Michael Springer
Was morgen geschah Roman
Deutscher Taschenbuch Verlag
Ungekürzte Ausgabe Mai 1982 Deutscher Tasche...
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Michael Springer
Was morgen geschah Roman
Deutscher Taschenbuch Verlag
Ungekürzte Ausgabe Mai 1982 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 1979 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg ISBN 3-455-07330-1
Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany ISBN 3-423-01779-1
Das Buch Der junge Physiker Wetter arbeitet in einem staatlichen Reaktorzentrum. Seine in der Studentenzeit eingegangene Ehe ist kaputt, eine mittelmäßige wissenschaftliche Laufbahn steht ihm bevor. Aber plötzlich ändert sich alles. Anläßlich einer Strahlenschutzübung berichtet die Presse unter Berufung auf einen anonymen Mitarbeiter des Instituts über einen angeblichen Reaktorunfall. Plötzlich herrscht Mißtrauen, die Wissenschaftler werden verhört, Wetter sieht sich in eine Rolle gedrängt, die er nur aus Kriminalfilmen kennt: er soll Detektiv spielen… »Der erste literarisch gelungene Versuch, sich mit dem Thema Kernenergie auseinanderzusetzen«, schrieb Rolf Seeliger in der Münchner ›tz‹, »ein geschliffener, problemgeladener Roman mit krimidichter Atmosphäre.« Der Autor Michael Springer, geboren am 8. August 1944 in Salzburg, besuchte die Jesuitenschule und das humanistische Gymnasium in Wien, wo er auch studierte und im Fach Theoretische Physik promovierte. Während seiner Tätigkeit in einem KernenergieInstitut begann er zu schreiben. Redakteur des ›Neuen Forums‹ in Wien. Zahlreiche Hörspiele. Lebt heute in Aachen. Weitere Werke: ›Dübel &
Dergl.‹ (1972), Prosa; ›Bronnen‹ (1981), Roman.
Der Physiker Wetter erwachte mit einem ungeheuren Schreck. Das Schnarren des elektrischen Weckers ließ sein Herz aussetzen. Jetzt lag er mit offenem Mund auf dem Rücken und schabte mit der trockenen Zunge am Gaumen. Steif und aufgebahrt kam er sich vor, mit dem Bettzeug in den geballten Fäusten, kurz nach dem Todeskampf. Mit ausgebreiteten Armen war er gegen zähen Widerstand auf sein Institut zugelaufen, hinter dem gelb die Sonne aufging und ihn blendete. Er war barfuß und spürte, daß Schilfstopp ein sich zwischen seine Zehen bohrten. Aber er mußte weiter, weil im Institut etwas ausgelöst worden war, das er verhindern konnte. Daß es zu spät war, erkannte er am Verhalten der Sonne. Sie rollte über den Horizont und überzog sich mit einem Netz dunkelroter Sprünge. Im Laufen zitternd sah er, wie sich daraus das leidende Gesicht des Vollmondes formte. Dann platzte das Gestirn und leerte braunen Sand über die Ebene. Heißer Wind fuhr Wetter in die Haare und erschwerte das Fortkommen noch mehr. Der braune Sand formte sich zu einem Zug, der das Institut umringte. Das waren ja große Ameisen! Sie stellten sich auf die Hinterbeine und bildeten einen flimmernden Palisadenzaun. Im Institut schwangen blitzend die Fensterflügel nach außen, Wetter sah braun ge-
sprenkelte Hände sich ins Freie recken. Dann wurde das Institut von der Sandflut überschwemmt, die es hochhob und umkippte. Es lag wie ein Spielzeug auf der Seite und rutschte in die Erde. Die Sonne war inzwischen in Wetters Rücken und flackerte. Der stumpfe Himmel sprang mit einem trockenen Schnarren mittendurch. Davon erwachte Wetter. Nichts hatte er verhindern können. Langsam öffnete Wetter die Fäuste und beruhigte sich mit Hilfe der Straßengeräusche hinter dem Vorhang. Er grinste vor sich hin, schüttelte den Kopf, als sei jemand im Zimmer, vor dem er sich entschuldigen sollte, und schwang die Beine auf den Boden. Wetter schluckte und rieb sich die Stirn. Es war überstanden. Er stand auf und befolgte die eingefahrenen Bewegungen, mit denen er seit zwei Jahren das Frühstück machte. Mit jeder dieser Handlungen bestätigte er sich, daß nichts Besonderes los war. Ohne Zweifel war er überarbeitet. Gestern war spätabends sein Kollege Sandner vorbeigekommen und hatte ihm die Ohren mit seinen Sorgen vollgeschwatzt. Je müder Wetter geworden war, desto weniger hatte er die Kraft gefunden, den Gast hinauszuwerfen. Außerdem war Sandner einer seiner wenigen Bekannten, und bei diesem Beruf war es schwer genug, alte Bekannte zu halten oder gar neue zu fin-
den. Wetter hielt sich für gesellig, aber alle Leute, die an ihm Interesse zeigten, langweilten ihn bald, als bewiesen sie damit nur, daß sie nichts Besseres zu tun hatten, als mit ihm zu schwätzen. Er trank den Kaffee im Stehen, um den Schreibtisch nicht zu sehen, dieses Schlachtfeld, auf dem er in den letzten Tagen nur Niederlagen erlitt. Gerade als Sandner gestern abend geklingelt hatte, war Wetter wieder an dem kritischen Punkt seiner Rechnungen angelangt, über den er nicht hinauskam. Was er in der Arbeitszeit nicht schaffte, pflegte er mit nach Hause zu nehmen. Die Kollegen hielten ihn für fleißig, ja ehrgeizig. Nur er wußte, daß er unbegabt war und dies durch Überstunden ausgleichen mußte. Es raschelte an der Wohnungstür. Trocken fiel Papier durch den Briefschlitz. Als Wetter sich nach der Zeitung bückte, die der Postbote ihm täglich auf den Boden schmiß, fielen drei Briefe auf seine Hand. Wetter fand es lächerlich, daß auf der anderen Seite der Tür ein Unbekannter stand und ihm blindlings aus einer Umhängetasche Papier vor die Füße warf. Er hustete künstlich. Draußen schnappte die Tasche zu und lief davon. Die Briefe waren ohne Überraschung. Einer forderte ihn auf, sich an ein Büro für Studentenreisen zu wenden und rechtzeitig den Urlaub zu planen. Ein
zweiter winkte mit großen Geldscheinen, falls Wetter an einer Lotterie teilnahm. Ein dritter schließlich kam von seiner Mutter. Diesen Brief legte Wetter ungeöffnet auf den Schreibtisch. Früh genug würde er ihn aufreißen und sehen, wie hastig die bekannten Vorwürfe und Ermahnungen hervorquollen. Wetter fand es beschämend, am häufigsten von seiner Mutter angeschrieben zu werden, obwohl er bald dreißig war. Die Zeitung las Wetter von hinten. Am längsten studierte er den Sport, mit dem sich für ihn überhaupt nichts Praktisches verband. Er nahm die Meldungen über Spiele und Kämpfe, die Einschätzungen gebotener Leistungen und die Tabellen der Ergebnisse wie einen Forschungsbericht zur Kenntnis. Im Grunde waren das Experimente: Man ließ Gruppen aufeinandertreffen und beobachtete das Ergebnis. Oder man legte vor einem Mann ein genau definiertes Gewicht auf den Boden und sah zu, ob er es hochheben konnte. Auf diese Weise wurden dem menschlichen Körper Eigenschaften zugemessen wie physikalischen Körpern im Labor. Fast ebenso ernst nahm Wetter die Lokalberichte. Eröffnung eines Schwimmbades, Schließung einer Schule, Durchreise einer überregionalen Persönlichkeit, Sperrung einer Straße: Die gleichmäßige Hoch-
achtung, mit der wie unter dem Mikroskop jeder noch so kleine Dreck säuberlich registriert wurde, beruhigte Wetter jeden Morgen aufs neue. Wenn die Menschheit sich täglich die Mühe nahm, solche Vorgänge aufzuzeichnen, dann mußte die Welt in Ordnung sein. Und war diese vorsintflutliche Methode der Datensammlung nicht niedlich? In ihren Straßen, Parks, Museen, Kirchen und Schulen benahmen die Leute sich alltäglich wie die Wilden, ohne System, ohne Plan und Überblick. Es reichte ihnen vollkommen, zu lesen: »Heute ist die Spenglergasse zur Einbahnstraße erklärt worden.« Oder: »Gestern abend löste ein Brand im ›Hotel London‹ dritten Alarm aus.« Ja, im Lokalteil herrschte noch Zufall, Spannung, Abenteuer, wie in der Urzeit. Zu der Weltpolitik auf den ersten Seiten kam Wetter in der Regel nicht. Die Kommentare auf den Innenseiten lehnte er prinzipiell ab, weil darin weder Zahlen noch objektive Tatsachen die geringste Rolle spielten. Zumeist wurden hier unbeweisbare Vermutungen über den Charakter eines Politikers oder, noch verrückter, eines ganzen Landes aufgestellt. Kein einziges Mal hatte Wetter den kleinsten Versuch beobachten können, solche Vermutungen zu einem späteren Zeitpunkt aufzugreifen und auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Die Weltpolitik verglich Wetter da-
her gern mit einer primitiven Religion, worin Götter willkürlich ihr Unwesen treiben und verwirrte Priester aus der Lage ihrer eigenen Eingeweide die Zukunft lesen. Es war Zeit. Er stand auf, trug das Frühstücksgeschirr zur Kochnische und ließ einige Sekunden lang die Finger in das kalte Wasser hängen, in dem die Biergläser von Sandners gestrigem Besuch lagen. Er stellte die Augenbrennweite auf unendlich ein, als könne er durch die verschwommene Wand bis zum Horizont schauen. Das Leben wurde einem verleidet, weil immer wieder alles schmutzig wurde. Dadurch wiederholte sich alles unnötig. Wetter wäre zum Beispiel sehr für einen Zahnersatz zu haben gewesen, der das tägliche Zähneputzen überflüssig machte. Schließlich gab es ja auch selbstreinigende Backöfen! Flink stand er in allen Kleidern vorm Spiegel und überprüfte, ob er auch heute das Ziel erreicht hatte, genauso auszusehen wie jeden Tag. Er raffte den Papierstoß auf dem Schreibtisch zusammen und brachte ihn in seinem Aktenköfferchen unter. Dabei kam ihm der Brief der Mutter in die Finger. Da er ruhig ein bißchen zu spät zur Arbeit kommen wollte – Huber und Falk waren nie pünktlich – riß er ihn nun doch auf. Die Mutter machte sich wieder einmal Sorgen um
ihn. Daß er so allein lebe, ob er Martha nicht vergessen könne, ob er nicht mehr unter Menschen solle, nicht zu viel arbeite. »Du warst schon als Kind so ernsthaft, immer bei Deinen Büchern, bist nie hinaus zu den anderen gegangen«, schrieb die Mutter, und Wetter übersetzte: »Ich habe dich noch gekannt, wie du soo klein warst.« Er grinste und öffnete eine Schreibtischlade. Darin lag ein dicker Stapel von Mutterbriefen. Den letzten legte er obenauf. Wenig später war Wetter ganz automatisch auf der Autobahn. Das Radio spielte aufmunternd, und es machte Wetter auch heute wieder Spaß, die Laster zu überholen und rasch einmal in die Ebene zu blicken. Die Ebene drehte sich rasch zu beiden Seiten, die Hochspannungsmaste schwammen langsam vorbei. ABBA sangen ›SOS‹, und Wetter war ganz zufrieden. Der Strahlenalarm kam in der Mittagspause, dadurch war die Evakuierung ganz einfach. Wetter sprang auf und lief zu den Fenstern der Kantine, aber nicht wegen des kurzatmigen Stöhnens der Sirene aus den Lautsprechern, sondern weil alle auf einmal dasselbe taten. Er reckte den Hals über die Köpfe und sah den Meß-
wagen über das Gras zwischen den Baracken fahren. Der Wagen, ein kleiner Kombi, hielt vor dem Eingang zum Reaktorbunker, und aus allen Türen sprangen schwerfällig Männer in weißen Strahlenschutzanzügen. Sie bückten sich über kurze, schwarze Knüppel und gingen langsam auf den Bunker zu, bis sie darin verschwanden. Wetter sah sich um. Huber war sitzengeblieben und schaufelte ungerührt seinen Fraß aus dem Plastikteller. »Probealarm«, sagte Huber, »jetzt können wir heim. Für heute ist Schluß. Da wird sich die Frau aber freuen.« Er grinste und bewegte mehrmals rasch das Messer durch einen Ring aus Zeigefinger und Daumen. »So ein Mist«, rief Wetter, »das bringt meinen ganzen Arbeitsplan in Unordnung. Ich brauch wenigstens die Papiere aus meinem Zimmer.« »Da kommt jetzt keiner rein«, lallte Huber undeutlich; die letzte Schaufel war sogar für seine enorme Laderampe zu groß gewesen, »überhaupt: dir schadet eine Pause nicht. Schau dich nur an: käseweiß, zum Fürchten, ein Gespenst, ein…« Huber fuchtelte mit dem Plastikbesteck, um noch drastischere Vergleiche für Wetters Leichenblässe zu erwischen. »Feierabend«, sprach knapp hinter Wetter eine würdevolle Stimme, gehüllt in lauwarmen Hauch
wie aus der Lüftung eines Wirtshauses, und eine weiche, feuchte Hand klatschte ihm auf den Rücken. »Einmal im Jahr Probealarm muß sein«, fuhr Ingarden fort und stieß sehr sauer auf. »Pardon – sonst rosten die Sicherheitsvorkehrungen ein. Alles Routine, was kann denn schon passieren. Aber was wollen Sie, die Bauern haben Angst, und die Politiker sind meistens Bauern.« »Jedenfalls keine Wissenschaftler«, pflichtete Wetter bei. Er nickte und lächelte, so daß Ingarden wieder einmal in seinem Irrtum bestätigt wurde, an Wetter einen zugleich wohlerzogenen und humorvollen Untergebenen zu haben. Langsam wälzte sich der Inhalt der Kantine zum Ausgang. Man redete lauter als sonst am Ende der Pause, die Frauen lachten, die Männer sahen über die Schulter wie schwänzende Schulbuben. Auf dem Parkplatz setzten sich die ersten Autos in Bewegung, leichter Nieselregen begann mitten in den Sonnenschein zu fallen, und alles beeilte sich, fortzukommen. Aus seinem Auto blickte Wetter noch einmal zum Institut zurück. Im Bunker brannte Licht im Erdgeschoß, dort, wo es zum Reaktor ging. Er glaubte, rasch hin und her laufende Silhouetten zu sehen und einmal ein grelles Leuchten, wie von einem Schneid-
brenner oder einer Filmlampe. Der Portier starrte ihn an. Wetter war der letzte auf dem Institutsparkplatz. Rasch warf er den Motor an und schwenkte auf die schnurgerade graue Straße ein, die zur Stadt führte. Über der Ölraffinerie hing ein blasser Regenbogen, an dessen einem Ende ein Mähdrescher übers Feld zog. Wetter suchte im Radio nach Musik. Morgen sollte er beim Institutskaffee über Zwischenergebnisse seiner Arbeit sprechen und hatte sich am Nachmittag darauf vorbereiten wollen. Der Strahlenalarm machte ihm einen Strich durch die Rechnung. »Pah«, sagte Wetter laut und machte sogar eine großspurige Handbewegung, »ich werde schon etwas erzählen, was keiner versteht.« Er pfiff mit, als Peter Alexander sang: ›Hier ist ein Mensch‹. Als Sandner klingelte, saß Wetter über dem Problem, das ihn seit drei Tagen quälte. Es verleidete ihm die Freizeit und ließ ihn nie in Ruhe. Gedemütigt fühlte er sich, als führe ihn jemand klug und boshaft an der Nase herum. Das Problem tanzte ungreifbar um ihn und gab falsche Hinweise; Wetter war die blinde Kuh. Vor drei Tagen hatte er an seinem Rechenpro-
gramm eine geringfügige Änderung vorgenommen. Aus einem der Kästen für die Unterprogramme hatte er ein paar Lochkarten entfernt und durch neue ersetzt. Seitdem spielte der Computer verrückt und lieferte meterweise Ausdrucke mit negativen Winkeln und Wahrscheinlichkeiten. Das deutete auf einen groben Fehler hin, der aber nicht in der Programmänderung stecken konnte, sondern schon vorher im Hauptprogramm versteckt gewesen war. Bei der Fehlersuche hatte Wetter zu seinem Entsetzen bemerkt, daß er über sein Programm, das er seit einem Jahr umbaute und erweiterte, die Übersicht verloren hatte. Er hatte frühere Etappen seiner Arbeit zu rekonstruieren versucht und war gestern, spät nachts, endlich so weit gewesen, ein grobes Flußdiagramm zu zeichnen. Jetzt studierte er die Änderungen und versuchte, darin einen Widerspruch zu entdecken. Stöhnend warf er den Bleistift auf einen dicken Stoß Computerpapiere und ging aufmachen. Sandner stand verlegen auf der Matte und fragte scheinheilig, ob er nicht störe. Statt einer Antwort schob Wetter ihn in die Wohnung, rieb sich die brennenden Augen und stellte Teewasser auf. »Hast du ein Bier?« fragte Sandner. Wetter sah verzweifelt auf sein Schlachtfeld; heute
war also an Arbeit nicht mehr zu denken. Er nahm das Wasser vom Feuer und brachte Bier. Sandner stand am Schreibtisch und starrte kopfschüttelnd auf den Wust von Formeln und Diagrammen. »Laß«, sagte Wetter, »damit kenn ich mich selbst nicht mehr aus.« »Ich halte für gefährlich, wie du arbeitest«, warnte Sandner, »der Mensch braucht Freizeit. Ich arbeite meine acht Stunden, dann schalte ich ab. Man will ja ein Mensch bleiben.« »Ein Mensch«, flüsterte Wetter höhnisch, »ein Mensch.« Gerade du mußt mir das sagen, dachte er, du bist genauso elend dran wie ich. Deshalb fällt dir auch nichts Besseres ein, als mich zu besuchen. Laut und streitsüchtig sagte er: »Was ist denn ein Mensch?« Sie tranken. Sandner schenkte sich vorsichtig nach und sah zu, wie der Schaum über den Glasrand quoll und leise zischend auf dem Tisch Blasen trieb. »Wie kommst du ohne Frau aus?« fragte Sandner. Wetter lachte und trank. »Schlecht. Ich hab in der Stadt ein paar Stützpunkte, wo ich hin kann, wenn ich muß. Aber es geht auch ohne. Und du?« Sandner schien auf die Frage gewartet zu haben und freute sich sichtlich, daß es ihm gelungen war,
sie herbeizuführen. Eifrig erzählte er von einer Biologin, die ihm früher nie aufgefallen sei: »Vorgestern hat sie mich gefragt, ob ich gern ins Kino gehe. Wir waren im Kino. Ich weiß noch nicht…« Er wartete. »Was weißt du nicht«, sagte Wetter ihm zuliebe. »Ich bin vorsichtig geworden seit der Geschichte mit der Laborantin, die mich sitzengelassen hat.« Wetter lachte. Sandner sagte: »Ich war schon so lange mit keiner Frau im Kino, daß mir die Übung fehlt. Man muß auf einmal für zwei denken, einen Film aussuchen, der passend ist, dann das Kino finden, die Karten kaufen und zu zweit auf den Einlaß warten. Dabei muß man Konversation machen und zugleich den anderen in die Gesichter sehen, ob sie einen nicht auslachen, weil die Frau so häßlich ist. Dabei wird man abgelenkt und verliert den Faden der Unterhaltung, hört der Frau nicht zu. Darüber ist sie natürlich sauer, und der Abend nimmt einen verhängnisvollen Lauf.« Wetter kicherte. Das Bier begann sich in seinem Magen breit zu machen und in den Augen zu pochen. Sandner fuhr fort: »Es ist aber gut gegangen. Niemand hat uns beachtet vor dem Kino, und nachher gehen alle mit gesenkten Köpfen rasch heim, weil sie sich für den Film so schämen. Dadurch weiß man natürlich nie, ob die Frau jetzt annehmbar oder lächer-
lich aussieht.« Wetter fragte: »Weißt du das nicht selber?« »Nneinn!« machte Sandner heftig und schüttelte den Kopf, daß die Backen flatterten, »ich habe nicht den geringsten Geschmack. Ich bin berühmt dafür, daß mir die Möbelhändler Stücke einreden können, vor denen später meine Besucher die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.« Sie seufzten und tranken. Wetter dachte wütend an die Arbeit. Wenn er sich nicht sehr irrte, dann stand fest, daß er seit einem Jahr lauter Fehler ausgerechnet hatte. Ihn erstaunte, wie lange so etwas unentdeckt bleiben konnte. Man war höflich zu ihm, die Experimentierer fragten ihn um Rat, und Sandner schüttete ihm sogar sein Herz aus, obwohl er in seinem Chemielabor garantiert noch nie etwas so falsch gemacht hatte. »Du hast Geschmack«, behauptete Sandner, »sogar an dieser kleinen Gelehrtenwohnung sieht man es. Du kommst aus einem guten Haus, das merkt man.« »Mein Vater war Angestellter. Unter einem guten Haus stelle ich mir etwas anderes vor.« »Mein Vater ist ein Schrankenwärter auf dem Land«, murmelte Sandner und stieß sich das Bierglas beim Trinken gegen die Brille, »er ist stolz auf seinen Sohn – Prost!«
Wetter sah in der Abendsonne einen kleinen Mann aus einem Haus treten und mit der Hand die Augen gegen die Blendung schützen. Der Zug kam über ein riesiges Weizenfeld gebraust. Zwei rußige Männer grüßten Sandners Vater, der wieder in sein Haus ging. Drin saß der Briefträger hinter einem Schnapsglas und gähnte. Keiner weiß, was ein Atom ist, stellte der Briefträger fest, er sagte »Ataum«, dein Sohn schon gar nicht, Sandner. Aber jetzt ist er studiert und baut Atomkraftwerke, und du bist stolz. Bis wir alle, alle in die Luft gehen wegen deinem Sohn. Geh fort, du alter Depp, lachte Sandner, ganz froh über die Macht, die der Briefträger seinem Sohn zugestand. Ja, ich bin weg, sagte der Briefträger und lief auf seinen O-Beinen davon, als brauchte er nicht aufzustehen und könnte im Sitzen laufen. »Und wie geht’s weiter mit der Biologin?« fragte Wetter. Sandner berichtete, nach dem Kino seien sie im Cafe gewesen und hätten den Film besprochen. Ihr habe er gefallen, ihm weniger. »Ich kann nicht Konversation machen, weil ich keinen Geschmack habe«, erklärte Sandner, »alle Gespräche außer dem Beruf drehen sich immer um Geschmacksfragen.« Aus Unsicherheit sei er ewig in dem Cafe sitzengeblieben, obwohl ihm der Hintern schon im Kino ge-
brannt habe. Zum Glück habe die Frau immer wieder etwas gesagt und seine Meinung nur kurz wissen wollen. »Ich war todmüde und habe aus Höflichkeit beim Gähnen den Mund zugelassen. Dadurch sieht man aus wie ein Gerührter mit Tränen in den Augen. Das hat sehr gut zu ihrer Geschichte gepaßt, sie hat von einem Unglück auf der Autobahn zwischen Paris und Lyon erzählt, dabei ist ihr Freund umgekommen.« Endlich habe sie vorgeschlagen zu gehen. »Du hast großen Eindruck auf sie gemacht«, meinte Wetter, »ein empfindsamer Mann, der gut zuhören kann.« Schließlich, so Sandner, seien sie auf ihren Vorschlag noch in einen Beatkeller gegangen. »Dort habe ich brav vor ihr herum gezappelt wie alle und im Finsteren gelacht, bis ich durchgeschwitzt und das Kopfweh nicht mehr auszuhalten war. Dann sind wir mit dem Nachtautobus eine Ewigkeit in ihren Vorort gefahren. Sie ist eingeschlafen und hat den Kopf auf meine Schulter fallen lassen. Ich soll sie wieder anrufen. Soll ich?« Wetter nickte. »Irgend etwas geht vor«, sagte er plötzlich. Sandner legte den Kopf schief und runzelte fragend die Stirn wie ein Jagdhund. »Der Strahlenalarm«, flüsterte Wetter, »das war noch nie da. Seit der Geschichte vom letzten Monat reden alle vom
Strahlenschutz.« »Welche Geschichte?« fragte Sandner, der zu überlegen schien, ob er anrufen solle. »Das Gerücht über einen neuen Reaktor. Auffallend ist, daß der Chef sich auf einmal für meine Arbeit interessiert.« »Hat die was damit zu tun?« »Nicht direkt. Aber es geht um Materialermüdung bei extrem hohen Strahlungsmengen.« Sandner steckte den Kopf aus seinen intimen Grübeleien und legte aufgeregt die Brille in einen Bierteich: »Und mir hat man gesagt, ich soll Literatur über die Diffusion von heißem Helium durch Metalle sammeln.« »Helium ist als Kühlmittel für Brüter im Gespräch«, ergänzte Wetter. »Irgendwas geht vor bei uns. Entweder ist schon was passiert, oder sie haben Angst, daß was passiert. Falk soll seine Arbeit über Schallwellen in Festkörpern so ausbauen, daß man mit riesigen Schwingungsintensitäten rechnen kann…« »Wie bei einer Explosion zum Beispiel.« Sie dachten nach. »Weißt du was?« sagte Sandner so frisch und laut, daß Wetter zusammenfuhr. »Ich ruf sie an, und zwar gleich. Du erlaubst?« Sandner hantierte aufgeregt mit dem Telefonbuch und mit seinem Taschenkalen-
der. Dann lief er in die Küche, schloß die Tür und murmelte in die Muschel. Er kam bald wieder heraus, vor Freude blaß: »Ich treffe sie! Sie wartet! Auf Wiedersehen!« Wetter trank das restliche Bier und starrte auf den Schreibtisch. Er hatte Ohrensausen und glaubte langsam aus allen Nähten zu platzen. Er riß eine Jacke vom Haken und lief hinaus. Von der Ausfallstraße, die zum Flughafen der Stadt führte, bog man über eine Stahlbrücke zum Institut ab. Die kurze Brücke überspannte einen Wassergraben, der das Institutsgelände umfing. Auf den Böschungen war die Grassaat noch nicht aufgegangen. Der untere Teil der Abhänge war mit Schieferplatten ausgelegt. Wetter fuhr im Schrittempo durch das Tor im doppelten Drahtzaun und hielt am Schlagbaum. Der Portier legte in seinem Häuschen die Zeitung hin und setzte die graue Mütze mit dem roten Knopf über dem Schirm auf. Wetter ließ die linke Hand mit dem Ausweis, auf dem ein meuchelmörderisches Farbfoto prangte, aus dem Auto hängen. Der Portier beugte sich zur Seite und rief aus dem Fenster: »Guten Morgen, Herr Doktor!« Wetter nickte und fuhr mit weiterhin heraushängendem Arm auf die Sperre zu. Der orange-weiße Schlagbaum zuckte nach oben.
Wetter hatte einmal im Kino gesehen, wie Charlton Heston als hoher Militär ebenso lässig in militärisches Sperrgebiet hineinfuhr. Der Unterschied war leider, daß jetzt eine Bö seinen Ausweis aus der draußen baumelnden Hand riß, so daß er aussteigen und zurücklaufen mußte. Der Portier war in die Zeitung vertieft. Aus dem Montagebunker schlenderten drei Männer in blauen Overalls. Sie begannen zu rauchen und beobachteten Wetter, der im nassen Gras den Ausweis suchte. Er fluchte leise und reinigte den Ausweis mit dem Taschentuch. Die Monteure sahen ernsthaft zu und zogen an ihren Zigaretten. Langsam rollte er zwischen den einstöckigen Institutsbauten zu dem für ihn reservierten Parkplatz vor dem Physikerbunker. Huber und Falk waren schon da. Er steckte seinen Ausweis mit dem gelochten Ende in den Schlitz neben der Kontrollsperre. Ein zartes Klingen zeigte an, daß Name und Ankunftszeit registriert waren und die Sperre ohne Alarm passiert werden konnte. Er ging zu einem gelben Wandschrank und zog seinen weißen Mantel an. In der Außentasche hing an einer Klammer das Dosimeter, ein Spezialfilm, dessen Schwärzung monatlich kontrolliert wurde, um Wetters Strahlenbelastung fest-
zustellen. Er stieg in den ersten Stock. In der trockenen, warmen Luft fühlte er sich gleich hundemüde. Oben ging er durch einen niederen weißen Gang mit dicken Kabelsträngen an den Wänden und an der Decke. Er bemühte sich, nichts zu berühren: Man lud sich überall mit statischer Elektrizität auf, da der Kunststoffboden ausgezeichnet isolierte. Das gab schmerzhafte Funkenschläge, wenn man die Klinken der Metalltüren anfaßte. Er öffnete die Tür mit der Aufschrift »Huber/Falk/Wetter«. Das Zimmer war leer. Wetter gähnte und sah aus dem Fenster. Weit und breit lag die Ebene da, eine Reihe junger Bäume unter dem Fenster zitterte im Wind. Er drehte sich um und setzte sich an seinen Platz, holte die Rechnungen aus dem Aktenkoffer und legte seufzend die Hand auf einen dunkelgrünen Band des ›Physical Review‹. Mit geweiteten Augen beobachtete er, wie Falks Tisch zu beben anfing und sich langsam vom Boden löste. Dann sackte der Tisch mit einem Plumps ab und ließ deutlich ein Ächzen vernehmen. Falks rotes Gesicht tauchte über der Platte auf. »Puh«, stöhnte Falk, »ich find’s nicht.« Er ließ sich in seinen Sessel fallen. »Was suchst du denn?« fragte Wetter.
»Eine Adresse in den USA. Du weißt doch, die SolidState-Tagung. Hast du sie?« Wetter stöberte in einem Papierstapel und zog einen seriös gefertigten Prospekt hervor, den in einer Ecke das Star-Spangled Banner zierte. »So einer?« »Ja, danke. Ist sicher meiner.« »Nein«, sagte Wetter, »fährst du hin?« »Weiß noch nicht. Schöne Gegend, aber die Vorträge sind schwach. Zweite Garnitur. Muß sehen.« Falk nahm die Brille ab und hielt sie gegen die Decke. Wenn nicht gerade die Sonne schien, mußte den ganzen Tag über das Neonlicht eingeschaltet bleiben. »Wo ist Huber? Sein Auto ist da.« »Beim Chef. Beantragt Teilnahme an der Tagung.« So war das. Huber fuhr in die USA. Falk wahrscheinlich auch. Das bedeutete, daß Wetter die Stellung halten mußte. Ob er wollte oder nicht. »Beim nächsten Mal sollten wir so etwas vielleicht untereinander absprechen«, sagte Wetter mit der ruhigen Stimme, die er immer annahm, wenn er wütend war. Falk sah ihn überrascht aus kurzsichtigen Augen an und stülpte langsam die Brille ins Gesicht. Dann beugte er sich über die Arbeit auf seinem Tisch.
Seit Martha ihn verlassen hatte, ging Wetter oft spätabends aus dem Haus. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, jede Nacht wie ein Witwer im kalten Bett zu liegen. Dagegen half natürlich auch sein nächtliches Spazierengehen nichts, außer daß es ihm das Einschlafen erleichterte. Wetter wußte, daß es wie ein letzter Schrei war, bevor wieder ein Tag umkam, ein letzter Versuch, unter Menschen zu kommen, obwohl er belebte Straßen und Kneipen mied und auf finsteren Feldwegen am Rand der Vorstadt herumlief. Selten traf er weit draußen alte Männer mit Hunden oder, im Sommer, Liebespaare. Die zunehmende Furcht vor Raubüberfällen hatte die dunklen Wege entvölkert. Vor wenigen Tagen war Wetter auf einem Weg, den er seitdem nicht benutzte, pfeifend dahingeschlendert. Die Stadt war hier endgültig zu Ende, es gab nur noch altmodische Villen, die leerzustehen schienen. Tief durchatmend machte er mit einem Tanzschritt auf dem Absatz kehrt und ging noch langsamer zurück. Es war eine laue Nacht, die schwarzen Blätter zischten, über den vollen Mond zogen Wolken mit leuchtenden Rändern. Wetter hatte noch rund eine Stunde zu gehen, bis er daheim war. Vor ihm auf der Straße begannen auf einmal Lich-
ter zu tanzen, ein zuckendes blaues und zwei rubinrote. Ein Polizeiauto stand auf der Straße. Zwei Beamte unterhielten sich halblaut, ihr Gemurmel trug weit in der stillen Nacht. Wetter verstand etwas von »eine halbe Stunde«, von »aufgehängt« und »abgeschnitten«, von »schon zum zweiten Mal versucht«. Jetzt erkannte er neben den Polizisten einen Körper, der mit einer weißlichen Plane zugedeckt war. Fast versteckt im Gebüsch an der Straße funkelte das Hinterteil eines PKW. Der mußte schon da gestanden sein, als Wetter in der anderen Richtung vorbeigekommen war. Doch waren in dieser Gegend Autos mit Liebespaaren nichts Auffälliges. Hier hatte sich der Mann, der jetzt tot auf der Böschung lag, aufgeknüpft, kurz bevor Wetter vorbeigekommen war. Hier war es still, hier war kein Licht, hier gab es gute, starke Bäume. Ohne mit den Polizisten ein Gespräch anzufangen, war Wetter vorbeigegangen. Er war sich verdächtig vorgekommen, wie ein Todeskandidat, der seine Abende damit verbringt, einen guten, heimlichen Platz zum endgültigen Niederlegen zu finden. Heute zog es ihn in die hellen Gassen, wo die Auslagen wegen der Einbrecher nachtsüber beleuchtet bleiben. Hier war es noch ausgestorbener als auf den Feldwegen, trotz der Straßenbeleuchtung, der
Schaufensterpuppen, der Nachtautobusse und Taxis. Wetter studierte die Auslage eines Zeitschriftenhändlers und hatte dabei einen Gedanken, der ihn erschütterte. Er stellte sich vor, er könne jetzt sich selbst mit achtzehn Jahren sehen. Damals war er in einer ungeheuren Aufbruchsstimmung gewesen, hatte seine erste große Reise als Belohnung für die Reifeprüfung gemacht und sich auf die Physikerlaufbahn gefreut. Er war stolz gewesen auf das, was aus ihm werden sollte. Es entsetzte ihn, sich vorzustellen, mit welchen Augen er damals seinen jetzigen Zustand gesehen hätte. Etwas Besonderes zu werden war ihm immer selbstverständlich gewesen. Mitleidig hatte er die traurigen oder ängstlichen Gesichter der Angestellten gemustert, die abends neben ihm in der Straßenbahn standen, wenn er von späten Vorlesungen heimfuhr. Unvorstellbar, daß das Leben sich als leicht ansteigende Straße durch trübe Landschaften vor einem erstreckte, auf der man austauschbar und ununterscheidbar dahinzog. Damals hatte Wetter sich vorgenommen, etwas Außergewöhnliches zu werden, ein echter Wissenschaftler, der in den einschlägigen Publikationen zitiert werden mußte. Er riß sich von der Kinderwelt des Zeitschriftenladens los und beobachtete seine Beine, die ihn wie
auf Schienen in sein kaltes Bett zu schleppen begannen. Niemandem hätte er geglaubt, daß er mit dreißig so dastehen würde wie jetzt: als kleiner Angestellter im Hinterland des Fortschritts, an einem Institut in der wissenschaftlichen Provinz. Keine Rede von brillanten Entdeckungen, Vorträgen, Veröffentlichungen. Wie ein Esel schleppte er sein monströses Programm auf dem Buckel, das nichts wert war, obenauf saß der Chef und trat ihn in die Flanken, dirigierte ihn nach den Prioritäten des Instituts. Überhaupt: Das Kleinkarierte dieses ganzen Lebens, das selbst einer Frau wie Martha zu langweilig geworden war! Wo waren die großen Reisen geblieben, wo der Anspruch, als Weltbürger überall daheim zu sein, mit der unverwundbaren Geisteshaltung des Wissenschaftlers kühl und gelassen durchs Leben zu segeln? Auf einer Bank lag unter Zeitungen mit an den Bauch gezogenen Beinen ein struppiger Mann. Wetter dachte grinsend: Der einzige Unterschied ist, daß ich noch halbwegs anständig gekleidet bin und noch immer brav jeden Morgen zur Arbeit fahre. Im Grund aber bin ich ein Versager. Ich bin ganz überflüssig. Was ich arbeite, das kann jeder andere ebensogut. Ich bin austauschbar, leicht zu ersetzen, keinem fiele mein Verschwinden auf. Die Welt kam Wetter heute wie ein schwarzes Meer
vor, das sich wellenlos über ihm schloß. Er atmete tief auf und bog endgültig in seine Gasse ein. Da er fast gelaufen war, landete er verschwitzt an der Haustür. Haßerfüllt starrte er, während er nach dem Schlüssel kramte, sein grünes Auto an, das ihn morgen zur Arbeit bringen würde wie immer. Er fühlte sich so schwach, so lebens- und sterbensmüde, daß an die Treppe zwischen ihm und dem Bett gar nicht zu denken war. Er überlegte, ob er noch einmal um den Block stolpern sollte. Im Baum gegenüber schrie ein Vogel, der die nächste Straßenlaterne mit der Sonne verwechselte. Wetter machte sich an den Aufstieg zu seinem Zimmer. Rundum gab es nichts als zugefallene Türen, hinter denen fremde Menschen schnarchten. Das war ein Leben. Der Institutskaffee ging zu Ende. Sie saßen in der Bibliothek an dem langen Tisch vor der Schreibtafel, auf die Wetter gleich seine Formeln schreiben würde. Die Sekretärinnen liefen geschäftig umher, boten den letzten Kaffee an und begannen, die Tassen einzusammeln. Ingarden machte wie üblich einen müden Eindruck und massierte sich mit einer kleinen, weichen Hand die großen Flächen in seinem Gesicht. Huber formte einen Rüssel und zog laut die schwarze Flüssigkeit aus seiner Tasse. Dabei blickte er eif-
rig um den Tisch und versuchte, der Unterhaltung der Praktiker am anderen Ende zu folgen. Sie plauderten halblaut über die Vor- und Nachteile verschiedener Vakuumpumpen und schimpften über die Schwierigkeiten, die nötigsten Geräte bewilligt zu bekommen. Von Wetter, der als Theoretiker angestellt war, nahm man an, daß ihm solche Probleme zu minderwertig waren. Die Praktiker kamen zu ihm mit Fragen, die sie eines Theoretikers für würdig hielten. In den meisten Fällen mußten sie sich mit hinhaltenden Auskünften begnügen, da Wetter sich außerhalb seines Spezialgebietes, der Strahlenschäden in Festkörpern, nicht kompetent fühlte. Dennoch war er bei den Experimentierern beliebt, er galt als wenig überheblich, gab zu, vieles erst in der Bibliothek nachschlagen zu müssen, und versuchte, alle Probleme durchzurechnen, mit denen man zu ihm kam. Huber rief über den Tisch, daß zwei der vorhandenen Pumpen hintereinandergeschaltet ebensogut wären wie die neue, die die Praktiker haben wollten. Einer von ihnen, der kleine Costello, verdrehte die Augen und erklärte in raschem gebrochenem Deutsch, daß ihr Problem nicht so sehr die Pumpen seien, sondern die Flansche und Verbindungsstücke, durch die das Vakuum versaut würde. Huber hatte
auch darauf eine Antwort, die aber unterging, weil Ingarden das Wort ergriff. Falk stieß Wetter an und flüsterte: »Paß auf, jetzt kommt das Wort zum Sonntag.« Ingarden war dafür bekannt, daß er am Ende des Kaffees in allgemeine Betrachtungen über die Weltlage verfiel. Wetter fand das ungefähr so interessant wie das Wiederkäuen der Kühe. »Ah«, ächzte Ingarden, »es fehlt hinten und vorn. Erst gestern wieder hat mir Doktor Meredith von der Kernkraft-Union bestätigt, daß dieses Institut gut arbeitet, viel publiziert und der Industrie wertvolle Ergebnisse zur Verfügung stellt. Aber wissen die Leute, mit welchen Mitteln wir das schaffen?« Er blickte mit mühsam hochgezogenen Brauen um den Tisch. »Nein!« rief Huber vorlaut. »Nein«, wiederholte Ingarden traurig, »wir sind ein Haufen Bastler – nichts für ungut«, er lächelte zu den Praktikern hinüber, »hervorragende Bastler!« Er rieb sich wieder das Gesicht. Wetter war vom Kaffee in dem hermetisch geschlossenen Raum heiß geworden. Er blickte knapp an Ingarden vorbei aus dem Fenster. Der Pförtner ließ den Schlagbaum hochschnellen, eine braune Limousine schlich aufs Gelände. Auf dem Parkplatz jenseits des Zaunes standen die
Werksbusse für das technische Personal, halb verdeckt von einer Reihe junger Pappeln. Kein Laut drang von draußen herein, aber Wetter sah den heftigen Wind. Ein großer grauer Himmel mit jagenden Wolken drückte die Ebene platt. Am Horizont starrten einzelne Bäume wie Nervenbündel in die Luft. Ingarden verbreitete sich nun über die Ignoranz der Politiker, die zu glauben schienen, die Wissenschaft würde wie früher im Kopf betrieben und verbrauche Papier, Bleistift oder höchstens ein paar Steine für Fallversuche. »Und eine Uhr!« schrie Huber und gab den alten Witz zum besten, in dem ein zerstreuter Physiker seine Uhr von einem Balkon fallen läßt und auf einen Stein in seiner anderen Hand drückt, um die Fallzeit zu stoppen. »Aber im Ernst«, fuhr der Chef fort, »es gehört immer mehr zu unseren Aufgaben, die öffentliche Meinung für uns zu gewinnen, für unsere Arbeit zu werben und das nötige Kapital locker zu machen. Vom Staat ist dabei nichts zu erwarten. Die Brüder sind chronisch verschuldet. Die müssen ihre Kranken und Arbeitslosen füttern, da bleibt für uns nichts. Die Privatwirtschaft aber ist es, der unsere Arbeit zugute kommt und die darum ein natürliches Interesse an uns hat. Doktor Meredith hat mir gegenüber angedeutet«, Ingarden zog sich im Sessel hoch und
rieb die Augen blank, »daß das bestehende Kooperationsabkommen zwischen der Kernkraft-Union und uns erweitert werden soll. Dann gibt’s wieder Geld für euch Bastler!« rief er fröhlich über den Tisch. Gleich wieder ernst und wichtig, fixierte er Wetter und meinte: »Das erlegt uns neue Verpflichtungen auf. Wertfreie Forschung ist eine gute Sache. Aber für uns steht in Zukunft immer mehr das projektbezogene Forschen im Vordergrund. Auch an unsere Theoretiker ist die Frage erlaubt, sie steht sogar im Vordergrund: Was bringt es? Wem nützt es?« Er sah Wetter unverwandt an, der eilig seinen Blick von der Landschaft zum Chef schwenkte. Wetter nickte und räusperte sich: »Die praktische Seite liegt zum Beispiel bei meiner Arbeit auf der Hand. Materialveränderungen bei extrem hohen Strahlungen oder das Durchspielen von Unfällen…« Ingarden winkte ab und legte sogar einen Finger an die Lippen. »Gewiß, gewiß«, sagte er erstaunlich rasch, »das ist alles noch in Bewegung, wir überlegen da gemeinsam, aber das ist unscharf, nicht ausgegoren. Wir wollen warten, bis wir Ergebnisse sehen, nicht wahr?« Er stierte Wetter bedeutungsvoll, fast drohend an. Wetter nickte und wurde noch verwirrter, als Falk ihn anstieß und murmelte: »He! Halt dich zurück!
Kriech ihm nicht in den Arsch. Wir lassen uns das bißchen Spielraum nicht kaputtmachen.« Ingarden horchte auf und sagte: »Ich schlage vor, daß wir in einer Woche Ihre Ergebnisse, Herr Doktor Falk, einmal unter diesem Gesichtspunkt prüfen. Sie halten uns ein kleines Referat über Ihr Strömungsprojekt, und wir diskutieren anschließend die praktische Seite. Einverstanden?« »Ja«, antwortete Falk, »wobei es meines Wissens auch zu unseren Aufgaben gehört, theoretisch zu forschen. Wir sind doch ein staatliches Institut, wir sind der Universität unterstellt und nicht der Industrie.« Alle schwiegen, auch die Praktiker. Ingarden lächelte und sagte scharf: »Was mir nicht gefällt, ist diese Feindseligkeit gegen die Privatwirtschaft, die heutzutage an den Universitäten gezüchtet wird. Ich dachte, wir Physiker wären, anders als die Philosophen, Theologen und Geisteswissenschaftler, bisher davon verschont geblieben.« Falk malte ein rundes Integralzeichen auf sein Papier. Wetter bemerkte, daß er unter dem Tisch die andere Hand ballte. Huber knallte seine Tasse abschließend auf den Tisch, rief zu den Sekretärinnen, die an einem kleinen Katzentisch ihren Kaffee getrunken hatten, hin-
über: »Abräumen bitte!« und wandte sich feixend an Wetter: »Wolltest du uns heute nicht über deine Arbeit erzählen?« »Ja«, sprach der Chef erleichtert, »Doktor Wetter ist heute dran. Aber bitte noch nichts über unsere neue Stoßrichtung, sondern nur über fertige, gesicherte Ergebnisse. Reine Theorie diesmal!« Er nickte versöhnlich zu Falk hinüber, der mühsam ein falsches Lächeln aufsetzte. Wetter stand linkisch auf und zog Aufzeichnungen aus einem Fach unter dem Bibliothekstisch. Gesicherte Ergebnisse, dachte er, wo ich doch seit vier Tagen weiß, daß im Programm ein Riesenfehler steckt. Er war zwar sicher, daß keiner der Anwesenden das entdecken würde, weil jeder sich nur in seiner eigenen Arbeit wirklich auskannte. Nur Falk und Ingarden würden zur Diskussion beitragen – Falk, weil er gut war, und Ingarden, weil er sich als Institutsleiter wichtig machen mußte. Trotzdem stellte Wetter, als er die Tafel sauberwischte und ein Stück Kreide auswählte, überrascht fest, daß ihm das Herz bis zum Hals schlug. Er warf die Plastikmarke in eine Suppentasse voll anderer Marken und erhielt dafür von der verschwitzten Küchenhilfe ein rechteckig unterteiltes Tablett. Damit zog er sich an einen leeren Tisch an
der Wand zurück und tat, als habe er Ingarden, Huber, Falk und Costello nicht gesehen. Er wollte allein essen und dabei in Ruhe über sein Problem nachdenken. Den Fehler hatte er jetzt eingekreist und sah, während er das Tablett vor sich her trug, ganz deutlich die Formeln, in denen der Hund begraben lag. Wie ein Schlafwandler stellte er das Essen auf den Tisch, setzte sich und nahm die Suppe vor. Sandner störte ihn; er knallte sich auf den Stuhl neben Wetter und verlor dabei in weitem Bogen das Besteck von seinem Tablett, auf dem die Suppe gleichmäßig in den Abteilungen für die Haupt- und die Nachspeise stand. Sofort begann Sandner eine begeisterte Schilderung seines letzten Treffens mit der neuen Freundin vom biologischen Institut. Jetzt sei zwischen ihnen alles klar. Sie habe erzählt, wie allein sie sich fühle, von den Männern sei sie mehrmals herb enttäuscht worden, aber bei Sandner habe sie ein gutes Gefühl. »Und wo ist das Problem?« fragte Wetter ungeduldig; er versuchte krampfhaft die entscheidenden Formeln festzuhalten. Da! Da! Das Vorzeichen. Sofort mußte er drüben im Bunker nachsehen: Da war der Fehler! Er wurde vor Aufregung ganz rot im Gesicht. Sandner erschrak: »Ist dir nicht gut?« fragte er und
pantschte Suppe, Fleischtunke und Kompott durcheinander. »Nein«, versicherte Wetter und legte ihm sogar die Hand auf den Arm, »erzähl!« »Sie kennt mich doch kaum«, sagte Sandner, »mir ist diese Frau verdächtig. Sie schmeißt sich so an, daß ich Angst kriege.« »Was willst du eigentlich?« »Da hast du auch wieder recht.« Sandner schwieg und schaute zugleich sorgenvoll und begeistert drein. »Was will sie denn von dir?« fragte Wetter. Am liebsten hätte er Sandners Tablett hochgehoben und ihm in den Schoß gekippt. Endlich hatte er den verdammten Fehler! »Nichts, sagt sie«, antwortete Sandner, »aber wie sie mich immer anschaut! Furchteinflößend!« »Habt ihr schon? War schon was?« fragte Wetter und legte schelmisch den Kopf zur Seite. Sandner blickte scheu auf das Durcheinander seiner Mahlzeit und murmelte: »Ja.« »Und wie war das?« fragte Wetter weiter. »Komisch«, sagte Sandner, »sehr gut. Aber das ist mir gerade verdächtig. Woher kann sie das? Sie muß eine gewisse Erfahrung haben, aber woher? Mit ihren Kollegen tut sie nichts. Ich glaube, sie ist… sinn-
lich.« »Woran merkt man das?« fragte Wetter; seit er den Fehler hatte, interessierte ihn alles mögliche. »Sie hat es von sich aus vorgeschlagen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, gleich beim zweiten Mal. Ganz direkt: Wollen Sie… Die muß es nötig haben.« Wetter schüttelte den Kopf: »Sei doch froh.« »Und am nächsten Morgen hat sie beim Frühstück gefragt, wie mir ihre Wohnung gefällt. Ich bin sicher, sie will mich einfangen.« Wetter, der sich aus irgendeinem Grund zu ärgern begann, fragte: »Und was wirst du tun?« Sandner lächelte schlau und erklärte: »Ich laß sie im Glauben. Aber ich leg mich nicht fest. Ich hab ihr gesagt, daß es mir sehr ernst ist. So kann ich alles haben, und wenn’s mir zuviel wird, hau ich ab.« Ohne etwas zu erwidern, stand Wetter auf und trug sein Tablett zur Geschirrückgabe. Hinter der Durchreiche saßen zwei Frauen in hellen Kitteln auf dem glänzenden Herd und ließen die kurzen Beine in schwarzen Strümpfen baumeln. Sie unterhielten sich in einer fremden Sprache und hielten beim Lachen die Hand vor ihre Zahnlücken. »Dieser Mann«, sagte Wetter und zeigte auf Sandner, der drüben an der Wand im Essen stocherte, »hat großes Glück bei den Frauen.« Die beiden blickten ihn verständnislos
an. Doch als er bei der Glastür war, hörte er sie lachen. Sie waren über die Theke gesprungen und zu Sandners Tisch gelaufen. Jetzt wischten sie rund um ihn alles ab, Tisch und Stühle, sogar den Boden, um einen Blick auf Sandner zu werfen. Sie kamen rasch wieder zurück und machten zu Wetter, der in der Tür stehengeblieben war, wegwerfende Gesten. Sandner blickte verwirrt auf, als sie lachend die Trennwand zwischen Küche und Kantinenraum herunterdonnern ließen. Wetter lief zum Physikerbunker. Der Weg zwischen Kantine und Bunker war der einzige ohne Klimaanlage. Wetter wurde betrunken von dem kalten Wind. Im Laufen legte er den Kopf in den Nacken und ließ die violetten Wolken übers Gesicht ziehen. Sandners Frauengeschichte und die Erleichterung über den gefundenen Fehler mischten sich zu einem Gefühl der Rührung, als hätte man einem Gefangenen die vorzeitige Entlassung versprochen. Dabei schämte Wetter sich, daß er sich über den Programmfehler solche Sorgen gemacht hatte und sich jetzt so freuen konnte. Aber in der Ebene kommt einem die kleinste Erhebung bedeutend vor, dachte Wetter. Die Tafel war rissig und uneben. Die Kreide sprang
beim Schreiben hin und her und brach gelegentlich ganz ab. Wetter begleitete das mühsame Malen der Integralzeichen und partiellen Differentialquotienten mit erläuternden Bemerkungen. Die Kreide schien eher den Höckern der Tafel zu folgen als Wetters Absichten. Aber er vergaß wie immer, wenn er vor einer Gruppe sprach, allmählich die Zuhörer, das Thema und sich selbst. Weit abseits stand er, klein und unscheinbar, und lauschte überrascht den folgerichtigen Ketten der Argumente, beobachtete wie durch ein Fernrohr seine Hand, die ohne Stocken Zeilen mit Symbolen aneinanderreihte. Um beim Schreiben nicht nur die Tafel anzusprechen, drehte er den Kopf zur Seite, bis er aus dem großen Bibliotheksfenster in die weite Landschaft sah. Wenn er sich an die Zuhörer wandte, um eine Formel zu interpretieren oder den nächsten Gedankengang vorzubereiten, dann erschrak er darüber, wie klein das Zimmer war und wie bekannt die gleichgültigen Gesichter. Ingarden hatte beide Hände vors Gesicht geschlagen, als hätte er soeben eine entsetzliche Nachricht erhalten. Falk gähnte, nickte ernsthaft oder runzelte fragend die Stirn. Huber blickte drein wie ein Sterbender, mit abgesackten Lidern, so daß Wetter nur das Weiße seiner Augen sah. Ein andermal kippte Huber der Kopf ins Genick, und er mußte sich
mit beiden Händen an der Tischplatte festhalten. Also sprach Wetter lieber zur Landschaft. Er erklärte ihr, welche Überlegungen bekannter Autoritäten er sich zu eigen gemacht, wie er sie für sein Arbeitsziel modifiziert und ausgebaut hatte. Gleichmütig nahmen die Wiesen zur Kenntnis, welche Näherungen und Idealisierungen Wetter gemacht hatte, um seinem Problem näherzukommen, mit was für Tricks und Winkelzügen er versucht hatte, es zu überlisten, um in symbolischer Beschreibung das nachzuzeichnen, was der Gegenstand seiner Wissenschaft, die sogenannte Natur, von Anbeginn unbeobachtet getan hatte. Er erläuterte den Wolken und den fernen Bäumen, welche Vereinfachungen nötig gewesen waren, um das unübersichtliche Treiben der Atome gemäß den Interessen von Wetters Auftraggebern zu schematisieren, zu ordnen, in eine Form zu bringen, zu Ergebnissen zukommen. Wetter zeigte auf, wie weit die Ergebnisse seiner Überlegungen mit den Tatsachen übereinstimmten, die die Praktiker mit ihren Versuchen ermittelt hatten. Er wies darauf hin, daß seine Idealisierungen nicht im Widerspruch zu jenen standen, die dem Experiment zugrunde lagen. Am Ende faßte er zusammen: Sein Rechenprogramm erlaubte, das Ausmaß der Schäden anzugeben, die der Beschuß durch schnelle und
schwere Teilchen in einem festen Körper anrichtete. Er wandte sich von der Landschaft im Fenster den Menschen in der Bibliothek zu und lauschte der Stille nach dem Verstummen seiner Stimme. Sie räusperten sich, rutschten in den Stühlen hin und her. Huber erwachte und nickte beifällig. Die Diskussion war kurz. Ingarden wollte wissen, wie man die Rechnung weiter vereinfachen könnte, um ein standardisiertes Prüfverfahren für bestrahlte Metallteile in Reaktoren daraus zu machen. Falk erkundigte sich nach Details der theoretischen Annahmen und äußerte Zweifel über das Vorzeichen eines bestimmten Rechengliedes. Wetter verteidigte seine Rechnung, war aber Falk sehr dankbar, weil er vermutete, daß hier der Fehler stecken mochte, den er tagelang verfolgt hatte. Huber formulierte ein überschwengliches Lob, dem Costello sich anschloß: Er unterstrich die Übereinstimmung mit seinen Experimenten. Abschließend äußerte Ingarden, daß Wetter nun, »wie von uns kürzlich besprochen«, das Rechenprogramm auf bestimmte Spezialfälle anwenden würde. Man stand auf, jeder ging zurück an seine Arbeit. Wetter wischte die Tafel ab und hatte das Gefühl, anstelle einer naturwissenschaftlichen Abhandlung ein Zauberkunststück geliefert zu haben: Nicht die Na-
tur folgte seinen Rechnungen, sondern Huber und Ingarden hatten seinen Fehler nicht gefunden. Die Natur lag ungerührt draußen vor den Fenstern, bei Tag und bei Nacht, sie blieb sich vor und nach Wetters Forschungen gleich, sie war vor ihm gewesen und würde nach ihm sein. Es war alles nur ein Spiel: Wetter wollte nicht entlarvt werden, Ingarden wollte seinen Auftraggebern zu Diensten sein. Falk hingegen hatte wirklich Interesse an der Wahrheit. Aber ihm erschien sie in Form mathematischer Formeln. Wenn auf seinem Papier alles stimmte, war er zufrieden. Jetzt war die Bibliothek leer, Wetter sammelte seine Zettel ein und blickte verloren aus dem Fenster. Was hatte seine Arbeit mit der Welt da draußen zu tun? »Eine hübsche Arbeit«, sagte Falk, als sie nach Wetters Vortrag wieder gegenüber an ihren Schreibtischen saßen. Sie waren allein, weil Huber mit Ingarden seine USA-Reise besprach. »So wie sie jetzt ist, liefert sie freilich nur eine Interpretation für die Experimente. Man müßte sie verallgemeinern und hätte am Ende eine originelle Vielkörper-Streutheorie. Reizt dich das nicht?« »Doch, doch«, sagte Wetter unentschlossen. »Du mußt loskommen«, sagte Falk heftig, »abheben
mußt du von hier, so:« Er beschrieb mit der flachen Hand eine Kurve von der Tischplatte in die Luft. »Das ist doch alles kleine Scheiße hier, dieses Gefeilsche um Apparate, dieses Forschen mit der Nase am Boden. Wir sitzen wie die Hinterwäldler in diesem gottverlassenen Institut und werden immer mehr zu einem Selbstbedienungsladen für die Kernindustrie. Aber von diesen Schweinereien rede ich nicht. Ich rede nur von unserer Karriere. Schau dich doch an. Wir sind bald dreißig und wursteln immer noch an Schulaufgaben herum wie die Dissertanten.« Während Wetter Falks wohlbekannten Worten zuhörte, befiel ihn eine ebenso bekannte Lähmung. Ein himmelhohes Gebirge von Möglichkeiten türmte sich über ihm auf und erdrückte ihn. Man sollte abhauen, weggehen, neu anfangen. In den USA, sogar in Rußland konnte man als Gast arbeiten. Was hielt ihn hier? Mit Martha war es aus, Kinder hatte er nicht, nur eine Mutter, die ihm Briefe schrieb. Aber es waren zu viele Möglichkeiten, Wetter konnte ja überall hin. Es war unwahrscheinlich, daß er zufällig das Richtige treffen würde, und wenn nicht, dann würde er ebenso herumsitzen wie hier. Schlimmer: Er verstand dann nicht einmal die Sprache, benötigte einen Stadtplan, mußte nach dem einfachsten in einer fremden Sprache fragen.
Ratlos trat er ans Fenster. Caterpiller schoben draußen Erdhaufen vor sich her, zwischen Stapeln von Traversen und Platten. In den letzten Tagen war ein langer Graben entstanden, der ein großes Viereck hinter dem Institut umschloß. Daneben lag ein hoher Aluminiumzaun in der Wiese, der sich am oberen Ende gabelte, um dicke Rollen von Stacheldraht aufzunehmen. Auf dem Gelände sollte in unglaublich kurzer Bauzeit der neue Reaktor entstehen. Man hörte von Protesten der Bauern aus der Umgebung und von bevorstehenden Märschen überregionaler Bürgerinitiativen. Ein Wassergraben und doppelte Drahtverhaue sollten das Areal vor einer Besetzung schützen. Durch Falks Rede kam es Wetter vor, als arbeite er in einem Gefängnis, dessen Ausbruchssicherung verstärkt werden sollte. In seinem Rücken behauptete Falk gerade, daß Wetter vor einer Entscheidung stehe: Entweder er mache Ingardens Spiel weiter mit und stelle seine Arbeit in den Dienst der Reaktorindustrie – oder er stelle sich auf die Hinterbeine und behaupte seinen Status als Theoretiker, indem er das Neue an seinem Programm deutlicher unterstreiche und eine Veröffentlichung in einer internationalen Zeitschrift für theoretische Physik anvisiere, um damit seine Abwerbung an ein ausländisches Institut vorzuberei-
ten. »Mich kauft hier niemand ein«, stellte Falk fest, »ich bin auf dem Sprung. Warum, glaubst du, fahre ich zu jeder Tagung? Man muß die richtigen Leute kennenlernen, und die sitzen nicht hier: In einem halben Jahr bin ich in Genf beim neuen Beschleuniger, wollen wir wetten? Auch mir will Ingarden ein sogenanntes praxisbezogenes Projekt einreden, aber ich mache eisern meine Rechnungen über elektromagnetische Felder, weil man das für die Arbeit an Beschleunigern braucht.« Wetter sah Falk an. Er glaubte ihm nicht, daß er den Absprung schaffen würde. Falk, dachte er, du bist ein kleiner Athlet, aber deine müden Augen strafen dich Lügen. Vielleicht wäre ein Energiebündel und ein Bergsteiger aus dir geworden, aber dann hättest du nicht deine besten Jahre in einem verschwitzten Hörsaal versitzen dürfen. Falks Haut verlor nicht einmal im tiefsten Winter ganz den Olivton der Gletscherbräune. Aber auf seinem Hinterkopf und auf seinen Schultern sah Wetter Staub wie auf den Bänden in der Bibliothek. Das senkt den halsstarrigsten Kopf, das drückt die besten Schultern nach vorn. Falk hatte energische Kiefer und einen klaren breiten Mund, aber an den Schatten um die Augen war nicht zu rütteln. Das
kommt von den Nächten, dachte Wetter, in denen die Zeichen mit einem umspringen und einem ihren eigentümlichen federnden Widerstand entgegensetzen, der elastischer ist als der von Dingen, aber ungleich härter als der von Gedanken. An einem der Abende in dieser Zeit meldete Wetter sich telefonisch bei einer der beiden Frauen, die ihn mit sich schlafen ließen. Sie war unverheiratet und lief Gefahr, ledig in das gefährliche Alter zu geraten, bei dem jeder sich sagt, daß diese Frau nicht ohne Grund allein geblieben ist. Sie hatte sich mit diesem Stand der Dinge offenbar abgefunden und entwickelte einen Galgenhumor, der Wetter sehr sympathisch war. An diesem Abend hatte er Pech. Sie war in einer ihrer depressiv-wütenden Stimmungen, worin sie den Mann im allgemeinen verfluchte und Wetter im besonderen. Er ließ sich jedoch, da er sich seit Tagen nach einem Körper sehnte, auf das etwas widerliche Spiel ein, sie zu einem Treffen zu überreden und zu versprechen, daß es beim Reden bleiben würde. Erfahrungsgemäß würde es ihm im Lauf des Abends gelingen, ihre Laune zu heben und die Nacht mit ihr zu verbringen. Sie trafen sich in einem Weinlokal in der Nähe ihrer Wohnung, und Wetter begann sofort, lustig zu tun und ihr vorzuschlagen, das Leben leichtzunehmen.
Sie ging darauf nicht ein, wurde immer verstockter und er immer ungeduldiger. Sie warf ihm und seinem ganzen Geschlecht vor, die Frau immer nur auszunützen, immer nur das eine zu wollen und keiner menschlichen Regung fähig zu sein. Einen eiskalten Verstandesmenschen nannte sie ihn, der nichts als Formeln und Ficken im Kopf habe, was einer Frau zu wenig sei. Wetter, der gereizt wurde, da er die Felle davonschwimmen sah, verstärkte seine künstliche Lustigkeit. Je mehr Wein sie tranken, desto kindischer wurde er, desto wütender sie. Sein Argument, es sei besser, sich zu zweit aneinander zu wärmen, als allein in zwei kalte Betten zu steigen, kam schlecht an und wurde als Erpressung bezeichnet. »Ich kann nichts dafür, daß du mit deiner Frau nicht auskommst«, rief sie schließlich, »frag dich einmal, woher das kommt, red mit ihr drüber und laß mich in Ruhe.« Wetter sagte grinsend, es mache ihm mehr Spaß mit ihr als mit Martha. »Mir egal«, schrie sie, daß die Gäste hersahen, »steck dein Ding woanders rein oder mach’s mit der Hand. Ich bin ein Mensch und kein Loch, merk dir das!« Wetter schielte verlegen zu den anderen Tischen hinüber und murmelte, sie sei für ihn bestimmt kein Loch, sondern ein wichtiger Mensch. »Einen Men-
schen ruft man nicht einmal im Monat an«, sagte sie. Wetter erklärte, da sei sein Beruf schuld. Leider gelang es ihm nicht, bei diesen Worten sein trunkenes Grinsen abzulegen. Dafür erhielt er eine Ohrfeige. Sie zahlten rasch und gingen. Draußen bettelte Wetter noch weiter herum. Er war jetzt wirklich verzweifelt und wirkte in seiner Angst, allein heim zu müssen, mitleiderregend. Das blieb zwar auf die Frau nicht ohne Wirkung, sie hatte sich jedoch bereits festgelegt und wollte diesmal nicht das Gesicht verlieren. Er sei ein netter Kerl, meinte sie, aber heute ginge nichts. Dann verabschiedete sie sich mit einer Mischung aus Mitleid und Triumph. Wetter knirschte mit den Zähnen. Er war ziemlich betrunken und wollte auf der Stelle um jeden Preis eine Frau haben. Er stürmte in die nächste Telefonzelle und rief die zweite Frau an. Sie war verheiratet, sah ihren Mann aber nur selten, da er viel auf Reisen war und andere Frauen hatte. Wetter mochte diese Frau nicht, weil sie unter der Lieblosigkeit ihres Mannes litt und mit Wetter nur unter allen Anzeichen der Trauer ins Bett ging, als sei er ein Pausenfüller oder ein schmerzstillendes Mittel. Sie hatte schon geschlafen, worauf sie in jammerndem Tonfall hinwies, und erwartete im Laufe der Nacht ihren Mann von einer langen Reise zurück.
Wetter glaubte ihr nicht und bestand darauf, sie zu besuchen. Sie überlegte lange und sagte überraschend zu. In seiner Betrunkenheit roch Wetter den Braten nicht, fuhr zu ihrer Wohnung und hob den Schlüssel auf, den sie ihm herunterwarf. Sie öffnete die Wohnungstür und sah erschreckend aus, weil sie direkt aus dem Bett gestiegen war. Zerknüllt wie ein benutztes Taschentuch, dachte Wetter. Es war ihm peinlich, daran erinnert zu werden, wie dieser Körper nachher aussah, wenn Wetter nur noch danach trachtete, möglichst schnell dem abgestandenen Dunst der ehelichen Verzweiflung zu entkommen. Wetter war jede Lust vergangen. Er fühlte sich müde, weinerlich und wollte heim in sein kühles Bett. Sie tat aber sehr einladend, bot Whisky an, der Wetter vollends lähmte, und zerstrubbelte ihm neckisch die Haare. Er geriet über diesen Angriff in ohnmächtige Wut und stand eckig auf, um zu gehen. In diesem Augenblick hörte er das Scharren eines Schlüssels und Koffer, die gegen die Tür polterten. Die Frau starrte ihn mit großen Augen an. Entsetzt merkte Wetter, daß sie nicht erschrocken war, sondern schadenfroh auf die kommende Szene wartete. Der Mann trampelte ächzend in die Wohnung und klagte schon im Flur über seine Todmüdigkeit. Er
rief nach der Frau und verlangte ein heißes Bad. Wetter stand bewegungslos, ein Bein zur Flucht in die Luft erhoben. Die Frau lachte schallend. Es war das erste Mal, daß er diese Frau lachen hörte. »Was ist, Schatz«, rief der Mann und stand schon im Zimmer. Die Frau stellte die beiden einander vor und machte vor Seligkeit kleine Schritte auf der Stelle. Wetter stand mit seinem einfältigen Grinsen mitten im Zimmer und stellte langsam den erhobenen Fuß wieder auf den Teppich. Man schüttelte sich die Hände, Wetter mußte natürlich wieder Platz nehmen und noch zwei Whisky hinunterschütten. Die Frau, der vor Vergnügen immer wieder die Stimme überkippte, stellte ihn als einen jungen Bekannten vor, der ihr neuerdings die Zeit vertreibe, während ihr Mann auf Reisen sei. Wetter dachte, daß das nichts als die Wahrheit war, und nickte plump wie ein Zirkuselefant. Wirklich hatte er das Gefühl, riesige platte kreisrunde Füße unter dem Tisch zu haben, graue wedelnde Ohrlappen, einen langen Rüssel, der ins Whiskyglas hing, und winzige gerötete Elefantenaugen. Er sah förmlich im Arm des Ehemannes die großkalibrige Safaribüchse liegen, die sich jeden Moment auf die schmerzende Stelle zwischen seinen Augen richten konnte, um ihm das Lebenslicht vollends auszublasen. Im übrigen war ihm
der Mann nicht unsympathisch. Er erzählte von Nordirland, wo er soeben geschäftlich gewesen war, und wurde ganz neugierig, als er Wetters Beruf erfuhr. Was Wetter von der Gefährlichkeit des Atoms halte, wollte er wissen. Wetter fiel zunächst unter dem Druck dieser Frage noch mehr zusammen, raffte sich dann aber zu einem wirren Vortrag auf. Er unterstrich sowohl die Segnungen der friedlichen Nutzung des Atoms als auch die Schönheit der Natur, die durch die moderne Technik bedroht sei. Er wurde immer lyrischer. In seinem Zustand merkte er nicht, daß seine Ausführungen sich ungebührlich in die Länge zogen, daß die Frau den Spaß an ihrer kleinen Überraschung verloren hatte und hungrig den Gatten fixierte, der mit mühsam aufgerissenen Augen Wetters Gestammel zu folgen suchte. Endlich verstand Wetter das Gähnen des Mannes und die wütenden Blicke der Frau. Er stand auf, man seufzte erleichtert, die Frau war verschwunden, der Mann schob Wetter mit einknickenden Knien vor die Tür und gab undeutlich der Hoffnung Ausdruck, ein andermal das Funktionieren eines Atomreaktors zu verstehen. »Ja«, lallte Wetter, »ich versteh’s auch nur theoretisch. Nacht.« Erst als er vorsichtig heimwärts steuerte, kam ihm
der Gedanke, daß er an einem Abend von seinen zwei Frauen eineinhalb verloren hatte. »In der Praxis ist alles viel schwieriger«, sagte er laut, während er vor Müdigkeit schwankend seinen Schlüssel suchte. Der Himmel hatte schon das Taubengrau kurz vor der Morgendämmerung angenommen. Aus dem Bett glotzte Wetter in den Himmelstreifen über dem Dach gegenüber und murmelte mit zusammengebissenen Zähnen »Scheiße, Scheiße, Scheiße«, bis er einschlief. Nach zwei Stunden schnarrte der elektrische Wecker. Heiße Tage kamen. Sonntags lag Wetter lange unentschlossen im Bett, die Sonne klebte wie Eiklar auf seinem Gesicht. Die Wochenenden waren furchtbar, weil er keinen Menschen hatte. Er fühlte sich vertrocknet und dürr, verging fast vor Durst nach einem Gespräch und Berührungen. In ihm schwappten abgestandene Wassermassen, Tränen, die ihm bis zum Hals standen. So, mit dem aufgetriebenen Wasserbauch eines verirrten Kamels, schwankte er zum Spiegel und wusch die bekannte Visage. Er legte sich die Haare zurecht und schnitt ein paar Grimassen.
»So geht das nicht weiter«, teilte er dem Spiegelbild mit und hörte das Echo aus einer unendlich langen Kette identisch wiederholter Badezimmer. Er starrte sich an, bis er vor einem Unbekannten stand, da wurde ihm leichter. Nach dem Frühstück rollte er die Badehose in ein Handtuch und fuhr im glühenden Auto durch die hellgraue, zitternde Stadt. Im Strandbad verwandelte er sich in einen Vogel Strauß, der im Stechschritt über die Wiesen trabte und mit langgebogenem Hals einen guten Platz suchte, um den Kopf in den Boden zu stecken. Schließlich fand er ein lesendes Mädchen und breitete daneben sein lächerliches Tuch aus. Auf beide Ellbogen gestützt sah er sich scheinheilig um und überlegte einen passablen Gesprächsbeginn. Als er den Mund aufmachte, überrieselte ihn ein Sprühschauer: Ein Mann kam aus dem Wasser gelaufen, besprenkelte das Mädchen und legte sich keuchend auf ihren Rücken. Nach einigen Minuten, in denen Wetter mit schmalen Augen das Badeleben gemustert hatte, hopste er auf die Füße, rollte das Tuch ein und ging. Da er nicht im Wasser gewesen war, fühlte er sich benommen und verschwitzt. Er fuhr in den ausgestorbenen Stadtkern, stellte sein Auto an den Straßenrand und bummelte durch die verstaubten
Schluchten. In den Seitengassen murrte gelegentlich ein Motor, prallte hin und wieder ein Knall oder Pfiff gegen die verhängten Fenster. Wetter stellte sich vor, daß ein Atomkrieg das Land entvölkert hatte, er wanderte als letzter Überlebender durch die Hauptstadt und lebte wie ein Wilder von Beutezügen durch die Regale der Selbstbedienungsläden. Jede Nacht schlief er in einem anderen Haus, tankte kostenlos an den Tankstellen und fuhr abends auf die Hügel am Stadtrand, um auf das Häusermeer herabzublicken, wo noch immer automatisch die Straßenbeleuchtung ansprang und die roten Markierungslampen des Funkturms auf der anderen Seite des Flusses. Wetter ging an Kinoplakaten vorbei. Jerry Lewis drehte die Schuhspitzen einwärts und schielte, aus dem schwarzen Eingang roch es kühl nach Kaugummi. Nach wenigen Metern kehrte Wetter mit einem halblauten Fluch zum Kinoeingang zurück. Als Wetter in sein Arbeitszimmer trat, drehte Huber sich mit breitem Grinsen um. »Guten Morgen! Schon gelesen?« rief er, Wetter wußte nicht, ob fröhlich oder in Wut. Da er seit Tagen keine Zeitung angerührt hatte, antwortete er mit einem Kopfschütteln.
Morgens stand er schwer auf und brauchte mehrere Stunden, um sich mit ein wenig guter Laune zu panzern. Der laute, aus Prinzip stets gut aufgelegte Huber tötete ihm vor allem in der ersten Arbeitsstunde den Nerv. Er setzte sich, nachdem er den üblichen langen Blick aus dem Fenster geworfen hatte, und griff nach einem Band der ›deutschen Zeitschrift für Physik‹. Vor dem Fenster war eine tiefe Grube entstanden, der Doppelzaun stand schon. In dem abgegrenzten Gebiet lagen Segmente eines eiförmigen Gehäuses. Pumpen? Turbinen? Ein Reaktorkern? In seiner Gereiztheit stieß er sich daran, daß niemand die Sprache auf den neuen Reaktor gebracht hatte, seit Huber, Falk und er selbst über die Bedrohung ihrer theoretischen Arbeit durch diesen Bau gesprochen hatten. Reden können wir, das ist auch alles, dachte er und hatte große Lust, mit einem Flammenwerfer durchs Institut zu springen und alle, alle abzubrennen wie Weihnachtskerzen. Jetzt stürmte auch noch Falk ins Zimmer, das nach ihrer übereinstimmenden Meinung höchstens groß genug für zwei Schreibtische war, knallte unerhört laut mit der Tür und schmiß seinen Stuhl gegen die Wand, daß ein Verputzfladen in einer weißen Wolke zu Boden fiel.
Erschrocken und zornig sah Wetter auf. Falk war bis an die Lippen blaß und zitterte. »Los, Wetter!« schrie er und schlug auch noch mit der Hand auf den Tisch. »Zum Chef! Du wirst verlangt! Lauf schon, wenn er pfeift! Und schön wedeln! Immer schön wedeln!« Eine betretene Pause folgte. »Was ist hier eigentlich los?« fragte Wetter schließlich. »Entschuldige«, sagte Falk, »aber so was war überhaupt noch nie da. Du wirst es gleich erleben. Es hat keinen Sinn, jetzt darüber zu reden. Geh erst einmal zu Ingarden. Das können wir uns nicht bieten lassen.« Verdattert sah Wetter die beiden anderen an. Falk zitterte noch immer. Das Blatt, das er studierte, flatterte in seiner Hand. Huber grinste und zwinkerte verschwörerisch herüber. »Geh erst einmal«, sagte er. Wetter stand auf. Er beobachtete, daß er wie ein Schüler auf dem Weg zum Direktor zu grübeln begann, was er angestellt haben konnte. Auf dem kurzen Weg zu Ingardens Büro legte Wetter den Kopf schief und versuchte, mit neuen Augen den Gang zu sehen, den er im Schlaf kannte: den graumelierten Kunststoffbelag, die weißen Betonwände, in
die die Maserung der Holzverschalung gepreßt war, den hüfthohen gelben Anstrich, die weißen Kabelstränge an den Wänden und an der mit weißen Preßspanplatten verkleideten Decke. In regelmäßigen Abständen die Metallrahmen der weißen Türen und die langen, muschelförmigen Klinken, die Namen auf blauen Plastikbändchen und die milchige Neonschlange, die Tag und Nacht im fensterlosen Gang leuchtete. Er passierte die Spickwand, an der Rundschreiben und Verlautbarungen in dem von ihm erzeugten Luftzug pendelten, die Einladung zur Institutsfeier im vergangenen Februar, die Ankündigungen von Gastvorträgen und Tagungen. Auch die vom Computer ausgedruckte, aus lauter »M« zusammengesetzte Micky-Maus-Figur fehlte nicht, und noch immer hing die ausgebleichte Ansichtskarte des Zuckerhutes von Rio de Janeiro da. Vor Ingardens Tür, die Klinke schon in der Hand, den gewohnten elektrischen Schlag noch als Stich in den Fingerspitzen, sah er noch einmal den Gang auf und ab. Er stellte sich die menschenleere weiße Schachtel als Bild an der Wand einer Kunstausstellung vor, mit der Unterschrift: ›Welt des Angestellten‹. Hinter der Tür schlurfte Ingarden über den Teppichboden und stöhnte oder gähnte. Wetter setzte ein leeres, aufmerksames Gesicht auf und trat ein.
Ingarden nahm das müde Gesicht aus den Händen und legte sie wie eine Schale auf den Schreibtisch, hob sie dann mühsam hoch und tat, als solle Wetter auf ihnen Platz nehmen. »Ach ja«, seufzte er, »bitte, bitte.« Wetter setzte sich in einen mit blauem Kräuselstoff bezogenen Polstersessel. Dabei trat er Ingarden auf die Füße, die ausgestreckt weit ins Zimmer ragten. »Au weh«, rief der Chef leise und klagend. Wieder nahm er sein Gesicht in die Hände und versuchte, die ewige Müdigkeit daraus zu wischen. Wetter entschuldigte sich und rückte mit dem Sessel noch weiter von Ingarden ab. Aber da winkte ihn dieser schon wieder zu sich und wies auf eine Tageszeitung, die vor ihm auf dem Tisch lag. Mit gespielter Neugier verdrehte Wetter den Kopf. Ingarden klappte die Zeitung zu und meinte: »Haben Sie ja gelesen.« Wetter verneinte. »So!« sagte der Chef äußerst erstaunt und fixierte seinen Untergebenen mehrere Sekunden lang mit schmalen Augen: »So, so!« »Aha!« setzte er nach einer Pause fort, »dann müssen Sie das erst lesen? Hier«, er streckte Wetter das Blatt mit abgewandtem Gesicht hin, sah kopfschüttelnd aus dem Fenster und gähnte abgrundtief. Wet-
ter überflog die erste Seite. »Nein«, rief Ingarden ungeduldig, als er seinen Blick von der Aussicht losgerissen hatte, »hinten im Lokalteil. Es ist rot angestrichen.« Wetter raschelte umständlich mit den Seiten. Ein Pferd setzte über ein künstliches Hindernis, die Reiterin sah ihm von oben unter den Bauch. Eine Frau mit Schürze und Kopftuch streckte auffordernd einen Blumenstrauß aus der Zeitung. Sport. Kurz berichtet. Da: »REAKTORUNFALL IN SIEGDORF?« stand da, gleich neben »BAUERN KLAGEN ÜBER KÄFERPLAGE«. Wetter las: »Strahlenalarm gab es am Mittwoch im Reaktorinstitut Siegdorf. Die institutseigene Schutztruppe trat sofort in Aktion und sperrte die unmittelbare Umgebung des Forschungsreaktors ab. Alle Beschäftigten wurden nach Hause geschickt. Wie ein Angestellter des Instituts uns mitteilte, wurde die Belegschaft über den mutmaßlichen Unfall nicht informiert und kehrte Donnerstag früh wie gewohnt an den Arbeitsplatz zurück. ›Es sind allerhand Gerüchte im Umlauf‹, teilte unser Gewährsmann mit. Er behauptete, Ohrenzeuge einer Unterhaltung über ein Leck im Kühlkreislauf des Reaktors geworden zu sein. Auf telefonische Anfrage dementierte der Institutsvorstand, Professor Dr. M. Ingarden, dies als
haltlose Spekulation, die vermutlich von interessierter Seite zum Zweck der Panikmache ausgestreut worden sei. Er erinnerte in diesem Zusammenhang an die angedrohten Protestaktionen radikaler Gruppen gegen den im Bau befindlichen neuen Reaktor des Siegdorfer Instituts. Es habe sich um eine Strahlenschutzübung gehandelt, von der naturgemäß die Angestellten nicht vorher informiert worden seien. ›Hier weiß jeder, daß es nur eine Übung war‹, versicherte der Professor unserer Zeitung am Telefon.« Da Ingarden wieder zum Fenster hinaussah, begann Wetter nun auch noch die Meldung über die Käferplage zu lesen. Durch ein bestimmtes Düngemittel war die Vermehrung einer Schädlingssorte gefördert worden, die früher von einer inzwischen ausgerotteten Art dezimiert worden war. Jetzt ging der Streit darum, ob das Düngemittel abgesetzt werden oder zusätzliches Vernichtungsmittel gegen die gefräßigen Käfer beigemischt werden sollte. »Jetzt müssen Sie die Schweinerei aber dreimal gelesen haben«, sagte Ingarden auf einmal empört. Wetter faltete die Zeitung und nickte. »Und was sagen Sie dazu?« »Peinlich«, meinte Wetter und grinste. »Peinlich allerdings!« dröhnte Ingarden und ließ eine Hand vom Nasenrücken durch die Luft segeln
wie von einer Sprungschanze. »Und weiter? Wer ist es? Sind Sie der… der Informant?« Wetter errötete tief. Jetzt verstand er Falks Wut und Hubers Zwinkern. Mit großen Augen begann er langsam den Kopf zu schütteln und stand dabei allmählich auf. Schließlich stand er mit auf dem Rücken gefalteten Händen aufrecht vor dem Chef und schüttelte immerfort sprachlos den Kopf. »Einer muß es doch gewesen sein«, fuhr Ingarden eindringlich fort, so als sei Wetter schon längst überführt und müsse nur zur Abrundung noch das Geständnis abliefern. »Aber natürlich war’s keiner«, setzte er hinzu, mit einem bübischen Lächeln, das auf der grauen Maske gespenstisch aussah. »Ich frage einmal so«, sprach Ingarden weiter und ließ jeden Rest von Heiterkeit aus seinem Gesicht fallen, »können Sie mir sagen, Herr Doktor Wetter, wer aus unserem Institut imstande wäre, ein so schädliches Gerücht herumzuerzählen und mit seinen schmutzigen Geschichten sogar zur Presse zu laufen?« So lauernd die Frage gekommen war, von unten wie ein bissiger Hund in Wadenhöhe: Ingarden machte ein höchst unschuldiges Gesicht und sah verloren aus dem Fenster in die Gegend. Wetter sauste das Blut in den Ohren, und vor Gekränktheit und ohnmächtiger Wut traten ihm Tränen in die Augen. Das
böse Schweigen dauerte eine Ewigkeit. »Gut«, sagte Ingarden und blickte Wetter mit hängender Unterlippe an, »Schweigen ist auch eine Antwort. Das sind Mitarbeiter! So etwas kommt auch nicht von heute auf morgen. Da wird doch geredet, da hört man doch schon einmal das eine oder andere. Ich weiß allmählich überhaupt nicht mehr, was in eurem Zimmer los ist. So eine Verstocktheit, so eine Überheblichkeit! Sie sind hier angestellt und haben Ihre Arbeit zu machen wie alle anderen. Und wenn das Institut sich auf den neuen Reaktor umorientiert, dann orientiert es sich eben um. Das ist ein normaler Vorgang. In anderen Betrieben wird die Produktion umgestellt, und ganze Belegschaften fliegen auf die Straße. Bei uns nicht. Von uns wird nur verlangt, in einer neuen Richtung zu forschen. Das erfordert naturgemäß neues Einarbeiten, neue Qualifikation. Stolz solltet ihr sein, für ein Projekt zu forschen, das international eine Pionierleistung darstellt. Aber bitte. Man sperrt sich, man will Theorie, man will von einem Kongreß zum anderen, ohne höhere Mathematik geht’s nicht. Glauben Sie mir: Ich würde auch lieber frei forschen, als mich mit der Presse ärgern zu müssen!« Wetter verstand nichts. Wie kam Ingarden von dieser Zeitungsmeldung auf den Widerstand der Theo-
retiker gegen die Gängelei ihrer Forschung? Woher wußte er überhaupt von ihrem Gespräch damals, unter sechs Augen, als sie beschlossen hatten, sich zu wehren? Seither war doch nichts geschehen! Wurde man bespitzelt? Der Chef sah jetzt unter den Tisch auf seine durchgestreckten Beine und sagte: »Und wenn man schon etwas gegen mich hat, dann soll man zu mir kommen und offen sein. Offenheit bitte ich mir aus. Aber nicht zu irgendeinem bezahlten Schmierer rennen und sich mit so was an mir rächen wollen«, und er deutete auf die Zeitung, die hinter Wetter auf dem Sessel lag. Wetter drehte sich um und starrte verwirrt hin. Dann hob er das raschelnde Papier langsam auf und trug es zu Ingardens Tisch. Sein Hals klopfte dick geschwollen gegen den Kragenknopf. Sicher war er noch immer rot im Gesicht. »Also: Ich war’s nicht!« brachte er dabei mit weinerlicher Stimme heraus und drehte sich zur Tür. »Gehen Sie!« sagte hinter ihm der Chef zu allem Überfluß leise, »das ist keine Zusammenarbeit, das kann ich Ihnen sagen. Auf so etwas können wir hier verzichten.« Wetter, mit dem Gesicht fast an der Tür, erstarrte. Sein Zorn schlug in nackte Angst um. Er machte kehrt und begann schnell auf Ingarden einzureden:
»Es stimmt, daß wir einmal darüber gesprochen haben, wie wichtig das theoretische Forschen für uns ist, daß wir uns dagegen wehren, nur für den neuen Reaktor zu arbeiten.« Ingarden sah ihn entsetzt an. Zu spät erkannte Wetter, daß der andere dies alles zum ersten Mal hörte; er hatte nur auf den Busch geklopft. Um so rascher flüchtete Wetter nach vorn: »Aber über einen solchen Schritt«, er wies auf die Zeitung, »wurde kein Wort gesagt. Ich halte keinen unter uns für fähig…« »Fähig oder nicht, Ihre Kollegialität in Ehren«, unterbrach der Chef, »aber von irgendwoher muß es kommen. Ich hatte schon meinen Verdacht, und den haben Sie soeben selbst bestätigt.« Wetter schüttelte zwar verzweifelt den Kopf, aber jetzt war alles verfahren. Ingarden hob die Hand, zugleich das Wort abschneidend und verabschiedend: »Sie gehen jetzt an Ihre Arbeit und sperren die Ohren auf. Schlimm genug, falls Sie wirklich nichts bemerkt haben sollten. Geben Sie wenigstens von jetzt an acht. Einer von Ihnen dreien muß es gewesen sein. Je rascher Sie herausbekommen, wer, desto eher ist der Verdacht von Ihnen abgewendet. Auf Wiedersehen!« Wetter machte, daß er aus dem Zimmer kam, ehe
Ingarden die Tränen sehen konnte, die ihm erneut aufstiegen. Er lief zur Toilette und sperrte sich ein. Auf der Muschel sitzend zog er seinen Block und einen Kugelschreiber aus der Tasche. Links schrieb er »Chef« und rechts, hinter einem Strich, »Huber«, »Falk« untereinander. Dann fügte er in der Mitte »Wetter« hinzu. Er zog Pfeile zwischen den Namen und bewertete sie mit einem Plus- oder Minuszeichen. Der Pfeil von Falk zu Ingarden bekam ein Minus: Falk haßte den Chef. Das Verhältnis Huber-Ingarden erhielt in beiden Richtungen ein Plus. Auch zwischen Wetter und Falk herrschte ein positives Verhältnis. Dann wußte Wetter nicht weiter und warf den Zettel zwischen seinen Beinen durch in die Muschel. Draußen kam jemand pfeifend herein und begann, in der hallenden Akustik der gekachelten Toilette ›La Paloma Blanca‹ zu trällern. Wetter hockte lautlos da und schämte sich in Grund und Boden. Plötzlich entdeckte er, daß er seine Kabine nicht abgeschlossen hatte. Was, wenn jemand die Tür aufriß und ihn mit hochgezogener Hose auf dem Abort entdeckte? Er wagte nicht, in Gegenwart des Unbekannten den Riegel auf »Besetzt« schnappen zu lassen. Er flehte, daß jetzt niemand die Tür aufriß und ihn so sitzen sah. Wenn schon, dann sollte der andere blindlings
hereinstürmen, sich sofort umdrehen, die Hose herunterziehen, sich fühllos auf Wetters Schoß setzen und ihm auf die Schenkel scheißen! Endlich war die Gefahr vorbei. Wetter ließ geräuschvoll das Papierkügelchen hinunter und wusch sich im Vorraum das Gesicht. Er kämmte sich umständlich und ging, völlig verwirrt, gänzlich unvorbereitet auf die Fragen der Kollegen, zu seinem Arbeitszimmer. Das Atom war schuld an Wetters Berufswahl gewesen. Eines Tages in seiner Kindheit tauchte das Wort auf wie ein Besuch, der auf weiten Reisen das Haus berührt und alles verändert. Es paßte in die Jugendbuch- und Abenteuerwelt des kleinen Wetter und war doch anders als »Antarktis«, »Atlantis«, »Wikinger« und »Kreuzritter«. Zwar klang es ebenso fremd, mit dem kurz ausholenden hellen »A« und dem wie ein geheimnisvoller Gongschlag dunkel nachklingenden »TOM«, immer leiser, ohne je ganz aufzuhören. Aber diesmal kam das neue Wort nicht als Nachricht von der anderen Seite der Erdkugel und kehrte nicht wieder dorthin zurück. Das Atom war nämlich überall, rund um Wetter und in ihm selbst. Alles besteht aus ihm: Es gibt nichts als die Atome und den leeren Raum, alles andere ist
Meinung. Unsichtbar war es, und doch setzte sich alles Sichtbare aus ihm zusammen. Mit einem Mal hatte Wetter etwas gefunden, das alles erklärte und die verwirrendsten Neuigkeiten auf ein einziges Prinzip zurückführte. Man konnte jetzt unendlich hochmütig das Kinn heben und ungerührt das allgemeine Treiben betrachten, denn es war nichts als eine Reihe von Variationen über ein einziges Thema. Mit diesem einen Wort schnellte Wetter von einem Tag auf den anderen aus der Kinderwelt weit über die Welt der Erwachsenen hinaus ins Neuland der Wissenschaft, von dem die wenigsten Erwachsenen eine Ahnung hatten. Seinem erstaunten Vater hielt er Vorträge über das Atom, seine Zusammensetzung und Spaltung. Wenn er die Antwort auf Gegenfragen, mit denen der Vater ihm Freude machen wollte, nicht wußte, lief er gekränkt zu dem illustrierten Buch über das Atom zurück und suchte die Antwort. Zu Weihnachten und zum Geburtstag wünschte er sich nur noch populärwissenschaftliche Bücher und genoß den in der Verwandtschaft sich rasch verbreitenden Ruf, ein Wunderkind zu sein, ein kleiner Einstein. Er badete in der Hochachtung, mit der die Mutter leise durchs Zimmer ging, wenn er mit gerunzelter Stirn über seinen bunten Büchern saß, beim Lesen die Lippen bewegte und mit dem Finger
der Kurve eines Diagramms folgte. Immer wieder kam er aufgeregt gelaufen und eröffnete seinen Eltern neue Tatsachen über ihr Leben, von denen sie bisher keine Ahnung gehabt hatten, obwohl sie als Gesetze jede ihrer Bewegungen bestimmten: Zum Beispiel, daß die Erdbeschleunigung neun komma einundachtzig Meter pro Sekundenquadrat beträgt, daß im luftleeren Raum alle Körper gleich schnell fallen, daß jede Kraft eine gleich große Gegenkraft erzeugt, daß das Atom aus einem Kern besteht, um den Elektronen kreisen, die wiederum die kleinsten Bestandteile des elektrischen Stroms sind. Es war ihm unbegreiflich, wie man leben konnte, ohne von diesen Grundlagen jeder möglichen Tätigkeit das mindeste zu wissen. Er pflegte damals oft an den überraschendsten Stellen einen Kopfstand zu machen, um die Dinge verkehrt zu sehen, die Erde oben, den Himmel oder die Zimmerdecke unten, und ganz anschaulich die Schwerkraft zu beobachten, die alle Gegenstände an die Erde preßte, die Lampenschnur geradestreckte und den verblühten Löwenzahn gegen den Luftwiderstand langsam aber sicher an sich zog. Bald mußte er entdecken, daß seine Aufklärung auf Gleichgültigkeit stieß. Sein Status als physikalisches Wunderkind blieb unangefochten, aber als Prophet der wissenschaftlichen Wahrheit
hatte er wenig Zuspruch. Rund um ihn lebte man blind weiter, unterwarf sich der Schwerkraft, benützte den Strom und war aus Atomen zusammengesetzt, ganz unbewußt und keck, wie Affen in einer Fabrik. Also entdeckte Wetter nun die Einsamkeit des Wissenschaftlers: Da sitzt er, nachts, wenn alle schlafen, und forscht unermüdlich den Dingen nach, die andere erst lange nach seinem Tod verstehen werden. Aber die postume Achtung ist dem wahren Forscher Dank genug. Gern steckt er das Lächeln und Tuscheln der Zeitgenossen ein, denn sie wissen nicht, was sie tun. Erst ihre Kindeskinder werden den Forscher zu schätzen wissen und ihre Großväter verachten, weil sie den großen Mann nicht erkannten. Wetter zog sich mit den Büchern zurück, strafte die Schulkameraden mit Verachtung und nahm die dafür erhaltenen Prügel als Bestandteil des Martyriums eines wirklichen Physikers hin. Er versank in Studien, die ihn schwindlig machten und nach Stunden mit heißen Backen und brennenden Augen zu sich kommen ließen. Er erforschte jetzt das Weltall im ganzen, seine Entstehung und Geschichte, und sein vorhersehbares Ende nach Jahrmilliarden. Nachmittage lang grübelte er, während die anderen Fußball spielten, darüber nach, ob er das All mit ei-
nem Urknall oder aus einer gleichmäßigen Staubwolke entstehen lassen sollte, ob es gekrümmt sei wie ein Luftballon oder wie ein Reitsattel, ob die Entstehung von Sonnen regelmäßig mit der Bildung von Planeten verbunden sei oder eine unwahrscheinliche Ausnahme, ob es im Weltraum zahllose Planeten mit intelligenten Bewohnern gebe oder nur die Erde mit den Menschen. Er hatte es längst aufgegeben, seinen Eltern oder den Mitschülern mit Offenbarungen über die Krümmung des Raumes, den Urknall oder die Wahrscheinlichkeit bewohnter Planeten zu kommen. Denn je weiter er in seinen Studien kam, auf um so größeres Gelächter und Unverständnis stieß er. Einen einzigen Schüler gab es in einer Parallelklasse, der als Forscherkollege zu verwenden war. Der besaß ein Mikroskop und machte chemische Experimente. Mit ihm konnte man diskutieren, auch wenn er mehr praktisch orientiert war und lieber mit Schwarzpulver gefüllte Flaschen explodieren ließ oder mit Spiritus betäubte Spinnen unterm Mikroskop zucken sah als sich den Kopf über den betrüblichen Wärmetod des Weltalls in wenigen Jahrmilliarden zu zerbrechen. Nach einiger Zeit kehrte auch Wetter dem All den Rücken und widmete sich wieder dem Ausgangspunkt von allem: dem Atom. Er las, daß das Atom
aus Teilchen zusammengesetzt ist, deren Systematik man noch nicht ganz durchschaut. Hier sah Wetter natürlich eine Aufgabe. Er stellte aus allen erreichbaren Büchern Listen der bisher entdeckten Elementarteilchen zusammen und versuchte, sie in einleuchtenden Gruppen anzuordnen. Eines Tages verlangte er in einer wissenschaftlichen Buchhandlung im Stadtzentrum, wo man ihn schon kannte und mit freundlichem Spott oder leiser Besorgnis bediente, ein Buch über Kernphysik. Ein Witzbold von Verkäufer legte mit hämischem Grinsen einen dicken Band vor ihn hin. Es sah viel fader aus als Wetters bisherige Bücher und enthielt keine einzige Illustration. Obendrein war der Preis unbezahlbar. Dennoch blätterte Wetter, um das Gesicht nicht zu verlieren, mit hochgezogenen Brauen darin herum. Sofort wußte er, daß alles, was er bisher getrieben hatte, nur Kinderei gewesen war, Wissenschaft für Säuglinge, physikalische Krabbelstube. Was er für die Wissenschaft selbst gehalten hatte, war nur ihr populärer, bunter, umgangssprachlicher Aufguß gewesen. Denn hier gab es außer einem Vorwort und einigen Zeilen im Inneren kaum einen Satz in der Schriftsprache. Der Text setzte sich aus Zeichen und Buchstaben zusammen, die Wetter zum Teil noch niemals gesehen hatte. Er verstand kein
Wort, und doch war hier, so stand es im Vorwort, dauernd von den letzten Gesetzen der Natur und des Atoms die Rede. An diesem Tag kam Wetter mit hängendem Kopf heim, müde, wie ein alter Mann. Auf einen Schlag hatte er erkennen müssen, daß er kein Wissenschaftler war. Er würde Physik studieren müssen, eine Fremdsprache in unleserlicher Schrift lernen. Er hatte geglaubt, schon alles zu verstehen, und verstand wieder kein Wort. Das Atom war vom Nächsten, Bekanntesten, Einfachsten zum Fremdesten auf der Welt geworden, mit einem Ruck. Auf dem Heimweg starrte Wetter die Entgegenkommenden auf den Straßen an wie Ungeheuer. Er verirrte sich. Er verstand überhaupt nichts mehr und konnte keinen fragen. Er mußte Physik studieren, um nicht wahnsinnig zu werden und das alte Vertrauensverhältnis zur Wirklichkeit wiederzugewinnen. Er machte sich keine Illusionen mehr: Es würde schwer werden, die neue Sprache zu lernen, es würde viele Jahre dauern, bis er nach einem riesigen Umweg sich wieder so selbstverständlich in der Welt bewegen konnte, wie das alle anderen immer taten, die sich nie auf das Atom verlassen hatten. Da er sich verirrt und aus Angst niemand nach dem Weg gefragt hatte, kam er spät heim und empfing
vom Vater die erste und letzte Ohrfeige in dessen Leben. Darin sah Wetter ein Zeichen, daß er kein Wunderkind war. Bis zum Beginn des Studiums las er keine populärwissenschaftlichen Bücher mehr. Das Atom hatte seinen einleuchtenden Zauber verloren. In der Folge lernte er außerdem neue Phänomene kennen, die nach neuen Erklärungen verlangten. In der Pubertät ging er dazu über, dem Wesen der Welt nicht mehr im Atom, sondern in Detektivromanen, Bildergalerien und pornografischen Filmen nachzuspüren. Aber an seiner Studienrichtung bestand kein Zweifel. Jeder, der ihn damals kannte, ging davon aus, daß Wetter ein Physiker werden würde, und er fügte sich. Nach der Reifeprüfung belegte er die Anfängervorlesungen in Mathematik und Physik an der Universität. Auf dem Weg vom Kino zu seinem Auto entdeckte Wetter Martha auf der anderen Straßenseite. Sie ging mit gesenktem Kopf neben einem jungen Mann, der ernst auf sie einredete, wozu sie gelegentlich nickte. Mit der Hand an der Türklinke seines Wagens beobachtete Wetter, daß die beiden in ein Auto stiegen. Er wartete, bis sie ausgeredet hatten und
losfuhren. Dann folgte er ihnen. Es machte ihm Spaß, den Detektiv zu spielen, wie im Film. Er staunte, wie geschickt er es fertigbrachte, sie nicht aus den Augen zu verlieren, doch ohne ihnen so nahezukommen, daß Martha auf das ihr bekannte grüne Auto aufmerksam wurde. Sie fuhren Richtung Osten aus der Stadt, in eine Gegend, die Wetter nicht kannte. Im regen Wochenendverkehr fiel die Verfolgung nicht auf. Schließlich parkte das Paar am Ende einer Ortschaft auf einem weiten Platz. An einer Sperre zwischen altertümlich gelben Gebäuden lösten sie Karten und traten in einen unübersehbaren Park. Als Wetter dasselbe tat, sagte die alte Frau in ihrem Holzhäuschen: »Sie wissen, in einer halben Stunde wird geschlossen.« Ziellos spazierte Wetter auf halbdunklen Wegen unter überhängenden Bäumen, vorbei an einem runden Tempel, und schließlich mitten durch Gebüsch an einen fast zugewachsenen Bach. Das Plätschern des dunkelglänzenden Wassers, das Blätterrauschen und die allmählich sinkende Dämmerung machten ihn so gelassen, wie er es lange vergessen hatte. Als ihm langweilig wurde, ging er zum Auto zurück und wartete hinter dem Lenkrad auf Martha und ihren unbekannten Freund. Da kamen sie, immer noch
vertieft in ernsthafte Gespräche, und fuhren ab. Er verfolgte sie wieder. Tief und rot flackerte die Sonne hinter den Alleebäumen, im Dorf glühten die Zifferblätter der Kirchturmuhr. Dann Hochspannungsmasten auf großen Drehscheiben. Am Stadtring staute sich der zurückflutende Ausflugsverkehr zu rotglühenden Schwärmen. In einem unbekannten Stadtteil parkten die Verfolgten und betraten ein Lokal. Dort blieben sie zwei Stunden und siebenundvierzig Minuten. Wetter saß im Auto und studierte mit mutwilligem Interesse das Straßenleben. Paare liefen vorbei, ein alter Mann stützte sich an die Hauswände und atmete mit aufgerissenen Augen, als stieße er im Stummfilm einen langgezogenen Schrei aus. Drei Mädchen breiteten mitten auf dem Gehsteig eine Decke aus und legten sich kichernd darauf. Rollschuhläufer ratterten vorbei. Aus einem Fenster lehnte eine Frau und unterhielt sich mit einer, die von der Straße zu ihr aufsah. Aus einem anderen Haus blickte unbeweglich ein Mann in weißem Hemd und Hosenträgern. Unmerklich beruhigte sich das alles und verschwand. Am Ende war die Nacht gekommen, die Peitschenleuchten schienen auf die menschenleeren Steine, über die nur immer wieder ein Verkehrsteil-
nehmer brauste. Jetzt sprach Martha auf ihren Begleiter ein. Sie fuhren zu einer Wohnung in der Nähe, in einem großen Wohnblock. Wetter, um das Spiel vollkommen zu machen, stieg aus, ging ihnen vorsichtig nach und notierte die Adresse. Dann schlich er sogar ins Stiegenhaus und schrieb das Stockwerk auf, das die Leuchtziffer des Fahrstuhls anzeigte. Dann machte er zufrieden kehrt und fuhr heim. Er dachte auf der Heimfahrt darüber nach, warum er das alles getan hatte. Der Hauptgrund war, daß er so allein war und nicht wußte, was er in der Freizeit tun sollte. Bin ich eifersüchtig, fragte er sich. Nein, nur neugierig. Sein Leben war so leer, daß ihm jedes andere voller erschien. Er war einfach neugierig, wie andere mit ihrer Freizeit fertig wurden. Martha hatte ihm oft vorgeworfen, er sei ein lahmer Hund, ohne Ideen und Initiative. Also war er doch eifersüchtig auf den Mann, der ihr jetzt die Zeit vertrieb? Nein, das ließ ihn kalt, hoffte er. Wenn er eifersüchtig war, dann auf alle Menschen, die anscheinend besser zu leben verstanden als er. Am Ende kam Wetter zu dem Schluß, daß bei ihm Neugier und Eifersucht ein und dieselbe Sache waren. Seit Ingardens Anweisung, die Arbeit auf den neuen Reaktor zu konzentrieren und die Kollegen zu be-
spitzeln, distanzierte Wetter sich immer mehr vom Institut. Er hatte aufgehört, Arbeiten heimzunehmen, saß sogar die eigentliche Arbeitszeit unwillig ab und tat nur geschäftig, um nicht aufzufallen. Er nützte aus, daß in der theoretischen Forschung Fleiß oder Faulenzen nur verzögert zutage tritt. Der Fehler in seinem Rechenprogramm war behoben, aber er fütterte den Computer lustlos und unsystematisch mit kleinen Varianten des Programms, stapelte die hohen Stöße der Ausdrucke unbesehen und vertröstete sich auf die spätere Auswertung. Je mehr bedrucktes Papier sich vor ihm türmte, um so unwahrscheinlicher erschien ihm die Bewältigung dieser Aufgabe. Gelegentlich erstattete er Ingarden Bericht und skizzierte Programmänderungen, wie der Chef sie haben wollte. Ingarden ließ sich leicht auf spätere Ergebnisse vertrösten. Überhaupt schien er froh, daß der schwelende Aufruhr seiner Theoretiker nicht offen ausbrach. Oft ließ er sich tagelang nicht blicken und tauchte überraschend in einem Schwarm maßgeschneiderter Herren auf, die er aufgeräumt durchs Institut führte und aus dem Fenster hinter Wetters Rücken einen Blick auf den Bauplatz des neuen Reaktors tun ließ. Dabei saßen Huber, Falk und Wetter wie verstockte Schulbuben über ihren Tischen und ließen sich von den Herren aus der
Kernindustrie scheinbar nicht stören. Falk ignorierte sogar interessierte Fragen der Besucher. Ihnen mochte das als versponnenes Gelehrtentum erscheinen, aber Ingarden spürte die Aufsässigkeit genau. Wetter hatte begonnen, planlos Arbeiten zu lesen, die mit seinem eigentlichen Gebiet nichts zu tun hatten. Das eine Mal vertiefte er sich in die Theorie der Starken Wechselwirkungen unter den Elementarteilchen, ein anderes Mal schleppte er aus der Universitätsbibliothek eine Monographie über den Planeten Mars ins Institut. Das Buch faßte die neuen Erkenntnisse der verschiedenen Marssonden zusammen, enthielt aber auch einen historischen Abriß der Marstheorien. Es war für Wetter das Dokument eines über hundert Jahre erstreckten Enttäuschungsprozesses. Zu Anfang, als man fand, daß der Mars von allen Planeten im Sonnensystem der erdähnlichste ist, hielt man ihn für einen Wüstenplaneten mit sauerstoffreicher Atmosphäre, in der Leben möglich ist. Auch lange nachdem Schiaparellis Marskanäle sich als optische Täuschung entpuppt hatten und alle Spekulationen über die uralte Marszivilisation sogar aus den Zukunftsromanen verschwunden waren, blieb die Hoffnung auf niederste Lebensformen, Algen oder wenigstens Bakterien, die sich auf der immer un-
wirtlicher erscheinenden Marsoberfläche halten sollten. Die Marssonden hatten auch diese letzten Hoffnungen enttäuscht. Nur Unverbesserliche klammerten sich an die Idee, auf dem Mars gebe es nie gesehene kristalline Lebensformen, die in unirdischer Kälte, in erstickend dünner und giftiger Luft wachsen konnten. Diese Desillusionierung kam Wetter typisch vor. Die Wissenschaft, so wie er sie als Kind geliebt hatte, suchte in der Natur nach Gesprächspartnern. Im Weltraum vermutete sie intelligentes Leben, in der atomaren Welt menschlich-anschauliche Zusammenhänge. Doch das All erwies sich als leer und stumm, der Elementarbereich als unmenschlich verwirrend und unanschaulich. Außerhalb des Alltäglichen, jenseits eines schmalen Streifens, offenbarte die Natur ihre ganze Fremdheit und Feindseligkeit. Im All konnte man ohne Raumanzug nicht leben, die Elementarteilchen nicht anschaulich machen. Von ihrem Aufbruch ins Größte wie ins Kleinste war die Wissenschaft verstört heimgekehrt, mit verbrannten oder erfrorenen Fingern, darin bruchstückhafte Botschaften aus abstrakten Zeichen. Freilich, die Kollegen schien das nicht zu stören. Sie jonglierten mit den unanschaulichsten Formalismen wie mit Hanteln, verstiegen sich darin wie Bergstei-
ger und kamen kräftig und gesund zurück. In der Natur suchten sie nicht einen Partner, der sich fragen läßt und mit Sternenlicht und Zeigernicken antwortet, sondern fanden in ihr Gesprächsgegenstände, über die sich mit den Kollegen reden ließ wie über bestiegene Berge, gestemmte Gewichte, gehabte Frauen. Darum fühlte sich Wetter unter ihnen mit der Enttäuschung seiner Kinderträume so allein. Seit Jahren hatte er nicht so viel arbeitsfreie Zeit gehabt wie jetzt. Weder das Programm noch die Karriere ging ihm dauernd im Kopf herum. Daheim mied er den Schreibtisch und ging jeden Abend fort. Meist wurde aus diesen Ausflügen ein Kinobesuch. Anschließend suchte er in den Kneipen Zufallskontakte. Er fuhr vom Kino irgendwohin, fiel in die Tür unter einer Bierreklame, bestellte sein Halbes und sah keck herum. Wenn kein Gespräch entstehen wollte, fuhr er ein Stück weiter und bestellte wieder Bier. Am Ende war fast immer eine Unterhaltung zustandegekommen und in jedem Fall ein mittelschwerer Rausch. Er fand heraus, daß das Anknüpfen von Gesprächen sehr erleichtert wurde, wenn man etwas Besonderes an sich hatte. Darum führte er im Auto eine Mullbinde mit, die er um den Kopf wickelte, falls er an einem Abend bisher kein Glück gehabt hatte. Als Verletzter wurde man automatisch
in einen Erfahrungsaustausch über Unfälle, Ärzte, Krankenhäuser und so weiter gezogen. Durchschnittlich einmal in der Woche fuhr Wetter am Ende seiner Kneipentour langsam durch eine bestimmte Straße nahe dem Zentrum oder durch einen Park am Stadtrand. Er stellte sein Auto ab, ging auf eines der aufgedonnerten Mädchen zu und fragte nach dem Preis. Er neigte den Kopf wie ein Beichtvater, nickte in jedem Fall zu der genannten Zahl und folgte dem klappernden Paar Stöckelschuhe in ein nahes Haus. Anfangs waren solche Abende abenteuerlich und unvorhersehbar. Doch so wie ein Jahrmarkt überschaubar wird, wenn man zum zweiten Mal hingeht, so ergab sich aus den Kneipentouren ein Kreis von losen Bekannten und Wiederholungen. Dagegen hatte er nichts. Selbstgefällig sah er sich zu, wie routiniert er mit Bierglas und Zigarette hantierte, am Tresen stehend, das Gewicht auf einem Bein, eine Hand in der Hosentasche, den Wirt mit Namen rufend, von einem Gast auf die Schulter geklopft, über die Schulter einen Neuankömmling taxierend. Auf der Stelle erkannte er die blassen Typen, denen daheim die Decke auf den Kopf gefallen war, die sich in die vergleichsweise menschliche Wärme einer Kneipe zu retten versuchten, jetzt ungeübt herumstan-
den und viel zu leise um Aufmerksamkeit für ihre Bestellung baten. Er wußte ja aus eigener Erfahrung, daß sie nicht aus Durst eingekehrt waren. Sie wußten, daß man ihnen das ansah, und kamen sich vor wie Haremsfrauen, die sich ohne Schleier aus dem Haus wagen. Da war Wetter schon eine Stufe weiter, in einigen Kneipen winkte man ihn sogar an die Tische. Zu seinen neuen Kneipenbekannten zählte der Schulkamerad, mit dem er damals über das Atom in Physik und Chemie gefachsimpelt hatte. Er arbeitete jetzt bei der Post. Sehr gern hätte er Chemie studiert, doch dafür war bei den Eltern kein Geld dagewesen. Er hatte rote Backen, gekräuselte gelbe Haare und rauchte nicht. »Mensch, die Chemie«, sagte er und nickte wehmutig ins Glas, »die organische vor allem!« In der Schule hatten es ihm die Polymere angetan, die zyklischen Verbindungen und das Erdöl. »Einmal wollte ich nach Australien und dort Petrochemiker werden…« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, und Wetter fragte nicht, was dazwischengekommen war, sicher eine Frau. Über die Arbeit bei der Post wollte der andere nicht reden, »aber«, sagte er lebhaft und blickte Wetter fest an, damit er ihn nicht auslache, »ich erfinde!« Wetter nickte nur. Er hatte schon gelernt, daß man
beim Kneipengespräch in jedem Fall ein eisernes Pokerface aufzusetzen hat. »Meine Frau ist ziemlich böse, weil es stinkt«, fuhr der Schulfreund fort. »Im Sommer experimentiere ich auf dem Balkon, nur im Winter gibt es wirklich Streit.« »Und was…?« fragte Wetter mit einer knappen Handbewegung, in deren Verlauf er das Glas angesetzt, die Zigarette abgeklopft und in den Mundwinkel gesteckt hatte. »Erdöl«, erläuterte der Erfinder, »Cracken, Destillieren und so weiter.« Er habe ein neues Verfahren zur Leichtölgewinnung entdeckt und als Patent angemeldet. »Das Prüfverfahren läuft, das dauert seine Zeit. Billig ist es nicht.« Wetter äußerte leise Zweifel, ob man heutzutage auf dem Balkon die industrielle Forschung überbieten könne. »Wird sich zeigen«, sagte der Schulfreund ruhig, »ich bin auf dem laufenden, mir können die mit ihren Labors nichts vormachen. Und überhaupt«, sagte er so stolz und trotzig, daß Wetter sich in den Boden schämte, »es macht Spaß. Bei der Post habe ich Zeit zum Denken. Immer komme ich mit Ideen heim. Erfolg ist natürlich das Ziel. Aber das wichtigste ist: Mein Kopf hat zu tun. Der Mensch muß immer min-
destens zwei Berufe haben.« Er lachte und hob sein Glas: »Auf die Wissenschaft!« Wetter versuchte zu grinsen und prostete mit. Er fürchtete sich vor der nächsten Frage des Postbeamten. Da kam sie schon: »Und was ist aus dir geworden?« Zu beschämt für eine bequeme Lüge antwortete Wetter leise: »Physiker.« »Natürlich!« rief der Schulfreund und legte einen Arm um ihn. »Wie könnte es auch anders sein. Damals haben sie uns ausgelacht, und jetzt hast du es geschafft.« Wetter sah ihn ungläubig an: Keine Spur von Neid oder Hohn? Der andere freute sich wirklich für ihn! »Erzähl doch«, sagte der Erfinder eifrig, »was treibst du?« Wetter begann, vom Institut zu erzählen. Sein farbloser Bericht stand in eigentümlichem Kontrast zu den begeisterten Zwischenrufen des Schulfreunds. Allmählich änderte Wetter seinen Ton. Er unterstrich die Kompliziertheit seiner Arbeit und wie wichtig sie für den neuen Reaktor sei, von dem man jetzt alle Tage in der Zeitung lesen könne. Er erwähnte, daß er fast täglich mit einem großen Computer zu tun habe, und meinte bescheiden, es sei nicht allzu schwer, so ein Ding zu bedienen. Wenn
sie in ein paar Wochen die neuen Bildschirm-Terminals bekämen, würde das Rechnen erst richtig Spaß machen. Je länger er erzählte, desto interessanter erschien ihm seine Arbeit. Als er die sehnsüchtigen Augen des Postbeamten wahrnahm, schränkte er wieder ein: Man lasse ihn nicht arbeiten, wie er wolle, mache ihm Vorschriften, immer mehr habe die Industrie die Hand im Spiel. Gemeinsam mit den Kollegen wolle er sich dagegen zur Wehr setzen, doch sei der Erfolg zweifelhaft. Jetzt begann der Schulfreund doch von seiner Arbeit bei der Post zu berichten, von schlechten Arbeitsbedingungen, Stellenstreichungen, aufgelassenen Postämtern, von der Gegenwehr der Gewerkschaft. Nebenbei erwähnte er, daß bei der Post längst mit Computern gearbeitet werde. Wetter, dem seine Klagen dagegen wehleidig erschienen, lachte verlegen. »Was lachst du? Man muß in der Gewerkschaft sein!« sagte der Postbeamte ernst. »Aber nein«, sagte Wetter, »ich lache über mich.« Der andere fragte nicht weiter und ließ Wetter still ins Glas grinsen. Was für ein Unsinn, dachte Wetter, ich vergleiche mich noch immer mit Albert Einstein, Werner Hei-
senberg und Erwin Schrödinger. Über die Schulter schaue ich nach oben, zu den Ausnahmen der Jahrhundertwende. Ich sehe nicht, wo ich bin, und wie viele dort sind, wo ich bin! Ich sehe nichts von dem, was vor mir ist! »Die Wissenschaft ist ein Wunder«, sagte der Erfinder, »wenn du dir einen Affen anschaust. Der hockt herum, den Finger im Mund, und versteht fast überhaupt nichts. Das Feuer und das Rad sind für den ein böhmisches Dorf. Von der Schrift rede ich erst einmal nicht. Und fliegen können wir auch! Aus einer Tiefe von Tausenden Metern holen wir uns das Erdöl und machen draus Treibstoff und Kunststoff, Gummi und Farben. Du spaltest mir nichts, dir nichts das Atom. Es ist eine große Sache.« Sie tranken begeistert. »Der Fortschritt!« setzte der Erfinder seine Rede fort. »In der Schule haben wir Goethe wie einen Zeitgenossen gelesen. Aber was gibt es heute nicht alles, wovon der Goethe nicht einmal geträumt hat. Das Auto, das Radio, die Glühbirne, das Fernsehen, das Kino… Es ist eine andere Welt geworden! Du als Physiker mußt besonders stolz sein. Ihr seid bei der Entwicklung immer ganz vorn. Und die Weltraumfahrt! Stell dir Goethe auf dem Mond vor! Stell dir das vor!« Wetter und der Postbeamte stellten sich einige Mi-
nuten lang Goethe auf dem Mond vor. Als sie sich wieder beruhigt hatten, sagte der Schulfreund entschlossen: »Man kann nicht alles haben. Bei mir ist es nicht gegangen. Aber das eine schwör ich dir: Meine Tochter studiert! Und wenn wir noch mehr Kinder kriegen: Die studieren auch! Anna ist sehr begabt, Erdöl interessiert sie nicht, aber dafür hat sie bei einem Rechenwettbewerb von IBM einen Preis gemacht. Auf dem Jahrmarkt schleppt sie mich sofort zur Raketenbahn, mit den Bildern vom Mond, vom Mars und vom Saturn.« Wetter gratulierte, wandte aber ein, daß die moderne Wissenschaft auch sehr gefährlich sei. Er wisse zum Beispiel, obwohl er Physiker sei, überhaupt nicht mehr, was er von der Kernenergie halten solle. Die Proteste gegen den neuen Siegdorfer Reaktor gäben ihm zu denken. Der Schulfreund nickte. »Man muß aufpassen. Mit dem Erdöl darf man nicht spielen, und mit der Kernkraft schon überhaupt nicht. Ein falscher Griff, und…« Mit aufgeblasenen Backen und hochgeworfenen Armen markierte er das Unglück. »Man muß auf die Veranstalter aufpassen. Wenn ich mit dem Kind auf dem Jahrmarkt Berg- und Talbahn fahre, habe ich auch kein Vertrauen zum Veranstalter. Ich weiß nur: Der will sein Geschäft machen, und wenn ich mit dem Wagen aus
den Schienen springe, dann macht er kein Geschäft mehr. Aber bei euch? Wenn bei euch was aus den Schienen springt, dann sieht das vielleicht niemand. Die Strahlung ist unsichtbar. Wissenschaft ist gut, Atomenergie auch. Aber: Kein Vertrauen zu den Veranstaltern!« Schon wollte Wetter mit dem beruhigenden Tonfall des Fachmannes widersprechen, aber da fiel ihm das Gemunkel um den Strahlenalarm im Siegdorfer Institut ein, und er sagte nichts mehr. Wer geht schon im Hochsommer in eine Nachmittagsvorstellung? Außer Wetter saßen nur noch drei Kaugummi kauende Kinder in der ersten Reihe und weit hinten in der dunklen, kühlen Höhle zwei regungslose Männer. Während die Dias der Kinowerbung einander stumm abwechselten, entdeckte er zwei Plätze weiter einen alten Mann, der so klein war, daß er nicht über die Lehne ragte. Mitten im Sommer steckte dieser Zwerg in einem Regenmantel, aus dem das wechselnde Farblicht, das von der Leinwand fiel, Funken schlug. Der Alte war tief in den Mantelkragen gesunken und schlief. Dann aber bemerkte Wetter im helleren SchwarzWeiß-Flackern der Wochenschau, daß der Mann ein winziges Notizbuch aufgeschlagen hatte und darin schrieb. Als Schreibunterlage diente ihm eine große
Schachtel, die durch einen breiten Schulterriemen in eine Tragetasche verwandelt war. Ohne zu den Vorgängen auf der Leinwand aufzuschauen oder sich von Wetters neugierigen Seitenblicken stören zu lassen, machte der Nachbar Notizen. Erst als der Hauptfilm angekündigt wurde und unter Paukenwirbeln die Silben der Verleihfirma aus einem unendlich fernen Punkt gegen die Leinwand schossen, steckte der Alte das Buch in die Schachtel und blickte zum Lichtspiel auf, groß und gläubig wie ein Kind. Hinter den Namen der Mitwirkenden sah man den Komiker Jerry Lewis durch die Straßen einer Großstadt in den USA gehen. Die Kamera folgte ihm lange, bis er beschwingt in ein Haus bog. Da verklang die Begleitmusik, und der Betrachter wurde in einem gewaltigen Schwung nach oben gesogen, bis alle Leute, Autos und Wolkenkratzer sich in ein wimmelndes blaugraues Muster verwandelt hatten. Aber sofort hatte das Kinoauge seinen Mann wieder gefunden, erwartete ihn hinter der Tür seiner Wohnung, sah zu, wie er pfeifend mit großen, braunen Einkaufstüten im Arm eintrat und ohne Gegenwehr allmählich alle Waren durch Löcher aus den Tüten verlor. Wetter schielte zu dem alten Mann hinüber, der reglos mit eingefallenem Mund das Gesicht in den
Farbstrom hielt. Er glaubte zu verstehen, warum diesen Mann wie ihn selbst das Kino süchtig gemacht hatte: weil das allwissende Auge der Kamera zwei Stunden lang neugierig das Verhalten eines Menschen verfolgte, so als sei dieser Mensch und mit ihm jeder andere wert, mit größter Aufmerksamkeit studiert zu werden. Dies war das Gegenteil der tatsächlichen Gleichgültigkeit, die jeden unsichtbar machte. In Wirklichkeit konnte man sich mitten auf den Gehsteig setzen und das Pflaster zu bemalen beginnen, ohne beachtet zu werden. Im Kino genügt es, über die Straße zu gehen, um die Aufmerksamkeit eines großen beweglichen Auges zu erregen. Daher kam es auch, daß man kurz nach einem Film an sich jede Bewegung, den Gang, den Gesichtsausdruck bedeutend fand, sich liebevoll betrachtet fühlte. Freilich währte dieser Stolz, einfach ein Mensch zu sein, so kurz, daß man bald wieder gezwungen war, ins Kino zu gehen. Auf einmal wurde Wetter von reißender Neugier nach dem alten Mann neben ihm erfaßt. Er wollte wissen, wo und wie er wohnte, was er in sein Notizbuch schrieb, was er erlebt hatte. Er glaubte plötzlich ganz fest, aus der Lebensgeschichte des Alten eine für ihn selbst mögliche Zukunft zu erfahren. Er war entschlossen, ihm nachzugehen, ihn anzuspre-
chen, ihn oft zu besuchen, ihn vollständig kennenzulernen. Wenig später hatte Jerry Lewis Wetters Sehnsucht abgelenkt und gefesselt. Als einziger in dem fast leeren Saal lachte er schallend über die Mißgeschicke des Komikers. Als er am Ende hinter den Kindern hinausging, hörte er, wie eines kopfschüttelnd und überlegen sagte: »Der ist blöd.« Den alten Mann hatte er aus den Augen verloren, gleich geblendet von der überbelichteten Straßenszene im Ausschnitt der Kinotür. An einem Freitag landete er gegen zwei Uhr morgens in der Nähe des Hauptbahnhofs. Durch einen dicken Bierdunst spürte er die Furcht vor dem bevorstehenden Wochenende. Um es abzukürzen, würde er besonders lange im Bett bleiben und mehrmals ins Kino gehen. Hinter den Scheiben der Bahnhofsgaststätte sah er nur Betrunkene, Schläfer und Ausländer. Er steuerte langsam daran vorbei und geriet in das dunkle Viertel hinter dem Bahnhof, wo die Schienenstränge in der Höhe des zweiten Stockwerks die Wohnblocks zerschnitten. Unter den Bögen der Viadukte lehnten die Frauen und riefen den Kunden, die unentschlossen vorbeischlenderten, lei-
se ihre Angebote zu. Auch Wetter bummelte auf und ab. Aus den Haustüren traten, wenn er sich näherte, blasse Profile hervor und murmelten in fragendem Tonfall. Nach kurzer Zeit gab in Wetter etwas unter dem Druck dieser regelmäßig und freundlich angebotenen Hilfestellungen nach. Er konzentrierte sich auf den nächsten Torbogen und entschloß sich, dort auf jeden Fall Ja zu sagen. Aus dem Tor kam eine glänzende, weiße Halbkugel zum Vorschein, eine groteske Plastikmütze mit kleinem Schirm. Darunter begann eine gütige Stimme eine Liste unverschämter Zeitwörter aufzusagen. Während Wetter lauschte, den Kopf leicht zur Seite geneigt und aufmunternd nickend, begann er in der Schwärze unter dem Plastikschirm ein großes konkaves Gesicht zu ahnen, mehr breit als hoch, die Nase wie von einem Fausthieb gegen ein Stofftier nach innen gestülpt. Es war eine alte Frau mit einem tonnenförmigen Leib in einem schwarzen Plastikmantel. Sie hielt einen roten Regenschirm und eine knallrotglänzende Handtasche in verschränkten Armen. Ohne den leisen Vortrag zu unterbrechen, der aus den immer gleichen Zeitworten und dem Versprechen bestand, es ihm schön zu machen, nahm sie ihn am Arm und schob ihn ins Haus. Hinter einer Holz-
theke saß ein magerer, alter Mann. Wetter legte den ersten Schein hin, die Frau mit der Plastikkuppe nahm dafür einen Schlüssel vom numerierten Brett. Der Mann sah Wetter ernst an und schüttelte heftig den Kopf. Dann hob er eine stark zitternde Hand und bettete den wackelnden Kopf hinein. Über einen nicht ganz durchgetretenen Läufer ging es zwei Treppen hoch. Die alte Frau beruhigte ihn über die Schulter: Sie würden gleich im Zimmer sein, da könnten sie es sich gemütlich machen. Wetter antwortete höflich und beruhigte sie: Er würde es schon bis zum Zimmer schaffen. Er hatte das angenehme Gefühl, irgendwo weit außerhalb des für ihn reservierten Luftraums herumzufliegen, wie ein Verirrter auf Gastfreundschaft angewiesen zu sein, aber unverwundbar, so lange er die ortsüblichen Umgangsformen beachtete. In seiner Betrunkenheit ging er so weit, der Frau für das Zimmer, in das sie ihn einließ, ein Kompliment zu machen. Es war ein kleines Hotelzimmer mit geblümter Tapete und einem Metallbett mit brauner Decke, über deren Mitte quer ein Streifen frischen Leintuchs gelegt war. Wetter fuhr, während er das Geld auf ein Tischchen legte, sich auf das Bett setzte, um die Schuhe auszuziehen und der Frau beim Ablegen von Mantel und Rock zusah, in seiner
wohlerzogenen Konversation fort, ganz als sei er bei einer älteren Dame zu Besuch. Sie stufte ihn sofort als Studenten ein, ließ sich erklären, was er arbeite, und plauderte auf seine Fragen aus ihrer Vergangenheit. Dabei lag Wetter auf dem Bett, die Arme unterm Kopf, und betrachtete sie, während sie mit festem Zugriff, der durch Wetters Betrunkenheit ganz am Platze war, seinen im Präservativ leise raschelnden Schwanz hielt. Sie trug eine schwarzlackierte Perücke mit Ponyfransen und sah mit der winzigen Stupsnase trotz ihrer schlaffen Backen wie ein kleines Kind aus. Wegen ihres Alters und ihrer Häßlichkeit war sie lange nicht so knauserig mit der Zeit wie die jüngeren Prostituierten, die Wetter behandelten wie überlastete Krankenschwestern und ihn ärgerlich aufforderten, rascher fertig zu werden. Diese hier nahm sich Zeit, erzählte gern von ihrer großen Vergangenheit als Tänzerin in Frankfurt vor dem Krieg, bewegte versonnen die Hand und sah freundlich auf Wetters wachsendes Glied. Er betrachtete objektiv wie ein Maler ihre grauen Fleischfalten, in die der schwarze Büstenhalter einschnitt, und ihr Feldherrenkinn unter dem breiten dunkelrot geschminkten Mund. Während sie ihre Konversation fortsetzten, drehte Wetter manchmal den
Kopf zum kleinen Fenster, wenn hinter den kurzen, straffgespannten Vorhängen die einfahrenden Züge quietschten. Als sie bemerkte, daß Wetter tiefer atmete und sein Glied dunkler wurde, senkte sie die Stimme und begann wie vorhin auf der Straße zu murmeln. Sie lobte die Form von Wetters Eichel und behauptete, selten eine so schöne gesehen zu haben. Er konterte mit einem schläfrigen Kompliment für ihre Vagina. Das schien ihr echte Freude zu machen, vor allem die Wahl des Ausdrucks. Sie setzte sich rittlings zwischen Wetters Füßen auf das Bett, zog die Schamlippen auseinander und erklärte ihm, als sei sie ein Modell im Naturgeschichteunterricht, die Lage der äußeren und inneren Labien und der Clitoris. Mit Stolz gebrauchte sie die lateinischen Ausdrücke, und Wetter benahm sich, als erfahre er sie zum ersten Mal. Etwas später verabschiedete sie ihn. Sie zog einen Vorhang zur Seite und zeigte ihm ihren Standplatz, falls er sie wieder besuchen wolle. Dann gingen sie freundlich auseinander. Unten grüßte Wetter den kopfschüttelnden alten Mann mit einem höflichen »Auf Wiedersehen«. »Was sagst du jetzt«, fragte Falk, als Wetter von dem Gespräch mit Ingarden zurückkam. Er zuckte
die Achseln, setzte sich und sah aus dem Fenster. Außerhalb des Zaunes entdeckte er mehrere Zelte und Spruchbänder. Junge Leute in gelben Anoraks hockten um ein Feuer, von dem weißer Rauch über die Ebene trieb. Auf dem Baugelände gingen Männer in blauen Overalls und weißen Plastikhelmen herum, ohne sich darum zu kümmern. »Was soll ich sagen«, meinte Wetter verlegen und lachte. Er blickte Huber an, der die Hände im Genick verschränkte und den Kopf schüttelte, um die Schultermuskeln zu lockern: »Er glaubt, es war einer von uns.« »Das ist nicht der Punkt«, erwiderte Huber, »das glaubt er selber nicht. Er benutzt die Zeitungsgeschichten doch nur, um uns unter Druck zu setzen.« »Genau«, rief Falk heftig, »wenn wir nicht spuren, heißt es: Aha, Sie waren es also, der zur Zeitung gelaufen ist!« Wetter nickte langsam. Falk konnte recht haben. »Ich habe trotzdem den Eindruck«, sagte er vorsichtig, »daß der Chef uns wirklich verdächtigt.« Huber machte eine verächtliche Bewegung: »Lächerlich. Er sitzt nie in der Kantine, wenn die Techniker auspacken. Da könnte er Sachen hören. Die schimpfen überhaupt nur! Zuviel Arbeit, zuwenig Geld, und jetzt die Angst, den Posten zu verlieren,
weil für das neue Projekt andere Leute eingestellt werden und jeder weiß, daß anderswo gespart werden muß. Von dort kommt die Zeitungsmeldung. Das habe ich dem Chef auch gesagt.« »Und was hast du dem Chef gesagt«, fragte Wetter zu Falk hinüber. Der winkte ab: »Natürlich nichts. Ich denunziere niemanden.« Huber fuhr hoch: »Erlaube mal! Was meinst du damit?« Wetter errötete: Was, wenn die beiden erfuhren, daß er sie bei Ingarden angeschwärzt hatte? Er mußte das unbedingt ungeschehen machen. Da fragte Falk auch schon mißtrauisch: »Wie war’s bei dir?« Er hatte bemerkt, daß Wetter noch nichts erzählt hatte. »Wahrscheinlich genau wie bei euch«, stotterte Wetter, »ich war ihm gleich verdächtig, weil ich sagte, ich kenne den Artikel nicht. Er hat mir gedroht, ich soll rechtzeitig herausfinden, wer von euch beiden es war, sonst war ich es, und dann flieg ich raus.« Sie schwiegen. Draußen schlugen Metallstücke hallend aneinander. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten«, sagte schließlich Huber: »Entweder wir tun nichts und lassen es an
uns hängen. Wenn wir es nicht waren, kann er uns nichts nachweisen. Oder wir finden die undichte Stelle und geben sie dem Chef bekannt.« »Du spinnst ja«, schrie Falk. »Sei vernünftig«, erwiderte Huber, »wenn wir den Verdacht nicht loswerden, können wir hier nie mehr selbständig arbeiten. Dann werden wir überwacht wie Feinde.« »Das werden wir ohnedies«, sagte Falk mit bebender Stimme, »wißt ihr, was er mir ins Gesicht gesagt hat? Ich soll achtgeben, meine Ansichten sind bekannt, es sind dieselben wie die von denen da« – er zeigte aus dem Fenster zum Zeltplatz –, »und er wird im Institut keine fünfte Kolonne dulden.« »Man kann eben nie genug aufpassen«, sagte Huber schadenfroh und erntete einen mörderischen Blick von Falk. »Ja, aber was hast du zu Ingarden gesagt«, fragte Falk hartnäckig. Wetter atmete tief und sagte gepreßt: »Daß ich es nicht war.« »Sonst nichts?« fragte Huber mit schmalen Augen. Wetter schüttelte mit zusammengepreßten Lippen den roten Kopf. »Huber«, sagte Falk, »sei dir über eines im klaren: Wenn du Ingarden einen Namen nennst, einen Tech-
niker zum Beispiel, dann fliegt der sofort. Und wie ich das Institut kenne, ist binnen Tagen allgemein bekannt, wer ihn verpfiffen hat. Dann möchte ich in deiner Haut nicht stecken.« Huber zuckte die Achseln: »Hast recht. Wir halten dicht.« Wetter nickte und war zugleich fest entschlossen, den Informanten auf eigene Faust zu finden; nicht um damit gleich zum Chef zu laufen, sondern um den richtigen Namen zu haben, falls Ingarden von ihm weiteres Belastungsmaterial über Falk und Huber verlangen sollte. Außerdem interessierte ihn, was hinter allem steckte. Das war einfach Neugier, die Lust, den Detektiv zu spielen. »Das bedeutet aber«, meinte Huber abschließend, »daß wir mit dem Chef im Kriegszustand leben werden. Er wird uns noch mehr Theorie wegnehmen und uns möglichst mit dem neuen Ding da beschäftigen.« Er deutete mit dem Kinn aus dem Fenster. »Das werden wir sehen«, murmelte Falk trotzig und beugte sich über seine Arbeit. Zwei Tage später waren diese Überlegungen gegenstandslos. Denn da kam Lehnau. Gerade als er sich für seine allabendliche Kneipentour fertig machte, klingelte es. »Sandner!« seufzte Wetter und öffnete. »Du hast dich lange nicht
blicken lassen«, sagte er. Es sollte wie ein höflicher Vorwurf klingen, kam aber heraus, als sei Sandner willkommen. Der Besucher trat auf Wetter zu, ließ den rechten Arm locker zurückpendeln und schlang ihn plötzlich wie eine Peitschenschnur um seinen Hals. »Schick mich nicht fort«, bettelte Sandner undeutlich und entrollte eine scharfe Spritfahne über Wetters Gesicht, »ich muß mit einem Menschen reden.« Er betonte den Menschen und würgte Wetter, der sich aus dem Schwitzkasten zu befreien suchte. Plötzlich ließ er ab und stolperte im Rückwärtsgang auf einen Sessel zu, in den er sich blindlings, aber exakt fallen ließ. »Hast du ein Bier für einen der Ärmsten?« fragte er und versuchte mühsam, den Blick bis zu Wetters Gesicht zu erheben. Er blieb aber in der Höhe des Kragens hängen und machte eine abwechselnd heitere und bestürzte Miene. »Nein«, antwortete Wetter entschlossen und musterte den Gast, der stumpfsinnig ins Leere glotzte. »Die Frau ist das letzte!« rief Sandner auf einmal mit hoher Stimme und wiegte den Kopf. »Wirklich!« »Komm mit«, seufzte Wetter, »ich zeig dir meine Kneipen.« Im Stiegenhaus beobachtete Sandner vorsichtig seine Beine und jammerte unzusammenhängendes
Zeug. Wetter verstaute ihn im Auto und fuhr zur ersten Gaststätte. Besorgt hörte er, wie Sandner mit den Zähnen knirschte, und sah, daß ihm Tränen aus den Augen liefen. Sie wählten einen Tisch in der Ecke. »Was ist los«, fragte Wetter, nachdem der Wirt, ohne auf die Bestellung zu warten, augenzwinkernd zwei Bier gebracht hatte. »Ach«, rief Sandner und warf mit einer großen Geste sein Bier um, »es ist aus, sonst nichts.« Nachdem der Schaden bereinigt war, stützte er die Ellbogen auf zwei feuchte Bierdeckel und grinste Wetter verschwommen an. »Ich bin erniedrigt und beleidigt«, stellte er stolz fest, »man hat mich behandelt wie einen Hund.« »Darunter kann ich mir wenig vorstellen«, bemerkte Wetter trocken und wartete. »Man muß ganz am Anfang anfangen«, sagte Sandner, »sonst versteht man den Vorgang nämlich nicht.« Er trank und kicherte: »Wie einen Hund!« Wetter wurde ungeduldig. Er grüßte zu einem anderen Tisch hinüber und erkundigte sich nach dem Befinden. Unterdessen hatte Sandner sich gesammelt und redete wie ein Wasserfall. »Wir haben uns regelmäßig getroffen, drum bin ich nicht mehr bei dir zu Besuch gewesen, entschuldige bitte. Oh, es war
eine schöne Zeit! Ich habe mich rar gemacht. Sie hat immer angerufen! Ich war mir ganz sicher mit ihr.« Er grinste. »Sie arbeitet bei den Biologen, die bestrahlen Meerschweinchen und Ratten in riesigen Mengen, sie haben ihr immer leidgetan. Die Tiere kriegen aber nur kleine Dosen, um zu beweisen, daß das unschädlich ist. Ich habe ihr bei der Statistik geholfen. Und dabei ist es passiert.« »Was, kein anderer Mann im Spiel?« fragte Wetter. »Wart nur, das kommt gleich. Sie hat bei ihren Versuchen herausbekommen, daß auch sehr kleine Strahlungsdosen schädlich sind. Das steht im Widerspruch zu einer allgemein anerkannten Theorie, wonach der Organismus kleine Strahlungsschäden von selbst repariert. Aber bei ihr kommt eindeutig heraus, daß die Tiere auch bei geringer Strahlung Wirkung zeigen, wenn man auf die Wirkung lang genug wartet und genügend viele Tiere beobachtet. Sie war sehr stolz, weil das eine ganze Theorie übern Haufen wirft und ihr Team berühmt werden kann. Und jetzt kommen Gofman und Tamplin. Sie sind schuld an allem.« »Holla«, rief Wetter, »gleich zwei auf einmal?« »Nicht, was du denkst. Die beiden haben vor Jahren in den USA ein verrücktes Buch geschrieben, darin steht eben auch, daß wenig Strahlung im Prinzip ge-
nauso schädlich ist wie große Mengen, nur fällt es weniger auf, erst mit der Zeit. Sie behaupten, es gibt keinen Schwellenwert, unterhalb dessen überhaupt keine Schäden mehr festzustellen wären.« Sandner nahm einen tiefen Schluck. Das Bier schien ihn ruhig und nüchtern zu machen. »Das Entscheidende aber ist: In dem Buch spielen sie sich als Märtyrer auf, weil die amerikanische Atomenergiekommission damals ihre Theorie nicht akzeptiert hat. Seitdem behaupten sie, ihre Theorie ist unterdrückt worden, weil sie für die Atomindustrie ungünstig ist.« »Klar«, nickte Wetter, »wer hört schon gern, daß jede noch so kleine Strahlenbelastung zu einem gewissen Prozentsatz von Kranken führt.« »Und Toten«, fügte Sandner hinzu, »darum ist so eine Behauptung kein Spaß. Die Atomenergiekommission geht jedenfalls davon aus, daß es eine zumutbare Strahlenbelastung gibt, bei der alles gesund bleibt, weil der Körper kleine Mengen ohne Schaden verdaut.« »Diese Ansicht ist für die Kernindustrie natürlich günstiger«, meinte Wetter, »aber entscheidend ist doch nur, was stimmt.« Sandner zuckte die Achseln und gähnte: »Da bin ich überfragt, das ist überhaupt nicht mein Gebiet. Jedenfalls werden noch immer alle möglichen Labor-
versuche gemacht, um einen Schwellenwert für unschädliche Strahlungsmengen zu finden.« »Beziehungsweise: ob es überhaupt einen gibt«, setzte Wetter hinzu. »Jetzt fängst du auch schon an«, rief Sandner verzweifelt, »du redest wie Goofy und Tramplin oder wie die Narren alle heißen. Ich finde es plausibel, daß der Körper sich gegen Radioaktivität wehren kann, so daß das bißchen Strahlung, das aus den Kernkraftwerken nach draußen kommt, niemandem schadet.« »Plausibel oder nicht«, antwortete Wetter halsstarrig, »es ist immer verdächtig, wenn hinter einer Hypothese bestimmte Interessen stecken.« Sandner starrte ihn ungläubig an und brüllte plötzlich: »Du spinnst ja genauso! Was für Interessen? Wir machen Wissenschaft, freie Wissenschaft! Unser Interesse ist die Wahrheit!« Die Kneipengäste drehten sich erstaunt um. »Und wenn man allgemein annimmt, daß es eine Schwelle gibt, dann wird das schon stimmen. Mit und ohne Interesse.« »Schön«, beschwichtigte Wetter, »aber was hat das mit deinem Liebeskummer zu tun?« »Ich habe ihr abgeraten, ihre Ergebnisse publik zu machen, noch dazu unter Berufung auf zwei bunte Hunde wie Tamplin und Gofman, die schon vor vie-
len Jahren wegen ihrer Panikmache aus der Atomenergiekommission gefeuert worden sind. Aber sie hat mich ein feiges Aas genannt, wörtlich, darauf mußte ich auch deutlicher werden, und schließlich hat sie mich hinausgeworfen.« »Das ist alles? Anruf genügt«, schlug Wetter vor. »Glaubst du! Hab ich ja gemacht, natürlich erst nach einer Woche, damit sie weich wird. Und weißt du, was sie mir am Telefon erzählt? Sie sieht keinen Sinn mehr in unserer Beziehung!« »Das ist stark. Warum hast du ihr den Spaß an ihrer Entdeckung verdorben? Vielleicht hat sie recht.« »Nein. Ich hab recht. Alles ist so eingetroffen, wie ich es ihr vorhergesagt habe. Ich habe sie gewarnt. Natürlich hat ihr Chef ihr verboten, die Tests zu publizieren, weil er überzeugt ist, daß Fehler drin sind. Sie soll den Versuch so wiederholen, daß Schwellenwerte herauskommen.« Wetter runzelte die Stirn. In ihm stieg Wut gegen Sandner auf und gegen den ihm unbekannten Chef der Biologen. Der mußte ja noch schlimmer sein als Ingarden! »Jetzt ist sie verbittert und geht auf Kollisionskurs gegen ihren Chef – und gegen mich nebenbei auch. Ich sage dir, die fliegt raus! Wie Tamplin und Gofman! Märtyrer der Atomenergie! Ich habe in ihrem
Labor herumgehorcht. Dort wissen alle, daß der Chef sie jetzt genau beobachtet. Aber sie hat nichts Besseres zu tun, als zu den Spinnern zu rennen, die vor eurem Fenster demonstrieren. Und einen neuen Freund muß sie auch gefunden haben in dieser Bürgerinitiative.« Das letzte Wort sprach Sandner aus wie eine Schweinerei und starrte verbittert in sein Bier. Wetter fuhr zusammen. Das Leck! War das die undichte Stelle? Warum sollte es nicht eine Biologin sein, die der Zeitung die Meldung über den angeblichen Strahlenunfall zugespielt hatte? Ein Motiv hatte sie jedenfalls. Sie mußte unter Verdacht stehen, wenn ihre Kontakte zu den Reaktorgegnern bekannt waren, aber vielleicht war noch niemand auf die Idee gekommen, daß der Informant unter den Biologen sitzen konnte? Sandner verfiel jetzt vollends. Er begann wieder zu jammern und alle Frauen zu verfluchen. Das Bier machte ihn schläfrig. Wetter schlug vor, ihn heimzufahren. Nebenbei gelang es ihm, Sandner den Namen der Frau aus der Nase zu ziehen, ohne daß er Verdacht schöpfte. Sandner freute sich sogar über das rege Interesse an seinem Liebesproblem. Dieser Abend hatte noch ein Ergebnis für Wetter. Weil er einen Kollegen in eine seiner Kneipen mitge-
nommen hatte, war dieses Biermilieu für ihn nun ganz entzaubert. Er ging wieder dazu über, die Abende daheim zu verbringen und wissenschaftliche Arbeiten zu lesen, aber auch Kriminalromane. Außerdem begann er, sich Gedanken zu machen, wie er am unauffälligsten an Sandners Exfreundin herankommen und wie man etwas gegen Lehnau ausrichten könnte. Wie jemand, der nach langer Schlittenfahrt aus dem Schneesturm in die warme Stube platzt, so fegte Ingarden ins Zimmer und rieb sich die Hände. »Kommen Sie bitte!« rief er aufgeräumt, »alle drei!« Huber sprang auf. Falk klappte langsam die Mappe mit den Rechnungen zu und verstaute die Brille, Wetter erhob sich und warf dabei den unvermeidlichen Blick aus dem Fenster. Scharfer Wind beugte die Pappeln, dunkelblaue Wolken fuhren rasch über den Himmel, Regenschauer rasselten an die Doppelscheiben. Es begann Herbst zu werden, von Tag zu Tag flammten im Institut die Neonstangen früher auf. Das Zeltlager der Reaktorgegner lag leblos im Regen. Die Zeltverschlüsse waren zugebunden, das Feuer rauchte nicht mehr. Aber die Transparente
mit den Totenköpfen und der Aufschrift »Schneller Brüter – schneller tot« flatterten im Wind wie vor einer Woche. Auf dem abgesicherten Baugelände bewegten sich rote Eisenkäfer mühsam über das hellbraune Erdreich. Die Baugrube für den neuen Reaktor war schon so tief, daß der Grund vom Fenster aus nicht zu sehen war. Lange Traversen und Betonsäulen stützten die Grubenwände. Vorsichtig stelzten Männer in Plastikmänteln und weißen Helmen am Rand entlang über den weichen Boden, sahen in die Tiefe oder zu den Turmkränen empor und deuteten nickend hierhin und dorthin. Kein Laut drang herein. Auf dem Gang zu seinem Büro legte Ingarden den Arm um Wetter und sagte zu Huber und Falk, die schon vor der Glastür warteten: »Immer hinein, Sie werden erwartet!« Dann mußte er aber doch vorgehen, die Theoretiker ins Zimmer ziehen und den beiden Herren vorstellen, die sich erhoben hatten. Den einen kannte Wetter vom Sehen, es war Meredith, Ingardens Verbindungsmann zur Kernkraft-Union. Er war schmal und leicht vorgebeugt, mit einem sorgfältig in kluge Falten gelegten sommersprossigen Gesicht, um das ein gestutzter grauer Bart lag. Immer trug er einen hellgrauen Maßanzug mit dezenter Musterung, der elegant um seine lan-
gen Glieder hing. Der zweite, jüngere wurde ihnen als Doktor Lehnau vorgestellt und sah auf den ersten Blick aus wie Merediths Sohn. Auch er war schlank und ließ die Schultern verbindlich hängen, hatte ein blasses, sommersprossiges Gesicht und trug einen perfekt geschneiderten Maßanzug. Der Kragen und die Manschetten des blauen Hemdes ragten aus dem Anzug, wie es sich gehört, und die breite Wollkrawatte vervollständigte den männlich-herben Gesamteindruck. Sofort fand Wetter seine eigene Garderobe und die seiner zwei Kollegen äußerst unvorteilhaft. Falks Pullover war ausgedehnt und bildete einen Sack unter dem Hintern; Hubers Kragenspitzen waren eingerollt und verschwanden in seinem schiefen Jackett; Wetter trug keine Krawatte und hatte kotige Schuhe. Alle nahmen Platz, wobei Merediths und Lehnaus Anzughosen in ruhigen Falten um die Knie flossen, Ingarden, wie gewohnt, die Beine unter dem Schreibtisch vorstreckte und über blauen Wollsocken die weißen Waden entblößte. Huber zupfte nervös am Kragen, Falk befreite die Hände aus den Ärmeln und blickte nach einem kurzen Rundblick auf seine verschränkten Finger nieder.
»Doktor Meredith«, begann Ingarden, »ist uns ja kein Unbekannter mehr.« Er setzte ein süßliches Lächeln auf und tauschte mit Meredith ein Kopfnicken. »Durch das neue Großprojekt, an dem unser Institut gewissermaßen in vorderster Front mitwirken soll, hat sich die Zusammenarbeit noch weiter verstärkt. Als Exponent der Kernkraft-Union wird Doktor Meredith in Zukunft bei der Gestaltung unserer Arbeit ebenso mitzubestimmen haben wie die Universität oder ich selbst – wenn nicht noch mehr!« Wieder tauschten Ingarden und Meredith wie zwei alte Chinesen stumme Höflichkeiten aus; Meredith versuchte durch bescheidene Gesten anzudeuten, daß Ingarden seine Wichtigkeit soeben maßlos übertrieben habe. »Was ich jetzt sage«, setzte Ingarden fort, »bleibt selbstverständlich unter uns. Zu dieser Feststellung sehe ich mich durch einige Zeitungsmeldungen der letzten Wochen leider veranlaßt.« Falk sah auf und starrte Ingarden unverwandt an. Huber nickte eifrig. Wetter merkte voll Wut, daß ihm das Blut ins Gesicht stieg. »Es hat sich schon herumgesprochen, daß das neue Projekt an Umfang und Bedeutung alles übersteigt, was wir bisher gemacht haben«, sagte Ingarden. »Aber hoffentlich noch nicht herumgesprochen hat sich, worum es sich genau handelt. Es handelt sich
nämlich um den ersten Schnellen Gasbrüter der Welt.« Ingarden machte eine Pause und beobachtete die Wirkung seiner Worte. Wetter mußte lachen. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »aber um zu erfahren, daß ein Brüter geplant ist, brauchen wir nur aus unserem Fenster zu sehen und die Transparente der Demonstranten zu entziffern. Zwar haben wir offiziell nichts erfahren, aber alle Welt spricht davon, daß wir an einem Schnellen Brüter arbeiten sollen. Außer uns, selbstverständlich.« »Nun gut«, jetzt schaltete Meredith sich ein; er sprach leise, mit leichtem amerikanischem Akzent. »Nun gut, dann können wir gleich in medias res gehen. Der Bau eines gasgekühlten Brüters eröffnet für Deutschland ganz neue Perspektiven. Mit diesem Projekt stehen wir auf einen Schlag an der Front der Forschung im Kernenergiebereich. Wie Sie sicherlich wissen, sind entsprechende Vorhaben in den Vereinigten Staaten auf breiten Widerstand gestoßen und mußten vertagt werden. Das gibt Deutschland die Chance, vorzustoßen und führend zu werden in der Brüterforschung. Ich bin persönlich stolz, daß meine Unternehmensgruppe diese Aufgabe übernehmen wird, die von großer Bedeutung ist für die deutsche Wirtschaft, aber auch für die deutsche
Energieforschung. Ich gehe davon aus, daß auch Sie sich der Bedeutung dieser Aufgabe bewußt sind. Ich gratuliere Ihnen.« Falk meldete sich zu Wort, indem er einen Zeigefinger aus dem Ärmel seines Pullovers streckte: »Ich hätte nur eine Frage. Worauf ist der Widerstand vieler Leute gegen den Bau von Brütern, ob natriumoder gasgekühlt, zurückzuführen? Ich muß das fragen, weil ich als reiner Theoretiker über die praktischen Auswirkungen kaum etwas weiß.« Meredith blickte Ingarden an, aber der starrte unter dem Schreibtisch durch auf seine Beine. Auf einmal erklang eine neue, helle, schnarrende Stimme. Lehnau hatte das Wort ergriffen. »Der Widerstand gegen Schnelle Brüter unterscheidet sich nicht im geringsten von den Widerständen, mit denen jede technische Neuerung zu kämpfen hatte. Die Angst vor dem Unbekannten ist tief verwurzelt. Ich erinnere nur an den Frankenstein-Mythos, der diese mittelalterliche Furcht vor den Naturwissenschaften zum Ausdruck bringt.« Huber blinzelte verständnislos, weil er noch nie einen Frankensteinfilm gesehen hatte. Falk machte den Mund auf, sah Meredith an und klappte den Mund wieder zu. Huber sagte: »Ich entsinne mich dunkel, daß unse-
re Regierung den Bau von Schnellen Brütern ähnlich wie Ihre, ich meine die amerikanische, offiziell aufgeschoben hat…« Er verstummte und rieb sich, mit sich selbst unzufrieden, die Stirn. Meredith lächelte so vertrauenerweckend, daß Wetter sich fast für die mißtrauischen Fragen der Kollegen schämte: »Ja, das kleine Wörtchen ›offiziell‹! Die Regierungen, die auf die Stimmung in der Bevölkerung sehr sensibel reagieren müssen, haben offiziell erklärt, daß sie nicht daran denken, in großem Rahmen, auf großindustrieller Basis, in nächster Zeit Schnelle Brüter zu bauen, solche mit Natriumkühlung wohlgemerkt! Da stecken, wie Sie sehen, eine Menge einschränkende Klauseln drin. Darauf sind wir von höherer Stelle ausdrücklich hingewiesen worden. Es gibt jeden erdenklichen Spielraum für wissenschaftliche Forschung, denn noch ist, trotz vielfältiger staatlicher Eingriffe, die Wissenschaft in Deutschland frei. Für uns ist die rein taktische Rücksichtnahme einer Regierung auf Wählerstimmen keinesfalls ein Grund, gleich die Forschung in einem ganzen Bereich zu stoppen.« »Im Gegenteil«, murmelte Falk, aber keiner schien es zu hören. »Jedenfalls«, wieder ließ Lehnau sich vernehmen, »ist die Auseinandersetzung mit radikalisierten Hin-
terwäldlern nicht unsere Aufgabe. Dafür sind Regierung, Gerichte und Polizei zuständig. Der Bau und Probebetrieb eines Brüters mit Heliumkühlung für wissenschaftliche Zwecke ist bewilligt und wird in Angriff genommen, das steht fest. Formell untersteht er als Forschungsvorhaben der Universität, während von der finanziellen Seite und dem späteren wirtschaftlichen Nutzen her die Kernkraft-Union ein Wörtchen mitzureden hat.« Jetzt raffte sich Ingarden hinter seinem Tisch auf und hielt eine wirre Rede, die vor Dankbarkeit über die Ehre triefte, beim ersten Gasbrüter Deutschlands, ja der Welt, mitmachen zu dürfen. Er stellte Lehnau als einen hochqualifizierten Wissenschaftler vor, der sich in der Kernkraft-Union zusätzlich beträchtliche organisatorische Fähigkeiten erworben habe. Es sei ein Symbol der Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft, wenn von heute an Fachleute des Instituts und der KKU in einem Raum am neuen Brüter arbeiten würden. »Einige Tage lang werden Sie sich zu viert in Ihrem bisherigen Arbeitszimmer drängen müssen, Doktor Huber«, schloß der Chef, als pflegten Falk und Wetter ohnedies auf dem Gang zu arbeiten, »aber bald bekommen Sie einen schönen großen Raum drüben in dem neuen Gebäude.«
Huber versicherte, daß das Ganze keinesfalls eine Platzfrage sei. Meredith nickte und lächelte nur noch. Lehnau studierte seine rosigen Fingernägel. Wetter sah ihn vor sich, einen Windhund an der Seite, wie er von der Tribüne mit dem Fernglas das Pferd beobachtete, auf das er gesetzt hatte, oder mit einem Kognakschwenker in der Hand am Kaminfeuer seiner Jagdhütte, oder mit zerstrubbeltem Haar aus einem Cabriolet steigend. »Heute muß ich Ihnen Doktor Lehnau noch vorenthalten«, sagte der Chef nicht ohne Spott, »wir haben noch einiges zu besprechen. Morgen geht es mit voller Kraft voran! Danke, auf Wiedersehen!« Wetter fand das Theater peinlich, Ingarden wollte auf die zwei KKU-Gestalten offenbar einen forschen Eindruck machen. »Mit diesem Wachhund im Zimmer können wir unsere Theorien an den Hut stecken«, stellte er fest, als sie ihre Tür hinter sich geschlossen hatten, »ab morgen sind wir nur noch für das da angestellt.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter aus dem Fenster auf den Bauplatz. Falk knallte seine Stuhllehne gegen die Wand. In den letzten Tagen hatte er soviel Grund zur Aufregung gefunden, daß der Verputz bis auf die Ziegel abgeschlagen war. »Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei!« schrie er. »Ha, ha!«
»Ist doch egal, wer uns Vorschriften macht«, meinte Huber beruhigend, »bisher war’s der Staat, jetzt ist es eben Industrie plus Staat.« »Die Regierung muß weg«, sagte Wetter, »wir haben überall zuviel Staat. Ich wähle das nächste Mal die Opposition, die will weniger Staat.« »Ist doch alles dasselbe«, seufzte Huber. Wetter seufzte mit: »Heißt das, wir müssen uns alles gefallen lassen?« »Das beste wäre«, flüsterte Falk mit zusammengebissenen Zähnen, »das beste wäre eine große fette Bombe in das alles hineinschmeißen und Schluß.« »Aber, aber«, meinte Huber. »Ich hätte eine kleine Frage, von Physiker zu Physiker«, sagte Wetter und blickte versonnen in die verregnete Landschaft mit der Baustelle inmitten. Dort wimmelten die weißen Helme, die roten und gelben Bulldozer. Sie bereiteten emsig das Nest, in das bald ein fremdes Ei gelegt werden sollte. »Nur eine kleine Frage«, wiederholte er leise. »Ja?« machte Huber. »Raus damit«, sagte Falk. Wetter holte tief Luft und musterte seine Kollegen, Kenner des Atoms wie er selbst: »Was ist das überhaupt, ein Schneller Brüter
mit Heliumkühlung?« Es erwies sich als unmöglich, in der Dienstzeit an Sandners Exfreundin heranzukommen. Der Biologenbunker lag am anderen Ende des L-förmigen Institutstrakts, in dessen Knie der alte Reaktor steckte. Darum mußte Wetter ins Freie, um von außen herum die Labors der Biologen zu erreichen. Am Eingang wurde er festgehalten und zeigte seinen Ausweis. Er gab an, dienstlich mit einem Biologen reden zu müssen. Der Portier wollte dessen Namen wissen. Anstatt aufzugeben, nannte Wetter den Namen, den Sandner ihm in der Kneipe verraten hatte. Der Portier, ein Einarmiger in hellgrauer Sommeruniform, klemmte den Hörer zwischen Schulter und Wange und wählte eine zweistellige Nummer. »Ist Frau Kamiah da?« fragte er und sah dabei Wetter prüfend an. »Aha, danke.« Er wartete und sah Wetter immer noch an. Der spitzte die Lippen, sie waren aber zum Pfeifen zu trocken. Ihm war heiß unter dem Regenmantel, der auf dem kurzen Weg naßgenieselt worden war. Zum ersten Mal fiel ihm ein, daß er schon über ein Jahr am Institut beschäftigt war und noch nie den Reaktor besichtigt hatte. Viel sah man von der Tribüne ohnehin nicht, aber das tiefblaue Leuchten der
Tscherenkow-Strahlung im Wasserbecken sollte man sich nicht entgehen lassen. Sein Schul- und Kneipenfreund, der chemische Erfinder, hätte bestimmt kein Verständnis für Wetters Desinteresse. »Ja? Frau Kamiah, ein Herr Doktor Wetter ist hier, von den Physikern. Er sagt, Sie sind verabredet.« Bei diesem Wort setzte der Portier ein nahezu schmutziges Grinsen auf. »Ist nicht?« Er ließ den Hörer von der Backe fallen und fing ihn mit der gesunden Hand auf: »Frau Kamiah kennt Sie nicht.« »Darf ich?« sagte Wetter und streckte die Hand aus. »Bitte«, sagte der Portier verächtlich und müde. Plötzlich erinnerte er Wetter an einen alten Mann, an dem vorbei er unlängst mit einer Prostituierten zu deren Zimmer gestiegen war. »Frau Kamiah?« sagte er und drehte sich vom Portier weg, um ihn aus den Augen zu haben. »Was ist denn los«, erwiderte eine erstaunlich harte Stimme, »ich kenne keinen Wetter. Ich habe zu tun.« »Nur eine Sekunde. Ich habe Ihren Namen von einem Kollegen. Ich muß Sie sprechen. Ihre Versuche…« Am anderen Ende wurde kurz gelacht. Dann rief Frau Kamiah: »Sandner! Sagen Sie ihm, er soll den Unsinn lassen. Einmal ist Schluß. Wann begreift er
das endlich. Tut mir leid für Sie, aber Ihr Freundesdienst ist umsonst. Ich muß weitermachen. Wiedersehen.« Wetter, mit kleinen Schweißtropfen auf der Stirn, sprach »Auf Wiedersehen, vielen Dank« in den toten Apparat und reichte den Hörer dem Portier. »Es hat sich erledigt«, sagte er, unbeholfen lächelnd, »vielen Dank.« Der Uniformierte legte den Hörer auf die Gabel, zerknüllte den Passierschein mit Wetters Namen, den er auszufüllen begonnen hatte, und sagte voll Hohn: »Erledigt. Gewiß.« Plötzlich, von sich selbst am meisten überrascht, brüllte Wetter: »Jawohl! Erledigt! Benehmen Sie sich! Das hat ein Nachspiel!« Als hätte der Portier darauf nur gewartet, stand er auf und zog eine Karte aus der Tasche. »Hier bitte, meine Nummer, für Ihre Beschwerde. Nehmen Sie, nehmen Sie, nehmen Sie.« Seine Hand zitterte stark, und wieder glaubte Wetter, neben der alten Frau im weißen Plastikmantel in einem Stiegenhaus im Bahnhofsviertel zu stehen und den Zimmerschlüssel in Empfang zu nehmen. »Aber nein, ist ja gut«, sagte er, entsetzt über die verfahrene Situation, und sah zu, daß er ins Freie kam. Der Portier donnerte mit einer Tür in seinem Ver-
schlag und lief hinter Wetter her. Als er sich nach fünfzig Metern umzublicken traute, stand der Uniformierte in der Glastür, den Mund zu einem schwarzen Loch aufgerissen, einen Beinstumpf auf eine Krücke gestützt. Mit dem leeren Uniformärmel flatterte er und reckte Wetter mit der anderen Hand noch immer den weißen Zettel nach. In der Kantine steuerte Wetter freundlich grüßend an dem Tisch vorbei, an dem Ingarden, Lehnau und Huber saßen, und nahm bei Sandner und Costello Platz. Sie waren in ein freudig erregtes Gespräch über technische Details der zukünftigen Reaktoranlage vertieft: Vorbei die Tage, da man auf Heller und Pfennig um Flansche und Pumpen feilschen mußte! Jetzt waren andere Zeiten angebrochen! Allein die Drucke und Temperaturen, die im Primärkreis des Brüters herrschen würden, machten sie selig. Sie bewarfen sich mit Firmennamen und Typenbezeichnungen, wühlten wie Kinder zu Weihnachten in der Technik der Heliumkühlung herum und überboten sich in Mutmaßungen über die astronomischen Kosten des Gasbrüters. Wetter löffelte ruhig seine Suppe und wartete, bis seine Zeit gekommen war. Endlich ging Costello und
zeigte Wetter zum Abschied die Zunge. Ihm war wie allen im Institut bekannt, daß die Theoretiker wegen des neuen Projekts im Schmollwinkel saßen. Wetter unterbrach Sandner, der ihn mit seiner Begeisterung anzustecken versuchte, und fragte nach der Biologin. So rasch, daß Wetter grinsen mußte, schlug Sandners Stimmung um, und er begann zu jammern und zu fluchen. Alles habe er versucht, er wisse jetzt, was Liebe sei, er Hornochse, jetzt, wo es zu spät sei, wisse er es, nachts sei an Schlaf nicht zu denken und so weiter. Wetter unterbrach ihn wieder: »Wenn sie dich nicht sehen mag, mußt du jemand anderen vorschicken – mich zum Beispiel.« Sandner machte große Augen. »Ich habe schon angefangen«, sagte Wetter, »es sieht gut aus. Ich sehe Möglichkeiten.« Sandner geriet außer sich und bekam feuchte Augen. Ja, Wetter sei sein einziger Freund, es gehe um Leben oder Tod, was habe er unternommen, was sei erreicht? Wetter erzählte wahrheitsgemäß, daß er bei Frau Kamiah angerufen hatte, und log, daß sie ganz freundlich gewesen sei. »Sie sagt, sie überlege schon, ob es richtig war, dich so hängen zu lassen. Leider hat sie aufgehängt, bevor ich ein Treffen arrangieren konnte.« Sofort erzählte ihm Sandner, was er wissen wollte:
ihren Schichtplan, ihre freien Tage, ihre Adresse. Dann mußte Wetter ihm einschärfen, sich ja zurückzuhalten, um nicht alles zu vermasseln. Er, Wetter, nehme jetzt die Sache in die Hand. »Halt«, sagte Sandner, »du bist zum ersten Mal so ein Altruist. Vielleicht willst du nur selber…« Wetter lachte von Herzen: »Nein danke. Ich kenne sie überhaupt nicht, und nach allem, was du erzählst, ist das nie mein Typ. Ich mag die Weichen, Stillen. Die ist mir zu hart. Ich will nur, daß du mir nicht noch Monate die Ohren vollheulst. So wie jetzt bist du als Trinkfreund unbrauchbar.« Dieses Argument überzeugte Sandner sofort, weil er Wetters Hilfsbereitschaft auf dessen zur Schau getragenen Egoismus zurückführte. Er flehte Wetter an, sich zu beeilen und ihn über jeden kleinsten Fortschritt auf dem laufenden zu halten. Das versprach Wetter. Drüben erhob sich Ingarden, und sofort sprang auch Sandner auf. Er mußte heute beim Institutskaffee über seine Arbeit berichten und hatte enormes Lampenfieber. Wetter blieb sitzen und machte sich in der fast leeren Kantine an die Nachspeise. Während er die Konservenbirnen zerteilte, lauschte er dem Singen der Küchenmädchen, das in der plötzlichen Stille hallte wie in einer Kirche am Nachmittag.
Das Arbeitsklima wurde mit Lehnaus Einzug unerträglich. Schon zuvor hatte es unter der Zeitungsaffäre und dem gegenseitigen Mißtrauen gelitten. Aber zu dritt waren sie zur Not miteinander ausgekommen. Man vermied Themen wie die KKU oder den neuen Gasbrüter und machte sich über Ingarden lustig. Wenn die Sprache auf ein theoretisches Problem kam, gab es noch immer lebhafte Debatten. Wetter las viel und konnte sogar bei Falks Spaziergängen in algebraischen Räumen mithalten. Ihr Verhältnis war zwiespältig: Als Kollegen trauten sie einander weniger denn je über den Weg; aber als Wissenschaftler bildeten sie mehr als zuvor ein Team. Damit machte Lehnau Schluß. Er ließ seinen Schreibtisch ans Fenster stellen und drängte Wetter an die Wand. Jetzt saßen sie zu viert in dem kleinen Raum und kehrten einander den Rücken. Wenn so wie früher ein wissenschaftliches Streitgespräch entstehen wollte, fuhr Lehnau mit seiner schnarrenden Kasernenhof stimme dazwischen und gab seinen Senf zu allem. Unweigerlich brachte er wirtschaftliche Gesichtspunkte ins Spiel, so daß jede Diskussion mit Elektronenvolt anfing und bei Demarkbeträgen endete. Reine Theorie ließ Lehnau kalt.
Das war den anderen nichts Neues, so waren viele; neu war, daß Lehnau nicht wie ein Ingenieur argumentierte, den die Machbarkeit interessierte, sondern wie ein Vorstandsmitglied, das positive Bilanzen sehen will. Nicht einmal das Funktionsprinzip des Schnellen Brüters mit Heliumkühlung war von ihm zu erfahren. Auf Wetters Frage nannte er ihm ein Buch über Kernenergie, das ein Wirtschaftsfachmann namens Michaelis verfaßt hatte, und überschüttete ihn mit Entwicklungskosten, Rentabilitätsüberlegungen und Daten zur internationalen Konkurrenz in der Atomtechnik. Schon nach zwei Tagen herrschte böses Schweigen im Arbeitszimmer. Häufig war Lehnau verschwunden. Er steckte viel mit Ingarden zusammen, und oft sah Wetter aus dem Kantinenfenster, wie er mit seinem großen kaffeebraunen Schlitten durch die Sperre hinaus auf die Schnellstraße rollte. Nach einer Woche fing ihn Lehnau auf dem Weg zum Parkplatz ab und log ihm vor, sein Auto sei kaputt; ob er ihn in die Stadt mitnehmen könne? Wetter sagte nur fast nein. Schweigend saßen sie in dem kleinen Wagen, Wetter pfiff und sah mit gerunzelter Stirn in die Herbstlandschaft. Gleich würde Lehnau sich über das Ar-
beitsklima beklagen und von ihm wissen wollen, ob er persönlich etwas gegen ihn habe. Doch nichts dergleichen geschah. Lehnau saß stumm neben ihm und sah den Hochspannungsmasten zu, die traurig und würdevoll im Abendnebel vorbeizogen. Regen trommelte auf das Dach und stellte eine stillschweigende Gemeinsamkeit zwischen ihnen her. Plötzlich tat Lehnau Wetter leid. Mußte er nicht einsam und unglücklich sein? Darum war Wetter zu schwach, Lehnau loszuwerden, als dieser bat, seine Wohnung kennenzulernen. Gemeinsam machten sie das Abendessen und saßen dann, rauchend und weintrinkend, im dämmernden Zimmer, ohne Licht zu machen. Auch jetzt wurde Lehnau noch nicht persönlich. Er lobte Wetters Lebensstil und wollte alles über seine Arbeit, seine Pläne wissen, als sei er irgendein Besuch und nicht ein Arbeitskollege. »Immer wollte ich ein reiner Theoretiker werden, so einer wie du«, sagte Lehnau, während aus seiner Silhouette gegen das Hoffenster eine feine Rauchfahne stieg, »aber bei mir reicht es hier nicht«, er schlug sich an den Kopf, »also bin ich in der Industrie. Und ich muß sagen, es ist mir nicht schlecht gegangen, toi, toi, toi«, er schlug an den Tisch. »Wir haben einen Forschungsetat und Labors, das kannst du dir nicht vor-
stellen. Überhaupt«, er trank, und Wetter wußte, jetzt endlich würde er zur Sache kommen: »Der Staat hinkt hinterher. Heute kommt nichts mehr von den Universitäten. Die Forschung wird nicht mehr hier gemacht«, er tippte sich wieder an den Kopf, »sondern hier.« Er machte mit den Fingern die Bewegung des Geldzählens. »Die Industrie ist heute der Mäzen. Der Staat bremst nur. Da sind die Politiker, die Laien, die Wähler, die Gestrigen, die Ängstlichen.« Wetter nickte. Wenn er Ingarden mit Meredith verglich, oder sich und Falk mit Lehnau, dann schien es ihm, daß die Macht und der Fortschritt auf Merediths und Lehnaus Seite standen. »Ich gebe dir recht«, sagte er, »vielleicht aus einem anderen Grund. Ich bin für die Freiheit der Forschung. Der Staat schränkt die Freiheit immer mehr ein, überall.« »Jawohl«, sagte Lehnau erleichtert. Eine Pause entstand, in der sie ihre Übereinstimmung genossen. »Nimm nur den Gasbrüter«, fuhr Lehnau fort, »die Proteste haben es so weit gebracht, daß der Staat den Bau weiterer Natriumbrüter gestoppt hat und offiziell für die Entwicklung des Heliumbrüters kein Geld mehr geben darf. Wenn wir nicht trotz allem eine halbwegs freie Wirtschaft hätten, dann gäbe es
unser Projekt nicht. Was für ein Schaden für unser Land das wäre, kannst du dir denken. In ein paar Jahren wären wir wirtschaftlich erschossen.« Wetter überlegte, daß er es also der Industrie zu verdanken hatte, wenn er jetzt gegen seinen Willen für dieses Projekt arbeiten mußte. Bei der Schlußkette: Freie Wirtschaft – freie Forschung war irgendwo seine eigene Freiheit verlorengegangen. »Und noch eines«, sagte Lehnau, »vor dem Bauplatz lauern unsere Gegner. Der Kampf beginnt erst. Wir wissen, daß in wenigen Wochen von überall her die Demonstranten in Bussen kommen werden, um das Gelände zu besetzen.« »Wie wird der Staat sich verhalten?« fragte Wetter. »Offiziell ist er doch auch gegen das Projekt.« »Das dürfte kein Problem sein«, sagte Lehnau vergnügt aus dem Dunkel, »Baugelände und Maschinen sind Eigentum des Staates und der KKU. Die Polizei ist verpflichtet, Eigentum zu schützen.« Wetter machte ein zweifelndes Geräusch. »Außerdem«, sagte Lehnau, »verlassen wir uns nicht mehr auf die Polizisten allein. Sie sind zu langsam, und man weiß nie, wieviele Gegner man unter ihnen hat. Die Begriffsstutzigkeit der Polizei bei früheren Gelegenheiten legte fast schon den Verdacht der Sabotage nahe. Aber keine Angst: Wir haben einen guten Werk-
schutz.« Auf einmal hatte Wetter das Gefühl, etwas entgleite ihm, etwas falle um, etwas wachse hinter ihm. Er stand auf und machte Licht. Lehnau blinzelte geblendet und sagte: »Sehr wichtig ist es, die Pläne des Gegners von vornherein zu kennen. Du hast doch Kontakt zu ihnen. Weißt du etwas Näheres?« Wetter schüttelte entsetzt den Kopf: »Ich? Nichts!« »Komm, komm«, rief Lehnau, »du hast mit Falk studiert. Wenn der nicht gegen uns arbeitet!« Wetter wurde langsam böse. Er stand auf und begann den Tisch abzuräumen. »Falk ist unzufrieden«, sagte er, »aber er hat keine Zeit für so was.« »Und was ist mit Frau Kamiah?« Wetter blieb stehen. Ein Glas fiel ihm aus der Hand und zerbrach. »Scheiße«, schrie er und bückte sich. »Wer ist das?« »Das ist die, mit der du dich demnächst treffen wirst«, sagte Lehnau leise und spöttisch, »und was die für eine ist, das weiß nun wirklich jeder.« »Ich nicht«, antwortete Wetter und trug vorsichtig die Splitter zum Waschtisch. Er warf sie mit Wucht hinein und kam sofort wieder an den Tisch: »Woher weißt du überhaupt… Was geht dich an, wen ich anrufe… Wer sagt dir…« stotterte er, außer sich vor Empörung und Angst.
»Gut, dann eben nicht«, winkte Lehnau ab. Er wirkte auf einmal verlegen, als hätte er einen schweren Fehler gemacht, und sah auf die Uhr. »Oh«, rief er mit gespieltem Entsetzen, »entschuldige, das Essen war eine Wucht, aber ich habe vergessen, ich habe einen Termin.« Er sprang auf und trat Wetter im Bemühen, beim Abräumen zu helfen, auf die Zehen. In der Tür drehte er sich noch einmal um und sah ihm schuldbewußt tief in die Augen: »Ich weiß, solche Methoden sind nicht schön, besser, wir kämen ohne sie aus. Aber tröste dich. Ich werde nicht weniger genau beobachtet als du. Das muß sein, so wichtig sind wir nun einmal. Wir arbeiten nicht in einer Baumschule. Da heißt es aufpassen. Bis morgen, Wetter!« Am nächsten Abend kam Falk zu Besuch. Es war seit Jahren das erste Mal. Beide waren etwas verlegen, denn es ist schwierig, mit einem Kollegen, den man täglich sieht, auf einmal ohne den Schutz der Schreibtische privat zu verkehren. »Ich will dich nicht aufhalten«, sagte Falk gleich, »du hast für den Abend sicher etwas vor. Aber über eine Sache muß ich mit dir reden.« Wetter bat ihn, sich zu setzen, fragte, ob er schon gegessen habe und ob er etwas trinken wolle.
»Ja, Tee, wenn das geht«, meinte Falk bescheiden und massierte mit roten Händen die Kniescheiben. Dabei fletschte er die Zähne und starrte aus dem Fenster. Wetter beeilte sich mit der Teebereitung, um das peinliche Schweigen abzukürzen. Er lächelte Falk verbindlich an, der aber blickte ernst und besorgt hinaus. Plötzlich sprang er auf und stöberte in Wetters Platten. »Darf ich«, fragte er und legte etwas auf. Wetter hatte so lange keine Musik gehört, daß er schon von den ersten Tönen ganz betroffen und gerührt wurde. Ihm war, als breite sich hinter seinem Brustbein ein warmer Bluterguß aus. Der Hals wurde eng, die Augen fingen an zu brennen. Ich bin ja kein Mensch mehr, dachte er, total verwildert! Er spürte, wie sich in der Nasenwurzel Tränen sammelten, und machte keine Bewegung, damit ihm nicht vor Falk das Wasser aus Augen und Nase lief. Am liebsten hätte er den Gast vertrieben, um sich über alles klar zu werden, was er da zugeschüttet hatte, das unter einer Kruste in ihm arbeitete und auf einmal hochkommen wollte. Das war kein Leben, er war kein Mensch mehr, nichts als Arbeit, Saufen und Schlafen, er ging doch dabei drauf und merkte es nicht einmal! Im offenen Fenster rauschten die Blätter und die
nassen Autoreifen, ein Flugzeug orgelte, dann setzte wie nach einem Aufatmen die Musik wieder ein, aber jetzt mit einem langsamen, nachdenklichen Thema, so daß Wetter davon ruhig und mutig wurde. Er schenkte Tee ein und grinste Falk an. »Das ist ein Hundeleben«, stellte er fest, »nichts als Arbeit, Suff und Schlafen.« Falk lächelte überrascht und entspannte sich. »Du brauchst unbedingt wieder eine Frau«, sagte er freundlich, »seit es mit Martha zu Ende ist, bist du völlig unbrauchbar.« »Und du?« »Ich bin der typische Einzelgänger, weißt du, ein Wanderer.« »Das glaube ich nicht.« »Ich auch nicht«, lachte Falk. Beide tranken vorsichtig von dem heißen Tee und blinzelten sich dabei an. »So«, sagte Wetter und drehte die Musik leise, »was ist das für eine Sache?« »Paß auf«, antwortete Falk, »vorgestern war Lehnau bei mir zu Besuch. Nicht uninteressant, der Mann.« »Und gestern bei mir«, murmelte Wetter und dachte: Lehnau macht die Runde. »Er ist todunglücklich, aus mehreren Gründen.
Weißt du zum Beispiel, was er bei der Kernkraft-Union getrieben hat, bevor er zu uns versetzt wurde?« »Geld gescheffelt und alle Wochen nach Amerika gefahren«, vermutete Wetter. »Irrtum«, rief Falk, »jeder Physiker, der frisch von der Hochschule kommt, wird zuerst einmal ein Jahr lang in die Public-Relations-Abteilung der KKU gesteckt. Dort macht er Öffentlichkeitsarbeit.« »Das heißt?« »Verfassen von bunten Propagandabroschüren, Vorbereiten von Statements und Presseaussendungen, Auseinandersetzung mit Kernkraftmeldungen in den Medien, Leserbriefen, Schreiben und so weiter.« »Um Gottes willen!« schrie Wetter begeistert. »Da sieht man erst, wie gut es uns geht.« Er wurde ernst: »Verstehe.« »Was verstehst du?« »Warum er zu uns geschickt worden ist: Er soll das Image des Gasbrüters polieren und die Presse auf Vordermann bringen.« »Du merkst auch alles«, sprach Falk grimmig aus dem Mundwinkel. Er ließ einen Arm über die Lehne hängen und markierte einen Mann, dem man nichts vormachen kann. Dann sagte er in demselben Tonfall: »Aber das ist nicht der Punkt. Lehnau ist un-
glücklich in dieser Rolle. Vor allem ist er unzufrieden mit der Art, wie die Leute draußen verschaukelt werden. Er weiß, wie das gemacht wird. Er hat ein unheimlich schlechtes Gewissen. Er sagt, er wüßte Sachen, die wären ein gefundenes Fressen für die Gegenseite. Er überlegt gerade, ob er nicht ein paar brisante Wahrheiten durchsickern lassen sollte. Bei Lehnau trügt der Schein. Der Mann hat es in sich!« Um seine Erregung zu bemänteln, beschäftigte Wetter sich umständlich mit seinem Tee. Lehnau, du gemeines Schwein! Wie plump du deine Fallen stellst! »Was hast du darauf gesagt?« fragte er mit mühsamer Ruhe. »Hör auf, den Eckensteher zu spielen!« schrie Falk, »halt dich nicht immer und überall heraus! Neutralität gibt’s nicht! Du mußt dich entscheiden!« »Schrei hier nicht herum«, sagte Wetter scharf, »ich will wissen, was du geantwortet hast.« »Blöde Frage«, rief Falk, »auf so etwas warte ich seit langem. Jetzt gehen wir zum Gegenangriff über.« »Was hast du Lehnau gesagt«, wiederholte Wetter beharrlich. »Was werde ich gesagt haben«, sagte Falk verächtlich, »was wissen wir denn. Wir beschnüffeln uns lieber gegenseitig, statt Ingarden Kontra zu geben. Lehnau hat mich vor dir gewarnt. Er hat den Ein-
druck, daß du für den Chef den Schnüffler machst.« Jetzt wurde Wetter so wütend, daß er vor Hilflosigkeit lachen mußte. Dieser Lehnau arbeitete mit allen Mitteln! »Hast du ihm erzählt, daß es bei uns einen radioaktiven Unfall gegeben hat«, fragte er direkt. »Das steht seit Wochen in der Zeitung. Du liest ja keine, das ist unter deiner Würde. Lehnau weiß aber etwas, was nicht in der Zeitung steht: Es war überhaupt kein Unfall. Sie haben wirklich nur den Alarm geübt. Die KKU hat Beweise dafür. Sie warten nur, bis sie den Informanten haben, dann blamieren sie ihn in aller Öffentlichkeit.« »Warst du der Informant?« fragte Wetter. Falk schwieg und sah ihn spöttisch an. Wetter erschrak. Falk hielt ihn wirklich für Ingardens Spitzel! Falk vertraute Lehnau! Er machte einen letzten Versuch und sagte ruhig: »Gestern war Lehnau bei mir. Er weiß einfach alles. Er weiß sogar, daß ich vor vier Tagen mit einer Biologin gesprochen habe. Er wollte von mir hören, was ich ihm über dich sagen kann, weil du angeblich für die Gegner arbeitest. Mich verdächtigt er genauso. Er belügt dich. Er denkt nicht daran, dir zu helfen. Das macht er dir vor, damit du dich verrätst.« Falk nahm den Arm von der Lehne und sank zusam-
men. »Wem soll man glauben«, flüsterte er, »vielleicht hat er dir Theater vorgespielt und mir die Wahrheit gesagt. Natürlich!« Er raffte sich auf und lächelte Wetter unsicher an: »Er wollte auf Nummer Sicher gehen und hat vor dir den Wachhund herausgekehrt. Bei dir weiß nicht einmal ich, wie ich dran bin. Du sagst nie, was du denkst. An Lehnaus Stelle hätte ich dir auch nicht an die Nase gebunden, daß ich gegen den Brüter bin.« »Und was plant ihr jetzt, du und Lehnau?« »Entschuldige«, sagte Falk verlegen, »das kann ich dir nicht sagen, bevor du nicht Stellung bezogen hast. Du mußt dich entscheiden.« »Lehnau macht dich fertig«, sagte Wetter. Falk stand auf und sprach, jetzt wieder ganz der Mann mit Durchblick, aus dem Mundwinkel: »Das laß meine Sorge sein. Auf Wiedersehen, bis morgen, Wetter!« Er hat’s geschafft, dachte Wetter verzweifelt, er hat uns auseinander gebracht. Jetzt kann er einen nach dem anderen abservieren. Plötzlich blieb er mitten im Zimmer stehen: Es gab eine Möglichkeit. Wenn er nachweisen konnte, daß tatsächlich ein Strahlenunfall geschehen war, dann hatte Lehnau Falk belogen. Dann konnte man Lehnau isolieren und das Schlimmste verhüten. Das
mußte schleunigst geklärt werden. Wenn Frau Kamiah etwas von dem Unfall wußte, dann waren Falk und er gerettet. Wetter beschloß, nicht lockerzulassen, bis die Biologin ihm erzählt hatte, was sie wußte. Es würde schwer werden, ihr auszureden, daß er ihr nur in Sandners Auftrag nachsteige. Es würde Wetter überhaupt schwerfallen, einer Frau nachzusteigen. Das hatte er noch nie getan. Das erste Semester des Hochschulstudiums war für Wetter ein großer Schock gewesen, obwohl er damals schon längst aus dem Kindertraum, durch die Kenntnis des Atoms die Welt in der Hand zu haben, erwacht war. Nachdem er am Ende seiner Kindheit entdeckt hatte, wie weit die Elementarteilchenphysik von seinen täglichen Erfahrungen entfernt lag, erlebte er als angehender Physiker nun die zweite, entgegengesetzte Enttäuschung. Das Wissen um die letzten Gesetze wurde nicht im kleinen Kreis weitergegeben, kursierte nicht in einer Elite weltferner Gelehrter, war nicht nur einer Handvoll Auserwählter zugänglich, die die physikalische Geheimsprache beherrschten – im Gegenteil. Wetter erlebte ohne die geringste Vorwarnung, wie
Hunderte unausgeschlafener Studenten, benommen von Sauerstoff- und Bewegungsmangel, in die viel zu kleinen Hörsäle gepfercht wurden. An einer Tür entstand ein Gedränge unter denen, die dort ohne Aussicht auf die Schreibtafel die ungünstigsten Stehplätze gefunden hatten, und der Professor strebte eilig zum Pult. Ohne die gestauchte Studentenmasse anzusehen, ergriff er ein Stück Kreide und begann mit affenartiger Eile über die Tafel zu fahren. Zahllose Köpfe zuckten auf und nieder in dem Versuch, die Zeichen an der Tafel ebenso schnell in die Hefte zu übertragen, wie sie entstanden. Denn schon verdeckte die nächste Schiebetafel die Formeln und füllte sich ihrerseits mit Kreidezeichen, oder der Professor griff zu einem feuchten Lappen und zerstörte inmitten einer weißen Wolke das soeben Geschriebene, um Platz zu bekommen. Wenn er hinausgelaufen war, drängten sich die Langsamsten noch um die Tafeln und versuchten, die letzten Zeilen abzuschreiben, bevor sie von den Schultern verwischt waren. Dann rafften auch sie ihre Aufzeichnungen zusammen und stürzten zum nächsten Hörsaal. Mittags bekam die Hektik ein Loch. Wetter fand sich in der Regel schläfrig vom Essen in der Mensa wieder, wo er betäubt aus den Fenstern im obersten
Stockwerk des Neubautraktes der Universität über die Dächer starrte. Er versank dann in der allgemeinen Wärme und in dem Stimmengewirr, aus dem laute Rufe oder Gelächter platzten, und verstand überhaupt nicht, wie er hierher geraten war. Alles war ein Mißverständnis. Die Physik war keine Geheimwissenschaft und nicht die Spitze einer Pyramide, deren Basis die in den Tag lebende Menschheit bildete, während seinesgleichen sich als Forscher ewigen Ruhm erwerben sollte. Er sah ein, daß es eine Pyramide, zu deren Spitze er sich hocharbeiten konnte, nicht gab. Vielmehr steckte er in einem Labyrinth, dessen Mauern die Scharen verschiedener Spezialisten auseinanderhielten. Hier gab es weder oben noch unten, nur eine unübersichtliche Ebene, in der man sich irgendwo an einer Wand niederließ und einrichtete, so gut es ging. An den Nebentischen debattierte man über Germanistik oder Chemie, über Medizin oder Rechtskunde, das erschien ihm jetzt alles gleich wichtig. Selbst wenn er zufällig Unterhaltungen über Mathematik oder Physik aufschnappte, verstand er nicht, worum es ging, so groß war selbst sein engeres Fachgebiet. Von einfachen Grundregeln, aus denen in einer Reihe von Schritten diese Vielfalt abzuleiten war, konnte nicht die Rede sein.
Wetter kam zu dem Schluß, daß es keine allgemeine Ordnung gab, nur ein wahnsinniges Durcheinander. Ihm durfte keiner mehr mit einem Weltbild kommen. Mit solchen Kindereien war er fertig. Erst verzweifelt und allmählich stolz, sah er sich einsam im Labyrinth, worin jeder, der ihm begegnete, nur ein Verirrter sein konnte. Und wenn jemand behauptete, den Plan oder den Ausgang zu kennen, dann fand Wetter das zum Lachen. Nachmittags gab es weitere Vorlesungen, aber vor allem Praktika und Übungen. Da stand Wetter zum Beispiel in einem stockdunklen Verschlag und schwenkte zehn Minuten lang eine kristallographische Aufnahme im Entwicklerbad, oder er strich einen gläsernen Stab mit einem Geigenbogen, bis sich in einem Kolben der Korkstaub zu regelmäßigen Streifen ordnete. Das waren Etappen auf einem lang und breit vor ihm liegenden Weg, den er im Schneckentempo dahinkroch. Allmählich leerten die Hörsäle sich, die Anfänger verschwanden in verschiedenen Spezialfächern, die Vorlesungen wurden abstrakter, die Luft dünner und kühler. Die Praktika hatten aufgehört, Wetter bekam nun doch das Gefühl, wenigstens einen flachen Hügel zu ersteigen. Jetzt hantierte er schon ganz geläufig mit Büchern derselben Art, die ihm als
Kind Schrecken eingeflößt hatte. Er kannte die griechischen Symbole, den Sinn der Indizes, konnte damit rasch die Seiten des Übungsheftes bedecken, spürte oft die Eleganz und Kraft des physikalischen Formalismus, das elastische Eigenleben, den Widerstand, die Unbestechlichkeit dieser Zeichen. Er empfand sogar bescheidenen Stolz, wenn auch nur den eines gelehrigen Schülers, nicht den des Pioniers. In dieser Zeit lernte er Falk kennen, der viel besser war als er. Falk schien sich in der Mathematik zu bewegen wie in einem gutsitzenden Gewand. Wetters übertriebene Erwartungen hatte er nie gehabt, er wollte ein fähiger Physiker werden und Karriere machen. Wie ein Profi-Denksportler kam er Wetter vor. Einig waren sich beide in ihrem Bild von der Welt als Labyrinth. Auch Falk hielt alles Wissen für Stückwerk und Spezialistentum. Mit Hohn fiel er über die Philosophen her, deren Vorlesungen sie manchmal nachmittags besuchten, und nannte dieses wortreiche Denken mittelalterlich. Anders als Wetter interessierte er sich aber für Politik und behauptete, in der Welt gebe es Klassen und Ausbeutung. Eben wegen der Unerkennbarkeit des Ganzen war er überzeugt, daß mit ihnen allen ein ungeheurer Betrug inszeniert werde. Wetter zuckte dazu die Achseln: Er
merkte nichts davon. Der einzige Betrug, dessen Existenz er anerkannte, war der Selbstbetrug. Auch Martha hatte er damals kennengelernt und bald geheiratet. Sie studierte Meteorologie und war ihm als die einzige Frau seines Studienbereichs, die nicht häßlich war, aufgefallen. Zunächst war sie mit Falk gewesen, wurde aber später auf Wetters melancholische Überheblichkeit aufmerksam und begann, sich für ihn zu interessieren. Es war zwischen ihnen ganz gut gegangen, bis Wetter am Siegdorfer Reaktorinstitut zu arbeiten begann. Von da an fand Martha seine zunehmende Einsilbigkeit und Passivität unerträglich. Ohne Bewegung hatte Wetter zugesehen, wie sie von ihm abtrieb. Die Institutsbesprechungen fanden jetzt mindestens einmal wöchentlich statt. Oft wurde Sandners Truppe hinzugezogen, die als Chemikerhaufen im Physikerbunker eigentlich nichts verloren hatte. Das alte Vorurteil, der Chemiker stinke, wurde liebevoll am Leben erhalten. Wenn Sandner oder ein anderer Chemiker in die Bibliothek kam, fuhren immer ein paar Hände in komisch entsetzte Gesichter und klemmten die Nasenlöcher zu. Die Biologen wurden nicht eingeladen, leider, dann wäre Wetter ganz zwanglos mit Frau Kamiah in Kontakt gekom-
men. Auf seine Frage erklärte ihm Ingarden, der neugebildete Stab für Sicherheitsfragen tage bei den Biologen, aber mit der Sicherheit hätten sie hier Gott sei Dank nichts zu tun. Der anfängliche gemeinsame Widerstand der Theoretiker war im Keim erstickt. Huber tat, als sei er Feuer und Flamme für den Brüter. Er entwickelte sich zu Ingardens Adjutanten, dem die Verbindung der Theoretiker zu den Technikern oblag. Wetter hatte in wenigen Tagen die Abänderung seines Rechenprogramms zuwege gebracht, das sich auch unter den extremen Eingangswerten, die Ingarden vorgab, zu bewähren schien. Der Chef lobte diese Arbeit über den grünen Klee und wollte sich zur Belohnung für eine Publikation in der Zeitschrift ›Nuclear Instruments‹ starkmachen. Es war zwar eigentlich unter der Würde eines Theoretikers, in dieser technisch orientierten Zeitschrift zu publizieren, und doch war Wetter stolzer, als er sich eingestand. Falk blieb am bockigsten. Als Spezialist für Quantenelektrodynamik und Feldtheorie weigerte er sich, in ein ganz anderes Gebiet einzusteigen. Er bestand darauf, ungeachtet des neuen Projekts weiter an seinen Theorien zu drechseln. Ausgerechnet Lehnau gelang es, Falk zu einem Kompromiß zu überreden: Er solle Huber und Wet-
ter seine mathematischen Fähigkeiten für deren Programme zur Verfügung stellen. Mit Unbehagen stellte Wetter fest, wie es Lehnau zunehmend gelang, sie gegeneinander auszuspielen. Ingardens auffälliges Lob für Wetters Arbeit bestärkte Falk in dem Verdacht, daß er mit dem Chef unter einer Decke stecke. Mehrmals hörten Falk und Lehnau zu reden auf, wenn er ins Zimmer kam. Huber hatte sich gleich von Anfang an vor Lehnau wedelnd wie ein Hund aufs Kreuz gelegt und ließ sich als Untergebener behandeln. Allerdings stand seine Abreise zum Solid-State-Kongreß in den USA kurz bevor. Mit Wetter pflegte Lehnau, der mit Falk kumpelhaft und mit Huber von oben herab verkehrte, einen ganz eigentümlichen Umgangston. Er tat, als müsse er ihn bedauern, redete nur das Nötigste mit ihm, sah ihn dafür oft mit wehmütig verschwimmenden Augen an, wie einen Sterbenden. Wirklich beunruhigt wurde Wetter aber erst, als er denselben Blick immer öfter in Falks und schließlich sogar in Hubers Augen entdeckte, wenn sie ihn heimlich betrachteten. Dann lag eines Tages wieder die Lokalzeitung aufgeschlagen auf Ingardens Tisch. »Die alte Geschichte?« fragte Wetter. Ingarden schüttelte den Kopf und hielt ihm das Blatt hin. Diesmal stand die Meldung
nicht im Lokalteil, sondern als Aufmacher auf Seite eins: »IST SIEGDORF STRAHLENVERSEUCHT? / TANKWAGENLECK GEFÄHRDET GRUNDWASSER / RADIKALE FORDERN: STOPPT DEN BRÜTER!« Ein undeutliches Foto zeigte einen umgestürzten Tanklaster, der halb in einem Bach lag. Darunter stand: »Tausende Liter flossen aus diesem Tanker der Kernkraft-Union (KKU) in den Siegbach.« Im Bericht wurde mitgeteilt, daß der Unfall bereits vor einer Woche geschehen und von der KKU geheimgehalten worden sei, da er auf einer Straße im Werkgelände unterlaufen war. Der anonyme Informant aus dem Institut hatte der Zeitung das Foto zugespielt und auf die Rückseite geschrieben: »Das Bild machte ich heimlich am 4. 7. durch die Absperrung rund um das Unfallgebiet. Es wimmelte von den ›Weißen Männern‹ des werkseigenen Strahlenschutzes. Der Tankinhalt floß zum Teil in den Siegbach. Ein Augenzeuge.« Weiter wurde gemeldet, daß die Bürgerinitiative »Stoppt den Siegdorfer Brüter« mit Erfolg Unterschriften gegen den im Bau befindlichen Gasbrüter sammle und eine öffentliche Untersuchung der Vorfälle auf dem Institutsgelände fordere.
Mehrere Bauern der Umgebung hätten Klage eingereicht, nicht nur gegen den zukünftigen Brüter, sondern auch auf Stillegung des vorhandenen alten Reaktors. »Folgendes fällt mir auf«, meinte Wetter: »Seit die Pläne für den Heliumbrüter bekannt sind, tauchen in der Presse diese Meldungen auf. Offenbar will jemand die Kampagne gegen den neuen Brüter auf diesem Umweg anheizen.« Ingarden stöhnte und rieb sein Gesicht: »So gescheit bin ich auch.« Er spreizte die Finger und blickte zwischen ihnen durch: »Wer ist dieser Jemand?« Wetter hob das Kinn und blickte mit zusammengepreßten Lippen aus dem Fenster. »Ich weiß«, sagte er nach einer Weile, »daß Sie anfangs einen von uns im Verdacht hatten, weil wir gegen den Brüter waren. Inzwischen haben wir uns mit dem Ding angefreundet. Von uns weiß keiner, wo dieser Tanker umgefallen sein soll.« »Der erste Fall ist noch nicht aufgeklärt«, seufzte der Chef, »und schon haben wir den zweiten Skandal. Wenn wir das Loch nicht bald stopfen, dann machen die verhetzten Bauernschädel den Brüter kaputt, bevor er überhaupt steht. Wetter! Haben Sie nicht den geringsten Verdacht?« Wetter sah dem Chef tief in die Augen und schüttel-
te den Kopf. »Wirklich nicht«, sagte er mit tiefer Stimme. Plötzlich begann ihn etwas tief im Kopf zu jucken und kitzelte unwiderstehlich im Hals. Er hüstelte und sagte: »Eines ist vielleicht interessant: Die Vorfälle sind kurz vor und nach Lehnaus Eintritt geschehen.« Ingarden zerrte die ausgestreckten Beine unter dem Schreibtisch hervor und stemmte sich hoch. Er streckte die gespreizten Finger gegen Wetter und drehte sie wie einen Fächer aus dem Handgelenk: »Mein Lieber! Das ist kein Detektivroman! Nicht immer ist der Unverdächtigste der Täter. Lehnau ist doch gerade wegen des ersten Vorfalls beigezogen worden! Also wirklich!« Die Sache begann Wetter Spaß zu machen. »Es wäre denkbar«, sagte er ruhig, »daß jemand, der sich um jeden Preis profilieren möchte, eigens einen Fall konstruiert, zu dessen Auflösung er dann eingestellt wird. Und noch etwas: Lehnau will Falk überreden, gemeinsam gegen das Brüter-Projekt zu arbeiten.« Ingarden fuchtelte abwehrend: »Das ist die klassische Methode. Man provoziert den Verdächtigen, bis er sich entlarvt.« Wetter freute sich. Sein Verdacht wurde damit bestätigt. Um Ingarden zu verwirren, sagte er: »Und wenn das nur Tarnung ist? Mit diesem Vorwand hat
Lehnau freie Hand, dem Projekt tatsächlich zu schaden.« »Dafür gibt es nicht den kleinsten Hinweis. Wo ist Lehnaus Motiv?« »Er ist unzufrieden.« »Sind wir alle«, warf Ingarden traurig ein. »Er würde lieber Forschung machen statt Werbung für die KKU«, bohrte Wetter. Aber das war zu schwach. Ingarden lächelte ihn mitleidig an: »Sie haben etwas gegen den neuen Mitarbeiter, seh ich recht?« »Aber wo«, log Wetter und überlegte krampfhaft. Dann platzte er heraus: »Ich glaube ihm, was er Falk sagt. Er haßt den Brüter, er haßt die KKU, er findet die Informationspolitik einen ekelhaften Betrug. Er wollte in der KKU Karriere machen – und statt dessen landet er in einem kleinen Zimmer mit drei UniTheoretikern, die in jedem Fall mehr Lorbeeren ernten werden als er bei diesem Projekt. Lehnau will sich rächen, das ist meine Meinung.« »Keiner kennt sich aus in diesem Labyrinth«, klagte Ingarden und stürzte wie ein Postsack in seinen Stuhl, »Sie haben sich total verrannt, Freund Wetter. Ich kenne Merediths Meinung über Lehnau, er ist absolut loyal. Für diese Aufgabe kam von vornherein nur ein verläßlicher Typ in Frage, ›clean‹, wie die
Amerikaner sagen. Aber suchen Sie nur weiter. Mir ist lieber, Sie verrennen sich hier und da, als Sie tun überhaupt nichts. Halten Sie die Ohren offen, und Weidmanns Heil, mein lieber Wetter!« Wetter salutierte mit einer Mischung aus Scherz und Ernst. Bevor er die Tür schloß, warf er durch den Spalt noch einen Blick zum Chef. Als er den Ausdruck von Erschöpfung und Zweifel auf dem grauen Gesicht sah, frohlockte er. Nicht umsonst heißt es: Etwas bleibt immer hängen! Er wartete bis Freitag. Gegen fünf Uhr ordneten die Kollegen aufgeräumt ihre Papiere zu säuberlichen Stapeln und begrüßten das bevorstehende Wochenende überschwenglich. Wetter kannte das. Von Mittwoch an sehnt man den Freitagnachmittag herbei, und spätestens Sonntag mittags hängt einem die leere Freizeit so zum Hals heraus, daß man in einem Durcheinander aus Ekel und Gier auf den Beginn der nächsten Arbeitswoche glotzt. »Hallo, Wetter, du willst wohl durcharbeiten«, rief Huber vergnügt und freute sich öffentlich auf einen Wochenendausflug an das Meer. Falk würde gewiß wandern, und was Lehnau machte, war seine Sache.
»Nein«, antwortete Wetter humorlos, »ich mache das hier noch fertig. Geht schon voraus.« Falk verlor noch ein paar ätzende Bemerkungen über Wetters auffallende Arbeitswut und deren Zusammenhang mit Ingardens Lobsprüchen. »Laß ihn doch, er will was werden«, mutmaßte Huber, während Lehnau ihm einen mitleidigen Blick schenkte. Endlich verschwanden sie. Wetter trat ans Fenster und wartete dort, bis er sichergehen konnte, daß sie abgefahren waren. Die Umgebung des Baugeländes hatte sich in dieser Woche ungeheuer belebt. Mehrere Zeltlager umschlossen den meterhohen Metallzaun in einem losen Belagerungsring, nasse Transparente wölbten sich träge im Wind, an mehreren Stellen stieg der weißliche Rauch feuchter Lagerfeuer auf. Auf dem Bauplatz wurde hektisch gearbeitet, um noch vor dem angekündigten Termin der Demonstration möglichst vollendete Verhältnisse zu schaffen. Ein bunkerförmig geduckter Quader hockte fertig im Erdreich, unentwegt schwangen die Turmkräne gewölbte Metallteile über das Gerippe der Brüterkuppel. Die Leute mit den Bauplänen waren im Gewimmel der behelmten Arbeiter verschwunden, die Tag und Nacht das Gelände mit neuen Gegenständen vollräumten, sie in der Erde versenkten und hoch
aufeinander türmten. Schon war in mehreren Richtungen die Aussicht auf die Ebene von hochgezogenen Mauern versperrt. Ihm war, was da entstand, fast ebenso fremd wie einem beliebigen Laien. Den Debatten um die Risiken des Heliumbrüters war er bisher dennoch mit dem Hochmut des Fachmannes begegnet und hatte damit nur die allgemeine Haltung im Institut kopiert. Jetzt fragte er sich zum ersten Mal, ob die Leute, die in ruhigen Gruppen vor dem Zaun spazierten oder diskutierend zusammensaßen, wirklich mit Wilden zu vergleichen waren, die auf neue Techniken mit abergläubischer Angst reagierten. Oder waren es verirrte Schafe, zusammengetrieben von einigen Fanatikern, die sich hier Hoffnung auf den archimedischen Punkt machten, von dem aus sie die Gesellschaft aus den Angeln heben konnten? Ach, im Labyrinth mußte es wohl immer wieder zu sinnlosen Ausbrüchen von Angst und Gewalt kommen… Seufzend wandte er sich ab und zog den Mantel an. Er stellte vom Gang aus sicher, daß die anderen schon fort waren, stieg in sein Auto und rollte langsam auf das biologische Institut zu. Er hielt so, daß der invalide Portier ihn nicht sehen konnte. Natürlich war er es gewesen, der sich Wetters Versuch, an Frau Kamiah heranzukommen, gemerkt hatte. Aber
wie hatte Lehnau davon Wind gekriegt? Selbst wenn unterdessen jeder Kontakt der Biologin überwacht wurde, was ging das Lehnau an? Offenbar war er nur eingestellt worden, um zu spionieren. Aus dem Eingang des Biologenbunkers quoll eine Traube männlicher Angestellter und verteilte sich auf die geparkten Wagen. Keine Frau Kamiah. Wetter fluchte. Da kam sie! Sie redete mit einem Mann, blieb stehen und bog den ganzen Körper hintenüber, öffnete den Mund und schüttelte den Kopf. Der Mann grinste breit und hob zum Abschied die offene Hand. Jeder stieg in sein Auto. Sie fuhr einen roten Volkswagen. Als sie die Sperre passiert hatte, startete Wetter und begann die Verfolgung. Im dichten Feierabendverkehr verlor er sie am Stadtrand aus den Augen. So rasch er konnte, fuhr er zu der Adresse, die Sandner ihm verraten hatte. Sein Herz klopfte überraschend heftig, während er überlegte, wie er ein Gespräch beginnen könne. Als er ankam, stand der rote VW vor dem Haus. Unschlüssig blieb er sitzen und versuchte, den Mut aufzubringen, einfach anzuläuten. Sie kam aus der Tür, jetzt in einem anderen Mantel und in Jeans, mit einem langhenkeligen Korb über der Schulter. Das
war die Lösung! Beim Einkaufen würden sie einander über den Weg laufen und ins Gespräch kommen. Er brauchte nur zu behaupten, ganz in der Nähe zu wohnen und gewöhnlich anderswo einzukaufen. Langsam stieg er aus, schloß das Auto ab und folgte Frau Kamiah auf der anderen Straßenseite. Sie bog in ein Kaufhaus. Ehe er es sich versah, stand er in der Damenabteilung, viel zu nahe, und wurde von einem Schwall hastiger Freitagseinkäuferinnen immer weiter auf sie zugetrieben. Ein heftiger Stoß in den Hintern zwang ihn, mit beiden Händen tief in einen Wust bunter Schlüpfer zu fahren. Er tat, als verliere er nun ganz das Gleichgewicht und ließ sich gegen die Verfolgte fallen. Sie drehte sich rasch um. Jetzt hatte Wetter ihr wutverzerrtes Gesicht ganz nahe vor sich. »Entschuldigen Sie vielmals«, murmelte Wetter. Er fiel vor Frau Kamiah auf die Knie und begann zu ihren Füßen die über Bord gegangenen Schlüpfer aufzusammeln. Eilig trampelte ein Heer von Schuhen an seinen Händen vorbei. Als er aufsah und mit rotem Kopf die Schlüpfer zurückleerte, stand sie ein paar Schritte weiter und schob mit zur Seite gelegtem Kopf Kleider auf einer Stange hin und her. Sie sah
sich nicht um, hatte den Tölpel schon wieder vergessen. Unschlüssig starrte er ins Freitagsgetümmel. Zwischen grellen Kleiderstapeln liefen farblose Menschenklumpen mit benommenen Gesichtern auf und ab und griffen gelegentlich bewußtlos in die Stoffe. Das unbarmherzige weiße Licht und die erhitzte sauerstoffarme Luft ließen den Boden schwanken. Eine alte Frau mit dicken Brillen hielt sich an einer Kasse fest und stellte eine unhörbare Frage. Wetter staunte, wie freundlich die Verkäuferin sich herabbeugen und der Greisin einen Stand in der Nähe zeigen konnte. Die Frauen plauderten sogar ein bißchen, bevor die Alte ging und winkte. Wetter erinnerte sich an sein Ziel und erschrak. Gerade riß die Biologin entschlossen einen Fetzen von der Stange und warf ihn einer Verkäuferin aufs Pult. Diese fuhr mit einem Stift, der an einem silbrigen Draht hing, eine Karte entlang und tippte etwas in die Kasse. Es klimperte und piepste, mit einem sofort ersterbenden Lächeln hielt sie Frau Kamiah die Plastiktasche mit dem Blumenmotiv der Kaufhauskette hin und versank wie ein sich tot stellendes Insekt in Bewegungslosigkeit. Die Kamiah aber nahm rasch Fahrt auf und drohte, hinter einer zerstrittenen Familie zu verschwinden.
Wetter manövrierte sich in ihr Kielwasser und ließ sich vom Konsumentenstrom mitschwemmen. Ihm schwindelte immer mehr. Er hielt es hier nicht länger aus. Jetzt oder nie. Er lief ein paar Schritte und setzte zum Überholen an. Alles weitere ging wie von selbst. Er glitt auf dem gleißenden Boden aus und machte direkt vor Frau Kamiah eine äußerst schmerzhafte Grätsche. Er bekam die auseinanderreißenden Beine nicht mehr zusammen und ging mit verzerrtem Gesicht zu Boden. Als er sich mit einer Hand auf den Boden stützte und im Zeitlupentempo den Hintern niedersacken ließ, hatte ihn schon ein Unbekannter unter dem Arm gepackt und zerrte an seiner Schulter. Er blickte hilfesuchend zu Frau Kamiah auf, die mit erschrockenem Gesicht über ihm stand. Sie hob ein Bein, als wollte sie ihn treten. Dann stieg sie rasch über ihn hinweg und eilte davon. »Danke, vielen Dank«, sagte Wetter zu dem kleinen Mann, der an seiner Jacke riß, und sprang auf. Er lief zu den Rolltreppen und sah gerade noch ihren Rücken abwärts verschwinden. Als sich die Metallstufen unter seinen Sohlen hochhoben, wäre er fast ein drittes Mal gestürzt, kopfüber diesmal. Er fing sich aber rechtzeitig und entschuldigte sich bei dem Schulmädchen, dem er mit
verkrampften Fingern die Hüfte umkrallt hatte. Bei seinen Entschuldigungsworten fuhr Frau Kamiah herum, jetzt mit einem endgültig gehetzten Ausdruck, stolperte von der Rolltreppe und rannte zum Ausgang. Draußen, jenseits des heißen Luftstroms, der aus dem Boden blies und als unsichtbare Wand die abgestandene Kaufhausluft von der Abendkühle isolierte, blieb sie aber stehen, senkte nachdenklich den Kopf und schüttelte ihn. Wetter stand mitten im Luftstrom, die Haare zu Berge, und beobachtete sie, als sei er unsichtbar. Entschlossene Käufer drängten in beiden Richtungen an ihm vorbei und versetzten seine Schultern in drehende Bewegung. Gerade als er sich entschlossen hatte, aufzugeben und wie ein Fremder an ihr vorbeizuschleichen, wandte sie sich voll zu ihm um und starrte ihm mitten ins Gesicht. Sie legte den Kopf etwas schief und blickte ratlos und neugierig. Wetter senkte den Kopf und trottete zu ihr hin. Er kam sich vor wie ein Hund, dem endlich gepfiffen wird. »Guten Abend«, sagte er. »Ja«, antwortete sie, »was wollen Sie?« Wetter zog an einem Ohr und erzeugte eine schiefe
Grimasse. Er behauptete: »Sie haben mich an jemanden erinnert. Aber Sie sind es nicht.« »Das ist eine Methode, die mir ganz neu ist«, stellte sie fest, »fallen Sie immer so lange vor einer Frau hin, bis sie zu einer Unterhaltung bereit ist?« »Das erste Mal war Absicht. Das zweite Mal war echt. Ich muß mir da etwas verrissen haben.« Er faßte sich innen zwischen die Oberschenkel. Sie sagte: »Und jetzt?« und lächelte plötzlich. Das machte sie älter. Nach ihren Zähnen schätzte Wetter sie auf mindestens Dreißig. »Ich muß mich setzen«, sagte er, »mein Bein schmerzt, und Kaufhäuser machen mich seekrank.« »Ja«, sie nickte, »das Licht tut in den Augen weh.« »Nein«, korrigierte er, »seekrank mit zwei E.« »Aha«, sie schien durch seine Pedanterie auf einmal den Spaß an der Begegnung verloren zu haben und machte einen ungeduldigen Schritt. »Ich muß weiter«, sagte sie und blickte schon die Straße hinunter. Über den hellrot bestrahlten Hauswänden lag ein gewitterblauer Himmelskeil. »Es wird bald regnen«, bemerkte Wetter hoffnungslos. »Ja, auf Wiedersehen«, sagte sie und ging. »Auf Wiedersehen, Frau Kamiah«, rief er ihr nach. Wie andere Männer auf der Straße Frauen anspre-
chen konnten, war ihm mehr denn je ein Rätsel. Sie stockte, als wäre sie gegen eine Glastür gerannt, und drehte sich langsam um. Sie ging noch einmal auf Wetter zu und fragte besorgt: »Woher wissen Sie meinen Namen?« »Ich folge Ihnen schon Wochen lang!« rief Wetter wie ein Komödiant, »ich übernachte vor Ihrer Tür! Wesergasse 14, oder nicht? Ich kann ohne Sie nicht leben.« »Ja, ja«, sie spielte nicht mit, »ich habe Sie auch schon irgendwo gesehen. Helfen Sie mir.« »Siegdorf«, sagte Wetter müde. Sie wurde zornig. »Natürlich«, rief sie, »am Telefon! Sandners Unterhändler! Der spinnt ja. Haben Sie nichts Besseres zu tun? Ich schon.« Sie stampfte auf und machte zugleich eine Drehung. »Es geht nicht um Sandner. Es geht um Sie«, sagte er eilig, ohne den Komödianten so rasch wieder loswerden zu können. Sie sah sich mit demselben Ausdruck nach ihm um wie soeben, als er vor ihr hingefallen war: erschrocken. »Mich interessieren Ihre Tests«, sagte er. Sie begannen nebeneinander an einem Pflastermaler vorbei in irgendeine Richtung zu gehen. »Hat das Institut Sie auf mich angesetzt? Sollen Sie mir drohen, mir gut zureden oder mich nur bespit-
zeln?« fragte sie traurig. Wetter verneinte empört: »Sandner hat mir von Ihren Schwierigkeiten erzählt. Das interessiert mich. Unserer Gruppe geht es ähnlich. Wir sind reine Theoretiker, aber uns wird genauso dreingeredet.« »Das ist etwas anderes«, sagte sie. Ihr Gesicht sah jetzt entschlossen und sicher aus. So stand sie gewiß an ihrem Arbeitsplatz. »Das ist ein Thema, über das ich gern mit jemandem rede. Kommen Sie.« Seite an Seite gingen sie über die Straße. Wetter war zugleich erleichtert und enttäuscht. Sein Ziel hatte er erreicht, freilich erst, als er alle Karten auf den Tisch gelegt hatte. Dabei war der letzte Rest von Abenteuer draufgegangen. Denn bei dem Versuch, sich einer Frau als ein Mann zu nähern, hatte er versagt. Jetzt gingen sie als geschlechtslose Arbeitskollegen zu Frau Kamiahs Wohnung. Er glaubte sogar zu spüren, daß auch sie über diese Wendung ziemlich enttäuscht war. Dann wieder dachte er, daß es, auf einer anderen Ebene, abenteuerlich genug war, wie sie sich mit ihm einließ. Sie mußte doch damit rechnen, daß er sie nur angehauen hatte, um sie im Auftrag seiner Chefs auszuhorchen. Sie sah nicht dumm aus. Also mußte sie mutig sein. Kurz nachdem Wetter zum zweiten Mal bei Frau Kamiah geschlafen hatte, nahm er zehn Tage Urlaub,
die ihm in diesem Jahr übrig geblieben waren. Am Institut waren alle einverstanden. Im Theoretikerzimmer, wo jetzt vier grundverschiedene Typen zusammengepfercht waren, stand die Atmosphäre kurz vor der Entladung. Jeder der vier fürchtete das große Donnerwetter und begrüßte Wetters Verschwinden als Aufschub. Später würde Huber in die USA fahren und dem drohenden Krach entkommen. Ingarden ahnte, was los war, und versprach, daß bei Wetters Rückkehr bereits die Räume im neuen Brütertrakt zur Verfügung stünden. Ein Streit im letzten Moment hätte alles kompliziert und Ingarden vor Meredith als einen Tollpatsch in der Menschenführung hingestellt. Wetter konnte ein paar wirklich gute Ergebnisse vorweisen. Sein Programm war über den Berg und lieferte nur noch plausible Daten. Mit Falks Hilfe hatte er ein zweites Programm geschrieben und konnte nun den Verlauf überschallschneller Druckwellen, wie sie bei einer Explosion im Kühlkreislauf des Gasbrüters auftreten würden, ziemlich exakt vorhersagen. Ingarden hatte ihm unter größter Heimlichtuerei die Planzeichnungen der Kühlkreisläufe zugesteckt und die Aufgabe gestellt, mit dem Computer die Explosionswellen in den Rohren und Pumpen darzustellen.
Als Fleißaufgabe hatte Wetter nicht nur Katastrophen durchgerechnet, sondern auch schnelle Strömungen, wie sie bei ganz normalem Betrieb auftreten würden. Wenn sein neues Programm nicht ganz falsch war, dann waren diese Ergebnisse hochinteressant. Es stellte sich nämlich heraus, daß im Heliumkreislauf bei schneller Strömung und geringfügigen Temperaturschwankungen Stoßwellen auftraten, die zu Resonanzen führten. Das bedeutete, daß mit hoher Wahrscheinlichkeit der Kühlkreislauf zu vibrieren beginnen würde, daß die Schwingungen sich aufschaukeln konnten, bis am Ende explosionsartige Druckwellen von solcher Stärke entstanden, daß der Kühlkreislauf auseinanderflog. Diese Ergebnisse verschwieg Wetter einstweilen, denn er ahnte, daß Ingarden ihn nie Urlaub machen ließe, sondern weiter zu rechnen zwänge. Es war Wetter klar, daß seine Rechnung, wenn sie stimmte, das ganze Gasbrüterprojekt in Frage stellte. Frau Kamiah wußte nichts von seinem Urlaub. Eigentlich nahm er ihn ja ihretwegen – nicht um zu fliehen, sie war überhaupt nicht zudringlich geworden, im Gegenteil. Wetter brauchte eine Pause, um sich über das beginnende Verhältnis klar zu werden. Auch über das Gewirr von Verdachtsmomenten im Institut wollte er ungestört und aus der Ferne nach-
denken. Er kaufte eigens ein Notizbuch, in das er Beziehungs-Diagramme eintragen wollte, um das Netz vor sich zu sehen, in dem er steckte. Er packte eine kleine Tasche, hob eine große Summe von seinem Konto ab, tankte das Auto voll und fuhr los. Es war Freitagabend, das Ende eines wolkenlosen Herbsttages. Ruhig wartete er, auf den Schenkeln den Takt zur Radiomusik schlagend, an den Ampeln der Straßen, die aus der Stadt ins Freie führten. Es machte ihm nichts, immer wieder im Blechstrom der Feierabendheimkehrer festzufahren. Er sah freundlich aus dem offenen Seitenfenster und nickte zur Musik den anderen Abhängigen zu, denen er im Augenblick eine kurze Freiheit voraus hatte. Tief aufatmend und lang ausatmend nahm er die Veränderung wahr, mit der die Stadt auf einmal in flaches Land überging, durch das sich die violette Autobahn entrollte. Das alte Gefühl, mit dem er früher Reisen begonnen hatte, war wieder da: Die Ruhe, die Einsamkeit, die Gleichgültigkeit der Welt, die nicht auf ihn gewartet hatte und ihn doch nicht feindselig empfing. Wieder merkte er die menschliche Anstrengung, die Erde wohnlich zu machen, die anonyme Freundlichkeit der Wegweiser und Straßenkarten, der Hotel- und Gasthausschilder, der
Tankstellen und der gepflügten Felder. Er sang, bis es dunkel war, und hörte damit auf, als es keinen Spaß mehr machte. Dann fuhr er still und ernst zwischen den weißen Streifen, den roten und gelben Lichtern, den dunkelgrünen Waldschatten, den blauen Wiesen und den leuchtenden Horizonten, bis er müde wurde. Er fuhr irgendwo von der Autobahn ab, durchquerte eine schon schlafende Ortschaft, einen rabenschwarzen Wald, eine Hügellandschaft und fand im nächsten Ort ein offenes Gasthaus. Da setzte er sich wie ein müder Arbeiter hin, aß und trank, fragte nach einem Zimmer und bekam eines. Er holte die Tasche aus dem Wagen, sagte Gute Nacht und stieg eine Holztreppe hinauf. Über dem Bett, das fast das Zimmer ausfüllte, hing das Porträt eines jungen Schimpansen mit einem roten Tuch um den Hals. Das machte ihm Spaß, und nachdem er ein paar Seiten eines Kriminalromans gelesen hatte, schlief er grinsend ein. Gegen Morgen träumte er von Frau Kamiah. Es war ein für ihn typischer Traum, mit dem stets seine Verliebtheiten sich ankündigten: Er saß in einem Kinosaal, der zugleich eine Kneipe war, und trank und rauchte. Alle Kollegen waren da, man rief einander Witze zu und entdeckte, daß überall im Saal Bekannte saßen. Es herrschte eine entspannte Vorfreude,
wie vor einem hoffentlich guten Film. Da kam Frau Kamiah herein, lächelnd. Sie grüßte und wurde gegrüßt, wandte den Kopf hierhin und dorthin, daß die Haare flogen. Aber dabei ging sie durch die Stuhlreihen schnurstracks auf Wetter zu, dem jetzt einfiel, daß sie sich hier verabredet hatten. Ganz selbstverständlich setzte sie sich neben ihn. Das war alles. Das Schöne an dem Traum war die Selbstverständlichkeit, mit der Frau Kamiah mitten durch die Bekannten zu ihm kam, ohne daß sich durch ihr Erscheinen die Stimmung veränderte. Die Witze gingen weiter, die gute Laune blieb, die Vorfreude auf den Film war eine Lebensversicherung. Darum wachte Wetter sehr froh auf, und die Freude hielt sich den ganzen Tag, während er immer weiter durchs Land fuhr, auf das Meer zu. Frau Kamiah führte Wetter zu ihrer Wohnung und erzählte von den Schwierigkeiten, die man ihr wegen ihrer Testergebnisse machte. Er lief neben ihr her und versuchte zu erraten, nach welchem Schritt sie die Richtung änderte. Trotzdem liefen sie an jeder Ecke zusammen oder wurden von Passanten getrennt, die mit bitterernsten Großstadtgesichtern ihren Einkäufen nachgingen oder von der Arbeit in ihre kleinen teuren Wohnungen
eilten. Ungefähr kannte Wetter Frau Kamiahs Geschichte von Sandner. Er hatte sich über das Problem des Schwellenwertes von biologischen Strahlenschäden informiert und eine eigene Meinung gebildet, die er aber nicht mitten auf der Straße zum besten geben wollte. Statt dessen beobachtete er die Kamiah, wie sie rasch ging und redete, versuchte sie mit Sandners verliebten Augen zu sehen und fragte sich immer weniger, was Sandner an ihr, und immer mehr, was sie an Sandner hatte finden können. Diese entschlossene und keineswegs unattraktive Frau schien für den langweiligen Sandner eindeutig ein paar Nummern zu groß zu sein. Er nahm sich vor, herauszufinden, warum sie auf ihn hereingefallen war. »Ist es noch sehr weit«, fragte Wetter scheinheilig, als sie sich ihrer Wohnung näherten. Frau Kamiah war vor einigen Minuten verstummt und strebte durch ein Gewirr enger Gassen, die mit dicht geparkten Autos vollgestellt waren, auf eine moderne Hausfront zu, in deren großen Büroscheiben der Himmel glänzte. »Nein«, sagte sie einsilbig und schwenkte in ihr Haustor, drückte es auf und klapperte hallend über den Steinfußboden unter einem finsteren Gewölbe, das kühl und feucht roch. Sie rief den altmodisch
verzierten Aufzug und stieg hinein wie in einen großen Schrank mit Innenbeleuchtung. Hinter den Türen der Hausparteien hörte man Kinder, Frauen und das Grunzen der Fernseher. Wegen der Eile des Herweges schien es Wetter, als ob er die Frau immer noch gegen ihren Willen verfolge und sie erst jetzt im Aufzug gestellt habe. Er sah sie an und schützte das Gesicht vor ihrem Gegenblick, indem er es wie geblendet verzog. Sie hatte die Brauen hochgezogen und studierte ihn spöttisch: »Na? Hat es Ihnen die Sprache verschlagen? Ich hör schon auf, vom Institut zu reden.« Wetter schüttelte nur den Kopf und sah durch die Glastür auf die versinkenden Stufen. Er war nicht mehr neugierig. Ihm war, als fahre er alle Tage mit dieser Frau durch dieses Treppenhaus, er wollte weg und einer anderen, Fremden nachlaufen. Der Aufzug stockte, Wetter schob sofort die Türen zur Seite und sprang wie ein Erstickender in den Gang. Sie holte das Eingekaufte aus der Kabine, warf die Haare aus dem Gesicht und suchte den Wohnungsschlüssel. Er stand stumm daneben, gelähmt und wütend, und dachte: Der langweilige Sandner hätte andauernd geredet, ich mache mich lächerlich mit meinem Schweigen, es ist alles verfahren, ich will aus dieser Falle!
Die Tür flog auf, er nahm von ihrer Wohnung nur die dunkelblaue Flurwand gegenüber wahr. Sie verschwand in der Küche und polterte mit den Waren aus dem Kaufhaus. Vorsichtig ging er in das kleine Wohnzimmer, stellte sich ans Fenster und betrachtete von oben den Abendverkehr. »Sehen Sie, so sieht das aus«, sagte sie hinter ihm und führte ihn zu einem Schreibtisch, auf dem Tabellen lagen. Sie zog ein Blatt Millimeterpapier hervor und zeigte ihm eine feine Kurve in Gestalt eines schrägliegenden Integralzeichens. »Ja«, sagte Wetter sachkundig, »die übliche sigmoide Kurve.« »Ja«, wiederholte Frau Kamiah höhnisch, »nur daß das nicht meine Kurve ist. Bei mir kommt die heraus.« Sie zeigte ihm ein Blatt, auf dem Sterne, Kreuze und kleine Kreise eingetragen waren. Eine gestrichelte Linie führte mitten durch die Punkteschar. »Aha«, staunte er, »das sieht natürlich anders aus. Ihre Kurve geht vom Nullpunkt weg steil nach oben! Keine Schwelle! Woher kommt das?« »Von der Sturheit kommt das, mit der wir arbeiten«, antwortete sie und legte das Blatt stolz obenauf, »hier sind nicht nur Kurzzeitfolgen eingetragen, sondern alles mögliche: histologische Veränderungen, Blutbildanomalien, kleine Veränderun-
gen der Haut. Dazu kommen Ergebnisse statistischer Untersuchungen von Spätfolgen, die ich aus der Literatur habe: Krebsarten, Mutationsraten. Das alles summiert ergibt unsere Kurve.« »Sieht böse aus«, meinte Wetter, »auch kleine Strahlendosen richten Schaden an.« »Genau«, bekräftigte Frau Kamiah, »und das paßt den Herren vom Institut überhaupt nicht. Sie wollen, daß ich die Kurve ‘ schön zurechtbiege, bis die berühmte Sigmoide herauskommt, die Favoritin der Kernindustrie.« »Was verlangt man von Ihnen?« »Daß ich die Frühfolgen von den späten trenne und nur über Frühfolgen arbeite. Dann wäre alles in Butter. Nur gibt es solche Arbeiten wie Sand am Meer. Ich habe keine Lust abzuschreiben. Das da«, sie klopfte mit den Knöcheln auf ihre Kurve, »das da ist unsere eigene Arbeit, darauf sind wir stolz, davon lassen wir uns nicht abbringen.« »In Romanen käme jetzt ein Stern mitten auf dem Blatt, oder es beginnt das nächste Kapitel«, sagte Wetter. Sie saßen nebeneinander auf einem grünen Sofa und beugten sich immer fast gleichzeitig vor, um nach den Weingläsern auf dem Boden zu greifen.
Auf einer Untertasse brannte eine Kerze, die den Zigarettenrauch aufzehren sollte, in einer Ecke leuchtete die Schreibtischlampe. Man sah ein Stück weinrotes Hausdach im Fenster und einen alten Mann, der gegenüber hinter einem Globus auf und ab ging. »Ich komme ja kaum zum Lesen«, sagte Frau Kamiah und sah bekümmert zu ihrem kleinen Bücherregal hinüber. Wetter fuhr trotzdem fort: »Oder wenn es ein Film wäre, dann käme jetzt ein Schnitt, und im Theater der Vorhang.« Frau Kamiah nahm einen Schluck und meinte: »Aha, Ihnen ist langweilig.« Wetter lachte. Sie hatten ein bißchen Käse und Brot gegessen und dazu in außergewöhnlichem Tempo eine Flasche Rotwein geleert. Jetzt spürte er, wie jeder Schluck aus der zweiten Flasche warm ins Blut schoß, in den Kopf stieg und das Augenlicht verfärbte. Das halbdunkle Zimmer sprühte bunte Funken wie das Violett eines Pointillisten. »Nein, mir geht’s gut, nichts fehlt – außer dem Schnitt, dem Stern, dem Vorhang.« Sie sah ihn kurz spöttisch an und zog die Fersen aufs Sofa. Wetter blieb beim Thema: »Wenn zwei auf einem Sofa sitzen, ein Mann neben einer Frau, dann gibt die Situation nichts mehr her. Darum wird die Geschichte un-
terbrochen und geht später weiter. Es wird ein Sprung gemacht, dem Publikum zuliebe.« »Glaub ich nicht«, sagte sie nach einer Weile, »nicht dem Publikum zuliebe. Das würde gern zusehen, wenn es richtig interessant wird.« Wetter sah sie erstaunt an. Sie blickte aber nachdenklich aus dem Fenster, hinter dem die Autos brummten, und lächelte mit schmalen Augen. Dann drehte sie langsam den Kopf und starrte ihn voll an. Er mußte verlegen in sein Glas schauen. Sie lachte. »Eine Frage nur«, sagte Wetter, dem stark das Herz klopfte: »Was haben Sie ursprünglich an Sandner gefunden?« Er fand diese Frage selber eine Frechheit und erwartete, daß sie ihn gleich hinauswarf oder den Abend sonstwie zu einem kalten Abschluß brachte. Frau Kamiah aber schien die Frage vergnügt von allen Seiten zu betrachten, während sie sorgfältig ihr Glas ansetzte. Erst nachdem sie den Wein auf den Teppich gestellt und die Füße wieder auf das Sofa gezogen hatte, antwortete sie: »Sie sind ziemlich überheblich. Glauben Sie, eine berufstätige alleinstehende Frau kann lange suchen, bis sie einen hervorragenden Geist in einem sportlichen Männerkörper gefunden hat, so einen wie Sie?« Sie lachte höhnisch. Wetter schämte sich und wurde wütend über seinen
roten Kopf. »Ich gehe an den Wochenenden auf Männersuche, wenn ich dazu nicht zu müde bin, das heißt also: ziemlich selten«, sagte sie eilig, als wiederhole sie etwas, was sie schon oft erzählt hatte. »Bei dieser Methode kann man froh sein, wenn jeder zehnte kein Trottel ist. Im Durchschnitt seid ihr unterm Hund.« Sie blickte ihn mit vorgestrecktem Kinn an. Wetter zuckte schuldbewußt die Achseln und mußte gleich lachen. Ihm gefiel, wie sie ihn ins Vertrauen zog. »Sandner ist kein Trottel, wirklich nicht«, sagte sie nachdenklich, »er ist wenigstens höflich, kann zuhören, spielt sich selten auf, das ist schon angenehm.« Sie trank. »Und im Bett ist er äußerst zuvorkommend.« »Aha«, machte Wetter betroffen. Er war sehr überrascht. »Wie denn zuvorkommend«, fragte er. »Na«, sie suchte nach passenden Vergleichen und machte große Gesten. »Kein Männlichkeitsfimmel, keine Grobheiten, keine Angeberei, kein Theater, kein King-Kong.« Sie überlegte. »Sie haben vorhin vom Kino angefangen. Das stimmt, da spricht der Mann die Frau an oder umgekehrt, dann Kuß und Schnitt. Im nächsten Bild liegen sie im Bett, und sie stöhnt, während er sie bearbeitet. Oder sie liegen
schon wieder nebeneinander, er glotzt in die Ferne und raucht, sie klebt an ihm und bewundert. Ist doch wahr.« Wetter, plötzlich müde, trank sein Glas aus und fragte zum Abschluß: »Und warum das Theater jetzt? Warum wollen Sie ihn nicht mehr sehen?« Sie antwortete sofort, als hätte sie sich die Frage längst selbst gestellt: »Auf einmal ist er übergeschnappt, hat plötzlich doch den starken Mann spielen wollen. Ich habe ihn nicht ausgelacht, aber gebeten, das zu lassen. Seitdem miaut er vorm Fenster. Das will ich nicht.« Sie schwiegen. Wetter wußte, daß er den Moment, in dem er ohne Schwierigkeiten mit Frau Kamiah hätte schlafen können, zerredet hatte. Er überlegte einen passenden Scherz, um dem Gespräch die Schwere zu nehmen und den Abschied einzuleiten, als sie tief Luft holte und sagte: »Es ist ein Jammer. Man braucht es doch. Sonst wäre das ganze überhaupt nicht auszuhalten.« Wetter grinste sie kameradschaftlich an. Sie nickte. »Gut, gut«, sagte sie, stand auf, ging zum Fenster und zog den Vorhang zu: »Machen wir den Schnitt.« Wetter bemerkte nach kurzer Zeit, daß Frau Kamiah sich anders benahm als Martha und die paar Frauen, die er sonst noch kennengelernt hatte. Daß
sie sich vom verhangenen Fenster ihm zugewandt und dabei schon aus den Jeans gestiegen war, daß sie dann mitten in ihrem Zimmer stehend ein Kleidungsstück nach dem anderen ohne Eile auszog und dabei die ganze Zeit lächelnd Wetter ansah, wie bei einem unverzierten Striptease, das fand er zwar sympathisch, aber noch nicht außergewöhnlich. Die Kamiah stieg aus den Kleidern, um es sich bequem zu machen, wie vor einem heißen Bad, auf das man sich freut. Daß es ihr offensichtlich Spaß machte, einen ziemlich fremden Mann als Zuschauer dabei zu haben, war offensichtlich. Wetter spürte, wie sein Gesicht sich im Reflex ihres erwartungsvollen, neugierigen Lächelns zu einem kindischen Grinsen verzog, bis ihm die Backen schmerzten. Sie lachte darüber, machte das Kreuz hohl, schob ihre Haare hinten hoch, spitzte zwischen den vorspringenden Ellbogen die Lippen und klimperte mit den Wimpern. Zu der überdrehten Cover-Girl-Pose fügte sie mit gerunzelten Brauen ein angestrengtes Schielen. »Bravo, bravo!« schrie Wetter ganz begeistert und klatschte. Sie verbeugte sich tief und sagte, als der Kopf unter den vorfallenden Haaren fast ihre Knie berühren mußte, mit drohender Stimme: »Weg mit den Gewändern!«
»Natürlich«, rief Wetter beflissen und machte überall zugleich an seiner Vorderseite die Knöpfe auf. Frau Kamiah ließ tief den Kopf hängen, bis er »Schon fertig!« rief. Dann setzte sie sich neben ihn, mit rotem Kopf wegen des Hängenlassens, steckte die Zehen in Wetters warme Kleider auf dem Boden und griff ihm an den Schwanz. Er schob sich möglichst nah an sie, um überall die Freude ihrer Haut zu haben. Als er nach einiger Zeit die Augen wieder aufmachte, sah er fast erschrocken, wie rückhaltlos dieses Gesicht Freude ausdrückte. Von da an wunderte er sich immer mehr. Sie benahm sich ungewohnt! Er hatte gelernt, daß die Frauen an einem bestimmten Punkt, spätestens, sobald er ihnen einen Finger oder den Schwanz zwischen die Schenkel steckte, ihr Verhalten plötzlich änderten. Ihr Gesicht pflegte einen konzentriert klagenden, leidenden Ausdruck anzunehmen, sie stöhnten und wurden von ungeheuer starken Abläufen in ihrem Körper beherrscht, die Wetter zwar ausgelöst hatte, dann aber als fremdartiges Naturschauspiel bestaunen konnte, interessiert und spöttisch, wie eine Opernarie oder den pathetischen Ausbruch eines Schauspielers. Als Maschinist war er sich dabei vorgekommen, der gewisse Knöpfe und Hebel bedient, auf der Kontrolltafel die Wirkung prüft und ir-
gendwann zum Zuschauer des von ihm nur ausgelösten Selbstlaufs eines Automaten wird. Frau Kamiah jedoch verhielt sich ihrerseits wie eine Zuschauerin, die einem ausgezeichneten Lustspiel folgt, das von Wetter und ihrem eigenen Körper aufgeführt wurde. Sie grinste und blinzelte, als brenne Wetter ein ununterbrochenes Feuerwerk erstklassiger Witze ab, deren Pointe immer wieder ihre beiden Körper waren. Noch nie hatte er die Nachbarschaft von Lust und Lustigkeit, von Orgasmus und Lachen so überzeugend vorgeführt bekommen. Nichts da vom Pathos der Hingabe, von der angeblichen Ähnlichkeit der Schmerz- und Lustrufe. Das ganze war einfach ein zweiseitiger Riesenspaß, der völlig schamlos ausgekostet werden konnte, endlich. Darum verlor Wetter auch bis zum Ende nie das Einvernehmen mit Frau Kamiah, nie kam er sich als alleingelassener Zuschauer vor, immer lud ihr zugleich absolut egoistisches und kollegiales Verhalten zur Teilnahme ein. In dieser körperlichen Unterhaltung gab es nur Antworten, nicht Fragen. Immer war gleich klar, was vom anderen als angenehm empfunden wurde und was noch angenehmer war. Als sich unter seinem Nabel ein gewaltiger Niesreiz zusammenzog, gab sie fröhlich zu verstehen, daß sie ihn
kommen spürte, und zum ersten Mal spürte er den Erguß des Samens ohne Bedauern über seine Vorzeitigkeit. Im Gegenteil, es war der Applaus für ein gelungenes Finale. Vom zehntägigen Urlaub kehrte Wetter mit abgrundtiefem Wohlbefinden heim. Jeder Moment dieser Tage war geschlossen und gelungen gewesen, sie waren eine Kette echter Kunstwerke, die er um den Hals trug. Auf der Heimfahrt schlüpfte er in seine Stadt wie in einen Handschuh: Die Beengung ein Schutz, das Bekannte kein Hindernis mehr. Er war übrigens sicher, daß alle jungen Frauen ihn aufmerksam und erstaunt oder warm und freundlich gemustert hatten. Ja, man mußte ihm die neuen Erfahrungen und Freiheiten ansehen, sein Gesicht wirkte neuerdings sicher und spöttisch, seine Bewegungen waren ruhig und ökonomisch geworden. So schwebte er als landendes Luftschiff zu seiner kalten Wohnung, gefüllt mit dem Leuchtgas der Fremde, und tauchte ohne Ekel in die alten Gewohnheiten ein. Die bekannten Verhältnisse erschienen ihm noch ganz neu und unverbraucht. Mit Frau Kamiah hatte
alles erst begonnen, im Institut wartete ein neuer Arbeitsraum, mit neuer Kraft würde er die verfahrenen Beziehungen zu den Kollegen entwirren. In den vergangenen zehn Tagen war er bei jedem Wetter stundenlang am Meer spazieren gegangen, hatte die Kollegen auseinandergenommen und zueinander in Beziehung gesetzt. Das Notizbuch war voll mit Diagrammen und Wertungen, er hatte eine fertige Strategie und wußte, wo er anzusetzen hatte: Falk herüberziehen, Lehnau isolieren, dann Huber und Ingarden gewinnen, sich selbst mit den Kalkulationen über Schockwellen im Kühlkreislauf des Brüters unentbehrlich machen. Er machte überall in der Wohnung Licht, heizte ein, drehte das Radio auf, stülpte die Reisetasche aufs Bett und rief sofort Frau Kamiah an. Daß sie nicht abhob, war ein Schlag. Aber sie konnte nicht wissen, wann er wiederkam, wußte nicht einmal von seiner Reise, ging vielleicht nicht ans Telefon, weil Sandner sie so bedrängte? Er rief bei Sandner an. Auch dort hob niemand ab, das war ungewöhnlich. Wetter fühlte, wie hinterrücks ein hundsgemeiner Gedanke sich zum Sprung duckte, den er durch lautes Singen abzuschütteln versuchte. Die Heimkehrfreude verpuffte, die unfreundliche
Wohnung begann Wetter nun doch einzukreisen. Er lief aus dem Haus. Mit Schrecken mußte er sich zugestehen, daß Frau Kamiahs Unerreichbarkeit, ob Zufall oder Absicht, ihm die Laune verdarb. Ungeduld und Nervenschwäche packten ihn wie einen Süchtigen, der nicht an die Droge kommt. Er schoß im Laufschritt durch ein paar windige Straßen, jeder Stein war ihm bekannt und verhaßt, rannte wieder in die Wohnung und versuchte, die Kamiah oder Sandner zu erreichen. Ihm graute vor der Nacht und dem folgenden Sonntag. In diesem Zustand konnte er kein Auge zutun und keinen Tag durchstehen. Entsetzt sah er sich zu, wie er vor dem Telefon hockte und mit zitternden Fingern immer wieder dieselben Ziffernfolgen wählte. Er fröstelte, lief alle paar Minuten zum Wasserlassen aufs Klo und wusch sich dann umständlich die Hände. Er sah sein krankes Gesicht im Spiegel und dachte: So die Zeit bis Montag totschlagen, das bringt mich um. Er zwang sich, ruhig Platz zu nehmen, wischte zehn Tage Staub vom Schreibtisch und studierte seine Notizen. Demnach hatte Frau Kamiah eine Verbindungslinie zu Sandner, die von ihm zu ihr lief. Dann hatte Wetter noch eine hypothetische Linie gestrichelt eingetragen. Sie symbolisierte ein mögliches
Verhältnis zu einem männlichen Mitglied des Biologenteams; immerhin pflegte sie mit großer Wärme von ihrem Team zu sprechen. Es gab noch eine dritte Linie. Sie stellte die Möglichkeit dar, daß Frau Kamiah auf eine frühere Gelegenheitsbekanntschaft zurückgriff. »Gut«, rief Wetter laut durch die leere Wohnung und klatschte energisch in die Hände: »An Sandner kommen wir nicht heran, die dritte Möglichkeit ist für uns überhaupt unzugänglich, bleibt die zweite.« Er zog aus dem Schreibtisch eine Telefonliste des Instituts. Unter »Biol. Inst.« stand »Vorst.: Prof. Dr. Leander Bergamon«. Den konnte er schlecht am Wochenende privat anrufen. Dann gab es noch die Eintragung »Biochem. Lab.: Dr. Weinhirn, Dipl. Biol. K. Kamiah«. »Aha! Entweder weiß das Weinhirn etwas, oder sie steckt sogar heute im Labor und arbeitet«, murmelte er und suchte im städtischen Telefonbuch unter Wei. Es gab nur zwei Weinhirn und nur einen Dr. Er wählte und wartete. Eine Frau hob ab und sagte: »Bei Weinhirn?« »Ja, guten Tag, entschuldigen Sie, daß ich am Wochenende, hier Wetter«, stammelte er und holte tief Luft, wobei in seiner Gurgel ein schnarchendes Geräusch entstand.
»Wetter?« sagte die Stimme. »Ja, Wetter wie das Wetter«, rief Wetter und lachte übertrieben, »ist zufällig Ihr Mann daheim?« »Mein Mann, nein…« Jetzt stotterte auch die Stimme. »Ist er vielleicht im Institut«, fragte er, als käme er aus dem Lachen nicht heraus. »Ja vielleicht… Auf Wiederhören«, murmelte die Stimme, jetzt ganz kindlich und verschlafen, und legte auf. Wetter saß mit heißem Kopf vor dem Apparat und rieb sich die Stirn. Dann nahm er aber doch allen Mut zusammen und rief im Labor an. Es läutete lange, Wetter nahm schon den Hörer vom Ohr, da sagte ein atemloser Mann unwirsch: »Biologie, Moretti, mach’s kurz, ich kann jetzt nicht.« »Ja, nur ganz kurz«, Wetter beeilte sich, »ist Frau Kamiah bei Ihnen?« »Nein. Hier ist nur Moretti. Und der Professor.« »Ah, ja«, als wäre es das, was Wetter hören wollte, »den Professor bitte.« »Wer ist denn überhaupt dran?« »Ja… Doktor… Sandner von der Chemie!« Die Lüge war wie von selbst herausgerutscht, und sie hatte eine verblüffende Wirkung. »Was, schon wieder«, stöhnte Moretti am anderen
Ende, »Sie haben doch erst vor zwanzig Minuten angerufen, und da habe ich Ihnen doch gesagt, daß Frau Kamiah nicht da ist… Sagen Sie, Sie sind überhaupt nicht der Sandner, der redet anders. Ich werde der Kamiah sagen, sie soll ihren Kavalieren ausrichten, sie sollen nicht auch noch am Wochenende hier alles, lahmlegen – Jawohl, Herr Professor«, brüllte Moretti, »komme schon! Arschloch«, schloß er. Leider würde Wetter nie erfahren, ob Moretti ihn oder den Professor damit meinte. So, so: Sandner rief ununterbrochen im Labor an. Das war ein gutes Zeichen. Es bedeutete, daß er sie zu Hause nie erreichte. Jedenfalls steckten die beiden nicht zusammen. Er beruhigte sich. Das Wochenende verwandelte sich aus einer vor ihm aufgebauten Folterkammer wieder in eine gemütliche Hügelkette. Morgen würde er anrufen und sie wiedersehen – aber nicht heute, erst wollte er das Heimkommen genießen, diese Fremdheit im Altbekannten, das undramatische Inkognito. Noch nicht einmal die Reisetasche hatte er ausgepackt! Er beschloß, essen zu gehen und dann durch die Stadt zu spazieren, als ein Reisender, der erst mit der Zeit eine fremde Stadt als die eigene erkennt. Plötzlich läutete das Telefon.
»Endlich erwische ich dich«, quäkte Sandner am anderen Ende der Leitung, »wo warst du?« »Am Eismeer, erholen.« »Ihr habt’s gut. Jetzt darfst du weg? So einen Chef möchte ich auch haben.« »Viel zu tun?« fragte Wetter gleichgültig. »Aber sicher! Alle Mann brüten, so schnell sie können, am Schnellen Brüter. Das Ding wird größer, als man uns verraten hat. Oder hast du gewußt, daß es ein Pilotprojekt ist, einmalig in der Welt? Nicht einmal die Amis und die Russen haben Gasbrüter in Arbeit.« »Ich weiß inzwischen auch, warum«, sagte Wetter leise. Er dachte an seine jüngsten Rechenergebnisse. Das Problem war die Form des Kühlkreislaufs, durch den radioaktives, überhitztes Helium unter enormem Druck rasen sollte. Die Form mußte ausgetüftelt werden wie bei einem Überschallflugzeug. Wahrscheinlich brauchte man eigens konstruierte Druckkammern und Windkanäle, um die richtige Form zu finden, sofern es überhaupt einen Kühlkreislauf gab, der nicht schon bei normalen Brutbedingungen in Fetzen flog. »Aber das ist nicht der Grund, warum ich dich spre-
chen muß«, schnatterte Sandner, »das hast du großartig gemacht, es hat einmalig gewirkt. Aber jetzt mußt du mir endlich verraten, wie du das fertiggebracht hast!« »Was denn?« fragte Wetter ungeduldig. »Ha, ha«, brüllte Sandner, »verstell dich nicht! Keine falsche Bescheidenheit! Phantastisch! Wo nimmst du diese Manipulationstechnik nur her?« »Wovon redest du!« schrie Wetter böse. Hatte Lehnau in seiner Abwesenheit ein neues Ding gedreht? Hatte er jetzt auch die Chemiker in der Mangel? »Du Dämon, du Hypnotiseur«, witzelte Sandner, »ich weiß noch nicht, wie du es machst, aber es wirkt, das kann ich dir sagen! Die Frau ist wie verwandelt.« »Sie… wer?« ächzte Wetter entgeistert. Der kürzlich aufgetauchte und wieder verschwundene Gedanke sprang ihm jetzt direkt ins Gesicht. »Na wer schon! Die Kamiah natürlich! Wir feiern praktisch die zweiten Flitterwochen. Vor einer Woche hat sie mich angerufen, von sich aus wohlgemerkt, und hat vorgeschlagen, daß wir uns wiedersehen. Das ist dein Werk, sie sagt es selbst! Vor zwei Minuten haben wir uns getrennt und sehen uns morgen wieder! Besten Dank!«
Wetter schwieg. Leicht vornübergebeugt stand er mit offenem Mund am Telefon, als habe ihm Sandner gerade einen harten Schlag in den Magen versetzt. Dann grinste er boshaft und schüttelte den Kopf. »Nein, mein Lieber«, sagte er kalt, »das glaub ich dir nicht. Vor zehn Minuten habe ich im Labor angerufen und dort gehört, daß du kurz vorher vergeblich die Frau Kamiah haben wolltest. Erzähl keine Märchen.« »Spinnst du«, rief Sandner empört, »ich habe überhaupt nicht angerufen, ich rufe aus Prinzip nicht in ihrem Labor an, das mag sie nicht, das habe ich nicht nötig, ich seh sie ja immer, wann ich will! Was soll der Unsinn.« Entweder er lügt, dachte Wetter – oder das ist gar nicht Sandner, der immerfort im Institut anruft und nach ihr fragt. Aber wer ist es dann? »Komm her«, sagte er ins Telefon. »Was soll der Unsinn«, wiederholte Sandner, als er durch die Tür stürmte, »was wolltest du überhaupt von ihr?« »Ich wollte sie ausfragen, wie es zwischen euch steht«, log Wetter ungeschickt. »Du übertreibst«, sagte Sandner, »jetzt läuft alles prima. Du mußt dich nicht mehr um mich kümmern.«
»Das konnte ich ja nicht wissen«, sagte Wetter, als wäre er gekränkt, »aber wie kommt es, daß mir ein Biologe einredet, daß dauernd ein Sandner im Labor anruft und etwas von Frau Kamiah will?« Sandner stellte sich ans Fenster. Da gab es nichts zu sehen als einen Hinterhof. Seine Taschen standen weit ab: Er ballte die Fäuste in den Hosen. Sogar am anderen Ende des Zimmers hörte Wetter, daß er mit den Zähnen knirschte. Er fuhr sich durchs Haar und wandte sich mit der Hand im Genick nach Wetter um. »Oh, die Schweine«, stöhnte er und schlug mit einem Bein aus wie ein nervöser Gaul, »diese Schweine.« »Wen meinst du?« »Ja, verstehst du noch immer nichts? Sie wird bespitzelt, man kontrolliert jede ihrer Bewegungen. Irgendein Agent ruft am Wochenende in ihrem Labor an, ob sie dort ist. Wahrscheinlich steht er immer vor ihrem Haus, aber heute hat er sie verloren, vielleicht mußte er gerade pinkeln, als sie wegging, um mich zu treffen, da ruft er einfach im Labor an.« Er bemerkte Wetters Unglauben und nickte heftig, während er wieder in den Hof sah. »Das kannst du nicht beweisen«, sagte Wetter neugierig. »Dann frag sie! Sie kennt den Mann inzwischen, er
folgt ihr ganz offen. Alles nur, um sie einzuschüchtern. Sie hat ihn mir gezeigt. Wir sind in ihrem Zimmer hinter dem Vorhang gestanden, und unten steigt der Mann aus einem Auto, holt Zigaretten, steigt wieder ein, fährt aber nicht weiter. Sie sagt, es ist immer derselbe.« »Verrückt«, sagte Wetter. Eigentlich meinte er damit die Vorstellung, daß Sandner neben Frau Kamiah aus ihrer Wohnung sah, gegenüber wohnte ein alter Mann, der immer um einen großen Globus wanderte, sie legte den Arm um Sandner und schob sacht den Vorhang ein Stück zur Seite, um ihr Geheimnis mit ihm zu teilen. Ihm, Wetter, hatte sie davon nichts erzählt! Er kam sich ausgeschlossen und betrogen vor, man hatte ihn bitter enttäuscht. Nie wieder würde diese Schlampe von ihm hören! Dabei schmerzte ihn der Gedanke, daß sie ihn sicher längst vergessen hatte. Sie war ganz froh, wenn er nie wiederkam, um alte Geschichten aufzuwärmen. Sie hatte ihm erzählt, daß ihr kurze und bündige Affären am liebsten waren, weil sie Männer nicht vertrug, die auf Gewohnheitsrechten herumritten. »Du bist dir hoffentlich im klaren«, sagte Sandner, »daß wir beide jetzt genauso drinhängen. Wir sind Bekannte einer verdächtigen Person, also selbst verdächtig. Sicher beschattet man uns schon.«
Wetter zuckte die Achseln und dachte: Nein! So leicht kommst du mir nicht weg! Wart nur, ich werde mich in Erinnerung rufen! Laut sagte er: »Und wenn schon. Erzähl lieber, wie ihr euch wieder versöhnt habt.« »Das ist jetzt unwichtig«, meinte Sandner ungeduldig, »ist dir nicht klar, in welcher Gefahr wir sind? Wenn man uns verdächtigt, wir wollen den Brüter sabotieren, dann wird man nicht zimperlich sein. Man wird uns absägen, entfernen, kaltstellen.« Nein, nein, dachte Wetter, von euch beiden laß ich mich nicht absägen, entfernen, kaltstellen! Auf einmal liebte er Frau Kamiah so stark, daß es ihm in der Brust wehtat. Am liebsten wäre er losgerannt, zu ihr. Sandner stand im Weg wie ein großer blöder Hund, über den man stolpert, weil er immer knapp vor den Beinen herläuft. Sandner sagte: »Wir müssen endlich wissen, wer den Zeitungen die Meldungen zusteckt, das kann uns noch retten. Sonst sind wir es gewesen. Kamiah, Sandner und Wetter, die Saboteure des Heliumbrüters, die Staatsfeinde Nummer Eins, Zwei, Drei! Oh, diese Schweine! Wenn ich den finde, der uns das antut, ich hau ihn eigenhändig nieder.« »Ich weiß, wer es ist«, sagte Wetter träge. »Sicher«, schrie Sandner, »du weißt wieder alles.
Und wer soll’s sein?« »Unser neuer Kollege Lehnau.« Sandner starrte ihn an. »Das kannst du beweisen?« »Fast«, lächelte Wetter. Sandner rang die Hände: »Fast! Also nicht! Du kannst jetzt noch Witze reißen!« Er lief zur Tür und sagte: »Ich muß zu ihr. Sie muß wissen, daß sie jetzt schon im Labor anrufen. Wir müssen überlegen, was wir tun können.« Plötzlich rief Wetter: »Ich komme mit.« Sandner sah Wetter ungläubig an: »Ja aber…« Er schluckte. »In Ordnung. Gehen wir.« Sie nahmen Sandners Wagen, der stark und rot war und in Wetters Augen zu stark, zu rot, darum komisch wie sein Besitzer. Doch jetzt, während sie wortkarg durch die herbstabendliche Stadt zu Frau Kamiah fuhren, beobachtete Wetter den Fahrer mit neuem Respekt. Sandner fuhr sicher, lenkte und schaltete unbewußt, dadurch gewannen seine sonst oft lächerlichen Gesten auf einmal Eleganz. Sandner konnte Auto fahren. Ruhig und sicher nutzte er Lücken für rasche Überholmanöver, bremste weich und schimpfte nie. Wetter schlug sich mit dem Gedanken herum, ob Sandner Frau Kamiah auch so umsichtig und gekonnt bediente wie sein Auto. Er versuchte, ihn mit ihren Augen zu sehen, als ob
sie nach einem gemeinsamen Abend in der Stadt jetzt in ihre Wohnung führen, um zu vögeln. Plötzlich mußte Wetter in Sandner einen durchaus anziehenden Mann sehen. Unlängst hatte er beim Arzt in einem Frauenmagazin gelesen, was Frauen im Durchschnitt an Männern schätzen. Das alles hatte Sandner, Wetter nicht. Plötzlich sprangen vor der Windschutzscheibe in einer lang geschweiften Kette die Peitschenleuchten an. Er glaubte, mit den Augen einen traurigen Klang hören zu können: das Klimpern, womit in allen Büros der Dämmerungszone die Neonröhren aufflackerten. »Was gibt es Neues in Siegdorf?« fragte Wetter. »In einer Woche versammeln sich vor dem Zaun die Demonstranten«, erzählte Sandner, »sie wollen den Brüter stürmen. Zehntausende werden erwartet, aus dem ganzen Land, sogar aus dem Ausland.« »Verrückt«, meinte Wetter und dachte an den friedlichen Bauplatz im Regen und an die Zelte, zwischen denen der Rauch von Lagerfeuern hochstieg. »Ist denen nicht kalt jetzt in ihren Zelten?« »Sind nur noch ganz wenige. Das hast du versäumt! Die Polizei hat das Zeltlager geräumt.« »Mit welcher Begründung?« Sandner lachte und überholte zugleich mit einem Sprung eine dahinschaukelnde Ente: »Die Zelte ste-
hen auf dem Grund eines Bauern, der gegen den Brüter ist, weil er glaubt, ihm werden die Kartoffeln verseucht. Der hat denen sogar heiße Suppe gebracht und auf der Ziehharmonika die Zeit vertrieben. Es hat eine Menge gekostet, ihn auf unsere Seite zu bringen.« »Wie?« »Meredith persönlich hat ihn eingeladen, Lehnau hat ihm bunte Broschüren geschenkt, auf ihn eingeredet und ihn mit Bruchteilen von Millirem in den Schlaf gesungen.« Sie lachten beide ein bißchen, und Sandner fuhr fort: »Aber der Bauer war so nicht zu knacken. Er hat zu allem genickt, sich vielmals bedankt und ein paar Fragen gestellt. Das waren Fragen!« »Dumme?« »Im Gegenteil! Der war schön präpariert worden von seinen Freunden draußen in den Zelten. Was bei einem GAU passieren kann, wollte er wissen, wie das wäre mit der Anreicherung von radioaktiven Stoffen in der Nahrungsmittelkette, um wieviel Grad der Siegbach sich durch die Reaktorkühlung erwärmen wird.« »Woher haben die das?« »Du darfst dir nicht wie Lehnau vorstellen, daß da draußen nur Spinner und Germanistikstudenten
hocken, die von Physik keine Ahnung haben. Da sind Physiker dabei, Chemiker, Biologen, Juristen. Nimm nur die Kamiah! Wenn die weiter so mies behandelt wird, steht sie in einer Woche auch draußen vor dem Zaun und demonstriert mit.« Wetter runzelte die Stirn. Wie konnte es Wissenschaftler geben, die gegen die Wissenschaft kämpfen wollten? Das verstand er nicht. »Und wie haben Meredith und Lehnau den Bauern dann doch herumgekriegt?« »Dreimal darfst du raten. Mit Geld natürlich. Sie haben ihm einen Vertrag geboten, der für die ›psychologische Entwertung‹ seines Grundes durch den Brüter eine unglaublich hohe Entschädigung vorsieht. Das heißt, sie bezahlen ihn, wenn der Brüter fertig ist. Am nächsten Tag war die Polizei auf seinem Feld.« Wetter spürte leichten Ekel. »Hat es Schlägereien gegeben?« »Keine Spur. Die Polizisten kamen um drei Uhr morgens, trieben die Leute aus den Zelten, ließen sie in einer Reihe aufstellen, dann nahmen sie die Personalien auf. Wer sich weigerte, mußte mitkommen, die anderen gingen von selbst.« »Na also«, seufzte Wetter unzufrieden. Diesen billigen Triumph gönnte er Lehnau nicht.
»Das schönste kommt erst«, rief Sandner und drehte eifrig den Kopf. Sie waren schon in Frau Kamiahs Gasse, er suchte einen Parkplatz. »Ein paar von den Protestanten haben den Bauern wieder umgedreht! Sie haben ihn überzeugt, daß der Brüter nie fertig gebaut wird, daß er also nie das versprochene Geld sieht. Jetzt läßt er wieder ein paar Zelte auf seinem Acker stehen.« »Verrückt«, murmelte Wetter geistesabwesend. Er hatte Herzklopfen bei dem Gedanken, gleich vor Frau Kamiah zu stehen. Sie würde den Auftritt peinlich finden, noch dazu, weil er mit Sandner daherkam. Der Abend war Wetter die liebste Zeit. Als sie aus Sandners Flitzer stiegen, war ihm wie einem Taucher, der aus einer Luftglocke durch kühles Wasser an die Oberfläche schwimmt. In einer Nebengasse schnarrte ein Moped, in den Scheiben des Bürohauses am Ende der Straße glänzten rote Wolken. Diese Stadt war jetzt die Stadt schlechthin, mit Terrassen, Parks, Kneipen und Plätzen, die einem Weltbürger alle zur Verfügung standen, wenn er sich einmal ausruhen wollte. Was machte es für einen Unterschied, wo man zufällig war? Es war lächerlich,
neben einem Mann wie Sandner zu einer Frau zu gehen, die zwischen Wetter und jedem anderen keinen Unterschied machen wollte. Andererseits war es wieder ganz in Ordnung, Wetter nicht wichtig zu nehmen, er wollte es von jetzt an auch nicht mehr tun. In Gedanken sah er sich von oben, die Kamera flog rasend aufwärts und sog immer mehr Straßen und Dächer ins Objektiv, ebnete die Stadt in die umliegende Landschaft ein, flog immer höher und zog eine weißblaue Wolkendecke über das Bild, bis Wetter nur noch ein Atom in siedendem Wasser war, und immer weiter, bis die Erde neben der Sonne verblaßte, die Sonne in der Milchstraße unterging, bis die Galaxis selbst als blasser Fleck am Sternenhimmel jede Bedeutung verlor. Er breitete die Arme aus und stieß einen Schrei aus. Ein Polizist sah von dem Block auf, in dem er einen Parksünder notierte, und schüttelte weise den Kopf. Sandner lachte erstaunt und blickte Wetter mißtrauisch an; er zerbrach sich den Kopf, warum Wetter mitgekommen war. Ich weiß es selber nicht, Sandner, dachte er, es gibt keinen Grund, es ist alles gleich, ich bin wie besoffen. Sandner drückte das Tor auf, Wetter ging hinter ihm durch das dunkle Stiegenhaus zum Aufzug, hinter seinem Rücken ange-
strengt schielend und die Zunge herausstreckend. Während Sandner klingelte, stellte Wetter sich etwas ins Abseits, so daß Frau Kamiah ihn erst im zweiten Moment ausmachen würde. Sandner zwinkerte ihm zu: »Gleich wirst du sehen, wie die Frau auf mich fliegt!« Aber nichts rührte sich. Sandner lehnte mit dem ganzen Körper auf dem verbogenen Zeigefinger, der sich in die Klingel bohrte, und sagte verlegen: »Wo treibt das geile Stück sich herum?« Wetter beobachtete, daß die Linse des Türspions zweimal die Helligkeit wechselte, und grinste. Sandner hob drohend den Ellbogen und das Kinn: »Da gibt’s nichts zu lachen. Das hat nichts zu sagen. Komm.« Sie schritten zum Aufzug, Wetter mit den Fingern schnippend und über die Fliesen hüpfend, ohne die Trennfugen zu berühren. Während sie auf den Aufzug warteten, öffnete sich in ihrem Rücken eine Tür. Sandner wandte den Kopf und zog ein Gesicht, das Wetter an ihm noch nie gesehen hatte: Er lächelte mit hochrotem Kopf, als hätte ihm jemand einen Säugling im Kinderwagen vorgeführt, den er sofort ganz reizend fand. In der Tür stand Frau Kamiah, den Kopf zur Seite gelegt, teils fragend, teils herausfordernd. »Na ihr beiden«, sagte sie, »zwei Mann hoch? Ein Bummel
durch die Stadt?« »Warum machst du denn nicht auf«, rief Sandner vorwurfsvoll und schürzte schmollend die Lippen in seinem strahlenden Antlitz. »Ich bin gerade durchs Fenster eingestiegen«, behauptete sie. Dabei sah sie abwechselnd Sandner sehr freundlich und Wetter etwas ratlos an. »Ja«, erwiderte dieser, »wir kommen auch direkt vom Dach.« Sie blieb ernst und erklärte: »Ich habe die Fenster geputzt.« »Vorsicht«, schrie Sandner, als sähe er sie im selben Augenblick vom Fenstersims taumeln. Sie fragte Wetter freundlich, aber überhaupt nicht neugierig: »Wo waren Sie denn die letzten Tage?« »Urlaub hat er gemacht«, empörte sich Sandner, »wir bauen den Brüter fertig, während die Herren Theoretiker ans Meer fahren.« »Ich wäre auch lieber am Meer gewesen«, sagte Frau Kamiah, ging in die Wohnung und machte dabei eine halbwegs einladende Geste. »Nicht im Süden, an der Nordsee«, präzisierte Wetter, aber keiner hörte ihm zu. Die Kamiah wühlte im Kühlschrank, Sandner stand über ihr und hielt die gespitzten Lippen ins Leere: Ihr Gesicht war unter seinem Kuß versuch in den Kühlschrank getaucht.
Wetter stellte sich ans Fenster, sah auf die dunkelblaue Straße hinunter und lachte so fest, daß ihm die Tränen kamen. Als die anderen mit Flaschen und Gläsern hereinkamen und er sich umdrehte, wurden sie ganz verlegen, weil sie glaubten, er habe geweint. Wetter fühlte sich behindert, denn er wußte nicht, ob er in Sandners Gegenwart zu Frau Kamiah Du oder Sie sagen sollte. Also formulierte er: »Stimmt es, daß man neuerdings beschattet wird?« Sie machte eine wegwerfende Bewegung: »Weiß ich nicht. Eine Zeitlang war einer gegenüber auf der Straße, aber ich bin nicht sicher. Wenn man zu lange darüber nachdenkt, schnappt man über.« »Wie kannst du nur so sorglos sein«, rief Sandner aus, »deine ganze Existenz steht auf dem Spiel, und du triffst dich in aller Öffentlichkeit mit den Kernkraftgegnern!« Wetter horchte auf. Also doch! »Das ist nicht verboten, falls wir in einer Demokratie leben.« »Es gibt vieles, das nicht verboten ist, und trotzdem tut man es nicht.« »Zum Beispiel?« »Man arbeitet nicht mit Leuten zusammen, die das
kaputtmachen wollen, wofür man arbeitet.« Frau Kamiah sah Sandner an und überlegte. Dann sagte sie: »Ich arbeite nicht mit der Bürgerinitiative gegen den neuen Brüter zusammen. Aber wenn man es mir noch lange unterstellt, kann es sein, daß ich es tun werde.« »Das ist doch Wahnsinn«, flehte Sandner. Sie antwortete ruhig: »Wahnsinn finde ich, was die KKU treibt. Sie verbieten mir, meine wissenschaftliche Arbeit zu publizieren. Sie bestechen einen Bauern, um Menschen von seinem Grund vertreiben zu können. Wahrscheinlich hat man mein Telefon angezapft und läßt mich auch in der Freizeit beobachten.« »Das kannst du nicht beweisen«, rief Sandner verzweifelt, »außerdem ist es begreiflich, daß sich die KKU mit allen Mitteln gegen den Ruin durch diese ewigen Proteste wehrt.« Sie blickte Sandner prüfend an und begann mit tiefer, böser Stimme: »Du mieser, feiger, kleiner, ganz gemeiner…« Schnell unterbrach Wetter, als er sah, daß Sandner errötete und tief Luft für eine gebrüllte Antwort holte: »Reden wir lieber von dem Grund, warum wir hier sind.« »Ja?« sagte sie höhnisch, »ich bin sehr gespannt.
Was führt die zwei Herren am Wochenende in meine Wohnung?« »Ich habe«, erzählte Wetter, »vor einer Stunde im Labor angerufen und… sie verlangt.« Er zeigte dabei auf Frau Kamiah, als spreche er von ihr in der dritten Person. »Warum?« warf sie schnell ein. Sandner zuckte zusammen und wiederholte: »Ja, warum eigentlich?« »Ich bin an einen Ausländer geraten…« »Moretti?« »Ja, er war wütend, weil dauernd Leute die Frau Kamiah sprechen wollen, und erst vor wenigen Minuten hat ein Sandner angerufen und sie verlangt.« »Und das kann nicht stimmen, weil wir doch zusammen waren«, erklärte Sandner ihr stolz, »du und ich.« Sie wurde ein wenig blasser und legte die Finger an die Lippen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie murmelte mit verzerrtem Mund: »Man kriegt ja nichts in die Finger, man kennt kein einziges von diesen Gesichtern. Man kann sich nicht wehren.« »Jedenfalls bedeutet das, ich hänge jetzt auch drin«, sagte Sandner besorgt, liebevoll und stolz. Hauptsache, du hängst bei ihr drin, dachte Wetter neidisch. »Ich hab’s satt«, stellte sie fest und wischte sich das
Gesicht ab, »ich gehe jetzt zum Angriff über.« »Wie bitte?« fragte Sandner. Er stülpte mit den Fingern beide Ohrmuscheln vor. »Die Bürgerinitiative plant eine Pressekonferenz. Sie haben mich gebeten, dort meine Geschichte zu erzählen. Jetzt will ich.« »Langsam!« warnte Wetter, »vielleicht hat das alles nichts zu bedeuten. Moretti hat vielleicht die Namen durcheinander gebracht.« Sie wandte sich ihm mit dem ganzen Körper zu und zischte: »Ich möchte wissen, was du, ausgerechnet du« – Wetter sah rasch zu Sandner hinüber, denn Sandner fuhr zusammen und starrte ihn an, als käme ihm soeben ein ganz neuer Gedanke – »für einen Grund hast, am Samstag mein Labor anzurufen! Wenn du keine sehr plausible Ausrede hast, dann ist es besser, du gehst sofort. Deinen Auftraggebern kannst du erzählen, was du bisher aus mir herausgequetscht hast, aber mehr nicht.« Wetter grinste. Er wußte, jetzt verscherzte er sich alles. »Es war so eine Art Kontrollanruf«, behauptete er und sah unter den Tisch auf seine Fußspitzen wie Ingarden, wenn er seinen Mitarbeitern eine unangenehme Mitteilung zu machen hatte, »ich wollte wissen, ob ihr beide euch noch regelmäßig trefft.« Er spürte einen dumpfen Schmerz: Sandner trat
ihm auf den Fuß und verstärkte den Druck, je länger Wetter redete. »In wessen Auftrag?« fragte sie atemlos. Wetter grinste noch unverschämter. Sandner verdoppelte den Druck. Wetter deutete stumm auf ihn. Sie sah fassungslos von einem zum anderen: »Das soll ein Witz sein!« »Hör auf, mich zu treten, Sandner«, grinste Wetter und kam sich vor wie ein Kind, wenn es aus Wißbegier voll bösem Gewissen etwas kaputtgemacht hatte. »Du?« flüsterte sie und rückte entsetzt von Sandner ab, der Wetter mit seinen Blicken durchbohrte, dafür endlich den Fuß wegnahm. »Nein, Sandner ist nicht der große Unbekannte, der auf dich angesetzt worden ist, und ich auch nicht«, erklärte Wetter, »es ist rein privat. Ich soll zwischen euch vermitteln.« »Also doch«, rief sie aus. Sandner zuckte wie unter einem Schlag zusammen. Erst jetzt verstand er, daß sie an Wetter Interesse gehabt hatte und nicht an seinem Auftrag als Liebespostillon. »Und da wollte ich herausfinden, ob alles geklappt hat, während ich mich ans Meer zurückzog«, schloß Wetter und blickte frech in die Runde. Noch nie hatte er sich vier Augen gegenübergesehen, aus denen
soviel Verachtung sprach. »Und dein Interesse an meiner Arbeit?« »War echt. Ich bin kein guter Schauspieler.« »Klara«, rief Sandner beschwörend, obwohl er wissen mußte, daß Frau Kamiah ihren Vornamen haßte und mit ihrem Familiennamen gerufen werden wollte, »Klara, versteh doch, ich war so verzweifelt! Er versprach, mir zu helfen!« »Ist ja gut«, antwortete sie, »du bist wenigstens auf deine komische Art anständig – aber bei dem da weiß der Teufel, ob er nur ein Privatschwein ist oder im Auftrag handelt.« »Oder ob ich mich vielleicht für etwas rächen will«, sagte Wetter und mußte lachen. Plötzlich lachte auch sie, während Sandner aufatmete, ohne zu begreifen. »Rächen? Rächen! Für… für das?« Sie zeigte von einem zum anderen und lachte ausgiebig. »Ja«, sagte sie schließlich, »Herr Wetter, ich glaube Ihnen: Sie haben Rache nehmen wollen, weil ich festgestellt habe, daß Sie weg waren und Herr Sandner da war. Das ist Ihnen zuzutrauen. Das hat Ihr Stolz nicht vertragen: Daß eine Frau, die Sie gekannt hat, imstande ist, je wieder mit einem anderen ins Bett zu gehen.« »Genau«, sagte Wetter erleichtert und hob sein Glas.
»Prost«, rief Frau Kamiah. »Halt«, schrie Sandner, »was ist los? Wetter, du bist die gemeinste Sau, die mir je untergekommen ist – und die dümmste.« »Darauf wollen wir trinken«, schlug Wetter vor. »Haben Sie sich gut erholt, mein lieber Wetter«, sprach Ingarden und klopfte ihm auf die Schulter. »Kommen Sie gleich mit, wir zeigen Ihnen, was in Ihrer Abwesenheit ausgebrütet worden ist.« Wortspiele mit »Brüten« nehmen überhand, dachte Wetter und betrachtete Ingarden, während sie auf dem Gang inmitten einer kleinen Gruppe warteten. Ingarden hatte sich neu eingekleidet. Anstelle seines speckigen Friedhofsanzuges trug er dinstinguiertes englisches Schneiderhandwerk und gräßliche weinrote Schuhe. Sogar die Frisur war verwandelt. Statt des Vorkriegsscheitels hatte ihm ein Haarkünstler eine jungenhafte Tolle aufgeschwatzt. Über Ingardens trüber Visage sah sie wie eine Narrenkappe aus. Kein Zweifel, nicht der sein Äußeres vernachlässigende Naturforscher war nun Ingardens Leitbild, sondern der flotte Autohändler. Ungeduldig reckte er den Kopf über die versammelten Köpfe. »Immer wenn man Lehnau braucht…« Er lächelte so
unerwartet und schrecklich, daß Wetter zusammenfuhr. »Na, mein Lieber«, flötete er, es mußte für ihn ein großer Tag sein, »was machen die Rechnungen? Alles klar im Kühlsystem? Sie sollen gleich ein paar Worte sagen, Sie sind ein wichtiger Mann geworden!« Wetter erbleichte. »Darüber wollte ich gerade mit Ihnen reden«, sagte er aus einem Mundwinkel, denn ein Jüngling mit tragbarem Bandgerät strich um die Gruppe herum und stach unschlüssig mit seinem obszön geschwollenen Mikrofon in die Luft. »Selbstverständlich«, versicherte Ingarden, wie stets, wenn er nicht zuhören wollte, und hielt nach Lehnau Ausschau. »Es kommt zu Turbulenzen und Resonanzen«, flüsterte Wetter beschwörend. »So?« machte Ingarden abwesend, »ah, da ist Lehnau endlich.« Er sprang in die Luft, um sich bemerkbar zu machen, und landete ungeschickt auf dem hellgrauen Kunststoffboden. »Au-auau!« jaulte er, »auch das noch! Lehnau! Hierher! Mein Knöchel! Was haben Sie gesagt?« »Die Heliumströmung im Kühlkreislauf kann jederzeit instabil werden«, sagte Wetter dem Chef ins Ohr, er mußte sich bücken, denn Ingarden rieb sich den Knöchel, »das Gas kommt in Schwingung, die
Rohre schwingen mit, und alles fliegt auseinander.« Ingarden fuhr in die Höhe und brüllte im Flüsterton: »Was für ein Unsinn! Ihr Theoretiker macht einen krank!« Er rieb sich sein graues Gesicht und zerstörte die neue Frisur, indem er nach alter Gewohnheit die Haare nach hinten strich. Lehnau drängte sich durch die im Gang zusammengepreßte Gruppe. »Endlich!« sagte Ingarden, als sei Wetter die Nacht und Lehnau der Sonnenaufgang, »jetzt aber los! – Und Sie, Wetter, wenn Sie einer fragt: Kein Wort von diesem Gruselmärchen. Das müssen wir uns in aller Ruhe genauer ansehen.« »Was gibt’s denn?« fragte Lehnau und blickte Wetter freundschaftlich auf den Mund. »Später, später«, drängte Ingarden und brüllte: »So bitte, meine Herren« – »Und Damen!« krähte ein Witzbold aus der Gruppe. – »Gewiß, meine Damen, hier ist es zu eng, darum bewegen wir uns zunächst zu den Aufzügen, und dann erklärt uns Herr Doktor Lehnau, wie es weitergeht. Bitte schön!« Murmelnd und schubsend kollerte der bunte Haufen durch den Gang. Lehnau blieb neben Wetter und musterte ihn verstohlen. »Mach keinen Unsinn, Wetter«, sagte er dringend, »nicht jetzt!« Wetter überblickte die Gruppe, lauter Unbekannte:
»Was ist das hier überhaupt?« »Das ist die erste offizielle Begehung des Brütergeländes. Wir mußten uns beeilen. Vor der Demonstration müssen vollendete Tatsachen geschaffen sein. Darum bitte, mach keinen Unsinn!« »Ich mache keinen Unsinn, aber wenn es stimmt, was ich herausgefunden habe, dann wird es noch ein paar Monate dauern, bis wir erst einmal alle Pläne geändert haben.« »Ausgeschlossen«, lachte Lehnau, »die Pläne werden nicht geändert, und weißt du, warum? Weil der Brüter längst fix und fertig ist! Er wird hier nur noch zusammengebaut. Die Entwicklung ist seit einem Jahr abgeschlossen.« Wetter war sprachlos. »Ja«, lächelte Lehnau, »die Kernkraft-Union ist fix. Wir legen das Ei, ihr brütet es aus. Du bist nur ein Vogel, der sich draufsetzen soll, ohne lange zu gucken.« »Und du bist der Kuckuck?« »Einer von vielen. Jedenfalls brauchst du nicht den Computer mit Kontrollrechnungen zu strapazieren, spar die Zeit. Es ist alles schon x-mal durchgerechnet. Es wird klappen, glaub mir.« Sie standen am Ende des Ganges. Hier war die Wand durchbrochen worden. Man hatte einen Auf-
zugsschacht angebaut. Wetter deutete stumm auf das Aluminium, über das in verkrümmten Linien sein Spiegelbild zuckte. Lehnau nickte: »Alles neu. Unterirdische Verbindung zum Brütertrakt. Am anderen Ende liegen wunderschöne Arbeitsräume für euch.« »Danke, Lehnau, vielen Dank«, sagte Wetter und verbeugte sich tief. Ein Mann und eine Frau, die mit ihnen in der silbrigen Kabine abwärts fuhren, blickten erstaunt auf. Lehnau lachte gutmütig. Lautlos glitten die Türen zur Seite. »Wir kommen zur ersten Schleuse«, sagte er, »Sicherheit wird bei uns großgeschrieben.« »Toll«, flüsterte der Mann, und die Frau fragte: »Müssen wir in einen Raumanzug steigen? Gestern war im Fernsehen so ein Bericht…« »Sie werden sehen, unsere Schutzkleidung ist sehr bequem. Sie wird Ihnen stehen!« sagte Lehnau und lachte unwiderstehlich. Mit einer Hand öffnete er einen Knopf an seinem tadellosen Anzug, mit der anderen legte er eine blonde Strähne über dem Ohr zurecht. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Ich werde alles erklären.« »Was ist das für eine Pressekonferenz?« fragte Wet-
ter, als die Atmosphäre sich durch Bier und Wein entspannt hatte und Sandner darauf verzichtete, über die Vorfälle zwischen Frau Kamiah und Wetter nachzugrübeln. »Sie findet am Donnerstag auf dem Hof des Bauern Tuff statt. Auch mehrere Wissenschaftler sollen sprechen. Man rechnet mit Presse und Fernsehen.« »Und was willst du dort?« »Die Wahrheit sagen. Berichten, wie man mit mir umspringt.« »Was kannst du denn beweisen!« »Zumindest, daß meine Chefs mich hindern, meine Arbeit zu veröffentlichen.« »Aber du wirst doch bespitzelt! Das finde ich viel schlimmer!« rief Sandner. »Das kann ich leider nicht beweisen. Ich will mich nicht lächerlich machen.« Wetter widersprach: »Ich habe einen Beweis. Jemand ruft unter falschem Namen in deinem Labor an.« »Bedeutet das, daß du in der Pressekonferenz auspackst«, fragte sie spöttisch, »und du auch, Sandner?« Sandner winkte rasch ab. »Das steht alles auf schwachen Beinen«, fand Wetter, »wenn das alles ist…«
»Wir haben noch die vertuschten Unfälle. Damit kann man gut zeigen, was die KKU im Fall einer Panne beim Gasbrüter tun würde, nämlich alles verheimlichen.« »Paß auf!« rief Wetter, »das ist eine ganz gemeine Falle! Wenn ihr darauf hereinfallt, könnt ihr gleich einpacken.« »Wieso Falle? Es steht doch in den Zeitungen.« »Diese Geschichten hat Lehnau lanciert. Er ist der Werbemanager für den Brüter.« »Immer kommt er mit Lehnau, weil er ihn nicht ausstehen kann«, erklärte Sandner. Sie fragte ungeduldig: »Was für einen Sinn soll es haben, wenn die KKU Meldungen in die Zeitungen bringt, die ihr schaden und nicht einmal wahr sind?« »Sehr einfach«, sagte Wetter: »Auf solche Meldungen stürzen sich natürlich die Kernkraftgegner sofort und halten sie ohne Prüfung für wahr, weil sie nicht annehmen können, daß ausgerechnet so was getürkt ist. Überleg doch: Angebliche Unfälle, die mit dem Gasbrüter nichts zu tun haben. Keine Zeugen, außer dem einen großen Unbekannten, der zur Zeitung gelaufen ist. Wenn Lehnau selbst die Meldungen gebaut hat, dann kann er besonders leicht nachweisen, daß sie falsch sind. Er behauptet natürlich, daß es sich um gegnerische Verleumdungen handelt.
Er kann damit zeigen, daß die Kernkraftgegner mit Lügen arbeiten. So macht er alles unglaubhaft, was sie erzählen. Außerdem kann die KKU sagen: Ja, selbst wenn diese Unfälle passiert sein sollten: die sind nur auf die altmodische Technik des alten Atommeilers zurückzuführen; bei unserem neuen Gasbrüter könnte das nie passieren.« Die anderen dachten nach, während Wetter sich stolz zurücklehnte und Frau Kamiah betrachtete. Ich muß blind gewesen sein, dachte er, mir gefällt an ihr einfach alles, aufgeregt und fröhlich bin ich wie ein Kind, ich freue mich auf sie und werde nicht eher Ruhe geben. »Warum glaubst du, daß Lehnau dahintersteckt«, fragte Sandner hartnäckig, »das hängt doch alles in der Luft.« »Hinweise gibt es genug. Er versucht abwechselnd, uns auszuhorchen und zu provozieren. Einmal droht er, das andere Mal gibt er sich als Sympathisant der Gegner aus. Sicher steckt er dahinter. Ich brauche nur noch den Beweis. Vielleicht habe ich ihn bis Donnerstag. Auf keinen Fall dürft ihr die Unfälle verwenden!« »Okay«, meinte Frau Kamiah, »du kannst recht haben. Ich mache dir noch einmal den Vorschlag: Komm zur Pressekonferenz und erzähl dort, was du
weißt. Kann dir nicht schaden, einmal den Mund aufzumachen.« Plötzlich stöhnte Sandner laut auf: »Und ich? Darf ich nicht mit?« »Klar. Du auch.« »In Ordnung«, sagte Wetter jetzt und klatschte sich aufs Knie, »ich geh da hin und sage meinen Teil. Die Leute zu warnen, das ist ja noch keine Parteinahme. Ich will nur warnen.« »Neutral zu bleiben ist dir natürlich das Wichtigste«, spottete sie. Wetter nickte sehr ernst: »Ich werde neutral bleiben. Ich sehe, daß im Institut etwas faul ist, seit Lehnau gekommen ist. Aber auf der anderen Seite habe ich keinerlei Sympathien für Leute, die meine Arbeit als Teufelsdreck bekämpfen.« »Du wirst ja sehen«, sagte sie, »es gibt dort verschiedene Auffassungen. Das ist nur eine davon.« »Was wollen sie denn?« fragte Wetter, »wollen sie denn nicht ganze Techniken verbieten?« Sie überlegte eine Antwort, als Sandner fragte: »Wie gut kennst du diese Leute überhaupt?« »Nicht gut«, antwortete sie, »nur aus Flugblättern und aus Gesprächen mit einzelnen, die in den Zelten wohnen.« »Wie haben sie den Kontakt zu dir aufgenommen?«
Wetter paßte genau auf. Er sah sich rittlings auf dem Zaun zwischen dem Institut und seinen Gegnern sitzen; noch konnte er nach beiden Seiten abspringen. Er wußte in diesem Augenblick selbst nicht, ob er für Ingarden spionierte oder ob er an Frau Kamiahs Seite gegen Lehnau kämpfen wollte. Sie lächelte. »Das war sehr einfach. Kennst du Costello?« »Der?« Sie nickte. »Aha«, sagte Wetter scheinbar gleichgültig. Fast wäre er sofort aufgesprungen, um zu Ingarden zu laufen mit dem Schrei: Ich habe den Verräter. »Was machst du denn jetzt?« fragte Sandner und stierte Frau Kamiah verliebt an. Sie blickte freundlich zurück und sagte: »Warum fragst du? Wir wollten doch zusammen aus der Stadt fahren und Spazierengehen.« Sandner strahlte. Wetter erhob sich mühsam, um allein heimzufahren. Er sah die Straßenbahn vor sich, voll kalter Gesichter, dann seine Gasse, schließlich die öde Wohnung, in der er auf den Montag warten würde. Als er sah, daß Frau Kamiah seine Gedanken las und ihn warm ansah, beeilte er sich mit dem Abschied. Ihr Mitleid demütigte ihn tief.
Er fühlte, wie sein Gewicht zunahm und ihm in die Kniekehlen fuhr: Die Liftkabine bremste. Sanft glitt die Tür zur Seite und gab einen gelben fensterlosen Gang frei. Lehnau übernahm die Führung, das Besucherpaar folgte, Wetter machte den mißmutigen Schluß. Lehnau klopfte mit dem Knöchel gegen die Wand und erklärte, der Gang sei durch eine vierfache Haut gegen Explosionen und Erdbeben geschützt. »Jetzt wird es etwas ungemütlich«, sagte er, »wir müssen hier Schutzkleidung anlegen, nur pro forma, da der Brüter noch nicht brütet. Es soll aber eine realistische Besichtigung werden, damit unser hoher Gast einen echten Eindruck mit nach Hause nimmt!« Hoher Gast? überlegte Wetter. Kam schon die Regierungsspitze? So früh? Wie eilig es auf einmal alle hatten! Der Gang machte einen rechten Winkel. Sie standen vor einer kniehohen Schwelle, deren Kante mit schrägen schwarzen Strichen dick schraffiert war. Auf der anderen Seite drängten sich kichernd die Besucher. Sie waren mit den Füßen in blaue Kunststoffbeutel geschlüpft, die mit elastischem Verschluß um die Knöchel ein unförmiges Schuhwerk bildeten. Darüber trugen sie weiße Mäntel und Käp-
pis wie Chirurgen. Ingarden stolperte umher und befestigte aufgeregt kleine Filmbehälter mit aufgedruckten Namen an den Aufschlägen. Wetter glaubte, einen tiefen Atemzug zu hören, gefolgt von einem dumpfen Schlag, und wie von einer Pumpe abgesaugt, verschwand die Menschentraube schnatternd um die Ecke. Lehnau stieg elegant über die schraffierte Schwelle und verteilte aus einem Fach mit der Aufschrift »BESUCHER/SAUBER« Plastikbeutel, die man über die Schuhe zu ziehen hatte. Er erläuterte, daß die Schutzkleidung auf dem Rückweg in den Behälter »KONTAM!« mit dem dreistrahligen Signum der Radioaktivität geworfen würde, um später mit Geigerzählern geprüft und je nach der Schwere der Kontamination weggeworfen oder gereinigt zu werden. »Aber«, begann die Frau, während sie auf einem Bein durch die Umkleidekammer hopste und einen Beutel über den Fuß zog. »Natürlich nicht einfach weggeworfen«, korrigierte Lehnau beflissen, »diese legere Ausdrucksweise besagt in unserer Sprache: in versiegelten Behältern an einem absolut sicheren Ort versenkt. Doch das wird bei dieser Anlage mit Sicherheit niemals nötig sein.« Alle vier waren fertig und hatten von Lehnau die
Filme mit den passenden Namen angesteckt bekommen. Nur auf Wetters Film stand »Costello«. »Costello ist nicht mehr dabei«, sagte Lehnau. Sie stellten sich hinter Lehnau vor einem quadratischen Tor aus massivem Metall auf, das wie alles knallgelb gestrichen war. Er grüßte militärisch zu einer Ecke empor, wo die anderen ein kleines Kameraauge entdeckten. Als sich nichts rührte, sprach Lehnau zu einem schwarzen Punkt neben der Tür: »Wird’s bald? Wir warten!« »Okay, okay«, quäkte eine gereizte Stimme, »alles zu seiner Zeit. Der letzte Schub ist noch in der Schleuse.« »Dafür müßte man eine zeitsparendere Lösung finden«, bemerkte Lehnau zu Wetter und erklärte dann mit einer Wendung zu der Besucherin: »Wir werden gleich eine robuste Luftschleuse passieren, eine von vielen sich überlappenden Sicherheitsvorkehrungen. Sie wird elektrisch gesteuert, kann aber auch von Hand betrieben werden, denn sonst« – er riß neckisch die Augen auf – »sonst blieben wir drin stecken, wenn einmal die Stromrechnung nicht bezahlt worden ist!« Wetter schnaubte durch die Nase und verdrehte die Augen. Der Mann kicherte und stieß
seine Frau an, die Lehnau beunruhigt zu mustern begann. Wieder ertönte das tiefe Seufzen von vorhin. Wetter spürte einen warmen Hauch an der Stirn, als die Schleusentür aufging und dumpf rollend in der Wand verschwand. »Aha«, sagte er, »im Brüterbau herrscht leichter Unterdruck, damit der radioaktive Staub nicht hinausfliegt – so:« Er atmete ein und hielt mit eingezogenen Lippen die Luft an. Der Mann nickte, Lehnau sah Wetter mißtrauisch an, die Frau aber sah von einem zum anderen und schien allmählich vor dieser Gesellschaft Angst zu bekommen. Sie traten in die Schleusenkammer. Lehnau wies auf die große Kurbel hin, mit der sich im Notfall die Türen öffnen ließen. Sie mußten etwa eine Minute warten. Stumm, mit niedergeschlagenen Augen standen die vier im Neonlicht, das auf den gelben Stahlwänden unangenehm spielte. Lehnau runzelte die Stirn und fixierte seine Füße. In den Schutzpantoffeln hatten sie viel von ihrer Eleganz eingebüßt. Wetter glaubte zu wissen, daß Lehnau gerade die Wahrscheinlichkeit abzuschätzen versuchte, ob er im Lauf der Besichtigung einen kleinen Skandal auslösen wollte. Das Paar lehnte an der Wand und war ernst geworden wie in einem steckengebliebenen Aufzug. Die umständlichen Vorsichtsmaßnahmen
hatten ihnen den Spaß an der Besichtigung schon verdorben. Das Interessante an diesem Riesenapparat steckte hinter dicken Schichten von Absicherung, die den Reiz nahmen. Immer mehr, dachte Wetter, erfährt man von den neuen Techniken aus Plänen und Beschreibungen, immer weniger aus Besichtigungen. So sehr muß der heiße Kern des Neuen gesichert werden, daß man an die Anlagen nach ihrer Fertigstellung nur noch mit Fernseh- und Meßgeräten herankommt. Hier wird es nicht einmal mehr das blaue Leuchten der Tscherenkow-Strahlung geben, das bei den guten alten Wasserreaktoren die Besucher ein wenig für das Unsichtbare entschädigt. Hier gibt es nur noch Drähte, Schläuche, Metallstücke und Instrumententafeln zu sehen. Selbst der Unterschied von Laie und Fachmann spielt dabei keine Rolle: Ich werde gleich in der Brüterhalle stehen wie der Ochs vorm neuen Tor. Das einzige Wissen, das ich den Besuchern voraus habe, ist nur das um eine gefährliche Möglichkeit: daß tief in den Gasleitungen Schockwellen entstehen können, so daß die Zeiger tanzen und die Menschen in die gelbe Schleuse fliehen müssen. Mein Wissen ist also negativ, das Wissen um ein neues Risiko. Vielleicht können neue Techniken nur mit be-
schränktem Wissen gewagt werden? Führt Wissen immer zum Zaudern? Kann man nur aus Beschränktheit etwas Neues wagen? Hat Lehnau recht, wenn er auf den Brüter stolz bleibt und alle Einwände abschüttelt? Leise öffnete sich die Schleusentür zum Brütertrakt und rastete mit einem dumpfen Schlag ein. Vor ihnen lag noch immer keine Aussicht auf die Halle, wieder nur ein Knick in einem gelben Gang. »Lehnau!« schrie Ingarden verzweifelt über die Köpfe der Besucher und lächelte unaufrichtig. »Dann wollen wir mal«, sagte Lehnau zu Wetter und verabschiedete sich mit schelmischem Zwinkern von dem Besucherpaar, das schnell in der Gruppe vor dem Schaltpult verschwand. Wetter legte den Kopf in den Nacken. Von innen war die Halle viel gewaltiger, als der Bau von außen ahnen ließ. In der Mitte, fast versteckt in einem Geflecht von Rohren, Kränen und Meßtafeln, glänzte der eigentliche Reaktor. Darüber aber erhob sich, hoch wie ein Dom, die würfelförmige Halle. An den Wänden liefen auf mehreren Niveaus Bailustraden entlang, über die Menschen in blauen Overalls turnten. Es knallte und schepperte, an mehreren Stellen
zuckten die Blitze der Kontaktschweißer. Orangerote Gabelstapler kurvten surrend durch den Hintergrund. In der Höhe lehnten die Kranmannschaften aus ihren Kabinen und warteten, daß der bunte Menschenhaufen da unten verschwinde. »Vielleicht bilden wir einen Halbkreis, damit alle etwas von der Steuerwand sehen.« Ingardens Stimme drang gedämpft aus dem murmelnden Haufen: »Und jetzt gebe ich das Wort Herrn Doktor Lehnau.« Lehnau mußte sich frohgemut verbeugt haben, denn es gab Händeklatschen und Gelächter. Dann erscholl sein jungenhaftes Organ, versprach, es kurz zu machen und die Laien nicht mit technischen Details zu langweilen – die du auch nicht weißt, Lehnau, dachte Wetter. Er lauschte mit halbem Ohr den vorbereiteten Sätzen, die den Vorteil des Gasbrüters als eines Münchhausen, der sich selber an den Haaren aus dem Sumpf der Rohstoffneige zu ziehen imstande sei, herausstrichen und dabei nicht vergaßen, den Vorsprung zu betonen, den die deutsche Wirtschaft damit auf dem Weltmarkt erringe. »Unser traditionell größerer Bruder, die Vereinigten Staaten«, erzählte Lehnau, »erhalten hier eine ernstzunehmende Konkurrenz, ja, man kann sagen, die Wissenschaft unseres Landes setzt erstmals seit dem Krieg zum Über-
holen an. Insofern, meine Damen und Herren, erleben Sie hier einen historischen Augenblick. Sein Symbol ist das metallische Paraboloid vor Ihnen, mit dem wir die Energiesorgen der Menschheit beseitigen helfen werden. In kurzen Worten will ich anhand dieser großen Schalt- und Kontrollwand auf die Funktionsweise eingehen.« Wetters halbe Aufmerksamkeit wurde jetzt auf eine Batterie von bunten Fernsehschirmen abgelenkt. Sie waren im Rücken der Besucher aufgebaut und zeigten einen dicken Hubschrauber des Militärs im Anflug auf einen roten Teppich. Man sah Soldaten und Zivilisten, denen die Rockschöße flatterten, während sie sich Hüte und Mützen hielten. Ein rosiger weißblonder Junge in Uniform stand vor den Monitoren und beobachtete sie mit verschränkten Armen, wobei er häufig auf die Uhr sah. Wetter trat näher und fragte halblaut: »Wer kommt denn da?« Der Junge errötete und nannte einen deutsch klingenden Namen, fügte aber hinzu, es handle sich um das Staatsoberhaupt eines südamerikanischen Landes. »Hoffentlich klappt der Zeitplan«, flüsterte er aufgeregt, »er steht schon vor der Tür, nur noch eine kurze Rede, dann will er herein. Bis dahin müssen die Leute raus hier!« Aus der Traube der Besucher scholl Gelächter:
Lehnau hatte einen Witz gemacht. Die Leute begannen sich zur Schleuse zu bewegen. Der Soldat nickte: »Gut so, der Mann hat die Sache im Griff.« Lehnau kam gelaufen und klopfte Wetter auf die Schulter: »Du mußt noch dableiben. Wir schleusen die Laien raus, dann kommt Roessel herein, und wir plaudern ein bißchen mit ihm. So eine Chance hast du nicht alle Tage. Stell dir vor: Herr über 80 Millionen Menschen! Weiße, Schwarze und Indianer! Zinn, Uran und Rindfleisch! Ich bin gleich wieder da!« »Der kann organisieren«, flüsterte der Soldat. Das Fest der Wiedervereinigung behielt Wetter als wortlos und musikalisch in Erinnerung, obwohl er anfangs wie wild auf Frau Kamiah eingeredet hatte. Von ihr war der Vorschlag gekommen, in den Schloßpark zu fahren, durch den vor ein paar Wochen Wetter seine ehemalige Frau Martha verfolgt hatte. Damit unterbrach sie seine erregten Berichte über die Besichtigung des Brüters, den Auftritt des südamerikanischen Staatschefs, über Lehnaus neue Intrigen, über Costellos Verschwinden. Auf einmal legte sie die Hand auf seinen Arm und sagte mitten in einen Satz hinein: »Wir fahren aus der Stadt hinaus.« Wetter, zunächst beleidigt, daß sie seinen Bericht nicht interessant fand, begriff erst später, daß er sie
gerade durch diesen erregten Vortrag wiedergewonnen hatte. Jetzt erst begann sie ihm zu glauben, daß er sich für eine Seite entschieden hatte, während er noch immer meinte, neutral zu berichten, noch immer nicht wußte, wo er hingehörte. Sie aber hatte schon verstanden, daß die Entscheidung gefallen war. Während sie in die nächtliche Parklandschaft eindrangen wie in ein begehbares phantastisches Bild, erzählte Wetter immer weiter. Ein einzelner Stern stand tief über dem blauen Waldrand am Himmel. Bis auf zwei gelbe Fenster waren alle möglichen Menschen fort. Endlich hörte er auf zu reden, es wurde sofort sehr still, nur ein Bach gluckste. Endlich waren Zunge und Finger wieder im wirklich warmen Schleim, die geführte Hand faßte endlich den süßen Stab. Der barst sofort wie ein dunkles Feuerwerk aus einem Samtrohr, in elektrischen Stößen zwischen Steiß und Damm. Dann hatten sie die Wäsche um Hals und Knöchel, schälten die sehr warmen, glatten, aneinander leise rauschenden Körper heraus. Der Eingang war ohne Schwierigkeiten. Er rieb sich Knie und Ellbogen auf dem Kiesweg wund, spürte Regentropfen auf dem freien Hintern. Sie hatte endlich wieder ihr zweites Gesicht auf, schön wie das Foto der Sleeping Beauty im Schaukasten eines
alten Kinos. Lehnau bugsierte die Besucher durch die Schleuse, unterdessen hatte Wetter Zeit, durch die Brüterhalle zu spazieren. Er konnte dem Gewirr von Plastik und Metall keine Funktionen ansehen. Die Kranfahrer nutzten die kurze Pause, während die Halle leer war, um lange biegsame Rohre an die Decke hochzuziehen und sich damit dem oben noch offenen Brüterkern zu nähern. Langsam verschwanden die Rohrenden im Brüter, Blutgefäße für das kalte Herz. Wetter dachte über seine Rechnungen nach, die in diesen oder ähnlichen Rohren mörderische Schwingungen vorhersagten. Jetzt, nach Lehnaus spöttischer Auskunft, war er nicht mehr sicher, recht zu haben. Schon oft hatte er falsch gerechnet… Er beschloß, das neue Programm nochmals mit Falk durchzugehen. Der würde auf einen Blick sehen, wo ein Fehler sein konnte. Erleichtert wandte er sich um und schlenderte zu den Fernsehgeräten. »Sie kommen!« sagte der Soldat aufgeregt und zeigte auf einen Schirm. Das Gefolge des Staatschefs verschwand gerade in einer von der Sonne hell beschienenen Wand. Vor der Militärkapelle zuckte jemand mit dem Taktstock, die Ehrenkompanie marschierte ab, der Hubschrauber stand mit hängenden Rotoren im Hintergrund.
Windstöße wirbelten Staubwolken um die Soldaten, die den roten Teppich einrollten. Lehnau stand schwer atmend neben ihm. »Geschafft«, keuchte er mit leuchtenden Augen, »da!« Am anderen Ende der Halle wich eine Schleusentür seufzend zur Seite. Aus ihr trat ein kleiner aufrechter Mann, tat ein paar Schritte und sah sich suchend um. Er trug eine olivgrüne Uniform mit goldenen und roten Punkten auf der Brust. Über dem gebräunten Gesicht leuchteten die Haare sehr weiß. Mit vorgerecktem Kinn wartete er auf eine angemessene Begrüßung. Lehnau stand da wie ein Jagdhund auf dem Anstand mit zitternden Flanken, der auf den Befehl lauert, sich auf das Wild zu stürzen, dessen Nähe ihm in die Nase sticht. Auch Ingarden war leicht humpelnd hinter Lehnau herbeigelaufen und stand aufgeregt bei der Gruppe vor den Fernsehschirmen. Da quoll eine schwarze Meute hinter dem Staatschef aus der Schleuse, gekleidet wie für eine Beerdigung. Er wurde umringt, und eine vornehm gebückte Erscheinung, in der Wetter Meredith erkannte, deutete dahin und dorthin. Langsam näherte sich die Gruppe. Die Kräne standen wieder still. Die Schritte scharrten auf dem spiegelnden Kunststoffboden und hallten wie in ei-
ner Kirche wider. Gedämpftes Murmeln erhob sich, als Meredith an die Instrumentenwand trat und etwas erklärte. Lehnau bückte sich über ein Steuerpult zwischen den Fernsehern und drückte einige Knöpfe. Die Bilder kippten, und nach einigem Geflimmer erschienen dreierlei Innenansichten der Halle. Ein Bild zeigte die Gruppe um den Staatsbesuch von weit oben. Wetter suchte vergeblich die entsprechende Kamera. Ein zweites Bild nahm den Brüterkern genau von oben auf. Man sah wie in eine kegelförmig angeschnittene Zwiebel, in der Leitungen und Rohre mündeten. Ganz innen erkannte Wetter einen Würfel mit zahllosen Augen. Das dritte Bild stellte eine Trickzeichnung dar, einen farbigen Querschnitt durch den Brüter, der sich langsam drehte. Meredith führte den Gast und sein Gefolge heran. Ingarden stöhnte leise vor Lampenfieber. Lehnau mußte sich immerhin räuspern. Der junge Soldat nahm Haltung an, sein Gesicht errötete sympathisch. »Hier, Herr Präsident, sehen Sie einen kleinen Teil der Überwachungseinrichtungen, die insgesamt ein lückenloses Bild der Vorgänge rund um den Brüter geben«, führte Meredith mit absolut ruhiger und nobel gedämpfter Stimme aus. Man reckte die Hälse,
aus der Weite der Halle kam sogar das Kleiderrascheln als zischendes Echo zurück. Vergeblich versuchte Wetter, sich zur Seite zu drücken, es war kein Platz mehr. Er stand dem Präsidenten Aug in Aug gegenüber, der die draußen vom Wind zerzausten Haare mit einer braunen Hand nach hinten zwang. Der Präsident hatte die gütigen Augen des alten Lebensmittelhändlers, der dem kleinen Wetter Bonbons und Kaugummi mit Panzerbildchen über die Theke gereicht hatte. Aus wäßrigen Augen lächelte ihn ein vollkommen gleichgültiger Blick an, in dem Wetter spurlos zu verschwinden meinte. Dann geschah etwas Ungewöhnliches: Lehnau und Ingarden begannen gleichzeitig zu sprechen, ohne daß einer von ihnen dem anderen das Wort überlassen hätte! Sie sprachen mehrere Sätze lang durcheinander, bis sich im Gefolge des Präsidenten ein Grinsen breitmachte. Schließlich fing auch noch Meredith zu reden an, gab das aber gleich wieder auf und winkte Lehnau beschwörend zu. Ingarden, Schweißperlen auf der Stirn, sprach unbeirrt weiter und starrte auf einen Punkt an der Hallendecke. Er wirkte wie ein Verrückter, aber Wetter hatte zum ersten Mal Respekt vor ihm. Ingarden benutzte diesen brisanten Augenblick zu einem letzten Versuch, Lehnau zurückzudrängen und vor aller Welt zu do-
kumentieren, daß er, Ingarden, immer noch der Chef sei. Er erzählte von den wichtigen Vorarbeiten seines Instituts und nannte Falk, Huber und Wetter als ein Team, dem bedeutsame Berechnungen über den Betrieb des Brüters unter extremen Bedingungen geglückt seien. Ohne diese Arbeit, so Ingarden, sei der imposante Bau, den sie hier vor sich sahen, nicht möglich gewesen. »Und jetzt«, sagte er plötzlich, »wird Ihnen Herr Doktor Wetter kurz über seine Ergebnisse berichten.« Ingarden! dachte Wetter, das kannst du nicht machen! Das hätten wir absprechen müssen! Er blickte sich unsicher um. Auf den Gesichtern Merediths und Lehnaus malte sich das nackte Entsetzen. Lehnau schien ihn hypnotisieren zu wollen. Der Präsident reckte das Kinn noch ein Stück vor und fixierte Wetter so, als sei dieser soeben aus dem Nichts vor ihm erstanden. »Meine Ergebnisse… meine Herren…«, stammelte Wetter. Er räusperte sich und rang die Hände. Im Gefolge wurde ungeduldig mit den Füßen gescharrt. Armbanduhren wurden entblößt und wieder in den Manschetten verborgen. »Mein Rechenprogramm geht davon aus«, sprach es jetzt wie von selbst aus Wetter heraus, »daß der
Brüter an den Grenzen der Risikozone gefahren wird, das heißt unter sehr hohen Drucken und Temperaturen. Es zeigt sich, daß unter solchen, wie gesagt absichtlich extrem angesetzten Bedingungen« – alles war ganz klar, die Sätze reihten sich wie Perlenschnüre, Wetter lächelte und fühlte, wie ein eisiger Schweißtropfen ihm den Rücken herunterlief – »bereits kleine, äußere Erschütterungen ausreichen, um energiereiche Stoßwellen im Kühlkreislauf auszulösen, weil bei bestimmten Frequenzen Resonanzen erscheinen. Das bedeutet, daß einerseits die Auslastung des Brüters etwas niedriger angesetzt werden muß als ursprünglich angenommen« – Meredith zuckte zusammen und starrte Wetter mit blassen Lippen an – »und daß zusätzlich die rund um den Brüter durch Hilfsmotore auftretenden Vibrationen gesteigertes Augenmerk verdienen. Meine Rechnungen stellen selbstverständlich keineswegs den Schnellen Heliumbrüter als solchen in Frage, sie liefern nur ein weiteres Argument für die hohe Bedeutung, die wir der Betriebssicherheit zumessen.« Ingarden war vernichtet. Eine Sekunde lang herrschte betretenes Schweigen. Dann fingen wieder zwei Stimmen zugleich zu reden an, diesmal Meredith und Lehnau, der aber sofort verstummte. Meredith sagte heiter, wobei er jedoch langsam seine
Handflächen an einem blütenweißen Taschentuch trocknete: »Das sollte nur als Beispiel dienen, wie sehr technisch-praktische Projekte immer auch die theoretische Forschung befruchten. Dabei rechnen wir uns oft sozusagen weit aus der Wirklichkeit fort und spielen gleichsam mit dem Möglichen, ja oft sogar mit dem Unmöglichen. Selbst bei technisch absolut ausgereiften Unternehmen wie dem Schnellen Gasbrüter machen wir uns Gedanken über Probleme, die in einem viel späteren Stadium der Produktion vielleicht, ich betone vielleicht, einmal eine Rolle spielen mögen.« Nach diesem eleganten »Mögen« wippte Meredith befriedigt auf den Spitzen seiner Plastiklatschen. Offenbar übersah er, daß er in den vorm Hosenlatz übereinandergelegten Händen noch immer das grellweiße Taschentuch trug und an den Unterleib preßte wie an eine Schußwunde. Lehnau sagte: »Wenn Sie mir jetzt wieder auf den Boden der Tatsachen folgen wollen, dann möchte ich Ihr Augenmerk auf einen bedeutsamen Umstand richten.« Ingarden fuhr herum, als wolle er an Ort und Stelle Lehnau jedes weitere Wort verbieten. Dann fiel er aber sichtlich zusammen und richtete den Blick mehr klagend als vernichtend auf Wetter: Der konnte sich jetzt auf allerhand gefaßt machen!
Unterdessen spulte Lehnau sein wohlvorbereitetes Statement ab. In gewohnter Weise hielt er sich wenig bei physikalischen Details auf und kam gleich zum Wirtschaftlichen. Er zeichnete in wenigen Strichen das Bild der deutschen Wirtschaft, die mit der industriellen Reife des Gasbrüters erstmals seit dem Weltkrieg wieder an der Weltspitze ins technische Neuland marschiere. Dieses Bild hob sich strahlend ab vor dem düsteren Hintergrund der immer weiter zurückfallenden Weltmächte. Die UdSSR erstarre bekanntlich in Bürokratie und Konservatismus. Ihre Kernindustrie sei kaum imstande, mit dem herkömmlichen Natriumbrüter zu Rande zu kommen und stecke zuviel Forschungskapazität in die fragwürdige Utopie der Kernfusion. Die USA wiederum seien gelähmt durch den Entwicklungsstop der Brütertechnologie, welcher beweise, daß man es mit demokratischer Rücksichtnahme auch zu weit treiben könne. Dies gebe Deutschland freie Fahrt, in die Zukunft voranzuschreiten. »Ihr Besuch, Herr Präsident«, rief Lehnau und verbeugte sich, »ist ein Symbol für das Vertrauen, das deutsche Wissenschaft und deutsche Technik in aller Welt genießen. Ihr Weitblick hat erkannt, bei welcher modernen Industrienation ein aufstrebendes Entwicklungsland die Technologie der Zukunft am preiswertesten und
ohne politische Auflagen kaufen kann!« Der Präsident straffte sich und hob die flache Hand zu einem gebieterischen Stopzeichen. Lehnau klappte mit immer noch leuchtenden Augen den Mund zu. Er ahnte nicht, was für eine Ungezogenheit er mit dem letzten Satz begangen hatte. Genüßlich zählte Wetter bei sich Lehnaus Schnitzer auf: Hier, in einem nach dem Weihrauch reiner Forschung duftenden Tempel, von Wirtschaft und Kaufen zu reden, war das erste Sakrileg. Der Präsident war nicht zu dieser Besichtigung gekommen, um schon wieder von Geld zu hören. Zweitens: Seine Nation als Entwicklungsland zu bezeichnen, mußte ihn tief beleidigen, jetzt, wo er sich den allerneuesten Brüter leisten konnte. Drittens erbitterte ihn Lehnaus Seitensprung in die Politik: Sicher verbat sich der Präsident, von einem Physiker, statt von hervorragender Betriebssicherheit, vom Verzicht auf politische Auflagen zu hören! Doch Wetter freute sich zu früh, denn er mußte den Ärger des Präsidenten ausbaden. Dieser richtete seinen kühlen Greisenblick auf ihn und sagte in akzentfreiem Deutsch: »Darf ich Ihre Ausführungen, Herr Kletter, so verstehen, daß Sie diesen Brütertyp für verbesserungswürdig halten? Für noch nicht sicher genug?«
Wetter verlor unter den Füßen den Boden, in dem er allzu gern versunken wäre. Die Situation wurde schlagartig traumhaft. Es konnte nicht wahr sein, daß er einem Staatschef die Frage beantworten sollte, ob dieser einen riesigen Kauf tätigen solle oder nicht! Alle Augen richteten sich gespannt, beschwörend oder verzweifelt auf ihn, auf Wetter, den Theoretiker. Hing nicht für einen fürchterlichen Augenblick an ihm die Zukunft der Weltgeltung seines Landes in der Kerntechnologie und ein Kauf in Milliardenhöhe, dessen Scheitern einen ganzen Industriezweig lähmen würde? Das deutsche Kapital sah Wetter drohend an, während das im Präsidenten personifizierte ausländische auf seine Antwort wartete. Wetter hatte in diesem Augenblick das Schicksal in der Hand. Er schwor sich, so etwas nie wieder zu tun. »Herr Präsident, ich bin theoretischer Physiker«, sprach Wetter leise, wodurch alle Köpfe noch näher heranschwebten. »Wir Naturforscher sind mit nichts zufrieden, wie es ist. Das ist unsere Pflicht, sonst gäbe es keinen Fortschritt in der Wissenschaft. Auf der anderen Seite wäre es für eben diesen Fortschritt hemmend, wenn wir unsere Kritik so weit treiben würden, daß sie nichts mehr gelten ließe. Alles ist verbesserungswürdig, aber dies hier um uns
herum ist eindeutig das Beste, was Menschen gegenwärtig auf diesem Gebiet bauen können. Meine Berechnungen weisen nicht auf ein Risiko bei normalem Betrieb hin, sondern ich untersuche eher, was im Rahmen einer Katastrophe abläuft. Das hilft uns, alles noch sicherer zu machen.« Der Präsident lächelte: »Das war schön gesagt, Herr Kletter, aber ich möchte die Frage präzisieren: Bedeuten Ihre Ergebnisse, daß der Gasbrüter gerade dort, wo annehmbare Brutraten zu entstehen beginnen, nicht mehr absolut sicher arbeitet?« »Nein«, rief Wetter erleichtert, »ich rechne ja mit Temperaturen und Drucken weit jenseits des Baubetriebes!« »Das wollte ich wissen, Herr Tretter – oder wie heißen Sie?« »Wetter, Herr Präsident«, sagte Wetter und verbeugte sich. Als er sich aufrichtete, klebte ihm sein Hemd überall am Rücken. Der Präsident schüttelte seine Hand und erklärte dabei grinsend, dieser Einblick in die typisch deutsche Gründlichkeit habe ihm sehr gefallen und seinen Entschluß zu einem nuklearen Kooperationsvertrag der beiden befreundeten Staaten weiter bestärkt. Alles applaudierte. Die schwarzen Anzüge um den Präsidenten bewegten sich in raschen Rabensprün-
gen zur Schleuse. Der junge Soldat salutierte und lief ihnen nach. Wetter zitterte und lehnte sich an das Steuerpult. Wie durch Watte hörte er die Stimmen Ingardens, Merediths und Lehnaus, die ihn zu seinen klug gewählten Worten beglückwünschten. »Klasse, Wetter!« rief Lehnau und klopfte ihm auf die Schulter. »Beim großen Diktator bist du vorgemerkt! Er hat sich eigens deinen Namen geben lassen! Von dem wirst du noch hören! Ich sage dir, der holt dich noch nach drüben und macht dich zum Chef seines Brüters! Komm mit, das wollen wir begießen.« Ingarden umkreiste ihn mit kleinen Luftsprüngen und versuchte, auch ein paar Schulterklopfer anzubringen. Meredith hielt sich, während sie zur Schleuse gingen, schmunzelnd im Hintergrund. Verwirrt ließ Wetter sich in die Schleuse schieben und stimmte in das erlöste Gelächter ein. Er begriff, daß Lehnau auf eine leitende Stellung im Brüterprojekt des Präsidenten spekuliert und dieses Spiel verloren hatte. Dadurch war Lehnau in Merediths Augen gewiß um mehrere Etagen gefallen. Wetter aber gehörte dazu wie noch nie, kein Zweifel – nur wo? Was hätten Falk, Frau Kamiah, Costello, die Gegner des Brüters zu seiner beschönigenden Predigt ge-
sagt? »Rasch in die Kantine!« rief Lehnau, als die Schleuse sich öffnete, »in einer halben Stunde wird der Empfang in den Abendnachrichten übertragen. Wenn du Glück hast, wird gleich das ganze Land deine klugen Worte hören.« »Das hoffe ich nicht«, murmelte Meredith. Er sprach Wetter aus der Seele. Am Wochenende stieg Wetter in einen Bus und blickte die anderen Fahrgäste mit weitoffenen Augen freundlich an. Interessiert verfolgte er den Vorbeimarsch der Mietshäuser, der Plakatwände und Geschäftsschilder. Der Bus überquerte den blitzenden Fluß und summte leise durch eine mattgrüne Steppenlandschaft mit einstöckigen Häusern. Als eine ältere Frau beim Aussteigen taumelte, sprang er auf und versuchte ihr zu helfen. Ihr verlegenes, schuldbewußtes Lächeln machte ihn erst darauf aufmerksam, daß er sich anders als sonst fühlte. Verstohlen musterte er seinen Nachbarn, einen schnaufenden Mann mit poröser Haut, und überlegte, ob er eine Unterhaltung beginnen sollte. Er hatte nämlich beobachtet, daß andere Menschen als er überhaupt nichts dabei fanden, mit Fremden eine Unterhaltung
zu beginnen. Es war offenbar die Fortsetzung des Lächelns mit anderen Mitteln. Also lächelte Wetter. Der Nachbar schnaufte und gab sich einen Ruck. »Jetzt haben wir es gleich geschafft«, sagte der Nachbar, »gleich sind wir da. Dabei ist es heut so schön, da willi willi willi überhaupt nicht heim!« Wetter warf den Kopf zurück und lachte schallend. Ernst und zufrieden lehnte sein Nachbar sich zurück und nickte zustimmend in das Schauspiel hinter den Busscheiben: Der Bus hielt in einer Schleife an der Endstation, Passagiere blickten zu ihnen auf und warteten, daß sie ausstiegen und den Weiterfahrenden Platz machten. Frischer Wind fuhr in die silbrigen Weiden, die sich hell vor einer Gewitterfront im Osten schüttelten. Wetter stieg aus, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und begann, durch eine Gegend zu wandern, in der er nichts verloren hatte. Er fühlte sich ruhig, frei und rundum sicher. Er staunte, wie stark eine Stimmung, die eigentlich nichts war als die Verliebtheit in Frau Kamiah, auf alles mögliche ausstrahlte und die ganze Welt einfärbte. Sie war reicher und schwerer geworden, überall bemerkte Wetter jetzt die Anzeichen menschlicher Tätigkeit, gemeinsamer Anstrengungen, lange benutzter und
abgegriffener Hilfsmittel. Man ist lange nicht so allein, wie es den Anschein hat, dachte er und schritt mit offen flatterndem Regenmantel in den hellgrauen Auwald. Lachend und durcheinanderredend gingen sie, fast tanzten sie, in die Kantine. Die Rolläden hinter der Selbstbedienungsschiene waren zu, und an den Tischen saßen nur in einem Winkel die Reporter. Sie machten Witze über die dummen Demonstranten, die mit ihren Papptafeln gegen den Präsidenten vergebens auf der windigen Aussichtsterrasse des Flughafens gewartet und ein bißchen gebrüllt hatten. Wetter vermißte das Klirren und Schnattern, das um diese Zeit durch die Kantine schallte. »Wir haben dem Personal frei gegeben«, erklärte Ingarden wichtig, »das konnten Sie nicht wissen, Sie Urlauber, und haben einen freien Tag verschenkt.« »Du weißt eine Menge nicht«, sagte Lehnau, »in deiner Abwesenheit ist es hier rund gegangen.« »Sagen Sie einmal«, begann Meredith langsam und unterbrach den Institutsklatsch: »Was ist das für eine Geschichte mit Ihren Rechnungen? Sie arbeiten doch an Strahlenschäden! Wie kommen Sie auf Druckwellen im Kühler?«
»Das Bestrahlungsprogramm hat nichts Neues mehr gebracht«, sagte Wetter, »darum haben Falk und ich an einem neuen Problem zu arbeiten begonnen.« »Ohne Auftrag?« fragte Meredith. »Aha«, rief Lehnau, »Falk steckt auch in der Sache!« Er wechselte einen Blick mit Meredith. Ingarden runzelte die Stirn und fuhr sich über das Gesicht. »Wie ernst sind eure Ergebnisse zu nehmen«, fragte er. Wetter zuckte die Achseln: »Falk muß sich meine letzten Durchläufe erst ansehen. Ich bin nicht ganz sicher.« Meredith lehnte sich zurück, Lehnau grinste. Wetter stand auf und holte sich aus dem Automaten einen Becher Tee, ohne zu fragen, ob sonst jemand einen wollte. Ihn ärgerte, wie man seine Arbeit herunterspielte, nur weil sie eine Gefahr signalisierte. »Könnte man da etwas publizieren«, fragte Ingarden, als Wetter wiederkam, »wir haben schon lange keinen Artikel untergebracht.« »Langsam«, meinte Meredith, »erst muß feststehen, daß etwas an dieser Hypothese stimmt.« »Das lassen Sie nur unsere Sorge sein«, versetzte Ingarden. Wetter starrte ihn erstaunt an. Lehnau stopfte sich lächelnd eine Metallpfeife und schüttel-
te langsam den Kopf. Ingarden, paß auf, dachte Wetter, du stehst schon auf der Abschußliste – oder weißt du das längst? Natürlich! Darum bist du auf einmal so tollkühn: Du hast nichts mehr zu verlieren. Du bist ein toter Mann. »Übrigens«, Lehnau zog schmatzend an seiner Pfeife, »halt dich fest, Wetter: In dieser Woche haben wir die undichte Stelle entdeckt!« Drüben wieherten die Reporter und steckten die Köpfe zusammen. Ein Flachmann kreiste rasch zwischen ihnen. »Windhunde, schau sie dir an«, murmelte Ingarden. »Und wer ist es?« »Costello! Da staunst du.« »Vermutung oder Tatsache?« »Steht fest.« »Wieso?« »Ich habe es ihm auf den Kopf zugesagt. Daraufhin hat er sofort gekündigt.« Wetter fragte wütend: »Das hältst du für einen Beweis?« »Allerdings!« »Und wenn er nur beleidigt war?« Lehnau lachte ausgiebig: »Ausgeschlossen. So schnell findet man heute keinen Job.« »Und wie bist du auf Costello gekommen?«
»Er war von allem Anfang an am verdächtigsten. Er hat Verbindungen zum Biologeninstitut, wo die meisten Gegner sitzen« – Lehnau machte eine Kunstpause und fixierte Wetter, der dem Blick auswich – »zweitens ist er wahrscheinlich Kommunist.« Wetter lachte und schüttelte sich vor Ungläubigkeit. Lehnau wurde rot, denn auch Ingarden und Meredith schmunzelten, als reite Lehnau sein privates Steckenpferd. Wetter wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und keuchte: »Weil er Italiener ist? Weil jeder Italiener Kommunist ist?« »Hör einmal zu«, sagte Lehnau scharf, »deine Heiterkeit ist ziemlich fehl am Platz. Ich kann es nicht zum Lachen finden, daß mitten unter uns solche Leute sitzen können. Costello war kein Salonrevolutionär wie dein Kollege Falk. Er hat nie Reden geschwungen, hat immer brav seine Arbeit gemacht und ist nie aufgefallen. Daß er regelmäßig einen kommunistisch gesteuerten Ausländerverein besucht hat, stört offenbar an diesem Institut niemanden!« Ingarden nahm sein Kinn in die Hand. Die Hand zitterte. »Aber«, fragte Wetter geduldig, »was hat das mit dem Verdacht zu tun, daß er wegen angeblicher Unfälle zur Zeitung gelaufen ist?« »Laß das großzügige Gerede!« schrie Lehnau. Zum
ersten Mal hörte Wetter ihn laut werden: eine dünne hohe Stimme. »Das ist hier das sicherheitsempfindlichste Projekt, das Deutschland je gehabt hat!« schrie Lehnau. Die Reporter spitzten die Ohren und sahen verstohlen herüber. Lehnau mäßigte sich: »Lebst du auf dem Mond?« flüsterte er, »hier schwirren sie alle herum: die Amerikaner, weil sie selber keine Brüter bauen dürfen und uns die Technologie abgucken wollen« – Meredith blies die Backen auf und hob die Brauen – »die Kernkraftgegner, weil sie das alles verhindern wollen. Und da soll ausgerechnet der Ostblock keine Spione angesetzt haben?« Wetter sah Meredith hilfesuchend an, dessen unverändertes Schmunzeln ihn ein wenig beruhigte. Meredith räusperte sich und meinte vergnügt: »Lieber Lehnau, etwas kann da nicht stimmen. Entweder Costello war ein Ostspion, dann hätte er niemals Informationen zu einer Provinzzeitung getragen. Mit kleinen Sabotageversuchen gibt sich ein Profi nicht ab. Oder er hatte etwas mit den Kernkraftgegnern zu tun, dann ist er wiederum kein Spion, denn was kann er dort erfahren, was er hier drinnen nicht direkter bekommt?« Wetter schielte grinsend zu Lehnau. Der hatte rosa Flecken auf den Wangen. Ja, frohlockte Wetter, spuck’s aus, wenn’s auch schwerfällt, raus mit der
Zurücknahme, Lehnau, du hast dich verlaufen, du mußt zurück! Langsam sagte Lehnau: »Von mir aus kann jeder glauben, was er will. Tatsache ist, daß ich Costello auf den Kopf zugesagt habe, er sei der Informant. Er hat es nicht abgestritten.« Sie schwiegen. Die Reporter waren gegangen. Die glauben, wir sind versponnene Wissenschaftler und streiten über Physik, dachte Wetter, dabei reden wir seit Wochen kein vernünftiges Wort mehr über die Arbeit. Nur Intrigen und Politik. Ingarden und Meredith verabschiedeten sich und gingen in verschiedenen Richtungen davon. Lehnau lud Wetter ein, mit ihm heimzufahren. »Ich zeig dir meine Freundin, und wir essen zusammen, ja?« Wetter nickte, bat aber um fünf Minuten; er müsse etwas aus seinem Arbeitszimmer holen. Er setzte sich an den Tisch von Ingardens Sekretärin und schlug das Telefonbuch auf. Costellos Name war mit Bleistift durchgestrichen. Er wählte die Privatnummer. »Ah, Herr Wetter«, rief Costello erfreut, »wie geht es?« »Ist das wahr? Du hast gekündigt?« Im Hörer lachte es: »Wer sagt das?« »Lehnau.«
»Natürlich. Glaub ihm kein Wort. Niemals ein Wort.« »Das weiß ich von selbst. Was ist wirklich los?« Costello schwieg. In der Leitung knackte es. »Hallo?« rief Wetter. »Da hört wieder jemand zu«, sagte Costello, »um so besser, dann kommt es gleich zu den Akten. Also: Lehnau kommt zu mir mit einem Schreiben, da steht drin, ich habe die Loyalität zum Institut verletzt, indem ich Informationen an die Öffentlichkeit gebracht habe, die das Ansehen der KKU schädigen müssen. Ich habe der Zeitung Verleumdungen gegeben, und ich bin aktiv in einer Bürgerinitiative gegen den Brüter tätig. Ich soll zu diesen Vorwürfen Stellung nehmen.« »Und du hast dich geweigert und gekündigt?« »Nein, wie oft soll ich das noch sagen? Sie haben mich zu einem Verhör geholt, Lehnau und zwei Männer, die ich noch nie gesehen hatte.« »Ingarden war nicht dabei? Meredith?« »Nein. Ich habe dort gesagt, daß ich nie was an die Zeitung gegeben habe, das ist die Wahrheit, hört zu und schreibt mit! Allerdings habe ich zweimal Leute aus der Bürgerinitiative getroffen, um mir eine Meinung zu bilden. Zwei Tage nach dem Gespräch hatte ich die Kündigung.«
Wetter schwieg. Die Tür ging langsam auf, Lehnau steckte den Kopf herein und grinste, als hätte er alles gehört. »Komm, ich habe Hunger«, sagte er. Wetter nickte und sagte »Aha!« ins Telefon. »Ja, aha!« rief Costello, »das ist alles, was dir einfällt. Porca miseria, ihr seid komische Leute in einem komischen Land.« Wetter blickte Lehnau an, lächelte und sagte: »Danke sehr, auf Wiedersehen, vielen Dank für die Auskunft.« »Leck mich am Arsch!« schrie Costello irgendwo in der Stadt, während Wetter den Hörer auflegte und aus dem Fenster sah. Eine hohe, glatte Betonwand füllte das Blickfeld aus, bis auf einen Wassergraben unten und einen Streifen Himmel oben. »Ich komme, aber Hunger hab ich nicht«, sagte Wetter nachdenklich und folgte Lehnau durch die leeren Gänge zu dessen Auto. Lehnau wirkte erstaunlich unsicher. Während sie auf kaffeebraunen Kissen durch den Berufsverkehr schwebten wie durch einen farbigen Stummfilm, plauderte er aufgekratzt und sah Wetter so oft an, daß dieser »Gib acht!« rief und nach vorn wies. Als hätte er etwas angestellt und wolle um jeden Preis
gefallen, um davon abzulenken, überlegte Wetter. Sie landeten in einem Villenvorort in den Weinbergen des Stadtrands. Wetter hatte einen modischen Bungalow in einer makellos dunkelgrünen Wiese erwartet, doch Lehnau führte ihn in ein zweistöckiges Haus mit Muskelmännern neben dem Tor und mit einem spitzen Turm, der aus den spätherbstlichen Wipfeln ragte. Eine Frau in langem Kleid stand lächelnd im Flur, den schlanken Körper zu einem einladenden S verbogen. Sie hieß Sylvia, hatte türkise Lidschatten und violettes Make-up unterm Jochbein, das sie durch einen erstaunt gespitzten Mund noch betonte. Lehnau küßte ihren Hals, faßte sie lachend unter und lief mit ihr die Treppe hinauf, als habe er Wetter vergessen. Der stieg langsam treppauf und studierte die Stiche an der gekrümmten Wand. Sie zeigten Straßenszenen aus einer Zeit, als es noch keine Autos gegeben hatte. »Schatz«, rief Lehnau, als sie auf großen Kissen um einen Glastisch saßen, »mach uns ein paar Drinks, ja?« Sie klimperte im Hintergrund mit Gläsern und Eis. Durch zwei hohe Fenster mit weißen Vorhängen fiel Herbstabendlicht. »Das ist mein Studio«, erklärte Lehnau, immer noch schuldbewußt, als sei sein Wohlstand unanständig,
seine Freundin zu schön, sein Glück im Leben unverschämt. Wetter bestaunte die Einrichtung. Alle Möbel standen wie Museumsstücke da: funkelnde Holzstühle, der Schreibtisch, die hohen Bücherschränke mit Glastüren. Selbst die Lampen, obwohl neu gefertigt, ahmten alte Formen nach. In einer Ecke ruhte ein gewaltiger Globus, nachgedunkelt wie ein gebratener Apfel. Was für ein Theater, dachte Wetter. Das Zimmer war ein Versuch, mit neu angeschafften Stilmöbeln Fausts Studierstube nachzustellen. Die Frau stellte die Drinks auf den Glastisch und rollte sich neben Lehnau ein wie ein Rassehund. Wetter sah auf ihre dunkelbraun lackierten Fingernägel und zwang sich, den Blick nicht zu ihrem Gesicht zu erheben. Er hätte nicht gewußt, wie er dieses Ausstellungsstück anschauen sollte, ohne zu erröten. Als er es doch wagte, sah sie besorgt über seinen Kopf weg an die Wand. Er fragte: »Hängt was schief?« und blickte über die Schulter. Sie neigte fragend den Kopf, und Lehnau lachte schon wieder, ohne Heiterkeit. Wetter schämte sich. Seine Bemerkung hatte unbeabsichtigt wie Spott über diese theatralisch arrangierte Wohnung geklungen. Ach, wie gern wäre er jetzt mit Sandner beisammengewesen und hätte mit schmutzigen Fingernägeln nach einem
Bierglas gelangt und gerülpst. Lehnau sagte nichts, die Frau hatte nichts zu sagen, Wetter schwieg verstockt. Er war verlegen und schadenfroh zugleich: Es war eben ein Krampf mit Lehnau! Er trank den winzigen, scharfen Tümpel in seinem Glas auf einen Schluck und sagte sofort: »Costello hat nicht gekündigt!« Lehnau winkte ab und streichelte mit einem Finger den Ellbogen Sylvias: »Laß uns nicht schon wieder vom Beruf reden. Schatz, hast du Lust, mit uns essen zu gehen?« Sie drehte langsam den Kopf, immer mit gespitzten Lippen, und ließ den Blick von der Wand auf Wetter fallen, bis sie ihn am Ende aus den äußersten Augenwinkeln fixierte, während sie das Gesicht bereits Lehnau zuwandte. Dann, als sei hinter ihren Augäpfeln ein Gummiband gerissen, schnellte ihr Blick zu Lehnau. Ein unangenehmes Schweigen herrschte, während er mechanisch ihren Arm streichelte. »Du hast ihn hinausgeworfen!« sagte Wetter scharf, ungehalten über die peinliche Situation. Sylvia seufzte tief, als habe ein Uhrwerk in ihrem Inneren einen Auslöser berührt, und sprach: »Nein, mein Lieber, ich habe keine Lust. Deine neuen Kollegen… ich weiß nicht. Wie hieß doch gleich der von vorgestern?«
Zugleich sagte Lehnau: »Sei kein Spielverderber« und Wetter: »Falk?« »Mmhm«, machte sie und nickte wie im Traum, »ein Vogelname, mmhm.« Dann entrollte sie sich und verschwand lautlos. Lehnau ergriff ihr Glas und stürzte es hinunter. Er war sicher wütend, versuchte aber immer noch zu grinsen und drohte mit dem Finger. »Spiel dich nicht auf«, sagte er, »du bist der nächste, mein Freund, wenn du so weitermachst.« »Was heckst du mit Falk aus?« »Mein Freund«, er betonte es wie eine Kränkung, »Falk hat in deiner Abwesenheit an eurem Programm weitergearbeitet und genau wie du Schockwellen im Kühler gefunden. Es scheint was dran zu sein. Mir ist es unerklärlich. Meredith hat von diesem Phänomen nie etwas gehört, dabei haben sie alles durchgerechnet.« »Und wo ist Falk? Wieso war er heute nicht dabei? Ist er auch schon gefeuert?« »Jetzt hör auf mit den ewigen Verdächtigungen«, Lehnau hatte wieder die hohe Kinderstimme, »er hat ein paar Tage frei.« »Damit ihr in aller Ruhe unsere Arbeit verschwinden lassen könnt?« »Im Gegenteil, mein Freund«, sagte Lehnau mit offe-
nem Haß, »ich bereite mit Falk einen Auftritt im Fernsehen vor, um auf die neue Gefahr hinzuweisen.« »Was bezweckst du damit?« »Ich mache euch so lächerlich, daß jeder schon losbrüllt, wenn einer von euch den Mund aufmacht!« kreischte Lehnau, »was denn sonst? Ich bin doch gekauft mit Haut und Haar! Ich bin ein Agent der KKU! Ich habe keinen Funken Ehrgefühl! Wie ich euch hasse, ihr blöden weltfremden Physiker und Weltverbesserer!« Wetter rappelte sich mühsam aus den Kissen und stopfte hinten das Hemd in die Hose zurück. »Was soll das Theater?« fragte er und genoß, wie seine Ruhe von Lehnaus Wut abstach, »ich habe keinen Grund, dir im geringsten zu trauen.« »Und welchen Grund hast du für dein krankhaftes Mißtrauen? Das da?« Er zeigte um sich: »Das Geld? Muß man arm sein, um euer Vertrauen zu gewinnen?« »Ich suche Beweise«, sagte Wetter, plötzlich traurig und schuldbewußt, »ich weiß überhaupt nichts mehr. Leider läßt sich nicht ausrechnen, wie zuverlässig du bist.« »In solchen Fällen muß man Experimente machen. Du wirst bald sehen, auf welcher Seite ich stehe.«
»Da hast du recht«, Wetter nickte und ging zur Tür, »in ein paar Tagen ist alles klar.« In der Tür stieß er mit der Frau zusammen. Sie erschrak sehr und fragte automatisch: »Ach, Sie gehen?« Wetter war so unglücklich und durcheinander, daß er wortlos die Treppe hinunterlief und erst im Freien überlegte, wie er heimkommen sollte. Gerade als er unter den überhängenden Bäumen an den Strom kam, begann es leicht zu regnen. Die Häuser am anderen Ufer standen hell gegen den grauen Himmel. Überall zischte es leise. Er ließ sich auf einen Sandhaufen fallen und steckte die gespreizten Finger in den Sand. Aus der kühlen und gleichmäßig grauen Wasserwelt sank er in die angenehme Wärme unter seinen Kleidern. Er fühlte sich traurig und froh und sehr zufrieden, daß hier alles stumm, sprachlos, ohne Schrift war. Er schloß abwechselnd beide Augen und ließ die Aussicht hin und her hüpfen. Dann schlug er sich mit den flachen Händen in rascher Folge gegen die Ohren und horchte auf das stoßweise Rauschen im Kopf. Weit weg hupte jemand, es klang nicht wie eine Warnung, sondern wie ein Lockruf aus der Ferne. Martha fiel ihm ein. Wie war es damals zu ihrer Entfremdung gekom-
men? Es war ja nie ein besonders leidenschaftliches Verhältnis gewesen, falls es so etwas außerhalb des Kinos überhaupt gab. Martha hatte still und brav ihr Meteorologiestudium verfolgt. Selten hatte sie davon erzählt, zum Glück. Denn er verachtete diesen Wissenschaftszweig, in dem er keinen Sinn sah als den, täglich überflüssige Vermutungen über den morgigen Regen an den Rundfunk zu schicken. Aber auf sich selbst war er auch nicht besonders stolz gewesen. Marthas früherer Freund, Falk, zeigte ihm seine Grenzen als Mathematiker, das Studium zerstörte das elitäre Bild der Wissenschaft, und das Siegdorfer Institut gab allem den Rest. Wetter war dorthin geschickt worden, um seine Dissertation zu schreiben. Im Institut hatten die Techniker das Sagen, die Theoretiker galten als skurrile Vögel, die einem nie klar Auskunft geben konnten und mit mathematischen Formalismen spielten. Der Durchschnittstyp im Institut war der bescheidene Praktiker, der sich mit Vakuumpumpen oder Massenspektrographen auskennt und keinen Ehrgeiz verspürt, über die letzten Dinge zu grübeln. Beim Kaffee lauschte Wetter müde den Debatten über Kosten und Nutzen verschiedener Geräte, über Lieferbedingungen und Service, über Grenzen des Budgets und Einsparungen durch Bastelei. Was
ihn an der Physik fasziniert hatte, der Anspruch auf umfassende Naturerklärung, das gab es hier nicht. Über Büchern voll Symbolen sitzend, kam sich Wetter ebenso überflüssig vor wie ein spekulativer Philosoph. Der für ihn zuständige Universitätsprofessor hatte ihm ein Thema gestellt, so weit weg von den Fronten der Physik, so sehr im Hinterland, unter den Etappenhengsten der Forschung, daß er es widerspruchslos annahm wie ein Verdammungsurteil. Die Aufgabenstellung seiner Dissertation zerstörte den letzten Illusionsrest, den Wetter sich über einen Platz in der Ahnengalerie der Forscher einst gemacht hatte. Er war also nur ein einfacher Soldat im Heer der Angestellten des Wissenschaftsbetriebes, die in der Geschichte keine Spuren hinterlassen. Die Einsicht, daß er nichts Besonderes war, daß zahllose andere seine Arbeit ebensogut machen konnten wie er, arbeitete in ihm wie eine schleichende Krankheit. Das Kinderuniversum mit Wetter als Mittelpunkt blähte sich auf und zerplatzte. Zurück blieben viele auf einer Ebene des Mittelmaßes verstreute Fetzen, von denen er einer war. Das war die Zeit der stummen Krise, in der Martha und er nichts mehr miteinander sprachen, auch nicht über ihre Stummheit. Langsam war Martha immer kleiner geworden. Als Wetter die Promotions-
urkunde empfing, im Rahmen einer pompösen Feier, die er als Peinlichkeit erlebte, war Martha schon ganz verschwunden. Er kniete hinter dem Schreibtisch und stapelte Papiere. Jeder Umzug ist ein Ausmisten. Neben dem Pappkarton, in den er häufte, was in das neue Arbeitszimmer sollte, wuchs ein Berg aussortierter Literatur. Immer wieder sanken ihm die Arme herab, weniger aus Unentschlossenheit, was mitzunehmen war, als aus Staunen über das rasche Altern der wissenschaftlichen Arbeit. Der kleinere Teil dieser angestaubten Aufsätze, fast alle in englischer Sprache, war durch Zitate oder Sammelbände in den wissenschaftlichen Alltag übergegangen, der größte Teil aber konnte vergessen werden. Ganze Forschungszweige mußte Wetter in Zukunft vernachlässigen. Die Arbeiten über Elementarteilchenphysik waren mit der Zeit zum Hobby geworden, dem in der täglichen Arbeit kein Sinn mehr entsprach. Aus dem offenen Schrank quoll die Flut der Reviews und Letters, der Informationen über Informationen, dieser Dämme, die die Flut verstärkten, anstatt sie einzudämmen.
Selbst wenn ich Tag und Nacht nur läse, ohne eine Minute zu arbeiten, kostete ich nur kleine Bissen, fräße mich nie durch die Mauer aus Papierbrei ins Schlaraffenland der eigenen Entdeckungen, dachte er. Er öffnete einen schweren Band mit Aufsätzen über die Strahlenschäden in Kristallen und ließ die Seiten, vorbeirascheln wie Bilder eines abstrakten Trickfilms: Punkte, Striche, Symbole, Ziffern, schwarz auf weiß. Er wurde todmüde. Wetter raffte sich auf, räusperte sich entschlossen und fuhr fort, seine wissenschaftliche Vergangenheit auszusortieren. Sie lag wie eine zittrige Linie hinter ihm, von der kurze Sackgassen abzweigten, aufgegebene Arbeitsrichtungen – aber eine Linie immerhin, sagte er sich. Trotz allem, er hatte in diesem Zimmer ein kurzes Wegstück zurückgelegt, wenn auch zu beiden Seiten gewaltige Stöße ungelesener Publikationen liegengeblieben waren. Wie unökonomisch er gearbeitet hatte! Wo überall hatte er aus purer Neugier seine Nase hineingesteckt, als käme es darauf an, von allem ein bißchen zu riechen, statt auf einem engen Gebiet sich einzugraben, hinter aufgeworfenen Papierhalden zu verschwinden, als Spezialist, sichtbar nur denen, die im selben Loch gruben. Und das waren nicht wenige! So hoch war die Bevölkerungsdichte in dieser Papier-
welt, daß in jeden noch so kleinen Krater mehr Grabende sich drängten, als er fassen konnte. Wie viel lieber wäre Wetter einem dringenden Ruf gefolgt: »Komm hierher, hier fehlt uns einer, du wirst hier gebraucht!« – statt sich den Vielzuvielen aufzudrängen, die schon am Werk waren, schon Bescheid wußten, schon tief in die Materie eingedrungen! Ihn, der immer davon geträumt hatte, unter dem freundlichen Auge der Öffentlichkeit an gut einsehbarer Stelle zu forschen, kränkte dieses Gedränge, nahm die ganze Lust. Wer rief nach ihm? War er nicht überflüssig? Wen kümmerte, ob er kam oder nicht? Wieder einmal tröstete er sich mit seinem tragischen Bild von der Welt. Sie war eben nur ein Labyrinth, das gerade durch die Anstrengung, es zu erforschen, nur immer weiter wucherte. Dieses Chaos disqualifizierte alle Anstrengungen, ob dahinter nun Falks mathematischer Ehrgeiz, Lehnaus Machthunger, Ingardens Lebensängstlichkeit oder Wetters verwundete Eitelkeit stand. Warum machte man überhaupt weiter? Zur eigenen Überraschung fiel ihm jetzt Frau Kamiah ein, und zugleich sein Spaziergang am Fluß. Es gab ganz einfache Freuden! »Weil du nicht alles bekommst, tust du, als gäbe es nichts. Das ist ein kindi-
scher Trotzstandpunkt«, sagte Wetter laut und packte ein paar Bücher in den Karton. »Was für ein Standpunkt?« fragte Falk, der durch die offene Tür hereingeschlendert kam und mit den Händen in den Taschen das Durcheinander betrachtete. »Ich weiß nicht, was wir wollen!« rief Wetter. »Arbeiten wir nicht an einer Front der Kerntechnik? Sind wir nicht die ersten am Schnellen Gasbrüter? Erleben wir nicht spannende Tage? Besucht uns nicht sogar ein Staatsmann aus Südamerika? Ist unsere Arbeit über Schockwellen in heißen Gasen nicht originell? Freust du dich nicht auf den Kampf um ihre Veröffentlichung? Freust du dich nicht auf den öffentlichen Auftritt mit Lehnau?« »Das war nur ein Vorschlag von ihm«, sagte Falk rasch und verlegen, »ich mache nur mit, wenn du zustimmst. Jedenfalls muß unsere Arbeit an die Öffentlichkeit, bevor die Demonstration stattfindet.« »Und du bist sicher, daß sie hieb- und stichfest ist? Absolut? Kein Fehler möglich?« »Das ist doch nicht die Frage«, sagte Falk, »sondern: Wird die Diskussion über unsere Arbeit im Keim erstickt oder nicht? Gelingt es den KKU-Typen, hier jede selbständige Arbeit totzumachen?« »Ingarden will unsere Ergebnisse publizieren.«
»Ist mir neu«, sagte Falk, kniete nun auch hinter seinem Schreibtisch und rumorte in einem Schrank, »aber das ist egal. Bis eine Zeitschrift den Artikel annimmt, vergehen Monate, dann steht der Brüter längst. Außerdem ist Ingarden praktisch abgesägt. Er fällt hinauf, wird Projektleiter in der KKU, nur weiß er das noch nicht, darum spielt er noch den wilden Mann. Das vergeht ihm schnell, wenn er weich in der Privatwirtschaft landet.« »Überall Gerüchte und Intrigen«, schrie Wetter, »aber du vertraust ausgerechnet Lehnau.« »Laß die alte Leier«, sagte Falk, »Lehnau ist okay.« »Spinnst du?« »Idiot!« brüllte Falk, »Lehnau wird uns groß rausbringen, sogar im Fernsehen! Da können wir öffentlich erzählen, wie hier Arbeiten zensiert werden, wie Leute fliegen. Willst du nicht wenigstens deiner Biologin helfen?« »Ich kann mir das nur so erklären«, meinte Wetter, setzte sich auf Falks Tisch und wischte die staubigen Finger an der Hose ab, »daß Lehnau von irgendwoher genau weiß, daß unsere Ergebnisse lächerlich falsch sind. Damit will er uns fertig machen. « »Unser Programm stimmt, glaub mir«, sagte Falk und setzte sich neben Wetter. Er roch frisch verschwitzt wie nach einem Waldlauf.
»Warum organisiert Lehnau uns einen öffentlichen Auftritt?« fragte Wetter bockig. Falk lächelte: »Du begreifst es nie! Lehnau hat die Schnauze voll. Er will Wissenschaftler sein und kein Werbeagent. Hast du seine Wohnung gesehen?« Wetter nickte. »Na also. Gibt dir diese Gelehrtenromantik nicht zu denken? Der Globus, die alten Folianten, der Schreibtisch wie von Galilei persönlich?« »So einen Schreibtisch hat Galilei nie besessen.« »Lehnau will sein wie wir, er beneidet uns. Das kannst du nicht verstehen mit deinem Haß auf dich selbst und auf die ganze Wissenschaft. Aber es ist so. Er will einer von uns sein, ein Forscher, nicht ein Manager. Glaub’s doch.« Wetter legte den Kopf schief und grinste. »Es ist so absurd, daß es gut klingt«, sagte er nachdenklich, »es ist eine Idee, auf die ich nie gekommen wäre: daß unsereins beneidenswert ist.« »Weil du vor Selbstmitleid zerfließt«, höhnte Falk, »ich beobachte dich doch, seit du die Ehe mit Martha vermasselt hast. Du bist krank vor Hochmut und Einzelgängerei, das äußert sich bei dir als Selbsthaß und schlechte Laune. Du stehst immer im Schmollwinkel.« »Ja?« rief Wetter erfreut. Konnte Falk ihm helfen?
So selten nimmt sich einer die Mühe und sagt einem die Wahrheit! »Ich bin auch nicht glücklich«, fuhr Falk fort, »auch mein Stolz wird durch den Zwang verletzt, in der Provinz zu versauern. Ich bin auch ein Einzelgänger – ich bin wirklich einer, du nicht, du schielst ja immer nach Zuschauern, die dir verliebte Augen machen sollen! – darum gehe ich in die Berge und laufe durch den Wald.« »Die Einsamkeit des Langstreckenläufers«, rief Wetter fröhlich und schlug Falk auf die Schulter. Der zuckte zusammen: Wetter tat so etwas nie. Wetter sagte: »Verdammt, du sollst recht haben. Daß ich Lehnau falsch einschätze, weil ich mich selber falsch einschätze, das gefällt mir. Es steckt eine angenehme Logik dahinter.« »Nicht immer neidisch nach allen anderen schielen, nicht immer jeder andere sein wollen als zufällig man selber!« predigte Falk. »Du bist ein Arschloch, aber wer ist das nicht? Allein dadurch, daß die Menschen so verschieden sind, hast du gute Chancen, wenigstens einigen angenehm aufzufallen. Diese Biologin mag dich doch auch. Sagt jedenfalls Sandner.« »Wie geht es ihm?« »Gut. Er schluckt es hervorragend. Er sieht die Sa-
che so: Wenn die Frau dich vorzieht, muß sie viel beschränkter sein, als er angenommen hat. Er sagt: Weißt du, ich habe die Frau überschätzt, Falk.« Er hatte bei den letzten Worten Kopf und Stimme gesenkt und wie Sandner über den Rand seiner Brille geblickt. Wetter lachte froh, Falk tauchte wieder unter den Schreibtisch und schaufelte rücksichtslos Computer-Ausdrucke auf den Boden. Dann steckte er noch einmal den Kopf über die Tischplatte: »Was ist? Machst du mit?« »Ja«, sagte Wetter. Es war Samstag, eine Woche vor der Demonstration. Sie lagen friedlich und verschwitzt auf Frau Kamiahs Sofa. Wetter rollte die Augen, ließ die Zunge heraushängen und hechelte. Er spielte einen Hund, der hinter dem Weibchen her ist. Dieses lachte eine Weile, versuchte aber das Spiel zu beenden, bevor wieder Ernst daraus wurde. »Ich muß auf«, sagte sie, »heute abend treffen sich die Brütergegner und bereiten ihre Pressekonferenz vor.« »Au weh«, sagte Wetter. Ihm fiel ein, was er Falk gestern versprochen hatte. »Keine Angst«, sagte Frau Kamiah, »ich werde sie dazu bringen, die Unfälle rund um den alten Reaktor
nicht zu verwenden.« »Au weh«, wiederholte Wetter und setzte sich auf. Er hatte Angst, Frau Kamiah wieder zu verlieren, diesmal endgültig. »Ich muß dir etwas sagen«, fing er an, »ich werde mit Lehnau im Fernsehen auftreten. Wir wollen auf mögliche Gefahren des neuen Brüters hinweisen.« Sie schwieg lange. Als Wetter sie anzusehen wagte, war sie sehr blaß und schlüpfte schnell und stumm in die Kleider. »Ein Kollege hat mich überredet«, sagte Wetter, »Falk, ein Freund. Er glaubt, daß Lehnau es ehrlich meint.« »So, so«, sagte sie, »aber ich darf nichts über Betriebsunfälle erzählen, weil es deiner Meinung nach Falschmeldungen desselben Lehnau sind. Weißt du selber, was du glaubst?« »Nein«, sagte Wetter. »Ich habe jetzt zu tun«, sagte sie einfach. Wetter zog sich an, beschämt wie ein Simulant nach der ärztlichen Untersuchung. Mehrmals klappte er den Mund auf und zu, ohne den passenden Anfang zu finden. Sie sagte: »Warum kannst du dasselbe nicht auf unserer Veranstaltung erzählen?« »Weil Falk vorzieht, es mit Lehnau zu machen. Euch
nimmt er nicht ernst.« »Und du?« Er zuckte die Achseln und grinste unentschlossen. Ohne ihn anzusehen, fragte sie: »Ist es wahr, daß Costello entlassen ist?« »Woher weißt du das?« »Von Sandner.« O Gott, den trifft sie noch immer, dachte er, ist das ein Durcheinander. »Sandner meint, daß es auffällig ist: Ich erzähle dir, daß er mit den Gegnern Kontakt hat, und kurz darauf kriegt er die Kündigung.« Wetter, wütend und verletzt, verzichtete darauf, ihr zu sagen, daß Costello schon vorher gekündigt worden war. Er wünschte sich, Sandner vor sich zu haben, ihm die Brille abzunehmen und fest in sein Gesicht zu schlagen. Er schnürte die Schuhe und bewegte sich im Zeitlupentempo zur Tür, auf eine Eingebung oder auf ein Wunder wartend, wenigstens auf ein Wort von ihr. Genau als er die Klinke niederdrückte, sagte sie leise: »Mir haben sie übrigens auch gekündigt.« Wetter kehrte um und setzte sich. Er war zugleich erleichtert und erschüttert. »Mit welcher Begründung?« »Deswegen«, sie warf ihm ein Flugblatt hin. Es lud
zur Informationsveranstaltung auf dem Hof des Bauern Tuff ein und kündigte einen Bericht von Frau Klara Kamiah, Diplombiologin, über die Behinderung ihrer Forschungen zu biologischen Strahlenschäden an. Wetter sah vom Blatt auf. Sie saß an ihrem Schreibtisch, hatte die Ellbogen an den Oberkörper gepreßt und weinte lautlos. »Was soll ich jetzt machen«, flüsterte sie. »Ich glaube, das ist ungesetzlich. Du mußt klagen.« »Ich bin so müde«, sagte sie, »ich weiß nicht weiter. Steht das alles überhaupt dafür?« Wetter begann auf und ab zu gehen, entschlossen, sich und ihr einen entschlossenen Menschen vorzumachen. »Wenn du willst«, schlug er vor, »mache ich nicht bei Lehnau und Falk mit, sondern spreche auf eurer Veranstaltung.« »Laß«, sagte sie und schneuzte sich, »es ist vielleicht nicht schlecht, wenn ihr unabhängig etwas unternehmt. Und du hast Costello nicht verpfiffen?« Wetter ging zu ihr, sie stand auf und umarmte ihn. Sie standen eine ganze Weile so, drückten sich und lachten erleichtert. Über ihre Schulter sah Wetter drüben den alten Mann hinter seinem Globus auf und ab gehen.
Autofahrten, Vorbesprechungen, trockenes Händegeben mit sehr gepflegten Herren, Vorzimmer, Schreibtische, Aufzüge – Wetter kam wieder zu sich, als er neben Lehnau vor einer Spiegelwand saß und eine kleine dicke Frau ihnen weiße Tücher von hinten um den Hals legte. Rechts Lehnau, links Professor Frühauf, hinten stand mit verschränkten Armen Herr Rehmann, der Moderator. Rehmann plauderte halblaut, um sie abzulenken und kein Lampenfieber aufkommen zu lassen, aber auch, damit die Diskussionsteilnehmer nicht schon im Schminkraum zu streiten anfingen, ihr Pulver verschossen und schlaff und versöhnt in die Arena stiegen. Verlegen und wehrlos sah Wetter zu, wie die Frau ihm mißmutig eine dicke Schicht stumpfer Schminke auflegte, unter der er auf der Stelle zu schwitzen anfing. Lehnau zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Jetzt war Wetter endgültig sicher, daß man ihn hereingelegt hatte und nur als Vogelscheuche für eine Propagandaveranstaltung der KKU zurechtmachte. Falk hatte bis zuletzt an der Vorbereitung mitgewirkt, hatte mit ihm ihr gemeinsames Auftreten abgestimmt – und war im letzten Augenblick zurückgestellt worden, angeblich, weil durch das Hinzukommen von Professor Frühauf einer von ihnen beiden verzichten mußte.
Jetzt kam eine zweite Frau in einem blauen Arbeitskittel, sah kurz abschätzig auf Wetters Spiegelbild, nahm einen großen gelben Kamm und begann, ihm die Haare zu toupieren. Dann legte sie oben ein paar Strähnen über den künstlichen Haarturm. Wetter sah aus wie ein Gruselfilmheld, dem alle Haare zu Berge stehen. »Nein«, sagte er und befreite einen Arm aus dem weißen Tuch, um sich durch die Haare zu fahren. Die Frau klopfte ihm mit dem Kamm schmerzhaft auf die Finger und schrie verärgert: »Was wollen Sie denn?« Dann striegelte sie ihm die Haare rücksichtslos nach hinten, so daß Wetter zur Strafe wie ein Erstkommunikant vom Lande aussah. »So ist es besser«, murrte er trotzig. Seine Visage, die in wenigen Augenblicken auf dem Fernsehschirm erscheinen sollte, kam ihm dafür völlig ungeeignet vor: asymmetrisch, uneben, charakterlos, ungepflegt, zugleich ordinär und bieder. Lehnau war natürlich durch die Kosmetik nicht lächerlich gemacht, sondern weiter verschönt worden, während der Professor mit der teigigen Schminke und einer kunstvollen Sturmfrisur wie unterm Gipfelkreuz eines Bergriesen strotzte. »Na, haben Sie alle Zahlen parat, um den Leuten einzureden, daß ihnen ohne Gasbrüter die Lichter ausgehen?« neckte
der Professor. Die Schminkerinnen hatten den Kampf aufgegeben und waren resigniert abgezogen. Der Moderator lief auf dem Gang hin und her und schrie: »Noch eine Minute!« »Wir wollen den Leuten keine Angst einjagen. Wir nicht, Herr Professor!« erwiderte Lehnau. Frühauf lächelte über die zwei Hiebe, die ihm diese Antwort versetzte: Erstens mit der Betonung seines fragwürdigen Professorentitels, der auf ein futurologisches Projekt an einer amerikanischen Universität gegründet war; zweitens mit der Anspielung auf die Generalthese Frühaufs, daß die Kernenergie der Menschheit das Grab schaufle. Wetter, der weder mit Lehnau noch mit Frühauf zusammengeworfen werden wollte, meinte: »Mein Anliegen ist bescheiden. Ich habe keine Meinung zur Zukunft der Menschheit.« »Schlecht, schlecht«, warf Frühauf lächelnd ein. »Ich bin mit meinen Kollegen besorgt über Beschränkungen der freien Forschung, die wir bei dem Gasbrüterprojekt erleben.« Lehnau und Frühauf nickten zugleich heftig, und Frühauf sagte: »Ausgezeichnet! Sehen Sie, das ist schon der erste Schritt, ein Symptom für die Seuche, die ich prägnostiziere: Abdankung der freiheitlichen Selbstbestimmung zugunsten einer seelenlosen
Technik.« Wetter zuckte die Achseln und wechselte einen Blick des Einverständnisses mit Lehnau. Er sagte verärgert, die Bemerkung wie einen giftigen Pfeil abschießend: »Und was verstehen Sie unter einer seelenvollen Technik?« Entzückt öffnete Frühauf den Mund, aber da wirbelte der Moderator Rehmann herein und scheuchte sie durch einen engen dunklen Gang in einen murmelnden Saal, dessen Zentrum grell beleuchtet war. Überall standen TV-Kameras, lagen Kabelschlangen, blitzten Scheinwerfer. Oben schwebte, sanft gelb erleuchtet hinter nach vorn kippenden großen Scheiben, der Kommandostand, aus dem Hemdsärmel und Kopfhörer Zeichen gaben. »Rasch, rasch«, murmelte Rehmann unhöflich und bugsierte sie zu einem Halbrund aus schwarzen Lederfauteuils. Jeder hatte ein Tischchen neben sich. Frühauf breitete sofort den Inhalt seiner Aktentasche aus, die ihm Rehmann entriß und rückwärts in das Halbdunkel außerhalb des Lichtkegels schmiß. Aus dem Murmeln in der Halle erhob sich unsichtbares Gelächter. »Ich spreche ein paar einleitende Sätze, dann Lehnau, dann Frühauf, dann Wetter, dann Stimmen aus dem Publikum, wie abgemacht, okay?« flüsterte Rehmann hastig. Alle nickten.
Wetter stellte zu seinem Erstaunen fest, daß sein Herz rasend schlug und die Hände eiskalt auf den ledernen Armstützen lagen. Wie unwirklich war das! Gleich würde er aufwachen. Hinter Lehnaus Kopf schlich sich eine Kamera an und saugte sich an Frühaufs Gesicht fest, schwenkte auf Wetter, dann auf den Moderator. Rehmann gab sich einen Ruck und spannte sich so stark an, daß er auf einmal ganz gelöst wirkte. Aus fernen Lautsprechern erscholl die Melodie der Sendung ›Heißes Eisen‹, Mikrophone senkten sich an langen Armen von oben herab, obwohl doch schon eines auf jedem Tischchen stand. Ohne Übergang begann Rehmann zu sprechen, als wende er sich an einen guten Bekannten, der zwischen Lehnau und Frühauf ein wenig abseits im Halbdunkel stehe: »‘nen schönen guten Abend, meine Damen und Herren, hier bei uns im Studio und daheim, ich begrüße Sie zu unserem ›Heißen Eisen‹. Heute geht es um Kernenergie und besonders um den neuen Brüter in Siegdorf, gegen den sich wachsender Protest formiert. Ich darf Ihnen gleich mal unsere Diskussionsrunde vorstellen…« Wetter, der nicht übersehen konnte, ob ihn eine der fünf Kameras im Visier hatte, blickte mit gerunzelter Stirn auf Lehnaus flammende Schuhspitzen und ver-
suchte sich zu erinnern, was er hier sollte. Er war absolut leergefegt. Er war so abwesend, daß im Studio nur eine geschminkte Hülse mit Wetters Aussehen im Stuhl hing. Er selbst schwirrte als Sperling unter der schwarzen Decke herum und suchte eine Luke zum Entkommen. Seine Halsmuskeln spannten sich und zwangen den Kopf nach vorn: Er nickte. Überrascht vernahm er, daß sein Name gefallen war. Eine Kamera schlich von seinem Gesicht zu Frühauf, der sofort eifrig nickte und lächelte. Aus dem Dunkel der Halle brandete Applaus, und Frühauf winkte geblendet zurück. Jetzt nickte Lehnau, spitzte die Lippen, wollte er Rehmann küssen? Nein, er überlegte überlegen, sammelte sich deutlich, atmete tief durch und begann in ruhigem Ton zu sprechen: »Wenn wir uns einem so umstrittenen Thema wie der Kernenergie zuwenden, müssen wir meiner Meinung nach etwas in die Diskussion einbeziehen, was bisher kaum beachtet worden ist« – er machte eine gelungene Pause; mein lieber Freund, du hast lange vor dem Spiegel geübt, dachte Wetter – »nämlich die Frage nach den Alternativen. Meine Behauptung lautet, und ohne Zweifel begebe ich mich damit in schärfsten Widerspruch zu Professor Frühauf: Es gibt keine! Wir werden mit der Kernenergie leben müssen, ob
wir wollen oder nicht, und es kann nur noch darum gehen, diese Partnerschaft so harmonisch und effektiv wie möglich zu gestalten.« Wetter lauschte mit halbem Ohr, wie Lehnau sorgfältig die oft abgespulten Spruchbänder entrollte, deren Selbstverständlichkeit fast peinlich war. Wozu das Ganze? Zweifelte denn wirklich heute noch jemand daran, daß man die neue Technik brauchte? War das Mißtrauen gegen die Arbeit, die er tagtäglich leistete, in der Bevölkerung so groß? Hielt man ihn für einen Feind der Gesellschaft? Wie man sich immer verhielt, allen konnte man es nie recht machen. Seit dem Besuch des Diktators aus Südamerika genoß er offenbar Lehnaus Vertrauen, deshalb saß er jetzt hier. Zugleich verscherzte er es sich mit Frau Kamiah. Ergriff er ihre Partei, schoß Lehnau ihn kaltblütig ab, wie er es mit Costello getan hatte. Was wollten die Leute eigentlich? Eine Technik, die überall auf der Erde weiterentwickelt wurde, in Siegdorf stoppen? Alles zurücknehmen, weil es immer größer und immer riskanter wurde? Wer wollte das? Er blinzelte in den dunklen Saal, der gerade dem Namen Frühauf applaudiert hatte. Er sah nichts und spürte qualvoll, wie wenig er von dem wußte, was in den Köpfen dort drüben vorging. Dieses Versäumnis war unentschuldbar.
Gespannt musterte er den Professor, der jetzt dran war, nachdem Lehnau schütteren Applaus geerntet hatte. Frühauf leckte die Lippen, räusperte sich energisch, senkte den Kopf zwischen die Schultern und sprach: »Mein werter Vorredner hat Ihnen ein glänzendes Beispiel geboten für die Mischung aus wissenschaftlicher Hybris und menschlicher Ignoranz, die so kennzeichnend geworden ist für die gutdotierten Anwälte der Kerntechnik. Wie kann man denn heute noch so uninformiert wie Doktor Lehnau behaupten, nichts von der lebhaften, breiten Debatte über alternative Formen der Technik gemerkt zu haben, die heute geführt wird, an allen Punkten der Erde, von New York bis Berlin, von Stockholm bis Neu Delhi? Gerade darum geht es doch: Daß wir die Großtechnik nicht haben wollen und dafür eine andere vorschlagen, eine humanere, friedlichere, überschaubarere, weniger bedrohliche. Daß diese Technik nur in Ansätzen vorliegt, noch nicht fertig ist, dürfte doch ausgerechnet die optimistischen Anwälte eines grenzenlosen Fortschritts nicht stören, im Gegenteil. Wie altmodisch, wie plump, wie unmenschlich ist doch im Grunde diese brutale Technik, die uns heute aufgedrängt wird, diese Kolosse aus Beton und Edelstahl, die uns mit unsichtbarer Strahlung bedrohen und unsere Nachkommenschaft
auf Jahrhunderte, ja Jahrtausende gefährden! Nicht menschliche Bedürfnisse fordern die explosive Entwicklung der Kerntechnik, sondern ein ungehemmtes Streben nach Macht und Gewinn. Der Bürger, der von den neuen Technologien nichts versteht, wird ja nicht gefragt, ob er sie will. Und wenn man ihn informiert, dann einseitig. Man füttert ihn mit Werbebroschüren, die das Risiko verniedlichen, die Vorteile vergrößern, die Alternativen verhöhnen und immer wieder den Teufel einer Zukunft in Dunkelheit und Kälte an die Wand malen, falls der Bürger nicht zu allem Ja sagt. Ich meine und darf dabei aus meinem demnächst erscheinenden Buch zitieren…« Rehmann fiel ihm ins Wort: »Äh, Herr Professor, ich glaube, unsere Zuschauer wären sehr neugierig, mehr über die von Ihnen angesprochenen Alternativen zu erfahren. Können Sie uns da ein paar Informationen geben?« Frühauf lächelte, ließ sein Manuskript sinken und sagte: »Ich sagte bereits: Die Alternativen sind nicht fertig, sie stecken in den Kinderschuhen, und das ist kein Wunder, weil Staat und Industrie dafür kein Geld hergeben! Das stecken sie lieber in die Kernenergieforschung!« Der Saal applaudierte. Wetter schüttelte unwillkürlich den Kopf. Wovon war hier die Rede?
»Die Richtung ist doch klar«, fuhr Frühauf fort, »immer mehr Menschen weisen uns auf die einfache Tatsache hin, daß die Sonne scheint und der Wind weht. Dies sind die ältesten, die selbstverständlichsten, die billigsten Energieformen – vielleicht allzu selbstverständlich, als daß die Herren Wissenschaftler es bisher gemerkt hätten.« Gelächter, Applaus. Wetter griff nach einem Zettel und notierte: »Wind, Sonne.« Sofort näherte sich ein Objektiv und zeigte den Zuschauern, wie er mitschrieb. »Sie favorisieren eine möglichst künstliche, naturferne Technik, eine, die die Natur vergewaltigt«, sagte Frühauf, »Plutonium zum Beispiel ist ein künstliches Element, das in der Millionen Jahre alten Geschichte der Natur einfach nicht vorkommt. Und jetzt kommt auf dieser kleinen Erde der kleine Mensch und will nach ein paar Jahren Naturforschung alles anders und besser machen, die Schöpfung verbessern, manipulieren, und weiß nicht, kann nicht wissen, wie sich eine aus den Fugen geratene Natur dafür rächen wird!« Wieder versuchte Rehmann mit einem »Ah« einzugreifen und Frühauf zu stoppen. Der aber war jetzt nicht zu bremsen und fuhr mit blitzenden Augen fort: »Wie plump und brutal ist doch unsere Tech-
nik, verglichen mit den leisen, sanften und energiesparenden Methoden, die uns das Leben auf der Erde vormacht! Die Pflanze lebt von der Sonne und ein paar Mineralien. Das müssen wir lernen! In der Bibel heißt es: Sehet die Lilien des Feldes! Wir aber sind größenwahnsinnig geworden, und wenn nicht noch im letzten Moment die warnenden Stimmen Gehör finden, geht die Menschheit mit Mann und Maus unter. Das sage ich immer wieder, das schreibe ich in meinen Büchern, das predige ich unermüdlich meinen Studenten. Immer mehr Menschen werden nachdenklich, mißtrauisch, kritisch gegenüber unserem sich verselbständigenden Fortschritt. Wie viele es schon sind, das wird sich ja in ein paar Tagen zeigen, wenn die große Demonstration gegen das Lieblingskind der Atomindustrie stattfindet, wenn Zehntausende gegen diese Mißgeburt einer wahnsinnig gewordenen Technik durch eine friedliche Kundgebung ihre Stimme erheben werden.« Wieder gab es Applaus, freilich auch ein paar Pfiffe. Und jetzt, ausgerechnet auf dem Höhepunkt seiner Verwirrung angelangt, sollte Wetter sprechen! Rehmann sah ihn erwartungsvoll an, erriet seinen Zustand und sagte, indem er Wetter beschwörend zunickte: »Nach diesen blendend formulierten und engagiert vorgetragenen Thesen eines Gegners der
neuen Technik sollten wir nun Herrn Doktor Wetter hören, der selbst sozusagen im Herzen des neuen Kernreaktors arbeitet und als intimer Kenner der Materie vielleicht einiges Interessantes zu sagen hat.« Wetter blickte verzweifelt in einen Scheinwerfer und starrte dann in eine gelbe Sonne, die knapp vor seinen versengten Augen tanzte. Ein salziger Tropfen rann ihm in den Mund. Das sollte das Forum sein, vor dem er seinen Protest gegen Arbeitsbehinderungen und seine Bedenken gegen die Sicherheit der Heliumkühlung formulieren konnte? Weder wollte er an diesem Ort Frühauf Munition für dessen Kreuzzug liefern, noch Propaganda für Meredith und Lehnau machen. Oh, sie waren ihm alle gleichermaßen fremd und verhaßt, die geschniegelten Werbemanager von der KKU ebenso wie der Naturbursche Frühauf. Wo in diesem Streit blieb sein Anliegen: die Freiheit der Forschung? »Es fällt mir schwer«, fing er an, »zu den Ausführungen von Frühauf Stellung zu nehmen, da mir nicht klar ist, wie seine sanfte Technik wirklich aussieht und wie sie mit den Problemen fertig werden soll, die wir heute haben.« Er holte tief Luft, fühlte die Halsschlagadern wie wild gegen den Kragen pochen und grinste plötzlich: »Kurz gesagt, bevor ich nicht
schon sehen kann, wie die Lilien auf dem Felde Energie erzeugen, und zwar mehr als sie für sich selber brauchen, ist mir das Ganze unklar.« Er erntete ein Gemisch aus Pfiffen und zustimmendem Gelächter. Die Pause konnte er brauchen. Das Herz beruhigte sich etwas, langsam machte sich in ihm angenehme Kühle breit. »Ich habe gegenwärtig in meiner Arbeit ein Problem, das Ihnen vielleicht geringfügig erscheinen wird. Wir haben zu berechnen versucht, was im Schnellen Gasbrüter im einzelnen vorgeht. Dabei glauben wir zu sehen, daß es unvorhergesehene Gefahren geben kann. Das ist bei einer neuen Technologie ganz normal, das beunruhigt mich nicht. Das Problem beginnt erst da, wo meine Kollegen und ich versuchen, unsere Ergebnisse, also diesen Verdacht einer Gefahr, so offen zu diskutieren, wie das in der Wissenschaft bisher immer üblich war. Wir stoßen dabei auf erstaunliche Widerstände. Auf einmal werden wissenschaftliche Erkenntnisse behandelt wie Sabotageversuche an einem wirtschaftlichen Unternehmen. Man fragt uns nicht mehr: Ist das wirklich so? sondern man fragt sich: Gefährdet das nicht unser kostspieliges Projekt? Ich sehe dabei die Gefahr, daß Funktionäre der Wirtschaft sich immer mehr in die Grundlagenforschung einmischen.«
Der Moderator machte den Mund auf, doch Wetter hob abwehrend die Hände und setzte fort: »Dabei will ich noch nicht unterstellen, daß wir unbedingt mit unseren Rechnungen recht behalten werden. Das ist aber nicht die Frage. Ich glaube auch, daß die Hersteller von Schnellen Brütern ihre Anlagen möglichst sicher konstruieren wollen, allein schon aus Gründen der Wirtschaftlichkeit, denn Unfälle sind teuer. Dennoch kann es geschehen, daß der neue Brütertyp, wenn er nur nach maximaler Wirtschaftlichkeit geplant wird, gewisse Sicherheitsbedenken nicht so stark berücksichtigt, als wenn die Sicherheit von vornherein absoluten Vorrang hat. Die Freiheit der Forschung im Bereich der Reaktorsicherheit sollte nicht durch ökonomische Überlegungen eingeengt werden, das wollte ich sagen.« Wetter erhielt lahmen Applaus. Er verstand das. Seine Rede war blaß und trocken gewesen, seine Bedenken mußten nach dem globalen Angriff Frühaufs kleinlich wirken. Rehmann atmete auf, lächelte zugleich in mehrere Kameras und leitete zum Diskussionsteil über. Lehnau meinte: »Er geniert sich, uns das Honorar einfach hinzuhalten. So schiebt er es über den Tisch
zwischen den Tassen durch.« Sie saßen in einem lauten Lokal, Wetter ein bißchen außerhalb des Kreises. So konnte er wenigstens die Arme bewegen, auch wenn die Füße immer wieder mit Frühaufs Wanderstiefeln zusammenstießen. Bei jeder Berührung zuckte Wetter wie unter einem elektrischen Schlag zurück. Da er verliebt war, hatte für ihn alles einen unverschämt erotischen Beigeschmack, ob es das Streicheln eines Hundes war oder Frühaufs Beine. Er fühlte sich ganz aus dem Gleichgewicht, die Spannung seines ersten Fernsehauftritts war in ein kindliches Fluggefühl umgeschlagen. Mit schrägem Kopf blickte er über Rehmanns Schulter und malte sich aus, wie es wäre, mit einem Schwung des Handrückens die Kaffeetassen und Zigaretten davonzufegen, aufzuspringen, kurz zu brüllen und mit auswärts gekrümmten Beinen aus dem Lokal zu rennen. Es gab wenig, was ihn davon abhielt. Rehmann drehte seine blaugespülte und auftoupierte Haarmähne zu ihm und sprach lächelnd: »Sehr beeindruckt hat mich dieser junge Physiker aus dem Publikum, wissen Sie, wen ich meine?« »Der Verrückte?« fragte Lehnau. Frühauf zappelte mit seinen Beinen, daß Wetter und Rehmann die Füße hochzogen, als stünde das
Lokal unter Wasser, und rief: »Allerdings! Den fand ich auch eindrucksvoll!« Eine junge, müde Stimme hatte sich während der Diskussion aus dem halbdunklen Zuschauerraum erhoben, sich als Physikstudent im zehnten Semester vorgestellt und dann erklärt: »Mir ist im Lauf der letzten Monate endgültig klar geworden, daß die Physik, und überhaupt jede Wissenschaft, in ihrem Kern mörderisch ist. Es gibt keine Frage der falschen oder richtigen Anwendung. Jeder Physiker ist so oder so ein Mörder, wenn er den Gesetzen der Natur folgt und logische Wahrnehmungen betreibt. Schon das Studium, das habe ich erlebt, zerstört alles Menschliche, dieses Spontane, und erzieht fachidiotische Roboter, die demnächst von besseren Automaten überflüssig gemacht sein werden.« Wetter sagte erregt: »Weder verrückt noch eindrucksvoll. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß unser Studium über weite Strecken als absurd erlebt werden kann. Ich habe mehrmals das Studium abbrechen wollen, weil ich so unglücklich damit war. Damals hat mir niemand als Erklärung für mein Elend die Behauptung angeboten, daß die Wissenschaft an sich mörderisch ist.« Er lachte. Frühauf drehte sich zu Wetter um und knallte ihm ein hartes Knie in den Oberschenkel: »Aber Sie
selbst haben doch wunderschön vorgeführt, wie in Ihrem Physikeralltag die Demokratie außer Kraft gesetzt wird! Das behaupte ich doch unentwegt: Die moderne Atomtechnik ist unvereinbar mit Demokratie und Menschlichkeit!« Wetter drückte das fremde Knie mit aller Kraft zurück und erwiderte: »Tut mir leid, das kann ich nicht finden. Die moderne Forschung funktioniert überhaupt nur noch in demokratischen Gruppen, im Teamwork. Nicht von der Physik werden wir unserer Freiheit beraubt, sondern von unseren Chefs, die eine ganz bestimmte Vorstellung von der Anwendung unserer Ergebnisse haben – eine undemokratische, wenn Sie so wollen; jedenfalls eine exklusive und geheimniskrämerische Auffassung. Sie haben sich auf unsere Ergebnisse gesetzt wie die Glucke auf das Ei, sie halten die Hand darüber wie über einen neuen Autotyp, den die Konkurrenz nicht ausspionieren darf.« Rehmann kicherte mit geschlossenem Mund und summte: »Mmh, mmh. So steht immer Meinung gegen Meinung. Ehrlich, ich fand es eine sehr hübsche, lebhafte und doch ganz disziplinierte Gesprächsrunde. Leider muß ich Sie jetzt verlassen. Ah, ehe ich es vergesse!« Er kicherte wieder durch die Nase und holte die Brieftasche hervor: »Das ist für Ihre Mitar-
beit, meine Herren, und vielen Dank.« Als erster streckte Lehnau die Hand vor, aber mit der Handfläche nach unten: »Ach ich bitte Sie, überweisen Sie mir das Geld doch auf dem Bankweg«, und zu den anderen, lächelnd: »Ich bin es nicht mehr gewohnt, mit Bargeld umzugehen. Das ist mein privater Krieg gegen den Kapitalismus«, setzte er mit einem maliziösen Blick auf Wetter hinzu. Wetter errötete und steckte das Geld als einziger in bar ein, da alle anderen nicht hinter Lehnaus Lebensart zurückstehen wollten. »Ich habe nichts gegen den Kapitalismus«, sagte Wetter zur Entschuldigung, als er das Geld empfing. Lehnau warf den Kopf zurück und lachte laut: »Das sollen wir dir glauben? Ich ziehe meinen Hut vor der Zivilcourage, mit der du in aller Öffentlichkeit deinen Geldgebern die Schuld an allem gibst. Mut hast du!« Frühauf legte Wetter nun sogar eine warme Hand aufs Knie und meinte beschwörend: »Glauben Sie mir: Erklärungen aus vergangenen Zeiten ziehen heute nicht mehr. Marx konnte noch mit einigem Recht den Fabrikherrn für den Bösewicht halten. Aber wo ist er geblieben? Nur noch anonyme Gesellschaften, Manager, Bürokraten, bargeldloser Verkehr. Der Eigentümer hat sich in Luft und Aktien
aufgelöst, geblieben ist die verwaiste Technik, die von selbst weiterwuchert.« Wetter stand auf, um Frühaufs Hand loszuwerden, und sagte: »Ganz wie Sie meinen, Herr Professor.« Rehmann rief den Kellner und bezahlte, Lehnau sprang auf: »Wart auf mich, ich kann dich im Auto mitnehmen.« Wie ein Gefangener ließ er sich von Lehnau abführen. Was ich alles nicht weiß, dachte er, ich kenne die Gedanken kaum, mit denen man mich identifiziert, und kann mich nicht wehren. Habe ich wirklich den Kapitalismus kritisiert? Lehnau steuerte flott durch die Stadt und behauptete, Falk habe im letzten Augenblick kalte Füße bekommen und Wetter ins Feuer vorgeschickt, um sich nicht selbst im Fernsehen den Mund zu verbrennen. »Auch du mußt aufpassen, was du sagst«, warnte Lehnau. Wetter sah ihn verächtlich von der Seite an. »Aber Lehnau!« sagte er leise, »hast du uns nicht für diesen komischen Fernsehauftritt gewonnen mit dem Versprechen, dabei könnten wir unsere Kritik loswerden? Stehst du auf unserer Seite oder nicht?« »Als Mensch immer«, sagte Lehnau stirnrunzelnd, »aber das ist etwas anderes. Ich kann nur wiederholen: Ich bewundere deine Unbekümmertheit. Wirk-
lich!« Er blickte kurz von der Straße weg auf Wetters zorniges Gesicht, mit Augen, die vor Mitleid und Sorge überflossen. »Weißt du, es gibt genug stellenlose Physiker, die froh wären, deinen Platz zu kriegen.« »Kannst du mir erklären, inwiefern ich gegen den Kapitalismus bin?« fragte Wetter nach einer Pause. Lehnau schwieg bis vor Wetters Haus. Dort sagte er: »Ich kenne mich da nicht so aus. Was du sagst, klingt jedenfalls nach Systemkritik. Und was so klingt, ist in meinem Betrieb nicht mehr als einmal von derselben Person gesagt worden.« »Vielen Dank«, antwortete Wetter schläfrig. Er ging, ohne sich umzusehen, auf die Haustür zu. Lehnau rief ihm aus dem Auto nach: »Kann ich mit hinauf kommen?« »Nein, bitte nicht«, sagte Wetter leise, ohne sich umzudrehen. »Was sagt Ihr Kollege Falk zu dem Programm?« Ingarden saß, genau wie seine Untergebenen, noch immer in der alten Kammer. Die Arbeitsräume im Brütertrakt ließen auf sich warten. Oder wußte man noch nicht, wen von ihnen man behalten würde? Falk hatte den Verdacht geäußert, die KKU warte ab,
wie die große Antibrüterdemonstration ausgehen würde. Wetter sah Ingarden fest in die Augen, damit sie nicht immer wieder müde auf den Boden fielen, und sagte: »Falk steht zu meinen Ergebnissen. Er hält es für kriminell, den Brüter fertigzubauen, bevor in Modellversuchen die Resonanzenfrage geklärt ist.« »Kriminell, nun ja«, lächelte Ingarden, als hätte Wetter sich vergessen, »Herr Falk neigt zu radikalen Formulierungen – aber in diesem Fall gebe ich ihm sogar recht. Lieber Wetter« – Ingarden raffte sich auf, fast hätte er auf den Tisch geschlagen, aber kurz vor der Landung öffnete sich die Faust, segelte unentschlossen über den Schreibtisch und brachte Papiere durcheinander – »lieber Wetter, lassen Sie sich nicht einschüchtern! Kämpfen Sie Ihre Sache durch! Wir stehen alle hinter Ihnen!« »Es ist sehr wichtig, daß Sie das sagen«, betonte Wetter, »ohne Ihre Unterstützung kann ich eine Veröffentlichung nicht durchsetzen.« »Das wäre ja noch schöner!« rief Ingarden leise aus, »noch bestimme ich hier, was zur Veröffentlichung eingereicht wird! Machen Sie die Arbeit fertig, dann reichen wir sie ein!« »Sie ist fertig.« Wetter bückte sich, holte aus seiner Aktentasche eine Klarsichtmappe und legte sie In-
garden auf den Tisch. Ingarden massierte sein Gesicht und schielte dabei mißmutig auf das Typoskript. »Ah, so schnell, mal sehen…«, murmelte er und befingerte unentschlossen die Mappe, ohne sie zu öffnen. »Mal sehen«, wiederholte er, hob den Telefonhörer ab und legte wieder auf, »ich werde die Sache mit Dr. Meredith durchsprechen.« Wetter erschrak: »Meredith?« »Ja, was glauben Sie denn? In erster Linie wird er sich mit Ihren, äh, Einwänden befassen müssen. Wir wollen nicht nur irgendwas veröffentlichen, sondern immer auch die Folgen im Auge behalten. Immerhin handelt es sich um die öffentliche Warnung vor einem möglichen Risiko.« »Meredith und Lehnau sind gegen eine Publikation, da bin ich sicher.« »Warum so pessimistisch? Das sind doch keine Vogel-Strauß-Typen! Falls eine Gefahrenquelle übersehen oder gar bewußt ignoriert wird, dann fliegt uns eines Tages der Brüter um die Ohren. Das kann nicht in Merediths Interesse liegen.« »Ich kenne eine Wissenschaftlerin aus dem Biologenbunker«, wandte Wetter ein. »Ihr hat man eine kritische Veröffentlichung verboten. Inzwischen ist sie gekündigt.«
»Das ist etwas anderes«, Ingarden schien nichts dabei zu finden, »in unserem Fall geht es um Betriebssicherheit. So etwas wird immer Interesse finden.« »Und langfristige Strahlenschäden nicht?« »Weniger. Das sind Fragen, die nicht die Hersteller kümmern, sondern das Gesundheitswesen, Mediziner, solche Leute.« Wetter schluckte einen Wutschrei hinunter, sah zu, wie seine Arbeit in Ingardens Schreibtischlade verschwand, und fragte: »Wissen Sie, daß Costello gefeuert worden ist, und warum?« Ingarden zuckte stark zusammen, legte eine Hand an die Wange und drückte damit sein graues Gesicht zum Fenster. »Natürlich…«, murmelte er. Er sah Wetter an und wiederholte fester: »Natürlich! Wieso sollte ich davon nichts wissen? Um aber auf unser Thema zurückzukommen: Ihre Arbeit ist ausgezeichnet und wird publiziert. Ich muß Sie jetzt leider verabschieden. Jeden Tag laufe ich zehnmal in den Brüter hinüber, es ist ein Kreuz. Hoffentlich haben wir bald drüben unsere Zimmer.« Natürlich, dachte Wetter auf dem Weg zu seiner alten Kammer, natürlich hat er von Costello nichts gewußt. Ich muß mit Costello reden.
An den letzten Abenden vor der Demonstration hatte Frau Kamiah immer Termine. Sie traf sich mit Mitgliedern der Bürgerinitiative in einer Gastwirtschaft oder auf dem Hof des Bauern Tuff. Man besprach die Organisation des Demonstrationszuges und die Presseveranstaltung, die zwei Tage zuvor stattfinden sollte. Wetter war dadurch wieder allein. Er spürte, wie der Kontakt zu seinen Kollegen abzureißen drohte. Früher hatte Sandner ihm die Bude eingerannt, Falk war gelegentlich abends vorbeigekommen, und sie hatten Musik gehört. Jetzt hatte sogar Lehnau es aufgegeben, Wetter zu bedrängen. An einem solchen Abend streunte Wetter durch die Stadt. Es war spät im Jahr, die Luft roch nach Schnee. Eine kurze Allee endete an der Mauer einer Möbelfabrik. Wetter pfiff vor sich hin und wirbelte mit Stechschritten das Laub auf, während er durch die Wipfel in den flaschengrünen Himmel starrte. Flugzeuge zogen in rascher Folge darüber hin, ihr Dröhnen und das Rascheln der alten Blätter gingen unter im stetigen Brausen der Stadt. Ein runder Hut, ein langer schwarzer Mantel und eine Aktentasche kamen ihm entgegen. Auf gleicher Höhe hob der andere das Gesicht und sah durch Wetter hindurch. Wetter wich aus und stolperte
über eine Türschwelle. Aus einem Kellerfenster stieg warme Luft, Stimmenlärm und das Poltern einer elektrischen Baßgitarre. Er drückte eine Holztür auf und lief rasch, wie im Fallen, eine enge Treppe hinunter. Die Luft kam als feuchter Umschlag, süßlich und verschwitzt. In rotem Dunkelkammerlicht drängte sich eine Menge glatter Gesichter. Wetter holte sich ein Getränk und kämpfte sich zu einer Wand durch. Von dort sah er zu. Er fand niemanden in seinem Alter hier. Alle waren sehr jung, schienen sich zu kennen, als seien sie immer hier, wenn es draußen dunkel wurde. In einer Ecke schliefen drei Kinder auf der Erde. Unter einer rotierenden Lampe in der Mitte tobten ältere herum, warfen die langen Haare und fuhren mit den Fingern durch die Luft. Von überall kam Musik, die Baßtöne so stark, daß Wetter sie als Schläge gegen den Brustkorb spürte. Eine heisere Negerstimme sang herausfordernd, Wetter bekam vor Zustimmung eine Gänsehaut und stieg von einem Bein auf das andere. Er holte sich noch ein Bier und verlor den Argwohn, beobachtet zu werden. Er grinste in das jetzt flackernde Licht und fing an, für sich allein zur Musik herumzuzappeln. Überall wurde getanzt, es setzte Stöße und Tritte, die Musik wurde noch besser, er tanzte mit.
Später saß er an einem niederen Tisch neben anderen und hielt wie sie das nasse Gesicht in den Strom eines Ventilators. Unter der Lampe warf eine lange Blondine das Haar nach hinten, und Wetter erkannte Lehnaus Freundin wieder. Sie tanzte zunächst allein, dann kam ein kleiner dicker Neger dazu. Er trug Schlips und Jackett und tanzte sehr schlecht, wie ein Hampelmann. Doch plötzlich schrie Lehnaus Freundin laut auf und boxte ihn in den Bauch. Der Neger grinste und begann anders zu tanzen, ganz langsam und scheinbar außer Takt. Allmählich erkannte Wetter den Sinn: Der Neger zuckte nicht der Musik hinterher, sondern lief ihr mit den Bewegungen davon, verzierte sie, spielte damit. Es war schön, Wetter mußte lachen. Die Jungen neben ihm sahen ihn besorgt an. Sicher hielten sie ihn für einen Besoffenen, der sich verirrt hatte. Er deutete auf eine gelbrote Plakette, die das Mädchen neben ihm an der Brust trug, und fragte: »Kannst du mir sagen, warum du das trägst?« Sie erklärte ihm, daß sie gegen den Bau von Atomkraftwerken sei. »Es ist zu gefährlich«, schrie sie in die Musik. Wetter nickte und sagte, er sei Physiker und arbeite an dem neuen Brüter mit. Das Mädchen sah ihn an wie einen Kranken. Dann redete sie mit den anderen. Sie blickten zu ihm herüber, einer
schüttelte den Kopf. Dann kam er herüber und schrie Wetter ins Ohr: »Sicher, du wirst dafür bezahlt – aber kannst du das verantworten?« »Warum nicht?« grinste Wetter. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, daß rund um Atomkraftwerke kein Gras mehr wächst, so stark ist dort die Strahlung!« behauptete ein Mädchen. »Unsinn!« rief Wetter. »Und ist das auch Unsinn, daß es in Siegdorf Unfälle gegeben hat?« fragte jemand. »Ja!« »Du bist dafür, daß immer neue Kernkraftwerke gebaut werden?« Wetter überlegte und sah in die Mitte der Höhle. Lehnaus Freundin hatte den Neger umarmt, die Musik fiedelte eine Schmuseeinlage, man schlich umschlungen auf und ab. »Ob man immer neue Kraftwerke braucht, das weiß ich nicht so genau«, sagte Wetter in die süßliche Stille hinein, »das ist nicht mein Fach.« Rundum erhob sich Protest, Wetter winkte ab: »Aber eins weiß ich: Ich bin dagegen, daß sie von solchen Typen gebaut werden!« Dabei zeigte er unverständlicherweise auf Lehnaus Freundin. »Na das ist schon etwas«, sagte einer, »du bist nicht ganz verloren.«
»Was heißt: Von solchen Typen?« rief ein Mädchen. »Das ist egal! Es dürfen überhaupt keine mehr gebaut werden!« Jetzt fingen sie an, auf einander einzureden. Einer fand, Wetter habe recht, es komme darauf an, wer Kraftwerke betreibe. Die meisten aber meinten, daß das keinen Unterschied mache, Kernkraft sei immer tödlich. Wetter verlor das Interesse, die Musik wurde wieder ohrenbetäubend, und er ließ sich hineinfallen. Bald landete er tänzelnd neben Lehnaus Freundin, die mit unzufriedenem Ausdruck die Arme schlenkerte. »Kennen Sie mich?« rief Wetter fröhlich. Sie maß seinen spießigen Anzug und wandte sich wortlos ihrem Neger zu; der war zwar nicht besser angezogen, aber wenigstens schwarz. »Lehnau!« schrie Wetter, »erinnern Sie sich?« Sie fuhr herum, es paßte zur Musik, und sagte leise, aber deutlich: »Arschloch.« Der Neger ging mit besorgtem Gesicht um sie herum und fing an, Wetter mit den Fingerspitzen gegen die Brust zu stoßen. Wetter hielt stand, grinste und sprach: »Ganz meine Meinung. Lehnau ist ein Arschloch.« »Ja, und du auch«, sagte die Blondine. Sie warf die Schulter hoch und kehrte ihm den Rücken. Der Neger gebrauchte jetzt schon die flache Hand, um Wetter zurückzustoßen.
Wetter wurde langsam böse. »Hör auf!« brüllte er plötzlich. Der Neger setzte ein eigenartiges Gesicht auf, sehr gelassen, fast traurig. Dann streckte er eine Hand aus und packte Wetters Nase so streng, daß diesem sofort Tränen in die Augen schossen. Die schwarze Hand zog seinen Kopf herunter und führte ihn gebückt an der Nase durch das Lokal. Er hörte großen Beifall und einen begeisterten Ruf: »Gib’s dem Rassisten!« Ohne Gegenwehr wartete er ab, daß der schmerzhafte Griff nachließe. Schließlich landete er mit dem Scheitel an einer knatternden Aluminiumplatte, die dunkle Faust vor seiner Nase zog ihn hoch und gab die Aussicht auf die Bar frei. »Okay?« fragte der Neger. Er hatte eine hohe Stimme und sprach mit französischem Akzent: »Was wollen wir trinken?« »Whisky«, sagte Wetter durch die Nase, die er sich hielt. »Ich bin endlich dazugekommen, mir Ihre Arbeit anzusehen«, sagte Meredith sanft und amerikanisch. »Professor Ingarden hat mir dringend empfohlen, sie zu lesen. Ich nehme Ihre Rechnungen sehr ernst. Der Kühlkreislauf muß anders gebaut werden, als
wir vorhatten. Das war eine gute, eine wichtige Arbeit, Doktor Wetter.« Er lächelte Wetter freundlich zu, der sich mit roten Ohren die Hände rieb. »Haben Sie Einwände gegen eine Veröffentlichung?« fragte Wetter. Meredith runzelte die Stirn: »Wir sehen keinen Grund, der dagegen spricht, nicht wahr?« Ingarden nickte eifrig. »Was bedeutet das für den Gasbrüter?« fragte Wetter, »verzögert das nicht die Fertigstellung?« »Aber gewiß!« rief Meredith, »der Kühlkreislauf muß ganz neu überlegt werden. Sie selbst haben ja schon einige Vorschläge gemacht, wie man durch eine Art geschlossenes Auspuffsystem die Stoßwellen wegbekommen könnte. Wir hoffen sehr auf Ihre weitere Mitarbeit. Mit diesem Paper haben Sie sich einen Platz in der ersten Reihe gesichert. Meinen Glückwunsch.« »Ich schließe mich an«, sprach Ingarden stolz, »da hat das Institut doch noch bewiesen, daß es ein Wörtchen mitzureden hat.« »Zweifellos, Professor Ingarden«, Meredith lächelte dünn, verbeugte sich und ging aus dem Zimmer. Wetter schüttelte den Kopf. Ingarden grinste: »Sicher wundem Sie sich, warum Meredith so vergnügt ist, obwohl Ihre Arbeit das ganze Projekt blockieren
kann? Ja, mein lieber Wetter, Sie müssen noch viel lernen, das ist alles nicht so einfach. Glauben Sie mir, in der KKU ziehen nicht alle an einem Strang!« Wetter wartete. Ingarden, selig über den Prestigegewinn seines Instituts, wollte offenbar ein wenig mit Insidergerüchten angeben. »Meredith ist ein Mann der Amerikaner«, erklärte Ingarden, »die Amerikaner leiden unter dem Stop des Schnellen Brüters in den USA. Also weichen sie aus, nach Japan, vor allem nach Deutschland. In unserem Brüterprojekt stecken eine Menge amerikanisches Know-how und Kapital. Das könnte sich ändern. Die Deutschen drängen die Amis aus der Brüterforschung und wollen es allein machen. Sie wittern eine Chance, auf einem wichtigen Markt nach vorn zu kommen.« »Natürlich«, rief Wetter, »Lehnau!« »Ach was, Lehnau«, Ingarden machte eine wegwerfende Handbewegung. »Lehnau ist ein kleiner Fisch. Aber Sie haben immerhin so weit recht: Er ist ein Wachhund und soll aufpassen, daß die Amerikaner schön langsam aus dem Projekt verschwinden und möglichst wenig mitnehmen. Na? Begreifen Sie etwas?« Wetter schüttelte den Kopf, Ingarden stöhnte zufrieden und fuhr sich über das Gesicht: »Meredith
hat den Braten gerochen. Was für ein Interesse hat er noch, daß dieses Projekt rasch fertig wird? Ein Unternehmen, das die deutsche Weltgeltung im Brütergeschäft auf Kosten der Amerikaner beweisen soll?« Wetter schnipste mit den Fingern: »Jetzt versteh ich: Meredith ist für meine Arbeit, weil sie Lehnau bremst.« »Stark vereinfachend kann man es so ausdrücken«, erklärte Ingarden würdevoll. Als Wetter wieder einmal die alte Kneipentour absolvierte, traf er den Schulkameraden, der bei der Post arbeitete und in der Freizeit chemische Erfindungen machen wollte. Der Erfinder hatte sich seit ihrer letzten Begegnung einen überhängenden Schnauzer wachsen lassen, aus dem er den Bierschaum saugen konnte. Die gekräuselten gelben Haare standen ihm weit um den Kopf. Er schien sich ehrlich zu freuen, Wetter wiederzusehen. »Ich habe viele Fragen an dich«, sagte er und lud ihn auf ein Bier ein, »was macht euer Brüter? Wird er fertig? Ich habe dich im Fernsehen gesehen! Sehr richtig, was du gesagt hast!«
Er zog ein Flugblatt aus der Tasche, das zur Informationsveranstaltung der Brütergegner einlud: »Warum machst du da nicht mit?« Wetter zog die Mundwinkel herunter. Der Erfinder schüttelte den Kopf: »Unterschätze die Leute nicht. Die sind imstande, euren Brüter zu stoppen. Aber es sind ganz unterschiedliche Typen, man muß eine vernünftige Linie hineinbringen. Dazu bist du da!« »Was verstehst du unter vernünftig?« Der Erfinder überlegte lange. Dann fing er an: »Also: Keine Kraftwerke mehr, alle aufs Land und Gemüse anbauen, das ist Blödsinn.« Wetter machte den Mund auf, um in diese Kerbe zu schlagen, doch der Erfinder wehrte ab: »Augenblick, jetzt kommt das große Aber: Aber – das Mißtrauen gegen die Riesendinger ist nicht grundlos. Pausenlos werden Unfälle und Schwindeleien mit gerade überstandenen Gefahren bekannt, das steht alle Tage in der Zeitung. Darum verstehe ich die Leute, die sagen: So nicht!« Wetter sagte verschwörerisch: »Es sieht so aus, als ob bei uns absichtlich Unfälle erfunden worden sind, damit der Gegner sie an die große Glocke hängt und sich lächerlich macht, wenn wir beweisen, daß nichts war.« »So eine Schweinerei!« rief der Erfinder, »da machst du mit?« Wetter schüttelte den Kopf, aber
der Erfinder meinte: »Ja, wenn du schweigst, machst du doch mit!« »Wenn ich den Mund aufmache«, sagte Wetter, »fliege ich.« Der Erfinder lachte ungläubig. Wetter sagte zornig: »Du hast gut lachen, bei der Post sitzt du sicher. Meine Freundin ist gekündigt worden, weil sie auf dem Flugblatt steht. Ein Italiener ist gefeuert worden, weil er die Zeitung informiert haben soll. Wir werden alle überwacht.« Der Erfinder schlug auf den Tisch: »Unglaublich! Das laßt ihr euch gefallen?« »Was kann ich dagegen machen?« »An die Öffentlichkeit gehen! Zum Betriebsrat laufen! Ihr werdet doch einen Betriebsrat haben!« »Ich glaube schon«, sagte Wetter unsicher. »Zahlen!« rief der Erfinder, »komm mit, wir gehen zu mir, hier ist es zu laut.« »Es ist kalt geworden«, sagte Wetter, als sie draußen waren. »Jetzt hör einmal zu«, antwortete der Erfinder ungeduldig, »erstens: Ihr geht zum Betriebsrat und laßt diese Kündigungen anfechten. Zweitens: Ihr geht an die Öffentlichkeit. Das ist eure einzige Chance, sonst fliegt ihr einer nach dem anderen. Erzähl das bei dieser Informationsveranstaltung, dort werden Reporter sein. Deine Freundin hat schneller als
du begriffen, was man jetzt tun muß.« Wetter waren die Belehrungen peinlich. Der Schulfreund, der vor kurzem bewundernd zum Physiker Wetter aufgeblickt hatte, gab ihm auf einmal gute Ratschläge. Er sagte: »Und was machen die Erfindungen?« Der Schulfreund sah ihn lächelnd an, er durchschaute Wetters Verlegenheit: »Ich bin einer tollen Sache auf der Spur, die zeige ich dir gleich. Aber glaub mir, wenn du allein bleibst, machen die Chefs mit dir, was sie wollen. Das ist überall so, bei der Post und bei euch auch. Darum kann ich dir Ratschläge geben, denn das kennt jeder, der auf einer Gehaltsliste steht. Davon verstehe ich was, auch wenn ich von deiner Arbeit sonst nichts verstehe.« Wetter schämte sich. »Weißt du, es ist ein grauenhaftes Durcheinander«, sagte er, »auf der einen Seite sind mir Typen wie dieser Frühauf unsympathisch, der neben mir im Fernsehen war.« Der Erfinder nickte. »Ich sehe nämlich«, fuhr Wetter fort, »daß viele Menschen alles mögliche, was ihnen Angst einjagt, auf unsere Arbeit schieben.« Der Erfinder nickte wieder. »Auf der anderen Seite erlebe ich, wie unangenehme Ergebnisse in der Schublade verschwinden.« »Genau!« rief der Erfinder zufrieden, »du hast es
erfaßt, weil du es vor der Nase hast. Die Technik ist etwas Feines, da kann der Mensch drauf stolz sein. Aber wie damit umgegangen wird, dabei kann einem schlecht werden. Allein die Gifte, die heimlich auf dem Müll landen! Wir brauchen bessere Gesetze, bessere Überwachung, mehr Öffentlichkeit. Statt dessen haben wir das Gegenteil: Wenn einer den Mund aufmacht, droht man ihm mit Entlassung. Aber das weißt du selbst am besten.« Sie gingen schweigend nebeneinander her. Wetter genoß das Einverständnis. Mit dem Schulfreund konnte man reden. »Wir sind da«, sagte der andere, »ich zeige dir, woran ich jetzt arbeite. Es gehört zum Thema.« Sie stiegen in den zweiten Stock eines unauffälligen Mietshauses. Der Erfinder schob Wetter in eine Wohnung. Aus einem dunklen Zimmer kam eine mißmutige Frau in die Diele und legte einen Finger an den Mund. »Die Kinder«, erklärte der Schulkamerad und öffnete eine andere Tür. »Meine Werkstatt«, sprach er stolz und machte Licht. Es war eine kleine Kammer, unglaublich vollgeräumt mit Stapeln von Büchern und losen Papieren, mit Holzkisten und Glaskolben. Es stank nach faulen Eiern. In einem Winkel lag ein gelblicher Erdhaufen auf alten Zeitungen.
Die Frau lehnte mit verschränkten Armen in der Tür und musterte Wetter spöttisch. »Da staunen Sie, was?« meinte sie. »Der typische Hobbyraum eines Postbeamten.« »Das ist mein Freund Wetter«, erklärte der Erfinder, »ein richtiger Wissenschaftler.« »Dann sagen Sie ihm, daß er spinnt«, sagte die Frau. Es klang nicht bösartig, eher freundlich. »Hau ab, du«, sagte der Erfinder, »hier findet ein Expertengespräch statt.« »Von mir aus. Aber bitte leise«, sagte die Frau, zwinkerte Wetter zu und machte die Tür vorsichtig von draußen zu. Wetter sah sich erstaunt um. Die Wände, sogar die Schränke waren vollgeklebt mit Photos von Industrieanlagen und mit geologischen Bodenquerschnitten. Der Erfinder hatte einen hellgrauen Arbeitsmantel angezogen und lächelte stolz über Wetters Staunen. »Die Petrochemie hab ich aufgegeben«, sagte er, »da hat der einzelne Autodidakt keine Chance mehr. Ich arbeite jetzt an Umweltschutzproblemen.« »Hast du denn da mehr Chancen?« »Denk an unser Gespräch vorhin. In dieses Gebiet ist die Industrie erst seit ein paar Jahren eingestiegen, und zwar nur dort, wo sich ein Geschäft machen
läßt.« »Aha«, warf Wetter ein, »der Kapitalismus.« Der Erfinder sah ihn überrascht an: »So kannst du es auch nennen. Schau, hier zum Beispiel: Das ist ein Filter für Es-O-Zwei, das ist das Gas, wonach es hier so stinkt. Es ist ein guter Filter, fast so gut wie die besten, die es auf dem Markt gibt. Aber meiner ist billiger!« Wetter nickte anerkennend und beäugte eine Kombination von Glaskolben, in denen Flüssigkeit und gelbe Kristalle zu sehen waren. »Und hier«, erklärte der Erfinder, indem er auf eine Zeichnung wies, »das ist ein Bodenquerschnitt, und da kommt eine Mülldeponie hin, mit chemischen Industrieabfällen. Ich probiere an einer Methode herum, die billig ist und verhindert, daß das Gift ins Grundwasser kommt.« Wetter wandte vorsichtig ein: »Aber solche Forschungen werden doch von der Industrie gemacht. Da sitzen ganze Teams seit Jahren dran.« Der Erfinder machte eine Kiste frei, setzte Wetter darauf und sagte: »Stimmt. Aber die gehen anders an die Sache heran. Die planen einen riesigen Aufwand ein, zum Beispiel Pumpen, die über Jahrzehnte in Betrieb sein müssen. Das ist für sie interessant, weil ihnen der Aufwand bezahlt werden muß, vom Staat
oder vielleicht vom Verursacher. Wir überlegen uns billigere Tricks, die denselben Effekt haben. Wir haben zwei Erfindungen zum Patent angemeldet, über die Konstanthaltung der Feuchtigkeit von Böden. Unser Trick kostet ein Zehntel der Maschinen, die von der Industrie angeboten werden.« »Wer: Wir?« »Ich arbeite nicht allein an diesen Sachen. Ich bin korrespondierendes Mitglied eines ökologischen Instituts.« Er zeigte Wetter eine Mappe. »Das ist eine Gruppe von Wissenschaftlern, die irgendwann mit ihren Chefs aneinandergeraten sind, nicht in der Industrie arbeiten wollen oder einfach nie eine Stelle gefunden haben. Über das Institut bekommen sie Aufträge von Bürgerinitiativen, sogar von Gemeinden. Und ich bin dabei!« Wetter betrachtete den Erfinder und sein Privatlabor mit steigendem Respekt. »Bravo!« rief er. »Überhaupt nicht bravo«, widersprach der Erfinder, obwohl er vor Stolz strahlte, »es ist natürlich ein Mißstand, daß wir wie Bastler an so wichtigen Dingen arbeiten. Dafür müßte es große Institute und Geld geben. Aber wir sehen wenigstens nicht zu, wie die Industrie ihren Dreck unter den Teppich kehrt. Und wenn meine Erfindung was taugt, verdiene ich sogar daran.«
»Und wenn es morgen regnet, wird das Land billiger«, sagte die Frau, die wieder in der Tür lehnte. Der Schulfreund ging zu ihr, drückte sie seitlich an sich und sagte zu Wetter: »Sie ist in Ordnung. Sie holt mich immer wieder auf den Teppich herunter.« Seine zu Berg stehenden hellen Haare um das glühende Gesicht neben der skeptisch lächelnden Frau waren so komisch, daß Wetter laut lachen mußte. »Jetzt ist aber Schluß«, sagte die Frau sofort und stieß den Erfinder von sich, »brüllen könnt ihr in der Kneipe.« »Nein, heute bleibe ich daheim«, sagte der Erfinder, »heute erkläre ich dir, wie man billig Luft und Wasser reinigt.« »Damit fängst du am besten in deinem Zimmer an. Er verpestet das ganze Haus. Die Nachbarn glauben, wir haben eine Leiche im Schrank.« Sie legte den Arm um den Erfinder und zog ihn zur Seite, damit Wetter an ihnen vorbei in die Diele gelangen konnte. »Gute Nacht«, sagte Wetter. »Wundern Sie sich nicht, wenn Sie fremde Briefe kriegen. Das ist er. Er wirft alles durcheinander!« rief die Frau ihm halblaut nach. »So, er ist das also«, antwortete Wetter, »darum kommt meine Post nie an.« Der Schulfreund machte leise hinter ihm die Woh-
nungstür zu und zwinkerte vergnügt zum Abschied. In der Nacht nach dem Besuch beim Erfinder träumte Wetter, daß sie beide, zwar erwachsen, aber doch noch immer Schüler, durch einen staubigen, heißen Garten zu einem hölzernen Schuppen liefen. Durch die offene Tür sahen sie Handwerker bei der Arbeit. Einer hobelte, ein anderer hantierte mit der Lötlampe. Ein dritter stand an der Rückwand, durch die Bretterfugen funkelten Sonnenstrahlen in allen Regenbogenfarben. Der Mann deutete auf Kreidezeichen an der rauhen Wand und erklärte dabei die Schrödingergleichung. Ja, es war Erwin Schrödinger selbst, er hatte die scharfen Falten unter den Nasenflügeln, die hohe Stirn und die runde Hermann-Hesse-Brille. Wetter sah die anderen genauer an und stieß den Schulfreund in die Seite: Der da tief gebückt hobelte, mit den gelblichweißen Haaren, das war Einstein in einer blauen Arbeitsschürze! Und gegenüber, der beleibte Tischler im Rollkragenpullover: Niels Bohr! Neugierig gingen sie durch die Werkstatt und staunten, wie sich das Holz und die Farben unter den alltäglich aussehenden Instrumenten der Handwerker veränderten. Mit einem Hobelstrich machte Einstein
aus einer Holzlatte einen stählernen T-Träger, Bohr richtete die Lötlampe auf einen liegenden Fensterflügel und erzeugte kreisförmige Wellen im Glas, die er gespannt verfolgte. Einstein schüttelte den Kopf und wies auf Schrödinger. Dieser nahm die Hand von einer Ritze in der Wand und zeigte auf der Innenfläche eine Filmaufnahme von gekrümmten Teilchenspuren. Aus seinen Fingerspitzen schossen dicke Dampfstrahlen und füllten rasch den Schuppen. »Warst du noch nie in einer Nebelkammer?« fragte ihn der Schulfreund überlegen und zog ihn ins Freie. Sofort verschwand er hinter einer Wand aus weißem Dunst. Wetter wollte ihm nach, fand aber keinen Halt auf dem Boden und kam durch den trägen Nebel nicht vom Fleck. Langsam hoben sich seine Beine vom Boden, bis er waagrecht in der weißen Suppe schwebte. Er wollte den Freund rufen, hatte aber die Stimme verloren. Hinter sich hörte er das unermüdliche Hämmern und Hobeln der Handwerker. Er hob angestrengt das Gesicht, so weit es ging, und begann langsame Kraulschwimmbewegungen. Wo seine Finger durch den Nebel schnitten, teilte er sich und bildete funkelnde Bugwellen. Wetters Bauch streifte einen Baumwipfel. Er ruderte jetzt kraftvoll und routiniert weiter. Die Wolken teilten sich, da unten standen die Hand-
werker und schauten mit den Händen in den Hüften empor. Wetter legte sich in die Kurve und zog elegante Kreise. Die Luft trug wie Wasser und sprühte vor seiner Stirn funkelnd auseinander. Er zog den Unterkörper wie ein Seepferd heran und kreuzte die Beine unter sich. Zwischen seinen Handflächen spannten sich bunte Kraftlinien. Wetter nickte. Er empfand große Freude. Wie blind und dumm war er bisher gewesen! Wie mühsam hatte er Zusammenhänge verstehen gelernt, die er jetzt einfach sehen konnte. Unter ihm lag Siegdorf und das Institut, er sah durch die Stockwerke und erfaßte mit einem großen Blick den ganzen Forschungsbetrieb. Der Gasbrüter war der Mittelpunkt einer gewaltigen Kreiswelle, die bis zum Horizont alles zum Tanzen brachte. Wetter zielte mit den gekreuzten Beinen in die Mitte und schoß im Schustersitz abwärts. Wartet, ich komme, wollte er rufen, aber er verstand sein eigenes Wort nicht. Gespannt wartete er auf die Ankunft. Huber kam aus den Vereinigten Staaten zurück. Er hatte an einer großen Tagung über Festkörperphysik teilgenommen und stürmte mit der Rücksichtslosigkeit eines Menschen ins Institut, der heimkehrend seinen Arbeitsplatz und die Kollegen als beliebig und ganz veränderbar wahrnimmt. Wetter, das
Heimkehrergefühl nach seinem Urlaub am Meer in guter Erinnerung, beobachtete Huber mit neidischem Spott. »Mein Gott, ist das rasch gegangen«, staunte Huber. Er stand zwischen Falk und Wetter am Fenster und betrachtete die lückenlose Betonwand des Brüters. Zwischen dem Institutsfenster und der hellgrauen Wand taumelten die ersten Schneeflocken dieses Winters in die aufgewühlte Wiese. »Wenigstens sieht man nichts mehr von den Urmenschen mit ihren Zelten und Lagerfeuern.« »Aber man hört um so mehr von ihnen«, sagte Falk und hielt Huber die Zeitung hin. »VOR DER SCHLACHT VON SIEGDORF?« fragte die Schlagzeile. Ein Photo zeigte das Baugelände – es war ein veraltetes Bild, die Brüterkuppel war darauf noch nicht fertig – und ein zweites den Bauern Tuff, wie er auf dem Siegdorfer Marktplatz angestrengt in ein Megaphon brüllte. »Hier«, Falk klopfte auf einen fettgedruckten Absatz. Huber las vor: »Die Polizei bereitet sich auf ein heißes Wochenende vor. Einheiten aus dem ganzen Land werden um Siegdorf zusammengezogen, um einen Sturm auf den Brüter im Keim zu ersticken. ›Wir sind auf das Schlimmste gefaßt‹, verlautete heute aus der Einsatzzentrale, denn ein Teil der von
auswärts anreisenden Demonstranten legt es auf die offene Konfrontation an. ›Denen geht es um die Besetzung und Zerstörung der Anlagen‹, warnt auch die Leitung des Instituts, wo der Werkschutz seit Tagen den Ernstfall probt. Darum ersucht die Landesregierung um das Verständnis der Bevölkerung, wenn an diesem Wochenende mit verschärften Kontrollen und Verkehrsbehinderungen im ganzen Land gerechnet werden muß.« Wetter spürte bei diesen Worten, wie ihm der Atem stockte und etwas in seiner Brust abstürzte. Er sah zitternde Filmszenen mit Wasserwerfern, rennenden Menschen und vorwärtsrückenden Reihen von Helmen mit Gesichtsschutz, fliegende Steine, Schläge auf Liegende, übers Pflaster Geschleifte. Bis vor kurzem hätte er auf dieses Wochenende nicht gespannter gewartet als auf den Ausgang eines Meisterschaftsspiels. Doch jetzt hatte er Angst um Frau Kamiah. »Ich bleib am Wochenende zu Hause«, sagte Huber achselzuckend, »viel Lärm um nichts. Gegen den Wassergraben und die Metallmauer haben die keine Chance.« Falk rief böse: »Wer will denn stürmen? So gescheit wie du sind die doch auch! Das ist eine vernünftige Demonstration, und daraus soll von vornherein eine
Schlacht gemacht werden. Weil man nachher nur von den Verletzten reden muß und nicht mehr von den Gründen des Protests.« »Über die Gründe brauchen wir nicht zu reden«, versetzte Huber scharf. Falk streckte ihm sein rotes Gesicht entgegen und schrie: »Costello ist entlassen! Eine Biologin ist entlassen! Und ich stehe am Wochenende da draußen und protestiere gegen diesen Bau, das schwör ich dir, und wenn ich auch entlassen werde!« Huber wich betreten zurück und schnalzte mehrmals beruhigend mit der Zungenspitze: »Aber was hast du auf einmal gegen das da?« Und er wies auf die Betonwand im Fenster. »Was ich dagegen habe? Paß einmal auf: Wetter und ich haben die Strömung im Kühler mit dem Rechner simuliert. Dabei stellt sich heraus, daß der Kühler wahrscheinlich auseinanderfliegen wird.« Falk ließ seinen Zeigefinger los und umklammerte den Daumen: »Zweitens: Heute früh kommt Lehnau zu mir und sagt, er habe gehört, Ingarden will diese Arbeit veröffentlichen. Und Lehnau warnt mich! Er sagt, er wisse, daß wir falsch gerechnet haben – gerade er, der von Mathematik so viel Ahnung hat wie ein Frosch vom Singen! Er droht mir: Wenn ich meinen Namen für die Arbeit hergebe und sie sich als
falsch herausstellt, dann verklagt er mich wegen Geschäftsschädigung für die KKU! Wie findest du das?« Wetter erschrak; von diesem neuen Angriff hatte er nichts gewußt. Wußte Lehnau wirklich, daß der Kühlkreislauf problemlos laufen würde, hatte man bei der KKU oder in den USA längst Probeläufe gemacht? Schon wieder versuchte Lehnau, Wetter zu isolieren, von Falk zu trennen. Konnte das einen anderen Sinn haben, als ihn, Wetter, mit einer von vornherein falschen Arbeit, für die er allein die Verantwortung übernehmen sollte, zu vernichten? Huber meinte: »Reg dich nicht so auf. Mein Gott, wie schön war es in Amerika! Hier ist derselbe Saustall wie vor meiner Abfährt. Und wenn Lehnau es wirklich besser weiß und dir einen guten Rat gibt?« Falk schüttelte den Kopf: »Dann muß er mir eine Quelle nennen. Wenn er sagt: Da steht, daß nichts passieren kann, dann ist alles klar für mich. Aber das sagt er nicht, weil er nichts in der Hand hat. Trotzdem droht er mir mit dem Gericht. Das lasse ich mir nicht gefallen. Das ist kriminell.« »Diesmal ist Lehnau zu weit gegangen«, sagte Wetter schlau, »jetzt hat er Ingarden und Meredith gegen sich. Meredith ist nämlich für unsere Arbeit«, erklärte er Falk. »Dann glaube ich auch nicht, daß Lehnau durch-
kommt«, antwortete Falk ruhiger, »aber allein, daß er so etwas wagt, ist ein Alarmzeichen. Ich werde demonstrieren.« Huber sagte noch: »Du übertreibst wieder einmal alles«, aber da kam Lehnau herein, und sie wechselten das Thema. Lehnau begrüßte Huber überschwenglich und bot an, ihn durch den Brüter zu führen. Huber stimmte mit einem so freudigen Grinsen zu, daß Falk bemerkte: »Bald ist Weihnachten.« Costello stand klein und O-beinig in der Tür. »Komm, komm!« Er winkte Wetter herein. Der sah sich neugierig um. Costellos Wohnung sah so wenig italienisch aus wie er selbst. Keine schwarzhaarige, gesprächige Frau, umgeben von vier lebhaften Kindern, keine dampfende Spaghettischüssel auf einem langen Tisch für die Großfamilie. Costello trug eine Hakennase und ein großes Kinn, das gerade nach unten wuchs. Drahtige weißgraue Haare standen tief in der gefurchten Stirn. Die schaufelförmigen Hände vervollständigten den Eindruck eines Bergbauern. Er lebte in einer sachlichen Junggesellenwohnung und bot Wetter Whisky an. »Was machst du gerade?« fragte Wetter. Costello zeigte ihm einen Stapel Briefdurchschläge:
»Stellengesuche«. Er sah Wetter lauernd an, der verlegen zu Boden blickte. Dann fuhr er fort: »Außerdem verklage ich die KKU auf Wiedereinstellung.« Wetter erinnerte sich an seinen Schulfreund, den Erfinder, und fragte: »Hast du mit dem Betriebsrat gesprochen?« Costello lachte und packte Wetters Schulter: »Gute Frage! Ja, hab ich. Die Gewerkschaft gibt mir Rechtsschutz.« »Wie lautet der Kündigungsgrund?« »Setz dich.« Costello suchte in den Schreibtischladen. »Hier: Verletzung der Loyalitätspflicht, Weitergabe von Betriebsgeheimnissen. Sie behalten sich vor, mich wegen Verleumdung und Geschäftsschädigung zu verklagen.« Wetter sah ihn ernst an: »Hast du die Photos und Berichte an die Zeitung geschickt?« Costello sackte zusammen und wirkte auf einmal todmüde. »Das war so«, begann er: »Ein Zeitungsredakteur, ein gewisser Cerny, ruft mich im Institut an und fragt, ob ich folgendes bestätigen kann – dann liest er die Meldung vor, die am nächsten Tag wirklich erschienen ist. Ich antworte: Das kann ich weder bestätigen, noch dementieren. Er soll meinen Chef fragen. Er fragt weiter: Ob ich nichts beobachtet habe, alles hilft ihm weiter, ich soll doch mithelfen,
die Sorgen der Bevölkerung zu zerstreuen.« »Ein Gauner«, warf Wetter anerkennend ein. Costello seufzte: »Schließlich sage ich, ich weiß nur: Am Vortag hat es Strahlenalarm gegeben, man hat uns heimgeschickt, heute hat man uns erklärt, es war ein Probealarm. Darauf er: Können Sie ausschließen, daß tatsächlich ein Unfall passiert ist? Und da sage ich in meiner Dummheit: Nein, das kann ich nicht ausschließen, er soll mich in Ruhe lassen, und wenn er meinen Namen abdruckt, verklage ich die Zeitung.« »Aber dein Name ist doch wirklich nie in der Zeitung erschienen.« Costello lachte böse: »Nein, da war nur dieses Telefongespräch.« »Das bedeutet, man hat das Gespräch abgehört?« Costello nickte müde und kippte mit einem Schwung seinen Whisky, Wetter auch. Sie schwiegen. Ein Fenster stand offen, der kalte Novemberwind blähte den Vorhang. Fröstelnd schob Wetter seine Hände zwischen die Beine. »Wie kann man dir helfen?« flüsterte er. Costello hatte Tränen in den Augen und murmelte durch die Zähne einen italienischen Fluch. »Du bist gut«, sagte er, ohne Wetter anzublicken, »du kannst Briefe schreiben, das Gericht anrufen. Es hilft nicht
viel, und am Ende kündigt man dir auch.« Nach einer langen Pause sagte Wetter: »Ich werde vor der Demonstration mit Reportern sprechen. Vielleicht solltest du das auch tun.« Costello schüttelte den Kopf: »Lieber nicht. Ich glaube, das würde mir schaden. Aber ich weiß es nicht…« Er atmete tief durch und grinste unter Tränen: »Ich weiß nicht.« »Aber eines kannst du tun«, sagte er nach einer Weile mit festerer Stimme, »erzähl meine Geschichte. Man soll wissen, wie weit es schon gekommen ist. Man muß sich wehren. Wir sind doch keine Hunde.« Er schlug knallend mit der flachen Hand auf den Tisch. Wetter fuhr zusammen. Costello schneuzte sich umständlich und grinste wieder: »Verzeih, mit mir ist nichts mehr anzufangen. Ich habe viel zu tun, Briefeschreiben und Telefonieren. Vielleicht gehe ich zurück nach Milano. Was ist das für ein Land!« Er starrte auf den Tisch und pfiff tonlos durch die Zähne, bis Wetter endlich aufstand. Draußen atmete Wetter tief und legte den Kopf in den Nacken. Der stumpfe Himmel hing tief über den Dächern, und große Flocken prickelten auf dem Gesicht. Die Augen brannten, der Hals war eng, gern hätte Wetter etwas zerschlagen. Überall spürte er Schmerzen. Er fragte sich, ob er Grippe bekomme.
Nein, das wäre feige jetzt! Es war etwas anderes. Erschrocken dachte er an Frau Kamiah, als sei sie verreist oder tot. Sofort mußte er zu ihr, sonst war das alles nicht länger auszuhalten. Die »Schlacht von Siegdorf« war im Institut kein Gesprächsthema, doch spürte Wetter die Erregung in der Luft. Ihm schien, Meredith schreite noch gemessener als sonst zum metallglänzenden Lift, der in den Brüter führte. Lehnau stand mit zwei Unbekannten an einem Fenster in der Bibliothek und machte große Feldherrengesten. Als Wetter zu ihnen trat und neugierig in die Ebene blickte, lachte Lehnau übertrieben auf, als habe er nur Witze erzählt. »Ach ja, Wetter«, sagte er heiter, »hast du in zehn Minuten ein bißchen Zeit für mich?« »Gut. Ich bin beim Rechner.« »Noch immer nicht alles ausgerechnet?« Die beiden Unbekannten grinsten und wandten sich wieder der Aussicht zu. »Hier auch welche?« fragte der eine. Der zweite antwortete: »Dort nicht. Sie werden nicht auf der Straße kommen, sondern von hinten, über das Feld. Dort nur eine Wache, höchstens eine Spritze.« Wetter ging.
Als er in das alte Zimmer kam, saßen Falk und Huber stumm über ihren Tischen. Sie arbeiteten nicht, sondern hatten sich gerade gestritten. »Red du mit ihm«, sagte Huber, »er ruiniert sich die Zukunft.« Falk stieß seinen Stuhl an die Wand, daß der Verputz wie nach einem Einschuß hochstob, und schnellte Wetter ein Blatt vor das Gesicht: »Da!« Unter dem Briefkopf des Instituts lud die Technische Leitung der Projektgruppe Schneller Gasbrüter für denselben Abend zu einem »Briefing« ein. Titel: »Sicherheitsrisiko? Zur Betriebssicherheit des Schnellen Brüters mit Heliumkühlung.« Es sprach Lehnau. Wetter kicherte. Heute schien die Sonne, und er hatte mit Frau Kamiah gesprochen und geschlafen. Niemand konnte ihm etwas anhaben, Lehnau schon gar nicht. »Er lacht blöd«, stellte Falk fest, als kommentiere er Wetters Verhalten für eine Fernsehsendung, »wahrscheinlich hat ihm Meredith billig das Hirn abgekauft.« Wetter stutzte: Am unteren Ende des Blattes stand »Bitte wenden«, und hinten las er: »Dieses Briefing ist eine Pflichtveranstaltung, es gilt die normale Anwesenheitspflicht. Um die dadurch anfallenden Überstunden für Sie entgelten zu können, bitten wir untenstehend für Ihre Anwesenheit verbindlich ge-
genzuzeichnen. Gez. Ingarden.« »Pflichtveranstaltung? Das hatten wir noch nie«, murmelte Wetter. »Jetzt fang du nicht auch noch an!« rief Huber, »was ist dabei?« »Um diese Frage zu beantworten, mußt du das Datum studieren«, erklärte Falk zitternd. »Na heute…«, begann Wetter und verstand auf einmal. Falk lachte freudlos: »Kapiert?« »Kapiert«, sagte Wetter und setzte sich langsam. »Unsinn«, rief Huber, »Zufall! Hier weiß kein Mensch, daß heute der verrückte Tuff eine Pressekonferenz für seine Schweine und Ziegen macht. Das haben die hier nicht notwendig.« »Und wie!« schrie Falk. Er stand vor Hubers Tisch und markierte mit der flachen Hand die Gürtellinie: »So gestrichen voll haben alle die Hosen, daß jemand von uns dort auftritt und die Wahrheit sagt.« Wetter nickte benommen. »Ich spüre, wie ich krank werde«, klagte er leise, »kennt ihr dieses typische Ziehen in den Gelenken? Ich habe die Grippe. Das ist ansteckend. Falk, bis heute abend bist du sicher auch krank.« Er bückte sich und unterschrieb seine Einladung! Falk lachte und unterschrieb auch. »Jetzt, wo du es
sagst«, sprach er dabei gut gelaunt, »sehe ich auch die Grippe kommen. Ich werde sogar früher Schluß machen müssen.« »Das fällt doch auf«, warnte Huber, »ihr dürft nicht gerade heute abend alle beide krank werden. Außerdem ist sicher einer von der KKU abends drüben. Wenn der euch dort sieht, seid ihr den Job los.« »Das werden wir sehen«, sagte Falk. »Falk«, sagte Wetter nach einer Pause, »geh doch zum Briefing. Einer genügt da draußen. Wir wollen es Lehnau nicht zu leicht machen.« Falk sah ihn mißtrauisch an: »Und du legst dich ins Bett? Ich kenne mich nie aus mit dir. Bei der Fernsehdiskussion hast du auch nicht Farbe bekannt.« »Ich weiß noch nicht, ob ich heute abend dort sprechen werde. Ich werde Frau Kamiah und die anderen fragen, ob es notwendig ist. Vielleicht genügt es, wenn sie von mir eine Erklärung verlesen.« Dabei versuchte Wetter, Falk ehrlich in die Augen zu sehen. »Wir werden ja sehen«, sagte Falk, »ich rufe eine halbe Stunde vorher an. Wenn sie sagen, daß du dort sprechen wirst, dann komme ich ins Institut und höre Lehnau zu. Wenn du dich wieder drückst, dann fahre ich zu Tuff und schildere dort deinen Fall als typisches Beispiel, wie sie bei uns den Leuten das
Rückgrat brechen.« »In Ordnung«, sagte Wetter, packte Papiere zusammen und ging zur Tür. Huber klatschte sich mit der Hand an die Stirn. Draußen hörte Wetter, wie er mit Falk wieder zu streiten begann. Die Arbeit machte Freude. Wintersonne fiel schief in den Programmierraum und glitzerte auf den neuen Geräten. Heute mußte alles gelingen. Ein Seitenarm des gewaltigen Geldstroms, der in das Brüterprojekt floß, hatte zwei Bildschirm-Terminals angeschwemmt. Statt Lochkarten zu stanzen und erst am folgenden Tag in den meterlangen Papierfahnen die Programmfehler zu finden, konnte Wetter sich Daten und Befehle auf den Bildschirm rufen, auf der Stelle Fehler korrigieren und wie in einem Dialog mit der Maschine jeden Zwischenschritt seines Programms abfragen und prüfen. Blitzschnell entfalteten sich Symbolreihen auf dem Schirm, unterbrochen von Anmerkungen und Fragen des Computers, der mit höflicher Gier nach weiteren Informationen verlangte. Wetter entdeckte eine elegante Abkürzung für sein Programm, ließ einen ganzen Textabschnitt aus dem Speicher entfernen und gab neue Befehle ein. Nach wenigen Mi-
nuten bildeten sich auf dem Schirm grüne Zahlenkolonnen. Wunderschön kamen Druckschwankungen im Kühlkreislauf zum Vorschein, wenn Wetter bestimmte Strömungshindernisse vorgab. Er hatte durchgerechnet, unter welchen Bedingungen die Strömung glatt wurde. Er sah klar. Man mußte den Ventilen und Verbindungsstücken gewisse Formen geben und einfache Umwege einbauen, die er in seinem Aufsatz »Falk-Wettersche Egalisatoren« getauft hatte. Er setzte sich nebenan an einen Locher. Die Karten schossen in die Schreibstellung, er stanzte sie, beförderte sie mit einem Knopfdruck zu den bereits bearbeiteten. Wie ein phantasierender Pianist lehnte er sich zurück und sang blinzelnd vor sich hin, die tiefe Sonne im Gesicht. Ein unbekannter Kollege legte im Vorübergehen die Hand auf seine Schulter. Es war eine Lust zu leben. Lehnau stand hinter ihm. »Scheint dir Spaß zu machen«, schnarrte er, »nur leider alles falsch. Heute abend werde ich es beweisen.« Wetter sackte schlagartig zusammen, hustete, suchte ein Taschentuch und preßte krampfhaft die Au-
gen zusammen, um einen trüben Blick zu bekommen. Er wandte sich ächzend um und näselte wehleidig: »Mir ist so elend«, er schneuzte sich, »ich mache gleich Schluß. Komm mir nicht zu nahe, ich habe eine furchtbare Grippe.« Lehnau machte ein ernstes Gesicht. Wie um Wetter Lügen zu strafen, brachte er trotz der Warnung sein Gesicht ganz nah heran. Zarter Rasierwasserduft stieg von ihm auf. »So eine Grippe ist kein Spaß«, sagte er drohend, »du mußt mindestens eine Woche im Bett bleiben, das weißt du doch.« Wetter nickte eifrig. Lehnau richtete sich auf, prüfte seine Fingernägel und meinte freundschaftlich: »Geh am besten auf der Stelle heim. Ich fahre dich, sonst baust du einen Unfall.« Er legte Wetter seine kühle Hand auf die Stirn: »Mein Gott, du hast ja hohes Fieber!« Wetter klapperte treuherzig mit den Wimpern und krächzte: »Oh, das ist aber nett von dir! Aber Heimbringen ist nicht nötig. Du erfährst auch so, ob ich wirklich im Bett liege. Du hast doch bisher alles in Erfahrung gebracht.« Lehnau zog die Hand weg, als habe Wetter nicht nur Grippe, sondern den Aussatz. »Paß auf, du«, zischte er, »noch ein falscher Tritt, und du stürzt ab. Ich habe dich gehalten bis heute, ich glaube immer noch
an deinen Verstand.« »Ja, du bist mein Schutzengel«, sagte Wetter, »nur Costello und Frau Kamiah hast du fallenlassen.« »Das kannst du mir nicht in die Schuhe schieben«, sagte Lehnau. Wetter blickte auf Lehnaus weinrote Maßschuhe und schüttelte den Kopf: »Du hast recht. Das kann ich leider nicht.« »Du weißt Bescheid«, sprach Lehnau freundlich, »komm heute abend zum Briefing oder bleib eine Woche im Bett. Beides ist in unserem Sinn. Etwas anderes würde ich nicht empfehlen.« »Danke, Lehnau«, sagte Wetter, »immer wenn ich einen Rat brauche, komme ich zu dir.« Lehnau ging, die Sonnenstrahlen spielten über seinen gestreiften Rücken. Wetter kehrte zu seinem Programm zurück. Noch vier Karten, dann konnte er es eingeben. Das Endergebnis würde er freilich erst nach dem Wochenende zu Gesicht bekommen. Doch die nächste Woche schien Jahrhunderte in der Zukunft zu liegen. Jetzt, in diesem Augenblick, gab es nur die Programmierstube, in der die Locher rasselten, die Sonne, die zärtlich und kühl auf seine Hände fiel, und die Freude auf das letzte Gespräch mit Frau Kamiah vor der Entscheidungsschlacht.
Die Nebengasse mit dem Wolkenkratzer am Ende hatte die Beliebigkeit von damals nicht mehr, als Wetter hinter Sandner zu dessen Biologenflamme eingebogen war. Jetzt fühlte er sich hier eher daheim als in der Gegend um seine kahle Junggesellenwohnung. Bei diesem Gedanken erschrak er, blieb stehen und starrte mit offenem Mund die Glasfront am Ende der Gasse an, wo gefiederte Wolken durch den spiegelverkehrten Abendhimmel zogen. War es wieder so weit mit ihm gekommen, daß er in einem anderen Menschen Wurzeln schlagen wollte? Die Moral der Geschichte mit Martha war doch gewesen: Nie wieder! Wetter, du bist kein Typ für Bindungen; kein Kinderwagenschieben durch sonnige Parks, nie mehr die bequemen Wiederholungen des Ehelebens! Wetter, bleib ein einsamer Jäger, wie die Privatdetektive in deinen Lieblingsgeschichten. Als er aber im Aufzug sein Gesicht studierte, kam ihm dieser Entwurf seiner selbst unwirklich vor wie ein Knabentraum. Vielleicht heißt das: Ich werde erwachsen, fragte er sich überrascht. Oder gab er einer zufälligen Verliebtheit damit nur höhere Weihen? Wetter klingelte und verzerrte sein Gesicht vor der geschlossenen Tür zu einer faltigen Grimasse, um
Frau Kamiah zum Lachen zu bringen. Doch dann öffnete ein breitschultriger Mann im Rollkragenpullover, Wetter hörte mehrere Stimmen und sah den Rauch in der Wohnung. Seine Freude auf Frau Kamiah schlug in Wut um, weil sie nicht allein war. Mit möglichst leerem Gesicht trat er ins Zimmer und grüßte die Anwesenden mit erhobener Hand wie ein einsamer Indianer. Frau Kamiah lächelte ihn kurz an und lauschte gespannt einem jungen Mann, der eindringlich auf irgend etwas bestand. Ein Mädchen widersprach, alle redeten zugleich. Wetter haßte sie. Sie schienen die Veranstaltung zu besprechen, die in wenigen Stunden auf dem Hof des Bauern Tuff beginnen sollte, aber es klang, als sei überhaupt noch nichts vorbereitet. Einer wollte Tuff reden lassen, andere rieten ab: Tuff sei ein Dampfplauderer. »Wo ist Grete, sie macht die Pressebetreuung!« Grete fehlte. »Wie kommt man überhaupt zu dem Hof hin?« »Wir fahren alle auf einmal.« »Und wie soll die Presse hinfinden?« »Das sollte Grete organisieren.« »Wo ist sie?« Es klingelte. Eine ältere Frau kam herein und wurde stürmisch gefeiert; es war Grete. Frau Kamiah
ging zu Wetter, umarmte ihn vor allen Leuten; sie hatte ein heißes Gesicht und sagte: »Gut, daß du da bist.« Er wurde sofort ruhig und war zufrieden. In wenigen Minuten wurde vereinbart, wie die Veranstaltung ablaufen würde: Tuff sollte sprechen, nur ganz kurz und zur Sache, als Begrüßung. Dann sprach Erwin, der Mann, der Wetter geöffnet hatte, über den Grund des Protestes und der Demonstration am kommenden Wochenende. Dann würde Frau Kamiah ihren Fall schildern. Für die Presse waren Texte vorbereitet, Flugblätter waren verteilt worden. Dabei erfuhr Wetter, daß man versucht hatte, vor dem Institut Flugblätter an die Beschäftigten zu verteilen, jedoch unter Androhung von Prügeln durch den Werkschutz vertrieben worden war. Auch das sollte der Presse erzählt werden. Wetter meldete sich zu Wort. Obwohl er ruhig zu sein glaubte, klopften die Adern im Kopf, und er mußte tief atmen. Er stellte sich vor, erwähnte, daß er eigentlich nicht hier sein dürfe, sondern sich wie alle Angestellten schriftlich zur Anwesenheit bei einem Vortrag im Institut habe verpflichten müssen. Er sei aber bereit, über diese Disziplinierungsmaßnahme notfalls der Presse zu berichten, gebe nur zu bedenken, daß ihn das gewiß die Stellung kosten würde. Nach kurzer Stille gab es Beifall und Bravo-
rufe, Grete drückte ihm den Arm, auch Frau Kamiah freute sich offenbar. Ohne lange Diskussion wurde sein Opfer abgelehnt und vorgeschlagen, in seiner Abwesenheit und ohne Namensnennung über diesen Trick zu berichten. Nur Erwin war anderer Meinung: »Und wenn sie fragen, woher wir das haben? Man wird uns wieder nicht glauben.« Und direkt zu Wetter: »Du mußt dich einmal entscheiden. Bist du für uns oder für den Brüter? Wir alle bringen Opfer.« Die anderen widersprachen ihm laut und heftig; schließlich habe die Presse auch über den Strahlenalarm und die Unfälle ohne Quellenangabe berichtet. »Dazu muß ich was sagen«, rief Wetter in das Durcheinander: »Ich bezweifle, daß die Unfälle wirklich geschehen sind. Es könnten absichtliche Falschmeldungen sein.« Erwin meinte böse: »Hat man dich zu uns geschickt, damit wir den Mund halten? Sollen wir vor die Reporter treten und sagen: In Siegdorf hat es nie Unfälle gegeben?« In einer dunklen Ecke stand einer auf und sagte: »Wetter hat recht. Die Unfälle sind simuliert worden, zu Übungszwecken. Dann hat jemand der Zeitung erzählt, es wären echte Pannen gewesen. Das
hat einer unserer Mitarbeiter namens Lehnau organisiert. Damit wir todsicher auf die Ente hereinfallen, hat er sogar einem unschuldigen Italiener die Meldung in die Schuhe geschoben und seine Entlassung erreicht.« »Sandner!« rief Wetter. Da drüben stand Sandner und behauptete zu wissen, was Wetter nie hatte beweisen können? Ausgerechnet der ungeschickte Sandner! »Ja«, sagte der, »Lehnau hat es mir erzählt, weil er mir vertraut. Ich bin Chemiker. Die Physiker betrachtet er als seine Feinde, von Ingarden bis Falk. Er hat das Protokoll der Strahlenschutzübung in der Tasche, direkt vom Werkschutz. Und die Fotos, die in der Zeitung waren, trägt er immer bei sich. Noch etwas.« Sandner wartete, bis die Unruhe sich gelegt hatte. Wetter staunte, daß gerade Sandner soviel riskieren wollte. »Lehnau hat zwar im Institut für heute abend einen Vortrag angekündigt. Aber im letzten Moment wird er sich vertreten lassen und auf eurer Pressekonferenz erscheinen. Er will persönlich die Übungsprotokolle und die Fotos vorzeigen und euch vor aller Welt unmöglich machen.« In die Stille fragte Grete: »Wie läßt euer Gespräch sich als Beweis verwenden?«
Da sagte Sandner einfach: »Ich würde meine Aussage vor Gericht unter Eid wiederholen. Lehnau muß aus Siegdorf verschwinden. Das habe ich mir geschworen.« Wetter sah zu seinem Freund hinüber, der sich bescheiden auf den Boden hockte und nach einer halbvollen Bierflasche griff. Auf einmal sah alles weniger hoffnungslos aus. Lehnau war zu weit gegangen. Meredith würde ihn gern fallenlassen, man würde Costello wieder einstellen müssen, vielleicht sogar Frau Kamiah. »Bravo!« schrie Erwin, Grete klatschte in die Hände, und Frau Kamiah warf Sandner einen Blick zu, der Wetter sofort eifersüchtig machte. Zu allem Überfluß fragte Erwin, ob Sandner seine Geschichte jetzt gleich selbst der Presse erzählen würde. Sandner nickte nur. Alle sprangen auf, in einer Stunde sollte die Veranstaltung beginnen. Jeder suchte eine Mitfahrgelegenheit. Wetter stand verloren im Getümmel und beobachtete Frau Kamiah, die sich mit Sandner unterhielt. Er schämte sich seiner Feigheit und war wieder einmal ganz sicher, bei Frau Kamiah ausgespielt zu haben. Wäre er eine Frau, er wählte Sandner und nicht Wetter, diesen Waschlappen. Er hätte genauer beobachten sollen, wie Sandner Auto fuhr: umsichtig
und entschlossen. Statt dessen hatte er immer nur überheblich Sandners Privatprobleme belächelt. Er ging zu den beiden. Frau Kamiah sagte gerade: »Lehnau wird alles abstreiten.« Sandner schüttelte den Kopf: »Wie ich ihn kenne, wird er es zugeben und zugleich verdrehen.« Wetter unterbrach ihn: »Ich möchte doch mitkommen.« Verzweifelt sah er Frau Kamiah an. Sandner fing den Blick auf, sagte: »Ich bin weg«, und ging. Sie machte einen Luftsprung und rief: »Es klappt! Es klappt!« Wetter sagte leise: »Ich bin ein Feigling. Ist dir Sandner nicht lieber? Er hat wirklich Mut.« »Du bist nicht feig, nur dumm«, stellte sie fest, »denn wenn ich dir nicht täglich versichere, daß ich dich gern habe, glaubst du es nicht. Ich mag dich. Gut?« »Sehr gut«, grinste er, »immer wieder: Sehr gut.« Er saß zwischen Grete und Erwin in einem fremden Wagen, der auf unbekannten Wegen zum Gehöft des Bauern Tuff unterwegs war. Er lauschte dem Streitgespräch der beiden, ohne teilzunehmen. Diesmal war die Enge angenehm, die fremden Schultern stützten ihn, er konnte dazwischen zurücksinken
und wie in einem Bus gleichgültig die nächtliche Straße neben dem Hals des Fahrers betrachten. Es stand ja fest, daß man bald ankommen würde, doch wie es dort aussehen und ausgehen würde, war ungewiß. Aber man würde nicht allein sein. Erwin vertrat den Standpunkt, die Affäre um den Gasbrüter beweise einmal mehr, daß der Mensch für die neue Technik noch nicht reif sei. Darum müsse man sie ihm verbieten. Grete widersprach. Für sie folge aus der ganzen Geschichte, daß die öffentliche Kontrolle solcher Projekte verbessert werden müsse. Es werde offensichtlich überhastet geplant und die Öffentlichkeit zu wenig informiert. Darauf erwiderte Erwin, sie mache sich Illusionen über die Möglichkeit der Kontrolle. Der Bürger sei gegenüber den Experten ja doch immer der Dumme. »Und heute abend?« rief Grete, »da werden gerade Experten die Bürger informieren und aufklären.« Erwin aber meinte, das sei eine Schwalbe, die keinen Sommer mache. »Du wirst ja sehen«, sagte er, »was wir erreichen. Der Brüter wird gebaut, ob wir wollen oder nicht.« Grete antwortete, dann hätte er sich die kostbare Zeit für die Vorbereitung dieses Abends aber sparen können. »Wenn man den Leuten nichts weiter sagt als: ›Paßt
besser auf!‹, dann weckt man nur Illusionen«, behauptete Erwin, »man muß ihnen klarmachen, daß sie gegen den ganzen Atomkram kämpfen müssen. Dieses Zeug wird sich nie kontrollieren lassen.« Wetter fragte, was Erwin von Frühauf halte. »Ach der«, meinte Erwin, »der redet nur. Wenn es um Aktionen geht, kneift er. Aber theoretisch hat er schon recht.« Grete sah den schweigsamen Wetter von der Seite an und fragte: »Was meinen Sie denn?« Wetter lächelte im Dunkeln. Er sah auf einmal den sonnenglänzenden Programmierraum vor sich und spürte die Freude wieder. »Es ist komisch«, fing er an, »seit ich mich mit der Kritik am Brüter befasse, macht mir meine Arbeit erst Spaß. Jetzt kann ich sie von außen sehen und finde sie schön. Ich bin sicherer als je zuvor, daß es Sinn hat zu forschen, zu basteln, zu bauen. Aber das sehe ich erst, seit ich den Sinn eurer Kritik verstehe. Man hat uns eingeredet, ihr seid nur Angsthasen und Dummköpfe. Zugleich hat man uns furchtsam und dumm bei unserer Arbeit beschnüffelt und zensiert. Die Fronten sind durcheinandergeraten. Ich bin dabei, mir meine Meinung zu bilden.« Wetter lachte leise. »Das ist für mich neu. Ich war immer sicher, in einem Labyrinth zu stecken, worin jede Meinung in
die Irre führen muß. Doch seit es wirklich verwirrend geworden ist, suche ich den Weg nach draußen.« Sie schwiegen. Sicher waren Grete und Erwin mit seiner Antwort unzufrieden, doch das machte nichts. Man mußte sich entscheiden, und man durfte überlegen, alles zu seiner Zeit. Der Fahrer bog von der Straße in einen Feldweg zwischen prallen Büschen, die sich im Scheinwerferlicht wie Bleiklumpen vorbeiwälzten. Vorn glühten Bremslichter auf, zugleich näherten sich Scheinwerfer von hinten. Sie steckten in einer langen Schlange fest, die von der Straße bis zu Tuffs Hof zu reichen schien. Wetter bat, aussteigen zu dürfen, kletterte durchs Gebüsch auf ein schütter verschneites Feld und stapfte durch den tiefen Boden vorwärts. Er erinnerte sich an einen Vorfall im Institut, wenige Tage nachdem Lehnau aufgetaucht war. Ingarden hatte sie holen lassen und in einer Weise begrüßt, die Wetter gleich verdächtig vorkam. Er wirkte zugleich aufgeräumt und schuldbewußt, ließ Kaffee kommen und bat, ungeniert zu rauchen. Er erkundigte sich nach ihrer Arbeit. Wetter hatte damals nichts vorzuweisen und wiederholte alte Er-
gebnisse. Huber faßte den Vortrag zusammen, den er in den USA halten würde. Lehnau bemerkte, er müsse sich erst einarbeiten, und lächelte wie ein in die Provinz verschlagener Schauspieler aus der Großstadt. Dann holte Ingarden tief Luft, rieb sich das Gesicht und kam zur Sache. Aus dem Schreibtisch zog er mehrfarbige Papiere und erklärte, zwischen der Kernkraft-Union und dem Institut sei ein Kooperationsvertrag abgeschlossen worden. Dadurch ergäben sich für das Institut neue Geldquellen, aber auch neue Verpflichtungen. Als Angestellte seien sie jetzt gegenüber der KKU wie in jedem Betrieb gewissen Loyalitätsgeboten unterworfen. Das sei eine reine Formsache. Sie hätten nur zu unterschreiben, daß sie es unterlassen würden, dem Unternehmen durch unautorisierte Weitergabe von Informationen zu schaden. Ingarden verteilte die Papiere und wartete. Lehnau unterschrieb sofort, Huber folgte nach kurzem Zögern. Wetter wartete ab, wie Falk sich verhalten würde. Dieser bat sich mit leiser Stimme Bedenkzeit aus. Ingarden fragte, was es da zu bedenken gäbe, oder sei Falk dafür, daß jeden Tag Tatarenmeldungen über Unfälle am Reaktor in der Zeitung stünden? Falk verneinte, wollte etwas hinzufügen,
da fiel Huber ihm ins Wort und stellte fest, durch seine Unterschrift als Leiter der Physikergruppe sei jede weitere Debatte gegenstandslos. Darauf unterschrieben Falk und Wetter. Wetter sackte tief in eine Ackerfurche voll Schneematsch und blieb keuchend stehen. Weit voraus sah er die honiggelben Fenster des Gehöfts und links die Fahrzeugschlange, die langsam darauf zu kroch. Er hatte damals der Unterschrift keine Bedeutung beigemessen, war sogar froh gewesen, dadurch den Verdacht loszuwerden, er oder seine Kollegen hätten die Unfallberichte auf dem Gewissen. Erst jetzt sah er, wie geschickt Lehnau alles eingefädelt hatte: Durch die Zeitungsberichte hatte er sie unter Druck gesetzt und jeden Widerstand gegen die Unterzeichnung gebrochen. Damals war es Lehnau weniger um eine spätere Diskreditierung der Brütergegner gegangen, eher um die Disziplinierung der Angestellten. Die Unterschrift war der Kern des ganzen Problems. Dadurch erst war der Brüter aus einem Forschungsvorhaben zu einem Unternehmen der Industrie gemacht worden. Diese Unterschrift war der Anfang all dessen geworden, was Wetter entsetzte: Überwachung, Forschungszensur, Entlassungen. Er betrat harten, trockenen Boden. Gegen den Ster-
nenhimmel machte er die Umrisse einer Scheune aus. Es roch kräftig nach Mist. Er trat auf eine Schaufel und stolperte über den hochschnellenden Stiel. Zugleich sank er mit dem ganzen Körper tief in etwas Weiches, Warmes. Erschrocken prallte er zurück. Am Geruch erkannte er, daß er in den Misthaufen gerannt war. Er wischte das feuchte Stroh von seiner Vorderseite und wusch sich in der Viehtränke die Hände. Dabei hörte er durch die klare Nacht deutlich eine bekannte Stimme: »Noch zehn Minuten. Sie wissen Bescheid.« Jemand antwortete: »Ich schreibe jeden auf, der zum Institut gehört. Soll ich alles mitschneiden?« »Haben Sie genug Tonband?« »Weiß nicht. Genügt nicht, was unsere Angestellten sagen?« »Ja, das reicht. Das andere kennen wir.« Neben Wetter schlug etwas dumpf gegen Holz und schnaufte. Er stand im Mondschatten des Stalls. Die beiden hatten den Lärm, den er gemacht hatte, für Tiergeräusch gehalten. Wetter schlich näher. Da stand ein unbeleuchtetes Auto, er sah den Schattenriß eines Pfeifenrauchers: Lehnau. Neben ihm saß ein dicker Mann, im Fond eine langhaarige Frau, wahrscheinlich Lehnaus
Freundin. Aus den offenen Seitenfenstern trieb duftender Rauch. Der Dicke fragte: »Und wenn einer fragt, von welcher Zeitung ich bin?« Lehnau sagte ungeduldig: »Stellen Sie sich nicht so an, Mensch. Das ist Ihr Problem. Machen Sie das zum ersten Mal?« Die Frau sagte: »Mein Gott, bist du nervös« und kraulte ihm von hinten das Haar. Lehnau schüttelte abwehrend den Kopf. In diesem Augenblick bog ein Kombiwagen um das Haus und erfaßte das Auto mit seinen Scheinwerfern. Sofort tauchte Lehnau unter, sah aber zugleich Wetter geduckt im Licht stehen. Beide richteten sich langsam auf und lächelten. Dann taten sie, als hätten sie sich nicht gesehen. Lehnau kurbelte das Fenster hoch, Wetter schlenderte zum Kombi. Ein Mann sprang aus dem Führerhaus und packte seinen Arm: »Lauf nicht weg. Ein Mensch. Der erste in dieser Einöde. Wir sind vom Fernsehen. Wo sollen wir aufbauen?« Und über die Schulter rief er: »Das ist der Tuff, der Bauer. Merkt man gleich am Geruch.« Zwei Männer stiegen aus und reckten sich. Dann öffneten sie die hintere Wagentür und fingen an, Kabel zu entrollen, während der erste Mann Anweisungen erteilte.
Wetter ging um das Haus herum. Er mußte den Gestank loswerden, der wie eine Glocke über ihm hing. Von allen Seiten fuhren jetzt Autos auf den Platz, aufgeregte Stimmen riefen durcheinander, Türen knallten. Auf der Türschwelle stand ein dürrer Mann, den Hut auf dem Kopf, und rieb sich die Hände. »Herr Tuff?« fragte Wetter. Der Mann ergriff seine Hand und sagte mit hoher Stimme: »Hereinspaziert.« Wetter zeigte auf den Kombi: »Da kommt das Fernsehen. Sie wollen wissen, wo sie die Kamera hinstellen sollen.« Tuff lief den kabeltragenden Männern entgegen. Wetter ging ins Haus, um sich zu reinigen. Ein aufgeregtes Kind zeigte ihm das Klosett und eine kleine Waschmuschel mit kaltem Fließwasser. Durchs Klofenster sah er, wie Lehnau aus dem Auto stieg und unschlüssig im Scheinwerfergewirr der einparkenden Wagenkolonne stehenblieb. Draußen stieß er mit Tuff zusammen. Tuff rief fassungslos: »Wo soll ich hin mit diesen Massen? Die gehen doch nicht alle ins Haus. Ihr habt mir was von zwanzig Leuten erzählt.« »Man muß es vor dem Haus machen«, schlug Wetter vor. Er roch noch immer nach Mist.
»Geht ja nicht anders«, bestätigte Tuff und musterte Wetter anerkennend, sei es wegen dessen Ruhe oder wegen des Geruchs, »aber kalt wird es draußen sein. Sogar zum Essen habe ich was vorbereitet! Aber bei den Massen…« Tuff fuhr zusammen. Eine Frau hatte eine Blitzlichtaufnahme von ihm gemacht. Er rieb sich geblendet die Augen und sagte: »Wir stellen die Autos im Halbkreis um das Haus und beleuchten die Versammlung mit den Scheinwerfern. Kommen Sie, wir werden das organisieren.« Wetter lief hinter Tuff drein, der mit Gebrüll und Armeschwenken die Autos zu dirigieren begann. Gerade stieg Frau Kamiah aus und betrachtete das Durcheinander. »Das ist schön«, stellte sie fest, »es sind fast zu viele.« »Ich habe schon wieder was entdeckt«, erzählte Wetter stolz, »Lehnau hat einen Spitzel dabei. Er soll Tonbandaufnahmen machen und die Institutsangestellten aufschreiben. Ich kann ihn öffentlich bloßstellen.« Frau Kamiah sagte: »Du bist mir in den letzten Tagen abgegangen.« Wetter stand ganz ruhig vor ihr und überlegte. Diese Bemerkung erschütterte ihn. Das bedeutete viel mehr als zu sagen: Ich mag dich. Das lief auf ein An-
gebot hinaus, sich fester zu binden. Er sah Frau Kamiah an. Die Autolichter glitten über ihr Gesicht, das vergnügt zu Grete und Erwin hinübergrüßte. Was für ein Gesicht ist das überhaupt, fragte sich Wetter. Er fand es weder schön noch häßlich, er konnte nichts darüber sagen, so gut kannte er es schon. Er freute sich nicht, spürte nur die knappe Ruhe vor dem Beginn einer komplizierten Aufgabe. In weitem Bogen, Kühler an Kühler, standen die Wagen vor der Hausfront. Die Haare glühten im Gegenlicht der Scheinwerfer, leuchtend stiegen Atemschwaden auf. Trotz der windstillen Kälte hockten viele vor den Autos auf dem Boden, manche hatten die Sitzbänke ihrer Wagen ins Freie gestellt. Die unruhigen Körper warfen große Schatten an die Wand. Aus den Fenstern lehnten geblendet Tuffs Kinder und blinzelten übernächtigt. Wetter fand die Szene urzeitlich, als säßen Pygmäen zur Beratung in einem Kreis von Feuern. Obwohl man mit fast einer Stunde Verspätung begonnen hatte, kamen immer neue Autos. Sie parkten in mehreren Ringen, dazwischen drängten sich Hunderte mit blassen Gesichtern und roten Nasen. In der klaren Nacht sah man weit über die Felder bis zur
Straße, wo der Verkehr stockte und die blauen Alarmlichter vieler Polizeistreifen zuckten. Hinter einem Tisch stand Tuff und versuchte auf den Zehenspitzen, die Zahl der Anwesenden zu schätzen. Er fing immer wieder zu zählen an, machte lachend eine wegwerfende Handbewegung und begann von neuem. Auf dem Tisch stand jetzt Erwin. Er hielt ein Mikrophon und schnaubte vor Aufregung nach jedem Satz donnernd hinein. Dagegen klangen die Bravorufe und das Händeklatschen verweht und schütter. Erwin rief auf, zahlreich zur Demonstration zu kommen. Er hoffe trotz vieler böser Erfahrungen, daß die anwesenden Pressevertreter und das Fernsehen diesmal objektiv berichten würden. »Wir haben nicht vor, den Brüter zu stürmen«, erklärte er, »wir wollen nur von einem demokratischen Recht Gebrauch machen und friedlich demonstrieren.« Er sprach von der Angst der anliegenden Bauern, ihre Produkte als Nachbarn des Brüters nicht mehr verkaufen zu können. »Bravo, jawohl!« schrie Tuff und klatschte. Dann sprach Erwin von dem Mißtrauen der Bevölkerung gegen das Brüterobjekt, über das niemals ausreichend informiert, niemals demokratisch entschieden worden sei. Nur Gerüchte von Unfällen und
vertuschten Risiken seien in Umlauf gekommen. An dieser Stelle wurde Wetter heftig gestoßen. Lehnau drängte an ihm vorbei, lief zum Tisch und brüllte, er bitte ums Wort. Erwin, der Lehnau nicht kannte, blinzelte verwirrt hinunter und schnaufte ins Mikrophon. Jeden Moment würde er es Lehnau überlassen! Wetter begann zu rennen und erwischte das Mikrophon auf halbem Weg zwischen Erwins Mund und Lehnaus herrisch ausgestreckter Hand. In der anderen hielt Lehnau schon die Unterlagen, mit denen er die Gerüchte über die Unfälle widerlegen konnte. Wetter kehrte Lehnau den Rücken, hielt das Mikrophon mit beiden Händen fest und beugte sich vor, um Lehnau mit dem Hintern auf Distanz zu halten. »Das ist Lehnau von der Kernkraft-Union«, schrie er. Es war ein Traum, durch den seine fremde Stimme schallte. Die Adern schlugen wie wild. Über den blendenden Lichtern schwankten Ketten grauer Scheiben, in denen erwartungsvolle Augen funkelten. »Lehnau ist wie ich am Siegdorfer Institut angestellt. Er hat absichtlich Gerüchte über Unfälle in die Welt gesetzt, damit ihr darauf hereinfallt. Er will damit beweisen, daß ihr auf jede Panikmache hereinfallt.«
»Gegen diese Verleumdung werde ich gerichtlich vorgehen!« kreischte Lehnau über Wetters Schulter ins Mikrophon. Wetter bückte sich noch tiefer – Lehnau lag halb über ihm – und sagte: »Außerdem hat Lehnau einen Spitzel unter euch postiert, der fleißig mitschneidet und notiert.« Lehnau brüllte wie verrückt und haschte nach dem Mikrophon. Aus dem Dunkel zwischen den Scheinwerfern wurde geschimpft und gepfiffen. Auf einmal war Lehnaus Last wie durch Zauberei von Wetters Rücken geglitten. Sandner stand neben ihm und nahm ihm das Mikrophon ab. »Mein Name ist Sandner. Ich bin wie diese beiden am Institut angestellt. Ich kann beweisen, daß man euch hereinlegen will. Die Zeitung hat geschrieben, was Lehnau ihr erzählt hat. Er selbst hat mir alles erzählt. Euch erzählt man Lügen und uns überhaupt nichts. Unsere Arbeit wird behindert, wir werden auf Schritt und Tritt überwacht. Wir brauchen eure Hilfe, um uns dagegen zu wehren.« Nach einer kurzen Pause applaudierte man. Doch Wetter hatte den Eindruck, daß diese Mitteilungen, für die Sandner und er den Job riskierten, nicht sehr ernst genommen wurden. Waren die Zuschauer so überzeugt, daß aus dem Bereich des Brüters nur Bö-
ses kommen konnte? Darum mußten ihnen solche Enthüllungen als Kleinigkeiten erscheinen. Daß Angestellte des Instituts einander vor ihren Augen der Lüge bezichtigten, fanden sie offenbar selbstverständlich. Erwin übernahm das Mikrophon und sagte: »Wie ihr seht, gibt es auch hinter der Mauer um den Brüter Widerstand. Jetzt spricht eine Biologin, die entlassen wurde, weil sie höhere Strahlenschäden vorausgesagt hat, als ihren Chefs lieb ist.« Frau Kamiah kletterte unter einhelliger Zustimmung auf den Tisch und begann mit ruhiger Stimme, in der Wetter die Aufregung merkte, ihren Fall zu schildern. Lehnau war verschwunden. Sandner sagte: »Wir interessieren die Leute nicht so recht.« Wetter meinte: »Daß es keine Unfälle gegeben hat, verwirrt sie. Es macht für sie alles weniger einfach.« »Ja«, sagte Sandner abwesend. Er legte Wetter die Hand um die Schulter, und diesmal war es nicht unangenehm: »Himmel, jetzt geht für uns die Schlacht erst richtig los. Wir werden geschickt sein und zusammenhalten müssen, sonst sind wir erschossen.« Wetter nickte und versuchte mit engen Augen, die Menschen in dieser blendenden Dunkelheit zu erkennen. Würden sie ihm helfen? Ihm und Frau Ka-
miah, Sandner, Costello? Als auch noch Sandner seinen Arm wegzog und in der Nacht verschwand, fühlte er, wie kalt ihm war. Er blickte zu Frau Kamiah auf, die tapfer auf dem Tisch stand und ins Licht sprach. Dann, mit einem Katzenjammer wie am Morgen nach einer sinnlosen Sauftour, machte er kehrt und lief in die Finsternis. Als der Wecker schnarrte, lag Wetter schon lange wach. Durch das offene Fenster roch es nach Schnee. Er hörte die Autoreifen des Berufsverkehrs durch den Matsch zischen. In der Wand raschelte es, ein unbekannter Nachbar drehte das Wasser auf. Wetter fröstelte vor Erregung und Übernächtigkeit. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Angst, zum Institut zu fahren und vor dem Schlagbaum abgewiesen zu werden. Würde der Pförtner ihm höflich einen Brief überreichen? Oder würde er zwar bis zu seinem Zimmer vordringen können, dort aber gleich zu einer Besprechung gerufen und entlassen werden? Oder würde alles sein wie früher, weil auch Lehnau jetzt Angst haben mußte? Ohne zu wissen, ob er zur Arbeit gehen würde, stand er auf, duschte heiß und kalt, frühstückte langsam. Die Zeitung fiel durch den Briefschlitz.
Über die Veranstaltung von gestern stand noch nichts darin. Der Innenminister des Landes warnte vor der Teilnahme an der morgigen Demonstration, da ihm bekannt sei, daß radikale Gruppen es auf Gewalttaten anlegten. Ein Bürger aus Siegdorf wurde zitiert, der versicherte, er würde morgen die Wohnung erst gar nicht verlassen, um nicht für einen Demonstranten zu gelten. Aus dem ganzen Land seien mehrere tausend Polizisten zusammengezogen worden und nächtigten bereits in einer Siegdorfer Schule und im Dorfkino. Noch immer unentschlossen und eigentlich nur aus Ratlosigkeit, was er heute anderes anfangen sollte als sonst, ging Wetter aus dem Haus. Sorgfältig säuberte er den Wagen vom Schnee, setzte sich hinein und stellte das Radio an. Ein Beamter gab Auskunft über eine neue Regelung des Kindergeldes. Draußen schlitterten Schulkinder über die Straße, die Autos krochen vorsichtig, große Flocken platzten auf der Windschutzscheibe. Bis auf den Schnee war alles wie immer. Er startete und fuhr los. Vor dem Verlagshaus der Regionalzeitung parkte er. Er ließ sich beim Lokalredakteur Cerny anmelden und sah zu, wie die Sekretärin an ihrem Tisch neben dem Lift mehrere Leute grüßte, die im Laufschritt ins Gebäude stürmten. Voll Neid sah Wetter
ihnen nach: Ihr Arbeitsplatz war sicher. »Sie können hineingehen«, sagte die Frau und erklärte den Weg. Die Gänge sahen aus wie im Institut. Hinter Milchglasscheiben schlugen Schreibmaschinen. Eine grauhaarige Frau mit Papier in der Hand überholte ihn und wurde von einem jungen Mann mit Photoapparat gefragt: »Wo in aller Welt ist Kettenich?« In der Lokalredaktion saßen zwei Männer und eine Frau vor Schreibmaschinen. Die Frau las in einer Zeitung, ein Mann schrieb rasch und sang dabei leise, der andere saß regungslos da, starrte auf ein halb beschriebenes Blatt und kaute an den Nägeln. Er tippte rasch ein paar Worte, strich sie aus und rieb sich die Stirn. Aus einem Loch in der Wand polterte ein Kunststoffzylinder und fiel in einen Drahtkorb. Es roch nach Zentralheizung und heißem Papier. Wetter spürte reißendes Heimweh nach seinem Arbeitsplatz. Er fragte, ob Herr Cerny zu sprechen sei. Die Frau sah auf und fragte: »Ja bitte?« Wetter ging an ihren Tisch und stellte sich vor. Unterdessen holten die Hände der Frau blindlings eine Zigarette hervor. Sie inhalierte tief und sah aus dem Fenster auf den verschneiten Parkplatz, während Wetter sagte: »Wir sind auf der Suche nach dem Menschen, der Ih-
nen etwas von Unfällen an unserem Reaktor erzählt hat.« »Wenn wir jedem erzählen, woher unsere Informationen kommen, dann kriegen wir keine mehr«, stellte die Frau fest. Die anderen hörten genau zu. »Auch wenn der Mann sich strafbar gemacht hat?« fragte Wetter. »Das ist Sache der Gerichte«, erklärte sie und griff wieder zur Zeitung. »Ich muß es wissen«, drängte er, »der Bursche hat Lügen erzählt.« »Wir haben das Dementi des Instituts längst abgedruckt«, sagte der Mann, der nicht schrieb, »mich wundert, daß Sie so spät hier auftauchen.« Wetter horchte auf: »Bisher hat noch niemand aus dem Institut nachgeforscht?« Sicher wäre Lehnau hier erschienen, wenn er nicht selbst der Informant gewesen wäre. Die Frau legte die Zeitung hin, studierte die Spitze ihrer Zigarette und neigte den Kopf: »Sie sind der erste, der uns die Ehre verschafft.« »Ich verstehe dich nicht«, sagte der Mann, der gesungen hatte, »morgen geht es in Siegdorf hart auf hart, und natürlich wollen die wissen, wer mitten im Sicherheitsbereich sitzt und für den Feind arbeitet. Sag ihm endlich, wer’s war!«
Der Mann, der nicht schrieb, sagte laut: »Da hat einer den Mut gehabt, über die Unfälle zu erzählen, die dauernd geschehen und dauernd totgeschwiegen werden, und es war unsere Pflicht, die Öffentlichkeit zu informieren. Und jetzt fällst du uns in den Rücken und erzählst diesem Herrn alles, damit er für immer verhindert, daß die Wahrheit herauskommt?« Der andere bemerkte kalt: »Wahrheit? Wie lang bist du in diesem Geschäft?« Die Frau stand auf und sagte: »Wir können Ihnen nicht helfen. Tut uns leid.« Wetter verabschiedete sich. Auf dem Gang holte ihn der Mann, der gesungen hatte, ein, führte ihn in ein leeres Zimmer für Besucher und sagte, für Betriebsspione habe er noch nie was übrig gehabt. »Das sind doch alles Leute«, sagte der Mann, »die für den Osten arbeiten. Jetzt wollen sie uns das Wirtschaftswachstum verbieten und ein Entwicklungsland aus uns machen. Aber drüben wird fleißig gebaut.« Wetter sagte ungeduldig: »Der, den ich suche, hat mit dem Osten nichts zu tun. Er schadet uns, weil er lügt. Wie hat er sich genannt?« »Er hat einen ausgefallenen Namen«, sagte der Mann, »sicher ein Pseudonym.« »Lehnau?«
»Genau. Ihn selbst haben wir nie gesehen. Seine Frau hat seinen Brief und die Photos gebracht.« Wetter beschrieb Lehnaus Freundin. Der Mann nickte. Die Tür sprang auf, Frau Cerny und der zweite Mann blickten böse auf die beiden. »Bitte gehen Sie endlich«, sagte sie, und zu dem Mann: »Ich lasse nicht zu, daß du unsere Arbeit kaputtmachst. Ich gehe zum Chef.« »Geh nur«, lächelte der Mann und ging, nachdem er Wetter fest die Hand geschüttelt hatte. Der andere Mann sagte leise: »Saukerl.« Wetter grinste und meinte: »Ich könnte Ihnen ein Interview geben über unser Institut. Darüber, was wirklich los ist bei uns.« Aber da waren die Redakteure schon um die Ecke verschwunden. Es war ein böser Novembernachmittag, um vier Uhr schon düster, der Schnee lag schwer auf dem Land. Wetters Herz klopfte, als würde es von einer fremden Macht gesteuert. Die matten Scheinwerfer der entgegenkommenden Landmaschinen entpuppten sich als die Lichter graugrüner Mannschaftswagen. Die Lage hatte sich verschärft. Wetter war nicht
mehr der wendige Privatdetektiv auf der Suche nach Indizien, sondern ein versprengter Soldat mitten im Winterkrieg, tief im Hinterland des Feindes. Durch die gleichgültige Bevölkerung arbeitete er sich zum Hauptquartier des Gegners vor. Als Himmelfahrtskommando sang er laut gegen die aalglatte Landschaft, die scheinheilig im Rücken verschwand. Je näher er dem Institut kam, desto kriegerischer wurde die Stimmung. An der Straße parkten Lastwagen, in deren Windschatten Gestalten in weiten, nur um die Hüften locker zusammengefaßten Kampfanzügen lehnten. Fast hinter dem Horizont jagte ein Zug militärischer Fahrzeuge über die Felder. Man schien einigen Kombibussen auf den Fersen zu sein, die sich hakenschlagend davonmachen wollten. Aber das bildete er sich vielleicht nur ein. Fest stand, daß alle Zeichen des Protests rund um das Institutsgelände verschwunden waren: Die zivile war durch die militärische Belagerung ersetzt worden. In einem großräumigen Ring umgab ein System aus rotweißen Sperren, Stacheldrahtrollen und Lastwagen das Institut. Statt der Lagerfeuer der Brütergegner dampften jetzt zünftige Gulaschkanonen. Im Mittelpunkt des Kreises ragte der taubengraue Kraftwerkblock mit seinem viereckigen Schornstein in die Wolken. Plötzlich fuhr Wetter schrecklich zu-
sammen. Versunken in die Veränderung der strategischen Lage, hatte er kaum auf die Straße geachtet. Direkt vor ihm starrte die Wand eines Mannschaftswagens, aus dem graue Männer nach beiden Seiten sprangen. Er bremste voll und rutschte zugleich möglichst tief unter das Lenkrad, weil er mehr spürte als sah, daß mehrere Maschinenpistolen auf ihn gerichtet waren. Er meinte, sterben zu müssen. Ergeben wartete er, daß etwas Heißes in ihn eindrang und zugleich sein Leben wie ein Film abrollte. Sein Auto begann zu kreisen und knallte, als es fast schon stand, ganz überflüssig gegen eine Kante des Wagens, der die Straße sperrte. Benommen sah er, wie die Grauen ihn umringten, durch die Scheiben stierten und ihm drohten. Er hörte aufgeregte Knabenstimmen schimpfen. Jemand riß die Tür auf und sagte mit zorniger Gelassenheit, er möge bitte auf der Stelle das Fahrzeug verlassen und sich ausweisen. Dann stand er gegen den kalten Lack gelehnt und ließ sich unter den abgewinkelten Armen abtasten, als sei es das Natürlichste von der Welt. Die Stimmung entspannte sich sofort, als er seinen Institutsausweis zeigte und zu den Bemerkungen über zerstreute Wissenschaftler die Zähne bleckte. Bei der raschen Drehung des Kopfes, mit der er sich wieder hinter das Lenkrad
schwang, erkannte er hinter einer Scheibe des anderen Fahrzeuges, in der sich die Winterlandschaft und ein heller Streifen Himmel spiegelte, den Umriß eines Kopfes, der eine Kamera vors Gesicht hielt und ihn im Augenblick des Einsteigens festnagelte. Er stieg langsam wieder aus, deutete auf dieses Fenster und verlangte eine Erklärung. Aber da umstanden ihn die grauen Overalls wie eine Mauer, rieten ihm, weiterzukommen, und drückten ihn fast in sein Auto zurück. Als er umständlich anfuhr und sich nach dem Photographen umsah, waren da nur noch wie in einem Spiegel die Äcker, ein verästelter Baum und ein Schwarm Saatkrähen, die sich nach all dem Lärm wieder auf die Felder senkten. Auch auf dem Parkplatz vor der Einfahrt zum Institut standen militärisch aussehende Fahrzeuge. Neben dem Portier stand ein junger Mann mit dem Finger am Abzug der gezückten Waffe. Sonst war alles wie gewohnt. Der Portier grüßte ihn mit Rang und Namen, feixte sogar spöttisch über das Wintermanöver. Im Gefühl völliger Sicherheit rollte Wetter über das Gelände, als schütze ihn jetzt der ganze Aufwand vor einer Bedrohung. Freilich, wer war Lehnau im Vergleich mit einem Trupp nervöser Bewaffneter? Doch auf dem Weg zu seinem alten Zimmer sah er
nur Unbekannte, und als er die Tür aufriß, grinste ihn ein Neger im weißen Mantel an. Er stellte sich als Chemiker vor und erklärte, die Theoretiker seien am Vormittag in den Brütertrakt umgesiedelt worden. Den Weg konnte er nicht erklären. Auch hinter Ingardens Glastür saß ein Fremder. Wenigstens konnte er sagen, wo Sandner zu finden war. Sandner saß zwei Türen weiter, dort, wo früher Costello die Bestellungen für seine Vakuumpumpen geschrieben hatte, und studierte ein mehrseitiges Papier in den Babyfarben der Institutsrundbriefe. »Wo treibst du dich nur herum«, rief er vorwurfsvoll, »es geht um alles oder nichts, und du läßt drüben Falk allein!« Wetter erzählte vom Besuch bei der Zeitung. Sandner gab zu, daß das Bild von Lehnaus Trick sich dadurch vollständig abrunde, bestritt hingegen, daß die Journalisten je gegen ihn aussagen würden. Wetter, verwirrt durch die getauschten Zimmer, war aufgeregt wie als Kind zu Weihnachten. Gleich würde es fein klingeln, man würde ihn nach nebenan holen, wo Wunderkerzen knisterten und unausdenkbare Geschenke darauf warteten, daß er sie auspackte. »Und das ist das Letzte«, sagte Sandner und gab ihm die bunten Papiere. Wetter setzte sich und las.
Es war ein umfassender Fragebogen, der von Auslandsaufenthalten über Vereinsaktivitäten bis zu allen Wohnanschriften der letzten fünf Jahre alles wissen wollte. Das letzte Blatt war eine kurzgefaßte Belehrung über die Begriffe »Loyalität zum Betrieb« und »Betriebsfrieden«. Durch Unterschrift mußte bestätigt werden, daß man an keiner Veranstaltung oder Demonstration teilgenommen habe oder teilzunehmen gedenke, die sich gegen die Tätigkeit des Institutes und der ihm durch Kooperation verbundenen Unternehmen richte. »Und wenn ich nicht unterschreibe?« fragte Wetter, obwohl er die Antwort wußte. Sandner grinste nur. »Unterschreibst du?« fragte Wetter noch. »Nach dem, was gestern war, brauchen wir zwei nicht mehr unterschreiben«, sagte Sandner und stand auf, »aber jetzt lauf hinüber zu Falk. Ich verstehe nicht, wie du ihn jetzt allein lassen kannst.« Er beschrieb Wetter den Weg zum neuen Arbeitsplatz und trieb ihn aus seinem Zimmer. Er fuhr zwei Stockwerke tief in die Erde, lief durch einen gelben Gang, erreichte eine automatische Kontrolle, die zum Glück seinen Ausweis akzeptierte,
und berührte mit dem Finger eine leuchtende »3« in einem geräumigen, nach Farbe riechenden Fahrstuhl. Mit ihm fuhren Techniker in weißen Overalls, mit Plastikhelmen und Sprechfunkgeräten am Gürtel. Sie sahen gehetzt drein, einer fluchte beim Blick auf die Uhr. Als er im dritten Geschoß ankam, war er allein. In der traumhaften Gewißheit, sich verirrt zu haben und heute nicht mehr ans Ziel zu kommen, schritt er zwischen hohen Glasfenstern über schallschluckende Teppiche. Sorgfältig gekleidete Herren und wunderschöne Sekretärinnen schwebten vorbei. Zwischen exotischen Blattpflanzen lagen glänzende Broschüren auf matten Holztischen. Vor ihm trat Meredith aus einer Tür und schüttelte eine Hand, die sich gleich zurückzog. Er erkannte Wetter, schien über dessen Gesicht zu erschrecken, umfaßte lächelnd seine Schulter und fragte: »Wir haben uns wohl verirrt. Kein Wunder. Ich kenne mich selbst nicht ganz aus. Ihre Kollegen sitzen einen Stock tiefer. Sie finden hier alles nach der Farbe. Ihr Trakt ist ganz in Olivgrün gehalten.« Er schien Wetter wie ein Vater führen zu wollen, verabschiedete ihn aber nach wenigen Schritten mit einem herzlichen Händedruck, blieb stehen und beobachtete, wie Wetter im Fahrstuhl den richtigen
Knopf drückte. Durch die zuschnellende Tür lächelte Wetter ihn tapfer an. Das zweite Stockwerk roch ganz neu nach Farben und Kaffee. Er fand rasch das Zimmer, an dem wie früher »Huber/Falk/Wetter« stand, jetzt aber in modernen Lettern auf einem Metallschild, nicht provisorisch auf einen Plastikstreifen gestanzt. Na also, was soll die Angst um die Stellung! Weit flog die Tür auf in einen großen hellen Raum, der hoch über der Erde das Winterlicht zu sammeln schien. Drei Schreibtische standen da, das alte Gedränge war vergessen. Ein fremdes Parfüm kämpfte gegen den Farbgeruch an, und hinter einer Glaswand sah Wetter das Aquarell einer bunt gekleideten Frau, die an der Schreibmaschine saß. »Unsere Sekretärin«, erklärte Huber stolz und zeigte dann auf den freien Schreibtisch, um den sich Wetters Bücher und Papiere türmten: »Dein Platz. Wir haben die Sachen für dich geschleppt.« Wetter dankte und musterte staunend Falks Aufzug. Er trug den alten Promotionsanzug mit der silbrigen Krawatte, als parodiere er die Maßanzüge der Herren im neuen Trakt. »Einer fehlt«, stellte Wetter mißtrauisch fest, »wo steckt Lehnau?« Als zöge man Falk und Huber an einer Schnur, ho-
ben beide die Schultern, streckten die Arme weg und spreizten sogar noch die Finger, um jeden Zweifel an ihrer gespielten Ratlosigkeit zu zerstreuen. Wetter sah verärgert hin und her, stampfte mit dem Fuß, was man auf dem neuen Teppichboden nicht hörte, und schrie: »Spinnt ihr?« Da öffnete sich die Glastür, die Sekretärin nahm Gestalt an und stellte sich vor. Knapp hinter ihr folgte eine Parfümwolke und schlug Wetter vor den Kopf. Er stotterte seinen Namen und grinste das Mädchen an. Sie war sehr häßlich, jedoch effektvoll gekleidet und frisiert, als hätte sie viel mehr Geld als die, deren Briefe sie zu schreiben hatte. Falk und Huber kicherten im Hintergrund, erst unterdrückt wie in der. Schule, dann prusteten sie, platzten heraus und brüllten vor Lachen. Das Mädchen ging kühl in seinen Verschlag zurück, die beiden grölten ganz außer sich, klatschten mit den flachen Händen auf die Tische, massierten sich die Schenkel und den Bauch, wippten mit dem Oberkörper vor und zurück, wischten dicke Tränen von den Wangen. Böse sah Wetter zu, wie sie allmählich leiser wurden, bis sie nur noch fassungslos die Köpfe schüttelten und winselnd nach Atem rangen. Mit einem erschöpften Seufzer beugte Huber sich zurück, zog auf lautlosen Rollen eine lange Lade aus seinem neuen Schreibtisch, nahm eine
Flasche heraus und füllte drei Gläser. Noch immer vor Vergnügen keuchend trug er ein Glas vorsichtig zu Wetter, prostete ihm zu und verkündete: »Nicht weitersagen!« Er trank, Falk holte sich ein Glas und kippte es auch. Wetter machte mit, ohne das Geringste zu verstehen. »Lehnau ist futsch«, sprach Huber und schenkte nach. Falk versuchte noch einmal einen Lachanfall zu inszenieren, aber es ging nicht mehr. Wetter fragte ernst, was das bedeute. »Heute morgen kommt Ingarden herein«, berichtete Falk, »fragt, wie es uns geht, wo du bist, und sagt nebenbei, daß Lehnau aus dem Verkehr gezogen ist. Mehr weiß niemand. Sicher ist er nicht gekündigt. Wahrscheinlich hat man ihn ins KKU-Management hinaufbefördert, zur Strafe. Wir sind ihn los.« Wetter fand das nicht zum Lachen, gerade jetzt hatte er Lehnau überführen wollen. »Und das Papier?« fragte er übellaunig, »es geht auch ohne Lehnau genau so weiter.« Huber widersprach: »Morgen noch das Theater, dann sind die Demonstranten verschwunden, und alles normalisiert sich wieder. Kein Lehnau mehr! Das Papier ist eine Formsache. Wer bei der Demonstration mitläuft, ist nicht dicht. Hast du den Aufmarsch gesehen? Ich geh morgen nicht vors Haus.
Wie im Krieg.« »Ihr habt schon unterschrieben?« rief Wetter entsetzt. Huber zuckte die Achseln, und Falk sah aus dem Fenster, in dem der Schornstein des Brüters wie ein klobiger Bleistift aufstand. »Ich sympathisiere mit manchem, der morgen draußen vorbeimarschieren will«, erklärte Falk bedächtig, »aber in erster Linie bin ich Mathematiker und will arbeiten. Die versammeln sich einmal, protestieren, erreichen überhaupt nichts aber ich bin meine Stelle los. Ich habe unterschrieben.« »Schweinerei«, schrie Wetter, aber Falk schrie zugleich: »Schnauze, du Held! Immer hast du uns allein gelassen, sogar heute, und jetzt spielst du den Helden, weil du dich in eine Biologin verknallt hast. Jetzt sitzt du in der Scheiße, weil du blöd genug warst, ein paar Bauern den Narren zu machen. Die treiben doch nur den Preis für ihre Entschädigung hoch.« Auf weichen Beinen ging Wetter zu seinem Tisch und nahm zum ersten Mal daran Platz. »Ich kann nicht unterschreiben«, sagte er, mehr zu sich als zu den anderen, »jeder weiß, daß ich gestern dort war.« »Das läßt sich regeln«, widersprach Huber, »Ingar-
den hält dir die Stange, sonst wird nichts aus eurer Veröffentlichung, auf die ist er stolz, keine Angst. Unterschreib! Du warst doch früher nicht so.« Wetter sah auf die leere Tischplatte. Er hatte länger überlegt als jeder andere. Dann hatte er offen Stellung bezogen, weil es das Richtige zu sein schien. Jetzt stand er allein da, während die anderen nur zum Schein die Position gewechselt hatten. Er hatte sich selbst betrogen. »Unterschreib!« Vor ihm lagen die buhten Papiere, über ihm standen die beiden und warteten. »Sonst geht alles wieder von vorn los«, sagte Huber, und »Wir wollen in Ruhe arbeiten«, sagte Falk. »Costello«, sagte Wetter leise, »Frau Kamiah und Sandner. Es ist nicht recht. Man darf Menschen nicht für Kritik bestrafen. Die Wissenschaft ist kritisch.« Er sah auf und wiederholte: »Ich kann nicht unterschreiben«, wie einer, der eben nicht schreiben kann. Falk errötete und biß sich auf die Lippen. Er ging zu seinem Tisch, zog sein Papier heraus, hielt es gegen das Licht und ließ es in den Papierkorb fallen. Huber stöhnte und trank sein Glas leer. Er sperrte die Flasche weg und murmelte ergeben: »Ich hab’s doch gewußt. Es geht wieder von vorn los.«
Ingarden verlor sich in seinem Büro wie ein Nachsitzender, den man in einem ausgeräumten Klassenzimmer vergessen hat. Er stemmte sich hoch, hielt Wetter seine Hand hin und legte sie dann übers Gesicht. »So trifft man sich wieder«, seufzte er unter der Hand, »eine Nummer größer ist hier alles.« »Wie gefällt es Ihnen?« fragte Wetter ohne Interesse und entdeckte auf dem Tisch das unterschriftsreife Papier der KKU. Ingarden nahm die Hand weg und entblößte ein schelmisches Grinsen: »Schrecklich. Das alte Institut war mir lieber.« Sofort wieder müde und ernst sagte er: »Wir müssen uns bald zusammensetzen und überlegen, wie es weitergeht. Mir Ihrer Arbeit liegen wir gut im Rennen. Wir müssen aufpassen, daß wir selbständig bleiben. Ich habe keine Lust, nur noch dort zu forschen, wo die Herren uns lassen.« Wetter staunte. »Und die Unterschrift?« Ingarden schnipste das zartbunte Papier lässig über den Tisch und sah zur Decke: »Sehen Sie, ich muß das nicht. Wenn die mich ärgern, gehe ich zurück an die Universität. So was habe ich nicht nötig. Haben Sie denn unterschrieben?« Wetter verneinte stumm, Ingarden nickte: »Sie wis-
sen, was das für Sie bedeuten kann?« Wetter nickte. Ingarden erhob sich, ging ans Fenster und stand weit weg in der großen Aussicht, eine klare schwarze Figur vor dem verschneiten Horizont. »So schlecht sind unsere Chancen auch wieder nicht«, sagte Wetter, als müsse er seinen Chef trösten, »wenn wir alle nicht unterschreiben. Man wird es sich überlegen, ganze Gruppen zu entlassen.« »Ich sollte einen Posten da oben bekommen«, sagte Ingarden fast unhörbar. »Ich habe zwei Kinder und wollte uns ein kleines Haus kaufen. Ich hätte eine bessere Stellung brauchen können. In meinem Alter will man ein bißchen Sicherheit.« Er kam zurück und setzte sich. »Jetzt sitzt Lehnau oben, und von mir verlangt man, zum alten Institutslohn für die Industrie zu schuften. Man kann mich gernhaben.« Wetter fand diese Offenheit peinlich. Er stand auf, um zu gehen. »Sollten Sie und Ihre Kollegen eine Unterschriftenliste herumgehen lassen«, sagte Ingarden traurig, »gegen die Entlassungen und gegen diesen üblen Wisch – so was unterschreibe ich.« Wetter ging wieder zurück und stellte sich lächelnd vor dem Tisch auf. Ingarden streckte die Hand aus. Zum ersten Mal fühlte sein Griff sich verläßlich an.
Eine aufgedonnerte Sekretärin musterte ihn beleidigend und näselte, der Projektleiter sei gerade beschäftigt. Ob er warten wolle? Wetter nahm Platz und hörte zu, wie sie telefonisch für das bevorstehende Wochenende einen Schichtdienst organisierte. Jedem Gesprächspartner las sie vom Blatt denselben Text vor: Der Projektleiter Lehnau lasse dringend bitten, angesichts der drohenden Besetzung der Anlagen wenigstens einen Mitarbeiter pro Arbeitsraum zur Anwesenheit zu verpflichten, um nicht dem Gegner ein leerstehendes Institut zum Sturm anzubieten. Ganz der alte Lehnau, dachte Wetter. Die Sekretärin schien schon jetzt vor einer brutalen Besatzungsmacht aus langhaarigen Wüterichen zu zittern. Eine Polstertür öffnete sich, heraus quollen energische Männer, einige in der Uniform des Werkschutzes, andere in Zivil, aber mit dem besorgten Ausdruck leitender Polizeibeamter. Die Sekretärin händigte jedem ein Blatt aus, vielleicht Einsatzpläne oder Verhaltensmaßregeln für den Umgang mit Maschinenstürmern. Lehnau stand entspannt in der Tür und schien sich sehr zu freuen. Dann saß Lehnau hinter einem enormen schwarzen Tisch, sagte in die Sprechanlage, er bitte, zehn Minu-
ten lang nicht gestört zu werden, und wandte sich mit gesammelter Miene Wetter zu: »Was führt dich zu mir?« »Warum hast du nicht wenigstens unter falschem Namen deine Lügen bei der Presse abgeliefert?« Lehnaus Lächeln wurde angestrengter. Freundlich sagte er: »Wenn du den Ton nicht änderst, schmeiße ich dich hinaus. Nun zu deiner Frage. Ob du es glaubst oder nicht: Ich war tatsächlich einmal gegen das Brüterprojekt. Von euch allen hat nur Falk das erkannt. Du hattest nie eine Ahnung. Damals, bevor das Projekt anlief, gab es noch eine Chance, aber da hattest du noch keine Meinung. Später, als alles entschieden war, da hattest du plötzlich eine. Du wirst immer auf der falschen Seite stehen, mein Lieber. Du träumst, du denkst ganz langsam, und wenn du endlich etwas begriffen hast, ist längst das Gegenteil wahr.« »Ganz allein bist du zur Zeitung gelaufen?« rief Wetter ungläubig. »Warum?« »Nichts verstehst du, am wenigsten andere Menschen. Nur nach dem Äußeren gehst du. Man kann sich durchaus anständig kleiden, gut verdienen und trotzdem alles hassen: Die Arbeit, die Vorgesetzten, die Tricks und die Lügen, die Schlamperei, die Menschenverachtung. Ich kann dir Geschichten erzäh-
len… Du kannst überhaupt nicht wirklich wissen, warum man gegen dieses Projekt sein muß.« »Warum hast du die Geschichten nicht erzählt?« »Wem? Dir? Dem kleinen gläubigen Wetter, der für freie Forschung ist? So ein Witz! Du kommst Jahrzehnte zu spät, mein Lieber! Heute braucht man das große Geld für die Forschung, und wer Geld vorstreckt, will über seine Verwendung bestimmen. Wer hat das große Geld? Du? Die Spinner draußen? Na also.« Lehnau beugte sich vor. Wetter fürchtete, der andere würde zu kreischen oder zu schluchzen beginnen, doch Lehnau grinste verlegen: »Weißt du, ich war schon so weit, mir zu überlegen, ob man nicht eine Bombe basteln soll, Plutonium klauen, irgendwie die Stillegung des Projekts erpressen. Ich habe mit Falk darüber diskutiert.« »Du bist ja wahnsinnig«, flüsterte Wetter entsetzt. Lehnau lehnte sich weit zurück und lachte hinauf: »Das hat Falk auch immer gesagt. Gut, ich bin wahnsinnig. Dann bin ich genau der richtige für diesen Job. Ihr habt keine Chance. Eure Vernunft ist veraltet und hat nichts zu sagen. Der Wahnsinn hat die Macht. Sieh, wo ich sitze. Und wo bist du?« »Ich?« Wetter dachte nach. Dann stand er auf, verbeugte sich wie ein Schauspieler am Ende der Vor-
stellung und sagte: »Ich bin nicht mehr allein.« Mit einem letzten Blick sah er Lehnaus Lächeln blaß über dem schwarzen Spiegel der Tischplatte schweben. Frau Kamiah wartete vor dem Biologenbunker. Sie kam von einem Gespräch mit ihrem Chef Weinhirn. Wetter drückte die Tür seines Autos auf. Sie schüttelte den Schnee vom Mantel und sprang schnell herein. Er rollte zum Schlagbaum und wartete auf ihren Bericht. Sie aber sah mit weiten Augen auf die verschneite Wagenburg vor dem Institut. Die Umzäunung und der Wassergraben wurden von Flutlichtbatterien bestrahlt. Während sie dem Portier zuwinkte, damit er den Schlagbaum aufklappen ließ, bückten sich auf Wetters Seite soldatische Gestalten und kontrollierten mit dem Finger am Abzug die Hintersitze. Wetter mußte aussteigen und den Kofferraum öffnen. Endlich waren sie auf der Straße. Mannschaftswagen säumten sie auf beiden Seiten und schienen tief gestaffelt in den Feldern zu parken. Im Rückspiegel flammte das Institut wie ein Fußballstadion während eines Spieles. »Wie im Krieg«, murmelte Wetter.
»Es ist mehr ein Manöver«, meinte Frau Kamiah, »man sammelt Erfahrungen über Großeinsätze. Das Ausmaß der Übung ist zugleich ein Argument für die Gefährlichkeit der Demonstration.« »Was hat Weinhirn gesagt?« Sie seufzte. »Ihm ist mein Fall unangenehm. Ein paar Kollegen haben verlangt, daß ich wieder eingestellt werde, der Betriebsrat wird mich unterstützen. Weinhirn sagt, er selbst würde mich natürlich behalten, aber die Kündigung kommt von weit oben. Ich habe ihn gefragt, ob er etwas für meine Wiedereinstellung tun werde.« Sie lachte. »Was antwortete er?« fragte Wetter und streifte ihren Mantel mit dem Handrücken. Er hatte Sehnsucht, sie zu berühren. »Er weiß es nicht. Ich vermute, er wartet ab, wieviel Unterstützung ich bekomme.« Wetter lachte auch. »Ganz hoffnungslos klingt das nicht«, meinte er. Sie stimmte zu und legte ihre kalte Hand kurz an seinen Hals. »Ich kann dich nicht mehr sehen, ohne dich anzufassen«, sagte sie. Er schwieg. Der Schnee fiel unerschöpflich und schien von einem einzigen Punkt schräg über der Windschutzscheibe zu kommen. Wetter fühlte sich geborgen und froh. Es war unfair, weiter zu schweigen. Er
zählte bis drei und sagte schließlich: »Eine gute Seite hat diese Geschichte doch.« Sie verstand und lächelte. »Hältst du es für möglich«, fragte er nach einer Pause, mit äußerster Vorsicht, »daß wir einen Versuch machen, zusammenzuleben?« Er sah auf die Straße und war sehr aufgeregt. Als er zu ihr hinüberblickte, sah sie ernst geradeaus. Sie drehte den Kopf erst, als er wieder auf die Fahrbahn schauen mußte. »Ich halte es für möglich, ja«, sagte sie, »aber man sollte nichts überstürzen. Wir können alles in Ruhe ausprobieren.« Wetter runzelte enttäuscht die Stirn. Er meinte, sich eine Blöße gegeben zu haben, während Frau Kamiah ihre Deckung nicht verlassen hatte. Sie mußte seinen Ärger bemerkt haben, denn sie fügte hinzu: »Ich bin sehr froh, daß wir uns kennen. Ich glaube schon, daß es gehen wird.« Sie nickte langsam: »Ja.« Er entspannte sich und atmete mit vollen Backen aus. Sie blickten sich kurz an und lachten verlegen. Wir gehen an das Experiment mit größter Vorsicht heran, dachte Wetter, das ist ein guter Anfang. Es schneite die ganze Nacht. Irgendwann erwachte er und erschrak, weil über ihm falsche Möbel standen und das Fenster nicht am gewohnten Platz war.
Dann spürte er die Wärme und hörte den anderen Körper atmen. Er stand leise auf und trat ans offene Fenster. Die Straßenlampen wippten sacht hin und her, endlos sanken Flocken auf die ganze Stadt. Es war nach drei, die Zeit, da selbst die Stadt totenstill wird. Aus einer Seitenstraße trottete eine farblose Kolonne mit geschulterten Schaufeln. Sie verteilten sich an den Straßenrändern, bliesen Dampfwolken in die Luft, schlugen die Arme um die Brust und riefen sich kurze Sätze zu. Nach einer Minute war es wieder still, nur die Schaufelblätter scharrten über den Gehsteig. Wetter sah hin, bis einer sich aufrichtete, den Rücken streckte und ihn nackt am Fenster stehen sah. Sofort sahen alle herauf, stießen sich an, zeigten auf ihn. Wetter winkte ihnen wie der König ohne Kleider. Dann zog er sich zurück und steckte den abgekühlten Körper lächelnd ins warme Bett. Im Einschlafen flimmerte der Schnee hinter seinen Lidern. Er fiel auf die Schneearbeiter, auf das Institut und auf die Truppen, die es bewachten. Am Ende sah er Soldaten, die ihre Waffen von der Schulter streiften und damit Schnee zu schaufeln begannen: ein Bild des Friedens. Am anderen Morgen berichtete die Zeitung groß über das Aufgebot der Ordnungskräfte. Aus Interviews mit jungen Beamten ging hervor, daß man sie
aus fernen Teilen des Landes in Siegdorf zusammengezogen hatte. Sie waren auf einen Einsatz gegen Gewalttäter vorbereitet worden, die sie mit Knüppeln, Benzinbomben und Steinen anfallen würden. Als selbstverständlich wurde die Absicht der Demonstranten vorausgesetzt, den Brüter zu stürmen. Schon am Vorabend hatten sich an den Grenzen des Landes Schlangen von Autos und Bussen gebildet, die auf waffenähnliche Gegenstände durchsucht und zum Teil an der Einreise gehindert worden waren. Radfahrern hatte man die Fahrradketten, Motorradfahrern die Helme abgenommen, Autolenker mußten Wagenheber und Schraubenschlüssel abliefern. Es war verboten, Eier und Halstücher mitzuführen, da jene als Wurfgeschosse, diese als Gesichtsmasken gegen das Tränengas der Polizei verwendet werden könnten. Am Schluß wurde in kurzen Worten die Veranstaltung bei Tuff erwähnt. »Einige hundert meist jugendliche Zuhörer« hätten dort den bekannten Parolen der Atomkraftgegner gelauscht, Bauern gegen die Zerstörung der Landschaft protestiert. Es wurde hervorgehoben, daß auch Wissenschaftler des Siegdorfer Reaktorinstituts das Wort ergriffen hatten. Ein mit »lau« gezeichneter Kurzkommentar warnte vor einer »Fünften Kolonne« innerhalb des Instituts und kritisierte die Führungsschwäche der
Institutsleitung. »Liberalität ist ein Merkmal unserer Demokratie«, hieß es abschließend, »nur so ist erklärlich, wie eine derart riskante Demonstration überhaupt zugelassen werden konnte. Doch wenn Angestellte eines sicherheitsempfindlichen Betriebes Interna ausplaudern dürfen, wird es gemeingefährlich. Mit Blauäugigkeit ist unserer freiheitlichen Ordnung gewiß nicht gedient.« »Lau ist Lehnau«, vermutete Wetter. »Wir müssen aufbrechen«, sagte Frau Kamiah, »sonst kommen wir heute nicht bis zum Marktplatz.« Sie zogen sich warm an. Eingedenk der Warnungen in der Zeitung ließ Wetter sein Taschentuch daheim, und Frau Kamiah trug das Autowerkzeug in den Keller. Gleich am Stadtrand gerieten sie in die erste Kontrolle. Graue Wagen verstellten die Straße und ließen nur einen schmalen Zickzackweg frei. Sie mußten aussteigen, sich ausweisen, betasten lassen und wurden dabei aus einem Kombi von einem Mann in Leder photographiert. Als Wetter die verfrorenen Knabengesichter über den Kampfanzügen sah, den Finger am Abzug der Maschinenpistolen, bewegte er sich aus Angst vor einer mißverständlichen Geste nur noch ganz sparsam. Auf der Straße nach Siegdorf gab es zwei Straßensperren. Beide Male führte
man Leibesvisitationen und Wagenkontrollen durch. Ausflügler fluchten, Familien packten ihre Koffer aus und ein. Ein Polizist kritisierte Frau Kamiah, weil sie kein Pannenwerkzeug mitführte. Das sei gegen die Straßenverkehrsordnung. Er wollte sie zum Umkehren zwingen, bis Wetter seinen Institutsausweis zeigte. Ein älterer Beamter kam dazu, beruhigte den Kollegen und ließ sie weiterfahren. »Ich würde heute nicht dahin fahren«, sagte er freundlich spottend. »Siegdorf ist ein schönes Dorf, aber nicht heute.« Da riß der Himmel gerade auf, die Sonne fuhr zwischen den Schneewolken blendend hervor. Über einen Feldweg zog im Gänsemarsch eine Kette von Treckern und schaukelnden Landmaschinen. Sie trugen Schrifttafeln, die von der Straße aus nicht zu entziffern waren. Der Schnee blendete zu sehr. Sie kamen nur noch langsam voran, von Seitenstraßen krochen immer neue Wagen auf die Fahrbahn. Tief fliegende Hubschrauber der Polizei knatterten funkelnd über die Straße. Wetter sah, daß Köpfe sich aus den Autos vor ihm reckten, und kurbelte das Fenster herunter. Von oben dröhnte eine Stimme: »Alle Zufahrtswege nach Siegdorf sind wegen Verkehrsüberlastung gesperrt. Bitte kehren Sie um, wählen Sie eine weiträumige Umfahrung, oder stel-
len Sie ihr Fahrzeug ab. Hier spricht die Polizei…« Wie die meisten Fahrer parkte Frau Kamiah am Straßenrand. Aus dem Kofferraum holten sie Gummistiefel und begannen, über die Felder auf Siegdorf loszugehen. »Aber bitte«, lächelte Meredith, »für Sie habe ich immer Zeit.« Er nahm Wetters Arm, führte ihn an ein großes Fenster im Flur der Chefetage, setzte ihn neben eine Blattpflanze, sich selbst an ein niedriges Tischchen und beugte sich aufgeschlossen vor. »Es sieht so aus«, begann Wetter atemlos: »Wir werden nicht unterschreiben.« Meredith lächelte weiter, doch hinter den freundlich geschürzten Backen kam ein zweites Gesicht zum Vorschein, gelangweilt und enttäuscht. »Ingarden? Das gesamte Institut?« Wetter nickte. Er fühlte sich ein bißchen schuldbewußt, nur so wie der Überbringer einer bösen Nachricht, nicht wie einer, der selbst schuld am Gegenstand der Nachricht ist. Meredith faltete die sommersprossigen Hände und sah auf seine rosigen Fingernägel. Hinter dem grauen Bart arbeiteten die Kaumuskeln, als bisse ein Rennpferd ins Geschirr. »Dies bedeutet«, sagte Meredith gepreßt, »daß das Institut sich von den ei-
gentlich interessanten Dingen ausschließt. Wir können Leuten, die selbstverständliche Zusagen verweigern, keine Betriebsgeheimnisse anvertrauen.« Wetter nickte nur. Wann kamen die Drohungen? Meredith sah auf und fixierte Wetter mit kalter Freundlichkeit: »Der Effekt Ihrer aufsehenerregenden Arbeit ist dadurch gleich Null. Ich glaube kaum, daß wir auf Ihre Bedenken gegen unseren Kühler noch Rücksicht nehmen können. Das bedaure ich sehr.« »Sie würden den Brüter weiterbauen, obwohl vielleicht der Kühler platzen wird?« Meredith zuckte die Achseln: »Was kann ich tun? Der neue Projektleiter ist für höchste Eile. Durch Ihr Verhalten schließen Sie sich selbst aus der internen Diskussion aus. Sie wissen, wie ich Ihre Bedenken unterstützt habe. Jetzt sehe ich keine Möglichkeit mehr, den Bau hinauszuzögern.« Wetter überlegte. »Haben Sie keine Stimme im Projekt mehr? Sie können unsere Bedenken doch gegen Lehnau vertreten.« Meredith stand elastisch auf: »Das habe ich getan. Man hat geantwortet, der Kühler sei längst durchgerechnet und abgesegnet. Eine Gegenstimme, die innerhalb der KKU gute Gegengründe vorbringt, hätte vielleicht etwas ausrichten können. Jetzt werden Sie
von draußen sprechen, als Teil einer uns feindlichen Umwelt.« Meredith wandte sich ab, ohne jedoch fortzugehen. »Wird es Entlassungen geben?« fragte Wetter. Die Schultern des Maßanzugs hoben sich, der graue Hinterkopf schwankte hin und her. »Das weiß ich nicht«, murmelte Meredith, »Sie sind nicht von uns angestellt worden«, er sah über die Schulter, »noch nicht, nicht mehr, ganz wie Sie wollen. Vielleicht entläßt man euch alle und bildet eine neue Mannschaft, die kooperationsbereit ist. Das liegt nicht bei uns.« Noch einmal wandte er sich Wetter voll zu und entblößte die Zähne: »Sicher werden wir unseren Einfluß geltend machen, um Stimmen zum Schweigen zu bringen, die uns schaden wollen. Ihr Institut ist in letzter Zeit stark an uns gebunden worden.« Ohne zu grüßen, ging er, leicht vorgebeugt, ein guter Vater, dem die Kinder, denen er geneigt war, davongelaufen sind. Sie standen in einer Gasse, die einen schmalen Ausblick auf den Marktplatz bot. Links ein Bauzaun, rechts eine Gemischtwarenhandlung, die Rolläden zusätzlich mit Brettern verbarrikadiert. Vor ihnen erstreckte sich eine Ebene aus Köpfen, aus der durchhängende Transparente ragten. Hinten drängten Tausende zum Platz. Von allen Seiten marschier-
ten Kolonnen rufend und singend auf Siegdorf zu, darunter weiß geschminkte Gesichter mit schwarzen Ringen um die Augen, »Kampf dem Atomtod« skandierend. Wer am Ortsrand den Bahnübergang passierte, konnte einen Blick auf den Dorfbahnhof werfen. Dreierreihen behelmter Polizisten mit Plastikvisieren und Schilden umstanden ihn und ließen nur einen schmalen Durchgang frei, wo jeder, der den Zug verließ, sich ausweisen und durchsuchen lassen mußte. In den Pausen zwischen den Sprechchören hing ein erregtes Summen über den Köpfen. Vom Markt schallte das verzerrte Echo der Lautsprecher. Immer wieder knatterten Polizeihubschrauber im Tiefflug über das scheckige Meer und flogen enge Kehren. Aus den offenen Seiten lehnten Zivilisten weit in die Luft und filmten die Demonstration. Frau Kamiah zog an Wetters Hand. Sie stiegen durch eine Lücke im Bauzaun, kletterten über Sandhügel, gingen durch einen verlassenen Garten unter Obstbäumen in einen Hausflur und bis zu einer versperrten Tür. Auf den Zehenspitzen konnte Wetter durch eine Glasluke den Platz überblicken. Auf den Stufen der roten Ziegelkirche stand ein weißhaariger Mann über Transparenten und sprach ins Mikrophon. Eine Reihe Trecker flankierte das improvisierte Podium. Unter Applaus verließ der
Weißhaarige die Stufen. Wetter verrenkte den Kopf. Alle Fenster im ersten Stockwerk standen rund um den Platz offen. Kameras und Richtmikrophone wiesen schräg abwärts in die Menge. Dahinter standen Männer im Halbdunkel der Zimmer und musterten mit verschränkten Armen den Marktplatz. Zwei Hubschrauber zogen tiefe Kreise, Fäuste fuhren in die Höhe. Die Rufe erstickten im Rotorenlärm. Vor der Kirche stand ein neuer Redner und breitete die Arme aus. Es war Tuff. Die Hubschrauber verschwanden hinter den Dächern, die Rufe verstummten, nur das Bienensummen blieb. »Wir leben«, schrie Tuffs hohe Kinderstimme. Ein Hubschrauber tauchte zwischen den Kirchtürmen auf und wurde mit wütenden Buhrufen empfangen. Von hinten flog der zweite in den Platz und schwebte donnernd darüber hin. Als beide hinter der Kirche wendeten und der Schall einen Augenblick lang gebrochen wurde, vollendete Tuff den angefangenen Satz: »Wir leben in einer Demokratie!« Er machte eine Atempause, da kamen die Hubschrauber wieder. Aus der Menge erhob sich ein ungeheures Brüllen, Miauen und Gelächter, Transparente wurden geschüttelt. Ein großer Mund schrie in den Himmel. Papierflieger flitzten in die offenen Fenster, zwischen die Mikrophone und Kameras. Die
Männer traten langsam zurück und verschwanden im Dunkel. Ein Trecker richtete langsam seine Schaufel auf, eine Frau mit Kopftuch stand darin. Sie schwebte fast bis zur Höhe des ersten Stocks, bückte sich und warf eine Kartoffel in ein offenes Fenster, dann noch eine. Tuff schrie etwas in die Mikrophone, die Schaufel senkte sich und verschwand zwischen den wogenden Köpfen. Eine alte Frau stand hinter Wetter. Zitternd, ohne ein Wort, holte sie einen Schlüssel aus der Schürze, stemmte sich gegen die Tür und drückte sie einen Spalt weit auf. »Bitte!« flehte sie. Frau Kamiah und Wetter sagten etwas Beruhigendes und ließen sich hinaus auf den Platz schieben. Gegen Abend setzte die Demonstration sich in Bewegung. Frühauf hatte gesprochen, Erwin, sogar Frau Kamiah war irgendwie bis zur Kirche vorgedrungen und hatte über sich erzählt. Außer Tuff hatten noch zwei Bauern gegen die Zerstörung ihrer Landschaft durch den Brüter protestiert, und der Pfarrer von Siegdorf hatte vorgeschlagen, in Zukunft die Betroffenen rechtzeitig um ihre Meinung zu fragen. Wetter fand, daß Erwin am besten gesprochen hatte. Erwin hatte nur kurz geschildert, wie hier ein Unternehmen etwas baue, ohne es demokratischen
Entscheidungen zu unterwerfen. Bei einem Projekt dieses Ausmaßes und solcher Risiken sei das ungeheuer. Erwin hatte verlangt, die Demokratie nicht auf Wahlen zu beschränken, sondern auch sonst einzuführen. Er forderte eine Volksabstimmung über den Bau des Gasbrüters. Das Volk sei nicht zu dumm dafür. Wie man habe sehen können, gehörten auch Wissenschaftler zum Volk. Langsam drängte alles vom Markt in die Seitengassen. Die Transparente strafften sich. Wetter genoß es, die schmerzenden Beine wieder bewegen zu können. Schneewolken hingen über der tiefliegenden Sonne. In den Scheiben, die im ersten Stockwerk noch immer offenstanden, blinkte kalt das Abendlicht. Längst waren die Leute vom Rundfunk heimgefahren oder zur Spitze des Zugs gelaufen, der sich am Ortsende formierte. Was jetzt noch von oben auf den Marktplatz sah und Aufnahmen machte, tat das, um Datenbanken aufzufüllen. Einige Flocken trieben vorbei, bald kam der Schnee wie ein schweres Tuch herunter, das Licht wurde fahl und bleiern. Nach einer halben Stunde erstreckte der Zug sich vom Ortsausgang bis zum Horizont, wo der klobige Schlot des Brüters mit seiner glühenden Spitze im
letzten Licht stand. Die Staubstraße war zu beiden Seiten von Stacheldrahtrollen eingefaßt. Vier Hubschrauber zogen mit ersticktem Dröhnen durch das Schneetreiben, man sah die roten Positionsleuchten und hörte »Hier spricht die Polizei«. Die Lautsprecher der Polizei und die Megaphone der Demonstranten schrien durcheinander. Beide forderten, auf der Straße zu bleiben und den genehmigten Weg nicht zu verlassen. Bereits in tiefer Dunkelheit staute sich der Zug, angeführt von Kombis mit Lautsprechern und den Treckern der Bauern, auf einer weiten Grasmulde im Angesicht des Brüters. Dazwischen lag ein verschneiter Acker, eine Reihe Pappeln an einem Bach und weit dahinter der doppelte Zaun um das Institut. Man hatte dem Demonstrationsweg ein Ende genehmigt, das selbst den Gedanken an einen Sturm der Anlage entmutigen mußte. Dennoch hatte man, wie eine überflüssige Herausforderung, drüben tief gestaffelte Ketten von Helmen und Schilden aufgebaut, dahinter Lastwagen und gepanzerte Wasserwerfer. Von Flutlichtmasten wurde das Ganze wie eine Ausstellung blauweiß bestrahlt. Der Zug ergoß sich, von dieser Frontlinie etwa einen halben Kilometer entfernt, zäh wie erkaltende
Lava in die Grasschüssel. Es war bitter kalt, man war müde. Während der Schwanz des Zuges sich noch immer in die Mulde zusammenzog und letzte Redner aufriefen, den Widerstand nicht hier und heute enden zu lassen, begannen Stücke aus der Masse zu brechen und in verschiedene Richtungen davonzufließen. Die Blechwespen verfolgten die heimstrebenden Gruppen argwöhnisch, riefen ihnen zu, nur auf der Straße zu gehen, doch die war von immer noch nachrückenden Kolonnen verstopft. Frau Kamiah und Wetter gerieten mit einer Gruppe müder Demonstranten am Ende eines Feldweges zwischen den Mauern eines verlassenen Gehöfts in einen Hinterhalt. Dort waren drei Mannschaftswagen versteckt, an denen rauchende Polizisten in gescheckten Anzügen lehnten und mit den Füßen stampften. Ein letztes Mal mußten sie sich ausweisen. Ein Beamter kündigte ihnen allen Strafanzeigen wegen Flurbeschädigung und Teilnahme an einer nicht zugelassenen Demonstration an. Ein anderer sagte müde, er solle Schluß machen und die Leute heimgehen lassen. »Steht so etwas dafür?« rief er ihnen nach. Die Gruppe zerstreute sich. Als Wetter mit Frau Kamiah über die Äcker zur Straße stolperte, an der das Auto abgestellt war, unterhielten sie sich darüber, wie es
weitergehen solle. Frau Kamiah schlug vor, sich mit Sandner zu treffen und einen Text für das Sammeln von Unterschriften im Institut aufzusetzen. Wetter blieb stehen und zupfte sie traurig am Ärmel. Sie lächelte. Beide standen mitten in dem weiten Feld und hielten die Gesichter in den Schnee, der aus dem fleckigen Mond unendlich herabfiel.