Jack Vance
Weltraum-Oper (Space Opera)
Science Fiction-Roman
Bastei-Lübbe
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction...
31 downloads
566 Views
890KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Jack Vance
Weltraum-Oper (Space Opera)
Science Fiction-Roman
Bastei-Lübbe
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction Action Band 21 159 © Copyright 1965 by Jack Vance All rights reserved
Deutsche Lizenzausgabe 1982 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach Originaltitel: Space Opera Ins Deutsche übertragen von: Waltraud Götting Titelillustration: George Barr/Agentur Thomas Schlück Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Printed in Western Germany ISBN 3-404-21159-6
Space Opera, Weltraumoper, so nennen ScienceFiction-Leser eine Abenteuergeschichte im Weltall oder auf fremden Planeten. Aber eine Space Opera könnte auch ein musikalisches Werk sein, das seinen Ursprung im All hat… Jack Vance’ unvergleichlicher Roman entspricht beiden Definitionen: Er beginnt mit der geheimnisvollen Operntruppe, die von dem gleichfalls geheimnisvollen Planeten Rlaru auf der Erde eintrifft – und dann spurlos verschwindet! Zu den begeisterten Opernfans gehört auch Roger Woods wohlhabende Tante, die den Gegenbesuch einen irdischen Ensembles auf dem unbekannten Planeten Rlaru finanziert. Nun beginnt eine komplexe und überraschende Space Opera im üblichen Sinn – voll von mysteriösen Aliens und seltsamen, verrückten Welten. Ein farbiges und exotischen Ideenfeuerwerk aus der meisterlichen Feder des mehrfachen HugoPreisträgers Jack Vance.
I
Roger Wool saß in der Loge seiner Tante in der letzten Reihe und schenkte sich ein drittes Glas Champagner ein. Freifrau Isabel Grayce war mit ihren beiden Gästen beschäftigt, so daß sie ihm keine Beachtung schenkte, und Roger ließ sich mit dem angenehmen Gefühl vollkommenen Wohlseins zurücksinken. Noch fünf Minuten bis zum Vorhang! Die Luft, von goldenem Licht erfüllt war schwer von köstlicher Erwartung. Nach seinen Triumphen in der ganzen Welt war das Neunte Ensemble von Rlaru schließlich ins Palladin gekommen. Jedem waren seine außergewöhnlichen Programme bekannt, die mit nichts vergleichbar waren, was man je zuvor auf der Erde gesehen hatte, die einen bezaubernd und wehmütig, andere mit der schrecklichen Verheißung des Untergangs. Das wachsende öffentliche Interesse an dem Neunten Ensemble fand Ausdruck in der Kontroverse, die es um die Welt begleitete: War die Truppe ursprünglich das Produkt eines entfernten Planeten oder war das, was sie zeigte, ein von einer überaus gerissenen Gruppe von Musikern ausgeführter Schwindel? Überall waren Kritiker und Experten geteilter Meinung. Die Wirkung der Musik war zwiespältig: In mancher Hinsicht schien sie vollständig fremdartig; in anderer wiederum wirkte sie bestimmten irdischen Musikformen verblüffend ähnlich. Roger Wool hatte sich keine große Mühe gegeben, sich eine Meinung zu bilden; aber Freifrau Isabel Grayce, Schatzmeisterin des Opernverbandes, hatte ein tieferes Interesse daran; tatsächlich hatte nur ihre Unterstützung
Adolph Gondars Auftreten in den Theatern und Opernhäusern der Welt möglich gemacht. Im Augenblick war Freifrau Isabel in eine förmliche Unterhaltung mit ihren beiden Gästen vertieft. Es waren dies Joseph Lewis Thorpe, Musikkritiker der Transatlantic Times, und Elgin Seaboro, Feuilletonredakteur der Galactischen Rundschau. Beide hatten spöttische Artikel über das Neunte Ensemble verfaßt, ohne sich die Mühe zu machen, einer Vorstellung beizuwohnen, und Freifrau Isabel hatte darauf bestanden, daß sie das Versäumte nachholten. Der Vorhang teilte sich und enthüllte eine leere Bühne. Der Impresario, Adolph Gondar, trat vor: ein großer, dunkler Mann mit finsterer Stirn, grüblerischen, schwarzen Augen und einem langen, melancholischen Kinn: kein Mann, der Vertrauen aufkommen ließ, aber aus eben diesem Grund kein Mann, dem man derart umfassenden und raffinierten Schwindel zugetraut hätte. Er sprach einige einleitende Worte und verließ die Bühne. Nach einigen spannungsgeladenen Augenblicken erschienen die Orchestermitglieder der Neunten Truppe, gingen zu einem Podest auf der einen Seite der Bühne hinüber, nahmen fast träge die Instrumente auf und begannen zu spielen. Die Musik war dünn und süß und schien an diesem Abend fast fröhlich. Kurz darauf betraten weitere Mitglieder der Truppe die Bühne und boten eine lustige kleine Operette dar, so beiläufig, als sei sie aus dem Stegreif entstanden, und doch perfekt im Tempo und vorzüglich in Schliff und Ausstrahlung. Das Konzept? Es war nicht in Worte zu fassen; vielleicht gab es keins. Roger genoß die Vorstellung und fragte sich, was all die Aufregung zu bedeuten hatte. Die Ausführenden schienen nicht vollkommen menschlich, jedoch ähnlich genug, um sich hineinzufühlen. Sie waren biegsam und zerbrechlich, und irgendwie vermittelten sie den Eindruck, als seien ihre inneren Organe anders geformt und angeordnet als die von Erdleuten.
Die Männer waren von aufrechter Haltung und kraftvoller Erscheinung, ihre Haut schien erstaunlich weiß, sie hatten glühend schwarze Augen und öligglattes, schwarzes Haar. Die Frauen waren weicher, angenehm gestaltet, mit reizvollen kleinen Gesichtern, die halb versteckt lagen hinter Wolken schwarzen Haares. Sie tänzelten leichtfüßig von einer Seite der Bühne zur anderen, sangen mit süßer, klagender Stimme und wechselten ihre Kostüme mit erstaunlicher Gewandtheit, während die Männer streng und unbeweglich dastanden und in verschiedene Richtungen schauten oder nach einer bestimmten, aber unbegreiflichen Übereinstimmung herumwirbelten. Währenddessen spielten andere Mitglieder der Truppe eine zarte Polyphonie, die manchmal nur aus zufälligen Tönen zu bestehen schien und sich dann, wenn die Vermutung fast zur Sicherheit geworden war, in eine Folge hinreißender Akkorde auflöste, die alles Vorangegangene erklärte und ordnete. Angenehm, wenn auch verwirrend, dachte Roger Wool, indem er sich ein weiteres Glas Champagner einschenkte. Die Flasche klirrte im Eis, und Freifrau Isabel warf einen ihrer berüchtigten Blicke über die Schulter. Roger stellte die Flasche übertrieben vorsichtig zurück. Dann verstummte die Musik, es gab eine Pause, und Freifrau Isabel blickte mit einem strengen und herausfordernden Ausdruck des Triumphes von Joseph Lewis Thorpe zu Elgin Seaboro. »Ich bin überzeugt, daß Ihre Zweifel und Bedenken beseitigt sind?« Joseph Lewis Thorpe räusperte sich und warf Elgin Seaboro einen Blick zu. »Eine Art Virtuosität, ja. Ja, ja, ohne Zweifel, wirklich, in der Tat.« Elgin Seaboro sagte: »Ohne Frage haben wir es hier mit einer klugen und kühnen, gut aufeinander eingespielten Truppe zu
tun. Unverdorbenes neues Talent, würde ich sagen. Vollkommen unverbildet.« »Das ist eine treffende Aussage«, bekräftigte Thorpe. Freifrau Isabel runzelte die Stirn. »Sie sind also überzeugt, daß Adolph Gondar und das Neunte Ensemble echt sind?« Joseph Lewis Thorpe lachte unbehaglich. »Meine liebe Dame, ich kann nur immer wieder betonen, daß ich sein Benehmen alles andere als beruhigend finde. Warum will er keine Presseinterviews geben? Warum hat noch kein namhafter Ethnologe diese Leute untersucht? Die Umstände sind nicht dazu angetan, daß man Mr. Gondars Ansprüche leicht akzeptieren könnte.« »Dann glauben Sie also, daß Mr. Gondar mich hinters Licht geführt hat? Schließlich findet die ganze Tournee unter meiner Aufsicht statt; ich überwache die finanzielle Seite, und ich bezweifle, daß Sie mich ernsthaft eines Vergehens bezichtigen können.« »Liebe gnädige Frau, es gibt nicht den geringsten Hinweis auf etwas derartiges!« erklärte Thorpe. »Sie sind fast berüchtigt für Ihre Geradlinigkeit!« »Adolph Gondar mag ein ausgezeichneter Mensch sein«, fiel Seaboro ein, »abgesehen davon, daß er versucht, uns Sand in die Augen zu streuen.« »Ja«, sagte Thorpe. »Wer genau ist Gondar?« Freifrau Isabel preßte die Lippen zusammen, und Roger beobachtete sie fasziniert. »Mr. Gondar«, sagte sie voller Würde, »ist ein einfühlsamer und weitsichtiger Mensch. Sein Beruf ist der eines Raumschiffkapitäns. Er hat Dutzende von weit entfernten Welten gesehen. Auf einer dieser Welten, sie hieß Rlaru, gelang es ihm, das Neunte Ensemble dazu zu bewegen, eine Erdtournee zu unternehmen. Das ist alles, was darüber zu sagen ist. Ich kann Ihre Skepsis nicht verstehen, schon gar nicht nach meinen Versicherungen.«
Seaboro stieß ein dröhnendes Gelächter aus. »Es ist unser Beruf, skeptisch zu sein. Wer hätte je von einem gutgläubigen Kritiker gehört?« »Meine Bedenken«, sagte Thorpe, »stützen sich zum einen auf Musiktheorie, zum anderen auf das Wissen eines informierten Laien über die Galaxis. Es fällt mir schwer, zu glauben, daß eine fremdartige Rasse einen für uns verständlichen musikalischen Ausdruck finden kann. Darüber hinaus habe ich noch nie von einem Planeten namens ›Rlaru‹ gehört, der aller Wahrscheinlichkeit nach eine außerordentlich hoch entwickelte Zivilisation aufzuweisen hat.« »Ah«, sagte Freifrau Isabel mit halb geschlossenen Augen – ein Zeichen, bei dessen Anblick Roger unbehaglich seufzte. »Dann sind Sie also der Meinung, daß diese Musiker gewöhnliche Erdbewohner sind, die sich als Fremde verkleiden?« Seaboro zuckte die Schultern. »Was das betrifft, so kann ich nichts darüber sagen. Jeder von uns hat Vorstellungen gesehen, die ans Wunderbare grenzten, von denen wir aber wissen, daß es nur schlaue Bühnentricks waren. Diese Leute haben keine offensichtlich nichtmenschlichen Züge. Wenn Sie erklären würden, daß es die Abschlußklasse der Golliwog-CakewalkAkademie von Earthville auf dem Planeten Procyon sei, würde ich nicht an Ihren Worten zweifeln.« »Sie sind ein Narr«, sagte Freifrau Isabel mit dem Gebaren von jemand, der einem wohlüberlegten und endgültigen Urteil Ausdruck gibt. Seaboro rümpfte die Nase und fuhr in seinem Sessel herum. Thorpe lachte nervös. »He, das ist unfair! Wir sind alle nur Sterbliche, die sich durch mannigfaltige Arten von finsterem Gestrüpp kämpfen! Bernard Bickel, der wahrscheinlich weiß…«
Freifrau Isabel stieß einen Laut aus, der außerordentliche Verärgerung ausdrückte. »Erwähnen Sie diesen Namen nicht!« sagte sie scharf. »Er ist ein aufgeblasener Wichtigtuer, vollkommen oberflächlich.« »Er ist sicherlich die führende Autorität auf dem Gebiet der vergleichenden Musikwissenschaft«, stellte Seaboro abweisend fest. »Wir können nicht verhindern, daß wir von seinen Ansichten beeinflußt werden.« Freifrau Isabel seufzte. »Ich hätte es wissen müssen.« Und jetzt hob sich erneut der Vorhang auf der Bühne. Das Neunte Ensemble präsentierte eine fête champêtre. In Gewändern aus rosa-blauer, grün-blauer und gelb-blauer, rautenförmig gemusterter Leinwand ließen die Spieler Hybriden aus Feen und Harlekinen erstehen. Wie zuvor schien es kein Konzept zu geben, kein durchschaubares Bewegungsmuster. Die Musik war ein zirpendes, träge spielendes, klingelndes Gemisch, das gelegentlich von einem heiseren Dröhnen, wie dem Geräusch eines Nebelhorns, oder dem Tuten einer Muschel durchdrungen war. Die Spieler bewegten sich von einer Seite zur anderen, hier entlang und dort entlang: ein Reigen? Ein Hirtenfest? Die scheinbar planlose Bewegung, die Knickse, die frivolen Sprünge und Hüpfer wurden ohne Entwicklung oder Veränderung fortgesetzt, doch plötzlich drängte sich die Erkenntnis auf, daß hier kein Lustspiel aufgeführt wurde, keine leichte Unterhaltung, sondern daß etwas Düsteres und Furchtbares dargeboten wurde: die Beschwörung einer herzzerreißenden Schwermut. Die Lichter verblaßten, bis es dunkel war. Ein verwirrender blau-grüner Lichtblitz enthüllte das Neunte Ensemble in gespannter, fragender Pose, als seien sie selbst verblüfft über das Problem, das sie aufgeworfen hatten. Als das Publikum wieder sehen konnte, war der Vorhang gefallen und die Musik verklungen.
»Raffiniert«, murmelte Thorpe, »doch unvollkommen.« »Ich stelle eine gewisse Disziplinlosigkeit fest«, teilte Seaboro mit. »Eine lobenswerte Vielseitigkeit, der Versuch, sich von überlieferten Formen zu lösen, aber, wie Sie schon sagten, unvollkommen.« »Guten Abend, Madame Grayce«, sagte Thorpe. »Ich danke Ihnen für Ihre Einladung. Guten Abend, Sir.« Letzteres war an Roger gerichtet. Elgin Seaboro schloß sich den Grüßen seines Kollegen an; dann entfernten sich beide. Dame Isabel erhob sich. »Ein Narrenpaar! Komm, Roger.« »Ich glaube, ich werde mich hier von dir verabschieden«, sagte Roger. »Ich habe eine Verabredung…« »Du hast nichts dergleichen. Du fährst mich zu Lillian Monteagles Abendgesellschaft.« Roger Wool fügte sich. Er war weitgehend von der Freigebigkeit seiner Tante abhängig und fand es ratsam, ihr auf mannigfaltige Weise in kleinen Dingen gefällig zu sein. Sie verließen die Loge, stiegen zum Dach hinauf, und Rogers bescheidener kleiner Herlingfoss-Luftwagen wurde aus dem Parkschacht herauf gebracht. Rogers dargebotene Hand von sich weisend, ließ sich Freifrau Isabel würdevoll auf dem Beifahrersitz nieder. Lillian Monteagle bewohnte einen alten Palast am anderen Ufer des Flusses, den sie mit allem zeitgerechten Komfort hatte ausstatten lassen. Nahezu ebenso wohlhabend wie Freifrau Isabel, war sie berühmt für ihre aufwendigen Geselligkeiten, jedoch war die Einladung gerade an diesem Abend verhältnismäßig formlos. Sei es aus Unwissenheit oder aus leichtherziger Bosheit, Lillian Monteagle hatte jedenfalls auch Bernard Bickel, den bedeutenden Musikwissenschaftler, Raumfahrer, Kritiker und Lebenskünstler zu ihrer Abendgesellschaft eingeladen.
Freifrau Isabel quittierte die Vorstellung mit einem kaum wahrnehmbaren Zusammenpressen der Lippen und vermied jede Bemerkung über ihre Verbindung zu Adolph Gondar und dem Neunten Ensemble von Rlaru. Unvermeidlich kam das Thema zur Sprache; tatsächlich fragte Lillian Monteagle selbst, mit einem mißgünstigen Seitenblick auf Freifrau Isabel, ob Mr. Bickel den Aufführungen beigewohnt habe, die einen solchen Wirbel verursachten. Bernard Bickel schüttelte lächelnd den Kopf. Er war ein ansehnlicher Mann in den besten Jahren mit stahlgrauem Haar, einem gekräuselten Schnurrbart und vertrauenerweckendem ungezwungenen Charme. »Ich habe ein paar Ausschnitte davon im Fernsehen gesehen, aber ich habe dem keine große Aufmerksamkeit gewidmet. Ich fürchte, daß die lieben Leute auf der Erde nur zu begierig sind, jede Neuheit und Modetorheit, jede Zerstreuung und Ungewöhnlichkeit anzunehmen. Mehr Macht für diesen Adolph Gondar: Wenn Müßiggänger und Narren gewillt sind, ihn zu bezahlen, warum sollte er das Geld nicht nehmen?« »Mein lieber Mr. Bickel«, wiedersprach Lillian Monteagle, »das klingt ja, als würden Sie die Glaubwürdigkeit dieser Truppe anzweifeln.« Bernard Bickel lächelte gelassen. »Ich will es so sagen: Ich habe noch nie von dem Planeten ›Rlaru‹, oder wie auch immer man ihn ausspricht, gehört. Und wie Sie wissen, bin ich weit im Weltraum herumgekommen.« Eine junge Dame auf der anderen Seite des Tisches beugte sich vor. »Aber Mr. Bickel. Ich finde, Sie sind schrecklich ungerecht! Sie sind nicht einmal in einer Vorstellung gewesen! Ich war dort und war vollkommen hingerissen.«
Bernard Bickel zuckte die Achseln. »Wer oder was Adolph Gondar auch sein mag, er ist ohne Zweifel ein fantastischer Schauspieler.« Freifrau Isabel räusperte sich. Roger entspannte sich in seinem Sessel: Warum sollte er sich Verkrampftheit oder Unruhe ergeben? Was geschehen mußte, würde geschehen: Freifrau Isabel ging auf Grund ihres Alters, ihres Geschlechts und ihres herrischen Auftretens aus derartigen Auseinandersetzungen gewöhnlich mit unversehrter Würde und eingeschüchterten Gegnern hervor. Sie ergriff das Wort: »Ich muß Ihnen widersprechen. Adolph Gondar ist ein gänzlich ungeschickter Schauspieler, obgleich er wahrscheinlich ein fähiger Raumkapitän ist, das ist nämlich sein Beruf.« »Oh?« Bernard Bickel zog eine Augenbraue zu einem fragenden Bogen hoch. »Das würde seinem Anspruch natürlich den Anschein des Möglichen verleihen. Was mich betrifft…«, er hob sein Weinglas und betrachtete eingehend den purpurroten Schimmer, »… so bin ich, Bescheidenheit beiseite, einer der führenden Männer auf einem Gebiet, das man als Vergleichende Musikwissenschaft, Symbolische Harmonielehre oder ganz einfach als Musikwissenschaft bezeichnet. Und ich weigere mich schlicht, mich von dem geheimnisvollen Adolph Gondar zum Narren halten zu lassen. Seine Musik ist begreifbar, und damit ist der Schwindel aufgedeckt. Musik ist wie eine Sprache: Man kann sie nicht verstehen, wenn man sie nicht gelernt hat, oder, besser gesagt, wenn man nicht hineingeboren ist.« »Hört, hört!« sagte jemand leise. Freifrau Isabel ließ den Kopf herumschnellen, um den Spötter zu erkennen. Sie sagte mit kühler Stimme: »Dann glauben Sie also, daß einfühlsame und intelligente Wesen einer Welt nicht in der Lage sind, den künstlerischen Ausdruck – einschließlich der Musik – einer
ebenso einfühlsamen und intelligenten Bevölkerung einer anderen Welt zu verstehen?« Bernard Bickel wurde klar, daß er es mit einem entschlossenen Gegner zu tun hatte und beschloß, den Rückzug anzutreten. »Nein, natürlich nicht. Absolut nicht. Ich erinnere mich an ein vergnügliches Abenteuer auf dem vierten Planeten der Capelle: nebenbei gesagt, eine elende kleine Welt; sollte jemand vorhaben, ihr einen Besuch abzustatten, folgen Sie meinem Rat, tun Sie es nicht! Ich hatte mich jedenfalls einem Minenvermessungstrupp angeschlossen, um einen Abstecher ins Hinterland zu machen. Eines Nachts schlugen wir unser Lager in der Nähe eines Eingeborenenstammes auf: den Bidrachit Dendicaps, wie Sie alle wissen…?« Er ließ seinen Blick um den Tisch schweifen. »Nein? Nun gut, es sind recht freundliche Wesen, etwa ein Meter fünfzig groß mit einem dichten schwarzen Fell. Sie haben zwei kurze Beine, und was unter ihrem Fell ist, bleibt der Phantasie eines jeden überlassen. Sei es wie es ist, nachdem wir unser Lager aufgeschlagen hatten, kamen ungefähr dreißig ‘Caps, um uns einen Besuch abzustatten. Wir boten ihnen Schwefel an, den sie wie Salz verwenden, und ich setzte zum Spaß meinen tragbaren Plattenspieler in Gang, eines von den kleinen Duodexgeräten mit langer Spieldauer. Ein robustes kleines Gerät, das keine allzu gute Klangqualität hat – aber man kann nicht alles haben. Ich sage Ihnen, die ‘Caps saßen vollkommen verzückt da. Sie starrten den kleinen Kasten drei Stunden lang an, ohne einen Muskel zu bewegen.« Bickel lächelte in die Versammlung. Von allen Seiten erklang belustigtes Murmeln. Lillian Monteagle sagte: »Das ist wirklich rührend! Wahrscheinlich die erste gute Musik, die sie je gehört haben!« Jemand fragte: »Zeigten diese… äh, ‘Caps etwas wie… nun, nennen wir es Verständnis oder Erkennen?«
Bernard Bickel lachte. »Lassen Sie es mich so ausdrücken. Sie haben sicher nicht verstanden, worauf es in den Brandenburgischen Konzerten ankommt. Aber sie haben ihnen mit der gleichen Aufmerksamkeit gelauscht wie der Nußknackersuite, wir können sie also zumindest nicht der Voreingenommenheit bezichtigen.« Freifrau Isabel runzelte die Stirn. »Ich bin nicht sicher, ob ich Sie ganz richtig verstanden habe. Sie erkennen die Allgemeingültigkeit der Musik an?« »Nun – bis zu einem gewissen Grad, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Musik ist eine Form der Kommunikation – der emotionalen Kommunikation natürlich –, und das setzt ein Einverständnis in bezug auf den Symbolgehalt voraus. Können Sie mir folgen?« »Selbstverständlich«, stieß Freifrau Isabel pikiert hervor. »Ich bin Schatzmeister des Opernverbandes; wenn ich nichts von Musik verstünde, würde man sicher nicht zulassen, daß ich in dieser Eigenschaft weiterhin tätig bin.« »Wirklich? Ich war mir Ihres – sagen wir – semiprofessionellen Status nicht bewußt.« Freifrau Isabel nickte schroff. Bickel fuhr fort: »Der Punkt, auf den ich hinaus will, ist folgender. Der Symbolcharakter der Musik ist gleichzeitig einfach und komplex. Ein langsamer, weicher, rhythmischer Klang wirkt fast in jedem Fall beruhigend. Eine Folge von schrillen, blechernen Stakkatoklängen gleichermaßen unruhevoll. Abstraktion auf der ersten Ebene. Wenn wir uns mit Akkorden und Tonfolgen, mit Klanggruppen und Melodienaufbau befassen, dann haben wir es mit Gesamtheiten zu tun, deren symbolische Bedeutung weit mehr eine Sache der Übereinstimmung ist. Sogar unter den verschiedenen Musikformen der Erde besteht keine Einigkeit in bezug auf die Bedeutung dieser Übereinstimmung. Wenn es Ihnen gefällt,
können wir Spekulationen anstellen über eine mögliche Entsprechung der musikalischen Symbolwerte zwischen den Welten der Galaxis. Es ist denkbar als Folge eines Prozesses der Kulturannäherung oder einer parallellaufenden Entwicklung.« Er hob die Hand, als jemand in Gelächter ausbrach. »Seien Sie mit Ihrem Zweifel nicht zu voreilig! Die diatonische Tonleiter ist kein Zufallsgebilde und keine ungewollte Entdeckung! Sie hat ihre Grundlage in fundamentalen harmonischen Beziehungen. Um ein Beispiel zu geben: Beginnen Sie mit irgendeiner willkürlich gewählten Note. Der Einfachheit halber mit C, das wir als Grundton annehmen. Selbst ein kindliches Ohr kann unterscheiden, daß ein anderes C, eine Oktave höher oder tiefer, die nächstliegende Klangübereinstimmung darstellt. Ein Vibrationsverhältnis von 2:1. Fast ebenso grundlegend wird ein Gleichklang mit einer Vibrationsrate von 3:2 erscheinen. Es erweist sich, daß die Note ein G ist, die sogenannte Dominante. Welche Note steht in der gleichen eindringlichen Beziehung zu G, wie G seinerseits zu C? Es stellt sich heraus, daß es die Note ist, die wir D nennen. Wenn wir D als Grundton annehmen, wird A zur Dominante. Mit dem Grundton A ist E die Dominante. Zwölf verschiedene Noten lassen sich auf diese Weise herleiten, bis wir uns plötzlich wieder bei einer Note finden, die sehr dicht beim G liegt. Befördern Sie alle diese Noten in die gleiche Oktave, basteln und mischen Sie ein wenig daran herum, und wir haben unsere vertraute diatonische Tonleiter. Nichts Geheimnisvolles, ein Vorgehen nach der denkbar einfachsten Faustregel. Worauf will ich damit hinaus? Lediglich darauf, daß es nicht überraschend wäre, wenn man auf eine vollkommen fremde Rasse auf einem vollkommen fremden Planeten stoßen würde, die Instrumente gebraucht, die unseren gleichen und unser vertrautes do re mi ja sol la ti do anwendet.«
»Ha!« rief Freifrau Isabel aus. »Genau das erzähle ich immer den einfältigen Narren, die an Adolph Gondar und dem Neunten Ensemble herumkritteln!« Bernard Bickel schüttelte lächelnd den Kopf. »Das ist etwas vollkommen anderes! Wenn man sich auch darüber einig ist, daß die diatonische Tonleiter ein universelles Handwerkszeug ist, wie Scharniere oder die Stromlinie oder der Satz des Pythagoras, der aalglatte Adolph Gondar ist doch wieder etwas ganz anderes. Nein…«, er hob abwehrend die Hand, »… bezichtigen Sie mich nicht der Widersprüchlichkeit. Ich finde es nur schwer, zu glauben, daß die musikalische Symbolik und Konzeption einer fremdartigen Rasse – die dieses ›Neunte Ensemble von Rlaru‹ zu sein vorgibt – so treffend und vollkommen mit der unseren übereinstimmt, daß sie uns emotional nahegeht. Ist das nicht einleuchtend?« »Sehr einleuchtend«, erwiderte Freifrau Isabel. »So einleuchtend, daß es auf einen schreienden Irrtum in ihrer Beweiskette schließen läßt. Tatsache ist folgendes: Ich selbst habe Mr. Gondar gefördert. Die Tournee ist vollkommen unter meiner finanziellen Schirmherrschaft, ich bin keine Frau, die man zum Narren hält.« Bernard Bickel lachte. »In diesem Fall muß ich meine Einstellung überdenken und meinen schreienden Irrtum aufspüren.« »Ich schlage vor, daß Sie sich eine Vorstellung ansehen«, sagte Freifrau Isabel. »Wenn Sie wollen, können Sie mir während der morgigen Vorstellung in meiner Loge Gesellschaft leisten.« Bernard Bickel erwiderte würdevoll: »Ich werde in meinem Terminkalender nachsehen, und wenn ich es irgend möglich machen kann, werde ich Ihrer Einladung folgen.« Aber Bernard Bickel sollte niemals in Freifrau Isabels vornehmer Loge in den Genuß einer Vorstellung des Neunten
Ensembles von Rlaru kommen. Über nacht verschwand das gesamte Neunte Ensemble – vollkommen, ohne eine Spur zu hinterlassen, als hätte es sich in Luft aufgelöst.
II
Nachdem Roger Wool Freifrau Isabel zu ihrem wunderschönen alten, das Ballewtal überblickenden Haus geflogen hatte, hatte er sich entschlossen, über Nacht zu bleiben, anstatt zu seiner Wohnung in der Stadt zurückzukehren. Daher war er anwesend, als Holker, der Butler, das Visaphon mit einem gemurmelten: »Mr. Gondar, Madam. Eine dringende Nachricht« auf den Frühstückstisch stellte. »Danke, Holker.« Freifrau Isabel drückte den Knopf, und Gondars Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Sein Blick war düsterer denn je; sein Gesichtsausdruck war abweisend und zeigte keine Spur der Überschwenglichkeit, die man von einem Impresario erwarten würde. »Nun, Adolph?« fragte Freifrau Isabel. »Was haben Sie für Sorgen?« »Es ist einfach genug«, erwiderte Gondar. »Das Neunte Ensemble ist verschwunden.« »Verschwunden, sagen Sie.« Freifrau Isabel warf Gondar einen langen, nachdenklichen Blick zu; und Roger dachte darüber nach, daß Bernard Bickels Worte vermutlich mehr Eindruck auf Freifrau Isabel gemacht hatten, als sie zugeben wollte. »Wie ist das geschehen?« »Nach der gestrigen Vorstellung habe ich die Truppe hinauf ins Penthouse des Theaters begleitet. Sie aßen etwas, und es schien ihnen an nichts für die Nacht zu fehlen – obwohl ich sagen muß, daß sie alle reichlich unruhig schienen – fast, als seien sie zu irgendeinem Unfug aufgelegt. Ich hatte ihnen einen Ausflug versprochen – eine Segelpartie auf Mr.
Saverinos Yacht –, und ich nahm an, daß das der Grund für ihre Unruhe sei… Heute morgen – waren sie einfach nicht mehr da. Der Portier hatte niemanden durch die Eingangstür zur Straße hinausgelassen, der Parkdeckwärter schwört, daß kein Luftfahrzeug gelandet oder gestartet ist.« »Das ist eine ernste Angelegenheit«, sagte Freifrau Isabel. »Für die ich mit meinem persönlichen Ansehen geradestehe. Ich muß sagen, daß ich nicht vollkommen befriedigt bin.« »Sind Sie nicht?« knurrte Gondar. »Warum sollten Sie das nicht sein? Sie haben jeden Cent bekommen, den wir im Laufe der vergangenen drei Monate eingespielt haben. Sie haben keinen Grund, sich zu beklagen.« »Es scheint, daß meine Vorsichtsmaßnahmen völlig in Ordnung waren. Wie Sie wissen, hat es ein gewisses Maß an zynischer Spekulation bezüglich der Echtheit der Truppe gegeben. Ich habe immer darüber hinweggesehen, aber nun muß ich mich doch fragen, wie und warum die Truppe verschwunden ist.« Gondars starrer Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Ich würde mich glücklich schätzen, unsere Verbindung zu lösen«, sagte er. »Sie brauchen mir lediglich mein Geld auszuhändigen.« »Ich werde nichts dergleichen tun«, sagte Freifrau Isabel. »Genau aus diesem Grund habe ich nämlich auf der Vereinbarung bestanden: daß ich beim geringsten Verdacht eines Schwindels oder Betrugs in der Lage bin, das gezahlte Geld zurückzuerstatten. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt bin ich nicht zufriedengestellt. Sie haben mir sehr wenig von dem Planeten Rlaru erzählt, und bevor ich das Kapital freigebe, muß ich absolut sicher sein.« Gondar nickte grollend. »Werden Sie heute morgen zu Hause sein?« »Angesichts einer dringenden Angelegenheit wie dieser, selbstverständlich.«
»Ich werde in einer halben Stunde bei Ihnen sein.« Das Visaphon erlosch. Freifrau Isabel wandte sich mit einem unwilligen Schnauben an Roger. »Manchmal sieht es so aus, als sei die ganze Welt falsch und ohne Anstand.« Roger erhob sich. »Da ich eine…« »Setz dich, Roger. Ich werde dich hier brauchen.« Roger nahm seinen Platz wieder ein. Kurz darauf wurde Adolph Gondar von Holker gemeldet. Er trug einen feierlichen, dunkelblauen Anzug mit weißen Paspeln und purpurroten Dreiecken an der Taille und eine weite, dunkelblaue Kappe mit einem Raumfahreremblem darauf. In der Hand trug er einen kleinen Koffer, den er beiseite stellte. »Nehmen Sie Kaffee?« fragte Freifrau Isabel. »Oder Tee?« »Weder noch«, sagte Gondar. Er warf Roger einen Blick zu und trat dann auf Freifrau Isabel zu, die an diesem Morgen ein kleidsames Gewand aus Spitze und blauem Satin trug. »Nehmen Sie Platz, Mr. Gondar, wenn ich Sie bitten darf.« Gondar zog einen Stuhl heran. »Ich bin der Meinung«, erklärte Gondar, »daß ich mein Geld bekommen sollte. Ich habe die Vorstellungen entsprechend den Bedingungen unserer…« Freifrau Isabel sagte: »Ich möchte folgendes feststellen: Unsere Vereinbarung beinhaltet eine Garantie gegen ›falsche oder ungenaue Darstellung und Zurückhaltung von Tatsachen‹. Ich habe diese Bedingungen peinlich genau befolgt…« »Das habe ich ebenfalls getan!« »Es gab keine vollkommene Offenheit. Sie haben eine eifrige Geheimniskrämerei betrieben und so viele bedeutende Tatsachen zurückgehalten, daß ich unsere Vereinbarungen als ungültig betrachte.« Gondar fuhr entsetzt zurück. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich will damit sagen, daß unsere Abmachungen hinfällig sind. Ich weigere mich, das Geld herauszugeben, das von der Truppe eingespielt worden ist.« Gondars Gesicht wurde bleich und starr. »Ich habe Ihnen nur zuverlässige Tatsachen berichtet.« »Aber haben Sie mir alles gesagt? Wie und wo genau sind Sie auf das Neunte Ensemble gestoßen? Warum sind die Leute verschwunden? Wo sind sie jetzt?« Gondar entschloß sich, die letzte Frage zu beantworten. »Meiner Meinung nach sind sie nach Hause zurückgekehrt.« »Nach Rlaru?« Freifrau Isabels Frage klang zweifelnd. »Ja. Wie, das weiß ich nicht. Diese Leute kennen sich mit allen möglichen Techniken und Wissenschaften aus, die uns unbekannt sind. Ich nehme an, sie haben einfach beschlossen, nach Hause zurückzukehren und sind aufgebrochen.« »Mit Hilfe eines psychischen Willensaktes, nehme ich an?« Freifrau Isabels Stimme triefte vor Verachtung und Hohn. »Ich wünschte, ich wüßte es. Ich würde selbst davon Gebrauch machen. Auf Rlaru habe ich Dinge gesehen, die ich nicht beschreiben kann – musikalische Darbietungen, die überwältigend waren. Sie würden es wahrscheinlich als Opern bezeichnen.« Freifrau Isabels Interesse war geweckt. »Was für eine Art von Opern? Ähnlich denen des Neunten Ensembles?« »Oh nein. Das Neunte Ensemble ist eine – nun, nicht gerade eine Komödiantentruppe, aber ihr Repertoire umfaßt das, was man als leichte Muse bezeichnen würde.« »Hmmpf.« Freifrau Isabel blickte einen Augenblick zum Fenster hinaus. »Welche Anreize haben Sie dem Neunten Ensemble geboten, um es zu einem Besuch der Erde zu bewegen?« Nun wurde Gondar seinerseits nachdenklich. »Ich war etwa vier Monate lang auf Rlaru. In der Zeit habe ich mir ein paar Kenntnisse der Sprache angeeignet. Als ich die Güte ihrer
Aufführungen erkannte, erwähnte ich in ihrem Beisein, daß wir uns auf der Erde auf ähnliche Weise ausdrücken und daß es uns vielleicht gelingen würde, ein kulturelles Austauschprogramm ins Leben zu rufen.« Roger begann, zu lachen, bemerkte aber dann Freifrau Isabels Blick und Gondars Mißfallen in seinen funkelnden Augen und unterdrückte den Ton rasch. »Es gab keine Schwierigkeiten«, fuhr Gondar fort. »Ich brachte das Neunte Ensemble zur Erde und schlug nach einer kurzen Zeitspanne vor, eine Gruppe von der Erde nach Rlaru zu bringen. Jetzt aber« – er streckte die Hände hilfesuchend aus – »nichts. Es ist mir ein Rätsel.« Freifrau Isabel goß geistesabwesend eine Tasse Kaffee aus einer Silberkanne ein, die sie Gondar reichte. »Würden Sie den Planeten Rlaru wiederfinden?« »Wenn nötig.« Freifrau Isabel runzelte die Stirn. »Diese Situation ist in gewisser Weise beunruhigend, und es liegt in unser beider Interesse, Gerüchten den Boden zu entziehen. Kann sich die Gruppe nicht irgendwohin abgesetzt haben, ohne Sie zu benachrichtigen?« Gondar schüttelte den Kopf. »Meiner Meinung nach sind sie nach Rlaru zurückgekehrt – auf eine Weise die sich meiner Kenntnis entzieht.« »Ist die Wissenschaft auf dem Planeten hoch entwickelt?« »Das würde ich nicht sagen. So einfach liegen die Dinge nicht – tatsächlich ist es eine völlig andere Situation. Niemand scheint übermäßig schwer zu arbeiten, abgesehen vielleicht von der untersten Gesellschaftsschicht.« »Oh? Es ist also eine Klassengesellschaft?« »So würde man es vermutlich nennen. An der Spitze stehen Aristokraten, die auch die Musiker und Pantomimen stellen. Darunter findet sich eine Art Mittelklasse, aus der ebenfalls Künstler und Musiker hervorgehen. Auf der untersten Stufe steht eine Kaste von Vagabunden, unbegabte, arme Leute.
Sollte es irgendwelche Wissenschaftler oder Produktionsbetriebe geben, so habe ich sie zumindest nicht gesehen.« »Sie haben keine besonders sorgfältigen Nachforschungen betrieben?« »Nein. Man hat mir zu verstehen gegeben, daß es nicht sicher sei, überall hinzugehen. Niemand hat mich aufgeklärt, warum.« »Nun, nun. Das ist höchst interessant. Auf alle Fälle muß die Verbindung zwischen den beiden Planeten fortgeführt werden. Roger, was ist deine Ansicht?« »Ich bin völlig deiner Meinung. Gar keine Frage.« »Der Opernverband hat heute abend eine Sitzung«, sagte Freifrau Isabel. »Ich werde vortragen, was Sie mir berichtet haben und vorschlagen, daß das kulturelle Austauschprogramm aufrecht erhalten wird.« »Alles schön und gut«, sagte Adolph Gondar düster, »aber was ist mit meinem Geld?« »Alles zu seiner Zeit«, sagte Freifrau Isabel. »Es ist sicher und gewinnbringend angelegt. Darüber hinaus waren Sie nachlässig – wirklich, sehr nachlässig.« Gondar schien erstaunt. »Wie das?« »Sie haben kein Wort von Ihrer Verpflichtung, eine Musikgruppe nach Rlaru zu bringen, erwähnt. Das ist eine Angelegenheit, an die man nicht auf halbherzige oder überstürzte Weise herangehen kann.« Gondar rieb sich zweifelnd sein langes Kinn. Er warf Roger einen schnellen Seitenblick zu und wandte sich dann wieder Freifrau Isabel zu. »Ich bin mir nicht sehr sicher, ob es ein durchführbares Projekt ist – wirklich, jetzt, wo ich darüber nachdenke…« Freifrau Isabels Gesichtsausdruck wurde steinern. »Mr. Gondar, ich bin niemals unklar oder unzuverlässig, und ich
erwarte von jedem Menschen, mit dem ich es zu tun habe, daß er sich ebenso verhält. Sie haben die Behauptung aufgestellt, das Neunte Ensemble von Rlaru sei als Teil eines kulturellen Austauschprogramms zur Erde gekommen.« »Ja, natürlich, aber…« »Ist diese Behauptung wahr, oder ist sie unwahr?« »Sie ist natürlich wahr. Jedoch…« »Wenn sie wahr ist, ist die Verpflichtung bindend. Darüber hinaus – und Sie werden mir darin sicher zustimmen, da Ihr Ansehen ebenso in Frage gestellt ist wie das meine – müssen diese Leute, die unsere Aufrichtigkeit anzweifeln, widerlegt werden. Sind Sie nicht auch dieser Ansicht?« »Ja. Ja, ganz meine Meinung. Vollkommen.« »Wir können beide Fliegen mit einer Klappe schlagen, indem wir den Besuch einer repräsentativen Gruppe von Musikern auf Rlaru organisieren.« Gondar seufzte unwillig auf. »Aus Gründen, die ich für mich behalten möchte, würde ich die Erde lieber nicht verlassen. Nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt.« »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als das Geld, über das ich verfüge, einem Wohltätigkeitsverein zu übergeben. Anders kann ich unsere Redlichkeit nicht unter Beweis stellen.« Gondar dachte angestrengt nach, dann erhob er sich mit einem langen Seufzer der Resignation. »Also gut. Arrangieren Sie Ihre Tournee. Es kann keinen Schaden anrichten.« »Gut. Ich bin überzeugt, daß der Opernverband das Projekt begeistert unterstützen wird.«
Freifrau Isabel hatte sich geirrt. Zu ihrem Erstaunen lehnten die Direktoren des Opernverbandes jede Art von Unterstützung für das Vorhaben ab. »Wir müssen unser Ansehen wahren«, sagte Stillman Cordwainer, der Vorsitzende. »Ich habe aus
zuverlässiger Quelle erfahren, daß Adolph Gondar ein Scharlatan ist. Meiner Ansicht nach sollten wir uns vollkommen von ihm distanzieren und in Zukunft mehr Vorsicht walten lassen.« »Ich bin in jeder Hinsicht Ihrer Meinung«, erklärte Bruno Brunofsky. »Als nächstes wird man uns bitten, eine Gruppe von Tanzbären zu unterstützen.« Freifrau Isabel sprach mit ihrer eisigsten Stimme: »Es ist offenkundig, daß die Herren Direktoren beschlossen haben, sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Ich halte die Taktik des Vorstandes für geschmacklos, unfruchtbar, engstirnig und dumm; ich habe keine andere Wahl, als Ihnen meinen sofortigen Rücktritt anzubieten. Ich selbst werde die Verantwortung für diese Tournee nach Rlaru übernehmen. Wenn Sie einen neuen Schatzmeister wählen wollen, werde ich meine Unterlagen und Rechnungsbücher übergeben.«
III
Als Roger Wool in der Morgenzeitung von den Plänen seiner Tante las, war seine erste Reaktion Erstaunen, seine zweite Bestürzung, seine dritte ein blinder, instinktiver Drang, zu handeln, bevor es zu spät war. Holker nahm seinen Visaphonanruf entgegen und verband ihn mit seiner Tante, die an ihrem Schreibtisch saß und Programme und Aufzeichnungen durchblätterte. Mit gekünstelt scherzhafter Stimme rief er aus: »Tante Isabel, hast du schon in die Zeitungen geschaut? Sie haben einen überaus lächerlichen Artikel veröffentlicht!« »Ach?« Freifrau Isabel blickte kaum von ihrer Arbeit auf. »Wir müssen Biancolleli bekommen. Und Otto von Scheerup.« Dann an Roger gewandt: »Ja, was wolltest du sagen?« »Die Zeitungen«, sagte Roger, »sie haben das absurde Gerücht in die Welt gesetzt, du würdest dich auf eine Musiktournee ins All begeben – etwas vollkommen Blödsinniges. Ich finde wirklich, du solltest sie verklagen, wegen… wegen…« »Weswegen, Roger?« »Wegen niederträchtiger Verleumdung – wegen öffentlicher Verunglimpfung.« »Roger, hör auf mit dem Geschwätz. Die Artikel entsprechen in jeder Hinsicht den Tatsachen. Ich habe tatsächlich die Absicht, ein Opernensemble zu bilden und es nach Rlaru zu bringen.« »Aber – bedenke doch! Die Kosten, die Schwierigkeiten! Ein Opernensemble muß aus mindestens fünfzig Leuten bestehen…«
»Ich glaube, wir kommen gut mit zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig aus. Die Gruppe muß unbedingt flexibel sein, und die Mitglieder müssen den persönlichen Willen und die Fähigkeit besitzen, sich unterzuordnen und kleinere Rollen zu übernehmen.« »Aber ein ganzes Raumschiff wäre vonnöten, eine Mannschaft, Vorräte…« »Ich habe meinen Freund, Admiral Rathelaw für das Projekt gewonnen; er wird für ein passendes Raumschiff zu einem vernünftigen Charterpreis sorgen. Das ist die geringste aller Schwierigkeiten.« »Aber du kannst dich nicht einfach so in den Raum stürzen! Denk an die Gefahren!« »Unsinn. Mr. Bickel hat berichtet, daß er überall äußerst herzlich empfangen wurde. Du liest zu viele Sensationsmeldungen, Roger; du brauchst offensichtlich ein Ventil für deine überschüssigen Kräfte: vielleicht einen Job.« »Ernsthaft«, sagte Roger, »du machst dir keine Vorstellung von den Problemen, den Einzelheiten, dem Kopfzerbrechen…« »Ich werde natürlich zuverlässige Personen einstellen, die sich mit diesen Dingen befassen.« »Aber die Ausgaben! Ein solches Wagnis wird Millionen verschlingen!« Freifrau Isabel zuckte die Schultern. »Ich besitze ausreichende Mittel. Wenn ich tot bin, was nützt mir dann mein Geld?« Dagegen konnte Roger nichts sagen. Als der nächste Verwandte seiner Tante betrachtete er sich als ihren Erben, und das Geld, das sie für dieses überspannte Vorhaben verschwenden wollte, war in weitestem Sinne sein eigenes. »Vielleicht stellt sich sogar heraus, daß es uns einen Gewinn bringt«, sagte Freifrau Isabel munter. »Ich habe natürlich nicht
die Absicht, unsere Vorstellungen auf den Planeten Rlaru zu beschränken. Ich habe eine feste Überzeugung in bezug auf die Allgemeingültigkeit von Musik, und Mr. Bickels Beschreibung der haarigen Wesen, die seinem Plattenspieler lauschten, hat mich tief bewegt.« Roger setzte zum Sprechen an, überlegte es sich dann aber anders. »Meine Überlegungen sind weitreichend«, fuhr Freifrau Isabel fort. »Wir alle sind uns bewußt, daß den Völkern entfernter Planeten häufig unser Musikverständnis fehlt; und doch kann jeder Anstoß, den wir geben, jeder Funke, den wir auslösen, zu den alleraufsehenerregendsten musikalischen Ereignissen führen; hat nicht Mr. Bickel selbst die Ansicht geäußert, daß von solchen Leuten die machtvolle neue Musik der Zukunft ausgehen kann?« »Ich dachte, du hältst Mr. Bickels Ansichten für oberflächlich«, entgegnete Roger müde. »Ein jeder hat das Recht auf seinen eigenen Standpunkt. Mr. Bickel spricht zumindest mit der Glaubwürdigkeit weitreichender Nachforschungen, während Herren wie Mr. Thorpe und Mr. Seaboro alles, was sie wissen, dadurch erfahren haben, daß sie einander zugehört haben.« Roger stieß einen verärgerten Laut aus. »Ich würde ganz sicher keine Hoffnung in Adolph Gondar setzen. Was weißt du schließlich schon von ihm?« »Ich weiß, daß er mit mir zusammenarbeiten muß, weil er andernfalls keinen Pfennig von seinem Verdienst sehen wird. Und da wir einmal bei dem Thema Verdienst sind, es ist höchste Zeit, daß du dir irgendeinen Beruf zulegst. Gestern wurde ich ersucht, einige deiner Rechnungen zu begleichen. Ich gewähre dir ein großzügiges Taschengeld, und ich finde diese Verschwendung unerklärlich…«
Schließlich gelang es Roger, die Unterredung zu beenden. Mißmutig dachte er über die Zukunft nach. Er hatte sich an Freifrau Isabels Überspanntheiten mehr oder weniger gewöhnt, aber diese Sache war schwerwiegender, tiefgreifender als bloße Überspanntheit; es war – schuldbewußt strich Roger das Wort. Wie stand es um seine eigene Stellung: Arbeit. Ein Job. Eine lächerliche Vergütung für Stunden seiner kostbaren Zeit. Es konnte möglicherweise eine Frage der Notwendigkeit werden: Es bestand die Möglichkeit, daß Freifrau Isabel alles, was sie besaß, für diese unsinnig teure Laune ausgab… Roger dachte an Bernard Bickel. Wenn überhaupt jemand sie von ihrem Vorhaben abbringen konnte, dann war er es. Roger wählte Bernard Bickels Nummer im Gasthaus zum Nomaden. Bickel nahm den Anruf entgegen. Er würde sich freuen, Roger zu empfangen, nein, es gäbe keinen geeigneteren Zeitpunkt als gerade jetzt. Roger nahm einen Luftbus zum Gasthaus zum Nomaden. Bickel kam ihm in der Halle entgegen und schlug einen Kaffee in der nahegelegenen Sternfahrer-Bar vor. Als sie es sich bequem gemacht hatten und Kaffee und ein Tablett mit Kuchen vor ihnen stand, richtete Bickel den Blick fragend auf Roger. »Sie wissen sicherlich, warum ich zu Ihnen gekommen bin«, bemerkte Roger. »Mein lieber Freund, ich habe nicht die blasseste Ahnung.« »Haben Sie nichts von den neuen Plänen meiner Tante gehört?« Bickel schüttelte den Kopf. »Ich war nicht in der Stadt. Etwas Erfreuliches, hoffe ich?« ›»Erfreulich‹«, wiederholte Roger das Wort bitter. »Sie will ein großes Opernensemble auf diesen Planeten Rlaru bringen.
Sie wird Millionen ausgeben, ohne mit der Wimper zu zucken.« Bickel hörte ihm mit einem gelegentlichen Kopfnicken, einem verwunderten Lippenkräuseln zu. »Ihre Tante repräsentiert einen Menschentypus, der bedauerlicherweise nahezu ausgerottet ist: den wohlhabenden Kunstliebhaber, den reichen Exzentriker. Eine beeindruckende Frau – obgleich ich ihr Vertrauen in Kapitän Gondar nicht teilen kann.« »Es ist entsetzlich!« erklärte Roger. »Er hat sie zu einem Projekt überredet, das eine enorme Summe Geldes verschlingen wird! Sie will andere Welten aufsuchen, die auf dem Weg liegen – Sie selbst haben sie auf diese Idee gebracht mit ihrer Beschreibung der Bidrachit Dendicaps, die der Musik aus ihrem Plattenspieler lauschten.« Bernard Bickel lachte ungläubig. »Aber das ist alles so lächerlich! Jene Wesen wunderten sich lediglich, daß ich so viele Insekten – die an diesem Ort laute, schrille Töne ausstoßen – in einen so kleinen Kasten sperren konnte. Die Vorstellung ihrer Tante ist – verzeihen Sie, wenn ich es offen ausspreche – blödsinnig. Die Dendicaps könnten ein Konzert nicht von einem Schlag auf die Nase unterscheiden.« Roger schüttelte sich vor Lachen. »Sie war sehr beeindruckt von Ihren Worten. Ich frage mich – ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll – aber sehen Sie eine Möglichkeit, meiner Tante die Sache klarzumachen?« Bernard Bickel runzelte die Stirn, strich sich über seinen hübschen, silbernen Schnurrbart. »Ich wäre natürlich glücklich, Ihrer Tante einen Rat zu geben, aber ich kann nicht einfach hereinschneien und sie mit meinen Ansichten überfallen.« »Wissen Sie was?« rief Roger, »kommen Sie heute als mein Gast nach Ballew, Sie wird hoch erfreut sein, Sie zu sehen.«
Bickel zuckte die Achseln. »Ich habe nichts anderes vor, und ich würde mich freuen, das Anwesen Ihrer Tante kennenzulernen.« »Gut! Wir können fahren, sobald es Ihnen paßt.« »Oh… Zwei Uhr?« »Ausgezeichnet. Ich werde Sie mit meinem Luftfahrzeug abholen.« Kurz vor drei Uhr kamen Roger und Bernard Bickel in Ballew an. Roger landete seinen Wagen auf dem Parkdeck, und Grumiano, der alte Pförtner, kam und rollte ihn in die Garage. Bernard Bickel trat an das Geländer und ließ den Blick über das Gelände schweifen. »Ein großartiges Gebäude, absolut herrschaftlich! Es muß Hunderte von Jahren alt sein!« »Ja, es ist ein wunderschönes Haus. Und ich möchte nicht zusehen müssen, wie es auf einer Auktion versteigert wird… Wir werden meine Tante sicher im Rosengarten finden oder vielleicht auf der Südterrasse.« Tatsächlich saß Freifrau Isabel an einem Marmortisch auf der Südterrasse und diktierte Briefe in ein Diktaphon, während sie gleichzeitig Gespräche über das Visaphon anwählte. Sie bedachte die beiden mit einem knappen Kopfnicken. Augenscheinlich hatte sie Bernard Bickel nicht erkannt. »Setz dich, Roger. Ich kümmere mich gleich um dich. Ich habe Marzic Ipsigori in der Leitung, und wir versuchen, zu einer Einigung zu kommen. Ich glaube, er wird mitmachen.« Roger und Bernard Bickel warteten, während Freifrau Isabel mit dem berühmten Bariton verhandelte, der, wie es schien, keine feste Zusage machen konnte, bevor er seine Verpflichtungen für das kommende Jahr überprüft hatte. Freifrau Isabel schaltete den Apparat aus und drehte sich zu Roger und Bickel um. »Nun, Roger, wer ist dein Freund? Aber natürlich, das ist doch Mr. Bickel.«
»Ja, und ich bin entzückt über die Gelegenheit, Ihr Heim und Ihr großartiges Anwesen kennenzulernen.« Freifrau Isabel nickte. »Ballew zeigt sich von seiner besten Seite während des Sommers. Roger, geh und such Holker, und bitte ihn, Tee zu servieren.« Als Roger zurückkam, schlenderten Freifrau Isabel und Bernard Bickel durch den Rosengarten und unterhielten sich angeregt. Von Zeit zu Zeit brach Freifrau Isabel in herzliches Gelächter aus, und Bernard Bickel schien sich ebenfalls bestens zu unterhalten. Wenigstens, dachte Roger, hörte seine Tante ohne Widerwillen zu. Vielleicht waren ihr selbst schon Zweifel gekommen in bezug auf die enorme Vielschichtigkeit ihres Vorhabens. Roger seufzte voller Zufriedenheit: Es war ein kluger Schritt gewesen, das Problem in Bernard Bickels Hände zu legen. Holker deckte den Teetisch; Freifrau Isabel und Bickel gesellten sich zu Roger. »Gute Neuigkeiten!« rief Freifrau Isabel aus. »Wirklich gute Neuigkeiten! Mr. Bickel hat sich bereit erklärt, sich unserer kleinen Reise zu den Planeten anzuschließen! Er wird als musikalischer Berater fungieren, zu einem wahrhaft unerschwinglichen Gehalt, wie ich leider sagen muß – « sie kicherte verschmitzt » – aber seine profunden Kenntnisse werden uns zur Verfügung stehen, um uns zu führen!« Roger blickte Bernard Bickel vorwurfsvoll und betroffen an, der ihm lächelnd zunickte. »Ich will ganz aufrichtig sein«, sagte Bickel. »Sie hätten keinen besseren Mann finden können. Es gibt Dutzende von Fallen, in die Sie, ohne erfahrenen Rat, mit Sicherheit ahnungslos stolpern würden.« Roger erhob sich. Freifrau Isabel sah überrascht auf. »Roger, bleibst du nicht zum Essen?« »Nein«, sagte Roger. »Mir ist gerade eingefallen, daß ich eine Verabredung habe.« Er verneigte sich finster vor Bernard Bickel und entfernte sich.
Freifrau, Isabel seufzte. »Ich verstehe Roger nicht. Ein lieber Kerl, aber, wie so viele Menschen seiner Generation, orientierungslos. Ich habe ihm eine Stellung bei der AtlantikVersicherung verschafft. Die Welt des Kapitals und der Finanzen soll aufregend sein, und ich bin sicher, daß sich die Anforderungen einer geregelten Arbeitszeit als anregend erweisen werden.« »Ganz recht«, sagte Bernard Bickel. »Sie haben eine sinnvolle Entscheidung getroffen.«
IV
Vom journalistischen Standpunkt aus gesehen war die Welt gerade zu diesem Zeitpunkt eintönig. Es gab keine politischen Streitigkeiten, der Verleumdungsprozeß zwischen Hall und Anderson war abgeschlossen, die endgültige Wiederherstellung des alten Athen vollendet, und seit vielen Monaten hatte niemand mehr das Ungeheuer von Loch Ness gesehen. Die Scheidung Barbara Bankwilers von dem Großherzog von Tibet war vorhersehbar gewesen, die neuen Modelle der Luftfahrzeugindustrie würden noch einige Monate auf sich warten lassen. Hier und da gab es natürlich so etwas wie Neuigkeiten: Die Gesellschaft der Blaublütigen hatte ein Gelände von vierzig Millionen Hektar in Mittelmauretanien erworben, dessen Mittelpunkt die Oase Sebkra de Chinchane bildete, wo Ferienreisende sich des alten Nomadenlebens erfreuen konnten; eine hohle Brezel mit einem Inhalt von einem halben Liter Bier war auf den Markt gebracht worden; den Guadalajara Coyotes, Las Vegas, Dodgers, Osaka Earthquakes, Saint Louis Browns, Milan Green Sox und Bangalore Avatars wurden in der bevorstehenden Ermittlung der Weltrangliste in etwa die gleichen Chancen eingeräumt. Das alles war aber nur eine leichte Brise in der sommerlichen Windstille, und Freifrau Isabels geplante Reise zu abgelegenen Planeten erregte weltweites Aufsehen. Fachleute wurden um ihre Meinung gebeten; ihre Berichte wurden überprüft und Erkundigungen eingezogen, bis schließlich eine breite Kontroverse die Gemeinde der Intellektuellen in Aufruhr versetzte. Wortführer des einen Standpunktes bezeichneten Freifrau Isabel unverblümt als verrückt und das gesamte
Projekt als musikalische Schnapsidee; andere stellten fest, daß die Erfahrung für alle Beteiligten zumindest lehrreich sein müßte. In einem überzeugenden Artikel für den Kosmologen schrieb Bernard Bickel: »Es ist gut möglich, daß nicht jedes Individuum auf jedem Planeten an dem gesamten Repertoire Gefallen finden wird – aber es muß irgendeinen Berührungspunkt geben: im ungünstigsten Fall schlichtes Staunen über Klang und Farbe, im besten Fall eine begeisterte, wenn auch vielleicht gefühlsbetonte Aufnahme (man darf nicht vergessen, daß das Angebot in der Hauptsache die klassische Oper, also eine künstlerische und anspruchsvolle Musikform, umfaßt). Vielleicht treffen wir zufällig auf Rassen mit eigenen hochentwickelten Klangstrukturen; es gibt eine große Anzahl davon: Ich selbst bin verschiedenen begegnet. Andere Rassen sind vollkommen taub, und für sie ist Musik unvorstellbar. Dennoch ist es unmöglich, daß eines dieser Völker unbeeindruckt bleibt von der Herrlichkeit der klassischen Oper und von der künstlerischen Ausdruckskraft der Menschen, die sie darstellen. Wir werden zumindest sinnvolle Öffentlichkeitsarbeit leisten, und das beste, das wir zu bieten haben, ist es, Völker, die weniger begünstigt sind als wir, um eine sinnvolle Erfahrung zu bereichern.« In einem anderen Artikel erwähnte Bernard Bickel vorsichtig den Planeten Rlaru: »Unglücklicherweise habe ich die Vorstellungen des Neunten Ensembles bis auf einen kurzen Ausschnitt versäumt. Ich muß gestehen, daß dieses winzige Stück mich nachdenklich gemacht hat. Wo Rlaru zu finden ist, weiß ich nicht: Selbst der weitgereisteste Musikwissenschaftler kann nur einen kleinen Bruchteil der bewohnten Welten besuchen. Eine Sache möchte ich feststellen, die bisher, wie mir scheint, außer acht gelassen wurde: Allen Berichten zufolge bestand das Neunte Ensemble aus Individuen, die mehr oder weniger menschlich, jedenfalls aber Mitglieder des
kosmologisch zahlreichen anthropoiden Typus waren. Wenn Gesichtszüge, Anatomie und Körperbau parallele Entwicklungen aufweisen, warum sollte dasselbe nicht für den musikalischen Ausdruck Geltung haben – insbesondere, da die Harmonielehre eine ebenso konkrete Wissenschaft ist wie die Chemie? Lassen Sie uns die Frage vorläufig zurückstellen. Mit Hilfe der Vorsehung und Adolph Gondars werden wir diesen Wunderplaneten besuchen und uns selbst unser Urteil bilden. Wenn die Dinge so liegen, wie erwartet – und auch, wenn nicht – werden wir mit genauen Informationen zurückkehren. Bis dahin rate ich jedem, mit seinem Urteil zurückzuhalten.« Roger hatte die Stellung bei der Atlantik-Versicherung angenommen, denn es fiel ihm gar nicht ein, Schwierigkeiten zu machen: Es war immer klug, die Fahne nach dem Wind zu richten. Selbstverständlich entwickelten sich die Dinge so, wie er es erwartet hatte. Nach einer Woche wohlwollender Stümperei wurde er zu Mr. McNab gerufen, der ihm erklärte, daß gewisse alarmierende finanzielle Tendenzen Stellenkürzungen notwendig machten und daß Mr. Wool als der zuletzt Eingestellte als erster gehen mußte. Roger setzte eine kummervolle Miene auf und begab sich hinaus nach Ballew, um seiner Tante die Angelegenheit zu erklären, erfuhr dort aber, daß sie in Begleitung von Bernard Bickel zum Raumhafen gefahren war. Roger folgte ihr und fand sie am Ausrüstungsdock im nördlichen Teil des Platzes. Hier wurde die Phoebus (so hatte Freifrau Isabel das Schiff umbenannt) auf die besonderen Anforderungen, für die sie vorgesehen war, umgerüstet. Die Phoebus, stellte Roger fest, als er sie umrundete, um Freifrau Isabel zu suchen, war ein großes Schiff aus fünf Kugeln von achtzehn Metern Durchmesser, die durch eiförmige Röhren verbunden waren, deren weiteste
Ausdehnung sechs Meter durchmaß. Eine Kugel war geöffnet und so verändert worden, daß sie eine Bühne bildete, und hier fand Roger Freifrau Isabel, die sich mit dem Ingenieur des Unternehmens beriet. Sie grüßte Roger kurz und, wie es schien, weder überrascht noch abweisend. Roger holte einige Male tief Atem, straffte die Schultern und fand, daß das Schlimmste überstanden war, da Freifrau Isabel bei ähnlichen Gelegenheiten in der Vergangenheit einen dröhnenden Wortschwall hervorgebracht hatte. Nun lauschte sie aufmerksam, als der Ingenieur ihr erklärte, auf welche Weise er die Bühne in das Schiff eingebaut hatte. Die fünfeckige Gestalt der Phoebus umfaßte eine beachtliche Fläche. In ihrer Mitte konnte ein Stützpfosten errichtet werden, von dem sich Drähte zu den Kugeln ziehen ließen. Darüber wurde ein leichter Stoff gespannt, was einen zeltähnlichen Zuschauerraum ergab. Bernard Bickel gesellte sich zu der Gruppe. Er hatte die Wohnräume besichtigt und berichtete nun, daß alles zu seiner Zufriedenheit ausgefallen war. Freifrau Isabels Kabine schien ihm ein wenig beengt, teilte er mit, ebenso möglicherweise seine eigene. Könnte man nicht beide wenigstens geringfügig erweitern? Der Ingenieur versprach) sich um die Angelegenheit zu kümmern. Freifrau Isabel wandte nun anderen Dingen ihre Aufmerksamkeit zu. Ihr Blick fiel auf Roger, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. »Roger, was in aller Welt tust du hier? Warum bist du nicht in deinem Büro?« Es traf Roger unvorbereitet. »Eine vorübergehende Entlassung«, stammelte er, »das hoffe ich wenigstens. Der Markt ist außerordentlich schlecht; Mr. McNab sagte mir, daß ein beträchtlicher Engpaß auf dem Gebiet bevorsteht und daß er etwa ein Drittel seiner Belegschaft bis auf weiteres entlassen muß.«
»Wirklich?« sagte Freifrau Isabel kalt. »Davon hat er mir nichts gesagt, als ich mit ihm sprach.« Roger bemerkte, daß in der Finanzwelt ein Verhängnis häufig mit der Geschwindigkeit eines Blitzstrahls einträfe. »McNab wollte mich natürlich behalten, aber er meinte, die anderen würden das als Protektionismus empfinden. Ich sagte ihm, er solle keine Rücksicht auf meine Gefühle nehmen, sondern tun, was er für richtig hielte.« »Roger«, sagte Freifrau Isabel, »ich weiß wirklich nicht, was ich mit dir tun soll. Du hast eine ausgezeichnete Bildung, gute Umgangsformen, einen gewissen, trockenen Charme, von dem du Gebrauch machst, wenn es dir angebracht erscheint, und ein unleugbares Talent zu einem aufwendigen Leben. Was würdest du ohne meine finanzielle Unterstützung anfangen? Würdest du verhungern? Oder glaubst du, daß dich die Bedürfnisse deines Magens auf den Boden der Wirklichkeit bringen würden?« Roger ließ die Gardinenpredigt mit, wie es ihm schien, bemerkenswerter Würde über sich ergehen. Schließlich hob Freifrau Isabel hilflos die Hände. »Ich fürchte, solange ich noch ein Stück Brot besitze, werde ich mit dir teilen müssen.« Sie wandte sich wieder dem Ingenieur zu, und Roger drehte sich erleichtert zum Gehen. Nun bemerkte er ein außerordentlich attraktives Mädchen, das die Phoebus eingehend betrachtete. Sie war mit einem braunen Anzug mit schwarzen Besätzen und mit einem braunschwarzen Barett bekleidet: Sie war etwas größer als der Durchschnitt, und ihre Haltung drückte ein sich seiner selbst nicht bewußtes Wohlergehen aus. Sie hatte braune Haare und nußbraune Augen und Gesichtszüge von vollkommener Ebenmäßigkeit. Roger war auf den ersten Blick angenehm berührt, ebenso auf den zweiten und dritten. Das Mädchen strahlte weibliche Anziehungskraft aus; sie anzusehen
bedeutete, sich ihr nähern zu wollen, sie berühren zu wollen und Besitzansprüche zu schaffen. Aber es war etwas an dem Mädchen, das über den physischen Reiz hinausging. Selbst auf den ersten Blick spürte Roger – und er hatte sich nie für sehr einfühlsam gehalten – etwas Wunderbares und Außergewöhnliches, das ihr anhaftete, einen phantastischen, unerklärlichen Tatendrang. Das Mädchen bemerkte Rogers Aufmerksamkeit. Sie schien nicht verlegen. Roger lächelte, ohne jedoch große Leidenschaft zu zeigen: Die kürzliche Strafpredigt war nicht dazu angetan, sein Selbstwertgefühl zu steigern. Aber das Mädchen betrachtete ihn mit einem Gesichtsausdruck, der an Bewunderung grenzte; und Roger fragte sich, ob dieses herrlich schöne Mädchen mit Hilfe eines Zaubers tief in ihn hineingeblickt und das wunderbare Wesen seines wahren Ichs erfaßt hatte. Und nun – Wunder über Wunder – näherte sie sich ihm, sprach ihn an. Ihre Stimme war weich, mit einem kaum wahrnehmbaren Singen, das Roger nicht genau bestimmen konnte und das jeder ihrer Äußerungen die Schwingung von Poesie verlieh. »Die Dame dort drüben – ist das Freifrau Isabel Grayce?« »Ja, in der Tat; das ist vollkommen richtig«, sagte Roger. »Sie hätten es nicht genauer treffen können.« »Und wer ist der Mann, der mit ihr spricht?« Roger warf einen Blick über die Schulter. »Das ist Mr. Bickel. Ein Musikexperte, das bildet er sich wenigstens ein.« »Und Sie sind Musiker?« Roger wünschte plötzlich, er wäre es; es war offenkundig, daß sich das Mädchen wünschte, daß er Musiker sei, daß es ihr gefallen würde… Nun, er konnte jederzeit dazulernen. »Ja – in gewisser Weise.« »Ach, wirklich?«
»Ja, wirklich«, sagte Roger. »Ich spiele – nun, ich bin einer von diesen Alleskönnern… Äh, wer sind Sie?« Das Mädchen lächelte. »Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann – weil ich es nicht genau weiß. Aber ich werde Ihnen meinen Namen sagen – wenn Sie mir Ihren nennen.« »Ich bin Roger Wool.« »Sind Sie mit Freifrau Isabel Grayce verwandt?« »Sie ist meine Tante.« »Tatsächlich!« Das Mädchen warf ihm einen bewundernden Blick zu. »Und nehmen Sie an dieser Planetenexpedition teil?« Bis zu diesem Augenblick hatte Roger diese Möglichkeit nicht in Betracht gezogen. Er runzelte die Stirn, warf seiner Tante einen unsicheren Blick zu und war erstaunt, den ihren zu treffen. Freifrau Isabel taxierte das Mädchen mit ihren Blicken, und Roger merkte sofort, daß sie ihr nicht gefiel. Freifrau Isabel war dem tüchtigen, ernsthaften Typ ohne verborgene Schichten und dunkle Schatten zugetan. Dieses Mädchen war vielschichtig und schattenreich und von tausend Schimmern umgeben. »Ja«, sagte Roger. »Ich glaube schon, daß ich mitgehe. Es könnte ganz unterhaltend werden.« Sie nickte feierlich, als hätte Roger eine kosmische Wahrheit verkündet. »Ich würde auch gerne den Raum bereisen.« »Sie haben mir Ihren Namen nicht gesagt«, warf Roger ein. »Das stimmt. Es ist ein seltsamer Name, das hat man mir jedenfalls gesagt.« Roger war außer sich vor Ungeduld. »Sagen Sie ihn mir.« Ihre Lippen wurden schmal. »Madoc Roswyn.« Roger bat sie, es zu buchstabieren, und sie tat es. »Eigentlich ist es ein walisischer Name, aus Merioneth im Westen der Berwyn Mountains, aber jetzt ist keiner mehr von meiner Familie übrig: ich bin die letzte.«
Roger hätte sie gern getröstet, aber Freifrau Isabel trat mit kurzen, energischen Schritten heran. »Roger, wer ist deine Freundin?« »Freifrau Isabel Grayce, Miss Madoc Roswyn.« Freifrau Isabel nickte kurz. Madoc Roswyn sagte: »Ich bin sehr dankbar, daß ich den Vorzug genieße, Ihre Bekanntschaft zu machen, Freifrau Isabel. Ich finde es großartig, was Sie vorhaben, und ich würde mich Ihnen gerne anschließen.« »Ach, wirklich«, Freifrau Isabel musterte Madoc Roswyn von Kopf bis Fuß. »Sie treten auf?« »Nicht professionell. Ich singe, spiele Klavier und Ziehharmonika und ein paar alberne Instrumente, wie die Blechflöte.« Freifrau Isabel erwiderte im allergleichgültigsten Ton: »Unglücklicherweise wird unser Repertoire fast ausschließlich von der klassischen Oper getragen, obwohl ich annehme, daß wir ein paar Stücke der Frühdekadenz ins Programm nehmen.« »Wird es keine Einlagen geben oder gelegentlich ein leichteres Programm? Ich bin sehr anpassungsfähig, und ich bin sicher, ich könnte mich auf vielfältige Weise nützlich machen.« »Das mag wohl sein«, sagte Freifrau Isabel. »Bedauerlicherweise bedeutet die Teilnahme an diesem Unternehmen eine Ausnahme. Wenn Sie eine Sopranistin allererster Güte wären und bewandert in den führenden russischen, französischen, italienischen und deutschen Werken, wäre es mir möglich, Ihnen zusammen mit sechs weiteren Sopranisten, die die Bedingungen erfüllen, ein Probesingen anzubieten. Das Ensemble muß arbeiten wie eine glattlaufende Maschine, in der jedes einzelne Teil zum Ganzen beiträgt. Nicht dazugehörige Stücke wie Ziehharmoniken und Blechflöten würden ziemlich überflüssig sein.«
Madoc Roswyn lächelte höflich. »Ich muß mich Ihrer Entscheidung natürlich fügen. Aber wenn Sie jemals ein leichteres, weniger formelles Programm in Erwägung ziehen, hoffe ich, daß Sie an mich denken.« »Sicher, soviel kann ich Ihnen versprechen. Ich nehme an, Roger kann sich mit Ihnen in Verbindung setzen.« »Ja, natürlich. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, und ich wünsche Ihnen viel Erfolg.« Freifrau Isabel wandte sich ab. Über die Schulter rief sie zurück: »Ich erwarte dich heute abend in Ballew, Roger. Wir müssen einige Entscheidungen treffen.« Roger nahm, in plötzlichem Aufbegehren, Madoc Roswyns Arm, und bei der Berührung durchfuhr ihn ein wohliger Schauer. »Ich habe eine Idee«, sagte er. »Ich lade Sie zum Essen ein, und zwischen den Gängen können Sie auf der Blechflöte spielen.« »Ich wünschte, ich hätte sie mitgebracht.« Roger führte sie zu dem kleinen Flugwagen, sie flogen zu einem Gasthaus, das auf einem Berggipfel lag, und Roger hatte nie ein hinreißenderes Mittagessen erlebt. Er gab Dutzende von überspannten Ansichten von sich, die Madoc Roswyn mit genau der richtigen Mischung von Belustigung, Skepsis und Toleranz aufnahm. Roger versuchte, alles über sie herauszufinden: Er wollte in einer einzigen kurzen Stunde das lebenslange Versäumnis ihrer Bekanntschaft aufholen, eine Lebensspanne, die ihm für alle sinnvollen Dinge vergeudet schien. Madoc Roswyns Geschichte war, wie sie erklärte, schlicht und unkompliziert. Ihre Familie hatte aus Landbesitzern und Bauern in einem ziemlich abgelegenen Winkel von Wales bestanden; sie war in einem kleinen Bergdorf zur Schule gegangen und hatte dann in Llangollen die weiterführende Schule besucht. Als ihre Eltern gestorben waren, hatte sie den alten Bauernhof verkauft und war seither
in der Welt herumgereist. Sie hatte hier und da einen Job angenommen, unentschlossen, was sie mit sich anfangen sollte, aber nicht bereit, Zugeständnisse in bezug auf ihre Freiheit zu machen. Roger kam in den Sinn, daß genau an dieser Stelle seine eigene, mißliche Lage berührt wurde: Er war weder faul noch unfähig, er litt lediglich unter Beschäftigungsklaustrophobie. Was Madoc Roswyn und ihre ganze Offenheit betraf, so war noch immer etwas Geheimnisvolles geblieben: Es taten sich immer neue Bereiche und Bereiche hinter den Bereichen auf, Gefühlswindungen, die er nicht trennen konnte, Ziele und Bestimmungen, die sie niemals auch nur andeuten wollte. Die Erkenntnis war schmerzlich: Gleichgültig, wieviel er von ihr zu fassen bekam, es würde immer Dinge geben, die sich ihm für alle Zeiten entzogen… Roger begleitete Madoc Roswyn zu ihrer Wohnung, seine anfängliche Begeisterung hatte einen Dämpfer erhalten. Er hätte sie am Abend gerne mit nach Ballew genommen, wagte es aber aus irgendeinem Grund nicht.
Beim Abendessen vermied Freifrau Isabel nachdrücklich jede Erwähnung Madoc Roswyns. Bernard Bickel war anwesend, und die Unterhaltung drehte sich um die Zusammenstellung der Truppe. »Ich bestehe auf Guido Altrochi«, sagte Freifrau Isabel. »Ich könnte Nels Lessing bekommen, er hat tatsächlich angeboten, sich dem Ensemble ohne Bezahlung anzuschließen, und Guido verlangt ein horrendes Honorar – aber ich weigere mich, Kompromisse zu schließen. Nur der Beste ist gut genug.« Bernard Bickel nickte zustimmend. »Wenn es nur mehr Menschen von Ihrer Sorte gäbe.«
Roger seufzte. »Wenn ich die Angelegenheit zu entscheiden hätte«, sagte er, »würde ich dreidimensionale Schallplatten verwenden. Warum nicht? Bedenke, wieviel einfacher und wieviel billiger das sein würde.« Freifrau Isabel schüttelte den Kopf. »Konservierte Aufführungen sind immer unzulänglich, sie vermitteln nie die Lebendigkeit, die lebende, atmende Gegenwärtigkeit der Musik.« »Gut genug für die Hinterwaldplaneten«, brummte Roger. »Wir sind den Maschinen weit genug auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, Roger; wenn es notwendig ist, daß unsere Musik mechanisch ist, wird es Zeit für uns, das Handtuch zu werfen und alle Hoffnung für die Zukunft der Menschheit aufzugeben.« »Vorausgesetzt, daß es sich bei der Oper überhaupt um Musik handelt«, murmelte Roger vor sich hin. »Wie bitte?« »Ich habe nur die enormen Einsparungen betont, die man damit erreichen könnte.« »Eines Tages, mein junger Freund«, sagte Bernard Bickel, »werden Sie die Weisheit und den Mut Ihrer Tante zu würdigen wissen. Was sind schon ein paar armselige Dollars? Nichts Geringeres als die physische Anwesenheit der Künstler, die in vollendeter Disziplin arbeiten, kann den Reiz eines echten, musikalischen Erlebnisses hervorrufen – und es ist dieser Reiz, dieses Gefühl der Spannung, das wir vermitteln wollen!« Roger konnte noch etliche Gründe vernehmen und hörte zu, während Freifrau Isabel und Bernard Bickel Cassandra Proutys Verdienste im Vergleich zu Nellie Mlanovas diskutierten und Ruger Mandelbaums unleugbares Bühnengefühl gegen seine Körperfülle abwägten, die seine Eignung für manche Rollen einschränkte. Blitza Soerner hatte in der italienischen Oper
Schwächen, aber kein lebender Künstler verstand sich besser auf die dekadente Periode. Bernard Bickel schlug Andrei Szinc für die Position des Bühnendirektors vor. Freifrau Isabel widersprach. Und so ging es noch zwei Stunden, während Roger mit dem Löffel Kreise auf dem Tischtuch beschrieb. »Bezüglich einer Wahl kann kein Zweifel bestehen«, erklärte Freifrau Isabel. »Unser Dirigent muß Sir Henry Rixon sein! Es wäre unmöglich, das Unternehmen ohne ihn zu beginnen.« Roger blickte vom Tischtuch auf und fragte sich, ob er Sir Henry Rixon nicht irgendwie für sechs Monate verschwinden lassen konnte, bis seine Tante das Interesse an dieser ungeheuer verschwenderischen Lustbarkeit verloren hätte. Bernard Bickel runzelte gedankenvoll die Stirn. »Sir Henry Rixon – oder Siebert Holgeness.« »Natürlich! Ich habe ihn vergessen«, gab Freifrau Isabel zu, »und dann ist da auch noch dieser wunderbare junge Jarvis Akers.« Roger wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Tischtuch zu. Er konnte vielleicht Mittel und Wege finden, Sir Henry Rixon auf einer abgelegenen Insel festzuhalten, aber kaum ein weiteres halbes Dutzend. Schließlich sah Freifrau Isabel zu Roger hinüber. »Und nun, Roger, was um alles in der Welt sollen wir mit dir machen?« »Nun«, sagte Roger, »ich bin fast geneigt, die Reise mit der Phoebus mitzumachen.« Freifrau Isabel schüttelte entschieden den Kopf. »Unmöglich, Roger. Der Raum ist eine große Auszeichnung, das habe ich heute bereits deiner Freundin Miss Roswyn gesagt.« Roger hatte nichts anderes erwartet. »Du solltest dir Miss Roswyn wenigstens einmal anhören. Sie ist außerordentlich begabt.« »Ohne Zweifel. Nur, wer ist diese junge Dame, Roger? In welcher Beziehung stehst du zu ihr?«
»In gar keiner. Ich habe nur zufällig erfahren, daß sie eine musikalische Größe ist und…« »Bitte, Roger, sprich nicht von etwas, das du nicht verstehst.«
Am darauffolgenden Tage speiste Roger wieder mit Madoc Roswyn. Sie schien an seiner Gesellschaft Gefallen zu finden, und als sie aus dem Lokal traten, ließ sie ihre Hand in die seine gleiten. In seinem Luftauto flogen sie über dem Meer. Roger sagte plötzlich: »Ich kenne dich erst seit zwei Tagen, aber ich habe das Gefühl, als seien es – also, um ehrlich zu sein, zwei Tage.« Madoc Roswyn lachte. »Ich mag dich, Roger. Du bist so ungezwungen, so wenig fordernd… du wirst mir fehlen, wenn du fort bist.« Roger schluckte krampfhaft und entrang sich ein ritterliches Opfer. »Zur Hölle mit der Raumtournee. Ich bleibe lieber bei dir. Wirklich – laß uns heiraten!« Madoc Roswyn schüttelte traurig den Kopf. »Wenn du um meinetwillen auf diese wunderbare Fahrt verzichten würdest, würdest du mir irgendwann Vorwürfe dafür machen. Vielleicht nicht sofort – aber du würdest unruhig werden, und über kurz oder lang würdest du mich hassen. Ich habe erlebt, daß das anderen passiert ist… Ich werde dir nie im Wege stehen. Du gehst auf deine Fahrt, und ich lebe weiter wie zuvor.« »Wenn nur Tante Isabel nicht eine so sture alte Kreatur wäre!« rief Roger aus. »Dann könnten wir beide fahren!« »Oh Roger! Das wäre ja wundervoll! Aber es wird nicht zu machen sein.« »Es könnte doch! Und es wird zu machen sein! Überlaß das nur mir!«
»Oh Roger – ich bin so aufgeregt!« Sie schlang die Arme um Rogers Hals und küßte ihn. Roger stellte die automatische Steuerung seines Luftfahrzeugs ein, aber Madoc Roswyn rückte von ihm ab. »Roger, benimm dich. Du bist der heißblütigste Kerl…« »Wirst du mich heiraten?« Madoc Roswyn dachte mit geschürzten Lippen nach. »Nicht, wenn wir sofort wieder getrennt werden.« Roger warf die Arme in die Luft. »Was ist schon so eine kleine Raumfahrt? Ich werde zu Hause bleiben.« »Aber Roger, das haben wir doch alles schon besprochen.« »Das ist wahr. Ich habe es vergessen. Dann fahren wir also beide auf der Phoebus mit.« Madoc Roswyn lächelte gedankenverloren. »Deine Tante war ziemlich entschlossen in diesem Punkt.« »Überlaß das nur mir«, sagte Roger. »Ich weiß, wie man den alten Besen anfassen muß.« Freifrau Isabel war guter Dinge. Sir Henry Rixon, Andrei Szinc und Ephraim Zerner, der große Wagnerbaß, sie alle hatten sich bereit erklärt, sich der Phoebus-Mannschaft anzuschließen, und nun konnte es keine Schwierigkeit mehr sein, andere, ebenso namhafte Musiker zu gewinnen. Roger hörte von einer Seite des Raums aus zu, als Sir Henry seine Vorstellungen von dem Orchester darlegte. »Wir werden gezwungen sein, hier und da Zugeständnisse zu machen, aber es ist natürlich absurd, ein Orchester mit einhundertzwanzig Mann in Erwägung zu ziehen. Und wie Sie wissen, halte ich ein kleineres Orchester für flexibler und fähig, präziser zu spielen. Ich werde also, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, die Instrumentalisten auf dieser Grundlage auswählen.« Kurz darauf verabschiedete sich Sir Henry Rixon; Freifrau Isabel blieb noch einen Augenblick in Gedanken versunken
sitzen und läutete dann nach dem Tee. Sie wandte sich Roger zu. »Nun? Was hältst du von Sir Henry?« »Sehr beeindruckend«, sagte Roger. »Der beste Mann für diese Position.« Freifrau Isabel stieß ein spöttisches Lachen aus. »Ich freue mich, zu hören, daß du einverstanden bist.« »Ja, ich freue mich auf die Reise.« Holker rollte den Teewagen herein; Freifrau Isabel goß mit zwei entschlossenen Handbewegungen zwei Tassen Tee ein. »Wie ich dir schon sagte, Roger, habe ich nicht die Absicht, dich mitzunehmen. Du würdest lediglich ein beträchtlicher Ballast sein.« »Ich sehe nicht ein, warum ich nicht ein wenig Vergnügen von dieser Reise erwarten soll«, brummte Roger. »All die Parasiten, die du angeheuert hast, sind doch selbstgefällig genug.« »Bezeichne diese Menschen bitte nicht als Parasiten, Roger; es sind Musiker.« »Parasiten, Musiker – das kommt auf dasselbe heraus. Die Leute auf den Hinterwaldplaneten werden den Unterschied nicht erkennen.« »Nein?« fragte Freifrau Isabel mit gefährlich sanfter Stimme. »Natürlich nicht. Das ganze Vorhaben ist verrückt. Diese Wesen sind vollkommen fremd für uns; wie sollten sie, im Namen der sieben Musen, an irgendeiner Musik Gefallen finden, ganz zu schweigen von der Oper? Mein Rat ist: Blas die ganze Sache ab und spar eine Unmenge Geld!« Wieder lachte Freifrau Isabel abschätzig auf. »Gelegentlich wird deine Rhetorik regelrecht blühend, Roger. Ich bin besonders beeindruckt von deiner Erwähnung der Musen. Aber in der Sorge um meine Brieftasche übersiehst du einige Tatsachen. Wie erklärst du dir beispielsweise den ungeheuren Erfolg des Neunten Ensembles hier auf der Erde?«
Roger schlürfte seinen Tee. »Nun – sie waren fast menschlich.« Freifrau Isabel sagte trocken: »Es gibt hunderte menschenähnlicher Rassen unter den Völkern der Galaxis.« Roger erinnerte sich seines Hauptanliegens. Nachdem er eine Zeitlang stirnrunzelnd seine Teetasse betrachtet hatte, nickte er langsam. »Nun – du magst recht haben. Ohne Zweifel wird die Reise interessant, und auf jeden Fall sollte jemand ein genaues Tagebuch führen.« Roger fuhr auf, als sei ihm plötzlich eine Idee gekommen. »Das ist eine Arbeit, die ich selbst gern übernehmen würde. Vielleicht könnten wir das Tagebuch als Dokumentationsbericht von der Reise veröffentlichen. Mit Photographien, Tonstreifen… Du könntest ein Vorwort verfassen…« Freifrau Isabel setzte zum Reden an, hielt aber dann inne. Schließlich sagte sie: »Glaubst du, daß du die Fähigkeit besitzt, eine solche Arbeit zu übernehmen?« »Natürlich! Schreiben ist der Beruf, für den ich geschaffen bin.« Freifrau Isabel seufzte. »Also gut, Roger. Ich merke, daß du entschlossen bist, mit auf die Reise zu gehen, und ich fürchte, ich muß es dir gestatten.« »Danke, Tante Isabel.« »Ich schlage vor, daß du dir ein wenig von der Geschichte und Entwicklung der großen Opern aneignest und versuchst, wenigstens ein Fünkchen Geschmack zu entwickeln. Du würdest dir sicher albern vorkommen, wenn ein Eingeborener einer entfernten Welt mehr Einfühlungsvermögen für unsere Musik zeigen würde als du.« »Da brauchst du keine Angst zu haben«, sagte Roger, und Freifrau Isabel warf ihm einen forschenden Blick zu, da sie eine Zweideutigkeit witterte.
»Vielleicht sollte ich besser einen Blick auf die geplante Reiseroute werfen«, sagte Roger, »damit ich mit meinen Nachforschungen beginnen kann.« Freifrau Isabel reichte ihm einen Bogen Papier, in den sich Roger einen Augenblick lang vertiefte. Er hob den Blick mit einem Ausdruck kläglichen Erstaunens. »Einige dieser Planeten sind kaum erforscht!« »Unser Reiseweg«, sagte Freifrau Isabel, »ist notgedrungen durch die Lage von Planeten bestimmt, auf denen wir mit einem freundlich gesonnenen und verständnisvollen Publikum rechnen können. Du siehst also, Roger, daß wir, im Gegensatz zu deiner Überzeugung, weder unverantwortlich noch undurchführbar handeln; wir haben nicht die Absicht, Die Walküre vor einer Kolonie schwebender Polypen aufzuführen. Das mußt du uns zumindest zugute halten.« »Ach wirklich.« Roger studierte die Liste. »Und welche dieser Welten ist das vielgepriesene Rlaru?« »Bitte behalte deinen Sarkasmus für dich, Roger; deine Zugehörigkeit zu der Reisegruppe ist bisher bestenfalls provisorisch. Was Rlaru betrifft, so wird Kapitän Gondar uns zum gegebenen Zeitpunkt dorthin führen. Er hat stichhaltige Gründe dafür, sein Wissen für sich zu behalten, bis die Phoebus die Erde verlassen hat.« »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, brummte Roger. »Wenn ich du wäre, würde ich mir irgendeine Garantie verschaffen, daß dieser Kerl Gondar uns nicht alle am Ende der Welt ausbootet – und das ist kein Sarkasmus, sondern schlichter gesunder Menschenverstand.« Freifrau Isabels Geduld drohte zu reißen. »Ich habe volles Vertrauen zu Kapitän Gondar. Darüber hinaus verwalte ich eine große Summe Geldes, die ihm schließlich zufließen wird. Und drittens, wenn du einen so absurden Zufall fürchtest, mußt du die Tournee ja nicht mitmachen.«
»Meine Sorge gilt nur dir und dem Unternehmen«, widersprach Roger. »Natürlich halte ich nach jeder möglichen Quelle von Schwierigkeiten Ausschau.« »Das habe ich bereits getan. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich habe einige Korrespondenz zu erledigen, und ich muß die Wohnbereiche durchforsten, um Platz für dich zu schaffen.« »Ach, ich brauche nicht viel Platz«, sagte Roger großzügig. »Meine Sekretärin kann in Bickels Büro arbeiten, er braucht es ohnehin nicht, und was die Schlafgelegenheiten betrifft – nun, stopf uns einfach irgendwo hinein.« Freifrau Isabel starrte Roger entgeistert an. »Wovon sprichst du, um alles in der Welt? Wenn du mit ›Sekretärin‹ die außerordentlich spitzfindige junge Dame meinst, der ich auf dem Raumhafen begegnet bin, solltest du deine Vorstellungen besser gründlich revidieren.« »Sie ist eine fähige Sekretärin«, sagte Roger aufbegehrend, »und darüber hinaus ist sie meine Verlobte.« Freifrau Isabel machte ein paar verdrießliche Gesten, so als sei sie erbost über ihr Unfähigkeit, das Unsagbare zu sagen. Schließlich sagte sie: »Du hast eine grundlegende Sache nicht begriffen. Dies ist eine ernsthafte Unternehmung, von Leuten geplant, die sich einer künstlerischen Idee verschrieben haben und auf gar keinen Fall eine romantische Lustfahrt.« Später am Abend rief Roger Madoc Roswyn über Visaphon an. Bei seinen Neuigkeiten verzog sich ihr köstlicher Mund traurig. »Ach Roger, so ein Pech. Glaubst du, daß sie ihre Meinung ändern wird?« »Auf keinen Fall. Aus irgendeinem Grund hat sie eine – nun, nicht gerade eine Abneigung…« Madoc Roswyn nickte. »Frauen scheinen mich nie zu mögen. Warum, weiß ich nicht. Ich flirte nie oder ziehe die Aufmerksamkeit auf mich…«
»Es liegt daran, daß du so außerordentlich schön bist«, sagte Roger. »Wie du dich je darauf einlassen konntest, einen so gewöhnlichen Mann wie mich zu heiraten, werde ich nie verstehen.« »Ich weiß nicht, was ich anfangen soll, wenn du fort bist«, seufzte Madoc Roswyn. »Vielleicht gehe ich nach Paris, ich habe ein paar Freunde dort; ich würde nie einsam sein.« »Ich werde nicht auf diese idiotische Expedition gehen«, schimpfte Roger. »Es ist mir egal, ob ich…« »Nein Roger. Das geht wirklich nicht.« »Dann kommst du eben mit, zum Donnerwetter, und wenn ich dich als blinden Passagier verstecken muß!« »Oh Roger, das würdest du wagen?« »Natürlich würde ich es wagen! Ich bin der draufgängerischste, himmelstürmendste Tantenbezwinger, den man im humanoiden Universum kennt, und wenn du mir nicht glaubst, komme ich zu dir hinüber und zwinge dich dazu.« »Ich glaube dir, Roger – aber wird es uns gelingen?« »Was?« »Mich zu verstecken?« Roger zögerte. »Meinst du das ernst?« »Ja.« Roger holte tief Atem. »Also gut. Dann sei es also.«
V
Die Phoebus befand sich seit zwei Stunden im Raum. Das Opernensemble und die Musiker blickten gedankenvoll zur Erde zurück. Freifrau Isabel hielt sich in ihrer Kabine auf, es ging das Gerücht, daß sie heftig unter Raumkrankheit litt: ein Gerücht, das dadurch Nahrung erhielt, daß der Bordarzt, Dr. Sharid, geschäftig bei ihr ein und aus ging. Adolph Gondar – jetzt Kapitän Gondar – stand mit Logan de Appling, dem stattlichen, jungen Astrogator, auf der Brücke. Roger Wool tauchte an verschiedenen Stellen des Schiffs auf. Sein bleiches Gesicht und die Unruhe wurden der Raumkrankheit zugeschrieben. Bernard Bickel ging umher und beantwortete Fragen, beschwichtigte ängstliche Befürchtungen und richtete insgesamt die Moral der Gruppe auf, während Sir Henry Rixon die Verstauung der Musikinstrumente überprüfte, um sicherzugehen, daß die zwei großen Flügel keinen Schaden durch die Erschütterung des Abfluges erlitten hatten. Kurz darauf wurde zur ersten Mahlzeit der Reise gerufen: ein notgedrungenes formloses Mahl, das den Ansprüchen eines Selbstbedienungsrestaurants entsprach. Als der Steward bemerkte, daß Roger ein zweites Mal an den Tabletts vorüberging, rief er scherzend aus: »Hier haben wir einen Mann mit gutem Appetit! Wenn Sie weiter so essen, werden Sie bald fett sein!« Roger errötete. »Zufällig habe ich Hunger«, sagte er kurzangebunden und ging mit seinem Tablett davon. »Empfindlicher Bursche«, wandte sich der Steward an George Jameson, den Percussionisten. »Hoffentlich gibt es nicht zu viele von der Sorte an Bord.«
»Das ist Freifrau Isabels Neffe«, sagte Jameson. »Sie hält ihn ziemlich kurz, kein Wunder, wenn er ein bißchen gereizt ist.« »Ich begreife nicht, wo er das ganze Zeug hinschafft«, sagte der Steward. »Er sieht nicht aus wie ein großer Esser.« Bei der nächsten Mahlzeit fiel Rogers Gefräßigkeit wieder auf. »Sieh mal«, sagte der Geschirrsteward. »Dieser Bursche nimmt ein Tablett mit aus dem Speisesaal! Glaubst du, er hortet das Essen irgendwie?« Bei den folgenden Mahlzeiten war Roger vorsichtig, aber kurz darauf sah der Steward, daß er Speisestücke in einem Beutel verschwinden ließ. Zwei Stunden später teilte ein katzbuckelnder Geschirrsteward Roger mit, daß Freifrau Isabel ihn sofort zu sprechen wünschte. Mit bleiernen Füßen trat Roger in Freifrau Isabels Kabine ein. Ihr Gesicht, dem die Wirkung der Raumkrankheit die Farbe von Hafermehl verliehen hatte, zeigte einen unerbittlichen Ausdruck. »Setz dich, Roger«, sagte sie. »Ich habe dir einige Dinge zu sagen. Ich schicke eine Bemerkung über die Tatsache voraus, daß von allen menschlichen Schwächen die Undankbarkeit eine der verabscheuenswürdigsten ist. Habe ich mich klar ausgedrückt?« »Wenn du das im allgemeinen meinst, ja.« »Um es deutlicher auszudrücken, ich spiele auf die Anwesenheit deiner ›Braut‹ an Bord des Schiffes an.« Sie hob die Hand. »Unterbrich mich nicht. Ich bin dir in den vergangenen Jahren mit Zuneigung begegnet, und ich hatte die Absicht, dir, wenn meine Stunde schlagen wird, einen nicht unbedeutenden Teil meines Besitzes zu vermachen. Die Offenbarungen der letzten Stunde zwingen mich, meine Absichten vollständig zu ändern. Mehr will ich nicht sagen,
außer, daß unser nächster Anlaufhafen der Planet Sirius ist und daß du und diese Frau dort an Land gesetzt werdet.« »Tante Isabel«, rief Roger gequält auf, »es ist nicht so, wie du denkst! Laß es mich erklären!« »Die Tatsachen sprechen für sich. Deine Geliebte befindet sich in Kapitän Gondars Obhut, und ich glaube, er hat in einem Laderaum einen provisorischen Platz hergerichtet. Du kannst froh sein, daß du nicht ebenso behandelt wirst. Und nun geh mir aus den Augen. Es ist eine Schande, daß ich neben dieser grauenhaften Raumkrankheit auch noch mit den Unverschämtheiten meines Neffen belastet werde.« »Erlaube mir eine letzte Bemerkung«, sagte Roger mit unbewegter Miene. »Sie ist nicht meine Geliebte, sie ist meine Braut! Und nicht etwa, weil ich es nicht versucht hätte. Sondern sie hat sich standhaft geweigert, mir mehr zu gestatten, als ihre Wange zu küssen, bis wir verheiratet sind – was, wie ich hoffe, bald sein wird. Setz uns auf dem Planeten Sirius an Land, wenn es dir gefällt, aber verschone mich mit deiner Scheinheiligkeit; ich habe Dinge über dich vor fünfzig Jahren gehört, und wenn sie wahr sind, ist das Verstecken von Miss Roswyn absolut harmlos dagegen.« »Hinaus mit dir, du unverschämter Bengel«, rief Freifrau Isabel mit tiefer, kehliger Stimme, die ihre stürmischsten Gefühle ahnen ließ. Roger verließ die Kabine. Mit hängendem Kopf lief er den Korridor hinüber. Besitzlos! Enterbt! In Ungnade! Er seufzte. Was machte es schon? Madoc Roswyns Zuneigung war eine reichliche Entschädigung. Er begab sich zur Brücke, um mit Kapitän Gondar zu verhandeln und fand zu seinem Erstaunen Madoc Roswyn ruhig auf eitler Bank sitzend vor. Sie sah auf, als er eintrat und senkte dann den Blick auf ihre Hände. Sie sah so hilflos, so entmutigt und verloren aus, daß Roger sich kaum zurückhalten konnte, durch den Raum auf sie zuzulaufen und
sie zu trösten. Statt dessen wandte er sich an Kapitän Gondar, der in seiner dunklen Uniform finsterer und verschlossener wirkte denn je: »Ich habe gehört, daß meine Tante Miss Roswyn Ihrer Obhut übergeben hat.« »Das ist richtig, Mr. Wool.« »Erlauben Sie, daß ich ein paar private Worte mit ihr wechsle?« Kapitän Gondars Antwort überraschte Roger: »Haben Sie nicht schon genug Unheil angerichtet?« Und Roger sah, daß das lange, hagere Gesicht angespannt und verärgert war. Dann zuckte Gondar die Achseln. »Wenn Miss Roswyn bereit ist, mit Ihnen zu sprechen, habe ich selbstverständlich nichts dagegen.« Madoc Roswyn sah Kapitän Gondar mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an, der Roger in Erstaunen versetzte; es sah aus, als wolle sie ihn um etwas anflehen. Kapitän Gondar machte eine schnelle, schroffe Bewegung und wandte sich ab. Madoc Roswyn erhob sich und folgte Roger in den Gang hinaus. Roger wollte sie in die Arme nehmen, aber sie trat zurück. »Bitte, Mr. Wool – sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und dann…« »Mein Liebling!« Roger schnappte nach Luft. »Was ist los?« »Was los ist?« Sie stieß ein bitteres Lachen aus. »Der Schlamassel, in den du mich hineingezogen hast, die Dinge, die du über mich gesagt hast – es ist ein Wunder, daß mir noch ein Schatten von Ansehen geblieben ist!« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst!« stammelte Roger. »Ich habe lediglich…« »Du hast mich lediglich in die schlimmsten Schwierigkeiten gebracht, in denen ich mich je befunden habe! Ich bin froh, daß ich erfahren habe, was für ein egoistischer Stümper du bist, bevor du noch Schlimmeres anrichten konntest! Geh jetzt bitte und sprich nie wieder mit mir! Kapitän Gondar ist
zumindest anständig genug, mir einen Platz zum Schlafen zu beschaffen und dafür zu sorgen, daß ich keinen Hunger leide!« Roger wandte sich verständnislos ab und taumelte fast gegen Kapitän Gondar, der in der Tür gestanden hatte. Eine Stunde später erschien Kapitän Gondar bei Freifrau Isabel. »Ja, Kapitän? Wie steht es?« »Es scheint alles in bester Ordnung zu sein, Madam. Ich habe Vorkehrungen in bezug auf die junge Dame getroffen, die ihr Neffe, wie ich befürchte, versucht hat, zu belästigen.« »Wie? Roger sollte jemanden außer mir belästigen? Doch nicht etwa diese hinterhältige kleine Schlampe?« Kapitän Gondars Miene verfinsterte sich. »Sie werden zum gegebenen Zeitpunkt die volle Wahrheit erfahren, Madam. In der Zwischenzeit ist die junge Dame nicht nur von Reue erfüllt, sondern möchte auch den Schaden, den sie ohne ihr Zutun verursacht hat, wiedergutmachen.« »Sie sprechen in Rätseln«, warf Freifrau Isabel ein: »Wie kann sie etwas ›ohne ihr Zutun‹ getan haben?« »Mr. Wool hat sie an Bord gelockt. Sie wurde unter Drogen gesetzt, und als sie erwachte, befand sie sich in einem Wandschrank. Mr. Wool unternahm wiederholt Versuche, sich ihr unsittlich zu nähern, aber ohne Erfolg.« Freifrau Isabel stieß ein heiseres Gelächter aus. »Wenn das wahr ist – obwohl ich es bezweifle –, entspricht es ungefähr den Fähigkeiten, die ich von Roger erwarten würde. Er hat ein Mädchen vor sich, das in einem Schrank eingeschlossen, unter Drogen und wehrlos ist, und doch wehrt sie ihn ab. Nun, nun, nun. Armer Roger.« »Die junge Dame hat erfahren, daß Sie unter der Raumkrankheit leiden und zeigte sich ziemlich betroffen. Sie sagt, daß sie ein besonderes Mittel kennt und Ihnen gerne helfen würde.«
Freifrau Isabel rieb sich die bleiche Stirn. »So, wie ich mich fühle, würde ich selbst vom Teufel Hilfe annehmen. Was ist das für ein Mittel?« »Ich werde sie holen, dann werden wir sehen, was sie ausrichten kann.« Madoc Roswyn trat in den Raum. Sie sah Freifrau Isabel einen Augenblick lang an, dann nickte sie nachdenklich und wechselte einige Worte mit Kapitän Gondar. Er entfernte sich, und Madoc Roswyn trat zu Freifrau Isabel. »Wenn Sie sich jetzt bitte entspannen würden, Madam, und die Augen schließen, werde ich versuchen, die Nerven, die sich durch die fremden, neuen Umstände verkrampft haben, zu lockern. Kapitän Gondar holt ein paar Medikamente – ein altes Hausmittel aus den walisischen Bergen…« Sie berührte Freifrau Isabel hier und dort, am Hals, am Nacken, an der Stirn. Kapitän Gondar kehrte mit einem Glas zurück, in dem sich, wie sich herausstellte, eine aufgequollene, zähe Flüssigkeit befand. »Was ist das?« fragte Freifrau Isabel mißtrauisch. »Schwefel, Honig und ein kleiner Tropfen Whisky. Trinken Sie es, dann fühlen Sie sich wie ein neuer Mensch.« Freifrau Isabel schüttete den Zaubertrank hinunter und verzog das Gesicht. »Es wird mich entweder heilen oder umbringen.« Madoc Roswyn fuhr fort, sie hier und da zu massieren, es waren kaum mehr als flüchtige kleine Schnipser mit den Fingerspitzen. Freifrau Isabel richtete sich im Sessel auf. Mit verwunderter Stimme sagte sie: »Wissen Sie was, ich fühle mich besser!« »Das freut mich sehr«, sagte Madoc Roswyn und entfernte sich leise. »Hm«, sagte Freifrau Isabel. »Sie hat zweifellos etwas… Seltsames Wesen… Natürlich muß sie auf Sirius hinausgeworfen werden. Aber bis dahin soll sie es bequem
haben. Das zumindest bin ich ihr schuldig. Hm. Roger, dieser Trottel. Was in aller Welt soll nur aus ihm werden?«
Die Phoebus, die in Nichtmaterie eingekapselt war wie ein Wurm in einem Gallapfel, glitt mit der Geschwindigkeit eines Gedankens durch den Raum. Die Sonne verwandelte sich in einen Stern, und direkt vor ihnen leuchtete Sirius als hellerer Stern. Die Musiker beschäftigten sich mit Üben, die Sänger mit Stimmübungen und Proben. Es gab die unvermeidlichen Temperamentsausbrüche, die Bildung und Auflösung von Grüppchen, verschiedene Liebesaffären und ebenso viele Streitereien, eine Flut von Gerüchten, Sticheleien und bissigen Bemerkungen, und durch all diese Beschäftigungen wurden die verheerenden Auswirkungen der Raumkrankheit zum größten Teil vermieden. Als sie die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatten, veranstaltete Freifrau Isabel eine Champagnergesellschaft und hielt bei dieser Gelegenheit eine Rede an das Ensemble: »Ich bin sehr erfreut über die Art und Weise, in der ein jeder sich den Gegebenheiten der Reise angepaßt hat. Vor uns liegen Sirius und der Planet des Sirius, der für die meisten von uns die erste Begegnung mit einer fremden Welt bedeuten wird. Der Planet des Sirius ist vollkommen anders als die Erde, außer in bezug auf Schwerkraft und Atmosphäre. Er belegt die ›trojanische Position‹ – unter diesem Namen ist sie, soweit ich weiß, bekannt – zwischen Sirius A und Sirius B und empfängt nur ein Zehntel der Strahlung, die die Erde von der Sonne auffängt. Ungeachtet dessen wird eine angenehme Temperatur erreicht, sowohl durch innere Wärme, als auch durch eine Treibhausatmosphäre, die die Wärme sehr wirkungsvoll speichert. Flora und Fauna sind anders als alles, was wir kennen, eigentlich sind ›Flora‹ und ›Fauna‹ nicht einmal die
zutreffenden Bezeichnungen, da viele der Lebensformen auf Sirius keiner der beiden Kategorien zuzuordnen sind oder aber beiden gleichzeitig. Es gibt eine intelligente, eingeborene Bevölkerung, die selbstverständlich der Anlaß unseres Besuchs ist. Mr. Bickel wird uns in wenigen Minuten mehr über die Eingeborenen berichten. Ich will ihm nur insofern vorgreifen, als ich Ihnen sage, daß diese Rasse sich keines musikalischen Ausdrucks bedient – tatsächlich könnte die Lebensart der eingeborenen Bevölkerung auf den ersten Blick ziemlich primitiv erscheinen, denn sie lebt in Höhlen und Erdspalten. Dennoch müssen wir jegliche Engstirnigkeit vermeiden; es ist möglich, daß die Byzantauren, wie die Rasse genannt wird, uns für ebenso primitiv halten. Ich habe lange über die Wahl unseres ersten Programmes nachgedacht. Die Entscheidung ist schwieriger, als Sie vielleicht annehmen. Es ist notwendig, eine vorzügliche Ausgeglichenheit zu erreichen. Wir wollen eine Verbindung zu unserem Publikum herstellen, aber gleichzeitig unseren musikalischen Anspruch auf höchster Ebene verwirklichen. Um das zu erreichen, müssen wir Werke auswählen, die die größtmögliche Anzahl an Anknüpfungspunkten mit der Umgebung unserer Zuhörer und die größtmögliche Anzahl von Situationen, mit denen sie ihr eigenes Leben in Verbindung bringen können, bieten. Ich habe den Entschluß gefaßt, daß Fidelio unser erstes Angebot sein wird, da ein großer Teil der Handlung in einem Verlies spielt, das den Höhlen, in denen die Byzantauren leben, nicht unähnlich ist. Und nun wird uns Mr. Bickel etwas mehr über die Byzantauren und ihre Lebensumstände erzählen.« Bernard Bickel erhob sich und verbeugte sich höflich. Er trug ein saloppes, an den Handgelenken und am Gürtel eng anliegendes Gewand aus schwarzer Seide mit einer eleganten Gold- und Silberborte; sein gepflegter, silberner Schnurrbart
kräuselte sich wie eine Drahtbürste. Mit einem höflichen Lächeln der Bescheidenheit sagte er: »Freifrau Isabel hat den Gegenstand bereits gründlich erörtert, ich kann nur einige Einzelheiten in bezug auf die Byzantauren und ihr Leben hinzufügen, denn ich hatte die Gelegenheit, Sirius bereits drei– oder war es viermal zu besuchen. Übrigens ist mir der Kommandant der Niederlassung, Boltzen, wohlbekannt, und ich freue mich darauf, unsere Bekanntschaft aufzufrischen. Wie Freifrau Isabel bereits erklärt hat, ist der Planet des Sirius ein recht finsterer Ort, etwa so hell wie die Erde im Zwielicht. Die Augen gewöhnen sich rasch an die Dunkelheit, und die Landschaft gewinnt dann einen eigentümlichen Reiz. Die Siriusniederlassung liegt fast direkt unterhalb des TrapezVulkangebirges, und nicht weit davon entfernt leben die Königlichen Riesenbyzantauren, vermutlich der zivilisierteste Stamm des Planeten. Ich fürchte, daß sie, ebenso wie die Landschaft, in ihren Augen anfangs häßlich erscheinen werden, und sie sind ganz gewiß nicht anthropoid. Sie haben vier Arme und vier Beine und etwas, das aussieht wie zwei Köpfe, aber die letzteren enthalten lediglich die Sinnesorgane, da das Gehirn sich im Körper selbst befindet. Trotz ihres alptraumhaften Äußeren sind es recht zugängliche Wesen, die bereit sind, menschliche Verhaltensweisen, Methoden und Einrichtungen anzunehmen, die ihnen sinnvoll erscheinen. Dies trifft besonders auf die Königlichen Riesen des Trapezgebirges zu, die in ihren Höhlen eine friedfertige Existenz führen. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt durch eine Art von Bodenbearbeitung, und ihre Flechtenterrassen sind außerordentlich interessant. Sie sind ein freundliches Volk und erregen sich lediglich über die Strolche und Ausgestoßenen, die natürlich wesentlich weniger liebenswürdig sind.
Ich bin sicher, daß der Besuch auf dem Siriusplaneten für uns eine Bereicherung sein wird, mehr noch, daß wir einem Volk, dem es in dieser Beziehung vollkommen mangelt, einen Hauch unseres musikalischen Erbes eingeben können. Wer weiß? Vielleicht wird unser Besuch eine vollkommene Umwälzung im Leben der Byzantauren hervorrufen!« Freifrau Isabel hatte noch ein paar Worte hinzuzufügen: »Vielleicht fühlen Sie sich ein wenig merkwürdig, vor einem fremdartigen Volk zu spielen. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist: Geben Sie Ihr Bestes! Vielleicht müssen wir einige kleinere Veränderungen in Kauf nehmen, um uns den gegebenen Empfindlichkeiten anzupassen, vielleicht spüren Sie ein gewisses Fehlen, einen gewissen Mangel an Zugänglichkeit im Publikum – ich kann nur noch einmal sagen: Geben Sie Ihr Bestes!« Während Freifrau Isabels und Bernard Bickels Reden hatte Roger im Hintergrund des Saales gesessen und, finster vor sich hin brütend, Champagner getrunken. Früher am Tage hatte er versucht, Madoc Roswyn zu treffen, aber, wie bei allen vorangegangenen Gelegenheiten, hatte sie sich geweigert, mit ihm zu sprechen. Des Gemurmels und Gelächters müde, verließ er den Salon und schritt durch das gesamte Schiff, durch jede der fünf Kugeln und Verbindungsgänge. Als er an der Brücke vorüberkam, wirkte der Anblick von Madoc Roswyn und Kapitän Gondar nicht eben erhebend auf ihn. Sie standen an der Frontluke beieinander und blickten voraus zum Sirius – oder besser gesagt auf das Bild vom Sirius, das durch einen Phasenentzerrungsmechanismus, der die komprimierten, von vorne auf das Schiff treffenden Lichtstrahlen umwandelte und auf einen Bildschirm übertrug. Kapitän Gondar hatte dem Cheftechniker, Neil Henderson, sein Büro überlassen und Madoc Roswyn in der so freigewordenen Kabine
untergebracht; sie trug einen hellblauen Overall aus Schiffsbeständen. Roger sah ihnen ein paar Sekunden lang zu. Sie waren in eine ernsthafte Unterhaltung vertieft, offensichtlich drehte es sich um die Schiffsroute, denn als Roger hinsah, deutete Kapitän Gondar rechts an Sirius vorbei, und Madoc Roswyn folgte der Linie seines Fingers mit dem Blick. Logan de Appling, der Astrogator, erschien im Gang: ein schlanker, junger Mann mit schroffem Gesicht, einer braungelockten Dichtermähne und hellen, blauen Augen. Er blickte zur Brücke und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Wissen Sie, was ich glaube?« wandte er sich an Roger. »Kapitän Gondar ist nicht ganz richtig im Kopf. Das ist es, was ich glaube.« Er drehte sich heftig um und ging davon.
VI
Der Siriusplanet lag vor ihnen, eine dunkle, graue Welt mit zwei schwer überhängenden Kappen über den Polen, einer Reihe seichter Äquatorialseen und zwei Hauptlandmassen, die aus flachen, grauen Ebenen, Bergketten und schwelenden Vulkanen bestanden. Zwanzigtausend Meilen vor dem Planeten schwenkte die Phoebus in eine Umlaufbahn; Kapitän Gondar peilte die Siriusniederlassung an und funkte eine Ankunftsmeldung hinunter. Bestätigung und Landeerlaubnis wurden kurz darauf zurückgefunkt; Gondar speiste den Autopiloten mit einem entsprechenden Landeprogramm, und die Phoebus schwenkte in einen Neigungswinkel ein. Der dunkle, graue Ball wurde größer, sie traten in die Atmosphäre ein, die das Schiff umtoste. Die Siriussiedlung lag am Rande der Padway-Ebene, im Schatten des hochragenden Trapezgebirges, und hier landete die Phoebus. Im Laufe der vergangenen drei Tage war die Atmosphäre im Schiff dem Druck und der Zusammensetzung der örtlichen Luft angepaßt worden, und den Passagieren und der Mannschaft waren sorgsam bemessene Medikamente verabreicht worden, um die biologischen Nebenwirkungen des Wechsels zu verringern, es gab daher jetzt keine Verzögerung. Sofort nach der Landung wurden die Luken geöffnet und die Rampe ausgefahren. Kapitän Gondar trat zusammen mit Freifrau Isabel hinaus, Bernard Bickel und andere Ensemblemitglieder folgten ihnen. Über ihnen war der Himmel dunkelgrau; Sirius schimmerte in kaltem, weißem Glanz. In einer Entfernung von einem halben Kilometer deutete eine
Linie weißer Betongebäude eher auf eine Kaserne als auf einen Handels- und Verwaltungsaußenposten hin. Kommandant Dyrus Boltzen war mit einem seiner Adjutanten dem Schiff entgegengegangen. Er war ein Mann mit sandfarbenem Haar, strengen Zügen und einem Ausdruck von trockenem Skeptizismus. Er trat jetzt lebhaft vor und warf einen neugierigen Blick auf die plappernde und aufgeregte Gesellschaft. »Ich bin Dyrus Boltzen, der Kommandant. Willkommen in der Siriussiedlung. Es sieht nicht eben großartig aus auf den ersten Blick, und – glauben Sie mir – es wird schlimmer.« Kapitän Gondar lachte höflich. »Ich bin Gondar, Leiter des Raumschiffes. Dies ist Freifrau Isabel Grayce und das Mr. Bernard Bickel, den Sie, glaube ich, kennen.« »Ja, natürlich. Hallo Bickel. Schön, Sie wiederzusehen.« »Die anderen hier werde ich Ihnen nicht vorstellen, aber es sind alles berühmte Musiker und Opernsänger.« Kommandant Boltzens strohfarbene Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Ein Opernensemble? Was führt Sie hierher? Wir haben keine Theater auf dem Siriusplaneten.« Freifrau Isabel sagte: »Wir sind mit unserem eigenen Theater ausgestattet und wollen, mit Ihrer Erlaubnis, eine Vorstellung des Fidelio aufführen.« Dyrus Boltzen kratzte sich am Kopf, blickte über die Schulter zur Seite. Er warf einen Blick auf Bernard Bickel, der sich abgewandt hatte und die Landschaft betrachtete. Dann sah er zu Adolph Gondar hinüber, der unbeweglich zurücksah. Sein Blick kehrte zu Freifrau Isabel zurück. »Das ist sehr nett – reizend –, wirklich – aber es gibt auf dem ganzen Planeten nur fünf Leute von der Erde, und zwei von ihnen befinden sich auf einer Erkundungsfahrt.« Freifrau Isabel sagte: »Sie sind natürlich willkommen bei den Vorstellungen, aber ich sollte die Sache vielleicht besser
erklären. Wir möchten uns als Missionare der Musik betrachten: Unsere Absicht ist es, vor den intelligenten fremden Rassen des Universums zu spielen, die anders keine Möglichkeit haben, Erfahrung mit der Musik der Erde zu machen. Die Byzantauren gehören zu dieser Zielgruppe.« Dyrus Boltzen rieb sich das Kinn. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie die Absicht, vor den Byzantauren eine Oper aufzuführen?« »Genau. Und nicht nur irgendeine Oper: Fidelio!« Boltzen dachte einen Moment lang nach. »Eine meiner Aufgaben ist es, Mißbrauch und Ausbeutung der ‘Zanten zu verhindern; ich glaube nicht, daß es ihnen schaden kann, wenn ihnen eine Oper gezeigt wird.« »Ganz bestimmt nicht!« »Sie haben nicht die Absicht, Eintrittsgelder zu verlangen? Denn wenn Sie das wollen, werden Sie eine Enttäuschung erleben. Die ‘Zanten haben absolut keinen Geschäftssinn.« »Wenn nötig, wird der Eintritt zu unseren Vorstellungen frei und ohne jede Verpflichtung sein.« Boltzen zuckte mit den Schultern. »Also dann haben Sie freie Hand. Ich bin gespannt, was geschehen wird. Sie sagten, Sie haben ein eigenes Theater bei sich?« »Das ist der Fall. Kapitän Gondar, haben Sie die Güte und sorgen Sie dafür, daß die Bühne aufgebaut und der Zuschauerraum vorbereitet wird? Und Andrei, vielleicht könnten Sie sich um die Instrumente kümmern.« »Sicher, Madam. Natürlich.« Kapitän Gondar und Andrei Szinc begaben sich ins Schiff zurück. Freifrau Isabel ließ den Blick über die Landschaft schweifen. »Ich hatte irgendwie etwas Beeindruckenderes erwartet. Eine Stadt vielleicht – Hinweise auf eine Eingeborenenkultur.« Boltzen lachte. »Die Byzantauren sind intelligent, ohne Zweifel. Aber sie machen von ihrer Intelligenz so Gebrauch,
wie es ihren eigenen Bedürfnissen entspricht, wenn Sie mir folgen können.« »Ich fürchte, nein.« »Nun, ich will folgendes sagen. Sie wenden ihre Intelligenz ebenso an wie wir – um das Leben leichter, sicherer, bequemer zu machen. Sie bearbeiten ihre Felsen und Flechtenterrassen mit Umsicht und Klugheit – Sie können sie dort oben auf dem Berg sehen –, aber unten in ihren Erdlöchern haben sie Gedanken, die uns in Erstaunen versetzen würden, wären sie uns bekannt.« »Können sich die Byzantauren nicht ausdrücken?« fragte Freifrau Isabel. »Haben sie keinen Gedankenaustausch?« »So weit würde ich nicht gehen. Sie sind klug genug, wenn sie wollen – und eine ganze Anzahl von ihnen spricht unsere Sprache mit erstaunlicher Fertigkeit. Aber man fragt sich immer – man kann nicht anders, als sich das zu fragen –, ob es nicht einfach schlaue Mimikry ist.« »Haben sie keine geschriebene Sprache? Keine zeichnerischen Fertigkeiten?« »Die Königlichen, die im Trapezgebirge leben, können lesen und schreiben – zumindest einige von ihnen, und sie verfügen über eine eigene Mathematik. Es ist allerdings eine Mathematik, die keiner von unseren Mathematikern zu durchschauen vermag. Aber ich kann das Thema nur flüchtig umreißen. Um eine solche Rasse auch nur oberflächlich kennenzulernen, muß man jahrelang bei ihr leben.« »Aber wie steht es mit der Musik?« beharrte Freifrau Isabel. »Haben sie überhaupt ein musikalisches Gehör? Komponieren sie, gibt es eine musikalische Verständigung der Eingeborenen?« »Vermutlich nicht«, sagte Dyrus Boltzen mit feinfühliger Höflichkeit. »Aber ich bin natürlich nicht vollkommen sicher. Ich habe diese Station jetzt seit sechs Jahren unter mir, aber ich
stoße immer noch auf Dinge, die mich in Erstaunen versetzen.« Freifrau Isabel nickte schroff. Sie fand Dyrus Boltzens Benehmen nicht gerade gewinnend, obwohl er ihr keinen direkten Grund für ihr Mißfallen gegeben hatte. Sie stellte jetzt formvollendet die Mitglieder der Truppe vor und beobachtete Dyrus Boltzen aus den Augenwinkeln, während sie die berühmten Namen nannte, aber sie schienen ihm nichts zu bedeuten. »Der Mann ist ein musikalischer Analphabet«, murmelte sie vor sich hin, »wie ich es vermutet habe.« Dyrus Boltzen führte die Gruppe durch die Siedlung, die aus nicht viel mehr als vier Betongebäuden bestand, die einen kahlen Platz umgaben. Zwei der Gebäude waren Lagerhäuser für Handelswaren: eines für Importgüter, das andere für Waren, die exportiert werden sollten – Schalen, Teller, Krüge, Becher und polierte Speiseservice aus Steinen der Gegend: durchscheinender Feuerkiesel, Türkis, Jade, Karneol, schwarzer Basalt. Es gab Edelsteine und Kristalle, Kerzenhalter mit Diamantgehängen, Smaragde und Saphire und Windglocken aus Turmalin. Auf dem eingezäunten Platz bekam die Gruppe die ersten Byzantauren zu Gesicht, vier mit Besen und Wassersprühern bewaffnete Wesen, die den Zementboden mit äußerster Sorgfalt und Konzentration kehrten. Sie waren noch grotesker, als es auf den Photographien den Anschein gehabt hatte, ein Eindruck, der durch die Bewegung ihrer vier Arme und vier Beine, das Arbeiten ihrer seltsam geschnittenen Gesichtszüge auf den zwei Köpfen und die Beschaffenheit der Haut, die so rauh und grau war wie Felsgestein, noch verstärkt wurde. Freifrau Isabel wandte sich an Dyrus Boltzen: »Die Wesen scheinen umgänglich, ja sanft, zu sein.« Boltzen lachte. »Diese vier sind das, was wir, weil wir kein anderes Wort dafür gefunden haben, Älteste nennen. Aus
einem Grund, der sich meiner Kenntnis entzieht, kehren sie jeden Tag den Hof. Haben Sie den Schal um ihren Hals gesehen? Das ist ein Stoff, der aus Felsfaden gewoben ist. Die Farben haben übrigens eine Bedeutung, fast wie bei den alten schottischen Tüchern. Braun, blau und schwarz sind die Farben der Königlichen Riesen, und die Länge der Fransen ist ein Zeichen des Ansehens oder der gesellschaftlichen Stellung.« Er winkte einen der Byzantauren herbei, er näherte sich auf dicken, steifen Füßen, die auf dem Zement hallten. »Freund’Zant«, sagte Boltzen, »hier sind Leute aus dem Himmel. Sie kommen in großem Schiff. Sie möchten allen Freund-’Zanten viele schöne Dinge zeigen. Sie möchten, daß Freund-’Zanten zum Schiff kommen. Okay?« Tief aus dem Inneren des Brustkastens tönte eine grollende Stimme: »Vielleicht in Ordnung. Freund-’Zanten haben Angst.« Freifrau Isabel trat vor. »Ihr habt nichts zu fürchten. Wir sind ein berufenes Opernensemble, wir werden ein Programm darbieten, das euch sicher gefallen wird.« »Vielleicht in Ordnung, wir gehen und suchen nach gelben Nichtsnutz-’Zanten. Vielleicht keine Angst haben.« Boltzen erklärte: »Er hat nicht wirklich Angst, sie haben nur eine Abneigung dagegen, aus ihren Höhlen heraufzukommen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Sie finden es erniedrigend.« »Interessant! Aber warum ist das so?« »Es ist eine Frage der gesellschaftlichen Stellung. Sie stoßen ihre Verbrecher und Außenseiter auf die Ebene aus, wo sie entweder zu Herumstreunern werden oder Banden von Psychoten, wie man es nennen könnte, bilden. Sie sehen also, daß die Ebene eine unerwünschte Umgebung für die ‘Zanten darstellt.«
»Das verstehe ich vollkommen«, sagte Freifrau Isabel. »Nun, die Vorstellung wird im Inneren des Schiffes stattfinden, und die Schande, von der Ebene aus zusehen zu müssen, wird ihnen erspart bleiben.« Boltzen wandte sich an den Ältesten: »Hast du Himmelsleute-Gespräch gehört? Er zeigt schöne Dinge, schönen Krach, nicht auf der Ebene, sondern im Schiff. Du und Freund-’Zanten rennen über Ebene und gehen in Schiff hinein und sehen. In Ordnung?« »In Ordnung. Ich gehen hinunter, spreche mit Freund’Zanten.« Bernard Bickel blieb mit Kommandant Boltzen zurück, um über alte Zeiten zu reden, während der Rest der Truppe zur Phoebus zurückkehrte. Es hatte bereits eine Veränderung stattgefunden. Unter der Anleitung Kapitän Gondars war in der Mitte des fünfeckigen Raumes, der von den Röhren und Kugeln umgeben war, ein hoher Pfosten errichtet worden. Jetzt wurden Spanndrähte gezogen und darüber Planen aus einem metallartigen Stoff gebreitet, die ein Zelt formten. Die Bühne war geöffnet worden, der Orchestergraben ausgezogen, und als Freifrau Isabel hinzutrat, um alles zu begutachten, sah sie Madoc Roswyn, die damit beschäftigt war, die zusammenklappbaren Bänke um die Bühne zu arrangieren. »Hm!« murmelte Freifrau Isabel vor sich hin. »Sie versucht, sich nützlich zu machen, damit ich sie nicht von Bord schicke.« Sie lachte finster und sah sich nach Roger um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Kurz darauf schlenderte Bernard Bickel herbei. »Ich hatte eine interessante Unterhaltung mit Kommandant Boltzen, und ich glaube, daß es mir gelungen ist, ihm unseren Standpunkt zu vermitteln. Er hat immer noch leise Zweifel, aber er ist auch der Meinung, daß kein Schaden angerichtet werden kann, dafür
aber möglicherweise etwas Gutes dabei herauskommen könnte.« Freifrau Isabel brummte. »Das will ich meinen, allerdings!« »Er bittet außerdem darum, daß Sie, ich und Kapitän Gondar ihm zum Abendessen Gesellschaft leisten. Bei dieser Gelegenheit wird er uns vielleicht einige weitere Informationen in bezug auf die Byzantauren geben können.« »Das ist außerordentlich großzügig von ihm«, sagte Freifrau Isabel, »ich werde der Einladung gerne Folge leisten.« »Das habe ich vorausgesetzt und die Einladung für uns alle angenommen.« Drei Stunden später stand Sirius dicht über dem Horizont, sein unterer Rand berührte ein weiches, weißes Nebelfeld am anderen Ende der Ebene. Roger, der schwermütig über die Ebene davongegangen war, kehrte jetzt zum Schiff zurück, wo er unbeabsichtigt zum Lauscher wurde. Er war neben der Rampe stehengeblieben, um den Siriusuntergang zu beobachten und hatte nicht bemerkt, daß Madoc Roswyn und Logan de Appling auf der untersten Stufe saßen. Eine Stoff wand verbarg ihn vor ihren Blicken. Roger erkannte Madoc Roswyns etwas rauhe Stimme und hielt wie versteinert inne. »Logan, bitte sprich nicht so – du irrst dich wirklich.« »Nein, ich irre mich nicht!« Die Stärke seiner Gefühle ließ de Applings Stimme zittern. »Du kennst ihn nicht so wie ich!« »Kapitän Gondar war mehr als freundlich zu mir; er hat mich mit vollkommener Zuvorkommenheit behandelt und nie den Versuch gemacht, sich mir zu nähern, wie dieser unaussprechliche Roger Wool.« Rogers Ohren brannten, und seine Haut fühlte sich trocken und spröde an, als wehe ein eisiger Wind über sein Gesicht. »Er will dich nur in Sicherheit wiegen«, fuhr de Appling auf. »Er ist ein harter Mann, mein Liebling…« »Bitte, nenn mich nicht so, Logan.«
»…er ist egoistisch und kennt keine Grundsätze. Ich weiß es! Ich habe ihn handeln gesehen.« »Nein, Logan, sag so etwas nicht. Er hilft mir, auf dem Schiff zu bleiben, er hat mir versprochen, daß Freifrau Isabel mich nicht fortschicken wird. Was könnte er mehr für mich tun?« Es folgte ein kurzes Schweigen, während de Appling darüber nachgrübelte, was sie gerade gesagt hatte. Roger tat dasselbe. Logan de Appling sprach mit unbeteiligter Stimme: »Warum ist es so wichtig, daß du die Reise machst?« »Ach – ich weiß nicht.« Und Roger konnte sich das reizende kleine Schulterzucken, die Neigung des Kopfes, den Schwung ihrer Lippen nur zu deutlich vorstellen. »Ich glaube, ich will es einfach. Möchtest du, daß ich das Schiff verlasse?« »Du weißt genau, daß ich das nicht will. Aber versprich mir, versprich mir bitte, daß du nicht zuläßt…« »Daß ich was nicht zulasse, Logan?« fragte Madoc Roswyn schmeichelnd. »Daß du Adolph Gondar nicht an dich heranläßt!« rief de Appling wild. »Bei dem Gedanken läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Ich glaube, ich würde ihn umbringen, oder mich, oder ich würde etwas Furchtbares tun… das ganze verfluchte Schiff zertrümmern…« »Logan, sei bitte nicht so stürmisch. Laß uns dem wunderschönen Siriusuntergang zusehen. Ist es nicht großartig? Und so fremd und unheimlich! Ich hätte nie gedacht, daß sich ein Sonnenuntergang so sehr vom anderen unterscheiden kann!« Roger holte tief Atem und ging leise davon und durchstreifte die Weite des Schiffes.
Dyrus Boltzen bot ihnen ein unerwartet gutes Mahl, was, wie er zugab, auf die Tatsache zurückzuführen war, daß das
Versorgungsschiff die Siriussiedlung erst drei Wochen zuvor verlassen hatte. »Wir sind hier dicht bei der Erde – relativ gesehen, natürlich –, aber es ist ein einsamer Planet. Es schauen nur sehr wenige zufällige Besucher wie Sie hier herein. Selbstverständlich niemals mit einem so ehrgeizigen Programm wie dem Ihren.« »Glauben Sie, daß wir uns den Byzantauren verständlich machen können?« fragte Freifrau Isabel. »Sie scheinen vollkommen nicht-menschlich in ihrer Haltung.« »In gewisser Hinsicht ja, in anderer nein. Manchmal staune ich, wie sehr unsere Ansichten sich überschneiden. Bei anderen Gelegenheiten bin ich ebenso erstaunt darüber, daß wir dieselbe einfache Tatsache aus so unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten können. Ich will Ihnen soviel sagen: Wenn Sie ein Programm aufführen wollen, das die Byzantauren mit ihrem eigenen Leben in Verbindung bringen können, müssen Sie ihnen auf ihrer Begriffsebene gegenübertreten.« »Natürlich«, sagte Bernard Bickel. »Darauf sind wir vorbereitet. Können Sie uns Vorschläge machen?« Boltzen schenkte Wein aus. »Ich glaube, das kann ich. Warten Sie. Eine klare Sache sind die Farben, auf die sie sehr empfindlich reagieren. Gelb ist die Farbe der Verstoßenen und Außenseiter, die unangenehmen Charaktere sollten also gelbe Kostüme tragen, der Held und die Heldin blau und schwarz und die tragenden Rollen grau und grün. Da ist noch eine Sache mit dem Sex, der Liebe, Romanzen, wie Sie es auch nennen wollen. Die ‘Zanten haben eigenartige Vermehrungsbräuche, tatsächlich gibt es drei Arten der geschlechtlichen Begegnung, und jeder ‘Zant ist in der Lage, zwei davon auszuführen, Sie sehen also, daß eine große Zahl von Mißverständnissen entstehen könnte, wenn Sie nicht eine gewisse Rücksicht auf diese Tatsache nehmen. Sie zeigen ihre
Zuneigung nicht durch Umarmungen und Küsse: Ihr Liebesspiel besteht darin, daß sie ihren Gefährten mit einer zähen Flüssigkeit besprühen. Ich bezweifle, daß Sie die Übereinstimmung so weit treiben wollen.« »Vermutlich nicht«, stimmte Bernard Bickel zu. »Nun, lassen Sie uns weiter nachdenken… wie ich mich erinnere – spielen in Fidelio manche Szenen in einem Kerker, nicht wahr?« »Ganz richtig«, sagte Freifrau Isabel. »Fast der gesamte zweite Akt.« »Sie dürfen nicht vergessen, daß das geliebte Heim der ’Zanten eine Höhle ist, die einem Verlies durchaus ähnelt. Die Geistesgestörten und Unruhestifter werden auf die Ebene verstoßen, wo sie in Banden ihr Unwesen treiben. Warnen Sie übrigens Ihre Leute, nicht allein umherzustreifen. Die Ausgestoßenen sind nicht unbedingt wild, aber sie sind außerordentlich unberechenbar, besonders, wenn sie ihre Kieselsteine bei sich haben.« »So, so«, sagte Freifrau Isabel bedächtig. »Ich nehme an, wir können das Bühnenbild ohne Schwierigkeiten verändern: Vielleicht könnten wir den ersten Akt im Kerker und die erste Szene des zweiten Aktes im Freien stattfinden lassen.« »Wenn Sie Ihre Botschaft vermitteln wollen, dann schlage ich etwas in dieser Richtung vor.« »Natürlich wollen wir das«, erklärte Freifrau Isabel. »Wir sind doch nicht den langen Weg hierher gekommen, nur um unser Publikum zu verwirren.« »Absolut nicht!« bekräftigte Bernard Bickel. »Dann ist da noch die Sache mit den Kostümen. Wissen Sie, wie die ‘Zanten uns in ihrer Sprache nennen? Himmelsläuse. Genau. Ihre Gefühle uns gegenüber sind, soweit ich es verstehe, von freundlicher Verachtung geprägt. Wir sind eine
auszubeutende Rasse, ein Haufen Exzentriker, die feine Metallgeräte gegen polierte Steinstückchen eintauschen!« Freifrau Isabel warf Bernard Bickel, der seinen Schnurrbart zwirbelte, einen hilfesuchenden Blick zu. »Ich hoffe«, sagte sie unsicher, »daß die Vorstellung dazu beitragen wird, ihre Einstellung zu ändern.« »Ich bin nicht sicher, ob Sie so weit gehen wollen, aber vom Standpunkt Ihres Publikums aus würde das Vorhaben sinnvoller sein, wenn die Zuschauer sich und ihr Leben mit den Schauspielern und dem Handlungsverlauf identifizieren können.« »Wir können die Oper nicht umschreiben«, widersprach Freifrau Isabel. »Dann würden wir nicht Fidelio aufführen, und das ist immerhin unsere Absicht.« »Dem stimme ich zu. Ich will Ihnen keine Vorschriften machen, ich gebe Ihnen lediglich Informationen, und es steht Ihnen frei, daraus Ihre Schlüsse zu ziehen oder nicht. Wenn Sie beispielsweise Ihre ›Himmelslaus‹-Schauspieler so kostümieren würden, daß sie Byzantauren ähnelten, würden Sie ein wesentlich höheres Maß an Aufmerksamkeit auf sich ziehen.« »Das ist alles schön und gut«, widersprach Freifrau Isabel, »aber wo, um alles in der Welt, sollten wir so komplizierte Kostüme auftreiben? Unmöglich!« »Ich könnte Ihnen in gewissem Umfang meine Hilfe anbieten«, sagte Dyrus Boltzen. Er schenkte eine weitere Runde Wein aus und dachte nach, während Freifrau Isabel und Bernard Bickel ihn aufmerksam beobachteten. »Ich habe im Lagerhaus ein paar gegerbte Byzantaurenfelle«, sagte er schließlich, »die für das Britische Museum bestimmt sind. Ich würde meinen, daß sie ganz gut als Kostüme zu verwenden wären. Wenn Sie wollen, lasse ich sie zu Ihrem Schiff bringen. Alles, worum ich Sie bitte, ist, daß Sie gut darauf achten.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Freifrau Isabel. »Mr. Bickel, was halten Sie davon?« Bernard Bickel blinzelte. »Nun – ich bin natürlich auch der Meinung, daß wir, wenn es unser Ziel ist, das nichtirdische Volk des Universums für Musik – insbesondere unsere irdische Musik – zu gewinnen, sehr ernsthafte und aufrichtige Anstrengungen unternehmen müssen.« Freifrau Isabel nickte entschlossen. »Ja. Das müssen wir ganz sicher tun.« »Ich werde die Häute zu Ihrem Schiff hinüberschicken«, sagte Dyrus Boltzen. »Noch etwas«, warf Freifrau Isabel ein, »ich habe den Beginn der Vorstellung für morgen, drei Stunden nach Mittag, festgesetzt, wie auch immer diese Zeit bei Ihnen genannt wird.« »Drei Uhr«, sagte Dyrus Boltzen. »Unser Tag ist zwanzig Stunden und zwölf Minuten lang, sowohl Mittag als auch Mitternacht liegen also auf zehn Uhr sechs. Drei Uhr müßte eine angenehme Zeit sein.« »Ich verlasse mich darauf, daß Sie Ihr Bestes tun, damit die Byzantauren zur Vorstellung erscheinen.« »Natürlich werde ich mein Bestes tun, natürlich. Und ich werde Ihnen die Felle morgen als erstes zum Schiff schicken.« Dyrus Boltzen hob sein Glas. »Auf eine erfolgreiche Vorstellung!«
Die Nacht war finster. Über die Ebene und von den Bergen herunter klangen seltsame Geräusche: leises Gelächter, gelegentlich ein entferntes, mißtönendes Kreischen, ein paarmal klagendes Flöten. Weder Bernard Bickel noch Kapitän Gondar konnten die Quelle der Geräusche mit Sicherheit
bestimmen und waren sich darin einig, daß sie den niederen Lebensformen des Planeten zuzuschreiben waren. Niemand entfernte sich weit vom Schiff, obwohl eine unbestreitbare Verlockung darin lag, sich fünfzig oder hundert Fuß weit von der Rampe zu entfernen und, zu den verzerrten Sternbildern aufblickend und den geheimnisvollen Geräuschen lauschend, in der Nacht des Siriusplaneten zu stehen. Kurz nach vier Uhr wurde der Himmel hell, und um fünf Uhr stieg Sirius als glühende Kugel über dem Trapezgebirge auf. Kommandant Boltzen hielt sein Wort, und ein paar Stunden später wurde eine Wagenladung Byzantaurenfelle abgeladen. Hermilda Warn, die die Rolle der Leonore in Fidelio sang, schnappte entsetzt nach Luft. Sie wandte sich an Freifrau Isabel. »Sie erwarten doch wohl nicht von uns, daß wir diese Dinger tragen?« »Aber selbstverständlich«, sagte Freifrau Isabel ruhig. »Es ist ein Zugeständnis an die gesellschaftlichen Sensibilitäten unseres Publikums.« Herman Scantling, der den Pizarro sang, warf die Arme in die Luft. »Vielleicht können Sie mir sagen, wie ich mich mit vier Armen ausdrücken soll? Und welchen der zwei Köpfe soll ich über meinen eigenen stülpen? Und wie, erklären Sie mir, wie soll ich hinter diesen Lappen und Falten etwas vermitteln?« »Die Felle riechen unangenehm«, sagte Otto von Scheerup, der die Rolle des Florestan sang. »Ich finde, daß die Vorstellung einfach lächerlich ist.« Freifrau Isabels Mund verhärtete sich zu einem dünnen, weißen Strich. »Es gibt keinerlei Diskussion. Hier sind die Kostüme für die Nachmittagsaufführung, und ich dulde keinen Widerspruch. Ihre Verträge sind in diesem Punkt absolut eindeutig. Es wird nicht von Ihnen verlangt, daß Sie Ihre Gesundheit gefährden, aber ein gewisses Maß an Unannehmlichkeiten muß erwartet und gutwillig in Kauf
genommen werden. Ich werde keine Temperamentsausbrüche über mich ergehen lassen, mehr habe ich zu diesem Thema nicht zu sagen.« Sie wandte sich an Roger, der in der Nähe stand. »Das ist eine Gelegenheit, dich nützlich zu machen, Roger. Bring diese Felle zu Mr. Szinc in die Umkleideräume und hilf ihm, sie den Leuten anzupassen, die an der heutigen Vorstellung beteiligt sind.« Roger zog eine unwillige Grimasse und ging zu den Fellen hinüber. Hermilda Warn stieß einen erbosten Seufzer aus. »Solche empörenden Umstände sind mir noch nie begegnet!« Freifrau Isabel schenkte ihr keine Beachtung und ging davon, um sich mit Dyrus Boltzen zu unterhalten. Herman Scantling fragte: »Hat es jemals etwas so Verrücktes gegeben?« Otto von Scheerup schüttelte mißmutig den Kopf. »Warten Sie nur, wenn wir der Innung davon Mitteilung machen! Das ist alles, was ich dazu sagen kann, warten Sie es ab! Da werden die Fetzen fliegen!« »Aber – bis dahin?« fragte Ramona Thoxted, die die Marcellina sang. »Müssen wir die gräßlichen Dinger tragen?« Herman Scantling brummte wütend: »Sie würde uns auf diesem gottverlassenen Felsenball aussetzen, ohne Gage, ohne Rückfahrkarte, ohne alles.« »Wir könnten sie verklagen«, sagte Julia Biancolelli ohne große Begeisterung. Weder Herman Scantling noch Hermilda Warn oder Otto von Scheerup erwiderten etwas, und Ramona Thoxted sagte: »Ich vermute, daß wir auf einer Fahrt wie dieser hier auf nahezu alles gefaßt sein müssen.« Der Vormittag verging, und sechs Minuten nach zehn brach der Nachmittag an. Um ein Uhr dreißig kamen Dyrus Boltzen und sein Adjutant auf einer Flugplattform heran. Dyrus Boltzen trug Reithosen aus Kordstoff, schwere Stiefel und eine
Kapuzenjacke. Er ging zu Freifrau Isabel hinüber, die damit beschäftigt war, letzte Änderungen im Text vorzunehmen. »Es tut mir leid, aber ich werde die Vorstellung versäumen müssen. Wir müssen uns um ein paar unangenehme Dinge kümmern. Eine Bande unberechenbarer Herumstreuner ist auf dem Weg hierher gesehen worden, und wir müssen sie ablenken, bevor sie auf den Terrassen Unheil anrichten.« »Es ist ein Jammer!« rief Freifrau Isabel aus. »Nachdem Sie uns eine so große Hilfe waren! Haben Sie veranlaßt, daß die Einwohner zu der Vorstellung kommen?« »Oh ja. Sie sind unterrichtet und werden um drei Uhr hier erscheinen. Wenn ich Glück habe, werde ich zum letzten Akt zurück sein!« Er ging zu dem Flugkörper zurück, der nach Norden davonglitt. »Ein Jammer, daß er die Oper versäumen muß, aber da kann man wohl nichts machen«, sagte Freifrau Isabel. »Nun denn. Das Wort ›Verlies‹ wird nicht erwähnt. Wir ersetzen es durch das Wort ›Wüste‹!« »Was macht das für einen Unterschied?« fragte Herman Scantling. »Wir singen in deutscher Sprache, die die einheimischen Bestien ohnehin nicht verstehen.« Freifrau Isabel sprach mit einer Sanftheit, die für die Vertrauteren in ihrem Umkreis eine Warnung war. »Unser Ziel, Mr. Scantling, ist es, Vertrauen zu erwecken, eine fundamentale Fülle zu erreichen. Wenn das Bühnenbild eine Wüste darstellt, so wie es jetzt der Fall ist, ist es falsch, diese Wüste als Verlies zu bezeichnen, selbst in deutscher Sprache. Habe ich mich klar ausgedrückt?« »Das Versmaß ändert sich«, brummte Otto von Scheerup. »›Die Wüste‹, ›das Burgverlies‹.« »Sie müssen Ihr Bestes tun.«
Drei Uhr rückte näher. Die Musiker versammelten sich im Orchestergraben, Sir Henry Rixon erschien und warf einen kurzen Blick in die Partitur. Hinter der Bühne wurden unter Schimpfen und Fluchen und verärgerten Ausrufen die Felle angelegt und die Kostüme so gut es ging angepaßt. Fünf Minuten vor drei blickte Freifrau Isabel über die Ebene. »Unser Publikum müßte jetzt auf dem Weg sein«, bemerkte sie, an Bernard Bickel gewandt. »Ich hoffe sehr, daß es kein Mißverständnis bezüglich der Zeit gegeben hat.« »Verdammt unangenehm, daß Boltzen fort mußte«, sagte Bickel. »Vielleicht warten die ‘Zanten, daß jemand sie abholt, oder etwas ähnliches. Sie sind ein wenig mißtrauisch gegen die offene Ebene, wenn Sie sich erinnern, was Boltzen uns erzählt hat.« »Das ist wahr. Vielleicht sollten Sie zu den Höhlen hinüberlaufen, Bernard, und sehen, was los ist.« Bickel runzelte die Stirn und saugte an seinem Schnurrbart, konnte aber keinen besseren Vorschlag machen. Er setzte sich in Richtung auf die Niederlassung in Bewegung, und Freifrau Isabel begab sich zur Bühne zurück, um dafür zu sorgen, daß alles seinen ordentlichen Verlauf nahm. Sie schüttelte mißbilligend den Kopf. Wo blieb die Würde, die leichte Eleganz, die ihr vorgeschwebt war? Bestimmt nicht hier, bei den wütenden Tenören, Sopranen und Bässen. Einige hatten sich Kappen auf einen der Köpfe gesetzt, andere hatten zwei der vier Arme durch die Ärmel ihrer Umhänge gezwängt und die beiden übrigen über die Schulter geworfen. Freifrau Isabel machte auf dem Absatz kehrt und ging davon. Viertel nach drei kam Roger, um ihr zu sagen, daß Bernard mit den Byzantauren eingetroffen war. »Ausgezeichnet!« sagte Freifrau Isabel. »Würdest du freundlicherweise bei der Verteilung der Plätze helfen, Roger.
Denk daran, je länger die Fransen an dem kurzen Schal sind, desto höherstehend ist die Persönlichkeit.« Roger nickte und eilte hinaus, um sich nützlich zu machen. Bernard Bickel trat ein, um Freifrau Isabel seinen Bericht zu erstatten. »Sie waren auf dem Weg, kamen gerade von einem Spaziergang, darum sind sie wahrscheinlich zu spät. Ich habe sie hierher kommandiert, und da sind sie nun.« Freifrau Isabel warf einen Blick durch das Guckloch und sah, daß der Zuschauerraum tatsächlich gefüllt war mit Byzantauren. In großer Anzahl beisammen erschienen sie ihr noch seltsamer und unmenschlicher als zuvor – sogar irgendwie bedrohlich. Freifrau Isabel zögerte, dann trat sie vor den Vorhang, um eine Willkommensrede zu halten. »Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zu unserer kleinen Vorstellung. Sie sind im Begriff, die Oper Fidelio von Ludwig van Beethoven, einem unserer fähigsten Komponisten, zu sehen. Wir zeigen Ihnen dieses Stück in der Hoffnung, daß einige von Ihnen den Wunsch verspüren werden, mehr über die große Musik der Erde zu erfahren. Und nun, da ich nicht weiß, wieviel von dem, was ich sage, für sie verständlich ist, werde ich mich zurückziehen und die Musik für sich sprechen lassen. Wir zeigen Ihnen: Fidelio!« Freifrau Isabel ging zum Eingang des Zuschauerraumes hinunter und lauschte der Ouvertüre. Wie großartig sie hier auf dem Siriusplaneten klang! Wie bewegend, daß diese ruhmreiche Essenz, diese reinste Destillation irdischer Zivilisation die Luft des Sirius durchdrang und in die Seelen dieser so außerordentlich häßlichen und unterprivilegierten Leute Eingang fand! Würde die Erfahrung sie edler machen, sie aus ihrer steineschürfenden Existenz emporheben, ihnen auch nur ein Zehntel der der Musik innewohnenden Schönheit und Größe vermitteln? Ein Jammer, dachte Freifrau Isabel, daß sie es nie mit Bestimmtheit wissen würde.
Der Vorhang hob sich für den ersten Akt, Marcellina und Jacquino sangen in Byzantaurenfellen von Liebe und Sehnsucht, und hier, vor diesem Publikum von Byzantauren wirkten die Kostüme nicht ganz so schwachsinnig lächerlich wie zuvor. Aber jetzt tauchten Dyrus Boltzen und sein Adjutant auf. Freifrau Isabel winkte ihnen zu, Dyrus Boltzen winkte müde zurück. Freifrau Isabel ging ihm entgegen. »Es tut mir alles furchtbar leid«, sagte er schwer atmend. »Ich hatte keine Zeit, es Ihnen zu sagen, aber ich wußte, daß sie heute nicht kommen würden. Sie sind zu vorsichtig.« Freifrau Isabel zog verständnislos die Augenbrauen hoch. »Wer würde nicht kommen? Die Byzantauren? Sie sind hier. Wir haben ein volles Haus!« Dyrus Boltzen starrte sie überrascht an. »Sie sind hier? Das kann ich nicht glauben. Sie würden ihre Höhlen nie verlassen, wenn die Ausgestoßenen über die Berge kommen.« Freifrau Isabel widersprach ihm lächelnd. »Aber sie haben es getan. Sie sind hier, und die Musik gefällt ihnen sehr.« Dyrus Boltzen ging zum Eingang und warf einen Blick in den Saal. Er zog sich langsam zurück. Dann wandte er Freifrau Isabel sein verzerrtes, aschfahles Gesicht zu. »Ihr Publikum«, sagte er mit seltsamer Stimme, »besteht aus Herumstreunern – den psychotischen Ausgestoßenen, vor denen die Königlichen Riesen in Furcht leben.« »Wie? Sind Sie sicher?« »Ja. Sie tragen Gelb, sehen Sie es nicht? Und sie haben Kieselsteine bei sich, was bedeutet, daß sie in unangenehmer Stimmung sind!« Freifrau Isabel rang die Hände. »Was soll ich tun? Die Vorstellung abbrechen?« »Ich weiß es nicht«, sagte Boltzen. »Der leichteste Anstoß wird sie außer Rand und Band bringen.«
»Aber was können wir tun?« flüsterte Freifrau Isabel. »Bringen Sie sie auf keinen Fall aus der Fassung. Machen Sie keine plötzlichen Geräusche. Und bringen Sie das Stück wieder in die ursprüngliche Form, jede Anspielung auf ihre Lebensumstände macht sie verrückt vor Wut.« Freifrau Isabel eilte hinter die Bühne. »Alles umschmeißen!« rief sie. »Zurück zur ursprünglichen Form, wir haben ein anderes Publikum!« Otto von Scheerup sah sie ungläubig an. »Ein anderes Publikum? Was meinen Sie damit?« »Es sind Wilde, und Schlimmeres! Beim leisesten Vorwand werden sie ernsthafte Scherereien machen!« Otto von Scheerup warf einen unsicheren Blick hinaus auf die Bühne. Dort sang Hermilda Warn Fidelios Mitleid mit Marcellinas fehlgeleiteter Liebe. Sie griff nach dem Taschentuch, mit dem sie ihre Gestik zu unterstreichen pflegte, Freifrau Isabel stürzte auf die Bühne und riß es ihr aus der Hand. »Es ist gelb«, zischte sie der entsetzten Diva zu und eilte wieder von der Bühne. Durch das Guckloch beobachtete sie die Zuschauer. Sie rutschten unruhig in ihren Sitzen, drehten die Köpfe und zogen furchterregende Grimassen. Sie fragte: »Wo ist Mr. Bickel?« Andrei Szinc deutete hinunter. »Unten im Zuschauerraum. Er erklärt dem großen Wesen mit der Steinkeule die Oper.« »Welch eine schreckliche Situation!« rief Freifrau Isabel aus. Sie lief durch das Schiff zur Kugel A und der Brücke, wo sie Kapitän Gondar fand, der gerade Madoc Roswyn küßte. »Kapitän Gondar!« rief Freifrau Isabel mit einer Stimme, die so laut tönte wie ein Horn. »Würden Sie Ihre Privatangelegenheiten verschieben, wir befinden uns in einer ernsthaften Notlage, der wir begegnen müssen.« So knapp wie möglich erklärte sie die Lage.
Kapitän Gondar nickte kurz, sprach ein paar Worte in den Interkom und alarmierte die Mannschaft. Dann ging er, von Freifrau Isabel gefolgt, durch den Verbindungsgang zur Bühne. Freifrau Isabel begab sich zu dem Guckloch zurück. Das Publikum war ausgesprochen unruhig. Einige der Wilden standen schwankend und armeschwingend aufrecht und schlugen ihre Köpfe zusammen. Die Sänger auf der Bühne waren durch die Bewegung verwirrt und stammelten. Sir Henry Rixon ließ das Orchester kraftvoll spielen, aber im Zuschauerraum entstand eine neuerliche Unruhe. Bernard Bickel hatte im Zuschauerraum neben dem Wilden gesessen, den er als den Oberältesten erkannt hatte und Anmerkungen gemacht, die ihm für das begrenzte Verständnis des Byzantauren begreifbar schienen. Offenbar hatte er weder den gelben Schal noch die kieselsteinbeschlagene Keule bemerkt, oder aber die letztere für einen Gegenstand von rein zeremonieller Bedeutung gehalten. Er konnte sich später nicht genau an die Bemerkung erinnern, die den Byzantaur aus der Fassung brachte, auf jeden Fall hob das Wesen die Keule mit der eindeutigen Absicht, Bernard Bickels Kommentaren Einhalt zu gebieten. Aber er unterschätzte die Geistesgegenwart des Musikwissenschaftlers, der nicht zum ersten Mal mit einer solchen Situation konfrontiert wurde. Bickel schlug den Ältesten mit der Faust auf den rechten Kopf, wehrte den Schlag der Keule ab und machte einen Satz in den Orchestergraben, wo er genau auf die Schlaginstrumente fiel. Der plötzliche Mißklang der Becken schien die Byzantauren zu erregen: Sie grollten, stöhnten und näherten sich in geballtem Haufen und steineschwingend Bernard Bickel und dem Orchester. Alle, die die Bühne erreichen konnten, kletterten hinauf, diejenigen, die dem Zuschauerraum am nächsten waren,
wehrten die Angreifer mit ihren Instrumenten ab. Kapitän Gondar sprang vor und rief Befehle, während Mitglieder der Schiffsbesatzung Schlauchleitungen aufzogen. Auf der Bühne sprang einer der Sänger voller Entsetzen aus seinem Fell und schleuderte es in den Zuschauerraum, was unter den unberechenbaren Wilden sofort einen Tumult auslöste. Andere taten es ihm nach, schrien und grölten, und die Byzantauren zogen sich zurück. Nun schoß Wasser aus den Hochdruckleitungen, und die Byzantauren wurden aus dem Theater gespült, auf die Ebene hinaus, wo sie sich aufrafften und in seltsamen Sprüngen nach Norden flohen. Eine halbe Stunde später war die Ordnung annähernd wiederhergestellt. Freifrau Isabel, Bernard Bickel, Kapitän Gondar, Sir Henry Rixon, Andrei Szinc und einige der Musiker und Sänger hatten sich im Hauptsalon versammelt. Kommandant Boltzen versuchte, eine sachliche Erklärung für den Zwischenfall zu geben, aber seine Stimme ging in dem allgemeinen Durcheinander unter. Schließlich gelang es Dyrus Boltzen, sich Gehör zu verschaffen. »Morgen wird es anders sein! Ich werde die Königlichen Riesen mit Sicherheit hierher bringen – und zwar ohne Steine!« Plötzlich herrschte Schweigen in dem Raum. Andrei Szinc sagte etwas zu Sir Henry Rixon, der nickte und Freifrau Isabel beiseite zog. Sie preßte die Lippen zusammen, holte tief Atem, als wolle sie eine kraftvolle Rede halten, dann zögerte sie und nickte kurz. An Dyrus Boltzen gewandt, sagte sie: »Ich fürchte, es wird keine weitere Vorstellung in der Siriussiedlung geben. Einige der Musiker sind unpäßlich, und andere sind – nun ja, auch unpäßlich. Wir werden aufbrechen, sobald die Phoebus raumklar gemacht ist.«
VII
In der Aufregung, die die erste Vorstellung des Ensembles mit sich brachte, vergaß Freifrau Isabel ihre Absicht, Madoc Roswyn in der Siriussiedlung auszusetzen, und Madoc Roswyn blieb diskret außer Sichtweite. Als Freifrau Isabel sich wieder daran erinnerte, schnalzte sie verärgert mit der Zunge. Und als sie über die offenkundige Vernarrtheit Kapitän Gondars nachdachte, schnalzte sie erneut mit der Zunge und fragte sich, ob sie ihn in der Angelegenheit zur Rede stellen solle oder nicht. Widerstrebend kam sie zu dem Entschluß, daß es nicht ihre Sache sei, und als sie sich mit Kapitän Gondar bezüglich des nächsten Anlaufhafens unterhielt, wurde Madoc Roswyn nicht erwähnt. »Unserer Reiseroute zufolge«, sagte Freifrau Isabel mit ihrer förmlichsten Stimme, »werden wir als nächstes den zweiten Planeten des Phi Orionis besuchen. Mr. Bickel sagte mir, daß die Eingeborenen ausgesprochen menschenähnlich seien, nicht wahr, Bernard?« Bickel, der soeben die Kabine betreten hatte, pflichtete ihr bei. »Ich habe die Welt nicht selbst besucht, aber soweit ich weiß, sind die Bewohner von Zade nicht nur ihrer äußerlichen Erscheinung nach humanoid, sondern sie weisen auch ähnliche kulturelle Merkmale auf wie wir, wozu auch Kunstformen gehören, deren Grundlage die Modulation von Tönen ist. Was gleichbedeutend ist mit: Musik.« »Dann ist Zade also unser nächstes Ziel«, sagte Freifrau Isabel. »Ich hoffe, Kapitän, daß unsere Route uns nicht zu weit von Rlaru entfernt?«
»Nein«, sagte Gondar verdrießlich. »Darin liegt keine Schwierigkeit: Phi Orionis befindet sich in der generellen Richtung. Aber ich habe einen Vorschlag zu machen.« Freifrau Isabel nickte in höflichem Erstaunen mit dem Kopf. »Ja?« »Ich erinnere mich an die Erwähnung eines Planeten in der Hydra, der von einem sehr musikalischen Volk bewohnt ist. Es ist eine Welt, die noch kaum jemals von Menschen betreten worden ist, und ich habe gehört, daß sie künstlerisch außerordentlich hoch entwickelt ist. Das ist genau der Ort, zu dem Sie Ihre Truppe bringen müßten, das ist jedenfalls meine Meinung.« Freifrau Isabel warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. In Kapitän Gondars Stimme hatte ein kaum wahrnehmbarer falscher Ton mitgeschwungen. »Unsere gegenwärtige Reiseroute bringt uns, Ihrer Aussage zufolge, nach Rlaru. Ist das nicht richtig?« »Doch natürlich. Vollkommen richtig.« Bickel sagte: »Da wir gerade davon sprechen, Gondar, finden Sie nicht, daß es an der Zeit ist, uns über die Position von Rlaru aufzuklären? Wir sind schließlich weder Räuber noch Luftpiraten, und wir haben ganz sicher nicht die Absicht, Sie zu übervorteilen.« Gondars langes, fahles Gesicht verzog sich zu einem leisen Lächeln. »Es ist besser, wenn ich das für mich behalte – mit sehr gutem Grund.« »Aber angenommen, Ihnen geschieht etwas!« rief Bernard Bickel aus. »Dann würden wir nicht in der Lage sein, Rlaru zu finden, und das ist unser oberstes Ziel!« Kapitän Gondar schüttelte eigensinnig den Kopf. »Ich kann Ihr Widerstreben nicht begreifen, uns Ihr Vertrauen zu schenken«, sagte Freifrau Isabel. »Sie können
doch nicht im Ernst annehmen, daß wir versuchen würden, Sie zu übervorteilen?« »Natürlich nicht, und es tut mir leid, wenn ich den Eindruck erwecke.« »Warum sind Sie dann so widernatürlich mißtrauisch?« Kapitän Gondar dachte einen Augenblick lang nach. »Ich will ganz offen sein«, sagte er. »Sie machen aus der Sache eine Vertrauensfrage, aber Ihr Wunsch nach Information zeigt ganz deutlich, daß Sie mir nicht vertrauen. Das erzeugt in mir ein Gegen-Mißtrauen. Sie verfügen über eine große Summe Geldes, das rechtmäßig mir gehört, das ist ein Druckmittel, das Sie gegen mich in der Hand haben. Ich bin im Besitz von Informationen, die Sie gerne haben wollen, das ist mein. Druckmittel gegen Sie. Sie fordern mich auf, meinen Vorteil aufzugeben, mich in Ihre Gewalt zu begeben, ohne Ihrerseits zu ähnlichen Zugeständnissen bereit zu sein.« Freifrau Isabel schüttelte überrascht den Kopf. »Was Sie da sagen, mag auf der Erde seine Richtigkeit haben – aber hier draußen, unterwegs nach Rlaru, was gewinnen Sie damit? Wir beide, Mr. Bickel und ich, sind ehrbare Menschen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir Sie, um eines Streites willen, aussetzen oder – um es ganz melodramatisch zu machen – Ihren Tod verursachen.« »Es sind schon seltsamere Dinge geschehen«, sagte Kapitän Gondar mit seinem düstersten Lächeln. Freifrau Isabel sog hörbar den Atem ein. »Sie benehmen sich ganz unmöglich, Kapitän Gondar.« »Wenn wir verbrecherische Absichten hegen würden«, widersprach Bernard Bickel, »könnten wir sie ebenso leicht ausführen, nachdem Sie uns nach Rlaru gebracht haben wie jetzt. Tatsächlich würden wir, wenn wir zu der Sorte gehörten, für die Sie uns halten, dafür sorgen, daß Sie uns genaue Anweisungen geben, bevor wir Sie aus dem Weg schaffen.«
Kapitän Gondar schüttelte den Kopf. »Lassen Sie uns das Thema vergessen. Wenn es soweit ist, werde ich Sie nach Rlaru bringen, ich hoffe, daß Sie Ihrerseits mir mein Geld aushändigen werden, wenn es soweit ist.« »Ich nehme an, es wird uns keine andere Wahl bleiben«, sagte Freifrau Isabel ungerührt. »Was nun diesen Planeten betrifft, den ich erwähnt habe – ich glaube, daß ein Besuch dieses Planeten sich in hohem Maße auszahlen würde.« »Das mag wohl sein. Um noch einmal auf Rlaru zurückzukommen, in welchem Sternbildsektor liegt es?« »Im Walfisch«, sagte Kapitän Gondar unwillig. »Nun also – dann würde uns ein Besuch dieses Planeten in der Hydra fast in die entgegengesetzte Richtung von Rlaru fortführen. Wir wären gezwungen, einen erheblichen Umweg zu machen. Habe ich nicht recht?« Kapitän Gondars Stimme klang fast unterwürfig. »Einen kleinen Umweg vielleicht – aber einen sehr lohnenden. Ich glaube wirklich, es wäre ein großer Fehler, den Planeten auszulassen, die Leute dort sind einigermaßen humanoid… fast menschlich, würde ich sagen…« Bernard Bickel runzelte die Stirn. »In der Hydra? Ich erinnere mich an keinen solchen Planeten in der Hydra.« Freifrau Isabel fragte: »Woher haben Sie Ihre Information?« »Ein alter Forscher hat es mir beschrieben«, sagte Gondar, und aus seiner Stimme klang wieder die etwas schrille Forschheit, die schon zuvor Freifrau Isabels Mißtrauen geweckt hatte. »Seither wollte ich diesem Planeten immer einen Besuch abstatten.« »Sie müssen das bei einer anderen Gelegenheit tun«, sagte Freifrau Isabel entschieden. »Unsere Reiseroute ist fast durchgehend festgelegt. Wir können nicht hier und dort in der
Galaxis herumspringen, um den Wünschen eines einzigen nachzukommen. Es tut mir leid, Kapitän Gondar.« Gondar machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür. Freifrau Isabel rief ihm nach: »Teilen Sie dem Astrogator freundlicherweise mit, daß unser direktes Ziel Zade, der zweite Planet des Phi Orionis, ist.« Als sich die Tür leise hinter Gondar geschlossen hatte, wandte sich Bernard Bickel mit hochgezogenen Brauen und erstaunten Augen an Freifrau Isabel. »Seltsam! Warum, in drei Teufels Name, ist Gondar so begierig, gerade diese Welt anzulaufen?« Freifrau Isabel hatte das Thema bereits aus ihren Gedanken gestrichen. »Es macht keinen Unterschied, da wir es nicht tun werden.«
Während Freifrau Isabel und Bernard Bickel sich mit Kapitän Gondar unterhielten, wanderte Roger Wool ziellos durch das Schiff und überquerte die Bühne in Kugel C. Die Musiker und Sänger hatten ihre täglichen Proben beendet, aber über der Bühne hing noch eine Erinnerung ihrer Anwesenheit: ein Hauch von Parfüm, Kampfer, Kolophonium und Klappenöl. Eine einzige schwache Lampe erhellte die Bühne, und auf einem der Dekorationsstühle saß unbeweglich Madoc Roswyn. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, als sie Roger erblickte. Er trat langsam näher und sagte: »Ich wünschte, du würdest mir sagen, warum du das getan hast – warum du diese abscheulichen Dinge über mich erzählt hast… Als hätte ich dich jemals gezwungen, etwas gegen deinen Willen zu unternehmen…« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es schien mir damals angebracht. Du mußt einsehen, Roger, daß ich
launisch und eigensinnig bin: nicht im mindesten das Mädchen, für das du mich gehalten hast.« »Ich kann das Gefühl nicht loswerden, daß du mich benutzt hast, aber zu welchem Zweck, das kann ich mir nicht vorstellen… Ich dachte einmal, du hättest mich gern. Wenn das so war, wenn es noch so ist – dann sag es mir, um Himmels willen, damit wir dieses furchtbare Mißverständnis aus der Welt schaffen können.« »Es ist kein Mißverständnis, Roger.« Madoc Roswyns Stimme war sanft, aber vollkommen ausdruckslos. Roger sah sie einen Augenblick lang an, dann schüttelte er den Kopf. »Wie kann jemand, der so schön, so einfühlsam und so klug ist, nur so wenig Vertrauen haben? Ich kann das nicht verstehen.« »Es ist nicht notwendig, daß du es verstehst, Roger. Geh jetzt und such deine Tante. Sie hat einen Auftrag für dich.« Roger wandte sich ab und verließ die Bühne. Madoc Roswyn sah ihm nach, und auf ihrem Gesicht lag ein seltsam bedrückter Ausdruck, der alles mögliche bedeuten konnte. Niedergeschlagen setzte Roger seine Wanderung durch das Schiff fort. Er traf seine Tante im Korridor vor dem Salon, wo sie Ada Francinis Beschwerden bezüglich bestimmter, seltsamer Geräusche zugehört hatte. Freifrau Isabels Blick fiel auf Roger, und wirklich hatte sie einen Auftrag, den er ausführen sollte. »Roger, hast du ein knirschendes, dumpfes Geräusch in Kugel D bemerkt? Es tritt in unregelmäßigen Abständen auf und scheint aus keiner bestimmten Richtung zu kommen.« »Ich habe nichts bemerkt«, sagte Roger abwesend. »Miss Francini hat mir mitgeteilt, daß das Geräusch das ganze Ensemble ernsthaft stört. Sie erwähnte es Kapitän Gondar gegenüber, aber er hat nur geringes Interesse gezeigt.« »Vielleicht schnarcht jemand?« fragte Roger.
»Daran habe ich auch gedacht, aber Miss Francini sagt, daß es nicht wie Schnarchen klingt.« Roger versicherte noch einmal, daß er dieses Geräusch nicht bemerkt habe. »Nun, ich möchte herausfinden, was es verursacht, und falls die Quelle des Geräusches mechanischer Art ist, den Cheftechniker darauf aufmerksam machen.« Roger versprach, sein Bestes zu tun und schlurfte in Richtung auf Kugel D davon. Er klopfte an die Tür der Kabine, die Ephraim Zerner mit Otto von Scheerup teilte, und fragte nach Einzelheiten bezüglich der störenden Geräusche. Sowohl Zerner als auch von Scheerup lieferten ihm Informationen, aber sie stimmten nicht genau überein. Ephraim Zerner erwähnte ein schrilles, pfeifendes Geräusch, das gelegentlich das Schlagen und Kratzen begleitete, während von Scheerup ein »Donnern und Dröhnen« betonte, »das zusammen mit dem Rasseln und Quietschen ein ganz entsetzliches Getöse erzeugt«. Das Geräusch erklang zu nicht voraussagbaren Zeiten, im Abstand von einigen Tagen und dauerte manchmal zwei Stunden und länger an. Roger zog weitere Erkundigungen bei den Ensemblemitgliedern ein. Einige empfanden es als störender als andere; jeder lieferte seine eigene Beschreibung der Natur des Geräusches, aber alle waren sich darin einig, daß es scheußlich war. Roger lief in Kugel D auf und ab, aber das unangenehme Geräusch war nicht zu hören. Er sprach noch einmal mit Ada Francini und bat sie, ihn zu benachrichtigen, sobald etwas zu hören sei, worauf er umgehend gründliche Untersuchungen vornehmen würde. Sechs Stunden später bot sich die Gelegenheit. Ada Francini suchte Roger auf, der Wort hielt und mit ihr zur Kugel D
zurückkehrte. Ada Francini führte ihn zu ihrer Kabine und hob den Finger. »Hören Sie?« Roger horchte. Deutlich vernahm er den fraglichen Ton. Er mußte gezwungenermaßen zugeben, daß keiner ihn falsch beschrieben hatte, denn er umfaßte eine Vielzahl von kratzenden, rasselnden, dröhnenden, schlagenden, quietschenden, heulenden und klopfenden Geräuschen. Der Ton schien aus der Wand, aus der Luft, von überall und nirgends zu kommen. Er trat in den Korridor, und das Geräusch wurde schwächer. Sorgfältig durchstreifte er die Kabine und stellte schließlich fest, daß das eigentliche Geräusch aus der Klimaanlage kam. Er legte das Ohr an die Röhre und lauschte einige Zeit. Dann erhob er sich und wischte sich den Staub von den Knien. »Ich habe eine Ahnung, was das Geräusch verursacht«, erklärte er Ada Francini, »aber ich gehe dem lieber noch etwas gründlicher nach.« Eine Stunde später stieß Freifrau Isabel auf Roger, der im Salon saß und Solitaire spielte. »Nun, Roger?« erkundigte sie sich. »Was hast du unternommen? Miss Francini sagt, das rasselnde Geräusch sei schlimmer denn je, und überdies wüßtest du, wodurch es verursacht wird.« »Ja, es ist mir gelungen, es herauszufinden«, sagte Roger. »Es kommt aus der Mannschaftsmesse in Kugel E und nimmt den Weg über die Klimaanlage nach Kugel D.« »Ach wirklich! Und was geht in der Mannschaftsmesse vor sich, das ein solches Getöse verursacht?« »Nun – es scheint, daß ein paar Mitglieder der Mannschaft eine Waschbrettband gegründet haben.« »Eine was?« »Eine was?« fragte Bernard Bickel, der den Salon betreten hatte.
Roger erklärte, so gut er es vermochte, das Instrumentarium und das Grundprinzip der ›Tough Luck Jug Band‹, wie die Gruppe in der Messe hieß. Bei voller Besetzung konnte man Banjo, Mundharmonika, Waschbrett, Faßbaß, Kanne und gelegentlich eine Maultrommel hören. Auf Freifrau Isabels Gesicht lag ein ausgesprochen ungläubiger Ausdruck. »Aber was in aller Welt veranlaßt die Mannschaft, einen solchen Höllenspektakel zu veranstalten? Eine Bande übermütiger Kinder schlägt auf Töpfe und Pfannen…« »Sie spielen verschiedene Melodien«, sagte Roger. »Es ist wirklich, recht eindrucksvoll.« »So ein Unfug«, sagte Freifrau Isabel. »Bernard, haben Sie schon einmal so etwas gehört?« Bernard Bickel schüttelte mißbilligend den Kopf. »Wie sie den Lärm auch nennen, wir können nicht zulassen, daß sie das ganze Schiff damit durcheinanderbringen.« »Bitte, kümmern Sie sich darum, Bernard. Meine Güte, was wird ihnen als nächstes in den Sinn kommen?« Der Raum, diese finstere Leere, die, wenn man sie in Beziehung zu einem Sternensystem betrachtet, fast so wahrnehmbar wird wie das Meer, das eine Inselgruppe von einer anderen trennt, blieb hinter ihnen zurück – falls von der Leere überhaupt gesagt werden kann, daß sie etwas tut. Und doch blieb irgend etwas zurück, denn Sirius fiel nach hinten, und Phi Orionis näherte sich, und um diesen Effekt zu erzielen, mußte offensichtlich ein bedeutsamer Prozeß stattfinden. Roger ging im Salon auf und ab, nahm ein Buch auf und las etwas Besinnliches aus der Feder des berühmten Kosmologen Denis Kertesz: »Die Unendlichkeit ist eine faszinierende Vorstellung, mit der wir uns alle befaßt haben. Insbesondere die Unendlichkeit des Raums, der man sich nicht entziehen kann, indem man ein Universum endlicher Umschreibungen
dagegenhält. Weniger gründlich hat man über die Unendlichkeit in der anderen Richtung nachgedacht: die Unendlichkeit des Kleinen, die ebensoweit geht und ebenso unbegreiflich ist wie die andere Unendlichkeit. Was wird aus der Materie in den tieferen Bereichen? Die Materie wird von immer dünnerer Beschaffenheit, bis man sie nicht mehr experimentell oder auch nur mathematisch erfassen kann. Schließlich, so scheint es, kommt man zu dem Schluß, daß alle Materie, alle Energie, einfach alles, ja der Raum selbst, als eine einzige Antithese betrachtet werden muß: ein grundsätzliches Ja oder Nein, Vor oder Zurück, Hinein oder Hinaus, Uhrzeigersinn oder Gegen-Uhrzeigersinn, vierdimensionale Spirale von außen nach innen oder von innen nach außen. Selbst auf dieser Ebene setzt sich das unendliche Kleinerwerden fort. Gleichgültig, wie klein etwas ist, es dient lediglich als Maß, anhand dessen Extreme (und seien es auch nur scheinbare Extreme), die hundertmal kleiner sind, definiert werden…« Roger, der ohnehin schon unter Schwermut litt, fand die kosmischen Unermeßlichkeiten abstoßend und legte das Buch beiseite. Bernard Bickel erklärte ihm, daß der Raum, von der Phoebus aus betrachtet, sich nicht wesentlich unterschied von dem Raum, den man in einer klaren Nacht von der Terrasse in Ballew aus sehen konnte. Roger stimmte ihm im Prinzip zu, aber seine Niedergeschlagenheit ließ in der Folge nur ein wenig nach. Vor ihnen wurde Phi Orionis heller, und der Tag brach an, als der zweite Planet, Zade, in Sicht kam. Kurz darauf schwenkte die Phoebus in die Landeumlaufbahn ein. Der Regierungsbeauftragte in Erdenstadt funkte eine Landeerlaubnis hinauf, und die Phoebus senkte sich Zade entgegen.
VIII
Wie die meisten bewohnten Planeten der Galaxis war Zade physiographisch gesehen eine außerordentlich abwechslungsreiche Welt. Es gab dort nur einen einzigen Kontinent, der sich mit Dutzenden von Armen, Einschnitten, Halbinseln, Ausläufern, Fjorden, Vorsprüngen und Buchten um zwei Drittel des Globus spannte. Erdenstadt, eine Ansammlung von Lagerhäusern, Wohnstätten und Verwaltungsgebäuden, lag am Ufer eines Flusses, einige Meilen vom Südozean entfernt. Der Regierungsbeauftragte, Edgar Cam, ein hochgewachsener, nachdenklicher Mann mit einer großen Nase, großem Kinn, großen Händen und Füßen und dem Anschein umsichtiger Bedächtigkeit, versuchte, Freifrau Isabel von ihrem Vorhaben abzubringen. Er saß in Freifrau Isabels Kabine und erklärte seinen Pessimismus. »Theoretisch habe ich gegen Ihre Pläne nichts einzuwenden. Die Eingeborenen von Zade sind im großen und ganzen weder feindselig noch abweisend, sie sind schlichtweg unberechenbar. Es gibt mindestens sechzehn Arten der intelligenten Spezies, die sich wesentlich mehr voneinander unterscheiden als die menschlichen Rassen, und die Unterschiede in Farbe und Körperbau sind begleitet von kulturellen Unterschieden. Ich könnte sie nicht einmal ansatzweise verallgemeinern.« »Sind es humanoide Leute?« »Ja, das sind sie. Daran besteht kein Zweifel. Aus einer Entfernung von hundert Metern würden Sie sie kaum von Menschen unterscheiden können.«
»Und wenn ich es richtig verstanden habe, sind sie in gewisser Weise künstlerisch veranlagt? Das heißt, sie begreifen einen kreativen Akt, das Ausdrücken einer Sache durch ein Symbol und den Gebrauch von Symbolen als Ausdruck von Gefühlen?« »Vollkommen, obwohl es auch hier große Unterschiede in bezug auf die Mittel und Wege gibt. Eine der Besonderheiten des Lebens auf Zade ist das Fehlen eines kulturellen Austauschs. Jeder Stamm scheint sich selbst zu genügen und schenkt seinen Nachbarn, abgesehen von gelegentlichen Sklavenraubzügen, wenig Beachtung.« Freifrau Isabel runzelte die Stirn. »Soll ich das so verstehen, daß wir uns, wenn wir auf Zade vor Zuschauern spielen, der Gefahr körperlichen Schadens oder persönlicher Belästigung aussetzen?« »Das ist durchaus möglich, wenn Sie so unvorsichtig wären, sich in die Brownbackberge zu wagen oder versuchen, vor den Stagag-Ogog Hakenschnäbeln zu spielen. Aber das sind vereinzelte Fälle, und im allgemeinen hat man vor den Einwohnern von Zade nicht mehr und nicht weniger zu befürchten als vor denen der Erde – wenn man ihre besonderen Regeln und Gebräuche sorgsam beachtet – und hierin liegt die Unberechenbarkeit von Zade.« »Ich glaube, Sie können uns in dieser Hinsicht trauen«, sagte Bernard Bickel. »Wir sind nicht gerade Neulinge, und selbstverständlich werden wir jedes erdenkliche Zugeständnis an örtliche Eigenheiten machen.« »Trotzdem«, warf Freifrau Isabel ein, »wäre ich dankbar, wenn Sie uns eine geeignete Reiseroute unterbreiten würden, damit wir vor den Stämmen spielen können, die den größten Nutzen daraus ziehen.« »Ich kann Ihnen eine Reiseroute vorschlagen«, sagte Cam in belehrendem Ton, »aber ich kann es nicht für Sie anordnen.
Unsere Lage hier bringt in keiner Weise automatisch Ansehen mit sich. Tatsächlich verhält es sich häufig umgekehrt: Manche der Stämme sind überzeugt, daß die Erde ein Ort der Verzweiflung und des Unglücks ist, aus welchem Grund würden wir sonst solche Strecken zurücklegen, um zu anderen Welten zu gelangen? Jedenfalls habe ich außerhalb der Niederlassung keine Machtbefugnisse, und wenn Sie irgendwo in Schwierigkeiten geraten sollten, wäre ich nicht in der Lage, Ihnen zu Hilfe zu kommen. Im großen und ganzen bedeutet es kein großes Wagnis, aber ich betone noch einmal die Tatsache, daß die Völker von Zade mannigfaltig, schwierig und unberechenbar sind.« Freifrau Isabel sagte: »Wie Mr. Bickel bereits bemerkte, sind wir keine Neulinge. Ich bin sicher, daß man überall unsere guten Absichten erkennen wird.« Cam nickte ohne große Überzeugung. »Solange Sie vorsichtig, geduldig und zurückhaltend sind, dürften Sie nicht auf Schwierigkeiten stoßen. Ich kann Ihnen sogar einen Mann als Übersetzer zur Verfügung stellen. Und nun zu den Gebieten, die einen Besuch wert sind – lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken… Das Wasservolk auf jeden Fall. Sie haben selbst eine hoch entwickelte Musik. Tatsächlich spielt die Musik eine wesentliche Rolle in ihrem rituellen Leben. Und die Striaden: ein freundliches, intelligentes Volk. Und – wer noch? Die Drei-Gänger? Besser nicht. Sie sind scheu und nicht besonders intelligent… Die Geisteskrieger. Ja. Lassen Sie sich nicht durch den Namen beirren, er bezieht sich auf ihr Ritual, den Rang durch Mutproben zu ermitteln. Sie sind ein energisches, erfinderisches Volk – wahrscheinlich das intelligenteste auf dem Planeten.« »So müßte es gehen«, sagte Freifrau Isabel. »Was meinen Sie dazu, Bernard?«
»Ich bin derselben Meinung. Und wir müssen auf jeden Fall die Fehler vermeiden, die wir auf dem Siriusplaneten gemacht haben.« »Sehr richtig. Es wird kein Herumpfuschen und Anpassen mehr geben, wir führen die Opern genau so auf, wie sie zu Hause gespielt werden.« Cam erhob sich, um zu gehen. »Ich schicke gleich Darwin Litchley herüber. Er kann Sie zu den Orten bringen, die ich erwähnt habe, und er ist ein ausgezeichneter Sprachkenner. Selbstverständlich wünsche ich Ihnen viel Glück.« Er verließ sie, und kurz darauf erschien Darwin Litchley, ein kleiner, rundlicher Mann mit ernstem, rotem Gesicht und roter Glatze. »Der Beauftragte Cam hat mir Ihre Pläne erläutert«, wandte er sich mit unheilverkündender Stimme an Freifrau Isabel. »Und obgleich ich sie, abstrakt betrachtet, befürworte, fürchte ich, daß Probleme von untergeordnetem Rang, die bloße Schwerfälligkeit des Unternehmens, fast unausweichlich Mißverständnisse und Schwierigkeiten hervorrufen müssen.« Freifrau Isabel blickte ihn mit kalter Verachtung an. »Sie sind ein ungewöhnlich kühner Mensch, Mr. Litchley. Nach wochenlangen, sorgfältigen Planungen, entsagungsvollen Proben und nicht unbeträchtlichen Ausgaben sind wir nun endlich hier auf Zade, bereit, unser Programm zu zeigen. Und nun kommen Sie mit Ihren schwarzseherischen Erklärungen daher und sehen uns offensichtlich schon zweifelnd und verzagt umkehren, alle unsere Pläne aufgeben und zur Erde zurückfliegen.« »Madam, Sie mißverstehen mich«, stammelte Litchley. »Ich hatte lediglich den Wunsch, ein wahrheitsgetreues Bild vor Ihnen zu entwerfen, damit Sie später keinen Anlaß haben, mir Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen. Die Bewohner von Zade sind, obwohl intelligent, ziemlich engstirnig in ihren
Ansichten, und manche sind unstet und unverläßlich, ja, sogar leichtfertig und unbeständig.« »Also gut, Sie haben Ihren Standpunkt klargestellt. Lassen Sie uns jetzt einen Blick auf die Karten werfen, die Sie, wie ich sehe, mitgebracht haben.« Darwin Litchley nickte steif und entfaltete eine MercatorProjektion des einzigen Kontinents. »Wir befinden uns hier.« Er deutete auf einen Punkt im Südosten. »Mr. Cam hat Ihnen wahrscheinlich die außerordentliche Verschiedenartigkeit der hiesigen Eingeborenen beschrieben, und, soweit ich weiß, hat er Ihnen vorgeschlagen, die Striaden, das Wasservolk und die Geisteskrieger zu besuchen. Ich hätte Ihnen möglicherweise andere Empfehlungen gegeben, aber sei es, wie es ist. Die Striaden des Dritten Sektors«, er pochte auf die Karte, »sind vielleicht nicht schlecht geeignet für den ersten Besuch, und es ist ohne Zweifel ein malerisches Volk.« Während die Phoebus majestätisch über den schwarzorangen und limonengrünen Regenwald glitt, gab ihnen Darwin Litchley eine kurze Beschreibung der Striaden. »Die Bewohner dieses Planeten sind biologisch flexibler als die Erdbevölkerung, denn, obwohl sie alle mit denselben Anlagen ausgestattet sind, gibt es unter ihnen extreme physische und psychologische Abweichungen. Die Striaden beispielsweise haben sich ihrer besonderen Umgebung bemerkenswert angepaßt. Der Dritte Sektor ist ein Gebiet mit beträchtlicher Vulkantätigkeit; es gibt dort ausgedehnte heiße Quellen und Teiche von brodelndem Schlamm, aus dem die Striaden ihre Burgen bauen. Es sind sanfte Leute, und sie sind sehr geschickt im Umgang mit Tönen, die sie mit Hilfe eines Organs, das nur sie besitzen, ausstoßen.« Vor ihnen lichtete sich der Regenwald zu einem parkartigen Gelände mit schwarzen, bambusähnlichen Bäumen und großen orangefarbenen Flaumbällen. In der Ferne ragte eine graue
Bergkette in den Himmel, und Darwin Litchley deutete auf eine schwebende Nebelbank. »Das sind die Thermalquellen. Wenn Sie genau hinsehen, können Sie die Striadenstädte erkennen, die aus dem Dampf herausragen.« Ein paar Minuten später konnten sie die festungsgleiche Ansiedlung der Striaden erkennen: sechsund siebengeschossige Gebäude mit dicken Mauern, die aus farbigem Lehm gebaut waren. Auf dem flachen Feld vor der Stadt landete die Phoebus. Sofort trat eine Gruppe von mehreren Dutzend Striaden aus einem Eisentor. Darwin Litchley stieg mit Freifrau Isabel, Bernard Bickel und Roger aus und wartete, bis die Striaden näherkamen. Sie waren eine eindeutig humanoide Rasse, groß, mit dünnen Armen und Beinen, aber mit einem mächtigen, gefurchten Brustkorb. Ihre Haut war kupferrot mit einem feuchten, grünen Schimmer, ihr Kopf lang und schmal und mit etwas Federartigem bewachsen. Sie trugen Hemden aus grobem Stoff und bronzene Schulterverzierungen, die ihre breite Brust und die flache, gerillte Grube der Tonmembrane freiließ. Einige Meter vor dem Schiff blieben sie stehen und verharrten bewegungslos. Ihre Membranen zogen sich zusammen und dehnten sich wieder aus und ließen auf diese Weise eine einzige leise Welle feierlicher Begrüßung entweichen. Darwin Litchley sprach sie in einer rauhen Sprache an, die nur aus Reibelauten und Räuspern zu bestehen schien, und die Striaden antworteten nach einer kurzen Beratung. Litchley wandte sich an Freifrau Isabel: »Sie wollen sich mit Vergnügen eine musikalische Darbietung ansehen. Ich muß sagen, ich bin einigermaßen überrascht. Sie sind recht scheu und haben noch nicht viele Erdenbewohner gesehen – ein halbes Dutzend Handelsbeauftragte vielleicht. Wann soll Ihre erste Aufführung stattfinden?«
»Ist morgen zu bald?« Darwin Litchley leitete die Frage weiter und teilte Freifrau Isabel dann mit, daß die Zeit, die sie genannt hatte, angenehm war. Mittlerweile wurden die Erdenbewohner in der Stadt willkommen geheißen. Litchley wies sie auf einige Tabus hin, die sie unbedingt beachten sollten: nicht in die Gebäude eintreten, keine Gegenstände in die warmen Quellen werfen, kein lautes oder ausgefallenes Verhalten zeigen, den Kindern keine besondere Aufmerksamkeit schenken, denn sie wurden, Litchleys Aussage zufolge, als Parasiten betrachtet und häufig aufgefressen. Als Freifrau Isabel ihr Entsetzen zum Ausdruck brachte, lachte Litchley. »Sie vergelten nur Gleiches mit Gleichem. Die Kinder zahlen es ihnen wiederum heim, indem sie die Erwachsenen in die kochenden Quellen stoßen.« Mit Darwin Litchleys Ermahnungen ausgerüstet, wanderte der größte Teil des Ensembles während des Nachmittags und Abends durch die Striadenstadt. Voller Verwunderung betrachteten sie die brodelnden Schlammseen: die größten senfgelb, andere rot, grau, schokoladenbraun. Aus diesem Schlamm waren die hohen Gebäude errichtet, und die Erdenleute beobachteten gebannt, wie die Striaden Tonbündel und Ultraschallwellen von ihren Membranen aussandten, um den Lehm zu brechen, zu mischen oder zusammenzupressen, je nachdem, wie er gebraucht wurde. Die Erdenleute schienen einen guten Eindruck hinterlassen zu haben. Ein Sprecher der Striaden lud die Gruppe zu einem Festessen ein. Nach einer eiligen Beratung mit Freifrau Isabel lehnte Darwin Litchley dankend ab, indem er mitteilte, daß die Gruppe vor einer Musikdarbietung zu fasten pflegte. Am darauffolgenden Morgen wurde der Mittelpfosten errichtet und das Zeltdach gespannt, um ein Theater zu bilden. Für die Striaden hatte Freifrau Isabel Die Zauberflöte ausgewählt, und in Erinnerung an das Fiasko in der
Siriusniederlassung hatte sie beschlossen, daß keine Änderung oder Anpassung vorgenommen werden sollte. Das Publikum würde die Oper genau so sehen und hören, wie sie auf der Erde aufgeführt wurde. »Schließlich«, sagte Freifrau Isabel an Bernard Bickel gewandt, »riecht es irgendwie nach Herablassung, wenn wir diese unerfreulichen kleinen Zugeständnisse machen. Unsere Absicht ist es, der Außenwelt unsere Musik zu bringen, so, wie wir sie kennen, in all ihrer Größe und Herrlichkeit und nicht in einer armseligen, verballhornten Version, die nicht einmal der Komponist selbst wiedererkennen würde.« »Das ist genau mein Standpunkt«, sagte Bernard Bickel. »Ich habe keinen Anhaltspunkt für musikalische Äußerung unter diesen Striaden gefunden, aber sie scheinen, alles in allem, ein höfliches und kreatives Volk zu sein. Vielleicht haben Sie die Wandgemälde über dem Tor bemerkt, die in verschiedenen Lehmfarben ausgeführt sind?« »Ja wirklich, außerordentlich eindrucksvoll. Ich muß Roger daran erinnern, Photos zu machen, das ist schließlich der vorgegebene Grund seiner Anwesenheit an Bord des Schiffes.« »Er sieht wirklich nicht so aus, als würde er seinen Spaß haben«, bemerkte Bernard Bickel. »Meiner Meinung nach hat er die Fassung verloren, weil Kapitän Gondar alleinige Besitzrechte an Miss Roswyn geltend macht.« Freifrau Isabel preßte die Lippen zusammen. »Ich kann nicht über diese Sache nachdenken, ohne wütend zu werden, besonders, da wir nicht auf Kapitän Gondar verzichten können, der, wie Sie angedeutet haben, das junge Ding unter seine Fittiche genommen hat.« Bernard Bickel zuckte die Schultern. »Es scheint niemandem viel auszumachen, abgesehen von Roger. Sie hält sich von allen einigermaßen fern; ich kann mir kaum vorstellen, daß jemand weniger aufdringlich sein könnte.«
»Wollen wir es hoffen«, schnaufte Freifrau Isabel. Die Stunde, die als Vorstellungsbeginn angesetzt worden war, rückte näher. Die Sänger waren bereits in Kostüm und Maske; das Orchester war, nach einem reichlichen Mittagessen und einem kurzen Auf- und Abschlendern vor dem Schiff, in den Orchestergraben zurückgekehrt, wo sie die Instrumente stimmten und ein gutgelauntes Geplänkel austauschten. Aus der hochragenden Stadt aus farbigem Lehm näherten sich die Striaden. Sie schritten, wie zuvor, mit ungeheurer Würde und Ernsthaftigkeit, betraten das Theater und nahmen ohne Schüchternheit oder Zögern Platz. Freifrau Isabels Blick wanderte von den leeren Sitzen zu der Stadt hinauf – aber es waren keine Striaden mehr unterwegs. Sie rief Darwin Litchley zu sich. »Sind das alle Zuschauer, die wir zu erwarten haben? Ich glaube, es sind nicht mehr als hundert im Theater.« »Ich werde mich erkundigen.« Darwin Litchley sprach mit einem der Striaden und kehrte dann stirnrunzelnd zu Freifrau Isabel zurück. »Er sagt, das sei das ganze Publikum: Es sind alles Persönlichkeiten in verantwortlichen Positionen – so etwas wie Ratsherren, vermute ich –, und sie haben alle Befugnisse, um notwendige Entscheidungen zu treffen.« Freifrau Isabel schüttelte gereizt den Kopf. »Ich kann nicht behaupten, daß ich das verstehe.« »Ich auch nicht«, sagte Litchley. »Aber es ist sicher das beste, die Oper vor einer solchen Gruppe aufzuführen, die immerhin die Elite der Stadt darstellt.« »Das ist wahrscheinlich die Erklärung«, sagte Bernard Bickel. »Mir ist einmal eine ähnliche Situation begegnet: Es ist eine Art kultureller Aristokratie, die allein den Vorzug genießt, ästhetische Geheimnisse zu erforschen.« Freifrau Isabel warf einen Blick auf das kerzengerade aufgerichtete Publikum, das bereits aufmerksam den
Stimmgeräuschen des Orchesters lauschte. »Eine Regierung der Künstler sozusagen? Eine angenehme Vorstellung, sicherlich… Nun, wir müssen beginnen.« Sir Henry Rixon stieg auf das Podest. Er verbeugte sich vor den Zuschauern, hob den Dirigentenstock: Das Orchester ließ die drei feierlichen Blasakkorde des einleitenden Adagios ertönen. Das Publikum lauschte gebannt. Der Vorhang hob sich; Tamino trat, von einer Schlange verfolgt, vor, und die Vorstellung nahm ihren Lauf. Freifrau Isabel war entzückt über die gespannte Aufmerksamkeit des Publikums. Es rührte sich nicht, zischelte nur manchmal zustimmend, besonders, als Ada Francini im zweiten Akt das hohe F hielt. Die Oper ging zu Ende; die Spieler traten vor, um sich zu verbeugen. Das Publikum erhob sich bedächtig, und zum ersten Mal sprachen die Leute miteinander. Es schien eine gewisse Uneinigkeit zu herrschen, und ohne Orchester und Sänger zu beachten, verließen die Striaden das Theater, um ihre Diskussion unter freiem Himmel fortzuführen. Freifrau Isabel trat vor den Vorhang und lächelte huldvoll nach allen Seiten, Bernard Bickel und Darwin Litchley folgten ihr. Sie ging auf die Striaden zu. »Wie ist Ihre Meinung über unsere wundervolle Musik?« fragte sie strahlend, und Darwin Litchley übersetzte. Ein Sprecher der Gruppe antwortete, und Litchley machte ein etwas erstauntes Gesicht. »Was hat er gesagt?« fragte Freifrau Isabel. Litchley sah stirnrunzelnd zu den Striaden hinüber. »Er fragt, wie es mit der Verfügbarkeit steht?« »Verfügbarkeit? Das verstehe ich nicht!« »Ich ebensowenig.« Litchley erkundigte sich noch einmal, und der Striade antwortete ausführlich.
Darwin Litchley hob die Brauen. Er setzte zum Sprechen an, dann zuckte er hilflos mit den Schultern und wandte sich an Freifrau Isabel. »Es scheint ein kleiner Fehler unterlaufen zu sein, ein gewisses Mißverständnis«, sagte er. »Ich habe doch erwähnt, daß die Striaden die Erde nur von gelegentlichen Handelsmissionen kennen?« »Ja, ja!« »Sie scheinen die Phoebus mit einer solchen Mission zu verwechseln und kamen mit dieser Vorstellung zu Ihrer Aufführung.« Darwin Litchley zögerte, dann stieß er hastig hervor: »Sie sind nicht übermäßig beeindruckt. Sie teilen mit, daß sie keine Posaunen und Violinen benötigen, da ihre Membranen in dieser Hinsicht ausreichen, aber sie sind bereit, zwei Oboespieler und eine Koloratursängerin in Auftrag zu geben.« »Großer Gott!« rief Freifrau Isabel aus. Sie warf den geduldig wartenden Striaden einen entrüsteten Blick zu. »Sagen Sie ihnen…« Bernard Bickel trat vor. »Sagen Sie ihnen«, sagte er ruhig, »daß unglücklicherweise gerade diese Artikel sehr gefragt sind und daß wir die Lieferung nicht für die nächste Zukunft versprechen können.« Die Striaden hörten Darwin Litchley geduldig und höflich an, dann machten sie kehrt und gingen langsam in ihre Stadt zurück. Voller Abscheu gab Freifrau Isabel die Anweisung, das Theater abzubauen, und die Phoebus begab sich in das Land des Wasservolkes.
Ein träger Fluß wand sich aus dem Regenwald erst westlich, dann nördlich, dann südwestlich und mündete schließlich in einem achtzig Kilometer langen und ebenso breiten Delta in einen Binnensee. Hier hatte das Wasservolk seine
Behausungen und hatte sich, verglichen mit den Striaden, zu einem derartig unterschiedlichen Typus entwickelt, daß man annehmen konnte, sie gehörten einer völlig anderen Art an. Sie waren kleiner als die Striaden und besaßen eine robbenartige Geschmeidigkeit; ihre Membranen waren verkümmert, oder aber sie hatten sich nie ausgebildet. Ihre Köpfe waren runder, ihre Farbe ein helles Grau und die schwarze Federkrone der Striaden durch ein paar matte Strähnen einer schwarzgrünen Faser ersetzt. Sie waren zahlreicher als die Striaden und von unruhiger Geschäftigkeit. Sie hatten ihre Umgebung in einem beträchtlichen Umfang verändert, ein erstaunlich kompliziertes Gefüge von Kanälen, Teichen, Deichen und schwimmenden Inseln geschaffen, um die herum sie schwammen, mit zerbrechlichen Schuten stakten oder Barken vorantrieben, die mit Paketen und Ballen beladen waren. In dem ganzen Gebiet gab es keine große Stadt, nur zahllose Dörfer aus Gras- und Schilfhütten. Inmitten des Deltas, auf einer Insel, deren Durchmesser einen guten Kilometer betrug, erhob sich ein pagodenartiger Turm aus Balken, gewobenem Faserwerk und rot lackierter Holztäfelung. Darwin Litchley hatte ziemlich ausführlich mit Freifrau Isabel und Bernard, Bickel über das Wasservolk gesprochen. »Vielleicht finden Sie diese Leute nicht so herzlich und freundlich wie die Striaden; tatsächlich neigen Sie zu einer kühlen Gleichgültigkeit, die ihnen leicht als Abneigung ausgelegt werden kann. Aber das ist nicht der Fall, und dem Wasservolk mangelt es auch nicht an einer Tiefe der Empfindungen. Aber sie sind außerordentlich konservativ und mißtrauen jeder Neuerung. Vielleicht wundern Sie sich, daß der Beauftragte Cam Ihnen vorgeschlagen hat, das Wasservolk aufzusuchen, aber das hat einen ganz einfachen Grund. Sie haben eine hochentwickelte
Musik mit einer mindestens zehntausend Jahre alten Tradition.« »Ach ja«, seufzte Freifrau Isabel wehmütig, »ich bin froh, daß ich auf ein Volk stoße, dem zumindest das Wort ›Musik‹ ein Begriff ist.« »Was das betrifft, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, sagte Darwin Litchley. »Sie sind wirkliche Kenner; sie besitzen alle das absolute Gehör; sie werden jeden nur spielbaren Akkord und seine Umkehrung auf Anhieb erkennen.« »Das ist wirklich eine gute Nachricht«, sagte Freifrau Isabel. »Ich vermute, sie unterhalten keine Orchester in unserem Sinn?« »Nicht genau. Jeder Erwachsene ist in gewissem Sinn ein Musiker, und seine Rolle in den feierlichen Fugen ist von Geburt an festgelegt, und er spielt sie auf dem in seiner Familie weitervererbten Instrument.« »Interessant!« rief Freifrau Isabel aus. »Werden wir Gelegenheit haben, etwas von dieser Musik zu hören?« Darwin Litchley verzog zweifelnd den Mund. »Das kann ich nicht sagen. Das Wasservolk ist weder ungastlich noch feindselig, aber es sind eigentümliche Leute, wie Sie selbst sehen werden, und man muß sie nehmen, wie sie sind. Ich kenne sie ziemlich gut, und sie kennen mich – aber wenn Sie auf Wärme oder Willkommen oder auch nur ein Zeichen des Erkennens warten – Sie werden nichts davon erleben. Aber Sie wollten ein musikalisch hochentwickeltes Volk sehen, und dies ist eins.« »Wenn sie so sind, wie Sie sagen«, sagte Freifrau Isabel, »dann nehme ich an, wir können ihnen etwas bieten, das sie nie zuvor gesehen haben. Was meinen Sie, Bernard?« Bernard Bickel dachte nach. »Rossini vielleicht: Der Barbier von Sevilla?«
»Der Gedanke hat etwas für sich; es gibt eine gewisse übermütige Komponente in dem Werk, die die Vorstellungskraft eines Volkes wie diesem fesseln wird.« Die Phoebus ging auf der Insel in der Nähe des pagodenähnlichen Turmes nieder, von dem Darwin Litchley erklärte, er sei das Zentralarchiv. Er beschrieb das Gesellschaftssystem des Wasservolkes als eine Reihe von Widersprüchlichkeiten und Verwirrungen, die selbst die gründlichsten Ethnologen bisher nicht begriffen hatten. Im weitesten Sinne schien jede Tätigkeit und jeder Lebensabschnitt geregelt und eingeordnet und von einer Anzahl von Tribunen und Monitoren überwacht zu sein. Freifrau Isabel, Darwin Litchley und Bernard Bickel sprachen noch immer über die ausgefallenen Gepflogenheiten des Wasservolkes, als sie die Rampe hinuntergingen. Unten erwartete sie bereits eine Abordnung des Wasservolkes, deren Sprecher sich nach dem Grund ihres Besuches erkundigte. Litchley antwortete ausführlich, und die Abordnung entfernte sich. »Wir müssen warten«, berichtete Litchley Freifrau Isabel. »Sie werden den Musikbeauftragten benachrichtigen.« Dieser erschien eine Stunde später in Begleitung eines anderen, den er als Regionalüberwacher vorstellte. Sie hörten Darwin Litchley mit gespannter Aufmerksamkeit an, dann äußerte der Beauftragte einige vorsichtige Fragen, die Litchley übersetzte. »Er fragt nach dem Traditionsgehalt der Musik, die Sie… die Sie…« Er zögerte. »Mir fällt kein passendes. Wort ein. Verbreiten? Verkünden? Ja. Er möchte etwas über die Musik wissen, die Sie verkünden wollen.« »Da gibt es nichts zu erzählen«, sagte Freifrau Isabel. »Es ist eine schöngeistige Oper ohne besonderen sozialen Anspruch, lediglich dazu geschaffen, eine Menge angenehmer Musik zu vermitteln. Wir befinden uns aus reiner Nächstenliebe hier, um unsere Musik mit ihm und seinem Volk zu teilen.«
Darwin Litchley übersetzte, hörte den anderen an und wandte sich dann wieder Freifrau Isabel zu. »Wann haben Sie die Absicht, die Musik zu verkünden, für wie lange und wie oft?« »Das hängt davon ab, wie man uns aufnimmt«, erwiderte Freifrau Isabel verschmitzt. »Wenn unsere Vorstellung dem Publikum Vergnügen bereitet, werden wir vielleicht mehrere spielen. Wenn nicht, reisen wir ab. So einfach ist das. Unsere erste Vorstellung hängt von der Verfügbarkeit eines Publikums ab – das, wie ich meine, nicht schwer zu finden sein dürfte.« Weitere Worte wurden gewechselt, dann teilte Darwin Litchley Freifrau Isabel mit: »Sie können Ihre erste Vorstellung für morgen ansetzen.« »Sehr gut«, sagte Freifrau Isabel mit Entschiedenheit. »Sei es also morgen, drei Stunden nach Mittag.« Am Morgen wurde das Theater von der inzwischen geübten Mannschaft aufgebaut. Um zwei Uhr legte das Ensemble Kostüm und Maske an; um zwei Uhr dreißig versammelte sich das Orchester im Orchestergraben. Bis jetzt war noch kein Schatten des zu erwartenden Publikums zu sehen. Freifrau Isabel ging hinaus und ließ den Blick mit einem besorgten Stirnrunzeln über das Gelände streifen, aber auf allen Seiten schien das Leben seinen gewohnten Lauf zu nehmen. Zehn Minuten vor drei: noch immer kein Publikum. Genau um drei Uhr erschien der Regionalüberwacher, dem sie am vergangenen Tag begegnet waren, mit einem flachen Kasten in der Hand. Er war allein. Nach einem knappen Gruß für Freifrau Isabel, Bernard Bickel und Darwin Litchley betrat er den Zuschauerraum, setzte sich und öffnete seinen Kasten, dem er Papier, Tinte und Pinsel entnahm und alles in eine günstige Lage aufbaute.
Vom Eingang her beobachtete Freifrau Isabel ihn mißtrauisch. »Er ist offensichtlich gekommen, um sich die Oper anzusehen.« Bernard Bickel blickte suchend über die Insel. »Es ist weit und breit kein anderer zu sehen.« Freifrau Isabel wandte sich an Litchley. »Erkundigen Sie sich, wann wir mit dem Eintreffen der Zuschauer rechnen können.« Litchley sprach mit dem Überwacher und kehrte dann zu Freifrau Isabel zurück. »Er ist das Publikum. Er ist ein klein wenig irritiert, daß die Vorstellung nicht pünktlich begonnen hat.« »Wir können doch nicht vor einem einzigen Zuschauer spielen!« widersprach Freifrau Isabel. »Haben Sie ihm das erklärt?« »Nun – ja. Ich habe ihm erklärt, daß wir eher eine Menge Leute erwartet hätten, aber er behauptet, daß er die Aufgabe hat, eine vorherige Überprüfung vorzunehmen, die Vorstellung zu untersuchen und zu beurteilen, bevor die Gesamtbevölkerung das Wagnis eingehen kann, sich möglicherweise störenden Geräuschen auszusetzen. Dies, so sagt er, sei seine Pflicht.« Freifrau Isabel preßte die Zähne zusammen; einen Augenblick lang stand die Frage, ob der Barbier von Sevilla zur Prüfung vorgeführt würde oder nicht, auf des Messers Schneide. Bernard Bickel sprach mit seiner beschwichtigendsten Stimme auf sie ein: »Ich nehme an, wir müssen überall, wohin wir kommen, mit Beurteilungsvorschriften rechnen, insbesondere in den höher entwickelten Welten. Wir können nicht viel dagegen tun; entweder wir unterwerfen uns den örtlichen Gepflogenheiten oder wir müssen abreisen.«
Freifrau Isabel nickte in mürrischer Einwilligung. »Ich fürchte, Sie haben recht; und doch, wenn idealistische Menschen wie wir ihr Können und ihr Geld darauf verwenden, eine so großartige Erfahrung zu vermitteln, finde ich, daß das Volk, das in den Genuß kommt, Dankbarkeit zeigen sollte. Ich erwarte keine Überschwenglichkeit, lediglich etwas Anerkennung; dann wäre ich schon zufrieden. Ich glaube nicht…« Sie unterbrach sich, als der Überwacher herantrat. Er sagte etwas, und Litchley übersetzte. »Er wartet bereits ungeduldig auf den Beginn der Vorstellung; er stellt fest, daß wir bereits neunzehn Minuten Verspätung haben.« Freifrau Isabel hob die Hände. »Ich tue, was getan werden muß.« Sie gab Sir Henry Rixon ein Zeichen, der den Blick überrascht über die leeren Bänke schweifen ließ, auf denen niemand außer dem aufmerksam lauschenden Überwacher saß. Er sah noch einmal fragend zu Freifrau Isabel hinüber, die ihm ein weiteres Zeichen gab. Sir Henry hob den Taktstock. Die ersten Töne der Ouvertüre erklangen, und der Barbier von Sevilla war im Gange. Die Vorstellung, die gegen die vollkommene Reaktionslosigkeit des Überwachers angespielt wurde, war nicht eben die lebhafteste, die jedermann erlebt hatte, aber das Können des Ensembles bewahrte sie davor, die leere Hülle, das schiere Ablaufen-der-Bewegungen zu werden, das es unter den gegebenen Umständen leicht hätte sein können. Während der Vorstellung lauschte der Überwacher aufmerksam und zeigte weder Vergnügen noch Mißfallen, rührte sich nicht, abgesehen von gelegentlichen Notizen, die er mit Pinsel und Tinte machte. Das Ensemble trat mit dem Schlußakkord des Orchesters auf der Bühne zusammen, der Vorhang fiel. Freifrau Isabel, Bernard Bickel und Litchley drehten sich zu dem Überwacher um, der ein paar abschließende Bemerkungen eintrug. Dann
erhob er sich und begab sich zum Ausgang. Darwin Litchley bedurfte nicht des befehlenden Bellens von Freifrau Isabel, um vorwärts zu schnellen. Es folgte eine längere Unterredung am Ausgang, bis Freifrau Isabel dazwischentrat, um sich nach dem Urteil des Überwachers zu erkundigen. Die Antwort kostete Darwin Litchley Überwindung. »Er hat einen unvorteilhaften Eindruck; das ist im wesentlichen seine Reaktion.« »Wie?« fragte Freifrau Isabel. »Und was ist der Grund dafür?« Der Überwacher, der die Bedeutung des Ausrufs zu erraten schien, sagte etwas zu Litchley, und der übersetzte. »Er hat eine große Anzahl unbeholfener Fehler bemerkt. Die Kostüme passen nicht zum Klima. Jetzt äußert er technische Einwände… Die Sänger – hm: ein Wort, das ich nicht verstehe – bgrassik. Hmm. Was immer es bedeutet, es ist etwas, das die Sänger falsch machen, wenn sie versuchen, zu – wieder ein unbekannter Satz: thelu gy shlrama während der Orchesterfolgen, was in falschen ghark jissu gipfelt, was immer das ist. ›Folgen‹ könnte Obertöne bedeuten… Die Tonfolgen – nein, das kann es nicht sein; Tonfolgen würden eine Bewegung von Nord nach West voraussetzen.« Er hörte dem Überprüfer zu, der jetzt aus seinen Eintragungen vorlas. »Der eigentliche Wechselgesang war unvollständig… Die thakal skth hg waren den brga skth gz zu ähnlich, und beiden fehlte das Standardgefüge…Er fand das Duett bis etwa zur Hälfte interessant wegen des ungewöhnlichen aber gerechtfertigten grsgk y thgssk trg. Er bemängelt, daß die Musiker zu bewegungslos dasitzen. Er meint, daß sie sich bewegen sollten – hüpfen oder springen, wenn sie wollen – um mit der Musik zu harmonieren. Das Werk ist wild, undiszipliniert, mit einer zu großen unvollkommenen – Unterschicht? Vielleicht meint er Gebundenheit. Jedenfalls
kann er das Werk seinem Volk nicht empfehlen, solange diese Mängel nicht beseitigt sind.« Freifrau Isabel schüttelte voller Unglauben den Kopf. »Es steht fest, daß er unsere Absichten völlig mißverstanden hat. Bitten Sie ihn, Platz zu nehmen – ich werde Tee bringen lassen.« Der Überwacher willigte ein; Freifrau Isabel setzte sich neben ihn und erklärte ihm eine Stunde lang gründlich die Geschichte, Philosophie und Struktur der klassischen Musik der Erde im allgemeinen und der Oper im besonderen, wobei sie nur gelegentlich durch eine Bemerkung Bernard Bickels unterbrochen wurde. Der Überwacher hörte höflich zu und machte sogar einige Notizen. »Jetzt«, sagte Freifrau Isabel, »werden wir noch ein Stück aufführen – lassen wir noch ein Stück aufführen – lassen Sie mich nachdenken… Tristan und Isolde wird anstrengend sein, aber ich halte es für geeignet, da es einen bemerkenswerten Kontrast in Stil und Form darstellt. Bernard, bitte sorgen Sie dafür, daß die Wagnerdarsteller ihre Kostüme anlegen: Tristan und Isolde in zwanzig Minuten. Roger, sag Sir Henry und Andrei Bescheid. Rasch jetzt, wir müssen diesen Überwacher davon überzeugen, daß wir nicht die Dummköpfe sind, für die er uns hält.« Die Musiker kehrten in den Graben zurück, die Geiger rieben sich die Finger, die Trompeter strichen sich Salbe auf die Lippen, und es zeugte vom großen Können der Gruppe und der kraftvollen Wirkung von Sir Henrys Taktstock, daß das Prelude in seiner ganzen bittersüßen Leidenschaft ertönte. Während der Aufführung saßen Freifrau Isabel, Bernard Bickel und Darwin Litchley neben dem silberhäutigen Überwacher und erklärten ihm nach besten Kräften die Feinheiten des seelischen Konfliktes, der sich vor ihnen entfaltete. Der Überwacher sagte nichts und schenkte vielleicht
auch den Erklärungen keine große Beachtung; genau wie zuvor pinselte er rätselhafte Zeichen auf seinen Notizblock. Die Vorstellung ging zu Ende, Isolde sang den Liebestod, ihre Stimme verhallte in einem Echo, durch das Gewebe der Orchesterklänge hindurch schwoll der schallende Ton der Oboe an und verkündete das große Thema von Zauberkraft und Herzeleid… Der Vorhang fiel. Freifrau Isabel wandte sich an Darwin Litchley. »Nun denn! Ich hoffe, er ist zufriedengestellt!« Der Überwacher sagte etwas in seiner rauhen, konsonantenreichen Sprache; Litchley hörte mit offenem Mund zu. Freifrau Isabel stammelte und wäre aufgesprungen, hätte Bernard Bickels Hand sie nicht zurückgehalten. »Er ist noch immer – irgendwie kritisch«, sagte Litchley mit hohler Stimme. »Er sagt, er versteht unseren Standpunkt bis zu einem gewissen Maß, aber das sei keine Entschuldigung für schlechte Musik. Ihm mißfällt insbesondere unsere, wie er es nennt, drückende Eintönigkeit der Tonfolge: Er sagt, das würde ein Publikum, das weniger langmütig ist als er, verrückt machen vor Langeweile. Er findet unsere Musik voller Wiederholungen, wie ein Kinderlied, in dem jeder Ton, jedes neue Thema, jede Wiederaufnahme eines alten Themas mit pedantischer und einfallsloser Vorhersagbarkeit ausgedrückt wird.« Freifrau Isabel schloß die Augen. Der Überwacher war wieder aufgestanden. »Setzen Sie sich!« sagte sie mit heiserer, gepreßter Stimme. »Bernard, wir werden jetzt Wozzeck aufführen.« Bernard Bickels hübsche, graue Augenbrauen bildeten erstaunte Bögen. »Wozzeck? Jetzt?« »Auf der Stelle. Teilen Sie es bitte Andrei und Sir Henry mit.«
Bernard Bickel sah über die Schulter zurück und ging, um ihrer Aufforderung Folge zu leisten. Kurz darauf kehrte er zurück. »Die Gruppe ist erschöpft«, sagte er unsicher. »Sie haben seit Mittag nichts gegessen; Hermilda Warn beklagt sich über schmerzende Füße, ebenso Christina Reite und Ephraim Zerner. Der erste Geiger läßt ausrichten, daß er mit Handschuhen spielen muß, weil er Blasen an den Fingern hat.« Freifrau Isabel sagte mit ruhiger, ungerührter Stimme: »Die Aufführung des Wozzeck beginnt in zwanzig Minuten. Die Sänger sollen das Kostüm wechseln, brauchen aber keine neue Schminke aufzulegen. Verteilen Sie Halstabletten an diejenigen, die sich über Heiserkeit beklagen; diejenigen, denen die Füße wehtun, täten gut daran, bequemes Schuhwerk anzuziehen.« Bernard Bickel ging hinter die Bühne, kurz darauf traten die Musiker, einer nach dem anderen, wieder in den Orchestergraben. Mißmutiges Gebrummel und Umherschleudern von Partituren waren zu hören. Der erste Geiger zog demonstrativ weiße Baumwollhandschuhe an, der zweite Posaunist blies ein schrilltönendes Glissando. Sir Henry klopfte streng mit dem Taktstock auf das Pult. Wozzeck! Und Freifrau Isabel beobachtete den Überwacher mit einem heimlichen kleinen Lächeln, als wollte sie sagen: »Sie denken, unsere Akkorde seien durchsichtig, nicht wahr? Erklären Sie doch einige von diesen.« Es war ein müdes, aber widersprüchlicherweise triumphierendes Ensemble, das Wozzeck zu seinem unheilvollen Ende brachte. Der Überwacher vertiefte sich mit eifriger Aufmerksamkeit in seine Notizen, aber Freifrau Isabel bestand darauf, daß alle sich noch im Salon bei Tee und Keksen versammelten. Als sie Platz genommen hatten, heftete sie ihren fragenden Blick fast drohend auf den Überprüfer. »Nun also?«
Der Überprüfer sprach, Darwin Litchley übersetzte mit stockender Stimme. »Ich kann dem Wasservolk keinen tendenziösen, provokativen oder verführerischen Stoff empfehlen. Diese letzte Improvisation ist begabt, aber hemmungslos, und abschließend würde ich empfehlen, daß die Musiker mit dem bsg rgassik auf das einleitende slfks der Luftpeitsche achten.« »Luftpeitsche?« »Er spricht von Sir Henrys Taktstock. Er kann das Geräusch hören, das entsteht, wenn er durch die Luft schnellt und glaubt, es sei ein Musikinstrument.« Freifrau Isabel sagte mit eisiger Stimme: »Er ist offensichtlich ein Kretin. Teilen Sie ihm mit, daß unsere Geduld erschöpft ist und daß wir es strikt ablehnen, vor einem so unmusikalischen, despotischen und voreingenommenen Volk wie dem Wasservolk zu spielen.« Darwin Litchley übermittelte eine vorsichtige Abwandlung der Bemerkungen; der Überprüfer hörte ohne Interesse zu. Er beugte sich über seinen Block und schien Berechnungen anzustellen. Er sagte etwas zu Darwin Litchley, der zwinkerte und dann zögernd übersetzte: »Er hat sein Honorar auf – « »Sein ›Honorar‹?« fragte Freifrau Isabel mit vor Erregung zitternder Stimme. »Welch eine erstaunliche Unverfrorenheit! Weisen Sie ihn auf der Stelle vom Schiff!« Darwin Litchley sprach mit versöhnlicher Stimme. »Die hiesige Vorschrift besagt, daß der Überprüfer für sein Gutachten eine Gebühr erheben muß. Sechshundert Taschenlampenbatterien könnten – « »Wovon sprechen Sie, um alles in der Welt?« fragte Freifrau Isabel. »Was hat dieses Gerede von den ›Taschenlampenbatterien‹ zu bedeuten?«
Litchley lächelte schwach. »Taschenlampenbatterien sind das hiesige Kaufmittel – zumindest für Geschäfte zwischen Erdenbewohnern und Eingeborenen.« Freifrau Isabel sagte klar und deutlich: »Teilen Sie diesem Kerl mit, daß er nicht bezahlt wird, weder mit Taschenlampenbatterien noch mit sonst irgend etwas. Erklären Sie ihm, daß ich seine Haltung als höchst anmaßend empfinde, daß er nicht nur mich, sondern Mr. Bickel und das gesamte Ensemble hinters Licht geführt hat; wenn hier irgendeine Bezahlung von Taschenlampen stattfinden sollte, dann müßte er uns bezahlen. Sagen Sie ihm, daß wir müde sind und daß er sich jetzt entfernen kann. Roger! Sag Kapitän Gondar, daß das Theater auf der Stelle abgebrochen werden kann!« Der Überprüfer hatte sich nicht von seinem Platz gerührt. Freifrau Isabel blickte ihn ungläubig an. »Was ist jetzt?« Darwin Litchley sagte verwirrt: »Er sagt, daß er sich verrechnet hat; zusätzlich zu den sechshundert Batterien wird ein Aufschlag für Kompositionen in mehr als drei Tonarten berechnet, weil es eine zusätzliche Belastung der Kritikfähigkeit darstellt. Der Aufschlag beträgt für die beiden ersten Werke jeweils fünfzig Taschenlampenbatterien, im Falle des Wozzeck legt er ihn auf einhundertundfünfzig fest. Das sind zusammen achthundertfünfzig.« »Schicken Sie ihn fort. Wir werden ihm nichts bezahlen.« Litchley und der Überprüfer vertieften sich in eine kurze Unterredung, dann erklärte Litchley Freifrau Isabel: »Er sagt, wenn wir nicht zahlen, wird er seinen Keimbeutel in die Luft entleeren, was die Phoebus mit ungefähr zehn Millionen Wasservolkkindern infizieren würde, die ihm mehr oder weniger gleichen.« Freifrau Isabel öffnete den Mund zu einer Erwiderung, dann schloß sie ihn wieder. Sie wandte sich an Bernard Bickel. »Ich fürchte, wir müssen zahlen?«
»Ja«, sagte Bernard Bickel niedergeschlagen. »Wir müssen zahlen.« »Wir haben nicht so viele Taschenlampenbatterien an Bord«, erklärte Freifrau Isabel Darwin Litchley. »Was sollen wir also tun?« »Lassen Sie mich den Beauftragten Cam anrufen, er wird einen Flieger mit der geforderten Summe herschicken.« Eine Stunde später erschien der Flieger. Der Überprüfer erhielt seine Batterien und verließ die Phoebus ohne weitere Umstände. »Das ist das Empörendste, das mir je begegnet ist«, sagte Freifrau Isabel. »Wie ist es nur möglich, daß eine Gruppe intelligenter Individuen so anmaßend engstirnig ist?« Bernard Bickel lachte. »Wenn Sie so weit im Raum herumgekommen wären wie ich, würden Sie sich über nichts wundern. Und wie uns vor langer Zeit schon klar geworden ist, werden wir für jeden unserer Triumphe auch Enttäuschungen erleben oder auf Unverständnis stoßen.« »Vielleicht erwarte ich zu viel. Dennoch…« Freifrau Isabel schüttelte den Kopf und schenkte sich eine Tasse Tee ein. »Ich bin wahrscheinlich viel zu optimistisch und gutgläubig. Ich frage mich, ob ich es je lerne?« Sie seufzte. »Aber wir können nur unser Bestes tun; wenn wir anfangen, Abstriche von unseren Idealen zu machen, ist alles verloren. Mr. Litchley, diese Geisteskrieger, zu denen Sie uns führen – ich hoffe, sie sind nicht so schwierig wie das Wasservolk?« Litchley sagte zögernd: »Ich kenne sie nicht so gut wie das Wasservolk, aber allen Berichten zufolge sind sie aufgeschlossen und tüchtig, wenn auch vielleicht nicht so feinsinnig wie einige andere Stämme von Zade.« »Ich freue mich, das zu hören«, sagte Freifrau Isabel mit einem erleichterten Seufzer. »Ich habe genug von berechnenden Leuten, die nichts anderes im Kopf haben als
Kritik und Taschenlampenbatterien. Bei Gott, aber ich bin müde. Ich glaube, ich werde mich zurückziehen. Bernard, bitte kümmern Sie sich darum, daß das Theater ordentlich verstaut wird. Wir brechen gleich morgen früh auf.« Die Phoebus glitt westlich und nördlich über die großartige Landschaft von Zade. Berge und Ebenen zogen unter ihnen vorüber, gelegentlich eine Stadt oder ein Dorf und einmal eine Stadt aus hohen Steintürmen. Diese war, Darwin Litchley zufolge, von einem Volk bewohnt, das die Fähigkeiten besaß, Dämonen zu sehen, die für andere unsichtbar waren. Sie waren eine freundliche, entgegenkommende Rasse, aber – so bemerkte er auf Freifrau Isabels Frage – nicht als mögliches Publikum ins Auge zu fassen: Wenn sie unter den Ensemblemitgliedern einen Geist erblickten oder zu erblicken glaubten, würden ihre Entsetzensschreie die gesamte Vorstellung zunichte machen. Sie überquerten einen Dschungel der vielfarbigen Bäume, die für den Planeten charakteristisch waren, näherten sich einem mächtigen Gebirge aus Schiefer, Gneis und anderen metamorphen Gesteinsarten und erreichten kurze Zeit später das Land der Geisteskrieger: ein Gebiet voller dunkler Gesteinsbrocken, Schluchten und Abgründe, Bergspitzen, Steilhänge und schroffer Felsen. Die Hauptstadt – kaum größer als ein gewöhnliches Städtchen – bedeckte die Mitte eines fast ebenen Plateaus. Unweit der Stadt lag ein Komplex von Gießereien, Schmelzhütten und Schmieden, um den sich Schlacke und Abfallprodukte türmten. Darwin Litchley beschrieb die Geisteskrieger als tüchtige Minenbauer und Schmelzarbeiter, die den gesamten Kontinent mit Eisen und Kupfer versorgten. »Lassen Sie sich nicht durch ihr Aussehen oder ihr Benehmen beirren«, sagte er. »Sie sind von strenger, rauher Natur, aber keineswegs wild oder unzuverlässig. Ihre Kultur ist mir nicht sehr vertraut, aber sie sind unter den
anderen Völkern von Zade berühmt für ihre Festveranstaltungen und Schauspielvorführungen, und sie sollen aufgeschlossene Leute sein. Wenn wir uns mit durchschnittlicher Rücksicht auf ihre Empfindlichkeiten verhalten, werden wir sicher mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt.« Kapitän Gondar landete die Phoebus auf einem freien Platz in der Nähe der Stadt; Freifrau Isabel, Bernard Bickel und Darwin Litchley gingen die Rampe hinunter und warteten auf die Ankunft einer Abordnung der Stadt. Sie ließ nicht lange auf sich warten. Wie Darwin Litchley vorausgesagt hatte, wirkte ihre Erscheinung nicht gerade ermutigend. Sie waren groß, mit zerfurchten Gesichtszügen, ihr Körper war mit schwarzem, gegliedertem Chitin gepanzert. Sie schienen bemerkenswerte körperliche Kräfte zu besitzen und trugen eine Kleidung, die einen Erdenmann zu Boden gedrückt hätte: Eisensandalen, einen Rock aus Eisenplättchen, die mit Bronzedraht verbunden waren, bronzene und eiserne epaulettenartige Schulterklappen, an denen Ketten mit Silberkugeln hingen. Sie trugen keine Kopfbedeckung, auf ihrem Schädel wellten sich fünf Zentimeter hohe Kämme von schwarzem Chitin. Sie blieben stehen und unterzogen die Gruppe von der Phoebus einer aufmerksamen und sorgsamen Prüfung, wobei sie die Besucher in jeder Hinsicht einzuschätzen und zu beurteilen schienen. Einer von ihnen sagte etwas in einer schweren, rauhen Sprache, die nur aus langgezogenen Vokalen zu bestehen schien. Darwin Litchley lauschte angestrengt und antwortete ziemlich stockend. Der Geisteskrieger ergriff erneut das Wort, dann wandte sich Litchley an Freifrau Isabel und Bernard Bickel. »Er möchte den Grund für unseren Besuch erfahren, soweit ich es verstehe. Ich habe ihm gesagt, daß Sie gerade von der Erde eingetroffen seien und von den Geisteskriegern
gehört haben und daß Sie sie sehen wollen. Eine kleine Schmeichelei kann nie schaden.« »Auf keinen Fall«, erklärte Bernard Bickel. »Sagen Sie ihnen, daß ihr aufrechtes Wesen im ganzen menschlichen Universum bekannt ist, daß wir gekommen sind, ihnen unsere Ehrerbietung zu erweisen und daß wir zu ihrem Frommen und Nutzen ein Stück aufführen wollen.« Darwin Litchley übersetzte, wobei er sich der schwerfälligen, knarrenden Sprache bediente, so gut er konnte. Die Geisteskrieger lauschten mit düsterer Aufmerksamkeit, dann zogen sie sich zurück, um sich zu beraten und ließen vorsichtig berechnende Blicke zu den Erdenleuten schießen. Sie kehrten langsam zu der Stelle zurück, an der die drei von der Phoebus warteten. Der Sprecher stellte eine Frage. »Sie sagen, daß unser guter Ruf sich über das Universum verbreitet hat?« übersetzte Darwin Litchley. »Ja, das ist richtig«, erwiderte Bernard Bickel, und Litchley übermittelte die Botschaft. »Sie sind mit keiner anderen Absicht hierher gekommen, als dieses Stück aufzuführen?« »So ist es. Unser Ensemble setzt sich aus einigen der fähigsten Künstler der Erde zusammen.« Die Geisteskrieger zogen sich erneut zurück, und es schien sich eine Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen zu entwickeln. Schließlich erzielten sie eine Einigung, die Geisteskrieger kehrten zurück, der Sprecher stieß eine Reihe düsterer, bedeutungsschwerer Sätze hervor. Litchley übersetzte. »Sie nehmen die Einladung an, sie werden eine Abordnung der tapfersten und klügsten Persönlichkeiten schicken…« »Tapfersten und klügsten?« fragte Freifrau Isabel überrascht. »Eine seltsame Art, zu sprechen!«
»Das scheint die Bedeutung der Bemerkung zu sein. Er stellt jedoch eine Bedingung: Alle, die sich an Bord der Phoebus befinden, besuchen ihrerseits eine Vorstellung, die von ihrer eigens ausgebildeten Truppe in ihrer Arena aufgeführt wird.« Nach kurzem Schweigen und einem unsicheren Blick zu den Geisteskriegern sagte Freifrau Isabel: »Ich sehe keinen Grund, die Einladung abzulehnen… nein wirklich, es würde unhöflich erscheinen, wenn wir nicht annehmen. Sind Sie nicht auch der Meinung, Bernard?« Bickel rieb sich das Kinn und warf den finster gespannten Eingeborenen einen mißtrauischen Blick zu. »Ich nehme an, sie besitzen ein ausgeprägtes Gefühl der Verpflichtung. Ihr finsteres Verhalten hat wahrscheinlich gar nichts zu bedeuten.« »Ist das nicht das eigentliche Wesen des kulturellen Austauschs?« fragte Freifrau Isabel. »Warum haben wir so viele Milliarden Kilometer zurückgelegt, wenn nicht aus diesem Grund?« Sie wandte sich an Darwin Litchley. »Es wird uns eine Ehre sein, ihre Vorstellung zu besuchen! Bitte versichern Sie ihnen das!« Litchley sprach mit ihnen, eine kurze Unterhaltung folgte, dann kehrte die Delegation in die Stadt zurück. Freifrau Isabel und Bernard Bickel berieten sich sofort mit Andrei Szinc und Sir Henry über ein geeignetes Programm. Bernard Bickel, den das kraftvolle Wesen der Geisteskrieger beeindruckt hatte, sprach sich, um eine Verbindung zum Leben der Zuschauer zu schaffen, für Siegfried aus. Andrei Szinc riet zu Aida, weil die Phoebus für diese Oper ein besonders beeindruckendes Bühnenbild mitführte, Sir Henry nannte Rigoletto und ließ den Vorschlag wieder fallen, Freifrau Isabel äußerte den Gedanken, daß gerade dieses Volk mit seinem offensichtlich mühevollen Leben durch etwas Liebreizendes und Sorgloses Zerstreuung finden könnte: Hänsel und Gretel,
Die Fledermaus, Cosi fan tutte oder gar Hoffmanns Erzählungen. Man einigte sich schließlich auf die Verkaufte Braut. Andrei Szinc entfernte sich, um eine kurze Probe mit dem Ensemble anzusetzen. Sir Henry überflog noch einmal die Partitur. Die Nacht war dunkel; von den Schmieden leuchtete es unheimlich flackernd über das Plateau herüber. In der Luft schwangen Gerüche, die der Nase der Erdenbewohner fremd waren, und diejenigen, die hinausgegangen waren, sich die Füße zu vertreten, blieben dicht beim Schiff. Am darauffolgenden Tage wurde das Theater aufgebaut; das Orchester spielte die Partitur durch. Zu der angegebenen Zeit kam eine große Gruppe von Geisteskriegern über das Plateau herbei. Freifrau Isabel trat ihnen am Eingang des Theaters entgegen. Der Sprecher trat vor, zeigte auf seine Begleiter und sagte etwas. Darwin Litchley übersetzte. »Wir sind, getreu unserem Versprechen, hierher gekommen. Wenn wir einmal einen Entschluß gefaßt haben, kann uns weder Verführung, noch Furcht oder Zaudern davon abbringen. Wir vertrauen uns also nun Ihrer Vorstellung an.« Freifrau Isabel hielt eine kurze Willkommensrede und führte sie dann in das Theater. Mit hastigen Blicken nach rechts und links nahmen sie in geschlossener Gruppe Platz und nahmen alle die gleiche, irgendwie steife Haltung ein: den Körper kerzengerade, die Arme an die Seiten gepreßt, die Füße dicht beieinander. Sir Henry hob den Taktstock zur Ouvertüre, die Geisteskrieger hefteten den Blick wie ein Mann auf ihn. Der Vorhang hob sich zum ersten Akt, die Geisteskrieger saßen wie festgefroren auf ihren Plätzen. Wirklich zuckten sie nicht einmal mit den Wimpern, bis der Schlußvorhang fiel und das Licht aufleuchtete. Selbst dann blieben sie noch bewegungslos sitzen, als seien sie nicht sicher, ob die Vorstellung beendet
sei. Dann erhoben sie sich langsam und unsicher, verließen einer nach dem anderen das Theater und tauschten erstaunte Kommentare aus. Freifrau Isabel und Bernard Bickel trafen vor dem Ausgang auf sie. Der Sprecher beriet sich mit seinen Gefährten, und es schien, als seien sie irgendwie ärgerlich, obwohl der strenge Schnitt ihrer Gesichter ein solches Urteil nicht mit Sicherheit zuließ. Freifrau Isabel trat vor. »Hat Ihnen die Vorstellung gefallen?« Der Sprecher sagte mit seiner volltönendsten Stimme: »Mein Volk ist weder angestrengt noch belastet; ist dies die kraftvollste Darbietung, die Sie zu geben in der Lage sind? Sind die Bewohner der Erde so träge?« Darwin Litchley übersetzte; Freifrau Isabel war erstaunt über die Frage. »Unser Repertoire umfaßt Dutzende von Opern, und alle sind unterschiedlich. Wir haben uns gestern abend ausführlich darüber unterhalten und sind zu dem Schluß gekommen, daß Ihnen etwas Leichtes und nicht zu Strenges oder Dramatisches gefallen könnte.« Der Geisteskrieger richtete sich zu voller Größe auf. »Schätzen Sie uns also für so gering? Ist das unser Ansehen im Universum?« »Nein, nein, natürlich nicht«, sagte Freifrau Isabel beschwichtigend. »Auf gar keinen Fall!« Der Geisteskrieger sagte ein paar schroffe Worte zu seinen Begleitern und wandte sich dann wieder an Freifrau Isabel. »Wir werden kein Wort mehr über die Vorstellung verlieren. Morgen werden wir Sie mit einer Vorführung unseres eingeübten Ensembles beehren. Werden Sie kommen?« »Natürlich!« sagte Freifrau Isabel. »Wir freuen uns auf dieses Ereignis. Werden Sie jemanden herschicken, der uns zum Theater führt?«
»Das werden wir tun.« Die Geisteskrieger stolzierten über die Ebene davon. Bernard Bickel schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, sie waren nicht besonders beeindruckt.« Freifrau Isabel seufzte. »Es ist immerhin möglich, daß sie Siegfried den Vorzug gegeben hätten… Nun, wir werden sehen. Die morgige Vorstellung wird sicher sehr interessant sein, und ich muß Roger daran erinnern, daß er sein Aufnahmegerät mitbringt.«
Am folgenden Tag meldeten sich zwei Geisteskrieger einige Minuten nach dem Mittagessen am Schiff. Es waren noch nicht alle fertig; Ramona Thoxted und Cassandra Prouty hatten sich im letzten Moment entschlossen, ihre Abendkleider gegen bequemere Kleidung zu tauschen. Schließlich verließen alle gemeinsam das Schiff: Sänger, Musiker, Freifrau Isabel, Roger, Bernard Bickel, Sir Henry, Andrei Szinc und einige Mannschaftsmitglieder. Weder Kapitän Gondar noch Madoc Roswyn befanden sich bei der Gruppe, und der Gedanke daran, daß die beiden zusammen waren, versetzte Roger einen schmerzhaften Stich. Es gab noch einen anderen, der ähnlich zu empfinden schien: Logan de Appling, der schmucke, junge Astrogator. Er ging unruhig vor dem Landungssteg auf und ab, und als weder Kapitän Gondar noch Madoc Roswyn erschienen, begab er sich plötzlich zurück an Bord. Schließlich waren alle versammelt: in festlicher Stimmung setzten sie sich über das Plateau in Bewegung. Vergessen waren kleine Zwistigkeiten und Eifersüchteleien, verschiedene kleine Grüppchen hatten sich inzwischen wieder aufgelöst, und es war eine gutgelaunte Versammlung, die jetzt plaudernd und lachend zum örtlichen Theater unterwegs war. Ramona Thoxted und Cassandra Prouty beglückwünschten sich selbst
zu ihrem Entschluß, bequeme Kleidung anzulegen; der Anlaß war augenscheinlich nicht besonders förmlich. Selbst Freifrau Isabel schien von der guten Laune angesteckt zu sein, und sie machte einige scherzhafte Bemerkungen über das Buch, das Roger schreiben sollte. Sie durchquerten die Stadt, stiegen einen breiten, steingepflasterten Weg hinunter und befanden sich in einem natürlichen Amphitheater. Die Wände waren steil, und die Sitzplätze befanden sich alle auf ebener Erde des Platzes: Es waren Steinzylinder, die in enger werdenden Kreisen angeordnet waren. Freifrau Isabel sah sich mit lebhaftem Interesse in dem Theater um. »Sie zollen der Bequemlichkeit keinerlei Tribut«, bemerkte sie, an Bernard Bickel gewandt. »Die Sitze oder Podeste, wie auch immer man sie nennen soll, machen einen vollkommen unbequemen Eindruck. Aber ich nehme an, wir müssen die Dinge nehmen, wie sie sind.« Bernard Bickel deutete auf die Eisenstreben über ihren Köpfen. »Offensichtlich für besondere Effekte, vielleicht auch Beleuchtungsanlagen.« Freifrau Isabel blickte um sich. »Ein seltsames Theater. Wo ist die Bühne? Wo sitzen die Musiker?« Bernard Bickel lachte. »Auf meinen Wanderungen durch das All habe ich gelernt, mich über nichts zu wundern, nicht einmal über Theater ohne Bühnen.« »Ja, wir dürfen nicht zu voreingenommen sein… Nun, ich glaube, ich nehme diesen Platz, Roger, du nimmst den Sitz oder das Podest dort, und Mr. Litchley, Sie setzen sich neben Roger, damit Sie, wenn nötig, erklärende Kommentare in das Aufnahmegerät sprechen können.« Die Truppe verteilte sich im Amphitheater, und scherzhafte Bemerkungen wurden ausgetauscht.
Der Mann, der als Sprecher der Geisteskrieger aufgetreten war, erschien. Er ging mit hallenden Schritten über den Steinboden der Arena auf Freifrau Isabel zu. Er sagte etwas, und Darwin Litchley übersetzte. »Sie haben Ihr Wort gehalten, Sie haben den Planeten nicht verlassen.« »Nein, selbstverständlich nicht«, erklärte Freifrau Isabel. »Ein solches Handeln wäre im höchsten Maße unhöflich.« Nachdem das übersetzt worden war, nickte der Geisteskrieger kurz mit dem Kopf. »Sie sind ein eigenartiges Volk, aber man muß Sie ganz sicher achten.« »Ich danke Ihnen vielmals«, sagte Freifrau Isabel außerordentlich erfreut, und Bernard Bickel pflichtete ihm lächelnd mit einem Kopfnicken bei. Der Geisteskrieger verließ die Arena. Es folgte ein zweiminütiges Schweigen, das durch das Dröhnen eines großen Gongs unterbrochen wurde. Das war das Zeichen für eine Folge von erstaunlichen und schrecklichen Ereignissen. Flammenstrahlen schossen aus dem Boden, Eisengitter fielen herunter und schmetterten in die Gänge zwischen den Sitzpodesten. Sechs rasierklingenscharfe Pendel wurden von oben heruntergelassen und schwangen hin und her. Eine Sirene schrillte, eine weitere folgte, ein großer Felsblock stürzte herunter und wurde wenige Zentimeter über den Köpfen der Zuschauer von einer Kette aufgehalten. Die Feuerstrahlen schnellten erst horizontal, dann vertikal hervor, und von dem Balkenwerk fielen rotglühende Eisenstücke herunter… Nach zwei Minuten und sechsundvierzig Sekunden brach das Ensemble in Entsetzensschreie aus, verlor das Bewußtsein, überließ sich den verschiedensten Formen der Hysterie. Unvermittelt wurde die Vorstellung abgebrochen. Die Geisteskrieger erschienen auf den Eisenstreben und am Rande der Arena. Sie stießen Hohngelächter, Buhrufe und Schmähungen aus. Darwin Litchley erinnerte sich später an
einige ihrer Ausrufe: »Was ist das für eine Feigheit?« Und: »Wir haben drei Stunden lang euren Mist über uns ergehen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken!« Und: »Die Leute von der Erde sind wirklich Feiglinge!« In wilder Hast kehrte die Gruppe zur Phoebus zurück. Freifrau Isabel gab den Befehl, das Theater sofort abzubauen und so schnell wie möglich aufzubrechen. Die Phoebus flog nach Erdenstadt zurück, setzte Darwin Litchley ab und begab sich ohne Aufenthalt ins All hinaus.
IX
Am folgenden Tag, als Phi Orionis bereits ein namenloses Glitzern in weiter Ferne war, hatte Freifrau Isabel ihre Haltung soweit wiedergefunden, daß sie mit Bernard Bickel über die Ereignisse auf der Ebene sprechen konnte. »Mir widerstrebt der Gedanke, jemandem Böswilligkeit zu unterstellen, und irgendwie kann ich hinter diesem schrecklichen Zusammentreffen widriger Umstände keine Absicht entdecken.« »Wahrscheinlich nicht«, stimmte Bernard Bickel mutlos zu. »Höchstwahrscheinlich ein Mißverständnis… Fehlerhafte Verständigung. So ein lächerlicher Bursche, dieser Litchley! Vollkommen unfähig!« »Ich neige ebenfalls zu dieser Ansicht«, sagte Freifrau Isabel. »Nur ein besonders ungeschickter Mensch konnte ›Vorstellung‹ als ›Prüfung‹ und ›Einladung‹ als ›Herausforderung‹ fehlübersetzen.« »Um dem Burschen nicht Unrecht zu tun«, meinte Bernard Bickel nachdenklich, »muß man sagen, daß er offen zugegeben hat, in der Sprache nicht sicher zu sein. Und es klang nicht anders als eine Herde sterbender Schafe.« Kapitän Gondar hatte den Salon betreten und gesellte sich nun zu ihnen. Er sah schlecht aus, tiefe Ringe lagen unter seinen Augen, und seine für gewöhnlich blasse Haut war von gelblicher Färbung. Freifrau Isabel machte eine nicht unbedingt taktvolle Bemerkung über sein Aussehen. »Sie sollten sich mehr Bewegung verschaffen, Kapitän Gondar. Selbst in unserem Zeitalter der biologischen Wunder müssen
wir unseren Teil beitragen, indem wir das Blut in den Adern in Bewegung halten.« Kapitän Gondar nickte geistesabwesend. »Vor einiger Zeit habe ich einen bewohnten und kultivierten Planeten erwähnt…« »Ja, ich erinnere mich ganz genau. Den Planeten aufzusuchen, würde einen lästigen Umweg mit sich bringen.« »Eine unbedeutende Strecke vielleicht«, gab Kapitän Gondar zu. »Es bedeutet nur ein Abweichen in die Hydra. Sie haben ganz zutreffend ausgeführt, daß, wenn unser eigentliches Ziel im Walfisch liegt – und ich bin nicht vollkommen von der Klugheit dieser Absicht überzeugt – « »Wie!« rief Freifrau Isabel aus. »Der Besuch auf Rlaru ist der Hauptgrund für die Tournee! Wir dürfen keine Sekunde etwas anderes annehmen!« Kapitän Gondar rieb sich die Stirn. »Natürlich. Aber dieser Planet in der Hydra ist nicht weniger hochentwickelt als Rlaru. Vielleicht sind die Leute sogar damit einverstanden, eine Gruppe Musiker zur Erde zu schicken, so wie das Neunte Ensemble.« Freifrau Isabel warf Bernard Bickel einen Blick zu, aber der schüttelte zweifelnd den Kopf. Sie sprach mit ruhiger Stimme: »Kapitän, dieser Planet verdient zweifellos einen Besuch. Aber wir haben einen Reiseplan, den wir wohlüberlegt und unter Mühen zusammengestellt haben, und wir können nicht jedem Irrlicht folgen, das sich uns bietet.« Sie hob die Hand, als Kapitän Gondar zu sprechen ansetzte. »Es gibt noch einen weiteren, zwingenden Grund, aus dem wir diesen Abstecher nicht machen können. Unser nächstes Ziel ist Skylark. Wenn wir den Unglücklichen, die dort gefangen sind, auch nur einen Funken Fröhlichkeit bringen können, dann sind die Anstrengungen und Kosten dieser Reise gerechtfertigt. Skylark befindet sich im Eridanus, und ein kleiner Kurswechsel wird
uns in den Walfisch bringen, Sie sehen also, daß ein Umweg nicht in Frage kommt.« Mit leeren, verzweifelten Augen starrte Kapitän Gondar sie an. »Wenn ich Sie wäre«, sagte Freifrau Isabel nicht unfreundlich, »würde ich Dr. Sharid um Rat fragen und mir ein Beruhigungsmittel verschreiben lassen; ich habe das Gefühl, Sie überfordern sich.« Kapitän Gondar stieß einen rauhen, unartikulierten Ton aus, dann sprang er auf und verließ den Salon. »Was für ein merkwürdiger Bursche!« sagte Freifrau Isabel. »Was kann ihn nur so bedrücken?« Bernard Bickel lächelte. »Meiner Ansicht nach entwickelt sich Kapitän Gondars kleine Herzensangelegenheit nicht mit ›rosenzarter Glückseligkeit‹, wie Carveth es ausdrückt.« Freifrau Isabel schüttelte ungehalten den Kopf. »Was ist sie nur für ein herzloser kleiner Teufel! Erst der arme Roger, und nun Kapitän Gondar!« Heftig griff sie nach den Aufzeichnungen, die Bernard Bickel über Eridanus BG 12-IV, allgemein unter dem Namen ›Skylark‹ bekannt, zusammengetragen hatte. »Ich fürchte, in diese Dinge können wir uns nicht einmischen.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit den Aufzeichnungen zu, sah aber fast augenblicklich mit vorwurfsvoll verzogenem Gesicht wieder auf. »Bernard – sind Sie nicht ein wenig zu streng?« Bernard Bickel beugte sich überrascht vor. »Warum das?« »Nachdem Sie die physikalischen Eigenschaften des Planeten beschrieben haben, heißt es hier: Die Bedeutung von Skylark rührt lediglich daher, daß es während der vergangenen zweihundert Jahre als Strafkolonie für die verworfensten, primitivsten und abgestumpftesten Verbrecher des menschlichen Universums gedient hat.« Bickel zuckte die Achseln. »Skylark ist bekanntermaßen die letzte Station.«
»Ich lehne es ab, so zu denken«, sagte Freifrau Isabel. »Viele dieser ›Verbrecher‹ sind einfach Opfer der Umstände.« Und sie warf Roger, der soeben den Salon betreten hatte, einen stechenden Blick zu. »Das trifft in gewissem Maße für uns alle zu«, warf Bernard Bickel ein. »Genau das wollte ich sagen! Ein kleines bißchen betrachte ich die Phoebus als einen Teil der Bestimmung – aber als wohltätigen Teil. Wenn wir auch nur ein Dutzend der Verbannten davon überzeugen können, daß sie nicht vergessen, nicht vollkommen verlassen sind, wenn wir dieses Dutzend Leute dazu anregen können, sich selbst neu einschätzen zu lernen, dann ist der Besuch auf Skylark ein Erfolg.« »Das Gefühl spricht für Sie«, sagte Bernard Bickel, und er fügte reumütig hinzu: »Ich habe natürlich keine theoretischen Einwände gegen Nächstenliebe zu machen.« »Natürlich nicht, bitte, nehmen Sie mich nicht beim Wort. Um die Wahrheit zu sagen, ich fühle mich ein wenig unpäßlich. Die Probleme türmen sich vor uns auf, wir haben nicht einmal die Hälfte unserer Erwartungen erfüllt, und das gesamte Ensemble scheint ein bißchen oberflächlich zu sein.« »Die Vorstellungen auf Zade haben alle viel Kraft gekostet«, sagte Bernard Bickel. »Aber ein paar Erfolge werden uns unendlich guttun.« »Kapitän Gondar benimmt sich so seltsam«, beklagte sich Freifrau Isabel. »Er scheint fast besessen zu sein von diesem Planeten in der Hydra. Und ich habe Klagen gehört, daß dieser grauenvolle Lärm mit den Blechdosen und Maultrommeln wieder begonnen hat.« »Ach ja. Die Tough Luck Jug Band.« Bernard Bickel schüttelte in wehmütiger Verachtung den Kopf. »Ich werde ein Wörtchen mit dem Chefsteward reden.«
»Bitte, greifen Sie streng durch, Bernard. Wir können nicht zulassen, daß alle verärgert werden wegen des gedankenlosen Unfugs von zwei oder drei einzelnen… Roger, ich hoffe, du kommst gut voran mit deinem Buch?« Das letztere hatte Freifrau Isabel mit einem Anflug von Hohn gesagt. »Ich mache Aufzeichnungen«, sagte Roger mürrisch. »Es ist ein schwieriges Unterfangen.« »Ich muß dich darauf hinweisen, daß die Frau, die du an Bord gebracht hast, uns unendlich viele Schwierigkeiten bereitet, und ich mache dich allein verantwortlich… Was hast du gesagt, Roger?« »Ich sagte ›phantastisch!‹« »›Phantastisch?‹ Was ist phantastisch?« »Ich habe an deine Wohltätigkeit in bezug auf die Verbrecher auf Skylark gedacht.« Freifrau Isabel öffnete den Mund und schloß ihn wieder – sie war ausnahmsweise sprachlos. Schließlich sagte sie: »Mein ethischer Grundsatz, Roger, beruht auf dem Prinzip von Verantwortung und Selbstachtung, für diejenigen, die in der Lage sind, diese Prinzipien zu verwirklichen. Noch eins, da wir uns Skylark nähern. Trotz all meiner ›Wühltätigkeit‹ wie du es nennst, bin ich immer noch realistisch, und ich habe die Absicht, jedem an Bord strengste Zurückhaltung aufzuerlegen. Unter keinen Umständen werden wir mit den Gefangenen Freundschaft schließen, sie auf das Schiff einladen, ihnen Alkohol anbieten oder sie anders als mit unpersönlicher Höflichkeit behandeln.« »Ich habe nie etwas anderes im Sinn gehabt«, sagte Roger würdevoll. »Die Behörden von Skylark werden uns ähnliche Bedingungen stellen«, sagte Bernard Bickel. »Skylark ist keine Festung oder Kerkeransammlung, und die Gefangenen
besitzen ein gewisses Maß an Freiheit; wir wollen nicht, daß sie sich mit dem Schiff davonmachen.« »Allerdings nicht«, sagte Freifrau Isabel. »Aber ich bin sicher, daß alles gutgehen wird, wenn wir grundsätzlich vollkommene Vorsicht walten lassen.« Skylark stand groß am Himmel; aus einer Umlaufbahn dreißigtausend Meilen über dem Planeten funkte die Phoebus die Bitte um Landeerlaubnis hinunter. Ein Patrouillenschiff schob sich an ihre Seite, vier Männer kamen an Bord, durchsuchten das Schiff und unterhielten sich einige Stunden lang mit Freifrau Isabel und Kapitän Gondar. »Sie müssen sich darüber im klaren sein«, sagte der Oberinspektor, ein schmaler grauhaariger Mann mit herabhängendem Schnurrbart und stechenden, schwarzen Augen, »daß Skylark keine Ähnlichkeit mit einem gewöhnlichen Gefängnis hat. Die Gefangenen können sich auf einem Gelände von fast zehn Quadratmeilen frei bewegen, das ist das ganze Ausmaß der Ebene.« »Wie erreichen Sie, daß Disziplin herrscht?« erkundigte sich Freifrau Isabel. »Man sollte doch meinen, daß vierzehntausend verzweifelte Männer, wenn es ihnen in den Sinn kommt, leicht eine vergleichsweise kleine Gruppe von Verwaltern überwältigen könnten.« »Wir haben unsere Methoden, keine Bange. Ich versichere Ihnen, sie sind wirksam. Wir machen viel von elektronischer Überwachung Gebrauch, und mit unseren kleinen elektrischen Hornissen ist nicht zu spaßen. Nein, wir machen uns mehr Gedanken über die Langeweile als über Disziplinlosigkeit. Das Leben hier ist vollkommen friedlich.« »Ich würde meinen, daß unser Besuch viel dazu beitragen kann, die Moral der Leute zu heben«, sagte Freifrau Isabel. »Die Gefangenen müssen nach Musik dürsten.« Der Oberinspektor lachte. »Solche Barbaren sind wir nun wieder auch nicht, wir haben selbst einige gute Orchester.
Unsere Bevölkerung setzt sich schließlich aus allen Gesellschaftsschichten zusammen. Wir haben verurteilte Zimmerleute, Spengler, Bauern und Musiker. Unsere Architekten sind Gefangene, unser Krankenhaus wird von Gefangenen geführt, unser Apotheker und Landwirtschaftsexperte sind Gefangene. Wir sind eine sich selbst versorgende Gemeinde – eine kriminelle Bevölkerung, wie man es nennen könnte. Aber wir sind dankbar, wenn gelegentlich ein frisches Lüftchen hereinweht, etwas, das uns von den Sorgen ablenkt, und genau das haben Sie uns freundlicherweise angeboten.« »Ich bitte Sie«, sagte Freifrau Isabel. »Wir sind hoch erfreut, daß wir Ihnen zu Diensten sein können. Was nun das Programm betrifft, so würde ich Turandot, Der Rosenkavalier und Cosi fan tutte vorschlagen – eine insgesamt heitere und belustigende Zusammenstellung. Turandot ist ein ganz klein wenig makaber, aber auf so ausgefallene Weise, daß sicherlich niemand nachteilig beeinflußt werden kann.« Der Oberinspektor versicherte ihr, daß sie sich darum keine Sorgen zu machen brauchte. »Wir haben eine ganze Anzahl sehr makabrer Burschen in unseren Reihen, ein paar Überspanntheiten auf der Bühne werden uns kaum aus der Ruhe bringen.« »Ausgezeichnet. Welche Auflagen und Beschränkungen würden Sie nun gerne über uns verhängen?« »Eigentlich sehr wenige. Keine Waffen, Drogen und keinen Alkohol für die Gefangenen natürlich. Wir werden das Betreten des Schiffes überwachen, und Ihre Leute müssen sich vor Einbruch der Dunkelheit aufs Schiff begeben. Die Gefangenen zeigen gewöhnlich ein gutes Betragen, aber es gibt ohne Zweifel unberechenbare und undisziplinierte Leute unter uns. Es wäre beispielsweise höchst unratsam für eine
hübsche, junge Frau, allein umherzuspazieren; es könnte sein, daß sie mehr Gastfreundschaft erhält, als ihr lieb ist.« Freifrau Isabel sagte kühl: »Ich werde einige diesbezügliche Anweisungen geben, aber ich bezweifle, daß jemand an Bord so dumm sein würde.« »Noch eine letzte Bitte: Wir brauchen eine genaue Aufstellung Ihrer Besatzung, so daß wir sicher sein können, daß, wenn Sie, sagen wir, mit einhundert und einem Passagier landen, sie auch mit genau einhundert und einem wieder abreisen.« Kapitän Gondar fertigte die gewünschte Liste an, die Beamten verließen das Schiff, und die Phoebus schickte sich zur Landung an.
Skylark, elftausend Kilometer im Durchmesser, war der kleinste Planet, den die Phoebus bis dahin besucht hatte. Aus der Sicht der Umlaufbahn wirkte die Oberfläche glatt und einheitlich, von moosgrüner Farbe mit einer kaum sichtbaren Verdunklung an den Polen. Das Grün stellte sich als brodelnder, giftiger Sumpf, aus dem die Strafkolonie auf einem riesigen vulkanischen Pflock von zweitausend Fuß Höhe in relativ kühle Luft ragte. Auf dem Plateau war die ursprüngliche Ökologie umgewandelt worden, und es herrschte jetzt eine erdenähnliche Vegetation vor. Auf den ersten Blick schien die Kolonie eine recht freundliche kleine Gemeinde zu sein, tatsächlich war das Gebäude mit einem Sicherheitsschloß – ein vierstöckiges Bauwerk mit einbruchsicheren Fenstern – vom Kommandanten und seinen Mitarbeitern bewohnt. An anderer Stelle gab es vier ordentliche Dörfer, eine Fabrik, mehrere Versorgungseinrichtungen, Büros und Lager, die alle von Sträflingen betrieben wurden. Sie schienen nach
Gutdünken zu kommen und zu gehen, sie bewegten sich ohne sichtbare Verstohlenheit, konnten aber doch nicht für freie Männer gehalten werden. Der Unterschied war schwer zu benennen – wahrscheinlich, weil das Wesen der Unfreiheit, vermischt mit Schwermut, Unterwürfigkeit, Zurückgezogenheit, schwelender Bitterkeit und dem Fehlen von Antriebskraft, sich in jedem Fall anders äußerte. Eine andere, hintergründigere Eigenheit konnte fast unbemerkt bleiben, abgesehen von der Tatsache, daß alle Gefangenen die Gefängnisuniform trugen: graue Hosen und blaue Jacken. Freifrau Isabel, die die Menge betrachtete, die zusammengelaufen war, um die Phoebus zu bestaunen, war die erste, die diese Eigenheit in Worte faßte. »Seltsam«, sagte sie zu Bernard Bickel, »ich hatte irgendwie weniger stattliche Menschen erwartet: abstoßende Rohlinge und Mörder, augenscheinlich Schwachsinnige und ähnliches. Aber keiner von ihnen würde in der feinsten Gesellschaft einen zweiten Blick auf sich ziehen. In der Tat ist ihre Erscheinung auf eigenartige Weise einförmig.« Bernard Bickel bestätigte die Richtigkeit ihrer Beobachtung, hatte aber keine Erklärung dafür. »Die Tatsache, daß sie alle Gefängniskleidung tragen, hebt die Ähnlichkeit vielleicht hervor«, war seine einzige Vermutung. Im Laufe einer zweiten Besprechung mit dem Oberinspektor kam Freifrau Isabel noch einmal auf dieses Thema zu sprechen. »Ist es lediglich Einbildung, oder stimmt es, daß die Verurteilten sich zu ähneln scheinen?« Der Oberinspektor, selbst ein ansehnlicher Mann von durchschnittlichem Körperbau und mit schönen, regelmäßigen Gesichtszügen, war überrascht. »Finden Sie das wirklich?« »Ja, obwohl es eine schwer feststellbare Ähnlichkeit ist. Ich sehe alle Hautfarben und alle physischen Typen, und doch sind sie auf irgendeine Weise…« Sie hielt inne und suchte nach
einem geeigneten Wort, um ihrer halb erahnten Überzeugung Ausdruck zu geben. Der Inspektor lachte plötzlich. »Ich glaube, ich kann es erklären. Was Sie beobachtet haben, ist eher negativ als positiv, ein Fehlen eher als ein Vorhandensein, was viel schwerer zu erklären ist.« »Das mag wahr sein. Was mich erstaunt, ist die Tatsache, daß ich keine ›Verbrechertypen‹ entdecken kann, obwohl ich die wissenschaftliche Gültigkeit des Begriffes nicht verteidigen will.« »Genau. Und das ist eine Sache, deren wir uns sehr bewußt sind. Wir wollen keine ›Verbrechertypen‹ hier auf Skylark.« »Aber wie, um alles in der Welt, können Sie das vermeiden? In einer Strafkolonie für die Verderbtesten müßte es doch wimmeln von ›Verbrechertypen‹.« »Wir bekommen unseren Teil«, pflichtete der Inspektor bei. »Aber sie bleiben nicht lange bei uns.« »Sie meinen – sie werden beiseite geschafft?« »Aber nein. Nichts dergleichen. Wir sind der Meinung, daß ›Verbrechertyp und verbrecherische Handlung‹ eine Beziehung sind, die in beiden Richtungen wirksam ist: das heißt, daß viele Menschen, besonders die leicht beeinflußbaren, durch den sinnbildlichen Ausdruck ihrer Gesichtszüge zu Handlungen getrieben werden. Wenn ein Mann mit vorspringendem Kinn sich im Spiegel betrachtet, wird er sagen: ach, ich habe ein starkes, aggressives Kinn! Er wird dazu neigen, dieses Urteil auf seine Handlungsabläufe zu übertragen. Ein Mensch mit kleinen, tiefliegenden, rotgeränderten Augen wird sich seines ›unsteten, hinterhältigen Ausdrucks‹ bewußt sein, er wird ebenfalls dazu neigen, diese Rolle auszufüllen. Indem er das tut, verstärkt er natürlich die allgemeinen Vorurteile, die die Bildhaftigkeit erst erzeugt haben. Hier auf Skylark sind wir uns dieser Wechselwirkungen vollauf bewußt, wenn auch nur aus eigenem Interesse. Wenn
hier ein Mensch mit Schweinsäuglein, fliehendem Kinn, offenem Mund und schwachsinnigem oder bösartigem Blick ankommt, leiten wir ihn weiter in unsere ›Sanierungslaboratorien‹, wie wir es nennen und beseitigen seine entmutigendsten Mängel. Ich vermute, daß unsere Leute – übrigens alles Gefangene – dazu neigen, optimale Muster immer wieder zu übernehmen, so daß Sie nicht nur das Fehlen von fliehenden Kinnformen, unsteten Augen und geifernden Mündern sondern auch eine überdurchschnittlich hohe Anzahl von geraden Nasen, edlen Stirnen, breiten Kieferknochen und gütigen Augen bemerken können.« »Ja!« erklärte Freifrau Isabel, »das umschreibt genau die Situation. Und die Persönlichkeiten werden ähnlichen Umwandlungen unterzogen?« »In den meisten Fällen, obwohl wir auf gar keinen Fall eine Kolonie von idealistischen Menschenfreunden sind.« Das letzte sagte er mit einem lustigen Zucken um den Mund. »Tatsächlich habe ich mich gefragt«, sagte Freifrau Isabel, »wie eine so kleine Gruppe von Verwaltungspersonal eine solche Anzahl verzweifelter Männer in Schach halten kann. Die Siedlung muß anfällig sein für Zwietracht, Grüppchenbildung und – wie ist doch der Name? – Femegerichte. Nicht zu vergessen reine Meuterei und Aufstände.« Der Inspektor bestätigte die Richtigkeit ihrer Bemerkungen. »All diese Dinge könnten uns Schwierigkeiten bereiten ohne strenge Disziplin. Wir vergeben gewisse Privilegien, und wir sind natürlich im Besitz einiger Kniffe. Eine unserer einzigartigen Einrichtungen ist die ›Überwachungsmiliz‹, wie wir es nennen, die aus verantwortlichen Gefangenen gebildet wird. Sie handelt im Auftrag des Justizbüros, das ebenfalls mit Gefangenen besetzt ist. Die Richtersprüche werden natürlich
vom Kommandanten überwacht, aber er mischt sich nicht oft ein, selbst in den seltenen Fällen von Deportation.« »Deportation?« fragte Freifrau Isabel. »Wohin?« »Auf die andere Seite des Planeten, die letzte Etappe der Reise per Fallschirm.« »In den Dschungel? Aber das muß doch gleichbedeutend sein mit Tod.« Der Inspektor verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Wir wissen es nicht mit Sicherheit, keiner von den deportierten Männern ist je wieder gesehen worden.« Freifrau Isabel erschauerte. »Ich vermute, daß sogar eine Gesellschaft von Gefangenen sich schützen muß.« »So etwas kommt äußerst selten vor, in Wirklichkeit gibt es hier weniger Verbrechen als möglicherweise in einer ähnlichen Gemeinde auf der Erde.« Freifrau Isabel schüttelte verwundert den Kopf. »Ich würde annehmen, daß Menschen, die unter so harten Bedingungen leben, völlig gleichgültig sind gegen Tod oder Leben.« Der Inspektor lächelte freundlich. »Überhaupt nicht. Auf eine stille Weise genieße ich mein Leben: Ich würde weder gerne deportiert, noch möchte ich mein Amt aufs Spiel setzen.« Freifrau Isabel zwinkerte. »Sie – sie sind ein Häftling? Ganz sicher nicht?« »Doch, das bin ich«, erklärte der Inspektor. »Ich habe meine Großmutter mit der Axt umgebracht, und da es das zweite, genau identische Verbrechen war – « »Das zweite?« fragte Roger, der ein paar Minuten zuvor hinzugetreten war. »Genau identisch? Wie ist das möglich?« »Jeder Mensch hat zwei Großmütter«, erklärte ihm der Inspektor höflich. »Aber das gehört alles der Vergangenheit an, und manche von uns – nicht viele, aber einige – bauen sich ein neues Leben auf. Manche von uns – auch nicht viele – werden deportiert. Die anderen sind einfach – Sträflinge.«
»Das ist alles höchst aufschlußreich«, sagte Freifrau Isabel. Mit einem vielsagenden Blick zu Roger fügte sie hinzu: »Es ist auch ein gutes Argument gegen Müßiggang und Liederlichkeit und für ein Leben voll harter und sinnvoller Arbeit.«
Am zweiten Tag nach ihrer Ankunft wurde Turandot vor überfülltem Haus gespielt. Der Rosenkavalier und Cosi fan tutte gesellten sich mit ebenso großem Erfolg dazu, mit dem Erfolg, daß die Düsterkeit und Niedergeschlagenheit, die das Ensemble zu demoralisieren gedroht hatten, völlig verschwanden. Der Kommandant bewirtete das Ensemble mit einem abendlichen Büffet, und der Ausdruck seiner Dankbarkeit rührte Freifrau Isabel dergestalt, daß sie weitere drei Vorstellungen zusagte und den Kommandanten bat, seine Wünsche zu äußern. Er erklärte, daß er ein Anhänger Verdis sei und schlug Rigoletto, La Traviata und Il Trovatore vor. Freifrau Isabel hatte Bedenken, ob nicht die schwermütige Tragödie, wie unwirklich auch immer, die Sträflinge bedrücken könne. Der Kommandant zerstreute ihre Zweifel. »Auf keinen Fall; tut den Lumpen ganz gut, wenn sie merken, daß auch andere Menschen Sorgen haben.« Er war ein großer, kräftiger Mann mit barschem Umgangston, hinter dem sich offenbar ein echtes Verwaltungstalent verbarg. Im Anschluß an das Essen beim Kommandanten gab das Symphonieorchester von Skylark ein kurzes Konzert zu Ehren der Phoebus, und Sir Henry Rixon hielt eine Rede, in der er die Universalität der Musik pries. Am darauffolgenden Tag wurde Rigoletto aufgeführt, dann La Traviata und Il Trovatore, und jedesmal waren uniformierte Wächter vonnöten, um eine Überfüllung des Theaters zu verhindern. Andere Vorsichtsmaßnahmen wurden aufs Strengste durchgeführt: die
Eingangsluke des Schiffes wurde bewacht, und jede Nacht nahmen Besatzungsmitglieder in Begleitung von Verwaltungspersonal eine gründliche Untersuchung jedes Kubikzentimeters im Schiff vor. Nach Il Trovatore waren Sänger und Musikanten gleichermaßen erschöpft. Das Publikum rief nach mehr, und Freifrau Isabel trat vor und gab in einer kurzen Rede ihrem Bedauern Ausdruck, daß die Abreise unumgänglich sei. »Wir müssen noch viele andere Welten besuchen, viele andere Völker, vor denen wir spielen müssen. Aber seien Sie versichert, daß es uns Vergnügen bereitet hat, vor Ihnen zu spielen, und Ihr Beifall war wirklich außerordentlich herzerfrischend. Wenn wir je wieder eine ähnliche Sternentournee unternehmen, seien Sie versichert, daß wir nicht versäumen werden, auf Skylark vorbeizuschauen!« Nach der Vorstellung überwachten die Posten das Schiff mit noch größerer Aufmerksamkeit als gewöhnlich. Am Morgen, vor der Abreise würde eine weitere Durchsuchung und die Erledigung der letzten Formalitäten stattfinden.
Die Wachtposten hatten das Schiff verlassen, um an der Eingangsluke, die von innen und außen versiegelt war, strenge Wache zu halten. Roger lief unruhig hin und her: von der Brücke durch die Mannschaftsmesse, zurück zum Salon, wo Madoc Roswyn mit Logan de Appling Karten spielte, und es war ein Hinweis auf Rogers Verwirrung, daß er kaum davon Notiz nahm. Schließlich faßte er einen Entschluß. Er ging zu Freifrau Isabels Kabine und klopfte an die Tür. »Ja? Wer ist da?« »Ich bin’s, Roger.« Die Tür wurde geöffnet, und Freifrau Isabel streckte den Kopf heraus. »Was ist los?«
»Kann ich einen Augenblick hereinkommen? Ich muß dir etwas sagen.« »Ich bin furchtbar müde, Roger. Morgen ist sicher früh genug, egal, was dich bedrückt.« »Da bin ich nicht so sicher. Merkwürdiges geht hier vor.« »Merkwürdig? Welche Art von Merkwürdigkeit?« Roger blickte den Korridor auf und ab. Alle anderen Türen waren geschlossen, dennoch senkte er die Stimme. »Hast du das Orchester heute abend gehört?« »Ja, selbstverständlich.« »Hast du einen – nun, Unterschied bemerkt?« »Nein.« »Nun, ich schon. Es ist wahrscheinlich etwas ziemlich Unbedeutendes, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto eigenartiger kommt es mir vor.« »Wenn du mir mitteilen würdest, was du bemerkt hast, bin ich vielleicht in der Lage, ein Urteil abzugeben.« »Hast du je Calvin Martineau, den ersten Oboisten, beobachtet?« »Ohne besondere Aufmerksamkeit.« »Man muß immer über ihn lachen. Bevor er spielt, schleudert er seine Ärmelaufschläge hinauf, bläst die Backen auf und verzieht das Gesicht.« »Mr. Martineau«, sagte Freifrau Isabel, »ist ein ausgezeichneter Musiker. Die Oboe ist, falls du dir dessen nicht bewußt bist, ein schwieriges Instrument.« »Das kann ich mir vorstellen. Heute abend – ich bin mir nicht sicher in bezug auf gestern abend – war der Mann, der die erste Oboe spielte, nicht Martineau.« Freifrau Isabel schüttelte verächtlich den Kopf. »Bitte, Roger, ich bin wirklich sehr müde.« »Aber das ist wichtig!« rief Roger. »Wenn der erste Oboist nicht Mr. Martineau ist, wer ist es dann?«
»Glaubst du, Sir Henry würde dieser merkwürdige Umstand entgehen?« Roger schüttelte beharrlich den Kopf. »Er sieht aus wie Mr. Martineau. Aber seine Ohren sind nicht so groß. Mr. Martineaus Ohren waren ganz beachtlich – « »Und ist das der Grund für deine Unruhe?« »Oh nein. Ich habe ihn beobachtet, als er spielte. Er saß still. Er verzog nicht das Gesicht, er schleuderte seine Ärmelaufschläge nicht hoch. Er saß bewegungslos wie ein Stein, anstatt hin und her zu zucken wie Mr. Martineau. Dann sind mir seine Ohren aufgefallen.« »Roger, das ist vollkommener Blödsinn. Ich gehe jetzt zu Bett und wünsche, zu schlafen. Morgen früh, wenn dich die Ohren von Mr. Martineau noch immer beunruhigen, kannst du deine Befürchtungen Sir Henry vortragen, und vielleicht gelingt es ihm, dich zu beruhigen. Bis dahin schlage ich vor, daß du dich ein wenig ausruhst, denn wir starten pünktlich um neun Uhr morgen früh.« Die Tür schloß sich, Roger kehrte langsam zum Salon zurück. Da saß er nun und marterte sein Hirn mit dem Problem. Sollte er zu Sir Henry gehen? Sollte er den falschen Oboisten auf eigene Verantwortung zur Rede stellen? Welch eine verflixte Situation! Und Roger schüttelte unzufrieden den Kopf. Es mußte einen einfachen Weg geben, das Problem zu lösen! Zehn Minuten lang grübelte er nach, dann schlug er mit der Faust auf den Tisch. Die Lösung schoß ihm blitzartig durch den Kopf!
Am nächsten Morgen wurden die letzten Vorbereitungen für die Abreise getroffen. Um halb neun trat einer der Wachtposten schüchtern zu Freifrau Isabel. »Mr. Wool ist noch nicht an Bord zurückgekehrt, Madam.«
Freifrau Isabel sah den Mann verständnislos an. »Wo, um alles in der Welt, ist er denn hingegangen?« »Er hat das Schiff vor zwei Stunden verlassen, er sagte, er müsse dem Kommandanten eine Nachricht von Ihnen überbringen.« »Das ist eine außerordentlich unangenehme Situation! Ich habe ihn selbstverständlich nicht mit einer solchen Nachricht fortgeschickt! Was hat er sich nur dabei gedacht? Ich hätte gute Lust, ohne ihn zu fahren!« Bernard Bickel kam heran, und Freifrau Isabel berichtete ihm von Rogers eigenmächtigem Vorgehen. »Ich fürchte, er verliert den Verstand«, sagte Freifrau Isabel. »Letzte Nacht kam er mit irgendeinem Gefasel von Mr. Martineaus Ohren zu mir, heute morgen läuft er mit einer eingebildeten Botschaft für den Kommandanten davon!« Bernard Bickel schüttelte verständnislos den Kopf. »Wir sollten besser die Wache schicken, ihn zu suchen.« Freifrau Isabel preßte die Lippen zusammen. »Das ist eine völlig unentschuldbare Verantwortungslosigkeit! Ich überlege ernsthaft, ob ich ohne ihn fahren soll. Er kannte meine Anordnung, pünktlich um neun Uhr aufzubrechen.« »Die einzige Erklärung dafür ist die, daß er vorübergehend verwirrt ist«, sagte Bernard Bickel. »Ja«, murmelte Freifrau Isabel, »ich fürchte, Sie haben recht.« Sie wandte sich an den Wachtposten. »Mr. Wool muß gefunden werden. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß er – angenommen, er ist wirklich verwirrt – mit seiner eingebildeten Botschaft zur Wohnung des Kommandanten gegangen ist. Ich schlage vor, Sie beginnen dort mit der Suche.« Aber jetzt drang von der Eingangsluke ein Wortwechsel herüber. Freifrau Isabel und Bernard Bickel eilten zur Luke
und standen Roger und einem aufgelösten Calvin Martineau gegenüber, der heftig auf den Wächter einredete. »Sie können an Bord kommen, Mr. Wool. Dieser andere Mann nicht, da die Schiffsbesatzung vollständig ist.« »Ich bin Calvin Martineau«, sagte der Oboenspieler mit schwacher, aber eindringlicher Stimme. »Ich verlange, an Bord gelassen zu werden!« »Was geht hier vor?« fragte Freifrau Isabel. »Mr. Martineau, was hat diese eigenartige Situation zu bedeuten?« »Ich bin gefangengehalten worden!« rief Martineau. »Demütigungen ausgeliefert! Unter Drogen gesetzt! Bedroht! Wenn Mr. Wool nicht wäre, ich wüßte nicht, was aus mir geworden wäre!« »Ich habe dir gesagt, daß der andere Oboist ein Schwindler ist«, sagte Roger. Freifrau Isabel holte tief Atem. »Und woher wußtest du, wo du Mr. Martineau finden würdest?« »Das war einfach genug. Gesichter kann man ändern, Angewohnheiten können nachgemacht werden – aber nur ein Oboespieler konnte sich erfolgreich als Oboespieler ausgeben. Daher war mir klar, daß der falsche Mr. Martineau höchstwahrscheinlich die Oboe im Symphonieorchester spielte. Ich fand heraus, wo der Oboist des Skylark-Orchesters wohnt, ging zu der angegebenen Adresse und trat ein. Mr. Martineau lag, an Händen und Füßen gefesselt, unter dem Bett.« Martineau brach erneut in Klagen aus. Freifrau Isabel hob die Hand. »Bernard, bitte gehen Sie mit einem Wachtposten in das Schiff und übergeben Sie ihm den Verbrecher.« Fünf Minuten später wurde der widerspenstige Schwindler vom Schiff gebracht. Die Ähnlichkeit mit dem wirklichen Calvin Martineau war verblüffend. »Wie, um alles in der Welt…« setzte Bernard Bickel an.
Der Oberinspektor, der herbeigerufen worden war, schüttelte betrübt den Kopf. »Offensichtlich ist in den Sanierungslaboratorien für Wiederaufbau spioniert worden. Viele Sträflinge würden alle ihre Privilegien für die Verwandlung aufs Spiel setzen, um Skylark zu verlassen.« »Ich verstehe das alles überhaupt nicht«, sagte Bernard Bickel. »Wie kann das Gesicht eines Menschen in das eines anderen verwandelt werden?« »Ich weiß nicht viel über den genauen Vorgang«, erwiderte der Inspektor, »aber in den Sanierungslaboratorien sind diese Operationen nicht unbekannt. Ich glaube, es wird eine Maske von dem Gesicht angefertigt, das nachgemacht werden soll. Dann wird das zweite Gesicht durch verschiedene Injektionen formbar gemacht und in die Maske gepreßt. Vorausgesetzt, die Knochenstruktur ist nicht allzu unterschiedlich, nimmt das Fleisch vorübergehend die Züge der Maske an. Natürlich müssen der Betrüger und das Opfer ungefähr den gleichen Körperbau haben, damit die Fälschung überzeugend wird.« »Bemerkenswert!« sagte Bernard Bickel. »Nun, nun, Mr. Martineau, Sie haben wirklich Glück gehabt.« Er wandte sich wieder an den Inspektor. »Sie haben das Wort ›vorübergehend‹ gebraucht. Wie lange würde das geformte Gesicht seine Züge behalten?« »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht eine Woche.« Bernard Bickel nickte. »Und dann – wer weiß? Der Betrüger könnte eine Hautkrankheit vortäuschen und das Gesicht verbinden oder sich einen Bart wachsen lassen. Wenn wir einen anderen Hafen erreichen würden, könnte er das Schiff verlassen.« »Teuflisch!« murmelte Freifrau Isabel. »Nun denn. Es ist fast neun; wir sollten das Schiff besser schließen. Roger, bitte hör
auf, herumzuzappeln und komm an Bord, wenn du nicht zurückgelassen werden willst!« »Einen Augenblick!« rief Roger. »Du kannst jetzt nicht starten!« »Und warum nicht?« »Glaubst du nicht, daß es besser wäre, den Rest der Schiffsbesatzung zu inspizieren? Keiner weiß, wie viele von diesen Schwindlern an Bord sind.« Freifrau Isabel sah ihn verständnislos an und sagte dann mit unterdrückter Stimme: »Lächerlich!« Bernard Bickel sagte: »Wissen Sie, daß ich finde, daß er vollkommen recht hat? Wir müssen die gesamte Belegschaft des Schiffes inspizieren.« Freifrau Isabel ließ Sir Henry Rixon, Andrei Szinc und Kapitän Gondar kommen und erklärte ihnen die Lage. Kapitän Gondar sagte mürrisch: »Sie können die Mannschaft von der Liste der Verdächtigen streichen. Keiner von uns hat das Schiff verlassen, und Sie können das anhand der Aufzeichnungen des Quartiermeisters überprüfen.« Die Aufzeichnungen bestätigten Kapitän Gondars Aussage. Madoc Roswyn hatte ebenfalls keinen Fuß auf den Boden von Skylark gesetzt. Ada Francini, die reizbare Sopranistin, erklärte: »Sie glauben, ich sei jemand anders? Sie sind verrückt. Hören Sie!« Sie sang ein Stück und durchlief die Oktaven, als seien es Terzen. »Kann jemand so singen, außer Francini?« Niemand widersprach. »Außerdem«, sagte Ada Francini, »kenne ich die Stimme jedes Sängers an Bord, und ich kenne alle kleinen Geheimnisse. Geben Sie mir drei Minuten Zeit, dann zeige ich Ihnen die Sträflinge.« Während Ada Francini die Sänger überprüfte, indem sie sich eine Tonleiter oder eine Übung anhörte, geflüsterte Fragen stellte und geflüsterte Antworten erhielt, traf der Kommandant
ein und wurde über den Stand der Dinge informiert. Er war erschüttert und außer sich und bat Freifrau Isabel aufrichtig um Vergebung. Währenddessen hatte Roger Bernard Bickel beiseite gezogen. »Ich bin offenkundig echt, da ich die ganze Sache ans Licht gebracht habe. Wo hat meine Tante Sie angeworben?« »Im Rosengarten in Ballew.« »Sehr gut, Sie sind echt. Ich habe mit Martineau gesprochen. Er war zwei Tage lang gefangen. Das heißt, daß der andere Mann im Orchester zwei Tage lang die Oboe gespielt hat.« Bernard Bickel kaute auf seinem Schnurrbart. »Die Streicher würden ihm keine große Beachtung schenken, ebensowenig die Blechbläser. Aber die Holzbläser…« Roger nickte. »Genau mein Gedanke. Die Holzbläser müssen alle falsch sein.« »Ich werde mit Sir Henry reden…« »Nein!« zischte Roger. »Wenn die gesamte Holzbläsergruppe falsch ist, wie hätte das Sir Henry entgehen können?« »Sie meinen – Sir Henry?« »Offensichtlich.« Bernard Bickel sah zu der Gruppe an der Eingangsrampe hinüber. »Sie haben recht! Sir Henry ist größer. Außerdem würde er niemals schwarze Schuhe zu einem braunen Anzug tragen!« Der falsche Sir Henry hörte seinen Namen. Hastig drehte er sich um, und als er merkte, daß er unter Verdacht stand, versuchte er, zu fliehen, wurde aber eingeholt und festgehalten. »Das ist eine schändliche Tat!« rief der Kommandant aus. »Ist dir klar, daß du deportiert wirst, wenn dem richtigen Sir Henry etwas geschehen ist?« Der Schwindler grinste säuerlich. »Nur keine Angst. Ich bin vielleicht ein Versager, aber ein Narr bin ich nicht.« Er gab
Anweisungen, wo Sir Henry zu finden war, kurz darauf wurde der aufgebrachte Dirigent zum Schiff zurückgebracht. Die Lage wurde ihm erklärt, und er nickte unheilverkündend. »Falsche Musiker im Orchester können mich nicht täuschen, nicht eine Sekunde lang. Jedermann mit seinem Instrument – sofort zu mir!« Dem Harfenspieler, dem Pianisten und dem Schlagzeuger wurde gestattet, ihre Identität verbal unter Beweis zu stellen, was ihnen nach ein paar ruhigen Fragen von Sir Henry auch gelang. Die anderen Musiker hatten ihre Instrumente gestimmt und waren bereit. Einer nach dem anderen wurde von Sir Henry überprüft, einer nach dem anderen spielte kurze Stücke und Tonleitern. Wie Roger vermutet hatte, waren alle Holzbläser Fälschungen. Mit Deportation bedroht, sagten sie aus, wo die fehlenden Musiker zu finden waren und wurden im Gewahrsam der Wachen vom Schiff gebracht. Freifrau Isabel hatte die Vorgänge mit wachsender Besorgnis verfolgt. »Ich kann mich noch immer nicht sicher fühlen«, stammelte sie. »Angenommen, uns ist jemand entgangen? Gibt es nicht ein sicheres Mittel, mich zu beruhigen?« »Wir haben alle an Bord überprüft«, sagte Bernard Bickel. »Alle sind gesund und munter und über Zweifel erhaben. Ich glaube, wir haben keinen Grund, die Abreise weiter aufzuschieben. Oder, Kommandant? Irgendwelche Einwände?« Der Kommandant, der leise mit Roger gesprochen hatte, drehte sich um. »Was ist, Sir?« Bernard Bickel wiederholte seine Frage. »Sie wollen aufbrechen, nicht wahr?« sagte der Kommandant. »Nun, darüber müssen wir reden. Ma’am, fühlen Sie sich ganz in Ordnung?« Er ging zu Freifrau Isabel
hinüber und betrachtete ihr Gesicht. Dann packte er sie mit hartem Griff am Nacken und schüttelte sie wie ein Terrier eine Ratte. Herunter flog eine Perücke, und ein Schädel mit feuerroten Haaren kam darunter zum Vorschein. »Du Schurke! Wo ist Freifrau Isabel? Ist dir klar, daß du deportiert wirst, wenn ihr auch nur das kleinste Härchen gekrümmt worden ist?« »Keine Bange, die alte Schachtel ist in guter Verfassung«, sagte die nachgemachte Freifrau Isabel, nunmehr in ihrer eigenen Tonlage. Eine halbe Stunde später wurde die echte Freifrau Isabel zum Schiff zurückgebracht. »Es ist eine vollkommene und nicht zu überbietende Schande!« erklärte sie dem Kommandanten. »Ist Ihnen klar, daß ich zwei Tage lang in einer schmutzigen Räuberhöhle eingesperrt war? Banditen auf Gedeih oder Verderb ausgeliefert?« »Ich gestehe meine Schande!« erklärte der Kommandant. »Ich bin unendlich geknickt. Sie wissen natürlich, daß Sie ihre Rettung Ihrem Neffen zu verdanken haben. Ich habe keine Ahnung, wie er die Täuschung durchschauen konnte. Wieso waren Sie so sicher?« fragte er Roger. »Die Verstellung schien absolut fehlerfrei!« Roger warf Freifrau Isabel einen raschen Blick zu. »Nun – es gab ein paar kleine Fehler. Der Schwindler schien etwas zu friedlich, zu milde. Sie sagte nur ›ts, ts‹ oder etwas ähnliches, als sie erfuhr, daß Sir Henry und die Holzbläser falsch waren. Tante Isabel hätte nach siedendem Öl geschrien oder zumindest nach Deportation. Es hört sich an wie eine Kleinigkeit, aber es hat meinen Verdacht geweckt.« Freifrau Isabel schritt wütend an Bord. »Wir brechen sofort auf«, schnarrte sie über die Schulter.
Bernard Bickel lächelte matt. »Eins verstehe ich nicht. Wenn die Verkleidung nach einer Woche verschwunden wäre…« »Sie hatten die Absicht, das Schiff in ihre Gewalt zu bringen«, sagte der Oberinspektor. »Ich hatte eine kleine Unterredung mit dem Klarinettisten. Dank Mr. Wool ist die Verschwörung aufgeflogen.«
X
Einige Tage lang herrschte an Bord der Phoebus allgemeines Mißtrauen, aber schließlich waren alle beruhigt. Freifrau Isabel blieb ein paar Tage in ihrer Kabine, die sie erst verließ, als ihr die Nachricht überbracht wurde, Kapitän Gondar sei verrückt geworden. Die Botschaft, die Freifrau Isabel von der leicht erregbaren Hermilda Warn übermittelt wurde, war nicht ganz zutreffend. Kapitän Gondar war nicht verrückt geworden, er hatte lediglich versucht, Logan de Appling mit bloßen Händen umzubringen. Der Cheftechniker und Bernard Bickel hatten sich dazwischengeworfen, und Kapitän Gondar war, widerstrebend und um sich tretend, in seine Kabine geworfen und dort eingeschlossen worden. Freifrau Isabel eilte zur Brücke, und da sie sie verlassen vorfand, stieg sie in den Salon hinunter, der von aufgeregter Unterhaltung erfüllt war. Allmählich fügten sich die Ereignisse zusammen: Offensichtlich hatte Kapitän Gondar Logan de Appling ertappt, als der gerade Madoc Roswyn umarmte, und das hatte den Ausbruch ausgelöst. Freifrau Isabel hörte sich schweigend die verschiedenen Versionen des Vorfalls an, das einzige sichtbare Zeichen ihrer Erregung war ein unheilverkündendes Zusammenpressen der Lippen. »Und wo befindet sich die junge Frau jetzt?« Madoc Roswyn hatte die Abgeschiedenheit ihrer Kabine gesucht. Ramona Thoxted und Cassandra Prouty, die zufällig an der Tür vorübergegangen waren, berichteten, daß sie keinen Laut von drinnen gehört hätten. »Wenn ich so viele Schwierigkeiten und so viel Kummer verursacht hätte, wäre
ich vollkommen gebrochen«, erklärte Ramona Thoxed. »Aber ich habe keinen Ton gehört!« Roger hatte eine Erklärung parat. »Sie haben wahrscheinlich das Ohr nicht dicht genug an die Tür gehalten.« »Das genügt, Roger«, sagte Freifrau Isabel scharf. Bernard Bickel kehrte aus der Krankenstation zurück, und Freifrau Isabel zog ihn beiseite, um sich mit ihm zu beraten. Bernard Bickels Bericht der Ereignisse stimmte ungefähr mit dem überein, was Freifrau Isabel bereits gehört hatte. »Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll!« sagte sie ärgerlich. »Ich war auf Schwierigkeiten und Mißverständnisse gefaßt, aber es sieht wirklich so aus, als hätten wir mehr davon, als uns zusteht. Ein beträchtlicher Teil führt uns zu dem Mädchen Roswyn. Ich hätte sie auf dem Siriusplaneten davonjagen sollen!« »Manche Leute scheinen Schwierigkeiten geradezu anzuziehen«, pflichtete Bernard Bickel ihr bei. »Aber was auch immer die Ursache ist, die Wirkung ist jedenfalls, daß wir augenblicklich ohne Kapitän sind.« Freifrau Isabel winkte ungeduldig ab. »Das macht nicht viel aus, Mr. de Appling kann unseren Kurs bestimmen, und Henderson ist sehr wohl in der Lage, Kapitän Gondars Aufgaben zu übernehmen. Ich bin vor allem in Sorge wegen Rlaru. Wenn Kapitän Gondar zu verwirrt oder durcheinander oder widerspenstig ist, um uns hinzuführen, werden wir ernsthafte Unannehmlichkeiten bekommen.« Bernard Bickel dachte nach. »Meiner Meinung nach sollten wir erst abwarten, bis sich der Sturm gelegt hat. Wenn Kapitän Gondar sich beruhigt hat, wird er wieder zu Verstand kommen – schließlich ist es sein Vorteil, wenn er uns nach Rlaru bringt. Inzwischen kann der junge de Appling uns zum nächsten Ziel auf unserer Reiseroute bringen, und das ist, soweit ich mich
erinnere, der unter dem Namen Swannickstern bekannte Planet.« »Ja. Eine verkommene, schmutzige kleine Welt, die in den Feudalismus zurückgefallen ist.« Bernard Bickel zog die Brauen hoch. »Ich war immer der Meinung, es sei eine reizende Welt, altmodisch und anheimelnd.« Freifrau Isabel lächelte unsicher. »Das kann gut sein, Bernard. Ich bin in so furchtbarer Stimmung, daß mir der Garten Eden wie ein Pestloch vorkommen würde. Trotz unserer unleugbaren Erfolge bin ich ein ganz klein wenig entmutigt.« Bernard Bickel stieß ein lautes Gelächter aus. »Kommen Sie, so spricht man nicht! Denken Sie an den Erfolg, den wir auf Skylark hatten!« Freifrau Isabel schloß die Augen. »Sprechen Sie nicht von diesem Planeten! Wenn ich an die unerhört rohe Behandlung denke, der ich ausgesetzt war, die Flüche, die Verspottungen, die groben Scherze… Aber ich will mich nicht mit diesem Zwischenfall befassen. Erfolg, ja – in gewisser Weise. Vergessen Sie jedoch nicht, daß das Erdenbewohner waren, die nach Musik lechzten, und das ist nicht die Art von Erfolg, die ich mir erhofft hatte. Und Swannickstern ist im Grunde ziemlich ähnlich.« »Danach werden wir Rlaru erreichen«, sagte Bernard Bickel. »Das ist mir klar – aber gibt es keine anderen kultivierten Rassen im Universum?« Bernard Bickel zuckte die Achseln. »Ehrlich gesagt, ich kenne keine.« »Ich fürchte, wir müssen uns an unsere Reiseroute halten«, sagte Freifrau Isabel resignierend. »Dort ist Mr. de Appling, würden Sie ihn bitte herüberholen?«
Bernard Bickel winkte Logan de Appling heran. Freifrau Isabel betrachtete ihn kalt. »Ich sehe, Sie sind nicht ernsthaft verletzt?« »Ich scheine mit dem Leben davongekommen zu sein«, lachte de Appling unsicher. Er war ein hochgewachsener, blonder junger Mann mit unbeschwertem, selbstsicherem Auftreten; es barg kein Geheimnis, warum Madoc Roswyn ihn Kapitän Gondar vorgezogen haben mochte. »Die nächste Station auf unserem Weg ist Swannickstern«, sagte Freifrau Isabel. »Ich habe die Beschreibung des Planeten vergessen, aber ohne Zweifel haben Sie Zugang zu den in Frage kommenden Quellen.« »Oh ja, natürlich.« Logan de Appling verhielt sich für Freifrau Isabels Geschmack etwas zu forsch. »Kapitän Gondar hat sich entschlossen, ein paar Tage auf seiner Kabine zu bleiben«, sagte sie mit ihrer allerförmlichsten Stimme. »Sie werden deshalb für die Astrogation die Verantwortung tragen.« Logan de Appling machte eine seiner unbeschwerten, selbstsicheren Gesten. »Kein Problem; ich werde Sie zur Großen Magellanschen Wolke bringen, wenn Sie wollen. Sagten Sie Swannickstern?« »So ist es.« »Würden Sie mir gestatten, einen Vorschlag zu machen?« »Selbstverständlich.« »Nicht weit von hier gibt es eine Welt, die erst ein- oder zweimal von Menschen betreten worden ist. Soweit ich gehört habe, ist dieser Planet von großartiger Schönheit und von menschenähnlichen Wesen mit hohem kulturellem Standard bewohnt.« Bernard Bickel fragte: »Liegt diese Welt in der Hydra?« Logan de Appling stutzte. »Ja, tatsächlich.«
»Und wo haben Sie von dieser Welt gehört?« fragte Freifrau Isabel. »Von verschiedenen Seiten«, wand sich Logan de Appling. »Sie sind sich alle darüber einig, daß…« Freifrau Isabel beharrte erbarmungslos auf dem Thema. »Würden Sie so gut sein, uns diese verschiedenen Seiten näher zu beschreiben?« Logan de Appling kratzte sich am Kopf. »Lassen Sie mich nachdenken… ich glaube, einer der Astrogationsgehilfen…« »Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen: Hat Madoc Roswyn diesen Planeten vor Ihnen zur Sprache gebracht?« Logan de Appling errötete. »Nun, ja. Sie hat wirklich etwas darüber gehört. Wir waren uns einig, daß ich Ihnen von dem Planeten erzähle.« »Kurzum«, sagte Freifrau Isabel mit ihrer kältesten Stimme, »sie hat darauf bestanden, daß Sie einen Besuch dieses Planeten vorschlagen.« »Also – ich würde es nicht so ausdrücken.« »Sie können Madoc Roswyn mitteilen, daß wir unter keinen Umständen die halbe Galaxis durchqueren, um ihren Launen nachzugeben. Wir werden diese Welt nicht besuchen. Bitte erwähnen Sie sie nicht mehr.« Logan de Applings Gesicht glühte vor Wut. »Wie Sie wünschen.« »Nun seien Sie bitte so freundlich, sicherzustellen, daß wir uns auf dem Kurs befinden, der uns auf schnellstem Wege zum Swannickstern bringt.« Logan de Appling verbeugte sich und ging hocherhobenen Hauptes davon.
Einige Tage vergingen, und Kapitän Gondar ließ sich noch immer nicht sehen. »Lassen Sie ihn im eigenen Saft
schmoren«, riet Bernard Bickel. »Je länger er dort sitzt, desto zugänglicher wird er für vernünftige Argumente sein.« Freifrau Isabel stimmte zweifelnd zu. »Wirklich ein seltsamer Mann. Aber wir können nicht unsere Zeit damit vertun, daß wir sein Verhalten analysieren… Glauben Sie, daß unser Publikum auf Swannickstern sich ausschließlich aus der Oberschicht zusammensetzt, Bernard? Wenn es so ist, würde ich dazu neigen, Fidelio noch einmal aufzuführen – oder finden Sie, daß wir Wagner versuchen sollten?« »Beides wäre außerordentlich passend«, sagte Bernard Bickel. »Doch könnten wir Puccini zumindest in Erwägung ziehen…« Er hielt inne, als Logan de Appling den Salon betrat. Freifrau Isabel winkte ihn herbei: Der junge Astrogator trat, widerstrebend, wie es schien, näher. »Wie lange dauert es noch, bis wir Swannickstern erreichen, Mr. de Appling?« fragte Freifrau Isabel. »Mir scheint es eine nicht enden wollende Reise, und ich kann keine Sterne auf den Fadenkreuzen entdecken.« »Ganz richtig; hier gibt es eine Ätherströmung, die man nicht außer acht lassen darf… Wir werden sicher noch ein paar Tage…« »Meine Güte!« rief Bernard Bickel aus. »Ich hatte keine Ahnung, daß Swannickstern so weit entfernt ist!« »Ruhen Sie sich aus und genießen Sie den Ausblick!« Logan de Appling lächelte auf Freifrau Isabel hinunter und verließ den Salon. Drei Tage später war Kapitän Gondar noch immer nicht aufgetaucht, und Freifrau Isabel entschloß sich endlich, ihn um Rat zu bitten. Als sie mit Bernard Bickel die Brücke überquerte, standen Logan de Appling und Madoc Roswyn beieinander und unterhielten sich angeregt. Beim Anblick von Freifrau Isabel verstummten sie plötzlich.
Freifrau Isabel ging zum Sichtschirm hinüber, auf den das Phasenverschiebungssystem ein Bild des Kosmos projizierte. Sie überprüfte die Fadenkreuze und wandte sich an Logan de Appling. »Ist Swannickstern die grünliche Sonne genau vor uns?« fragte sie. »Das kann nicht sein«, sagte Bernard Bickel. »Swannickstern ist ein oranger Zwerg!« »Sehr richtig«, sagte Logan de Appling munter. »Wir müssen die Raumabweichung berücksichtigen und die galaktische Umdrehung, die in diesem Gebiet beträchtlich ist.« »Wir müßten ganz bestimmt dichter an unserem Ziel sein!« sagte Freifrau Isabel. »Sind Sie sich Ihrer Berechnungen ganz sicher, Mr. de Appling?« »Selbstverständlich! So weit fort von zu Hause würde ich mich nicht gerne verirren!« Freifrau Isabel schüttelte verwirrt den Kopf. Nachdem sie die Brücke hinter sich gelassen hatte, klopfte sie an Kapitän Gondars Tür. »Ja?« ertönte eine mürrische Stimme von innen, »wer ist da?« »Ich bin es«, sagte Freifrau Isabel. »Ich möchte ein paar Worte mit Ihnen reden.« Die Tür flog auf, Kapitän Gondar steckte den Kopf heraus. Er war eingefallen, seine Augen brannten, schwarze Bartstoppeln bedeckten Kinn und Wangen. »Also?« schnarrte er. »Was wollen Sie?« »Ich würde gerne die Astrogation überprüfen«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Ich traue Mr. de Applings Beurteilung nicht ganz. Mir scheint, wir hätten Swannickstern längst erreichen müssen.« Mit vier großen Schritten war Kapitän Gondar auf der Brücke. Er warf einen Blick auf den Sichtschirm und stieß ein rauhes Lachen aus. Er schwieg, lachte dann noch einmal auf, bis Freifrau Isabel sich fragte, ob er tatsächlich wahnsinnig
geworden sei. Sie warf einen Blick auf de Appling, der steif und mit geröteten Wangen abseits stand. Dann drehte sie sich wieder zu Kapitän Gondar um. »Warum lachen Sie?« Gondar deutete auf den Schirm. »Sehen Sie den Rand der Milchstraße? Und den Stern dort drüben rechts? Wenn das nicht Alphart ist, dann bin ich ein Narr. Und das führt uns in die Hydra.« »Das muß ein furchtbarer Irrtum sein«, stammelte Freifrau Isabel. »Swannickstern befindet sich im Stier.« Erneut stieß Kapitän Gondar sein rauhes, krächzendes Gelächter aus. »Kein Irrtum.« Er deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Madoc Roswyn. »Darum befinden wir uns in der Hydra.« Freifrau Isabel war sprachlos. Sie blickte entgeistert von Madoc Roswyn zu Logan de Appling und zurück zu Kapitän Gondar. »Wollen Sie damit sagen… kann es wahr sein…« »Er hat einen kleinen Ausflug mit Ihnen gemacht. Seien Sie nicht zu hart mit ihm. Ich glaube nicht, daß ein Mann aus Fleisch und Blut ihr widerstehen kann. Sie ist eine unheilbringende walisische Hexe. Wenn ich Sie wäre, würde ich sie in den Raum hinausstoßen und sie dort schweben lassen.« Freifrau Isabel fuhr herum. Mit furchtbarer Stimme fragte sie: »Ist das wahr, Mr. de Appling?« »Ja.« »Kapitän, wenden Sie das Schiff. Dann schließen Sie diese beiden in ihre jeweiligen Kabinen.« Gondar sagte: »Schließen Sie Mr. de Appling nicht ein. Er ist nur ein kleiner Hanswurst. Lassen Sie ihn arbeiten. Wenn er auch nur einen Millimeter abweicht, werde ich ihn erwürgen. Aber schließen Sie sie ein. Halten Sie sie außer Sichtweite der Männer, sonst macht sie von ihrem Zauber Gebrauch.«
»Also gut. Miss Roswyn, in Ihre Kabine. Ich habe keine Ahnung, was ich mit Ihnen machen soll.« »Setzen Sie mich in ein Rettungsboot, und lassen Sie mich damit gehen.« Freifrau Isabel starrte sie an. »Meinen Sie das ernst?« »Ja.« »Ich werde natürlich«, sagte Freifrau Isabel, »nichts dergleichen tun. Es wäre reiner Mord. In die Kabine, bitte.« Madoc Roswyn entfernte sich langsam von der Brücke. »Was Sie betrifft«, wandte sich Freifrau Isabel an Logan de Appling, »so wird Kapitän Gondar diesen Zwischenfall im Logbuch festhalten. Sie werden keinen Lohn erhalten, und ich werde alles tun, um sicherzustellen, daß Sie nie wieder eine Anstellung als Astrogator finden.« Logan de Appling erwiderte nichts. Das Firmament rutschte über den Bildschirm, als Kapitän Gondar die Phoebus um ihre Achse drehte.
Vier Stunden später klopfte Roger an Madoc Roswyns Tür. Langsam öffnete sich die Tür, und sie sah ihn an. »Darf ich hereinkommen?« fragte Roger. Schweigend und teilnahmslos trat sie zurück. Roger setzte sich auf die Koje. »Hast du schon gegessen?« »Ich habe keinen Hunger.« Sie durchquerte die kleine Kabine und lehnte sich gegen die Wand. »Wenn ich nur wüßte, warum du all das getan hast«, sagte Roger zaghaft. »Ich kann es nicht verstehen. Wie kann jemand so falsch und treulos sein – es sei denn, er hat einen schwerwiegenden Grund?« Madoc Roswyn schien kaum zuzuhören. Sie sagte mit leiser Stimme: »Glaubst du, daß deine Tante mich…« dann seufzte
sie und machte eine hilflose Geste. »Ich weiß, daß sie es nicht tun wird.« »Mir ist klar, daß du nur vorgegeben hast, mich zu lieben«, fuhr Roger fort, »um an Bord des Schiffes zu gelangen… Und ebenso ist es mit Kapitän Gondar und dem Esel de Appling…« Madoc Roswyn nickte niedergeschlagen. »Ja. Ich habe nur so getan. Ich hatte keine andere Wahl.« »Aber warum? Wenn ich nur verstehen könnte warum, würde ich vielleicht nicht so schlecht von dir denken.« Madoc Roswyn sah mit dem Anflug eines Lächelns zu ihm herüber. »Denkst du schlecht von mir, Roger?« Er nickte. »Ja. Es ist demütigend, wenn man benutzt wird.« »Ich kann nicht mehr sagen, Roger, als daß es mir leid tut. Wirklich. Aber ich würde es wieder tun«, fügte sie mit leiser Stimme hinzu, »wenn es etwas nützen würde… Aber das wird es nicht.« »Nein. Nicht mehr. Sag mir, warum.« »Nein… ich glaube nicht, daß ich das tue.« »Warum nicht?« »Weil ich verschwiegen bin. Ich entstamme einem verschwiegenen Volk. Mein ganzes Leben lang hatte ich Geheimnisse, von denen du nicht träumen würdest.« »Ohne Zweifel«, sagte Roger wehmütig. »Ohne Zweifel.« Sie ließ sich schüchtern neben ihm auf der Koje nieder. Roger neigte sich, als sei er Eisen und sie ein Magnet. Mit Mühe richtete er sich wieder in seine ursprüngliche Stellung auf. Nach einer kurzen, nachdenklichen Pause fragte er: »Ist dieser Planet in der Hydra eines deiner Geheimnisse?« »Ja.« »Wenn die Phoebus diesen Planeten besuchen würde, wäre er nicht länger geheim.« Nun war es an Madoc Roswyn, nachzudenken. »Das ist mir nie in den Sinn gekommen. Aber du darfst meine Herkunft
nicht vergessen. Ich bin daran gewöhnt worden, Geheimnisse zu bewahren.« »Heimlichkeit ist ein verächtliches Laster«, sagte Roger. »Ich habe überhaupt keine Geheimnisse.« Madoc Roswyn lächelte traurig. »Du bist wirklich ein bewundernswerter Mensch, Roger. Nun gut. Ich werde dir mein Geheimnis erzählen. Es ist jetzt allein meines, weil niemand mehr da ist, es mit mir zu teilen. Und da wir Yan nicht anlaufen, wird weder mir noch dir jemand Glauben schenken.« »Ist ›Yan‹ der Name dieses Planeten?« »Yan…« Sie hauchte den Namen mit inbrünstiger Achtung und Liebe. »Es ist meine Heimat hinter den Sternen. So nahe jetzt, und doch so fern.« Roger runzelte überrascht die Stirn. »Ist das walisische Überlieferung? Es tut mir leid, wenn ich unwissend erscheine, aber ich habe nie zuvor davon gehört.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin keine Waliserin. Vor langer, langer Zeit – dreißigtausend Jahre…« Sie sprach eine Stunde lang, und durch Rogers Kopf wirbelten die Wunder, die ihr leicht über die Lippen gingen. Einzelheiten und nähere Erläuterungen beiseite gelassen, war ihre Geschichte ganz einfach. Vor dreißigtausend Jahren hatte ein Erdenvolk ein schönes Land bewohnt, dessen genaue Lage keiner mehr kannte – einige glaubten, es sei Grönland, andere waren überzeugt, daß es im Golf von Biskaya versunken war. Sie entwickelten sich zu einer Zivilisation, deren vielschichtiges Gefüge von keiner nachfolgenden übertroffen wurde. Während einer Periode der Dekadenz rüstete eine geheimnisvolle Gruppe ein Raumschiff aus und verließ die Erde. Nach einer heldenhaften Reise landeten sie auf Yan, das sie zu ihrer Heimat erkoren. Und was wurde aus der einst so edlen Zivilisation, die sie hinter sich ließen? Niemand hat je
ihr Schicksal erfahren. Offensichtlich verausgabte sie sich vollkommen und zerfiel. Auf Yan begann ein neues Zeitalter, voller Fortschritte und Rückschritte, düsterer Abschnitte, Erneuerungen, Höhepunkte und Nachlesen. Vor zwei Jahrhunderten entschloß sich dann eine weitere abtrünnige Gruppe, zur Erde zurückzukehren. Ihre Landung auf der Insel Man war eine Katastrophe, bei der das Schiff und alle Insassen, außer einigen wenigen, vernichtet wurden. Diese flohen vor der mißtrauischen Verfolgung durch die Bewohner von Man und ließen sich in Wales nieder, wo sie durch mehrere Generationen hindurch die abgeschiedenen Täler von Merioneth bebauten. Das waren Madoc Roswyns Vorfahren, die an ihren Traditionen festhielten, ihren Kindern die Geschichte von Yan einflüsterten und sich der vollkommenen Verschwiegenheit verschrieben. Sie lebten nur in dem Gedanken, nach Yan zurückzukehren und pflanzten dieses Verlangen in ihre Kinder. Eines davon war Madoc Roswyn, die letzte ihrer Sippe. In ihrer Sehnsucht nach Yan hatte sie sich Rogers Verwirrtheit zunutze gemacht, um sich einen Platz auf der Phoebus zu verschaffen. Sie war am Ende ihrer Geschichte angelangt. Sie hatte es versucht und war gescheitert; Yan war für immer für sie verloren. Roger verharrte einen Augenblick lang schweigend, dann stieß er einen Seufzer aus. »Ich werde dir helfen, soweit es in meiner Macht steht. Wenn es mir gelingt, heißt es, daß ich dich für immer verliere – aber nicht wirklich, denn ich kann nichts verlieren, das ich nie besaß… Ich werde mit meiner Tante sprechen.« Madoc Roswyn erwiderte nichts, aber als Roger hinausging, warf sie sich auf die Koje und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die unter ihren Lidern hervorquollen.
Roger fand Freifrau Isabel auf der Brücke, wo sie versuchte, den genauen Standort von Rlaru von dem finsteren, mißmutigen Kapitän Gondar zu erfahren. Seine einsilbige Erwiderung auf ihre Vorhaltungen lautete: »Alles zu seiner Zeit, alles zu seiner Zeit.« Roger machte sich bemerkbar und bat Freifrau Isabel um ein Gespräch unter vier Augen. Ohne große Begeisterung stimmte sie zu und führte ihn zu ihrer Kabine. Hier sagte er, während er unruhig auf und ab lief: »Ich weiß, daß du mich für einen Versager hältst und mir wenig Urteilsvermögen zugestehst.« »Habe ich nicht allen Grund dazu?« fragte Freifrau Isabel mit schneidender Schärfe. »Du hast diese furchtbare junge Frau an Bord der Phoebus gebracht. Sie hat die gesamte Tournee durcheinandergebracht!« »Ja«, sagte Roger. »Das ist wahr. Ich habe gerade die Beweggründe für ihre Handlungsweise erfahren. Es ist eine seltsame Geschichte, und ich möchte, daß du sie dir anhörst.« »Roger, ganz so naiv bin ich nicht. Es würde nichts ändern.« »Sie ist nicht, was du von ihr hältst«, sagte Roger, »und der Grund, warum sie gerade diese Welt sehen möchte, ist erstaunlich.« »Ich habe nicht den Wunsch, erstaunt zu werden«, knurrte Freifrau Isabel. »Mir reichen die Überraschungen… Ich fürchte, ich muß aus reiner Gerechtigkeit mit diesem unglückseligen Mädchen reden. Wo ist sie?« »In ihrer Kabine. Ich werde sie holen.« Madoc Roswyn widerstrebte es sehr, mit Freifrau Isabel zu sprechen. »Sie haßt mich. Sie ahnt Dinge in mir, die sie nicht verstehen kann, die sie nicht verstehen will. Sie würde mir nur zuhören, um Wasser auf die Mühlen ihres Spottes zu gießen.« »Komm schon«, sagte Roger. »Ist es nicht einen Versuch wert? Was hast du zu verlieren? Erzähl ihr einfach, was du mir erzählt hast. Wie könnte sie nicht beeindruckt sein?«
»Nun gut«, sagte Madoc Roswyn. »Ich werde es tun… Laß mich noch das Gesicht waschen.« Roger brachte Madoc Roswyn zu Freifrau Isabel und zog sich bescheiden auf den Korridor zurück. In der folgenden Stunde hörte er den sanften Gesang von Madoc Roswyns Stimme, gelegentlich unterbrochen von einer schroffen Frage oder Bemerkung Freifrau Isabels. Schließlich schien es ihm geraten, einzutreten, und weder Freifrau Isabel noch Madoc Roswyn schienen von seiner Anwesenheit Notiz zu nehmen. Schließlich beendete Madoc Roswyn ihre Geschichte, und Freifrau Isabel verharrte in Schweigen und trommelte mit den Fingern auf die Lehne ihres Stuhles. »Was Sie mir da erzählt haben, ist außerordentlich interessant«, sagte sie endlich. »Ich kann es nicht leugnen. Obwohl ich Ihre Handlungsweise niemals gutheißen werde, gebe ich zu, daß Sie ein überzeugendes Motiv vorgebracht haben – vorausgesetzt, daß es sich als wahr erweist. Wirklich interessant…« Sie warf Roger ein mißmutiges Lächeln zu. »Nun – sture Engstirnigkeit ist ein Fehler, den man mir nie vorwerfen konnte.« Sie wandte sich wieder an Madoc Roswyn. »Erzählen Sie mir mehr von dem Planeten, den dortigen Gebräuchen und Einrichtungen.« Madoc Roswyn schüttelte unsicher den Kopf. »Ich wüßte nicht, wo ich beginnen sollte. Die Geschichte der Erde ist sechstausend Jahre alt, die Geschichte von Yan ist fünfmal so lang.« »Lassen Sie mich folgendes fragen: Ist in Ihren Überlieferungen von Kunst und Musik die Rede?« »Oh ja, natürlich.« Madoc Roswyn sang ein eigenartiges kleines Lied in einer fremden Sprache. Die Melodie, der Rhythmus, das Silbenmaß entsprach menschlicher Wahrnehmung und menschlichem Sehnen – soviel war intuitiv klar –, vermittelte aber auch etwas, das keine irdische Entsprechung hatte: kurz gesagt, die Musik eines anderen
Planeten. »Das ist ein Kinderlied«, sagte Madoc Roswyn. »Seit ich mich erinnern kann und auch vorher wurde ich mit diesem Lied in den Schlaf gesungen.« Freifrau Isabel gab Roger ein Zeichen. »Bitte, sag Kapitän Gondar, er soll so freundlich sein, einen Augenblick hereinzukommen.« Kapitän Gondar erschien. Freifrau Isabel sagte mit klarer, kühler Stimme: »Ich habe mich entschlossen, Miss Roswyn zum Planeten Yan zu bringen. Sie hat mit großem Eifer und mit Mitteln, die ich nicht weiter erwähnen will, versucht, dieses Ziel zu erreichen. Ich bin nicht vollkommen überzeugt, daß ich die genaue und ganze Wahrheit erfahren habe, aber Miss Roswyn hat mein Interesse in einem solchen Maße geweckt, daß ich den Wünsch habe, die Wahrheit zu erfahren. Setzen Sie also neuen Kurs, Kapitän, auf Yan, wie der Planet meines Wissens nach heißt.« Kapitän Gondar warf Madoc Roswyn einen finsteren Blick zu. »Sie ist falsch und treulos, sie kennt alles Böse, das man in den fernen walisischen Bergen lernen kann. Sie werden den Tag bereuen, an dem sie Sie verführt hat.« »Das ist möglich«, sagte Freifrau Isabel. »Trotzdem, nach Yan.« Madoc Roswyn wartete schweigend, bis Kapitän Gondar sich entfernt hatte. Dann wandte sie sich an Freifrau Isabel. »Ich danke Ihnen«, sagte sie und verließ die Kabine.
XI
Wieder stand diese grünlich-weiße Sonne im Fadenkreuz, die im Sternführer als Hydra GRA 4442 verzeichnet ist. Die Geschichte, die Madoc Roswyn erzählt hatte; hatte die Runde in der Phoebus gemacht und war, wie vorauszusehen, auf Ungläubigkeit gestoßen. Es herrschte allgemeine Übereinstimmung darüber, daß der Ausgang mit Sicherheit dramatisch sein würde, ob man nun eine jahrhundertealte Zivilisation auf Yan antreffen würde oder nicht, und die Atmosphäre war voll gespannter Erwartung. Der grüne Stern flimmerte groß und bewegte sich seitwärts: Im Fadenkreuz stand ein Planet von Erdengröße, durchaus im Bereich der Bewohnbarkeit. Die Phoebus glitt aus dem Sternantrieb in einen Annäherungsumlauf. Auf der Brücke starrten Freifrau Isabel, Kapitän Gondar, Madoc Roswyn und Roger auf den Bildschirm und beobachteten, wie Yan sich majestätisch unter ihnen drehte. Ohne Frage war es ein wunderschöner Planet, der Erde nicht unähnlich. Meere und Kontinente, Berge und Wüsten, Wälder und Steppen und Eiswüsten waren zu sehen, und das Analysegerät zeigte atembare Luft an. Kapitän Gondar sagte mit betont ausdrucksloser Stimme: »Keine Erwiderung unseres Sendesignals – wir können auf keiner Wellenlänge irgendwelche Signale auffangen.« »Seltsam«, sagte Freifrau Isabel. »Lassen Sie uns die Oberfläche aus der Nähe untersuchen. Können Sie die Vergrößerung auf dem Schirm steigern?« Kapitän Gondar stellte den Sichtschirm ein, die Oberfläche schien näher heranzuschnellen.
Madoc Roswyn deutete darauf. »Ich erkenne diese Kontinente. Das ist Esterlop und Kerlop, und dort im Norden liegt Noauluth. Diese große Insel ist Drist Amiamu, die kleineren dort sind die Suthore Stil. Die langgestreckte Halbinsel heißt Drothante, auf deren südlichster Landspitze sechs große Tempel stehen.« Sie betrachtete aufmerksam das vergrößerte Bild, aber auf der Spitze der langen Halbinsel war keine Spur der Tempel zu sehen, von denen sie gesprochen hatte. »Das verstehe ich nicht«, murmelte sie leise. »Es sieht alles anders aus, als… Wo ist Dilicet? Thax? Koshiun?« »Ich kann kein sichtbares Zeichen von Zivilisation entdecken«, sagte Freifrau Isabel trocken. »Dort sehe ich Ruinen«, deutete Roger hinunter. »Oder zerklüftete Flecken, die wie Ruinen aussehen.« »Dort unten, neben der Bucht, wo der Wald sich über die Berge zieht – dort meinte ich, Sansue zu finden, die Stadt meiner Vorfahren. Aber wo? Noch mehr Ruinen?« »Wenn es Ruinen sind, dann sind sie es durch und durch«, sagte Roger. »Es scheint kein Stein mehr auf dem anderen zu stehen.« »Aus dieser Höhe und durch soviel Luft und Dunst sind die Einzelheiten trügerisch«, sagte Kapitän Gondar widerwillig. »Ich glaube nicht, daß man eine Stadt von Ruinen unterscheiden könnte.« »Ich sehe keinen Grund, warum wir nicht landen sollten«, sagte Freifrau Isabel, »unter Berücksichtigung der notwendigen Vorsicht natürlich.« Die Phoebus schwenkte in die Landebahn ein, und kurze Zeit später wurden Einzelheiten auf der Oberfläche erkennbar. Städte gab es nicht, nur einen Haufen zerbröckelnder Steine, riesige Weiten verbrannter Erde, Kohle und Geröll. Freifrau
Isabel sagte, an Madoc Roswyn gewandt: »Sind Sie sicher, daß das der richtige Planet ist?« »Ja, natürlich. Etwas Furchtbares ist geschehen!« »Nun, das werden wir bald herausfinden. Das Gebiet neben der Bucht ist die Heimat Ihrer Vorfahren?« Madoc Roswyn bejahte es unsicher. Freifrau Isabel nickte Kapitän Gondar zu, und die Phoebus ging eine Meile östlich der Stadt Sansue nieder, auf einer steinigen Ebene, weniger als hundert Meter von einem dichten Wald entfernt. Das fast unspürbare Vibrieren der verschiedenen Maschinen erstarb, dann war es still. Die Analysegeräte zeigten eine angenehme Atmosphäre an, die Ausstiegsluke öffnete sich, die Rampe berührte die Erde von Yan. Kapitän Gondar, Freifrau Isabel und Madoc Roswyn traten, gefolgt von Bernard Bickel, Roger und dem Rest des Ensembles, langsam hinaus. Eine halbe Stunde lang standen sie in der seltsam duftenden Luft von Yan, während die grünweiße Sonne am Horizont versank. Es herrschte tiefe Stille, die nur von den leisen Stimmen der Leute von der Phoebus unterbrochen wurde. Madoc Roswyn stieg auf einen kleinen Hügel und blickte nach Westen in das Zwielicht. Hier und da erhoben sich kleine, mit Gras und Strauchwerk überwachsene Wälle, es konnten Ruinen sein, aber die Dämmerung verwischte alle Einzelheiten. Die leichte Brise, die über die Ebene wehte, war von einem seltsamen, moderigen Geruch erfüllt, der von den Pflanzen oder vom Ufer herrühren mochte oder auch von den bewachsenen Wällen selbst. Madoc Roswyn setzte sich langsam in Bewegung, als wolle sie in die Ebene hinunterlaufen, aber Roger, der leise hinter sie getreten war, nahm sie am Arm. »Nicht in der Dunkelheit. Es könnte gefährlich sein.«
»Ich verstehe das alles nicht«, murmelte sie angstvoll. »Was ist mit Yan geschehen?« »Vielleicht stimmen die Überlieferungen deines Volkes nicht.« »Das ist unmöglich! Mein ganzes Leben lang habe ich den Vorsatz in mir getragen, diese Stadt aufzusuchen – ich kenne sie so genau, wie du eine Stadt auf der Erde kennst. Ich kenne die Straßen, die Plätze, die Häuser. Ich könnte das Viertel finden, in dem meine Vorfahren wohnten, bevor sie aufbrachen, vielleicht sogar das Haus… Nun gibt es nichts mehr als Ruinen.« Roger zog sie sanft zum Schiff. »Es wird dunkel.« Sie folgte ihm widerstrebend. »Jedermann an Bord haßt mich… Sie denken schrecklich schlecht über mich – und nun halten sie mich auch noch für eine Närrin.« »Natürlich nicht«, sagte Roger beruhigend. »Im schlimmsten Fall ist dir unwissentlich ein Irrtum unterlaufen.« Madoc Roswyn hob die Hand. »Horch!« Aus dem Wald drang ein leise angestimmtes Heulen, das aus einer menschlichen Kehle hätte stammen können. Eine Fülle von Obertönen schwang darin mit, und es rief in Roger ein unbeschreibliches Gefühl hervor. Er zog heftiger an Madoc Roswyns Arm. »Laß uns zum Schiff zurückgehen.« Sie ging mit ihm, dann umrundeten sie das Schiff bis zur Eingangsrampe, wo eine Gruppe von Leuten versammelt war, die zum Wald hinüberblickte, erfüllt von der fast angenehmen Furcht vor dem Unbekannten. Wieder ertönte das tiefe Klagen, vielleicht ein klein wenig näher. Das Zwielicht war nun fast vorüber, nur noch ein schwacher olivgrüner Schimmer war im Westen zu sehen. Die Scheinwerfer des Schiffes leuchteten auf, erhellten den Umkreis des Schiffes und tauchten die kleine Gruppe in Licht. Vom Wald war ein Geräusch zu hören, das Flüstern von,
aufgewirbelter Luft, dann schlug ein Stein, nur einen Meter von Roger entfernt, auf. Alle wichen zum Schiff zurück und eilten dann die Rampe hinauf.
Am Morgen besprach Freifrau Isabel mit Madoc Roswyn, Bernard Bickel und Roger die Lage. Sie hatte nicht gut geschlafen und sprach sehr schroff. »Die Umstände entsprechen nicht meiner Erwartung, und ich gebe zu, daß ich völlig unschlüssig bin in bezug auf unser weiteres Vorgehen.« Dann blickte sie von einem zum anderen. »Wir könnten vielleicht ein Rettungsboot ausschicken, um den Planeten zu erkunden«, schlug Bernard Bickel nachdenklich vor. »Zu welchem Zweck?« fragte Freifrau Isabel. »Wir haben von der Aufklärungsumlaufbahn aus keine Städte gesehen, nicht einmal Ansammlungen primitiver Zivilisation.« »Das ist wahr.« Freifrau Isabel wandte sich an Madoc Roswyn. »Sie sind sicher, daß dies der richtige Planet ist?« »Ja.« »Seltsam.« »Es scheint eine beträchtliche Anzahl von Ruinen zu geben«, schaltete sich Roger ein. »Es könnte sein…« seine Stimme erstarb. »Was könnte sein, Roger?« fragte seine Tante mit schneidender Schärfe. »Ich bin mir nicht sicher.« »Dann ist deine Bemerkung überflüssig. Bitte, lenk nicht ab. Wir haben auch so schon genügend Verwirrung. Obwohl ich nicht unbedingt an Miss Roswyns Worten zweifle, besteht die Möglichkeit, daß sie sich irrt. In jedem Fall ist das Ergebnis
unter dem Strich dasselbe: Wir haben uns für ein sinnloses Unternehmen weit von unserer Route entfernt.« Madoc Roswyn erhob sich und verließ den Raum. Roger warf Freifrau Isabel einen finsteren Blick zu. »Offensichtlich hat es eine Zivilisation hier gegeben, irgendwann, auf irgendeine Weise.« »Darüber können wir nur Vermutungen aufstellen. Eines mußt du lernen, Roger, nämlich, daß müßiges Philosophieren dich niemals ernähren wird.« Bernard Bickel schaltete sich taktvoll ein. »Worauf Roger hinaus will, ist, daß es Ruinen hier im Umkreis zu geben scheint – und ohne jeden Zweifel gibt es bewußt denkendes Leben in dem Wald. Ich persönlich bin gewillt, anzunehmen, daß Madoc Roswyn uns in gutem Glauben hierher gebracht hat.« »Miss Roswyns guter Glauben oder das Fehlen desselben steht hier im Augenblick nicht zur Debatte«, stieß Freifrau Isabel hervor. »Was mich betrifft…« Der Messesteward erschien in der Tür. »Miss Roswyn hat das Schiff verlassen«, verkündete er hastig. »Sie ist in den Wald gegangen!« Roger rannte aus dem Salon, hastete blindlings den Korridor entlang und die Rampe hinunter. Hier stieß er auf eine Gruppe Musiker, die sich gesonnt hatte, nun aber unsicher zum Wald hinüberblickte. »Was ist passiert?« fragte Roger. »Das Mädchen ist verrückt geworden!« berichtete ein Cellist. »Sie kam aus dem Schiff, starrte in den Wald, und dann, bevor wir sie noch aufhalten konnten, rannte sie einfach davon – dort hinein.« Er deutete in die Ferne. Roger machte ein paar vorsichtige Schritte auf den Wald zu, blickte angestrengt in die düsteren Schatten. Die Bäume ähnelten denen auf der Erde, hatten aber einen dickeren Stamm mit schwarzbrauner Rinde
und Blattwerk von grünen, grünblauen und dunkelblauen Schattierungen. Darunter, auf dem Teppich toter Blätter, konnte man die Fußspuren von Madoc Roswyn erkennen. Roger bewegte sich langsam auf den Wald zu und versuchte, die Schatten mit den Augen zu durchdringen. Und in diesem Augenblick drang plötzlich ein schriller Schrei, durch die Entfernung gedämpft, an sein Ohr. Roger zögerte einen Herzschlag lang, dann tauchte er in den Wald. Unvermittelt befand er sich in einer anderen Welt. Das Blattwerk schirmte das Sonnenlicht ab, tote Blätter sanken weich unter seinem Schritt und strömten einen harzigen Duft aus, als er sie aufwirbelte. Es war kein Geräusch im Wald zu hören, es war still wie in einem geschlossenen Raum, und er konnte kein Zeichen von kleinen Lebewesen entdecken: weder von Vögeln noch von Insekten, Mäusen oder ähnlichem. In einem Gemisch aus Drängen und Scheu lief Roger ein Stück weiter, bis die Spuren, die Madoc Roswyn hinterlassen hatte, sich verwirrten. Er hielt inne und fühlte sich plötzlich hilflos und unnütz. Dann ging er ein paar Schritte weiter und rief. Er erhielt keine Antwort, seine Stimme verlor sich zwischen den Baumstämmen. Er räusperte sich, rief noch einmal, diesmal lauter… Er spürte ein Prickeln im Nacken und drehte sich um, konnte aber nichts sehen. Er schlich weiter, zehn Meter, zwanzig Meter, indem er von Baumstamm zu Baumstamm sprang, dann blieb er stehen, um zu lauschen. Von irgendwoher klang das Rascheln von Blättern, und ein Stein prallte, wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt, gegen den Baumstamm. Wie hypnotisiert starrte er darauf hinunter: Er war rund und schwarz und hatte einen Durchmesser von ungefähr drei Zentimetern. Er schnellte herum und duckte sich, ein weiterer, kleinerer Stein traf ihn seitlich. Zwei Steine zischten an seinem Kopf vorbei, ein anderer traf ihn schmerzhaft am Bein. Roger brüllte Flüche
und Schmähungen hinaus und trat einen unrühmlichen Rückzug an… Der Waldrand war weiter entfernt, als er es in Erinnerung hatte, eine Woge von Schrecken übermannte ihn: War er verloren? Er erkannte vor sich einen Lichtschimmer, und einen Augenblick später trat er blinzelnd auf die offene Ebene hinaus, etwa hundert Meter von der Stelle entfernt, wo er in den Wald gelaufen war. Da stand die Phoebus. Mochte es auch ein unförmiges Gebilde aus Kugeln und Röhren sein, es schien ihm die sicherste, ersehnteste Zuflucht zu sein, die er sich vorstellen konnte. Er rannte über das offene Land, dabei hinkte er auf seinem verletzten Bein und hielt sich die schmerzenden Rippen. Das Ensemble war fast vollzählig vor dem Schiff versammelt, Kapitän Gondar, Neil Henderson und Bernard Bickel waren mit Gewehren ausgerüstet. Freifrau Isabel stieß scharf hervor: »Roger, was um alles in der Welt ist in dich gefahren, so etwas zu tun?« »Ich wollte Madoc Roswyn zu Hilfe eilen«, erklärte Roger. Hoffnungslos schaute er zum Wald zurück. »Ich habe sie schreien gehört. Ich dachte, ich könnte ihr helfen.« »Deine Handlung war dumm und übereilt«, sagte Freifrau Isabel ernst. Dann fügte sie mit sanfterer Stimme hinzu: »Obwohl in keiner Weise schimpflich.« »Wenn wir das Rettungsboot herunterlassen würden«, schlug Roger verzweifelt vor, »und den Wald überfliegen…« »Es wäre sinnlos«, sagte Bernard Bickel. »Um überhaupt etwas auszurichten, müßten wir in Höhe der Baumgipfel fliegen, und wer weiß, welche Fähigkeiten diese Wesen besitzen? Ein gut gezielter Pfeil könnte das Schiff außer Gefecht setzen.« »Ich möchte nicht unfreundlich erscheinen«, sagte Freifrau Isabel, »aber ich weigere mich, das Leben eines der unseren sinnlos aufs Spiel zu setzen.«
Kapitän Gondar murmelte: »Sie ist sicher in diesem Augenblick bereits tot.« Und verfiel wieder in Schweigen und blickte in den Wald hinaus. »Ich weiß offen gestanden nicht, was ich tun soll«, sagte Freifrau Isabel schließlich. »Es scheint keine Möglichkeit zu geben, mit den Wesen, die diese Welt bewohnen, in Kontakt zu treten. Und gleichgültig, wie sehr wir diesen furchtbaren Zwischenfall bedauern, können wir doch nicht ewig hierbleiben.« »Wir können sie nicht einfach im Stich lassen!« widersprach Roger mit empörter Stimme. »Ich bin gewillt, jede sinnvolle Anstrengung zu ihrer Rettung zu unternehmen«, sagte Freifrau Isabel. »Aber wir dürfen auch die Tatsache nicht außer acht lassen, daß sie aus eigenem Antrieb fortgegangen ist, ohne sich auch nur den kleinsten Rat von mir, Mr. Bickel oder Kapitän Gondar einzuholen. Sie ist, oder war, eine sehr verwirrte und eigenwillige junge Frau. Ich glaube nicht, daß es gerechtfertigt wäre, um der selbstsüchtigen Ziele der jungen Frau willen große Gefahren auf uns zu nehmen oder den eigentlichen Grund unserer Expedition außer acht zu lassen.« Roger konnte keine überzeugenden Gegenargumente vorbringen. Er blickte hilfesuchend von Bernard Bickel zu Kapitän Gondar, fand aber keine Unterstützung. »Wir können einfach nicht fortgehen und sie hier zurücklassen!« wiederholte er verzweifelt. Bernard Bickel sagte mit bedrückter Stimme: »Wir können nicht viel mehr tun.« Roger wandte sich um und starrte in den Wald. »Für den Rest meines Lebens«, sagte er, »würde ich darüber nachgrübeln, was mit ihr geschehen ist. Ob sie noch am Leben ist und darauf wartet, daß jemand ihr zu Hilfe kommt. Stellen Sie sich vor,
Sie selbst wären dort draußen, verletzt, vielleicht an einen Baum gefesselt, und sähen, wie die Phoebus sich in die Lüfte erhebt und davonfliegt.« Es herrschte Schweigen. Dann sagte Bernard Bickel mit verhaltener Heftigkeit: »Wenn wir nur eine Verbindung herstellen könnten! Wenn wir nur einen Weg finden würden, zu beweisen, daß wir keine feindlichen Absichten haben!« »Madoc Roswyns Worten zufolge«, sagte Roger, »war das Volk musikbegeistert – warum geben wir nicht eine Vorstellung an einem Ort, an dem sie sie sehen können? Wenn irgend etwas sie von unseren friedlichen Absichten überzeugen kann, dann müßte es das sein.« Bernard Bickel wandte sich an Freifrau Isabel: »Warum nicht?« »Also schön«, sagte Freifrau Isabel, »wir werden natürlich gezwungen sein, hier vor dem Schiff zu spielen. Die Akustik wird scheußlich sein. Doch der Plan ist einen Versuch wert. Kapitän, würden Sie bitte das Klavier herausbringen lassen? Andrei, kümmern Sie sich um die Ausstattung, keine Kulissen, aber ein paar symbolische Requisiten.« »Natürlich. Und die Oper?« »Ich glaube… ja, ich bin der Meinung, daß Pelleas und Melisande eine gute Wahl ist.« Die scheinbar grüne Sonne näherte sich dem Horizont, die Requisiten waren vorbereitet, für das Orchester war ein Podium aufgestellt worden, und eine Verstärkeranlage war auf den Wald gerichtet. Die Musiker und Sänger nahmen ihr Mahl in großer Spannung zu sich und unterhielten sich leise: Die Vorstellung, die sie vor einem unsichtbaren und unbekannten Publikum spielen sollten, würde vielleicht die schwerste ihres Lebens sein.
In der grün-grauen Dämmerung begaben sich die Musiker zu ihren Instrumenten. Die Luft war noch stiller als am vorangegangenen Abend: Aus dem Wald drang nicht der leiseste Hauch eines Geräusches. Die Instrumente waren gestimmt, kleine Lampen erleuchteten die Notenständer. Ein roter Scheinwerfer richtete sich auf Sir Henry Rixon: Hochgewachsen, stattlich, tadellos gekleidet, verbeugte er sich würdevoll gegen den Wald und hob seinen Taktstock. Die Musik von Debussy schwang durch die Nacht in den Wald hinein. Scheinwerfer beleuchteten das erste Szenenbild: ein geheimnisumwobener Wald und ein Brunnen. Die Oper nahm ihren Lauf, und die Spannung im Wald war fast spürbar. Der erste Akt wich dem zweiten, und jetzt erreichte die Musik die seltenen und wunderbaren Gefilde, in denen sie sich aus sich heraus, natürlich und unbeugsam zu bewegen schien… Am Rande des Waldes entstand eine Bewegung. Madoc Roswyn taumelte in den beleuchteten Kreis. Sie war von Wunden bedeckt, verstört und schmutzig, ihre Kleider waren zerfetzt, ihre Augen weit aufgerissen, sie bewegte sich in seltsam ruckhaften Schritten, wie eine Puppe, deren Bewegungsmechanismus kaputt ist. Roger lief ihr entgegen, sie fiel fast in seine Arme. Bernard Bickel eilte zu Hilfe, sie brachten sie zurück zum Schiff. Währenddessen spielte die Musik weiter, das Schicksal der verderbengeweihten Liebenden näherte sich seiner Erfüllung. »Was ist geschehen…?« fragte Roger bestürzt. »Ist dir ein Leid geschehen? Bist du verletzt?« Sie gab ein Zeichen, das alles bedeuten konnte. »Das Böse ist hier«, sagte sie mit rauher, gebrochener Stimme. »Wir müssen fliehen, und Yan aus unserem Gedächtnis streichen.« Freifrau Isabel sagte: »Sie müssen hereinkommen, Kind.
Dr. Sharid wird sich um Sie kümmern. Wir werden morgen früh aufbrechen…« Madoc Roswyn lachte schrill. Sie deutete zum Wald zurück. »Sie lauschen der Musik, es ist das erste Mal seit Hunderten von Jahren, daß sie welche hören. Sie hören zu, aber sie hassen Sie dafür, und sobald die Musik verklingt, werden sie das Schiff angreifen.« »Was soll das heißen?« fragte Freifrau Isabel. »Warum sollten Sie so etwas tun?« »Sie hören zu«, erwiderte Madoc Roswyn, »aber sie lauschen voller Neid, denn sie kennen sich und wissen, was sie Yan angetan haben…« »Das ist lächerlich«, entrüstete sich Freifrau Isabel. »Ich kann menschlichen Wesen nicht solche Bosheit unterstellen… Sie sind doch menschlich?« »Das macht keinen Unterschied«, flüsterte Madoc Roswyn müde. »Sie sind gekommen, um zu lauschen und ihre Rache vorzubereiten. Sie haben mich vergessen, und so konnte ich mich durch den Wald auf die Musik zuschleichen.« Sie drehte sich zum Schiff um. »Bitte, lassen Sie mich an Bord gehen, ich möchte diesen furchtbaren Planeten verlassen.« Roger und Dr. Sharid brachten sie an Bord. Freifrau Isabel wandte sich an Bernard Bickel. »Was halten Sie davon, Bernard?« »Sie weiß mehr über dieses Volk als wir. Ich finde, wir sollten bereit sein, sofort aufzubrechen, wenn die Oper beendet ist.« »Und die Requisiten hierlassen? Niemals!« »Dann sollten wir besser damit beginnen, die Requisiten an Bord zu schaffen. Wir können es so einrichten, daß es keinen Verdacht erweckt, und die Musik kann solange fortgesetzt werden wie notwendig. Ich werde ein Wort mit Andrei und Sir Henry wechseln.«
Der fünfte Akt wurde eingeleitet, die Mannschaft trug die Requisiten ins Schiff zurück. Die Opfer ging zu Ende, die Musik spielte weiter. Weiter mit Debussy: das Nocturno. Die letzten Stücke wurden an Bord getragen, dann die Beleuchtung und die Verstärker. Das Orchester, das jetzt die Vorgänge begriff, spielte weiter und spähte unsicher aus den Augenwinkeln in den Wald. Die Stühle wurden unter ihnen fortgezogen, dann folgte Sir Henrys Podium: Sie spielten im Stehen. Die Nachricht, daß alles in Sicherheit war, ging um: Unter der Deckung eines ständig sich bewegenden Scheinwerfers ergriffen die Musiker einer nach dem anderen ihre Instrumente und Notenständer und huschten an Bord, Mannschaftsmitglieder halfen dem Harfenspieler und dem Schlagzeuger. Schließlich befanden sich nur noch Sir Henry, der große Flügel und die Streicher draußen, und jetzt begriffen die Wesen im Wald, was im Gange war und erwachten aus ihrer Versunkenheit. Ein Steinbrocken flog durch den Raum und traf die Tastatur des Flügels. Bernard Bickel rief: »Alles an Bord! Schnell!« Der Pianist, die Geiger und Sir Henry rannten auf die Rampe zu und entgingen mit knapper Not den Steinen, die an der Stelle niederprasselten, an der sie gestanden hatten. In den Schatten draußen entstand eine Bewegung, ein dunkles Vorangleiten. Die Rampe wurde eingezogen, die Luke fiel zu, die Phoebus erhob sich in die Nacht und ließ den glänzenden, schwarzen Flügel hinter sich zurück. Freifrau Isabel, die erleichterter war, als sie zugeben mochte, begab sich zur Krankenstation, wo Madoc Roswyn, mit einem weißen Nachthemd bekleidet, still in einem Krankenhausbett lag. Ihre Augen waren geöffnet, der Blick auf einen Punkt irgendwo jenseits der Zimmerdecke gerichtet. Freifrau Isabel sah fragend zu Dr. Sharid hinüber, der ihr zunickte. »Sie wird
sich erholen. Schock, Erschöpfung, Verletzungen. Sie will keine Beruhigungsmittel.« Freifrau Isabel näherte sich dem Bett. »Es tut mir außerordentlich leid, daß Sie soviel Leid über sich ergehen lassen mußten – aber Sie hätten niemals in den Wald laufen dürfen.« »Ich mußte die Wahrheit über Yan herausfinden.« »Haben Sie sie gefunden?« fragte Freifrau Isabel spöttisch. »Ja.« »Wer lebt nun in dem Wald? Was ist mit ihnen geschehen?« Madoc Roswyn schien sie nicht zu verstehen. Sie starrte fast eine halbe Minute lang auf den Punkt jenseits der Decke. Freifrau Isabel wiederholte ihre Frage verärgert. Madoc Roswyn schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die Absicht, es zu erzählen. Es ist nicht mehr wichtig. Wenn ich auch nur ein einziges Wort darüber sage, werde ich mich nie davon befreien können. Nein. Ich werde nichts sagen. Von nun an werde ich nichts mehr über Yan wissen. Ich bin nur noch Madoc Roswyn aus Merioneth, und ich werde niemals etwas anderes sein.« Freifrau Isabel verließ das Krankenzimmer und begab sich in den Salon, wo der Wein reichlich floß und die Sänger und Musiker ihre Eindrücke von der Vorstellung verglichen. Freifrau Isabel zog Bernard Bickel beiseite. »Das Mädchen will absolut kein Wort darüber sagen, was in dem Wald vorgefallen ist oder was mit diesem unglückseligen Planeten geschehen ist! Mir ist noch nie ein so egoistischer Mensch begegnet! Ihr muß doch klar sein, daß wir alle neugierig sind!« Bernard Bickel nickte. »Vielleicht hat sie recht. Vielleicht ist es besser, wenn Yan ein Geheimnis bleibt.« »Bernard, Sie sind ein unverbesserlicher Romantiker!« »Nicht mehr als Sie selbst! Wenn es nicht so wäre, wären wir dann etwa hier?«
Freifrau Isabel lachte trocken. »Natürlich, Sie haben recht… Nun denn: So endet unser Besuch auf Yan. Und nun genug der Vorbereitungen, mehr Umwege sind nicht notwendig. Wir werden uns direkt nach Rlaru begeben, ohne weitere Abweichungen oder Verzögerungen.« Sie erhob sich. »Vielleicht würden Sie mit mir zur Brücke kommen, damit ich Kapitän Gondar Anweisungen geben kann.« Kapitän Gondar war allein und blickte in die glitzernde Weite des Universums. Das Schiff hatte noch nicht auf Raumantrieb geschaltet, und der Ausblick zeigte das wirkliche Licht der Sterne. »Von hier aus, Kapitän«, sagte Freifrau Isabel, »nehmen wir Kurs direkt auf Rlaru.« Kapitän Gondar holte tief Luft. »Das ist ein furchtbar großer Sprung. Der Umweg in die Hydra hat uns weit von unserem Kurs abgebracht. Wir könnten fast ebenso leicht zur Erde zurückkehren.« »Nein, Kapitän«, sagte Freifrau Isabel unerbittlich. »Ich bestehe darauf, daß wir unsere ursprünglichen Pläne verfolgen. Rlaru wird unser nächster Anlaufpunkt sein.« Kapitän Gondars Kinn sank herab, die Schatten unter seinen Augen schienen sich plötzlich zu verdunkeln. Er wandte sich ab, ließ den Blick im Raum schweifen. »Also gut«, sagte er mit erstickter Stimme, »ich werde Sie nach Rlaru bringen.«
XII
Zurück eilte die Phoebus durch die Galaxis, durchquerte den Orion, wo Rigel einen entfernten, schwachen Stern verdunkelte, der die heimatliche Sonne war. Die Stimmung unter den Opernmitgliedern war gedämpft, aber die Moral hatte nicht gelitten. Da sich zwei Flügel in der Orchesterausstattung befunden hatten, wurden die Proben ohne Unterbrechung fortgesetzt. Madoc Roswyn blieb drei Tage lang auf der Krankenstation. Dr. Sharid berichtete Freifrau Isabel, daß nur ihre Jugend und Lebenskraft sie zur Phoebus zurückgebracht hatten, wer oder was immer sie angegriffen hatte, hatte sie vielleicht für tot gehalten und liegengelassen. Roger saß lange Zeit an ihrem Lager. Manchmal zeigten sich Spuren ihres alten Ichs, dann wieder schien sie die Ereignisse in dem Wald noch einmal zu durchleben, stöhnte, schloß die Augen und drehte das Gesicht zur Wand. Aber die meiste Zeit lag sie bewegungslos da und sah Roger an. Logan de Appling erfüllte steif seine Pflicht, schweigend und in verletzter Eitelkeit. Kapitän Gondar hatte sich von allem gelöst außer seiner eigenen inneren Existenz und sprach mit niemandem, wenn es nicht sein Teil an der Lenkung des Schiffes erforderte. Freifrau Isabel unternahm den Versuch, Einzelheiten über Rlaru zu erhalten, aber Kapitän Gondar schien geistesabwesend und unbestimmt. Freifrau Isabel fragte scharf: »Sind die Bewohner einigermaßen freundlich?« Kapitän Gondar drehte den Kopf, seine eingesunkenen Augen richteten sich langsam auf sie. »Freundlich? Sie haben
das Neunte Ensemble gesehen: Machten sie einen unfreundlichen Eindruck?« »Nein, natürlich nicht. Obwohl ich ihre plötzliche Abreise immer für undankbar gehalten habe, in Anbetracht unserer Bemühungen.« Kapitän Gondar äußerte keine Meinung dazu. Freifrau Isabel lenkte das Gespräch wieder auf Rlaru selbst. »Ich glaube, Sie sagten, Sie hätten den Planeten photographiert?« Kapitän Gondar sah sie ausdruckslos an. »Habe ich das gesagt?« »Ja, im Laufe unserer ersten Verhandlungen.« »Ich kann mich nicht daran erinnern.« Freifrau Isabel sagte schroff: »Ich würde diese Photographien jetzt gerne sehen. Es kann keinen erdenklichen Grund für weitere Vorsichtsmaßnahmen geben.« Murrend ging Kapitän Gondar zu seiner Kabine, kehrte mit einem unbeschriebenen, weißen Briefumschlag zurück und nahm drei zerknitterte Photographien heraus. Freifrau Isabel warf ihm einen strengen Blick zu, als wolle sie ihn ermahnen, keine unnötigen Umstände zu machen. Sie nahm die Photographien und betrachtete sie. Das Fehlen von Einzelheiten enttäuschte sie. Die erste war aus einer Höhe von ungefähr 800 Kilometern, die zweite aus 150 Kilometern und die letzte aus acht Kilometern Entfernung aufgenommen. Die erste zeigte ein großes Meer und einen nördlichen Kontinent mit einer langgestreckten Halbinsel, die sich in die gemäßigte Klimazone hineinschob. Die zweite zeigte den südlichen Zipfel der Halbinsel und enthüllte das Relief: niedrige Berge im Norden, Hügel, die sich bis zu einer nahezu flachen Flußniederung an der südlichen Spitze zogen. Das dritte Bild, das etwas verschwommen war, zeigte einen Küstenstreifen, einen Fluß, der sich zwischen weiten Terrassen
hindurchschlängelte, und etwas, das angelegte Felder hätten sein können. Freifrau Isabel runzelte die Stirn. »Diese Photographien sind nicht sehr informativ. Haben Sie nichts, das die Leute, ihre Städte, ihre Architektur, ihre Bräuche zeigt?« »Nein. Ich habe die Kamera nicht mit vom Schiff genommen.« Freifrau Isabel betrachtete das dritte Bild noch einmal. »Ich nehme an, das ist das Gebiet, in dem Sie gelandet sind?« Kapitän Gondar blickte auf die Photographie, als könne er sie kaum erkennen. »Ja«, sagte er schließlich. »Das ist der Ort, an dem ich gelandet bin – hier.« Er legte den Finger auf einen Punkt. »Haben die Bewohner Sie freundlich empfangen?« »Oh ja. Keinerlei Schwierigkeiten.« Freifrau Isabel beobachtete ihn forschend. »Sie klingen ein klein wenig unsicher.« »Überhaupt nicht. Obwohl ›freundlich‹ nicht ganz das richtige Wort ist. Sie haben mich ohne großes Interesse akzeptiert.« »Hmm. Waren Sie nicht erstaunt über Ihr Auftauchen?« »Schwer zu sagen. Sie zeigten kein Interesse an mir.« »Waren sie neugierig in bezug auf die Erde oder Ihr Raumschiff?« »Nein. Nicht besonders.« »Hmmf. Man könnte sie für gleichgültig oder auf einfältige Weise in sich gekehrt halten, würde nicht das Neunte Ensemble das Gegenteil beweisen…« Freifrau Isabel stellte Kapitän Gondar noch weitere Fragen, erhielt aber keine Information mehr. Die Tage vergingen, ein jeder mit einem kleinen Ereignis, das ihn von allen anderen unterschied. Madoc Roswyn verließ die Krankenstation und zog sich noch mehr als zuvor in sich
zurück. Die Sänger und Musiker gestatteten sich gelegentliche Temperamentsausbrüche, die Tough Luck Jug Band spielte trotz Freifrau Isabels Verbot, und Ephraim Zerner nannte ihre Musik einen »nervenzerrüttenden Mißklang«. Bernard Bickel, der erneut ausgesandt wurde, das Ärgernis zu beseitigen, wurden vom Waschbrettspieler Schläge angedroht, den er infolgedessen als »betrunken und ausfällig« bezeichnete. Bevor die Drohung in die Tat umgesetzt werden konnte, schritt Neil Henderson, der Cheftechniker, ein, und Bernard Bickel kehrte, wütend über die Unverschämtheit, mit der man ihn behandelt hatte, in den Salon zurück. Wieder vergingen einige Tage. Die Phoebus erreichte den Walfisch und flog dicht an dem Stern Xi Arietis vorüber, dessen siebter Planet einen Frachthafen beherbergte. Auf einer seiner häufigen, schwermütigen Wanderungen kam Roger Wool zufällig an der Kammer vorüber, in der sich die Rettungsboote befanden. Er bemerkte, daß die Luke zufiel, was den Sicherheitsvorschriften widersprach, die verlangte, daß die Rettungsboote jederzeit frei und unverbaut zugänglich sein mußten. Roger eilte auf die Tür zu und fing sie auf, bevor sie sich schloß. Er riß sie auf, und indem er das tat, beförderte er den taumelnden Kapitän Gondar in den Korridor zurück. Kapitän Gondars Ausdruck überraschter Wut verwandelte sich auf lächerliche Weise in Leutseligkeit. »Prüfe nur die Ausstattung der Rettungsboote«, sagte er. »Teil meiner wöchentlichen Routine.« Roger stieß einen zweifelnden Laut aus. »Warum schließen Sie die Luke?« Kapitän Gondars Ausdruck wurde wieder feindselig. »Was geht Sie das an, wie ich meine Arbeit verrichte?« Roger zuckte die Achseln. Er ging auf die Luke zu und schaute in die Kammer, wurde an der Schulter gepackt und in den Korridor zurückgeschleudert – aber nicht, bevor er einen
Koffer und einen Seesack erblickt hatte. Kapitän Gondars Gesicht war jetzt wutverzerrt. Er griff in die Tasche und zog eine kleine Pistole heraus. Roger konnte Mordlust in Kapitän Gondars Augen erkennen. Er zwang seine gelähmten Muskeln, zu handeln: Noch niemals waren sie ihm so unbeholfen erschienen. Er duckte sich, holte aus und schlug Captain Gondar, mehr aus Zufall denn aus Berechnung, die Waffe aus der Hand. Gondar zischte, keuchte, bückte sich nach der Pistole; Roger versetzte ihm einen heftigen Stoß und schleuderte die Waffe mit dem Fuß scheppernd den Korridor hinunter. Gondar hatte jetzt vollends die Herrschaft über seine Gefühle verloren. Er warf sich auf Roger, und die beiden taumelten schlagend, tretend und stoßend im Gang auf und ab. Der Lärm erregte Aufmerksamkeit; Neil Henderson und ein paar Mannschaftsmitglieder waren plötzlich zwischen den beiden Männern und rissen sie auseinander. »Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Henderson. Kapitän Gondar hob seine zitternde Hand und deutete auf Roger. Aber es kamen keine Worte über seine Lippen, und er ließ den Arm wieder sinken. Roger atmete schwer. »Er wollte mich umbringen… Ich habe ihn daran gehindert, sich im Rettungsboot davonzumachen…« Kapitän Gondar hatte sich langsam den Gang entlanggeschoben. Er stürzte sich auf die Pistole. Wieder warf Roger sich auf ihn und stieß ihn beiseite. Henderson hob die Waffe auf. »Nun denn, das ist eine ernste Angelegenheit! Was ist hier vorgefallen?« »Sein Gepäck liegt im Rettungsboot«, keuchte Roger. »Er hatte die Absicht, die Phoebus zu verlassen und den Frachthafen anzulaufen.« Kapitän Gondar verzog den Mund, sagte aber nichts.
Henderson stieg in das Rettungsschiff und kam mit finsterer Miene wieder hervor. »Bringen Sie das Zeug hinaus«, rief er einem der Besatzungsmitglieder zu, dann wandte er sich an Kapitän Gondar: »Kommen Sie mit; das sollten wir besser mit den großen Tieren besprechen.« In finsterem Schweigen lauschte Freifrau Isabel den Neuigkeiten. Als Roger seinen Bericht beendet hatte, richtete sie ihren Blick mit ganzer Schärfe auf Kapitän Gondar. »Haben Sie etwas dazu zu sagen?« »Nein.« »Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß Sie mit ihrem Handeln alle Ansprüche bezüglich des Geldes, das ich verwalte, verwirkt haben.« »Absolut nicht«, sagte Kapitän Gondar geringschätzig. »Ich habe meine Pflicht erfüllt.« »Sie haben uns nicht nach Rlaru gebracht. Der genaue Standort des Planeten ist noch immer niemandem außer Ihnen bekannt.« »Sie irren sich«, sagte Kapitän Gondar. »Heute morgen habe ich ein ausführliches Memorandum verfaßt und de Appling ausgehändigt. Unter diesem Vorwand können Sie mir mein Geld nicht vorenthalten.« »Das werden wir sehen«, sagte Freifrau Isabel. »Mir scheint, daß Sie zwar dem Buchstaben nach die Vereinbarung erfüllt, ihren Sinn aber mißachtet haben.« »Ich bin anderer Meinung«, erwiderte Kapitän Gondar. »Ich möchte jedoch nicht über dieses Thema sprechen, da ich im Augenblick im Nachteil bin.« »Das sind Sie allerdings. Ich weiß kaum, was ich mit Ihnen machen soll. Sie haben offensichtlich Ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt.« Gondar hatte seine Haltung wiedergefunden; er verbeugte sich mit spöttischer Ehrerbietung. »Da Sie mir das
Rettungsboot verweigern, bitte ich Sie nur darum, mich auf dem Frachthafen von Xi Arietis Sieben abzusetzen.« »Ich werde nichts dergleichen tun. Xi Arietis liegt weit abseits unseres Weges, und wir haben uns bereits auf einen zeitraubenden Umweg eingelassen.« Adolph Gondar verzog finster das Gesicht, dann zuckte er die Schultern. Offensichtlich hatte er nichts anderes erwartet. »In diesem Fall bitte ich Sie nur, mich von meiner Verantwortung für die Leitung des Schiffes zu entbinden.« »Das ist kein Problem«, sagte Freifrau Isabel höhnisch. »Ebenso möchte ich Sie um Erlaubnis bitten, in meiner Kabine bleiben zu dürfen, solange ich es für richtig halte.« »Solange ich es für richtig halte«, sagte Freifrau Isabel. »Ihre Wünsche sollen keinen Einfluß auf unsere Handlungen haben. Vielleicht teilen Sie mir mit, warum Sie es für richtig halten, in dieser Weise zu handeln?« »Selbstverständlich«, erwiderte Adolph Gondar zuvorkommend. »Mich überkam plötzlich das Verlangen, das Schiff zu verlassen.« Freifrau Isabel wandte sich an den Cheftechniker Henderson und an Bernard Bickel. »Bitte, führen Sie Mr. Gondar zu seiner Kabine. Sorgen Sie dafür, daß er keine Waffe mehr bei sich hat. Mr. Henderson, Sie kümmern sich darum, daß ein passendes Schloß an der Tür angebracht wird.« Adolph Gondar schritt aus dem Raum, Henderson und Bernard Bickel folgten ihm. Die Phoebus eilte durch die interstellare Leere, vielleicht bewegte sie sich mit Gedankenschnelle voran, aber die Geschwindigkeit der Gedanken war noch ein umstrittener Gegenstand. Logan de Appling war tatsächlich im Besitz der Koordinaten von Rlaru: Seine Sonne war der gelb-rote Stern Walfisch FQR910, der schließlich auf dem Fadenkreuz erschien. Nach kurzer Zeit konnte man einen einzigen Planeten
erkennen. Die Phoebus glitt dicht heran, schwenkte in einen Aufklärungsumlauf. Aus dem All betrachtet, ist jeder Planet ein eigenartiger Anblick, seine massive Kugelgestalt wird durch den krassen Gegensatz zwischen sonnenbeleuchteter Oberfläche und der sie umgebenden schwarzen Leere noch hervorgehoben. Wenn der Planet bewohnbar scheint und eine interessante Struktur aufweist, ist die Herausforderung an die Vorstellungskraft fast unerträglich. Rlaru war eine solche Welt, Größe und allgemeiner Anblick waren der Erde nicht unähnlich – vielleicht ein wenig kleiner und von weiter fortgeschrittener Naturentwicklung. Die Analysegeräte zeigten für menschliches Leben verträgliche Bedingungen an, die Temperaturen an den Polen und am Äquator entsprachen in etwa denen der Erde. Voller Ehrfurcht und Staunen blickten Freifrau Isabel und Bernard Bickel auf den sich langsam drehenden Planeten. »Denken Sie nur, Bernard«, rief sie aus. »All die Monate der Planung und Vorbereitung! Endlich Rlaru! Die Heimat des Neunten Ensembles!« »Eine wunderbare Welt, ganz sicher«, stimmte Bernard Bickel ihr zu. »Und sehen Sie nur!« Freifrau Isabel faßte seinen Arm und deutete hinaus. »Da ist die Halbinsel von Mr. Gondars Photographien! Das ist der Beweis – wenn wir überhaupt einen brauchen würden –, daß dies wirklich Rlaru ist!« »Ich wünschte, ich könnte Gondars Handlungsweise verstehen«, sagte Bickel. »Wenn man ernsthaft darüber nachdenkt, scheint sie fast – unheimlich.« »Sie scherzen sicher?« »Überhaupt nicht.« Freifrau Isabel schüttelte zweifelnd den Kopf. »Mr. Gondar hat mir ein ums andere Mal versichert, daß die Bewohner
freundlich seien. Ich habe keine Veranlassung, etwas anderes zu glauben. Das Neunte Ensemble machte einen recht gutmütigen Eindruck – obwohl ich sagen muß, daß Mr. Gondar die Mitglieder unter Verschluß hielt.« »Es hat keinen Sinn, sich unnötige Gedanken zu machen.« Bernard Bickel wandte sich wieder der eingehenden Betrachtung des Planeten zu. »Was schlagen Sie vor, wo wir landen sollen?« »An der Stelle, an der Mr. Gondar das erste Mal gelandet ist. Wir wissen, daß die Leute hier freundlich gesonnen sind, während die Zustände anderswo unterschiedlich sein könnten.« Sie gab Logan de Appling die notwendigen Anweisungen, und er stellte den Autopiloten dementsprechend ein. Rlaru wurde größer und schwoll an und vollzog dann mit einem Mal jene eigenartige Lageverschiebung von neunzig Grad, indem er von ›drüben‹ nach ›unten‹ schnellte. Logan de Appling sendete in interstellarem Code die Bitte um Landeerlaubnis hinunter, erhielt aber keine Bestätigung. Er blickte Freifrau Isabel fragend an. »Wir werden landen«, sagte sie. Auf dem Vergrößerungsschirm betrachteten Freifrau Isabel und Bernard Bickel die Oberfläche von Rlaru aufmerksam. Sie konnten keine Spur einer entwickelten Zivilisation entdecken. Bernard Bickel deutete auf einen mächtigen Geröllhügel und äußerte die Vermutung, daß es sich um Ruinen handeln könne, worauf Freifrau Isabel, den Zwischenfall auf dem Planeten Yan noch zu deutlich in Erinnerung, nichts erwiderte. Bei voller Vergrößerung traten ein paar Bevölkerungsansiedlungen in Erscheinung, aber es schienen nur kleine Dörfer zu sein. Adolph Gondar hatte berichtet, daß sie sich an der südwestlichen Küste der Halbinsel entlangzogen.
Adolph Gondar wurde aus seiner Kabine herbeigerufen; widerstrebend beschrieb er den genauen Ort seiner ersten Landung. »Ich würde dort nicht noch einmal landen«, sagte er mürrisch. »Versuchen Sie es weiter südlich, dort sind die Leute wesentlich gastfreundlicher.« »Ich dachte, sie hätten insgesamt wenig Notiz genommen?« »Ich habe Ihnen meinen Rat gegeben, nun müssen Sie handeln, wie Sie es für richtig halten.« Adolph Gondar ging hoch aufgerichtet in seine Kabine zurück. Bernard Bickel kehrte zum Vergrößerungsschirm zurück und studierte noch einmal die Landschaft. »Was halten Sie davon?« fragte Freifrau Isabel. »Weiter im Süden scheint es nicht so viele Dörfer zu geben. Das Land scheint dort weniger fruchtbar zu sein.« »Wir werden in der Gegend der ersten Landung hinuntergehen«, entschied Freifrau Isabel. »Ich sehe keinen Grund, warum wir uns von Mr. Gondars dunklen Andeutungen einschüchtern lassen sollten.« Der Nachmittag zog über die Oberfläche von Rlaru, der Sonnenuntergang hatte eingesetzt, bevor die Phoebus sich, fast an demselben Ort, an dem Adolph Gondar ursprünglich angekommen war, zur Landung anschickte. Die Umweltbedingungen wurden untersucht, und wie zuvor wurde einwandfreie Verträglichkeit für den menschlichen Organismus angezeigt. Während der Untersuchungen betrachtete Freifrau Isabel die Umgebung von der Brücke aus. Obwohl sie einige nahegelegene Dörfer erkennen konnte, sah sie keinen ihrer Bewohner, und niemand kam, die Phoebus zu kontrollieren. Als sie, dicht gefolgt von einigen Mitgliedern des Ensembles, an Land ging, stieß sie nur auf einen Fluß, der sich ein paar hundert Meter weit nördlich schlängelte, niedrige Hügel zogen sich über den östlichen Horizont. In manchen Landstrichen
wuchsen Bäume in unregelmäßigen Reihen, wie ein nachlässig angelegter Obstgarten, während die Wiesen im Süden mit niedrigem Buschwerk bepflanzt zu sein schien. Alles in allem war es eine angenehme, friedvolle Landschaft mit der Ahnung einer langen Tradition. Als die Dunkelheit zunahm, schienen vereinzelte Lichter von dem Dorf herüber, aber bald flackerten sie und erloschen, und es schien, als sei nur die Besatzung der Phoebus wach, um die nächtliche Stille zu genießen. Freifrau Isabel ordnete das Aufstellen einer Wache an, und nach und nach zogen sich die Ensemblemitglieder in das Schiff zurück, einige gingen zu Bett, andere in den Salon. Freifrau Isabel und Bernard Bickel waren unter den letzten, die hineingingen. Als sie es endlich taten, glaubte sich Roger, der ein wenig abseits stand, allein. Aber in der Nähe bewegte sich etwas, und als sein Blick die Dunkelheit durchdrang, erkannte er Madoc Roswyn. Sie gesellte sich zu ihm. »Das ist ein so beruhigender Ort, Roger«, sagte sie. »So still und friedlich…« Für einen Augenblick schweifte ihr Blick zu dem dunklen Dorf hinüber, dann drehte sie sich heftig zu Roger um. »Ich war außerordentlich schlecht, Roger. Und du warst so gut zu mir. Ich schäme mich. Ich schäme mich wahrhaftig.« »Laß uns nicht mehr darüber sprechen«, sagte Roger. »Aber ich muß! Es verfolgt mich! Jetzt, da alles vorüber ist, weiß ich, wie besessen ich war.« »Ich bin sicher, daß du niemandem wehtun wolltest.« Madoc Roswyn stieß ein leises, unglückliches Lachen aus. »Die traurige Wahrheit ist, daß es mir gleichgültig war – was vielleicht noch schlimmer ist.« Roger konnte keine Worte finden, die nicht entweder unbeholfen oder unnötig selbstverleugnend geklungen hätten. Madoc Roswyn schien sein Schweigen als Unversöhnlichkeit zu deuten und ging langsam auf die Eingangsrampe zu.
»Warte!« rief Roger. Madoc Roswyn kehrte gehorsam zurück. »Was ich gerne wissen möchte«, sagte er, und seine Worte überstürzten sich, »ist, was du jetzt vorhast.« »Ich weiß es nicht. Ich kehre zur Erde zurück und werde wohl irgendwo einen Job suchen.« »Die einzig bleibende Wirkung der ganzen Geschichte«, murmelte Roger, »ist der Zustand meiner Reflexe. Ich fühle mich wie eine Laborratte. Wenn sie einen grünen Knopf drückt, kommt Käse heruntergerutscht, und plötzlich drückt sie einen grünen Knopf und erhält nur Schläge und Stromstöße.« Madoc Roswyn nahm seine Hand. »Was ist, wenn ich dich bitte, den grünen Knopf nur noch einmal zu drücken, und wenn ich dir nichts als Käse verspreche und nie wieder Schläge und Stromstöße für die arme junge Ratte?« »In diesem Fall«, sagte Roger, »würde ich alle grünen Knöpfe in meinem Käfig drücken, jeden den ich erreichen könnte.« »Gut – ich verspreche es.«
XIII
Frisch und klar dämmerte Rlarus Morgen heran. Die Sonne stieg, etwas größer und goldener als die der Erde, über den entfernten Hügeln auf. Nicht lange danach zeigten sich einige der Dorfbewohner: ein halbes Dutzend Männer in blauen Hosen, weißen Jacken und sehr breitkrempigen Hüten auf dem Weg zur Arbeit auf einem nahegelegenen Feld. Als sie die Phoebus erblickten, zögerten sie leicht erstaunt und setzten dann, über die Schulter zurückblickend, ihren Weg fort. »Eigenartig«, murmelte Freifrau Isabel. »Ihr Mangel an Interesse ist fast beleidigend.« »Haben Sie ihre körperliche Eigenheit bemerkt?« fragte Bernard Bickel. »Ausgesprochen menschenähnlich – aber auf subtile, fast unerklärliche Weise keine wirklichen Menschen.« »Das überrascht mich nicht«, sagte Freifrau Isabel mit einem Anflug von Strenge. »Es ist genau der Typ des Neunten Ensembles. Es kann keinen Zweifel mehr geben über Mr. Gondars vollkommene Glaubwürdigkeit, zumindest in bezug auf das Neunte Ensemble und Rlaru.« »Absolut keinen«, pflichtete Bernard Bickel bei. »Wenn ich mich richtig erinnere, sprach er von drei Kasten oder Klassen: die Armen, die Arbeiter und die Künstler, die eine Elite darstellen.« »Ja, ich erinnere mich an eine Bemerkung diesen Inhalts. Voraussichtlich wird bald eine Abordnung eintreffen, um uns zu begrüßen.« Aber aus dem Morgen wurde Mittag, und niemand erschien, außer drei oder vier Männern in groben, grauen Kitteln und
Stoffsandalen. Im Staub kauernd, betrachteten sie die Phoebus kurz, dann erhoben sie sich, schlenderten gemächlich davon und verschwanden in einem Wäldchen am Fluß. Freifrau Isabel schritt vor der Phoebus auf und ab, blickte erst zum Dorf hinüber und beschattete dann die Augen, um zu den Arbeitern auf dem Feld hinüberzusehen. Schließlich kehrte sie auf das Schiff zurück und stieg zu Adolph Gondars Kabine hinunter. Sie erhielt keine Antwort auf ihr Klopfen. Sie klopfte noch einmal, diesmal energischer. »Mr. Gondar, öffnen Sie, wenn ich bitten darf.« Immer noch keine Antwort. Nach einem weiteren Klopfen drückte sie die Klinke hinunter, fand die Tür aber verschlossen. Ganz in der Nähe, auf der Brücke, saß der Mann, der die Aufgabe hatte, Adolph Gondars Kabine zu bewachen. Freifrau Isabel sprach ihn streng an: »Holen Sie Mr. Henderson, und dann bitten Sie Mr. Bickel, heraufzukommen. Ich fürchte, Mr. Gondar ist krank.« Der Cheftechniker erschien. Nach einigem Klopfen brach er die Tür auf. Adolph Gondar war nicht in seiner Kabine. Freifrau Isabel wandte sich unheilverkündend zu dem Mann um, der Wache gehalten hatte. »Wie und wann hat Mr. Gondar seine Kabine verlassen?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Er aß zu Mittag, ich habe gesehen, wie ihm das Essen hineingereicht wurde, und das ist erst eine Stunde her. Ich habe die Tür nicht aus dem Auge gelassen. Nicht einmal eine Katze hätte hindurchschlüpfen können.« »Bernard«, sagte Freifrau Isabel unwillig, »bitte sehen Sie nach den Rettungsbooten.« Bernard Bickel kehrte kurz darauf zurück und berichtete, alle Rettungsboote befänden sich sicher in ihren Kammern.
Ebensowenig konnte Adolph Gondar die Ausgangsrampe benutzt haben, da ihn die vor dem Schiff Stehenden gesehen hätten. Freifrau Isabel ordnete die Durchsuchung des Schiffes an. Adolph Gondar befand sich nicht an Bord. Auf irgendeine geheimnisvolle Weise hatte er seine Kabine verlassen und hatte sich, wie es schien, in Luft aufgelöst. Als die Hälfte des Nachmittages um war, beendeten die Feldarbeiter mit ihren seltsamen, breitkrempigen Hüten ihre Arbeit und kehrten in das Dorf zurück. Wie schon zuvor warfen sie der Phoebus einen mäßig interessierten Blick zu, verlangsamten aber dabei kaum den Schritt. Nur ihr Gefühl für Schicklichkeit hielt Freifrau Isabel davor zurück, vor sie zu treten und eine verantwortliche Abordnung aus dem Dorf zu fordern. Sie beobachtete die Heimkehrer einige Minuten lang, dann wandte sie sich an Bernard Bickel und Andrei Szinc, die neben ihr standen. »Welches Werk«, fragte sie, »würde Ihnen als Fachleuten hier zur Aufführung geeignet erscheinen, vorausgesetzt wir können nicht nur Tölpel und Landstreicher als Zuschauer gewinnen?« Andrei Szinc breitete die Arme aus, als wolle er zu verstehen geben, daß eine Oper, so gut sei wie die andere für derartig gleichgültige Leute. Bernard Bickels Erwiderung drückte dasselbe aus. »Ich finde es schwierig, eine Entscheidung zu treffen. Offen gestanden hatte ich einen vollkommen anderen kulturellen Zusammenhang erwartet – eine wesentlich lebendigere und kultiviertere Umwelt.« »Das ist auch mein Eindruck«, sagte Andrei Szinc. Er ließ den Blick über die Umgebung schweifen. In den goldenen Dunst des späten Nachmittages getaucht, schien sie wunderbar still und schön, war jedoch von einem Hauch Einsamkeit, ja Melancholie durchdrungen, wie ein Bild, dessen man sich aus seiner Kindheit erinnert.
Andrei Szinc fuhr stirnrunzelnd fort: »Es scheint eine Art Planlosigkeit hier zu herrschen, das Fehlen eines Zieles, so als seien Leute und Land nicht ganz wirklich. Vielleicht ist ›archaisch‹ das Wort, nach dem ich suche. Alles strömt den Hauch von etwas Altem und halb Vergessenem aus.« Freifrau Isabel lachte geringschätzig. »Ich gebe zu, daß Rlaru nicht ganz meinen Erwartungen entspricht – aber Sie scheinen beide meinen Fragen auszuweichen.« Bernard Bickel lachte und zupfte an seinem gepflegten grauen Schnurrbart. »Ich weiche aus, weil ich nicht weiter weiß. Ich spreche in der Hoffnung, dadurch einen Gedanken zum Leben zu erwecken – aber es ist mir nicht gelungen. Um jedoch einen Vorschlag aus dem Ärmel zu schütteln: warum nicht Hoffmanns Erzählungen? Oder vielleicht noch einmal die Zauberflöte? Oder gar Hänsel und Gretel?« Andrei Szinc nickte: »Sie sind alle geeignet.« »Gut«, sagte Freifrau Isabel. »Morgen werden wir Hänsel und Gretel unter freiem Himmel aufführen, und wir können nur hoffen, daß die Musik, die wir verstärken und auf das Dorf richten, ein Publikum anlockt. Andrei, bitte kümmern Sie sich darum, daß die Kulissen herausgebracht werden und ein Vorhang angebracht wird. Bernard, vielleicht können Sie so gut sein, Sir Henry und seine Leute zu unterrichten.« Das Ensemble, das bereits ein wenig gereizt war, nahm die Aussicht auf eine Vorstellung mit Begeisterung auf. Musiker und Sänger halfen der Mannschaft, Bühnenbild und Requisiten hinauszutragen und einen behelfsmäßigen Vorhang aufzuziehen. Noch lange nach Einbruch der Dunkelheit wurde die Arbeit bei Flutlicht fortgesetzt, und Freifrau Isabel bemerkte zu ihrer Befriedigung, daß die Lichter im Dorf nicht so früh gelöscht wurden wie am Abend zuvor, und daß gelegentlich Lichter, die gelöscht worden waren, wieder aufflammten.
Es gab noch immer keinen Anhaltspunkt, was aus Adolph Gondar geworden war. Mannigfaltige Vermutungen machten die Runde, die meisten davon liefen darauf hinaus, daß Gondar, nachdem er auf verschlagene Weise das Schiff verlassen habe, ins Dorf gelaufen sei, um alte Bekannte aufzusuchen. Man erwartete allgemein, daß Gondar zum Schiff zurückkehren würde, wenn er die Zeit für gekommen hielte.
Am nächsten Morgen näherte sich fast ein Dutzend Dorfbewohner, und nun sah die Besatzung der Phoebus zum ersten Mal die sogenannten »Aristokraten« Rlarus. Es waren Leute, die den Mitgliedern des Neunten Ensembles, die Adolph Gondar zur Erde gebracht hatte, in Aussehen und Haltung deutlich ähnelten: schmale, wohlgestaltete Wesen von außerordentlicher Würde, Lebhaftigkeit und Fröhlichkeit. Sie trugen Kleidung in den verschiedensten leuchtenden Farben, von denen keine der anderen glich, und manche von ihnen hatten Instrumente bei sich, die den vom Neunten Ensemble benutzten glichen. Freifrau Isabel trat ihnen entgegen und hob die Hände zum überall gebräuchlichen Freundschaftszeichen – eine Geste jedoch, die die Leute von Rlaru nicht zu verstehen schienen, denn sie machten alle einen etwas überraschten Eindruck. Freifrau Isabel setzte, nachdem sie ihre friedliche Absicht kundgetan hatte, zum Sprechen an: »Hallo, meine Freunde von Rlaru. Sind unter Ihnen Mitglieder des Neunten Ensembles, das die Erde besucht hat? Neuntes Ensemble? Erde?« Keiner der Eingeborenen gab ein Zeichen des Begreifens, obwohl alle höflich zuhörten. Freifrau Isabel versuchte es noch einmal. »Wir sind Musiker von der Erde. Wir sind gekommen, um hier auf Rlaru zu spielen, so wie Ihr wunderbares Neuntes Ensemble auf der
Erde gespielt hat. Heute nachmittag werden wir eine unserer klassischen Opern aufführen, Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck.« Sie brachte die letzten Worte mit angestrengter Munterkeit hervor. »Wir hoffen, daß Sie alle erscheinen und Ihre Freunde mitbringen.« Die Dorfbewohner wechselten einige ernste Worte miteinander, betrachteten das Bühnenbild und wandten sich kurz darauf wieder ihrem Tagwerk zu. Freifrau Isabel blickte ihnen unsicher nach. »Ich hatte gehofft, ihnen wenigstens eine Ahnung unserer Absichten zu vermitteln«, klagte sie Bernard Bickel ihr Leid. »Ich fürchte, das ist mir nicht gelungen.« »Seien Sie nicht zu pessimistisch«, erwiderte Bernard Bickel. »Einige dieser fremden Rassen sind wunderbar einfühlsam, wenn es darum geht, die eigentlichen Ziele anderer zu spüren.« »Dann glauben Sie also, daß wir ein Publikum haben werden?« »Ich wäre weder darüber noch über das Gegenteil überrascht.« Drei Stunden, nachdem die Sonne den Zenith erreicht hatte, stimmte das Orchester unter Leitung von Sir Henry die ersten Klänge der Ouvertüre an, und der erhabene Hornchoral schwang, von Verstärkern getragen, über das Land. Die ersten Eingeborenen von Rlaru, die auftauchten, war eine Gruppe von grobgekleideten Armen, die blinzelnd aus dem Wäldchen am Fluß hervorkamen, als hätte die Musik sie aus dem Schlaf geweckt. Ungefähr zwanzig von ihnen kamen näher und ließen sich in der letzten Bankreihe nieder. Dann kam ein Dutzend Arbeiter von nahegelegenen Feldern herbei, um zu sehen, was vor sich ging. Fünf oder sechs blieben, um zuzuschauen und zu lauschen, während die anderen wieder an ihre Arbeit gingen. Freifrau Isabel schnaufte verächtlich. »Flegel bleiben Flegel, gleichgültig, wo man sie antrifft.«
Während des fünften Bildes erschien eine Horde von Dorfbewohnern, unter ihnen, zu Freifrau Isabels außerordentlicher Zufriedenheit, einige Aristokraten. Während des gesamten zweiten Aktes bestand das Publikum aus etwa vierzig Personen, darunter die halbbetäubten Armen, die von den Arbeitern und Aristokraten deutlich sichtbar gemieden wurden. »Alles in allem«, erklärte Freifrau Isabel Sir Henry, Andrei Szinc und Bernard Bickel nach der Vorstellung, »bin ich recht zufrieden. Das Publikum schien Gefallen zu finden an dem, was es sah.« »Es ist von großem Nachteil für uns, daß Gondar nicht da ist«, sagte Bernard Bickel ärgerlich. »Ich nehme an, daß er die Sprache kennt, und er könnte uns sehr nützlich sein, indem er das Programm erläutern würde.« »Wir werden es auch ohne ihn schaffen«, sagte Freifrau Isabel. »Wenn einige Mitglieder des Neunten Ensembles anwesend sind – was ja durchaus möglich ist –, haben sie zumindest eine oberflächliche Kenntnis unserer Sprache. Wir werden beweisen, daß Adolph Gondar nicht so unentbehrlich ist, wie er glaubt.« »Es ist jedenfalls ein Rätsel, wo der Kerl geblieben ist«, erklärte Sir Henry. »Er ist nicht über die Rampe hinausgegangen – dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Ich stand die ganze Zeit über daneben und habe keine Spur von ihm gesehen.« »Er wird zweifellos zurückkommen, wenn er es für richtig hält«, meinte Freifrau Isabel. »Ich weigere mich, mir seinetwegen Sorgen zu machen. Morgen: Hoffmanns Erzählungen, und hoffen wir, daß die heutige Vorstellung ein größeres Publikum nach sich zieht!«
Freifrau Isabels Hoffnungen erwiesen sich als vollauf berechtigt. Sobald die ersten Klänge der Musik über das Land schwebten, strömten aus allen Richtungen Leute herbei und ließen sich ohne zu zögern auf den Bänken nieder. Die drei Klassen, die Adolph Gondar beschrieben hatte, waren leicht anhand ihrer Kleidung zu unterscheiden. Die Armen in ihren formlosen grauen Kitteln saßen abseits wie Ausgestoßene. Die Arbeiter trugen weiße oder blaue lange Hosen, blaue, weiße oder braune Jacken und die meisten von ihnen breitkrempige Hüte. Die »Aristokraten« waren selbstverständlich herausgeputzt wie Pfauen unter Krähen, lediglich ihre natürliche Vornehmheit und ein gewisser spielerischer Hochmut verliehen ihren Kostümen Glaubwürdigkeit. Manche von ihnen hatten Musikinstrumente bei sich, auf denen sie, offensichtlich unbewußt, leise spielten. Freifrau Isabel sah es mit außerordentlicher Befriedigung. »Das«, erklärte sie Bernard Bickel, »trifft fast vollkommen meine Erwartung. Rlaru ist zwar in technischer Hinsicht nicht annähernd so hochentwickelt, wie ich angenommen hatte, aber die Bewohner sind einfühlsam und geistig wach, gleichgültig, welcher Gesellschaftsschicht sie angehören, und das ist mehr, als man von der Erde sagen kann!« Bernard Bickel konnte nichts gegen ihre Bemerkung einwenden. »Nach der Vorstellung«, sagte Freifrau Isabel, »werde ich auf einige von ihnen zugehen und nach Mr. Gondar fragen. Es ist gut möglich, daß er bei Freunden Zuflucht gesucht hat, und ich würde gerne erfahren, was er vorhat.« Aber als Freifrau Isabel versuchte, mit einigen »Aristokraten« ins Gespräch zu kommen, stieß sie nur auf verwirrte, verständnislose Blicke. »Mr. Gondar«, sagte Freifrau Isabel sehr deutlich. »Ich möchte gerne etwas über
den Verbleib von Mr. Adolph Gondar erfahren. Kennen Sie ihn?« Aber die Aristokraten entfernten sich höflich. Freifrau Isabel schnalzte gereizt mit der Zunge. »Mr. Gondar hätte uns so leicht eine Nachricht zukommen lassen können«, beklagte sie sich bei Bernard Bickel. »Nun sind wir der Ungewißheit ausgesetzt… Nun, offensichtlich weiß er am besten, was er zu tun hat.« Sie blickte über die Wiese, wo Roger und Madoc Roswyn gerade von einem Spaziergang am Flußufer zurückkehrten. »Es scheint also, daß sich Roger wieder mit Madoc Roswyn eingelassen hat. Ich kann nicht behaupten, daß ich es billige, aber er hat sich nicht die Mühe gemacht, mich um meinen Rat zu fragen.« Sie stieß einen Seufzer aus. »Aber ich bin überzeugt, daß die Welt sich niemals genau nach meinen Vorstellungen dreht.« »Tut sie das für irgend jemanden?« fragte Bernard Bickel mit gutgelauntem Spott. »Wahrscheinlich nicht, und ich muß mich damit abfinden. Wir sollten besser die morgige Vorstellung mit Andrei besprechen. Ich muß ihn wegen der Kostüme ermahnen, heute waren sie ziemlich zerknittert.« Bernard Bickel begleitete sie zur Bühne und hielt sich höflich abseits, während Freifrau Isabel die Mängel an den Kostümen, wie sie es nannte, beanstandete. Was Roger betraf, so drehte sich die Welt fast genau nach seinen Vorstellungen. Madoc Roswyn war, nun da ihre Besessenheit gewichen war, ruhiger geworden, zugleich zurückhaltender und vertrauensvoller und, in Rogers Augen, anziehender denn je. Sie waren über die Wiese zum Fluß gelaufen, um an seinem Ufer entlangzuschlendern. Pappelähnliche Bäume mit malvenfarbenen Blättern erhoben sich vor ihnen, Zweige tauchten ihr schwarzes Laub in das Wasser. Eine Viertelmeile flußaufwärts umstanden hohe,
dunkle Bäume etwas, das wie ein verfallenes Bauwerk aussah. Es regte sich keine Spur von Leben, keine Bewegung, kein Laut, und kurze Zeit später kehrten sie in leicht niedergeschlagener Stimmung um und gingen durch den goldenen Nachmittag zur Phoebus zurück. Am nächsten Tag wurde die Zauberflöte vor einem noch zahlreicheren Publikum als am Tag zuvor aufgeführt, und Freifrau Isabel zeigte sich hoch erfreut. Nach dem letzten Vorhang trat sie vor und wandte sich an das gesamte Publikum, um für das Interesse zu danken. Kurz faßte sie die Ziele der Expedition zusammen und fragte, als die Zuschauer sich zu entfernen begannen, nach Neuigkeiten von Adolph Gondar. Aber selbst wenn jemand aus dem Publikum sie verstand, so zeigte er es nicht. Am nächsten Nachmittag, beim Fliegenden Holländer, schwand die Aufmerksamkeit merklich. Freifrau Isabel war verwirrt, sowohl über die Gleichgültigkeit des Publikums als auch über die höfliche Abweisung all ihrer Annäherungsversuche. »Ich möchte das Wort ›Undankbarkeit‹ ungern in den Mund nehmen«, beklagte sie sich. »Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß wir große Mühen und Kosten auf uns genommen haben, ohne daß es von ihrer Seite auch nur im geringsten gewürdigt würde. Und heute spielen wir eine großartige Vorstellung vor dem Schatten eines Publikums, das sich zum größten Teil aus den unteren Schichten zusammensetzt.« »Vermutlich hat irgendein besonderes Ereignis die Aristokraten verhindert«, meinte Bernard Bickel. »Aber was ist mit der Arbeiterklasse? Sie machen sich auch nicht die Mühe, zu der Vorstellung zu erscheinen. Wir spielen fast ausschließlich vor Lumpen und Vagabunden.«
»Ich habe bemerkt, daß sie zumindest ebenso aufmerksam zuhören wie die Arbeiter, die fast gelangweilt schienen«, warf Bernard Bickel ein. »Vielleicht haben sie nichts Besseres zu tun«, seufzte Freifrau Isabel. »Ich habe auch gesehen, daß die Lumpen oder Vagabunden, oder was immer sie sind, halb eingeschlafen waren«, sagte Andrei Szinc. »Ich glaube, es sind Drogenabhängige, und sie haben ihre Rationen in diesen kleinen Beuteln an ihrer Taille.« »Das ist ein interessanter Gedanke«, sagte Freifrau Isabel. »Ich habe keinen von ihnen ›sniefen‹ sehen, wie man es heutzutage nennt, aber das hat natürlich nichts zu bedeuten. Wenn es wahr ist, würde das sowohl ihre Teilnahmslosigkeit als auch die Ächtung, der sie ausgesetzt sind, erklären.« Sie dachte einen Augenblick lang nach. »Ich habe die kleinen Kugeln, die sie bei sich tragen, auch bemerkt, aber mir ist nie der Gedanke an Drogen gekommen… Hmm… Ich frage mich, ob wir sie nicht von unseren Vorstellungen ausschließen sollten, vielleicht würden wir einen Teil des Publikums zurückgewinnen.« Bernard Bickel runzelte zweifelnd die Brauen. »Ich habe nie eine Mißstimmung zwischen den verschiedenen Klassen bemerkt. Sie beachten einander ebenso wenig, wie sie uns beachten.« »Der Verbleib von Mr. Gondar stellt uns vor ein weiteres Problem«, sagte Freifrau Isabel gereizt. »Wenn sie wissen, was mit ihm geschehen ist, haben sie offensichtlich nicht die Absicht, es uns mitzuteilen.« »Was zweierlei bedeuten kann«, sagte Bernard Bickel. »Entweder hat er ein trauriges Ende gefunden, oder Gondar selbst möchte nicht, daß uns eine Nachricht erreicht. In beiden Fällen sind wir machtlos.«
»Das trifft genau den Kern unserer Situation«, sagte Freifrau Isabel bedächtig. »Ich muß zugeben, daß ich eine baldige Rückkehr zur Erde in Erwägung ziehe. Unsere Hoffnungen haben sich mehr als erfüllt, besonders hier auf Rlaru – obwohl es befriedigend wäre, irgendeine Art der Anerkennung zu erfahren.« »Ja, die Leute hier sind wirklich – nun, träge, wenn es darum geht, Beifall auszudrücken«, pflichtete Bernard Bickel bei. »Morgen werden wir Parsival aufführen«, sagte Freifrau Isabel. »Sir Henry hat die Hochzeit des Figaro vorgeschlagen, aber ich fürchte, es würde nach dem Fliegenden Holländer zu oberflächlich wirken.« »Auf der anderen Seite besteht immer die Gefahr der Langeweile«, entgegnete Bernard Bickel, »besonders für Zuschauer, die nicht in die Wagnersche Mystik eingeweiht sind.« »Diese Gefahr müssen wir in Kauf nehmen«, stimmte Freifrau Isabel zu. »Sie haben ein hohes musikalisches Niveau, das dürfen wir nicht vergessen.« »Was das heutige Nachlassen der Spannung um so unverständlicher werden läßt«, sagte Bernard Bickel.
Am folgenden Tag zogen Gewitterwolken im Westen auf, und ein Sturm schien bevorzustehen. Aber der Wind drehte, die Wolken zogen nach Süden ab, und die Sonne schien von einem zauberhaft blauen Himmel herab. Entgegen Freifrau Isabels Erwartungen war die Zuschauerzahl, die zu Parsival erschien, enttäuschend gering. Das Publikum setzte sich aus drei oder vier Aristokraten und einer Horde von Armen zusammen. Dieser Ausdruck der Teilnahmslosigkeit erboste Freifrau Isabel, und sie zog ernsthaft in Erwägung, die Oper nach dem ersten Akt zu
beenden. Sie dachte auch daran, Roger in das Dorf zu schicken, um weitere Einwohner zum Besuch der Vorstellung zu überreden. Die Theaterehre verbot das erste Vorhaben, ihre Unfähigkeit, Roger zu finden, machte das zweite zunichte. Zu ihrer großen Verärgerung begann das ohnehin spärliche Publikum zu schwinden. Als folgten sie einer unhörbaren Aufforderung, erhoben sie sich, einer nach dem anderen, von den Sitzen und entfernten sich nach der anderen Seite des Schiffes. Schließlich verschwanden auch die drei Aristokraten und ließen nur noch ein halbes Dutzend Parias zurück. Das war zu viel für Freifrau Isabel. Sie schickte Bernard Bickel aus, den Aristokraten zu folgen und sie zu überreden, bis zum Ende der Vorstellung auszuharren, wenn auch nur aus Höflichkeit gegen die Sänger. Ohne große Begeisterung schickte sich Bickel an, den Auftrag zu erfüllen, um fünf Minuten später finster und wütend zurückzukehren. »Kommen Sie einen Augenblick mit«, forderte er Freifrau Isabel auf. »Ich möchte, daß Sie es selbst sehen.« Freifrau Isabel folgte ihm zur anderen Seite des Raumschiffes, und hier, im friedlichen Licht der Nachmittagssonne, saß die Tough Luck Jug Band und spielte voll schrill tönender Leidenschaft. In einem gespannt lauschenden Kreis saßen dreißig oder vierzig Parias und mehr am Rand ebenso viele Aristokraten. Nicht weit davon entfernt standen Roger und Madoc Roswyn und der größte Teil der Mannschaft. In sprachloser Empörung hörte Freifrau Isabel zu, während die Tough Luck Jug Band ein Stück spielte, das You Gotta See Mama Every Night zu heißen schien. Es hatte mehrere Strophen und ebenso viele Instrumentaleinlagen, von denen eine zügelloser war als die andere. Freifrau Isabel warf Bernard Bickel einen Blick zu, er schüttelte mißbilligend den Kopf. Gemeinsam wandten sie sich
wieder dem traurigen Schauspiel zu. Vier oder fünf weitere Parias kamen von der anderen Seite der Phoebus herüber, die Oper schien vor leeren Sitzen stattzufinden. Freifrau Isabel schrie Bernard Bickel ins Ohr: »Wenn dies das hiesige Geschmacksniveau trifft, können wir ebensogut sofort zur Erde zurückkehren!« Bernard Bickel nickte kurz, dann hörten sie noch einmal zu, als You Gotta See Mama Every Night seinen Höhepunkt erreichte. Die gesamte Band fiel in eine Schlußstrophe ein, Freifrau Isabel prallte ein wenig zurück. Vollkommene Roheit, vollkommener Radau! Rhythmisch, sogar amüsant, wenn man Neigungen in dieser Richtung besaß, dachte Freifrau Isabel. Zugegebenermaßen gelang es der Musik – wenn man es so nennen konnte –, der durchdringenden Schwermut der Welt entgegenzuwirken, sie sogar zu überwinden… Freifrau Isabel stellte fest, daß jeder Arme seine kleine Lederkugel oder das Beutelchen sorgsam im Schoß hielt. Nach einer solchen Vorstellung, sagte sich Freifrau Isabel bitter, würden sie wirklich alle ihre Drogen und Betäubungsmittel benötigen! Die Musik irrte durch einen scheppernden, rasselnden Schlußakkord und endete mit einem Schmettern. Die Mitglieder der Tough Luck Jug Band lehnten sich zurück und waren augenscheinlich mit sich zufrieden. Die Aristokraten unterhielten sich fast ehrfürchtig miteinander. Die Armen seufzten auf, dann wurde ihr Blick wieder leer. Freifrau Isabel trat vor. »Was hat das zu bedeuten?« rief sie mit schneidender Stimme. Die Tough Luck Jug Band machte sich nicht die Mühe, ihr zu antworten. Die Musiker griffen hastig nach ihren Instrumenten und verschwanden um das Schiff herum. Freifrau Isabel zwang sich zu einem freundlichen Gesicht und wandte sich an das Publikum. »Sie müssen zur Oper zurückkommen! Wir spielen zu Ihrem Vergnügen, und wir erwarten, daß es Ihnen gefällt.
Diese Narren werden nicht zurückkommen, das versichere ich Ihnen.« Mit Bernard Bickels Hilfe brachte sie so viele Zuschauer wie möglich zurück zu dem Freilufttheater. Die Eingeborenen fügten sich und kauerten sich auf die Bänke, dann war der Schlußakt erreicht. Unmittelbar, nachdem der Vorhang gefallen war, kamen Stewards mit Tabletts voller Gebäck und Krügen mit Limonade. Freifrau Isabel bedeutete den Aristokraten, sich zu bedienen: »Sie sind wirklich ausgezeichnet, ich bin sicher, daß sie Ihnen schmecken!« Aber die Aristokraten entfernten sich höflich. Freifrau Isabel drängte und schmeichelte, aber nicht einmal die Parias rührten die Erfrischungen an. Schließlich hob sie hilflos die Hände. »Also gut, Sie müssen tun, was Sie für richtig halten, obwohl ich nicht verstehen kann, warum Sie nicht würdigen, was wir für Sie tun.« Der älteste der Armen nestelte geistesabwesend an den Fühlern oder Laschen seiner Lederkugel. Er sah seine Begleiter an, als sei er in eine wortlose Unterhaltung vertieft, dann wandte er Freifrau Isabel den Blick zu. Sie spürte eine eigenartige Spannung. »Sieh her«, schien er ihr zu sagen. »Sieh her und dann geh’ deiner Wege.« Er drückte den kleinen Lederball. Bernard Bickel schnappte nach Luft, Freifrau Isabel schnellte herum, und vor ihren Augen tanzten bunte Gestalten am Himmel. Sie verschmolzen miteinander und teilten sich wieder, flossen ineinander und auseinander und sanken auf die Wiese hinunter, die zu einem Ort voll strahlendem Zauber wurde, und die gesamte Besatzung der Phoebus kam ehrfürchtig herbei, um die Herrlichkeiten zu betrachten, die sich nun vor ihnen entfalteten. Städte wie Blumengärten erschienen, eine nach der anderen, wie in einem Nachschlagewerk: jede anders, jede eine Weiterentwicklung aus der vorhergegangenen, jede mit ihren eigenen Köstlichkeiten und prachtvollen Ansichten, jede in die Ferne
verschwindend. Eine Vielfalt neuer Bilder tauchte im Vordergrund auf: Schiffsflotten mit riesigen, gemusterten Segeln, von denen ein jedes lebendig und gefühlvoll hätte sein können: ein diamantbesetzter Falter. Edle Gestalten zogen in endlosem Reigen vorüber, Turniere der Liebe und Schönheit breiteten sich vor ihnen aus, der Hauch und das Flüstern vieler Melodien erhoben sich. Dann folgten eine Reihe von Schauspielen, Vorstellungen von Gruppen wie dem Neunten Ensemble, und Freifrau Isabel glaubte das Neunte Ensemble selbst zu erkennen. Plötzlich trat Stille ein, so vollkommen, daß sie selbst ein überwältigendes Gefühl war. Vom Himmel schwebte ein beschädigtes Raumschiff herab: Es landete, und Adolph Gondar, oder besser gesagt, ein Zerrbild von Adolph Gondar trat heraus. Das Neunte Ensemble zog in seinen prächtigen Gewändern vorüber, Adolph Gondar schien auf sie niederzustoßen wie eine Spinne: Mit Hilfe von gesichtslosen Kumpanen trieb er das Neunte Ensemble grob auf sein Schiff, das augenblicklich entschwand, und wieder herrschte Stille. Das Ereignis zog mit atemberaubender Geschwindigkeit vorüber, Adolph Gondar erschien eher komisch als böse: eine Karikatur der Schlechtigkeit, und die ganze Episode war nicht mehr als eine verzerrte Fußnote, ein sarkastischer kleiner Scherz, an dem die Besatzung der Phoebus Gefallen finden mochte oder auch nicht, ganz wie es ihr beliebte. Andere Szenen und Bilder folgten, und sie schienen weit entfernt und lange vergangen, wie halb vergessene Erinnerungen. Eine Parade toter Helden zog vorüber, und sie kehrten denen, die ihnen zusahen, die Gesichter zu, als wollten sie um Wissen bitten, das ihnen verweigert worden war. Alle schienen dieselbe Frage zu stellen, dann waren sie den Blicken entschwunden. Städte wurden gebaut und voller Gleichgültigkeit wieder verlassen: Alle Ziele waren erreicht, alle großartigen Leistungen vollbracht. Es blieb nichts als
Müßiggang und gelegentliche Zerstreuungen… Schließlich erschien in riesiger Vergrößerung die Tough Luck Jug Band, mit ihrer Musik voller Kühnheit und Sicherheit, und Übersättigung wich überschäumender Begeisterung. Für kurze Zeit war die Welt erneuert, und wunderbare Dinge schienen möglich. Dann lag die Wiese vor ihnen wie zuvor, der Himmel war leer, die Leute von der Phoebus standen alleine neben dem Schiff. Alle kehrten in das Raumschiff zurück. Freifrau Isabel begab sich in den Salon und bestellte eine Kanne starken Tee. Bernard Bickel und Sir Henry gesellten sich zu ihr, aber keinem war an einer Unterhaltung gelegen. Freifrau Isabel war verwirrt und aufgebracht. In gewisser Weise, wenn auch ohne Leidenschaft und sogar liebevoll, hatte man sie lächerlich gemacht und verspottet… Warum hatte sich das Volk von Rlaru nicht erklärt, bevor sie ihr Programm aufgeführt hatte? Offensichtlich fehlte es ihnen an nichts, das ihnen die Phoebus hätte bieten können – außer der Tough Luck Jug Band. Augenscheinlich ein Volk mit recht vulgären Neigungen, dachte Freifrau Isabel mißmutig. Ihre ehemalige Schärfe der Urteilskraft schien verloren… Und doch, nein, natürlich nicht. Unmöglich. Freifrau Isabel ordnete entschlossen ihre Gedanken. Ein Mensch muß ein gültiges Gebäude von Wahrheiten errichten, sagte sie sich, und unbeirrbar daran festhalten, gleichgültig, wie fragwürdig diese Wahrheiten auch sein mögen. Sie trank ihren Tee und setzte die Tasse mit einem festen Klick auf den Teller zurück. Bernard Bickel und Sir Henry richteten sich auf ihren Stühlen auf, als hätte das Geräusch ihnen Kraft verliehen. »Wir haben hier auf Rlaru nichts mehr zu tun«, sagte Freifrau Isabel. »Wir werden morgen früh aufbrechen.« Sie rief Andrei Szinc herbei und gab Anweisung, die Bühnenrequisiten im Schiff zu verstauen. »Was ist mit Adolph Gondar?« fragte Bernard Bickel.
»Es ist klar, daß er diesen Leuten ein Unrecht getan hat«, sagte Freifrau Isabel. »Offenbar war er gewarnt worden, Rlaru nie wieder zu betreten, als er es dennoch tat, wurde er bestraft. Sein Schicksal liegt nicht in unserer Hand.« »Konnten sie ihn kraft ihres Geistes aus seiner Kabine versetzen?« fragte Bernard Bickel ungläubig. »Durch die festen Wände des Schiffes hindurch?« »Warum nicht?« fragte Freifrau Isabel scharf. »Es ist ausreichend bewiesen, daß sie das Neunte Ensemble von der Erde zurückgeholt haben, warum sollten sie Adolph Gondar nicht aus seiner Kabine befördern?« »Das geht über mein Begriffsvermögen«, sagte Bernard Bickel. »Mir geht es ebenso.«
Roger durchsuchte das ganze Schiff: Salon, Brücke, jeden erdenklichen Winkel, aber Madoc Roswyn war nirgendwo zu finden. Er ging die Rampe hinunter, blickte nach links und nach rechts und lief dann um das Schiff herum. Madoc Roswyn saß allein und beobachtete den Sonnenuntergang. Roger, der noch immer nicht wußte, ob er alle ihre Launen begreifen konnte, wollte unauffällig den Rückzug antreten, aber sie rief ihn zu sich, und so setzte er sich neben sie. Wortlos sahen sie zu, wie sich die Dämmerung über das Land senkte. Zwei hagere Silhouetten bewegten sich durch das Abendrot: ihrer Kleidung und Haltung nach zu schließen, zwei von den ins Leere blickenden Leuten, die Adolph Gondar als »Vagabunden« bezeichnet hatte. Madoc Roswyn sprach so leise, daß Roger sich zu ihr neigen mußte, um sie zu verstehen. »Sie könnten all ihr Wissen vernichten, all ihre Macht vergessen, sie könnten auf einen
anderen Planeten wechseln, sie könnten ganz von vorne beginnen. Ich frage mich, warum sie es nicht tun.« Roger wußte keine Antwort darauf, und sie sahen den beiden Gestalten nach, die in der Dämmerung verschwanden. Eine kühle Brise erhob sich vom Meer her, sie erhoben sich und gingen um das Schiff herum. Und nun hob sich ein anderer dunkler Schatten vom Horizont ab: eine hochgewachsene, halb rennende, halb taumelnde Gestalt, die heisere, keuchende Schreie ausstieß. »Es ist Gondar!« sagte Roger. »Er ist am Leben!« Adolph Gondar eilte an ihnen vorüber, warf sich mit den Händen gegen das Schiff und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Unsicher ging er auf die Eingangsluke zu, Roger und Madoc Roswyn folgten ihm. Am Eingang nahm er, wie es schien, all seine Kräfte zusammen, richtete sich auf, reckte die Schultern, sammelte all seine Würde und wankte die Rampe hinauf. Im Salon erzählte Adolph Gondar, nachdem er gierig sein Essen hinuntergeschlungen hatte, seine Geschichte. Wie Freifrau Isabel angenommen hatte, war er gewarnt worden, nie wieder einen Fuß auf Rlaru zu setzen. Er hatte gehofft, daß er unbemerkt bleiben würde, wenn er seine Kabine nicht verließ, aber das war nicht eingetroffen. Er war in der Nacht herausgeholt, durch Wolken, Wind, Hagel und Regen gewirbelt, in den Ozean geschleudert und schließlich in ein Dornengestrüpp geworfen worden. Tagelang war er umhergeirrt und hatte schließlich vom Gipfel eines entfernten Berges aus die Phoebus erspäht. Freifrau Isabel war nicht gewillt, ihm Mitleid entgegenzubringen. »Sie haben Glück, daß Sie so gut davongekommen sind!« sagte sie streng. »Ihr Verhalten kann man nicht anders nennen als Piraterie. Sie haben zwanzig
Personen entführt, ohne die leiseste Absicht, sie wieder nach Hause zu bringen.« »Aber nein!« widersprach Adolph Gondar. »Ich hatte die Absicht, sie zurückzuschicken, wenn wir genug Geld verdient hätten. Das habe ich ihnen gesagt, und das war auch der einzige Grund, warum sie einverstanden waren, aufzutreten.« »Es steht natürlich außer Frage, welche Verwendung das Geld finden wird«, sagte Freifrau Isabel. »Unter keinen Umständen werde ich zulassen, daß Sie aus ihrem unmoralischen Handeln, wie man es im günstigsten Fall nennen könnte, einen Vorteil ziehen. Das fragliche Geld ist gerade genug, um die Kosten der gegenwärtigen Tournee zu decken, und ich kann mir keine bessere Verwendung dafür vorstellen.« Adolph Gondar hob enttäuscht die Hände und wankte zu seiner Kabine. Am nächsten Morgen, als sich die Sonne über den niedrigen Hügeln erhob, verließ die Phoebus Rlaru. Logan de Appling gab die Koordinaten der Erde in den Computer ein, und Rlaru fiel zurück. Die goldene Sonne wurde dunkler, wurde ein Stern unter vielen und verlor sich kurze Zeit später.
XIV
Am Tag nach der Rückkehr der Phoebus zur Erde hielt Freifrau Isabel auf der Terrasse ihres wunderschönen Heimes Ballew eine Pressekonferenz ab. »Insgesamt war die Tournee ein großartiger Erfolg«, teilte sie den versammelten Journalisten mit. »Ohne Zweifel bereicherte sie die Kultur und das Verständnis all jener, für die wir gespielt haben.« Bernard Bickel, der ebenfalls anwesend war, trug die Bemerkung bei: »Wie zu erwarten, haben wir verschiedene Verständigungsebenen angetroffen, in Übereinstimmung mit der ›kulturellen Sicht‹ der Völker, wie ich es nennen möchte, hat sich unser jeweiliges Publikum zusammengesetzt. Sie haben viel von uns gelernt und wir von ihnen. Ich bin sicher, daß wir das musikalische Ansehen der Erde vergrößert haben.« »Was ist mit Rlaru?« rief jemand. »Existiert es? Oder war Adolph Gondar ein Schwindler?« »Es hat niemals Unklarheit über diesen Punkt bestanden«, erwiderte Freifrau Isabel kalt. »Ich habe Ihnen mitgeteilt, daß die Welt existiert, diese Versicherung sollte genügen.« »Sie haben Rlaru also besucht?« »Ja, natürlich, das war eines der Ziele unserer Tournee. Die Welt ist nicht ganz so reizvoll, wie man hätte annehmen können. Wir haben verschiedene Vorstellungen gegeben, die alle gut aufgenommen wurden, obwohl die Eingeborenen kein ausgesprochen hohes Geschmacksniveau besitzen.« »Erzählen Sie uns mehr von Rlaru. Gibt es dort Theater? Varietes?« »Nichts dergleichen. Im Augenblick möchte ich nicht weiter auf dieses Thema eingehen. Mein Neffe, Roger Wool, ist im
Begriff, ein Buch über die Reise zu schreiben, und wenn Sie an weiteren Einzelheiten interessiert sind, finden sie alles darin.« Roger Wool war wirklich sehr fleißig, und seine junge Frau, Mrs. Madoc Wool, leistete ihm dabei unschätzbare Dienste. Die Welt befand sich in einem sehr zufriedenstellenden Zustand, überlegte Roger. Das Vermögen seiner Tante hatte seinen vorherigen Stand wieder erreicht, und er war im Begriff, einen beträchtlichen Erlös aus der Veröffentlichung seines Buches zu ziehen. Es bestand natürlich immer die Möglichkeit, daß Freifrau Isabel zu einem noch kostspieligeren Unternehmen aufbrechen würde, aber das war eine der Ungewißheiten im Leben. Manchmal, wenn er seine Frau anschaute, überkam ihn eine noch dunklere Furcht: Was, wenn ihr ein Mann ihrer eigenen Rasse begegnen würde? Sie hatte ihm versichert, daß es auf der Erde niemanden mehr gab, aber was war mit Yan? Und Rogers Gedanken eilten dann weit, weit durch das All zu einer unfruchtbaren Steinwüste bei einem dunklen Wald, wo ein zerschmetterter Flügel stand… Die Wahrscheinlichkeit ist gering, sagte sich Roger, sehr gering.
ENDE