicken, solange jemand draußen auf der Lauer lag. Aber man hörte, wie sie nagten, zerrten, knabberten, wie sie das Schiff langsam, aber sicher fraßen. Nicht mehr lange, dann würde der erste Wassereinbruch erfolgen. „Ob Thornton verhungert oder verdurstet ist?“ fragte der Rudergänger, als er über die See blickte. Blake zuckte mit den Schultern. „Der Halunke hat doch immer Glück. Ich wette, der liegt längst dick und vollgefressen an irgendeinem Strand herum und lacht sich eins ins Fäustchen.“ „Soviel Glück kann man gar nicht haben“, widersprach Hentrop.
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Thornton hatte jedoch dieses Glück. . Er glaubte es erst selbst nicht, aber eines Morgens, als er fieberte und der Durst ihn fast ausgehöhlt hatte, sah er Land. Aus rotgeränderten Augen blickte er zum Horizont. Land, ein schmaler Strich nur, aber offenbar dicht bewachsen, das glaubte er ganz deutlich zu sehen. Aber zu oft schon hatten ihn Luftströmungen getäuscht, heiße Winde ihn genarrt und Trugbilder vorgegaukelt, und immer wenn er sich einem Schiff oder einer Insel genähert hatte, löste sich alles in flirrende Luft auf. Er wußte nicht mehr, wann er das letzte Mal etwas gegessen oder getrunken hatte. Es mußte Ewigkeiten her sein. Schwankend richtete er den Oberkörper auf und blickte aus fiebrigen Augen zu dem schmalen Strich. Eine frische Brise, die stetig von Nord wehte, trieb ihn voran. Er hatte sich der See überlassen und dem gleichmäßig wehenden, fast handigen Nordwind. Weshalb sollte er einen anderen Kurs steuern, wenn er doch nicht wußte, wo Land zu finden war? Der Landstrich begann vor seinen Augen zu flirren und zu flimmern. Er versuchte krampfhaft, nicht wieder ohnmächtig zu werden, sonst trieb er womöglich an dem Land vorbei. Doch kurze Zeit später stand das Land kopf, und vor seinen entzündeten Augen kreisten blutige Nebel. Bittend streckte er die Arme aus, doch der rötliche Abgrund zog ihn unbarmherzig wieder zu sich heran. Kniend fiel er um und blieb liegen. Er erwachte erst wieder, als er einen leichten Ruck verspürte. Eine kleine Welle warf das Floß auf einen weißen Strand. Auf Händen und Knien kroch Thornton an Land und weiter über den feinkörnigen Sand auf den Grünstreifen zu, der sich dicht vor ihm sattgrün und saftig ausbreitete wie ein. Teppich.
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Der Länge nach ausgestreckt rupfte er Blätter und Pflanzen, fraß sie wie eine Kuh schließlich direkt vom Boden, kaute und mampfte und spuckte den grünlichen Brei wieder aus. Von neuem begann er zu grasen, zu kauen und zu schmatzen, bis sein Magen alles wieder von sich gab. Danach fühlte er sich besser, stand schwankend auf, fiel wieder um, weil er das Stehen nicht mehr gewöhnt war, und spürte, wie verkrampft und abgestorben seine Knochen waren, Unendlich langsam kehrten seine Kräfte zurück, nachdem er ein paar Stunden in dem satten Grün geschlafen hatte. Als er zum zweiten Male erwachte, störte es ihn längst nicht mehr, daß sein Körper von eitrigen Pusteln übersät war und sich so heiß anfühlte wie die Sonne hoch über ihm. Er drang in dichten Dschungel ein und ignorierte jede Gefahr, die es dort geben konnte. Ihm war alles egal, er wollte nichts weiter als Trinkwasser oder ein paar Früchte, sonst hieb der lausige Schnitter mit der Sense nach ihm, der ihn auf seiner ganzen Reise begleitet hatte. Er wußte auch nicht, ob er auf einer Insel oder auf dem Festland gelandet war. Daß es hier Wilde geben könnte, fiel ihm nicht im Traum ein. Irrend und suchend marschierte er an unbekannten Pflanzen vorbei, hörte das Kreischen irgendwelcher Tiere und wäre fast in einen Tümpel gefallen. Dunkle Schwärme erhoben sich fluchtartig aus dem braunen Wasser und flogen davon. Er ließ sich fallen, hielt das Gesicht ins Wasser und trank die warme Brühe gierig in langen Zügen, bis sein Magen erneut rebellierte. Seine Lippen waren entsetzlich geschwollen und aufgeplatzt. Vorsichtig betastete er sein vom Salzwasser verkrustetes Gesicht. Dann wusch er sich, riß sich die zerfetzte Hose vom Körper und sprang in den Tümpel. Thornton hatte eine eiserne Kondition. Als er den Tümpel verließ und seine Hose wieder anzog, war er ein neuer Mensch,
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dem jetzt nichts mehr fehlte, als etwas zu essen. Er ging den Weg zurück, vergaß aber nicht, ihn zu markieren, indem er Blätter abriß, Äste knickte oder Pflanzen niedertrampelte, um den Tümpel wiederzufinden. Er fand auch Früchte, die er zwar nicht kannte, sie aber voller Gier in den Mund steckte. Eine der Früchte schmeckte so sauer, daß er einen leisen Schrei ausstieß, als er sie mit seinen aufgeplatzten Lippen berührte. Aber ein paar andere, groß wie eine Faust und von dunkelgelber Farbe, schmeckten hervorragend, und er hörte nicht mehr auf zu essen. Dann sah er wieder den Strand vor, sich und stellte fest, daß er viel zu weit durch Dickicht und Gestrüpp geirrt war, denn sein Floß befand sich fast eine halbe Meile entfernt. Er vergaß auch hier nicht, Markierungen anzubringen, um den Tümpel mit dem lebensnotwendigen Naß nicht zu verlieren. Er zog das notdürftig zusammengezimmerte Floß höher auf den Strand, band das kleine Faß los und steckte sich das Messer ein. Den einen Stiefel besaß er nicht mehr, er hatte ihn unterwegs voller Wut ins Meer geworfen, aber die Soutane hatte er noch. Er hängte sie sich über die Schulter, sah sich noch einmal um und ging weiter. Eine geheimnisvolle Kraft trieb den ausgemergelten Mann weiter am Strand entlang, eine Kraft, die einfach Neugier war, Forscherdrang, weil er wissen wollte, wo er sich befand. Nach seiner Schätzung war eine Stunde vergangen, als er die Landzunge umrundete. Sprachlos vor Staunen und andächtig blieb er stehen, um das ungewohnte Bild in sich aufzunehmen. Er befand sich an der nördlichen Spitze einer langgezogenen Bucht, die einen außergewöhnlich breiten Strand aufwies. Unglaublich weiß schimmerte er in der Sonne. Die Bucht war vor auflandigen Winden geschützt, denn auf der anderen
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Seite erhoben sich Berge, die den Wind brachen. Dicht dahinter befand sich Urwald, sattgrün leuchtend, und die Wedel hoher Kokospalmen schienen zu flüstern. Er hörte das leise Murmeln, mit dem winzige Wellen an den Strand liefen, dort hinaufleckten und langsam ins Meer zurück glitten. Das Eindrucksvollste an der ganzen Bucht aber war der Wasserfall, der von aufragenden Felsen nicht weit vom Strand donnernd und rauschend in die Tiefe stürzte. Reines klares Wasser, dachte er wie betäubt, das aus einer Quelle in den Bergen stammte. Jetzt hatte alle Not ein Ende, er, der Ausgesetzte, hatte das Paradies gefunden. Und die anderen? Die mag der Teufel holen, dachte er fröhlich. Er warf das kleine Fäßchen in den Sand, breitete die Arme aus und erklomm die Stelle, wo sich der Wasserfall befand. Er stellte sich seitlich darunter und ließ sich berieseln. Hinter dem Wasserfall war der Fels glatt geschliffen und sehr glitschig. Alles war mit üppig wuchernden Lianen bedeckt. Jetzt hatte er das, was er wollte, wovon er in den einsamen Stunden auf dem Floß immer geträumt hatte. Jetzt lag es direkt vor ihm, das Paradies, in dem es keinen Hunger und keinen Durst mehr gab. Er konnte trinken und essen, soviel er nur wollte, er konnte sich Kokosnüsse holen, kleinen Vögeln nachstellen oder Schildkröten suchen, von denen es hier genügend gab. Und eine Behausung? Brauchte er vorläufig nicht. Es war warm und angenehm, und wenn es ihm zu heiß wurde, konnte er ins Meer gehen und baden oder sich unter den Wasserfall stellen, um sich abzukühlen. Im Sand fanden sich auch keine Spuren von Menschen oder größeren Tieren. Wahrscheinlich war es eine Insel, auf der er gelandet war. Vielleicht war er sogar im Umkreis von Hunderten von Meilen der einzige Mensch weit und breit.
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Er hatte Glück gehabt, er lag satt und faul am Strand eines unbekannten Garten Edens, hatte sich den Bauch vollgeschlagen und seinen brennenden Durst gelöscht. Schade, daß er sich nicht bei Kapitän Ellen für dieses Paradies bedanken konnte. 6. Auf dem Weg zum Indischen Ozean hatte sich auf der „Isabella VIII.“ nicht viel ereignet. Der schlanke dreimastige Rahsegler hatte die Straße von Malakka hinter sich gelassen und steuerte jetzt die AndamanenSee an. Hasard ließ auf Westkurs gehen, und da der Wind aus Nordost wehte, konnten sie mit Steuerbordhalsen auf Backbordbug prächtig segeln. Im Bauch der „Isabella“ ruhten unermeßliche Schätze. Sie hatten sich noch vermehrt, seit sie den „Tiger von Malakka“ kennengelernt hatten, jenen Mann aus Kra, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Gewässer in der Nähe von ausbeuterischen Spaniern und Piraten zu säubern. Der Schatz in der Bengkalis-Bucht, den sie gehoben hatten, bestand zum größten Teil aus Diamanten. Ein großer Teil davon ruhte jetzt im Schiffsbauch neben den anderen Schätzen. „Hast du den neuen Kurs eingetragen, Dan?“ fragte der schwarzhaarige Philipp Hasard Killigrew. Dan O'Flynn nickte mit gerunzelter Stirn, aber er war so auf seine Kurskarten konzentriert, daß er keine Antwort gab. Hasard hatte diese Roteiros, wie Spanier und Portugiesen sie nannten, seit ihrer Rückkehr vom Land des Großen Chan anfertigen lassen. Dabei war er peinlich darauf bedacht, daß nichts vergessen wurde. Diese Kurskarten hatten schon ganze Mannschaften vor einem erbärmlichen Tod gerettet, wenn sie genau angelegt wurden. Dan O'Flynn hatte sich dabei ganz besonders hervorgetan. Er beherrschte die Navigation bereits besser als Ben Brighton
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und lernte täglich dazu, seit er sich in diese Aufgabe verbissen hatte. Der leidige „Mastglotzerei“ war er überdrüssig geworden, wie er versicherte. Von einigen wurde das lebhaft bedauert, denn obwohl auch die anderen scharfe Augen hatten, reichte doch keiner an Dan heran, ausgenommen ein Seeadler vielleicht oder ein Wanderfalke. Hasard jedoch wollte das ehemalige Bürschchen gern in der Schiffsführung haben, ihn weiter ausbilden, ihn etwas Besonderes in der Navigation werden lassen, und Dan hatte mit Freuden zugestimmt. Der einzige, der wieder einmal was zu grummeln hatte, war Dans Vater, das alte Rauhbein Donegal Daniel O'Flynn, der hinter Dan stand, mit seinem Holzbein auf die Planken pochte und seinen Ableger leicht anstieß. „Früher konntest du nur ein einziges Wort schreiben“, sagte er, „und das war noch ein ganz übles. Heute schmierst du Papier voll wie einer dieser Dichterlinge.“ „Ich habe eben was gelernt – im Gegensatz zu dir“, sagte Dan und grinste vor sich hin. „Ha, gelernt, daß ich nicht lache! Alles, was du kannst, hast du von mir gelernt. Deshalb bist du so ein guter Seemann geworden.“ „Gelernt habe ich bei Hasard“, sagte Dan, der seinen Alten nicht unnötig reizen wollte, weil der immer gleich explodierte. „Bei dir habe ich meist nur die Hucke vollgekriegt und gelernt, wie dein Holzbein auf meinem Rücken tanzte.“ „Eine lausige Jugend ist das heute“, murmelte der Alte. „Kein Respekt mehr da, rotzig, frech und aufsässig. Du hättest mal auf der ,Empreß of Sea` fahren sollen, Sohn, da hätten sie dir deine Rotznasigkeit schon ausgeprügelt.“ Old O'Flynn meinte es nicht immer so, wie er es sagte. Er war eben ein Rauhbein, ein hagerer Block aus Granit, der früher als Schiffsjunge mehr Prügel als Essen gekriegt hatte. Wahrscheinlich hielt er diese Methode noch immer für die beste. Aber wenn er wieder mit seiner lausigen „Empreß of Sea“ anfing, hielt Dan sich am
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liebsten die Ohren zu, weil die Geschichten immer so maßlos übertrieben waren, daß jeder grinste, der sie hörte. Zum Glück rief der Schiffszimmermann Ferris Tucker nach dem alten O'Flynn, und der beeilte sich sofort, seinem Ruf zu folgen, so daß sich Dan ungestört seinen Karten widmen konnte. Ab und zu ließ er Tiefe loten, peilte nach der Sanduhr, trug die Windrichtung ein und bestimmte den Standort. Diese Aufgabe brachte ihm Spaß, und dem Seewolf lieferten Dans Rechenkünste genauere und bessere Roteiros, als die Spanier sie besaßen. Wenn es sie irgendwann einmal wieder in diesen Teil der Welt verschlug, war die Navigation kein Problem, dann konnten ihn selbst die Kompaßabweichungen nicht mehr erschüttern. Ganz genau würden sie den Weg wiederfinden. Jetzt zum Beispiel, überlegte der Seewolf, hatten sie wieder eine Strecke vor sich, bei der sie nicht ganz sicher waren, wohin sie führte. Sie hatten zwar Kartenmaterial, aber das reichte nicht bis in den Indischen Ozean hinein. Den Weg, der um den halben Erdball herum nach England oder in den Norden führte, den mußten sie sich selbst suchen, denn die Vorstellung von dem südlichen Kontinent war nur sehr vage. Philip Hasard Killigrew hatte diese Route noch nie befahren. Aus dem Großmars meldete Bob Grey plötzlich Land. Drei Inseln waren es, wie er versicherte. Dan war sogleich bei der Arbeit und trug die Inseln in seine Kurskarten ein. „Den anderen Karten nach gibt es hier viele Inseln“, sagte Edwin Carberry, der auf dem Achterdeck erschienen war, „aber wie wollen wir die jemals finden, wenn wir, nur angenommen, diese Strecke irgendwann einmal zurücksegeln?“ „Wir geben den kleinen Inseln einfach ein paar Namen“, sagte Dan zu des Profos' großer Verblüffung. „Es ist seit einer Woche wieder mal das erste Land, das wir sichten.“
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Sein Vorschlag stieß auf ungeahnte Begeisterung. Jeder der Seewölfe wollte plötzlich „seine“ Insel. „Dem Kapitän gebührt die Ehre als erstem“, sagte Dan. Doch der Seewolf winkte lachend ab. „Nein, nein“, beharrte Dan. „Nennen wir die Insel Steuerbord voraus SeewolfsIsland.“ „Hurra, Seewolfs-Island!“ brüllten einige begeistert. Er trug den Namen auf der Karte ein, wo er die Insel verzeichnet hatte. Natürlich galten diese Bezeichnungen nichts in der übrigen Welt, aber für sie war es ein Orientierungspunkt, weil sie die meisten ohnehin namentlich nicht kannten, und außerdem hatten sie alle ihren Spaß daran. So ging es weiter. Mitunter wurden winzige kleine Inseln entdeckt. BenBrighton-Island, dann die Profos-Inseln. Big-Shane-Land und Ferris-Tucker-Island. „Was?“ motzte der Profos, als er den winzigen Fleck in der See sah, den Dan gerade eintragen wollte. „Profos-Insel, dieser lausige Misthaufen! Bin ich vielleicht nichts, was, wie? Wer tauscht mit mir?“ Der Bengel Bill meldete sich sofort. Er hatte auch noch keine Insel, und so übergab der Profos sie ihm durch Handschlag, was den Bengel stolzgeschwellt verkünden ließ: „Das wird aber hoffentlich auch eingetragen, oder?“ „Klar“, versprach Dan, „bin schon dabei. Und wie willst du das Atoll nennen?“ „Bill-Moses-Island“, sagte der Bengel, und daraufhin lachten ein paar der rauhen Kerle Tränen. „Lacht nur!“ rief der Moses. „Eines Tages kehre ich hierher zurück, dann gehört die Insel mir, und ich bin der Große Chan von Bill-Moses-Island.“ Daraufhin lachten die Kerle noch lauter, und der Gambianeger Batuti hing am Schanzkleid und konnte sich kaum beruhigen. „Ha“, sagte er, „Großes Chan von kleines Insel. Batuti können totlachen, wenn Kaiser von Moses-Island sehen.“
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Den Bengel verdroß das nicht. Er lachte mit, und jede neue Insel, die am Horizont auftauchte, wurde getauft, und dabei kamen Namen zustande, die sie sich nie erträumt hatten, denn jeder wollte seiner Insel seinen ganz besonderen Stempel aufdrücken. Schließlich gab es das Kutscher-Atoll, Schmied-von-Arwenack -Island, die JeffBowie-Lagune, die Insel des Segelmachers, die Sam-Roskill-Bucht und den Batuti-Felsen sowie das GaryAndrews-Riff. Die anderen mußten noch warten, und der Profos, der sonst immer seine Nase im Wind hatte, wartete geduldig. Er ließ sich keine Insel aufschwatzen, wie er betonte. Dabei hatte er allerdings einen hinterhältigen Gedanken, und er genierte sich auch nicht, ihn Hasard persönlich vorzutragen. „Bevor wir alles Land hinter uns lassen und in den unbekannten Ozean segeln, fassen wir doch noch einmal Wasser, oder sehe ich das falsch, Sir?“ fragte er. „Du siehst das ganz richtig“, sagte Hasard lachend, der sich über den kindischen Eifer seiner Seewölfe köstlich amüsierte. „Und ich sehe das bestimmt auch richtig, denn die Insel, die wir anlaufen, soll vermutlich Profos-Insel heißen, oder Seeheld-EdCarberry-Land, was?“ „So ähnlich“, sagte Carberry ernst. „Weißt du, Sir, ich will diese Insel, die dann meinen Namen trägt, auch wirklich betreten, das ist dann doch ganz anders, als wenn man nur daran vorbeisegelt, nehme ich an.“ „Ja, das muß ein erhebendes Gefühl sein“, gab Hasard zu. „Aber vergieße bitte vor lauter Rührung keine Tränen, Ed!“ „Meine Insel wird jedenfalls 'Empreß of Sea` heißen“, sagte Old O'Flynn dazwischen, und wieder gab es Gelächter. Smoky und Blacky fanden diese Namensgebung anfangs zwar ausgesprochen dämlich, aber jetzt, als die meisten ihre Insel hatten, wollten sie auch daran teilhaben und schauten sich die Augen aus.
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Die „Seewolfs-Inseln“ verschwanden langsam am Horizont, und erst am dritten Tag tauchte wieder Land auf. „Es könnte die letzte Insel sein, die wir sichten“, sagte Dan zu Hasard; „ich habe keine weiteren Eintragungen mehr.“ „Dann werden wir dort noch einmal ankern, und hoffentlich finden wir auch Wasser.“ „Glaube ich schon, denn auf der Karte steht das merkwürdige Zeichen bei vielen Inseln dahinter.“ Zuvor ließ Hasard jedoch den Kutscher befragen, der sogleich mit besorgter Miene erschien. Da er immer um das Wohl der Mannschaft besorgt war, konnte er nie genug Vorräte haben und sah es am liebsten, wenn die Vorratskammern aus den Nähten platzten. Hasard fand das ganz natürlich nach all den üblen Erfahrungen, die sie schon hinter sich hatten. Keiner wollte mehr in die verteufelte Situation geraten, zu verhungern oder zu verdursten, nur weil man darauf vertraute, irgendwo schon wieder etwas zu finden. „Sieben Wasserfässer sind randvoll“, sagte der Kutscher, „aber da wir nicht wissen, wie lange die Reise dauert, schlage ich vor, wir fassen noch einmal nach. Dann kippen wir das alte Wasser weg und füllen frisches auf. Kokosnüsse könnten auch nicht schaden.“ „Stimmt“, sagte der Seewolf trocken, „ich habe auch noch nicht gehört, daß sie jemand schadeten. Ben“, wandte er sich an den Bootsmann, „wir gehen dort vor Anker, vor der Profos-Insel“, setzte er grinsend hinzu. „Aye, aye, Sir. Scheint sich um ein malerisches Fleckchen Erde zu handeln. Aber das ist ja kein Wunder bei einer Profos-Insel.“ „Seht ihr meine Insel dort?“ fragte unterdessen Carberry die Seewölfe, die bereit standen, um die erforderlichen Manöver auszuführen. „Das ist die Profos-Insel! Benehmt euch also so, wie es sich für Gäste gehört, zertrampelt mir nichts, führt euch anständig auf, denn das wird später mal
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mein Alterssitz, wenn ich als Seemann abgemustert habe.“ Smoky schlug die Hände überm Kopf zusammen und sah Matt Davies an, der dem Profos verwundert nachblickte. „Jetzt geht es los“, sagte er, „jetzt betreten wir heiliges Land, und der Profos wird uns gleich zehn neue Gebote in die Planken ritzen. Du sollst keine Kokosnüsse von meiner Insel klauen, du darfst nichts stehlen und keine fremden Ziegen melken. Ja, jetzt wird er größenwahnsinnig, der Gute.“ „He, Leute, gleich sind wir Gäste auf der Profos-Insel!“ brüllte Matt Davies und übersah geflissentlich den zornigen Blick, den Ed ihm zuwarf. „Falls einer noch kacken muß, dann soll er es an Bord tun, aber nicht auf des Profos' Grund und Boden!“ Brüllendes Gelächter begleitete seine Worte, und schließlich grinste auch der Profos. War ja alles nur ein Spaß, mehr oder weniger, aber trotzdem: Es war seine Insel, da biß keine Maus den Faden ab. Eine weiße Landzunge tauchte auf, an der die „Isabella“ mit gerefften Segeln langsam vorbeiglitt. Ein herrlicher breiter Strand, dahinter Palmen, Dschungel, endlos lange Lianen, die sich um urige Bäume schlangen. Und davor auf dem weißen Strand lag ein Floß. Hasard entdeckte das Fahrzeug zuerst. Das Floß bestand aus ein paar Bohlen, über die man eine Gräting gebunden oder genagelt hatte, und es war gerade so klein oder so groß, daß es einem Mann Platz bot. Wo aber war dieser Mann? Carberry schob sein Rammkinn vor und beäugte das Floß aus schmalen Augen. „Ganz allein scheint dir die Insel nicht mehr zu gehören“, sagte Dan neben ihm anzüglich, „aber sie trägt nun einmal deinen Namen, Ed, und dabei soll es auch bleiben.“ „Ein Schiffbrüchiger vielleicht“, meinte Ed. „Oder das Floß ist hier allein angetrieben. Wenn sich jemand darauf befand, werden wir ihn auch finden — oder er uns.“
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Nicht weit hinter dem Floß tauchte eine sanft geschwungene Bucht auf, deren Anblick den meisten Männern unwillkürlich einen Pfiff der Bewunderung entlockte. „Donnerwetter“, sagte Ben Brighton überrascht, „unser Profos hat eben immer etwas Besonderes zu bieten. Ein Wasserfall, wie er prächtiger nicht sein könnte.“ Sie hatten schon so viele Inseln angelaufen, daß sie sie gar nicht mehr zählen konnten, aber immer wieder gab es dabei eine neue Überraschung. Die Bucht, die in einem sanften Bogen auslief, wurde von der anderen Seite von steil aufragenden Hügeln begrenzt, die mit sattem Grün bewachsen waren. Zwischen den Bergen schlängelte sich ein Fluß entlang und ergoß sich unten am Strand als Wasserfall auf kleinere Felsen, inmitten der Lichtung einer typischen Urwaldlandschaft. Den weißen Strand säumten hohe schlanke Palmen, die ihre dunkelgrünen Wedel neigten und sich miteinander zu unterhalten schienen, so jedenfalls erweckte es den Eindruck. Carberry vergaß fast, das Kommando zum Ankersetzen zu geben, bis der Decksälteste Smoky ihn sanft fragte: ,.Segeln wir gleich durch den Wasserfall, Ed, oder gehen wir noch in der Bucht vor Anker?“ Der Profos riß seinen verträumten Blick von „seiner“ Insel los und deutete mit dem breiten Daumen nach unten. Die Segel hingen im Gei, der Anker rauschte aus, die Trosse fauchte und zischte durch die Klüse, und der Moses meldete viereinhalb Faden Wassertiefe und Sand an der Lotspeise. Fast hatten sie bei dem prächtigen Anblick schon wieder das einsame Floß vergessen. Von hier aus sah man es allerdings auch nicht mehr, es lag hinter der kleinen Landzunge. Auch der Kutscher klatschte begeistert in die Hände, als er den Wasserfall sah. „So einer müßte auf jeder Insel Vorschrift sein“, sagte er und riß sich das verschwitzte Hemd vom Leib. „Wenn der Seewolf es erlaubt, werde ich mich drei
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Tage lang darunter stellen und pausenlos berieseln lassen.“ Smoky konnte die Hänselei nicht lassen. „Da mußt du schon Ed fragen“, sagte er grinsend, „denn immerhin ist es ja sein Wasserfall.“ Die „Isabella“ schwoite noch leicht in der Bucht, als suche sie sich eine besonders günstige Stelle zum Liegen. Die Hänseleien nahmen kein Ende. Sie alle überboten sich. „Kriege ich auch eine Kokosnuß, Ed?“ fragte Blacky. „Dürfen wir in der Bucht Fische fangen, Ed, oder Feuer am Strand entzünden?“ „Hört jetzt auf damit!“ schrie Ed. „Sonst werde ich euch Feuer unter euren Affenärschen anzünden, und keiner geht an Land. Fiert endlich das Boot ab, ihr verlausten Kanalratten.“ Deutlich war das Rauschen des Wassers zu hören. Den Männern klang es wie Musik in den Ohren. Einmal richtig in Süßwasser baden, dachten sie alle, das war schon etwas, hundertmal besser, als sich ständig die Salzbrühe über den Körper zu gießen, bei der immer eine weißliche Schicht zurückblieb. Das Boot wurde zu Wasser gelassen, und der Seewolf erschien auf dem Vorschiff. Auch er blickte verlangend an Land. „Wir wissen nicht, ob diese Insel bewohnt ist“, sagte er, „daher lassen wir allergrößte Vorsicht walten, wenn wir an Land gehen. Zuerst wird das Trinkwasser gewechselt, werden Früchte und nach des Kutschers Anweisungen Kräuter gesammelt. Das Vergnügen gibt es später.“ Alle Köpfe fuhren herum, als es deutlich hörbar im angrenzenden Urwald krachte. Zweige bewegten sich, es raschelte. „Eine Sau!“ schrie der Kutscher und riß die Arme hoch. Er rannte los, um eine Muskete zu holen, doch da war das verhältnismäßig große Borstenvieh auch schon wieder verschwunden und trabte in Richtung Wasserfall, wie man deutlich an dem sich bewegenden Unterholz erkennen konnte. Die Freude war groß. Ganz sicher hatte irgendein Schiff diese Tiere hier
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ausgesetzt, und unter den idealen Bedingungen hatten sie sich bestimmt kräftig vermehrt. Das war ein Geschenk des Himmels. Den Seewolf beschäftigte in Gedanken immer noch das Floß, das einsam und verlassen auf dem weißen Strand lag. Er fragte sich, ob sich hier eine menschliche Tragödie abgespielt hatte oder das Floß eben doch nur angetrieben war. Der Kutscher murmelte etwas von Mittagessen und fragte bescheiden an, ob jemand Hunger habe oder er das Essen auf später verschieben solle. „Verschiebe es auf Neujahr“, sagte Ferris Tucker. „Bei dem Anblick vergeht doch jedem der Appetit.“ „Was soll denn das heißen, he?“ fragte Ed düster. „Die Profos-Insel ist dir wohl nicht gut genug?“ „Ich meinte, da denkt man nicht an Hunger“, rechtfertigte sich Ferris verwirrt. Der Profos war wieder besänftigt, und Hasard sagte ihm, er möge einen Trupp zusammenstellen, bestehend aus etwa sechs oder sieben Leuten. Carberry stellte sich zuerst auf, indem er mit dem Daumen an seine riesige Brust tippte. Erst dann folgten die anderen. Waffen wurden ausgegeben, die Stückpforten hochgezogen und die Culverinen überprüft. Sie dachten noch mit Unbehagen an die Rieseninsel Kalimantan, wo sie eine so höllische Überraschung erlebt hatten. Man wußte vom bloßen Anblick einer Insel schließlich nicht, ob sie bewohnt war oder nicht. Das war eine reine Vorsichtsmaßnahme, wenn sie sich daher stark bewaffneten und auch das Schiff gefechtsbereit hielten. Acht Leute waren es schließlich, die in dem Boot Platz nahmen und zum nahen Strand pullten, der weiß und glitzernd in der Sonne schimmerte, über den ab und zu träge eine Schildkröte dahinkroch, oder kleine Kebse wie Dwarsläufer eilig in ihren gebuddelten Löchern verschwanden. Als das Boot knirschend auf den Sand lief, verschwand eine besonders träge
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Schildkröte plötzlich eilig ins rettende Wasser. Das Boot wurde ein kleines Stück höher an Land gezogen, die Fässer ausgeladen und in den Sand gestellt. „Dan und ich gehen zu dem Floß, um es zu untersuchen“, sagte der Seewolf, „ihr anderen sorgt dafür, daß die Fässer gefüllt werden. Einer bewacht die Männer, die Wasser schöpfen, und paßt auf, daß sich niemand anschleicht.“ Hasard hatte sich die Stiefel schon an Bord ausgezogen und die Hose bis zu den Waden hochgekrempelt. Ein Hemd trug er bei dieser Hitze nicht, niemand trug eins, es war überflüssiger Ballast, nur der Kutscher bildete da meist eine Ausnahme. Aber der hatte ja schließlich auch bei Sir Freemont gedient, wo man immer Hemden trug, zu jeder Zeit. Jetzt rannte auch er mit nackter Brust herum. Die beiden Männer gingen dicht am Wasser entlang in Richtung der kleinen Landzunge, die sie vorhin gerundet hatten. Es war nicht weit. Sie erreichten die Landzunge und sahen das Floß auf dem Strand liegen. Der Seewolf suchte nach Fußspuren, doch er fand keine, und auch Dans scharfe Augen bemerkten nichts Verdächtiges. „Vielleicht hat die auflaufende Flut die Spuren verwischt“, sagte Hasard und untersuchte das Floß. Das Holz war rissig und ausgetrocknet, das Alter des Floßes ließ sich kaum abschätzen. „Drehen wir es einmal um, Dan!“ Die Unterseite war grün und veralgt, ein paar winzige Muscheln hatten sich an das Holz geheftet. „Sehr lange kann es noch nicht in der See treiben“, urteilte Hasard. „Sonst wäre der Bewuchs stärker. Aber es kann schon eine ganze Weile hier liegen.“ „Wenn jemand mit diesem Floß die Profos-Insel erreicht hat, müßte er uns sehen“, sagte Dan. „Die Möglichkeit, fremde Schiffe zu entdecken, ist hier direkt ideal.“
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Er deutete mit der Hand auf die umliegenden Berge und bewachsenen Hügel. „Die besten Aussichtspunkte, die es gibt. Von ihnen aus kann man die gesamte Insel und das Meer überblicken. Das heißt also“, faßte er zusammen, „daß der Mann nicht mehr am Leben ist.“ „Oder daß das Floß wirklich unbemannt war“, ergänzte Hasard. Dan starrte das Ding an. Es erinnerte ihn an das Floß, auf dem sie damals seinen Vater gefunden hatten, nur war dies hier stabiler gebaut. Sie sprachen noch ein paar Möglichkeiten durch. Daß es sich um einen Ausgesetzten handeln konnte, daß der Mann sie vielleicht sogar beobachtete und sich nicht herantraute, weil er Angst hatte, oder daß er sie für Spanier hielt. Sie suchten auch den Strand weiter nördlich nach Spuren ab, doch im Sand fanden sich keine. Dan entdeckte jedoch an einer Stelle abgeknickte Blätter und ein paar kleine Zweige. „Das könnte von den wilden Schweinen stammen, Fußspuren lassen sich jedenfalls nicht feststellen.“ „Wenn es hier einen Mann gibt und er ein gutes Gewissen hat, wird er sich melden“, sagte Hasard abschließend, und damit gaben sie die Suche auf. Die Insel war viel zu groß, um sie zu durchsuchen. Als sie den Rückweg antraten, dröhnte ein Schuß auf, der die Ruhe der Insel zerriß, und dessen Knall sich laut an den Hügeln brach und als Echo fortpflanzte. „Schnell!“ rief Hasard. „Da ist etwas passiert.“ Sie liefen los, bis sie die Landzunge erreichten und in die Bucht blicken konnten. Sechs Männer standen in der Nähe des Wasserfalles und redeten aufeinander ein. Vor ihnen, zwischen Steinen und Pflanzen nur schlecht erkennbar, bewegte sich etwas auf dem Boden. Hasard sah, wie der Profos sich darauf stürzte, dann richtete er sich auf und warf sein Messer in den Sand.
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Der Kutscher hüpfte von einem Bein auf das andere und benahm sich, als hätte er einen Sonnenstich. Gleich darauf waren sie bei der Gruppe angelangt, und der Seewolf stieß erleichtert die Luft aus, als er sah, daß es kein Eingeborener war, der sie überrascht hatte. Auf dem Boden lag ein Schwein von beachtlichem Gewicht. „Hab ich eben selbst geschossen, Sir“, verkündete der Kutscher stolz und warf sich in die Brust. „Hier laufen unzählige von den Biestern herum, und sie sehen genau so aus wie das liebe Borstenvieh bei uns in England.“ „Dann bin ich ja beruhigt“, sagte Hasard und berichtete von dem Floß und davon, daß sie keine menschlichen Spuren gefunden hätten. „Los, an Bord mit den ersten Fässern“, sagte Ed. „Nachher werden wir uns vergnügen. Wie lange bleiben wir, Sir?“ wandte er sich fragend an Hasard. „Wir verlieren nichts, wenn wir zwei Tage hier liegenbleiben und die Insel ein wenig erkunden. Nichts treibt uns, wir haben Zeit. Allerdings sollten sich zwei Mann auf jenen Hügel dort begeben und die Gegend absuchen. Der Ausblick ist besser als vom Großmars der ‚Isabella' aus. Die beiden Männer können sich alle Stunde ablösen lassen.“ Matt Davies und Smoky erklärten sich als erste bereit und suchten sich einen Weg an dem Wasserfall vorbei. „Eßt keine Früchte, die ihr nicht kennt!“ rief der Kutscher ihnen noch nach, dann begaben sich die beiden an den Aufstieg. Zwei Wasserfässer und das Schwein, das der Kutscher und Bob Grey gleich ausschlachteten, wurden an Bord gebracht. Eine Stunde später kehrten die beiden Posten zurück. „Weit und breit nichts zu entdecken, keine Menschenseele, keine Hütte“, sagte Smoky. „Wir scheinen tatsächlich ganz allein auf der Profos-Insel zu sein.“ Ein weiterer Trupp durfte an Land, und am Nachmittag wurden zwei Schweine erlegt und zwei große Säcke voll Kokosnüsse von dem Gambianeger Batuti geerntet.
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Batuti erklomm die Palmen so schnell wie Arwenack, der auch mit an Land durfte und überall herumstreifte. Etwas später löste sich von der Großrah auch Sir John und strich laut krächzend über ihre Köpfe dahin, bis der Aracanga-Papagei schließlich irgendwo zeternd im angrenzenden Urwald verschwand. „Der kehrt nicht wieder zurück“, prophezeite Bill düster. „Der kehrt zurück, verlaß dich darauf“, erwiderte Blacky. Tatsächlich war der Papagei kurz darauf wieder da, umflatterte sie in einem weiten Bogen, wie um nachzusehen, ob alle noch da waren, und segelte wieder davon. In der Bucht wurde geangelt, der Kutscher sammelte wie ein Besessener Kräuter, die nur er kannte, und kleine rote Beeren für medizinische Zwecke, wie er verriet. Danach wurde Holz gesammelt, in kleinere Stücke geschlagen und am Strand aufgeschichtet. Der Kutscher baute aus dem dürren Holz einen kunstvollen Meiler und zündete ihn schließlich an. Als der Holzstoß brannte, wurde er vorsichtig mit Sand und Erde bedeckt, bis er unter geringer Luftzufuhr zu qualmen begann. „Holzkohle haben wir nicht mehr viel“, sagte er erklärend. „Bis morgen nachmittag haben wir genügend Nachschub. Wir werden gleich einen zweiten Stoß aufrichten.“ Nach und nach füllten sich die Wasserfässer, wurden an Bord gebracht mit herrlich klarem Frischwasser, und Kokosnüsse und andere Früchte häuften sich an Bord. Erst dann folgte das Vergnügen. Die verschwitzten Männer stürzten sich in den Wasserfall, erklommen die glatten Steine, rissen sich die Hosen vom Leib und brüllten vor Freude. In dieser Hitze war das eisig kalte Wasser eine Erfrischung, wie sie nicht einmal das Meer bot. „Paßt auf, die Steine sind verflucht glatt“, warnte Carberry seine Gefährten. „Wer da hinfällt, kann sich ein schönes Loch in der Rübe holen.“
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In dem Tosen der Wassermassen war seine Stimme kaum zu hören. Carberry drehte sich um und versuchte, durch den Schleier aus kristallklarem Wasser etwas zu erkennen. Doch da befand sich nur ein riesiger dichter wildwuchernder Vorhang aus Lianen, der das Gestein von oben bis unten bedeckte. Ausgelassen tollten sie herum, doch nach einer Weile schien das Wasser immer kälter zu werden, und einer nach dem anderen trat unter der Riesendusche heraus, bibberte ein wenig und ließ sich in den warmen Sand fallen. Jetzt standen nur noch Hasard, Dan, Carberry und Matt Davies unter dem brausenden und tosenden Vorhang, in dem sich tausendfach das Licht der Sonne brach und einen Regenbogen nach dem anderen zauberte. Plötzlich verschwand der Profos, als hätte ihn der Erdboden verschluckt, doch noch bemerkte es niemand. Hasard trat unter dem Wasserfall hervor, ihm folgten Dan und schließlich Matt Davies. Die Männer schüttelten sich. „Ed hält es wieder mal am längsten aus“, sagte Smoky, „kein Wunder bei seinem dicken Fell.“ Sie sahen zu der Stelle hin, wo Carberry noch eben mitten unter ihnen gestanden hatte, aber dort toste nur der Wasserschleier herunter, der Profos war nicht mehr da. Hasard, Dan und Matt sahen zwischen den Steinen nach, aber da war er auch nicht. Fassungslos und höchst beunruhigt blickten sie sich an. Das Schweigen begann unerträglich zu werden. „Carberry!“ schrie der Seewolf, „Profos, wo steckst du? Melde dich gefälligst!“ Keine Antwort, nur das Rauschen war zu hören. Entschlossen kletterte der Seewolf erneut auf die Steine, hielt sich die Hände über den Kopf, damit er in dem Regenschleier besser sehen konnte und spähte durch den natürlichen Vorhang aus Wasser. Er sah den Profos nicht, er blickte nur auf die dichte grüne Wand aus Hunderten von Lianen, die den Felsen dahinter bedeckten.
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Er ließ sich nach vorn fallen, griff in nasse, schmierige Pflanzen und dahinter auf nackten Fels. Enttäuscht stieß er sich wieder ab, versuchte die Balance zu halten und schaffte es nicht. Er geriet zwischen zwei größere Steine und kriegte kaum noch Luft, als die Wassermassen auf ihn prasselten. Fluchend kroch er zwischen den Felsen hervor und sah sich verstört nach allen Seiten um. Seine Männer standen sprachlos da und begriffen nicht, weshalb Ed so plötzlich verschwunden war. Das gab es doch gar nicht, eben noch hatte er sich mitten unter ihnen befunden! „Großer Zauber“, stammelte Batuti, „Insel sein vielleicht von große Zauber verhext und alle weg.“ Niemand hatte eine andere Erklärung. 7. In dieser Nacht lief die „Black Pearl“ auf Grund. Es gab an Bord des englischen Rahseglers nur noch den Captain Ellen, den ersten Offizier Wintham, den Rudergänger Hentrop und den Bootsmann Blake. Die anderen waren gestorben. Ob das versaute Bilgewasser daran schuld war, oder ob die Ratten die Pest mit sich herumschleppten, wußte niemand zu sagen. Sie starben schnell und leise, die meisten in ihren Kojen, der Seemann, den Blake aus der Koje geholt hatte, an Deck. Er hatte sich erbrochen, war danach umgefallen und nicht mehr aufgestanden. Auch ihn hatten sie der See übergeben. Jetzt waren sie nur noch zu viert, zu wenig Leute, um ein Schiff dieser Größe zu segeln, zumal sie alle von schwerer Krankheit gezeichnet waren, Skorbut hatten, mit eitrigen Ge-_ schwüren bedeckt waren oder Fieber hatten. Nach England würden sie nie mehr zurückkehren, diese vier vorn Tode gezeichneten Männer, die sich nur noch mühsam auf den Beinen hielten, die nichts
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mehr zu essen und zu trinken hatten, die dem Tod näher waren als dem Leben. Erwischten sie eine Ratte, war das ein Glückstag, und unter den geschwächten Männern begann eine Prügelei. Tranken sie das brackige Wasser aus der Bilge, wurde ihnen übel. Sie kriegten schmerzhafte Magenkrämpfe und torkelten schreiend an Deck herum. Ihr Schiff konnten sie getrost als Wrack bezeichnen, es trug nur noch ein einziges Segel und lenzte dahin, von keinem Rudergänger mehr bedient. Sie ließen es einfach treiben, niemand brachte mehr die Kraft auf, zu arbeiten, sich um die Navigation oder um die Stellung des Segels zu kümmern. Sie wollten auch nicht mehr, sie warteten insgeheim nur noch auf ein Wunder. Der einzige, der sich noch einigermaßen auf den Beinen hielt, war der Bootsmann Blake, der ab und zu wie ein unruhiger Geist durch das Schiff strich, die Toten in ihren Kojen betrachtete und jedes Mal, von Grauen geschüttelt, wieder an Deck zurückkehrte. Allein konnte er sie nicht herausholen, dazu reichten seine Kräfte nicht aus, und von den drei anderen half niemand, konnte niemand mehr helfen. Der Geruch aus dem Vorschiff begann unerträglich zu werden. Blake schlief wie immer in dieser Nacht an Deck, während die „Black Pearl“ mit dem leichten Wind dahintrieb. Außer Stan Ellen schliefen alle an Deck, er selbst lag in seiner Kammer auf dem Achterschiff und ließ sich kaum noch blicken. Halb im Fieberwahn döste er dahin. Er schlief nicht richtig, er war bei dem leisesten Geräusch sofort immer hellwach, denn er fürchtete sich vor den Toten im Vorschiff, die nachts als irrlichternde Leuchterscheinungen umgingen und höhnisch lachten. Gestern nacht hatte er sie auch gesehen, da waren sie schweigend, abgemagert und mit Totenköpfen auf den Schultern, lautlos über das Vorschiff bis zum Achterkastell gewandert, hatten dort an Ellens Schott mit
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den Fäusten geklopft und ihn laut verflucht. Vor seinen toten Kameraden hatte er daher entsetzliche Angst. Sie wollten sich an der Schiffsführung rächen, und zu der gehörte er als Bootsmann ja ebenfalls. Ein unglaublich harter Ruck ließ ihn schreiend hochfahren. Er schlitterte über Deck und hörte gleich darauf ein entsetzliches Krachen und Bersten, das nicht mehr aufhörte. Holz zersplitterte, etwas wirbelte über Deck und polterte an ihm vorbei, ein Regen aus Holztrümmern folgte. Blake sah nichts, nur unerreichbar fern, hoch über ihm, funkelten ein paar kleine Lichter — die Seelen seiner verstorbenen Kameraden, die zornig auf ihn herunterblickten. Nach dem harten Ruck und dem entsetzlichen Poltern herrschte geisterhafte Stille. Er hörte Winthams schwache Stimme und auch die des Rudergängers, die sich ängstlich etwas zuriefen. „Was ist passiert?“ schrie Wintham heiser. „Blake! Melde dich, was ist geschehen?“ „Ich weiß nicht, ich bin in der Kuhl.“ „Ich glaube, der Topp ist abgebrochen und eine Rah an Deck gefallen“, sagte Wintham kläglich. „Hast du Licht?“ „Nein, ich habe keins.“ „Dann zünde eins an!“ Blakes Stimme wurde etwas fester. „Den Teufel werde ich. Geh du nach vorn!“ Aber auch Wintham und Hentrop rührten sich nicht. Als er sie erneut anrief, gaben sie keine Antwort. Wahrscheinlich hatten sie sich irgendwo verkrochen. Mit laut klopfendem Herzen schlich Blake unter die Nagelbank und streckte sich aus. Eine innere Stimme sagte ihm, daß seine toten Kameraden es waren, die diesen Lärm verursacht hatten, und daß sie jetzt das Schiff aus Rache kurz und klein schlugen. Aber da war noch eine andere Stimme, und die sagte ihm, daß die „Black Pearl“ irgendwo auf Grund gelaufen war und der plötzliche Ruck das Herunterfallen der Rah ausgelöst hatte.
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Blake traute sich nicht mehr, etwas zu sagen, denn er hörte lieber auf die erste Stimme, und so verhielt er sich mucksmäuschenstill, um nicht aufzufallen. Vielleicht wußten sie nicht, daß er unter der Nagelbank lag, und ließen ihn in Ruhe. So dämmerte und fieberte er dem neuen Tag entgegen, und als er die Augen öffnete und sich über das Schanzkleid lehnte, traf ihn fast der Schlag. Greifbar nahe vor ihnen lag eine kleine Insel. „Land! Land! Land!“ schrie er, so laut er konnte. Niemand schien mehr krank oder dem Tode nahe zu sein. Plötzlich erschien Ellen an Deck, waren Wintham und Hentrop da und starrten auf das unglaubliche Wunder, das sich ihren sehnsüchtigen Blicken offenbarte. Ellen lief en Tränen über das Gesicht, Wintham schloß den Rudergänger in die Arme, und Blake warf sich zwischen die beiden, schluchzend, wie ein Irrer immer wieder schreiend. „Jetzt fangen wir an zu leben“, sagte Ellen krächzend. „Seht nur den Strand, seht die Palmen mit den Nüssen dran und seht das saftige Grün. Wir sind soeben geboren worden.“ Wie im Fieber sprach er weiter, erzählte, gestikulierte wild mit glänzenden Augen, stieg auf das Schanzkleid und sprang mit hoch erhobenen Armen über Bord. Es störte ihn nicht, daß er sich gehörig die Knochen in dem flachen Wasser zusammenstauchte. Er sah nur noch die Palmen, das Grün und wußte, daß sie gerettet waren. Selbstdisziplin gab es unter ihnen nicht mehr, sie waren wandelnde Tote, die nur noch animalischen Instinkten gehorchten. „Und das Schiff?“ fragte Wintham, als auch Hentrop über das Schanzkleid sprang und wie in Trance auf den Strand zuging. „Scheiß auf das Schiff!“ Blake sprang hinterher, und auch der Erste folgte. Scheiß auf das Schiff, dachte er, was sollten sie noch damit? Es war nicht anderes als ein schwimmender Sarg.
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Hier war Land, hier war das Leben, und wenn sie auch noch Wasser fanden, würde er den Teufel tun, noch einmal auf das Schiff zurückzukehren. Mochte der Kahn vergammeln, verfaulen oder absaufen, was scherte sie das! Und wenn es das Schiff der Königin von England war, zum Teufel damit, dann sollte sie es sich an den Hut stecken oder ein neues bauen und Kerle suchen, die dumm genug waren, so einen Eimer überhaupt zu betreten. Am Strand gebärdeten sie sich wie toll, warfen mit den Händen Sand hoch in die Luft und ließen sich berieseln. Ein Tag wie im Paradies begann für die bärtigen Männer. Als sie einigermaßen bei Besinnung waren, konnten sie auch wieder klar denken und wurden normaler. Hentrop und Wintham kletterten an Bord und ließen auf Ellens Befehl hin den Anker aus der Klüse rauschen. Die „Black Pearl“ lag nicht fest, sie war nur bei Ebbe aufgelaufen und begann sich jetzt langsam um ihre Achse zu drehen. Und nicht lange, dann würde sie abdriften. Das sahen sie alle ein. Wenn sie das Schiff auch nicht mehr haben wollten oder keine Sehnsucht danach hatten, dann ließ es sich immer noch ausschlachten, um an Land Hütten zu bauen. Außerdem befand sich Werkzeug an Bord. Die beiden Männer kehrten mit einer Säge zurück. Wie besessen fällten sie eine Kokospalme, um die Früchte zu kriegen, die sie trug, die Früchte, die neues Leben verhießen. Die Palme legte sich ächzend in den Sand, und wie Tiere fielen sie über ihre Beute her, zerschlugen die Nüsse, tranken die Milch und aßen gierig das Fleisch. Blake fand, daß er wieder ganz normal war, und auch von den anderen ausgemergelten Gestalten dachte er das gleiche. Die Rettung vor Augen, Land, das hatte ihre Kräfte noch einmal mobilisiert und jetzt, nach dem Genuß der Kokosnüsse, fühlten sie schlagartig neue Kräfte in sich aufsteigen. „Wir werden die Insel erkunden“, sagte Ellen, „und wenn wir Trinkwasser finden,
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bleiben wir hier. Dann schlachten wir das Schiff aus und bauen uns eine Hütte aus dem Holz. Oder will einer von euch noch weitersegeln?“ „Ich habe die Schnauze voll“, sagte Hentrop. „Mir wird schon schlecht, wenn ich an die See denke.“ „Mir reicht es auch“, sagte Wintham. Blake grinste müde. Seine Augen waren klein und zugeschwollen. „Wir bleiben hier“, sagte er. „Schließlich ist es völlig egal, ob wir hier verrecken oder auf See. Ich will lieber an Land verhungern als auf dem Wasser.“ Der Meinung schlossen sich alle an. Die Seefahrt hatte ein Ende für sie, sie wollten nicht mehr. Wieder fielen sie gierig über die Nüsse her, bis Wintham sich in den Sand legte und am ganzen Körper zuckte. „Was ist mit ihm?“ fragte Blake. Der Kapitän zuckte mit den Schultern. „Überfressen“, meinte er, „das hält ja auch kein Mensch aus, tagelang zu hungern und sich dann den Bauch vollzuschlagen. Da rebelliert der Magen und einem wird schlecht.“ Es dauerte lange, bis Wintham sich erhob und schwankend mit schmerzverzogenem Gesicht auf den Beinen stand. Erst nach und nach schien es ihm besserzugehen. Hentrop starrte geistesabwesend auf das Schiff und schüttelte immer wieder den Kopf. „Seht nur“, sagte er so leise, daß sie ihn kaum verstanden, „wie Trauben sehen sie aus.“ „Was sieht wie Trauben aus?“ fragte Ellen. „Na — die Ratten. Seht ihr das nicht?“ Niemand, außer dem Rudergänger, hatte dem Schiff einen Blick zugeworfen, doch als sie jetzt hinblickten, überfiel sie ein gelindes Grauen. Die Ratten gingen von Bord! Sie waren innen am Schanzkleid hochgeklettert, ein ganzes Rudel, und jetzt turnten sie auf dem Handlauf entlang, suchten dort Halt, wo sich außen die Versteifungen der Wanten befanden, und hingen senkrecht an der Bordwand.
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„Hoffentlich ersaufen die Mistviecher“, sagte Hentrop. „Die ersaufen nicht“, meinte Ellen erbittert, „die haben das Land gewittert. Sie treibt einzig allein der Hunger aus dem Schiff.“ „Oder das Schiff wird sinken“, murmelte Wintham. „Wenn die Ratten von Bord gehen, säuft der Kasten meistens ab, das habe ich schon oft gehört.“ In einem plötzlichen Entschluß suchte er nach einem Stein. „Wollen wir die Früchte etwa mit den Biestern teilen?“ schrie er. „Die haben uns schon genug Proviant weggefressen und sind schuld daran, daß viele starben. Los, tut etwas! Nehmt einen Ast oder einen Knüppel und schlagt sie tot, wenn sie wirklich an Land schwimmen.“ „So viele Ratten können wir unmöglich an Bord gehabt haben“, sagte Hentrop. „Das sind ja mehr als drei Dutzend!“ Angeekelt schüttelte er sich, als die graubraunen räudigen Nager jetzt die Wasseroberfläche erreicht hatten. Die erste Ratte sprang. Ihr folgten gleich darauf die anderen. Die erste, eine alte Tante mit langen gelben Zähnen und einem Fell, das sie nur noch stückweise bedeckte, schien die Anführerin der unheimlichen Schar zu sein. Im Wasser sah sie sich nach ihren Artgenossen um und schwamm dann los, die Schnauze spitz nach oben gereckt. Drei Dutzend andere folgten in Kiellinie. „Die sind disziplinierter als wir“, bemerkte Ellen sarkastisch. „Die springen nicht wahllos über Bord. Sie gehen geordnet vor, um das Land zu erobern.“ Die Männer hatten sich inzwischen mit verdorrten Ästen aus dem Buschwerk, Steinen und der Säge bewaffnet. Sie waren nicht bereit, das neu entdeckte Land von den grauen Nagern in Besitz nehmen zu lassen. Wenn die hier etwas zu fressen entdeckten, vermehrten sie sich unglaublich schnell, und dann blieb für die Männer nichts mehr übrig. „Disziplin“, sagte Wintham verächtlich über die Schulter zu dem Kapitän, „was heißt das schon? Ich entsinne mich, daß du
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selbst als erster blindlings über Bord gesprungen bist!“ Ellen schluckte den Seitenhieb, ohne Antwort zu geben. Er warf dem Ersten nur einen drohenden Blick zu. Die Ratten waren gewitzt und mit allen Wassern gewaschen, wie sie erkennen mußten. Sie hatten den Mensch, ihren Todfeind entdeckt und dachten nicht daran, ihm in die Arme zu schwimmen. Vier, fünf Yards, bevor sie den Strand erreichten, hatten sie die Männer gewittert, und jetzt konnten Ellen, Wintham, Hentrop und Blake ein seltsames Phänomen beobachten. Die schwimmende Kolonne drehte ab und teilte sich in kleine Gruppen auf. Sie schwammen wieder aufs Meer hinaus, drehten dann erneut ab und versuchten den Strand von mehrere Seiten zu erreichen. Brüllend liefen die Männer durcheinander. „Laßt sie nicht an Land!“ schrie Wintham. „Keine einzige darf uns entwischen.“ Sein Haß auf die Ratten verlieh ihm neue Kräfte. Seine Magenschmerzen waren vergessen, er hatte zwei Steine in der Hand und warf den ersten nach dem kleinen Rudel ins Wasser. Hentrop stürzte sich mit einem Knüppel auf die schwimmende Horde und schlug auf sie ein, gellende Schreie der Wut ausstoßend. Zwei der Ratten erschlug er, die anderen drehten wieder ab, eine flitzte zwischen seinen Beinen hindurch und rannte schwerfällig und tropfend in das Gebüsch am Land. Die vier Männer gebärdeten sich wie die Irren. Heulend und schreiend jagten sie über den Sand, warfen mit Steinen und schlugen mit Knüppeln. Sieben oder acht Ratten blieben auf der Strecke, mehr erwischten sie nicht. Ein paar von ihnen schwammen noch im Wasser und dachten nicht daran, an den Strand zu schwimmen. Einigen anderen gelang die Flucht an Land an weiter entfernten Stellen.
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Es war sinnlos, jetzt nach ihnen zu suchen, sie hatten sich längst in dem Gebüsch versteckt. Später würden sie anfangen, Löcher und Gänge zu buddeln, und damit waren sie in Sicherheit und konnten sich ungehindert vermehren. Ellen warf den Knüppel weg, hockte sich in den Sand und grübelte vor sich hin. Sie hatten den Kampf gegen die verfluchten Nager verloren! „Wer fühlt sich stark genug, die Insel zu erkunden?“ fragte er matt. „Was wir dringend brauchen, ist Wasser. Die Insel scheint nicht groß zu sein, man sieht es an dem Strand, es gibt nirgendwo lange Ufer.“ „Und wer bleibt bei dem Schiff?“ fragte Hentrop. „Keiner, ich jedenfalls nicht“, erwiderte Ellen. „Die See ist ruhig, es geht kaum Wind, und der Kahn liegt vor Anker. Was soll da schon passieren?“ Er wunderte sich, wie leichtfertig er dachte. Früher war er ein hart durchgreifender, pflichtbewußter und energischer Kapitän gewesen. Heute scherte es ihn nicht mehr. Er war gleichgültig und fast apathisch geworden, und es störte ihn auch nicht im geringsten, daß er es wußte. Es ließ ihn einfach kalt. Er fühlte sich nicht mehr länger als Führer dieser Gruppe, die sowieso nur noch aus Halbtoten bestand. Er war jetzt wie sie, einer von denen, die überlebt hatten. Nach den harten Entbehrungen wurde man ein anderer Mensch. England war weit weg und so unwirklich wie ein Märchen. Und was vor ihnen lag, wußte keiner. „Vielleicht ist es gar keine Insel, sondern nur eine vorgeschobene Landzunge“, meinte Blake. „Das werden wir ja sehen. Je zwei Leute gehen in entgegengesetzter Richtung los. Haben wir uns noch nicht getroffen, wenn die Sonne senkrecht über uns steht, dann kehrt jede Gruppe wieder an den Ausgangspunkt zurück. So einfach ist das!“ „Dabei sollten wir aber immer wieder Abstecher ins Innere unternehmen“, sagte
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Blake. „Am Strand finden wir höchstens Seewasser und nichts anderes.“ „Was wir vorhaben, ist schlicht gesagt verrückt“, meinte der Rudergänger. „Wir haben keine Waffen dabei. Ich schlage vor, wir schwimmen an Bord zurück, lassen das Boot zu Wasser, und jeder bewaffnet sich mit einer Pistole.“' Hentrops Vorschlag klang einleuchtend, Ellen wollte allerdings zuerst Wasser suchen, aber er wurde einfach überstimmt, und so schwammen sie etwas später mürrisch an Bord zurück, wo ihnen der Gestank aus dem Vorschiff entgegenschlug, der sich wie ein Pesthauch, der aus offenen Gräbern weht, über das Schiff gelegt hatte. Wintham krempelte sich schon wieder der Magen um. Ängstlich vermied er, einen Blick nach vorn zu werfen. Er wußte schließlich, wie es da aussah. Als sie das Boot abfierten, lachte Ellen bitter auf. Mit der Hand zeigte er ins Wasser. „Damit gelangen wir nicht einmal an den Strand“, sagte er. Durch die Ritzen sprudelte Wasser. Der Boden ähnelte einem Faß, dessen Dauben weit auseinander standen. „Beeilt euch“, sagte Wintham, „ich halte es hier nicht mehr aus, es stinkt wie die Pest.“ Die Verwüstungen an Bord störten niemand. Das Deck sah aus, als hätten die Vandalen gehaust und alles kurz und klein geschlagen. Sie warfen ein paar Äxte in das Boot, nahmen ein Fäßchen Pulver mit, Flintenstein, Stahl und Lunten und steckten die Pistolen in den Hosenbund. Danach kletterten sie ins Boot, aus dessen Ritzen unaufhörlich Wasser sprudelte und den Kahn immer schwerer werden ließ. Als sie den Strand erreichten, war das Boot bereits halbvoll. „Es dichtet sich mit der Zeit von selbst ab“, sagte Ellen. „Dann brauchen wir es nur noch auszuschöpfen, falls die Sonne uns nicht auch diese Arbeit abnimmt.“ Am Strand verteilten sie sich. Blake und Ellen gingen in Richtung Westen, Wintham und Hentrop marschierten nach
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Osten. Ab und zu sollten Abstecher ins Innere der Insel unternommen werden, wie man sich gegenseitig versicherte. Schon bald hatten Ellen und Blake die beiden anderen aus den Augen verloren. Die beiden Männer schwitzten. Es war heiß und stickig, und es wurde immer heißer, bis sich die Luft beklemmend auf die Lungen legte und das Atmen zur Qual werden ließ. Erschöpft blieben sie stehen, um im Schatten eines großen Strauches auszuruhen. Ellen saß da wie ein Geist. Er war bis zum Skelett abgemagert und fühlte sich hundeelend. Er wurde das Gefühl nicht los, daß er bald sterben würde, egal, ob sie Wasser fanden oder nicht. Es würde nicht mehr viel daran ändern. „Was ist das?“ fragte er und deutete mit dem Kopf auf einen mannshohen Strauch, der zwischen Farnen und Pflanzen mit unwahrscheinlich breiten Blättern wuchs. „Eine Frucht“, erwiderte Blake. „Sie sieht so ähnlich aus wie die Bananen, die wir in Afrika fanden.“ Er stand auf, griff danach und riß sie ab. An dem Strauch wuchsen noch mehr Früchte. Sie ähnelten einem Mittelding zwischen einer Gurke und einer Banane und hatten eine weiche Schale. Blake zerteilte sie mit den Fingern.. Süßlich riechender Saft floß erhaus und benetzte seine Finger. Vorsichtig leckte er daran und verspürte einen süßen Geschmack auf der Zunge, angenehm und frisch. Er wußte nicht, ob diese Frucht giftig war, doch plötzlich übermannte ihn die Gier, und er biß hinein. Gierig begann er das saftige Fruchtfleisch zu kauen. Als Ellen das sah, sprang er ebenfalls auf und riß zwei Früchte von dem Strauch. „Hoffentlich sind sie nicht giftig“, sagte Blake besorgt. „Aber ich konnte mich nicht zurückhalten.“ Der Kapitän hörte gar nicht hin. Er mampfte und schluckte, warf die Schale fort und aß die nächste Frucht. Danach pflückte er den Strauch leer und legte die Früchte dicht am Wasser in den
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Sand, damit sie später nicht daran vorbeiliefen. „Sie schmecken herrlich“, schwärmte er, „und sie löschen den Durst. Wenn sie giftig sind, ist es mir auch egal.“ Schweigend gingen sie weiter. Es kostete sie eine ungeheure Überwindung, nicht auch die anderen Früchte zu verzehren, aber sie wußten, was danach geschah. Man kriegte Magenkrämpfe, furchtbare Schmerzen und erbrach sich anschließend. Das hatte sie etwas vorsichtiger werden lassen. „Es ist ganz sicher eine Insel“, sagte Blake, „und sie ist nicht sehr groß. Wir gehen jetzt schön in Richtung Süden, wenn mich nicht alles täuscht.“ Ein natürlicher Pfad ließ sie verharren. Er führte vom Strand durch Büsche und krüppelartige Palmen, die keine Wedel mehr hatten. Der Untergrund bestand teilweise aus Gras, dann wieder wurde der Boden kahl und sandig, und es wuchsen nur noch vereinzelt Sträucher. Zweimal fanden sie an Sträuchern die süße Frucht und markierten den Weg, indem sie die Früchte auslegten. Nur Wasser fanden sie nicht. Die Vegetation war auf den spärlichen Regen angewiesen, und der Boden saugte das bißchen Wasser wahrscheinlich schnell und gierig auf. Enttäuscht sahen sie sich an. „Die anderen können Wasser gefunden haben“, sagte Ellen, aber er glaubte selbst nicht so recht daran, denn dann hätten die beiden anderen vor lauter Freude ganz sicher ihre Waffen abgefeuert, um damit ihre Aufmerksamkeit zu erregen. „Hoffen wir es“, antwortete Blake kurz. Sie drangen weiter ins Innere vor. Ein paar kleine Hügel tauchten vor ihnen auf, kahl, ohne Vegetation. Hinter den Hügeln war das Gras verdorrt, der Boden sandig und hell. Große Steinbrocken lagen herum, als hätte sie jemand planlos auf dem Boden verstreut. Blake erklomm einen kleinen Hügel und sah sich um. Er lachte bitter und stieß einen leisen Fluch aus.
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„Von da oben aus kann man das Meer im Süden sehen“, sagte er zu Ellen, der ihn enttäuscht anblickte. „Die Vegetation sieht überall gleich aus, aber im Süden stehen einige Kokospalmen.“ „Dann gehen wir weiter, bis wir auf der anderen Seite wieder an den Strand gelangen“, murmelte Ellen niedergeschlagen. Es dauerte nicht lange, bis sie wieder den Strand und damit das Meer erreichten. Schweigend und erschöpft gingen sie weiter am Strand entlang, und Blake fand etwas später eine Seeschildkröte, die sich gerade anschickte in ihr Element zurückzukehren. Aber immer wieder blieb sie erschöpft liegen. Der Bootsmann begann zu laufen, Ellen folgte ihm träge. Er warf sich auf das Tier und drehte es auf den Rücken. „Die holen wir uns nachher, Ellen, das gibt ein Essen, das hält uns tagelang am Leben.“ „Ich glaube, ein oder zwei Wochen werden wir es aushalten“, sagte der Captain. „Dann sind die Nüsse gegessen und die Früchte ebenfalls. Dann ist diese Insel kahl und leer, und wir können unseren morschen Kahn besteigen und weitersegeln.“ „Ich denke, wir bleiben hier.“ „Das dachte ich auch, aber was tun wir, wenn wir nichts mehr haben? Sollen wir warten, bis die Früchte nachwachsen?“ Er setzte sich wieder in den Sand und überlegte laut. „Auf den Roteiros ist diese Insel nicht verzeichnet“, sagte er dann. „Meist sind aber da, wo eine Insel ist, noch andere. Wir müßten nur den Kurs ändern und weiter nach Süden laufen.“ „Aber ohne mich“, sagte Blake entschlossen. „Ich werde nicht mehr weitersegeln, das steht fest. Ich habe mich entschlossen, hier zu bleiben, und hier werde ich auch verrecken.“ „Wir werden alle verrecken, so oder so, Blake!“ „Ich gehe nicht mehr auf das Leichenschiff!“
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Die Sonne hatte ihren höchsten Stand noch nicht erreicht, da trafen die beiden Gruppen wieder zusammen. „Scheißinsel“, sagte Wintham. Sein Gesicht leuchtete grünlich, er stieß den Atem heftig aus und schnappte gleich darauf wieder gierig nach Luft. „Kein Wasser, oder habt ihr welches entdeckt?“ „Nein“, klang es einsilbig. „Es gibt kein Wasser auf dieser lausigen Insel. Wir haben nur ein paar Früchte gefunden, gelbe, faustgroß, sie schmecken wie ...“ „Haben wir auch entdeckt“, sagte Hentrop. „Und drei Kokospalmen, die ganz voll hängen. Ein paar Tage oder Wochen werden wir es schon aushalten, dann fährt vielleicht ein Schiff vorbei und nimmt uns an Bord!“ Wintham bohrte ihm den Zeigefinger an die Stirn. „Du Spinner“, sagte er, „ein Schiff, was? Hier, am Arsch der Welt, segeln nicht einmal solche Idioten wie wir entlang. Das Schiff kannst du vergessen!“ „Streitet euch nicht, wir müssen zusammenhalten“, sagte Ellen. Unsagbar müde setzte er sich wieder in den Sand. Wintham folgte seinem Beispiel und streckte sich der Länge nach aus. Blake berichtete von der Schildkröte, und beim Sprechen merkte er, wie sich ein feiner Nebelschleier vor seine Augen legte. Kleine dunkle Ringe tanzten darin, und ab und zu erschien in dem Nebelgespinst ein roter Ring, der sich rasend schnell näherte und vor seinen Augen lautlos explodierte. Dann war es wieder vorbei und er konnte klarer denken. „Wie kriegen wir sie hierher?“ fragte Hentrop. „Die Schildkröten sind doch verdammt schwer. Ist sie groß?“ „Weshalb sollen wie sie tragen?“ fragte Blake zurück. „Gehen wir doch hin. Trockenes Holz gibt es genug, wir entzünden es und rösten sie. Na los“, spornte er die anderen an, die träge im Sand hockten und zu faul waren, um aufzustehen. Wintham hatte die Augen geschlossen und reagierte nicht.
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Er träumte, er würde irgendwo auf sanften Wellen schaukeln, die ihn forttrugen in ein unbekanntes Land, über riesige Meere hinweg, in einen dunklen Abgrund, in den die Wellen ihn trieben. Es dauerte endlos lange, bis sie ihn auf den Beinen hatten. Beim Gehen taumelte er und fiel immer wieder hin. Dann fanden sie die Schildkröte, und etwas später brannte am Strand ein kleines Feuer. Außer dem Panzer blieb nichts übrig. Die Männer fühlten sich übersättigt und ihnen war übel. Was immer sie auch taten, sie packten es falsch an, sie aßen zuviel, sie überschätzten ihre Körper. Die Folge waren Durchfall, Schmerzen und Übelkeit. Erst am späten Nachmittag kehrten sie zu jener Stelle zurück, wo gespenstisch, wie aus einer anderen Welt, die „Black Pearl“ lag. Sie hatte wieder Grundberührung und lag leicht auf der Seite. Niemand ging an Bord, sie alle zogen es vor, im Freien zu nächtigen, wo des Nachts keine Geister umgingen, wo keine Blöcke, Taljen und Taue ächzten, und wo man das Knistern des Holzes nicht hörte. Sie warteten auf den morgigen Tag und was er bringen würde. * Als die Sonne über dem Meer aufging, erwachte Blake. Er hatte Kopfschmerzen, stand auf und suchte Abkühlung im Meer, wo es noch angenehm kühl war. Nicht weit vor ihm ragten die Aufbauten des Schiffes in den morgendlichen Himmel. Der zerfetzte Mast stach wie der Finger eines verwundeten Riesen vorwurfsvoll in die Luft. Blake spuckte aus. Er haßte die „Black Pearl“, er haßte das Schiff aus ganzem Herzen, und wenn er an die stummen Gestalten im Vordeck dachte, kriegte er eine Gänsehaut. Er schwamm mühsam ein paar Runden und kehrte zu seinen Gefährten zurück, die alle noch schliefen.
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Grübelnd ließ er sich in dem kleinen Kreis nieder und starrte in den Sand, der an seinen Beinen haftete. Dann drehte er sich um und sah Wintham an, der mit offenen Augen in das Azurblau des Himmels blickte. „Ich dachte, du schläfst noch, Erster“, sagte er. Wintham gab keine Antwort, und Blake hatte eigentlich auch keine erwartet, aber dann sah er noch einmal hin und fühlte, wie eine kalte Hand sein Herz umklammerte. „Wintham!“ schrie er laut und riß damit die anderen beiden blitzartig aus dem Schlaf. Der Erste rührte sich immer noch nicht, und Ellen beschwerte sich lautstark über das Gebrüll. Als Blake den Ersten rüttelte, wußte er, weshalb Wintham keine Antwort mehr gab. Er war tot, sein Körper fühlte sich steif und kalt an. Niemand brachte ein Wort heraus. Erst nach einer Weile vergrub Hentrop das Gesicht in den Händen und schluchzte. Dabei schüttelte sich sein Körper wie im Fieber. Jetzt waren sie nur noch zu dritt! Drei Halbtote auf einer Insel, von der die Ratten Besitz ergriffen hatten. Schon jetzt stand fest, wer die besseren Überlebenschancen hatte. Die drei Männer jedenfalls nicht. 8. In dem Tosen das Wasserfalles war kaum ein Wort zu verstehen, als der Profos ausglitt. Es sah ihn auch niemand durch den Vorhang aus Wasser. Das, was er den anderen noch eingeschärft hatte, traf jetzt ihn selbst, und zwar mit unerhörter Wucht. Er ruderte wild mit den Armen, spürte, wie glitschige Pflanzen nach ihm zu tasten schienen, und stürzte schwer. Dabei griff er verzweifelt nach einem Halt, den er nicht fand, denn die schleimigen nassen
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Pflanzen teilten sich und boten keinen Widerstand. Er hatte das Gefühl, sein Schädel würde platzen. Er lag auf dem Rücken und befand sich in einer anderen Welt. Da gab es kein Geräusch und kein normales Tageslicht. Nur ein nebelhaftes Halbdämmer umfing ihn von allen Seiten. Der Sturz wirkte sich in seinem Schädel merkwürdig aus. Ed wußte, daß er lebte, aber er brachte keinen Ton heraus, konnte nicht einmal fluchen und war zur Bewegungslosigkeit verdammt. Keinen Finger brachte er hoch, und sein Schädel fühlte sich immer größer und dicker an, wie ein überreif er Kürbis. Zum Teufel, was war denn passiert, und wo befand er sich? Carberry wußte nicht, wie lange er in dieser Stellung lag. Erst nach und nach löste sich der schwere Druck in seinem Schädel, und er war in der Lage, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Mühsam richtete er sich auf. Dann sah er sich verwundert um und glaubte zu träumen. Vor ihm befand sich ein dichter Vorhang aus lang herabwallenden Lianen, die kaum das Tageslicht durchließen. Dahinter hörte er jetzt überdeutlich das Rauschen des Wasserfalles. Er stieß einen Fluch aus, griff sich an den Schädel und stand auf. Kein Zweifel, er befand sich in einer kleinen Grotte, die gerade so hoch war, daß man darin stehen konnte. Sehr langsam drehte er sich um. Die Grotte war klein und die Luft im Innern stickig und feucht. Es war eine natürliche Höhle, eine Laune der Natur, die diese Grotte direkt hinter dem Wasserfall geschaffen hatte. Oder vielleicht auch hatte sie der Wasserfall im Laufe vieler Jahrhunderte aus dem Gestein gewaschen. Die Wände waren feucht und tropften dort, wo sich die schleimig-nassen Lianen befanden. Er überlegte gerade, wie er hier wieder herausgelangen sollte, da sah er den Gang. Neugierig ging er näher und starrte hinein.
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Er sah nicht viel. Erst als er angestrengt eine Weile in das Halbdämmer blickte, erkannte er, daß der Gang nicht länger als drei oder vier Yards war. So etwas kann es auch nur auf „meiner“ Insel geben, dachte er in einem Anflug von Humor. Man mußte sich tief bücken, wenn man den kurzen Gang durchqueren wollte, aber den Profos hatte jetzt die Neugier gepackt. In stark gebückter Haltung schlich er durch den Gang, bis er die vier Yards zurückgelegt hatte. Er starrte ungläubig in eine geräumige Höhle, etwa dreimal größer als die Grotte hinter dem Wasserfall. Als er in dem sehr schwachen Licht etwas erkennen konnte, krampfte sich ihm sekundenlang der Magen zusammen. Unwillkürlich stieß er einen leisen Ruf aus. Den abgebrühten Profos packte ein leichtes Grauen, denn was er sah, hatte er nicht erwartet. Auf dem Boden der Höhle lagen zwei Skelette. In der Schädeldecke des einen steckte ein Schiffshauer, um den sich zwei Knochenfinger gepreßt hatten. Carberry starrte auf das andere Skelett, neben dem eine verrostete Muskete und eine alte unansehnliche Pistole lagen. Das zweite Gerippe hatte ein großes Loch im Schädel, soweit er das in dem Zwielicht erkennen konnte. Er stieß hörbar die Luft aus, so überrascht war er von dem seltsamen Fund. Seine Augen irrten weiter, staunend wie ein Kind sah er sich nach allen Seiten um. Auf dem nackten Felsboden lagen wie hingestreut eine paar Goldmünzen. Im Hintergrund, wo das eine Gerippe vor der Felswand lag, stand eine halbvermoderte Truhe mit aufgebrochenem Deckel. Eine Perlenkette hing vom Rand herunter. Die Truhe war etwa zu einem Drittel mit Goldstücken gefüllt, dazwischen erkannte der Profos ein paar kleine Barren aus Silber, nicht viel größer als eine Hand. Er brauchte lange, bis er das alles geistig verdaut hatte und trat noch einen Schritt
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näher heran, um sich nach dem Gegenstand auf dem Boden zu bücken. Es war ein kleiner Ledersack, vom Zahn der Zeit angenagt, verschimmelt und vermodert. Auch darin blinkte es verdächtig. „Soviel Glück kann nur ein Idiot haben“, murmelte Carberry ergriffen, bückte sich nach dem Säckchen und zuckte zusammen, als es sich unter seinen Fingern auflöste. Eine Handvoll Goldstücke rollte klingend davon und übersäte den Boden. Seine Augen hatten sich längst an das merkwürdige Halbdunkel gewöhnt, und so sah er jetzt auch in der Ecke hinter den beiden Toten eine große Gestalt. Schwarz, dunkel und drohend sah sie aus, hatte die Arme über der Brust verschränkt und schien. den erblassenden Profos direkt anzublicken. Old O'Flynn hätte sicher von Totenwächtern gesprochen, dachte Ed, denn genau das gleiche Gefühl beherrschte ihn jetzt. Aber die Gestalt lebte natürlich nicht, entweder war sie genauso lange tot wie die beiden anderen und stand aufrecht, oder sie war aus Holz. Vorsichtig ging Ed einen Schritt weiter. Aus dem Gang war ein ewiges leises Raunen zu hören, nur gedämpft drang das Tosen des Wassers hierher. Vor der Gestalt blieb der Profos stehen. Unwillkürlich atmete er erleichtert aus. Die Figur war aus schwarzem Holz und stellte eine Madonna dar, die die Arme in Demutshaltung über der Brust verschränkt hielt. Die Galionsfigur eines spanischen Schiffes, dachte Ed. Warum die beiden Kerle sie hier in die Höhle geschleppt hatten, wußte er nicht. Vielleicht war sie das einzige, was von ihrem Schiff außer dem Schatz noch übriggeblieben war, und so hatten sie sie eben hier versteckt. Jetzt hielt ihn hier nichts länger. Er mußte hinaus, um diese haarsträubende Neuigkeit an die Crew weiterzugeben. Nur — wie gelangte er wieder hinaus ins Freie? Egal, es gab ganz bestimmt einen
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Weg, er hatte ja auch hereingefunden, wenn auch nicht freiwillig. Seine Schmerzen waren bis auf ein dumpfes gleichmäßiges Pochen im Hinterkopf verschwunden. Er lief zurück, stieß sich den Schädel an der niedrigen Decke und fluchte aufgeregt vor sich hin, bis er die dämmerige kleine Grotte erreichte. So sah das also aus, überlegte er. man mußte sich schon gehörig strecken, wenn man den Rand erklimmen wollte. Er zog sich hoch und geriet mit dem Gesicht in einen schmierigen Vorhang aus Pflanzen, der sich wie tastend über sein Gesicht legte. Die Lianen bildeten ein ideales, vorzügliches Versteck. Wer verfiel schon auf. den Gedanken, daß sich hinter der glatten Felswand, die schleimige Pflanzen bedeckten und die außerdem noch ein natürlicher Wasserfall abschloß, eine Schatzgrotte oder ein Versteck befand! Ein paarmal noch rutschte er aus, dann krallten sich seine Hände um die glatten Steine, und Wasser prasselte auf seinen Körper. Das Loch hinter ihm schloß sich wie durch Zauberei. Aber er wußte jetzt, wie man wieder nach unten gelangte. Mit den Händen zerteilte er schnaufend und pustend den Vorhang und trat heraus. Ed kostete die Situation gründlich aus. Er wollte nicht gleich mit seiner Entdeckung prahlen, sondern die Männer ein bißchen auf die Folter spannen. Wenn er gleich dick übertrieb, würde ihm doch keiner glauben. Sicher hatten sie ihn gesucht, nach ihm gerufen und sich gewundert. daß er so plötzlich verschwunden war. Sie standen da wie die Galionsfigur in der Höhle und starrten ihn an wie ein Wundertier. Er sah, wie sich Blacky heimlich bekreuzigte und der Seewolf ungläubig den Kopf schüttelte. Carberry grinste schwach und hob die Hand.
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„Wo bist du gewesen, Ed?“ fragte der Seewolf, und dann riefen sie alle durcheinander. „Mann, wir haben alles abgesucht, du warst eine Ewigkeit fort. Bist du in eine Erdspalte gerutscht wie damals auf der Schlangeninsel?“ „Ich war die ganze Zeit in meiner Schatzgrotte“, sagte Ed und kratzte sich ausgiebig den Schädel. „Da, wo die beiden Gerippe liegen und sich die Truhe mit den Goldstücken befindet.“ Hasard trat auf ihn zu, sah die Beule an seinem Schädel, aus der winzige Blutstropfen drangen, und fixierte den Profos scharf. „An Bord mit dir“, sagte er. „Der Kutscher soll dich gleich verarzten. Du bist ganz schön ausgerutscht, was?“ „Das kann man wohl sagen“, gab Ed zu, „aber der Kutscher soll mir bloß vom Leib bleiben. Solche Beulen habe ich nach jedem kleinen Kampf, aber das juckt mich nicht mehr.“ „Du warst bewußtlos, Mann, du hättest da elend ersaufen können“, sagte Hasard. „Trotzdem haben wir dich nicht gefunden. Das verstehe ich nicht.“ „Ich war doch in meiner Schatzgrotte“, behauptete Carberry eigensinnig und rieb sich wieder den Schädel. Der Kutscher, der sich um seinen Holzkohlenmeiler gekümmert hatte, nahm Ed beim Arm und blickte ihm in die Augen. „Er spinnt“, sagte er fachmännisch. „Man sieht es an seinen unnatürlich großen Pupillen. Der Schock, versteht ihr? Da setzt sich etwas fest. und jetzt bildet er sich ein, Schätze gefunden zu haben.“ „Und zwei Gerippe“, setzte der Profos in unerschütterlicher Ruhe hinzu und feixte still vor sich hin. „Und zwei Gerippe“, sagte der Kutscher tadelnd. „Und eine schwarze Galionsfigur“, zählte Ed auf. „Und sicher auch Goldmünzen in einer Truhe“, sagte der Kutscher und griff stärker zu. „Mein Lieber, du hast einen Knacks weg wie Smoky damals, als ihm
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etwas an den Schädel flog. Aber das werden wir gleich haben. Wir fahren jetzt an Bord, und ich werde dir kühle Salbe auf deinen Schädel schmieren. Etwas Ruhe, und morgen ist alles wieder in Ordnung.“ „Ich will deine Läusesalbe nicht, verflucht, und jetzt laß mich endlich los, sonst quetsche ich dich zusammen, bis du selber wie Salbe aussiehst.“ „Nun sei mal vernünftig, Ed“, sagte Hasard. „Nimm nicht immer alles auf die leichte Schulter.“ „Mir geht es gut“, versicherte Ed, „und außerdem befinde ich mich auf meiner eigenen Insel. Aber wollt ihr euch die Schatzhöhle nicht wenigstens einmal ansehen? Es ist unglaublich, sage ich euch. Schon der Anblick wirft einen um, und wenn ihr die schwarze Madonna seht — folgt mir, wir gehen hinein!“ Infam grinsend drehte er sich um. Er wußte genau, daß ihm kein Mensch folgen würde, sie redeten lieber beruhigend auf ihn ein. „Später sehen wir uns die Schätze mal an und auch die schwarze Madonna“, versprach der Kutscher. „Warum nicht gleich?“ fragte Ed. „Oder interessiert sich keiner dafür?“ Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Kutscher sich nachdrücklich mit dem Zeigefinger an die Stirn tippte, und weil Ed die ganze Sache abwechslungsreich und spaßig fand, drehte er sich um, griff den Kutscher am dürren Hals und hielt ihn fest. „Du glaubst wohl, ich bin verrückt, was, wie?“ herrschte er den Mann drohend an. „Du wirst jetzt sofort als erster meine Entdeckung bewundern, und verdammt will ich sein, wenn du nicht in Freudentränen ausbrichst.“ Hasard, der nicht wissen konnte, daß der Profos seine Situation bis zur Neige großzügig auskostete, trat dazwischen, griff nach Carberrys Hand und sah ihn an. Langsam lösten sich Eds Finger vom Hals des blaßgewordenen Kutschers und ließen los. „Genug jetzt“, sagte er ruhig. „Du tummelst dich jetzt an Bord, oder du setzt dich irgendwo ruhig in den Sand. Wenn dir das nicht paßt, pulle ich dich eigenhändig
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an Bord. Ich will von den verdammten Schätzen nichts mehr hören.“ „Aye, aye, Sir“, sagte Ed ergeben. „Ich werde ein wenig im Gelände herumlaufen und mich noch einmal unter dem Wasserfall abkühlen. Nein, nein“, sagte er rasch, als Hasard abwehren wollte, „ein zweites Mal rutsche ich nicht aus. Ich weiß, wo die glatten Steine liegen.“ „Und die Schätze sind vergessen?“ „Selbstverständlich“, erwiderte Ed brav. „Das wäre ja wohl auch unwahrscheinlich, was, wie?“ „Er hat eine Kondition wie ein Bär“, murmelte der Kutscher. „Ach, was sag ich! Wie zehn ausgewachsene Bären. Bei dem heilt alles von einer Stunde zur anderen. Sein Denkapparat scheint wieder zu funktionieren.“ „Gib ein wenig auf ihn acht“, sagte Hasard. Ed tummelte sich am Strand, half dem Kutscher dabei, einen zweiten Meiler zu bauen und tat so, als sei der ganze Vorfall längst vergessen, bis er sicher war, daß ihm niemand mehr Beachtung schenkte. Doch dann verholte er unauffällig zu dem Wasserfall, trieb sich dort eine Weile herum, verschwand kurz, tauchte mal wieder auf und stattete der Gruft einen schnellen Besuch ab. Er raffte eine Handvoll Goldmünzen zusammen und kehrte wieder zurück. Seine Exkursion hatte nicht lange gedauert und war auch keinem aufgefallen, obwohl der Kutscher ihn ab und zu beobachtete. Lässig schlenderte er zurück. Die meisten hatten sich jetzt um das kleine Feuer geschart und verdrückten gebackenen Fisch, den sie auf saftigen Stöcken brieten. „Na, wie geht's der Schatzgrotte?“ fragte Smoky grinsend und handelte sich von Hasard einen strafenden Blick ein. „Prächtig“, sagte Ed niederträchtig. „Ich war gerade da, alles ist noch vorhanden, das Gold, die Gerippe, und auch die schwarze Madonna.“ Er holte mit der Hand leicht aus und warf die blinkenden Münzen in den Sand. „Verschafft euch einen schönen Tag“, sagte er grinsend „geht in die nächste
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Kneipe auf der Profos-Insel und besauft euch anständig für das Gold.“ Der Profos hatte selten solche Gesichter gesehen. Den meisten klappte einfach der Unterkiefer herab. Sie stierten das Gold an, blickten dann zu Ed und sagten kein Wort. Nur Hasard war aufgesprungen. Aus schmalen zusammengekniffenen Augen musterte er den Profos. Er war auch der erste, der die Sprache wiederfand und sich nach einem Goldstück bückte. „Wo hast du das her?“ fragte er tonlos. „Das habe ich mir eingebildet“, sagte Ed, und diesmal feixte er so breit, bis seine Ohren Besuch kriegten. Noch immer herrschte Totenstille, die der Profos zu einer gehässigen Bemerkung nutzte. „Ach, das ist den Gentlemen wohl nicht genug, was?“ sagte er. „Bitte, soll ich noch mehr holen? Die ganze Truhe vielleicht oder Silber, Perlen? Ihr braucht es nur zu sagen, auf der Profos-Insel gibt es alles.“ Tief erschüttert hockten die Männer im Sand. „Woher stammt das?“ fragte Hasard noch einmal. Ed erklärte es ihm geduldig. „Das sagte ich doch schon: Ich fand eine Schatzgrotte, und darin liegen zwei Gerippe, eine Truhe Gold, ein kleiner Beutel, eine Muskete, eine Pistole und die Galionsfigur. Wenn du mir aber ständig vorwirfst, daß ich spinne und mich nicht zu Worte kommen läßt, dann werde ich doch wohl auch einmal beleidigt sein dürfen, oder nicht!“ „Hast du das Gold vom Schiff mitgenommen?“ fragte Hasard, der noch immer kein Wort glaubte. „Himmel, nein!“ schrie der Profos mit einer Stimme, die mühelos das Rauschen übertönte, das die tosenden Wassermassen verursachten. „Ich habe es aus der Höhle, verdammt noch mal. Affenarsch und Kakerlaken, so glaubt mir doch endlich!“ Die letzten Worte brüllte er noch lauter. Der alte O'Flynn humpelte heran, der sich ebenfalls seit einer Weile am Strand befand. Noch bevor jemand etwas sagen
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konnte, ging er auf den Profos zu und fixierte ihn. „Gib es endlich zu“, zischte er leise, „du stehst mit dem Gehörnten im Bund, Ed! Du hast ihm deine Seele verkauft, und jetzt kannst du zum Dank dafür Goldstücke aus der Luft zaubern. Wieviel hat er dir versprochen, he?“ Old O'Flynn plinkerte vertraulich. Carberry nickte schnell. „Sag es aber keinem, Donegal“, flüsterte er. „Der Satan steht direkt hinter dem Wasserfall, er ist mit einem Schiff aus Pech und Schwefel hierher gesegelt und findet nicht mehr zurück. Wahrscheinlich versucht er, sich auf die ‚Isabella' zu schleichen.“ „Misericordia!“ schrie der Alte laut, bekreuzigte sich drei Mal hintereinander und hinkte davon. Die Seewölfe sahen ihm verblüfft nach. Carberry stand im Sand und lachte, schlug sich auf die Schenkel und lachte noch lauter. Er konnte sich kaum beruhigen und, staunte, wie schnell der alte Donegal auf seinem Holzbein laufen konnte. Himmel, alles war so einfach, dachte er, doch diese Kerle mußten alles komplizieren. Sicher war er auch schuld daran, aber derartige Späße ließ der Profos sich nicht nehmen. Hasard betrachtete das alles mit gemischten Gefühlen. Er warf eins der Goldstücke in die Luft, fing es wieder auf und sah den Profos hart an. „Ich verlange eine Erklärung, Ed“, sagte er. „Die habe ich gegeben, Sir. Ich rutschte am Wasserfall aus und landete ziemlich hart in einer Grotte, direkt dahinter.“ „Wir haben alles abgesucht, aber keine Grotte gefunden.“ „Man sieht sie auch nicht, sie ist zwischen den Lianen verborgen. Es ist ein vorzügliches Versteck, das wir niemals gefunden hätten.“ „Und alles stimmt, was du gesagt hast?“ „Ehrenwort, Sir.“ Kaum war das „Ehrenwort, Sir“ heraus, da feuerte Smoky seinen angebissenen Fisch in den Sand. Tucker schob seine Portion
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dem verblüfften Kutscher in den Mund und rannte ebenfalls zu dem Wasserfall. „Halt mal solange“, sagte Blacky und spießte seinen Fisch respektlos auf Matt Davies' Hakenprothese. Davies fluchte, zog den Fisch vom Haken und schmiß ihn Blacky ins Kreuz. „Dafür ist das Ding nicht da, du Hornochse!“ schrie er und lief ebenfalls Nur Ed und der Seewolf gingen gemütlich hinterher. „Die finden die Grotte nicht“, versicherte Ed. „Da können sie lange suchen.“ Hasard glaubte es dem Profos jetzt vorbehaltlos und hielt ihm die Hand hin. „Tut mir leid, wenn ich das für Hirngespinste hielt, Ed“, sagte er. „Aber es klang einfach zu unwahrscheinlich, und jeder glaubte natürlich an einen deiner Späße. Was hast du Donegal eigentlich erzählt, weil er so entsetzt ist?“ Carberry erklärte es dem Seewolf grinsend, und dann verzog sich auch Hasards Gesicht zu einem belustigten Lächeln. „Wann wird er nur jemals kuriert?“ fragte Hasard. „Niemals“, sagt Ed überzeugt. Hinter dem Wasserfall und seitlich davon hatte sich die freudig erregte Meute bereits vergeblich auf die Suche begeben. „Da passen höchstens vier oder fünf Mann hinein“, sagte Ed und schob die Männer beiseite. „Ihr müßt also in mehreren Gruppen gehen, sonst treten wir uns gegenseitig tot.“ Carberry reckte sich und zerteilte das nasse Lianengewirr, bis man dahinter ein dunkel gähnendes Loch erkannte. Es wurde totenstill. Er sprang in die Grotte und winkte dem Seewolf, ihm zu folgen. Tucker, Dan und Smoky sprangen ebenfalls hinterher. „Wartet einen Augenblick, bis sich eure Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben, sonst seht ihr nichts.“ Anschließend deutete er auf den kurzen Gang und kroch hinein. Die anderen drängten nach, und als sie dann alle in der Höhle standen und sich mit eigenen Augen von Carberrys Erzählung überzeugen konnten, verschlug es ihnen die Sprache.
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Die Schätze in der Höhle waren nicht übermäßig groß, aber in dieser Atmosphäre mehr als beeindruckend. Wie zwei Wächter lagen die beiden Getöteten dazwischen. Die Männer überlief ein kühler Schauer, als sie den Schiffshauer im Schädel des einen sahen und die knochigen Finger, die sich darum klammerten. In der Ecke lehnte die schwarze Madonna, zweifelsfrei spanischer Herkunft, wie Hasard annahm. „Ich habe mir schon überlegt, was hier geschehen sein könnte“, sagte der Profos. „Diese beiden Kerle haben sich anscheinend gegenseitig umgebracht. Der eine hat dem anderen den Schiffshauer auf den Schädel geschlagen und der hat im Sterben noch einmal seine Muskete abgefeuert und dem anderen das Loch in den Schädel geblasen. Vielleicht ist es zu Streitereien über das Gold oder die Verteilung der Beute gekommen.“ „Ja, so kann es gewesen sein.“ Hasard bückte sich, um nach einem vermoderten Kleidungsstück zu tasten, das neben dem Gerippe lag. Aber es zerfiel unter seinen Händen zu Staub und löste sich in winzige Teile auf, die zu Boden schwebten. „Ob es Piraten waren?“ fragte der Schiffszimmermann. Darauf erhielt er keine Antwort: Sie konnten nur Vermutungen anstellen und versuchen, zu rekonstruieren, was hier geschehen war, aber die Wahrheit würden sie vermutlich nie erfahren. Hasard und Tucker näherten sich der schwarzen Madonna und betasteten sie. Sie fühlte sich glatt und kalt an, und als Tucker die Galionsfigur anheben wollte, brachte er sie nicht hoch. „Die ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie der schwarze Segler“, sagte Ferris Tucker. „Hartholz, das die Jahrhunderte überdauert, genau wie ,Eiliger Drache'. Ich wette, daß ein Mann allein nicht in der Lage ist, sie zu tragen.“ Das wiederum stachelte den Profos an. „Wollen doch mal sehen“, sagte er.
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Mit beiden Armen umfing er die schwarze kalte Gestalt und setzte alle seine Kräfte ein. In dem geisterhaften Dämmerlicht sahen sie deutlich, wie seine Halsader zu einem Tampen anschwoll und die Muskelwülste seiner Oberarme hervortraten. Es gelang ihm tatsächlich, die Galionsfigur anzuheben. Als er sie wieder absetzte, gab es einen dumpfen Ton. „Mann, ist die schwer. Die hat ein Gewicht von mindestens sechs bis sieben Zentnern“, sagte er keuchend. Der Profos übertrieb nicht. Jeder au Bord wußte, daß er sieben Zentner hochhieven konnte, vielleicht schaffte er auch acht, aber damit war et an der Grenze seiner Kraft angelangt, obwohl manche behaupteten, Carberry wäre in der Lage, auch eine halbe Tonne vom Boden zu heben. Sie sahen sich alles noch genau an, griffen in die Truhe und ließen die Münzen durch die Finger gleiten. Darunter befand sich auch eine Handvoll kleiner Perlen, aber sie waren nicht von der Güte, die die „Isabella“ in ihren Laderäumen trug. „Lassen wir alles so, wie es ist“, sagte Hasard. „Sonst vergehen die anderen vor Ungeduld.“ „Nehmen wir die Schätze nicht mit?“ fragte Smoky. „Doch, aber erst später. Hinaus jetzt mit euch.“ „Was tun wir mit der Madonna?“ wollte Dan wissen. „Die lassen wir zurück“, erwiderte Hasard. „Was sollen wir mit der Figur anfangen?“ Das wußte auch niemand, aber Tucker interessierte sich für das Holz, denn es schien noch schwerer als das des schwarzen Seglers zu sein, viel schwerer, wie er schätzte, und so gab der Seewolf die Erlaubnis, daß sie die Galionsfigur später mitnehmen könnten. Draußen fieberten die anderen ungeduldig dem Besuch der Höhle entgegen. Sie lasen es bereits an den Gesichtern, daß es dort etwas Ungewöhnliches gab, etwas, das sie nicht alle Tage zu sehen kriegten.
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Der Profos führte auch den zweiten Trupp geduldig in die Grotte und teilte den Männern seine Vermutung mit. Nach und nach hatten fast alle die Höhle gesehen, und Carberry war wieder einmal der Held des Tages. Als der Kutscher wieder ans Tageslicht kletterte, sah Ed ihn grinsend an. „Was du eben gesehen hast, war natürlich nur Einbildung“, sagte er trocken. „Oder willst du etwa das Gegenteil behaupten, du lausiger Quacksalber, was, wie?“ „Wie oft soll ich mich noch entschuldigen, Mann“, sagte der Kutscher aufgebracht. „Jeder kann sich schließlich mal im Leben irren.“ „Jeder schon, aber ich nicht“, behauptete Ed und löste in dem Kutscher Widerspruch aus, der aber nicht seine Lippen verließ. Was soll ich schon dagegen sagen! dachte er. Er hatte sich in seiner Diagnose geirrt, aber Ed nicht mit seinem Fund, und wenn er jetzt palaverte, würde er vom Profos stundenlang hören müssen, wie unrecht er hatte. So schwieg er lieber verbissen und sagte gar nichts. Vor dem Wasserfall stießen sich die Männer gegenseitig an und diskutierten den Fund. Die tollsten Vermutungen, was sich da vor Jahren abgespielt haben mochte, wurden laut. Und jeder schmückte die Geschichte weidlich mit seiner eigenen Phantasie aus. Nur der alte O'Flynn war nicht dazu zu bewegen, der Grotte einen Besuch abzustatten, so sehr ihm die anderen auch zuredeten. „Lieber laß ich mich in der Hölle braten“, versicherte Old Donegal, „als da hineinzuklettern. Mit meinem Holzbein kann ich das auch gar nicht. Und glaubt ja nicht, da gehen keine Geister um! Die zwei Gerippe haben euch beobachtet, denn ihre Seelen geistern noch in der Nähe herum und werden euch die Knochen vom Leib abfluchen, wenn ihr das Gold anrührt.“ In Wirklichkeit suchte O'Flynn nur nach einer faulen Ausrede, denn Carberrys Worte klangen ihm noch deutlich in den Ohren.
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Das ging nicht mit rechten Dingen zu! Dahinter steckte der Satan persönlich, denn wer hatte schon soviel Glück auf einmal wie die Seewölfe? Für den alten O'Flynn stank die Sache zum Himmel, da war etwas oberfaul, das ließ er sich nicht ausreden, und an den lausigen Wasserfall würde er schon gar nicht gehen. Sollten sich die anderen nur die Finger verbrennen. Grummelnd zog er wieder ab und pullte mit den anderen an Bord zurück. Am Nachmittag wurde die Höhle ausgeräumt und der Schatz gehoben. Viel war es nicht, aber darum ging es auch gar nicht. Nur an der Gailonsfigur verzweifelten sie fast. Die Kerle mußten sie unter erbärmlichen Qualen dort hineingeschleppt haben. Damit waren sie einen ganzen Tag lang beschäftigt gewesen, wenn das überhaupt reichte. Endlich lag sie draußen auf den Steinen, und jetzt, im grellen Licht der Sonne, sah sie jeder deutlich. Das Gesicht war kunstvoll poliert, aber das war auch alles, denn die Züge waren grob, und der Künstler hatte sich keine sonderlich große Mühe gegeben. Sie war nichts Besonderes, diese Madonna, und als sie sie mühsam über die Steine hoben, glitt Ferris Tucker aus und ließ das schwere Ding sausen. Er konnte gerade noch im letzten Augenblick fluchend zur Seite springen, sonst hätte ihn die schwere Figur erschlagen. Der alte O'Flynn sah das vom Schiff aus durch das Spektiv, und als die Holzfigur zwischen die Felsen fiel, hob er seinen knochigen Zeigefinger. „Habe ich es nicht gesagt?“ rief er. „Es geht schon los! Die Toten fangen an, sich zu rächen. Aber auf mich hört ja keiner, diese lausigen Kerle wissen immer alles besser als ich.“ „Was jetzt?“ schrie der Profos, als die Figur über die Steine glitt, über die Felsen polterte und in einer Spalte steckenblieb. Tucker fuchtelte erregt mit den Armen. „Was jetzt?“ äffte er den Profos nach. „Wir hieven sie natürlich wieder nach oben!“
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„Du bist wohl verrückt, was, wie? Wem die auf den Schädel fällt, der ist erledigt. Laß sie da stecken, was willst du mit dem Ding?“ Aber Ferris blieb eigensinnig. „Dann holen wir eben Taue“, sagte er. „Wir haben sie durch den Gang geschleift und uns alle Mühe gegeben, jetzt soll sie auch an Bord.“ Big Old Shane erschien mit Tauen, und die beiden Männer gingen daran, die Figur festzubinden. Zu dritt zogen sie, und nun ging es ganz leicht, als auch der ehemalige Schmied von Arwenack sich mit seinen Bärenkräften in die Seile legte. Etwas später lag die mannsgroße Figur im Sand und die Sonnenstrahlen fielen auf das schwarze Holz. „He, einen Augenblick mal“, sagte Ferris. Er ließ sich auf die Knie nieder und starrte auf die Schürfstellen. Von der schwarzen Farbe war eine Menge abgeblättert und darunter schimmerte und gleißte es grell. Als er aufstand, war sein Gesicht bleich. „Die Madonna ist aus Gold“, sagte er andächtig. „Seht es euch selbst an. Ich glaube, ich werde verrückt.“ Augenblicklich war die Hölle los, als die Männer aufgeregt durcheinander brüllten. Niemand wollte es glauben, doch jeder konnte sich mit eigenen Augen davon überzeugen, und jeder dachte in diesem Augenblick an den goldenen Anker, der auch aus purem Gold gewesen war und den man mit einer Bleischicht überzogen hatte. Hier war es ein wenig anders. Auf dem Gold befand sich eine Schicht aus Pech, darüber hatte man Teer geschmiert und anschließend eine dumpf glänzende Farbe aufgetragen. Diese Insel hatte es wirklich in sich! * Noch einer, den sie nicht sahen und der wie ein ruheloser Geist hin und her zog, um die Seewölfe zu beobachten, kriegte alles genau mit.
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Der angebliche Reverend Thornton hatte die Landung des Schiffes beobachtet und belauerte die Seewölfe. Anfangs hielt er sie für Spanier, aber dann vernahm er ihre Stimmen und wußte, daß es sich um Engländer handelte. Als dann die Sache mit dem Goldfund passierte, krampfte es ihm das Herz zusammen. Verdammt, dachte er, er hockte jetzt schon tagelang auf dieser Insel, war gesund und munter und hätte den Schatz genauso gut entdecken können. Aber nein, das entdeckten natürlich diese lausigen Piraten, dieser bunt zusammengewürfelte Haufen Männer, die sich nicht scheuten, das Gold einzusacken. Von einem solchen Fund hatte er ewig geträumt, als kleiner Bengel schon, als Jugendlicher und später als Mann, solange er überhaupt schon zur See fuhr. Dann erfuhr er, daß der schwarze Holzklotz aus purem Gold bestand, sah, daß die Männer immer wieder hinter dem Wasserschwall verschwanden und wußte schließlich, daß es direkt dahinter eine Grotte gab, aus der die Schätze stammten. Und er hatte unter dem Wasserfall gebadet und nichts entdeckt! Verzweifelt zermarterte er sich das Gehirn. Er brauchte eine Geschichte, eine, die überzeugend klang, eine, mit der er behaupten konnte, der Schatz gehöre ihm. Aber die Piraten würden ihn vermutlich nur auslachen. Wie er die Kerle einschätzte, würden sie ihn ohne viel Federlesens an die nächste Rah hängen. Die teilten nicht, die behielten alles für sich. Und wenn er als Priester auftrat? Selbst die übelsten Piraten respektierten Priester, und er war Engländer wie sie. Da mußte es ganz einfach eine Basis geben. Als Priester würden sie ihn selbstverständlich nicht hängen, aus Angst, ihre schwarzen Seelen würde der Teufel holen. Er überlegte stundenlang, wog das Risiko ab und entschloß sich letzten Endes doch, den Versuch zu wagen. Natürlich würde er die Beute großzügig teilen, dann ließ sich
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vielleicht darüber reden. Sie würden einen gehörigen Schrecken kriegen, wenn sie ihn auf dieser Insel entdeckten, oder er fröhlich unter sie trat. Vielleicht ließen sie ihn allein zurück und segelten weiter? Gut. dann blieb er eben hier, aber den Versuch war es wert. Eine Zeitlang beobachtete er sie noch, wie die die Goldmadonna zum Schiff schleppten. Er mußte handeln, sonst segelten die Kerle ab. 9. Die Männer der „Black Pearl“ standen auf der Schattenseite des Lebens, damit hatten sie sich schon abgefunden. Nachdem der Schock über den Tod Winthams etwas abgeflaut war, raffte der Captain sich noch einmal auf. „Wir sind noch drei Männer“, sagte er, „und ich will verdammt sein, wenn es uns nicht gelingt, wieder irgendwo Fuß zu fassen. Es gibt noch mehr Inseln, anderes Land, wir sollten uns trotz allem mit dem Gedanken vertraut machen, nach ein paar Tagen weiterzusegeln.“ „Hör mit den Sprüchen auf, Cap“, sagte der Bootsmann. „Wir sollten Wintham begraben. Schließlich sind wir ihm ein ordentliches Begräbnis schuldig, wenn er schon an Land gestorben ist.“ „Das hatte ich auch ohnehin vor. Gehen wir gleich an die Arbeit, sonst fällt es uns immer schwerer.“ Da sie das Boot nicht benutzen konnten, schwamm Blake zum Schiff hinüber. Dort hatten sie Schaufeln und auch zwei Spaten, mit denen sie eine Grube ausheben konnten. Blake schüttelte sich vor Grauen, sobald er auf dem Schiff war. Das Bild der toten Männer in ihren Kojen ging ihm nicht aus dem Kopf. Weitersegeln, dachte er schaudernd, mit dem morschen Kahn, drei kranke Männer, die gar nicht mehr in der Lage waren, ein Schiff zu segeln. Und womit, verdammt noch mal, sollten sie segeln? Mit dem abgehackten Besan
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oder dem Stumpf des Großmastes ? Mit nur einem traurigen Lappen als Segel? Wie der Alte sich das wohl vorstellte! Blake fand die Schaufeln, band sie an ein langes Tau, schätzte die Entfernung zum Land und band das Tau am Poller fest. Dann warf er die ebenfalls befestigte Schaufel und den Spaten über Bord. Schon nach ein paar Yards brauchte er nicht mehr zu schwimmen und konnte im Wasser gehen, das ihm knapp bis zum Hals reichte. Jede kleine Anstrengung erschöpfte ihn. Am Strand mußte er sich erst einmal in den Sand setzen und ausruhen. „Sieh dir den Kahn an, Cap“, sagte er gallig. „Ich möchte wissen, wie wir den jemals segeln wollen? Wir können höchstens weiter vor dem Wind lenzen, mehr geht nicht.“ „Ich bin da anderer Ansicht.“ „Was meinst du, Hentrop?“ fragte Blake den Rudergänger, der schweigend neben Winthams Leiche hockte und aus trüben Augen über das Wasser blickte. „Wir sind hier am Ende“, sagte er schwerfällig, „und der Cap wird das auch einsehen, oder er ist ein verdammter Idiot.“ „Mister Hentrop!“ rief Ellen scharf. Der Rudergänger winkte ab, und dieses müde Abwinken zeigte seine tiefe Resignation. „Spar dir den Mister, Cap, den brauchen wir hier nicht mehr.“ Ellens Autorität erlosch endgültig. Es gab schon lange keine Rangunterschiede mehr, und er fühlte sich viel zu sehr geschwächt, um einen Streit heraufzubeschwören und den Vorgesetzten herauszukehren. „Wir begraben ihn dort drüben, wo die Gräser wachsen“, sagte Blake niedergeschlagen. Sie hoben eine Grube aus, und nach einer Weile holten sie den Ersten, der immer noch in den Himmel blickte. Ellen drückte ihm die Augen zu. „Hat keinen Zweck“, sagte Hentrop, „ich habe es versucht, aber er öffnet sie immer wieder, es ist, als wolle er genau sehen, was hier mit ihm passiert.“
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Die schweißtreibende Arbeit hatte sie wieder erschöpft, und bevor sie Wintham in die flache Grube legten, mußten sie wieder verschnaufen. „Der Cap spricht das Gebet“, sagte Blake. „Holt ein paar Wedel von der Palme“, sagte Ellen kaum hörbar, Sie legten ihm die Wedel über das Gesicht, um nicht diese weitgeöffneten vorwurfsvollen Augen sehen zu müssen. Ellen sprach ein kurzes Gebet, murmelnd, er wußte kaum, was er sagte, aber es handelte davon, daß Wintham jetzt alles Irdische hinter sich habe und eigentlich darüber froh sein könne, denn den anderen stünde es noch bevor, eine verdammte lange Quälerei, wie Ellen sagte. „ ... und befehle dir, Herr, seine Seele“, schloß er. Sie häuften Sand und Erde auf ihren toten Kameraden, bis ein flacher Hügel das Grab zierte. Blake band zwei Wedel der gefällten Kokospalme so zusammen, daß sie ein Kreuz bildeten und drückte es in die Erde. Danach schwiegen sie, sahen sich stumm an und stellten sich insgeheim die Frage, wer wohl der nächste war, den sie unter die Erde brachten. Hentrop verzog die Lippen zu einem Grinsen, aber es wurde nur eine verzerrte Grimasse. „Der letzte ist am schlechtesten dran“, sagte er und versuchte zu scherzen, „denn der muß sich selbst beerdigen.“ „Dann. beeilt euch mit dem Sterben“, sagte Ellen fluchend. Später sammelten sie Früchte und jagten vergeblich hinter einer Schildkröte her, die ins Wasser entwischte. Blake schickte ihr erbitterte Flüche hinterher und blieb eine ganze Weile enttäuscht am Wasser stehen, in der Hoffnung, das Tier würde wieder an Land kriechen. Aber sie tat ihm den Gefallen nicht und schließlich gab er auf. Ellen sprang plötzlich auf die Füße. „Wir haben doch Angelzeug an Bord!“ rief er aus. „Und hier gibt es Fische, ich habe welche springen sehen.“
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„Und womit ködern wir sie, he?“ fragte Blake. „Mit frommen Sprüchen, oder willst du deinen Arsch ins Wasser hängen, Cap?“ „Wenn ihr etwas mehr Grütze in euren Schädeln hättet, würdet ihr besser überlegen. Am Strand liegen noch tote Ratten, vielleicht beißen sie auf Stücke davon an.“ Es war ein Hoffnungsfunken, der da aufglomm, und weil sie ohnehin nichts anderes zu tun hatten, setzten sie den Vorschlag auch bald in die Tat um. Angelhaken hatten sie genug, und an Leinen fand sich mehr als sie brauchten. Sie angelten vom Achterdeck aus, und immer wieder warfen sie furchtsame Blicke nach vorn, von wo der leichte Wind den Geruch der Toten herübertrug. Es biß jedoch kein Fisch an, nur einmal zuckte es an Hentrops Angel, und als er die Leine hochzog, fehlte der Köder. Fluchend ging er daran, einen neuen aufzustecken. „Wir müssen diesen Pestgeruch endlich loswerden, sonst können wir nie mehr an Bord gehen und uns hier aufhalten.“ Ellen hatte die Worte in die Stille gesprochen, aber er erntete nur tiefes Schweigen. Weder Blake noch Hentrop gingen auf seine Worte ein. Er sah sie fragend an, aber die beiden Männer taten so, als hätten sie nichts gehört. „Ich finde euch zum Kotzen, ihr Feiglinge“, sagte er laut. „Euch fehlt der Mumm, ihr könnt euch nicht überwinden. Lieber scheißt ihr euch in die Hosen und umgeht das Vorschiff in einem großen Bogen, als einmal eine Stunde lang aufzuklaren. Dann ist es ein für allemal vorbei damit.“ Sie reagierten immer noch nicht, und da packte er sie an ihrer verwundbarsten Stelle. „Wollt ihr, daß ihre Seelen jede Nacht unruhig durch das Schiff geistern? Wollt ihr das? Eure Kameraden werden euch für alle Zeiten verfluchen. Ihr wollt Christen sein? Ein Dreck seid ihr! Ihr gönnt einem toten Seemann nicht einmal das Wasser, geschweige denn ein Fleckchen an Land.“
Wenn die Ratten von Bord gehen …
Blake schluckte. Mit fahrigen Fingern strich er durch seinen Bart und spürte die aufgeplatzte eitrige Haut darunter. „Was meinst du, Hentrop?“ fragte er so leise, daß der Alte ihn nicht hören konnte. „Ich weiß nicht“, sagte der Rudergänger unschlüssig. „Vielleicht wenn der Alte vorgeht und erst einmal nachsieht, was da los ist.“ „Soll ich es ihm sagen?“ „Sag's ihm ruhig!“ „Hör zu, Cap“, sagte Blake. „Wir würden dir schon helfen, aber du mußt erst nachsehen. Wir zünden auch die Lampen an, geht das in Ordnung ?“ „Ja, das geht in Ordnung“, sagte Ellen schwer. „Weißt du, Cap, eigentlich kann es ja nicht schwer sein, es ist nur der Geruch, verstehst du?“ „Ich verstehe“, sagte Ellen knapp. „Aber wenn wir sie rausholen und aufklaren, dann hat jeder seine Ruhe. Sie die letzte und wir die unsrige. Es wird nämlich mit jedem Tag schlimmer.“ Sie holten Öllampen und entzündeten sie, dann drückten sie zwei der Lampen dem Captain eifrig in die Hand und redeten und palaverten, um ihre Angst zu übertünchen. Ellen ging mit hölzernen Schritten zu dem Schott, das ins Vorschiff führte. „Steht nicht 'rum“, sagte er schroff. „Holt ein paar Leinenstücke oder schneidet das zerfetzte Segel zurecht.“ „Aye, aye, Cap!“ Komisch, dachte er, während er die hölzernen Stufen hinunterschritt und sein Magen oben im Hals klopfte, jetzt sagten sie wieder „Aye, aye, Cap“, diese Scheißer. Oben an Deck bekreuzigten sich Blake und Hentrop. Der Bootsmann spürte wieder, wie sein Magen rebellierte, und wenn er daran dachte, was sie da unten erwartete, dann wurde ihm hundeelend, und er hängte sich würgend ans Schanzkleid. „Er bleibt verdammt lange“, sagte Hentrop, aber da kehrte Ellen zurück, bleich, düster und schweigsam. Er sagte kein Wort, er schluckte nur hart und winkte den beiden, ihm zu folgen.
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Fred McMason
Was dann folgte, war für alle ein Alptraum, und solange sie lebten, werden sie diese Augenblicke in der engen Kammer auch nie vergessen. Da half es nichts, wenn sie die Augen schlossen, wenn sie an alles mögliche dachten oder sich einredeten, daß es nun einmal getan werden müsse. Es war ihre Schuld, sagten sie sich, sie hätten früher damit beginnen sollen, dann wäre es noch einigermaßen erträglich gewesen. Am späten Nachmittag waren sie fertig und übergaben die traurigen Überreste ihrer Kameraden der See, dem riesigen Grab, das sie mit einem leisen Murmeln aufnahm und sie gnädig mit dem großen feuchten Tuch bedeckte. Sie hatten sich selbst überwunden, als sie das Schiff verließen, um an Land zu nächtigen, und irgendwie erfüllte sie das mit Stolz. Und vor den Geistern hatten sie auch Ruhe, die würden jetzt nicht mehr ruhelos durch das Schiff streichen und die Kameraden verfluchen. * Als Hentrop am anderen Morgen erwachte, sah er mit einem ängstlichen Blick zuerst auf Blake und Ellen, und er atmete erleichtert auf, als beide schliefen und Blake sich unruhig bewegte. Sie lebten noch, dachte er beglückt. Diesmal lag kein Toter zwischen ihn Er wollte sich gerade aufrichten, als er die Ratte sah. Sie nagte mit scharfen Zähnen an der Kokosnuß, die noch in dem gefällten Wedel hing. Wilder Haß flammte ihn ihm auf. Mußten sie schon wieder mit diesen ekelhaften Biestern teilen? Lautlos stand er auf, nahm den Knüppel, mit dem sie tags zuvor einige Ratten erschlagen hatten, und pirschte sich mit unendlicher Vorsicht an das Biest heran. Die Ratte hörte ihn nicht, sie nagte eifrig weiter, gierig, an den Inhalt der Frucht zu gelangen und sie zu fressen.
Wenn die Ratten von Bord gehen …
Hentrop hob den Knüppel und ließ ihn voller Wut niedersausen, aber er traf die Ratte nur an der Seite. Sie stieß einen Schrei aus wie ein Mensch, und davon erwachten Ellen und Blake. Sofort waren sie auf den Beinen, als die Ratte sich auf dem Sand herumwarf, zappelte und zu entwischen versuchte. Der Knüppel war Hentrop entglitten, aber er warf sich mit einem Wutschrei in den Sand und packte das zappelnde Vieh. Er hob sie hoch und wollte sie mit einem Fluch hart in den Sand schleudern, doch die Ratte biß in seinen Daumen und ließ nicht mehr los. Schließlich gelang es ihm, sie zu Boden zu schlenkern und zu töten, dann erst kümmerte er sich um den schmerzhaften Biß an seinem Daumen. Doch kurz darauf hörte der Schmerz auf. und da die Wunde nicht blutete, dachte der Rudergänger sich auch weiter nichts dabei, schließlich hatte er keine Schmerzen mehr. Gegen Mittag kriegte er Fieber, Schweiß rann ihm in dicken Bächen über den Körper, und er begann zu phantasieren. Am Nachmittag hatte sein Zustand sich weiter verschlechtert. Er verfiel in Krämpfe, und weil sie keine Medikamente an Bord hatten, konnten sie ihm auch nicht helfen. In der Nacht starb der Rudergänger, sein geschwächter Körper hatte keine Abwehrkräfte mehr mobilisieren können, und nach einem letzten wilden Aufbäumen sank er still in sich zusammen. Ellen begann am ganzen Körper zu zittern, er fand keinen Schlaf, und Blake erging es ebenso. Er heulte vor hilfloser Wut. Jetzt waren sie noch zwei Männer, Verdammte der Meere, Verfluchte der Insel. Sie hatten kein Wasser, nur noch ein paar Früchte, und die gingen auch einmal zur Neige. Aber sie harrten aus, sie hofften immer noch auf ein Wunder, und sagten sich, daß der morgige Tag gewiß etwas bringen würde, womit keiner mehr rechnete. Doch der nächste Tag verging, der übernächste, und es hatte sich immer noch nichts geändert. Wie es den Anschein hatte, würde sich vermutlich bis in alle
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Ewigkeit nichts mehr ändern. Sie vegetierten wirklich auf der Schattenseite
Wenn die Ratten von Bord gehen …
des Lebens...
ENDE