Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
ROBERT RANKIN WARTEN AUF
OHO Lust auf eine abgedrehte Story? Wie war’...
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Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
ROBERT RANKIN WARTEN AUF
OHO Lust auf eine abgedrehte Story? Wie war’s mit dieser: Gott ist tot. Und die Todesumstände sind ziemlich rätselhaft. Er starb bei einem Angelausflug in Norfolk und lässt eine Frau, drei Kinder und ‘ne ganze Menge Grundbesitz zurück. Laut Testament vermacht er seinem Sohn Colin den viel geliebten Planeten Erde, doch Colin zeigt wenig Interesse und will das Ding an seinen undurchsichtigen Kumpel Lou Cipher verscherbeln. Gottes Frau schöpft Verdacht: Hatte Lou etwa beim Tode ihres Mannes seine Finger im Spiel? Sie schaltet einen Privatdetektiv ein: den großen Lazlo Woodbine. Und Lazlo der Große steht unvermittelt vor dem größten Fall seiner Karriere… Dies ist das erste Buch in der Geschichte des Verlages, das kein Coverbild hat. Es wird mit bunten Abziehbildern ausgeliefert, mit denen jeder Leser sich sein eigenes Cover schaffen kann. Das schönste wird von uns prämiert Mehr Infos im Buch.
ROBERT RANKIN IM TASCHENBUCH-PROGRAMM: 24225 Der Garten unirdischer Gelüste
DER ELVIS-ZYKLUS 24278 Band 1 Armageddon – Das Musical 24285 Band 2 Armageddon – Das Menü 24292 Band 3 Armageddon – Das Remark
DER HUGO-RUNE-ZYKLUS 24201 24204 24210 24216
Band Band Band Band
1 2 3 4
Das Buch der allerletzten Wahrheiten Jäger des verlorenen Parkplatzes Die größte Show jenseits der Welt Der wundersamste Mann der jemals lebte
BRENDTFORT-ZYKLUS 24246 24247 24255 24264 24271
Band Band Band Band Band
1 2 3 4 5
Der Antipapst Die Akte Brentford Jenseits von Ealing Kohl des Zorns Das Kettenlädenmassaker
ROBERT RANKIN WARTEN AUF
OHO Roman Ins Deutsche übertragen von Axel Merz
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 24318 1. Auflage: September 2003
Vollständige Taschenbuchausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe Deutsche Erstveröffentlichung Titel der englischen Originalausgabe: Waiting for Godalming © 2000 by Robert Rankin © für die deutschsprachige Ausgabe 2003 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach This edition is published by arrangement with Transworld Publishers, a division of The Random House Group Ltd. All right reserved Lektorat: Gerhard Arth/Stefan Bauer Titelillustration: Arndt Drechsler Umschlaggestaltung: QuadroGrafik, Bensberg Satz: Fanslau, Communication/EDV, Düsseldorf Druck und Verarbeitung: Ebner & Spiegel GmbH, Ulm Printed in Germany ISBN 3-404-24318-8 Sie finden uns im Internet unter http://www.luebbe.de Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Scaned by Grebo
Für meinen allerbesten Kumpel NICK REEKIE Einen großen Sherlockianer. Du findest es raus!
VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE und dem EXTREM UNGEWÖHNLICHEN UMSCHLAG-SPASS Liebe Leserinnen und Leser, Sie halten ein Buch in Händen, das einmalig ist – nicht nur, was den Inhalt betrifft. Es ist das erste Buch in der grandiosen Geschichte der Verlagsgruppe Lübbe, des wundersamsten Verlages, der je existierte, ja, wahrscheinlich sogar der gesamten Buchgeschichte der Welt, das mit einer >flexiblen< Covergestaltung ausgerüstet ist. Wir haben gedacht, warum sollen wir uns immer die ganze Arbeit alleine machen? Der Leser sollte, wenn wir ihm schon so einen tollen Roman bieten, auch mal selber mit anpacken: sprich, sich selber ein Cover basteln. Dazu haben wir ihm genügend Abziehbilder zur Verfügung gestellt, die er nach Belieben auf dem Umschlag des Taschenbuches verteilen kann. Natürlich sind wir neugierig, was dabei herauskommt. Deshalb haben wir das Ganze mit einem kleinen Wettbewerb verbunden. Also, kleben Sie sich Ihr eigenes Cover, machen Sie eine Farbkopie vom Umschlag, und schicken Sie uns diese zu. Die Bilder finden Sie übrigens auch zum Downloaden auf unserer Internetseite www.luebbe.de Sie können auch gerne selbst ein Cover gestalten, ohne auf unsere mitgelieferten Abziehbilder zurückzugreifen. Unter allen Einsendungen verlosen wir ein Buchpaket im Wert von 250,- Euro. Einsendeschluss ist der 1. März 2004, der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Angehörige der Verlagsgruppe Lübbe und deren Familie dürfen mal wieder nicht teilnehmen, alle ändern aber schon. Die Fotokopien (bitte keine kompletten Bücher; diese können nicht ersetzt werden), senden Sie an die Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG; zu Händen von Stefan Bauer; Stichwort: Rankin; Scheidtbachstraße 23 – 31 in 51.469 Bergisch Gladbach. Also: Viel Spaß beim Kleben und Lesen (sowieso) wünscht Ihnen Ihr Stefan Bauer
PROLOG Ich hasste das Sprechzimmer des Doktors wirklich. Es roch nach Füßen und Fisch und Angst. Nach stinkender Gärung. Und ich hasste den Doktor. Er war ein Wrong’un, dieser Doktor. Von außen betrachtet, mit bloßem Auge, sah er ganz nett aus. Er sah genauso aus, wie ein Doktor aussehen sollte. Wie man es von einem Doktor erwarten würde. Aber so ist das mit den Wrong’uns. So überleben sie mitten unter uns. Sie sehen einfach richtig aus. Wie man es von ihnen erwartet. Was auch der Grund dafür ist, warum niemand jemals einen Verdacht schöpft, was sie in Wirklichkeit sind. Wrong’uns. Aber ich, ich weiß Bescheid. Weil ich die Droge genommen habe. Ich kann die Wrong’uns so sehen, wie sie wirklich sind. Faulige, dämonische Kreaturen aus der Hölle. Und ich könnte sie aufhalten. Ich könnte ihre Pläne durchkreuzen, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Ich könnte sie zurückwerfen in das Bodenlose Loch. Ich könnte es wirklich. Wenn ich nur ein wenig länger wach bleiben könnte. Nur ein paar Tage. Das ist alles, was ich brauche. Nur ein paar Tage. »So«, sagte der Doktor und blickte von der Krankenakte auf. Von meiner Krankenakte. »Möchten Sie nun die Konsultation fortsetzen?« »Kumpel«, sagte ich zu ihm, »alles, was ich will, sind noch ein paar von diesen Hallo-Wach-Tabletten. Damit ich nicht einschlafe.« »Dann helfen die Tabletten also?« »Tabletten helfen immer«, sagte ich. »Dafür sind sie schließlich da, oder?« »Einige jedenfalls.« Der Doktor sah mich über seine Brille hinweg an. Ich hatte auch mal so eine Brille. Allerdings mit Spezialgläsern darin. Hab sie selbst erfunden. 2-D-Gläser. Das Gegenteil von 3-D-Gläsern. Wenn man durch meine Gläser gesehen hat, erschien die Welt ganz flach. Als würde man im Kino sitzen und ein Movie sehen, verstehen Sie? Als wäre man in einem Movie. Ken Kesey hat einmal gesagt: »Bleib immer in deinem eigenen Movie«, und genau das ist es, was ich tue. Das ist es, wie ich überlebe. Ich machte den Rahmen meiner Brille lang und schmal, sodass meine Welt ein Breitwand-Movie war. Trotzdem, die Gläser waren ein Fehlschlag. Ich hatte ein paar wirklich haarige Augenblicke auf der Autobahn. Also erfinde ich keine Dinge mehr. Ich halte mich an das, was ich am Besten kann. Und deswegen bin ich der größte Privatdetektiv im Geschäft. »Möchten Sie über Ihre Träume reden?«, fragte der Doktor. »Nein«, antwortete ich. »Ich habe keine Zeit für Träume.« »Dann reden wir über Sie. Reden wir über Sie, Mr. Woodblock.« »Der Name ist Woodbine«, sagte ich. »Lazlo Woodbine, Privatdetektiv.« Und ich fügte hinzu: »Manche nennen mich Laz.« Der Doktor blätterte ein wenig mehr in der Krankenakte. »Mr. Woodbine, ja. Und Sie beschreiben sich selbst als eine lebende Legende.« »Das bin ich«, sagte ich. »The one and only. Der letzte einer sterbenden Gattung.« »Und was für eine Gattung wäre das genau?« »Der amerikanische Genredetektiv der neunzehnhundertfünfziger Jahre. Der Mann, der durch die dunklen Straßen wandert, durch die ein Mann alleine wandern muss.«
»Nicht ganz allein«, verbesserte mich der Doktor, während er in meiner Krankenakte blätterte. Blätter, blätter, blätter. »Da wäre noch dieser Gary, der mit Ihnen zusammenarbeitet.« »Barry«, verbesserte ich ihn. »Er heißt Barry.« »Ah, ja, Barry. Und Barry ist ein Rosenkohl, der in Ihrem Kopf lebt, richtig?« »Er lebt nicht dort. Das habe ich Ihnen doch alles schon erklärt.« »Er ist also ein toter Rosenkohl?« »Er ist eine Theophanie. Und bevor Sie mich schon wieder fragen, was das ist – es ist eine Manifestation Gottes für die Menschen, in einer Gestalt, die, obwohl sichtbar, nicht notwendigerweise materiell ist. Und bevor Sie mich schon wieder fragen, ob ich Barry sehen kann, die Antwort lautet nein. Ich kann ihn nur hören. Und nur ich kann ihn hören. Er spricht aus meinem Kopf heraus zu mir. Er ist mein Heiliger Schutzrosenkohl.« »Wie in Heiliger Schutzengel?« »Wie ich Ihnen bereits schon viele Male zuvor erzählt habe, ja. Es gibt mehr Menschen auf der Erde als Engel im Himmel. Gott improvisiert. Er verteilt die Produkte Seines Gartens. Ich hab eben einen Rosenkohl namens Barry. Vielleicht haben Sie ja einen Kürbis namens Knut.« »Wollen Sie andeuten, dass ich einen sehr großen Kopf habe?« »Wenn Ihnen die Mütze des Elefantenmannes passt, ziehen Sie sie an.« »Was haben Sie gesagt, Mr. Woodbine?« »Ich sagte, Sie haben den Kopf eines eleganten Mannes. Kann ich jetzt bitte noch ein paar von diesen Tabletten haben, bevor ich einschlafe?« »Alles zu seiner Zeit«, sagte der Doktor und tat mit seinem Stift das, was Doktoren mit ihren Stiften tun. »Reden wir ein wenig mehr über diesen Fall, an dem Sie arbeiten. Es geht um eine Handtasche, sagten Sie?« »Nein«, widersprach ich. »Mein letzter Fall drehte sich um eine Handtasche. Bei diesem Fall hier geht es um eine Aktentasche.« »Geht es bei Ihren Fällen eigentlich immer um Gepäck?« »Sicher. Das ist es doch, was so einen Fall ausmacht, oder nicht?« »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen folgen kann.« »Nun ja, wir haben alle unser Gepäck zu tragen, nicht wahr? Das ist es, was einen Mann ausmacht. Sein Gepäck.« »Sicherlich meinen Sie Päckchen. Wir haben alle unser Päckchen zu tragen.« »Gepäck, Päckchen, was macht das für einen Unterschied? Ein Mann ist, was er mit sich herumschleppt. Eine Handtasche, eine Aktentasche, einen Arztkoffer, eine Reisetasche, eine Gladstonetasche, einen Kleidersack, einen Matchbeutel, eine Satteltasche, einen Handkoffer, einen Übernachtkoffer, einen Attachekoffer, eine Kuriertasche, einen Gitarrenkoffer, einen Wochenendkoffer, einen Schminkkoffer, einen Schulranzen, einen Rucksack, einen Tornister, eine Provianttasche…« »Sie kennen sich jedenfalls mit ihrem Gepäck aus«, sagte der Doktor. »Kumpel«, sagte ich zu ihm, »in meinem Geschäft kann der Unterschied, ob man sein Gepäck kennt oder nicht, den Unterschied bedeuten, ob man in Augen voller Liebe blickt oder in den Lauf einer P45. Wenn Sie wissen, was ich meine, und ich bin sicher, dass Sie es wissen.« »Ich weiß es nicht«, gestand der Doktor. »Nun, ich jedenfalls weiß es«, sagte ich. »Es gab da mal einen Fall, an dem ich ‘95 gearbeitet habe, wo ich eine Säbeltasche mit einem Arbeitsbeutel verwechselte. Dieser Fall hat mich meine beiden Schneidezähne gekostet, meine gesamte Sammlung an Lonnie-Donegan-Platten, meine
Reputation als Connaisseur von Weichholzregalen und Weichholzschränken für die Küche, meine Kuschelente namens Klaus sowie…« »Was?«, sagte der Doktor. »Zzzzzzzzzzzzz…« »Wachen Sie auf!«, brüllte der Doktor. Ich wachte mühsam auf. »Hören Sie«, sagte ich, »alles, was ich will, sind diese Tabletten, damit ich wach bleibe. Sie wollen, dass ich wach bleibe, damit ich Ihnen alles über den Fall erzählen kann. Ich will wach bleiben, damit ich den Fall abschließen kann. Herrgott im Himmel, Mann, wir wollen alle beide, dass ich wach bleibe! Warum also geben Sie mir nicht einfach die verdammten Tabletten, damit ich wach bleibe?« »Also schön«, sagte der Doktor. »Ich gebe Ihnen jetzt eine Tablette, und wenn Sie mir alles über den Fall erzählt haben, können Sie noch eine haben.« Ich sah ihm an der Nasenspitze an, dass er log. Man kann es an ihren Köpfen sehen, wenn die Wrong’uns lügen. Die Federn werden ganz blau an den Spitzen. Der Doktor wusste natürlich nicht, dass ich seine Federn sehen konnte. Er wusste nicht, dass ich ihn durchschaut hatte. Doch das hatte ich. Ich konnte seine Federn sehen und seine grauenhaften Reptilienaugen und diese schrecklichen Insektenmundwerkzeuge, die unablässig kauten und kauten und kauten und kauten. Ich konnte das alles sehen, weil ich die Droge genommen hatte. Und so erzählte ich ihm alles über den Fall. Um Zeit zu schinden. Um wach zu bleiben, nur noch ein paar Tage, damit ich ihn und seinesgleichen vom Angesicht der Erde fegen konnte. Das sagte ich ihm natürlich nicht. Ich sagte ihm auch sonst nicht alles. Weil ich nicht alles wusste. Doch selbst wenn ich alles gewusst hätte, hätte ich ihm nicht alles gesagt. Ich erzählte ihm meine Version der Geschichte, wie sie sich ereignet hatte, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich zu dem Fall hinzugezogen worden war. Ich weiß nicht so genau, was sich davor zugetragen hat, weil ich nicht dabei war und es nicht sehen konnte. Ich schätze aber, es fing im Grunde genommen alles in diesem Barbierladen an. Doch wie ich schon sagte, ich war nicht dabei, deswegen kann ich es nicht mit Sicherheit sagen.
1 Heutzutage sieht man keine richtigen Barbierläden mehr. Sie sind den Weg alles Vergänglichen gegangen, den gleichen Weg wie die Pathe News oder Raylbrook-Popeline, die Hemden, die man nicht bügeln muss. Doch früher einmal, in einer Zeit, die noch gar nicht so lange zurückliegt, war der Barbierladen ein ganz besonderer Ort. Ein Schrein für alles, was männlich war. Hier fanden sich zweimal wöchentlich Männer aller sozialen Schichten für das Barttrimmen ein. Die Oberschicht saß Schulter an Schulter mit den genetisch Benachteiligten, Prinzen mit Bettlern, Schönlinge mit Schaufensterdekorateuren. Hier herrschte Fleisch gewordene Gleichheit. Hier gab es die klassenlose Gesellschaft. Unter dem Pinsel des Barbiers waren alle Männer gleich. Eine Meile genau nördlich von Brentford1, wie der Greif aus der Sage fliegt, führt die Ealing Road nach South Ealing hinein und wird für eine Strecke von hundert Yards1 zur High Street2. Und genau hier, in der High Street, scharf zur linken Hand zwischen einem Wollladen, wo die Frauen wohlhabender Männer ihr Garn filzen, und einem Blumenladen, wo sie floralen Flitterkram hätscheln, stand zu der Zeit, zu der unsere Geschichte erzählt wird, ein Barbierladen, der unter dem Namen Stravinos bekannt war. Und Stravinos war ein Barbierladen, wie ein Barbierladen sein sollte. Über der Tür, stolz erhoben wie der Zinken eines Pornostars, drehte sich der rot und weiß gestreifte Stab in einem Zylinder aus Glas, und wand sich, angetrieben von einer unsichtbaren Maschine, in ewigen Spiralen der Endlosigkeit entgegen. Im vorderen und zugleich einzigen Fenster, das nur gelegentlich von jobbenden Pfadfindern gereinigt wurde, zeigte ein längst verblichenes Plakat in Monochrom die modischen Haarschnitte einer vergangenen Epoche. Das Gesicht von King Gillette, Schöpfer jener berühmten blauen Klinge, blickte ernst von einer Box Sicherheitsrasierer. Und tote Fliegen lagen mit dem Bauch nach oben in gefälligen Kompositionen herum. Wunderbar. Ah, wie wunderbar. Doch wenn der Laden schon von außen so wunderbar war, wie mochte er dann erst von innen sein? Ah, von innen. Innen drin war reinste Poesie. Denn Stravinos Laden war lang und niedrig, Mit Wänden von der Farbe des Nikotins, Der Boden knöcheltief voll Haare, Und wer es wagt zu stehen und starren, 1 2
Einundneunzig Komma vier vier Meter (Anm. d. Übers.) Hauptstraße (Anm. d. Übers.)
War bald selber voll damit. Und hatte es in den Schuhen. Der Grieche war eine farbenfrohe Natur Und lauschte auf den Namen Smiling Stan Er arbeitete in seinem Handwerk voller Elan Und sang Arien dazu. Es gab heiße Handtücher in einer Chromschale Und eine Reihe Kinogestühl, Wo die Gäste warteten, Bis sie an der Reihe waren, Und die Schreie der anderen von den zu heißen Handtüchern hörten, die sich daran verbrannt hatten, Und den alten braunen Umschlag öffneten Und den fliegenden Haaren auswichen Denn der Grieche konnte mit unglaublicher Vehemenz schneiden Er machte sich über die Köpfe her Wie ein Besessener (ein Reim!) Und kaum einer war nicht beeindruckt Von seinen Kenntnissen über kosmische Affären. Und so weiter und so fort, noch viele, viele Strophen. Doch wir sind nicht hier, um zu reimen. Wir sind wegen einer anderen Angelegenheit hergekommen, und zwar, weil wir dem Helden unserer Geschichte begegnen wollen. Gegenwärtig hat er noch keine Ahnung, dass er der Held ist. Tatsächlich scheint er bei genauerer Betrachtung kaum aus dem Stoff zu sein, aus dem die Helden sind. Er ist schlank, ein wenig gekrümmt und sitzt mit niedergeschlagenen Augen da, während er geduldig wartet, bis er an der Reihe ist. Er redet mit niemandem, und niemand redet mit ihm. Er ist achtzehn Jahre alt, und er hört auf den Namen Icarus Smith. Es ist ein guter Name für einen Helden, Icarus Smith. Er umfasst, wie es der Zufall will, sowohl das Mythologische als auch das Profane. Doch was kann sonst noch über den Mann gesagt werden, der diesen Namen trägt, außer, dass es ein sehr guter Name für einen Helden ist? Nun ja. Würde man den jungen Mr. Smith ansprechen und bitten, dass er sich selbst empfiehlt, so würde er denjenigen, der diese Bitte äußert, aller Wahrscheinlichkeit nach ignorieren. Doch wenn er in der Stimmung war zu kommunizieren, was nur selten ohne guten Grund geschah, denn er sprach kaum jemals zu jemand anderem außer sich selbst, so würde er möglicherweise geantwortet haben, dass er sich als einen gottesfürchtigen, ehrlichen Burschen betrachtet, der niemandem ein Leid zufügen will und jeden Menschen seinen Bruder nennt. Sein leiblicher Bruder jedoch könnte möglicherweise Anstoß an dieser Selbsteinschätzung nehmen und protestierend dagegenhalten, dass Icarus seiner Meinung nach nichts weiteres als ein diebischer, gottloser Taugenichts war. Doch was erwartet man schon von einem leiblichen Bruder, eh? Und außerdem, Icarus für seinen Teil hielt seinen leiblichen Bruder für total bescheuert.
Kann überhaupt irgendein Mann von anderen wirklich und wahrhaftig eingeschätzt werden, ganz gleich, wie nahe diese anderen dem Einzuschätzenden stehen mögen? Sicherlich nicht. An euren Taten wird man euch erkennen, sagte der Weise, und Icarus wurde an seinen Taten erkannt. Größtenteils von den einheimischen Constables. Icarus betrachtete sich selbst nicht als Dieb, o nein! Alles andere. Icarus betrachtete sich als Relokator, als ein Mann, der die Kunst und Wissenschaft der Relokation betrieb. Und das war in seinen Ohren kein Euphemismus. Es war eine Art zu leben und eine ganz gewaltige Aufgabe obendrein! Für Icarus war das Konzept von »Besitztum« bloße Illusion. Wie, so argumentierte er, konnte ein Mensch irgendetwas wirklich und wahrhaftig »besitzen« außer seinem Leib, dem Gefäß für sein Bewusstsein? Selbstverständlich konnte man Dinge erwerben und sie eine Weile um sich herum anhäufen, und man konnte es in gewisser Hinsicht »Besitz« nennen. Doch was auch immer man »besaß«, letztendlich würde man es wieder verlieren. Dinge gehen kaputt. Dinge nutzen sich ab. Dinge verschwinden urplötzlich. Oder man stirbt und hinterlässt das, was man »besessen« hat, anderen, die es nun ihrerseits für eine Weile »besitzen«. Man konnte sich anstrengen wie der gute Jesses persönlich, aber man besaß niemals irgendetwas wirklich. Und würde man nicht an den Dingen, die man zu besitzen glaubt, hängen wie Gott weiß was, dann würde man sie eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich nicht sonderlich lange »besitzen«. Denn Icarus Smith würde sie relokalisieren. Oder, falls sie nicht von Icarus Smith relokalisiert wurden, dann einfach von irgendeinem gottlosen Taugenichts und Faulenzer gestohlen. Für die Zyniker da draußen, die vielleicht noch immer dem Missverständnis anhängen, dass »Relokalisieren« ein anderer Name für Diebstahl ist – lassen Sie sich gesagt sein: Ikarus war nicht aus freien Stücken zum Relokator geworden. Er war ein intelligenter Bursche und hätte sich in fast jedem Beruf seinen Lebensunterhalt verdienen können. Doch Icarus hatte einen Traum geträumt, einen schrecklichen Traum, und dieser Traum hatte das Leben von Icarus Smith verändert. Icarus hatte vom Großen Durchblick geträumt. Dem Großen Durchblick, was falsch war in der Welt und wie es zurechtgerückt werden konnte. Wie er es zurechtrücken konnte. Und wenn man so einen Traum hat, dann führt das in der Regel dazu, dass man in seinem Leben so einiges ändert. In seinem Traum hatte Icarus Smith die Welt vor sich liegen sehen, im Großen Durchblick. Leute kamen und gingen und machten ihre Arbeit, und aus der Entfernung betrachtet sah alles ganz nett aus. Doch je genauer Icarus hingesehen hatte, desto falscher war alles geworden. Der Große Durchblick hatte ihm tatsächlich ein Puzzle enthüllt, bei dem die Leben aller Menschen und sämtliche Besitztümer miteinander verschachtelt waren. Doch es war ein Puzzle, das ein Irrer zusammengesetzt hatte. Ein irrer Gott vielleicht? Je genauer Icarus die Puzzlestückchen untersuchte, desto mehr fiel ihm auf, dass sie nicht genau passten. Sie waren an den falschen Stellen eingesetzt und mit Gewalt hineingepresst worden, bis sie lagen, wo sie waren. Icarus erkannte, dass er nur hier ein Steinchen wegnehmen und durch ein anderes von dort ersetzen musste, ein Steinchen dort wegnehmen und es durch ein weiteres von dort und hier und dort und dort und hier und so
weiter. Er war schweißgebadet aufgewacht. Doch er hatte den Großen Durchblick gehabt. Und damit hatte er seine Bestimmung im Leben gefunden. Als Relokator. Icarus hatte erkannt, dass die Welt zum Besseren hin verändert werden konnte, indem man Dinge relokalisierte. Indem man den richtigen Leuten die richtigen Dinge in die Hand gab und den falschen Leuten die falschen Dinge aus der Hand nahm. Es war keine wirklich neue Idee; Karl Marx hatte ein Jahrhundert zuvor schon eine ähnliche Idee gehabt. Doch den Reichtum der Welt zu gleichen Teilen an alle Menschen zu verteilen war streng genommen keine großartige Idee gewesen. Jeder mit nur einem Hauch gesundem Menschenverstand musste erkennen, dass schon eine Woche nach der gerechten Verteilung irgendein gerissener Geschäftemacher irgendwelchen weniger gerissenen Deppen mehr als seinen fairen Anteil aus der Backe geleiert hätte, und bald schon wäre die Welt wieder dort gewesen, wo alles angefangen hatte. Es musste anders gemacht werden. Icarus arbeitete genau daran. Schließlich hatte er diesen Traum gehabt. Er hatte den Großen Durchblick gehabt. Er war der Auserwählte. Er erkannte gleich zu Beginn, dass er es nicht alleine schaffen konnte. Die Aufgabe war viel zu gewaltig. Es war erforderlich, Rekruten auszubilden. Viele, viele Rekruten. Doch das war eine Sache für die Zukunft. Alle großen Dinge fingen klein an, und gegenwärtig musste Icarus seine Arbeit alleine tun. Es musste außerdem instinktiv sein und durfte nicht die persönliche Bereicherung zum Ziel haben. Er musste essen und sich kleiden und seine grundlegenden Bedürfnisse erfüllen, doch darüber hinaus durfte er keinen Profit machen. Icarus wusste auch, dass die »gegenwärtigen Mächte« seinen Plänen zur Verbesserung der Welt gewiss alles andere als aufgeschlossen gegenüberstanden. Die »gegenwärtigen Mächte« basierten auf dem Konzept von Besitz. Icarus wäre in ihren Augen nichts weiter als ein gefährlicher Krimineller und Subversiver, den man nicht frei auf der Straße herumlaufen lassen durfte. Vereinzelte frühe Zusammenstöße mit der einheimischen Polizei hatten Icarus Diskretion gelehrt. Und da er eine Menge Literatur über die Detektivkunst gelesen und noch mehr Filme darüber gesehen hatte, eine gewaltige Menge Filme, hatte sich Icarus eine gewisse Geschicklichkeit im Verwischen seiner Spuren angeeignet und im Vernichten verräterischer Indizien am »Tatort«. Trotzdem. Da die Relokation eine instinktive Sache sein musste und nicht sorgsam geplant, blieb immer ein Spielraum für Fehler. Und die Möglichkeit der Verhaftung und Internierung war nie weit entfernt. An diesem besonderen Tag, an dem unsere epische Erzählung ihren Ausgang nimmt, saß Icarus in Stravinos Barbierladen in dem der Tür am nächsten gelegenen Kinositz. Die frühe Morgensonne schimmerte durch das Glas des Oberlichts herein und grinste auf Icarus’ haarigen Schädel herab. Der Sitz, auf dem Icarus Platz genommen hatte, trug die Nummer dreiundzwanzig und war einst der Sitz Nummer dreiundzwanzig im großen Saal des Walpole Cinema auf dem Ealing Broadway gewesen. Doch das Walpole Cinema war abgerissen worden, und im Verlauf der Abrissarbeiten war die Reihe Sitze mit den Nummern dreiundzwanzig bis
zweiunddreißig relokalisiert worden. Von Icarus Smith. Tatsächlich gab es im Barbierladen von Stravino eine ganze Menge Dinge und Mobiliar, das seine Anwesenheit einzig und allein der Wissenschaft der Relokation verdankte. Es existierte ein Abkommen zwischen dem Barbier und dem Relokator, und Icarus Smith hatte lebenslang freies Haarschneiden. Heute wollte er sich einen Tony Curtis verpassen lassen. Außer Icarus saßen noch drei weitere Kunden im Laden von Stravino. Einer saß auf dem Barbierstuhl, die beiden anderen auf relokalisierten Kinositzen. Der Kunde auf dem Barbierstuhl war Count Otto Black, eine legendäre Gestalt in der Gegend. Count Otto besaß eine echte Narbe von einem Duell, einen Ford Fiesta namens Jonathan und einen Bungalow mit Rosen vor der Tür. Count Otto bekam den Schnurrbart onduliert. Zwei Plätze neben Icarus saß ein Soldat auf Heimaturlaub. Sein Name war Captain lan Drayton, und er war ein richtiger Held. Er hatte genügend Elend und Entsetzen mit angesehen, um sich für einen Orden zu qualifizieren. Zwischen Captain lan und Icarus Smith saß der dritte Mann. Er hieß nicht Michael Rennie. Der Name des dritten Mannes lautete Cormerant, und Cormerant arbeitete für eine mysteriöse Organisation, die bekannt war als das Ministerium für Glückliche Zufälle. Cormerant hatte das Aussehen eines Stadtmenschen, mit Nadelstreifenanzug und Taschenuhr und Bowler und allem drum und dran. Cormerant murmelte leise und nervös vor sich hin und scharrte mit seinen polierten Tretern unter dem Teppich aus Haaren. Auf seinem Schoß ruhte eine schwarzlederne Aktentasche, die, unter anderem, ein paar schwarze Lederslips enthielt. Icarus Smith hatte die Aktentasche bemerkt. Cormerant hatte nicht bemerkt, dass Icarus die Tasche bemerkt hatte. Am geschäftlichen Ende von Stravinos Barbierladen ging Stravino seinem Geschäft des Barbierens nach. Er glättete die Spitze eines Schnurrbarts mit einem heißen Lockenstab und schmetterte dazu, zwischen selten geputzten Zähnen hindurch, Arien. »Living la vida loca in a gagga da vida«, sang der Grieche. »Cha cha cha«, übernahm Count Otto bereitwillig den Refrain. Es mag an diesem Punkt der Geschichte passend erscheinen, dem Leser ein wenig mehr über das Aussehen Stravinos zu berichten. Doch dazu nur so viel: Stravino sah ganz genauso aus, wie ein griechischer Barbier aussehen sollte. Ganz genauso. Bis hin zu diesem komplizierten Kochdingsbums, das griechische Barbiere immer über der linken Augenbraue haben, und dem dunklen Fleck auf der rechten Backe, der ein wenig an eine Landkarte von Indochina erinnert. Daher ist eine Beschreibung an dieser Stelle wohl kaum nötig. »Hey ho hoppla«, sang Stravino der Grieche und unterbrach sich mitten im Lied, um das Werk seiner Hände zu begutachten. »Also wirklich, hat diese Locke nicht den Elan eines Jungfrauenmuffs und federt sie nicht wie Darling-Knospen im Mai?« »Das tut sie, in der Tat«, pflichtete Count Otto ihm bei. »Sie sind ein Genie, Stan. Sie sind der Gott der Barbiere.« »Das bin ich. Das bin ich in der Tat.« Stravino kramte eine weiche Bürste aus der Brusttasche seines Barbiermantels und bürstete damit Schnipsel vom Ginganstoff des Umhangs, der die breiten Schultern des Grafen bedeckte. Der professionelle Name für einen solchen Umhang lautet Velocet-
te, nach seinem Erfinder Cyrano Velocette benannt, dem echten Barbier von Sevilla. Stravino nahm die Velocette mit dem Schwung eines Magiers und dem Geschick eines Fandango-Tänzers herunter. »Fertig«, sagte er. »Ihr Diener, Sir.« Der Count richtete sich zu einer unglaublichen Größe auf und knallte die Hacken zusammen. »Es war mir wie immer ein Vergnügen, Geschäfte mit Ihnen zu machen.« »Eins und drei Pence«, sagte der Grieche. »Sagen wir eins sechs, inklusive Trinkgeld.« »Skandalös«, sagte der Count und Bohemien. Doch er sagte es mit einem Lächeln und beglich die Rechnung. »Captain«, sagte der Grieche, während er dem Count ein freundschaftliches Lebewohl entbot und sich seinem nächsten Kunden zuwandte. »Captain, bitte seien Sie doch so freundlich und kommen Sie her und pflanzen Sie Ihren Allerwertesten auf diesen Stuhl.« Captain lan erhob sich aus seinem Kinosessel und ging langsam zum Barbierstuhl. Es soll an dieser Stelle gesagt werden, dass der Captain kein schöner Mann war. Sein Gesicht war toten-blass. Seine Augen hatten einen gehetzten Ausdruck, und sein Mund war nur ein bitterer dünner roter Strich. Stravino legte dem Captain die Velocette um den Hals und band sie zu. »Was darf’s denn heute sein?«, erkundigte er sich. »Was es heute sein darf?« Der Captain starrte auf ⎯sein geisterhaftes Spiegelbild in dem stumpfen Spiegel. Der Spiegel war dekoriert mit Souvenirs, spanischen Spitzenkragen und Votivdarbietungen zu Ehren des heiligen Christophorus’, des Schutzpatrons aller Barbiere. Auf dem Glasregal darunter standen Gläser mit Pomade, Rasierbecher und Porzellanfiguren, Statuetten von Priapos, Marmosetten aus geschnitzter Seife und Stravinos Reservebruchband3. »Mach, was du willst«, sagte der bleiche Soldat, der die Arbeiten Crowleys studiert hatte. »Dann denke ich, dass ich Ihnen heute einen Ramón Navarro schneiden werde.« Draußen fuhr ein Bus der Linie fünfundsechzig vorüber. Der Name des Fahrers war Ramón. Stravino nahm seine elektrische Haarschneidemaschine, hielt sie nah an sein Ohr, schaltete das Gerät ein und genoss das Surren. Icarus’ Hand schlich verstohlen hinter den Sitz und tastete nach dem braunen Umschlag. Es gibt viele Traditionen und alte Bullen und was weiß ich, die mit dem Barbiergewerbe in Verbindung stehen. Der braune Umschlag ist eine davon, doch eine, von der nur wenige Männer wissen. In den Tagen vor dem Internet und vor der Erfindung des Videos, in jenen Tagen also, in denen diese Geschichte spielt, gab es nur sehr wenig, was harte Pornographie angeht. Es gab Tit Bits und Parade und die erste Auflage des Playboy, die viel zu teuer zum Kaufen war und stets auf dem obersten Regal des Zeitungsladens lag. Es gab nur einen Ort, an dem man richtige Pornographie sehen konnte. Richtige, echte deutliche Pornographie, und das war im Laden des Barbiers. Und dort lag sie im braunen Umschlag. Heutzutage sind die Dinge natürlich anders. Heutzutage kann der kriti3
Alle griechischen Barbiere tragen ein Bruchband. Es ist eine Tradition, eine alte Bulle oder so etwas.
sche Kunde in fast jedem Supermarkt ein Spezialmagazin kaufen, das genau seinen (oder ihren) speziellen Neigungen entspricht. Doch damals, in dem Damals, welches das Jetzt in unserer Geschichte ist (sozusagen), gab es nur den braunen Umschlag und sonst nichts. Icarus klappte die Lasche zurück und leerte den Inhalt des braunen Umschlags auf seinen Schoß. Diese Woche gab es vier neue Fotografien. Die erste zeigte zwei Ägypterinnen und ein Shetlandpony. Die zweite zeigte zwei Kerle aus Tottenham (die sich einen Knoten reinmachen konnten). Die dritte zeigte einen Liliputaner mit einem tätowierten Dödel und die vierte ein Liebespaar, das »Tee mit dem Pfarrer« trank. Eines Tages würde ein Musiker namens Cox einen Song über die ersten drei schreiben. Leider würde er bei einem tragischen Unfall unter ungeklärten Umständen ums Leben kommen, bevor er mit dem vierten anfangen konnte. Icarus überflog die Fotos, doch er fand nicht viel, das ihn interessiert hätte. Cormerant schielte ebenfalls auf die Bilder, dann wandte er missbilligend den Kopf zur Seite. Icarus bemerkte Cormerants höchst bemerkenswerte Uhrkette. »Babys«, sagte Stravino, während die elektrische Schneidemaschine sich dem Schädeldach des Captains näherte. »Was halten Sie von Babys?« »Ich halte nichts von Babys«, antwortete der Captain. »Warum sollte ich?« »Man kann ihnen nicht über den Weg trauen«, sagte Stravino. »Sie pinkeln einem ins Auge, wenn man ihnen die Windeln wechseln will. Und wissen Sie auch, warum das so ist?« »Keine Ahnung«, sagte der Captain. »Die Stimmen der Vorfahren«, sagte Stravino. »All das Gurgeln und Plappern. Es ist kein Gurgeln und Plappern, sondern eine uralte Sprache. Man muss die Babys voneinander getrennt halten, man darf sie nicht miteinander reden lassen, niemand weiß, was sie als Nächstes untereinander aushecken.« »Zwillinge tun so was«, sagte der Captain. »Ganz genau!«, sagte Stravino. »Weil sie schon als Babys zusammen waren. Zwillinge sind alle verrückt, sagen Sie was anderes, wenn Sie können.« »Kann ich nicht«, sagte der Captain. »Ich hab eine Zwillingsschwester.« »Und? Ist sie verrückt?« »Nein. Sie ist Damen- und Herrenfriseuse.« »Ich spucke darauf, ganz gleich, was sie ist«, sagte Stravino. »Und auf Architekten. Sie sind noch unser aller Tod.« »Weil sie diese Wohnblöcke entwerfen? Autsch!« »Verzeihung«, sagte Stravino. »Ich hab Ihnen gerade ein Stück von Ihrem Ohr abgeschnitten. Nicht genug, um Ihr Hörvermögen zu beeinträchtigen. Aber Wohnblocks, sagen Sie? Nun ja, das ist richtig, aber nicht aus dem Grund, woran Sie vielleicht denken.« »Woher wollen Sie wissen, was ich denke?«, fragte der Captain. »Ich interpretiere«, sagte der Grieche. »Doch beantworten Sie mir eine Frage. Warum glauben Sie, dass die ganze Welt heutzutage so völlig verrückt geworden ist? Warum sind die Leute so egoistisch, und den Letzten holt der Teufel? Beantworten Sie mir diese Frage, wenn Sie können.« »Aus Mangel an Disziplin«, sagte der Soldat im Captain. »Oder aus Mangel an Hoffnung«, sagte der Mann im Soldaten. »Nein, nein, nein.« Stravino hängte die elektrische Haarschneidemaschi-
ne an den Haken, nahm ein Rasiermesser zur Hand und wetzte es am Leder. »Es sind die Häuser«, sagte er. »Und ich bin Grieche, ich weiß, wovon ich rede. Die Griechen waren in der Alten Welt berühmt für ihre klassische Architektur. Habe ich Recht oder belle ich hier gegen einen Gummibaum?« »Die Griechen waren für viele Dinge berühmt«, sagte der Captain und spähte wehmütig auf die Reflexion seines ruinierten rechten Ohrs. »Ich tue gleich einen blutstillenden Stift drauf«, sagte der Grieche. »Aber viele Dinge, da haben Sie durchaus Recht, Sir.« »Bemerkenswerte Schwuchteln«, sagte der Captain. »Die griechischen Armeen hatten ganze Züge voller Hemdchenheber. Soll natürlich keine Beleidigung sein.« »Ich fühle mich auch nicht beleidigt, das versichere ich Ihnen. Doch wenn sie nicht gegenseitig ihre Hemdchen gehoben haben, errichteten sie großartige Tempel und Amphitheater und Häfen und Hippodrome.« »Hippodrome?«, fragte der Captain verwundert. »Die Griechen haben Musiksäle gebaut?« »Rennstadien«, sagte Stravino und nahm einen Rasierpinsel zur Hand, um den Schädel des Captains einzuseifen. »Hippos bedeutet Pferd und Dromos heißt Rennen. Haben Sie denn in Sandringham überhaupt nichts gelernt?« »Sandhurst«, verbesserte der Captain. »Worauf wollen Sie überhaupt hinaus?« »Architektur, wie ich schon sagte. Es hat mit den Proportionen der Gebäude zu tun. Der Größe und Form der Zimmer. Wenn man manche Häuser betritt, fühlt man sich wohl. In anderen fühlt man sich schlecht. Warum ist das so? Erzählen Sie mir nichts. Ich werde es Ihnen sagen. Die Proportionen der Zimmer. Sind die Zimmer falsch, fühlen sich die Menschen darin schlecht. Menschen brauchen Zimmer von der richtigen Größe und genügend freien Raum in ihren Wohnungen.« »Ist vielleicht etwas dran an dem, was Sie da sagen«, räumte der Captain ein. »Mehr als Sie glauben«, bekräftigte Stravino und applizierte das Rasiermesser. »Und Babys sind klein. Für sie sind alle Räume groß. Widerlegen Sie das, wenn Sie können.« Cormerant öffnete den Mund zum Reden. »Ich habe eine dringende Verabredung«, sagte er. »Dauert es noch sehr lange?« »Essen Sie manchmal außerhalb?«, erkundigte sich der Barbier. Cormerant setzte ein Gesicht auf, das »Eh?« bedeuten sollte. »Beleidigen Sie den Küchenchef, bevor die Suppe serviert wurde? Der Küchenchef spuckt in Ihre Suppe, wenn Sie das tun, jede Wette. Ich würde nicht gerne mit Ihnen zum Essen gehen.« »Eh?«, fragte Cormerant. »Was?« »Sehen Sie sich diese arme Seele an«, sagte Stravino und deutete auf den Captain im Barbierstuhl. »Dieser Mann ist mein Freund, doch durch eine Kapriole des Schicksals hat er gerade fast sein Ohr verloren. Bedenken Sie, was einem Mann droht, der seinen Barbier zur Eile drängt.« »Ich denke, ich komme vielleicht lieber ein andermal wieder.« »Nein, nein«, sagte der Grieche. »Ich bin hier jetzt fertig.« Er wischte den Rasierschaum vom Schädel des Captains, bürstete die Velocette ab, summte eine Melodie, schmatzte mit den Lippen und fragte dann: »Nun? Was sagen Sie?« Captain Drayton starrte sein Spiegelbild an. Sein Starren wurde zu einem Gaffen, und sein Gaffen wurde zu einem offenmündigen, horrorgepeitsch-
ten Glotzen. Von seinen Haaren war nichts mehr übrig bis auf einen winzigen Schöpf. »Aber…«, machte der Captain, »aber…« »Aber?«, fragte Stravino. »Aber«, machte der Captain einmal mehr, »aber Sie sagten etwas von einem Ramón Navarro. Ramón Navarro hat aber keinen Haarschnitt wie diesen!« »Wenn er zum Schneiden hierher kommt schon«, sagte Stravino. »Das macht zwei und Sixpence, bitte sehr.« Cormerant lehnte es ab, als Nächster im Barbierstuhl Platz zu nehmen. Er verließ das Etablissement mit rotem Gesicht und in großer Eile. Er ließ seinen Bowlerhut fallen, und dann stolperte er auch noch über die ausgestreckten Füße von Icarus Smith und fiel der Länge nach in die Haare auf dem Boden. Icarus half ihm auf die Beine und klopfte ihn ab und öffnete ihm die Tür und alles. Cormerant hielt ein vorüberfahrendes Taxi an und war Sekunden später verschwunden. Icarus Smith bekam an diesem Tag doch keinen Tony Curtis geschnitten. Er verließ Stravinos Laden Augenblicke nach Cormerants Abgang. Einige mögen sagen, sobald die Luft rein war. Aber einige sagen ja immer irgendwas. Einige mögen beispielsweise sagen, dass Cormerants Stolpern eine weitere Kapriole des Schicksals war. Und manche mögen sagen, dass seine Uhr und seine Brieftasche nur durch einen Zufall in Icarus Smiths Hände fielen. Manche mögen sagen, dass Icarus die schwarzlederne Aktentasche, die Cormerant hatte liegen lassen, nur deswegen vom Boden aufhob, um hinter Cormerant herzulaufen und sie ihm zurückzugeben. Zusammen mit der Brieftasche und der Uhr natürlich. Und der höchst bemerkenswerten Uhrkette. Manche mögen das eine oder andere von diesen Dingen sagen. Aber manche sagen halt immer irgendwas.
2 Icarus Smith frühstückte im Station Hotel. Es gilt als allgemeine Tatsache des Lebens, dass es so etwas wie eine freie Mahlzeit nicht gibt. Trotzdem bezahlte Icarus nicht für sein Frühstück. Der Barmann, der nun eine höchst bemerkenswerte Uhrkette trug, gab Icarus eine doppelte Portion Kartoffelpüree und sagte ihm, dass alles »auf das Haus« ginge. Zwischen Icarus und dem Barmann gab es ein Einvernehmen. Bar und Grill des Hotelrestaurants waren sozusagen eine Studie in Scharlachrot. Die Räume waren weitläufig und besaßen hohe Decken und hätten Stravino sicherlich gefallen. Hohe Fenster mit Tüllgardinen gaben den Blick auf den Bahnhof frei, wo die mächtigen Dampfmaschinen kamen und gingen, gewaltige King-Class-Lokomotiven mit ihren polierten Armaturen und Leitungen, Icarus nahm an einem Fenstertisch Platz, der erst kürzlich von einem Börsenmakler geräumt worden war, starrte wehmütig durch die Gardine hinaus, und betrachtete einen Zug, der gerade abfuhr. Nur wenige Menschen sind nicht vom Anblick von Dampf fasziniert, und in Icarus schwelte seit langem eine heimliche Leidenschaft: Er wollte eine Dampflok relokalisieren. Wohin genau und wozu wusste er noch nicht zu sagen. Und obwohl der Gedanke daran ihn erschauern ließ, versetzte er ihn auch in Angst und Schrecken. Sein Großvater war Maschinist auf der Great Northern Railway gewesen und hatte zwischen den Rädern der City of Trum einen Daumen verloren. Icarus schätzte seine Finger, doch ein Mann muss seine Träume träumen. Und wenn dieser Mann der Auserwählte war, dann sind diese Träume keine Kleinigkeit. Nachdem er seine frühe Mahlzeit beendet und mit einem Pint Large sowie einem Brandy aufs Haus hinuntergespült hatte, stellte Icarus die schwarzlederne Aktentasche vor sich auf den Tisch und legte die Daumen auf die Schnappschlösser. Die Schnappschlösser waren verschlossen. Icarus versicherte sich, dass er unbeobachtet war, und entnahm aus seiner Tasche eine kleine Rolle mit Werkzeugen und aus dieser Rolle das entsprechende selbige. Es war die Arbeit von ein oder zwei Augenblicken, mehr nicht. Was ein Augenblick mehr ist als ein Augenblick weniger. Die Schnappschlösser schnappten auf, Icarus legte Selbiges zu den Werkzeugen in der Rolle zurück, rollte die Rolle zusammen und verstaute sie in seiner Tasche. Er stand gerade im Begriff, die schwarzlederne Aktentasche zu öffnen, als sich eine Hand krachend darauf legte. »Das würde ich nicht tun, wenn ich du wäre«, sagte der Besitzer der Hand. Icarus blickte auf und machte das Gesicht, das bei manchen Entsetzen hervorruft. »Chief Inspector Charlie Milverton«, sagte er mit zitternder, bebender Stimme. »Mein alter Erzfeind und meine Nemesis.« »Diesmal habe ich dich auf frischer Tat ertappt, Bürschchen.« Icarus hielt dem Chief Inspector resignierend die Hände hin. »Ich gebe auf, Chef«, sagte er. »Legen Sie mir die Handschellen an und schaffen Sie mich in die schwarze Maria 4.« »Eines Tages wird es so weit kommen, weißt du?« Der Chief Inspector 4
Grüne Minna
grinste und zwinkerte und setzte sich zu Icarus Smith an den Tisch. Denn er war in Wirklichkeit gar kein Polizist, sondern der allerbeste Freund, den Icarus je gehabt hatte. Freund Bob. Freund Bob war ein großer, kantiger Bursche mit spitzen Wangenknochen und spitzen Ellenbogen und spitzen Knien. Tatsächlich sah er genauso aus, wie ein allerbester Freund aussehen sollte, bis hin zu dem merkwürdigen Ding, das durch das Loch im linken Ohr gezogen wird und die Sache mit den Zähnen. Demzufolge ist hier keine weitere Beschreibung erforderlich. »Passauf wasse machs, Icky-Baby«, sagte Freund Bob. »Schon gutie, Bobmeingumbel«, antwortete Icarus Smith. »Du wirst leichtsinnig, weißt du das? Eine gestohlene Aktentasche in einer Bar zu öffnen, tsss tsss.« »Die Aktentasche gehört mir«, sagte Icarus Smith. »Mit der Ecke nach oben, wie?«5 »Dann ebenfalls vorübergehend mir, okay?« »Das schon eher, schätze ich.« Icarus lächelte seinen Freund Bob an, und Freund Bob lächelte zu Icarus zurück und machte dabei die Sache mit den Zähnen. Obwohl sich die beiden noch aus Schultagen auf dem Abbey Grange kannten und sich so nahe standen, wie es beste Freunde nur können, soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass Freund Bob Icarus Smith nicht unkritisch gegenüberstand. Er wusste sehr wohl, dass Icarus sich nicht als Dieb betrachtete. Doch er wusste auch, dass Icarus mit dieser Meinung ganz allein auf weiter Flur stand und dass es nur eine Frage der Zeit war, bevor der lange Arm des Gesetzes sich nach Icarus ausstreckte und ihn am Schlafittchen packte. Freund Bob hatte immer gehofft, er könnte Icarus eines Tages von den Irrungen seines Weges abbringen. Icarus Smith hingegen hoffte im Gegenzug, dass es ihm eines Tages gelingen mochte, Freund Bob für den heiligen Kreuzzug der Relokalisierung zu gewinnen. Außerdem, um eine Lokomotive zu relokalisieren, braucht es nun mal mindestens zwei. Einen, der das Ding fährt, und einen, der die Kohlen schaufelt. Und Freund Bob war nach Icarus’ Ansicht der geborene Schaufler. »Was machst du hier?«, erkundigte sich Icarus Smith. »Arbeiten«, antwortete Freund Bob. »Ich bin der neue Tellerwäscher.« »Ich finde, du bist der geborene Schaufler.« »Es ist eine ehrliche Arbeit.« »Und die Bezahlung?« »Da gibt es Raum für Verbesserungen«, gestand Freund Bob und befingerte sein linkes Ohrläppchen. 5
Der Ausdruck »mit der Ecke nach oben« bedeutet so viel wie »Du bist ein verlogener Mistkerl« oder »Davon träumst du Nachts«, und er wurde zuerst von dem großen Eckmann Richard Reekie verwandt, in der Sportpresse auch bekannt als der Cockney in der Ecke von Clay. Vor dem heute legendären Kampf zwischen Cassius Clay und »Unserm Henry« Cooper erfuhr Reekie, dass Cooper der Meinung war, er könne Clay schlagen. »Cooper gewinnt höchstens dann«, lautete seine Antwort, »wenn die Ecke (der Eckmann, Anm. d. Red.) Clay die Arme auf dem Rücken nach oben dreht.« So wurde der Ausdruck geprägt, und Ereignisse wie dieses schreiben Geschichte.
»Du könntest jederzeit bei mir einsteigen.« »Ich denke nicht.6 « Freund Bob lächelte. »Wie läuft’s bei dir?«, fragte er. »Was macht die Familie? Wie geht es deinem Bruder?« »Immer noch völlig durchgeknallt. Er hält sich für einen Detektiv.« »Dann passt du besser auf, dass er dich nicht verhaftet, wie?« Icarus trommelte mit den Fingern auf die schwarzlederne Aktentasche. »Verrate mir doch, Freund Bob«, sagte er, »was würdest du sein wollen, wenn du dir aussuchen könntest, was du willst?« »Du weißt ganz genau, was ich mir aussuchen würde. Ich würde ein erfolgreicher Künstler werden. Berühmt in der ganzen Welt.« Icarus nickte. »Du meinst nicht, dass deine vollkommen fehlende Begabung in künstlerischen Dingen sich dabei als Handicap erweisen könnte?« »Als beträchtliches Handicap sogar«, stimmte Freund Bob zu. »Aber ein Mann muss seine Träume träumen.« »In der Tat.« Ein paar Augenblicke lang herrschte intimes Schweigen, die jeder der beiden Männer allein mit seinen Träumen und Gedanken verbrachte. »So«, sagte Freund Bob, als er mit Schweigen fertig war. »Was hast du denn nun in deiner Aktentasche?« »Werfen wir doch einen Blick hinein, was?« Icarus hob den Deckel der Tasche. »Urrrgh!«, machte Freund Bob, als er hineinspähte. »Lederne Unterhosen! Du Perverser!« »Du bist wie immer ein Witzbold. Hast du schon zu Mittag gegessen? Hier drin sehe ich ein paar Sandwichs.« »Ich verspüre nicht den Wunsch, auf einem Sandwich zu kauen, das in freundschaftlicher Nähe mit den Unterhosen eines Perversen gelegen hat, danke sehr.« »Hallo, was ist denn das?« »Was ist was?« »Das.« Icarus nahm ein kleines dunkles elektronisches Dingsbums aus der Tasche. »Ein Transistorradio, würde ich sagen.« »Nein, es ist ein Diktafon«, widersprach Freund Bob, der eine Vorliebe für alle elektronischen Dinge sein Eigen nannte. »Damit kannst du deine Stimme aufzeichnen. Hier, ich zeig dir, wie’s geht.« Freund Bob nahm das Diktafon, hob es an den Mund und drückte auf einen kleinen Knopf. »Aaaaaaaaaaaaaaaaagh!«, machte das Diktaphon. »Aaaaaaaaaaaaaaaaagh!«, machte Freund Bob und schleuderte das kleine Ding zurück in die Aktentasche. »Das war irgendwie falsch herum«, beobachtete Icarus. »Ich dachte, du könntest damit deine Stimme aufzeichnen?« »Ich hab aus Versehen auf den Wiedergabeknopf gedrückt, du Arschloch.« Icarus nahm das Diktafon erneut aus der Tasche, spielte mit dem Lautstärkeregler und drückte dann den Wiedergabeknopf. »Nein!«, kreischte eine Stimme beträchtlich leiser. »Keine Schmerzen mehr! Ich sage Ihnen ja alles, was Sie wissen wollen!« »O Scheibe!«, sagte Freund Bob, dessen Mutter ihrem Sohn beigebracht 6 Descartes sitzt in Paris an einer Bar. Fragt der Kellner: »Noch was zu trinken?« Antwortet Descartes: »Ich denke nicht.« Puff, weg ist er.
hatte, nicht zu fluchen. »Da wird jemand gefoltert!« »Lederunterhosen in der Aktentasche«, sagte Icarus. »Wahrscheinlich irgendeine Freizeitbeschäftigung. Sollen wir ein wenig weiterhören?« »Lieber nicht, wenn es dir nichts ausmacht.« »Na komm schon, was kann es schon schaden?« Icarus befingerte den Knopf einmal mehr. Eine neue Stimme sagte: »Erzähl mir alles über diese Droge.« »Es geht um Drogen!« Freund Bob fuchtelte mit den langen Armen in der Luft. »Es sind Gangster! Ich bin weg!« »Wahrscheinlich nur ein Fernsehprogramm oder ein Hörspiel oder so was.« »Oder so was! Was auch immer es ist, ich habe genug gehört. Ich will nichts damit zu tun haben! Gib die Tasche ihrem Besitzer zurück, Icarus, ich bitte dich darum!« »Sei nicht absurd.« »Das wird in Tränen enden!« »Komm, wir hören ein wenig weiter.« »Vergisses.« Freund Bob erhob seinen kantigen Körper von dem Stuhl neben Icarus Smith. »Ich habe Geschirr zu polieren. Ich sage dir jetzt auf Wiedersehen.« »Kommst du heute Abend zum Three Gables? Johnny G spielt.« »Ich komme hin. Aber hör mal, wirf diese Tasche weg, ja? Wirf sie einfach weg. Lederunterwäsche und gefolterte Seelen sind keine gesunde Kombination.« Freund Bob machte auf dem Absatz kehrt und tippelte auf Zehenspitzen davon. Icarus blieb sitzen und betrachtete nachdenklich das Diktafon. Er drehte die Lautstärke noch ein Stück weiter herunter und hielt sich das Ding ans Ohr. »Was für eine Droge?«, ertönte die Stimme der gequälten Seele. »Red Head«, sagte die andere Stimme. »Red Head?«, flüsterte Icarus Smith. »Was ist das denn für eine Droge?« Aus dem Diktafon kam ein knisterndes Geräusch, gefolgt von einem weiteren »Aaaaaaaaaaaaaaaaagh!« und einem »Aufhören, bitte aufhören! Ich sage Ihnen ja alles!« Und Icarus lauschte, während die gequälte Seele alles sagte. Und während Icarus lauschte, wurde sein Gesicht immer blasser, und seine Hände begannen zu zittern. Denn was Icarus hörte, war Folgendes, und es bekümmerte ihn mehr als wenig. »Erzähl mir alles über Red Head«, sagte die andere Stimme. »Wie bist du auf die Formel gestoßen?« »Durch die Blumen. Die Blumen haben mir den Weg verraten.« »Versuchst du vielleicht, mich zu veralbern?«, fragte die andere Stimme. »Nein, ich sage die reine Wahrheit! Ich muss es jemandem sagen! Ich werde noch verrückt, wenn ich es nicht sagen darf!« »Dann sag mir alles, von Anfang an!« »Also schön. Wie Sie wissen, habe ich für das Ministerium für Glückliche Zufälle gearbeitet. Am K.I.-Projekt. Künstliche Intelligenz. Der denkende Computer. Alles Schwachsinn. Aber das wussten wir damals noch nicht.« »Warum ist es Schwachsinn?« »Hören Sie einfach zu, was ich Ihnen erzähle. Von Anfang an, O. K.?«
»O.K.« »Ich habe mit Professor John Garrideb an dem Projekt gearbeitet. Er war einer von drei Brüdern, alle mathematische Genies. John war überzeugt davon, dass wir den großen Durchbruch schaffen würden. Doch als wir ihn schafften, als ich ihn schaffte, kam nicht das dabei heraus, was wir erwartet hatten, und was dann passiert ist, war meine Schuld, und deswegen muss ich mit jemandem darüber reden. Deswegen sage ich Ihnen alles. Wir haben zweiundzwanzig Monate lang an diesem Projekt gearbeitet, aber wie ich schon sagte, wir kamen einfach nicht weiter, und wir bekamen dauernd irgendwelche Direktiven von oben, in denen stand, dass unsere Arbeit von nationalem Interesse wäre und dass wir uns gefälligst ein wenig beeilen sollten und dass andere Regierungen weiter wären als unsere und so weiter und so fort. Und wir haben wirklich Überstunden gemacht bis zum Umfallen, und ich habe sogar angefangen, abends ein wenig zu trinken. Dann wurde es mehr, und dann war es plötzlich zu viel. Dann eines Abends verließ ich das Ministerium und stieg in den Spezialzug von Mornington Crescent, um nach Hause zu fahren und stieg an der falschen Haltestelle aus. Ich fand mich in Brentford wieder und fiel bei der Blumenuhr im Memorialpark hin, und das war der Augenblick, als es über mich kam. Ich hatte eine Art Erleuchtung. Es hatte alles mit den Blumen dieser Blumenuhr zu tun. Es war ein gutes Stück nach Mitternacht, als ich dort lag, und mir fiel auf, dass all die Blumen noch wach waren. Die Blüten waren geöffnet. Und ich dachte, das ist vielleicht merkwürdig, und dann sah ich die Flutlichter. Sie brennen die ganze Nacht, verstehen Sie, um die Uhr zu beleuchten, und weil die Scheinwerfer an sind, bleiben die Blüten geöffnet. Die Blumen schlafen nie. Die Blumen können nicht träumen.« Eine Pause entstand, und Icarus hörte jemanden Schluchzen. »Hören Sie auf damit!«, befahl die andere Stimme. »Warum schluchzen Sie?« »Weil ich es in diesem Augenblick begriff. Ich begriff, warum wir niemals einen Computer mit künstlicher Intelligenz würden bauen können. Weil ein Computer nicht träumen kann. Es sind die Träume eines Menschen, die ihm seine Ideen eingeben. Ein Mensch ist, was erträumt.« »Klingt nach Blödsinn«, sagte die andere Stimme. »Aber reden Sie weiter.« »Wenn wir schlafen«, sagte die gefolterte Seele, »dann schlafen nur unsere Körper. Unsere Gehirne schlafen nicht. Unsere Gehirne denken weiter. Wenn wir Probleme haben, denken unsere Gehirne darüber nach und suchen nach einer Lösung. Doch die Lösungen, die unsere Gehirne finden, kommen in der Gestalt von Träumen daher, die unsere wachen Bewusstseine nicht verstehen können. Menschen haben versucht, Träume zu deuten, doch das ist unmöglich. Träume sind zu subtil dafür. Doch die Art und Weise, wie wir uns verhalten, und die Lösungen, zu denen wir schließlich gelangen, werden von unseren Träumen geleitet, selbst wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Das alles wurde mir plötzlich klar, verstehen Sie? Wahrscheinlich, weil es letzten Endes die Lösung für mein Problem war. Das Problem mit der künstlichen Intelligenz. Die Antwort lag direkt vor mir. Sie ist in unseren Köpfen, verstehen Sie? Das Gehirn ist der ultimative Computer, man muss nur wissen, wie man ihn richtig einsetzt.« »Und das ist der Grund, aus dem Sie Red Head erfunden haben?« »Red Head dient dazu, den Intellekt zu erweitern. Den Denkprozess zu
beschleunigen. Einen menschlichen Computer zu erschaffen. Warum sollen wir uns die Mühe machen, Maschinen zu erfinden, wenn die Antwort zu den Problemen, die diese Maschinen lösen sollen, schon in unseren Köpfen ist? Man braucht nur ein klein wenig chemische Hilfe, um sie ans Licht zu bringen. Aber ich habe Red Head nicht erfunden.« »Das verstehe ich nicht«, sagte die andere Stimme. »Erklären Sie mir das.« »Ich lag dort zwischen den Blumen«, fuhr die gequälte Seele fort. »Und mir wurde alles klar, wie gesagt. Ich erkannte, dass eine solche Droge, falls es gelang, sie herzustellen, alles ändern würde. Sie würde jedes menschliche Problem lösen. Eine Gruppe menschlicher Computer, die sich in den Dienst der Menschheit stellt. Überlegen Sie nur, was wir erreichen könnten. Ich hatte den Großen Durchblick. Den Überblick. Aber, so dachte ich, wie kann ich diese Droge je herstellen? Es konnte Jahre über Jahre dauern. Den ganzen Rest meines Lebens. Ich brauchte also eine Droge, die mein eigenes Denken beschleunigte, damit ich eine Droge erfinden konnte, die das Denken beschleunigt. Ich saß in einer Zwickmühle. Doch der Bucklige hat mir gezeigt, wie man die Blumen lesen muss, und so gelangte ich zu der Formel.« »Der Bucklige?«, fragte die andere Stimme. »Wer ist dieser Bucklige?« »Er fand mich dort in der Blumenuhr liegend. Er half mir auf die Beine und zeigte mir, wie man die Blumen liest. Er sagte mir, dass mir die Blumen helfen würden, wenn ich ihnen half. Sie wollten nichts sehnlicher als schlafen. Es erschien mir nur als fair.« »Das müssen Sie erklären!«, befahl die andere Stimme. »Der Bucklige half mir also auf die Beine. Er sagte, er hätte gehört, was ich gesagt hatte. Ich dachte, ich hätte nur gedacht, doch offensichtlich hatte ich dabei laut geredet. Oder hatte es zumindest, seiner Meinung nach, getan. Er sagte, die Antwort würde vor meinen Augen liegen. Ich müsste nichts weiter tun, als die Blumen ansehen. Nun, ich sah die Blumen an, aber ich sah nichts außer Blumen. Jede Menge verschiedenfarbiger Blumen in der Form einer floralen Uhr. Doch er sagte, ich solle die Farben ansehen. Ich solle an einen Regenbogen denken. Mir fiel der Merkspruch wieder ein, den wir in der Schule lernen, wie man sich die Reihenfolge der Farben eines Regenbogens merken kann. Es ist ein Merkspruch über Feen. Er geht folgendermaßen: Einige kamen in Violett, einige in Indigo, in Blau, in Grün, Gelb, Orange, und Rot. Sie bildeten eine hübsche Reihe.« »Ich kenne diesen Merkspruch«, sagte die andere Stimme. »Nun ja, er fiel mir jedenfalls wieder ein, und ich sah die Blumen an. Zuerst die violetten, dann die indigofarbenen und so weiter und so weiter. Und sie bildeten Buchstaben. Buchstaben und Zahlen. Sie bildeten eine chemische Formel. Die chemische Formel für Red Head.« »Mit der Ecke nach oben, wie?«, sagte die andere Stimme. »Aber es ist wahr!«, sagte die gequälte Seele. »Jedenfalls stimmt die Formel. Die Droge funktioniert. Ich wünsche bei Gott, dass es nicht so wäre. Aber sie funktioniert. Nachdem ich die Formel aufgeschrieben hatte, dankte ich den Blumen und schlug die Flutlichter kaputt, sodass sie wieder schlafen und träumen konnten, dann ging ich zu Fuß nach Hause und legte mich in mein Bett.« »Unglaublich«, sagte die andere Stimme. »Verrückt.« »Oja«, stimmte die gequälte Seele zu. »Es ist tatsächlich verrückt. Alles ist verrückt. Jedenfalls, am nächsten Tag ging ich ins Ministerium für Glückliche Zufälle, verschaffte mir Zutritt zum Laboratorium und mischte
die Droge zusammen. Es war ein bemerkenswert einfaches und unkompliziertes Verfahren. Dann, als ich fertig war, musste ich sie natürlich testen. Mich überzeugen, dass sie tatsächlich funktionierte. Also habe ich sie an mir selbst getestet.« »Und sie hat funktioniert?« »Das hat sie, keine Frage. Aber nicht auf die Art und Weise, die ich erwartet hätte. Ich dachte, sie würde mein Denken beschleunigen. Doch das menschliche Gehirn ist keine Rechenmaschine. Es funktioniert nach ganz anderen Prinzipien. Organisch. Denken ist etwas Organisches, das ist das ganze Geheimnis. Die Droge erweiterte meine Denkprozesse. Sie öffnete mir die Augen und erlaubte mir, die Dinge klar zu sehen. Alles zu verstehen. Die Dinge so zu begreifen, wie sie wirklich sind. Und die Menschen, wie sie wirklich sind. Diejenigen zumindest, die wirklich Menschen sind. Und diejenigen, die keine sind. Die Wrong’uns.« »Vorsicht«, sagte die andere Stimme. »Oder was? Wollen Sie mich töten? Sie werden mich so oder so töten, habe ich Recht? Sie müssen Ihr Geheimnis bewahren. Wenn die Menschheit von Ihnen und Ihren Artgenossen wüsste und welche finsteren Pläne Sie verfolgen…« »Vorsicht.« »Ich verfluche Sie«, sagte die gequälte Seele. »Sie alle! Ich weiß, was Sie sind. Und ich weiß auch, was Sie wollen.« »Nur die Formel.« »Aber die kriegen Sie nicht.« »Sie werden uns schon noch sagen, was wir wissen wollen.« »Nicht ich«, sagte die gequälte Stimme. »Ich hab Ihnen das alles nur erzählt, um Zeit zu gewinnen. Weil ich die letzten paar Augenblicke meines Lebens ohne Schmerzen verbringen wollte.« »Was?« »Das Gift, das ich eingenommen habe, muss jetzt jeden Augenblick wirken. Sie werden die Formel niemals finden! Aber irgendjemand wird sie finden, und dieser Jemand wird die Wahrheit erfahren, und damit ist es aus mit Ihnen und Ihresgleichen! Dieser Jemand wird die Welt für immer verändern. Er wird die Dinge wieder ins Lot bringen, Sie werden sehen.« »Vielleicht haben Sie uns ja schon genug erzählt«, sagte die andere Stimme. »Wir wissen nun, wo wir die Formel finden können. Auf der Blumenuhr im Memorialpark.« »O ja, sicher.« Die gequälte Seele stieß ein Lachen aus. »Die Blumen. Ich wurde ziemlich wütend wegen der Blumen. Weil sie mir das alles angetan hatten. Weil sie mir die Macht gegeben hatten, etwas so Grauenvolles zu sehen, das letzten Endes zu meiner eigenen Zerstörung führen würde. Was es dann ja auch getan hat. Also kehrte ich zum Memorialpark zurück, um die Blumen zu bestrafen. Sie in den Boden zu stampfen. Dann wieder dachte ich, nein, es ist nicht ihre Schuld. Sie waren wahnsinnig, verstehen Sie, die armen Blumen. Das passiert, wenn man seines Schlafs beraubt wird. Wenn man nicht träumen kann. Man wird wahnsinnig. Die Blumen konnten nicht mehr träumen, und deswegen wurden sie wahnsinnig. Trotzdem kehrte ich nach Brentford zurück. Ich absolvierte eine Art Pilgerfahrt. Ich wollte nachsehen, ob die Flutlichter repariert worden waren. Und falls ja, hätte ich sie erneut zerstört. Ich kehrte also in den Memorialpark zurück, und wissen Sie, was ich vorfand, als ich dort ankam?« »Was?« »Nichts«, sagte die gequälte Seele. »Absolut gar nichts. Verstehen Sie?
Es gab keine Blumenuhr in diesem Park. Es hat nie eine gegeben.« »Was wollen Sie damit sagen? Reden Sie!« Ein weiterer Augenblick des Schweigens, dann eine dritte Stimme. »Sparen Sie sich Ihren Atem«, sagte sie. »Er ist tot.«
3 An dieser Stelle kam ich in die Geschichte, also passen Sie jetzt auf, und spitzen Sie die Ohren. Bei mir kriegen Sie immer, wofür Sie bezahlt haben, wenn Sie für den besten Privatschnüffler im ganzen verdammten Geschäft bezahlen. Ich bin nicht gerade billig, aber ich bin gründlich, und ich kriege meinen Job erledigt. Ich kenne mein Genre, und ich halte mich an meine Leisten. Wenn ich an einem Fall dran bin, können Sie eine Menge kostenlosen Sex und Gewalt erwarten, eine von Leichen übersäte Seitengasse und einen finalen Showdown auf irgendeinem Dach. Und auf dem Weg dorthin kriegen Sie all das geboten, was Sie kriegen, wenn Sie für den Besten bezahlen. Sie kriegen eine großzügige Portion Trenchcoathumor, jede Menge alten Scheiß, wie er in Bars nun mal erzählt wird, Running-Gags über meinen falsch ausgesprochenen Namen oder meine zuverlässige alte Smith and Wesson, eine Dame, die mir Unrecht tut und ein tiefes dunkles Loch aus Nichts, in das ich kopfüber stürze, wenn sie mir gleich zu Beginn eines jeden neuen Falles eins über den Schädel zieht. Das ist die Art und Weise, wie ich meinem Geschäft nachgehe, immer nachgegangen bin und stets nachgehen werde. Weil ich, wie schon gesagt, bei meinen Leisten bleibe. Sozusagen. Und weil ich der Beste bin. Wenn Sie es allerdings mehr mit dem Schicken und Postmodernen haben, dann lassen Sie mich in Frieden, und klopfen Sie nicht an meine Tür. Wenn Sie eine Menge psychologischen Schnickschnack suchen und einen gequälten Detektiv mit einem Alkoholproblem und einer gescheiterten Ehe, der verzweifelt eine Tragödie aus seiner Kindheit aufzuarbeiten versucht und auf der Suche nach seinem weiblichen Ich ist, dann, Kumpel, dann sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Wenn Ihnen der Sinn freilich nach einem abgebrühten, breitkiefrigen, Schnapprand-Fedora behuteten, Gürtel geknoteten, Trenchcoat tragenden, Bourbon trinkenden, Camel rauchenden, einzelgängerischen, klugschwätzenden, hinterlistig-kämpfenden, heiße Pastrami kauenden, verzwickte Fälle lösenden gottverdammten Sohn eines Prinzen unter den Menschen steht, dann klopfen Sie an der Tür und kommen Sie herein und fragen Sie nach mir. Und der Name, nach dem Sie fragen müssen, lautet Woodbine. Lazlo Woodbine. Als hätten Sie das nicht schon gewusst. Lazlo Woodbine. Privatschnüffler. Manche nennen mich Laz. Sie sehen, ich halte es klassisch, und ich halte es einfach. Ich arbeite nur an den vier Schauplätzen. In einem Büro, wo mich meine Klienten besuchen. In einer Bar, wo ich jede Menge dummen Scheiß labere und wo die Dame, die mir Unrecht tut, mir zu Beginn eines jeden Falles eins über den Schädel zieht. In einer Seitengasse, wo ich in schwierige Situationen gerate, und auf einem Dach, wo ich meine finale Konfrontation mit dem Schurken habe. Keine Nebenschauplätze, keine losen Enden und alles strikt in der ersten Person. Kein großer Genredetektiv hat je mehr als das gebraucht, und nie war ein Detektiv größer als ich. Nachdem das gesagt wurde – und verdammt gut gesagt wurde –, kommen wir nun zum Geschäft und fangen wir an, wie wir immer anfangen. Und anfangen tut es immer so.
Es war eine von jenen langen, heißen Manhattaner Nächten, und ich saß im Fangios und schwatzte mit dem Dicken über Gott und die Welt. Der Dicke hieß Fangio, doch die Welt hatte keinen Namen. Es war ein richtig mageres Jahr für mich gewesen, und ich hatte seit der dicken Geschichte von ‘98 keinen echten Fall mit Stil zu lösen bekommen. Die Zeiten wurden allmählich härter. Es ist schön und gut, wenn man als »Detektiv der Detektive« bezeichnet wird und wenn man seine zerfurchte Silhouette auf der Titelseite des Newsweek Magazine sieht oder sein Büro in Hello!, aber Ruhm allein reicht nicht aus, um sich einen Fahrschein nach Hause zu kaufen, wenn man kein Geld für den Fährmann hat. Und gegenwärtig war ich so richtig abgebrannt. Mein Banksaldo leuchtete in dunklerem Rot als der Arsch eines Masochisten, und aus meinem Trenchcoat war der Trench ausgelaufen. Meine zuverlässige Smith and Wesley Snipes setzte in Papa Legbas Pfandleihe Rost an, und mein legendärer Schnapprand-Fedora schien meinem Vermieter zu gefallen, denn er hatte ihn anstelle der letzten Monatsmiete in Zahlung genommen. Ich war abgebrannt. Total abgebrannt. Vollkommen blank. Ich war abgebrannter als ein Portemonnaie in einem pleistozänen Pumpernickel. Blanker als ein Lascar-Lunch auf einem leckenden liberianischen Logger. Weiter unten als ein tollpatschiger tasmanischer Teufel auf Tretminen mit Toejams Tuckertüten. Aber hey, wenn man so tief unten ist wie ich, meine Freunde, dann geht es in jeder Richtung nur noch bergauf. Man kann nicht bloß auf seinem traurigen Arsch dasitzen und darauf warten, dass der Wind des Glücks in seine Richtung bläst. Man muss sich selbst aus dem Dreck und allen Widrigkeiten ziehen. Man muss seinen eigenen Wind machen. »Heiliger Humdinger!«, rief Fangio fassungslos und wedelte sich mit den dicken Fingern vor dem Gesicht herum. »Wenn du in meiner Bar noch mal so einen Wind machst, Laz, dann trete ich deinen traurigen Arsch durch die Tür!« O wie haben wir gelacht. »Das war kein Witz!«, erregte sich der Dicke weiter. »Ich lasse mir eine Menge von dir bieten, Laz. Die blöden Running Gags über deinen Trenchcoat und deine zuverlässige Smith and West Bromwich Albion. Die Dame, die dir Unrecht tut und dir immer ausgerechnet in meiner Bar eins über den Schädel zieht. Und dass du mich ständig den Dicken nennst. Aber wenn du anfängst, Wind zu machen, ist die Grenze überschritten. Ich führe hier schließlich ein Geschäft, Mann.« »Aber du bist nun mal ein verdammt dicker Bursche, Fangio«, sagte ich schneller als ein Frettchen in einem Fußbad von Felcher. »Und diese dämlichen surrealistischen Metaphern, die du andauernd benutzen musst, weil du glaubst, es würde dir deinen eigenen unverwechselbaren Stil verleihen. Die Metaphern, die nach und nach immer obszöner und obskurer werden und weder witzig noch geistreich sind.« »Nun mal ganz ruhig, Porky«, sagte ich. »Ich mag im Augenblick vielleicht down sein, aber ich bin alles andere als out.« »Willst du vielleicht deinen Deckel begleichen?«
»Ich bin out«, sagte ich. »Du hast gewonnen.« O wie haben wir gelacht. »Nebenbei bemerkt, Laz«, sagte Fangio zu mir, als das Gelächter einmal mehr zum Ersterben gekommen war in der Bar, die seinen Namen trug. »Ich habe nachgedacht, ob ich mir nicht ein Hobby zulegen soll. Kannst du mir vielleicht was empfehlen?« »Was würdest du zu Abnehmen sagen?«, empfahl ich ihm obszön. »Würde das weniger Essen beinhalten?«, erkundigte sich Fangio. »Du weißt doch, dass ich fresse wie ein Schwein, und das ist mein einziges Vergnügen.« »Und Gummi-Bondage?« »Ich berichtige, fast mein einziges Vergnügen. Ich dachte eigentlich an etwas Zerebrales, das so gut wie keinerlei Übung erfordert, nicht viel kostet und womit ich beim jährlichen Orchideenzuchtwettbewerb der Bartender einen Preis gewinnen könnte.« »Wie wäre es dann vielleicht mit Orchideenzucht?« »Was denn, mit meinem Rücken? Vergiss es!« »Hanggleiten?« »Zu hoch.« »Bassspielen?« »Viel zu tief.« »Die allgemeine Gesundheit?« »Halbwegs bis mittelmäßig. Kann nicht klagen.« »Was hältst du von einem Kartenspiel?«, fragte ich. »Nicht mit dir, du falsch spielender Araber!« »Nein, nicht mit mir, Fange. Was hältst du von einem Kartenspiel als Hobby?« »Nun ja…« Der Dicke strich sich übers Kinn, und in Brooklyn flatterte ein Vogel vorbei. »Ich hab früher viel Karten gespielt, als Frontschwein in ‘Nam.« »Du bist in meinen Augen immer noch eins, Fange.« »Danke sehr, mein Freund.« »Also«, sagte ich, »ein Kartenspiel soll es sein. An was für ein Kartenspiel hast du gedacht?« Fangio versetzte seinem Kinn einen weiteren Streicher, als Glücksbringer quasi, und fragte: »Was für Kartenspiele kennst du denn so?« Ich machte ein nachdenkliches Gesicht, und ich machte es verdammt gut. »Es gibt Cribbage, Blackjack, Patience, Parliament, Jag das ASS, Rommee, Chemmy, Pikett, Strip Poker, Stud Poker, Seven Card Stud Poker, Bridge, Whist, Old Maid, Happy Families, Three Card Brag, Smiling Faces, Siebzehnundvier, Hau meinen alten braunen Hund in eine Tonne, Maumau, Canasta, Skat, Doppelkopf, Schwarzer Peter, Schnipp Schnapp und Schnorum.« »Was ist mit Six Card Walkout?« »Auch Six Card Walkout. Oder Strip Jack nackt. Koch mein Hirn in einem Fass Kleie. Schnauz die Schnauz. Cockney Cowboy. Kümmel den Kamm. Vergrab mein verwundetes Herz an der Knickerbocker Knacker Knockeldiknick. Arschtritt in den Pennines.« »Das erfindest du doch jetzt alles, oder?« »Schon seit einer ganzen Weile, zugegeben.« »Und wie spielt man Knickerbocker Knacker Knockeldiknick?« »Mit lauter Assen und einäugigen Jokern, die alle doppelt zählen, wenn man sie auf eine schwarze Neun oder Zehn legt.« »Also ganz ähnlich wie bei Hau meinen alten braunen Hund in eine Ton-
ne.« »Die gleichen Regeln, ja«, sagte ich. »Soll ich fortfahren?« »Hast du noch irgendwelche richtigen Kartenspiele anzubieten? Oder willst du weiter irgendwelche mit blöden Namen erfinden?« »Weiter erfinden, schätze ich.« »Dann also los.« »Da gäbe es Halte den Schotten. Wusch geht das Wimpel. Fang das Kaninchen. Körperchemie Nummer vier…« »Körperchemie Nummer vier?«, fragte Fangio. »Du meinst wahrscheinlich den Film von 1994 mit dem ehemaligen Playmate Shannon Tweed? Den Film, in dem sie es mit einem Kerl namens Simon auf einem Pooltisch treibt?« »Na ja, man kann auf einem Pooltisch auch Karten spielen, oder?« »Nicht, wenn andere es darauf treiben.« »Nein, da hast du Recht. Vergiss das mit Körperchemie Nummer vier. Aber da wären noch Um den Kopf mit einem Schwein an der Leine. Schlag den bösen Berti7. Spring um Shorty und Leg sie rein, Hein…« »Du kennst dich aber wirklich mit Kartenspielen aus, Kumpel.« »Hör zu, Fange«, sagte ich, »in meinem Geschäft kann der Unterschied, ob man ein Kartenspiel kennt oder nicht, den Unterschied ausmachen, ob man es in einer kalten Winternacht besorgt bekommt oder es in einem Wohnmobil treiben muss. Wenn du weißt, was ich meine, und ich bin sicher, dass du es weißt.« »Ich weiß jetzt jedenfalls, woher du kommst«, sagte Fange, und wer war ich, dass ich seine Worte in Frage stellte? Wir hielten ein paar Augenblicke inne und laberten weiteren Mist. »Das war gut«, sagte Fange. »Was? Der Mist?« »Nein, das Labern. Das war ein guter Scheiß, den wir jetzt gelabert haben. Eine ganze Menge erstklassiger guter alter Scheiß.« »Freut mich, dass es dir Spaß gemacht hat. Möchtest du vielleicht, dass ich noch ein paar Kartenspiele erfinde?« »Nein«, sagte Fangio und schüttelte seine Doppelkinne. »Das Geheimnis ist zu wissen, wann man aufhören muss. Ach, nebenbei bemerkt, Laz, vorhin war ein Typ da, der nach dir gefragt hat.« »Wie kann er nach mir gefragt haben, wenn er vor mir da war?« »Frag mich«, sagte Fangio. »Wir leben in sorgenvollen Zeiten.« »Wie hat dieser Typ ausgesehen?« »Nun…« Der Dicke kaute auf einer Erdnuss. »Wenn du mich fragst, er sah aus wie Mike Mazurki.« Ich nickte nachdenklich. »Vielleicht eine Spur von Brian Donleavy über den Augen.« Ich kratzte mich gleichermaßen nachdenklich an den Gonaden. »Redete vielleicht ein wenig wie der legendäre Charles Laughton.« Ich pfiff schneller durch die Zähne, als man braucht, um einen Truthahn zu rupfen. »Der legendäre Charles Laughton?«, fragte ich. »Ja. Und er hatte einen Rondo-Hut auf8.« 7 Hat nichts mit einem schottischen Fußball-Nationaltrainer zu tun. Ehrlich nicht. Obwohl… 8 Rondo Hutauf, legendärer Hollywoodstar aus Der Kriecher. Es ist ein Witz, verstehen Sie? Rondo Hut auf. Ganz wie Sie wollen.
O wie haben wir gelacht. Einmal mehr. »Im Ernst«, sagte Fangio. »Er hat diese Karte für dich dagelassen.« »Ist es ein einäugiger Joker?«, fragte ich. »Weil die nämlich doppelt zählen, wenn man sie auf eine schwarze Neun oder Zehn legt.« »Nein, es ist eine Visitenkarte. Wir sind doch fertig mit den Kartenspielen.« »Ich hab aber noch ein paar dämliche Namen auf der Zunge.« »Da bin ich ganz sicher.« Fangio hatte die Karte an einem Ort verwahrt, wo die Sonne niemals hinscheint, und zog sie nun hervor. Er schob sie über den Tresen zu der Stelle, wo ich saß und mich in meinem Ruhm badete. Laut las ich vor mich hin, was auf der Karte zu lesen stand: »Mr. Cormerant«, las ich. »Vom Ministerium für Glückliche Zufälle.« »Ein bisschen lauter«, sagte Fangio. »Cormerant.« »Cormerant?«, fragte Fangio. »Ist das nicht ein Wasservogel aus der Familie Phalacrocoracidae, der Küsten- und Inlandgewässer bewohnt, mit einem dunklen Gefieder und einem schlanken gekrümmten Schnabel?« »Nein, ich denke, das ist ein Kormorant.« »Ah, danke. Ich dachte, es wäre ein Cormerant.« »Kein Problem. Hat dieser Typ gesagt, was er von mir will?« »Nein«, antwortete Fangio. »Aber wenn du meine Meinung hören willst, würde ich sagen, dass er deine Dienste als Privatdetektiv kaufen will, damit du eine verschwundene schwarzlederne Aktentasche wiederbeschaffst, die er verloren hat und die gewisse Gegenstände enthält, die, sollten sie in die falschen Hände fallen – oder gar in die richtigen –, unserer Welt in wenigstens einem Dutzend verschiedenen Sprachen den Untergang bereiten könnten. Einschließlich Esperanto.« »Nun, wenn ich deine Meinung hören will, frage ich danach«, sagte ich. »Hat er gesagt, ob er sich noch einmal meldet?« »Mag sein«, sagte Fangio. »Aber ich hab nicht zugehört. Wollen wir noch ein wenig mehr alten Scheiß labern?« Ich schüttelte den Kopf auf eine negative Weise, die meine negativen Gedanken widerspiegelte. Irgendetwas war an dieser Karte, das zu stinken schien. Irgendetwas fauliges, perverses, extrem Abscheuliches. Irgendetwas…« »Hör auf damit, Laz«, sagte Fangio warnend. »Das machst du immer, wenn ich dir eine Karte gebe, und offen gestanden, es geht mir auf den Sack…« »Aber diese Visitenkarte hat etwas an sich, das mir überhaupt nicht gefällt.« »Wahrscheinlich die Form«, sagte Fangio. »Anhand der Form einer Visitenkarte kann man eine Menge über den Charakter eines Mannes sagen.« »Aber Visitenkarten haben doch im Grunde genommen alle die gleiche Form?« »Meine nicht«, sagte Fangio. »Manche von mir haben so eine grässliche Form, dass mir schon übel wird, wenn ich sie nur ansehe. Ich schätze, dass jeder Mann, der Visitenkarten mit der Form wie meine hat, irgendeine Art von Psycho sein muss.« »Und du hast dir die Form selbst ausgesucht?« »Selbstverständlich nicht! Wie kannst du es wagen!« »Dann schlafe ich heute Nacht beruhigt in meinem Bett, Fange.« »Gobbo der Gnom, der in meiner Nase wohnt, hat mir gesagt, wie ich sie schneiden soll.«
»Ich schließe mein Schlafzimmer von innen ab, bevor ich mich ins Bett lege.« Ein Typ am anderen Ende des Tresens winkte und klapperte mit seinem leeren Glas auf der Theke. »Besteht vielleicht die Möglichkeit, bedient zu werden?«, hörte ich ihn fragen. »Oder wollt ihr beide die ganze Nacht irgendwelchen Scheiß labern, während der Rest von uns verdurstet?« »Ich gehe lieber und bediene ihn«, sagte der Dicke. »Er steht da und wartet schon, seit wir angefangen haben, irgendwelchen Scheiß zu labern.« »Du gehst besser und bedienst ihn«, stimmte ich Fangio zu, »während ich über dieser Karte brüte und versuche, den Burschen einzuordnen, der sie für mich hiergelassen hat. Ich kann nämlich vermittels gewisser psychischer Kräfte, über die ich nicht gerne rede, eine mentale Visualisierung des Besitzers erzeugen. Ich muss mich nur auf die kosmische Strahlung einstellen, die von dieser Karte ausgeht. Ich habe bereits ein Bild von Mike Mazurki, mit einer Spur von Brian Donleavy über den Augen und einer Stimme, wie sie der legendäre Charles L…« »Ich lass dich für den Augenblick allein«, sagte Fangio. »Ich geh den Kunden bedienen. Bitte verzeihen Sie, wenn ich Sie habe warten lassen, Mr. Cormerant.« »Was?« Ich entbot dem Burschen meinen Gruß und machte mich auch sonst bemerkbar. Die Hand, die sein Getränk hielt, zitterte mehr als die eines GoGo-Tänzerinnen-Vibrator-Vorführers; es war ein schlimmer Fall von St. Vitus. Oder vielleicht doch nicht ganz so schlimm. Wer bin ich schon, dass ich so etwas feststelle? Ich musterte den Kerl von oben bis unten und dann von einer Seite zur anderen. Er hatte definitiv eine Spur Brian Donleavy über den Augen, und in seiner Stimme war mehr als nur ein Hauch vom legendären Charles. Doch was mir am meisten ins Auge stach, das war sein Hut. »Ist das ein Rondo?«, fragte ich und bewunderte den Schnitt seiner Nase. »Nein«, sagte er. »Es ist ein Bowler.« Wir bequemten uns zu einem Tisch hinten in der Bar, dem Tisch zur Linken des Herrenklos. Es ist eine Art Lieblingstisch von mir. Abgeschieden. Aus dem Weg. Die Spur von Exklusivität, die bei Klienten Vertrauen erweckt. Gedämpftes Licht, das mein edles Profil im stumpfen Wandspiegel einfängt und eine Menge Halt im Sitz, was ganz praktisch sein kann, wenn die Hämorrhoiden sich unangenehm zu Wort melden. »So«, sagte ich, als wir es uns bequem gemacht hatten. »Was gibt’s denn, Kumpel?« »Mein Name ist…« »Cormerant«, sagte ich. »… Cormerant«, sagte er. »Und ich arbeite für das…« »Ministerium für Glückliche Zufälle«, sagte ich. »…Ministerium für Glückliche Zufälle«, sagte er. »Und ich…« Ich zögerte. »Was?« »Was?« »Warum zögern Sie?«, fragte er. »Ich habe nicht gezögert«, sagte ich. »Ich habe darauf gewartet, dass Sie fortfahren. Sie haben zuerst gezögert.« »Nun ja, Sie haben mich ständig unterbrochen.« »Ich habe nicht unterbrochen. Ich habe antizipiert. «
»Das ist das Gleiche wie unterbrechen, wenn Sie dazwischenfunken. Das ist unterbrechen.« Ich beugte mich über den Tisch und gab dem Typen einen Wink. Als er sich ebenfalls vorbeugte, versetzte ich ihm eins auf die Fresse. Er fiel ächzend zurück und hielt seine blutige Nase. »Warum haben Sie das getan?«, nuschelte er nasal, während er ein übergroßes rotes Gingantaschentuch hervorzog, um sich damit den Rotz und das Blut abzuwischen. »Ich wollte lediglich eine semantische Klarstellung betreiben«, sagte ich. »Das war dazwischenfunken. Ich habe antizipiert.« Er bedankte sich bei mir. Was sonst. Anschließend bestellte er uns zwei weitere Biere und machte sich daran, seine Situation zu erklären. Klar und deutlich, ohne Stocken und Zögern. Offensichtlich wollte er meine Dienste als Privatdetektiv in Anspruch nehmen. Ich sollte eine Aktentasche aufspüren, die verschwunden war und gewisse Dinge enthielt, die, sollten sie in die falschen oder auch nur in die richtigen Hände fallen, unserer Welt in wenigstens elf verschiedenen Sprachen den Untergang bereiten könnten.« »Sie verschweigen mir etwas«, sagte ich. Er zählte an den Fingern ab. »Ja. Sie haben Recht«, sagte er. »Zwölf verschiedenen Sprachen, einschließlich Esperanto.« »Genau wie ich’s mir dachte.« »Und so bin ich zu Ihnen gekommen«, sagte der Typ. »Weil ich gehört habe, Sie seien der Beste.« »Da haben Sie richtig gehört«, sagte ich. »Werden Sie mir nun verraten, was genau sich in dieser Ihrer Aktentasche befindet?« Der Typ schüttelte nur den Kopf und sagte: »Nein.« »Und wie wäre es, wenn Sie mir verraten, wo Sie Ihre Tasche zuletzt gesehen haben?« »Kennen Sie Stravinos Barbierladen?« Ich deutete auf meine wunderbare Haarkrone. »Was verrät Ihnen das dort?« »Dass Sie um einen Ramón Navarro gebeten haben?« »Präzise. Und was habe ich bekommen?« »Einen Tony Curtis.« Der Typ und ich laberten noch eine Weile Scheiß, dann zog er Leine. Ich kehrte zum Tresen zurück und fand Fangio dabei, wie er Karten mischte. »Zieh eine«, sagte er. »Irgendeine.« »Pik drei«, sagte ich. »Das ist richtig«, sagte er, »aber woher wusstest du das?« »Nennen wir es Intuition.« »Meinetwegen«, sagte Fangio. »Ich wollte es Rush the Flush nennen, aber Intuition klingt besser. Wie bist du mit Mr. Cormerant zurechtgekommen? Wirst du den Fall übernehmen?« Ich nickte unentschlossen. »Er hat mir tausend Mäuse Vorschuss gezahlt.« Fangio hatte es offensichtlich die Sprache verschlagen. »Mir fehlen die Worte«, bekannte er. »Der Typ hat seine Aktentasche bei Stravinos stehen lassen, wo sie allem Anschein nach von einem Gelegenheitskriminellen geklaut wurde. Sollte nicht allzu schwer sein, sie wieder aufzutreiben.« »Doch nicht etwa bei Stravino dem Barbier?«, fragte Fangio.
»Du kennst den Laden?« Fangio deutete auf sein Haupt. »Was sagt dir das dort?«, fragte er. »Es sagt mir, dass du einen dicken fetten Kopf hast«, sagte ich. »Genau«, sagte Fangio. »Ganz genau.« Ich weiß, was Sie jetzt denken mögen, meine Freunde. Sie denken, wie kann es sein, dass dieser Lazlo Woodbine, ein Mann, der ganz klar einen Verstand besitzt wie das Fangeisen eines Trappers, nicht den krassen Kontinuitätsfehler erkennt, der sich an dieser Stelle eingeschlichen hat? Er befindet sich doch in einer Bar in Manhattan, und Stravinos Barbierladen liegt in der South Ealing High Street viele Meilen weit im Osten. Hey, also wirklich! Sie haben es hier mit einem Profi zu tun, O.K.? Einem Meister des Genres. Und obwohl ich vielleicht gesagt habe, dass es eine weitere von jenen langen, heißen Manhattaner Nächten war, bedeutet das nicht notwendigerweise, dass es tatsächlich Nacht war oder wir uns tatsächlich in Manhattan befanden. Wie schon gesagt, ich arbeite lediglich an den bekannten vier Schauplätzen, doch wenn all meine Schauplätze ausschließlich in Manhattan lägen, würde das mein Operationsgebiet ernsthaft einschränken. Außerdem, da Sie von Fangios Bar stets nur die Innenräume zu sehen bekommen, könnte sie überall auf der Welt liegen. Beispielsweise am Ende der South Ealing High Street, ganz in der Nähe des Station Hotels. »Erinnerst du dich noch, als es in Casablanca war?«, fragte Fangio. »Was haben wir damals gelacht, eh, Laz?« »Halt die Klappe, Dicker«, sagte ich. »Wirst du jetzt deinen Deckel begleichen? Ich meine, wo du doch einen Tausender Vorschuss bekommen hast?« Ich schüttelte meinen Kopf auf die Art und Weise, die man nicht mit Geld bezahlen kann. Und ich warf einen Blick auf die große Wanduhr über dem Tresen. Dann sah ich den Tresen entlang, wo die kleinen braunen Männer mit den Hüten saßen und auf ihren Ukulelen klimperten. Und dann spähte ich hinauf zur Decke, wo die Bumbeln baumelten und wo vor langer Zeit der Geist der Weihnacht Fangio erschienen war. Und dann sah ich zu Boden und schließlich aus dem Fenster. »Hast du etwas Bestimmtes im Sinn?«, fragte Fangio. »Ich frage mich nur, wo sie bleibt?« »Wo wer bleibt?« »Die Dame, die mir Unrecht tut. Die mir an dieser Stelle stets eins über den Schädel zieht, sodass ich in ein dunkles, wirbelndes Loch aus Nichts falle. Sie hätte eigentlich längst da sein müssen.« »Oh, ich hab vergessen, dir Bescheid zu sagen«, sagte Fange. »Sie hat vorhin angerufen. Sie sagt, sie würde es heute Mittag nicht schaffen9. Sie lässt sich vielmals entschuldigen.« »Was?« »Sie sagt, sie muss heute einem anderen Detektiv eins über den Schädel geben. Irgendeinem gequälten Detektiv mit einem Alkoholproblem und einer gescheiterten Ehe, der noch immer versucht, mit einem Kindheitstrauma ins Reine zu kommen und nach seiner femininen Seite sucht.« »Was?« 9
Sehen Sie, es ist Mittag und nicht Abend oder Nacht.
»Sie sagt, der amerikanische Genredetektiv der fünfziger Jahre wäre inzwischen ein Anachronismus und ein Anathema. Der Stoff, aus dem billige Pulp Fiction gemacht wird. Sie ist nun etwas Besseres. Sie beschäftigt sich nur noch mit dem Schicken, Postmodernen.« »WAS?« »Es sieht also danach aus, als wärst du diesmal auf dich allein gestellt, Laz. Oder sollte ich lieber sagen, in dich alleine? Weil du, wie ich das sehe, nicht imstande sein wirst, bei deinem Genre zu bleiben und die Dinge so zu tun, wie sie getan werden sollten, wenn du nicht jemand anderen auftreiben kannst, der dir eins über den Schädel zieht. Das Eins-über-denSchädel-ziehen ist doch bei euch Genredetektiven ganz groß angesagt, wenn ich mich nicht irre?« »WASSSS?« »Laz, könntest du vielleicht einmal für fünf Minuten mit diesem ewigen >Was?< aufhören? Ich kriege noch eine Migräne!« »Aber was soll ich nun tun?«, fragte ich. »Das kann sie doch nicht mit mir machen! Ich bin Lazlo Woodbine! Lazlo Woodbine! Manche nennen mich Laz! Sie kann mich doch nicht einfach so im Stich lassen! In einer Bar sitzen lassen! Das hier könnte der größte Fall in meiner gesamten Laufbahn werden! Der Ganz Große Fall. Du musst mir helfen, Fange! Was soll ich nun machen?« »Nun…« Der Dicke kratzte sich am Bauch. »Wir könnten zu einer Vereinbarung kommen.« »Was?« Ich sagte es diesmal leise. »Wir sind alte Freunde. Ich könnte dir vielleicht einen Gefallen tun.« »Schieß los, Kumpel.« »Nun ja…« Der Dicke kratzte sich erneut am Bauch. »Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass es unbedingt eine Dame sein muss, die dir Unrecht tut und dir eins über den Schädel zieht. Ich glaube eigentlich, dass jeder das tun könnte.« »Jeder?« »Selbst ich.« »Du? Du könntest mir eins über den Schädel ziehen? Aber warum solltest du mir eins über den Schädel ziehen wollen, Fange?« »Wie ich schon sagte, wahrscheinlich könnten wir zu einer Vereinbarung kommen. Leih uns dein Ohr, und ich flüstere dir etwas.« Ich lieh dem Dicken mein Ohr, und er flüsterte mir etwas.« »Das ist unerhört!«, sagte ich zornentbrannt, als er mit seinem Flüstern geendet hatte. »Das ist mein Angebot«, sagte er. »Nimm es an oder lass es sein.« Ich seufzte resigniert. »Ich nehme es an«, sagte ich leise. »Pass auf, hinter dir!«, rief Fangio. Ich drehte mich um, und in diesem Augenblick traf mich etwas von hinten. Und ich fiel. Und ich fiel und fiel. Hinunter. Tiefer, immer tiefer. In ein tiefes dunkles Loch aus Nichts. Jawoll, Sir.
4 Hätte Icarus Smith auf der anderen Seite des scharlachroten Restaurants des Station Hotels gesessen, der Seite, die dem unteren Ende der High Street zugewandt war, hätte er gesehen, wie Mr. Cormerant nach seinem Treffen mit Lazlo Woodbine Fangios Bar verließ. Er hätte gesehen, wie Mr. Cormerant vor sich hinmurmelte und seine Nase mit einem übergroßen roten Gingantaschentuch betupfte. Er hätte gesehen, wie Mr. Cormerant über die Straße stolperte und dabei dem Tod in Form eines zu schnellen Ford Fiesta nur knapp entging. Und schließlich hätte er gesehen, wie Mr. Cormerant sich auf den Rücksitz einer jener langen schwarzen Limousinen mit abgedunkelten Scheiben mühte, die eindeutig de rigueur mit der kriminellen Oberschicht sind, um sich zurück in das Ministerium für Glückliche Zufälle fahren zu lassen. Doch da Icarus Smith auf der anderen Seite der Bar saß, bemerkte er von alledem nichts. Hätte er es bemerkt und wäre er darüber hinaus imstande gewesen, Mr. Cormerant zum Ministerium für Glückliche Zufälle zu folgen und das Ohr an die Tür einer streng geheimen Kammer zu legen, würde er gehört haben, wie Mr. Cormerant einen weiteren deftigen Anschiss dafür bekam, dass er seine Aktentasche verloren hatte. Bevor er für seine Geistesgegenwart gelobt wurde, den berühmtesten Detektiv der Welt mit der Wiederbeschaffung beauftragt zu haben. Er würde weiter gehört haben, wie Mr. Cormerant informiert wurde, dass bereits gewisse Dienste beauftragt waren, den Kleinkriminellen zu suchen, der allem Anschein nach die Tasche aus Stravinos Barbierladen geklaut hatte, und dafür zu sorgen, dass er ein gleichermaßen unerfreuliches wie spektakuläres Ende fand. Doch Icarus hörte nichts von alledem. Was vielleicht, vielleicht aber auch nicht, zum Besten war. Mit zitternder Hand zog Icarus die Kassette aus dem Diktafon. Nachdem es ihm unter einigen Schwierigkeiten gelungen war, das Band in die oberste Tasche seiner Jacke zu schieben, nahm er das Diktafon und legte es zurück in die schwarzlederne Aktentasche, schloss den Deckel und verschloss die Schnappschlösser wieder. Und dann saß er an seinem Tisch und zitterte noch ein wenig und starrte ins Leere. Jetzt kannte Icarus das Szenario. Jeder Kinogänger kannte es. Es war wieder und wieder auf der Leinwand benutzt worden, in Thrillern, Krimis, in Science-Fiction-Filmen und sogar in Fantasy-Filmen, ja, in so gut wie jeder Art von Thriller, den es je gegeben hatte. Es war einfach und prägnant, und es funktionierte folgendermaßen. Ein kleiner Krimineller stiehlt etwas wirklich, wirklich Wichtiges, ohne es zu wissen. Einen Koffer voller Drogen, Geld, das einem Gangsterboss gehörte, einen fortgeschrittenen militärischen Mikrochip, einen megagefährlichen Virus, einen Ford Fiesta mit einem Alien-Leichnam im Kofferraum. Kreuzen Sie das Passende an. Dann, relativ früh im Verlauf der Handlung, ereilt den Kleinkriminellen ein höchst unangenehmes, doch angemessen spektakuläres Ende, bevor der Held in der Gestalt des Detektivs auf der Suche nach dem gestohlenen Etwas die Szene betritt. Es war wohl kaum ein originelles Szenario, doch es war erprobt und getestet und es funktionierte nachgewiesenermaßen ganz ausgezeichnet. Icarus erinnerte sich noch genau an die verfilmte Version von Der Tod
trägt einen blauen Sombrero10, in welcher der Freizeitganove Andy Challis, gespielt von Tom Hanks, einen Patentlederbeutel von einer Prostituierten stiehlt, die von Meg Ryan gespielt wird. Der Beutel enthält einen Durchgang in eine andere Dimension, und der arme alte Tom wird durch das Tor ins Nichts gesaugt, mehrere Szenen, bevor der Held in der Gestalt von Laz (der bei dieser Gelegenheit höchst wenig überzeugend gespielt wird von Leonardo di Caprio11) eintrifft, um den Fall zu lösen. Den Freizeitganoven ereilte immer und ausnahmslos ein ebenso unrühmliches wie vorzeitiges Ende. Es war eine große Tradition, eine alte Bulle oder sonst was. Hollywood kannte sich nun mal am Besten mit Kino aus, und wer war Icarus, dass er widersprach? »Ich bin in ernsten Schwierigkeiten«, murmelte Icarus Smith. »Obwohl…« Obwohl? »Obwohl.« Icarus Smith begann zu lächeln. Zulächeln? »Ich muss noch ein wenig darüber nachdenken.« Icarus dachte noch ein wenig darüber nach. Tief und ernsthaft nach. Sicher, dachte er auf tiefe und ernsthafte Weise, sicher ist das kein Zufall. Sicher ist dieses Band nicht durch bloßes Pech allein in meine Hände gefallen. Die Natur meines Metiers ist der Instinkt. Etwas zu bemerken und es sodann zu relokalisieren. Wenn ich diese Kassette in meinen »Besitz« gebracht habe, dann muss es einen Grund dafür geben. Und überlege, Icarus, überlege, was ist auf diesem Band? Ein Mann wird gefoltert und stirbt wegen einer Entdeckung, die er gemacht hat. Einer Droge, erschaffen aus einer Formel, die er von einem Blumenmuster hat. Einer Droge, die den menschlichen Computer erschaffen sollte und stattdessen dem Mann die Augen geöffnet hat, sodass er etwas Unglaubliches sehen konnte. Etwas ganz und gar Furchtbares. »… die Dinge so zu begreifen, wie sie wirklich sind. Und die Menschen, wie sie wirklich sind. Diejenigen zumindest, die wirklich Menschen sind. Und diejenigen, die keine sind.« Das war ein Ding. Das war ein verdammt großes Ding. Das konnte nur zum Großen Durchblick gehören. Es konnte nur. Und was hatte der sterbende Mann sonst noch zu seinem Folterknecht gesagt? »… Sie werden die Formel niemals finden! Aber irgendjemand wird sie finden, und dieser Jemand wird die Wahrheit erfahren, und damit ist es aus mit Ihnen und Ihresgleichen! Dieser Jemand wird die Welt für immer verändern. Er wird die Dinge wieder ins Lot bringen, Sie werden sehen.« Es musste so sein. Für Icarus zumindest passte alles zusammen. Für Icarus war dies keine von Stravinos »Kapriolen des Schicksals«. Für Icarus war das ein Fall von »Ich bin der Auserwählte«. Und wie die Geschichte höchst beeindruckend gezeigt hat, kann es ganz schön schwierig sein, mit einem Mann zu argumentieren, der von sich glaubt, der Auserwählte zu sein. »Es gibt nicht den geringsten Zweifel«, flüsterte Icarus Smith vor sich hin. »Dieses Band sollte in meine Hände fallen. Es ist meine Bestimmung, die Welt für immer zu verändern.« 10
Ein Lazlo Woodbine Thriller. Die Meinungen sind geteilt bezüglich der Frage, welcher HollywoodSchauspieler den berühmten Detektiv am besten porträtiert hat. Robert Mitchum, Brian Donleavy und Rondo Hutauf sind unter den ersten dreien. 11
Und nachdem er all dies gedacht und gesagt hatte, machte sich Icarus daran, die schwarzlederne Aktentasche wieder zu öffnen. Seine Hände zitterten kaum noch, und diesmal mehr aus Aufregung als aus Furcht. Icarus rieb sich die kaum noch zitternden Hände und machte sich daran, den Inhalt der schwarzledernen Aktentasche genauer zu untersuchen. Ohne die Lederunterwäsche oder das eingepackte Essen oder das Diktafon zu beachten, richtete er seine Aufmerksamkeit auf einen Stapel Papiere und ein Notizbuch mit einem eigenartigen Einband. Zuerst die Papiere. Icarus blätterte sie durch. Sie trugen den Briefkopf des Ministeriums für Glückliche Zufälle (MinfGlüZu), und es schien sich um Memos zu handeln, wie sie zwischen den einzelnen Abteilungen verschickt wurden. Es ging hauptsächlich um die Personalkantine und die miese Auswahl an Speisen dort. »Deswegen das eingepackte Mittagessen«, murmelte Icarus Smith. Das Notizbuch jedoch war von beträchtlich größerem Interesse. Auf dem Vordereinband waren zwei Flecken. Der erste schien Marmelade zu sein, doch der zweite sah aus wie Blut. Icarus schlug das Notizbuch auf und machte Ah! »Adressen!«, sagte Icarus Smith. Auf dem Deckblatt des Notizbuchs stand in Druckbuchstaben: Dieses Buch ist Eigentum von Professor Bruce Partington Wisteria Lodge Shoscombe Old Place Brentford »Aha«, sagte Icarus. »Kein Zweifel, das war die gequälte Seele persönlich. Doch zur Sicherheit überprüfe ich das lieber noch einmal.« Er kramte in seiner Jackentasche und brachte die relokalisierte Brieftasche zum Vorschein. Er klappte sie auf und entdeckte eine Sicherheitskarte des MinfGlüZu, ausgestellt auf einen gewissen Arkus Cormerant. Das Bild zeigte das Gesicht des Burschen aus Stravinos Barbierladen. Der frühere »Besitzer« der Brieftasche. »Ja«, sagte Icarus. »Und ich hab deine Stimme auf der Kassette erkannt. Du bist derjenige, der ganz am Schluss gesprochen hat. Du hast gesagt, > Sparen Sie sich Ihren Atem, er ist tot. Danke schön, BarryDanke schön, Barry, dass du ein paar Köpfen gewisse Gedanken eingeflüstert und meinen Hut und meine Kanone zurückgebracht hast, sodass ich einmal mehr an einem Fall arbeiten kann ohne auszusehen wie ein hutloser, kanonenloser, idiotischer Depp.Danke schön, Barrywaren Har har harRelokationstheorie< erfordert, dass Sie der Katalysator sind. Aber wenn ich mir so ansehe, was Sie aus der Karte machen… das sieht aus wie ein Schweineohr.« »Alles wird an seinen Platz fallen«, beharrte Icarus. »Vertrauen Sie mir.« »Oh, ich vertraue Ihnen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich deute lediglich an, dass Sie bei dieser Sache vielleicht ein wenig Hilfe benötigen. Ich gehe nach oben ins Haus und mache uns eine Tasse Tee. Eine Tasse Tee hilft nämlich immer.« »Nein«, sagte Icarus, ohne sich umzudrehen. »Sie dürfen die Schuppentür nicht öffnen!« Doch es war zu spät. Johnny Boy hatte die Tür bereits geöffnet, und eine Brise wehte vom Garten herein, wirbelte die Kartenstückchen vom Boden hoch und verwandelte alles in einen Schneesturm aus Papierschnipseln. »Ooooh!«, machte Icarus und schnappte hier und dort und überall. »Ooooh«, machte Johnny Boy und leistete ihm dabei Gesellschaft. »Machen Sie die Tür zu! Machen Sie einfach schnell die Tür zu!« Johnny Boy hastete zur Tür, um sie zu schließen. Kartenstückchen sanken dem Boden entgegen und landeten hier und dort und überall. »Entschuldigung«, sagte Johnny Boy. »Nein, bleiben Sie stehen, wo Sie sind«, sagte Icarus Smith. »Haben Sie es etwa herausgefunden?« »Ja. Ich denke, das habe ich. Sehen Sie nur, wie die Schnipsel gefallen sind. Sehen Sie sich die vielen verschiedenen Farben an. Die Farben des Regenbogens. Wie die Blumen von der Blumenuhr. Helfen Sie mir, die Schnipsel aufzusammeln. Johnny Boy half beim Aufsammeln und beim anschließenden Sortieren. Icarus Smith ordnete die Schnipsel und legte sie dann auf dem Boden aus. »Einige kamen in Violett, einige in Indigo, in Blau, in Grün, Gelb, Orange, und Rot. Sie bildeten eine hübsche Reihe.« »Ein Regenbogen«, beobachtete Johnny Boy. »Das ist hübsch.«
»Ja, ist es. Und jetzt liegen die Kugelschreiberstriche auch nebeneinander und bedeuten etwas.« »Was bedeuten sie? Was bedeuten sie?« »Worte«, sagte Icarus Smith. »Sie bedeuten: STAR DES ABENDS. Was soll das bedeuten, STAR DES ABENDS?« »Ich weiß, was das bedeutet!«, sagte Johnny Boy. »Wenn Sie dann die Güte hätten, es mir zu verraten?« »Ich und der Professor«, sagte Johnny Boy und verneigte sich würdevoll vor Icarus, »ich und der Professor waren einmal die Stars des Abends.« »Fahren Sie fort.« »Damals, in den 1950er-Jahren. Lange bevor Sie überhaupt geboren waren. Der Professor war ein Bühnenmagier. Vince Zodiac nannte er sich, oder Vince aus der Dunkelheit. Das gefiel mir. Doch er war ein ziemlich bescheidener Magier und stand üblicherweise ganz unten auf der Liste der Attraktionen. Bis er mich getroffen hatte. Ich war immer ganz unten gewesen. Das Leben ist so, wenn man ein Zwerg ist wie ich. Jedenfalls lernte ich den Professor eines Abends in einer Bar kennen. Er trat auf mich. Das passiert oft. Er war ziemlich betrunken. Er hat schon immer zu viel getrunken, der Professor. Aber wenn er nicht getrunken hätte, dann hätte er die Blumenuhr nicht gesehen. Auch wenn die Blumenuhr überhaupt nicht existiert hat. Doch ich schweife ab. Er war betrunken, und ich war sauer, weil er auf mich getreten war. Er kaufte mir einen Drink, und wir kamen ins Reden. So entstand unsere Bühnennummer. Professor Zodiac und Johnny Boy. Er verkleidete sich als Schulmeister, und ich verkleidete mich als Schuljunge, als Bauchrednerpuppe. Ich hatte einen speziellen Koffer mit Luftlöchern darin, in dem er mich in die Theater und wieder hinaustrug. Niemand bemerkte, dass ich ein lebender Mensch war und keine Puppe. Wir schafften es bis ganz oben. Wir wurden zu Stars des Abends.« »Und wo ist nun die Formel versteckt?«, fragte Icarus Smith. »Dazu komme ich gleich. Wir waren die Stars des Abends. Aber nur für diesen einen einzigen Abend. Der Professor trank während der Bühnenparty zu viel Champagner und stieß meinen Koffer um. Ich fiel heraus und stieß einen Schreckensruf aus. Damit war unser Spiel aus. Der Professor gab das Showbusiness auf, doch er fühlte sich mir gegenüber verpflichtet, denn er war ein guter Mensch und sowieso nie für das Showbusiness geschaffen gewesen; er war schließlich ein Wissenschaftler. Er blieb bei mir, und ich blieb bei ihm. Wir waren gute Freunde.« Einmal mehr glitzerten in den Augen des winzigen Mannes Tränen. »Das tut mir sehr Leid«, sagte Icarus. »Aber wissen Sie, wo die Formel versteckt ist?« »Selbstverständlich weiß ich das. Wir waren nur ein einziges Mal Stars des Abends, und das war im Chiswick Empire. Und dort ist die Formel versteckt.« »Dann mal los«, sagte Icarus Smith. »So einfach ist das nicht. Sie haben das Empire abgerissen. Schon vor vielen Jahren.« »Und was steht jetzt dort?« »Ein mehrstöckiges Parkhaus.« Icarus kaute auf einem Fingerknöchel. »Hatte der Professor einen Wagen?«, fragte er. »Er hatte einen. Aber er ist nicht viel gefahren. Er fuhr betrunken durch die Gegend und konnte sich morgens nicht mehr erinnern, wo er ihn am
Abend zuvor geparkt hatte.« »Und wo ist dieser Wagen jetzt?« Johnny Boy zuckte die Schultern. »Ich hab ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. Er könnte überall stehen.« »Beispielsweise in einem mehrstöckigen Parkhaus?«, fragte Icarus. »Ah«, sagte Johnny Boy. »Ah. Das könnte natürlich sein.« »Dann werde ich jetzt gehen und nach dem Wagen des Professors suchen. Was für einen Wagen fuhr der Professor?« »Einen roten Ford Fiesta«, antwortete Johnny Boy. »Aber davon gibt es Millionen. Ich erkenne den Wagen des Professors, wenn ich ihn sehe.« »Ah«, sagte Icarus Smith. »Ich hatte eigentlich vor, alleine zu gehen. Es könnte nämlich gefährlich werden. Es ist immer gefährlich, wenn man so was macht, zumindest in den Filmen.« »Ich komme mit«, sagte Johnny Boy und stampfte mit dem winzigen Fuß auf. »Ich habe Ihnen von Anfang an vertraut! Warum glauben Sie, dass ich Ihnen vertraut habe?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Icarus. »Aber diese Frage habe ich mir auch schon gestellt.« »Weil ich sehen kann.« Johnny Boy deutete auf seine winzigen Knopfaugen. »Ich kann die Wahrheit sehen. Ich kann sehen, wer echt ist und wer nicht.« »Was sagen Sie da?« »Wachen Sie auf, Junge. Ich kann sehen, weil ich die Droge genommen habe. Ich war der Einzige, dem der Professor vertraut hat. Und wenn Sie die Droge ebenfalls nehmen, dann brauchen Sie mich. Es wird Ihnen nämlich nicht gefallen, was Sie sehen, wenn Sie erst sehen können.« Icarus Smith verließ das Haus des verstorbenen Professor Partington. Er kämpfte schwer mit dem Gewicht eines Koffers. Es war diesmal kein Aktenkoffer und auch keine schwarzlederne Aktentasche (er hatte schließlich auch nicht mit dem Gewicht der Tasche zu kämpfen gehabt), sondern ein spezieller Koffer. Ein Koffer mit Luftlöchern darin. Der Fahrer des Busses Richtung Chiswick wollte Icarus mit seinem großen Koffer nicht mitnehmen. Icarus war gezwungen, ein Taxi zu nehmen. Der Taxifahrer warf den Koffer in den Kofferraum und knallte den Deckel zu. Icarus zuckte zusammen und kletterte auf den Beifahrersitz. »In die Chiswick High Street, und bitte machen Sie schnell. Ich sage Ihnen, wann Sie halten müssen.« Das Taxi fuhr gemütlich los. Icarus kaute auf der Unterlippe. Hätte Icarus in den Rückspiegel gesehen, würde er die lange schwarze Limousine mit den abgedunkelten Scheiben bemerkt haben, die dem Taxi folgte. Es war die gleiche lange dunkle Limousine, die in einer Seitengasse gegenüber Wisteria Lodge gestanden hatte, als Icarus Smith zwei Stunden zuvor das Haus des Professors betreten hatte. Und sie war langsam hinter ihm die Straße entlanggerollt, als er das Haus wieder verlassen hatte. Doch Icarus hatte die Limousine offenbar weder bei seiner Ankunft bemerkt, noch als er das Haus verlassen hatte, und da er nicht in den Rückspiegel des Taxis sah, bemerkte er sie auch jetzt nicht. Stattdessen saß er da und kaute auf dem Knöchel. Er war sich durchaus bewusst, dass er in beträchtlicher Gefahr schwebte. Die Männer vom Ministerium für Glückliche Zufälle würden aller Wahrscheinlichkeit nach vor
nichts Halt machen, um in den Besitz der Formel des Professors zu gelangen. Und Mr. Cormerants Aktentasche mitsamt Inhalt. Johnny Boy mitzunehmen war nicht die beste aller Ideen gewesen, auch wenn Johnny Boy darauf bestanden hatte. Andererseits – falls Johnny Boy die Droge genommen hatte und seine Vermutung zutraf, dass Icarus ihn brauchen würde, wenn er sie selbst ebenfalls nahm… Icarus kaute noch ein wenig mehr. Er hatte überlegt, ob er Johnny Boy in seinem Koffer im Bus stehen lassen sollte. Irgendjemand hätte ihn früher oder später rausgelassen. Es wäre gemein gewesen, aber auf lange Sicht vielleicht besser für den winzigen Mann. Jedenfalls war es keine Lösung, Johnny Boy eingesperrt im Kofferraum des Taxis zurückzulassen. »Können Sie nicht schneller fahren?«, fragte Icarus Smith. »Natürlich kann ich schneller fahren«, sagte der Taxifahrer in dem Tonfall, den Taxifahrer so an sich haben. »Aber ich will nicht.« Icarus sah den Taxifahrer von der Seite her an. Er war ein typischer Taxifahrer. Er redete genau wie ein typischer Taxifahrer und sah ganz genauso aus, wie typische Taxifahrer aussehen. Bis hin zu dieser merkwürdigen Sache, die sie auf der linken Seite mit ihren Haaren machen und diese eigenartige Geschichte mit der Zunge, wenn sie das Wort »Plinthe« sagen15. Also ist es überflüssig, sich an dieser Stelle die Mühe einer Beschreibung zu machen. »Ich hab die Prüfung gemacht, wissen Sie?«, sagte der Taxifahrer und machte jene andere Sache, die Taxifahrer immer machen. Diese Sache mit den Augen. »Ich kenne den Namen jeder einzelnen Straße in Greater und Inner London in- und auswendig. Sie können mich testen, wenn Sie wollen.« »Ich will aber nicht«, sagte Icarus. »Vielleicht bringen Sie mich auf diese Weise dazu, schneller zu fahren.« »Also schön«, seufzte Icarus. »Dann nennen Sie mir eine Straße, deren Name mit W beginnt.« »Nein, das meinte ich nicht. Sie nennen mir eine Straße in London, und ich erzähle Ihnen, wie wir dorthin kommen.« »Chiswick High Street«, sagte Icarus. »Nein, nicht die Chiswick High Street. Wir sind schon fast in der Chiswick High Street. Ich meine eine Straße, die nicht hier in der Nähe liegt. Irgendeine Straße auf der anderen Seite von London.« »Mornington Crescent«, sagte Icarus in Erinnerung an die Adresse des Ministeriums für Glückliche Zufälle. Der Taxifahrer kratzte sich die linke Seite des Schädels. »So eine Straße gibt es nicht«, sagte er. »Sie nehmen mich auf meinen blauen Karfunkel.« »Ihren was?« »So nennt meine Frau meinen Willy. Sie ist Architektin.« »Könnten Sie ein wenig schneller fahren?« »Nennen Sie mir eine andere Straße.« 15 Plinthe ist ein wirklich wunderbares Wort. Es war Simon Kimberlin, der Gummifetischwäschedesigner, der zuerst meine Aufmerksamkeit daraufgerichtet hat. »Bringen Sie eine Frau dazu, langsam das Wort Plinthe auszusprechen«, sagte er, »und beobachten Sie dabei ihren Mund. Es ist einer der erotischsten Anblicke, die Sie jemals haben werden.« Und er hat Recht. Versuchen Sie es selbst, wenn Sie mir nicht glauben.
Icarus seufzte erneut. »Sesamstraße«, sagte er. »Sesamstraße?«, fragte der Taxifahrer. »Sesamstraße«, sagte Icarus. »Also gut«, sagte der Taxifahrer. »Tatsächlich?« »Ja. Eine Viertel Meile geradeaus, dann nach links auf den Albert Square, um den Platz herum und in die Coronation Street, die dritte links nach Brookside, an Peyton Place vorbei, in die Tin Pan Alley, dann heißt es Goodbye Yellow Brick Road, rüber zum House of the Rising Sun, in den Blackberry Way, die Dead End Street hinunter, zum Waterloo Sunset, die Penny Lane hinauf und schon sind wir auf dem Weg nach Nirgendwo, der Road to Hell und der langen, gewundenen Straße, und wir sind…« »… hier«, sagte Icarus. »Halten Sie bitte hier.« »Aber ich habe die Route 66, den Highway 61, den Devil Gate Drive und die Desolation Row noch nicht, und dort muss man auf Querverkehr aus der Stadt achten und…« »An der Ecke wäre prima«, sagte Icarus. «… wenn man dann rechts abbiegt, ist man in der Sesamstraße.« »Ich denke, der kürzere Weg führt durch die Camberwick Green und dann in die Trumpton High Street bis zum Ende.« »Klugscheißer«, sagte der Taxifahrer. »Das wussten Sie doch die ganze Zeit. Fünf Guineas bitte.« »Guineas?« »Guineas«, sagte der Taxifahrer. »Ich bin sicher, ein nobler Bakkalaureus wie Sie ist daran gewöhnt, in Guineas zu zahlen. Außerdem ist die Gebühr für Ihren Kumpel im Koffer mit inbegriffen. Ich bin nämlich nicht von Gestern, Sonnenschein.« Icarus entbot dem Taxifahrer sein Lebewohl und wuchtete den schweren Koffer in das mehrstöckige Parkhaus. Dort ließ er Johnny Boy frei. Hustend und spuckend kletterte der Zwerg aus dem Koffer. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Icarus. »Das ist wirklich eine sehr dämliche Frage.« Johnny Boy klopfte seine Kleidung ab und richtete seine Fliege. »Verstecken Sie den Koffer hinter diesem Müllcontainer dort, und dann gehen wir nach dem Wagen suchen.« Icarus versteckte den Koffer hinter dem Müllcontainer, und dann gingen er und Johnny Boy nach dem Wagen suchen. Hinter ihnen bog eine große schwarze Limousine in die Einfahrt zum Parkhaus und hielt vor der Ticketschranke. Ein dunkel getöntes Fenster glitt surrend herab, und eine Hand reichte heraus und drückte den Knopf. »Es sind schrecklich viele Ford Fiestas«, bemerkte Icarus. »Das beliebteste Auto auf der ganzen Welt«, erklärte Johnny Boy. »Selbst mit diesem Konstruktionsfehler in den Radlaufkästen, die zu Rost führen.« Sie waren inzwischen in der zweiten Etage des Parkhauses angekommen. »Wissen Sie das Kennzeichen?«, fragte Icarus. »Nein. Aber der Wagen hat einen Sticker auf der Heckscheibe mit der Aufschrift ON A MISSION. »Sehr subtil«, bemerkte Icarus. »Suchen Sie einfach weiter, Junge.« Und Icarus suchte einfach weiter. Diese mehrstöckigen Parkhäuser können ganz schön groß und unübersichtlich sein. Und es ist eine wohl bekannte Tatsache bei jenen, die sich
damit auskennen, dass in mehrstöckigen Parkhäusern eine Rasse magischer Gnome lebt. Sobald man von seinem Wagen weggeht, um seine Einkäufe im Supermarkt zu tätigen, verschaffen sie sich Zutritt zu dem Fahrzeug und parken es auf einer anderen Etage. Die Gnome sind eng verwandt mit den Geldbörsenfeen, die einem das Ticket für das mehrstöckige Parkhaus aus der Geldbörse klauen und es in eine der Einkaufstüten legen. Sodass man, nachdem man endlich seinen Wagen wiedergefunden hat, den die Gnome woanders abgestellt haben, in sämtlichen Taschen und Tüten kramen muss, bis man sein Ticket wiedergefunden hat. Und beim Einräumen lässt man dann die Milchtüte fallen oder legt schwere Sachen auf den Karton mit den Eiern oder verlegt die Tüte mit Süßigkeiten, die man eigentlich auf dem Weg nach Hause essen wollte, bis man sich richtig schön aufregt und sauer wird. »Warum liegen in diesen mehrstöckigen Parkhäusern eigentlich ständig irgendwo geplatzte Milchtüten rum?«, fragte Icarus Smith, als Johnny Boy auf einer davon ausrutschte und mit einem lauten Schlag auf dem Hintern landete. »Ich hab keine Ahnung. Autsch! Helfen Sie mir bitte auf.« Sie waren auf der sechsten Etage angekommen, und obwohl sie inzwischen eine ganze Menge roter Ford Fiestas gesehen hatten, waren sie noch nicht über den Wagen des Professors… »Das ist er!«, rief Johnny Boy. »Wenn ich nicht hingefallen wäre, hätte ich ihn glatt übersehen!« »Aber er hat gar keinen Aufkleber mit der Aufschrift ON A MISSION in der Heckscheibe.« »Nein, er ist abgefallen. Er liegt hier.« Johnny Boy deutete auf den Radlaufkasten des rechten Hinterrads. »Er lugt durch dieses rostige Loch hindurch, sehen Sie?« Icarus sah es. Und Icarus nahm seine kleine Rolle mit Werkzeugen hervor. Selbstverständlich erst, nachdem er sich vergewissert hatte, dass er nicht beobachtet wurde. Natürlich. Icarus fummelte und Johnny Boy öffnete die Heckklappe. »So, so, so«, sagte Icarus und spähte hinein. »Helfen Sie mir hoch«, sagte Johnny Boy und mühte sich an der Ladekante ab. »Es ist hier«, sagte Icarus. »Es ist alles hier. Kistenweise Tabletten. Die Formel. Und was ist das für ein elektronisches Dingsbums da?« »Ooooh«, machte Johnny Boy. »Das ist die Maschine des Professors. Das Ding, das die Geister einschaltet. Ich dachte, er hätte sie zerstört.« »Gespenstometer«, las Icarus von der kleinen Messingplakette an der Seite des Dingsbums. »Und es ist eine tragbare Version. Batteriebetrieben.« Er hob den Kasten aus dem Fiesta und spielte an den Knöpfen. »Schalten Sie das Ding bloß nicht hier ein, um Gottes willen!« Icarus stellte das Gespenstometer in den Kofferraum zurück. »Er wollte es ursprünglich Geistomatic 2000 nennen«, erklärte Johnny Boy. »Aber Gespenstometer ist wahrscheinlich besser. Ich wusste gar nicht, dass er es so genannt hat.« Icarus nahm seine Rolle mit Werkzeugen und applizierte seine Talente an der Fahrertür. Dann kehrte er zum Kofferraum zurück, durchwühlte den Inhalt und warf alles auf den Rücksitz des Wagens. »Kommen Sie«, sagte er zu Johnny Boy. »Wir verschwinden von hier.« »Sie wollen den Wagen stehlen?«
»Ich werde ihn relokalisieren.« »Können Sie ihn denn ohne Zündschlüssel starten?« »Nein, ich benutze den Zweitschlüssel, der für gewöhnlich hinter der Sonnenblende aufbewahrt wird. Wenigstens ist es in den ganzen Filmen immer so.« »Sie haben zu viele schlechte Filme gesehen, schätze ich. Der Professor hat seinen Zweitschlüssel immer im Handschuhfach aufbewahrt.« »Also gut, meinetwegen im Handschuhfach. Steigen Sie endlich ein, wir fahren.« »Wohin denn?« »Irgendwohin. Wir wurden von einer großen schwarzen Limousine mit undurchsichtigen Fenstern verfolgt, seit wir das Haus des Professors verlassen haben. Ich mag vielleicht so getan haben, als hätte ich nichts bemerkt, aber ich sehe wirklich eine Menge Filme. Und ich weiß genau, wie all das funktioniert.« »Was für eine große schwarze Limousine?«, fragte Johnny Boy. »Die da drüben«, sagte Icarus. »Die gerade die Rampe hochkommt.« »Verschwinden wir«, sagte Johnny Boy. Nun ist es nicht ganz einfach, einen Ford Fiesta zu starten. Man muss den Choke herausziehen, so weit es geht. Anschließend tippt man das Gaspedal ein klein wenig an. Dann dreht man langsam den Zündschlüssel um. Bloß nicht das Gaspedal durchtreten, bevor der Motor nicht rund läuft. Wenn er sich anhört, als würde er zu hoch drehen, drückt man den Choke ein Stückchen hinein und wartet, bis die Maschine wieder gleichmäßig läuft. Dann setzt man den Fuß auf das Gaspedal und gibt ein paar Mal richtig Gas, damit es cool klingt, bevor man losfährt. Und dann… Johnny Boy kramte im Handschuhfach und gab Icarus den Schlüssel. »Warten Sie, ich erkläre Ihnen, was Sie tun müssen«, sagte er. »Keine Zeit.« »Aber Sie werden den Motor absaufen lassen.« »Keine Zeit.« Die lange schwarze Limousine kam vor dem Fiesta zum Stehen. »Nun, jetzt spielt es wohl kaum noch eine Rolle«, sagte Johnny Boy. »Wir sitzen in der Falle.« »Selbstverständlich nicht.« Icarus startete den Motor. Und trat das Gaspedal voll durch. Der Motor brüllte auf, und die übliche Wolke beißenden Qualms quoll aus dem Auspuff. Icarus rammte den Rückwärtsgang hinein. »Was haben Sie vor? Sie krachen in den Wagen!« »Selbstverständlich nicht.« Icarus löste die Handbremse und kuppelte ein. Der Ford Fiesta schoss rückwärts aus der Parktasche. Die große schwarze Limousine schoss rückwärts aus dem Weg. Sehr schnell, mit quietschenden Reifen. »Sie lassen uns raus!«, rief Johnny Boy. »Warum lassen sie uns raus?« »Weil das hier ein alter klappriger Ford Fiesta ist, warum sonst? Jeder mit einem halbwegs anständigen Auto weiß, dass man sich besser nicht mit einem alten rostigen Fiesta anlegt. Es ist ein natürlicher Reflex bei Fahrern vernünftiger Autos. Sie können nichts dagegen tun.« Johnny Boy sah aus seinem Beifahrerfenster. »Sie steigen aus dem Wagen aus«, sagte er. »Es sind Wrong’uns, und sie haben Kanonen.« »Dann verschwinden wir besser von hier.«
Der Ford Fiesta hatte eine fantastische Beschleunigung. Einfach fantastisch. Icarus schoss aus der Parktasche, legte den Vorwärtsgang ein und jagte davon. Johnny Boy saß rücklings auf dem Beifahrersitz und umklammerte die Kopfstütze. »Sie steigen wieder in den Wagen!«, rief er. »Sie kommen hinter uns her!« »Ja, das dachte ich mir bereits.« »Schneller!«, kreischte Johnny Boy. »Schneller!« Hollywood kennt sein Geschäft immer noch am Besten, und so soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass die klassische »Auto-Verfolgungsjagd im mehrstöckigen Parkhaus« niemals unpopulär zu werden scheint. Die »Hügelstraßen mit Straßenbahnverkehr in San Francisco« sind natürlich auch gut. Und das »Rennen in den engen Straßenschluchten in Brooklyn« oder die »kurvigen Landstraßen in den französischen Bergen«, die üblicherweise in Kalifornien gefilmt werden, oder der »Freeway hinaus in die Wüste«. Auch in Kalifornien. Doch die »Auto-Verfolgungsjagd im mehrstöckigen Parkhaus« (oder Parkgebäude, wie unsere amerikanischen Freunde es gerne nennen) beeindruckt jedes Mal aufs Neue. Lazlo Woodbine überlegte ernsthaft, ob er seinem Satz von vier Schauplätzen nicht einen fünften hinzufügen sollte, nämlich den des »Parkgebäudes, wo ein riskanter Drogenhandel mit dunklen Geschäftemachern abgeschlossen« wurde. Doch er beschloss, es fürs Erste bei seinen vier Schauplätzen zu belassen, denn das Parkgebäude war viel zu gefährlich. Wegen all der Verfolgungsjagden, die dort ständig im Gange waren. Und überhaupt. Icarus kurbelte wild am Lenkrad und fuhr dann die Abfahrtsrampe hinunter. Die große schwarze Limousine kroch langsam hinter ihm her. »Wir haben sie abgehängt!«, sagte Johnny Boy. »Sie sind langsamer geworden. Wir sind in Sicherheit!« »Das glaube ich nicht«, widersprach Icarus Smith. »Wahrscheinlich ist ihnen soeben klar geworden – wie im Übrigen auch mir- dass ich keinen Parkschein habe. Ich weiß nicht, wie wir aus diesem Parkhaus rauskommen sollen.« »Ach du meine Güte!«, sagte Johnny Boy. »Das wird natürlich ein Problem.« »Möglich.« Icarus beugte sich zur Seite und flüsterte Johnny Boy gewisse Worte ins Ohr. »Glauben Sie, das könnte funktionieren?«, fragte der kleine Mann. »Einen Versuch ist es jedenfalls wert«, entgegnete Icarus. »Und etwas anderes fällt mir beim besten Willen nicht ein.« »Also schön, versuchen wir’s.« Der Ford Fiesta fuhr durch die erste Ebene des mehrstöckigen Parkgebäudes, und anstatt nach unten weiterzufahren, fuhr Icarus Smith wieder nach oben. Hinauf auf die zweite Ebene, einmal ganz herum, dann hinauf auf die dritte Ebene und wieder ganz herum. Die lange schwarze Limousine folgte ihm. Der Fahrer war nicht amüsiert. Der Ford Fiesta fuhr hinunter auf die zweite Ebene und dann zwei Ebenen hinauf zur vierten. Die große dunkle Limousine folgte dem Fiesta. Verlor
ihn außer Sicht, kam wieder in Sicht. Der Fahrer hatte definitiv eine gerunzelte Stirn. Der Ford Fiesta fuhr zur dritten Ebene hinunter, dann hinauf zur fünften, dann wieder hinunter zur zweiten. Die große dunkle Limousine folgte ihm. Der Fahrer machte inzwischen ein wütendes Gesicht. »Was hat das zu bedeuten?«, fauchte er (wütend). Er war ein böse aussehender Kerl, der Fahrer der großen dunklen Limousine. Er trug eine Chauffeursuniform und sah ganz genauso aus, wie böse Chauffeure in der Regel aussehen. Bis hin zu dieser Sache mit dem Kinn und dem ungewöhnlichen Muttermal über der rechten Augenbraue, das an die Halbinsel von Penang erinnert. »Was machen sie nur?«, fauchte er. »Fahren hoch und runter und im Kreis, bis ihnen der Sprit ausgeht oder was?« »Schneiden Sie ihnen den Weg ab«, sagte ein Mann auf dem Rücksitz. Ein unsichtbarer Mann, eigentlich kaum mehr als eine dunkle Silhouette, sodass jede weitere Beschreibung sich erübrigt. »Stellen Sie den Wagen vor die Ausfahrt der dritten Etage.« »Aber es ist ein Ford Fiesta, Sir! Sie verbeulen unsere schöne glänzende Karosserie, wenn sie nicht bremsen.« »Machen Sie, was man Ihnen sagt.« »Jawohl, Sir.« Der Ford Fiesta fuhr erneut in die fünfte Etage hinauf und kam wieder nach unten. Der Chauffeur der großen dunklen Limousine saß auf der Motorhaube selbiger. Er hatte eine Kanone in der Hand. Der Ford Fiesta verließ die Abfahrtsrampe der vierten Etage, die auf die dritte hinunterführte, für den Fall, dass es Ihnen ein wenig schwer fällt, der Sache zu folgen. »Da kommen sie!«, rief der Chauffeur und hob seine Pistole. »Anhalten, oder ich schieße, ihr verdammten…« Der Ford Fiesta hielt nicht an. »Anhalten oder ich schieße! Anhalten oder ich schieße!« Der Ford Fiesta hielt nicht an. »Anhalten oder ich…« Der Fahrer sprang von der Kühlerhaube, als der Ford Fiesta in die große dunkle Limousine krachte. Nun ja, krachte ist vielleicht nicht das richtige Wort. Mitten hindurch fuhr schon eher. Aber das sind drei Worte. »Aaaaaaaaaaaaaaaaagh!«, machte der Chauffeur, als der Ford Fiesta mit der großen dunklen Limousine verschmolz, auf der anderen Seite wieder hervorkam, die dritte Etage umrundete und wieder hinauf zur fünften fuhr. Auf der unteren Etage hatte der Ford Fiesta inzwischen den Ticketschalter erreicht. »Gute Arbeit«, sagte Icarus Smith zu Johnny Boy. »Dieses portable Gespenstometer ist nicht zu verachten. Es erledigt seinen Job, eh? Jede Wette, dass sie den Rest des Tages hinter dem Geisterfiesta herjagen.« Johnny Boy grinste. »Und das Gespenstometer auf der zweiten Ebene abzuschalten, so dass der Geisterwagen in einer Endlosschleife weiterfährt, während wir zum Ausgang hinunter entwischt sind. Gerissener Einfall, Icarus Smith.« »Also dann, machen wir uns auf den Weg.« Der Bursche in dem kleinen Kabuff neben der Schranke grinste das grinsende Paar an, das nun vor ihm stand. »Den Parkschein verloren, eh?«, sagte er. »Das macht dann fünfzig Guineas, bitte sehr.«
9 »Fünfzig Guineas?«, fragte Icarus Smith. »Fünfzig Guineas?« Der Parkplatzwächter trug eine Uniform. Sie passte nicht besonders gut. Wie üblich. »Fünfzig Guineas?«, fragte Icarus Smith erneut. »Für was halten Sie mich?« »Für einen noblen Bakkalaureus, Sir«, sagte der Bursche in der schlecht sitzenden Uniform. »Und wer ist das? Ihr kleiner Bruder vielleicht?« »Ich wünschte, es wäre so«, sagte Icarus. »Ich hab zwar einen Bruder, aber der ist völlig neben der Kappe.« »Wenn das noch länger dauert, bin ich auch bald neben der Kappe«, sagte Johnny Boy. »Dann kommen Sie«, sagte Icarus. »Gehen wir.« Icarus Smith und Johnny Boy kehrten zu ihrem Ford Fiesta zurück. »Und was machen wir jetzt?«, fragte Johnny Boy. »Sollen wir einfach durch die Schranke fahren?« Icarus sammelte die Papiere und die Schachteln mit den Tabletten und das Gespenstometer ein. »Nein«, sagte er. »Ich denke, wir gehen von hier aus zu Fuß weiter.« Das große dunkle Automobil erschien auf der Abfahrtsrampe der ersten Ebene. »Genauer gesagt, ich denke, wir rennen«, berichtigte sich Icarus. Johnny Boy konnte nicht besonders schnell rennen, weil er sehr kurze Beine hatte. Es gelang Icarus, ein Taxi anzuhalten. »Brentford«, sagte er. »Und bitte beeilen Sie sich.« »Ah, Sie sind es wieder«, sagte der Taxifahrer. »Und diesmal haben Sie Ihren Kumpel nicht im Koffer. Na los, springen Sie rein, und ich erzähle Ihnen ein wenig mehr über Ortskunde.« Auf dem Rückweg nach Brentford, der nicht ganz so schnell absolviert wurde, wie Icarus sich das erhofft hatte, erzählte der Taxifahrer Icarus ein wenig mehr über Ortskunde. Und Johnny Boy, der ein leidenschaftliches Interesse an der Geographie von Inner und Greater London besaß (und an den Songs von Bruce Springsteen), fragte den Taxifahrer, wie man zur Thunder Road kam. »Was für ein interessanter Mann!«, sagte Johnny Boy begeistert, als er und Icarus endlich aus dem Taxi ausgestiegen waren. »Wirklich faszinierend«, sagte Icarus. »Aber ich denke, er hat sich geirrt, als er in der Arnold Lane nach links abbiegen wollte«, fuhr Johnny Boy fort (der auch ein Faible für die frühen Pink Floyd hatte). »Und was genau machen wir nun? Warum sind wir hier?« »Hier ist ein Pub«, antwortete Icarus. »Ah. Ja. Das sehe ich auch, dass das ein Pub ist«, sagte Johnny Boy. »Es nennt sich The Three Gables, und ich bin heute Abend mit meinem besten Freund hier verabredet, Freund Bob. Ich werde ihm alles erzählen.« »Halten Sie das für eine kluge Idee?« »Absolut«, sagte Icarus. »In Filmen behalten die Leute immer bis zur letzten Minute alles für sich. Es erhöht die Spannung. Aber ich persönlich brauche heute keine noch höhere Spannung mehr.« »Die kriegen Sie aber«, sagte Johnny Boy. »Sobald Sie die Droge genommen haben.« »Deswegen möchte ich ja auch, dass Freund Bob in der Nähe ist, wenn
ich sie nehme.« Johnny Boy schnitt eine zweifelnde Grimasse. »Es ist ein sehr weiser Mann, der weiß, wer seine wirklichen Freunde sind«, sagte er. »Ihr Freund Bob ist möglicherweise nicht der, für den Sie ihn halten. Es wäre vielleicht besser, wenn Sie mich zuerst einen Blick auf ihn werfen lassen.« »Um zu sehen, ob er ein Wrong’un ist?« Icarus stieß die Tür zur Salonbar auf. Johnny Boy folgte ihm ins Innere des Ladens. Das Three Gables war ein anständiges Lokal von altem Schrot und Korn. Keine Themennächte und kein modischer Schnickschnack. Es war ein durch und durch ehrliches, bodenständiges, einfaches Pub. So was findet man heutzutage nicht mehr oft. Hier gab es anständig abgestandenes Ale in anständig schmutzigen Gläsern. Anständig volle Aschenbecher und eine anständige Wirtin hinter dem Tresen mit einem flotten Mundwerk und einem enormen Busen und einer Vorliebe für Gruppensex mit Zeugen Jehovas (das sind die, die immer dann an die Haustür klopfen, wenn man gerade in der Badewanne sitzt). Der Boden war ausgelegt mit anständig ungewischtem Linoleum, das Herrenklo war anständig voll gekotzt, und es gab eine anständige Ein-Mann-Band namens Johnny G, die immer Dienstagsabends auftrat. Und anständig betrunkene Flegel, die mit Bierflaschen (leer) nach ihm warfen, wenn er es tat. Die Atmosphäre war verqualmt mit anständig viel Zigarettenrauch. Es war ein Pub, wie ein Pub sein sollte, bis hin zu dem eigenartigen Ding über dem Zapfhahn und der Sache mit der Decke über dem Tresen. Eine weitere Beschreibung ist also vollkommen überflüssig. »Ich hasse diese Kneipe«, sagte Johnny Boy. »Es stinkt hier drin!« »Zu was darf ich Sie einladen?«, fragte Icarus Smith, während er sich einen Weg durch eine anständige Menge frühabendlicher Gäste hindurch zum Tresen bahnte. »Halt, langsam, ich komme nicht hinterher!« Icarus wandte sich um und half dem winzigen Mann zu einem stillen Tisch in der Ecke. »Passen Sie auf das Zeug auf«, sagte Icarus Smith zu Johnny Boy, nachdem er die Tablettenschachteln, die Papiere und das Gespenstometer auf der Bank neben Johnny Boy abgestellt hatte. »Ich besorge uns die Drinks.« »Einen Kurzen für mich«, sagte Johnny Boy. »Aber bitte einen großen. Eine dreifachen. Wodka. Ohne Eis, ja? Beeilen Sie sich.« Und so machte sich Icarus auf den Weg. Schließlich kehrte er in Begleitung einer Wodkaflasche und zweier Gläser an den Tisch zurück. »Mensch, das hat aber ein paar Mäuse gekostet«, sagte Johnny Boy. »Ich hab eine Abmachung mit der vollbusigen Wirtin«, erklärte Icarus Smith. Schließlich war die Flasche geöffnet, die Gläser gefüllt und die erste Runde gekippt. Icarus öffnete eine der Tablettenschachteln. Er legte eine Tablette auf seine Handfläche und ließ sie dort umherrollen (die Tablette, wenn Sie wissen, was ich meine, und ich bin sicher, dass Sie es wissen). Sie sah irgendwie nach nichts aus. Nichts weiter als eine winzig kleine weiße Pille. Kein Aufdruck darauf, der besagte VORSICHT! »Was werde ich denn sehen, wenn ich sie eingenommen habe?«, erkundigte sich Icarus. »Die Wahrheit«, sagte der kleine Mann. »Und sie wird Ihnen kein Stück gefallen.« »Sehen Sie denn die Wahrheit? Jetzt, in diesem Augenblick?« Johnny Boy blickte sich in der Kneipe um. »Ja«, sagte er. »Wir sind hier
drin sicher. Nichts, das Sie zu sehr aus der Fassung bringen würde. Aber da draußen…« Johnny Boy deutete auf die Tür. »Da draußen sieht es ganz anders aus. Was Sie dort draußen sehen, wird Sie gewaltig aufrühren. Sie werden nie wieder der gleiche Mann wie vorher sein, nachdem Sie die Droge erst genommen haben. Die Wirkung verliert sich nicht.« Icarus führte die Tablette an den Mund. Doch dann zögerte er. Wollte er wirklich die Wahrheit erfahren, ganz gleich, wie sie aussah? Wollte er wirklich irgendeine seltsame Droge schlucken, deren unbekannte Wirkung ihn für den Rest seines Lebens begleiten würde? Wollte er, Icarus Smith, die Welt wirklich verändern? Sicher, er hatte seinen Traum gehabt. Sicher, er war der Relokator. Und ja, er spürte, dass er auf einer Mission war, die sich anfühlte, als sei sie ihm von Gott auferlegt. Doch er war ein Junge von gerade erst achtzehn Jahren. Sein ganzes Leben lag noch vor ihm. Er hatte sich bereits auf eine sehr gefährliche Sache eingelassen. War es nicht besser, wenn er die Segel strich und Fersengeld gab, solange es noch ging? »Gibt eine Menge Dinge zu bedenken, nicht wahr?«, sagte Johnny Boy. »Viel zu viel«, räumte Icarus ein. »Und das ist nicht die Art und Weise, wie ich meiner Aufgabe nachgehe. Also überlassen wir alles dem Schicksal. Entweder geht sie rein, oder sie geht daneben.« »Eh?« Icarus legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und öffnete den Mund. Und dann warf er die Tablette hoch in die Luft. Die Pille wirbelte hinauf in die Qualmwolke aus Zigarettenrauch, durchquerte einen flüchtigen Strahl Sonnenschein, und als sie ihren Zenit erreicht hatte, war sie für einen kurzen Augenblick ein winziger weißer Stern in einem stinkenden Himmel, bevor sie ihren Rückweg zur Erde antrat. Um in der Kehle von Icarus Smith zu verschwinden. »Das Schicksal will es also«, sagte Johnny Boy. Icarus röchelte und griff nach seinem Glas und spülte die Tablette mit Wodka herunter. »Jetzt gibt es kein Zurück mehr, mein Junge«, sagte Johnny Boy. »Hoffen wir, dass Sie damit klarkommen. Ich denke schon. Ich bin eigentlich ziemlich sicher.« Icarus wischte sich über den Mund. Auf seiner Stirn bildeten sich bereits Schweißperlen. In seinem Kopf war nur ein Gedanke: »O Gott, was habe ich getan?« »Keine Panik«, versuchte Johnny Boy ihn zu beruhigen. Er tätschelte Icarus den Arm. »Sie werden nichts spüren. Zuerst werden Sie ein wenig doppelt sehen, aber sobald das vorbei ist… nun ja, sobald das vorbei ist, werden wir über die Dinge reden.« Icarus umklammerte seinen Kopf. Irgendetwas ging darin vor. Irgendetwas entschieden Merkwürdiges. In seinen Ohren rauschte es. Und er spürte etwas Eigenartiges, als würden Teile seines Gehirns zusammengeschnürt oder festgenietet oder irgendwie sonst neu angeordnet. »Das ist die Einstimmung«, sagte Johnny Boy. »Ihr Gehirn stimmt sich ein. Es hat alles mit Frequenzen zu tun, verstehen Sie? Wie bei den Geistern. Wir verfügen als Menschen nur über einen begrenzten Spielraum an Frequenzen, deswegen können wir nur eine beschränkte Anzahl von Dingen hören oder sehen oder schmecken. Wir sehen längst nicht alles, was rings um uns vorgeht. Und die Wrong’uns möchten gerne, dass es so bleibt. Deswegen machen sie vor nichts Halt, um zu verhindern, dass die Droge
des Professors in die falschen Hände gerät. Nur, dass es bereits geschehen ist. Sie ist in unsere Hände gefallen.« Jetzt begann Icarus doppelt zu sehen. Er kniff die Augen zu. »Ich kann nichts mehr sehen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich werde blind!« »Das geht vorbei, mein Junge. Das geht ganz sicher vorbei.« Unvermittelt richtete sich Icarus kerzengerade auf. Seine Augen weiteten sich, und er starrte Johnny Boy an. Dann sank sein Unterkiefer herab, doch es kam kein Ton hervor. Er schloss den Mund langsam wieder. »Mein Gott!«, sagte Icarus Smith schließlich. »Mein Gott, Johnny Boy, Sie sind wunderschön!« »Danke sehr. Sehr freundlich.« »Aber Sie sind es wirklich! Sie sind wunderschön! Sie leuchten! Sie haben eine goldene Aura um sich!« Icarus sah zum Tresen. Und genauso, als hätte er eine Dosis sehr gutes Acid genommen, sah er nun alles so, wie es in Wirklichkeit war. Zum allerersten Mal in seinem Leben. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Icarus es wirklich sah. Er gaffte die Leute an, die am Tresen standen oder hockten. Redeten, tranken, rauchten, fluchten. Ganz normale Leute. Nichts weiter als normale Leute. Doch Icarus konnte sie wirklich sehen. Er konnte sie wirklich sehen. Nicht nur die Leute, sondern das, was sie wirklich waren. Das wahre Wesen der Leute. Das, was sie ausmachte. Einige waren ohne jede Einschränkung gute Menschen. Sie leuchteten, fast so wie Johnny Boy, doch nicht so hell. Johnny Boy leuchtete wie eine Sonne. Andere jedoch leuchteten nicht. Sie waren von einer düsteren Aura umgeben. Von einer unheilvollen Aura. Und es waren nicht nur die Menschen. Die Bar selbst sah ebenfalls anders aus. Die Farben leuchteten freundlicher. Sauberer. Frischer. Alles war viel deutlicher. Viel klarer als zuvor. »Wow!«, machte Icarus Smith. »Und ich meine genau, was ich sage. Wow!« »Gefällt es Ihnen?«, fragte Johnny Boy. »Gefällt Ihnen, was Sie sehen?« »Es ist unglaublich! Sehen Sie diesen großen Kerl dort in der Ecke? Er lügt diesen Burschen mit dem Schnurrbart an, dass sich die Balken biegen. Ich kann nicht hören, was er sagt, aber ich kann tatsächlich sehen, dass er lügt. Ich weiß nicht, wie, aber ich kann es irgendwie sehen.« »Das ist die erweiterte Wahrnehmung. Die Türen sind aufgestoßen. Darüber hat schon Aldous Huxley geschrieben.« Icarus nahm sein Glas und wollte einen Schluck trinken. »Urgh!«, sagte er und starrte den Wodka an. »Das Zeug ist mit Wasser verdünnt! Ich kann tatsächlich sehen, mein Gott, ich kann tatsächlich das Wasser darin sehen!« »Ich habe es aus Höflichkeit nicht erwähnt«, sagte Johnny Boy. »Weil Sie bezahlt haben und alles.« Icarus musterte den Zwerg von oben bis unten. »Sie sind ein wirklich guter Mensch, Johnny Boy«, sagte er. »Nein, bitte«, sagte Johnny Boy. »Fangen Sie jetzt bloß nicht damit an, jede Person Mensch zu nennen. Brechen Sie mit dieser Gewohnheit jetzt, solange Sie noch können.« »Ja, sicher. Aber… o Mann. O Mannomannomann!«, Icarus stieß einen Pfiff aus. »Was für ein Trip!« »Das ist nur für den Augenblick«, sagte Johnny Boy. »Leider hält es nicht lange an.«
»Sie meinen, dieser Effekt hört irgendwann auf?« »Nein. Ich meine, Sie haben bisher nur die guten Dinge zu Gesicht bekommen. Und deswegen… Halt, nein. Jetzt kriegen Sie die andere Seite zu Gesicht. Bitte sehen Sie nicht gleich hin, aber soeben ist jemand Neues zur Tür hereingekommen.« »Wer?«, fragte Icarus. »Das spielt keine Rolle. Sehen Sie nur mich an, bitte. Ich werde Sie gleich bitten, den Kopf zu drehen und hinzusehen. Aber wenn Sie es tun und wenn Sie sehen, was ich sehe, dann möchte ich, dass Sie sich keinerlei Reaktion anmerken lassen. Schreien Sie nicht. Tun Sie gar nichts.« »Als ob ich das täte!«, sagte Icarus. »Hören Sie zu, mein Junge. Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen die Geister nicht ansehen, oder? Sie haben nicht auf mich gehört. Und jetzt sage ich Ihnen, dass Sie Ihre sieben Sinne beisammen halten und nicht auf das reagieren sollen, was Sie sehen. Sie dürfen sich nicht verraten. Sie dürfen ihnen auf keinen Fall zeigen, dass Sie imstande sind, sie zu sehen.« »Dann ist der Neue also ein Wrong’un?«, flüsterte Icarus. »Ja, das ist er, mein Junge. Er steht jetzt am Tresen, also drehen Sie langsam den Kopf und halten Sie den Mund fest geschlossen. Und starren Sie ihn nicht offensichtlich an, ganz gleich, was Sie sonst noch tun. Sehen Sie einfach nur kurz hin und dann wieder weg. Ich meine es genauso, wie ich es sage. Vertrauen Sie mir und tun Sie genau das, was ich Ihnen sage.« »In Ordnung«, sagte Icarus. »Mache ich.« Und Icarus drehte langsam den Kopf und sah zu dem Mann, der nun am Tresen stand. Und dann drehte er den Kopf langsam wieder zu Johnny Boy. Und Johnny Boy blickte in die Augen von Icarus Smith. Und Johnny Boy sah das Entsetzen darin. Icarus hatte Mühe, Worte zu finden, doch als es ihm endlich gelang, kamen sie nur als heiseres Flüstern. »Das ist kein Mensch!«, flüsterte er. »Es ist ein Monster! Was ist das?« »Das ist ein Wrong’un, mein Junge. Das ist ein Wrong’un. Und jetzt sehen Sie noch mal hin, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Es weiß nicht, dass Sie es so sehen können, wie es wirklich ist. Sie sind in Sicherheit, solange Sie nichts Dummes machen.« Icarus drehte den Kopf einmal mehr und tat, als würde er beiläufig zum Tresen und der Gestalt sehen, die sich dort aufgebaut hatte. Es war widerlich. Böse. Abscheulich. Es war größer als ein gewöhnlicher Mensch, mit großen Federn, die aus einem länglichen Schädel wuchsen. Die Augen waren die von Reptilien, grün-rot mit vertikalen Schlitzen. Es besaß keine erkennbare Nase und einen höchst komplizierten Mund wie ein ins Groteske vergrößertes Insekt. Und es war noch mehr, eine Menge mehr. Und dieses Mehr war schaurig anzusehen. Icarus drehte sich einmal mehr zu Johnny Boy um und nahm einen tiefen Schluck von seinem verwässerten Wodka. »Es ist ein Alien!«, flüsterte er. »Eine Kreatur aus dem Weltraum! Sie sind tatsächlich unter uns!« Johnny Boy grinste. »Alien?«, erwiderte er. »Sie sehen viel zu viele von diesem dummen alten Filmen. Der Wrong’un ist kein Alien.« »Was ist er denn dann?« »Ein Dämon aus der Hölle, mein Junge. Obwohl er genau genommen nicht wirklich aus der Hölle kommt. Verstehen Sie, die Menschen hatten stets eine falsche Vorstellung von Himmel und Hölle. Sie dachten immer, der Himmel wäre oben in den Wolken und die Hölle tief unten in der Hitze
der Erde. Aber das sind sie nicht. Sie sind beide direkt hier. Sie nehmen den gleichen Raum ein wie wir. Sehen Sie, es gibt kein Leben nach dem Tod. Weder einen Himmel noch eine Hölle, in die wir kommen, wenn wir tot sind. Wir hören einfach auf zu existieren. Finito. The End. Kaputt. Aber es gibt Engel, und es gibt Dämonen, und sie leben mitten unter uns. Diese Welt kann der Himmel sein oder die Hölle, abhängig davon, wie unsere Karten fallen. Abhängig davon, wer – oder besser was – die Fäden spinnt, an denen wir hängen. Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt oder nicht. Doch falls es einen gibt, würde ich jede Wette eingehen, dass er ebenfalls hier unten unter uns lebt.« »Dämonen!«, flüsterte Icarus. »Und sie waren schon immer unter uns? Die Menschen können sie nicht als das erkennen, was sie sind? Die Leute denken, es wären gewöhnliche andere Leute?« »Langsam fangen Sie an zu kapieren, mein Freund.« »Das ist alles zu viel. Ich meine… nun ja, ich meine, die Dämonen und die Engel, beide hier unten auf der Erde. Ich meine, sie kommen doch bestimmt nicht miteinander aus, oder…?« »Sie meinen, Sie meinen, Sie meinen. Nein, selbstverständlich kommen sie nicht miteinander aus. Sie werden vielleicht bemerkt haben, dass die Menschheit hin und wieder in den Krieg zieht. Die dunkle Seite der Konflikte. Das ist nicht immer die Schuld der Menschen. All diese schlimmen Despoten, diese Hitlers und Stalins, von denen die Leute sagen, sie hätten ihre Seelen dem Teufel verkauft. Das ist nicht wahr. Sie waren in Wirklichkeit keine Menschen, sondern Dämonen, die ihre Kriege untereinander geführt haben. Sie haben die Menschen missbraucht, als wären sie nicht das Geringste wert. Alles nur, damit die Mächte des Bösen ungestört über den Planeten herrschen können.« Icarus vergrub das Gesicht in den Händen. »Nein!«, schluchzte er. »Nein!« »Reißen Sie sich zusammen, Junge! Die Leute sehen sonst noch zu uns rüber. Der Wrong’un könnte es bemerken.« Icarus riss sich zusammen. Mächtig. »Wir müssen etwas dagegen unternehmen!«, sagte er. »Das ist ein großes Ding, ein verdammt großes Ding sogar! Das ist größer als alles! Dieses Wissen könnte die Welt verändern! Es wird die Welt verändern!« »Also ist es wohl am Besten, wenn Sie niemandem was davon erzählen, nicht wahr?« Icarus schrak zusammen und blickte auf. Vor ihm stand der Chauffeur der großen schwarzen Limousine. Er war kein Wrong’un. Aber er war ein böser Junge. Ein Bad’un. Er gestikulierte mit einer ausgebeulten Jackentasche. »Ja«, sagte er. »Es ist eine Pistole. Vielleicht haben Sie sie ja vorhin gesehen. Jetzt nehmen Sie diese Schachteln und die Papiere und gehen Sie leise und unauffällig vor mir her zur Tür.« »Und was, wenn ich es nicht tue?«, entgegnete Icarus unerwartet mutig und sehr, sehr wütend. »Wollen Sie mich tatsächlich hier drin erschießen, vor allen Leuten?« Icarus hörte, wie der Hahn der Pistole gespannt wurde. »Ohne eine Sekunde darüber nachzudenken«, sagte der Chauffeur. Icarus sah den Mann im Mann. Und Icarus sah, dass der Mann im Mann nicht log. Also sammelte Icarus die Schachteln mit den Pillen ein und die Papiere und das Gespenstometer. Mit dem Chauffeur hinter sich und Johnny Boy
vor sich marschierte er zum Ausgang. Sie kamen dicht an der Kreatur vorbei, die es sich am Tresen gemütlich gemacht hatte. Icarus spürte ihren erbarmungslosen Blick auf sich ruhen, und ein Schauer durchlief ihn. Was konnte er tun? Um Hilfe rufen? Sich plötzlich umwenden und den Chauffeur angreifen? Der Lauf der Pistole unter dem Jackenstoff drückte sich in seinen Rücken. »Los, einfach weitergehen«, raunte die Stimme des Chauffeurs neben seinem Ohr. Draußen vor der Tür parkte die große schwarze Limousine am Bordsteinrand. Als Johnny Boy und Icarus näher traten, wurde die hintere Beifahrertür geöffnet. »Steigen Sie ein«, befahl der Chauffeur. Johnny Boy spähte ins Wageninnere und zuckte entsetzt zurück. »Los, weiter«, sagte der Chauffeur. »Einsteigen, alle beide.« Icarus Smith kletterte in den Fond. Johnny Boy folgte ihm. Der Rücksitz war von einem einzigen Passagier belegt. Der einzelne Passagier war kein menschliches Wesen. Die langen Federn zuckten und glitzerten und bewegten sich einzeln oder in Paaren, tastend, fühlend. Kalte Reptilienaugen richteten sich in ihren von Schuppen umrahmten Höhlen auf die Neuankömmlinge. Die komplizierten Mundwerkzeuge bewegten sich kauend und saugend. »Soso«, sagte die Kreatur mit eiskalter, toter Stimme. »So begegnet man sich wieder.« »Aha?« Icarus Smith brachte nur ein Flüstern zu Stande. Seine Kehle war staubtrocken, und er zitterte am ganzen Leib. »Wir sind uns schon einmal begegnet«, sagte die Kreatur. »In Stravinos Barbierladen. Sie haben, glaube ich, meine Aktentasche gestohlen.«
10 Ich fand mich also in einer dunklen Seitengasse wieder, auf der Rückseite des Crimson Teacup, und blickte auf den Leichnam Gottes herab, während ich meinen Kragen zum Schutz vor dem tobenden Hurrikan hochschlug. Ich blieb so kühl wie ein konservativer Konziliar, der im (um)Kleideraum eines Cockney-Kastraten erwischt wird. »Alles abstreiten«, brüllte ich Barry durch Wind und Wetter zu. »Wir müssen alles abstreiten, ganz einfach. Die Leiche verstecken und so tun, als sei dies nicht geschehen. Wir erzählen Gottes Frau irgendeine Geschichte, dass Er per Anhalter zum Angelurlaub nach Andalusien gefahren wäre oder was weiß ich. Ich lasse mir einen Bart stehen und ändere meinen Namen und werde ein Muslim.« »Schlauer Gedanke, Chef.« »Hältst du es etwa für möglich, dass ich damit durchkomme?« »Ungefähr so möglich wie die Chance, dass Dr. Harold Shipman zum Leibarzt der Königinmutter bestellt wird, Chef«, sagte Barry. »Also eine ziemlich hauchdünne Chance, wie?« »Ein wenig hauchdünner als die Wespentaille von Fangio, Chef.« »Damit bleibt mir also nur eine Alternative.« »Und die wäre, Chef?« Ich schob meine zuverlässige Smith und Waterloo in das Schulterhalfter, ließ mich im Regen und Schnee und Hagel und Nebel und Sonnenschein auf die Knie sinken, schloss die Augen und faltete die Hände zum Gebet. »Bitte vergib mir, Witwe Gottes«, weinte ich. »Es war nicht meine Schuld. Ich habe versucht, Ihn zu retten. Ich habe die beiden Mistkerle erschossen, die Ihn überfallen haben. Hab Erbarmen mit mir erbärmlichem Sünder, der ich bin.« »Hör auf damit, Chef.« »Pssst, Barry, bitte. Ich bin am Beten, das siehst du doch.« »Sie hört dir nicht zu, Chef. Die Leute beten nicht zu Ihr, weil sie nicht wissen, dass Sie überhaupt existiert. Also hört Sie nicht auf Gebete. Hast du kapiert?« »Kapiert«, sagte ich. »Also bleibt nur noch, die Leiche zu vergraben, den Bart wachsen zu lassen und Allah Akbar, bis die heiligen Kühe nach Hause kommen.« »Vergleichende Religion ist nicht gerade deine starke Seite, was, Chef?« Frösche regneten auf mich herab. »Ich denke, wir sollten lieber im Büro darüber diskutieren«, sagte ich. »Mein Trenchcoat ist nicht für diese erschwerten Bedingungen gemacht.« Das Letzte, was ich zu diesem Zeitpunkt gebrauchen konnte, war noch ein weiterer Klient. Doch als ich in mein Büro zurückkehrte und eine Braut vor meinem Schreibtisch sitzend vorfand, hätte mich das fast umgeworfen wie einen platzenden Pumpernickel in Plymouth, wenn Sie wissen, was ich meine, und ich bin sicher, dass Sie es wissen. Ich habe in meinem Leben schon eine ganze Menge fetter Damen zu Gesicht bekommen, aber die hier gewann zweifellos den Hundebiskuit. Neben ihr hätte Mo Mowlam ausgesehen wie Madonna. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendjemand außer vielleicht einer Straßensperre in Belfast Gefallen an dieser Dame finden könnte. Doch da ich stets der Gentleman war, entbot ich der Dicken ein freundliches Hallo.
»Hi Baby«, sagte ich so sanft wie Sinatra. »Ist der Zirkus ohne Sie aus der Stadt verschwunden?« Sie bedachte mich mit einem Blick, als gnabberte16 sie auf einem gemeißelten Gummihund und bewegte dabei mehr Kinns17 als der Vorsitzende Mao auf seinem ruhmreichen Marsch nach Süden. »Wollen Sie sich den Kopf abschütteln?«, fragte ich. »Oder war das das Andocken eines Zeppelins?« »Setzen Sie sich, Mr. Woodworm«, erwiderte sie, und dabei lächelte sie nicht. »Mein Name lautet Woodbine, Madam«, sagte ich. »Lazlo Woodbine. Manche nennen mich Laz.« »Wenn du dich nicht gleich setzt, Kerl, nenne ich dich Kadaver.« Diese Dame hatte mehr Front als Frinton. Doch ich war nicht in der Stimmung für einen Eselsritt. »Hören Sie zu, Lady«, sagte ich zu ihr. »Ich hatte einen verdammt beschissenen Abend. Ich hab gerade drei tote Männer in einer Seitengasse zurückgelassen, und die Welt ist bestimmt nicht traurig, wenn auch noch eine alte Vettel verschwindet. Also seien Sie so nett und heben Sie Ihren dicken Arsch aus meinem Stuhl und schaffen Sie Ihre ganze verdammte Anhängerladung voll aus meinem Büro.« Und ich machte die Art von verscheuchenden Bewegungen, die man macht, wenn ein Dachshund auf Dahlien dödelt. Was, wie sich rasch herausstellen sollte, nicht mein klügster Zug gewesen war. Die Dame hob eine Flosse von der Größe eines Silikonimplantats und brutzelte mich mit einem Blitz, der mein Dekorum versengte und meinen Schnapprand-Fedora in Flammen setzte. Ich ging hoch wie Crystal Palace und runter wie ein Funk-Soul-Bruder. »Ooooh! Aaaagh! Eeeek!«, machte ich. »Ooooh! Aaaagh! Eeeek!« und »Waaah!« Im ersten Augenblick kapierte ich überhaupt nicht, wie mir geschah. Ich schätzte, dass es ein Fall von spontaner menschlicher Selbstentzündung war. Das passiert mir hin und wieder, wenn ich zu viel Kohlsalat gegessen habe. Doch für gewöhnlich lässt es nur meine Socken qualmen. Keine große Sache also, eigentlich. Doch das, was jetzt mit mir geschah, hatte nicht das Geringste mit Kohlsalat zu tun. Das hier war der volle B. K. Flamer18. Ich klopfte auf mich ein wie ein Selbstverstümmler an der Front und hüpfte umher und heulte dabei wie ein Hedonist. Dann bewegte die Dame ihre Flosse erneut, und mein Wasserkühler schwebte wie von Geisterhand aus seiner Halterung, quer durch den Raum und entleerte seinen Inhalt über meinem Kopf. 16
Entschuldigung. Es muss natürlich heißen qnabberte. Oder cnabberte. Oder knabberte? Doch das würde sich nicht so schön in die Alliteration ainfügen. Einfügen? 17 Von Kinnesen. Oder heißt es Quinesen? 18 Ein Viertel Pfund erstklassigen holzkohlegegrillten Steakburgers, perfekt zubereitet und serviert mit einer knackigen Auflage aus Salat und einer Auswahl von Dressings in einem goldenen getoasteten Sesambrötchen. Ich hab andere ausprobiert, aber er ist und bleibt der Beste. Jawoll, Sir, Mann!
Was einen mehr als ernüchternden Effekt auf mich hatte. Ich machte noch einige Male »Ooooh!« und »Aaaagh!« und »Eeeek!«, dann warf ich mich kriecherisch auf den Boden. »Bitte vergib mir, Gottes Witwe!«, schluchzte ich. »Es war nicht meine Schuld. Ich habe versucht, Ihn zu retten! Ich habe die beiden Halunken niedergeschossen, die Ihn überfallen habe, aber ich war zu spät. Haben Sie Erbarmen mit mir…« »Halt die Klappe«, sagte Eartha, Witwe von Gott, denn niemand anderes war Sie. »Halt die Klappe«, sagte Sie. Und ich hielt sie (die Klappe, nicht die Witwe. Die Klappe hätte ich selbstverständlich nicht groß geschrieben. Das heißt, Klappe schon, jedoch nicht das Pronomen. Wenn Sie wissen, was ich meine, und ich bin sicher, dass Sie es wissen). Eartha hob Ihre wuchtigen Massen aus meinem Bürosessel und beugte Sich über meinen Schreibtisch. Sie bedachte mich mit einem Blick, der meine Nerven surren und meine Knie klappern ließ. »Mr. Woodworm«, sagte Sie (Ich verzichtete darauf, sie zu verbessern). »Mr. Woodworm. Gehe ich Recht in der Annahme, dass mein Ehemann tot ist?« »Nun ja, Ma’am«, druckste ich herum. »Verstehen Sie, ich… nun ja, was so viel heißt wie…« »Ja oder nein, Mr. Woodworm?« »Die Antwort lautet ja, Ma’am, wie ich fürchte.« »Da fürchten Sie sich zurecht, Mr. Woodworm«, sagte Eartha Gott. »Da fürchten Sie sich sehr zurecht, Mr. Woodworm.« »Das tue ich, Ma’am, das tue ich.« Und glauben Sie mir, meine Freunde, das tat ich. »Tot.« Sie ließ sich auf meinen Schreibtischsessel zurückfallen, und vom Boden her erklangen die charakteristischen Geräusche berstender Dielenbretter. »Es tut mir wirklich sehr Leid, Ma’am«, sagte ich. »Halten Sie die Klappe, Sie Dummkopf. Ich muss nachdenken.« Ich hielt die Klappe, ich Dummkopf, und mich sehr bedeckt. Draußen vor meinem Bürofenster gewann der Hurrikan rasch an Stärke. Ich sah einen gemeißelten Gummihund und zwei Ford Fiestas vorbeisegeln. »Schluss mit diesem infernalischen Krach!« Eartha Gott hob Ihre mächtige Flosse, und der Sturm erstarb. »Stehen Sie auf, Mr. Wormwood«, befahl Sie. Und ich stand auf. »Also schön«, sagte sie. »Ich sehe, dass Sie kein Vorwurf trifft. Etwas in dieser Art musste früher oder später passieren. Der alte Dummkopf hat den Ärger förmlich herbeigefleht. Doch was ich wissen will ist Folgendes: Wer hat Ihn ermordet und warum?« »Zwei Kerle«, sagte ich. »Ich habe sie erschossen. Zwei Kugeln, zwei Tote. So arbeite ich nun einmal.« »Und mir gefällt die Art und Weise, wie Sie arbeiten, Mr. Wormwood. Es waren also zwei Schützen. Waren sie professionelle Mörder, und falls ja, wer hat den Mord bezahlt?« Ich erwärmte mich allmählich für die Dame. Sie war offensichtlich ganz gewaltig scharf auf mich. »Ma’am«, sagte ich. »Ich habe sie erschossen. Und tote Männer erzählen keine Geschichten. Ich komme auf diese Weise nicht weiter. Warum unterhalten Sie sich nicht auf ein Wort mit Ihren Seelen? Ich bin sicher, Sie könnten die beiden überzeugen, alles auszuspucken, was sie wissen.« »Weil das nicht mehr so einfach funktioniert. Und wenn Sie nicht gleich ein wenig respektvoller reden, versenge ich Ihnen die Eier, haben Sie das
verstanden?« »Verstanden, Ma’am«, sagte ich. »Und jetzt sehen Sie her.« Die Dame breitete ein Papier auf meinem Schreibtisch aus. Es war ein ziemlich großes Papier. Mehr ein Pianobogen, oder vielleicht ein doppeltes Zeitungsblatt, was ja im Grunde genommen das Gleiche ist wie ein Pianobogen oder vielleicht höchstens ein klein wenig kleiner. »Was haben Sie da, Ma’am?«, erkundigte ich mich mit jeder Menge Respekt in der Stimme. »Gottes letzten Willen und Testament.« »Meine Fresse!«, sagte ich. »Darf ich einen Blick darauf werfen? « »Sie dürfen.« Ich warf, und so kam ich dazu, Gottes letzten Willen und Testament zu untersuchen. Ich weiß nicht, was Sie erwartet haben, aber dafür wusste ich auch nicht, was ich zu erwarten hatte. Aber Sie haben wahrscheinlich nichts erwartet, oder? Ich meine, ich hätte vielleicht eine Menge fachjuristisches Zeugs erwartet, wenn ich etwas erwartet hätte, vielleicht ein paar von den alten Erzengeln, die den ein oder anderen Nippes kriegen, und vielleicht sogar, dass ich sämtliche Länder im Süden erhalte als Dank und Würdigung für meine Dienste bei der Verbrechensbekämpfung. Doch es war kurz und schmerzlos. Das heißt, zumindest war es kurz: Meinem Sohn Colin vermache ich meine geliebte Welt Terra. Meiner geliebten Frau Eartha den Rest des Universums. Unterschrift: Gott »Und das ist alles?«, fragte ich. »Nun ja, es ist jedenfalls kurz und… kurz.« »Sehr kurz«, sagte Eartha Gott. »Wenn ich mich nicht irre, heißt es aber doch in der Bibel, dass die Schwachen die Erde erben werden?« Eartha schnitt die Art von Grimasse, mit der Joseph Merrick seinen Lebensunterhalt verdiente. »Es ist aber meine Erde!«, rief Sie so laut, dass mein Deckenventilator zitterte und mir beinahe die Überreste meines Fedoras weggeflogen wären. »Er hat sie Mir geschenkt! Zu Meinem Geburtstag!« »Ma’am«, sagte ich, während ich meinen flambierten Fedora zurechtrückte, »Ma’am, sicherlich haben Sie nun, da Gott tot ist, die uneingeschränkte Kontrolle über alles. Ich meine, Sie haben eben das Wetter mit einer kleinen Bewegung Ihrer lilienweißen Hand zum Schweigen gebracht. Ich meine, Sie können tun und lassen, was immer Sie wollen, oder nicht? Ich meine, Sie könnten das Testament einfach zerreißen und die ganze Geschichte vergessen, nicht wahr?« »Nein, Mr. Wormwood, das kann ich eben nicht. Es gibt schließlich Protokolle, die beachtet werden müssen. Selbst Gott musste Sich an gewisse Regeln halten. Allerdings möchte Ich, dass Sie diese Sache untersuchen. Ich möchte, dass Sie herausfinden, wer die Killer auf Meinen Ehemann angesetzt und was das alles zu bedeuten hat.« »Madam«, sagte ich. »Bei allem nötigen Respekt. Ich kenne mein Geschäft, und in Fällen wie diesem ist üblicherweise die Person die verantwortliche, die den größten Vorteil vom Tod des fraglichen Subjekts hat. Ich
möchte wirklich niemandem zu nahe treten, doch ich schätze, dass Ihr Sohn Colin derjenige welcher ist.« »Falls das so ist«, antwortete Sie, »dann ist es wohl so, und dann werde Ich Colin persönlich zur Rechenschaft ziehen. Doch Ich möchte einen Beweis, Mr. Wormwood. Einen unwiderlegbaren Beweis. Ich möchte die Wahrheit wissen über das, was Meinem Ehemann zugestoßen ist und warum. Und Sie werden diese Wahrheit für Mich herausfinden, nicht wahr, Mr. Wormwood?« »Ma’am«, sagte ich, »Sie können Sich ganz auf mich verlassen.« »Ja, Ich weiß, dass Ich das kann. Weil ich Sie, sollten Sie versagen, in genau einer Woche von heute an solchen Qualen aussetzen werde, dass selbst der Teufel vor Entsetzen den Blick abwendet. Habe ich mich klar und unmissverständlich ausgedrückt?« »Absolut, Ma’am«, sagte ich. Und meine Güte, was musste ich vielleicht dringend auf die Toilette. Sie verschwand nicht in einer dicken Rauchwolke oder irgendetwas anderem in der Richtung. Sie stand einfach von meinem Schreibtischsessel auf und schleppte Ihren gewaltigen Hintern durch die Tür nach draußen. Kein Dankeschön, kein freundliches Auf Wiedersehen und keine süßen Abschiedsküsse. Sie verließ mein Büro, und ich war alleine. Allein! »Ah, Barry?«, rief ich. »Barry, mein lieber kleiner erbsengrüner Freund? Wo bist du, Barry, alter Kumpel?« In meinem Kopf herrschte Stille. Absolute Stille. Lautlosigkeit. »Barry!«, rief ich. »Wo steckst du, Barry?« In meinem Kopf herrschte Geräuschlosigkeit. Schweigen. Todesstille. »Barry? Lieber Barry! Wo bist du?« »Sony, Chef. Ich habe ein Nickerchen gemacht. Hab ich irgendwas verpasst?« »Barry! Du kleiner…« Ich hämmerte mir gegen den Schädel. »Du verräterischer Köter, und elender, feiger, verdammter…« »Hör auf, Chef. Hör auf damit! Halt! Autsch! Ooooh! Aaaagh! Eeeek!« »Du hättest mich warnen können, du hinterfotziger, doppelt spielender…« »Chef, was hätte ich denn tun können? Ich…« »Du hast mich hier reinmarschieren und Gottes Witwe beleidigen lassen, und jetzt stecke ich tiefer im Schlamassel als ein Koprophiler in einem Klafter kaltem Kuhmist!« »Du hast doch sieben Tage Zeit, Chef.« »Sieben Tage? Sie wusste Bescheid, Barry. Sie wusste, dass Gott tot ist! Sie erscheint weniger als eine halbe Stunde, nachdem die beiden Halunken es Ihm besorgt haben, in meinem Büro, und Sie hat sogar Sein Testament dabei! Das Testament, aus dem eindeutig hervorzugehen scheint, dass Ihr Sohn hinter allem steckt.« »Sieht nach einem Fall aus, Chef, der offen und schnell wieder geschlossen ist. Einem Fall, den selbst du lösen könntest.« »Barry, du kleiner grüner Mann! Sie wusste Bescheid. Hörst du, was ich sage?« »Wenn ich dich richtig verstanden habe, Chef, dann hast du gerade gesagt, dass Sie Bescheid wusste.« »Genau das habe ich gesagt. Sie war hier in meinem Büro, und Sie wusste alles und Sie war nicht einmal betroffen! Gott ist tot, und Sie schert sich
offensichtlich einen Dreck darum! Und warum, Barry? Warum ist das so, frage ich dich?« »Nun ja, Chef…« »Es gibt keine andere Erklärung. Ich bin nicht der absolut Beste in diesem Geschäft geworden, weil ich die offensichtlichsten Hinweise übersehen hab. Sie war hier. Sie wusste Bescheid. Sie hatte das Testament bei Sich. Das Testament belastet Ihren Sohn. Sie hat es selbst getan. Fall gelöst.« »Nun ja, eigentlich nicht, Chef.« »Eigentlich nicht, Barry? Was genau möchtest du denn sonst noch hören?« »Nun ja, Chef, ich möchte beispielsweise genau hören, woher Sie es wusste. Es könnte helfen.« »Sie wusste es, weil Sie die Killer bezahlt und beauftragt hat!« »Ah, nein, Chef. Sie wusste es, weil ich es Ihr gesagt habe.« Einmal mehr herrschte Stille. Doch diesmal nicht nur in meinem Kopf. »Du hast es Ihr gesagt?«, brüllte ich. Ich brüllte wirklich. Ich binde Ihnen keinen Bären auf. »Du hast es Ihr gesagt? Du? Du hast es Ihr gesagt?« »Nun beruhige dich mal wieder, Chef. Ich musste es tun. Ich habe es doch nur getan, um dich vor Ihrer schrecklichen Rache zu retten, wenn Sie es auf irgendeine andere Weise erfahren hätte. Du wärst niemals ungeschoren davongekommen, selbst als Muslim verkleidet nicht. Ich musste es Ihr sagen, alles, ohne das kleinste Detail auszulassen. Ich musste Ihr erklären, dass es nicht deine Schuld war und dass du herausfinden würdest, wer hinter dieser Schweinerei steckt.« »Aber… aber Sie hat es getan!« »Nein, Chef. Das habe ich dir doch gerade erklärt. Sie hat es nicht getan.« »Dann war es also doch Colin.« »Nun ja, Chef, ich stimme dir darin zu, dass er aussieht wie ein wahrscheinlicher Kandidat, und er ist ein schlimmer Bursche. Ob er allerdings wirklich den Nerv hat, seinen eigenen Vater aus dem Weg zu räumen, das kann ich nicht sagen.« Ich ließ mich in meinen Schreibtischsessel fallen, zog die Schublade meines Schreibtisches auf und brachte die Flasche Old Bedwetter zum Vorschein. Der Geschmack des Südens, der jeden Tag zu einem Mardi Gras macht. In Zeiten wie diesen, wenn die Dinge rau werden, nehme ich gerne einen Schluck Old Bedwetter. Es gibt einem ein… »Fang nicht schon wieder damit an, Chef! Und deine Werbung für B. K. Flamers! Wie tief wirst du noch sinken, nur um schnelles Geld zu machen?« »Barry, erkennst du eigentlich, in welchen Schwierigkeiten ich hier stecke?« »Selbstverständlich erkenne ich das, Chef. Wir stecken schließlich zusammen drin, oder?« »Ja, richtig.« Ich nahm einen anständigen Schluck. »Wenn du untergehst, Chef, gehe ich mit dir unter. Ich habe nur einen einzigen Versuch bei dieser Heiliger-Schutzengel-Geschichte, und wenn ich es vermassele, lande ich auf dem himmlischen Komposthaufen. Deine Gesundheit und deine Vorankommen liegen mir wirklich am Herzen, Chef. Und ich möchte, dass du diesen Fall löst. Denk doch mal drüber nach, Chef. Das ist der Ganz Große Fall. Woodbine zieht den Mörder Gottes zur Rechenschaft. Wie könnte es überhaupt noch einen größeren Fall geben als diesen?« Ich nickte nachdenklich. Und ich nickte mit Stil. Ich meine, sicher, mein
Hut war in traurigen Fetzen, und mein Trenchcoat hatte so sicher wie das Amen in der Kirche das Zeitliche gesegnet. Meine Socken schwelten, und ich hatte Verbrennungen dritten Grades auf mehr als sechzig Prozent meiner Körperoberfläche. Ich steckte bis über den Hals in dem dunkelbraunen stinkenden Zeugs, und mir blieben nur sieben lausige Tage Zeit, um das Verbrechen aller Verbrechen aufzuklären, in dem Wissen, dass ich, falls es mir nicht gelang, auf mehr als eine Million Weisen zu Toast werden würde. Doch wie ich schon sagte, ich sagte nichts und nickte nachdenklich. Und ich nickte mit Stil. Wie Sie sicherlich wissen, gibt es Zeiten, da muss ein Mann sich hinsetzen und nachdenken. Probleme durchkauen. Kogitieren. Seinen Verstand bemühen. Zerebrieren. Konzeptionalisieren. Kontemplieren. Mit dem inneren Selbst kommunizieren. Ich schätze, das ist alles absolut in Ordnung, wenn man einer von jenen Detektiven voller Seelenqualen ist, die ein Alkoholproblem haben und eine gescheiterte Ehe und ein Trauma aus der Kindheit mitschleppen und auf der Suche nach ihrer weiblichen Seite sind oder was auch immer. Aber hey, ich bin Woodbine. Der Mann. Der Detektiv. Der Bursche, der seinen eigenen Wind macht und sich nicht so leicht fortwehen lässt. »In Ordnung, Barry«, sagte ich. »Wir werden einen Zug machen.« »Willst du dich nicht vorher umziehen, Chef? Du siehst aus wie eine richtige Niete in deinem flambierten Trenchcoat und dem gegrillten Fedora.« »Ich werde mein altes Tweedjackett anziehen«, entschied ich. »Es ist als Verkleidung gar nicht schlecht.« »Und warum willst du dich verkleiden, Chef?« »Weil wir Undercover arbeiten werden, Barry. Wir werden zum Ort des Verbrechens zurückkehren und nach Hinweisen suchen. Ich werde eine meiner zahlreichen alternativen Personae annehmen und diesen Fall mit durchdringendem Auge durchleuchten. Du bleibst einfach nur bei mir, kleiner Freund, und du wirst sehen, warum ich der Beste bin.« »Vielleicht freunde ich mich ja doch noch mit dem Komposthaufen an.« »Was war das, Barry?« »Nichts, Chef.« Die dunkle Seitengasse war inzwischen ziemlich bevölkert. Polizisten kamen und gingen und wanderten umher und trampelten auf Beweismittel und kamen sich gegenseitig in den Weg und liefen sich über die Füße und benahmen sich ganz allgemein so, wie sich Polizisten nun einmal benehmen. Sie hatten ein paar Scheinwerfer aufgestellt und jede Menge von diesem blödsinnigen gelben Band gespannt. Und sie hatten ihre Polizeiautos so nah wie möglich geparkt und die Blaulichter auf den Dächern angelassen, um für dieses gewisse Extra an zusätzlicher Atmosphäre zu sorgen. Ich bahnte mir in meinem Tweedjackett einen Weg in das Gedränge aus Uniformen. »Los, aus dem Weg«, sagte ich. »Presse.« Ein Typ drehte sich zu mir um. Und ich kannte diesen Typ. Er war niemand anderes als Police Chief Sergeant Sam Maggott vom L. A. P. D. Er und ich waren bei mehr als einer Gelegenheit aneinander geraten, und wir lagen nicht auf der gleichen Wellenlänge. Möglicherweise lag es am Größenunterschied. Er ist nämlich ein kleiner Giftzwerg.
Police Chief Sam Maggott hatte keinen guten Tag hinter sich. Er hatte eigentlich selten einen guten Tag, so gut wie nie, genau genommen. Es war nicht sein Ding, gute Tage zu haben. Police Chiefs haben immer schlechte Tage. Jeder neue Tag ist ein weiterer schlechter Tag, das ist die Art und Weise, wie sie ihren Job erledigen. »Wer sind Sie?«, fragte Police Chief Sam Maggott. »Molloy«, sagte ich. »Scoop Molloy vom Brentford Mercury. Manche nennen mich Knüller.« Police Chief Sam Maggott sah mich von oben bis unten an. »Molloy?«, fragte er. »Molloy?« »Das bin ich«, sagte ich. »Was ist denn hier passiert?« »Das sind Sie nicht«, sagte Police Chief Sam Maggott. »Sie sind Woodpecker. Lazlo Woodpecker, der Privatschnüffler.« »Mein Name ist…« Fast hätte er mich reingelegt. »Mein Name ist Molloy«, sagte ich. »Scoop Molloy. Manche nennen mich Knüller.« »Beispielsweise ich«, sagte Police Chief Sam Maggott. »Aber Sie haben eine verblüffende Ähnlichkeit mit diesem Woodpecker. Obwohl der immer einen Schnapprand-Fedora trägt und einen Trenchcoat, und Sie tragen…« »Ein altes Tweedjackett«, sagte ich. »Also bin ich wohl ein Nachrichtenreporter, oder?« »Nun ja, schätze, das sind Sie. Und selbstverständlich bin ich, da die Polizei stets bemüht ist, den Mitgliedern der Presse zu helfen, gerne bereit, Ihnen alles zu erzählen, was ich weiß.« »Das ist sehr gut. Also, was ist hier passiert?« »Ein Mord«, sagte Police Chief Sam Maggott. »Ein höchst faules Ding. Zwei griechische Geschäftsleute. Ein Mr. Georgious Bubble und ein Mr. Mikanos Squeak. Kaltblütig niedergeschossen.« »Und der dritte Typ?« »Was für ein dritter Typ?« »Ich dachte, es wären drei Leichen?« »Nein«, sagte Police Chief Sam Maggott. »Nur die beiden. Nur die beiden unschuldigen Geschäftsleute, kaltblütig ermordet. Brutal hingerichtet. Grausam aus dem Leben gerissen von irgendeinem erbärmlichen psychopathischen Mistkerl. Einem Stück menschlichem Dreck. Einem verabscheuenswürdigen Halunken, einem heruntergekommenen Untermenschen. Einem…« »Nur zwei Leichen?«, fragte ich. »Nur zwei?« »Denkst du, was ich denke, Chef?« »Nicht jetzt, Barry.« »Was haben Sie gesagt?«, fragte Police Chief Sam Maggott. »Nichts«, sagte ich. »Aber Sie sind absolut sicher, dass es nur zwei Leichen sind?« »Absolut. Und ich verrate Ihnen noch was. Der Mörder ist aus der Hintertür des Crimson Teacup hinaus in die Gasse gestürmt, dann hat er sich sogleich wieder in Deckung begeben. Dann sprang er aus seiner Deckung hervor und erschoss die beiden unschuldigen Männer. Zwei saubere Schüsse. Die Arbeit eines Profis.« »Da haben Sie wohl Recht«, sagte ich. »Die Kugeln sind vom Kaliber vierundvierzig«, erklärte Sam. »Ich würde sagen, sie stammen aus einer zuverlässigen Smith and West Indian Steel Band.« »Hmmm«, sagte ich. »Anschließend ist der Killer zu seinen Opfern gegangen und hat die Lei-
chen getreten. Ein niederträchtiger Hundesohn, nicht wahr? Ein herzloser, schurkischer, mörderischer Drecksack! Ein…« »Ich vermute, Sie können mir auch sagen, was er getragen hat?«, erkundigte ich mich. »Absolut«, sagte Police Chief Sam Maggott. »Er trug einen Trenchcoat und einen Schnapprand-Fedora. Und er hat mit sich selbst geredet. Das machen sie hin und wieder, wussten Sie das? Die richtig Irren. Sie hören Stimmen im Kopf. Gott sagt ihnen, dass sie es tun sollen. Diese Sorte von Irren, wenn Sie wissen, was ich meine, und ich bin sicher, dass Sie es wissen.« »Ich bin beeindruckt«, sagte ich. Und das war ich tatsächlich. »Haben Sie das alles durch Indizien am Tatort herausgefunden? « »Nein«, sagte Police Chief Sam Maggott. »Von der dort.« Er zeigte in die Richtung. Ich drehte den Kopf und blickte in die Richtung, in die er zeigte. Hoch an der Mauer über der Hintertür des Crimson Teacup befand sich eine von diesen hinterhältigen kleinen Videokameras. Eine von der Sorte, die man kaum sieht und die heutzutage nahezu jede Straße überwacht. Der Sorte, die an Videorekorder angeschlossen ist, die ihrerseits alles aufnehmen, was die Kamera sieht. Einfach alles. »Ah«, sagte ich. »Wie praktisch.« Ich drehte mich zu Police Chief Sam Maggott um und lächelte. Doch Police Chief Sam Maggott lächelte nicht zurück. Er hielt eine Pistole in der Hand, und der Lauf der Pistole zeigte auf mich. »Sie sind verhaftet, Woodpecker«, sagte er. »Irre wie Sie kehren stets an den Ort ihrer Taten zurück. Sie baden sich gerne in diesem Gefühl, wussten Sie das? Ihnen geht einer ab beim Anblick dessen, was sie getan haben.« »Also hören Sie mal!«, sagte ich und griff nach meinem Ding. »Fassen Sie die Waffe nicht an«, sagte Sam, »oder ich will nicht mehr Sam Maggott heißen. Oder Sie Lazlo Woodpecker, Privatdetektiv.« »Mein Name lautet Woodbine.« Ich musste es einfach sagen. »Lazlo Woodbine. Manche nennen mich Laz.« »Hände hoch und umdrehen!«, befahl Sam. »Hören Sie bitte zu. Sie machen einen großen Fehler.« »Heben Sie einfach die Hände und drehen Sie sich um.« »Ach, kommen Sie schon, Sam.« »Nennen Sie mich nicht Sam, Sie Psychopath. Hände hoch und umdrehen.« »O. k. Aber Sie machen wirklich einen…« Ich hob meine Hände und drehte mich um. »… großen…« Und dann traf mich etwas hart auf den Hinterkopf. «… Fehler. Aaaagh!« Ich ging. »Diesmal komme ich mit«, sagte Barry. Und ich fiel erneut in dieses tiefe, dunkle wirbelnde Nichts, in das alle großen Genredetektive fallen. Aber nicht zu diesem Zeitpunkt eines Falles.
11 Als der Hurrikan einsetzte, saß Icarus Smith in einer großen schwarzen Limousine neben einer Kreatur aus der Hölle auf dem Weg zu einem unbekannten Ziel. »Wohin bringen Sie uns?«, fragte Icarus, als er seine Stimme dazu überreden konnte, wieder zu funktionieren. Die Kreatur namens Cormerant zuckte mit den Federn und bewegte die grauenhaften Mundwerkzeuge. »Zum Ministerium«, sagte er. »Dort wird man Sie befragen.« »Ich habe aber gar nichts zu sagen.« »Doch, das haben Sie und das werden Sie auch. Sie werden uns alles erzählen, was wir wissen müssen.« Der Wagen schwenkte unvermittelt nach links. »Fahren Sie vorsichtig, verdammter Kerl!«, brüllte Cormerant. »Versuche ich ja.« Der Chauffeur warf einen Blick über die Schulter nach hinten. »Das Wetter spielt plötzlich verrückt. Ein Sturm ist wie aus dem Nichts losgebrochen.« »Immer das Wetter!«, schimpfte Cormerant. »Das Wetter ist an allem Schuld, heißt es. Haben Sie je darüber nachgedacht, junger Mann? Wie sehr das Wetter alles beeinflusst, was die Menschen tun? Die falschen Blätter auf die Schienen geweht, und die Züge können nicht fahren. Wenn die Züge nicht fahren können, kommt irgendjemand zu spät zu einem wichtigen Treffen. Das Treffen wird verschoben, ein Geschäft platzt. Die Aktien stürzen an der Börse ins Bodenlose. Ein Aktionär verliert alles, dreht durch, erhängt sich und hinterlässt eine Frau, die möglicherweise ein Kind zur Welt gebracht hätte, das eines Tages zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden wäre und die Welt vor einem schrecklichen Krieg bewahrt hätte, der die Hälfte der Menschheit auslöscht19. Und alles nur, weil ein paar falsche Blätter auf die Schienen geweht wurden. Alles nur wegen des Wetters. Ist es Schicksal, oder steckt eine Absicht dahinter? Was glauben Sie, junger Mann?« »Ich hab überhaupt keine Ahnung, wovon Sie reden.« Icarus richtete sich in seinem Sitz ein wenig auf und blickte zum Türgriff. »Zentralverriegelung«, sagte die Kreatur namens Cormerant. »Eine neue Erfindung. Sämtliche Türen und Fenster sind versperrt. Sie können nirgendwo hin.« Draußen tobte der Sturm in voller Stärke weiter. Drinnen saß Icarus Smith und zitterte. Das Ministerium für Glückliche Zufälle liegt unter der Mornington Crescent Underground Station. Der U-Bahnhof ist sagenumwoben, denn er war viele Jahre lang für die Öffentlichkeit geschlossen und wird auch heute noch bereits um halb zehn Abends abgesperrt. Konspirationstheoretiker glauben, dass das Ministerium für Glückliche Zufälle das britische Pendant zur amerikanischen Area 51 darstellt. Dass unter der Mornington Crescent Station ein ausgedehntes Netzwerk von Tunnels existiert und ein massiver unterirdischer Komplex. Und dass dort schmutzige Dinge geschehen, die außerirdische Raumschiffe einschließen und das Rückwärts-Entwickeln neuer Technologien und dass 19
Also nicht G. W. B.
tatsächlich die kleinen grauen Knülche mit den Ray-Ban-Augäpfeln hier unten liegen, während Londoner in seliger Unwissenheit über das Pflaster hoch oben spazieren. Icarus wusste von derartigen Theorien, doch er hatte ihnen bisher kaum Beachtung geschenkt und sie mit dem Unglauben bedacht, die sie seiner Meinung nach verdienten. Derartiger Unsinn war seiner Meinung nach stets eher das Gebiet seines völlig durchgeknallten Bruders gewesen. Das sturmgepeitschte Automobil bog am Station Hotel nach links ab, überquerte die Straße und fuhr irgendwie auf der anderen Seite in den Bahnhof ein. Wie genau dies geschah, blieb Icarus für immer ein Rätsel. Denn im einen Augenblick war der Wagen noch draußen und im Sturm und dem Regen, und im nächsten befand er sich in einem Tunnel und schnurrte durch die Dunkelheit in Richtung eines Ortes, der wohl alles andere als angenehm war. Die Limousine kam aus dem Tunnel in eine große Kathedrale von einer Kaverne. Sie war eindeutig das Werk viktorianischer Handwerker, mit all den wundersamen schmiedeeisernen Dachrippen, die sich von wunderbar verzierten Säulen erhoben, mit all den Nieten und rostigen Teilen, wo Tauben so gerne nisten. Icarus und Johnny Boy wurden von dem pistoleschwingenden Chauffeur ermutigt, aus der Limousine auszusteigen, und der ihnen erklärte, dass eine Weigerung zum sofortigen Tod führte. Icarus kam der Aufforderung mit ziemlicher Erleichterung nach, da die Nähe zu der Kreatur namens Cormerant ihm ohne Ende Angst gemacht hatte. Johnny Boy blickte um sich und nach oben und in die Runde. »Von hier unten, wo ich stehe«, beobachtete er, »ist das ein verdammt großes Gebäude.« »Und eines, das sehr tief unter der Erde liegt«, sagte Cormerant, indes er ebenfalls aus der Limousine ausstieg. »Willkommen im Ministerium für Glückliche Zufälle. Passen Sie mit all diesen Papieren auf, junger Mann. Wir möchten doch nicht, dass sie unterwegs verloren gehen, oder möchten wir das?« Icarus hätte sie in der Tat am liebsten verloren, und er hatte unterwegs hierher die ganze Zeit gehofft, dass sich eine Möglichkeit ergeben würde, alles aus dem Fenster zu werfen, während die Limousine noch in Bewegung war. Soweit er wusste, gab es auf dem gesamten Planeten nur zwei lebende Menschen, die die Red-Head-Droge eingenommen hatten und die Wahrheit kannten über das, was auf der Welt tatsächlich vor sich ging. Und diese beiden lebenden Menschen waren er selbst und Johnny Boy, und es sah mit einer entsetzlichen Wahrscheinlichkeit danach aus, dass dieses Geheimnis in Kürze mit ihnen sterben würde. »Los, weiter«, sagte der Chauffeur. »Bewegung.« Icarus Smith und Johnny Boy wurden durch eine gewaltige Halle geführt. Überall standen Kisten aus Holz und große Kartons, viele mit rätselhaften Symbolen und unbekannten Schriftzeichen, aufgestapelt zu mächtigen Pyramiden. Und Tausende und Abertausende von Barbierstühlen, alle in Plastikfolie verpackt. Weiter und weiter trotteten sie, genötigt von einer Waffe im Rücken und gefolgt von einem abscheulichen Lebewesen namens Cormerant. Icarus nahm sich die Zeit, über Cormerant nachzusinnen. Als er ihm das erste Mal begegnet war, in seiner Verkleidung als Mensch in Stravinos Barbierladen, hatte er wie ein magerer, nervöser Angestellter gewirkt.
Irgendein kleiner Angestellter in Stadtkleidung, der nur wenigen überhaupt aufgefallen wäre. Und Icarus fragte sich, ob es das war, was der Chauffeur von Cormerant sah. Und ob der Chauffeur die kalte, grausame Note in der Stimme dieser Kreatur hören konnte oder das arrogante, bombastische Gehabe ihrer Bewegungen. Offensichtlich nicht, dachte Icarus. Obwohl, vielleicht ja doch. Was ihm irgendwie nicht viel weiterhalf. Genau genommen gar nicht. Also dachte Icarus angestrengt weiter nach, wie er vielleicht seine Flucht bewerkstelligen könnte. »Dort entlang«, sagte der Chauffeur. »Durch diese Tür.« Hinter der Tür gelangten sie in einen Korridor. Es war ein langer, mit Teppich ausgelegter Korridor mit hoher Decke und reich gemusterten Seidentapeten, verziert mit roten Kreisen und berylliumfarbenen Diademen. In Nischen an den Wänden standen Marmorbüsten und starrten mit stumpfen Augen ins Leere. Icarus zählte alleine sechs Napoleons, drei Wellingtons, einen Churchill und keinen einzigen Noel Edmonds. Icarus zählte die Büsten nicht aus Spaß. Er kam an zahlreichen Türen vorbei, und die zählte er ebenfalls. Er wollte sich genau einprägen, wo der Weg nach draußen war, falls er sich entschloss, es mit Weglaufen zu probieren. Irgendwann wurde ihm vor Tür Nummer dreiundzwanzig bedeutet anzuhalten. Direkt neben der leeren Nische, die auf die Büste von Noel Edmonds wartete. Cormerant klopfte an, und eine Stimme rief: »Herein!« Cormerant drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür. »Hier herein«, sagte er zu Icarus. Da Icarus nicht die geringste Vorstellung hatte, was ihn hinter dieser Tür erwartete, war er von dem Anblick, der sich seinen besorgten Blicken bot, weder überrascht noch enttäuscht. Doch er war auch nicht beeindruckt. Verblüfft, ja. Aber nicht beeindruckt. Hinter der Tür lag ein Barbierladen. Es war ein ganz gewöhnlicher, einfacher, stinknormaler, richtiger Barbierladen. Es hätte sogar der von Stravino sein können, doch der war es nicht. Denn dieser Barbierladen hier lag viel zu tief unter der Erde, und er hatte schickere Barbierstühle. Der ganze Rest war mehr oder weniger identisch. Der gleiche abgewetzte Linoleumbelag auf dem Fußboden. Das gleiche gelbe Nikotin oben an der Decke. Der gleiche stumpfe Spiegel mit seinen Souvenirs und Postkarten und was weiß ich nicht noch alles ringsum. Die gleiche Reihe alter Kinostühle und sogar einen braunen Umschlag. Von den schickeren Barbierstühlen gab es drei Stück. Stravino hatte in seinem Laden nur zwei. Der zweite, so hatte er Icarus verraten, war für seinen Sohn, der eines Tages im Geschäft mithelfen und schließlich Stravinos Nachfolge antreten würde. Doch dieser zweite Stuhl war vollkommen unbenutzt und würde es wohl auch bleiben, denn Stravino besaß fünfzehn Töchter und keinen Sohn. Doch dies nur nebenbei, denn das ist dort, und wir sind hier. Hier in diesem unterirdischen Barbierladen, der drei Barbierstühle besitzt. Und am hintersten davon stand und rauchte eine Zigarette – ein Barbier. Dieser Barbier war, genau wie Stravino, unübersehbar ein Grieche. Er besaß genau das gleiche komplizierte Kochdingsbums, das griechische Bar-
biere immer über der linken Augenbraue haben, und den gleichen dunklen Fleck auf der rechten Backe, der ein wenig an eine Landkarte von Indochina erinnert. Er stand dort und grinste und dann hieß er die Neuankömmlinge willkommen. »Willkommen«, sagte er. »Und herein.« Johnny Boy schob sich nervös vorwärts. »Ich will aber keinen Haarschnitt«, murmelte er zu Icarus. »Ich schneide mir die Haare selbst. Ich hab zu Hause eine automatische Vier-In-Eins-Haarschneidemaschine.« »Klappe halten, Zwerg«, sagte Cormerant. »Kommen Sie, setzen Sie sich hierher«, sagte der Barbier. Johnny Boy schüttelte den winzigen Kopf. »Nein, nicht Sie, kleiner Mann. Der große junge Mann. Der mit all den Geschenken. Nimm doch jemand seine Geschenke an sich, bitte. Hat schon jemand einen Blick in seine Taschen geworfen?« Cormerant schüttelte den widerlichen, bösartigen Kopf. »Sie haben diesen jungen Mann überhaupt nicht durchsucht?« Der Barbier hob die unbehinderte rechte Augenbraue. »Sie haben nicht nachgesehen, ob er vielleicht eine große Bombe bei sich trägt, die uns in die Luft jagen könnte?« Cormerant schüttelte seinen widerlichen, bösartigen Kopf ein zweites Mal. »Dann sollten Sie es vielleicht jetzt tun, Sie rotznasiger kleiner Angestellter.« Der Chauffeur entwand Icarus die Papiere und Pillenschachteln und das Gespenstometer. Cormerant trat herbei, um die Taschen von Icarus zu durchwühlen. Icarus riss sich mächtig zusammen und biss sich auf die Zähne, als die widerliche Kreatur ihn mit ihren schuppigen Händen überall abtastete. »Meine Brieftasche«, sagte Cormerant. »Und wo ist meine Uhrkette und meine Aktentasche?« »Alles zu seiner Zeit«, sagte der Barbier. »Der junge Mann wird uns alles sagen, was er weiß.« Icarus musterte den Barbier. Das war nun tatsächlich ein wenig rätselhaft. Der Barbier war kein Wrong’un. Kein Dämon also. Er war ein Mensch, genau wie Icarus. Und er war auch kein schlechter Mensch. Icarus sah den Menschen in dem Menschen, und was Icarus sah, war Loyalität. Dieser Mann war aufrichtig und loyal. Er glaubte an das, was er tat. Er war überzeugt davon, dass das, was er tat, richtig war. Icarus erschauerte. So also funktionierte es. Natürlich. So funktionierte immer alles. Die meisten Leute glaubten, dass das, was sie taten, nur zum Besten war. Zum Besten anderer. Dieser Mann arbeitete hier. In diesem Ministerium des Bösen, das von Dämonen in der Verkleidung von Menschen geführt wurde. Und dieser Mann glaubte, dass er das Richtige tat. Für Königin und Vaterland vielleicht? Oder für die nationale Sicherheit? »Kommen Sie her, junger Mann, und nehmen Sie Platz«, sagte der Barbier und deutete auf den mittleren Barbierstuhl. »Sie sehen aus, als hätten Sie einen Haarschnitt nötig. Was darf es denn sein, hatten Sie vielleicht an etwas Bestimmtes gedacht? Beispielsweise an einen Tony Curtis?« »Nein danke«, sagte Icarus. »Sie werden sich trotzdem hierher setzen.« Icarus bemerkte den Farbschimmer um den Kopf des Barbiers herum. Dunkelblau, ein Zeichen von Entschlossenheit. Der Barbier war kein Mann, der sich auf Diskussionen einließ.
Icarus ging zum Barbierstuhl und ließ sich hineinfallen. Der Barbier schwang eine Velocette und legte sie dem jungen Mann um. »Wir haben keine Zeit für dieses Theater.« Die kalte, grausame Stimme der Kreatur, die sich Cormerant nannte, drang an die Ohren des Relokators. »Rufen Sie sie herbei. Sie soll weitermachen.« Sie? Icarus blickte in den Spiegel. Der Gesichtsausdruck des Barbiers war ernst und entschlossen. Die Farbe seiner Gedanken war gelb. Die Farbe der Angst. »Sie kommt bald«, sagte der Barbier. »Sie ist ausgegangen, um abzutanzen. Sie wissenja, wie junge Dinger so sind. Ich verpasse diesem jungen Mann hier eben rasch einen Tony Curtis, dann sieht er aus wie ein ganz normaler Hinterhofprinz.« »Nicht nötig.« Icarus wandte den Kopf beim Klang der neuen Stimme. Eine Frau hatte den Barbierladen betreten. Sie war eine höchst attraktive Frau. Fünf Fuß zwau und Augen in Blau, ein schwarzes Lederkostüm und hochhackige Schuhe. Goldenes Haar, ein breitlippiges Lächeln, und sie bewegte sich voll Eleganz und Stil. Hinter der Schönheit und dem Liebreiz erblickte Icarus eine düstere Drohung. »Miss O’Connor«, sagte der Barbier. »Stellen Sie mich bitte unseren Kunden vor«, sagte Miss O’Connor. »Junger Mann im Barbierstuhl, darf ich Ihnen Miss Philomena Christina Maria O’Connor vorstellen? Sie ist exo-craniale Masseuse. Sie massiert Ihnen ganz wunderbar den Kopf. Sie fühlen sich ganz verträumt und entspannt. Es ist sehr gut für die Kopfhaut. Die Follikel springen auf wie kleine Lämmchen, die Efeu gefressen haben.« »Nein danke«, sagte Icarus. »Ja bitte«, sagte Miss Philomena Christina Maria O’Connor. »Es tut überhaupt nicht weh«, sagte der Barbier. »Sie fühlen sich großartig, das verspreche ich.« Icarus konnte die Lüge sehen und wollte weg. Er packte die Arme des Barbierstuhls, bereit, aufzuspringen und kämpfend unterzugehen. Klick, klick machten die Arme des Barbierstuhls, und zwei Stahlbänder schlangen sich um Icarus’ Handgelenke und hielten ihn fest. Icarus wand sich und zappelte, doch die Stahlbänder hielten ihn unverwandt fest. »Entspannen Sie sich einfach«, sagte Miss Philomena Christina Maria O’Connor und näherte sich dem Stuhl. »Es tut wirklich nicht sehr weh. Nur eine kleine Massage, weiter nichts.« Icarus senkte den Kopf auf die Brust, doch ihre Hände waren plötzlich in seinen Haaren. »Meine Mutter hat mir das hier beigebracht«, sagte sie. »Damals, in der alten Heimat. Sie war Friseuse, aber sie hatte Phrenologie studiert. Sie konnte den Leuten die Zukunft deuten, indem sie ihre Schädelform abtastete. Sie war sehr gut darin; sie hatte ein Talent, verstehen Sie? Und sie erkannte ein Potenzial in ihrer Arbeit, das nur wenige Leute jemals in die Wirklichkeit umzusetzen versucht hatten. Sie fand heraus, dass man durch subtilen Druck an verschiedenen Stellen des Schädels tatsächlich Veränderungen im menschlichen Gehirn darunter hervorrufen kann. Es ist ein wenig wie Akupunktur, oder vielleicht eher wie Akupressur. Sobald man genau weiß, wo und wie hart und wie lange man pressen muss, erreicht man die bemerkenswertesten Effekte. Hier beispielsweise.« Philomena drückte auf eine bestimmte Stelle auf dem Kopf ihres Gefangenen. Icarus ächzte, als ein Gefühl vollkommener Freude ihn überschwemmte. Ein Gefühl von vollendeter Glückseligkeit. »Gut, nicht wahr?«, fragte Philomena. »Meine Mutter bekam wirklich
großzügige Trinkgelder von ihren Klienten, wenn sie ihnen die Köpfe auf diese Weise massierte. Und doch…« Icarus spürte einen neuen Druck, diesmal über der rechten Schläfe. »Aaaaaaaaaaaaaaaaagh!« Sein Körper wurde von Schmerzen überschwemmt. Sie schnitten wie glühende Messer in sein Fleisch. »Das tut richtig weh, nicht wahr?« Icarus stöhnte, und über seine Wangen strömten nasse Tränen. »Man muss schon sehr präzise sein, um das zu erreichen«, erklärte Philomena und streichelte Icarus’ Kopf. »Nur ein wenig daneben, und die Folgen können vernichtend sein. Blindheit, Paralyse, permanente Inkontinenz oder ein vegetatives Dahindämmern. Es erfordert eine Menge Übung, bis man alles richtig macht. Ich habe eine Menge Exliebhaber, die heute nicht mehr viel anderes können außer sabbern. Eine Schande, aber so ist das eben.« Icarus zitterte inzwischen am ganzen Leib. Er verdrehte die Augen, und seine Lippen verfärbten sich blau. »Also, wollen doch mal sehen«, sagte Philomena. »Wollen doch mal sehen, was Sie uns zu erzählen haben.« Schweißgebadet erwachte Icarus aus einem schrecklichen, grauenvollen Albtraum. Er umklammerte seinen Schädel und blinzelte und stieß einen furchtbaren Schrei aus. »Beruhigen Sie sich. Bitte beruhigen Sie sich!« Icarus sah hinüber zu Johnny Boy, und nach einer Weile wurde sein Blick klar. »Können Sie sich bewegen?«, fragte der Zwerg. »Funktionieren Ihre Gliedmaßen noch?« Icarus zuckte. Seine Hände waren taub. Er versuchte aufzustehen, doch seine Beine wollten sein Gewicht nicht tragen. »Was ist passiert?«, stieß er mühsam hervor, als es ihm wieder möglich war zu sprechen. »Wo sind wir?« »Dieses üble Miststück hat Ihr Gehirn bearbeitet. Sie haben alles erzählt, was es zu erzählen gab. Wo Sie die schwarzlederne Aktentasche von Cormerant versteckt haben. Dass Sie sich den Schlüssel mit der Post zugeschickt haben. Und Ihre Adresse.« »O Gott, nein!« »Es tut mir Leid«, sagte Johnny Boy. »Ich konnte nichts tun, um sie aufzuhalten. Sie haben alle Tabletten in den Ausguss gespült und die Unterlagen des Professors verbrannt. Sie hätten wahrscheinlich auch das Gespenstometer zertrümmert, wenn Sie ihnen nicht verraten hätten, was man damit tun kann.« »Ich erinnere mich an gar nichts«, sagte Icarus und rieb seine Knie. »Sie hat gesagt, dass Sie sich nicht erinnern würden. Sie zwangen mich, Sie hierher zu schleifen, und dann haben sie uns eingesperrt. Sie waren stundenlang bewusstlos.« »O Gott, ich zittere am ganzen Leib. Ich glaube, ich muss kotzen.« »Bitte nicht«, sagte Johnny Boy. »Das ist eine sehr kleine Zelle.« »Eine Zelle also.« Icarus sah nach oben und rechts und links und rundherum. »Eine Todeszelle, würde ich meinen«, sagte Johnny Boy. »Es tut mir alles sehr Leid, Icarus. Es ist meine Schuld, dass Sie in diese Geschichte verwickelt wurden.« »Machen Sie sich keine Vorwürfe. Jetzt stecken wir drin, und wir müssen zusehen, dass wir so schnell wie möglich wieder herauskommen.«
Johnny Boy seufzte leise. »Wir haben verloren«, sagte er. »Sie haben die Tabletten vernichtet und die Formel ebenfalls. Sie haben gewonnen, wir haben verloren.« »O nein, haben wir nicht«, sagte Icarus und öffnete die rechte Hand. In seiner Handfläche lagen ein Dutzend Tabletten, alle sehr verschwitzt und ziemlich zermatscht, aber es waren nichtsdestotrotz ein Dutzend Tabletten. »Ich habe die hier relokalisiert, während wir im Wagen gesessen haben. Wir können einen Chemiker bitten, sie zu analysieren. Wir haben noch längst nicht verloren.« »Sie sind ein gerissener Bursche«, sagte Johnny Boy. »Aber wie kommen wir hier raus?« »Aus dieser Zelle zu entkommen ist kein Problem«, sagte Icarus. »Was mir Kopfzerbrechen bereitet ist die Frage, was wir tun, sobald wir draußen sind.« Johnny Boy hatte keine Türen gezählt und auch keine Büsten in kleinen Nischen. Und nachdem Icarus mit Hilfe kleiner Instrumente, die er in den Absätzen seiner Schuhe aufbewahrte, die Zellentür geöffnet und einen fremden Korridor hinauf- und hinuntergeblickt und Johnny Boy gefragt hatte, in welcher Richtung es zum Barbierladen ging, konnte der kleine Mann nur die Schultern zucken und erwidern, dass es vielleicht den Korridor hinauf, vielleicht aber auch den Korridor hinunter ging. »Dann überlassen wir es also am Besten dem Schicksal«, sagte Icarus. »Folgen Sie mir.« Dieser Korridor war ein Korridor mit einem Boden aus Pflastersteinen und gemauerten Wänden, von denen das Echo ihrer Schritte widerhallte. Es war ein Standard-Gefängniskorridor von der Sorte, von deren Wänden die Echos gequälter Seelen widerhallen, wenn nicht gerade Schritte widerhallen. »Ihre Absätze machen einen ziemlichen Lärm, wissen Sie das?«, fragte Icarus. »Es sind Steppschuhe«, sagte Johnny Boy. »Ich habe früher viel Fred und Ginger gemacht.« »Vielleicht sollten Sie diese Schuhe lieber ausziehen. Oder Sie gehen auf Zehenspitzen oder so was.« Johnny Boy blieb stehen, zog seine Schuhe aus und steckte sie in die Hosentaschen. »Was ist mit Ihren Socken passiert?«, fragte Icarus. »Sie sehen aus wie versengt.« »Ich leide hin und wieder an spontaner Selbstentzündung«, sagte Johnny Boy. »Hauptsächlich dann, wenn ich zu viel Kohlsalat gegessen habe.« »Ich werd verrückt«, sagte Icarus. »Mein Bruder behauptet das auch von sich. Ich habe ihm nie geglaubt. Ich dachte immer, er würde das erfinden.« »Es ist eine verbreitete Krankheit«, sagte Johnny Boy. »Ich würde Ihren Bruder gerne kennen lernen.« »Nein, bestimmt nicht. Er ist ein Irrer. Lebt in einer Fantasiewelt.« »Im Gegensatz zu uns«, sagte Johnny Boy. »Ganz genau«, pflichtete Icarus Smith ihm bei. »Aber mein Bruder ist einer der Gründe, warum wir möglichst schnell von hier verschwinden müssen. Cormerant hat meine Anschrift; er fährt bestimmt zu mir nach Hause, um sich den Schlüssel zum Gepäckfach zu holen. Ich möchte nicht, dass meine Familie Schaden erleidet.« »Eine Schande«, sagte eine Stimme. »Ach du Heiliger!«, sagte Johnny Boy.
»Nehmen Sie einfach die Hände hoch«, sagte die Stimme. Es war die Stimme des Chauffeurs. Icarus hob die Hände und drehte sich um. Johnny Boy tat es ihm nach. »Sie sind ziemlich geschickt mit Schlössern, wie?«, fragte der Chauffeur. »Ich hätte sie fast nicht mehr erwischt. Glücklicherweise habe ich die Absätze Ihres Freundes auf dem Boden klappern hören.« »Tut mir Leid«, sagte Johnny Boy. »Schon gut, kein Problem«, sagte Icarus. »Ja, genau, kein Problem«, sagte der Chauffeur. »Ich wollte schließlich nicht zu Ihnen, um Ihnen das Frühstück zu bringen oder sonst was. Ich wollte zu Ihnen, um Ihnen beiden eine Kugel durch die Köpfe zu schießen, und das kann ich genauso gut hier wie in der Zelle.« Der Chauffeur hob seine Pistole und zielte auf den Kopf von Icarus Smith. »Nein«, sagte Icarus. »Nicht. Sie verstehen nicht, was hier vorgeht. Sie haben keine Ahnung, für wen Sie arbeiten. Für was Sie arbeiten, sollte ich vielleicht lieber sagen. Cormerant ist kein Mensch, er ist ein…« »Vergessen Sie’s«, sagte der Chauffeur. »Ihr seid tot, alle beide.« Er spannte den Hahn seiner Pistole. Und er betätigte den Abzug. »Nein, bitte nicht…« Icarus hielt sich die Hände vor das Gesicht. »Nein, bitte nicht…!« Aber. Es gab einen Blitz und einen Knall. Icarus ächzte und umklammerte seinen Schädel. Und dann hörte er das Schreien. Er hatte die Augen fest zugekniffen und riss selbige nun auf. Und sah vor sich einen grauenvollen Anblick. Der Chauffeur wand sich zappelnd, mit wild rudernden Armen und weit im Nacken hängenden Kopf. Aus seiner Brust ragte eine goldene Sichel. Seine Füße schwebten irgendwo zwölf Zoll20 über dem Boden und strampelten hilflos hin und her. Der Chauffeur wand sich in einem Paroxysmus aus Schmerz, dann wurde er schlaff und sackte zusammen wie eine Gummipuppe, aus der man die Luft herausgelassen hatte. Die goldene Sichel verschwand. Der Chauffeur stürzte zu Boden und blieb leblos liegen. Und dann sah Icarus ihn. Den Mann, der nun über dem Leichnam des Chauffeurs stand. Den Mann, der die Sichelklinge von hinten durch die Brust des Chauffeurs gestoßen und ihn vom Boden gehoben hatte. Der Mann stand einfach nur da und schob völlig gelassen die goldene Klinge in die Scheide zurück. Er war ein Mensch, doch er war zugleich mehr als das. Eine goldene Aura umgab ihn. Um seinen Kopf leuchtete strahlend weißes Licht. Icarus starrte den leuchtenden Mann an, dann starrte er den leblosen Kadaver des Chauffeurs an, und dann tat Icarus das, was jeder vernünftige Mann an seiner Stelle getan hätte. Icarus kotzte. »Wie geht es Ihnen jetzt?«, fragte der Retter von Icarus Smith, als der junge Bursche seine Sinne wieder halbwegs beisammen hatte. »Gar nicht gut«, antwortete Icarus wahrheitsgemäß. »Aber Sie… ich kenne Sie irgendwoher.« 20
Dreißig Zentimeter.
»Sie haben mich heute gesehen, und ich habe Sie gesehen. Wir waren beide hinter der gleichen Sache her. Hinter der schwarzledernen Aktentasche. Ich bin Ihnen die ganze Zeit über gefolgt. Ich habe mich im Kofferraum der großen schwarzen Limousine versteckt.« »Im Barbierladen!«, sagte Icarus. »Ich habe Sie in Stravinos Barbierladen gesehen!« »Captain lan Drayton, zu Ihren Diensten«, stellte sich Captain lan Drayton vor und salutierte. »Aber Sie sind…« »Sagen Sie um Himmels willen das Wort nicht!«, warnte Captain lan Drayton. »Ein Engel«, sagte Johnny Boy. »Er ist ein Engel. Erst der dritte, den ich je gesehen habe.« »Also wissen Sie beide Bescheid. Sie haben beide die Droge des Professors genommen.« »Sie wissen über die ganze Geschichte Bescheid?«, fragte Johnny Boy. »Wir überwachen dieses Gebäude hier schon sehr lange. Wir wissen fast alles, was hier unten geschieht«, sagte der Captain. »Der Professor ist tot«, sagte Johnny Boy. »Sie haben ihn ermordet.« »Das hatte ich befürchtet.« »Halt, Augenblick«, sagte Icarus. »Ich möchte wissen, was das alles zu bedeuten hat. Was geht hier unten vor?« »Dazu ist jetzt keine Zeit«, sagte Captain lan Drayton. »Ich werde Ihnen alles sagen, was Sie wissen müssen, aber zuerst muss ich jemand anderen retten. Ich hatte gehofft, dass Sie mir dabei helfen würden.« »Ich denke, das sind wir Ihnen schuldig«, sagte Icarus. »Wen müssen Sie retten?« »Einen Detektiv«, sagte Captain lan Drayton. »Einen sehr berühmten Detektiv.« »Etwa Sherlock Holmes?«, fragte Johnny Boy. »Lazlo Woodbine«, sagte Captain lan Drayton. »Lazlo Woodbine?« Johnny Boy kratzte sich an seinem winzigen Puppenkopf. »Lazlo Woodbine ist hier?« »Er wurde früher am Abend hierher verschleppt, in bewusstlosem Zustand. Sie haben ihn in die Krankenabteilung gebracht. Er wird dort gegenwärtig von einem Doktor verhört.« »Mir gefällt nicht, wie Sie das Wort Doktor betont haben«, sagte Johnny Boy. »Der Doktor ist ein Wrong’un, wie Sie ihn nennen würden.« »Halt, Augenblick«, sagte Icarus Smith. »Dieser Lazlo Woodbine. Wie war er gekleidet? Trug er seinen berühmten Trenchcoat und seinen Schnapprand-Fedora?« »Nein. Er trägt ein altes Tweedjackett.« Icarus stieß einen klagenden Seufzer aus. »Das war ein verdammt klagender Seufzer«, sagte Johnny Boy. »Warum haben Sie diesen verdammt klagenden Seufzer ausgestoßen?« »Wegen des alten Tweedjacketts. Das ist die Verkleidung, die er immer wieder anzieht. Er glaubt, dass er damit den Leute weismachen kann, er wäre ein Reporter vom Brentford Mercury.« »Ich wusste gar nicht, dass Lazlo Woodbine jemals eine Verkleidung getragen hat«, sagte Johnny Boy. »Tut er auch nicht«, sagte Icarus. »Aber der Mann, der hier gefangen gehalten wird, ist nicht der echte Lazlo Woodbine. Der Mann, der hier ge-
fangen gehalten wird, ist mein völlig bescheuerter Bruder.« »Was?«, machte Johnny Boy. »Mein völlig bescheuerter Bruder«, wiederholte Icarus. »Der Kerl mit den versengten Socken. Der Kerl, von dem ich Ihnen erzählt hab, dass er ein Irrer ist. Der Kerl, der in seiner eigenen Fantasiewelt lebt. Der Kerl, der glaubt, er wäre Lazlo Woodbine. Aber es ist nicht der echte Lazlo Woodbine, den sie in die Krankenabteilung verschleppt haben. Es ist mein irrer Bruder.«
12 Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich ein Einzelkind war. Sie haben sich getrennt, bevor sie mich gemacht haben. Und ein Einzelkind zu sein bedeutet, dass man ein Einzelgänger wird. Man hat keinen großen Bruder, der einem aus brenzligen Situationen hilft. Man muss lernen, alleine klarzukommen. Man muss seine sieben Sinne beisammenhalten, selbst wenn man sie nicht beisammenhat. Und wie ich Ihnen schon gesagt habe, ich arbeite lediglich an vier Schauplätzen. In meinem Büro, in der Bar, in der Seitengasse und auf dem Dach. Kein wirklich großer Detektiv braucht jemals mehr. Und so blieb mir, als ich nach meinem tiefen Sturz in jenes dunkle, wirbelnde, bodenlose Nichts gestürzt war und mich an einem fünften, außerplanmäßigen Schauplatz wiederfand, nichts weiter übrig, als gründlich nachzudenken und nach meinen sieben Sinnen zu suchen. Jawoll, Sir. Auch wenn ich sie nicht alle beisammenhatte. »Machen Sie die Augen auf, Woodpecker«, sagte die Stimme von Police Chief Sam Maggott, doch ich dachte nicht daran, meine Augen zu öffnen. »Los, machen Sie schon, Sie verdammter Hurensohn, wir wissen, dass Sie wach sind.« »Zugegeben«, sagte ich. »Ich bin schon wach. Aber ich weigere mich, die Augen aufzumachen.« »Oh, bitte, machen Sie die Augen auf«, sagte Sani mit einer Stimme wie Sirup. »Ich möchte, dass Sie sich etwas ansehen.« »Was wäre das?« »Ein Stück Videoband.« »Oh, prima«, sagte ich. »Darüber lässt sich reden. Würde es Ihnen etwas ausmachen, sämtliche Lichter zu löschen, sodass ich den Bildschirm ganz klar und deutlich erkennen kann?« »Sie sind ein Spinner, Woodpecker. Aber meinetwegen, einverstanden.« Sam Maggott hatte einen Kollegen. Typen wie Sam haben immer einen Kollegen. Es ist eine Tradition oder eine alte Bulle oder was weiß ich. Ich selbst habe nie einen Kollegen gehabt, weil ich ein Einzelgänger bin, wie bereits erwähnt. Sams Kollege jedenfalls schaltete das Licht aus, und ich schlug die Augen auf. Der Raum lag im Dunkeln, und hey, Dunkelheit ist Dunkelheit, richtig? Ich hätte in jeder Dunkelheit sein können. In der Dunkelheit meines Büros beispielsweise oder wo auch immer. »Sehen Sie nur auf den Schirm«, sagte Sam, und ein Bildschirm flammte auf wie die Augen einer wunderschönen Braut, wenn sie mich aus der Dusche kommen sieht. »Die Seitengasse hinter dem Crimson Teacup«, sagte die Stimme von Sam aus der Dunkelheit wo auch immer. »Die Aufzeichnung der Überwachungskamera. Heute Abend, halb neun.« Ich betrachtete die Aufzeichnung mit stählernem Blick. Da war die Seitengasse, und da war ich, wie ich aus der Hintertür gestürmt kam. Und da waren die beiden Mistkerle am Ende der Gasse und unterhielten sich. Und da war ich, duckte mich zurück in den Schatten, zog die zuverlässige Smith and West End Girls aus dem Schulterhalfter, sprang wieder vor und schoss die beiden Mistkerle nieder und… »Halt!«, rief ich. »Anhalten. Spielen Sie das noch mal ab!« »Oh, das gefällt Ihnen wohl, was, Woodpecker? Sie sehen sich wohl ger-
ne zu, wenn Sie unschuldige Leute abknallen, was? Geht Ihnen wohl einer ab dabei, eh? Möchten Sie vielleicht, dass ich Ihnen eine Kopie anfertige, damit Sie es sich in der Todeszelle ansehen können, Sie mörderisches Stück Schei…« »Da stimmt was nicht«, protestierte ich aufgebracht. »Mit diesem Band stimmt was nicht. Das alles hat sich nicht so zugetragen.« »O. K. ich lasse es noch mal laufen.« Sam ließ die Aufzeichnung noch mal laufen, und ich platzte noch einmal aus der Tür und schoss noch einmal zwei unschuldige Leute nieder. »Nein«, sagte ich. »Da ist ein Fehler drin. Dieses Band wurde manipuliert.« »Nein, Woodpecker, dieses Band wurde nicht manipuliert. Wir haben Sie auf Video, wie Sie die Morde begehen und dabei mit sich selbst reden. Sie sind ein Irrer, Woodpecker. Sie sind völlig durchgeknallt. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor es mit Ihnen so weit kommen musste. Den Detektiv spielen und unschuldige Leute abknallen. Dafür werden Sie auf dem Stuhl schmoren, Woodpecker. Dafür werden Sie auf ihre letzte Meile geschickt.« Captain lan Drayton marschierte durch den Korridor. Icarus trottete hinter ihm her. Johnny Boy rannte, so schnell er konnte, um mit den beiden mitzuhalten. Icarus beobachtete den Captain, während er vor ihm hermarschierte. Die kraftvollen Bewegungen seiner Schultern. Die zuversichtlichen Schritte. Die schiere Aura aus Entschlossenheit. Das war ganz sicher nicht der Captain lan Drayton, den Icarus in Stravinos Barbierladen gesehen hatte. Jener Captain lan Drayton war ein kriegsmüder Veteran gewesen, ein Mann, der zu viele schreckliche Dinge gesehen hatte. Doch mit seiner neuen Gabe der wahren Sicht sah Icarus den Captain so, wie er wirklich war. Ein engelhaftes Wesen, umgeben von einer Aura aus Licht. Und er hatte ein Schwert getragen, oder nicht? Ein goldenes Schwert, das er dem Chauffeur in den Rücken gestoßen und mit dem er ihn von den Füßen gerissen hatte. Jetzt hingegen war keine Spur von einem Schwert zu sehen. Was Icarus einigermaßen perplex zur Kenntnis nahm. Steckte hinter Captain lan Drayton noch mehr, als Icarus sehen konnte? Hatte die Red-Head-Droge weitere, unbekannte Nebenwirkungen? Noch mehr Wahrheit? Eine höhere Wahrheit? Vielleicht sogar die Allerletzten Wahrheiten? Icarus fand gegenwärtig nicht die Zeit für derartige Gedanken. »Er ist hier drin.« Captain lan Drayton deutete auf eine beeindruckende Tür, ganz aus Stahl und voll mit Nietenköpfen. Fortifikationsmäßig. »Diese Tür sieht sehr fortifiziert aus«, sagte denn auch Johnny Boy, der atemlos hinter den beiden herankam und um Luft rang. »Und sie scheint keinen Griff zu haben.« »Und auch kein Schlüsselloch, was das angeht«, beobachtete Icarus. »Dann müssen wir sie eben aufsprengen«, sagte Captain lan. »Das ist gut«, sagte Johnny Boy. »Eine schöne laute Explosion ist genau das, was ich jetzt gebrauchen könnte.« »Ich nicht«, widersprach Icarus. »Wir befinden uns hier in einem unterirdischen Labyrinth. Der Lärm der Explosion lockt diese Kreaturen noch aus meilenweiter Entfernung herbei.« »Kein Problem«, sagte der Captain. »Ich benutze einen lautlosen Sprengstoff.« »Einen lautlosen Sprengstoff?« Icarus schnitt ein Gesicht schwersten
Zweifels. »Das Allerneueste«, sagte der Captain und zog einen extrem gefährlich aussehenden dünnen Stab aus der Tasche. »Die SAS benutzt das Zeug ständig. Es geht ohne jeden Lärm hoch. Schon mal was von Dynamit oder Melinit gehört? Dieses Zeug hier nennt sich…« »Lassen Sie mich raten«, unterbrach ihn Johnny Boy. »Stillinit?« »Nein«, sagte der Captain. Johnny Boy hielt sich den Bauch vor Lachen. »Trotzdem ein guter Gag, wie?«, ächzte er. »Stillinit. Stillinit! Kapiert? Stillinit, nein, was für ein Brüller, har, har, har!« »So lustig ist es nun auch wieder nicht«, sagte Icarus. »Nein«, pflichtete ihm Johnny Boy ernüchtert bei. »Vermutlich nicht.« »Es ist SCHEISZ«, sagte der Captain. »Och Mann«, sagte Johnny Boy. »So schlecht war der nun auch wieder nicht.« »Ich meine den Sprengstoff. Er heißt SCHEISZ. S.C.H.E.I.S.Z. Schallloses Callisthenisches Hochbrisantes Energie-Intensives Super-Zeugs. Die SAS hätte ihm wahrscheinlich einen besseren Namen geben können, aber… nun ja, es sind halt alles richtig harte Kerle dort.« »Was bedeutet callisthenisch?«, erkundigte sich Johnny Boy. »Es bedeutet, dass es nicht zu einem Wärmestau kommt. Der Sprengstoff schmilzt augenblicklich alles, was sich im Radius der Explosion befindet. Deswegen gibt es kein Geräusch, verstehen Sie? Richtig schlau, was?« »Stillinit fand ich besser«, sagte Johnny Boy. »Nein, war es nicht«, sagte Icarus. »War es doch.« »War es nicht.« »Sie treten jetzt besser zurück«, sagte der Captain. »Ich zünde die Zündschnur an.« »Kann ich vielleicht Feuer haben?«, fragte ich und zog mein Päckchen Camels hervor. Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist, aber wenn ich mich in einer haarigen Situation befinde, die an meinen Nerven kratzt und meine geistige Gesundheit bedroht, dann rauche ich gerne eine Camel. Der reiche, milde Geschmack des feinen Virginiatabaks in Verbindung mit dem Spezialfilter, die höchst gefällige, charakteristische Packung und der günstige Preis geben mir alles, was ich brauche. Mit Ausnahme eines Revolvers vielleicht. »Sie dürfen hier drin nicht rauchen«, sagte Sam Maggott. »Das hier ist ein…« »Ein Büro«, sagte ich. »Es ist ein Büro. Könnte irgendein Büro sein. Es könnte mein Büro sein.« »Ich sage meinem Kollegen, dass er das Licht einschalten soll«, sagte Sam Maggott. »Dann sehen wir ja, wessen Büro das ist.« »Nein«, widersprach ich. »Tun Sie das nicht!« Doch ich hörte, wie sich Sam Maggotts Kollege bereits in die Richtung bewegte, von der ich wusste, dass dort die Tür liegen musste, und ich konnte fast spüren, wie sein Finger auf den Lichtschalter drückte.
» !!! «, machte der schalllose Sprengstoff.
»Meine Güte!«, sagte Johnny Boy. »Was für ein lauter schallloser Sprengstoff!«
Licht fiel aus allen Richtungen auf mich herab. Nur nicht von der Glühbirne an der Decke. Oder von einer Neonröhre. Oder mehreren geschmackvoll arrangierten Schreibtischlampen von der Sorte, die man bei Habitat kaufen kann21. Oder irgendeiner beliebigen Anzahl von Art Nouveau Wandlampen mit gefärbten Lalique-Gläsern. Oder einer von diesen grauenvollen Standardlampen mit den großen Fransenschirmen, wie Sie sie bei Ihrer Tante im Wohnzimmer hinterm Sofa mit dem Schonbezug stehen sehen können. Nein, das Licht kam aus nichts dergleichen. Das Licht kam plötzlich durch die Tür, und zwar von einem Korridor dahinter. Und dann kamen drei Männer hereingeplatzt. Oder vielleicht waren es auch nur zwei Männer und ein Kind. »Drei Männer«, sagte Johnny Boy. »Ist das Ihr bescheuerter Bruder, Icarus?« Ich schirmte meine Augen vor dem grellen Licht ab. Es erhellte allerdings nicht den gesamten Raum. Genau genommen nur mich, der ich in einem Stuhl saß. Es hätte irgendein Stuhl sein können, beispielsweise mein Bürostuhl. »Das ist er«, sagte Icarus. »Das ist mein Bruder.« »Bruder?«, fragte ich. »Kumpel, ich bin nicht Ihr Bruder. Mein Name ist Woodbine. Lazlo Woodbine, Privatdetektiv. Manche nennen mich Laz. Niemand nennt mich Bruder.« »Du bist mein Bruder«, sagte Icarus. »Nein, mein Junge, ich bin nicht Ihr Bruder. Ich weiß, Sie hätten mich gerne als Bruder, wirklich. Wer nicht? Es muss der Traum eines jeden Jungen sein, Lazlo Woodbine als großen Bruder zu haben.« »Meiner war es bestimmt nie«, sagte die Stimme von Sam Maggott. »Aber ihr Typen hört jetzt besser auf damit. Was zur Hölle habt ihr mit meinem Kollegen angestellt? Scheiße und zugenäht, er ist geschmolzen und über den ganzen Boden verteilt!« Dann gab es eine Menge Bewegung. Ich kann zu viel Bewegung nicht gut vertragen. Ich meine, nehmen Sie doch nur zum Beispiel die SuffragettenBewegung. Was sollte das ganze nur? Eine Menge schicker Ladys mit Penisneid, die irgendwas von gleichen Rechten für Frauen gefaselt haben. Gleiche Rechte? Davon träumen sie. Aber hey, das war nur ein Scherz, O.K.? Ich bin absolut dafür, Frauen die gleichen Rechte zu geben. »Wir haben die gleichen Rechte«, sage ich, wenn ich in einem Bus unterwegs bin. »Also schieben Sie Ihren Arsch beiseite, Süße, bevor ich ihn für Sie bewege.« Aber so eine Bewegung war es nicht. Auch nicht irgendeine andere. Es war eine heftige Bewegung. Eine Menge heftiger Bewegungen. Police Chief Sam Maggott vom L. A. P. D. hatte seine Pistole gezogen, doch der andere Typ mit der Soldatenuniform – nicht der Kerl, der sich wünschte, ich wäre sein Bruder und auch nicht der winzige Knirps, der aussah wie Barbies Freund22 – der Typ mit der Soldatenuniform also stürmte Fäuste schwin21
Wenn Sie glauben, dass ich jetzt Schleichwerbung für Habitat machen will – vergessen Sie’s. 22 Vor einiger Zeit hab ich diesen wirklich guten Witz über Barbie gehört, und wenn Sie nichts dagegen haben, erzähle ich ihn jetzt, bevor die Action losbricht und die kostenlose Gewalt ihren Lauf nimmt. Da ist also dieser Typ, und er geht mit seiner Tochter in den Spielzeugladen, um ihr eine Barbie-Puppe zu kaufen. Im Schaufenster gibt es drei Stück davon: SportBarbie für 19,99, Disco-Barbie für 19,99 und eine Geschiedene Barbie für
gend heran. Er schlug Sam die Kanone aus der Hand und verabreichte ihm eine schlimme Tracht Prügel. Sam brach wie ein schlaffer Sack zusammen und landete in meinem Schoß. Ein gebrochener Mann, mit drei frisch ausgeschlagenen Zähnen und einem halb abgerissenen linken Ohr. Er sah zu mir auf, und am Ausdruck auf seinem blutigen Gesicht sah ich, dass er mich anflehte einzuschreiten und ihn vor weiteren Qualen zu beschützen. Mein Ruf als großer Humanist bringt mich häufig in derartige Situationen. Ich ließ Sam Maggott sanft zu Boden gleiten. Wiegte seinen Kopf in meinen Händen und lächelte ihn mit einem meiner Gewinner an. Dann richtete ich mich auf und trat ihm gegen den Schädel. Sandte ihn in ein bodenloses, schwarzes, wirbelndes Nichts, aus welchem er zweifellos irgendwann wieder erwachen würde, ein älterer und weiser gewordener Sam Maggott. »Nun«, sagte ich und wischte mir die vereinzelten Blutspritzer von meinem alten Tweedjackett. »Ich schätze, ich muss euch Jungs danken, dass ihr mir aus der Klemme geholfen habt. Sams Kollege zu einer Pfütze geschmolzen und Sani im Land des Schlafs. Ich muss jetzt verschwinden. Wir treffen uns irgendwo in einer Bar.« »Halt, Augenblick!«, sagte der Junge mit dem seltsamen Namen Icarus. »Mutter hat gesagt, dass ich dir was ausrichten soll, wenn ich dich das nächste Mal sehe.« »Junge«, antwortete ich, »ich bin nicht dein Bruder, kapiert? Wie kriege ich das nur in deinen Schädel?« »Du siehst aber ganz genauso aus wie mein Bruder«, sagte Icarus. »Du siehst wirklich ganz genauso aus. Identisch mit meinem Bruder.« »Junge, bist du jemals Lazlo Woodbine begegnet?« »Natürlich nicht«, sagte Icarus. »Oder hast du jemals eine Fotografie von Lazlo Woodbine gesehen?« Icarus schüttelte den Kopf. »Weil keine Fotos existieren. Niemand weiß genau, wie Lazlo Woodbine aussieht. Die Leute wissen nur eines mit Sicherheit über den größten aller Detektive: dass er einen Trenchcoat trägt sowie einen SchnapprandFedora, doch niemand kann seinem Namen ein Gesicht zuordnen. Und weißt du auch, warum das so ist? Sag nichts, ich verrate es dir. Es ist eines der Geheimnisse meines Erfolgs. Meine aufregenden Abenteuer werden stets und ausschließlich in der ersten Person erzählt, sodass der Leser in die Rolle von Woodbine schlüpft. Und der Leser projiziert sein eigenes Bild auf die blanke Leinwand des Charakters. Er identifiziert sich mit Woodbine. Er sieht sich als Lazlo Woodbine.« »Aber du siehst nicht aus wie ich«, sagte Icarus. »Du siehst aus wie mein Bruder.« »Ich bin ja auch noch nicht fertig, Junge. Wenn der Leser sich nicht mit Woodbine identifiziert, dann tut er das Nächstbeste. Er versieht Woodbines Körper mit dem Gesicht seines persönlichen Helden. Du siehst in deinem Bruder offensichtlich einen Helden, Junge.« »Halt mich jemand fest!«, sagte Icarus. »Irgend jemand, sonst schlage ich ihm die Birne ein!« 499,99. »Warum ist die Geschiedene Barbie so teuer?«, fragte der Typ eine Verkäuferin. »Weil«, antwort die Verkäuferin, »weil die Geschiedene Barbie komplett mit Kens Haus, Kens Auto, Kens Möbeln und Kens letztem Hemd ist.« Also ich fand ihn witzig.
»Das Weihnachtsessen bei Ihnen zu Hause muss eine verdammt lustige Veranstaltung sein«, sagte Johnny Boy. »Ich halte Ihr Bein, mehr kann ich nicht tun.« »Gib’s auf, Junge«, sagte ich. »Ich bin nicht dein Bruder. Ich bin nicht dein Bruder, obwohl ich mich geehrt fühlen würde, wenn ich es wäre, zu denken, dass ich es wäre. Wenn du weißt, was ich meine, und ich bin sicher, dass du es weißt.« »Er ist durchgeknallt«, sagte Icarus. »Was hab ich Ihnen erzählt, Johnny Boy? Völlig neben der Kappe.« »Aber er ist überzeugt, dass er die Wahrheit sagt. Sehen Sie ihn an, Icarus. Sie haben die Gabe, Sie können seine Farben sehen.« Und tatsächlich, Icarus konnte. Er konnte das komplizierte Geflecht aus Farben sehen, das die Gedanken und Emotionen widerspiegelte, die in diesem Mann wogten. Und er sah den Mann in diesem Mann. Dem Mann, der sein Bruder war? »Wir haben keine Zeit für das«, sagte Icarus. »Wir müssen von hier verschwinden, und zwar schnell.« »Überlass das nur mir, Junge«, sagte ich und straffte meine Schultern mit mehr Sang-froid als ein Sandwichverkäufer aus San Fernando auf einem Symposium für Sanitätsunterwäsche. »Ich bringe uns in weniger als zwanzig Minuten hier raus.« Ich trat zum Videorekorder, nahm das Überwachungsband heraus und steckte es in meine Innentasche. Dann ging ich zum Schreibtisch. Dort nahm ich meine zuverlässige Smith and Western Union an mich und schob sie in mein Schulterhalfter. Anschließend nahm ich den Telefonhörer von der Gabel und wählte eine Nummer. Und dann sprach ich Worte in die Sprechmuschel und vernahm Worte aus dem Hörer und legt schließlich wieder auf. »Fertig«, sagte ich. »Was ist fertig?«, fragte Icarus. »Wie willst du uns hier rausbringen?« »Ich hab eine Pizza bestellt, Junge.« »Ausgerechnet jetzt?« »Langsam, Junge, beruhige dich. Ich hab bei einem dieser Pizzadienste bestellt, die damit werben, dass man die Pizza umsonst kriegt, wenn sie nicht innerhalb von zwanzig Minuten liefern können. Und hast du schon jemals gehört, dass irgendjemand seine Pizza nicht bezahlen musste?« »Nein, habe ich nicht«, gestand Icarus. »Siehst du, Junge? Und weißt du auch warum? Weil diese Burschen dich finden, wo auch immer du dich versteckst. Ich habe es ausprobiert. Ich hab mich absichtlich versteckt, um des Experiments willen, wenn du verstehst, oder auch aus Schalkhaftigkeit, wenn mir das Fell gejuckt hat. Du weißt ja, wie das ist.« »Ich weiß, dass du dich einmal auf dem Dachboden versteckt hast«, sagte Icarus. »Der Pizzamann hat sich vom Dach abgeseilt und dich gefunden.« »Gutes Beispiel«, sagte ich. »Das war zwar nicht ich, aber trotzdem, gutes Beispiel.« »Haben Sie für uns alle Pizza bestellt?«, fragte Johnny Boy. »Weil ich auf meiner nämlich gerne Anchovis hätte. Ich liebe Anchovis. Sie sind klein und köstlich. Ein wenig wie ich, wenn Sie verstehen.« »Jetzt mach aber mal Pause.« Icarus seufzte. Er hatte in letzter Zeit eine Menge Seufzer ausgestoßen, weit mehr, als für einen Burschen mit so wenigen Jahren üblich gewesen wäre. »Du glaubst also wirklich, dass wir in diesem geheimen unterirdischen Bauwerk nur herumsitzen und warten müssen, bis der Pizzamann an der Tür klopft?«
»Es gibt keine Tür mehr«, beobachtete Johnny Boy. »An den Türrahmen klopft? Mit der Pizza in der Hand?« »Und dann müssen wir nichts weiter tun, als ihm nach draußen folgen, genau«, sagte ich. »Man wird nicht der Beste in diesem Geschäft, wenn man nicht ein Flair für derartige Dinge entwickelt. Ich sage dir, Junge, in meinem Geschäft bedeutet eine Menge Flair zu haben den Unterschied zwischen einem Paar Röhrenhosen oder einem Paar Ausgestellter. Wenn du weißt, was ich meine, und ich bin sicher, ich hätte es deutlicher darlegen können.« »Durchgeknallt«, sagte Icarus. »Er ist absolut durchgeknallt!« »Ich denke, wir sollten einfach losrennen«, sagte Johnny Boy. Captain lan Drayton zupfte Icarus am Ärmel. »Möchten Sie vielleicht, dass ich Ihrem Bruder das Licht ausknipse?«, fragte er. »Ich könnte ihn über der Schulter nach draußen tragen.« »Das habe ich gehört«, sagte ich mit einem Blick auf meine Armbanduhr. »Jetzt hör endlich auf damit«, sagte Icarus. »Dieser Blödsinn kann nicht funktionieren!« »Ich geb dir meinetwegen eine Scheibe ab«, sagte ich zu Johnny Boy. »Allerdings nehme ich die Olive, falls es nur eine gibt.« »Einverstanden. Ich hoffe nur, Sie haben extra Käse bestellt.« »Tut das nicht jeder?« »Um Himmels willen!«, sagte Icarus. »Das ist der reinste Wahnsinn! Der Pizzamann wird nicht kommen! Wir stecken hier unten im Ministerium der Hölle! Wir sind in einer ernsten Lage! Wir müssen fliehen!« »Pizza für Mr. Woodstock?«, fragte eine neue Stimme. »Heiße Pastrami, extra Käse und jede Menge anderer Belag.« Ich warf dem Jungen mit Namen Icarus einen viel sagenden Blick zu. Und der Junge namens Icarus erwiderte meinen Blick sprachlos. »Sag jetzt nichts, Junge«, warnte ich ihn. »Komm jetzt nicht mit feuchten Augen und roten Ohren her und sag: >Danke, Mr. Woodbine, Sie sind der allerbeste Freund, den ein Junge nur haben kann.< Füg dich einfach in das Unvermeidliche. Vergiss den Rest, wenn du dich mit dem Besten abgibst. Und du gibst dich mit Woodbine ab, und Woodbine erledigt seinen Job. Immer.« Der Junge war sprachlos, und wer konnte ihm das verdenken? Ich nahm seine Hand in meine und schüttelte sie freundlich. Dabei fielen ein paar Tabletten aus seinem Patschhändchen in meine männliche Hand. Sie sahen verschwitzt aus, aber eine Tablette ist eine Tablette, und Tabletten helfen immer, denn dafür sind sie gemacht. Ich hatte richtig üble Kopfschmerzen von den Schlägen, die Sam Maggott mir verpasst hatte. »Ah«, sagte ich. »Aspirin.« Und schluckte eine davon.
13 »Setz dich«, sagte Icarus Smith. »Gleich passiert etwas mit dir. Wir haben nicht viel Zeit.« »Hör zu, Junge«, sagte ich. »Ich habe genug herumgesessen. Ich bin fertig damit. Ich habe einen Fall, der gelöst werden will.« »Du musst aber zuhören! Gleich passiert etwas mit dir. Das war kein Aspirin, das du geschluckt hast. Das war die Red-Head-Droge.« »Wer zahlt jetzt für diese Pizza?«, fragte der Pizzamann und machte mit seinem Helm, was sie immer mit ihren Helmen machen. »Ich zahle«, sagte ich. »Und ich zahlen Ihnen obendrein fünfzig Mäuse, wenn Sie mich auf dem Rücksitz Ihrer Maschine mit nach draußen nehmen, Kumpel.« »Nein, warte!«, sagte Icarus. »Fünfzig Mäuse!«, sagte der Pizzamann und machte jetzt mit seinen Handschuhen, was sie immer mit ihren Handschuhen machen. »Dann also los, Mr. Woodcock, springen Sie rauf, und weg sind wir!« »Nein, warte!« Und Icarus ballte die Fäuste. Der Typ mit der Militäruniform trat vor, um mir den Weg zu verbauen. So was kann ich überhaupt nicht ab, wenn ich keine Kordsamthosen an habe. Also zog ich meine zuverlässige Smith and Westkapelle. »Aus dem Weg, Kumpel«, sagte ich, »oder du lernst die Freude kennen, die eine Kugel bringt, und ich kann dir verraten, dass es nicht die geringste ist.« Der Typ machte einen weiteren Schritt vor, und ich machte einen kleinen Schritt zurück. Dieser Typ war tapfer, so viel stand fest. Ich weiß nicht, was als Nächstes passiert wäre. Vielleicht hätte ich den Typ abgeknallt, vielleicht auch nicht. Vielleicht wäre der Typ einfach zur Seite gewichen, andererseits vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hätte ich dem winzigen Kerlchen mit den versengten Socken mehr Beachtung geschenkt, das sich an mich angeschlichen hatte, und vielleicht wäre ich der Pizza mit dem extra Käse ausgewichen, die er mir mitten ins Gesicht werfen wollte. Doch weil in diesem Augenblick etwas ganz anderes geschah und nichts von diesen Dingen, die vielleicht hätten geschehen können, schätze ich, dass ich es wohl nie mit Sicherheit sagen kann. Das ganz andere, das in diesem Augenblick geschah, geschah ganz unerwartet, und als es unerwartet geschah, geschah es laut. Das ganz andere war eine Alarmglocke, die ganz unerwartet losschrillte, und sie brachte dieses Gefühl von Dringlichkeit und Panik mit sich, das losschrillende Alarmglocken so häufig mit sich bringen. »Wir sind aufgeflogen!«, brüllte ich über das Tohuwabohu hinweg. »Alles mir nach und lasst uns von hier verschwinden!« Sie schwankten einen Augenblick lang, doch dann beugten sie sich meiner natürlichen Autorität. Alles stürzte zur Tür, und Sekundenbruchteile später waren wir heillos ineinander verkeilt. »Passen wir zu fünft auf das Motorrad?«, brüllte ich den Pizzatyp an. »Sie müssen nicht brüllen«, sagte der Pizzatyp. »Ich hab meinen Helm auf.« »Kriegen Sie fünf auf das Motorrad?«, wiederholte ich in gedämpfterem Tonfall. »Kein Problem«, sagte der Pizzatyp. »Solange drei hinterherlaufen.« »Dann also los!«, rief ich. »Bringen Sie uns zur nächsten Whiskey-Bar und sparen Sie nicht mit den Pferdestärken.«
Die nächstgelegene Whiskey-Bar war das Lion’s Mane, eine Safari-Mottokneipe an der Ecke zur Thor Bridge Road und keine zweihundert Yards vom Eingang zur Mornington Crescent Underground Station entfernt. Ich betrat das Etablissement und hackte mir einen Weg durch das Gewirr von Blättern und Lianen bis zum Tresen. Der Wirt war so schlank wie ein Leopard und so geschmeidig wie eine Gazelle. Er trug ein Solar-Toupet und einen von jenen Safarianzügen aus Khaki, die nicht einmal David Attenborough tragen könnte, ohne darin total schick auszusehen. »Was zu trinken, Keeper«, sagte ich zum Wirt. »Vier Gin-Sling und einen Punka Wallah, und nennen Sie mich ja nicht Bwana.« »Eis und ein Scheibchen?«, fragte der schlanke Wirt. »Einen Spritzer bitte«, erwiderte ich. »Aaaaaaaaaaaaaaaaagh!«, machte Johnny Boy. »Eine große Schlange versucht unsere Pizza zu stehlen!« »Und eine Machete bitte, Herr Wirt«, fügte ich hinzu. Der Wirt lieferte das Bestellte, und ich erledigte den Python. »Wenn Sie Wild töten, kostet das extra«, sagte der gertenschlanke Wirt. »Sie kommen zu spät zur Happy Hunting Hour. Gegen eine kleine Zusatzgebühr kann Ihnen unser Hausschneider eine Jacke aus der Schlangenhaut anfertigen.« »Ich brauche aber einen Trenchcoat und einen dazu passenden Fedora«, sagte ich. »Herr Gott im Himmel, ich werd verrückt!«, rief der Wirt. »Du bist es, Laz! Ich habe dich in diesem alten Tweedjackett überhaupt nicht erkannt! Ich dachte, du wärst dieser Reporter vom Brentford Mercuryl«. Ich musterte den schlanken, langbeinigen Wirt von oben bis unten. »Holla, Fange!«, sagte ich. »Du bist es! Ich habe dich mit diesem Solar-Toupet überhaupt nicht erkannt! Ich dachte, du wärst Ally McBeal mit hochgesteckten Haaren!« »Genug von deinen Dünne diskriminierenden Bemerkungen, du fetter Bastard!« »Na, dann jedenfalls mal her mit den Drinks, und zwar schnell«, sagte ich. »Und lass ein wenig Karen Carpenter aus der Jukebox träufeln.« Der Wirt tat wie gebeten, und ich hackte mir meinen Weg zur Veranda frei. Dort nahmen wir auf Korbstühlen Platz und beobachteten zum Klang ferner Stammestrommeln und den Rufen des Uzelumvogels den Sonnenuntergang über der Savanne. »Verdammte Moskitos!«, schimpfte Johnny Boy und schnippte Fliegen von seiner Stirn. »Verdammte Eingeborenentrommeln! Immerzu trommeln! Immerzu! Sie treiben mich noch in den Wahnsinn, das kann ich Ihnen verraten!« »Hören Sie auf damit«, warnte Icarus. »Sie ermutigen ihn nur weiterzumachen.« »Hör zu, Junge«, wandte ich mich an den Jungen. »Ich hab euren Arsch da rausgeschafft, oder nicht? Ein freundliches Dankeschön wäre ganz nett. Und falls du ein deutliches >Es tut mir sehr Leid, dass ich je an Ihnen gezweifelt habe, Mr. Woodbine< hinzufügen willst, so wirst du nicht feststellen, dass ich mich beschwere.« Icarus warf verzweifelt die Hände in die Höhe. »Sehen Sie sich ihn an!«, sagte er zu Captain lan Drayton. »Die Red-Head-Droge bewirkt absolut überhaupt nichts bei ihm! Sie wirkt nicht!« »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Meine Kopfschmerzen sind jedenfalls verflo-
gen.« »Aber du siehst nichts anderes als vorher? Alles sieht genauso aus wie immer?« »Was willst du überhaupt von mir, Junge?« »Ich geb’s auf«, sagte Icarus. »Er ist einfach verrückt. Total plemplem. Er war es schon immer und wird es immer sein.« Ich hob mein Glas und prostete dem Jungen zu. »Du hast eine eigenartige Methode, Danke zu sagen, so viel steht fest«, sagte ich. »Ich glaube, mich zu erinnern«, sagte Captain lan Drayton, »dass wir es waren, die ursprünglich Sie gerettet haben.« »Ja. Zugegeben. Danke dafür. Wenn wir jetzt also damit fertig wären, Herrschaften, ich muss nämlich weiter.« »Vielleicht sollte ich ihn doch boxen?«, sagte Captain lan Drayton. »Nur ein einziges Mal. In die Fresse.« »Nur zu«, sagte Icarus. »Es ist mir inzwischen so ziemlich egal.« »Halt, Augenblick, Freundchen«, sagte ich. »Du hebst eine Hand gegen mich, und ich stecke dir diese Machete dahin, wo der furzende Farmer seine Toilettenente hinsteckt. Aber wenn ich eine Frage stellen dürfte: Warum habt ihr mich überhaupt gerettet?« »Weil Sie der Beste sind«, antwortete der Captain. »Und weil wir den Besten brauchen.« »Wir brauchen ihn nicht!«, protestierte Icarus. »Bitte, nicht ihn!« »Wir brauchen ihn sehr wohl«, sagte der Captain. »Und ob er nun Ihr Bruder ist oder nicht…« »Ich bin nicht sein Bruder«, sagte ich. »Ist er wohl«, sagte Icarus. »… spielt überhaupt keine Rolle«, fuhr der Captain fort. »Wir brauchen Mr. Woodbines Hilfe. Mr. Woodbine arbeitet an einem Fall, und dieser Fall steht in Verbindung mit unserem Problem. Wenn irgendjemand das alles wieder in Ordnung bringen kann, dann ist dieser Jemand Lazlo Woodbine, der Privatdetektiv.« »Aber er ist nicht Lazlo Woodbine! Er ist mein völlig bescheuerter Bruder!«, rief Icarus. »Wir werden nur in seinen Wahnsinn hineingezogen, sonst nichts! Wir sind auf dem Gepäckträger eines Pizzamotorrades aus dem Ministerium für Glückliche Zufälle entkommen und landen in einem Pub, das innen einen Dschungel hat und auf der Veranda einen tropischen Sonnenuntergang!« »Und einen Python«, sagte Johnny Boy Pizza kauend. »Mr. Woodbine hat ihm den Kopf abgeschlagen.« Ich schwang die Machete. »Lass bloß die Finger von der Machete!«, warnte ich den Wicht. »Oder du spielst Stumpy in Schneeweißchen trifft den achten Zwerg.« »Wir werden noch genauso verrückt wie er!«, sagte Icarus. »Ich fürchte, ich muss die Gentlemen bitten, auszutrinken und zu gehen«, sagte der Wirt. »Die jährliche Wanderung der Wildebeest kommt jeden Augenblick hier durch, und das Management lehnt jede Verantwortung für niedergetrampelte Gäste ab.« »Sehen Sie, was ich meine?«, fragte Icarus. »Absolut bescheuert.« »Nein, die Wanderung geht nicht durch Bescheuert«, sagte Fangio. »Sie geht für gewöhnlich durch Streatham Common und hinunter nach Tooting. Oh, und Laz, ich lasse dir morgen Früh deinen Fedora und deinen Trenchcoat ins Büro liefern. Der Hausschneider liegt gerade mit einem ernsten Anfall von menschlicher Selbstentzündung danieder, und der Schneider von
der Nachtschicht kommt erst in ein paar Stunden zur Arbeit.« »Dann also Lebwohl«, sagte ich. »Ich würde ja gerne sagen, dass es mir eine Freude war, euch Typen kennen zu lernen, aber da es keine war, werde ich es nicht.« »Wildebeest!«, rief Captain lan Drayton warnend und deutete über meine Schulter. Ich drehte den Kopf, um mir die Sache anzusehen, und soll man es glauben? Der Typ schlug mich tatsächlich von hinten nieder! Einmal mehr fand ich mich in diesem bodenlosen wirbelnden schwarzen Loch aus Nichts wieder. Und zumindest ich hatte allmählich wirklich die Nase voll davon. Ich erwachte und fand mich einmal mehr in meinem Büro wieder. Draußen am Horizont hatte die Morgendämmerung eingesetzt. »Was mache ich hier in meinem Büro?«, fragte ich mich, weil es mir als eine berechtigte Frage erschien. »Wir haben Sie hergebracht.« Das war der Typ mit der militärischen Haltung. Captain lan »Ich-hab-eine-Überraschung-für-dich« Drayton. »Der Wirt hat uns die Adresse Ihres Büros gegeben. Wir haben Sie in ein Taxi verfrachtet und hergebracht.« »Der Fahrer hatte die Ortskunde perfekt drauf«, berichtete Johnny Boy. »Wir kamen via Beat Street, Elm Street, Amityville Road, durch Little China, am Breakfast Club vorbei, am Cinema Paradiso, und wir sind links abgebogen, bevor…« »Vergiss es, Kleiner«, sagte ich. »Wenn das ein Running-Gag sein soll, dann kapier ich ihn nicht.« Captain lan Drayton hob eine Kanone. Es war meine Kanone. Und er richtete sie auf mich. »Also schön«, sagte er. »Genug. Wir haben nicht geschlafen. Vielleicht verliere ich einfach die Geduld und schlage Ihnen mit dieser Kanone eins über den Schädel.« »Was wollen Sie von mir?«, fragte ich auf eine Weise, die gemeinhin als höflich bekannt ist. »Ich will, dass Sie uns alles über den Fall erzählen, an dem Sie arbeiten, und dann werden wir Ihnen alles über den Fall erzählen, an dem wir arbeiten.« »Oh«, sagte ich. »Ihr seid also auch an einem Fall?« »Dem größten, den es je gegeben hat«, sagte Icarus. »Ganz bestimmt nicht, Kumpel. Der Fall, an dem ich arbeite, ist viel, viel größer als eurer.« »Ist er nicht«, sagte Icarus. »Ist er«, sagte ich. »Ist er nicht.« »Ist er doch. »Ist er nicht.« »Freunde«, sagte Captain lan Drayton, »ich weiß nicht, ob Sie Brüder sind oder nicht…« »Sind wir nicht«, sagte ich. »Sind wir«, sagte Icarus. »Nicht«, sagte ich. »Doch.« »Ich weiß es jedenfalls nicht, und es ist mir auch egal«, sagte der Captain. »Aber ich werde Sie wirklich mit dieser Kanone verprügeln, Mr. Wood-
bine, wenn Sie mir nicht alles erzählen, was Sie wissen.« »Das tue ich, Kumpel, das tue ich«, sagte ich. »Aber du wirst mir wahrscheinlich kein einziges Wort glauben.« Und so erzählte ich ihnen alles von meinem Fall, und sie erzählten mir alles von ihrem. Und als wir mit Erzählen fertig waren, was eine ganze Menge Zeit in Anspruch nahm und es erforderlich machte, dass wir noch mehrere Pizzas bestellen mussten, hingen ringsum die Unterkiefer herab und eine Menge schweren Schweigens in der Luft. Doch ich für meinen Teil hörte auch das Geräusch von fernem Applaus. Es war noch immer eine Woche entfernt, doch ich war sicher, dass ich es hören konnte, weil ich nun endlich eine Spur hatte, der ich nachgehen konnte. Jetzt ergab alles einen Sinn. »Das Überwachungsvideo«, sagte ich. »Das Video, das ich hier in meiner Tasche habe. Spielt es auf meinem Videorekorder ab und sagt mir doch bitte, was ihr auf dem Bildschirm seht.« »Meinetwegen«, sagte Icarus. Er nahm die Kassette und schob sie in den Rekorder. Schon gut, schon gut, ich hab Ihnen bisher nicht erzählt, dass ich einen Videorekorder besitze, aber hey, was soll’s? Wer auf dieser Welt hat heutzutage keinen Videorekorder? Diese Dinger sind weiter verbreitet als Geschwüre auf dem Hosenlatz eines streunenden Katers. »Dann lass mal laufen«, sagte ich, und der Junge ließ laufen. Icarus und Johnny Boy und der Captain mit meiner Kanone starrten auf den Fernsehschirm. Ich sah auch hin, aber ich konnte nicht sehen, was sie sahen. »Dämonen!«, sagte Icarus. »Zwei Dämonen, und sie schießen auf einen Mann. Aber er ist kein gewöhnlicher Mann, er ist golden! Er ist ein goldener… er ist…« »Gott«, sagte Captain lan mit krächzender, erregter Stimme. »Sie haben Gott ermordet!« Und er sank auf meinen unaussprechlichen Teppich und vergrub das Gesicht in den Händen. Icarus starrte den Captain an, und dann starrte er mich an. »Ich bin bereit, dem Videoband zu glauben«, sagte er. »Aber ich glaube immer noch nicht, dass du Lazlo Woodbine bist. Du bist mein Bruder, und damit basta.« »Junge, ich bin nicht dein Bruder.« »Und wie kommt es, dass du die Dämonen und Engel nicht sehen kannst? Du hast die Droge eingenommen, aber du kannst sie nicht sehen. Das ergibt doch keinen Sinn.« »Ich habe meine eigene Theorie, was das angeht«, sagte ich. »Aber wenn Dämonen Gott ermordet haben, dann ergeben eine ganze Menge Dinge Sinn, und ich habe meinen Fall in ein paar Tagen gelöst.« »Mach doch, was du willst«, sagte Icarus. »Es ist mir gleich. Ich werde dafür sorgen, dass die Öffentlichkeit erfährt, was ringsum vorgeht. Dass sich Kreaturen aus der Hölle mitten unter uns befinden und dass sie alles lenken und steuern. Ich muss es der Welt mitteilen.« »Halt, einen Augenblick bitte«, sagte Captain lan. »Im Ministerium für Glückliche Zufälle habe ich gesagt, dass ich Ihnen alles erklären würde. Was wirklich in der Welt geschieht und so weiter. Jetzt ist, so glaube ich, der richtige Zeitpunkt dafür gekommen.« »Hast du was dagegen, Kumpel, wenn ich eine Prise Schnupftabak nehme, bevor du damit anfängst?«, fragte ich und zog eine silberne Schnupftabaksdose hervor, die ich von einem gekrönten europäischen Haupt als Belohnung für gewisse geleistete Dienste geschenkt bekommen habe, über
die ich nicht reden darf. »Ich finde eine Prise von Crawfords Imperial, dem König des Schnupftabaks, in Zeiten wie diesen sehr hilfreich, um mich zu konzentrieren und nachzudenken. Wie es in dem schönen Merkspruch heißt, wann immer es rau wird, eine Prise von Crawfords Schnupftabak bringt dir Ruhe. Ich habe andere Marken ausprobiert, doch ich…« »Halten Sie den Rand, Woodbine«, sagte Captain lan. »Oder ich schieße Ihnen in den Kopf.« Ich zuckte die Schultern. »Das würde Gottes Witwe bestimmt nicht gefallen.« »Nein«, räumte Captain lan Drayton ein. »Wahrscheinlich haben Sie Recht. Was ich Ihnen erzählen werde, betrifft auch Eartha Gott. Verstehen Sie, Gott erschuf die Erde als Geschenk für Seine Frau.« »Das wusste ich bereits«, sagte ich. »Ich schieße Ihnen die Eier weg«, sagte Captain lan Drayton. »Bitte fahren Sie mit Ihrer höchst spannenden Erzählung fort«, sagte ich. »Gott erschuf also die Erde als ein Geschenk für Seine Frau. Doch das war vor vielen, vielen Jahren, und seitdem ist eine Menge an Jahren vergangen, was bedeutet, dass Gottes Frau seither eine ganze Menge an Geburtstagen gefeiert hat. Und Gott musste Ihr immer mehr und immer bessere Geschenke machen. Frauen erwarten das, wissen Sie? Gott mag vielleicht unendliche Weisheit besitzen, doch selbst Er verfügt nicht über unendliche Ressourcen. Irgendwann kommt eine Zeit, wenn die Rechnungen bezahlt werden müssen, und es kostet eine ganze Menge, Galaxien zu konstruieren und kosmische Nebel und schwarze Löcher und Splatagrammatone.« »Was ist denn ein Splatagrammaton?«, fragte Johnny Boy neugierig. »Eine feudalere Version von einer gehäkelten Klopapierhülle für die Heckablage eines Autos.« »Oh, ich verstehe.« »Gott griff also tiefer und tiefer in Seine Taschen, bis sie eines Tages leer waren.« »Und wen hat Er bezahlt?«, fragte Icarus. »Die kosmischen Erbauer«, sagte Captain lan Drayton. »Das himmlische Ingenieurskorps. Alles gehorcht universalen Gesetzen, verstehen Sie? Es mag nach außen hin vielleicht so scheinen, als müsste Gott nur mit der Hand winken, damit die Erde wie aus dem Nichts entsteht. Doch in Wirklichkeit werden gewisse Kräfte durch diese Handbewegung aktiviert. Und diese Kräfte, ganz gleich, wie man sie nennen mag, gibt es nicht umsonst. Gott nahm eine zweite Hypothek auf den Himmel auf, dann eine dritte und eine vierte. Und dann ging Er bankrott, und Er und die Engel wurden aus dem Himmel geworfen. Gott müsste mit Seiner ganzen Familie auf die Erde umziehen. Sie haben sicher gehört, dass Menschen Visionen von der Jungfrau Maria gehabt haben. Sie hätten keine Visionen haben können, wenn die Jungfrau Maria noch im Himmel gelebt hätte, oder? Das geht nur, wenn sie hier unten auf der Erde lebt.« »Also ist Jesus auch hier unten?«, fragte Icarus. »Sie haben Ihn wahrscheinlich bereits im Fernsehen gesehen. Allerdings ist es mir nicht gestattet, Seine irdische Identität zu enthüllen.« »Das ist alles zu viel«, sagte Icarus. »Viel zu viel.« »Es kommt noch schlimmer. Als Gott pleite ging, musste Er auch die Hölle verkaufen. Also wurden die Dämonen ebenfalls rausgeworfen, und jetzt leben sie ebenfalls auf der Erde.« »Und die Engel und die Dämonen kämpfen seit jener Zeit ihre Schlacht
hier unten auf der Erde, mit den Menschen mittendrin?« »Genau so, wie es im Buch der Offenbarungen vorhergesagt wurde. »Gilt das nicht für alles?«, fragte Johnny Boy. »Aber ich möchte Ihnen etwas sagen. Professor Partington hat herausgefunden, dass es kein Leben nach dem Tod gibt. Keinen Himmel und keine Hölle, in die wir kommen, wenn wir sterben.« »Nicht mehr, nein«, sagte Captain lan Drayton. »Aber es könnte irgendwann wieder so sein?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht.« »Ich weiß es«, sagte ich. Und ich wusste es tatsächlich. »Ich weiß es, weil ich den Fall bereits gelöst habe.« »Was?«, machten sie alle. Wie es ja auch zu erwarten stand, nicht wahr? »Ich habe den Fall gelöst«, wiederholte ich. »Nachdem ich alles gehört habe, was der Captain hier zu sagen hatte, weiß ich, wer es getan hat und warum.« Sie warfen sich gegenseitig Blicke zu, bevor sie sich alle zu mir wandten. »Na, dann schieß mal los«, sagte Icarus. »Erzähl uns alles.« »Ganz bestimmt nicht, Kumpel. Nicht vor dem finalen Show-down auf dem Dach. Ich weiß, wer es war, aber ich brauche Beweise. Ich muss diese Beweise meiner Auftraggeberin vorlegen. Und das ist nun mal Gottes Witwe. Sobald ich damit fertig bin, werde ich euch die ganze Geschichte erzählen.« »Er erzählt wieder mal Scheiß«, sagte Icarus. »Er weiß überhaupt nichts. Er erfindet eine Geschichte.« »Junge«, sagte ich, »sobald ich mit diesem Fall fertig bin, kannst du die Sache mit den Engeln und den Dämonen auf der Erde vergessen. Alle werden wieder hübsch brav dahin zurückkehren, wo sie hingehören. So wie es sein soll. Du kannst mir vertrauen, ich bin ein Detektiv. Der Beste, nebenbei bemerkt.« »Schön und gut«, sagte Johnny Boy. »Aber wo bleiben Icarus und ich in dieser Sache?« »Wir können alleine spielen«, sagte Icarus. »Mein Rat an Sie lautet«, sagte Captain lan Drayton, »dass Sie die Köpfe unten halten und in Deckung gehen, bis Mr. Woodbine hier den Fall gelöst hat.« »Oja«, sagte Icarus. »Als würde ich ihm vertrauen!« »Ich brauche nur eine Woche, Junge«, sagte ich. »Und wenn ich das Ding nicht in einer Woche gelöst kriege, kannst du machen, was immer du willst. Meinetwegen kannst du deine Geschichte im Fernsehen erzählen oder News of the World. Was immer du willst.« »Eine Woche?«, fragte Icarus. »Eine Woche?« »Das ist alles, was ich brauche.« »Nein«, sagte Icarus entschieden. »Kommt überhaupt nicht in Frage!« »Hören Sie«, sagte Captain lan Drayton. »Sie vertrauen mir, oder nicht?« Icarus nickte. »Ich schätze schon, ja.« »Und wenn ich Sie nun bitten würde, Mr. Woodbine so vorgehen zu lassen, wie er es für richtig hält, würden Sie mir diese Bitte erfüllen?« »Nun…« »Er hat uns das Leben gerettet«, sagte Johnny Boy. »Also gut, ich mache es. Für Sie. Nicht für diesen Irren da. Wenn mein Bruder alles vermasselt, was er höchst wahrscheinlich tun wird, werden Johnny Boy und ich die Sache allein in Angriff nehmen.« »Und wie genau sollen wir das anstellen?«, erkundigte sich Johnny Boy.
»Mir wird schon was einfallen. Also schön, Captain, ich bin einverstanden.« »Sehr gut«, sagte Captain lan Drayton. »Dann schlage ich Folgendes vor: Ich werde mit Mr. Woodbine zusammenarbeiten, und Sie beide ziehen sich an einen sicheren Ort zurück. In genau einer Woche treffen wir uns alle hier in diesem Büro wieder. Wie klingt dieser Vorschlag?« »Einverstanden«, sagte Icarus. »Aber wenn er den Fall nach einer Woche noch nicht gelöst hat und nicht alles wieder in Ordnung ist, dann werden Johnny Boy und ich uns darum kümmern.« »Junge«, sagte ich. »Ich werde den Fall lösen. Verlass dich drauf.« Und ich würde ihn lösen. Ich wusste, dass ich ihn lösen würde. Jawohl, Sir. Würde ich.
14 Icarus Smith und Johnny Boy saßen in der scharlachroten Restaurant Bar des Station Hotels. »Und was machen wir jetzt?«, fragte Johnny Boy. »Wir ziehen den Kopf ein«, sagte Icarus Smith. »Überlassen alles weitere Lazlo Woodbine.« »Als würden wir das tun. Sie haben die beiden angelogen, aber mich können Sie nicht belügen.« »Die beiden anzulügen erschien mir als logischer Schritt. Jeder in diesem Büro hat gelogen.« »Ich habe nicht gelogen.« »Dann eben jeder außer Ihnen.« »Moment, warten Sie mal«, sagte Johnny Boy. »Wollen Sie damit andeuten, dass der Captain gelogen hat? Ich dachte, Engel lügen nicht?« »Aber er hat gelogen. Er hat Unsinn erzählt. Es war alles gelogen. Denken Sie drüber nach, Johnny Boy. Als müsste Gott eine Hypothek auf den Himmel aufnehmen! Als wären Engel und Dämonen rausgeworfen worden. Was für ein Unsinn!« »Es klang aber ziemlich überzeugend, als der Captain es erzählt hat.« »Vielleicht hat es das, solange mein verrückter Bruder dabei war. Ich hab Ihnen doch gesagt, wenn Sie längere Zeit mit ihm zusammen verbringen, werden Sie von seinem Wahnsinn angesteckt.« »Aber Engel lügen doch nicht?« »Engel töten auch keine Menschen mit goldenen Krummschwertern, oder?« »Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass ich jemals so etwas gehört hätte. Aber glauben Sie, dass Ihr Bruder ebenfalls gelogen hat? Ich konnte seine Farben sehen. Er sah aus, als glaubte er, die Wahrheit zu erzählen.« »Ich denke, er hat einen einigermaßen gefärbten Bericht seiner Seite der Geschichte abgeliefert. Er hat beispielsweise Barry nicht erwähnt.« »Wer ist dieser Barry?« »Barry ist die Stimme in seinem Kopf. Sein Heiliger Schutzrosenkohl. Barry spricht zu ihm und hilft ihm beim Lösen seiner Fälle. Nur, dass er in Wirklichkeit keine Fälle löst. Er ist gar kein richtiger Detektiv. Er ist mein durchgeknallter Bruder.« »Ich finde das alles recht verwirrend«, gestand Johnny Boy. »Ich verstehe noch immer nicht, warum nichts passiert ist, als er die Droge eingenommen hat.« »Das ist allerdings auch mir ein Rätsel«, räumte Icarus ein. »Es ist ein Rätsel«, säuselte ich in meinem besten Toyah Wilcox. »Es ist ein Rätsel.« »Hör mit dem Singen auf, Chef!« »Warum denn, Barry, mein kleiner grüner Freund? Und überhaupt, wo hast du die ganze Zeit über gesteckt?« »Ich hab geschlafen, Chef. Dieser Sam Maggott hat uns auf den Kopf geschlagen, erinnerst du dich? Hab ich denn in der Zwischenzeit was verpasst?« »Nicht viel«, sagte ich. »Aber ich scheine so Einiges zu übersehen.« »Wie das, Chef?« »Nun, Barry, ich habe eine Droge genommen, die mich in die Lage ver-
setzt, Engel und Dämonen zu sehen, die normalerweise wie ganz normale Menschen erscheinen.« »Good Golly Miss Molly, Chef!« »Genau, Barry. Miss Molly. Und doch, obwohl ich die Droge eingenommen habe, kann ich weder Engel noch Dämonen sehen!« »Ich kann nicht sagen, dass mich das auch nur im Geringsten wundert, Chef. Wahrscheinlich siehst du auch keine rosa Elefanten und keine Feen.« »Da hast du Recht. Trotzdem war ich noch bis vor ein paar Augenblicken in Gesellschaft eines Engels. Und zweier Männer, die auch die Droge genommen haben. Und ich war nicht imstande zu sehen, was sie auf dem Überwachungsvideo gesehen haben. Wie erklärst du das, Barry?« »Vielleicht haben Sie dich ja nur auf den Arm genommen, Chef.« »Oder vielleicht hat mich irgendjemand oder irgendetwas daran gehindert zu sehen, was sie gesehen haben. Was hältst du von dieser Möglichkeit?« »Nun ja, Chef, ich…« »Du bist das! Das ist deine Schuld, Barry! Du kleiner grüner Ball aus Stumpfheit! Du verhinderst, dass die Droge bei mir Wirkung zeigt!« »Nun komm schon, Chef! Als würde ich so was tun!« »Würdest du und hast du! Hör auf damit, Barry. Hör auf damit, und zwar sofort! Oder bei Krimbo, ich pule dich mit einem Bleistift aus meinem Ohr und koche dich zum Mittagessen!« »Ich habe nur in deinem eigenen Interesse gehandelt, Chef! Ich wollte nicht, dass du dich aufregst, wenn du schreckliche Dämonen siehst und alles! Die würden dir nicht gefallen, Chef, ganz bestimmt nicht. Sie sind wirklich widerlich!« Ich nahm einen Bleistift und machte mir mit einem Spitzer daran zu schaffen. »Ich warte«, sagte ich. »Chef, bitte! Es wird dir wirklich nicht gefallen.« »Das hier ist ein 9 H, Barry. Sehr spitz und sehr hart. Ich stell schon mal den Kochtopf auf den Herd, soll ich?« »Nein, Chef, bitte nicht. Ich mach’s ja. In Ordnung.« »In Ordnung«, sagte Johnny Boy. »Und was haben Sie als Nächstes vor?« »Ich bin ein Relokator«, sagte Icarus Smith. »Das ist meine Berufung.« »Es könnte sich als ziemliche Herausforderung erweisen, alle Teufel und Engel zu relokalisieren.« »Möglich«, räumte Icarus ein. »Aber vielleicht gibt es einen Weg.« »Das meinen Sie nicht im Ernst, oder?« »Sehe ich aus, als meine ich es ernst oder nicht?« Johnny Boy studierte die Farben von Icarus. »Ja, Sie sehen so aus«, sagte er. »Sie meinen es sehr ernst. Und Sie sind sehr besorgt. Irgendetwas bekümmert Sie zutiefst.« »Ja«, sagte Icarus. »Das tut es tatsächlich. Das kommt von all dem Schwachsinn und meinem irren Bruder und allem. Ich hatte Cormerant fast vergessen. Er wird zu mir nach Hause kommen und nach dem Schließfachschlüssel suchen. Dem Schlüssel, den ich mir selbst mit der Post zugeschickt habe.« »Mein Gott, Sie haben Recht! Wir machen besser, dass wir zu Ihrem Haus kommen!« »Nein«, sagte Icarus. »Wir wären zu spät. Aber ich habe eine andere Idee.«
»Ich hab eine wirklich gute Idee, Chef«, sagte Barry. »Warum schaltest du nicht einfach das Video aus und nimmst einen großen Schluck von deinem Old Bedwetter?« Ich spulte das Videoband zurück und spielte es noch einmal von vorn ab. »Du hast es jetzt schon siebenunddreißig Mal gesehen, Chef. Sicher kennst du jede Szene inzwischen auswendig.« »Sieh sie dir an, Barry! Sieh sie dir nur an!« »Ich sehe sie, Chef. Sie sind Dämonen, ich weiß.« »Diese Kreaturen haben Gott ermordet, und wir haben es auf Video!« »Ja, Chef, das sagst du andauernd wieder.« »Und ich konnte nicht erkennen, was sie in Wirklichkeit waren.« »Nein, Chef. Nicht bevor ich die Auswirkungen der Droge in dein winziges Gehirn durchgelassen habe.« »Sieh sie dir an! Sie sind grauenvoll! Sieh dir all die Federn und Schuppen an!« »Ja, Chef, ich bin ganz deiner Meinung. Wahrlich kein schöner Anblick.« »Aber jetzt gibt es keinen Zweifel mehr, was wirklich geschehen ist. Und ich habe meinen Fall gelöst.« »Ja, Chef, das sagst du andauernd. Möchtest du mir vielleicht im Einzelnen darlegen, wie du auf die Lösung gekommen bist und mir genau erklären, warum der Fall gelöst ist?« »Nein, Barry, möchte ich nicht.« »Aber Chef, wir haben doch keine Geheimnisse voreinander. Na ja, jedenfalls du nicht vor mir, wenn ich das so sagen darf.« »Dann lies doch meine Gedanken, Barry.« »Du lässt mich ja nicht, Chef. Du sperrst mich aus.« »Verdammt richtig, das tue ich! Niemand findet jemals heraus, wie Woodbine einen Fall löst oder auch nur, wer der wahre Schurke ist, nicht vor dem finalen Show-down auf dem Dach jedenfalls. So mache ich es immer, und so werde ich es immer machen. Wegen der Spannung, wenn du verstehst, was ich meine, Barry, und ich bin absolut sicher, dass du es verstehst.« »Na ja, Chef, ich bin nicht neugierig, ehrlich nicht. Du verrätst es mir, wenn du schläfst. Du kannst mich nicht aus deinen Träumen aussperren.« »Dann gehe ich eben nicht schlafen Barry. Ich werde die ganze Woche lang wach bleiben, bis ich den Verbrecher seiner gerechten Strafe zugeführt habe.« »Niemand kann eine ganze Woche lang wach bleiben, Chef.« »Wollen wir wetten? Sieh mir einfach nur zu.« »Zusehen, wie du verrückt wirst? Lieber nicht, Chef.« »Sieh mir zu, wie ich den Fall löse. Sieh mir einfach zu.« Icarus und Johnny Boy beobachteten, wie die große schwarze Limousine auf den Parkplatz gegenüber dem Station Hotel gesteuert wurde. Sie beobachteten, wie die Kreatur namens Cormerant aus dem Automobil ausstieg und zu den Gepäckschließfächern auf der linken Seite marschierte. Sie beobachteten, wie die Kreatur namens Cormerant einen Schlüssel aus einem Umschlag mit dem Namen und der Adresse von Icarus Smith nahm, eines der Schließfächer aufschloss und eine schwarzlederne Aktentasche entnahm. Sie beobachteten allerdings nicht, wie die Kreatur namens Cormerant zu der großen schwarzen Limousine zurückkehrte. Genauso wenig beobachte-
ten sie, wie der neue Chauffeur seinen Herrn davonfuhr. Doch sie spürten die Bewegung des Wagens. Denn sie waren nun im Kofferraum. Beide. »Eigentlich ist es recht bequem hier drin«, bemerkte Johnny Boy. »Jedenfalls besser als im Kofferraum dieses Taxis.« »Ich kenne gemütlichere Orte«, erwiderte Icarus. »Andererseits erscheint es mir als die beste Methode, um zurück in das Ministerium zu kommen.« »Ich würde zu gerne Cormerants Gesicht sehen, wenn er seine schwarzlederne Aktentasche öffnet«, sagte Johnny Boy. »Er ist bestimmt stinksauer, wenn er feststellt, dass sie leer ist.« »Es schien mir die beste Lösung zu sein. Ich konnte nicht rechtzeitig zu mir nach Hause, und da wir sowieso schon gegenüber dem Bahnhof waren, mussten wir nur noch die Straße überqueren und das Schließfach öffnen.« »Sie sind erstaunlich geschickt mit Ihrer kleinen Instrumentenrolle. Was genau haben Sie vor, wenn wir erst wieder im Ministerium sind?« »Lernen«, sagte Icarus. »Ich will erfahren, was genau überhaupt vorgeht. Und dann auf der Grundlage dieser Informationen handeln.« »Ich bin gar nicht begierig darauf, wieder dort zu sein. Ich möchte nicht, dass diese Philomena meinen kleinen Kopf drückt.« »Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie nicht mitkommen müssen.« »Ich bleibe bei Ihnen«, sagte Johnny Boy. »Es mag vielleicht ein wenig gefährlich sein, aber langweilig wird es nie.« »Langweilig«, sagte ich und zappte mit der alten Fernbedienung durch die Kanäle. »Was genau machst du da, Chef?« »Ich sehe ein wenig fern. Ist das Fernsehen tagsüber nicht grauenhaft langweilig?« »Richard und Judy sind nicht langweilig, Chef. Sie inspirieren mich immer wieder aufs Neue. Und dann gibt es auch noch Countdown. Diese Carol Vorderman ist eine ausgesprochen attraktive Frau.« »Ja, sicher«, sagte ich und zappte die Kanäle rauf und runter, bis ich Carol gefunden hatte, voller Federn und Schuppen. »Na, wer hätte das gedacht, Chef, eh? Unsere liebliche Carol steckt mit dem Teufel unter der Decke.« »Genau. Wer hätte das gedacht.« »Also Chef, hör mal, du kannst doch nicht den ganzen Tag hier rumsitzen und fernsehen?« »Ich versuche nur, mich ein wenig zu entspannen, Barry. Warum legst du dich nicht auf ein Nickerchen hin, wenn du dich langweilst?« »Nein, Chef, schon gut. So schlimm ist es nun auch wieder nicht, ehrlich.« »Leg dich nur hin. Ich wecke dich später, wenn wir rausgehen.« »Wir gehen aus?« »O ja, das tun wir«, sagte ich. »Wir gehen ins West End in eine Bar, wo sich die feinen Pinkel treffen.« »Schlau, Chef, wirklich schlau. Jede Wette, dass du mit deiner alten Tweedjacke richtig Furore machst.« An meiner Bürotür klopfte es. »Herein«, sagte ich mit mehr Elan als ein Lotus. Ein Typ kam herein. Er trug einen großen Karton. »Lieferung für einen Mr. Woodcock Wallpaper«, sagte er. »Ein Trenchcoat aus Pythonhaut sowie
ein Schnapprand-Fedora.« »Dann leg ich mich jetzt wohl ein wenig hin, Chef.« »Tu das, Barry. Ich weck dich dann«, sagte ich. Eine Weile später, vielleicht auch nicht ganz so viel, verließ die schwarze Limousine den Zufahrtstunnel und gelangte in das große unterirdische Gebäude, das als Ministerium für Glückliche Zufälle bekannt war. Icarus und Johnny Boy hörten, wie die Wagentüren geöffnet und wieder zugeworfen wurden. Sie hörten auch die Stimme des üblen Cormerant. Und es war eine sehr verdrießliche Stimme. »Ich schätze, er hat seine Aktentasche geöffnet«, sagte Johnny Boy. »Ich möchte nicht in unserer Haut stecken, wenn wir ihm das nächste Mal begegnen.« Icarus befahl dem kleinen Mann, den Mund zu halten. Sie warteten, bis die fluchende Stimme in der Ferne verstummt war, dann hob Icarus vorsichtig den Deckel des Kofferraums an. »Kommen Sie, gehen wir«, sagte er. Sie schlichen durch die gewaltige unterirdische Kathedrale und bestaunten erneut all das, was sie sahen. Insbesondere die schiere Unzahl von Barbierstühlen. Tausende und Abertausende von Barbierstühlen. »Sollte es nicht eigentlich überall Arbeiter geben?«, fragte Johnny Boy. »Was denn, in orangefarbenen Overalls und Schutzhelmen wie im Hauptquartier des Superschurken in einem James-Bond-Film? « »So ähnlich, ja. Haben Sie sich eigentlich je gefragt, woher die Superschurken ihre Arbeiter kriegen? Glauben Sie, dass sie in den Zeitungen Stellenanzeigen aufgeben? Nach dem Motto: Superschurke, der die Weltherrschaft anstrebt, sucht geschickte Handlanger, die mithelfen, ein nukleares Raketensilo in einem erloschenen Vulkan zu errichten. Bewerbungen bitte unter Chiffre 666.« »Sie haben es nicht besonders mit Spielfilmen, wie, Johnny Boy?« »Sie sind lange nicht so gut wie die Music Hall. Wohin genau gehen wir eigentlich?« »Zu diesem Barbierladen«, sagte Icarus. »Dort werden wir nach Antworten suchen.« »Vielleicht sollten Sie den Griechen bitten, Ihnen einen neuen Haarschnitt zu verpassen. Ein Tony Curtis beispielsweise würde Ihnen bestimmt ganz ausgezeichnet stehen.« Tony Curtis war chancenlos gegen mich, wenn es darum ging, Frauen anzuziehen. Ich ziehe die Frauen an wie ein Misthaufen Fliegen. Aber wer will schon Frauen wie die Fliegen? Wie ich das sehe, hat man entweder seinen Stil, oder man hat ihn nicht. Und ich hab meinen, jeden einzelnen Zoll, und ich kann Ihnen sagen, das sind eine Menge. Ich setzte mir den Schlangenhaut-Fedora auf und rückte ihn in den Winkel, der für alle Zeiten als flott betrachtet werden wird. Ich zog mein altes Tweedjackett aus und nahm den neuen Trenchcoat zur Hand. Das war echter Stil. Ein Pythonhaut-Zweiteiler, vom Muster und den Farben her perfekt aufeinander abgestimmt. Ich hätte Fangio fragen sollen, ob es eine Chance gab, aus dem Verschnitt noch ein paar passende Schuhe zu machen. Für so einen Dreiteiler hätte ich ohne Zögern Muh vor dem Mullah gemacht. (Oder wäre das ein Vierteiler, weil Schuhe immer als Paar daherkommen?) Und eine Krawatte hätte ich mir machen lassen können. Und ein Paar Boxer-
shorts. Ich nahm mir im Geiste vor, dem Lion’s Mane bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit einen weiteren Besuch abzustatten und noch ein paar Pythons zu erlegen. Und vielleicht ein weißes Rhino, falls sie eins dahatten. Weißes Rhino-Leder kam sicherlich ziemlich gut auf den Sitzen des nagelneuen Bentley, den ich mit meinem Honorar, das ich für die Lösung des Falles bekam, zu kaufen beabsichtigte. »Honorar?«, höre ich Sie fragen. »Was mag das denn für ein Honorar sein, Mr. Woodbine?« Nun, meine Freunde, ich kann Ihnen zumindest so viel verraten, es wird ein großes Honorar werden. Weil ich den Fall gelöst hatte. Und wenn Sie so clever wären wie ich, dann hätten Sie ihn inzwischen wahrscheinlich auch gelöst. Sie haben alles gehört, was ich gehört habe, als Captain lan Drayton seine Geschichte erzählte. Und wären Sie imstande, eins und eins zusammenzuzählen, wie ich das getan habe, würden Sie jetzt an meiner Stelle planen, welches Leder Sie zum Beziehen der Sitze Ihres Bentley nehmen sollen. Aber hey, Sie sind nicht ich. Und wenn Sie sich jetzt fragen, wie es kommt, dass ich den größten Teil des Tages vor der Glotze verbracht habe, anstatt aktiv zu werden, dann ist das ein weiterer guter Grund, warum ich derjenige mit dem Bentley bin und nicht Sie. Doch ich will Ihnen keine weiteren verräterischen Hinweise geben. Es wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, als sich mit dem nicht unbeträchtlichen Spaß zufrieden zu geben, mich dabei zu beobachten, wie ich in meinem neuen Trenchcoat und mit meinem neuen Fedora in meinem Büro auf und ab gehe. Und aussehe, als wäre ich Millionen Dollar schwer. Und ganz bestimmt nicht klein und grün und verschrumpelt. »Grün und klein und schrumpelig«, sagte Johnny Boy. »Das ist Rosenkohl in meinen Augen. Schreckliche grüne, schrumpelige kleine Dinger… und Ihr Bruder -falls er tatsächlich Ihr Bruder ist – glaubt tatsächlich, er hätte eines von diesen Dingern in seinem Kopfl« »Ich sagte doch, er ist vollkommen durchgeknallt.« »Verdammt richtig!«, sagte Johnny Boy. »Eine Zwiebel könnte ich ja noch verstehen. Aber einen Rosenkohl? Nein danke. Nebenbei bemerkt – wo genau sind wir eigentlich jetzt?« »Wir sind da«, sagte Icarus. »Wir sind vor der Tür zum Barbierladen.« »Ich erinnere mich aber nicht, dass in dieser Nische eine Büste gestanden hätte… Die sieht aus wie Noel Edmonds…« Klopf, klopf, klopf machte Icarus und klopfte an die Tür. »Ah, einen Augenblick bitte!«, rief der Barbier mit Barbierstimme. Icarus öffnete die Tür und marschierte hinein. Der Barbier saß im mittleren Stuhl. Er hatte den inzwischen bekannten braunen Umschlag geöffnet und unübersehbar den Inhalt genossen. »Wie können Sie es wagen, einfach hier hereinzuplatzen!«, entrüstete sich der Barbier. »Ich bin mit mir selbst beschäftigt! Was ist das für ein Spiel und was und oooh…!« »Oh?«, fragte Icarus. »Oh, Sie sind es wieder, Junge. Ich dachte, sie hätten…« »Mich ermordet?«, fragte Icarus. »Nein, natürlich nicht. Sie ins Reich der Träume geschickt vielleicht.« »Nein, haben sie nicht«, sagte Icarus und näherte sich dem Barbier. »Ich mag nicht, wie Sie mich ansehen, Junge. Bitte gehen Sie. Gehen Sie durch die Tür, durch die Sie gekommen sind.«
Icarus packte die Rückenlehne des Barbierstuhls und schwang den Barbier herum. Der Barbier packte die Armlehnen, und es machte klick, klick, als die Stahlbänder hervorschnellten und ihn fesselten. »Jetzt sehen Sie, was Sie angestellt haben, Junge! Drücken Sie den Knopf auf der Rückseite des Stuhls und lassen Sie mich augenblicklich frei!« »Ich denke nicht«, sagte Icarus Smith23. »Ich habe Fragen an Sie, und Sie werden mir diese Fragen beantworten.« »Ich sage überhaupt nichts«, protestierte der Barbier. »Ich habe eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben! Ich erzähle Ihnen überhaupt nichts über gar nichts.« Icarus tätschelte dem Barbier den Kopf. »Hilfe!«, kreischte der Barbier. »Zu Hilfe!« Icarus nahm die Velocette, knüllte sie zusammen und rammte sie dem Barbier in den offenen Mund. »So«, sagte er. »Jetzt werde ich Ihnen eine kleine Massage verpassen. Ich denke, ich kann mich ganz genau erinnern, an welchen Stellen Miss Philomena Christina Maria O’Connor gedrückt hat. Ich hoffe nur, ich mache nichts falsch. Es wäre wirklich eine Schande, wenn Sie bleibende Schäden erleiden.« »Mmmmph!«, machte der Barbier und schüttelte heftig den Kopf. »Mmmmph!« »Was war das?«, fragte Icarus. »Haben Sie gerade gesagt, dass Sie alle meine Fragen beantworten wollen, klar und deutlich, ohne dass ich zu irgendwelchen schmerzhaften Massagemethoden greifen muss?« Der Barbier nickte heftig (mit dem Kopf)24. Hoch und runter. Icarus nahm die Velocette aus seinem Mund. »Bitte versuchen Sie gar nicht erst, wieder um Hilfe zu rufen«, sagte er. »Sonst drücke ich meine Daumen in Ihre Augen und zerquetsche sie.« Johnny Boy wandte das Gesicht ab. »Das will ich überhaupt nicht sehen«, sagte er. »Du bist fertig mit fernsehen, Chef, wenn ich das richtig sehe?« »Das ist der Grund, Barry, aus dem ich dich geweckt habe,ja.« »Also sind wir auf dem Weg?« »Das sind wir, Barry. Wir sind auf dem Weg zur Black Peters Tavern.« »Zur Black Peters Tavern, Chef? Bitte sag mir, dass wir nicht in die Black Peters Tavern gehen, Chef! O nein, nein, nein! Nicht in die Black Peters Tavern!« »Dann kennst du sie also, Barry?« »Nie davon gehört, Chef.« Ich war immer gerne in der Black Peters Tavern. Es war die Art von Schuppen, wo all die großen Tiere herumhingen. Wenn Sie wissen, was ich meine, und ich bin sicher, dass Sie es wissen. Dieser Schuppen war tod23
Descartes sitzt in Paris an einer Bar. Fragt der Kellner: »Noch was zu trinken?« Aber lassen wir das. 24 Man sagt: den Kopf schütteln, aber man sagt nicht: mit dem Kopf nicken. Weil man so einiges schütteln kann, aber mit kaum etwas anderem als dem Kopf nicken. Bei den Engländern ist das nicht so. Die nicken immerzu mit ihren Köpfen. Macht einen schon irgendwie nachdenklich, eh? (Unqualifizierte Anmerkung des Übersetzers)
schick. Er hatte Klasse. Wenn man hier war, war man wer. Die Einrichtung war schick bis zu einem Punkt, der über reinen Schick hinausging, einem Punkt, wo sich das Ganze in das Reich scharfsinniger Harmonie begab. Auf großspurige leere Ornamente wurde zu Gunsten ästhetischer Prinzipien verzichtet, welche die Strenge von Bauhaus und die Überschwänglichkeit von Burges in einer eklektischen Mischung vereinten, bevor sie sie bis auf ihre fundamentalen Grundlagen entkernten und einen Effekt erzeugten, der beinahe aphoristisch war in der Hinsicht, dass er zwar erfahren, jedoch niemals vollständig ausgedrückt werden konnte. Daher ist es völlig überflüssig, sich mit einer Beschreibung abzumühen. Trotzdem, es war die reinste Poesie. Sie können mir glauben. Ich atmete ein wie der Frühlingshauch Und bahnte mir einen Weg zur Bar Die Stunde war die Stunde die als Happy bekannt Und heißt Happy Hour, wo immer man ist. Ich blickte mich um, nahm die Einrichtung auf, Die Kerle und die Damen Sie alle hatten Klasse, das sah man Deutlich wie Worte auf einem Fels. In meiner Zeit als Privatschnüffler Hab ich in allen möglichen Bars getrunken Von Kneipen mit Pfützen voll Erbrochenem Bis hin zu den Stammlokalen von Filmstars. Ich habe meinen modischen Schatten In manch ein Inn am Wegesrand geworfen Und mein Glas auf Beaus und Beiles erhoben, Auf Seemänner und Synedrion. Doch man weiß, dass man zu Hause ist Wenn man allein ist in seinem Heim, Und das hier war mein Zuhause für mich Also stemmte ich meinen Ellbogen auf den Tresen Und rief den Maitre d’. »Mach sie fertig, Dicker«, sagte ich. »Ein Pint Schweineohren und eine Packung Hufe dazu.« Der Maitre d’ hob eine manikürte Augenbraue und betrachtete mich über eine schmale Nase hinweg. »Würden der Herr das bitte wiederholen?«, bat er mit ausgesuchter Höflichkeit. »Selbstverständlich«, sagte ich mit mehr savoir-faire als ein sophokleischer Sophist auf einem Sadhu-Seminar. »Einmal Schweinehufe und ein Pint Schweineohren, bitte sehr.« »Sir haben den Witz von Oscar Wilde, was in Verbindung mit der lustigen Präsentation eines Noel Coward zu einer rechten Tour de Force für das Zwerchfell wird.« »Ich hätte es selbst nicht besser ausdrücken können«, sagte ich. »Seien Sie so freundlich und packen Sie sich von dannen«, sagte der Maitre d’. »Wir bedienen Ihresgleichen nicht in unserem Lokal.« »Dann bringen Sie mir eben ein Guinness und vergessen Sie die Schwei-
neohren.« »Kommt sofort, Sir.« Der Maitre d’ zapfte ein Pint aus schwarzem Gold, und ich wartete die berühmten einhundertundneunzehn Sekunden, bis es perfekt war. »Auf das Haus«, sagte der Maitre d’. »Und bedienen Sie sich mit den Nüssen.« »Oh, danke sehr«, sagte ich. »Und woher diese plötzliche Großzügigkeit?« »Sehen Sie sich dieses Lokal an«, sagte der Maitre d’, dessen Name, für den Fall, dass Sie nicht von alleine draufgekommen sind, Fangio lautete. »Das ist ein schicker Laden. Allerbeste Kundschaft, zweiunddreißig verschiedene Marken Whisky, Teppiche auf dem Boden und sogar Papier auf dem Herrenklo. Das ist mein Ding, Laz, genau meine Kragenweite von Bar. Glaubst du, dass du für den Rest deines Falls immer wieder hierher zurückkommen könntest? Ich mochte das Lion’s Mane nicht so gerne. Ein Wildebeest ist mir auf den Fuß getrampelt.« Ich sah mich noch einmal flüchtig um. Mit meinem neuen Super-Sinn, den ich der Red-Head-Droge verdankte (welche ich für ein Aspirin gehalten und deswegen geschluckt hatte, für den Fall, dass Sie diese Seite überblättert haben), konnte ich die Männer in den Männern und die Frauen in den Frauen sehen. Sie sahen alle verdammt schick und groovy aus, und nicht ein einziger Wrong’un war unter ihnen. Dieser Laden hatte alles, was ein Laden hatte, der alles hatte. Sozusagen. »Definitiv wir, oder wie?«, fragte ich. »Definitiv. Und sieh dir diese Uniform an. Die Weste betont meine schlanke Wespentaille, und die maßgeschneiderte Hose zeigt meine geschmeidigen Hüften. Du siehst auch verdammt schick aus in deinem neuen Trenchcoat und deinem Fedora, wenn ich das bemerken darf.« »Wir sind zwei richtige Dandys, wie?« Fangio zwinkerte mir zu. »So«, sagte er. »Und was führt dich hierher?« »Ein Taxi«, sagte ich. »Aber ich hab es draußen gelassen.« O wie haben wir gelacht. Und gelacht. Der Barbier im Ministerium für Glückliche Zufälle lachte überhaupt nicht. Die Hände von Icarus Smith hielten seinen Kopf gepackt. »Erzählen Sie mir«, verlangte Icarus, »alles über diesen Barbierladen. Sagen Sie mir, warum genau es hier einen Barbierladen gibt!« Die Lippen des Barbiers zuckten und bebten, doch es kam kein Laut hervor. Icarus massierte seinen Schädel. »Aus Trainingsgründen«, wimmerte der Barbier. »Erzählen Sie weiter«, verlangte Icarus. »Wir trainieren Feldagenten in der Kunst der exocranialen Massage. Wir haben Tausende ausgebildet. Tausende und Abertausende.« »Zu welchem Zweck?«, fragte Icarus. »Weltfrieden«, sprudelte der Barbier hervor. Icarus drückte seinen Kopf. »Es stimmt! Jeder geht irgendwann einmal zu einem Barbier oder Friseur. Indem wir ihm eine exocraniale Massage verpassen, hält das Ministerium die Leute in einem passiven Zustand.« »Unter Kontrolle, meinen Sie wohl«, sagte Icarus. »Ich würde es nicht so krass sagen«, widersprach der Barbier und zog den Kopf noch weiter ein.
»Ich schon«, entgegnete Icarus und riss den Kopf des Barbiers wieder zurück. »Also hat das Ministerium für Glückliche Zufälle Tausende und Abertausende von Feldagenten zu Barbieren und Friseuren ausgebildet, die im ganzen Land verteilt arbeiten und ihre Technik einsetzen, um die Bevölkerung friedlich und unter Kontrolle zu halten.« »Ich ziehe den Begriff Weltfrieden vor«, sagte der Barbier. »Ich ziehe den Begriff Weltherrschaft vor«, sagte Icarus. »Nun, wenigstens wissen wir nun, wo all die Arbeiter in den orangefarbenen Overalls und den Schutzhelmen sind«, stellte Johnny Boy fest. »Sie drücken in irgendwelchen Barbierläden irgendwelche Köpfe.« Icarus ließ den Kopf des Barbiers los. »Da steckt noch mehr dahinter«, sagte er. »Was denn?«, fragte Johnny Boy. »Noch mehr als Weltherrschaft?« »Haben Sie überall in der Welt Feldagenten, die damit beschäftigt sind?«, fragte Icarus den Barbier. »Oder nur hier in England?« »Nur hier in England, soweit ich weiß«, antwortete der Barbier. »Das dachte ich mir«, sagte Icarus. Johnny Boy blickte fragend zu ihm auf. »Sie sind umgeben von einem Regenbogen aus Farben«, sagte er. »Was geht in Ihnen vor?« »Nur so viel. Was, wenn diese Engel-und-Dämonen-Geschichte ein einheimisches Phänomen ist? Nur hier in London und Umgebung anzutreffen? Und was, wenn es für die Menschen normal wäre, Dämonen und Engel zu erkennen? Ohne dass sie dazu die Red-Head-Droge benötigen?« »Dann würden sie die Engel und Dämonen sehen können, schätze ich.« »Und einige sehen sie auch. Doch sie gelten als verrückt. Der Rest sieht sie nicht. Und warum nicht? Weil sie jedes Mal, wenn sie zum Friseur gehen, eine verstohlene Kopfmassage erhalten. Von Kindesbeinen an.« »Und die Massagen beeinträchtigen das Gehirn, so dass die Leute die Wahrheit nicht sehen können?« »Genau das denke ich«, sagte Icarus, »Engel und Dämonen?«, fragte der Barbier. »Sie reden ausgemachten Blödsinn, wenn Sie mich nach meiner Meinung fragen.« »Tue ich aber nicht. Nur noch ein paar Fragen, und dann bin ich fertig mit Ihnen«, sagte Icarus. »Ich berufe mich auf meine verfassungsmäßigen Rechte«, sagte der Barbier. »Und außerdem auf die Genfer Konvention und den Waldorf-Salat. Ich sage von jetzt an überhaupt nichts mehr.« »Wie viele Leute arbeiten hier?«, fragte Icarus. »Das kann ich Ihnen sagen«, sagte der Barbier ihm. »Ungefähr ein halbes Dutzend. Ich, Philomena die Masseuse, Mr. Cormerant der Lohnbuchhalter und ein paar Wachen, die auf und ab laufen. Dazu der Chauffeur - nein, der wurde ja im Korridor niedergestochen. Aber der neue Chauffeur, die Frauen in der Kantine, in die niemand essen geht, weil das Essen wie Schweinefürze schmeckt, und natürlich der Chef.« »Der Chef leitet das Ministerium?« »Das ist es, wozu Chefs da sind, oder?« »Und wie lautet der Name dieses Chefs?« »Mr. Gottalming«, sagte der Barbier. »Mr. Gottalming?«, fragte Johnny Boy. Und Icarus auch. »Mr. Gottalming«, wiederholte der Barbier. Icarus sah Johnny Boy an. Und Johnny Boy sah Icarus an.
»Dieser Mr. Gottalming«, sagte Icarus zu dem Barbier. »Wie sieht er aus? Vielleicht rein zufällig wie Richard E. Grant?« »Har, har, har«, lachte der Barbier. »Nein, er sieht überhaupt nicht aus wie Richard E. Grant. Sein Vater hat ausgesehen wie Richard E. Grant. Aber Mr. Gottalming sieht nicht aus wie Richard E. Grant. Mr. Gottalming sieht eher aus wie Peter Stringfellow. Er ist der Sohn vom alten Mr. Gottalming. Mr. Colin Gottalming.« »Wartest du immer noch auf Mr. Gottalming, Laz?«, erkundigte sagte der Maitre d’ mit einem Grinsen. »In gewisser Hinsicht, ja«, antwortete ich. »Ich gehe recht in der Annahme, vermute ich, dass dies die Bar ist, in der sich die Medientypen treffen, nachdem sie im Tagesfernsehen interviewt worden sind?« »Absolut recht, mein Freund.« »Perfekt«, sagte ich. »Weil ich diesen Typen nämlich heute im Fernsehen gesehen habe, und ich würde ihn wirklich gerne kennen lernen.« »Tatsächlich?«, fragte Fangio. »Und wer ist dieser Typ?« »Ein Prominentenfriseur«, antwortete ich. »Sieht ein wenig aus wie Peter Stringfellow. Sein Name lautet Gottalming. Mr. Colin Gottalming.«
15 »Es ist ein Vokuhila«, sagte Fangio der unterernährte Maitre d’. »Ein was?«, fragte ich in schneller Reaktion. »Der Haarschnitt, den Peter Stringfellow trägt. Ein Vokuhila, der klassische Schnitt aus den späten siebzigern, wie er von den Bay City Rollers getragen wurde und fast jedem anderen auch. Peter Stringfellow ist der letzte Mensch auf Erden, der noch mit diesem Haarschnitt durch die Gegend läuft, jetzt, nachdem Pat Sharp seine Frisur endlich gewechselt hat.« »Ich persönlich stehe mehr auf Ramón Navarro«, sagte ich. »Ich mag es einfach nicht, wenn Haare unter meinem Fedora hervorsehen.« »Klasse«, sagte der bohnenstangendürre Fangio. »Pure Klasse.« »Also verkehrt er in diesem Etablissement, dieser Colin Gottalming?« »So regelmäßig wie ein Uhrwerk«, sagte der Strohhalmschmale. »Er müsste eigentlich…«, Fangio studierte die Uhr an seinem Ästchen von einem Handgelenk, »… in ungefähr zehn Minuten hier eintrudeln oder, falls er nicht trudelt, aufrecht zur Tür hereinkommen.« O wie haben wir über den gelacht. »Nun«, sagte ich zu der halb verhungerten mageren Garnele von einem Maitre d’. »Damit hätten wir also zehn Minuten, um alten Scheiß zu labern.« »Du kriegst nicht ein Wort aus mir heraus«, erwiderte der hagere Wicht, »bevor du nicht mit diesen abfälligen Anspielungen auf meine schlanke und zugleich perfekt proportionierte Physis aufhörst.« »Musst du in der Dusche eigentlich hin und her springen, um einen Wasserstrahl abzukriegen?«, fragte ich. »Ich warne dich, Laz.« »Ich habe gehört, du hättest vor kurzem all deine Sachen ausgezogen, dir den Kopf rot angemalt und wärst als Thermometer zu einem Kostümfest gegangen?« »Noch einer davon, und du sitzt draußen auf der Straße!« »Also gut, meinetwegen. Und worüber sollen wir alten Scheiß labern?« »Na ja, weißt du, Laz, ich hatte überlegt, ob ich mir nicht ein Sofa kaufen soll. Könntest du etwas Bestimmtes empfehlen?« »Hmmm«, sagte ich. »Ein Sofa also. Nun, beim Kauf eines Sofas kommt es darauf an, eines zu finden, das die richtige Form und Größe besitzt. Zu einem Preis, den du dir leisten kannst.« »Sprich weiter«, sagte der Maitre d’ mit der schlanken und dennoch perfekt proportionierten Physis. »Da gibt es beispielsweise Chesterfields, Dreisitzer von G Plan, die natürlich auch als Zweisitzer angeboten werden, die klassische Chaiselongue, die Chaiselongue von Le Corbusier, die bayrische Chaiselonge mit abfallendem Ende und Plüschpolstern sowie Seidentroddeln.« »Du kennst dich ganz schön mit Sofas aus«, sagte Fangio. »Kumpel«, sagte ich zu ihm, »in meinem Geschäft kann der Unterschied, ob man ein Sofa kennt oder nicht, den Unterschied ausmachen, ob man weiches Teegebäck auf einer heruntergekommenen Couch knabbert oder auf einer Spielwiese Schmalz leckt. Wenn du weißt, was ich meine, und ich bin sicher, dass du es weißt.« »Ich weiß jedenfalls, woher du kommst«, sagte Fangio. »Ich war nämlich selbst schon mal da, auf einer billigen Einkaufsfahrt mit dem Bus nach Norwich. Was hast du sonst noch vorzuschlagen?« »Nun ja, da gibt es das Studiosofa, die Kastenottomane, das Eichenge-
stell, das unter Zuhilfenahme von Kissen leicht in eine Couch konvertiert werden kann.« »Ich hatte mal eine Tante, die ist zum Islam konvertiert«, sagte der Fange. »Sie dachte zuerst, sie würde zur Nordseegasgesellschaft konvertieren, aber dann hat sie auf dem Formular das falsche Kästchen angekreuzt.« »Hatte sie ein Sofa? Deine Tante, meine ich?« »Nein, nur einen Lehnsessel und ein paar Sitzpolster.« »Reichlich Sitzgelegenheiten jedenfalls. Hat sie alleine gewohnt?« »Sie wohnt heute alleine. Die Sitzpolster sind ausgezogen. Sie haben einen Kerzenladen in Kemptown aufgemacht.« »Die Luft in Kemptown ist sehr erfrischend. Irgendjemand hat mir mal gesagt, sie wäre gut für Rheuma, also bin ich hingefahren, und prompt bekam ich es.« »Man kann sich Rheuma nicht so fangen, oder?« »Kommt darauf an, wer es wirft«, sagte ich. »Jungen sind eben Jungen.« Wir verstummten ein paar Augenblicke, um über das Gesagte und die guten alten Zeiten nachzudenken. »Mein Problem bezüglich des Sofas ist ungelöst«, sagte der schlanke Knabe schließlich. »Ich würde mir gerne das Allerbeste kaufen, aber ich kann mir nur das Schlechteste leisten.« »Ah«, sagte ich. »Das nennt man, glaube ich, eine Couch-22.25« O wie haben wir gelacht. Fangio trocknete sich die Tränen an einem übergroßen roten Gingantaschentuch. »Mein Gott, hat das gut getan!«, sagte er. »Das war allererste Sahne, Laz. Aber sieh nur, da kommt Mr. Gottalming!« »Colin Gottalming«, sagte Johnny Boy. »Das ist also das dritte Kind von Gott. Das Kind, das die ganze Erde erbt. Mr. Woodbine hat uns alles über ihn erzählt.« »Ja«, sagte Icarus. »Dessen bin ich mir durchaus bewusst.« »Und es ergibt Sinn«, sagte Johnny Boy. »Wenn Gottes Familie gezwungen wurde, hier unten auf die Erde zu ziehen. Colin ermordet seinen Vater und fälscht sein Testament. Jetzt gehört der Planet ihm.« »Ja, ja«, sagte Icarus. »Ich verstehe.« »Und er hat sich mit den Wrong’uns zusammengetan, deswegen auch der Plan, den Leuten die Köpfe zu massieren. Damit sie nicht sehen können, was in Wirklichkeit um sie herum vorgeht. Er hat alles von langer Hand vorbereitet. Er hat es seit Jahren geplant.« »Ja«, sagte Icarus. »Ich verstehe, was Sie sagen.« »Dieser Mr. Woodbine ist ein Genie!«, sagte Johnny Boy. »Er wusste von Anfang an, dass Colin Gottalming hinter alledem steckt.« »Nein«, sagte Icarus. »Alles, aber das nicht. Das passt alles viel zu gut zusammen.« »Warum denn nicht, wenn es stimmt? Warum nach einer komplizierteren Lösung suchen?« »Weil wir hier über meinen Bruder reden, Johnny Boy. Meinen irren Bruder. Und wenn wir erst in seinen Irrsinn hineingezogen werden, können wir ihm nicht mehr entkommen. Es ist ansteckend, verstehen Sie? Wie eine Krankheit. Ich bin hierher ins Ministerium gekommen, um diese Sache selbst zu lösen. Ich muss nichts weiter tun, als mich eine Woche lang von 25
Catch-22 bedeutet Zwickmühle (Anm. d. Übers.)
ihm fern halten. Wenn das möglich ist.« Johnny Boy starrte nach oben in das Gesicht von Icarus Smith. »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte er, »aber wenn ich mich nicht irre, entdecke ich da einen gewissen Geschwisterneid. Falls Mr. Woodbine tatsächlich Ihr Bruder ist, dann sollten Sie stolz sein auf ihn. Und falls er nicht Ihr Bruder ist, dann haben Sie das Gesicht Ihres Bruders auf ihn projiziert, weil Ihr Bruder Ihr Held ist. Was möglicherweise erklärt, warum Sie sind, wie Sie sind. Der Junge, der sich darum bemüht, sich selbst einen Namen zu machen als der Relokator, der die Welt wieder in Ordnung gebracht hat. Ganz gleich, was nun zutrifft, es bedeutet, dass Sie tatsächlich zu Ihrem Bruder aufblicken, ohne zugeben zu können, dass es so ist.« »Nein«, widersprach Icarus. »Das stimmt nicht! Ich bin, was ich bin, weil ich einen Traum hatte. Mein Bruder lebt in einer Welt aus Träumen, doch ich stehe mit beiden Beinen in der Wirklichkeit.« »Sie graben sich nur eine noch tiefere Grube für sich selbst«, sagte Johnny Boy. »Das steht alles schon beim alten Freud.« »Gehen wir«, sagte Icarus. »Wohin?« »Natürlich Colin Gottalming suchen. Was sonst?« »Mr. Gottalming?«, fragte ich und streckte ihm die Hand entgegen. »Mr. Colin Gottalming?« Der Typ musterte mich kühl von oben bis unten. Mir war sofort klar, dass ich den richtigen Kerl vor mir hatte; ich erkannte es an der Art und Weise, wie er leuchtete. Regenbogenfarbene Lichter glitzerten rings um ihn, und ein goldener Schein, der nicht nur von seinem Vokuhila stammte, hüllte seine Schultern ein. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«, erkundigte sich das dritte Kind Gottes, ohne meine dargebotene Hand zu ergreifen und herzlich zu drücken. »Ich bin Privatdetektiv«, erklärte ich in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, wo genau ich in dieser Angelegenheit stand. »Mein Name ist Woodbine. Lazlo Woodbine.« Und dann fügte ich noch hinzu: »Manche nennen mich Laz.« Der Typ sah mich an wie eine Taube auf einem tönernen Takel, das träge tanzend tirilierte. »Nun ja, Mr. Woodless«, sagte er in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, wo genau er in dieser Angelegenheit stand. »Ich brauche keinen Privatdetektiv.« »Ich heiße Woodbine«, verbesserte ich ihn. »Und glauben Sie mir, Kumpel, Sie brauchen einen.« Der Typ bedachte mich mit der Sorte von Blick, die ich nicht auf einen Veganer verschwenden würde. »Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte er. »Ich habe keine Zeit herumzustehen und blöden Scheiß mit einem Kerl zu labern, der angezogen ist wie eine Handtasche.« »Eine Handtasche?« sagte ich in meiner feinsten Charlies-Tante-Manier. Oder war es Ernst sein ist alles? Ich werfe die beiden immer durcheinander. Oder vielleicht war es auch HMS Pinafore. Nein, es war Charlies Tante. Ich bin mir ganz sicher. »Vielleicht war es ja meine Tante«, sagte Fangio. »Sie hatte nämlich eine Handtasche.« »Halt dich da raus, Jiffy«, sagte ich zu dem ausgemergelten Maitre d’. »Das hier geht nur mich und Dolly Parton hier etwas an.« »Handtasche!«, sagte Colin Gottalming, warf sein goldenes Haar zurück
und zupfte an seinem goldenen Schwall. »Freund«, sagte ich, »lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen. Was ist rot und weiß und liegt tot in einer Seitengasse?« »Keine Ahnung«, sagte Colin Gottalming. »Ein von Kugeln durchlöcherter Leichnam«, sagte ich. »Und dieser Leichnam ist der Ihres Vaters.« »Das war äußerst subtil«, sagte Fangio. »Und wer ist dieser Jiffy, wo wir schon dabei sind?« »Mein Dad?«, fragte Colin. »Wovon reden Sie überhaupt, Mann?« »Ihr Dad hat die goldene Fahrkarte gelöst, Freund.« »Mein Daddy ist tot?« »Toter als ein Gartenzwerg in einem grünen Geranientopf, Gustl«, sagte ich. »Kälter als ein Kuhnippel in einer kaukasischen Käserei. Mehr ohne jedes Leben als die hundertste Wiederholung des Papageiensketches von Monty Python.« »So tot?«, fragte Fangio. »Und noch toter. Kaputt.« »Nein!«, sagte Colin. Er kam allmählich ins Reden. »Das kann nicht sein! Nicht mein armer Daddy! Sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist!« »Es ist wahr!«, sagte ich. »Wahrer als die wahre Liebe, die das Herz einer Jungfrau gewinnt. Wahrer als eine Wagentür in einer walisischen Welszucht mit wohlfeilen Wattebäuschen. So wahr wie…« »… ein fetter Frivatdetektif mit einem flangenhäutigen26 Fedora?«, fragte Fangio. »Entfuldigung. War nur ein Forflag. Du mufft ihn nicht nehmen, weift du?« »Oh, mein armer, armer Daddy!« Colin Gottalming begann zu weinen und kaute auf seinen Knöcheln und benahm sich ganz allgemein wie ein albernes großes Mädchen. »Jetzt hast du ihm die Fassung geraubt!«, sagte der Knochensack von einem Maitre d’. »Genug von diesen Dünner-Junge-Sprüchen!«, sagte Fangio. »Ich bin schließlich auch nur ein Mensch, weißt du? Oder glaubst du, dass ich nicht blute, wenn du mich schneidest?« »Das können wir schnell herausfinden«, sagte ich. »Gib mir doch mal eben das Messer, mit dem du dein Fleisch hackst.« »Nein wirklich, Laz. Ich mache keine Witze. Du kannst manchmal sehr grausam sein! Und der arme Kerl hat wirklich die Fassung verloren. Sieh ihn dir nur an, er weint ja!« »Er tut nur so«, sagte ich. »Tu ich nicht!«, schluchzte Colin. »Tust du wohl«, sagte ich. »Blubb, blubb, blubb«, machte Colin. »Nun drück ihn mal«, sagte Fangio. »Das hilft nämlich manchmal.« »Das tue ich ganz bestimmt nicht«, sagte ich. »Ich will keine Tränen auf meinem Trenchcoat27!« »Was gibt’s denn für Probleme?«, erkundigte sich eine breitschultrige Dame in einem blassen pinken Peplos mit Day-Glo-Arbeitshose. Sie besaß die Art von Gesicht, die man im Allgemeinen nur bei einem Platypus mit einer Pflaume im Pappen zu sehen bekommt. »Halten Sie Ihren da raus, Miss Piggy«, sagte ich zu ihr. »Das geht Sie 26 27
Es reimt sich so schön. Alliterationsmäßig. Ein Lazlo-Woodbine-Thriller.
überhaupt nichts an.« Die schweineähnliche Dame brach in Tränen aus. »Da sieh nur, was du jetzt schon wieder angerichtet hast«, sagte Fangio. »Und du hältst dich ebenfalls raus, Skelettjunge.« »Buahahaha!«, machte Fangio und brach weinend über dem Tresen zusammen. »Blubb, blubb, blubb«, machte Colin. »Uäääh, uäääh!«, machte die schweinegesichtige Dame. »Kann ich vielleicht helfen?«, erkundigte sich ein Einradfahrer, der gerade auf ein Perrier zur Tür hereingekommen war. Er trug einen von jenen hautengen Lycra-Anzügen, die nur an Lynford Christie gut aussehen, und dazu einen von jenen stromlinienförmigen Fahrradhelmen, die an wirklich jedem beknackt aussehen. »Verpiss dich, du Spandex-Poseur!«, sagte ich. Der Einradfahrer fing an zu schluchzen. Ich habe keine Ahnung, was es mit diesem ewigen Geheul auf sich hat. Ich schätze, es muss irgendwie ansteckend sein oder so, wie Gähnen zum Beispiel. Irgendjemand im Zimmer gähnt, und man gähnt mit. Vielleicht ist es ein konditionierter Reflex. Oder irgendetwas Atavistisches aus grauer Vorzeit, als wir noch in Stämmen organisiert waren. Wenn der Häuptling gähnte, gähnten alle anderen auch, und alles ging zu Bett. Oder, in diesem Fall, wenn der Häuptling weinte, gesellte man sich zu einer zünftigen Session zusammen und weinte ebenfalls. Ich kenne mich nicht allzu gut in der Geschichte der Menschheit aus, deswegen kann ich es nicht mit Bestimmtheit sagen. Was ich jedoch mit Bestimmtheit sagen konnte, war Folgendes: Es war nicht meine Schuld. Schön und gut, mag sein, dass ich Colin einen verbalen Schlag verpasst hatte, aber sein Schluchzen war nicht echt. Und Fangio war ein Waschlappen, und die schweinegesichtige Dame war wahrscheinlich zu nah am Wasser gebaut. Was den Einradfahrer anging sowie die drei Studenten, den Maler im Ruhestand, die beiden jungen Frauen aus Essex sowie den buckligen alten Kauz oder das Continuity Girl aus Blue Peter oder die Lady mit dem mächtigen Busen sowie den Blödmann mit seinem Mobiltelefon, der meinte, einen Krankenwagen rufen zu müssen… O. K. ich gebe ja zu, dass ich ihre jeweiligen Schwächen vielleicht beim Namen genannt hatte, aber sie mussten sich ja auch unbedingt in eine Sache reinhängen, die sie absolut nichts anging. Dass sie deshalb anfingen zu heulen, bis das Wasser der Themse den Buckingham Palace überflutet, und mir die Schuld an allem gaben, das war starker Tobak. Das war bescheuerter als der blätternde Beton auf einem bombensicheren Bunker in Bagdad. Ich hätte heulen können. Ich hätte fast angefangen. »Haltet die Schnauzen!«, rief ich. »Los, die Klappen zu, ohne Ausnahme!« »Waaah!«, machten sie im Chor. »Werdet ihr jetzt vielleicht endlich mit dieser dämlichen Heulerei aufhören, ihr Bande von rückgratlosen Wichteln?« »Waaah!«, wiederholten sie sich, diesmal noch lauter. »Er hat mich Quasimodo genannt!«, schluchzte der bucklige alte Knacker. »Er hat gesagt, ich hätte ein Gesicht wie der Hintern einer Kuh!«, schluchzte eine Frau mit einem Gesicht, das aussah wie der Hintern einer Kuh.
»Er hat sich über meine Männlichkeit lustig gemacht!«, schluchzte ein tuntiger Hemdchenheber. »Er hat mich eine protzige dumme Ziege genannt!«, schluchzte eine protzige dumme Ziege. »Er hat meinen Daddy ermordet!«, heulte Colin Gottalming. Plötzlich schwiegen alle. »Was hat er getan?«, fragte ein Typ mit einem Geschwür an der Lippe, das, wie ich im Vorübergehen bemerkte, wahrscheinlich eine Pestbeule war. »Er hat meinen armen geliebten Daddy ermordet! Er hat ihn in einer Seitengasse niedergeschossen!« »Unsinn!«, protestierte ich zu Recht empört. »Ich habe nichts dergleichen getan!« »Mörder!«, rief eine weinende Lady, die – sehen wir den Tatsachen ins Auge – beinahe so aussah wie Jabba the Hutt. »Mörder!«, kreischte der Typ mit dem Muttermal, auf das ich die Aufmerksamkeit der anderen gelenkt hatte. »Hängt ihn auf!«, rief die Frau mit der fragwürdigen Frisur, was ich ihr (und nicht nur ihr) laut und deutlich zu verstehen gegeben hatte. »Ich besorge ein Seil!«, polterte Fangio. »Ey, Fange!«, rief ich. »Hör auf damit!« »Sorry, Laz. Hab mich wohl mitreißen lassen.« »Er hat meinen armen geliebten Daddy ermordet!«, schluchzte Colin erneut. Und glauben Sie’s oder nicht. Oder selbst wenn Sie’s nicht glauben. Die ganze verdammte Bande richtete sich mit einem Mal gegen mich! »Wenn Sie mich fragen«, sagte Johnny Boy, »dann haben wir uns verlaufen.« »Ich frage Sie aber nicht«, antwortete Icarus Smith. »Nun seien Sie nicht gleich eingeschnappt!«, sagte Johnny Boy. »Nur weil ich Ihnen meine Meinung über Ihre Beziehung zu Ihrem Bruder gesagt habe.« »Das ist es nicht«, sagte Icarus Smith, obwohl es genau das war. »Andererseits denke ich, sie haben Recht. Wir haben uns verlaufen.« Sie waren ein gutes Stück Wegs durch die Korridore des Ministeriums für Glückliche Zufälle gewandert. Sie hatten den Barbier weit hinter sich gelassen, an seinen Stuhl gefesselt und mit der Velocette im Mund. Doch nun, mitten im Irgendwo, hatten sie sich richtig und gründlich verlaufen. Was nicht schön war. »Vielleicht sollten wir versuchen, den gleichen Weg zurückzugehen.« »Nein«, entschied Icarus. »Wir gehen weiter. Wir überlassen es dem Schicksal. Welchen Weg würden Sie nehmen?« »Was würden Sie dazu sagen, wenn wir hier links abbiegen?« »Also schön, dann nach rechts«, sagte Icarus. Sie wanderten und marschierten weiter, während Johnny Boy sich nach Kräften bemühte, die Dinge mit Geschichten aus den Music Halls ein wenig freundlicher aussehen zu lassen. Icarus hingegen ließ die Dinge düsterer aussehen mit einer Geschichte über einen Film über Minenarbeiter, die unter der Erde eingeschlossen worden waren. »Vielleicht gehen wir die ganze Zeit über im Kreis«, sagte Johnny Boy.
»Das macht man nämlich, wissen Sie, wenn man versucht, in einer geraden Linie zu gehen. Ein Bein ist immer ein klein wenig kürzer als das andere, und so wandert man automatisch in einem riesigen Kreis.« »Funktioniert das auch, wenn beide Beine kurz sind?«, fragte Icarus. »Seien Sie nicht so grausam«, sagte Johnny Boy. »Ich fange sonst noch an zu weinen.« Der weinende, brüllende Mob näherte sich bedrohlich, doch ich war nicht bereit, kampflos aufzugeben. Ich war bereit, meine Stellung zu verteidigen und so viel auszuteilen, wie ich konnte. Ich würde meine Fäuste gebrauchen und einen fairen Kampf kämpfen, und den Letzten hole der Teufel. Doch ich war gewaltig in der Unterzahl. Also riss ich meine zuverlässige Smith and Wo-soll-das-alles-enden aus dem Schulterhalfter und jagte ein paar Schüsse in Richtung Decke. Womit ich das Sprinklersystem in Gang setzte. Und den Feueralarm. Tief unten im Ministerium für Glückliche Zufälle schrillte der Alarm. »Ich schätze, der Barbier hat sich endlich befreit«, sagte Johnny Boy. »Was machen wir nun?« »Ich würde sagen, wir laufen«, sagte Icarus. »Allerdings bin ich unentschieden, was die Richtung angeht, in die wir laufen sollten.« »Nach oben wäre ein guter Plan«, sagte Johnny Boy. »Nach oben laufen?« »Genau. In Richtung Ausgang. Nach oben und nach draußen, weg von hier.« Das Geräusch rennender Schritte war inzwischen zu hören. »Dort«, sagte Icarus. »Dort ist eine Leiter an der Wand. Sie führt nach oben in eine Art Schacht.« »Das wäre dann wohl die richtige. Los, setzen wir uns in Bewegung, bevor die Wachen uns erwischen.« »Packt ihn!«, rief der Kerl mit dem Bulldoggengesicht, dem ich gesagt hatte, dass er dringend einen Schönheitschirurgen nötig hätte. »Packt den Mörder! Schlagt ihn tot!« Und plötzlich fand ich mich in einem Mahlstrom fliegender Fäuste und Stiefel wieder. »Ich höre ihre Stiefel näher kommen!«, rief Johnny Boy drängend auf halbem Weg den Schacht hinauf, der irgendwo hinführte. »Wie kommen Sie voran da oben, Icarus? Können Sie schon das Tageslicht sehen?« »Äh, genau genommen nicht, nein«, rief Icarus zurück. »Nur eine Art Schachtdeckel. Und es sieht nicht so aus, als könnte ich ihn öffnen.« »Sie kommen näher, Icarus, ich kann sie hören! Sie kommen aus allen Richtungen!« Sie drangen aus allen Richtungen gegen mich vor, von den Seiten und von unten und von oben. Ich stelle mit nicht wenig Stolz fest, dass ich dank meiner täglichen Fitnessübungen28 stets auf der Höhe meiner körper28
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lichen Leistungsfähigkeit bin und einen Schlag auf den Solarplexus einstecken kann, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Allerdings hatte ich nie eingeplant, derart viele Schläge und alle gleichzeitig einzustecken. »Ich muss es sprengen«, sagte Icarus. »Sie müssen was?« »Den Schachtdeckel. Ich muss den Schachtdeckel sprengen.« »Aber wie?« »Ich nahm mir die Freiheit, ein oder zwei Stäbe S.C.H.E.I.S.Z. aus den Taschen des guten Captain lan Drayton zu relokalisieren, als wir alle im Büro meines Bruders waren. Ich dachte, dass ich sie vielleicht eines Tages gebrauchen könnte. Sie haben nicht zufällig Streichhölzer dabei?« »Leider nein«, rief Johnny Boy nach oben. »Und wie sieht es mit Ihnen aus?« »Ah, ich hab auch keine.« »Nein!« Ich versuchte es mit »Nein!« und ich versuchte es mit »Gnade!« und auch mit »Ihr habt den falschen, Leute!« oder mit »Ich hab ein schwaches Herz!«, doch trotz oder gerade wegen meines Flehens prügelte der tobende Mob die siebzehn Glocken von St. Trinian aus mir und meinem Trenchcoat und meinem Fedora. Anschließend wurde ich in die Luft gewuchtet und zur Hintertür getragen und in die dunkle Seitengasse geworfen. Nun ja, wenigstens war es eine Seitengasse. Meine Güte, mir tat alles weh, als ich auf dem Boden aufschlug. Ich war blutig und verschrammt und verbeult und zerkratzt. Mein Trenchcoat war in Fetzen, und mein Hut war verschwunden. Und als ich so im Dreck lag und mich fragte, wie viele Knochen der Mob mir wohl gebrochen hatte, wurde meine ohnehin gedrückte Stimmung weiter gedrückt vom Geräusch eines Hahns, der gespannt wurde. Ganz besonders, da ich das charakteristische Geräusch dieses Hahns sehr genau kannte. Denn es war das Geräusch des Hahns meiner zuverlässigen Smith and Wo-ist-verdammt-noch-rnal-die-Hilfe-wenn-man-sie-dringendbraucht? Ich blickte durch das eine Auge nach oben, das nicht zu einem Veilchen geschlagen war und sich geschlossen hatte, und in das Gesicht meines Möchtegern-Henkers. »Du bist totes Fleisch, Mr. Handtasche«, sagte selbiger. »Wir sind totes Fleisch!«, rief Johnny Boy. »Nein, sind wir nicht!«, widersprach Icarus. »Ich finde einen Weg, diese Zündschnur anzustecken!“ »Aber wir fliegen in die Luft oder schmelzen!“ »Dieses Zeug ist gerichtet. Es geht nach oben los, wenn man nach oben zielt!« »Aber wir haben keine Streichhölzer, um es anzustecken!« »Ich denke mir was aus.« Eine Taschenlampe erfasste Johnny Boy. »Los, kommen Sie da runter!«, riefen Stimmen, begleitet von Sicherungshebeln, die umgelegt, und Hähnen, die gespannt wurden. »Kommen Sie da runter, oder Sie sind… »Totes Fleisch?«, fragte Icarus Smith.
»Totes Fleisch«, sagte Colin, dritter Sohn Gottes. »Jetzt gibt es nur noch dich und mich, Mr. Handtasche.« »Langsam, Kumpel, immer hübsch langsam«, sagte ich. »Tun sie nichts Dummes, das ich vielleicht bereuen würde. Ich weiß, wer Sie sind. Was Sie sind. Ich arbeite für Ihre Mutter.« »Meine Mutter?« »Eartha Gottalming, die Witwe Gottes. Eine große dicke hässliche Lady mit einem Gesicht wie eine Plastiktüte voller Autoteile.« »Was hat meine Mutter mit alledem zu tun?« »Ich hab das Testament gelesen«, sagte ich und spuckte ein wenig Blut aus, um die Dramaturgie zu steigern. »Gottes letzten Willen und sein Testament. Sie sind ein Hauptverdächtiger für den Mord.« »Was soll das bedeuten?« »Das Testament ist gefälscht. Die Erde wird Ihnen vermacht und nicht den Schwachen, denen sie schon in der Bibel versprochen wurde. Ich kenne die Wahrheit. Ich habe sie herausgefunden.« »Sie wissen überhaupt nichts, Mr. Handtasche. Ich habe kein Testament gefälscht.« »Das weiß ich.« Ich spie noch ein wenig mehr Blut aus und etwas, das aussah wie zwei Zähne. »Ich weiß, dass Sie das nicht waren.« »Ich denke, Sie wissen zu viel, Mr. Handtasche.« »Ich kenne die Wahrheit«, sagte ich. »Und ich kann Ihnen helfen.« »Ich brauche aber keine Hilfe. Ich komme ganz ausgezeichnet ohne fremde Hilfe zurecht. Ich habe diese Welt unter Kontrolle. Unter meiner Kontrolle. Haben Sie vielleicht Brüder, Mr. Handtasche?« »Ich«, fragte ich. »Nein. Ich bin ein Einzelkind. Sie haben sich getrennt, bevor ich gezeugt wurde.« »Nun, Mr. Handtasche, ich für meinen Teil habe einen Bruder. Einen sehr berühmten Bruder sogar. Jesus Christus lautet sein Name. Ich habe mein ganzes Leben lang in seinem Schatten gelebt. Aber damit ist es jetzt vorbei. Ich bin aus seinem Schatten hervorgetreten.« Colins Finger legte sich um den Abzug. Ich starrte in den Lauf meiner eigenen Kanone. »Nein«, sagte ich. »Erschießen Sie mich nicht! Ich kann Ihnen helfen!« Colin schüttelte den Kopf. »Ich habe nur eine einzige Frage«, sagte er. »Fragen Sie. Fragen Sie, was Sie wollen!«, sagte ich. »Was ist rot und weiß und als Handtasche verkleidet und liegt tot in einer Seitengasse?« Und dann. Glauben Sie’s. Oder glauben Sie’s nicht. Er setzte den Lauf der Pistole an meinen Kopf und drückte ab.
16 Man sagt, dass im Augenblick des Todes das ganze Leben vor einem vorüberzieht. Oder besser: In dem Augenblick, in dem man glaubt, dass man stirbt. Und Freunde, ich muss gestehen, dass ich in diesem Augenblick ziemlich sicher war, dass ich in dieser Seitengasse sterben würde. Und ich kann Ihnen sagen, dass mein Leben tatsächlich vor meinen Augen vorbeizog. Und was für ein Leben das war! Ich hatte tatsächlich viele großartige Dinge vergessen, die ich erlebt hatte. Die edlen Taten, die ich getan hatte. Die scheinbar unlösbaren Fälle, die ich gelöst hatte. Die Auszeichnungen, mit denen ich ausgezeichnet worden war. Die Ritterschläge, die ich erduldet hatte. Die wunderschönen Frauen, die ich geliebt hatte. Die schnellen Wagen, die ich gefahren hatte. Die exotischen Länder, die ich besucht hatte. Die Freunde, die ich gehabt hatte. Die Lacher. Der Spaß. Ich war hier gewesen, hatte dies und das getan und mir nicht nur ein TShirt, sondern einen Platz in den Herzen von Millionen erkauft. Ich war Lazlo Woodbine gewesen, der größte Detektiv von allen. Und das können nicht viele Menschen über ihr Leben sagen. Genau genommen kann es niemand – außer mir. Und wenn jetzt meine Zeit gekommen war, würde ich dem großen Unbekannten mit Würde entgegentreten. Mein Schicksal akzeptieren. Eine tapfere Miene machen, wenn ich meinem ultimativen Gegner gegenüber trat. Ich würde mit einem Lächeln auf dem Gesicht und einem Lied auf den Lippen gehen. »Erbarmen!«, kreischte ich. »Bitte töten Sie mich nicht!« Er zog den Abzug trotzdem durch. Und dann gab es einen allmächtigen Blitz. Und Colin war einfach verschwunden. Huh? Meine zuverlässige Smith and Wirklich-ich-war’s-nicht fiel mir auf den Kopf und hätte mir fast das letzte funktionierende Auge ausgeschlagen, und ich hatte das eigenartige Gefühl, dass ich von oben bis unten mit geschmolzenem Schleim besudelt war. »Los, kommen Sie!«, rief eine Stimme, die ich kannte. »Verschwinden wir!« Ich hob meinen verbeulten Schädel und starrte benommen auf die Stelle, wo Colin Gottalming noch einen Augenblick zuvor gestanden hatte. Diese Stelle war nun ein offener Schacht, und aus diesem Schacht kletterte der junge Bursche Icarus, dicht gefolgt von seinem winzigen Puppenfreund. Icarus starrte meine besudelten Überreste an, und sein Unterkiefer sank herab, so schlaff wie ein sabbernder Säufer auf der Schmalzparty eines Slumlords. »Was machst du denn hier?«, fragte er entgeistert. Ehrlich, genau die gleiche Frage hätte ich ihm ebenfalls stellen können. Doch stattdessen entschied ich mich, ihn zu fragen: »Was ist mit Colin Gottalming passiert?« »Colin Gottalming?«, fragte Icarus. »Colin Gottalming. Das dritte Kind Gottes. Er stand direkt hier auf dem Schachtdeckel, und jetzt ist er, na ja, einfach weg.« »Oh«, sagte Icarus Smith. Und es war die Sorte Oh, die ich nicht als
Homburg tragen würde. »Aaaaaaaaaaaaaaaaagh!«, rief in diesem Augenblick der kleine Mann. »Sie kommen hinter uns her! Unternimm etwas, Icarus!« Icarus blickte sich suchend in der Seitengasse um. »Der Müllcontainer!«, sagte er. »Helfen Sie mir, den Container hierher zu ziehen, Johnny Boy. Du auch, Bruder!« »Ich bin nicht dein gottverdammter Bruderjunge!«, sagte ich. »Und ich kann dir nicht helfen. Ich glaube, ich hab mir sämtliche Knochen gebrochen.« »Dann eben nicht.« Der Junge rannte zu dem großen Container auf Rädern, und mit der Hilfe seines winzigen Freundes zog er ihn zu dem Schacht. »Das sollte sie aufhalten«, sagte er. »Junge«, sagte ich, »du tauchst an den unwahrscheinlichsten Orten auf. Ich schätze, dass ich dir diesmal danken muss. Und ich…« Doch ich kam nicht mehr dazu, noch etwas zu sagen. Weil ich wegen der ganzen Schläge, die ich in der Kneipe eingesteckt hatte, und wegen meiner Blessuren und gebrochenen Knochen und ganz ehrlich auch wegen dem ganzen Stress, unter dem ich gestanden hatte, wo ich doch dem Tod ins Auge gesehen hatte und so, das Bewusstsein verlor und mich ein verdammtes weiteres Mal auf dem Weg durch das bodenlose schwarze wirbelnde Loch aus Nichts befand. Jawohl, Sir. Verdammt. »Was gibt’s Neues?«, fragte Icarus. Er saß im Sprechzimmer eines Doktors. Das Sprechzimmer roch nach Füßen und Fisch und Angst. Nach stinkender Gärung. Der Doktor hatte ein Krankenblatt auf dem Schreibtisch liegen. Er blätterte durch die Akte, während er zu Icarus sprach. »Ihr Bruder ist ein sehr kranker Mann«, sagte der Doktor, während er seine Brille zurechtrückte und diese Sache mit seinem Stift machte. »Er wurde schlimm zusammengeschlagen und hat nicht nur mehrere gebrochene Knochen, sondern auch innere Verletzungen.« Icarus nickte nachdenklich. »Und wie lange dauert es Ihrer Meinung nach, bis er wieder auf den Beinen und der Alte ist?« »Wochen. Vielleicht Monate.« »Er kann unmöglich so schlimm verletzt sein!« »Es sind weniger die physischen Verletzungen«, sagte der Doktor. »Es ist mehr seine geistige Gesundheit, die mir Sorgen bereitet.« »Ah«, sagte Icarus. »Wir sind in dieser Hinsicht also der gleichen Meinung.« »Er scheint zu glauben, dass er ein Detektiv ist«, sagte der Doktor, während er sein Stethoskop auf dem Ärmel abklopfte. »Er leidet eindeutig unter Wahnvorstellungen. Behauptet, dass er am größten Fall arbeitet, den es jemals gegeben hat. Hat irgendwas mit der Ermordung Gottes zu tun. Können Sie sich das vorstellen?« Icarus schüttelte den Kopf. »Und er redet mit sich selbst. Wenn er meint, dass niemand ihn hören kann. Er scheint an einer Persönlichkeitsspaltung zu leiden. Ich habe gehört, wie er mit einem imaginären Gegenüber namens Barry diskutiert hat. Er gibt diesem Barry die Schuld für alles, was ihm zugestoßen ist.« Icarus nickte einmal mehr. »Ich frage mich, ob er vielleicht unter irgendeinem Trauma aus der Kindheit leidet«, sagte der Doktor. »Ich weiß, dass er ein Alkoholproblem hat
und eine gescheiterte Ehe, und ich habe das Gefühl, als wäre er auf der Suche nach seiner weiblichen Seite.« Icarus nickte, dann schüttelte er den Kopf, dann nickte er erneut. »Daher halte ich es für das Beste«, sagte der Doktor, »wenn Sie dieses Formular unterschreiben und mir ermöglichen, ihn in psychiatrische Behandlung zu geben.« Icarus nickte, und Icarus grinste. »Leihen Sie mir Ihren Kugelschreiber«, sagte er. »Das war glattweg niederträchtig und gemein!«, sagte Johnny Boy und blickte von seinem Drink auf. »Ihren Bruder in eine Irrenanstalt einzuliefern.« Sie saßen einmal mehr im Station Hotel, und Icarus hatte nicht mehr aufgehört zu grinsen, seit sie dort eingetroffen waren. »Es ist keine Irrenanstalt«, sagte er zu Johnny Boy. »Es ist ein psychiatrisches Sanatorium. Es ist nur zu seinem Besten. Er braucht wirklich eine Behandlung.« »Ihnen ist bewusst«, sagte Johnny Boy, »dass Sie damit möglicherweise sein Todesurteil unterschrieben haben?« »Es ist kein Todesurteil. Lediglich ein Formular, mit dem ich seiner Behandlung zugestimmt habe.« »Aber er ist bereits seit fünf Tagen im Hospital, was bedeutet, dass die Woche fast vorbei ist. Und wenn er diesen Fall nicht bis morgen gelöst hat, dann wird Gottes Witwe ihn bestrafen.« »Der Fall ist doch gelöst! Colin war der Halunke, und Colin ist durch einen Unfall gestorben.« »Nichts ist gelöst«, sagte Johnny Boy. »Werfen Sie doch mal einen Blick auf den Barmann.« Icarus warf einen Blick auf den Barmann. Der Barmann war nicht Fangio, doch das hatte Icarus auch nicht erwartet. Der Barmann war der übliche Barmann, der Barmann, der die relokalisierte Uhrkette der Kreatur namens Cormerant trug. Doch jetzt konnte Icarus die wahre Gestalt des Barmanns erkennen. Der Barmann hatte Federn auf dem Kopf, einem grünen Reptilienkopf. »Nichts ist gelöst«, sagte Johnny Boy einmal mehr. »Ich arbeite daran«, sagte Icarus. »Ich war nicht untätig. Die Männer im Ministerium für Glückliche Zufälle wissen noch nicht, dass Colin tot ist. Ich habe Memos gefälscht, indem ich Briefköpfe aus Cormerants Aktentasche benutzt habe. Ich habe sie an alle Abteilungen des Ministeriums geschickt und verfügt, dass das exo-craniale Programm beendet wird. Und ich habe sämtliche als Friseure verkleideten Feldagenten in den Barbierläden entlassen. Und ich habe geschrieben, dass man uns in Zukunft nicht mehr schikanieren darf. Ich wüsste nicht, was ich sonst noch tun kann.« »Ich auch nicht«, sagte Johnny Boy. »Aber die Dämonen und Engel sind trotzdem noch hier auf der Erde, und nur wir wissen, dass sie hier sind.« »Vielleicht können wir nichts anderes tun als warten?« »Warten worauf?« »Darauf, dass eine neue Generation heranwächst. Eine Generation, die nicht die Köpfe massiert bekommt. Diese Generation wird die Wahrheit sehen.« »Das ist ein Drückeberger-Ende, wenn es je eins gegeben hat«, sagte Johnny Boy. »Haben Sie Ihre Berufung als Relokator aufgegeben? Vielleicht müssen Sie es ja nicht mehr versuchen, nachdem Ihr Bruder in der Klaps-
mühle gelandet ist. Sie müssen nichts mehr beweisen. Ist es das?« »Nein, das ist es nicht.« Icarus seufzte. Vielleicht war es das. Vielleicht musste er nun, nachdem sein Bruder in der Klapsmühle saß, tatsächlich nichts mehr beweisen. »Da ist noch etwas, das ich Sie bisher nicht gefragt habe«, sagte Johnny Boy. »Was ist eigentlich aus Ihrer Mutter geworden? Hat Cormerant ihr etwas Schreckliches angetan, als er zu Ihnen nach Hause gefahren ist, um den Schlüssel für das Gepäckfach zu holen, den Sie an sich selbst geschickt hatten?« »Nein, sie war zu der Zeit nicht daheim. Offensichtlich hat Cormerant die Vordertür eingeschlagen und den Umschlag einfach von der Fußmatte aufgehoben.« »Ist das nicht wunderbar? Sie müssen nicht einmal Rache nehmen! Also trinken wir einfach noch etwas und warten in aller Gemütsruhe auf die nächste Generation.« »Hören Sie auf«, sagte Icarus. »Ich hab alles getan, was in meiner Macht steht. Ich wüsste nicht, was ich sonst noch tun könnte.« »Nein«, sagte Johnny Boy und leerte seinen Drink. »Sie wissen es nicht. Aber ich wette, Ihr Bruder weiß es. Ich wette, wenn er nicht in diesem Irrenhaus wäre und wieder an seinem Fall, wüsste er genau, was er zu tun hätte.« »Er ist zu krank«, sagte Icarus. »Er ist ein sterbender Detektiv. Er hat eine Menge gebrochener Knochen und alles.« »Er hat überhaupt nichts!«, widersprach Johnny Boy. »Ich hab ihn besucht. Er hat ein paar ausgeschlagene Zähne und ein paar blaue Flecken, das ist alles. Er hätte schon längst wieder draußen und an seinem Fall sein können, wenn Sie nicht sein Todesurteil unterzeichnet hätten.« Icarus ging zum Tresen, um eine weitere Runde Drinks zu bestellen. Der Barmann mit der Uhrkette grinste ihn an. Icarus starrte in seine teuflische Fratze. Auf den Reptilienkopf, die Augen mit ihren vertikalen, geschlitzten Pupillen, die zuckenden Federn und die bösartigen Insektenmundwerkzeuge. »Sie haben in letzter Zeit nichts mehr in meine Richtung relokalisiert«, beobachtete der Barmann, während er seine Uhrkette mit einer grauenhaften Kralle befingerte. »Sie werden für diese Runde Drinks bezahlen müssen. Wissen Sie, nichts auf der Welt ist umsonst, außer dem Tod, und der kostet das Leben.« Icarus bezahlte und kehrte mit den Drinks an den Tisch zurück. »Wir fahren ins Sanatorium«, sagte er. »Wir holen meinen Bruder.« »Ich bin ein Einzelkind«, sagte ich. »Ich weiß nicht, warum Sie mir immer wieder damit kommen, dass ich einen Bruder habe.« »Vor mir liegt Ihre Krankenakte«, sagte der Doktor. »Ich weiß also, dass Sie einen Bruder haben, und ich weiß auch, wer Sie wirklich sind.« »Ich bin Woodbine«, sagte ich. »Lazlo Woodbine«, und dann fügte ich noch hinzu, als wäre ich vom Teufel geritten: »Manche nennen mich Laz.« »Woodbine also«, sagte der Doktor und nickte. Wenigstens hatte er sich meinen Namen gemerkt und sprach ihn richtig aus. »Der weltberühmte Privatdetektiv. Jeder kennt seinen Namen, doch niemand weiß, wie er aussieht.« »Genau so erledige ich mein Geschäft.« »Schlafen Sie eigentlich gut?«, fragte der Doktor.
»Ich habe seit fünf Tagen nicht mehr geschlafen. Ich wage nicht zu schlafen. Ich würde das Ende verraten, wenn ich einschlafe.« »Sie meinen, Barry würde es erfahren, und Barry würde es verraten?« »Ich will nicht über Barry reden«, sagte ich. »Vergessen Sie Barry.« »Also schön, vergessen wir Barry. Reden wir über Sie, Mr. Lazlo Woodbine, den Privatdetektiv.« »Gutes Thema«, räumte ich ein. »Könnte ich vielleicht noch so eine Hallo-Wach-Pille haben?« »Nach meinen Unterlagen zu urteilen…« Der Doktor blätterte schon wieder in seinen gottverdammten Unterlagen. »Nach meinen Unterlagen zu urteilen arbeitet Lazlo Woodbine lediglich an vier Schauplätzen.« »Sie haben es begriffen«, sagte ich. »In meinem Büro, in einer Bar, in einer Seitengasse und auf dem Dach, wo es zum finalen Show-down mit dem Halunken kommt. Kein guter Detektiv braucht jemals mehr.« »Nicht einmal ein Schlafzimmer, wegen des kostenlosen Sex’, für den Genredetektive so berühmt sind?« »Manche Versprechen kann nicht einmal ein berühmter Detektiv einhalten.« »Und deswegen halten Sie sich an Ihre vier Schauplätze.« »Das tue ich«, sagte ich. Und das tat ich auch. Der Doktor streckte die Arme und verschränkte sie hinter dem Kopf. »Und wie erklären Sie sich dann Ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort?«, fragte er. »Nennen Sie mir irgendeinen Ort«, sagte der Taxifahrer. »Irgendeine Adresse in Inner oder Greater London, und ich erzähle Ihnen ganz genau, wie Sie von hier aus dorthin kommen.« Es war nicht der gleiche Taxifahrer, doch es wäre schwer gefallen, den Unterschied zu bemerken. Er hatte die gleiche eigenartige Sache mit den Haaren auf der linken Seite und das gleiche eigenartige Problem mit der Zunge, wenn er das Wort »Plinthe« aussprach 29. »Ich bin nicht in der Stimmung«, sagte Johnny Boy. »Ach los, geben Sie sich einen Ruck«, bettelte der Taxifahrer. »Ich fahre dann auch ganz bestimmt schneller.« »Also schön, meinetwegen«, sagte Johnny Boy. »Wie kommt man von hier zum Fliegenden Schwan?« »Ganz einfach«, sagte der Taxifahrer. »Sie fahren die Abbadon Street hinauf, an der Moby Dick Terrace entlang, dann biegen Sie nach links in die Sprite Street ein, dann rechts in die…« »Das erfindet er alles«, sagte Johnny Boy. »Ich glaube, das machen sie immer«, sagte Icarus Smith. »Sie erfinden das alles«, sagte der Doktor. »Es ist alles ein Hirngespinst. Wenn Sie der echte Lazlo Woodbine wären, würden Sie jetzt bestimmt nicht hier sitzen.« »Hmmm«, sagte ich. »Nun ja.« »Im Verlauf der letzten fünf Tage haben Sie mir eine Geschichte erzählt, die ein einziges großes Hirngespinst ist. Über eine Stimme in Ihrem Kopf, die sich mit der Witwe Gottes unterhält. Über eine Droge, die Menschen in die Lage versetzt, Engel und Dämonen zu sehen. Und wenn ich mich nicht 29 Haben Sie es inzwischen mit einer Frau versucht? Ja? Nun, ich habe Ihnen gesagt, dass es sexy ist, oder vielleicht nicht?
irre, gehen Sie davon aus, dass ich einer dieser Dämonen bin. Einer von diesen >Wrong’unsTunnel der LiebeUnd der Herr der Heerscharen wird über sie kommen und sie mit einem goldenen Schwert niederstrecken.< Das ist nicht gerade die gewöhnliche Praxis bei einem Engel.« »Sie kennen sich bemerkenswert gut in den okkulten Schriften aus«, sagte Jesus. »Herr«, sagte ich zu ihm, »in meinem Geschäft kann der Unterschied, ob man seine okkulten Schriften kennt oder nicht, den Unterschied bedeuten, 35
Die geheime Bibel für die Eingeweihten. Nicht, dass man sie bei W. H. Smith’s kaufen könnte.
ob man in der seligen Sonntagskirche (p)Salmen schmettert oder eine Muschel mit einer morschen Maläse malträtiert. Wenn Sie wissen, was ich meine, und wenn Sie es nicht wissen, wer dann?« »Das ist eine gute Frage«, erwiderte Jesus. »Ich muss passen. Aber da Ich es nicht war, der Meinen Vater ermordet hat, wer war es dann?« »Nun, Ihre Schwester Christine war es jedenfalls auch nicht.« »Tatsächlich dachte ich, dass Sie vielleicht dahinter steckt«, gestand Jesus. »Seine Schwester?«, fragte Icarus. »Wo kommt Seine Schwester bei alledem ins Spiel?« »Philomena Christina Maria O’Connor«, sagte ich. »Die Dame mit den gefährlichen Fingern. Sie steckte mit Colin unter einer Decke. Es hat was mit Geschwisterneid zu tun, versteht ihr? Unser Mr. Christus hier, der älteste Sohn, heimste allen Ruhm für Sich ein. Barry hat mir erzählt, dass Er Seine Schwester aus dem Neuen Testament herausstreichen hat lassen, weil Er die volle Kontrolle über den Text besaß. Und als Colin geboren wurde, hatten sie längst aufgehört, Bibeln zu schreiben, deswegen wurde er niemals irgendwo erwähnt. Die Gottalmings sind eine ziemlich zerrüttete Familie. Es herrscht eine Menge Zwietracht und Neid und Eifersucht. Das Gleiche wie in vielen anderen Familien, schätze ich.« »Ich hab versucht, nett zu sein«, sagte Jesus. »Immer wieder hab Ich es versucht! Ich bin berühmt für Meine Nettigkeit.« »Es war nicht Ihre Schuld, Herr. Na ja, vielleicht ein klein wenig. Aber bleiben wir zunächst bei der Aufzählung der Verdächtigen. Es war also nicht Colin, und es war nicht Eartha, und es war nicht Jesus, und es war nicht Christine.« »Also war es Cormerant«, sagte Icarus. »Immerhin war er der leibhaftige Teufel.« »Den hatte ich ganz oben auf meiner Liste«, räumte ich ein, kühler als ein Katechismus vor einem kalten Kaffee. »Zusammen mit Fangio, wenigstens für eine Weile; man kann diesen dürren Burschen nie so recht über den Weg trauen. Aber nein, Kumpel, es war nicht Cormerant. Nicht einmal der.« Eine Menge Köpfekratzen und eine Menge lauter Stoßseufzer folgten. Gefolgt von einem kurzen Schweigen. »Aber wer war es dann?«, fragte Icarus schließlich aufgebracht. »Es war niemand«, sagte ich. »Weil Gott nicht ermordet wurde. Gott ist gar nicht tot.« »WAS?«, machten sie alle, einschließlich Jesus, und in nicht unbeträchtlicher Lautstärke. »Er ist nicht tot«, wiederholte ich. »Die ganze Geschichte war ein Schwindel. Ein Schwindel von Anfang an. Jesus hier hat Sich verraten, als Er uns erzählte, dass Gott eine Hypothek nach der anderen auf den Himmel und die Hölle aufnehmen musste, bis Ihm endgültig das Geld ausging. Wie hat Er das getan, dachte ich mir. Er musste an Seine Lebensversicherung, richtig? Eine ganz gewaltige Lebensversicherung angesichts der Tatsache, dass all die Hypotheken gedeckt werden mussten. Und wer würde Gottes Leben nicht versichern? Der Typ lebt schließlich ewig, oder? Ein todsicheres Geschäft. Aber was, wenn Gott nun doch sterben und Seine Frau die Lebensversicherungen einlösen würde, um sämtliche Schulden zu bezahlen und den Himmel und die Hölle wieder in Besitz zu nehmen? Wenn Gott Seinen Eigenen Tod vortäuschte, würde alles wieder in Ordnung kommen.«
»Das ergibt einen Sinn«, räumte Icarus zögernd ein. »Bitte fahren Sie mit Ihrer äußerst interessanten Schilderung fort, Mr. Woodbine«, sagte Johnny Boy. »Ich wurde auf die falsche Fährte gelockt«, sagte ich. »Und zwar von Anfang an. Von Anfang an wurde ich von meinem Fall der schwarzledernen Aktentasche abgehalten, weil ich sonst die Dinge in der falschen Reihenfolge herausgefunden hätte. Barry hat mir erzählt, dass Gott auf jüdische Jungfrauen steht, also marschiere ich in das Crimson Teacup, wo sich Gott recht überzeugend zeigt und dann praktischerweise vor meinen Augen in einer dunklen Seitengasse erschossen wird. Wodurch ich zum Augenzeugen wurde. Und welch ein untadeliger Zeuge ich war! Der größte Privatdetektiv von allen, in Diensten des denkbar erlauchtesten Mandanten, nämlich der Ehefrau Gottes. Sie hat mit Ihm unter einer Decke gesteckt – aber das haben Sie inzwischen sicherlich erraten, meine Freunde.« »Hatte ich nicht«, gestand Johnny Boy. »Ich verliere langsam den roten Faden«, sagte Icarus. »Ich werde verwirrt.« »Versuch noch ein wenig durchzuhalten, Junge. Es ist eigentlich alles ganz einfach. Na ja, wenigstens für mich. Also habe ich bisher Recht, oder nicht? Richtig. Zur rechten Zeit am rechten Ort, um die Ermordung Gottes zu bezeugen. Und vielleicht hätte es sogar funktioniert, wenn ich nicht als Reporter verkleidet an den vorgeblichen Tatort zurückgekehrt wäre, wo Sam Maggott mich erkannte und mir auf den Kopf schlug. Ich hätte mit Sicherheit Colin als Verantwortlichen gesehen, genau wie seine Mutter es beabsichtigt hat. Doch ich wäre nicht imstande gewesen, es zu beweisen, also wäre er ungeschoren davongekommen. Und Gottes Frau hätte das Geld von den Versicherungen erhalten. Colin hätte die Erde bekommen, und ich wäre wahrscheinlich an dem feurigen Ort gelandet, ohne ein einziges Wort des Dankes, dass ich dermaßen den Deppen mit mir habe machen lassen.« »Aber es gibt doch gar keine Hölle mehr«, warf Icarus ein. »Sicher. Im Augenblick nicht. Aber es wird wieder eine geben, sobald Eartha das Geld hat und sämtliche Schulden Gottes bezahlt. Dann kriegen sie nämlich den Himmel und die Hölle zurück, und alles ist wieder genauso wie früher auf der Welt.« »Erklären Sie uns doch die Geschichte mit dem Videoband«, sagte Icarus. »Wir haben es alle gesehen. Wir alle haben gesehen, wie Gott ermordet wurde.« »Wir haben gesehen, was Gott uns zeigen wollte. Oder besser ausgedrückt, was er der Versicherungsgesellschaft zeigen wollte. Mit Engelsaugen betrachtet hätte alles sehr koscher ausgesehen, ohne jeden Zweifel. Sie hätten die beiden Dämonen gesehen, die Gott niederstreckten, und dann mich, als ich die Dämonen ausgeknipst habe. Mit diesem Beweis und dem verrückt spielenden Wetter und allem, was hätten sie noch mehr verlangen können?« »Einen Leichnam beispielsweise?«, fragte Icarus. »Ja«, sagte ich gedehnt. »Sollte man meinen, oder? Aber kann man wirklich erwarten, dass Gottes Witwe ihnen den Leichnam Gottes zeigt? Insbesondere angesichts der Tatsache, dass Er unter so dunklen Umständen gestorben ist? Sein Ruf musste bewahrt werden. Er war schließlich Gott, um Gottes willen. Als ich in jener Seitengasse war, sah ich genau das, was Gott wollte, das ich sehe. Und auf dem Band hätten
die englischen Versicherer36 gesehen, was Gott wollte, das sie sehen. Gewöhnliche Menschen hätten gesehen, was ich gesehen habe, als ich das Band zum ersten Mal sah. Ich, wie ich zwei unschuldige Männer niederschieße. Doch nachdem ich die Droge genommen hatte und Barry den Effekt durchließ, spielte ich das Band wieder und wieder ab, und ich sah noch mehr. Ich spulte das Band im schnellen Vorlauf vor, und nach der Szene, wo ich auf die Knie falle und mir meinen Trenchcoat besudele und die Seitengasse verlasse, weil das Wetter plötzlich verrückt spielt und alles, nach dieser Szene ist nämlich noch mehr zu sehen37. Man muss wirklich ganz nah rangehen, und selbst dann fällt es nur einem richtigen Profi auf. Trotzdem, man kann es erkennen, durch den Sturm und den Regen hindurch. Gott, wie er aufsteht und sich davonschleicht. »Was?«, riefen Johnny Boy und Icarus und Captain lan Drayton unisono. »Das haben Sie gesehen?« »Ich schätze, Eartha Gottalming hätte diesen Teil noch gelöscht, bevor Sie das Band an die Versicherungsgesellschaft weitergegeben hätte.« »Das war’s also«, sagte Icarus und schüttelte den Kopf. »Sie haben den Fall tatsächlich gelöst. Sie haben den größten Fall gelöst, den es jemals gegeben hat.« »Wer sonst außer mir, Junge? Das Traurige an der Geschichte ist nur, dass niemand es jemals erfahren wird.« »Warum denn nicht?«, fragte Icarus. »Das verstehe ich nicht.« »Junge«, sagte ich. »Was wünschst du dir mehr als alles andere in der Welt?« »Dass alles wieder in Ordnung kommt«, antwortete Icarus. »Dass alles am richtigen Ort ist. Das war mein Traum und meine Berufung. Die Welt wieder in Ordnung zu bringen.« »Und der einzige Weg, wie die Welt wieder in Ordnung gebracht werden kann, besteht darin, all die Engel und Dämonen, die hier unten auf der Erde miteinander kämpfen, wieder dorthin zurückzuschaffen, wo sie hingehören. Nämlich in den Himmel beziehungsweise in die Hölle. Und das passiert nur, wenn wir unsere großen Mäuler fest geschlossen halten und so tun, als wäre Gott tot, damit Eartha die Lebensversicherung kassieren kann. Sie bezahlt Gottes Schulden, und die Welt kommt wieder in Ordnung. Habe ich Recht oder habe ich Recht?« »Sie haben Recht, Mr. Woodbine«, sagte Icarus. »Und da niemand auf der Erde außer uns irgendetwas über diese Geschichte weiß, weiß auch niemand, dass die englische Versicherungsgesellschaft denkt, Gott wäre tot. Die Menschen werden Ihn weiter anbeten, und Gott, wo auch immer Er ist, wird froh sein, wenn sie es tun. Die Dinge auf der Erde werden viel besser sein als jetzt. Es wird wieder ein Leben nach dem Tod geben, die guten Leute kommen wieder in den Himmel, die bösen wieder in die Hölle, und das ist der Grund, aus dem ich niemals den Dank erhalten werde, den ich für die Lösung des größten Falles, den es jemals gab, eigentlich verdient habe.« »Er hat Recht«, sagte Jesus Christus. »So wird es sein, weil es so sein muss.« 36
Klingt nach Lloyd’s, finden Sie nicht? Das ist aber im Englischen nicht so, seien sie… versichert? (Anm. d. Übers.) 37 Versuchen Sie mal, den Satz an einem Stück zu sagen, ohne zwischendurch Luft zu holen.
»Aber das ist…!« Icarus warf die Hände hoch. »Das ist unehrenhaft! Ich dachte immer, dass Gott ein durch und durch gutes Wesen wäre!« »Ich denke, wir alle hatten genügend Theologie für einen Tag«, sagte Johnny Boy. »Begnügen wir uns damit, dass es ein Happy End gibt.« »Ja«, sagte ich. »Ich dachte mir, dass du das sagst, Kumpel, ich dachte es mir.« »Ich habe es gerade gesagt«, sagte Johnny Boy. »Weißt du, Kumpel«, sagte ich zu ihm mit mehr Gravität als ein getroffener Gangster auf einem Galgenstrick-Gelage. »Du hast mich zum Nachdenken gebracht, vorhin auf dem Dach. Ich hab einfach nicht begriffen, wie es kommt, dass du nicht gestorben bist.« »Ein glücklicher Zufall, was sonst«, erwiderte Johnny Boy. »Ende gut, alles gut, oder nicht?« »Oh, bitte«, sagte ich. »Ich bin so weit gekommen, ich hab den größten Teil rausgefunden. Sie würden mir nicht ein ganz klein wenig Ruhm missgönnen, angesichts der Tatsache, dass ich niemals über diesen Fall sprechen kann?« »Ha?«, machte Icarus. »Was hat das nun wieder zu bedeuten?« »Frag Johnny Boy«, sagte ich. Johnny Boy grinste. »Dann mal los«, sagte er. »Nur zu, erzähle weiter, mein Sohn.« Ich beugte mich zu ihm herab, und mit mehr Panachè als ein Poolhai auf dem Poopdeck eines Puh-Ba-Paddelboots ergriff ich seine Haare und riss ihm Perücke und Maske herunter. Darunter wurde das Gesicht von… Jawohl, Sie haben es erraten. Haben Sie nicht? Dann will ich es Ihnen erklären. … das Gesicht von Richard E. Grant persönlich sichtbar. Auch bekannt als Gott. »Dad!«, sagte Jesus. »Du bist es! Du bist geschrumpft!« »Ich war stets ein Meister der Verkleidung, mein Junge.« »Nein«, sagte Icarus. »Das kann nicht sein. Das träume ich nur.« Das Gesicht Richard E. Grants lächelte freundlich zu Icarus Smith herauf. »Es kann sein«, sagte Er. »Und es ist.« »Nein«, sagte Icarus, und in seinen Augen standen einmal mehr Tränen. »Nein, das ist nicht fair! Das kann nicht sein!« »Ich weiß«, sagte Gott. »Du fühlst dich betrogen, nicht wahr? Betrogen und getäuscht. Du glaubst, du hast nichts selbst erreicht. Dass ich dich auf jedem deiner Schritte gelenkt habe. Doch das habe ich nicht, weißt du? Du hast alles alleine erreicht.« »Nein«, sagte Icarus. »Das habe ich nicht. Das waren Sie. Vom ersten Augenblick an, als ich Ihnen begegnet bin. Sie waren es die ganze Zeit. Sie haben mir im Haus von Professor Partington geholfen. Als Sie die Schuppentür geöffnet haben und der Wind die Kartenschnipsel ganz bequem an die richtigen Stellen geweht hat. Und im Pub, als ich die Tablette in die Luft warf und sagte, dass das Schicksal entscheiden soll, fiel sie mitten in meinen Mund. Das waren Sie ebenfalls. Sie haben es wieder und immer wieder getan. Ich habe Ihnen vertraut. Ich dachte, Sie wären mein Freund. Aber ich habe Ihnen nichts bedeutet. Nur ein weiterer Bauer in Ihrem Spiel.« »Hey, Junge«, sagte ich. »Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich halblang machen. Das ist Gott, mit dem du da redest, weißt du das?« »Hm«, sagte Icarus und biss sich erschrocken auf die Lippe. »Besser, wenn du ein wenig Respekt zeigst, eh?«
»Schon gut«, sagte Gott. »Ich verstehe das. Ich verstehe schließlich alles. Das ist es ja, was Gott auszeichnet. Ich habe nur das Problem, dass ich noch nie so richtig mit Geld umgehen konnte. Und dass ich eine Frau geheiratet habe, die jede Menge Forderungen stellt. Sie hat mich nie richtig verstanden, versteht ihr? Hör zu, Icarus, ich mag dir vielleicht ein wenig geholfen haben. Doch ich habe dir geholfen, weil ich als dein heiliger Schutzengel gehandelt habe. Lazlo hat Barry, und du hattest mich.« »Sie haben einen Narren aus mir gemacht«, sagte Icarus. »Nein, mein Junge. Ich habe dir lediglich geholfen, deine Ziele zu verwirklichen. Du möchtest doch schließlich auch, dass die Engel und die Dämonen dahin zurückkehren, wo sie hingehören. Das ist die ultimative Relokation, weißt du? Und du hast eine Hauptrolle dabei gespielt. Hättest du Lazlo nicht aus dem psychiatrischen Sanatorium herausgeholt…« »Dazu haben Sie mich doch überredet!« »Einzelheiten, Einzelheiten!«, sagte Gott. »Immer nur Einzelheiten. Du hast deinen Teil gespielt und deinen Teil getan, und das hat dich und deinen Bruder wieder zusammengebracht.« »Dieser Junge ist nicht mein Bruder«, sagte ich zu Gott. Gott hob eine Augenbraue. »Was immer Sie sagen, Sir«, sagte ich. »Aber er ist nicht mein…« Gott lächelte und zwinkerte mir zu. »Richtig«, sagte Er. »Nun ja, es scheint zumindest alles aufgelöst zu sein, und es gibt keine offenen Enden. In ein paar Minuten wird es an deiner Tür klopfen, mein Sohn. Das wird meine, äh, Witwe sein. Ach, übrigens, Lazlo, eine Sache hast du nicht aufgelöst. Sie weiß nichts. Sie glaubt wirklich, dass ich tot bin. Unsere Ehe ist nicht gerade das, was man im Volksmund eine >glückliche Ehe< nennt. Sie ist keine besonders fürsorgliche Frau, meine Eartha. Ich habe ihr die Welt zu Füßen gelegt, buchstäblich, doch es war ihr nicht genug. Sie hat mich nicht geliebt, und sie hat Colin nicht geliebt. Zugegeben, er war ein elender kleiner Mistkerl, und er hätte die Welt an den Teufel verkauft, was ich auf gar keinen Fall zulassen durfte. Deswegen habe ich mein Testament so aufgesetzt, dass der Mordverdacht auf ihn fällt. Ich wusste, dass es keine Beweise gab und er letzten Endes ungeschoren davonkommen würde. Ich dachte, es wäre vielleicht ein Lacher, zu sehen, wie er und meine Frau darüber streiten, wem denn die Welt nun wirklich gehört. Es tut mir natürlich sehr Leid, dass er tot ist, aber Unfälle geschehen nun einmal.« Icarus öffnete den Mund, um zu reden, doch dann überlegte er sich’s anders. »So, ich werde euch jetzt verlassen«, sagte Gott. »Ich weiß, ich kann darauf vertrauen, dass ihr das Richtige tut und meiner Frau die Geschichte meiner Ermordung verkauft. Wir alle wollen doch schließlich das Gleiche, oder nicht? Die Engel zurück im Himmel und die Dämonen zurück in der Hölle.« Ich nickte und Icarus nickte. Und Jesus nickte ebenfalls. »Ich bin froh, wenn ich wieder in den Himmel zurückkann«, sagte Jesus. »Hier unten kriegt man einfach keinen anständigen Haarschnitt.« »Ich mag dich ebenfalls, Icarus«, sagte Gott. »Ich mag dich sehr gerne. Du warst ein guter Freund.« »Es war gut, Ihr Freund zu sein, Herr«, sagte Icarus. »Sie waren wie ein Bruder für mich.« »Und es war nie langweilig. Ich hab die Stelle richtig genossen, wo du das Gespenstometer dazu benutzt hast, den Fiesta des Professors in dem Parkhaus scheinbar immer im Kreis herumfahren zu lassen. Das war ein
richtig cleverer Einfall. Das hat mir gefallen.« »Danke sehr«, sagte Icarus. »Nun, dann wünsche ich dir jetzt viel Glück, mein Junge. Du wirst deinen Weg machen – obwohl ich dir empfehle, dir eine neue Berufung zu suchen. Relokation ist ein gefährliches Geschäft. Doch es wird dir gelingen, das weiß ich. Du hast mein Wort darauf.« »Nochmals danke«, sagte Icarus. »Ich muss jetzt wirklich gehen«, sagte Gott. »Ich habe ein heißes Date im Crimson Teacup, und es wäre unhöflich, eine Lady warten zu lassen. Also sage ich für jetzt auf Wiedersehen. Auf Wiedersehen, und Gottes Segen.« Und mit einem Winken und einem Zwinkern und einem Nicken und einem Grinsen war Gott verschwunden. Einfach so. »Ich denke, ich verschwinde jetzt besser ebenfalls«, sagte Jesus. »Ich konnte meine Stiefmutter noch nie gut belügen. Sie mag mich nicht besonders, wisst ihr?« Und mit einem Winken und einem Zwinkern und einem Nicken und einem Grinsen war Jesus verschwunden. Einfach so. Ich sah Icarus an. Und Icarus sah mich an. »Damit wären nur noch wir beide übrig, Junge«, sagte ich. Und dann klopfte es klopf, klopf, klopf an meiner Bürotür, und ich sah einen dicken fetten Schatten durch die Milchglasscheibe. »Ich schätze, du überlässt alles Reden mir, Junge«, sagte ich. »Das wird mein letzter Auftritt. Ich habe mein finales Problem gelöst. Nachdem ich mit der Dame gesprochen habe, wird Lazlo Woodbine Ermittlungen aller Art seine Geschäftstätigkeit ein für alle Mal einstellen. Ich habe genug von diesem Geschäft.« Icarus lächelte und streckte mir die Hand hin, damit ich sie schüttelte. »Du bist ein richtiger Held, Bruder«, sagte er. »Schlag ein.« Ich lächelte den Jungen auf eine Weise an, wie nur Woodbine es kann. Und dann schüttelte ich meinem Bruder die Hand. [Ende]