Atlan - Minizyklus 06 Intrawelt Nr. 10
Wanderstadt Aspoghie von Hans Kneifel
Im Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrech...
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Atlan - Minizyklus 06 Intrawelt Nr. 10
Wanderstadt Aspoghie von Hans Kneifel
Im Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung – das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht – befindet sich der relativ unsterbliche Arkonide auf einer verwegenen Mission. Atlan ist in die Intrawelt vorgestoßen, um ein Mittel gegen die unheimlichen Lordrichter zu finden: den Flammenstaub. Nach wie vor bedrohen diese mit ihren Truppen mehrere Galaxien. Gleich zu Beginn seiner Odyssee durch die gigantische Hohlwelt gerät der Arkonide an Peonu, einen Diener der Chaotarchen. Dieser raubt ihm einen Teil der Seele und kettet dadurch ihrer beider Schicksal aneinander. Peonu lässt den Arkoniden ziehen – er weiß, dass jener ihm fortan verpflichtet sein wird. Dank des alten Tuxit erreichen Atlan und sein Wegbegleiter Jolo schließlich eines der Zentren der Rhoarxi, die die Intrawelt einst erbauten. Dort muss sich Tuxit, der vor langer Zeit verbannt worden war, dem gegenwärtigen Obersten Brüter stellen, denn beide sind Träger des Flammenstaubs – und es kann nur einen geben in der WANDERSTADT ASPOGHIE …
Wanderstadt Aspoghie
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide wird Zeuge der Apokalypse Aspoghies. Tuxit - Der heimgekehrte »Verräter« sät Zwietracht unter den Rhoarxi. Uquart - Der Oberste Brüter setzt den Flammenstaub ein, um den Frieden seines Volkes zu erhalten. Jolo - Das Echsenwesen wirft einen Blick ins Schöpfungsprogramm der Intrawelt. Curxari - Ein alter Wissenschaftler versucht den Untergang aufzuhalten.
Prolog Demio in den Ruinen Im Spiegel aus silberglasfunkelndem Potista des alten, abgewohnten Wohnnest-Winkels begegnete Brutamme Demio nur ihren eigenen trüben Blicken. Sie wusste, dass das Ebenbild die Verheerungen des Alterns spiegelte. Durch eine sonnengeschützte Fensteröffnung, deren Ränder ebenso von Alter und Verfall gekennzeichnet waren wie Demio selbst, fiel ein fahles Lichtviereck in den Raum und zeichnete eine undeutliche Figur auf die Faserbündel des Sohlenschmeichlers. »Oh, hätte Demio nur nicht den Brüterich …«, murmelte die Alte und senkte die schütteren Lidfederchen, blinzelte kurzsichtig und schüttelte den faltigen grauen Sack der Halsfalte. Die alten Augen sahen im unbarmherzigen Spiegel die grünlich grau verfärbte Halskrause und die Altersrillen im Horn des Schnabels. »… zu beschützen! Dann wäre das Sterben leichter. Den Kopf unters Gefieder, den Körper zwischen die Knie … aber da ist mein lieber, alter, unersetzlicher einzigartiger Brüterich …« Demios heisere Stimme schien von den Potistawänden aufgesaugt zu werden. So geschah es mit jedem ihrer Selbstgespräche, seit Tausenden Tagen. Demio wandte sich von dem Bild der Hinfälligkeit ab. Sie ertrug den eigenen Blick der ausweglosen Vergreisung nicht länger. Sie wechselte die Stellung und betrachtete ihren einzigen Schatz. Den Brüterich in der Schatulle. Auch auf dem würfelförmigen Schränkchen war der Brüterich nicht länger sicher. Sie öffnete zitternd den Schnabel, um den Brüterich zu packen, hielt inne und zwang sich dazu, einige klare
Gedanken zu fassen, vielleicht so klar wie das Morgen-Sonnenlicht über der Stadt Aspoghie. Aus den Fenstern des schon halb verwahrlosten Wohnnests konnte Demio jenseits der rostroten Stadtmauer die Sandflächen vorbeigleiten sehen; es waren die gleichen ereignisarmen, trostlosen Bewegungen wie seit langer Zeit, wie seit einer sinnentleerten Abfolge aus Tagen und Nächten, die irgendwann angefangen hatte, als der Schmerz in ihrem Körper zu stechen begann. »Demio sollte das Wohnnest aufräumen«, kam es aus ihrer heiseren Kehle. Sie packte die Kassette, hob sie vom Würfelschränkchen und schob sie in eine Wandnische, in die Sonnenstrahlen hineinfielen. Der Brüterich! Demio betrachtete das Kästchen, das aus Marmorholz zu bestehen schien und ungewöhnlich schwer für seine Größe war. Demio konnte es gerade noch mit dem Schnabel heben und festhalten; es war fünfmal so breit wie der Schnabel. Die Oberfläche, einst ölig dunkelholzfarben, mit lebhafter, intarsienartiger Maserung, war durch die unzählbar vielen Berührungen glatt und hochglänzend geworden. Der Brüterich – Kassette und Inhalt waren in ihrem Denken längst zu einem Begriff verschmolzen – bildete einen auffallenden Gegensatz zum Zustand des heruntergewohnten Nests; überall lag Silikonstaub, stumpf im Halbdunkel und flirrend schimmernd, wo Sonnenlicht oder gespiegelte Helligkeit auftrafen. Solcherlei Unterschiede fielen Dermo nur noch selten auf. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie ein wenig wirr im Kopf geworden war, aber in ihrer Besorgnis nicht nachgelassen hatte. Ihre Gedanken glitten zurück zu Vergangenem. Gerade dieses Beharren auf einem Traum, der zur Gewissheit
4 werden würde – dereinst, nach unglaublichen Zufällen, vielleicht niemals, möglicherweise schon bald? –, hielt sie am Leben, das ihr wegen der Schmerzen und des Verfalls längst zur Last geworden war. »Demio muss aufpassen, dass ihr niemand den Traum stiehlt …«, erklärte sie sich, legte den Kopf schräg und packte, nach einem langen Blick auf die Kassette, den Harkeral. Sie begann mit flatternder, vorübergehender Emsigkeit die federartigen Halme des Sohlenschmeichlers zu strähnen und zu bürsten. Die kurzen, weichen Halme bedeckten den gesamten Boden des Nestraums und wuchsen an der Wand des Einduckovals bis zur Decke. Von der linken vorderen Ecke aus begann sie die Halme zu kämmen, als wäre es junges, bunt schillerndes Federkleid. Staub wallte auf und zog durch die Frischluftrachen träge ins Freie. »Und trotz allem muss Demio ihr Nest in Ordnung halten!« Staub und Nebel, unerbittlich wie ein Staubsturm zwischen den Dünen und Felsen der Parzelle Nabuzym, wanderten langsam auch durch Demios Verstand. Seit vor Urzeiten ihr Küker sie verlassen hatte, nahm die Klarheit ihrer Gedanken ab, legte sich Staub auf ihre Vernunft. Sie hielt inne, hustete und wandte den Kopf: Die glänzende Kassette stand noch immer in der Nische aus strukturiertem, grün selbstleuchtendem Potistamaterial. Aus der Wüstenei draußen gellten die an- und abschwellenden Schreie der Giftschwanzfüßler bis in den turmartigen Bau, in dem sich das Wohnnest befand; Demio war die einzige, letzte Bewohnerin des obersten Stockwerks. Plötzliche Unruhe packte sie. Sie tappte auf dem Protoplasma-Bodengras zur anderen Ecke des Raums, bog den Hals und packte die Schatulle. Halbwegs ratlos blickte sie um sich – wo gab es in dieser Umgebung größere Sicherheit für den Brüterich? Sie knickte in beiden Beinen ein, streckte den Hals gerade aus und schob das Kästchen hinter einen raschelnden Vorhang, tief hinein in die Röhre, aus der die gekühlte Luft
Hans Kneifel hereingeblasen wurde. Seit vielen Tagen brachte sie innerhalb ihres Nests in einem sinnentleerten Reigen die Kassette immer wieder an einem anderen Platz in vorübergehende, scheinbare Sicherheit. »Hier hat Demio den Brüterich in Sicherheit gebracht«, würgte sie heiser hustend hervor. »Demio muss das Potista wachsen lassen. Das Loch muss verschlossen werden. Aber …« Sie war sich nicht bewusst, welcher Vorgang dazu führte, dass ihr die Potistazellen gehorchten. Das Loch schloss sich, der farbige Vorhang zog sich so schnell zusammen, als schlossen sich Augenlider. Ächzend richtete sich die Greisin auf, blickte um sich und lehnte sich gegen die rostig rote, verhalten glitzernde Wand. Das Lichtviereck wanderte vom gekämmten zum verwahrlosten Teil des Sohlenschmeichlers. Das hochfrequente Heulen der Sandraschelwesen nahm zu, erreichte einen Höhepunkt, der in den Ohren der alten Amme stechende Schmerzen hervorrief, und riss plötzlich ab. Ungewohnte Stille breitete sich zwischen den bunten Hausfronten und Mauern der gleitenden Stadt aus. »Demio merkt, dass etwas Besonderes passiert.« Sie bog den Hals, drehte den Kopf und sah, dass Teile ihrer Halskrause schwarze Streifen bildeten. Andere Federbüschel wiesen ein fahles Grün auf. Einige Atemzüge lang plusterten sich die Federn auf, fielen wieder zusammen und legten sich straff an. Demio bewegte sich zum größten Fenster, starrte im Jaulen und Heulen der Sandstachler hinaus in die Umgebung der Wanderstadt und begann zu ahnen, dass sich ihr erbärmliches Leben ändern konnte. Sie drehte sich um und lehnte sich gegen die Sitzstange. »Demio muss den Brütling für das Ende ihres langen Traumes verstecken und aufbewahren!«, sagte sie in ihr Gesicht, das ihr seltsam fremd und dennoch vertraut aus dem Spiegel entgegenstarrte.
1. Atlan an der Kante der Wanderstadt
Wanderstadt Aspoghie Ich war von dieser sirupartigen Potistamasse umgeben wie ein Taucher von Wasser. Jolo wurde von meinen Schultern gerissen und ging in der schleimigen Masse unter. Jede einzelne Bewegung lief wie in Zeitlupe ab und kostete mehr von meiner Kraft. Die Masse lief über mich, kam von allen Seiten, umspülte meinen Körper und kroch unter den Stoff meiner Kleidung. Sie tränkte binnen weniger Herzschläge mein Haar und meine Brauen, brandete gegen meine Augen und riss mich von den Beinen. Halte die Luft an!, beschwor mich der Logiksektor. Du musst es schaffen. Lass dich auf stabilen Grund mitschwemmen! Plötzlich packte mich Todesfurcht. Ich versuchte mich hochzustemmen und fühlte, wie dieser honigartige Siliziumbrei mich blendete und gleichzeitig in die Nasenlöcher eindrang. Alle Geräusche wurden leiser und bedeutungslos; ich hörte meinen eigenen Herzschlag, laut wie eine Trommel. Blind, fast taub und nahezu bewegungsunfähig glitt ich aus, wurde von einer noch größeren Menge umspült, die ich nicht sehen konnte, aber fühlen musste. Ich hielt es nicht mehr aus, es dauerte zu lange. Luft! Ich … brauchte … Nicht atmen!, gellte der Extrasinn. Ich öffnete die Lippen, rang nach Luft, atmete ein und schluckte kalten, glitschigen Brei. Ich glaubte elendiglich zu ersticken, vor meinen verklebten Augen drehten sich wirbelnde Kreise und grelle Farben. Mein Körper wurde von der Brandung hin- und hergerissen, ich überschlug mich und versuchte, blind um mich schlagend, der unwiderstehlichen Kraft des degenerierten Potistas zu entkommen, aber ich war wehrlos. Alle Gedanken wurden von der schwarzen Gewissheit durchtränkt, dass ich hier am Rand der Wanderstadt Aspoghie mein Leben verlor. Erstickt im Silizium. Die Masse spülte und schwenkte mich hin und her, drückte mich zu Boden und riss mich wieder hoch, verdrehte meinen Körper in wilden Wellen. Ich hustete und würgte – oder gaukelte mir mein Körper diese Reak-
5 tionen nur vor? –, spürte den ätzenden, metallischen Sandgeschmack der protoplasmatisch-öligen Masse auf der Zunge und am Gaumen und vermochte nur noch eine einigermaßen klare Überlegung zu fassen: Lass dich aus der Masse hinausdrücken! Ich sollte aufhören, mich zu wehren, und mich in mein unabänderliches Schicksal ergeben. Tod in der Intrawelt. Fremd in der Wüste. Erstickt von Myriaden Potistazellen. Ein harter Ruck. Die schwabbelige Masse änderte ihre Bewegung, der ich hilflos ausgeliefert war. Das entfesselte Potista des Stadtrandes schmetterte mich zu Boden, zerrte mich in einer zähen Bewegung hoch und stellte mich auf die Beine. Dann zog sich blitzschnell jene schlammige Masse aus meiner Nase und der Rachenhöhle zurück. Sie wurde körnig, trocken und entwickelte eine andere Form und Richtung der Eigenbewegung. Ich begann qualvoll irgendeine Art griesigen Sand auszuhusten, holte keuchend und stöhnend Luft und fühlte mich, als würde ich aus zu großer Tiefe auftauchen. Der Anprall sauerstoffreicher Luft in meinen Lungen war wie der Hieb eines Titanen. Aber ich lebte wieder. Ich fror, hustete und würgte, kreischte fast, aber meine Lungen arbeiteten wieder, und mein Kreislauf stampfte mich im Takt meines Herzschlags zurück ins Leben. Übelkeit packte mich, ich schwankte hin und her und konnte, während die farbigen Schleier vor meinen Augen verschwanden, wieder die Umgebung undeutlich erkennen. Du hast es überstanden!, ächzte der Extrasinn mit deutlicher Erleichterung. Jemand manipuliert diesen exotischen Morast. Der fremdartige Morast spuckte mich förmlich aus. Ich wurde auf eine ebene Fläche, ins grelle Licht der Kunstsonne und in die gegenwärtige Umgebung zurückgeworfen. Ich kam taumelnd auf die Füße, torkelte einige Schritte weit und setzte mich auf eine Art steinerne Bank im Schatten der hohen Stadtmauer. Ich versuchte mich zu erholen. Der Extrasinn schwieg. Meine Umgebung und meine
6 Gefährten waren mir in dieser Entsprechung einer Dezitonta völlig gleichgültig geworden. Mein Verstand arbeitete für eine kurze Zeit völlig unabhängig von meiner Überlebens-Notwendigkeit und jagte eine halb verzerrte, halb wahrhaftige Folge von Bildern und Bedeutungen an meinem inneren Auge vorbei. Wo bin ich? In einer monströsen Hohlwelt, deren Durchmesser etwa eine Lichtsekunde misst, antwortete der Logiksektor mit einem mitleidig aufsässigen Unterton. Und noch etwas, Arkonide: Wo immer deine zauberschöne Gefährtin Kythara wartet, und unter welchen Umständen – sie wartet im dreiunddreißigsten Tag auf dich! Ohne jede Nachricht von dir. Wenn sie auch nur annähernd so an dir interessiert ist wie du an ihr, muss sie der Verzweiflung nahe sein. Trotz ihres olympischen Alters! Ich atmete ruhiger. Der peinigende Hustenreiz schwächte sich von Atemzug zu Atemzug ab. Die Bilder vor meinen Augen gewannen mehr und mehr an Dauerhaftigkeit und Klarheit. Ich erkannte den grünschuppigen Körper Jolos, der sich zu meinen Füßen wand und an allen Gliedern zuckte. Ich bückte mich, unterdrückte das Schwindelgefühl und zog das Echsenwesen in die Höhe. »Ist ziemlich ungenießbar, das Potistazeugs«, brachte ich hervor und klopfte Jolo, der sich hustend und gurgelnd an mir festhaftete, auf den biegsamen Rücken. »Wir haben es überlebt.« »Was soll … Warum hat uns der Schlamm überfallen?«, wollte Jolo wissen. Ich zuckte die Achseln, obwohl ich glaubte, der Ursache auf der Spur zu sein. »Keine Ahnung. Wo ist Tuxit …?« Hinter der Mauer. Er hat aufgeregte Gesellschaft bekommen, meldete der Extrasinn. Ich drehte mich langsam um und streifte Jolos saugende Klammergriffe von meiner Schulter. Wir waren am Rand der Stadt, die langsam über den Sand glitt, in die Siliziummas-
Hans Kneifel se geraten, als mich Tuxit, der alte Rhoarxi, mit einem Krallengriff und einem mächtigen Ruck aus der Wüste auf das scheinbar feste Plateau vor der Stadtmauer hinaufgerissen hatte. Mich und Jolo. Kaum hatten wir die Stadt erreicht, überfiel uns die Siliziummasse. Sie geriet außer Kontrolle, als Tuxit die Kante der Stadt erreichte – oder die Fähigkeit der Rhoarxi, das Potista zu kontrollieren und zu manipulieren, hatte für einige Sekunden nachgelassen. Warum gerade in diesem Augenblick? Ich hatte keine Erklärung. Noch nicht. Zwischen Tuxit und mir stand eine kniehohe Mauer aus festem schwarzem Material. Es wirkte wie Lehm, mit Sand durchsetzt und mit schwarzem Lack überzogen. Dahinter sah ich den Stamm eines Duum-Baumes; wir standen im Schatten der runden Krone. Jenseits der Barriere erkannte ich Tuxit, der einem jüngeren Artgenossen gegenüberstand. Die beiden Rhoarxi schienen aufgeregt, fast wütend zu sein, aber sie starrten einander lediglich schweigend an. Die Spannung war fast mit Händen zu greifen. Tuxit hatte seine Stummelflügel ausgebreitet und ließ deren Enden vibrieren. Er trug, ebenso wie sein Gegenüber, sein Cueromb. Auch die Federn seines Blümchens zuckten und wackelten. Die Rhoarxi bewegten sich wütend hin und her, schienen einander zu belauern und traten mit ihren orangefarbenen Krallenfüßen schaukelnd zur Seite, vorwärts und zurück. Das Gefieder der Kontrahenten änderte ständig seine Farbe, schillerte blau und weiß, und die Hakenschnäbel am Ende der langen Hälse öffneten und schlossen sich angriffslustig, wenn die Vogelähnlichen in die Höhe sprangen. »Was ist los, Tuxit?«, rief ich, schüttelte sandiges Silizium aus meinem grauen Overall, der völlig trocken war, und machte einige Schritte auf Tuxit zu. Keiner der beiden Rhoarxi schien von dem Potista angegriffen worden zu sein. Beide stießen kleine Mengen Flammenstaub aus. Deutlich sah ich die Staubteilchen langsam zu Boden sinken.
Wanderstadt Aspoghie Ich spürte augenblicklich die starke Rivalität, die zwischen Tuxit und dem Unbekannten herrschte. Kaum waren sie sich auf dem breiten Weg außerhalb der Mauer begegnet, zwischen Büschen und wenigen Bäumen, gingen sie aufeinander los. Ich wiederholte meine Frage, aber keiner der beiden beachtete mich. Jolo stützte sich schwer auf die Mauer, hob seinen Reptilienkopf darüber und bewegte ihn hin und her, als beobachte er ein Ballspiel. Seine großen Kulleraugen traten weit aus den schuppigen Höhlen. Ich blieb außerhalb des Kreises stehen, in dem sich die zwei aufgeregten Vogelwesen bewegten. Sie traten wild um sich, schlugen gezielt mit den gefährlichen Schnäbeln zu und wichen jedem Angriff blitzschnell aus. Die aufgeplusterten Halskrausen und die vierzackigen Kämme, die sich steil aufgerichtet hatten, kennzeichneten die Erregung, die beide Rhoarxi befallen hatte. Die Kämpfer strahlten auch einen psychischen Druck aus, den wohl nicht nur ich spüren konnte. Tuxit und der junge Rhoarxi schienen um eine Art Vorherrschaft streiten zu wollen. Oder um mehr. Wahrscheinlich um sehr viel mehr. Aber noch hatten sie eigentlich nicht gekämpft, Der erste Angriff steht kurz bevor!, flüsterte der Logiksektor. Beide Kontrahenten gaben erregte Laute von sich. Sie keckerten, zwitscherten und stießen kurze, gellende Schreie aus, die vom Dhedeen nicht übersetzt wurden. In den Öffnungen der rostig roten Stadtmauer und einiger der turmartigen Bauten dahinter erschienen nacheinander die Köpfe und die orangefarbenen Schnäbel der Bewohner. Dutzende, Hunderte Augenpaare beobachteten die Streitenden. Einige Rhoarxi schienen auch auf den Ausbruch des Kampfes zu warten wie Jolo und ich. Ich ahnte, dass er mörderisch sein würde, wenn man das Vorspiel als Maß für die zu erwartende Gewalt nehmen konnte. Die Gegner mussten sich erst in Wut bringen, sagte ich mir; und aus dem Geschrei, das
7 sich steigerte, hörte ich den Namen »Uquart« heraus. Ich vermutete, dass es der Name des anderen Rhoarxi war. Aber worum ging der Kampf? Es schien für Tuxit und Uquart von lebenswichtiger Bedeutung zu sein. Nur um den Besitz des Flammenstaubs? »Hört auf!«, schrie ich. Sie beachteten mich nicht, umkreisten einander weiter, in steigender Wut, mit schnelleren Angriffen und kreischendem Geschrei. Sie ähnelten auf halbwegs lächerliche Weise zusehends zwei Kampfhähnen, die aufeinander zuflatterten, wie terranische Straußenvögel in der Brunft. Aber da war nichts Lächerliches im geräuschvollen Streit. Es ging tatsächlich um Leben und Tod! Wieder brodelte ein doppeltes Wölkchen Flammenstaub auf und umgab sekundenlang die Köpfe mit den weit aufgerissenen dunklen Augen. Uquart sprang in die Höhe, schlug in rasendem Zorn mit den Flügelchen und schien als Erster mit dem Cueromb zuschlagen zu wollen. Tuxit duckte sich seitlich weg und wich geschickt aus. Selbst die Skorpionwesen außerhalb der wandernden Stadt spürten den psychischen Druck und die Erregung der Rhoarxi. Ihr sirenenartiges Heulen und Kreischen nahm an Lautstärke zu; aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie mit hochgereckten Schwänzen und zitternden Beinen durch den Sand stoben und die lautlos dahingleitende Stadt begleiteten. »Gleich bringen sie sich gegenseitig um!«, schrie Jolo und bedeckte seine Kulleraugen mit den Handtatzen. »Tu doch etwas, Atlan!« Aus mehreren »Toren« der Mauer eilten Bewohner der Stadt. Ihre Krallen wirbelten Siliziumsand in die Luft. Fünf aufgeregt kreischende und schreiende Rhoarxi zählte ich, dann ein Dutzend, schließlich ungefähr dreißig, die im Halbkreis auf die Streithähne zurannten, sie binnen weniger Augenblicke mit höllischem Lärm umringten und sich mit vorgestreckten Köpfen zwischen sie schoben.
8 Uquart verschwand für einige Augenblicke in der Menge langer Hälse, schlenkernder Kämme, weißer Halskrausen und Halsfalten. Das Geschrei hörte auf, als die Neuankömmlinge auch Tuxit festhielten und ihn langsam zu einem Tor in der Mauer drängten. Einige Rhoarxi trugen an den Hälsen breite, locker sitzende Bänder. Drei oder vier waren gelb, die meisten waren schwarz und bestanden aus dickem Stoff. An den stämmigen Oberschenkeln von mehreren rennenden Rhoarxi sah ich rostrote, gekrümmte Platten, die archaischen Beinschienen ähnelten. Das Licht der Kunstsonne brach sich an den glitzernden Kanten der vielfarbigen, hohen Bauwerke. Tuxit, inmitten einer Gruppe der Stadtbewohner, blieb stehen, drehte den Kopf herum und blickte mich an. »Geh mit den anderen, Atlan«, sagte er auffordernd. »Ich erkläre dir alles, sobald die Situation bereinigt ist. Es ist viel zu klären – das wird einige Zeit dauern, glaube ich.« Jolo kam auf mich zugetappt und blieb abwartend stehen. Ein junger Rhoarxi mit einigen Halsbändern löste sich aus der Gruppe, bog den Hals zurück und erklärte mir: »Ich bin Fontum. Ich bringe dich und deinen Begleiter in ein Quartier.« Der junge Rhoarxi strahlte Selbstvertrauen und Autorität aus. Um seinen Hals trug er drei handbreite dicke Bänder, die wie aus dicker Wolle gestrickt aussahen; zwei gelbe und ein blaues in der Mitte. Die Seiten des Hakenschnabels waren mit vielen schwarzen Punkten verziert, kaum größer als ein Fingernagel, die auf beiden Seiten schwungvolle Muster bildeten. »Danke. Einverstanden«, antwortete ich. An den Unterschenkeln bis über die Kniegelenke Fontums hafteten Halbröhren wie archaische Beinschienen. Sie schienen aus Silberblech zu bestehen. Das Gefieder der kurzen Flügel war mit tiefschwarzen Winkeln gezeichnet, so dass Fontum aussah, als trüge er handtellergroße, militärische Rangabzeichen. Sein Blick war herausfordernd, fast
Hans Kneifel herablassend. Ich grinste und fragte: »Warum haben sich Tuxit und Uquart gestritten?« »Das hat mit Tuxit zu tun und mit seinem Verhalten … vor langer Zeit. Der Mob hat beschlossen …«, Fontum zögerte, »… nun, wir haben zunächst einmal verhindern können, dass es zum Äußersten kommt.« »Wohin bringt ihr Tuxit? Und Uquart?«, wollte ich wissen. »In den Hohen Horst. Kommt, fremde Besucher.« »Und dort werden sie zu kämpfen aufhören?«, erkundigte ich mich voller Skepsis. »Hoffe einfach, dass es uns gelingt, sie zu trennen. Und getrennt zu halten.« »Und wenn nicht?« »Dann kommt es zum Äußersten. Zum Großen Chaos.« Großes Chaos. Es klang aus dem Mund des Mol-Rates wie Weltuntergang. Ich konnte mir noch nichts Rechtes darunter vorstellen; Weltuntergang, bezogen auf die Wanderstadt? Unschlüssig zog ich die Schultern hoch und sagte mir, dass weder mein Rat noch meine tätige Hilfe etwas an dem Zustand ändern konnten. Jolo nützte meinen Zustand aus, kletterte an mir herauf und setzte sich auf meine Schultern. Ich folgte dem Rhoarxi und nahm zum ersten Mal meine Umgebung mit vollem Bewusstsein wahr. Die Stadt Aspoghie kroch, ohne die Geschwindigkeit verändert zu haben, weiter durch die trostlose Einöde der Parzelle Nabuzym. Die schmale freie Fläche, die Stadtmauer mit ihren reich dekorierten Öffnungen und eine Masse turmartiger Gebäude, die ich von hier aus sehen konnte, bildeten durch ihre meist grelle Färbung einen exotischen Gegensatz zu der Sandfläche. Es war glühend heiß; mit jedem weiteren Schritt klang das jaulende Kreischen der großen Skorpionwesen weniger aufreizend. Ich trat in den Schatten des weißen Tors. Die Architektur Aspoghies glich keinem Stil, den ich kannte – oder war ein scheinbar willkürliches Gemenge aller Stile, die ich je-
Wanderstadt Aspoghie mals gesehen hatte. Glatte Flächen verbanden übergangslos solche aus grobkörnigem Material, starke Farbunterschiede bildeten Schlieren und holzartige Maserungen, kantige Formen wechselten mit geschwungenen, schwellenden, ziselierten und durchbrochenen Traversen, Fassaden und Kanzeln ab. Jedes Gebäude, das ich sah, hatte eine andere Farbe. Hochgradiger Individualismus schien in den Formen der Bauwerke und der Verzierungen seinen Ausdruck zu finden. Wenn in der Wanderstadt tatsächlich dreißig- bis vierzigtausend Rhoarxi lebten und arbeiteten, so müsste eigentlich qualvolle Enge herrschen. Über fast allen Fenstern und Türöffnungen wölbten sich halbzylindrische Vordächer aus den Mauern und Wänden und warfen langgezogene schwarze Schatten. Reine Intrawelt-Alien-Gotik! Oder stellar verfremdeter Barock, kommentierte der Extrasinn unbetont. Ich nickte unwillkürlich. Auch im Schatten gab es keine echte Kühlung. Als wir den Innenbereich der Stadt betraten, spürte ich wieder die Erregung in den weißen Mauern, zwischen denen in unregelmäßigen Abständen neonrote, giftgrüne und orangefarbene Flächen auftauchten. Die Spannung hatte offensichtlich alle Bewohner Aspoghies erfasst, obwohl uns auf dem weiteren Weg nicht allzu viele Rhoarxi begegneten. Hin und wieder erhaschte ich einen Blick auf kleine Holos, die durch Licht und Schatten schwebten, aufschimmerten und Szenen zeigten, die ich mir nicht erklären konnte. Ein unübersetzbares Murmeln hing zwischen den Mauern wie der Lärm eines unsichtbaren Markttages, schwoll an und wurde leiser. Einzelne Stadtbewohner hasteten hin und her, die meisten aber schienen keine oder nur wenig Eile zu haben. Zwischen kühn stukturierten Wänden bewegten wir uns eine schmale Treppe hinauf, kamen unter leuchtend grünen Torbogen, die verrottenden Dschungelgewächsen glichen, auf einen kleinen runden Platz mit weißem
9 Boden. Die Oberflächen der Mauern glichen allen erdenklichen Steinarten. Sandstein in unterschiedlichen Farben, glatter und geäderter Marmor, Granit oder Basalt, farbiger Putz und viele andere Materialien – aber alles war geformtes Potista. Es waren, sagte ich mir bewundernd, geformte und erstarrte Gedanken. Vorstellungen von Architekten, die durch die Kraft des Verstandes in die Wirklichkeit übersetzt worden waren. Für eine solche Begabung waren die Rhoarxi uneingeschränkt zu bewundern. Ein annähernd runder Turm mit einem Kranz unterschiedlich großer Fensteröffnungen und einigen Erkern im oberen Bereich, höher als sechzig, siebzig Meter und purpurn mit weißen Verzierungen, erhob sich am Ende einer brückenartigen Rampe. Sie führte über eine breite Straße, auf der sich Hunderte Rhoarxi versammelt hatten und schweigend von rechts nach links drängten. Unser Führer deutete mit den feuchten Schwungfedern seines Flügels wie mit Fingern auf den Turm. »Euer Quartier. Es wird für alles gesorgt werden«, sagte Fontum, ohne sich umzudrehen. Ich überquerte neben ihm die gelbe Brücke, deren Brüstung und Geländer aus unzähligen bizarren Wesen bestanden. Sie wirkten wie feinste Steinmetzarbeit und waren bis fast zur Unkenntlichkeit ineinander und miteinander verknäult und verschlungen; sie schienen allesamt gegeneinander zu kämpfen und einander aufzufressen. »Und alles ist ohne Handwerkszeug entstanden«, flüsterte ich vor mich hin. »Nur mit formenden Kräften der protoplasmatischen Beeinflussung durch die Rhoarxi.« »Und niemand kann es fressen«, erklärte Jolo und rülpste. »Ungenießbar! Schade! Nutzlose Sache, das.« Ich warf am höchsten Punkt der Brücke einen Blick über die Stadtmauer. Unter mir breitete ein Borcranbaum mit blauen Nussblüten seinen Wipfel schattenspendend über einen der vielen winzigen Plätze zwischen den hochragenden Mauern. Unverändert be-
10 wegte sich die Stadt, schneller als ein rennender Arkonide, auf Milliarden Raphen-Zellen. Nicht ein einziges Gebäude schwankte. Die Wanderstadt glitt völlig erschütterungsfrei dahin. Nur ein kaum wahrnehmbares Flimmern bildete die Grenze zum helleren Sand, in dem einzelne Steine und Felsbrocken, kaum verwittert, winzige Schatten warfen. Wir hatten, als wir den Eingang des Turms erreichten, nur wenig mehr als hundert Schritte zurückgelegt. Seit er im Potistaschleim beinahe erstickt war, hatte Jolo sein Verhalten geändert. Der Schreck schien ihn halbwegs gelähmt zu haben, denn er schlug weder Purzelbäume, noch fiel er mir durch unentwegtes Plappern auf die Nerven. Er glitt schlangenartig über meinen Rücken, kauerte sich neben mir stöhnend zusammen und starrte den Rhoarxi an. Fontum zwinkerte mir zu, wohl als Zeichen des Entgegenkommens, und sagte: »Auch für eure Ernährung werden wir sorgen.« »Obwohl wir Tuxits Freunde sind?«, erkundigte ich mich skeptisch. Fontum bog den Hals zurück und antwortete: »Ihr seid Gäste der Stadt. So ist das Gesetz.« »Wir danken.« Jolo riß den Rachen weit auf und machte eine Mitleid erregende Miene. Wahrscheinlich wollte er dem Rhoarxi das dramatische Ausmaß seines Hungers zeigen. Aus dem Teil der Stadt, der sich unter der Brücke erstreckte, drang aufgeregtes Murmeln, durchbrochen von einzelnen schrillen Ausrufen. Einige Holos schwirrten zwischen den Turmmauern in den Schatten zurück. Ich verstand »Verräter!«, daraufhin die Namen beider streitbarer Rhoarxi und »Mob, Aspoghie« und »Horst«. Ich nickte Fontum zu und ging in den Turm hinein. Der Rhoarxi blieb stehen, legte den Kopf schräg und blickte uns nach. »Die weiße Treppe rechts«, sagte er. Es klang keineswegs einladend. »Es gibt nur eine Tür.« Seine Informationen entstammten einer
Hans Kneifel anderen Zeit. Ich nickte ihm zu und rang mir ein Grinsen ab. Fontum legte seine Flügel an den Körper und bog verabschiedend den Hals. Jolo tappte auf seine eigentümliche Weise die Stufen hinauf und plapperte: »Noch leben wir, aber die Auswahl an Gemütlichkeit scheint nicht besonders groß zu sein.« »Mag sein.« Eine Spiraltreppe führte durch das kühle Halbdunkel aufwärts. Während ich Stufe um Stufe nahm, fragte ich mich, wie sich die Bewohner dieser Wanderstadt ernährten. Ich hatte bis auf den Borcranbaum bisher nur einige mittelgroße Duum-Bäume und farnartige Büsche mit blaugrünen Blättern, gelben Blüten und schwarzroten Früchten gesehen, deren Wurzeln offensichtlich in halb versteckten Trögen steckten. Wie würde unser Essen aussehen? Ein Pärchen kam uns entgegen, nickte uns zu, und die junge Rhoarxi-Frau sagte: »Ihr werdet wenig anfangen können mit Sitzstangen und Lehngittern. Wir haben die Gasträume ein wenig umgestaltet. Fühlt euch wohl!« »Wir danken«, antwortete ich höflich, zuckte abermals mit den Schultern und ging durch einen kurzen Korridor zu einer Tür, die aussah, als sei sie von einem Meister aus mittelbraunem Holz geschnitzt. Sie öffnete sich geräuschlos in einen hellen Raum mit vielen Fenstern. »Das ist offensichtlich unser Wohnquartier«, sagte ich und ließ Jolo von meinen Schultern gleiten. Der Raum, vom Sonnenlicht in Helligkeit getaucht, war mit wenigen Möbelstücken eingerichtet und auffallend geräumig, mit einer halbrunden Wand. Die Möbel entsprachen dem Körperbau und der Größe erwachsener Rhoarxi, schienen aber modifiziert worden zu sein. Mehrere Stühle umstanden einen großen Tisch, auf dem ich Geschirr, Krüge, Becher und Essen sehen konnte. Jolo schnupperte, richtete sich halb auf und lief auf dem grasartigen, feuerroten Bodenbelag zum Tisch. Er zog sich behände an einem Stuhl hoch, kroch über die Tisch-
Wanderstadt Aspoghie kante und machte sich über das Essen her. »Wenigstens etwas«, murmelte ich und ließ mich vorsichtig in einen Sessel fallen, der einigermaßen bequem aussah. »Fehlt nur noch ein Bett. Und ein Luxusbad.« In einer tiefen Nische sah ich ein dickes Rohr, das sich von Wand zu Wand spannte. Der Logiksektor murmelte: Eine RhoarxiSitzstange! Die Rhoarxi-Innenarchitekten hatten die Sitzstange wohl umzuformen vergessen. Ein Teil des Bodenbelags bestand aus längeren, dickeren und dichteren Florfäden; unwillkürlich dachte ich an die Polsterung eines Vogelnests. Ich spürte nach dem Rennen durch die Wüste und dem Überfall des Potistas gleichermaßen Erschöpfung und Enttäuschung. Ich setzte mich an den Tisch, schloss die Augen und zwang mich zur Ruhe. Selbst wenn ich endlich das Geheimnis des Flammenstaubes kannte und über diese Substanz verfügen konnte – wann und unter welchen Umständen dies sein mochte –, blieb ich noch immer in der Intrawelt gefangen. In jener Hohlkugel, einer Hohlwelt im eigentlichen Sinn eines archaischen Weltbildes, mit dem Durchmesser einer Lichtsekunde, angefüllt mit skurrilen Schöpfungen des Universums. Peonu, der Seelenfresser, mit dem mich ein dünner, scheinbar unzerreißbarer Faden aus Emotion verband! Das große Thorning, die Flucht vor Luck dem Proporzen, die unglaublichen Gondelanlagen der Maulspindler … und Kythara wartete. Ich ahnte, dass ich in der Wanderstadt der Lösung mancher, vielleicht nicht aller Geheimnisse so nahe war wie nirgendwo innerhalb der Intrawelt. Ob ich mein Ziel erreichte – da hatte ich meine Zweifel. Obwohl: Es gab keinen Grund, an meinem möglichen Erfolg zu zweifeln. Mit etwas Glück und wenn der Zufall half. Ich zog mein Messer aus der lädierten Scheide, schnitt misstrauisch ein kleines Stück vom brotartigen Laib herunter und schob es zwischen die Zähne. Mein Zellaktivator würde
11 mich vor einer Vergiftung bewahren. Nicht ohne Verblüffung merkte ich, dass mir die Rhoarxi-Nahrung schmeckte. Jolo hatte keinerlei Scheu, sich zu bedienen. Ei stopfte sich den Rachen voll und kaute schmatzend. »Wohl bekomm's«, murmelte ich und probierte die gelbliche Substanz, die ich als Käse identifizierte. Auch dieses Nahrungsmittel schmeckte und sättigte, ohne dass sich Nebenwirkungen einstellten. Schließlich wagte ich mich an das Fleisch, eine Art Braten mit gewürzter Kruste. »Wenn das die Gastfreundschaft der Vogelwesen ist, dann haben wir das Gröbste wohl hinter uns«, murmelte ich. »Hoffentlich.« Zweifellos waren die Rhoarxi, seit Urzeiten in der Galaxis Dwingeloo schöpferisch tätig, hier in der Hohlwelt degeneriert. Eine Million und 100.000 Jahre waren auch für negative Evolution – oder Degeneration – eine unendlich lange Zeit. Längst waren sie nicht mehr in der Lage, die Intrawelt zu beherrschen, auch wenn der Begriff »Kathedrale von Rhoarx« auf die gigantische Hohlwelt zutreffen sollte. Tuxit als Hüter des Flammenstaubs war zu seinem Volk zurückgekehrt und hatte augenblicklich große Schwierigkeiten bekommen. Ich hatte eigentlich von jedem Individuum dieses Volkes hohe moralische Integrität erwartet, aber Tuxit und Uquart zeigten mir das Gegenteil. Aggression und jäher Stimmungswandel schienen zumindest gegenwärtig die wichtigsten Bestandteile ihrer wahren Natur geworden zu sein. »Ich werde das alles herausfinden«, knurrte ich, stand auf und schenkte mir aus einem der Krüge einen Becher voll. Die Flüssigkeit prickelte und roch aromatisch. Die Ruhe und der Umstand, endlich allein zu sein, entspannten mich und ermöglichten mir, klarer zu denken. Ich hob den Becher an die Lippen, zögerte aber vor dem ersten Schluck. Was konnte ich tun? Ich war keineswegs damit einverstanden,
12 ruhig in unserem Quartier abzuwarten und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Tuxits und Uquarts Auseinandersetzungen, der Kampf eines Alten gegen einen Jungen, waren nicht nur Erscheinungen eines Generationenkonflikts, das ahnte ich. Und auch das Geheimnis dieser Stadt musste ich aufdecken. Meine Möglichkeiten inmitten der aufgetürmten Bauwerke und einer großen Bevölkerungsmenge waren eingeschränkt; als einzige Waffe besaß ich ein Messer. Und deinen Verstand!, mahnte der Logiksektor. Benutze ihn! Wahrscheinlich waren die Getränke und das Essen der Rhoarxi von Aspoghie Erzeugnisse aus genetischer Manipulation. War für das Brot, den Braten und die käseartige Substanz auf dem Tisch womöglich Silizium das Ausgangsmaterial? Undenkbar! Ich leerte den Becher in drei, vier Schlucken und fand, dass die Flüssigkeit nach gewürztem süßem Tee mit irgendeinem aufmunternden Zusatz schmeckte. Während Jolo schweigend und schmatzend die Substanzen hinunterschlang, trank ich einen zweiten Becher leer und entschloss mich, irgendwie in das gegenwärtig brodelnde Stadtleben Aspoghies einzugreifen. Ich wandte mich an Jolo und sagte: »Vielleicht finde ich ein Bad und trockene Tücher. Ein paar Stunden Schlaf würden uns auch nicht gerade schaden – ich bin todmüde.« »Ich könnte zehn Tage lang schlafen und essen, essen und schlafen!«, pflichtete mir das grüne Mimikry-Echsenwesen bei. Ich öffnete im Hintergrund des Zimmers eine schmale Tür, dahinter begann in einem kleinen Raum die Decke zu leuchten, und ich betrat eine »Hygienezelle«, die so eingerichtet war, dass ich sie als »Vogelbad« bezeichnen und die wenigen Bedienelemente nach kurzer Probe richtig benutzen konnte. Bei einem Volk, dachte ich, das womöglich die Intrawelt konzipiert und erbaut hatte, konnte ich diesen sparsamen Luxus voraussetzen. Ich ging zurück zu Jolo, aß mich satt und leerte einen weiteren Becher, dann reinigte
Hans Kneifel ich mich ausgiebig und streckte mich auf dem gekennzeichneten Lager aus. Ich schaffte es, ungestört zwei oder drei Stunden lang tief zu schlafen.
* Es schien, als könne ich im Traum mit meinem Unterbewusstsein reden. Wirklichkeit und Tagtraum vermischten sich, und ich erkannte, dass ich abermals ein Opfer von Fremdbestimmtheit geworden war. Denn wozu diente die Intrawelt wirklich? Evolution fand und findet ständig auch auf andere Weise statt – warum also ein solches Bauwerk, das die Ressourcen einer halben Galaxis verschlang? Unbewusst erfuhr ich aus der brodelnden Welt meiner Gedanken, dass im langen Abenteuer meines Lebens auch der Flammenstaub seine Bedeutung hatte. Eine größere Bedeutung als jene, die ich mir vorstellte. Aber welche? Der Traum gab keine Antwort. Vor undenkbar weit entfernter Zeit – wie in der griechisch-terranischen Götterlegende von Herakles, der sich am Scheideweg für die größten Herausforderungen entschied, nicht für ein Leben in Maß und Zufriedenheit – hatte auch ich mich für das Abenteuer entschieden. Auch wenn ich es damals nicht erkannt hatte, nicht gewusst hatte. ES gab mir das zweifelhafte Geschenk eines fast einmaligen Überlebensfaktors, und nun stolperte und taumelte ich, zurückgeworfen auf mich selbst und ohne jedes technische Machtmittel, durch diese monströse Hohlwelt. »Ich will hier raus!«, hörte ich mich schreien. Nicht laut genug, um mich zu wecken. Es gab keine Möglichkeit, zum Ausgang vorzudringen und durch den Energieschlauch zurück zu Teph zu schweben, dem Krakenwesen mit dem unverträglichen Charakter. Auf Hilfe von draußen konnte ich nicht hoffen. Was wollte ich – Kythara auf einem Pegasus-Roboter, die mich in einem kämpferischen Strahlengewitter befreite?
Wanderstadt Aspoghie Aufklärung über die Handhabung des Flammenstaubs? Wer unterwies mich darin? Tuxit? Oder der Neue? Es konnte Ewigkeiten dauern, bis ich die Hohlwelt verlassen konnte. Peonu tauchte im Traum auf. Jeder Gedanke an ihn verursachte mir körperliches Unbehagen. Eine Stimme wisperte: »Er hat dir die Seele weggeleckt, Arkonide.« Allein zwischen vielen tausend Rhoarxi. Je mehr Informationen ich über sie hatte, desto seltsamer erschienen sie mir. Tuxit hatte mir vieles berichtet, aber es war nicht genug. Im Traum, dessen Bilder schwächer und durchsichtiger wurden, überkam mich die Gewissheit, dass ich in der wandernden Stadt mehr sehen, mehr erfahren würde. Ihre Größe und der Stil ihrer Gebäude hatten mich schon beim ersten Anblick überrascht; in den Mauern aus sich wandelnder Siliziummasse vermutete ich nicht zu Unrecht größere Geheimnisse. Geheimnisse, deren Ursprung in der Vergangenheit lagen – die vor Millionen Jahren entstanden waren.
* Ich wachte auf, als leise, aber stark rhythmische Musik meinen Traum beendete. Sie kam aus versteckten Lautsprechern und hatte nichts von Zwitschern, Tirilieren oder Vogelgesang, sondern ähnelte der Musik eines Wüstennomadenvolks. Helle und dunkle Trommelschläge, ein schneller, komplizierter Takt, Flöten und Saiteninstrumente vermochte ich herauszuhören. Jolo hatte sich zu meinen Füßen zusammengerollt und richtete sich auf, als ich auf nackten Sohlen zum Fenster ging. Die kühlen Halme des künstlichen Grases – sicherlich eine Struktur auf Siliziumbasis – schmeichelten den Zehen und den Fersen. »Dich treibt es in die Stadt?« Jolo gähnte, massierte seinem Bauch und kratzte sich zwischen den Augen. »Warum diese Eile, Atlan? Gibt's Frühstück?« Ich wählte das Getränk aus dem anderen
13 Krug, das ähnlich, aber säuerlicher schmeckte und ebenso prickelte. »Bleib hier oder sieh dich um. Die Wanderstadt ist knapp elfhundert Schritte lang; du wirst dich nicht verirren«, sagte ich und hob meine Stiefel auf. »Und du? Was hast du vor?«, fragte er jammernd und rollte mit den feuchten Augen. »Ich verschaffe mir zuerst einen Überblick, dann greife ich in den mentalen Zweikampf der Rhoarxi ein«, antwortete ich, stellte den Becher ab und wandte mich zum Fenstersims. Aus großer Höhe überblickte ich einen kleinen Teil der »hinteren« Hälfte Aspoghies, die Tuxit als Heimatstadt seines Volkes bezeichnet hatte. Hinter der Stadt, die im Lauf der letzten Stunden in einem flachen Bogen weitergewandert war, lagen zwischen einzelnen Felsen die ausgestoßenen, abgeworfenen Bruchstücke. Der Extrasinn bemerkte abfällig: Wahrscheinlich ihre Version der Müllabfuhr. Mein Ziel, die machtpolitischen Verhältnisse in der Galaxis Dwingeloo in unserem Sinn zu verändern, indem ich sie von den Truppen der Lordrichter befreite, stand unverändert fest. Aber noch hatte ich dazu keine Möglichkeit. Ich zog die Stiefel an, aber der Sand und die Steinchen im Schuhwerk begannen schmerzend zu drücken. Jolo rief zu mir herüber: »Vielleicht helfe ich dir beim Entdecken. Aber zuerst muss ich verhindern, dass ich verhungere.« Ich hob die Schultern, zog die Stiefel wieder aus und leerte den Sand zum Fenster hinaus. An der Tür blieb ich stehen; es schien fast unmöglich zu sein, sich in Aspoghie zu verlaufen. Also nickte ich Jolo zu, deutete auf das Essen und verließ unser Quartier.
2. Demio und der Schmerz des Alterns Die alte Rhoarxi humpelte zur Öffnung auf der gegenüberliegenden Seite ihres Wohnnests und blickte wortlos hinunter auf den »Platz des Hohen Horstes«. Dort hatten
14 sich schon Hunderte schweigender Stadtbewohner versammelt und füllten die freie Fläche, die halb im Schatten des Doppelturms lag. Vor der Spiralrampe zeichnete sich inmitten der Menge ein leerer Raum ab, in dem sich zwei Gruppen langsam auf die ersten Stufen der Rampe zubewegten. Bewegungslos und schwer atmend verharrte die Alte; in ihrem Inneren schienen Krallenfinger die Organe zu zerfleischen. Sie kannte den Schmerz. Er war schon seit so vielen Tagen und Nächten ihr ständiger Begleiter. So lange Zeit. Sie hatte das Zählen vergessen. Aber nur die stechenden, reißenden Schmerzen hielten sie am Leben und erinnerten sie daran, dass sie die Zeit nicht aufhalten konnte. Aber sie konnte sich … »Demio kann sich noch am Leben erhalten. Nicht mehr lange, aber es wird genügen«, stöhnte sie und vermied jede Bewegung. Sie wartete darauf, dass der Schmerz, der von der Körpermitte in die Oberschenkel und die Knie kroch, weniger quälend wurde und nachließ. So, wie es meist gewesen war. »Demio kann den Obersten Brüter sehen.« Sie sah zu, wie eine Gruppe der Stadtbewohner und Oberster Brüter Uquart in ihrer Mitte auf die schwarze Spiralrampe zuliefen. Aufruhr und Streit lagen in der Luft. Hinter Uquart drängte eine zweite Volksmenge vorwärts. Die Gestalt zwischen ihnen weckte in Demio vage Erinnerungen, aber der Schmerz, der jetzt in Wellen kam und ging, vernebelte ihre Gedanken und bedeckte wie ein Siliziumschleier ihre Erinnerungen. In der Gegenwart spürte sie, dass ihr Leben sich dem Ende näherte. »Es wird wohl so sein, dass Demios Zeit abgelaufen ist. Bald wird es so weit sein …« Die Volksmenge drängte den Obersten Brüter und den Fremden, der zwei Klauenbreiten größer als Uquart war, die Rampe aufwärts. Demio erkannte den Fremden; es war Tuxit, der vor langer, langer Zeit verschwunden war. Ihr Blick wanderte an den beiden konischen Rundtürmen aufwärts bis
Hans Kneifel zu den weit auskragenden Kanzeln des Horstes. Licht und Schatten modellierten aus den Stützpfeilerchen und Traversen seltsame Legenden-Figuren, die aus der gelben, körnigen Masse des Bauwerks hervorwuchsen wie jene Kristalle, die Demio in ihrer Jugend im Sand gefunden hatte. »In wenigen Nächten, vielleicht schon heute, wird Demio keinen Schmerz mehr spüren«, sagte sie in die heiße Luft hinein, die am Fenster vorbeistrich. »Dann ist alles vorbei.« Die alte Amme merkte mit dankbarer Erschöpfung, wie der sengende Schmerz nachließ und sich zurückzog. Es war, als konzentriere sich das Stechen und Brennen langsam in einer Kugel, einem pulsierenden Ball mitten in ihrem Körper. Jetzt vermochte sie auch wieder an Tuxit zu denken. »Aber vorher wird Demio noch erfahren, was der Mob im Horst tun wird. Mit dem Rhoarxi Tuxit, den sie ›den Verräter‹ nennen.« Sie konnte wieder atmen, ohne dass sie vor Schmerz innehalten musste. Aus den Augenwinkeln sah sie die Sandfläche vorbeiziehen. Ihre Augen richteten sich auf die Menge, die auf den unzähligen Stufen auf dem Weg zum Horst war.
3. Atlan sucht nach präzisen Informationen Ich hatte miterlebt, welche Wirkung der Flammenstaub auf seine Träger oder Besitzer hatte. Wenn die Macht, die kraftvolle Ausstrahlung, die jene Träger vermittelten, der einzige Grund für die Gier der Konterkraft nach dem Flammenstaub war, so genügte mir diese Erklärung nicht. Ich ließ Jolo am Tisch zurück und spähte aus jedem Fenster, bevor ich den Raum verließ und am Ende der Wendeltreppe auf Fontum und drei jüngere Rhoarxi stieß. Sie versperrten mir, dicht nebeneinander stehend, den Weg zur Brückenrampe und wirkten, als meinten sie es ernst.
Wanderstadt Aspoghie »Lasst mich durch«, sagte ich laut und hob den Arm. »Ich bin Gast in eurer Stadt und will mich nur gründlich umsehen.« »Es geschehen wichtige Dinge, Fremder«, lautete die Antwort Fontums. »Ein Verräter ist zurückgekehrt, und die Stadt ist in Aufruhr.« »Ich bin der Begleiter Tuxits, des so genannten Verräters«, erwiderte ich und versuchte mich zwischen ihnen hindurchzudrängen. Sie spreizten ihre kurzen Flügel ab und bewegten abwehrend das Gefieder. »Warum nennt ihr ihn so? Warum und was hat er verraten?« »Das verstehst du nicht. Vielleicht erklärt es sich in einiger Zeit.« Fontum scharrte mit den breiten Füßen. Seine Krallen schabten auf dem glatten Belag. »Wo ist Tuxit, der in meiner Schuld steht?« Wahrscheinlich, sagte ich mir, waren die Rhoarxi am Beginn ihrer Evolution, vor mehr als einer Million Jahren oder vor noch längerer Zeit, richtige, flugfähige Vögel mit großen Schwingen gewesen. Und vielleicht mit Fingern oder Greiforganen an den Flügelenden, ähnlich terranischen Fledermäusen. Die Flügel waren verkümmert, und Finger gab es nicht mehr, seit sie gelernt hatten, mit den Füßen, den Schnäbeln und geistiger Kontrolle zu arbeiten. Aber hatten sie jemals schriftliche Aufzeichnungen zurückgelassen? Wie schrieb ein Wesen ohne Greiforgane? »Auf dem Weg zum Horst.« »Das sagt mir nichts. Ist es so etwas wie ein Gefängnis?« Ihre Aufregung nahm sichtlich zu; die Flügel bewegten sich heftiger auf und ab, weit nach vorn und klatschend wieder gegen den Körper. Es war sinnlos, ihnen davonrennen zu wollen. Ich kannte die Stadt nicht, und sie waren in jedem Fall schneller. Fontum schlug mit den langen Wimpernfedern und sagte: »Eine Stätte, in der wichtiges Geschehen verhandelt wird.« Die vier Rhoarxi rührten sich kaum von der Stelle. Ich konnte aus ihrem Verhalten
15 zum Glück keine unmittelbare Drohung herauslesen. Aber Fontum und seine Begleiter schienen nicht zu wollen, dass ich an dem wichtigen Geschehen teilnahm. Ich zeigte in die Richtung der Stadtspitze, zum »Bug«. »Befindet sich der Horst in diesem Teil der Stadt?« Zwei Rhoarxi drehten die Köpfe und blickten in die entgegengesetzte Richtung. Dort, im letzten Drittel des unregelmäßigen Ovals der Stadtmauer, erhoben sich zwischen annähernd kubischen Blöcken, zylindrischen Wohntürmen und filigranen Verbindungsbrücken zwei hohe, abgerundete Spitzkegel, gelb und schwarz gestreift, die durch ein schwarz glänzendes, diskusähnliches Gebilde miteinander verbunden waren. Eine kühne schwarze Spiraltreppe führte in die große, von Schattenblenden strotzende Kanzel und wand sich um die Türme. Sämtliche anderen Oberflächen, rostrot, weiß und in unterschiedlich glatten oder rauen Flächen, wirkten wie kunstvolle Verzierungen aus der Hand erfahrener Steinmetzen. Sekundenlang bewunderte ich die Gestaltungskraft der Rhoarxi, die weder Meißel noch Hammer für ihre Kunstfertigkeit benötigten. Auf der Treppe sah ich eine Menge Stadtbewohner, die sich Stufe um Stufe aufwärts schoben. Ich holte tief Luft, legte die Erfahrungen aus Jahrzehnten arkonidischer Befehlskultur in meinen Blick und sagte mit harter Stimme: »Ich bin das einzige Lebewesen, das seit langem in die Intrawelt eindringen konnte. Es ist von größter Wichtigkeit, dass ich alles über die Bedeutung Aspoghies erfahre. Lasst mich gehen.« Ich hoffte, dass die Dhedeens die Dringlichkeit meiner Aufforderung richtig übermittelten. Die Rhoarxi änderten ihr Verhalten nicht, aber sie schienen mein Argument zu überdenken. Ich fuhr fort: »Auch die Rhoarxi sind nur ein winziger Farbtupfer in dem verwirrenden Bild. Die Intrawelt ist mehr als die Summe ihrer oft seltsamen Einzelteile. Ihr könnt sicher sein, dass ich euch nicht schaden werde.« Fontum senkte den Kopf, beriet sich flü-
16 sternd mit seinem Nachbarn und antwortete nach einigem Nachdenken: »Du kannst dich umsehen. Aber versuche nicht, in den Hohen Horst einzudringen. Der Mob und der Oberste Brüter erlauben es nicht. Du müsstest mit … energischer Gegenwehr rechnen.« Er trat zur Seite. Ich nickte ihm zu, schob mich zwischen seinen Begleitern hindurch und betrachtete ein würfelförmiges Holo, das in Blickrichtung entstanden war und offensichtlich das Innere des »Horsts« zeigte. Dort füllten sich die in unterschiedlicher Höhe angeordneten Sitzstangen mit aufgeregten Rhoarxi. Doch der Mob – wahrscheinlich die Berater des Obersten Brüters und des Trägers des Flammenstaubs – wollte nicht, dass ich zusah, was mit Tuxit geschah. Das Holo geisterte zwischen Hauswänden davon. Wahrscheinlich zählte Fontum zum Mob. »Danke für die Erlaubnis.« Ich grinste kurz. »Ich mache keinen Ärger.« Ich trat auf die Brücke hinaus, sah mich um und erblickte ein zweites Hologramm, das vor einem dunkelblauen Mauerstück schwebte. Das Bild zeigte eine aufgeregte Menge Rhoarxi, die durch ein ovales Tor in einen kreisrunden Raum hineindrängte. Ich erkannte Tuxit und Uquart, die mit Gewalt zurückgehalten wurden, aufeinander loszugehen. Tuxit lebte also noch. Ich ging langsam weiter und studierte die Einzelheiten dieses Bildes. Die erregte Aufmerksamkeit der übrigen Rhoarxi richtete sich eindeutig gegen Tuxit; alle Blicke, alle Schnabelspitzen schienen anklagend auf ihn zu zeigen. »Ich werde bald erfahren, was sie gegen den alten Flammenstaubträger haben«, murmelte ich und ging weiter. Eine spiralige Rampe führte abwärts, in die Sockelgeschosse Aspoghies. So viele Individuen lebten auf engem Raum, sagte ich mir. Dieser Umstand erforderte von jedem Einzelnen eine große Menge Disziplin und eine Mischung aus Höflichkeit, Zurückhaltung und der Fähigkeit, nicht anzuecken – im Sinn des Wortes. Außerhalb des Gebäudes hörte ich keine Musik, aber
Hans Kneifel auch keinerlei Durchsagen oder Aufrufe. Die Wirkung eines Obersten Brüters bestand also zweifellos auch darin, diesen ausgeglichenen Zustand dauerhaft zu stabilisieren. Nur wenn sich die Masse der Einwohner derart zurückhaltend verhielt, war begrenzter Individualismus möglich. Sie haben eine Million Jahre – mindestens – Zeit gehabt, das richtige Sozialverhalten zu üben, belehrte mich mein Extrasinn. Mit diesem einwandfreien Verhalten war es zwischen Tuxit und Uquart jedenfalls vorbei. Ich drang, ohne zu zögern, in die Basisgeschosse der Wanderstadt ein, also in die Unterwelt dieser einzigartigen Schöpfung.
* Auf den Rängen des Hohen Horstes begannen die versammelten Rhoarxi zu toben. Einzelne Rufe, Flüche, Schreie und Drohungen verbanden sich zu einem brausenden Geräuschorkan. »Wie kannst du es wagen, dich hier noch einmal sehen zu lassen?« »Verräter! Schande über dich!« »Reißt ihm die Federn aus!« Von allen Seiten drangen Fragen und Verwünschungen auf Tuxit ein. Er fühlte sich von den Angehörigen des Mobs durch den Eingang geschoben, bis zur Horstmitte. Er erkannte, trotz vieler neuer Einbauten und der langen Zeitspanne seiner Abwesenheit, das Innere wieder. Auch Uquart sprang auf die Freifläche des weißen Sohlenschmeichlers, streckte seinen Flamingohals und schrie auf Tuxit ein: »Bist du dir klar, dass du den Tod verdient hast? Du forderst die ganze Stadt mit deiner Rückkehr heraus!« »Auch die Impostoren klagen dich an!«, kam es vom Chor des Mobs. Tuxit drehte den Kopf. Durch die Hälfte der Fenster drang Sonnenlicht in den Raum mit der flachen Kuppel und den ansteigenden Rängen aus Sitzstangen und Lehngittern, die sich in zwei Halbkreisen vom ersten Rang bis unter die Decke entlang der schalenartigen Konstruktion zogen. Durch
Wanderstadt Aspoghie einen Kreis runder Fenster fiel Sonnenlicht in den altehrwürdigen Versammlungsraum. Nacheinander füllten sich die letzten Sitzgelegenheiten mit Stadtbewohnern. Tuxit erkannte die holografischen Darstellungen in der Kuppel wieder. Er wusste, dass er Schande über sein Volk gebracht hatte, aber in 30.000 Tagen sollten die größte Wut und die tiefste Enttäuschung abgeklungen sein. Offensichtlich war die schmerzhafte Erinnerung in den meisten Stadtbewohnern noch lebendig. »Zwei Träger von Flammenstaub in der Stadt – das bedeutet Aufruhr in Aspoghie!«, schrie ein Rhoarxi vom Eingang her. Unverändert drängten Stadtbewohner in den Horst, der Platz für ungefähr tausend Versammelte hatte. Von allen Seiten kamen hasserfüllte Blicke und drohendes Zischeln und Keckern. Tuxit richtete sich auf und rief: »Lasst mich reden. Ich bin zurückgekommen, weil es wichtig ist.« »Was wichtig ist, wird dir Zentilli sagen!« Inzwischen saßen einige hundert Rhoarxi auf den Stangen und lehnten sich gegen die federnden Gitter. Die Schenkelschützer, Kennzeichen der Impostoren, waren weiß und geformt wie Schwungfedern. Uquart, der Oberste Brüter, hatte inzwischen den Platz auf seiner reich dekorierten Horststange eingenommen und starrte Tuxit schweigend an, aus der Höhe seiner gesellschaftlichen Position, als wichtigster Mann der Stadt. Eine Gruppe Impostoren schob sich in den Horst. In ihrer Mitte stolzierte ein kleinwüchsiger Rhoarxi, der vier Bänder um den Hals trug. Er blieb am Rand der Innenfläche stehen und spreizte die Flügel. »Da ist Zentilli. Er wird es ihm besorgen!«, hörte Tuxit. Er stand allein in der Mitte des Horstkreises und spürte unter den Sohlen die weichen Halme des Sohlenschmeichlers. Aber vor dem untersten Sitzkreis standen mindestens drei Dutzend wachsame Mob-Räte. Zentilli machte einige zögernde Schritte, baute sich vor Tuxit auf und ruckte mit dem Schnabel in die Höhe.
17 Er war zwei Köpfe kleiner als Tuxit. »Ich bin der Vertreter der Impostoren«, sagte er laut. »Der Mob will, dass du – mit deinen fremden Freunden – die Stadt verlässt. Oder man wird dich zum Tode verurteilen.« Tuxit sah auf den Sprecher hinunter und sagte: »Ich weiß, dass es nur einen Obersten Brüter in der Stadt geben darf. Aber …« Zentilli unterbrach ihn scharf. »Die Stadt, wir alle sind auf den Obersten Brüter angewiesen. Aspoghie verträgt nur einen von euch. Es ist das Gesetz. Das weißt du ebenso gut wie ich.« Tausendmal hatte Tuxit diese und ähnliche Gedanken gewälzt und identische Überlegungen angestellt. Der Flammenstaub des Obersten Brüters beruhigte und lenkte die gesamte Bevölkerung Aspoghies. Zwei Wesen mit der gleichen Menge Macht und Einfluss würden zunächst die Bevölkerung beunruhigen, ängstigen und jeden Einzelnen unfähig zu jeder vernünftigen Tätigkeit machen. »Ich weiß, dass ich Schande über mich gebracht habe«, sagte Tuxit und legte die Flügel an. »Ich werde mich so verhalten, dass niemand wieder geschädigt wird.« Die Versammelten stießen Laute des Unwillens aus, klapperten mit den Schnäbeln und starrten Tuxit an. »Es ist schon viel zu viel geschädigt worden!«, schrie Zentilli. »Du weißt … du weißt … Gar nichts weißt du. Du weißt nicht, dass deine Familie, dein ganzes Nest, wegen deiner Schandtat aus der Stadt entfernt worden ist?« Auf den Rängen stieg die Unruhe. Die Schreie wurden bissiger und schneidender. Tuxit hörte einige schlimme Beleidigungen. »Meine … Familie? Entfernt?« Tuxit senkte den Kopf und starrte in Zentillis Augen. »Entfernt. Unwiderruflich. Sofort, denn das haben die Impostoren beschlossen.« Tuxit zweifelte nicht an der Wahrheit von Zentillis Aussage. Sein Kamm hatte sich aufgerichtet; die entsetzliche Wahrheit
18 lähmte ihn und ließ ihn in tiefe Verzweiflung fallen. Der Mob und die Impostoren hatten seine Familie in einem Akt der Blutrache getötet. Und wahrscheinlich hatte niemand eingegriffen. Unter der Kuppel wurde es plötzlich still. »Ich habe es nicht geglaubt«, sagte Tuxit leise. »Aber ich hätte es ahnen müssen. Ich habe stets an meine Brüteriche gedacht und an all die anderen.« »Du hättest es wissen müssen. So ist unser Gesetz.« Tuxit richtete den Blick zur Decke. Seine Gedanken schienen in einer schrecklichen Leere verloren. Er hätte damit rechnen sollen, und wenn er es sich eingestand, so hatte er seine Familie schon damals verloren; sie war tatsächlich schon vor 30.000 Tagen ausgelöscht worden, und er hatte es gewusst. Aber Ahnung und Wissen und deren Bestätigung waren verschiedene Dinge. Gedankenlos betrachtete er die Holos, die ätherische Vogelwesen im Flug zeigten, zauberische Horste zwischen Firmament und Boden und idealisierte Darstellungen aus der legendenhaften Vergangenheit. Der Oberste Brüter hantierte an den Schnabeltasten seines Sitzes. Über dem Horstzentrum baute sich ein großes Holo auf. Es zeigte Stadtbewohner, die sich auf den Plätzen, den Wegen und Treppen und in den Gebäudeschluchten um den Hohen Horst drängten. Zumindest diese Menge erinnerte sich an Tuxits einzigartige Tat. Tuxit fühlte, wie aus seiner Trauer und Verzweiflung neue Wut wuchs. Er kämpfte einige Atemzüge lang gegen den Drang an, sich auf die Angehörigen des Mobs oder auf Zentilli zu stürzen. Alle Anwesenden betrachteten das Geschehen im Hologramm; die Stadtbewohner spürten die Anwesenheit zweier Flammenstaub-Träger. Die Erregung stieg in den Nestern Aspoghies. Dann schwemmte die Wut die Trauer tief im Inneren Tuxits fort. Er breitete seine Flügel aus, aktivierte das Cueromb und griff Zentilli an.
Hans Kneifel »Halt! Zurück! Du machst alles nur noch schlimmer!«, schrien die Rhoarxi. Von allen Seiten sprangen die Mitglieder des Mobs auf Tuxit zu und prallten zurück, als er nach einigen weiten Schritten zur Besinnung kam und stehen blieb. Er desaktivierte das Cueromb. »Ich bin zu alt, um zu kämpfen«, sagte er laut und senkte den Kopf. »Es musste wohl so sein. Alle sind tot …« Er verstummte und bog seinen Hals hinunter. Sein Versagen vor 30.000 Tagen sollte ihn gelehrt haben, dachte er, dass Fehler und unbedachtes Handeln grausame Folgen haben konnten. Er hob wieder den Kopf und blickte ins Holo: Wenn sich die Lage nicht änderte, würde sich die gesamte Stadtbevölkerung zwischen den beiden Polen Tuxit und Uquart aufreiben. Was der Zweikampf für das Gefüge der Wanderstadt bedeutete, wagte er sich nicht vorzustellen. »Du hast in Wirklichkeit keine Wahl, wenn du weiterleben willst«, sagte Zentilli scharf. Der priesterliche Ton passte nicht zum Aussehen des dicken Impostoren. »Du musst augenblicklich die Stadt verlassen. Geh zurück in die Wüste Nabuzyms.« »Du weißt nicht, was ich weiß«, gab Tuxit zurück. »Ich wende mich an euch alle. Ich rede von gefährlichen Entwicklungen in der Intrawelt.« »Ihr beide treibt das Volk in den Wahnsinn!«, schrie jemand. »Du und Uquart.« »Aber Uquart ist der legale Oberste Brüter! Vom Mob gewählt und beraten!« Die Rhoarxi auf den Rängen gerieten wieder in Aufregung. »So ist das Gesetz!« »So und nicht anders ist es!«, kreischte Uquart und kletterte von seinem Hochsitz herunter. »Siehst du, was du angerichtet hast?« Er deutete mit dem Schnabel auf das langsam kreisende Holo, das die Menge außerhalb des Horstes und auf der Treppe zeigte. Die zunehmende Unruhe, die Tuxit und Uquart erfüllte und die sich in jeder Geste und jedem Wort ausdrückte, erfasste einen
Wanderstadt Aspoghie Teil der Bevölkerung. »Lasst ihn reden!«, rief ein Rhoarxi aus dem Mob. »Ich habe 30.000 Tage und Nächte Zeit gehabt«, erklärte Tuxit trotzig, »und bin weit in der Intrawelt herumgekommen. Ich weiß, dass viele Entwicklungen falsch gelaufen sind. Auf schier endlosen Wanderungen habe ich Trümmer, Chaos und Hilflosigkeit sehen müssen.« »Das mag so sein, aber was hat das mit deiner Rückkehr zu tun?«, ließ sich Uquart vernehmen. »Binnen kurzer Zeit wird das Chaos auch über ganz Aspoghie hereinbrechen.« »Einzig ich kann das Chaos verhindern«, antwortete Tuxit aufgeregt. »Aber nur, wenn ich die Verantwortung über unsere Stadt übernehme.« Der Streit im Inneren des Horstes wurde auf die Plätze und in die Gassen der Stadt übertragen. In vielen Nestern zeigten Holos das Geschehen und schilderten den lauten Wortwechsel und die deutliche Aggressivität der beiden Rhoarxi. »Das werden wir nicht zulassen. Uquart ist gewählter Oberster Brüter. Er wird alles zum Guten führen!«, kommentierte Zentilli salbungsvoll. »Hörst du es nicht?«, schrie Tuxit. »Draußen fangen sie zu kreischen und zu toben an.« »Deinetwegen, Verräter!« Jedem Rhoarxi, zumindest allen Versammelten im Hohen Horst, war die Bedeutung des Flammenstaubes seit den ersten Tagen ihres Lebens bekannt. Ohne die sanfte Beeinflussung durch den Flammenstaub, den sein Träger klug und gewaltfrei verwaltete, war kein sozial ausgewogenes Leben in der Stadt möglich. Die Persönlichkeit des Trägers war ebenso entscheidend wie der flimmernde Staub, denn die überaus starken Gefühlsschwankungen des Einzelnen mussten sich stets den Notwendigkeiten der gesamten Stadtgesellschaft einordnen. Kontrollierte Emotionen waren unabänderlicher Bestandteil der Sozialhygiene.
19 »Zwei Flammenstaub-Träger in einer Stadt. Ein unerhörtes Vorkommnis! Dieser Zustand wirkt wie eine Detonation!«, rief Zentilli belehrend. Er sah das Verhängnis ebenso deutlich wie Tuxit und Uquart. »Gerade deswegen muss ich zum Obersten Flammenstaub-Träger bestimmt werden!« Tuxit spreizte seine Flügel und hob sie steil über seinen Körper. Das Cueromb schien im Sonnenlicht zu glühen. »Es ist keine Zeit mehr zu verlieren!« Seine Worte und die damit verbundene Weigerung wirkten auf den Mob, alle anderen Anwesenden und durch die Potistamauern hindurch auf die Stadtbewohner ein. Wie finstere Schatten oder wie eine Gaswolke breitete sich die aufgeladene Stimmung im Horst und dessen Umgebung aus. Tuxit begann zu spüren, wie ihm die Beherrschung entglitt.
* Als ich am tiefsten Ende der Rampe stehen blieb, hörte ich hoch über mir einen Ruf. »Atlan! Warte auf mich!« Ich erkannte Jolos quäkende Stimme. Er hatte sich also vom reich gedeckten Essenstisch losreißen können. »Bist du etwa satt? Ich bin hier«, rief ich. »Und nirgendwo sind Rhoarxi zu sehen.« Jolo bewegte sich die Treppenrampe herunter. Seine Hose war ebenso schmutzig und durchgescheuert wie mein Overall. Ich blieb stehen und sagte, als er mich keuchend erreicht hatte: »Wir sehen uns zuerst genau um. Wenn sich die beiden Rhoarxi einig sind, werden wir wahrscheinlich erfahren, was sich im Horst zugetragen hat.« »Wo sind Fontum und seine Freunde?« »Spurlos verschwunden«, sagte ich. »Sie glauben sicher, dass wir vor Erschöpfung eingeschlafen sind.« »Bin viel zu aufgeregt und hungrig. Kann nicht schlafen«, sagte Jolo schrill. Ich nickte und zeigte auf eine Reihe dicker Säulen, die ein massiges Gebäude zu stützen schienen. Wir befanden uns auf der
20 untersten Ebene der Stadt; unter unseren Sohlen gab es nur die Sandebene und die Abermillionen Raphen, durch deren Bewegungen die schwere Masse Aspoghies durch die Parzelle Nabuzym kroch. »Ich weiß nicht, was wir finden werden«, murmelte ich. »Aber hier fangen wir an. Eine Stelle ist so gut wie jede andere.« »Bis uns Fontum wieder einfängt.« Ich zuckte die Achseln und setzte mich in Bewegung. Mich erstaunte, dass ich nicht mehr Stadtbewohner sah. Bei etwa dreißigbis vierzigtausend Rhoarxi müsste die Stadt eigentlich von quirligem Leben erfüllt sein, an jeder Stelle der Potistamasse. Ich konnte durch viele Fensteröffnungen blicken, aber niemanden in den Räumen dahinter erkennen. Nur ab und zu sah ich in den Lücken und schmalen Gassen oder auf Verbindungsstegen einige Rhoarxi. Sie alle schienen es eilig zu haben. Wir gingen zwischen den Pfeilern hindurch bis zu einer glatten Wand, etwa fünfzig Schritte lang. Drei Öffnungen unterbrachen die Wand, die wie viele Teile der »Unterstadt« eine helle Oberfläche aufwies. Hier war sie schreiend gelb. Ich hielt kurz vor der ersten Öffnung an und ging hindurch; es gab weder eine Tür noch eine andere Sperre. Ein merkwürdiger Geruch schlug uns entgegen, als ich auf eine zweite Wand aus halb durchsichtigem Potista stieß. Dahinter sah ich im grellen Licht künstlicher Beleuchtungskörper die Umrisse und Schatten von Rohren und großen Behältern. Langsam ging ich an der glasartigen Fläche entlang, gefolgt vom schweigenden Echsenwesen, dessen Saugnäpfe auf dem glatten Untergrund schmatzende Geräusche erzeugten. Ich hatte keine Ahnung, was ich hier zu erwarten hatte, aber diese Anlage schien auf unbestimmte Weise nicht zu der wandernden Stadt zu passen. Andererseits: Was wusste ich wirklich über die Rhoarxi? Wir gingen weiter bis zu einem Gebilde aus dem gleichen dünnen Material, das wie eine Luftschleuse aussah. Als ich vor der breiten Platte stand, schob sie sich zur Seite.
Hans Kneifel Ich war mit einem Schritt in einer Kabine, die groß und hoch genug für ein halbes Dutzend Rhoarxi war. Hinter mir sprang Jolo buckelnd in die Schleuse. Die Außentür schloss sich, wir wurden sekundenlang von einer Art schwarzem Licht überschüttet, dann öffnete sich die innere Schleuse. »Das ist …«, begann Jolo. Ich trat aus der Schleuse in eine große Halle, die von runden Leuchtplatten in Helligkeit gebadet wurde. Durchsichtige und halb durchsichtige Behälter, durch verschiedenfarbige Rohre mit unterschiedlichem Durchmesser verbunden, füllten fast den gesamten Raum aus. »Das scheint ein Labor zu sein oder besser eine Produktionsstätte«, fuhr ich fort. Die Schleusentür schloss sich geräuschlos. Ich suchte mir einen Weg zwischen den Behältern und Rohren hindurch, sah kleine Maschinenblöcke, die wie Pumpen oder Steuereinheiten aussahen. Die »Technik« der Rhoarxi unterschied sich kaum von anderen technischen Einrichtungen der Intrawelt, so, wie ich sie kennen gelernt hatte. »Eine ziemlich große Anlage. Und sie hat offensichtlich wenig mit Forschung zu tun.« Jolo tappte neben mir her, berührte ab und zu einen Teil der Maschinen und sagte: »Da drinnen summt und gurgelt jemand.« »Nicht jemand – etwas.« Durch die Rohre floss etwas, das ich nicht erkennen konnte; vielleicht war es die gleiche Substanz, wie sie auch durch andere Teile gepumpt wurde. Es gab keine Arbeitstische, keine Sitzstangen und keine Einrichtungen, die darauf hindeuteten, dass Rhoarxi in diesem Raum wissenschaftlicher Forschung nachgingen. Als wir uns der Stirnwand näherten, nahmen die leisen Arbeitsgeräusche der Anlage an Intensität zu. Ich entdeckte einen halb durchsichtigen Schrank, drei Meter breit und ebenso hoch, in den mehr als ein Dutzend Rohre und Kabel führten. Im Inneren waren einige hundert kastenförmige Elemente zu erkennen, in denen sich hühnereigroße Dinge pulsierend bewegten.
Wanderstadt Aspoghie Ein biologisches Gen-Labor oder Ähnliches, sagte der Extrasinn. Jolo war weitergewatschelt und sah sich in der gegenüberliegenden Ecke um. Die Arbeitsgeräusche in der Halle waren undramatisch, aber durchdringend. Ich griff nach einem Hebel, der für einen Rhoarxi-Schnabel geformt war, und bewegte ihn. Die vordere Platte öffnete sich. Feuchte Wärme schlug mir entgegen und bildete eine Wolke, die nach Moder, faulendem Eiweiß und Moschus roch und sich augenblicklich auflöste. Ich sah offensichtlich in einen Brutschrank hinein. In jedem der vielen Fächer lag eine fahl weiße Kugel, die sich schwach dehnte und zusammenzog wie ein Herzmuskel. Zahlreiche graue Stacheln wuchsen, kaum größer als Mooshärchen, aus den Eiern oder den Lebewesen hervor, die dieser besonderen Atmosphäre ausgesetzt waren. Ich hatte eine unbekannte Art von Eiern vor mir. Etwa Brütlinge der Rhoarxi? Denkbar, aber eher unwahrscheinlich, denn in diesem Fall würden sie wohl besser überwacht sein müssen. »Hast du etwas gefunden?«, rief Jolo und tauchte unter einem Rohrbündel hindurch. Vorsichtig schloss ich die Schranktür. »Einen Schrank, in dem irgendwelche Eier ausgebrütet oder gezüchtet werden«, antwortete ich und bog in einen Mittelgang ein. »Nichts, was dir schmecken würde, Jolo.« Rechts und links von mir schienen in gerundeten Gefäßen dickflüssige Nährlösungen zu kochen. Pumpen transportierten sie weiter, und in jedem weiteren Gefäß hatten sie eine andere Färbung und waren von mehr oder weniger Bläschen durchsetzt. Ich hatte in meinem Leben genügend solche Anlagen gesehen – ich war sicher, in einem von mehreren Rhoarxi-Genlaboratorien umherzuwandern. »Also ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen großen Teil der Intrawelt-Lebewesen gezüchtet oder entwickelt haben, viel größer geworden«, sagte ich zu Jolo, der sich gedankenlos und tollpatschig von einer Apparatur zur anderen bewegte und die Farben
21 und Bläschenströme bewunderte. Er gab keine Antwort und folgte mir zur gegenüberliegenden Stirnwand. Wieder nahm uns eine fauchende Luftschleuse auf. Wir betraten einen Raum, der sich von diesem Labor deutlich unterschied. Als sich die innere Schleusentür öffnete, sprangen fünf oder sechs Rhoarxi, die erregt zwitscherten, von ihren Spezialstühlen auf und rannten, ohne uns zu sehen, zum Ausgang des Labors. Über ihren Sitzen schwebte ein rechteckiges Holo, das Szenen aus dem Horst zeigte; der Ton war desaktiviert. Krachend fuhr eine Sicherheitstür in die Widerlager. Sie sind keineswegs vor euch geflüchtet. Etwas hat sie aufgescheucht, erklärte der Logiksektor. Ich zweifelte nicht daran und betrachtete die Vorgänge im dreidimensionalen Bild. Noch immer stritt sich Tuxit mit Uquart. Wir befanden uns jetzt in einem richtigen Forschungslabor. Holoschirme, Mikroskope und riesige Labortische voller durchscheinender Kolben, Röhren und Kästen, Analysegeräte, unzählige bunt blinkende Kontrolllichter und mindestens drei Dutzend jener kelchartigen Stühle füllten den Raum. Der einzeln stehende Fuß und die halb eiförmige Sitzschale mit den seitlichen Aussparungen für die Oberschenkel sahen aus wie bizarr geformte Weingläser. Drei Handbreit über dem Boden waren überdimensionale »Schuhe« an dem Stiel angebracht worden. Ich ging näher heran, betrachtete nachdenklich die Konstruktion und verstand schließlich, wie diese Anordnung funktionierte. Die Behälter, in die ein Rhoarxi seine Krallenfüße hineinschieben und die Krallen bewegen konnte, waren Manipulatoren, die über flexible Schläuche, Drähte oder Hydrauliken an der Kante des Arbeitstisches zusammenliefen und mit unterschiedlichen Werkzeugen bestückt werden konnten; dies geschah höchstwahrscheinlich mit dem Schnabel. Auf den Arbeitstischen, neben eingelassenen schwarzen Glasflächen, lagen etwa handgroße Gebilde aus einer schwam-
22 martigen Masse, aus denen jeweils vier kleine Tentakel herausragten. Ich hob eines der Dinge hoch. Als es von der Tischplatte abgezogen wurde, gab es einen zornigen, quäkenden Schrei von sich. Ich legte es zurück, als es anfing zu vibrieren. Der Gegenstand, der ein eigenes Leben zu besitzen schien, war ungewöhnlich schwer, seine Tentakel, die voller winziger Saugnäpfe waren, bewegten sich wie die Finger eines Tastenspielers. Als der elfenbeinfarbene Klumpen auf dem Tisch lag, schob er sich bis zum Rand der Platte zurück und erstarrte. Du erkennst die Bedeutung nicht, sagte der Logiksektor. Das Ding hat etwas mit der Arbeit der Rhoarxi-Wissenschaftler zu tun. »Warum haben sie dafür keine Roboter?«, fragte ich mich laut und versuchte zu erkennen, was die Hologramme und Schirme zeigten. Nicht alle waren aktiv, aber auf einigen lief ein Programm ab, das mich verblüffte. Und dazu ertönte Musik! Entspannende, melodische Musik, eine andere, als ich in unserem Quartier gehört hatte, und die nichts von Vogelgezwitscher hatte. Ich sah in den Hologrammen, von Bildbeispielen unverständlicher Vorgänge und Zahlen, Formeln und Begriffen unterbrochen, die verschiedenen Stadien eines offenbar bis zum Ende durchgeführten, zumindest in allen Einzelheiten geplanten oder programmierten Gen-Experiments. Zellmanipulation, Zellverschmelzung, verschiedene Wachstumsstadien, eine wuchernde Eiform, winzige Stacheln, eine Reihe von Abschnürungen, wachsende Stacheln, die zur Vorform von Federn wurden, schließlich ein Vogel von gelber Farbe, der sich von jenen Dhedeens, wie ich einen trug, augenscheinlich durch Kraft, Wendigkeit und andere Fähigkeiten unterschied, die ich aus den Holos nicht herauslesen konnte. Jedenfalls eine neue Generation dieser Translator-Vögelchen, bemerkte der Extrasinn. Ich sah den Flugmanövern des Endprodukts im Holo zu. Sie hatten etwas entschie-
Hans Kneifel den Roboterhaftes, diese winzigen, Blut saugenden Vögelchen. Wahrscheinlich galt dies auch für andere Züchtungen der Rhoarxi. Ich hatte sie wirklich unterschätzt, die Avoiden. Besser ausgedrückt: Ich hatte sie ganz anders eingeschätzt.
4. Die Nöte des Biologen Der alte Rhoarxi klappte die Doppellinsen des Mikroskops zurück und ächzte: »Es ist nicht mehr auszuhalten!« Ausgezeichneter Mob-Berater, ZunftGroßschwinge Curxari, Ältester Zellforscher der Stadt, zog seine Krallenzehen aus den Feinmotorik-Hilfen und glitt seitlich aus dem hochlehnigen Arbeitsstuhl. Er stützte den Brustkorb auf den Tisch und blickte zum Fenster hinaus auf die große Düne, an der sich Aspoghie seit einer halben Stunde entlangbewegte. Curxaris Liderfedern zitterten, als er versuchte, die Unruhe zu unterdrücken, die ihn seit einer guten halben Stunde erfüllte. Er war einer der ältesten Rhoarxi in Aspoghie, älter als 30.000 Tage. Er hatte sich entschlossen, ein langes Leben zu führen, um seine Forschungen in Ruhe weiterführen und erfolgreich beenden zu können. Er wollte zu Ende kommen, ehe die Wanderstadt die Grenze der Parzelle Nabuzym erreicht hatte. »Aufhören. Heute wird nichts mehr notiert«, sagte er. Das Dhnarr erstarrte und glitt aus dem Bereich der Schreibplatte. »Was geht im Hohen Horst vor?«, murmelte Curxari und klapperte einen langsamen Takt mit den Schnabelspitzen. »Da bahnt sich eine dramatische Auseinandersetzung an, will mir scheinen.« Immer wenn er mit seinen Überlegungen an einen toten Punkt kam, hatte ihm bisher ein Blick aus dem Fenster geholfen. Die Sonnenblende engte den Blickwinkel ein wenig ein, aber die Eintönigkeit der wüstenartigen Gegend, die Felsen und deren Schatten, die geschwungenen Linien der Dünenkämme und die wenigen Bäume hatten seine
Wanderstadt Aspoghie aufgeregten Gedanken beruhigt. Die sandige Ebene, an deren Rand sich die Dünen erhoben, hatte in den letzten Tagen ihr Aussehen verändert. Mehr und mehr Felsblöcke erhoben sich aus der Sandfläche, und viele zeigten beträchtliche Größe. Das jaulende Geschrei der Skorpionwesen vermochte er in seinem Nebennest nicht zu hören. Mehr als hundert Meter trennten die Dachräume vom Boden Nabuzyms. Er betrachtete das gelbweiße Bild, aber die innere Unruhe wich nicht. »Der Oberste Brüter scheint Ärger zu haben«, murmelte er und ließ ein Nachrichtenholo aus dem Nebenraum ins Labor hineinschweben. Langsam wandte er den Kopf und studierte mit wissenschaftlicher Konzentration die Bilder, die aus dem Hohen Horst übertragen wurden. Er hörte der erregten Diskussion zu, die bisweilen in Kampf auszuarten drohte, und klapperte gedankenlos leise mit dem Schnabel. Er blickte nachdenklich aus dem Fenster. Von seinem Nest aus konnte er das Ende der Wanderstadt sehen und die Spur der ausgesonderten Teile, die in einer leichten Krümmung, durch die Entfernung kleiner und unbedeutender, im Wüstensand lagen. Soeben hatte die Stadt einen wuchtigen Würfel abgestoßen, einen unbrauchbaren roten Kubus, der an den Rändern abbröckelte. Curxari sah ihn über die Kante kippen, durch den Sand rollen und zur Ruhe kommen. Seine Konjugationsfähigkeit war nach etwa 50-maliger Anwendung erschöpft, und das Material würde zerfallen und Bestandteil der Wüstenparzelle werden. »Diese Größe«, flüsterte Curxari. »Das ist ungewöhnlich. Es erschreckt mich.« Er schüttelte sein Gefieder und dachte nach. »Jetzt weiß ich, warum ich mich derartig gestört fühle«, sagte er sich, desaktivierte das Holo und verließ das Labor. Etwa hundert Rhoarxi lebten in den Nestern, die sich auf derselben Ebene an der Spitze des Wohnturms um Curxaris Nest, sein Labor und den Gondelschacht glieder-
23 ten. Aus den Fenstern eines jeden Nests bot sich ein einzigartiger Blick auf Teile der Stadt und die Wüste. Als Curxari in den engen Korridor hinaustrat, registrierte er, dass ringsherum alle Nester verlassen zu sein schienen; die Mitbewohner befanden sich entweder auf dem Weg zum Horst oder erlebten den Streit zwischen Tuxit und Uquart an Ort und Stelle mit. An Tuxit, den einstigen Obersten Brüter, erinnerte sich Curxari noch sehr genau, an ihn, den Schrecken und die Aufregung, seine ausgelöschte Familie und die kollektive Verzweiflung, die damals die Stadt befallen hatte. Die Gondel am Maulspindlerfaden kam langsam aufwärts durch den Schacht. Der alte Wissenschaftler, dessen Schwingengefieder fast weiß geworden war, stieg ein und schwebte an Dutzenden Korridoren vorbei zur Verkehrsebene der Stadt und stieg aus. Hier traf ihn die aufgewühlte Stimmung im Hohen Horst voll. Er begriff, dass die Lage tatsächlich explosiv geworden war.
* Im Sockelgeschoss des übernächsten Turmbauwerks: Jolo watschelte vor mir eine Rampe hinauf und wartete in einer weitaus größeren Luftschleuse auf mich. Die zischende Anlage mit ihrem Flackerlicht – gängigen Praktiken nach wurden wir dadurch wahrscheinlich desinfiziert – entließ uns in eine kreisrunde Halle, an deren Wänden schmale Kammern, etwa einen halben Meter breit und zwei Meter hoch, aufgereiht waren. In ihrem Inneren, verschiedenfarbig beleuchtet, hingen kugelige Wesen mit langen, herunterbaumelnden Gliedmaßen. An der Decke befand sich ein ebenso verwirrendes Röhren- und Leitungssystem wie in den anderen Labors. »Erklär mir, was das ist«, forderte mich Jolo auf. Ich hob unschlüssig die Schultern und versuchte zu erkennen, welche Lebewesen in diesen Tanks reiften. Die Flüssigkeiten
24 stiegen und fielen in den Kammern, Blasen sprudelten aufwärts und abwärts, farbige Schlieren und Mischungen lösten sich fortwährend in dem schaumigen Fluid auf; wohl eine Nährflüssigkeit. »Hier werden genetische Experimente durchgeführt«, versuchte ich eine Erklärung. »In den kleinen Labors entwerfen die Rhoarxi irgendwelche Wesen, und hier wachsen sie. Wahrscheinlich.« »Und das alles machen die Rhoarxi?« »Vielleicht haben wir die Vogelwesen unterschätzt«, sagte ich. »Die Rhoarxi und ihre Technologie können mehr, als es scheint.« Und das seit mehr als einer Million Jahren, warf der Logiksektor ein. Die wachsenden Wesen in den Schrankzellen erinnerten mich an meinen ersten Kontakt mit Einrichtungen der Intrawelt, an das Wesen, das sich »Teph« genannt hatte, den krakenhaften Verwalter des Energieschlauchs. Ich konnte nichts anderes tun als mich umsehen. Ich untersuchte drei Wände des Raumes, fand eine Tür, die sich ohne Strahlengewitter oder Luftaustausch öffnete, und stand in einer dämmrigen Halle, deren Decke niedriger war als in den vorhergehenden Räumen. Als ich einige Schritte geradeaus gegangen war, schalteten sich lautlos Dutzende greller Tiefstrahler ein. Sie strahlten auf sargähnliche Kästen herunter, deren Böden sich ebenfalls erhellten. In den gläsernen Kästen lagen lang ausgestreckte Körper. »Kraken …«, sagte ich verwundert und untersuchte den nächststehenden Glaskasten. Die transparenten Flächen waren kalt, aber weder vereist noch beschlagen. Bewegungslos war ein Wesen ausgestreckt, etwa sechs, sieben Meter lang, das dem Pförtner zur Intrawelt ähnelte. Teph, der Wächter, bestätigte der Extrasinn. Ich betrachtete das Krakenwesen genauer. Der Körper war an einigen Stellen seziert, an anderen Stellen sah ich Stangen, Gelenke und Klappen, die metallisch glänzten und anscheinend irgendwelche Organe oder Muskeln ersetzen sollten. Drei der längsten Tentakel waren dicht am Körper
Hans Kneifel abgetrennt. Nachdenklich ging ich zum nächsten Kasten und sah dort ein ähnliches, aber kleineres Wesen, das auf andere Weise verstümmelt war. »Also doch«, murmelte ich im Selbstgespräche. »Jede Menge biologischer Experimente. Dhedeens, Krakenwesen …« Jeder Kasten enthielt ein anderes lebloses Exemplar einer offensichtlich großen Menge biologischer Züchtungen. Jedes war untersucht worden, jedes zweite enthielt ausgewechselte Teile, keines schien den Anforderungen des Entwurfs genügt zu haben. »Und niemand ist hier«, sagte ich mir. »Alle sind beim Horst und warten, was Tuxit zu sagen hat.« Jolo watschelte von Kasten zu Kasten, spähte mit einiger Anstrengung hinein und gab keinen Kommentar. Nun wusste ich, was in einem Teil der Wanderstadt und wahrscheinlich auch in Zirnatim und Benenses vor sich ging. Half mir dieses Wissen? Selbst wenn alle Wesen der Intrawelt von den Rhoarxi-Wissenschaftlern erschaffen oder modifiziert worden waren, vor einer Million Jahren oder in der Gegenwart, verhalf es mir weder zum Flammenstaub noch zur Fähigkeit, mit diesem kosmischen Wunder richtig umzugehen. Rätsel über Rätsel. Sie wurden nicht weniger. Langsam ging ich zwischen den Zeugen missglückter Experimente zur Tür. Jolo wartete im angrenzenden Raum auf mich. Hinter mir schaltete sich die grelle Beleuchtung ab.
* Als ich die schlanken Säulen sah und die wenigen weißen Stufen zu ihnen hinaufging, war ich sicher, dass die Rhoarxi in einigen Bereichen ihres Lebens durchaus konventionell dachten und handelten – fast jedes Sternenvolk hätte den Eingang zu einem Museum so oder ähnlich gestaltet. »Sieht beeindruckend aus«, stellte Jolo fest und kletterte mühelos neben mir über
Wanderstadt Aspoghie die Stufen. Sein Schwanz zuckte unternehmungslustig. »Und völlig verlassen.« »Vielleicht wimmelt es zwischen den Kunstwerken von Rhoarxi«, sagte ich und langte nach dem Griff der hohen, schmalen Doppeltür. Er war wie eine marmorne Vogelschwinge geformt. Schon bei der leichten Berührung schwangen die Torflügel lautlos nach außen auf. »Ob ich irgendetwas über die Vergangenheit der Rhoarxi erfahren werde …?«, fragte ich mich laut und folgte Jolo, der neugierig hineingestürmt war. Im ersten großen Saal waren wir die einzigen Besucher. In der Mitte des Raums standen auf Sockeln etwa ein Dutzend Skulpturen – natürlich aus Potista. An den Wänden sah ich große Bilder, die sich beim Näherkommen als flache Hologramme entpuppten. Langsam ging ich an ihnen entlang und versuchte genau zu erkennen, was sie schilderten. Ich identifizierte sie als etwa zwanzig heroische Darstellungen, die sich mit Aspoghie beschäftigten, der Wanderstadt auf ihrem Weg durch die Zeiten und Parzellen. Die Bilder zeigten dramatische Landschaften, deren Wolken und Stürme sich ebenso langsam bewegten wie die Stadt, die manchmal nur ein riesiger dünner Fladen war, von zeltartigen Bauten bedeckt mitunter anwuchs und in die Höhe strebte; offenbar hing Aspoghie von der Menge verfügbaren Siliziums ab und von anderen Mineralien. Mehrere der lautlos lebenden Bilder zeigten die Wanderstadt in der gegenwärtigen Größe. Auf jedem Bild erkannte ich andere Bauwerke in anderen Farben. Es herrschte kein einheitlicher Stil: Wahrscheinlich hatten die Obersten Brüter in der Vergangenheit zu unterschiedlichen Zeiten stets nur einzelne Gebäude nach ihren Vorstellungen erdacht und errichtet. Die Stadtmauer mit wechselnden Toren war ein Gestaltungselement, das seit langer Zeit die Wanderstadt umgab – aber wie lange schon? Sind die Informationen wirklich nützlich
25 für dich?, flüsterte der Logiksektor und schien mich zur Eile mahnen zu wollen. »Es gibt kein unnützes Wissen«, sagte ich laut. Die Stille in den Räumen sog das Geräusch auf. Jolo hatte sich selbstständig gemacht und war in anderen Sälen verschwunden. Ich wandte mich den Statuen zu und hoffte, Beweise für meine Theorie der einst flugfähigen Rhoarxi zu finden. Aber die Dargestellten – kühn blickende Oberste Brüter mit Cueromb und verschiedenen Zunftzeichen – hatten allesamt kurze, »verkümmerte« Flügel. Manche hochgewachsene Helden glichen auf groteske Weise terranischen Straußenvögeln mit wehrhaften Geierschnäbeln. Der nächste Saal zeigte möglicherweise Erfindungen. Meist ungeschützt standen und lagen Geräte und andere Dinge, deren Sinn mir verborgen blieb, auf hohen Sockeln. Ich sah keine erklärende Beschriftung, es gab keine akustischen Erklärungen, oder ich hatte übersehen, irgendeine Schaltung auszuführen, die Leben in die Vielfalt erstarrter Formen und Farben brachte. »Jolo hat Recht«, murmelte ich und betrachtete unsicher die Exponate, »niemend interessiert sich für das kulturelle Erbe. Sie sehen lieber zu, wie sich Uquart und Tuxit prügeln.« Ich wechselte in die nächste Halle, die von dämmerigem Licht erfüllt war. Hier schienen sich Künstler mit fantastischen Wesen beschäftigt zu haben, möglicherweise mit gelungenen und misslungenen Züchtungen aus den Gen-Laboratorien. Tentakelwesen mit Rhoarxi-Köpfen schwebten in einer blauen Dämmerung und errichteten unterseeische oder frei schwebende Fantasiebauwerke. Skorpionwesen mit komplizierten Greiforganen und prächtigen Federkämmen benutzten waffenartige Gegenstände und schufen auf Sandflächen monströse Bilder aus Farbpulver, Steinchen und verwelkten Pflanzenresten. Etliche der Wesen erkannte ich mühelos wieder, trotz der verfremdeten Darstellung. Etwa die Maulspindler, von denen ich hier
26 mindestens fünfzehn Exemplare sah; größere und kleine, die bizarre Netze woben und ihr Werk mit großen Augenflächen anstarrten. Einige Züchtungen besaßen vier, andere sah ich mit acht Beinen und verschieden gestalteten Klauen und Gelenken. Drei Maulspindler, die größten dieser Ausstellung, wirkten wie Roboter oder Cyborgwesen, die aus Metall und biologischer Masse zusammengesetzt waren. Ihr Aussehen war mehr als befremdlich, aber was in dieser Intrawelt war mit normalen Maßstäben zu beurteilen? Ich betrat den nächsten, den letzten Saal. Jolo kauerte in der Mitte eines schmalen Stegs, der genau im Zentrum einer Kugel endete. Ich ging vorsichtig weiter, bis ich das Echsenwesen erreichte. Ich begriff, als ich die Einteilung an der Wand sah, dass wir an dem Punkt standen, den die Sonne der Intrawelt einnahm. »Wir sind mittendrin«, brachte Jolo hervor. »Das ist die Intrawelt, wie die Rhoarxi sie geplant haben?« »Du hast Recht«, sagte ich. Unaufhörlich veränderte sich die Innenansicht der Hohlkugel. Formen und Farben wuchsen und begannen zu strahlen. Wir sahen eine idealisierte Form der Gegenwart; so schienen die Rhoarxi die Gestaltung in grauer Urzeit geplant zu haben. »So oder ähnlich soll die Intrawelt einmal aussehen. In ferner Zukunft.« Unzählige Parzellen bildeten den Boden der Welt. Einzelne Teile dieses Bildes, das wie eine Aufnahme aus einer Umlaufbahn gestaltet war, traten langsam aus dem Hintergrund hervor und wurden stereoskopisch in lebhaften Farben vergrößert, bis sie ein Viertel oder Drittel der Innenkugel ausfüllten. In perfekter Deutlichkeit waren erstaunliche Einzelheiten klar zu erkennen: Landmarken, Flüsse, Berge und Oasen. Nach einer Weile wurde die Darstellung wieder kleiner und schrumpfte zu ihrer Winzigkeit innerhalb des realen Maßstabs zusammen, gliederte sich in das Netzwerk der anderen Parzellen ein und wurde von einem anderen Teil der virtuellen Landkarte abgelöst. Eine andere Parzelle, vermutlich nach
Hans Kneifel dem Zufallsprinzip ausgesucht, bewegte sich aus der Masse heraus, wurde vergrößert und schilderte uns das zukünftige – oder auch gegenwärtige – Aussehen dieses Teils der Hohlwelt. »Das ist ja alles hochinteressant«, knurrte ich, »aber es bringt mich im Augenblick nicht weiter. Sehen wir nach, Jolo, ob Tuxit seine persönlichen Probleme inzwischen gelöst hat.« »Ja. Und ob er uns etwas zu essen auftischt.« Wir verließen das Museum, orientierten uns und folgten einer der vielen verlassenen Passagen durch die »Fundamente« der Wanderstadt-Gebäude.
* Als ich durch das Fenster eines Korridors, der über einer Treppe endete, geradeaus blickte, sah ich in dreißig Metern Luftlinie die Außenwand der Doppeltürme und die Menschenmenge auf der Spiraltreppe des Gebäudes, das in einem brachialen, überbordenden Stil errichtet worden war. Rechts konnte ich in ein Arbeitsnest hineinsehen, dessen Insassen von der Aufregung nicht erfasst zu sein schienen. An einem Arbeitstisch saßen zwei junge Rhoarxi. Sie verfolgten einen mir unerklärlichen Vorgang in einem Hologramm und redeten miteinander. Ich verstand kein Wort, als verweigere der Dhedeen die Übersetzung. Neben ihnen bewegten sich zwei jener Geschöpfe oder Maschinen, die ich schon in einem der Labors gesehen hatte. Das halbkugelige Gebilde hielt einen Stift in seinen Tentakeln, schob sich langsam über die vertieft angebrachte schwarze Platte und – schrieb. Da hast du deine Erklärung, murmelte der Logiksektor. Ich sah fasziniert zu. Die Tentakel glichen arkonidischen Fingern, die mit einem herkömmlichen Schreibgerät arbeiteten. Sie hoben und senkten das Ende des Stiftes und hinterließen Wörter oder
Wanderstadt Aspoghie Buchstabenreihen. Wenn sich eine Zeile gefüllt hatte, versank die Schrift, während die nächste Zeile von links nach rechts entstand, in der Tiefe eines Speichergerätes. »Ihre Kultur wird immer reichhaltiger«, sagte ich zu Jolo, der sich neben mir an der Trennplatte festgesogen hatte und argwöhnisch das Tun der beiden beobachtete. »Verträgliches Essen, unterschiedliche Musik, Übersetzervogelzucht und jetzt das Schreiben ohne eigene Finger … es sind kluge Gesellen.« Jolo grunzte, dann sagte er: »Wenn du erst siehst, was ich eben entdeckt habe, wirst du staunen.« »Aha. Und was hast du gefunden?« »Komm und sieh es dir an.« Er glitt von der transparenten Scheibe, raschelte vor mir her die Stufen hinunter und durch einen anderen Eingang wieder zurück in das kubische Gebäude, in dem wir uns bewegten. Während draußen der Lärm der Stadtbewohner tobte, kamen wir in einen Bereich der Stille; mit jedem Schritt wurden die Geräusche leiser und waren, als wir uns einer Reihe großer, bunter Türen näherten, nicht mehr zu hören. »Hier?« Die Türen waren selbst angesichts der ungewohnten Farben der Stadt besonders bunt und strahlend. Als ich mich der mittleren Tür näherte, glitt sie zur Seite. Kühle Luft, vermischt mit einem Nebelstoß und einem Geruch, der an balsamische Düfte erinnerte, senkte sich von der Decke. Ich legte die Hand an den Messergriff und ging zögernd weiter, während Jolo keine Furcht hatte und im Nebel verschwand. Nach einem Dutzend Schritten lichtete sich der Nebel, und ich blieb überrascht stehen. Wir standen am Rand eines riesenhaften Hohlraums. Ein Sternenhimmel bildete die Deckenkuppel, es gab unbeleuchtete Bezirke, einen Boden, dessen täuschend echte Hologramme ein bewegtes Meer und einen halbkreisförmigen Strand zeigten. In den unregelmäßigen Wänden sah ich große Höhlen und Tunnels.
27 Wolkenartige Röhren sprangen vor, aus denen es geheimnisvoll leuchtete. Und abermals Musik! Die Höhlung, mindestens 70 Meter hoch und mit kaum weniger Seitenlänge, war in ruhige, sanfte Töne gebadet, die von überall her an meine Ohren schlugen. Es waren Klänge, bei denen ich mir einen Flug durch die Sterne vorstellen konnte, durch ein lautloses Universum aus Harmonie und Wohlgefühl. Sternenmusik. Aber trotz Balsamgeruch und Musik unterschied ich auf den zweiten und dritten Blick noch mehr Einzelheiten. Begeisterte Rufe kamen aus der Höhe. Mein Dhedeen übersetzte Ausdrücke des Staunens und fröhlicher Erregung; ich hörte unübersetzbare Entzückensausrufe und begeistertes Johlen. Es kam aus Rhoarxi-Kehlen. Kreuz und quer durch den riesigen Hohlraum spannten sich Maulspindler-Gondelfäden. In dieser Anlage waren sie selbstleuchtend, führten straff oder durchhängend von einer Wand zur anderen und aus den falschen Gestirnen zum Boden, ins Meer und zum Strand. Es waren Dutzende, nein, Hunderte. An den Fäden hingen in Geschirren oder winzigen Sitzen junge Rhoarxi, die aus der Höhe nach unten glitten, aneinander vorbei, sich knapp verfehlend. Sie verschwanden in den rot glühenden Höhlen, die bestimmten kosmischen Nebeln mit verschiedenen Lichtquellen dahinter ähnelten. »Das hast du nicht erwartet, wie?«, rief Jolo und rollte die Augen. Sein Kopf bewegte sich hin und her, als er die »Fadenflieger« beobachtete. »Diese Anlage bestätigt einige Theorien, die ich über das Vorleben der heutigen Rhoarxi angedacht habe«, antwortete ich. »Einst konnten sie wie normale Vögel fliegen, denke ich. Beziehungsweise ihre Ururahnen. Und hier genießen sie heute ihre frühere dreidimensionale Freiheit.« »Wahrscheinlich lauter junge Brütlinger oder wie sie heißen«, sagte Jolo. »Wahrscheinlich.«
28 Wir blieben am Rand einer Plattform stehen, die einige Meter weit in den riesigen Hohlraum hineinführte. Ich genoss die Musik, den Duft und die Stille, in der die Rufe und Jubelschreie nur dünne Unterbrechungen waren. Der Schall schien von einer entsprechenden Verkleidung halbwegs aufgesaugt zu werden. Kreuz und quer, scheinbar schwerelos, segelten die Insassen dieser Flughalle an den leuchtenden Fäden abwärts, scharf aneinander vorbei, in weiten Kurven hinunter und wieder aufwärts, und einige kleine, gläserne Gondeln brachten sie von den Landepunkten wieder hinauf in die Startpunkte zwischen den leuchtenden Sternen. Davon hat dir Tuxit nichts berichtet, obwohl er als Erzählsklave sicherlich ständig nach neuen Themen gesucht hat, sagte der Logiksektor, der in seltenen Momenten sogar eine gewisse Missgunst artikulierte. Ich staunte noch immer darüber, dass trotz der Wohnraum-Enge in oder auf Aspoghie solche riesigen Anlagen existierten; wahrscheinlich dienten sie wie so manches, was ich noch nicht kannte, der Sozialhygiene. Ich konnte mich nicht satt sehen an dem völlig harmlosen Schauspiel. Wenn man uns bemerkte, so ließ sich niemand von unserer Anwesenheit stören. »Willst du hier mitsegeln, oder bist du noch immer hinter dem Flammenstaub-Tuxit her?«, fragte nach einer Weile die MimikryEchse. Ich zuckte mit den Schultern und deutete auf die Hologramme, in denen schäumende Wellen gegen den Sandstrand brandeten. »Ich würde gern im Wasser landen, ans Ufer schwimmen und mich in der Sonne entspannen«, antwortete ich grinsend. »Aber die Ereignisse warten nicht auf uns. Gehen wir weiter.« Als ich mich umdrehen wollte, erhaschte ich einen Blick in die Sternenkuppel. Dort erschien völlig lautlos und daher besonders erschreckend ein eckiges Loch, das sich zu einem kantigen Riss erweiterte, zu einem Bild, das einem Blitz zwischen den Sternen
Hans Kneifel glich. Sonnenlicht zuckte in scharfen Pfeilen senkrecht herunter ins Meer. Einige Schreckensschreie ertönten. Ich starrte gebannt nach oben. Der Riss verzweigte sich, wurde länger, und das stellare Halbdunkel verlor seinen geheimnisvoll-heiteren Charakter. Die Fadensegler, die das Sonnenlicht kreuzten, schienen grell zu verglühen. Das Netzwerk der Spinnenfäden verlor seinen Glanz. Es war Zeit zu gehen. »Komm, Jolo«, sagte ich. Meine Stimme klang bitter. »Macht und Gier, der scheinbare alleinige Besitz der Weisheit – wieder einmal werden persönliche Dinge zum Instrument, mit dem man solch harmlose Angelegenheiten für immer zerstören wird. Gehen wir zum gierigen, machthungrigen Tuxit!« Traurig und langsam verließen wir diesen Teil der Stadt und blieben erst wieder stehen, als uns die Sonne blendete.
* Jede Information war wichtig, aber eigentlich wollte ich zu Tuxit und zum Flammenstaub. Ohne Schwierigkeiten fanden wir einen Weg aus diesem Teil der städtischen »Fundamente« und gingen auf der gleichen Ebene weiter, schneller als bisher. Plötzlich schien sich innerhalb der Stadt vieles zu verändern. Ich blieb auf einem Steg zwischen zwei Gebäuden stehen. Senkrecht fielen Sonnenstrahlen in die Schächte zwischen den dicht stehenden Türmen. Die meisten Rhoarxi haben ihre Quartiere verlassen. Sie nennen ihre Wohnungen die »Nester«. Die kleinen, stacheligen Eier waren mit Sicherheit Neuzüchtungen von Dhedeens, und die kleinen Wesen in den durchgespülten Brutschränken ähnelten Teph, dem Wächter, einem krakenähnlichen Wesen, dem Pförtner mit der schlechten Laune und der Verweigerung von Alternativen. Die Rhoarxi beschäftigen sich also unentwegt mit Nach- oder Neuzüchtungen. Die Abwesenheit der Rhoarxi von ihren Arbeitsplätzen deutet darauf hin, dass sie
Wanderstadt Aspoghie sich alle in der Nähe des Hohen Horstes versammeln. Dort, wo Tuxit seine Existenz zu verteidigen hat. Es scheint zuzutreffen: Du hast die Rhoarxi deutlich unterschätzt. Ihre wissenschaftlichen Möglichkeiten, ihre Bedeutung und ihre Fähigkeiten. Die Analyse meines Logiksektors beschrieb die Lage zuverlässig. Aber in der Stille zwischen den großen Flächen der Gebäudefronten spürte ich plötzlich, dass sich Asporghies Struktur auch hier zu ändern schien. Durch die Mauern und Hohlräume der Stadt drangen Impulse, die selbst mich, keinen Rhoarxi, berührten. »Ich glaube, wir sollten in aller Eile Tuxit finden«, sagte ich zu Jolo. Sein Verhalten ließ erkennen, dass auch er unter den rätselhaften Schwingungen zu leiden begann. »In diese Richtung«, sagte das Echsenwesen und zeigte zum »Heck« der Stadt. Wir befanden uns mittlerweile etwas außerhalb des Zentrums der langgezogenen Konstruktion, in unmittelbarer Nachbarschaft des Hohen Horstes. Nach meiner inneren Uhr war die Hälfte des Tages schon vergangen. »Dort steht der Doppelturm mit dem Horst ganz obendrauf.« Meine innere Unruhe drückte auf meine Laune. Ich wurde missmutiger und musste mich zusammennehmen, um meinen kühlen Kopf zu bewahren. »Und jetzt suchen wir Tuxit. Ich glaube, es wird höchste Zeit.« Tausende aufgeregter Rhoarxi strahlten eine verderbliche Stimmung aus. Zwei Flammenstaub-Träger, sagte ich mir, waren nicht in der Lage, die zutage tretenden Emotionen zu steuern. Wahrscheinlich sendeten sie nicht auf derselben Frequenz und störten sowohl sich gegenseitig als auch den Frieden der Stadt. Der neue Träger des Flammenstaubs, der die Stadt betreten hatte, war ein gewaltiger Störfaktor. Also war Tuxits unerwünschte Anwesenheit der Grund und die Ursache für den Aufruhr der emotionellen Kräfte, mit denen die Rhoarxi normalerweise ihre gesamte Umgebung kontrollierten.
29 Auf dem Weg zum Hohen Horst würden ich und Jolo wahrscheinlich noch eine Menge aufregender Überraschungen erleben müssen.
* Die Unruhe im Hohen Horst steigerte sich sekundenlang zum Tumult. Schließlich, als Zentilli mit halb hochgereckten Schwingen und hoch erhobenem Kopf »Ruhe! Lasst mich reden!« schrie, verebbte der Lärm. Der dickbäuchige Imposto-Schwingenherr blickte zuerst Uquart, dann Tuxit an, ließ dann seine Blicke über die ansteigenden Reihen der Versammelten gleiten. »Die Impostoren haben sich inzwischen miteinander beraten. Sie sind zu folgendem Schluss gekommen: Tuxit und Uquart, Alt und Jung, Vergangenheit und Gegenwart sind im Streit miteinander. Der Streit scheint nicht aufzuhalten zu sein, die Standpunkte sind unvereinbar. Sicher ist aber, dass die unmittelbare gegenseitige Nähe zweier Flammenstaub-Träger nicht nur das ruhige Leben in der Stadt ins Chaos stürzt, alle Individuen höchst verunsichert und das vernünftige Arbeiten unmöglich macht. Risse entstehen, Fundamente verflüssigen. Uns entgleitet dadurch die Kontrolle über das Potista. Wenn die kreativen submolekularen, atomaren und sonstigen Bindekräfte und Gestaltungsschwingungen nachlassen, wird das gesamte Stadtgefüge darunter leiden. Das ist die eigentliche Gefahr.« Vorübergehend beruhigte sich die Stimmung. Alle Rhoarxi hörten schweigend zu. Aber als sie die Bedeutung der Worte des Imposto-Obersten begriffen hatten, schwoll die Panik erneut an. Ein wildes Stimmengewirr brach los. »Werft den Verräter in die Wüste!« »Hinaus mit dir, Tuxit! Du bringst uns alle um!« »Willst du jetzt auch Aspoghie zerstören?« »Du treibst uns in den Wahnsinn!« »Wieder wirst du an der Zerstörung
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Hans Kneifel
schuld sein!« Die Schreie und Flüche wurden auf die schwebenden und stationären Nachrichten-Holos übertragen. Unabhängig von Bildern und akustischen Informationen schwemmte eine Welle starker, mentaler Strahlung durch die Mauern und traf die Rhoarxi wie Nadelstiche, Keulenschläge und Schnabelwunden. Beide Träger des Flammenstaubs teilten die Schwingungen wie Peitschenhiebe aus, ohne es wirklich zu wollen. Sie handelten ohne Überlegung und in beginnender Raserei. Besonders empfindliche Stadtbewohner begannen zu schreien und sich vor Schmerzen zu krümmen. Das Potista reagierte – wenn auch mit deutlicher Verzögerung – auf die Verringerung der Kohäsionskräfte. In einigen Wänden und Fassaden bildeten sich Risse; ein unheilvoll klingendes Knistern, das im Geschrei unterging, erfüllte den Hohen Horst. Hier und dort sprangen einzelne Stadtbewohner auf und begannen ziellos umherzurennen, traten unbeherrscht um sich und trampelten Umstehende nieder. »Bringt ihn um! Schlagt ihn tot, wenn er nicht geht!«, schrie der Mob im Chor. Köpfe und Hälse gerieten in schlangenartige Bewegung. Tuxit und Uquart standen sich im weißen Horstkreis gegenüber, starrten einander an und flatterten mit ihren kurzen Schwingen. Aus ihren Schnäbeln hauchten sie funkelnde Staubpartikel in die Luft. Jeder Ausbruch des Flimmerstaubs erschreckte die Versammelten. Keiner der beiden war bereit, die Stadt zu verlassen. Das Unentschieden drohte das Gleichgewicht aller Kräfte der Wanderstadt zu zerstören.
* Als Jolo und ich aus dem Schatten einiger Duum-Bäume hervorkamen, nur hundert Schritte innen von der Stadtmauer entfernt, erfasste unsere Dhedeens unvermittelt panischer Schrecken. Die Tierchen begannen zu zucken und zu zittern und schienen sich aus der Haut losreißen zu wollen. Ich erschrak
und hob den Kopf. »Da! Käfige!«, zeterte das Echsenwesen und riss die Handtatze hoch. Ich spürte einen fremden Einfluss in meinem Verstand. Nein. Er war nicht fremd. Die Ausstrahlung brodelnden Flammenstaubs schlug mir entgegen. Ich erkannte sie trotz meiner relativen Unempfindlichkeit gegen derartige psychische Beeinflussung wieder. Tuxit und Uquart!, warnte durchdringend der Logiksektor. Sie scheinen gegeneinander zu kämpfen! Ich nickte unschlüssig und ging weiter. Vor uns öffnete sich eine weite Halle, von einem flimmernden Energienetz zwischen reich modellierten Pilastern verschlossen. Dahinter, an der Stirnwand und den Seitenwänden, sah ich eine große Anzahl Käfige, die aus dünnen Stäbchen oder erstarrten Fäden zu bestehen schienen. Die Käfige waren leer, bis auf wenige Ausnahmen. Und in der Mitte der Käfighalle flatterte, zu einem dichten Knäuel geformt, ein Schwarm unverständlich zwitschernder Dhedeens! Mindestens einige hundert dieser gelben Vögelchen befanden sich in heller Panik. Es war mir unmöglich, einen Unterschied zwischen den Dhedeens in den Holos des Labors und diesen Tierchen festzustellen. »Weiter.« Die Länge der Stadt betrug im ungünstigsten Fall tausend Meter, also die gleiche Anzahl großer Schritte. Aber Jolo und ich bewegten uns in dreidimensionalem Zickzack durch die untersten Ebenen und legten dadurch eine viel längere Strecke zurück. Wenn sich Dhedeens aus den Käfigen befreien konnten und ziellos umherflatterten, würden sich auch andere Gen-Experimente selbstständig machen. Ich winkte Jolo und folgte einer schmalen Gasse nach links, zur Mitte der langgezogenen Stadt hin. Wir würden nach kurzer Zeit auf die breite Spiraltreppe und die Sockel des Doppelturms stoßen. Aber jeder freie Platz in der Umgebung der beiden Turmsockel und der Treppe war von einer drängenden, stoßenden Masse erfüllt. Zwischen den hoch aufragenden Wän-
Wanderstadt Aspoghie den echoten Schreie der aufgeregten Rhoarxi. Alle Bewohner schienen sich in unmittelbarer Umgebung des Hohen Horstes zusammenzudrängen. »Ich erinnere mich!«, rief Jolo und schlängelte sich über die Stufen einer steilen Treppe aufwärts. »Hab's gesehen! Hier entlang, Atlan! In die Sonne!« Ich folgte ihm bis zu einem breiten Sims, das sich um ein kantiges Gebäude herumzog, und stützte mich auf die Brüstung. Neben mir hievte sich Jolo mit Hilfe seiner Saugnäpfe hoch und legte seinen Kopf auf die Oberkante. Vor uns ragte der gelbschwarz gemaserte Doppelturm mindestens 100 Meter hoch auf, der dicht unterhalb der zweifachen Spitze einen schwarz schimmernden Diskus trug, mit vielen Säulen, anderem Zierrat und Fensteröffnungen. Jede Handbreit rund um den Doppelturm, jede der schwarzen Stufen, jeder Platz und jedes Stück Straße, alle Simse, Kanzeln und Plattformen waren von Rhoarxi besetzt. Es waren Tausende. Sämtliche Halskrausen waren aufgeplustert und grauweiß, die Köpfe hoben und senkten sich ruckhaft. Innerhalb der dicht gedrängten Menge, die sich in ihrer Gesamtheit kaum von der Stelle bewegte, gab es winzige Inseln der Hektik. Dort konzentrierte sich die Erregung. Ich sah einzelne Rhoarxi, die aus der Menge ausbrachen, davonrannten oder den Nachbarn angriffen. Der Logiksektor hatte eine Erklärung anzubieten: Der so genannte Hohe Horst ist das Epizentrum des Gefühlssturms. Ich versuchte, einen Weg in den Horst zu finden. Es schien ziemlich aussichtslos, mich durch die dicht gedrängten, hoch erregten Stadtbewohner hindurchzukämpfen. Jolo bewegte sich auf allen vieren schnell nach links. Ich ging hinter ihm her und zermarterte mir den Kopf über eine Möglichkeit, in den großen Diskus in etwa sechzig Metern Höhe vorzustoßen. Wir folgten dem Sims um einige Ecken, aber dadurch erhöhten sich meine Chancen nicht. Rechts öffneten sich breite Durchgänge, durchsichtige Türen öffneten sich, ich
31 blickte in ein hell ausgeleuchtetes Warenlager hinein. Auch dieser Raum war offensichtlich in aller Hast verlassen worden. Auf langen Tischen, in Wandnischen und in milchigen Kuben lagen verpackte und unverpackte Nahrungsmittel. Ohne Mühe waren Brot, Braten, Käse und Behälter mit körnigem Inhalt zu erkennen sowie Krüge und Glasbehälter, vermutlich aus einer besonderen Siliziumverbindung. Im rückwärtigen Bereich der Halle liefen einige Rhoarxi geschäftig hin und her. In die Rückwand eines jeden Großbehälters, von denen es mehr als hundert gab, mündete ein Rohr oder ein Transportband, das unaufhörlich, in langsamer Folge, neue Nahrungsmittel herantransportierte. Ständig rollten und fielen einzelne Teile aus den überfüllten Fächern. Niemand hob sie auf und legte sie wieder zurück. »Hier kannst du dich das nächste Jahrhundert lang mästen, Jolo«, rief ich. »Das Geheimnis der Ernährung ist gelüftet.« Wahrscheinlich existierten in jedem Bauwerk solche Verteilerstellen. Und ebenso wahrscheinlich war, dass die Lebensmittel und Getränke ebenfalls aus genbiologischen Züchtungen stammten, aus Tanks mit Rohmasse, die viele unterschiedliche Konverter und Umformer versorgte. Aber woher haben die Rhoarxi das Ausgangsmaterial für so viele verschiedene Artikel und für dreißig- bis vierzigtausend Individuen?, fragte hämisch der Logiksektor. »Ich beabsichtige nicht, dieser Frage nachzuforschen«, erwiderte ich laut und spürte wieder die Emotionen, die von den zwei Flammenstaub-Trägern ausgestrahlt wurden. »Hast du eine Idee, Jolo, wie wir durch diese Ansammlung von wartenden Rhoarxi zu Tuxit gelangen können?« »Wenn Tuxit dort oben ist«, quäkte das Echsenwesen. Jolo kam gerade aus der Essenverteilstation hervor und steckte klauengroße, rot verpackte Lebensmittel in seine ausgefransten Hosentaschen. »Wenn er dort ist, wo du sagst, könnte ich vielleicht zu ihm klettern.« Er zeigte mir erklärend die Saugnäpfe sei-
32 ner Handpranken. »Und dann? Was soll ich tun?« »Das weiß ich auch nicht, Atlan.« Wir gingen auf dem Sims weiter, das steil anstieg und in eine grotesk geformte Kanzel mündete. Wenn auch nur ein Dutzend Rhoarxi durchdrehten, sagte ich mir, und auf uns losgingen – wir hätten keine Chance. In der Kanzel stand ein einzelner Rhoarxi mit weißlichem Federkleid, lehnte die Brust gegen ein Fenstersims und betrachtete schweigend die Masse der Stadtbewohner. Er schien den psychischen Druck zu ignorieren oder besser vertragen zu können als ich. Langsam wandte er den Kopf und richtete den Blick seiner schwarzen Augen auf mich. Sein Dhedeen, nicht mehr als eine Art runde, leuchtend gelbe Scheibe mit einem durchsichtigen Kern, pulsierte heftig. »Ihr seid die Fremden, die Tuxit mitgebracht hat, nicht wahr? Die ersten Besucher seit 20.000 Tagen.« Er klang müde oder abgeklärt. Seine Halskrause war schütter und ausgefranst, das Blümchen hing schlaff herunter. Ich ging näher heran. Auch das Wimperngefieder, dünn und grau, zeigte sein hohes Alter. Aber die schwarzen Augen blitzten wissend und aufmerksam. »So ist es. Ich bin Atlan, das ist mein Begleiter Jolo.« Der Gesichtsausdruck des Rhoarxi war von dem Aussehen der Halsfalte, des Kamms und in geringem Maß vom Hackschnabel bestimmt. Zusammen mit den Federwimpern und der Neigung des Halses konnten er mit einer bestimmten Mimik einige unterscheidbare Gefühle vermitteln. Da ich Tuxit lange genug studiert hatte, war ich sicher, dass dieses Wesen uns halb gleichgültig, halb mit Neugierde betrachtete. »Für den Besuch habt ihr euch, wie es scheint, einen ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht. Die Stadt steht unmittelbar vor einer Krise. Übrigens: Ich bin Curxari. Alter Wissenschaftler.« Trotz seines erkennbar hohen Alters stand er kerzengerade da. Altersrunen durchzogen
Hans Kneifel die Hornmasse seines fleckigen Schnabels, der mit kleinen, viereckigen Plättchen verziert war, die wie Gold glänzten. Zunftzeichen? Oder eine Art Orden für den alten Wissenschaftler? Ich blieb vor ihm stehen und blickte zu ihm hoch. »Bist du alt genug, um Tuxit den ›Verräter‹ zu kennen?«, fragte ich ihn. »Ich kenne ihn, seine Familie und das Drama, das damals Aspoghie erschüttert hat«, antwortete Curxari bereitwillig. Wir musterten uns gegenseitig. Curxari betrachtete Jolo, der an einem krümelnden weißen Nahrungsmittelstück kaute, mit mäßigem Interesse, aber keineswegs unfreundlich. »Was ist wirklich geschehen?«, erkundigte ich mich. Curxari bog seinen Hals zurück und schloss die Augen. Gleichzeitig fühlte ich einen weiteren Anprall psychischen Drucks aus dem Horst. Als die Welle verebbt war, antwortete der alte Wissenschaftler: »Tuxit verließ aus Gründen, die nur er kennt und zu vertreten hat, die Wanderstadt. Vor 30.000 Tagen, mehr oder weniger genau.« Der Alte sprach mit großer Gelassenheit. »Das hatte zur Folge, dass seine Berater, also der Mob, seine Familie töten ließen. Sein Nest wurde zerstört. Aspoghie geriet aus allen Fugen, das Potista verlor die Adhäsionskräfte, und viele starben; der Mob, die Impostoren und Zunftangehörigen ebenso wie die andere Bevölkerung. Es ist geradezu die Pflicht des gegenwärtigen Obersten Brüters, Tuxit zur Rechenschaft zu ziehen.« Ich nickte. Nun verstand ich wenigstens einen Teil der augenblicklichen kollektiven Erregung. Jolo hörte aufmerksam zu, an seinem Nahrungsriegel mümmelnd. Curxari beugte sich aus dem Fenster, schob seinen Kopf weit ins Freie, zog ihn wieder zurück und sagte: »Ich hab's gespürt. Aspoghie ist langsamer geworden.« Ich hatte nichts gespürt. Auch die Rhoarxi schienen ahnungslos. Der Alte deutete mit der Schnabelspitze nach rechts. Ich folgte, weit über die Brüstung gelehnt, seinem
Wanderstadt Aspoghie Blick. Wir konnten im Luftraum zwischen zwei Gebäudefronten hindurch auf die Wüste hinaussehen, die in dem schmalen Spalt gelb und hell vorbeizog. Sand, flache Felsbrocken und einzelne große Geländemerkmale zogen scheinbar viel langsamer an dem Ausschnitt vorbei. Tatsächlich! Der Wissenschaftler hat Recht!, bestätigte der Logiksektor. Jetzt fiel es auch mir auf: Die Wanderstadt hatte ihre Geschwindigkeit um ungefähr die Hälfte verringert. »Was hat das zu bedeuten, Wissenschaftler Curxari?«, fragte ich. Er hörte meine Unruhe, spreizte die Flügel ab und antwortete: »Das Potista reagiert auf die Auseinandersetzung zwischen Tuxit und Uquart.« »Kannst du … Können wir etwas dagegen unternehmen?« Ich begann die möglichen Konsequenzen des erbitterten Streits zwischen Tuxit und Uquart zu begreifen. Die Siliziummasse, die sich durch Zellteilung vermehrte und mit Hilfe von Raphen fortbewegte, konnte durch Rhoarxi in jede gewünschte Form gesteuert werden; das abgestorbene Material bildete die Spur der Wanderstädte im Sand hinter ihrem Stadtende. Die Stadt in ihrer Gesamtheit war gefährdet, wenn die Kontrolle durch die schöpferischen Kräfte nachließ oder gar verloren ging. »Können wir etwas tun?«, meckerte Jolo. Der Weißgefiederte bog schweigend den Hals herunter, als wolle er den Kopf zwischen die Füße schieben. Ein kurzes Zittern durchlief seinen Körper, die Federn der Halskrause begannen sich grün zu färben. Dann richtete sich Curxari wieder stolz auf und zeigte auf den Horst. Aus den Verzierungen des Horstes lösten sich lautlos zwei kleine Säulen, drehten und verkanteten sich in der Luft und schlugen wie Geschosse, gefolgt von Staub und Siliziumbrocken, in die wartende Menge der Rhoarxi ein. Curxari drehte sich halb herum. In diesem Augenblick erreichte uns zuerst das Geräusch des Aufschlags, ein Prasseln und Knistern, dann
33 der Schreckenslaut, ein Aufschrei aus hundert Kehlen. Der Alte riss den Schnabel weit auf und sagte: »Das sind Zeichen, die ich nicht mehr tolerieren kann. Es gibt nur eine Möglichkeit, das größte Unheil abzuwenden.« Nach kurzem Zögern setzte er hinzu: »Kommt mit!« Er machte einige Schritte und wurde schneller, ohne auf uns zu achten. Nach wenigen Atemzügen rannten wir auf dem Sims hinter ihm her, vorbei an einem weiteren Nahrungsverteiler und über eine schmale Rampe in die Richtung auf das Untergeschoss des nächsten Gebäudes zu.
* Die Ränder der Nische begannen sich zu verformen. Eben noch waren sie scharfkantig gewesen. Jetzt begannen sie sich wie feiner Sand aufzulösen, und ein paar Atemzüge später flossen sie wie rostroter Sirup zu Boden. Die alte Rhoarxi-Frau machte erschrocken zwei Schritte, riss den Schnabel weit auf, fauchte und streckte den Hals. Der Schnabel schloss sich mit scharfem Klappern um das Kästchen. »Demio muss den Brüterich retten«, murmelte sie. »Demio hat schon einmal erlebt, dass Festes flüssig wurde. Oh! Welch eine Verzweiflung – damals.« Die Alte drehte sich um ihre eigene Achse und setzte das Kästchen auf dem Sohlenschmeichler ab. Sie schob den Kopf durch die Henkel ihres Nestbeutels und ließ ihn am Hals hinunterrutschen, bis er vor ihrer faltigen Brust hing. Dann nahm sie das Behältnis des Brüterichs wieder auf und tappte zum Einflugoval. Die Vorderfront der Nische schmolz wie heißes Wachs zu Boden. Die Füße der Truhe sickerten in die Fasern des Sohlenschmeichlers und verbanden sich mit dem entstehenden Brei. Die Vorderseite der Truhe begann sich zu verformen. »Demio, die Amme, weiß, wie der Brüterich die Auflösung überstehen kann. Auch wenn es mühsam ist …«
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Demio bückte sich, durchquerte mit schleppenden Schritten den Korridor und trat hinaus ins Freie. Die Treppe führte im Zickzack von der Spitze des Nestturms hinunter in die Nähe der Stadtmauer. Stufe um Stufe ging die Alte abwärts und wartete darauf, dass wieder der Schmerz im Körper zu toben begänne; jener Schmerz, der zu ihrem alten Freund geworden war. Es war der einzige Freund, den sie hatte. Oder nicht? »Es ist weit bis nach unten. Demio muss durchhalten«, sagte sie undeutlich und nahm den nächsten Abschnitt der Treppe in Angriff. Sie konnte sich nur langsam bewegen. Es würde Stunden dauern, bis sie, hundertmal innehaltend und nach Luft ringend, die unterste Ebene der Stadt erreicht hatte.
* In Tuxits Körper, in jeder Körperzelle, regten sich Impulse, die sich jeder Kontrolle entzogen. Er hatte das alles nicht gewollt. Aber seit dem Augenblick, in dem er auf den Rand der Stadt aufgesprungen war, liefen die Ereignisse mit unausweichlicher Macht weiter. Ganz zu Beginn hätte er sie noch aufhalten können, aber sein Entschluss war wie das Gefüge der Stadt, wie ein titanischer Block, der eigenes Leben entwickelt hatte. Längst hatte Tuxit seine Umgebung vergessen. Seine unmittelbare Umgebung hatte sich verändert. Einige Rhoarxi, männliche wie weibliche, lagen, von Krallen anderer Rhoarxi aufgeschlitzt, verblutend da. Andere kämpften noch immer mit ihrem Nachbarn und fügten einander tiefe, oft tödliche Schnabelhiebe zu. Der größte Teil der Versammelten im Horst war geflüchtet, hinaus zu den anderen, zu den Mitgliedern der Zünfte, den einfachen Bewohnern Aspoghies und deren Kindern. Andere drängten in den Horst hinein. Auch die Impostoren und die Räte des Mobs hatten den Hohen Horst fluchtartig
verlassen. Einige ihrer Mitglieder lagen tot oder sterbend am Rand des weißen Kreises, dessen weiche Fasern das Blut der Verwundeten gefärbt hatte. Das alles nahm Tuxit nicht mehr wahr. Allein stand er am Rand des Kreises und atmete schwer. Vor seinen Augen erschienen seltsame Bilder. Er war allein. Allein – mit Uquart. Allein mit Uquart und der größten Herausforderung, die über ihn und die Wanderstadt je hereingebrochen war. Eine Stimme, die er nicht erkannte, schrie letzte Warnungen: »Du wirst wieder alles zerstören! Alles gerät aus den Fugen, Verräter!« Tuxit kauerte sich tief zu Boden, bewegte die Flügel und schnellte sich dann mit einem Satz senkrecht in die Höhe. Aus seiner Kehle fuhr eine waagrechte Lanze aus funkelnden Partikeln. In Tuxits Körper hatte der Flammenstaub die Herrschaft über jede Regung übernommen. Fast gleichzeitig sprang Uquart. Sein Körper, getrieben durch jüngere und kräftigere Muskeln, stieß in einer Flammenstaub-Wolke fast an die Decke des Hohen Horts. »Ich muss dich ausschalten!«, hörte sich Tuxit schreien. Teile der Deckenverzierung lösten sich und fielen klirrend auf die Ränge. Tuxit und Uquart sprangen aufeinander zu. Ihre Köpfe zuckten vor, die Schnäbel hackten in die Richtung des Gegners. Die Krallen fuhren durch die Luft. Jeder Gegner hatte vom anderen nur ein verschwommenes Bild. Die Kämpfer sprangen schräg vorwärts, in die Höhe, zur Seite und zurück. Aus ihren Schnäbeln drangen, ohne dass sie es merkten, Kreischen und hustendes Trillern. In den dünnen Wolken der Flammenstaub-Partikel vollführten die Rhoarxi einen rasenden Balztanz, eine schnelle Folge von Angriffs- und Verteidigungssprüngen, sie prallten zusammen, ihre Krallen zerfetzten die Schwungfedern der Flügel, die Cuerombs krachten gegeneinander. Inmitten von Trümmern und Staub landeten sie zwischen Leichen und Rhoarxi, die dem Wahnsinn
Wanderstadt Aspoghie kriechend zu entkommen versuchten. Nackte Gier und unwiderstehlicher Zwang trieben beide Flammenstaub-Träger zu Höchstleistungen, denen ihre Körper eigentlich nicht gewachsen sein konnten. Immer wieder sah es aus, als versuchten sie zu fliegen, aber die flatternden Flügel unterstützten nur die Muskeln und Sehnen der langen Beine. Im Horst hallten die Schreie und die Geräusche der Zerstörung als peitschende Echos wider. Aus dem Zentrum des Horstes, in dem die beiden einander umkreisten und zu töten versuchten, drangen die Schwingungen in konzentrischen Kreisen und einzelnen Stoßwellen nach außen. Der Flammenstaub hatte selbständiges Leben entwickelt und war nicht mehr kontrollierbar. Kraft und Macht des unsichtbaren Sturms waren nicht zu bändigen. Sämtliche Kontrolle war aufgehoben. Die Stadtbewohner gerieten mehr und mehr in Panik, und weder die Entfernung vom Epizentrum noch die Dicke der Potistamauern schützten den Einzelnen vom Wahnsinn, vom Verlust der Selbstkontrolle oder vor dem Verlust des Lebens. Ein Ruck ging durch Aspoghie, vom Bug bis zum abbrechenden Heck. Die Wanderstadt blieb stehen. Niemand blickte in die Wüste hinaus. Niemand sah, an welch erstaunlicher Stelle die Stadt zum Stillstand gekommen war. Auf der rechten Seite löste sich ein Tor mit einigen Metern Mauer auf und kippte langsam, in einer riesigen Wolke aus Siliziumstaub, vom Stadtrand in die felsdurchsetzte Sandfläche.
5. Auf dem beschwerlichen Weg nach oben Der alte Curxari machte trotz seines Alters erstaunlich lange Schritte. Ich hatte keine Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Aber Jolo blieb immer weiter zurück. Wir rannten in ein Gewirr aus dicken Säulen, eckigen Unterteilungen und zahlreichen Abzweigungen
35 hinein. Die hohe Decke leuchtete weiß, der Boden wirkte wie auf Hochglanz polierter edler Stein. Wir befanden uns entweder in einem der Doppeltürme oder dem benachbarten Gebäude. »Ich versuche einzugreifen«, rief der Wissenschaftler im Laufen. »Sonst sind die Verluste so gewaltig, dass Aspoghie ausstirbt.« »Was willst du tun?«, rief ich. »Hast du irgendwelche Waffen oder andere Möglichkeiten?« »Tuxit und den Obersten Brüter aufhalten.« »Wir müssen uns durch die Hälfte der Stadtbevölkerung kämpfen und den beiden mächtigsten Männern in Aspoghie beikommen. Sie werden uns nicht einmal auslachen«, rief ich. »Es gibt einen anderen Weg.« Wir waren vielleicht zehn Atemzüge lang gerannt, als aus den Seitengängen nacheinander drei Gruppen Rhoarxi auftauchten, stutzten und uns entgegenliefen. Sie rannten um ihr Leben und zerrten kreischende Kinder mit sich. Plötzlich fiel mir auf, dass die Kinder viel größere Flügel hatten als die Älteren. Wahrscheinlich bildeten sich die Schwingen im Verlauf des Erwachsenwerdens zurück, sagte ich mir. »Wartet auf mich«, schrie das Echsenwesen hinter mir. Ich drehte den Kopf und rief: »Keine Sorge. Ich lass dich nicht zurück.« Der Gang weitete sich. An den Rändern sah ich schwebende Behälter aus durchscheinendem Potista, angefüllt mit milchiger Flüssigkeit. Darin schwammen große, spinnenähnliche Wesen, deren lange Beine sich bewegten. Ich zählte sechs röhrenförmige Beine mit knotigen Gelenken. Maulspindler, erklärte der Extrasinn. Wir rannten vorbei. Noch während ich über diese Beobachtung nachdachte, kamen rechts und links, hinter einem Schwarm flüchtender Rhoarxi, lebende Maulspindler aus den Seitengängen. Ihre Füße klickten auf dem glänzenden Pseudostein. Sie waren größer als die Wesen, die ich
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Hans Kneifel
kennen gelernt hatte. Ihre Haut schimmerte wie dunkles Silber, wie Metall. Auch die Gelenke und die abgewinkelten Beine wirkten wie die Gliedmaßen von hochmodernen Robotern. Sie bewegten sich unbeholfen und zogen eine lange, glitzernde Schleimspur hinter sich her. Die großen Körperaugen leuchteten im Licht der Decke. Vorbei. Weiter. Ich rief schwer atmend: »Curxari! Ihr betreibt in Aspoghie Gen-Experimente und Züchtungen, richtig? Diese Maulspindler dort, ist das die neue Generation für das Gondelnetz? Waren es schon immer Züchtungen aus euren Labors? Du bist Biologe, nicht wahr?« »Es ist nicht ganz so, wie du glaubst«, wich Curxari aus. »Wir arbeiten unermüdlich an der Verbesserung aller … unserer Schöpfungen. Ja, ich bin – in deinen Worten – Biologe. Einer der besten.« »Und ihr forscht auch in den anderen Städten. In Benenses und Zirnatim?«, wollte ich wissen. Curxari richtete sich stolz auf. »Nicht nur in unserer Wanderstadt forschen wir unermüdlich und erfolgreich«, gab der Wissenschaftler mit Pausen zwischen den Wörtern zurück. »Aber jetzt ist nicht die Zeit für Fragen und Antworten. Wir müssen handeln.« »Dhedeens, neue Teph-Modelle, Maulspindler … die Wanderstädte sind in Wirklichkeit große Labors für IntraweltEntwicklungen. Seit ungefähr einer Million meiner Jahre. So ist es doch, Wissenschaftler Curxari?« »Warum sollte ich dich anlügen, Fremder Atlan? Mehr oder weniger sind deine Vermutungen richtig.« Er rannte weiter und antwortete nicht mehr.
* Ein weit verzweigtes System von Rampen und Treppen, die schließlich in einen breiten Korridor mündeten, führte von verschiedenen Punkten der Oberfläche in diesen Teil der »Unterwelt«. Ein starker Geruch, dessen wahre Natur mir bekannt vorkam, herrschte
in diesem Bezirk. Du kennst den Geruch. Kranke, Sterbende, Verwundete – so riecht es in nahezu jedem kosmischen Krankenhaus!, brachte der Extrasinn es auf den Punkt. Jolo, der Biologe und ich eilten durch eine Eingangshalle, in der aufgeregte Rhoarxi umherliefen. An den Wänden schwebten leere Tragen, daneben dirigierten kleine Roboter andere Geräte, auf denen bewegungslose und blutüberströmte Rhoarxi lagen. Rote Lichter blinkten. Türen zischten auf und zu, der Geruch nach scharfen Flüssigkeiten und Ausscheidungen wurde durchdringender. Aus den seitlichen Eingängen kamen ununterbrochen Tragen und Bahren heruntergeschwebt, auf denen schreiende Verletzte oder schweigende Tote lagen. »Das sind die Folgen dieses verdammten Streits«, sagte Curxari niedergeschlagen. »Und das ist erst der Anfang.« Ich antwortete nicht; der Zustand war offensichtlich. Wir durchquerten die Halle. Niemand beachtete uns. Wir mussten Dutzenden beladener Tragen ausweichen, die unseren Weg kreuzten und mit den zerschmetterten Körpern beladen waren. Wir sahen blitzende Instrumente und hörten die Rufe, mit denen sich die überlasteten Ärzte verständigten. Die Schmerzensschreie der Verletzten gellten in unseren Ohren. Die Roboter wuselten umher und richteten große Sehinstrumente auf uns. Wir wichen aus und verließen die Halle am gegenüberliegenden Ende. Curxari schien den kürzesten Weg zu kennen und führte uns an. Sämtliche Türen des Krankenhauses waren geöffnet. Wir blickten in große weiße Säle hinein, in deren Betten Rhoarxi lagen, an Transfusionsschläuche angeschlossen und von Binden bedeckt. Aus den Sälen wehte Gestank heraus, der betäubend stark war. Nachdem wir zweimal abgebogen waren, kamen wir in einen Korridor und durch ein Schott, das Curxari öffnete, in einen anderen Teil des Gebäudes. Der Gestank hörte auf, frische Luft umwedelte uns.
Wanderstadt Aspoghie
* Wieder wurde der Korridor schmaler. Hundert Schritte weiter kamen wir in eine runde, leere Kammer mit einer Öffnung in der Decke und einem runden Loch im Boden, jeweils etwa drei Meter im Durchmesser. Zwischen ihnen spannte sich ein … Maulspindler-Gondelfaden! »Stadt der Geheimnisse«, entfuhr es mir. Aus der Öffnung im Boden schaute die obere Hälfte eines schlanken, halb offenen Ovaloids hervor. Der Gondelfaden führte durch die Längsachse und im Inneren der Gondel durch ein Rohr, das farbige Ringe als Markierungen trug. Curxari rannte, ohne innezuhalten, auf die Gondel zu und sprang hinein, drehte sich um und winkte – eine überflüssige Geste. Ich fing mich an der Säule ab und achtete darauf, keinen der Ringe zu berühren. Der Gondelboden bestand aus selbstleuchtendem Silizium wie die strahlende Decke. Ich stellte mich neben den Alten und wartete, bis Jolo das Innere erreicht hatte. Curxari tippte mit der Schnabelspitze auf einige der Farbringe. Er keuchte und schwitzte, ebenso wie wir. Ohne Ruck setzte sich die Gondel in Bewegung und schwebte am Faden entlang durch das Loch in der Decke. Wir tauchten in einen dunklen Schacht ein, in dem die Fläche, auf der wir standen, die einzige Lichtquelle war. Mein Logiksektor erläuterte in seltener Weitschweifigkeit: Zwar ist sinnvolles Handeln bei Tuxit und Uquart vordringlich, trotzdem gibt es ein faszinierendes Denkmodell. Thema: die Rhoarxi. Einst waren sie flugfähige Vogelwesen. An den Enden der Schwingen trugen sie wahrscheinlich Finger, denn hochintelligente Wesen, die in der Lage sind, die Galaxis Dwingeloo mit Riesenbauten zu dekorieren, vermögen dies nicht allein durch die Kraft des Verstandes zu tun. Vergiss die Delfine deiner terranischen Barbaren, Arkonide, und die treuherzige Vorstellung, die Meeressäuger wären
37 klüger als manche Terraner. Die Evolution dauerte mehrere Millionen Jahre. Je besser die Rhoarxi ohne Finger bestimmte Materie kontrollieren konnten, desto mehr bildeten sich die Fingerchen zurück. Je häufiger sie in Raumfahrzeugen unterwegs waren, desto weniger brauchten sie ihre Schwingen. Den Verlust der Finger kompensierten sie mit Manipulatoren, anstatt der Schwingen erfanden sie die Spinnenfäden und die Gondeln. Und als die späten Erben der ersten Erfinder das Silizium-Leben entdeckten, wurden sie in Wanderstädten sesshaft, die sie nach ihrer Vorstellung unentwegt neu erschufen. Wie allerdings der Flammenstaub über die Vogelwesen kam und welche Seltsamkeiten und Überraschungen dieser Kontakt auslöste, muss zwangsläufig einer späteren Analyse vorbehalten sein. So wird es wohl gewesen sein, dachte ich. Nur hilft es mir gerade jetzt nicht weiter. Der dunkle Aufwärtsschacht endete. Licht umströmte uns, die Gondel hielt mit einem harten, kurzen Ruck. Im gleichen Augenblick erschütterte ein mächtiger Stoß das Gebäude. Der alte Rhoarxi sagte resignierend: »Aspoghie ist stehen geblieben. Es ist so weit.« »Was ist …?«, kreischte Jolo. Curxari antwortete: »Das Ende ist nahe.« Von draußen drangen grollende und knackende Geräusche herein, vermengt mit dem Angstgeschrei der Rhoarxi. Als ich hinausspringen wollte, ruckte die Gondel wieder an und schob sich in den zweiten Abschnitt des Schachtes. Wir schwebten einige Sekunden lang aufwärts, aber die Gondel schwankte hin und her und schrammte einige Male mit schauerlichen Kratzgeräuschen an der Wand entlang. Noch bevor Jolo in Angstgeheul ausbrechen konnte, hielt das Ovaloid abermals an; dieses Mal verließen wir das Gefährt. »Wir sind davongekommen. Gerade noch«, sagte Curxari und deutete mit einer Schnabelbewegung auf den Superspinnenfaden. Er schien sich zu dehnen, die Gondel
38 pendelte hin und her und schlug gegen den Rand der Schachtöffnung. Dann sackte sie polternd und kreischend in die Tiefe, gefolgt vom Faden, der sich in Schlingen aufrollte. »Hierher! Schnell!« Curxari rannte zum Anfang einer Treppe und stob die Stufen aufwärts. Es war eine Wendeltreppe, deren Spirale sich weiter öffnete, je höher wir kamen. Rings um uns verformte sich das Potista. Wir sahen nur Sprünge und Risse, die damit einhergehenden Geräusche klangen drohend und endgültig. Die Stufen schienen kein Ende zu nehmen, aber am zunehmenden Trillern, Kreischen und Zwitschern erkannte ich, dass wir uns dem Ausgang näherten. Der greise Wissenschaftler sprang vor mir durch eine Toröffnung. Ich war mit einem Satz hindurch und erkannte mit dem ersten Blick, dass wir uns im Inneren des Hohen Horstes befanden. Der zweite Blick zeigte mir Tuxit und Uquart, die in grotesken Luftsprüngen und mit äußerster Wut, von Flammenstaub-Partikeln umgeben, miteinander kämpften. »Hört auf, ihr Narren!«, rief mit schriller Stimme der alte Wissenschaftler. »Geht hinaus in die Wüste und kämpft dort weiter!« Sie hörten nicht auf ihn. Das Ende der Wendeltreppe hatte uns in der Mitte der Ränge entlassen. Wir kletterten zwischen durchhängenden Sitzstangen, Schutt und Bruchstücken abwärts zum Rand des Kreisfeldes. Der weiche weiße Belag war voller Blut und Schutt. Teile der technischen Deckenkonstruktion waren heruntergestürzt oder hingen noch von der Decke. Dünne Kabel ringelten sich zwischen Stangen, Winkeln und zerbrochenen Holoprojektoren auf den Rängen und den Körpern der Toten. Ich schwankte unter dem Ansturm der psychischen Gewalt; die abermals einen plötzlichen Höhepunkt erreichte. Unvermittelt riss das Geschrei ab. Curxari und ich hatten den Rand des Zentrumskreises erreicht. Wir waren zwischen toten Rhoarxi und undefinierbaren Trümmern abwärts geklettert. Als ich taumelte
Hans Kneifel und mich auf die Abwehr der Flammenstaub-Schwingungen konzentrierte, hörten auch die Bewegungen der Kämpfer auf. Sie federten auf den Boden herunter und blieben wie gelähmt stehen. Keiner regte sich; die Flammenstaub-Funken sanken lautlos zu Boden. »Tu etwas!«, rief Curxari. Auch er schwankte und hielt sich nur noch mühsam auf den Beinen. »Ich kann dir nicht helfen.« Jolo war reglos zwischen den Trümmern zusammengesackt. Ich brauchte nicht lange zu überlegen und bückte mich. Zwischen dem Schutt zog ich ein Kabel heraus und war mit drei Schritten bei Tuxit. Ich schlang das Kabel zweimal um seinen Hals und wickelte es oberhalb der Kniegelenke um die Beine. Er starrte mich mit undeutbarem Ausdruck an, als ich seinen Hals mit beiden Händen umfasste und die Luftröhre langsam zudrückte. Als er gurgelnd die Augen verdrehte und die Lider herunterklappte, verließ ihn anscheinend auch die Kraft des Flammenstaubs. Tuxit sank, von mir gestützt, in Zeitlupe zu Boden. Ich ließ ihn liegen und rannte zu Uquart hinüber. »Gut so«, seufzte der Alte und setzte sich auf ein großes Trümmerstück. Die Luft war voller Siliziumstaub, der träge durch die Fenster und den Eingang abzog. Wieder hörten wir ein entsetzliches Krachen, wieder war ein Teil Aspoghies zusammengebrochen. Der Biologe rief begeistert, von Hustenanfällen unterbrochen: »Ah, bewusstlos! Mach weiter. Dann müssen wir hier hinaus …« Noch bevor ich Uquart erreichte, verlor ich den Halt. Unter uns sackte der Boden einige Meter weit in die Tiefe. Krachend und polternd verschoben sich Teile des Bauwerks, lösten sich in sandartiges Geriesel oder in pseudoflüssigen, glitschigen Brei auf. Der Horst kam nach einem Sturz in unbekannter Höhe zum Halten, der Boden verkantete sich. Ein zweites Kabel in den Händen, rutschte ich auf den Obersten Brüter zu, der nur deshalb nicht zu Boden gesunken
Wanderstadt Aspoghie war, weil er an einem weißen Trümmerstück lehnte, das den Torso eines Fantasie-Rhoarxi zeigte. »Das Zeug wird uns umbringen«, rief Jolo und robbte zwischen den Trümmern auf mich zu. Ich wirbelte das Kabel um den Hals des Obersten Brüters, fesselte seine Beine und zerrte ihn, ehe er umkippte, in die Richtung auf den Ausgang. »Noch nicht«, knurrte ich und versuchte, das Schwanken des Bodens auszugleichen. Im Gefüge der Stadt dröhnte und krachte es, als ob ein heftiges Gewitter sich genau über Aspoghie entlüde. Drei, vier Schritte weit schleifte ich Uquart durch Staub und Trümmer über den schrägen, zitternden Untergrund, dann sackte der Horst abermals mit einem gewaltigen Ruck durch. Alles, was sich innerhalb des Horstes befand, wurde in die Höhe gerissen und auf den Ausgang zugekippt. Ich klammerte mich irgendwo fest und blickte wild um mich. Curxari und Tuxit rollten, ineinander verknäult und vom Kabel halb umwickelt, durch den Schutt. Jolo war ebenfalls umhergeschleudert worden und kroch auf die beiden zu. Dunkelroter Staub wallte durch die Öffnung des Ausgangs, deren Ränder lautlos zerflossen und zerbröselten. Ich stemmte mich hoch, griff nach den Unterschenkeln Uquarts und zog ihn mit mir. Hustend und nach Luft schnappend kämpfte ich mich Schritt um Schritt auf den Eingang zu. Das Kabel löste sich, und ich lud mir Uquarts Körper auf die Schulter. Er schien eine Tonne zu wiegen, meine Knie zitterten. Du schaffst es. Immer dem Licht nach!, drängte das Extrahirn. Als ich halb im Freien stand, auf den obersten Stufen der schwarzen Treppe, drehte ich mich um. Ebenso mühsam wie ich zogen, zerrten und schleppten Jolo und Carxari den besinnungslosen Tuxit zwischen den Trümmern hervor. Wir alle waren vom Scheitel bis zu den Fußspitzen von dichtem Staub bedeckt. Ich schleppte den Brüter weiter und sah, dass
39 die riesige Treppe nicht unterbrochen, aber am äußeren Rand stark zerstört war. Rechts neben mir löste sich ein mächtiges Bauwerk auf; die herunterschmelzenden Wände, die sich zu wässriger Flüssigkeit veränderten, gaben Blicke in die Nester und Räume des Inneren frei. Ich sah tote Rhoarxi, zerfließendes Mobiliar und zerstörte Teile der Einrichtung. »Die Rettung liegt in der Wüste!«, rief der alte Curxari. »Tuxit bewegt sich wieder.« »Dann hilf ihm nach unten«; gab ich zurück und taumelte mit meiner Last Stufe um Stufe abwärts. Mein Haar und meine Augen waren verklebt, ich schwitzte und keuchte. Mein Weg führte mitten durch das Chaos. Die Bewusstlosigkeit hatte den Kampf zwischen beiden Flammenstaub-Trägern beendet, aber das Potista reagierte weiter. Jegliche Kontrolle durch die orientierungslosen Rhoarxi war verloren gegangen. Die Fähigkeit der Avoiden, das Potista in jede gewünschte Form zu steuern, existierte nicht mehr oder nur in praktisch kaum wahrnehmbarer Größe. Das Siliziummaterial, dessen Konjugationsmöglichkeiten wohl erschöpft waren, schaffte es nicht mehr, zu wachsen und seine Zustandsform zu bewahren. An zahlreichen Stellen, völlig unregelmäßig und in unterschiedlicher Geschwindigkeit, brach die Stadt auseinander. Die aufragenden Gebäude verloren an einer Stelle den Halt und sackten in großen Teilen ab. An anderen Stellen verwandelte sich scheinbar feste Materie in eine Art kühlen Glibber, der durch die Finger rann, wenn man versuchte, ihn festzuhalten. Überall wallte farbiger Staub hoch, gefärbt durch Pigmente, die Aspoghie irgendwo in Nabuzym aufgesaugt hatte. Und gnadenlos strahlte die Sonne durch die Staubwolken auf die entstehenden Ruinen. Ich blieb stehen, als hinter mir ein Teil der geschwungenen Freitreppe geräuschlos wegschmolz und am Turmschaft herunterlief. Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass Tuxit sich aus Curxaris Griff losgerissen und die Fesseln gelöst hatte.
40 Jolo war dicht hinter ihm und sprang über den leeren Raum zwischen einigen Stufen. Der Flammenstaub-Träger begann zu rennen, stob an Jolo vorbei und hastete auf mich zu. Sein Blick ging ins Leere, er schwieg und raste schwer atmend die Stufen hinunter und an mir und Uquart vorbei. »He, Tuxit!«, brüllte ich. »Du rennst in den Tod! Pass auf, wohin du trittst!« Er schien mich nicht gehört zu haben, rannte stolpernd weiter und verschwand hinter der weiten Krümmung und im Staub der Doppeltürme, deren Fassade und Verzierungen bröckelten und verschwammen. »Versuchen wir, die Stadt zu verlassen«, rief ich Curxari und Jolo zu und zerrte Uquart mit mir weiter abwärts. Er war halb zu sich gekommen und rannte neben mir her, so dass ich nicht sein volles Gewicht tragen musste. Seine Augen waren geschlossen, der Schnabel, aus dem heiseres Pfeifen drang, weit aufgerissen. So hetzten wir im Zickzack über die halb marode Treppe durch den donnernden Lärm zusammenbrechender Hochbauten und auf ein Mauertor zu, das mühsam zu erkennen war. Als Jolo, der mit seinen Saugnäpfen besseren Halt als ich fand, mich überholte, waren wir fast am Fuß der Treppe angekommen. »Dorthin!«, sagte ich in der Pause zwischen zwei dumpfen Implosionen und zeigte zum Tor. Hinter uns ertönte ein ohrenbetäubendes Knistern. Ich drehte mich um. Eine Hälfte des linsenförmigen Horstes, von dem längst alle Verzierungen und Fensterblenden heruntergekracht waren, neigte sich nach unten. Gewaltige Sprünge zeichneten sich auf der Wand des einen Turms ab und verzweigten sich an der Unterseite des Diskus. Einzelne Teile und lange Bahnen aus Schutt lösten sich. Ein Mauerstück, zwanzig Quadratmeter groß, fiel fast waagrecht und begrub mit dumpfem Poltern den oberen Teil der Treppe und Curxari unter sich. Ich blieb stehen und rang nach Luft. Ich spürte die Arbeitswärme des Zellaktivators und sah zu, wie Uquart und Jolo nebenein-
Hans Kneifel ander auf den trümmerübersäten Platz hinausliefen und zwischen den Säulenfragmenten, den kleinen Seen aus flüssigem Potista und geborstenem Bodenbelag auf das schwankende Mauertor zurannten. Ihr Vorsprung betrug keine hundert Meter. Worauf wartest du, Arkonide? Darauf, erschlagen zu werden?, drängte der Logiksektor. Ich begann wieder zu rennen und fragte mich verwundert, warum die Flammenstaub-Träger ihren Kampf nicht fortsetzten. Offensichtlich besteht zwischen ihrer Kampfsucht und der direkten Konfrontation ein Zusammenhang, gab der Extrasinn zu verstehen. Insofern war es eine glänzende Idee gewesen, sie bewusstlos zu schlagen beziehungsweise sie räumlich voneinander zu entfernen. Ich rannte hinter Jolo und Uquart zum Rand der Stadt. Hinter mir und rechts und links vor mir veränderten sich krachend, schmelzend und zerbröselnd die Gebäude. Der Wandel von einer funktionsfähigen Stadt zu einer Menge großer Ruinen, in denen zahllose Rhoarxi erstickt und begraben lagen, ging unverändert weiter.
6. In den Ruinen der Wanderstadt Aspoghie Curxari, der greise Gen-Wissenschaftler, war trotz seiner Lebenserfahrung und seiner Klugheit von Aspoghie erschlagen worden. Während ich versuchte, fliegenden Trümmern auszuweichen, im fortwährenden Getöse niederkrachender Mauern und zusammensackender Konstruktionen, entdeckte ich nach jedem dritten Schritt andere grausige Bilder des Zusammenbruchs und des Todes. Im Malmen des Untergangs waren nur vereinzelt grelle Schreie zu hören. Über einem Kegelstumpf kreiste ein großer Schwarm Dhedeens, kreischend wie wilde Körnerfresser in einer Savanne, schien sich niederlassen zu wollen und flatterte wieder auf, verschwand in einer Staubwolke. Ich sprang nach rechts und schlitterte auf einen Tümpel zu.
Wanderstadt Aspoghie Ein gutes halbes Dutzend Rhoarxi-Leichen lag, grotesk verkrümmt, in der glasklaren Flüssigkeit, aus der kleine Blasen aufstiegen. Das nasse Potista hatte die Avoiden ertränkt. In anderen Trümmern steckten Leichen in hartem Silizium, in weißem, malvenfarbenem oder gelbem Stein, halb begraben, halb außerhalb der Bruchflächen. Sie starrten mich aus hervorquellenden Augen an; das Material hatte sie erschlagen oder zuerst ertränkt und dann wieder verfestigt. Ich sah Jolo, Uquart und Tuxit weit jenseits des Tores rennen, hörte hinter mir Todesschreie und unverständliche Rufe. Durch das Tor, das langsam in sich zusammensank, konnte ich die Wüste der Parzelle Nabuzym erkennen. Der Druck der kippenden Mauern hatte einzelne Windstöße erzeugt, durch deren Aufflackern die Staubwolken bewegt wurden. Hinter den wehenden Schleiern ragten bizarre Felsen aus dem Sand. Als ich über zerbrochene Quader sprang, sank das Mauerstück mit dem Tor in sich zusammen, schwankte hin und her und kippte nach außen. Ich rannte und sprang zwischen den umherrollenden Trümmern zum Rand der Stadt und hinunter in den Sand. Zwei halb eingegrabene Skorpionwesen raschelten blitzschnell davon. Ich war in Sicherheit. Die Trümmer des Tores, etwa fünfzig Schritte vom Ende der Stadt entfernt, lagen im Sand. Zwischen langgezogenen Dünen ragten bizarr geformte Felsen auf. Jenseits der hinteren Kante Aspoghies lagen riesige Trümmer, entsetzlich verformt, in allen Farben, zwischen denen Staub hochbrodelte. Die Stadt bewegte sich nicht mehr vorwärts, aber sie bewegte sich. Die Ruinen sanken weiterhin in sich zusammen. An anderen Stellen lösten sich Fundamente und stehen gebliebene Mauerteile in glasklare Flüssigkeit auf. Ich wagte nicht, darüber nachzudenken, wie viele Rhoarxi in den Ruinen getötet worden waren. Langsam entfernte ich mich vom Stadtrand, klopfte etwas Staub von meinem Over-
41 all und begann die Eindrücke zu verarbeiten. Mein Logiksektor schwieg. Die ausgeschiedenen Teile der Stadt bildeten eine Spur von unbekannter Länge, aber die Bruchstücke unmittelbar hinter der Heckkante waren auffallend groß. Ich hörte schwache Geräusche aus der Staubwolke zwischen diesen Trümmern und rannte auf zwei Rhoarxi zu, die undeutlich zu sehen waren. Nach wenigen Schritten hatte ich die Gewissheit, dass Tuxit und Uquart überlebt hatten. Als ich die beiden erreichte, die sich wieder gegenüberstanden, sah ich Jolo ohne Bewusstsein im Sand liegen. Er schien körperlich unversehrt zu sein und regte sich schwach. »Wir haben überlebt«, sagte ich. »Fangt ihr wieder zu kämpfen an?« Ich erhielt keine Antwort. Ich war überzeugt gewesen, durch mein Eingreifen die Auseinandersetzung beendet zu haben. Der Kampf hatte die Stadt in ein Ruinenfeld verwandelt und Unzählige das Leben gekostet. Einen Atemzug später griff Tuxit an, sprang auf Uquart zu und stieß einen gewaltigen Sprühregen der Flammenstaub-Fünkchen aus. Uquart wich aus, schlug mit dem Schnabel zu und badete seinen Gegner in einer ebenso riesigen Wolke aus Staubfunken. Ich zog mein Messer und sprang zwischen die Kontrahenten. Sie schrien einander an und zielten mit den Fußkrallen auf den Gegner, sprangen wieder in die Höhe und verwandelten den engen Kampfkreis in einen Wirbel aus Staub und Funken. Es schien, als hätten beide Streiter in der kurzen Zeit neue, ungeahnte Kräfte geschöpft, »Aufhören!«, schrie ich und versuchte, mit ungezielten Messerhieben den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern. Sie wichen meinen Scheinschlägen mit ausgestrecktem Arm aus und kämpften weiter. Sie werden den Kampf bis zum Ende austragen, erklärte der Logiksektor. Halte dich fern. Sonst verletzen sie dich, Arkonide. Ich brauchte nicht zu reagieren. Uquart blieb plötzlich stehen, wandte sich um und rannte zehn, fünfzehn Schritte weit in die
42 Wüste hinaus. Dort drehte er sich um und legte seine Flügel an. Er streckte den Kopf vor und stieß einen unverständlichen, schnatternden Laut aus. Auch Tuxit hatte seinen kämpferischen Tanz unterbrochen und starrte herüber. »So darf es nicht enden«, verstand ich. »Nein. Ich will unserem Volk dienen. Ich will nicht, dass Aspoghie beschädigt wird …« »Dieser Entschluss kommt reichlich spät, oh Oberster Brüter«, sagte ich laut und scharf betont. »Inzwischen ist die Bevölkerung so gut wie ausgerottet, und die Wanderstadt besteht nur noch aus Ruinen und Schutt.« Er richtete sich auf und bewegte den Kopf hin und her. Zum ersten Mal schien er das Ausmaß der Zerstörungen wahrzunehmen. Er stierte mich an, richtete dann seinen Blick auf Tuxit, betrachtete schweigend die Ruinen, in denen sich noch immer die Zerstörung austobte, und schloss den Schnabel. Alle seine Muskeln traten hervor, als er die Beine spreizte und die Füße in den Sand stemmte. »Ich muss kämpfen …«, hörte ich. »Ich kann den Flammenstaub … besiegen. Muss … unterdrücken.« Aus seinem Rachen strömte kein Flammenstaub mehr; er schien den Kampf gewonnen zu haben. Dann hob er den rechten Flügel und blickte das Cueromb an. Mit einem schleifenden, klickenden Geräusch wuchs aus dem Allzweckgerät eine drei Handbreit lange Klinge, die im Sonnenlicht aufblitzte. »Ich will nur dem Volk der Rhoarxi dienen. Ich kann es nur, wenn ich der Stärkste bin …« Ich stürzte vor. »Nein! Das darfst du nicht. Tu's nicht, Brüter!« Der Flügel schwang herum, die Klinge zischte durch die Luft und durchschnitt den Hals des Rhoarxi dicht über der Federkrause. Ein Blutstrom schoss hervor und tränkte die Federn, sprudelte und tropfte von der Brust zu Boden. »Bin nicht der Stärkste. Tuxit ist viel stär-
Hans Kneifel ker und klüger. Er ist der neue, alte Oberste Brüter.« Lange Pausen entstanden zwischen den Worten. »So ist es rechtens. Er soll als Oberster Brüter wirken.« Uquart schwankte vor und zurück. Sein Hals bog sich zusammen. Die Worte wurden undeutlich. Zu späte Einsicht. War Selbstmord die einzige Lösung?, ließ sich der Extrasinn mit dramatischem Flüstern vernehmen. Ich musste zusehen, wie Uquart in die Knie sank, wie sein Blut den staubtrockenen Sand tränkte und wie er seinen zusammensackenden Körper mit dem blutigen Schnabel abstützte. Er flüsterte heiser und gurgelnd: »Der Mob soll Tuxit zum … Obersten Brüter ernennen.« Seine Kräfte verließen ihn. Er kippte langsam zur Seite, zuckte zweimal und starb. Ich steckte meine kümmerliche Waffe zurück und hob hilflos die Schultern. Die Flammenstaub-Partikel rings um Tuxit sanken zu Boden, und für einen langen Augenblick breitete sich Stille aus. Der psychische Druck, der sich seit dem zweiten Anfang der Kämpfe stoßwellenartig ausgebreitet hatte, verschwand völlig. Ich hörte Schritte im Sand knirschen, blinzelte in die Sonne und wusste, dass die Helligkeit des Tages in wenigen Stunden enden würde. Tuxit näherte sich seinem toten Widersacher mit zögernden, vorsichtigen Schritten. Der trockene Sand saugte das Blut des Toten gierig auf. Ein leises sirenenartiges Heulen kam vom Stadtrand: Die Skorpionwesen witterten Beute. »Hast du gehört, was er zuletzt geflüstert hat?«, fragte ich leise. »Er hat sich umgebracht, damit du als Oberster Brüter neues Leben aus den Ruinen hervorbringen kannst.« Tuxit ging in die Knie und betrachtete den blutüberströmten Körper, der sich im Todeskampf in Brutstellung zusammengekrampft hatte. »Ich habe nicht jedes Wort verstanden«, antwortete er, ohne einen einzigen Funken auszustoßen. »Aber nun ist alles klar. Es gibt nur einen Obersten Brüder: mich.«
Wanderstadt Aspoghie »Einen Herrscher über einige tausend Leichen und ein riesiges Ruinenfeld«, schränkte ich ein. »War es das wert?« »Heute lautet meine Antwort: ja«, entgegnete Tuxit, ohne aufzublicken. Die vielen Toten und Verletzten schienen ihm völlig gleichgültig zu sein. »In 15.000 Tagen wird man mehr wissen. Und Genaueres.« »Wahr gesprochen«, murmelte ich. »Und nun? Was jetzt?« Tuxit richtete sich auf und betrachtete die Spur der abgeworfenen Trümmer, die Reste der Stadtmauer, die beiden Duum-Bäume in unserer Nähe, die wie durch ein Wunder von der Verwüstung verschont geblieben waren, und dann glitten seine Blicke über das schauerliche Ruinenfeld. Die donnernden Geräusche hatten aufgehört, aber aus der gewaltigen Schuttmasse drangen noch immer Knistern und Knacken. Ich ging zu Jolo, der sich gerade vom Staub und aus einer dünnen Lage Schutt befreite. Er blinzelte mich wortlos an und rieb sich die Augen. Als er wieder klar sehen konnte, starrte er an mir vorbei, hob die Vorderpranke und deutete auf etwas in meinem Rücken. Jolo schien sich zu fürchten, oder die Erscheinung bedrohte uns, oder … Langsam drehte ich mich um. Drei, vier Dutzend Schritte entfernt ragte ein ungewöhnlicher Felsen aus dem welligen Sand. Er bestand aus purpurnen, gelben und schwarzen Schichtungen und warf im Licht der Zenitsonne einen kargen Schatten, der wie ein Sockel wirkte. Hinter dem bizarren Findling schob sich eine hochgewachsene Gestalt hervor, ein Wesen, so hochgewachsen wie ich, fast mager, mit breitem Becken und einem ovalen Kopf, dessen dunkelgraue und schwarze Facetten sich in langsamem Takt bewegten und umgruppierten. Dein Gegner. Du erkennst ihn, lärmte der Logiksektor. Ich erkannte ihn in dem Augenblick, in dem mich ein abgrundtiefes Gefühl innerer Leere überfiel. Peonu, der Lutvenide. Der Seelenfresser Peonu! Auf seiner nackten Brust glänzte das
43 sechsarmige, sich mehrfach verzweigende Kristallsymbol. Schlagartig wurde mir deutlich, dass ich noch immer im Bann des Seelenfressers stand. Ich beobachtete seinen seltsamen Gang, in dem er sich näherte. Seine zusätzlichen Arm- und Beingelenke diktierten seine Bewegungen. Den Kampf gegen ihn hatte ich verloren; sein Sehvermögen überstieg meines um mehr als eine Potenz. »Peonu«, brachte ich hervor. Eigentlich hätte ich an den mentalen Faden denken müssen, der mich mit ihm verband. Aber die Ereignisse des letzten Dutzends Stunden hatten mich zu stark abgelenkt. In einer Gangart, die seine völlige Unbekümmertheit und Selbstsicherheit deutlicher schilderte als alles andere, kam er auf mich zu. Von seinem Kopf rann die Drüsenflüssigkeit, sammelte sich auf den schmalen, knochigen Schultern und tropfte bei jedem Schritt zu Boden. Mein Extrasinn schwieg, offensichtlich bis zur Paralyse erschreckt. In meinem Verstand und in meiner arkonidischen Seele schnitten scharfe Schmerzen, denen ich nichts entgegensetzen konnte. Ich, sein »Seelenhäppchen«. »Wer … was ist das?« Ich war nicht in der Lage, Tuxits Frage zu beantworten. Ein unsichtbarer und undurchtrennbarer Faden verband mich mit Peonu und lähmte nicht nur meinen freien Willen. Peonu hatte meinen »Geschmack« – ich konnte mir kaum vorstellen, was es für diese Abhängigkeit bedeutete – gespeichert und ließ mich nicht mehr los. Was er mit mir vorhatte, vermochte ich nicht einmal zu ahnen. Er begann zu reden; mit tiefer, brummender Stimme, durchsetzt mit scharfen Zischlauten. »Sage deinem Begleiter«, forderte er mich auf, »wer ich bin.« Seine Worte hatten einen trügerisch sanften Unterton. Tief in mir wuchs die Furcht vor einer Kette schrecklicher Geschehnisse. Ich gehorchte, obwohl sich alles in mir gegen diese Aufforderung sträubte. Es musste eine Möglichkeit geben, diesem Bann zu entgehen und die Verbindung zu durchtren-
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Hans Kneifel
nen. Ich wandte mich an Tuxit, der Peonu und mich völlig verständnislos anstarrte. »Das hier, dieser Fremde, ist Peonu, der …« Schmerz durchflutete mich, als ich daran dachte, was ich sagen wollte. Nach kurzem Stocken setzte ich fort: »… mein Freund ist. Ich …« Peonu entblößte zwei blutig rote Zahnreihen. Seine schwarze Zunge bewegte sich wie bei einer Natter. Mit einer Geste seiner schwer beweglichen Finger deutete er auf mich. »Das reicht. Dir bleibt nichts anderes übrig, Atlan.« Er kam näher. Tuxit und Jolo waren wie ich wie erstarrt. Das Gefühl grauenhaften Unheils nahm zu und betäubte mein gesamtes Denken. Kraftlos und der unbegreiflichen Stärke dieses Wesens ausgeliefert, blieb ich stehen. Ich war sicher, die nächsten Stunden nicht zu überleben. Schweigen, Lähmung, sterneneisige Panik. Meine Haut schien sich mit Kälte zu überziehen. Sämtliche Empfindungen außer grausiger Furcht starben innerhalb weniger Herzschläge ab. Ich war unter völliger Kontrolle des Lutveniden. Peonu kam mit eigentümlichen Bewegungen auf mich zu und blieb eine Armlänge vor mir stehen. Er kratzte sich am sechseckigen Kristallsymbol auf seiner Brust. Die Facetten auf dem hauchdünnen Überzug seines Gesichts verzogen sich zu einer Art grausigem Lächeln.
* Postskriptum Mitten in der Anhäufung von Ruinen war ein winziger Fleck scheinbar der Zerstörung entgangen. Eine Bank, die kreisförmig den Stamm eines Borcran-Baumes umschloss und im Schatten von dessen ausladender Krone stand. Bald würde es dunkel. Das Blattwerk des alten Baumes, während der Vernichtung der umliegenden Gebäude voller Staub, gewann jetzt langsam seine Farbe wieder, denn aus einem geborstenen Rohr schoss eine Fontäne Wasser hervor und reg-
nete über dem Baum ab. Wassertropfen in vielen Farben, entsprechend den Pigmenten der verschiedenen Potista-Flächen, bildeten einen runden Vorhang, dessen funkelnde, glitzernde Perlen ein tröstliches, plätscherndes Geräusch erzeugten. Demio kauerte auf der Bank und klaubte mit der Schnabelspitze Weichnüsse aus ihrem Beutel. Neben ihr auf dem grau geäderten Pseudostein der Bank lag die Kassette. Demio war über die zusammenbrechende Treppe abwärts gelangt. Staub und Mauerbrocken hatten sie halb blind gemacht, ihr die Luft abgeschnürt und ihren Körper schmerzhaft getroffen. Durch die Trümmer der Stadt, die zusehends zerfiel, hatte sie sich bis hierher durchgekämpft. Jetzt, als sie sich auszuruhen begann, krallte sich wieder der wohl bekannte Schmerz zwischen ihren Schenkeln in die Körperorgane. »Aber Demio weiß, dass ihr ehemaliger Küker nach Aspoghie zurückgekommen ist. Das lässt sie den Schmerz vergessen.« Trotzdem öffnete sie den Schnabel, senkte die Nickhäute halb über die Augen und versuchte, die nagenden Schmerzen durch das Gefühl stillen Glücks zu betäuben. Die Stunde, in der es ihr gelungen war, den letzten Überlebenden der Familie zu retten, damals, vor 30.000 Tagen, zählte zu den wenigen glücklichen Erinnerungen ihres langen Lebens. »Tuxit ist hier. Er wird Demio in den Ruinen nicht suchen«, summte sie vor sich hin, »aber Demio wird ihm den Brüterich zeigen. Wird ihm den Brüterich geben …« Die Tropfen aus der Baumkrone hatten den Boden genässt und den Staub fortgespült. Die feuchte, kühle Luft tat Demio wohl. Ihre Blicke streichelten zärtlich die Kassette. Mit den zerzausten Schwungfedern eines Flügels strich sie über die polierte Fläche und klapperte leise mit dem Schnabel. »Nach so langer Zeit, Tuxit, wird Demio sagen, kann der Letzte deiner Familie ausgebrütet werden. Er wartet auf dich, 30.000 Tage wartet er.«
Wanderstadt Aspoghie
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Demio dachte nicht an ihr eigenes Glück. Sie lebte, das war genug. Die Schmerzen in ihrem Körper schnitten und stachen noch eine Weile, dann verschwanden sie, wie sie gekommen waren. Demio, die alte Amme, wartete geduldig. Tuxit würde sie suchen und finden. Dann … »Demio wird es vielleicht nicht mehr erleben. Aber der Brüterich wird leben.«
Ihr heiseres, stockendes Murmeln verlor sich in den Geräuschen der zerbrechenden und unbeweglichen Wanderstadt. ENDE
ENDE
Die Kathedrale von Rhoarx von Michael Marcus Thurner Aspoghie ist schwer beschädigt. Tuxit, der Träger des Flammenstaubs, hat vielen Bewohnern den Tod gebracht. Der neue Oberste Brüter steht vor den Trümmern einer jahrtausendealten Kultur. Und er weiß nicht, dass dies nicht einmal das Schlimmste ist: Vor seinen Augen stehen sich Ordnung und Chaos gegenüber. Schon einmal begegneten sich Atlan und Peonu – dabei gewann der Lutvenide die unausweichliche Konfrontation.