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Weihnacht Weihnacht! Welch ein liebes, liebes, inhaltsreiches Wort! Ich behaupte, daß es im Sprachschatze aller Völker und aller Zeiten ein zweites Wort von der ebenso tiefen wie beseligenden Bedeutung dieses einen weder je gegeben hat noch heute giebt. Dem gläubigen Christen ist es der Inbegriff der heißersehnten Erfüllung langen Hoffens auf die Erlösung aller Kreatur, und auch für den Zweifler bedeutet es eine alljährlich wiederkehrende Zeit allgemeiner Festlichkeit, der Familienfreude und der strahlenden Kinderaugen. Jenem leuchtet in der tiefsten Tiefe seines Herzens der Wahrspruch »Jesus Christus gestern und heut und derselbe in alle Ewigkeit!« und dieser stimmt wohl unwillkürlich auch mit ein oder läßt wenigstens seine Kinder einstimmen in den Frohgesang »Welt ging verloren, Christus ward geboren; Freue dich, o Christenheit!« Unter Palmen ging der längst erwartete Zweig Isais, des Bethlehemiten, auf, und über Bethlehem strahlte der Stern, welcher die Weisen aus dem Morgenlande zu der Weihnachtskrippe leitete. »Ehre sei Gott in der Höhe!« sangen die himmlischen Heerscharen über diese Stadt, von welcher ein Strahl des Lichtes ausgangen ist, der alle Welt erleuchten und beglücken soll. »Friede auf Erden!« erklang es nach dem himmlischen Gloria, und der Friede, dessen Sinnbild noch heut die Palmen sind, hat sich von dorther ausgebreitet über alle Länder und in alle Herzen, welche seinem Einzuge offen standen. Und wo im Norden keine Palmen wehen, da haben ihre Wedel sich in Tannenzweige verwandelt, welche Sterne und Lichter tragen in der schönen seligen Zeit, welcher die Worte des Propheten gelten: »Mache dich auf, und werde Licht, denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht über dir auf!« Da glänzt der Weihnachtsbaum im Palaste und in der Hütte; da schallen Glockenklänge, um die Geburt des Erlösers zu verkünden, durch die stille Nacht, und von allen Kanzeln und Altären, von Mund zu Mund erklingt der Engelsruf: »Siehe, ich verkündige Euch große Freude, die allen Nationen widerfahren wird, denn Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr in der Davidsstadt!« Zwei Bibelworte sind es vorzugsweise, welche, als ich noch ein kleiner Knabe war, aus dem Munde der alten, frommen Großmutter einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck auf mich machten. Lag es an der Erzählerin oder an dem Inhalte dieser Worte selbst, ich weiß es nicht, aber Thatsache ist, daß diese Verse noch heut zu meinen Lieblingsbibelsprüchen zählen. Der eine Spruch lautet Hiob 19,25: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und er wird mich aus dem Grabe auferwecken«, und der zweite ist eben die Verkündigung des Engels: »Siehe, ich verkündige Euch große Freude - - denn Euch ist heute der Heiland geboren - -«. Der Eindruck dieser Stellen auf mich war ein solcher, daß ich - in noch ganz unreifem Alter - beide komponiert und über die zweite auch noch ein Gedicht - fast möchte ich sagen, verbrochen habe. Daß ich dies hier nicht etwa erwähne, um mich zu brüsten, habe ich durch die Altersangabe und das Wort »verbrochen« bewiesen, vielmehr werden meine lieben Leserinnen und Leser bald bemerken, daß diese Erwähnung einen ganz andern und zwar bessern Zweck verfolgt. Einstweilen sei nur gesagt, daß die Worte »Ich verkündige Euch große Freude« mir damals auch in ganz besonderer Beziehung zu einer wahren Weihnachtsbotschaft wurden. Ich, der ärmste unter den Schülern meiner Klasse, liebte die Musik glühend und nahm außer dem gewöhnlichen Unterrichte noch Privatstunden in der Harmonielehre u.s.w., was mich auf trockenes Brot setzte, denn ich ernährte mich durch Unterrichtgeben à Stunde 50 Pfennige und mußte also die Stunde Harmonielehre zu einem Thaler mit sechs Stunden meiner Privatzeit bezahlen. Das that ich aber gern, und der Hunger von damals hat mir bis heute noch nichts geschadet.
In der Theorie - nicht etwa praktischen Komposition - bei der Motette angelangt, setzte ich mich eines Tages mit der nur durch meine Jugend zu entschuldigenden Idee hin, über das Lieblingsthema »Ich verkündige Euch große Freude« eine Weihnachtsmotette zu komponieren. Wie gedacht, so gethan! Das opus operatum sollte freilich tiefes Geheimnis bleiben, war aber schon bald nach seiner Vollendung aus meinem Kasten verschwunden. Später erfuhr ich, daß ein mir übelwollender Mitschüler es mir wegstibitzt und, um mich zu blamieren, es meinem Lehrer, einem alten, braven Kantor, durch die Post zugeschickt hatte. Ich suchte lange nach dem verlorenen Heiligtume und gab es endlich auf, es jemals wiederzufinden. Wie nun selten ein Unglück allein kommt - und das eigenmächtige Überschreiten der einem Schüler gezogenen geistigen Grenzen kann leicht zum Unglück für ihn werden -, kam mir grad zu jener Zeit ein Unterhaltungsblatt zu Gesicht, in welchem eine Konkurrenz, ein Weihnachtsgedicht betreffend, mit drei Preisen zu 30, 20 und zehn Thalern ausgeschrieben wurde. Mein Lieblingsthema, meine Armut und wer weiß was sonst noch für gute oder nicht gute Gründe, »drückten mir«, wie berufene Dichter zu sagen pflegen, »Die Feder in die Hand«; ich setzte mich abermals hin und brachte ein Gedicht von 32, schreibe und sage mit Worten: zweiunddreißig vierzeiligen Strophen zu Papier. Es ist jedermann, besonders aber jedem Redakteur bekannt, daß ein Gedicht, je länger es ist, desto leichter in den Papierkorb wandert, und auch ich wußte wenigstens, daß der Wert eines Poems nicht mit seiner Länge zu wachsen pflegt; aber nach der Disposition, die ihm zu Grunde lag, hatte es eben nicht kürzer werden können; im Gegenteile, wenn ich alle Gedanken, die mir gekommen waren, niedergeschrieben hätte, wären es wohl tausend Zeilen geworden. Ich fertigte also das verlangte Motto an, steckte dieses mit dem Gedichte in ein Couvert für 3 Pfennige, siegelte es mit für 5 Pfennige Rotlack zu, klebte mein letztes Geld in Gestalt von Briefmarken in die Ecke rechts über der Adresse der Redaktion und trug den Brief in höchst feierlicher Stimmung bis zur übernächsten Straße, wo der Briefkasten hing. Als er mit hohlem Geräusch hineingefallen war, sah ich den Kasten noch lange an. Er kam mir jetzt ganz anders vor, als er früher ausgesehen hatte. Das war aber auch sehr leicht zu erklären, denn zweiunddreißig Strophen auf einmal zu verschlingen, das hatte wohl noch kein vernünftiger Mensch von ihm verlangt. Aber auch mit mir ging eine Veränderung vor. Wer mich beobachtete, der mußte unbedingt bemerken, daß ich ein schlechtes Gewissen hatte. Meine Haltung kam mir unmännlich und mein Gang schlottrig vor; die Augen verloren ihre bisher nach vorn gerichtete Direktion und begannen, sich vorzugsweise und verstohlen bald nach rechts und bald nach links zu richten, ob mir die zweiunddreißig Strophen vielleicht anzusehen seien. Kein Brot, selbst das ganz trockene, wollte mir mehr schmecken; der Schlaf streikte, und wenn er seine Pflicht einmal that, so träumte ich von allerlei Ungeheuerlichkeiten, z.B. von einem großen Briefkasten, welcher in Gestalt einer blauen Riesenkröte auf mein Bett gekrochen kam und mich so lange drückte, bis ich mit einem Schrei erwachte. Meine Arbeiten fertigte ich mit derselben Gewissenhaftigkeit wie vorher, aber sie wurden mir schwerer als früher; meine roten Wangen wurden blaß; ich magerte ab und wurde wortkarg wie eine Stimmgabel, die auch nur dann erklingt, wenn man ihr einen Stoß versetzt. Es war eine schwere, eine schlimme Zeit! Und sie dauerte übermäßig lang. Ende Juli hatte ich dem Briefkasten mein Schicksal vorzeitig anvertraut, denn die »Galgenfrist« ging erst am ersten Oktober zu Ende, und am ersten November sollte die Entscheidung fallen. Wenn ich doch meine »Zweiunddreißig« wieder hätte; ich wollte nicht nur auf jeden, selbst den dritten Preis verzichten, sondern das heilige Versprechen ablegen, nie wieder einen Reim zu schreiben! Das war viel, sehr viel gesagt, weil Reime mir nicht die geringste Schwierigkeit bereiten und mir auch der dritte Preis, zehn harte, blanke Thaler, als ein kleiner Schatz erschienen wäre. Daß mir nichts beschieden sei, also eines negativen Erfolges, war ich vollständig überzeugt, aber diese Angelegenheit konnte auch eine positive und zwar sehr unangenehme Wirkung für mich haben. Ich konnte nämlich den Gedanken nicht los werden, daß die »löbliche« Redaktion mein Gedicht nicht an mich zurücksenden, sondern es mit einigen besondern Randbemerkungen unserem strengen »Alten« zur Nachachtung zustellen werde. Wer Gymnasiast entweder war oder noch ist,
der weiß, wen ich mit diesem »Alten« meine, und wird mein heimliches Grauen zwar nicht ermessen und nachfühlen aber doch wenigstens ahnen können. Seiner gestrengen hatte mir zwar immer wohlgewollt und manche Härten meiner Lage zu mildern gesucht; er ließ mich sogar seinem Sohne wöchentlich zwei Stunden Nachhilfsunterricht erteilen, wofür ich Sonnabends in der Küche Reis mit Rindfleisch bekam und dann als Nachgenuß der Lieblingskatze seiner Frau den Rücken krabbeln durfte; aber falls die »Löbliche« meine Befürchtung zur Wahrheit werden ließ, so war für nichts mehr, weder für den Reis noch für die Katze einzustehen! So also türmten sich die Wetterwolken immer schwärzer und drohender über mir zusammen, und als der erste November kam, war er, wie ich heut noch weiß, ein zwar kalter aber sonniger Herbsttag, in meinem Innern aber schneite es schwere, große Flocken, nicht hellen Schnee, sondern es war ein ganz anderer und viel dunklerer Stoff. Nun konnte ich die Tage, nein, die Stunden zählen; sie wurden mir zu Ewigkeiten; aber irdische Ewigkeiten gehen vorüber, diese also auch. Und nun kommt es - - - es ist da; das fürchterliche Verhängnis nämlich! Es war am sechsten November, nach der letzten Vormittagsstunde, als ich zum »Alten« gerufen wurde. Zwei Treppen hinauf, jede zwanzig Stufen, auf jede zwanzig Schläge meines Herzens, macht in Summa achthundert; weniger sind es wahrscheinlich nicht gewesen. Ich klopfte an, trat ein und - - sah nichts, weil meine Augen nebelten. Es vergingen einige Augenblicke; der Nebel teilte sich, und ich sah den Gewaltigen mit Augen, als ob er mich durchbohren wolle, vor mir stehen. »May!« erklang es in seinem tiefsten Baß. Ich verbeugte mich. Was ich für ein Gesicht gemacht habe, das weiß ich nicht, denn nur er hat es gesehen und mir nichts darüber angedeutet. »May!!« Ich verbeugte mich wieder. »May!!!« Dritte Verbeugung; aber nun war ich entschlossen, mich nicht mehr zu bücken. »Sie - - sind - - ja - - ein - - ganz - -« Ich sah ihn so scharf an, daß er innehielt; beleidigen wollte ich mich auf keinen Fall lassen. Da lachte er und fuhr in einem ganz andern Tone fort: »Geht mich eigentlich nichts an, ganz und gar nichts; ist nur Ihre Privatsache, wenn Sie sich mit Blamagen herumriskieren. Warum auch nicht? Sie sprechen ja stundenlang in Knüppelversen, und Ihr Deutsch - - hm! Aber Sie hätten es mir doch wenigstens vorher zur Durchsicht geben können!« »Das Gedicht?« fragte ich. »Natürlich! Ich hätte die Fehler angestrichen, die noch drinstecken und von dem Redakteur gar nicht bemerkt worden sind. So ein Mensch weiß ja gar nicht, was zu einem guten Gedicht gehört; woher sollte er es auch wissen?! Kuh - Muskate - -!« »Es ist also zurückgeschickt worden?« »Ja, im Probedruck, so was man Korrektur oder Revision nennt. Dabei ein Brief, nicht an Sie, sondern an mich. Sie bekommen ihn natürlich nicht zu lesen - - fällt mir gar nicht ein! Ich werde antworten, daß zwar Ihr Name, aber sonst weiter gar nichts unter das Gedicht gesetzt werden darf; Sie verfallen sonst dem Tintenteufel, der der schlimmste von allen Teufeln ist. Haben mehr zu thun, als Gedichte zu machen! Junges Bürschchen!« Ich holte tief, tief Atem. Also meine Zweiunddreißig waren angenommen worden! Dritter Preis zehn Thaler - - -! Mir wollte es wieder vor den Augen nebeln! Da fuhr er fort: »Was ich sagen wollte: Werde Ihnen die Nachhilfsstunden von jetzt an bar bezahlen, zweimal fünf, also zehn Groschen. Den Sonnabendstisch behalten Sie trotzdem. Werde Sie wegen Ihrer Kühnheit
und dem Gedichte später noch extra vornehmen; habe jetzt keine Zeit; muß zu Tische gehen. Hier ist das Geld. Nun gehen Sie!« Er gab mir ein Couvert in die Hand. Ich bedankte mich mit vor Aufregung heiserer Stimme und schoß zur Thür hinaus, nachdem ich eine ganz besonders tiefe Verbeugung gemacht hatte, der ich doch vorhin fest entschlossen gewesen war, keine mehr zu machen. Wie ich die Treppe hinunter und dann in meine »Bude« gekommen bin, das weiß ich selbst heut noch nicht. Ich öffnete das Couvert. Was war darin? Ein kurzes Schreiben der Redaktion - - drei Zehnthalernoten! Die schreckliche, große, blaue Kröte hatte, wie jede Kröte im Märchen, Geld für mich bedeutet - - nicht den dritten, sondern den ersten Preis. Was ich that, als ich wieder ruhig geworden war? Die Antwort ist nicht nötig! Ich habe weder in guten noch in schlimmen Lagen jemals vergessen, daß das Gebet eine heilige Pflicht ist und Erleichterung bringt. Und wie es - wenigstens dem Sprichworte nach - mit dem Unglücke ist, so ist's auch mit dem Glücke; es kommt niemals allein. Als ich am Nachmittag zum Unterricht bei meinem alten Kantor erschien, zeigte er sich außerordentlich aufgeräumt. Er war zwar stets ein lieber, alter, munterer Herr, heut aber zeigte er sich besonders heiter und gesprächig und ließ einige Andeutungen über »gute Arbeit« und »Buchhändlergeld« fallen, so daß ich mir im stillen sagte, daß er mit dem »Alten« über meinen Glücksfall gesprochen haben müsse. Als ich nach der Stunde, wie ich gewöhnlich that, denn ich borgte nie, den Thaler auf die gewohnte Stelle legte, sagte er: »Ist nicht nötig, lieber May! Sie können Ihren sauer verdienten Thaler behalten.« »Dieser hier ist nicht sauer verdient, Herr Kantor.« »Nicht? Wieso? Vielleicht ein Geschenk?« »Nein, kein Geschenk. Er ist verdient, aber nicht sauer. Ich habe dreißig Stück bekommen; das wissen Sie doch!« Er sah mich erstaunt an und fragte: »Dreißig Stück, dreißig Thaler! Sie Krösus, Sie! Und ich soll es wissen? Keinen Laut, keine Note, keine halbe, keine Sechzehntelnote habe ich davon gehört!« »Aber Sie haben doch vorhin davon gesprochen!« »Ich? Nicht daß ich wüßte!« »Sie sprachen von Buchhändlergeld!« »Ja, das habe ich freilich gethan; aber das ist etwas, wovon Sie noch gar nichts wissen. Was hat es denn für eine Bewandtnis mit Ihren dreißig Thalern? Oder dürfen Sie es nicht erzählen?« »Natürlich darf ich es! Und grad Sie, Herr Kantor, sind der, dem ich es am liebsten erzähle!« Er lief, indem ich es that, ganz aufgeregt in seinem kleinen Zimmer hin und her und rief, als ich zu Ende war: »Dreißig Thaler, dreißig schwere Thaler für ein Gedicht, für - - wieviel Strophen hat es?« »Zweiunddreißig vierzeilige.« »Auch noch bloß vierzeilige! Das macht achtundzwanzig Groschen pro Strophe und sieben Groschen für jede Zeile, für jeden Vers! Dazu die Ehre, den ersten Preis errungen zu haben! Und ich habe Wunder gedacht, was ich da - - - na warten Sie noch! Haben Sie Ihr Gedicht im Kopfe?« »Ja.« »Her damit! Ich will auch einmal ein Preisgedicht für dreißig Thaler hören!« Während er immer noch lebhaft hin und her wanderte, stellte ich mich in die einzige freie Ecke und
deklamierte: »Ich verkünde Die Euch Denn geboren Euer Heiland Jesus Christ!
große widerfahren wurde
Jubelnd tönt es Sonnen künden's Weihrauch duftet Beter knieen nah und fern. Horch, da schallt Feierlich der Und im Schwingt sich auf der Chorgesang:
Freude, ist, heute
durch jedem auf
die
vom Glocken majestätschen
>Herr, nun lässest Deinen Diener zu Denn sein Auge Deinen Heiland noch gesehn!< - -«
Sphären, Stern; Altären,
nahen
Dome Klang, Strome
du
in dir hat
Frieden sehn, hienieden
»Halt, halt!« unterbrach er mich da eifrig. »Das Gedicht scheint ja gut, ganz gut zu sein, aber zweiunddreißig Strophen, das ist mir zu lang, viel zu lang. Ich muß Ihnen etwas sagen und kann nicht damit warten, bis Sie zu Ende sind. Da, sehen Sie sich einmal das hier an! Kennen Sie das?« Er hielt mir ein gedrucktes Notenheft hin und sah mir dabei mit dem Ausdrucke größter Spannung in das Gesicht. Es war die Partitur einer Motette, in welcher die separat gedruckten Stimmen lagen. Ich las den Anfang des Textes: »Siehe, ich verkündige Euch große Freude - -« »Nicht hier lesen, nicht hier, sondern den Titel, den Titel!« drängte er ungeduldig. Ich that es und erschrak, aber in freudiger Weise, denn es war meine Motette, die mir auf eine so unerklärliche Art abhanden gekommen war. »Nicht wahr, das ist etwas, das ist auch etwas?« fragte er triumphierend. »Eine gedruckte Komposition ist mehr, viel mehr wert als ein gedrucktes Gedicht. Ein Gedicht kann jeder machen, der die Reime dazu aus der Luft hergreift; aber eine Komposition, das ist etwas ganz anderes; das kommt nicht aus der Luft, sondern wo anders her! Da muß man etwas gelernt und ganz besonders einen tüchtigen Lehrer gehabt haben. Und gute, tüchtige Lehrer können nur die Herren Kantores sein, welche die Orgel schlagen und den Kirchengesang leiten. Der Kirchengesang ist die höchste -« »Aber bitte, Herr Kantor,« unterbrach ich seinen Redefluß »Sie sehen mich im höchsten Grade erstaunt. Diese Motette habe ich nicht komponiert, daß sie gedruckt werden soll; sie ist eine Übungsarbeit, die im Kasten liegen bleiben sollte; plötzlich aber war sie weg. Wie ist sie in Ihre Hände gekommen, und woher wissen Sie, daß sie von mir ist? Auf dem Originale hat mein Name nicht gestanden.« »Das ist wahr, sehr wahr,« lachte er. »Aber denken Sie denn wirklich, daß ich Ihre Handschrift nicht kenne und auch die von Krüger nicht?« »Krüger?« fragte ich. »Welchen Krüger meinen Sie?« »Dumme Frage! Natürlich Krüger, der Ihnen damals wegen Ihrer Arbeit über die Quintseptaccorde die erste Censur abtreten mußte. Er hat sich rächen wollen, wird aber nun durch mich bestraft, daß er sich blauärgern soll!« »Ich verstehe Sie noch nicht.« »Immer noch nicht? Sie sind doch sonst nicht so schwer von Begriffen. Da muß ich Ihnen doch
gleich noch zweierlei zeigen, worüber Sie sich, wenigstens über das eine, wahrscheinlich wundern oder aber auch ärgern werden. Da, zunächst das. Wessen Handschrift ist das?« Er gab mir ein großes, abgestempeltes Couvert, auf welchem sein Name stand. Ich brauchte nur einen Blick darauf zu werfen, um antworten zu können: »Das hat Krüger geschrieben; man sieht es sofort.« »Ja; der Kerl hat sich nicht einmal Mühe gegeben, seine Hand zu verstellen. Er hat wahrscheinlich gedacht, daß ich das Couvert wegwerfe, ohne es anzusehen. Nun aber das. Sehen Sie es sich genau an!« Es war meine Partitur der Motette. Indem ich die Systeme nur flüchtig überblickte, fand ich nicht, was er meinte; da machte er mich darauf aufmerksam: »Halten Sie das Papier gegen das Licht, so werden Sie die radierten Stellen finden.« »Was! Er hat radiert?« »Ja, er hat radiert, um Fehler hineinzumachen; die Absicht können Sie sich wohl denken!« »Das wäre eine Schlechtigkeit, eine Gemeinheit, die -« »Lassen Sie das!« unterbrach er mich. »Ich habe die Sache schon selbst in die Hand genommen. Ich habe ihn vorgehabt, und er hat es eingestehen müssen; die Sache wird noch vor die Konferenz kommen. Inzwischen habe ich eine Abschrift, natürlich ohne die hineingemachten Fehler, genommen und die Motette dann dem Buchhändler eingeschickt, Ihnen zuliebe und diesem Krüger zum Ärger. Er hat sie angenommen, und wissen Sie, welches Honorar er Ihnen zahlt?« »Honorar? Also Geld, auch hier Geld?« »Natürlich! Geschriebene Noten gegen Banknoten oder klingende Münze; anders thue ich es nicht. Er hat einstweilen fünfhundert gedruckt und dafür fünfundzwanzig Thaler bezahlt. Sie bekommen also zwar bloß fünfzehn Pfennige für das Exemplar, aber das ist doch immer besser, als wenn die Motette in Ihrem Kasten läge und gar nichts brächte. Er schickte Papiergeld; ich habe es aber umgewechselt, weil Silber besser klingt. Es ist ein ganzer, großer Haufen Geld. Da haben Sie ihn! Lassen Sie nichts davon fallen!« Er zog den Tischkasten auf, griff mit beiden Händen hinein und hielt sie mir dann, gefüllt mit Thalerstücken hin. Ich war beinahe bestürzt über diese zweite, so ganz unerwartete Gabe des Glückes. Er schob mir das Geld lachend hüben und drüben in die Hosentaschen und rief dabei: »Nehmen Sie nur, nehmen Sie! Wer weiß, ob Ihnen in Ihrem ganzen Leben wieder einmal eine Komposition auch nur einen Groschen einbringt; drum greifen Sie jetzt zu; Sie können es ja brauchen! Übrigens wird die Motette eingeübt und hier in der Kirche gesungen; der Krüger muß platzen vor Ärger, das heißt, wenn er nicht schon vorher fort muß, denn die Gemeinheit, welche er hier bewiesen hat, verdient eine so exemplarische Bestrafung, daß ich überzeugt bin - -« »Bitte, Herr Kantor,« fiel nun ich ihm einmal in die Rede. »Sie sind mir immer freundlich gesinnt gewesen, und ich denke, daß Sie mir auch jetzt die Erfüllung eines Herzenswunsches nicht abschlagen werden.« »So? Hm, ich ahne schon! Was ist das für ein Wunsch?« »Bringen Sie Krüger nicht vor die Konferenz! Ich bin heute so glücklich und würde die ganze Freude an diesem Glück verlieren. wenn er in Strafe käme.« »Ist das nicht zuviel verlangt?« »Wohl nicht. Er ist ja die eigentliche Ursache der frohen Überraschung, die Sie mir bereitet haben. Sie hätten gewiß keinen Verleger für die Motette gesucht, wenn er sie Ihnen nicht eingeschickt hätte, um mich in Ihrer Meinung herabzusetzen.«
Da gab er mir die Hand und sagte, jetzt ernster als vorher: »Sie machen mir eine doppelte Freude. Nämlich erstens, daß Sie für Krüger bitten. Ich habe ihn nur deshalb noch nicht zur Anzeige gebracht, um ihn mit meinem Verweise und einem tüchtigen Ärger davonkommen zu lassen. Darum habe ich gewartet, bis die Motette gedruckt worden ist. Hätten Sie die Anzeige gewollt, so wäre sie erfolgt; nun aber soll er noch einen kräftigen Rüffel unter vier Augen bekommen und dabei erfahren, daß er die übrige Straflosigkeit nur Ihrer Fürbitte verdankt. Er wird sich blau und schwarz darüber ärgern, daß die Motette im Druck erschienen ist, daß sie Ihnen Geld eingebracht hat und daß er sie nun sogar mitsingen muß.« »Soll er das?« »Ja; anders thue ich es nicht; er hat eine gute Stimme und soll sogar, grad zu seinem Ärger, ein Solo bekommen, nämlich, wissen Sie, den dreistimmigen Solosatz in As-dur mit dem Texte: >Drum gehet hin nach Bethlehem; da werdet Ihr finden das Jesuskind in einer Krippe liegen.< Das war der erste Punkt, über den ich mich um Ihretwillen freue. Der andere Punkt bezieht sich auf Ihre Einsicht, daß ich Ihre Komposition ohne den angegebenen Grund wohl keinem Verleger angeboten hätte.« »Natürlich! Eine Schülerarbeit, mit vielen Unterlassungsfehlern, weiter nichts!« »Richtig, sehr richtig! Das Wort Unterlassungsfehler ist gut gewählt und bezeichnet genau das, was ich sagen will. Da Sie die Musik nicht als Fachstudium treiben wollen, werden Sie zwar soviel komponieren lernen, wie man, um mich eines Volksausdruckes zu bedienen, für Haus und Küche braucht, mehr nicht; das genügt aber auch für Sie. Aber auch nur so weit sind Sie jetzt noch lange nicht. Sie haben zwar mit dieser Motette aus Zufall einen Treffer gemacht, aber ob Sie jemals wieder einen solchen machen werden, das läßt sich jetzt nicht sagen, denn Sie haben noch viel, sehr viel zu üben und zu lernen. Ich meine, daß Ihnen ernste, fromme Themata am besten glücken werden; das liegt überhaupt auch so in Ihrem ganzen Wesen. Direkte Fehler, sogenannte Begehungssünden, kommen in Ihrer Motette nicht vor; sie ist da sauber geschrieben. Aber die Übung fehlt, die Gewandtheit, die Inspiration. Denken Sie sich einen guten Sonntagsreiter und dann einen Schulreiter im Cirkus! Der Sonntagsreiter in der Komposition sind Sie; es fehlt Ihnen die hohe Schule; Sie kennen Ihr Pferd nicht und auch nicht die verschiedenen Hilfen, die Sie ihm geben müssen. So etwas will nicht nur angeboren, sondern auch gepflegt und geübt sein. Ein geübter Reiter der hohen Schule würde Ihre Motette ganz anders ein- und zugeritten haben. Verstehen Sie mich?« »Ja, Herr Kantor. Ich sitze zu steif im Sattel und habe zwar körperliche aber nicht auch geistige Fühlung mit dem Pferde.« »So ist es; ja, so ist es ganz genau! Darum habe ich, wie Sie später wohl merken werden, einigen Ihrer steifen Figuren mehr Gewandtheit verliehen. Sie werden mir das, wenn Sie die Motette erst singen hören, nicht übelnehmen, zumal ich Ihnen von Ihren fünfundzwanzig Thalern nicht einen einzigen dafür in Abzug bringe.« Der liebe, alte Herr sagte das mit seinem hübschen, herzgewinnenden Lächeln; dann fügte er hinzu, indem er mir die Hand zum Abschiede reichte: »Ich würde Ihnen, dem armen Teufel, den Unterricht gern umsonst erteilen, aber Sie wissen ja, daß ich das bei meinen Gehaltsverhältnissen nicht kann. Sie werden das überstehen und vielleicht einst wohlhabender werden, als ich bin. Denken Sie dann an Ihren alten Kantor, der Ihrer ersten Motette auf die Beine geholfen hat. Nehmen Sie das Leben auch fernerhin so ernst wie jetzt, und nun für heut, leben Sie wohl!« Dieser brave Kantor, der mir stets mit gleichem Wohlwollen entgegenkam, gehört zu denjenigen Personen, denen ich noch jetzt, nach langen Jahren, eine unverminderte Dankbarkeit widme. Man wird später erkennen, warum ich diese freundliche Scene von ihm erzählt und dabei keinen Namen genannt habe. Er war ein Ehren- und humaner Mann, verlegte aber seine Welt nur in das kleine
Notenzimmer, weil er auf Familienglück hatte verzichten müssen. Man kannte seine Frau als arge Xantippe, die, wie man sich erzählte, den einzigen Sohn, den sie besaßen, durch ihre Härte nach Amerika getrieben hatte. Ich war also im Besitze von fünfundfünfzig Thalern; damals welch ein großartiger Reichtum für mich! Es war mir zu viel; ich war ja gesund und konnte arbeiten. Dreißig schickte ich meinen armen Eltern; zwanzig legte ich für unvorhergesehene Bedürfnisse zurück, und fünf bestimmte ich zu einer Weihnachtsreise, auf welcher ich mich ausnahmsweise einmal recht splendid behandeln wollte. Fünf harte Thaler zu einer Reise von höchstens einer Woche, die konnten ja gar nicht alle werden! Noch mehr als zwanzig Groschen pro Tag, das mußte ja das reine Schlaraffenleben werden! Ich munkelte sogar ganz heimlich schon davon, natürlich zu mir selbst, daß ich mir unter Umständen eine halbe Flasche Wein, natürlich so billig und aber auch so gut wie möglich, gestatten werde. Welche Sorte ich wohl wählen und wie hoch im Preis ich gehen dürfe, das beschäftigte mich sehr lebhaft täglich in der halben Viertelstunde, welche dem Einschlafen voranzugehen pflegte! Du glückliche Zeit, wie lange bist du vorüber und niemals, niemals zurückgekehrt! Der Kantor machte sein Versprechen wahr; die Motette wurde eingeübt und Krüger mußte das dreistimmige Solo mitsingen, wofür er mich mit einem Haß bedachte, der mir manchen Ärger bereitete. Dann erschien mein Weihnachtsgedicht; jeder Mitschüler wollte es haben; die betreffende Nummer des Blattes wurde infolgedessen in vielen Exemplaren von unserer Buchhandlung bezogen, und als nachher das allmonatliche Freideklamieren stattfand, so genannt, weil jeder sein Gedicht sich selbst wählen konnte, leiteten alle meine dreiundzwanzig Klassengefährten ihre rhetorischen Produktionen folgendermaßen ein: »Weihnacht, Gedicht von Karl May«. Ich war der einzige, welcher einem sogenannten Klassiker die Ehre erwies, auch mit genannt zu werden. Es wurde Mode, mein Gedicht im Notizbuch überall mit herumzutragen, um es bei jeder unpassenden Gelegenheit hervorzunehmen, und ich hatte das zweifelhafte Glück, noch monatelang mit Fragen bestürmt zu werden, warum ich grad diese und nicht jene Wendung gebraucht oder grad diesen und keinen anderen Reim gewählt habe. Es wurden Verse über Verse geschmiedet, bis die ganze Lehrerschaft sich endlich über die »Katheten und Moneten«, »Verbalien und Australien«, »Romulus und Fidibus«, »Multiplikant und Elefant« so erbost fühlte, daß unter dem Vorsitze des bereits genannten »Alten« beschlossen wurde, gegen diesen Unfug ohne Nachsicht vorzugehen. Die nun folgenden Verweise und anderen Strafen erreichten zwar ihren Zweck, hatten aber leider für mich die Folge, daß ich, der vorher so Vielumworbene, nun wie eine Selters- unter lauter Champagnerflaschen gemieden wurde, was den ebenso wohlbegründeten wie unerschütterlichen Vorsatz in mir wachrief, meine etwaigen Gedichte auf alle Fälle erst nach meinem Tode erscheinen zu lassen. Daß ich diesem Entschlusse bis auf einige wenige Ausnahmen treu geblieben bin, macht mich gewiß des Dankes der Mit- aber wohl schwerlich der Bewunderung der Nachwelt wert! Was die oben erwähnte Weihnachtsreise betrifft, so pflegte ich in allen Ferien eine längere Fußwanderung vorzunehmen. Ich lag zufolge meiner Neigung, meiner Zukunftspläne und aus noch anderen Ursachen mehr über den Büchern als meine Mitschüler und mußte mich darum von Zeit zu Zeit einmal tüchtig körperlich ausarbeiten, was durch eine weite Gehtour am besten geschehen konnte. Dabei schloß sich mir meist ein mir sehr sympathischer Mitschüler an, der, wenn auch nicht so arm wie ich, aber doch ebenfalls zur Sparsamkeit veranlaßt war. Ein fleißiger und ernster Junge, pflegte er, außer mit mir, nicht viel zu sprechen und wurde deshalb Cyprinus Carpio oder kurz weg Carpio genannt, weil Karpfen bekanntlich auch nicht gern viele Worte machen. Wir pflegten unsere beiderseitige Barschaft zwar nicht in eine gemeinsame Reisekasse zu verschmelzen, aber doch der eine mit den Mitteln des andern zu rechnen, was zur Folge hatte, daß der, welcher mehr besaß, sich stets bemühte, heimlich dafür zu sorgen, daß der gegenwärtig Ärmere nicht unter seinem augenblicklichen Proletariat zu leiden hatte. Es kamen da Beispiele von Selbstlosigkeit und Aufopferung vor, welche wirklich rührend waren, obgleich oder vielleicht grad weil es sich dabei um ganz geringe Beträge, um Groschen oder gar nur um Pfennige handelte. Das ganz natürliche Ergebnis dieses Verhaltens war, daß am Schlusse jeder solchen Reise bei beiden der Rest ihres
Geldes genau derselbe war. Wenn einer unserer heutigen Finanzminister dabeigestanden und gehört oder gesehen hätte, mit welch einer weisen und bedachtsamen Wichtigkeit wir über die geringste Ausgabe verhandelten, er hätte von uns lernen können. Wir sind sogar einmal über den Fluß geschwommen, um zwei Kreuzer Fährgeld zu ersparen. Dieser prächtige Junge wollte die von mir geplante Weihnachtsreise gar zu gern mitmachen, glaubte aber, daß ich ihn dieses Mal nicht mitnehmen wolle, weil er nicht mehr als zwei Thaler zusammenbringen konnte; da war ich gegen ihn doch der reine Millionär! Ich machte ihn aber durch die Versicherung glücklich, daß es einem solchen Millionär ein Leichtes sei, einen armen Teufel mit durchzuschleppen. Er mußte mit! Wir konnten die Wanderung nicht gleich mit dem Beginne der Weihnachtsferien antreten, denn es verstand sich ganz von selbst, daß wir die Feiertage bei unseren Eltern verlebten, und als wir dann am bestimmten Orte zusammentrafen - denn wir hatten natürlich wie alle bedeutenden Menschen ein »Rendezvous« verabredet, teilte er mir strahlenden Auges mit, daß sein Vater ihm einen Thaler zugelegt habe. Wir standen also nicht mehr 2 sondern 3 zu 5, und er hatte sich meiner Million ganz bedeutend genähert. Und wohin sollte unsere Reise gehen? Gewöhnlich marschierten wir auf dem Gebirge zwischen Sachsen und Böhmen hin. Wir konnten uns da einbilden, die Pyrenäen zwischen Frankreich und Spanien oder gar den Himalaya zwischen Tibet und Indien zu durchwandern. Wir hatten da Städte und Dörfer, Berge und Thäler, Felsen und Wiesen, Flüsse und Bäche, Sonnenschein und Regen, kurz, alles, was unser Herz begehrte. Mehr konnten wir nicht verlangen und auch in keiner andern Gegend finden. Dieser Schauplatz unserer Weltreisen war uns lieb geworden, und es gehörte schon ein ungewöhnlicher Entschluß nach einer vorhergehenden langen Konferenz dazu, wenn wir einmal einen andern wählten. Eigentlich hatte diese treue Anhänglichkeit auch einen weniger psychischen Grund, den ich, nachdem wir ihn so lange geheimgehalten haben, heut doch einmal verraten will. Ich kann das nun ohne größere Gefahr thun, weil wir jetzt doch nicht mehr da oben herumsteigen und also andere, ebenso würdige Menschen von den Vorteilen unseres Geheimnisses profitieren lassen können. Es gab eine für uns sehr wichtige Ursache, welche uns stetig oder vielmehr unstet zwischen Österreich und Sachsen hin und her pendeln ließ. Diese Ursache hieß: Kurs, der Geldkurs nämlich. Man glaube ja nicht, daß nur wirkliche, faktische Millionäre sich mit den Geldkursen zu beschäftigen haben, o nein; je weniger man besitzt, desto wichtiger wird der Kurs; das haben wir beide an uns selbst erlebt. Damit soll freilich nicht etwa gesagt sein, daß folglich der Kurs für den am allerwichtigsten sei, der gar nichts besitzt, sondern es müssen zwei tüchtige Geldleute zusammentreten, welche gewisse, sichere Fonds besitzen, z.B. der eine drei und der andere fünf Thaler; die machen eine Reise, eine sogenannte Kursreise, von welcher sie, besonders wenn sie dem privilegierten Stande buntbemützter Schüler angehören, ganz ungeahnte Vorteile ziehen können. Aber pfiffig muß man sein, und Schüler muß man sein! Warum, das werde ich gleich erklären. Wie steht heut der Gulden? So und so! Hm! - - Wenn der gewöhnliche Sterbliche mit Thalern zahlt und Gulden heraushaben will, dann stehn die Thaler schlecht. Zahlt er Gulden und will Groschen haben, so stehen die Gulden schlecht. Und will er sich überzeugen, so ist kein Kurszettel zu haben. Tritt aber ein ungewöhnlicher Sterblicher, also ein Schüler herein, so traut man ihm kein Geld zu, obgleich er entweder drei oder gar fünf Thaler in der Tasche hat. Man sagt ihm ganz ehrlich, wie heut der Gulden steht, und wenn man das nicht weiß, so zieht er selbst einen für ihn vorteilhaften Kurszettel hervor, von welchem leider das Datum abgerissen ist. Er ißt und trinkt, bezahlt und geht dann fröhlich von dannen. Wohin? Ja, darin liegt das großartige Geheimnis. Nämlich steht der Gulden schlecht, so kehrt der Schüler auf sächsischer Seite ein und läßt sich für einen Thaler österreichisches Geld geben; steht der Gulden hoch, so kehrt er auf böhmischer Seite ein und wechselt die Kreuzer in Groschen und Pfennige um. Wenn der Schüler ein bedeutender Kapitalist ist und es also lange genug aushalten und durchführen kann, so ist es ihm nicht schwer, Gewinne von solcher Höhe einzustreichen, daß ein gewöhnlicher Sterblicher, wenn er dies erführe, ihn beneiden würde. Carpio und ich, wir also, haben bei einem Reisegelde von zusammen vier Thaler in
acht Tagen böhmischerseits elf Kreuzer und auf der sächsischen Seite sechzehn Pfennige profitiert, was unserm Reiseunternehmen einen vorher ganz ungeahnten Schwung verlieh. Es gehörte aber auch ein gradezu großartiger Aufwand von Scharfsinn und Unternehmungsgeist dazu, die Kursverwickelungen zu durchschauen und jede Chance augenblicklich zu benutzen. Wir sind z.B. in strömendem Regen stundenweit von Sachsen hinüber nach Böhmen oder in umgekehrter Richtung gerannt, um uns für fünfzig Kreuzer Pfennige oder für fünfzig Pfennige Kreuzer geben zu lassen. Der Profit wurde in Powidl, sauren Gurken oder andern nahrhaften Dingen angelegt, und reichte er nicht aus, so war das Kapital ja auch nur da, um nach und nach verbraucht zu werden. Auf diese Weise kam man im Zickzack zwischen Sachsen und Böhmen herüber und hinüber immer vorwärts, hatte geistige und geschäftliche Anregung in Menge, triumphierte über alle Kurse der Erde und fühlte eine wahre Protzenseligkeit, weil man alle Tage von früh bis zum Abende mit Geld nur so um sich warf, was man dann nach den Ferien leider nicht mehr konnte. Wir haben da köstliche Zeiten verlebt, in denen uns kein Talken und kein Zwetschgenbrötchen zu teuer war, die Bauerngüter gar nicht mitgerechnet, in denen man umsonst mit essen und soviel Milch trinken durfte, daß die Kuh hätte brummen mögen! Im Winter, wo der Schnee da oben im Gebirge zuweilen haushoch liegt, war es freilich schwieriger, dem Kurs hinüber und herüber nachzusteigen; aber wir hatten uns, wie man weiß, mit ganz beträchtlichen Mitteln versehen und konnten nun auch einmal als Kapitalisten reisen, denen der Kurs von Zeit zu Zeit mal Schnuppe ist. Ausgerüstet waren wir in jeder Weise so vorzüglich, daß wir sofort eine Besteigung des Montblanc hätten vornehmen können, ohne etwas zu vermissen. Regenschirme gab es natürlich nicht; das wäre unmännlich gewesen, Spazierstöcke auch nicht; unsere Wanderstäbe wuchsen, ihrer Erlösung harrend, in irgend einem Busche. Überröcke? Pfui! Wir waren deutsche Jünglinge! Handschuhe? Wenn der Mensch welche tragen sollte, wäre er mit Handschuhen geschaffen worden. Irgend welches Pelzwerk? Nein; das ist für Eskimos da, aber nicht für einen Carpio und seinen fünf Thaler schweren Freund! Aber eine gemeinschaftliche Zeichenmappe hatten wir uns aus fünf Bogen Konzeptpapier zusammengeheftet; Carpio trug sie in einem alten, verwaisten Fernrohrfutterale auf dem Rücken. Es ist leider nichts hineingekommen, denn stets wenn wir einen des Kopierens werten Gegenstand fanden, waren unsere Finger vor Kälte so steif, daß wir den Bleistift nicht regieren konnten. Ich hatte eine Botanisiertrommel umhängen, aber natürlich nicht zum Botanisieren oder Pilzesuchen jetzt im Winter; sie enthielt unser ganzes Reisegepäck nebst allen Toilettenartikeln, welche für uns auszudenken waren; ich werde mich hüten, sie zu verraten! Viele Nummern aber waren es nicht! Zwei Landkarten hatte Carpio auch besorgt, eine von Sachsen und eine von Böhmen, weil wir doch zwischen beiden lust- und schneewandeln wollten; aber schon am ersten Tage stellte es sich heraus, daß sie, wie er behauptete, von seiner Schwester verwechselt worden waren; die eine war von Schweden und Norwegen, die andere von Algier, Tunis und Tripolis. Wir beschlossen einstimmig, sie nicht wegzuwerfen, sondern für spätere Reisen nach diesen Ländern aufzubewahren. Auch Nähzeug war da. Man braucht das auf Reisen, der abgerissenen Knöpfe wegen; aber was eine Häkelnadel dabei wollte, das war mir ein Rätsel. Mit Cigarren waren wir sehr gut versehen. Jeder hatte zwei Stück à drei Pfennige. Sie waren nur für ganz besonders festliche Gelegenheiten bestimmt, und wir faßten den kühnen Plan, sie nicht zu verzollen, sondern nach Österreich einzuschmuggeln. Wir steckten sie also in die Stiefelschäfte. Als wir sie am Abende hervorholen wollten, waren sie zu Mehl zerrieben; sic transit gloria mundi! Die übrigen Ausrüstungsgegenstände waren mehr intimer Natur, je nach den individuellen Passionen des Besitzers: Bindfaden, Feuerschwamm; ein Eissporn Carpios, zum abwechselnden Gebrauch für beide Beine; ein Fläschchen Fischthran als Stiefelschmiere; er, oder vielmehr seine Schwester wieder, hatte aber Terpentin erwischt; ein Brennglas, welches ein Erbstück von seinem Großoheim war. Als ich ihn fragte, zu was es jetzt im Winter dienen solle, warf er alle meine Kenntnisse durch die herablassende Bemerkung über den Haufen, daß man im Winter ebenso wie im Sommer den Meridian von Komotau berechnen könne. Noch andere Dinge anzuführen, würde indiskret sein. Höchstens darf ich noch erwähnen, daß Carpio ein hölzernes Sicherheitsschloß
eigener Erfindung bei sich trug. Es sollte zur Sicherstellung unsers Lebens und mehr noch unserer Kapitalien dienen, falls wir gezwungen sein sollten, in einem fragwürdigen Hause zu übernachten. Als er es gleich im ersten Quartier an die Thür befestigen wollte, hatte er, oder vielmehr seine Schwester, wie er behauptete, die dazu nötigen vier Schrauben daheim gelassen. Es muß gesagt werden, daß unser Rendezvous das Städtchen Rehau in Oberfranken war. Von da wanderten wir, die vier Cigarren schmuggelnd, nach Asch, und dann ging es auf Eger zu. Mit dieser für unsere Finanzen ganz bedeutenden Großstadt konnten wir uns nicht abgeben, wanderten also hindurch und noch einige Kilometer weit nach Tirschnitz, wo wir nach langem, anstrengendem Marsche abends spät und ermüdet ankamen. Wir zahlten jeder ein Bier, für zwanzig Kreuzer Kartoffeln mit Quark und ließen uns dann unsern Schlafsalon anweisen, welcher die schwere Summe von fünfzig Kreuzern kostete. Hier war es, wo uns die Cigarren die größte der Enttäuschungen bereiteten und dann das Sicherheitsschloß den Dienst versagte. Wir steckten unsere Kapitalien also in den Ofen, aus welchem Carpio aber nach einigem Überlegen seine Einlage wieder herausnahm, um sie in seinem Bette zu verbergen. Er meinte, es sei nicht vorteilhaft, beide Beträge an einem und demselben Orte aufzubewahren, wo dann, falls ein Einbrecher käme, alles verloren sei; man müsse sie vielmehr trennen, damit der Spitzbube nur den einen Teil bekomme, der andere aber gerettet werde. Ich fügte mich seiner überlegenen Weisheit, legte mich nieder und schlief bald ein, wurde aber bald wieder durch ein Geräusch erweckt. Es wurde von Carpio verursacht, welcher mir auf mein Befragen mitteilte, daß er vorhin beim Scheine unserer Zündhölzer ein Stück Ziegelstein hinter dem Ofen habe liegen sehen. Dieses hatte er hervorgeholt und in sein Taschentuch geknotet, wodurch ein höchst brauchbarer Totschläger entstanden war, mit welchem er jedem hoffentlichen Einbrecher den Kopf behämmern wollte. Tief getröstet und beruhigt durch diese uns sichernde Maßregel meines Busenfreundes schlief ich wieder ein und wachte nicht eher wieder auf, als bis Carpio mich an den Armen emporriß und mir im höchsten Zorne die Entdeckung zuschrie: »Höre, mein Geld ist weg, mein ganzes, ganzes Geld mitsamt dem Portemonnaie! Der Totschläger ist unnütz gewesen; es ist doch so ein Halunke hereingekommen und hat in den Ofen gegriffen! Aber warum er nur mein Geld genommen und das deine liegen gelassen hat, das wird mir ein ewiges Rätsel bleiben! Ich laufe hinab, sofort! Der Wirt muß alles, alles ersetzen!« »Warte noch! Dein Geld hat im Ofen gelegen?« »Natürlich!« »Du hast es selbst wieder herausgenommen und in dein Bett versteckt. Suche nach!« Er suchte und fand es, holte erleichtert und tief Atem und sagte: »Das ist ein Glück für den Wirt! Ich hätte weder geruht noch gerastet und ihn nötigenfalls bis zur Auspfändung getrieben. Weißt du, was der Kaffee kosten wird?« »Zehn Kreuzer ohne Brot.« »Und das Brot?« »Zehn Kreuzer ohne Kaffee.« »So bestellst du Kaffee für dich, und ich laß mir Brot für mich geben; dann teilen wir und zahlen bloß zwanzig Kreuzer. Was wir hier sparen, können wir dem Mittagessen zulegen. Bist du einverstanden?« »Ja. Nobel ist das zwar nicht, aber wir machen dann schnell, daß wir fortkommen und nicht lange bekrittelt werden.« »Bekrittelt? Willst du dich nicht für akademisch gebildete Kapitalisten eines bessern Ausdruckes bedienen? Diese Böhmen werden alles, was wir thun, für vornehm halten, wenn sie es auch nicht begreifen können.«
Wir frühstückten also für zwanzig Kreuzer, ließen uns für vornehm halten und reisten dann ab. Unser heutiges Ziel war Falkenau, wo wir gegen Abend lebendig ankamen, obgleich mein Freund das Unglück gehabt hatte, seinen Eissporn zu verlieren; wie das zugegangen war, das wußte er selber nicht und ich noch viel weniger. Er war nicht nur schmerzlich bewegt, sondern sogar tief betrübt über diesen ebenso schweren wie unersetzlichen Verlust, und ich gab mir ihm zuliebe den Anschein, als ob der Eisenstachel auch meinem Herzen teuer gewesen sei. Wir blickten ihm voll Trauer in die Vergangenheit nach und wendeten uns dann mit männlicher Resignation einer einfachen Herberge zu, deren Aussehen mit unserm heutigen Budget zu harmonieren versprach. Eben wollten wir eintreten, da kam ein Gendarm heraus, der sich darüber zu wundern schien, daß wir dahinein wollten. Er grüßte höflich und fragte dann: »Sie sind doch wohl Studenten, meine Herren, nicht?« Ich nickte; Carpio aber zog seinen Schülerpaß aus der Brusttasche, schob ihn dem Sicherheitsbeamten in die Hand und antwortete: »Ja, wir sind Studenten. Bitte, überzeugen Sie sich!« Der Gendarm öffnete den Paß, las ihn und gab ihn mit einem eigentümlichen Lächeln und den Worten zurück: »Wenn Sie das alles sind, was hier verzeichnet steht, so sind Sie ein gemachter Mann, lieber, junger Herr!« »Das alles bin ich allerdings!« versicherte mein Busenfreund in stolzem Tone. »Es ist sogar der Gymnasialstempel daraufgedrückt.« »Den sehe ich nicht!« Carpio sah den Paß nun selbst auch an und fand, daß das, was er in der Hand hatte, ein Verzeichnis der Regierungsjahre der deutschen Kaiser von Karl dem Großen bis auf Franz den Zweiten war. Er suchte eine ganze Zeit lang nach dem Passe und rief, als er ihn nicht fand, entrüstet aus: »Das ist nun wieder einmal ein Versehen von meiner Schwester, die mir diese Tabelle anstatt des Passes in die Tasche gesteckt hat. Solche Tollheiten können doch unbedingt nur bei Personen vorkommen, welche keine Masculina, sondern entweder Feminina oder Neutra sind!« »Machen Sie sich darüber keine Sorgen!« tröstete ihn der Polizist. »Ich habe nicht nach Ihrem Paß gefragt; man sieht es Ihnen ja an, daß Sie das sind, wofür Sie sich ausgeben, und wenn es unter besonderen Umständen nötig sein sollte, so wird Ihr Kollege seinen Paß besitzen, welcher Sie dann beide legitimiert.« »Hast du denn deinen?« fragte mich Carpio. »Ja, denn ich verlaß mich nicht auf meine Schwestern, die übrigens ihre Sinne stets beisammen haben. - Kann vielleicht unsereins hier in diesem Hause auch wohnen, Herr Unteroffizier?« »Hm,« brummte der Mann. »Ich wunderte mich schon darüber, daß Sie hinein wollen, denn es ist eine Herberge für Handwerksburschen. Kommen Sie lieber mit zum Franzl! Ich gehe eben hin und werde Sie führen.« Diese Aufforderung war jedenfalls recht gut gemeint, aber Carpio fiel schnell ein: »Hat er ein Hotel, einen Gasthof? Ist es teuer bei ihm?« Da schlug der Beamte eine breite, behäbige Lache auf und antwortete: »Der Franzel? Teuer? Zumal gegen die Herren Studenten? Hahahaha! Da müssen Sie ihn kennen lernen! Er ist auch Student gewesen; er hat auf Schulmeister studiert, die Sache aber aufgegeben, weil ihn die reiche Wirtin zum Mann genommen hat. Nun spricht er von nichts lieber als von seinem Studium und hat keine größere Freude als wenn Studenten bei ihm einkehren. Wenn sie ihm
gefallen, so ist es dann sein Gaudi, daß er sich nichts bezahlen läßt. Kommen Sie nur; die Sache läßt sich wohl machen!« Er ging voran, und wir beide folgten ihm; dabei hielt mich mein Freund ein wenig zurück und fragte besorgt: »Du, ob wir diesem famosen Wirte Franzl wohl gefallen werden?« »Warum sollten wir denn nicht?« »Weil jeder Mensch seinen besonderen Geschmack hat. Wenn er seinen Narren an uns frißt, so ist es wohl möglich, daß wir nichts zu bezahlen brauchen; aber wenn er uns erst fein und teuer traktiert und dann hinterher nicht leiden mag, so können wir leicht mit einem einzigen Schlage um dein und mein ganzes Vermögen kommen!« »Das steht nicht zu befürchten. Man bezahlt doch nichts, was man nicht selbst bestellt hat, und wir werden uns wohl hüten, eine große Rechnung auflaufen zu lassen. Es giebt derartige Menschen, wie der Gendarm den Franzl beschreibt - Schulmeister studirt! - sie besitzen keine akademische Bildung, denken aber vielleicht, noch mehr als das zu können. Wenn man sie bei dieser ihrer Meinung läßt, fließen sie vor lauter Freundschaft über. Dieser Franzel ist vielleicht ein hübscher, junger Mensch gewesen und hat nur aus diesem Grunde eine reiche Frau bekommen. Wir werden ja sehen.« »Höre, Sappho, du sprichst ja wie ein Buch, und noch dazu gar wie ein gedrucktes! Das hast du während unserer jetzigen Reise noch nicht gethan!« Sappho! Da kommt es doch ans Tageslicht, was ich verschweigen wollte! Man weiß, daß fast kein Student oder Gymnasiast ohne Spitznamen bleibt; ich war bis vor kurzem so glücklich gewesen, nur bei meinem gewöhnlichen Namen genannt zu werden, aber das war seit meinem Weihnachtsgedichte anders geworden. Man hatte nach einem Dichternamen für mich gesucht, und da dieser doch einen scherzhaften Anstrich haben mußte, war man auf den sonderbaren Gedanken gefallen, mich nicht nach einem Dichter, sondern nach einer Dichterin zu nennen. Man hing mir den Namen Sappho an, und als ich mich sträubte, dies zu dulden, bewies man mir, daß es keinen bezeichnenderen geben könne, weil Sappho die berühmteste Dichterin des Altertums und durch die unübertreffliche Reinheit und Schönheit ihrer Verse ausgezeichnet sei. Was konnte ich nun thun? Ich mußte mich fügen! Wenn Carpio sagte, daß ich während unserer Reise jetzt zum erstenmal wie ein Buch gesprochen habe, so hatte er wohl recht. Damit er sich auf unserer Wanderung wohlbefinden solle, gab ich mich ganz so, wie er war; ihm war das nur nicht aufgefallen, weil er keine Spur von Beobachtungsgabe besaß. Der mir liebe, immer ernste und stets fleißige Freund besaß einige Eigenschaften, welche leicht seine ganze Zukunft in Frage stellen konnten. Er war zunächst von einer geradezu kindlichen oder gar kindischen Harmlosigkeit, die keine Thatkraft aufkommen läßt und alles womöglich beim Schwanz anstatt beim Kopfe anfaßte. Dabei liebte er es, der einfachsten Sache eine größere Bedeutung, als sie besaß, beizulegen und besonders auf unsern Wanderungen dem nüchternsten Gegenstand oder Vorkommnis eine romantische Färbung zu erteilen. Daher der Eissporn, das Sicherheitsschloß, das Brennglas und andere Gegenstände, welche er mitgenommen hatte. Eine andere und zwar seine hervorragendste Eigentümlichkeit war eine Zerstreutheit, welcher man bei seinem jetzigen Alter zwar nur die heitere Seite abzugewinnen brauchte, die aber doch schon versprach, später für ihn verhängnisvoll zu werden. Ich hatte mir, soviel es mir möglich war, Mühe gegeben, ihn zur Sammlung anzuspornen, aber leider auch nicht den kleinsten Erfolg gehabt. Im Gegenteile, wenn er auf seine Zerfahrenheit aufmerksam gemacht wurde, steigerte sie sich nur; er wurde ängstlich und beging in dieser seiner Befangenheit noch viel größere Fehler als vorher. Ich gab es also auf, ihn zu ändern; suchte seine Eulenspiegelstreiche soviel wie möglich zu vertuschen und gab mich, wenn ich mit ihm allein war, ebenso kindlich unbeholfen wie er selber. Dadurch hatte ich ihn wahrscheinlich noch fester als früher an mich gekettet. Wir schienen zwei unbedachtsame
Kinder zu sein; er war auch eins; ich aber wachte heimlich über ihn und hielt, indem ich mir den Anschein gab ganz in seinem Willen aufzugehen, alle Unannehmlichkeiten möglichst fern von ihm. Er glaubte, selbständig zu handeln; in Wirklichkeit aber war ich es, nach dem er sich richtete, ohne es zu wissen. Zuweilen aber tauchte doch eine Ahnung in ihm auf, daß ich der Bestimmende und er der Geleitete sei. So auch jetzt, wo ich meine Meinung über den Wirt Franzl äußerte, ohne ihn gesehen zu haben. Ich fügte hinzu: »Weißt du, Carpio, wenn jemand nicht bei seinem Familien- sondern bei seinem Vornamen genannt und dieser letztere sogar in der Koseform, nicht Franz sondern Franzl gebraucht wird, so ist mit Sicherheit anzunehmen, daß er ein sogenannter guter Kerl ist. So stelle ich mir den Wirt vor, und als einen solchen guten Kerl müssen wir ihn behandeln, ihm dabei aber auch ein bißchen imponieren.« »Imponieren? Womit? Lateinisch oder griechisch reden?« »Nein; das würde ihn abstoßen, weil er es wahrscheinlich nicht versteht. Er scheint ein Lebemann zu sein; da müssen wir, so was man sagt, jovial auftreten, so thun, als ob wir seinesgleichen und schon längst mit ihm bekannt seien. Und was das Imponieren betrifft, so - - ah, da denke ich an das, was mir der »Alte« sagte, nämlich daß es mir keine Mühe macht, stundenlang in Reimen zu reden. Du bist ja auch nicht auf den Kopf gefallen und hast mir schon öfters mit ganz passablen Knüppelversen geantwortet. Wollen wir diesen Franzl mit Reimen anulken?« »Der Gedanke ist nicht schlecht; ich werde mein möglichstes thun. Aber wenn er es sich nun nicht gefallen läßt?« »Da halten wir inne und werden rasch vernünftig. Also los! Wir scheinen hier am Ziele zu sein.« Der Gendarm hatte uns durch einige Gassen geführt und lenkte nun zu einem Einkehrhause, zu dessen Thür einige Stufen emporführten. Das Gebäude machte mit der Umgebung, die zu ihm gehörte, einen stattlichen Eindruck. Wir schritten die Stufen hinan und kamen in einen nach Stallduft riechenden Flur, wo der Polizist eine Thür öffnete, einen forschenden Blick in die Gaststube warf und dann heiteren Tones rief: »Grüß Gott, Franzl! Da bin ich schon wieder und bring famose Gäste mit.« »Wen denn?« fragte eine fette Stimme. »Zwei Studenten aus Bayern oder anderswo, die für die Nacht gern ein warmes Nest haben möchten.« »Studenten? Halloh, herein mit ihnen! Für solche Herrschaften habe ich soviel Nester, wie sie sich nur wünschen können. Ubi bene, ibi patria!« Wir traten in die Stube, die ziemlich groß aber niedrig war. Links stand eine Frau beim Butterfaß. Sie hatte »gebuttert« und war nun beschäftigt, die Buttermilch - meine Wonne! - durch ein Seihtuch zu gießen. Das war die Wirtin. Rechts von der Thür saßen einige Männer gewöhnlichen Schlages beim billigen böhmischen Schankbier. Aber der Thür gegenüber gab es einen großen runden Tisch, an welchem einige Personen, denen man die Honoratioren ansah, Platz genommen hatten. Einer von ihnen war aufgestanden und sah uns erwartungsvoll entgegen. Ich konnte gar nicht bezweifeln, daß er der Franzl war. Ja, er mußte vor Jahren ein fescher Bursche gewesen sein; noch jetzt trug er sein glänzend eingefettetes dunkles Haar in verlockend gelegte Ringel. Eine blütenweiße Schürze bedeckte den Schmeerbauch; über dem Latze derselben thronte eine sanft quatschelige Unterkehle, die in ein glattrasiertes, volles und rotwangiges Gesicht überging, in welchem wohlwollende Heiterkeit ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Als der Blick der freundlichen Augen kurz auf uns geruht hatte, kam der Mann vollends hinter dem Tische hervor, streckte uns die Hand zum Gruße entgegen und sagte: »Ja, man sieht es der ganzen, vornehmen Haltung an, daß Sie Studenten, wirkliche, echte Studenten sind. Seien Sie uns willkommen; setzen Sie sich hier bei uns an diesem Tische nieder, und sagen
Sie, wozu Sie Appetit haben!« Ich schüttelte ihm die Hand und antwortete unverzüglich mit dem ernstesten Gesichte der Welt: »Ich bitte, nicht verkehrt zu fragen - - und will die Wahrheit Ihnen sagen: - - Wir haben, wie ein jeder sieht - - nicht Appe- sondern Trinketit!« Der liebe Franzl fuhr zwei Schritte zurück, riß die Augen weit auf und fragte ganz erstaunt: »Wie - - wa - - was? Appe - - Trinke - - tit - - tit - -? Sie meinen, daß Sie nicht essen sondern trinken wollen? Gut! Was darf ich bringen?« »Es läuft aus diesem großen Faß - - hervor ein delikates Naß, - - das in der Stadt und auf dem Land - - als Buttermilch ist weltbekannt; - - wir wollen weder Bier noch Wein; - - schenkt uns davon zwei Gläser ein!« »Faß - - - Naß - - - Land - - - Kanne - - - Wein - - - ein - - -? Hören Sie, sagen Sie: Sie sind wohl gar ein Dichter, ein wirklicher, unzweifelhafter, ausgebildeter Dichter?!« »Ich bin ein Dichter, aber nicht - - für jeden mach ich ein Gedicht, - - doch unsers guten Franzls wegen - - kann man sich schon aufs Dichten legen, - - denn er ist ein gar kluger Mann, - - der diese Kunst begreifen kann; - - drum gebt das Glas mit Milch jetzt her; - - auf Franzls Wohl trink ich es leer!« Zu meiner Freude fiel Carpio auch schnell ein: »Auch ich trink bis zum Boden aus, - - zum Gruß dem Wirt und seinem Haus, - - und thu ich das um seinetwillen, - - so mag er es auch wieder füllen!« Wir tranken aus und gaben ihm die Gläser zurück. Er schien das große Glück, unsere Bekanntschaft machen zu dürfen, immer noch nicht ganz begreifen zu wollen; dann aber warf er die leeren Gläser plötzlich in die Ecke auf das Kanapee, nahm uns bei den Händen, zog uns zum Tische hin und rief: »Ach was, Buttermilch! Wein her, Wein! Wir haben da nicht nur einen sondern gleich zwei Dichter! Fama crescit fundo! So eine Überraschung, so eine Freude! Hol Wein, Anna, Wein! Ich weiß, was man so geistreichen Herren vorzusetzen hat! Setzen Sie sich nieder, immer nur nieder, denn wissen Sie, habenti dabitur et abundabit!« Ich setzte mich zwar, wehrte aber ab: »O nein, bringt ja noch keinen Wein; - - es darf nur Buttermilch jetzt sein, - - doch ist der erste Durst gestillt, - - dann sind wir auch zu Wein gewillt!« »Na, dann meinetwegen Buttermilch, wenn es denn nicht anders sein darf; aber später müssen Sie mir erlauben, Sie als meine ganz besonderen und persönlichen Gäste zu betrachten! Zu bezahlen haben Sie natürlich nichts, keinen Kreuzer, ganz und gar nichts!« Carpio warf mir einen Blick zu, und als ich diesen nicht beachtete, versetzte er mir einen kräftigen Fußtritt, der freilich deutlicher war. Und nun folgte eine sehr bewegte Scene. Die Gäste, welchen vorhin vor Verwunderung die Sprache ausgegangen zu sein schien, fanden sie jetzt wieder; die, welche am andern Tisch gesessen hatten, blieben nicht länger dort; sie kamen herbei und präsentierten uns ihre Biergläser, die wir natürlich zurückwiesen. Alle sprachen auf uns ein und jeder wollte ganz besonders von uns gehört werden. Die an uns gerichteten Fragen wurden alle von uns mit Reimen beantwortet, was auf Franzl einen solchen Eindruck machte, daß er seiner Frau, die auch ganz entzückt von solchen Gästen war, die Weisung erteilte: »Höre, Anna, diese hochgeehrten Herren bekommen keine gewöhnlichen Gastbetten, sondern sie schlafen in der guten Stube, wo der Glasschrank steht. Ich weiß, was Bildung heißt. Corvus corvo nigredinem objicit!« Dieses sein Latein machte mir riesigen Spaß. Da er nur Sprichwörter brachte, nahm ich ihn sehr stark in Verdacht, sie irgend einem alten Verzeichnisse entnommen und sich eingeprägt zu haben,
um sie gelegentlich loszulassen und als Lateiner zu gelten. Den lateinischen Text hatte er sich gemerkt, aber nicht den Sinn desselben, und so durfte man sich nicht darüber wundern, daß er sie meist grad dann in Anwendung brachte, wenn ihr Gebrauch zum Unsinn wurde. Es giebt solche eigentümliche Menschen, und er ist nicht der einzige dieser Art, den ich kennen gelernt habe. Es kann nicht meine Absicht sein, die nun folgende Unterhaltung wiederzugeben; sie wurde von uns mit Reimen und von seiten des Wirtes mit den tollsten Lateineleien gespickt, wodurch er aber den sich sehr zahlreich einstellenden Gästen außerordentlich zu imponieren schien. Welche Schule er besucht und welchen Bildungsgang er hinter sich hatte, das konnten wir nicht erfahren; er schien Gründe zu haben, nicht davon zu sprechen, und wir waren nicht so rücksichtslos, ihm darauf bezügliche Fragen vorzulegen. Ein kleines Intermezzo darf ich nicht umgehen. Mein Carpio hatte unterwegs bemerkt, daß ihn ein durch die Stiefelsohle gedrungener Nagel in den Fuß stach, und den Stiefel ausgezogen, um ein zusammengefaltetes Stück Papier unterzulegen. Jetzt bemerkte er, daß der Nagel auch in dieses Papier ein Loch gemacht hatte und ihm nun neue Schmerzen bereitete. Er vertraute diese schmerzliche Angelegenheit einem mit anwesenden Schuhmacher an, und da dieser sich bereit erklärte, die vorwitzige Nagelspitze abzustumpfen, so zog er den Stiefel aus, um ihn dem Helfer in der Not anzuvertrauen. Dabei fiel das nun durch die eingedrungene Feuchtigkeit des Schnees sehr unscheinbar gewordene Papier heraus. Es sah wie ein alter, abgebrauchter Guldenzettel aus. Als ich es aufhob, bemerkte ich, daß es Schriftzüge enthielt, welche freilich nicht mehr zu enträtseln waren; aber der noch ziemlich zu unterscheidende Gymnasialstempel belehrte mich, welch ein wichtiges Dokument ich in den Händen hatte. Ich gab es dem Freunde mit den Worten: »Hier ist die Ehrenrettung deiner Schwester; ich hoffe, daß du ihr den schnöden Verdacht, welchen du ausgesprochen hast, nach unserer Heimkehr abbittest!« Er faltete den Zettel auseinander, schüttelte den Kopf, gab ihn, nämlich den Zettel und nicht etwa den Kopf, dem noch anwesenden Polizisten hin und sagte: »Sie sehen, daß ich meinen Paß sehr gut aufgehoben hatte; kein Spitzbube hätte ihn finden können. Ich bitte, sich nun zu überzeugen, daß Sie es wirklich mit den Schülern einer königlichen Bildungsanstalt zu thun haben!« Als der Beamte sah, in welchem Zustande sich die Legitimation befand, wies er sie mit den freundlichen Worten zurück: »Oh bitte, bitte, zweifeln Sie doch nicht an meiner Menschenkenntnis, die mir gleich beim ersten Blicke gesagt hat, daß ich es mit geistig hochstehenden und polizeilich unbeanstandeten Personen zu thun habe!« »Schön!« nickte Carpio. »Wir erkennen Ihren Scharfsinn an und werden jenseits der Grenze an geeigneter Stelle erzählen, daß die Bewohner der österreichischen Länder auf ihre Polizeimacht stolz sein können.« Indem er den wieder zusammengefalteten Paß in die Westentasche steckte, nickte er dem Gendarm in so gönnerhafter Weise zu, als ob er eine der höchsten Stellen im Wiener Justizministerium bekleide. Als wir jeder drei Gläser Buttermilch getrunken hatten, wurden wir zum Schankbier avanciert und bekamen dazu Cigarren angeboten, welche der Wirt als zur besten Sorte Österreichs gehörig bezeichnete. Wenn ich mich nicht irre, waren es Virginias, die man zuweilen auch mit dem hochpoetischen Namen »Giftnudeln« zu bezeichnen pflegt. Als Carpio die seinige anbrannte und den lächelnden Ausdruck bemerkte, mit welchem er dabei von rundumher beobachtet wurde, machte er eine hoheitsvolle Handbewegung und sagte in geringschätzigem Tone: »Ich will Ihren Kaiserstaaten gewiß nicht zu nahe treten, aber was Cigarren betrifft, so sind wir Ihnen in jeder Beziehung über. Diese hier zum Beispiel, welche von vorzüglicher Qualität sein soll, würde mir für den täglichen Gebrauch viel zu schwach sein. Es giebt bei uns eben ganz andere
Raucher als hier bei Ihnen, meine Herren!« Leider aber ließ er seine »Nudel« so oft ausgehen, daß er mit den Zündhölzern immer zwischen ihr und dem Asbestgläschen unterwegs war - es stand nämlich ein sogenanntes Tunkfeuerzeug auf dem Tische. Da ihm dabei der Geruch des Schwefels so oft in die Nase fuhr, zog er, ohne daß ich weiter darauf achtete, ein Papier aus der Tasche, zerriß es in lange, schmale Streifen, um Fidibus aus ihnen zu machen, und holte sich nun mit deren Hilfe das zum Anbrennen nötige Feuer von der in seiner Nähe qualmenden Öllampe. Damals gab es bekanntlich weder Gas- noch gar elektrisches Licht. Trotz dieser immerwährenden Unterbrechungen war er, als ich die erste Cigarre geraucht hatte, schon mit seiner zweiten fertig. Man bot uns neue an, und als ich da für uns beide ablehnte, schlug Carpio diese Anmaßung in empörtem Tone zurück: »Mische dich nicht in meine Angelegenheiten, Sappho! Eine Mondscheinnatur, wie die deinige ist, kann freilich nichts vertragen; ich aber bin aus Stahl und Stein gebaut und möchte die Cigarre kennen lernen, die meine Konstitution erschüttern könnte!« »So ist es recht!« stimmte Franzl bei. »Ein guter Student muß ausgepicht und gegen Nikotin und Spiritus unempfindlich sein. Nummus ubi loquitur, Tullius ipse tacet. Nehmen Sie also immer noch eine!« Und der Busenfreund nahm noch eine und hatte sie noch nicht aufgeraucht, als seine Fidibus zu Ende waren. Ich sah, daß er, wie ein Orientale sich ausgedrückt hätte, die Morgenröte seines Angesichts verlor, sagte aber nichts, weil ich ihn nicht beleidigen wollte. Dann brachte die Wirtin das Abendessen herein. Es bestand in einer mächtigen Schüssel Fisolen und einer ebenso großen Schüssel geräuchertem Schweinefleisch. Beim Anblicke der großen, appetitlichen Fleischstücke lief mir, wie es später dem persischen Schah in London ergangen sein soll, das »allerhöchste Wasser seiner Majestät« im Munde zusammen; den Busenfreund aber schien die Lukullität dieses Nachtmahls kalt zu lassen; wenigstens lag, während meine Augen höchst wahrscheinlich vor Freude leuchteten, in den seinen ein entsagungsvoll nach innen gerichteter Blick und in seinen wehmutsvoll zusammengezogenen Mundwinkeln der Ausdruck jener schmerzlichen Resignation, mit welcher ein sonst sehr vernünftiger Bettler einst behauptet haben soll, daß es ihm niemals einfallen werde, einen Hundertthalerschein anzunehmen. Wenn man bedenkt, daß zu diesen Fisolen und zu diesem Fleische nicht Bier, sondern Wein getrunken wurde, so wird man mir glauben, daß ich mich nicht allzu sehr nötigen ließ. Mein guter Carpio aber wollte, wie Franzl sich auszudrücken beliebte, »gar nicht anbeißen« und erklärte schließlich, als er sich durch teilnahmsvolle Fragen und Zusprüche in die Enge getrieben sah, daß er leider heute mittag zuviel gespeist und infolgedessen jetzt noch gar keinen Appetit habe. Dabei richtete er sein Auge mit der stummen Bitte um Verschwiegenheit auf mich; ich gewährte sie ihm im stillen, wurde aber dafür von ihm mit dem grassesten Undank belohnt, denn als man ihn darauf aufmerksam machte, daß doch ich nicht so ganz appetitlos sei, antwortete er wie aus einer Wolke der Erhabenheit herab: »Es sind nicht alle Menschen gleich besaitet. Während der eine den Genüssen des Geistes und des Gemütes den Vorzug giebt, liebt es der andere, in materiellen Dingen zu schwelgen und schreckt am Ende sogar nicht davor zurück, seine Seele in Fisolen und Selchfleisch zu versenken. Weiter brauche ich wohl nichts zu sagen; Sie wissen ja: de gustibus non est disputandum, wie der Lateiner sagt.« »Ja, ja,« nickte der Wirt, erfreut über die Gelegenheit, wieder einen Beweis seines Wissens geben zu können. »Es freut mich natürlich riesig, daß es Ihrem Kollegen so vortrefflich schmeckt, doch weiß auch ich die Vorzüge des Geistes zu schätzen und sage mit den Gelehrten des Altertums: Omne nimium nocet.« O Franzl, Franzl, wüßtest du, was du mir soeben gesagt hast! So dachte ich, aß natürlich aber trotzdem ruhig weiter, denn ich hatte mich nun einmal so tief in das Materielle versenkt, daß man
mir eine schnelle Umkehr aus dieser geistigen Verfisolung nicht zutrauen durfte. All mein psychisches Können und Wollen war, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, in diesem Augenblicke schon so verlottert, daß ich, wenn ich überhaupt beim Essen etwas sagte, schon längst nicht mehr in Reimen sprach, kann aber zu meiner Ehrenrettung den sehr moralischen Grund hinzufügen, daß ich den Wert des delikaten Geselchten weder durch trockene Jamben und Trochäen noch durch ungeräucherte Amphibrachen und Daktylen unvorteilhaft beeinflussen wollte. Die Stube war bis zum Essen voller Gäste gewesen; nun ich mich aber mit solcher Schweigsamkeit den beiden Schüsseln widmete und mein Busenfreund ebenso still in sein geistiges oder, was wahrscheinlicher war, in sein körperliches Innere hinunter stieg, stockte die Unterhaltung, und der Fleiß, mit welchem wir in diesen Richtungen thätig waren, legte die Vermutung, daß wir so bald nicht wieder genießbar sein würden, in einer Weise nahe, daß sich einer nach dem andern entfernte, um zu Hause dasselbe zu thun, was wir hier thaten, nämlich essen. So kam es, daß wir noch vor Beendigung des Abendmahles mit den Wirtsleuten allein waren, doch nicht lange, denn es stellten sich neue Gäste ein, welche mein Interesse sofort in vollstem Maße in Anspruch nahmen. Es war ein alter Mann mit einer jüngeren Frau und einem vielleicht dreizehn Jahre alten Knaben. Sie mußten arm, sehr arm sein, wie ihre Kleidung bewies, welche keinen Schutz gegen die Kälte des Winters bieten konnte. Der weißhaarige, tief gebückte Alte kam mit wankenden Schritten herein und ließ sich vor Ermüdung gleich auf den nächsten Stuhl niederfallen. Da schloß er, ohne uns zu beachten, die tiefliegenden Augen und holte in einer Weise laut und rasselnd Atem, daß ich glaubte, er müsse vollends zusammenbrechen. Der Knabe legte liebevoll und besorgt den Arm um seine Schulter und streichelte ihm mit der andern Hand die zum Erschrecken hagere Wange. Beide hatten, der eine vor Ermüdung und der andere aus kindlicher Unkenntnis, keinen Gruß gesagt. Die Frau aber grüßte, legte das Bündel, welches sie trug, neben dem Alten nieder, faltete die Hände und fragte in flehendem Tone: »Haben Sie vielleicht einen Platz für uns im Stalle?« »Bettelvolk, das sich verstellt und nichts thun als vielleicht nur stehlen will,« flüsterte die Wirtin ihrem Manne zu. Sie war nicht so gutmütig wie er, der gar nicht auf diese Worte hörte, sondern die drei Personen mit mitleidigen Augen betrachtete und sich dann erkundigte: »Warum im Stalle und nicht im Bett?« »Weil wir nicht bezahlen können,« antwortete die Fremde mit einem schweren Seufzer. »Warum kommt ihr da zu uns? Hier ist keine Herberge für Handwerksburschen und Leute, wie ihr seid!« fiel die Wirtin schnell ein. »Wir haben nach der Herberge gefragt, aber wir konnten nicht weiter; mein Vater fiel vor Müdigkeit um.« Die Wirtin wollte noch etwas sagen, aber Franzl winkte ihr mit der Hand, zu schweigen, und forderte die Fremde auf, ihm die Legitimation zu zeigen. Sie zog einen sorgfältig in ein Tuch gewickelten Paß hervor, den sie dem Wirte gab. Er las ihn, schüttelte den Kopf, musterte die drei Personen noch einmal und sagte dann im Tone des Erstaunens: »So weit kommt ihr her - in diesem Schnee und dieser Kälte! Und nach Amerika wollt ihr - nach Amerika, in diesen Kleidern und ohne Geld! Entweder ist das eine Lüge, oder seid ihr nicht bei Troste!« »Es ist keine Lüge,« versicherte sie; »der Paß beweist es ja.« »Aber wer nach Amerika will, muß Geld haben! Die Fahrt auf dem Schiffe hat kein Mensch umsonst!«
»Mein Mann hat uns die Schiffskarten geschickt.« »Ihr Mann? Ist der schon drüben?« »Ja. Er ist vor drei Jahren hinüber und hat gearbeitet und gespart, bis er uns die Schiffskarten schicken konnte.« »Nur die Karten? Man braucht doch auch Geld, um bis nach der Hafenstadt zu kommen!« »Das hatten wir, denn wir haben alles, was wir besaßen, verkauft. Viel war es freilich nicht, denn wir sind arme Leute, und die Käufer waren ebenso arm wie wir; aber bis nach Bremen hätte es gereicht, wenn mein Vater nicht krank geworden wäre. Er bekam einen Blutsturz, und es dauerte fast zwei Monate, ehe wir weiterkonnten; da ist das bißchen Reisegeld alle geworden.« »Aber, mein Gott, da hättet ihr doch nicht weiter-, sondern wieder heimgehen sollen!« »Heim? Was wollten wir dort, wo wir nichts mehr hatten und wo es uns schon vorher schlecht gegangen war? Wir haben doch die Schiffskarten, und drüben wartet mein Mann auf mich.« »Ja, richtig! Aber es ist doch ein Kreuz und ein Elend, sich so ohne Geld und in einer solchen Kälte bis nach Bremen durchzubetteln! Ich weiß gar nicht, wie lange man da zu laufen hat, um hinzukommen. Wißt denn ihr den Weg?« »Wir haben gefragt und werden uns auch weiter so durchfragen.« »Na, sehr weit werdet ihr wohl nicht kommen, wenn der alte Mann so bleibt, wie er jetzt da auf dem Stuhle sitzt!« »Wir werden uns ausruhen, wenn er es nur noch einen oder zwei Tage aushalten kann. Wir haben droben in Graslitz einen Verwandten, einen Blasinstrumentenmacher, der uns bei sich behalten wird, bis sich der Vater erholt hat.« »Nach Graslitz wollt ihr? So hoch hinauf, bei diesem Schnee? Leute, ihr seid verrückt!« »Oder auch sie sind nicht verrückt,« sagte seine Frau. »Man soll nur Mitleid haben. Der Paß wird wohl richtig sein; aber ob sie auch wirklich nach Amerika oder nur so herumzigeunern wollen, das ist eine andere Frage.« Da begann die Fremde zu weinen, wickelte noch ein Couvert aus dem Tuche, gab es dem Wirte und schluchzte: »Wir sind nur unglückliche Leute, aber keine Vagabunden. Wenn Sie sich überzeugen wollen, so machen Sie dieses Couvert auf; die Schiffskarten liegen drin!« »Nein, behalten Sie es nur; ich brauch' es nicht zu sehen,« sagte Franzl, den die Thränen der Frau rührten. »Wollen sehen, was wir mit euch machen. Vor allen Dingen werdet ihr Hunger haben. Setzt euch dort an den Tisch!« Die Frau warf ihm einen innigen Blick des Dankes zu und folgte seiner Aufforderung; die Wirtin aber stand unwillig brummend von ihrem Stuhle auf und verschwand in der Küche. Als sie hinaus war, raunte uns Franzl in vertraulichem Tone zu: »Jetzt ist sie wild; aber ich thu doch, was ich will. Mann ist Mann, und wenn er tausend Weiber hat; annus producit, non ager, und nach dem Stalle werde ich diese armen Teufel doch nicht weisen.« Auch wir zwei fühlten Mitleid mit den Leuten und thaten ungesäumt, was wir, die wir hier nichts zu sagen hatten, thun konnten: Ich trug mein volles Weinglas dem Alten hin, um ihn trinken zu lassen, und Carpius, dessen Teller noch voll war, gab ihn dem Knaben, der sich mit wahrem Heißhunger sofort über das Essen machte. Es verging eine ziemliche Weile, ohne daß die Wirtin wiederkam; da wurde nun auch Franzl wild; er stand vom Tische auf und ging in die Küche, aus welcher dann die durch die Thür unterdrückten Töne eines sehr unregelmäßig komponierten Duettes zu uns drangen. Im ersten Teile hatte der sehr
erregte Diskant die Führung, während der Baß nur zuweilen in besänftigender Weise einfiel; dann aber änderte sich die Stimmführung allmählich, bis sich der Baß in sehr kräftigen Kadenzen produzierte und der Sopran seine Existenz in einem verschwindenden Triller aushauchte, dem wir es deutlich anhörten. daß die Wirtin der Küche durch eine zweite Thür Valet sagte. Dann kam Franzl strahlenden Gesichtes wieder. »Sie ist zur Nachbarin gegangen, wo nun weiter geblasen wird,« gestand er uns, die wir nicht wenig stolz auf dieses sein Vertrauen waren. »Inzwischen können wir hier machen, was wir wollen. Nun passen Sie einmal auf!« Er nahm die große, noch halbvolle Fisolenschüssel und trug sie den Leuten hin; er nahm die ebenso noch halbvolle Fleischschüssel und trug sie den Leuten hin; er nahm noch eine ganz volle Weinflasche und trug sie den Leuten hin; er nahm alles, was auf unserm Tische stand und lag, und trug es den Leuten hin, und als es nichts mehr zu nehmen und zu tragen gab, setzte er sich noch selber zu ihnen hin und forderte uns auf: »Kommen Sie auch her, meine Herren Studenten! Wir wollen uns mit diesen guten Leuten über Amerika unterhalten. Vielleicht können wir Neues von drüben erfahren, da der Mann dieser Frau geschrieben hat.« »Interessieren Sie sich für Amerika?« fragte Carpio. Er besaß nämlich eine große Vorliebe für das Land jenseits des atlantischen Oceanes, denn es wohnte ein Verwandter von ihm drüben, von dem seine Eltern zuweilen einen Brief bekamen. Welchen Grades die Verwandtschaft war, hatte ich nie von ihm erfahren können. Er liebte es, den amerikanischen Vetter so tief wie möglich zu verschleiern, und ließ aus diesem Dunkel nur zuweilen drei einzelne Blitze hervorschießen, die mir nach und nach so bekannt wurden, daß ich sie endlich selber auch hervorschießen lassen konnte: Erster Blitz - - El Dorado! Zweiter Blitz - Millionär! Dritter und hellster Blitz - - Universalerbe! Ob er diese Blitze auch jetzt erscheinen lassen werde, darauf war ich sehr gespannt. Franzl gestand aufrichtig, daß ihm die Gegend von Eger bis nach Karlsbad viel bekannter sei als die vielen Staaten und Territorien der United-States of America, und so setzte sich mein alter respektive sein neuer Busenfreund in Positur und ließ denjenigen Abschnitt unsers »Lehrbuches für höhere Schülerklassen« los, welches von den Vereinigten Staaten handelte. Er hatte ihn nämlich wegen der oben erwähnten drei Blitze auswendig gelernt. Er fand für seinen Vortrag in Franzl einen sehr aufmerksamen, in mir einen sehr zerstreuten und in den drei Fremden gar keinen Zuhörer, denn diese waren zu sehr mit sich selbst und der Stillung ihres Hungers beschäftigt, als daß sie auf die trockenen Einwohnerzahlen der verschiedenen See-, Fluß- und andern Städte hätten achten können. Es war rührend, anzusehen, welche liebevolle Sorgfalt die Frau ihrem Vater widmete und wie auch der Knabe ihm das Beste von dem anbot, was er auf seinem Teller liegen hatte. Der Greis war so schwach, daß er sich kaum aufrecht halten konnte und wie ein Kind gespeist werden mußte. Der Wein that ihm gut, doch essen konnte er nur wenig; er schien vor allem der Ruhe, des Schlafes zu bedürfen, und wenn ich ihm so in das abgehagerte Gesicht blickte, war es mir so, als ob dieser Schlaf sein letzter sein werde. Die Frau hatte, ehe sie nach dem ersten Bissen langte, laut gebetet, und man sah es ihr dabei an, daß sie das nicht unsertwegen, sondern aus Gewohnheit und Überzeugung that; am Schlusse des Mahles betete sie wieder und bat dann den Wirt, ihren Vater zur Ruhe legen zu dürfen. Da aber schüttelte der Alte den Kopf und sagte mit seiner müden, hohl klingenden Stimme: »Nein, laß mich noch sitzen, meine Tochter! Wir sind durch Sturm und Schnee und Frost gewandert, als überall in den warmen Stuben die Weihnachtsbäume brannten. Wir mußten weiter, immer weiter, von Ort zu Ort, ohne uns auch mit freuen zu dürfen. Ich habe euch kein Licht anzünden und nichts schenken können; ihr mußtet frieren und hungern während der heiligen Tage, und da ich euch nicht auch noch mit Thränen betrüben wollte, weinte ich sie in mich hinein. Hier
aber ist mir wohl; hier sind wir freundlich aufgenommen worden; hier ist es warm, und wir sind satt; hier wollen wir unser Weihnachtsfest feiern!« Seine Worte waren oft durch einen trockenen, quälenden Husten unterbrochen worden. Jetzt, als er schwieg, faltete er die Hände und bewegte leise betend die Lippen. Die Frau legte ihre Hände auch zusammen und weinte leise vor sich nieder. Der Knabe biß die Zähne zusammen und sah uns an, im Zweifel darüber, wie wir uns verhalten würden, wenn er sein gewaltsam unterdrücktes Schluchzen nicht mehr niederhalten könne. Er war ein wackerer, kleiner Kerl! Der betende Greis kam mir jetzt nicht mehr wie ein Bettler vor. Wenn die Berge hoch zum Himmel steigen, bedecken sie ihre Häupter mit Schnee, und wenn der Schnee des Alters den Menschen krönt, ist er dem Himmel nahe; Himmelsnähe aber erweckt Ehrfurcht in jeder fühlenden Menschenbrust. Der mit zitternden Lippen um Einlaß in den Himmel bittende Alte, die still weinende Frau und der mit seinen Thränen kämpfende Knabe, sie waren für mich ihrer Bettlerschaft entkleidet und zwangen mich, an die Schriftworte zu denken: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Welchen Eindruck machte die jetzige Situation gegen die kindische Heiterkeit, welche vorher hier geherrscht hatte! Während draußen in der Abendkälte das Elend sich mühsam durch die verschneiten Wege geschlichen hatte, waren wir beschäftigt gewesen, die Zeit mit schülerhaften Witzen totzuschlagen. Ich schämte mich! Der Wirt schien etwas ähnliches wie ich zu fühlen; er räusperte sich einigemal, wie um aus einer inneren Verlegenheit herauszukommen, und sagte dann: »Ja, ihr sollt hier Weihnachten feiern; ich thue es; ich hole ihn herein!« Er ging in den Flur hinaus, und dann hörten wir ihn jenseits desselben eine Thür öffnen, welche, wie wir später erfuhren, in das Wohnzimmer führte. Wer der »ihn« war, den er holen wollte, sahen wir, als er einen buntbehangenen Christbaum getragen brachte, dessen Lichter noch nicht ganz abgebrannt waren. Er stellte ihn auf den Tisch, bat uns, die Lichter anzuzünden, und entfernte sich dann wieder. Der fremde Knabe sprang auf und bat uns mit strahlenden Augen, uns helfen zu dürfen, ein Wunsch, den wir ihm natürlich mit Freuden erfüllten. Dann kam Franzl wieder. Er brachte einige Kleidungsstücke von sich und seiner Frau, auch einen Kuchen und eine Wurst, welche er unter den Baum legte; dazu fügte er fünf blanke Gulden, indem er sagte: »Hier, das beschert euch das heilige Christkind, welches eure Thränen gesehen und euer Gebet gehört hat. Bedankt euch bei ihm und nicht bei mir!« Welch eine Freude gab es jetzt! Die Augen des Greises öffneten sich weit, um das Licht der Weihnachtskerzen in sich aufzunehmen; die Frau weinte jetzt nicht mehr Schmerzens-, sondern Freudenthränen, und der Knabe schlang seine Arme um ihren Hals, um das Schluchzen, welches ihn jetzt von neuem übermannen wollte, an ihrer Brust zu verbergen. Ich konnte nicht anders, ich mußte in die Tasche greifen und einen Gulden herausnehmen, den ich zu den fünf des Wirtes legte. Als Carpio dies sah, sagte er leise zu mir: »Ja, ihr könnt geben, ihr! Der Franzl hat reich geheiratet, und du hattest fünf Thaler, ich aber nur drei; ich bin der Ärmste und kann nichts - - und doch, doch, ich kann auch etwas geben, wenn auch kein Geld wie du; paß nur auf!« Er bat um Schweigen, stellte sich neben den Baum und begann zu deklamieren: »Ich verkünde Die Euch Denn geboren Euer Heiland Jesus Christ - -«
große widerfahren wurde
Freude, ist, heute
Wie kam es nur, daß mein eigenes Gedicht mir so fremd vorkam, so, als ob es nicht von mir, sondern von einer ganz andern Person, einem ganz andern Wesen stamme? Je weiter er sprach,
desto fremder kam es mir vor und desto tiefer griff es mir in die Seele hinein. Auch die andern hörten voller Andacht zu. Der Greis verwendete keinen Blick von dem Redner; seine Augen bekamen Glanz; es tauchte ein seltsames Licht in ihnen auf. War das der Reflex des brennenden Weihnachtsbaumes? Oder war es der Schein einer höhern Klarheit, welche jetzt sein Herz erleuchtete? Er breitete die auf dem Tische liegenden Hände auseinander und öffnete sie, als ob er, sich aus seiner zusammengesunkenen Haltung aufrichtend und den vorher so müden Kopf hoch hebend, eine unsichtbare, von oben kommende Gabe ergreifen und festhalten wolle. Er hörte fast ohne Atem zu, richtete sich, als Carpio geendet hatte, langsam auf, so daß er kräftig und kerzengerade am Tische stand, und bat: »Noch einmal das letzte, noch einmal! Oh bitte, wiederholen Sie es von da an, wo der Priester spricht!« Carpio kam diesem Wunsche nach, und es war mir auch jetzt wieder, als ob es nicht meine, sondern die Worte eines andern seien: »Und der Segnend auf >Selig, wer An die ewge Liebe glaubt!
Priester
legt
die
des
Toten
bis
Selig, wer Nach der Und noch in Seinen Blick zum Himmel hebt! Suchtest du Droben den Wird er dich Und zur Herrlichkeit des Herrn.
an
das
aus Lebensquelle der noch
Herzensgrunde strebt letzten Stunde
im Verscheiden Erlösungsstern, Wahrheit leiten
zur
Darum gilt auch Die uns Denn geboren Auch dein Heiland Jesus Christ!Vater, gieb Daß ich ruhig sterben kann!
er Auge ein
Blicke auf dein Das sich sehnt nach Der Verlorne naht Geh mit ihm nicht ins Gericht!Schwindler< vorhin schuldig geblieben und will ihn jetzt bezahlen; der heutige Preis dafür sind drei Ohrfeigen, die ich Ihnen jetzt geben werde. Eine Quittung brauche ich nicht. Kommen Sie her, Sie frommgesalbter Mann!« Er wollte schnell fort; ich nahm ihn aber beim Genick, drehte ihn herum und verabreichte ihm die erwähnte Zahlung mit solcher Schnelligkeit, daß er gar nicht zu dem Versuche kam, sich ihrer zu erwehren. Dann gab ich ihm einen Stoß, daß er weit fort zu Boden flog, und nahm der Dame endlich die zweihundert Dollars aus der Hand. Das Geld einsteckend, grüßte ich die Anwesenden, deren Gesinnung sich nach den vier Treffern vollständig umgekehrt hatte, und als ich mich mit Mrs. Hiller und ihrem Sohne entfernte, schallte ein vielstimmiges Bravo hinter uns her. »Das war ein wahrhaft köstliches Abenteuer!« sagte meine Begleiterin. »Das kommt bei Ihnen alles so schnell und so selbstverständlich, die Schüsse und die Ohrfeigen, daß man es sich gar nicht anders kommend denken kann! Sie sind durch unsern Spaziergang um ein hübsches Sümmchen reicher geworden!« »Pshaw! Um das Geld ist es mir wahrlich nicht; ich habe es genommen, um ihn zu strafen. Übrigens ist Ihr Vertrauen zu mir auch belohnt worden, wenn auch nur mit einem kleinen Betrage. Gehen wir heim?« »Ja, natürlich zu mir!« »Gestatten Sie mir, daß ich höflichst ablehne!« »Warum?« »Mir ahnt, daß der Prayer-man sich baldigst aus dem Staube machen wird, und da habe ich Gründe, im Hotel zu sein. Ich habe ihm einiges gesagt, was ihn hier moralisch in Mißkredit gebracht hat. Ich vermute, er fühlt, daß ihm der Boden unter den Füßen zu warm wird. Ich begleite Sie bis an Ihre Wohnung. Vielleicht sehen wir uns am Abend wieder.« »Erst am Abend?« fragte der Sohn. »Wie plötzlich können Sie fort müssen! Es ist mir jede Viertelstunde kostbar, die ich mit Ihnen beisammen sein kann. Arbeiten Sie jetzt?«
»Nein.« »Haben Sie sonst etwas Wichtiges vor?« »Nein.« »So erlauben Sie, daß ich bei Ihnen bleibe. Wir trinken ein Bier im Hotel. Sie thun mir einen großen Gefallen damit. Ich gehe so wenig aus.« Es lag mir nichts daran; aber ich konnte nicht unhöflich sein und sagte also ja. Man ist eben, wenn man Bekannte aufsucht, niemals sein eigener Herr! Wir gingen also, nachdem wir seine Mutter heimgebracht hatten, nach dem Hotel, wo uns der Wirt im Beisein seiner Frau und des Oberkellners mit der verwunderten Frage empfing: »Was ist denn geschehen, Mr. Meier? Erst kam der Prayer-man gelaufen, schimpfte aus allen Tonarten auf Sie und erklärte, daß er abreisen werde, weil Sie ihn aus dem Hause und aus der Stadt trieben. Als er nach seinem Zimmer gegangen war, kam auch Mr. Watter, schimpfte ebenso auf Sie und fragte nach dem Prayer-man. Sobald er erfuhr, daß dieser abreisen werde, erklärte er, daß auch er das Hotel verlasse, denn mit einem Menschen, wie Sie seien, möge er nicht unter einem Dache wohnen.« »Sie sind nicht beide miteinander gekommen?« fragte ich. »Nein.« »Erst der Prayer-man und dann Watter?« »Ja.« »So weiß der erstere noch nicht, daß der letztere auch Ihr Hotel verlassen will?« »Nein. Warum fragen Sie das?« Ich hütete mich natürlich, ihm den Grund mitzuteilen. Wenn meine allerdings kühnen Schlüsse keine Trugschlüsse waren, so mußte Watter jetzt beim Zusammenpacken seiner Sachen entdecken, daß - - Ich kam gar nicht dazu, diesen Gedanken vollends auszudenken, denn der Genannte stürzte, bleich vor Schreck und im höchsten Grade aufgeregt, herein, auf den Wirt zu und rief: »Schickt sogleich fort, Sir, sogleich! Ich muß den Sheriff und auch den Constable haben, aber sofort, sofort!« »Weshalb? Wozu?« fragte der Wirt erstaunt. »Ich bin bestohlen worden, ganz entsetzlich bestohlen! Man ist in mein Zimmer eingebrochen und hat mir meine Nuggets, alle meine Nuggets und meinen Goldstaub geraubt. Schickt sogleich fort, sogleich!« Man kann sich denken, welchen Eindruck diese Worte machten. Ein jeder Wirt hält auf den Ruf seines Hauses und ist bereit, ihm Opfer zu bringen. Hier handelte es sich um keinen vielleicht zu vertuschenden, sondern um einen ganz ungewöhnlichen Diebstahl, denn auch der Hotelbesitzer wußte, daß Watters Gold einen halben Centner wog. Er forderte diesen auf, ruhig zu sprechen und ihm den Hergang der Sache kurz mitzuteilen. Der Bestohlene versuchte, seine Aufregung zu bemeistern, und erzählte: »Ihr wißt, Sir, daß und weshalb ich Euer Haus verlassen will. Ich ging nach meinem Zimmer, um einzupacken. Der Kasten mit dem Golde steht im Schranke; er kann nicht herausgenommen werden, denn ich habe ihn mit acht Schrauben an den Boden des Schrankes befestigt. Die Schrauben gehen durch den Boden des Kastens in den Boden des Schrankes, und wenn man sie aufdrehen will, kann man nur dann zu ihnen kommen, wenn man den Inhalt, also die Nuggets, herausnimmt. Das macht aber soviel Mühe und erfordert eine so lange Zeit, daß sich jeder Einbrecher hüten wird, den Kasten mit dem Golde zu stehlen. Dennoch aber ist es fort, vollständig fort! Der Kasten war natürlich verschlossen und der Schrank auch, und ich habe beide Schlüssel bei
Tage stets hier in meiner Hosentasche und des Nachts unter dem Kopfkissen gehabt. Jetzt öffnete ich den Schrank und auch den Kasten, um ihn loszuschrauben - er war leer! Schicken Sie also augenblicklich zum Constable und auch zum Sheriff. Es darf kein Mensch das Haus verlassen, kein einziger! Ich erkläre jedermann, der sich in seinen Mauern befindet, für arretiert, besonders aber den fremden Deutschen, der sich Mr. Meier nennt!« Diese Worte lenkten natürlich alle Augen auf mich. »Warum besonders grad diesen Herrn?« fragte der Wirt erstaunt. »Weil er es höchst wahrscheinlich gewesen ist, denn ich habe ihm alles erzählt. Es war das eine großartige Unvorsichtigkeit von mir, welche ich schwer zu bereuen habe!« Ich nahm diese Anschuldigung in Anbetracht der Aufregung, in welcher Watter sich befand, ruhig hin. Der Wirt achtete nicht auf sie und forderte ihn auf, mit ihm nach dem Zimmer zu gehen, wo der Diebstahl stattgefunden hatte. Als sie gingen, wendete sich Watter an der Thür noch einmal um und rief dem Oberkellner zu: »Mr. Rost, paßt auf diesen Deutschen sehr scharf auf, bis ich wiederkomme! Er darf dieses Zimmer nicht verlassen!« Hiller war über meine Gleichgültigkeit im höchsten Grade erstaunt. Die Wirtin und die Oberkellner baten mich, die Worte des zornigen Goldsuchers nicht so zu nehmen, wie sie geklungen hatten; er sei noch darüber bös, daß er gestern eine so kräftige und ihn lächerlich machende Lehre von mir erhalten habe. »Ahnen denn auch die Wirtsleute nicht, daß Sie gar nicht Meier, sondern anders heißen und Old Shatterhand sind?« fragte mich Hiller leise. »Sie befinden sich in vollständigster Unwissenheit darüber,« antwortete ich ihm. »Ich würde es ihnen sagen.« »Warum?« »Weil man sich in Beziehung auf den von diesen Menschen auf Sie geworfenen Verdacht ganz anders gegen Sie verhalten würde.« »Oh, diese Leute wissen gar wohl, daß ich der Dieb nicht bin, und wenn es andern einfallen sollte, sich nach der albernen Verdächtigung zu richten, so werde ich ihnen allerdings, falls mir nichts anderes übrig bleibt, meinen Namen nennen, der sie eines Bessern belehren wird.« »Ja, denn der Name Old Shatterhand ist so bekannt und geachtet, daß er Ihnen als unumstößlichster Beweis Ihrer Ehrlichkeit dienen würde.« Der Wirt kam mit Watter zurück. Er hatte einen Boten nach der Polizei geschickt und erklärte nun: »Wenn die Beamten keine Klarheit in die Sache bringen, so bleibt sie ein Geheimnis für alle Zeit. Ich kann nicht begreifen, wie das zugegangen ist!« »Ich auch nicht,« stimmte Watter bei. »Der Vorgang an sich ist mir vollständig unerklärlich, desto besser aber weiß ich, wer der Halunke ist, der mich zum armen Mann gemacht hat oder vielmehr hat machen wollen, denn er ist noch da, und ich hoffe, man wird ihn zu zwingen wissen, den Ort anzugeben, wo er meine Nuggets hingesteckt hat. Ich bleibe hier sitzen und lasse ihn nicht von der Stelle, bis die Polizei gekommen ist!« Er setzte sich, mir giftige, haßerfüllte Blicke zuwerfend, zwischen mich und die Thür. Ich schwieg auch jetzt; der Wirt aber sagte zu ihm: »Ihr habt jetzt schon oben in Eurem Zimmer von mir gehört, daß Ihr mit Eurem Verdachte auf ganz falschem Wege seid. Der Dieb ist jedenfalls an einem ganz andern Orte als hier in meinem Hause zu suchen.«
»Pshaw! Das weiß ich besser!« »Er würde sich hüten, sich hierher zu setzen!« »Oh, es giebt freche Patrone, welche grad dadurch, daß sie bleiben, den Verdacht von sich ab und auf Unschuldige lenken wollen. Ich kenne diese Kniffe, denn ich bin ein alter, erfahrener Westmann, der sich nicht so leicht etwas weismachen läßt!« Diese Starrnackigkeit erbitterte den Oberkellner, der mich liebgewonnen hatte, so, daß er ihm in einem nichts weniger als freundlichen Tone die Warnung gab: »Begeht ja nicht eine Unvorsichtigkeit, welche noch größer ist, als die gestrige war! Es könnte leicht geschehen, daß es Euch nicht möglich wäre, Euch der darauf folgenden Blamage bloß durch einen Sprung zum Fenster hinaus zu entziehen!« »Was habt Ihr mir zu sagen, Ihr Grünschnabel? Behaltet Euern Rat für Euch, sonst könnte mir es in den Sinn kommen, zu denken, daß ein solcher Einbruch in ein Hotelzimmer unmöglich ohne das Vorwissen und die Beihilfe des Kellners unternommen werden kann!« Da fuhr der Wirt zornig auf: »Mann, werdet ja nicht unverschämt! Es thut mir um Euert- und um meines Hauses willen herzlich leid, daß so etwas geschehen ist, aber beleidigen lasse ich weder mich noch einen meiner Leute. Wenn Ihr auch Gäste verdächtigt, so kann ich leider direkt nichts dagegen thun und muß es ihnen überlassen, sich selbst zu wehren; ich hoffe aber, daß Mr. Meier, von dessen Unschuld ich überzeugt bin, Eure Anschuldigungen nicht länger so schweigsam auf sich ruhen läßt!« Da kam der Sheriff mit einem Constable. Der letztere blieb an der Thür stehen; der erstere fragte, wo Mr. Watter, der Bestohlene, sei. Dieser sprang auf und stellte sich als diesen vor. Er erzählte, was er vorher dem Wirte erzählt hatte, und sprach dann auch seinen gegen mich gerichteten Verdacht und dessen Begründung aus. Hierauf erkundigte sich der Beamte bei ihm: »Habt Ihr auch andern Leuten gesagt, wo sich die Nuggets befunden haben?« »Nein, keinem Menschen!« »Und Ihr bleibt bei diesem Verdachte?« »Ja, zumal dieser Deutsche gestern, als er bei mir saß, so unvorsichtig war, sich dadurch zu verraten, daß er unbedachterweise ein Wort über diesen Diebstahl fallen ließ.« »Ah! Das giebt freilich zu denken.« Er zog die Stirne in Falten, nahm mich mit einem fast beleidigenden Blicke in Augenschein, kam auf mich zu, blieb vor mir stehen und fragte: »Ihr seid ein Deutscher?« »Ja, und Ihr ein Yankee?« »Hört, Mann, hier habe ich zu fragen und nicht Ihr!« »Wer will es mir verbieten, zu fragen, wer und was jemand ist, der mit mir spricht?« »Ich. Ihr scheint, hm - -!« Er legte den Kopf herüber und hinüber und betrachtete mich von beiden Seiten. »Ich scheine - - hm! sagt Ihr? Ich scheine gar nicht, sondern ich bin, was ich bin, nämlich noch immer im Unklaren darüber, wer und was Ihr seid.« »Donnerwetter! Ich bin der Sheriff!« »Schön! Das muß doch gesagt werden, weil wir Menschen nun einmal nicht allwissend sind. Jetzt stehe ich Euch zur Verfügung und werde Eure Fragen, so lange sie höflich sind, gern beantworten.«
»Hört, Ihr werdet sie auch in dem Falle, daß Ihr sie nicht für höflich haltet, beantworten müssen!« »Wird mir nicht einfallen!« »Oho! Ich bin bekleidet mit der Staatsgewalt!« »Richtig! Aber mit was für einem großen oder kleinen Teile dieser Gewalt? Ihr seid ein ganz gewöhnlicher Bürger der Vereinigten Staaten, dem man auf nur zwei Jahre das Amt des Sheriffs übertragen hat; dann werdet Ihr wieder, was Ihr vorher waret. Als ein Herrscher von Gottes Gnaden steht Ihr nicht vor mir, und wenn mir Eure Fragen nicht gefallen, so bekommt Ihr eben keine Antwort darauf. Ich würde nicht in dieser Weise zu Euch sprechen, Sir, wenn Euer Benehmen gegen mich das richtige gewesen wäre!« »Wieso war es denn nicht richtig?« lächelte er ironisch. »Ein Richter oder Polizeier muß vor allen Dingen gelernt haben, seine Blicke zu beherrschen; das ist es, was Ihr nicht könnt. Man kann mit den Augen unter Umständen leichter oder vielmehr auch schwerer als mit Worten beleidigen.« »Das ist ja eine ganze Strafpredigt, welche Ihr mir haltet! Ihr gebt doch zu, daß Ihr verdächtigt worden seid?« »Yes!« »Ich habe Euch also zu vernehmen und werde Euch arretieren, wenn es mir beliebt!« »Das werdet Ihr nun freilich nicht!« »Wer will es mir verwehren?« »Ich!« Er trat einen Schritt zurück, unterwarf mich wieder einer höchst ironischen Betrachtung und antwortete lachend: »Ihr? Mir verwehren? Sagt mir doch einmal gütigst, wie Ihr das anfangen würdet!« »Soll ich es Euch nicht lieber zeigen?« »Well,« nickte er. »Bin sehr neugierig darauf; also zeigt es einmal!« Ich packte ihn sofort an der Brust und am Oberschenkel, hob ihn hoch empor, trug ihn nach dem offenen Fenster und sagte: »Hier hinaus würde ich Euch werfen, Sir! Da Ihr mir aber die Arretur bis jetzt noch nicht angekündigt habt, so werde ich Euch einstweilen wieder dahin setzen, wo ich Euch weggenommen habe. So, da steht Ihr wieder!« Ich hatte ihn wieder zurückgetragen und vor meinen Tisch gestellt. Er hatte vor Überraschung oder Schreck kein Glied bewegt; jetzt aber wurde er um so lebendiger. »Hört, Ihr habt Euch am Sheriff vergriffen!« donnerte er mich an. »Wißt Ihr, was das heißt?« »Vergriffen? Daß ich nicht wüßte! Ihr habt mich aufgefordert, und ich bin dieser Aufforderung gefolgt; dazu habe ich hier Zeugen!« »Mann, ich werde doch noch anders mit Euch reden, als Ihr jetzt zu ahnen scheint! Wenn ich Euch arretieren will, so stelle ich mich nicht so mundrecht zum Anfassen her, sondern dazu ist der Constable da!« »Pshaw! Der würde auch zum Fenster hinaus fliegen!« »Ja, riesenstark scheint Ihr zu sein, und gewaltthätig dazu. Ich kann Euch leider nicht bestrafen lassen, weil ich Euch allerdings nichts ahnend aufgefordert habe; aber es giebt Handschellen und Stricke, verstanden!«
»Die flögen Euch und dem Constable nach, und zwar könnte mich kein Mensch dafür bestrafen. Es scheint fast, daß ich die Gesetze des Staates Missouri besser kenne als Ihr, der Beamte dieses Staates. Es darf nämlich hier ohne ganz speziellen richterlichen Befehl keine Verhaftung vorgenommen werden. Wißt Ihr das? Wo habt Ihr diesen Befehl? Und wenn Ihr ihn hättet, so bin ich ein Ausländer. Ihr müßtet Euch erst an den Circuit Court oder gar noch höher wenden!« »Alle Teufel! Das ist ja eine ganze, polizeiliche Belehrung, die Ihr mir da haltet!« rief er aus, sich Mühe gebend, seine Verlegenheit zu verbergen. »Also höflich und freundlich soll ich mit Euch sein? Well, wollen es versuchen! Habt Ihr die Nuggets gestohlen, Mr. Meier?« »No!« »Nicht! Also werden wir einmal in Eurem Zimmer nachsuchen!« »Das dulde ich nicht!« »Nicht? Ah!« »Nein, denn nach den Gesetzen des Staates Missouri bedarf es zu einer Haussuchung auch eines ganz speziellen richterlichen Befehles.« »Ich bin erstaunt! Ihr, der Ausländer, scheint unsere Gesetze ja förmlich bis auf das Tüpfelchen auf dem i studiert zu haben!« »Das muß man auch, wie es scheint!« »Nun, ich verstehe mich ebenso darauf wie Ihr. Ich brauche zu einer Haussuchung hier keinen Befehl, weil der Wirt mir die Einwilligung dazu nicht vorenthalten wird.« »Den Wirt geht mein Zimmer gar nichts an! Nach den Gesetzen des Staates Missouri ist jeder in einem Hotel wohnende Gast der vollberechtigte Besitzer des Zimmers, welches er bewohnt und bezahlt. Es würde also nicht seiner sondern meiner Erlaubnis bedürfen.« Der Sheriff kannte diese Gesetze selbstverständlich auch; nur hatte er geglaubt, daß es einem Fremden gegenüber nicht notwendig sei, sich nach ihnen zu richten. Keine Haussuchung - - keine Arretierung - - und doch war ich beschuldigt? Dazu die Art und Weise meines Auftretens! Er schluckte seine Verlegenheit hinunter und sagte: »Übertreibt es nicht, Sir, und macht mir mein Amt nicht schwer! Es ist auch für Euch besser, wenn Ihr Euch den Umständen fügt!« »Das weiß ich; aber ich bin nur unschuldig verdächtigt, weiter nichts, und muß es mir verbitten, in der Weise angeäugt und mit Ausdrücken angerempelt zu werden, als ob schon hundert Schuldbeweise gegen mich vorlägen. Ihr seid belogen worden, Sir. Ich bin nicht der einzige, zu dem der Bestohlene von seinen Nuggets gesprochen hat. Fragt nur den Wirt und den Oberkellner!« Diese beiden gaben sofort zu, daß er auch ihnen seine ganze Fundgeschichte förmlich aufgezwungen und den Kasten mit den Nuggets sogar gezeigt habe. »Und fragt den dort auch!« fügte ich hinzu, indem ich nach der Thür zeigte, zu welcher der Prayerman soeben hereinkam. Dieser wußte noch nicht, daß der Diebstahl schon entdeckt worden und der Sheriff schon gekommen war. Watter sprang auf, nahm ihn schützend bei der Hand und sagte zu dem Beamten: »Dieser Gentleman ist ein sehr guter Freund von mir, der allerdings auch alles weiß, der aber meine Nuggets eher bis auf den Tod für mich verteidigen als sie mir stehlen würde. Ich stehe für ihn ein.« »Well! Hat er auch hier gewohnt?« »Yes!« »So muß ich auch ihn befragen trotz der Garantie, welche Ihr mit Euren Worten für ihn bietet. Sagt, Mr. Meier, werdet Ihr so vernünftig sein, mich in Eurem Zimmer nachsehen zu lassen ?«
»Ja,« antwortete ich. »Doch stelle ich die Bedingung, daß auch das Zimmer und die Sachen des Prayer-man untersucht werden!« »Einverstanden!« »Nein, nicht einverstanden!« rief Watter. »Ich lasse meinen Freund nicht beleidigen! Ich kann nachweisen, daß er während der ganzen Zeit, in welcher der Diebstahl ausgeführt worden sein muß, bei mir gesessen hat; dann bin ich mit ihm auf sein Zimmer gegangen und habe ihn eingeschlossen und seinen Schlüssel mitgenommen. Er ist so unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Nehmt nur dort diesen Mr. Meier tüchtig vor, der doch schon durch seine Gewaltthätigkeiten und Grobheiten beweist, daß er ein böses Gewissen hat!« Durch diese Wiederholung seiner Beschuldigung nun endlich doch erzürnt, ließ ich mich leider zu der Dummheit hinreißen, zu entgegnen: »Was dieses neugeborene Kind betrifft, so bin ich über ihn zu Mitteilungen bereit, die Euch wahrscheinlich überraschen werden. Er mag zunächst beweisen, daß das Gewehr des alten Amos Sannel sein wohlerworbenes Eigentum ist, und sodann kenne ich ihn auch in anderer Beziehung besser, als er ahnt. Ich bin droben am Platte-River nicht so unbekannt, wie er denkt, und werde nachweisen, daß er sogar den sonst so vorsichtigen Welley mit auf seinem Gewissen hat!« Der Prayer-man wurde leichenblaß und starrte mich aus den weit aufgerissenen Augen mit einem so erschrockenen Blicke an, als ob ich eine gespenstige Erscheinung sei. »Platte-River - -? Welley - -?« fragte mich der Sheriff. »Was ist's mit diesem Flusse, und welche Bewandtnis hat es mit diesem Welley?« »Das sollt Ihr bald erfahren. Gebt nur vor allen Dingen Eurem Constable den Befehl, sich an die Thür zu stellen und diesen Verkäufer frommer Schriften nicht hinauszulassen! Ich sehe voraus, daß er nicht zögern - - halt, halt, halt!« Der Prayer-man hatte, als ich ihn und seinen Complicen belauschte, gesagt, daß er der Entdeckung des Diebstahles mit Vergnügen beiwohnen werde; jetzt war die Zeit zu diesem Vergnügen da; aber die Verhältnisse waren anders, als er sie sich dabei gedacht hatte. Meine Anschuldigungen kamen für ihn wie ein Blitz aus heitrem Himmel herab. Der Boden war ihm schon draußen beim Wettschießen unter den Füßen warm geworden; jetzt fühlte er, daß diese Wärme sich zur Hitze steigerte, und als ich nun gar seine Bewachung forderte, riß er sich aus dem Schreck, in welchen ihn meine Erwähnung Welleys versetzt hatte, heraus und war mit zwei schnellen Sprüngen durch die Thür verschwunden. Er hatte nichts in den Händen gehabt; seine Sachen befanden sich also noch auf seinem Zimmer; daraus war zu schließen, daß er wenigstens auf sein Gewehr nicht verzichten sondern dieses holen werde; darum forderte ich die Anwesenden auf, schnell mit mir nach dem Hintergebäude zu kommen, um ihn dort festzunehmen. Ich eilte nach der Thür; da stellte sich mir aber der Sheriff in den Weg und sagte: »Bitte, zu bleiben, Sir! Ihr seid Angeschuldigter und dürft nicht hinaus!« »Angeschuldigter? Der Prayer-man hat doch durch seine Flucht bewiesen, daß er der Thäter ist!« antwortete ich. »Nein! Ihr habt ihm noch andere Dinge vorgeworfen, auf die sich seine Flucht beziehen könnte. Ich werde mit dem Wirte und dem Oberkellner ihm nacheilen; Ihr aber bleibt mit dem Constable hier!« »Das hieß ja soviel wie Arretur, und die dulde ich nicht, wie ich schon gesagt habe!« »Mißversteht mich nicht! Ihr seid nicht verhaftet, sondern ich bitte Euch, hier zu bleiben, bis ich wiederkomme. Wollt Ihr mir versprechen, dies zu thun?« Das kam mir denn doch so komisch, so urkomisch vor, daß ich mich laut lachend niedersetzte und dem Beamten antwortete: »Well; ich werde sitzen bleiben, bis Ihr zurückkehrt, falls Ihr mich nicht bis zum jüngsten Tage
warten laßt! Aber macht jetzt schnell, sonst macht sich das liebe, unschuldige, neugeborene Kind mit allen Flügeln fort, und der kluge Mr. Watter bekommt seine Nuggets niemals wieder!« Sie trabten alle zur Thür hinaus und ließen mich und Hiller unter dem liebreichen Schutze des Constable im Zimmer zurück. Es war wirklich eine Dummheit von mir gewesen, dem Prayer-man zu verraten, daß ich einen Blick in seine Geheimnisse geworfen habe; aber jetzt, da der Sheriff eine noch viel größere Dummheit beging, konnte ich mich nicht mehr über die meinige ärgern. Mir war es in diesem Augenblicke vollständig gleichgültig, ob sie ihn entkommen ließen oder nicht. Freilich, wenn ich an den von mir belauschten Plan dachte, der sich auf den mir leider rätselhaften Onkel und seinen Neffen bezog, wurde mir durch das wahrscheinliche Entkommen des Schriftenhändlers ein Strich durch meine Rechnung gemacht. Ich hatte gehofft, daß er bleiben und daß sich mir dadurch irgend eine Gelegenheit bieten werde, über diese beiden Personen etwas näheres zu erfahren. An Aufmerksamkeit meinerseits hätte es sicher nicht gefehlt, und der sogenannte Zufall ist kein Zufall, sondern das Ergebnis unbekannter Umstände, die einem oft so günstig sind, daß es gar kein Fehler ist, wenn man ihn auch mit in Rechnung bringt. Wenn aber dem Prayer-man die Flucht gelang, konnte mir all mein Scharfsinn nicht das mindeste nützen, und ich mußte wahrscheinlich ganz darauf verzichten, zu erfahren, wer die Leute seien, die hinauf nach dem Finding-hole gelockt werden sollten. Hiller war ganz glücklich darüber, daß er mit mir hatte gehen dürfen. Er fühlte sich nicht nur als Zeuge, sondern als Mitbeteiligter bei einem hochinteressanten Ereignisse, über dessen bisherigen Verlauf er sich in diesem Augenblicke allerdings nur ärgern konnte. Er wollte nicht begreifen, daß ich so zögerte, meinen Namen zu nennen, denn er sagte sich nicht, daß grad er selbst auch nur infolge des Umstandes, daß er diesen Namen kannte, nun als nicht ganz hochwillkommener Inseparable bei mir saß. Sobald es bekannt wurde, wer ich war, konnte ich mit Sicherheit darauf rechnen, in kurzer Zeit sämtliche Bewohner Westons, welche von Winnetou und mir gehört hatten, als solche inseparable Sympathievögel um mich herumzwitschern zu hören. Es dauerte lange, sehr lange, ehe der Sheriff sich mit seinen Begleitern wieder sehen ließ. Als sie endlich kamen, war das »neugeborene Kind«, ganz wie ich gedacht hatte, leider nicht dabei. Er sah den Blick, den ich auf ihn richtete, und sagte: »Lacht nicht, Sir!« »Lache ich denn?« fragte ich. »Ihr thut es, wenn auch heimlich; ich sehe es Euch an!« »Was Ihr seht, ist nicht Humor, sondern Neugierde, Sir. Darf ich vielleicht fragen, ob der Prayerman in sein Zimmer schlafen gegangen ist?« »Ich verbitte mir derartige Scherze! Der Mensch ist fort, und wir sind ihm vergeblich nachgerannt bis weit vor die Stadt hinaus!« »War er in seiner Stube, als ihr hinüberkamt?« »Ja, aber er hatte zugeschlossen.« »Ihr mußtet ihn doch von zwei Seiten nehmen, von der Thür und von dem Fenster aus!« »Das haben wir dann auch gethan; aber als wir unter das Fenster kamen, stand es auf, und er war herabgesprungen.« »Ich sagte es doch: mit allen Flügeln fortgeflogen! Hat er etwas von seinen Sachen mitgenommen?« »Nur das Gewehr. Mr. Rost ist dann mittels einer Leiter durch das Fenster eingestiegen und hat uns die Thür geöffnet. Wir untersuchten das Zimmer und fanden nichts als seinen Koffer.« »Was war darin?« »Fromme Schriften, der Rest von gestern.«
»Hm! Darf ich einmal hinübergehen?« »Was wollt Ihr drüben? Haltet Ihr Euch vielleicht für scharfsinniger und findiger als einen Polizeibeamten?« »Nein; aber es kommt vor, daß ein Mensch schließlich doch sieht, was andere Leute nicht gesehen haben.« »Da habt Ihr es wieder!« fiel Watter ein. »Dieser Mr. Meier ist überzeugt, daß es keinen Menschen gebe, der es an Klugheit mit ihm aufnehmen kann. Grad diese seine eingebildete Gescheitheit befestigt meinen Verdacht. Er ist der Dieb. Ich habe seinen falschen, hinterlistigen Augen gleich von Anfang an nicht getraut!« Das war mir nun endlich doch zu viel. Ich stand auf, ging zu ihm hin und sagte: »Und trotz dieser falschen Augen habt Ihr mir Eure ganze Bonanza-Brühe vorgequatscht? Mensch, ich habe mit Euch lange Geduld gehabt; nun aber ist sie zu Ende. Wenn Ihr noch ein einziges beleidigendes Wort gegen mich sagt, werfe ich Euch an die Decke, daß Ihr oben kleben bleibt!« Da befahl mir der Sheriff: »Keine Drohungen hier! Setzt Euch auf Euern Stuhl! Ich habe hier polizeiliche Recherchen zu führen und kann nicht dulden, daß der Bestohlene von dem des Diebstahles Verdächtigten in dieser Weise angebrüllt wird! Kommt jetzt mit hinauf! Ich werde den Schauplatz des Verbrechens und dann auch Euer Zimmer untersuchen.« »Well! Ich habe versprochen, Euch diese Untersuchung zu gestatten, und halte Wort; dann aber werde ich mir das Vergnügen machen, Euch einmal zu zeigen, wie man es anzufangen hat, Schuld von Unschuld zu unterscheiden und einen Gentleman nicht als Lump, sondern als Gentleman zu behandeln. Vielleicht kleben nachher zwei und nicht bloß einer an der Decke!« »Hört, Mann, das ist genug gesagt, um Euch die Handschellen anlegen zu lassen! Wir haben sie mit, und wenn - -« Er hielt inne und blickte nach dem Fenster, durch welches lautes Pferdestampfen hereinklang. Man sah zwei indianisch aufgeschirrte, prächtige Hengste und einen Indianer, welcher sich, um hereinzuschauen, aus dem Sattel herabbückte, so daß sein lang niederfallendes, dunkles Haar beinahe die Erde berührte. Der Wirt ging rasch hin, und wir hörten die sonore Stimme des Indsman fragen: »Dies ist ein Hotel? Wohnt mein Bruder Old Shatterhand hier?« »Old Shatterhand?« fragte der Wirt erstaunt. »Soll er hier in Weston sein?« »Ja. Er ist gestern hier eingetroffen, und weil dies das beste Haus für Fremde ist, vermute ich, daß er hier wohnt. Ich bin Winnetou, der Häuptling der Apatschen.« »Winnetou, Winnetou, Winnetou!« klang es aus jedem Munde, und alle eilten nach dem Fenster hin. Ich aber war im nächsten Augenblicke draußen bei ihm. »Winnetou, mein Bruder, sei gegrüßt!« »Scharlih, mein Bruder, gieb mir deine Hand!« Sein dunkles Auge strahlte lächelnd auf meinen neuen Anzug nieder, indem er weiter sprach: »Mein Freund Scharlih wird diese Kleidung der Bleichgesichter ablegen und sein Leder wieder anlegen müssen, doch heut bleiben wir noch hier. Gefällt es dir in diesem Hause?« »Das Haus ist gut, und seine Bewohner sind es auch; aber soeben befindet sich drin die Polizei, weil Nuggets gestohlen worden sind und ein Bleichgesicht mich beschuldigt hat, der Dieb zu sein.« »Uff! Old Shatterhand ein Dieb! Dieses Bleichgesicht hat dich doch sofort um Verzeihung gebeten?«
Man konnte jedes Wort, welches wir sprachen, drin hören; darum zog ich den einen Augenwinkel in Falten, ein Zeichen, welches Winnetou sofort verstand, und antwortete: »Nein; er behauptet trotz all meiner Versicherungen noch jetzt, daß ich der Dieb sei, und der Sheriff glaubt es ihm und hat mir soeben gedroht, Eisen um meine Hände legen zu lassen.« »Uff, uff, uff! Eisen um Old Shatterhands Hände? Mein Bruder gehe voran; ich folge gleich!« Das Zusammenziehen des Augenwinkels war zwischen uns die Andeutung, eine Sache, über welche wir innerlich lachten, äußerlich mit Ernst und Wichtigkeit zu behandeln. Ein heiteres Lächeln ging schnell wie ein Blitz über sein Gesicht, um sich in den Ausdruck drohenden Zornes zu verwandeln. Ich verstand sein »ich folge sogleich«, und kehrte in die Stube zurück, indem ich die Haus- und auch die Zimmerthür weit offen ließ. Die Anwesenden waren von den Fenstern weggetreten. Sie wußten nun, wer ich war, und sahen mich mit ganz andern Augen an als vorher. Wie staunten sie aber, als sie das Stampfen der Hufe vom Flur her hörten und dann Winnetou zu Pferde vor der Thür erschien! Er bückte sich, um hereinzukommen, hielt den Rappen an, blitzte mit seinen hellen, wunderbaren Augensternen eine Person nach der andern an und fragte dann: »Welches von diesen Bleichgesichtern ist der Sheriff?« »Ich bin es,« antwortete der Genannte in einem Tone, als ob er in Demut vor einem gekrönten Regenten stehe. »Du bist es, du, also du!« erklang es wie Mitleid aus dem Munde des herrlichsten Indianers. »Du, du wagst es, Old Shatterhand, meinen berühmten Bruder, vor dem alle Scharen der roten und der weißen Krieger zittern und der lieber alles, was er besitzt, verschenkt, als daß er einen fremden Grashalm nimmt, einen Dieb zu nennen? Pshaw!« Es lag in diesem »Pshaw!« der Ausdruck einer so tief herniedersteigenden Herablassung, eines so hoheitsvollen Erbarmens, daß der, an den es gerichtet war, keine Antwort fand und unwillkürlich einige Schritte zurückwich, als ob er mit dieser nun sehr heikel gewordenen Angelegenheit jetzt lieber gar nichts mehr zu thun haben wolle. Einem jeden, der Winnetou nicht gekannt hat, muß dieser Eindruck seiner Persönlichkeit, wenn auch nicht unerklärlich sein, so doch als höchst ungewöhnlich vorkommen, aber der berühmte Häuptling der Apatschen war auch weit mehr als bloß ein ungewöhnlicher Mann. Die Häuptlingsstellung war es natürlich nicht, welche imponierte, denn die soziale Distinktion eines indianischen Sachem ist, wenigstens den Weißen gegenüber, keine an sich Ehrfurcht gebietende, sondern es lag ganz allein nur in seiner Personalität, in der Gesamtheit seiner Vorzüge, seinen geistigen und seelischen Eigenschaften, welche in seiner fehlerlosen männlichen Schönheit eine köstliche Verkörperung gefunden hatten, daß sein Erscheinen überall, wohin er kam, Bewunderung erregte und dabei zugleich jene niemals ausbleibende Ehrerbietung erweckte, deren sofortige Folge stets der unwillkürliche Gehorsam ist. Er trug, wie auch ich stets, wenn ich mich im Westen befand, einen aus Elkleder gefertigten Jagdanzug von indianischem Schnitt, an den Füßen leichte Mokassins, welche mit Stachelschweinsborsten und selten geformten Nuggets geschmückt waren. Eine Kopfbedeckung gab es bei ihm nicht. Sein reiches, dichtes, bläulich schwarzes Haar war auf dem Kopfe zu einem hohen, helmartigen Schopf geordnet und fiel von da aus, wenn er im Sattel saß, wie eine Mähne oder ein dichter Schleier fast bis auf den Rücken des Pferdes herab. Keine Adlerfeder schmückte diese indianische Frisur. Er trug dieses Abzeichen der Häuptlinge nie; es war ihm ohnedies auf den ersten Blick anzusehen, daß er kein gewöhnlicher Krieger sei. Ich habe ihn mitten unter Häuptlingen gesehen, welche alle mit den Federn des Kriegsadlers geschmückt waren und sich auch sonst mit allen möglichen Trophäen behangen hatten; seine königliche Haltung, sein freier, ungezwungener, elastischer und doch so stolzer Gang zeichneten ihn doch als den edelsten von allen aus. Wer auch nur einen einzigen Blick auf ihn richtete, der sah sofort, daß er es mit einem bedeutenden Manne zu thun hatte. Um den Hals trug er die wertvolle Friedenspfeife, den
Medizinbeutel und eine dreifache Kette von Krallen der Grizzlybären, welche er mit Lebensgefahr selbst erlegt hatte. Der Schnitt seines ernsten, männlich schönen Angesichtes, dessen Backenknochen kaum merklich vorstanden, war fast römisch zu nennen, und die Farbe seiner Haut war ein mattes Hellbraun, mit einem leisen Bronzehauch übergossen. Einen Bart trug er nicht; in dieser Beziehung war er ganz Indianer. Darum war der sanfte, liebreich milde und doch so energische Schwung seiner Lippen stets zu sehen, dieser halbvollen, ich möchte sagen, küßlichen Lippen, welche der süßesten Schmeicheltöne ebenso wie der furchterweckendsten Donnerlaute, der erquickendsten Anerkennung gleich so wie der schneidendsten Ironie fähig waren. Seine Stimme besaß, wenn er freundlich sprach, einen unvergleichlich ansprechenden, anlockenden gutturalen Timbre, den ich bei keinem andern Menschen gefunden habe und welcher nur mit dem liebevollen, leisen, vor Zärtlichkeit vergehenden Glucksen einer Henne, die ihre Küchlein unter sich versammelt hat, verglichen werden kann; im Zorne hatte sie die Kraft eines Hammers, welcher Eisen zerschlägt, und, wenn er wollte, eine Schärfe, welche wie zersetzende Säure auf den festesten Gegner wirkte. Wenn er, was aber sehr selten und dann nur bei hochwichtigen oder feierlichen Veranlassungen geschah, eine Rede hielt, so standen ihm alle möglichen Mittel der Rhetorik zur Verfügung. Ich habe nie einen besseren, überzeugenderen, hinreißenderen Redner gehört als ihn und kenne nicht einen einzigen Fall, daß es einem Menschen möglich gewesen wäre, der Beredsamkeit des großen, unvergleichlichen Apatschen zu widerstehen. Beredt auch waren die leicht beweglichen Flügel seiner sanftgebogenen, kräftigen, aber keineswegs indianisch starken Nase, denn in ihren Vibrationen sprach sich jede Bewegung seiner Seele aus. Das Schönste an ihm aber waren seine Augen, diese dunklen, sammetartigen Augen, in denen, je nach der Veranlassung, eine ganze Welt der Liebe, der Güte, der Dankbarkeit, des Mitleides, der Besorgnis, aber auch der Verachtung liegen konnte. Solch' ehrliche, treue, lautere Augen, in welchen beim Zorne heilige Flammen loderten oder aus denen das Mißfallen vernichtende Blitze schleuderte, konnte nur ein Mensch haben, der eine solche Reinheit der Seele, Aufrichtigkeit des Herzens, Unwandelbarkeit des Charakters, und stete Wahrheit des Gefühles besaß wie Winnetou. Es lag in diesen seinen Augen eine Macht, welche den Freund beglückte, den Feind mit Furcht und Angst erfüllte, den Unwürdigen in sein Nichts verwies und den Widerspenstigen zum Gehorsam zwang. Wenn er von Gott sprach, seinem großen, guten Manitou, waren seine Augen fromme Madonnen-, wenn er freundlich zusprach, liebevolle Frauen-, wenn er aber zürnte, drohende Odins-Augen. Dieser herrliche Mann befand sich jetzt, hoch zu Pferde, hier im Zimmer, und aller Augen hingen mit Staunen und Bewunderung an seinem gebieterischen Angesichte und seiner tadellosen Gestalt, welche in vornehmer Haltung halb auf dem Sattel, halb in den mit Klapperschlangenzähnen verzierten Bügeln ruhte. Von seinen breiten, kräftigen Schultern hing sein, gleich dem meinigen von seiner schönen Schwester Nscho-tschi gefertigter Lasso in Schlingen über Brust und Rücken bis auf die Hüften herab, wo er um die schmale, elastische Taille eine buntschillernde Santillodecke als Shawl gewunden hatte, welcher Messer, Revolver und alle die Gegenstände enthielt, die der Westmann in oder an seinem Gürtel zu tragen pflegt. Auf seinem Rücken hing ein doppelläufiges, an den Holzteilen mit silbernen Nägeln beschlagenes Gewehr. Das war die weitberühmte Silberbüchse, deren Kugeln nie ihr Ziel verfehlten. Wenn man eine jener Indianererzählungen liest, deren Wert oder vielmehr Unwert ich schon weiter oben der Wahrheit nach bezeichnet habe, so findet man sie meist mit schauderhaften Illustrationen versehen, gegen welche der Kenner und auch jeder andere vernünftige Mann einen wahren Ekel empfinden muß. Da sieht man nichts als Kampf, Mord und Gier nach Blut. Jeder Rote ist mehr oder weniger bunt mit Federn geschmückt, was eine Lüge ist und die Unwissenheit des Verfassers und Zeichners verrät, und um den kriegerischen Eindruck zu erhöhen, sind, wo es nur immer der Platz hergiebt, alle Arten indianischer und anderer Waffen angebracht. Wie anders hier bei Winnetou! Man sah nur sein Gewehr, denn selbst sein Tomahawk, übrigens ein Meisterstück der Waffenschmiedekunst, steckte unsichtbar in einer Scheide von Opossumfell, welche links an seiner Hüfte hing. Und doch wirkte seine Erscheinung so unbedingt kriegerisch, daß es wohl niemandem eingefallen wäre, an ihm eine derjenigen Eigenschaften zu bezweifeln, welche er als oberster
Kriegshäuptling sämtlicher Apatschenstämme besaß. Er wendete sich, als der Sheriff ängstlich zurückgewichen war, an die übrigen und fragte: »Und welches ist das Bleichgesicht, dem die Nuggets gestohlen worden sind?« »Ich,« antwortete Watter. »Du hast behauptet, Old Shatterhand sei der Dieb?« Watter wagte nicht, ja zu sagen. »Und als mein weißer Bruder dich zurechtwies, hast du es dennoch fortbehauptet?!« Der tadellose Westmann antwortete auch jetzt nicht. »Mensch, ich reite dich nieder und lasse dich unter den Hufen zerstampfen! Tschah!« Dieser Ausruf Tschah war für seinen Rappen der Befehl, hochzuspringen. Er nahm ihn mit den Zügeln vorn empor, stemmte die Fersen fest ein und setzte mit dem Pferde über den Tisch hinüber, daß alles vor Schreck laut aufschrie, obgleich der kühne Sprung so wunderbar gelang, daß der Tisch von keinem Haar, nicht einmal dem Schweifhaare des Hengstes gestreift worden war. Watter retirierte bis an die Wand, wo er nicht weiter konnte. Winnetou zog sein Pferd wieder in die Höhe und ließ es auf den Hinterhufen dem Flüchtling folgen, bis es so nahe vor demselben stand, daß er es hätte mit der Hand berühren können. »Um Gottes willen, thut das nicht, thut das nicht!« schrie Watter voller Angst. »Ich habe ja nicht gewußt, daß dieser ganz vorzügliche Gentleman der berühmte Old Shatterhand ist!« »Coyote!!« Coyote ist der Prairiewolf, welcher Aas frißt und sich nicht einzeln an ein lebendes Wild wagt. Dieser Feigheit und seines Gestankes wegen wird er so verachtet, daß sein Name, zu einem Menschen gesagt, als große Beleidigung gilt. Watter wagte es nicht, diese Beleidigung zurückzuweisen; er hielt, um sich vor den Hufen zu schützen, welche sich vor seinem Gesichte bewegten, die Ellbogen vor und rief: »Zurück, zurück, Mr. Winnetou! Das Pferd schlägt mir ja nach dem Kopfe!« »Wenn du gestehst, daß du ein Coyote bist! Bist du einer?« »Ja doch, ja! Ich bin alles, was Ihr wollt, sogar ein Coyote!« Da drehte der Apatsche den Rappen herum, ließ ihn nieder und sagte: »Und nun hinaus jeder, der Old Shatterhand, meinen weißen Bruder, beleidigt hat, hinaus! Hier ist nur Platz für ihn und seine Freunde! Hinaus!« Er ließ das Pferd zwischen den Tischen hintänzeln, was bei der Lebhaftigkeit und dem feurigen Temperamente des Tieres gefährlich aussah, obwohl es dabei dem Drucke jedes seiner Muskeln gehorchte. Watter schoß sofort zur Thür hinaus. Ihm folgte etwas langsamer der Sheriff, dem der Constable noch voraneilte. Wir erfuhren dann, daß sie sich eine andere Stube genommen hatten, die nicht, wie der Sheriff sich ausgedrückt hatte, »als Manege zum Zureiten von Indianerpferden benutzt wird!« Zu Pferde in das Gastzimmer eines Hotels zu kommen, konnte nur der Gedanke eines Winnetou sein, der so ein Reiter war, daß er nichts beschädigt hätte, selbst wenn die Tische und Stühle von Glas gewesen wären. Unsere Hengste waren Brüder, Pferde edelster Abkunft, vollständig fehlerlos, feurig, mutig, ausdauernd, klug und trotz ihres Feuers lämmerfromm, allerdings nur gegen uns beide. Winnetou hatte sie selbst indianisch zugeritten und dressiert. Der Name seines Hengstes war Iltschi, des meinigen Hatatitla, welches Apatschenwort auf den beiden letzten a betont und also Hatahtitlah ausgesprochen wird. Mein Hatatitla stand mir, so oft ich kam, zur Verfügung und war, so lange ich mich mit Winnetou zusammenbefand, mein Eigentum, welches ich ihm übergab,
sobald ich mich von ihm trennte. Ich hätte das Pferd mitnehmen können, was ich aber natürlich niemals that. Unsere äußerliche Zusammengehörigkeit und innere Harmonie bekam durch den Umstand, daß wir stets zwei ganz gleiche Pferde ritten, eine sehr zutreffende Illustration. Winnetou stieg, als die erwähnten Personen aus der Stube gegangen waren, ab und führte den Hengst hinaus, um ihn und Hatatitla anzubinden. Die Hufe hatten auf der Diele keine Spur gemacht, weil sie unbeschlagen waren. Der Wirt sagte zu mir: »Ich habe mir gleich gedacht, daß Sie nicht bloß so ein herumlaufender und zuweilen schreibender Mr. Meier seien; meine Frau wird das bestätigen. Daß ein so bedeutender Diebstahl bei mir stattgefunden hat, ist ein außerordentlich unangenehmer Fall, der aber mehr als aufgewogen wird durch die hohe Ehre, daß Sie und der berühmte Häuptling der Apatschen meine Gäste sind. Ich hoffe doch, daß auch Winnetou bei mir logieren wird?« »Für heut kann ich zusagen, für morgen aber nicht mehr,« antwortete ich, »denn ich glaube, daß wir morgen nach dem Westen aufbrechen werden.« Da fragte Hiller schnell: »Nach dem Westen, also nicht nach dem Osten, wohin Sie doch erst wollten?« »Ja. Winnetou kommt jetzt von St. Joseph herab und hätte unbedingt einen andern, dort gekauften Anzug an und auch die Pferde in der dortigen Gegend in Pension gelassen, wenn die Absicht, nach dem Osten zu gehen, nicht eine andere geworden wäre. Ich verstehe alles, was er thut, ohne ihn zu fragen.« Das war Wasser auf die Mühle des Oberkellners, welcher mit einer tiefen Verbeugung zu mir sagte: »Verzeihen Sie, wenn ich es vielleicht an der nötigen Höflichkeit habe mangeln lassen; ich wußte ja nicht, wer Sie sind! Darum also, weil Sie Old Shatterhand sind, konnten Sie mit so großer Bestimmtheit sagen, daß ich Winnetou nicht in St. Joseph treffen würde! Ich bin ganz überglücklich über den Vorzug, Sie in unserm Hause eingekehrt zu sehen, und bitte um die Erlaubnis, daß eine innere Stimme mir sagt, mein Herzenswunsch, indianisch-medizinische Studien machen zu dürfen, werde jetzt in Erfüllung gehen!« »Wenden Sie sich an Winnetou!« »Oh, er wird thun, was Sie wollen, Mylord!« »Möglich! Aber ich weiß jetzt noch nicht, aus welchen Gründen er unserm Plane eine Änderung gegeben hat, und kann erst dann, wenn ich sie erfahren habe, Ihnen eine bestimmte Zu- oder Absage geben.« Wenigstens ebenso sehr wie Rost freute sich Hiller über die Ankunft meines roten Bruders, denn erstens war er schon darüber glücklich, ihn überhaupt einmal zu sehen, und zweitens glaubte er, daß sich die Hoffnungen, welche er in Beziehung auf seinen Vater hegte, nun erfüllen würden. Als der Apatsche wieder herein kam und sich zu mir und ihm setzte, richtete der junge Mann seinen Körper kerzengrad im Stuhle auf und ließ diese hochachtungsvolle Haltung auch nicht wieder fallen, bis er sich entfernte. Es wäre ein Irrtum, zu denken, daß Winnetou nun von sich, seinem Ritte und seinen Absichten gesprochen hätte. Das that er nicht, und ich erwartete es auch nicht von ihm, denn ich kannte ihn. In solchen Angelegenheiten war er der schweigsame Mann, der nur dann sprach, wenn es notwendig war, aber auch kein einziges Wort zu viel. Ich hatte gelernt, mehr aus seinen Augen, seinem Gesicht zu lesen als von seinen Lippen zu hören. Als der Oberkellner ihn dienstbereit nach seinen Wünschen fragte, antwortete er nur das eine Wort »Wasser« und richtete dann sein Auge auf mich. Ich verstand diesen Blick und erzählte ihm in kurzen Worten von dem Diebstahle, wobei ich keine lange Ausführung nötig hatte, um den Prayer-man und Watter und mein Verhältnis zu ihnen zu charakterisieren; ein treffendes Wort genügte vollständig für ihn. Als ich fertig war, stand er auf und sagte:
»Mein Bruder mag über die Klugheit dieser Leute nicht lachen sondern Mitleid mit ihr haben! - - Winnetou will den Stall ansehen. Komm!« Der Stall war sauber und stand jetzt leer. Wir schafften die Pferde hinein und ließen ihnen Wasser und Futter geben, welches wir vorher auf seine Güte untersuchten. Zugleich befahl Winnetou, daß kein anderes Pferd hineingestellt werden dürfe, was uns gern zugesagt wurde. Der Stall lag, wie bereits einmal erwähnt, im Hintergebäude. Neben seiner Thür führte eine Treppe nach der Stube, in welcher der Prayer-man gewohnt hatte. Wir sahen den Sheriff mit Watter und dem Constable herabkommen. Ganz seinem bisherigen, unfreundlichen Verhalten zu mir entgegen, kam der erstere auf mich zu und meldete mir in einem Tone, als ob ich sein Vorgesetzter sei: »Wir sind noch einmal oben gewesen, um ganz genau nachzuforschen, haben aber nichts gesehen. Auch im Zimmer von Mr. Watter haben wir nichts entdecken können, was uns auf den Thäter und die Art und Weise, wie der Diebstahl ausgeführt wurde, schließen lassen könnte. Ihr hattet vorhin den Wunsch, einmal hier hinaufzugehen, Mr. Shatterhand?!« »Diesen Wunsch hatte ich als Mr. Meier, der durch Eure Beschuldigungen dazu gezwungen wurde,« antwortete ich kalt. »Jetzt geht mich die ganze Sache nichts mehr an!« Und in drohendem Tone fügte ich die Frage hinzu: »Oder etwa doch?« »Nein, nein! Ganz und gar nichts! Eure Unschuld steht über jeden Zweifel erhaben; das ist ja ganz selbstverständlich! Aber ich dachte - - dachte - - hm!« »Was dachtet Ihr?« half ich ihm aus der Verlegenheit, in welcher er sich befand. »Da Ihr Old Shatterhand seid und dieser vorzügliche Gentleman Winnetou, der Häuptling der Apatschen ist, und weil man weiß, daß Ihr selbst Spuren, die kein anderer erkennen kann, so meisterhaft zu lesen versteht, so wollte ich, weil ich Euch nun doch einmal hier treffe - - hm!« »So redet doch weiter!« »Kurz und gut, ich wollte Euch höflichst bitten, doch einmal da hinaufzugehen und zu versuchen, ob Ihr vielleicht etwas findet, was wir nicht gesehen haben!« Ich warf einen schnellen Blick auf Winnetou. Sein Gesicht war unbewegt; er war also weder dafür noch dagegen, sondern überließ mir die Entscheidung. Darum antwortete ich und zwar nur ganz kurz: »Kommt!« Sie stiegen voran, um uns die Stube zu zeigen. Wir folgten ihnen. Der Wirt, welcher im Hofe gestanden hatte, kam nach, als er sah, wer jetzt das Suchen übernahm. Der Sheriff schloß auf und wollte eintreten. »Halt!« sagte ich. »Ihr kommt erst hinter uns. Ihr könntet uns die Spur verderben, wenn Ihr sie nicht schon verdorben habt.« Und um Winnetou Gelegenheit zu geben, diesen Leuten zu zeigen, was ein geübter Scharfsinn und Scharfblick zu bedeuten hat, schloß ich die Bemerkung an: »Der Häuptling der Apatschen wird zuerst eintreten!« Er verstand mich, that einen Schritt hinein und blieb dann stehen. Wir konnten sein Gesicht nicht sehen. Dann ging er bis in die Mitte der Stube, so daß wir folgen konnten. An der rechten Wand stand das Bett, an der linken ein Tisch und ein Stuhl, auf letzterem der Koffer des Prayer-man. Winnetou bückte sich und hob eine Schnur auf, welche unter dem Tische lag. »Das ist nichts«! sagte der Sheriff wegwerfend. »Wartet nur!« entgegnete ich. Der Apatsche ging nach dem offenen Fenster und ließ die Schnur hinab, um zu sehen, wie weit sie draußen hinunterreichte. Dann warf er sie herein, behielt aber den Kopf draußen, um etwas, was wir nicht sahen, zu betrachten. Hierauf schwang er sich auf die Fensterbrüstung und stieg auf die noch
anliegende Leiter hinaus. Als er wieder hereinkam, hatte er einen kurzstieligen Hohlbohrer in der Hand. »Die Bleichgesichter haben keine Augen und keine Gedanken!« sagte er. »Der Prayer-man ist nicht betrunken gewesen und hat nicht geschlafen. Er hatte Werkzeuge und er hatte einen Gehilfen, dem er sie an dieser Schnur hinunterließ. Der Gehilfe ging, um die Nuggets zu stehlen; als das geschehen war, brachte er die Werkzeuge wieder, band sie unten an die Schnur, und der Prayer-man zog sie herauf; sie waren aber nicht fest zusammengebunden, und so fiel eins heraus und blieb draußen im Gezweig des wilden Weines hängen, welcher an der Mauer wächst. Hier ist es. Solche Werkzeuge steckt man nicht in die Taschen des Gewandes; er hatte sie also nicht bei sich, als er floh, zumal seine Flucht sehr schnell geschah; sie sind noch hier. Die Bleichgesichter mögen noch einmal alles aus dem Bette werfen!« Es fiel ihm nicht ein, das Bett anzurühren. Der Constable warf ein Stück nach dem andern heraus. Es lag nichts drin, was nicht hineingehörte, auch nichts darunter. »Die Bleichgesichter mögen auch den Koffer leeren!« befahl nun Winnetou. Der Sheriff erklärte, daß dies bereits einmal geschehen und nichts dabei gefunden worden sei; man mache sich die Mühe also überflüssig. Als die Papiere, welche drin lagen, herausgenommen worden waren, war der Koffer leer. Winnetou nahm ihn in die Hand, behielt ihn einen Augenblick in derselben, lächelte und gab ihn mir. Ich fühlte sofort, daß er schwerer war, als er hätte sein dürfen, wenn er wirklich leer gewesen wäre. »Mein Bruder Shatterhand messe die Tiefe von außen und von innen!« forderte mich Winnetou auf. Ich that dies durch die Handspanne und fand, daß er einen hohlen Boden haben müsse. Die Untersuchung ergab, daß er einen bis oben reichenden Einsatz hatte, den wir nun herauszogen; dann schütteten wir den geheimen Inhalt heraus, der aus Nachschlüsseln, Bohrern, Feilen und sonstigen Werkzeugen bestand, welche alle so gearbeitet waren, daß sie möglichst wenig Platz einnahmen. Von einem Meißel, der so schmal war, daß er als Zieher kleiner Schrauben benutzt werden konnte, war die Spitze abgebrochen. Winnetou betrachtete die Bruchstelle aufmerksam und fragte dann: »Die Bleichgesichter haben auch in der Stube, wo die Nuggets waren, keine Spur gefunden?« »Nein, nicht die geringste,« antwortete der Sheriff. »Sie mögen uns hinführen!« Wir gingen über den Hof in das Vorderhaus und dort nach Watters Zimmer, welches ein Eckzimmer wie das meinige war. Hier standen mehr und bessere Möbel, als drüben. Der Schrank war offen; der leere, noch angeschraubte Kasten stand drin. Winnetou sah und griff hinein und ließ den offenen Deckel in den Scharnieren spielen. »Das ist alles nutzlos!« erklärte Watter. »Ich selbst erst habe ihn aufgeschlossen, und der Schlüssel ist nicht aus meiner Tasche gekommen!« Nun langte Winnetou mit der Hand hinter den Kasten und suchte dort. »Uff!« rief er aus, indem er sich aufrichtete und uns ein kleines, scharfes Eisenstückchen zeigte. »Dieser Schrank steht nicht an einer Mauer, sondern an einer Thür!« »Das ist richtig!« sagte der Wirt erstaunt, denn der Schrank verdeckte die Thür so vollständig wie in dem Zimmer neben dem meinigen; Winnetou hatte sie also nicht sehen können. »Man öffne die Stube, zu welcher diese Thür führt,« befahl Winnetou. »Von dort aus ist die hintere Wand des Schrankes aufgemacht worden, und weil der Dieb den Schlüssel zum Kasten nicht gehabt hat, hat er die Gelenke des Deckels aufgeschraubt. Als er sie später wieder zuschraubte, ist diese Spitze des Meißels abgebrochen, welche ich gefunden habe. Er hat die Schrauben nicht ganz, sondern nur halb wieder hineingebracht; das fühlte ich gleich, als ich hingriff!«
Der Schlüssel wurde geholt; wir gingen in das Nebenzimmer und öffneten die Verbindungsthür. Da standen wir vor der Hinterwand des Schrankes und sahen sofort, daß ein Teil derselben weggenommen worden war. Der Schrank war ein leicht gearbeitetes Stück, wie sie in Fremdenzimmern zu stehen pflegen; der Tischler hatte die Bretter der Hinterwand nur aufgenagelt, und die Nagelkuppen waren von dem Diebe mit dem Hohlbohrer freigelegt worden, so daß er zwei Bretter hatte wegnehmen können. Wir thaten das auch, worauf das Innere des Schrankes vor uns lag, und nun sahen wir auch die halb hervorstehenden Scharnierschrauben. Es war genau so, wie Winnetou gesagt hatte: In Ermangelung des Schlüssels hatte der Dieb den Kasten nicht vorn beim Schlosse, sondern hinten bei den Scharnieren geöffnet. »Das ist erstaunlich, geradezu erstaunlich!« rief der Sheriff. »Wer hätte das gedacht!« stimmte Watter bei. Der Wirt versetzte dem letzteren einen gelinden Rippenstoß und sagte mit mir willkommener Anzüglichkeit: »Was denkt Ihr nun von Eurer großen Weisheit, Mr. Watter? Wer gehört nun zu den >reinen Garnichtsen
»Richtig! Ich bin nämlich der Ansicht, daß diese Wilden einen großen Irrtum begangen haben.« »Ah!« »Ja! Wenn schon gebildete Weiße oft nicht wissen, was sie thun, so ist es gar kein Wunder, daß bei solchen ungebildeten Indianern auch einmal eine Zerstreutheit unterläuft. Daß grad wir die Opfer derselben sein müssen, das kommt mir gar nicht fremd vor, denn ich bin ja, wie du weißt, dazu bestimmt, die Gedankenlosigkeiten anderer Menschen auszutragen. Was sagst du zu dieser Idee? Ich glaube, ich habe das Richtige getroffen.« »Hm, ja! Nehmen wir also eine Zerstreutheit an!« »Gut! Es kann ja gar nichts anderes vorliegen als eine Gedankenverwirrung, die wir ordnen müssen. Die Indianer verwechseln uns!« »Mit wem?« »Das weiß ich freilich nicht. Wir haben ihnen nichts gethan; sie verwechseln uns jedenfalls mit gewissen andern Personen, die sich in irgend einer Weise an ihnen vergangen haben. Ich würde ihnen das sagen, es ihnen gern in aller Ruhe und ohne Aufregung erklären, aber sie verstehen mich nicht. Du aber sprichst ihre Sprache, wie ich vorhin gehört habe, und so kann es dir ja gar nicht schwer fallen, ihnen zu erklären, was für einen gewaltigen Pudel sie geschossen haben. Willst du das thun?« »Ja; ich will es versuchen.« »Versuchen? Von einem Versuche kann gar keine Rede sein; es handelt sich hier um eine offenbare, gar nicht abzuleugnende Konfusion, die sie sofort einsehen müssen, wenn du in der richtigen Weise mit ihnen sprichst. Du kannst dich darauf verlassen, wenn ich ihrer Sprache so mächtig wäre wie du, so würde es höchstens einige Minuten dauern, bis ich sie aus grimmigen Feinden, die sie jetzt sind, in die besten Freunde verwandelt hätte!« »Dieser Erfolg ist dir schon zuzutrauen, wenn auch nicht so schnell, lieber Carpio. Du hast gesehen und gehört, wie aufgeregt der Häuptling ist; jetzt ist gar nicht mit ihm zu sprechen.« »Gut, so warte bis morgen! Vielleicht ist er da ruhiger und für deine überzeugenden Auseinandersetzungen zugänglicher geworden.« »Wollen sehen! Jetzt fragt es sich vor allen Dingen, wie du diese Nacht überstehen wirst.« »Oh, gar nicht übel, denke ich. Die Riemen, mit denen man mich gebunden hat, drücken mich fast gar nicht, und weil ich sehr müde bin, denke ich, daß ich ganz hübsch schlafen werde.« »So versuche es gleich jetzt! Wollen eng zusammenrücken, daß wir einander wärmen.« »Ja, komm heran! Es sollte mir leid thun, wenn du frieren müßtest.« Armer, lieber Carpio! Der gute Kerl wollte mir die Wohlthat erweisen, die ich ihm zugedacht hatte. Es dauerte auch gar nicht lange, so schlief er ein. Die Roten waren selbst auch müde und wickelten sich in ihre Decken ein, nachdem Peteh die Reihenfolge der Wachen bestimmt hatte. Zwei Mann, welche stündlich abgelöst wurden, mußten sich zu uns setzen, und die andere Gefangenengruppe bekam ebenso zwei Wächter. Es war mir sehr lieb, daß man uns in dieser Weise auseinanderhielt. Soviel ich beim Scheine des einzigen Feuers, welches die ganze Nacht hindurch unterhalten wurde, erkennen konnte, lag Corner bewegungslos. Daß er tot sei, bezweifelte ich, denn es war anzunehmen, daß sie einen für den Marterpfahl bestimmten Gefangenen nicht durch einen vorzeitigen Totschlag von diesem Schicksale befreit haben würden. Mehr konnte ich allerdings nicht wissen, weil wir zu entfernt von ihm lagen, als daß ich die Wirkung der Schläge auf ihn hätte beobachten können. Die Nacht war keine gute für mich. Ich hatte schon oft in Fesseln geschlafen, und hätte, wenn ich allein gewesen wäre, es wohl auch heut gethan, obgleich man so vorsichtig gewesen war, grad mich
so fest zu binden, daß mich die Riemen schmerzten; aber meine beiden Gefährten wachten immerwährend auf; die unnatürliche Lage der Hände auf dem Rücken weckte sie ebenso oft aus dem Schlafe wie die Kälte, welche sehr fühlbar war. Wenn der eine schlief, wachte der andere; ich hatte nur immer zu trösten und zu beruhigen, und da es mir nicht besser, sondern wegen der einschneidenden Fesseln schlimmer erging als ihnen und sie doch diejenigen waren, die uns in die Hände der Roten gebracht hatten, so gehörte einige Selbstbeherrschung dazu, nicht ungeduldig zu werden. Endlich, endlich dämmerte der Morgen, ohne daß ich ein Auge geschlossen hatte! Die Roten standen auf und hobbelten ihre Pferde los, um sie zu tränken; dabei verzehrten sie ihr Frühstück, welches in getrocknetem Büffelfleisch bestand, mit dem sie für längere Zeit versehen waren, weil man während eines Kriegszuges sich nicht auf die Jagd verlassen darf. Wir bekamen auch davon; man gab uns aber nicht die Hände zum Essen frei, sondern steckte uns die Bissen wie Kindern, welche gefüttert werden, in den Mund. Carpio bestand jetzt darauf, daß ich mit dem Häuptling sprechen möge, um ihm die vermeintliche Verwechslung klar zu machen, und ich mußte alle möglichen und unmöglichen Gründe zusammensuchen, dem ungeduldigen Freunde zu beweisen, daß die Zeit dazu noch nicht gekommen sei. Es stellte sich heraus, daß Corner unfähig war, auf ein Pferd gesetzt zu werden. Es wurde eine kurze Beratung gehalten, deren Resultat darin bestand, daß man ein Floß baute, auf welchem er transportiert werden sollte. Vier Mann hatten bei ihm zu bleiben, um ihn aus dem Fleischwasser in den Platte und auf diesem bis an die Mündung des Sweetwater hinabzubringen, dessen Ufer wir dann aufwärts zu folgen hatten. Vor unserm Aufbruche gab es mit meinem Pferde eine Scene. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß die Indsmen sich unsere guten Pferde aneigneten und ihre schlechtesten für uns bestimmten. Wir mußten aufsteigen und wurden dann oben festgebunden. Peteh war hochentzückt über den Rappen und wählte ihn für sich. Hatatitla stand ganz still und ließ ihn auch in den Sattel kommen. Es hätte nur eines Wortes von mir bedurft, um den Hengst zum Gehorsam gegen ihn zu bewegen; da ich mich aber hütete, dies zu sagen, that er die ihm eingeübten zwei Sprünge, und der Häuptling flog herunter. Dieser war zunächst ganz verblüfft; dann überkam ihn das Gefühl der ihm widerfahrenen Schande, und er stieg wieder auf, um dieses Mal aber sicher sitzen zu bleiben. Er flog wieder herab und wurde darüber so wütend, daß er das Pferd wohl erschossen hätte, wenn es ein gewöhnliches gewesen wäre. Er hätte den Versuch wiederholen können, er wäre wohl hinaufaber noch schneller wieder herabgekommen; um aber die Sache abzukürzen, drängte ich das Pferd, auf welchem ich saß, näher hin und sagte, scheinbar nur so für mich hin, in Wirklichkeit aber, daß Hatatitla es hören solle, das eine Wort »nehvis!« Der Hengst legte die Ohren hinter, und nun war es sicher, daß er von jetzt an keinen Menschen mehr hinaufkommen lassen werde. Sobald der Häuptling die Hand wieder ausstreckte, biß und schlug er nach ihm; andere traten hinzu, um Peteh zu helfen, da ging der Rappe, vorn hoch, auf sie zu und trieb sie auseinander. Er ließ sich auch nicht am Zügel führen. Man versuchte alles mit ihm, doch vergeblich, und so sah sich der Häuptling gezwungen, mich wieder loszubinden und absteigen zu lassen, um mein eigenes Pferd zu reiten. Dann brachen wir auf. Zu meinem Leidwesen hielt man mich für so gefährlich, daß man mich von Rost und Carpio trennte. Man glaubte, ich könne mit ihnen sonst einen Plan zur Flucht beraten. Ich bekam je zwei Begleiter rechts und links, welche mich keine Minute lang aus den Augen ließen, was mir sehr gleichgültig gewesen wäre, wenn mir nicht meine beiden Gefährten leid gethan hätten. Sie wurden sogar vor an die Spitze des Zuges genommen, während man mich ganz hinter zwang, und da im weit ausgedehnten Indianer-(Gänse-)Marsch geritten wurde, so bekam ich sie erst am Abende wieder zu sehen. Es ging während des ganzen Tages im Thale des Platte zwischen einander bald nahe stehenden bald
zurücktretenden Bergen abwärts. Kurz nach Mittag passierten wir den massigen Pyramide-Rock, und am Nachmittage sahen wir an einer Stelle, welche der Mündung des Sand Creek gegenüberlag, das Floß mit Corner und seinen Wächtern kommen. Dieser Sand Creek ist nicht mit dem schon einmal erwähnten Big Sandy Creek, welcher in den Green River fließt, zu verwechseln. Wir hatten erst bis ganz zur Mündung des Sweetwater gewollt; aber da das Floß dem Häuptling so gelegen kam, ließ er halten, um hier über den Platte zu setzen, was zwar nicht leicht war, aber ohne Unfall von statten ging. Auch das Floß landete, und Corner, welcher sich inzwischen etwas erholt hatte, wurde nun auch auf ein Pferd gesetzt. Dann ritten wir noch bis an den Arkansas Creek, welcher von den Ferrisbergen herunterkommt, und blieben dort halten, um Lager zu machen. Hier sah ich, wie bereits erwähnt, Rost und Carpio wieder, wurde aber von ihnen ferngehalten, so daß es mir nur einmal gelang, ihnen beruhigend zuzunicken. Carpio sah sehr angegriffen aus; er that mir unendlich leid; ich konnte aber leider nichts für ihn thun. In dieser Nacht schlief ich trotz meiner Fesseln vom ersten bis zum letzten Augenblicke. Früh ging es schon bei Tagesanbruch weiter, und zwar in derselben Reihenfolge wie gestern; ich blieb von den Gefährten isoliert. Der heutige Ritt war sehr anstrengend, weil über mehrere schwer passierbare Flüsse gesetzt werden mußte. Wir ritten nacheinander über den Angwa-, Cherry-, Whiskey-, Muddy-, Thowau- und Cottonwood-Creek und blieben für die nächste Nacht am Crookscreek liegen, wo wir uns zwischen dem Greengebirge im Süden und den Granitbergen im Norden befanden. An diesem Abende konnte ich meinem Carpio nicht einmal zuwinken, so fern wurde ich von ihm und Rost gehalten, und als ich am andern Morgen wieder auf das Pferd gebunden wurde, waren die beiden mit ihren Wächtern schon über den Creek hinüber. Von hier aus ging es bis zum Nachmittag in fast genau westlicher Richtung weiter. Da ritten wir zwischen dem Sweetwaterflusse und den Antelope Hills hindurch und kamen dem Southpaß so nahe, daß wir an der Stelle Lager machten, wo sich der Willow Creek mit dem Sweetwater vereinigt. Auch heut war es mir unmöglich, den Gefährten nahe zu kommen. Ich wurde sehr besorgt um sie, natürlich besonders um Carpio. Es war sehr kalt hier oben; die Berge trugen Schnee. Unter andern Verhältnissen hätte die imposante Scenerie des Hochgebirges einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, so aber ging sie für mich ganz verloren. So will ich auch für den nächsten Tag nur sagen, daß wir endlich den Southpaß hinter uns legten und dann am Pacific Creek jenseits herabritten. Schon um die Mittagszeit bemerkte ich, daß irgend etwas wichtiges im Werke sei. Man zog mir die Fesseln noch enger zusammen, und ich bekam zu meinen vier Wächtern noch zwei, so daß ich nun sechs hatte. Dafür aber entschwanden nun alle, die uns voranritten, meinen Augen. Ich schloß daraus, daß wir uns dem Ziele näherten. Ich war mit den sechs Blutindianern allein, während Peteh mit allen übrigen vorausgeeilt war, um das Lager der Krähen eher als ich zu erreichen und diese auf die Ankunft eines so wichtigen Gefangenen vorzubereiten. Einem andern hätte jetzt das Herz vor Sorge schneller geschlagen, mir aber nicht; ich war innerlich sehr ruhig. Und wenn ich ja in besonderer Sorge gewesen wäre, so geschah grad jetzt etwas, was alle meine etwaigen Befürchtungen sofort gehoben hätte. Wir hatten eben einen ziemlich engen Thalkessel durchritten, als ein Schuß krachte, wo, das war nur für mein Ohr zu unterscheiden, denn die Felswände warfen den starken Knall wohl in zehnfachem Echo zurück. Das war mein Bärentöter gewesen, dessen Stimme ich genau kannte. Winnetou hatte diesen Schuß gethan, um mich zu benachrichtigen, daß er nicht weit hinter mir sei. Er durfte dies jetzt wagen, weil in der Nähe des Lagers der Krähen ein Schuß nicht auffiel, denn diese Indianer durchstreiften doch jedenfalls die Gegend, um zu jagen. Ich war überzeugt, daß der Häuptling der Apatschen alle unsere bisherigen Lagerplätze umschlichen hatte, ohne aber eine Gelegenheit zur Flucht für uns herbeiführen zu können. Dies lag wohl meist daran, daß ich von Rost und Carpio getrennt gewesen war. Winnetou wollte uns drei zusammenhaben. Nun trafen wir, je weiter wir kamen, desto häufiger auf Pferde- und auch Fußspuren, welche nicht
von den vorangerittenen Blutindianern stammten; es waren Upsaroka-Fährten. Sie kamen schließlich von allen Seiten her, was auf eine größere Nähe des Lagers schließen ließ, und als wir zwischen zwei sehr eng zusammentretenden Höhen hindurchgeritten waren, lag es vor uns, sich über eine kleine, freie Ebene dehnend, welche nach allen Seiten einen Durchmesser von höchstens einer englischen Meile hatte. Ich war erstaunt, kein einziges Zelt zu sehen! Hier oben zwischen schneebedeckten Bergen, in dieser vorgeschrittenen Jahreszeit, in einer den Krähenindianern fremden Gegend nur rohe Zweighütten, die schon jetzt nur halben Schutz gewährten! Warum die Krähen diese späte Zeit zu ihrem Kriegszuge gewählt hatten, das war mir vollständig unerfindlich. Der Winter konnte schon heut oder morgen im stöbernden Schnee herniedersinken und den Rückweg nach der Laramie unmöglich machen. Was dann? Hatten diese unvorsichtigen Leute etwa ganz sicher darauf gerechnet, die Schoschonen unbedingt zu besiegen und dann den Winter in den geschützten Dörfern derselben zuzubringen? Da hatten sie sich in unserem Freunde Avaht-Niah, dem Häuptling der Schlangen, ganz unverzeihlich verrechnet! Auch war keine Spur von Ordnung zu ersehen. Es gab keine Gassen, keine Hüttenreihen. Alles lag regellos durcheinander, wie man Maulwurfshaufen auf einer Wiese liegen sieht. Im Augenblicke unserer Ankunft waren alle Hütten und alle Plätze zwischen ihnen leer, denn die Indianer hatten sich vor dem Lager aufgestellt, um mich kommen zu sehen. Sie bildeten zu Pferde und in allem Waffenschmucke zwei Doppelreihen, zwischen denen ich hindurchmußte. Am Ende derselben hielt Yakonpi-Topa, der Anführer der Kikatsa, mit den andern Upsaroka-Häuptlingen, und Peteh war bei ihnen. Ich überflog diese Indianer alle mit einem prüfenden Blicke und glaubte, sie auf wenigstens sechshundert schätzen zu müssen. Man glaube ja nicht, daß ich etwa, als ich zwischen ihnen hindurchritt, aus Scham, gefangen zu sein, eine verlegene Miene gezeigt hätte. Im Gegenteile, ich sah ihnen allen frei, offen und mit forschendem Blicke in die mit den Kriegsfarben bemalten Gesichter und erlaubte meinem Rappen den koketten Tänzelschritt, der ihm so unübertrefflich stand. Die Roten saßen unbeweglich; keiner rührte sich; die Gesichter waren starr; aber in den Augen glühte umso mehr Leben. Es war kein Laut, kein Wort, kein Ruf zu hören, bis wir hindurch waren und nun vor den Häuptlingen hielten. Auch diese waren natürlich zu Pferde. Ihre Gesichter glänzten vor Fettfarbe, und ihre Federgeflechte hingen ihnen von den Köpfen bis auf die Kruppen der Pferde herab. Als ich meinen Hengst vor ihnen halten ließ, und, ohne Peteh der Beachtung zu würdigen, meinen Blick gerad und fest in das Auge Yakonpi-Topas richtete, sagte er im Tone eines Herrschers, der den geringsten seiner Unterthanen vor sich hat. »Was dachte Old Shatterhand, als er durch die Reihen dieser tapfern Krieger ritt?« »Ich dachte an die mächtigen Kaiser und Könige meines Vaterlandes, welche, wenn sie Einzug halten, ganz ebenso von Kriegern empfangen werden wie jetzt ich.« »Uff! Old Shatterhand vergleicht sich mit berühmten Herrschern und trägt doch Fesseln an den Händen und den Füßen!« »Ich bin stolz auf sie, denn sie schänden nicht mich, sondern sie sind ein Zeichen der Feigheit derer, welche, hundert Mann stark, sich nicht offen an mich wagten, sondern mich von hinten aus dem Busche niederschlugen!« »Uff! Darf ein Gefangener solche Worte sprechen?« »Ein Gefangener? Yakonpi-Topa, der Häuptling der Kikatsa-Upsaroka, mag mir sagen, wen er mit diesem Worte meint!« »Dich!« antwortete er verwundert. »Mich, mich hältst du für gefangen?!« »Uff, uff! Deine Hände sind auf dem Rücken und deine Füße unter dem Leib des Pferdes
zusammengebunden! Bist du da gefangen oder frei?« »Ich bin frei!« »Wei a keh - welch ein Wort! Ich sehe den Stolz auf deiner Stirn und die Kühnheit im Blicke deines Auges; aber die Freiheit, deren du dich rühmst, die sehe ich nicht!« »Ich bin nie ein Feind der Kikatsa gewesen und habe den Kriegern der Upsaroka's stets gegen die Sioux, welche zwar ihre Verwandten aber dennoch ihre Todfeinde sind, im Kampfe beigestanden. Ist das so oder nicht?« »Uff! Old Shatterhand spricht mit einer sehr verwegenen Zunge, aber es ist so, wie er sagt.« »Du sagst, daß es so sei; folglich bin ich von dem Augenblicke an, an welchem ich mich bei euch befinde, ein freier Krieger!« »Du bist Gefangener unsers Verbündeten!« »Wer ist das? Ich kenne ihn nicht.« »Es ist Peteh, der Häuptling der Blutindianer.« »Pshaw! Hat er gesagt, daß ich sein Gefangener sei?« »Er sagte es.« »Er log. Ich werde ihm zeigen, ob ich gefangen bin oder frei. Macht eure Augen auf, ihr Krieger der Upsaroka's! Tschah!!« Wer den Indianer kennt, der weiß, wie er ihn zu nehmen hat. Nichts imponiert ihm mehr als ein kühner Streich, und der echte, begründete Stolz gefällt ihm auch bei seinem ärgsten Feinde. Ja, ich war gefesselt. Ich hatte die Hände auf dem Rücken, und meine Füße waren unter dem Pferde hinweg durch einen Doppelriemen festgehalten; aber ich kannte mein Pferd und vertraute meinem Glücke. Hinter mir hielten die sechshundert Indianer, und vor mir sah ich das verlassene Lager; zwischen diesem und mir befanden sich nur die Häuptlinge, die keines solchen Streiches gewärtig waren. Das Wort »Tschah!« war, wie bereits einmal bei Winnetous Iltschi in Weston erwähnt, für unsere beiden Pferde die Aufforderung, hochzuspringen. Indem ich es fest zwischen die Schenkel nahm und, mich vorbeugend, dieses Wort ausrief, flog es, mir gehorchend, zwischen Peteh und einem Unterhäuptling hinein, sodaß sie mit ihren Pferden auseinandergetrieben wurden; einem zweiten Schenkeldrucke und dem anfeuernden Apatschenrufe »Atseh!« folgte eine Lançade, welche mich ganz hindurch und bis an die erste Hütte brachte; dann schoß das herrliche Tier in das Lager hinein. Hinter mir war es für einige Sekunden still; dann aber brach ein Geheul los, für welches es in keiner Sprache ein bezeichnendes Wort giebt. Ich sah es nicht, aber ich erfuhr es dann: alle sechshundert Indsmen drängten nach dem Lager, um mir zu folgen; jeder wollte vorwärts und keiner zurückbleiben. Das gab einen unbeschreiblichen Tumult, einen Wirrwarr, bei dem einer den andern hinderte. Viele Pferde wurden reiterlos; es gab einen förmlichen Kampf, bei dem es auch nicht ohne Verletzungen abging. Hütten wurden beschädigt oder gar niedergerissen; lose Teile der Kleidung, fliegender Federschmuck und ähnliche Dinge gingen verloren; kurz, dieser eine Mensch, den man einen Gefangenen nannte, hatte das ganze Lager und dessen Bewohner in einen Zustand versetzt, den man für ganz unmöglich halten sollte. Für mich, der ich die Hände nicht frei hatte, war es keine Kleinigkeit, in fliegendem Galoppe zwischen den so regellos liegenden Hütten hindurchzukommen; es gelang mir aber, dank meines Hatatitla, der jeden meiner Gedanken zu erraten schien. Jenseits der letzten Hütte gab es niedriges Gebüsch; es ging hinein und hindurch, daß es nur so krachte; dann kam ein schmaler Streifen Wald, durch den ich langsamer ritt. Hierauf zog sich ein langgestreckter, ziemlich freier Grasstreifen bogenförmig nach links; der paßte mir; wir flogen, nun wieder in Carriere, auf ihm weiter. Nun kam ein steiniges Warr, mit Schlinggewächsen bewuchert; ich redete dem Hengste durch einige freundliche Worte zu - er kam hindurch. Nun noch mehr links wieder Wald, willkommenerweise mit ziemlich weit auseinander stehenden Bäumen. Es ging hinein, immer weiter und weiter, bis ich
annehmen konnte, das Lager im Halbkreise umritten zu haben. Ich erreichte den Rand dieses Gehölzes und sah zu meiner Freude die beiden Höhen, zwischen denen wir bei unserm Eintreffen durchgekommen waren, zu meiner Rechten vor mir liegen. Links dehnte sich das Lager; kein Mensch war zu sehen, denn alle folgten hinter mir her. Ich flog hinüber, an den Hütten lang hin und blieb dann an derselben Stelle halten, von welcher aus der für die Indianer so unerwartete Ritt begonnen hatte. Hatatitla stand so ruhig, als ob er gar nicht von diesem Orte weggekommen sei; nur durch ein mehrmaliges Werfen des schönen Kopfes deutete er an, daß er an der Sache Geschmack gefunden habe. Er hatte sich unübertrefflich gehalten! Wie gern hätte ich ihm durch Klopfen oder Streichen meine Anerkennung bewiesen; ich konnte ihn nur durch Worte liebkosen; er verstand mich aber auch so. Wer kein solches Pferd besessen hat, der kann es freilich wohl kaum verstehen, daß man unter Umständen nicht zögert, sein Leben für ein so edles Tier auf das Spiel zu setzen! Jetzt hörte ich Stimmen da drüben im Walde, aus welchem ich zuletzt gekommen war. Man schrie so laut, daß ich es hier vernahm. Dann erschienen Reiter, einer, zwei, fünf, zehn, zwanzig und so weiter. Sie folgten meiner Fährte, die wieder nach dem Lager führte. Sie stutzten; dann sahen sie mich. Immer mehr kamen aus dem Walde hervor, einzeln oder zu Trupps vereint. Sie glichen einem zerstreuten Pulk von Kosaken, der seinen Sammelplatz da hatte, wo ich mich befand. Die ersten, welche mich erreichten, wußten nicht, wie sie sich gegen mich verhalten sollten. Sie hielten es für das Beste, gar nichts zu sagen, aber mich so zu umringen, daß mir die Gelegenheit zu einem zweiten Durchbruche nicht geboten war. Dieser Kreis wurde immer zahlreicher und dichter. Man drängte sich so eng an mich, daß ich mir mit den Worten Luft zu machen versuchte: »Sind die Söhne der Upsaroka's Fleischfliegen, die man aus dem Munde spuckt, oder sind sie Krieger, deren man nicht sechsmalhundert braucht, um einen einzigen Reiter zu bewachen? Wer kein Ungeziefer ist, der mache Platz für Old Shatterhand!« Das half sofort; der Kreis wurde weiter auseinander gezogen und bot nun auch den Häuptlingen Raum, hindurch- und zu mir heranzukommen. Peteh blitzte mich mit tückischen Augen an, sagte aber kein Wort. Die Unterhäuptlinge waren still, weil sie nicht sprechen durften. Yakonpi-Topa hielt sein vor Anstrengung noch schnaubendes Pferd vor mir an und betrachtete das meinige mit bewundernden Blicken. Das Tier war ihm in diesem Momente wichtiger als der Reiter. »Nun, habe ich bewiesen, daß ich frei sein kann, wenn ich will?« fragte ich. Er antwortete mir nicht sofort, sondern wendete sich nach Peteh um und richtete die Worte an ihn: »Peteh, der Häuptling der Blutindianer, befindet sich im Lager der Upsaroka-Krieger; er hat mir, als er kam, gesagt, daß er Old Shatterhand bringe, um ihn uns als Gefangenen zu übergeben. Ist dies sein Wille auch noch jetzt?« »Ja,« antwortete der Gefragte. Er beurteilte andere Menschen nach sich selbst und war also wohl überzeugt, daß der Anführer der Upsaroka's, wütend über den ihm von mir gespielten Streich, mich nun mit doppelter Strenge behandeln werde. Darum fügte er hinzu: »Er sei euer, damit die Versammlung der Häuptlinge und alten Krieger über die Art seines Todes entscheiden möge!« Nun wendete sich Yakonpi-Topa mir wieder zu und gab mir die Antwort: »Ja, Old Shatterhand hat bewiesen, daß er frei sein kann, wenn er will. Wir hätten ihn nicht eingeholt, denn sein Pferd kann nur von dem Hengste Winnetous, des Häuptlings der Apatschen, erreicht werden. Die Riemen wären auch kein Hindernis für ihn gewesen, denn ein Krieger, wie er ist, weiß, wie er sich ihrer entledigt, wenn niemand da ist, der ihn hindert. Hat Old Shatterhand gehört, daß er uns übergeben worden ist?« »Ja. Aber wer wagt es, mich für einen Gegenstand zu halten, den man geben und nehmen kann, wie man ein Geschenk giebt oder nimmt?!« »Old Shatterhand mag nicht zürnen, sondern hören, was ich sage! Er wurde gefangen von hundert
Feinden und her zu uns gebracht. Hier fand er sechsmal hundert Krieger und hat sich jedes ihrer Gesichter angeschaut. Sein Auge ist offen, und sein Mund spricht wahr; er ist stark wie der Bär, den er von vorn angreift; er ist aufrichtig wie die Blume, die ihren Kelch nicht verschließt; aber er ist auch klug wie sonst kein Bleichgesicht und wird nicht von mir verlangen, was ich ihm nicht geben kann. Er hat einen kühnen Ritt gethan und alle hier versammelten Krieger mit Erstaunen erfüllt. Er hätte sich retten können, ist aber freiwillig zurückgekehrt, weil er weiß, daß die Söhne der Upsaroka's mutige Thaten anerkennen und einen ehrlichen Feind von einem tückischen zu unterscheiden wissen. Sein Vertrauen zu uns soll nicht getäuscht werden. Er hat gehört, daß die Versammlung über ihn entscheiden wird. Bis dahin sollte er eigentlich den Wächtern gefesselt übergeben werden. Aber wenn er verspricht, bis zur Versammlung dieses Lager ohne mein Wissen nicht zu verlassen und nichts zu thun, was ich verbieten müßte, so nehme ich ihm jetzt die Fesseln ab, und er darf in der Hütte wohnen, welche ich ihm anweisen werde.« Das war ja mehr, viel mehr, als ich für einstweilen erwartet hatte! Ich zögerte darum nicht, zu antworten: »Yakonpi-Topa, der große Häuptling der Kikatsa, ist ein tapfrer Krieger, ein weiser Vater seines Volkes und ein gerechter Richter aller Angeschuldigten. Ich bin stolz darauf, in seiner Nähe und in seinem Lager weilen zu dürfen; aber er mag mir einige Fragen beantworten!« »Old Shatterhand mag sie aussprechen!« »Darf ich, wenn ich mich ohne Fesseln bewege, mit den beiden jungen Bleichgesichtern sprechen, welche mit mir von hinten überfallen worden sind?« »Ja.« »Muß ich bei der Versammlung wieder gefangen und gefesselt sein?« »Ja.« »Gilt das Wort, welches ich geben soll, auch über den Tag der Versammlung hinaus, sie mag beschließen, was sie will?« »Nein.« »So höre, was ich sage! Ich verspreche, bis zum Spruch der Versammlung das Lager nicht zu verlassen und auch nichts zu thun, was du mißbilligen würdest. Ich werde mich bei der Beratung wieder binden lassen. Mehr aber verspreche ich nicht. Wenn die Krieger und Ältesten nicht entscheiden, daß mir und den beiden Bleichgesichtern die Freiheit wiedergegeben wird samt allen Gegenständen, welche man uns genommen hat, so werde ich alles, selbst mein Leben, daransetzen, mich und sie zu befreien. Ja, ich werde dann keinen Upsaroka schonen, sondern ihn, wenn er mir im Wege steht, töten, falls er mich dazu zwingt. Ich habe gesprochen. Howgh!« Das Wort Howgh ist eine Bekräftigung des Gesprochnen, etwa wie unser Basta, Sela, Amen; es bedeutet soviel wie: abgemacht; fertig! »Old Shatterhand hat gesprochen wie ein Mann,« antwortete der Häuptling. »Grad die nachfolgende Drohung giebt uns die Sicherheit, daß er das Vorhergesagte halten wird. Er ist ohne Arg und Falsch; er soll ungefesselt sein!« Er stieg vom Pferde, um mir mit eigener Hand die Riemen abzunehmen. Da aber drängte sich Peteh herbei und rief: »Warum werde ich, der Häuptling der Blutindianer, nicht auch gefragt? Dieses Bleichgesicht ist der Todfeind meines Stammes. Ich habe ihn euch übergeben, damit er euer Gefangener sei, und du giebst ihn jetzt frei?« »Mein Bruder Peteh erzürne sich nicht überflüssig!« entgegnete Yakonpi-Topa. »Du hast deinen Willen, und ich habe den meinigen: Du, weil Old Shatterhand gefangen bleibt, und ich, weil er nun nicht mit Riemen, sondern durch sein Wort gefesselt ist. Am Tage der Versammlung werden wir ihm
die Riemen wieder umlegen.« »Er wird sein Wort nicht halten!« »Er hält es!« »Uff! Es falle alles auf dich!« Der Häuptling der Kikatsa band mich los, und ich stieg vom Pferde. Diesen Anblick konnte Peteh nicht ertragen; er ballte die Faust, warf sie drohend empor und rief: »Wenn dieser Hund es nur ein einzigesmal wagt, mir im Lager zu begegnen, so schieße ich ihn nieder!« Ich würdigte ihn keines Blickes, wendete mich aber an Yakonpi-Topa, hielt ihm meine Hand hin und fragte: »Hat der Häuptling der Kikatsa jemals etwas über diese Hand gehört?« »Ja,« antwortete er. »Was?« »Diese Faust tötet selbst den stärksten Krieger mit einem Schlage.« »Man hat dir die Wahrheit gesagt. Meine Waffen sind mir genommen worden, aber diese Faust hat man mir lassen müssen. Und nun hört, ihr tapfern Krieger der Upsaroka's alle: Ich habe jetzt das Wort Hund hören müssen; auch wurde mir mit Niederschießen gedroht. Der Mund, aus welchem ich dieses Wort oder ein ähnliches nochmals höre, öffnet sich für dieses Leben niemals wieder. Und der Mensch, welcher, so lange ich mich hier befinde, ohne Erlaubnis des Häuptlings der Kikatsa eine Waffe gegen mich erhebt, hat sie zum letztenmal im Leben in der Hand gehabt. Ich schlage ihn nieder, daß er wie ein Stein zu Boden fällt und da für immer liegen bleibt! Ich habe abermals gesprochen. Howgh!« Es herrschte tiefe Stille rund umher; darum mußte es jedes von den zwölfhundert Ohren hören, als Peteh jetzt ein höhnisches Gelächter ausstieß und mir zurief: »Meinst du, daß ich mich vor deiner Hand fürchte? Erheb' sie doch einmal gegen mich, wenn ich dich jetzt zu Boden reite!« Es war ihm wirklich Ernst mit dieser Drohung. Um sie auszuführen, spornte er sein Pferd so schnell auf mich ein, daß ich kaum Zeit fand, zur Seite zu springen. Im nächsten Augenblicke aber hatte das Tier meinen Zeige- und Mittelfinger in den Nüstern; sie so weit wie möglich hinter schiebend, griff ich fest zu; ein rascher Schritt zur Seite, so daß ich neben dem Hals zu stehen kam - ein kurzer Druck des Maules nach oben, dann ein scharfer, kräftiger Riß nach hinten, den ich mit einem Griff der andern Hand in der Mähne unterstützte - das Pferd brach hinten zusammen; noch ein Ruck, und es lag auch vorn an der Erde; der Blutindianer flog aus dem Sattel und bekam meine Faust an den Kopf, daß er liegen blieb, während das Pferd sich aufraffte und dann zitternd und vor Angst schnaufend bei ihm stand. >»Uff, uff, uff, uff!« ertönten rings die Rufe der verwunderten Roten. »Uff, uff!« rief auch Yakonpi-Topa. »Ist er tot?« »Nein, denn er wollte mich nur niederreiten; nun liegt er selber da; er wird sich wieder zu sich finden. Hätte er aber ein beleidigendes Wort gesagt oder nach einer Waffe gegriffen, so wäre er jetzt tot. Ich halte Wort!« »Uff! Ein Pferd so niederzuwerfen, das sah man hier noch nie! Uff, uff!« »Pshaw! Das kann ein jeder thun. Es gehört mehr Geschicklichkeit als Kraft dazu. Wenn du willst, so werde ich's dich lehren.« »Ich muß dies lernen; ja! Was wollen diese Krieger hier?«
Er richtete diese Frage an die Blutindianer, welche sich herbeidrängten und Drohungen gegen mich ausstießen. »Er hat sich an Peteh, unserm Häuptling, vergriffen; das fordert Blut; er muß sterben!« rief der Alte, der am Fleischwasser neben dem Anführer gesessen hatte. »Weicht zurück!« gebot der Kikatsa. »Old Shatterhand steht unter meinem und meiner Krieger Schutz. Wollt ihr uns zwingen, gegen euch zu unsern Waffen zu greifen? Sollen Verbündete sich morden, weil euer Häuptling vergessen hat, daß hier in diesem Lager nur ich allein zu befehlen habe!« »So können wir nicht im Lager der Upsaroka's wohnen, sondern werden uns ein eigenes errichten! Wir dürfen nur einem Häuptling unseres Stammes gehorchen!« »Mein Bruder hat klug gesprochen,« antwortete Yakonpi-Topa. »Ein Lager kann nicht zwei Häuptlinge haben, welche beide befehlen wollen. Legt euch ein anderes an!« Das hatte der alte Fuchs nicht erwartet! Am Fleischwasser war er für unsere Auslieferung an die Krähen gewesen, welche freilich kaum umgangen werden konnte. Er hatte wahrscheinlich geglaubt, daß unser Schicksal trotzdem von dem Willen Petehs abhängig bleibe, weil diesem ja die entscheidende Stimme zufallen werde. Jetzt, da die Verhältnisse sich günstig für mich legten, wollte er durch die Drohung, ein abgesondertes Lager zu beziehen, auf den Kikatsa einen Druck ausüben, dessen Wirkung sich gegen mich richten sollte. Daß ihm dieser, allerdings ohne ihn zu durchschauen, ein Paroli bog, machte seinen Plan zu Schanden und erregte seinen Ärger in einer solchen Weise, daß er die Unvorsichtigkeit beging, sich durch ihn zu einer Drohung verleiten zu lassen: »Wenn Peteh, unser Häuptling, nicht bei den Kriegern der Upsaroka's wohnen soll, wird er auch nicht mit ihnen gegen die Schoschonen kämpfen wollen!« Da nahmen die Züge des Kikatsa jene Starrheit an, welche auf einen gewaltsam unterdrückten innern Ausbruch deutet. »Spricht mein Bruder das für sich oder für ihn?« fragte er. »Für ihn und mich, für alle unsere Krieger.« »Er will also hier befehlen, und wenn er das nicht soll, wird er uns seine Hilfe versagen?« »Ja. Du wirst unsere hundert tapferen Krieger verlieren, und zwar nur wegen dieses Bleichgesichtes hier, welches stets euer und auch unser Feind gewesen ist. Und da wir nicht aus solcher Ferne hierher gekommen sind, um ohne Kampf und Beute wieder heimzureiten, so ist vorauszusehen, wozu sich unser Häuptling dann entschließen wird.« »Wozu?« »Er wird euch verlassen und uns zu den Schoschonen führen, um ihnen gegen euch beizustehen.« »Uff! Der Krieger der Blutindianer beantworte mir einige Fragen! Weshalb haben wir die Beile des Krieges gegen die Schoschonen ausgegraben?« Er nannte den Alten jetzt schon nicht mehr »mein Bruder«, sondern den »Krieger der Blutindianer«; der Ausbruch schien also nahe bevorzustehen. Der Gefragte antwortete: »Weil die Schoschonen sechs Upsaroka's getötet haben.« »Woher weiß ich das?« »Ich habe es dir gesagt; ich war dabei, als sie es thaten, konnte es aber nicht verhindern, weil ich in zu großer Entfernung davon stand.« »Also dein Mund war es, wegen dessen Rede wir ausgezogen sind, um die Schoschonen zu strafen. Dein Mund war es, welcher uns zur Rache aufforderte. Dein Mund war es, welcher die
Schoschonen feige, stinkende Mörder nannte und uns den Beistand eurer Krieger verhieß. Dein Mund war es auch, welcher mir versprach, daß diese Krieger nur meinen Befehlen zu gehorchen hätten. Nun aber kommt Peteh, euer Häuptling, und will, daß ich ihm gehorche, und da ich dies nicht thue, drohst du mir, daß ihr euch unsern Feinden, von denen du nicht schlimm genug erzählen konntest, zuwenden wollt!« »Nur dieses Bleichgesichtes wegen, welches du uns nehmen willst!« »Pshaw! Stände euer Häuptling jetzt an deiner Stelle, und wären deine Worte aus seinem Munde gekommen, so würde ich ihm mit dem Tomahawk, aber nicht mit den Lippen antworten; da du aber kein Häuptling bist, will ich eine Antwort geben, welche nicht für ihn, sondern nur für dich zu gelten hat. Also höre: Wenn ihr wegen dieses weißen Kriegers gehen wollt, so geht! Der Kopf und der Arm Old Shatterhands, diese sind mehr wert als die Arme und Köpfe von hundert Blutindianern! Das ist es, was ich dir, nicht ihm sage. Willst du es ihm mitteilen, so thue es! Nun zieht fort, oder baut euch Hütten hier in unserer Nähe, ganz wie ihr wollt. Aber was mit Old Shatterhand geschehen soll, das wird die Versammlung bestimmen, an welcher Peteh teilnehmen soll, doch nicht dieser allein. Meine Krieger stehen hier; sie werden darauf achten, daß nur Peteh, sonst aber kein Blutindianer, unser Lager betritt. Ich habe gesprochen. Howgh!« Er wendete sich um und winkte mir. Ich nahm Hatatitla beim Zügel und folgte dem Kikatsa, nicht wenig erfreut über diesen weitern Erfolg meiner Weigerung, mich wie ein unerfahrenes Greenhorn behandeln zu lassen. Er führte mich nach dem Mittelpunkte des Lagers, wo eine Hütte stand, welche größer als die andern war. Zwei vor dem Eingange in der Erde steckende und mit Federn geschmückte Lanzen verrieten, daß es die seinige sei. Ich hobbelte mein Pferd an und ging dann mit ihm hinein. Das Innere bot nicht die geringste Bequemlichkeit. Eine auf der Erde liegende Pferdedecke bildete die ganze Ausstattung, das ganze Meublement. »Old Shatterhand setze sich nieder, bis ich ihm eine Hütte habe bauen lassen!« sagte er; dann ging er wieder. »Old Shatterhand!« Wenn ich es soweit bringen könnte, daß er sich statt dieses Namens des Ausdruckes >mein Bruder< bediente! Wo steckten Rost und Carpio und wo Corner und seine Kumpane? War Hiller mit hier? Besonders diese letztere Frage hatte jetzt Wichtigkeit für mich. Hiller war kein Mörder. Wenn er ja bei der Tötung der sechs Krähen beteiligt gewesen war, hatte er jedenfalls nur aus Notwehr gehandelt. Wenn er sich mit hier im Lager befand, so mochte die Versammlung über mich beschließen, was sie wollte, ich war entschlossen, ihn loszumachen. Jetzt für den Augenblick konnte ich freilich nichts thun als warten, und das that ich in aller Ruhe, zumal ich neben den rein äußerlichen Vorteilen auch schon einen sehr wichtigen moralischen errungen hatte, indem Yakonpi-Topa der Meinung gewesen war, daß eine Verbindung mit mir derjenigen mit hundert Blutindianern vorzuziehen sei. Als er nach einer Weile in die Hütte zurückkehrte, kamen zwei Rote mit, welche einige lange, aus Decken gewundene Bündel niederlegten und sich dann wieder entfernten. Der Häuptling setzte sich mir gegenüber und betrachtete mich längere Zeit mit unverheimlichter Aufmerksamkeit. Er schien zu erwarten, daß ich das Gespräch beginnen würde; ich wußte aber, was ich mir und meinem Namen schuldig war, und schwieg also. Darum fing endlich er mit der Frage an: »Old Shatterhand ist mit Winnetou beisammen gewesen?« »Ja,« antwortete ich. »Wo hat er sich von ihm getrennt?« »Das brauche ich dem tapfern Häuptling der Kikatsa doch nicht erst zu sagen, denn er hat es jedenfalls von den Blutindianern und deren Gefangenen gehört.« »Uff! Old Shatterhand hat richtig gesprochen. Wo wird sich der Häuptling der Apatschen jetzt
befinden?« »Selbst wenn ich das wüßte, würde ich es dir sagen, dessen Gefangener ich bin?« »Nein. Er wird sich alle Mühe geben, dich aus der Gefangenschaft zu befreien?« »Pshaw! Ich brauche seine Hilfe nicht. Wohl aber hättest du seinen Beistand nötig.« »Uff! Ich?« »Ja.« »Old Shatterhand sagt nie etwas, was er nicht beweisen kann; ich bin bereit, die Gründe dieser Behauptung zu hören.« »Die sind sehr einfach. Du willst die Schoschonen bekämpfen und hast sechshundert Mann bei dir, von denen du den hundert Blutindianern schon jetzt nicht trauen darfst; die Schoschonen aber können über zehnmal hundert Krieger zusammenbringen!« »Sind sie denn beisammen? Wissen die Schoschonen, daß wir kommen und wo wir uns jetzt befinden?« »Meinst du, daß sie keine Kundschafter senden?« »Die schickt man doch nur dann aus, wenn man weiß, daß man bekriegt werden soll!« »Wissen das die Schoschonen nicht? Meinst du wirklich, daß eine Schar von sechshundert Kriegern durch die Berge ziehen kann, ohne daß sie gesehen und beobachtet wird? Vor schon fast einem Mond wurde fern von hier in den Städten der Bleichgesichter davon gesprochen, daß die Krähen gegen die Schlangen ziehen wollen; wenn das die Weißen wissen, sollten es die Schlangen nicht auch erfahren haben?« »Uff!« sagte er betroffen. »Du kannst dich darauf verlassen, daß sie unter Umständen euch mit über tausend Kriegern empfangen werden. Darum habe ich gesagt, daß dir der Beistand des Apatschen nötiger sei als mir.« »Wie könnte er uns beistehen, da er ein Freund unserer Feinde ist!« »Er ist, ganz ebenso, wie ich es bin, ein Freund aller roten Männer; er bleibt auch dann ihr Freund, wenn sie sich untereinander entzweit haben. Er würde mit Freuden bereit sein, Frieden zu stiften zwischen euch und den Schoschonen.« Da streckte er beide Hände abwehrend aus und rief: »Frieden? Die Kriegsbeile sind ausgegraben, weil die Schlangen unsere Krieger ermordet haben; nur Blut kann diese That abwaschen. Wie kann Friede zwischen uns und ihnen sein! Und wenn mehr als zehnmal hundert Schoschonen gegen uns gezogen kämen, wir würden uns doch nicht vor ihnen fürchten, denn Wagare-Tey, der Kriegshäuptling dieser Leute, ist ein junger Hund, der noch nicht beißen kann.« »Vergiß nicht, daß Avaht-Niah, der oberste Häuptling der Schoschonen, zwar seines hohen Alters wegen daheim bleiben muß, aber jedenfalls dem jungen Häuptlinge seinen Rat und seine Erfahrungen mitgegeben hat!« »Was nützen die Erfahrungen anderer, wenn man sie nicht in dem eigenen Kopfe hat! Und dem Häuptling der Apatschen muß ich raten, auch während unsers Kriegszuges das zu bleiben, was er nach deinen Worten ist, nämlich ein Freund aller roten Männer. Wenn er sich auf die Seite der Schoschonen stellte, also gegen uns, würde er das nicht mehr sein, sondern unser Feind, und hätte also keine Schonung von uns zu erwarten. Wo befand sich Old Shatterhand, als er von unserm Kriege mit den Schoschonen erfuhr?« »Unten im Lande der Bleichgesichter.«
»Warum ist er hier heraufgekommen?« »Um den Schoschonen gegen euch beizustehen.« »Uff!« fuhr er mehr verwundert als erzürnt empor. »Das sagt Old Shatterhand so aufrichtig?« »Ich bin ein tapferer Krieger und du bist ein tapferer Krieger. Wir sind beide zu stolz, Lügen zu sagen oder Lügen anzuhören und zu glauben!« »Uff! Old Shatterhand spricht allerdings sehr kühn, aber ich muß ihn darum achten! Weiß er, weshalb wir die Kriegsbeile gegen die Schoschonen ausgegraben haben?« Um keine Unwahrheit zu sagen, antwortete ich unbestimmt: »Ich habe die Schoschonen noch nicht getroffen. Vielleicht werde ich es von dir erfahren.« »Diese Hunde haben sechs meiner Krieger erschossen!« »Ist das wahr?« »Ja; du hast es ja vorhin von dem alten Krieger der Blutindianer gehört, der es gesehen hat.« »Wer hat es noch gesehen?« »Niemand als er und einige seiner Krieger.« »Ist er ein Mann, dem man alles glauben darf?« »Warum hätte ich es bezweifeln sollen?« »Jeder Zweifel kann mehrere Gründe haben. Mir kommt dieser Alte nicht wie ein Mann vor, dem man Vertrauen schenken darf. Es ist sogar nicht unmöglich, daß er das, was er selbst that, dann auf andere schob. Hast du das untersucht?« »Das war nicht notwendig. Meine sechs Krieger waren ausgezogen, um die Felle zu holen, welche wir erbeutet und an verschiedene Orte versteckt hatten. Wir fanden zuerst ihre Leichen und dann bei den Schoschonen die Felle. Ist das nicht Beweis genug?« »Hm! Wieviele Schoschonen waren es?« »Vier; sie sind am Marterpfahle gestorben.« »Waren sie allein?« »Nein. Es war ein Bleichgesicht dabei.« »Dieses Bleichgesicht heißt Nana-po?« »Uff! Old Shatterhand kennt ihn?« »Ja. Ich weiß noch mehr.« »Was?« »Die Felle, welche ihr bei den Schoschonen gefunden habt, gehörten ihnen oder auch schon Nanapo, der sie ihnen abgekauft hatte. Es waren nicht die Felle, welche deinen erschossenen sechs Kriegern abgenommen worden sind.« »Uff!« rief er wieder. »Es ist also sehr leicht möglich,« fuhr ich fort, »daß eure Krieger nicht von den Schoschonen und von Nana-po erschossen worden sind.« »Old Shatterhand spricht Unbegreifliches!« »Du hast an die Squaw von Nana-po einen Brief geschrieben?« »Ja. Auch das weißt du?«
»Du verlangst in diesem Briefe für seine Freilassung binnen vier Monden soviel Gewehre, wie die Sonne Tage hat?« »So ist es. Wer hat das Old Shatterhand gesagt?« »Seine Squaw. Ich habe deinen Brief gelesen und bin gekommen, um mit dir über die Gewehre zu sprechen.« »So bist du der Abgesandte dieser Squaw?« »Ja.« »Uff, uff! Wer hätte das gedacht, als man dich als Gefangenen brachte! Ich bin bereit, zu hören, was Old Shatterhand mir über die Gewehre, welche ich gefordert habe, mitzuteilen hat.« Er sah mir höchst erwartungsvoll in das Gesicht; ich zeigte ihm mein freundlichstes Lächeln und antwortete: »Ich bin allerdings überzeugt, daß Yakonpi-Topa, der Häuptling der Kikatsa-Upsaroka's, welcher mir gegenübersitzt, sehr gern wissen möchte, was ich ihm darüber zu sagen habe; aber ich muß ihn leider um Geduld bitten.« »Warum?« »Wenn man einen Gefangenen loskauft, muß man erst wissen, ob er die Gefangenschaft verdient. Du würdest mir also erlauben müssen, diese Sache zu untersuchen.« »Uff!« antwortete er zurückweisend. »Und deshalb mit Nana-po zu sprechen.« »Uff, uff!« »Und höre besonders, was ich dir jetzt sage: Selbst wenn ich diese Gewehre zahlte, würde - ich - sie - nur - einmal - zahlen!« Ich legte auf jedes dieser letzten sechs Worte einen ganz besonderen Ton. Er verstand mich, erkundigte sich aber doch: »Wie meint das Old Shatterhand?« »Ich würde die Gewehre nur in dem Augenblicke geben, an welchem mir der Gefangene ausgeliefert wird.« »Meint Old Shatterhand, daß ich ihn täuschen würde?« »Mich nicht, oh nein, mich gewiß nicht. Es sind noch sechs Bleichgesichter bei Nana-po gewesen. Wo befinden sich die?« »Das weiß ich nicht.« »Schön! Wenn ich von den Gewehren spreche, meine ich nur immer den Fall, daß Nana-po eine Schuld auf sich geladen hat, welche mit ihnen bezahlt werden muß, und ich sagte bereits, daß das noch nicht erwiesen ist und ich es erst untersuchen muß. Und nun kommt vor allen Dingen die Hauptsache: Ein Gesandter ist als freier Mann zu betrachten und zu behandeln; ich bin jetzt aber Gefangener. Ich kann also nicht eher von den Gewehren mit dir sprechen, als bis ich frei bin.« »Uff!« rief er aus, von dem Trumpfe, den ich so unerwartet ausspielte, im höchsten Grade überrascht. »Ja,« fuhr ich fort, »wenn die Versammlung nicht meine Freiheit beschließt, meine vollständige Freiheit, so kann von den Gewehren keine Rede sein! Ich habe es gesagt, und was Old Shatterhand sagt, das gilt. Howgh!« Ein Indianer muß seine Gefühle verbergen können; auch Yakonpi-Topa gab sich Mühe, zu
verheimlichen, daß ihn diese meine Bedingung in Verlegenheit brachte. Er nahm einen Gedanken zu Hilfe, welcher ihm sehr gelegen kam: »Old Shatterhand darf nicht klagen. Ich habe ihn bereits von seinen Fesseln befreit und kann zwar gegen die Bestimmung der Versammlung nichts thun, werde ihm aber noch weiter beweisen, daß ich ihn nicht als unsern, sondern nur noch einstweilen als den Gefangenen der Blutindianer betrachte.« Er öffnete die Bündel. Sie enthielten die Gewehre von Carpio, Rost, Sheppard, Corner, Eggly und dem alten Lachner, ferner ihre andern Waffen und dazu sämtliche übrigen Gegenstände, die ihnen abgenommen worden waren. »Die Gefangenen wurden uns übergeben, so mußten wir einstweilen, bis die Versammlung darüber entschieden haben wird, auch ihr Eigentum bekommen,« erklärte der Häuptling. »Old Shatterhand mag sich nehmen, was ihm gehört; es wird entschieden werden, ob er es behalten darf oder nicht.« Natürlich ließ ich mir das nicht zweimal sagen; ich langte hocherfreut zu und war nun nach dieser neuen Errungenschaft doppelt überzeugt, daß mir unser Fortkommen keine unverhältnismäßig großen Schwierigkeiten machen werde. Als ich alles in den Gürtel und in die Taschen gesteckt hatte, sagte ich: »Yakonpi-Topa, der tapfre Häuptling der Kikatsa, thut wohl daran, mir ein solches Vertrauen zu schenken; er wird den Beweis später erhalten. Noch größere Dankbarkeit aber würde er sich erwerben, wenn er die Hütte, welche für mich errichtet werden soll, für drei Personen herstellen lassen wollte.« »Welches sind die andern beiden?« »Die zwei jungen Männer, welche mit mir ergriffen worden sind. Sie besitzen keine Kenntnis von dem wilden Westen und sind so krank und schwach geworden, daß sie den Tag der Beratung vielleicht gar nicht erleben würden. Außerdem gebe ich für sie mein Wort, so wie ich es für mich selbst gegeben habe, daß sie das Lager bis zum Versammlungstage ohne deine Erlaubnis nicht verlassen werden. Sie sind besondere Bekannte von mir.« »Ich habe sie gesehen und wollte mit ihnen sprechen; sie konnten aber nicht antworten. Sie sind wie Vögel, welche keine Flügel haben. Aber wenn sie mit Old Shatterhand zusammenwohnen, und er trägt seine Waffen, so ist es nutzlos, wenn ich ihnen die ihrigen vorenthalte. Sie können ja doch nicht damit umgehen!« »Nein. Stecken sie mit den andern weißen Gefangenen zusammen?« »Nein. Peteh, der Häuptling der Blutindianer, hielt sie von ihnen getrennt, und so habe auch ich sie abgesondert.« »Will Yakonpi-Topa mir diese meine Bitte erfüllen?« »Ja. Old Shatterhand mag mit mir kommen, damit ich ihm zeige, wo die beiden Bleichgesichter sich befinden!« Wir gingen hinaus, wo zwischen den Hütten jetzt mehr Leben herrschte als da, wie ich während meiner Scheinflucht hindurch geritten war. Die Roten sahen, daß ich jetzt das Messer und die Revolver wieder hatte, doch verbot ihnen der Stolz, eine erstaunte Miene darüber zu zeigen. Wir kamen an der Stelle vorüber, wo die für mich bestimmte Wohnung errichtet wurde. Sie war beinahe fertig und so groß, daß es zur Aufnahme meiner beiden Gefährten gar keiner Vergrößerung bedurfte. Diese befanden sich in einer in der Nähe liegenden Hütte. Der Häuptling ging nicht weiter mit; er zeigte sie mir nur und fügte hinzu: »Old Shatterhand wird sein Wort halten und nichts thun, was ich nicht gestatten dürfte. Wenn er mich sucht, so weiß er mich zu finden.«
Er gab dem Roten, welcher vor dem »Gefängnis« Wache stand, einen Wink, worauf sich dieser entfernte. Ich trat ungehindert ein. Sie lagen gefesselt an der Erde. Es war noch Tag, und die Helligkeit drang zwischen dem dünnen Zweigwerk der Wände herein; ich konnte sie also ganz deutlich sehen. Rost sah leidend, sehr leidend aus; der mehrtägige Ritt vom Fleischwasser hierher hatte ihn außerordentlich angegriffen; doch als mein Blick auf Carpio fiel, hätte ich laut aufweinen mögen. Ich nahm mich aber zusammen und that es nicht, weil das seinen Zustand nur hätte verschlechtern können. Er glich einem Skelette, und schon nach wenigen Augenblicken bemerkte ich den kurzen, trockenen Husten, welcher sich aus seiner kranken Lunge herausquälte. »Sappho!« rief er mir leise entgegen. Ich habe schon bei früheren Gelegenheiten einigemale gesagt, daß jemand leise gerufen habe. Ein berühmter Recensent schrieb mir, daß er so rücksichtsvoll sein wolle, mich nicht öffentlich sondern privatim darauf aufmerksam zu machen, daß es selbstverständlich ganz unmöglich sei, leise zu rufen; ein Ruf sei immer laut. Verehrtester Herr Kritikus, können Sie zu Ihrem Herrgott nicht sogar in Gedanken rufen? Ich lasse einen Flüsterruf zehn Schritte weit nach vorn hören, der aber hinter mir nicht drei Schritte weit vernommen wird. Wie oft hat mich Winnetou gerufen, ohne daß andere es zwei Meter davon gehört haben! Der letzte Ruf Sterbender auf Schlachtfeldern wird meist ein Hauchen, aber kein Schreien oder gar Brüllen sein. Hier liegt im Begriffe des Rufens mehr das Hastige als das Laute. Also Carpio rief mir leise zu; zu einem lauten Freudenschrei war er zu matt. Ich kniete bei ihm nieder und band ihm die Riemen los; er ergriff meine Hände, sah mir liebevoll in die Augen und lächelte froh; mehr konnte er nicht. Auch Rost wurde von den Fesseln befreit. »Gott sei Dank, daß Sie endlich, endlich kommen!« sagte dieser. »Die letzten Tage werden wir nie vergessen! Dieser Ritt, diese Anstrengung, diese Ermattung, dieser Hunger - - -!« »Was -? Hunger?« »Ja, seit vorgestern haben wir nichts bekommen!« »Da hat man also bloß mich kräftig an den Marterpfahl bringen wollen! Wartet, ihr sollt gleich essen!« Ich rannte fort. Es kostete mich nur ein Wort, zu bekommen, was ich brauchte. Dann kehrte ich zurück, und sie aßen - aßen - - aßen! Es war eine Wonne, ihnen zuzusehen. Rost erzählte mir dabei von ihren Leiden; dann bat er mich, ihnen zu berichten, wie es mir gegangen sei. Carpio, der sich nun etwas wohler fühlte, fragte da: »Nicht wahr, es hat sich inzwischen herausgestellt, daß es nur eine einfache Verwechslung war?« »Ja,« antwortete ich aus Rücksicht auf ihn. »Dachte es mir doch gleich! Nun wir uns bei den Indianern befinden, wird das nicht wieder vorkommen. Naturvölker kennen die Worte Zerstreuung oder Gedankenlosigkeit gar nicht. Wir sind also jetzt frei?« »Ich will mich einmal so ausdrücken: offiziell noch nicht. Die Versammlung der ältesten Krieger hat noch darüber zu bestimmen. Ihr braucht aber nicht die geringste Sorge zu haben, denn es versteht sich ganz von selbst, daß wir freigesprochen werden; es ist das nur noch der Form wegen. Ich kam, um euch nach meiner Hütte zu holen, wo wir zusammen wohnen werden. Auch eure Waffen und alle eure Sachen bekommt ihr wieder; das muß euch die Überzeugung geben, daß es mit euern Leiden nun zu Ende ist.« Ich erzählte ihnen soviel, wie ich für gut fand; alles, was sie beängstigen konnte, ließ ich weg. Als sie gegessen hatten, erklärte Carpio, daß er sich viel, viel besser und kräftiger fühle als vorher, und wir gingen nach unsrer Hütte, welche inzwischen fertig geworden war. Ich holte die Sachen der
beiden Kameraden. Ich bekam alles, nur die Pferde nicht, nämlich Rosts Braunen und Corners Fuchs, den ich uns nicht entgehen lassen wollte. Peteh gab sie, wie ich erfuhr, nicht her. Ich hielt es für klug, bis zu einer bessern Gelegenheit zu warten. Um so mehr sorgte ich für meinen Hengst, dem es an nichts mangeln durfte. Als es dunkel geworden war, brannten wir ein Feuer vor der Hütte an und setzten uns hinaus. Kein gewöhnlicher roter Krieger wagte es, uns zu stören; nur der Häuptling kam später, um nach etwaigen Wünschen zu fragen. Ich bat ihn, die andern weißen Gefangenen einmal beschleichen zu dürfen, und als er mich nach dem Grunde fragte, antwortete ich: »Sie sind Feinde aller braven Krieger der Indianer und der Bleichgesichter; sie haben schon oft gestohlen und gemordet; es ist ihnen das größte Verbrechen zuzutrauen, und wahrscheinlich beraten sie jetzt darüber, ob es ein Mittel gibt, euch zu entkommen. Wenn ich es hörte, würde ich es dir sagen.« »Gut, so mag Old Shatterhand dann, wenn nur noch die Wachtfeuer brennen und es bei ihrer Hütte dunkel ist, versuchen, ob es ihm gelingt, etwas zu erlauschen!« Ich wartete diese Zeit ab. Es brannten nur noch einige Feuer im Umkreise des Lagers; im Innern desselben aber war es dunkel. Ich schlich mich zu der Hütte, in welcher Corner, Sheppard, Eggly und Lachner gebunden lagen. Vor derselben saß ein roter Wächter, welcher von meinem Kommen unterrichtet war und mich nicht hinderte. Es war wohl kaum anzunehmen, daß die Gefangenen seinetwegen schwiegen, denn er verstand auf alle Fälle das Englische nicht so, daß er jedes ihrer Worte zu unterscheiden vermochte. Indem ich mit den Händen leise sondierte, fand ich tief unten am Boden eine Lücke, welche groß genug war, meinen Kopf hineinzustecken. Sie schliefen noch nicht; sie unterhielten sich noch, aber in solcher Weise, daß nur zuweilen einer ein paar Worte sagte. Und was ich hörte, war für mich von keinem persönlichen Interesse. Ich lag wohl eine Stunde lang da, ohne etwas Wichtigeres zu erfahren, als daß Corner die Fesseln schmerzten und dem Prayer-man der Schnupftabak, den man ihm abgenommen hatte, außerordentlich fehlte; er war, wie schon früher einmal erwähnt, ein leidenschaftlicher Schnupfer. Schon wollte ich mich zurückziehen, da hörte ich den alten Lachner sagen: »Ich kann gar nicht sagen, wie ich mich ärgere, daß es so gekommen ist! Es war alles so herrlich eingefädelt. Der dumme Junge, der sich meinen Neffen schimpft, hätte zwar daran zu Grunde gehen müssen, weil wir ihn gezwungen hätten, die Goldproben aus dem tiefen Wasser zu holen; das hält kein Teufel aus; aber es wäre gar nicht schade um ihn gewesen; ich habe ihn deshalb mitgenommen. Wären die Proben gut ausgefallen, hätte ich später Maschinenkraft angewendet. Hole es der Teufel! Hoffentlich aber gelingt es uns in der Weise, wie wir es vorhin ausge - -« »Still, kein Wort!« unterbrach ihn Eggly. »Solche Sachen dürfen höchstens geflüstert werden, denn der rote Halunke da draußen könnte doch vielleicht ein Wort auffangen, aus welchem ein Verdacht heraus zuziehen wäre. Wollen versuchen, ob wir in diesem erbärmlichen Neste schlafen können!« Es wurde ruhig, und ich entfernte mich. Also hatte Lachner von Corner und Sheppard doch erfahren, daß man tauchen müsse! Und der alte Sünder war so gewissenlos gewesen, Carpio zu diesem Zwecke mitzuschleppen! Ich meldete dem Häuptling, daß die Gefangenen allerdings an Flucht dächten, ich aber nichts darüber hätte erfahren können. Da ich den Blutindianern nicht recht traute, bat ich ihn, seine Wachen während der Nacht ein scharfes Auge auf sie halten zu lassen. Er versprach es mir nicht nur, sondern forderte mich sogar auf, den jetzt von ihm beabsichtigten Rundgang um das Lager mit zu thun und den Wächtern diese meine Weisung selbst zu erteilen. Die Blutindianer hatten sich in einiger Entfernung vom östlichen Ende des Lagers ihre Laubzelte errichtet. Wir gingen also erst nach dieser Seite, um die wachthabenden Kikatsa zu instruieren. Dann schritten wir an der nördlichen Seite herunter, wo unfern der äußersten Hütten ein schmaler Bach floß, aus welchem die Upsaroka das nötige Wasser holten. Es gab da nur ein Feuer. Als wir
uns so weit von demselben entfernt hatten, daß es fast dunkel um uns herum war, hörte ich vom Bache her ein leise plätscherndes Geräusch. Ich blieb stehen und horchte. Es wiederholte sich wieder, aber nur für mein Ohr, denn es war so leise, daß es dem Häuptling gar nicht auffallen konnte; ich aber kannte es; es kam von Winnetou. Wir hatten verschiedene solcher Geräusche, welche wir je nach den Umständen in Anwendung brachten, miteinander verabredet. Zu ihm hinüber durfte ich nicht, wenigstens nicht allein, denn ich hatte Yakonpi-Topa mein Wort gegeben, das Lager ohne seine Erlaubnis nicht zu verlassen. Sollte ich Winnetou etwa gar herüberrufen? Indem ich noch mit mir zu Rate ging und der Häuptling mich verwundert fragte, warum ich stehen geblieben sei, ohne einen Grund dazu zu haben, tauchte der Apatsche grad vor uns wie aus der Erde auf. »Uff!« rief der Kikatsa erschrocken aus. Ich legte ihm die Hand auf den Arm und sagte beruhigend: »Der Häuptling der Kikatsa mag nicht erschrecken; er hat mich heut unter seinen Schutz genommen und steht nun jetzt unter dem meinigen. Hier ist Winnetou, der berühmte Häuptling der Apatschen.« »Uff, uff! Winnetou - -!« »Sprich leise, leise, sonst ist es allerdings um dein Leben geschehen! Wir werden hören, was Winnetou uns zu sagen hat, und dann kehren wir in das Lager zurück. Ich wiederhole, daß du nichts zu befürchten hast, denn ich erkläre hiermit dem Häuptling der Apatschen, daß ich mit YakonpiTopa zufrieden bin!« Es war eine ganz eigentümliche Situation. Ich war Gefangener des Kikatsa; dieser wurde fünfzig Schritte von seinen Kriegern entfernt von Winnetou überfallen und wäre, wenn ich nicht durch mein Wort gebunden gewesen wäre, ganz gewiß von dem Apatschen gezwungen worden, Carpio, Rost und mich freizugeben! »Mein Bruder Old Shatterhand hat richtig gesprochen: dem Häuptling der Kikatsa soll von mir kein Haar gekrümmt werden,« bestätigte Winnetou mit halblauter aber eindringlicher Stimme. »Ich habe in der Nähe des Lagers gelauscht und alles erfahren. Zuerst wird mir mein Bruder Shatterhand, und dann soll mir Yakonpi-Topa einige Fragen beantworten. Also mein Bruder Scharlih hat sein Wort gegeben, das Lager nicht ohne Erlaubnis zu verlassen?« »Ja,« antwortete ich. »Wenn er es gegeben hat, wird er es auch halten! Sind die beiden Bleichgesichter Rost und Carpio mit inbegriffen?« »Ja.« »Ist dein Hatatitla bei dir?« »Ja.« »Hat Peteh, der Häuptling der Blutindianer, auf deinen Tod verzichtet?« »Nein.« »Uff! Hast du einen Wunsch an mich?« »Nein, denn ich weiß, daß du alle meine Wünsche erfüllen wirst, ohne daß ich sie auszusprechen brauche.« »So wende ich mich jetzt mit einer Frage an den Häuptling der Kikatsa: Die Krieger der Upsaroka's haben das Kriegsbeil ausgegraben, weil sechs ihrer Männer von den Schoschonen erschossen worden sein sollen?« »Ja,« antwortete Yakonpi-Topa, der sich noch immer nicht in die unerwartete Gegenwart des Apatschen finden konnte.
»Wo ist das geschehen?« »Am Salbei-Fluß, welcher von Norden her in den Sweetwater mündet.« »Von wem weiß das der Häuptling der Kikatsa?« »Von einem alten Krieger der Blutindianer, welcher es gesehen hat und Innua Nehma heißt.« »Dieser Alte hat gelogen. Winnetou weiß es besser. Bei den Schoschonen, welche die Mörder gewesen sein sollen, hat sich ein Bleichgesicht Namens Nana-po befunden?« »Ja.« »Dieser Nana-po wird noch festgehalten, weil seine weiße Squaw ihn mit Gewehren loskaufen soll?« »Ja.« »So will ich erzählen, wie es geschehen ist. Nana-po hatte von den Schoschonen Felle gekauft, welche nach dem Plattefluß transportiert werden sollten. Er und die sechs Bleichgesichter, welche er bei sich hatte, machten Pakete daraus, um sie zu tragen. Avaht-Niah, der große und vorsichtige Häuptling der Schoschonen, gab ihnen vier Krieger mit, um ihnen zu helfen und sie zu schützen. Sie kamen auf dem Sweetwater bis an die Mündung des Salbei-Creek. Dort hielten sie an, um nach der Rattle Snake Range zu gehen. Nana-po wanderte mit den vier Schoschonen und den Packpferden, welche die Felle trugen, voraus; die sechs andern Bleichgesichter waren für kurze Zeit zurückgeblieben, um noch Fische für das Abendessen zu fangen und dann den Gefährten nachzueilen. Da wurden sie von einer Schar von Blutindianern überfallen und ermordet, welche in der dortigen Gegend jagten. Als diese den Mord begangen und die Toten ausgeraubt hatten, wollten sie der Fährte der Packpferde nach. Da kamen sechs Upsaroka's auf dem Sweetwater herab, welche auch Felle auf ihren Flößen hatten; sie stiegen aus und wurden erschossen. Innua Nehma war der Anführer dieser Mörder. Er that die meisten seiner Leute auf die Flöße der Upsaroka's, damit sie die Felle nach der Seminole-Ebene schaffen sollten, wo die Blutindianer damals wohnten. Er selbst blieb mit einigen seiner Krieger noch da, um weiter zu jagen. Er hatte nicht acht auf den Fluß und sah also nicht, daß noch mehr Upsaroka's kamen. Diese sahen ihre Ermordeten am Ufer liegen, stiegen aus und überfielen ihn. Er war ein kluger Mann und sagte, die Schoschonen seien es gewesen, welche mit Nana-po sich entfernt hätten; er habe es gesehen, aber nicht helfen können, weil sich alles viel zu schnell für ihn zugetragen hätte. Die Upsaroka's glaubten ihm, gaben ihn und seine Leute frei, machten sie zu ihren Verbündeten und jagten den Schoschonen nach. Diese wurden ergriffen und gefangen zu dir gebracht. Sie starben unschuldig am Marterpfahle, und Nana-po soll auch noch sterben, sobald seine Squaw die Gewehre ohne Erfolg für ihn bezahlt haben wird.« »Uff, uff!« ließ sich der Kikatsa hören, als Winnetou seinen Bericht jetzt beendet hatte. »Wenn es so wäre, wie der Häuptling der Apatschen erzählt, so wären also die Blutindianer, welche jetzt meine Verbündeten sind, die Schuldigen!« »Es ist so. Ja, es ist noch schlimmer! Du hast den Schoschonen den Kampf zugesprochen, weil du glaubtest, sie hätten deine Leute getötet; nun aber müssen sie sich an dir rächen, weil du ihre unschuldigen Krieger am Marterpfahle hingerichtet hast!« »Uff! Kann Winnetou beweisen, daß alles so ist, wie er mir erzählt hat?« »Ich lüge nie; aber ich werde es dir dennoch beweisen, weil es eine so wichtige Sache ist. Die Blutindianer haben sich mit dir verbündet, um große Beute bei den Schoschonen zu machen; sie wollen das, obgleich sie wissen, daß sie selbst die Schuldigen, die Schoschonen aber unschuldig sind. Sie kamen zu dir gezogen und nahmen unterwegs meinen Bruder Old Shatterhand gefangen. Ich ritt hinterher, um ihn zu befreien. Ich beschlich und belauschte sie. Ich hörte ihren Häuptling Peteh mit dem alten Krieger Innua Nehma von dem Morde sprechen, von dem ich dir jetzt erzählt habe. Sie lachten über dich, daß du sie, die Mörder, für unschuldig hältst und dafür deine Rache auf die unschuldigen Schoschonen lenkst. Ich erfuhr den Ort der That und beschloß, ihn aufzusuchen.
Während die Blutindianer langsam weiterritten, jagte ich hinüber nach dem Salbeiflusse. Ich fand die Stelle. Noch liegen die sechs erschossenen Bleichgesichter unbegraben und von den Geiern zerrissen da. Warum habt ihr diese Leichen gar nicht beachtet? Sie hätten euch doch sagen müssen, daß die Blutindianer die Mörder seien, nicht aber die Schoschonen, deren weiße Gefährten ermordet sind!« »Uff! Sie liegen noch da?« »Ja. Ich komme deshalb heut zu dir. Du hast das Kriegsbeil gegen die Schoschonen erhoben, und diese werden ihre vier am Marterpfahle unschuldig Hingerichteten von euch fordern; ich aber bin der Freund und Bruder aller roten Männer und will Frieden zwischen euch machen. Sende morgen früh sichere Boten, welche gute Augen haben, nach dem Salbeiflusse! Wenn diese zurückkehren und dir sagen, daß sie die toten Bleichgesichter noch liegen sahen, so hast du den Beweis, daß die Schoschonen unschuldig, die Blutindianer aber schuldig sind!« »Uff, uff, das ist richtig!« »Ja, das ist richtig. Ich habe dir gesagt, wie es ist. Howgh!« »Was wird Winnetou, der berühmte Häuptling der Apatschen, inzwischen thun, bis diese meine Boten zurückkehren?« »Das sollte ich dir verschweigen; ich will es dir aber sagen, damit du erkennst, daß ich aufrichtig bin. Ich reite zu den Schoschonen und hole sie. Erkennst du ihre Unschuld an und bietest ihnen Ersatz für ihre vier Toten, so werde ich für dich bitten; thust du das aber nicht, so werden sie weit über tausend Mann stark über euch herfallen. In beiden Fällen aber haben die Blutindianer die gerechte Strafe zu erleiden! Winnetou, der Häuptling der Apatschen, hat gesprochen. Howgh!« Kaum hatte er dieses Bekräftigungswort ausgesprochen, so war er verschwunden. Der Kikatsa stand eine ganze, lange Zeit stumm da und starrte ihm nach, in die Nacht hinaus. Diese Mitteilung war ihm ebenso unerwartet gekommen wie das so plötzliche Erscheinen des Apatschen selbst. Was war mein Winnetou doch für ein herrlicher, unvergleichlicher Mensch! Dann drehte sich Yakonpi-Topa langsam zu mir um und fragte mich: »Was sagt Old Shatterhand dazu?« »Was Winnetou behauptet, ist nie zu bezweifeln!« »Uff! So hätte ich die Mörder ja gleich hier beim eigenen Lager!« »Ganz recht!« »Und darf sie doch nicht eher bestrafen, als bis meine Boten zurückgekehrt sind!« »So sei umso mehr dafür besorgt, daß sie keinen Verdacht schöpfen und sich in Sicherheit bringen!« »Soll ich sie etwa freundlich behandeln?« »Freundlich ernst, wie Verbündete es verlangen dürfen.« »Wenn aber nun Peteh deinen Tod verlangt?« »So berufst du dich auf die Versammlung.« »Er wird sie beschleunigen wollen!« »Wenn du in der richtigen Weise mit diesen Kriegern sprichst, werden sie nur beschließen, was du für gut befindest.« »Uff! Meine Seele ist in großer Sorge, denn wenn dir etwas geschieht, wird Winnetou Rechenschaft von mir fordern!« »Das ist zwar richtig, aber du brauchst nicht bange zu sein, denn ich weiß, daß mir von seiten der Blutindianer nichts geschieht.«
»Ich werde gleich jetzt die ältesten meiner Krieger zusammenkommen lassen, um ihnen zu erzählen, daß der Häuptling der Apatschen hier gewesen ist und was ich von ihm gehört habe.« »Thue das, doch mögen sie den Blutindianern ja morgen dann nichts merken lassen!« »Ich werde ihnen das scharf einprägen. Komm!« Wir verließen die Stelle, welche dazu bestimmt gewesen war, so einflußreich für die hiesige Situation zu werden. Er ging nach seiner Wohnung und ich nach der meinigen, wo ich gefragt wurde, wo ich so lange gewesen sei. Wie erstaunten sie und wie freuten sie sich, als sie hörten, daß ich mit Winnetou gesprochen hatte! Ich erzählte ihnen natürlich, was uns von ihm mitgeteilt worden war. Als ich damit fertig war, sagte Carpio: »Ich habe doch stets recht, aber stets!« »Wieso auch jetzt?« erkundigte ich mich. »Das ist doch einfach, sehr einfach! Die Blutindianer sind die Mörder, man hat aber geglaubt, die Schoschonen seien es!« »Nun?« »Nun - fragst du? Da giebt es ja eigentlich gar nichts zu fragen! Da sind wieder einmal so einige zerstreute Kerle hier herumgelaufen und haben in ihrer Kopflosigkeit eine Verwechslung begangen, die gar nicht größer sein kann!« »Ach so! Aber diese zerstreuten Menschen sind diesesmal Indianer gewesen, also Naturmenschen, lieber Carpio. Du sagtest ja, daß diese nie zerstreut sein können!« »Ja, da scheinen sie aber doch auch schon von der Kultur angeleckt worden zu sein, denn nur die Kultur ist es, die solche Verwirrungen hervorbringen kann. Der kultivierteste Mensch, den ich kenne, bist du, und was hast du damals für eine tolle Verwechslung mit meinem Reisepaß vorgenommen! Im Stiefel hattest du ihn stecken. Es war geradezu großartig lächerlich! Weißt du es noch?« »Ja, leider!« »Da wird es zwischen den Schlangen und den Krähen wohl gar nicht zum Kampfe kommen?« fragte Rost. »Wahrscheinlich nicht.« »Gott sei Dank! Ich mag vom Blutvergießen lieber gar nichts wissen, obgleich ich eine Apotheke und auch Verbandzeug mitgenommen habe. Mir sagt eine innere Stimme, daß ich diese Sachen gar nicht brauchen werde.« »Das wollen wir ja nicht behaupten! Wenn ich auch einmal eine innere Stimme haben dürfte, so würde mir diese sagen, daß sich für Sie sogar sehr bald die Gelegenheit ergeben kann, Ihre medizinische und chirurgische Geschicklichkeit zu zeigen.« »An wem?« »An Peteh oder mir, vielleicht auch an uns beiden zu gleicher Zeit.« »Wieso?« »Es kann einer von uns oder es können auch beide verwundet oder gar getötet werden.« »Doch nicht! Warum?« »Eines Zweikampfes wegen.« »Zweikampf? Meinen Sie ein Duell, ein wirkliches Duell?« »Ja.«
»Was Sie sagen. Giebt es hier oben Duelle?« »Und was für welche!« »Und Sie denken, daß Sie ein solches auszufechten haben werden?« »Für gewiß halte ich es zwar nicht, aber für möglich.« »Sie meinen, Sie werden von Peteh gefordert?« »Ja.« »Das klingt ja geradezu gefährlich! Weshalb sollte er Sie fordern?« »Um mich zu töten.« »Alle Wetter! Mit diesem Kerl möchte ich nicht losgehen. Der hat ja Muskeln wie ein Büffelstier! Übrigens habe ich zum Fechten niemals Zeit gehabt. Ich kann also zwar den großen, vordern, gekerbten Muskel vom Kaputzenmuskel, aber nicht eine Terz von einer Quart unterscheiden.« »Oh, was das betrifft, so brauchen wir keine Sorge zu haben,« fiel Carpio ein; »mein Sappho macht mit jedem mit; da kenne ich ihn; dem darf keiner kommen.« »Pshaw!« lachte ich. »Damals und jetzt! Ihr dürft auch nicht etwa denken, daß da mit gemütlichen Paukwaffen aufeinander losgegangen wird. Oh nein; da geht es ganz anders her!« »Aber wie kann denn dieser Blutindianer auf den Gedanken kommen, mit Ihnen kämpfen zu wollen?« fragte Rost. »Das ist sehr leicht erklärlich,« antwortete ich. »Sie wissen doch, wie feindlich er uns, besonders mir gesinnt ist. Er will meinen Tod; er wird ihn von den Krähenindianern verlangen. Nach allem, was ich Ihnen vorhin erzählt habe, glaube ich nicht, daß sie darauf eingehen werden. In diesem Falle nun ist es bei den meisten Indianerstämmen Gepflogenheit, daß zwischen dem, welcher sterben soll, und dem, welcher seinen Tod fordert, ein Kampf stattfindet, welcher nicht eher aufhören darf, als bis einer von beiden liegen bleibt. Diese Zweikämpfe haben je nach den Waffen und Bedingungen verschiedene Namen. Ich halte es für ganz und gar nicht ausgeschlossen, daß Peteh in seiner Wut, mich schon halb frei zu sehen, einen solchen Kampf fordert, wenn die Krähen nicht darauf eingehen, mich, und zwar bald, am Marterpfahle sterben zu lassen« »So bitte, sagen Sie: Fürchten Sie sich?« »Nein.« »Gar kein bißchen?« »Nein. Der Mensch soll nur das thun, was nützlich ist, und da es gar nicht nützlich ist, sich zu fürchten, so habe ich mir die Furcht schon gleich gar nicht angewöhnt. Dieses Thema habe ich bloß berührt, um Ihnen den Gedanken nahe zu legen, daß Sie doch vielleicht Ihr Verbandzeug noch in Anwendung bringen können. Jetzt nun wollen wir das beste thun, was wir thun können, nämlich schlafen!« Es war sehr kalt geworden. Glücklicherweise hatten wir unsere Decken wiederbekommen. Ich wickelte Carpio in die seinige, schlang die meinige noch darüber und gab ihm meinen Sattel zum Kopfkissen; das hatte zur Folge, daß er die ganze Nacht hindurch ganz prächtig schlief. Ich hatte während des Rittes vom Fleischwasser bis hierher keine richtige Ruhe gehabt und schlief darum auch ganz leidlich, obgleich ich von der Kälte öfters aufgeweckt wurde. Als wir früh aufwachten, war es ziemlich spät, und es herrschte schon reges Leben im Lager. Wir gingen nach dem Bache, um uns zu waschen, und bekamen hierauf unsere Fleischportionen. Dann suchte ich den Häuptling auf, um ihn zu fragen, ob er schon Boten nach dem Salbei-Flusse geschickt hatte. Er hatte es gethan; sie waren zeitig aufgebrochen, konnten aber leider erst in fünf bis sechs Tagen wieder zurück sein.
»So lange müssen wir warten, ehe ich weiß, ob ich Peteh als Feind zu betrachten habe,« sagte er. »Mein Herz sehnt sich nach dieser Gewißheit. Wenn die Blutindianer wirklich die Mörder sind, werden nicht viele von ihnen lebendig heimkehren!« »Du wirst dich doch wohl begnügen, dir die eigentlichen Mörder ausliefern zu lassen. Unschuldige tötet man nicht!« »Unschuldige? Welcher von den hundert, die gekommen sind, darf unschuldig genannt werden? Sie wissen alle, wer meine Krieger ermordet hat. Sind sie da nicht mitschuldig?« »Hm! Es ist freilich eine unverzeihliche Schlechtigkeit von ihnen, deine Rache auf die unschuldigen Schoschonen zu lenken und dir bei der Ausführung derselben auch noch behilflich zu sein. Du wirst dich da mit dem Häuptling dieser roten Krieger beraten müssen.« »So meinst du wirklich, daß sie kommen?« »Ja.« »Von Wagare-Tey, ihrem jungen Kriegshäuptling angeführt?« »Das dachte ich erst. Da aber diese Angelegenheit so wichtig ist, viel wichtiger, als ich glauben konnte, so ist es möglich, daß Avaht-Niah, der alte Häuptling, selbst auch mitkommt, obgleich er schon über achtzig Winter zählt.« »Wie wird er sich verhalten?« »Wenn du dein Unrecht eingestehst und ihm für seine bei euch am Marterpfahle gestorbenen Leute Ersatz bietest, so wird er auf die Fürbitte des Häuptlings der Apatschen wohl geneigt sein, sich mit dir auszusöhnen. Bist du aber nicht bereit dazu, so wird es zu einem blutigen Kampfe kommen, der dich mehr als die Hälfte deiner Leute kosten kann.« »Uff!« »Ja, ich weiß, was ich sage. Bedenke, daß Winnetou auf der Seite der Schoschonen steht! Seine List und seine Kunst, eine Schar zum Siege zu führen, wiegen Hunderte von Kriegern auf; das weißt du ja ebenso wie ich. Er versteht es, dem Feinde Fallen zu stellen, die jeder andere für unmöglich halten würde.« »Das würde aber zu deinem Schaden sein!« »Wieso?« »Wenn Winnetou feindlich gegen uns aufträte, würden wir dich, seinen Freund und Bruder, natürlich auch als Feind behandeln!« »Pshaw!« »Uff! Du lachst? Meinst du, daß uns das nicht möglich wäre?« »Oh doch! Aber klug wäre es nicht von euch, denn Winnetou würde dann die strengste Rechenschaft fordern. Übrigens ist es jetzt gar nicht an der Zeit, hiervon zu sprechen.« »Ja, denn du hast mir bis zur Versammlung dein Wort gegeben. Dann legen wir dir wieder Fesseln an, und es sollte dir wohl nicht möglich werden, zu fliehen und uns bei den Schoschonen Schaden zu bereiten!« »Was nach der Beratung geschehen wird, darüber können wir jetzt noch gar nicht sprechen. Es ist für die Kikatsa stets gut, wenn sie Old Shatterhand ebenso wie Winnetou zum Freunde haben. Ich weiß, daß du davon überzeugt bist; du brauchst es mir gar nicht zu sagen.« »Uff! Old Shatterhand spricht mit zu großer Sicherheit!« »Oh nein. Wir sind Freunde aller roten Männer, die uns nicht feindlich behandeln; ihr aber habt euch stets als unsere besonderen Freunde und Verbündete betrachten dürfen.«
»Möchte Old Shatterhand mir das beweisen?« »Warum nicht. Es giebt Indianer, welche stets, aber auch stets und ohne Aufhören eure Todfeinde gewesen sind. Wen meine ich?« »Die Sioux.« »Ja, die Sioux. Ihr gehört zum großen Volke der Dakotas, und sie sind ebenso ein Teil dieser Nation. Ihr seid also mit ihnen verwandt, und dennoch bekriegen sie euch auf eine so beständige und unversöhnliche Weise, daß ihr gegen sie stets das Messer in den Händen haben müßt. Alle Welt weiß nun aber auch, wen diese Sioux am meisten fürchten. Du weißt es natürlich auch?« »Ja. Old Shatterhand und Winnetou.« »Richtig! Wir zwei einzelnen Männer haben den Sioux, besonders aber den Sioux Ogallalah, mehr Schaden gethan, als alle Krieger deines Volkes zusammengenommen. Das brauche ich dir ja nicht erst zu sagen. Sind wir da nicht die besten Verbündeten von euch?« »Uff!« »Wie oft ist es vorgekommen, daß die Sioux gegen euch ziehen wollten; da kamen wir und lenkten ihre Schritte von euch ab auf unsere Spuren. Ist das nicht wahr?« »Es ist wahr.« »Und zwei solche Freunde könntet ihr als Feinde behandeln?« »Uff!« antwortete er unbestimmt und verlegen. »Du bist ein kluger und tapferer Krieger und wirst also einsehen, was euch nützlich oder schädlich ist; ich kann also über diese unsere Zusammengehörigkeit schweigen. Hast du noch gestern abend mit deinen alten Kriegern gesprochen?« »Ja.« »Sie wissen also, was Winnetou dir gesagt hat?« »Nicht nur sie, sondern auch alle andern Krieger wissen es.« »Ah! Du hast also das Geheimnis allen mitgeteilt?« »Ja.« »Warum?« »Sie mußten es alle wissen, damit kein einziger es an der nötigen Aufmerksamkeit fehlen lasse. Die Blutindianer müssen scharf beobachtet werden, denn wenn es sich herausstellt, daß sie wirklich die Mörder sind, sollen sie alle, alle festgenommen werden!« »Aber bedenke, je mehr Leute es erfahren haben, desto größer ist auch die Gefahr, daß irgend einer durch eine Unvorsichtigkeit oder auch nur durch eine unbewachte Miene euern Verdacht verrät!« »Ich habe sehr strengen Befehl gegeben, vorsichtig zu sein!« »Dieser Befehl ist nicht leicht zu befolgen. Wirst du mir eine Frage beantworten, welche für mich wichtig ist?« »Wenn die Beantwortung mir keinen Schaden thut, ja.« »Du weißt, daß ich der Abgesandte der Squaw bin, welcher du den Brief geschrieben hast. Ich soll mit Nana-po, ihrem Manne, sprechen. Wo befindet er sich?« »Wir haben ihn daheim im Lager unsers Stammes gelassen.« »Du täuschest mich nicht?« »Ich sage die Wahrheit. Oder hält Old Shatterhand mich für so unvorsichtig, einen solchen
Gefangenen, zu dessen Bewachung mehrere Krieger gehören, auf meinen Kriegszügen mit herumzuschleppen?« »Nein. Ich hoffe, daß ich ihn zu sehen bekomme!« »Old Shatterhand soll ihn sehen und mit ihm sprechen.« »Und nicht bloß das! Ich muß seine Freiheit von dir fordern.« »Gegen die Zahlung der Gewehre?« »Nein. Nun es sich herausgestellt hat, daß er unschuldig am Tode deiner Leute ist, kannst du kein Lösegeld verlangen. Du mußt ihm sogar alles, was du ihm abgenommen hast, auch die Felle, wieder herausgeben.« »Uff! Old Shatterhand gebärdet sich so, als ob nicht ich, sondern er der Häuptling der Kikatsa sei!« »Ich bin nur dein Freund und verlange nichts als Gerechtigkeit von dir. Ah, dort kommt Peteh! Er hat dich gesehen und scheint mit dir sprechen zu wollen.« »Ja, er kommt. Mein Herz sträubt sich dagegen, freundlich zu sein mit diesem Hunde. Wirst du bei mir stehen bleiben?« »Nein, denn wenn ich mit ihm zusammentreffe, könnte es leicht wieder Hiebe geben.« Ich sah, mit welchen haßerfüllten Augen der Blutindianer mich betrachtete, indem er näher kam, und entfernte mich, aber langsam, daß es ja nicht aussehen sollte, als ob ich mich vor ihm fürchte. Der Häuptling der Kikatsa ahnte gar nicht, wie eindrucksfähig er sich gegen mich verhalten hatte. Ich hätte ihn in meiner Hand ganz nach Belieben formen können. Er wollte es verschweigen, hatte aber einen heillosen Respekt vor uns. Auch war er vollständig davon überzeugt, daß Winnetou gestern abend die Wahrheit gesagt hatte, denn wenn er auch nur ein wenig noch im Zweifel gewesen wäre, hätte er Peteh jetzt nicht einen Hund genannt. Ich wußte, daß ich von ihm nichts Schlimmes zu erwarten hatte. Ich saß dann mit Carpio und Rost vor unserer Hütte, doch nicht lange, so kam Yakonpi-Topa zu uns und sagte mir, daß Peteh die Beratung über uns für heut verlangt habe. »Was soll ich ihm antworten?« fragte er mich. Also, es war schon so weit zu unsern Gunsten gekommen, daß der Häuptling ohne mein Wissen keinen Bescheid geben wollte! »Erst muß ich wissen, was du zu ihm gesagt hast,« erklärte ich. »Ich teilte ihm mit, daß ich die Krieger, welche an der Beratung teilzunehmen haben, fragen und ihm dann einen Boten senden werde.« »Das war richtig. Eigentlich müßten wir die Entscheidung so weit hinausziehen, bis deine Boten zurückgekehrt sind.« »Sechs Tage? Das ist unmöglich!« »Leider!« »Er drohte, mit seinen Kriegern fortzuziehen, wenn wir uns weigerten, nach seinem Willen zu handeln.« »Wir dürfen sie nicht fortlassen!« »Nein; aber soll ich sie mit Gewalt festhalten?« »Auch nicht. Es ist jeder Zwang, also jeder Kampf, zu vermeiden, wenigstens jetzt.« »Was kann ich da thun?«
»Versuche, Zeit zu gewinnen!« »Er wartet nicht; er will euern Tod, und zwar so bald wie möglich!« »Versuch' es dennoch! Nur wenn es ganz unmöglich ist, ihn länger hinzuhalten, mußt du die Versammlung zusammenrufen. Ich werde doch auch geholt?« »Warum du?« »Weil ich auch sprechen will.« »Das ist nicht nötig.« »Nicht? Man muß jedem Angeschuldigten die Gelegenheit geben, sich zu verteidigen.« »Ich werde für dich sprechen, und das wird so gut sein, als ob du selber redetest. Old Shatterhand ist kein gewöhnlicher Krieger, der sich vor so einem Hunde, wie dieser Blutindianer ist, zu verteidigen hat. Howgh!« Er entfernte sich. Ich mußte lächeln, denn ich durchschaute ihn. Es war vorauszusehen, daß er Peteh gegenüber einen schweren Stand haben werde, und ich sollte nicht dabei sein, weil er es mich nicht merken lassen wollte, durch welche Verlegenheiten er sich hindurchzuwinden hatte. Kurz vor Mittag kam er wieder, um mir zu sagen, daß Peteh nur bis zum Abend warten wolle. Und um diese Zeit erfuhr ich wieder von ihm, daß der Blutindianer nur noch bis morgen früh Geduld haben werde; er habe ein Howgh daraufgesetzt, daß er dann unbedingt mit seinen hundert Mann fortreiten werde, falls man da noch länger zögere, sein Verlangen zu erfüllen. Da war nun freilich nichts anderes zu beschließen, als ihm den Willen zu thun. Man konnte dann immer noch Zeit gewinnen, denn die Entscheidung des Rates der Alten war noch lange nicht gleichbedeutend mit der Ausführung des Urteilsspruches. Also es stand nun fest, daß morgen früh über unser Schicksal beschlossen werden solle. Es war mir zwar gar nicht bange, aber man kann nie wissen, was der nächste Augenblick bringt, und so war es auch nicht unmöglich, daß sich bis dahin für uns ungünstige Eventualitäten einstellen konnten; ich hütete mich jedoch, meine Gefährten auf dergleichen Zufälle hinzuweisen; sie sollten ohne alle Beunruhigung sein. Der Tag verging, und wenn ich meine Schlüsse aus dem hochachtungsvollen Benehmen der Upsaroka's zog, brauchte ich keine Besorgnis zu hegen. Sie waren alle überzeugt, daß die Blutindianer die Mörder seien, und hielten da natürlich nicht zu diesen, sondern zu uns. Carpio hatte sich seit gestern leidlich erholt; er behauptete, bloß meine Gegenwart genüge, ihn wieder gesund zu machen. Es machte dem lieben Kerl förmlich Spaß, daß die »Verwechslung« soweit getrieben werden sollte, daß für morgen eine Beratung über unser Leben auf dem schwarzen Brette stand. Ich störte natürlich die Fröhlichkeit nicht, die ihm dadurch bereitet wurde. Er schlief wieder die ganze Nacht hindurch. Früh saßen wir, nachdem wir uns gewaschen hatten, so wie gestern vor der Thür, um da unser Frühstück zu verzehren und das Treiben des Lagers zu beobachten. Es war den Upsaroka's wohl anzusehen, daß etwas Wichtiges im Werke sei, und daß das uns betraf, zeigten die Blicke, welche verstohlen auf uns geworfen wurden. Wir aber waren heiter. Da kam der Häuptling mit zwei Roten und forderte uns auf: »Old Shatterhand und die beiden Bleichgesichter mögen sich in ihre Hütte begeben!« »Warum?« fragte ich. »Ihr müßt wieder gefesselt werden, denn die Beratung wird in kurzer Zeit beginnen.« »Well, man binde uns!« Ich weigerte mich natürlich nicht, denn ich mußte mein Wort halten; aber als mir die Hände zusammengebunden wurden, hielt ich sie so, daß, wenn ich sie später fester zusammenlegte, die
Riemen nicht mehr fest schlossen; das gab mir die Möglichkeit, mich loszumachen. Übrigens verfuhr man gar nicht so streng und sorgfältig, wie man es bei gefährlichen Leuten jedenfalls gethan hätte. Unsere Waffen wurden uns auch abgenommen, aber nicht fortgeschafft, sondern neben uns hingelegt. Die Art und Weise, wie man sich unserer Personen versicherte, war also keine trostlose für uns. Als man damit fertig war, sagte Yakonpi-Topa zu mir: »Ich weiß, was meine alten Krieger denken; sie sind alle gegen euern Tod, aber Peteh wird darauf bestehen, euch am Marterpfahle sterben zu sehen. Weiß Old Shatterhand, was zu geschehen pflegt, wenn sich zwei solche Meinungen nicht vereinigen lassen?« »Ja.« »Er mag es sagen!« »Das Urteil wird auf Zweikampf gefällt.« »Würde Old Shatterhand damit einverstanden sein?« »Ja.« Er warf einen langen, ernsten Blick an meiner Gestalt herab und fuhr fort: »Ich weiß, daß dich noch niemand hat besiegen können, und will dich nicht beleidigen; aber hast du den Körper des Häuptlings der Blutindianer betrachtet?« »Ja.« »Seine Arme sind wie die Pranken des Bären!« »Pshaw! Mir ist noch kein Bär entkommen!« »Und seine Hinterlist ist groß!« »Die List eines Bären macht mir keine Sorge!« »Er wird Waffen wählen, in denen er Meister ist!« »Er wäre dumm, wenn er das nicht thäte!« »Und eine Art des Kampfes, welche den Bleichgesichtern unbekannt ist!« »Pshaw! In Beziehung auf die verschiedenen Arten des Kampfes habe ich auch eine rote Haut!« »Old Shatterhand führt eine sehr zuversichtliche Sprache! Die Krieger der Upsaroka's würden sich freuen, wenn er ebenso zuversichtlich kämpfte! Hat er mir einen Wunsch zu sagen?« »Nein. Nur zu eurem eigenen Besten will ich die Bemerkung machen, daß es geraten ist, den Zweikampf, falls er stattfinden soll, so weit wie möglich hinauszuschieben.« »Das wird Peteh sich nicht gefallen lassen!« »So thut, was er will; mir ist es gleich!« »Uff! Was sollen wir sagen, wenn Peteh fordert, daß diese beiden andern Bleichgesichter auch kämpfen sollen?« »Suche es dahin zu bringen, daß ich es für sie thun kann!« »Ich werde es thun. Jetzt sind wir fertig. Es wird keine leichte und ruhige Beratung sein!« Er ging. Als er fort war, fragte mich Carpio: »Denkst du denn wirklich, daß es zu einem Zweikampfe kommt?« »Da die Krähen für unser Leben sprechen werden, bin ich nun überzeugt, daß er nicht zu vermeiden ist.« »Ein wirkliches Duell?«
»Ja, doch ein indianisches.« »Auf Leben und Tod?« »Ja.« »Und das sagst du mit solcher Ruhe, als ob es sich darum handelte, eine Tasse Kaffee auszutrinken?! Lieber Sappho, was bist du doch für ein unbegreiflicher Mensch geworden! Denke dir, ein Duell, ein Duell! Wie sind wir früher vor Hochachtung förmlich zusammengesunken, wenn von >Schmissen< die Rede war, und wie steigerte sich diese Hochachtung gar zur hellsten Bewunderung, wenn wir gar einmal jemanden sahen, der einen hatte! Und eine Indianermensur ist doch wohl gefährlicher?« »Will es denken!« lachte ich. »Höre, ich könnte an deiner Stelle vor Aufregung kaum Atem holen! Hast du denn gar, gar keine Angst?« »Nein.« »Bist ganz sicher, daß du den roten Kerl abführst?« »Ja.« Ich stellte mich natürlich zuversichtlicher, als ich war, denn ich durfte ihn doch nicht um mich bange machen. Dieses mein Selbstvertrauen erweckte das seinige in der Weise, daß er sich erkundigte: »Höre, werden wir vielleicht zusehen dürfen?« »Nicht nur dürfen, sondern sogar müssen! Die Mitgefangenen sollen alle mögliche Angst durchkosten; so ist es Brauch.« »Ach, ich habe gar keine Angst um dich! Bitte, thu mir doch den Gefallen, mich als Sekundanten vorzuschlagen!« »Sekundanten giebt es nicht.« »Das ist schade, jammerschade! Ich hätte dich so gern gegen etwaige Niederträchtigkeiten beschützt. Da ich das nicht thun kann, will ich dir wenigstens einen guten Rat erteilen.« »Welchen?« »Er heißt: Nimm dich zusammen! Ja, zusammennehmen sollst du dich; ich meine es gut mit dir. Du bist zuweilen so zerstreut, so gedankenlos. Erinnere dich zum Beispiel an meine Sporen, die du in deine statt in meine Tasche gesteckt hattest. So eine Konfusion kann einem beim Duell das Leben kosten! Also gieb dir Mühe, und nimm dich zusammen! Wenn du das thust, habe ich keine Angst um dich, denn ich weiß, daß du, diese Schwäche abgerechnet, ein gewandter Kerl und kein Dummkopf bist. Welche Waffen wird man wohl wählen?« »Das weiß ich noch nicht; jedenfalls solche, in denen Peteh mir überlegen zu sein glaubt. Lassen wir das für nachher. An den Kampf zu denken, ist noch Zeit, wenn er beginnt.« »Das ist richtig; machen wir uns also jetzt noch keine Sorgen!« Lieber, ahnungsloser Carpio! Wie ganz anders hätte er gesprochen, und was für ein ganz anderes Gesicht hätte er gemacht, wenn er gewußt hätte, was es für einen ehemaligen Gymnasiasten heißt, nur mit einem gewöhnlichen Roten und nun gar mit diesem herkulisch gebauten Häuptling der Blutindianer auf Tod und Leben loszugehen! Rost hatte natürlich mehr Verständnis dafür. Er warf mir besorgte Blicke zu; ich winkte ihm aber, still zu sein, und so schwieg er. Es vergingen über zwei Stunden. Die Verhandlung verlief, wie ja vorauszusehen gewesen war, in sehr stürmischer Weise. Endlich kamen vier Krieger, welche mir mitteilten, daß sie mich vor die Versammlung zu bringen hätten. Der Häuptling kam diesesmal nicht selbst, weil sich das nicht mit
seiner Würde hätte vereinigen lassen. Die Füße wurden mir losgebunden, so daß ich gehen konnte, dann nahmen mich die vier in ihre Mitte. Man hatte die Beratung hinaus vor das Lager an den Bach verlegt. Da saß Yakonpi-Topa mit den ältesten seiner Krieger, ihm gegenüber Peteh mit Innua Nehma, seinem alten Vertrauten. Um diese herum hatte sich ein Kreis sitzender Indianer gebildet, welcher von einem noch weiteren Kreise stehender Krieger eingeschlossen wurde. Ich wurde in den innern geführt und sah sofort, daß Peteh sich in großer Aufregung befand. In seinen Augen loderte förmlich ein Feuer von Haß und Wut. Der Gefangene hat natürlich aufrecht stehen zu bleiben; das fiel mir aber nicht ein. Sobald meine Begleiter von mir zurückgetreten waren, schritt ich so weit vor, daß ich die zwei Häuptlinge zu meinen Seiten hatte, und setzte mich da nieder. Kaum war das geschehen, so stieß Peteh einen Schrei, nicht des Zornes, sondern des kaum zu bezähmenden Grimmes aus und brüllte: »Auf mit diesem räudigen Hunde, auf, auf mit ihm; er hat auf seinen Pfoten stehen zu bleiben!« Ich that natürlich, als ob ich diese Worte gar nicht hörte. Der Häuptling der Kikatsa hatte als Vorsitzender die Pflicht, mich auf meine Kühnheit aufmerksam zu machen. Er sagte zu mir: »Old Shatterhand darf nicht vergessen, weshalb er sich hier befindet! Er hat stehen zu bleiben!« Ich warf einen langen, prüfenden Blick im Kreise herum und sah, daß die Upsaroka's sich über mein Verhalten freuten, weil es den Blutindianer so ärgerte; darum antwortete ich ruhig: »Wer hat jemals gewagt, mir einen solchen Befehl zu geben? Wo giebt es einen Menschen, der mir befehlen darf, stehen zu bleiben, wenn ich mich setzen will?« »Ich befehle es, ich!« schrie mich Peteh an. Ich ließ ihn unbeachtet, sah den Kikatsa verwundert an und fragte ihn: »Was ist das für eine Stimme, welche ich höre? Ich habe bisher geglaubt, daß nur ernste, bedächtige Männer beim Feuer der Beratung sitzen dürfen; hier aber klingt eine Stimme wie die eines zornigen Büffelkalbes. Duldet Yakonpi-Topa, der Häuptling der Kikatsa-Upsaroka's, eine solche Sprache in der Versammlung seiner weisen und erfahrenen Männer? Ob Old Shatterhand sitzen oder ob er stehen will, das kommt doch nur auf ihn allein an. Wie kann man darüber die Ruhe verlieren, welche der größte Schmuck im Gesichte jedes Kriegers ist!« Peteh mußte sich tief beschämt fühlen. Er zwang sich, in möglichst ruhigem, stolz klingendem Tone zu sagen: »Uff! Mag er jetzt sitzen oder stehen! ich sehe es nicht; ich werde ihn dafür dann mit solcher Gewalt niederschmettern, daß er für immer liegen bleibt!« Nun ergriff Yakonpi-Topa, ohne mich wieder zum Aufstehen aufzufordern, das eigentliche Wort: »Old Shatterhand ist uns von den Kriegern der Blutindianer, denen er in die Hände fiel, ausgeliefert worden, damit wir über das, was mit ihm zu geschehen hat, beraten sollen. Die weisen Männer des Stammes sind zusammengetreten und haben folgendes beschlossen: Old Shatterhand ist stets ein Freund der Upsaroka's gewesen; darum darf ihm von ihnen nichts geschehen; er und die beiden Bleichgesichter sind frei; sie können gehen, wohin sie wollen, und sie dürfen alles nehmen und behalten, was ihnen gehört. Aber Peteh, der Häuptling der Blutindianer, welcher ihn gefangen genommen hatte, fordert sein Leben und ihr Leben, und geht nicht von diesem seinem Willen ab. Die Krieger der Upsaroka's können ihn nicht hindern, es ihnen zu nehmen, wenn er kann. Darum ist beschlossen worden, daß er mit ihnen kämpfe, erst mit Old Shatterhand und dann mit den beiden Bleichgesichtern. Peteh hat verlangt, daß ein Sti-i-poka stattfinde, ein Kampf auf Leben und Tod, und es ist ihm gestattet worden. Er hat zu bestimmen, welche Waffen genommen werden sollen und aus wieviel Teilen das Sti-i-poka bestehen soll. Stattfinden wird der Kampf heut, eine Stunde, bevor die Sonne untergeht. Die Bedingungen müssen vorher besprochen werden, und die Krieger der Upsaroka's werden dafür sorgen, daß nichts gegen das geschieht, was ausgemacht worden ist. Peteh, der Häuptling der Blutindianer, mag sagen, ob ich richtig gesprochen habe!«
Nach dieser an ihn gerichteten Aufforderung stand Peteh auf, nahm die stolzeste Haltung an, welche ihm möglich war, machte eine verächtliche Gebärde zu mir her und antwortete: »Ich bin Peteh, der berühmte Kriegshäuptling der Blutindianer, und noch nie von einem Feinde überwunden worden. Ich habe bisher nur mit starken, mutigen Feinden gekämpft; heute aber zwingt man mich, mich an einem feigen Coyoten zu vergreifen, denn wenn ich das nicht thäte, so würde man ihn laufen lassen, und er würde die Räude, an der er stinkt, überall verbreiten, wohin er kommt. Ich werde ihn darum mit einem einzigen Griffe meiner Hand erwürgen und dann seinen Kadaver den Geiern vorwerfen. Seinen Begleitern, welche weder bellen noch beißen können, wird dann dasselbe geschehen. Ich habe gesprochen, Howgh!« Er setzte sich wieder nieder, und nun richtete Yakonpi-Topa an mich die Aufforderung: »Old Shatterhand hat die Worte seines Gegners gehört; er mag nun auch sprechen!« Es ist erwähnt worden, daß mir die Riemen nur locker um die Hände gebunden worden waren. Während Peteh sprach, war es mir gelungen, die eine Hand aus der Schlinge zu ziehen, wodurch die andere selbstverständlich auch frei wurde. Ich nahm also jetzt die beiden Hände vor, stand auf, warf den Riemen weg und sagte: »Sprechen soll ich? Pshaw! Old Shatterhand pflegt in Thaten zu reden. Eine Stunde vor Untergang der Sonne werde ich am Platze sein. Howgh!« Ich wendete mich ab, um den Beratungsort zu verlassen. Da sprang Peteh schnell auf und rief: »Wer hat diesem Hunde erlaubt, seine Fesseln wegzuwerfen? Er werde sofort wieder gebunden!« Yakonpi-Topa wurde durch diese Aufforderung in Verlegenheit gebracht; das sah ich ihm an. Ich hätte eigentlich bis zum Beginne des Zweikampfes gebunden bleiben sollen; er aber getraute sich nicht, mir das zuzumuten, nun da ich mich doch einmal freigemacht hatte. Ich nahm mich darum seiner Verlegenheit an, indem ich an seiner Stelle antwortete: »Es ist von den Kriegern der Upsaroka's beschlossen worden, daß ich frei sein soll; nun wohl, ich bin frei! Kein Upsaroka wird die Absicht haben, gegen diesen Beschluß zu handeln. Wenn es aber ein Blutindianer wagen wollte, die Bestimmung der alten, weisen Krieger zu brechen, so komme der heran und versuche, mir die Fesseln wieder anzulegen! Da liegt der Riemen, und hier sind meine Hände! Wer hat den Mut dazu? Ich bin bereit!« Keiner rührte sich. »Uff, so mag der Coyote einstweilen ohne Riemen laufen!« rief der Häuptling der Blutindianer. »Ich selbst würde ihn wieder binden, aber dies ist mir versagt, denn er würde dabei unter meinen Fäusten sterben, und das darf doch erst am Nachmittag geschehen!« Was er weiter sagte, hörte ich nicht, weil ich jetzt fortging. Der Doppelkreis der Roten öffnete sich mir, und keiner machte den Versuch, mich zurückzuhalten. Ich ging natürlich direkt nach unserer Hütte, um Carpio und Rost loszubinden, denn wenn ich frei war, durften sie auch nicht gefesselt sein. Sie wollten natürlich alles ganz genau wissen; ich teilte ihnen aber nur soviel mit, wie ich sagen konnte, ohne sie zu beunruhigen. Der Vormittag und auch der Mittag verging, ohne daß der Häuptling sich sehen ließ. Wir spazierten, um uns die Zeit zu vertreiben, im Lager umher und wurden überall wohlaufgenommen. Man ließ mit Absicht so laut, daß wir sie hören mußten, Worte und Redensarten über die Blutindianer fallen, welche uns überzeugen sollten, daß die Sympathie der Krähen auf unserer Seite sei. Es bedarf wohl keiner Versicherung, daß alle Gedanken auf den zu erwartenden Kampf gerichtet waren. Es herrschte seinetwegen eine mehr als ungewöhnliche Aufregung im Lager. Der Indianer pflegt den Kampf als Übung und im Spiel; er muß sich auf den Fall des Ernstes vorbereiten, um dann, wenn es gilt, bestehen zu können. Der rote Krieger ist um so angesehener und geachteter, je mehr Feinde er besiegt hat; sogar sein Himmel bietet ihm nicht ewigen Frieden,
sondern steten Kampf und Sieg. Wenn zwei unerwachsene Knaben miteinander ringen, stehen die Alten dabei, um sie anzufeuern. Es kommt im Kriege zwischen zwei Stämmen nicht selten vor, daß alle, Freunde und Feinde, für einige Zeit die Waffen sinken lassen und friedlich nebeneinander stehen, um den Einzelkampf zweier hervorragender Krieger, welche zusammengeraten sind, zu beobachten. Der Ausgang desselben wird noch nach Jahren mit einem Eifer und einer Sachkenntnis besprochen, als ob die That erst gestern geschehen sei. Und nun denke man sich ein Sti-i-poka zwischen Peteh und Old Shatterhand, einen Kampf auf Leben und Tod zwischen dem büffelstarken, noch nie besiegten Häuptling der Blutindianer und dem weißen Jäger Shatterhand, von dem auch noch kein Gegner hatte sagen können, daß er ihm überlegen gewesen sei! Man wendete die Chancen so fleißig und bedächtig hin und her, man wog sie so sorgfältig ab, als ob es sich dabei um das Leben aller Upsaroka's handele. Auf der Seite Petehs war die rohe, ungefüge Körperkraft, die Wucht des Angriffes und die voraussichtliche Überlegenheit in der Ausdauer; denn Muskeln und Sehnen, wie er besaß, konnten stundenlang angestrengt werden, ohne zu ermatten. Auf meiner Seite glaubte man die größere Gewandtheit, Erfahrung und Übung betonen zu müssen, die Umsicht, die jeden Griff berechnet, und die Geistesgegenwart, die jeden sich bietenden Vorteil blitzschnell zu erfassen weiß. Ihm standen, kurz gesagt, die physischen Vorteile, mir die größere Intelligenz zur Verfügung; so dachte man. Wer da obsiegen und wer unterliegen werde, das war gar nicht vorauszusagen. Da die Krähen mir den Sieg wünschten, so bedauerten sie lebhaft, daß Peteh die Waffen und die Art und Weise des Kampfes anzugeben hatte; es verstand sich ja von selbst, daß er nur zu seinem eigenen Nutzen wählen und bestimmen werde. Man meinte, ich sei, wenn auch zehnmal Old Shatterhand, doch immer nur ein Bleichgesicht und könne in der Führung indianischer Waffen und in der Kampfesweise der Roten nicht so bewandert sein, wie ein Indsman, dem Pfeile, Messer und Tomahawk förmlich zu Händen und Fingern geworden sind. Diese Betrachtungen hatten eine Spannung zur Folge, welche immer größer wurde und um so peinlicher war, je länger es dauerte, bis Peteh sich herbeiließ, seine Bestimmungen laut werden zu lassen. Was mich persönlich betrifft, so stimmte ich im stillen teils den angegebenen Meinungen bei, teils aber auch nicht. In der Führung indianischer Waffen war Winnetou mein Lehrmeister gewesen; mehr brauche ich nicht zu sagen. Er hatte mir bisher stets ein gutes Zeugnis gegeben, und so fiel es mir gar nicht ein, mich vor irgend einem Indianer zu fürchten. Auch kommt es nicht auf die Masse der Muskeln an, oder deutlicher gesagt, wie groß die Muskelklumpen sind, sondern auf ihre Übung, Stählung und Härtung. Ein gut trainierter Körper, dessen Muskelsystem sorgfältig geübt und harmonisch ausgebildet wurde, ist auf alle Fälle zuverlässiger, als ein Gebäude von wenn auch noch so kräftigen Fleischteilen, welche entweder gar nicht oder nicht richtig geschult worden sind. Ein hagerer Mann wirft oft einen scheinbaren Herkules zu Boden. Und es giebt andere, wichtige Körperteile, wie z. B. das Herz, die Lungen, auf deren Leistungen selbst Löwen- oder Bärenmuskeln sehr mit angewiesen sind. Von den Sehnen und Knochen will ich gar nicht sprechen; sie gehören aber auch dazu. Der Hauptvorteil, welchen ich besaß, war meine Ruhe, jene unerschütterliche Ruhe, die mich selbst in den schlimmsten Lagen nicht verlassen hat, ja, die sogar mit der Größe der Gefahr zu wachsen pflegte. Mein Herz that keinen einzigen Schlag mehr als gewöhnlich; mein Kopf war frei, mein Auge klar und meine Stimmung von genau so unbeirrter Heiterkeit, als ob nicht ein gefährliches Sti-i-poka, sondern ein Ereignis ganz anderer Art, vielleicht eine Geburtstagsfeier, auf mich warte. Diese Kaltblütigkeit, welche durch nichts zu erschüttern war, hatte mich schon manchem Gegner überlegen gemacht und mich glücklich aus Fährlichkeiten geführt, welche ich ohne sie sicher nicht bestanden hätte. Ich besitze sie heute noch in demselben Maße wie früher, es kann mich nichts aus der Fassung bringen. Es ist eine ganz eigene Sache um diese Ruhe; ich weiß nicht, ob sie eine Folge meines Selbstvertrauens oder ob dieses eine Folge von ihr ist, oder ob sie beide so innig zusammengehören, daß sie ein Ganzes bilden und gar nicht voneinander zu trennen sind. Die Zeit war nahe herangekommen, und die Indianer begannen sich allmählich nach dem Platze zu begeben, der für den Zweikampf ausersehen worden war. Da endlich kam Yakonpi-Topa; er war bei Peteh gewesen und konnte mir nun die Bedingungen mitteilen. Es waren folgende:
Da wir drei Personen waren, nämlich ich, Carpio und Rost, sollten drei Gänge ausgefochten werden. Wenn ich getötet wurde, hatten die beiden andern weiterzukämpfen. Wurde Peteh getötet, was er aber für ganz ausgeschlossen hielt, so waren zwei Blutindianer bestimmt, welche nach ihm einzutreten hatten. Die Gänge waren bezeichnet als: erstens Faust- und Würgkampf am Baume, zweitens Nahekampf mit je einem Tomahawk, drittens Fernkampf mit je zwei Tomahawks. Wie dummschlau Peteh sich das ausgedacht hatte! Zum Kampf am Baume sollten folgende Vorbereitungen getroffen werden. Auf dem dazu bestimmten Platze standen mehrere einzelne, starke Bäume. An einen derselben sollten wir, einer hüben und der andere drüben und mit den Gesichtern gegen einander, so gebunden werden, daß uns die Riemen oben unter den Armen hindurch und unten über die Hüften gingen. Eine Waffe gab es nicht. Es galt, den Gegner bloß mit den Händen zu besiegen. Das hatte Peteh sich ausgedacht, weil er überzeugt war, bei seiner großen Körperstärke sei es ihm leicht, mich durch einen Griff um den Hals zu erwürgen oder durch das Festpressen an den Baumstamm zu ersticken. Wir hatten ja die Hände frei; wenn er seine Arme um den Baum und um mich schlang, konnte er seine ganze Kraft entwickeln. In dem Augenblick, in welchem ich dies durchschaute, wußte ich, daß er mir nichts anhaben würde. Er hatte meinen Jagdhieb nicht mit in Berechnung gezogen. Die Tomahawks hatte er gewählt, wohl weil er glaubte, mir in dieser Waffe überlegen zu sein; aber Winnetou war ein Meister in allen darauf bezüglichen Finessen und hatte nicht eher geruht, als bis sie auch mir geläufig geworden waren. Hätte mich etwas besorgt machen können, so wäre es der Umstand gewesen, daß ich seit längerer Zeit kein Indianerbeil in der Hand gehabt hatte und also aus der Übung gekommen war. Als ich die Mitteilung des Häuptlings so ruhig hinnahm, wie er nicht erwartet hatte, erkundigte er sich: »Old Shatterhand sagt nichts dazu. Ist er nicht besorgt um sich?« »Nein,« antwortete ich. »Peteh will dich erwürgen!« »Er mag es versuchen!« »Du bist als Bleichgesicht nicht so fertig mit dem Tomahawk wie er!« »Pshaw! Er kann noch von mir lernen!« »Uff! Täuschest du dich nicht?« »Nein. Freilich dürfte ich keine schlechte Waffe haben, denn wenn sie mir in der Hand zerspränge, wäre ich zwar noch immer nicht verloren, denn ich würde meine Faust gegen sein Beil setzen, aber er befände sich doch in großem Vorteile gegen mich.« »Die Krieger der Upsaroka's wollen Old Shatterhand als Sieger sehen; darum sollst du die zwei besten Tomahawks bekommen, welche der Stamm besitzt. Weißt du, welche Eigenschaften ein gutes Kriegsbeil haben muß?« »Ja. Der Stiel muß genau so schwer sein wie das Blatt und ebenso genau dreimal länger als seine Schneide. Ist das richtig?« »Ja, es ist richtig, denn nur wenn die Schwere und die Länge in dieser Weise stimmen, kann man mit dem Tomahawk krumme Bogen werfen, wodurch man den Feind irre macht. Ich höre, daß Old Shatterhand die Verhältnisse des Beiles kennt. Wenn er es auch so gut zu handhaben versteht, kann er mit dem Leben davonkommen. Wann hat er zum letztenmal mit dieser Waffe gefochten? Ist es lange her?« »Ja.« »So mag er schnell, ohne daß jemand es sieht, eine Probe machen!« »Wo?«
»Er mag sein Pferd nehmen und mit mir kommen!« Yakonpi-Topa holte die beiden Tomahawks, und dann ritten wir aus dem Lager fort, durch den Wald und dann nach dem freien Wiesenstreifen, den ich von meinem Parforceritte her kannte. Dort stiegen wir ab. Der Pferde hatten wir uns bedient, weil es schnell gehen mußte, denn wir hatten nur wenig Zeit übrig. Ich nahm einen Baum als Ziel und warf erst einigemal auf gewöhnliche Weise; es gelang aber so, daß der Häuptling ausrief: »Uff! Besser kann ja ich es nicht! Old Shatterhand kann sich mit dem Tomahawk vor jedem roten Krieger sehen lassen!« »Pshaw! Das war bis jetzt keine Kunst. Jetzt aber will ich dir zeigen, wie ich Peteh täuschen und treffen werde. Ich werfe die Tomahawks so schnell hintereinander, daß nur ein Augenblick dazwischenliegt; er wird zur Seite springen, um dem ersten auszuweichen, und grad dadurch dem zweiten in die Schärfe rennen.« »Und wenn er aber auf die andere Seite ausweicht?« »Das thut er nicht, denn ich werfe nicht hohen, sondern Seitenbogen; dadurch wird er getäuscht und wendet sich nach der Seite, nach welcher ich ihn haben will. Außerdem werde ich auch noch auf andere Weise versuchen, ihn nach dieser Seite zu zwingen.« »Wie?« »Es stehen Bäume auf dem Kampfplatze. Wie groß soll der Abstand zwischen uns im Fernkampf sein?« »Sechzig Schritte.« »So werde ich mich sechzig Schritte weit von einem dieser Bäume aufstellen, sodaß Peteh neben ihm zu stehen kommt. Er kann also nicht nach der Seite, wo der Baum steht, sondern nur nach der andern ausweichen.« »Uff, das ist klug!« »Und nun paß auf! Diese Lichtung ist hier gegen siebzig Schritte breit; drüben stehen zwei Ahorne fünf Schritte weit nebeneinander. Ich will sie beide treffen, und zwar in der Höhe, wie Petehs Schultern liegen. Jetzt!« Als der Häuptling vom »im krummen Bogen werfen« sprach, meinte er den Effektwurf, welcher große Übung und Geschicklichkeit erfordert. Man giebt dem Tomahawk durch Drehung mit der Hand den betreffenden Effekt, wie man beim Kegelschieben eine Bogenkugel dreht; er bekommt dadurch eine doppelte Bewegung, eine Vorwärts- und eine Seitenbewegung, welche beide genau nach dem Ziele abzupassen sind. Wie man es fertig bringt, daß er sich unterwegs nach Belieben hebt und wieder senkt oder gar nach Bumerangart eine retrograde Richtung nimmt, das kann man nur zeigen, aber leider nicht beschreiben. Die beiden Tomahawks flogen schnell nacheinander aus meiner Hand und blieben drüben in den Ahornen stecken. »Uff!« rief der Häuptling, als wir hinüberkamen, um sie heraus zuziehen. »Wenn Peteh hier gestanden hätte, wäre er ganz gewiß getroffen worden! Old Shatterhand wirft viel, viel besser, als ich es kann. Er wird jetzt heimlich über mich lachen, daß ich geglaubt habe, er verstehe sich auf den Tomahawk nicht so gut wie der Häuptling der Blutindianer! Will er es noch einmal versuchen?« »Nein; es ist nicht nötig, und wir haben auch keine Zeit, länger hier zu bleiben. Ich glaube, man wird schon auf uns warten.« Wir ritten zurück und sahen, daß allerdings schon fast das ganze Lager leer geworden war. Die Roten hatten sich nach dem Kampfplatze begeben, und wer sich noch nicht dort befand, der war wenigstens schon unterwegs. Ich band mein Pferd an und holte Carpio und Rost, welche dabei sein
mußten, doch sagte ich ihnen nichts davon, daß sie, falls ich besiegt würde, den Kampf fortzusetzen hatten. Die Roten hatten einen weiten Kreis um den Baum gebildet; die alten Mitglieder der Beratung saßen in der Mitte dieses Ringes. Wir setzten uns zu ihnen. Peteh war noch nicht da. Gesprochen wurde bei uns nicht, denn das wäre nicht schicklich gewesen. Aber die gewöhnlichen Krieger unterhielten sich umso lebhafter mit einander. Ihre Spannung konnte kaum größer werden, als sie war. Endlich kam Peteh als der letzte von allen. Er setzte sich gar nicht erst nieder, sondern warf den Jagdrock und das Jagdhemde ab, so daß sein Oberkörper und die Arme vollständig entblößt waren, und hielt eine lange Posaunenrede über seine Körperstärke, Geschicklichkeit und seine Heldenthaten, welche darauf berechnet war, mir Angst zu machen. Allerdings, wenn man diese kolossale Brust und diese massigen Arme sah, hätte es einem wirklich bange werden mögen, mir aber nicht! Meine Gefährten verstanden kein Wort von dieser Rede. Carpio fragte mich leise und besorgt: »Mit diesem Riesen sollst du kämpfen?« Ich nickte. »Höre, der zerquetscht dich doch, wie man einen faulen Apfel zerdrückt!« Ich schüttelte den Kopf und winkte ihm, zu schweigen. Als Peteh seinen Speech beendet hatte, erwartete man von mir auch eine Rede nach Indianerart. Ich stand auf und sagte: »Ich bin bereit. Wie lange soll gekämpft werden?« »Bis einer von beiden ganz tot ist oder liegen bleiben würde, wenn er nicht an den Baum gebunden wäre,« antwortete Yakonpi-Topa. »So ist es gar nicht nötig, daß ich mich auch erst entkleide. Der Kampf wird beendet sein, noch ehe er recht angefangen hat. Bindet uns an!« »Nein,« rief Peteh. »Dieser weiße Hund will die Kleider anbehalten, um von ihnen beschützt zu sein. Er muß sie auch ablegen!« Natürlich mußte ich es nun thun. Dann stellten wir uns zu beiden Seiten des Baumes auf, die Gesichter gegen einander gerichtet, und hoben die Arme, um die Riemen unter ihnen hindurchziehen zu lassen. Peteh blitzte mich dabei mit wütenden Augen an; ich beachtete es nicht. Da spuckte er auf mich; ich wendete aber den Kopf, so daß er mich nicht traf. Als wir festhingen, traten die Roten, welche uns angebunden hatten, zurück. Aller Augen waren auf uns gerichtet. Wir durften uns nun nicht eher bewegen, als bis der Häuptling der Kikatsa das Zeichen dazu gab. Peteh wartete mit größter Ungeduld darauf; ich machte ein sehr gleichgültiges Gesicht. Es war mit größter Sicherheit zu erwarten, daß er beabsichtigte, mir keine Zeit zu lassen, meine Arme zu erheben, sondern die seinigen sofort herüberwerfen und um mich schlingen werde. Ich legte den rechten Daumen als federndes Glied in die Faust und wartete. Da ertönte der Ruf Yakonpi-Topas, und was ich erwartet hatte, das geschah: Peteh hob blitzschnell die Arme; aber ebenso schnell bekam er von mir einen von unten herauf geführten Hieb in die linke Achselhöhle, die ohne Deckung war. Sein Arm sank steif herab, und im nächsten Augenblicke flog ihm meine Faust an die Schläfe, daß ihm der Kopf auf die rechte Schulter fiel. Ich hörte einen kurzen, pfeifenden Atemzug; die Augäpfel verdrehten sich im Krampfe; dann sanken die Lider herab. »Ich bin fertig; bindet uns los!« rief ich in befehlendem Tone. Es herrschte tiefe Stille ringsumher; kein einziger Ruf, kein Laut war zu hören. Die Schnelligkeit,
mit welcher dieser erste Gang beendet worden war, hatte alle verblüfft. Der Häuptling der Kikatsa stand auf, kam herbei und untersuchte Peteh. »Uff!« rief er dann aus. »Die Faust Old Shatterhands fällt wie ein Fels vom Berge nieder. Der Häuptling der Blutindianer ist tot. Nehmt beiden die Riemen ab!« »Er ist nicht tot,« entgegnete ich. »Hätte ich ihn erschlagen, müßte ich mit gewöhnlichen Blutindianern weiterkämpfen; da aber Old Shatterhand sich nur mit Häuptlingen messen darf, habe ich ihn bloß betäubt, doch nicht erschlagen. Ist die Bedingung dieses Kampfes erfüllt?« Als die Riemen weggenommen wurden, fiel Peteh wie ein Sack zu Boden; darum antwortete der Häuptling der Kikatsa: »Ja, sie ist erfüllt, denn Peteh liegt hier und kann sich nicht bewegen. Old Shatterhand hat gesiegt!« »Uff, uff, uff!« klang es aus fünfhundert Kehlen; die Blutindianer aber standen stumm. Ich ging an meinen Platz zurück und setzte mich dort nieder. »Gott sei Dank, daß es glücklich vorüber ist!« sagte Rost. »Ich habe eine Riesenangst ausgestanden!« »Ich nicht!« lachte ich. »Wirklich nicht? Wirklich? Dieser Mensch hat ja Arme wie Elefantenbeine! Als Sie mit ihm zusammengebunden wurden, Mylord, sagte mir meine innere Stimme, daß wir Sie hier begraben würden. Ist es denn wirklich möglich, daß in Ihrer kleinen Hand ein so fürchterlicher Hieb stecken kann?!« »Diese Kraft hatte er schon früher,« erklärte Carpio; »er zeigte sie aber nur selten einem Menschen. Wird weitergekämpft?« »Ja, mit Tomahawks,« antwortete ich. »Kannst du das?« »Ja. Du brauchst keine Sorge zu haben.« »Ich habe auch wirklich keine um dich, gar keine. Wenn du deine Gedanken zusammennimmst und keine Kopflosigkeit begehst, wird alles gut. Hüte dich nur vor Zerstreutheiten und Verwechslungen!« Die gute Meinung, welche er von mir hatte, war wirklich rührend. Es war ihm gar nicht bewußt, was hier alles auf dem Spiele stand. Rost war einsichtsvoller; er hatte nicht geringe Angst; ich bat ihn aber durch einen bezeichnenden Blick, nichts zu sagen. Bald kam wieder Leben in Peteh; ich wendete mich ab und sah ihn gar nicht an. Dann stand er hinter mir und hielt zu seiner Verteidigung eine prahlerische Rede, in welcher er erklärte, daß er im zweiten Kampfe mir um so sicherer den Kopf bis zur Schulter herab auseinanderspalten werde, meinen Fausthieb könne ich zum zweitenmal nicht bei ihm anbringen, und er verlange, daß man den zweiten Gang sofort beginnen lasse. Yakonpi-Topa war damit einverstanden und gab mir seinen Tomahawk. Diese Waffe war ein vorzüglich geschliffener mexikanischer Glasachat von der sehr harten und schwer zerbrechlichen Art, die durch kleine, weiße Sanidinkrystalle ausgezeichnet ist. Ich konnte damit einen Krafthieb wagen, ohne befürchten zu müssen, daß der Obsidian in Stücke gehen werde. Wenigstens konnte ich die beruhigende Überzeugung hegen, daß Petehs Tomahawk nicht besser als dieser sei. Der Platz wurde nun bestimmt, auf dem wir uns einander gegenüberzustellen hatten. Auch jetzt sollte so lange gekämpft werden, bis einer von beiden so liegen blieb, daß er nicht wieder aufstehen konnte. Ich war schlimm daran, weil ich das Leben meines Gegners schonen mußte und ihn auch nicht so verwunden durfte, daß er kampfunfähig wurde, denn ich hatte gesagt, daß ich nur mit Häuptlingen kämpfen könne, und sah mich also gezwungen, ihn mir bis zum dritten Gange
aufzuheben. Man zeichnete auf dem Rasen einen zehn Schuh im Durchmesser haltenden Kreis, aus dem wir nicht heraustreten, innerhalb dessen wir uns aber nach Belieben bewegen durften. Gestattet war beides, der Hieb und auch der Wurf. Daß der letztere erlaubt war, machte diesen Gang ungemein gefährlich. Man denke, daß einem ein Schlachtbeil aus einer Entfernung von höchstens zehn Fuß mit aller Kraft an den Kopf oder den Leib geworfen wird, und zwar so, daß es mit einer Ecke der Schärfe oder auch der ganzen Schärfe auftreffen muß! Das kann nur eine fürchterliche Wunde geben, wenn nicht gar sofort der Tod eintritt! Freilich hat der Wurf den großen, unausgleichbaren Nachteil, daß, wenn er pariert oder ihm geschickt ausgewichen wird, die Waffe dann verloren ist; man wird sich also nur dann dazu entschließen, wenn man die vollständige Überzeugung des Gelingens besitzt. Ich war entschlossen, darauf zu verzichten. Was Peteh thun würde, das mußte ich abwarten. Er schritt nicht in den Kreis, sondern er sprang hinein, drehte sich mehreremal um sich selbst, schwang dabei den Tomahawk und schrie, daß ich nur schnell kommen möge, er könne es nicht länger erwarten, mein Blut zu sehen. Ich ging langsam hin und trat über den Strich, der mit Messern gezogen worden war. Grad weil er gesagt hatte, daß mir mein Hieb nicht wieder gelingen werde, sollte er ihn zum zweitenmal bekommen; ich hatte den Tomahawk also in der linken Hand. Peteh sah das und wartete, daß ich ihn in die rechte nehmen werde; als ich das nicht that, stieß er ein lautes Gelächter aus und rief: »Dieses weiße Stinktier weiß noch nicht, wie ein Tomahawk anzufassen ist! Es wird auch keine Zeit finden, diese Kunst zu lernen, denn ich werde es sofort zu Boden schlagen!« Viele der Zuschauer hatten jedenfalls gedacht, daß wir uns nach Indianerart erst lange Zeit um einander herumschleichen und sie also auf den ersten Hieb zu warten haben würden; aber dazu war Peteh zu ungeduldig. Er sprang, noch ehe er das letzte Wort ausgesprochen hatte, blitzschnell auf mich ein, holte zu einem tödlichen Schlage aus und - stürzte zu Boden, denn ich hatte mich ebenso rasch gebückt, war ihm unter dem Arme hindurch geschnellt, so daß sein Beil die Luft durchsauste, und rannte ihm dabei mit der Schulter das eine Bein vom Boden weg. Durch diesen Stoß und die Kraft, welche er in den Hieb gelegt hatte, kam er zum Fall, und ehe er nur zu dem Versuche kam, sich wieder aufzurichten, schlug ich ihm die Faust zweimal an den Hinterkopf, sodaß er liegen blieb. Dann trat ich wieder aus dem Kreise heraus, kehrte an meinen Platz zurück und setzte mich dort, ohne ein Wort zu sagen, nieder. Ganz wie vorhin war jetzt wieder zunächst alles still. Daß Anfang und Ende des Kampfes auf kaum eine Minute gefallen waren, das wollten die Roten nicht begreifen, denn der Indianer ist gewöhnt, den Zweikampf so lange wie möglich hinauszuziehen, ungefähr wie man eine Delikatesse nicht hinunterschlingt, sondern langsam und mit Genuß verzehrt. Als sie aber sahen, daß Peteh sich nicht bewegte, gaben sie ihren Beifall umso lauter zu erkennen; die Blutindianer blieben natürlich still. Yakonpi-Topa stand auf, sah mir eine Weile still in das Gesicht und sagte dann: »Uff! Das ist ja gar kein Kampf mit den Tomahawks gewesen!« »Soll er etwa nicht gelten?« fragte ich schnell. »Er gilt! Er müßte eigentlich dreifach gelten, denn es ist noch nie gesehen worden, daß ein Krieger sich in dieser Weise eines solchen Beilangriffs zu erwehren vermochte!« »Pshaw! Dieser Häuptling der Blutindianer hat zwar einen großen Mund und ist im Reden stark; alles andere an ihm aber ist klein und schwach. Es ist der Mühe nicht wert, von ihm zu sprechen!« »Ja, wer in dieser Art mit den Fäusten spricht, wie du, der braucht keine Worte zu machen!« Er ging nach der Walstatt, um die sich jetzt so viele Indianer drängten, daß ich Peteh nicht mehr liegen sehen konnte. Da ich von keinem andern in Anspruch genommen war, ergriff Rost die Gelegenheit, mir kopfschüttelnd zu sagen:
»Mylord, ich komme aus dem Erstaunen gar nicht heraus. Schon die Situation am Baume sah so hochgefährlich aus und endete doch auf eine kinderleicht scheinende Weise, und als ich Sie beide einander mit den Schlachtbeilen gegenüberstehen sah, war ich überzeugt, daß diesesmal eine Menge Blut fließen werde - - aber zwei Fausthiebe, da war auch das so schnell vorbei! Man denkt, es müsse eigentlich jetzt erst losgehen! Da habe ich mein Besteck allerdings umsonst mitgenommen, will aber natürlich von Herzen gern hinzufügen - Gott sei Dank!« »Oh, was Ihr Besteck betrifft, so können Sie bald Gelegenheit finden, es zu brauchen, denn im dritten und letzten Gange werde ich Peteh nicht schonen. Beim Fernkampfe ist ein Fausthieb unmöglich, und falls dieser Gang unblutig endete, müßte das ganze Sti-i-poka wahrscheinlich von neuem begonnen werden. Aber, wo ist Carpio?« Er fehlte nämlich; er hatte sich während des zweiten Ganges entfernt. »Er ist nach dem Lager gegangen, um seinen Revolver zu holen,« antwortete Rost. »Wozu?« »Um Peteh zu erschießen, falls Sie unterliegen sollten.« »Das ist ja Unsinn! Wer hat ihn denn auf diesen dummen Gedanken gebracht?« »Kein Mensch; er ist selbst darauf gekommen. Als Sie in den Kreis getreten waren, sah die Sache außerordentlich gefährlich aus. Da sagte Carpio: >Wenn dieser rote Kerl mir meinen Sappho erschlägt, jage ich ihm alle sechs Kugeln meines Revolvers in den Kopf!< Dann rannte er fort, um ihn zu holen.« »Haben Sie denn nicht versucht, ihn zurückzuhalten?« »Nein.« »Warum nicht?« »Meine innere Stimme riet mir zwar, es zu thun, aber es war unmöglich, weil er sich gar zu schnell entfernte. Haben Sie etwa Sorge um ihn?« »Um ihn nicht, nämlich um seine Person, denn ich wüßte nicht, was ihm geschehen könnte; aber er ist so unzuverlässig und weiß nie, wenn er eine Dummheit macht.« »Soll ich ihn etwa holen?« »Ja. Ich habe keine Zeit dazu, denn ich darf mich nicht entfernen.« »Ich gehe aber auch nicht gern fort, denn ich möchte den dritten Gang nicht gern versäumen. Wird er gefährlich werden?« »Für mich ganz und gar nicht. Da ruft der Häuptling schon. Es scheint losgehen zu sollen. Ich darf nicht zögern, sonst mißlingt mir ein Vorteil, den ich erreichen will.« Peteh war wieder zu sich gekommen. Ich sah ihn zwar nicht, weil eine Menge Menschen ihn umgaben, aber ich hörte ihn schreien. Er schien ganz außer sich darüber zu sein, daß er wieder der Besiegte war, und zumal grad durch den Hieb, dessen Wiederholung er als unmöglich hingestellt hatte. Ich kümmerte mich jetzt nicht um seine Person, sondern um die Distanz, welche ich zu nehmen hatte, wenn ich meine Absicht, daß er neben einem Baume stehen solle, erreichen wollte. Ich ging also zu demjenigen, an welchem wir vorhin angebunden gewesen waren, und zählte sechzig Schritte von ihm ab. Als ich damit fertig war, öffnete sich der Menschenknäuel, und der Blutindianer trat daraus hervor. Er hatte in jeder Hand einen Tomahawk. Ich hatte einen, und Yakonpi-Topa kam, um mir den zweiten zu bringen. Er gab ihn mir mit lächelnder Miene und den Worten: »Damit Old Shatterhand seine Absicht erreiche, werde ich von hier aus sechzig Schritte zählen; das ist keine Unehrlichkeit, denn du hast Peteh bisher mit Willen geschont. Es darf keiner von seinem
Platze weichen, und wenn er getroffen wird, weil er weicht, so ist das die Strafe dafür, daß er nicht nach den Gesetzen des Kampfes gehandelt hat.« Er schritt in gerader Linie von mir fort und blieb mit dem sechzigsten Schritte kaum zwei Meter weit von dem Baume stehen, ganz so, wie ich es erwartet hatte. Peteh mußte sich dorthin stellen und hatte den Baum zu seiner rechten Hand. Die Situation war nun folgende: Es hatte jeder von uns zwei Tomahawks, konnte aber, wenn nicht getroffen wurde, mehr Würfe thun, da in diesem Falle die Tomahawks zurückgebracht wurden. Auch dieser Kampf konnte nur dadurch enden, daß einer von uns liegen blieb. Keiner durfte vor Austrag der Sache die Stelle verlassen, auf welcher er stand. Es war nur erlaubt, sich zu bücken oder den Körper zu biegen, um nicht getroffen zu werden. Daß mein erster Wurf Peteh, falls dieser stehen blieb, treffen werde, davon war ich überzeugt, und handelte er gegen das Verbot, indem er auswich, so konnte das nur nach seiner linken Seite hin geschehen, weil auf der rechten der Baum stand; dorthin, nach links, mußte ich also den zweiten Tomahawk dirigieren, und zwar so weit nach links, wie Peteh in der Zwischenzeit der beiden Würfe kommen konnte. Das war gar nicht leicht; aber ich hatte diese Fintenwürfe mit Winnetou so gut eingeübt, daß ich am Gelingen nicht im geringsten zweifelte. Die Zuschauer stellten sich zu beiden Seiten der Linie auf, deren Endpunkte wir bildeten, doch hüteten sie sich, zu nahe zu kommen, da sie sonst getroffen werden konnten. Yakonpi-Topa stand als derjenige, welcher das Zeichen zu geben hatte, in der Mitte. Ich spreizte die Beine halbweit auseinander und setzte den linken Fuß etwas vor. Dadurch gewann ich nicht nur den Halt zum Wurfe sondern auch die nötige Festigkeit, den Oberkörper rechts, links oder abwärts zu biegen, ohne meinen Standort zu verlassen. Jetzt waren wir bereit, und der Häuptling der Kikatsa gab durch einen lauten Ruf das Signal zum Beginn des Kampfes. Peteh war als vortrefflicher Beilwerfer bekannt; ich hatte mich vorzusehen. Es stand bei mir bombenfest, daß ich mich lieber treffen lassen als nur einen Zoll breit weichen würde, mit den Füßen nämlich. Es sollte nicht gesagt werden, daß Old Shatterhand die Gesetze des Kampfes auch nur um den Betrag eines Gedankens verletze. Ob Peteh ebenso dachte, das mußte sich zeigen. Mein Gegner hielt wieder eine Rede, die voller Beleidigungen und Drohungen für mich war. Als er damit fertig war, schien er eine ebensolche Antwort von mir zu erwarten; ich sagte aber nichts. Da verhöhnte er mich als einen Feigling, der sich vor lauter Angst nicht einmal ein Wort zu sagen getraue, und forderte mich auf, den ersten Wurf zu thun. Ich that, als ob ich seine Worte gar nicht vernommen hätte. Er wartete noch eine Weile, wiederholte seine Spottreden, und als ich auch hierauf weder etwas sagte noch etwas that, schwang er endlich sein erstes Beil. Ich sah es diesem Schwingen an, daß ich in ihm einen tüchtigen Gegner vor mir hatte, und verwendete kein Auge von ihm. Da stieß er einen schrillen Schrei aus, und der Tomahawk entflog seiner Hand. Er strich wohl den dritten Teil des Weges parallel dem Boden hin, dann stieg er aufwärts, um sich am Ziele wieder niederzusenken. Ich konnte kerzengerade stehen bleiben, denn das Beil flog wohl einen Meter entfernt aber doch genau in Kopfeshöhe an mir vorüber. Dieser Wurf war nicht übel und wurde von einigen Roten, wahrscheinlich Blutindianern, mit Beifall belohnt. Ihr Häuptling forderte mich nun wieder auf, zu werfen; ich that es aber nicht. Hierauf erging er sich abermals in Großsprechereien und Beleidigungen, und dann schickte er sich an, das zweite Beil zu schleudern. Er wirbelte und zielte dieses Mal länger als vorher, traf aber genau soweit wie vorhin vorüber, nur auf der andern Seite. »Uff!« rief er aus. »Erst so nahe links und nun rechts vorbei! Beim drittenmal werde ich gewiß in die Mitte treffen. Wird der Feigling dort nun nicht bald werfen? Man bringe mir meine Tomahawks wieder her! Ich brauche sie.« Da antwortete ich nun laut, so daß alle es hörten:
»Man lasse sie liegen; er braucht sie nicht, denn er wird nicht wieder zum Werfen kommen. Er hat mich aufgefordert, ihm zu antworten; jetzt soll er Old Shatterhands Antwort haben!« Ich nahm zunächst nicht das Obsidian-, sondern das andere Beil; das erstere sollte den Treffer machen. Es galt, erst einen Geradhochbogen und dann im nächsten Augenblick einen Seitenhochbogen zu werfen. Während der Gegner auf den Geradhochbogen achtete, mußte der zweite Tomahawk von der Seite auf ihn zukommen. Wich er nicht aus, so mußte ihn das erste Beil treffen; sprang er aber zur Seite, so mußte er grad in das zweite rennen. Um seine Aufmerksamkeit ganz auf das erste zu lenken, mußte ich es, so wie er, mit einem Schrei aus der Hand lassen, beim zweiten mich aber still verhalten. Ich sah aller Augen auf mich gerichtet. Es war ein Augenblick der größten Spannung; das gab mir das Gefühl, als ob ich aus lauter gut ineinander greifenden, genau berechneten Spannfedern zusammengesetzt und ein Fehlwurf ganz unmöglich sei. Diese Zuversicht ist unbedingt notwendig zum Gelingen. Als ich den Tomahawk jetzt im Schrägbogen um den Kopf wirbeln ließ, stieß Peteh ein wieherndes Gelächter aus. Es war das eine Entdeckung Winnetous; Peteh hatte es noch nicht gesehen; er kannte diese Art der Effektgabe noch nicht. »Huuuuuh - - i!« rief ich jetzt. Das U dehnte ich lang, und als das kurz abgerissene I folgte, flog der Tomahawk hochsteil in die Luft empor, um dann in untrügbarer Linie schräg abwärts genau auf Peteh loszusausen, wobei er natürlich immerfort um sich selbst wirbelte. Während jedes Auge auf dieses Beil gerichtet war, flog auch das zweite schon, aber nicht etwa hinter dem ersten her, sondern es wirbelte in ebener Linie nach rechts hinaus, als ob sein Ziel nach dieser Seite liege, stieg dann empor und lenkte, je höher es sich hob, desto mehr nach links herüber, um sich allmählich zu senken und dann einen Sprung linker Hand von Peteh aufzutreffen. Als ich das zweite Beil geworfen hatte, blieb ich, beiden Tomahawks mit den Augen folgend, still am Platze stehen. Ich sah, daß es gelingen werde. Ich war der einzige, der das zweite Beil sah; niemand wußte, daß ich zweimal geschleudert hatte. Jedes Auge, außer den meinigen, blickte nach dem ersten Tomahawk; man sah die scharfe Linie, welche er genau auf den Punkt nahm, wo der Häuptling der Blutindianer stand. Dieser mußte unbedingt getroffen werden. Er selbst erkannte das auch. Sollte er sich retten oder nicht? Diese Frage konnte ihn nur zwei Augenblicke lang beschäftigen, denn länger hatte er nicht Zeit. Es war verboten, zu weichen; aber das Leben hat schließlich doch den höchsten Wert. Alles schrie, denn jetzt, jetzt mußte der Wurf treffen - - da that Peteh einen schnellen Sprung zur Seite nach links, um sich zu retten - - es erfolgte ein lauter Schlag, den selbst ich auf sechzig Schritte Entfernung hörte; er war dem ersten Tomahawk entkommen, dafür aber von dem zweiten zu Boden geschmettert worden. Jetzt gab es ein Schreien und Drängen, ein Fragen und Antworten, einen Wirrwarr sondergleichen. Niemand außer mir und Yakonpi-topa wußte, woher das zweite Beil gekommen war. Man drängte auf den Verletzten ein; man sah auf ihn; man blickte verwundert nach mir - - ich bekümmerte mich nicht darum, sondern suchte seine beiden Tomahawks zusammen und schritt mit ihnen langsam auf die wirr bewegte Gruppe zu. Als ich sie erreicht hatte, wendeten sich alle mir zu. Ich warf die Beile hin und sagte: »Hier sind die Tomahawks. Er braucht sie nicht. Was Old Shatterhand spricht, das geschieht. Wer hat gesiegt?« Da antwortete der Häuptling der Kikatsa: »Hier liegt Peteh, der Häuptling der Blutindianer zum drittenmal. Der Tomahawk ist ihm tief zwischen Hals und Achsel eingedrungen; seine Augen sind geschlossen; sein Blut strömt von ihm; wer anders soll da Sieger sein als Old Shatterhand, welcher versteht, was keiner von uns bisher verstanden hat, nämlich einen Tomahawk nach rechts hinauszuwerfen und doch nach links hereinzubringen! Wer von euch hat schon einmal gesehen, daß ein Krieger zwei Kriegsbeile wirft, um mit dem einen das Auge des Feindes zu fesseln und mit dem andern dann um so sicherer seinen Leib zu treffen? Das Sti-i-poka ist zu Ende; Old Shatterhand hat gesiegt. Howgh!«
Ich wendete mich ab, um zu gehen; da sah ich Rost, welcher sehr eilfertig auf mich zugelaufen kam. Er blieb vor mir stehen, wirbelte seinen Bart zu beiden Seiten erregt in die Höhe und sagte: »Sie haben ihn getroffen; ich sah ihn stürzen! Er blutet; er muß bluten! Ist er verwundet?« »Ja.« »Darf ich ihn untersuchen, ihn verbinden?« »Ich habe da nichts zu sagen. Fragen Sie Yakonpi-Topa!« Er wollte rasch fort; ich hielt ihn zurück: »Ich sehe Carpio noch immer nicht. Wo ist er?« »Noch im Lager.« »Haben Sie ihn denn nicht geholt?« »Nein.« »Warum nicht?« »Das Tomahawkwerfen ging ja sogleich los. Es war so hochinteressant; ich wollte es sehen. Sie sagten ja selbst, daß ihm dort im Lager nichts geschehen könne!« »Allerdings. Aber da er jetzt noch nicht wieder da ist, bin ich doch besorgt um ihn. Ich muß wissen, wo er steckt!« Ich ließ Rost also laufen und ging nach dem Lager. Es lag gar kein Grund vor, irgend etwas für den Freund zu befürchten; aber sein langes Fortbleiben beunruhigte mich doch. Zwischen den Hütten war kein Mensch zu sehen. Ich ging nach der unserigen. Mein Pferd stand angehobbelt da; es zeigte keine Spur von Unruhe. Hier war also alles in Ordnung. Ich blickte in das Innere. Es fehlte nichts. Nun ging ich weiter und kam nach der Hütte der Gefangenen. Da fehlte die Wache. Ich sah hinein; sie war leer; die Riemen, mit denen sie gebunden gewesen waren, lagen an der Erde; Corner und seine Gefährten waren entflohen, während die Roten alle weg gewesen waren, um dem Sti-i-poka zuzusehen! Sogar der Wächter hatte sich durch die Neugierde von seinem Posten wegtreiben lassen. Wo war da Carpio? Hatte er das Unglück gehabt, auf sie zu treffen? Hatten sie ihn mitgenommen? Mir wurde himmelangst um ihn. Ich rannte nach unserer Hütte zurück, hobbelte mein Pferd los und sprang auf. Die Flüchtlinge mußten sofort Deckung gesucht und konnten sich also nur nach der am nächsten liegenden Stelle des Waldes gewendet haben. Dorthin ritt ich im schnellsten Tempo. Kein Mensch sah mich, denn der Schauplatz des Zweikampfes lag an der andern Seite des Lagers und es fiel mir gar nicht ein, jetzt schon Lärm zu machen, denn da wären die Roten alle herbeigekommen und hätten die Spuren der Entflohenen unleserlich gemacht. Ich fand zunächst die Spur von zwei Reitern. Das war ich mit dem Häuptling der Kikatsa gewesen, als wir die Tomahawks probierten; also ritt ich weiter. Da kam eine zweite Fährte; ich stieg ab und untersuchte sie. Sie war von fünf Pferden getreten worden und wenigstens schon eine halbe Stunde alt. Herr Gott, ja, diese Kerle hatten meinen Carpio entführt! Nun jagte ich allerdings zurück und machte Lärm. Eine Verwirrung sondergleichen war die Folge, und ich hatte alle Mühe, die Ruhe wieder herzustellen. Dem treulosen Posten wurde von dem Häuptling sofort die Ausstoßung aus dem Stamme angekündigt; das brachte aber die Entwichenen nicht zurück! Yakonpi-Topa war so bestürzt, daß er nicht recht wußte, was zunächst zu thun sei. Ich erklärte ihm: »Es gilt vor allen Dingen zweierlei: Verfolgen können wir sie leider heut nicht mehr, denn die Sonne ist schon fast hinunter; aber welche Richtung sie, als sie sich weit genug vom Lager entfernt hatten, entscheidend eingeschlagen haben, das müssen wir schon heut wissen. Ich werde ihnen also nachreiten, ich allein, damit mir kein anderer die Spuren verdirbt. Du wirst inzwischen das zweite besorgen: Wir müssen erfahren, was sie mitgenommen haben, welche Pferde, was für Waffen,
Nahrungsmittel und andere Gegenstände. Laß genau nachsuchen! Erst wenn wir das alles wissen, können wir entscheiden, wie wir uns zu verhalten haben. Jetzt ist nur erst das eine gewiß, daß ich ihnen unbedingt folgen werde. Das kann ich, denn ich denke doch nicht, daß ich noch als Gefangener der Upsaroka's gelte?« »Old Shatterhand ist frei!« antwortete er. »Gut! Ich reite fort und kehre zurück, wenn ich nichts mehr sehen kann.« Ich galoppierte fort, ohne auf das, was er noch sagen wollte, zu warten, bis zu der Stelle, wo ich die Fährte der Entflohenen verlassen hatte, und folgte ihr dann weiter. Sie führte über den Pacific-Creek hinüber und dann genau westlich nach dem Little Sandy Creek. Ich hatte diesen noch nicht erreicht, als es dunkel wurde; ich mußte also umkehren, war aber überzeugt, daß sie ihre alte Route hinauf nach dem Finding-hole wieder eingeschlagen hatten. Als ich in das Lager zurückkehrte, erfuhr ich nichts Gutes. Wie diese Menschen von ihren Fesseln losgekommen waren, das wußte niemand. Es war kein einziger Indianer, kein Upsaroka und kein Blutindianer, keine Wache und kein Posten im Lager gewesen; alle hatten den Zweikampf sehen wollen, und so war den Weißen Zeit genug geblieben und von ihnen auch schlau ausgenutzt worden, sich zu equipieren. Sie hatten sich aus dem Häuptlingszelte ihre Waffen geholt und noch Verschiedenes dazu mit fortgenommen. Dann hatten sie sich grad die allerbesten Pferde ausgesucht. Petehs und Yakonpi-Topas Pferde waren auch dabei, Corners Fuchs und noch zwei andere vortreffliche Tiere. Mehrere Decken fehlten, dazu Pulver, Blei und Fleisch aus der Hütte, in welcher die Vorräte aufbewahrt wurden. Yakonpi-Topa war wütend. Er hätte sich am liebsten auch an der Verfolgung beteiligt, konnte aber nicht fort, denn was wäre das für ein Häuptling, der auf einem Kriegszuge seine Leute verläßt! Er mußte also bleiben, bot mir aber zwanzig, dreißig und noch mehr Krieger zur Begleitung an. Ich bat nur um fünf, aber gewandte und ausdauernde Leute mußten es sein. Gern hätte ich Rost zurückgelassen, aber das ging nicht, weil wir nicht wußten, wie die Begegnung der Upsaroka's mit den Schoschonen ausfallen würde, und vor allen Dingen fiel es ihm auch gar nicht ein, sich von mir zu trennen. So sorgte ich denn wenigstens dafür, daß er ein noch besseres Pferd bekam, als sein abgematteter Brauner jetzt war. Auch ein Packpferd wurde ausgewählt; es sollte unsern Proviant und die Decken tragen, welche jetzt täglich notwendiger wurden, weil da oben nach dem Fremonts Peak zu eine ganz andere Landschaft und viel größere Kälte zu erwarten war als hier im jetzt noch grünen Thale des Pacific- und Mortonwassers. Als wir alle diese Vorbereitungen getroffen hatten, gab es zwischen Yakonpi-Topa und mir noch eine sehr ernste Besprechung über Hiller. Ich brachte es so weit, daß er mir versprach, ihn freizugeben, falls sich herausstellen sollte, daß die Blutindianer die Mörder der sechs Krähen gewesen seien. Ich sollte später zu den Kikatsa kommen, um ihn abzuholen. Rost hatte während meiner Abwesenheit dem schwer verwundeten Peteh seine ärztliche Hilfe angeboten, war aber höhnisch abgewiesen worden. Mein Gegner hatte gesagt, er brauche kein Bleichgesicht, welches ihn doch nur totkurieren werde; er verstehe es selbst am besten, wie Wunden zu behandeln seien. Da es mir nicht einfallen konnte, ihn aufzusuchen, ich ihm aber noch etwas zu sagen hatte, was zu verschweigen einem solchen Menschen gegenüber nicht etwa rücksichtsvoll, sondern dumm gewesen wäre, so ließ ich seinen Vertrauten, den alten, hinterlistigen Innua Nehma kommen. Als dieser vor mir stand und mich mit feindseligen Augen fragend anblickte, sagte ich: »Innua Nehma wird sich besinnen, was am Fleischwasser gesprochen wurde, als ich aus der Betäubung des Kolbenschlages erwacht war. Weiß er es noch?« Er antwortete nicht. »Ich sagte zu Peteh, daß ich sein Gefangener bleiben wolle, so lange es mir beliebe. Er lachte mich aus. Dann sagte ich folgende Worte zu ihm: >Ich bleibe sehr gern für einige Zeit bei euch, denn ich möchte wissen, was für ein Gesicht du machst, wenn ich von dir Abschied nehme, ohne daß du mich gehen lassen willst.< Er antwortete, mein Verstand sei mir verloren gegangen. Aber jetzt ist
die Zeit gekommen, daß es mir gefällt, zu gehen. Morgen früh reite ich fort. Kann er mich halten? Wie steht es mit seiner Geschicklichkeit, Tapferkeit und Stärke? Wenn er nicht an seiner Wunde stirbt. so müßte ihn die Scham über seine Unfähigkeit umbringen. Ich gehe, ohne von ihm Abschied zu nehmen, denn so einen traurigen Menschen mag ich gar nicht wiedersehen; ich habe an dem dummen Gesichte, welches du jetzt machst, mehr als genug!« »Uff! Wage nicht zu viel!« brauste er jetzt auf. »Wagen? Pshaw! Ihr seid einfältige Menschen, vor denen sich kein kleiner Knabe und keine alte Squaw zu fürchten braucht. Alle eure vermeintliche Klugheit wird sehr bald zu schanden werden. Denkt dann an Old Shatterhand, dem ihr es zu verdanken habt. Howgh!« Damit ging ich fort und ließ ihn stehen. Heut aß ich als freier Mann mit dem Häuptling und ging dann nach unserer Hütte, um mich zeitig schlafen zu legen, weil wir morgen früh noch vor Tagesgrauen fortreiten wollten. Ich hatte ja den Weg nach dem Little Sandy Creek kennen gelernt und wollte den Vorsprung, welchen Corner und seine Gesellschaft hatte, möglichst bald einholen. Heut mußte ich mit Rost allein schlafen. Er war ebenso betrübt über Carpios Entführung wie er glücklich darüber war, daß wir unsere Freiheit wieder hatten. Höchst ärgerlich aber zeigte er sich über Peteh, der seine Hilfe zurückgewiesen hatte. »Bedenken Sie, Mylord, was für ein prachtvoller Fall das wäre!« sagte er. »Das Schlüsselbein scheint zerschmettert zu sein und alle es schützenden Muskeln sind verletzt. Da ist zum Beispiel - -« »Der Kaputzenmuskel,« fiel ich ihm in die Rede. »Entschuldigung! Dieses Mal wollte ich vor allen Dingen den breiten Halsmuskel nennen!« »Bitte, thun Sie das morgen früh, wenn wir ausgeschlafen haben! Mir sagt eine innere Stimme, daß wir uns vor allen Dingen durch Ruhe zu stärken haben.« »Ihnen? So! Dann mir auch. Gute Nacht!« »Gute Nacht!« -
Im Schnee Es war um die Mittagszeit des nächsten Tages. Wir befanden uns zwischen dem Big Sandy Creek und dem Green River und wurden von der Fährte, welcher wir folgten, nach Nordwest in der Richtung nach dem New Fork geführt. Das erst ziemlich ebene Terrain war jetzt bergig geworden, aber man sah, daß Corner die Gegend kannte; er hatte sich überall das beste Fortkommen gesucht. Seine Spur war nicht schwer zu lesen; er schien in dieser Beziehung keine große Sorge zu haben und nur auf ein möglichst schnelles Fortkommen bedacht zu sein. Leider hatte er da mehr Erfolg, als wir wünschten; seine Pferde waren besser als die unsrigen, mein Hatatitla natürlich ausgenommen. Aber was nützte mir alle Vortrefflichkeit des Rappen, wenn ich nicht schneller reiten durfte als die andern! Wir trabten eben über ein ausgedehntes, sehr spärlich begrastes Hochplateau, welches uns eine freie Fernsicht bot, als ich weit draußen, rechts von uns, einen Punkt bemerkte, welcher sich zu bewegen schien. Ich ließ halten, um ihn zu beobachten. Das war kein Wild; das mußten Menschen sein. Wir stiegen ab, um nicht so leicht gesehen zu werden. Nach einiger Zeit konnten wir zwei Reiter unterscheiden, welche sich uns näherten. Es waren Weiße. Um sie nicht durch den Anblick von Indianern mißtrauisch zu machen, stieg ich allein wieder auf und ritt ihnen langsam entgegen. Als sie mich kommen sahen, stutzten sie erst, dann aber ritten sie weiter, obgleich sie nun die Roten sahen. Noch waren sie mir nicht so nahe, daß ich ihre Gesichter deutlich erkennen konnte, da hörte ich den einen in freudigem Tone rufen: »O joy! Wenn mich meine alten Augen nicht täuschen, so ist das Old Shatterhand! Drauf los, drauf
los!« Sie setzten ihre Pferde in Galopp, und nun erkannte ich das alte, liebe, bärtige Gesicht, welches hier zu sehen ich weniger als alles andere vermutet hätte. »Sannel, Amos Sannel!« rief ich aus. »Ist es denn möglich, daß Ihr es seid?« »Warum soll das so unmöglich sein?« fragte er lachend, indem er sein Pferd parierte und mir die Hand zum Gruße hinhielt. »Ihr wißt ja, daß hier mein Lieblingsgebiet beginnt. Oder habt Ihr mich vielleicht für tot gehalten?« »Allerdings.« »Was? Wirklich? Warum? Ich hoffe doch nicht, daß Ihr meinem Leichenzuge begegnet seid!« »Das nicht, aber - hm! Zeigt doch einmal Euer Gewehr!« »Diesen Schießprügel? An dem ist gar nichts zu sehen. Ja, wenn ich meinen alten Einläufer noch hätte! Ihr habt ihn ja gekannt. Ich bin seitdem nur noch ein halber Mann!« »Wo ist das Gewehr denn hin?« »Wohin? Gestohlen worden ist es mir.« »Von wem?« »Von zwei Halunken, deren Namen Nebensache ist, weil sie doch jedenfalls falsche genannt haben. Ich traf drüben am Belle Fourche River mit ihnen zusammen und ließ mich bethören, bei ihnen zu bleiben. In der zweiten Nacht machten sie sich unsichtbar und mein Gewehr mit. Ich habe bisher vergeblich nach ihnen gesucht; aber wehe ihnen, wenn ich auf ihre Spur gerate! Warum fragt Ihr nach dem Gewehre?« »Weil - - doch, sagt erst, woher Ihr kommt und wohin Ihr wollt!« »Ich komm dieses Mal von den Sand Hills herüber, wo ich diesen Gentleman getroffen habe, der grad dorthin will, wohin ich auch wollte, nämlich zu Avaht-Niah, dem Schoschonen. Wir denken, ihn und seinen Stamm jetzt in der Gegend der Wasatchberge zu finden.« »Da irrt Ihr Euch. Er ist am Schwefel- und Hobacksfluß zu suchen.« »Das ist ja gar nicht weit von hier! Wir wollen ihn nämlich warnen. Dieser Gentleman weiß, daß die Krähen die Schlangen überfallen wollen; darum reiten wir, was die Pferde nur laufen können, um Avaht-Niah zu warnen.« »Das ist nicht nötig. Er weiß es schon. Winnetou ist bei ihm.« »Unser herrlicher Apatsche? Wie kommt es, daß Ihr nicht beisammen seid, Mr. Shatterhand?« »Weil ich jetzt hinauf nach dem Fremonts Peak muß, um Euer Gewehr zu holen,« antwortete ich. »Mein - - mein - - welches denn?« fragte er erstaunt. »Eure Rallingbüchse.« »Alle Wetter! Ich begreife Euch nicht. Das ist doch Spaß?« »Nein, es ist Ernst. Ich habe Euer Gewehr in der Hand gehabt; ich habe draus geschossen, und der, welcher es jetzt besitzt, der Dieb, reitet da vor uns her, und wir folgen ihm, weil wir eine Rechnung mit ihm haben. Kommt nur mit, Mr. Sannel! Wenn Ihr zu den Schoschonen wollt, ist Euer Weg ja doch der unserige.« »Ist - - ist - - ist es möglich?« stieß er, vor Freude stockend, hervor. »Mein Gewehr soll in der Nähe sein?« »Ja. Kommt nur! Ich habe nämlich keine Zeit zu verlieren und werde Euch unterwegs alles erzählen.«
»Schön, schön; gut, gut! Wenn es so ist, so sei der heutige Tag tausendmal gesegnet! Ich soll mein Gewehr wieder haben! Ah! Doch, erlaubt, Mr. Shatterhand, daß ich Euch diesen Gentleman vorstelle! Werdet Euch freuen. Er ist nämlich auch ein Deutscher wie Ihr, heißt Hiller, wird aber Nana-po genannt.« Der alte Sannel sagte das so gleichmütig; er hatte keine Ahnung, wie wichtig mir diese Mitteilung war. Ich mußte förmlich an mich halten, nicht vor Freude laut aufzuschreien. Auch Rost stutzte. Ich winkte ihm, zu schweigen, und sagte in möglichst ruhigem Tone: »Es freut mich, Mr. Hiller, Euch kennen zu lernen, denn ich habe den Namen Nana-po rühmlich nennen hören.« Er antwortete nicht sogleich. Seine Augen waren finster auf die Upsaroka's gerichtet; dann sah er mich forschend an und fragte: »Bemerkt Ihr nicht, Mr. Shatterhand, mit was für Blicken mich diese roten Halunken betrachten? Sie befinden sich bei Euch. Haltet Ihr es mit ihnen?« »Ich halte es mit allen braven Menschen!« »Well; diese aber sind Halunken! Ich sehe Euch heut zum erstenmal. Tausendmal habe ich gewünscht, doch einmal Euch und Winnetou zu begegnen, und nun dieser Wunsch endlich in Erfüllung geht, kann ich mich nicht darüber freuen, weil ich meine Todfeinde an Eurer Seite sehe.« »Sie sind es nicht!« »Oh doch! Ihr wißt ja gar nicht - -« »Ich weiß es schon! Kommt nur jetzt mit! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir werden unterwegs erzählen, was zu erzählen ist.« »Gut; Ihr werdet Euch aber wundern!« »Ihr nicht weniger!« Ich wollte weiter reiten, sah aber, daß die Upsaroka's halten blieben. Als ich sie nach dem Grunde fragte, antwortete einer von ihnen: »Hier ist Nana-po, der unser Gefangener war. Er wurde zurückgelassen und hat die Flucht ergriffen, als wir fortgewesen sind. Wir dürfen nicht mit Old Shatterhand reiten, wenn Nana-po sich bei ihm befindet!« Sie hatten von ihrem Standpunkte aus recht. Ich überlegte mir die Sache kurz. Wenn Hiller und der alte wackere Sannel bei uns waren, brauchten wir weiter keine Hilfe. Darum antwortete ich dem Roten: »Wenn meine roten Brüder umkehren wollen, so mögen sie es thun. Das Packpferd aber müssen sie mir lassen. Yakonpi-Topa bekommt es wieder, wenn wir ihm die Pferde bringen, welche die Entflohenen mitgenommen haben.« »Uff! Es mag geschehen, wie Old Shatterhand sagt!« Ich bat Rost, das Packpferd am Zügel zu nehmen; er that es, und die Upsaroka's galoppierten zurück, ohne sich nur einmal umzusehen. Jetzt ritten wir weiter. Zunächst nahm natürlich Hiller meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Seine Gestalt war hoch und kräftig, sein Haar aber grau und sein Gesicht von tiefen Furchen durchzogen. Man sah, daß nicht bloß das Alter die Schuld an diesen Falten hatte. Dieses Gesicht wäre mir sympathisch gewesen, wenn nicht soviel Verschlossenheit und Härte darauf gelegen hätte. Seine Frau hatte gesagt, daß er seinen Glauben verloren habe. Ich nahm mir vor, ihm nicht gleich alles mitzuteilen, sondern den Versuch zu machen, auf sein Herz zu wirken. Da wir uns auf einer freien Ebene befanden, konnten wir nebeneinander reiten und also bequem
miteinander sprechen. Amos Sannel dachte nur an sein Gewehr und erkundigte sich mit großem Eifer nach der Gelegenheit, bei welcher ich es in den Händen gehabt hatte. Ich erzählte ihm von dem damaligen Wettschießen, nannte aber den Namen des Ortes nicht. Sein Gesicht strahlte bis in die Bartspitzen hinein, als er hörte, welche Schüsse ich gethan hatte. Dann erzählte ich, ohne auf das Einzelne einzugehen, in kurzen Umrissen weiter, daß ich den gegenwärtigen Besitzer der Rallingbüchse am Lake Jone wieder getroffen hatte und was dann geschehen war. »Und dieser Mensch ist also hier auf dieser Spur?« fragte er, als ich fertig war. »Ob er es von dem Diebe gekauft hat?« »Ich möchte behaupten, daß er der Dieb selbst ist.« »So! Wenn er es ist, erkenne ich ihn sofort. Jetzt gehen mich die Schoschonen nichts mehr an; sie mögen stecken, wo sie wollen. Ich muß mein Gewehr wieder haben und werde nicht eher von dieser Fährte lassen, als bis ich mit dem Schurken abrechnen kann. Welch ein Glück ist es, daß ich Euch getroffen habe, Mr. Shatterhand! Wie aber steht es mit Euch, Mr. Hiller? Ihr müßt zu den Schoschonen, bei denen Ihr noch eine Menge Felle liegen habt, und könnt Euch also nicht um mich und mein geliebtes Schießeisen bekümmern.« »Warum nicht? Es handelt sich wohl nur um einen oder höchstens zwei Tage Zeitverlust, wenn ich mit Euch reite. Zu Avaht-Niah komme ich dann immer noch. Habe ich so lange bei den Krähen festgesteckt, so kann es jetzt auf einige Tage mehr oder weniger auch nicht ankommen.« »Danke Euch! Wenn man es mit solchen Schurken zu thun hat, ist es immer besser, man hat einige Fäuste zu viel als zu wenig. Aber sagt, Mr. Shatterhand, welcher Ort war es denn, wo Ihr diese Hauptschüsse aus meiner Büchse gethan habt?« Ich antwortete in gleichgültigem Tone, aber Hiller dabei in das Auge nehmend, ohne daß er es bemerkte: »Ihr werdet die Stadt nicht kennen, Mr. Sannel. Es war in Weston, Missouri.« »Was? Wo? Weston in Missouri?« fragte Hiller schnell. »Dort seid Ihr gewesen, dort, Mr. Shatterhand?« »Ja.« »Wann ist das gewesen?« »Es kann stark in den zweiten Monat gehen.« »Das ist mir interessant. Ich wohne nämlich dort!« »In Weston? Wirklich? Ah, da fällt mir ein: Es wurde dort von einem Pelzjäger Hiller gesprochen, der sich im Westen sehr verspätet haben soll.« »Der bin ich. Ich habe mich nicht verspätet, sondern ich war gefangen bei den Krähen.« »Das weiß ich. Yakonpi-Topa sagte mir, daß Nana-po sein Gefangener sei. Aber daß dieser Nana-po und dieser Hiller eine und dieselbe Person sind, wer hätte das gedacht!« »Das hättet Ihr in Weston bei meiner Frau erfahren können. Sie hat oft, wie oft gewünscht, Euch oder Winnetou einmal sehen zu können, und mein Sohn ebenso. Ich habe nämlich einen Sohn. Wie sie sich wohl befinden mögen? Sie werden in schwerer Sorge um mich sein!« »Was das betrifft, so kann ich Euch Auskunft geben, denn ich habe beide gesehen.« »Wirklich?« fragte er schnell. »Wann, wo?« »Bei dem Schießen, von welchem ich vorhin erzählte. Sie standen dabei und sahen zu. Ich hörte, daß das Mrs. und der junge Mr. Hiller seien. Sie sahen ganz wohl aus.« »Das ist eine gute Nachricht, Sir. Aber es wundert mich sehr, daß sie nicht den Versuch gemacht haben, mit Euch zu sprechen, da sie beide doch stets den Wunsch hatten, Euch einmal zu sehen!«
»Ich verschwieg, wer ich bin. Ich wollte mich nicht als Panoramabild betrachten lassen.« »Dann ist freilich alles erklärt.« »Aber,« fiel da Rost ein, um doch auch etwas zu sagen, »als dann Winnetou kam, wurde es doch offenbar, daß Ihr Old Shatterhand waret, Mylord.« »Auch Winnetou war in Weston?« »Ja,« fuhr Rost fort, ohne mich anzusehen und also meine Winke zu bemerken. »Beide, Winnetou und Mr. Shatterhand entdeckten dann, daß der Prayer-man der Nuggetdieb gewesen war.« »Nuggetdieb? Prayer-man? Ich habe, als ich zum letztenmal daheim war, einen Prayer-man gesehen. Er kam zu uns. Meine Frau kaufte ihm einige Sachen ab, und er schrieb sich ein Gedicht auf, ein deutsches Weihnachtsgedicht, welches meine Frau mit aus dem alten Lande herübergebracht hat.« »Ja, ja,« nickte Rost sehr eifrig. »Es beginnt mit der Strophe: >Ich verkünde Die Euch Denn geboren Euer Heiland Jesus Christ.