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Februar 2003 FREEWARE
Nicht für den Verkauf bestimmt
Bernard F. Conners
Wartesaal...
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Scan by : der_leser K & L : Yfffi
Februar 2003 FREEWARE
Nicht für den Verkauf bestimmt
Bernard F. Conners
Wartesaal zum Tod Roman
Deutsch von Ulla H. de Herrera
Droemer Knaur
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Conners, Bernard F.: Wartesaal zum Tod / Bernard F. Conners Deutsch von Ulla H. de Herrera München: Droemer Knaur, 1984. Einheitssacht.: Dancehall (dt.) ISBN 3-426-19112-1
1. Auflage © Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München 1984 Titel der amerikanischen Originalausgabe »Dancehall« Copyright © 1983 by Bernard F. Conners Umschlaggestaltung: Graupner + Partner Satz: acomp, Wemding Druck und Einband: Freiburger Graphische Betriebe GmbH Printed in Germany ISBN 3-426-19112-1
Am 4.Juni 1982 tauchte im Lake Placid, New York, auf der Höhe von Pulpit Rock aus etwa hundert Meter Tiefe die Leiche einer jungen Frau auf. Infolge der extrem niederen Wassertemperatur war der Leichnam, der laut ärztlichem Befund zwanzig Jahre auf dem Boden des Sees gelegen hatte, bemerkenswert gut erhalten. Die Behörden konnten die Identität der Frau nicht feststellen, gelangten aber zu dem Schluß, daß sie eines gewaltsamen Todes gestorben sei.
Vorwort GEFÄNGNIS GREEN HAVEN STORMVILLE, NEW YORK SEPTEMBER 1984 Es war das Ende eines Tages, das Ende eines Lebens. Der Tod schwebte mit der Herbstnacht herein und senkte sich, die Geräusche der Lebenden dämpfend, auf die düsteren Backsteingebäude. Die Insassen, die Wachtposten auf den Türmen, die Demonstranten, die sich zum Gebet bei Kerzenlicht unter der langen grauen Mauer versammelt hatten, sie alle spürten seine Gegenwart, während sich eine beklemmende Stille über das ausbruchsichere Gefängnis von Green Haven legte. Bei Einbruch der Dunkelheit flammten Lichter auf und bildeten helle Ketten, die einzelne Bereiche innerhalb des Geländes abgrenzten. Zwischen der Mauer und den Gebäuden war Niemandsland – ein schmaler Korridor, in dem das leiseste Geräusch, die geringste Bewegung die Wachtposten oben auf den Türmen alarmieren würde. Auf einer Seite waren die Gefängniswäscherei, die Turnhalle, die Maschinenwerkstatt, das Kraftwerk Für gewöhnlich lagen sie alle im Dunkeln. Aber an diesem Abend brannten im Kraftwerk die Lichter. Direkt dahinter sah man erleuchtete Fensterreihen in Gebäude Nr. 1. Dies war der Trakt, der Green Havens eintausendneunhundert Insassen beherbergte. Um elf Uhr wurden dort die Lichter gelöscht. Dasselbe galt für Gebäude Nr. 2, wo sich die Krankenstation des Gefängnisses befand. Die Ausnahme bildete ein kleiner Aufbau auf dem Dach. Dies war die Sonderabteilung von Green Haven. Ebenso wie das Kraftwerk des Gefängnisses wäre sie für gewöhnlich nach 5
dreiundzwanzig Uhr dunkel. Aber an diesem speziellen Abend war sie hell erleuchtet. In der Sonderabteilung gab es zwei Räume. Der erste, eine kleine Zelle, die wenige im Gefängnis je gesehen, von der jedoch alle gehört hatten, war die Todeszelle, der »Wartesaal zum Tod«. Daneben befand sich der Hinrichtungsraum, in dem der siebzig Jahre alte elektrische Stuhl des Staates New York stand – derselbe Stuhl, auf dem so berüchtigte Persönlichkeiten wie Julius und Ethel Rosenberg und die schöne Ruth Snyder hingerichtet worden waren. Es war jetzt sieben Minuten vor elf, Häftling 1077, in eine graue Sträflingsuniform und dunkle Filzpantoffeln gekleidet, saß auf einem Eisenbett und rauchte eine Zigarette. Das Vorderteil der Bluse war aufgeschlitzt und lose wieder zusammengeheftet worden, damit man es später leicht öffnen und ein Stethoskop einführen konnte. Ein kleiner Fleck auf dem Kopf von Nr. 1077 war kahlgeschoren, um den direkten Kontakt mit einer Elektrode zu ermöglichen, die am elektrischen Stuhl befestigt war. Vor der Zelle saß ein uniformierter Wärter. Er war sichtlich nervös, Häftling 1077 hingegen wirkte bemerkenswert ruhig. In genau fünf Minuten würden zwei Männer erscheinen, die Tür der Zelle öffnen, Nr. 1077 bei den Armen nehmen und zügig um eine Biegung des Korridors in den Hinrichtungsraum marschieren. Hier würde der Häftling in einem genau festgelegten Ritual vor zwanzig Zeugen auf den Stuhl geschnallt werden. Man würde Elektroden am Kopf und am rechten Bein befestigen, und dann würde an der Schalttafel ein langer, schwarzer Hebel umgelegt werden. Das laute Pfeifen des Stroms würde die Stille durchbrechen, während man eine erste elektrische Ladung von zweitausend Volt durch den Körper des Häftlings jagte. Nach drei Sekunden würde die Spannung für fünfundsiebzig Sekunden auf fünfhundert Volt verringert (um eine unnötige Verbrennung des Körpers zu vermeiden), und dann schnell
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wieder auf zweitausend Volt erhöht werden. Das Verfahren würde man dreimal wiederholen. Beim ersten elektrischen Schlag würde das Gehirn bei einer Temperatur von über fünfundneunzig Grad verkohlen und der Körper nach vorn gegen die Riemen fallen. Ein lautes, gurgelndes Geräusch würde ertönen, während die Luft aus den Lungen entwich. Ein Knistern, beinahe ein Zischen, würde vom Stuhl ausgehen. Funken würden aus den Elektroden sprühen. Der Körper würde sich leuchtend rot färben, was jedoch durch Kapuze und Kleidung für die Zeugen nicht sichtbar sein würde. Der Zeigefinger der rechten Hand würde sich ganz langsam heben, und aus der Totenkappe würde ein graublaues Rauchwölkchen aufsteigen, emporschweben und sich an der Decke fangen. Ein schwirrender Ventilator an der Decke, direkt über dem Stuhl, würde den Geruch des Todes beseitigen, während der Gefängnisarzt die Untersuchung vornehmen würde. Diese Untersuchung würde kein Lebenszeichen mehr finden. Der Tod würde schnell gekommen sein … so wie er vor zweiundzwanzig Jahren in einer dunklen Sommernacht am Lake Placid gekommen war.
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Erster Teil LAKE PLACID, NEW YORK JULI 1962
1 »Police!« Der Mann hinter dem Schreibtisch schreckte auf. »Sagten Sie police?« Sein strenges Gesicht nahm einen griesgrämigen Ausdruck an. »Warum sollte ich die Polizei nach Ihrer Adresse fragen?« »Nein, nein«, rief das Mädchen, das ihm gegenüber saß. Sie rutschte verlegen auf ihrem Stuhl hin und her, und in ihren braunen Augen blitzte Panik auf. »Ich sagte Astor Place – ›place‹, nicht ›police‹. Place!« Sie wiederholte die Adresse langsam, aber mit ihrem New Yorker Akzent klangen die Worte tatsächlich wie »ask the police«. »Da wohne ich.« »Es ist dieser Akzent«, sagte der Mann mit mißbilligendem Kopfschütteln. »Sie sollten versuchen, deutlicher zu sprechen.« Seine Ermahnung half wenig. Ann Conway bewarb sich um eine Stellung, und ihr war unbehaglich zumute. Sie war nicht in ihrer gewohnten Umgebung. Bis zu diesem Morgen war sie erst einmal in ihrem Leben über Yonkers hinausgekommen, und zwar als ihr Vater, der von ihrer Mutter getrennt gelebt hatte, in Poughkeepsie gestorben war. Und jetzt war sie hier in Lake Placid, das ihrer vagen Vermutung nach irgendwo in der Nähe von Kanada lag. »Woher wußten Sie, daß wir Kellnerinnen anstellen?« fragte der Mann. »Ich habe das Schild in der Stadt gesehen, als der Bus hielt, weil jemand aussteigen wollte. Ich war auf dem Weg nach Saranac Lake.« Sie hatte es kaum ausgesprochen, da bereute sie es bereits. 8
»Was wollten Sie in Saranac?« Ann schluckte schwer und wandte den Blick ab. Es war besser, ihm nicht zu sagen, daß sie ihre Mutter hatte besuchen wollen. Er würde sich erkundigen, wo Mutter lebte, und wenn er erfuhr, daß man sie vor kurzem in die Lungenheilanstalt von Raybrook eingewiesen hatte, würde er bestimmt fragen, ob Ann sich in letzter Zeit hatte untersuchen lassen. Die Leute waren unberechenbar, wenn es um Tbc ging. »Ich wollte mir eine Stellung suchen.« Das stimmte. Sie mußte eine Arbeit in der Nähe ihrer Mutter finden. Der Mann lehnte sich in seinem Sessel zurück, verschränkte die Arme und trommelte mit den Fingern auf seinen Bizeps. Er mochte um die Fünfzig sein, hatte graues Haar, kalte graue Augen und einen schmallippigen Mund. Die Falten in der Stirn und um den Mund ließen darauf schließen, daß er vorwiegend verdrießlicher Stimmung war. Sein starrer, abschätzender Blick hinter der randlosen Brille verunsicherte Ann zusehends. »Haben sie schon in Saranac gearbeitet?« fragte er. »Nein, Sir.« »Wie alt sind Sie?« »Neunzehn.« »Wo haben Sie bisher gearbeitet?« »Das ist eine gute Frage.« Ann stieß ein kurzes, nervöses Lachen aus. »Ich hatte bisher nur einen einzigen Job – und zwar im Geschäft meiner Mutter. Sie betrieb einen Geschenkladen in der Second Avenue. Ich hab bis vor ein paar Wochen dort gearbeitet.« »Das heißt, Sie haben keine Erfahrung als Kellnerin.« »Ich bin sicher, wenn ich mir ehrlich Mühe gebe, kann ich es schnell lernen.« Sie ließ der Bemerkung ein strahlendes Lächeln folgen. »Und ich könnte die Stellung wirklich gebrauchen.« Ihr Eifer schien ihn zu erweichen. »Für gewöhnlich stellen wir niemanden so vom Fleck weg ein. Aber ich glaube, wir
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können Ihnen etwas Vorübergehendes geben. Es fehlen Arbeitskräfte im Speiseraum. Wir haben da gerade eine Tagung von Werbefachleuten.« Er nahm den Zettel zur Hand, auf den er ihren Namen und ihre Adresse geschrieben hatte, kritzelte seine Initialen darunter und reichte ihr das Blatt über den Tisch. »Bringen Sie dies hinunter zu Miss Hallenbeck. Sie sitzt in dem Büro, durch das Sie reingekommen sind.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Beeilen Sie sich. Das Büro schließt in wenigen Minuten. Sie können morgen früh wiederkommen, um die Bewerbungsformulare auszufüllen.« »Oh, ich bin Ihnen wirklich dankbar …« »Schon gut.« Der Mann stand auf, um anzudeuten, daß ihn woanders wichtigere Angelegenheiten erwarteten. Ann verließ mit klopfendem Herzen das Büro. O Gott, wie nötig brauchte sie diesen Job. Sie hatte nur noch siebenundvierzig Dollar, und ihre Zukunft sah düster aus. Tatsächlich war die Unterredung leichter gewesen, als sie erwartet hatte. Möglicherweise würde es am nächsten Morgen schwieriger sein. Sie mußte noch die Bewerbungsformulare ausfüllen. Aber das war morgen. Für den Augenblick war sie angestellt. Sie machte einen kleinen Luftsprung. Ihr war unsagbar leicht zumute. Es war nicht schwer zu verstehen, weshalb Ann Conway vor zwei Jahren zum beliebtesten Mädchen ihrer Klasse gewählt worden war. Ihre fröhliche, unbeschwerte Art und ein fast immer freundliches Gesicht hatten ihr die Zuneigung ihrer Mitschülerinnen in der St. Catherine’s High School gewonnen. Aber nicht nur bei den Mädchen war Ann gut angeschrieben. Sie sah ziemlich durchschnittlich aus mit ihrem dunkelbraunen Haar, der kleinen Nase und den etwas schiefstehenden Zähnen. Doch wenn sie lächelte, hatte sie auf Anhieb Erfolg bei den Jungen. Ihr Lächeln vermittelte den Eindruck, daß sie mit sich selber glücklich sei und mehr als bereit, dieses Glück mit anderen zu teilen.
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Da, wo ihr sympathisches Gesicht und ihre gewinnende Art die Männer einmal nicht anzogen, tat es ganz gewiß ihre Figur. Sie war eins siebenundsechzig groß, hatte lange, schön geformte Beine, schmale Hüften und eine schlanke Taille. Allerdings beeinträchtigte sie ihr Erscheinungsbild ein klein wenig dadurch, daß sie etwas die Schultern hängen ließ – ein Überbleibsel aus der Zeit, als sie die Arme über der Brust zu kreuzen pflegte, um ihre schwellenden Brüste vor den Nonnen von St. Catherine’s zu verbergen. Vielleicht waren es einige der genannten Eigenschaften, die den Personalchef des exklusiven Adirondack Clubs bewogen, sie anzustellen, noch ehe sie sich offiziell um einen Posten beworben hatte. Eine solche Lockerung der Normen des Clubs war am anderen Ende des Korridors, in Eleanor Hallenbecks Amtsbereich, freilich nicht üblich. Sie stand einem mit etwa sechzig Kellnerinnen und Pikkolos besetzten Speisesaal vor und duldete keinen Fehler. Unter ihrer Herrschaft bestand der Ansporn zu disziplinierter Arbeit in einer ausdrücklichen Verwarnung beim ersten Versäumnis und der Androhung fristloser Entlassung im Falle eines weiteren Vergehens. Die Kündigungsquote unter den Angestellten schwankte je nach der Stimmung der Gäste und dem Zustand von Eleanor Hallenbecks Magengeschwür. In diesem Augenblick war sie verärgert, weil ein Gast sich darüber beschwert hatte, daß man einen Angehörigen ihrer Belegschaft während des Dienstes habe essen sehen. Grimmige Augen begrüßten Ann, als sie das Büro betrat. »Hallo, mein Name ist …« Sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden. »Ihre Personalien, bitte.« Die Frau streckte, fast ohne aufzusehen, die Hand aus. »Wo haben Sie früher bedient?« Ann Conways Hoffnungen auf den Job stürzten zusammen. »Oh … nur zu Hause, Madam.« 11
»Wo waren Sie zuletzt angestellt?« »Bei meiner Mutter. Sie hatte einen Geschenkladen in der …« »Es ist streng verboten, im Speisesaal zu essen. Ist das klar?« Ann zögerte überrascht, dann nickte sie. »Lassen Sie sich von Frances im Wohnheim Ihre Uniform geben. Melden Sie sich heute nachmittag um fünf Uhr in der Küche.« Ann war kaum draußen, da wurde die Tür hinter ihr geschlossen. Sie war froh und erleichtert. Für den Augenblick hatte sie einen Job und eine Bleibe. Wenn sie sich geschickt anstellte, würde man sie vielleicht behalten. Es würde eine herrliche Überraschung für ihre Mutter sein. Ann hatte ihr nichts von ihrem Plan gesagt, sich eine Stellung in der Nähe von Raybrook zu suchen. Sie nahm sich vor, am nächsten Morgen zu ihr zu gehen. Ein Hoteldiener kam mit einer Schaufel in der Hand auf sie zu. »Hallo!« grüßte sie freundlich. »Können Sie mir sagen, wie ich zum Wohnheim komme?« Nachdem sie die Auskunft erhalten hatte, blieb sie noch einen Augenblick stehen und sah sich um. Glitzernd und von hohen Bergen umrahmt erstreckte sich in der Ferne der herrliche Lake Placid. Sein Anblick verursachte ihr ein Gefühl des Unbehagens; an den Trubel von Manhattan gewöhnt, hatte sie den Eindruck, von Totenstille umgeben zu sein. Die dicken weißen Wolken sahen aus, als seien sie nur über die Berge gemalt. Der See hat etwas seltsam Bedrohliches an sich, dachte sie.
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2 Eleanor Hallenbeck war umgänglich im Vergleich zu ihrem Kollegen in der Küche. Alex Gunder, der Chefkoch, war ein Riese von einem Mann, dessen strenges Regiment das Personal in Angst und Schrecken hielt. Er hatte erst kürzlich seinen siebenjährigen Dienst als Stabsbootsmann im U-Boot-Korps beendet und konnte sich nur mühsam wieder ans Zivilleben gewöhnen. Schwerfällig zwischen den Küchengeräten umherpolternd, schwitzend, fluchend, Anweisungen in ein Mikrophon brüllend, befehligte er ein U-Boot unter Beschuß, und jeder Mißgriff, jeder Fehler waren Krisen von ungeheurer Tragweite, die eine Kellnerin zum Weinen bringen oder einen Hilfskoch die Anstellung kosten konnten. Ann Conways Aufgabe war es, einen angewärmten Behälter in Form eines großen Brotkastens herumzutragen und den Gästen daraus heiße Brötchen zu servieren. Nachdem sie sich mit der Prozedur vertraut gemacht hatte, ging sie unter den wachsamen Blicken von Miss Hallenbeck gewandt zwischen den Tischen umher und hob anmutig den Deckel des Behälters, um die Gäste wählen zu lassen. In einer frisch gestärkten hellbraunen Uniform mit dunkelbraunem Besatz, der zu ihrer Haarfarbe paßte, bot sie ein reizendes Bild unter dem Personal im Speisesaal. Sie war etwa eine Stunde auf ihrem Posten, als sie einen hochgewachsenen, gutaussehenden blonden Pikkolo bemerkte, der mit einer älteren Kellnerin in einer Küchenecke stand. Als er in ihre Richtung blickte, hatte sie den Eindruck, daß er über sie sprach. Plötzlich ertönte ein Strom von Verwünschungen auf der anderen Seite, wo Alex den Fehler eines Angestellten aufgedeckt hatte. Erschrocken steuerte Ann wieder auf den Speisesaal zu. Das kleine Orchester, das für die Unterhaltung der Gäste
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sorgte, spielte gerade einen Walzer, als sie aus der Küche kam. Sie blieb stehen und blickte über die Tische und die flackernden Kerzen hinweg auf die Tanzfläche, wo sich einige Paare zu den einschmeichelnden Klängen drehten. »Warum stehen Sie hier herum?« fragte Miss Hallenbecks Stimme dicht an ihrem Ohr. »Sehen Sie nicht, daß Mr. Billings etwas wünscht?« Erst jetzt bemerkte Ann den vierschrötigen Mann mittleren Alters, der ihr von der anderen Seite des Saales her zuwinkte. Sie entschuldigte sich hastig bei Miss Hallenbeck und eilte zu dem Tisch, wo der Gast mit zwei ältlichen Damen saß. »Ah, da sind Sie ja.« Mr. Billings lächelte gezwungen, als Ann den Deckel des Behälters hob. »Ich dachte schon, Sie hätten uns vergessen. Aber ich sehe keines von den süßen Brötchen. Sie wissen doch, die mit den Rosinen?« Er blickte fragend auf. »Wir hatten sie gestern abend.« »O ja«, sagte Ann. »Ich weiß, welche Sie meinen. Es könnte sein, daß sie ausgegangen sind. Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen, werde ich mich erkundigen.« In der Küche fragte Ann eine ältere Kellnerin namens Lucy, die ihr vorher geholfen hatte, um Rat. »Ich an deiner Stelle würde einfach sagen, wir haben keine mehr«, erklärte Lucy. »Du kannst aber in der Vorratskammer nachsehen.« »Sie suchen die Vorratskammer?« fragte eine Stimme hinter ihr. Ann drehte sich um und sah sich dem Pikkolo gegenüber, den sie schon zuvor bemerkt hatte. Er hielt ein Tablett mit Gewürzen in der Hand. »Kommen Sie, ich zeig Ihnen den Weg«, sagte er lächelnd. Ann zögerte. »Er ist nett, nicht wahr?« fragte Lucy. »Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre …« »Lucy, Tisch zwölf in der Nähe der Tür 14
hat einen Wunsch«, rief eine jüngere Kellnerin, die aus dem Speisesaal kam. »Wie kommst du zurecht?« fragte sie, an Ann gewandt. »Ich habe gerade mit ihr über Dave gesprochen«, sagte Lucy. »Oh, er ist süß«, murmelte das Mädchen. »Nur verbringt er leider seine ganze freie Zeit im Wald. Wir wollten ihn letzte Woche zu einer Party einladen, aber er mußte eine Eulenfamilie betreuen. Er sagte, die Mutter habe die Jungen verlassen, und er müsse nach Hause gehen, um sie zu füttern. Oh, oh, Alex!« Ann wandte sich um und sah, daß der Chefkoch sie vom anderen Ende der Küche her finster anblickte. Lucy und die jüngere Kellnerin machten sich eilig aus dem Staub. Ann hob den Brotbehälter vom Boden auf und folgte dem Pikkolo durch eine Schwingtür in den Korridor hinter der Küche. »Hier herein«, rief er. Ann betrat einen großen Raum mit mannshohen Regalen an den Wänden, auf denen Vorräte für die Küche standen. Sie stellte den Behälter auf einen Tisch und glättete verlegen ihren Rock. »Gerade angefangen?« fragte der Pikkolo. »Ja, heute nachmittag.« Sie konnte ihn jetzt zum erstenmal genauer betrachten. Er war Anfang Zwanzig und sah aus der Nähe noch besser aus, als sie gedacht hatte. Hohe Backenknochen unterstrichen seine tiefliegenden blauen Augen. Widerspenstiges blondes Haar, von der Sonne gebleicht, fiel ihm in die Stirn. Seine Züge waren weich, beinahe zart, und sein mageres Gesicht verlieh ihm das Aussehen eines Halbwüchsigen. »Ich bin Dave Powell.« Sein Lächeln enthüllte blendend weiße Zähne. Ann bemerkte, daß ein Schneidezahn angeschlagen war. »Freut mich. Ich heiße Ann Conway.« Dann
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herrschte einen Augenblick verlegenes Schweigen. Ann sah sich nach den Rosinenbrötchen um. »Bist du hier aus der Gegend? Ich darf doch du sagen, oder?« Dave begann, die Gewürze vom Tablett auf ein Regal zu stellen. »Ja, sicher. Ich komm aus New York. Bin erst heute angekommen …« Das Geräusch der Schwingtür zur Küche ließ sie innehalten. Lucy erschien mit einem großen Eisbecher mit Früchten und Schlagsahne. »Für dich, mein Schatz.« Sie stellte den Becher auf Davids Tablett. »Laß das schnell verschwinden.« »Vielen Dank, Lucy«, sagte Dave. »Das ist sehr lieb von dir.« »Schon gut.« Die Kellnerin wehrte seinen Dank ab und ging zur Tür. »Wenn die anderen Jungs uns so bereitwillig helfen würden wie du, ließe es sich hier sehr angenehm arbeiten.« Als Lucy fort war, nahm Dave den Eisbecher auf. »Möchtest du etwas?« »Nein. Nein, vielen Dank.« Ann blickte auf das Schild an der Wand hinter ihm: ESSEN VERBOTEN – ZUWIDERHANDLUNGEN WERDEN MIT ENTLASSUNG BESTRAFT. »Anscheinend gibt es hier keine Brötchen« sagte sie während sie sich den Riemen wieder über die Schulter legte und den Kasten vor den Bauch nahm. Sie zögerte, dann deutete sie mit dem Kopf auf das Schild. »Wird man dich nicht rauswerfen, wenn du beim Essen erwischt wirst?« Er lächelte und zog die Brauen hoch. Sie wirkten sehr hell gegen seine Sonnenbräune. »Ich wünschte, du würdest mir nicht den Appetit verderben.« Ann war im Begriff hinauszugehen, da fragte er: »Wirst du
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den ganzen Sommer über hierbleiben?« Er blickte von seinem Eisbecher auf und fixierte sie mit seinen blauen Augen. Ann spürte ein angenehmes Prickeln auf der Haut. »Vorläufig bin ich nur als Aushilfe angestellt, aber ich hoffe …« Das Geräusch der Schwingtür und ein Getöse auf dem Korridor unterbrachen sie. »Erzähl mir nicht, daß du es nicht finden kannst!« brüllte eine tiefe Stimme. »Ich weiß verdammt genau, daß es dort drinnen ist!« »Du lieber Himmel!« Dave schluckte einen Mundvoll Eis hinunter. »Es ist Alex!« Er hielt den Eisbecher auf Armeslänge als ob er jeden Augenblick explodieren könnte, von sich weg und suchte verzweifelt nach einem geeigneten Versteck Da er nichts Besseres finden konnte, öffnete er den Behälter, den Ann umgeschnallt hatte, und ließ den vollen Becher auf die Brötchen fallen. Er klappte gerade den Deckel zu, als Alex und einer seiner Gehilfen in den Vorratsraum stürmten. »Was zum Teufel macht ihr beiden hier? Warum seid ihr nicht draußen, wo ihr hingehört?« Alex, der wütend war, weil man ihn in einem kritischen Augenblick aus der Küche geholt hatte, wollte sich keine Erklärung anhören. »Schaut gefälligst, daß ihr in den Speisesaal kommt!« Ann ging hastig hinaus, aber ihre Schwierigkeiten hatten erst begonnen. An der Küchentür wurde sie von einer mürrischen Miss Hallenbeck empfangen. »Wo sind Sie gewesen, Mädchen? Mr. Billings wartet. Kommen Sie.« Zitternd vor Angst folgte Ann ihrer Vorgesetzten in den Speisesaal. Der Behälter war die reinste Zeitbombe. Das muß ein Alptraum sein, dachte sie bei sich, während sie den Speisesaal durchquerten. »Endlich«, sagte Mr. Billings, als er sie kommen sah. »Es tut uns sehr leid.« Eleanor Hallenbecks eben noch so strenge
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Miene nahm den liebenswürdigen Ausdruck an, den sie vor den Gästen stets zur Schau trug. »Es hat eine Verzögerung in der Küche gegeben.« Der Ton, in dem sie das sagte, ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, bei wem die Schuld für die Säumigkeit zu suchen sei. Ann hoffte inbrünstig, daß Miss Hallenbeck jetzt, nachdem sie sich der Verantwortung enthoben hatte, verschwinden würde. Aber statt dessen stellte sie sich direkt hinter Ann. Ann zögerte. Die Temperatur im Brotbehälter betrug mindestens fünfunddreißig Grad. Das Eis würde inzwischen geschmolzen sein und sämtliche Brötchen durchweicht haben. Vielleicht wäre es das beste, ohnmächtig zu werden. Als sie den Blick zur Seite wandte, sah sie Dave Powell. Er hatte sich geschickt in die Nähe des Tisches manövriert und beobachtete sie entsetzt. Hilflos erwiderte sie seinen Blick. »Hm … junge Dame. Hm … hätten Sie etwas dagegen?« Mr. Billings blickte irritiert von Anns Gesicht auf ihre Hand, die den Deckel mit eisernem Griff zuhielt. Sie hatte keine Wahl. Ann klappte den Deckel auf. Mr. Billings’ Mund öffnete sich, aber er brachte keinen Ton heraus, während er ungläubig in den Behälter starrte. Verblüfft hob er den Blick und sah Miss Hallenbeck an. »Brötchen á la mode?« Seine Reaktion veranlaßte Miss Hallenbeck, selbst in den Kasten zu schauen. Für Ann Conway war es ein langer Tag gewesen. Da sie nicht wußte, was sie sonst tun sollte, fing sie an zu weinen.
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3 Den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen und einen reumütigen Ausdruck auf dem Gesicht, wartete Dave auf Ann, als sie aus dem Wohnheim kam. Jeglicher Groll, den sie empfunden haben mochte, verschwand angesichts seiner Zerknirschung. »Es tut mir ehrlich leid«, begann er, als sei er nicht sicher, wie sie reagieren würde. »Nun, wahrscheinlich ist es ganz gut so«, sagte Ann. »Ich wollte mir sowieso lieber einen Job in Saranac Lake suchen.« »Ich bin froh, daß du nicht wütend auf mich bist.« Er entspannte sich merklich. »Anscheinend bin ich in Panik geraten, als ich Alex kommen hörte. Ich wünschte, es gäbe etwas, das ich für dich tun könnte.« Ann fühlte, daß ihre Knie weich wurden. Die Sonne ging unter, und im Zwielicht wirkte der blonde Dave noch attraktiver als zuvor. Sie überlegte, wie sie selbst wohl aussehen mochte. Nachdem Miss Hallenbeck sie entlassen hatte, war sie eilig fortgegangen. Die Aufseherin des Wohnheims hatte offensichtlich Mitleid mit ihr gehabt und gemeint, man werde ihr sicherlich gestatten, über Nacht zu bleiben. Aber Ann hatte abgelehnt; es wäre ihr peinlich gewesen, nach der Kündigung den anderen Kellnerinnen zu begegnen. Sie nahm den Koffer in die linke Hand und glättete ihr Haar. »Ich hoffe, du wirst künftig mehr Glück haben, wenn du in der Vorratskammer ißt«, sagte sie mit einem matten Lächeln. »Ich werde nicht mehr in der Vorratskammer essen. Ich bin auch rausgeflogen.« »O nein!« »Ich habe versucht, der alten Ziege zu erklären, daß es nicht deine Schuld war, aber sie wollte nichts hören.« Er zuckte die
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Achseln. »Ich hab getan, was ich konnte.« »Du hast es ihr gesagt? Oh, das hättest du nicht tun sollen.« Sie schwiegen beide verlegen, und Ann wandte sich zum Gehen, als er sagte: »Kann ich dich irgendwohin mitnehmen? Mein Wagen steht dort drüben.« Er deutete auf ein glänzendes schwarzes Kabriolett. Das Verdeck war zurückgeschlagen, so daß die rot gepolsterten Sitze zu sehen waren. Der Wagen war alt, aber tadellos gepflegt. Ann zögerte. »Nun … vielleicht könntest du mich in der Stadt absetzen.« »Natürlich.« Dave nahm ihr den Koffer ab und ging zum Wagen. Nach wenigen Minuten fuhren sie am Seeufer entlang. Es war ein warmer Abend, und der Wind, der über den offenen Wagen fegte, wirkte angenehm erfrischend. »Was hast du jetzt vor?« fragte Dave. »Ich muß mir irgendwo ein Zimmer besorgen«, erwiderte Ann. Ihr war unbehaglich zumute. »Entweder hier oder in Saranac Lake. Aber ich bin nicht sicher, ob heute abend noch ein Bus fährt.« »Es ist kein Problem, nach Saranac zu kommen. Ich kann dich hinbringen. Es sind nur ein paar Kilometer. Allerdings wird es nicht leicht sein, ein Zimmer zu finden.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es ist schon spät, und an einem verlängerten Wochenende sind für gewöhnlich alle Hotels ausgebucht.« Ann war ratlos. Ihre Mutter würde sich Sorgen machen. Sie hatte seit zwei Tagen nicht mehr mit ihr telefoniert. Dave schien ihre Besorgnis zu spüren, denn er fuhr in unbeschwerterem Ton fort: »Hör zu, es gibt hier in der Stadt eine Pension. Vielleicht kannst du dort was bekommen. Keine Sorge, wir werden dich schon irgendwo unterbringen.« Er sah sie zuversichtlich an und lächelte. »Das ist doch das wenigste, was ich tun kann, nachdem du meinetwegen rausgeflogen bist,
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findest du nicht auch?« Die Pension war ein hohes, graues Gebäude, das in der Hauptstraße zwischen zwei Läden eingepfercht lag. Als sie davor hielten, sahen sie ein Schild in einem der Parterrefenster: »Besetzt.« »Das hatte ich befürchtet.« Dave stellte den Motor ab und wandte sich ihr zu. »Paß auf, Ann, wenn du willst, kannst du mit mir kommen. Ich wohne drüben am Lake Placid – auf einer Insel. Das Haus gehört einer befreundeten Familie. Sie lassen mich dort wohnen, während sie auf Reisen sind.« Zwei junge Männer schlenderten am Wagen vorbei. Einer von ihnen blieb kurz stehen. »Hallo, Dave. Alles klar für morgen abend?« »Ihr könnt euch auf mich verlassen.« »Es wird schwierig werden«, sagte der Junge. Er streifte Ann mit einem verstohlenen, abschätzenden Blick und ging seines Wegs. »Ich hoffe, der morgige Tag wird für dich nicht schwieriger werden als der heutige«, sagte Ann mit einem schiefen Lächeln. »Was? Oh, er spricht von den Lake Placid Majestics. Das ist eine Baseball-Mannschaft, zu der ich gehöre.« »Als was spielst du?« fragte Ann, ohne sich wirklich dafür zu interessieren. Es wurde dunkel, und sie war unschlüssig, ob sie sein Angebot annehmen sollte oder nicht. »Als Werfer. Hör zu, willst du im Haus meiner Freunde übernachten?« »Ich weiß nicht. Eine Insel? Wohnt außer dir noch jemand dort? Vielleicht sollte ich doch lieber nach Saranac Lake fahren?« »Wie du willst. Aber ich fürchte, du wirst nicht viel Glück haben.« Dave schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Warum siehst du dir das Haus nicht wenigstens an?« Er ließ den Motor an. »Dann kannst du immer noch entscheiden, was du tun willst. Wie findest du das?« »Hätte ich ein Zimmer für
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mich allein?« Sie runzelte die Stirn. »Ich meine, gäbe es …« »Oh, gewiß. Es gibt ein kleines Apartment über dem Bootshaus. Ich schlafe im Hauptgebäude.« Dave blickte zurück, um sich zu vergewissern, ob die Straße frei sei, dann fuhr er los. Er tätschelte Ann beruhigend den Arm. »Mach dir keine Sorgen.« Sie fuhren über die Hauptstraße auf den See zu. Nach wenigen Minuten kamen sie zum Hafen und stellten den Wagen auf einem Parkplatz neben einem großen roten Holzhaus ab, das unmittelbar am Seeufer lag. Davor erstreckte sich eine Landungsbrücke mit Tischen und Stühlen weit aufs Wasser hinaus. Das Haus war alt, aber frisch gestrichen. Als sie aus dem Wagen stiegen und über den Parkplatz gingen, hörte Ann Musik; ein leises rhythmisch klopfendes Geräusch, das unter ihren Füßen widerhallte. »Woher kommt denn die Musik?« fragte sie. »Aus dem Tanzpalast.« Dave deutete mit dem Kopf auf das Gebäude. »Er ist unten drin, geht nach hinten raus. Komm, laß uns was trinken. Das wird dir guttun.« Er führte sie um das Haus herum und ein paar Stufen hinunter zu einer Tür, über der in großen weißen Lettern stand: TANZPALAST Kein Zutritt für Minderjährige »Wie alt bist du?« fragte Dave, die Hand schon auf der Klinke. »Einundzwanzig«, sagte Ann rasch. Er sah sie ungläubig an. »Du brauchst ja nur achtzehn zu sein.« Der riesige Saal war gerammelt voll von jungen Leuten. An einer langen Bar standen die Gäste drei Reihen tief und suchten einen Platz zu ergattern. Auf der anderen Seite, durch eine Balustrade abgetrennt, befand sich die große Tanzfläche, auf der die Paare herumwirbelten. Auf einem Podium am hinteren Ende des Saales saßen fünf Musiker. 22
»Was möchtest du trinken?« fragte Dave, während er Ann zur Bar führte. »Das ist mir egal. Das gleiche wie du.« »Wie wär’s mit einem Gin Tonic?« » Einverstanden.« Während Dave die Getränke bestellte, verließen zwei Gäste die Bar. Ann setzte sich auf einen der Stühle. »Ein tolles Lokal. Du bist oft hier, nicht wahr?« »Ziemlich oft.« Dave hockte sich auf den anderen Stuhl. »Fast alle landen abends hier.« Die Getränke wurden serviert, und er griff nach seiner Brieftasche. »Laß, ich zahle für mich.« Ann holte ihr Portemonnaie heraus. »Nein, sei nicht albern.« Dave nahm einige Scheine aus der Brieftasche. Er behielt ein paar Dollar für sich zurück und reichte Ann den Rest. »Hier sind fünfundzwanzig Dollar. Ich wünschte, ich hätte mehr. Das wird dich über Wasser halten, bis du eine andere Stellung findest.« »Oh«, sagte Ann überrascht. »Nein, das kann ich auf keinen Fall annehmen. Vielen Dank, aber ich kann es wirklich nicht.« »Bitte, Ann.« Er versuchte, ihr das Geld in die Hand zu drücken. »Mir wäre wohler zumute. Ehrlich.« »Nein, nein.« Gerührt über seine Großzügigkeit, strich sie ihm über die Hand. »Trotzdem vielen Dank.« Mit einem leichten Achselzucken steckte Dave das Geld wieder in die Brieftasche. Er war sichtlich verlegen. Ann hob ihr Glas an die Lippen und nahm einen Schluck Das kalte Getränk schmeckte ihr gut. Sie stellte das Glas wieder auf die Theke und sah sich im Saal um. »Wo kommen all diese Leute her?« »Die meisten sind Studenten. Sie kommen im Sommer hierher, um zu arbeiten. Ebenso wie du.« Die Bemerkung beunruhigte sie. Hielt er sie etwa auch für eine Studentin? Sie hoffte, daß er sie nicht danach fragen würde. »Wo kommst du her?« fragte sie. »Aus Rochester.«
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»Und was hat dich hierhergeführt?« »Ich war auf der Cornell University. Das ist nicht weit von hier, in Ithaca. Viele von uns kommen in den Sommerferien in diese Gegend, um Geld zu verdienen. Und du?« »Ich komme aus New York. Manhattan.« »Das merkt man an deinem Akzent. New Yawk«, äffte er ihre Aussprache nach. Ann zuckte die Achseln. »Eure Art zu sprechen klingt für mich auch komisch.« Dave drehte den Kopf zur Seite und beobachtete die Musiker. Ann warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Er war ein verdammt hübscher Junge und wirklich sehr nett. Außerdem schien er sie zu mögen. »Gehst du hier in der Nähe aufs College?« fragte er. »Nein.« »Wo dann?« Sie zögerte. »In New York.« »Wo in …« »Ich kannte einmal einen Mike Powell«, fiel sie ihm rasch ins Wort, um das Thema zu wechseln. »Aber Powells gibt’s wohl ziemlich viele. Was für ein Name ist das eigentlich?« »Was soll das heißen?« fragte er überrascht. »Oh, du meinst, woher er stammt? Ich bin Pole.« »Pole? Mach keine Witze.« Sie schwieg nachdenklich. »Der Name klingt nicht polnisch.« »Nun, in Wirklichkeit haben wir ursprünglich Polanski geheißen, aber mein Vater hat das geändert. Er war Journalist, und er fand es praktischer, seinen Namen abzukürzen.« Sie schwiegen wieder eine Weile, dann fragte Dave noch einmal: »Du gehst in New York aufs College? Auf welches denn?« »Hunter.« Ann sagte es, ohne mit der Wimper zu zucken. »Hunter?« wiederholte Dave ausdruckslos. Sie sah ihn überrascht an. »Hast du noch nie etwas vom Hunter College gehört? Es ist in der Lexington Avenue, Ecke 68. Straße. Direkt an der Haltestelle der IRT«, setzte sie sicherheitshalber
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hinzu. »Bist du schon mal mit der IRT gefahren?« »Ich kenne mich mit U-Bahnen nicht sehr gut aus.« Nun, sie kannte sich damit aus, und sie wollte viel lieber darüber statt übers College sprechen. Es wäre besser gewesen, ihm die Wahrheit zu sagen, dachte sie bei sich. Sie hatte nie ein College besucht, und soviel sie wußte, war auch kein Mitglied ihrer Familie je auf der Universität gewesen. »Was ist dein Hauptfach?« fragte er. »Wie?« »Na dein Hauptfach, das du belegt hast?« Er sah sie aufmerksam an. »Mein Hauptfach?« Du lieber Himmel, sie mußte ihn schleunigst von dem Thema abbringen. »Hast du eine Ahnung, wieviel Uhr es ist? Ich glaube, es ist schon ziemlich spät.« Dave blickte auf seine Armbanduhr. »Zehn nach zehn. Willst du gehen?« »Es wäre vielleicht gescheiter. Ich bin seit halb sechs heute morgen auf.« »Okay, gehen wir.« Dave leerte auf einen Zug sein Glas und führte Ann durch die Menge zum Ausgang. Als sie an der Bar vorbeikamen, rief ein Barmixer Dave zu: »Ein Mädchen hat vorhin nach dir gefragt.« »Wer denn? Weißt du’s?« »Nein. Ich glaube sogar, es waren zwei. Ich hatte zuviel zu tun, um sie mir anzusehen.« Damit wandte er sich ab, um einen Gast zu bedienen. Als sie draußen waren, sagte Ann neckend: »Zwei Mädchen, hm? Mir scheint, Baseball ist nicht das einzige, womit du deine Zeit verbringst.« Er lachte. »Vermutlich waren es zwei Kellnerinnen, die ich zur Arbeit mitgenommen habe. Jetzt, wo ich entlassen bin, machen sie sich wahrscheinlich Sorgen, wie sie hinkommen sollen.«
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Auf der Uferpromenade war es dunkel. Sie gingen über eine Reihe von ineinandergreifenden Bootsstegen zu einem Pier, der weit in den See hinausragte. Der Vollmond, der bereits hoch am Himmel stand, verschwand ab und zu hinter silbergeränderten Wolken. Eine sanfte Brise, die gelegentlich vom See herüberwehte, brachte Erleichterung nach der drückenden Hitze und ließ das Wasser leise plätschernd ans Pfahlwerk schlagen. Sonst war kein Laut zu hören, und nur das Geräusch ihrer Absätze auf den hölzernen Planken durchbrach die Stille. Von dem Augenblick an, wo Ann den Pier betrat, war ihr beklommen zumute. Der weite, schwarze Spiegel des Sees wirkte furchterregend. Sie war froh, als Dave sie bei der Hand nahm. »Das Boot ist gleich dort hinten«, sagte er. »Gib acht, daß du nicht über dieses Seil stolperst.« »Weißt du, Dave, ich habe mir überlegt, daß diese ganze Geschichte sehr mühsam für dich ist. Vielleicht sollte ich doch lieber versuchen, ein Zimmer in Saranac zu finden.« Dave lachte. »Ich fange an zu glauben, daß du ein kleiner Feigling bist. Hör zu, es sind nur ein paar Kilometer auf den See hinaus.« Er griff fester nach ihrer Hand und zog sie mit sich. »Hier ist das Boot.« Ann sah die Umrisse eines zehn Meter langen Motorboots mit großer Kajüte. Sein Ausmaß flößte ihr Vertrauen ein. Dave stellte ihren Handkoffer, den er aus dem Wagen geholt hatte, ins Cockpit und sprang an Bord. Dann streckte er die Hand aus, um Ann zu helfen. »Setz dich hierher, während ich abstoße«, sagte er und führte sie zu einem Korbsessel im Heck. Dann ging er nach vorn und verschwand in der Kajüte. Kurz darauf sprang der Motor mit donnerndem Getöse an. Daves Kopf tauchte am Kajüteneingang auf. »Komm rein.« Drinnen wies er ihr einen Platz neben dem Ruder an. Es war stickig in der Kajüte, und 26
Ann war froh, als er die Bullaugen öffnete. »Woher weißt du, wohin du fährst?« fragte sie, während sie durch die Windschutzscheibe in die Dunkelheit spähte. »Ich habe diese Fahrt schon sehr oft gemacht. Man gewöhnt sich daran.« Dann herrschte Schweigen, und als sie aus dem Hafen auf den See hinaussteuerten, war nur das rhythmische Klopfen des Motors zu hören. Sie waren einige Minuten gefahren, da kam plötzlich der Mond hinter einer Wolke hervor und warf eine silbrige Lichtbahn aufs Wasser. An Steuerbord erregte etwas Anns Aufmerksamkeit. Ehe der Mond verschwand, erkannte sie flüchtig einen großen, schwarzen Felsen. »Was ist das dort vorn?« fragte sie. »Pulpit Rock.« Sie war beunruhigt, als sie fühlte, daß das Boot leicht nach rechts drehte. »Ist es noch weit?« »Wir sind gleich da. Siehst du die Lichter? Da müssen wir hin.« Ann blickte mit zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe und sah wirklich ein paar gelbe Lichtkegel, die aus der Dunkelheit aufzutauchen und auf sie zuzukommen schienen. Sie erkannte die Umrisse eines langen Stegs und eines Bootshauses. Als sie näher kamen, drosselte Dave die Geschwindigkeit und hielt auf den Anlegeplatz zu. Trotz der paar Lampen war kaum etwas zu erkennen. Mehr zur Navigationshilfe als zur Beleuchtung bestimmt, warfen die Laternen nur einen gespenstischen gelben Schimmer in die Dunkelheit. Ann spürte einen leichten Aufprall, als das Boot längsseits des Anlegeplatzes hielt. Dave stellte den Motor ab und lief aus der Kajüte. Ann folgte ihm und sah zu, wie er das Boot am Steg festmachte. Als er fertig war, drehte er sich nach ihr um und lächelte. »Das war doch keine allzu schlimme Fahrt, nicht wahr?«
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»Nein, wirklich nicht. Aber es ist so still hier.« Sie blieben einen Augenblick stehen und lauschten auf das tiefe Schweigen des Waldes von Adirondack. »Fühlst du dich nicht sehr einsam hier draußen?« fragte Ann. »Man gewöhnt sich daran. Außerdem bin ich nur zum Schlafen hier.« Plötzlich drang aus der Dunkelheit hinter dem Anlegeplatz ein leiser, flötenähnlicher Ton. »Was war das?« fragte Ann erschrocken. »Was?« »Dieses Geräusch. Es klang wie … ich weiß nicht …« Sie schwieg und lauschte. Wieder der gleiche trillernde Laut; eine rasche Folge von hohen Tönen, die aus der Finsternis an ihr Ohr schlugen. »Da! Da ist es wieder«, flüsterte Ann. »Hörst du’s?« »Oh. Das ist ein Seetaucher.« »Ein was?« »Ein Seetaucher. Ein Vogel.« »Ach, wirklich? Wie merkwürdig. Es klingt wie … wie ein drolliges kleines Lachen. Als ob ein Mädchen lachte.« Dave nickte. »Das Gelächter von Sally Wood.« »Was?« Als er nicht antwortete, sah sie ihn scharf an. »Das Gelächter von Sally Wood? Was willst du damit sagen?« »Ach, nichts.« Er lächelte und klopfte ihr beruhigend auf den Arm. »Ich bin gleich wieder da.« »Wohin gehst du?« »Zum Haupthaus hinauf. Ich muß eine Taschenlampe holen, um dir das Apartment zu zeigen. Es dauert nur eine Minute.« Er verschwand in der Dunkelheit. Ann dachte daran, auf den Steg zu klettern, entschied sich jedoch dagegen. Sie konnte in der Dunkelheit außer dem Bootshaus kaum etwas erkennen. Hinter einem schmalen Balkon darüber sah sie ein Fenster, das vermutlich zu dem Apartment gehörte, von dem Dave gesprochen hatte. Jenseits des Bootshauses erstreckte sich der Steg weit in die Dunkelheit hinaus. Abgesehen vom Plätschern 28
des Wassers an der Bootswand und dem Knarren des hölzernen Pfahlwerks war es vollkommen still. Doch dann ertönte abermals das seltsame, trillernde kleine Lachen. Ann verschränkte die Arme fest über der Brust und wünschte, Dave käme zurück. Sie fühlte sich sehr einsam. Aber sie war nicht allein. Oben im Apartment bewegte sich ein Vorhang, und zwei Augenpaare beobachteten sie aufmerksam. Einige Meter entfernt schnellte plötzlich eine große silberne Seeforelle aus dem Wasser und entriß der Nacht ein ahnungsloses Insekt. Gleich darauf tauchte sie wieder in den See und verschwand in der Tiefe. Dieses klatschende Geräusch erschreckte Ann. Sie drehte sich um und blickte angestrengt auf den See hinaus, aber sie konnte nichts erkennen. In der Ferne flackerten kaum sichtbar die Lichter des Tanzpalasts.
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Zweiter Teil TARRYTOWN, NEW YORK JUNI 1982
4 Nicht weit von der Gefängnismauer von Green Haven – kaum mehr als sechzig Kilometer Luftlinie entfernt – stand eine andere Mauer. In mancher Hinsicht ähnelte sie der von Green Haven. Sie war fast zur gleichen Zeit errichtet worden, hatte eine ähnliche Form und Länge, und auch sie umschloß ein großes Gelände. Aber während die Mauer von Green Haven aus Beton und zehn Meter hoch war, hatte man diese aus Backstein errichtet, weniger als drei Meter hochgezogen und sie zudem mit Efeu und Kletterrosen verkleidet. Am deutlichsten zeigte sich der Unterschied zwischen den beiden Mauern jedoch in den Geräuschen, die hinter ihnen erklangen. In Green Haven hörte man den rauhen, unbarmherzigen Lärm des Anstaltslebens. Die Töne, die in Tarrytown über die Mauer drangen, zeugten hingegen von Frohsinn und Glück: Klavierspiel, das Lachen eines Kindes. An Abenden, wo der Wind scharf um die düsteren Wachttürme von Green Haven pfiff, raunte eine leise Brise in den hohen Bäumen hinter der Mauer am Meadow Lane. Meadow Lane war ein friedliches Landsträßchen, das hauptsächlich zur Versorgung des Besitztums diente, das hinter der Mauer lag. In diesem Augenblick waren die Schatten länger geworden, und die Straße lag in abendlicher Stille und Verlassenheit da. Dann wurde das tiefe Summen eines Motors hörbar, und eine blankpolierte Rolls-Royce-Limousine kam in Sicht, die ruhig den Pfad entlang zu einem Tor in der Mauer fuhr.
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Am Steuer saß ein Chauffeur in dunkelgrauer Uniform. Auf dem Rücksitz lehnte David Powell. Er war jetzt Anfang Vierzig, hatte sich jedoch das sympathische, schlaksige Aussehen seiner Jugend bewahrt. Sein Haar lichtete sich ein wenig am Scheitel, fiel ihm aber immer noch jungenhaft in die Stirn. Der abgebrochene Schneidezahn war längst überkront, aber das schüchterne, unsichere Lächeln von früher war geblieben. Dave hatte seine siebenjährige Tochter Dana neben sich. Sie spielten Karten. Plötzlich erhellte sich das Gesicht des Kindes. »Zu dumm, Daddy«, sagte sie, sich auf eine Karte stürzend, die er gerade zwischen ihnen aufs Polster gelegt hatte. »Ich habe wieder gewonnen.« Sie breitete ihr Blatt auf dem Sitz aus. »Das ist das dritte Mal. Ich bin immer noch Champion.« »Oh, verflixt!« Dave ließ mit gespielter Enttäuschung seine Karten fallen. »Aber ich bin immerhin Zweiter. Bis jetzt habe ich Lindsay noch jedesmal geschlagen.« Er deutete mit dem Kopf auf eine Puppe, ein flachshaariges kleines Mädchen, das Dana überallhin begleitete und das jetzt, gegen die Wagentür gelehnt, neben ihm saß. »Sie wird immer besser, Daddy. Sie hätte mich heute nachmittag im Wartezimmer von Dr. Heming beinahe geschlagen.« »Das ist doch nicht dein Ernst«, sagte Dave mit vorgetäuschtem Staunen. »Doch, wirklich, Daddy.« Dana nickte ernst. »Beinahe.« Als der Chauffeur im Begriff war, in die Einfahrt einzubiegen, beugte Dave sich vor. »Tom, Sie können uns hier absetzen und gleich weiterfahren, um die Besorgungen für meine Frau zu erledigen.« »Wollen Sie nicht, daß ich Sie bis vors Haus bringe?« »Ich möchte mir ganz gern ein wenig die Beine vertreten. Ich habe den ganzen Tag gesessen.«
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»Werden wir morgen nach Lake Placid fahren, Mr. Powell?« fragte der Chauffeur. »Nein. Empire hat Freitag vormittag in New Jersey seine Jahresversammlung. Wir fahren erst hinterher.« »Darf ich auf dich warten und mit dir fahren, Daddy?« fragte Dana. »Nein, du fährst morgen früh mit Sam zurück«, erwiderte Dave. Sam war der Hausmeister, der Dana heute vormittag zu ihrem Arzttermin in die Stadt gebracht hatte. »Außerdem werde ich vielleicht überhaupt nicht fahren können, wenn es Probleme bei der Sitzung gibt.« »Aber Daddy, du mußt kommen.« Danas Augen weiteten sich vor Besorgnis. »Hast du vergessen, daß Großmutter Geburtstag hat? Du hast Mami versprochen …« »Ich weiß, ich weiß.« Der Gedanke an Lake Placid verursachte Dave ein leises Unbehagen. »Keine Sorge, Liebling, ich werde kommen.« Er klopfte ihr beruhigend aufs Knie. Als der Wagen hielt und Dave die Tür öffnete, um auszusteigen, fiel die Puppe auf die Erde. Der Aufprall löste in ihrem Inneren einen Mechanismus aus, der ein Weinen nachahmte. »Du lieber Himmel!« rief Dave, während er ausstieg und die wimmernde Puppe aufhob. Er schüttelte sie ein paarmal, um dem Gejammere ein Ende zu machen, aber einmal in Gang gesetzt, mußte das Ritual seinen Lauf nehmen. »Jetzt werden wir uns das so lange anhören müssen, bis …« »Daddy! Sei vorsichtig mit ihr.« Dana sprang rasch aus dem Wagen und nahm die Puppe an sich. »Arme kleine Lindsay«, murmelte sie tröstend und schloß mit einem vorwurfsvollen Blick auf ihren Vater das Puppenkind in die Arme. »Daddy hat es nicht absichtlich getan.« »Was getan?« fragte Dave entrüstet. »Ich habe nichts getan. Das Ding ist rausgefallen, als ich die Tür öffnete.« »Lindsay ist kein Ding, Daddy.« Sie sah
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ihren Vater mißbilligend an, während sie die immer noch wimmernde Puppe an ihre Brust drückte. »Sie ist ein kleines Mädchen, und kleine Mädchen weinen, wenn sie sich weh tun. Es war nicht ihre Schuld, daß sie aus dem Wagen gefallen ist. Ihr wird manchmal schwindlig. Verstehst du das nicht?« Dave verstand es. Er fühlte wie eine starke Gemütsbewegung sich seiner bemächtigte, als er in das bekümmerte Gesicht seiner Tochter blickte. Sie war ein hübsches Kind mit großen braunen Augen, einer kleinen Nase und dunklem Lockenhaar. Sie ähnelte ihrer Mutter, und man ahnte bereits daß sie eines Tages ebenso schön werden würde wie Sue Powell. Aber einen Augenblick lang sah Dave in ihrer flüchtigen Trauer ein ganzes Leben voller Kummer. Er bückte sich und nahm sie in die Arme. »Es tut mir leid, Liebling. Natürlich müssen kleine Mädchen weinen.« Er küßte sie sanft. »Weinen ist etwas sehr Wichtiges für ein kleines Mädchen. Komm, ich lasse dich und Lindsay zum Haus hinauf reiten.« Er hob Dana und die Puppe auf seine Schultern und machte sich auf den Weg zum Eingangstor. »Tom«, sagte er über die Schulter zurück, »vergessen Sie nicht, die Einladungen abzusenden. Und rufen Sie morgen früh in Mrs. Hunters Büro an. Sie hat angedeutet, daß sie möglicherweise nach der Versammlung am Freitag mit uns in die Stadt zurückfahren möchte. Hoffen wir, daß sie es nicht tut«, setzte er leise wie zu sich selbst hinzu. »Was hast du gesagt, Daddy?« fragte Dana. »Nichts.« Dave rückte sie auf seinen Schultern zurecht. »Du hast gesagt, du hoffst, daß Mrs. Hunter nicht mitkommen wird.« »Psst. Nein, das habe ich nicht gesagt.« »Doch, Daddy. Ich habe es gehört. Warum magst du Mrs. Hunter nicht? Mami mag sie.« Daves Abneigung gegen Emily Hunter war im Hause Powell allgemein bekannt. Er hatte sie kurz vor seiner Heirat mit Sue 33
Dickerson kennengelernt. Emily, eine enge Freundin seiner Frau, war Eigentümerin der Empire Container Corporation, einem Industrieunternehmen in New Jersey. Nach ihrer Heirat hatten Dave und Sue durch Emily von einer ähnlichen Fabrik erfahren, die in Stamford, Connecticut, zum Verkauf angeboten wurde. Ein Darlehen von Sues Vater hatte es Dave ermöglicht, die Firma zu kaufen. Dieser Kauf wiederum hatte zu einer Partnerschaft mit Emily geführt – einer Partnerschaft, die von Daves Standpunkt aus verhängnisvoll war. »Natürlich mag ich Mrs. Hunter«, sagte Dave, während er auf ein Pförtnerhaus im Tudorstil zuging, das den Eingang zum Grundstück bewachte. »Es ist nur so, daß wir manchmal in geschäftlichen Dingen verschiedener Meinung sind …« Das Pförtnerhaus erstreckte sich quer über den Fahrweg und gewährte durch eine Unterführung Einlaß. Efeu bedeckte das Fundament des Gebäudes, und aus dem Laub spähten die knorrigen Gesichter granitener Kragsteine. Die Kopien grotesker Köpfe, die in alter Zeit dazu dienen sollten, böse Geister zu vertreiben, waren von der ursprünglichen Eigentümerin des Besitztums, Amelia Dickerson, als Schmuck ins Mauerwerk eingefügt worden. Sue Powells Großtante Amelia hatte eine Neigung zu derlei Kuriositäten gehabt. Sie hatte ganz allein gelebt, und überall auf dem Besitz waren Gegenstände zu finden, die Ungastlichkeit signalisierten. Dave ging selten durch das Tor, ohne das Gefühl zu haben, die Köpfe blickten mißbilligend aus dem Efeu, so als ob sie sein Recht, hier ein und aus zu gehen, in Frage stellten. »Daddy«, kam die Stimme von oben »wirst du eine Weile bei uns am See bleiben?« »Nur übers Wochenende.« »Oh, warum? Du kommst nie für länger – du fährst immer gleich wieder fort.« Dave ging, ohne zu antworten, durch die Unterführung in
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einen kopfsteingepflasterten Hof, wo sorgsam angelegte Pfade das Pförtnerhaus mit einer Garage verbanden. Die altertümliche Atmosphäre verstärkte sich hier noch. Die beiden wurden von zwei Bernhardinern – Huff und Puff – begrüßt, die als Wächter für das Grundstück dienten. »Lindsay hat aufgehört zu weinen«, sagte Dana, als sie neben den Hunden stehenblieben. »Ich glaube, der Ritt gefällt ihr.« »Nun, mag sein, daß er Lindsay gefällt.« Dave setzte seine Tochter ab und rieb sich den Nacken. »Aber ich glaube, Lindsay hat in letzter Zeit ein wenig zugenommen.« Er bückte sich um Danas Kleid zu glätten; dann nahm er sie bei der Hand und ging mit ihr die Auffahrt hinauf. In der Ferne bemerkte er einen Vogel, der wie ein schwarzer Drachen am Abendhimmel schwebte – manchmal beinahe regungslos. Obwohl Dave ihn schon häufig gesehen hatte – er saß oft auf einem Schornstein an der Front des Haupthauses –, konnte er ihn nicht genau identifizieren. Aber er nahm an, daß es sich um einen Kolkraben handelte. Es waren einige im nahe gelegenen Vogelschutzgebiet gesehen worden. Vögel hatten in Dave Powells Leben schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Er hatte Sue Dickerson in einem Ornithologie-Kurs im College kennengelernt. Es schien fast schicksalhaft, daß Sue eine Großtante wie Amelia Dickerson hatte. Denn Amelia war eine leidenschaftliche Vogelliebhaberin gewesen. Sie hatte einen Teil ihres prachtvollen, fünfhundert Morgen großen Grundstücks der Regierung geschenkt, mit der Bedingung, daß er für alle Zeiten unbebaut bleiben und als Vogelschutzgebiet dienen solle. Sozusagen beiläufig hatte sie den Rest des Besitzes – die Gebäude und etwa einhundertfünfzig Morgen – ihrer Lieblingsnichte Sue vermacht. Der Vogel, den Dave jetzt beobachtete, war einer der Nutznießer von Amelia Dickersons Großzügigkeit. Während 35
sie näher kamen, flog er tiefer und ließ sich schließlich in einer riesigen Ulme nieder, die in der Nähe des Haupthauses über dreißig Meter hoch emporragte. Für Dave war die Ulme der Mittelpunkt des Besitztums. An Sommernachmittagen konnte man ihn häufig beobachten, wie er mit einem Feldstecher träge im Liegestuhl lag und in dem Labyrinth von Ästen nach seltenen Vögeln Ausschau hielt. Es war bei einer dieser Gelegenheiten gewesen, daß Dave im vergangenen Frühling zu seiner großen Bestürzung die ersten verräterischen Anzeichen des Ulmensterbens, nämlich das vorzeitige Welken der Blätter, an seinem Lieblingsbaum entdeckt hatte. Ein ungeübtes Auge hätte damals noch nicht erkannt, daß der Baum krank war. Während die Strahlen der untergehenden Sonne sein üppiges, frisches Blattwerk aufleuchten ließen, sah er aus, als würde er »noch hundert Jahre leben«, wie die Familie einst von Tante Amelia zu sagen pflegte. Als sie sich dem Haus näherten, blickte Dave auf einen verwitterten Zaun, der ein Blumengärtchen umschloß. Sue Powell verbrachte hier einen großen Teil ihrer Zeit. Futterhäuschen für Vögel und Reihen bunter Sommerblumen, die säuberlich um ein großes marmornes Vogelbad herum angeordnet waren, zeugten von ihrem Interesse für sowohl Ornithologie als auch Gartenbau. »Wollen wir ein paar Blumen pflücken, damit du sie Mami bringen kannst?« Dave blieb beim Eingang stehen. »O ja.« Danas braune Augen strahlten. »Hier, nimm du Lindsay. Ich weiß, welche Sorte Mami am liebsten hat.« Sie reichte ihm die Puppe und lief voraus. Dave folgte ihr in den kleinen Garten und wartete, während sie einen Strauß Pfingstrosen pflückte. Er setzte Lindsay auf den Rand des Vogelbades, und dabei bemerkte er, in welch jämmerlichem Zustand sich die Puppe befand. Das flachsblonde Haar war vom ständigen Bürsten dünn geworden, und das blaue Kleid war fadenscheinig und verblichen. Die Augen waren jedoch unverändert offen und
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klar und schienen Lindsays Verfall Lügen zu strafen. Die letzten Sonnenstrahlen drangen durch das Laub der Bäume, die den Garten säumten, und zauberten ein Kunstwerk leuchtender Farben auf die Blumenbeete. Dave stand einen Augenblick still da und beobachtete seine Tochter. Sie würde bald ihr strahlendes Aussehen verlieren, wie die Farben im schwindenden Licht. Plötzlich tauchte Danas Kopf über einem Armvoll Blumen auf. Ein freudiger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. »Ich bin so glücklich.« Sie schwieg und sah ihren Vater an. »Was ist los, Daddy? Du siehst traurig aus. Hab ich zu viele gepflückt?« »Nein, nein. Es ist gut so.« Dave beugte sich vor, zog sie an sich und preßte die Wange an ihre Stirn. »Sie sind wunderschön.« Nach wenigen Sekunden richtete er sich wieder auf und ging zur Mitte des Gartens. Dort pflückte er ein paar Gänseblümchen und winzige rosa Rosen und machte einen Strauß daraus. »Wie gefällt er dir?« Er hielt die Blumen auf Armeslänge von sich ab und musterte sie kritisch. »Der ist für jemand ganz Besonderen.« »Für Mami, stimmt’s?« »Nein, für jemand anderen, den ich sehr gern habe.« »Oh, du meinst mich.« »Nein, jemand anderen.« »Jemand anderen?« Dana runzelte die Stirn, und die kleine Nase reckte sich fragend nach oben. »Lindsay?« »Nein, Mrs. Hunter.« Dana zögerte, und ihre Augen weiteten sich vor Staunen. »Mrs. Hunter? Ehrlich?« Aber dann sah sie sein schelmisches Lächeln. »Oh, Daddy«, quietschte sie, »du hast nur Spaß gemacht Und ich bin drauf reingefallen.« Er hob sie mitsamt ihren Blumen auf und drückte sie fest an sich. Lachend verließen sie den Garten und überquerten eine kopfsteingepflasterte Auffahrt, die zum Herrenhaus im Tudor-
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Stil führte. Als sie es erreichten, erhob sich der Vogel in die Luft und kreiste hoch über der kranken Ulme. Die Augen starr in die Ferne gerichtet schwebte er majestätisch am Abendhimmel, während der Schatten des Baumes über die Auffahrt kroch und das Haus unter sich begrub. Mit dem Einbruch der Dunkelheit zog die Mauer am Meadow Lane sich fest um das Besitztum zusammen. Nach Nordosten zu blinkten hinter einer anderen Mauer gelbe Lichterketten auf.
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5 Rolls-Royce Ltd. hat viele Wagen hergestellt, seit Charles Rolls und Frederick Royce 1907 ihren legendären Silver Ghost entwickelten. Aber die Phantom Five -Limousine, mit der Tom Lucas sich vorsichtig durch den Verkehr von Tarrytown schlängelte, war eines der schönsten Modelle. Das klassische Chassis von James Young war an den Seiten granatrot, Kühlerhaube, Dach und Kofferdeckel dagegen schimmerten schwarz. Zwei kreisförmige Scheinwerfer eines älteren Typs waren eigens auf Bestellung in die vorderen Kotflügel eingebaut worden. Über dem handgefertigten Kühlergrill glänzte die Flying Lady silbern in der Morgensonne. Die Phantom Five war ein Wagen von klassischer Schönheit, und der Fahrer war sich seiner Verantwortung zutiefst bewußt. Vor einer roten Ampel brachte er die Limousine sanft zum Stehen. Er nutzte die Pause nahm ein weiches Tuch aus dem Handschuhfach und entfernte behutsam eine dünne Staubschicht über dem Armaturenbrett. Als das Licht wechselte, blickte er in beide Richtungen und fuhr dann in sicherem Abstand zum Wagen vor ihm weiter. Tom Lucas war ein hochgewachsener freundlicher Mann Anfang Dreißig, mit scharf geschnittenen Zügen und dichtem, rotblondem Haar, das sich kleidsam unter seiner Chauffeurmütze hervorringelte. Er hatte im Vietnam-Krieg eine Beinverletzung davongetragen und nach seiner Entlassung vom Militär die Stellung als Chauffeur bei den Powells ursprünglich nur angenommen, um sich in Ruhe etwas Besseres zu suchen. Das war vor vier Jahren gewesen, und er fand die Arbeit vollkommen befriedigend. Er mochte Sue Powell sehr gern. Am Stadtrand bog Tom in eine Tankstelle ein. Sie war modern und blitzsauber, aber der junge Mann, der aus dem Gebäude kam, um den Rolls aufzutanken, paßte ganz und gar
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nicht in diesen Rahmen. Er sah aus, als sei er gerade durch einen meterhohen Schornstein geklettert. »Hallo, Commander«, sagte er mit einem bewundernden Blick auf Toms Uniform. »Neue Klamotten, hm? Nicht schlecht. Du siehst aus, als kämst du direkt von Hollywood.« Er deutete mit dem Kopf auf den Vordersitz. »Was sind das für Schachteln?« »Es sind Einladungen.« » Einladungen?« »Ja. Die Powells geben eine Party.« »Ich nehm mir gleich meine.« Der Mechaniker langte in den Wagen. »Das spart dir die Mühe, sie aufzugeben.« »Laß deine dreckigen Pfoten von der Lady!« Tom öffnete die Tür und stieg aus. »Was, zum Teufel, ist mit dir passiert? Mein Gott, bist du schmutzig – selbst für deine Verhältnisse ‘n Rekord.« »Ich hab mich mit ‘nem gottverdammten Getriebe abgequält.« Er nahm einen Benzinschlauch von der Zapfsäule und steckte ihn in den Tank »Wann wirst du mir einen Job oben auf dem Hügel besorgen? Diese Arbeit hier bringt mich noch um.« »Das kann doch nicht dein Ernst sein«, sagte Tom mit gespielter Geringschätzung. »Was glaubst du, was wir da haben – eine irische Kartoffelfarm? Man muß schon etwas Klasse haben, um dort zu arbeiten.« »Wie wär’s mit einer Spritze von zehn Litern Super in deinen Hintern?« Er zog drohend den Schlauch aus dem Tank. »Langsam! Langsam!« rief Tom, der fürchtete, der Stutzen könne den Kotflügel verkratzen. »Und komm nicht zu nah an den Wagen. Ich hab ihn gerade gewaschen.« »Wo fährst du hin?« fragte der Mechaniker. »In die Stadt. Ich bin spät dran.« »Ich dachte, du fährst nach Lake Placid?« »Morgen nachmittag. Mr. Powell hat eine Sitzung in Jersey.« »Was hat Powell jetzt vor?« »Ich weiß es nicht. Er war die ganze Woche in Chicago.« 40
»Vielleicht hat er dort ‘ne Mieze?« »Würdest du irgendwo eine Mieze haben, wenn du mit Sue Powell verheiratet wärst?« »Das kommt drauf an.« »Außerdem ist er nicht der Typ.« »Woher weißt du das? All der Zaster. Er hat wahrscheinlich in jeder Stadt was laufen.« »Das glaube ich nicht. Ich wüßte es, wenn es so wäre.« »Wieso wüßtest du das? Glaubst du er würde dir, einem Dienstboten, alles erzählen?« Er legte in das Wort »Dienstbote« soviel Verachtung, wie man mit einem Begriff nur ausdrücken kann. »Ich wüßte es«, wiederholte Tom. »Was ist mit dieser Blonden, mit der ich ihn manchmal rumfahren sehe?« »Welche Blonde?« »Du kennst sie. Ich habe vor ein paar Wochen gesehen, wie du die beiden gefahren hast. Sie ist nicht übel. Die mit dem hochnäsigen Gesicht.« »Oh, Mrs. Hunter. Sie ist seine Geschäftspartnerin.« »Geschäftspartnerin, haha!« sagte der Tankwart verächtlich. »Ich nehm an, so nennt man das, wenn man Millionär ist.« »Nein, nein. Du bist mal wieder völlig auf dem Holzweg. Sie ist eine Freundin von Mrs. Powell. Eine Witwe. Eine ekelhafte Person. Mr. Powell kann sie nicht ausstehn. Hör zu, ich bin spät dran. Kannst du das nicht ein bißchen beschleunigen?« Der Tankwart überhörte die Frage. »Liest du ein Buch?« Er deutete mit dem Kopf auf einen schmalen Band, der auf dem Vordersitz neben den Einladungen lag. »Was? Oh. Das gehört Mr. Powell. Es ist ein Buch über Etikette.« »Etikette? Was ist das?« »Etikette, du Dummkopf. Umgangsformen. Das Schlimme an dir ist, daß du nicht einmal weißt, was es bedeutet.« »Warum interessiert er sich für Etikette?« »Er interessiert
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sich nicht dafür. Mrs. Hunter hat ihm das Buch zum Geburtstag geschenkt. Ich nehme an, sie wollte ihn ärgern. Es hat ihn regelrecht wütend gemacht. Das Buch sagt einem, wie man sich benehmen muß, um Klasse zu haben. Davon kannst du natürlich nichts wissen. Leute mit Klasse haben für alles ihre Regeln. Was das Zimmermädchen tut. Was der Butler sagt. Wer ans Telefon geht. Sie haben sogar Regeln dafür wie ich den Wagen fahren muß. Ich darf meine Hände nicht auf das Lenkrad legen.« »Hat Powell dir gesagt, daß du so fahren sollst?« »Nein, ich habe es in dem Buch gelesen. Mr. Powell hat mir das Buch gegeben.« »Er versucht wahrscheinlich, dir damit etwas zu sagen.« »Nein, nein. So ist er nicht. Er ist ein feiner Kerl.« Tom schwieg einen Augenblick, dann setzte er hinzu: »Ich sollte einem Klatschmaul wie dir eigentlich nichts über ihre Angelegenheiten erzählen.« »Vielleicht sollte ich mal oben vorbeigehen und Mrs. Powell einen Besuch abstatten, während er fort ist.« Der Tankwart wackelte vielsagend mit den Brauen. »Würde dir nichts nützen. Sie ist in Placid. Und überhaupt, sie ist unnahbar.« »Mann, was für eine Figur«, sagte der Tankwart anerkennend. »Glaubst du, daß sie vielleicht irgendwo jemanden hat?« Tom schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Dana, ihre Tochter, das ist alles, wofür sie sich interessiert. Dana, Blumen und Vögel, weiter nichts. Sie verbringt viel Zeit mit der Kleinen unten im Garten. Einen Tag letzte Woche hör ich Dana schreien. Ich lauf runter, um zu sehen, was geschehen ist, und da kriecht diese Schlange durchs Blumenbeet. Ich sag dir, das verdammte Ding war mindestens sechzig Zentimeter lang. Ich hätte es nicht einmal mit einer Stange berührt. Und was tut Mrs. Powell? Sie geht eiskalt zu der Schlange hin, packt sie beim Schwanz und peng! Knallt sie gegen die Seitenwand vom 42
Vogelbad. Nun, ich frage dich, wie viele Frauen hätten das getan? Aber so ist sie. Wenn ihr etwas nicht paßt, macht sie kurzen Prozeß.« Ein leises Knacken in der automatischen Pumpe zeigte an, daß der Tank voll war. Der Mechaniker beugte sich vor, nahm den Schlauch heraus und sagte seufzend: »Verdammt, das ist die Art von Frau, die mir gefällt. Je mehr ich über sie höre, um so mehr Lust krieg ich, sie zu bumsen. Sie ist ganz schön zäh, nicht wahr?« »Nein. Das will ich damit nicht sagen. Es ist nur, daß sie mir manchmal irgendwie sonderbar vorkommt. Aber sie ist wirklich sehr nett. Jeder andere gerät hin und wieder in Wut. Sie nicht. Sie ist immer zufrieden. Los, ich muß fahren. Schreib das Benzin an.« Er stieg in den Rolls. »Immer mit der Ruhe«, sagte der Tankwart. »Wie geht’s Doris?« »Woher, zum Teufel, soll ich das wissen?« erwiderte Tom. »Wenn ich geschieden bin, bleib ich geschieden.« »Geschieden! Du warst ja nicht einmal richtig verheiratet. Oder nennst du drei Wochen etwa eine Ehe?« »Weißt du, wenn Frau Irene ein schäbig aussehender Automechaniker wäre, würd ich schwören, ich rede grad mit ihr.« Tom drehte den Zündschlüssel herum, und der Rolls erwachte mit einem tiefen, gedämpften Summen zum Leben. »Hör dir das an«, sagte er. »Wußtest du, daß noch bei neunzig das lauteste in einem Rolls-Royce das Ticken der Uhr ist?« »Ja, das hast du mir schon mal gesagt«, erwiderte der Tankwart, während er den Schlauch aufhängte. »Für soviel Geld könnte man wahrhaftig ‘ne beßre Uhr erwarten!«
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6 David Powell war erleichtert, als der Rolls in die Fifth Avenue einbog und sich dem Büro der Hunter Management Corporation näherte. Eine Stunde mit Emily Hunter konnte anstrengend sein, und wenn man sie im Fond einer Limousine verbrachte, war sie ausgesprochen unangenehm. Emily war nach der Vorstandssitzung von Empire schon beim Mittagessen sichtlich nervös gewesen, und während der Fahrt von New Jersey nach Manhattan hatte sie keinen Augenblick stillgesessen, sondern mal die Arme gekreuzt, mal die Beine übereinandergeschlagen oder den Hals gereckt. Dave hatte den Eindruck, daß sie ständig mit einem inneren Aufruhr kämpfte, der sich in dieser fortwährenden Ruhelosigkeit verriet. Sie war eine gutaussehende Frau von vierzig, mit blondem, leicht angegrautem Haar, das streng zurückgekämmt und zu einem Knoten aufgesteckt war. Sie hatte eine kleine Nase und auffallend helle blaue Augen, die einen mit eiskalter Verachtung anstarren konnten. Ihr Ausdruck schwankte zwischen Geringschätzung und Langeweile. Sie trug ein lose sitzendes braunes Tweedkostüm, das von Gleichgültigkeit gegenüber der herrschenden Mode zeugte. Emily Hunter konnte bei gesellschaftlichen Veranstaltungen phantastisch aussehen, aber ihr geschäftliches Leben bestand aus Bilanzen und Betriebsaufstellungen, und elegante Kleidung spielte keine Rolle darin. David blätterte in den Papieren auf seinem Schoß, entschlossen, eine Antwort auf die Frage zu erhalten, die Emily bewußt überhört hatte. Er wollte wissen, weshalb Hunter Management, eine Gesellschaft, die ausschließlich in Emilys Besitz war, der ihnen gemeinsam gehörenden Empire Container Corporation ein Honorar für Betriebsleitung
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berechnete. »Emily, dieses Honorar …« »Warum beklagst du dich andauernd?« fuhr Emily ihn an, während sie in ihrer Handtasche nach Zigaretten suchte. »Die Firma wirft Gewinn ab, nicht wahr? Hunter ist eine Gesellschaft für Unternehmensleitung. Sie berechnet all meinen Firmen ein Honorar.« »Warum zahlen wir den Direktoren bei Empire Gehälter, wenn Hunter den Betrieb leitet?« Daves Stimme klang gereizt. »Es ist widersinnig. Wenn dieses Honorar nicht aufgehoben wird, erweitere ich das Produktionsprogramm in Stamford.« »Ich verstehe.« Emily zündete sich eine Zigarette an. »Du wirst unser Abkommen also nicht einhalten.« Dave war im Begriff, etwas zu erwidern, besann sich aber eines Besseren. Er schloß die Augen und lehnte den Kopf an das Lederpolster. Besprechungen mit Emily wurden immer schwieriger. Sie war arrogant und reizbar – wurde nur gesprächig, wenn die Unterhaltung ihr irgendeinen Nutzen bringen konnte. Selbst wenn sie bereit war, über Empire zu reden, tat sie es mit größter Behutsamkeit, so als spräche sie von geheimen, noch nicht patentierten Formeln. »Was um alles in der Welt, hat dich bewogen, dich mit Emily Hunter einzulassen?« hatten seine Freunde damals erstaunt gefragt. Ja, was eigentlich? Als sie zum erstenmal mit dem Vorschlag einer Partnerschaft an ihn herangetreten war, da war ihm die Sache ganz einleuchtend erschienen. Aber schon damals hatte er gewisse Vorbehalte gegen den Plan gehabt. Denn Emilys Ruf war furchterregend. Sie hatte kurz nach Dave und Sue geheiratet, aber die Ehe war nur von kurzer Dauer gewesen. Es hieß, sie habe ihren Mann zuerst in die Trunksucht und dann zum Selbstmord getrieben. Nach seinem Tod hatte sie die Leitung seiner Unternehmen übernommen, dabei einen bemerkenswerten geschäftlichen Scharfsinn bewiesen und binnen kurzer Zeit die Empire Container Corporation zu einem 45
Konglomerat mit einem Umsatz von mehreren Millionen Dollar erweitert. Sie wurde in der Geschäftswelt allgemein als hochintelligent, exzentrisch und völlig skrupellos angesehen. In Anbetracht ihres Rufes und der Tatsache, daß seine eigene Fabrik in Stamford größer und damit Empire in gewisser Hinsicht überlegen war, hatte Dave das Angebot zuerst abgelehnt. Aber Emily hatte nicht lockergelassen. Mit Hilfe von Sue, mit der sie eng befreundet war, hatte sie Dave schließlich dazu gebracht, eine fünfzigprozentige Beteiligung bei Empire gegen einen geringeren Anteil von Hunter Management an seiner Fabrik in Stamford zu akzeptieren. Als Teil dieses Abkommens hatte sich Stamford verpflichtet sein Produktionsprogramm nicht zu erweitern, um Empire keine Konkurrenz zu machen. Jetzt war jedoch eindeutig zu erkennen daß Emily die Absicht hatte, Stamford als Konkurrenten auszuschalten und die Gewinne der ihnen gemeinsam gehörenden Empire Corporation durch diverse Manöver abzuzapfen; offenkundigster Beweis für diese Manöver war dieses Honorar von Hunter Management. »Vielleicht entsinnst du dich, Emily«, sagte David, abermals sein Glück versuchend, »daß der Zweck unseres Abkommens war, die Gewinne von Empire zu erhöhen, indem wir die Produktion von Stamford einschränkten. Aber wenn du durch all diese Belastungen Empires Gewinn verringerst, was, zum Teufel, bleibt dann noch für mich übrig?« »Das ist doch Unsinn.« Emily drückte energisch ihre Zigarette im Aschenbecher aus. »Du hast bei der Vorstandssitzung gehört, weshalb keine Gewinne erzielt worden sind. Wenn du aufgepaßt hättest, wüßtest du, daß ein großer Teil des Defizits auf Änderungen in den Buchführungsmethoden zurückzuführen ist. Die schnellere Wertminderung der neuen Maschinen spielt zum Beispiel auch eine Rolle. Würdest du es vorziehen, das Geld der Regierung zu schenken?«
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»Es sind auch noch andere Dinge im Spiel«, sagte Dave. »Ich werde nicht ruhig zusehen, wie eine Gesellschaft, die zu fünfzig Prozent mir gehört …« »Dir gehört – daß ich nicht lache«, sagte Emily verächtlich. »Wenn Sue nicht gewesen wäre, hättest du dir nicht einmal einen fünfzigprozentigen Anteil an einem polnischen Bordell kaufen können.« Dave fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Es war nicht das erstemal, daß Emily geringschätzig von seiner polnischen Abstammung sprach, und sie erinnerte ihn ständig daran, daß sein Schwiegervater derjenige war, der es ihm ermöglicht hatte, sich als Geschäftsmann zu etablieren. Jahrelang hatte sie in ihrer Beziehung die Oberhand gehabt. Ihre gesellschaftliche Stellung, ihre großartigen geschäftlichen Erfolge hatten ihm Respekt eingeflößt. Aber das Honorar für die Unternehmensleitung war mehr, als er zu dulden bereit war. »Emily«, sagte er entschlossen. »Wenn das Honorar von Hunter nicht gestrichen wird, erweitere ich das Produktionsprogramm in Stamford.« »Dann sei bereit, dich vor Gericht zu verteidigen.« Als der Rolls-Royce vor dem Bürogebäude von Hunter hielt, drückte Emily auf einen Knopf auf ihrer Armlehne, um die gläserne Trennwand zwischen dem Fahrersitz und dem Fond des Wagens herunterzulassen. »Tom, sorgen Sie dafür, daß meine Tasche in mein Büro gebracht wird.« Sie war schon im Begriff auszusteigen, da sagte Dave ruhig: »Emily, ich bin bereit, vor Gericht zu gehen.« »Wirklich?« Emily fixierte ihn mit einem eisigen Blick. »Vielleicht wirst du dir das noch überlegen. Eine Gerichtsverhandlung kann ziemlich aufschlußreich sein.« Sie sah ihn immer noch starr an. Dave erwiderte ihren Blick und dachte über ihre Worte nach.
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Sie hatte in letzter Zeit, seit ihre Beziehung immer gespannter wurde, schon des öfteren ähnliche Andeutungen gemacht. Er fragte sich, ob irgendein Zusammenhang bestand zwischen ihren Bemerkungen und einem Gespräch, das sie vor einigen Jahren geführt hatten. Sie hatten getrunken, und Emily hatte gestanden, daß sie nach dem Selbstmord ihres Mannes zutiefst bedrückt gewesen sei. Es war im allgemeinen nicht ihre Art, über Gefühle zu sprechen. Ergriffen von ihrer Enthüllung, hatte Dave gesagt, das könne er sehr gut verstehen; er habe selbst einmal ein traumatisches Erlebnis gehabt. Nachdem er sich geweigert hatte, mehr darüber zu sagen, als daß es sich um einen Vorfall handele, der sich eines Sommers im College ereignet habe, war Emilys Neugier unübersehbar erwacht. Sie hatte ihn einen Augenblick lang nachdenklich angestarrt und dann mit ihrem Scharfsinn die Bombe platzen lassen. »Nun, du warst doch im Sommer gar nicht im College, nicht wahr? Du hast mal gesagt, daß du in Lake Placid gearbeitet hättest. Denkst du an etwas, das in Lake Placid geschehen ist?« Vielleicht hatte sie die Angst in seinen Augen aufflackern sehen, denn obgleich er das Thema sofort fallenließ, wußte er, daß sich die Worte »Trauma« und »Lake Placid« dem Gedächtnis von Emily Hunter unauslöschlich eingeprägt hatten. Jemandem mit einem weniger feinen Gespür für Verwundbarkeit wäre seine Bemerkung gar nicht weiter aufgefallen. Aber im Bruchteil einer Sekunde hatte er in Emilys Augen gelesen, daß er einen schweren Fehler begangen hatte. Später hatte Emily es einmal beiläufig erwähnt: »Hast du nicht mal gesagt, daß dir was Unangenehmes in Lake Placid passiert ist?« Er hatte die Frage mit einem Achselzucken abgetan und sich ahnungslos gestellt, obwohl er genau wußte, daß sie ihm auf den Zahn fühlen wollte. Aber vielleicht maß er jetzt ihrer Bemerkung, daß eine Gerichtsverhandlung
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aufschlußreich sein könne, zuviel Bedeutung bei. Es gehörte nicht viel dazu, seine Erinnerung an jene längst vergangene Nacht am Lake Placid Wiederaufleben zu lassen: Der dunkle Bootssteg … Ann Conways hübsches Gesicht, das ihm im sanften, gelben Schimmer der Lampen auf dem Steg zulächelte … das Blut … das seltsame, geisterhafte Lachen, das aus dem Wald herüberdrang … Aber woher sollte jemand anderes etwas davon wissen? Selbst Emily mit ihrem gefährlichen Scharfblick konnte nichts ahnen. Ihre Bemerkung war wahrscheinlich nichts weiter als ein Schuß aufs Geratewohl, dazu bestimmt, ihn in die Defensive zu drängen. Ja, das war’s. Er hatte sie oft genug bei Gesprächen mit Konkurrenten beobachtet. Eine doppelsinnige Äußerung, verbunden mit dem durchdringenden Blick ihrer kalten Augen, konnte jeden zum Paranoiker machen. Höchstwahrscheinlich spielte sie auf irgendeine peinliche Geschäftsangelegenheit an – eine nicht ganz korrekte Steuererklärung vielleicht – , die bei einer Gerichtsverhandlung ans Licht kommen könnte. Natürlich. Das war typisch für Emily. Eine kleine Erpressung auf die vornehme Art. Aber er mußte ihr Paroli bieten, ehe sie aus dem Wagen stieg; ihr zeigen, daß er nichts zu verbergen hatte. »Was soll das heißen, Emily? ›Eine Gerichtsverhandlung kann aufschlußreich sein‹?« Sie nickte kaum merklich. »An gewisse Dinge sollte man lieber nicht rühren.« Sie warf ihm einen letzten vielsagenden Blick zu, dann stieg sie aus.
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7 Tom Lucas war im großen und ganzen mit den Unternehmen von David Powell vertraut. Er wußte, daß außer dem Werk in Stamford noch eine Immobilienfirma und eine kleine Versicherungsgesellschaft dazugehörten. Er wußte auch, daß die Fabrik in Stamford mit Verlust arbeitete und David Powell überzeugt war, ihre einzige Rettung läge darin, das Produktionsprogramm zu erweitern. Ein großer Teil dieser Informationen war vorn Rücksitz des Rolls-Royce zu ihm gedrungen, wo Dave oft Briefe und Aktennotizen auf Band diktierte. Auch jetzt, während sie den Adirondack Northway entlang Richtung Lake Placid fuhren, sprach Dave ins Diktiergerät. Tom hatte gespürt, daß sein Chef erregt war, während sie Mrs. Hunter absetzten. Als er ihm jetzt zuhörte, da wußte er auch warum. Es war ein herrlicher Sommertag, und die Fahrt auf dem landschaftlich schönen Northway bot nach dem Trubel der Stadt eine willkommene Entspannung. Der Rolls-Royce surrte leise über die Schnellverkehrsstraße und auf die Adirondack Mountains zu. Nachdem Tom den Drehzahlmesser eingestellt hatte, lehnte er sich bequem zurück und streckte das linke Bein unter dem Armaturenbrett aus. Auf langen Fahrten machte seine Verletzung ihm oft zu schaffen. Sie waren über eine Stunde gefahren, da legte David Powell das Diktiergerät beiseite und wandte sich an seinen Chauffeur. »Es ist lange her, seit ich hier oben gewesen bin – in Lake Placid, meine ich.« »Ich nehme an, Sie mögen das Meer lieber als die Berge«, sagte Tom, während er sich aufrichtete. »Das stimmt. Ich ziehe die Küste vor.« Die Abenddämmerung brach herein, als sie den Northway verließen und in die Paßstraße einbogen, die
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zwischen den Bergen nach Lake Placid hinaufführte. Sie fuhren durch tiefe Schluchten, wo die Felsen Hunderte von Metern senkrecht in die Höhe stiegen. Einmal kamen sie an einem Wasserfall vorbei, der in Kaskaden herabstürzte – eine tosende Orgie weißen Schaums im Zwielicht. Selbst in der Dämmerung war die Landschaft überwältigend schön, und jede Biegung der Straße enthüllte einen neuen prachtvollen Blick. Eine Brise kam auf, während sie sich durch den Paß schlängelten, und der kaum merkliche Wetterumschwung deutete auf ein drohendes Gewitter hin. Die Wipfel der hohen Bäume am Straßenrand begannen zu schwanken. Tom blickte in den Spiegel, um festzustellen, ob sein Chef eingeschlafen sei. Man konnte in dem kleinen Rückspiegel einer RollsRoyce-Limousine nicht viel erkennen. Mrs. Powell hatte einmal gesagt, sie würden absichtlich so klein gemacht, damit neugierige Chauffeure nicht zuviel sähen. Er wußte, daß sie scherzte, hegte aber trotzdem den Verdacht, daß etwas Wahres daran sein könnte. »Wo sind wir, Tom?« Die Stimme ließ ihn erschrocken aus seinen Gedanken auffahren. »Auf dem Weg durch die Cascades, Mr. Powell. Wir müßten in etwa einer halben Stunde in Lake Placid sein.« Schweigen legte sich über den Wagen, während die letzten Sonnenstrahlen erloschen und die Umrisse der Berge mit dem dunklen Himmel verschmolzen. Tom hörte ein knackendes Geräusch und sah die Antenne aus dem Kotflügel hochsteigen, als Dave Powell das Radio anstellte. Ein paar Sekunden lang ertönte das Knistern von atmosphärischen Störungen, bis sein Chef sich für ein Streichkonzert entschied. Tom merkte, daß die lange Fahrt ihn ermüdet hatte. Er bewegte sich auf seinem Sitz, bemüht, die Augen offenzuhalten. Als er eine Kurve erst in letzter Sekunde sah, mußte er stärker bremsen, als ihm lieb war. Der Schreck rüttelte ihn aus seiner Schläfrigkeit auf. Die Musik wurde unterbrochen, und es folgten Nachrichten. Gegen deren Ende
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hörte Tom die Meldung, der er im Augenblick keine große Bedeutung beimaß, die jedoch schwerwiegende Folgen für seine Zukunft haben sollte: Im Lake Placid, auf der Höhe von Pulpit Rock, wurde heute morgen die Leiche einer jungen Frau aus dem Wasser geborgen. Die Behörden vermuten, sie habe über zwanzig Jahre auf dem Grund gelegen. Infolge der Tiefe und der niedrigen Wassertemperatur sei der Körper allerdings bemerkenswert gut erhalten. Es wird einige Tage dauern, ehe das Ergebnis der Obduktion bekanntgegeben werden kann. Bis jetzt fehlen jegliche Anhaltspunkte hinsichtlich der Identität des Opfers … Einen Augenblick lang herrschte völlige Stille. Dann begann wieder die Musik und erfüllte die Limousine mit den Klängen einer Melodie aus den vierziger Jahren. »Was sagen Sie dazu?« fragte Tom. »Eine Leiche direkt hier im Lake Placid.« Vom Rücksitz kam keine Antwort. Tom blickte in den kleinen Spiegel, aber er sah nur eine regungslose Gestalt, die zusammengekauert in der Ecke saß.
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Dritter Teil LAKE PLACID, NEW YORK JUNI 1982
8 Es hatte während der Nacht lange und stark geregnet, und über dem Lake Placid schwebte der Frühnebel. Schwere, tief hängende Wolken hüllten die Berggipfel ein und verdeckten den Whiteface, die höchste Erhebung. David Powell saß am Schreibtisch in einem der oberen Gästezimmer im Sommerhaus der Familie Dickerson. Bei gutem Wetter war die Aussicht von hier sehr schön. Aber als er jetzt auf die trübe Landschaft hinausblickte, gab es kaum etwas zu sehen; Nebelschwaden, die wie Rauch aufstiegen, verliehen dem See das Aussehen eines dampfenden schwarzen Pfuhls. Dave langte nach einer silbernen Kaffeekanne, die auf einem Tablett stand. Der Henkel war heiß, er ließ ihn rasch wieder los und schüttelte seine Finger. Mit Hilfe einer Serviette versuchte er es abermals und goß Kaffee in die Tasse. Seine Hand zitterte, als er die Kanne wieder aufs Tablett stellte. Er hatte in der Nacht kein Auge zugetan. Es war jetzt zwölf Stunden her, daß er im Radio die Nachricht vom Fund der Leiche gehört hatte – einer Leiche, die möglicherweise die von Ann Conway war. Seit dieser Meldung war sein Leben ein einziger Alptraum. Eine Bewegung beim Bootshaus fiel ihm ins Auge, und er sah Sam Wykoff, den Hausmeister der Dickersons, der mit Dana zum Ende des Bootsstegs ging. Plötzlich drehte Dana sich um und lief zum Haus zurück Binnen weniger Sekunden tauchte sie wieder auf und hopste, diesmal mit Lindsay im Arm, leichtfüßig den Steg entlang. 53
Plötzlich stolperte sie und fiel mitsamt der Puppe der Länge nach hin. Aber sie schien sich nicht weh getan zu haben, denn sie stand sofort wieder auf und ging, die klagende Lindsay tröstend, auf den wartenden Hausmeister zu. Das gesunde, sonnenverbrannte Gesicht des Kindes ließ nichts von ihrem schleichenden neurologischen Leiden erkennen. Die Ärzte hatten bei ihr eine degenerative Kinderkrankheit festgestellt, die das Nervensystem in Mitleidenschaft zieht. Obwohl die Krankheit im frühen Stadium war, wo die Symptome noch latent sind, verhieß die Prognose nichts Gutes. Das Kind würde binnen kurzer Zeit die Herrschaft über seine Glieder verlieren. Danas Lebenserwartung war kurz. Dave stand auf und ging zum Fenster. Er wollte gerade Dana etwas zurufen, da sah er, wie seine Schwiegermutter sich zu ihr gesellte. Sam half ihnen in ein Motorboot, das gleich danach ablegte. Wahrscheinlich fuhren sie in die Stadt, um Einkäufe zu machen. Das erinnerte ihn an das Geburtstagsgeschenk, eine kleine Vase, die er für seine Schwiegermutter aus Chicago mitgebracht hatte. Er würde Sue bitten, sie in Geschenkpapier zu wickeln, während ihre Mutter fort war. Er mußte sich besondere Mühe geben, zu Arlene Dickerson an ihrem Geburtstag nett zu sein, mußte versuchen, den vergangenen Abend wiedergutzumachen, wo er nervös und wortkarg angekommen war. Plötzlich erspähte Dana, die am Heck stand und eine Schwimmweste anzog, ihren Vater am Fenster. Sie winkte fröhlich und hörte nicht auf, bis das Boot im Nebel verschwand. In diesem Augenblick bemerkte Dave in der Ferne ein anderes Boot, das auf die Insel zukam. Das Fahrzeug wirkte, selbst auf die Entfernung, amtlich und respekteinflößend.
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9 »Wie zum Teufel führt man auf einem See eine Nachbarschaftsbefragung durch?« Horace Ackerman vom FBI stand mit einem Beamten der Landespolizei am Heck des Motorboots und blickte verwirrt auf die Berge, die den Lake Placid umgaben. Er war ein hochgewachsener, freundlich dreinblickender Mann mit braunem, gelocktem Haar, dunkelhäutig und mit leicht slawischem Einschlag. Sein hervorstechendstes Merkmal war wohl sein Kinn: breit und zuversichtlich. »Eine Nachbarschaftsbefragung?« John O’Brien, ein strammer blonder Polizeilieutenant Ende Dreißig, sah ihn ratlos an. »Nachforschungen in der Umgebung des Tatorts«, erklärte Ackerman. »Wir müssen mit Leuten sprechen, die in der Gegend wohnen, wo das Opfer geborgen wurde; vorzugsweise mit jemandem, der vor zwanzig Jahren hier gelebt hat.« »Die Leiche wurde dort drüben, auf der Höhe von Pulpit Rock, gefunden«, sagte O’Brien. »Aber … nun, Sie sehen ja selbst, da gibt es keine Nachbarschaft.« »Was ist mit den Häusern dort drüben?« Der FBI-Agent deutete auf eine Insel im Norden des Sees. »Bück Island? Diese Sommerhäuser hat es vor zwanzig Jahren noch nicht gegeben. Auf jeden Fall bezweifle ich, daß Sie jemanden finden werden, der vor so langer Zeit dort gelebt hat.« »Und das große Besitztum auf der anderen Seite?« »Das ist Camp Louise«, sagte O’Brien. »Es gehört seit fünfzig Jahren der Familie Dickerson. Sie könnten dort Ihr Glück versuchen, aber die Dickersons sind für gewöhnlich nur im Frühling und im Herbst hier. Ich kenne ihren Hausmeister, Sam Wykoff. Wollen Sie bei dem mal auf den Busch klopfen?« »Gewiß, warum nicht?« Ackerman blickte abermals auf die düsteren
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Berge, während O’Brien nach vorn ging, um mit einem Kollegen zu sprechen. Der Kommissar wußte, daß bei einem so weit zurückliegenden Verbrechen Erkundigungen in der Nachbarschaft ziemlich aussichtslos waren. Aber sie gehörten als grundlegender Bestandteil zu jeder Untersuchung am Schauplatz des Verbrechens, und Ackerman tat auch die Dinge, die zu verrichten andere Ermittlungsbeamte sich nicht die Mühe nahmen. Er war stolz auf seine Arbeitsweise. Er hatte bereits bei der Polizeibehörde von Lake Placid und im Büro des Sheriff von Essex County eine Voruntersuchung durchgeführt. Jetzt wollte er mit Hilfe der Landespolizei des Staates New York eine Inspektion des Tatorts vornehmen. Er wußte, daß sich das FBI trotz seiner Bemühungen wahrscheinlich von dem Fall zurückziehen und nur technische Hilfsmittel zur Verfügung stellen würde. Angesichts des außergewöhnlichen Zustands der Leiche und des Aufsehens, das der Fund erregt hatte, hatte das FBI ohnehin schon mehr getan, als bei derartigen Fällen üblich war, indem es sein Büro in Albany ermächtigte, eine Voruntersuchung zu führen. »Mrs. Dickerson ist hier«, sagte O’Brien, als er zu Ackerman zurückkehrte. »Nur ist sie nicht zu Hause. Der Steuermann sagt, er habe sie vor einer Weile in den Hafen kommen sehen. Aber Sam könnte auf der Insel sein.« »Gut, versuchen wir’s bei Sam.« O’Brien bedeutete dem Steuermann durch ein Zeichen weiterzufahren. Ackerman lehnte sich an die Bordwand und zog aus einer Aktentasche ein Bündel Papiere und einige großformatige Fotografien. »Ihre Taucher haben gestern nichts gefunden, nicht wahr, Lieutenant?« »Nein, nichts. Ich habe mich vor unserer Abfahrt erkundigt. Wer auch immer die Leiche ins Wasser geworfen hat, er wußte genau, wo der See am tiefsten ist. Man sagt, es gebe dort überhaupt keinen 56
Grund.« »Wo ist der Ermittlungsbeamte, der gestern hier war?« »Ins Polizeilabor von Albany gefahren. Er kommt heute nachmittag zurück.« »Das ist das Opfer«, sagte Ackerman und reichte dem Lieutenant einen Stapel Fotos – ein halbes Dutzend Aufnahmen vom nackten Leichnam einer jungen Frau. »Was hängt an ihrer Hand?« fragte O’Brien. »Eine Halskette. Sie gehört zu einem Medaillon, das in ihrer Handfläche eingegraben war.« »Ein Medaillon?« »Ja, ‘n sternförmiges Ding. Man kann es auf dem Bild nicht erkennen, aber im Laborbericht steht, es seien ein Baseball und gekreuzte Schlaghölzer drauf sowie die Jahreszahl 1962.« »Glauben Sie, daß sie es jemandem abgerissen hat?« »Es wäre möglich. Es könnte ein letzter Versuch gewesen sein, sich an etwas zu klammern. Nach der Art zu schließen, wie ihre Hand das Ding umkrallte, muß sie verzweifelt gekämpft haben.« »Was halten Sie von dem Fall?« fragte O’Brien. »Werden wir damit weiterkommen?« »Das hängt davon ab, was das Labor herausfindet. Vieles bei unserer Arbeit ist reine Glückssache.« »Wie das Auftauchen der Leiche. Das war Glück.« »Das war ein Wunder«, sagte Ackerman. Der Polizeibeamte gab ihm die Fotos zurück. »Es wird dem Labor vermutlich nicht gelingen, sie zu identifizieren. Es gibt weder eine Vermißtenmeldung noch irgendwelche Daten, die auf sie passen würden.« »Ja, das ist das Problem. Ihre Fingerabdrücke sind nicht im Archiv des Erkennungsdienstes. Wir werden möglicherweise nie erfahren, wer sie war.« »Woher kann man mit Sicherheit wissen, wie lange sie dort unten gelegen hat?« fragte O’Brien. »Man hat Untersuchungen 57
am Körper vorgenommen. Die Pathologen verstehen ihre Sache. Laut Laborbericht haben sie auch Diatomeen-Tests am Medaillon vorgenommen. Diatomeen sind Algen, die sich zu Kolonien vereinigen und auf Fremdkörpern wuchern. Man kann vom Diatomeen-Schlamm ziemlich genaue Rückschlüsse auf die Dauer der Ablagerung ziehen. Außerdem haben wir die Jahreszahl auf dem Medaillon.« »Was hat das Labor über das Seil gesagt, das um ihre Taille gebunden war?« »Erstklassiger Hanf, schwer und teuer – von der Art, wie man ihn vielleicht auf größeren Booten finden würde. Wer immer das Opfer gefesselt hat, er war kein Fachmann, denn er hat die reinsten Altweiberknoten gemacht.« Dann herrschte Schweigen, während das Motorboot die Wellen durchpflügte. Ackerman stand an die Bordwand gelehnt und beobachtete das Kielwasser. Es lag Schönheit in dem Strudel, Symmetrie im aufstiebenden silbernen Gischt. Seine Gedanken wandten sich der Arbeit zu, die in seinem Büro auf ihn wartete. Die Hälfte seiner unerledigten Fälle behandelte Verbrechen, und trotzdem opferte er jetzt auch noch sein Wochenende für diese Wasserleiche, für die er nicht einmal unmittelbar zuständig war. Aber Ackerman hatte eine Nase für interessante Fälle. Nur wenige Kollegen verfügten über seine Erfahrung. Er hatte im Lauf der Zeit in praktisch allen wichtigen Außenstellen des FBI gearbeitet, aber nie länger als sechs Monate am selben Ort. Es gab einen Grund für diese häufigen Wechsel. Ackerman hatte sich vor Jahren den Zorn des FBI-Direktors zugezogen und war daraufhin seinem »Karussell« zugeteilt worden – einem ständigen Wechsel von Dienststellen, der die Betroffenen davon abschrecken sollte, ihren Beruf zur Lebensstellung zu machen. Zur allgemeinen Verwunderung war diese Behandlung Ackerman jedoch ausgezeichnet bekommen.
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Nach achtundvierzig Jahren am Ruder war der Direktor 1972 gestorben, und es hatte Veränderungen in den Arbeitsmethoden des FBI und in Ackermans Reiseroute gegeben. Er wurde dauerhaft der New Yorker Außenstelle zugeteilt. Nachdem er in vier Jahren vier Belobigungsschreiben und vier Auszeichnungen erhalten hatte, sah er sich eines Tages zu seinem Erstaunen in sein Lieblingsbüro nach Albany versetzt. Kurz darauf hatte man ihm die Stellung eines Bezirkskommissars in Plattsburgh, einer Zweigstelle von Albany, angeboten, und er hatte nicht gezögert, sie anzunehmen. Als sich das Boot Buck Island näherte, sah er das ausgedehnte, an den See grenzende Gelände der Dickersons. Am Fuß eines runden, parkähnlichen Hügels, der zum imposanten Herrschaftshaus hinaufführte, waren einige Boote festgemacht. Der gepflegte Ufersaum mit seinen Anlegeplätzen beeindruckte ihn. Als sie das Ufer erreichten und das Boot sich dicht an den Steg schob, öffnete sich die Tür des Haupthauses, und eine Frau erschien auf der Veranda. Selbst auf die Entfernung konnte man erkennen, daß sie auffallend schön war. Der Agent wandte sich lächelnd dem Polizisten zu und deutete mit dem Kopf auf die weibliche Gestalt. »Sam?« O’Brien erwiderte nichts, aber als sie ans Land stiegen und auf das Haus zusteuerten, stieß er einen leisen Pfiff aus. »Mann, o Mann«, flüsterte er, »ich habe nie geahnt, daß es so etwas hier draußen gibt.« Ackerman sah, daß die Frau sie von der Veranda aus beobachtete, während sie näher kamen. Ihre braungebrannte, geschmeidige Gestalt steckte in einem schulterfreien gelben TShirt und weißen Shorts. Ihre Beine waren lang, mit schlanken Knien und schöngeformten Waden. Ganz besondere Beine, sagte sich Ackerman im stillen. Er kannte sich aus: Nur eine 59
Frau unter einer Million hatte solche Beine wie diese. Als er nur noch wenige Meter von ihr entfernt war, hefteten sich seine Augen auf ihr Gesicht. Sie hatte regelmäßige, schöne Züge – eine kleine Nase, ein selbstsicheres Kinn – und schwarzes Haar, das in weichen Locken auf ihre Schultern fiel. Er schätzte sie auf Mitte Dreißig. Großer Gott, sie ist hinreißend! dachte er bei sich. »Guten Morgen«, sagte Ackerman laut. Er blieb am Fuß der Verandatreppe stehen und zeigte seinen Ausweis vor. »Ich bin Kommissar Ackerman vom FBI. Dies ist Lieutenant O’Brien von der Landespolizei. Wir untersuchen den Fall der Leiche, die gestern aus dem See geborgen wurde.« Die Frau musterte ihn prüfend. Es lag etwas in ihrer Art, das Ackerman faszinierte. Vielleicht waren es ihre Augen. Sie wirkten beinahe schwarz, so schwarz wie ihr Haar. Es waren kalte, leidenschaftslose Augen, die nur aus Pupillen zu bestehen schienen. Sie waren stumm. »Hm… wohnen Sie hier, Madam?« fragte Ackerman. »Ja«, erwiderte die Frau und sah ihn kühl über das erhobene Kinn hinweg an. »Ich bin Susan Powell.«
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10 Dave beobachtete, wie sich das Boot durch den Nebel langsam dem Landesteg der Dickersons näherte. Als er den uniformierten Beamten am Heck sah, stieg die Angst in ihm auf. Er wußte von der Anwesenheit der Polizei auf dem See. Im ganzen Haus hatte es am Abend zuvor erregtes Geflüster über die Bergung der Leiche und die von der Landespolizei eingesetzten Taucher gegeben. Als er die Meldung gehört hatte, war sein erster Impuls gewesen, nach Tarrytown zurückzukehren. Aber er war zu dem Schluß gelangt, daß es besser sei, wie geplant übers Wochenende zu bleiben. So nervenaufreibend es auch sein mochte, zumindest war er an Ort und Stelle und konnte alles aus erster Hand beobachten, statt zu Hause besorgt auf Nachrichten zu warten. Mit einem Besuch der Polizei hatte er jedoch nicht gerechnet. Weshalb kamen sie zu den Dickersons? Vermutlich war es nur eine Routineangelegenheit. Ganz logisch, daß sie die Besitztümer der Umgebung überprüften. Er stand vom Schreibtisch auf und beobachtete durchs Fenster, wie die Männer sich seiner Frau vorstellten. Als Sue sie aufforderte, ins Haus zu kommen, ging er hinaus und schlich zu einer Galerie über dem Wohnzimmer, von wo aus er ihr Gespräch mit anhören konnte. »Wir setzen uns am besten hierher«, sagte Sue, während sie die Männer hereinführte. »Kein sehr angenehmer Tag, um mit einem Boot unterwegs zu sein. Darf ich Ihnen Kaffee anbieten … oder Tee?« »Nein, vielen Dank, Madam.« Die Stimme war tief, befehlsgewohnt. »Wir bleiben nur ein paar Minuten. Es liegt uns daran, mit Leuten zu sprechen, die vor zwanzig Jahren in dieser Gegend wohnten. Gibt es vielleicht irgend jemanden, der uns helfen könnte – jemanden, den Sie uns nennen könnten?«
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»Meine Eltern waren damals hier, aber mein Vater ist vor ein paar Jahren gestorben. Meine Mutter ist augenblicklich in der Stadt.« »Ist Sam Wykoff da?« Die Stimme des anderen Mannes war freundlicher, nicht so tief wie die erste. »Nein, Sam ist mit meiner Mutter gefahren. Sie müßten in nicht allzu langer Zeit zurückkommen. Sind Sie sicher, daß Sie keinen Kaffee möchten?« Dave trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Warum drängte sie die Männer zu bleiben? »Ich nehme gern eine Tasse Kaffee.« Es war die hellere Stimme. »Gut. Wie steht’s mit Ihnen, Mr. Atkin …« »Ackerman. Ja, Madam, ich schließe mich dem Lieutenant an. Wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht« Dave wurde unruhig. Als Sue in die Küche ging, sprachen die Männer leise miteinander, und er vernahm ein kurzes, unterdrücktes Lachen. Seine Frau schien ewig zu brauchen. Dave bemühte sich, die gedämpften Stimmen zu hören, aber er konnte nicht verstehen, was sie sagten. Schließlich kehrte Sue mit einem Tablett zurück, auf dem Porzellan klirrte. »Es tut mir leid, daß ich so lange gebraucht habe, meine Herren.« »Es ist sehr freundlich von Ihnen, uns Kaffee zu servieren.« Es war die tiefe Stimme, Ackerman. »Ein schönes Haus haben Sie hier, Mrs. Powell.« »Es gehört meiner Mutter«, erwiderte Sue. »Wir sind nur übers Wochenende hier.« »Ich verstehe. Sagten Sie ›wir‹?« »Ja. Mein Mann und ich.« »Ich nehme an, er ist jetzt nicht da?« »Nun – eigentlich nicht. Das heißt, ich glaube, er fühlt sich augenblicklich nicht wohl.« »Ich verstehe.« Es gab eine Pause in der Unterhaltung, während die Männer den Kaffee tranken.
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»Wir möchten nicht zuviel von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen, Madam.« Das war wieder Ackerman. »Die Leiche wurde versenkt, nachdem das Eis auf dem See geschmolzen war. Es muß Anfang der sechziger Jahre gewesen sein, vielleicht 1962.« Dave fühlte, wie sich sein Magen zusammenzog. Es gab jetzt keinen Zweifel mehr. Es war Ann Conway. »Könnten Sie oder Ihre Familie uns etwas mitteilen, das uns weiterhelfen würde?« fuhr die Stimme fort. »Uns ist klar, daß es lange her ist, aber es würde uns interessieren, alles zu hören, was Sie uns dazu sagen können.« »Wir haben natürlich alle darüber gesprochen«, sagte Sue. »Die Sache hat großes Aufsehen erregt.« »Wäre es möglich, daß Ihre Mutter sich an irgend etwas erinnert?« »Nein. Ich habe sie danach gefragt. Wir haben die Sommermonate meistens in Newport verbracht. Für gewöhnlich waren wir nur im Frühling und im Herbst für ein paar Wochen hier.« »Was ist mit Sam Wykoff?« fragte der Lieutenant. »Er war doch damals schon hier, nicht wahr?« »Ja, er war unser Hausmeister, aber er hat nicht auf der Insel gewohnt. Wir haben das Haus für ihn erst 1967 gebaut.« »Ist Ihnen sonst irgend jemand bekannt, der zu der Zeit hier gewohnt hat?« fragte Ackerman. »Nein, eigentlich nicht. Es ist so lange her …« Sue schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie fort: »Darf ich Sie etwas fragen?« »Ja, natürlich.« »Warum befaßt sich das FBI mit dieser Sache? Ich habe immer angenommen, daß das FBI – nun, Sie wissen schon, andere Dinge tut.« »Das Bundesgesetz verleiht dem FBI Zuständigkeit für gewisse Verbrechen, deren Täter sich der Strafe durch gesetzwidrige Flucht entzogen haben.« »Ich verstehe. Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte? Ach,
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ich nehme an, wenn Sie die hätten, dürften Sie es nicht sagen«, setzte Sue mit einem leisen Lachen hinzu. »Wir arbeiten dran«, erwiderte Ackermann zurückhaltend. »Mordfälle verjähren schließlich nicht.« Dave stand wie gelähmt. Offenbar hatten sie Beweise dafür, daß es sich um einen Mord handelte. Er schloß die Augen, als die Bedeutung der letzten Worte des Kommissars ihm zum Bewußtsein kam. »Sie glauben also, daß sie ermordet worden ist?« fragte Sue rasch. »Nun …« Ackerman zögerte. »Nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen müssen wir davon ausgehen, daß es sich um ein Verbrechen handelt.« Dave hörte, wie die Männer aufstanden. »Besten Dank für den Kaffee«, sagte Ackerman. »Ja, vielen Dank«, setzte der andere hinzu. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen konnte. Viel Glück« »Oh, noch eine Frage«, sagte Ackerman. »Diese Boote, die unten am Steg liegen – waren die schon vor zwanzig Jahren hier?« »Die meisten. Mein Vater hat alte Boote gesammelt. Wir haben sie, solange ich denken kann.« »Sie sind sehr schön. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir noch einen Blick drauf werfen?« »Nein – warum sollte ich? Keineswegs.« Dave hörte, daß die Tür geschlossen wurde – ein tiefer, kräftiger, dumpfer Schlag, der unheilvoll in seinen Ohren widerhallte. Er kehrte ins Gästezimmer zurück und beobachtete durchs Fenster die beiden Männer, die flüchtig die Boote besichtigten. Dann gingen sie zu ihrem Motorboot zurück und steuerten auf den See hinaus. Dave sah das Boot kurz vor Pulpit Rock im Nebel verschwinden. Es lag etwas Traumähnliches in dem Anblick – beinahe, als ob das Fahrzeug im schwarzen Wasser versunken sei, aus dem am Tag zuvor Ann Conways Leichnam aufgetaucht war. Während Dave auf die trostlose Landschaft blickte, wanderten seine Gedanken zurück zu jenem Tag vor 64
vielen Jahren, an dem er zum erstenmal auf die Insel gekommen war. Es war ein sonniger Nachmittag Anfang Juni gewesen. Sam hatte ihn mit dem Motorboot vom Festland herübergebracht. Er hatte sich auf der Cornell University mit Sue Dickerson angefreundet, und nachdem er sein Studium dort beendet hatte, war er auf ihre Bitte hin hergekommen, um ihre Eltern kennenzulernen. Die Aussicht auf den Besuch hatte ihn nervös gemacht. Die Dickersons galten als eine der angesehensten Familien von Westchester und waren bekannt dafür, daß sie seit langem die philanthropischen Bestrebungen der Universität großzügig unterstützten. Dave war sich seiner wenig distinguierten Herkunft schmerzlich bewußt geworden, während der schöne Sommersitz auf Bück Island langsam in Sicht kam. Er erinnerte sich noch heute deutlich an den Klang ihrer Stimme, die ihn begrüßte, als Sam anlegte … »Hallo, Dave!« Sues Timbre war aufregend; tief, aber weiblich. Er blickte erwartungsvoll in die Richtung, aus der ihr Gruß gekommen war, konnte sie aber in dem Labyrinth von Anlegeplätzen und Booten nirgends entdecken. »Hier oben«, rief sie lachend. Es war ein ungewöhnliches Lachen – eine melodische Kette von hellen Tönen, die durch die Sommerluft purzelten; ein glückliches Lachen, das jetzt die gleiche freudige Erregung in ihm weckte, die er jedesmal empfand, wenn er Sue Dickerson begegnete. Er blickte zu einem Balkon am Bootshaus zu seiner Rechten auf. Sie stand über das Geländer gebeugt und schaute zu ihm hinunter. Er hatte sie seit zwei Wochen nicht gesehen und fand sie noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Sie trug eine ausgeblichene hellrosa Hemdbluse mit aufgekrempelten Ärmeln und khakifarbene Bermuda-Shorts. Ein Feldstecher hing an einem Riemen um ihren Hals. »Hallo, Sue«, rief Dave. Er lächelte, aber sein Gruß war gedämpft. Er blickte auf das Haupthaus – ein prächtiger Bau, der auf der 65
Kuppe des Hügels thronte. »Meine Eltern sind in der Stadt«, sagte Sue, als ob sie sein Unbehagen erriete. »Sie kommen bald zurück« Dave war erleichtert. Er wandte sich an den Hausmeister. »Kann ich Ihnen mit dem Boot helfen?« »Nein, vielen Dank, ich fahre gleich wieder hinaus.« Dann hob Sam die Stimme und rief: »Susan, Leona hat das Essen für sieben Uhr geplant. Würden Sie das bitte Ihrer Mutter sagen, wenn sie zurückkommt? Ich fahre nach Saranac.« Er winkte flüchtig, als das Boot ablegte. Dave wandte sich zum Balkon. »Es tut mir leid, daß ich so spät dran bin.« »Ich hatte dich schon vor einer Stunde erwartet«, sagte Sue. »Ich fing an, mir Sorgen zu machen.« »Es hat im Club länger gedauert, als ich dachte.« »Hast du den Job bekommen?« »Das erfahre ich erst in ein paar Tagen«, sagte Dave. »Ich habe mit dem Personalchef gesprochen und das Bewerbungsformular ausgefüllt.« »Komm rauf. Es ist niemand hier. Die Treppe ist auf der Rückseite. Laß deine Tasche dort unten stehen.« Seine Reisetasche sah in der Sonne alt und abgenutzt aus. Er stellte sie an einen versteckten Platz neben ein leichtes hölzernes Boot, ähnlich einem Kanu, das umgekippt auf dem Steg lag. Dann ging er zur Rückseite des Bootshauses und rannte die Stufen hinauf. Sue spähte durch den Feldstecher auf den See, als er auf den Balkon kam. »Ich habe ein paar Enten drüben bei Pulpit Rock beobachtet«, sagte sie. »Es ist eine Mutter mit ihren Jungen.« »Wahrscheinlich Wildenten«, erwiderte Dave, dessen Interesse sofort erwachte. Sue blickte weiter durch das Fernglas. Es beunruhigte ihn, daß sie sich so intensiv mit den Vögeln befaßte. Er wußte, daß sie in letzter Zeit ein paarmal mit einem ihrer früheren Freunde ausgegangen war, einem jungen Mann namens Bob Turner, der kürzlich an der juristischen Fakultät von Yale promoviert hatte. Sie hatte Dave versichert, daß es lediglich eine alte Freundschaft sei und ihre 66
Eltern diejenigen seien, die Bob mochten. Trotzdem machte er sich Gedanken. Er trat so dicht an sie heran, daß ihr Kopf nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. »Zwei Wochen sind eine lange Zeit, Sue. Ich habe dich vermißt.« Während er sprach, legte er den Arm um ihre Taille und küßte sie sanft hinters Ohr. Er konnte die Konturen ihres Körpers fühlen und die Frische ihres Haares riechen. Als sie den Kopf an seine Schulter lehnte, war er erleichtert. Er beugte sich vor, um sie zu küssen, aber sie hob den Kopf und löste sich von ihm. Seine Besorgnis kehrte zurück »Meinst du nicht, ich sollte dir zunächst einmal dein Zimmer zeigen?« Sie lächelte, drückte ihm zärtlich die Hand und zog ihn zur Treppe. Nachdem er seine Tasche vom Steg geholt hatte, gingen sie den von blühenden Büschen gesäumten Pfad hinauf, der das Bootshaus mit der Villa verband. Dave staunte über den Luxus. Beiderseits des Bootshauses sah er ausgedehnte Docks mit überdachten Liegeplätzen, wo eine Anzahl blankpolierte Mahagoniboote lagen, deren Messingbeschläge in der Sonne glänzten. Er schätzte den Bestand auf ein Dutzend. »Das sind antike Boote«, sagte Sue, als sie sein Interesse bemerkte. »Mein Vater sammelt sie. Es ist albern. Er benutzt sie nie.« Das Innere des Hauses war ebenso eindrucksvoll wie seine Fassade. Hinter der Veranda lag ein großer Wohnraum mit einer Balkendecke und einem riesigen Kamin. Gegenüber führte eine Treppe zu einer Galerie hinauf, von der man in die Schlaf- und Gästezimmer gelangte. Neben der Treppe war ein Aufzug. Unter der Galerie lag der Eingang zum Eßzimmer. Die Räume waren geschmackvoll mit einem Gemisch von antiken und modernen Möbeln ausgestattet. Obwohl es ein warmer Tag war, sorgte eine Klimaanlage für eine angenehme Temperatur. Es war ein prachtvoller Sommersitz mit einem Ambiente, wie nur die Reichen es genießen konnten.
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Daves Unbehagen wuchs. Im College hatten er und Sue auf gleicher Stufe gestanden. Hier fühlte er sich unterlegen. »Willkommen in Camp Louise«, sagte Sue, während sie ihn durchs Wohnzimmer führte. »Warum heißt es Camp Louise?« »Mein Vater. Seine Eltern haben das Haus gebaut. Er sagt, es sei nach einer seiner früheren Freundinnen benannt – nur, um meine Mutter zu necken. Das tut er gern. In Wirklichkeit war Louise eine Verwandte von ihm.« Sie ging auf die Treppe zu. »Dein Zimmer ist hier oben.« Das Gäste-Apartment bestand aus einem Schlafzimmer mit einem großen Himmelbett, einem Bad sowie einem Wohnzimmer mit einem Schreibtisch und einigen Sesseln. Auf dem Schreibtisch stand eine Vase mit Zinnien, Löwenmaul und gelben Lilien. Die Fenster überblickten den See und die Berge. »Das ist phantastisch.« Dave stellte seine Reisetasche hinter einen der Sessel. »Ich weiß nicht, wozu deine Eltern nach Newport gehen, wenn sie ein Haus wie dieses haben.« »Meine Mutter ist lieber am Meer.« Sue trat ans Fenster. »Es gibt hier zu viele Insekten. Sie ist allergisch gegen Moskitos. Das ist der Grund, weshalb wir eine Klimaanlage haben – damit wir die Fenster nicht zu öffnen brauchen.« »Wie lange bleibst du hier?« »Bis nächste Woche. Ich kann aber jederzeit wiederkommen. Und vielleicht könntest du uns in Newport besuchen. Es gibt dort um diese Zeit wundervolle Partys.« »Klingt sehr verlockend.« Er schwieg und sah ihr in die Augen. Es waren Sues Augen, die ihn am meisten faszinierten. Sie hatten eine seltsam magnetische Anziehungskraft. »Bei Gott, Sue, ich habe dich vermißt.« Er trat näher an sie heran, nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und beugte sich über sie, während ihre Augen ihn unbeweglich ansahen. Als er sie küßte, ließ sie es
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teilnahmslos geschehen. Das änderte sich auch nicht, als er sie in die Arme nahm und inniger küßte. Ihre Reaktion war mehr Ergebenheit als Leidenschaft. Aber Dave war daran gewöhnt. Sue Dickerson schien außerstande, mehr Gefühl zu zeigen. Tiefe Stille lag über dem Raum, während er sie in den Armen hielt. Draußen zirpte eine Grille. Der vibrierende Ton stieg schrill an, dann wurde er allmählich immer leiser, bis er schließlich nicht mehr zu hören war. Sue löste sich aus seiner Umarmung und wandte sich wieder dem Fenster zu. »Ich bin sehr froh, daß du da bist, Dave – ich habe dich auch vermißt.« »Du hast mir vorhin einen Schrecken eingejagt.« »Wieso? Was willst du damit sagen?« »Dieser Bob …« Dave zögerte; er wußte nicht recht, was er sagen sollte. »Bob Turner? Oh, mach dir keine Gedanken über Bob. Ich sehe ihn gar nicht so oft.« »Nun, es ist nicht nur Bob. Ich hatte irgendwie das Gefühl, daß sich die Dinge zwischen uns geändert haben könnten. Du hast einen so gleichgültigen Eindruck gemacht. Versteh mich nicht falsch. Ich habe nicht erwartet, daß du in Gegenwart des Hausmeisters übers Geländer springst, aber …« »Es tut mir leid.« Sie blickte auf den See hinaus. »Mir ist klar, daß ich nicht sonderlich… du weißt schon, zärtlich bin. Wir haben ja wahrhaftig schon oft genug darüber gesprochen. Aber es hat sich nichts geändert.« Sie wandte sich um und lächelte ihm zu. »Nicht, soweit es mich betrifft. Ich bin froh, daß du hier bist Ich möchte, daß du meine Eltern kennenlernst.« »Ich freu mich darauf«, sagte Dave, ohne sie anzusehen. »Oh, gewiß.« Ihre Augen blitzten. »Du kannst es kaum erwarten. Ich sehe es dir an.« »Doch, wirklich«, beharrte Dave. »Was hast du ihnen von
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mir erzählt?« »Alles.« »Alles? Das hätte ich mir denken können. Hast du ihnen gesagt, daß ich aus Polen stamme?« »Natürlich. Du hättest sie hören sollen, als ich ihnen deinen Namen nannte – in der ursprünglichen Fassung. Sie wiederholten ihn wie aus einem Mund. Po-lan-ski! Es war wirklich urkomisch.« Dave zuckte die Achseln. »Es freut mich, daß ich zur allgemeinen Erheiterung beigetragen hab.« »Ach komm, Dave, sei nicht albern.« Sue legte ihm spielerisch die Arme um die Taille. »Du bist zu empfindlich. Wen kümmert es, wie du einmal geheißen hast? Verstehst du das nicht? Es macht niemandem etwas aus, außer dir selbst. Was ist das?« fragte sie, auf ein Kettchen deutend, das er um den Hals trug. »Nur eine Medaille«, sagte Dave ein wenig verlegen. »Von den Majestics – der Baseballmannschaft.« Sue zog den Anhänger unter seinem Hemd hervor und betrachtete ihn aufmerksam. »Ist hübsch – genau wie du.« Sie hob den Kopf und lächelte ihm strahlend zu. Dave hätte sie gern wieder geküßt, aber er sah ein langes, weißes Boot auf den Anlegeplatz zusteuern. »Meine Eltern«, sagte Sue, seinem Blick folgend. Sie ging zur Tür. »Ich sage ihnen, daß du hier bist. Mach es dir bequem. Der Aperitif wird um halb sieben in der Bibliothek serviert.« Dave blieb am Fenster stehen, nachdem Sue hinausgegangen war. Das Boot legte am Steg an. Ein hochgewachsener, grauhaariger Mann mittleren Alters stieg aus und half einer etwa gleichaltrigen Frau aus dem Boot. Beide trugen marineblaue Blazer, sie mit einem Faltenrock und er zu weißen Flanellhosen. Sie gingen über den Steg auf das Haus zu. Dave spielte nervös mit seinem Medaillon. Sue und ihre Eltern warteten in der Bibliothek, als er herunterkam. Mr. Dickerson
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war ein großer, freundlicher Mann, der entschlossen schien, sich und andere nicht allzu ernst zu nehmen. »Ich war selbst einmal Werfer«, erklärte er, nachdem er Dave begrüßt hatte. »Tatsächlich habe ich in meinem College den Rekord für die meisten ›Aus‹ in einem Spiel gehalten. Sechzehn! Allerdings habe ich in demselben Spiel ebenso viele Läufe abgegeben, was wiederum ein Rekord war. Ich war schon immer ein bißchen ungezügelt, nicht wahr, Arlene?« Er blinzelte seiner Frau zu, während er einen Schuß Gin in ein Glas goß. »Möchten Sie ‘n Spritzer Zitrone, Dave?« »Ja, Sir. Vielen Dank.« Dave warf einen Blick auf Mrs. Dickerson, die ihn von der anderen Seite des Zimmers her kritisch musterte. Sie war eine große, streng wirkende Frau mit grauem Haar und scharf geschnittenen Zügen. Er war froh über Mr. Dickersons Freundlichkeit. »Sue erzählte mir, Sie galten in der Mannschaft von Cornell als einer der Besten«, sagte Mr. Dickerson, während er ein beachtliches Quantum Bourbon in sein Glas goß. »Sagen Sie, wie viele Läufe hat der Werfer in dem Spiel abgegeben, das Ihre Mannschaft letzten Frühling gegen Colgate verloren hat? Elf zu null, war’s nicht so?« »Daddy«, warf Sue vorwurfsvoll ein. Sie wandte sich an Dave. »Laß dich nicht von ihm ärgern. Er macht sich ein Vergnügen daraus, andere Leute zu hänseln.« »Es war nur ein Scherz«, sagte ihr Vater. »Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Dave. Es gibt hier eine ganz passable Mannschaft, die Lake Placid Majestics.« »Ja, ich weiß. Ich habe letzten Sommer bei ihnen gespielt. Ihr Manager bemüht sich, mir einen Job im Adirondack Club zu verschaffen.« »Sie haben Dave zum Mannschafts-Kapitän gewählt«, sagte Sue. »Was du nicht sagst.« Ihr Vater nickte beifällig. »Ich werde versuchen, mir ein paar von Ihren Spielen anzusehen. Sie
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haben einen recht guten Körperbau für einen Werfer. Wie groß sind Sie – ungefähr eins fünfundachtzig? Für diese hohen, schnellen Bälle würde Ihnen allerdings ein bißchen mehr Fleisch auf den Knochen nichts schaden. Was Sie brauchen, ist eine gute Köchin. Stimmt’s, Sue?« »Daddy, bitte!« »Herbert! Ich muß schon sagen!« protestierte Mrs. Dickerson. »Okay, okay, es tut mir leid. Aber es ist wahr.« Er schwieg und nahm einen Schluck aus seinem Glas. »Ehe ich geheiratet habe, war ich dünner als Sie. Ist’s nicht so, meine Liebe?« Mrs. Dickerson überhörte seine Frage und wandte ihre Aufmerksamkeit Dave zu. »Sue hat erwähnt, daß Sie aus Rochester kommen. Wohnen Sie direkt in der Stadt?« Dave wurde nervös. Sie nahm ihn jetzt offensichtlich aufs Korn. »Ja, Madam. Wir haben ursprünglich in einem Vorort gewohnt, aber wir mußten vor einiger Zeit unser Haus verkaufen und sind in … eine Art Stadtwohnung gezogen.« In Wirklichkeit handelte es sich um ein kleines Zweifamilienhaus neben einem Lebensmittelgeschäft. »Ich verstehe. Sue sagte, Ihre Mutter sei Englischlehrerin?« »Ja, Madam. Sie ist an einer Mädchenschule in der Nähe von Rochester. Sarah Parker.« »Unterrichtet sie schon lange?« »Ja, Madam. Soviel ich weiß, schon seit fast zehn Jahren.« Dave warf einen Blick auf Sue. Sie hörte interessiert zu. Er hatte nicht oft mit ihr über seine Familie gesprochen. »Und haben Sie Geschwister?« fuhr Mrs. Dickerson fort. »Eine ältere Schwester.« »Wohnt Sie bei Ihnen zu Hause?« »Ja, Madam. Wir sind nur zu dritt. Mein Vater ist vor einiger Zeit gestorben. Er war Journalist.« Dave nahm einen Schluck aus seinem Glas. Er ließ den Blick von Mrs. Dickerson zu Mr. Dickerson und dann zum Kamin wandern.
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Sue, der das Kreuzverhör ihrer Mutter offenbar zu durchsichtig schien, wechselte das Thema. »Dave geht auf die Ohio State University, um seinen Magister zu machen.« »Ach, wirklich?« fragte Mr. Dickerson. »Das ist ja großartig. Worauf werden Sie sich denn spezialisieren?« Dave wollte gerade antworten, da kündigte das Mädchen an, das Essen sei serviert. Sie standen auf und folgten Mrs. Dickerson ins Speisezimmer, wo ein großer rechteckiger Tisch festlich mit weißem Damast, Silber, Kristall, frischen Blumen und brennenden Kerzen gedeckt war. »Wie steht’s mit Ihrem Appetit, Dave?« fragte Mr. Dickerson munter. »Ich hoffe, Sie mögen Fasan.« »Ja, Sir. Das klingt sehr verlockend.« Dave hatte noch nie Fasan gegessen, und er hatte jetzt keinen Hunger. Mrs. Dickerson ging zum Kopfende des Tisches und wies Dave den Platz zu ihrer Rechten an. Er erwog, ihr den Stuhl zu halten, aber sie setzte sich, noch ehe er Gelegenheit dazu hatte. Zwei Mädchen kamen aus der Küche, um den ersten Gang zu servieren. »Wir sprachen über Ihr Studium, David«, sagte Mrs. Dickerson. »Sie erwähnten die Ohio State University?« »Ja, Madam.« Dave musterte die verwirrende Menge Besteck vor sich. Aus dem Augenwinkel sah er, daß Mrs. Dickerson eine Gabel zur Hand nahm. Um sicherzugehen, warf er einen Blick auf Mr. Dickerson. Er benutzte einen Löffel. »Worauf spezialisieren Sie sich?« fragte Mr. Dickerson abermals. »Auf Staatswissenschaft. Ich dachte an einen Posten bei der Regierung.« Dave entschied sich für eine der Gabeln. Er erinnerte sich, daß seine Schwester gesagt hatte, man solle von außen anfangen und sich nach innen durcharbeiten. Ida wußte mit solchen Dingen Bescheid. Oder war es von innen nach außen?
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»Warum belegen Sie nicht einige kaufmännische Kurse?« fragte Mr. Dickerson. »Das ist es, was dieses Land in Schwung hält. Wenn man in einem kommunistischen Staat wie Rußland lebt, arbeitet man für die Regierung. Denn dort liegt die Macht. Aber in einem kapitalistischen Land dreht sich alles ums Geld. Hat man welches, ist man wer; hat man keins, ist man eine Null.« Mrs. Dickerson sah ihren Mann scharf an. »Es könnte sein, Herbert, daß nicht jeder deine Ansicht teilt.« „Vielleicht«, erwiderte ihr Mann gelassen. »Aber je eher David das versteht, um so besser. Sue versteht es. Sie ist klug. Wußten Sie, daß sie Festrednerin ihrer Klasse war, Dave? Ja, Sir, sie wird Sie überraschen. Erinnerst du dich, was der Psychologe gesagt hat, Mutter? Sie hat die absolute Fähigkeit, zu erreichen, was immer sie will.« Er schwieg, um den Wein zu probieren. Dave bemerkte, daß Sue ihre Mutter hilfesuchend ansah. »Das beste für Sie wäre, Dave«, fuhr Mr. Dickerson fort, »ein paar Volkswirtschaftskurse zu besuchen und dann irgendwo zu einer eigenen kleinen Firma zu kommen. Oder wenn Sie das nicht können, bemühen Sie sich um eine Teilhaberschaft bei irgendwas. Ausschlaggebend ist Eigentum. Wenn man nicht sein eigener Herr ist, arbeitet man ewig jemand anderem in die Tasche.« »Gewiß, Dave, erzähl das nächste Woche dem Adirondack Club«, mischte sich Sue ein und blinzelte Dave zu. Mr. Dickerson lächelte gutmütig. »Vielleicht können wir ein gutes Wort für Sie im Club einlegen. Wo werden Sie wohnen, wenn Sie den Job bekommen?« »Das weiß ich noch nicht. Ich werde mir etwas suchen müssen.« »Warum wohnen Sie nicht hier?« schlug Mr. Dickerson vor. »Sam und die anderen gehen abends nach Hause. Sie könnten ein Auge auf das Anwesen haben.« »Nun, das ist sehr freundlich von Ihnen, Sir, aber …« »Sue«, unterbrach Mrs. Dickerson, »hast du mal daran gedacht, mit Bob, hm, ich will
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sagen, mit David auf den Whiteface zu gehen?« Es war ein peinlicher Versprecher – oder war es Absicht gewesen? Sue warf ihrer Mutter einen ungläubigen Blick zu, aber Mrs. Dickerson fuhr unbekümmert fort: »Ich glaube, der Whiteface würde David gefallen, meinst du nicht? Vielleicht könntet ihr morgen früh gehen. Sam kann euch hinüberfahren.« Sie nahm einen herzhaften Schluck aus ihrem Glas. Aus irgendeinem Grund – sei es wegen ihres scheinbaren Fauxpas, sei es weil sie das Interesse verloren hatte – war Mrs. Dickerson danach weniger aggressiv. Aber während das Essen seinen Fortgang nahm, spürte Dave, daß sie für ihre Tochter etwas anderes im Sinn hatte, und nicht einmal die umgängliche Art ihres Mannes konnte die Stimmung heben. Nach dem Essen gab es Kaffee und Cognac in der Bibliothek, und dann zogen sich Sues Eltern zurück. Dave und Sue gingen zum Bootshaus hinunter und setzten sich auf den Balkon, der den See überblickte. Es war eine klare Nacht mit einer starken Brise, die kleine Schaumkronen über das Wasser jagte. Der Mond tauchte die Landschaft in silbernes Licht. Es dauerte nicht lange, bis Dave das Thema anschnitt, das ihm fast den ganzen Abend auf der Seele gelegen hatte. »Ich bin nicht sicher, ob ich Erfolg bei deiner Mutter habe. Ich habe das Gefühl, dein Freund Bob wäre ihr lieber.« Sue warf ihm einen raschen Blick zu. »Unsinn. Sie mag dich. Beide mögen dich.« Sie streckte den Arm aus und griff nach seiner Hand. »Vergiß Bob. Ich habe dir doch gesagt, ich sehe ihn nicht oft. Außerdem ist er mir viel zu großspurig.« »Offen gestanden, es wäre mir lieber, wenn du ihn überhaupt nicht sehen würdest«, erklärte Dave. »Was würdest du dazu sagen, wenn ich anfinge, mit irgendeinem Mädchen in Rochester auszugehen?« »Ich mache mir nie Gedanken über so was.« Sie drehte sich
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im Liegestuhl auf die Seite und sah ihm in die Augen. »Wirklich nicht. Ich bin wohl einfach von Natur aus nicht eifersüchtig. Außerdem weiß ich, daß du mich liebst, Dave.« Sie lachte leise. »Ich glaube, meine einzigen Rivalen sind die Vögel, stimmt’s?« Dave war nicht so leicht zu besänftigen. Er sagte in energischem Ton: »Ich würde gerne glauben, daß … nun, daß wir eine Zukunft haben. Und ich will nicht, daß jemand dazwischenfunkt. Wenn du dich weiter mit anderen triffst, sollte ich vielleicht …« »Bitte, Dave. Du bist völlig auf dem Holzweg. Laß uns nicht unsere Zeit mit solchen Albernheiten vergeuden.« Dave erwog einen Augenblick, das Thema fortzusetzen. Aber statt dessen legte er die Arme um sie und zog sie so dicht an sich, wie die Stühle es erlaubten. »Liebst du mich wirklich, Sue? Manchmal bezweifle ich es. Es gibt so viele andere Jungs mit soviel mehr …« »Natürlich liebe ich dich. Du bist etwas ganz Besonderes. Die meisten Männer sind so aggressiv. Du bist lieb und sanft.« Dave beugte sich hinüber und küßte sie zärtlich. Er bemerkte, daß ihre Augen offen blieben. Ihre scheinbare Gleichgültigkeit verwirrte ihn, aber er hatte sich damit abgefunden. Es war typisch für sie, eine von den Eigenschaften, die Sue Dickerson so anders machten als jeden anderen Menschen, den er je gekannt hatte. Natürlich hatte er noch nie jemanden gekannt, der so reich war wie sie. Das war nach Ansicht seiner Schwester Ida ein Teil ihrer Anziehungskraft. Ida behauptete, daß er vom Reichtum der Dickersons geblendet sei. »Würdest du Sue ebenso gern haben, wenn sie ein paar Häuser von uns entfernt in der Center Street wohnte?« hatte sie gefragt. »In einem schäbigen kleinen Zweifamilienhaus?«
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Gewiß, er war überwältigt von der Villa, den Booten, dem Personal. Aber seine Liebe war echt Dessen war er sicher. Doch wie stand es mit Sue? Sie war an einen Lebensstil gewöhnt, den er ihr schwerlich würde bieten können. Er war im Begriff, sie abermals zu küssen, da drehte sie sich um und blickte über den See hinaus. »Pulpit Rock sieht nachts immer so seltsam aus«, sagte sie. »Während des Tages ist er sehr schön, aber nachts ist er so düster. Ich habe als Kind dort draußen auf den Felsen gespielt …« Dave zögerte. Er hätte sich vorbeugen und sie küssen können, ließ sich aber statt dessen enttäuscht in seinem Liegestuhl zurücksinken. Seine Gedanken wandten sich wieder Bob Turner zu. Woher stammte er? Aus einer reichen und prominenten Familie? Wahrscheinlich. Mrs. Dickersons Verhalten ließ darauf schließen. Irgendwo im Wald ertönte ein schwaches Trillern, fast wie ein leises, zitterndes Lachen. »Was war das?« fragte Dave. »Das Lachen von Sally Wood.« »Das was? Es klang wie ein Vogel.« »Ist es auch. Es ist ein Seetaucher. Wahrscheinlich wird es ein Gewitter geben. Sie kündigen Gewitter an. Manchmal, wenn es mehrere sind, ist es richtig laut – fast wie das Gelächter von Irren.« »Was wolltest du damit sagen, das Lachen von …« »Ach, das ist bloß eine von diesen unheimlichen Geschichten, die man an Seen hört«, sagte sie und ließ mit einem Achselzucken das Thema fallen. Dave wartete gespannt auf eine Wiederholung des trillernden Tons, aber er hörte nur das knatternde Geräusch der Fahnen, die im Wind über dem Bootshaus flatterten. Irgendwo schlug ein loses Tau mit einem scharfen, nach--hallenden Klang gegen eine Stange. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte über das Wasser auf den Mond, der auf einem Berggipfel balancierte. Ja, Ida hatte vermutlich recht, was die Reichen betraf. Sie 77
waren in allem soviel besser dran. Selbst der Mond war voller, heller, schöner in Camp Louise.
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Vierter Teil NEW YORK CITY JUNI 1982
11 »Es ist sehr einfach.« Emily Hunters Stimme war kühl und gleichgültig. »Du gibst deine Erweiterungspläne auf, oder Empire verklagt Stamford auf zehn Millionen.« Dave und Emily aßen im »Club 21« zu Mittag – einem Lokal, wo sie sich gelegentlich trafen, um Geschäftsfragen zu erörtern. Sie saßen im Obergeschoß an einem Ecktisch. Nach zwei Martinis hatte Emily ein Omelett und ein Glas Chablis bestellt, während Dave in einem Krabbensalat herumstocherte. »Meine Anwälte sehen es nicht so.« Dave knirschte mit den Zähnen. »Da ich zu fünfzig Prozent an Empire beteiligt bin, habe ich bei jedem Gerichtsverfahren, das eingeleitet wird, ein Wörtchen mitzureden.« »Hör mir gut zu.« Emilys Stimme wurde scharf. »Sag deinen Brüdern Mackel, Tweed, Harvey und wem auch immer, daß ich bereit bin, dir diesmal das Genick zu brechen. Sie wissen, daß ich ihr ganzes Büro mit dem Rechtsstreit um diese Angelegenheit so lange wie nötig in Atem halten kann. Und weißt du, wer die Rechnung begleichen wird? David Powell! Wenn du nicht unterrichtet bist, was ein Prozeß heutzutage kostet, dann laß es dir lieber rechtzeitig von ihnen sagen. Denn ehe ich mit dir fertig bin, wirst du jedes gottverdammte Stück, das du besitzt, verpfändet haben, um dich zu verteidigen – einschließlich deines prachtvollen RollsRoyce.« Sie schwieg, trank einen Schluck Wein, und als der Oberkellner vorbeikam, rief sie: »Jeff! Kaffee!« 79
Dave hatte Mühe, seine Stimme zu beherrschen. »Wenn du sachlich über die Angelegenheit sprechen willst, bin ich bereit, dir zuzuhören. Aber wenn du dich rachsüchtig aufführst und mir drohst …« »Ich habe noch nicht einmal angefangen, dir zu drohen«, unterbrach Emily ihn. »Und komm mir nicht mit diesem selbstgerechten Quatsch.« Bemüht, seine Erregung zu unterdrücken, konzentrierte sich Dave auf seinen Salat. Er durfte sich seine Besorgnis nicht anmerken lassen. Emily würde wie ein Raubtier reagieren, wenn ihr klar wurde, wie verwundbar er war. Die Geschichte von Lake Placid und seine finanziellen Probleme machten ihm derart zu schaffen, daß er weder ein noch aus wußte. »Du solltest mehr essen«, sagte Emily. Es war nichts Ungewöhnliches, daß sie nach einem bösartigen Angriff unvermittelt das Thema wechselte und eine zwanglose Bemerkung fallenließ. »Du siehst aus, als hättest du abgenommen.« »Vielen Dank«, erwiderte Dave spöttisch. »Ich weiß es zu schätzen, daß du wenigstens um mein physisches Wohlergehen besorgt bist.« Er wußte, daß seine innere Unruhe sich in seinem Aussehen niederzuschlagen begann. Fast zwei Wochen waren seit der Entdeckung der Leiche im Lake Placid vergangen – qualvolle Tage, in denen er mit Sorge die Entwicklung der Dinge beobachtet hatte. Die Medien hatten nichts Neues berichtet, abgesehen von der Tatsache, daß das Opfer eine todbringende Kopfverletzung aufwies. Dave versuchte sich einzureden, daß die Polizei keine Möglichkeit hatte, ihn mit der Leiche von Ann Conway in Verbindung zu bringen. Ein Kellner brachte den Kaffee, und Emily zündete sich eine Zigarette an. Während sie langsam den Rauch ausstieß, warf
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sie Dave einen fragenden Blick zu. »Hat Sue dir erzählt, daß wir gestern zusammen zu Mittag gegessen haben?« »Nein, ich glaube nicht.« »Das hab ich mir gedacht.« Es war eine rätselhafte Bemerkung. Dave hielt die Augen auf seinen Salat geheftet. »Wir haben lange geschwatzt«, sagte Emily in zwanglosem Ton. »Sie erwähnte, daß ihr in Lake Placid wart. Soviel ich weiß, habt ihr dort ziemliche Aufregung gehabt.« Dave wurde von Angst gepackt. Er sah von seinem Teller auf und begegnete Emilys Blick. Ihre Augen waren ruhig, forschend. »Ich möchte nicht unhöflich erscheinen«, sagte er kurz angebunden, »aber ich weiß nicht, was diese Dinge mit dem Problem von Empire und Stamford zu tun haben.« Emily drückte ihre Zigarette aus. Sie tat es mit einer Entschiedenheit, die zeigte, daß sie einen Entschluß gefaßt hatte. Ohne ein weiteres Wort stand sie vom Tisch auf und verließ das Restaurant.
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12 »Aber Sue, wie konntest du das tun? Du hättest es wenigstens zuerst mit mir besprechen sollen.« Dave war von einer zweitägigen Reise nach Chicago zurückgekehrt und hatte erfahren, daß Huff, die männliche Hälfte des BernhardinerPaares, tot war. Er war auf Sue Powells Anweisung vom ortsansässigen Tierarzt eingeschläfert worden, nachdem er einen Hund angegriffen hatte, der auf dem Besitz umhergestreunt war. »Ich wußte, du würdest es nicht zulassen.« Sue stand vom Toilettentisch auf und ging zu ihrem Mann, der am anderen Ende des Schlafzimmers in einem Sessel saß. Sie trat hinter ihn, zerzauste sein Haar und massierte ihm sanft die Schultern. »Es war das einzig richtige. Das hat der Tierarzt auch gesagt Huff war zu unberechenbar. Wenn du gesehen hättest, wie er das Ohr des anderen Hundes zugerichtet hat. Und er hätte Dolans Sohn ernsthaft verletzen können, als er ihn neulich ansprang.« »Aber er hat nie jemandem etwas zuleide getan. Er hat nur viel gebellt, was er ja auch sollte. Er ist ein Wachhund – oder besser, er war ein Wachhund. Der andere Köter hatte nichts auf unserem Gelände zu suchen.« »Nun, es mußte sein. Es tut mir leid.« Ihr Ton war mitfühlend, aber entschieden. »Ich wußte nicht, daß du dich so darüber aufregen würdest.« »Ist das so erstaunlich? Offen gestanden, Sue, manchmal weiß ich nicht, was ich von dir halten soll. Und die arme Dana …« »Du würdest anders darüber denken, wenn dieses Tier Dana oder eine ihrer Freundinnen verletzt hätte.« Sie ging zu ihrem Toilettentisch zurück und fing an, ihr Haar zu bürsten. »Der Tierarzt sagt, niemand ist sich klar darüber, wie gefährlich ein großer Hund sein kann. Er war wie ein Löwe. Außerdem hat es keinen Sinn, jetzt noch darüber zu reden. Er ist tot.«
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»Das ist genau das, was ich sagen will. Er ist tot! Du handelst zu schnell. Du beschließt etwas, und damit basta. Dann ist es zu spät, auch nur darüber zu sprechen.« Dave sah an ihren Augen, daß sie sich von ihm entfernte. Sue Powell diskutierte nicht. Sie zog sich einfach in jene geheimnisvolle innere Welt zurück, die er nie hatte ergründen können, und ließ ihn mit seinem Zorn allein. Er starrte frustriert auf seine Füße. Während er über die Sache nachdachte, verflog sein Zorn jedoch. Dave lenkte immer sehr rasch wieder ein. Laut Emily Hunter ein weiterer Beweis für seine Charakterschwäche. Sie hatte einmal zu Sue gesagt, er sei nicht einmal Manns genug, um richtig wütend zu werden. Emily hatte vermutlich recht. Zumindest, was seine Frau betraf. Wie konnte man auch auf Sue wütend sein? Er hörte nie auf, über ihre Heiterkeit, ihren außerordentlichen Seelenfrieden zu staunen. Dave stand auf, ging in sein Ankleidezimmer und nahm den Schlips ab. »Vergessen wir’s. Es ist erledigt. Außerdem habe ich ernstere Probleme. Emilys Anwälte versuchen, eine einstweilige Verfügung gegen das Werk in Stamford zu erwirken.« »Was würde das für dich bedeuten?« »Wenn sie auf ihrem Vorhaben besteht, könnte sie uns in den Bankrott treiben«, sagte Dave vom Ankleidezimmer aus. »Bankrott?« Sues Stimme klang besorgt. »Ja. Wir können unmöglich in Stamford eine Million Dollar pro Jahr verlieren und überleben. Emily hat uns völlig in der Hand. Übrigens sagte sie mir, daß du letzte Woche mit ihr zu Mittag gegessen hast.« »Das stimmt. Wir haben Einkäufe gemacht.« »Nimm dich in acht vor ihr.« Dave kam in einem hellblauen Pyjama und einem dunkelblauen Schlafrock aus dem Ankleidezimmer. »Sie ist mit allen Wassern gewaschen, und sie hat einen messerscharfen Verstand. Sie könnte dir alle möglichen Informationen entlocken.« »Sie hat sich noch nie nach deinen 83
geschäftlichen Angelegenheiten erkundigt.« »Das ist es ja gerade. Sie ist zu gerissen. Ich habe oft genug gesehen, wie sie es anstellt. Sie lenkt einfach das Gespräch in eine bestimmte Richtung und hört zu. Du tust das übrige. Denk an euer Mittagessen. Du hast ihr offenbar alles erzählt, was in Lake Placid geschehen ist.« »Warum sollte ich nicht? Schließlich ist das ja kein Geheimnis, oder?« »Darum geht es nicht«, sagte Dave rasch. »Es wäre mir einfach lieber, daß du nicht mit ihr redest.« »Aber wie kann ich es vermeiden, mit ihr zu reden? Sie ist meine beste Freundin. Ich kenne sie länger als dich.« »Nun, tu mir den Gefallen und halt dich ein wenig von ihr fern. Zumindest, bis ich diese Sache mit Stamford geklärt habe.« Er ging zum Fenster und blickte über die Auffahrt auf die Ulme, die sich dunkel vom Abendhimmel abhob. »Es ist mir schrecklich, den Baum sterben zu sehen. Was glauben die Leute von der Baumschule, wie lange er noch leben wird?« »Das ist schwer zu sagen. Sie meinen, es könnte unter Umständen schnell gehen. Auf der anderen Seite sieht es sehr schlimm aus.« Dave schüttelte den Kopf. »Wenn ich an all die Vögel denke, die dort genistet haben …« »Ich würde mir an deiner Stelle keine Sorgen um die Vögel machen. Du lieber Himmel, wir haben genügend Bäume für sie. Wenn du daran zweifelst, sieh dir die Rechnungen von der Baumschule an.« »Ja, aber ich konnte sie von hier aus immer sehen.« Dave dachte einen Augenblick daran, seinen Feldstecher zu holen, entschied aber, daß es schon zu dunkel sei. »Es wird mir was fehlen, ohne die Ulme.« »Es wird schon nicht so schlimm werden. Du läßt dich zu sehr von sowas beeindrucken. Ich finde, du solltest versuchen,
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eine Weile auszuspannen.« »Das geht leider nicht. Ich muß Mittwoch wieder nach Chicago.« Dave wandte sich vom Fenster ab, ging quer durchs Zimmer und ließ sich auf das große Doppelbett sinken. Es war eine Wohltat, sich hinzulegen. »Wenn ich das Geschäft in Chicago unter Dach und Fach bringen kann, wird es uns bei den Erweiterungsplänen in Stamford eine große Hilfe sein.« »Vergiß nicht die Party am Samstagabend«, sagte Sue. »Wie könnte ich unsere Party vergessen? Wie viele Leute erwartest du?« »Sechshundertundzwölf.« »Hoffentlich regnet es nicht.« »Sei nicht so pessimistisch.« »Kommt Dr. Heming?« Er wußte, daß es eine provozierende Frage war. »Ich hoffe es sehr. John bringt Leben in die Gesellschaft.« »Das tun andere auch«, sagte Dave. »Er tanzt gern mit mir.« »Das weiß ich. Ich habe euch beobachtet.« »Ich kann von Glück sagen, daß er mich auffordert. Du tust es nie.« »Du weißt genau, was ich damit sagen will.« Dave sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Auf den letzten zwei Partys, zu denen wir gegangen sind, hat er den ganzen Abend mit dir verbracht. Ich frage mich wirklich, ob dieser rege gesellschaftliche Verkehr mit ihm angebracht ist.« »Warum?« »Er ist Danas Arzt, darum.« »Na und? Er gehört zu unserer Clique. Du solltest froh sein, daß es jemanden gibt, der gern mit mir tanzt. Denk an all die Mühe, die er dir damit erspart.« »Ich mag ihn nicht.« »Er ist sehr weltgewandt … weiß immer, wie er sich zu benehmen hat. Ich finde ihn prima.« »Deine Mutter sagt, man soll das Wort prima nicht gebrauchen.«
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»Ach, Mutter …« »Und ich bezweifle, ob er wirklich so weltgewandt ist. Ich habe ihn bei der Abendgesellschaft letzte Woche beobachtet. Er scheint keineswegs all die Regeln zu kennen, die deine Mutter Dana einzuschärfen versucht.« »Was für Regeln?« »Zum Beispiel, daß man die Messerschneide zur Mitte des Tellers hin hält. Oder das Essen mit der linken Hand … Übrigens sehe ich nie jemanden mit der linken Hand essen, es sei denn, er ist Linkshänder. Außerdem ist er viel jünger als du, und …« »Was willst du damit sagen – jünger?« Sue sah ihn entrüstet im Spiegel an. Als ihr klar wurde, daß er sie neckte, fuhr sie fort, ihre Haare zu bürsten. »Er ist ein ganzes Jahr älter als ich.« »Das erzählt er dir bloß. Er ist höchstens fünfunddreißig.« Sie erwiderte nichts. »Nun, er ist bestimmt nicht über achtunddreißig.« Als sie weiter schwieg, stand Dave auf und ging zum Toilettentisch. Er stellte sich hinter sie und blickte auf ihr Spiegelbild. Welche Frau sieht ohne Make-up so anziehend aus? dachte er bei sich. Aber was wäre, wenn er sie verlieren würde? Wenn die Dinge sich weiter verschlechterten? »Du liebst mich doch, nicht wahr?« fragte er leise. »Natürlich.« »Würdest du mich immer lieben, ganz gleich, was geschieht?« »Was soll das heißen?« Sie legte die Bürste beiseite. »Zum Beispiel, wenn es mir nicht gelingen würde, die Firma zu retten; wenn alles schiefginge.« »Ich wünschte, du würdest nicht so reden …« Sie schwieg und legte die Hand an die Stirn. Dave sah sie besorgt an. Bekam sie wieder Kopfschmerzen? Er
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hätte sie gefragt, aber er wußte, daß sie nicht gern darüber sprach. »Ich denke nur an Dana«, fuhr sie fort. »Die Pflege, die sie brauchen wird. Und Mutter ist nicht in der Lage zu helfen. Die Steuern auf Daddys Nachlaß waren verheerend. Sie braucht …« »Ich weiß, ich weiß«, sagte Dave rasch. »Ich erwarte nicht …« »Kannst du den Streit mit Emily nicht beilegen? Es muß doch irgendeine Möglichkeit geben, sie zufriedenzustellen.« »Gewiß, ich kann sie leicht zufriedenstellen. Ich brauche nur Stamfords Produktion zu drosseln, damit Empire alle Aufträge bekommt, und muß sie obendrein meinen Anteil an Empires Gewinn einstecken lassen. Das wird sie vollkommen zufriedenstellen. Das einzige Problem ist nur, daß ich dabei ins Armenhaus komme.« Er schwieg und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Außerdem ist es nicht nur das Geschäft«, sagte er bedrückt. »Es scheint einfach alles zu sein. Huff. Sogar die Ulme. Es gibt Tausende von Bäumen auf dem Gelände, aber ausgerechnet derjenige, der mir der liebste ist, geht ein. Die ganze Sache hat etwas Unheimliches an sich.« Sue begann, ihr Gesicht einzucremen. Sie sah ihn zögernd im Spiegel an. »Hör zu, Dave, du mußt versuchen, dich zu beherrschen. Du warst in letzter Zeit sehr nervös. Ist es wirklich so wichtig, ob die Ulme stirbt oder nicht? Du hängst zu sehr an den Dingen. Das Leben ändert sich fortwährend. Man muß lernen, sich damit abzufinden.« »D« hast dich nicht verändert.« Er beugte sich hinunter und küßte sie sanft auf die Stirn. Als er ihr ins Gesicht sah, fingen ihre Augen ihn ein und fesselten ihn mit ihrer magischen Kraft. Es war schon oft geschehen, aber es war immer wieder beunruhigend. Ihre Augen schienen unergründlich, bar jeden Gefühls. Aber es
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dauerte nur eine Sekunde, dann zog ein Lächeln über ihr Gesicht. »Kopf hoch«, sagte sie. »Nimm nicht alles so schwer.« Plötzlich, noch ehe er sich wegdrehen konnte, hob sie blitzschnell die Hand und tupfte ihm einen Klecks Creme auf die Nasenspitze. »Oh, du kleines …!« Dave rieb sich die Creme vom Gesicht, während sie ihn schelmisch angrinste. Er faßte sie um die Taille, hob sie vom Stuhl und trug sie zum Bett. »Dave, bitte, ich will’s nicht wieder tun.« Sie wehrte sich lachend. »Sei vorsichtig, du tust mir weh.« Er ließ sie mit dem Gesicht nach oben aufs Bett fallen, hielt sie an den Handgelenken fest und warf sich über sie. Sie atmete schwer, und er spürte, wie ihre Brüste sich hoben und senkten. Er streckte die Hand aus und zog langsam ihr Neglige hoch. »Hast du mich vermißt, als ich in Chicago war?« Er küßte sie sanft auf den Hals. Sie antwortete nicht. Regungslos lag sie da und starrte ihn aus ihren schwarzen Augen teilnahmslos an.
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13 Kinderland! Eine Zauberwelt, so aufregend, so anders als jeder andere Ort! Wo sonst konnte man für nur fünfzig Cent auf einem wilden Hengst durch die Nacht schweben? Oder auf einem riesigen Rad in den Himmel emporsteigen und dann wie eine Sternschnuppe langsam auf die Erde sinken? Oder durch dunkle Tunnels schießen, vorbei an blitzenden Lichtern, auf und ab und um Kurven herum, begleitet vom Poltern der metallenen Räder und den Schreien der anderen Kinder? Oder sich vollstopfen mit Limo, Eis und Bonbons? Wo sonst konnte man all das tun, was normalerweise verboten war? »Kinderland«, das waren Hunderte von Metern Spaß und Abenteuer, wo kleine Herzen vor Erregung pochten; wo das ratternde Getöse der Bahnen und die nostalgische Musik des Karussells sich zu einer ohrenbetäubenden Kakophonie vereinten, die unbekümmert durch die stille Nachtluft dröhnte. Dana Powell hatte es geschafft, ins »Kinderland« zu kommen, und sie war selbst am meisten überrascht, daß es ihr gelungen war. Als sie ihren Vater gebeten hatte, mit ihr dorthin zu gehen, war es beinahe halb acht, die Zeit, wo sie für gewöhnlich ihren Pyjama anzog. Es war kaum mehr als eine müßige Bitte gewesen, denn sie hatte keinen Augenblick geglaubt, daß er einverstanden sein würde. Aber zu ihrer Verwunderung hatte er sofort zugestimmt. Die Tatsache, daß er in Chicago gewesen war und in den letzten Tagen wenig Zeit mit ihr verbracht hatte, war sicherlich der Grund dafür. Obwohl es nie leicht war, ihn ins »Kinderland« zu lotsen, wenn sie erst einmal da waren, gehörte er ganz und gar ihr. So war es auch jetzt wieder, als sie ihn am Arm zu einer der Bahnen zog – einem spinnwebartigen Gebilde am Rande des Parks. Ihr Gesicht war vor Erregung gerötet. Sie trug weiße Shorts
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und ein marineblaues T-Shirt, auf dessen Rücken in großen weißen Lettern DANA stand. Im rechten Arm hielt sie die stets gegenwärtige Lindsay. Dana hatte bereits drei Fahrten hinter sich. Aber sie besaß einen Block für fünfundzwanzig! Das hatte bei ihrer Ankunft im Park die größte Schwierigkeit bereitet – der Block von fünfundzwanzig. Daddy hatte zuerst zehn vorgeschlagen, aber sie wußte, daß es keine Mühe kosten würde, ihn auf fünfzehn zu bringen. Zwanzig war der Prüfstein. Wenn sie die erreicht hatte, war der Rest nicht mehr schwer, denn ihr Vater betrachtete den Fünfundzwanziger-Block als den preisgünstigsten. »Wir werden sie nicht alle heute abend benutzen, Daddy«, sagte sie, während sie ihn zu einem furchterregend aussehenden Gefährt zog. »Das hast du letztesmal auch versprochen. Mir war zwei Stunden lang übel.« »Nun, diese Bahn ist babyleicht. Schau, da steigt ein anderer Mann mit seinem Kind ein, siehst du’s?« »O nein, kommt nicht in Frage!« rief ihr Vater, als er sah, worauf sie zusteuerten. »Ich habe dir letztesmal gesagt, Dana, ich fahre nicht noch einmal mit dem Ding. Du mußt schon allein da drauf. Ich setze mich hier auf die Bank und sehe dir zu.« »Ich kann nicht allein fahren, weil ich nicht so groß bin wie der da.« Sie deutete auf das lebensgroße Plakat eines Jungen, das am Eingang zur Bahn hing. Der Junge hielt ein Schild vor der Brust, auf dem geschrieben stand: Du MUSST SO GROSS SEIN WIE ICH, UM ALLEIN ZU FAHREN. »Warum nehmen wir nicht die Eisenbahn oder die Raupe dort drüben?« »Oh, Daddy, die sind doch für Babys«, erklärte Dana geringschätzig. »Gut. Aber eins sage ich dir, ich geh weder in die Rakete, noch auf die Achterbahn oder den Toboggan. Und vor allem
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fahre ich nicht mit diesen gräßlichen Autoscootern, verstanden?« Dana beschloß, ihm nicht zu widersprechen. Sie würde eins nach dem anderen angehen. Vorläufig hatte sie ihn für ein heikles Gefährt gewonnen, und dieser Anfang war bei weitem das schwierigste. Während der nächsten Stunde manövrierte sie ihn von einer Bahn zur anderen. Es verlief annähernd so, wie sie erwartet hatte. Ihr Vater machte fast alles mit, ja er schien sogar Spaß an manchem zu finden; abgesehen vom Toboggan. Danach war er eine Weile sehr blaß. Dana liebte es, mit Daddy zusammen zu sein, obwohl er in letzter Zeit sehr schweigsam gewesen war und nur selten mit ihr spielte. Ihre Mutter sagte, er sei mit seinen Gedanken beim Geschäft. Aber heute abend schien er gut gelaunt zu sein, wirkte so, wie er früher war, und das beruhigte sie. Als sie später mit ihm auf einer Bank saß und ihr zweites Schokoladeneis verzehrte, erwähnte sie ihre Mutter. »Ist Mami krank, Daddy?« »Meinst du ihre Kopfschmerzen? Das ist keine wirkliche Krankheit. Deine Mutter ist nie krank.« »Warum hat Dr. Heming sie dann untersucht?« »Was?« Die Schärfe im Ton ihres Vaters erschreckte sie, und sie bedauerte, das Thema angeschnitten zu haben. »Ich habe nur gefragt, ob Mami krank ist.« »Ja, ich verstehe. Aber du sagst, Dr. Heming hat sie untersucht?« Er sprach jetzt ruhiger, so als habe er gespürt, daß er sie erschreckt hatte. »Ja, im Umkleideraum. Am Swimming-pool.« »Wann war das?« »Als du verreist warst.« Eine Weile herrschte Schweigen, und Dana schloß aus dem Verhalten ihres Vaters, daß es ein Fehler gewesen war, das 91
Thema zur Sprache zu bringen. »Woher weißt du, daß Dr. Heming Mami untersucht hat?« fragte er. »Nun, du kennst doch den kleinen Hügel hinter den Umkleideräumen. Ich bin dort runtergekommen und habe durchs Fenster gesehen, wie Dr. Heming Mami untersuchte.« Ihr Vater schwieg abermals. Er verschränkte die Arme fest über der Brust, schlug die Beine übereinander und klopfte mit dem Fuß auf den Boden. Dann richtete er sich auf. »Es ist Zeit zu gehen, Liebling.« »Aber Daddy«, sagte sie verzweifelt, »wir haben noch sechs Karten.« »Nein, Dana. Es ist spät. Außerdem haben wir vereinbart, daß wir ein paar für nächstesmal aufheben wollten, stimmt’s?« »Oh, Daddy«, stöhnte sie. »Hör zu, nur noch eine letzte Fahrt auf dem Karussell, bitte?« »Gut, aber dann ist Schluß. Ich bleibe hier sitzen und seh dir zu.« »Halt Lindsay solange.« Sie aß ihr Eis auf, während sie zum Karussell ging. Nachdem sie eine ihrer restlichen Karten abgegeben hatte, kletterte sie auf ein Pferd und winkte ihrem Vater zu. Doch er hielt den Kopf gesenkt und sah sie nicht. Das Karussell begann, sich langsam zu drehen, und das Pferd hob und senkte sich sanft im Takt der Musik. Dana streichelte den lackierten Kopf und flüsterte ihm ins Ohr: »Gut, General.« General war ein Pferd in einem Kinderbuch, das sie kürzlich gelesen hatte. »Braves Tier.« Sie ließ die Stange vor sich los und nahm die Zügel in die Hand. Es war ihre letzte Fahrt. Sie wollte jeden Augenblick genießen. Das Karussell fuhr schneller. Es war schön, den Wind auf dem Gesicht zu fühlen. Schneller und schneller.
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Die Welt um sie herum verschwamm. Sie ließ die Zügel fallen, klammerte sich an die Stange und schloß die Augen. Der schleifende Rhythmus der Orgel vibrierte in ihren Ohren, während General in einem gleichmäßigen Auf und Ab durch die Nacht schwebte. Es war zehn Uhr vorbei, als sie über den Parkplatz zum Wagen gingen. Dana sah als erste die weiße Karte an der Windschutzscheibe. »Schau, Daddy, wir haben einen Strafzettel bekommen.« Sie ließ seine Hand los und lief voran. »Gib acht, da fahren Autos rückwärts raus«, rief ihr Vater. Beim Wagen angelangt, stellte sich Dana auf die Zehenspitzen und zog die Karte unter dem Scheibenwischer hervor. Es war eine der Einladungen, die ihre Mutter für die Party verschickt hatte. Auf feinem weißem Büttenpapier stand gedruckt: Mr. und Mrs. David Powell würden sich freuen, Sie am Sonnabend, dem 26. Juni, um 20 Uhr auf ihrem Sommerfest begrüßen zu dürfen. Meadow Lane, Tanytown U. A. w. g. Darunter hatte jemand in großen schwarzen Druckbuchstaben geschrieben: DAS SPIEL IST AUS! IM TANZPALAST ERKLINGT EINE ANDERE MELODIE Daneben stand grob gezeichnet eine Sanduhr, die abgelaufen war. »Was ist das, Dana?« fragte ihr Vater, als er näher kam. »Es ist eine von Mamis Einladungen. Jemand hat etwas
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daraufgemalt. Schau!« Sie reichte ihrem Vater die Karte und beobachtete ihn neugierig beim Lesen. »Was ist los, Daddy?« Ihr Vater antwortete nicht, sondern starrte wie gebannt auf die Karte. »Daddy, ist dir nicht gut? Du siehst aus, als wärst du gerade auf dem Toboggan gewesen!«
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14 Es war der Abend von Sue Powells Sommerfest. Dave stand in einer weißen Smokingjacke am Fenster des Schlafzimmers im ersten Stock, nippte an einem Drink und blickte hinunter auf den festlich geschmückten Garten, wo mit großer Geschäftigkeit die letzten Vorbereitungen getroffen wurden. Auf dem freien Platz rechts neben der Ulme waren grünweiß gestreifte Zelte aufgeschlagen. Ein Netz, von elektrischen Drähten mit bunten Glühbirnen überspannte das Gelände und ergänzte die Gaslaternen, die zu beiden Seiten der Wege flackerten. Unter dem größten der Zelte befand sich eine Tanzfläche aus hellem Eichenholz, die für diesen Abend über den Rasen gelegt worden war. Auf dem erhöhten Podium stimmte ein Sechzehn-Mann-Orchester seine Instrumente. In den anderen Zelten standen Tische mit Gedecken, Blumen und Kerzen. Dienstboten in schwarzer Livree eilten zwischen dem Haupthaus und den Zelten hin und her. Zur Linken der Ulme schwebte ein gelb gestreifter Heißluftballon. Durch ein Seil, das an seiner Korbgondel befestigt war, in Bodennähe gehalten und von zwei Scheinwerfern angestrahlt, trug er dazu bei, das französische Thema zu unterstreichen, das Sue sich ausgedacht hatte. Sie hatte ihr Sommerfest zur féte champétre deklariert, und es sollte die Party der Saison von Westchester werden. Die Dämmerung begann ihre bleifarbenen Töne über das Gelände zu breiten. Die Ulme und der Wald hinter dem Blumengarten standen als dunkle Silhouetten im Zwielicht. Eine leichte Brise raschelte im Laub der Ulme. Dave bemerkte eine Bewegung hoch oben in einer Astgabel. Vielleicht war es der merkwürdige schwarze Vogel, der sich gelegentlich in der Ulme niederließ. Am Fuß des Baumes tauchte ein dunkler Schatten auf. Es war Puff. Der Bernhardiner kam mit einem großen Knochen im Maul aus einem Zelt geschlichen.
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Das Motorengeräusch eines Wagens drang vom Pförtnerhaus herüber, wo der Gärtner Brandon Sheehan als Wachtposten fungierte. Dave sah einen silbergrauen Bentley die Auffahrt heraufkommen und auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Haus halten. Dort hatte Tom Lucas Stellung bezogen, um den Ankömmlingen behilflich zu sein. Er trug eine frisch gebügelte dunkelgraue Uniform, und seine blank geputzten hohen Stiefel glänzten im Zwielicht. Dave beobachtete, wie Tom den Wagenschlag öffnete und eine hochgewachsene, schlanke Gestalt aussteigen ließ. Es war ein gutaussehender Mann Ende der Dreißig, mit regelmäßigen, sonnengebräunten Zügen. Das dunkle, an den Schläfen leicht ergraute Haar paßte gut zum eleganten Smoking und verlieh ihm ein distinguiertes Aussehen. »Guten Abend, Herr Doktor«, sagte Tom zu John Heming. »Ein schöner Abend, nicht wahr?« »Hallo, Tom.« Heming blickte erwartungsvoll in Richtung der Zelte. »Bin ich etwa der erste?« »Ja, Sir, soviel ich weiß, schon. Mr. und Mrs. Powell müßten in wenigen Minuten herunterkommen.« »Hilda!« rief Heming einem Mädchen zu, das gerade vorbeiging. »Hilda, würden Sie mir einen Wodka-Martini mit Eis holen? Sehr trocken bitte.« Dave runzelte die Stirn, während er zusah, wie Heming in einem der Zelte verschwand. »Wer ist vorgefahren?« Sue kam in einem enganliegenden, tief ausgeschnittenen schwarzen Abendkleid aus dem Ankleidezimmer. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß schon jemand hier ist.« »Was glaubst du wohl?« erwiderte Dave. »Dein geliebter Dr. Heming.« »John? Ach ja.« Sie trat zu ihrem Mann ans Fenster. »Er hat gesagt, er werde früher kommen, um uns zu helfen, die Gäste zu begrüßen. Was macht Dana dort unten?« Dana war aus dem Haus gekommen und stand neben Tom Lucas. Sie trug ein hellgelbes Organdykleid. Ein kleiner Kranz aus roten und 96
weißen Gänseblümchen, den Sue eigens für diesen Abend geflochten hatte, schmückte ihr dunkles Haar. Der Chauffeur beugte sich zu ihr hinunter, dann nahm er sie bei der Hand und humpelte mit ihr zu einem Zelt. »Ich finde es nicht richtig, daß sie dort draußen ist und die Gäste begrüßt«, sagte Sue stirnrunzelnd. Dave antwortete nicht. Er spürte, daß der Anblick des hinkenden Chauffeurs mit ihrer Tochter seine Frau beunruhigte. Vielleicht ein Vorgefühl dessen, was die Zukunft Dana bringen würde. »War John allein?« fragte Sue. »Du willst sagen, hat er eine Freundin mitgebracht?« Dave wandte sich vom Fenster ab und ging zu einem Sessel. »Nein. Vielleicht glaubte er, daß er hier eine hat.« »Du bist wirklich sehr töricht« Sue blickte weiter durchs Fenster auf den festlich geschmückten Garten. »Ich kann immer noch nicht darüber hinwegkommen, wie du dich neulich abend aufgeführt hast.« »Was willst du damit sagen?« »Daß ich nicht begreife, wie du dich von dem Geschwätz eines siebenjährigen Kindes derart aus der Fassung bringen lassen kannst.« »Wie hättest du reagiert, wenn sie dir gesagt hätte, daß mich jemand in der Umkleidekabine untersucht habe?« »Ich weiß nicht, was ich geglaubt hätte. Ich weiß nur, daß ich nicht so nach Hause gekommen wäre wie du. Ich hätte nicht gedroht fortzugehen und mich nicht aufgeführt, als wäre ich am Rande eines Nervenzusammenbruchs.« »Ich hatte an dem Abend große Sorgen.« »Mag sein, David, aber du mußt versuchen, dich in den Griff zu bekommen. Du warst in letzter Zeit sehr gereizt. Und neulich abend – ich habe dich noch nie so gesehen. Das Gerede, daß du fortgehen wolltest, um in Europa zu leben, und all dieser Unsinn. Aber wie dem auch sei, ich habe dir gesagt, John hat sich lediglich meinen Knöchel angesehen. Dana hat viel mit Ärzten zu tun. Es ist nur 97
natürlich, daß sie angenommen hat, er hätte mich untersucht.« »Ich weiß. Und ich weiß auch, daß du dir tatsächlich den Knöchel verstaucht hast. Nur kann ich nicht verstehen, wieso dieser Arzt mitten am Nachmittag hier war, um mit drei Frauen Tennis zu spielen. Kommt dir das nicht auch ein bißchen sonderbar vor?« »Nicht im geringsten. Er ist ein guter Freund von Carrie Miller, und sie hat ihn gebeten, für sie einzuspringen.« Sue ging zum Toilettentisch. Plötzlich hielt sie inne und wandte sich mit nachdenklicher, besorgter Miene ihrem Mann zu. »Dave, ich weiß, daß du zur Zeit große Probleme hast. Aber du warst in diesen letzten Wochen wie von einem Verfolgungswahn besessen. Das Telefon klingelt, und du nimmst den Hörer vom Nebenanschluß auf, um mitzuhören. Ein Wagen hält vor dem Haus, und du stürzt zum Fenster, um zu sehen, wer es ist. Gestern hättest du Hilda fast umgerannt, als sie hinausging, um ein Einschreiben vom Postboten in Empfang zu nehmen. Selbst Dana hat bemerkt, wie nervös du bist. Du mußt dich einfach zusammennehmen. Es wird bestimmt alles wieder gut« Dave antwortete nicht. Er ging ins Ankleidezimmer und musterte sich im Spiegel. Sein Gesicht war blaß und angespannt. Er war sich bewußt, daß er zu heftig auf die Bemerkung seiner Tochter reagiert hatte. Sue hatte nie Interesse für andere Männer gezeigt. Aber der andere Vorfall im »Kinderland« hatte ihn kopfscheu gemacht. Der Zettel an der Windschutzscheibe. Irgend jemand wußte Bescheid. »Wir sollten uns lieber beeilen«, rief Sue. »Ich habe wieder einen Wagen vorfahren hören.« »Es ist wahrscheinlich Emily Hunter«, sagte Dave trocken. Er leerte sein Glas und stellte es auf die Kommode. »Angesichts eurer Schwierigkeiten wird sie möglicherweise gar nicht kommen.« »Ein anderer würde unter diesen Umständen wahrscheinlich 98
wegbleiben, aber sie kommt bestimmt. Wart es ab.« Dave kam aus dem Ankleidezimmer zurück »Sie kümmert sich nicht darum, was die Menschen von ihr denken. Ich erinnere mich an eine Gelegenheit, wo sie hinter dem Rücken eines angeblichen Freundes aus Florida ein Geschäft abgeschlossen hat. Der Mann ist mit seinem Privatjet eigens nach New York geflogen, um ihr zu sagen, was er von ihr hielt. Als er sich verabschiedete, hatte sie die Unverfrorenheit, ihn zu fragen, ob er sie auf dem Rückweg in Washington absetzen würde.« Sue lachte. »Das ist typisch Emily. Hat er es getan?« »Ist das dein Ernst? Er hat gesagt, er würde sie mit Freuden in Washington absetzen, vorausgesetzt, daß sie nicht zu landen brauchten. Ich wünschte bei Gott, du hättest sie nicht eingeladen.« Sue drehte sich um und sah ihn aufmerksam an. »Dave, du mußt das verstehen. Emily und ich sind seit langer Zeit befreundet. Wir…« Sie zögerte. Dann warf sie den Kopf zurück und sagte: »Die Einladungen sind vor fast einem Monat rausgegangen. Woher sollte ich wissen, daß du sie nicht hier haben willst? Offengestanden, ich hoffe, daß sie kommen wird. Sie sieht blendend aus, und alle Welt bewundert sie. Sie ist ein Gewinn für jede Party.« »Nur halt sie mir vom Leibe«, sagte Dave ruhig. »Keine Sorge, ich werde mich um sie kümmern. Ich habe schon wieder einen Wagen gehört.« Sue ging zum Fenster. »Oh, es ist dieser Freund von dir aus Rochester.« »Jerry?« »Großer Gott, sieh ihn dir an«, sagte Sue. »Er trägt einen von diesen komischen hellblauen Smokings mit Rüschenhemd.« Du meine Güte, dachte Dave bei sich. Jerry würde der einzige sein, der keinen klassischen Smoking trug. Er würde völlig aus dem Rahmen fallen. Es war nicht das erstemal, daß sich seine Freunde im Bekanntenkreis der Dickersons als unpassend erwiesen.
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»Ich gehe lieber hinunter«, sagte Dave rasch. »Jerry kennt niemanden. Er wird sich unbehaglich fühlen.« Während der nächsten Stunde brach eine Karawane von Autos über den Landsitz der Powells herein und lud Koryphäen aus ganz New York und Umgebung vor dem Hause ab. Als einer der ersten kam ein bekannter Verleger mit seiner Frau in einem silbergrauen Mercedes; ihm folgte ein roter Maserati, dem der Erbe einer reichen Familie aus Westchester mit seiner hübschen Freundin entstieg. Zwei Schwestern mittleren Alters, die gemeinsam genügend Anteile besaßen, um Einfluß auf die Führung einer der größten Aktiengesellschaften der Welt auszuüben, kletterten mühsam aus einem VW Golf, während eine auffallend schöne Blondine im tief ausgeschnittenen Goldlame-Kleid – die Besitzerin einer eleganten Boutique – gewandt hinter dem Lenkrad ihres Ford Pinto hervorglitt. Ein populärer Senator hatte es für angebracht gehalten, seine Wohnung in Manhattan zu verlassen, um an dem Fest teilzunehmen. Es war eine bunte Schar von Gästen verschiedenen Alters und ungleicher Interessen. Aber was immer ihre Stellung im Leben sein mochte – ob sie reich oder arm, schön oder häßlich, alt oder jung waren – , jeder von ihnen besaß zumindest eine typische Eigenschaft, die von der Gastgeberin als ein Plus für ihre Party angesehen wurde. Es war alles in der üblichen, peinlich genauen, kühlen Manier von Sue Powell geplant. Die Gäste hatten eines gemein: Ob es ein junges Herz war, das in der Hoffnung auf eine neue romantische Begegnung pochte, oder eine ältere Persönlichkeit, die sich darauf freute, mit Gleichgesinnten in nähere Berührung zu kommen, oder ein Chauffeur, der auf eine gute Hand beim Kartenspiel hoffte, das auf dem Platz vor den Garagen stattfinden sollte. Sie alle kamen mit einem Gefühl freudiger Erwartung. Und obgleich einige von Long Island oder gar aus New Jersey kamen, waren
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alle überzeugt, daß die Fahrt sich lohnen würde. Jeder Gast wurde von der Dame des Hauses herzlich willkommen geheißen. Sue, die mit Dave und ein paar vertrauten Freunden beim Eingang stand, begrüßte jeden Neuankömmling so, als ob der Abend nur mit dem Gedanken an ihn geplant worden sei und jetzt, da er eingetroffen war, die Party beginnen könne. Livrierte Diener, die sich mit silbernen Tabletts geschickt einen Weg durch die Menge bahnten, servierten den Gästen Cocktails und Horsd’reuvres. Bald darauf begann das Orchester zu spielen. Eine weiche Melodie drang aus dem Zelt ins Freie. Stimmengewirr, Lachen und das Klingeln der Eiswürfel in den Gläsern vermischten sich mit der Musik, während die Stimmung ausgelassener wurde und der festliche Trubel durch die klare Sommernacht hallte. Es war kurz vor Mitternacht und die Party auf ihrem Höhepunkt, als sich ein perlgrauer Cadillac dem Pförtnerhaus näherte. Im Gegensatz zu den anderen Wagen, die darauf gewartet hatten, hereingelassen zu werden, schoß dieser ohne zu halten durch die Unterführung und achtete nicht auf Brandon, der ins Freie getreten war. Der Wagen fegte die Auffahrt hinauf und wirbelte kleine Grashalme vom frisch gemähten Rasen neben dem Weg auf. Er hielt mit quietschenden Bremsen auf dem Kopfsteinpflaster, und noch ehe er ausgerollt war, wurde die Tür geöffnet, und eine gutaussehende, stattliche blonde Frau im schwarzen Abendkleid stieg aus. Sie ließ die Wagentür offen und stolzierte wortlos an dem herbeieilenden Chauffeur vorbei. Die Stimmung der Gesellschaft war zwanglos und festlich zugleich. Zurückhaltung und Hemmungen verschwanden, zusammen mit den Champagnerperlen, in der lauen Luft der Sommernacht. Bleierne Füße wurden leicht und wendig, und die traditionellen Foxtrotte und Walzer wichen ausgelassenen, modernen Tänzen. Strenge Persönlichkeiten wurden heiter und gesprächig. Unscheinbare Frauen wirkten auf einmal schön und
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verführerisch. Versprechen wurden ausgetauscht, Hände fanden einander. Fremde Lippen begegneten sich. Musik, Gelächter und knallende Korken hallten von den Bäumen wider und stiegen in den samtenen Himmel auf. Am Rande des Trubels gingen zwei weibliche Gestalten aufeinander zu, blieben stehen und begrüßten sich. Es war ein kurzer Augenblick, unbemerkt von tausend Augen: ein sehnsüchtiger Blick, ein rasches Flüstern, ein inniger Händedruck – die flüchtige Begegnung zweier Liebender.
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15 Dave lag im Liegestuhl unter der Ulme und blickte hinauf in das Netzwerk von Drähten, das dazu diente, die schweren Äste zu stützen. Der Baum würde nicht mehr lange leben. Sein Zustand hatte sich schneller verschlechtert, als die Experten angenommen hatten. Trotz aller Bemühungen, ihn zu erhalten, breitete sich die welke Färbung des Laubes unaufhaltsam aus. Die Baumkrone begann sich zu lichten, und wo es früher unmöglich gewesen war, durch das dichte Blattwerk zu blicken, wurden jetzt Flecken blauen Himmels sichtbar. Doch Daves Gedanken galten jetzt nicht dem sterbenden Baum. Er dachte an ein Darlehen von acht Millionen Dollar, das seine Immobiliengesellschaft beantragt hatte. Er brauchte das Geld sehr dringend, und zwar nicht nur für diese Firma. Durch Interims-Transaktionen konnte er einen Teil der Summe dafür abzweigen, die Fabrik in Stamford über Wasser zu halten. Einer von Daves Direktoren hatte von einem Freund bei Hunter Management erfahren, daß sich ein Vertreter der Geldgeber bei Emily Hunter nach ihm erkundigt hatte. Sie hatte gesagt, sie würde ebenso gern einem iranischen Teppichhändler Geld leihen wie David Powell, und sie bezweifle, daß er in zwei Jahren noch im Geschäft sein werde, es sei denn, man griffe ihm kräftig unter die Arme. Es war genau die Reaktion, die Dave von Emily erwartet hätte. Während er in die Baumkrone hinaufblickte, wanderten seine Gedanken wieder zu der Karte, die er an der Windschutzscheibe seines Wagens vorgefunden hatte. Im ersten Moment war er wie gelähmt gewesen vor Angst. Er hatte versucht sich einzureden, daß sie nichts mit Lake Placid zu tun hatte, aber die Erwähnung des Tanzpalasts und die Zeichnung hatten kaum einen Zweifel gelassen: Die Zeit lief
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ab. Er vermutete, daß Emily Hunter jemanden beauftragt hatte, psychischen Druck auf ihn auszuüben, um seine Aufmerksamkeit von ihrem Rechtsstreit abzulenken. Wenn das stimmte, so hatte ihre Taktik zweifellos Erfolg gehabt. Er konnte, seit er die Karte gefunden hatte, kaum an etwas anderes denken. Aber woher sollte sie über Lake Placid Bescheid wissen? Über den Tanzpalast? Über Ann Conway? Seit ihrem letzten gemeinsamen Mittagessen hatte er keinen Kontakt mehr mit Emily gehabt. Er hatte sie auf dem Sommerfest bewußt gemieden. Einmal waren sich ihre Blicke zufällig begegnet, aber sie hatte mit ausdrucksloser Miene durch ihn hindurchgesehen. Es war, als habe sie ihn bereits abgeschrieben. David Powell war kein Problem mehr für Emily Hunter, er existierte nicht einmal mehr für sie. Die Qualen, die Dave litt, forderten ihren Tribut. Ebenso wie die Ulme schien er jeden Tag einen kleinen Tod zu sterben. Sein Gesicht war blaß und abgespannt, und er hatte sehr abgenommen. Er konnte die Veränderung an der Reaktion seiner Mitarbeiter erkennen. Ihre Augen musterten ihn besorgt, als nähmen sie eine schwere Krankheit wahr. Er blickte zu dem eingezäunten Garten hinüber, wo Sue und Dana mit ihren Blumen beschäftigt waren. Puff lag neben ihnen. Sie boten einen reizenden Anblick, wie sie dort zwischen den Pflanzen knieten. Dave fragte sich, wie Sue reagieren würde, wenn sie von Ann Conway erfuhr. Sue würde damit fertig werden, sie hatte eiserne Nerven und einen unbezähmbaren Optimismus. Aber was war mit Dana? Plötzlich blickte das Kind auf und bemerkte, daß er sie ansah. Als ob sie seine Besorgnis spürte, erhob sie sich rasch und lief auf ihn zu. »Daddy, was ist los?« »Wie geht es meinem kleinen Mädchen?« fragte Dave und streckte die Arme
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aus, als sie näher kam. War es nur Einbildung von ihm, oder bewegte sie sich wirklich ein wenig unbeholfen? Sie legte sich zu ihm, und er nahm sie in die Arme und küßte sie aufs Ohr. Dann schloß er die Augen und drückte das Gesicht in ihre dunklen Locken. »Daddy, ich möchte dir etwas sagen.« »Ja, Liebling.« »Aber hörst du mir zu? Manchmal rede ich, und es ist, als ob du gar nicht zuhörst.« »Ich höre dir zu. Sehr aufmerksam.« »Nun, es ist nur, daß du in letzter Zeit immer traurig bist. Bitte sei nicht traurig.« Sie drehte sich um und sah ihn an. »Ich bin sehr glücklich, Liebling. Ehrlich.« Er zog sie an sich und gab ihr einen schallenden Kuß auf die Wange. »Komm, laß uns das Gartenlied singen. Fang du an.« »Na gut.« Sie begann mit einer feinen, leicht zitternden Stimme zu singen, und Dave fiel ein: Dort unten im Blumenbeet Da wächst was zart und fein. In bunten Farben, wie ihr seht, Öffnen sich Tulpen im Sonnenschein. Nachdem sie das Lied beendet hatten, lehnte sich Dave zurück und blickte wieder ins Laub der Ulme hinauf. Zwei Krähen landeten auf einem Ast und erinnerten ihn an den riesigen Vogel, den er seit der Party nicht mehr gesehen hatte. »Ich möchte wissen, wo unser großer schwarzer Vogel geblieben ist?« »Ich glaube nicht, daß er wiederkommt«, sagte Dana. »Ach, wirklich? Warum nicht?« »Mami mochte ihn nicht. Er hat immer die Hausmauer bekackt, wenn er dort drüben auf dem Schornstein saß. Mami sagt, sie hat ihn weggeschickt.« »Oh, er wird sicher wiederkommen«, sagte Dave. Ein gelber Schmetterling gaukelte zwischen den Blumen am Rande des Rasens umher. Dave beobachtete ihn und staunte über seine ruhige, schlichte
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Schönheit, als der Falter zum spiralförmigen Flug aufstieg, näher kam und sich auf seinem Knie niederließ. Er verweilte nur einen Augenblick, dann flog er wieder auf, und seine zarten Flügel verschwanden zwischen den Blumenkelchen. Es hatte nur Sekunden gedauert, aber während dieses Zwischenspiels hatte Dave eine seltsame Erleichterung verspürt, so als hätte die Berührung des winzigen Lebewesens ihm Trost eingeflößt. Er blickte zu seiner Frau hinüber, die mit ihren Blumen beschäftigt war. Offenbar hatte sie das Geheimnis der Natur schon vor langer Zeit entdeckt. Er rief leise ihren Namen, aber sie schien ihn nicht zu hören. »Mami«, schrie Dana. »Ja, mein Liebling«, antwortete sie in sanft tadelndem Ton. »Schrei doch nicht so.« »Wir haben dich schon einmal gerufen, aber du hast uns nicht gehört«, rief Dana. »Ich habe euch sehr wohl gehört.« In ihre Gartenarbeit vertieft, schenkte sie ihnen wenig Beachtung. »Ist es nicht ein herrlicher Tag?« sagte Dave. »O ja, wundervoll«, erwiderte sie. »Ich liebe diese Arbeit.« Sie drehte sich nach ihm um, und ihr Gesicht strahlte Zufriedenheit aus. »Es geht uns doch wirklich gut, nicht wahr?« Sie schwieg und sah ihm einen Moment in die Augen, dann wandte sie ihr Interesse wieder dem Garten zu. Dave staunte, wie schon so oft, über ihre Ruhe und Ausgeglichenheit. Er erinnerte sich, daß sie ihm kurz nach ihrer Hochzeit einmal ein Tagebuch aus ihrer Kindheit gezeigt hatte. Fast jede Eintragung hatte mit dem Satz geendet: »Heute war ich sehr glücklich.« Anscheinend war ihre Lebensfreude über die Jahre hinweg die gleiche geblieben. Und doch gab es jene rätselhafte Seite ihrer Persönlichkeit, die er nicht ergründen konnte – Gelegenheiten, wo ihre Augen erkennen
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ließen, daß sie weit fort war, in einer Welt, die nur Sue Powell kannte. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte dieses seltsame Verhalten ihn neugierig gemacht, aber sie war seinen Fragen ausgewichen, hatte nur lachend die Achseln gezuckt oder ihm einen verwirrten Blick zugeworfen, der zu sagen schien, daß es nur seine Einbildung sei. Er lehnte den Kopf zurück und drückte seine Tochter an sich, während er den Himmel beobachtete. Kleine weiße Wolken zogen rasch nach Osten. Hin und wieder holten sie einander ein und bildeten eine größere Wolke, nur um sich gleich darauf wieder zu trennen. Es war ein wirres, ewig wechselndes Bild, das ihn an Sues Bemerkung erinnerte, alles verändere sich fortwährend. Sein eigenes Schicksal hatte eine tiefgreifende Wandlung erfahren. Er dachte an seine Kindheit, als sie aus einem komfortablen Bungalow in einem Vorort von Rochester in das kleine Zweifamilienhaus in der Stadt gezogen waren. Dieser Wechsel hatte seine Schwester Ida mehr betroffen als ihn. Ida, ein hübsches Mädchen, das Geselligkeit liebte, hatte sich angesichts ihrer neuen, ärmlichen Umgebung fast ein Jahr lang geweigert, irgend jemanden nach Hause einzuladen. Einmal hatte Dave die Bedenken seiner Schwester geteilt. Es war kurz nachdem er sich mit Sue verlobt und sie nach Rochester eingeladen hatte, um sie seiner Mutter und seiner Schwester vorzustellen. Der Tag war ihm noch deutlich in Erinnerung. Er war mit Mutter und Ida in der Küche. Es wurde Zeit, zum Flughafen zu fahren, um Sue abzuholen … »Aber Dave, sie heiratet dich, weil sie dich liebt. Es interessiert sie nicht, wie und wo du wohnst.« Helen Powell warf ihrem Sohn einen kurzen Blick zu, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Geschirr, das sie abtrocknete. Sie rieb jedes Stück sorgfältig blitzblank, ehe sie es behutsam in den Küchenschrank stellte. »Nein, Mama, das verstehst du 107
nicht«, sagte Dave. »Wenn du das Haus sehen könntest, in dem sie wohnt! Es ist größer als die Bibliothek vorne an der Ecke. Wenn man bei ihnen klingelt, macht ein Butler die Tür auf. Ich fürchte, sie wird einen furchtbaren Schreck bekommen, wenn sie unser Haus sieht.« »Er hat recht, Mama.« Ida, die vor der Spüle stand, wo sie abgewaschen hatte, schüttelte das Wasser von den Händen und trocknete sie an einem Handtuch ab. »Sie wird entsetzt sein!« Sie sagte es mit einer Eindringlichkeit, als spräche sie aus Erfahrung. »Es ist ordentlich und sauber«, erklärte Mrs. Powell. »Und außerdem, was erwartet sie? Sie weiß, daß du keinen Vater hast und daß deine Mutter arbeitet. Du hast ihr doch nicht gesagt, daß du in einer großen Villa wohnst, oder?« »Ja, das ist vermutlich sein Problem. Er hat sicher vorgegeben, ein reicher Erbe zu sein. Das hast du doch, nicht wahr?« Ida wandte sich nach ihrem Bruder um und sah ihn vorwurfsvoll an. »Du hast ihr gesagt, dein Vater sei der Gründer von Kodak oder was in der Größenordnung gewesen.« Sie hängte das Handtuch an den Haken. »Deshalb ist er so nervös. Jetzt muß er Farbe bekennen.« »Hört, hört, wer spricht«, entgegnete Dave. »Als ob du dich nicht ewig über dieses Haus beklagtest. Ich versuche zumindest, dir behilflich zu sein, wenn du jemanden nach Hause bringst.« »Was?« rief Ida ungläubig aus. »Was hast du jemals getan? Außer daß du eine ewige Plage warst!« »Oh, sehr viel. Ich habe die Sitzecke für dich gestrichen, als dieser Bursche aus Delaware kam. Und hast du vergessen, daß ich einmal die halbe Nacht auf dem Korridor vor der Stelle stehen mußte, wo der Putz von der Wand abgebröckelt war, damit dein Besuch das nicht sah?« Dave schüttelte den Kopf. »Was war ich für ein Dummkopf! Hab fast eine Stunde dort gewartet, während mein Schwesterherz drinnen auf dem Sofa mit ihm geknutscht hat.« »Sprecht leise.« Mrs. Powell deutete auf die Wand. »Man kann
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nebenan jedes Wort hören.« »Du solltest dich lieber auf den Weg machen«, meinte Ida mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Hast du nicht gesagt, ihre Maschine kommt um vier? Ich an deiner Stelle würde eine Tasse Kaffee mit ihr im Flughafen trinken und sie nach New York zurückschicken.« »Das ist eine großartige Idee. Ich könnte ihr sagen, meine Schwester hat irgendeine exotische Krankheit, und wir stehen alle unter Quarantäne.« »Schluß jetzt, Dave«, sagte Mrs. Powell. »Vergiß nicht, daß Ida sich bereit erklärt hat, Sue ihr Zimmer zu überlassen.« »Ich weiß«, erwiderte Dave niedergeschlagen. »Vielleicht wäre es besser, Sue in einem Motel unterzubringen. Ich könnte sagen, daß wir …« »Dave«, sagte seine Mutter streng. »Bring das Mädchen hierher. Es ist dein Zuhause. Wenn sie dich liebt, wird es ihr nichts ausmachen, wo du wohnst.« Dave wollte etwas erwidern, tat es jedoch nicht. Er wußte, daß das Gespräch seine Mutter zu kränken begann. Außerdem hatte sie wahrscheinlich recht. Er ging auf sie zu und legte den Arm um ihre Schulter. »Warte, bis du sie kennenlernst, Mama. Du wirst sie bestimmt mögen.« »Natürlich werde ich das.« Sie küßte ihn leicht auf die Wange und ging hinaus. Dave warf einen Blick auf seine Schwester, die jetzt auf einem Stuhl am anderen Ende der Küche saß und aus dem Fenster starrte. Solange er denken konnte, hatte Ida allein am Fenster gesessen, Ausschau gehalten und auf etwas gewartet, was sich nie verwirklichte. Sein Groll wurde von Mitleid verdrängt. »Ida«, sagte er. Sie sah ihn stirnrunzelnd an, als erwarte sie eine Fortsetzung ihres Streites. »Vielen Dank, daß du Sue dein Zimmer überläßt.« »Schon 109
gut.« Sie wandte sich wieder dem Fenster zu. »Ich wünschte, es wäre hübscher.« Helen Powell hatte recht behalten. Für Sue Dickerson war das Haus kaum von Bedeutung. Abgesehen davon, daß sie fast unmerklich die Brauen hochzog, als sie erfuhr, daß sie das Badezimmer mit dem Rest der Familie teilen mußte, zeigte sie wenig Interesse. Ihr Charme und ihre Schönheit bezauberten seine Mutter, ja, beeindruckten sogar Ida, und am nächsten Tag kehrte Sue ebenso fröhlich und unbekümmert nach New York zurück, wie sie gekommen war. Wenige Monate später heirateten sie. Die Hochzeit in Westchester war eines der großartigsten gesellschaftlichen Ereignisse der Saison. Verwandte und Freunde der Dickersons strömten aus dem Staat New York und allen Teilen des Landes herbei. Die Trauung fand in der Episkopalkirche von Scarsdale statt. Bis zum letzten Augenblick trafen immer noch neue Gäste der Dickersons ein, füllten die Bänke hinter der Familie der Braut und ergossen sich auf die spärlicher besetzten Reihen, die für die Angehörigen des Bräutigams reserviert waren. Dave stand nervös mit seinem Brautführer am Altar. Er blickte in die Menge und bemerkte im Hintergrund Herbert Dickerson, der ihm wohlwollend und ermutigend zulächelte. Im Gegensatz zu ihm trug seine Frau in der vordersten Reihe einen betont resignierten Ausdruck zur Schau. Dave blickte zur anderen Seite hinüber, wo seine Mutter mit Ida saß. Beide schienen sich unbehaglich zu fühlen. Als er den Blick über die Bänke schweifen ließ, erkannte er die auffallend hübsche Blondine, die ein paar Reihen hinter Mrs. Dickerson saß. Es war Emily Rhodes, Sues Freundin aus Newport. Er war ihr am Tag zuvor kurz begegnet und hatte bei dieser Gelegenheit, ebenso wie jetzt, eine gewisse Verachtung in ihren blaßblauen Augen bemerkt. Sue hatte ihr vermutlich 110
alles über ihn erzählt. Das erhobene Kinn und der hochmütige Ausdruck sagten: David Polanski heiratet eindeutig über seine Verhältnisse. Aber das wußte er – und er wunderte sich selbst am meisten darüber. Er konnte nicht begreifen, weshalb Sue Dickerson sich bereit erklärt hatte, ihn zu heiraten. Sie hatte so viel; er so wenig. Sie hatte ihm wiederholt gesagt, daß sie ihn liebe, aber manchmal fragte er sich, ob sie vielleicht in ihrer pragmatischen Art einfach zu dem Schluß gelangt war, daß es an der Zeit sei zu heiraten und daß David Powell ein geeigneter Kandidat sei. Sie hatte ihm oft versichert, wie froh es sie stimmte, daß er kein aggressiver Typ war. Zweifellos wollte sie damit sagen, daß er sich leicht lenken ließ. Und sie hatte sich auch ein paarmal geringschätzig darüber geäußert, daß ihre Freundin Emily Rhodes noch unverheiratet war. »Emily wird als alte Jungfer enden«, hatte sie gesagt. Ja, für Sue Dickerson war es Zeit zu heiraten, und er war derjenige, den sie – aus welchen Gründen auch immer – ausgewählt hatte. Dave erschien es wie ein Wunder – ein Märchen, das Wirklichkeit geworden war. Aber sie waren noch nicht verheiratet. Es konnte immer noch irgend etwas schiefgehen. Sue konnte auf dem Weg zur Kirche einen Unfall haben. Oder der Pfarrer konnte plötzlich krank werden. Dave hatte von derartigen Dingen gehört. Sue könnte es sich anders überlegen. Womöglich würde ihre Mutter versuchen, die Beziehung zu Bob Turner wieder aufleben zu lassen. Wenn sie könnte, würde sie es tun. Bob wäre ein Schwiegersohn nach ihrem Herzen: Er hatte die besten Schulen und Universitäten des Landes besucht und stammte aus einer der angesehensten Familien von Westchester. Dave fragte sich müßig, was Bob jetzt wohl tat. Es konnte schwerlich ein guter Tag für ihn sein. Die Klänge des Hochzeitsmarsches durchbrachen plötzlich die Stille. Die Musik erfüllte die große Kirche mit ihrem Rhythmus. Bis zu diesem Augenblick war sich Dave der
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schicksalhaften Bedeutung des Ereignisses nicht voll bewußt gewesen. Aber mit dem Hochzeitsmarsch brach die Wirklichkeit in einer Aufwallung von Erleichterung, Triumph und Liebe zu Sue Dickerson über ihn herein. Der Brautzug bewegte sich jetzt langsam durch den Mittelgang auf den Altar zu. Dave sah, wie die Brautjungfern paarweise erschienen. Und dann erblickte er Sue – lächelnd, gelassen, selbstsicher. Noch nie war sie ihm so schön erschienen. Als sie sich dem Altar näherte, begegnete ihr Blick dem seinen und hielt ihn fest. In diesem kurzen Augenblick fühlte sich David Powell wie im Paradies.
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Fünfter Teil LAKE PLACID, NEW YORK Juli 1982
16 Horace Ackerman stand am Heck der Barkasse an die Reling gelehnt und lauschte auf das Klopfen des Motors. Es war ein starkes, stetiges Pulsen, das er als angenehm empfand – ein Geräusch, das ruhiges und zuverlässiges Funktionieren signalisierte. Bei ihm war der junge Lieutenant der Landespolizei, der ihn schon auf seiner ersten Fahrt nach Bück Island begleitet hatte. Das Wetter war angenehmer als letztesmal. Es war heiter und kühl, mit einem Hauch von Herbst in der Luft. Eine frische Brise ließ weiße Schaumkronen an den Schiffsrumpf klatschen und gelegentlich das Deck besprühen. In der Ferne, wo das Anwesen der Dickersons lag, flatterten bunte Fahnen im Winde, und der Rasen zog sich wie grüner Samt zum See hinunter. »Glauben Sie, daß er dort ist?« fragte Ackerman. »Es ist anzunehmen. Die Leute im Hafen haben ihn vor etwa einer Stunde hinausfahren sehen«, erwiderte O’Brien. »Ich weiß allerdings nicht, wieviel Sam uns sagen wird. Es ist nicht leicht, etwas aus ihm herauszuholen.« »Möglicherweise werden wir ein wenig Druck auf ihn ausüben müssen. Wir sollten auf jeden Fall seine Aussage zu Protokoll nehmen, ehe die Presse Wind von dieser Sache bekommt.« »Sind Sie sicher, daß niemand von der Familie da ist?« fragte O’Brien. »Ja. Ich habe heute morgen unter einem Vorwand angerufen. Die Dickersons sind in Newport; die
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Powells in Tarrytown.« Ackerman ließ den Blick über das Besitztum der Dickersons schweifen und dachte an die Menschen, die dort wohnten. Wenn der Fall weiter so verlief, wie er annahm, würde sich ihrer aller Leben bald grundlegend ändern. Seine Energie und Ausdauer hatten sich bezahlt gemacht. Er hatte fast den ganzen gestrigen Vormittag damit verbracht, die Akten im Büro des Sheriff von Essex County zu durchstöbern, um etwas zu finden, was die Zuständigkeit des FBI für den Fall begründen würde. Obgleich er es für wahrscheinlich hielt, daß der Täter den Bundesstaat nach dem Verbrechen verlassen hatte und der Fall somit dem Gesetz über »Rechtswidrige Flucht zur Vermeidung von Strafverfolgung« unterlag, suchte er noch etwas Handfesteres. Und er hatte es gefunden: einen Bericht über einen Chevrolet Belair, der am 2. Juli 1962 auf der Uferstraße unweit von Lake Placid verlassen aufgefunden worden war. Der Wagen hatte ein polizeiliches Kennzeichen aus Michigan, und es war anzunehmen, daß er gestohlen war. Dies verlieh dem FBI Zuständigkeit unter seinem Statut über »Zwischenstaatliche Beförderung gestohlener Kraftfahrzeuge«. Angesichts der Tatsache, daß der Wagen in der Nähe der Stelle gefunden wurde, wo später die Leiche geborgen worden war, betrachtete Ackerman es als legitime Erweiterung seiner Machtbefugnis, sich unter Berufung auf die beiden genannten Paragraphen mit der Aufklärung des Mordes zu befassen. Ein Damenpullover, den man im Kofferraum des Autos gefunden hatte, bestärkte seine Theorie. Es war nicht das erstemal, daß sich ein Ermittler mit Hilfe des letztgenannten Gesetzes zweckdienlichen Einstieg in Fälle von nationaler Bedeutung verschaffte. Es hatte zum Beispiel auch die Zuständigkeit des FBI im Fall John Dillinger begründet. Was genügt hatte, das FBI in den Fall Dillinger hineinzubringen, war zweifellos ausreichend, um Horace Ackermans Rolle bei der
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Untersuchung des Mordes von Lake Placid zu rechtfertigen. Wer konnte schon mit Sicherheit sagen, daß der Wagen nicht mit dem Fall verknüpft war? Normalerweise hätte Ackerman nicht soviel Zeit darauf verwandt, Fragen der Zuständigkeit zu klären. Diesmal wollte er jedoch angesichts des Aufsehens, das der Fall erregt hatte, sicher sein, daß das FBI – und vor allem Horace Ackerman – die gebührende Anerkennung ohne Einschränkungen ernteten. »Sie verdienen große Anerkennung«, sagte O’Brien beinahe hellseherisch. »Sie sagen, die Medaille war der entscheidende Punkt?« »Die und das Boot. Als die Taucher es heraufbrachten, wußten wir, daß wir dicht vor der Lösung des Rätsels standen. Das Seil im Boot paßte nämlich genau zu dem, das um den Körper des Opfers gebunden war. Wir haben den Bootsbauer in Saranac gebeten, in seinen Büchern nachzusehen, wer den Kahn gekauft hat. Er sagte, das sei nicht nötig. Der Name des Besitzers stünde immer unter der Messingplatte, an der die Riemendolle befestigt ist. Wir haben die Platte abgeschraubt, und da stand: ›Dickerson‹!« »Und die Medaille stammt von der hiesigen BaseballMannschaft?« »Wir haben sie einem ihrer ehemaligen Trainer gezeigt. Er sagte, sie verleihen sie den Mannschaftskapitänen. 1962 war Dave Powell der Kapitän. Die Mannschaft traf sich abends für gewöhnlich in dem Restaurant dort drüben am Hafen. Es hieß damals ›Tanzpalast‹. Nun, der Rest war ziemlich einfach. Wir haben herausgefunden, daß Powell im Adirondack Club gearbeitet hat. Aus den Aufzeichnungen des Geschäftsführers ging hervor, daß er und das Mädchen am selben Tag entlassen wurden. Unsere Nachforschungen nach dem Verbleib des Mädchens ergaben, daß bei der Polizeibehörde von New York City eine Vermißtenanzeige eingegangen war. Das Labor hat 115
sie aufgrund zahnärztlicher Befunde eindeutig identifiziert.« »Hat man nicht versucht, ihre Spur aufzunehmen, als sie als vermißt galt?« »Laut Protokoll wurde damals eine routinemäßige Ermittlung durchgeführt. Nichts Besonderes. Es gab keine Anhaltspunkte. Anscheinend wußte niemand, daß sie in Lake Placid war. Die Mutter starb kurz nach dem Verschwinden des Mädchens. Niemand hat die Sache weiter verfolgt. Außerdem gehen in der Stadt Tausende von Vermißtenanzeigen ein. Davongelaufene Teenager. Es ist nicht möglich, ihnen allen nachzuspüren.« »Haben Sie genug für eine Anklage?« fragte der Lieutenant. »Für eine Anklage, ja. Für eine Verurteilung, nein. Man kann einem Geschworenengericht alles einreden, um einen Anklagebeschluß zu erreichen. Aber die Behauptungen vor Gericht zu beweisen, das ist etwas anderes. Wir haben bis jetzt nur vage Anhaltspunkte. Das einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, daß der mutmaßliche Täter und das Opfer gleichzeitig entlassen worden sind. Der Täter hat als Adresse Camp Louise angegeben, und das Opfer wurde im See mit der Medaille der Majestics in der Hand gefunden. Die Indizien sind verdammt belastend, erbringen aber keinen Beweis. Ich tue jedoch alles, was uns weiterhelfen könnte. Dabei fällt mir ein…« Ackerman zog die Mappe unter seinem Arm hervor und holte einen gelben Schreibblock heraus. Nachdem er sich ein paar Notizen gemacht hatte, steckte er den Block wieder in die Mappe. »Ich übe nebenbei ein wenig Druck aus«, sagte er fast mehr zu sich selbst als zu dem Offizier der Landespolizei. »Was wollen Sie damit sagen?« Ackerman erwiderte nichts. Es gab gewisse Dinge, die ein FBI-Mann nicht mit dem ortsansässigen Gesetzeshüter erörterte.
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»Ich hoffe, daß dieser Hausmeister reden wird«, sagte O’Brien nach einer Pause. Ackerman zuckte die Achseln. »Der Konstabler meint, daß er etwas wissen könnte.« »Charlie Welsch? Warum, was hat er gesagt?« »Nur Stadtklatsch – daß der Hausmeister der Dickersons irgend etwas weiß. Möglicherweise ist es gar nichts von Bedeutung.« »Vielleicht ist Mrs. Powell doch hier«, sagte O’Brien. »Sie zu sehen, würde schon allein die Fahrt lohnen.« Bei der Erwähnung von Sue Powells Namen kehrten Ackermans Gedanken zu seiner ersten Unterredung mit ihr zurück. Ihre Augen hatten ihn auf eine seltsame, hypnotische Art gefesselt. Er hatte sie während des ganzen Gesprächs aufmerksam beobachtet. Es lag irgend etwas in ihrem Verhalten, das er spürte, aber nicht genau bestimmen konnte. Es war beinahe gewesen, als ob sie diejenige wäre, die die Fragen stellte. Horace Ackerman war ein Mann, der stolz auf seine Fähigkeit war, eine Unterredung zu beherrschen, und die Begegnung mit Sue Powell hatte ein Gefühl des Unbehagens bei ihm hinterlassen.
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17 Sam Wykoff war beunruhigt, als er das Polizeiboot näher kommen sah. Er hatte gefürchtet, daß die Beamten zurückkehren würden. Es schien unvermeidlich. Er hatte Blumen für das Haus geschnitten und legte die Schere neben einen Korb mit Gladiolen. Langsam, zögernd, ging er zum Ufer hinunter. Er erreichte den Anlegeplatz, als das Boot längsseits kam. Noch ehe es hielt, sprang der Lieutenant an Land und vertäute das Boot an einem großen Eisenring am Steg. »Haben Sie ein paar Minuten Zeit, Sam?« fragte er. »Dies ist Mr. Ackerman vom FBI.« Er nickte in Richtung des hochgewachsenen Mannes, der an Land kletterte. »Er möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.« Die Bemerkung ließ dem Hausmeister einen Schauer über den Rücken laufen. »Gewiß. Was kann ich für Sie tun?« »Gibt es hier irgendwo einen Platz, wo wir ein Weilchen sitzen können?« fragte Ackerman, während er sich suchend umsah. »Wir können uns dort oben hinsetzen.« Sam deutete auf den Balkon des Bootshauses. Sie folgten ihm zur Rückseite des Gebäudes, wo die Treppe zum Obergeschoß führte. Sam fühlte sich mit jedem Schritt mehr in eine Angelegenheit verstrickt, mit der er nichts zu tun haben wollte. »Ist schon fast wie Herbst, nicht wahr, Sam?« bemerkte O’Brien freundlich. »Ja. Ungewöhnlich kühl für die Jahreszeit.« Sie stiegen die Treppe hinauf und betraten den Balkon, der den See überblickte. Der Wind war stärker geworden und peitschte Schaumkronen auf, die wie Spitzen kleiner Eisberge auf dem Wasser schaukelten. »Ein bißchen windig hier oben«, sagte Sam schwer atmend.
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Er ließ sich in einem Schaukelstuhl nieder und sah den FBIKommissar an, der sich auf den Stuhl neben ihm setzte. Mit diesem Mann war offensichtlich nicht zu spaßen. »Wir sind Ihnen dankbar, daß Sie sich ein paar Minuten Zeit für uns nehmen, Mr. Wykoff«, sagte Ackerman, während er Sam seinen Ausweis zeigte. »Nennen Sie mich Sam. Das tun alle.« »Gut, Sam. Wir stellen Ermittlungen wegen der Leiche an, die im See aufgetaucht ist. Wir dachten, daß Sie uns vielleicht helfen würden.« »Gern, wenn ich kann.« Sam hatte geahnt, daß sie deswegen gekommen waren, aber die Bestätigung steigerte seine Besorgnis. »Wir nehmen an, daß die Leiche 1962 versenkt wurde, nachdem das Eis auf dem See geschmolzen war – also irgendwann zwischen Mai und November. Soviel ich gehört habe, waren Sie schon damals hier als Hausmeister angestellt.« Ackerman schwieg einen Augenblick und sah Sam durchdringend an. »Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie uns einiges von dem erzählen würden, was damals in Camp Louise vor sich gegangen ist – zum Beispiel, wer hier war und was die Betreffenden getan haben. Alles, woran Sie sich erinnern können. Und wir möchten auch ihre Meinung darüber hören, wie dieses Mädchen im See gelandet ist.« Sam lehnte sich im Stuhl zurück und zog eine Pfeife aus der Brusttasche. »Ich versteh’ nicht, warum Sie mich danach fragen.« »Wir sprechen mit jedem, der damals in dieser Gegend war«, sagte O’Brien. »Und wir wissen, daß Sie im Sommer 1962 hier gearbeitet haben«, setzte der Kommissar hinzu. Sam rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her und wandte den Blick ab. »Das ist lange her. Wenn man so alt ist wie ich, geht irgendwie jeder
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Sommer in den andern über.« »Aber Sie haben doch sicher inzwischen über diesen einen Sommer nachgedacht, nicht wahr?« fragte Ackerman. »Bei dem großen Aufsehen, das der Fall erregt hat, müssen Sie ziemlich eingehend darüber nachgedacht haben.« »Kann ich nicht behaupten.« Sam zündete seine Pfeife an. Er brauchte länger als gewöhnlich dazu. Seine Hände zitterten, und er fragte sich, ob die Männer es bemerkten. »Ich glaube nicht, daß ich Ihnen etwas über irgendeinen bestimmten Sommer vor so langer …« »Dies war ein ganz besonderer Sommer«, unterbrach Ackerman leicht gereizt. »Und die Leiche hat direkt drüben bei Pulpit Rock gelegen. Wir haben Grund anzunehmen, daß Sie etwas wissen, was uns helfen könnte.« Die Bemerkung traf Sam wie ein Schlag. Sie wußten Bescheid. Seine Frau mußte sich ihrer Mutter oder Schwester gegenüber verplappert haben. In einer Ortschaft mit nur zweitausendfünfhundert Einwohnern konnte man es sich nicht leisten, irgend etwas zu sagen. Plötzlich brauchte er einen Drink. Er dachte an die Whiskyflasche unter der Dachrinne der vorderen Veranda. Er hätte einen Schluck nehmen sollen, als er das Motorboot kommen sah. »Versteh nicht, was Sie damit sagen wollen.« Er wich dem Blick des Kommissars aus. »Sam, wir haben Beweise, daß Sie kürzlich eine Bemerkung gemacht haben, die darauf schließen läßt, daß Sie etwas über diesen Fall wissen.« Sam fühlte, wie alle Kraft aus seinem Körper wich. Er erinnerte sich, daß er vor ein paar Wochen bei einem Telefongespräch mit seinem Bruder solch eine Bemerkung hatte fallenlassen. Sobald er es gesagt hatte, war ihm klargeworden, daß es ein Fehler war. Eine Welle der Hoffnungslosigkeit überkam ihn, und er begann mit seinem Stuhl zu schaukeln. Sekunden verstrichen, während der Druck zunahm. Er hatte nicht in die Sache verstrickt werden wollen. 120
Er war noch nie in Schwierigkeiten gewesen, und er schrieb das der Tatsache zu, daß er sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten mischte. »Ich bin hier nur Hausmeister …« begann er. »Hören Sie zu, Sam.« Ackermans Ton war jetzt kalt und sachlich. »Dies ist eine ernste Sache. Es ist meine Pflicht, Sie davon zu unterrichten, daß es gegen das Gesetz verstößt und strafbar ist, Informationen über ein Kapitalverbrechen zurückzuhalten, einem Verbrechen Vorschub zu leisten oder einem Beamten des Bundeskrimmalamtes falsche Auskünfte zu geben.« Sam hörte zu. Warum hatte es soweit kommen müssen? »Kann ich, hm … Kann mein Name aus dieser Sache rausgehalten werden?« fragte er den Kommissar. »Es wäre mir lieb, wenn Sie niemanden sagen würden, daß Sie mit mir gesprochen haben. Verstehen Sie?« »Ich kann Ihnen nichts versprechen. Nicht in diesem Augenblick.« Sam saß eine Weile nachdenklich schaukelnd da, dann sagte er: »Nun … ich nehm’ an, mir bleibt keine andre Wahl.« Er sah den Lieutenant besorgt an, dann wanderte sein Blick wieder zu dem FBI-Mann. Ackerman nahm Block und Kugelschreiber aus seiner Mappe, um sich Notizen zu machen. »Schießen Sie los, Sam«, sagte er. Seine Stimme war jetzt sanfter. »Wir hören zu.« Es war Dienstag, der 3. Juli 1962, und Sam Wykoff feierte im voraus den Unabhängigkeitstag. Er hatte bereits seine Stammkneipen in Lake Placid besucht und beschlossen, noch kurz in Camp Louise nach dem Rechten zu sehen, ehe er nach Hause ging. In Wirklichkeit hatte Sam vor, sich ein paar Flaschen Whisky aus dem Vorratsschrank der Dickersons zu holen. Wenn er etwas aus dem Haus mitnahm, tat er das im allgemeinen lieber nach Einbruch der Dunkelheit.
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Nachdem er das kleine Boot an seinem üblichen Liegeplatz vor dem langgestreckten Bootshaus festgemacht hatte, ging er zum Haupthaus hinauf, wo er vier Flaschen Bourbon aus dem Schrank holte. Er öffnete eine davon und nahm einen großen Schluck. Dann machte er das Licht aus, verließ das Haus durch eine Seitentür und ging den schmalen Pfad entlang zum Ufer hinunter. Obwohl er eine Laterne bei sich hatte, war wenig zu sehen. Die einzige andere Lichtquelle waren die matten gelben Lampen auf dem Balkon des Bootshauses. Als er zu dem Liegeplatz kam, wo sein Boot festgemacht war, vernahm er ein zitterndes kleines Lachen. Sam hatte den Ton nie gemocht. Es wurden hier am See vielerlei Geschichten um das Gelächter des Seetauchers gesponnen. Er wollte gerade sein Boot losbinden, da hörte er das große Motorboot der Dickersons kommen. Er nahm an, daß es Dave Powell war, der auf Einladung der Familie im Haus wohnte. Als sich das Boot den Laternen auf dem Landesteg näherte, sah er Dave mit einem Mädchen im Cockpit stehen. Er überlegte sich, ob er hinübergehen und sie begrüßen sollte. Aber angesichts seines nicht mehr ganz nüchternen Zustands und der vier Flaschen Bourbon, die er bei sich hatte, beschloß er, es lieber nicht zu tun. Er verstaute die Flaschen behutsam im Bug des kleinen Bootes, und dann ruderte er leise auf den See hinaus. Irgendwo in der Nähe des Anlegeplatzes ertönte abermals der Ruf des Seetauchers. Oder war es das Mädchen, das mit Dave gekommen war? Nein, es war ein Seetaucher. Nur er hatte dieses irre, wilde Lachen. In einiger Entfernung vom Ufer ließ Sam den Motor an und steuerte auf den Hafen zu. Er sah sich ein paarmal um, aber im Haus gingen keine Lichter an. Was auch immer Dave Powell und seine Freundin taten, sie taten es im Dunkeln. Als Sam am nächsten Morgen aufwachte, war es kalt und trübe, und dichter Nebel hing über den Bergen. Es hatte spät 122
am Abend zu regnen begonnen, und es regnete mit Unterbrechungen den ganzen Morgen weiter. Sam ging in eine nahe gelegene Baumschule, um ein paar Sträucher für Camp Louise zu kaufen. Da es bei dem schlechten Wetter draußen ohnedies nicht viel für ihn zu tun gab, ließ er sich Zeit, und es war beinahe Mittag, als er im Hafen eintraf. Er ließ den Blick über die Liegeplätze wandern, wo die größeren Boote festgemacht waren, und sah das Motorboot, das Dave am Abend zuvor benutzt hatte. Es lag an seinem üblichen Ankerplatz, und er nahm an, daß der junge Mann zur Arbeit in den Club gegangen war. Nachdem er die Sträucher in das kleine Boot geladen hatte, stieß er ab und steuerte auf Bück Island zu. Die Sicht auf dem See war schlecht. Regenböen fegten über das Boot, schlugen gegen Sams Ölzeug und nahmen ihm den Atem. Die Fahrt dauerte länger als gewöhnlich, und er war froh, als das Ufer in Sicht kam. Während Sam das Boot festmachte, sah er, daß das kleine Fährboot fehlte. Er hatte es noch am Tag zuvor am Landesteg liegen sehen. Vermutlich hatten Dave und seine Freundin es benutzt, oder es war gestohlen worden. Es war nichts Ungewöhnliches, daß leichte Boote von der Insel verschwanden. Sam beschloß, mit dem Ausladen der Sträucher zu warten, bis der Regen nachließ, und machte sich auf den Weg zum Haupthaus. Dies war der Augenblick, wo er zum erstenmal die dunkelbraunen Flecken auf der mit Segeltuch ausgeschlagenen Bootsterrasse bemerkte. Ein besonders großer Fleck befand sich unter dem Balkon. Er war verschmiert, so als ob jemand versucht hätte, ihn zu entfernen. Sams erster Gedanke war, daß irgend jemand Farbe verschüttet habe. Es ärgerte ihn, denn er hatte erst in diesem Frühling das Segeltuch erneuert. Er ging hin, um den Fleck genauer zu betrachten, und erkannte mit Schaudern, daß es Blut war.
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Es regnete jetzt stärker, und das Wasser trommelte auf die Kapuze seines Ölzeugs. Es lief ihm in die Augen, tropfte von seiner Nasenspitze herunter und schlug klatschend auf das Segeltuch. Er stand regungslos da und starrte auf die Flecken, als hoffe er, daß der herabströmende Regen sie fortspülen werde. Aber durch die Absorptionsfähigkeit des Segeltuchs waren sie unauslöschlich ins Gewebe eingedrungen. Sam hörte oben ein krachendes Geräusch, und als er zum Balkon hinaufblickte, sah er, daß die Tür des Apartments offen war und im Winde klapperte. Er fühlte instinktiv, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Sollte er Charlie Welsch, den Konstabler von Lake Placid, benachrichtigen? Lieber nicht, sagte er sich. Charlie war ein sarkastischer Typ. Sam sah ihn im Geist, wie er am Landesteg der Dickersons eintraf und in seinem gewohnten spöttischen Ton bemerkte: »Blut entdeckt, Sam?« Nein, solange er keine Leiche fand, die zu dem Blut gehörte, würde er Charlie nicht rufen. Aber ihm war klar, daß er im Apartment nachsehen mußte. Er ging zur Treppe, die zum oberen Stockwerk führte. Oben auf dem Balkon verstärkte sich sein Unbehagen. Eine der Glasscheiben in der Tür war zerbrochen. Sam zögerte, dann nahm er all seinen Mut zusammen und ging hinein. Er sah nichts Ungewöhnliches. Auf dem Boden lag ein Badetuch. Abgesehen davon war alles in Ordnung. Als er aus der Tür trat und wieder das Blut auf der Bootsterrasse unter dem Balkon sah, überlegte er sich abermals, ob es nicht vielleicht doch ratsam wäre, die Polizei zu benachrichtigen. Verwirrt und ratlos stieg er die Treppe hinunter, musterte noch einmal aufmerksam die Umgebung des Bootshauses und ging dann zum Hauptgebäude hinauf, wo er sich in einen Schaukelstuhl auf der Veranda setzte. Dies war Sams Stammplatz in seiner Eigenschaft als Hüter des Hauses. Er saß oft stundenlang hier und trank Whisky, während er über den See blickte und sich
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vergewisserte, daß in Camp Louise alles in Ordnung war. Über zehn Jahre lang war alles in Ordnung gewesen. Jetzt war innerhalb von zehn Minuten alles durcheinander geraten. Sam schaukelte heftiger, während er überlegte, was er tun sollte. Er konnte entweder Mr. Dickerson in Newport anrufen und ihm erklären, was er gesehen hatte, oder er konnte Charlie Welsch kommen lassen. In beiden Fällen würde es zweifellos peinliche Fragen geben. Warum war er so spät hierhergekommen? Warum war er Dave aus dem Weg gegangen, als der mit dem Motorboot ankam? Wie groß war sein Risiko – allein auf dem Schauplatz, ohne jemanden, der seine Aussage bestätigte? Wie weit würde er in die Sache verstrickt werden? Sam stand auf und ging zur Dachrinne, wo er den Bourbon versteckte. Er kehrte mit der Flasche zu seinem Stuhl zurück, schraubte den Deckel auf und nahm einen kräftigen Schluck. Als der Whisky seine Kehle wärmte, erkannte Sam, daß es besser war, die ungewöhnliche Blutspur zu vergessen. Warum nicht eine Weile warten, um zu sehen, was geschah? Zumindest, bis er hörte, was Dave zu sagen hatte. Dave oder seine Begleiterin könnte sich beispielsweise an einem Glassplitter geschnitten haben. Die Fensterscheibe war zerbrochen. Allerdings war es eine Menge Blut für einen solch harmlosen Unfall. Trotzdem, wenn er Mr. Dickerson oder Charlie rief und viel Lärm um nichts machte, würde er sehr dumm dastehen. Hätte er die Flecken nicht bemerkt, wäre das Problem gar nicht aufgetaucht. Je länger er über sein Dilemma nachdachte, um so langsamer schaukelte er. Er hatte nie irgendwelche ernsten Probleme gehabt, weil er ihnen grundsätzlich aus dem Weg ging. Warum sollte er das jetzt ändern? Außerdem war er Hausmeister, kein Detektiv.
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Sechster Teil TARRYTOWN, NEW YORK JULI 1982
18 Tom Lucas stand neben dem Rolls-Royce vor der Tür des Haupthauses. Die Morgensonne spiegelte sich in seinen blankpolierten hohen Stiefeln und im glänzenden Schirm seiner Mütze. Er hatte die hintere Tür der Limousine geöffnet, denn er wartete auf Sue Powell, die er nach Manhattan fahren sollte. Tom freute sich auf die Fahrt. Er besaß genügend Wirklichkeitssinn, um zu wissen, daß er Sue Powells Schönheit nie näher sein konnte als im Wagen. Jedesmal, wenn er sie irgendwohin brachte, hatte er ein beglückendes Gefühl der Vertrautheit, und deshalb liebte er Fahrten wie diese. Sie war fast zwanzig Minuten zu spät dran – was bei ihrer üblichen Pünktlichkeit sehr selten vorkam –, und Tom begann sich zu fragen, ob sie vielleicht ihre Pläne geändert habe. Er verschränkte die Arme über der offenen Tür und sah zu, wie die Arbeiter der Baumschule Harrison das große Loch an der Stelle zuschaufelten, wo die Ulme gestanden hatte. Nachdem die Männer das Loch gefüllt hatten, holten sie Matten aufgerollten Rasens aus einem Lastwagen, breiteten sie auf der Erde aus und paßten sie säuberlich in den umliegenden Rasen ein. Bald würde jede Spur von der einst so prachtvollen Ulme verschwunden sein. Die Landschaft hatte sich jetzt drastisch verändert. Tom sah Bäume, die er noch nie zuvor bemerkt hatte. Rechts von der Stelle, wo die Reste der Ulme vergraben wurden, stand als stolze Nachfolgerin eine große Kastanie. Links war eine knorrige alte Platane, die über der Lücke schwebte wie ein Priester, der die Sterbesakramente spendet, während aus dem Hintergrund des Blumengartens ein paar
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kleine, verkrüppelte Holzapfelbäume herüberspähten wie arme Verwandte, die einem mächtigen Mitglied er Familie die letzte Ehre erweisen. Tom fragte sich, was David Powell wohl sagen würde, wenn er aus Chicago zurückkehrte. Seine Frau hatte sich Anfang der Woche entschlossen, die Ulme fällen zu lassen, und ihr Vorhaben wie üblich eiligst durchgeführt. Als Tom ein wenig besorgt gefragt hatte, ob sie nicht vielleicht zuvor mit Mr. Powell darüber sprechen wolle, hatte sie energisch erwidert: »O nein. Er würde uns nie erlauben, sie zu fällen, sondern einfach dasitzen und zusehen, wie sie jeden Tag ein wenig mehr stirbt. Sie wird sich nicht mehr erholen. Je eher wir sie loswerden, desto besser.« Sie hatte noch am selben Tag die Leute von Harrison kommen lassen. Während Tom dastand und über die Veränderung nachdachte, hörte er, wie sich hinter ihm die Tür öffnete. »Guten Morgen, Tom.« Sue Powell kam aus dem Haus. Sie trug ein Wildlederkostüm, Handschuhe und eine braune Handtasche, die zu ihren eleganten Schuhen paßte. Sie schwenkte die Tasche im Takt zu ihren Schritten, und ihr Gang war flott und zuversichtlich, so als ob angenehme Dinge sie in New York erwarteten. Tom beobachtete sie gebannt, als sie über das Kopfsteinpflaster auf den Wagen zukam. Ihr Anblick weckte in ihm stets ein sehnsüchtiges Verlangen, das, wie er wußte, nie erfüllt werden konnte. »Ist es nicht ein herrlicher Morgen?« Sue lächelte, und ihre dunklen Augen blitzten. »Die Leute haben ihre Sache sehr gut gemacht.« Sie blickte zu den Männern hinüber, die damit beschäftigt waren, den Rasen auszubessern. »Ich glaube, wir werden die Ulme nicht vermissen, was meinen Sie?«
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Tom zog die Brauen hoch, als er ihrem Blick zu den Arbeitern folgte. »Wir vielleicht nicht …« »Sie denken an meinen Mann? Oh, er wird sich daran gewöhnen.« Sie stieg in die Limousine. »Er kann dort drüben unter der Buche sitzen. Mit der Zeit wird er überhaupt keinen Unterschied merken.« Tom schloß die Tür und ging um den Wagen herum, um seinen Platz hinter dem Lenkrad einzunehmen. Sobald sie draußen auf der Hauptstraße waren, stellte er den Rückspiegel so ein, daß er Sue Powells Gesicht sehen konnte, wenn er den Blick hob. Sie fuhren den langgestreckten Hügel hinunter, der ins Geschäftsviertel von Tarrytown führte. Tom blickte häufig im Spiegel auf die schweigende Frau hinter ihm, die nachdenklich aus dem Fenster starrte. Er hätte gern eine Unterhaltung begonnen, hielt sich jedoch zurück. Es dauerte einige Minuten, ehe Sue sprach. »Der Sommer geht so schnell vorüber, nicht wahr, Tom?« Sie richtete sich in ihrem Sitz auf, um ihn im Spiegel sehen zu können. »Ich bin um diese Zeit immer ein wenig traurig. Es bedrückt mich, den Sommer enden zu sehen, Sie nicht auch?« »Ich glaube ja«, erwiderte er. »Obgleich ich den Herbst sehr gerne habe.« »Aber nichts kommt dem Sommer gleich. Dieser war besonders schön. Was für herrliche Tage. Und die Blumen… Wäre es nicht schrecklich, wenn es keinen mehr gäbe – wenn dies der letzte Sommer wäre?« »Der letzte Sommer?« wiederholte Tom erstaunt. Sie zögerte, als ob sie noch etwas sagen wollte, aber dann wandte sie den Blick wieder der Landschaft zu und schwieg. Auf dem Saw Mill River Parkway herrschte wenig Verkehr. Die meisten Leute, die morgens zur Arbeit fuhren, waren um diese Zeit bereits in ihren Büros, und die Schnellstraße war
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jetzt eine weite, leere Bahn. Tom stellte die automatische Geschwindigkeitsregelung auf neunzig ein und lehnte sich zurück. Das Summen der schweren Reifen auf dem Pflaster war das einzige Geräusch. Sie fuhren durch die Schatten der hohen Kiefern, die die Straße säumten, und die Flying Lady auf dem silbern glänzenden Kühler blitzte mit Unterbrechungen im Sonnenlicht auf. Als sie sich New York näherten, neigte Sue sich vor, um Tom Anweisungen zu geben. »Fahren Sie durch die Major Deegan, Tom. Ich habe Mrs. Hunter gesagt, daß wir sie zu Hause abholen. Wir essen im Four Seasons, und Sie können sich unterdessen ein paar Stunden frei nehmen.« Tom, der von der Feindschaft zwischen David Powell und Emily Hunter wußte, war erstaunt, daß die beiden Frauen immer noch miteinander verkehrten. Vergangene Woche hatte er Sue von Mrs. Hunters Stadthaus abgeholt, und er wußte, daß sie zu Hause häufig Anrufe von ihr erhielt. Er fuhr durch die Major Deegan zum East Side Drive. Der Verkehr nahm zu und wurde bald zu einer ununterbrochenen Wagenkette. An der 96. Straße bog Tom ab, um dem Stau zu entgehen, und fuhr die Second Avenue entlang. An der 73. Straße bog er nach rechts ein und hielt wenige Minuten darauf vor einem eleganten Stadthaus kurz hinter der Park Avenue. Er fuhr vorsichtig rückwärts in die Parklücke vor der Garageneinfahrt und stellte den Motor ab. »Soll ich Mrs. Hunter rufen lassen?« fragte er. »Ich glaube, das wird nicht nötig sein. Sie kommt sicher gleich heraus. Oh … Tom.« Sue beugte sich vor, und ihre Haltung ließ erkennen, daß sie etwas Wichtiges zu sagen hatte. »Tom«, wiederholte sie zögernd, »ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Mr. Powell nichts von meinem Mittagessen mit Mrs. Hunter sagen würden. Verstehen Sie?« »Ja, natürlich.« In diesem Augenblick wurde die Haustür geöffnet und von einem kleinen, verschüchtert aussehenden Mann aufgehalten. 129
Er spähte furchtsam ins Innere des Hauses, als erwarte er, daß dort jeden Augenblick etwas explodieren und ihn mitsamt dem Haus in einen entfernten Winkel Manhattans fegen könne. Plötzlich kam Emily Hunter mit langen Schritten durch die Tür und stieg, ohne dem Butler die geringste Beachtung zu schenken, rasch die Stufen hinunter. Sie trug ein hellbraunes Kostüm, das farblich wirkungsvoll mit ihrem Haar kontrastierte, und einen grünen Schal. Obwohl Tom sie nicht mochte, konnte er nicht umhin, stets von neuem ihr gutes Aussehen zu bewundern. Heute wirkte sie besonders reizvoll. Während er sie die Stufen heruntereilen sah, dachte er bei sich, wie trügerisch ihre Erscheinung war. Selten war eine brutale Persönlichkeit so gut getarnt. Er rutschte hinter dem Lenkrad vor, um ihr die Tür zu öffnen. »Tag, Mrs. Hunter«, sagte er und tippte an die Mütze. Sie nickte kurz und stieg ein. »Hallo, Liebes«, murmelte sie und klopfte Sue aufs Knie, während sie sich neben ihr niederließ. Tom ging um den Wagen herum und setzte sich wieder hinters Lenkrad. Als er den Motor anließ, gab Emily ihm ein paar knappe Anweisungen, dann schloß sie abrupt die gläserne Trennwand. Auf dem Weg zum Restaurant beobachtete Tom die beiden Frauen verstohlen im Rückspiegel. Sie unterhielten sich angeregt während der ganzen Fahrt und schienen bester Laune zu sein. »Halten Sie hinter diesem Wagen.« Er hatte Emily nicht den Hörer der Sprechanlage aufnehmen sehen, und ihre Stimme erschreckte ihn. Er hielt hinter einem Taxi, dessen Fahrgäste wohl auch ins Restaurant wollten. Sue beugte sich vor und drückte auf den Knopf, der die Trennwand herunterließ. »Wir steigen hier aus, Tom. Bitte richten Sie sich darauf ein, um zwei wieder hier zu sein.« »Gewiß, Mrs. Powell. Eine Sekunde, ich mache Ihnen die
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Tür auf.« »Nicht nötig.« Sue öffnete die Tür und stieg aus. Sie blieb stehen, wartete auf Emily Hunter, und nebeneinander schritten sie auf das Restaurant zu. Tom folgte ihnen mit den Blicken, als sie die Straße entlanggingen, und musterte bewundernd ihre elegante Gestalt mit den langen, schön geformten Beinen. Zwei Kanalarbeiter hielten in ihrer Arbeit inne, um ihnen nachzuschauen. Die beiden Frauen hatten das Restaurant fast erreicht, da sah Tom, wie Emily nach Sue Powells Hand griff. Sie hielt sie nur kurz in der ihren, dann ließ sie sie wieder los, aber es lag irgend etwas in dieser Geste, was Tom seltsam vorkam. Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf, eine flüchtige Vermutung, die ihn eine Sekunde erstarren ließ. War es möglich? Nein, ausgeschlossen. Nicht Sue Powell! Ein bewundernder Pfiff kam aus dem Gully, als die Frauen das Restaurant betraten. Tom blickte sich nach den beiden Kanalarbeitern um, aber sie waren fort, verschluckt von dem schwarzen Loch.
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19 »Stamford kann diese Verluste auf die Dauer nicht tragen.« Bryan White, Revisor und Finanzdirektor der Unternehmen von David Powell, übergab seinem Chef einen Rechenschaftsbericht. Die beiden Männer saßen an einem großen Konferenztisch in David Powells Büro in der Park Avenue. »Selbst wenn das Darlehen für das Immobiliengeschäft genehmigt worden wäre, hätte es so viele einschränkende Vertragsklauseln gegeben, daß es fraglich ist, ob wir viel für Stamford hätten abzweigen können.« Dave hörte schweigend zu. Es war deutlich zu erkennen, daß der verzweifelte Versuch, die Firma über Wasser zu halten, seinem Mitarbeiter arg zusetzte. Er sah erschöpft aus, und sein dichtes, welliges Haar schien grauer geworden zu sein. Bryan White, ein hochgewachsener, freundlicher Mann mit ruhigen grauen Augen, war all die Jahre hindurch ein Born der Beständigkeit gewesen. Er zeigte selten eine Gemütsbewegung. Das komme daher, sagte Bryan, daß er sich im Büro ausruhe; der Streß beginne erst, wenn er abends nach Hause kam, wo ihn acht Kinder erwarteten, von denen sieben Mädchen waren. Er flößte fast jedem Menschen Vertrauen ein. Selbst die Gläubiger, die angefangen hatten, Dave Powells Gesellschaften zu belagern, vertrauten ihm. Wenn Bryan White sagte, daß ein Scheck unterwegs sei, wußten sie, daß es so war. Aber jetzt wurde offen erörtert, was man sich bisher nur bei Vorstandssitzungen der Banken zugeflüstert hatte: Powell hatte Schwierigkeiten. »Wir haben ein Bardefizit von drei Millionen«, fuhr Bryan fort, »und Sie können aus der Vorhersage ersehen, daß es bis Januar fast fünf Millionen sein werden.« Dave überflog den Bericht, den der Revisor vor ihm ausgebreitet hatte. »Dieses Darlehen von acht Millionen Dollar hätte uns geholfen«, sagte er bedrückt. »Das steht außer Frage«, erwiderte Bryan. »Aber auch das hätte Stamford nicht retten können. Stamfords einzige 132
Chance ist, neue Produkte in sein Programm aufzunehmen. Ich habe hier einige Zahlen für die geplante Erweiterung. Wenn Sie sich einen Augenblick gedulden, werde ich sie mit dem Zufluß an Bargeld in Übereinstimmung bringen und Ihnen zur Prüfung hierlassen.« Es herrschte Stille im Raum, während der Revisor an seinem Bericht arbeitete. Ein Gummiring, mit dem Dave gespielt hatte, platzte. Er band die Enden zusammen und begann abermals, ihn nervös zwischen den Fingern auszudehnen und zusammenzuziehen. Wenn nur Herb Dickerson noch am Leben wäre, dachte er. Der hätte vielleicht eine Lösung gefunden. Dave erinnerte sich, wie sein Schwiegervater ihm vor Jahren geholfen hatte, sein Geschäft aufzubauen. Es hatte in der Bibliothek der Dickersons begonnen, wo Dave und Sues Vater eines Abends nach dem Essen beisammen saßen. Dave und Sue waren seit über einem Jahr verheiratet, und seine Beziehung zu ihrem Vater war mehr die eines Sohnes als eines Schwiegersohnes geworden. Trotzdem war Dave nicht ganz wohl zumute gewesen, als er ihm zum erstenmal von seinem Plan, eine Container-Fabrik zu kaufen, erzählte. Herb Dickerson war wie immer verständnisvoll gewesen. Dave erinnerte sich an sein gütiges Gesicht und sein wohlwollendes Kopfnicken, während er zuhörte … »Es ist eine ältere Fabrik in der Nähe von Stamford.« Dave ging mit einem Cognac-Schwenker durchs Zimmer und reichte ihn seinem Schwiegervater, der vor dem flackernden Kaminfeuer saß. Dann kehrte er zur Bar zurück und goß sich einen schwachen Scotch mit Soda ein, dem er ein paar Tropfen Magenbitter hinzufügte, um ihm eine dunklere Färbung zu geben. Er machte sich nicht viel aus Alkohol, aber er wußte, daß der ältere Mann seinen Cognac lieber trank, wenn jemand ihm dabei Gesellschaft leistete. Das Glas in der Hand, setzte sich Dave neben Herb. »Die Firma besteht seit 1926. Sues
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Freundin, Emily Hunter, hat uns davon erzählt. Ihr Mann hat ihr nach seinem Tod ein ähnliches Unternehmen in New Jersey hinterlassen. Anscheinend hat sie großen Erfolg damit.« Herb Dickerson hob sein Glas. »Auf das Container-Geschäft.« Er trank einen Schluck und blickte nachdenklich ins Feuer. »Nun, ich nehme an, du mußt mit irgend etwas den Anfang machen. Du sagst, die Anlage ist veraltet?« »Ja. Um die Produktion zu steigern und den Betrieb rentabel zu machen, müßten wir neue Maschinen haben. Die Bank hat die Hypothek und die Kreditgrenze von der Investition in einer neuen Maschinenanlage abhängig gemacht.« »Und das sind zwei Millionen?« »Ja, Sir. Genau gesagt, zwei Millionen, drei hunderttausend.« Herb Dickerson starrte eine Weile schweigend ins lodernde Feuer. Dann wandte er sich wieder Dave zu. »Als Sue es zum erstenmal erwähnte, sagte ich ihr, ich verstünde nicht, warum ein großes Unternehmen wie United Industries eine Fabrik verkauft, wenn sie gewinnbringend arbeiten kann. Es sieht diesen Konzernen nicht ähnlich, so etwas zu tun. Warum schaffen sie nicht selbst die neuen Maschinen an?« »Sie geben das Container-Geschäft auf. Ich weiß nicht warum. Emily hat Sue erzählt, daß sie auch zwei von ihren Fabriken in Maryland und Pennsylvania verkaufen. Anscheinend verhandelt sie bereits über den Kauf eines anderen Unternehmens, sonst würde sie Stamford selbst übernehmen.« Herb Dickerson wandte den Blick wieder dem Feuer zu. Der Widerschein der Flammen hob die Runzeln auf seinem Gesicht hervor und verlieh seiner Haut das Aussehen eines rostbraunen Stoffes, der zusammengeknüllt und wieder geglättet wurde. Sue und ihre Mutter kamen herein, gefolgt von einem
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Hausmädchen, das ein Tablett mit Mokkatassen trug. Dave stand auf, um Stühle heranzurücken, aber seine Schwiegermutter machte eine abwehrende Bewegung. »Bemüh dich nicht, David. Wir können hier sitzen.« Sie wählte einen Sessel hinter den beiden Männern, wo sie ihr Gespräch mit anhören konnte. Ihre Gegenwart machte Dave verlegen. »Wir haben über diese Container-Fabrik in Stamford gesprochen«, sagte Herb Dickerson zu seiner Frau. Sie erwiderte nichts. Sue hatte mit ihrer Mutter über das Projekt gesprochen. Dave wußte, daß Mrs. Dickerson äußerst kühl darauf reagiert hatte. Der Grund waren natürlich die zwei Millionen dreihunderttausend Dollar. »Ich finde, es ist eine großartige Idee«, sagte Sue, um das peinliche Schweigen zu brechen, das der Bemerkung ihres Vaters folgte. »Meinst du nicht auch, Daddy?« »Ja. Ich habe Dave schon oft gesagt, er solle sich etwas in dieser Richtung suchen. Und ihnen für den Anfang Geld zu leihen, ist das mindeste, was wir für sie tun können, nicht wahr, Liebes?« Wieder keine Antwort. Dave fühlte sich immer unbehaglicher. Er wußte, daß seine Schwiegermutter ihren Mann ins Gebet nehmen würde, sobald er und Sue fort waren. Es war allgemein bekannt, daß sie sehr streng mit ihm sein konnte. Laut Sue ließ ihr Vater sich jedoch nicht sonderlich davon beeindrucken und setzte sich lachend über die Vorwürfe seiner Frau hinweg. Dave hatte kurz darauf die Fabrik gekauft. Herb Dickerson hatte ihm ein Darlehen gegeben und darauf bestanden, daß es erst abbezahlt werden sollte, wenn die Firma ein »gutgehendes, gewinnbringendes Unternehmen« war. Und das hatte Dave daraus gemacht – bis sein Schwiegervater starb und Emily Hunter beschloß, sich in die Geschäftsführung von Stamford einzuschalten. 135
»Hier haben wir’s.« Daves Überlegungen wurden von Bryan White unterbrochen, der ihm die Kostenanalyse reichte. »Wie Sie sehen, sieht die Sache mit den neuen Zahlen ganz günstig aus.« Dave warf einen Blick auf die Aufstellung. »Aber solange die Hunter die Hand im Spiel hat, ist es nicht zu machen. Sie wird alles tun, um zu verhindern, daß wir unser Programm erweitern.« Bryan begann, seine Papiere einzusammeln. »Nun … es gibt eines, was wir versuchen könnten.« Er sprach zögernd und vermied es, Dave anzusehen. »Und zwar? Ich bin bereit, jeden Vorschlag zu erwägen.« »Wir könnten versuchen, uns mit Mrs. Hunter zu einigen; zu erreichen, daß sie diesen Unterlassungsbefehl für Stamford aufhebt. Mit mehr Umsatz könnten wir sehr schnell eine Wende herbeiführen.« Dave wußte, daß Bryan recht hatte. Er hatte selbst schon daran gedacht, Emily einen Friedensvorschlag zu machen. Aber es war eine schmerzliche Lösung, nicht nur für seinen Stolz. Er wußte, Emily würde rücksichtslos in ihren Forderungen sein und einen wehrlosen Gegner bis aufs Blut aussaugen. »Wie kann man mit einer Hyäne ein Abkommen treffen?« fragte Dave. »Sie würde uns verschlingen.« »Sie haben recht. Aber es bleibt Ihnen nichts anderes übrig. Sie ist unsere einzige Rettung.« Dave senkte den Blick auf die Betriebskostenaufstellung. Das Gespenst des Bankrotts war allgegenwärtig und lauerte darauf, daß irgendein größerer Gläubiger Klage erhob. Er wußte, daß er, nicht nur um seiner Familie willen, sondern auch aus Rücksicht auf diejenigen, die ihm geholfen hatten, die Firma aufzubauen, früher oder später seinen Stolz
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hinunterschlucken und an Emily herantreten mußte. »Warum bitten Sie nicht die Anwälte, zu sehen, was ihre Rechtsberater von einer Unterredung halten würden?« sagte Dave resigniert. »Ich nehme an, das ist die beste Art, die Sache in Gang zu bringen.« Er stand auf und trat ans Fenster. »Ich kann mir ihr Gesicht vorstellen, wenn ihre Anwälte ihr sagen, daß wir die weiße Flagge gehißt haben.« Bryan nickte und ging langsam hinaus. Nachdem sein Mitarbeiter fort war, dachte Dave über die Begleitumstände eines Friedensangebots an Emily Hunter nach. Der Entschluß fiel ihm nicht leicht. Emilys Forderungen würden erbarmungslos sein. Und da war immer noch die Sache mit Lake Placid. Er befürchtete nach wie vor, daß Emily einen Verdacht hegen könnte, obgleich er im Lauf der Wochen der Angelegenheit weniger Bedeutung beigemessen hatte. Vielleicht war der Zettel an der Windschutzscheibe nur ein schlechter Witz gewesen – ein mutwilliger Streich, der nichts mit den Tatsachen zu tun hatte. Schließlich hatte sich in dem Fall nichts Neues ergeben. Wenn auch der Stand seiner Geschäfte mehr als beunruhigend war, so konnte er sich zumindest mit dem Gedanken trösten, daß die qualvolle Sorge wegen Lake Placid mit jedem Tag nachließ. »Mr. Powell!« Die Wechselsprechanlage auf dem kleinen Bücherschrank hinter ihm unterbrach seine Grübeleien. Er drehte sich um und drückte auf den Knopf, der ihn mit seiner Sekretärin verband. »Ja, Anna?« »Mr. Putney ist am Telefon.« »Okay, stellen Sie durch.« Er nahm den Hörer ab. »Hallo?« »Guten Morgen, Mr. Powell. Ich möchte einen Termin vereinbaren, um mit Ihnen über unseren jüngsten Auftrag zu sprechen. Sind Sie morgen vormittag im Büro?« »Ja. Ja, natürlich. Wann wollen Sie kommen?« »Wäre Ihnen zehn Uhr recht?«
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»In Ordnung«, erwiderte Dave. »Übrigens … wie steht die Sache? Haben Sie etwas herausgefunden? Irgend etwas Interessantes?« »Nun … ja. Aber ich möchte lieber persönlich mit Ihnen darüber sprechen.« »Ich verstehe. Dann also bis morgen.« Dave legte den Hörer auf. Eric Putney war Direktor einer Detektei, die Dave hin und wieder für korporative Personalangelegenheiten heranzog. Vor einigen Wochen hatte er Putney beauftragt, persönliche Informationen über Emily Hunter zu sammeln. Nach seinem Bruch mit ihr hatten seine Anwälte ihm geraten, für den Fall eines Rechtsstreits soviel wie möglich über ihre Vergangenheit herauszufinden. Dave machte sich eine Notiz auf seinem Terminkalender. »Putney – zehn Uhr.« Er fragte sich, was die Agentur entdeckt haben mochte. Wahrscheinlich wenig, was er nicht bereits wußte. Den üblichen Klatsch aus Zeitschriften und Tageszeitungen. Er verbrachte den Rest des Vormittags mit dem Versuch, sich eine Strategie zurechtzulegen, die ihm als Grundlage für seine Verhandlungen mit Emily Hunter dienen sollte. Ihm fiel jedoch nichts ein, und er ging zum Essen, ohne eine Lösung gefunden zu haben. Nach einem Sandwich in einer nahe gelegenen Imbißstube kehrte er in sein Büro zurück. Als er das Vorzimmer betrat, blickte seine Sekretärin von ihrem Schreibtisch auf. »Nur ein Anruf, Mr. Powell.« Sie griff nach ihrem Block und durchblätterte ihn eilig, bis sie die Notiz gefunden hatte. »Mr. White läßt Ihnen ausrichten, Mrs. Hunter sei nicht zu sprechen. Ihre Anwälte sind jedoch bereit, wenn Sie wollen, nächste Woche mit Ihnen zusammenzutreffen.« Dave runzelte die Stirn. Es überraschte ihn nicht. Emily
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würde ihn warten lassen; ihn zwingen, eine Weile mit ihren Anwälten zu verhandeln. Die Zeit arbeitete für sie. In Gedanken versunken, übersah er den Brief, den seine Sekretärin ihm hinhielt, als er an ihrem Schreibtisch vorbeiging. »Entschuldigen Sie, Mr. Powell. Dies ist für Sie gekommen, während Sie beim Essen waren.« »Was sagen Sie? Oh, vielen Dank.« Dave nahm den Umschlag entgegen. Auf dem Kuvert stand in großer, grober Blockschrift: DAVID POWELL PERSÖNLICH. Keine Adresse, kein Poststempel. »Woher kommt dieser Brief?« fragte Dave. »Das wissen wir nicht. Er lag auf dem Schreibtisch der Empfangsdame.« »Nun, irgend jemand muß ihn gebracht haben. Hat die Empfangsdame niemanden hereinkommen sehen?« »Nein. Sie hatte ihren Schreibtisch für ein paar Minuten verlassen, und als sie zurückkam, lag er da.« Dave ging in sein Büro und schloß die Tür. Er setzte sich in seinen Sessel und legte den Brief vor sich auf den Schreibtisch. Mit einem Gefühl des Unbehagens musterte er die Aufschrift auf dem Kuvert. Er versuchte, die Empfindung abzuschütteln, als er den Umschlag öffnete, aber dann sah er, was er enthielt: ein liniertes gelbes Blatt Papier mit der Zeichnung einer Sanduhr, ähnlich derjenigen auf der Einladung zum Sommerfest. Unter der Skizze standen in der gleichen Blockschrift wie auf dem Kuvert die Worte: MAN ERWARTET SlE IM TANZPALAST
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20 Es werden mehr Selbstmorde begangen, wenn es trüb ist, als wenn die Sonne scheint. Dave hatte das irgendwo gehört, und es erschien ihm einleuchtend, daß man sich an einem grauen Tag mutloser fühlte. Er war nicht sicher, wie weit das Wetter seine eigene Stimmung beeinflußte, aber während er durch das Fenster seines Büros hoch über der Park Avenue in den Regen spähte, spielte er mit dem Gedanken an Selbstmord. Seit dem Morgengrauen regnete es unaufhörlich. Dave wußte es, denn er hatte wach gelegen, als es zu dämmern begann. Er hatte kurz vor Tagesanbruch die ersten Tropfen an die Fensterscheiben des Schlafzimmers klopfen hören. Bryan White hatte ihm am Nachmittag zuvor telefonisch mitgeteilt, daß eine Bank, die zu ihren Gläubigern gehörte, ihre Absicht angekündigt habe, Wechsel in Höhe von fast drei Millionen Dollar einzuziehen. Damit drohte das gesamte Gefüge seiner Unternehmen zusammenzubrechen. Diese Nachricht, gepaart mit dem anonymen Brief hatte ihn völlig entnervt. Nachdem er eine Weile über den Brief nachgedacht hatte, war er zu dem Schluß gelangt, daß er an sich nicht viel besagte. Der Hinweis auf den Tanzpalast war ebenso vage wie beim erstenmal. Tatsächlich bestätigte der Brief eigentlich nur Daves ursprünglichen Verdacht, daß Emily Hunter jemanden beauftragt hatte, ihn unter Druck zu setzen. Was ihn am meisten verwirrte, war die Frage, ob sich die Anspielung auf die ablaufende Zeit auf Lake Placid oder auf seine geschäftlichen Schwierigkeiten bezog. Bei dem früheren Brief war er überzeugt gewesen, daß es um ersteres ging. Aber angesichts dessen, was mit seiner Firma geschah, war er nicht mehr so sicher. Doch weshalb die Anspielung auf den Tanzpalast? Dave
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hatte so lange darüber nachgedacht, daß das Wort jetzt fest in seinem Gehirn verwurzelt war. Irgendwo draußen, inmitten des Lärms von Manhattan, ertönte das Geräusch einer schweren Baumaschine. Ohne sich dessen bewußt zu sein, paßte er die Periodik der drei Silben dem rhythmischen Stampfen dieser Maschine an: Tanz-pa-last! Tanz-pa-last! Tanz-pa-last! Das Wort pulsierte unaufhörlich in seinem Kopf, während er fünfundzwanzig Stockwerke hinunter auf die Straße blickte, wo sich die Autoschlangen im Schrittempo fortbewegten. Es war nicht das erstemal, daß er an Selbstmord dachte. Er hatte den Gedanken während dieses Sommers des öfteren erwogen. Eines Abends hatte er mit dem geladenen Revolver gespielt, den er zu Hause in einer Schublade aufbewahrte. Es wäre so einfach gewesen: Ein leichter Druck seines Zeigefingers hätte der Qual ein Ende gemacht. Aber trotz solcher Depressionen hatte er niemals ernsthaft geglaubt, daß er es tun würde. Der Hauptgrund war Dana. Schon allein der Gedanke an ihre Reaktion, wenn sie erführe, daß ihr Vater tot sei, hatte genügt, ihn davon abzuhalten. Die Ereignisse des gestrigen Tages hatten ihn jedoch in neue Tiefen gestürzt. Er gelangte immer mehr zu der Überzeugung, daß sein Tod eindeutige Vorteile für seine Familie mit sich bringen würde. Ein wesentlicher Faktor waren die zwei Millionen Dollar Lebensversicherung zugunsten der Firma und eine zusätzliche Million von seiner privaten Versicherung. Seltsam, sagte er sich, drei Millionen ist der Betrag, der benötigt wird, um die Forderungen der Bank zu befriedigen. Während er auf die Straße hinunterblickte, überkam ihn ein Gefühl grenzenloser Verzweiflung. Und wenn er nun wirklich sprang? Wenn er einfach die Augen schloß und sich davonstahl? Dann wäre aller Kummer vorüber. Er würde nichts weiter fühlen als die Luft, die an ihm vorbeischoß, während er in die Ewigkeit fiel. Plötzlich wurde ihm schwindlig, und er 141
stützte sich auf die Fensterbank. Im Geist sah er seinen Körper hinunterstürzen, auf das dunkle Pflaster aufschlagen. Es gab einen Aufruhr, der Verkehr kam zum Stillstand, Hunderte von Regenschirmen strömten wie schwarze Punkte herbei und scharten sich um die Stelle, wo ein lebloser Körper auf dem blutbespritzten Pflaster lag. Dave wurde von Panik ergriffen. »Mr. Powell!« Dave drehte sich um und blickte über die Schulter auf die Wechselsprechanlage. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er sah abermals aus dem Fenster. Der Verkehr floß normal, der Tote auf dem Pflaster war verschwunden. Ich leide an Halluzinationen, dachte er. Wenn es so weitergeht, verliere ich noch den Verstand! Er starrte auf die endlosen Fensterreihen, die sich nach unten zu verengten. Der schwindelerregende Anblick verursachte ihm Übelkeit. Er zog ein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn ab. »Mr. Powell! Sind Sie da, Mr. Powell!« Dave ging zum Bücherschrank und drückte auf den Knopf der Wechselsprechanlage. »Ja, Anna.« Seine Stimme klang fern und fremd, so als ob sie jemand anderem gehörte. Vielleicht war er tot … unten auf dem Pflaster … nicht mehr Teil der realen Welt. »Mr. Powell … Mr. Putney … verspätet … Regen …« Die Worte drangen unzusammenhängend an sein Ohr. Dave schaltete die Sprechanlage ab und ließ sich kraftlos in seinen Sessel sinken. Er griff nach der noch halbvollen Kaffeetasse, aus der er zuvor getrunken hatte. Aber der Kaffee war inzwischen kalt geworden, und er stellte die Tasse mit zitternder Hand wieder auf den Schreibtisch. Sein Blick fiel auf eine Fotografie auf dem Bücherschrank. Es war ein Bild von Sue und Dana, vor ein paar Jahren auf dem Rasen vor dem Haus aufgenommen. Er hatte den Schnappschuß bei einer Kindergesellschaft zur Feier von Danas Geburtstag gemacht. 142
Es war einer von vielen glücklichen Tagen gewesen. Bei der Erinnerung traten ihm Tränen in die Augen. Er wischte sie ungeduldig fort. Ich muß mich zusammenreißen, sagte er sich. Er wandte sich der Wechselsprechanlage zu. »Anna, würden Sir mir bitte frischen Kaffee bringen?« Er legte den Kopf an die Sessellehne und schloß erschöpft die Augen. Während die Minuten verstrichen, ließ seine Beklemmung allmählich nach. Er nahm die Morgenzeitung vom Schreibtisch und zwang sich zu lesen. Der heiße Kaffee, den Anna ihm brachte, tat ihm gut. Nachdem er die Zeitung überflogen hatte, entspannte er sich in seinem Sessel. Schließlich nahm er sich wieder die Berichte vor, die er am Tag zuvor angefordert hatte, um sich auf die Zusammenkunft mit Emily Hunters Anwälten vorzubereiten. Es war fast elf Uhr, als ihm über das Haustelefon die Ankunft von Eric Putney gemeldet wurde. Während Dave auf ihn wartete, überlegte er sich, ob es ratsam sei, die zwei anonymen Briefe zu erwähnen. Vielleicht hatte Putney irgendeine Idee, wie man herausfinden könnte, woher sie kamen. Aber das war unwahrscheinlich. Und außerdem würde ihre bloße Erwähnung möglicherweise den Verdacht wecken, daß er sich etwas hatte zuschulden kommen lassen. Er war noch unschlüssig, ob er davon sprechen sollte oder nicht, als seine Sekretärin mit zwei Männern in der Tür erschien. Der erste, der hereinkam, war Eric Purney, ein distinguierter weißhaariger Herr Anfang der Fünfzig. Er hatte eine Aktentasche bei sich, deren Verschluß mit einem kleinen Vorhängeschloß aus Messing gesichert war. Nachdem er Dave begrüßt hatte, wandte sich Putney nach dem Mann um, der mit ihm hereingekommen war. »Mr. Powell, dies ist einer meiner Mitarbeiter, Jim Delaney.« Der Mann, der vortrat, um Dave die Hand zu reichen, war alles andere als distinguiert. Er war etwa in Putneys Alter, aber kleiner, von plumpem Körperbau und mit 143
einem grob geschnittenen, mürrischen Gesicht. Sein schütteres Haar war in glatten, dunklen Strähnen seitlich über den rosig durchschimmernden Kopf gekämmt. Hängebacken zogen seine Mundwinkel herunter. Seine Kleidung war schwer klassifizierbar, bis er sich auf den ihm angebotenen Stuhl vor Daves Schreibtisch setzte und seine hochgezogenen Hosenbeine hellblaue Socken enthüllten, die da, wo sie in den abgetragenen schwarzen Schuhen verschwanden, ausgewaschen und verfärbt waren. »Es tut mir leid, daß wir zu spät kommen«, sagte Putney. »Wir sind durch den Regen aufgehalten worden.« »Taxis!« warf Jim Delaney ein. »Gar nicht dran zu denken, wenn’s regnet!« Er sprach mit dem etwas gewöhnlichen Tonfall der Bewohner der Bronx, und seine Stimme war rauh. »Wir hatten Mühe, ein Taxi zu finden«, fuhr Putney fort, als ob Delaney nichts gesagt hätte. Seine Stimme war gedämpft, und seine zögernde Sprechweise ließ erkennen, daß er der bevorstehenden Unterredung mit Unbehagen entgegensah. »Hat Ihre Firma die Untersuchung beendet?« Dave wußte von früheren Gelegenheiten her, daß Putney seine Nachforschungen gern die »Arbeit der Firma« nannte, so als wolle er soviel Distanz wie möglich zwischen sich und die Schattenwelt der Schnüffler legen. »Nein, Sir. Der Fall ist noch nicht abgeschlossen.« Putney balancierte die Aktenmappe auf seinen Knien, zog einen Schlüssel aus der Westentasche und öffnete das Vorhängeschloß. »Sie haben eine Untersuchung auf breiter Front erbeten, und das dauert länger als die übliche Aufarbeitung der Vergangenheit. Unser Ermittlungsbüro hat jedoch bereits eine beträchtliche Menge von Informationen gesammelt.« Er zog zwei kartonierte Ordner aus seiner Mappe und reichte sie Dave. »Sie werden sehen, daß ein großer Teil der Auskünfte aus Presseberichten stammt, Mr. Powell. Wie 144
Sie wissen, ist die zu überprüfende Person in der Geschäftswelt eine prominente Persönlichkeit, und es gibt ziemlich viel über sie in den Zeitungsarchiven.« Dave beugte sich über den Schreibtisch, um die Papiere entgegenzunehmen. »Ich hoffe, Sie haben etwas mehr als das, was in den Zeitungen gestanden hat. Konnten Sie irgend etwas in Erfahrung bringen, was ich noch nicht weiß?« Putney rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her und sah Jim Delaney an. »Nun, es ist meinen Mitarbeitern gelungen, einige Informationen vertraulicher Art zu sammeln … Sie haben mit dem Privatleben der zu überprüfenden Person zu tun.« Er warf wieder einen Blick auf Delaney. »Wo sind sie?« fragte Dave, während er einen der Aktendeckel durchsah. »Ich finde sie nicht unter diesen Papieren.« »Nein, sie sind nicht unter den Papieren«, wiederholte Delaney. »Sie gehören zum mündlichen Bericht.« »Zum mündlichen Bericht?« Dave sah von einem zum anderen. Delaney wollte gerade etwas erwidern, da räusperte sich Putney und kam ihm zuvor. »Vielleicht sollte ich antworten, Jim.« Er schlug die Beine übereinander und befingerte seinen Schlips, während er sprach. »Einige dieser Informationen sind ziemlich heikel.« »Heikel?« »Ja, und zwar schon deshalb, weil sie durch … hm … vertrauliche Methoden beschafft worden sind.« Putney bewegte sich wieder unruhig auf seinem Stuhl und hielt die Augen starr auf die Wand geheftet, um David Powells Blick auszuweichen. »Sie wollen sagen, auf illegalem Wege?«
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»Das habe ich nicht gesagt, Mr. Powell.« Putney richtete sich kerzengerade auf. »Die Putney-Agentur arbeitet hundert Prozent legal, und jede gegenteilige Schlußfolgerung wäre …« »Eric will damit sagen«, warf Delaney ein, »daß seine Firma sich nicht mit gewissen Untersuchungen die Finger schmutzig macht. Das ist der Grund, weshalb er mich gebeten hat, einen Teil dieses Falles zu übernehmen. Stimmt’s, Eric? Wir sind besser dafür ausgerüstet, Beschattungen durchzuführen. Wir haben mehr Leute und modernere Geräte …« Putney, der anscheinend fürchtete, die Kontrolle über seinen Mitarbeiter und die Unterredung zu verlieren, beugte sich vor und fiel Delaney ins Wort. »Lassen Sie’s gut sein, Jim. Nun, Mr. Powell, als wir auf gewisse Tatsachen stießen, hielt ich – das heißt, unsere Firma – es für das beste, Mr. Delaney einzuschalten. Jim hat schon früher bei einigen Fällen für uns gearbeitet, und …« »Nun, und was sind das für Tatsachen?« unterbrach Dave ungeduldig. »Natürlich«, sagte Putney rasch. »Aber vorher möchte ich noch folgendes bemerken: Ich setze voraus, daß die Ergebnisse der Untersuchung ausschließlich zu Ihrer persönlichen Information dienen, und daß keinerlei schriftliche Aufzeichnungen von mündlichen Berichten gemacht werden – einverstanden?« »Ich verstehe«, sagte Dave. »Jegliche Auskunft, die Sie mir geben, wird streng vertraulich behandelt.« Anscheinend befriedigt, lehnte sich Putney in seinem Stuhl zurück »Gut, Sir. Ich bin sicher, nachdem Sie den Bericht gehört haben, werden Sie unsere Besorgnis verstehen. Obwohl unsere Auskunft absolut der Wahrheit entspricht – und die Wahrheit natürlich eine einwandfreie Verteidigung gegen Verleumdungsklagen ist –, hätten wir keine Möglichkeit, die
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Beschuldigungen zu begründen, wenn man es von uns verlangte. Einfach wegen der Mittel, die bei der Nachforschung angewandt wurden. Verstehen Sie?« »Ja, ja«, erwiderte Dave. »Was ist es?« »Nun, Mrs. Hunter führt anscheinend ein ziemlich ungewöhnliches Geschlechtsleben.« »Ungewöhnlich?« Dave beugte sich vor. »Was wollen Sie damit sagen?« »Sie hat eine Freundin, mit der sie sexuelle Beziehungen pflegt.« Dave starrte ihn an. »Sexuelle Beziehungen?« »So ist es.« »Es fällt mir schwer, das zu glauben. Sie müssen sich irren.« Putney wandte sich an seinen Mitarbeiter. »Jim?« »Es steht außer Frage.« Delaney richtete sich auf. »Sie ist lesbisch. Wir haben sie beobachtet«, setzte er sachlich hinzu. »Aber das ist nicht zu fassen!« Dave lehnte sich in seinem Sessel zurück »Emily Hunter! Ich kann es nicht glauben. Wer ist die andere Frau?« »Wir hatten noch keine Zeit, ihre Identität festzustellen«, sagte Putney. »Wir wissen nur, daß sie verheiratet ist. Einer unserer Ermittler hat gehört, wie sie zu Mrs. Hunter sagte, sie mache sich Sorgen, daß ihr Mann etwas von ihrem Liebesverhältnis erfahren könne. Wir können uns positiv auf zwei Begegnungen zwischen ihr und Mrs. Hunter berufen. Stimmt’s, Jim?« »Genau.« Delaney holte ein abgenutztes Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin. »Sie hatten zwei Rendezvous hier in der Stadt. Beide Male verließ Mrs. Hunter ihr Büro in der Fifth Avenue um Punkt elf und ging zu Fuß zur Grand Central 147
Station, wo sie ihre Freundin traf. Sie aßen in einem Restaurant zu Mittag und nahmen sich dann eine Suite im Waldorf. Wir haben das zweite Treffen recht gut überwacht. Hatten einen unserer Männer mit ihnen im Fahrstuhl.« »Aber wie können Sie sicher sein, daß es eine – eine sexuelle Beziehung ist?« fragte Dave. »Viele Leute nehmen sich nachmittags eine Suite im Hotel; es könnte irgendeine Besprechung gewesen sein.« Delaney wandte sich an seinen Mitarbeiter, als warte er auf eine Anweisung, aber Putney hielt den Blick gesenkt. »Ich sagte Ihnen ja schon, Mr. Powell, wir haben sie beobachtet.« »Wie konnten Sie sie beobachten? Sie haben’s ja schließlich nicht im Fahrstuhl getrieben, oder?« »Technische Überwachung.« »Technische Überwachung?« »Genau. Vertrauliche Untersuchungsmethoden.« Delaney wollte sich offensichtlich nicht näher darüber auslassen, und Dave fragte nicht weiter. Er hatte von komplizierten Reflexionslinsen gehört, mit denen man um Häuserecken fotografieren konnte, und nahm an, daß es sich um etwas Ähnliches handelte. Es war nicht wichtig. Die Hauptsache war, daß sie auf eine äußerst kompromittierende Tatsache gestoßen waren. Er erkannte sofort, wie wertvoll diese Geschichte als Gegengewicht zu den anonymen Briefen sein konnte. »Werden Sie die andere Frau identifizieren können?« fragte Dave. »Ja, zweifellos«, erwiderte der Detektiv. »Wenn die Zielperson sich weiterhin mit ihr trifft, werden wir früher oder später herausfinden, wer sie ist.« »Das wäre sehr wichtig«, sagte Dave. »Vor allem, da diese andere Frau verheiratet ist. Und wenn Sie schon dabei sind,
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versuchen Sie, soviel wie möglich über ihren Mann zu erfahren. Es könnte sich als nützlich erweisen.« »Vielleicht gelingt es uns, sie noch in dieser Woche zu identifizieren, falls die beiden sich wieder treffen«, sagte Delaney. »Nur muß man sich darüber im klaren sein, daß persönliche Überwachungen ziemlich riskant sein können. Man muß die Zielpersonen beschatten, und dabei kann es passieren, daß die ganze Sache auffliegt. Verstehen Sie mich nicht falsch«, setzte Delaney hinzu. »Ich persönlich glaube nicht, daß sie mißtrauisch ist, und ich bezweifle, daß sie uns bemerken wird. Aber es besteht immer die Gefahr.« »Dieses Risiko müssen wir eingehen. Es ist mir sehr wichtig zu erfahren, wer sie ist – und zwar so bald wie möglich. Ich bin sicher, Sie werden sich vorsehen.« »Keine Sorge, unsere Leute wissen, was sie zu tun haben.« »Mr. Powell«, mischte sich Putney wieder ins Gespräch. »Ich nehme an, Sie verstehen, was diese persönlichen Überwachungen bedeuten. Sie erfordern viel Personal, vor allem bei einem so heiklen Fall wie diesem. Und, nun … es könnte eine ziemlich teure Angelegenheit werden.« Dave fragte sich, ob Putney von seinen finanziellen Schwierigkeiten gehört hatte und sich Sorgen um sein Honorar machte. Oder vielleicht wollte er mehr Geld als üblich. »Ich glaube, Sie haben noch nie gehört, daß ich mich über Ihre Rechnungen beschwert habe, nicht wahr, Mr. Putney?« »Nein. Nein, natürlich nicht. Ich hielt es nur für angebracht, es zu erwähnen.« Putney schlug nervös die Beine übereinander und zog mit Daumen und Zeigefinger an seiner Nasenspitze. »Ach … übrigens, Mr. Powell, da wir schon bei dem Thema sind … mein Büro hat mir mitgeteilt, daß noch ein paar Honorare von früheren Aufträgen offenstehen. Vermutlich sind sie übersehen worden. Ich nehme an, kleine Rechnungen gehen
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in einem großen Betrieb wie dem Ihren leicht verloren.« Er konzentrierte sich darauf, die Riemen seiner Aktentasche zuzuschnallen, und vermied es, seinen Klienten anzusehen. »Ich werde mich sofort darum kümmern«, versprach Dave. »Gibt es sonst noch etwas?« »Nein. Nein, ich glaube, das ist alles, Mr. Powell.« Putney schien erleichtert. »Sie werden vor Ende der Woche von mir hören.« »Gut.« Dave stand auf. »Vielen Dank, meine Herren.« Dann öffnete er spontan die mittlere Schublade seines Schreibtischs und holte die beiden anonymen Briefe heraus. »Ach … ehe Sie fortgehen, wüßte ich gerne, was Sie hiervon halten.« Er reichte Putney die Zettel. »Ich habe diesen hier vor ein paar Wochen an der Windschutzscheibe meines Wagens vorgefunden. Und das Kuvert da lag gestern mittag auf dem Schreibtisch der Empfangsdame. Wahrscheinlich irgendein dummer Witz, glauben Sie nicht auch?« Eric Putney musterte eine Weile schweigend die beiden Briefe. Schließlich sah er Dave an und hielt die Einladung hoch. »Dies war eine Veranstaltung in Ihrem Hause?« »Ja. Ein Sommerfest im Juni.« Der Detektiv zuckte die Achseln und reichte die Briefe seinem Mitarbeiter. »Was meinen Sie, Jim?« Delaney sah sie ein paar Sekunden lang an. Dann gab er sie Dave mit einem leichten Kopfschütteln zurück. »Wer weiß? Könnte alles mögliche sein.« »Haben Sie eine Ahnung, was mit ›Tanzpalast‹ gemeint ist?« fragte Putney. »Vielleicht eine Anspielung auf Green Haven«, mutmaßte Delaney. »Das Gefängnis?« Dave fühlte, wie sich sein Magen
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zusammenzog. »Ja, die Todeszelle, oder der ›Wartesaal zum Tod‹, wie die Leute sagen, in dem der Verurteilte die letzten Stunden verbringt, ehe man ihn auf den elektrischen Stuhl schnallt, heißt in der Unterwelt der ›Tanzpalast‹. Wußten Sie das nicht?«
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21 »Diese Aufnahmen sind wirklich großartig. Phantastisch!« Jim Delaney sprach zu einem Mitarbeiter in seinem Büro in der 43. nicht weit vom Times Square. Es war weder eine vornehme Gegend, noch war es ein vornehmes Gebäude. Und auch in den Räumen der Delaney-Detektei gab es wenig, was nicht in Einklang mit der trostlosen Umgebung stand. »Wie bitte? Ich habe Sie nicht verstanden, Chef.« Der Mann, der Delaney am Schreibtisch gegenübersaß und ihn nicht verstehen konnte, war einer von seinen drei Angestellten. Obgleich etwa fünfzehn Jahre jünger, glich er seinem Chef schon jetzt in Aussehen und Wesensart. Delaney hatte gerade ein großes Stück von einem mit Salami, Käse und Tomate belegten Sandwich abgebissen. Seine Sprache, die schon mit leerem Mund zu wünschen übrigließ, war noch undeutlicher, wenn er kaute. »Diese Bilder.« Er klopfte mit der Hand auf eines der Fotos, die vor ihm lagen. »Die sind gut und gern dreitausend wert.« Die Fotografien waren bei einer Razzia aufgenommen worden, die Delaneys Belegschaft am Abend zuvor durchgeführt hatte. Ein zur Scheidung entschlossener Ehemann hatte die Agentur beauftragt, ihm Beweise für die Untreue seiner Frau zu liefern. »Mensch, war die wütend, als sie aufwachte!« sagte der Jüngere. »Hat mit allem nach uns geworfen, was ihr in die Finger kam.« »Und was hat er getan?« fragte Delaney. Er biß abermals in sein Sandwich und stopfte es schließlich mit der freien Hand fast vollständig in den Mund, wobei ein Klecks Mayonnaise an seiner Wange hängenblieb. »Hat sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Kaum zu glauben – dreht sich einfach um und schläft weiter.« Delaney wischte sich Mund und Hände an seinem Taschentuch ab, während er die Bilder ansah. »Die
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dürften unserm Mann ein Vermögen ersparen.« Er zog eine Zigarre aus der Westentasche und wickelte sie aus. »Sorgen Sie dafür, daß Sie das Geld kriegen, ehe Sie ihm die Fotos aushändigen.« Nachdem er die Zigarre angezündet hatte, lehnte er sich in seinem Drehstuhl zurück, legte die Füße auf den Schreibtisch und blies eine Rauchwolke in die Luft Er sah zu, wie sie zu den braunen Flecken der Decke hinaufschwebte und sich dort langsam verflüchtigte. »Ich wünschte weiß Gott, Putney würde zurückrufen«, murmelte er. »Was sagen Sie, Chef?« »Nichts.« Delaney dachte an die heiklen Informationen, die er Putney übermitteln mußte. Etwas, worüber man besser nicht mit einem Untergebenen sprach. Es waren Dinge dieser Art, die einen Angestellten in Versuchung führten, ein kleines Nebengeschäft zu machen. »Ich hab versucht, Putney zu erreichen. Muß mit ihm über den Fall Hunter sprechen.« »Mensch, diese Frau, mit der sie’s treibt!« Der Jüngere streckte die Beine aus. Er trug einen runden Filzhut, dessen Krempe vorne nach oben gebogen war. Als er ihn in den Nacken schob, kamen Strähnen schmutzig blonden Haars zum Vorschein. »Ich hab schon viele schnucklige Miezen gesehn. Aber nie eine wie diese. Und zu denken, daß so ‘n Käfer lesbisch ist! Mann, ich hätte weiß Gott gern eine Weile mit Charlie und Vito am Spiegel verbracht.« »Sie werden schon noch Gelegenheit haben.« Delaney zog an seiner Zigarre. »Wir werden aus dieser Sache alles rausholen, was sie hergibt.« Er schwieg, während er sich überlegte, wie er Nutzen aus seiner Entdeckung ziehen konnte. Sie hatten diesmal wirklich Glück gehabt. Er konnte es kaum erwarten, Putney davon zu berichten. Großer Gott, er hatte geglaubt, schon alles gesehen
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zu haben, aber das übertraf wahrhaftig seine kühnsten Vorstellungen. Das Klingeln des Telefons unterbrach seine Gedanken. Er nahm die Füße vom Schreibtisch, richtete sich auf und griff nach dem Hörer. »Hallo, Jim.« Es war Eric Putneys Stimme. »Es tut mir leid, daß ich Sie nicht eher zurückrufen konnte. Ich war in Boston.« »Macht nichts«, sagte Delaney. »Ich habe grade an Sie gedacht. Habe Neuigkeiten für Sie.« »Ich auch. Und sie sind nicht sehr gut.« »Worum geht’s?« Delaney steckte die Zigarre in den Mund und lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück. »Soviel ich gehört habe, ist Powell nicht in guter Verfassung – ich meine, finanziell.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Wir wissen aus zuverlässiger Quelle, daß er in Schwierigkeiten ist. Es sieht aus, als ob er bankrott macht.« »Bankrott!« Delaney nahm die Zigarre aus dem Mund und setzte sich auf. »So ist’s. Er schuldet uns seit über vier Monaten Geld. Wir fingen an, uns Sorgen zu machen, und darum haben wir Erkundigungen eingezogen. Es sieht nicht gut aus.« »Was soll das heißen, es sieht nicht gut aus?« Delaneys Stimme nahm einen tiefen, krächzenden Ton an. »Ich habe über zehntausend in dieser Sache. Mit den Schmiergeldern im Hotel sind’s fast fünfzehn. Was woll’n Sie damit andeuten?« »Nun, ich habe es Ihnen ja schon gesagt. Es sieht nicht gut aus.« »Hörn Sie zu, Putney, kommen Sie mir nicht mit diesem Schmus. Er ist Ihr Klient, nicht meiner! Ich habe nicht die Absicht, fünfzehntausend Dollar schießenzulassen.« 154
»Nun, Jim, Sie kennen die Spielregeln ebenso gut wie ich. Man geht immer ein gewisses Risiko ein. Ich werde vermutlich auch zehntausend verlieren. Aber ich dachte mir, Sie sollten es wissen, damit Sie diese Überwachungen einschränken können. Ich würde an Ihrer Stelle nicht mehr viele Leute einsetzen. Übrigens, was sind Ihre Neuigkeiten? Haben sie was mit Powell zu tun?« Delaney umklammerte den Hörer mit einer Hand und seine Zigarre mit der anderen. Sein Gesicht war gerötet, und eine Vene, die an seiner linken Schläfe hervortrat, klopfte aufgeregt. Es gab nichts, was Jim Delaney so zur Raserei bringen konnte wie die Aussicht, kein Geld für seine Bemühungen zu bekommen. »Hörn Sie zu, Putney, und passen Sie gut auf, was ich Ihnen sage!« Seine Stimme war tief und drohend. »Ich habe nicht die Absicht, fünfzehntausend in den Schornstein zu schreiben. Er ist Ihr Klient und Ihr Problem!« Mit diesen Worten knallte er den Hörer auf die Gabel. »Haben Sie das gehört?« schrie er seinem Angestellten zu. »Dieser Schweinehund glaubt, er kann mich sitzenlassen.« Er stand auf und ging, dicke Rauchwolken ausstoßend, im Zimmer auf und ab. »Ich bin zu lange in diesem Geschäft, um mich von irgendeinem geschniegelten Schweinehund um fünfzehntausend Dollar bringen zu lassen.« »Was ist los, Chef?« fragte der jüngere Mann schüchtern. »Versucht Putney, uns reinzulegen?« »Nein, nein«, erwiderte Delaney mit einer abwehrenden Handbewegung. Er ging schweigend weiter auf und ab und zog erregt an seiner Zigarre, während er versuchte, mit einem Rückschlag von gewaltigen Ausmaßen fertig zu werden. Der Jüngere stand auf und rückte seinen Hut zurecht. »Ich glaube, ich sollte lieber diesem Tip fürs Coliseum nachgehn.« »Fünfzehntausend«, murmelte Delaney, ohne ihn zu beachten. »Kommt nicht in Frage, daß ich mir fünfzehntausend
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entgehn lasse.« Er bemerkte kaum, daß sein Mitarbeiter das Büro verließ, denn in seinem Kopf begann sich ein Gedanke zu formen. Vielleicht ging Powell pleite, aber das bedeutete nicht unbedingt, daß sie es tat. Und wer hatte mehr zu verlieren? Außerdem gab es ihm die Möglichkeit, sein Honorar zu erhöhen. Angesichts des Risikos, das er würde eingehen müssen, hatte er zweifellos ein Anrecht darauf. Er ging quer durch den schmuddeligen Raum zur Kartei, neben der auf einem alten Tisch in buntem Durcheinander eine Anzahl abgenutzter Telefonbücher lagen. Er suchte das von Westchester heraus, trat damit ans Fenster und suchte nach der Nummer. Ich muß schnell handeln, dachte er. Es war eine heikle Angelegenheit. Er wußte aus Erfahrung, daß die Informationen, die er hatte, heute ein Vermögen wert sein konnten – und morgen nichts. Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und holte eine kleine Plastikscheibe aus der mittleren Schublade. Dann zog er seine Jacke an und ging zur Tür. Er nahm einen grauen Filzhut vom Kleiderständer und setzte ihn auf die sorgfältig gekämmten Haarsträhnen. Mit der Zigarre im Mund ging er hinaus. Delaney brauchte etwa zwölf Minuten, um die »Außendienststelle« der Firma zu erreichen: eine Reihe von Telefonzellen in der Grand Central Station. Hier, in einer der hinteren Zellen, konnte er verhältnismäßig ungestört einen großen Teil seiner Geschäfte erledigen, nämlich all die Anrufe, die man nicht auf einen registrierten Anschluß zurückverfolgen sollte. Er holte ein Notizbuch aus seiner Brusttasche und wählte nach einer letzten kurzen Überlegung die Nummer in Tarrytown. Es klingelte nur einmal, dann wurde am anderen Ende der Hörer abgenommen. »Hallo.« Es war eine Kinderstimme, sanft 156
und weich. Delaney schob die Plastikscheibe in den Mund, um den Klang seiner Stimme zu verändern. »Ist Mrs. Powell da?« »Bitte bleiben Sie einen Augenblick am Apparat. Ich hole sie.« Kurz darauf ertönte ein Poltern, so als ob etwas zu Boden gefallen sei, und dann das klagende Weinen eines Babys. Während er wartete, klopfte Delaney nervös mit seinem Notizbuch auf die Ablage unter dem Apparat. Es war eine riskante Angelegenheit. Obgleich es nicht das erstemal war, daß er sich darin versuchte, begann er solch ein Unternehmen nie ohne ein Gefühl der Besorgnis. »Hallo. Hier spricht Sue Powell.« Es war eine helle, freundliche Stimme, ungewöhnlich wohlklingend. »Mrs. Powell, ich möchte, daß Sie mir aufmerksam zuhören. Es ist sehr wichtig. Und ich werde nichts zweimal sagen, verstehn Sie?« Sie schwieg. »Verstehen Sie, Mrs. Powell?« wiederholte Delaney. »Ja, ich verstehe.« Ihre Stimme überraschte ihn. Sie war ruhig und gefaßt. Für gewöhnlich mußte er an dieser Stelle zornige Fragen abwehren, ehe er fortfahren konnte. »Okay. Hörn Sie aufmerksam zu. Ich kann Ihnen eine Menge Schwierigkeiten ersparen, wenn Sie vernünftig sind. Ich habe alles über Sie und die Hunter. Treffpunkt, Zeiten, Daten, Bilder – alles, verstehn Sie?« Keine Antwort. »Hörn Sie mich, Mrs. Powell?« »Ich höre Sie.« Ihre Stimme klang gelassen, und Delaney war erstaunt über ihren Mangel an Gemütsbewegung. »Ich kann dieses Zeug Ihnen geben oder Ihrem Mann. Es bedeutet mir nicht das geringste, verstehn Sie? Nur, der Preis ist fünfundzwanzigtausend. Ist das klar?« Wieder eine Pause, und dann: »Soll das ein Witz sein? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
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Jetzt wurde Delaney wohler zumute. Dies war eher die Reaktion, die er erwartete. »Es ist kein Witz, Lady. Glauben Sie mir, es ist kein Witz. Wir haben alles über Sie und die Hunter. Um’s Ihnen zu beweisen, werd ich Ihnen ein paar Einzelheiten nennen.« Er klemmte den Hörer zwischen Kopf und Schulter, während er rasch in seinem Notizbuch blätterte. »Sie haben letzten Donnerstag zwei Stunden mit ihr im Waldorf verbracht. Genauer gesagt, Sie kamen um 14.08 aus dem Restaurant, wo Sie zu Mittag gegessen hatten, und gingen ins Hotel. Sie waren bis 16.22 Uhr in Suite 1108-10. Während dieser Zeit hatten Sie zweimal sexuellen Verkehr mit der Hunter. Sie sprachen unter anderem über Ihren Mann und machten sich Sorgen, daß er von Ihrer Beziehung erfahren könnte. Nun, ich könnte noch sehr viel präziser werden, beispielsweise den Leberfleck erwähnen, mit dem Sie die Hunter geneckt haben – und vielerlei anderes. Es liegt bei Ihnen.« Er konnte sie atmen hören. Schließlich sagte sie: »Mit anderen Worten, Sie wollen von mir fünfundzwanzigtausend Dollar erpressen.« »Langsam, langsam, Lady. Immer mit der Ruhe. Hier will niemand Sie erpressen. Ihr Alter schuldet mir Geld. Ich kassiere nur eine Rechnung. Wir bieten Ihnen eine Chance, ehe wir die Unterlagen Ihrem Alten übergeben.« »Was wollen Sie damit sagen? Wieso sollte mein Vater Ihnen …« »Nicht Ihr Vater. Ihr Mann! Wir haben das Zeug über die Hunter für ihn beschafft. Er ahnt nicht, daß Sie etwas damit zu tun haben. Wir wissen, daß er im Begriff ist, Pleite zu machen. Deshalb bieten wir Ihnen die Möglichkeit, die Unterlagen zu kaufen und seine Rechnung zu begleichen, das ist alles.« Abermals Schweigen. Es beunruhigte Delaney. Für eine Frau, die unter Druck stand, dachte sie verdammt viel nach.
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»Sie sagen, Sie haben im Auftrag meines Mannes Informationen über Mrs. Hunter gesammelt. Was sind Sie, Privatdetektiv?« »Okay, okay! Vergessen wir’s, Lady. Keine langen Reden. Entweder Sie wolln das Geschäft, oder Sie wolln es nicht. So einfach ist das.« »Gut, aber woher weiß ich, daß Sie sich mit dieser Summe zufriedengeben werden? Woher weiß ich, daß Sie mich nicht mit weiteren Forderungen…« »Ich sag Ihnen doch, ich will nur haben, was mir zusteht.« »Aber was ist mit den anderen? Sie sagten ›wir‹. Was sollte Ihre Mitarbeiter daran hindern, das gleiche zu tun? Sie könnten das Geld nehmen und die Informationen an jemanden weitergeben.« »Okay, Lady, ich werd Ihnen die Wahrheit sagen. Niemand weiß, daß ich auch nur mit Ihnen spreche. Glauben Sie, ich bin verrückt? Außerdem wissen meine Leute nicht einmal, wer Sie sind. Und selbst wenn sie’s wüßten, würden sie’s nicht wagen, was zu unternehmen. Dies ist Dynamit, verstehn Sie …?« Delaney zögerte. Diese Frau bekam zuviel aus ihm heraus. Trotzdem, ihre Zweifel waren berechtigt. Er mußte sie überzeugen, daß niemand sie weiter erpressen würde; daß dies eine einmalige Transaktion und die Sache für ihn begraben war, sobald er das Geld kassiert hatte. Wenn sie ahnte, wie gefährdet seine Agentur durch ihre illegalen Ermittlungsmethoden war, würde sie sich keine Sorgen machen, daß jemand reden könnte. »Ich sag Ihnen, Lady, niemand weiß was außer mir. Zahlen Sie, was mir zusteht, und der Fall ist erledigt Verstehn Sie?« Es gab wieder eine lange Pause, dann sagte sie: »Gut Was soll ich tun?« »Okay, jetzt reden Sie vernünftig. Ich werd Ihnen sagen, was
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Sie zu tun haben. Nehmen Sie ein Taxi zur 43. Straße, Ecke Third Avenue. Schicken Sie das Taxi weg und gehn Sie zu Fuß die 43. entlang Richtung Westen auf den Fluß zu. Kurz ehe Sie zum Dock kommen, sehn Sie auf der linken Straßenseite ein Lagerhaus. Können Sie mir folgen? Neben dem Lagerhaus mündet eine kleine Gasse. Dort werd ich heut abend um elf auf Sie warten. Und noch etwas. Bringen Sie zweihundertfünfzig Hundertdollarscheine. Ich wiederhole: zweihundertfünfzig Hundertdollarscheine. Und zwar gebrauchte. Tun Sie das Geld in eine gewöhnliche Einkaufstüte, verstehn Sie?« »Ja … ja, ich verstehe. Aber es wird wahrscheinlich eine Weile dauern, soviel Geld zu beschaffen. Und in eine Bank zu gehen und zweihundertfünfzig Hundertdollarscheine zu verlangen … Vielleicht könnte ich Sie zurückrufen und …« »Kommt nicht in Frage. Sie müssen sich entscheiden, ja oder nein. Und ich werd auch nicht zurückrufen und riskieren, daß Sie mir ‘ne Falle stellen. Jetzt oder nie. Fünfundzwanzigtausend sind ein Pappenstiel für jemanden wie Sie. Glauben Sie, das weiß ich nicht? Gehn Sie zu zwei oder drei Banken, falls es Sie beruhigt. Was kümmert’s den Kassierer, wenn er Ihnen ein paar Hunderter gibt? Glauben Sie, er wird deshalb Alarm schlagen?« Sie erwiderte nichts, und er war drauf und dran, die Sache für verloren zu geben, da sagte sie: »Gut, aber ich gehe nicht nachts allein mit fünfundzwanzigtausend Dollar zur 43. Straße und schon gar nicht an den Fluß. Sie müssen nach Tarrytown kommen.« Delaney zögerte. Wollte sie ihm eine Falle stellen? Andererseits war ihr Einwand berechtigt. Ein gerissenes Luder! Er würde sich vorsehen müssen. »Ausgeschlossen«, sagte er. »Ich geh nicht nach Tarrytown.« Er suchte fieberhaft nach einer anderen Lösung. Sie war im Prinzip einverstanden, und er wollte nichts verderben. Wo sonst konnte er sich mit ihr 160
treffen? Es mußte dunkel sein. Sie durfte ihn nicht deutlich sehen. »Gut. Ich erwarte Sie im Central Park an der 79. Straße, Ecke Central Park West. Es gibt etwa fünfzig Meter parkeinwärts eine Brücke. Neben der Brücke ist ein …« »Das paßt mir nicht« »Hörn Sie zu, Lady, Sie sind nicht in der Lage zu bestimmen, was Ihnen paßt und was nicht.« »Ich habe Ihnen gesagt, daß ich bereit bin, Ihnen das Geld zu geben. Aber wie kann ich wissen, daß Sie mich nicht in eine Falle locken werden – eine Entführung oder etwas Ähnliches?« Ihre Stimme war jetzt klagend, so als ob sie ein gemeinsames Problem hätten und sie seine Hilfe brauchte. Es klang überzeugend. »Wenn Sie nach Tarrytown kommen, gebe ich Ihnen das Geld.« »Wo in Tarrytown? Ich werd’ ganz gewiß nicht zu Ihrem Haus kommen.« »Nein, nein. Es gibt eine Stelle auf unserem Gelände, wo ich Sie treffen kann – einen Platz, wo niemand uns sehen wird. Wissen Sie, wo wir wohnen?« »Ja, mehr oder weniger. Ihnen gehört der größte Teil von Tarrytown, stimmt’s?« »Fahren Sie die Hauptstraße entlang, bis Sie zum Vogelschutzgebiet kommen. Stellen Sie Ihren Wagen auf dem Parkplatz ab. Oder wenn Sie mit einem Taxi kommen, lassen Sie sich dort absetzen. Es gibt einen Fußweg vom Parkplatz zum Meadow Lane. Gehen Sie den Meadow Lane hinunter, bis Sie ein Pförtnerhaus sehen. Es liegt zu Ihrer Linken. Etwa vierhundert Meter weiter kommen Sie zu einem alten Eisentor. Von dort führt eine Straße auf unseren Besitz. Ich werde dafür sorgen, daß das Tor offensteht. Gehen Sie bis zu einem Teich. Dann biegen Sie in den Pfad zu Ihrer Linken ein …« »Moment mal! Nicht so eilig, Lady. Ich habe noch nicht einmal gesagt, daß ich rauskomme.« Delaney zögerte. Er
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überlegte sich, ob es nicht riskant war, die Frau auf ihrem eigenen Gelände zu treffen. Aber was konnte ihm schon geschehen? Selbst wenn sie ihm eine Falle stellte, konnte er sich mit einer Ausrede aus der Affäre ziehen. Er hatte von der Familie Powell einen Auftrag erhalten. Wer wollte sagen, was dieser Auftrag war? Er hatte das Recht, dort zu sein. Ihr Wort würde gegen das seine stehen, wenn etwas schiefging. Außerdem war sie in einer miesen Situation. Das Leben in Tarrytown würde schwierig für sie werden, wenn sie es zum Skandal kommen ließ. Er wurde des Gesprächs überdrüssig, und die Plastikscheibe fing an, seinen Gaumen wund zu reiben. »Okay, okay.« Er legte sein Notizbuch auf das Brett unter dem Telefon und zog einen Kugelschreiber heraus. »Geben Sie mir noch mal die Wegbeschreibung.« Er machte sich Notizen, während Sue Powell die Anweisungen wiederholte. Ihre kühle Stimme und ihre Präzision beeindruckten ihn, steigerten jedoch gleichzeitig sein Unbehagen. »Ein gerissenes Luder«, sagte er sich abermals im stillen. »Okay, Lady. Ich bin heut abend Punkt elf dort. Seien Sie sicher, daß Sie die Tüte bei sich haben. Vergessen Sie nicht, dies ist Ihre einzige Chance.« Nachdem er eingehängt hatte, entfernte er mit einer Hand die Plastikscheibe und steckte sich mit der anderen eine Zigarre in den Mund. Er lehnte den Kopf an die Wand der Telefonzelle und überlegte noch einmal, ob es ratsam sei, nach Tarrytown zu fahren. Es war weniger bequem als Manhattan, aber für fünfundzwanzigtausend war er bereit, eine kleine Eisenbahnfahrt in Kauf zu nehmen. Er konnte verstehen, warum sie nicht in die Stadt kommen wollte. Hatte bestimmt höllische Angst. Obgleich das keineswegs sicher war. Sie schien die Kaltblütigkeit in Person zu sein. Du lieber Himmel, ihre Stimme klang, als hätte sie überhaupt keine Nerven. Aber 162
das war alles Bluff. Sie hatte viel zu verlieren, wenn die Geschichte rauskam. Trotzdem, er würde sich vorsehen müssen. Wenn die Sache schiefging, konnte ihn das teuer zu stehen kommen.
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22 Zur selben Zeit, als Jim Delaney in der Telefonzelle der Grand Central Station seine Fahrt nach Tarrytown plante, saß Dave Powell knapp einen Kilometer entfernt in dem eleganten Büro von Hunter Management in der Fifth Avenue und wartete auf eine Unterredung mit der Präsidentin der Firma. Die Zusammenkunft war auf ein Uhr dreißig festgesetzt; jetzt war es beinahe zwei Uhr. Er wußte, daß sie ihn absichtlich warten ließ, aber damit hatte er gerechnet. Es wäre ungewöhnlich für Emily Hunter gewesen, einen Gegner ohne gewollte Beleidigung zu empfangen. Ein erregter Gesprächspartner neigte eher dazu, einen Fehler zu begehen. Ehe er herkam, war er fast euphorisch gewesen. Es war das erstemal, daß er mit Emily zusammen sein würde, ohne sich ihr unterlegen zu fühlen. Seit dem Besuch der Privatdetektive hatte er diese Begegnung in allen Einzelheiten geplant. Delaneys Bemerkung über den Tanzpalast hatte den anonymen Briefen eine neue Bedeutung verliehen. Jetzt hatte es den Anschein, daß sie eine bewußte Anspielung auf den elektrischen Stuhl im Gefängnis von Green Haven waren. Dave war immer noch überzeugt, daß Emily Hunter dahintersteckte. Vermutlich hatte sie ihn irgendwie mit der Leiche im Lake Placid in Verbindung gebracht. Als Teil seines Planes hatte er gestern morgen in aller Frühe einen Brief mit dem Vermerk »persönlich« unter die Tür des Hunterschen Büros geschoben. Es war ein anonymer Brief, in großen Druckbuchstaben auf liniertem gelbem Papier geschrieben, ähnlich demjenigen, den er vergangene Woche erhalten hatte. Die Botschaft war kurz: ICH WEISS VON IHRER AFFÄRE. Darunter hatte er eine Sanduhr gezeichnet. Da der Brief denen glich, die, wie er annahm, Emily ihm geschickt hatte, würde sie sofort erkennen, von wem er
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stammte. Die Mitteilung gab ihr zu verstehen, daß es jetzt bei ihren Verhandlungen einen Grund für gegenseitige Zugeständnisse gab. Zumindest würde sie wissen, daß sie etwas zu verlieren hatte. Wie er Emily kannte, gab es wenig, was sie mehr beunruhigen würde als der Gedanke, daß man sich in den Direktionsbüros der Stadt Geschichten über ihr Sexualleben zuflüsterte. Er bedauerte nur, daß er noch nicht wußte, wer die Frau war, mit der sie ein Verhältnis hatte. Da Emily nur mit der Elite der New Yorker Gesellschaft verkehrte, nahm er an, daß die andere vermutlich aus guter Familie stammte. Er hoffte es, denn das würde Emily nur um so verwundbarer machen. Es war zehn nach zwei, als eine hochgewachsene, gutaussehende Frau von Mitte dreißig an der schweren Eichentür erschien, die zu den inneren Büroräumen führte. Es war Elizabeth Raderman, Emily Hunters Privatsekretärin. Ihr bloßer Anblick flößte Dave Antipathie ein. Sie wirkte ebenso arrogant wie ihre Chefin. »Guten Tag, Mr. Powell.« Während sie sprach, ging sie zum Schreibtisch der Empfangsdame und machte sich daran, die eingegangene Post durchzusehen. »Mrs. Hunter ist beim Mittagessen aufgehalten worden«, sagte sie mit dem Rücken zu Dave. »Sie wird gleich kommen.« Dave, der von seiner Zeitung aufgeblickt hatte, kehrte schweigend zu seiner Lektüre zurück Nachdem sie ein paar Worte mit der Empfangsdame gewechselt hatte, drehte sich die Sekretärin um und ging wieder hinein. Ehe sie die Tür hinter sich schloß, sagte Dave ruhig, ohne aufzublicken: »Bestellen Sie ihr, daß ich ihr noch genau drei Minuten gebe.« Drei Minuten verstrichen, und Dave fürchtete schon, daß er seine Drohung wahrmachen müsse, da öffnete sich die Eichentür und die Sekretärin kam wieder heraus. »Mrs. Hunter läßt bitten.« Dave stand auf und folgte ihr einen breiten, von abstrakten 165
Gemälden und Skulpturen gesäumten Korridor entlang, der in ein großes, elegant ausgestattetes Vorzimmer führte, das als Büro der Sekretärin diente. Es war ein Raum, den die meisten großen Firmen als angemessen für ihren Präsidenten erachtet hätten. Da Dave wußte, daß Emily Hunter ihren Untergebenen gegenüber eher knauserig als großzügig war, betrat er dieses Büro nie, ohne sich erstaunt zu fragen, welche Stellung Elizabeth Raderman in der Hunterschen Hierarchie einnahm. Jetzt, da er von Emilys Liebesverhältnis wußte, machte er sich erneut Gedanken über die Beziehung zwischen den beiden. »Sie können hineingehen, Mr. Powell.« Die Raderman deutete auf einen Bogengang, der zu den inneren Räumen führte. Dave betrat ein geräumiges, verschwenderisch eingerichtetes Büro. Weiche Wollstoffe in gedämpften Farben mischten sich mit dem tiefen Rotbraun der Kirschholztäfelung. Vor dem großen Fenster hingen duftige Gardinen, die das Sonnenlicht abschwächten, ohne den großartigen Blick auf die Skyline von New York zu versperren. Die wohl bemerkenswerteste Eigenschaft des Raumes war seine Stille. Hoch über dem Lärm der Innenstadt von Manhattan gelegen, schien das Büro jedes Geräusch zu dämpfen. Hinter einem antiken Schreibtisch saß Emily Hunter. Sie trug ein graues Seidenkostüm und als einzigen Schmuck ein schwarzweißes Halstuch. Sie schrieb und blickte nicht auf. Dave setzte sich auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch. Er hatte mit einem kühlen Empfang gerechnet, aber die Tatsache, daß sie sein Erscheinen einfach ignorierte, war zu aufreizend. Er wollte gerade eine Bemerkung machen, da sagte sie: »Deine Sekretärin hat darauf bestanden, daß du mit mir reden mußt. Ich höre.« Sie fuhr fort zu schreiben, während sie sprach. »Vielleicht sollten wir beide einander ein wenig zuhören«, sagte Dave ruhig. »Zunächst könntest du mir die Höflichkeit 166
erweisen, nicht zu schreiben, während ich spreche.« Emily blickte überrascht auf. »Gut, David.« Sie legte den Federhalter nieder und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Schieß los.« Ihre Gleichgültigkeit verwirrte ihn. Er fragte sich, ob sie den Brief erhalten hatte. Oder, wenn sie ihn erhalten hatte, ob sie wußte, daß er von ihm kam. Seine Zuversicht geriet ins Wanken. »Ich glaube, es gibt einige Dinge, über die wir reden müssen, Emily«, sagte er mit erzwungener Ruhe. »Wir haben beide ernste Probleme.« »Ich weiß, daß du ganz gewiß welche hast. Du stehst vor dem Bankrott. Und du bist selbst schuld daran. Du bist derjenige, der diese Geschichte in Stamford …« »Verzeih, Emily, aber ich weiß zufällig, daß du auch gewisse Probleme hast.« »Was soll das heißen?« »Genau das, was ich gesagt habe. Du hast echte Probleme.« Emily richtete sich ungeduldig in ihrem Sessel auf. »David, warum zum Teufel sagst du nicht einfach, was du loswerden willst, statt lange herumzureden? Du hast deine Sekretärin doch nicht aus Rücksicht auf meine Probleme so beharrlich auf diese Zusammenkunft drängen lassen. Ich bin sicher, du bist aus einem bestimmten Grund hergekommen, sonst hättest du …« Sie brach mitten im Satz ab. Ein Ausdruck der Überraschung erschien auf ihrem Gesicht. Aber er verschwand sofort wieder. »Ich verstehe.« Sie lehnte sich zurück, und ihre Stimme wurde sehr leise. »Du hast ihn geschickt.« Dave erwiderte nichts. Er fühlte, wie die Spannung zunahm, während sie sich mit dem Grund für seinen Besuch auseinandersetzte.
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»Nun, ich muß sagen, du überraschst mich.« Ihre Stimme war jetzt weniger schroff. »Die meisten Männer hätten anders reagiert.« »Was willst du damit sagen?« »Ach, nichts. Ich meine nur, manche Männer hätten … nun … unmittelbarer reagiert, statt mit einem anonymen Brief.« »Warum?« Sie antwortete nicht, aber ihre Augen musterten ihn aufmerksam, als suchten sie nach einer Erklärung. Dave wunderte sich über die Veränderung. Es war das erstemal, seit er sie kannte, daß er einen hilflosen Ausdruck auf ihrem Gesicht wahrnahm. Sie wirkte hübscher, jünger – vielleicht so, wie sie als Mädchen ausgesehen haben mochte. »Du hast doch diesen Brief geschickt, nicht wahr?« fragte sie fast klagend. Dave nickte. »Ja. Ich weiß von deiner Affäre.« Dann setzte er ein wenig defensiv hinzu: »Und du hast jemanden beauftragt, mir anonyme Briefe zu schicken, nicht wahr?« Sie sah ihn an, ohne zu antworten. »Nicht wahr?« wiederholte er. Ihr ausdrucksloser Blick verwirrte ihn. Er wartete darauf, daß sie etwas sagte, aber er wußte, sie war zu schlau. Sie würde auf eine nähere Erklärung von ihm warten. Schließlich fragte sie: »Was ist mit den Briefen?« Dave zögerte. Ihre Frage war dazu bestimmt, ihn zum Sprechen zu bringen. Vielleicht war es besser, das Thema für den Augenblick fallenzulassen. »Bryan White sagte, er habe letzte Woche zwei oder drei Briefe über Stamford von dir erhalten. Vielleicht kamen sie von deinen Anwälten.« Sie beobachtete ihn immer noch aufmerksam. Er wußte, daß sie nicht überzeugt war. »David, warum sagst du mir nicht, was du willst? Ich bin sicher, du bist mit einer bestimmten Absicht hergekommen.«
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Ihre Stimme klang jetzt versöhnlicher, und Dave erkannte, daß er erreicht hatte, was er wollte. »Es ist sehr einfach, Emily. Ich möchte unser ursprüngliches Abkommen über Stamford rückgängig machen. Ich bin bereit, einen gütlichen Vergleich zu schließen.« Emily sah ihn einen Augenblick lang neugierig an, dann sagte sie: »Entschuldige mich.« Sie stand auf und ging zu der Tür, die in Elizabeth Radermans Büro führte. Die Sekretärin kam ihr entgegen, und die zwei sprachen einen Augenblick leise miteinander. Während Dave sie beobachtete, verstärkte sich sein Verdacht über ihre Beziehung. Er würde es Eric Putney sagen müssen. »Ich bin für niemanden zu sprechen«, sagte Emily endlich laut und schloß die Tür. Sie kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück und sah Dave an. »Was ist mit dieser anderen Sache? Dieser sogenannten Affäre? Würdest du mir das bitte ein wenig näher erklären?« »Ich weiß alles darüber«, bluffte Dave. »Wo ihr zwei euch trefft. Eure Mittagessen. Die Nachmittage im Waldorf – Suite 1108 – 10, um es genau zu sagen. Uhrzeiten. Daten. Alles.« Emily spielte nervös mit ihrem Federhalter. Ihr Gesicht war blaß und angespannt. Schließlich blickte sie auf. »Du scheinst nicht sonderlich beunruhigt zu sein.« »Beunruhigt?« »Über unsere Affäre.« »Diese Affäre ist mir völlig schnuppe. Mir ist daran gelegen, unserer geschäftlichen Beziehung ein Ende zu machen.« Emily hob die Brauen. Sie klopfte nachdenklich mit dem Federhalter auf den Schreibtischrand. »Hast du mit Sue über diese Sache gesprochen?« »Nein.«
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Sie schwiegen eine Weile, dann richtete sich Emily in ihrem Sessel auf und sagte: »Laß mich sehen, ob ich dich richtig verstanden habe. Du sagst, du weißt von der Affäre, und es kümmert dich nicht? Dir liegt nur daran, unser Abkommen zu beenden? Es fällt mir schwer, das zu glauben.« »Emily«, sagte Dave mit einem Anflug von Ungeduld. »Du bist dir zweifellos klar darüber, daß ich am Rand des Bankrotts stehe. Ich bin nur daran interessiert, mich mit dir über Stamford zu einigen. Abgesehen davon ist mir völlig egal, was du tust. Kannst du das nicht verstehen?« »Gut. Laß deine Anwälte einen entsprechenden Vertrag für die Empire-Stamford-Aktien aufsetzen. Sofern die Bedingungen annehmbar sind, werde ich ihn unterschreiben.« Dave stand auf. Er konnte nur mit Mühe seine freudige Erregung unterdrücken. »Es tut mir leid, daß es so enden mußte, Emily. Aber ich glaube, es ist das beste für uns alle.« Emily lehnte sich in ihrem Sessel zurück und sah ihn mit erstaunten Augen an. »Du bist ein seltsamer Mensch, David.«
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Siebter Teil TARRYTOWN, NEW YORK JULI 1982
23 »Hier sind zwanzig Dollar. Behalten Sie den Rest. Sie kriegen noch mal das gleiche, wenn Sie mich in einer Stunde wieder hier abholen.« Jim Delaney reichte dem Taxifahrer einen Zwanzigdollarschein. Es war ein hohes Trinkgeld, vielleicht zu hoch, sagte er sich. Aber es war nichts im Vergleich zu dem, was er auf dem Rückweg bei sich haben würde. Und er wollte sicher sein, daß das Taxi wartete, um ihn zum Bahnhof zurückzubringen. Er war vor einer Dreiviertelstunde in Tarrytown eingetroffen und hatte in einem Cafe gewartet. Als die Zeit für die Begegnung näherrückte, hatte er ein Taxi genommen, das ihn zum Parkplatz des Vogelschutzgebietes brachte. Es war zwanzig vor elf, und wenn die Beschreibung stimmte, würde er für den Weg zu dem vereinbarten Treffpunkt nicht länger als fünfzehn Minuten brauchen. Nachdem er aus dem Taxi gestiegen war, wartete er, bis die Scheinwerfer nicht mehr zu sehen waren, und dann ging er den schmalen Pfad entlang, der zum Meadow Lane führte. Es war eine kühle, feuchte Nacht, und gelegentliche Windstöße wirbelten ihm welkes Laub in den Weg. Delaney zog den Hut tief in die Stirn und schlug fröstelnd den Kragen seines Regenmantels hoch. Er hatte noch den Geschmack von Kaffee im Mund. Während der Bahnfahrt hatte es ein paar Regenschauer gegeben, und er war froh, daß es hier in Tarrytown trocken war, denn nach der Beschreibung zu schließen, würde er auf unwegsames Gelände stoßen.
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Als er zum Meadow Lane kam, sah er zu seiner Rechten eine hohe Backsteinmauer, die sich, soweit der Blick reichte, längs der Straße erstreckte. Während er in der Dunkelheit an der Mauer entlangging, überkam ihn ein Gefühl des Unbehagens. Er bereute jetzt, daß er nicht auf einem Treffpunkt in der Stadt bestanden hatte. Er kannte New York wie seine Westentasche. Hier draußen kam er sich verloren vor. In der Ferne sah er die Scheinwerfer eines sich nähernden Wagens. Er stellte sich dicht an die Mauer und hielt den Kragen seines Mantels vors Gesicht. Der Wagen schoß vorüber. Als das Summen des Motors verhallte, wurde es wieder still. Hie und da raschelte der Wind in den Blättern der Bäume jenseits der Mauer, aber abgesehen davon waren nur Delaneys schweres Atmen und das Geräusch seiner Schritte auf dem Pflaster zu hören. Nach etwa fünfhundert Metern kam er schließlich zu dem in der Beschreibung erwähnten Eisentor. Es war unter einem schmalen Rundbogen in das Mauerwerk eingelassen. Eine Kette, die dazu diente, die beiden Torflügel zusammenzuhalten, hing an einer der Querstangen. An ihrem Ende baumelte ein offenes Vorhängeschloß. Hinter dem Tor lag tiefe Finsternis. Delaney stieß es auf. Das durchdringende, quietschende Geräusch wirkte beunruhigend in der Stille – ein Signal für jeden, der auf mich lauert, dachte er. Er ging hindurch und nahm eine kleine Taschenlampe aus seiner Manteltasche. Der Strahl gab kaum mehr Licht als der Schein, der durch ein Schlüsselloch in ein dunkles Zimmer dringt. Vor ihm lag die Umrißlinie eines verwilderten Weges. Delaney zögerte einen Augenblick, dann ging er weiter. Nach der Beschreibung mündete die Straße fünfzig Meter weiter in einen Wald.
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Während er sich seinen Weg durch die Dunkelheit bahnte, steigerte sich sein Unbehagen. Die Straße war kaum erkennbar. Den Weg zum Treffpunkt zu finden, war eine Sache. Wieder hinauszukommen, würde womöglich schwieriger sein. Schließlich kam Delaney zu den Bäumen. Sein letzter Mut schwand dahin, sobald er sich im dichten Wald befand. Dunkelheit hüllte ihn ein. Und jetzt gab es Geräusche: unaufhörliche, hohe quietschende Töne – überall. Delaney blieb stehen und lauschte auf das undefinierbare Konzert des nächtlichen Lebens im Walde. Während er den schmalen Pfad entlangging, wurde ihm immer unheimlicher zumute. Wären nicht die fünfundzwanzigtausend Dollar gewesen, er wäre sofort umgekehrt. Seine Geldgier war jedoch größer als der Zweifel in seinem Herzen, und er tastete sich weiter. Außerdem war er beinahe am Ziel. In wenigen Minuten müßte er am Teich sein. Dann würde er nach der Beschreibung einen Pfad sehen, der nach links abbog. Der führte nach etwa dreißig Metern zu einem Bauernhaus, wo die Frau auf ihn wartete. Möglicherweise würde sie anfangs Schwierigkeiten machen. Würde versuchen zu handeln. Ihn der Erpressung bezichtigen. Es war keine Erpressung. Er trieb nur eine Schuld ein. Schließlich konnte niemand von ihm verlangen, daß er sich mit den fünf Cent pro Dollar zufriedengab, die ein lausiges Konkursgericht ihm zubilligen würde. Der Gedanke an Geld hob seine Stimmung. Dann sah er den Teich zwischen den Bäumen, ein spiegelglatter Tümpel, der sich in der Dunkelheit verlor. Das stille, schwarze Gewässer hatte etwas Unheilverkündendes an sich. Zu seiner Linken sah er den Pfad, der tiefer in den Wald führte. Als er in den Weg einbog, hörte er es zum erstenmal: ein leises Rascheln hinter sich. Er überlegte beunruhigt, was es wohl sein mochte, ging aber noch ein paar Schritte weiter, bis er es abermals hörte. 173
Diesmal war es näher, deutlicher vernehmbar. Er blieb stehen und lauschte. Die seltsamen Töne, die er beim Betreten des Waldes gehört hatte, schienen lauter zu werden, und hoch oben rauschte der Wind in den Wipfeln der Bäume. Zögernd setzte er seinen Weg fort. Wo zum Teufel steckt sie? fragte er sich. Er war sicher, daß er schon mehr als dreißig Meter gegangen war. Und dann sah er links vom Pfad ein großes, schwarzes Loch; ein alter Brunnenschacht. Daneben lag ein Haufen Steine. Delaneys erste Reaktion war Zorn. Großer Gott, er hätte leicht in dieses verdammte Loch fallen können. Dann hörte er unmittelbar hinter seinem Rücken wieder ein Geräusch. Diesmal war es unverkennbar: ein Zweig, der unter einem Fuß zerbrach. Irgend jemand schlich sich an ihn heran. Er erstarrte. Plötzlich ein Schuß! Ein Brennen in seiner Schulter! Er taumelte am Rand des Brunnens, die Hand auf seine Wunde gepreßt. Wieder krachte ein Schuß! Diesmal traf ihn die Kugel im Rücken. Ein qualvoller Schmerz! Und dann das undeutliche Gefühl zu fallen, von einer Seite des Schachts zur anderen geschleudert zu werden, bis hinunter auf den Grund. Er landete über zehn Meter weiter unten auf dem Rücken. Sein Körper war verrenkt, die Glieder hatte er gebrochen, aber er war immer noch bei Bewußtsein. »Mein Gott! O mein Gott!« schrie er. Er versuchte, sich zu bewegen, aber er war wie gelähmt. Er spürte keinen Schmerz, nur ein Gefühl der Betäubung. Dann hörte er sie, einen nach dem anderen. Die schweren Steine, die winselnd durch die Luft herunterkamen und mit einem dumpfen Aufprall auf die weiche Erde neben ihm fielen. »Herr im Himmel«, schrie er. »Nein! Bitte, Gott! Nein!« Die gedämpften Klagetöne aus dem Schacht verstummten jählings, als ein schwerer Stein Jim Delaneys Schädel zerschmetterte. Dann war es still, bis auf das leise, rhythmische Konzert der Nachttiere im Wald und den dumpfen Aufschlag der Steine, die 174
sich auf dem Grund des Brunnens anhäuften.
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24 Es war ein herrlicher Tag gewesen. Und er war noch nicht vorüber. Obgleich die Schatten der Baumgruppe beim Pförtnerhaus schon länger wurden, blieb noch viel Zeit. Sie brauchte erst um neun Uhr im Bett zu sein – viel später als gewöhnlich. Denn dies war ein ganz besonderer Tag, und Dana Powell nutzte ihn voll aus. Es war ihr Geburtstag. Sie war acht Jahre alt geworden. Sie dachte an all die beglückenden Ereignisse des Tages und durchlebte noch einmal die schönsten Augenblicke. Es hatte auf dem Rasen beim Teepavillon eine Kindergesellschaft mit Eis und einer großen Torte gegeben. Sie hatte sich etwas gewünscht, ehe sie die Kerzen ausblies. Es war der gleiche Wunsch gewesen wie jedes Jahr: daß Daddy ihr ein Pferd kaufen möge. Einige ihrer Freundinnen hatten ihr Geschenke gebracht. Sie waren sehr vergnügt gewesen, bis Jane Bennett hinfiel, sich das Knie aufschlug und zu weinen anfing. Danach hatte Dana das Gefühl gehabt, daß alle viel netter zu Jane waren als zu ihr. Schließlich war Janes Mutter gekommen und hatte sie nach Hause geholt. Dana war froh gewesen, Jane fortgehen zu sehen. Nach Tisch war es wieder sehr lustig gewesen. Sie und ihr Vater hatten Dschungel gespielt. Sie hatten das Licht im Wohnzimmer ausgemacht, und Dana war auf den Rücken des Elefanten geklettert. Dann waren sie durch den Dschungel getrottet und allen möglichen wilden Tieren begegnet. Daddy war so lieb zu ihr gewesen. Er hatte in den letzten Tagen sehr viel mit ihr gespielt. Sie ging im Geist noch einmal die Geschenke durch, die sie erhalten hatte – Spiele, Stofftiere, Bücher und noch viele andere Dinge. Aber das schönste Geschenk von allen war das neue Fahrrad, hellblau mit roten und weißen Streifen und viel glänzendem Chrom, auf dem sie jetzt saß. Daddy hatte es ihr geschenkt. Sie wußte, daß ihre Mutter nicht sehr glücklich darüber war. 176
Der Sattel war etwas zu hoch und gefährdete ihr Gleichgewicht. Auch Lindsay, die sie auf der Lenkstange balancierte, machte sie ein wenig unsicher. Als sie um die Kurve fuhr und den Mann sah, der hinter dem Pförtnerhaus aus einem Wagen stieg, versuchte sie zu winken. Das war ein Fehler: Lindsay, das Rad und Dana landeten in einem wirren Haufen auf dem Kopfsteinpflaster. Die gellenden Schreie, die darauf folgten, ließen einen besorgten Horace Ackerman durch das Tor zur Unglücksstätte eilen. »Es wird alles wieder gut«, sagte er beruhigend, während er das weinende Kind unter dem Fahrrad hervorzog. »Wo tut es weh?« »Mein Arm«, schluchzte Dana, einen zerkratzten Ellbogen in die Höhe haltend. »Zeig her.« Ackerman nahm sanft ihren Arm und untersuchte ihn. »Nun, es ist nicht allzu schlimm. Nur eine Schramme. Schau, er blutet nicht einmal.« Das Schluchzen legte sich, und Ackerman klopfte den Staub von Danas Shorts. Dann hob er die weinende Lindsay auf. »Ich glaube, diesem kleinen Mädchen ist auch nicht viel geschehen«, sagte er, während er das Kleid der Puppe glättete. »Wie heißt sie denn?« »Lindsay.« »Lindsay? Ein hübscher Name. Kannst du sie dazu bringen, daß sie aufhört zu weinen?« »Nein, das tut sie immer. Sie ist krank.« »Krank?« »Ja, krank. Sie wird nie wieder gesund.« Dana rieb sich die Augen und streckte die Hand nach der Puppe aus. Ackerman zögerte und blickte sie einen Augenblick schweigend an. Als er sich bückte, um ihr die Puppe zu reichen, sah Dana eine Pistole unter seiner aufgeknöpften Jacke. »Sind Sie Polizist?« »Nun … ja. Aber wie kommst du darauf?«
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»Ich kann es erraten. Werden Sie mich jetzt verhaften?« »Natürlich nicht. Warum sollte ich dich verhaften? Im Gegenteil, ich werde dir einen Kaugummi geben, weil du so tapfer warst.« Ackerman nahm eine Packung Kaugummi aus der Tasche und gab ihr einen Streifen. Dana klemmte Lindsay unter den Arm und wickelte den Kaugummi aus. »Vielen Dank« Sie klappte den Streifen in der Mitte zusammen und steckte ihn in den Mund. Er schmeckte gut und machte den Schmerz wett, der jetzt in ihrem Ellbogen zu klopfen begann. Sie überlegte, ob sie wieder weinen sollte, und hätte es vielleicht getan, wenn der Mann sie nicht in diesem Augenblick nach ihrem Namen gefragt hätte. »Dana Powell«, erwiderte sie. Der Mann schien nett zu sein. Sie mochte seine Augen mit all den Fältchen drum herum und die Art, wie er lächelte. »Hätten Sie Lust, mit Lindsay und mir zu spielen?« »Natürlich. Nur kann ich das jetzt leider nicht, weil ich mit deinem Vater sprechen muß.« Er blickte über die Schulter zu seinem Wagen. »Ich weiß nicht, ob mein Auto dort gut steht. Ist jemand im Pförtnerhaus?« »Ich glaube, Brandon. Er ist unser Gärtner. Nur liegt er wahrscheinlich im Bett. Er hat sich wieder den Rücken verletzt – beim Zuschütten vom alten Brunnen.« »Vom alten Brunnen?« »Ja, er ist dort drüben.« Dana nahm ihre Puppe in den anderen Arm und deutete in die Ferne. »Im Wald beim Bauernhaus.« »Warum schüttet Brandon ihn zu?« fragte Ackerman, der Richtung ihres Armes mit den Augen folgend. »Damit niemand hineinfällt. Kinder könnten den Deckel wegnehmen und hineinfallen.«
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»Nun, das klingt einleuchtend. Aber du würdest den Deckel nicht wegnehmen, nicht wahr?« »‘türlich nicht. Er ist zu schwer … Ich hab’s versucht, oft.« Ackerman lachte. »Nun, anscheinend geht es dir jetzt wieder gut. Was ist mit deinem Kinn? Da hast du ja auch ein paar Schrammen.« »Die sind von Brandons Katze. Sie hat mich gekratzt. Aber sie sind schon fast verheilt.« Ackerman beugte sich vor, nahm das Fahrrad bei der Lenkstange und stellte es auf. »Wollen wir sehen, ob du es diesmal schaffst? Warum setzt du dich nicht wieder auf dein Rad, und ich halte dich am Sattel fest, während du zum Haus hinauffährst? Ich glaube, wir werden ein Pflaster für deinen Ellbogen brauchen.« Er half ihr auf den Sattel, und nachdem er die Puppe auf die Lenkstange gesetzt hatte, führte er das Rad die Auffahrt hinauf. Für Horace Ackerman war seine Unterredung mit David Powell von größter Bedeutung. Er war überzeugt, daß er genügend Beweismaterial für eine Mordanklage hatte, aber um einen Schuldspruch zu erreichen, war es notwendig, daß Powell zugab, mit Ann Conway auf Bück Island gewesen zu sein. Es war ein wesentlicher Punkt, denn die Indizien, die ihn mit dem Opfer in Verbindung brachten, einschließlich der Erklärung von Sam Wykoff, daß Powell mit dem Motorboot zur Insel gekommen sei, waren zum größten Teil nicht beweiskräftig. Wie weit sich zwanzig Jahre altes Material – vor allem, wenn es die Aussage eines alten Mannes war – im Gerichtssaal durchsetzen würde, war schwer zu sagen. Obgleich es keine Verjährung für Kapitalverbrechen gab, erschwerte altes Beweismaterial doch die Schuldigsprechung. Wenn Powell leugnete, das Opfer nach ihrer beider Entlassung aus dem Adirondack Club gesehen zu haben, konnte das
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Plädoyer des öffentlichen Anklägers sich am Ende in Luft auflösen. Unter anderen Umständen hätte Ackerman David Powell wahrscheinlich zu der Unterredung in sein Büro gebeten. Dort hätten wertvolle Zeugen zugegen sein können, und außerdem hätte er alle für ein Verhör erforderlichen technischen Hilfsmittel zur Verfügung gehabt. Aber Powell ins Büro zu bitten, würde ihn nur auf den Ernst seiner Lage aufmerksam machen, und das bedeutete, sich seine Anwalte auf den Hals zu laden. Nichts war so hinderlich bei dem Versuch, einem mutmaßlichen Täter Erklärungen zu entlocken, wie die Anwesenheit seines Rechtsberaters. Nein, um Powell zu einer kompromittierenden Aussage zu verleiten, mußte er unter dem Vorwand einer routinemäßigen Befragung in seinem eigenen Haus mit ihm zusammentreffen. Während Ackerman, seine Mappe unter dem Arm, Dana auf ihrem Rad die Auffahrt hinaufführte, dachte er über die Tragweite dessen nach, was vor ihm lag. Er hatte die Unterredung sorgsam geplant und verließ sich auf David Powells psychische Verfassung. Er war sicher, daß Powell mit den Nerven am Ende war. Dafür hatte Ackerman gesorgt: Die Botschaften, die er an seinem Wagen und in seinem Büro zurückgelassen hatte, waren dazu bestimmt gewesen, die Ungewißheit zu verstärken, die ihn seit der Bergung der Leiche quälen mußte. Ackerman hatte vor, diese Ungewißheit bis zu dem Punkt zu treiben, wo eine Konfrontation eine verheerende Wirkung haben würde. Unter einem derartigen Druck, sagte er sich, besteht die Möglichkeit, daß Powell die Nerven verliert. Als sie um die Kurve bogen und das Haus in Sicht kam, staunte Ackerman über den prachtvollen Anblick, der sich ihm bot. Die blassen Strahlen der Abendsonne fielen schräg durch das Laub der Bäume vor dem Gebäude und spiegelten sich in dem blauen Schieferdach. Er musterte neugierig das frisch eingesetzte Rasenstück an der Stelle, wo die Ulme gestanden
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hatte. Vor dem Eingang half er Dana vom Rad; dann ging er zu der großen Flügeltür und suchte nach einer Klingel. »Sie müssen da ziehen«, sagte Dana, auf eine schmiedeeiserne Stange an der Mauer deutend. Ackerman folgte ihrem Rat, und kurz darauf öffnete sich die Tür. Eine Matrone in dunkelgrüner Livree lächelte ihnen zu. »Hilda, der Mann will zu Daddy. Er ist Polizist.« »Guten Abend, Madam«, sagte Ackerman rasch. »Würden Sie bitte Mr. Powell sagen, daß Kommissar Ackerman vom FBI ihn sprechen möchte?« Die Frau sah ihn überrascht an. »Ja, natürlich.« Sie sprach mit einem deutschen Akzent. »Bitte kommen Sie herein. Ich werde nachsehen, ob Mr. Powell zu Hause ist.« Ackerman wußte, daß er zu Hause war. Er hatte unter einem Vorwand zur Tischzeit angerufen. Er trat durch die Haustür in eine sparsam möblierte Halle, der das auf Hochglanz polierte Parkett und die marmorverkleideten Wände einen eleganten Anstrich verliehen. Die Frau schloß die Tür und führte ihn durch die Halle in den Salon. Ihm war, als hätte er mittelalterliche Fürstengemächer betreten. Das Zimmer war mit Möbeln aus der Tudor- und Stuartzeit eingerichtet, deren Strenge durch weiche Sofas, Sessel und dicke Perserteppiche gemildert wurde. Die Wände waren mit Eichenholz getäfelt, und an der Decke erstreckten sich schwere Balken über die ganze Länge des Raumes. Einem mit Marmor verkleideten Kamin gegenüber führten drei große Bleiglastüren mit eingravierten bunten Verzierungen auf die Terrasse hinaus. Hilda forderte Ackerman auf, in der Nähe des Kamins Platz zu nehmen, dann ging sie hinaus. Dana kletterte neben ihm auf die Bank und setzte Lindsay auf seine Knie. Plötzlich richtete sie sich auf. »Da kommt meine Mutter. Ich bin gleich wieder da.« Sie ließ die Puppe in
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seinen Schoß fallen und lief auf die Terrasse hinaus. Ackerman spürte ein leichtes Prickeln der Erwartung, als er Sue Powell über die Terrasse aufs Haus zukommen sah. Sie trug Blue Jeans, einen dunkelblauen Pullover und hatte ein rotes Tuch um den Kopf geschlungen. Er beobachtete durch die halb geöffnete Glastür, wie Dana sie abfing. Das Kind deutete, während es sprach, mehrmals zum Salon hinein. Er bekam flüchtig Sue Powells schönes Gesicht zu sehen, als sie in seine Richtung blickte. Dann nahm sie Dana energisch bei der Hand, wandte sich ab und verschwand aus seinem Blickfeld. Ackerman fragte sich, wieviel sie von der Verwicklung ihres Mannes in den Fall Conway wußte. Wahrscheinlich nichts. Es würde ein arger Schock für sie sein. Er dachte über den Vorfall mit ihrer Tochter in der Auffahrt nach. Die Powells hatten wahrhaftig allerlei Probleme vor sich. Der Gedanke rief ein gewisses Mitgefühl in ihm wach. Er nahm die Puppe vom Schoß und setzte sie neben sich, so daß ihr Kopf auf der Armlehne der Sitzbank lag. Von dort aus blickte sie mit einem Ausdruck der Unschuld zu ihm hinauf, wie man ihn nur bei kleinen Mädchen und Puppen findet. Einige Minuten verstrichen. Irgendwo im Haus schlug eine Uhr. Ackerman bewegte sich ungeduldig auf seinem Sitz. Powell konnte sich nicht verleugnen lassen. Er mußte annehmen, daß seine Tochter ihm gesagt hatte, er sei zu Hause. Außerdem war er zweifellos begierig zu erfahren, weshalb das FBI gekommen war. Vermutlich überlegte er sich, wie er sich verhalten, was er sagen sollte. Das war nicht gut. Je mehr Zeit er zum Nachdenken hatte, um so geringer war die Wahrscheinlichkeit, daß er eine unüberlegte Bemerkung machen würde. Vielleicht rief er sogar seinen Anwalt an. Als die Zeit nutzlos verging, verlor Ackerman allmählich die Geduld. Er stand auf und blickte durch die Glastür auf die Terrasse. Dabei stieß er aus Versehen an die Puppe, und sie fiel 182
zu Boden. Der Aufprall setzte den Mechanismus in Gang, und Lindsay begann zu weinen. Er hob die Puppe rasch auf und setzte sie wieder auf die Bank. Das klägliche Wimmern war beunruhigend. Ackerman sah abermals auf die Uhr. Er überlegte, ob er zur Haustür gehen und nochmals klingeln solle, da hörte er hinter seinem Rücken ein Geräusch, und als er sich umdrehte, sah er Dana Powell im Türrahmen stehen. »Mein Vater kommt in ein paar Minuten herunter«, sagte sie. Das kleine Mädchen musterte ihn scharf, und Ackerman spürte, daß sich ihr Verhalten ihm gegenüber geändert hatte. Sie schien nicht mehr so zutraulich zu sein. Vielleicht spiegelt sich in ihr die Reaktion ihres Vaters auf meinen Besuch wider, sagte er sich. »Was macht der Ellbogen?« fragte er lächelnd. Dana stand regungslos da. Sie ignorierte seine Frage, und ihre dunklen Augen musterten ihn mißtrauisch. »Warum weint Lindsay?« fragte sie.
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25 Die Abenddämmerung senkte sich über die Mauer am Meadow Lane. Abgesehen von der Brise, die in den Wipfeln der Bäume rauschte, war es vollkommen still. Plötzlich durchschnitten zwei Lichtkegel die Dunkelheit und beleuchteten die bleichen Gesichter der ausgekragten Köpfe, die in der Mauer eingeschlossen waren. Sie starrten in vorwurfsvoller Erwartung auf die Straße hinaus, während das gleichmäßige Summen eines perfekt eingestellten Rolls-RoyceMotors lauter wurde. Kurz darauf kam das lange, glänzende Chassis in Sicht Im Inneren der Limousine nahm Tom Lucas seine Chauffeursmütze vom Beifahrersitz und setzte sie auf. Als er sich der Einfahrt näherte, bemerkte er den Wagen vor dem Pförtnerhaus. Er hielt an, um das Tor zu öffnen, doch da kam Brandon Sheehan hinter dem Haus hervor, ging langsam zum Tor und öffnete es. Tom sah, daß der Gärtner sich schwerfällig bewegte. Mit einem dankenden Kopfnicken fuhr er durch die Einfahrt und stellte den Wagen vor der Garage ab. Als er ausstieg, kam Brandon auf ihn zu. »Was ist los, Brandon? Sie sind ja ganz steif.« »Es ist mein Rücken. Mr. Powell hat mir gesagt, ich soll den alten Brunnen zuschütten.« »Den alten Brunnen? Warum will er ihn zugeschüttet haben?« »Ach, es ist so albern.« Brandon schüttelte den Kopf. »Anscheinend fürchtet er, daß ein Kind den Deckel wegziehn und reinfallen könnte. Es wird ewig dauern, bis ich dieses Loch gefüllt habe. Ich bin zu alt für solche Arbeit.« »Ruhn Sie sich aus, dann fühlen Sie sich morgen früh schon wieder besser.« »Gehn Sie jetzt zum Haus rauf?« fragte Brandon. »Ja, ich muß Mrs. Powell ein Paket abliefern.« 184
»Würden Sie bei der Gelegenheit diese Sachen oben abgeben?« Der Gärtner reichte Tom ein Notizbuch und eine kleine Taschenlampe. »Irgend jemand muß sie verloren haben. Ich hab sie drüben beim Brunnen gefunden.« »Natürlich.« Tom nahm die Gegenstände an sich. »Ich muß nur noch schnell rauf in meine Wohnung. Sagen Sie, wem gehört dieser Wagen?« Er deutete auf das Auto neben dem Pförtnerhaus. »Keine Ahnung. Ich bin eingeschlafen und hab niemanden kommen sehn.« »Gute Besserung für Ihren Rücken.« Während Brandon zum Pförtnerhaus zurück hinkte, ging Tom um die Garage herum und stieg die Treppe hinauf, die zu seiner Behausung führte. Oben angelangt, legte er das Paket, Notizbuch und Taschenlampe auf den Tisch und ging ins Badezimmer. Als er zurückkam, nahm er die Sachen auf, um sie ins Haus zu bringen. Dabei musterte er neugierig das Notizbuch und las die Adresse, die auf die Innenseite des Deckels gestempelt war: James J. Delaney und Partner 143 West/43. Straße New York, N. Y. Er überflog rasch die folgenden Seiten. Das Buch enthielt Aufzeichnungen in einer seltsamen Kombination von Druckbuchstaben und Kurzschrift. Ihre Lesbarkeit ließ erkennen, daß der Schreiber sich große Mühe mit seinen Aufzeichnungen gegeben hatte. Es gab zahlreiche Namen, Adressen, Telefonnummern und Daten mit Vermerken wie »persönlich« oder »technisch«, nebst den Namen von Geheimpolizisten mit ihren Bezirken und Telefonnummern. Gegen Ende des Büchleins sah Tom mehrmals die Namen »Powell« und »Hunter«. Die letzte Eintragung war eine 185
Beschreibung des Weges vom Vogelschutzgebiet zum alten Bauernhaus hier auf dem Gelände und trug den Vermerk: »Do. 15. 23 Uhr.« Als ihm die Bedeutung der Notizen zum Bewußtsein kam, zog Tom einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich. Er las noch einmal all die Seiten, auf denen die Namen Powell und Hunter auftauchten. »Verdammt!« murmelte er. Er nahm eine Packung Zigaretten aus seiner Brusttasche, klopfte mit der flachen Hand darauf und zog mit den Lippen eine Zigarette heraus. Nachdem er sie angezündet hatte, inhalierte er tief, dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und blies den Rauch zur Decke empor. Ein paar Minuten saß er nachdenklich da. Schließlich stand er auf, nahm Paket, Notizbuch und Taschenlampe an sich und ging hinaus. Als er die Treppe zum Hof hinunterstieg, sah er das Kätzchen auf dem Mülleimer – ein junges Tier, das Brandon sich als Ersatz für seine alte Katze zugelegt hatte, die vor kurzem verschwunden war. Es war beinahe dunkel, als er sich auf den Weg zum Haus machte. Er dachte immer noch über die Bedeutung des Notizbuchs nach. Es bestand kein Zweifel, daß irgend jemand eine Untersuchung anstellte. Die Frage war nur, ob der Betreffende für die Powells arbeitete oder ihnen nachspionierte. Und wie waren Notizbuch und Taschenlampe zum Brunnen gekommen? Tief in Gedanken versunken, fuhr er erschrocken zusammen, als eine Stimme aus dem Dunkel der Tannen neben der Auffahrt rief: »Sind Sie das, Tom?« Es war Sue Powell. »Oh, hallo, Mrs. Powell. Ich war gerade auf dem Weg zu Ihnen, um Ihr Paket abzuliefern.« Während Tom auf sie zuging, steckte er rasch Notizbuch und Taschenlampe in seine Jacke. Er wollte die Sachen über Nacht behalten. Vielleicht war es ganz nützlich, sie sich noch einmal genauer anzusehen. Er konnte sie am Morgen Mr. Powell 186
geben. »Ich nehme es mit, Tom«, sagte sie, als er zu ihr trat. »Das erspart Ihnen den Weg nach oben.« »Ja, vielen Dank, Mrs. Powell.« Tom reichte ihr das Paket. »Ein schöner Abend, nicht wahr?« Er wandte sich ab, um wieder die Auffahrt hinunterzugehen. »Haben Sie nicht noch etwas vergessen?« »Wie bitte, Madam?« »Ich habe übers Haustelefon mit Brandon gesprochen. Er sagte, Sie würden mir ein paar Dinge heraufbringen, die er gefunden hat. Ich glaube, er erwähnte ein Notizbuch.« Sie sprach gelassen, aber Tom hörte den entschlossenen Ton in ihrer Stimme. »Ach ja«, sagte er hastig und griff in seine Jackentasche. »Das hätte ich fast vergessen. Hier.« Es war peinlich. Sie wußte jetzt zweifellos, daß er nicht die Absicht gehabt hatte, ihr die Sachen zu übergeben. »Haben Sie eine Ahnung, was das ist?« Sie nahm die Gegenstände und musterte sie neugierig. »Brandon sagte, er habe sich nicht die Mühe gemacht, sie anzusehen. Steht in dem Büchlein ein Name?« »Ich weiß es wirklich nicht.« Tom spürte, daß sie ihm nicht glaubte. Es wäre besser gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen. »Vielen Dank, Tom. Hilda muß heute abend zu ihrer Schwester in die Stadt. Würden Sie sie bitte hinbringen? Sie wartet oben.« »Gewiß, Mrs. Powell.« »Ach, übrigens«, sagte sie zögernd, ehe sie sich zum Gehen wandte. »Brandon hat am Brunnen seine Pfeife liegenlassen. Vielleicht könnten Sie sie für ihn holen, nachdem Sie Hilda abgesetzt haben?«
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Ihre weißen Zahne blitzten kurz auf, als sie lächelnd in der Dunkelheit verschwand.
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26 »Ich weiß nicht, wie ich das verstehen soll«, wiederholte Dave. Ihm war warm, und er hätte gern seinen Kragen gelockert, aber er wollte den FBI-Kommissar nicht merken lassen, wie beunruhigt er war. »Ich sagte lediglich, daß Sie das Recht haben, zu schweigen oder einen Anwalt hinzu …« »Nein. Nein, ich habe gehört, was Sie gesagt haben. Aber was gibt es für einen Grund, mir das zu sagen? Es klingt beinahe, als ob …« »Verzeihen Sie, Mr. Powell. Ich will Sie nicht unterbrechen, aber Sie müssen das verstehen. Ich führe eine kriminalistische Untersuchung, und das Gesetz verlangt, daß ich diese Dinge sage. Ich erkläre Ihnen also, daß Sie das Recht haben, zu schweigen oder einen Anwalt hinzuzuziehen, und daß alles, was Sie sagen, später bei Gericht gegen Sie verwendet werden kann.« Horace Ackerman sprach jetzt sanfter als zuvor. »Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen über den Lake Placid-Fall stellen. Wir haben vor ein paar Wochen mit Ihrer Frau gesprochen. Hat sie das erwähnt?« »Ja.« »Nun, dann verstehen Sie sicherlich, weshalb ich hier bin. Wir haben eine Anzahl von Leuten in der Gegend von Lake Placid befragt und versucht, etwas über die Leiche zu erfahren, die aus dem See geborgen wurde. Wie ich schon sagte, Sie sind nicht verpflichtet, überhaupt mit mir zu reden, aber ich dachte mir, vielleicht könnten Sie uns helfen …« »Ich habe nichts dagegen, mit Ihnen zu reden. Tatsächlich würde es mich freuen, wenn ich Ihnen behilflich sein könnte. Es ist nur, daß ich nicht wußte, warum Sie sagten … Sie wissen schon, was Sie über …«
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»Nun, wenn Sie nichts einzuwenden haben, werde ich fortfahren«, sagte Ackerman, ohne auf Daves Bemerkung einzugehen. »Stört es Sie, wenn ich rauche?« »Keineswegs.« Dave sah zu, wie der Kommissar eine Packung Zigaretten aus der Tasche nahm. »Möchten Sie auch eine?« fragte Ackerman. »Nein, vielen Dank. Ich rauche nicht.« Ackerman zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich gemächlich in seinem Sessel zurück. Dave spürte etwas in seinem Verhalten, was nicht echt wirkte – eine aufgesetzte Nonchalance, als wolle der Agent den Eindruck von Gleichgültigkeit erwecken. Diese Beobachtung trug wenig zu Daves Beruhigung bei. Ehe er herunterkam, war er oben in seinem Zimmer auf und ab gegangen und hatte versucht, seine Gedanken zu sammeln. Er war zu dem Schluß gelangt, daß der Kommissar wahrscheinlich nur ein paar Fragen erörtern wollte, die bei seinem ersten Besuch nicht geklärt worden waren. So war er verhältnismäßig ruhig gewesen, als er in den Salon kam. Horace Ackermans ungezwungenes Lächeln und seine Freundlichkeit hatten ihm den letzten Rest von Angst genommen. Aber nachdem er ihn aufgefordert hatte, in die Bibliothek zu kommen, wo Ackerman ihn diskret über seine Rechte aufklärte, hatte sich seine Ansicht über den Besuch merklich geändert. Während er jetzt dasaß und über die offensichtlich vorgetäuschte Gleichgültigkeit des Kommissars nachdachte, wuchs sein Mißtrauen von Minute zu Minute. »Sie haben es sehr schön hier, Mr. Powell«, bemerkte Ackerman, während er sich im Zimmer umsah. »Zum Beispiel diese Figuren, die da ins Glas geschnitten sind.« Er deutete mit seiner Zigarette auf einige große, in Blei gefaßte Motive im Terrassenfenster. »Das ist eine Jagdszene, nicht wahr?« »Ja. ›Diana auf der Jagd‹.«
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»Diana auf der Jagd?« »Diana war die römische Göttin des Mondes und der Jagd.« »Ich dachte immer, sie hätte etwas mit Frauen zu tun.« »Ja, das auch.« Dave wünschte, der Mann würde endlich zur Sache kommen. »Sie war Schutzgöttin der Frauen.« »Das ist sehr interessant.« Ackerman stieß eine Rauchwolke aus, die vorübergehend sein Gesicht verhüllte. Dann öffnete er, als würde ihm plötzlich Davids Ungeduld bewußt, den Aktendeckel auf seinem Schoß. »Ich nehme an, Diana muß gerade auf der Jagd gewesen sein, als dieses Mädchen sie brauchte.« »Wie bitte?« »Das Mädchen, dessen Leiche aus dem Lake Placid geborgen wurde.« »Ach, ja.« »Eine tragische Geschichte, nicht wahr, Mr. Powell?« Der Kommissar sah Dave durch den Zigarettenrauch an. Auf seinen zerfurchten Zügen lag ein mitleidiger Ausdruck »Ein so junges Ding, dessen Leben kaum begonnen hatte, ehe es brutal ausgelöscht wurde.« »Ja, das ist wirklich tragisch.« Dave merkte, daß er mit dem Fuß nervös ans Sofa klopfte, und zwang sich zur Ruhe. Ackerman nahm noch einen Zug aus seiner Zigarette, dann neigte er sich vor und legte sie in den Aschenbecher neben seinem Sessel. »Unsere Untersuchung deutet darauf hin, daß die Leiche irgendwann im Frühling oder Sommer 1962 versenkt wurde.« Er holte ein Bündel Papiere aus dem Aktenordner. »Wir versuchen, Leute ausfindig zu machen, die zu dieser Zeit in der Gegend waren. Ihr Name wurde erwähnt.« Dave erschrak. Wieso war sein Name erwähnt worden? Steckte Emily Hunter dahinter? Und diese Papiere, die
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Ackerman in der Hand hielt. Es waren Fotografien darunter. Er war nicht sicher, aber er glaubte, auch einen Block gesehen zu haben. Liniert und gelb. Er fragte sich … »Haben Sie nicht im Sommer 1962 in Camp Louise gewohnt?« fuhr der Agent fort. »Lassen Sie mich überlegen«, murmelte Dave. »Es ist so lange her … Ich kann mich wirklich nicht erinnern, wo ich …« »Angeblich waren Sie zu dieser Zeit im Adirondack Club angestellt.« »Ja, ich glaube, Sie haben recht. Das muß ‘62 gewesen sein. Stimmt, ich habe in dem Club gearbeitet; aber nur für kurze Zeit.« »Wie lange etwa?« »Ein paar Wochen. Vielleicht drei oder vier.« »Drei Wochen? Warum nur drei oder vier Wochen? War es nicht ein Job für die ganze Sommersaison?« »Eigentlich ja. Ich weiß nicht mehr, weshalb ich weggegangen bin. Ich glaube, ich mußte aus irgendeinem Grund nach Hause zurück Es ist so lange her, daß …« »Ja, ich weiß, was Sie sagen wollen.« Ein verständnisvoller Ausdruck lag auf Ackermans Gesicht. »Ich könnte auch nicht sagen, wo ich vor zwanzig Jahren war. Ich bin so viel herumgereist. Nun gut, fahren wir fort. Was war mit Ihrer Freizeit? Ich meine, wenn Sie nicht gearbeitet haben? Sind Sie da oft mit Mädchen ausgegangen?« »Nein, sehr selten.« Dave fand die Frage sonderbar. Er ertappte sich dabei, daß er wieder mit dem Fuß gegen das Sofa klopfte. »Ich war damals ja schon im Begriff, mich zu verloben – mit meiner Frau.« »Oh! War sie auch in Camp Louise?« »Nein, sie war bei ihrer Familie. Sie haben den Sommer meistens in Newport verbracht. Sue kam zwar hin und wieder
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nach Camp Louise, aber nicht sehr oft.« »Sie haben zur Mannschaft der Lake Placid Majestics gehört, nicht wahr?« »Ja«, erwiderte Dave überrascht. »Sie scheinen eine ganze Menge über mich zu wissen.« Ackerman überhörte die Bemerkung. »Haben Sie nicht eine dieser Medaillen bekommen, die den Mannschaftskapitänen verliehen werden? Sie wissen schon, die mit dem Baseball und den Schlaghölzern drauf?« »Doch, ich glaube ja.« »Haben Sie das Ding nicht an einer Kette um den Hals getragen?« »Wie bitte?« »Ich fragte, ob Sie Ihre Medaille nicht an einer Kette um den Hals getragen haben.« »Doch, jetzt, wo Sie es erwähnen, erinnere ich mich daran.« »Entsinnen Sie sich, was aus ihr geworden ist?« »Keine Ahnung. Ich erinnere mich nicht, sie sehr lange gehabt zu haben. Vermutlich habe ich sie verloren oder irgendwo verlegt.« Ackerman sah ihn ein paar Sekunden lang schweigend an. Dave hatte den Eindruck, daß er ihm nicht glaubte. »Sie sagen, sie haben im Camp Louise gewohnt, während Sie im Club arbeiteten. Sind Sie jeden Tag hin- und hergefahren?« »Ja, fast immer.« »Der Blick auf den Whiteface ist großartig.« Ackerman machte eine Pause, um seine Zigarette aus dem Aschenbecher zu nehmen. Dave sah auf seine Armbanduhr; er wollte dem Kommissar zu verstehen geben, daß seine Zeit begrenzt sei. Ackerman nahm einen Zug von seiner Zigarette, dann drückte er sie hastig im Aschenbecher aus. 193
»Hm … haben Sie jemals Leute mit rausgenommen?« »Wie bitte?« »Nach Camp Louise. War mal jemand bei Ihnen? Haben Sie denn dort nie Besuch gehabt?« »Es fällt mir schwer, mich nach so langer Zeit noch daran zu erinnern.« »Wollen Sie damit sagen, daß Sie sich nicht erinnern können, ob Sie mal jemanden nach Camp Louise mitgenommen haben oder nicht, Mr. Powell?« Die Stimme des Kommissars klang ungläubig. »Mr. Ackerman, darf ich fragen, was das alles zu bedeuten hat? Ich verstehe nicht, inwiefern mein damaliges Privatleben Sie interessieren könnte, da Sie ja …« »Natürlich. Verzeihen Sie, Mr. Powell. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Wie ich bereits erwähnte, Sie brauchen überhaupt nicht mit mir zu sprechen, wenn Sie nicht wollen, aber wir sind bei unseren Ermittlungen auf Leute wie Sie angewiesen. Sie könnten uns vielleicht etwas sagen, was uns weiterhelfen würde – irgendwelche Einzelheiten, die zur Aufklärung beitragen.« »Ich will Ihnen gerne helfen, wenn ich kann«, sagte Dave. »Es ist nur, daß ich heute abend noch eine Verabredung habe.« »Ich bin sicher, daß wir die Sache schnell erledigen können«, erwiderte Ackerman. »Lassen Sie mich meine Frage wiederholen: Haben Sie jemals ein Mädchen mit nach Camp Louise genommen?« »Nicht daß ich wüßte.« »Das ist seltsam. Mir hat man gesagt, Sie hätten am Abend des 3. Juli 1962 ein junges Mädchen nach Camp Louise mitgebracht.« Die Erklärung traf Dave wie ein Schlag. Er saß wie gelähmt
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da und sah den Kommissar ein paar Sekunden lang schweigend an. Auf dem Gesicht des Mannes lag jetzt ein kalter, strenger Ausdruck. »Möglich.« Daves Stimme klang heiser, und er räusperte sich. »Ich kann mich wirklich nicht erinnern, wo ich am 3. Juli 1962 war.« »Aber Sie erinnern sich doch, daß Sie einmal abends ein Mädchen mitnahmen? Der Zeuge hat jedenfalls gesagt, Sie hätten es getan.« »Es ist durchaus – ja, ich nehme an, das stimmt.« »Der Zeuge sagte, Sie hätten das Mädchen mit dem großen Motorboot der Dickersons nach Camp Louise gebracht Das sei etwa um halb zehn gewesen.« Dave wollte etwas erwidern, brachte jedoch keinen Ton hervor. Er wurde von panischer Angst gepackt. Jemand hatte ihn gesehen. Das Mädchen, das Boot, das Datum, sogar die Zeit stimmte. »Würden Sie sich bitte das hier einmal genau ansehen?« Ackerman zog einige vergrößerte Fotografien aus dem Papierbündel auf seinem Schoß und reichte Dave eine davon. »Haben Sie dieses Ding schon mal gesehen?« Dave zögerte einen Augenblick, dann nahm er das Foto entgegen. Es zeigte ein Medaillon. »Haben Sie das Ding schon mal gesehen?« wiederholte Ackerman seine Frage. Dave nickte. »Es scheint eine von den Medaillen zu sein, von denen wir gesprochen haben.« »Um genau zu sein: Es ist Ihre! Und wissen Sie, wo wir sie gefunden haben? Dort!« Beim letzten Wort hielt Ackerman Dave abrupt ein zweites Foto unter die Nase. Dave nahm es und senkte den Blick auf Ann Conways Leichnam. Der Anblick war niederschmetternd. Er schloß die Augen, aber das entsetzliche Bild hatte sich ihm bereits tief in die Seele 195
gebrannt. Ohne Daves Reaktion zu beachten, drang Ackerman weiter auf ihn ein. »Das ist Ann Conway, Mr. Powell. Erinnern Sie sich? Sie haben mit ihr im Adirondack Club gearbeitet. Sie wurden beide am gleichen Tag entlassen, weil Sie gegen die Küchenregeln verstoßen hatten. Am Abend sind Sie mit ihr nach Camp Louise hinausgefahren und haben sie getötet. Sehen Sie selbst – das, was sich in ihre Handfläche eingegraben hat, ist Ihr Medaillon. Sie haben die Tote in dem leichten Fährboot festgebunden, sind zum Pulpit Rock gerudert und haben das Boot am tiefsten Punkt des Sees versenkt.« Dave saß regungslos mit geschlossenen Augen da. Der Zeuge, die Leiche, das Medaillon. Er wurde des Mordes angeklagt. Ein kalter Schauer überlief ihn. Er schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, um zu protestieren, aber er brachte kein Wort hervor. »Möchten Sie darüber sprechen, Mr. Powell?« Horace Ackermans Stimme klang jetzt weniger schroff. »Wie ist es geschehen?« Ja, wie ist es geschehen? fragte sich Dave. Es war damals ebenso unwirklich gewesen wie jetzt, wo er vor diesen grotesken Fotos saß und einem Fremden zuhörte, der in sanftem Ton über sein angebliches Verbrechen sprach. Der Kommissar würde ihm niemals glauben – jedenfalls nicht, wenn das, was er über die Medaille und anderes gesagt hatte, tatsächlich stimmte. Aber er mußte sich ihm anvertrauen. Zumindest würde die Qual, mit einem entsetzlichen Geheimnis leben zu müssen, ein Ende haben. »Ist alles in Ordnung, Mr. Powell? Möchten Sie sich aussprechen?« Dave öffnete die Augen und blickte in das finstere, fragende Gesicht. »Ja … ja, das will ich«, sagte er sehr leise. »Sie wissen nicht, wie oft ich mir in den letzten zwanzig Jahren
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gewünscht habe, mit jemandem sprechen zu können – wie oft ich daran gedacht habe, zur Polizei zu gehen und von jener Nacht zu erzählen.« Dave beugte sich vor und gab dem Kommissar die Fotografien zurück. »Hier, Mr. Ackerman. Sie brauchen diese Bilder nicht mehr. Ich werde Ihnen sagen, was geschehen ist. Aber wenn ich fertig bin, werden Sie es nicht glauben. Niemand wird glauben, was sich in jener Nacht am Lake Placid ereignet hat.« Während er sprach, bewegte sich etwas hinter der Tür. Es war Dana. Sie stand, Lindsay fest an ihre Brust gepreßt, am anderen Ende des Zimmers und sah ihren Vater mit großen, ängstlichen Augen an.
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27 »Captain!« Unterdrückte Erregung schwang in der heiseren Stimme mit, die von der Sohle des Brunnenschachts heraufdrang. »Ich glaube, wir haben etwas gefunden, Captain!« Jeb Olsen beobachtete mit zunehmender Besorgnis wie Jules Shaffer, Polizeihauptmann von Tarrytown, sich über den Brunnenrand beugte. Der Hauptmann blickte hinunter in den Schacht, wo zwei Männer damit beschäftigt waren, die schweren Steine und die Erde wegzuräumen. »Puh!« machte Shaffer angewidert. »Es riecht wahrhaftig, als ob ihr auf was gestoßen wärt. Was ist es denn?« »Wahrscheinlich nur ein Kadaver«, sagte Jeb. Seine Bemerkung war weniger dazu bestimmt, den Hauptmann zu beeindrucken, als vielmehr dazu, sich selbst Mut zu machen. Es war zwei Wochen her, daß Rechtsanwalt Jeb Olsen sich bereit erklärt hatte, David Powell zu verteidigen, nachdem Dave offiziell des Mordes an Ann Conway angeklagt worden war. Er hatte den Fall widerstrebend übernommen – und zwar nur, weil er und Dave demselben Tennisklub angehörten und freundschaftlich miteinander verkehrten. Die Anklage gegen Dave Powell war nur wenige Wochen nach Abschluß eines Falles erhoben worden, bei dem Jeb als Hauptverteidiger einer bekannten Rockgruppe aufgetreten war. Die Musiker wurden beschuldigt, einen Angehörigen ihres Quartetts bei einem Streit verstümmelt zu haben. Obwohl der Fall Jebs Ruf als einer der renommiertesten Strafverteidiger des Landes gefestigt hatte, war er für seine Nerven und vor allem für sein Ego alles andere als förderlich gewesen. Alle drei Angehörigen der Rockgruppe waren für schuldig erklärt und zur Höchststrafe verurteilt worden. Trotz der begeisterten Presseberichte über Jebs Gewandtheit und Rhetorik war dies der dritte Fall, den er
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innerhalb kurzer Zeit verloren hatte, und niemand wußte besser als er selbst, daß er einen Erfolg brauchte. »Ich glaube, wir haben einen Arm erwischt«, kam die Stimme aus dem Brunnen. »Hier unten liegt eine Leiche!« Jeb holte seine Zigaretten aus der Tasche. Ereignisse wie dieses waren schuld an den grauen Strähnen in seinem dichten blonden Haar. Er war ein gutaussehender Mann; in seinen klaren, blauen Augen und in der straffen, hellen Haut spiegelte sich seine nordische Abstammung. Er war fast einen Meter achtzig groß, erschien aber durch seine leicht gebückte Haltung kleiner. Seit achtundzwanzig Jahren übte er seinen Beruf aus, was seiner Erscheinung einen Ausdruck verliehen hatte, der zu fragen schien: »Großer Gott, was kann mir denn noch geschehen?« Nie war ihm dieser Ausdruck offenkundiger vom Gesicht abzulesen als jetzt. »Sagte er ›Leiche‹?« fragte Jeb, ohne eine Antwort zu erwarten. Seine Hände zitterten, als er die Zigarette anzündete. »Es ist wahrhaftig eine Leiche!« wiederholte die Stimme aus dem Schacht. »Ein Weißer. Sieht aus, als trüge er eine Uniform.« »Das muß Lucas sein«, sagte der Captain. »Wahrscheinlich trug er seine Chauffeursuniform, als es ihn erwischte.« Jeb blies den Rauch in die Luft und sah zu, wie der kalte Morgenwind ihn davontrug. Warum habe ich mich bloß auf diese Geschichte eingelassen? fragte er sich. Der Versuch, in den letzten zwei Wochen eine halbwegs annehmbare Verteidigung auszuarbeiten, war schon schwierig genug gewesen. Jebs Arbeit wurde vor allem durch die Erklärung erschwert, die sein Mandant nach der Unterredung in seinem Haus vor dem FBI und der Landespolizei abgegeben hatte. Gestern hatte seine ohnehin schwache Verteidigung noch einen Schlag erlitten. Horace Ackerman, der den Fall dem
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Bundesstaat zur strafrechtlichen Verfolgung übergeben hatte, war noch einmal persönlich hervorgetreten: Der Kommissar hatte der Polizei von Tarrytown, die nach dem vermißten Tom Lucas suchte, den Rat erteilt, den alten Brunnen auf dem Besitz der Powells zu untersuchen. Daraufhin war Jules Shaffer heute morgen, einen Haussuchungsbefehl in der Hand, mit zwei Lieutenants erschienen. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß der Brunnen zugeschüttet war, hatte man drei Arbeiter mit Hacken und Schaufeln kommen lassen. Jeb war gerade rechtzeitig eingetroffen, um Zeuge zu werden, wie sich die Verteidigung, die er so sorgfältig aufgebaut hatte, in nichts aufzulösen begann. »Solln wir ihn raufschicken, Captain?« rief die Stimme aus dem Schacht. »Er ist übel zugerichtet« »Ja«, erwiderte Shaffer. »Gehn Sie vorsichtig mit ihm um.« Jeb, der am Rand des Brunnens stand, schnitt eine Grimasse, als die Leiche in Sicht kam. An der Uniform war unschwer zu erkennen, daß es sich um Tom Lucas handelte. »Wolln Sie, daß wir weitergraben?« fragte die Stimme aus dem Schacht. »Ja, wenn Sie schon dort unten sind, gehn Sie noch ein Stückchen tiefer.« Shaffer zog ein Taschentuch heraus und wickelte es um seine Kinnpartie. Dann wandte er sich an Jeb, der sich ein wenig entfernt hatte, und fragte: »Was ist Ihre Meinung, Herr Rechtsanwalt? Er hat einen kleinen Abendspaziergang gemacht und ist reingefallen, stimmt’s?« Jeb antwortete nicht. Er sah auf seine Uhr und überlegte, wie lange er brauchen würde, um zum Gefängnis von Essex County in Elizabethtown zu gelangen, wo Dave Powell in Untersuchungshaft saß. Er mußte seinem Mandanten wichtige Fragen stellen. Er wollte gerade gehen, da hörte er wieder einen Ruf aus dem Schacht. Diesmal klang die Stimme sehr
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aufgeregt. »Captain Shaffer! Wir haben noch eine Leiche!« »Großer Gott!« rief Shaffer aus. »Tatsächlich?« »Ja! Wirklich! Sind Sie sicher, daß wir nicht auf dem Friedhof sind?« Jeb wurde sich plötzlich der Kälte des Septembermorgens bewußt. Fröstelnd schlug er den Kragen seines Trenchcoats hoch und steckte die Hände in die Taschen. Er warf einen Blick auf Jules Shaffer. Die Augen des Captains waren weit aufgerissen. Binnen weniger Minuten sah Jeb einen verwesten Leichnam aus dem Brunnen auftauchen. Es war ein grausiger Anblick Der Körper war so an das Fördergerät geschnallt, daß es aussah, als sitze oder hocke er darauf. Der herabhängende Schädel mit den grausigen Augenhöhlen und dem grotesken Totengrinsen wippte auf der Brust auf und nieder, als sei er lebendig und stimme nickend seiner Exhumierung zu. Jeb fühlte, wie sich sein Magen hob. Die Asche der Zigarette, die er zwischen den Lippen hielt, bröselte auf seinen Mantel herab. »Hastings, rufen Sie im Revier an«, sagte Shaffer zu einem seiner Männer. »Lassen Sie den Leichenbeschauer kommen. Und bestellen Sie die Ambulanz und Plastiksäcke aus dem Leichenschauhaus. Sagen Sie den Leuten, sie sollen auch Gasmasken mitbringen.« Jeb wandte sich ab, als die Männer die Überreste der zweiten Leiche vom Fördergerät nahmen. »Sieben Sie dort unten alles sorgfältig durch, und vergewissern Sie sich, daß nichts zurückbleibt«, rief Shaffer in den Schacht. »Wir sind so ziemlich auf dem Grund angelangt«, erwiderte die Stimme. »Wir haben – ja, wir sind auf Fels gestoßen. Wir können nicht viel weiter – was?« Die Stimme des Mannes brach ab, Gesprächsfetzen waren zu hören, und dann rief der Mann aus dem Schacht: »Captain! Wir haben hier noch was.
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Sieht aus wie eine Katze.« »Eine was?« »Eine Katze. Eine tote Katze!«
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Achter Teil ELIZABETHTOWN, NEW YORK OKTOBER 1982
28 »Aber sie sind ermordet worden! Lucas und Delaney sind erschossen worden – und zwar nach dem ballistischen Befund mit Ihrer Pistole!« Jeb Olsens Frustration stieg merklich während dieser Unterredung mit seinem Mandanten im Besucherzimmer des Gefängnisses von Essex County. Seine Stimme war zwar beherrscht, aber die Menge der Zigarettenstummel, die sich im Aschenbecher häuften, zeugte von seiner Nervosität. »Ich bin sicher, Ihnen ist klar, was das für uns bedeutet.« Er warf einen Blick auf den Polizisten in Zivil, der außer Hörweite in einer Ecke stand. »Niemand im Gerichtssaal wird Ihnen glauben, daß Sie nicht wissen, wie diese beiden Männer in Ihrem Brunnenschacht gelandet sind. Sie haben schließlich für Sie gearbeitet.« »Delaney nicht«, erwiderte Dave. »Sie haben ihm einen Auftrag erteilt. Sie haben ihn für seine Dienste bezahlt Und vergessen Sie nicht die Katze! Ich habe noch keine endgültige Bestätigung, aber alles deutet darauf hin, daß sie Ihrem Gärtner gehörte. Sie wurde vergiftet. Das Ganze ist sehr sonderbar. Und Ihre Version der Geschichte von Lake Placid – du lieber Himmel!« »Sie glauben mir kein Wort, nicht wahr?« »Was ich glaube, ist völlig unwichtig. Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, daß die Geschworenen Ihnen glauben. Und ich
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versuche Ihnen klarzumachen, daß unsere einzige Chance in diesem Stadium ein Schuldbekenntnis mit einem Plädoyer auf Unzurechnungsfähigkeit ist. Es ist immer noch Zeit, ‘nen Psychiater hinzuzuziehen. Ich habe mit dem Staatsanwalt gesprochen. Mit dem neuen Gesetz über die Berufung auf Unzurechnungsfähigkeit wird es nicht leicht sein, aber ich könnte möglicherweise doch erreichen, daß sie ein Abkommen in Erwägung ziehen …« Jeb brach ab, als Dave energisch den Kopf schüttelte. »Kommt nicht in Frage«, sagte Dave. »Ich werde mich nicht schuldig bekennen. Sie fordern mich auf, vor aller Welt zu erklären, daß ich drei Menschen getötet habe. Bedenken Sie, was das für Sue bedeuten würde. Und für Dana – ihr Vater ein Mörder!« »Dave«, Jeb senkte die Stimme und blickte wieder zu dem Polizisten hinüber, »wenn Sie in den Zeugenstand treten und die Erklärung wiederholen, die Sie vor dem Untersuchungsrichter abgegeben haben, dann werden wir es nicht schaffen. Jetzt, wo die Todesstrafe wiedereingeführt ist, kämpfen Sie nicht nur um Ihre Freiheit – Sie kämpfen um Ihr Leben. All die Publicity macht die Sache nur noch schlimmer. Sehen Sie sich an, wieviel Aufhebens die Medien von dem Fall machen, und dabei hat der Prozeß noch nicht einmal begonnen! Der Druck auf den Richter, den Bezirksstaatsanwalt – auf jeden, der mit dem Fall zu tun hat – wird ungeheuerlich sein. Die Anklagevertretung hat alle nötigen Vorkehrungen getroffen. Und vergessen Sie nicht, daß wir nicht in New York City sind. Hier herrschen andere Regeln! Sie wissen selbst, was bei der Vorverhandlung geschehen ist. Der Richter hat alles einfach von sich aus entschieden: Verweigerung der Kaution und sämtlicher Anträge. Den Prozeß hat er für die Sitzungsperiode im Herbst anberaumt. Er ist sehr streng, und es heißt, daß er in sechs Monaten in Pension gehen wird. Dies ist
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sein Schwanengesang. Es ist aussichtslos. Sie müssen auf mich hören, sonst können Sie tatsächlich in diesem Wartesaal zum Tod landen, von dem Sie immer reden.« »Ich werde nicht sagen, daß ich diese Menschen getötet habe.« Dave schwieg und sah dem Anwalt fest in die Augen. »Ich werde die Wahrheit sagen! Warum sollte ich meineidig werden …« »Ich verlange gewiß nicht von Ihnen, daß Sie einen Meineid leisten.« Jeb warf abermals einen Blick auf den Polizisten und rückte seinen Stuhl näher an den Tisch heran. »Ich erkläre Ihnen lediglich, daß Sie nicht verpflichtet sind, als Zeuge auszusagen. Sie standen unter Druck, als Sie Ihre Aussage vor dem FBI-Kommissar und der Landespolizei abgaben. Wir können krankhafte Störungen der Hirnfunktion geltend machen und…« Dave beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Jeb erkannte, daß er sich umsonst bemühte. Er lehnte sich seufzend in seinem Stuhl zurück. »Man wird Sie heute nachmittag wieder vernehmen. Was immer Sie tun, weichen Sie nicht von Ihrer früheren Aussage ab. Bleiben Sie bei der Behauptung, daß Sie nichts über die Leichen im Brunnenschacht wissen, und …« »Es gibt keine andere Aussage. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie diese Toten dahin gekommen sind. Ich weiß auch nicht, wie Ann Conway auf dem Grund des Sees gelandet ist. Ich habe fortwährend darüber nachgedacht, und ich bleibe immer wieder an Sam Wykoff hängen. Ich weiß, es ist unlogisch, und ich halte Sam auch nicht für einen potentiellen Mörder. Aber soviel ich weiß, war an jenem Abend außer ihm niemand auf der Insel. Er war im vergangenen Sommer mehrmals in Tarrytown. Und er wußte, daß ich einen Revolver in meiner Kommode hatte.«
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Jeb hörte nur mit halbem Ohr zu. Obgleich ihn die Inbrunst, mit der sein Mandant seine Unschuld beteuerte, beeindruckte, war er überzeugt, daß es für David Powell nur zwei Möglichkeiten gab. Man würde ihn entweder in eine Irrenanstalt sperren oder ihn zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilen. Jebs einzige Hoffnung war, letzteres zu verhindern. »Die Behörden haben Sam von jedem Verdacht gereinigt«, sagte Jeb, als Dave verstummte. »Sie haben ihn an den Lügendetektor angeschlossen und seine Aussage in allen Einzelheiten überprüft. Er war in Lake Placid, als Delaney und Lucas getötet wurden. Es ist sowieso undenkbar. Ein Mann seines Alters …« »Wie steht’s mit Emily Hunter?« fragte Dave dazwischen. »Sie hatte allen Grund, Delaney aus dem Weg zu räumen. Er hat Nachforschungen über die Hunter und ihre Freundin Raderman angestellt. Es wäre doch denkbar, daß sie jemanden beauftragt hat, ihn umzubringen und seine Leiche in meinen Brunnen zu werfen, um den Verdacht auf mich zu lenken.« »Nein, nein, Dave. Man hat alle überprüft. Die Hunter hat Delaney nicht einmal gekannt. Es fällt alles auf Sie zurück. Lucas, Delaney, Ann Conway … Sie sind der einzige, der eindeutig mit jedem der Opfer in Verbindung gestanden hat. Brandon Sheehan hat der Polizei erzählt, Sie hätten ihn beauftragt, den Brunnen zuzuschütten. Was sollte Sie veranlaßt haben, ihm diese Anweisung zu…« »Brandon hat Sue gesagt, jemand habe den Deckel vom Schacht entfernt. Ich machte mir Sorgen, daß spielende Kinder hineinfallen könnten. Kinder sind immer …« »Gut, ich verstehe. Lassen wir den Fall Tarrytown beiseite. Sie stehen ja vorläufig noch nicht wegen dieser Morde vor Gericht. Unser unmittelbares Problem heißt Lake Placid. Ich
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wünschte bei Gott, Sie hätten mich gerufen, ehe Sie mit Ackerman sprachen.« Dave zuckte die Achseln. »Ich habe ihm nur die Wahrheit gesagt.« »Nun … im Augenblick ist unsere heikelste Aufgabe, die Geschworenen auszuwählen. Ich fürchte, es wird uns kaum gelingen, zwölf Eskimos zu finden, die noch nichts von den beiden Leichen in Tarrytown gehört haben.« Jeb nahm seine Aktentasche und stand auf. »Haben Sie Dana heute gesehen?« fragte Dave. »Nur ein paar Minuten. Sues Mutter wird sie zu sich nehmen, sobald der Prozeß beginnt.« »Wie geht es Sue?« »Sie kommt morgen früh her. Wir haben in dem Hotel in Westport ein paar Zimmer gemietet, die wir als Hauptquartier benutzen wollen. Sie kann dort bei uns wohnen. Es ist nur zwölf Kilometer von hier entfernt.« »Wie nimmt sie’s auf?« »Erstaunlich. Was für eine Gemütsruhe! Sie ist felsenfest davon überzeugt, daß wir diese Katastrophe bewältigen werden.« Der Anwalt schüttelte den Kopf, als könne er sich den Optimismus der Frau nicht erklären. »Sie zweifelt keine Sekunde an Ihrer Unschuld. Eine bemerkenswerte Frau.« »Ich weiß«, sagte Dave, den Blick auf den Tisch gesenkt. »Ich weiß …«
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29 »Herr Richter, ich beantrage hiermit, das Verfahren gegen David Powell zu eröffnen.« Jeb Olsen saß am Tisch der Verteidigung und hörte zu, wie Karl Berkholtz, Sonderkläger von Essex County, förmlich die Eröffnung des Strafprozesses beantragte. Obwohl Jeb ihn erst vor ein paar Wochen während der Vorverhandlung kennengelernt harte, glaubte er, ihn gut zu kennen. Er hatte sich bei seiner Prozeßvorbereitung über Berkholtz’ Laufbahn informiert und festgestellt, daß er ein zäher und kompetenter Jurist war, berühmt für seinen Scharfsinn und sein taktisches Geschick. Berkholtz, ein ehemaliger Bezirksstaatsanwalt, war wegen des großen Aufsehens, das der Fall erregt hatte, zum Sonderkläger ernannt worden. Er war ein kahlköpfiger, untersetzter Mann mit groben Gesichtszügen und einer tiefen, gebieterischen Stimme, die in den alten Gerichtsgebäuden der ländlichen Gemeinden des Bundesstaates eindrucksvoll widerhallte. »Euer Ehren«, sagte Berkholtz, »ehe wir die Namen der Geschworenen aus der Trommel ziehen, gestatten Sie mir bitte eine einleitende Erklärung.« Jeb wandte seine Aufmerksamkeit der Stirnseite des Gerichtssaals zu, wo Clarence Overmeyer hinter dem Richtertisch thronte. Er war ein bebrillter, drahtiger Mann mit eingefallenen Wangen und schütterem grauern Haar. Seine schmächtige Gestalt steckte in der bauschigen schwarzen Robe, und der kleine Kopf über dem Gewand sah aus, als ob er nicht dazu gehörte. »Fangen Sie an, Mr. Berkholtz«, sagte der Richter. Der Staatsanwalt stellte sich vor die Reihen der in Aussicht genommenen Geschworenen, die sich an der Längsseite des Gerichtssaals versammelt hatten. Er wirkte selbstsicher und
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gelassen. Während Jeb ihn beobachtete, wünschte er, es gäbe eine Möglichkeit, den Prozeß zu umgehen. Er hatte bei der Staatsanwaltschaft auf den Busch geklopft, um zu ergründen, ob Berkholtz zu einem Art Tauschhandel bereit sei, aber sein Vorschlag hatte keinen Widerhall gefunden. »Meine Damen und Herren«, begann Berkholtz, »wir eröffnen die Herbst-Sitzungsperiode des Schwurgerichts von Essex County. Der Angeklagte wird beschuldigt, einen Mord verübt zu haben. Der Name des Opfers ist Ann Conway. Wenn Sie gefragt werden, ob Sie die Tote oder den Angeklagten oder einen Polizeibeamten persönlich gekannt haben beziehungsweise kennen, oder ob Sie bereits von diesem Fall gehört haben …« Leises Lachen erhob sich im Gerichtssaal, und Judge Overmeyer schlug mit seinem Hämmerchen auf den Tisch. Der Staatsanwalt fuhr fort, ohne die Störung zu beachten: »Wenn eine dieser Tatsachen auf Sie zutrifft, so teilen Sie das bitte sowohl dem Herrn Verteidiger als auch mir mit, damit wir Sie befragen können. Ich danken Ihnen.« »Die Hälfte dieser Leute sind wahrscheinlich mit dem Captain von der hiesigen Polizei verwandt«, bemerkte George Cousins, einer der beiden Partner von Jeb. »Wir brauchen einen anderen Gerichtsstand.« »Das werden wir nie erreichen«, sagte Jeb. »Und außerdem, wo wollen Sie den Prozeß abhalten? In Tarrytown? Dort warten noch zwei Leichen und zwei Anklagen auf uns. Bei der Presse, die wir gehabt haben, spielt es keine Rolle, wo der Prozeß abgehalten wird.« Es folgte eine langwierige Prüfung der potentiellen Geschworenen. Bis zum Spätnachmittag hatte Jeb Olsen mehrmals von seinem Einspruchsrecht Gebrauch gemacht, und es waren erst drei Geschworene bestimmt worden. Um fünf Uhr blinzelte Judge Overmeyer über den Rand seiner Brille, erklärte die Sitzung für geschlossen und ermahnte die in Aussicht genommenen Geschworenen, nicht 209
über den Fall zu sprechen. Ungeachtet der Ermahnung des Richters gab es während der folgenden Wochen kaum ein anderes Gesprächsthema in der Gemeinde. Für Elizabethtown war es ein sensationelles Ereignis – fast mehr, als die kleine Ortschaft bewältigen konnte. Hilfspolizisten mußten eingeschworen werden, um die Menschenmenge in Schach zu halten, die sich täglich vor dem Gerichtsgebäude versammelte. Es herrschte eine nahezu festliche Stimmung. Verkäufer schlängelten sich durch die Menge und boten Erfrischungen an, während Fernsehteams eifrig damit beschäftigt waren, die Vorgänge für die Abendschau festzuhalten. Liebling der Menge und der Medien war Sue Powell, die jeden Morgen von Westport nach Elizabethtown kam. Tiefe Stille legte sich über den Platz, sobald sie erschien, und alle Blicke wandten sich ihr zu. Verhältnismäßig wenige Zuschauer wurden zu dem Prozeß zugelassen. Das Gerichtsgebäude von Essex County war zu klein für einen so aufsehenerregenden Fall. Es war ein malerisches rotes Backsteingebäude mit einer großen weißen Bogentür und hohen, schmalen Fenstern. Ein Vorbau mit vier weißen Säulen schmückte den Eingang. Das Innere des Gebäudes unterschied sich in seiner traditionellen Ausstattung kaum von anderen Bezirksgerichten. An den Wänden hingen bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichende Porträts ehemaliger Landrichter – streng dreinblickende Männer mit hohem, steifem Kragen. Es war ein altmodisches, tadellos gepflegtes Haus – ein passendes Gerichtsgebäude für eine wohlgeordnete ländliche Gemeinde. Während des Prozesses wurden sämtliche Anträge der Verteidigung auf Abweisung, Aufschub und Änderung des Gerichtsstandes von Clarence Overmeyer abgelehnt, der offensichtlich entschlossen war, den Fall so schnell wie möglich zum Abschluß zu bringen. Nachdem Jeb die ihm vom 210
Gesetz zugebilligte Ablehnung von Geschworenen zahlenmäßig erschöpft hatte, sah er sich schließlich einem Geschworenengericht von acht Frauen und vier Männern gegenüber, die alle durch die Medien genau über die Einzelheiten des Falles unterrichtet waren. Sie alle wußten auch von den beiden schwebenden Verfahren in West-ehester County. Nachdem am Montag der darauffolgenden Woche die Geschworenen vereidigt worden waren, wandte sich Richter Overmeyer an den Staatsanwalt: »Gut, Karl … Mr. Berkholtz, darf ich um Ihre Eröffnungsrede bitten.« Als Berkholtz vor die Geschworenen trat und in seiner leutseligen Art den Fall aus der Sicht der Staatanwaltschaft darlegte, fühlte Jeb, wie sich die Kluft zwischen Gericht und Verteidigung vertiefte. Es war ein gewandter Vortrag, genauso, wie er befürchtet hatte, energisch präsentiert und gut durchdacht. Berkholtz begann die Zeugenvernahme mit den ärztlichen Gutachtern. Die Gerichtsmediziner, einschließlich zweier Vertreter des Kriminallabors vom FBI, erklärten, daß das Opfer durch eine Kopfverletzung getötet worden sei und die Leiche zwanzig Jahre im See gelegen habe. Aus den Personallisten des Adirondack Clubs ging hervor, daß der Angeklagte und Ann Conway dort angestellt gewesen und gleichzeitig entlassen worden waren. Sam Wykoff bezeugte seine Beobachtungen. Trotz des Einspruchs der Verteidigung waren Fotografien von Ann Conway in das Beweismaterial aufgenommen und den Geschworenen gezeigt worden. Nachdem sie die Bilder betrachtet hatten, sahen einige von ihnen Dave mit kaltem Blick an. Der ehemalige Manager der Lake Placid Majestics bezeugte, daß die Medaille, die man in der Hand des Opfers gefunden hatte, derjenigen glich, die Dave als Mannschaftskapitän verliehen worden war. Das belastendste von allem aber war die schriftliche Erklärung, die Dave nach
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seiner Unterredung mit Ackerman auf der Polizeiwache unterzeichnet hatte. Trotz all seiner juristischen Spitzfindigkeit und seines selbstsicheren Auftretens konnte Jeb wenig tun, um die Beweisführung der Staatsanwaltschaft zu erschüttern. Seinen Partnern erging es mit den Gerichtsmedizinern nicht viel besser. Gegen Ende der zweiten Prozeßwoche erklärte Karl Berkholtz dem Gericht: »Die Staatsanwaltschaft hat ihre Beweisaufnahme geschlossen.« Der Richter, der den nächsten Schritt der Verteidigung voraussah, wandte sich den Rechtsanwälten zu. »Mr. Olsen?« »Ja, Herr Richter«, sagte Jeb und stand auf. »Mit Erlaubnis des Gerichts, mein Mandant beantragt Abweisung der Anklage mit der Begründung, daß es der Staatsanwaltschaft nicht gelungen ist, einen glaubhaften Beweis für den Tatbestand des Mordes zu erbringen.« »Antrag abgelehnt!« sagte der Richter. »Wenn Sie gestatten, erhebe ich Einspruch gegen diese Entscheidung.« »Einspruch gegen den Gerichtsentscheid«, wiederholte der Richter. »Nun, ich meine, das genügt für heute. Wir kommen morgen früh um zehn Uhr wieder zusammen.« »Zehn Uhr, meine Damen und Herren«, schnarrte der Gerichtsdiener, während sich die Besucher zum Ausgang drängten. Als Jeb seine Papiere einsammelte, sah er Sue Powell, die hinter dem Gatter stand, das den Zuschauerraum vom Gerichtssaal trennte, und mit einer Journalistin sprach. Sie lächelte. Ihre Unbekümmertheit stand in krassem Widerspruch zur Entwicklung im Mordprozeß ihres Mannes. Plötzlich drehte sie sich um, fing Jebs Blick auf, verabschiedete sich rasch von der Reporterin und kam auf ihn zu. 212
»Was glauben Sie, Jeb?« fragte sie. Er zuckte die Achseln. »Die Anklage hat ihre Trümpfe ausgespielt«, sagte er ruhig. »Sehr gut sogar. Die Aussage von Dave ist unser Verhängnis. Aber im Staat New York kann man einen Angeklagten nicht allein auf seine Aussage hin verurteilen. Sie muß vielmehr durch eine unabhängige Untersuchung erhärtet werden. Und die Indizien sind samt und sonders zwanzig Jahre alt.« Er machte eine Pause und schüttelte den Kopf. »Trotzdem wünschte ich, daß wir ihn überreden könnten, seine Aussage zu ändern.« »Sich schuldig zu bekennen?« fragte Sue. »Oh, das wird er niemals tun, Jeb. Er würde eher sterben. Sie glauben wie alle anderen, daß er schuldig ist. Aber er ist unschuldig!« »Ich weiß«, sagte der Anwalt und nickte. Er machte sich an seiner Aktentasche zu schaffen, um ihrem Blick auszuweichen. »Oh, ich vergaß Ihnen zu sagen, daß Mrs. Hunter wieder angerufen hat. Sie ist sehr beunruhigt, weil Sie noch nicht zurückgerufen haben.« »Ach was …« Sue warf den Kopf zurück, und ihre dunklen Augen wurden kühl. »Für Emily wird später noch viel Zeit sein.«
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30 POWELL HEUTE IM ZEUGENSTAND Dave, der während einer Verhandlungspause im Beratungszimmer saß, starrte geistesabwesend auf die Schlagzeile der Morgenzeitung. Den Rest der Titelseite nahm ein Foto von Dave, Jeb Olsen und Sue Powell ein, die auf den Korridor des Gerichtsgebäudes traten. Dave neigte auf dem Foto den Kopf nach hinten und sah aus, als ob er lachte. Sue hing an seinem Arm und lächelte zu ihm auf. Ein seltsam freudiger Ausdruck erhellte ihr Gesicht, den Dave unter den gegebenen Umständen völlig unbegreiflich fand. Er konnte sich an keine Gelegenheit während der letzten zwei Monate erinnern, die solche Heiterkeit ausgelöst hatte. Aber die Kamera hatte offensichtlich einen Augenblick ungebrochener Fröhlichkeit festgehalten. Dave überflog den Artikel, der den Prozeß kurz zusammenfaßte und die Frage aufwarf, ob der Angeklagte aussagen werde oder nicht. Er legte die Zeitung beiseite, als Jeb Olsen den Raum betrat. »Es geht in wenigen Minuten weiter«, sagte Jeb. »Wir werden Sie in den Zeugenstand rufen, sobald wir hineingehen. Und ich bitte Sie in Ihrem eigenen Interesse, machen Sie keine voreiligen Aussagen. Lassen Sie sich von mir durch das Verhör führen. Einverstanden?« Trotz seiner äußerlichen Ruhe war seine Besorgnis unverkennbar. » Einverstanden.« »Gut. Und jetzt, Dave, sage ich Ihnen noch ein letztes Mal …« »Ich weiß, ich weiß. Sowohl Sie als auch Overmeyer haben es mir deutlich zu verstehen gegeben. Ich brauche nicht auszusagen, und ich bin mir über die Konsequenzen im klaren. Es stand alles in der Erklärung, die der Richter mich in seinem Büro hat unterschreiben lassen.« Jeb sah Dave einen 214
Augenblick lang schweigend an, dann nickte er. »Okay. Wir haben das alles bereits besprochen.« Er klopfte ihm leicht auf die Schulter. »Seien Sie nicht überängstlich. Denken Sie daran, daß ich bestimmte Dinge fürs Protokoll brauche.« Als sie das Zimmer verließen und auf den Korridor traten, der zum Gerichtssaal führte, sah Dave Horace Ackerman im dunklen Anzug vor dem Büro des Staatsanwalts. Er unterhielt sich mit jemandem. Als Dave näher kam, wandte der Kommissar sich ab, aber Dave hatte gerade noch Zeit, die Unsicherheit in seinen Augen zu bemerken. Ein erwartungsvolles Gemurmel erhob sich im Gerichtssaal, als sie zum Tisch der Verteidigung zurückkehrten. Richter Overmeyer schlug mit seinem Hammer auf den Tisch, um Ruhe zu gebieten. »Ist die Verteidigung bereit?« »Jawohl, Herr Richter«, erwiderte Jeb. »Die Verteidigung ruft als ihren nächsten Zeugen den Angeklagten David Powell.« Dave fühlte sein Herz klopfen, als er sich von seinem Stuhl erhob. Einen Augenblick lang geriet seine Entschlossenheit ins Schwanken. Er sah den Tod auf dem elektrischen Stuhl vor sich. Oder war es besser, auf Jeb zu hören und den Rest seines Lebens in einer Nervenheilanstalt zu verbringen? Was sollte aus Dana werden? Als Toter konnte er ihr nichts mehr nützen. Die Qual der Entscheidung lastete schwer auf ihm. Das Getuschel auf den Zuschauerbänken erstarb. Daves Schritte auf dem Holzfußboden und das Stimmengewirr der Menge draußen auf dem Platz waren bald die einzigen Geräusche im Raum. Nachdem man ihn vereidigt hatte, nahm Dave seinen Platz im Zeugenstand ein und ließ die Augen durch den überfüllten Gerichtssaal schweifen. Es war ein bedrückender Anblick: endlose Reihen düsterer Gesichter. Er wußte, daß es wenige
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gab, die nicht von seiner Schuld überzeugt waren. Ein Blick zur Geschworenenbank trug wenig dazu bei, ihn zu beruhigen. Zu seiner Linken saßen die Vertreter der Anklage, die alles scharf beobachteten und auf ihren Auftritt warteten. Dave sah Sue an, die wie immer seit Beginn des Prozesses in der ersten Reihe hinter dem Tisch der Verteidigung saß. Ihr Anblick in diesem großen Gerichtssaal erfüllte ihn mit einem Gefühl der Fremdheit. Er war getrennt von ihr. Vielleicht für immer. Aber ihre dunklen Augen ließen keine Gemütsbewegung erkennen. Es war, als verfolge Sue Powell das Leben nur aus der Distanz, ohne daran teilzunehmen. Daves Gefühl der Einsamkeit verstärkte sich, als sich Jeb Olsen dem Zeugenstand näherte. »Bitte nennen Sie dem Gericht Ihren vollen Namen«, begann Jeb. Der Anwalt erledigte rasch die vorbereitenden Aspekte der Vernehmung, rückte geschickt Ereignisse aus der Vergangenheit ins Licht, die seinen Mandanten positiv darstellten, und versuchte so, die Glaubwürdigkeit für die bevorstehende Zeugenaussage zu etablieren. »Nun, Sie haben erklärt, daß sie ab 10. Juni 1962 im Adirondack Club arbeiteten«, fuhr Jeb mit seiner Befragung fort. »Wann haben Sie Ann Conway zum erstenmal gesehen?« »Es war in der Küche«, erwiderte Dave. »Sie kam durch die Schwingtür, die den Speisesaal von der Küche trennte …« Obwohl zwanzig Jahre vergangen waren, erinnerte Dave sich genau an seine erste Begegnung mit Ann Conway. Das hübsche Gesicht. Die braunen Augen, in denen ein Anflug von Traurigkeit, vielleicht Angst, gelegen hatte, so als hätten sie in der Vergangenheit Leid gesehen und erwarteten neuerliches in der Zukunft. Als sie später am Abend allein am See saßen, hatte er sie darauf angesprochen. Sie waren geschwommen, um sich zu erfrischen. Der See war an diesem Abend dunkel gewesen, beinahe schwarz; so dunkel wie nur ein unergründliches, ja grundloses Gewässer sein kann … 216
»Traurig? Aber nein!« Ann Conway rieb sich mit einem weißen Frotteehandtuch das dunkle Haar trocken, und ihre feuchten Locken glänzten im schwachen Licht der Laternen auf dem Steg. »Ich meine deine Augen«, sagte Dave. »Sie haben so einen furchtsamen Ausdruck Du hast doch keine Angst, oder?« »Nein, warum sollte ich?« Sie saß, nur mit BH und Schlüpfer bekleidet, mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bootssteg. »Um ehrlich zu sein, hatte ich zuerst tatsächlich ein bißchen Angst. Nun, vielleicht keine richtige Angst, aber ich kannte dich ja noch nicht sehr gut und wußte nicht, wo wir hinfuhren. Und dann das unheimliche Lachen dieses Vogels …« Sie brach ab und fuhr wieder mit dem Handtuch über ihre Locken. Dave lag, das Kinn in die Hand gestützt, in seiner nassen Unterhose neben ihr. Das Gesicht des Mädchens war vom Handtuch verdeckt, und er benutzte die Gelegenheit, ihren Körper zu betrachten. Sie hatte eine geschmeidige, sportliche Figur mit vollen, straffen Brüsten, einer schmalen Taille und langen, schlanken Beinen. Die nasse Wäsche klebte an ihrem Körper, und trotz des trüben Lichts konnte er ihre knospenden Brustwarzen und das dunkle Schamhaar unter ihrem knappen Nylonhöschen erkennen. Als sie vor einer halben Stunde am Bootssteg gelandet waren, hatte er nicht geahnt, daß der Abend sich so entwickeln würde. Während der Fahrt hatten sie im Heck des Motorboots gesessen, Gin Tonic getrunken und über die Hitze gesprochen. Als er sie gefragt hatte, ob sie gern schwimmen würde, um sich abzukühlen, da hatte sie erwidert, sie habe keinen Badeanzug. Halb im Scherz hatte er erklärt, ihre Unterwäsche würde in der Dunkelheit vollkommen genügen. Zuerst noch unschlüssig, zog sie sich nach einem weiteren Drink aus und folgte ihm ins Wasser. Als sie jetzt auf dem Steg saß und ihre Haare trockenrieb, wirkte sie entspannt und war offenbar wegen ihrer spärlichen Bekleidung nicht in
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Verlegenheit. Sie weiß wahrscheinlich nicht, wie durchsichtig das dünne Zeug ist, dachte er. Vielleicht tat auch nur der Alkohol seine Wirkung, obwohl sie nicht beschwipst zu sein schien. Während er dalag und sie ansah, erwog er, näher an sie heranzurücken. Aber er mußte vorsichtig sein. Er wollte sie nicht erschrecken. Er bemerkte eine kleine Narbe an ihrem Oberschenkel und wollte sie gerade antippen und fragen, woher sie stamme, da ertönte die Stimme des Mädchens unter dem Handtuch. »Bist du sicher, daß niemand hier ist, Dave?« »Ganz sicher. Die Leute, denen das Haus gehört, sind in Newport. Und der Hausmeister geht um fünf Uhr.« »Wer hätte vor ein paar Stunden gedacht, daß wir hier zusammen sitzen würden?« Ann zog mit einem Ruck das Handtuch vom Kopf und sah, daß Dave sie anstarrte. Rasch ließ sie das Handtuch in ihren Schoß fallen. »Es ist schrecklich dunkel dort draußen, nicht wahr?« fragte sie und versuchte, seine Aufmerksamkeit auf den See zu lenken. »Ich möchte wissen, wie tiefer ist.« »Der See?« Dave folgte ihrem Blick »Sehr tief. Angeblich über hundert Meter drüben am Pulpit Rock.« Er deutete mit dem Kopf auf die schwarze Felsenmasse, die am jenseitigen Ufer aus dem Wasser ragte. »Obwohl niemand es mit Sicherheit sagen kann. Anscheinend ist es nie gelungen, dort auf Grund zu stoßen.« »Das kann doch nicht dein Ernst sein! Ein See ohne Grund?« »Ja, es hängt alles mit dieser Geschichte von Sally Wood zusammen.« »Du hast das vorhin schon einmal erwähnt. Wer ist Sally Wood?« »Ach, gar nichts. Nur so eine regionale Sage.« »Nein, erzähl es mir«, beharrte Ann mit kindlicher Neugier. »Nun …« Dave zögerte. »Ich will dir keine Angst einjagen. 218
Du scheinst eine ziemlich lebhafte Phantasie zu haben.« »Red keinen Unsinn. Du behandelst mich wie ein kleines Kind. Bitte sag es mir.« »Es ist einfach eine von den Geschichten, die man sich hier erzählt«, begann Dave. »Man nennt sie ›Das Geheimnis von Pulpit Rock‹. Angeblich hat ein kleines Mädchen vor einigen Jahren dort draußen auf den Felsen gespielt und ist verschwunden. Man nahm an, sie sei in den See gefallen. Ihre Leiche wurde nie gefunden. Aber nicht nur das, man konnte am Pulpit Rock einfach nicht auf Grund stoßen. Wie dem auch sei, der Name des Mädchens war Sally Wood. Und wann immer jemand hier in der Gegend einen Seetaucher schreien hört, sagt er, es sei das Lachen von Sally Wood. Es ist sicher nur ein Ammenmärchen. Ich hätte es dir nicht erzählen sollen. Jetzt wirst du wahrscheinlich die ganze Nacht Angst haben, wenn du einen Seetaucher hörst« »Ach, sei nicht albern. Ich glaube nicht an solche Dinge. Aber es klang wirklich wie das Lachen eines Mädchens, nicht wahr? Ich will sagen, es war so … so komisch. So seltsam …« Sie saß mit dem Rücken zu den Laternen auf dem Steg, und Dave konnte ihre Augen nicht sehen, aber er nahm an, daß wieder ein ängstlicher Ausdruck in ihnen lag. »Es ist einfach eine von diesen Geschichten, die man an ‘nem See zu hören bekommt«, wiederholte er. »Du weißt, wie die Leute übertreiben.« »Ja, ich weiß«, sagte Ann achselzuckend. Sie musterte den langen Steg und die überdachten Liegeplätze, die sich nach beiden Seiten in die Dunkelheit erstreckten. Dann drehte sie sich um und deutete auf das Obergeschoß des Bootshauses. »Ist das dort oben mein Nachtquartier?« »Ja. Ich schlafe im Haupthaus. Ich dachte mir, du wirst dich hier wohler fühlen.«
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»Nun … ich glaube, ich sollte lieber etwas Trocknes anziehen.« Sie stand auf und schlang das Handtuch wie einen Sarong um ihre Hüften. »Könnte ich jetzt raufgehen?« Sie bückte sich, um ihre Kleider aufzuheben. »Natürlich, wann immer du willst.« Dave versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Ich zeige dir den Weg. Soll ich dir noch einen Schluck einschenken?« »Nein. Nein, vielen Dank« Sie griff nach ihrem Glas, das auf dem Bootssteg stand. »Ich habe noch etwas. Ich bin keine große Trinkerin. Obwohl es dir vermutlich schwerfallen wird, das zu glauben«, setzte sie hinzu. »Ich will sagen, nach der Geschwindigkeit zu schließen, mit der ich heute abend dieses Zeug getrunken habe.« Sie lächelte, rollte die Augen und hob das Glas mit einer spielerischen Geste an die Lippen. Dabei schwankte sie leicht. Dave war nicht sicher, ob sie es mit Absicht tat. »Ich glaube, ich brauche meinen Koffer«, sagte sie. »Warte, ich bring ihn dir. Ich muß sowieso die Taschenlampe holen.« Er lief zum Boot und schwang sich über die Reling. Im gleichen Augenblick hörte er irgendwo in der Dunkelheit das zitternde Lachen eines Seetauchers. Es wird Ann einen Schrecken einjagen, dachte er. Er hätte ihr die Geschichte vom Pulpit Rock nicht erzählen sollen. Er nahm ihren Koffer und stellte ihn auf den Steg. Dann kehrte er in die Kajüte zurück, um die angebrochene Ginflasche zu holen. Er tastete im Dunkeln umher und versuchte, sich zu erinnern, wo er die Taschenlampe hingelegt hatte. Es war warm in der Kajüte. Oben im Apartment ist es sicher noch schwüler, dachte er. Das ist eine gute Ausrede, um Ann noch eine Weile aufzuhalten. Er würde die Fenster öffnen und vorschlagen, einen Drink auf dem Balkon zu nehmen, bis es im Zimmer ein wenig kühler geworden war. Sie konnten sich auf die Liegestühle legen, wie er es manchmal mit Sue tat. Bei dem Gedanken an Sue kamen ihm Gewissensbisse. Er war praktisch
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verlobt, und doch gab er sich hier mit einem Mädchen ab, das er erst seit ein paar Stunden kannte. Als er die Taschenlampe nicht finden konnte, durchstöberte er im Dunkeln die Bar und holte den Gin heraus. Die Flasche glitt ihm aus der Hand, fiel zu Boden und zerbrach. »Verdammt!« murmelte er. Als er sich umwandte, fühlte er plötzlich einen stechenden Schmerz in der Ferse und merkte, daß er sich geschnitten hatte. Er trat aus der Kajüte und sah Ann mit besorgter Miene den Steg entlangkommen. »Was ist da zerbrochen?« »Wir haben keinen Gin mehr«, erwiderte Dave, während er aus dem Boot kletterte und auf sie zuhinkte. »Was ist geschehen? Du blutest ja.« »Ich habe mir den Fuß an einer Glasscherbe geschnitten.« Er blieb neben einer Laterne stehen, um die Verletzung zu untersuchen. Auf einem Bein balancierend, hob er den Fuß und sah die Scherbe in seiner Ferse stecken. »Es sieht schlimmer aus, als es ist. Kann ich das Handtuch haben?« »Natürlich.« Ann legte ihre Kleider auf den Steg und nahm das Handtuch ab. »Komm, laß mich das machen.« Sie beugte sich vor und entfernte vorsichtig den Glassplitter. »Es blutet immer noch ziemlich stark Kannst du dich ein wenig mehr zum Licht drehen?« Dave hopste auf einem Bein um seine eigene Achse, und Ann kniete sich neben ihn, um die Wunde zu säubern. Von hinten sah er direkt auf den Spalt zwischen ihren Brüsten, die sich deutlich unter ihrem BH abzeichneten. Der Anblick ließ ihn seine Verletzung für den Augenblick vergessen. »Ich will dich nicht erschrecken«, sagte sie, »aber die Wunde scheint ziemlich tief zu sein.« »Vielleicht gibt es oben im Apartment einen Verbandkasten. Wenn du mir ein wenig helfen könntest …« Ann reichte ihm
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das Handtuch. »Laß mich nur schnell meine Sachen einsammeln.« Sie hob ihre Kleider vom Steg auf und schob sie ihm unter den Arm. »So, halt das gut fest, und leg den anderen Arm um meine Schulter.« Sie faßte ihn um die Taille und stützte ihn. »Wir können meinen Koffer später holen.« »Die Treppe ist auf der anderen Seite«, sagte Dave. »Wir müssen ums Bootshaus rumgehen.« Er war erstaunt über ihre Kraft. Die Berührung ihres warmen Körpers steigerte seine Erregung. »Wie dunkel es hier hinten ist«, sagte Ann, als sie um die Ecke des Bootshauses bogen. »Ich kann überhaupt nichts sehen.« »Die Treppe ist direkt vor uns.« Sie blieben an der untersten Stufe stehen. »Ich glaube, du wirst jetzt allein zurechtkommen müssen.« Ann nahm den Arm von seiner Taille. »Diese Treppe ist zu schmal für uns beide.« Dave, der erkannte, daß sich ihm wahrscheinlich keine günstigere Gelegenheit mehr bieten würde, drehte sich zu ihr um und zog sie an sich. »Oh«, murmelte Ann. Es war offenbar eine unwillkürliche Reaktion, denn sie legte rasch einen Finger an die Lippen. Sie versuchte aber nicht, sich aus seiner Umarmung zu befreien. »Was ist?« fragte Dave. »Nichts … Nur … ich hatte das wohl nicht erwartet.« Sie sah ihm in die Augen. »Zumindest nicht jetzt.« »Du hast doch nichts dagegen, oder?« Dave lockerte seine Umarmung, so daß sie sich leicht von ihm hätte lösen können. Als sie sich nicht rührte, senkte er langsam den Kopf und küßte sie. Ihre Lippen öffneten sich, und er spürte, wie sich ihr Körper an den seinen schmiegte. Ihr sanfter Kuß verwandelte sich in ein leidenschaftliches Zungenspiel.
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In diesem Augenblick drang aus dem Wald das unheimliche Lachen eines Seetauchers herüber. Ann fuhr zurück. »Mein Gott, da ist es wieder. Ich hoffe, dieser Vogel bleibt nicht die ganze Nacht wach.« Sie griff nach Daves Hand, drückte sie leicht und ging die Treppe hinauf. Als sie auf halber Höhe angelangt waren, hörte sie ein Geräusch, ein leises Kratzen. »Was war das?« Ann blieb erschrocken stehen. »Was denn?« »Dieses Geräusch. Hast du es nicht gehört? Es war doch ganz deutlich.« »Ich habe nichts gehört«, sagte Dave unbekümmert, »Bist du sicher, daß niemand hier oben ist?« »Ganz sicher«, erwiderte er beruhigend. »Gehn wir.« Sie stiegen zum Balkon hinauf, der vom Schein der Laternen am Bootssteg erhellt wurde. »Gott sei Dank«, sagte Ann erleichtert. »Zumindest kann man hier oben etwas sehen. Dabei fällt mir ein …« Sie lächelte und streckte die Hand nach den Sachen aus, die Dave im Arm hielt. Als Dave ihr die Kleider reichte, sah er, daß das Handtuch Blutflecken auf ihrem Rock und ihrer Bluse hinterlassen hatte. »Ach du Schreck! Das tut mir leid.« Anns Augen folgten seinem Blick. »Großer Gott, das ist das einzige, was ich anzuziehen habe.« Sie nahm die Sachen und trat ans Geländer, um sie in dem trüben Licht der Laternen zu mustern. »Es ist nicht so schlimm. Vielleicht lassen die Flecken sich auswaschen.« »Es tut mir so leid«, wiederholte Dave. »Mach dir keine Gedanken darüber.« Sie hängte die Sachen übers Geländer und blickte auf den See hinaus. »Diese Lichter dort hinten, sind wir da gewesen?« »Ja. Das ist der Tanzpalast.« »Ich mag den Tanzpalast. Es wäre nett, einmal wieder dorthin zu gehen. Wenn ich mir keine Sorgen um eine
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Unterkunft zu machen brauche.« »Laß uns zusammen gehen«, sagte Dave. »Vielleicht morgen abend.« »Nun … wir werden sehen. Zuerst muß ich eine Bleibe finden. Mein Gott, wie finster es ist. Offen gestanden, ich mag die Dunkelheit nicht.« Dave trat hinter sie und legte die Arme leicht um ihre Taille. »Es ist wirklich schön hier, wenn der Mond scheint.« »Aber der Mond ist verschwunden. Und dieses gruselige Lachen … Pulpit Rock … Ich würde ihn gespenstisch finden, selbst wenn du mir nichts von dem verschwundenen Mädchen erzählt hättest.« »Denkst du immer noch darüber nach? Es ist doch nur Gerede.« »Aber sieh ihn dir an. Ist es nicht furchterregend … wie der Fels aus dem See aufsteigt?« »Mir scheint, du warst noch nicht oft im Gebirge, stimmt’s?« Dave vergrub das Gesicht in ihrem Haar. Es war feucht und wohlriechend. Er drehte sie zu sich herum und küßte sie. Plötzlich wich sie zurück »Ich weiß, du wirst es albern finden, aber ich habe irgendwie das Gefühl, daß uns jemand beobachtet.« »Ach was, das bildest du dir nur ein«, sagte Dave mit einem leisen Lachen. Er blickte zum Apartment hinüber und bemerkte das offene Fenster. Seltsam, dachte er bei sich. Anscheinend hat Sam es aus irgendeinem Grund geöffnet. »Wonach schaust du?« Statt zu antworten, küßte er sie abermals. Als er fühlte, wie sie sich an ihn schmiegte, hakte er ihren BH auf. Sie wehrte sich nicht, und so streifte er die Träger über ihre Schultern und ließ den Büstenhalter zu Boden fallen. Er nahm sie in die Arme
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und küßte sie lange und leidenschaftlich. Aber als er die Hand in ihren Schlüpfer gleiten ließ, wich sie zurück. »Es tut mir leid, Dave. Wirklich, es tut mir leid, aber …« Sie trat noch einen Schritt zurück und kreuzte die Arme verlegen über der Brust. Dave wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Wollen wir hineingehen?« »Du … würde es dir was ausmachen, wenn ich zu Bett ginge? Ich bin seit halb sechs heute morgen auf, und …« »Nein, natürlich nicht.« Sie war beunruhigt – fragte sich wahrscheinlich, ob er sich ihr aufdrängen würde. »Komm, ich helfe dir.« »Nein, das brauchst du nicht«, wehrte sie hastig ab. »Ich komm allein zurecht.« »Laß mich dir wenigstens zeigen, wo die Lichtschalter sind.« Als er sich umdrehte, fuhr ein stechender Schmerz durch seinen Fuß, und er stöhnte leise. »Tut’s weh? Ich finde, du solltest lieber ins Haus gehen und dich um deinen Fuß kümmern. Ich begleite dich hinunter. Ich muß sowieso meinen Koffer vom Bootssteg holen.« »Ich hole ihn dir«, sagte Dave. »Warte hier auf mich.« »Nein, nein. Nicht mit deinem verletzten Fuß.« Ann hob ihren B H auf, wandte Dave den Rücken zu und zog ihn an. Dann schlang sie das Handtuch um ihre Hüften. »Komm, ich helfe dir hinunter.« Sie nahm ihn beim Arm und machte sich auf den Weg zur Treppe. Dave überlegte, ob er sie zurückhalten und versuchen sollte, sie zu überreden, mit ihm zusammenzubleiben. Aber er entschied sich dagegen. Er wollte sich ihr nicht aufdrängen. Am Fuß der Treppe blieb Ann stehen. »Es hat keinen Sinn, daß du noch länger hier herumhumpelst. Geh ins Haus. Ich finde mich schon zurecht« »Ich warte hier, bis du deinen Koffer geholt hast.« Dave 225
beobachtete sie, als sie im trüben Licht der Laternen den Steg entlangging. Der Anblick ihrer nackten Schultern und der sanft gerundeten Hüften, die sich unter dem Handtuch wiegten, erregte ihn. Als sie mit ihrem Koffer zurückkehrte, sagte er: »Ich habe mir überlegt, daß du vielleicht doch besser mit ins Haus kommst. Mit all den komischen Geräuschen hier am See wäre dir dort sicherlich wohler zumute.« Ann zögerte und blickte zum Apartment hinauf. »Nein, ich glaube, ich bleibe lieber da. Wenn jemand unerwartet käme, oder …« »Es würde niemandem einfallen, mitten in der Nacht hier aufzutauchen. Los, komm, du wirst dich bestimmt sicherer fühlen.« »Nein, ich möchte dableiben.« Ihre Stimme klang entschlossen. Sie sah ihn an und lächelte. »Ich bin dir ehrlich dankbar, daß du mir aus der Klemme geholfen hast.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn leicht auf die Wange. »Vielen Dank, Dave. Und vergiß nicht, wir haben eine Verabredung für den Tanzpalast.« Er folgte ihr mit den Blicken, als sie sich abwandte und in der Dunkelheit verschwand. Es war das letzte Mal, daß er Ann Conway sah.
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31 »Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet!« Karl Berkholtz trat vom Zeugenstand zurück und hob mit einer dramatischen Geste die Arme. »Ich frage Sie noch einmal: Hatten Sie sexuellen Verkehr mit dem Mädchen?« »Nur soweit, wie ich es beschrieben habe«, erwiderte Dave. »Sie haben sie geküßt? Sie ausgezogen?« »Ich habe sie nicht ausgezogen. Wir waren schwimmen, und …« »Sie haben ihr den Büstenhalter ausgezogen, nicht wahr? Das steht in der Aussage, die Sie bei der Polizei gemacht haben.« »Ja, vermutlich.« »Bitte sprechen Sie laut und deutlich, Mr. Powell.« »Ja.« »Und als Sie versuchten, ihr auch noch den Schlüpfer auszuziehen, hat sie sich gewehrt, nicht wahr?« »Also … wie ich schon sagte, sie ist zurückgewichen.« »Mr. Berkholtz, es ist fünf Uhr.« Ein Murren ging durch den Gerichtssaal, als der Richter das Kreuzverhör unterbrach. Berkholtz hatte diese Unterbrechung erwartet. Er hatte die Wanduhr beobachtet und auf mehr Zeit gehofft. Der Richter arbeitete nicht gern länger als bis fünf, das wußte er. »Ich bin fast fertig, Euer Ehren«, sagte er, bemüht, sich seine Gereiztheit nicht anmerken zu lassen. »Ich will Sie nicht drängen«, sagte der Richter. »Sie können Ihr Kreuzverhör morgen früh fortführen.« »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich es lieber jetzt beenden.« »Gut.« Richter Overmeyer zog eine goldene Taschenuhr
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unter seiner Robe hervor. »Fahren Sie fort.« Der Staatsanwalt wandte seine Aufmerksamkeit wieder der erschöpften Gestalt im Zeugenstand zu. Obwohl der Angeklagte seinem Blick ruhig begegnete, konnte Berkholtz deutlich erkennen, daß er ziemlich am Ende war. Dies war der Augenblick, die Schrauben anzuziehen. »Aber Sie haben nicht auf Ihrem Vorhaben beharrt, als sie sich Ihnen widersetzte? Sie hatten zwei Stunden lang mit ihr getrunken, sie geküßt, sie ausgezogen. Und dann haben Sie das Mädchen plötzlich ganz brav in Ruhe gelassen?« »Nun …« »Sie waren sexuell erregt, nicht wahr? Wollen Sie dem Gericht weismachen, daß Sie Ihren Verführungsversuch einfach aufgegeben haben?« »Ich habe nicht gesagt, daß ich …« »Oder war es nicht vielmehr so, daß Sie, als das Mädchen sich Ihren Annäherungsversuchen widersetzte, mit ihr zu kämpfen begannen und sie angriffen?« »Einspruch!« Jeb Olsen sprang auf. »Stattgegeben«, sagte der Richter. Berkholtz warf einen Blick auf die Uhr und beschloß, den Punkt nicht weiter zu verfolgen. »Nun, was das Blut betrifft, das der Hausmeister am nächsten Morgen auf dem Bootssteg und der Terrasse entdeckt hat, so haben Sie ausgesagt, es sei Ihr Blut gewesen.« »Das stimmt.« »Von der Schnittwunde an Ihrer Ferse?« »Ja.« »Stammte es nicht doch von dem Mädchen? Hat sie keine Verletzung davongetragen, während …« »Einspruch!« rief Jeb Olsen. »Euer Ehren, der Zeuge hat bereits mehrmals ausgesagt, daß das Blut aus der Schnittwunde
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an seiner Ferse stammte. Ich erhebe Einspruch gegen diese ständige …« »Stattgegeben.« Der Richter blickte abermals auf seine Taschenuhr. Berkholtz war klar, daß er sich kurz fassen mußte. Er wollte nicht bis zum nächsten Morgen warten und Powell Gelegenheit geben, sich in der Zwischenzeit mit seinem Anwalt zu beraten. »Mr. Powell, ich möchte noch einmal einige Punkte Ihrer Zeugenaussage überprüfen. Sie haben erklärt, nachdem Sie das Mädchen verlassen hatten, seien Sie direkt ins Haupthaus hinauf und zu Bett gegangen und hätten bis sieben Uhr früh geschlafen. Sollte man nicht annehmen, daß Sie etwas hätten hören müssen? Ein Geräusch, einen Schrei, irgendeinen Tumult? Schließlich geht aus den Indizien hervor, daß das Mädchen ermordet, die Leiche in einem Boot festgebunden und im See versenkt wurde. Ist es nicht logisch anzunehmen, daß Sie irgend etwas gehört haben müßten?« »Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß wegen der geschlossenen Fenster und der Klimaanlage von draußen nichts zu hören war. Außerdem ist das Bootshaus ziemlich weit vom …« »Schon gut, schon gut«, unterbrach ihn der Staatsanwalt. »Fahren wir fort. Sie sagen, als Sie aufwachten, seien Sie direkt zum Apartment gegangen und hätten bemerkt, daß das Mädchen fort war?« »Ja.« »Sie haben sich Sorgen gemacht und überall nach ihr gesucht. Und als Sie sie nicht finden konnten, dachten Sie daran, die Polizei zu benachrichtigen.« »Das stimmt. Ich war sehr beunruhigt. Ich konnte mir nicht erklären, weshalb sie die Insel verlassen haben mochte. Es regnete sehr stark Schließlich nahm ich das Motorboot und fuhr zum Hafen.«
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»Aber warum haben Sie die Polizei nicht benachrichtigt? Schließlich hatten Sie ja nichts zu verbergen. Zumindest ist es das, was Sie uns glauben machen wollen.« »Ich erwog, zur Polizei zu gehen, aber bei näherer Überlegung gelangte ich zu dem Schluß, daß es besser sei zu warten. Ich dachte mir, daß sie wahrscheinlich in Kürze auf der Insel oder in der Stadt auftauchen würde. Wie gesagt, eins von den leichten Ruderbooten war vom Anlegeplatz verschwunden. Ich nahm an, sie hätte es genommen und …« »Bei dem Regen?« »Nun … es war die einzige Erklärung, die ich finden konnte. Ich wollte nicht gern die Polizei hineinziehen.« »Natürlich nicht«, sagte der Staatsanwalt trocken. »Wozu die Polizei mit hineinziehen? Sie wußten, daß die Ihnen Ihre Geschichte nicht abnehmen würde – eine Geschichte, die etwa folgendermaßen lautet: Nachdem dieses arme Mädchen Ihretwegen entlassen wurde, nachdem Sie sie in den Tanzpalast geführt, zum Trinken genötigt und sie dann auf eine abgelegene Insel gebracht und versucht haben, sie zu verführen, sind Sie plötzlich allein zu Bett gegangen, haben in aller Ruhe geschlafen, und als Sie am nächsten Morgen aufwachten, war das Mädchen verschwunden. Das ist es doch, was Sie vorhin sagen wollten, nicht wahr? Sie wußten, daß Ihnen niemand diese lächerliche Geschichte glauben würde!« »Ich habe damals an vielerlei gedacht. Ich wußte, die Sache würde großes Aufsehen erregen, wenn ich die Polizei benachrichtigte. Ich überlegte mir, wie peinlich es den Dickersons sein würde, die mich in ihrem Haus hatten wohnen lassen, und ich dachte an meine Mutter und meine Schwester. Aber mehr als alles andere fürchtete ich, daß es meine Verlobungspläne vereiteln könnte. Ich fand einfach, daß es besser sei zu warten. Das Mädchen würde bestimmt wieder
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auftauchen.« »Und so warteten Sie zwanzig Jahre lang. Haben Sie während dieser ganzen Zeit nie etwas unternommen, um herauszufinden, was mit dem armen Mädchen geschehen war?« »Ich hatte keine Möglichkeit, etwas über sie zu erfahren. Ich habe im Club angerufen, aber es gab keinerlei Unterlagen über sie.« »Das stimmt nicht. Es gab Aufzeichnungen. Sie sind in das Beweismaterial dieses Gerichts aufgenommen worden.« »Als ich im Club anrief, sagte das Mädchen, Aushilfskräfte würden nicht in den Personallisten geführt. Vielleicht wollte sie sich nicht die Mühe machen, nachzusehen. Ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich mir große Sorgen um Ann Conway gemacht. Ich habe sogar im Hunter College angerufen, obwohl ich ihr von vornherein nicht recht geglaubt hatte, daß sie dort studierte. Ich war nicht einmal sicher, ob Conway ihr richtiger Name war. Sie hatte mir nicht die Wahrheit über ihr Alter gesagt, und …« »Mr. Powell«, unterbrach Berkholtz ihn. »Sie haben ausgesagt, daß Sie am Tag nach dem Mord den Hausmeister in Camp Louise angerufen und sich erkundigt hätten, ob jemand nach Ihnen gefragt habe. Stimmt das?« »Ja. Ich dachte, das Mädchen sei vielleicht zurückgekommen und …« »Und Sie sagten ihm ferner, Sie hätten Ihre Stellung verloren, würden nach Rochester fahren und nicht nach Camp Louise zurückkehren?« »Ja.« »Und als er das Blut auf dem Bootssteg erwähnte, erklärten Sie, es stamme von der Schnittwunde an Ihrem Fuß.«
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»Das ist richtig.« »Aber er glaubte Ihnen nicht.« »Das hat er nicht gesagt. Er bemerkte lediglich, daß es eine Menge Blut für eine Schnittwunde sei.« »Waren Sie nicht selbst der Meinung, es sei ziemlich viel Blut? Als Sie am Morgen herunterkamen und nach dem Mädchen suchten, hat dieses viele Blut Ihnen da nicht zu denken gegeben?« »Ich habe es überhaupt nicht bemerkt. Ich meine, das Blut unter dem Balkon. Erst als ich den Hausmeister anrief, erfuhr ich, das meiste Blut sei auf der Bootsterrasse unterhalb des Balkons. Das ist es, was mich in all diesen Jahren am meisten beunruhigt hat. Er sagte, er habe unter dem Balkon Blut gesehen. Aber ich konnte mich nicht entsinnen, die Terrasse unter dem Balkon betreten zu haben, nachdem ich mir den Fuß verletzt hatte.« »Und die zerbrochene Scheibe in der Tür des Apartments – haben Sie sich darüber keine Gedanken gemacht?« »Ich sagte Ihnen bereits, es war eine stürmische Nacht. Die Tür hat im Wind geschlagen. Ich nahm an, dabei sei die Scheibe zerbrochen. Ich habe versucht, die Tür zu schließen, aber sie war verzogen und ging nicht mehr richtig zu.« »Aber nichts von alledem hat Sie so beunruhigt, daß Sie es für nötig hielten, die Polizei zu benachrichtigen?« »Nachdem ich ein paar Tage gewartet hatte, sah ich keine Möglichkeit mehr, mich an die Polizei zu wenden. Es hätte ausgesehen, als ob …« »Als ob Sie etwas zu verbergen hätten, stimmt’s?« »Es ist schwer zu erklären. Rückblickend war es ein Fehler, das Verschwinden des Mädchens nicht gemeldet zu haben. Aber damals konnte ich mich nicht dazu entschließen.
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Hauptsächlich wegen der Dickersons. Und später sagte ich mir jedesmal, wenn ich daran dachte, zur Polizei zu gehen: ›Du hast nichts Unrechtes getan. Wozu schlafende Hunde wecken?‹ Je länger ich wartete, um so schwerer wurde es natürlich, die Sache zu melden. Sie können mir glauben, ich habe meinen Fehler im Lauf der Jahre teuer bezahlt. Zuerst gelang es mir, den Vorfall zu verdrängen, aber nach einer Weile wurde er zu einer Quelle ständiger Besorgnis. Ich konnte später, als ich mehr darüber nachdachte, das Gefühl nicht loswerden, daß dem Mädchen etwas geschehen war.« »Entschuldigen Sie, Mr. Berkholtz«, unterbrach der Richter. »Aber es ist längst fünf vorbei.« »Gut, Euer Ehren. Ich bin gleich fertig.« Der Staatsanwalt drehte sich um und trat an die Geschworenenbank Er wollte sicher sein, daß die Geschworenen die Antworten des Angeklagten deutlich hören konnten. »Mr. Powell, damit wir alle verstehen, was Sie gesagt haben, wiederhole ich noch einmal. Sie haben zugegeben, daß die Medaille, die in Ann Conways Hand gefunden wurde, aufs Haar derjenigen gleicht, die Ihnen von der Baseballmannschaft in Lake Placid verliehen wurde. Ihre Medaille haben Sie angeblich verloren. Sie sagten aus, daß Sie Ann Conway an dem Abend, an dem sie zum letztenmal lebend gesehen wurde, nach Bück Island gebracht haben. Sie haben mit ihr getrunken und gingen zusammen schwimmen. Sie haben versucht, sie zum sexuellen Verkehr zu überreden, wurden jedoch abgewiesen. Daraufhin sind Sie ins Haupthaus gegangen und haben fest und ruhig geschlafen. Ist das richtig?« Dave nickte wortlos. »Wollen Sie bitte antworten?« »Ja.« »Sie haben all das getan, aber Sie haben Ann Conway nicht getötet. Das tat jemand anderes, während Sie schliefen. Dieser
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Unbekannte hat dem Opfer Ihre Medaille in die Hand gedrückt, die Leiche im Boot festgebunden, es zur tiefsten Stelle des Sees hinausgerudert, ein Loch in den Rumpf geschlagen und Ann Conway auf den Grund befördert. Sind Sie sicher, daß Sie nicht schlafwandeln, Mr. Powell?« Jeb Olsen sprang auf, während der Gerichtssaal vorn Gelächter widerhallte. »Ruhe!« Richter Overmeyer schlug mit dem Hammer auf den Tisch. »Ich ziehe die letzte Frage zurück, Euer Ehren«, sagte der Staatsanwalt, während er zu seinem Platz ging. »Ich bin mit dem Zeugen fertig.« Am nächsten Tag regnete es in Elizabethtown. Es war ein kalter, anhaltender Nieselregen, einer der die Sehnsucht nach Doppelfenstern, Kaminfeuern und Kamelhaardecken weckt. Wenn auch der Gerichtssaal wie immer bis auf den letzten Platz gefüllt war, so standen doch nur wenige Neugierige mit Regenschirmen draußen auf dem Platz. Drinnen lauschte Karl Berkholtz dem Plädoyer von Jeb Olsen. Berkholtz’ Augen waren halb geschlossen, und ein gelangweilter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Aber obwohl er Gleichgültigkeit zur Schau stellte und hoffte, den Geschworenen diesen Eindruck zu vermitteln, folgte er in Wirklichkeit begierig jedem Wort. Es gab jedoch wenig, was er nicht vorausgesehen hatte. Zwar mußte er zugeben, daß sein Gegner äußerst geschickt plädierte, aber das beunruhigte ihn nicht. Als sich Jeb Olsen dem Schluß seiner Ansprache näherte, war Berkholtz überzeugt, daß er mit der kurzen Zusammenfassung, die er geplant hatte, auskommen würde. Er nahm gelassen seine Notizen zur Hand und überflog sie, während Jeb dicht an die Geschworenenbank herantrat. »Meine Damen und Herren«, sagte Jeb. »Ich habe fast zwei Stunden zu Ihnen gesprochen, und ich bilde mir nicht ein,
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bewiesen zu haben, daß David Powell Ann Conway nicht ermordet hat. Aber Sie müssen bedenken, daß ich seine Unschuld nicht zu beweisen brauche. Wenn auch nur der kleinste Umstand auf Unschuld schließen läßt, dann müssen Sie – ganz gleich, wie viele Indizien dagegen sprechen, laut Gesetz einen Freispruch fällen. Die wirkliche Frage ist hier: Hat die Staatsanwaltschaft mit absoluter Sicherheit die Schuld des Angeklagten bewiesen? Ich gebe zu, Mr. Berkholtz ist ein redegewandter Mann, der es geschickt versteht, Geschworene zu beeinflussen. Blut hier! Blut dort! Anspielungen auf Vergewaltigung. Folgerungen! Unterstellungen! Aber Sie kennen die Tatsachen, und die Tatsachen sind entscheidend. Ich weiß nicht, wie Ann Conway gestorben ist. Niemand weiß es. Und das ist die nackte Wahrheit. Die Theorie, daß der Angeklagte das Mädchen angegriffen habe, ist völliger Unsinn. Ich bin sicher, daß der Richter Sie in seiner Rechtsbelehrung ersuchen wird, ihr keine Beachtung zu schenken. Hüten Sie sich davor, eine Hypothese auf die andere zu stützen, denn das wäre eine Verletzung des Rechtsgrundsatzes über Indizienbeweise. Die Argumente der Staatsanwaltschaft sind reine Spekulation! Aber, meine Damen und Herren, mit bloßen Vermutungen kann man niemanden auf den elektrischen Stuhl bringen.« Berkholtz blickte auf die Wanduhr, als Jeb seine Zusammenfassung mit einigen Bibelzitaten und dem Ausdruck des Vertrauens auf die moralische Gesinnung und Urteilskraft der Geschworenen beendete. Es hätte dem Staatsanwalt nichts ausgemacht, wenn sein Gegner noch länger gesprochen hätte. Es war fast halb eins, und die Geschworenen dachten ans Mittagessen. Je länger Olsen redete, sagte sich Berkholtz, um so ungeduldiger werden die Geschworenen, und sie werden befürchten, daß man sie mit einem Wust von juristischem Geschwätz hinters Licht führen will. Sie alle sind mittlerweile
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sicher, daß Powell des Mordes schuldig ist, und zwar nicht nur an Ann Conway, sondern auch an den zwei Männern, deren Leichen man auf seinem Besitz gefunden hat. Es war zwei Uhr vorbei, lange nach der für die Wiederaufnahme der Verhandlung festgesetzten Zeit, als Clarence Overmeyer seinen Platz am Richtertisch einnahm. Nachdem er die Geschworenen aufgerufen hatte, wandte er sich an den Staatsanwalt: »Sind Sie bereit fortzufahren, Mr. Berkholtz?« »Jawohl, Euer Ehren.« Berkholtz stand auf und stellte sich vor die Geschworenenbank. Das leise Gemurmel im Gerichtssaal erstarb. »Euer Ehren, Mr. Olsen, meine Herren«, begann er mit einer angedeuteten Verbeugung vor den Mitanwälten am Tisch der Verteidigung. »Herr Obmann, meine Damen und Herren Geschworenen. Was ich Ihnen heute zu sagen habe, wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Sie alle haben hier fast fünf Wochen lang gesessen, und das Protokoll umfaßte bis gestern bereits über zweitausend Seiten. Ich habe nicht die Absicht, Ihnen noch mehr aufzubürden. Dies wird das kürzeste Resümee meiner vierunddreißigjährigen Tätigkeit als öffentlicher Ankläger sein. Denn im Gegensatz zur Behauptung des Herrn Verteidigers sind die Tatsachen in diesem Fall eindeutig und überzeugend und bedürfen keiner ausführlichen Bewertung. Es handelt sich hier um kaltblütigen Mord. Überprüfen wir das Beweismaterial…« Es wurde, wie versprochen, ein kurzes Resümee. Nach knapp zehn Minuten kam Berkholtz zum Schluß. »Ich frage Sie, meine Damen und Herren, was blieb dem Angeklagten angesichts derart erdrückenden Belastungsmaterials anders übrig, als eine phantastische Geschichte zu erfinden?« Er schwieg und schüttelte mißbilligend den Kopf, während er den Blick über die Geschworenen schweifen ließ. »Nun, wir alle wissen, was wirklich geschehen ist. Der Angeklagte hat an jenem Abend
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nicht, wie er behauptet, Ann Conway verlassen, um schlafen zu gehen. Statt dessen hat er sie, als sie sich seinen sexuellen Annäherungen widersetzte, kaltblütig getötet und nach einer Möglichkeit gesucht, sein Verbrechen ein für allemal zu vertuschen. Nach den Gesetzen der Naturwissenschaft hätte die Leiche für immer von der Bildfläche verschwinden müssen. Es wäre normalerweise nicht möglich gewesen, den Angeklagten jemals wegen des Mordes an Ann Conway vor Gericht zu stellen.« Der Staatsanwalt verstummte abermals und sah die Geschworenen der Reihe nach an. Er konnte an ihren Gesichtern ablesen, daß seine Worte sie beeindruckten. »Das Auftauchen der unverwesten Leiche nach zwanzig Jahren ist zweifellos eine Fügung Gottes. Es ist ein Wunder. Jeder Mensch mit einem Funken Glauben wird mir beipflichten, daß es die göttliche Vorsehung war, die den Leichnam Ann Conways bewahrt hat, damit eines Tages der Gerechtigkeit Genüge getan werden kann. Gott hat die Gebete der Mutter dieses Mädchens erhört, jener armen, unglücklichen Seele, die den Rest ihrer Tage hilflos in einer Pflegeanstalt verbrachte, wo sie sich gegrämt und um Nachricht von ihrer Tochter gebetet hat. Gott hat dieses fast perfekte Verbrechen vereitelt und uns das Opfer zurückgegeben, das in seiner Rechten den Identitätsbeweis seines Mörders hält. Und Er hat jeden von Ihnen, meine Damen und Herren, ausgewählt, damit Sie dafür sorgen, daß die Gerechtigkeit siegt. Ich bin sicher, daß Sie diese Ihnen von Gott aufgetragene Pflicht erfüllen und den Angeklagten des Mordes für schuldig befinden werden.«
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32 Der Adirondack Northway beginnt in Plattsburgh, unweit der kanadischen Grenze, und schlängelt sich durch die Adirondack Mountains bis hinunter nach Albany, der Hauptstadt des Staates New York Er gewährt herrliche Ausblicke auf hohe Bergspitzen, auf Seen und Flüsse. Das Bemerkenswerteste an dieser Landschaft sind ihre Wälder – dichte Wälder mit Föhren, Schierlingstannen, Zedern und Birken, deren Blätter sich im Spätherbst rot, braun und golden färben. An einem sonnigen Tag kann es kaum einen schöneren Anblick geben als diese in leuchtenden Farben erglühende Bergregion. Es war an solch einem Tag, daß man David Powell, zwischen zwei Polizisten auf dem Rücksitz eines Streifenwagens, über den Northway zum Gefängnis Green Haven in Stormville, New York, brachte. Obgleich fünf Leute im Auto saßen, war kaum ein Wort gewechselt worden, seit die vier Beamten und der Häftling in Handschellen vor einer Stunde das Gefängnis von Essex County verlassen hatten. Es herrschte eine ernste Stimmung, angemessen der Situation des Verurteilten, der sich auf dem Weg zum Schauplatz seiner Hinrichtung befand. Nur der Fahrer und ein großer, kräftig gebauter Mann neben ihm, mit den Winkeln eines Sergeants auf den Achselstücken, unterhielten sich hin und wieder leise miteinander, aber Dave konnte von seinem Platz aus kaum hören, was sie sprachen. Auch die schöne Landschaft, die draußen vorüberflog, nahm er nicht wahr. Müde in seinem Sitz zurückgelehnt, sah er nur die Köpfe der Polizisten vor sich und die breiten Krempen ihrer Feldhüte, die sich gegen den Himmel jenseits der Windschutzscheibe abzeichneten. Gelegentlich sprach einer der Beamten zu ihm. Waren die Handschellen zu stramm? Wollte er eine Zigarette? Aber die meiste Zeit waren nur das Brummen des Motors und das Pfeifen des Windes zu hören. Seit seiner Verurteilung lagen die 238
Worte des Richters, der den Spruch der Geschworenen verkündete, schwer auf Daves Seele: Im Namen des Volkes! Hiermit verfügt das Hohe Gericht, daß Sie, David Powell, zum Tode auf dem elektrischen Stuhl verurteilt werden. Mit dem Vollstreckungsbefehl dieses Gerichts werden Sie dem Direktor des Gefängnisses Green Haven in Stormville, New York, überantwortet. Dort bleiben Sie in Einzelhaft bis zu der am Montag, dem 10. Januar 1983, beginnenden Woche. An einem Tag innerhalb dieser Woche wird an Ihnen, David Powell, das Todesurteil auf die vom Gesetz des Staates New York vorgeschriebene Weise vollstreckt. Obgleich Dave diesen Urteilsspruch erwartet hatte – die Geschworenen hatten weniger als sechs Stunden beraten – , war er wie betäubt gewesen. Er hatte nicht auf den der Verkündung folgenden Tumult geachtet, sondern nur den Hammer des Richters und die schnarrende Stimme des Gerichtsdieners gehört. »Man führe den Angeklagten ab. Die Sitzung ist geschlossen.« Er hatte Sue angesehen. Ihre dunklen Augen verrieten keine Gemütsbewegung. Von dieser Sekunde an war ihm, als hätte seine Hinrichtung begonnen, als stürbe er von Minute zu Minute ein bißchen mehr. Die Sicherheitsmaßnahmen waren sofort verschärft worden, und man hatte einen Polizisten vor seiner Zelle postiert. Während jetzt der Wagen nach Süden fuhr, machten sich der fehlende Schlaf und die Anspannung der vergangenen Wochen bemerkbar. Dave war benommen, dem Zusammenbruch nahe, niedergeschmettert über den Lauf der Ereignisse, nicht gewillt, die Wirklichkeit zu akzeptieren. Ihm war, als sei er in eine imaginäre Welt des Schreckens versetzt worden. Bald würde er aus diesem Alptraum erwachen, und es würde ein herrlicher Morgen sein, mit lieblichem Vogelgesang, weichen Kissen und der Wärme eines kleinen Mädchens, das in sein Bett kroch, um 239
sich eine Geschichte erzählen zu lassen … Er nickte ein und sank an die Schulter des Polizisten zu seiner Rechten. Als er es bemerkte, richtete er sich rasch auf, aber die Augen fielen ihm bald wieder zu, sein Kopf sank herab, und er lehnte sich abermals an den Mann. Diesmal schlief er fest, während der Wagen in den Massachusetts Turnpike einbog und dann über den Taconic State Parkway nach Süden fuhr. Sie waren fast in Stormville angelangt, als er erwachte. Er setzte sich auf und fühlte den Druck der Handschellen. Mit grenzenloser Verzweiflung wurde er sich jäh wieder seiner Lage bewußt. Er hob die gefesselten Hände, rieb sich den Schlaf aus den Augen und versuchte, sich die Haare aus der Stirn zu streichen. Gegen die Sonne blinzelnd, blickte er auf die idyllische Landschaft, die am Fenster vorbeiflog. »Wie fühlen Sie sich?« fragte der Polizist neben ihm. »Sie haben eine Stunde fest geschlafen.« Ehe Dave etwas erwidern konnte, sagte der Sergeant vom Beifahrersitz: »Wir müssen an der nächsten Ecke rechts ab.« Sie fuhren langsamer und bogen kurz darauf in eine schmale Straße ein. Sie war von hohen Eichen gesäumt, deren Blätter golden in der Nachmittagssonne glänzten. Hinter einer Anhöhe kam plötzlich eine dunkle, mit Türmen besetzte Mauer ins Blickfeld, die einen düsteren Kontrast zu den strahlenden Herbstfarben und dem sanft geneigten Hang bildete. »Du liebe Güte, das sieht wahrhaftig aus wie eine Festung«, sagte der Mann am Steuer. »Ja«, pflichtete der Sergeant ihm bei. »Es heißt, diese Mauer sei drei Meter tief in einer Felsschicht verankert.« Sie fuhren über eine schmale Zufahrt und quer über ein offenes Gelände zum Eingang in der Mitte der Mauer. Über dem Tor stand in weißen Lettern: Green Haven. Die Polizeibeamten halfen Dave aus dem Wagen und führten
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ihn in einen großen, lichten Raum, wo drei Gefängniswärter in blaugrauen Uniformen sie erwarteten. Die Papiere, die Daves Begleiter überbrachten, wurden sorgfältig geprüft. Während der ganzen Prozedur fühlte Dave, wie die Wärter ihn abschätzend musterten. Der Sergeant holte einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete seine Handschellen. »Bis dann, Powell«, murmelte er, drehte sich um und ging hinaus. Die anderen drei folgten ihm eilig, so als befürchteten sie, an diesem unheimlichen Ort zurückzubleiben. Dave rieb sich die Handgelenke und bewegte Arme und Schultern, um den Krampf zu lösen, den die Handschellen verursacht hatten. »Hier entlang.« Einer der Wärter nahm Dave beim Arm und führte ihn zum anderen Ende des Raumes, wo er von einem Radargerät durchleuchtet wurde. Von zwei anderen Wärtern begleitet, wurde er anschließend durch eine Reihe von »Sicherheitsschleusen« – doppelt vergitterte Tore mit einem kleinen Freiraum dazwischen – geführt, die geräuschlos aufglitten, sich aber mit einem lauten metallischen Klang hinter ihnen schlössen. Sie durchquerten ein Stück Niemandsland, einen gepflegten, grasbedeckten Streifen, der die Außenmauer von den Gefängnisgebäuden trennte. Ein schmaler, gepflasterter Pfad, von gelben und weißen Chrysanthemen gesäumt, die in der kahlen Umgebung fehl am Platz wirkten, verband die Außenmauer mit dem Gebäudekomplex. Als sie die Stufen zum Eingang hinaufstiegen, stolperte Dave. Sofort umklammerten die Hände der Wärter seine Arme. Es war ein seltsames Gefühl – eine Vorahnung der strengen Überwachung, die ihn drinnen erwartete. Sie blieben vor dem Eingang stehen. Dave blickte zum Himmel hinauf, der sich tiefblau über dem Gefängnis wölbte. Von jenseits der Mauer drang das Trillern eines Wiesenstärlings herüber. Während Dave dem Gesang lauschte, 241
überkam ihn ein überwältigendes Gefühl der Einsamkeit. Bald würde er nicht einmal mehr die Vögel hören.
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Neunter Teil GEFÄNGNIS GREEN HAVEN NOVEMBER 1982
33 Es ist nicht zu leugnen, meine Herren …« Richard Wallace, der Direktor des Gefängnisses von Green Haven, gebrauchte gern die Anrede »meine Herren«. Es verlieh der Besprechung einen Anstrich von Würde. »Wenn wir David Powell, wie vom Gericht angeordnet, in der am 10. Januar beginnenden Woche hinrichten müßten, würden wir sehr in die Enge getrieben. Wir haben keine formellen Richtlinien, keinen Vollstrecker. Wir haben nicht einmal alle Teile des elektrischen Stuhls, oder John?« Wallace saß am Kopfende des Konferenztisches und sprach zu seinem aus fünf Männern bestehenden Verwaltungsrat. John Pike, der stellvertretende Direktor, dessen Aufgabe es war, die Hinrichtung wiedereinzuführen, wollte etwas erwidern, aber sein Vorgesetzter ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Zum Glück wird die Vollstreckung eines Todesurteils mit Rücksicht auf eine mögliche Berufung automatisch sechs Monate ausgesetzt. Das bedeutet, daß wir bis Juni Zeit haben, die Sonderabteilung ordnungsgemäß vorzubereiten. Eines steht fest: Der K-Trakt wird sich füllen, wenn überall im Bundesstaat wieder auf Todesstrafe plädiert werden kann. Es wird eine Menge Probleme geben.« Richard Wallace war an Probleme gewöhnt. Er gehörte seit über dreißig Jahren dem Strafvollzugssystem des Staates New York an und hatte den Gefängnisalltag samt Aufständen und Hinrichtungen zur Genüge kennengelernt. Wenn die langjährige Erfahrung ihn
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gefühllos gemacht hatte, so war ihm das nicht anzumerken. Nichts konnte seinen Gleichmut erschüttern. Wenn die gesetzgebende Körperschaft des Staates New York die Todesstrafe wiedereingeführt hatte und Green Haven dazu bestimmt worden war, die Hinrichtungen zu vollziehen, nun gut, dann mußte man sich eben damit abfinden. Wallace war ein hochgewachsener, gutaussehender Farbiger Anfang Fünfzig, mit scharfgeschnittenen, klaren Zügen. Seine braunen Augen blickten sanft, beinahe mitfühlend drein, und sein Gesicht schien immer einem Lächeln nahe. Wenn er lächelte, was tatsächlich oft geschah, enthüllte er kräftige weiße Zähne. Sein lockiges schwarzes Haar färbte sich an den Schläfen grau. Das Bemerkenswerteste an seiner Erscheinung war der Ausdruck heiterer Gelassenheit, den er ausstrahlte und der schwerlich zu einem Gefängnisaufseher zu passen schien. Mit der gleichen Ruhe und Freundlichkeit, die sich in seinem Äußeren spiegelte, verwaltete er auch das Gefängnis. Unter den Menschen, mit denen er in Berührung kam – sowohl Wärter als auch Häftlinge – , gab es wenige, die ihn nicht gern hatten und respektierten. Zweifellos waren es diese Eigenschaften, die seinen Vorgesetzten, einen Mann, der bestrebt war, das Strafsystem des Staates zu humanisieren, auf ihn aufmerksam gemacht und ihm vor drei Jahren die Ernennung zum Direktor von Green Haven eingetragen hatten. Es war die erste Berufung eines Schwarzen auf einen solchen Posten im Staat New York gewesen. »Übrigens«, fuhr Wallace fort, »bin ich der Ansicht, daß alle Presseberichte über den Fall Powell vom Zentralbüro in Albany kommen sollten, meinen Sie nicht auch, John?« Pike, der einen großen Teil der Verwaltung des Gefängnisses besorgte, richtete sich in seinem Stuhl auf. »Zweifellos. Es wird schon schlimm genug werden, ohne daß wir zwischen die Medien und Albany geraten.« 244
»Warum geben Sie uns nicht zunächst einmal einen Überblick über die Bestimmungen für die Zeit vor der Hinrichtung, John?« schlug Wallace vor. »Und ihr anderen solltet aufmerksam zuhören. Es geht uns alle an.« Pike blickte auf seine Papiere. Er war ein bedrückt wirkender Mann Ende der Vierzig, hellhäutig, mager, mit glattem braunem Haar und rehbraunen Augen. Solange er saß, hielt man ihn für einen Mann von durchschnittlicher Größe. Aber wenn er aufstand, schien er mit seinen eins neunzig beinahe die Decke zu berühren. Er arbeitete lange genug in Strafanstalten, um zu wissen, daß alles, was möglicherweise in einem Gefängnis schiefgehen konnte, bestimmt schiefging. Die Aussicht, einen Menschen auf den elektrischen Stuhl bringen zu müssen, beunruhigte ihn zutiefst. Als die Hinrichtungskammer von Sing Sing, wo früher die Todesurteile des Staates New York vollstreckt wurden, im August 1970 nach Green Haven verlegt worden war, hatte Pike mit einer gewissen morbiden Faszination den Aufbau beobachtet. Kurz darauf war die Todesstrafe abgeschafft worden, und er hatte, ebenso wie die meisten anderen Beamten in der Justizverwaltung, geglaubt, daß Hinrichtungen endgültig der Vergangenheit angehörten. In der Hinrichtungskammer von Green Haven sammelte sich der Staub, und Pike hielt es selten für nötig, den Raum aufzusuchen. Als die gesetzgebende Körperschaft die Todesstrafe wiedereinführte, war er nervös geworden. Und er hatte angefangen, sich ernsthaft Sorgen zu machen, als der berüchtigte Fall Powell in der vergangenen Woche vors Schwurgericht kam und die Geschworenen auf vorsätzlichen Mord erkannten. Nachdem der Richter das Todesurteil gefällt hatte, war der Verwaltungsrat von Green Haven in Aufregung geraten und versuchte jetzt eilig, sich mit dem Hinrichtungsritual vertraut zu machen. »Ich nehme an, Sie haben alle eine Kopie meines Memorandums erhalten, das die
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Bestimmungen von Paragraph 650 des Strafgesetzes enthält.« Pike hielt ein maschinengeschriebenes Blatt in die Höhe. »Dieser Paragraph behandelt ausführlich das Verfahren. Was er jedoch ausklammert, ist das Problem, Häftlinge monatelang in der Todeszelle zu halten. Bis sie – unter dem schweren seelischen Druck der Einzelhaft – mit ihrer Berufung durch sind, unternehmen einige von ihnen mit Sicherheit einen Selbstmordversuch.« Pike überflog seine Notizen und spitzte die Lippen, während er über die Schwierigkeiten nachdachte, die vor ihnen lagen. »Es gibt eine Menge zu tun. Wie Richard bereits sagte, wir haben nicht einmal alle Teile des elektrischen Stuhls. Die Todeskappe, die die Elektrode mit dem Kopf verbindet, ist nicht mehr vorhanden. Ich weiß nicht, wie wir sie ersetzen sollen. Man hat mir gesagt, sie sei aus einem Rugby-Helm gemacht worden. Stellt euch das vor!« »Nun, man kann mit Sicherheit eine neue machen«, sagte Wallace. »Wer hat die vorige angefertigt?« »General Electric«, erwiderte Pike. »Ich habe ihnen bereits geschrieben. Außerdem fehlen uns die lederne Gesichtsmaske und die Elektrode fürs Bein.« »Wie steht’s mit dem Personal?« fragte der Direktor. »Wir haben gute Leute im K-Trakt. Sie sind daran gewöhnt, mit Psychopathen umzugehn, und dürften auch den Wartesaal zum Tod bewältigen. Kolder ist jedoch der einzige, der jemals an einer Hinrichtung teilgenommen hat. Ich habe mich mit Sing Sing in Verbindung gesetzt. Es gibt zwei pensionierte Wärter in Ossining, die Erfahrung haben. Sie haben sich erboten, herzukommen und eine Scheinhinrichtung mit uns zu veranstalten, falls Sie es für nötig halten. Aber ich habe keine Ahnung, woher wir einen Vollstrecker nehmen sollen. Anscheinend ist dieses Handwerk ausgestorben«, setzte er trocken hinzu. »Nun, wir brauchen uns keine Sorgen um den 246
Vollstrecker zu machen.« Wallace hantierte mit den Papieren, die vor ihm lagen. »Das ist Aufgabe des Zentralbüros.« Er war verärgert über die Skepsis seines Stellvertreters und beunruhigt wegen der Wirkung, die sie auf die anderen Mitglieder des Komitees ausüben würde. »Sonst noch etwas, John?« »Nur, daß ich allen Aufsehern und Beamten in der Sonderabteilung eine Liste der neuen Bestimmungen für den K-Trakt zugesandt habe, wo die Häftlinge vor der Hinrichtung untergebracht werden. Sie werden alle eine Kopie in Ihrer Post vorfinden.« Wallace blickte auf seine Armbanduhr, um anzudeuten, daß er in Eile sei. »Gut, meine Herren, die Sitzung ist geschlossen.« Während die Mitglieder des Verwaltungsrates im Gänsemarsch hinausgingen, sammelte Wallace seine Papiere ein und ging zu einem großen Schreibtisch am anderen Ende des Zimmers. Er beugte sich vor und fragte über die Wechselsprechanlage seine Sekretärin: »Ist Powell schon eingeliefert worden?« »Ja, Mr. Wallace. Er ist jetzt zur ärztlichen Untersuchung auf der Krankenstation. Man wird ihn dann hierherbringen.« »Benachrichtigen Sie mich, wenn er kommt.« Wallace griff nach einem Aktendeckel und begann, die Berichte des Zentralbüros über seinen neuen Häftling durchzusehen. Dank der umfangreichen Publicity, die der Prozeß in Essex County nach sich gezogen hatte, wußte er bereits ziemlich viel über ihn. Ein ganzseitiges Bild von Powell, der mit Handschellen das Gerichtsgebäude verließ, war an diesem Morgen in der Zeitung erschienen. MILLIONÄR AUS TARRYTOWN ZUM TOD AUF DEM ELEKTRISCHEN STUHL VERURTEILT, lautete die Schlagzeile. Das Urteil hatte ihn überrascht. Millionäre starben nicht auf dem elektrischen Stuhl. Sie kamen nur selten ins Gefängnis. Wallace war begierig, den Mann zu
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sehen, zu erfahren, wie er die Lage meisterte. Er dachte an die große Villa, die das Fernsehen gezeigt hatte. Wie würde solch ein Mensch auf die Todeszelle reagieren? Seine Gedanken wurden von der Sprechanlage unterbrochen. »Er ist hier, Mr. Wallace.« »Schicken Sie ihn herein.« Wenige Sekunden später öffnete sich die Tür des Büros, und David Powell trat, von zwei Wärtern begleitet, ein. Selbst in der grauen, sackförmig herabhängenden Häftlingskleidung wirkte er elegant. Aber die Qualen, die er litt, hatten sein Gesicht gezeichnet. Obwohl er den Kopf hochhielt und Wallace in die Augen sah, war deutlich zu erkennen, wie niedergeschmettert er war. Er war leichenblaß, und seine Augen waren blutunterlaufen. »Mein Name ist Wallace. Ich bin der Direktor.« Wallace warf einen Blick auf das bedeutungsvoll wirkende Dokument mit dem Siegel des Staates New York, das auf seinem Schreibtisch lag. »Ich bin verpflichtet, Ihnen dieses Schriftstück vorzulesen. Es ist ein vom Gouverneur unterzeichneter Hinrichtungsbefehl. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, lassen Sie es mich wissen.« Wallace nahm das Schreiben zur Hand und verlas den Text, der das Gerichtsurteil wiederholte und die Modalitäten der Hinrichtung festlegte. Während des Lesens blickte Wallace auf und sah, daß der Gefangene die Augen geschlossen hielt Bemüht sich wahrscheinlich, seine Gefühle zu beherrschen, dachte er. Er hatte schon häufig Menschen unter weit weniger harten Urteilssprüchen zusammenbrechen sehen. Nachdem er den Vollstreckungsbefehl zu Ende gelesen hatte, legte er ihn beiseite. »Verstehen Sie, was ich Ihnen vorgetragen habe?« »Ja.« Dave räusperte sich. »Haben Sie irgendwelche Fragen?«
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»Nein.« »Gut.« Wallace lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Man wird Sie jetzt in die Sonderabteilung bringen und Sie genau über Ihren Tagesablauf unterrichten. Jegliche Abweichung von der festgesetzten Norm muß vom diensthabenden Aufsichtsbeamten genehmigt werden. Viele der Anordnungen sind in Übereinstimmung mit dem Gesetz getroffen worden, das keine Ausnahmen vorsieht.« Der Direktor schwieg und sah Dave aufmerksam an. »Verstehen Sie mich?« Dave, der den Blick zu Boden gesenkt hatte, sah auf. »Ja, Sir, ich verstehe.« Seine Stimme war kaum zu hören. »Ich werde um nichts bitten.« Wallace musterte seinen Gefangenen und überlegte. Er mußte vorsichtig sein. Fast alles, was er sagte, konnte von Powells Anwalt oder von der Presse falsch ausgelegt werden. Aber der Mann hatte irgend etwas an sich – etwas, das einen wider Willen für ihn einnahm. Wallace lehnte sich vor und verschränkte die Arme auf dem Schreibtisch. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen helfen wird, Powell, aber ich bin schon seit langem in diesem Beruf. Vor Jahren wurde ich dem Todestrakt von Sing Sing zugeteilt. Nach meiner Erfahrung wird man am besten mit dem Schicksal fertig, wenn man soweit wie möglich jedes Gefühl ausschaltet. Die Leute, die am wenigsten leiden, sind diejenigen, die sich abzulenken versuchen, sich intensiv mit irgend etwas beschäftigen, und sei es nur mit einem Hobby.« Er schwieg, um die Wirkung seiner Worte abzuschätzen. »Ich kann Ihnen nur sagen, je aktiver Sie sind, um so besser. Wenn Sie auf Ihrem Bett liegen und sich bemitleiden, wird es nur noch schlimmer. Das ist der schnellste Weg zum Nervenzusammenbruch. Und glauben Sie mir, damit erreichen Sie nichts.« Wallace kniff die Augen zusammen, als er Dave ansah. »Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will?« »Ja. Ja, ich verstehe.« Dave richtete sich auf. »Ich werde 249
versuchen, daran zu denken.« Der Direktor zögerte und überlegte, ob er noch etwas sagen solle, beschloß jedoch, es nicht zu tun. Je weniger Gefühl, desto besser. Er winkte den Wärtern, die rasch herbeikamen, um den Häftling hinauszubegleiten. Als sie ihn zur Tür führten, blickte Dave über die Schulter zurück »Vielen Dank«, sagte er leise. Richard Wallace nickte kurz. Nachdem die drei Männer das Büro verlassen hatten, ging er zum Telefon und rief seinen Stellvertreter an. »John, ich habe gerade mit Powell gesprochen. Man wird ihn im KTrakt streng bewachen müssen. Er könnte bei der ersten Gelegenheit versuchen, sich umzubringen.«
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34 Der Wartesaal zum Tod, wie man den K-Trakt in Green Haven inoffiziell nannte, lag im dritten Stock des Gebäudes Nr. 2, direkt über der Krankenstation. Er bestand aus dreizehn kleinen Zellen, in denen die zum Tode Verurteilten auf ihre Hinrichtung warteten. Eine Treppe höher befand sich der eigentliche Hinrichtungsraum. Dave wurde sofort nach seiner Unterredung mit Wallace in den K-Trakt gebracht. Als sich die Tür des Fahrstuhls – eines quadratischen Gebildes, groß genug, um einen Obduktionstisch aufzunehmen – im dritten Stockwerk öffnete, erblickte er hinter einer stählernen Gitterwand einen kahlen Aufnahmeraum. Die beiden Wärter, die ihn ständig begleitet hatten, führten ihn zur Sperre in einer Sicherheitsschleuse, die ein Beamter für sie öffnete. Als sie eintraten, erhob sich ein gesetzt wirkender Mann hinter seinem Schreibtisch. Er war Ende Vierzig, mittelgroß, mit glattem braunem Haar und einem rundlichen Gesicht. Links auf der Brust trug er ein kleines Namensschild: »D. Kolder, Wachoffizier.« Er sah Dave abschätzend an, als er näher kam, und deutete wortlos mit dem Kopf auf das Büro, das als Schaltstelle für den K-Trakt diente. Die Wärter führten Dave in das Zimmer, dessen ganze Einrichtung aus einem Stuhl und einem am Boden festgeschraubten Metallschreibtisch bestand. Auf dem Schreibtisch gab es ein Telefon, eine Namensliste, einen Notizblock und ein großes Wachbuch. Darüber hing ein Anschlagbrett mit einigen maschinengeschriebenen Mitteilungen. »Tragen Sie Ihren Namen ein.« Kolder deutete auf die Liste. Das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab: »K-Trakt. Kolder am Apparat. Ja, Sir. Man hat ihn gerade raufgebracht.« Er setzte sich an den Schreibtisch und fing an, sich Notizen zu machen.
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Dave setzte seinen Namen auf die Liste, dann blieb er neben dem Schreibtisch stehen und wartete, daß Kolder sein Gespräch beendete. Er warf einen Blick auf die Mitteilungen am Anschlagbrett. Eine davon war das Memorandum von John Pike, das die neuen Bestimmungen für den K-Trakt bekanntgab. Dave bekam den ersten Einblick in das Ausmaß der Sicherheitsvorkehrungen für Green Havens – Wartesaal zum Tod: 1. November 1982 VON: Büro des stellvertretenden Direktors AN: Direktor, Mitglieder des Verwaltungsrats, Aufsichtsbeamte und Wärter von Gebäude Nr. 2, 3. Stock. BETRIFFT: K-Trakt 1. Durch direkte Beobachtung und ständige Kontrolle werden alle Vorsichtsmaßregeln zur Verhinderung von Selbstmordversuchen getroffen. 2. Gemäß den Bestimmungen des Strafvollzugs darf niemand ohne Anordnung des Gerichts einen Häftling besuchen, ausgenommen sein Anwalt, sein Arzt, ein Geistlicher und seine nächsten Angehörigen. Besuche werden ständig überwacht. 3. Die Häftlinge erhalten für Besuche gesonderte Kleidung. 4. Zelleninventar: Folgende Garnitur Kleider, die ständig getragen wird: 1 Paar Socken, 1 Unterhose, 1 Hemd, 1 Paar Pantoffeln. Ferner: Papierhandtücher, 1 Waschlappen, 1 Stück Seife, Schreibpapier. Gegenstände wie Bleistift, Zahnbürste, etc. sind den Häftlingen zum befristeten Gebrauch gestattet. Sie werden um 7.30 Uhr ausgegeben und um 21.30 Uhr eingesammelt. 5. Die Zellen werden mindestens einmal am Tag durchsucht. 6. Unter den Häftlingen dürfen keine Nachrichten kursieren. 7. Die Häftlinge erhalten ihre Mahlzeiten in den Zellen. Der
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diensthabende Beamte teilt das Essen aus. Es wird nur ein Löffel ausgegeben, und der wird sofort nach der Mahlzeit abgeholt. 8. Die Haare werden am ersten Dienstag des Monats geschnitten. Die Häftlinge können sich auf Wunsch täglich rasieren. Der Aufsichtsbeamte des Trakts wird ihnen hierfür einen Spezialrasierapparat mit Sicherheitsschloß und einen Metallspiegel aushändigen. 9. Es ist den Häftlingen nicht gestattet, Streichhölzer zu besitzen. Wenn ein Häftling rauchen möchte, wird der Beamte ihm Feuer geben. 10. Die Ausübung von Hobbys kann vom Direktor genehmigt werden. Die Beamten sind für potentielle Gefahrengegenstände wie Bleistifte, etc. sowie für alle Saiten von Streich- und Zupfinstrumenten verantwortlich. Nach seinem Telefongespräch stand Kolder auf und ging zur Tür. Einer der beiden Wärter stieß Dave an, und sie folgten dem Wachkommandanten quer durch den Aufnahmeraum in ein Zimmer außerhalb der Sicherheitsschleuse, die zu den Zellen führte. Dort mußte Dave sich einer Leibesvisitation unterziehen. Die Untersuchung war von qualvoll peinlicher Gründlichkeit – eine Prozedur, die er jedesmal würde durchmachen müssen, wenn er seine Zelle verließ. Nach der Untersuchung gab ihm der Beamte ein Blatt mit Instruktionen, die das tägliche Ritual im K-Trakt erläuterten – darunter waren viele der Vorschriften, die Dave am Anschlagbrett gelesen hatte – , und forderte ihn durch einen Wink auf, dem Wärter zu folgen. Als der Wärter ihn beim Arm nahm und zum Zellenbereich führte, wurde Dave bewußt, welche Wortkargheit das Aufnahmeverfahren kennzeichnete. Abgesehen von dem kurzen Gespräch im Büro des Direktors hatte man kaum etwas zu ihm gesagt. Die Verständigung hatte durch Gesten stattgefunden oder durch einen Druck auf seinen 253
Ellbogen. Es war ein seelenloses Verfahren. Ich bin, dachte er, kaum mehr als ein Gebrauchsgegenstand, der auf dem Weg zu seiner Vernichtung durch die Anstalt befördert wurde. Die Zellen der Verurteilten lagen direkt hinter der Sicherheitsschleuse, links von einem schmalen Durchgang, der zwischen einer unverputzten Wand und einer langen Reihe senkrechter Stahlstangen hindurchführte. Jenseits dieses Stahlgitters lagen die Zellen hinter einem zwei Meter breiten Freiraum. Jeweils vier Zellen waren zu einer Einheit zusammengefaßt. Für jede Einheit war in dem Freiraum ein Wärter postiert. Er hatte die Aufgabe, die Häftlinge in seinem Revier ständig zu beobachten. Abgesehen von dieser Überwachung der Einheiten bot ein schmaler Laufsteg, der sich oberhalb der Zellen über den ganzen Trakt erstreckte, einen unbemerkten Einblick in jede einzelne Zelle. Drei getrennte Schleusen zwischen den. Zellen und dem Fahrstuhl sorgten für zusätzliche Sicherheit. Jenseits des Fahrstuhls gab es eine endlose Zahl stählerner Schiebetüren in einem Labyrinth von Korridoren, die zur Peripherie des Gefängnisses führten. Es war ein ausgeklügeltes System, das selbst den Verwegensten von einem Fluchtversuch abgeschreckt hätte. Dave war weit davon entfernt, an Flucht zu denken. Seine Verzweiflung vertiefte sich mit dem metallischen Klang jeder weiteren Tür, die hinter ihm zuschlug. Das Klirren der letzten – der Tür zu seiner Zelle – hallte in seinen Ohren wider wie Totengeläut. Die Zelle war zwei Meter breit und drei Meter lang. In einer Ecke sah er ein schmales Eisenbett, das mit Bolzen an der Wand und am Boden befestigt war. In der anderen Ecke stand ein Kübel für Exkremente aus blankem Aluminium, dessen Glanz in der kahlen Umgebung unpassend wirkte. Über ihm war ein kleines Waschbecken eingebaut. Zwei Schalter an der Wand regelten die Wasserzufuhr. An der Decke gab es ein helles Licht und einen kleinen Luftabzug, beide durch einen
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festen Maschendraht gesichert, der bündig mit der Decke abschloß. Sonst gab es nichts als drei nackte Wände und die stählernen Gitterstäbe an der Tür. Dave hockte sich mit angezogenen Beinen, den Rücken an die Wand gelehnt, aufs Bett. Die Stille lastete schwer auf ihm. Bis zu diesem Moment hatten ihn die Gerichtsverhandlung und die folgenden Ereignisse in Atem gehalten. Jetzt gab es nichts. Nur das, was vor ihm lag. Sein Gefühl der Ohnmacht verstärkte sich. Es war erschreckend. Wenn er es doch nur hinter sich bringen könnte. Aber es gab keine Alternative. Das hatten ihm die Bestimmungen am Anschlagbrett deutlich klargemacht. Die strengen Einschränkungen, Rasierapparate mit Sicherheitsschloß, ständige Beaufsichtigung. Bis jetzt hatte es Gelegenheiten zum Selbstmord gegeben. Nun gab es keine mehr. Ein plötzliches Stechen im Unterleib ließ ihn auf den Kübel blicken, der nur wenige Meter von der Stelle entfernt stand, wo draußen der Wärter saß. Während er in der Ecke kauerte, überkam ihn die bedrückende Erkenntnis: Es gibt nur einen Ausweg für mich – die Qual einer sich langsam dahinschleppenden Wartezeit und der Tod auf dem elektrischen Stuhl.
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35 »Jeb, Sie kennen Sue nicht. Sie wird niemals hierherkommen. Nicht, weil sie mich nicht liebt. Aber so ist sie nun einmal. Sie sieht die Dinge sehr nüchtern. Ich bin sicher, sie hat mich längst abgeschrieben.« Dave senkte den Blick, damit der Anwalt seine Augen nicht sah. Die zwei saßen in einem kleinen Raum unweit der Todeszellen, wo die Häftlinge ihre Besucher empfingen. Der Raum bestand aus zwei kleinen, nebeneinanderliegenden Zellen, von denen jede gerade groß genug für eine Person war. Der Häftling kam durch die Tür herein, die den Raum mit dem K-Trakt verband, der Besucher durch eine Tür an der entgegengesetzten Seite. Jede der beiden Zellen bestand aus vier kahlen Wänden und einem am Boden festgeschraubten Metallschemel. Der Häftling und sein Besucher unterhielten sich durch ein kugelsicheres Fenster von sechzig Zentimetern im Quadrat, das in die Wand zwischen beiden Abteilen eingelassen war. Der Ton wurde durch eine Membrane im schmalen Stahlnetz am unteren Rahmen des Fensters übertragen. Ein zweites, größeres Fenster an der Längswand bot einem draußen postierten Wärter freie Sicht ins Innere. Es war ungefähr, als säße man in einer Telefonzelle und spräche mit jemandem in der Nachbarzelle. »Das ist lächerlich«, sagte Jeb. »Sie braucht Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Schließlich …« »Ich bin seit einem Monat hier. Bis sie sich daran gewöhnt hat, bin ich tot.« »Aber Sue sagt, Sie schreiben ihr immer wieder, daß sie nicht kommen soll; all diesen Unsinn, daß Sie sie nicht mit der Erinnerung an die Todeszelle zurücklassen wollen. Dies ist der Augenblick, wo Sie sie brauchen.« »Es ist egal, was ich schreibe. Sie wird nicht kommen. Ich 256
wußte es schon in Elizabethtown. Am letzten Tag. Es war mir klar, als sie sich verabschiedete.« Dave schwieg einen Augenblick, dann fuhr er fort: »Und ich will ganz gewiß nicht Dana hier haben. Sehen Sie mich an. Meine Haare fallen aus. Ich habe stark abgenommen. Es wäre ein schwerer Schock für beide – vor allem für Dana. Warum soll ich ihnen das zumuten? Glauben Sie, ich möchte, daß sie mich so in Erinnerung behalten?« Seine Stimme brach, und sein Blick wanderte wieder zu Boden. Jeb rutschte verlegen auf seinem Schemel hin und her und blickte auf seine Armbanduhr. »Wie ist es denn? Werden Sie anständig behandelt?« »So gut, wie man es erwarten kann. Die Wärter sind unpersönlich. Ich nehme an, sie werden darauf gedrillt. Zuerst war es die Hölle auf Erden. Stunde um Stunde allein in diesem Käfig. Ich sage allein, aber man ist in Wirklichkeit niemals allein. Es gibt immer jemanden, der einen beobachtet, um sicher zu sein, daß man nicht versucht, Selbstmord zu begehen. Zu Anfang denkt man daran, aber es ist unmöglich. Vor ein paar Jahren hat ein Häftling einen Teil seines Bettes verschluckt – ja, tatsächlich, ein Stück Stahl – , um sich das Leben zu nehmen. Aber man hat ihn einfach unten in die Krankenstation gebracht und es rausgeholt. Eines Nachts überlegte ich mir, wenn ich ein Ende meines Hemdes ans Bett binden würde und das andere Ende um meinen Hals, könnte ich mich ein paarmal umdrehen, bis das Hemd mich erwürgt. Das einzige Problem war, ich sah keine Möglichkeit, mein Hemd auszuziehen. Wissen Sie, man muß ständig alle Kleider tragen. Man darf nichts ausziehen …« »Dave …« Jeb fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Sie werden doch nichts Törichtes tun?« »Keine Sorge. Irgend etwas geschieht mit einem dort drinnen. Man paßt sich irgendwie an. Man wird stumpf. Mag 257
geschehen, was will, es wäre mir jetzt egal. Aber das Ganze ist so widersinnig. Ich bin zum Tode verurteilt – ich werde sterben, das weiß jeder – , und trotzdem schiebt der Staat meine Hinrichtung automatisch sechs Monate hinaus und gibt riesige Summen für Sicherheitsmaßnahmen aus, um zu verhüten, daß ich mir selbst das Leben nehme. Doch machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe noch nie jemanden getötet. Und ich werde jetzt nicht mit mir beginnen. In ein paar Monaten ist alles vorbei – es sei denn, Sie bringen es fertig, die Qual zu verlängern.« »Wir dürfen nicht aufgeben, Dave. Es besteht immer die Möglichkeit, daß wir …« »Jeb, ziehen Sie es nicht hinaus. Selbst wenn Sie mit der Berufung Erfolg hätten, gibt es immer noch zwei andere Leichen. Man würde mich einfach erneut vor Gericht stellen. Es ist aussichtslos.« Sie saßen einen Augenblick schweigend da. Dann sagte Jeb: »Ich muß gehen. Ich habe um drei die Besprechung in Albany. Gibt es irgend etwas, worüber ich mit dem Direktor reden soll? Ich habe mir einige der Menüs für die Häftlinge angesehen. Sie kommen mir reichlich knapp vor. Hundertfünfundzwanzig Gramm hiervon, hundertfünfzig Gramm davon …« »Nein. Es gibt nichts, was Sie tun können.« Dave zögerte. »Wissen Sie, bis vor ein paar Monaten hatte ich ein schönes Leben. Ich versuche, an die guten Zeiten zu denken. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Reise mit Sue; fange mit dem ersten Tag an und gehe jede Einzelheit durch. Was wir gesagt haben, wo wir überall gewesen sind. Der Gefängnispsychologe sagt, es sei ein Fluchtmechanismus.« Er senkte den Blick. »Manchmal glaube ich, daß ich den Verstand verliere. Die Leichen im Brunnen … Emily Hunter … Sam … Vor ein paar Tagen war ich beinahe überzeugt, daß es Brandon Sheehan gewesen ist. Manchmal mache ich mir sogar 258
Gedanken über Sue. Es macht mich verrückt. Ich denke unaufhörlich darüber nach, und je mehr ich nachdenke, um so verworrener wird alles.« Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Mein Gott, wie ich mich nach Sue und Dana sehne …« Seine Stimme brach, während er nach Fassung rang. »Sie dürfen nicht den Mut verlieren«, sagte Jeb tröstend. »Sue könnte Ihnen jetzt eine große Hilfe sein. Warum lassen Sie mich ihr nicht sagen, daß sie kommen soll …« »Nein, Jeb. Wenn mir schon nichts anderes geblieben ist, so habe ich doch wenigstens noch meinen Stolz. Ich will nicht, daß sie mich so sieht.« Eine Weile herrschte Schweigen, dann blickte Jeb abermals auf seine Uhr. »Wenn ich nicht gehe, komme ich zu spät zu der Besprechung in Albany. Wir sehen uns am Donnerstag. Kann ich nicht doch irgend etwas für Sie tun?« »Ein paar Anwälte der Bürgerrechtsbewegung versuchen mich zu sprechen. Sagen Sie Ihnen, ich will sie nicht sehen. Das gleiche gilt für die Vertreter der Medien. Es ist schon schlimm genug, ohne daß all diese Leichenfledderer von mir wissen wollen, wir mir im Angesicht des Todes zumute ist.« Jeb stand auf. Ehe er sich zum Gehen wandte, zog er ein Kuvert aus der Tasche. »Ich habe einen Brief von Dana für Sie. Ich gebe ihn dem Wärter. Bis Donnerstag.« Nach seiner Rückkehr in die Zelle öffnete Dave Danas Brief – ein entzückendes Durcheinander im ungelenken Stil eines Kindes. In der oberen Ecke des Briefpapiers war ein Bild von zwei Rotkehlchen auf einem Ast. Dem Brief war ein Schnappschuß von Sue und Dana beigefügt, der auf dem Rasen vor dem Teehaus aufgenommen worden war. Dana hielt Lindsay auf dem Schoß. Lieber Daddy, ich liebe Dich. Ich denke die ganze Zeit an Dich. Ich möchte
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Dich gern besuchen, aber Mami und Mr. Olsen sagen, es ist kein guter Ort für ein kleines Mädchen. Ich dachte mir, dieses Papier mit den Vögeln wird Dir gefallen. Hier ist ein Bild von mir, Mami und Lindsay. Lindsay ist krank gewesen. Manchmal wird ihr schwindlig. Ich wünschte, Du wärst hier. Wir könnten mit dem Toboggan fahren. Ich liebe Dich. Tausend Küsse, Deine Dana. Dave las den Brief zweimal, dann lehnte er sich auf seinem Bett mit dem Rücken an die Wand und konzentrierte sich auf das Foto. Wie wundervoll war das alles, sagte er sich. Sommernachmittage am Teehaus. Kleine Mädchen, Gelächter … Er musterte das Bild und kostete die Erinnerungen aus. Dabei bemerkte er plötzlich die Augen. Sues und Lindsays – sie hatten den gleichen teilnahmslosen, starren Blick.
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36 Während die Wochen sich dahinschleppten, zog sich Dave immer mehr in sich zurück. Er verbrachte seine Tage mit Wachträumen, oder er schrieb Briefe, meistens an Sue und Dana, gelegentlich an seine Schwester Ida. Im Februar starb Sues Mutter; vielleicht hatte das Trauma, einen Mörder in der Familie zu haben, ihren Tod vorzeitig herbeigeführt. Dave schlief schlecht, lag oft bis zum Morgengrauen wach auf seiner eisernen Bettstelle und starrte zur Decke empor. Um sechs in der Früh begann der nächste qualvolle Tag in der beklemmenden Eintönigkeit des Wartesaals zum Tod. Außer dem Gefängnisarzt und einem Psychiater, die regelmäßig nach ihm sahen, war Jeb Olsen sein einziger Besucher. Der Anstaltsgeistliche war in den ersten Wochen vorbeigekommen, aber Dave hatte seine Besuche abgelehnt. Er empfing weiterhin Bitten um Interviews von Journalisten und Vertretern von Gruppen, die gegen die Todesstrafe waren, aber er weigerte sich, sie zu empfangen. Im Lauf der Monate fällten die Gerichte weitere Todesurteile, und die Zellen begannen sich zu füllen. Bis Mitte April waren zwei Einheiten im K-Trakt von Green Haven besetzt. Die Nähe der Zellen zueinander ermöglichte es den vier Insassen einer Einheit, sich zu unterhalten, auch wenn sie einander nicht sehen konnten. Unter den drei Männern, die Daves Abteilung teilten, entwickelte sich ein kameradschaftliches Verhältnis, aber Dave hielt sich abseits. Die anderen tauschten begierig Informationen über mögliche Rechtsmittel aus und waren verblüfft über das Schweigen des Mannes neben ihnen, der sein Verfahren zu beschleunigen wünschte. Daves äußere Erscheinung änderte sich merklich. Er nahm weiterhin ab, und seine von Natur aus tiefliegenden Augen blickten hohl und dunkel. Sein Haar, das sich schon vor seiner Einlieferung ins Gefängnis zu lichten begonnen hatte, fiel jetzt 261
büschelweise aus. An den Seiten und am Hinterkopf bildeten sich kahle Stellen. Der Arzt bezeichnete das als Alopezie, eine Krankheit, die von seelischem Druck verursacht wird. Ida kam ihn Mitte April besuchen. Sie hatte ihm seit seiner Verurteilung ständig geschrieben. Ihre Briefe wirkten gefaßt, aber es war deutlich zu erkennen, wie verzweifelt sie war. Als sie schrieb, daß sie vorhabe, Dave zu besuchen, bat er sie dringend, in Rochester zu bleiben. Nichtsdestoweniger traf eines Nachmittags ein Telegramm ein mit der Nachricht, daß sie am nächsten Tag in Green Haven sein werde. Während sich Dave an diesem Morgen rasierte, betrachtete er sein Gesicht in dem Metallspiegel und fragte sich besorgt, wie seine Schwester auf seinen Anblick reagieren würde. Selbst unter den günstigsten Umständen nervös, war sie schwerlich dazu geschaffen, eine Begegnung im Wartesaal zum Tod zu meistern. Als die Wärter ihn nachmittags in die Besuchszelle führten, machte er sich auf ein tränenreiches Wiedersehen gefaßt. Es dauerte einige Minuten, bis Ida hereingeführt wurde. Als sie eintrat, war er von ihrem Aussehen überrascht. Er hatte sie vor weniger als zwei Jahren in Rochester besucht, aber sie war seither sichtlich gealtert. Als sie sich setzte und ihn durch die Glasscheibe ansah, lag ein verblüffter Ausdruck auf ihrem Gesicht, als fiele es ihr schwer zu glauben, daß dies ihr Bruder sei. »Hallo, Ida«, begrüßte Dave sie zögernd. Obgleich er sich bemühte, leise zu sprechen, ließ die Akustik des Raumes die Worte dumpf durch das Drahtnetz dröhnen, so daß Ida erschrocken zusammenfuhr. Sie sah ihn eine Sekunde lang prüfend an, und dann weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. »O Dave! O mein Gott! Was haben sie mit dir gemacht?«
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»Schon gut, Ida«, sagte Dave beruhigend. »Es ist alles in Ordnung.« Ida schloß die Augen, und ihr Gesicht wurde leichenblaß. Einen Augenblick fürchtete Dave, daß sie ohnmächtig werden könnte, und er sah zum Wärter hinüber, der am Fenster stand. Der Wärter beobachtete Ida aufmerksam und wußte offenbar nicht recht, was er tun sollte. Aber als er im Begriff war, ihr zu Hilfe zu eilen, öffnete sie die Augen. »Dave! O Dave.« Sie senkte den Kopf, und ihre Schultern zuckten, als sie zu weinen anfing. »Bitte, Ida«, sagte Dave. »Bitte, weine nicht. Du mußt versuchen, dich zu beherrschen.« Ida bemühte sich, die Fassung wiederzugewinnen, fing an zu sprechen, aber dann brach sie wieder in Tränen aus. Dave sah sie hilflos an, während sie krampfhaft schluchzend dasaß. Er bemerkte die weißen Handschuhe, die sie mit den Fingern umklammert hielt. Sie hat schon immer Handschuhe getragen, dachte er bei sich. Selbst als kleines Mädchen war sie sehr korrekt gewesen. Seine Hinrichtung würde niederschmetternd für sie sein. Da sie seit dem Tod ihrer Mutter ein fast einsiedlerisches Leben führte, würde sie viel zuviel Zeit haben, über die Tragödie nachzudenken. Er fühlte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, und sah zum Wärter hinüber. Der Mann wandte den Blick ab. »Ida, bitte …« Schließlich richtete seine Schwester sich auf und betupfte ihre Augen mit einem kleinen Spitzentaschentuch. Sie holte tief Luft und atmete mit zitternden Lippen aus. »Es tut mir leid, Dave. Ich war nicht vorbereitet auf …« Sie schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie zögernd fort: »Du hast dich so verändert.« Ihr Blick senkte sich und sie schauderte, als wolle sie wieder in Tränen ausbrechen.
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»Ich weiß«, sagte Dave. »Ich hatte befürchtet, daß es ein Schock für dich sein würde.« »Ich werde schon damit fertig. Laß mir nur einen Augenblick Zeit.« Sie schwieg und versuchte, sich zu sammeln, dann hob sie den Kopf und zwang sich zu einem schwachen Lächeln. »Ich bin dir keine große Hilfe, nicht wahr?« »Schon gut.« Um sie auf andere Gedanken zu bringen, fragte Dave sie nach ihrem Leben in Rochester. Während sie sich unterhielten, wurde Ida ruhiger. Sie erzählte ihm, daß sie den Prozeß aufmerksam in der Presse verfolgt und ständig mit Jeb Olsen in Verbindung gestanden habe. Obgleich Dave versuchte, das Gespräch von seinem Unglück abzulenken, kam sie immer wieder darauf zurück. »Aber was sollen wir machen?« Sie sah ihn forschend an. »Mr. Olsen sagt, du weigerst dich, ihn etwas unternehmen zu lassen. Er meint, daß du es hinter dich bringen willst. Du kannst doch nicht einfach …« »Es gibt nichts, was Jeb tun könnte. Nichts, was irgend jemand tun könnte. Selbst wenn Jeb Erfolg mit einer Berufung hätte, was sehr unwahrscheinlich ist, stehen noch zwei weitere Mordanklagen im Raum. Ich müßte nur die ganze Sache noch einmal durchmachen. Du mußt dich damit abfinden, Ida. Es gibt nur einen Ausweg aus diesem Elend.« »Aber du hast diese Leute doch nicht getötet!« Es war fast ein Schrei. »Du könntest ebensowenig wie ich jemals einen Menschen töten. Wie konnte das alles nur geschehen?« Dave zuckte die Achseln. »Ich kann dir nichts weiter dazu sagen, Ida. Ich habe dir alles in meinen Briefen geschrieben.« Während des Gesprächs, schwand die Gemütsbewegung, die er anfangs empfunden hatte, und die Apathie des Wartesaals zum Tod gewann die Oberhand. »Je eher es vorüber ist, um so
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besser. Für dich, für mich, für alle. Ich will keine lange, melodramatische Geschichte.« »Aber was ist mit Sue und Dana? Wenn du es schon nicht für dich tust, was ist mit ihnen?« Dave beobachtete, wie sie beim Sprechen nervös mit ihrem Taschentuch spielte. Er wünschte, daß er wieder in seiner Zelle wäre – in der Ecke an der Wand. Er könnte die Beine anziehen, sich zurücklehnen und an die Vergangenheit denken. Niemand störte ihn dort. »Mr. Olsen sagt, daß Sue dich nicht besucht hat«, fuhr Ida fort. »Daß niemand bei dir war, daß du keinen Menschen sehen willst.« Dave rutschte auf seinem Schemel hin und her. »Es ist niemandem damit gedient, daß Sue herkommt. Es würde alles nur noch schlimmer machen. Sieh dir an, was heute geschehen ist Je eher sie mich vergißt, um so besser. Das gleiche gilt für Dana – besonders für Dana.« »Aber sie ist deine Frau … und Dana deine Tochter.« »Sie müssen ihr eigenes Leben leben. Nüchtern gesehen bin ich bereits tot.« Seine Schwester wollte etwas erwidern, aber sie brachte keinen Ton hervor. Der Wärter machte ihnen ein Zeichen, daß die Besuchszeit vorüber sei. Ida senkte den Kopf und fing wieder an zu weinen, als Dave hinausging. Nach seiner Rückkehr in die Zelle sank er kraftlos auf sein Bett. Die Begegnung hatte ihn erschüttert. Bei dem Gedanken, daß er seine Schwester wahrscheinlich nie wiedersehen würde, war ihm klargeworden, wie wenig Zeit ihm noch blieb. Im Grunde hatte der Besuch sowohl ihn als auch Ida nur noch mehr aufgewühlt. Angesichts dieser Erkenntnis war er mehr denn je entschlossen, Sue nicht zu sehen. Er würde es nicht ertragen. Dave drehte sich zur Wand, damit der Wärter, ein schweigsamer Schwarzer namens Jackson, sein Gesicht nicht sah. Es war das einzige bißchen Privatsphäre, das ihm noch
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geblieben war. Hier, die Stirn an die Wand gepreßt, konnte er die Welt vergessen. Es gab nichts. Nur die Wand. Er konnte es schaffen, wenn man ihm die Wand ließ. Ja, Sue hatte recht wie immer. Aber er wünschte sich doch, sie zu sehen, ehe er starb. Wenn auch nur für ein paar Minuten. Nur, um ihr zu sagen, daß er sie liebte. Er zwang sich, den Gedanken zu verdrängen. Er mußte an etwas Angenehmes denken. Woran? An den Frühling! Ja, natürlich. Draußen war Frühling. Rotkehlchen. Grasmücken. Die kleinen Zaunkönige, die so fröhlich sangen. Im Blumengarten kamen sicher schon die ersten Tulpen heraus. Ja, das war’s! Er würde im Blumengarten sitzen und Sue bei ihrer Arbeit zusehen. Dana kniete neben ihr und sang mit ihrer komischen kleinen Stimme, die er so sehr liebte. Sue würde dafür sorgen, daß Dana ein paar Blumen bekam, die sie selbst pflanzen und pflegen konnte. Wahrscheinlich Dahlien. Sie wurden groß und üppig und waren eine Freude für ein junges Herz, wenn sie im Juli in ihrer ganzen Farbenpracht erblühten. Juli! Ach ja, ein herrlicher Monat in Tarrytown. Dave schloß die Augen und preßte die Stirn gegen die kalte Mauer.
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37 »Es sind nur zehn Schritte vom Wartesaal zum Tod, Mann, aber wenn du durch die Tür dort gehst und dieses gottverdammte Ding zum erstenmal siehst – das ist der Moment, wo dir’s Blut in den Adern gerinnt. Wo du dir wirklich in die Hose scheißt. Hab ich recht, Jackson?« Der Mann, der so sprach, war Willie Howell, ein schwarzer Häftling, der die dritte Zelle in Daves Einheit hatte. Aus den Zeitungen wußte Willie genau über das Hinrichtungsritual Bescheid, und er gab seine Kenntnisse bereitwillig an die übrigen Insassen des K-Trakts weiter. »Und es ist egal, ob du schwarz bist oder weiß. Jeder, der da reingeht, um zu sterben, ist grau, Mann! Ja, genau, grau vor Angst! Fast alle kriegen das Zittern und wollen nicht weiter. Aber ob du willst oder nicht, die Wärter schleppen dich auf den Stuhl und schnallen dich fest. Dann fragt der Aufseher, ob du noch was sagen willst. Die meisten wollen’s nicht. Die gottverdammten Worte bleiben ihnen im Hals stecken. Dann drückt der Mann in dem kleinen Büro nebenan den Schalthebel runter und zack! Zweitausend Volt! Du siehst aus, als hätt’ dich ein Orkan gepackt. Eine kleine Rauchwolke steigt auf, und es ist vorbei.« Eine Weile herrschte Schweigen, während Willies Mitgefangene über die Beschreibung nachdachten. Dann sagte der Häftling in der Zelle neben ihm, ein achtzehnjähriger Weißer: »Aber es tut nicht weh. Man sagt, du fühlst nichts …« »Nein, gar nix«, bestätigte Howell. »Sobald dieser verdammte Stromschlag dich trifft, bist du tot, Mann. Sie lassen dich nur noch ‘ne Weile schmoren, damit alle auf ihre Kosten kommen. Es gibt einen ziemlichen Gestank. Nicht wie in Jacksonville, wo sie eine Glaswand hatten, durch die man durchsehn konnte. Hier sind alle im selben Raum. Die Zeugen auch. Sie riechen das verbrannte Haar und die Scheiße, in der du sitzt, und vielen von ihnen wird’s schlecht. Aber das macht 267
dir nix aus. Du bist weg, Mann! Es ist der Weg auf den Stuhl, was schwerfällt. Die letzten zwölf Stunden. Das Rumsitzen in diesem gottverdammten Wartesaal zum Tod!« »Warum nennt man es so?« fragte der Junge. »Mann, ist doch logo! Weil man da drin nur noch eins tut: drauf warten, daß sie einen abmurksen! Es ist wie …« »He, Howell, Schluß damit! Wer will sich den ganzen Tag diesen Scheiß anhören!« Es war Jackson, der diensthabende Wärter. »Was kümmert Sie das, Mann?« erwiderte Howell. »Sie sind doch draußen. Sie brauchen sich um nix zu sorgen.« Dave drehte sich auf seinem Bett zur Wand. Er schaltete die Stimmen aus. Ebenso wie die anderen im K-Trakt hatte er gelernt, sich von der Welt zurückzuziehen. Es fehlten nur noch knapp zwei Wochen bis zu seiner Hinrichtung. Je näher der Augenblick kam, um so größer wurde seine Angst. Durch die Gespräche der anderen Häftlinge war er bis ins letzte über die Verfahrensweise unterrichtet. Am Morgen des 14. Juli würde man ihn unmittelbar nach dem Frühstück in den eigentlichen »Wartesaal zum Tod« neben dem Hinrichtungsraum bringen, ihm andere Kleider geben und ihm den Kopf rasieren. Um 17 Uhr würde er eine letzte Mahlzeit nach seiner Wahl serviert bekommen. Um 20 Uhr würden alle Besucher fortgeschickt werden, und der Countdown würde beginnen. Um 22 Uhr würde der Anstaltsgeistliche kommen, falls Dave es wünschte. Um 22.58 Uhr würden der Gefängnisdirektor und ein anderer Beamter ihn in den Hinrichtungsraum führen. Um 23 Uhr würde er sterben. Er war auf den Tod vorbereitet. Seine Sorge galt allein der Frage, ob er, wenn der Augenblick gekommen war, würdevoll werde sterben können. Er hatte monatelang die Witzeleien der anderen Häftlinge über diejenigen mit angehört, die bereits
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»die letzte Meile« gegangen waren. Er kannte die Geschichten über ihre Reaktionen während der letzten Minuten auswendig. Die Berichte hatten ihn veranlaßt, sich zu fragen, ob er die innere Kraft besitze, der Prüfung standzuhalten. Der Hinrichtungsraum würde voll von Journalisten sein, und sie würden die ganze Welt mit schreckenerregenden Einzelheiten über seine letzten Augenblicke beliefern. Was, wenn er schwach wurde und man ihn, wie so viele andere, zum Stuhl schleppen mußte? Einer der Ärzte hatte gesagt, daß es für diejenigen am leichtesten sei, die wenig Vorstellungskraft besäßen. Das war kein Trost, denn Dave hatte eine sehr lebhafte Phantasie. Plötzlich wurden seine Grübeleien durch das Klirren eines Schlüsselbundes unterbrochen. Es war ein Geräusch, dem immer gespannte Stille im K-Trakt folgte, während die Insassen darauf warteten, was geschehen würde. Dave drehte sich um und sah Kolder im Durchgang auftauchen. Der Beamte sprach durch die Gitterstäbe mit Jackson, der daraufhin zu Dave hinüberblickte. Offensichtlich galt sein Besuch ihm. Jackson kam mit einem Schlüssel in der Hand auf Daves Zelle zu. »Ich habe Neuigkeiten für Sie, Powell. Ihr Anwalt ist hier. Der Gouverneur hat Ihnen einen Aufschub gewährt – zwei Wochen!« Dave fuhr wie elektrisiert in die Höhe. Aber die anfängliche freudige Erregung und Erleichterung wichen sehr rasch der Erkenntnis, daß der Aufschub schwerlich dazu beitragen würde, seine Lage zu ändern. Mit gemischten Gefühlen trat er auf den Korridor hinaus. Jeb Olson wartete in der Besucherzelle; ein Ausdruck von verhaltener Freude lag auf seinem Gesicht. »Es ist nicht nur, daß das Appellationsgericht über diese Formfehler im Prozeß zu entscheiden hat«, sagte er, nachdem er Dave strahlend begrüßt hatte. »Nun kommt der Gouverneur in den Fall hinein. Da kann noch viel geschehen. 269
Es besteht immerhin die Möglichkeit, daß er Ihre Strafe aussetzt.« Dave schüttelte den Kopf. »Man wird meine Verurteilung nie im Leben wegen technischer Formalitäten für ungültig erklären. Und wie kann er meine Strafe aussetzen? Er ist schließlich Gouverneur geworden, weil er versprochen hat, die Todesstrafe wieder einzuführen. Es wäre politischer Selbstmord. Und nicht nur das, es gibt dort drinnen noch sieben andere, die auf ihre Hinrichtung warten, und fünf von ihnen sind Schwarze. Er würde sich sämtliche schwarzen Organisationen des Landes auf den Hals hetzen, die alle fordern würden, daß er das gleiche für ihre Leute tut wie für mich.« »Aber wir haben noch zwei Wochen. Solange wie Sie am Leben sind, besteht Hoffnung.« Dave schüttelte wieder den Kopf. »Das ganze Land ist überzeugt davon, daß ich drei Menschen getötet habe. Man hat den Befürwortern der Todesstrafe Hinrichtungen versprochen. Wenn man mich nicht hinrichtet, wen dann?« Er wandte den Blick ab und rieb sich mit der Hand den Nacken. Jeb saß einen Augenblick schweigend da. Schließlich nahm er ein braunes Kuvert zur Hand, das er auf dem Schoß liegen hatte. »Ich möchte zunächst einmal diese Schriftstücke mit Ihnen durchgehen.« Er zog ein Bündel Papiere aus dem Kuvert und fing an, die technischen Aspekte des Aufschubs zu erörtern. Dave hörte teilnahmslos zu. Während einer Gesprächspause fragte er: »Wie geht es Sue und Dana?« »So gut, wie zu erwarten.« Es entstand wieder eine Pause, und dann sagte Dave zögernd: »Nun … können Sie mir nicht ein wenig mehr erzählen? Ich wüßte gern, wie’s daheim läuft.«
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»Im großen und ganzen recht gut. Bryan White sagt, jetzt wo die Transaktion mit Hunter abgeschlossen ist, bessert sich die finanzielle Lage …« »Das weiß ich alles. Ich meine die Familie – Sue und Dana.« »Gut. Recht gut. Ich habe mit Ida telefoniert. Sie schickt Ihnen Fotografien.« »Fotografien? Oh, Sie meinen ihr Album. Ja, wir haben darüber gesprochen. Sie sammelt seit unserer Kindheit Fotos. Es wird mir helfen, mir die Zeit zu vertreiben.« »Wird man es Ihnen lassen?« »Natürlich. Ich habe ja auch die Bücher, die Sue mir geschickt hat, erinnern Sie sich? Man wird es auseinandernehmen; sich vergewissern, daß auf der Rückseite der Fotos keine Giftpaste ist. Sie entfernen sogar die Heftklammern aus den Zeitschriften.« »Die Heftklammern? Was könnte man mit einer Heftklammer anfangen?« »Wer weiß?« Dave zuckte die Achseln. »Vielleicht meinen sie, man könnte sie sammeln und eine Art Messer daraus machen. Ich nehme an, wenn man genügend davon hätte, könnte man tatsächlich etwas damit anfangen. Sagen Sie, Jeb …« »Ja?« »Es geht Dana doch gut, nicht wahr?« »Nun … ganz gut.« »Was soll das heißen?« »Es ist so, daß ihre Perioden von … sagen wir Unsicherheit, jetzt häufiger werden. Aber Dr. Heming ist wundervoll. Tag und Nacht verfügbar.« Dave senkte den Kopf. Nach einem Augenblick des Schweigens sagte er: »Ich glaube nicht …« Er zögerte, dann 271
fuhr er fort: »Wäre es verrückt, sie zu bitten herzukommen?« Der Anwalt sah ihn überrascht an. »Ich weiß«, murmelte Dave. »Nach allem, was ich gesagt habe. Aber ich möchte sie sehen, ehe ich sterbe – nur für ein paar Sekunden.« Jeb machte sich verlegen an seinem Kuvert zu schaffen. »Sind Sie sicher, daß Sie das wollen, Dave? Es könnte zu diesem Zeitpunkt sehr schwierig für alle Beteiligten sein.« Dave nickte. »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Ich weiß nicht einmal, warum ich überhaupt daran denke. Es ist nur, daß ich jetzt, wo es näherrückt …« »Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach Jeb und stand auf. »Haben Sie sonst noch einen Wunsch? Irgendwelche Anrufe, die ich erledigen soll?« »Nein, vielen Dank. Aber greifen Sie bitte nicht mehr in das Verfahren ein. Ich will die Sache hinter mich bringen.« Jeb nickte grimmig. »Ich verstehe. Auf bald.« Beim nächsten Besuch seines Anwalts erfuhr Dave, daß alle Rechtsmittel versagt hatten und ein neuer Termin für seine Hinrichtung festgesetzt worden war. Wenn der Gouverneur nicht eingriff, würde Dave am Donnerstag, dem 28. Juli, sterben. Jeb hatte Sue nicht überreden können, ins Gefängnis zu kommen. Sie hatte jedoch eingewilligt, Dana zu ihm zu lassen. Dave war überglücklich. Er verbrachte seine letzten Tage in der Zelle damit, seine Angelegenheiten zu ordnen. Sein Testament war bereits aufgesetzt, aber er ging noch einmal alle Punkte durch, um sich zu beschäftigen und nicht an die Hinrichtung zu denken. Trotz dieser Ablenkungen konnte er jedoch dem Gedanken an den elektrischen Stuhl nie lange entrinnen. Die Begegnung mit Dana fand am Dienstag, zwei Tage vor seiner geplanten Hinrichtung, statt. Um dem Kind das Trauma der Besucherzelle zu ersparen, hatte Richard Wallace 272
einen Konferenzraum neben seinem Büro für eine Viertelstunde zur Verfügung gestellt. Es war kurz vor elf, als der Oberaufseher und zwei Wärter vor Daves Zelle erschienen, um ihn zum Büro des Direktors zu begleiten. Jeb Olsen wartete mit Wallace an der Tür des Konferenzraums. Obgleich Jeb lächelte, war ihm seine Nervosität deutlich anzumerken. »Dana wartet drinnen auf Sie, Dave«, sagte Jeb mit künstlicher Unbeschwertheit. »Sie ist munter und vergnügt.« Er klopfte Dave auf die Schulter. »Aber vergessen Sie nicht, es ist eine Weile her, seit sie Sie zum letztenmal gesehen hat. Sie wird vielleicht ein paar Minuten brauchen, bis sie sich wieder an Sie gewöhnt, hm?« Die Tür öffnete sich, und Dave trat ein, gefolgt von den zwei Wärtern und dem Direktor. Dana saß auf einem Stuhl am anderen Ende des Zimmers. Sie hielt Lindsay auf dem Schoß. Die Sonne schien durch das Fenster hinter ihr, und Dave konnte zuerst ihr Gesicht nicht deutlich sehen. Als er näher kam, erschrak er. Sie sah älter, dünner aus. Der Anblick erfüllte ihn mit tiefer Wehmut, aber er riß sich zusammen und zwang sich zu einem Lächeln. »Hallo, mein Spätzchen«, sagte er fröhlich. Dana war einen Augenblick verdutzt und sah ihn fragend an. Dann erhellte sich ihr Gesicht zu einem strahlenden Lächeln. »Daddy!« Sie breitete die Arme aus. »Daddy, ich freu mich so, dich zu sehen!« Dave lief rasch zu ihr, umarmte sie und vergrub das Gesicht in ihrem Haar. Sie schlang die Arme um seinen Hals und schmiegte sich zärtlich an ihn. Plötzlich brachen die Gefühle, die er so streng beherrscht hatte, unaufhaltsam hervor. Als Dana sich aus seiner Umarmung lösen wollte, hielt er sie fest an sich gedrückt und rang vergebens nach Fassung. »Daddy, du tust mir weh.«
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Er richtete sich auf, nahm ihre Hände in die seinen und sah ihr in die Augen. »Wie geht es dir, Liebling? Es ist so schön, dich zu sehen. Du bist ein richtig großes Mädchen geworden. Lindsay auch. Ich habe sie kaum wiedererkannt.« »Daddy, ich hab dich fast nicht erkannt.« Sie sah ihn mit unschuldigen Augen an – mehr verwundert als besorgt. »Du bist so dünn. Und deine Haare …« Der Gefängnisdirektor bot ihm schweigend einen Stuhl an, dann zog er sich mit den anderen in respektvolle Entfernung zurück. Dave setzte sich dicht neben Dana. Sonnenlicht flutete durch das Fenster, dessen Oberlicht gekippt war. Er rückte den Stuhl zurecht, damit das grelle Licht ihm nicht in die Augen schien. »Wie geht es Lindsay?« fragte er und klopfte der Puppe leicht auf die Wange. »Oh, es geht ihr gut. Sie weint nicht mehr. Sie ist aus meinem Schlafzimmerfenster auf die Terrasse gefallen. Das war das letztemal, daß sie geweint hat. Ich nehme an, sie wird langsam erwachsen.« Dave lachte zum erstenmal seit Monaten. Es war ein übermäßig lauter Ton, der von den kahlen Wänden widerhallte und mehr wie ein Schluchzen als ein Lachen klang. Er warf einen Blick auf die Wärter, deren Augen mitfühlend, aber wachsam auf ihm ruhten. Dann streckte er die Arme aus und hob Dana von ihrem Stuhl auf seinen Schoß. Obgleich sie gewachsen war, war sie überraschend leicht. Er küßte sie abermals, preßte das Gesicht an ihre Wange, drückte den kleinen, warmen Körper an sich und sog den frischen Duft ihrer Haare ein. Tränen der Bitterkeit stiegen ihm in die Augen. Sie unterhielten sich, und Dave, der verhindern wollte, daß Dana ihm irgendwelche Fragen stellte, lenkte das Gespräch auf zu Hause, die Schule, Puff … Für eine kleine, beglückende Weile konnte er sich in der Welt seines Kindes verlieren –
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einer Welt, in der es keine Todeszelle gab. Während sie sprachen, bemerkte Dave durchs Fenster einen kleinen Vogel, der sich auf dem Sims eines gegenüberliegenden Gebäudes niederließ. Es war lange her, seit er zum letztenmal einen Vogel gesehen hatte, und er beobachtete ihn eine Sekunde lang wie gebannt. Dana folgte seinem Blick. »Was siehst du dir an, Daddy?« »Den Vogel. Dort drüben. Es könnte ein goldgelber Waldsänger sein oder ein Stieglitz. Schau, seine Flügel und sein Schwanz sind dunkel. Vielleicht singt er für uns.« Sie lauschten einen Augenblick, aber der Vogel gab keinen Ton von sich. Und bald schwang er sich elegant in die Luft und verschwand aus ihrem Gesichtskreis. Die vorgesehene Besuchszeit von fünfzehn Minuten war längst vorüber, als der Direktor Daves Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Dave nickte und stand auf, Dana immer noch in den Armen haltend. »Es ist Zeit zu gehen, Liebling.« Er küßte sie und setzte sie behutsam wieder auf den Stuhl. »Wir haben uns gut amüsiert, nicht wahr?« »Wann darf ich wiederkommen?« »Das werden wir sehen. Bedank dich bei Mr. Wallace, daß er so nett zu dir war.« »Ja, Daddy. Weißt du, ich finde, es ist gar nicht so schlimm hier. Die Leute sind alle sehr nett.« »Ja, das sind sie.« »Ich wünschte, du würdest bald nach Hause kommen, Daddy. Ich habe solche Sehnsucht nach dir. Wenn ich zu Bett gehe, stelle ich mir immer vor, daß du kommst und mir eine Geschichte erzählst, wie du es früher getan hast.« Dave beugte sich hinunter und küßte sie ein letztes Mal. Tränen brannten in seinen Augen, und seine Kehle war wie
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zugeschnürt. »Oh, Daddy, bevor du gehst … Ich hätte fast vergessen, dich zu fragen. Ich hab mir Gedanken über etwas gemacht.« »Worüber denn?« »Wenn du nach Hause kommst, was wird aus unseren Spaziergängen zu den Vögeln? Ich kann nicht mehr sehr gut gehen …« Sie schwieg und sah ihren Vater fragend an. »Was ist los, Daddy?« »Nichts. Es ist nur die Sonne.« Dave zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Keine Sorge. Nächstesmal, wenn wir uns sehen, machen wir unseren Spaziergang zu den Vögeln. Ich verspreche es dir. Aber jetzt mußt du gehen. Lebwohl, Spätzlein.« Er wandte sich ab, doch sie rief ihm nach: »Daddy, du hast etwas vergessen.« Ein leiser Vorwurf lag in ihrem Ton. »Was habe ich denn vergessen?« fragte er und wandte sich nach ihr um. »Lindsay. Du hast Lindsay keinen Abschiedskuß gegeben.« Sie hielt ihm die Puppe hin. »Wie konnte ich das nur vergessen?« Daves Stimme klang erstickt. Er bückte sich und küßte die Puppe leicht auf die Wange. »Auf Wiedersehen, Lindsay.« Plötzlich ertönte draußen in der Ferne der trillernde Gesang eines Vogels. Die zarte, süße Melodie schwebte durch die Sommerluft und erfüllte den Raum mit ihrem fröhlichen Klang. »Oh, horch, Daddy. Es ist der goldgelbe Waldsänger. Er singt für uns!«
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38 »Du hast noch dreißig Stunden, Mann. Da kann noch viel geschehen. Oberstes Bundesgericht. Ein Aufschub durch den Gouverneur – nur verlaß dich nicht auf diesen Scheißkerl. Der schickt jeden von uns auf den Stuhl, wenn er nur irgend kann.« Es war der Nachmittag vor Daves geplanter Hinrichtung. Willie Howell gab vom anderen Ende der Einheit seine Meinung zum besten. Dave hörte nicht zu. Er saß auf dem Rand seines schmalen Eisenbetts und las einen Nachtrag zu seinem Testament, mit dem er einem seiner Hausangestellten eine kleine Leibrente aussetzte. Plötzlich kündigte das Klirren des Schlüsselbundes die Ankunft des Oberaufsehers an. Kolder hatte ein großes Buch bei sich. »Ich hab hier ein Album für Sie, Powell.« Er reichte Jackson das Buch durch das Gitter, und der brachte es zu Daves Zelle. Es war Idas Fotoalbum. »Vielen Dank.« Dave streckte die Hand durchs Gitter, um dem Wärter das Buch abzunehmen. »Ich hatte mich schon gefragt, ob es noch rechtzeitig kommen würde.« Er schlug das Album auf und blätterte es durch. Ein großer Teil der Zeitungsausschnitte und Bilder war von der Kontrollbehörde herausgetrennt worden und lag lose zwischen den Seiten. Nach einem flüchtigen Blick schloß Dave das Buch und legte es ans Kopfende seines Bettes. Er würde sich die Bilder nach dem Essen in aller Ruhe ansehen. Seine Mahlzeit bestand an diesem Abend aus einem Teller Erbsensuppe, Corned beef, einer Scheibe Brot, einer kleinen Schüssel Pflaumenkompott und einem Becher Kakao. Er sparte den Kakao auf, um ihn zu trinken, während er das Album durchblätterte. Nach dem Essen setzte er sich wie immer mit angezogenen Beinen, den Rücken an die Wand gelehnt, aufs Bett. Er legte sich das Album auf die Knie und trank langsam seinen Kakao, während er Seite für Seite anschaute. Die Bilder, im Laufe der
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Jahre von seiner Mutter und Ida gesammelt, waren eine umfassende Chronik der Familie Powell. Es gab Kinderbilder von Dave und Ida, Bilder von ihren Eltern vor dem Haus der Familie in der Chestnut Street und welche von Ida in der Uniform der Mädchenschule, die sie besucht hatte. Es gab Fotos von Geburtstagsgesellschaften und Abschlußfeiern in der Schule und Zeitungsberichte über Daves sportliche Leistungen. Aber was Dave am meisten interessierte, waren die Pressemeldungen über seine Verlobung mit Sue und über ihre Hochzeit. Er blätterte langsam Seite für Seite um, prüfte genau jede Eintragung und kostete die Erinnerungen aus, die die Bilder heraufbeschworen. Wie schön war das alles gewesen; es kam ihm jetzt im Rückblick wie eine Traumwelt vor. Während er gemächlich weiterblätterte, überkam ihn ein seltsames Gefühl des Wohlbehagens – eine vorübergehende Euphorie, die er angesichts des morgigen Tages erstaunlich fand. Er dachte an Ida und die Mühe, die sie sich gegeben hatte, diese Erinnerungen zu sammeln und zu bewahren. Er würde ihr morgen schreiben, wie sehr das Album ihm geholfen hatte. Aber morgen war der letzte Tag. Würde man ihm erlauben, im Wartesaal zum Tod zu schreiben? Er mußte Kolder fragen. Bei dem Gedanken an den Weg nach oben durchlief ihn ein Schauer. Entschlossen, nicht mehr daran zu denken, hob er den Becher an die Lippen. Der Kakao war kalt, aber er schmeckte gut. Es war neun Uhr vorbei, und er sah das Album zum zweitenmal durch, als er plötzlich eine Entdeckung machte, die so überwältigend war, daß er sie zuerst kaum fassen konnte. Wie gebannt starrte er auf einen alten Ausschnitt aus der Gesellschaftsspalte einer New Yorker Zeitung – ein Bild von Sue und ihren Eltern unter einer Reihe von Prominenten, die einer Segelregatta in Newport zusahen. Er fand das Datum links oben – 1. Juli 1962. Zwei Tage vor Ann Conways Tod.
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Wäre ich damals bei Sue gewesen statt am Lake Placid, wäre mir dieser Alptraum erspart geblieben. Es war ein nichtssagendes Bild, undeutlich und vergilbt, und Dave hätte ihm wenig Beachtung geschenkt, hätte nicht ein winziger Gegenstand seine Aufmerksamkeit erregt. Obgleich nur ein kleiner Fleck an Sues Hals, kaum wahrnehmbar vor dem grauen Hintergrund, stach er ihm in die Augen – eine schimmernde goldene Erinnerung. Sie traf ihn wie ein elektrischer Schlag und löschte all die romantischen Erinnerungen aus, in denen er eben noch geschwelgt hatte.
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39 Staatliche Strafvollzugsbehörde des Staates New York, Green Haven Stormville, New York 12582 Mr. Thomas L. Lewis 21. Juli 1983 24 Locust Lane Hawthorne, New York Sehr geehrter Mr. Lewis, gemäß Paragraph 5 07 des Strafvollzugsgesetzes fordere ich Sie hiermit auf, der Hinrichtung von DAVID R. POWELL, GHP Nr. 129 760, die auf Donnerstag, den 28. Juli, anberaumt ist, als Zeuge beizuwohnen. Die Amtshandlung ist auf 23 Uhr festgesetzt, und Sie werden ersucht, sich bis spätestens 22 Uhr in meinem Büro einzufinden. Diese Mitteilung ist als vertraulich zu betrachten, und ich bitte Sie, mich umgehend zu benachrichtigen, falls Sie verhindert sein sollten. Diese Einladung ist unter keinen Umständen übertragbar. Bitte zeigen Sie diesen Brief am Eingang vor. Hochachtungsvoll Richard J. Wallace, Direktor Richard Wallace warf einen Blick auf den Brief, den John Pike ihm gereicht hatte. »Na und?« Er sah den stellvertretenden Direktor, der vor seinem Schreibtisch stand, fragend an. »Lesen Sie, was oben steht«, sagte Pike. Der Direktor blickte wieder auf den Brief. In der oberen linken Ecke stand in Maschinenschrift eine kurze Mitteilung, die er übersehen hatte. Sie stammte offensichtlich vom Empfänger der Einladung und lautete: Warum ich diesen abscheulichen Wisch erhalten habe, weiß 280
ich nicht Es ist mir völlig unbegreiflich, wie Sie annehmen können, daß ich solch einem widerwärtigen Schauspiel beiwohnen möchte. Warum bringen Sie diese arme Seele nicht ins Yankee-Stadion oder übertragen Ihre grauenhafte Show im Fernsehen? T. L. Lewis Nachdem Wallace die Mitteilung gelesen hatte, blickte er verwirrt auf. »Was ist geschehen?« Pike zuckte die Achseln. »Die Einladung ist an die falsche Adresse gegangen. Es gibt zwei Thomas Lewis in derselben Ortschaft. Es hat eine Verwechslung gegeben.« »Nun, es ist Ihnen sicher nicht schwergefallen, einen anderen Zeugen zu finden, oder?« »Nein, ganz im Gegenteil. Die Leute reißen sich darum dabeizusein. Aber dieser Lewis hat sich mit den Medien in Verbindung gesetzt. Anscheinend glaubt er, wir hätten die Einladungen aufs Geratewohl versandt. Jedenfalls hat mich ein Reporter angerufen, und darum hielt ich es für besser, Ihnen Meldung zu machen.« »Hoffen wir, daß dies die einzige Panne bleibt.« Wallace gab seinem Stellvertreter die Einladung zurück, stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Der Druck, dem er angesichts der bevorstehenden Hinrichtung von allen Seiten ausgesetzt war, machte sich allmählich bemerkbar. Er war an diesem Tag ungewöhnlich kurz angebunden gewesen und hatte drei Päckchen Zigaretten geraucht. Jetzt hob er den Kopf und sah auf seine Armbanduhr. Es war fast Mitternacht. Keine vierundzwanzig Stunden mehr, dachte er. Er rieb sich die Augen und sah Pike an. »Ich muß weg von hier und ein paar Stunden schlafen. Wie sieht es draußen aus?« »Die Demonstration?« Pike rollte die Augen. »Unter Kontrolle. Zumindest bis jetzt. Einige Leute haben
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heute nachmittag den Kordon durchbrochen und die Nordwand mit roter Farbe beschmiert. Das ist so ziemlich alles. Aber morgen wird es schwierig. Vermutlich werden sich eine Menge Leute dort draußen versammeln. Wir sollen in aller Frühe ein weiteres Kontingent von berittenen Polizisten bekommen. Sagen Sie, ich habe gehört, es sollen noch mehr Leute von der Presse zugelassen werden? Wir haben aber doch nur vier Bänke im Hinrichtungsraum.« »Wir haben heute nachmittag Anweisungen aus Albany erhalten. Die Medien bedrängen den Gouverneur. Wenn Sie die Leute richtig reinzwängen, müßten Sie sechs in jeder Reihe unterbringen können.« »Aber wir haben bereits neunzehn autorisierte Zuschauer, die dabeisein müssen. Das Gesetz schreibt genau vor, wer einer Hinrichtung beizuwohnen hat.« »Das Gesetz berücksichtigt aber nicht die Medien.« Wallace zündete sich wieder eine Zigarette an. »Hören Sie zu, John, machen wir uns nichts vor. Ganz gleich, wie viele die Genehmigung erhalten, wir müssen sie reinquetschen. Wir haben keine andere Wahl. Lassen Sie mehr Sitze aufstellen. Sie haben über drei Meter zwischen dem Stuhl und der ersten Reihe.« »Aber wir können die Leute doch nicht direkt vor den elektrischen Stuhl setzen!« »Also Sie müssen sie irgendwie unterbringen.« Wallace zog an seiner Zigarette und blies den Rauch in die Luft. »Wie hält sich Powell?« »Bis vor ein paar Stunden ging es ihm gut. Aber dann ist er plötzlich in große Erregung geraten. Will seinen Anwalt sprechen. So geht’s immer. Mit einemmal wird ihnen klar, daß es keinen Ausweg mehr gibt, daß es wirklich zu Ende geht.« »Irgendwelche anderen Probleme?« 282
»Nein. Nur die Demonstration im Speisesaal. Sonst scheint alles in Ordnung zu sein. Aber die Atmosphäre ist äußerst gespannt.« »Es wird morgen bestimmt noch schlimmer. Was ist mit der Probe?« »Wir sind bereit«, erwiderte Pike. »Um 15 Uhr werden sich alle im Hinrichtungsraum versammeln. Franklin, der Vollstrecker, ist heute nachmittag angekommen und hat bereits die Geräte überprüft.« »Earl Franklin? Ich habe ihn seit über fünfzehn Jahren nicht gesehen. Hoffentlich weiß er noch, was er zu tun hat. Er muß doch schon uralt sein, nicht wahr?« »Man hat uns versichert, er sei ein hochqualifizierter Mann.« »O ja, das ist er«, sagte der Direktor. »Ich kann nur hoffen, daß er nicht aus der Übung ist. Glauben Sie mir, es kann vieles schiefgehen, selbst bei ihm. Ich war mit ihm in Sing Sing – es muß Ende der fünfziger Jahre gewesen sein – , als er einen Mann und eine Frau hinrichtete, beide am selben Abend. Es war schrecklich!« Er beugte sich vor und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Die Frau war hysterisch. Mußte hereingetragen werden. Aber nicht genug damit. Sie war so abgemagert, daß die Elektrode von ihrem Bein abfiel – fing an, Funken zu sprühen wie eine Wunderkerze. Wir mußten mittendrin aufhören und noch mal von vorne anfangen. Die Zeugen verließen fluchtartig den Raum, als es vorüber war.« John Pike rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Franklin hat vor ein paar Monaten die Hinrichtung in Jacksonville durchgeführt. Anscheinend ist alles reibungslos verlaufen.« »Es hängt sehr viel von Powell ab. Wenn er durchdreht, wird es für alle schwieriger. Sie sagen, er fängt an, die Nerven zu verlieren? Das wundert mich. Er kam mir vor wie jemand, der
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damit fertigwerden kann.« »Ich weiß nicht, ob er tatsächlich die Nerven verliert. Man hat mir gesagt, er sei plötzlich in große Erregung geraten. Besteht darauf, unbedingt mit seinem Anwalt zu sprechen.« »Nun, er kann mit ihm reden, aber es wird ihm jetzt nichts mehr nützen. Kommen Sie, wir machen Schluß für heute. Wir haben morgen alle einen schweren Tag vor uns.«
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Zehnter Teil DER WARTESAAL ZUM TOD JULI 1983
40 »Ich würd was essen, wenn ich Sie wäre«, sagte Jackson. »Ein voller Magen beruhigt, Mann. Fragen Sie Doktor Paget. Der hat schon viele sterben sehen. Er sagt, diejenigen, die vorher essen, werden am besten damit fertig.« Dave nahm widerwillig den Pappbehälter mit dem Frühstück in Empfang: ein kleiner Becher Grapefruitsaft, Hafergrütze, zwei Scheiben Toast, ein Stückchen Margarine und eine Portion schwarzen Kaffee. Er hatte dem Wärter gesagt, er solle sein Frühstück den anderen Häftlingen geben, aber Jackson bestand darauf, daß er es nahm. Der Geruch des Kaffees verursachte ihm Übelkeit. Er stellte ihn beiseite. Nachdem er ein paarmal auf und ab gegangen war, ließ er sich erschöpft auf den Bettrand sinken. Er hatte die ganze Nacht wach gelegen. »Noch immer keine Nachricht von Olsen?« fragte er. Jackson, der jetzt direkt vor Daves Zelle postiert war, schüttelte den Kopf. »Es ist erst sieben, Mann. Dort draußen ist noch niemand auf.« »Man hätte ihn schon gestern abend benachrichtigen sollen. Falls Sie es vergessen haben sollten, ich habe nicht mehr viel Zeit.« »Ich hab Ihnen doch gesagt, Powell, ‘s ist unmöglich, daß er vor zehn herkommt. Außerdem sagen Sie, er ist in Washington. Selbst wenn man ihn gestern abend erreicht hat, braucht er Zeit, um hierherzukommen.« Dave rutschte auf dem Bett
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zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand lehnte. Nach wenigen Sekunden richtete er sich wieder auf und saß kerzengerade auf dem Bettrand. »Mein Gott«, murmelte er. »Was sagen Sie?« fragte der Wärter. Dave schüttelte nur stumm den Kopf. Er beugte sich vor und vergrub das Gesicht in den Händen. Wenige Augenblicke später richtete er sich wieder auf. »Was ist, wenn man ihn nicht erreichen kann?« Er stellte die Frage mehr an sich selbst als an den Wärter. Er wußte, daß Jeb in einem letzten verzweifelten Versuch, einen Aufschub der Vollstreckung zu erreichen, nach Washington geflogen war, um sich mit dem Obersten Bundesgericht in Verbindung zu setzen. »Wie wär’s, wenn wir ein paar Runden Romme spielen würden?« fragte Jackson. »Das bringt Sie auf andre Gedanken.« »Nein. Nein, vielen Dank.« »Wie wär’s mit Dame?« Dave, der mit seinen Gedanken wieder bei dem Zeitungsbild war, starrte den Wärter nur ausdruckslos an. »Haben Sie mich gehört, Powell? Wie wär’s mit ‘ner Partie Dame?« Dave blinzelte und sah Jackson an, als ob er ihn erst jetzt bemerke. »Was sagen Sie?« »Dame, Mann! Lassen Sie uns Dame spielen. Kolder sagt, Sie müssen sich heut beschäftigen.« Dave musterte ihn einen Augenblick schweigend, dann sagte er: »Hören Sie zu, dies ist mein letzter Tag, nicht wahr? Wollen Sie mir einen Gefallen tun?« »Sie brauchen’s nur zu sagen, Mann. Alles, was Sie wolln, außer den Schlüsseln.« »Wie wär’s, wenn Sie Ihren fetten Hintern für eine Weile ans andre Ende der Einheit befördern würden? Der heutige Tag
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wird schon schwer genug, auch ohne daß Ihre häßliche Visage mich fortwährend anstarrt.« »Haha!« lachte Howell in seiner Zelle. »Gib’s ihnen, Dave. Dir kann jetzt nix mehr passiern, Kumpel!« »Warum reden Sie so mit mir?« fragte Jackson gekränkt. »Sie wissen, ich muß hier sitzen. Wenn Kolder reinkommt und ich nicht hier bin, krieg ich Schwierigkeiten, Mann.« »Ich weiß, ich weiß«, sagte Dave seufzend. »Nur lassen Sie mich in Ruhe, ja?« Er stand abrupt auf und begann abermals, zwischen seinem Bett und dem Kübel hin und her zu gehen. Im Durchgang ertönte das Klirren von Schlüsseln, die Stahlgittertür quietschte, und Schritte näherten sich. Sobald Dave es hörte, wußte er, daß man ihn holen kam. Es war der erste Schritt auf dem langen, qualvollen Weg zum Hinrichtungsraum. Aber sie kamen zu früh. Kolder hatte gesagt, sie würden erst um sieben Uhr dreißig kommen, nach dem Frühstück. Er wurde um zwanzig Minuten betrogen. Zorn stieg in ihm auf. Aber er verschwand sehr rasch. In seinem Innern blieb nur Raum für ein einziges Gefühl: Angst. Es verdrängte jede andere Reaktion. Ich wünschte, ich könnte direkt auf den elektrischen Stuhl, dachte er. Der Gedanke an die letzten Stunden im Wartesaal zum Tod erfüllte ihn mit Schrecken. Seine Augen waren auf den Durchgang gerichtet, als Kolder und zwei Wärter, die er noch nie zuvor gesehen hatte, in Sicht kamen. Es waren große, kräftige Männer in grauschwarzen Uniformen, mit Mützen auf dem Kopf. Beim Anblick der formell wirkenden Gruppe durchlief ihn ein kalter Schauer. Jackson eilte mit ungewohntem Eifer zur Gittertür, um die Männer hereinzulassen. Kolder trat ein und ging auf Daves Zelle zu, während die zwei Wärter an der Tür stehenblieben. »Es ist Zeit, hinaufzugehen«, sagte Kolder ruhig. »Keine
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Nachricht von meinem Anwalt?« fragte Dave, während Jackson die Tür aufschloß. Kolder schüttelte den Kopf. »Noch nichts. Das Büro des Direktors wird uns benachrichtigen, sobald sie etwas hören.« »Kann ich das mitnehmen?« Dave griff nach dem Album. »Lassen Sie es hier«, sagte Kolder. »Wir bringen es Ihnen später.« »Darf ich wenigstens dieses Bild mitnehmen?« Dave zog den Zeitungsausschnitt mit dem Foto von Sue heraus. »Es ist meine Frau.« Kolder zögerte. Er nahm das Bild und musterte es kurz. »Wir bringen es zusammen mit dem Album hinauf.« »Aber … Sie werden es bestimmt nicht verlieren?« flehte Dave. »Es ist sehr wichtig. Ich muß es meinem Anwalt geben.« »Keine Sorge.« Kolder nahm ihn beim Arm und führte ihn zur Tür. Als Dave hinausging, folgten ihm die Blicke der anderen Zellenbewohner, und in den Augen der Männer lag ein Mitgefühl, wie nur diejenigen es kennen, die das Warten auf den Tod gemeinsam durchgemacht haben. An der Gittertür zum Durchgang hielt Dave inne und blickte zurück. »Macht’s gut«, sagte er ruhig. Sofort ertönte ein Chor von Erwiderungen, als seien die Männer in den Zellen erleichtert, daß er das Schweigen gebrochen hatte. »Bis dann!« »Lebwohl, Dave.« Als er mit dem Todestrupp den Gang entlangging, hallten die Worte, die Howell ihm nachrief, voller Verzweiflung von den kahlen Wänden des Trakts wider. »Wir sehn uns drüben, Kumpel!« Die Wärter brachten Dave durch eine weitere Schleuse zu einer Treppe, die zwischen dunklen, fensterlosen Backsteinmauern nach oben führte. Es war die trostlose letzte Meile. Das düstere Treppenhaus wirkte fast mittelalterlich, und 288
die einzige Glühbirne, die auf halber Höhe ein schwaches Licht verbreitete, milderte den unheimlichen Eindruck nicht. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider, als sie die Steinstufen hinaufstiegen. Am Kopf der Treppe sahen sie sich einer geschlossenen Stahltür gegenüber. Kolder holte einen schweren Schlüssel heraus, öffnete die Tür und forderte die anderen durch einen Wink auf, einzutreten. Drinnen war ein heller, leerer Korridor, der in krassem Gegensatz zu dem düsteren Treppenhaus stand. Er war fünfzehn Meter lang, fünf Meter breit und hatte eine hohe Decke. Kahle, sandfarbene Wände und ein heller Terrazzoboden verliehen ihm das Aussehen eines Krankenhausflurs. Auf der rechten Seite reichten breite Fenster von der halben Höhe der Wand bis fast zur Decke. Dave konnte den Himmel sehen. Der saubere, fast antiseptische Charakter des Korridors wurde noch unterstrichen durch den Geruch frischer Farbe. Anscheinend hat man die Räumlichkeiten für das Ereignis herausgeputzt, dachte Dave. Als er durch die Tür trat, roch er noch etwas anderes: einen schwachen, beißenden Geruch von brennendem Gummi. Fast unmittelbar neben der Tür war die Besuchszelle – ähnlich derjenigen im K-Trakt – , wo der zum Tode Verurteilte seine letzten Besucher empfing. Als sie den Korridor entlanggingen, dachte Dave an den elektrischen Stuhl. Er mußte hier irgendwo sein. Dave konnte fast seine Gegenwart fühlen. »Wo ist er?« fragte er plötzlich. »Wo ist was?« fragte der Wärter zu seiner Rechten zurück. Dave antwortete nicht. Am Ende des Korridors passierten sie auf der linken Seite eine Tür. Kolder, der ein paar Schritte vor ihnen ging, winkte mit dem Kopf. »Er ist dort drinnen. Gleich hinter der Tür.«
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Dave nickte. »Das dachte ich mir. Ich kann ihn riechen.« Seine Stimme war heiser. Er räusperte sich nervös. Sie gingen noch ein paar Meter weiter, bogen links um die Ecke und blieben vor einer Gitterwand stehen. Dahinter lag ein kleiner, kahler Raum, fensterlos und mit nackten Wänden. Es war der Wartesaal zum Tod. Vielleicht lag es an der Nähe des elektrischen Stuhls oder an dem schwachen Geruch von brennendem Gummi, den er noch in der Nase hatte, aber beim Anblick der kleinen Zelle überkam Dave eine Welle von Übelkeit. Nachdem er ein paarmal tief Luft geholt hatte, ließ der Brechreiz nach. Er stand vor dem Gitter und blickte hinein, während Kolder die Tür aufschloß. Im Gegensatz zu den Zellen im K-Trakt hatte der Wartesaal zum Tod zwei Türen, eine auf der rechten Seite der Gitterstäbe und eine auf der linken. Die zusätzliche Tür bot dem Todestrupp einen weiteren Zugang, falls sie auf Widerstand stießen. Kolder öffnete die Tür auf der rechten Seite. »Ziehn Sie sich aus«, sagte er in sachlichem Ton. Dave tat wie befohlen, und Kolder führte eine Leibesvisitation durch. »Okay, ziehn Sie diese Sachen an.« Er deutete auf die Kleidungsstücke, die zusammengefaltet auf dem Eisenbett in der Zelle lagen. Dave trat ein und zog sich um. Er sah die Schlitze im Oberteil und in der Hose, die dazu dienten, die Elektrode und das Stethoskop einzuführen. Er versuchte, die Muskeln zu entspannen, um nicht zu zittern. Einer der Wärter, ein kräftig gebauter, blonder Mann, bezog Posten auf einem Stuhl an der Wand vor der Zelle. Als Kolder die Tür zuschloß, deutete er mit dem Kopf auf den Wärter. »Dieser Mann hier – er heißt Barrows – wird von jetzt ab bei Ihnen bleiben. Lassen Sie ihn wissen, wenn Sie den Anstaltsgeistlichen sprechen wollen.« Er wandte sich zum Gehen. »Sobald wir etwas von Ihrem Anwalt hören, werden wir Sie benachrichtigen.« »Sie denken doch an 290
die Fotografie, nicht wahr?« fragte Dave. »Keine Sorge, Sie kriegen sie«, erwiderte Kolder. Dann ging er fort. Als die Schritte auf dem Korridor verhallten, setzte sich Dave auf das Eisenbett. Er konnte von seinem Platz aus eine runde elektrische Wanduhr sehen. Es war sieben Uhr zwanzig. Durch die Korridorfenster erblickte er ein Stück strahlend blauen Himmel. Er kostete den Anblick ein paar Sekunden aus, dann lehnte er sich an die Wand zurück Seine Gedanken wandten sich wieder dem Zeitungsausschnitt zu, mit dem er sich seit dem vergangenen Abend fast pausenlos beschäftigt hatte. Vielleicht war es nur Einbildung gewesen. Eine Täuschung. Eine weitere Ausgeburt des K-Trakts, wo man leicht unter Wahnvorstellungen litt. »Wird man das Bild auch bestimmt nicht vergessen?« fragte er den Wärter. »Nein, keine Sorge. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie irgend etwas möchten. Was zum Basteln oder was zu lesen?« »Nur das Bild. Das Bild ist das einzige, was ich will.« Dave verbrachte den Rest des Vormittags damit, entweder auf dem Bett zu sitzen und den Himmel anzustarren oder in der Zelle auf und ab zu gehen. Gelegentlich wechselte er ein paar Worte mit dem Wärter, der bereit schien, zu reden, zuzuhören und zu tun, was immer er konnte, um Daves Qual zu lindern. Es war fast Mittag, als Schritte auf dem Korridor Dave vom Bett aufspringen ließen. Wenige Sekunden später kam Kolder mit einem Tablett um die Ecke. Dave war erleichtert zu sehen, daß er das Album unter dem Arm hatte. »Haben Sie das Foto mitgebracht, das …« »Es ist in dem Buch.« Kolder reichte das Tablett und das Album durch die Gitterstäbe. »Ihr Anwalt läßt Ihnen sagen, daß er am frühen Nachmittag von Washington abfliegt.« Als der Oberaufseher sich zum Gehen wandte, bat er den Wärter: »Sehen Sie zu, daß
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er etwas ißt.« Die Nachricht, die Kolder ihm übermittelt hatte, war nicht dazu angetan, Dave zu beruhigen. Es wird Spätnachmittag werden, ehe Jeb im Gefängnis eintrifft, sagte er sich beklommen. Er stellte das Tablett beiseite und setzte sich aufs Bett. Das Album auf den Knien haltend, holte er den Zeitungsausschnitt heraus und musterte abermals genau den winzigen Gegenstand an Sues Hals. Er war kleiner, als er ihm zuvor erschienen war. Weniger deutlich. Hatte er einen voreiligen Schluß gezogen? Er mußte Jeb bitten, das Bild vergrößern zu lassen. Auf einer Vergrößerung würde es deutlich zu erkennen sein. Dave lehnte sich zurück und blickte auf die Uhr. Kurz vor zwölf. Er sah zu, wie der Sekundenzeiger eine volle Umdrehung machte. Eine Minute weniger. »Powell, wollen Sie nicht was essen?« Dave schien die Bemerkung nicht zu hören. »Powell«, wiederholte der Wärter. »Hier ist Ihr Löffel. Versuchen Sie, etwas zu essen. Es wird Ihnen guttun.« Dave legte den Zeitungsausschnitt wieder ins Album und nahm den Löffel, den der Wärter ihm durch das Gitter reichte. Das Mittagessen war das reguläre Gefängnismenü für diesen Tag: Ravioli, rohe Mohrrüben, ein Lebkuchen mit Zuckerguß und ein Viertelliter Milch. Dave zwang sich, ein paar Ravioli zu essen. »Sind Sie Linkshänder?« fragte Barrows, der sich wieder auf seinen Stuhl gesetzt hatte. »Sie haben doch vorhin mit der rechten Hand geschrieben.« »Ja, ich weiß«, erwiderte Dave ruhig. »Manchmal esse ich einfach mit der linken Hand.« Er nahm noch zwei, drei Löffelvoll Ravioli und stellte das Tablett beiseite. Dann griff er nach dem Bleistift, den man ihm an diesem Morgen zusammen mit einigen Bogen Schreibpapier ausgehändigt hatte, und beendete einen Brief, den er an Ida zu schreiben begonnen hatte. Er hatte vorgehabt, vier letzte Briefe zu schreiben, an Ida, Jeb Olsen, Dana und den allerletzten an 292
Sue. Aber es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Obwohl er den Brief an Ida vor über einer Stunde begonnen hatte, war er noch nicht über die erste Seite hinausgekommen. Mit erneuter Anstrengung gelang es ihm, den Brief zu beenden und den an Jeb anzufangen. Aber als der Nachmittag vorrückte, nahm seine Unruhe zu, und schließlich gab er es auf. Er würde später, nach dem Abendessen, an Dana und Sue schreiben. Das würde ihn von dem ablenken, was vor ihm lag. Barrows Stimme riß ihn aus seinen Gedanken. »Sind Sie sicher, daß Sie nicht mit dem Geistlichen reden möchten? Er könnte Ihnen eine Hilfe sein.« »Nein. Ich bin dem Himmel schon so nahe«, erwiderte Dave trocken, »da kann ich ebensogut warten und direkt mit Gott sprechen.« Es war fast vier Uhr, als Jeb Olsen eintraf. Er wartete in der Besucherzelle auf Dave. Seine düstere Miene ließ erkennen, daß seine Bemühungen fehlgeschlagen waren. Er hatte das Oberste Bundesgericht um eine gerichtliche Verfügung ersucht, die es dem Bundesstaat zur Pflicht gemacht hätte, die Vollstreckung des Urteils bis zu einer Überprüfung des Verfahrens auszusetzen. Aber sein Gesuch war abgelehnt worden. »Unsere einzige Hoffnung ist der Gouverneur«, sagte Jeb. »Ich werde, sobald ich hier fortgehe, Albany anrufen. Cousins ist bereits dort und versucht, eine Unterredung zu vereinbaren. Wenn es uns gelingt …« »Rechnen Sie nicht mit dem Gouverneur«, unterbrach Dave ihn. »Er hat in den Medien während der letzten zwei Wochen wiederholt erklärt, daß er nicht eingreifen wird. Hören Sie zu, ich habe gestern abend etwas entdeckt, das …« »Es besteht immerhin die Möglichkeit. Wir müssen es versuchen. Vielleicht ist er …«
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»Jeb, um Himmels willen, hören Sie mich an! Wir haben nicht mehr viel Zeit. Ich muß Ihnen etwas zeigen. Ich habe es in dem Album gefunden, das Ida mir geschickt hat. Sehen Sie sich das an!« Er hob den Zeitungsausschnitt hoch und hielt ihn an die gläserne Trennwand. Jeb setzte seine Brille auf. »Was ist damit?« fragte er, das Bild musternd. »Schaun Sie auf das Datum.« »Ich sehe es. 1. Juli 1962.« »Und jetzt sehen Sie Sue an – aufmerksam. Was sehen Sie? Um ihren Hals?« »Ich sehe nichts.« Jeb rückte seine Brille zurecht, während er den Zeitungsausschnitt eingehend prüfte. »Sehen Sie genau hin. Können Sie es nicht erkennen? An ihrem Hals – an der Kette. Es ist meine Medaille!« »Medaille?« Jeb fuhr fort, das Bild zu mustern. »Ich sehe etwas an ihrem Hals. Was auch immer es sein mag, es ist zum Teil von ihrem Kleid verdeckt.« »Es ist meine Medaille!« wiederholte Dave. Seine Stimme wurde lauter. »Sie können die obere Hälfte sehen.« Jeb betrachtete das Bild noch ein paar Sekunden, dann nahm er mit betretener Miene seine Brille ab. »Dave, ich weiß, was Sie durchmachen …« »Sie glauben nicht, daß es die Medaille ist, nicht wahr?« Der Anwalt rutschte nervös auf seinem Schemel hin und her. Er setzte die Brille wieder auf und blickte noch einmal auf den Zeitungsausschnitt. »Es könnte alles mögliche sein. Man kann es nicht erkennen. Es ist nur der obere Teil eines kleinen Flecks.« »Sie müssen mir glauben. Ich bin sicher, daß es meine Medaille ist. Sie müssen das Bild sofort vergrößern lassen.« Daves Stimme war jetzt leise und verzweifelt. »Dann wissen
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wir es genau. Wenn es die Medaille ist, dann hatte Sie sie mit in Newport. Verstehen Sie nicht? Dann könnte es nicht diejenige sein, die man in Ann Conways Hand gefunden hat.« »Aber es könnte irgend etwas Beliebiges sein – ein Medaillon, eine Brosche. Sie stehen seit langem unter einem schweren seelischen Druck. Warum versuchen Sie nicht …« »Ich muß sie sehen!« »Was?« »Sue! Sie müssen sie hierherbringen. Ich muß mit ihr reden.« Jeb sah ihn bestürzt an. »Aber Sie waren sich doch beide einig …« »Ich weiß. Es ist mir egal. Ich habe es mir anders überlegt Ich muß sie sprechen. Sie müssen erreichen, daß sie sofort kommt.« Jeb senkte den Kopf. Schließlich blickte er auf. »Es ist aussichtslos. Sie wird auf keinen Fall kommen. Ich sage Ihnen das ganz ehrlich, weil ich nicht möchte, daß Sie Ihre letzten Stunden damit verbringen, vergebens auf sie zu warten.« »Sie können es versuchen. Sie könnten zu ihr gehen. Es sind nur fünfzig Kilometer.« Dave schwieg einen Augenblick »Bitte, Jeb. Es wird meine letzte Bitte an Sie sein.« Sie saßen eine Weile schweigend da. Dann sagte Jeb: »Natürlich. Wenn es das ist, was Sie möchten.« »Und, Jeb, versprechen Sie mir, daß Sie als allererstes dieses Bild vergrößern lassen. Ich weiß, was Sie denken, aber es dauert ja nicht lange, und dann wissen wir es genau.« »Gut. Was immer Sie wollen. Geben Sie es dem Wärter.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Ich sollte mich lieber auf den Weg machen. Bei all den Demonstranten ist auf den Straßen
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kaum durchzukommen. Ich werde versuchen, vor sieben zurück zu sein.« Er stand auf, zögerte und wandte sich Dave wieder zu; tiefes Mitgefühl sprach aus seinen Augen. »Sie wird nicht kommen. Das wissen Sie.« Dave erwiderte nichts. Nachdem der Anwalt fortgegangen war, verweilte er noch einen Augenblick, den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen. Verlor er den Verstand? War es der seelische Druck, wie Jeb gesagt hatte, der seinen Geist verwirrte und ihn Dinge sehen ließ, die gar nicht existierten? Er blickte wieder auf das Bild, ehe er es dem Wärter übergab. Es war die Medaille. Die Form, die spitzen Zacken. Nun, in Wirklichkeit konnte man weder Form noch Zacken erkennen. Aber auf der Vergrößerung würde das alles deutlich zu sehen sein. Er war ganz sicher. Aber wie war Sue zu der Medaille gekommen? Er mußte sie sprechen. Er mußte es wissen, ehe er starb.
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41 Richard Wallace blieb vor der Tür des Hinrichtungsraums von Green Haven stehen. »Was soll diese Bahre?« Er deutete auf eine zusammengeklappte Ambulanztrage, die im Korridor an der Wand lehnte. »Ich habe sie von der Krankenstation heraufbringen lassen«, erwiderte John Pike. »Kolder behauptet, daß bei einer seiner letzten Hinrichtungen in Sing Sing ein Zeuge ohnmächtig geworden sei.« »Nun, schaffen Sie sie außer Sichtweite«, sagte der Direktor. »Die Leute kommen alle hier vorbei. Sie glauben womöglich, wir benutzen sie, um den Häftling hinauszutragen.« Er klopfte laut an die Tür. Sie wurde von drinnen einen Spalt breit geöffnet, und ein Wärter sah die beiden Männer prüfend an. »Jawohl, Sir.« Er riß diensteifrig die Tür auf, als er sie erkannte. Als Wallace über die Schwelle trat, verspürte er das Unbehagen, das er jedesmal empfand, wenn er in den Hinrichtungsraum kam. Es war keine ungewöhnliche Reaktion. Der Raum konnte selbst dem stärksten Magen Übelkeit verursachen. Er war eine exakte Nachbildung desjenigen, der sechs Jahrzehnte lang in Sing Sing dazu gedient hatte, 576 Menschen hinzurichten. Fast alles in diesem Raum war von Sing Sing hierhergebracht worden – nicht nur der elektrische Stuhl, sondern auch die Bänke für die Zeugen, die Schalttafel, praktisch jeder andere bewegliche Gegenstand. Der Raum war zehn Meter lang und sieben Meter breit, mit einer drei Meter hohen Decke. Die Wände waren von dem gleichen Beige wie die nebenan im Wartesaal zum Tod, aber sechs lange, grelle Leuchtröhren an der Decke ließen sie fast
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weiß erscheinen. Links vom Eingang standen vier Kirchenbänke aus dunklem Mahagoni, jede drei Meter lang. Außerdem gab es zwei zusätzliche Reihen Klappstühle, die im letzten Moment aufgestellt worden waren. An der Wand rechts von der Tür hing ein Metallbehälter, in dem sich ein Telefon befand, das direkte Verbindung mit dem Büro des Gouverneurs hatte. In die linke Wand, hinter der der Kontrollraum lag, war eine Spionglasscheibe eingelassen, durch die man Kontakt mit dem Vollstrecker hatte. An der gegenüberliegenden Wand war eine geschlossene Tür. Dort würde der Verurteilte hereingebracht werden. Über dieser Tür stand in großen Lettern ein einziges Wort: RUHE. Den Raum beherrschte bedrohlich der elektrische Stuhl. Er stand in der Mitte des Raumes, nur vier Meter von den vordersten Kirchenbänken entfernt. Er war mit Winkeleisen und Schlüsselschrauben fest und sicher im harten Terrazzoboden verankert. Der Stuhl war größer, als man erwartet hätte, und seine hohe, schräg geneigte Rückenlehne ragte fast zwei Meter vom Boden empor. Massiv gebaut, mit breiten Armlehnen und Beinen, schien er aus dem Steinfußboden gewachsen zu sein, und erweckte den Eindruck, als werde er noch dort stehen, wenn das Holz und der Gips um ihn herum schon längst zu Staub geworden waren. Seine Rückenlehne bestand aus vier breiten, waagrechten Leisten. Eine Kopfstütze aus schwarzem geripptem Gummigeflecht war an den drei oberen Leisten befestigt. Der flache Sitz bestand ebenfalls aus schwarzem Gummigeflecht. Der Stuhl hatte nur drei Beine. Die hinteren zwei waren nicht auffällig, das vordere dagegen war breiter und so geformt, daß die Beine des Verurteilten fest daran angeschnallt werden konnten. Eine Gummimatte von zwei Metern im Quadrat bedeckte den Boden am Fuß des Stuhls. Acht Lederriemen von je fünf Zentimeter Breite hingen an 298
verschiedenen Stellen vom Stuhl herab. Hinten rechts traten zwei Kabel aus dem Boden hervor. Eines von ihnen lief zur Kopfelektrode, die aus einem kupfernen, mit Leder und einem dünnen Schwamm umgebenen Maschendraht bestand. Diese Elektrode war mit einer Klemmschraube an einem Lederhelm befestigt. Der Helm reichte bis auf fünf Zentimeter zur Schädelbasis hinunter und wurde mit einem Kinnriemen am Kopf befestigt. Eine Ledermaske mit Löchern für Nase und Mund vervollständigte die Kopfausrüstung. Das andere Kabel lief zur Beinelektrode, die ebenso präpariert war wie die für den Kopf. Sie wurde mit einem Riemen zwischen Sprunggelenk und Wade des rechten Beins befestigt. Direkt über dem Stuhl befand sich eine Lüftungsanlage, ähnlich dem Abzug eines großen Bratrosts. Etwa ein Dutzend Männer waren im Raum, als Richard Wallace eintrat. »Hallo, Earl«, begrüßte er einen alten Mann, der neben dem elektrischen Stuhl stand. Earl Franklin ergriff seine ausgestreckte Hand und erwiderte den Gruß in einem gedämpften Ton, der dem Anlaß ihres Wiedersehens angemessen war. Er war ein hagerer Mann von mittlerer Größe, etwa Mitte Sechzig, mit strähnigem, grauem Haar. Die dunkelbraunen Augen blickten trübe in die Welt, und sein Gesicht war von tiefen Falten durchfurcht. Er trug einen grauen Anzug, der aussah, als trüge er ihn schon seit vielen Jahren, und sein Verhalten war überaus nüchtern und reserviert. Wallace hätte ihn, auch ohne es zu wissen, sofort als den Vollstrecker erkannt. »Ist alles in Ordnung, Earl?« fragte er. »Ich war gerade im Begriff, mit diesen Glühbirnen noch ein letztesmal den Strom zu überprüfen.« Er deutete auf ein großes Brett, das über den Armlehnen des elektrischen Stuhls lag. Darauf waren nach dem Prinzip der Reihenschaltung zwanzig Glühbirnen von je einhundert Watt angebracht.
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Wallace nickte. »Machen Sie weiter.« »Sorgen Sie dafür, daß sich alle vom Stuhl fernhalten.« Der Vollstrecker ging zur Tür. »Ich klopfe ans Fenster, bevor ich den Strom einschalte.« Der Kontrollraum unterschied den Hinrichtungsraum von Green Haven und den von Sing Sing voneinander. In Sing Sing blieb der Vollstrecker hinter einer Scheidewand im selben Raum. Der Kontrollraum von Green Haven dagegen war eine abgeschlossene kleine Kammer, mit einer hohen, schmalen Schalttafel, die dem Armaturenbrett eines altmodischen Flugzeugs glich. In Augenhöhe befanden sich ein Voltmeter und ein Amperemeter, darunter war jeweils ein kleiner Knopf, der dazu diente, Stärke und Spannung des Stroms zu regulieren, der zum Stuhl geleitet wurde. In der Mitte der Schalttafel war ein dicker, etwa fünfzig Zentimeter langer schwarzer Hebel. Dies war der Hauptschalter, der den Strom zum Stuhl sandte. Die Schalttafel war so gelegen, daß der Vollstrecker, wenn er davor stand, nur den Blick nach rechts zu wenden brauchte, um durch die Glasscheibe den elektrischen Stuhl zu sehen. Ein großer Feuerlöscher in einer Ecke gemahnte an die Gefahr eines Brandes im Kontrollraum. Wenige Augenblicke, nachdem Franklin den Hinrichtungsraum verlassen hatte, ertönte ein leises Klopfen an der Glasscheibe. Dann war der Raum plötzlich in grelles Licht getaucht. Wallace schauderte bei dem Gedanken, daß er das nächste Mal, wenn der Hebel umgelegt wurde, David Powell würde sterben sehen. Als der Zweiminutenzyklus beendet war, wandte sich Wallace an John Pike, der vor dem Stuhl stand. »Wenn Earl zurückkommt, gehen Sie bitte noch einmal die Bestimmungen mit ihm durch.« Kurz darauf kehrte der Vollstrecker zurück Pike entfaltete ein maschinengeschriebenes Blatt und gab den versammelten Beamten einen letzten Überblick über die für die Hinrichtung geltenden Vorschriften: »Meine Herren, jeder Zeuge wird
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gründlich durchsucht, ehe er den Hinrichtungsraum betritt. Eine Wärterin ist beauftragt, die vier Frauen zu durchsuchen, die anwesend sein werden. Es ist besonders auf versteckte Kleinbildkameras und Tonbandgeräte zu achten. Alle Zeugen müssen bis spätestens 22 Uhr 40 ihre Plätze eingenommen haben. Dann wird der Direktor ihnen letzte Verhaltensmaßregeln geben. Sollte einer der Zeugen von Übelkeit befallen oder hysterisch werden, wird er von den Wärtern an der Tür hinausgebracht Um 22 Uhr 58 werden der Direktor und der Captain den Häftling zum Hinrichtungsraum führen. Falls er Widerstand leistet, werden die dem Wartesaal zum Tod zugeteilten Beamten Hilfestellung geben. Sollte dies notwendig werden, wird man zu vermeiden suchen, daß der Häftling verletzt wird.« »Wie ist sein Zustand?« fragte Earl Franklin. »Nervös«, erwiderte Pike knapp. »Aber die Wärter meinen, wir werden keine Probleme mit ihm haben.« Der stellvertretende Direktor schwieg in Erwartung weiterer Fragen. Als keine gestellt wurden, fuhr er fort: »Die beiden Sergeants werden den Häftling empfangen und sofort an den Stuhl schnallen. Jeder von ihnen wird je einen Arm und ein Bein übernehmen. Captain Morse wird die beiden Körperriemen befestigen und den Helm anlegen. Dann wird der Direktor Mr. Franklin das Zeichen geben, und der wird den Strom einschalten. Ist das klar?« »Ich möchte etwas dazu bemerken«, sagte Earl Franklin. »Richard, es wäre vielleicht besser, dem Arzt das Signal zu geben, der die Brust des Häftlings beobachtet, damit er mir das Zeichen gibt, wenn der Verurteilte ausatmet. So vermeiden wir das gurgelnde Geräusch, das entsteht, wenn die Luft aus den Lungen gepreßt wird. Es ist ziemlich laut und nicht sehr angenehm für die Zeugen.« Wallace nickte zustimmend.
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»Nun gut«, fuhr Pike fort. »Nach dem Stromschock wird Dr. Paget den Häftling untersuchen und ihn entweder für tot erklären oder einen weiteren Stromstoß anordnen. Dann werden die Zeugen aus dem Hinrichtungsraum geführt. Wenn alle draußen sind, wird die Leiche vom Stuhl genommen und auf den Obduktionstisch gelegt. Der Häftling hat seine Augen gespendet, und daher wird ein Vertreter der Augenklinik bei der Obduktion zugegen sein. Anschließend wird die Leiche ins Leichenschauhaus des Gefängnisses gebracht.« Der stellvertretende Direktor sah sich im Raum um, während er das Blatt zusammenfaltete. »Ich glaube, damit ist alles erledigt, meine Herren. Gibt es noch Fragen?« Niemand meldete sich. Das Geräusch von schlurfenden Schritten auf dem Steinfußboden erfüllte den Raum, während die Gruppe sich zerstreute. Wallace blieb im Türrahmen stehen und wandte sich noch einmal nach dem Stuhl um. Er dachte wieder an die Pannen, die passieren konnten. Die Sache war nicht so einfach, wie man in Albany glaubte. Es handelte sich nicht nur darum, einen Häftling hereinzubringen, ihn auf den Stuhl zu setzen und einen Schalthebel zu bedienen. Im ganzen Gefängnis herrschte äußerste Spannung. Unter solchen Bedingungen waren die Emotionen unberechenbar – sowohl bei den Wärtern als auch bei den Häftlingen. Und außerdem verließen sie sich auf eine alte Apparatur. Wenn auch nur das Geringste schiefging, konnte es verheerende Folgen haben.
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Elfter Teil TARRYTOWN, NEW YORK JULI 1983
42 »Offen gestanden, Mr. Olsen, ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.« Emily Hunters Stimme war scharf. Sie schnipste ein Foto über den Schreibtisch, hinter dem Jeb Olsen saß. »Sie trägt eine Halskette. Na und?« Sie saßen in der Bibliothek der Powells. Jeb war mit den Vergrößerungen des Zeitungsausschnitts hierher geeilt. Die Bilder – große Glanzpapierfotografien – zeigten die Medaille an Sues Hals in allen Einzelheiten. Sie war identisch mit derjenigen, die beim Prozeß als Beweismittel vorgelegen hatte. »Was ist überhaupt der Zweck dieser ganzen Geschichte?« fragte Emily. Sie hatte sich Jeb gegenüber an den Schreibtisch gesetzt, so daß er über ihre Schulter hinweg mit Sue sprechen mußte, die vor der Terrassentür am anderen Ende des Zimmers saß. Es war offensichtlich, daß Emily Hunter entschlossen war, für Sue Powell zu sprechen. Im Gegensatz zu Emily hatte Sue nichts gesagt, als sie die Fotografien sah, aber Jeb erkannte an ihrem Verhalten, daß sie zutiefst betroffen war. Eine Sekunde lang glaubte er, einen erschrockenen Ausdruck in ihren kühlen, dunklen Augen zu entdecken. »Sue, wir haben sehr wenig Zeit«, sagte er. »Ich bin sicher, Sie verstehen, wie bedeutsam dieses Foto ist.« »Inwiefern bedeutsam?« warf Emily ein. »Ich sehe nichts Bedeutsames daran.« Jeb warf einen kurzen Blick auf Emily, dann wandte er seine
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Aufmerksamkeit wieder Sue zu. »Dave ist hauptsächlich aufgrund dieser Medaille für schuldig erklärt worden. Dieses Foto zeigt Sie mit der Medaille, zwei Tage ehe sie in der Hand dieses Mädchens gelandet ist. Das wirft alle möglichen Fragen auf.« »Unsinn«, sagte Emily. »Ich hätte mir denken können, daß Dave auf so eine plumpe Ausrede verfällt. Es gibt Dutzende von Medaillen wie diese. Sue könnte eine …« »Entschuldigen Sie, Mrs. Hunter.« Jebs Stimme wurde lauter. »Es gibt nicht Dutzende von Medaillen wie diese. Das hat die Staatsanwaltschaft eindeutig bewiesen.« Er senkte die Stimme und sprach wieder zu Sue. »Es ist dieselbe Medaille, nicht wahr?« »Sie versuchen, aus einer Bagatelle ein Drama zu machen«, sagte Emily gereizt. »Der einzige Erfolg wird sein, daß die Presse wieder etwas hat, worüber sie schreiben kann. Aber vielleicht ist es das, was Sie bezwecken. Ihre Vorliebe für Publicity ist unter Ihren Kollegen allgemein bekannt.« Die Bemerkung war zuviel für Jebs überreizte Nerven. »Um Himmels willen, haben Sie denn überhaupt kein moralisches Empfinden? Wenn ich nicht nachweisen kann, daß beim Verfahren ein schwerwiegender Fehler begangen wurde, wird David Powell in weniger als drei Stunden sterben!« Jeb stand auf und trat zu Sue. Entschlossen, ohne Emilys hemmenden Einfluß mit ihr zu reden, zog er einen Stuhl dicht an das kleine Sofa, auf dem sie saß. »Sue«, sagte er leise, »bitte, hören Sie mich an.« Er griff nach ihrer Hand. Sie zog sie sanft, aber entschieden zurück Jeb schwieg einen Augenblick verlegen, dann fuhr er fort: »Ich habe eine Besprechung mit einem der Sekretäre des Gouverneurs vereinbart. Ich werde ihm diese Fotografien zeigen und versuchen, ihn zu überzeugen, daß der Gouverneur
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einen Strafaufschub gewähren sollte, bis sie gründlich überprüft worden sind. Man wird mißtrauisch sein gegen jeden Versuch, die Hinrichtung noch im letzten Augenblick hinauszuschieben. Und der Gouverneur wird nichts unternehmen, es sei denn, wir haben unwiderlegbar zwingende Gründe, die ihn zum Eingreifen veranlassen. Wenn die Behörden von diesem Zeitungsausschnitt erfahren, werden sie Ihnen eine Menge Fragen stellen. Sie werden nicht ruhen, bis sie die Antwort haben. Was immer Sie wissen, sagen Sie es mir, solange noch Zeit ist, Dave zu retten.« »Wollen Sie bitte aufhören, sie zu belästigen?« sagte Emily. »Ich finde, Sie sollten gehen, Mr.Olsen!« »Schon gut, Emily.« Sues Stimme klang resigniert. Sie stand vom Sofa auf und blickte eine Weile schweigend in den Garten hinaus. Schließlich sagte sie: »Emily, vielleicht sollten Mr. Olsen und ich einen Augenblick allein miteinander reden.« »Was?« fragte Emily überrascht. »Sprich nicht mit ihm. Warte bis morgen. Ich werde meine Anwälte …« »Bitte, Emily. Ich möchte mit ihm sprechen. Allein«, setzte Sue energisch hinzu. Emily zögerte. Ihre harten Augen wanderten von Sue zu Jeb und dann wieder .zu Sue. »Gut.« Sie stand vom Schreibtisch auf und ging steif zur Tür. Dort blieb sie stehen. »Diese Sache gefällt mir ganz und gar nicht, Sue. Ich weiß nicht, was du vorhast, aber du machst einen Fehler. Er ist verzweifelt. Ihm ist jedes Mittel recht, um Dave zu retten.« Sue wandte ihren Blick nicht vom Garten ab, bis Emily das Zimmer verlassen hatte. Dann drehte sie sich um und ließ sich mit einem müden Seufzer aufs Sofa sinken. »Es war sehr schwer, Jeb. In diesen letzten Monaten …« Ihre Stimme zitterte, und einen Augenblick lang fürchtete der Anwalt, daß sie zusammenbrechen könnte. Trotz des Traumas der
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vorangegangenen Monate was es das erste Mal, daß ihr Gleichmut sie zu verlassen schien. »Ich hätte Sie fast heute morgen angerufen«, sagte Sue, nachdem sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte. »Ich habe gestern einen Anruf bekommen. Von einem Kriminalbeamten aus New York City.« »Was wollte er?« »Er wollte kommen, um mit mir zu sprechen. Ich sagte ihm, er solle sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Hat er Sie angerufen?« »Möglicherweise. Die Leute von der Kriminalpolizei rufen mich hin und wieder an. Meistens wegen der Aussagen von Dave über die Leichen im Brunnen. Man hat die Verfahren offengehalten, für den Fall, daß seine Verurteilung wegen Lake Placid jemals aufgehoben werden sollte. So kann man ihn jederzeit wegen der beiden anderen Morde vor Gericht stellen.« Jeb runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich frage mich nur, warum er mit Ihnen darüber sprechen wollte?« »Vielleicht ahnt er, daß ich sie getötet habe.« Sie sagte es in ruhigem, sachlichem Ton, beinahe so, als spräche sie über eine Angelegenheit, die sie nicht sonderlich interessiere. »Was?« »Er könnte herausgefunden haben, daß Delaney versucht hat, mich zu erpressen.« »Was sagen Sie da?« »Delaney hatte von meinem Verhältnis mit Emily erfahren und versucht, Geld von mir zu erpressen. Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig. Nicht danach.« Sie deutete mit dem Kopf auf die Bilder in Jebs Schoß. »Die Polizei wird mich jetzt sowieso aufs Korn nehmen.« Jeb starrte sie fassungslos an. »Sue, was wollen Sie damit sagen?« »Ich bin verantwortlich«, sagte sie ruhig. »Für die Morde …
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für alle drei. Ich bin verantwortlich.« Die Erklärung wirkte beinahe gleichgültig, eine leise Wortfolge, die trotz ihres schauerlichen Inhalts fast Wohlklang hatte. Glockengleich klang ihr Geständnis in der Stille des großen Zimmers nach. »Es schien mir zu der Zeit das einzig Richtige zu sein«, fuhr Sue fort. »Ich hatte kaum eine andere Wahl.« Jeb war sprachlos. War dies so etwas wie ein letzter Versuch, ihren Mann zu retten? Seine Zweifel schwanden, als sie detaillierte Angaben über die Leichen im Brunnen machte. »Delaney und Tom Lucas …« Sie hielt inne und schüttelte den Kopf, als dächte sie über einen bedauerlichen Vorfall nach. »Delaney wußte von meinem Verhältnis mit Emily. Als er versuchte, mich zu erpressen, wußte ich, daß es niemals enden würde. Mir blieb nichts anderes übrig. Mit Tom Lucas war es das gleiche. Er hegte Verdacht. Er hatte Delaneys Notizbuch. Ich hatte keine andere Wahl.« Jeb saß wie vom Donner gerührt da und versuchte, die Gedanken zu ordnen, die ihm durch den Kopf schössen. Er mußte den Beamten von der New Yorker Kripo anrufen. Aber es blieb wenig Zeit. Wieviel von dieser Geschichte würde man im Büro des Gouverneurs glauben? Man würde dem Geständnis einer Ehefrau zu diesem Zeitpunkt zweifellos mißtrauen. Selbst der Zeitungsausschnitt würde suspekt sein und als ein letzter geheimer Trumpf angesehen werden, der .zurückgehalten worden war, bis keine Zeit mehr blieb, seine Rechtsgültigkeit in Frage zu stellen. »Seit dieser Kriminalbeamte mich gestern angerufen hat, mußte ich ständig an Dana denken.« Sue stand auf und blickte wieder hinaus. Die Sonne sank; ihre schrägen Strahlen fielen auf die bleigefaßten Scheiben und verliehen den eingravierten bunten Verzierungen einen leuchtenden Glanz. »Wir haben herrliche Stunden dort unten verbracht.« Jeb folgte ihrem Blick vorbei an der Stelle, wo die Ulme
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gestanden hatte, bis zu dem Zaun, der den kleinen Blumengarten umschloß. »Es gab nichts, was ich für Dave tun konnte. Ich mußte ihn aus meinen Gedanken verdrängen. Dana braucht mich.« Ihre Stimme stockte, aber sie faßte sich wieder. »Aber jetzt wird alles ans Licht kommen. Man wird mich verhaften. Dann bleibt nur noch Dave, um für Dana zu sorgen. Wir müssen ihn retten. Das Geschäft wird überleben … wenn Emily fort ist.« »Emily fort?« wiederholte Jeb. »Das verstehe ich nicht.« »Oh, ich werde dafür sorgen.« Sue warf den Kopf zurück, während sie sich umwandte, und ihr eben noch so bekümmertes Gesicht nahm einen entschlossenen, zuversichtlichen Ausdruck an. Ihre dunklen Augen irrten im Zimmer umher, als erwäge sie ihre Möglichkeiten. »Sehen Sie das nicht ein? Emily hatte allen Grund, Delaney und Lucas aus dem Weg räumen zu wollen. Ja, je länger ich darüber nachdenke – sie wird in die ganze Sache verwickelt sein. Unentrinnbar!« Sie hielt inne und wandte sich wieder zur Terrasse. »Tatsächlich habe ich mir über die Leiche im Lake Placid nie soviel Sorgen gemacht wie über Delaney. Ich konnte nicht sicher sein, ob er die Wahrheit sagte, als er erklärte, er sei der einzige, der wisse, daß ich ein Verhältnis mit Emily habe. Dave war überzeugt, daß es Elizabeth Raderman war. In gewisser Hinsicht mag er recht gehabt haben. Ich habe mich oft gefragt, wie sie zueinander stehen.« Sie nahm eine Zigarette aus der Schachtel auf dem Tisch und zündete sie mit ruhigen Händen an. »Emily haßt Dave«, sagte sie durch eine Rauchwolke hindurch. »Als ich ihn heiratete, war sie außer sich vor Eifersucht. Ich bin sicher, das ist der Grund, weshalb sie Henry Hunter geheiratet hat, aus Trotz. Und als Dave dann auch noch anfing, Emily in Stamford Konkurrenz zu machen, war das mehr, als sie ertragen konnte. Sie hatte es darauf abgesehen, 308
ihn zu ruinieren. Für mich war es eine ausweglose Situation. Das Verhältnis mit Emily. Die Tatsache, daß sie über Arm Conway Bescheid wußte. Sie war mit mir in Camp Louise an dem Abend, als das Mädchen getötet wurde. Wir waren am Nachmittag von Newport nach Lake Placid gefahren. Mein Vater hatte mir gerade einen neuen Sportwagen geschenkt. Emily erklärte sich bereit, ihn mit mir nach Camp Louise zu schaffen – unter gewissen Bedingungen. Schon damals hat sie an alles Bedingungen geknüpft. Aber wir waren jung … verliebt, denk ich mir …« ACHTUNG KURVE Höchstgeschwindigkeit 50 km Der Wagen schoß mit kreischenden Reifen an dem Warnschild vorbei und nahm die Kurve mit 80. Wieder auf der Geraden, wurde er schneller, und bald zeigte der Tacho 110 Stundenkilometer an. Sue Dickerson warf einen Blick auf die gutaussehende Blondine am Steuer. »Emily, auf dem Schild stand fünfzig.« »Kümmre dich nicht darum«, erwiderte Emily kühl. »Das gilt für gewöhnliche Autos. Dieser hier schafft das leicht bei hundertdreißig.« Tatsächlich lag der Wagen gut auf der Straße. Es war ein Jaguar mir Rechtssteuerung. Seine leuchtend blaue Karosserie und die Chromteile glänzten in der Abendsonne, während sie den Lake Shore Drive entlang nach Lake Placid rasten. Die Fahrerin, das Haar zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden und eine Sonnenbrille auf der schmalen, geraden Nase, wirkte gelassen und entspannt. Während eine Hand das Lenkrad hielt, lag die andere lässig auf der Armlehne. Auf ihrem sonnengebräunten, glatten Gesicht lag ein Ausdruck von Langeweile. »Wie ist das Programm?« fragte sie. »Willst du gleich nach Camp Louise fahren?« »Laß uns vorher kurz am Tanzpalast haltmachen«, erwiderte
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Sue. »Mag sein, daß wir Dave dort treffen. Dann können wir mit ihm hinausfahren.« »Oh, nein.« Emily runzelte die Stirn. Es war deutlich zu erkennen, daß sie den Tanzpalast nicht mochte. Oder vielleicht Dave Powell. Sue nahm an, daß ihre Abneigung beiden galt. »Du erinnerst dich doch an den Tanzpalast«, sagte sie. »Das Lokal, wo wir letzten Herbst gewesen sind.« »Ich erinnere mich«, erwiderte Emily nicht sehr begeistert. »Und was ist, wenn dieser Typ nicht da ist? Wie kommen wir dann nach Bück Island?« »Wir leihen uns eins von den Booten der Flemings aus. Das sind Nachbarn von uns. Sie haben bestimmt nichts dagegen. Außerdem sind sie wahrscheinlich gar nicht da.« »Du bist reichlich viel mit diesem Dave zusammen.« Emily runzelte abermals die Stirn. »Manchmal frage ich mich, ob das alles wirklich so harmlos ist, wie du behauptest.« »Ich brauche einen Begleiter.« »Das habe ich schon des öfteren von dir gehört. Als nächstes wirst du sagen, du brauchst einen Ehemann, weil all deine Freundinnen heiraten. Ich weiß, wie das geht. Und diese alberne Medaille, die er dir geschenkt hat.« Sie warf einen Blick auf das Kettchen, das Sue um den Hals trug. »Er hat sie mir nicht geschenkt. Ich hab dir doch gesagt, er hat sie in seinem Zimmer liegenlassen, als er mich letzte Woche besuchte. Er weiß nicht einmal, daß ich sie habe.« »Du denkst doch nicht etwa daran, ihn zu heiraten, oder?« fragte Emily. Als Sue nicht antwortete, sah Emily sie prüfend von der Seite an. »Oder doch?« »Es wäre nicht das Schlechteste. Er ist sehr rücksichtsvoll. Mein Vater hat ihn gern, und meine Eltern erwarten natürlich, daß ich heirate. Außerdem drängt Dave sich mir nicht auf …
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wie andere, die ich kenne.« »Was soll das heißen?« fragte Emily scharf. »Ich meinte Bob. Du bist viel zu empfindlich.« »Empfindlich! Sieh an, wer …« »Emily! Du bist an der Straße zum Hafen vorbeigefahren.« »Verdammt! Du bringst mich ganz durcheinander.« Sie bremste scharf und machte kreischend eine Kehrtwendung. »Von mir aus kannst du ruhig heiraten«, sagte sie, während sie zurückfuhren. »Es ist mir völlig schnuppe.« »Beruhige dich. Ich heirate nicht. Wenigstens vorläufig nicht.« Sie bogen in die Hafenstraße ein und fuhren schweigend weiter. Emily war die erste, die wieder sprach. »Vergiß nicht, was du mir für heute abend versprochen hast.« »Habe ich dir etwas versprochen?« Sue wußte genau, was ihre Freundin meinte, aber sie zog es vor, sich ahnungslos zu stellen. »Tu nicht so, als ob du es nicht wüßtest.« »Ich habe nichts versprochen«, sagte Sue. »Ich habe gesagt, ich werde es mir überlegen.« »Du bist unerträglich«, murrte Emily, während sie auf den Parkplatz vor dem Tanzpalast fuhr. »Ach, hör auf, dir Sorgen zu machen.« Sue beugte sich zu ihr hinüber und gab ihr einen leichten Kuß auf die Wange. Im Tanzpalast herrschte bereits reger Betrieb. Sie gingen zur Bar und bestellten zwei Gin Tonics. »Ich kann Dave nirgends entdecken«, sagte Sue. Sie ließ den Blick über die Menge schweifen, dann wandte sie sich an einen Barmixer. »Kennen Sie Dave Powell? War er heute abend hier?« Der Mann schüttelte ohne aufzublicken den Kopf. »Ich hab
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ihn nicht gesehn. Wahrscheinlich ist er noch auf dem Sportplatz. Die Jungs von der Mannschaft kommen gewöhnlich erst später.« Sie standen mit ihren Gläsern an der Bar und sahen sich im Saal um. Ein hochgewachsener, gutaussehender junger Mann näherte sich Emily. »Hallo! Bist du hier aus der Gegend?« Sie nahm kaum Notiz von ihm. »Nein.« »Wie wär’s mit einem Drink?« »Ich habe einen Drink. Und ich bin beschäftigt.« Der Mann zögerte, warf einen Blick auf Sue, dann zuckte er die Achseln und entfernte sich. Binnen weniger Minuten stellte sich ein weiterer Verehrer ein, ein kleinerer, freundlich aussehender Bursche. »Hallo, ihr zwei«, sagte er strahlend. »Zu viele Leute heute abend.« »Ja, vor allem hier an der Bar«, sagte Emily kurz angebunden und wandte sich an Sue. »Komm, wir gehen. Ich kann das nicht ertragen.« Sue zögerte und blickte abermals auf die Menge. »Ich würde Dave gern sagen, daß wir nach Camp Louise fahren. Laß uns noch ein Weilchen bleiben. Vielleicht kommt er …« »Bleib du«, sagte Emily mürrisch. »Ich warte im Wagen.« »Na schön.« Sue wußte, daß es sich nicht lohnte, ihre Freundin zu verärgern. Sie würde sonst das ganze Wochenende mißgestimmt sein. »Fahren wir zur Insel.« Sie verließen den Tanzpalast, gingen zum Anlegeplatz und liehen sich ein kleines Motorboot von den Nachbarn der Dickersons aus. Es dämmerte bereits, als sie in Camp Louise eintrafen. Sue steuerte das Boot zu einem der unbenutzten Liegeplätze am Ufer. »Bist du sicher, daß niemand hier ist?« fragte Emily, während sie ans Ufer kletterte. »Keine Seele. Der Hausmeister wohnt in der Stadt.«
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»Und Dave?« »Er kommt erst spätabends her.« »Woher willst du das so genau wissen?« »Was sollte er allein hier draußen anfangen? Er schläft nur hier.« »Vielleicht schläft er mit jemandem.« »Nein, nicht Dave.« Sue sprang leichtfüßig aus dem Boot. »Er ist nicht der Typ dafür.« Als Sue auf den Landungssteg kletterte, legte Emily den Arm um ihre Taille und half ihr hinauf. »Ich bin froh, daß ich gekommen bin«, sagte sie leise. »Es wird Spaß machen, nicht wahr?« Sie zog Sue an sich und küßte sie sanft auf die Lippen. »Liebst du mich?« »Ja«, erwiderte Sue gleichgültig. »Du erzählst deinem Psychiater doch nichts von uns, oder?« »Nein, natürlich nicht. Ich gehe überhaupt nur noch sehr selten zu ihm.« »Hast du in letzter Zeit keine Tiere mehr getötet?« »Emily! Ich habe noch nie ein Tier getötet.« »Nun, du hast doch diesen jungen Hund mit Absicht aus deinem Boot gestoßen. Zumindest ist das der Grund, weshalb dein Vater dich zum Psychiater geschickt hat. Ich sagte dir ja schon, meine Mutter hat alles darüber von deiner …« »Emily, hör bitte auf! Das war vor ewig langer Zeit.« Irgend etwas an dir kam mir schon immer komisch vor«, fuhr Emily neckend fort. Sie fand offensichtlich Vergnügen an dem Unbehagen ihrer Freundin. Sue wandte sich zum Gehen, aber Emily hielt sie fest. »Komm, sei nicht albern. Kannst du keinen Spaß verstehen?« Sie zog Sue an sich und küßte sie wieder. »Ich liebe dich, das weißt du.« Sie küßte sie noch
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einmal, diesmal leidenschaftlicher. »Du wirst es doch mit mir tun, nicht wahr, meine Süße?« flüsterte sie, Sues Ohr mit der Zunge liebkosend. »Sag mir, daß du’s tun wirst… bitte.« Sue, erhitzt und müde von der Fahrt, löste sich von ihr. »Es ist so schwül. Komm, laß uns schwimmen gehn.« »Wie kannst du jetzt an Schwimmen denken?« »Los, komm. Es wird uns erfrischen.« »Wir können nicht so ins Wasser gehn. Weißt du, wir ziehn uns einfach aus und …« »Oben im Haus sind Badeanzüge.« »Ach was, zieh dich aus.« Emily fing an, ihre Bluse aufzuknöpfen. »Sei nicht so zimperlich.« Sue zögerte, dann begann sie, unter Emilys wachsamen Blicken ihre Kleider abzulegen. Kurz darauf standen sie nackt auf dem Landesteg. Obwohl es beinahe dunkel war, konnte Sue ihre Freundin noch deutlich sehen. Emily hatte einen wunderschönen Körper, und sie war sich dessen wohl bewußt. Sie hob die Arme über den Kopf, als ob sie ihr Haar glattstreichen wolle. Es war eine auf Effekt berechnete Geste. Sue hatte sie schon mehrmals gesehen – eine Pose, die ihre Brüste zur Geltung brachte. »Komm, wir setzen uns einfach hierher und hängen die Füße ins Wasser«, sagte Emily, während sie Sue umarmte. »Das ist ebenso erfrischend wie schwimmen.« Sue kannte die Anzeichen. Der Gedanke an ihren nackten Rücken auf dem harten Bootssteg behagte ihr nicht. »Warum gehn wir nicht in das Apartment über dem Bootshaus? Wir schwimmen rüber.« »Wirst du’s mit mir tun?« »O Emily, du bist wie eine kaputte Grammophonplatte. ›Wirst du’s mit mir tun? Wirst du’s mit mir tun?‹« äffte sie die Freundin nach. »Wer will sich das den ganzen Abend
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anhören?« »Du hast es versprochen.« »Schön, vielleicht hab ich’s versprochen«, sagte Sue gereizt. »Aber du verdirbst alles, indem du dauernd darüber sprichst. Laß uns einfach abwarten, was geschieht.« »Das sagst du schon seit letzten Sommer.« »Komm, laß uns rüberschwimmen.« Sue stellte sich sprungbereit an den Rand des Stegs. »Was ist mit unseren Sachen? Wenn jemand kommt …« In diesem Augenblick drang ein Lachen vom Wald herüber. Laut. Zitternd. »Großer Gott, was ist das?« Emily blickte mit erschrockenen, weit aufgerissenen Augen zum Wald. »Das ist nur ein Seetaucher. Anscheinend zieht ein Unwetter auf. Los, komm schon.« Sue sprang mit dem Kopf voran ins Wasser und tauchte in einem Sprühregen von Gischt einige Meter vom Steg entfernt auf. »Oh, es ist herrlich!« Sie drehte sich herum und begann, am Ufer entlangzukraulen. Emily sprang ihr nach. Sie kamen atemlos am Bootshaus an und stiegen die Treppe zum Apartment hinauf. »Ich hoffe, es gibt hier irgendwas, womit wir uns abtrocknen können«, sagte Sue, während sie auf den Eingang zuging. »Es ist stickig hier drinnen«, sagte Emily, als sie das Zimmer betraten. »Mach die Fenster auf.« Das Apartment war ein Wohnraum mit offenem Kamin. Korbmöbel waren im Zimmer verstreut, und an der Rückwand stand eine gepolsterte Liege. Sue öffnete die Fenster auf beiden Seiten des Zimmers, hob ein Badehandtuch auf, das über der Rückenlehne eines Stuhles hing, und reichte es Emily. »War das Wasser nicht wundervoll? Ich fühl mich jetzt viel wohler.« Emily trocknete sich rasch ab, ohne etwas zu erwidern, dann
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fing sie an, Sue abzufrottieren und ihr die Schultern zu massieren. »Komm, nimm diese alberne Medaille ab.« Sie griff nach der Kette. »Nein, laß das.« Sue trat einen Schritt zurück. »Ich werde sie verlieren.« »Schon gut, entspann dich. Sei nicht so nervös.« Emily zog Sue an sich und küßte sie. Plötzlich gingen unten die Lichter an. »Was ist das?« fragte Emily erschrocken. »Nur die Laternen auf dem Steg. Sie werden automatisch eingeschaltet.« »Du lieber Himmel«, sagte Emily. »Laß uns in die Ecke gehen.« Sie nahm Sue bei der Hand, führte sie zur Rückwand des Zimmers und drängte sie aufs Bett. Emilys wissende Hände streichelten ihren Körper, liebkosten ihre Brüste, ihren Schoß. Während Sue passiv dalag, spürte sie das Klingeln in ihren Ohren. Sie bewegte sich unruhig. »Was ist los, Liebes?« murmelte Emily. »Fühlst du dich nicht wohl?« »Doch. Doch, es geht mir gut.« »Ist das schön für dich? Magst du das … und das … und das, ja?« »Ja.« Sues Stimme war ein heiseres Flüstern. »Du wirst das auch für mich tun, nicht wahr?« Sue antwortete nicht. »Hier, so.« Emily führte Sues Hand zwischen ihre Schenkel. »Du hast es versprochen, erinnerst du dich?« Sue kam dem Wunsch ihrer Freundin widerwillig nach, da hörte sie plötzlich das Surren eines Motorboots. Als es näher kam, setzte sie sich auf. »Mach weiter«, keuchte Emily. »Hör nicht auf.« »Ich habe den Eindruck, es kommt jemand.« Sue stand auf und ging zum Fenster, das den See überblickte. »Ich hab’s gewußt. Das Boot kommt hierher!«
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Emily trat zu ihr ans Fenster, und wenige Sekunden später sahen sie im Licht der Laternen Sam Wykoffs Boot, das auf den Anlegeplatz zusteuerte. »Es ist der Hausmeister«, sagte Sue. »Laß uns unsere Sachen holen«, sagte Emily besorgt »Warte. Der Platz für sein Boot ist drüben auf der anderen Seite. Er wird unsere Sachen überhaupt nicht sehen. Schau, er fährt rüber.« Sie beobachteten, wie das kleine Boot in entgegengesetzter Richtung verschwand. Kurz darauf sahen sie den Strahl einer Taschenlampe, als Sam den Pfad zum Haupthaus hinaufstieg. »Laß uns gehen, solange wir unbemerkt verschwinden können«, drängte Emily. Sue blieb ruhig. »Reg dich nicht auf. Er wird wahrscheinlich gleich wieder gehn. Er hat keinen Grund, zu dieser Zeit hier zu sein. Wahrscheinlich hat er irgend etwas vergessen. Wenn wir jetzt hinuntergehen, riskieren wir nur, ihm in die Arme zu laufen. Glaubst du, ich möchte, daß er uns so sieht?« »Wir könnten ihm sagen, daß wir schwimmen waren.« »Nein, es würde komisch aussehen – hier oben im Bootshaus … ohne Kleider.« Binnen weniger Minuten tauchte die Taschenlampe wieder auf, und Sam kehrte zu seinem Boot zurück »Siehst du, ich habe es gewußt«, sagte Sue. »Er fährt weg.« Sie beobachteten schweigend, wie das Licht der Taschenlampe verschwand. Im Wald ertönte abermals der Ruf des Seetauchers. »Da ist wieder dieser verrückte Vogel«, sagte Emily. »Er kann einem wahrhaftig Angst einjagen.« Plötzlich hörten sie auf dem See das Geräusch eines anderen Bootes. Wenige Sekunden später kamen die Lichter des Motorboots der Dickersons in Sicht. »O Gott«, sagte Sue. »Du wirst’s nicht glauben. Es ist Dave.« 317
»Du liebe Güte! Hier geht’s ja zu wie im Hafen von New York!« »Pssst! Sei still.« »Er wird unsere Kleider sehen«, sagte Emily. »Nein, nein. Der Anlegeplatz für das große Boot ist auch am anderen Ende, in der Nähe von Sams Boot. Wir gehn runter und ziehen uns an, während er das Boot festmacht. Er wird uns nicht sehen.« »Wo ist der Hausmeister geblieben?« fragte Emily. Sie blickten zu der Stelle hinüber, wo Sam gestanden hatte, aber es war nirgends eine Spur von ihm zu entdecken. Dann beobachteten sie, wie das Motorboot auf den Hauptanlegeplatz neben dem Bootshaus zusteuerte. »Er wird es direkt hier unten festmachen«, flüsterte Emily besorgt. Das Boot hielt, und Dave kam aus der Kajüte. Dann sahen sie das Mädchen. »Dein Freund scheint eine Freundin zu haben«, sagte Emily spitz. »Halt den Mund!« Sue war selbst erstaunt über die Heftigkeit ihrer Reaktion. Nachdem Dave das Boot festgemacht hatte, ging er zum Haupthaus hinauf und ließ das Mädchen allein zurück Sue musterte sie prüfend. Soweit man es in dem schummerigen Licht erkennen konnte, war sie auffallend hübsch. Wer mag sie wohl sein? fragte sich Sue. Dave hatte nie ein anderes Mädchen erwähnt. Sie runzelte die Stirn und spielte nervös mit der Medaille an ihrem Hals. Draußen auf dem See hörte sie das ferne Geräusch eines Motors. Es klang wie Sams Boot. Er mußte wieder hinausgerudert sein, um Dave aus dem Weg zu gehen. Dave kam kurz darauf zu dem Mädchen zurück Als klar wurde, daß die beiden vorhatten zu bleiben, wurde Emily ungeduldig. »Was machen wir jetzt?« Sue warf den Kopf zurück. »Nichts. Wir müssen abwarten. Wir können nicht so
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rausgehen.« »Wäre es nicht möglich, an ihnen vorbei zum Haus hinaufzuschleichen? Wir könnten dann auf der anderen Seite hinuntergehen und unsere Sachen holen.« »Nein, die Laternen sind zu hell. Sie würden uns sehen. Vielleicht gehen sie ja bald.« Emily wandte sich ab und legte sich wieder aufs Bett »Sag mir Bescheid, wenn sich was tut Und vergiß nicht, falls sie hier heraufkommen, ich habe das Handtuch.« Sue beobachtete die beiden weiterhin aufmerksam und versuchte, etwas von ihrem Gespräch aufzufangen. Ihre Gereiztheit nahm von Minute zu Minute zu, und als Dave und das Mädchen sich auszogen und schwimmen gingen, wurde das Klingeln in ihren Ohren lauter, schwoll zu einem schrillen Gewinsel, das all ihre Gedanken übertönte. Wieder drang vom Wald der Ruf eines Seetauchers herüber, diesmal leiser, wie ein schwaches, nachklingendes Lachen. Aber Emily hörte es. »Was für ein unheimlicher Ton«, sagte sie. »Bist du sicher, daß es ein Vogel ist?« »Sprich leise«, sagte Sue kurz angebunden. »Sie werden dich hören.« Als Dave ins Wasser sprang, ließ das klatschende Geräusch Emily wieder ans Fenster eilen. »O nein! Sie gehn schwimmen. Wir werden die ganze Nacht hierbleiben müssen!« Sie beobachteten schweigend, wie die beiden nach einer Weile aus dem Wasser stiegen und sich auf dem Steg unterhielten. Als Dave sich in den Fuß schnitt und die beiden aufs Bootshaus zukamen, verlor Emily die Fassung. »Jetzt gibt’s keine Rettung mehr – wir sollten uns lieber bemerkbar machen.« »Noch nicht.« Sues Stimme war ausdruckslos, kalt. »Wegen der Wunde geht er vielleicht zum Haus hinauf, um 319
Verbandszeug zu holen.« »Nein, horch. Ich glaube, sie kommen herauf.« Sue ging zum anderen Fenster, das den Balkon überblickte. Wenige Sekunden später sah sie das Paar am Kopf der Treppe auftauchen. Hinter einem Vorhang verborgen, beobachtete sie die beiden aufmerksam, und als Dave das Mädchen umarmte und ihr den BH auszog, verwandelte sich ihre Gereiztheit in blinden Zorn. »Sagtest du nicht, Dave sei nicht der Typ?« flüsterte Emily, die über ihre Schulter spähte. Sue überhörte die Bemerkung. Das Klingeln in ihren Ohren war jetzt zum nervenzerreißenden Geheul angewachsen. Bald würden die Kopfschmerzen einsetzen. Und dann, tief in ihrem Gehirn, das Tropfen. Sie sagte Emily nichts davon. Sie erzählte niemandem davon. Nur der Psychiater wußte Bescheid. Sie hätte sich das Rezept besorgen sollen; sie hatte kein Thorazin mehr. »Sie gehn«, sagte Emily. »Jetzt aber nichts wie raus!« »Warte. Dave will zum Haus hinauf. Vielleicht begleitet sie ihn.« Das Paar verschwand die Treppe hinunter, und Sue trat vom Fenster zurück. Die Kopfschmerzen hatten schon begonnen. Sie waren diesmal sehr stark Die Qual drückte sich in ihrem Gesicht aus, als sie die Zähne zusammenbiß, um den Schmerz zu unterdrücken. Ihre dunklen Augen wurden schmal, und die verkrampfte Kinnlade verzog ihre Lippen zu einem scheinbaren Lächeln. Nach kurzer Zeit kam das Mädchen mit einem Koffer in der Hand zurück Sie blieb einen Augenblick stehen, um die Kleider aufzunehmen, die sie über das Geländer gehängt hatte, dann ging sie den schmalen Balkon entlang auf das Apartment zu. »Da kommt sie«, zischte Emily, während sie sich hastig in das Badetuch hüllte. »Was machen wir jetzt?« »Sobald sie die Tür öffnet, schlüpfen wir hinaus.«
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»Was? Aber sieh uns an. Sieh dich an!« »Wir haben keine andere Wahl. Oder willst du warten, bis sie hereinkommt, und dich ihr vorstellen? Los, komm einfach hinter mir her.« Sue sprach leise, bedächtig. »Sie wird so überrascht sein, daß sie uns nicht einmal sieht. Unsere Sachen sind neben dem Boot. Wir können einfach wegfahren.« Sie durchquerte das Zimmer und stellte sich neben die Tür. Sie fühlte jetzt keinen Zorn mehr – nur das Klingeln in den Ohren und den bohrenden Schmerz hinter der Stirn. Die Tür wurde geöffnet, und Ann Conways Gestalt hob sich eine Sekunde lang als Silhouette gegen den nächtlichen Himmel ab. Sue sprang vor und stieß sie mit aller Gewalt zurück. Das Mädchen schrie leise auf, taumelte nach hinten und schlug mit dem Arm gegen die Scheibe in der Tür, die klirrend zerbrach. Sie griff verzweifelt nach Sue, bevor sie rückwärts über das Geländer in die Dunkelheit stürzte. Ein kurzer Klagelaut ertönte – der Anfang eines Schreis, der nie vollendet wurde – , und dann folgte der dumpfe Aufprall des Körpers, der fünf Meter tiefer auf die Terrasse schlug. »Großer Gott!« rief Emily. »Was ist geschehen?« »Sei still!« Sue stand horchend auf dem Balkon. »Sie ist fort«, sagte Emily ungläubig. Sie schoß zum Geländer und blickte hinunter. »O mein Gott! Du hast sie runtergeworfen!« »Halt den Mund!« Sue lauschte immer noch. Hatte Dave etwas gehört? Nein, oben im Haus rührte sich nichts. Sie ging rasch zur Treppe und lief, von Emily gefolgt, zur Terrasse hinunter. Das Mädchen lag in einer Blutlache; ihre Augen waren offen und glasig, und ihre Zunge hing heraus. Aus einer klaffenden Wunde an ihrem Arm sickerte Blut. »Sie ist tot!« rief Emily entsetzt. »O Gott, sie ist tot!« Sue betrachtete die Leiche ein paar Sekunden lang. Der Anblick rief keinerlei Gemütsbewegung in ihr hervor. Ihre einzige
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Sorge galt der Frage, wie sie die Tote loswerden konnte. In diesem Augenblick hörte sie zwischen den Bäumen ein leises, zitterndes Lachen. Natürlich! Sally Wood. Sie hatte man nie gefunden. Ihre dunklen Augen wanderten über den Anlegeplatz und blieben schließlich auf dem leichten Ruderboot haften. Es war so logisch. Eine perfekte Lösung. »Wir binden sie in diesem Boot fest und versenken es«, sagte sie ruhig. »Drüben am Pulpit Rock. Das Wasser ist dort sehr tief. Man wird sie niemals finden.« »Du bist verrückt!« Emilys Stimme war heiser vor Erregung. »Ich habe es schon immer gewußt. Du bist geisteskrank Ich … ich hole Dave … ich rufe die Polizei.« Sue wandte sich rasch nach ihr um. »Ach, wirklich?« Ihre Stimme war ruhig. »Und was wirst du der Polizei sagen? Daß wir oben im Apartment waren und uns die Zeit mit Liebesspielen vertrieben haben? Man wird alles herausfinden. Alles über deine früheren Freundinnen. Die Polizei wird alles über dich wissen, ehe sie mit dir fertig ist. Sieh dir das Mädchen an. Keine Kleider. Meinst du, man wird uns glauben, daß sie zufällig über das Geländer gestürzt ist? Wir werden beide verdächtig sein, Emily.« Sie legte eine vielsagende Pause ein. »Denk an den Skandal. Deine Eltern. Deine Freunde in Newport.« Emily zögerte. Ihre erschrockenen blauen Augen wanderten von der Leiche zu Sue. »Ich kenne dich«, flüsterte sie heiser. »Du würdest der Polizei sagen, ich hätte es getan.« »Warte hier«, befahl Sue. »Ich hole das Kanu aus dem Bootshaus. Wir binden sie im Ruderboot fest. Keine Sorge, das mach ich. Hol ihren Koffer und ihre Kleider vom Balkon. Du kannst mir mit dem Kanu zum Pulpit Rock folgen.« Sie schwieg einen Augenblick, dann setzte sie leise hinzu: »Danach mach ich’s mit dir – auf jede Art, die du möchtest.«
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Während Sue zum Bootshaus ging, dachte sie noch einmal über ihren Plan nach. Vielleicht wäre es das beste, Emily ebenfalls am Pulpit Rock zu lassen. Aber es würde schwierig sein. Nein, zwei Leichen auf einmal, das war zu kompliziert. Sie mußte das Risiko mit ihrer Freundin auf sich nehmen. Aber es würde ein ewiges Problem bedeuten. Emily hatte sie in der Gewalt, und sie würde dafür sorgen, daß Sue das nie vergaß. Wieder der Ruf des Seetauchers, aber diesmal schwach, fern; nur der gespenstische Schatten eines Lachens. Die Kopfschmerzen waren jetzt fast unerträglich. Sue biß die Zähne zusammen. Ihre Lippen strafften sich, und wieder sah es aus, als lächle sie.
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43 »Die Hinrichtung beginnt in achtzehn Minuten.« Richard Wallace stand in dem hell erleuchteten Exekutionsraum von Green Haven, direkt vor dem elektrischen Stuhl, und sprach zu den Zeugen. Seine Miene war ernst. »Es darf nicht gesprochen werden. Niemand darf den Raum verlassen, ehe die Hinrichtung beendet ist. Unter keinen Umständen dürfen Sie aufstehen oder Ihren Platz verlassen. Sollten Sie Brechreiz empfinden oder sich schwach fühlen, atmen Sie ein paarmal tief durch und legen Sie den Kopf zwischen die Knie. Unmittelbar nach der Hinrichtung wird man Sie aus dem Raum führen. Ich wiederhole, es muß absolute Ruhe herrschen.« Nach seiner kurzen Rede stellte sich der Direktor neben die geschlossene Tür zum Wartesaal zum Tod. Von dort aus konnte er den ganzen Raum überblicken. Zu seiner Linken befanden sich neunundzwanzig Männer und Frauen; dies waren die vom Staat autorisierten Zeugen. Viele von ihnen vertraten das internationale Zeitungswesen und ausländische sowie lokale Rundfunksender, die mit nationalen und internationalen Presseagenturen zusammenarbeiteten. Hinter den Zeugen, in der Nähe der Eingangstür, die jetzt fest verschlossen war, stand John Pike. Wallace gegenüber standen die beiden Sergeants, die den Häftling an den Stuhl schnallen würden. Zu ihrer Linken, im Kontrollraum hinter der Glasscheibe, befand sich der Vollstrecker. Der Gefängnisarzt wartete, zusammen mit Captain Morse, dessen Aufgabe es war, dem Häftling die Elektroden anzulegen. In einer Ecke, wo der Häftling ihn nicht sehen konnte, wenn sich die Tür öffnete, stand der Obduktionstisch, auf dem die Leiche hinausgeschafft werden würde. Der Mittelpunkt des Raums, der Stuhl, schien jetzt in den Augen von Wallace durch das grelle weiße Licht noch dunkler, noch glänzender und
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tödlicher als zuvor. Wallace fragte sich, ob das Reinigungskommando in dem Bestreben, für diese Premiere alles blitzblank zu haben, vielleicht eine Wachsschicht aufgetragen hatte. Als die Minuten verstrichen, konzentrierte er sich auf die Uhr an der gegenüber liegenden Wand. Der schlanke, schwarze Sekundenzeiger glitt lautlos und unbarmherzig über die weiße Scheibe. Um zehn Minuten vor elf winkte der Direktor John Pike, der rasch auf ihn zukam. Seine Augen, ebenso wie die der meisten anderen im Raum, glänzten vor Erregung. »Wie steht’s?« flüsterte der Direktor mit einer Kopfbewegung in Richtung auf den Wartesaal zum Tod. »Ganz gut, soviel ich weiß. Zumindest war vor wenigen Minuten noch alles in Ordnung.« »Wird er es schaffen?« »Ich glaube ja. Der Wärter sagt, er sitzt einfach mit geschlossenen Augen auf dem Bettrand.« »Ist der Geistliche bei ihm?« »Nein. Er wartet unten. Powell sagt, er will ihn nicht; er habe es bis jetzt geschafft und wolle auch das Ende allein durchstehen. Ich glaube, wir werden keine Probleme mit ihm haben.« »Das kann man vorher nie wissen«, murmelte Wallace. »Neuigkeiten vom Büro des Gouverneurs?« »Nichts. Anscheinend werden sie wie üblich im letzten Augenblick noch mit allen möglichen Argumenten bestürmt. Powells Anwalt hat sie vor einer Stunde angerufen und behauptet, daß er neue Beweise habe. Sie rechnen mit derlei Dingen. Wir haben Anweisungen, die Hinrichtung planmäßig durchzuführen.« Nachdem Pike in seine Ecke zurückgekehrt war, konzentrierte sich Wallace wieder auf die Uhr. Um fünf vor elf
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trat der Captain vor und begann, die Schwämme an den Elektroden mit einer Salzlösung zu tränken, die sich in einem Eimer neben dem Sockel des Stuhls befand. Das einzige Geräusch im Raum war das Tröpfeln des Wassers. Plötzlich durchbrach ein gedämpftes Husten aus den Reihen der Zeugen die Stille. Es war ein kurzes, krampfhaftes, würgendes Geräusch, und einen Augenblick lang glaubte Wallace, einem der Zeugen sei schlecht geworden. Er ließ den Blick rasch über die Gruppe schweifen, aber es schien alles in Ordnung zu sein. Seine Augen wandten sich wieder der Uhr zu. Noch drei Minuten. Als sich der Sekundenzeiger der Zwei-MinutenMarke näherte, straffte er sich und sah sich noch ein letztes Mal prüfend im Raum um. Dann nickte er dem Captain kurz zu, drehte sich um und öffnete die Tür zum Wartesaal zum Tod.
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44 Es war kurz vor elf. Der Nachthimmel senkte sich tief über Green Haven, wie eine schwarze Haube, die jeden Ausblick auf die Außenwelt versperrte. Drinnen war der Tod zu Gast. Dave spürte ihn mit jeder Faser seines Seins. Er lauerte im Dunkeln. Bald würde er verschwinden und mitnehmen, was immer von Daves Unsterblichkeit jenen flammenden Augenblick des elektrischen Schlags überlebte. Dave hatte die Hoffnung auf einen Aufschub oder auch nur auf eine Nachricht von Jeb längst aufgegeben. Seine Hinrichtung war unvermeidlich. Er versuchte, nicht an das zu denken, was im Nebenraum geschah, aber der Gedanke daran ließ ihn nicht los. Er wußte, daß alle Beteiligten – Vollstrecker, Wärter, Journalisten – bereits dort versammelt waren und darauf warteten, ihn sterben zu sehen. Aber sie würden nur den Schluß zu sehen bekommen – die letzten spektakulären Sekunden. Sein Sterben hatte schon im Wartesaal zum Tod begonnen. Er dachte wieder an den Geistlichen. Man hatte ihn mehrmals gefragt, ob er ihn sehen wolle. Er hatte es jedesmal abgelehnt. Hätte er ein religiöses Leben geführt, wäre es anders. Aber jetzt, im Augenblick seines Todes, die Hilfe eines Gottes zu erbitten, für den er sein Leben lang wenig Interesse gezeigt hatte, kam ihm unpassend vor. Außerdem, welche überirdische Erfahrung ihn auch nach dem Tod erwartete, sie konnte nicht schlimmer sein als das, was er jetzt erlebte. Früher am Abend hatte er seine Briefe zu Ende geschrieben, und dann hatte er auf dem Bett gesessen und den Himmel betrachtet, der bei Sonnenuntergang von leuchtenden, rötlichgelben Streifen durchzogen gewesen war. Er hatte Dave an die Abende erinnert, die er als Junge in einer Kiefer im Wald unweit seines Elternhauses verbracht hatte. Er hatte sich eine kleine Plattform in einer Astgabelung gebaut und oft
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stundenlang dort gesessen, sich den Sonnenuntergang angesehen und die Vögel beobachtet, die sich auf den Einbruch der Nacht vorbereiteten. Dort oben, hoch in der Luft, hatte er sich manchmal vorgestellt, einer von ihnen zu sein und auf großen Schwingen lautlos in den Abendhimmel aufzusteigen. Aber jetzt war der Himmel ein schwarzer Fleck vor der cremefarbenen Wand. Der Gedanke an Sue bedrückte ihn. Er hatte gewußt, daß sie nicht kommen würde. Das Geheimnis der Medaille würde, wie so viele andere, unbeantwortet mit ihm begraben werden. Jetzt, wo sein Tod unmittelbar bevorstand, war es nicht mehr wichtig. Er dachte an Dana. Um diese Zeit lag sie gewöhnlich, mit Lindsay im Arm, unter der weichen Wolldecke oben in ihrem Bettchen. Er sah im Geist seine Tochter, wie sie schlafend auf der Seite lag, den Mund ein wenig geöffnet, ein Bein angezogen, die Haare zerzaust. Im Augenblick hatte sie keine Probleme, keinen Kummer. Vielleicht würde es in Kürze für ihn das gleiche sein. Seine letzten Gedanken würden Dana gelten. Das würde ihm helfen, die Prozedur durchzustehen. Wenn es ein Leben im Jenseits gab, würde er seine Tochter bald dort wiedersehen. Er fragte sich mehrmals, ob er ihr irgend etwas hinterlassen sollte, das ein Wiedersehen andeutete. Vielleicht war es besser es nicht zu tun. Aber andererseits wollte er Dana wissen lassen, daß er auf sie wartete … Das Geräusch einer sich öffnenden Tür riß ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf und sah das helle Licht vom Hinrichtungsraum, das von der Wand am anderen Ende des Korridors zurückgeworfen wurde. Dann hörte er Schritte, die sich rasch näherten, und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Sie kamen, um ihn zu holen. Er fühlte sich schwach. Wie auf ein Signal erhob sich der Wärter hastig von seinem Stuhl und riß die Tür auf. Binnen weniger Sekunden bogen Richard Wallace und Captain Morse um die Ecke und blieben
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vor der Zelle stehen. »Es ist Zeit, Dave.« Die Stimme des Direktors klang ruhig, aber energisch. Dave nickte, holte tief Luft und stand auf. Seine Augen glänzten, und sein Teint hatte eine eigenartige gelbliche Färbung angenommen. Plötzlich fühlte er das dringende Bedürfnis, den Kübel zu benutzen. »Könnte ich …« Er räusperte sich. »Könnte ich vorher noch kurz zur Toilette?« Als er sich umwandte, öffnete der Wärter rasch die zweite Tür der Zelle. Der Direktor nahm Dave beim Arm und hielt ihn zurück »Sachte, sachte. Wir haben keine Zeit. Halten Sie’s einen Augenblick zurück Es ändert nichts mehr.« »Aber …« Dave zögerte. Ein Ausdruck von Hilflosigkeit lag in seinen eingesunkenen Augen. »Ich möchte wenigstens mit etwas Würde sterben.« »Kommen Sie.« Der Direktor packte Dave fester beim Arm und führte ihn zur Tür. »Glauben Sie mir, Dave, es ändert nichts.« »Bitte, es ist alles in Ordnung«, sagte Dave, als er sah, daß der Wärter die Zelle durch die zweite Tür betrat. Er befreite seinen Arm aus dem Griff des Direktors, räusperte sich abermals und bat: »Bitte, lassen Sie mich allein gehen.« »Gewiß, gewiß, ich verstehe.« Der Direktor legte die Hand auf Daves Schulter und führte ihn aus der Zelle. »Werde ich Gelegenheit haben, noch etwas zu sagen?« fragte Dave. »Wenn Sie das wirklich wollen.« Wallace hob die Brauen. »Aber es muß kurz sein.« Mit Dave in der Mitte betraten die drei Männer den Korridor. Dave wurde von Panik ergriffen. In wenigen Sekunden würde er bei lebendigem Leibe verbrannt werden. Er
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hoffte, daß es so schnell gehen würde, wie man ihm versichert hatte. Aber er durfte nicht nachdenken. Er mußte sich beherrschen. Er würde einfach hineingehen, sich auf den Stuhl setzen und es hinter sich bringen. Keine gespielte Tapferkeit. Nur ein paar letzte Worte für Dana. Mit entschlossenen Schritten, aufrecht und erhobenen Hauptes, näherte er sich der Tür zum Hinrichtungsraum. Er mußte bis zum letzten Augenblick Haltung bewahren. Diese verdammten Leichenfledderer, die drinnen darauf warteten, ihn sterben zu sehen, durften seine Angst nicht bemerken. Als er den Hinrichtungsraum betrat, blendete ihn das grelle Lampenlicht. Dann sah er den Stuhl, und die wenige Kraft, die ihm noch geblieben war, wich aus seinem Körper. Das Mordinstrument war schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte: größer, dunkler, drohender. Er sah den Stuhl auf den ersten Blick, und nichts anderes im Raum nahm Gestalt an. Das Gewirr von Drähten und die Elektroden; die Totenkappe; das schwarze Gummigeflecht an der hohen, schrägen Rückenlehne und auf dem Boden rund um den häßlichen, gekrümmten dreibeinigen Sockel; die Riemen, die lose herabhingen. Der Stuhl wartete auf ihn in dem gleißenden weißen Licht, die wuchtigen Arme ausgestreckt, um ihn im Tode zu umfangen. Dave zögerte, aber plötzlich griffen Hände nach seinen Armen und schoben ihn rasch zum Stuhl. Er sah flüchtig die Zeugen: zahllose weiße Gesichter, halb neugierig, halb furchtsam starrend, manche auch ehrfürchtig vor den letzten Augenblicken des Lebens. Dann saß er auf dem Stuhl, und seine Arme und Beine wurden fest angeschnallt – sehr fest. Etwas wurde ihm auf den Kopf gedrückt. Es war kalt und feucht, und er fühlte Wasser seinen Nacken hinuntertröpfeln. Plötzlich konnte er sich nicht mehr rühren, war so fest angeschnallt, daß er und der Stuhl fast eine Einheit zu bilden schienen. Es war ein erschreckendes Gefühl. Der Riemen über
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seiner Brust war so straff angezogen, daß er kaum atmen konnte. Er schloß die Augen. Jetzt war es soweit. In wenigen Sekunden würde es ihn treffen. Was war das? Eine Stimme. Wollte er noch etwas sagen? Ja. Ja, in der Tat! Er hatte etwas zu sagen. Es war sehr wichtig. Aber würden sie den Riemen über seiner Brust ein wenig lockern? Er konnte nicht atmen – konnte nicht sprechen. Und dann die unheimliche, schwarze Totenmaske. Wartet! Noch nicht! Er wollte etwas sagen. Sie gaben ihm keine Gelegenheit. Sie hatten es versprochen. Bitte! Im Raum herrschte völlige Stille. Niemand wagte zu atmen, kein Auge blinzelte, kein Muskel regte sich. Im entscheidenden Augenblick – als die Zeit stehengeblieben schien – durchbrach ein lautes, ununterbrochenes Klingeln die Stille. Dieses Klingeln hämmerte gegen Schläfen, bedrohte Trommelfelle und hallte von den harten, kahlen Wänden wider.
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Zwölfter Teil TARRYTOWN, NEW YORK FRÜHLING 1984
45 Es war Morgendämmerung am Meadow Lane, und man hörte das Gezwitscher der erwachenden Vögel. Die ersten rötlichgelben Strahlen der Sonne krochen über die Mauer und spiegelten sich im Tau auf dem hohen Rispengras. Ein leichter Nebelschleier hing über der Wiese, aber der Himmel war klar und verhieß einen schönen Tag. Selbst die vorwurfsvollen Mienen der ausgekragten Köpfe in der Mauer schienen mit den ersten Anzeichen des Frühlings sanfter geworden zu sein. Ein Zaunkönig, kaum größer als ein Fünfzig-Centstück, flatterte einen Augenblick über der Mauer, ehe er im Efeu verschwand. Er kam mit einem Insekt im Schnabel wieder heraus und schoß am Pförtnerhaus vorbei auf die Bäume zu. Wenige Sekunden später ließ er sich auf einem Ast der kürzlich gepflanzten Ulme nieder, die den Blumengarten überblickte. Seine Ankunft blieb nicht unbemerkt. »Schau, Lindsay.« Dana Powell, die im Garten saß, deutete auf die Ulme. »Dort sitzt ein Zaunkönig.« Sie griff nach dem Feldstecher auf ihrem Schoß und betrachtete den Vogel. »Er hat etwas im Schnabel. Vielleicht baut er ein Nest in unserem neuen Baum. Wäre es nicht hübsch, dort oben eine Zaunkönigsfamilie zu haben, Lindsay?« Lindsay lehnte an einem Stuhl neben ihr, die blauen Augen auf einen imaginären Punkt in der Ferne geheftet. Auf dem Rasen vor der Puppe lag Puff, dessen ausschließliches Interesse einer großen Biene galt, die über seiner Nase summte. »Allerdings haben Zaunkönige ihre Nester gern näher am 332
Boden«, fuhr Dana fort. »Aber es wird in der Ulme, genau wie zuvor, wieder andere Nester geben.« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit gerade rechtzeitig auf Puff, um zu sehen, wie der Hund mit seinen riesigen Fängen die Biene geschickt aus der Luft schnappte. »Oh, Puff! Wie schrecklich!« Dana schlug angewidert die Hände vor die Augen. Zufrieden und geräuschvoll an dem Leckerbissen kauend, stand Puff auf und trottete schwerfällig quer durch den Garten. »Wohin gehst du, Puff?« rief Dana. »O nein! Er setzt sich genau ins Tulpenbeet. Puff! Nein!« Sie sah hilflos zu, wie sich der Hund mitten im Blumenbeet niederließ. »Böser Hund, Puff! Brandon wird sehr ärgerlich sein. Ach was, es ist nicht so wichtig.« Sie seufzte tief. »Der Garten wird ohne Mami sowieso nie mehr so schön wie früher werden.« Dave Powell hörte ihre letzten Worte, als er den Garten betrat. Er war ins Haus gegangen, um einen Pullover für seine Tochter zu holen. Sie wollten einen Spaziergang ins Vogelparadies machen, und die Morgenluft war kühler, als sie erwartet hatten. Dana wandte sich zu ihm um, als sie ihn kommen hörte. »Daddy, sieh dir den Zaunkönig an.« »O ja, ich sehe ihn.« »Er ist so winzig.« »Ja«, sagte Dave, während er bewundernd den Vogel musterte. »Aber sein Gesang ist größer als der ganze Baum.« »Nun, ich finde, wir sollten uns jetzt lieber auf den Weg machen.« Dana ließ den Feldstecher auf den Schoß fallen und griff nach der Hand ihres Vaters. »Ich werde gehen, soweit ich kann, Daddy. Und dann reite ich wieder wie letztes Mal auf deinen Schultern, okay?« »Vergiß nicht, was der Arzt gesagt hat. Wir dürfen es nicht übertreiben.« Dave half ihr auf die Beine, und sie gingen Hand in Hand zum Tor. Plötzlich sah
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Dave sich um. »Fast hätten wir Lindsay vergessen.« Er machte kehrt und ging zurück, um die Puppe zu holen. Als er sie aufhob, sah er, in welch kläglichem Zustand sie war. Vor ein paar Monaten hatte er ein Bein mit Heftpflaster geflickt, aber es hielt nicht. Ein Arm bedurfte ebenfalls einer Reparatur, und in dem flachsblonden Haar sah er kahle Stellen. Er hatte mit einem Anflug von Wehmut bemerkt, daß Dana der Puppe in letzter Zeit weniger Aufmerksamkeit schenkte. »Lindsays Haare sehen fast aus wie meine im vergangenen Jahr«, sagte er. »Ich glaube, ich muß noch mehr Pflaster auf ihr Bein kleben.« »Ach, mach dir keine Mühe, Daddy. Sie gehört einfach ausrangiert.« »Nein, nein. Sie ist noch sehr schön. Ich kann sie wieder heil machen.« Als er seiner Tochter die Puppe gab, starrten Lindsays ausdruckslose Augen ihn teilnahmslos an und beschworen Erinnerungen herauf. »Ich bin froh, daß wir sie nicht vergessen haben. Sie hätte sich sehr einsam gefühlt.« »Sei nicht albern, Daddy. Sie ist nur eine Puppe. Puppen fühlen nichts.« Am Tor angelangt, sah Dave sich nach dem Hund um. »Gehn wir, Puff. Du kommst auch mit.« Der Hund setzte sich auf die Hinterbeine und sah ihnen mit dem typischen verwirrten Ausdruck des Bernhardiners nach. »Sieh dir an, wo er sich niedergelassen hat, Daddy«, sagte Dana mißbilligend. »Mitten zwischen den Tulpen.« Dave betrachtete den Hund einen Augenblick liebevoll, dann begann er zu singen: Dort drunten im Blumenbeet Wächst etwas, zart und fein … »O Daddy«, rief Dana lachend. »Du bist so komisch. Er sieht wirklich aus, als ob er dort wächst.« Sie fiel mit ihrer kleinen,
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leicht zitternden Stimme in den Gesang ein: In bunten Farben, wie ihr seht, öffnen sich Tulpen im Sonnenschein. Sie gingen lachend den schmalen Pfad entlang, der in den Wald führte. Sonnenstrahlen sickerten durch das Laub der Bäume, und die Luft war erfüllt von der munteren Morgenmelodie des Waldes.
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Nachwort GEFÄNGNIS GREEN HAVEN STORMVILLE, NEW YORK SEPTEMBER 1984 Jenseits der düsteren Gefängnisgebäude von Green Haven liegt ein großer Wald. Er erstreckt sich weit über das hügelige Gelände von Dutchess County, dessen herrliche Landschaft in krassem Gegensatz zu dem finsteren Gefängnisareal steht. In dieser Gegend kann man New Yorks spektakulären Wechsel der Jahreszeiten besonders deutlich wahrnehmen. Diejenigen, die innerhalb des Gefängnisses leben, bekommen freilich kaum etwas von der Schönheit ihrer Umgebung zu sehen. Die trennende Mauer liegt dazwischen. Aber der Wechsel der Jahreszeiten offenbart sich den Insassen auf andere Weise; besonders nachts. Denn bei Nacht neigen die Gefangenen dazu, auf Geräusche zu achten, und die Laute aus dem nahen Wald schweben mit dem Wind über die Mauer. Im Sommer zum Beispiel ist der Wald voll von vielfältigen Tönen, während in den Winternächten ringsum tiefe Stille herrscht. Keine Mauer, ganz gleich, wie hoch sie ist, kann den Häftlingen die am Himmel wahrnehmbaren Veränderungen vorenthalten. Die kleine, blasse Scheibe, die am schwarzen Winterhimmel über dem Wald steht, wie der herrliche Erntemond im Herbst, ist für alle deutlich sichtbar. Nirgends wird der Himmel aufmerksamer betrachtet als vom Wartesaal zum Tod aus. Sei es durch zufällige Anordnung, sei es von der Vorsehung bestimmt – die Todeszelle bietet einen eindrucksvollen letzten Blick auf den Himmel. Am Abend des 27. September 1984 ging der Mond groß und gelb am tiefblauen Herbsthimmel auf. Blitzende Sterne bereiteten ihm 336
am Firmament einen prächtigen Empfang. Eine Insassin des Wartesaals zum Tod saß, eine Zigarette rauchend, auf der eisernen Bettstelle, blickte zum Himmel auf und sann über die letzten Augenblicke des Lebens nach. Zuvor hatten die üblichen Vorbereitungen für das Todesritual stattgefunden: die Kleider für die Hinrichtung; die letzte Mahlzeit; Besucher; das Rasieren des Scheitels. Um 21 Uhr waren zwei glänzende schwarze Särge an der Rückseite der Krankenstation des Gefängnisses abgeladen worden. Kurz nach 22 Uhr waren die Zeugen eingetroffen. Jetzt, kurz vor 23 Uhr, fehlten nur noch wenige Augenblicke bis zum Tod. Die Gefangene auf dem Bett, die rauchte und mit einem kleinen Strauß Gänseblümchen und Moosröschen spielte, wirkte entspannt und gelassen. Die Szene stand in krassem Gegensatz zu der, die sich vor nur wenigen Minuten hier abgespielt hatte, als eine andere Gefangene, in ohnmächtiger Wut ihre Unschuld beteuernd und mit Vergeltung drohend, eilig zum Stuhl geschleppt worden war. Die Tür zum Hinrichtungsraum war geschlossen; hinter der Tür war bereits eine Hinrichtung im Gange. Draußen war es still – so still, wie es nur im Angesicht des Todes sein kann. Das leiseste Geräusch – ein Husten, ein Schritt, sogar ein Seufzer – hallte im leeren Korridor nach. Plötzlich wurde die Stille von einem anhaltenden, leisen Summen durchbrochen. Es war ein ferner, leicht vibrierender Ton, kaum vernehmbar, aber im Wartesaal zum Tod wurde er gehört. Die Gefangene setzte sich steif auf und zog hastig an ihrer Zigarette. Das Geräusch hielt zwei Minuten an, dann verstummte es. Die Wartende stand langsam auf und drückte die Zigarette in einem Aschenbecher aus, der außen an einer Gitterstange der Zelle angebracht war. Plötzlich ertönte das Geräusch abermals, wieder für genau zwei Minuten. Danach war es totenstill. Kurz darauf wurde die Tür zum Hinrichtungsraum weit geöffnet, 337
und helles Licht strömte auf den Gang hinaus. Zwei uniformierte Wärter schoben einen Obduktionstisch an der Zelle der Gefangenen vorbei. Darauf lag eine schlanke Gestalt, mit einem grauen Kliniklaken zugedeckt. Der Tisch rollte den Korridor entlang und zur Tür hinaus. Im Hinrichtungsraum ertönte das laute Surren des Ventilators, der den Geruch des Todes beseitigte. Nach wenigen Minuten kam ein hochgewachsener Schwarzer heraus. Heftige Erregung spiegelte sich auf seinem Gesicht. Ihm folgte ein uniformierter Beamter, der mit einem Taschentuch eine tiefe Kratzwunde unter seinem Auge betupfte. Die beiden Männer bogen um die Ecke und blieben vor dem Wartesaal zum Tod stehen. Die Gefangene stand auf und nickte ihnen zu, während die Wärterin, die draußen Wache hielt, die Tür öffnete. Die Verurteilte zog eine kleine Rosenknospe aus dem Strauß und verließ die Zelle. Draußen blieb sie einen Augenblick stehen und reichte der Wärterin die Blume, dann ging sie mit einem leisen Lächeln ruhig in den Hinrichtungsraum. Bei Nacht nimmt der Wald hinter der Gefängnismauer einen anderen Charakter an. In der Dunkelheit verwandeln sich die Bäume zu riesigen schwarzen Schatten, die mit den Gefängnismauern verschmelzen. Dies ist die Zeit, wo der düsterste Teil von Green Haven lebendig wird: der Friedhof des Gefängnisses. Hier werden die zahlreichen nicht abgeholten Leichen verstorbener Häftlinge begraben, einschließlich der verkohlten Überreste derjenigen, die auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wurden. Gemäß Paragraph 620 des Strafgesetzes des Staates New York wird die Leiche, nachdem man sie mit genügend Kalk bedeckt hat, um für ihre Zersetzung zu sorgen, in einem nicht gekennzeichneten Grab beigesetzt. Es scheint, als wolle das Gesetz dafür sorgen, daß jede Spur von dem Hingerichteten und seinem Verbrechen – vielleicht auch die Spur von gelegentlichen Justizirrtümern –
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beseitigt wird. Trotzdem bietet der Friedhof den armen Seelen eine friedliche letzte Ruhestätte; außer bei Nacht, wenn eine Brise weht. Dann beginnen die hohen Föhren neben den Gräbern besorgt zu flüstern, und ein melancholisches Raunen dringt über die Gefängnismauern. Es ist ein leises, ächzendes Geräusch, erschreckend für das Ohr – das Requiem des Wartesaals zum Tod.
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