Ren Dhark® Der Bitwar‐Zyklus Band 11
Vorstoß in den Hyperraum Herausgegeben von HAJO F. BREUER Scan: Puckelz K‐Leser: CC Layout: Puckelz
! Ein Universum Release, nur für den internen Gebrauch !
HJB®
Vorstoß in den Hyperraum von CONRAD SHEPHERD (Kapitel 1 bis 5) UWE HELMUT GRAVE (Kapitel 6 bis 11) JO ZYBELL (Kapitel 12 bis 16) ACHIM MEHNERT (Kapitel 17 bis 21) und HAJO F. BREUER (Exposé)
1. Auflage HJB Verlag & Shop KG Postfach 22 01 22 56544 Neuwied Bestellungen und Abonnements: 0 26 31 ‐ 35 48 32 Fax: 0 26 31 ‐ 35 61 02 E‐Mail:
[email protected] www.ren‐dhark.de © REN DHARK: Brand Erben Herausgeber: Hajo F. Breuer Titelbild: Ralph Voltz Druck und Bindung: Oldenbourg © 2006 HJB Verlag REN DHARK und HJB sind eingetragene Warenzeichen Alle Rechte vorbehalten ISBN 3‐937355‐14‐6
Der Bitwar-Zyklus Eric Santini und seine Mitstreiter stranden auf einer Dschungelwelt – und kommen dem größten Geheimnis der Grakos auf die Spur. Angesichts der Erkenntnisse, die sie heim nach Terra bringen, bleibt Ren Dhark nichts anderes mehr übrig, als den Vorstoß in den Hyperraum zu wagen… Uwe Helmut Grave, Achim Mehnert, Conrad Shepherd und Jo Zybell schrieben einen SF-Roman nach dem Expose von Hajo F. Breuer. Diese Buchausgabe präsentiert die Saga über das Leben des Sternenabenteurers Ren Dhark: eine Science Fiction-Serie, genau wie sie sein muß! Erstveröffentlichung
Vorwort Der Kosmos von REN DHARK, dessen Grundstein in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts der unvergessene Kurt Brand legte, ist komplexer, als man auf den ersten Blick glauben könnte. Alte, eigentlich schon besiegt geglaubte und ad acta gelegte Figuren wie die Grakos tauchen plötzlich wieder auf und setzen der Menschheit mehr zu als je zuvor. Und die Salter, die einst auf Grund der bekannten Umstände als Notlösung für das Rätsel der Myste‐ rious präsentiert werden mußten, waren von ihrer Konzeption her ganz anders angelegt und sollten eine wichtige Rolle als Macht im Hintergrund spielen. Nun kann Ren Dhark langsam ein wenig verzweifeln, denn immer wenn er auf Salter trifft, sterben die ihm quasi unter den Händen weg. Aber ich habe so den Eindruck, als gäbe es noch mehr Spuren dieses Volkes im Universum zu entdecken als die, auf welche der Commander der POINT OF bisher gestoßen ist… Bevor ich hier zuviel verrate, erlaube ich mir, Ihre geschätzte Aufmerksamkeit auf unsere Paperback‐Reihe STERNEN‐ DSCHUNGEL GALAXIS zu richten. Wenn Sie dieses Buch in Hän‐ den halten, sind die Bände zehn bis zwölf erschienen, die zweite Staffel ist abgeschlossen. Die Reaktionen der Leser auf das neue Abenteuer, das in der Zeit der drei Jahre zwischen Drakhon‐ und Bitwar‐Zyklus spielt, waren teilweise euphorisch. Die Handlung konzentriert sich voll und ganz auf Ren Dhark – der plötzlich am eigenen Leib erfahren muß, wie man sich in der Rolle des Außerir‐ dischen fühlt. Neugierig geworden? Na hoffentlich! Kommen wir zurück zu dem vorliegenden Buch, in dem ein Halbraumgleiter der Nogk eine wichtige Rolle spielt. Ein solches Schiff tauchte erstmals in dem Kurzroman »Havarie im Hyperraum« auf, der extra für das erste REN DHARK‐Hörbuch geschrieben wurde und als Bonus‐CD der limitierten Ausgabe beiliegt, die ex‐
klusiv nur über den HJB‐Shop zu beziehen ist. Sie sehen also, es lohnt sich immer, HJB‐Kunde zu sein oder zu werden! Garantiert ebenfalls lohnend ist die Lektüre des folgenden Ro‐ mans. Lehnen Sie sich entspannt in Ihrem Lesesessel zurück und machen sich bereit für den Vorstoß in den Hyperraum… Giesenkirchen, im März 2006 Hajo F. Breuer
Prolog Anfang des Jahres 2063 scheint das Ende der Menschheit – oder zumin‐ dest das Ende ihres Heimatplaneten Terra und des Sonnensystems – unausweichlich. Ein bisher unbekanntes Volk offenbar intelligenter Roboter hat terranische Kolonien angegriffen und unprovoziert einen Krieg mit Terra vom Zaun gebrochen. Stärkste Waffe der Roboter, die sich selbst »das Volk« nennen und alle Lebewesen abschätzig als »Biomüll« bezeichnen, sind modifizierte Ge‐ schütze der Worgun: Die Energie eines herkömmlichen Nadelstrahlers wird auf wenige Nanometer konzentriert und erreicht somit eine Kraft, die sogar in der Lage ist, Raumschiffshüllen aus Unitall einzudrücken! Doch diese »Kompri‐Nadel« genannte Waffe ist harmlos im Vergleich zu dem, was die Roboter sonst noch zustande bringen! Mit einer bislang völlig unbekannten Technik ist es ihnen gelungen, die Sonne zum Untergang zu verdammen! Von einer heimlich im Nachbar‐ system Proxima Centauri errichteten Station aus haben sie es offenbar ge‐ schafft, ein winziges Schwarzes Loch im Zentrum unserer Sonne zu pla‐ zieren. Gegenstück ist ein kleines Weißes Loch im Inneren von Proxima Centauri. Und so fließt immer mehr Masse aus unserer Sonne ab und läßt den einst trüben Nachbarstern regelrecht aufblühen, während Sol immer mehr an Kraft verliert. Der Winter, der im November 2062 anbricht, könnte der letzte sein, den die Erde erlebt – der ewige. Und als wäre das nicht schon genug, fliegen die Roboter einen Großangriff auf Terra. Der kann erst im letzten Augenblick abgewehrt werden, nicht zuletzt dank der tatkräftigen Unterstützung durch neuartige Kampfraum‐ schiffe des Planeten Eden, auf dem sich der Großindustrielle Terence Wallis selbständig gemacht hat. Eden verbündet sich mit der Erde, um die weitere Manipulation der Sonne zu verhindern und eingetretene Schäden möglichst rückgängig zu machen. Bei einem koordinierten Großangriff auf das System Proxima Centauri kann
die Station zur Sonnenmanipulation vernichtet werden. Doch es ist schon zu spät: Der Prozeß hat sich verselbständigt. Immer mehr Energie fließt aus der Sonne ab, die bald nur noch ein verlöschender Stern sein wird… Die Verantwortlichen der Erde wissen nach wie vor nicht, weshalb die Roboter Terra überhaupt den Krieg erklärt haben. Also wird ein Stoß‐ truppunternehmen aus Soldaten der Schwarzen Garde und einigen Cyborgs in Marsch gesetzt, um Eins, den Heimatplaneten des »Volkes«, zu erkun‐ den. Dabei stößt man auf das »Heiligtum« der Maschinen, in dem man wider Erwarten nicht nur einige Grakos findet, sondern auch eine riesige Halle, in der mehrere tausend Salter in Tanks mit Nährflüssigkeit schlafen! Nur einer von ihnen übersteht den Befreiungsversuch lange genug, um Ren Dhark zu berichten, daß es diese Salter waren, die die intelligenten Roboter erschufen – nur um von ihnen versklavt zu werden… Etwa zur gleichen Zeit wird auf Grah der terranische Major Eric Santini damit betraut, das Verschwinden zweier geschlechtsreifer Gordo zu unter‐ suchen. Er beginnt seine Arbeit in ihrem Haus – und gerät in eine Falle renegater Grakos…
1. Für Eric Santini schien die Zeit stillzustehen, angehalten von dem Schatten des Grako, der als letzter die Halle betreten hatte und des‐ sen insektoider Körper hinter dem wabernden Hyperfeld allenfalls nur zu erahnen war. Deutlich zu sehen jedoch war die charakteristi‐ sche Mündung eines Schwarzstrahlers, die aus dem Halbraumfeld herausragte und genau auf ihn zielte. Für den Major war es ein Rätsel, wie es der Grako geschafft hatte, trotz der umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen mit der materie‐ auflösenden Waffe in die Halle zu gelangen. Die Strahlen aus dieser Waffe vermochten jedes bekannte Material zu vernichten und einen menschlichen Körper einfach zu verdampfen. Der Besitz von Schwarzstrahlern war den Grakos von den terrani‐ schen Besatzungsbehörden kategorisch verboten worden. Eine Falle! hämmerte es in Santini. Für drei, vier endlose Hundert‐ stelsekunden war dieser Gedanke alles, was er fassen konnte: eine Falle, deren Grund er nicht kannte. Doch jeder weitere Gedanke daran war müßig, mußte er erkennen. Noch während er dies dachte, funktionierte sein Verstand mit der gewohnten Präzision, die er in langen Jahren harten Trainings ausgebildet hatte und die ihm jetzt mit der mechanischen Gefühllosigkeit eines Suprasensors erklärte, daß er sich in akuter Lebensgefahr befand. In Santini erwachten im Bruchteil einer Sekunde schlagartig alle Verteidigungsmechanismen, über die er verfügte. Er begriff, daß er um sein Leben kämpfen mußte. Noch während sich dieser Gedanke klar in seinen Überlegungen abzeichnete, hatte er sich bereits refle‐ xartig zu Boden fallen lassen und zog schon während dieses Vor‐ ganges den brandneuen Nadelstrahler. Der schwarze Strahl aus der Mündung der Grako‐Waffe verfehlte Santini nur aufgrund seiner Reaktionsschnelligkeit und schlug statt dessen in dem hinter ihm stehenden Grako‐Hausdiener ein.
Zur selben Zeit feuerte Santini auf den Rebellen; er traf ihn voll und löste sowohl das Halbraumfeld als auch den Insektoiden auf. Die Thermoreaktionen der beiden Getroffenen erfolgten mit nur wenigen Sekundenbruchteilen Verzögerung; die Grakos vergingen in grellen Feuerbällen, die die Halle in wildes Leuchten tauchten und sich aufblähend ausbreiteten. Santini, der wußte, was kommen würde, schnellte augenblicklich zur Seite, rollte sich über die linke Schulter ab und brachte sich we‐ nige Meter weiter rechts hinter einer steinernen Bank in Deckung, ohne seine Waffe losgelassen zu haben. Die in der Halle anwesenden Hausbediensteten verfügten über keine derart antrainierten Reflexe und reagierten dementsprechend langsam auf das sich anbahnende Desaster. Drei der unbeteiligten Grakos wurden von den Auswirkungen der Thermoreaktionen erfaßt und vergingen in dem tödlichen Feuer, während die anderen auseinanderstrebten und ihrerseits Deckung suchten. Kochende Hitze und wirbelnde Dämpfe breiteten sich in Wellen durch die Halle aus; Leuchtkörper explodierten und glühten aus. Wirbelnde Schauer splitternden, zerstäubten Materials schlugen auf den Boden und lösten eine Geräuschorgie aus. Eine Alarmsirene heulte nervenzerfetzend. Santini duckte sich tiefer hinter die steinerne Massivität der Bank und zog den Kopf zwischen die Schultern, während er die Waffe umklammerte, ohne die er die Attacke des verräterischen Grako wohl nicht überlebt hätte. Einen irrwitzigen Moment lang fühlte er Dankbarkeit seiner Tante Carlotta gegenüber, die ihm diese sündhaft teure Handfeuerwaffe von Garand, Enfield, Heckler & Koch (einem Tochterunternehmen von Wallis Industries) als Weihnachtsgeschenk geschickt hatte. Sie war zwar erst am Silvestertag auf Grah angekommen, was die Ge‐ neralmajorin am To‐Richtfunk zu einigen ätzenden Äußerungen über die Zuverlässigkeit der heutigen TF‐Feldpost animierte, als sie sich ihrerseits für die Kette aus Grahlit bedankte, die ihr Eric ge‐
schickte hatte; die war rechtzeitig zum Fest dagewesen und hatte ihr Entzücken hervorgerufen. Langsam verebbten die Druckwellen der Thermoreaktionen; die erstickenden Dämpfe und der wirbelnde Qualm in der Halle wurden von automatisch anlaufenden Exhaustoren angesogen und aus dem Saal entfernt. Es schien vorbei zu sein. Santini rappelte sich auf und suchte seine Gedanken zusammen; der Überfall war so unvermittelt geschehen, daß er fast schon mit dem Leben abgeschlossen hatte. Er orientierte sich; in der Halle schien niemand mehr nach seinem Leben zu trachten. Von den urs‐ prünglich 13 Grakos waren nur noch neun am Leben. Gefahr drohte scheinbar keine mehr. Dennoch zögerte er zunächst, die Waffe aus der Hand zu legen. Aber schließlich steckte er sie doch in das Halfter zurück und wandte sich an den Grako, der hier die Tätigkeit eines Majordomus bekleidete. In seinem Gesicht arbeitete es. Nur mühsam seinen Zorn im Zaum haltend, hob er seine Stimme: »Kannst du mir erklären, was das sollte?« Der Grako antwortete mit einem Schwall von Klicklauten, die von Santinis Translator übersetzt wurden. Seinen Worten zufolge bedauerte er zutiefst den Attentatsversuch des Rebellen. Er konnte sich auch keinen Reim darauf machen, wie es dieser Abtrünnige geschafft hatte, mit dem Schwarzstrahler durch sämtliche Sicherheitsbarrieren zu gelangen. Schweigend hörte sich der Major die Beteuerungen des Majordo‐ mus’ an; inwieweit sie der Wahrheit entsprachen, konnte er nicht nach vollziehen. Zum einen waren der insektoiden Physiognomie keinerlei Gemütsregungen zu entnehmen, die von einem Terraner als solche interpretiert werden konnten. Zum anderen verhinderte das Halbraumfeld der Grakos jede genauere Betrachtung: Grakos waren immer nur schattenhaft zu sehen. Dennoch hatte der Major so seine Zweifel, was die für einen Insektoiden ungewöhnlich wort‐
reichen Beteuerungen des Majordomus betrafen; das Verhältnis zwischen Grakos und den Menschen war nicht gerade von über‐ schwenglicher Freundschaft geprägt. Obwohl die Gordo nach dem Ende des Grako‐Krieges nominell wieder die Regierungsgewalt in‐ nehatten, auch wenn sie dabei auf die Unterstützung der terrani‐ schen Besatzungsmacht angewiesen waren, gab es noch immer viele Grakos, die die neue Ordnung ablehnten und sich mehr oder weni‐ ger offen für einen Umsturz einsetzten. Es war eine Tatsache, daß auf vielen Wohnwelten – auch auf Grah – nach wie vor Rebellengruppen existierten, die alles daran setzten, den Terranern Schaden zuzufü‐ gen, wo sie nur konnten. Noch immer schrillten die Alarmanlagen. Durch das Hauptportal des Wohnhauses von Schattensucher und Lichtfreundin drang eine Gruppe Kampfroboter in die Halle, angeführt von einem jungen, forsch auftretenden Leutnant; der Trupp war Teil des ständig prä‐ senten Sicherheitskordons, den die terranische Militärmacht rings um das Viertel und das Haus gelegt hatte, um Übergriffe und At‐ tentatsversuche auf die Gordo zu verhindern. Der Frieden auf Grah war ein sehr fragiler; jederzeit konnten erneut Kämpfe aufflammen. »Leutnant Onsin, Sir«, meldete der junge Offizier mit markiger Stimme und salutierte, während er rasch näherkam. »Benötigen Sie Hilfe?« Santini blieb ruhig, grüßte zurück und antwortete mit leichtem Sarkasmus: »Jetzt nicht mehr, Leutnant.« »Ist Ihnen etwas zugestoßen, Sir? Sind Sie verletzt?« Endlich verstummten die Sirenen der hauseigenen Feuermeldean‐ lage. »Ich bin noch mal knapp davongekommen«, erwiderte der Major. Die Kampfroboter hatten sich so in dem saalartigen Raum verteilt, daß sie die nur schattenhaft zu erkennenden Grako voneinander isolierten. Leutnant Onsin deutete mit seiner schweren Waffe auf die Über‐ bleibsel der Thermoreaktionen; in einem Kreis von schätzungsweise
fünfzehn Metern Durchmesser war der steinerne Boden geschwärzt, waren ausgeglühte Teile der Einrichtung und die kaum noch als solche zu erkennenden Reste der Grako‐Organismen verteilt. »Was ist vorgefallen, Sir?« Von zwei Seiten näherten sich jetzt hauseigene Reinigungsroboter und begannen damit, die Spuren des Kampfes zu beseitigen. Santini schaute einen Augenblick lang zu, ehe er antwortete: »Es muß ein Rebellenkrieger gewesen sein, dem es gelungen war, einen Schwarzstrahler so geschickt zu verbergen, daß er von den Sicher‐ heitskräften nicht entdeckt wurde.« Er schüttelte den Kopf; obwohl er sich räusperte, blieb seine Stimme rauh. Die Reaktion auf das Ge‐ schehene kam erst jetzt. »Wie es aussieht, haben wir noch viel Arbeit auf Grah vor uns, ehe wirklich Frieden eintritt.« Der Leutnant nickte. »Cui bono?« brummte er. Er tastete eine Nummer in sein Armbandvipho und gab eine Entwarnung an seinen draußen wartenden Vorgesetzten durch. »Das frage ich mich auch«, erwiderte der Major. »Wem hätte es genützt, wenn es dem Attentäter gelungen wäre, mich – welch eine unschöne Vorstellung! – umzubringen?« »Das läßt sich nun leider nicht mehr nachprüfen, Sir«, behauptete der Leutnant folgerichtig. Seine Miene wurde fragend. »Falls es wirklich ein Attentat auf Sie war, vom wem hat er den Auftrag be‐ kommen?« »Auch das wird sich kaum noch nachprüfen lassen«, versetzte Santini mit den Worten des jungen Offiziers. Der Leutnant nickte zustimmend. »Wohl kaum. Sind Sie hier fertig, Sir?« Major Santini überlegte nur kurz. Jetzt die aufgeregten und viel‐ leicht auch verängstigten Grakos der niederen Ränge über unge‐ wöhnliche Vorkommnisse im Umfeld von Schattensucher und Lichtfreundin zu befragen, erachtete er für wenig sinnvoll. Selbst wenn einer der Hausbediensteten etwas wußte, würde er es sich dreimal überlegen, sein Wissen preiszugeben und dabei möglicher‐
weise zu riskieren, sich der Rache der Grako‐Rebellen auszusetzen, die die Vorgänge in diesem Haus mit Sicherheit beobachteten. »Ja«, sagte er folgerichtig, »ich bin hier fertig.« »Fanden Sie übrigens, wonach Sie suchten?« Santini schüttelte wortlos den Kopf und verließ die Halle zusam‐ men mit dem Leutnant; die Kampfroboter schlossen sich ihnen an. »Fehlt Ihnen wirklich nichts, Sir?« wandte sich Onsin erneut an ihn. »Unser Doktor könnte Sie sich ansehen, falls Sie doch eine Ver‐ letzung davongetragen haben sollten.« »Ihre Besorgnis ist zwar rührend, Leutnant, aber vollkommen überflüssig. Mir fehlt nichts. Danke trotzdem.« »Dafür nicht, Sir«, erwiderte Leutnant Onsin und trollte sich zu seiner Einheit, die den Sicherheitskordon um Schattensuchers und Lichtfreundins Haus bildete. Santini lenkte seine Schritte in Richtung des Schwebers vom Typ Nomsol‐345, mit dem er vor nicht mehr als – er warf einen Blick auf sein Chrono – vierzig Minuten nach Acht gekommen war. Das Ergebnis seiner Nachforschungen war alles andere als zufrie‐ denstellend, ganz im Gegenteil, gestand er sich ein. Allerdings mußte sein Erscheinen in Acht jemanden alarmiert haben; der An‐ schlag hatte gezielt ihm gegolten, anders waren die Ereignisse in der Halle des Gordo‐Gebäudes kaum zu interpretieren. Der graue Dunst lag unverändert über der Stadt, die feuchtheiße Luft legte sich wie eine schwere, alles unter sich erstickende Decke auf ihn. Die wenigen Meter bis zu seinem Schweber genügten, ihm den Schweiß aus allen Poren zu treiben. Erleichterung erfuhr er erst, als er schließlich in der vollklimati‐ sierten Kabine des zweisitzigen Nomsol‐345 saß und sich nicht län‐ ger mehr der mörderischen Luftfeuchtigkeit Grahs ausgesetzt sah, die im Freien ständig zwischen Werten von 90 und 100 Prozent pendelte. Das Klima auf dieser Welt war für jeden, der zum ersten‐ mal nach Grah kam, ein Schock. Das galt auch für Terraner, die aus
den Subtropen der Erde oder von Kolonialwelten mit vergleichbaren Klimazonen stammten. Obwohl er nun schon eine ganze Weile auf dieser Welt lebte und die Anpassungsphase eigentlich hinter sich gelassen haben müßte, hatte sich Santini noch immer nicht ganz mit den klimatischen Zu‐ ständen auf Grah zurechtgefunden. Kurz kontrollierte er den Spei‐ cher des Bordfunks: keine Nachricht, nur vier Unwetterwarnungen, eine davon lag genau auf seinem Weg nach Drei. Er würde ziemlich hoch steigen und vielleicht auch Umwege in Kauf nehmen müssen, um dem Schlimmsten zu entgehen. Seine Finger glitten über die Tastatur, aktivierten den bordeigenen Suprasensor und den Bordfunk. Während der Rechner die Funktionen überprüfte, nahm er Ver‐ bindung mit der Luftraumüberwachung auf, gab seine Sicherheits‐ kennung durch und wartete auf die Freigabe; der Kurs nach Drei war im Autopiloten. Die Starterlaubnis kam. Die Kontrollen zeigten Grün. Alle Systeme waren betriebsbereit. Major Santini startete den Antrieb. Der Vorplatz des domartigen Wohngebäudes der entführten Gor‐ do Schattensucher und Lichtfreundin blieb unter dem Schweber zurück, verschwand in der Tiefe. Nachdem die vorgesehene Flug‐ höhe erreicht war, übergab Santini an den Bordsuprasensor, lehnte sich entspannt in den Sitz und begann, die Ereignisse im Haus der beiden geschlechtsreifen Gordo mit seinen bisherigen Überlegungen in Einklang zu bringen. Dieser Mordanschlag auf ihn hing ursächlich mit seinen Bemü‐ hungen zusammen, die Entführung der beiden Gordo zu untersu‐ chen. War er, ohne es zu ahnen, jemandem schon zu nahegekom‐ men? Wollte man ihn deshalb für alle Fälle beseitigen? Aber wo war die Verbindung? Wer zog die Fäden? Und was konnte er dagegen tun?
Santini blickte durch die Kanzelverglasung und fühlte, wie sich in seiner Magengegend ein kleiner Knoten verhärtete. Er beschloß, sehr vorsichtig zu sein. »Vivere militare est«, knurrte er in die relative Stille der Kabine und nickte seinem Abbild in der spiegelnden Konsolenabdeckung zu. »Leben heißt kämpfen, wie der alte Philosoph Seneca sagen würde, mein Freund.« Der Schweber flog in südwestlicher Richtung über die düstere Stadtlandschaft von Acht hinweg und tangierte soeben das Zentrum mit seinen sieben aus der Masse der übrigen Gebäude herausragen‐ den gigantischen Bauwerken, die ausschließlich für die Gordo vor‐ gesehen waren. Santinis Ziel war Drei; die Stadt, die diese Bezeichnung trug und so etwas wie die Hauptstadt Grahs war, lag im Südwesten und zirka tausend Kilometer von Acht entfernt. Der Schweber würde die Strecke innerhalb von siebzig Minuten bewältigen, falls nichts Unvorhergesehenes passierte. Obwohl es nach planetarer Zeit erst früher Nachmittag war, herrschte nur eine diffuse Helligkeit unter den gewaltigen Wolken‐ bergen, die mehrere Kilometer hoch in den Himmel reichten. Unter dem Nomsol‐345 huschte der wuchernde Dschungel der Heimatwelt der Grakos hinweg. Die brütende Hitze lag wie eine triefenden Dunstglocke über der urweltlichen Landschaft. Nach etwa der Hälfte der Flugstrecke verdunkelte sich der Him‐ mel, und das Licht wechselte. Aus Südwesten näherte sich dräuend eine tiefhängende, mächtige Schlechtwetterfront, die bereits düstere Schatten über das Land warf; sie hatte den Lichtwechsel verursacht. Vermutlich würde es in Kürze zu stürmen anfangen. Die Atmosphäre durchzog sich mit schweflig gelben Streifen, und gewaltige Gewittertürme wuchsen vor dem Nomsol auf, die bis hoch in die Stratosphäre reichten. Da der Schweber nicht über eine ent‐ sprechende Druckhülle verfügte, konnte Santini nicht die Unwetter überfliegen und in die höchsten Schichten der Atmosphäre auswei‐
chen. Nicht lange danach flog er durch strömenden Regen, der mit einer solchen Gewalt niederging, daß er froh war, sich nicht im Freien aufhalten zu müssen. Fasrige Blitze zuckten in nahezu ununterbro‐ chener Folge aus der Unwetterfront hervor, die mit keiner zu ver‐ gleichen war, die Santini je auf der Erde erlebt hatte. Wieder einmal gestand er sich ein, daß Grah in jeder Hinsicht eine Extremwelt war. Die in Aufruhr geratene Natur des Planeten schüttelte ihn in seinem Sitz durch; obschon die Trägheitsdämpfer das meiste schluckten, wünschte er sich während des Höllenritts mehr als einmal, daß die Sitze in den Schwebern mit vernünftigen und vor allem effektiven mechanischen Rückhalte Vorrichtungen ausgestattet wären. Obwohl das Unwetter zunächst den Anschein erweckte, nicht en‐ den zu wollen, war es nach zwanzig Minuten vorbei und die Ge‐ witterfront durchflogen. Es wurde wieder heller, obwohl noch immer nichts von der Sonne zu sehen war. Santini ließ den Schweber etwas steigen. Voraus waren bereits die ersten Ausläufer des Vorgebirges zu sehen, eine steil aufragende Klippenfront, von einem Fluß durchschnitten, der sich dahinter mäandernd seinen Weg durch den breiten Dschungelgürtel bahnte, in dem Drei lag. Der Luftverkehr nahm zu; Formationen von patrouillierenden Schwebern zogen ihre Kreise. Sie waren Teil der Sicherheitsvorkeh‐ rungen, die die terranischen Friedenstruppen auf Gerrck III den Gordo zum Schutz ihrer noch jungen Regierung gewährten. Als Santinis Schweber sich dem äußeren Sicherheitsperimeter nä‐ herte, strahlte der Suprasensor automatisch seine Kennung ab, so daß sich der Major unbehelligt dem Zentrum nähern konnte. Die ersten Ausläufer von Drei kamen im wuchernden Dschungel in Sicht. Dahinter erstreckte sich eine riesige Stadtanlage, die den wichtigsten Raumhafen des Planeten umschloß. Auf den ersten Blick machte die Stadt einen chaotischen Eindruck
von ungeordneter Willkür, als hätte die Hand eines Riesen die Ge‐ bäude einfach so in die Gegend geworfen. Dreis systematische Ordnung erschloß sich dem Betrachter erst auf den zweiten und dritten Blick. So waren sämtliche Gebäude durch Tunnel miteinan‐ der verbunden, die teilweise in hundert Metern Tiefe verliefen. Der Sitz der Gordo‐Regierung befand sich in einem gewaltigen, terrassenförmig angelegten Bauwerk, dem Wahrzeichen Grahs, das sich wie ein Monument über die Stadtlandschaft erhob. Aber nicht nur die Regierung von Grah war darin untergebracht, auch das Zentralkommando der terranischen Friedenstruppen hatte dort sei‐ nen Sitz, seit neustem mit Generaloberst Pershing an der Spitze. Beim Gedanken daran, daß er in Kürze seinem Oberbefehlshaber gegenüberstehen würde, verfinsterte sich Santinis Miene. Seine Laune war nicht die beste, als der Schweber in die vorgeschriebene Einflugschneise einschwenkte und sich auf dem Vorplatz zum Ein‐ gang niedersenkte. * Generaloberst Pershing saß hinter seinem mit Arbeit überladenen Schreibtisch. Als Santini eintrat, schob er die Akte, in der er gelesen hatte, unter einen Stapel anderer Dokumente. Er tat es so auffällig unauffällig, daß sich der Major zu wundern begann. Täuschte er sich, oder wollte Pershing hier etwas vor ihm verbergen? Eric Santini salutierte. »Major Santini zur Stelle, Sir«, sagte er laut. Pershing musterte den drahtigen Offizier, der in Grundstellung vor seinem Schreibtisch stand, mit einem durchdringenden Blick. »Rühren, Major. Nehmen Sie Platz.« Eric Santinis Körperhaltung entspannte sich. Er ließ sich auf einem der beiden Sessel nieder, die vor Pershings Schreibtisch standen. »Ich erwarte Ihren Bericht!« Pershing erweckte den Eindruck, als wäre er verärgert über etwas, wovon Santini keine Ahnung hatte. Der Generaloberst wirkte mit seinem silbergrauen Haar und dem
massigen, etwas formlosen Körper, dem eine sorgfältig geschnei‐ derte Uniform Konturen verlieh, wie ein freundlicher, umgänglicher Mann. Doch das war Fassade. In Wirklichkeit war er weder um‐ gänglich noch freundlich, sondern ein maßloser Intrigant. Sachlich und leidenschaftslos begann Santini seine Schilderung der Vorfälle im Haus von Schattensucher und Lichtfreundin. Schweigend hörte sich Pershing Santinis knappen Bericht an, ohne eine Zwischenfrage zu stellen. Er nickte lediglich mehrmals, unge‐ duldig wie es schien, was Santinis Verwunderung erregte, der mehr und mehr den Eindruck gewann, als wisse der Generaloberst bereits alles, was er ihm hier vortrug. Für die Dauer einer halben Minute geschah nichts. Plötzlich stand Pershing auf und lief hinter seinem Schreibtisch hin und her. Dabei war der Blick seiner wasserblauen Augen unablässig auf Santini gerichtet. Schließlich blieb er abrupt stehen, stützte die Hände auf die Schreibtischplatte und beugte sich etwas vor. »Ich hatte eigentlich erwartet, daß Sie sich etwas diplomatischer verhalten«, sagte er ärgerlich. »Ich verstehe nicht, Sir?« wunderte sich Santini. Pershing schlug mit der Faust auf den Tisch. »In Ihrer Funktion als hochrangiger Offizier wird von Ihnen erwartet, daß Sie Ihre Taktik und Vorgehensweise der sensiblen Situation anpassen, mit der wir es hier auf Grah zu tun haben. Statt dessen tun Sie alles, um die Lage noch zu verschärfen, agierten wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. Dank Ihrer Überreaktion haben vier loyale Grakos den Tod gefunden. Dabei sollten Sie nur herausfinden, was mit Ihren Gordo‐Freunden geschehen ist.« Santini schluckte die scharfe Erwiderung hinunter, die er eigentlich auf der Zunge hatte. Das Verhältnis zwischen seinem Vorgesetzten und ihm war an‐ gespannt genug. An und für sich hatte Santini erwartet, nach dem Tod von Oberst Ngona endlich den Oberbefehl über die terranischen Streitkräfte auf der Dschungelwelt Grah zu erhalten; er hatte dieses
Amt auch für eine kurze Zeitspanne kommissarisch innegehabt und damit gerechnet, es permanent zugesprochen zu bekommen. Man hatte ihn übergangen. Bereits zum wiederholten Male. Eigentlich hatte er die Beförderung zum Oberbefehlshaber auf Grah bereits nach Major Dawsons Tod erwartet. Damals hatte er noch im Rang eines Hauptmanns gestanden. Doch Oberst Ngona war ihm vor die Nase gesetzt worden, und so ging Santini leer aus. Er war kein Mitglied des Kommandostabes, sondern »durfte« wei‐ terhin die unterschiedlichsten Einsätze der Friedenstruppe auf Grah koordinieren. Ngonas Tod im Mai 2062 brachte keine Änderung des Status Quo für Eric Santini – anstatt seiner wurde Generaloberst Pershing neuer militärischer Oberbefehlshaber auf Grah. Santinis Beförderung zum Major war da nur ein kleiner Trost, immerhin versagte man ihm nicht die weitere Karriere. »Hören Sie mir überhaupt zu?« schnappte Pershing. »Sie haben meine ungeteilte Aufmerksamkeit, Sir«, erwiderte San‐ tini mit schmalen Lippen. Kein Wort darüber, daß Pershing froh war, daß der Major das At‐ tentat in Schattensuchers und Lichtfreundins Haus ohne ernsthaften Schaden an Leib und Leben überstanden hatte – und das tat weh. Pershing atmete tief ein. Er musterte Santini mit einem durch‐ dringenden Blick. »Was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung vorzub‐ ringen?« »Sir«, entgegnete Eric Santini und wich dem Blick des General‐ obersten nicht aus, »mir war nicht bewußt, daß eine Entschuldigung von mir erwartet wird. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Die vorgefundene Situation machte es erforderlich, eine Entscheidung zwischen dem Tod eines Attentäters und der Rettung eines Men‐ schenlebens zu treffen. Meines Lebens, um präzise zu sein. Letzteres hatte für mich Priorität, wie Sie sich vielleicht denken können. Daß andere Grakos dabei in Mitleidenschaft gezogen wurden, ist zwar bedauerlich, war aber unter den gegebenen Umständen nicht zu
vermeiden.« »Haben Sie eine Vorstellung, wie viele unschuldige Leben loyaler Grakos Sie noch hätten gefährden können?« fuhr der Generaloberst ihn an. Santini wartete einen Moment und erklärte dann mit nur mühsam unterdrücktem Zorn: »Ich stehe zu meiner Entscheidung, Sir.« Was genau wollte Pershing? Wollte er ihm einen Strick daraus drehen, daß er sich nicht hatte umbringen lassen? Das Irreale dieser Situation brachte den Major in Rage. »Nichts, aber auch gar nichts gibt uns die Gewißheit, daß uns die Grakos im Haus der beiden entführten Gordo loyal gesonnen waren. Die Tatsache, daß es einem Attentäter scheinbar problemlos gelingen konnte, von meiner An‐ kunft in Acht Kenntnis zu erlangen, läßt zumindest darauf schließen, daß er Helfer hatte, die ihn darüber informierten, daß ich mich exakt zu dem Zeitpunkt im Haus aufhalten würde…« »Das Desaster wäre weit weniger blutrünstig ausgefallen, wenn Sie eine vorschriftsmäßige Waffe getragen hätten«, unterbrach ihn der Generaloberst und wedelte mit der Hand, während er sich endlich wieder setzte. »Sir?« Santini glaubte sich verhört zu haben. »Sie haben mich schon verstanden«, sagte Pershing, und ein ver‐ kniffener Zug zeigte sich auf seinem Gesicht, dessen jovialer Ans‐ trich plötzlich wie weggewischt war. »Wie soll ich das jetzt wieder verstehen?« »Wie ich es gesagt habe. Ich habe mir Ihre Akte angesehen«, wechselte er scheinbar das Thema, »und bestätigt gefunden, was ich vermutete. Sie sind ein unverantwortlicher Draufgänger und bar jeglichen diplomatischen Fingerspitzengefühls, das hat sich hier wieder einmal bestätigt. Sie halten auch nicht viel von militärischen Vorschriften, sonst würden Sie nicht diese«, er deutete mit spitzen Fingern auf den sündhaft teuren Handnadelstrahler an Santinis Gürtel, »für den regulären Einsatz in der Terranischen Flotte nicht vorgesehene Waffe im Dienst tragen, von der ich überzeugt bin, daß
sie ursächlich für das Malheur in Acht verantwortlich zu machen ist.« »Natürlich!« erwiderte Santini, der kaum an sich halten konnte, »und ich wäre jetzt tot. Ohne diese nicht reguläre Waffe, wie Sie zu betonen nicht müde werden, säße ich jetzt nicht mehr hier vor Ih‐ nen.« »Sie ist nicht vorschriftsmäßig«, beharrte Pershing starrköpfig, »und entspricht nicht der Standardbewaffnung der Terranischen Flotte. Ganz abgesehen davon, daß Privatwaffen im Dienst nicht getragen werden dürfen.« Santini zeigte ein unbestimmtes Lächeln. »Sie irren sich, Sir«, sagte er leichthin. Generaloberst Pershing richtete sich ruckartig, seine Miene ver‐ finsterte sich zusehends. Von einem Untergebenen des Irrtums be‐ zichtigt zu werden, paßte so gar nicht in sein Weltbild. »Sie bewegen sich auf sehr dünnem Eis, Major«, warnte er. »Wol‐ len Sie mir unterstellen, ich wüßte nicht über die Vorschriften des korrekten Waffentragens Bescheid?« »Keineswegs, Sir«, gab Santini zu verstehen. »Ich bin sogar über‐ zeugt, daß Sie sich sehr gut in dieser Materie auskennen. Sie haben auch insofern recht, als das Zeugamt der Flotte vom Finanzministe‐ rium angewiesen worden ist, die neue Waffe aufgrund ihres enor‐ men Preises vorerst nicht in den Beschaffungsplan mit aufzunehmen und an die Truppe auszuliefern. Dennoch haben Sie in der entspre‐ chenden Dienstvorschrift einen kleinen Zusatz übersehen, der da lautet, daß Offiziere diese Waffe im Dienst tragen dürfen, wenn sie sich selbst eine kaufen.« »Und Sie sind dazu in der Lage, ja? Dann haben Sie eindeutig zu‐ viel Sold, Major«, giftete Pershing. »Nicht einmal ich könnte mir einen derartigen Luxus so en passant leisten.« Die Atmosphäre im Arbeitszimmer des Generaloberst wurde womöglich noch kühler, als sie es schon war, was keinesfalls der unhörbar laufenden Klimaanlage zuzuschreiben war; zwischen den
beiden hochrangigen Offizieren stimmte einfach die Chemie nicht. Santini hob die Schultern und ließ sie wieder fallen, eine Geste, die alles bedeuten konnte, von der Bejahung bis hin zur Verachtung seines Gegenübers. »Es geht Sie zwar nichts an, Sir«, sagte er grimmig, »woher ich das Geld habe. Aber wenn es das ist, was Ihnen Kopfzerbrechen bereitet – diese Waffe wurde vom Sold eines Offiziers bezahlt, der im Rang zwei Stufen über Ihnen steht, nämlich von Generalmajor Carlotta Santini, meiner Tante. Und sie war ein Weihnachtsgeschenk an mich. Vielleicht«, ein flüchtiges Lächeln erschien kurzzeitig auf Santinis Gesicht, »sollten Sie sich Ihre Verwandten besser aussuchen.« Pershing starrte Santini direkt an, dabei erweckte er den Eindruck, als wollte er den Major zum Fenster hinauswerfen. Er beließ es bei einem Schlag mit der flachen Hand auf den Schreibtisch und schnaubte angewidert etwas von »Protektion«. Santini beschloß, großzügig darüber hinwegzuhören. Das künstlich erzeugte Ticken eines auf alt getrimmten Chronos blieb für längere Zeit das einzige Geräusch im Raum. Schließlich brach Pershing das Schweigen und sagte, wieder ganz beherrscht: »Das war’s, Major. Ich erwarte umgehend informiert zu werden, sollte sich etwas über den Aufenthalt der beiden Gordo ergeben. Verstanden?« Der Stuhl scharrte über den polierten Steinboden, als Santini auf‐ stand. »Ja, Sir!« Der Major salutierte steif, drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum in einer mörderischen Stimmung. * Auf dem Weg von Pershings Büro hinüber zur terranischen Ver‐ waltungszentrale, die in einem Seitenflügel des riesigen Terrassen‐ gebäudes untergebracht war, besserte sich seine Laune nur unwe‐ sentlich.
Er war keinen Schritt weitergekommen, mußte er sich eingestehen. Der Flug nach Acht hatte keinerlei Erkenntnisse über den Verbleib von Schattensucher und Lichtfreundin gebracht. Keinem war etwas aufgefallen. Niemand schien etwas gesehen zu haben, was Rückschlüsse auf die Art des Verschwindens hätte geben können. Die beiden geschlechtsreifen Gordo schienen spurlos von der Bild‐ fläche verschwunden zu sein. Dabei sollte man meinen, daß sich zehn Meter große gigantische Exemplare der Gattung Meganeura stellaris nicht einfach in Luft aufzulösen vermochten. In Luft sicher nicht, wohl aber im Weltraum. In der kurzen Zeit seiner Nachforschungen über den Verbleib der beiden Gordo hatte sich in Santini inzwischen mehr und mehr der Verdacht erhärtet, daß sich die libellenhaften Riesen – die das letzte Entwicklungsstadium der nur etwa 1,80 Meter großen und den irdi‐ schen Gottesanbeterinnen ähnelnden Grakos bildeten –, vermutlich nicht mehr auf Grah aufhielten. Ein herber Verlust, sollte es sich herausstellen, daß sie möglicherweise auch nicht mehr am Leben waren. Da nur sie für Nachwuchs zu sorgen in der Lage waren, kam jedem geschlechtsreifen Gordo eine besondere Stellung für die Zukunft der Grakos zu. Sollte seine Vermutung zutreffen und die beiden Gordo in den Raum entführt worden sein, dann hatten die Entführer dabei Spuren hinterlassen, die aufgespürt werden konnten. Gerrck III war nach dem Überfall durch die 500 kampfstarken Großraumschiffe der Ro‐ boter im Mai 2062 mit einem lückenlosen Frühwarnsystem ausges‐ tattet worden, das jede noch so winzige Energiespur unbekannter Schiffe zu entdecken in der Lage war. Santini kam an einem der riesenhaften Fenster vorbei, die einen Ausblick auf die wuchernde Natur des Dschungelplaneten gestatte‐ ten; es regnete noch immer – oder schon wieder; die Übergänge auf Gerrck III waren da fließend, im wahrsten Sinn des Wortes. Er
grinste leicht über das Wortspiel und trat mit dem Fuß nach einem imaginären Steinchen. Dann verfinsterte sich sein Gesicht wieder, als er an die zurückliegende Auseinandersetzung im Büro seines Vor‐ gesetzten dachte. Er hatte schon öfters kontroverse Diskussionen mit dem Generaloberst geführt, aber heute hatte er ihn zum erstenmal von seiner schlechtesten und ungerechtesten Seite erlebt, auch wenn er den Grund dafür nicht kannte. Er war sich jedoch sicher, daß der Besitz des Handnadelstrahlers nur ein Vorwand gewesen war, um von anderen Dingen abzulenken. Zwei Obergefreite kamen salutierend vorbei; mechanisch erwi‐ derte Santini ihre Ehrenbezeugung. Dann beschäftigte er sich wieder mit seinen Gedanken. Pershings Verhalten ihm gegenüber nahm langsam Formen an, die früher oder später auf eine offene Konfrontation hinauslaufen wür‐ den, befürchtete er. Neidete ihm der Generaloberst vielleicht seine Stellung als Mittler zwischen den Gordo und der terranischen Mili‐ tärführung? Daß er nicht gerade davon begeistert war, daß die Gordo ihn quasi übergingen und ausschließlich Santini ihr Vertrauen schenkten, mochte ihm durchaus gegen den Strich gehen. Aber war das ein Grund, ihn so zu behandeln? Helles Kunstlicht und eine Welle hektischer Betriebsamkeit emp‐ fingen ihn, als er die Flügeltür zur terranischen Verwaltungszentrale aufstieß; in dieser riesigen Registratur wurde rund um die Uhr Dienst getan. Santini sah sich rasch um; die augenblickliche Schicht bestand je zur Hälfte aus Robotern sowie aus terranischen Verwaltungsbeam‐ ten im militärischen Dienst, darunter auch weibliche Angehörige der Flotte. »Major Santini!« Hauptmann Tidwell, der verantwortliche Offizier für diese Sektion, winkte ihm quer durch den Raum zu. »Hierher!« Als Santini ihn erreicht hatte, fuhr der Offizier fort: »Ich habe Ihnen den Platz freigehalten, nachdem Sie mich informiert hatten!« »Danke.«
»Keine Ursache, Major. Wenn Sie Hilfe brauchen. Einer der Prog‐ rammierer ist frei…« »Ist nicht nötig«, unterbrach Santini den Hauptmann. »Ich habe mein eigenes Programm dabei.« »Alles klar.« Der Hauptmann zog sich zurück. Santini setzte sich in den freien Sessel vor der ihm zugewiesenen Hyperkalkulatorkonsole und tastete die Sensorfelder ein. Als das Signal »Bereit« kam, schob er den Datenträger mit seinem Suchprogramm in die Aufnahme. Dann lehnte er sich zurück, ver‐ schränkte die Arme vor der Brust und wartete. Das Programm lief selbständig; einmal aktiviert, suchte es sich die für seinen Betrieb relevanten Parameter und zeigte sie an. Es war eine langwierige Suche; Santini hatte auch nicht erwartet, daß er sofort Erfolg haben würde. Im Grunde genommen war es wie das Suchen nach der Na‐ del im Heuhaufen, nur daß dieser »Schober« wesentlich gewaltigere Dimensionen hatte und unter Umständen bis in den Hyperraum reichte. Plötzlich nahm Santini den Blick vom Schirm und hob den Kopf. Seine Geruchsnerven erfuhren eine Stimulation, die ihm vertraut vorkam… »Auch einen, Sir?« erklang in diesem Moment eine helle Stimme. Eric Santini sah in die Richtung, aus der sie kam. Eine Nachrich‐ tentechnikerin im Rang eines Oberleutnants stand am Automaten, blickte in seine Richtung und hob jetzt ostentativ einen Becher aus TF‐Beständen mit der Aufschrift »Semper Fi« in die Höhe. Erst jetzt wurde er gewahr, daß es bemerkenswert gut nach frischgebrühtem Kaffee roch. »O ja. Danke.« Er nickte nachdrücklich. »Wie hätten Sie ihn gern?« »Ohne alles…« Er versuchte aus der Entfernung ihr Namensschild zu lesen, »Oberleutnant Neil.« »Kommt sofort, Sir.« Der Kaffee war von einer Güte, die er hier, 26.000 Lichtjahre von
Terra entfernt, nicht erwartet hätte. Er genoß ihn in kleinen Schlucken, während er sich wieder dem Schirm widmete. Wie erwartet, fand sein Programm sämtliche Meldungen, die von der Routine abgewichen, aber nicht weiter verfolgt worden waren, weil es sich dabei um keine verwertbaren Daten handelte. Es war ein langwieriges Geschäft, die Spreu vom Weizen zu trennen. Santini fluchte mehr als einmal lautlos vor sich hin und war nahe daran, abzubrechen. Zum Glück tat er es nicht, denn schließlich wurde seine sture Ausdauer belohnt: Das Programm filterte einige Mel‐ dungen über »verwaschene« Ortungen heraus, die die planetare Ortungszentrale aufgefangen hatte, denen aber zu seinem Erstaunen nicht weiter nachgegangen worden war. Ein offensichtlicher Schlendrian. Santini zog eine Grimasse. Das würde sich ab sofort ändern.
2. Im Gegensatz zur Verwaltungszentrale wurde der Zutritt zur pla‐ netaren Ortungszentrale von Raumsoldaten mit geschulterten Mul‐ tikarabinern bewacht. Sie salutierten stramm, als der Major sich ihnen näherte. Santini nickte knapp und ging durch das automatisch öffnende Schott in den Saal. Kurz verhielt er seinen Schritt und ließ für einen Moment das Bild auf sich einwirken, das sich seinen Blicken bot. Die Ortungszentrale des terranischen Friedenskommandos auf Grah war bis in den letz‐ ten Winkel vollgepackt mit elektronischen Anlagen, Holoschirmen und Monitoren. Der weitläufige Raum, der schon den Grakos zur Raumüberwachung gedient hatte, war voll mit terranischem Militär, mit Robotern und auffallend vielen Grakos. Das hier war sozusagen das Gehirn Grahs – und der terranischen Streitkräfte auf dieser Welt. Hier liefen die Fäden der Macht zu‐ sammen. Von diesen Computerkonsolen aus konnten sämtliche Waffensysteme aktiviert, befehligt und eingesetzt werden. Dominiert wurde der saalartige Raum von einem riesigen Holo‐ schirm terranischer Bauart, der sich an der gegenüberliegenden Wand in vier Metern Höhe befand. In ihm drehte sich ein dreidi‐ mensionales Gradnetz gemächlich um eine imaginäre Achse. Die darin befindliche, sich in die räumliche Tiefe erstreckende isometri‐ sche Perspektive der Planetenebene des Gerrck‐Systems konnte vergrößert, gedreht, gekippt und von unten betrachtet werden. Sie wurde von unterschiedlich langen Graphen durchdrungen, an deren Endpunkten der zentrale Hyperkalkulator fortwährend Zah‐ len und Buchstabencodes generierte: Es handelte sich um Angaben über Entfernungen und räumliche Lage von Planetoiden, Asteroi‐ den, Raumschiffen, Weltraumtrümmern – und ins System eindrin‐ genden Feindschiffen, die die Tastersysteme bis hinunter zu einer
Größe von mehreren Quadratzentimetern noch darzustellen in der Lage waren. Der Aufbau war in ständiger Bewegung; auf großen Nebenschir‐ men erschienen in rascher Folge Datenzeilen, flimmerten Zahlenko‐ lonnen. Anlagen wie diese hatte Eric Santini schon jede Menge gesehen; sie waren im Grunde nichts anderes als übergroße Hyper‐kalkulatoren mit einer Vielzahl peripherer Geräte. Jede raumfahrttreibende Na‐ tion beziehungsweise Zivilisation hatte Vergleichbares. Die hier in diesem Saal hätte ebensogut in Peking oder Cent Field stehen kön‐ nen. Was sie von jenen unterschied, waren die Grako‐Mitarbeiter hinter ihren Hyperfeldern, die dem Ganzen einen düsteren, un‐ heimlichen Anstrich verliehen. »Wo finde ich den Offizier vom Dienst?« erkundigte sich Eric San‐ tini bei einem Hauptgefreiten. Der Mann deutete mit einer knappen Geste in die Mitte der Zent‐ rale. »Dort, Sir«, antwortete er. »Oberleutnant Keams.« Santini blickte in die angegebene Richtung. In der Mitte des Saales befand sich eine halbrunde Computerkon‐ sole in einer etwas erhöhten Position auf einer drehbaren Plattform, von der aus der gesamte Raum überblickt werden konnte. Hinter dem Pult ein hochlehniger Gliedersessel, in dem ein Mann in der Uniform eines Oberleutnants saß und eindeutig erregt mit einem Grako diskutierte. Santini setzte sich in Bewegung und steuerte im Slalom auf den Offizier zu. Das Geräusch zahlreicher Stimmen und die Klicklaute der Grakos, vermischt mit dem elektronischen Gewisper der Hyperkalkulatoren, begleitete ihn auf seinem Weg; der riesige Holoschirm überschüttete die Szene mit einem kalten blauen Leuchten, das die Gesichter der Terraner fahl erscheinen ließ. Santini hatte den Eindruck, sich durch eine zähe blaue Flüssigkeit zu schieben. Er schüttelte diese Anwandlung ab, ging weiter und
erreichte Kearns gerade in dem Moment, in dem der Grako sich ab wandte und ging, kaum sichtbar hinter seinem Hyperfeld. »Oberleutnant Kearns?« sagte Santini laut und herausfordernd. Der Offizier vom Dienst wandte sich ihm zu. Als er sah, daß er ei‐ nen Major vor sich hatte, stand er auf und salutierte, ein bißchen zu nachlässig, wie Santini mit einem Anflug von Verärgerung regist‐ rierte. »Zu Ihren Diensten, Sir!« sagte der Offizier, der auch eine Spur zu nachlässig gekleidet war, was Santini mit einem irritierten Zusam‐ menziehen der Brauen quittierte. »Was kann ich für Sie tun, Major?« »Ich benötige einige Auskünfte von Ihnen, Kearns.« »Sicher. Gern. Wenn es in meiner Macht steht, Sir.« »Es betrifft Ihr Aufgabengebiet«, ließ Santini kühl verlauten. »Ich bin mir also relativ sicher, daß Sie meine Fragen beantworten kön‐ nen.« »Natürlich. Worum geht es?« Eric Santini sagte es ihm, sprach ihn auf die verwaschenen Signale an und fragte abschließend: »Warum wurde denen nicht nachge‐ gangen? Haben Sie eine Erklärung dafür?« Kearns schwieg einen Moment, ehe er antwortete: »Die habe ich, Sir. Bei den von Ihnen angeführten Signalen handelt es sich eindeu‐ tig um Fehlfunktionen der Anlage, Major.« Santini machte eine ärgerliche Handbewegung, aber Kearns fuhr ungerührt fort: »Es ist, wie ich es sage. Ein Großteil der Tasteranla‐ gen stammt aus der alten Grako‐Zeit. Wir sind noch lange nicht so‐ weit, diese Altlasten«, er zeigte ein verkniffenes Lächeln, »durch unsere moderne Ausrüstung ersetzt zu haben. Dazu bedarf es schon noch einer gewissen Zeit.« »Wer sitzt an den Ortungssystemen? Doch nicht etwa…« »Doch«, bestätigte Kearns Santinis heimliche Befürchtungen. »Es handelt sich um Grakos, die von uns gründlich ausgebildet wurden. Ich verstehe ja Ihre Sorge, Sir«, sagte er rasch, als er sah, wie sich Santinis Stirn umwölkte, »aber ich kann Ihnen versichern, daß die
einheimischen Mitarbeiter loyal zur neuen Regierung und zu uns Terranern stehen. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.« »Vorsicht«, warnte Santini scharf und runzelte die Brauen. »Auf diese Weise haben schon viele ihre Hände eingebüßt und müssen sich jetzt mit Prothesen begnügen. Wurden sie überprüft?« »So gut wie es ging. Ja.« »Keine faulen Eier darunter?« Kearns zögerte einen Moment. »Nein, Sir.« »Sicher?« bohrte Santini nach. »Nun, ›faule Eier‹ nicht gerade«, räumte der Oberleutnant schließ‐ lich ein. »Aber der einheimische Ausbilder ist ein ehemaliger Del‐ ta‐Krieger aus der alten Ordnung. Seine numerische Bezeichnung lautet DK 4457.« »Lassen Sie mich raten«, sagte Santini, dem ein Gedanke wie ein kleiner Blitz durch den Kopf zuckte, »er war es, der die unklaren, verwaschenen Ortungen zu Störungen erklärte. Ist es nicht so?« Kearns sperrte die Augen auf und sah ihn ungläubig an. »Sie mei‐ nen doch nicht…?« Er ließ das Ende des Satzes offen. »Doch, genau das meine ich«, versetzte der Major düster. »Es gibt überall noch Widerstand gegen die neue Ordnung.« »Widerstand?« Der Oberleutnant wiederholte das Wort, als müsse er sich erst in Erinnerung rufen, was es bedeutete. »Das glaube ich nicht, Sir.« »Wo leben Sie denn, Mann?« schnappte Santini, der im Augenblick das Gefühl hatte, seinem Gegenüber schlichtweg an die Kehle springen zu müssen. »Auf einem anderen Planeten? Was Sie glau‐ ben, ist zweitrangig. Holen Sie mir diesen Ausbilder her, aber schleunigst, Kearns! Ich muß mit ihm reden.« Kearns wurde noch bleicher, als er ohnehin schon war. Aber er fügte sich, schließlich hatte er einen Major vor sich, mit dem, wie er sah, absolut nicht gut Kirschen essen war. Aus seinen Bemühungen wurde jedoch nichts. Obwohl er alle Hebel in Bewegung setzte und seine Unteroffiziere
rebellisch machte, war Grako‐Ausbilder DK 4457 nicht auffindbar. »Ich habe mich gerade eben noch mit ihm unterhalten…« Kearns’ Stimme klang flach, fast tonlos. Er sah den Major unglücklich an. »Ich verstehe das nicht!« »Aber ich um so mehr«, schnappte Santini grimmig, der langsam immer klarer sah. »Hat der Delta‐Krieger eine Klasse‐A‐Codierung erhalten, über die man ihn aufspüren kann?« Kearns Miene wurde womöglich noch unglücklicher. »Nein«, erwiderte er mit flacher Stimme. »Sonst hätte ich ihn ja schon an der Leine.« »Nein?« Santini glaubte, sich verhört zu haben. »Was läuft hier ei‐ gentlich ab?« Seine Augen schossen drohende Blitze auf den un‐ glücklichen Offizier. »Eine Klassifizierung wurde nicht für nötig erachtet«, ließ ihn Kearns wissen. »Wer hat darüber entschieden? Nein, sagen Sie nichts«, schnappte Santini, als ein gequälter Zug auf Kearns Gesicht erschien, der sich um die Beantwortung dieser Frage zu drücken schien. »Pershing natürlich, nicht wahr?« Der Oberleutnant nickte bestätigend. »Wenn Sie es sowieso schon wissen, ja. Zumindest kam die Anordnung aus seinem Stab.« »Verdammt!« versetzte Eric Santini brummig. »Jetzt wird mir ei‐ niges klarer. Nun, daran ist nichts mehr zu ändern. Wo wohnt dieser Ausbilder? Schnell, Mann!« * Über Drei riß die Wolkendecke auf und schuf einen jener seltenen Momente, in denen die Strahlen der Sonne bis zum Boden durchzu‐ dringen vermochten. »Na, wer sagt’s denn«, murmelte Santini. »Wenn Engel reisen, lacht der Himmel…« Er verstummte und schüttelte den Kopf über sich selbst. Warum ihm ausgerechnet dieser dumme Spruch in den
Sinn kam, wußte er nicht zu sagen. Vor allem stimmte er hinten und vorne nicht. Grah war alles andere als der Himmel. Und er war kein Engel. Weiß Gott nicht. Die Sonne verschwand auch schon wieder, und die Nebelschwa‐ den, die aus dem hitzedampfenden Dschungel stiegen, wurden grau und trist. Vor fünf Minuten hatte er den Regierungssitz in aller Eile verlassen und sich mit dem Gleiter auf den Weg zur Adresse des Del‐ ta‐Kriegers gemacht, um dessen Wohnung zu durchsuchen, ehe dieser eventuelle Beweise verschwinden lassen konnte. Der Wohnsitz des Delta‐Kriegers lag auf der anderen Seite des Raumhafens in einem Stadtviertel, das überwiegend Grakos beher‐ bergte; terranische Einrichtungen gab es dort eher weniger. Santini war sich bewußt, daß er sich auf gefährliches Terrain begab. Und das allein. Ohne Unterstützung. Zwar war die überwiegende Mehrzahl der Grakos der Gor‐ do‐Regierung durchaus loyal gesonnen und akzeptierte auch die Kontrollfunktion der terranischen Militärmacht auf Grah. Dennoch existierte innerhalb bestimmter Gruppierungen erheblicher Wider‐ stand gegen die neue Ordnung im Gerrck‐System; alte Systeme lie‐ ßen sich nicht von heute auf morgen umkrempeln. Für Terraner war es deshalb klug, nicht ohne Begleitung diese neuralgischen Bezirke aufzusuchen – wie er gerade im Begriff stand, es zu tun. Aber diesen Umstand konnte er mit einem Anruf im Hauptquartier zu seinen Gunsten verändern. Die Richtfunkverbindung war schnell hergestellt. Ein junger Unteroffizier der Raumflotte erschien auf dem Schirm seiner Steuerkonsole. »Was kann ich für Sie tun, Major?« fragte er sichtlich nervös, als er Santinis ansichtig wurde. »Ich brauche ein Unterstützungsteam für einen Einsatz in…« San‐
tini nannte die Koordinaten. »Und zwar sofort!« Der Leutnant zögerte unmerklich, etwas ging ihm offensichtlich gegen den Strich. Doch dann sagte er bedauernd: »Das ist unmög‐ lich, Sir. Es steht im Moment kein einziges Team zur Verfügung.« »Erzählen Sie keinen Stuß junger Mann«, polterte Santini. »Es ist so, Sir. Im Norden sind Unruhen ausgebrochen.« »Auf einmal?« wunderte sich Santini ungläubig. Der Leutnant blickte betroffen und schwieg. »Geben Sie mir auf der Stelle Pershing!« knurrte der Major, der das Gefühl bekam, auf der Stelle zu treten. Wollte da jemand, daß er mit seinen Untersuchungen über die Hintergründe der Entführung von Schattensucher und Lichtfreundin nicht vorankam? »Tut mir leid, aber Generaloberst Pershing hat im Moment wirklich alle Hände voll zu tun«, bedauerte der Leutnant erneut. »Sie wissen doch selbst, wie schnell sich die Situation auf Grah ändern kann.« Santini war klug genug, für die nächsten zehn Sekunden zu schweigen, er hätte sonst mit seiner Meinung über den General‐ oberst nicht hinter dem Berg halten können – und unter Umständen seine Karriere endgültig in den Sand gesetzt. Ohne ein weiteres Wort schaltete Santini den Richtfunk ab. Pershing schien es wirklich darauf anzulegen, ihm zu zeigen, wer hier das Sagen hatte. Der Gleiter näherte sich über die breite Zufahrtsstraße Hafen Drei, dem wichtigsten Raumhafen auf Grah, der von der Hauptstadt gleichen Namens weiträumig umschlossen wurde. Santini mußte ihn umfahren, um auf die andere Seite der Stadt zu gelangen. Plötzlich änderte er seinen Entschluß. Ihm war eingefallen, woher er Hilfe bekommen würde. * Die Bar war weit davon entfernt, als erstklassig zu gelten. Dazu
trug sie zu sehr den Stempel ihrer Gäste – kein hohes Militär, son‐ dern überwiegend untere Ränge und Mannschaftsdienstgrade. Es war ein Etablissement, das von den terranischen Truppen für Soldaten eingerichtet worden war. Demzufolge waren auch keine Grakos anwesend. Santini sah Tom Strange sofort. Der Hauptgefreite saß zusammen mit zwei weiteren Raumsoldaten an einem Tisch in der Ecke. Die Männer hielten sich an ihren Gläsern fest und diskutierten laut. Zu hören war trotzdem nichts. Was sie sagten, ging im allgemeinen Lärm, der in der Bar herrschte, einfach unter. Als Santini vor ihrem Tisch erschien, wollten sie aufspringen, um zu salutieren. Eine Handbewegung des Majors bannte sie auf ihre Sitzgelegenheiten. »Keine Umstände, Männer«, sagte Santini und grinste flüchtig. »Ich bin nicht Ihr Vorgesetzter, sondern nur der von Mister Strange.« »Wollen Sie sich nicht zu uns setzen, Sir?« fragte Strange. Santini lehnte ab. »Dafür ist jetzt keine Zeit. Ein andermal be‐ stimmt. Ich könnte Ihre Hilfe brauchen, Tom. Auch wenn es bedeu‐ tet, daß Sie Ihre Freizeit dafür opfern müßten.« Der Hauptgefreite blickte aufmerksam. »Ich höre, Sir. Geht es wieder gegen die Roboter?« Santini verneinte. »Diesmal nicht, Tom. Zum Glück. Folgendes…« Santini brauchte keine Minute, um Tom Strange über sein Vorha‐ ben zu informieren, und er schloß mit den Worten: »Sie werden ver‐ stehen, daß ich nur ungern allein dort hingehen möchte.« »Ich verstehe, Sir. Sie können mit mir rechnen. Allerdings«, er blickte auf seine Begleiter, »würde ich vorschlagen, wir nehmen diese beiden Burschen hier mit. Kann nicht schaden, würde ich mal behaupten. Sind erstklassige Schützen. Übrigens, der mit der ge‐ brochenen Nase ist Gefreiter Mayk, der andere Schütze Wylie.« »Wenn sie mitkommen wollen, gern. Ich kann es ihnen nicht be‐ fehlen, sie unterstehen nicht meinem Kommando.« Tom Strange winkte grinsend ab. »Major, die machen das, was ich
sage.« Er trank einen kräftigen Schluck und stellte dann das Glas mit einem harten Ruck auf die Tischplatte zurück. Aufgrund des Lärms in der Bar hob er kurz die Stimme und sagte zu seinem Kameraden gewandt: »Trinkt aus, Männer. Der Major braucht unsere Hilfe.« Draußen vor der Tür sagte Strange, während sie auf den Gleiter zuliefen: »Wir tragen allerdings nur unsere Handblaster bei uns. Ziemlich wenig Artillerie für das, was sich bei unserem Einsatz entwickeln könnte, oder, Sir?« »Dies läßt sich leicht ändern«, meinte Santini und klopfte mit der flachen Hand auf den Kofferraum seines Fahrzeugs. Dann öffnete er die Heckklappe. Mit den Worten: »Bedienen Sie sich, meine Herren!« trat er zur Seite. Als Ben Mayk die Menge von Waffen im hinteren Teil des Fahr‐ zeugs des Majors entdeckte, pfiff er überrascht durch die Zähne, enthielt sich aber eines Kommentars. Strange hingegen meinte, als er das Arsenal von Multikarabinern, Spreng‐ und Gasgranaten sah: »Sind Sie sicher, daß wir nicht doch in einen Krieg ziehen, Sir?« Der Major meinte leichthin: »Ziemlich, Tom. Ziemlich. Aber man kann ja nie wissen…« Er ließ das Ende des Satzes offen. »Ich verstehe«, griente Strange und bediente sich. Seine Kamera‐ den taten es ihm gleich; in der Bar war das Tragen von schwereren Waffen als dem obligatorischen Dienststrahler untersagt. Schütze Wylie nahm einen der Multikarabiner in die Hand und prüfte dessen Gewichts Verteilung. Die vollautomatische, elektro‐ nisch gesteuerte und mit einer Laserzieleinrichtung versehene All‐ zweckwaffe wog nicht mehr als vier Kilo und besaß eine effektive Reichweite von vierhundert Metern. Das Magazin faßte entweder hundert Schuß mannstoppende Munition oder einhundert panzerb‐ rechende Explosivgeschosse. Die Automatikwaffe verschoß außer‐ dem Blasterfeuer und war umschaltbar auf Lähmstrahlen. Unter dem Lauf war ein halbautomatischer 30‐mm‐Raketenwerfer mit einer Reichweite von dreihundert Metern angeflanscht. »Hm, nur ein Modell 08/56«, meinte er irgendwie enttäuscht.
»Schade.« »Was ist schade?« Tom Strange zog die Augenbrauen zusammen. »Leider kein GEH&K Mark 10/62.« »Den hätten Sie wohl gern, Schütze Wylie.« Santini grinste ver‐ ständnisvoll. »Mit diesem Wunsch stehen Sie nicht allein da.« Der Multikarabiner Mark 10/62 von Garand, Enfield, Heckler & Koch war die neueste Entwicklung der Waffenfabrik und ein Wun‐ derwerk in Mikrotechnik. Die Waffe war umschaltbar auf Dust‐, Nadel‐ und Strich‐Punkt‐Strahl, zusätzlich bot sie 98 Schuß hülsen‐ lose 7,62‐mm‐Patronen im Wechselmagazin und einen 5‐cm‐Raketenwerfer unter dem Hauptlauf. Die einzelnen Optionen konnten manuell über eine kleine Schaltfläche an der rechten Kol‐ benseite eingestellt werden oder auch über Helmfunk, da das System zum Kampfhelm der Raumsoldaten kompatibel war. Der integrierte Mikrorechner macht sogar Vorschläge für die jeweils bestgeeignete Munitionswahl. Die Steuerelektronik saß im Kolben, die Energie‐ versorgung hatte ihren Platz im Pistolengriff hinter dem Abzug. Die Waffe war vom Team Saam entwickelt worden, dem es gelungen war, die Baupläne der großen Strahlenwaffen der Ringraumer ex‐ trem zu verkleinern und trotzdem funktionsfähig zu halten. »Schade«, wiederholte Wylie noch einmal. »Aber nicht zu ändern«, meinte der Major. »Im Augenblick über‐ legt es sich das Oberkommando auf Terra eher zweimal, bevor es eine pro Stück 50.000 Dollar teure Waffe anschafft.« »Aber ich habe gehört, sie wäre schon ausgeliefert?« warf Mayk ein. »Ja, an Spezialeinheiten«, bestätigte Eric Santini. »Seit Januar die‐ sen Jahres gehört sie zur Standardausrüstung der Schwarzen Garde. Aber für das, was wir vorhaben, tut es die Nullacht allemal.« »Natürlich, Sir.« »Dann deckt euch mal ein. Wir müssen los!« Wenig später bog Santini von der Abzweigung auf die ursprüng‐ liche Route zurück und beschleunigte stark. Es waren ziemlich viele
Fahrzeuge unterwegs, überwiegend Militär, aber auch die merk‐ würdigen, pontonähnlichen Fortbewegungsmittel der Grakos. Über Drei begann langsam die Abenddämmerung. Der Himmel im Osten färbte sich noch grauer als sonst, und das Licht begann zu verblassen. Es würde noch eine Stunde hell bleiben, wußte Santini, der sich schon ziemlich lange auf Grah aufhielt, ehe es gänzlich Nacht werden würde. Die Silhouette von Drei veränderte sich; die Bebauung wurde en‐ ger. Ein Sonnenstrahl verirrte sich durch die dichte Bewölkung und brach sich auf den vor Nässe glänzenden Fassaden der Gebäudegi‐ ganten. Auf dem Armaturenbrett des Gleiters begann ein Signal rhyth‐ misch zu blinken. »Unser Ziel. Wir sind gleich da«, machte Santini die drei Soldaten aufmerksam. Die Männer stöpselten sich die miniaturisierten Kopfhörereinhei‐ ten ins Ohr, um im Fall, daß sie getrennt werden würden, Kontakt halten zu können, und überprüften mit raschen, routinierten Bewe‐ gungen die Waffen. Das Ziel kam in Sicht. Ein grakotypisches Wohnquartier von er‐ heblicher Größe inmitten eines Viertels identisch aussehender Ge‐ bäude. Santini brachte den Gleiter auf der dem Eingang gegenüberlie‐ genden Straßenseite zum Halten. Sie stiegen aus. »Wo befindet sich das Objekt Ihrer Nachforschungen?« erkundigte sich Tom Strange und blickte forschend die Straße hinauf und hinab. Seine beiden Kameraden hatten die Multikarabiner in den Armbeu‐ gen und standen etwas nach hinten versetzt links und rechts von Eric Santini und Strange, um freies Schußfeld zu haben – die Standard‐ prozedur bei Einsätzen dieser Art. »Der Adresse zufolge im dritten Stock«, erwiderte Santini und setzte sich über die Straße in Bewegung. »Ich vermute…« Er kam
nicht mehr dazu, seinen Satz zu vollenden. Die Explosion glich einem Vulkanausbruch. Auf den grellen Feuerball folgte im Bruchteil einer Sekunde der Stoß des Explosionsdrucks. Es gelang dem Major gerade noch, die Arme schützend vors Ge‐ sicht zu reißen. Dann fegte ihn eine unsichtbare Hand von den Fü‐ ßen. Er krachte zu Boden und rollte sich zusammen, um sowenig Ang‐ riffsfläche wie möglich zu bieten. Neben sich hörte er die Flüche der Soldaten, die von der Wucht der Explosion ebenfalls zu Boden geschleudert wurden. Dann regneten Mauerbrocken und Bruchstücke von Einrichtungsgegenständen wie Hagelschlag herab und schufen zusätzliche Gefahren. Santini lag wie betäubt auf dem Boden, für Sekunden ohne Orien‐ tierung. Dann weitere Explosionen, schwächer als die erste, die das Ge‐ bäude in seinen Grundfesten erschüttert hatte. Die typischen Ther‐ moreaktionen sterbender Grakos, erkannte Santini, der versuchte, sich aufzurichten. Für einen Moment verwandelte sich die Welt in das schwankende Deck eines vom Sturm geschüttelten Schiffes, von dem er in die Dunkelheit einer Ohnmacht abzurutschen drohte. Mit aller Kraft unterdrückte er diese Anwandlung und schüttelte sich den Druck vom Trommelfell. Seine aufgerissenen Augen sahen, wie lange Feuerzungen aus den Wohnungen rings um den ersten Explosionsort zuckten und in sich zusammenfielen, nur um sich schließlich zu einer einzigen brausenden Feuerwand zu vereinen. Erneute Thermoreaktionen, die wie eine Kettenreaktion von einem Ende des Gebäudes zum anderen liefen. Das absolute Chaos. Die Explosionen hatten alle Fenster nach draußen geblasen. Was noch von den oberen Stockwerken übrig war, brannte lichterloh. Die Straße davor war von Trümmern übersät. Aus den offenen Höhlen der Fenster leckten Feuerzungen.
Santini und die Soldaten standen inzwischen wieder auf den Bei‐ nen. Noch halb betäubt vom Lärm der Explosionen schimpfte Santi‐ ni: »Damit dürfte sich die Spur in Rauch aufgelöst haben.« »Nicht unbedingt, Sir«, antwortete Tom Strange nicht minder lautstark und deutete mit dem Lauf des Karabiners auf eine Tür am Ende des Gebäudes, rechts von ihrem Standort. »Sehen Sie da mal hin, Major!« Die schattenhafte Gestalt eines einzelnen Grakos trat aus dem noch intakten Teil des Gebäudes und entfernte sich vom Ort des Gesche‐ hens, während aus den angrenzen Wohnquartieren zahlreiche In‐ sektoiden ins Freie strömten und alle auf das halbzerstörte Haus zuliefen. Eine wogende Menge, die verborgen hinter den wabernden Hyperfeldern kaum ein einzelnes Individuum preisgab. »Männer, diesen Grako nicht aus den Augen lassen!« befahl Santini kurzerhand. »Tom, ich habe so das Gefühl, als hätten wir wieder eine Spur. Los, in den Gleiter! Wir folgen ihm.« Er drehte sich zum Gleiter um. »Mist!« entfuhr es ihm. »Sie sagen es, Major«, bekräftigte Tom Strange und schürzte die Lippen. Santinis Ausspruch hatte seine Berechtigung: Der Gleiter war nur noch Schrott. Mehrere große Mauertrümmer hatten sich ihn als Ziel auserkoren und mit Brachialgewalt demoliert; die Fahrbereitschaft würde der Liste der von Santini zerstörten und zu Bruch geflogenen Gleiter einen weiteren Minuspunkt hinzufügen. Eric trat mit einem Fluch gegen die Seitenverkleidung. »Mist!« wiederholte er mit Inbrunst. »Zurück zum Hauptquartier?« fragte Strange. »Vielleicht wäre es das klügste«, meldete sich Mayk, der mit ge‐ lassener Miene das Inferno vor ihren Augen betrachtete und dabei einen Kaugummi im Mund wälzte. Sein Kompagnon Wy‐lie enthielt sich eines Kommentars über den Vorfall. »Nichts da«, wehrte Santini scharf ab. »Wir folgen ihm wie vorge‐
sehen.« »Und wie?« »Zu Fuß natürlich. Es bleibt uns nichts anderes übrig. Ich will die Spur nicht verlieren.« »Dann eben zu Fuß hinterher, wenn es denn sein muß«, entgegnete Strange lakonisch. Sie setzten sich in Bewegung, folgten der verwaschenen Gestalt des Grako, die sich in Richtung des Zentrums von Drei absetzte, hinein in jene Bezirke, in denen es so gut wie keine terranischen Einrich‐ tungen gab. Währenddessen wurde es hinter ihnen laut; Hilfskräfte und örtli‐ che Brandschützer näherten sich dem Explosionsherd. Flugfähige Löschroboter senkten sich aus dem Himmel, ausgeschickt von der Notfallzentrale des nahen Raumhafens, und begannen damit, ihre Schaumladungen zu versprühen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Terraner schon eine beträchtliche Strecke zurückgelegt. Begünstigt von der sich nähernden Dunkelheit folgten sie unauffällig dem Grako, von dem Santini annahm, daß es sich um den ehemaligen Delta‐Krieger 4457 und jetzigen Ausbilder handelte, der seinen Artgenossen technisches Wissen beizubringen suchte. Je länger sie dem Grako‐Schatten auf den Fersen waren, um so si‐ cherer wurde Santini, dem richtigen zu folgen. Obwohl er keine de‐ finitive Bestätigung für seine Vermutung hatte, sprach die ganze Art, wie der Grako sich bewegte, dafür, es mit einem »Profi« zu tun zu haben. Während des Laufens beschäftigte sich Santini mit der augenblick‐ lichen Situation auf Grah, die längst nicht so stabil war, wie man es erwartet hatte. Zwar hatten die Gordo wieder die Regierungsgewalt inne, aber dennoch waren viele Grakos nicht bereit, die neue Ordnung auch anzuerkennen. Grakos. Gordo.
Zwei Seiten einer Medaille. Einer Medaille, die fleckig geworden war. Sie jetzt wieder auf Hochglanz zu bringen war die Aufgabe der Terraner. Wie es aussah, mußte noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden.
3. Wie eine Gruppe jagender Raubtiere blieben die vier Terraner dem Grako auf den Fersen. Geschickt die tiefen Schlagschatten unter den breitblättrigen Bäumen ausnützend, rückten sie etwas auf, um ihre Beute ja nicht aus den Augen zu verlieren. Sie sprachen kaum, und wenn, dann nur über die Kopfhörereinheit und im Flüsterton. Wie Verschwörer in einem machiavellischen Theaterstück ver‐ folgten sie den Grako in seinem Schattenfeld und waren selbst zu Schatten geworden. Düstere Schatten in einer düsteren Welt. Die von der Vergangenheit geprägte Grako‐Architektur wirkte im Dämmerlicht der anbrechenden Nacht alptraumhaft, unwirklich und erdrückend. Nirgends die spielerische Leichtigkeit moderner Archi‐ tektur. Alles war wuchtig, roh aus dem Stein gehauen, wirkte ir‐ gendwie unfertig und farblos. Die dominierende Farbgebung war grau. Grauschwarz die Gebäude. Graugrün der dichte Pflanzenbewuchs zwischen den Gebäuden und auf Terrassen hoch oben an den Mauern. Auf den von Vegetationsgürteln voneinander getrennten Straßen herrschte kaum Verkehr. Obwohl keinerlei Ausgangssperre herrschte, schienen sich die meisten Bewohner von Drei zu Beginn der Nachtperiode in ihre Behausungen zurückzuziehen. Dennoch war die Stadt nicht ausgestorben. Aber ein quirlendes, überschäumendes urbanes Leben, wie es in Terras Städten zu finden war, suchte man hier vergeblich. Zumin‐ dest hatte Santini noch keines entdeckt. Es konnte ja durchaus sein, daß man es auf Grah tief in den unterirdischen Tunneln und Kaver‐ nen feierte. Warum nicht? Insektoides Leben spielte sich meist unter
der Oberfläche ab – zumindest auf der Erde. Die Insektoiden von Grah waren hervorragende Nachtseher, wes‐ halb sie in ihrer düsteren Welt auch bei Dunkelheit zurechtkamen, wie Santini von seiner Arbeit her wußte. Die Straßenbeleuchtung war dementsprechend sporadisch; nur in sehr weiten Abständen waren Leuchtelemente zu finden. Die einzige künstliche Lichtquelle, die die Nacht fast zum Tage machte, befand sich hinter ihnen: der Lichtdom über dem Raumha‐ fen. Während Santini sich bei der Verfolgung von nichts ablenken ließ, beobachteten Tom Strange und seine Kameraden die schattenhaften Grakos, die unterwegs waren, voller Argwohn und Vorsicht. Zwischen den Wolken grummelte es; vereinzelt zuckten Blitze. Die ersten Anzeichen eines für Grah zum Alltag gehörenden Wolkenbruchs waren nicht mehr zu ignorieren. Dennoch kühlte es nicht ab; jede Bewegung in dem feuchtheißen Dschungelklima wurde zu einer schweißtreibenden Angelegenheit. Den Männern klebten die Uniformkombination am Körper. Zum Glück entlud sich das Gewitter in einiger Entfernung; dort gingen die wolkenbruchartigen Regengüsse nieder, während es bei den vier Terranern nur »normal« zu regnen begann. Binnen wenigen Sekunden waren sie bis auf die Haut durchnäßt. »Wird Zeit, daß wir ins Trockene kommen«, machte Gefreiter Wy‐ lie seinem Unmut Luft. »Ich hasse Regen. Regen am Morgen, am Mittag, am Abend und auch in der Nacht. Als Amphibie würde ich mich ja wohlfühlen. Aber so…« »Geht mir nicht anders«, versicherte Mayk und schüttelte sich os‐ tentativ. »Ich bin schon soweit, daß ich morgens vor dem Spiegel nachsehe, ob mir nicht Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen gewachsen sind.« Eric Santini zog eine Grimasse, die den anderen infolge der Dun‐ kelheit verborgen blieb, und zog das Tempo etwas an, um den Ver‐ folgten nicht aus den Augen zu verlieren. »Wo will er hin, Sir?«
murmelte Stranges Stimme in Santinis Ohr. Der Major konsultierte die Anzeigen seines mobilen Spürgerätes, das einen Lageplan von Drei mit den wichtigsten Straßen und Ge‐ bäuden enthielt, erstellt von Experten des terranischen Zentral‐ kommandos. »Ich kenne das Ziel unseres Freundes«, ließ er seine Begleiter dann wissen. »Und um welches handelt es sich, Sir?« »Um die örtliche Verwaltung.« Santinis Annahme sollte sich als zutreffend erweisen. Vor ihnen tauchte nur wenige Minuten später ein großer Komplex aus der Dunkelheit auf, der sich nicht nur durch seine Ausmaße von den umliegenden Gebäuden unterschied, sondern auch dadurch, daß er durch versteckt angebrachte Scheinwerfer fast üppig ange‐ leuchtet wurde. Der Komplex war extrem hoch und wies einen Grundriß von 800 mal 800 Metern auf. In dem Verwaltungsriesen, das wußte Santini, arbeiteten keine terranischen Mitarbeiter der Mi‐ litärverwaltung, sondern ausschließlich Grakos. Terra war nicht in der Lage, genügend Personal abzustellen, um Grah vollständig zu kontrollieren, weshalb man alles, was möglich war, von den Grakos selbst verwalten und überwachen ließ. Der Verfolgte verschwand in Innern. »Wollen doch mal sehen, was er darin zu suchen hat«, sagte Santi‐ ni. »Gehen wir ihm nach. Ich möchte zu gern in Erfahrung bringen, weshalb er dieses Feuerwerk in seinem Wohnquartier veranstaltet hat.« »Vermutlich um etwas zu vernichten, das niemand sonst in die Hände bekommen sollte«, war Mayk überzeugt, der nervös seine Finger knetete. Der bergähnliche Komplex so dicht vor ihm schien ihm Unbehagen zu bereiten. »Und dafür jagt er das Haus in die Luft und nimmt den Tod vieler seiner Artgenossen in Kauf?« Tom Strange schüttelte zweifelnd den Kopf. »Insektoides Verhalten. Das Wohl der einzelnen zählt in der Den‐
kart der Grakos wenig, wenn es gilt, ein bestimmtes Ziel zu errei‐ chen«, erklärte der Major. »Aber wir sind nicht hier, um zu disku‐ tieren. Vorwärts, Männer! Machen wir uns ein Bild.« Hinter dem kathedralenartigen Haupteingang öffnete sich eine riesige Halle, die über mehrere Etagen reichte. Im Hintergrund führten breite Stufen auf eine Galerie, über der noch weitere lagen. Neben der Treppe eine Anordnung von Antigravliftröhren. Die Halle war grakotypisch nur düster beleuchtet. Eine von Grakos be‐ setzte Eingangskontrolle stoppte den Vorwärtsdrang der Terraner zunächst. Santini trat vor die Barriere. Einer der Wächter, sicher ein ehema‐ liger Kappa‐Krieger, begrüßte ihn mit einem Schwall von Klicklau‐ ten. »Seien Sie gegrüßt, Major Santini«, übersetzte Santinis Translator die Klicklaute des Grako. »Ihr Erscheinen ist eine Ehre für uns. Was kann ich für Sie tun, Major?« Daß er den Terraner mit Rang und Namen ansprach, war nichts Ungewöhnliches. Eric Santini war mittlerweile unter der planetaren Bevölkerung eine weithin bekannte Persönlichkeit, seit er sich um das Wohlergehen der wenigen noch lebenden geschlechtsreifen Gordo verdient gemacht hatte. Santini atmete innerlich auf. Er hatte mit erheblich mehr Wider‐ stand gerechnet. Seit Ende des Grako‐Krieges herrschte zwar Frie‐ den, aber es war ein sehr brüchiger. Obwohl die rechtmäßigen Her‐ ren, die Gordo, die Regierungsgewalt wieder innehatten – unters‐ tützt von Terra –, gab es noch immer viel zu viele Grakos, die die neue Ordnung ablehnten und insgeheim auf einen Umsturz hinar‐ beiteten. »Vor wenigen Zeitabschnitten hat ein Delta‐Krieger die Halle be‐ treten. Wo ist er hin?« »Wir haben ihn registriert. Vermutlich ist er in den gesperrten Be‐ reich gegangen, der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist«, er‐ hielt er bereitwillig Auskunft.
»Und wie gelangen wir dorthin?« »Wenn Sie dem Hauptkorridor folgen, können Sie ihn nicht ver‐ fehlen«, kam die Übersetzung des Translators. »Dann wollen wir das mal tun«, sagte Santini und setzte sich in Bewegung. Er ließ die Energiebarriere keinen Moment aus den Au‐ gen, die sich hinter der Eingangskontrolle quer durch die Halle ers‐ treckte, und betete, daß die automatisch sich erneuernde Sicher‐ heitscodierung in seiner Hundemarke, die ihn als Berechtigten für das Betreten von öffentlichen Gebäuden auf Grah auswies, nicht durch irgendeinen fiesen Trick außer Funktion gesetzt worden war. Energievorhänge konnten mitunter sehr tückisch auf unberechtigte Besucher reagieren, auch wenn sie niemandem ernsthaft Schaden zuzufügen imstande waren – solange sie nicht manipuliert waren, wie es im Guerillakrieg zwischen Terranern und Grakos auch schon vorgekommen war. Aber der Vorhang ließ ihn und seine Männer unbehelligt passie‐ ren. Tom Strange und seine Kameraden schienen sich mit den gleichen Gedanken getragen zu haben. Santini konnte die Erleichterung auf den angespannten Gesichtern der Männer sehen, als nichts geschah. Der Hauptkorridor durchschnitt das düstere Riesengebäude wie eine Schlucht. Er war so hoch, daß man den Eindruck bekam, er würde sich nach oben hin verjüngen. Anfänglich trafen sie noch auf einige Grakos, die unbekannten Tä‐ tigkeiten nachgingen. Doch dann wurden diese immer weniger. Schließlich waren sie allein unterwegs. »Hört ihr das auch?« fragte Mayk. »Was sollen wir hören?« antwortete Schütze Wylie und schüttelte den Kopf. Übertrieben legte er die Hand hinter das Ohr. »Es ist nichts zu hören.« Auch Santini fiel die Grabesstille auf. Keine Grakos mehr. Keine Geräusche. Die Eingangshalle war bei den schwachen Lichtverhält‐ nissen längst nicht mehr zu sehen. Leuchtplatten hoch oben an den
Wänden schufen gerade mal genug Helligkeit, daß sie vielleicht hundert Schritte weit in beide Richtungen sehen konnten. »Das ist es ja, was ich meine«, machte ihn der Gefreiter aufmerk‐ sam. »Was ist los?« Strange sah seine Kameraden fragend an. »Es ist zu still«, betonte Mayk. Er nahm seinen Multikarabiner von der Schulter und entsicherte ihn. Das metallische Klicken hallte ver‐ zerrt von den Wänden wider und erschien unnatürlich laut. »Irgend etwas stimmt hier nicht!« behauptete Wylie, ebenfalls sei‐ ne Waffe entsichernd. »Oder was meinen Sie, Sir?« Santini nickte. »Es kann nicht schaden, wenn wir vorbereitet sind«, antwortete er und entriegelte die Magnethalterung seines Nadel‐ strahlers. Mit geschärfter Aufmerksamkeit setzten sie ihren Weg fort. Der Korridor erweiterte sich vor ihnen zu einer Art Knotenpunkt, von dem aus sternförmig andere Gänge abgingen, auch in die Höhe. Santini wußte, daß es sich dabei um A‐Gravschächte handelte. Die Fortsetzung des Korridors auf der anderen Seite des Knoten‐ punktes wurde von einem Grako bewacht. Der heuschreckenartige Körper war nur undeutlich hinter seinem Schattenfeld zu sehen. Die Platte des Tisches, hinter dem er saß, emittierte fahles Licht wie das ferne Echo eines Wetterleuchtens – das Grako‐Äquivalent einer terranischen Bildschirmkonsole. Santini war vertraut damit. Mist! Der Major schürzte die Lippen. Eine Wache an dieser Stelle hieß möglicherweise Ärger, wies aber auch darauf hin, daß hier etwas zu finden war, was nicht jeder sehen sollte. Waren sie auf der richtigen Spur? Die Aufgabe des Wächters war klar: jeden abweisen, der nicht die entsprechende Befugnis vorzeigen konnte. Er ließ eine Reihe der charakteristischen Knacklaute hören, die für die Sprache der Grakos so kennzeichnend waren. Die Translatoren der Terraner übersetzten sie: »Ich bedaure, ich kann Sie nicht durchlassen«, äußerte der Grako.
»Hier beginnt der gesperrte Bereich. Sie haben keine Berechtigung, ihn zu betreten, wie ich sehe.« Vermutlich kontrollierte er seinen Monitor, obwohl das hinter dem Dunkelfeld nicht klar ersichtlich war. »So, haben wir die nicht?« »Nein.« Der Major nickte leicht über die Schulter. Strange und die anderen beiden Raumsoldaten hoben ihre Waffen. Die Mündungen zielten auf den Grako. Das Hyperfeld geriet in Bewegung. Santini wartete genau fünf Sekunden, dann fragte er: »Ist das Be‐ rechtigung genug?« Die Knacklaute des Heuschreckenartigen überschlugen sich fast; die Translatoren der Terraner machten erst gar nicht den Versuch, das Stakkato des Pförtners zu übersetzen, nur die letzten Laute machten sie vernehmbar: »… ich beuge mich der terranischen Ge‐ walt. Gehen Sie schon…« Er öffnete die Energie‐Sperre. »Danke für die herzliche Einladung«, knurrte Tom Strange an Santinis Stelle, der sich mit einem flüchtigen Lächeln an die Spitze setzte, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Hätte er es getan, hätte er gesehen, wie der Grako, kaum daß er sich unbeobachtet wähnte, über seine Konsole mit jemandem in Verbindung trat. * »Achtung! Ich glaube, da vorne ist was!« zischte Strange, der die Spitze übernommen hatte, und bedeutete den anderen mit einer Handbewegung, langsamer zu gehen. Die Stille war einem unbestimmten Geräusch gewichen, das gerade so an der Schwelle zum Hörbaren lag. Irgendwo liefen Maschinen oder Geräte. Sehr vorsichtig gingen sie weiter.
Der inzwischen sehr breit gewordene Korridor endete weiter vorne an einer zweiflügeligen Tür. Die Geräusche kamen aus dieser Rich‐ tung. Mit angespannten Sinnen näherten sie sich. Als sie die Tür erreicht hatten, hob Santini die Hand und gebot Halt. Für Sekunden empfand er jenes sonderbare Gefühl, das ihn immer vor einer sich abzeich‐ nenden Gefahr überkam. Dann überwog das Adrenalin und fegte jede Beklemmung hinweg. »Tom, auf drei«, sagte er verhalten. Seine Stimme war nur in den Kopfhörereinheiten der Soldaten zu vernehmen. Er nahm Augenkontakt mit den Männern auf; sie nickten ihre Be‐ reitschaft. »… drei!« Tom Strange stieß die Doppelflügel mit einem kräftigen Fußtritt auf – und Santini sah, was er bisher nur gespürt hatte: Sie waren da. Erwarteten die Terraner schon. Es waren vier Roboter der »Funktionsgemeinschaft« in ihren be‐ kannt vielfältigen Erscheinungsformen. Die Terraner hatten die Er‐ fahrung gemacht, daß keine Kampfmaschine des Robotervolkes der anderen glich. Stets boten alle den Anblick, als seien ihre Einzelteile von den Schrottplätzen der Galaxis zusammengeklaubt und nach einem Zufallsprinzip von einem irren Mechaniker willkürlich zu‐ sammengeschraubt worden. Auch die, die sich Santini und seinen Männern in den Weg stellten, waren sinnverwirrende Mechanismen, unglaublich bizarre Robo‐ terkonstruktionen von etwa zwei Metern Größe, die zu beschreiben den Männern die Worte und die Zeit fehlten. Vor allem letzteres, denn eine Gemeinsamkeit war doch zu erkennen: Alle Maschinen waren mit den verbotenen Schwarzstrahlern ausgestattet. Und als sie ihre vielgelenkigen Arme hoben und in Richtung der Männer aus‐ streckten, erkannten diese, daß sie in allergrößter Gefahr schwebten. »Jesus!« knurrte Strange und riß den Karabiner hoch, während er mit dem Daumen die Energieleistung des integrierten Blasters auf
höchste Intensität schaltete. »Machen die Grakos jetzt schon ge‐ meinsame Sache mit dem Feind?« Er feuerte, noch ehe der erste Roboter seine Schwarzstrahlen ver‐ schießen konnte. »Bleib mir bloß von der Pelle«, zischte Gefreiter Mayk in Richtung der Maschine, die sich merkwürdig schaukelnd auf ihn zubewegte. Wylie verlor kein Wort, sondern reagierte automatisch. Seine Waffe schickte eine Kette hell glühender Strahlen in Richtung der Roboter. Explosionsgeschosse zu verschießen, was die effektivere Methode gewesen wäre, verbot sich in dem relativ kleinen Raum von selbst. Die Männer hätten sich womöglich selbst in Gefahr gebracht; sie trugen keine gepanzerten Kampfanzüge, sondern nur die nor‐ malen Kombinationen der TF. Das Energiefeuer traf die anvisierten Mechanischen, fraß sich durch deren aufflackernde Prallschirme und bohrte sich durch die Metallhaut ins Innere. Es zischte und knallte. Funken sprühten. Der erste Roboter brach auseinander und war gleich darauf nur noch ein glühender Haufen Schrott auf dem Boden. Auch Mayk hatte sich sein Ziel ausgeguckt und schoß, was das Energiemagazin hergab. Die Roboter kamen nicht dazu, ihre Schwarzstrahler abzufeuern. Santinis Nadelstrahler erledigte den vierten der metallenen Gegner nur Sekundenbruchteile später. »Das war aber leicht«, wunderte sich Tom Strange und kontrol‐ lierte methodisch die Anzeige seiner Energieladung. »Ich bin über‐ rascht!« Mayk nickte. »Nicht nur du.« Wylie kicherte hohl. »Sicher waren sie von unserem Anblick so überwältigt, daß sie vergaßen, sich zu wehren. Was soll’s? Glück für uns.« Santinis Miene war sehr nachdenklich geworden. Entgegen ihrer sonstigen Schnelligkeit im Kampf waren diese Roboter in der Tat nicht sonderlich gefährlich gewesen.
Ob sie mit verminderter Leistung arbeiteten? Oder wurden sie nicht über einen intelligenten Großrechner ge‐ steuert wie üblich, sondern möglicherweise von einem untergeord‐ neten Grako‐Rechner, der mit der Anpassung nicht zurechtkam? Es war müßig, darüber nachzudenken. Fakt war: Sie waren außer Gefecht gesetzt. Santinis Blicke sondierten den Raum; die glühenden Überreste der Roboter verströmten einen stechenden Geruch nach verdampftem Metall und anderen gasförmigen Substanzen. Der Delta‐Krieger war nirgends zu sehen. Ihm galt eigentlich ihr Interesse. Ihm und dem, was ihn dazu be‐ wogen hatte, das Wohnhaus in die Luft zu jagen, in dem er seine Bleibe hatte. Am Ende des Raumes befand sich eine weitere Tür. Strange blickte Santini an. Der nickte, hob die Hand und bewegte sie schnell ein paarmal in Richtung des Ausgangs. Sie liefen hindurch, die Waffen im Anschlag. Sie standen wieder in einem Gang. »Das wird ja langsam langweilig«, knurrte Ben Mayk. »Quatsch keine Opern!« wurde ihm von Strange bedeutet. »Wei‐ ter!« Der Korridor war nur kurz. Mit den Karabinern im Anschlag, nach links und rechts versetzt hintereinander gehend, bewegten sie sich schnell in Richtung der Doppeltür an seinem Ende. Mayk holte Luft. »Wenn du jetzt wieder mit einem ›langweilig‹ kommst«, knurrte Tom Strange, »kriegst du einen Tritt.« »Bin ja schon ruhig. Man wird ja noch mal atmen dürfen«, räso‐ nierte der Gefreite. »Dann atme gefälligst leise…« »Schluß mit der Unterhaltung!« Santinis Stimme war nicht laut, transportierte aber einen Unterton, der die Soldaten zum Verstum‐ men brachte.
Sie erreichten den Zugang. Strange drückte vorsichtig dagegen. Die Tür rührte sich nicht. Er zog die Stirn in Falten und nestelte ein Handspürgerät aus der Brusttasche seiner Kombi. Es gegen die Tür haltend, bewegte er es langsam hin und her, während er die Anzei‐ gen beobachtete. »Sperrkreise?« »Drei«, bestätigte der Hauptgefreite Santinis Frage. »Nichts Me‐ chanisches. Elektronisches System.« »Mist, wir haben den Code nicht«, machte Santini seinem Unmut Luft. Strange sah Santini an. Ein Grinsen spielte um seinen Mund. »Ich weiß, wie man sie ausschaltet.« »Worauf warten Sie dann noch?« Strange veränderte den Fokus des Blasters an seinem Karabiner. Ein bleistiftdünner Strahl zerschmolz Schloß und Riegel. Metall begann zu fließen. »Ist offen«, behauptete er. »Wo rohe Kräfte…« Ein kurzes Räuspern des Major versiegelte seine Lippen. Strange legte die Hände flach gegen das Metall. »Bereit?« Santini sagte: »Jetzt!« Strange stemmte sich gegen die Fläche. Sie schwang so leicht auf, daß er fast gestolpert wäre. Sie drangen ein, verteilten sich links und rechts an den Wänden, um so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Es geschah so schnell, daß sie unbehelligt blieben. Vor ihnen lag ein Kontrollraum, ein Labor möglicherweise, strahlendhell erleuchtet. Santini erkannte geschwungene Konsolen, Tasterpulte, Schalt‐ kreisanalysatoren, Reihen von flachen Bildschirmen. Nein, berichtigte er seine erste Annahme, kein Labor. Es handelte sich um eine Sendezentrale, von der Nachrichten gesendet und
empfangen werden konnten. Sie hatten eine der illegalen konspirativen Zellen vor Augen, deren Vorhandensein zwar als gesichert galt, die aber nur sehr, sehr schwer aufzuspüren waren. Vermutlich war dies sogar ein Kommando‐ zentrum, von dem aus die Einsätze der Terroristen koordiniert wurden. Das alles registrierten die Männer nur am Rande. Ihre Aufmerk‐ samkeit wurde voll und ganz von dem in Anspruch genommen, was sich im Raum aufhielt: Grakos und Roboter. Und die taten etwas, das allgemein üblich war, wenn eine derartige Zelle enttarnt wurde: Die Schatten und die Handlungsroboter vernichteten alle verwertbaren Spuren. Santini, der sich mit der Technologie der Grakos auskannte, sah, daß die Rebellen gerade damit fertig sein mußten, die letzten Dateien in den Computern zu löschen. Ein Bildschirm nach dem anderen verlor seine Anzeigen und er‐ losch. Als die Terraner so plötzlich im Raum standen, zeigten die Grakos nur zögernd Reaktionen. Sie waren von dem Auftauchen der Solda‐ ten überrascht, offenbar hatten sie angenommen, die vier Roboter im Vorraum würden die ungebetenen Besucher aufhalten. Jetzt mußten sie sich eines Besseren belehren lassen. Was dann geschah, konnte man nur als eine konzertierte Ret‐ tungsaktion bezeichnen. Die Roboter verteilten sich so geschickt im Raum, daß sie den Grakos Schutz boten, die dabei waren zu fliehen. Eine Schattengestalt nach der anderen verschwand durch eine Öff‐ nung im Hintergrund, die offensichtlich ins Freie führte. »Laßt sie nicht entwischen, Männer!« schrie Santini wütend. »Schießt euch den Weg frei, wir müssen wenigsten einen der Schat‐ ten in unsere Gewalt bringen! Ich brauche Informationen!« Santini und Tom Strange hatten sich eine der Konsolen als De‐ ckung ausgesucht und feuerten in deren Schutz auf die Roboter. Der erste zerplatzte bereits unter den Energieschüssen aus der Waffe des
Hauptgefreiten; ein anderer wurde von dem Nadelstrahl aus Santi‐ nis Handfeuerwaffe in zwei Teile geschnitten. Jetzt feuerten die Roboter zurück. Schwarzstrahlen und Blaster‐ schüsse zischten durch den Raum, fanden jedoch kein Ziel. Wieder beschlich Santini ein merkwürdiges Gefühl: Die gefürch‐ teten Kampfmaschinen agierten, als würden sie von irgend etwas in ihren Aktionen gebremst. Tom Strange gab eine Serie von Schüssen mit geradezu unglaub‐ licher Präzision ab. Vier, fünf kleinere Detonationen sorgten für ei‐ nen ohrenbetäubenden Lärm. Metallteile flogen wie Geschosse durch die Luft, prallten mit voller Wucht gegen die Einrichtung. Mit gezielten Feuerstößen brachten Gefreiter Mayk und sein Ka‐ merad Wylie zwei weitere Roboter zur Explosion. Einer versuchte seitlich an die Terraner heranzukommen. Tom Strange sah die Gefahr, war aber mit einem neuen Angreifer be‐ schäftigt. »Achtung, Wylie!« rief er, während er schoß. »Rechts von dir!« Der hatte die Gefahr schon erkannt. Wie auf dem Schießstand legte er den Karabiner an, schrie: »Achtung! Kopf einziehen!« und ver‐ schoß zwei Explosivprojektile. Im nächsten Moment ging die Ma‐ schine hoch und zerplatzte in Fragmente. Glühende Metallteile wurden wie Geschosse durch den Raum geschleudert und fuhren krachend in die Wände. Rauch und Qualm stiegen auf. Plötzlich taten die verbliebenen Roboter etwas völlig Unerwartetes: Sie zogen sich zurück und folgten den Grakos, die bereits ins Freie geflüchtet waren. »Ihnen nach, Männer!« befahl Santini und verließ seine Deckung. Er lief auf die Tür zu – und stand plötzlich im Freien. Zumindest hatte es den Anschein. Erst Sekunden später erkannte der Major, daß es sich um den Innenhof des Gebäudekomplexes handelte, der wie ein riesiger Brunnenschacht wirkte. Unter der Lichtglocke einer Scheinwerferbatterie konnte Santini das Beiboot eines Großraumschiffes des Robotervolkes sehen. Das
seitliche Schott stand offen, die letzten Grakos enterten gerade das kleine Schiff, gefolgt von den übriggebliebenen Robotern. »Sie wollen sich absetzen, Sir!« rief Tom Strange wütend. »Wie finde ich denn das!« Santini stieß ein Knurren aus. Er hob den Nadelstrahler, hielt ihn in beiden Händen und visierte die Antriebssektion des Beibootes an. Er hatte nicht vor, den Flie‐ henden die Chance zu geben, sich aus dem Staub zu machen. Dann drückte er ab. Obwohl der pinkfarbene Strahl über‐ licht‐schnell war, hatte er etwas zu lange gewartet. In Nanosekunden baute sich vor dem Auftreffen des Nadelstrahls eine gitterartige Struktur um das Beiboot auf; das Schiff hatte seinen Karoschirm gerade noch rechtzeitig aktiviert, die Energie der Waffe verpuffte wirkungslos. Während Santini zu fluchen begann, hob das Beiboot ab, stieg ste‐ tig beschleunigend durch den kaminartigen Schacht des Innenhofs empor und verschwand mit extrem hoher Fahrt im nächtlichen Himmel. Santini verlor keine Sekunde. Über sein Armbandvipho stellte er Kontakt mit der terranischen Raumüberwachung auf Grah her, da‐ mit deren extrem starke Taster den Kurs des Beibootes aufzeichnen konnten. Es war vergebliche Mühe. Wie ihn der verantwortliche Offizier aus der Raumüberwachungszentrale informierte, konnte das Boot auf keinem Tasterschirm geortet werden. Offenbar verfügte es neben seinem Karoschirm noch über einen extrem effektiven Tarnschutz. »Das war wohl ein Schlag ins Wasser, Sir. Oder?« Tom Strange hatte sein Gesicht nach oben gereckt und starrte aus dem gewaltigen Schacht hinauf in den Nachthimmel Grahs, als er die Worte sprach. Jetzt senkte er den Kopf und blickte den Major an. Die Flutlichtanlage warf ihr kalkiges Licht in den Innenhof, und die Männer warfen lange Schlagschatten. »Das könnte man so sagen«, bestätigte Eric Santini, und seinen
Zügen war nicht zu entnehmen, welche fürchterliche Laune er hatte. Er hatte schon jetzt Pershings Gesicht vor seinem inneren Auge, wenn er ihn darüber informieren mußte, daß die ganze Aktion er‐ gebnislos verlaufen war. Er straffte seine Gestalt. »Gehen wir zurück.« »Wieder zu Fuß, Sir?« »Gibt es eine andere Möglichkeit? Mein Gleiter ist im Eimer, wie Sie wissen, Tom. Und daß mir die Fahrbereitschaft auf die Schnelle einen Ersatz schickt, wage ich zu bezweifeln. Irgendwie habe ich das Gefühl, daß man mich nicht besonders mag im Hauptquartier.« »Hm, der Besitzer der Bar, in der Sie uns aufgegabelt haben, un‐ terhält auch einen Taxidienst für nicht mehr ganz fahrtüchtige Sol‐ daten. Sein Fahrer könnte in zehn Minuten hier sein.« »Worauf warten Sie dann noch, Hauptgefreiter?« gab Santini ihm zu verstehen. »Rufen Sie uns ein Taxi! Ich schaue mich inzwischen drinnen ein wenig um. Vielleicht waren sie ja nicht besonders gründlich, und ich stoße auf etwas.« »Aye, Sir«, Strange grinste, während er sein Armbandvipho an die Lippen hob. Santini ging zurück in die Rebellenzentrale, Mayk und Wylie schlossen sich ihm an. Es hatte erneut zu regnen begonnen, und sie zogen es vor, ins Trockene zu kommen. Die Überbleibsel der außer Gefecht gesetzten Kampfmaschinen des »Volkes« glimmten und dampften noch immer. »Mein Gott, was für ein Durcheinander«, sagte Ben Mayk ange‐ widert und schob mit dem Stiefel die herumliegenden Reste der Roboter zur Seite. »Stimmt«, sagte der an sich mundfaule Wylie und wuchs über sich hinaus. »Hier müßte mal aufgeräumt werden.« Dann verstummte er wieder. Santini inspizierte per Augenschein die Rechner der Grakos, die in ihrer Leistungsfähigkeit fast an terranische Hyperkalkulatoren he‐ rankamen. Auf Hinweise zu stoßen, die eventuell übersehen worden
waren, erwies sich schnell als illusorisch. Santini hatte auch nicht wirklich damit gerechnet. Der letzte fliehende Grako hatte sozusa‐ gen das ›Licht ausgeknipst‹. Das Durcheinander von technischen Geräten, mit Kabeln und Lichtleitungen zu einem Nexus verknüpft und verschaltet, war ohne jedes Quentchen Energie. Es zum Leben zu erwecken und nach übriggebliebenen und verwertbaren Daten‐ krümeln zu fahnden, würde vermutlich Wochen und eine Reihe von Spezialisten beanspruchen. Wahrscheinlicher war allerdings, daß die Regierung von Grah sich selbst darum zu kümmern gedachte. Für ihn war da nichts zu machen. Tom Strange kam von draußen herein. »Geht klar«, sagte er aufgeräumt. »Das Taxi ist unterwegs.« Der Weg zurück zur Eingangshalle gestaltete sich problemlos. Santini gab dem verantwortlichen Wächter in der Lobby zu ver‐ stehen, daß er sich am nächsten Tag mit der Gordo‐Regierung in Verbindung setzen würde, um entweder Nachtflug, Wipfelstürmer oder Donnergroll von den Vorgängen in der örtlichen Verwaltung zu unterrichten. Wenig später standen sie draußen auf den obersten Eingangsstufen des gewaltigen Gebäudes. Als der mit einer Reihe von Dachlichtern aufgemotzte Taxigleiter in die Einfahrt kurvte und schwungvoll am Treppenaufgang vor‐ fuhr, wandte sich Santini an Strange: »Sagen Sie, Tom«, begann er, während sie die Stufen hinunterliefen, »gilt Ihre Einladung noch?« Der Hauptgefreite stutzte nur einen Moment, dann sagte er: »Na‐ türlich, Sir. Wir haben ja dienstfrei, Major.« Wie selbstverständlich bezog er Mayk und Wylie mit ein. »Fein. Aber ich bezahle. Einverstanden?« »Ich habe nichts anderes erwartet, Sir«, behauptete Strange kühn. Zum erstenmal an diesem langen Tag, der noch nicht zu Ende war, lachte Santini. *
Pershings Büro war unverändert, seit Major Santini zum letzten‐ mal dort gesessen und sich die Vorhaltungen des Generalobersts hatte gefallen lassen müssen. Pershing selbst stand mit dem Rücken zu Santini vor dem hohen Bogenfenster und starrte hinaus, steif wie ein Stock und mit auf dem Rücken verschränkten Armen. Santini hatte seinen Bericht abgeliefert und den Generaloberst über die Ereignisse der vergangenen Nacht unterrichtet; das anschlie‐ ßende recht heftige Trinkgelage mit Tom Strange und dessen Ka‐ meraden in der Bar am Raumhafen unterschlug er tunlichst. Santini wartete. Er hatte ein paar Stunden geschlafen, ausgiebig geduscht, frische Wäsche und eine saubere Uniform angezogen und war danach zum Rapport bei seinem Vorgesetzten erschienen. Der schwieg noch immer. Schließlich drehte er sich um, kehrte zu seinem Schreibtisch zu‐ rück, setzte sich und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Schön«, sagte er plötzlich. »Sie hatten also keinen Erfolg.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Nein, Sir. Man war mir immer einen Schritt voraus. Ich konnte machen, was ich wollte. Ich frage mich, weshalb das so ist?« »Nun, viel haben Sie ja nicht gemacht«, wich Pershing aus, und ein leicht höhnischer Zug lag auf seinem Gesicht, »außer daß Sie wieder einmal wie die sprichwörtliche Axt im Walde gehaust haben.« Santini gab auf diesen unverblümt vorgebrachten Vorwurf keine Antwort. Er starrte auf einen imaginären Fleck hinter Pershings Kopf. Normalerweise war es schwer, ohne Kampfeinsatz oder zumindest Dienst auf einer Außenwelt die Karriereleiter emporzusteigen. San‐ tini, der sich trotz der Tatsache, daß seine Tante Carlotta an expo‐ nierter Stelle des Stabes Dienst tat, seine Karriere ohne Protektion auf die harte Art unter Einsatz seines Lebens erarbeitet hatte, konnte
Etappenhengste wie Pershing nicht ausstehen. Diese Typen waren ihm von Herzen zuwider, die, ohne je an der Waffe gedient zu ha‐ ben, von der Akademie direkt in die Verwaltung der Terranischen Flotte überwechselten und sozusagen durch dieses bequeme Schlupfloch auf Positionen gelangten, die es ihnen ermöglichten, über Leben und Tod anderer zu entscheiden. Der einfache Soldat hatte dafür einen treffenden Ausdruck: Ses‐ selfurzer! Plötzlich mußte Santini an sich halten, um nicht in Lachen aus‐ zubrechen. »Ich habe hier«, fuhr jetzt Pershing fort und schob eine Akte von links nach rechts, »eine Beschwerde des Verwaltungsrates der Gra‐ kos, die sich mit den Schäden an den öffentlichen Einrichtungen befaßt, verursacht von Ihnen und von den Männern, die Sie ohne mein Einverständnis für diese Aktion requiriert haben.« »Es befand sich eine konspirative Zelle in dem Gebäude. Sie würde sich noch immer dort befinden und ihre schmutzige Arbeit verrich‐ ten, hätten wir sie nicht auffliegen lassen, auch wenn wir sie nicht zu fassen bekamen.« »Das ist nicht bewiesen, Major.« Pershing lehnte sich zurück und rieb sein Kinn. »Wir haben nur Ihren Bericht, sonst keine weiteren Beweise, geschweige denn fundierte Erkenntnisse. Auch Ihre Mel‐ dung über ein angebliches Beiboot mit Grako‐ Rebellen an Bord, die gemeinsame Sache mit den Robotern der Funktionsgemeinschaft machen würden, entbehrt einer nachweisbaren Grundlage. Kann es nicht sein, daß Sie etwas überarbeitet sind, Major? Fühlen Sie sich mit Ihren Aufgaben überfordert?« Santini atmete tief ein und laut wieder aus. Es hatte den Anschein, als ob der Generaloberst versuchte, ihn als unglaubhaft hinzustellen. »Sir«, sagte er beherrscht, »es gibt Zeugen. Daran können Sie nichts ändern. Glaubhafte Zeugen, terranische Soldaten…« »Die einen Major, ihren Vorgesetzten noch dazu, kaum als Lügner bloßstellen würden«, winkte Pershing ab. »Fakt ist, Sie wurden mit
einer Aufgabe betraut, die Sie – so habe ich den Eindruck – nicht in der Lage sind zu bewältigen.« »Wie kann ich das, wenn mir nichts als Hindernisse in den Weg gelegt werden.« »Von wem?« »Die Antwort auf diese Frage überlasse ich Ihnen.« Pershing hob die Augenbrauen. »Versuchen Sie jetzt mir den schwarzen Peter zuzuschieben?« Er verzog den Mund. »Ein schmutziges Vorhaben, Major!« Santini knurrte: »Bei allem gebührenden Respekt, Sir, Tatsache ist, es mangelt an Unterstützung von terranischer Seite für die Sache der Gordo, und es mangelt an Kooperation für meine Arbeit.« Santini war mit jedem Wort ärgerlicher geworden, nur mühsam unterd‐ rückte er seinen Zorn. Pershing schwieg zunächst. Dann nickte er und erwiderte für San‐ tini völlig überraschend: »Ich verstehe Ihre Einstellung, Major. In gewisser Weise verstehe ich auch Sie selbst. Es muß frustrierend sein, wenn man ein – nun, ich will es mal so ausdrücken – etwas vollmundig gegebenes Versprechen nicht halten kann. Aber viel‐ leicht haben Sie ja bei Ihrem neuen Auftrag mehr Glück.« »Sir?« Santini runzelte die Stirn. Was kam jetzt? »Wollen Sie mich von dem Fall abziehen?« Pershing musterte Santini mit einem undeutbaren Blick. »Verdient hätten Sie’s, Major«, gab er unumwunden zu verstehen. »Und wenn es nach mir ginge, täten Sie längst wieder Dienst im Dschungel, glauben Sie mir.« Die beiden Männer sahen einander streitlustig an. »Welche Erfolge hatten Sie denn bislang schon zu verzeichnen?« fuhr Pershing in seiner gnadenlosen Aufzählung fort. »Niemand weiß zur Stunde, wo sich Schattensucher und Lichtfreundin aufhal‐ ten. Dennoch ist das Oberkommando der Meinung, Sie wären der richtige Mann am richtigen Ort. Darüber zu spekulieren, inwieweit Sie diese Einschätzung einem bestimmten Generalmajor zu verdan‐
ken habe, versage ich mir an dieser Stelle…« Das ist auch besser so, dachte Santini. »Wie gesagt, ich hätte Sie abgezogen. Aber leider sind mir in dieser Hinsicht die Hände gebunden. Es widerstrebt mir, es auszusprechen, Major, aber Sie bleiben nach wie vor am Ball. Außerdem tritt das Projekt Gordo‐Rettung ab sofort in eine neue Phase.« »Ich höre, Sir?« Pershing schwieg einen Moment, während Santini sich damit be‐ schäftigte, die veränderte Situation einzuschätzen. Dann endlich fuhr der Generaloberst fort: »Vor einer Woche hat uns Terra einen neuartigen Sprungpeiler geliefert, mit dem sofort verschiedene Aktivitäten unbekannter Raumschiffe im Gerrck‐System angemessen werden konnten. Die Verursacher dieser Sprünge waren allerdings nicht zu orten. Leider. Wir wissen also nichts Definitives über sie. Aber dennoch sind wir nicht ganz un‐ wissend.« Pershings Finger beschäftigten sich mit einer Nachricht, die vor ihm lag. »GSO‐Erkenntnisse deuten auf einen Zusammen‐ hang mit den Grako‐Terroristen und der Entführung der Gordo hin. Nun hat uns Terra mittlerweile ein Raumschiff mit eingebautem Sprungpeiler und einer experimentellen Transitionssteuerung gelie‐ fert, das in der Lage sein soll« – die skeptische Miene Pershings machte deutlich, daß er seine Zweifel hatte – »diese unbekannten Raumschiffe zu verfolgen. Es hat mittlerweile Grah erreicht und wartet darauf, daß Sie, Major Santini, mit Ihrem Team an Bord ge‐ hen. Sie übernehmen das Kommando über den militärischen Teil der Operation. Noch Fragen?« »Wieviel Mann habe ich für die Operation zur Verfügung, Sir?« »Zwanzig Soldaten des Raumkorps, Major. Zusätzlich wird Ihnen Hauptgefreiter Strange zugeteilt.« Wenigstens ein Lichtblick, dachte Santini. »Ist er informiert?« »Er hat seine Instruktionen bereits erhalten. Hier ist Ihr neuer Ein‐ satzbefehl, Major.« Pershing schob ihm die schmale Akte über den Tisch zu und bemühte sich, seine Befriedigung nicht zu offensich‐
tlich werden zu lassen. »Suchen Sie sich Ihre Siebensachen zusam‐ men, Major. Ich schlage vor, daß Sie sich spätestens in vier Stunden an Bord der DIGUFINOLHU einfinden. Kapitän Dschamil erwartet Sie.« Er sah Santini auffordernd an; für ihn war die Besprechung zu Ende. Santini erhob sich steif, salutierte und marschierte zur Tür. Kurz davor holte ihn Pershings Stimme ein: »Major Santini!« Santini drehte sich um. »Ich erwarte, daß Sie Ihr Bestes geben… und mehr noch: Gehen Sie intelligent vor!«
4. Die Einsatzzentrale der terranischen Expeditionsarmee befand sich in einem hallenähnlichen Raum, den man mit Trennwänden in kleinere Arbeitsbereiche aufgeteilt hatte. Viele Männer und Frauen arbeiteten an den Schreibtischen. Auf großen Platten waren Pläne der Oberfläche von Grah ausgebreitet, auf denen Kartographen der Flotte Eintragungen überprüften; jede Bewegung der vielen Ein‐ satzgruppen, die im Dschungel, in den Städten und Siedlungen von Grah unterwegs waren, wurde akribisch festgehalten. Dazwischen zahllose Computerkonsolen, Hunderte von kleinen und großen Bildschirmen. Überall herrschte die Aktivität einer großen Militär‐ maschinerie. Santini durchquerte den Saal und steuerte dessen hinteres Ende an. Dort befanden sich die Büros der einzelnen Kommandeure. Darunter auch sein Büro, das er, wie er mit einigem Fatalismus feststellte, viel zu selten von innen zu sehen bekam. »Ich habe schon von Ihrem neuen Einsatz gehört, Sir«, begrüßte ihn sein Stellvertreter, Oberleutnant Marcel Mair, als er sein Büro betrat. letzt stand er aus dem Sessel auf, den er in Santinis Abwesenheit als den seinen ansehen durfte. Santini winkte ab. »Bleiben Sie sitzen, Marcel.« Wenn sie unter sich waren, ließ Santini die militärischen Titel weg. »Ich glänze sowieso so oft durch Abwesenheit, daß ich mich bereits zu fragen beginne, wozu ich eigentlich ein Büro benötige. Können Sie mir einen triftigen Grund nennen?« »Nun, Sir, sehen Sie es mal so: Wo sollte ich mich dann hinsetzen?« Santini zeigte ein gequältes Grinsen. »Ja, ja. Des einen Frust ist des anderen Freud. Ich suche mir nur ein paar Dinge zusammen, dann bin ich schon wieder weg.« Er holte seinen Seesack aus dem Schrank und begann damit, dessen Inhalt zu kontrollieren; eine Tätigkeit, die nur kurz dauern würde. Santini legte Wert darauf, stets auf gepack‐
ten Koffern zu sitzen, wie er zu sagen pflegte. Der Oberleutnant seufzte. Es war ein Laut, der Santini aufblicken ließ. Er hielt inne. »Haben Sie was, Marcel?« »Ich wollte, ich könnte Sie begleiten, Sir«, bekannte der Offizier. »Sie erstaunen mich, junger Mann. Ich wußte nicht, daß Sie Ambi‐ tionen haben, in ein Schwarzes Loch zu fallen, von Sternenunge‐ heuern massakriert oder von Eingeborenen wilder Planeten über dem Feuer geröstet zu werden – um nur einige der zahllosen Un‐ wägbarkeiten anzuführen, die einem dort draußen«, er machte eine Handbewegung zur Decke, »widerfahren können.« Mair holte tief Luft, sein Gesicht bekam einen träumerischen Aus‐ druck. »Was gäbe ich dafür, diese Abenteuer selbst zu erleben.« Santini sah ihn an, streng, fast väterlich. Mit leichtem Kopfschüt‐ teln sagte er: »Ich würde Ihnen das ja alles gerne ermöglichen, Mar‐ cel, aber ich mußte Ihrer Mutter versprechen, Sie keinen Gefahren auszusetzen, soweit es in meiner Macht steht. Tut mir leid, daran muß ich mich halten. Ansonsten bekomme ich keine Weihnachtsge‐ schenke mehr von meiner Tante Carlotta. Aber vielleicht kommt einmal der Tag, an dem Generaloberst Pershing dieses Arrangement herausfindet und Sie mit Freude an die Front schickt.« »Vielleicht sollte ich es ihm sagen. Was meinen Sie, Sir?« »Lassen Sie’s sein. Das Leben ist kurz genug, man muß es sich nicht auch noch absichtlich kaputtmachen.« »Irgendwann«, prophezeite der Oberleutnant, »werde ich mich von dieser Abhängigkeit loslösen und ein eigenständiges Leben führen.« »Tun Sie das, Marcel«, riet Eric Santini, »aber tun Sie es nicht jetzt. Warten Sie den richtigen Zeitpunkt ab.« »Aber wann kommt der?« Der Major schloß den Magnetsaum seines Packsackes, setzte sich darauf und sah den Oberleutnant ernst an. »Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Sie werden es wissen, wenn
die Zeit dafür reif ist. So, Oberleutnant Mair«, er stand auf, jetzt wieder ganz der Vorgesetzte, »und jetzt organisieren Sie meinen Transport zum Raumhafen.« Er warf einen Blick auf sein Chrono. »Ich habe mich ganz schön verplaudert. Wird höchste Zeit, daß ich mich auf den Weg mache.« * Wie alle Militärraumhäfen war auch der von Grah ein Tohuwa‐ bohu an Geschäftigkeit. Legionen selbstfahrender Laderoboter kurvten auf ihren Antigravfeldern zwischen den Nachschubfrach‐ tern, den Ringschiffen und kleineren Kreuzern der Terranischen Flotte hin und her, beluden Schiffe oder löschten deren Ladungen. Die Versorgung einer derart großen Expeditionsarmee, wie sie auf Grah stationiert war, erforderte den Umschlag von Unmengen Nachschub. Er war fast ebenso aufwendig und umfangreich wie die merkantilen Verflechtungen der großen Handelsgesellschaften zwi‐ schen den einzelnen Systemen der erforschten Galaxis, um deren Versorgung mit den Gütern des täglichen Bedarfs sicherzustellen. Neben Hafen Drei, dem wichtigsten Raumhafen auf Grah, waren inzwischen wieder mehrere kleinere, allerdings technisch nicht so gut ausgerüstete Häfen in Betrieb, die jedoch überwiegend von Ku‐ rierschiffen frequentiert wurden. Der Militärgleiter in der charakteristischen Tarnfarbgebung der Terranischen Flotte brachte Major Eric Santini zur Parkposition der DIGUFINOLHU – das Raumschiff stand ein wenig versteckt zwi‐ schen zwei Lagerhallen – und hielt unmittelbar vor der Haupt‐ schleuse. Der Fahrer, ein Offiziersanwärter, sprang hinaus, lief um den Gleiter herum bis zur Ladeluke, griff sich den Packsack des Majors und stellte ihn auf dem Beton des Startfeldes ab. Santini war inzwischen auch ausgestiegen. Er machte zwei, drei Schritte und blieb dann erschüttert stehen. Seine Stirn furchte sich,
als er das Schiff sah. »Das glaube ich jetzt nicht!« war alles, was er hervorbrachte. Seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich: Neben all den modernen Ringraumern und Modulfrachtern wirkte die DIGUFI‐ NOLHU, als hätte man sie im Rahmen einer Recyclingaktion vom Schrottplatz geholt. Sie war ein Beuteschiff aus Giant‐Beständen, das man nach deren Auflösung in die Terranische Flotte eingegliedert hatte. Alle Beuteschiffe – ehemalige Raumschiffe der Giants, die nach deren Auflösung in die terranische Flotte integriert worden waren – waren kugelförmig, angefangen vom 750‐Meter‐Bergungsraumer der Sternenklasse über die Kreuzer der Planetenklasse mit ihren 400 Metern Durchmesser, den 200‐Meter‐Jägern der Hunterklasse bis hinab zu den 50 Meter durchmessenden Sternschnuppen der Pan‐ therklasse. Bei der DIGUFINOLHU handelte es sich um eine Sternschnuppe, die ihre hydraulischen Landestützen auf den Beton des Landefeldes stemmte. Die einstmals schimmernde Metallhülle war von den Spuren vieler Atmosphärendurchflüge gezeichnet; sie hätte durchaus eine inten‐ sive Grundreinigung mit anschließender noch intensiverer Polierung vertragen. So aber machte sie einen leicht verwahrlosten Eindruck und taugte nicht viel als Aushängeschild der Terranischen Flotte. Eigentlich hätte er gewarnt sein müssen, als Generaloberst Pershing bei der Nennung des Namens so einen eigentümlichen Glanz in den Augen gehabt hatte. Jetzt sah er den Grund dafür. Pershing schien ihn tatsächlich nicht zu mögen. Irgendwann, so schwor er sich, würde er es ihm heimzahlen… »Brauchen Sie mich noch, Sir?« machte sich der Fahrer bemerkbar. Santini erwachte aus seiner Starre und gab dem Fähnrich zu ver‐ stehen, er könne losfahren. Dann war er allein.
Um ihn herum waren die Geräusche des Hafens zu hören. Durch die offene Schleuse drangen klopfende Geräusche aus dem Schiffsinnern. Ein feines Singen lag in der Luft. Santini war sicher, wenn er die Hand gegen die Schiffshülle legte, würde er die Vibra‐ tionen der schweren Maschinen und Konverter spüren. Er schüttelte erneut den Kopf, nahm seinen Seesack auf und ging auf die Rampe zu, an deren Fuß ihn zwei Männer erwarteten. Einer trug die Rangabzeichen eines Hauptmanns, der andere war ein Maat erster Klasse. Der Offizier salutierte. »Mark Welch«, sagte er, »Erster Offizier der DIGUFINOLHU. Major Santini, wenn Sie mir folgen wollen, Sie werden bereits erwartet.« »Danke«, sagte Santini und beschloß, seine Gefühle über das Schiff nicht allzu offensichtlich zur Schau zu stellen. Der Erste Offizier deutete auf Santinis Packsack. »Skyler, bringen Sie die Sachen des Majors in seine Kabine!« »Aye, Sir.« Der Maat, gebaut wie ein Ringer, nahm den Sack auf, als wäre er ein Handtäschchen, und ging ins Schiff voraus. Wenigstens scheint die Kommandostruktur zu stimmen, dachte Santini, während er hinter dem Ersten Offizier die Rampe emporstieg. Das Licht der Schleuse empfing ihn, und er nahm die dunkle Brille ab. Während der Fahrt hierher hatten sich die Unwetter verzogen, über Hafen Drei strahlte die Sonne von einem wolkenfreien Himmel, und die Hitze war kaum auszuhalten. Santini atmete auf, als er die schwache Energiebarriere durch‐ schritten hatte und ihn das klimatisierte Innere der Sternschnuppe umfing. Gleich darauf betraten sie über den zentralen A‐Gravschacht die kleine Zentrale. Der Kapitän, dessen vollständiger Name Maumun Abdul Dscha‐ mil lautete, erhob sich aus seinem Gliedersessel und wandte sich seinem Passagier zu.
»Major Santini?« fragte er. Er war ein Mann, dem man seine in‐ doasiatische Abstammung ansah. Braune Haut, schwarzes Haar; die sorgfältig rasierte Kinnpartie zeigte einen bläulichen Schimmer. Vermutlich hatte er einen sehr starken Bartwuchs. Die Uniform war tadellos gepflegt. »Kapitän Dschamil?« »So ist es.« Der Händedruck des Kapitäns umfaßte schraubstockartig Santinis Hand. Die Augen des Raumfahrers waren klar und aufmerksam. Lange Jahre der Erfahrung ließen ihn gelassen und abgeklärt er‐ scheinen. Er sagte, fast eine Spur zu förmlich: »Willkommen an Bord meines Schiffes – meinen Ersten Offizier, Stellvertreter und Naviga‐ tor, Hauptmann Welch, kennen Sie bereits. Dies«, er machte eine Handbewegung auf den links von ihm stehenden Offizier, »ist mein Zweiter Mann, Oberleutnant Hub Joly. Funk und Ortung. Meinen Dritten Offizier und Chief, Lee Pederson, lernen Sie später kennen. Im Augenblick ist er im Maschinenraum mit den Vorbereitungen für unseren Start beschäftigt…« Insgesamt hatte die DIGUFINOLHU eine Besatzungsstärke von zwölf Mann einschließlich des Kapitäns. Dann war da noch eine Frau. Leutnant Penelope dos Santos, eine 27jährige, zierlich wirkende Spezialistin für Funktechnik. Sie stand in Grundstellung vor ihm. »Leutnant Penelope dos Santos meldet sich zum Dienst, Sir!« »Stehen Sie bequem, Leutnant. Zum Dienst? Davon weiß ich nichts.« »Man hat sich im Oberkommando kurzfristig dazu entschieden, mich Ihrem Team zuzuweisen. Sicher war keine Zeit mehr, Ihnen das mitzuteilen, Sir!« »Wenn Sie das sagen. Ich kläre das bei unserer Rückkehr, Leutnant. Willkommen, jedenfalls. Freut mich, Sie dabeizuhaben.« Santini streckte die Hand aus. Sie ergriff sie; ihr Händedruck war kurz und zurückhaltend.
»Major Santini«, sagte sie, und ihre Stimme klang eine Spur he‐ rausfordernd, »die Freude ist auf meiner Seite, unter Ihrem Kom‐ mando dienen zu dürfen, dem guten Geist der Gordo.« Santini hob die Augenbrauen. »Spricht man so über mich in der Truppe?« Sie entzog ihre Hand der seinen, was ein kurzes Bedauern in ihm erzeugte. Die Anwandlung irritierte ihn etwas, da es keinen Grund dafür gab. Zumindest dachte er das, obwohl eine kleine hämische Stimme in seinem Hinterkopf ihn von etwas ganz anderem zu überzeugen suchte. »Wann immer Ihr Name erwähnt wird«, antwortete die junge Frau. Es klang ernsthaft, doch ihre dunklen Augen hatten einen spötti‐ schen Schimmer. Obwohl die Uniform der TF keiner Frau wirklich schmeichelte, saß die ihre wie maßgeschneidert und betonte ihre Körperformen. Wie ihr Anblick auf die Besatzung der Sternschnuppe wirkte, war Santini unbekannt, aber er konnte sich vorstellen, daß er in manchen Ge‐ dankengebäuden für ein gewisses Durcheinander sorgte. Er hoffte, daß er als ihr Vorgesetzter nicht allzuviel Streitereien unter den Männern schlichten mußte. »Auf Gerede sollte man nicht hören«, sagte er leichthin und setzte sein bestes Gesicht auf. »Mache ich auch nicht, Sir«, antwortete sie und hatte wieder dieses Glitzern in den Augen, während ein kurzes Lächeln um ihren Mund erschien, der, wie Santini auf eine gewisse Weise beunruhigt fest‐ stellte, ausnehmend sinnlich war. Er rief sich zur Ordnung. Dies war nicht der Augenblick, sich über die Vorzüge einer vollkommen Fremden Gedanken dieser Art zu machen. »Was macht das Einsatzteam?« wandte er sich an Dschamil. »Ha‐ ben Sie den Männern schon ihre Quartiere zugewiesen?« »Ihr Team… tja, da fragen Sie wohl besser Ihren Hauptgefreiten, Major«, antwortete der Kapitän und drehte den Kopf nach Tom
Strange, der ebenfalls in der Zentrale anwesend war und jetzt einen gequälten Gesichtsausdruck bekam. »Mister Strange?« »Leutnant dos Santos und ich sind alles, was vom Team noch übrig ist, Sir«, bekannte der Hauptgefreite und wappnete sich gegen den sich abzeichnenden Weltuntergang. »Was!?« In Santinis Stimme schwang ein drohender Unterton mit, der nichts Gutes verhieß. Und nur die anwesenden Schiffsoffiziere hinderten den Major daran, laut zu werden. »Erklären Sie!« Das tat der Hauptgefreite. Obwohl anfänglich noch 20 Soldaten des Raumkorps mit voller Bewaffnung für die Mission an Bord der Sternschnuppe vorgesehen gewesen waren, gefiel es dem terrani‐ schen Kommando auf Grah, dieses kleine Kontingent kurzfristig abzuziehen – ohne Angabe einer Begründung. Santinis Mienenspiel ließ ahnen, wie es in ihm aussah. »Zeit‐ punkt?« Es war, wie von ihm erwartet: Das Team war unmittelbar, nach‐ dem er Pershings Büro verlassen hatte, abberufen worden. Warum man allerdings dos Santos nicht mit abberief, war für Santini ein Rätsel. Pershing, immer wieder Pershing. Er war geradezu manisch dar‐ auf versessen, Santini seine Macht spüren zu lassen. Kapitän Dschamil, der nichts von der angespannten Situation zwischen dem Generaloberst und dem Major wußte, sagte: »Wir haben noch eine Stunde Zeit, ehe wir starten. Wollen Sie mit dem Oberkommando in Drei noch einmal Rücksprache halten, um die Situation zu klären?« Santini straffte seine Gestalt. »Nein«, erwiderte er mit einem dünnen, freudlosen Lächeln. »Die Situation ist eindeutig – und unveränderbar.« Dschamil sah ihn für Sekunden nachdenklich an. Dann sagte er: »Es ist Ihre Entscheidung… aber kommen Sie, Major, ich führe Sie ein wenig im Schiff herum.«
»Keine schlechte Idee, Kapitän.« Santini nickte, und seine Verstimmung schien vorerst vorbei zu sein. Mochte die DIGUFINOLHU auch äußerlich einen etwas herun‐ tergekommenen Eindruck machen – bei einem Beuteschiff ihres Al‐ ters kein Wunder –, so war sie im Innern hochmodern eingerichtet, wie der Major anerkennend feststellen konnte. Alles war auf dem neuesten Stand. Alles war blitzsauber. »Ihre Besatzung scheint kaum Freiwache zu haben«, konnte sich Santini nicht verkneifen zu sagen. »Was bringt Sie zu dieser Annahme?« »Wenn ich mich hier so umschaue, komme ich nicht umhin anzu‐ nehmen, daß sich mit Putzlappen bewaffnete Besatzungsmitglieder im pausenlosen Einsatz befinden.« »Das haben Sie schön gesagt, Major«, gestand der Kapitän. »Tat‐ sache ist jedoch, daß mein Chief zwei Roboter umprogrammiert hat, die nichts anderes tun, als sich permanent um die Sauberkeit des Schiffes zu kümmern.« »Verzeihen Sie mir meine Neugierde, Kapitän. Wie kommt Ihr Schiff eigentlich zu seinem Namen?« erkundigte sich Santini. »Kapitäne erhalten manchmal das Privileg, bei der Namensgebung eigene Wünsche äußern zu dürfen. Auf Digufinolhu, einer Insel der Malediven, wurde ich geboren. Das ist das ganze Geheimnis. So habe ich immer ein Stück Heimat bei mir, egal, wo in der Galaxis ich mich befinde. Ein Brauch übrigens, den bereits die Seefahrer übten.« Sie inspizierten weiter das Schiff, das eigentlich ein Wolf im Schafspelz war. Neben dem Sprungpeiler war es mit einer Tarnvorrichtung neus‐ ten Typs und einer experimentellen Transitionssteuerung ausgerüs‐ tet, die eine ganze Kabine mit Beschlag belegte und von der Pershing schon gesprochen hatte. »Auf welchen Parametern basiert diese Anlage, Kapitän Dscha‐
mil?« »Wie gut sind Sie in Hyperphysik bewandert, Major?« »Ich bin Soldat«, versetzte Eric Santini. »Bis auf die Grundlagen wurde mir auf der Akademie nichts beigebracht, was mich als Wis‐ senschaftler auszeichnen würde.« Dschamil wiegte den Kopf. »Das bin ich auch nicht. Ich wurde nur darauf geschult, mit der Anlage umzugehen. Ich kann ja mal versu‐ chen, Ihnen die Grundzüge dieser Transitionssteuerung nahezub‐ ringen«, meinte er und begann mit einer weitschweifigen Erklärung, von der Santini bereits nach den ersten Worten überzeugt war, daß er sie ebensowenig verstehen würde wie damals die Vorlesungen an der Akademie über Dimensionalphysik. Dennoch heuchelte er Interesse und bat insgeheim um ein Wunder, das ihn aus dieser Situation erlösen würde. Das Wunder geschah. Tom Strange erschien und meldete, daß Nachtflug vor der Sternschnuppe gelandet sei und ihn zu sprechen wünschte. »Sie scheinen sehr gefragt bei den Gordo zu sein, Major«, sagte Dschamil völlig wertfrei. »Gehen Sie. Wir werden in den kommen‐ den Tagen noch Gelegenheit genug haben, ausführlich über die Transitionssteuerung zu sprechen.« Das befürchte ich auch, dachte Santini und folgte Tom Strange nach draußen. * Santini kniff die Augen zusammen, als er die Polschleuse der DI‐ GUFINOLHU verließ und über die Rampe hinablief. Über der Be‐ tonfläche des Raumhafenareals lag eine flirrende Hitzeschicht. Grahs Zentralfeuer stand im Zenit eines vorübergehend wolkenlosen Himmels. Die parkenden Raumschiffe und die Lagergebäude warfen kurze, tiefe Schatten.
Der Major griff in die Brusttasche seiner Kombination und holte die Sonnenbrille hervor, hinter deren dunklen Gläsern er seine Au‐ gen verbarg. Nachtflug wartete in zwanzig Schritten Entfernung. Er hatte seine riesige Antigravwanne verlassen, mit der er von Drei gekommen war, und sich auf dem Boden niedergelassen. Umringt wurde er von seinem Gefolge schwerbewaffneter terranischer Soldaten, das ihn auf Schritt und Tritt begleitete, sobald er sich ins Freie begab. Die Bewachung war absolut notwendig, zu Nachtflugs eigenem Schutz, wie die jüngste Entführung von Schattensucher und Licht‐ freundin wieder einmal in aller Eindringlichkeit bewiesen hatte. Obwohl der Krieg mit den Grakos, jener einstmals gefürchteten Geißel der Galaxis, zu einem Ende gekommen war; obwohl die Gordo – in der Ontogenese der Insektoiden das letzte Entwick‐ lungsstadium darstellend – inzwischen wieder ihren angestammten Platz an der Spitze der Hierarchie eingenommen hatten, gab es leider noch immer viel zu viele Grakos, die die neue Ordnung nicht zu akzeptieren bereit waren und vehement auf eine Rückkehr zur alten Ordnung hinarbeiteten. Nachtflug war wie alle Gordo eine Riesenlibelle von filigraner Schönheit; wenn er sich bewegte, liefen irisierende Schleier des ge‐ samten Farbspektrums über seine durchscheinenden Flügelpaare. Seine Größe war es, die es ihm unmöglich machte, das Schiff zu betreten. Ein zehn Meter langes Insekt paßte nicht einfach so in ein Schiff, dessen Decks für völlig andere Nutzer konstruiert worden waren. Santini hatte den Gordo erreicht. Er blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken, während Nachtflug seine Flügel hinter sich zusammenfaltete und den mandibelbewehrten Schädel mit den rie‐ sigen Augen etwas senkte. Ich grüße dich, Eric Santini! vernahm der Major die Gedanken des Gordo in seinem Hinterkopf. Eine verbale Kommunikation war den libellenhaften Riesen nicht gegeben, statt dessen kommunizierten sie
als Semitelepathen mittels Gedankenübertragung, ohne daß sie je‐ doch in der Lage waren, die Gedanken anderer abzuhören oder gar zu beeinflussen. »Ich grüße dich ebenfalls«, erwiderte Santini laut. Es hatte sich herausgestellt, daß es durchaus genügte, wenn man seine Gedanken laut aussprach, um den für die Gordo zu empfangenden Gedan‐ kenimpuls zu erzeugen. Ich freue mich, dich wohlauf zu sehen. Wir waren sehr betroffen darüber, daß du im Haus von Schattensucher und Lichtfreundin fast zu Tode ge‐ kommen bist. »Ich danke dir für deine Worte«, erwiderte Santini und nahm zur Kenntnis, daß Nachtflug kein »Wort« über die toten Grakos geäußert hatte. »Habt ihr inzwischen herausgefunden, welchem Zweck die Rebellenzelle im Gebäude der planetaren Verwaltung diente?« Noch nicht. Aber sei versichert, daß wir mit Nachdruck an einer Aufklä‐ rung arbeiten, kam die Erwiderung Nachtflugs. Seine Impulse blieben für einen Moment aus, dann waren sie wieder in Santinis Kopf: Wir schulden dir auch dafür Dank, daß du ohne Rücksicht auf dein Leben und das deiner Gefährten versuchst, Lichtfreundin und Schattensucher zu fin‐ den. »Ich habe dir und den anderen Gordo ein Versprechen gegeben. Terraner pflegen ihre Versprechen zu halten. Zumindest ich und eine ganze Menge anderer leben nach dieser Maxime.« Wir wissen das. Und wir sind dir dankbar. Du verläßt Grah? »Nicht wirklich. Ich kehre zurück. Der Flug dient hauptsächlich dazu, herauszufinden, ob man Schattensucher und Lichtfreundin von Grah weggeschafft hat. Erkenntnisse unseres Geheimdienstes machen eine derartige Annahme wahrscheinlich.« Nachtflug hüllte sich in Schweigen, zumindest nahm Santini das an, denn es kamen keinerlei Impulse von der Riesenlibelle. Zwei Ovoid‐Ringraumer stiegen in einiger Entfernung auf und verschwanden lautlos im blauen Firmament. Der allgegenwärtige Lärm des Raumhafens war eine Geräuschkulisse, in der nahezu alle
anderen Laute ertranken. Schließlich ließen sich Nachtflugs Gedankenimpulse wieder ver‐ nehmen. Ich bin enttäuscht, machte er sich verständlich, daß man dir für diese Suche nur ein derart kleines und altes Schiff zur Verfügung stellt. Es ent‐ spricht nicht deinen Fähigkeiten. Es wird auch nicht der Bedeutung deiner Person und der Dringlichkeit der Aufgabe gerecht. Soll ich mit deinen Vorgesetzten darüber sprechen? Das läßt du besser bleiben, mein großer Freund, dachte Santini für sich. Ich habe so schon Schwierigkeiten genug mit meinem Vorgesetzten, dem es schon lange nicht mehr gefällt, daß er von euch mehr oder weniger kaum beachtet wird. Dennoch widersprach Nachtflugs Äußerung über das alte Schiff seiner Loyalität, die er als Soldat der Terranischen Flotte gegenüber empfand, weshalb er laut sagte: »Ich darf dir versichern, daß es eine besondere Geste der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen der Erde und Grah darstellt, trotz der momentanen Exis‐ tenzkrise, mit der mein Volk zu kämpfen hat, ein äußerlich zwar altes, aber im Innern extrem modern ausgerüstetes Schiff abzustel‐ len. Glaube mir, es ist für die anstehenden Nachforschungen bestens geeignet.« Nachtflug raschelte mit den Flügeln; kleine farbige Lichtblitze huschten über die durchscheinende, pergamentartige Haut. Ich glaube dir, Eric Santini, und ich bitte dich um Nachsicht für meine törichte Bemerkung. Sie entsprang nur meiner tiefen Sorge um die beiden verschwundenen Gordo. Du weißt, daß wir Großes vorhaben. An allererster Stelle müssen wir die Aufzucht unserer Jungen vollkommen neu organi‐ sieren. Schließlich sollen sich die kommenden Generationen unseres Volkes ohne eine sie umgebende Hyperraumblase entwickeln und ganz normal heranwachsen, um schließlich das Stadium der Gordo zu erreichen. »Dann wird die Zeit der Schatten endgültig zu Ende sein«, sagte der Major. Ja, Eric Santini, so sehen wir unsere Zukunft, bestätigte der Gordo und fuhr fort: Unsere Zukunft hängt davon ab, daß Schattensucher und Licht‐
freundin gefunden werden. Sie sind geschlechtsreif. Sie müssen aus der Gewalt ihrer Entführer befreit werden, rechtzeitig befreit werden, bevor sie von den Grako‐Rebellen zur Eiablage gezwungen werden können. Du ver‐ stehst? Santini verstand Nachtflug, konnte dessen Sorge nachvollziehen. Da nur Gordo imstande waren, für natürlichen Nachwuchs zu sor‐ gen, kam ihnen eine ganz besondere Bedeutung für die Zukunft des neuen Geschlechts von Grakos zu. Die Gordo‐Regierung wollte endlich Nachwuchs aufziehen, der kein Schattenfeld mehr verpaßt bekam – und der dann in vielen Jahren nach der letzten Verpuppung auch keine Riesengordo mehr hervorbrachte, sondern nur normale von der Größe der jetzigen Grakos. Sollte es den Rebellen gelingen, diese noch in den Anfängen steckende Entwicklung erneut zu kip‐ pen, indem sie der Brut von Schattensucher und Lichtfreundin wie‐ der der perversen Hyperfeldbehandlung unterzogen, blieb alles beim alten. »Das alles ist meiner Regierung und mir bekannt«, sagte er, auf eine merkwürdige Art von Nachtflugs Gedankenimpulsen berührt, die eine tiefe Traurigkeit und einen Hauch von Einsamkeit vermit‐ telten, die ihn betroffen machten und seltsam anrührten. Es gab nur wenige Gordo und noch, weniger geschlechtsreife. Daraus ein neues Volk entstehen zu lassen, eine neue Ordnung aufzubauen und dabei die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden ließ die Arbeit des Sy‐ siphus in einem ganz anderen Licht erscheinen. Er fuhr fort: »Sei versichert, daß ich alles in meiner Macht stehende unternehmen werde, um die beiden wohlbehalten zurückzubrin‐ gen.« Das weiß ich, Eric Santini. Und ich danke dir dafür im Namen der neuen Ordnung – und in meinem. Nachtflug erhob sich zu seiner vollen Größe und breitete kurz seine Flügelpaare aus. Sie begannen zu schwingen, bewegten sich kurzzeitig so schnell, daß außer einem Flirren keine andere Bewe‐ gung sichtbar war. Ein Klingen und Brausen erhob sich, das einer
fernen, unwirklichen Melodie glich. Santini, der annahm, Nachtflug wollte die Strecke zurück zum Regierungssitz fliegen, hatte derglei‐ chen schon mehrmals vernommen, doch es faszinierte ihn stets aufs neue. Dann wurde das Brausen zu einem tiefen, ganz am Ende der Geräuschskala angesiedelten Brummen und erstarb. Nachtflug wandte sich trotz seiner Größe graziös um und sprang mit einem Satz seiner langen, mächtigen Hinterbeine in seine A‐Gravwanne. Gleich darauf war er mitsamt seiner Eskorte auf dem Weg zurück dorthin, woher er gekommen war. Santini stand wie festgewurzelt und verfolgte den Troß, bis er au‐ ßer Sichtweite geriet. Er fühlte sich verunsichert, von seinen Gefühlen genarrt. Er konnte sich täuschen, aber ihm war, als hätte er in Nachtflugs letzten Im‐ pulsen so etwas wie Freundschaft gespürt. Freundschaft, die dieser Gigant ihm, einem Terraner, entgegenbrachte. Absurde Vorstellung. Oder doch nicht? Merkwürdigerweise fühlte auch er sich dem Rie‐ seninsekt innerlich verbunden. Hätte ihn jemand darauf angespro‐ chen, würde er es vehement verneint haben, aber Tatsache war, daß er Nachtflug als einen Freund betrachtete. * Die Maschinen liefen an. Der Erste Offizier meldete das Schiff bei der Hafenkontrolle startbereit und bekam die Startfreigabe. Die DIGUFINOLHU hob ab, verließ Drei und durchstieß die Lufthülle von Grah. Einmal im Raum, aktivierte sie ihren brandneuen Tarn‐ schutz und stieß entlang der Planetenebene in einer Geraden bis zum Rand des Gerrck‐Systems vor. Dort ging sie in eine weite Umlauf‐ bahn um das Zentralgestirn, wobei sie den Abstand zur Welt der Grakos konstant hielt. Dann verstummten die Maschinen; die DI‐ GUFINOLHU verharrte scheinbar bewegungslos im Weltraum. Dieser Eindruck täuschte.
In Wirklichkeit bewegte sie sich mit der Geschwindigkeit durch den Raum, mit der auch Grah seine Sonne umrundete. Daß sie ihre Position nicht durch die Gezeitenkräfte der Schwerkraftfelder des Systems verlor, ihr nicht vorauseilte oder hinterherhinkte, dafür sorgte der Hyperkalkulator, der immer dann eingriff und den Kurs stabilisierte, wenn die DIGUFINOLHU von ihren Koordinaten ab‐ zudriften drohte. Die Taster von Ortung und Sprungpeiler waren nach »draußen« gerichtet, »blickten« hinein in den tiefen Raum jenseits des Gravita‐ tionsbereiches des Gerrck‐Systems. Transitionen anfliegender Schiffe endeten üblicherweise außerhalb eines Sonnensystems, weil es durch die Gravitationsfelder in seinem Innern leicht zu Unfällen kommen konnte, wenn man in ihrem Ein‐ flußbereich aus dem Hyperraum auftauchte. Ein Hyperraumsprung direkt in ein Sonnensystem hinein stellte immer ein unkalkulierbares Risiko dar; es gab nur wenige terranische Kapitäne, die dieses Wag‐ nis für Schiff und Besatzung eingingen. Falls aber mal doch, dann nur in unumgänglichen Notfällen. Sollte sich also ein Roboterschiff dem Gerrck‐System und damit Grah nähern, würde es vermutlich noch außerhalb der Systemgren‐ zen aus dem Hyperraum treten. Kapitän Dschamil ging deshalb zurecht davon aus, daß gleich welche Art von Transitionen gescha‐ hen, sie aus dieser Richtung kamen. Feindlich gesonnene Einheiten würden niemals den weiten Weg »durch« ein Sonnensystem neh‐ men, um sich von der anderen Seite ihrem Ziel zu nähern. Die Ge‐ fahr einer vorzeitigen Entdeckung mit entsprechenden Abwehr‐ reaktionen wäre um einige Potenzen höher. Die Bildschirme in der kleinen Zentrale zeigten den Weltraum in einer Rundumsicht. Tastersignale wisperten, und die Schiffssensoren belieferten die Überwachungskonsolen mit ständig sich erneuernden Informationen. Vom Halbrund des Hauptschirmes strahlten weitverstreut die Sterne dieses Sektors der Milchstraße und brannten nadelfeine Lö‐
cher in den schwarzen Samt des Weltraums. Maumun Abdul Dschamil im Kommandantensessel der kreisför‐ migen Zentrale beobachtete die Anzeigen auf seiner Konsole, um sich ein Bild über die Lage zu verschaffen. Sein braunhäutiges Ge‐ sicht, von wachen, dunklen Augen dominiert, wirkte gelassen. Im Leitstand hielten sich im Augenblick nur wenige Mitglieder der Besatzung auf. »Mister Welch!« Der Kopf des Ersten Offiziers und Navigators ruckte herum; er saß auf dem Platz des Piloten. »Kapitän?« »Status?« »Systeme sind im grünen Bereich, Sir.« Dschamil stemmte einen Fuß auf die Raste seines Kommandan‐ tensessels und wandte sich an seinen Zweiten Offizier. »Mister Joly! Etwas dort draußen zu erkennen, was Probleme be‐ reiten könnte?« »Negativ, Sir«, antwortete der Funk‐ und Ortungsoffizier von sei‐ ner backbords gelegenen Konsole. »Weit und breit keine unbekann‐ ten Signale.« Der Kapitän nickte zufrieden. »Nummer Eins, aktivieren Sie die Bordverständigung.« »Ist aktiviert, Kapitän.« Dschamil setzte sich unwillkürlich in Positur, bis er es merkte und sich wieder entspannt in seinen Sitz lehnte. »An alle«, begann er, und seine Stimme wurde in jeden Winkel der kleinen Sternschnuppe übertragen. »Wir werden hier warten, bis uns unser Sprungpeiler das Auftauchen eines oder mehrerer dieser un‐ bekannten Raumschiffe anzeigt, deren Transitionen seit einiger Zeit von dem auf Grah stationierten Sprungpeiler angemessen werden. Geschieht das, werden wir eines dieser Schiffe verfolgen und mit ihm dorthin springen, wohin es transitiert. Vielleicht finden wir auf diese Weise die Basis der Fremden. Wir werden uns auf keine
Raumgefechte einlassen, das übernimmt die Flotte, wenn sie von uns die Koordinaten erhält. Das ist ein Teil unserer Mission, die, wie ich betone, nicht ungefährlich ist, aber Aussicht auf Erfolg hat. Der zweite Teil ist die Suche nach den von Grah entführten Gordo. Diese Aufgabe führt primär Major Santini mit seinen Leuten durch. Wir unterstützen ihn natürlich in jeder erdenklichen Weise, sollte es zu Kampfhandlungen bei der Befreiung der Gordo kommen, die, wie die GSO vermutet, auf einer uns noch unbekannten Welt gefangen‐ gehalten werden. Das war’s.« Dschamil nickte Hub Joly zu, der die Phase der Bordverständigung stummschaltete. Der Kapitän stand auf, sah Eric Santini an, der auf dem Platz des Kopiloten saß, wo er am wenigsten störte, und fragte. »Was halten Sie von einer Tasse Kaffee, Major?« »Viel«, erwiderte Santini. »Wo?« »Gehen wir in die Messe. Wir beide werden hier jetzt kaum ge‐ braucht.« »Wenn Sie es sagen, Kapitän.« Er stand auf und schloß sich Dschamil an, der über die Schulter sagte: »Ich kann Ihnen dabei ein wenig mehr über unsere Einbauten erzählen.« Zum Glück hatte der vermaledeite… hmm, maledivische Kapitän keine Augen am Hinterkopf, sonst hätte er gesehen, wie Santini er‐ schrocken blickte. Es wurde dann doch nicht so schlimm, wie der Major befürchtet hatte. Dschamil ließ nur ein paar allgemeine Erklärungen vom Stapel und, beschränkte sich ansonsten darauf, Unmengen von Kaffee in sich hineinzuschütten. »Warum legen Sie sich nicht einfach eine Koffein‐Infusion, es wäre einfacher für Sie«, schlug Penelope dos Santos vor, die von Dschamil auf dem Weg zur Messe überredet worden war, sich den Männern anzuschließen. Was Santinis uneingeschränkte Zustimmung fand, ärgerlich war nur, daß ihm der Kapitän mit dieser Einladung zu‐ vorgekommen war – er hätte sie gern selbst ausgesprochen.
»Gute Idee, Leutnant. Ich spreche gleich mal mit meinem Sani‐ tätsmaat.« Er grinste, offenbar gefiel ihm ihr scharfzüngiger Humor. Aber ein Gutes hatte dos Santos’ Anwesenheit am Tisch doch: Sie war eine kompetente Zuhörerin für Dschamils enthusiastische Er‐ klärungen all der vorzüglichen neuen Vorrichtungen, die man der Sternschnuppe verpaßt hatte. Sie schien vom Fach zu sein. War sie deshalb noch kurzfristig abkommandiert worden, um ein Auge auf die Experimente zu haben? Zuzutrauen war Pershing ein solches Verhalten durchaus. Im Delegieren war er unübertroffen und sehr vorausschauend, wenn er sich einen Vorteil davon versprach, wie beispielsweise den erfolgreichen Einsatz der Transitionssteuerung, wie immer die auch funktionieren mochte. Santini blickte da nicht durch. Aber anscheinend um so mehr dos Santos. Sie war, hatte er den Eindruck, davon sogar höchst angetan – und zeigte ein bißchen zu‐ viel Interesse an dem Kapitän, wie Santini feststellte, was ihn ir‐ gendwie wurmte. Ein irrationales Gefühl und vollkommen fehl am Platz. Er verbannte es deshalb schleunigst aus seinen Gedanken.
5. Es war nicht leicht, sich in einer Sternschnuppe aus dem Weg zu gehen. Dennoch schaffte es Eric Santini, in der Zentrale der DIGU‐ FINOLHU nicht zu sehr als Hindernis zu fungieren. Eigentlich war er im täglichen Ablauf der Schiffsroutine ein Störfaktor, aber nie‐ mand ließ ihn das spüren. Die erste Nacht war vorüber; er hatte gut geschlafen. Der Koch in der Messe verstand sein Fach; das Frühstück war reichhaltig und schmackhaft, wenn es auch überwiegend aus Fertigprodukten be‐ stand. Auf Schiffen wie der Sternschnuppe gab es kaum ausreichend Kühlräume, um frische Lebensmittel zu lagern. Da ihm seine Mannschaft von Raumsoldaten abhanden gekommen war, verzichtete Santini darauf, Tom Strange oder gar dos Santos mit stupidem Dienst nach Vorschrift zu behelligen. Die DIGUFINOLHU verharrte an ihrer Position; im Schiff gab es die übliche Routine von Wache und Freiwache. Es herrschte Funk‐ stille, und ungewollt schlich sich Langeweile ein. So verstrich der zweite Tag in Ereignislosigkeit. Der Sprungpeiler registrierte noch immer keinerlei »weiche« Sig‐ nale, die das Charakteristikum der fremden Raumschiffe waren. Um die Mittagszeit des dritten Tages saß Eric Santini in der Messe und löffelte gerade seinen Nachtisch aus der Vertiefung des Tabletts. »Darf ich mich setzten, Sir?« Er blickte hoch. Sie war es. Schön wie ein Sonnenuntergang am Meer. Ihr schwarzes, kurzgeschnittenes Haar glänzte im Kunstlicht der Messe. Die hohen Backenknochen in dem schmalen Gesicht ga‐ ben ihr einen leicht exotischen Anstrich. Ihre Haut hatte eine cremefarbene Schattierung, die auf einen maurischen Einschlag hindeutete. »Ihre Sehnsucht, Leutnant, wird Sie hergebracht haben«, sagte er in einem Versuch, witzig zu wirken. »Bitte.«
»Nicht ganz, Sir«, erwiderte sie mit ihrer dunklen, weichen Stim‐ me, die sofort wieder etwas in ihm zum Klingen brachte. Sie stellte ihr Tablett ab und setzte sich ihm gegenüber. »Eigentlich war es bloß der Hunger.« »Hol mich der Teufel!« sagte Santini verblüfft. »Besser nicht, Sir«, meinte sie und lächelte. »Ich müßte ja dann den Einsatz leiten, und ich bin überhaupt nicht mit den Gordo vertraut.« »Dem könnte man abhelfen«, meinte Santini. »Wie denn?« »Vielleicht, indem ich Ihnen eine kurze Einführung in die Ge‐ schichte der Gordo gebe«, schlug er vor und schob das Tablett zur Seite, um seine Ellbogen aufzustützen. »Warum nicht?« meinte sie und spießte ein Stück Fleisch auf die Gabel, um es in den Mund zu führen. »Darf ich dabei weiteressen?« Sie durfte. »Wieviel wissen Sie eigentlich über die Grakos?« Sie strich sich eine vorwitzige Haarsträhne aus dem hübschen Ge‐ sicht, runzelte überlegend die Stirn und meinte dann: »Nur daß sie Sauerstoffatmer sind, schwülwarme Dschungelwelten bevorzugen und in ihrem Aussehen etwa einer zirka 1,80 Meter großen Gottes‐ anbeterin entsprechen.« »Sonst noch was?« »Ah ja, als insektoide Spezies durchleben sie eine Reihe von un‐ terschiedlichen Entwicklungsstufen – ich glaube, es sind insgesamt neun, nicht wahr?« Sie sah ihn an. Er nickte. Und zufrieden fuhr sie fort: »Bis hin zur letzten und geschlechtsreifen Form der Gordo.« »Wie ich dachte, die Standardeinführung an der Militärschule«, nickte Santini. »Ich werde Ihnen ein paar Informationen mehr ge‐ ben.« Und er begann mit einer gedrängten und sehr vereinfachten Zu‐ sammenfassung des Werdeganges eines Volkes, das neben den Nogk zu einer der ältesten Spezies in der Galaxis gehörte. Zu Beginn seiner Geschichtsschreibung entsprach das Volk der
Gordo in seiner Sozialstruktur einer Staats‐ und Gesellschaftsord‐ nung mit spezialisierten Arbeitern, Kriegern, Drohnen und Köni‐ ginnen. Auf etwa 85.000 von ihnen kam jeweils eine Königin, die für die Produktion der Eier sorgte, sowie fünf Drohnen, die allein in der Lage waren, die Königin zu befruchten. Die zahlreichen übrigen Gordo waren geschlechtslos. Nach den Überlieferungen führten die Gordo in der Frühzeit ein Dasein, das von Kultur, Philosophie und schöngeistigen Dingen wie Musik und Literatur geprägt war. Ihre Nachkommen – die im achten Entwicklungsstadium aus den Puppen schlüpfenden Grakos – ver‐ richteten für eine Zeitspanne von jeweils etwa 20 Terrajahren alle anfallenden Arbeiten, ehe sie sich danach noch einmal verpuppten, um im Endstadium zu Gordo heranzureifen. In diesem »goldenen Zeitalter« lebten die Gordo/Grakos ohne Zank und Streit zusammen auf einem einzigen Planeten und hielten ihre Bevölkerungszahl durch Vernichtung überschüssiger Eier konstant. Doch dann geschah etwas, was jedem Volk früher oder später widerfuhr: Eine technische Revolution veränderte die weitere Entwicklung nachhaltig – und endgültig. Die Gordo, von ihrer Wesensart her Denker und Philosophen, interessierten sich nur marginal für die technischen Errungenschaf‐ ten ihrer Zivilisation. Ihre Arbeiter‐ und Kriegerkaste, die Grakos, hingegen schon. Schließlich gelang es den Grakos mittels des tech‐ nischen Fortschritts, die seit Jahrtausenden funktionierende Dop‐ pelkultur zu ihren Gunsten zu verändern und die bis dahin domi‐ nierenden Gordo aus ihrer angestammten Rolle zu verdrängen. In immer kürzeren Abständen entwickelten die Grakos biotechni‐ sche Verfahren, die die Dauer ihrer Existenz in der Grako‐Form von ehemals 20 Jahren verdreifachte. Schließlich war es vor mehr als 10.000 Jahren zum Ausrottungskrieg Grakos gegen Gordo gekom‐ men. Ein Vorgang, dem die Gordo hilflos gegenüberstanden. Sie hatten nie gelernt, Kriege zu führen, und infolgedessen auch nie welche gewonnen. Ihre eigenen »Kinder« dezimierten sie brutal und
erbarmungslos. Wann immer sich Grakos für das Endstadium ver‐ puppten, um als Gordo zu schlüpfen, wurden die Puppen erbar‐ mungslos vernichtet. Grako‐Wissenschaftler hatten inzwischen die Methoden bis zur Perfektion verfeinert, wonach man erkennen konnte, ob in den Puppen eine Königin oder ein zeugungsfähiges Männchen ‐eine Drohne – heranreifte. Nur solchen Gordo gestattete man, sich zu entwickeln, und sicherte so den Fortbestand der Art. Um aber Kontrolle über sie zu haben, hielt man Königinnen und Drohnen in »Geburtsburgen« gefangen, wo sie pausenlos für Nachwuchs zu sorgen hatten… Dos Santos hatte aufgehört zu essen, obwohl sie noch nicht fertig wahr. Jetzt nahm sie wieder die Gabel in die Hand. »Und wie wurden die Grakos dann zur Geißel der Galaxis?« »Die Entwicklung der Raumfahrt trieb die Population der Grakos in ungeahnte Höhen«, fuhr Santini mit seinen Erklärungen fort. »Plötzlich war Raum genug vorhanden, um sich hemmungslos zu vermehren – was die Grakos auch taten. Ein Planetensystem nach dem anderen wurde von ihnen besiedelt, vorhandene Zivilisation einfach vernichtet oder zumindest versklavt…« Er hielt inne, als die Bordverständigung zum Leben erwachte und eine Stimme drängend sagte: »Major Santini! Bitte kommen Sie in die Zentrale. Kontakt steht bevor. Major Santini, in die Zentrale bitte…« Eric Santini stand bereits. »Essen Sie ruhig weiter«, gab er dos Santos zu verstehen, die alar‐ miert blickte. »Sie werden nicht gebraucht. Die Geschichte der Gra‐ kos erzähle ich Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt zu Ende. Einver‐ standen?« »Natürlich, Sir. Wir werden noch eine Weile zusammen sein, den‐ ke ich mal.« Sie lächelte ihn an, auf eine Weise, die seinen Mund trocken werden ließ. Himmel, dachte er und schluckte. Dann drehte er sich um und stapfte entschlossen davon.
* Auf Grah betrat zu diesem Zeitpunkt ein Mann die Raumüber‐ wachung, die auf Raumhafen Drei ein eigenes Kontrollgebäude hatte, um seinen Dienst am Sprungpeiler anzutreten. Dy Deeker durchquerte den Eingangsbereich und steuerte auf das System von Antigravröhren zu, von denen er eine betrat, nicht ohne gegen ein flaues Gefühl in der Magengegend anzukämpfen. Das Gebäude war Teil der ehemalige Raumüberwachung der alten Grako‐Regierung, und die technischen Einrichtungen waren fast unverändert übernommen worden. Zwar hatte es sich gezeigt, daß sich die Grakos, die hier ebenfalls Dienst taten (wenn auch nicht in den sensiblen Bereichen), bislang absolut loyal verhielten. Aber ir‐ gendwie hatte Deeker nicht das rechte Vertrauen zu ihnen. Er hatte während der Grako‐Kriege an vorderster Front gekämpft und war mit seinen Kameraden häufig genug in die perfiden Fallen der Gra‐ kos getappt, die auf den brutheißen Dschungelwelten unzähligen Terranern und alliierten Völkern das Leben gekostet hatten. Es wi‐ derstrebte ihm, in ihnen plötzlich Verbündete zu sehen; so schnell wurde aus einem Saulus kein Paulus. Das konnte ihm niemand er‐ zählen. Trotz seines unterschwelligen Mißtrauens geschah nichts, als er in der Liftröhre nach oben schwebte und sieben Stockwerke höher durch düstere Korridore und Räumen schritt, in denen noch immer der Geist der alten Ordnung in allen Ecken zu lauern schien. Gleich darauf betrat er den Kontrollraum. Mit einem Blick überflog er die Reihen von Bildschirmen, die so angeordnet und geschaltet waren, daß sie eine Rundumdarstellung des umgebenden Weltraums bis in eine Tiefe von hundert Lichtjah‐ ren zu bieten imstande waren. Von einem Hyperkalkulator ge‐ steuert, drehten sich Überwachungssatelliten der TF weit draußen im Raum und suchten unablässig nach verräterischen Signalen und
Impulsen. Das war die normale Arbeit der Überwachungszentrale. Es gab auch eine andere. Dy Deeker, Oberleutnant der Terranischen Flotte, Spezialist für Raumüberwachung und verantwortlich für den Nahbereich der System Verteidigung, war seit kurzem einem neuen Tätigkeitsbe‐ reich zugeordnet worden. Mit seiner Einheit oblag es ihm, den neuen Sprungpeiler zu beaufsichtigen, den Terra an Grah geliefert hatte. Er durchquerte den Raum, trat an das Kommandoschaltpult und nickte seinem Techniker zu. »War was, Fähnrich Behl?« Fred Behl schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Seit drei Tagen schweigen die Taster. Möglicherweise haben sich unsere Besucher einer anderen Region zugewandt.« »Hm«, Deeker rieb sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Wenn wir sie nur einmal zu Gesicht bekommen würden, unsere scheuen Freunde!« Sein Wunsch war verständlich, aber unerfüllbar, wie sich leider immer wieder herausstellte. Seit der neue Sprungpeiler seine Arbeit aufgenommen hatte, hatte man zwar die Aktivitäten unbekannter Raumschiffe im Gerrck‐System anmessen, aber außer den Sprüngen selbst nichts orten können. Ein frustrierender Zustand, für die Spe‐ zialisten auf Grah ebenso wie für die Armeeführung. »Aber wir haben ja jetzt einen weiteren Trumpf in der Hand«, sagte der Fähnrich, und es war nicht klar, ob seine Bemerkung ironisch oder ernsthaft gemeint war. »Sie denken an den Sprungpeiler an Bord des Schiffes, das sich seit etwa 72 Stunden in dem Raumabschnitt mit den häufigsten Aktivi‐ täten versteckt?« »Ja, Sir. Es soll mit einer extrem verbesserten Tarnvorrichtung im Experimentierzustand versehen sein.« »Ja, unter anderem«, bestätigte der Offizier. »Was noch, Sir?«
Deeker zuckte mit den Schultern. »Genaues weiß man nicht, aber bei dem Schiff soll es sich um eine eierlegende Wollmilchsau han‐ deln.« Fred Behl grinste, ließ aber seine Anzeigen und Instrumente nicht aus dem Blick. »Sie haben vielleicht Vergleiche, Sir. Ich bin erstaunt.« Der Oberleutnant brummte nur. »Naja«, meinte Hauptgefreiter Behl, der aus einem den Alpen vorgelagerten Landstrich der Erde stammte, in dem merkwürdige Bräuche an der Tagesordnung waren. »Warum nicht. Solange es sich bei dem Experimentalschiff nicht um einen Wolpertinger handelt.« Jetzt war es an Deeker, Überraschung zu zeigen. »Sie stehen mir aber in der Wahl Ihrer Vergleiche kaum nach, Fähnrich Behl. Wie finde ich denn das!« Er setzte ein dienstliches Gesicht auf. »Verzeihung, Sir«, zeigte sich Behl zerknirscht, »ist mir so rausge‐ rutscht. Ich…« Er verstummte, als ein Alarmlicht auf der Konsole vor ihm aufleuchtete. »Moment mal, da ist ein Signal!« Der Fähnrich veränderte Schärfe und Intensität der Impulse auf dem Schirm. »Ja! Ja! Komm schon. Zeig dich! Nicht prüde sein…« Er stieß ein Triumphgeheul aus, das man bei ein wenig gutem Willen auch als Jodler interpretieren konnte. »Sir! Wir haben eine neue weiche Transition! Ein Schiff der Robo‐ terzivilisation laut den Vergleichsdaten aus dem Speicher.« »Zeichnen Sie sie auf wie die anderen auch, Fähnrich, und warten wir, ob sich unser Spion vor Ort meldet. Vielleicht tut sich diesmal doch etwas.« * In der Zentrale der DIGUFINOLHU, dem Spion vor Ort, herrschte gespannte, fast mit den Händen greifbare Erwartung, als Santini den Raum betrat. Die Männer waren damit beschäftigt, die Anzeigen der Pulte und
Monitore zu überprüfen. Dschamils Nummer Zwei saß an der Sprungpeilerkonsole und ließ den Schirm nicht aus dem Blick. Er hatte die Oberlippe hochgezogen und wirkte wie ein Wolf, der kurz davor stand, seine Fänge in die Beute zu schlagen. Kapitän Dschamil winkte den Major zu sich und deutete auf den leeren Sessel neben sich. »Achtung!« ließ sich der Zweite Offizier fast übernatürlich ruhig vernehmen. »Weiche Transition in einer Lichtsekunde.« Eine für astronomische Begriffe lächerlich geringe Entfernung. »Jetzt! Frem‐ des Objekt ist materialisiert, eindeutig ein Schiff der intelligenten Roboter.« »Wie wir immer vermutet haben«, brummte Dschamil. Eric Santini kam sich vor wie im falschen Film. »Verzeihung, Kapitän«, machte er seinem Befremden Luft. »Ich sehe nichts von dem, was Sie und Ihre Männer offensichtlich erken‐ nen. Klären Sie mich auf?« Dschamil tat es. »Mister Joly, legen Sie die Anzeige auf meine Konsole«, forderte er von seinem Zweiten Offizier. »Sehen Sie auf den Schirm, Major«, bat er dann Santini, als er das Bild vor sich hatte. »Für Sie mögen das nur unverständliche Zah‐ lensymbole sein, für uns, die wir mit dem Sprungpeiler arbeiten, sind es wichtige Informationen, die wir aufgrund unserer Erfah‐ rungen – und den Informationen über diese Objekte aus unserer Datenbank – interpretieren können.« »Und visuell?« »Sein Tarnschutz ist mindestens so gut wie der unsere«, warf der Erste Offizier ein. »Zu Gesicht bekommen wir ihn erst, wenn wir uns auf Gewehrschußweite herangepirscht haben.« Santini blickte erschrocken, als er sich an Dschamil wandte. »Das haben Sie vor!?« Dschamils beredte Miene war Antwort genug.
»Sie wollen es wirklich tun«, sagte Santini fatalistisch. »Das und noch etwas mehr«, bekräftigte der Kapitän. Was dieses »mehr« war, konnte Santini allenfalls vermuten, aber er hegte den Verdacht, daß es mit der Transitionssteuerung zusam‐ menhing, von der Penelope dos Santos mindestens ebenso angetan war wie der maledivische Schiffskommandant. »Mister Welch, eine abhörsichere To‐Richtfunkverbindung mit unserer Leitstelle auf Grah. Wollen doch mal sehen, ob die das glei‐ che auf ihren Schirmen haben wie wir.« »Aye, Kapitän!« Grah bestätigte und wünschte viel Glück für die weitere Mission. »Kapitän!« Hub Jolys Stimme. »Da draußen tut sich was!« »Lassen Sie sehen, Nummer Zwo.« Joly schaltete an der Konsole. Die Anzeige des Orters zeigte nun eine Grafik, auf der die Intensi‐ tät von Energieemissionen gegen die Frequenz aufgetragen wurde, mit der das Signal ankam. Auf der x‐Achse zeigte sich eine schwache Spitze. Dann erschienen eine Reihe sanfter Pulse, die sich von links nach rechts über den Schirm bewegten. Man hätte dank der eigent‐ lich perfekten Tarnung des Roboterschiffes gar keine Anzeigen be‐ kommen, hätte der neue Sprungpeiler nicht zuvor verraten, wo ge‐ nau man suchen mußte. »Ist es das, was ich vermute, Mister Joly?« fragte Dschamil. »In der Tat, Kapitän«, bestätigte der Zweite Offizier. »Sie schicken ein vollgetarntes Beiboot in Richtung… Sekunde…« Jolys Finger glitten virtuos über die Sensortastatur der Konsole. »Grah«, sagte er dann lapidar. Kapitän Dschamil mußte nicht erst überlegen. »Nummer Eins. In‐ formieren Sie das Oberkommando und General Pershing, was da auf sie zukommt, und schicken Sie ihnen die Koordinaten des Annähe‐ rungskurses. Sie können ihnen ja vorschlagen, ein paar Ringraumer loszuschicken, um das Boot aufzubringen.« »Wollen Sie wirklich, daß ich der Raumflotte das empfehle?«
»Hm. Den letzten Satz können Sie weglassen, sonst kommt noch jemand auf den Gedanken, wir wären überheblich.« »Aye, Sir!« Mark Welch grinste und aktivierte den To‐Richtfunk. * Dank der per To‐Richtfunk übermittelten Daten konnte General‐ oberst Pershing zwei Ovoid‐Ringraumer mittels Alarmstart auf Ab‐ fangkurs schicken. Ihre Mission war aber nicht von Erfolg gekrönt. Offenbar erachtete der Zentralrechner im Roboterschiff die Aus‐ sichten auf einen Erfolg der angestrebten Maßnahmen als zu gering, brach die Exkursion ab und beorderte das Boot wieder zurück. * Als man in der DIGUFINOLHU erkannte, daß das Beiboot um‐ kehrte und wieder Kurs auf das Roboterschiff nahm, versetzte diese Maßnahme die Zentrale in hektische Aktivitäten. Jetzt, so befürchtete Santini, würde er vermutlich bald die ominöse Transitionssteuerung in Aktion erleben. Da er zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich wußte, was auf ihn zu‐ kam, blieb er relativ gelassen und ruhig und verfolgte von seinem Platz aus die Vorbereitungen zum Start aus der Perspektive eines Zuschauers. Im Maschinenraum schaltete der Chief nacheinander die Maschi‐ nen, Speicherbänke, Umformer und Spulen ein; das feine Vibrieren, das in der DIGUFINOLHU nie ganz aufhörte, veränderte seine Frequenz um ein kaum spürbares Jota. Dann übernahm Mark Welch und startete die Triebwerke von sei‐ ner Pilotenkonsole aus. Er fuhr sie im Leerlauf hoch und überprüfte ein paar Anzeigen auf seinem Pult. »Wir sind startbereit, Kapitän!« meldete er vorschriftsmäßig.
»In Ordnung, Nummer Eins. Starten Sie.« Die DIGUFINOLHU verließ ihre Position am Rande des Gerrck‐Systems, an der sie drei volle Tage ausgehalten hatte, und bewegte sich mit Schleichfahrt auf das Roboterschiff zu. »Roboter nimmt Beiboot wieder auf«, meldete Hub Joly von seinen Anzeigen. »Das Schiff beschleunigt, Sir!« informierte die Nummer Zwei den Kapitän. »Nummer Eins, bringen Sie uns ran!« Die Spannung knisterte im Schiff, sprang wie ein Elmsfeuer von einer Person auf die andere über und entlud sich in ein gelegentli‐ ches Räuspern. Maumun Abdul Dschamil hatte seinen Kommandantensitz ver‐ lassen und saß nun vor dem Kontrollpult der Transitions‐ Steuerung; das Gerät selbst hätte nicht in die Zentrale gepaßt. Ein Gerät, dessen Wirkungsweise Santini noch immer ein Buch mit sieben Siegeln war. Der Major blickte auf das unbewegliche Profil des Kapitäns. »Was genau haben Sie eigentlich vor, Kapitän Dschamil? Bislang haben Sie und Ihre Männer sich in Andeutungen gefallen. Ich frage mich ernsthaft, wie man mit einem Schiff, das nur über ein einziges Transitionstriebwerk verfügt, einen Gegner – und das sind die Ro‐ boterschiffe nun mal für uns –, der nachweislich über enorme Po‐ tentiale hinsichtlich Triebwerksleistungen, Tarnfeldern und Waffen verfügt, unerkannt verfolgen kann, ohne nicht selbst von dessen wesentlich stärkeren und damit effektiveren Ortungssystemen er‐ kannt zu werden?« »Gedulden Sie sich noch kurze Zeit, Major Santini, dann werde ich Ihnen alle Fragen beantworten – oder sie beantworten sich von selbst durch das, was Sie sehen. Im Augenblick muß ich mich ein wenig darauf konzentrieren, nicht in dieses Riesenschiff zu krachen, dem wir uns immer mehr nähern.« »Hm, wir nähern uns also dem Schiff«, sagte Santini mit leichter Verzweiflung und deklamierte: »Wohl höre ich Ihre Worte, allein
mir fehlt der Glaube.« Auf dem Hauptschirm, der die sternendurchflimmerte Kulisse des Weltraums zeigte, war in der Tat weit und breit nichts von dem ominösen Roboterschiff zu sehen, dem man laut Dschamils Worten angeblich immer näherkam. Dschamil hatte die stoische Miene des in sich selbst ruhenden Asiaten. »Etwas nicht sehen heißt nicht zwangsläufig, daß es nicht da ist. Betrachten Sie doch einfach den Hauptschirm. Wenn Ihnen die engbegrenzte Stelle auffällt, in der keine Sterne zu sehen sind und an der Sie den Eindruck haben, in ein Loch zu blicken, haben Sie unser Ziel gefunden. Dort befindet sich das Roboterschiff.« Santini fiel es wie Schuppen von den Augen. »Verdammt!« sagte er. »Wie meinen Sie das?« fragte Dschamil und zeigte ein halbes Lä‐ cheln. »Daß ich nicht von allein darauf gekommen bin.« »Niemand ist vollkommen«, war Dschamils besänftigender Kom‐ mentar. »Jeder hat seine Eigenarten, seine Schwächen, aber auch seine Stärken. Die Ihren liegen einfach auf einem anderen Gebiet, Major.« Santini war versucht zu lachen. Diesen Schuh mußte er sich an‐ ziehen. Keine Frage. Plötzlich liefen die Ereignisse rasend schnell ab. Hektisch erwachten ganze Serien von Lichtern auf den Steuerpul‐ ten, begannen rhythmisch zu flackern. Eine Folge von Warntönen erklang. Da niemand gesteigerte Furcht zeigte, blieb auch Santini gelassen, wartete ab. Und richtig, eine Kunststimme sagte: »Annäherungsalarm. Annä‐ herungsalarm…« »Schalten Sie das ab, Nummer Zwei.« »Sofort, Sir.« In der kreisförmigen Zentrale verstummten die Warnungen der
Automatik. »Wie kann das sein? Ich war der Meinung, Ortersysteme erfassen keine getarnten Objekte?« »Das trifft zu«, bestätigte der Funk‐ und Ortungsoffizier an Dschamils Stelle, »aber die Gravitationsgesetze sind deshalb nicht außer Kraft gesetzt. Was hier angeschlagen hat, war der Massetaster, der sich auf die kurze Distanz nicht mehr täuschen läßt.« Die DIGUFINOLHU jagte durch den Raum mit allem, was ihre Maschinen zu geben in der Lage waren, und flog quasi im Blindflug, nur den vom Sprungpeiler ermittelten Daten folgend, bis auf wenige Kilometer an das Roboterschiff heran. »Besteht keine Gefahr, daß wir in so großer Nähe von dem Hauptrechner entdeckt werden?« fragte Santini. »Wir sind in seinem Energieschatten sogar relativ sicher vor Ent‐ tarnung«, erläuterte Dschamil, der die Anzeigen und Instrumente seiner Transitionssteuerung nicht aus dem Blick ließ. »Solange wir im vollen Tarnschutz agieren. Entfernung, Nummer Zwei?« »Vier Kilometer, Sir.« »Haben unser Ziel fast erreicht«, bestätigte der Erste Offizier. »Jetzt müßte es eigentlich schon auf dem Hauptschirm erscheinen. Se‐ kunde, ich entkopple ihn von der Tasterphalanx und bringe ihn in den visuellen Modus… und da ist es schon!« Im Hauptschirm zeichnete sich vor dem Sternenhintergrund ein monströses Ungetüm ab. Major Eric Santini sah zum erstenmal eines der geheimnisvollen Roboterschiffe aus der Nähe und unterdrückte nur mit Mühe einen überraschten Laut. Der Kampfgigant war groß, die Datensequenz, die der Hyperkal‐ kulator in den Schirm einblendete, gab ihm einen Durchmesser von 400 Metern. Er war so kompliziert und merkwürdig geformt, daß er nur die Schöpfung einer kriegerischen Spezies sein konnte. Nichts daran war auch nur annähernd vertraut, alles wirkte ungewohnt und fremd. Es schien fast, als gehöre das Schiff nicht einmal in dieses
Universum, entstamme einem anderen Kontinuum. Es wirkte auf Santini wie eine konzeptlos zusammengefügte Anhäufung unter‐ schiedlichster Formen, ineinander verschlungener röhrenförmiger Zylinder mit warzenförmigen Ausbuchtungen, Überlappungen, Durchschneidungen, im Nichts endenden Rohren. Trotzdem oder gerade deshalb vermittelte es den Eindruck einer permanenten Be‐ drohung für jeden, der den Weg dieses Schiffes kreuzte. »Man sollte meinen, daß Maschinenintelligenz einen Sinn für Ordnung hätte«, erklang Penelope dos Santos’ Stimme; sie war in‐ zwischen in der Zentrale erschienen. Um nichts in der Welt wollte sie den Einsatz der Transitionssteuerung verpassen. Und sie fügte hin‐ zu: »Das Schiff sieht eher aus, als ob seine Einzelteile auf den Schrottplätzen von ein paar Dutzend Planeten zusammengesucht und dann einfach zusammengeschweißt worden wären.« »Der Begriff Ordnung, so wie wir ihn kennen, muß nicht bedeuten, daß er für andere Völker in gleicher Weise gilt, mögen sie nun le‐ bende Wesen oder Maschinen sein.« »Wahr gesprochen, Kapitän«, begann Santini. »Sie sind ein Philo‐ soph, will mir scheinen. Wie funktioniert denn nun Ihre Transi‐ tionssteuerung?« »Relativ simpel und doch im hohen Maß kompliziert«, erklärte Dschamil und ließ für einen Moment seine Anzeigen Anzeigen sein. »Mit dieser Erfindung lassen sich die Transitionsimpulse des Robo‐ terschiffes erfassen und zur Steuerung unseres eigenen Transitions‐ triebwerkes ausnutzen, so daß wir parallel mit dem Kampfschiff springen können…« »Dabei wird unser eigener Transitionsschock in dem viel größeren des Roboterraumers untergehen, ist es nicht so, Kapitän?« warf Pe‐ nelope dos Santos mit leuchtenden Augen ein. »Genial. Einfach ge‐ nial!« »Theoretisch ja, Leutnant.« »Wollen Sie etwa damit sagen«, wurde Eric Santini mißtrauisch, »daß das Verfahren noch nicht im praktischen Versuch getestet
wurde?« Dschamils braunes Gesicht wurde um eine Nuance dunkler, aber nicht aus Ärger, sondern er lächelte. »Sie haben es erfaßt, Major Santini«, erwiderte er und fuhr im lockeren Plauderton fort: »Dies ist ein historischer Moment, die erste praxisorientierte Erprobung der Transitionssteuerung. Und Sie haben Anteil daran! Damit können Sie später einmal vor Ihren Enkeln protzen.« »Falls ich je welche bekomme«, versetzte Santini düster. »Ich glaube nicht, daß wir dies hier überleben.« »Warum so pessimistisch, Sir?« Dos Santos lächelte ihn strahlend an. »Ich für meinen Teil glaube fest daran, daß alles glattgeht. Ich…« Sie kam nicht mehr dazu, ihren Satz zu vollenden. Der Erste Offi‐ zier sagte laut: »Sir, das Schiff erhöht seinen Energieausstoß. Es wird jeden Moment springen!« »Verstanden, Nummer Eins. Wir springen mit ihm.« Kapitän Dschamil drückte einen Schalter am Kontrollpult der Transitions‐ steuerung. Dann lehnte er sich zurück und krampfte die Hände um die Lehnen seines Sessels. Offenbar schien er nun doch etwas nervös geworden zu sein. Der Roboterraumer sprang – und die DIGUFINOLHU folgte ihm in seinem Energieschatten automatisch über eine Distanz von exakt 500 Lichtjahren. Auf dem Hauptbildschirm ließ sich dieser nur Sekundenbruchteile dauernde Vorgang lediglich an den veränderten Konstellationen der Sterne verifizieren. »Es hat funktioniert!« zeigte sich Dschamil höchst zufrieden. »Ein historischer Augenblick. Vergleichbar mit dem Moment, als der erste Mensch seinen Fuß in den Mondstaub setzte.« »Mondstaub ist gut, Kapitän«, ließ sich Hub Joly hören. »Unser Reittier macht sich eben wieder aus dem Staub.« Dschamils Augen schlossen sich fast, als er fauchte: »Nummer Zwei, ich erwarte eine vorschriftsmäßige Meldung. Was ist gesche‐ hen?«
»Das Kampfschiff ist erneut gesprungen, Sir!« In der Tat war von dem Schiff nichts mehr zu sehen. Die DIGU‐ FINOLHU war allein im Weltraum. Nur das Echo des Eintritts‐ schocks zitterte als Nachhall auf dem Monitor des Sprungpeilers. Damit hatte man nicht gerechnet. Üblicherweise legten die Robo‐ terschiffe Pausen von 20 Minuten zwischen den einzelnen Sprüngen ein, Zeit genug für die Besatzung der Sternschnuppe, den nächsten Sprung mit dem des verfolgten Schiffes zu koordinieren. »Er hat vermutlich eine Verfolgung durch die Ovoid‐Ringraumer gefürchtet, die sein Beiboot abzufangen versuchten«, sprach der Erste Offizier aus, was auch die übrigen dachten. »Das stellt uns jetzt vor ein Problem«, gab der Kapitän zu verste‐ hen und lieferte für Santini die Erklärung gleich hinterher. »Wenn er weiter als 300 Lichtjahre springt, ist er weg. Alles was darüberliegt, entzieht sich der Erfassung des Sprungpeilers.« Sie hatten Glück. Der Wiedereintritt des Roboterschiffes war vom Sprungpeiler am Rande eines Sonnensystems in 287 Lichtjahren Entfernung ange‐ messen worden, ein neuer Sprung hingegen nicht. »Vermutlich ist dieses System sein Ziel«, machte der Kapitän der DIGUFINOLHU deutlich. »Soviel zur Transitionssteuerung«, sagte Santini, »und soviel zu meiner Mission, die sich damit erledigt haben dürfte.« »Ich verstehe weder den Zusammenhang noch Ihren Pessimismus, Major«, wunderte sich Dschamil. »Wir werden uns nicht unerkannt dem System nähern können«, begann Santini mit der Erklärung seines Gedankenganges. »Selbst wenn wir die Entfernung in mehreren kleinen Transitionen zurück‐ legen, uns sozusagen ›anschleichen‹, werden die Sprünge anmeßbar sein. Wir können genausogut gleich anklopfen und mit der Tür ins Haus fallen.« »Sie sehen zu schwarz, Major«, beschwichtigte Dschamil Eric San‐ tini. »Ich werde mir etwas überlegen. Versprochen.«
Dschamil setzte sein Versprechen in die Tat um, allerdings hielt sich Santinis Begeisterung über das Ergebnis in Grenzen. Dschamil hatte das fremde System mit der Hyperortung abtasten lassen und mit den Ergebnissen einen Sprung programmiert, der direkt in der Korona des Zentralgestirns endete. »Das ist nicht Ihr Ernst, Kapitän!« ließ Santini seinem Unmut freien Lauf. »Was Sie vorhaben, ist ein Vabanquespiel. So exakt kann man keine Transition berechnen. Abweichungen von nur wenigen hun‐ dert Kilometern bringen entweder das Ende für uns oder die Ent‐ deckung. Vermutlich ersteres, verehrter Kapitän. Nicht von ungefähr transitiert man vorzugsweise außerhalb von Sonnensystemen, da es im Innern mit Leichtigkeit zu Abweichungen von mehr als 100.000 Kilometern kommen kann, aber das muß ich Ihnen ja nicht sagen. Wie groß sind dann erst die Abweichungen, wenn man mitten im Schwerkraftchaos einer Sonne herauskommt? Haben Sie das einmal bedacht?« Der Major geriet mehr und mehr in Rage, je länger er redete – was höchst ungewöhnlich war für einen meist wortkargen Mann wie ihn. Aber Dschamil ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Nach seinen Worten konnte mit der neuartigen Transitionssteuerung die Gefahr von Mißweisungen auf ein Minimum verringert werden. Santini sah ein, daß er den Kapitän nicht von seinem Vorhaben abbringen konnte, außer er würde ihn erschießen. Und das war ge‐ gen die Dienstvorschrift. »Tun Sie, was Sie offensichtlich nicht lassen können«, gab er schließlich auf, außerdem waren ihm die Argumente ausgegangen. »Ich jedenfalls werde mich in meine Kabine zurückziehen.« »Was wollen Sie denn da?« »Na was wohl«, sagte Santini mit einem dünnen Grinsen. »Mein Testament schreiben.«
6. Für mehrere Sekunden war Ren Dhark vor Schreck handlungsun‐ fähig. Der Commander hatte auf das schützende Intervallfeld ver‐ traut, das seinen Flash umgab – und dieses blinde Vertrauen ent‐ puppte sich jetzt als eine grobe Fehleinschätzung. Er hätte dem Ge‐ schützstrahl ausweichen sollen… Wie hatte ihm das nur passieren können? Ihm – der es gewohnt war, Situationen intuitiv einzuschät‐ zen und dadurch Gefahren rechtzeitig von sich und seinen Mitstrei‐ tern abzuwenden. Dhark war von schlanker Gestalt, hatte weißblonde Haare und braune Augen. Der ehemalige Commander der Planeten war heute »nur noch« der Commander des privat finanzierten Ringraumers POINT OF, dem einstigen Flaggschiff der Terranischen Flotte, das ihm von der Weltregierung aufgrund seiner Verdienste offiziell übereignet worden war. Sowohl beim Militär als auch in seinem jetzigen Bereich als unabhängiger Weltraumforscher hatte er bewie‐ sen, daß er über enorme Führungsqualitäten verfügte. Aber selbst wenn man zum Anführer geboren war, war man nicht vor Fehlern gefeit. Sein Flash – so lautete die offizielle Bezeichnung der zylin‐ derförmigen Beiboote der POINT OF – hatte fast alle technischen Funktionen eingestellt und stürzte mit deaktiviertem Intervallfeld in die Tiefe. Und nicht nur seiner, auch die drei Flash seiner Begleiter jagten funktionslos auf den schneebedeckten Erdboden zu… In einem davon saß Rens bester Freund Dan Riker. Er war vie‐ runddreißig Jahre alt, verheiratet, hatte schwarze Haare, blaue Au‐ gen, einen breiten Mund und ein vorstehendes Kinn. Der ehemalige Chef der Terranischen Flotte hatte sein Amt niedergelegt und war als Vizekommandant auf der POINT OF verblieben – dem außerge‐ wöhnlichsten Raumschiff der Milchstraße, mit dem eigenwilligsten Bordrechner des Universums. Dhark und Riker hatten schon zahl‐
reiche gemeinsame Abenteuer unbeschadet überstanden. Ob das auch diesmal wieder der Fall sein würde, war mehr als zweifelhaft, denn die Antigraverzeuger in den Flash funktionierten nur noch rudimentär. Seine Lebenspartnerin Amy Stewart kannte Ren Dhark noch nicht so lange wie seinen besten Freund. Die Siebenundzwanzigjährige war etwa sieben Jahre jünger als Ren, blond, sportlich und verhält‐ nismäßig muskulös. Als erster weiblicher Cyborg verfügte sie nicht nur über überragende körperliche Kräfte, sondern auch über eine hohe Intelligenz sowie die Gabe, komplexe Situationen intuitiv zu erfassen und richtig zu beurteilen. Ihr erklärtes Lebensziel war die Ausschaltung sämtlicher Gefahren für die Menschheit, der sie eine zweite Giant‐Invasion ersparen wollte; daher stand sie Fremdvöl‐ kern prinzipiell mißtrauisch bis feindselig gegenüber. Sie hatte beim Absturz des Flash gute Überlebenschancen, wenn sie rechtzeitig in den Phant ging und auf ihr Zweites System umschaltete. Für den fünfundvierzigjährigen Kontinuumsforscher und Inter‐ vallexperten H.C. Vandekamp – dessen Initialen für Honorius Cy‐ rano standen (was ihm selbst so peinlich war, daß er sich sogar von seinen Freunden nur mit »Ha‐Zeh« anreden ließ) – standen die Chancen weitaus schlechter. Er gehörte der wissenschaftlichen Ab‐ teilung der POINT OF an. Mit seinen vielfältigen Fähigkeiten hätte man den hageren, leicht ergrauten Mann mit der auffälligen Ha‐ kennase ebensogut in der astronomischen Abteilung oder in anderen Positionen einsetzen können. Allerdings hatte er den Ruf eines hy‐ pernervösen Cholerikers, wodurch er sich mitunter selbst Knüppel zwischen die Beine warf, weil »Schreihälse« von ihren Mitarbeitern nur bedingt ernst genommen wurden. H.C. hatte den Flug der vier Flash nach Nordkanada angeregt. Er sorgte sich um seinen Bruder I.D. seinen einzigen noch lebenden Blutsverwandten… I.D. Vandekamp war mit einer Pariserin namens Monique verhei‐ ratet, einer ehemaligen Gymnasiallehrerin, und er hatte zwei Söhne
im Alter von dreizehn und fünfzehn Jahren: Roger und Conway. Nach der Giant‐Invasion hatte der erfolgreiche Jurist den Wieder‐ aufbau der Erde für die Gründung einer eigenen Anwaltskanzlei in London genutzt. Doch Mitte 2058 – zu einer Zeit, als sich die Erde aufgrund der bedrohlichen Nähe zur Galaxis Drakhon in einer Art Weltunter‐ gangsstimmung befand, ein Ausnahmezustand, den jeder auf seine Weise zu bewältigen suchte – hatte I.D. einen schweren Fehler ge‐ macht: Er hatte sich bestechen lassen und beweiskräftige Unterlagen eines Mandanten nicht dem Gericht vorgelegt. Das war sein beruf‐ licher und gesellschaftlicher Ruin gewesen, verdientermaßen. Nach diesem herben Rückschlag hatte sich I.D. Vandekamp mit seiner Familie in die rauhe Wildnis des kanadischen Nordens zu‐ rückgezogen und von dort aus sein Geld mit internationalen, schwer durchschaubaren Handelsgeschäften verdient… Das mit diverser Technik versehene, ans weltweite Kommunika‐ tionsnetz angeschlossene Blockhaus, in dem die Vandekamps jahre‐ lang gelebt hatten, existierte nicht mehr; jemand hatte es niedergeb‐ rannt. Und die Bewohner befanden sich mit vier benzinbetriebenen, recht primitiven Motorschlitten auf der Flucht – vorausgesetzt, bei den vier dickvermummten Personen, deren Verfolgung Ren, Dan, Amy und H.C. aufgenommen hatten, handelte es sich tatsächlich um die Gesuchten. Ihre feindselige Haltung zeugte eher vom Gegenteil: Die Vermummten hatten ihre Schlitten angehalten, die Planen auf deren Hängern zurückgeschlagen und mit Strahlenkanonen unbe‐ kannter Bauart alle vier POINT OF‐Beiboote mitsamt ihren Insassen »vom Himmel geholt«. Kurz nacheinander krachten die Flash in den tiefen Schnee. Glück im Unglück: Die Schneemassen dämpften den Aufprall – und auch der zeitweise aufflackernde A‐Grav bewahrte die Insassen vor dem Schlimmsten. Selbst ohne Intervallfeld war jeder Flash ein stabiles Fluggerät, das eine Menge einstecken konnte und im Kampf besser nicht unterschätzt werden sollte…
Die Grundvoraussetzung für eine positive Kampfentscheidung war allerdings das reibungslose Funktionieren der Waffensysteme an Bord – und damit sah es in den vier Beibooten momentan mau aus. In Dharks Flash ließ sich das System nicht mehr hochfahren, die Leuchtanzeige blieb dunkel. Immerhin funktionierte der Bordfunk noch, so daß sich die vier Flashpiloten untereinander verständigen konnten. Commander Dhark erfuhr, daß keiner seiner Begleiter verletzt war. Auch in den drei anderen Booten konnte niemand die Waffen einsetzen. »Wir steigen aus und zeigen ihnen, daß wir auch ohne unsere Bordgeschütze gefährliche Gegner sind«, schlug Amy vor. »Abgelehnt«, entgegnete ihr Lebensgefährte. »Gegen Strahlenka‐ nonen, mit denen man Flash außer Gefecht setzen kann, wirst selbst du als Cyborg nicht viel ausrichten.« »Wenn mich die Vermummten nahe genug herankommen lassen, werde ich schon mit ihnen fertig«, erwiderte die Kampfexpertin entschlossen. Noch bevor Ren Dhark etwas erwidern konnte, meldete sich H.C. Vandekamp zu Wort. »Ich steige aus und zeige mich ihnen. Meine Angehörigen werden mir nichts antun.« »Und wenn es sich nicht um Ihren Bruder und seine Familie han‐ delt?« gab Dhark zu bedenken. »Bleiben Sie, wo Sie sind, verstan‐ den? – Hallo? Melden Sie sich, Vandekamp!« »Tut mir leid, der Funk ist gestört«, behauptete der Wissenschaftler und öffnete den Ausstieg. Sein ganzer Körper war in einen Thermoanzug gehüllt. Das war auch dringend nötig, denn draußen herrschten einundsechzig Grad unter Null. Einer der Vermummten richtete die Zielvorrichtung seiner Strah‐ lenkanone auf Vandekamp aus, der leichtsinnig sein schützendes Boot verließ. Im Laufschritt näherte sich H.C. den vier Unbekannten und winkte ihnen zu.
»Der Kerl muß verrückt sein«, brummelte der Mann hinter der Kanone. »Oder lebensmüde. Na schön, dann tun wir ihm halt den Gefallen und befördern ihn ins Jenseits…!« * Einem alten Sprichwort zufolge war es wenig ratsam, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen, die sich am Kirschbaum zu schaffen mach‐ ten, weil die mächtigen Geschosse nicht nur die Vögel, sondern gleich den ganzen Baum zerfetzen würden. Ein Volltreffer aus der Strahlenkanone hätte H.C. Vandekamp nicht einfach so vom Leben in den Tod befördert – der hagere Forscher wäre mit mehreren hundert Stundenkilometern quer durchs gesamte Jenseits geschleu‐ dert worden…! Während er auf den Vermummten, der ihm dieses Schicksal zu‐ gedacht hatte, zulief, öffnete er den Kopfschutz seines Thermoan‐ zugs. »Nicht schießen, I‐Deh!« rief er. »Ich bin es: Ha‐Zeh!« I.D. Vandekamp hielt verblüfft inne. »Feuer einstellen!« rief er aufgeregt seiner Frau und seinen beiden Söhnen zu. »Es feuert doch gar keiner, Papa!« rief Roger, sein Jüngster, durch den leichten Schneesturm zurück. »Wir schießen doch nicht auf Onkel H.C.!« Sein zwei Jahre älterer Bruder, der fünfzehnjährige Conway, nahm ebenfalls die Hände von seiner Kanone. Monique Vandekamp zögerte noch. Scheinbar drohte ihnen keine Gefahr – es sei denn, ihr Schwager war zum Verräter geworden und wollte sie an die Regierung ausliefern. Woher wußte er überhaupt von ihrem Vorhaben? Hatte er inzwischen Kenntnis von den Auf‐ rechten erlangt? Oder war sein Auftauchen ausgerechnet zur Stunde ihres Aufbruchs nur reiner Zufall? »Finger weg von den Waffen!« ermahnte I.D. Vandekamp seine
Familie nochmals, wobei er insbesondere in Richtung seiner Frau blickte, als ob er ihre Zweifel spürte. »Es ist mein Bruder!« »Darauf werde ich keine Rücksicht nehmen, sollte er unsere Pläne gefährden«, machte Monique ihm unmißverständlich klar. Sie war eine verdammt heiße Frau, aber wenn es darauf ankam, konnte sie kalt sein wie Eis – was ihr bei der derzeitigen Witterung nicht sonderlich schwerfiel. I.D. hörte ihr nicht mehr zu. Sein Bruder traf bei ihm ein, und beide umarmten sich herzlich. Anschließend begrüßte H.C. den Rest der vandekampschen Fami‐ lie; sie waren nur ein kleines Häuflein, die letzten, die von diesem Zweig noch übrig waren. »Warum bist du hier?« fragte ihn I.D. »Und wer befindet sich in den drei anderen Flash?« »Freunde«, versicherte ihm H.C. »Wir sind gekommen, um euch von hier wegzubringen.« »Dachte ich es mir doch!« entfuhr es Monique, die plötzlich einen Paraschocker in der Hand hielt. »Er arbeitet mit der Regierung zu‐ sammen. Sie wollen uns zwangsevakuieren.« H.C. Vandekamp verschlug es fast die Sprache. »Zwangs… was? Seit wann muß man jemanden zwingen, sich aus höchster Not retten zu lassen? In Skandinavien, Alaska und Sibirien drängen sich die Bewohner massenhaft darum, von den Regierungstruppen nach Süden verbracht zu werden, damit sie nicht erfrieren. Und ihr redet allen Ernstes von Zwang?« »Wir kommen auch ohne Hilfe der Regierung nach Süden«, erwi‐ derte Conway Vandekamp. »Wir haben Freunde auf der ganzen Welt.« H.C. war ratlos, er verstand nicht so recht, was der Junge damit meinte. I.D. forderte Monique per Handzeichen auf, den Schocker zu senken. Ohne ihren Schwager aus den Augen zu lassen, kam die Frau der Aufforderung nach und steckte die Waffe weg, was gar nicht so einfach war, immerhin trug sie dicke Handschuhe.
Ren Dhark, Dan Riker und Amy Stewart verließen nun ebenfalls ihre Flash – und augenblicklich verschärfte sich die Lage wieder. Während Amy nur eine harmlose Handfeuerwaffe bei sich hatte (mehr benötigte sie als Cyborg nicht), waren Ren und Dan zusätzlich mit Karabinern und Nadelstrahlern bewaffnet. Sie wollten gewapp‐ net sein, für alle Fälle. I.D. und seine Söhne fackelten nicht lange. Sie stellten sich hinter ihre Strahlenkanonen und richteten sie auf die in Thermoanzüge gehüllten Flashpiloten aus. »Sag ihnen, sie sollen die Waffen fallen lassen!« forderte I.D. seinen Bruder auf. »Ansonsten kann ich für nichts garantieren. Wir jagen sie in die Luft, mitsamt euren Beibooten!« »Sag’s ihnen doch selber«, erwiderte H.C. grinsend. »Von mir nimmt der Commander der POINT OF keine Befehle entgegen.« I.D. machte ein verblüfftes Gesicht, was aufgrund des Schals, den er sich um die untere Kopfhälfte geschlungen hatte, nur schwer er‐ kennbar war. »Du befindest dich in Begleitung deines Chefs? Com‐ mander Dhark ist persönlich hier? Warum hast du das nicht gleich gesagt? Du weißt doch, wie sehr ich diesen Mann verehre.« H.C. nickte. »Ja, das weiß ich. Du hast oft genug betont, daß es auf der Erde inzwischen ganz anders aussehen würde, wäre er damals an der Regierungsmacht geblieben. Nach seiner Abwahl brach für dich eine Welt zusammen.« »Und nicht nur für ihn«, warf Monique ein. »Auch ich bewundere Ren Dhark für all das, was er für Terra getan hat. Ohne ihn hätten uns die Giants damals auf ewig versklavt. Oder Drakhon hätte un‐ sere gesamte Galaxis vernichtet. Daß die verblendete Menschheit Dhark als Commander der Planeten nicht mehr haben wollte, war mit ein Grund für unseren Rückzug in die kanadische Wildnis.« »Ren Dhark hat mehr oder weniger freiwillig auf das höchste Amt der Erde verzichtet«, entgegnete H.C. Vandekamp, der als Besat‐ zungsmitglied der POINT OF über diverse Insider‐Informationen verfügte. »Sein Forscherdrang stand seinen politischen Ambitionen
ständig im Wege. Und wenn er mal Zeit hatte, sich um sein Amt zu kümmern, war er meistens damit beschäftigt, gemeine Intrigen ab‐ zuwehren. Ich denke, jetzt hat er es besser getroffen.« Seine Angehörigen sagten nichts, doch sie dachten alle vier in etwa das gleiche wie das Familienoberhaupt: Dhark wäre der geeignete An‐ führer für unsere weltweite Organisation. Mit ihm an der Spitze könnten wir die verschiedenen Gruppen vereinen und diesem Planeten zu neuer Blüte verhelfen. Dann hätten die Verschwörer keine Chance gegen uns… * Bald darauf loderte in der Schnee‐ und Eiswüste ein großes La‐ gerfeuer an einem windgeschützten Platz unter Bäumen. Acht Per‐ sonen saßen um die Flammen herum und wärmten sich an ihnen: Dhark und seine Begleiter in Thermoanzügen und die Vande‐ kamp‐Familie in dicken, flauschigen Pelzen. Jeder von ihnen war schwerbewaffnet, mit Ausnahme von Amy, der die Waffen einer Frau Cyborg völlig ausreichten. Ein Außenstehender hätte diese Zusammenkunft sicherlich nicht als Familien‐ und Freundschafts‐ treffen interpretiert – sondern eher als eine Art Kriegsrat zwischen verfeindeten Parteien. Von den Gesichtern der vier Männer, zwei Frauen und zwei Ju‐ gendlichen war nicht viel zu erkennen, da sie wegen der Kälte weitgehend verhüllt waren. Somit konnte man nicht sehen, ob je‐ mand verdrießlich dreinschaute oder ob er sein Gegenüber freund‐ lich anlächelte. Dan Riker kam sich in dieser rauhen, weiten Wildnis etwas verlo‐ ren vor – wie ein Punkt irgendwo auf einer riesigen weißen Fläche. Selbst das Weltall wirkte lebendiger als diese Einöde, die dringend ein paar Farbtupfer benötigt hätte. Die drei anderen Besatzungsmitglieder der POINT OF empfanden ähnlich, allerdings hatte Ren Dhark die ganze Zeit über das Gefühl, beobachtet zu werden. Auf der Suche nach H.C.s Angehörigen hatte
man zwar einen großen Teil der Landschaft mit Infrarot abgetastet, aber bei weitem nicht die gesamte Umgebung. Es war also durchaus möglich, daß sich noch mehr Personen auf den Weg nach Süden gemacht hatten und nun aus verschiedenen Richtungen auf einen bestimmten Treffpunkt zuhielten; schließlich war man in der Gruppe sicherer als allein. I.D. Vandekamp entschuldigte sich nochmals bei allen vieren für die Strahlenschüsse auf die Flash. »Wir mußten annehmen, daß Sie von der Regierung geschickt wurden, um uns gegen unseren aus‐ drücklichen Willen von hier wegzuholen.« Dhark erinnerte sich an den Fund, den Amy am brennenden Blockhaus gemacht hatte. Die Hausbesitzer hatten eine Metallplatte mit eingraviertem Text zurückgelassen: Die terranische Regierung will ihre Bürger ebenso verraten wie ihre Heimatwelt. Aber wir lassen nicht zu, daß man uns fremden Mächten aus‐ liefert. Wir geben unsere Staatsbürgerschaft auf und bleiben auf Terra – nicht als Bürger eines Staates, sondern als aufrechte Terraner. Lebend wird uns die Regierung nicht deportieren, und sie wird sich auch nicht an unse‐ rem Besitz bereichern. Familie I.D. Vandekamp. H.C. war nach wie vor perplex. »Warum, in Dreigottesnamen, wollt ihr nicht weg von der Erde? Das allmähliche Sterben der Sonne kann nur verlangsamt, aber nicht endgültig aufgehalten werden. Früher oder später ist dieser Planet unbewohnbar.« »Alles Lüge!« wetterte sein Bruder los. »Das angebliche Sonnen‐ sterben ist nichts weiter als eine großangelegte Verschwörung der Regierung! Man will die Erde für irgendwelche finsteren Machen‐ schaften räumen.« Ren Dhark verschluckte sich fast an seiner heißen Brühe, die ihm in einem speziellen Metallbecher gereicht worden war; der Becher er‐ hitzte seinen Inhalt innerhalb einer Minute selbsttätig, sobald man Wasser oder Schnee hinzufügte. »Das können Sie unmöglich ernst meinen«, sagte Dan Riker, der nicht minder verblüfft war als sein Freund. »Von was für Machen‐
schaften sprechen Sie denn?« »Wenn wir das wüßten, hätten wir die Informationen längst öf‐ fentlich gemacht, damit sie für alle Menschen zugänglich sind«, be‐ teiligte sich Monique Vandekamp vehement an dem Gespräch. »Wir vermuten, daß fremde außerirdische Mächte darauf aus sind, sich auf unserem Planeten anzusiedeln. Vielleicht bedrohen sie die Menschheit mit einer gewaltsamen Übernahme, und unsere Anfüh‐ rer sind zu feige, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Oder aber die Regierung hat uns verraten und an die Fremden verkauft, gegen Inanspruchnahme bestimmter Privilegien nach der Machtergreifung. Natürlich kommen auch noch andere Verschwörungsmotive in Be‐ tracht…« »…die mit Sicherheit genauso konfus sind«, warf Dhark ein. »Eure Vermutungen sind blühender Unsinn! Ich konnte mich selbst davon überzeugen, daß unsere Sonne nicht mehr zu retten ist. Von einer Verschwörung kann gar keine Rede sein. Die Regierung und das Flottenoberkommando haben alles getan, was möglich war – doch letztlich müssen wir uns alle den Tatsachen beugen.« »Die Aufrechten beugen sich nichts und niemandem!« meldete sich Conway zu Wort, und sein jüngerer Bruder Roger fügte hinzu: »Wir werden die Erde nicht kampflos aufgeben. Sollen die Außerirdischen nur kommen, wir werden schon mit ihnen fertig!« »In der Vergangenheit wurde Terra des öfteren von kriegerischen Mächten bedroht«, räumte Dhark ein. »Doch momentan besteht keine akute Gefahr, glaubt mir. Selbst diejenigen, die sich an der Sonne zu schaffen gemacht hatten, haben sich inzwischen aus unse‐ rem Bereich zurückgezogen. Von Fremdvölkern, die auf die Räu‐ mung der Erde lauern, um sie selbst zu besetzen, ist mir bisher nichts bekannt. Was sollten sie auch mit einem Planeten anfangen, den sie gar nicht bewohnen können?« »Sie könnten hier beispielsweise Verteidigungsstationen einrich‐ ten, so wie wir es auf Pluto getan haben, dem Planeten der ewigen Kälte und Finsternis«, entgegnete I.D. Vandekamp. »Außerdem gibt
es im All bestimmt jede Menge Spezies, die sich solch frostigen Ge‐ gebenheiten anpassen, ja, sie vielleicht sogar als ideal empfinden, weil sie in wärmeren Regionen nicht existieren könnten.« »Das sind doch nur wilde Phantasien«, sagte Amy Stewart kopf‐ schüttelnd. »Haben Sie dafür irgendwelche Beweise?« »Wir haben was viel Besseres: einen gesunden Menschenver‐ stand«, behauptete Monique. »Über den verfügt Commander Dhark auch«, ermahnte H.C. seine Verwandten. »Habt ihr ihn nicht immer bewundert und verehrt? Denkt ihr wirklich, er käme persönlich hierher, um euch anzulü‐ gen?« Eine Weile sprach keiner ein Wort. Schweigend saßen die acht un‐ gleichen Personen um das Feuer herum. »Die Regierung könnte auch ihn getäuscht haben«, sagte I.D. Vandekamp schließlich. »Wir vertrauen dem Commander, doch möglicherweise ist er zu leichtgläubig.« »Dazu fällt mir jetzt gar nichts mehr ein«, brummelte Ren, der jede Art von Verblendung als erschreckend empfand, vor allem dann, wenn sich Fanatiker unter die Irregeleiteten mischten und zur Ge‐ walt aufriefen. »Ist diese obskure Verschwörungstheorie eigentlich auf eurem ei‐ genen Mist gewachsen?« fragte H.C. seine Angehörigen direkthe‐ raus. »Oder steckt jemand anders dahinter? Wer oder was sind diese Aufrechten überhaupt?« »Die Aufrechten sind heimatliebende Terraner, wild entschlossen, unsere Erde mit allen Mitteln gegen Angriffe jedweder Art zu ver‐ teidigen – wenn es sein muß, unter Einsatz des eigenen Lebens eines jeden einzelnen«, antwortete ihm I.D. »Es wäre ein Fehler, uns zu unterschätzen – oder uns mit anderen zweifelhaften Gruppierungen in einen Topf zu werfen.« Der Commander horchte auf. »Es gibt noch andere Gruppen?« »Wir Aufrechten haben die meisten Anhänger«, war Conway überzeugt. »Wir sind keine esoterischen Spinner wie beispielsweise
die Gäa‐Jünger.« »Gäa‐Jünger?« wiederholte Ren Dhark nachdenklich. »Wenn mich meine Halbbildung auf diesem Gebiet nicht täuscht, gibt es sie schon viele Jahrzehnte oder sogar noch länger. Sie bezeichnen die Erde als den Ursprung allen Seins, als die Urmutter sozusagen.« I.D. nickte. »In ihren Augen ist die Erde ein lebendes Wesen. Sie nennen es Gäa.« »Es sind versponnene Alternative, sonst nichts«, mokierte sich Conway. »Du irrst dich«, widersprach ihm sein Vater. »Wären die Gäa‐Jünger nichts weiter als alternativ angehauchte Esoteriker, würden sie mit Blumen im Haar den Himmel anbeten und darauf vertrauen, daß der liebe Gott sie nicht im Stich läßt. Und wenn sie dann erfroren sind, beten sie noch immer… Aber es handelt sich bei ihnen um keine passiven weinerlichen Zuschauer, sondern um zu allem entschlossene Kämpfer, die genau wie wir die Erde besetzt halten wollen, wenn auch aus anderen Gründen als die Aufrechten. Im übrigen ist ihre Anhängerschar nicht so klein, wie du annimmst, Conway. Ihre Verbindungen zum internationalen Waffenhandel sind umfangreicher als unsere.« »Ihr betreibt Waffenhandel mit ihnen?« hakte Dhark nach. »Mit den Gäa‐Jüngern – und mit verschiedenen weiteren Grup‐ pen«, bestätigte ihm I.D. Vandekamp. »Obwohl wir aus unter‐ schiedlichen Motivationen handeln, ist unser Ziel letzten Endes das gleiche: hierzubleiben und die Erde zu verteidigen. Deshalb unters‐ tützen wir uns gegenseitig. Die Strahlenkanonen, mit denen wir euch abgeschossen haben, erwarben wir von den Jüngern.« Monique Vandekamp warf einen prüfenden Blick zu den Schnee‐ mobilen. Ihr war nicht entgangen, daß sich Dan Riker ohne viel Aufhebens von seinem Platz erhoben und sich ein paar Schritte vom Feuer ent‐ fernt hatte. Sie hatte angenommen, daß er sich mal kurz in die Bü‐ sche schlagen wollte…
Als sie sah, wohin er sich wirklich begeben hatte, tastete sie nach ihrem Paraschocker. Riker stand an einem der Hänger, hatte die Plane hochgeschlagen und nahm die Strahlenkanonen näher in Au‐ genschein. * »Denk nicht mal dran, Schätzchen«, zischte Amy Stewart Monique Vandekamp an. »Laß die Waffe da, wo sie ist.« Amy hatte Monique am Handgelenk gepackt und hielt es fest. I.D. glaubte seine Frau in Gefahr und griff ebenfalls nach seiner Handfeuerwaffe. Amy registrierte seine Bewegung aus dem Au‐ genwinkel heraus und reagierte blitzschnell. Sie ließ Monique los, sprang I.D. an und drückte ihn rückwärts in den Schnee. Monique wiederum sah ihre Chance gekommen und versuchte erneut, mit ihrem dicken Handschuh den Paraschocker aus ihrer weiten Man‐ teltasche zu holen… Eine kräftige Stimme ließ sie mitten in der Bewegung erstarren. »Ich bin ein verdammt guter Schütze, Frau Vandekamp! Aus dieser Entfernung schieße ich einer Fliege das Auge aus, selbst dann, wenn mir der Schnee ins Gesicht peitscht!« Dan Riker hatte seinen Karabiner auf die Frau gerichtet. Zwar war der nicht einmal entsichert, doch das konnte sie von ihrer Position aus nicht erkennen. Conway und Roger fühlten sich verpflichtet, ins Geschehen ein‐ zugreifen, und sprangen auf. »Hinsetzen!« donnerte H.C. sie an. »Sonst versohle ich euch den Hintern, so wahr ich euer Onkel bin!« Erschrocken setzten sich die beiden wieder auf ihren Hosenboden. Sie waren halt noch halbe Kinder… Kinder, die durch die derzeitigen Lebensumstände gezwungen werden, schneller erwachsen zu werden, dachte Ren Dhark, dem die beiden in gewisser Weise leid taten. Sie würden ihren Eltern blind folgen –
wenn es sein mußte, bis in den Tod. Amy ließ von I.D. ab und nahm ebenfalls wieder ihren Platz am Feuer ein. H.C.s Bruder rappelte sich schimpfend auf. In seinen Au‐ gen funkelte der Zorn des Uneinsichtigen. »Besser, Sie beruhigen sich wieder«, riet ihm der Commander. »Amy ist Nahkampfspezialistin und könnte uns alle innerhalb von Sekunden zu Boden schicken, mich eingeschlossen.« Daß seine Lebenspartnerin ein Cyborg war, verschwieg er den Vandekamps. Schließlich brauchten sie nicht alles zu wissen. »Was sollte das eben?« fragte I.D. grantig und schaute dabei zu Amy. »Wieso haben Sie meine Frau und mich angegriffen?« »Weil Ihre Frau und Sie Riker und mich angreifen wollten«, ant‐ wortete Amy Stewart mit ruhiger Stimme. »Ich habe Ihre Absichten gleich im Keim erstickt, bevor sich das Gerangel zu einem unkont‐ rollierten Kampf mit Ungewissem Ausgang ausweiten konnte. Wehret den Anfängen!« »Ich hatte guten Grund, Mister Riker anzugreifen!« rechtfertigte sich Monique und deutete in Dans Richtung. »Er macht sich an un‐ seren Waffen zu schaffen.« Alle sahen zu Riker, der den Karabiner mit dem Lauf voran in den Schnee gesteckt hatte und mit Unschuldsmiene wieder unter die Hängerplane schaute, so als hätte es den kleinen Zwischenfall nie gegeben. »Er handelt nur auf meinen Befehl«, behauptete Ren Dhark, ob‐ wohl das gar nicht zutraf; Dan hatte sich auf eigene Faust zu den Schneemobilen begeben, um die Kanonen zu inspizieren. »Hast du schon was herausgefunden?« rief der Commander sei‐ nem Freund zu. Dan schnürte die Schutzplane zu und kam zurück ans Lagerfeuer. »Die Kanonen ähneln Pressorgeschützen«, sagte er, nachdem er sich wieder hingesetzt hatte. »Allerdings sind sie wesentlich klei‐ ner.« Dhark kräuselte skeptisch die Stirn. »Transportable Pressorge‐
schütze, mit denen man Intervallfelder außer Gefecht setzen kann? Das ist unmöglich! Mir ist nicht bekannt, daß unser Militär über eine derart potente Waffe verfügt.« »Die terranische Regierung und das terranische Militär sind nicht das Nonplusultra auf dieser Welt«, spöttelte I.D. Vandekamp. »Bei den Strahlenkanonen handelt es sich in der Tat um modifizierte Pressoren. Die Gäa‐Jünger haben die eigentlich veraltete Technik weiterentwickelt, und die Aufrechten haben dann die fertigen Ka‐ nonen von ihnen erworben.« »Die Gäa‐Jünger sind in der Lage, solche Waffen zu entwickeln?« staunte Amy und blickte Conway an. »Und du bezeichnest diese Leute als esoterische Spinner? Sie sind brandgefährlich.« »Mit den Aufrechten könnten sie es niemals aufnehmen, ganz gleich, was für Waffen sie bauen«, meinte der Junge, und er war überzeugt von dem, was er sagte. Seine Mutter legte eine Hand auf seine Schulter. »Die Jünger brauchen es auch nicht mit uns aufzunehmen. Sie sind unsere Ver‐ bündeten. Wir kämpfen alle für dieselbe Sache.« Einerseits wurde Dhark das Gefühl nicht los, daß die Eltern ihre beiden Söhne einer dauerhaften »Gehirnwäsche« unterzogen. An‐ dererseits entdeckte er an den Jungen keinerlei Anzeichen von per‐ manenter Einschüchterung. Sie schienen frei von Angst zu sein, mit der gleichen Entschlußkraft wie ihr Vater und ihre Mutter. In diesem Moment wurde ihm klar, daß er es niemals schaffen würde, die Fa‐ milie zum Mitkommen zu bewegen – ganz gleich, wie sehr sie ihn verehrten. Ihre Überzeugung und ihr Zusammenhalt waren stärker als jedes seiner Argumente. * Daß Pressorstrahlen auf Intervallfelder einwirken konnten, war Ren Dhark bekannt, seit die Giants diese Schwerkraftwaffe gegen die POINT OF eingesetzt hatten. Eine energetische »Verwandtschaft«
zum Intervallum war daher sehr wahrscheinlich. Nicht bekannt war dem Commander bisher, daß es inzwischen eine modifizierte Ver‐ sion dieser gefährlichen Waffe gab, welche nicht nur die Schutzfel‐ der der Flash, sondern auch diverse andere Funktionen der zylin‐ derförmigen Beiboote außer Kraft setzte. Die Flash waren mehr als nur simple Fluggeräte – es waren flie‐ gende Waffen. Ihre Ausstattung glich weitgehend der ihres Mutter‐ schiffs. Man konnte sie vielfältig einsetzen, sowohl bei Bodenkämp‐ fen als auch bei Gefechten im All. Mit einem Flash gelangte man überall hinein, und selbst bei Nichtgebrauch der Bordwaffen ließen sich damit erhebliche Zerstörungen anrichten. Für jede Waffe wurde früher oder später eine Gegenwaffe entwi‐ ckelt, und jeder noch so stabile Schutzschirm wurde irgendwann einmal geknackt. Mit dieser Tatsache mußte sich selbst der abge‐ feimteste Militärstratege abfinden. Was Dhark allerdings ganz und gar nicht behagte, war, daß die transportable Pressorstrahlenkanone ausgerechnet von unberechenbaren Untergrundkämpfern entwickelt und gebaut worden war – und nun wie ein harmloses Kinderspiel‐ zeug an andere undurchschaubare Gruppierungen weitergereicht wurde. Amy Stewart startete einen letzten Versuch, die vier Vandekamps von ihrer Reise ins Ungewisse abzuhalten. »Wenn ihr partout auf der Erde bleiben wollt, werden wir euch nicht daran hindern. Aber laßt uns euch wenigstens dabei helfen, von hier wegzukommen. Wir könnten euch mit den Flash weiter nach Süden bringen. Das geht schneller als mit den Schneemobilen und ist viel sicherer.« »Wir haben Zeit«, erwiderte das Familienoberhaupt halsstarrig. »Und für unsere Sicherheit sorgen wir schon selbst – wir sind nicht allein.« »Im übrigen werden wir die Schneemobile noch benötigen, wenn sich der immerwährende Winter erst über den gesamten Planeten ausgebreitet hat«, sagte Monique. »Wir lassen sie nicht hier zurück.«
»Das gleiche gilt für unsere Waffen und unser restliches Gepäck«, fügte Conway Vandekamp hinzu. »Eure Beiboote sind zu klein, um alles mitzunehmen. Ich wette, ihr kriegt nicht mal einen Kegelrobo‐ ter in eine eurer fliegenden Zigarren.« »Wette verloren«, entgegnete Dan Riker. »Wir sind schon des öf‐ teren mit Kegelrobotern geflogen. Wenn man sie richtig plaziert, paßt es schon. Apropos Roboter: Habt ihr keinen dabei? Zum Schutz gegen wilde Tiere oder Plünderer‐Abschaum?« »Nur einen völlig veralteten Haushaltsroboter«, antwortete Roger Vandekamp. »Das Ding bewegt sich auf Rädern und taugt lediglich für niedere Arbeiten. Um Robbie besser transportieren zu können, haben wir ihn vor der Abfahrt auseinandergenommen.« Der Junge griente breit. »Wo wir gerade von euren Flash reden: Wie wollt ihr uns von hier wegbringen, wenn sie überhaupt nicht mehr funktio‐ nieren?« Ren ließ sich von dem Kleinen nicht ins Bockshorn jagen. »Ihr wißt, wie man sie außer Gefecht setzt – also wißt ihr auch, wie man sie wieder in Gang bringt. Stimmt’s, oder habe ich recht?« I.D. Vandekamp stand wortlos auf. Seine Frau und seine Söhne erhoben sich ebenfalls. Amy begriff, daß dies ein stummes Signal zum Aufbruch war. Die Vandekamps wollten ihre gerade erst be‐ gonnene Reise fortsetzen und wiesen ihre »uneingeladenen Besu‐ cher« unmißverständlich darauf hin, daß es für sie an der Zeit war, zu den Schiffen zurückzukehren. »Schwört uns, mich und meine Familie nicht zu verraten«, ver‐ langte I.D. »Die Regierung erfährt noch früh genug von der Existenz der Aufrechten und von unseren Plänen, auf der Erde zu bleiben.« »Laß mich raten«, bemerkte sein Bruder H.C. mißbilligend. »Soll‐ ten wir nicht zustimmen, behältst du für dich, wie wir die Flash wieder starten können, und du läßt uns hier in der Eiswüste zurück.« I.D. schüttelte den Kopf. »Ich kenne den guten Ruf der POINT OF und ihrer Besatzung. Ihr gehört zu den Besten der Besten. Intelligent, wie ihr seid, werdet ihr das Flash‐Problem bestimmt schon bald
lösen. Und selbst wenn nicht, traue ich euch durchaus zu, zu Fuß die nächste bewohnte Siedlung oder Stadt zu erreichen. Nein, es gibt effektivere Mittel, euch zum Schweigen zu bringen.« Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel, dachte Ren Dhark, der in einiger Entfernung eine Bewegung im Wald wahrgenommen hatte. Er machte Amy darauf aufmerksam. Sie nickte ihm unauffällig zu. Ihren geschärften Sinnen war nicht entgangen, daß zwischen den kahlen Bäumen, versteckt hinter Schneewehen, eine Bedrohung lauerte, der sie nicht gewachsen waren…
7. Die vier Flash hatten nur leichte Treffer abbekommen, und zum Glück war nirgendwo etwas durchgebrannt, wie eine rasche Prüfung ergab. Lediglich ein paar »herausgehauene« Sicherungen mußten wieder eingeschaltet werden. Danach konnten die Beiboote prob‐ lemlos… abgeschaltet werden, und zwar komplett. »In diesem Zustand müssen Sie das Boot ungefähr zehn Minuten belassen«, erklärte I.D. Vandekamp dem Commander. »Anschlie‐ ßend leiten Sie den Neustart ein und fahren sämtliche Bordsysteme hoch. Die Intervallfelder bauen sich dann automatisch wieder auf.« Dhark gab Befehl, sämtliche technischen Maßnahmen sofort ein‐ zuleiten. I.D. und seine Familie wollten nicht bis zum Start der Flash warten. Alle vier hatten sich zum Aufbruch gerüstet und standen kurz vor der Weiterfahrt durch die frostige kanadische Wildnis. »Denken Sie an Ihr Versprechen!« ermahnte I.D. den Commander zum wiederholten Male. »Was wir Ihnen heute anvertraut haben, dürfen Sie auf gar keinen Fall an die Regierung weitergeben. Noch nicht. Die Aufrechten möchten selbst entscheiden, wann sie der Welt ihre Existenz und ihre Erkenntnisse bekanntgeben.« Dan Riker verzog spöttisch die Mundwinkel, was unter seinem Thermokopfschutz nicht zu sehen war. Welche Erkenntnisse? dachte er. Außer wilden Theorien und Spekula‐ tionen habt ihr der Welt rein gar nichts bekanntzugeben. Er hatte nicht vor, irgendwelche aufgezwungenen Versprechen einzuhalten. Der Commander der Planeten, das Militär und die Ga‐ laktische Sicherheitsorganisation mußten unbedingt von all den Verwirrten erfahren, die im Begriff waren, sich zu organisieren und sich mit Waffengewalt der Evakuierung zu widersetzen. Dan be‐ fürchtete eine Eskalation, wenn niemand rechtzeitig eingriff und die selbsternannten Untergrundkämpfer entwaffnete. »Ich halte mein Wort«, sicherte Dhark derweil I.D. Vandekamp zu.
»Und ich gebe Ihnen noch ein Versprechen.« Dan, der gerade seinen Flash besteigen wollte, horchte auf. »Ich verspreche Ihnen, daß ich mit Ihren Freunden im Wald kurzen Prozeß machen werde, sollten sie versuchen, uns am Abflug zu hindern«, fuhr Ren mit ruhiger, leicht drohender Stimme fort. »Wir halten unsere Abmachung ein – und Sie die Ihre, verstanden? An‐ dernfalls bricht hier in wenigen Minuten ein Kleinkrieg aus, und es wird viele Tote geben.« I.D. machte sich erst gar nicht die Mühe zu leugnen, daß sich unter den Bäumen Mitglieder und Anhänger der Aufrechten verbargen. Er hatte zwar selbst noch keinen von ihnen erblickt (und fragte sich, woher Ren Dhark von ihrer Anwesenheit wußte), aber er hatte ge‐ spürt, daß sie schon seit geraumer Zeit von mißtrauischen Augen beobachtet wurden. Mehrere Routen führten zum vereinbarten Treffpunkt der Aufrechten, und zwei davon lagen nicht weit ent‐ fernt. Wahrscheinlich hatte man von dort aus das Lagerfeuer gese‐ hen und sich angeschlichen. »Ich will versuchen, von unterwegs aus einige mir persönlich be‐ kannte Gruppenmitglieder per Vipho zu erreichen«, versicherte I.D. dem Commander. »Ich werde denen erklären, daß Sie keine Regie‐ rungsspione sind und ich den Flash freien Abzug gewährt habe.« »Dann rate ich Ihnen, dafür all Ihre Überzeugungskraft aufzu‐ wenden«, erwiderte Ren Dhark. »Wird auch nur eine einzige Kanone abgefeuert, schlagen wir mit sämtlichen uns zur Verfügung stehen‐ den Bordwaffen zurück!« »Sie sind nicht der Mann, der ein blutiges Massaker anrichtet«, meinte I.D. »Sagen Sie mir nicht, was für ein Mann ich bin – sondern sagen Sie Ihren Leuten, was mit ihnen geschieht, wenn sie auf diesen Mann schießen!« herrschte Dhark ihn an. Grußlos begab er sich zum Flash. Es war nicht seine Art, wie ein Elefant wüste Drohungen herauszutrompeten, doch I.D. Vandekamp mußte begreifen, wie ernst es ihm mit seinen Worten war. Nur mit
genügend Nachdruck konnte I.D. seinen Mitstreitern im Wald deut‐ lich machen, daß es gesünder für sie war, die vermeintlichen »Hä‐ scher der Regierung« friedlich abziehen zu lassen. * Die Nerven der Männer und der Frau waren zum Zerreißen ge‐ spannt, als sich die Flash vom Boden erhoben. Von I.D. und den Seinen war nichts mehr zu sehen. Nach einem kurzen rührenden Abschied von seinem Bruder hatte er sich umgehend auf den Weg gemacht und war inzwischen im Schneegestöber verschwunden. Der Wind verwischte die Spuren der Schneemobile und verstreute die erloschenen Überreste des Lagerfeuers in alle Richtungen… Von jedem Flash aus wurde der Wald genauestens beobachtet. Knapp über einhundert Menschen hielten sich dort unten auf: Männer, Frauen, Kinder. Sie hatten sich weitläufig um die Lichtung verteilt. Und sie hatten hochgefährliche Waffen! Mehrere Strahlenkanonen vom modifizierten Pressortyp wurden auf die Flash gerichtet… H.C. war zwar eine leicht aufbrausende Kämpfernatur, doch seine Erfahrungen im »Abenteueraußendienst« hielten sich in Grenzen. Er kam gern mal aus seinem Labor heraus, doch genauso gern zog er sich nach zuviel Aufregung wieder dorthin zurück. Während er die auf ihn gerichteten Waffen am Monitor nicht aus den Augen ließ, fragte er sich besorgt, ob er seine schriftlichen wissenschaftlichen Aufzeichnungen und seine Dateien mit den diversen ellenlangen Berechnungen jemals wiedersehen würde. Selbst nach den Rea‐ genzgläsern sehnte er sich in diesem Augenblick. »Tut mir leid, daß wir umsonst hierhergekommen sind«, sagte er zu den anderen über Funk, wobei er hoffte, mit einer kleinen Un‐ terhaltung seine Angst kompensieren zu können. »Ich kann sein Verhalten einfach nicht verstehen.« »Zerbrechen Sie sich später über ihn den Kopf«, erwiderte Com‐
mander Dhark. »Meine Hauptsorge gilt jetzt nicht Ihrer Familie – sondern den modifizierten Pressoren. Sie bilden ein großes Gefah‐ renpotential.« »Ich weiß, ich weiß«, entgegnete der Forscher seufzend. »Insbe‐ sondere die, mit denen man gerade auf uns zielt.« Ren Dhark hatte Befehl gegeben, im Fall eines Angriffs den ge‐ fährlichen Energiestrahlen auszuweichen – und sofort mit aller Macht zurückzuschießen. Der Commander erteilte nur ungern eine Pauschallizenz zum Töten, aber wenn dies der einzige Ausweg war, hier mit heiler Haut herauszukommen… »Verrückte mit Waffen sind wohl das Übelste, das es im Univer‐ sum gibt«, meldete sich Dan Riker zu Wort. »Trawisheim, Eylers & Co müssen umgehend etwas gegen die Aufrechten, die Gäa‐Jünger und all die anderen schießwütigen Narren unternehmen. Als ob die Erde nicht schon genug Probleme hätte!« »Vorerst ist noch gar nicht heraus, ob diese Leute für uns jemals zu einem Problem werden«, meinte Dhark. »Bisher wollen Sie nur eines: Sie möchten selbst über ihr Leben bestimmen und sich ihren Auf‐ enthaltsort frei auswählen. Ich finde, das ist ihr gutes Recht. Im üb‐ rigen habe ich mein Wort verpfändet und versprochen, sie bei der Regierung nicht anzuschwärzen.« »Du hast recht, Ren, noch bereiten uns diese Leute keine Proble‐ me«, meldete sich Amy zu Wort. »Aber willst du warten, bis es so‐ weit ist? Du selbst hast uns gerade auf die Gefährlichkeit der trans‐ portablen Strahlenkanonen hingewiesen. Solche Waffen dürfen sich nicht in falschen Händen befinden.« »Die Terra Defence Forces muß die Pressorgeschütze schnellstens konfiszieren«, pflichtete Riker ihr bei. »Wir sollten sie über die Auf‐ rechten informieren und…« »Was ist mit meinem Versprechen?« unterbrach Dhark ihn unge‐ halten. »Zählt mein Wort plötzlich gar nichts mehr?« »Willkommen im dritten Jahrtausend«, spöttelte sein Freund. »Wir leben in einer Zeit, in der die Politiker ihren Wählern in schöner
Regelmäßigkeit frech ins Gesicht lügen. Falls es nötig ist, heben sie sogar die Hand zum Meineid…! Und da hast du Gewissensbisse wegen eines vagen, nicht in allen Einzelheiten genau definierten Versprechens, das du einem verwirrten Möchtegernfreiheitskämpfer gegeben hast? Dann verehrt er dich halt nicht mehr und ist furchtbar enttäuscht von dir – ja und? Ich denke, die Sicherheit der Menschheit geht vor. Diese Verblendeten könnten die ganze Evakuierung ge‐ fährden.« »Das hört sich für mich genauso konfus an wie die Verschwö‐ rungstheorien der Vandekamps«, hielt Ren ihm vor. »Davon, daß sie die Umsiedelung der Erdbewohner verhindern wollen, hat I.D. kein Wort gesagt. Ihm und seinen Gleichgesinnten kommt es vor allem darauf an, nicht mitkommen zu müssen. Im übrigen ist es mir egal, ob die vier von mir enttäuscht sind oder nicht. Viel schlimmer wäre, daß ich mir nach dem Wortbruch selbst nicht mehr in die Augen sehen könnte.« Mittlerweile hatten die Flash die Gefahrenzone verlassen und be‐ fanden sich außer Reichweite der Pressorgeschütze. H.C. atmete erleichtert auf. Allmählich konnte er wieder klarer denken – und er setzte seine Gehirnzellen sofort in Gang. »Wie wäre es mit einem Kompromiß?« schlug er auf dem Rückflug zum Schiff vor, das auf dem Raumflughafen Cent Field stand. »Commander Dhark setzt sich nicht offiziell mit der Regierung in Verbindung, sondern ausschließlich mit der GSO…« »Die GSO ist die Regierung«, warf Ren Dhark kurz ein. »… und zwar inoffiziell«, fuhr Vandekamp unbeirrt fort. »Treffen Sie sich mit dem Leiter der Galaktischen Sicherheitsorganisation in einem privaten Rahmen und plaudern Sie mit ihm über Ihre Be‐ gegnung mit den Aufrechten, über deren Vorhaben und technische Ausrüstung. Den genauen Ort des Zusammentreffens können Sie ja ein wenig verschleiern – und den Namen meiner Familie halten Sie am besten ganz raus. Was sagen Sie dazu?« »Damit könnte ich leben«, antwortete der Commander nach einer
kurzen Bedenkzeit. »Na schön, ich setze mich von der POINT OF aus mit Eylers in Verbindung und lade ihn in mein Apartment ein.« Noch ahnte er nicht, daß ihm der GSO‐Leiter bereits um Nasen‐ längen voraus war – wie schon so oft… * Wie alle regulären Besatzungsmitglieder der POINT OF verfügte Ren Dhark über eine eigene Wohnung im Gebäude jener unabhän‐ gigen Stiftung, die ihm seine privaten Forschungsflüge finanzierte. Es befand sich in Alamo Gordo, und man hatte von dort aus freien Blick auf Cent Field. Ren teilte sich seine Räumlichkeiten mit Amy Stewart. Am Abend nach seiner Rückkehr aus Kanada hatten die beiden nicht nur den Leiter der GSO, Bernd Eylers, zu sich eingeladen, sondern auch Dan und Anja Riker. Die Frau seines besten Freundes hatte blonde Haare, eine Stupsnase und eine aufregende Figur. Sie galt als führende Expertin auf dem Gebiet der Worgun‐Mathematik und zählte mittlerweile zu den ständigen Besatzungsmitgliedern der POINT OF. Die beiden Paare gönnten sich gerade den ersten Schluck eines spanischen Rotweins, als die melodische Türglocke anschlug. Bernd Eylers traf ein, verwundert darüber, daß Dhark ihn unbedingt privat sprechen wollte… »Ist Ihnen mein Büro nicht mehr gut genug?« fragte er, während Ren ihm ein Glas Wein einschenkte. »Hier ist es wesentlich gemütlicher«, entgegnete der Commander und ließ sich neben ihm auf einer kleinen Couch nieder. »Im übrigen handelt es sich um keinen offiziellen Gesprächstermin, mehr um eine lockere Unterhaltung unter Freunden.« »Und worüber wollen Sie sich mit mir unterhalten?« wollte der Mann von der Sicherheit wissen. »Über dieses und jenes«, antwortete Ren so beiläufig wie möglich.
»Beispielsweise interessiert es mich, ob Sie darüber informiert sind, daß nicht alle Menschen die Erde so schnell wie möglich verlassen wollen. Mehr durch Zufall erlangte ich Kenntnis über eine Gruppe, die fest entschlossen ist, hierzubleiben und auf Terra zu sterben.« Der sechsunddreißigjährige Eylers wirkte stets ein wenig linkisch, was unter anderem mit seiner linken Unterarmprothese zusammen‐ hing, und er war ziemlich wortkarg. Jetzt aber sprudelte es nur so aus ihm heraus. »Von welcher der vielen verschiedenen Gruppen reden Sie denn? Ich nehme an, von der bekanntesten: den Gäa‐Jüngern. Sie würden ihre ›Urmutter Erde‹ niemals verlassen, daraus machen sie keinen Hehl. Im Gegensatz zu den sogenannten Aufrechten, einer Geheimorga‐ nisation, deren Mitglieder geduldig auf den richtigen Zeitpunkt warten, um sich öffentlich zu ihren verworrenen Verschwörungs‐ theorien zu bekennen. Diese Leute behaupten allen Ernstes, die Re‐ gierung sei schuld an dem bevorstehenden Sterben der Sonne. Tra‐ wisheim ist in ihren Augen ein ausgekochter Lügner, und ich bin sein treuer Vasall. Die Aufrechten stehen schon lange unter Beo‐ bachtung der GSO, zumindest diejenigen, die wir kennen, und das sind inzwischen eine ganze Menge. Wußten Sie eigentlich, daß eines Ihrer Besatzungsmitglieder – H.C. Vandekamp – mit einem Auf‐ rechten verwandt ist? Der Mann lebt mit seiner Familie im Norden Kanadas und soll demnächst evakuiert werden. Ich bezweifle aller‐ dings, daß wir ihn dort noch antreffen werden. Meine Leute ermit‐ telten, daß sich die Mitglieder jener Organisation zu einem geheimen Treffen verabredet haben. Leider konnten wir noch nicht herausfin‐ den, wo. Später wollen sie dann mit anderen Gruppen zusammen‐ kommen. Und gerade diese Zusammenkünfte sind es, die mir am meisten Sorgen machen, Ren. Die verschiedenen Gruppen unterstützen sich gegenseitig nahezu vorbildlich und betreiben regen Handel unte‐ reinander – vor allem mit Waffen und Ausrüstungsgegenständen.
Man könnte meinen, sie bereiten sich auf einen Bürgerkrieg vor. Ebendeshalb haben wir sie verschärft ins Visier genommen. Wenn wir nicht höllisch achtgeben, bilden diese Fanatiker einen Staat im Staate. Entschuldigung, ich rede und rede… und lasse Sie gar nicht zu Wort kommen, Commander.« Riker konnte sich ein Grinsen nur schwer verkneifen. Sein Freund hatte alle Anwesenden instruiert, bei der Unterredung mit Eylers möglichst vorsichtig zu Werke zu gehen, sich mit viel Fingerspit‐ zengefühl an ihn heranzutasten und ihm die Ereignisse des Tages nur häppchenweise zu servieren… und nun stellte sich heraus, daß der GSO‐Leiter bereits über zahlreiche Informationen verfügte. Dhark seufzte. »Wenn Sie jetzt auch noch über die modifizierten transportablen Pressorgeschütze referieren, Bernd, halte ich gar keine Neuigkeiten mehr für Sie bereit.« Eylers zog die Stirn in Falten. »Pressorgeschütze? Klingt ja be‐ drohlich. Mir ist nicht bekannt, daß so etwas von Seiten der Regie‐ rung entwickelt wurde.« Dhark war froh, wenigstens etwas Neues zum Gespräch beitragen zu können. Über den wichtigsten Punkt war Eylers offenbar nicht unterrichtet. Der Commander schilderte ihm, was sich in Kanada zugetragen hatte… Schlagartig verwandelte sich der GSO‐Mann wieder in den ge‐ wohnten Schweiger. Er hörte aufmerksam zu und ließ mit keiner Geste erkennen, wie erschrocken er darüber war, daß eine derartige Waffe ausgerechnet von einer Untergrundgruppe entwickelt und gebaut wurde. »Es wäre mir lieber gewesen, die Gäa‐Jünger hätten die Kanone aus einem Labor der TF entwendet und nachgebaut«, sagte Eylers wenig später bei seinem viel zu frühen Aufbruch. »Aber daß sie in der Lage sind, selbst solche bedrohlichen Waffen zu entwickeln…« Er sprach den Satz nicht aus und verließ das geräumige Apart‐ ment. Sein Glas hatte er nicht einmal angenippt. Es gab jetzt Wich‐
tigeres zu tun…
8. Eric Santini fühlte sich in seine Kindheit zurückversetzt. Wenn er damals im dunklen Zimmer seltsame Gestalten zu sehen geglaubt hatte, wabernde Wesen, geformt aus der Schwärze der Nacht, dann hatte er sich jedesmal die Bettdecke über den Kopf gezogen und gehofft, daß ihn die Gespenster nicht fanden… Und wenn er es schließlich gewagt hatte, die Decke wieder von seinem Gesicht zu ziehen, ganz vorsichtig und nur nicht zu schnell, war es Gott sei Dank schon hell gewesen. Als Dschamil die Transition einleitete, gab Santini keinen Pfiffer‐ ling mehr auf sein Leben. Offenbar hatten ihn die Nachtgespenster letztlich doch noch entdeckt und wollten ihm nun endgültig den Garaus machen – mit ein paar Jahrzehnten Verspätung zwar, aber aufgeschoben war ja bekanntlich nicht aufgehoben. Gute Nacht, Eric, für immer, dachte der Major. War eine schöne Zeit mit dir. Und plötzlich war es wieder »hellichter Tag«! Der Sprung der DIGUFINOLHU von Punkt A nach Punkt B war vollzogen. Der Fünfzigmeterraumer kam mitten in der Korona der angepeilten Sonne heraus – trotz des großen Einflusses der Sonnen‐ gravitation nur mit einer Abweichung von 21,3 Kilometern vom vorgesehenen Zielpunkt. »Wir befinden uns exakt in jenem Bereich, in dem wir noch über‐ leben können und in dem eine Anpeilung der Transition nicht mög‐ lich ist«, erklärte Kapitän Maumun Abdul Dschamil Major Eric San‐ tini. »Energie und Masse der Sonne verschlucken den Transitions‐ schock sozusagen. Ohne die neue Transitionssteuerung wäre ein derart exakter Sprung niemals möglich gewesen.« »Könnten wir die wissenschaftlichen Erläuterungen auf später verschieben?« fragte Santini. »Ich wäre bestimmt ein besserer Zu‐ hörer, wenn sich das Schiff etwas weiter weg von der Sonne bewe‐
gen würde.« »Angst?« stichelte Leutnant Penelope dos Santos. »Ein beinharter Kerl wie Sie?« »Major Santini kennt keine Angst«, meinte einer der Männer in der Zentrale. »Es heißt, er habe den ersten Großangriff der Roboter auf Grah quasi im Alleingang zurückgeschlagen.« »Das gehört dem Bereich der Militärlegenden an«, entgegnete Santini. »Und daß es Menschen gibt, die niemals Angst haben, ist ebenfalls eine Mär. Wer ständig von sich behauptet, er würde sich vor gar nichts fürchten, ist in Wahrheit ein großer Feigling, der sich mit seinen Prahlereien nur selbst Mut machen will.« »Da schau her«, spöttelte die kesse Spanierin. »Sie sind offenbar nicht nur ein knallharter Kämpfer, sondern auch ein brillanter Psy‐ chologe.« »Man tut, was man kann«, knurrte der Major, der sich maßlos darüber ärgerte, daß ihm keine gescheitere Erwiderung darauf ein‐ fiel. Dschamil gab Anweisung, die DIGUFINOLHU ein Stück weiter aus der Korona herauszusteuern. Santinis Unbehagen legte sich ein wenig, und auch dos Santos wirkte jetzt etwas entspannter. Sekunden später schnellte die »Angstkurve« der beiden schlagartig wieder in die Höhe! Es krachte laut und vernehmlich mehrmals hintereinander. Der kleine Kugelraumer wurde ordentlich durchgeschüttelt. Für wenige Augenblicke geriet er ins Schlingern und aus der Flugbahn. Zum Glück bekam der Pilot das Schiff verhältnismäßig schnell wieder in den Griff und stoppte den gerade erst begonnenen Flug. Das Licht in der Zentrale flackerte. Zahllose kleine Lämpchen an den Kontrollpulten erloschen. Alarmsirenen heulten auf. Ganz offensichtlich hatte es an Bord mehrere Explosionen gegeben. »Schadensmeldung!« befahl der Kapitän. Dschamil mußte jetzt schnell und präzise handeln und umgehend sämtliche erforderlichen Maßnahmen einleiten. Aber wo sollte er
damit anfangen? Welcher Bereich seines Schiffes war am meisten gefährdet? Die Kontrollanzeigen an den zentralen Schaltpulten waren ihm keine große Hilfe – sie spielten total verrückt… * Verzweifelt schauten Hauptgefreiter Donizetti, Obergefreiter Poi‐ rot und Gefreiter Wagner nach oben. Bei der Konstruktion des Schiffes hatte man einst eine automatische Feuerlöschanlage in die Decke der Messe integriert. Sie regulierte ihre Wasserabgabe selbst‐ tätig und arbeitete äußerst effektiv; zumindest hatte sie bei den Probeläufen nie versagt… Doch die Anlage tat keinen Mucks – und es war ein Ernstfall! An Bord der DIGUFINOLHU nannte man die drei miteinander befreundeten jungen Gefreiten »Das Triorchester«. Sie hielten zu‐ sammen wie Pech und Schwefel und hatten eine gemeinsame Vor‐ liebe für klassische Musik. Vor allem die Barockzeit hatte es ihnen angetan, also Stücke von Vivaldi, Bach oder Telemann. Während ihre Kameraden in ihrer Freizeit Diskotheken besuchten mit höllisch lärmender Musik und höllisch nervenden Diskjockeyrobotern, be‐ vorzugten die drei die ruhige Atmosphäre von kleinen Konzertsälen. Und das beste daran war: Für einen Diskoabend mußte man sich »aufstylen«, für einen Konzertabend genügte die Ausgehuniform. Augenblicklich sah es ganz danach aus, als hätten der Italiener Donizetti, der Belgier Poirot und der aus Deutschland stammende Wagner ihren letzten gemeinsamen Ausgehabend bereits hinter sich. Der Speise‐ und Aufenthaltsraum an Bord der DIGUFINOLHU schien ihr Grab zu werden. Von allen Seiten drangen Flammen und Rauch in die Messe ein. Und da sich die Ausgänge aus Sicherheits‐ gründen automatisch geschlossen hatten, kamen die Freunde nicht mehr von hier weg… Niemand wußte, wo sie sich gerade aufhielten. Wann immer sich ihnen die Möglichkeit bot, ihre Posten für kurze Zeit zu verlassen,
verabredeten sie sich heimlich auf eine Zigarette in der Messe, die außerhalb der regulären Essenszeiten meist leerstand. »Ich wußte ja, daß Rauchen ungesund ist«, bemerkte Donizetti hustend, wobei es ihm völlig egal war, daß dieser Spruch schon ei‐ nen Bart hatte. Seine beiden Kameraden reagierten darauf mit weiteren »verkalk‐ ten« Bemerkungen. »Witz komm raus, du bist umstellt!« »Ich lache demnächst darüber, Don, wenn ich mehr Zeit habe.« Normalerweise waren die drei Jungs geistreicher, doch die Hitze der Flammen und der dicke schwarze Qualm lähmten ihr Denk‐ vermögen und ihre Spontaneität. Vergebens versuchten sie, per Vi‐ pho Hilfe herbeizuholen, doch sie konnten niemanden erreichen. Offensichtlich war überall auf dem Schiff die Hölle los, und jeder war voll und ganz damit beschäftigt, seine eigene Haut zu retten beziehungsweise die lebenserhaltenden Geräte in Gang zu halten, ohne die sie im All verloren waren. Immer enger zog sich der Kreis der Flammen um die Eingeschlos‐ senen, die sich in der Mitte des großen Raums zusammendrängten. Die beiden einzigen vorhandenen primitiven Handfeuerlöscher waren inzwischen leer und hatten nicht einmal für einen kurzen Aufschub gesorgt; genausogut hätte man versuchen können, das Feuer mit einer wassergefüllten Spülmittelflasche zu löschen. Ret‐ tung bringen konnte nur die hochmoderne Feuerlöschanlage, doch die war offenbar defekt. Plötzlich ertönte am Hauptzugang ein Krachen. Donizetti, Poirot und Wagner zuckten zusammen, weil sie mit einer weiteren un‐ kontrollierten Explosion rechneten… Ein Roboterlöschkommando zerstörte mit Brachialgewalt die ge‐ schlossene Tür und betrat die Messe. Mit ihren Spezialgeräten dämmten die aufrechtgehenden humanoiden Vielzweckmaschinen das Feuer größtenteils ein und zogen eine Fluchtschneise. Die Ge‐ freiten zögerten keine Sekunde und liefen nach draußen.
Sie kamen vom Regen in die Traufe. Außerhalb der Messe war alles verqualmt. Nirgendwo gab es einen qualmfreien Tunnel oder eine Durchgangsröhre, in die sich die drei hätten retten können. Be‐ wußtlos brachen sie zusammen. Daß die vergiftete Atemluft Sekunden später von der reaktivierten Frischluftanlage vollständig abgesaugt wurde, bekamen sie nicht mehr mit. Reglos blieben sie am Boden liegen. Nachdem die Flammen in der Messe vollständig gelöscht waren, prüfte einer der Roboter die Lebensfunktionen der Bewußtlosen. Seine Schnelldiagnose war offenbar zufriedenstellend, denn er ließ sie liegen, wo sie waren, und folgte den anderen Robotern zum nächsten Brandort. Bald darauf erwachte das »Triorchester«. Trotz ihrer starken Kopfschmerzen machten sich alle drei sofort daran, ihren Kameraden bei der Rettung des Schiffs zu helfen. Das hatte jetzt absoluten Vorrang, denn ohne die DIGUFINOLHU waren sie alle zum Sterben verdammt… * Die Sternschnuppe überstand die Explosionen und Brände – aller‐ dings war sie hinterher nur noch ein begrenzt manövrierfähiges Wrack. So fühlten sich auch die meisten Besatzungsmitglieder: le‐ bendig, aber ziemlich lädiert. Glücklicherweise hatte es keine Schwerverletzten gegeben, so daß jeder wieder seinen Posten be‐ ziehen konnte. »Nicht nur unsere neuartige Transitionssteuerung wurde voll‐ ständig zerstört«, verkündete Kapitän Dschamil über die wieder funktionstüchtige Bordsprechanlage. »Das gesamte Transitions‐ triebwerk funktioniert nicht mehr. Wir können somit nicht mehr transitieren. Auch sonst ist unsere Manövrierfähigkeit erheblich eingeschränkt. Zum Glück blieb die obere Polkappe weitgehend unversehrt, so daß wenigstens die Tarnvorrichtung noch ihren
Dienst tut – wir müssen also nicht befürchten, entdeckt zu werden, sobald wir die schützende Korona verlassen. Ich habe unseren Bordsuprasensor nicht nur eine Schadensanalyse durchführen lassen, sondern auch nach der Ursache für die Explo‐ sionen gefragt. Scheinbar haben wir uns übernommen und uns zu sehr auf die neuartige Technik verlassen. Schon bei der ersten ge‐ koppelten Transition kam es zu extremen Energiespitzen im Hy‐ perantrieb, bedingt durch die Regeleingriffe der experimentellen Steuerung. Die notwendigen Regulierungen zum Ausgleich der Sonnengravitation beim Sprung in die Korona haben dann das Transitionstriebwerk vollkommen überfordert und durchbrennen lassen.« Dschamil schwieg eine Weile und sagte dann: »Wir alle haben große Hoffnungen in die neuartige Transitionssteuerung gesetzt. Leider klappt das Ganze offenbar nur in der Theorie, denn der Be‐ lastung eines echten Einsatzes war sie nicht gewachsen. Nach unse‐ rer Rückkehr werden wir mit den Technikern mal ein ernstes Wört‐ chen reden müssen – die Besatzung der DIGU‐FINOLHU läßt sich nämlich nicht vera… ahm, ihr wißt schon, was ich meine.« Santini zollte dem Kapitän eine gewisse Anerkennung. Er ver‐ schleierte die prekäre Lage nicht vor seinen Leuten, wie es manche Anführer taten, und er verstand sich darauf, seine Besatzung auch in Extremsituationen wieder ein wenig aufzurichten. Mit Hilfe der Passivortung wurde nun das System gründlicher erkundet. Die Sonne glich dem Zentralgestirn des Heimatsystems der Gra‐ kos, Gerrck. Sie wurde von fünf Planeten umkreist, von denen einer Dschamils und Santinis Interesse besonders erregte. Aus gutem Grund, denn dieser Planet hätte ein Zwilling von Grah sein können, der Hauptwelt der Grakos. Das Klima dort war überdurchschnittlich warm und schwül und für Menschen nahezu unerträglich. Auch für die von intelligenten Großrechnern gesteuerten Roboter‐ schiffe war solch ein Klima nachteilig; ein längerer Aufenthalt dort
konnte ihnen erhebliche Schäden zufügen. Dennoch vermutete Dschamil, daß das Schiff, dessen Verfolgung die DIGUFINOLHU aufgenommen hatte, dort gelandet war, ir‐ gendwo inmitten jener Welt, die von dampfendem Dschungel überzogen war, und die Santini spontan »Double« nannte, weil sie rein äußerlich eine Art Doppelgänger von Grah war. Der Grund für Dschamils Vermutung waren einige schwache Energieimpulse, die in der Ortungszentrale empfangen wurden… Obwohl die Energieimpulse, die offenbar einer recht aufwendigen Tarnung »entwichen« waren, gleich wieder unterdrückt wurden, konnte man zweifelsfrei Double als ihren Ursprungsort ausmachen. »Ich kann mir nur schwer vorstellen, daß der Vierhundertmeter‐ raumer freiwillig dort gelandet ist«, überlegte Major Santini laut. »Diese Welt ist für die Grakos ein Paradies, aber für die Großrechner die Hölle. Das ist mehr als merkwürdig. Wir werden diesen Planeten anfliegen, allerdings nicht mit voller Beschleunigung, um unsere Tarnung nicht zu gefährden.« »Ich kann sowieso nicht dafür garantieren, daß der beschädigte Kahn bei vollem Tempo nicht auseinanderfällt«, brummte Dschamil und gab den Startbefehl. Die DIGUFINOLHU war kein sonderlich großes und auch kein sehr schönes Schiff – aber sie war sein Schiff! Er hatte kein besseres, und er hing an der Sternschnuppe. Der maledivische Kapitän hatte ein ungutes Gefühl. Ahnte er be‐ reits, daß seine Trennung von dem Fünfzigmeterraumer kurz be‐ vorstand…? * Der Anflug mit dem Normaltriebwerk dauerte rund drei Tage. In diesem Zeitraum führte die Mannschaft an der DIGUFINOLHU fortlaufend Reparaturen und Erneuerungen durch. Eric Santini war schon gespannt, welcher Zusammenhang zwi‐
schen den Roboterschiffen und den Grakos bestand – und daß es einen gab, daran hatte er inzwischen kaum noch Zweifel. Je mehr er darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihm diese Theorie. Aber was war es, das die bizarren Großrechnerschiffe und die seltsamen, unheimlichen Halbraumwesen miteinander ver‐ band…? Ihr gemeinsamer abgrundtiefer Haß auf die Menschen (die ihnen nie etwas getan hatten und zu massiver Gegenwehr erst re‐ gelrecht gezwungen worden waren)? Nachdem der Fünfzigmeterraumer Double erreicht hatte, ordnete Santini umfangreiche Erkundungen an – aus Sicherheitsgründen vorerst aus der Umlaufbahn heraus, selbstverständlich unter vollem Tarnschutz. Das Ergebnis der Fernortung wurde bestätigt: Der überwiegende Teil der fremden Planetenwelt war dampfender Dschungel. Ohne entsprechende Ausrüstung war es Menschen nur begrenzte Zeit möglich, da unten zu überleben. Und selbst wenn man sich ent‐ sprechend vorbereitete… Major Eric Santini konnte ein Lied von den körperlichen Erschöp‐ fungszuständen singen, die der ständige Aufenthalt in schwüler, feuchter Luft mit sich brachte – schließlich war er lange genug auf Grah stationiert. Ein mieser Job, aber irgendwer mußte ihn tun, im Interesse eines dauerhaften Friedens – der den Grako‐Rebellen of‐ fenbar ein Dorn im Auge war. Nach verhältnismäßig kurzer Suche wurde die Ortungsabteilung fündig. Das Vierhundertmeter‐Großrechnerschiff lag auf einer wei‐ ten Dschungellichtung, in einem Tal mit schroffen, nur mäßig be‐ wachsenen schrägen Felshängen, die wie gerodet aussahen, mögli‐ cherweise aber auch von Natur aus nur über einen spärlichen Be‐ wuchs verfügten. »Wie ein Haufen konzeptlos zusammengeschweißter Schrotteile, der von einem noch größeren Raumschiff entsorgt und im Tal zu‐ rückgelassen wurde«, kommentierte Santini den Anblick des Robo‐ terschiffes. »Kaum zu glauben, daß das schwerfällige Ding wirklich
fliegen kann.« Zahllose Handlungsroboter hielten sich außerhalb des bizarren Raumers auf. »Schrottbots« hatte Artus, der außergewöhnlichste Roboter des gesamten Universums und der gesamten POINT OF, diese seelen‐ losen Maschinen genannt. In jedem Großrechnerschiff gab es Massen von ihnen, und sie agierten wie viele stupide Mitarbeiter in Firmen – sie erledigten ihre Aufgaben, ohne überflüssige Fragen zu stellen. Der Großrechner an Bord steuerte sie über ultraexakten To‐Richtfunk fern, sprich: Ohne Anweisungen waren sie verloren, so wie manch ein Angestellter ohne seinen Chef. Ihre Menge und ihre Geschicklichkeit waren beeindruckend, doch ohne die Steuerung durch ihren »Herrn und Gebieter« waren sie weniger wert als der billigste terranische Haushaltsroboter. Im Prinzip waren sie nichts weiter als Hände, Füße, Augen, Nasen und Ohren des an sein Schiff gefesselten intelligenten Rechners, der über diese Roboter seinen Aktionskreis fast beliebig weit ausdehnen konnte. Ihre Gestalt hatte man ihrem jeweiligen Arbeitsbereich angepaßt: gleiche Arbeit, gleiches Aussehen – zumindest in groben Zügen. Wer ganz genau hinsah, konnte allerdings feststellen, daß keiner von ihnen wie der andere war… Die Handlungsroboter des Vierhundertmeterraumers waren au‐ ßerhalb des Schiffs sehr beschäftigt – offenbar mit dem Bau einer Industrieanlage. »Was zum Teufel machen die da?« murmelte Santini beim Anblick der Baustelle und kratzte sich nachdenklich am Kinn. Er befürchtete das Schlimmste. Seit bekannt geworden war, daß das Sterben der Sonne Sol von einer mächtigen Anlage, gebaut von einer biolebensfeindlichen Spezies – nämlich genau diesen Robotern –, eingeleitet worden war, stand er außerirdischen Industrieneu‐ bauten grundsätzlich skeptisch gegenüber. Was nach außen hin wie eine normale Produktionsanlage wirkte, konnte in Wahrheit der nächste hinterhältige Angriff auf die Menschheit sein…
Am liebsten hätte der Major das Dschungeltal komplett unter Strahlenbeschuß genommen, doch angesichts des gutbestückten Roboterschiffes beziehungsweise der erheblichen Schäden an der eigenen Waffensteuerung wäre das reiner Selbstmord gewesen. Santini betätigte den Bordsuprasensor und rief nähere Informa‐ tionen aus den Datenspeichern ab. Schon bald wußte er, was für eine Art von Anlage auf Double entstand… … und ihn packte das nackte Entsetzen! * Auf der Oberfläche des Planeten gab es keine Berge, keine Schluchten, keine Täler, nur sanftgeschwungene Hügel und nahezu endlose Ebenen, bewachsen von einer niedrigen Vegetation; eine düstere Welt ohne Höhen und Tiefen, eine Schattenwelt, überspannt von einer mächtigen dunklen Wolkendecke, unter der sich ein feuchtwarmes, für Menschen beinahe unerträgliches Klima ausbreitete. So beschrieb ein Angehöriger der Schwarzen Garde, einer wissen‐ schaftlich gebildeten Elitekampftruppe der Terranischen Flotte, de‐ ren Name sich von ihren weltallschwarzen Uniformen ableitete, Anfang 2058 seine ersten Eindrücke von NGK 1959/07 III, kurz nachdem die Truppe auf jenem Planeten gelandet war. Obwohl sich diese Schilderung fast schon ein wenig poetisch anhörte, hatte sie später im originalen Wortlaut Einzug gehalten in die offiziellen Da‐ tenbanken. Damit verglichen wirkte die nachfolgende Beschreibung einer auf dem Planeten errichteten Grako‐Station weitaus sachlicher und nüchterner: Ein grauer, langgestreckter Bau mit einem Labyrinth von Korridoren, die von violett leuchtenden Lichtträgern nur unzureichend erhellt wurden. Hinter einem großen Tor lag eine hohe Halle mit einer gewölbten Decke. An den Wänden erstreckten sich lange Laborgestelle in drei Reihen übereinan‐ der.
Dann wurde der Bericht allmählich wieder ein wenig schillern‐ der… Auf den Gestellen lagen Kokons von jeweils einem Meter Länge, die Embryonen beinhalteten: Grako‐Nachwuchs in verschiedenen Entwick‐ lungsstadien, teils so durchsichtig, daß man einige ihrer Organe sehen konnte – und das fortwährend pulsierende Gehirn, das wie der Herzmuskel eines Menschen einer »schlagenden Verbindung« anzugehören schien! Untereinander waren diese gespenstischen, offenbar in der Entstehungs‐ phase befindlichen Geschöpfe mit seltsam anmutenden Apparaturen ver‐ knüpft – ein Netzwerk von Energieleitungen und Schläuchen, das keine Spinne besser hätte miteinander verweben können. Der furchteinflößende Gesamteindruck, welcher durch die wilden Zuckungen der insektoiden Leiber noch verstärkt wurde, war der einer hochmodernen Folterkammer. Den Rest des Berichts überflog Major Santini, da ihm vieles bereits bekannt war. Man hatte damals die Kokons auf Spooky – so lautete die inoffizielle Bezeichnung der Schwarzen Garde für den Planeten NGK 1959/07 III – einer eingehenden Untersuchung unterzogen und war zu dem Ergebnis gelangt, daß sie mit künstlich erzeugten Hy‐ perraumfeldern umgeben wurden. Die ganze Anlage hatte sich schließlich als Aufzuchtstation für Grakos entpuppt – der gesamte Planet war eine Brutwelt der Schattenkrieger; dort hatten die aus‐ gewachsenen Grakos ihren Nachwuchs manipuliert, damit er so wurde wie sie selbst: halb körperlich, halb Bestandteil des Hyper‐ raums. Und nun entstand hier, auf Double (ebenfalls eine inoffizielle Be‐ zeichnung), scheinbar eine weitere Anlage dieser Art. Nachtflug befürchtete also nicht umsonst, daß die Grako‐Rebellen die Ablage neuer Eier dafür nutzen könnten, um erneut Nachkommen aufzu‐ ziehen, die in ein Schattenfeld gehüllt waren. Offensichtlich waren diese Verbrecher fest entschlossen, das Rad der Zeit zurückzudrehen und den augenblicklich bestehenden Frieden nicht zu akzeptieren. Aber welche Rolle spielten die Großrechnerschiffe dabei? Sie waren es doch gewesen, die Grah angegriffen hatten – eine brutale,
kompromißlose Aktion, bei der Menschen und Grakos gleicherma‐ ßen ums Leben gekommen waren. Wie konnte man sich mit solchen Teufeln verbünden? Offenbar gingen die sogenannten Grah‐Freiheitskämpfer, die diese Bezeichnung nicht einmal annä‐ hernd verdienten, rücksichtslos über Leichen ‐selbst wenn es die der eigenen Spezies waren. Dieser Gedanke erschreckte Santini noch mehr, und sein Wunsch, die große Dschungellichtung unter Strahlenfeuer zu nehmen, wurde immer stärker. Glücklicherweise war die Anlage noch längst nicht fertig, obwohl die Schrottbots alias Handlungsroboter eifrig mit dem Aufbau be‐ schäftigt waren. Die Tarnvorrichtung ihres Mutterschiffs war aktiviert; man konnte es von der DIGUFINOLHU nicht anmessen – aber dank der Fernop‐ tik sehen! Umgekehrt hätte man auch die Sternschnuppe optisch erfassen können. Das setzte jedoch voraus, daß das Roboterschiff wußte, an welchem Punkt im endlosen All sich die Verfolger auf‐ hielten, und bislang wußte der mit dem Schiff »verschmolzene« Großrechner nicht einmal, daß er überhaupt verfolgt wurde… Das änderte sich schlagartig und ohne jede Vorwarnung – auf‐ grund eines dummen Fehlers! * Da die Messe wegen der Brandschäden nicht mehr betreten wer‐ den konnte, wurde auf Befehl des Kapitäns ein kleiner, kaum ge‐ nutzter Lagerraum an Bord vorübergehend zum Freizeit‐ und Spei‐ seraum umfunktioniert. Hier konnte die Mannschaft künftig ge‐ meinsam ihre Mahlzeiten einnehmen, und wer mal eine kurze Pause einlegen wollte, war darin ebenfalls gut aufgehoben. Das »Triorchester« Donizetti, Poirot und Wagner ernannte die neuen Räumlichkeiten umgehend zur »Raucherecke« und verabre‐ dete sich dort. Der Hauptgefreite traf als erster ein. Niemand sonst
hielt sich in dem Lagerraum auf. Er zündete sich eine Zigarette an und hing seinen Gedanken nach. Donizetti entstammte einer in einem italienischen Vorort lebenden Großfamilie – den Donizettis. Nicht nur seine Eltern waren stolz auf ihn, auch seine gesamte Verwandtschaft bewunderte ihn dafür, daß er es zum Flottenangehörigen gebracht hatte. Keiner seiner zahlrei‐ chen Angehörigen hatte bisher einen derartigen Aufstieg geschafft; die meisten von ihnen arbeiteten in den umliegenden Fabriken, auf dem Großmarkt oder im Transportgewerbe. Ein hart verdientes Brot, bei schlechter Bezahlung. Hinzu kam die ständige Angst um den Arbeitsplatz, denn je mehr Roboter gebaut wurden, um so häufiger wurden sie in den Betrieben für schwere körperliche Tätigkeiten eingesetzt, zur Entlastung der Arbeiter, wie es so schön hieß – die früher oder später jedoch zu deren Entlassung führte… In der Anschaffung waren Roboter zwar teuer, aber da sie bedeu‐ tend mehr schafften als normale Arbeiter und weder Löhne noch Sozialleistungen forderten, rentierte sich für die Unternehmer auf Dauer der Tausch Maschine gegen Mensch. Donizetti hatte hoch hinausgewollt, weg aus dem muffigen Vorort, raus ins endlose Weltall. Jetzt war er dort, wo er immer hatte sein wollen – und er sehnte sich zurück nach Hause. Daheim, im Schoß der Familie, die immer für ihn da war, wenn er sie brauchte, hatte er sich stets geborgen gefühlt. Hier, in der Unendlichkeit, kam er sich oftmals vor wie bestellt und nicht abgeholt. Zum Glück hatte er in‐ zwischen zwei gute Freunde gefunden. Obergefreiter Poirot betrat den Raum und setzte sich zu seinem Kameraden. Von ihm wußte man an Bord, daß er keine Eltern hatte, zumindest keine, die ihm bekannt waren. Man hatte ihn als Säugling vor einem Pfarramt in Antwerpen ausgesetzt, und er war danach in einem Hort aufgewachsen, der die Bezeichnung »Christliches Heim für Waisenbetreuung« trug. Die dort tätigen Betschwestern hatten dem quirligen Kind wenig Spielraum zum Ausleben seiner Aben‐ teuerlust gelassen – das wollte Poirot jetzt bei der Flotte nachholen.
Kapitän Dschamil hielt ihm manchmal vor, er würde seinen Sol‐ datenberuf nicht ernst genug nehmen und prophezeite ihm einen viel zu frühen Tod, wenn er sich nicht endlich änderte, denn purer Abenteuerhunger und Leichtsinn hatten in einem Kampfeinsatz nichts verloren. »Ich prophezeie Ihnen auch etwas«, hatte Poirot einmal respektlos entgegnet. »In fünf Jahren habe ich Ihren Job – spätestens.« Dschamil hatte auf diese Frechheit mit fünf Tagen Arrest reagiert. »Wagner kommt vermutlich nicht«, berichtete Poirot, nachdem auch er sich eine Zigarette angezündet hatte, mittels eines kurzen Drehs am Filter (eine praktische Erfindung, welche seinerzeit die Streichholzindustrie in eine tiefe Krise gestürzt hatte). »Er wurde zum Dienst in die Waffensteuerung beordert. Der kleine Streber macht bestimmt noch mal vor uns Karriere.« Ein Rütteln ging durchs Schiff. Alarmsirenen ertönten. Beide Männer sprangen auf. Ihre Pause war vorüber, noch eh sie richtig angefangen hatte… Was war geschehen? Als die DIGUFINOLHU im All den Landeplatz des Roboterschiffes überflog, wurde sie plötzlich vom Planeten aus unter Beschuß ge‐ nommen. Ein Kompri‐Nadelstrahl erwischte die Sternschnuppe, streifte sie zum Glück nur. Der Großrechner hatte seine Verfolger offenbar entdeckt. Erneut war an Bord der Teufel los! Die Explosion an der Ein‐ schlagstelle löste mehrere Kabelbrände aus, die sich rasch ausbrei‐ teten. Kapitän Dschamil fluchte wie ein Weltraummüllsammler! Gerade erst hatte er die schlimmsten Schäden am und im Raumschiff beseitigen lassen, und nun fing alles wieder von vorn an… »Ich hasse Wiederholungen!« stieß Hauptgefreiter Donizetti her‐ vor, als Flammen durch die geöffnete Tür des zur Messe umfunk‐ tionierten Lagerraums hereinschlugen. Diesmal ließen sich Obergefreiter Poirot und er nicht in den Raum zurückdrängen – sie setzten sich massiv gegen das Feuer zur Wehr!
Weil die Löschroboter anderweitig eingesetzt waren und die auto‐ matische Anlage noch immer nicht reibungslos funktionierte, be‐ kämpften die beiden den Brand mit Handlöschgeräten, die diesmal völlig ausreichten, da sich die Flammen noch nicht sonderlich weit durch den Verbindungstunnel gefressen hatten. Mit gebündelten Kräften erstickten Donizetti und Poirot das Problem sozusagen im Keim – was sich allerdings ziemlich schwierig gestaltete, immerhin schlingerte die DIGUFINOLHU überaus heftig. Der Treffer hatte sie aus der Bahn geworfen, und diesmal bekam der Pilot – kein Geringerer als Maumun Abdul Dschamil höchstpersönlich – die Sache nicht so leicht in den Griff wie beim ersten Mal. Zeitweise blockierte die Steuerung total… »Tarnschutz einschalten!« brüllte Dschamil, der befürchtete, daß die DIGUFINOLHU aufs neue vom Großrechnerschiff ins Visier genommen werden könnte. »Tarnschutz ist eingeschaltet!« rief einer seiner Offiziere zurück. »Unmöglich!« erwiderte der Kapitän. »Das Roboterschiff hätte uns bei aktivierter Tarnung niemals entdeckt!« Der Großrechner auf dem Planeten widersprach ihm auf seine Weise, indem er das Kompri‐Nadelgeschütz ein weiteres Mal »sprechen« ließ. Dschamil wollte ein Ausweichmanöver fliegen, doch schon wieder blockierte die Steuerung, und die Sternschnuppe driftete in eine völlig andere Richtung ab als geplant. Das erwies sich als Riesenglücksfall! Der todbringende Energie‐ strahl jagte nahe – verdammt nahe! – am Ziel vorbei. Hätte der Pilot sein Manöver wie geplant ausgeführt, hätte es die DIGUFINOLHU mitsamt Besatzung jetzt nicht mehr gegeben… * Gefreiter Wagner war in der Waffensteuerung eingesetzt. Er un‐ terstützte Leutnant dos Santos bei dem Versuch, das Roboterschiff anzuvisieren. Die starken Schlingerbewegungen ließen jedoch kei‐
nen gezielten Schuß zu. Major Eric Santini haßte es, angegriffen zu werden, ohne sich wehren zu können. Er mußte etwas tun, sonst explodierte er inner‐ lich! Umgehend begab er sich zur Waffensteuerung und drängte Wagner von seinem Platz. Seite an Seite mit der schönen Spanierin bemühte er sich, das Ziel ins Fadenkreuz zu bekommen… Der überraschte Wagner machte sich erst gar nicht die Mühe, ge‐ gen die schroffe Behandlung zu protestieren – er wußte ja, daß man beim Militär nicht mit Samthandschuhen angefaßt wurde, schon gar nicht im Einsatz. Ihn hatten nicht die Aussicht auf gesellschaftliches oder familiäres Ansehen oder gar der Abenteuerhunger dazu be‐ wogen, sich bei der TF zu bewerben. Wagner wollte aktiv mithelfen, die Menschheit vor Bedrohungen aller Art zu schützen. Dafür war er gern bereit, auch mal zurückzustecken. Rasch verließ er seinen Posten, um sich anderswo nützlich zu ma‐ chen. Die Besatzung der DIGUFINOLHU war ein eingespieltes Team. Auch ohne ausdrückliche Anweisungen wußte jeder, wo er in einer Notsituation für die anderen am besten von Nutzen war – und Wagner konnte weiß Gott mehr, als sich zum Rauchen heimlich in die Messe zu verdrücken. In der Ortungsabteilung war man für jede Unterstützung dankbar… Dschamil hätte jetzt auch gar keine Zeit gehabt, sich um jeden einzelnen zu kümmern, er hatte alle Hände voll zu tun. Sein Raum‐ schiff war im Begriff, auf den Planeten zu stürzen. Nur wenn er sich voll und ganz auf seine Aufgabe konzentrierte, konnte er vielleicht das Schlimmste verhindern. Penelope dos Santos löste einen Strahlenschuß aus, obwohl sie das Großrechnerschiff noch nicht exakt anvisiert hatte. Der gleißende, mächtige Energiestrahl schlug irgendwo im Dschungel ein, fernab des Tales, und hinterließ dort verbrannte Pflanzen und schwarze Erde – sowie einen bestialischen Gestank, der im All allerdings nicht wahrzunehmen war. »Sind wir hier auf dem Übungsplatz?« schnauzte Santini dos San‐
tos unbeherrscht an; er war genauso nervös wie sie. »Ich dachte, Sie seien ein Profi, kein blutiger Anfänger.« »Hätte sich Dschamil professioneller verhalten, wären wir jetzt nicht in dieser beschissenen Situation!« erwiderte der Leutnant zor‐ nig. Santini konnte es nicht ausstehen, wenn ihm Frauen widerspra‐ chen. Und wenn er etwas noch viel weniger ausstehen konnte, dann waren es Frauen, die wie Kerle fluchten. Und eine Frau, die beides tat, widersprechen und fluchen, die fand er einfach… ungewöhnlich. Er wußte, wie Penelopes Vorwurf gegen Kapitän Dschamil ge‐ meint war. Daß das Großrechnerschiff die Sternschnuppe trotz akti‐ vierter Tarnanlage entdeckt hatte, konnte nur eines bedeuten: Beim Überflug des Landeplatzes hatte die DIGUFINOLHU genau zwi‐ schen dem Vierhundertmeterraumer und der Sonne gestanden und war deshalb von den Optiken des Roboterschiffes erfaßt worden – ein Anfängerfehler, der dem erfahrenen Kapitän niemals hätte pas‐ sieren dürfen. Etwa dreißig Kilometer von der im Bau befindlichen Aufzuchtsta‐ tion brachte Dschamil die Sternschnuppe herunter, mitten im dich‐ testen Dschungel. Der Fünfzigmeterraumer rasierte zunächst mas‐ senhaft Baumwipfel ab, bevor er in dem Ast‐ und Blattgewirr ste‐ ckenblieb. Das Schiff wurde von seinem Eigengewicht nach unten gedrückt und krachte auf den Erdboden. Überall an Bord atmete man erleichtert auf. Obwohl die schützen‐ de Technik des Schiffs an allen Ecken und Enden versagt hatte, hatte es keine Verwundeten gegeben – ein paar leichte Verletzungen, die jeder gestandene Soldat mal so nebenbei wegsteckte, nicht mitge‐ zählt. Aber noch war das Schiff nicht außer Gefahr. Zwar hatte man sämtliche kleinen Brände allerorts eingedämmt, und weitere Explo‐ sionen waren ebenso ausgeblieben wie ein dritter Strahlenangriff – doch der Raumer war von der optischen Aufklärung des Roboter‐ schiffes erfaßt worden, und seither ließ ihn der Großrechner ganz
sicher nicht mehr »aus den Augen«. »Vielleicht hat man uns im Verlauf des Absturzes aus der Optik verloren«, hoffte Hauptgefreiter Tom Strange. Gefreiter Wagner machte seinen Wunschgedanken sogleich zu‐ nichte. Kurz bevor die DIGUFINOLHU in die Bäume gerast war, hatte er noch mitbekommen, wie zwei Beiboote den Hangar des Roboterschiffes verließen…
9. Nur in einer schwülen Umgebung, in der man die dunstige Luft fast schon schneiden konnte, fühlten sich die Glei‐Fegin wirklich wohl – anderswo hätten sie auch niemals existieren können. Die dumpfe, unveränderliche Schwüle auf ihrem Heimatplaneten war ihre wichtigste Energiequelle, ihr ewig sprudelnder Lebensquell; eine kühlere Witterung hätte ihnen unwei‐ gerlich den Tod gebracht und unter ihren Hunderttausenden von Kolonien ein Massensterben ausgelöst… Die Glei‐Fegin waren Bodenkriecher, die sich gemächlich zwischen Grä‐ sern, Wurzeln und vor sich hinfaulenden Blättern bewegten, wo sie weit‐ gehend unbemerkt blieben, weil sie die Fähigkeit besaßen, sich farblich fort‐ laufend ihrer Umgebung anzupassen. Ihr Körper bestand aus wabbeligen Organen umgeben von einer beweglichen, schleimigen Masse, die ihnen zur Fortbewegung und zum Beutefang diente. Über sichtbare Sinnesorgane wie Augen oder Ohren verfügten sie nicht, aber sie waren befähigt, ihre Umgebung fernzuertasten. Beutetiere witterten sie mit ihren ganz speziellen Sinnen bereits auf mehrere Meter Entfernung. Wählerisch waren sie nicht; grundsätzlich verzehrten sie so ziemlich alles, was lebte oder sich irgendwie lebendig anfühlte. Wenn ein Glei‐Fegin seine einzelnen Organe zusammenzog und sie mit seiner äußeren breiigen Masse mehrmals umschlang, konnte er einen un‐ förmigen Haufen von durchschnittlich zehn Zentimetern Durchmesser bilden, der wie gewöhnlicher Tierkot aussah und auch entsprechend roch; perfekter konnte man sich kaum tarnen. Umgekehrt schafften es diese an‐ passungsfähigen Wesen, sich bis zu einem Meter auszudehnen. Im Dehn‐ zustand hüllten sie dicke Insekten oder größere Vögel komplett ein und zerquetschten sie. Die Kadaver zersetzten sie dann mit ausgesonderten Faulstoffen und saugten die Reste in sich auf. Mehrere Glei‐Fegin konnten sogar sehr großen Dschungeltieren gefährlich werden. Unauffällig krochen sie an ihnen hoch, verteilten sich über die massigen Körper und saugten sich auf ein geheimes Signal hin alle gleich‐
zeitig überall fest. Dabei gingen sie stets äußerst vorsichtig zu Werke. Wenn die auserwählte Jagdbeute merkte, daß sie von Bodenkriechern befallen war, war es meist schon zu spät. Sie bewegten sich nahezu lautlos. Lediglich ihr strenger Geruch erwies sich mitunter als verräterisch. Obwohl es sich bei den Bodenkriechern um eine primitive Lebensform mit niederer Intelligenz handelte, waren sie nicht dumm. Ihr Instinkt und vor allem ihr spezieller Tastsinn ließen sie drohende Gefahren mitunter erahnen. Sie spürten, welche Tiere zum Hungerstillen geeignet waren und von wel‐ chen Wesen man sich besser fernhielt. Niemals hätten sie den aufrechtge‐ henden, armlosen Tres‐Kar angegriffen! Zwar war er ein friedfertiger Grünzeugfresser, doch er ernährte sich überwiegend von den röhrenartigen Stengeln der Vinit‐Mea, einer immerblühenden Pflanze, die sich ungezügelt überall auf dem Planeten ausbreitete, weil sie außer dem Tres‐Kar keine Feinde hatte. Nach reichhaltigem Vinit‐Mea‐Genuß war dessen Blut absolut tödlich für die Glei‐Fegin – und der Armlose war nahezu ständig damit beschäftigt, sich die wuchernden Stauden einzuverleiben. Auch die seltsamen Fremdwesen, die sich neuerdings in dem schwer zu‐ gänglichen Felstal aufhielten, kamen nicht als Beute in Frage, wie die Glei‐Fegin nach ersten Annäherungsversuchen festgestellt hatten. Es hätte bestimmt ewig gedauert, deren Panzerhaut aufzulösen – zu viel Mühe für den kaum wahrnehmbaren Funken Leben, der tief in ihrem Inneren zu erfühlen war und der gar nicht richtig zu ihnen zu gehören schien. Außer‐ dem schienen sie weder aus Blut noch aus Fleisch oder Knochen zu beste‐ hen… Eine zweite dort vorhandene Spezies eignete sich als Nahrung sicherlich weitaus besser, sie strotzte geradezu vor Lebensenergie und schien zudem biologischer Natur zu sein. Dennoch hielten sich die Bodenkriecher ängstlich von ihr fern. Die Glei‐Fegin spürten, daß eine Konfrontation mit diesen unheimlichen Wesen, die im Hier existierten, ohne aber vollständig hierzu‐ sein, nicht ratsam war. Und dann tauchte überraschend noch eine dritte Fremdspezies im Dschungel auf…
* »Ja, ja, ich weiß, daß ich einen Fehler gemacht habe. Ich könnte mir dafür selbst irgendwo hintreten!« Kapitän Dschamil hatte inzwischen begriffen, daß die DIGUFI‐ NOLHU nur durch seine Schuld entdeckt worden war. Diese Schuld gestand er gegenüber der Besatzung, die sich komplett draußen vor dem abgestürzten Schiff versammelt hatte, offen und ehrlich ein. »Rückgängig machen kann ich meinen Fehler leider nicht mehr«, bedauerte er. »Aber vielleicht kann ich ihn ja wiedergutmachen.« Er holte tief Luft und sagte dann: »Auch wenn es mir schwerfällt, mein Schiff zu opfern: Wir geben der DIGUFINOLHU den Rest!« Schweigen breitete sich aus. Dschamils Mannschaft wußte, wie sehr er an dem Raumer hing. Oft genug hatte er ihn sein zweites Zuhause genannt. Andererseits wies sein »Haus« mittlerweile mehr Schäden auf als das berühmte Lustschloß zu Salzdahlum, ein impo‐ santes Bauwerk, das im neunzehnten Jahrhundert aufgrund irrepa‐ rabler Schäden für unbewohnbar erklärt und aus Kostengründen komplett abgerissen worden war. Für den Betrag, den die TF für die Reparatur der DIGUFINOLHU zahlen müßte, hätte man drei solcher Schlösser sanieren können – sprich: Die Flotte würde das Schiff nach der Rückkehr zur Erde vermutlich sowieso verschrotten. Dschamil erläuterte in kurzen Worten seinen Plan. »Wir aktivieren die Selbstzerstörungsanlage, senden per To‐Richtfunk einen Notruf an Terra ab und ziehen uns anschließend in den Dschungel zurück.« Major Santini war dagegen. »Mit einem Rückzug ist es nicht getan. Die Errichtung der Aufzuchtstation muß unter allen Umständen verhindert werden. Wenn das terranische Rettungsraumschiff ein‐ trifft, darf auf der Baustelle kein Stein mehr auf dem anderen stehen. Am besten wäre es, auch noch das Roboterschiff hochzujagen, sonst fangen die Arbeitsroboter gleich wieder mit dem Aufbau an.« »Na, da haben Sie sich ja eine Menge vorgenommen, Major«, ent‐
gegnete der maledivische Kapitän. »Ich wünsche Ihnen viel Glück bei Ihrem Vorhaben, Sie werden es brauchen. Als ich sagte, wir würden uns in den Dschungel zurückziehen, meinte ich damit aus‐ schließlich mich und meine Leute. Leutnant Penelope dos Santos, Hauptgefreiter Tom Strange und Sie kommen nicht mit. Unser Rückzug ins Dschungeldickicht ist keine Flucht, sondern ein Ab‐ lenkungsmanöver. Wir ziehen die Aufmerksamkeit der Roboter in den Beibooten auf uns und lenken sie von Ihnen ab. Dadurch ver‐ schaffen wir Ihnen dreien Gelegenheit, zu tun, was getan werden muß.« »Sind drei Mann nicht ein bißchen wenig für die Zerstörung der Grako‐Station?« fragte Strange besorgt. Santini wollte etwas antworten, aber die Spanierin kam ihm zuvor. »Je weniger wir sind, desto geringer ist die Gefahr, entdeckt zu werden. Erfahrungsgemäß kann eine kleine, schlagkräftige Kampf‐ gruppe beim Feind mehr Schaden anrichten als eine ganze Armee.« »Sie nehmen mir die Worte aus dem Mund«, warf Santini ein. »Künftig sollten Sie es jedoch mir selbst überlassen, an mich gerich‐ tete Fragen zu beantworten, ich brauche nämlich keine Pressespre‐ cherin.« »Ich hatte nicht den Eindruck, daß die Frage direkt an Sie gerichtet war, Major«, entgegnete dos Santos und schaute Strange an. Tom hatte das Gefühl, jetzt etwas sagen zu müssen. Aber was? Gab er dos Santos recht, verärgerte er womöglich den Major, und stimmte er Santini zu, würde ihm das der Leutnant wahrscheinlich sehr übelnehmen. Also tat er das, was für Mannschaftsdienstgrade beim Militär in allen Situationen das beste war: den Mund halten. Santini segnete Dschamils Plan mit einem kurzen Kopfnicken ab. Was blieb ihm anderes übrig? Es gab keine Alternative. Außerdem war keine Zeit mehr, eine bessere Strategie zu entwickeln – die Bei‐ boote konnten jeden Augenblick über den Bäumen auftauchen. In der Waffenkammer der DIGUFINOLHU waren genügend neue Multikarabiner vom Typ GEH&K 10/62 vorhanden, mit ausreichend
Ersatzmunition und Energiezellen, so daß jedes Besatzungsmitglied mit einer solchen Waffe ausgestattet werden konnte, auch Santini und Strange. Der Major fragte sich, wie viele Beziehungen Dschamil wohl hatte spielen lassen müssen, um seine komplette Mannschaft mit den pro Stück fünfzigtausend Dollar teuren Karabinern ausrüsten zu kön‐ nen. Außer dem Karabiner erhielt jeder einen Rucksack mit einer Not‐ fallausrüstung, welche Trinkwasser, haltbare Lebensmittelvorräte, Verbände, Spritzen, Tabletten und weitere überlebensnotwendige Kleinigkeiten enthielt. Penelope dos Santos verzichtete auf den obligatorischen DIGU‐ FINOLHU‐Rucksack und auch auf den Karabiner. Sie verfügte über eine eigene tragbare Spezialausrüstung, die allerdings ziemlich schwer war, so daß sie jeden zusätzlichen Ballast ablehnte. Für ihren persönlichen Schutz mußten halt ihre beiden Begleiter sorgen, zwei starke Männer, von denen sie sich gut behütet fühlte (was sie allerdings niemals auch nur mit einem Wort erwähnt hätte). Santini und Strange hingegen machten von Dschamils Angebot gerne Gebrauch. Die Selbstzerstörungsanlage wurde aktiviert. Den Dauernotruf setzte Major Eric Santini in persona ab. Bis zur Explosion wurden von jetzt an in einem fort die exakten Positionskoordinaten zur Erde ausgestrahlt, um der Rettungsmannschaft den Weg zu weisen. Dos Santos konnte die Ausstrahlung unterwegs mit einem tragba‐ ren Funkpeiler überwachen. Da zu befürchten war, daß die Roboterbeiboote jede Sekunde wie unheilbringende Boten am Himmel erschienen, hielt man sich nicht lange mit Verabschiedungen auf. Aufgeteilt in zwei Gruppen stürmten vierzehn Männer und eine Frau aus der DIGUFINOLHU und verschwanden in zwei Richtungen im wolkenverhangenen Dschungel. Dschamils Zwölfertrupp entfernte sich von der Gra‐ ko‐Baustelle, Santinis Dreiergruppe lief darauf zu.
Es war allerhöchste Zeit. Zwei Roboterbeiboote kamen herangeschossen und wurden von Dschamils Gruppe sofort mit Nadelstrahlen und Raketen unter Be‐ schuß genommen. Daraufhin nahm eines der Boote die Verfolgung der Angreifer auf… Nur eines – so war das nicht geplant gewesen. Scheinbar waren die Roboter klüger als angenommen und hatten die Finte durchschaut. * Santini befürchtete, daß das zweite Beiboot nunmehr seine Gruppe verfolgen würde. Doch auf dem anderen Beiboot – es durchmaß nur etwa zehn Me‐ ter – schien man das kleinere Grüppchen gar nicht zu bemerken. Es kreiste über der DIGUFINOLHU und tastete die beschädigte Sternschnuppe offenbar mit Sensorstrahlen ab. Dos Santos schaute auf ihr tragbares Funkpeilgerät. »Hoffentlich entdecken sie den Notrufsender nicht zu früh und zerstören ihn. Bisher bin ich mir noch nicht sicher, ob die Signale überhaupt die Erde erreichen. Die Abgabe des Notrufs scheint gestört zu sein, es klingt irgendwie… verwaschen.« »Verwaschen?« wiederholte Santini verwundert. »Wie meinen Sie das?« »Ich empfange zwar den vorprogrammierten Bestätigungsimpuls, aber auch Teile des Notrufs selbst, so als ob der Richtstrahl streuen würde.« »Das ist völlig unmöglich, immerhin handelt es sich um To‐Richtfunk.« Dos Santos zuckte mit den Schultern. »Ich habe selbst keine Er‐ klärung dafür und teile Ihnen lediglich die Fakten mit, Major. Die Zerstreuung des Richtstrahls führt zu erheblichen Energieverlusten,
die seine Reichweite einschränken. Ehrlich gesagt, ich bezweifle, daß Terra bislang auch nur einen einzigen Ton von unserem Hilferuf empfangen hat.« Santini überprüfte ihre Angaben und kam zu demselben Ergebnis. »Vielleicht ist ja Ihr Funkpeiler nicht in Ordnung«, meinte er, glaubte aber selbst nicht so recht daran. Der Leutnant schüttelte den Kopf. »Das Gerät funktioniert ein‐ wandfrei.« »Demnach sind wir auf uns selbst gestellt«, sprach Tom Strange aus, was scheinbar niemand wahrhaben wollte. »Wir sitzen in der Falle. Selbst wenn es uns gelingt, die Station und das Roboterschiff zu zerstören, kommen wir nicht mehr von diesem Planeten weg und werden hier im Dschungel verrecken.« »Im All hat die DIGUFINOLHU in regelmäßigen Abständen eine automatische Positionsmeldung an die Flotte gesandt«, beruhigte ihn der Major. »Unsere Leute wissen somit in etwa, wo wir uns aufhalten. Wenn sie erst einmal in diesem System eingetroffen sind, werden sie uns schon finden – das ist mit Sicherheit leichter als die Suche nach einer Ehefrau, die im Ausverkaufstrubel eines Kaufhau‐ ses verschwunden ist.« »Sprechen Sie aus Erfahrung?« fragte dos Santos amüsiert. »Ganz bestimmt nicht«, antwortete Eric Santini. »Ich bin nämlich nicht…« Der Rest von Major Santinis Worten ging in einem mörderischen Getöse unter. Er und seine beiden Begleiter warfen sich blitzschnell zu Boden… * Nachdem Kapitän Dschamil und seine Mannschaft die DIGUFI‐ NOLHU verlassen hatten, wollten sie so viele Kilometer wie nur möglich zwischen sich und das Schiff bringen. Die beiden Beiboote der Roboter tauchten viel zu früh am Himmel auf. Jetzt galt es, die
Aufmerksamkeit gezielt von Santinis Gruppe abzulenken… Die zwölf Männer verteilten sich im Dschungel und nahmen die Boote von verschiedenen Seiten aus unter Strahlenbeschuß. Eines machte gleich wieder kehrt und begann, über der Sternschnuppe zu kreisen. Das andere Boot feuerte mit aller Macht zurück, bekam aber keines der beweglichen, äußerst flinken Ziele richtig zu fassen. In diesem Augenblick erschütterte eine ohrenbetäubende Explo‐ sion den Dschungel. Die Druckwelle entwurzelte Bäume und brachte den Boden zum Beben. Dschamil und seine Männer warfen sich in Deckung, jeder dort, wo er gerade war. Das sie verfolgende Beiboot drehte ab. Das verschaffte der Gruppe eine kleine Atempause. Nachdem die Explosionswirkungen abge‐ klungen waren, versammelten sich alle zwölf unter einem hohen dickstämmigen Baum mit mächtigen Ästen und ausladenden Blät‐ tern. Bisher gab es noch keine Verletzten oder Toten… * Die DIGUFINOLHU war nur noch Geschichte. Dschamils »Zu‐ hause« war von innen heraus regelrecht zerrissen worden, und die Auswirkung der Detonation hatte ausgereicht, um das darüber kreisende Roboterbeiboot stark zu beschädigen. Es brannte. Qual‐ mend versuchte das Boot, zum Mutterschiff zurückzukehren, kam aber nicht weit… Santini konnte von seinem Standort aus den Absturz des Beibootes mitverfolgen. Es krachte nicht weit entfernt mitten in den Dschungel. Der Major lief auf die Absturzstelle zu und gab seinen Begleitern durch Handzeichen zu verstehen, ihm zu folgen. Tom Strange war jung und sportlich, Penelope dos Santos jung und schön – und beide waren verdammt schnell. Aber der nicht mehr ganz so junge Major zeigte ihnen, was Schnelligkeit wirklich bedeu‐ tete. In rasantem Tempo rannte er durch das unübersichtliche Di‐ ckicht, wich dabei geschickt mehreren dicht beieinanderstehenden
Bäumen aus und sprang über mächtige Baum wurzeln und schmale Gräben, wobei er nicht ein einziges Mal ins Stolpern geriet – so als ob er ein Guerilla war, der sich hier seit Jahren versteckt hielt und sich deshalb bestens auskannte. Sein Verhalten war leichtsinnig, denn er sicherte sich nicht genügend ab, doch er wollte unbedingt wissen, wer direkt nach dem Absturz das Boot verließ… vorausgesetzt, es gab überhaupt Überlebende. Das Beiboot war auf die Seite gekippt, die Ausstiegsluke stand of‐ fen. Sie war nicht auf normale Weise geöffnet, sondern durch die Explosion der DIGUFINOLHU aufgerissen worden. Atemlos blieb Santini stehen, in sicherer Entfernung. Er beobachtete, wie es im Inneren zu einer Thermoreaktion kam… Strange und dos Santos kamen angelaufen. »Runter!« schrie Santini und ließ sich selbst in einen Erdspalt fal‐ len, den vermutlich die Detonation der DIGUFINOLHU erzeugt hatte. Der Major verschränkte die Hände im Nacken. Was sich außerhalb seiner Deckung abspielte, konnte er nur erahnen. Wie zu erwarten hatte die Thermoreaktion im Boot eine Explosion ausgelöst – und nun schien die ganze Welt über den Erdspalt hinwegzujagen… Als wieder Ruhe einkehrte, wagte sich Eric Santini vorsichtig hi‐ naus. Die Verstrahlung der Umgebung hielt sich in vertretbaren Grenzen und wurde von seinem Kampfanzug weitgehend absor‐ biert. Glücklicherweise war er nicht zu nahe an das Boot heranget‐ reten – aber nahe genug, um zu sehen, daß es von einem Grako ge‐ steuert worden war. Er informierte seine beiden Begleiter, die rechtzeitig in Deckung gegangen waren und daher ebenfalls nichts abbekommen hatten, von seiner Beobachtung. »Damit steht endgültig fest, was wir schon die ganze Zeit über vermutet hatten«, beendete er seine kurze Schilderung. »Die Gra‐ ko‐Rebellen arbeiten eng mit den bizarren Großrechnerschiffen zu‐ sammen.«
Ein Schatten tauchte über den Bäumen auf – und wieder lagen Santini, dos Santos und Strange im Gras. Das zweite Beiboot wollte wohl den Insassen des ersten Bootes zu Hilfe kommen, doch es war längst zu spät. Nach einer kurzen Inspektion der Absturzstelle wurden die bren‐ nenden Wrackteile aus der Luft mit einer Schaumkanone gelöscht. Anschließend drehte das Boot ab, ohne die Umgebung abzusuchen. Das Ziel des Piloten war aus der gewählten Richtung klar ersichtlich: Man machte sich erneut an die Verfolgung von Dschamils Gruppe… »Viel Glück, Kameraden«, murmelte der Major. Es erforderte viel Mut, die Aufmerksamkeit der Roboter und Gra‐ kos auf sich zu lenken. Die Zwölfergruppe war jetzt mehr gefährdet als der Dreiertrupp, von dessen Existenz der gnadenlose Gegner bisher noch nichts wußte. »Sie werden schon auf sich aufpassen«, meinte dos Santos. »Dschamil und seine Männer sind erfahrene Kämpfer.« »Mag sein, aber sie kämpfen auf unbekanntem Terrain«, erwiderte Santini. »Im Dschungel von Grah lauern Gefahren, gegen die man sich nur wappnen kann, wenn man sie gut genug kennt. Dort leben beispielsweise menschengroße Spinnentiere in den Bäumen, die still und unbemerkt im Blätterdach verharren, bis man ihnen zu nahe‐ kommt. Dann lassen sie sich an einem stabilen silbrigen Faden herab und bohren ihre Giftrüssel ins Fleisch ihrer Opfer. Auf Double könnte es ähnliche todbringende Bestien geben, die für Dschamils Gruppe zur Bedrohung werden.« »Für Dschamils Gruppe«, wiederholte Tom Strange besorgt, »und genauso für uns. Daß wir Sie als erfahrenen Waldläufer an unserer Seite haben, Herr Major, ist zwar beruhigend, doch ein Experte für Double sind Sie deshalb nicht, bei allem Respekt, Sir. Diese Welt ist anders als Grah. Beides sind Dschungelwelten, aber auf Grah gibt es wesentlich mehr Lücken und Lichtungen im planetenumspannen‐ den Blätterwerk.« »Weil Grah von intelligenten Lebewesen bewohnt ist und Double
laut unseren ersten Erkenntnissen nicht«, entgegnete Santini. »Zu‐ mindest haben wir bisher keine Städte oder Siedlungen entdeckt – nur die im Bau befindliche Aufzuchtstation. Und dort begeben wir uns jetzt hin, ganz gleich, was für Untiere uns aufhalten wollen!« Leutnant Penelope dos Santos war froh, endlich von hier wegzu‐ kommen. Der Platz, an dem sie sich aufhielten, war von einer Art Verwesungsgeruch erfüllt, und auf dem Boden verteilten sich zahl‐ reiche verschiedenfarbige, unförmige Haufen, bei denen es sich of‐ fenbar um tierische Ausscheidungen handelte. * Die halbintelligenten Glei‐Fegin bildeten die größte Tiergruppe auf dem Dschungelplaneten. Sie lebten in unterschiedlich großen Kolonien zusam‐ men. Der gesamte Planet war ihr Jagdgebiet. Damit sie sich nicht gegensei‐ tig ins Gehege kamen, hatten sie den Dschungel in Reviere aufgeteilt. Ihre Reviergrenzen markierten sie mit Duftstoffen. Wurde eine Kolonie stark dezimiert – zum Beispiel aufgrund von Bakte‐ rienbefall oder durch den überraschenden Angriff von Raubtieren –, be‐ anspruchten die Verbliebenen für sich nur noch ein kleineres Revier, was ihren Nachbarn Gelegenheit gab, sich weiter auszudehnen. In dieser Hin‐ sicht waren die Bodenkriecher großzügig; allerdings nicht aus einem sozia‐ len Bewußtsein heraus – vielmehr signalisierte ihnen ihr Instinkt, daß das Überleben der eigenen Art ihr wichtigstes Existenzkriterium war. Ihr Da‐ sein bestand fast ausschließlich aus Töten und Fressen, doch im Gegensatz zu mancher intelligenteren Spezies spürten sie, daß nur derjenige überleben konnte, der auch bereit war zu teilen. Die Bodenkriecher hatten viele natürliche Feinde, gegen die sie sich auf verschiedene Art und Weise zur Wehr setzten, meist mit Erfolg. Den heißen, gleißenden Strahlen, die neuerdings an mehreren Orten Tod und Verderben brachten, waren sie jedoch hilflos ausgeliefert… Der erste glühende Leuchtstrahl war bisher der mächtigste gewesen. Er war überraschend vom Himmel gekommen, hatte verbrannte Erde hinter‐
lassen und fast drei Kolonien komplett ausgelöscht. Schon kurze Zeit später hatten weitere ungewohnte Vorkommnisse für Unruhe unter den Glei‐Fegin gesorgt: lautes Krachen, bebende Erde, ent‐ wurzelte Bäume… Schuld daran war offenbar eine neue unbekannte Spezies, die die Boden‐ kriecher hier noch nie zuvor wahrgenommen hatten. Bislang waren ihnen nur die Fremden bekannt, die sich im Tal niedergelassen hatten – es hatte nie nennenswerten Ärger mit ihnen gegeben. Aber seit die Andersartigen auf der Bildfläche erschienen waren, stand der Dschungel Kopf. Unablässig jagten heiße Strahlenblitze – nicht so mächtig wie der erste, aber dennoch tödlich, wenn man damit in Berührung kam – durch die Heimatwelt der Bodenkriecher, die sich anfangs darauf beschränkten, sich zu tarnen und die Unbekannten zu beobachten. Schon bald jedoch ergriffen einige Glei‐Fegin die Initiative und verstän‐ digten sich mit ihren Artgenossen aus den benachbarten Revieren. Ihre ganz speziellen Sinne waren nicht nur zum Beuteaufspüren geeignet, sie konnten auch zum Zweck der Kommunikation eingesetzt werden. Mehrere Kolonien einigten sich darauf, gemeinsam gegen die Unruhe‐ stifter vorzugehen. Damit war ausschließlich die dritte Spezies gemeint. An die, die nicht wirklich hier waren, kam man sowieso nicht heran, ebensowenig an die Panzerhäutigen. Also würde man sich auf die Andersartigen konzentrie‐ ren… * Während Santinis Gruppe quer durch den dichten Dschungel eine schmale Schneise zog, auf dem Weg zur großen Lichtung, ortete dos Santos immer wieder Kämpfe aus der entgegengesetzten Richtung, in kilometerweiter Entfernung. Ganz offensichtlich leisteten Dscha‐ mil und seine Männer dem Beiboot harten Widerstand. »Ob es wohl schon Tote gegeben hat?« fragte Penelope dos Santos; eine rhetorische Frage, die ihr sowieso niemand beantworten konnte.
»Vielleicht ist das Glück ja ausnahmsweise auf der Seite der Tap‐ feren«, erwiderte Major Santini, der in seinem Leben schon viele gute Kameraden verloren hatte. »Solange das Roboterschiff keine weite‐ ren Beiboote zur Verstärkung aussendet, haben Dschamil und seine Männer eine reelle Chance.« »Vielleicht schlagen sie das Beiboot in die Flucht, und es kehrt be‐ schädigt zum Mutterschiff zurück«, bemerkte Tom Strange. »Dann wäre es leichter für uns, das Dschungeltal zu finden.« »Wir finden das Roboterschiff auch so«, war sich Leutnant dos Santos sicher. »Ich weiß schon, warum ich zugunsten meines eigenen Gepäcks auf die DIGUFINOLHU‐Notausrüstung verzichtet habe. Ich habe alles bei mir, was…« In diesem Moment erfüllte erneut ein Donnern die Luft. Aufgrund der Entfernung brachte es den Boden, auf dem Santini und seine Begleitung standen, diesmal nur leicht zum Beben, und die Atmos‐ phäre vibrierte ein wenig. Anhand ihrer Ortungsgeräte erkannte die schöne Spanierin, was geschehen war. »Sie haben es abgeschossen!« sagte sie aufgeregt zu Major Santini und dem Hauptgefreiten Strange, und ihre laute Stimme überschlug sich beinahe vor Begeisterung. »Dschamil und seine Leute haben es fertiggebracht, dieses gottverdammte Beiboot vom Himmel zu holen und zur Hölle zu schicken!« Allmählich gewöhnte sich Santini an die ungezügelten Flüche, die dem Leutnant ab und zu entfuhren. Augenblicklich fand er ihr Ver‐ halten sogar irgendwie sympathisch – was vermutlich damit zu‐ sammenhing, daß dos Santos gerade eine überaus gute Nachricht herausgeschrien hatte. Wie es schien, war Dschamils Gruppe vorerst gerettet. Plötzlich verdunkelte sich der trübe Himmel noch mehr. Zog ein Gewitter auf…? Tom Strange erkannte die schreckliche Wahrheit als erster: Das riesige Roboterschiff hatte sich aus dem Tal erhoben und flog lang‐ sam über den Dschungel hinweg.
Santini wollte schlucken, doch ihm blieb nur ein Kloß in der Kehle stecken. Der Großrechner hatte zwei Beiboote verloren. Nun startete er zu einer Strafaktion. Eilig hatte er es offenbar nicht. Wozu auch? Die, die er bestrafen wollte, konnten ihm nicht entkommen… Eine Zeitlang blieb es ganz ruhig. »Er sucht nach ihnen«, vermutete Tom. »Nein«, sagte Santini. »Mit den Möglichkeiten, die ihm sein Robo‐ terschiffskörper bietet, hat er sie längst ausgemacht. Ich denke mal, er steht genau über Dschamils Gruppe und weidet sich an der Angst der Männer.« »Ist das nicht eher eine menschliche Eigenschaft?« merkte dos Santos skeptisch an. »Die Großrechnerschiffe sind echte Künstliche Intelligenzen«, er‐ widerte Santini. »Sie empfinden Abscheu für uns Menschen und bezeichnen uns als Biomüll. Warum sollten ihnen andere Empfin‐ dungen wie Schadenfreude oder Rachedurst fremd sein?« Das unverkennbare Geräusch strahlenspeiender Bordkanonen war zu hören. Dos Santos’ Ortungen und Messungen ließen keinen Zweifel zu: Der Vierhundertmeterraumer griff Dschamils Gruppe massiv an. »Gegen diesen Koloß kommen sie niemals an«, murmelte Santini, und ein eisiger Schauer der Erkenntnis lief ihm über den Rücken. Gerade noch hatte er sich maßlos gefreut, für ein paar Sekunden nur, und jetzt war er total geschockt. Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt. Dschamil und seine Mannschaft wurden gnadenlos dahingemetzelt, und er konnte nichts dagegen tun. Ohnmächtige Wut erfüllte den Major. Er kämpfte dagegen an. Zorn war ein schlechter Ratgeber. Rache auch – trotzdem schwor sich Santini in diesem Moment, den Tod der zwölf Männer bitter zu rächen. Der fliegende Großrechner stellte den Angriff ein und flog zur großen Lichtung zurück. Eric schaute Penelope an. Sie sah unablässig auf ihre Geräte und
schüttelte nur stumm den Kopf. Dort, wo noch vor kurzem Dscha‐ mils Trupp gegen das Beiboot gekämpft hatte, war nichts mehr an‐ zumessen außer einem hohen Maß an radioaktiver Verstrahlung. Als das Roboterschiff am Himmel über den Köpfen von Santinis Gruppe hin wegflog, hätte er am liebsten Feuerbefehl gegeben – doch zwei Karabiner hätten das große Schiff bestenfalls leicht be‐ schädigt. Du entkommst mir nicht, du mordgieriges Metallungeheuer! dachte Eric Santini. Bevor ich diesen schaurigen Planeten verlasse, setze ich deinem Treiben ein Ende! Die drei setzten ihren Weg durch den Dschungel schweigend fort. Das Roboterschiff wies ihnen die Richtung.
10. Die Sicherheit seiner Männer ging Kapitän Dschamil über alles. Noch nie hatte er einen von ihnen auf eine Mission geschickt, bei der eine Chance auf Rückkehr nahezu ausgeschlossen war. Nun befan‐ den sie sich ausnahmslos alle auf einer solchen Todesmission, vom Gefreiten bis zum Kommandanten. Jeder einzelne ahnte, daß wahr‐ scheinlich keiner überleben würde – und trotzdem hoffte jeder, daß es ihn vielleicht doch nicht erwischte… Nachdem Dschamils Gruppe den Piloten des sie verfolgenden Beiboots eine Weile in Bewegung gehalten hatte, war es zur Explo‐ sion der DIGUFINOLHU gekommen, und ihr Angreifer war da‐ vongeflogen. Die zwölf Männer versammelten sich unter einem ho‐ hen, dickstämmigen Baum mit mächtigen Ästen und ausladenden Blättern. Dort besprachen sie ihre weitere Vorgehensweise. Bisher hatte es weder Tote noch Verletzte gegeben. Zusätzlich zum Notrucksack und zum Karabiner waren die Männer mit leichten, klimatisierten Kampfanzügen ausgestattet. Surrend fuhren sie die Visiere ihrer Helme hoch, weil man sich so besser verständigen konnte. »Wir behalten unsere bisherige Taktik bei«, ordnete der Kapitän an. »Solange wir nicht alle auf einem Haufen stehen, kann man uns nicht mit einem einzigen Volltreffer auslöschen. Gerät einer von uns in Bedrängnis, müssen die anderen das Boot sofort aus allen Rich‐ tungen unter Beschuß nehmen, um den Piloten zu Ausweichmanö‐ vern zu zwingen. Zur Koordinierung der Angriffe verwenden wir unsere Viphos; bleibt in deren Reichweite, denn wer sich zu weit weg von den anderen entfernt, ist unweigerlich auf sich allein ge‐ stellt.« »Vielleicht kommt das Boot ja nicht wieder«, äußerte sich ein jun‐ ger Offizier hoffnungsvoll. »Wir können froh sein, wenn es allein zurückkommt, ohne Ver‐
stärkung«, erwiderte Dschamil mit düsterer Miene. »Zu viele Hunde sind des Hasen Tod.« Das nächste Stück der Strecke, immer tiefer in den Dschungel hi‐ nein, bewältigten die Raumsoldaten erst einmal gemeinsam im Laufschritt. Sie nutzten die Kampfpause, um sich bis zur Rückkehr des Bootes so weit wie möglich von der Dreiergruppe zu entfernen. Noch war vom Feind weit und breit nichts zu sehen. Nach mehreren Kilometern stieß die Zwölfergruppe auf einen Trampelpfad, der kurz näher in Augenschein genommen wurde. »Man könnte meinen, er wäre von Menschenfüßen angelegt wor‐ den«, überlegte Gefreiter Wagner. »Möglicherweise gibt es noch mehr von unserer Sorte auf Double.« Dschamil schüttelte den Kopf. Er tippte auf aufrechtgehende Tiere. »Affenartige?« warf Donizetti ein, und Poirot fügte hinzu: »Hauptsache keine Gorillas.« »Wir könnten in diesem Dschungel auf alle möglichen Untiere treffen«, entgegnete Dschamil. »Ob sie uns friedlich gesinnt sind oder nicht, wissen wir erst, wenn sie uns angreifen – deshalb werden wir kein Risiko eingehen und in jedem Fall den ersten Angriff vor‐ nehmen, ohne Rücksicht auf irgendwelche ethischen Bedenken. Besser, wir töten ein paar harmlose Urwaldbewohner, als von den weniger harmlosen aufgefressen zu werden.« Schon nach wenigen Metern wurde der schmale Pfad von einem anderen Weg gekreuzt, um ein Vielfaches breiter, so als ob eine Ele‐ fantenherde vorübergezogen war – oder noch schlimmer: eine Herde Saurier. Da man sich hier nicht auskannte, waren der Phantasie keine Grenzen gesetzt, denn alles war möglich. Die Männer verspürten jedenfalls keine Lust auf ein Zusamment‐ reffen mit riesigen Tieren und gingen geradeaus weiter – bis sich der Trampelpfad in drei ebenso schmale Pfade gabelte. »Das Beiboot befindet sich vermutlich schon auf der Suche nach uns«, sagte Kapitän Dschamil. »Hier stehen wir wie auf dem Prä‐ sentierteller. Es ist höchste Zeit, daß wir uns trennen und mehrere
Beobachtungsposten einrichten.« Er beauftragte Donizetti, Poirot und Wagner, die drei neuen Pfade zu erkunden. Der Rest des Trupps kehrte um und begab sich zu dem breiten Weg zurück. Dschamil teilte die verbliebenen acht Mann in zwei Gruppen auf; eine ging nach rechts, eine nach links. Er selbst blieb in der Nähe der Kreuzung, weil er von dort aus eine halbwegs gute Sicht zum Himmel hatte, durch eine Lücke im Blätterdach der Bäu‐ me. Damit man ihn nicht sofort mit der Optik aufspürte, verbarg er sich hinter einem Dornbusch, den Raketenwerfer im Anschlag. Kurz darauf erblickte er das zurückgekehrte Boot… * Hauptgefreiter Donizetti blieb abrupt stehen. Vor ihm stand ein aufrechtgehendes armloses Wesen auf dem Pfad und stierte ihn unentwegt an. Es ähnelte entfernt einem Neandertaler, einem terra‐ nischen Höhlenmenschen. Obwohl der Armlose keine Zähne hatte – zumindest waren hinter seinen breiten Lippen keine zu entdecken –, entschied sich der Soldat, den Befehl seines Vorgesetzten zu befolgen und kein unnötiges Risiko einzugehen. Er fuhr das Visier seines Helms herunter und machte den Karabiner schußbereit. In diesem Moment wendete sich der Armlose desinteressiert von ihm ab; er schien das seltsame Fremdwesen nicht als seinen Feind zu betrachten. Ohne sich weiter um sein Gegenüber zu kümmern, beugte sich der »Halbaffe«, der in etwa menschengroß war, zu einer Pflanze hinüber, die am Rande des Pfades gleich staudenweise wuchs. Mit seinen Lippen entfernte er die gelblilafarbenen Blüten und die hellgrünen kleinen Blätter der Pflanze und spie sie aus. Damit fuhr er so lange fort, bis nur noch der kahle Stengel aus dem Erdreich ragte. Und dann schnappte er plötzlich zu! Entweder hatte der Armlose doch Zähne, oder aber er verfügte
über einen besonders stabilen Kiefer. Mit einem kräftigen Biß trennte er den Stengel von der Pflanzenwurzel. Was sich dann vollzog, war einem Zirkuskunststück nicht unähn‐ lich. Der Armlose schleuderte den langen Stengel, der wie ein dün‐ nes Schilfrohr aussah, mit einer heftigen Kopfbewegung ein Stück in die Luft, öffnete seinen Rachen und fing ihn geschickt auf. Jetzt ragte der Stengel der Länge nach zwischen seinen breiten Lippen hervor. Langsam, geradezu genüßlich sog er ihn ein, bis der Pflanzenstengel gänzlich in ihm verschwunden war. Guten Appetit, dachte Donizetti und legte auf den Armlosen an. So leid es mir tut: Das war deine Henkersmahlzeit! Der affenähnliche Dschungelbewohner stieß eine Art Rülpslaut aus, drehte dem Schützen den Rücken zu und stapfte davon. Doni‐ zetti ließ den Karabiner sinken und öffnete wieder das Visier. Of‐ fenbar ging wirklich keine Gefahr von diesem Tier aus. Es gab somit keinen Grund, ihm in den Rücken zu schießen, Befehl hin, Befehl her. Neugierig beäugte der Italiener die Pflanzen mit den gelblila Blü‐ ten. Unübersehbar hatte dem Armlosen seine Mahlzeit geschmeckt. Donizetti zückte sein Vibrokampfmesser und trennte damit die Blü‐ ten und Blätter vom Stengel. Dann durchschnitt er den Pflanzen‐ stengel exakt an der gleichen Stelle, an der der Armlose seinen Biß angesetzt hatte. Nunmehr hielt Donizetti den schilfrohrähnlichen, zu beiden Seiten hin geschlossenen Pflanzenstengel in den Händen und schüttelte ihn leicht. Dem Geräusch nach befand sich in seinem Inneren eine Flüs‐ sigkeit. Offensichtlich diente diese Pflanzengattung den Tieren des Dschungels sowohl zum Hungerstillen als auch zum Durstlöschen. Auf der Erde gab es bestimmte Kakteenarten, die ebenfalls mit ei‐ ner trinkbaren Flüssigkeit gefüllt waren. Donizetti hätte den Saft aus dem Stengel gern einmal probiert, doch er wußte, daß man Nah‐ rungsmittel auf fremden Planeten nur nach sorgfältigster Analyse zu sich nehmen durfte – und dafür hatte er jetzt keine Zeit.
Na ja, er wollte wenigstens mal daran schnuppern, das konnte schließlich nichts schaden. Mit einem Ruck brach er den Stengel in der Mitte durch… Es war nur ein kleiner Schwall jener für den Armlosen schmack‐ haften Flüssigkeit, die Donizetti mitten ins Gesicht spritzte – aber es war ausreichend, um ihm innerhalb von Sekunden um die Nase und die Augen herum alles Fleisch wegzuätzen. Der Hauptgefreite stieß einen gurgelnden Schrei aus. Ein paar Tropfen gelangten in seine Speiseröhre und in seine Atemröhre… Donizettis Tod war kurz und schmerzhaft. Der letzte Gedanke des jungen Soldaten galt seiner Familie. Daß seine Knie einknickten und er zu Boden fiel, spürte er schon nicht mehr. * Kapitän Dschamils Finger näherte sich dem Auslöser. Das Boot, das er durch die Lücke zwischen den Bäumen sah, konnte er gar nicht verfehlen. Wenn es nur noch eine Sekunde genau dort ver‐ harrte, wo es sich gerade befand… Zu spät! Blitzartig drehte das Roboterbeiboot ab. Offenbar hatte der Pilot einen oder mehrere von Dschamils Männern geortet. Dem Kapitän entfuhr ein Fluch, so fies, daß ihn kein Lektor je abdrucken würde. Kurz darauf war Kampflärm zu hören. Übers Vipho erfuhr Dschamil, daß einer der beiden Vierertrupps vom Himmel aus atta‐ ckiert wurde. Das Boot schoß sich gezielt die Sicht im Blätterdach frei und landete bereits die ersten Beinahetreffer. Umgehend beorderte Dschamil den zweiten Vierertrupp dorthin und machte sich dann selbst auf den Weg zum Kampfort. Die drei Gefreiten beließ er, wo sie waren. Möglicherweise erkun‐ deten sie auf den Schmalpfaden günstige Fluchtwege, oder sie stie‐ ßen auf einen gut zu verteidigenden Platz, an dem man sich ver‐ schanzen konnte.
* Dem Obergefreiten Poirot entgingen die Kampfaktivitäten ganz in der Nähe nicht. Er rechnete damit, zurückbeordert zu werden, doch sein Vipho schwieg. Befehlsgemäß folgte er somit weiter dem Pfad. Bisher war er auf nichts Außergewöhnliches gestoßen. Poirot überlegte, ob er per Vipho mit seinen beiden Freunden Kontakt aufnehmen sollte, beschloß dann aber, damit noch eine Weile zu warten; schließlich hatte er ihnen noch nichts Spannendes zu be‐ richten. Stetig setzte er einen Fuß vor den anderen. Da derzeit nur wenige Insekten durch die schwüle Luft schwirrten, trug er den Helm vor‐ erst offen. Seine Umgebung ließ er nicht aus den Augen. Wachsam schaute er nach links und rechts, ab und zu sogar mal nach oben… Hätte er statt dessen nach unten geblickt, hätte er den dicken, übelriechenden Schleim bemerkt, der sich überall zu seinen Füßen ausbreitete und sich mit jedem Schritt mehr um seine Stiefel schlang. Erst als er fast darin steckenblieb und ihm zudem ein penetranter Geruch in die Nase stieg, fand sein Marsch durch den Dschungel ein abruptes Ende. Einem texanischen Sprichwort zufolge hielt sich ein Cowboy sein gesamtes Leben lang vor allem in zwei Stätten auf: in seinen eigenen Stiefeln und in fremden Betten. Poirot trug fremde Stiefel (sie ge‐ hörten der Flotte) und sehnte sich nach seinem eigenen Bett – nach einem weichen Kopfkissen und einem ruhigen Schlaf. »Und wenn ich dann aufwache, ist alles nur ein böser Traum ge‐ wesen«, murmelte er. Von seiner Abenteuerlust war ihm in diesem Augenblick nicht viel anzumerken. Am liebsten hätte er die klebrigen Stiefel auf der Stelle ausgezogen. Ausgezogen und gereinigt – die Betschwestern im Heim hatten ihn zu einem Sauberkeitsfanatiker erzogen, sehr zur Freude seiner mili‐ tärischen Vorgesetzten während der Grundausbildung.
Der junge Soldat stand mitten in einem großflächigen stinkenden Schleimteppich. Er hätte sich selbst dafür ohrfeigen können, daß er nicht besser aufgepaßt hatte und blindlings hineingetreten war. Erst bei genauerem Hinsehen fiel ihm auf, daß sich der Schleim bewegte – und daß sich die Fläche aus zahllosen kriechenden Wesen zu‐ sammensetzte, die laufend ihre Farbe wechselten und versuchten, an seinen Beinen hochzuklettern. Durch den Panzeranzug fühlte er sich einigermaßen geschützt, nur sein offenstehendes Helmvisier bot eine unbedeckte Angriffsfläche. Aber noch bevor er es schließen konnte, regnete es haufenweise Schleimwesen auf ihn herab… Die Angriffsstrategie der Bodenkriecher beschränkte sich nicht nur auf ihr angestammtes Terrain – sie attackierten die verhaßte neue Spezies nicht ausschließlich von unten her, sondern auch von oben. Zahlreich hatten sie sich in den Bäumen auf die Lauer gelegt und ließen sich nun auf ihr wehr‐ loses Opfer herabfallen. Es waren so viele, daß Poirot in die Knie ging und zu Boden ge‐ drückt wurde. Sein verzweifelter Versuch, den Helm doch noch zu schließen, scheiterte an mehreren Schleimern, die die Öffnung blo‐ ckierten und sich mit aller Macht in den Anzug hineinzwängen wollten. Dabei verstopften sie – unbeabsichtigt oder geplant? – Poi‐ rots äußere Atemkanäle, so daß er zu ersticken drohte. In seinem Todeskampf feuerte er noch eine Energiesalve mitten in die Schleimmasse. Den bestialischen Gestank, den er dadurch aus‐ löste, roch er nicht mehr… * Als Kapitän Dschamil am Kampfplatz eintraf, hatte bereits einer der vier angegriffenen Männer sein Leben lassen müssen. Es war sein Erster Offizier. Er lag mitten auf dem breiten Weg. Obwohl der Treffer des Beibootes den I.O. ziemlich entstellt hatte, erkannte Dschamil ihn sofort wieder.
Für einen Augenblick vernachlässigte der Kapitän seine eigene Sicherheit. Fast hätte er zu spät bemerkt, daß sich das Bordgeschütz jetzt auf ihn richtete. Im letzten Augenblick vernahm Dschamil einen Warnruf, und er sprintete los… Keine Sekunde zu früh. Dicht hinter ihm schlug ein Energiestrahl ein. Dschamil rannte noch schneller, denn offensichtlich schoß sich der Pilot auf ihn ein. Hartnäckig jagte er einen Strahl nach dem anderen in Richtung des Flüchtenden – und genauso hartnäckig lief Dschamil hakenschlagend weiter. Mal abwarten, wem von uns beiden eher was ausgeht – mir die Puste oder dir die Munition! dachte der schiffslose Kommandant. Er war flink und ausdauernd und würde erst aufgeben, wenn kein Atemzug mehr in ihm war. Die drei Männer, die den Angriff auf ihren Trupp überlebt hatten, nahmen das Beiboot erneut unter Feuer. Auch die Viermannver‐ stärkung, die in dieser Sekunde eintraf, schoß jetzt unablässig auf das Boot, so daß dem Piloten nichts anderes übrigblieb, als von sei‐ nem überaus beweglichen Ziel abzulassen und abzudrehen. Nadelstrahl‐ und Raketentreffer brachten den Schutzschirm des Bootes bedenklich zum Flackern. »Na endlich!« knurrte Dschamil, der total außer Atem war. Er krächzte wie ein Asthmatiker. Die ungewohnte Schwüle machte ihm schwer zu schaffen. Für wenige Momente hatte der Malediver das Gefühl gehabt, daß es auf der ganzen Welt nur noch zwei Lebewesen gab, ihn und den Schützen an Bord des Beiboots, und daß das Schicksal des gesamten Universums von seiner Schnelligkeit abhing… Mittlerweile konnte er wieder etwas klarer denken, und er fragte sich, ob es überhaupt ein Lebewesen war, daß es auf ihn abgesehen hatte. Ebensogut konnte in dem Boot auch ein seelenloser Roboter sitzen. »Wer oder was auch immer es ist – wir holen es von da oben he‐ runter!« sagte er zu den sieben Männern, die er wenig später in
halbwegs sicherer Deckung um sich herum versammelte. »Wir werden uns an mehreren Stellen plazieren, mit eingeschalteten Vi‐ phos, und sobald ich das Signal gebe, feuern wir alle gleichzeitig unsere Raketen auf das Beiboot ab und geben danach Dauerfeuer mit Nadelstrahl. Selbst wenn nicht jeder Schuß ein Volltreffer wird, müßte solch ein massiver Schlag ausreichen, um es komplett zu ver‐ nichten.« »Sollten wir nicht Donizetti, Poirot und Wagner hinzuziehen?« fragte einer der Offiziere – mit einer monotonen, ausgelaugten Stimme, so als hätte er während einer geschäftlichen Verhandlung gefragt: »Sollten wir nicht die Anwaltskanzlei Matlock, Mason und Matula hinzuziehen?« Es war unübersehbar, daß der Mann am Rand der Erschöpfung stand. Trotzdem würde auch er sein Bestes geben. »Die drei sind unsere Trumpfkarte«, erwiderte Dschamil. »Falls wir in der Klemme stecken, werden sie uns raushauen. Im übrigen gebe ich die Hoffnung nicht auf, daß es hier irgendwo ein sicheres Versteck gibt, an dem wir uns etwas ausruhen können. Vielleicht stößt ja einer der drei auf ein geeignetes Nachtlager.« * Gefreiter Wagner war am Ende seines Weges angekommen. Der rechte Außenpfad, auf dem er entlangmarschiert war, hatte ihn zu einer grasbewachsenen, von Büschen und Bäumen gesäumten Frei‐ fläche geführt, durchsetzt von Erdlöchern und Erdanhäufungen; letztere ähnelten Maulwurfshügeln, waren aber höher. Kurz zuvor hatte er eine Querverbindung entdeckt, die höchstwahrscheinlich zum Nachbarpfad führte – im günstigsten Fall gab es dort sogar eine weitere Abkürzung zum dritten Pfad. Viel‐ leicht hatten ja Donizetti und Poirot den Querpfad inzwischen ebenfalls aufgespürt und befanden sich schon auf dem Weg hierher. Wagner nahm einige der Erdlöcher näher in Augenschein, wobei er ein kleines handliches Meßgerät aus seiner Anzugtasche einsetzte,
kein besonders leistungsfähiger Apparat, aber für den »Hausge‐ brauch« reichte es. Die Ortung ergab, daß die gesamte Fläche von einem unterirdischen Erdhöhlen‐Labyrinth durchzogen war – ideale Schützengräben bei weiteren Angriffen des Beibootes sowie ein si‐ cheres Nachtlager. Allerdings war es durchaus möglich, daß die tiefer gelegenen Höhlenräume bereits von anderen Lebewesen be‐ wohnt wurden, möglicherweise von Raubtieren. Wagner hielt es daher für besser, sich darin nicht allein auf Erkundungsgang zu be‐ geben, sondern seine Freunde zur Unterstützung zu holen. Auf seinen Viphoruf antwortete ihm jedoch keiner der beiden. Daraufhin entschloß er sich, den Querpfad einzuschlagen, um nach dem Rechten zu sehen. Er hoffte, daß Donizetti und Poirot nichts zugestoßen war, hatte aber ein verdammt schlechtes Gefühl. Wenig später traf er auf dem mittleren der drei Pfade ein. Er ent‐ deckte klebrige, durchsichtige Schleimspuren auf dem Weg und folgte ihnen. Um nicht hineinzutreten, ging er vorsichtig am Rand des Pfades entlang. Die Spuren führten zu einer Ansammlung von übelriechenden Kriechtieren, die sich teils auf dem Pfad aufhielten, teils in mehrere Richtungen fortkrochen. Etwa fünfzig dieser schleimigen Wesen hatten sich zusammengerottet und bildeten mitten auf dem Weg aus ihren glibberigen Leibern einen nicht sonderlich hohen, langge‐ streckten Hügel. Dort krochen sie übereinander, untereinander oder aneinander vorbei, so daß der Hügel quasi ständig in Bewegung war. Wagner erinnerte dieses Verhalten an Hyänen, die sich um in der Steppe gefundenes Aas stritten… Plötzlich kam ihm ein furchtbarer Gedanke. Lag etwa ein getötetes Beutetier unter den sich bewegenden Schleimleibern? Oder etwa…? Wagner nahm seinen Karabiner von der Schulter und stellte ihn auf Betäubung ein. Falls sein Verdacht zutraf, befand sich sein Freund Poirot unter der Anhäufung von Kriechwesen, und vielleicht war er noch am Leben. Die Schleimkriecher schienen instinktiv zu spüren, was Wagner
vorhatte, jedenfalls leiteten sie den Rückzug ein. Sichtlich aufgeregt entfernten sie sich zu zwei Seiten und krochen eilig im Gras davon. Auf den Einsatz des Karabiners konnte der Gefreite somit verzich‐ ten. Nach und nach wurde der Leiberhügel kleiner und gab sein Opfer frei. Wagners schlimmste Befürchtung traf ein: Das »Beutetier« war niemand anderer als Poirot. Der Obergefreite atmete nicht mehr; sein Herz stand für immer still. Wagner brach zum nächsten Pfad auf, in der Hoffnung, wenigstens seinen Freund Donizetti noch lebend vorzufinden. Oder war auch er ein Opfer der kriechenden Schleimwesen geworden…? Unterwegs fielen dem Gefreiten mehrere affenartige, menschen‐ große Tiere auf, die keine Arme hatten und sich auf eigenartige, aber äußerst geschickte Weise schilfrohrähnliche Pflanzen einverleibten. Sie hielten sich in einiger Entfernung vom Pfad auf und beachteten ihn kaum. Einer der Armlosen ging sogar ziemlich nahe an ihm vorüber, ohne sich besonders um ihn zu kümmern. Offensichtlich handelte es sich um eine friedfertige Tiergattung. Wagner vermutete, daß sie die Erdhöhlen bewohnten. Falls das zutraf, würden er und seine Kameraden beim Einzug leichtes Spiel haben. Die Armlosen ließen sich sicherlich problemlos vertreiben. Bald darauf stand Wagner vor dem zweiten Toten. Hauptgefreiter Donizetti lag leblos auf dem linken äußeren Pfad. Sein Leichnam sah aus, als habe man ihn für einen schlechten Horrorfilm geschminkt. Wagner hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, doch der Kampflärm verebbte nur zeitweise. Dschamil und die anderen hat‐ ten jetzt Wichtigeres zu tun, als den Seelentröster zu spielen, und mit Sicherheit benötigten sie ihre Viphos, um untereinander ihre Kampftaktik abzustimmen. Der Gefreite dachte über sein weiteres Vorgehen nach. Sollte er seinen Kameraden zu Hilfe kommen und sie im Kampf gegen das Beiboot unterstützen? Oder war es sinnvoller, zuerst zu den Höhlen zurückzukehren, um sie gründlich zu untersuchen und eventuelle
Bewohner zu vertreiben? Das unterirdische Labyrinth eignete sich nicht nur als Fluchtpunkt, sondern auch als vorläufiges Quartier. Dort konnte man bestimmt eine Weile ausharren, bis Rettung von Terra eintraf. Wagner entschied sich für die Erforschung der Erdhöhlen. * Dschamils Plan, das Roboterboot von mehreren Seiten aus gleich‐ zeitig mit Raketen unter Beschuß zu nehmen, war vielversprechend, hatte aber auch einen Haken: Die Entdeckungsgefahr war größer, wenn man längere Zeit an ein und demselben Platz verweilte. Der Pilot konnte die acht Männer, die ihm in verschiedenen Verstecken auflauerten, anhand ihrer Körperwärme orten, und er feuerte unab‐ lässig Strahlensalven auf sie ab, wodurch sie gezwungen waren, laufend ihre Position zu wechseln. Scheinbar hatte der Bootspilot seine Taktik geändert. Statt einzelne Personen hartnäckig zu verfolgen, schoß er wahllos auf jeden, den er aufspürte. Diese Strategie war erfolgreich – zwei Mann blieben dabei auf der Strecke. Jetzt war man nur noch zu sechst. Dschamil bemühte sich übers Vipho, die Standorte der noch ver‐ bliebenen Besatzungsmitglieder laufend neu zu koordinieren. Noch gab er seinen Plan nicht auf. Zudem hoffte er auf seine stille Reserve: Donizetti, Poirot und Wagner. Wenn die drei weiterhin unbemerkt blieben und dann im richtigen Moment überraschend ins Geschehen eingriffen, konnte sich das Blatt letztlich doch noch wenden… Ein weiterer Mann fiel. Kapitän Maumun Abdul Dschamil verlor jetzt die Nerven. Er gab seine Bemühungen, die Raketenschützen in die für sie jeweils günstigste Schußposition zu beordern, endgültig auf. Wenn er sich selbst und den anderen das Leben retten wollte, mußte er entschlossener handeln. Dschamil zögerte nicht länger. »Ziel anvisieren!« wies er seine Restmannschaft übers Vipho an.
Ohne eine Bestätigung abzuwarten, erhob er sich aus dem Graben, der ihm als Deckung diente, und richtete seinen mit einem Rake‐ tenwerfer ausgerüsteten Multikarabiner auf das Boot am Himmel. Vier Mann taten es ihm gleich. Sie standen auf, an vier verschie‐ denen Orten, zielten – und als Sekunden später der Feuerbefehl kam, betätigten sie fast zeitgleich den Auslöser. Dschamils Rakete war die einzige, die danebenging. Sie streifte das Boot nicht einmal. Die vier anderen Schützen landeten Volltreffer. Beinahe gleichzeitig schlugen ihre Raketen im Schutzschirm des Bootes ein, aus vier Richtungen. Sie belasteten ihn kurzfristig so hoch, daß die unmittelbar danach abgefeuerten Nadelstrahlen auf die ungeschützte Außenhülle des Gefährts trafen und sie mit der ihnen eigenen Mühelosigkeit durch‐ schlugen. Der Pilot des Roboterbeiboots hatte sich schlimmer gebärdet als eine biblische Plage – jetzt fand er sein verdientes Ende. Thermo‐ reaktion und Explosion vermischten sich zu einer gewaltigen Deto‐ nation. Ein paar kleinere Trümmerteile fielen vom Himmel. Fast automa‐ tisch zogen die fünf Männer ihre Köpfe ein, was sich allerdings als unnötig erwies. Ohne jemanden ernsthaft zu gefährden, verteilte sich »das bißchen Raumschiffssägespäne« (Originalton Dschamil) über den Dschungel. Die Erleichterung war groß – aber echte Freude wollte nicht auf‐ kommen. Das Siegesgefühl wurde getrübt von der Trauer um die vier toten Kameraden: Mark Welch, Arne Pederson, Claus‐Peter Lange, Christos Simitis. Kapitän Dschamil betätigte sein Vipho und wollte sich mit Doni‐ zetti in Verbindung setzen. Als er keine Antwort erhielt, versuchte er es bei Poirot, der sich ebenfalls nicht meldete. Das Schlimmste be‐ fürchtend probierte er, Kontakt zu Wagner zu bekommen… *
Wagner hatte die Freifläche mit den Erdhügeln noch nicht erreicht, als er die lautstarke Detonation vernahm. Ein Funken Erleichterung erfüllte ihn und machte seine Kriegsdepressionen erträglicher. Ihm war nur zu gut bewußt, daß er in den kommenden Jahren noch viele gute Männer würde sterben sehen; wahrscheinlich auch Frauen, die immer öfter militärische Karrieren anstrebten, als gäbe es für sie nichts Besseres zu tun. Dennoch dachte er nicht eine Sekunde daran, seinen Dienst zu quittieren. Nein, jetzt erst recht nicht! Wenn er gleich beim ersten Schicksalsschlag aufsteckte, profitierten davon nur die, vor denen er die Erde beschützen wollte. Kurz darauf summte sein Vipho. Dschamil teilte Wagner mit, daß es ihnen gelungen war, das Boot zu zerstören. »Das war nicht zu überhören«, entgegnete der Gefreite. »Ich kam mir vor, als würde ich direkt danebenstehen.« »Leider wird die gute Botschaft vom Tod einiger Kameraden ge‐ trübt«, erwiderte Dschamil und nannte ihm die Namen. Wagner hatte ebenfalls eine schlechte Nachricht für ihn – wie Dschamil es bereits befürchtet hatte, als er keine Verbindung zu Donizetti und Poirot bekam. »Wir überlassen keinen unserer Toten den wilden Tieren«, ver‐ sprach ihm der Kapitän. »Sie werden ordentlich bestattet.« Wagner wußte auch schon den geeigneten Ort dafür. Er berichtete seinem Vorgesetzten von den Erdhöhlen und beschrieb ihm kurz den Weg. Wenig später brach der noch fünf Mann starke Dschamil‐Trupp zu den nahegelegenen Höhlen auf. Die Überreste der vier auf der Stre‐ cke gebliebenen Soldaten nahmen sie mit. Unterwegs sammelten sie auf, was von Donizetti übriggeblieben war. Poirots Leichnam hatte Wagner bereits zur Freifläche getragen. Zwölf Mann waren in den Dschungel aufgebrochen, um ein ris‐ kantes Ablenkungsmanöver durchzuführen. Die Hälfte von ihnen hatte diese Aktion mit dem Leben bezahlt. Sechs Überlebende fan‐
den sich nun auf dem Platz mit den Erdlöchern und Erdhügeln ein… Die Toten wurden vorübergehend auf den Hügeln abgelegt. Später würde man sie beerdigen, unter schweren Steinen, damit sie nicht von hungrigen Tieren wieder ausgegraben werden konnten. Die Erkundung der in die Tiefe führenden Tunnel hatte aber erst einmal Vorrang. * Diesmal gab es keine Extratouren, die sechs Männer blieben im Inneren des Erdhöhlen‐Labyrinths zusammen. Ihre Handlampen spendeten ihnen in den diversen Tunneln genügend Licht. Einige Durchgänge waren so eng, daß man sich regelrecht hindurchzwän‐ gen mußte. In anderen Tunneln wiederum konnte man zumindest gebückt gehen. An jeder Abzweigung wurde die gewählte Richtung von einem automatischen Koordinationsgerät registriert, damit man später wieder nach draußen zurückfand. Es stellte sich heraus, daß das Tunnelgeflecht unter der Erde noch weitreichender war, als es bei der ersten oberflächlichen Messung den Anschein gehabt hatte. An den Wänden waren zweifelsfrei Spuren von Grabungen zu erkennen, ausgeführt mit primitiven Werkzeugen oder Tierkrallen. »Man könnte fast meinen, hier wären riesige Maulwürfe am Werk gewesen«, bemerkte einer aus der Gruppe. Bald stieß der Sechsertrupp auf eine Ansammlung mehrerer grö‐ ßerer Wandnischen, die sich vortrefflich als Schlafplatz eigneten. Jeder würde quasi sein eigenes »Bett« bekommen. Und das beste war, daß man hier sogar aufrecht stehen konnte. Selbst für ausrei‐ chend Sauerstoff war gesorgt, da der Höhlenraum über einen schmalen, steilen Schacht verfügte, der nach oben hin ins Freie führte. Licht drang durch den Schacht allerdings kaum herein, was nicht weiter verwunderlich war; auf dem trüben Dschungelplaneten
wurde es nie so richtig hell. »Hier richten wir uns häuslich ein«, entschied Dschamil. »Laßt uns aber noch einen Blick in die dahinterliegenden Höhlen werfen, um unangenehmen Überraschungen vorzubeugen. Anschließend stei‐ gen wir wieder hinauf und kümmern uns um unsere Gefallenen.« Für ein paar Augenblicke hatte Wagner nicht an seine beiden Freunde gedacht – jetzt war der seelische Schmerz wieder voll da. Nie wieder würde er mit ihnen ein Konzert aufsuchen. Aus dem »Triorchester« war eine »Solonummer« geworden… Gleich im nächsten Raum stießen die Soldaten auf mehrere Erd‐ höhlenbewohner. Wagner erkannte die harmlosen Armlosen wieder. »Es sind friedfertige Pflanzenfresser«, informierte er rasch die an‐ deren, die bereits nach ihren Waffen griffen. »Wir brauchen sie nicht zu töten, es genügt, sie zu vertreiben.« Dschamil war einverstanden. »Die scheinen mehr Angst vor uns zu haben als wir vor ihnen. Jagt sie hinaus!« Mit den Kolben ihrer Karabiner trieben die Männer die armlosen »Neandertaler« zu den nach oben führenden Gängen. Die aufrecht‐ gehenden Tiere gaben nicht einmal unwillige Knurrlaute von sich. Offenbar waren sie erleichtert darüber, daß man ihnen nichts antat, und sie wollten so schnell wie möglich weg von hier. »Mal sehen, was sich hier unten noch so alles eingenistet hat«, sagte Dschamil. »Ich lege keinen Wert auf direkte Nachbarn, wenn wir unser neues Domizil beziehen.« »Eigentlich könnte man sich die Durchsuchung der restlichen Räume schenken«, meinte einer aus der Mannschaft und lieferte auch gleich die logische Begründung dafür: »Gäbe es hier unten gefährliche Raubtiere, hätte diese… diese Affenfamilie nicht so friedlich beieinandergesessen. Sie wären längst gefressen worden.« »Das muß nicht zwangsläufig der Fall sein«, erwiderte Kapitän Dschamil. »Ich habe mal einen Bericht über ein wurmartiges, etwa fingergroßes Tier gelesen, das auf seinem Heimatplaneten theore‐ tisch zwar nur ein Appetithappen war, praktisch aber von allen dort
lebenden Fleischfressern verschmäht wurde, weil der Verzehr dieses Wurms zum sofortigen Tod führte. Der Forscher begründete dies mit der Nahrung, die der Wurm zu sich nahm, irgendein ungenießbares Giftgewächs, dem er einen ellenlangen lateinischen Namen verliehen hat und das nur für den Wurm verträglich war. Ein Exemplar von dem Biest schwimmt sicherlich in seinem Labor in Alkohol.« »Schade drum«, brummelte einer der Männer. »Das Zeug kann man garantiert nicht mehr trinken.« Dschamil ging auf Nummer sicher. Auf seinen Befehl hin wurden zwei weitere benachbarte Höhlenräume durchsucht. Der erste war leer. Der zweite nicht. Dort verstreuten sich haufenweise abgenagte Knochen, die auf nichts Gutes schließen ließen… »Wie es scheint, sind wir in die Behausung einer fleischfressenden Bestie geraten«, sagte Dschamil. »Vielleicht sind es sogar mehrere. Besser, wir machen uns davon. Oder verspürt jemand Lust, sie bei der Heimkehr zu begrüßen?« Er wartete eine Antwort erst gar nicht ab, schnappte sich das Koordinationsgerät und machte sich auf den Weg nach oben. Dank des handlichen Apparates fanden alle ohne Schwierigkeiten aus dem weitverzweigten Höhlennetz heraus. Doch draußen wurden sie bereits erwartet. Es waren mindestens dreißig: nackte, muskulöse Dschungelkatzen, bewehrt mit Grab‐ krallen und spitzen Zähnen, jedes Exemplar so groß wie ein Säbel‐ zahntiger. Die Raubtiere kamen gerade von der Jagd zurück… Dschamil und seine Männer sahen sich an. Dreißig gegen sechs. Ihre Chance war gleich Null… * Dreißig wildlebende Raubkatzen ohne Verstand gegen sechs mit Multikarabinern bewaffnete kampferfahrene Soldaten. Die Überle‐
benschance der Bestien war gleich Null. Als die Männer ihre Waffen auf sie anlegten, waren sie schon so gut wie tot… Doch es kam nicht zum Kampf. Dschamil, dem auffiel, daß der Himmel dunkler war als je zuvor, blickte nach oben. Dort schwebte der Vierhundertmeter‐Roboterraumer über den Bäumen. Und er hatte seine Geschütze auf die von Erdhöhlen durchsetzte grasbe‐ wachsene Freifläche gerichtet. Kapitän Dschamil hatte keinen Zweifel daran, daß der fliegende Großrechner schon seit geraumer Weile über diesem Platz schwebte und die Aktivitäten unter der Erde längst registriert hatte. Dennoch hatte er die Freifläche nicht sofort unter Beschuß ge‐ nommen. Dafür gab es nur einen Grund: Das Roboterschiff wollte, daß der »Biomüll« seinem Tod ins Auge blickte. Noch bevor Dschamil die anderen auf das Schiff aufmerksam ma‐ chen konnte, setzte es gnadenlos die Geschütze ein… Der bizarre Raumer ließ niemanden entwischen. Großflächig löschte er mit seinen Energiegeschützen alles Leben im Umkreis von mehreren Kilometern aus. Raubtiere, Bodenkriecher, Affenartige, Insekten und sonstige Tiere, die das Pech hatten, sich zufällig in diesem Bereich aufzuhalten, mußten sterben, weil der Großrechner sichergehen wollte, daß ihm keiner der verhaßten Menschen entkam. Nachdem es sein blutiges Vernichtungswerk vollendet hatte, kehrte das Schiff zurück ins Tal. Es hinterließ verbrannten Dschungel und den Geruch von Massenmord.
11. Die erste und einzige Ruhepause legten Santini, dos Santos und Strange nach Einbruch der Dunkelheit ein. In aller Schnelle wurde ein Notlager mit einem kleinen Zweimannzelt errichtet. Atombatteriebetriebene Handlampen spendeten genügend Hel‐ ligkeit, um die Trockennahrung zu erkennen, mit der sich die drei draußen vor dem Zelt stärkten. Tom beäugte die nahrhafte, doch etwas trockene Kost mißtrauisch und schaltete seine Lampe vorerst ab. »Wenn ich nicht sehe, was ich esse, kriege ich es vielleicht besser runter«, begründete er diese Maßnahme. Der Major schlug dem Leutnant vor, ein, zwei Stunden zu schlafen. »Ich halte derweil Wache.« »Warum schlafen Sie nicht, und ich halte Wache?« entgegnete die Spanierin. »Ich brauche keine Bevorzugung, nur weil ich eine Frau bin.« »Bei mir wird niemand bevorzugt«, erwiderte der Major grantig. »Aber es ist nun einmal eine Tatsache, daß der weibliche Körper von Natur aus mit weniger Kraftreserven ausgestattet ist als der männ‐ liche.« »Ihr Männer mögt zwar stärker sein, dafür sind wir Frauen aus‐ dauernder«, meinte dos Santos. »Im übrigen ist das auch eine Al‐ tersfrage. Sie sind knapp dreizehn Jahre älter als ich. Ich käme mir ja fast so vor, als würde mein Vater meinen Schlaf bewachen.« So viel Unverschämtheit verschlug Santini beinahe die Sprache. »Was erlauben Sie sich, Leutnant? Es steht Ihnen nicht zu, in diesem Ton mit mir zu reden! Wissen Sie eigentlich, wen Sie hier vor sich haben?« »Und wissen Sie eigentlich, wo wir hier sind?« stellte ihm Penelope dos Santos die Gegenfrage. »Wir befinden uns auf einem fremden, unheimlichen Planeten, werden vermutlich von wilden Tieren be‐
lauert, und morgen steht uns ein harter Kampf bevor – gegen Robo‐ ter, die uns zahlenmäßig zigfach überlegen sind, sowie gegen ein fliegendes Metallmonster, das wir kaum ankratzen können. Mögli‐ cherweise erleben wir den nächsten Einbruch der Nacht nicht mehr. Es gibt also keinen besseren Ort und keinen besseren Zeitpunkt, um einem höheren Vorgesetzten offen die Meinung zu sagen.« »Ein Vorschlag zur Güte«, griff Hauptgefreiter Strange in den kleinen Disput ein. »Da ich der Jüngste bin – und rein zufällig auch noch ein Mann –, werde ich vor dem Zelt Wache halten, und Sie beide legen sich für eine Weile aufs Ohr. Einverstanden?« Dos Santos wartete Santinis Antwort erst gar nicht ab, kroch ins Zelt und machte es sich darin so gut es ging bequem. Der Major gab Strange den Befehl, ihn nach drei Stunden zu wecken, lehnte sich sitzend mit dem Rücken gegen einen dicken Baumstamm und schloß die Augen. Tom Strange seufzte leise. Er war müde und erschöpft und sehnte sich nach Schlaf. Insgeheim hatte er gehofft, daß sich der Major als störrisch erweisen und auf dem Wachdienst beharren würde, schließlich war Santini dafür bekannt, daß er stets mit dem Kopf durch die Wand ging. In diesem Fall aber hatte er den Kompromiß‐ vorschlag einfach angenommen – und Strange hatte sich selbst aus‐ getrickst. Seine Befürchtung, ihm könnten beim Wacheschieben die Lider zufallen, erfüllte sich zum Glück nicht. Der Hauptgefreite wurde aus dem Dschungeldickicht heraus von so vielen Augenpaaren anges‐ tarrt, daß er kaum zu blinzeln wagte. Das Merkwürdige war: Sobald er genauer hinschaute, waren die Augen verschwunden. Entweder zogen sich die heimlichen Beobachter jedesmal blitzartig ins Dickicht zurück – oder er bildete sich alles nur ein. Ganz bestimmt keine Einbildung waren die zwei aufrechtgehen‐ den affenähnlichen Gestalten, die in der Nähe des Lagers in leicht gebückter Haltung vorübereilten. Strange war drauf und dran, Alarm zu geben, doch da waren sie
schon wieder fort. Irrte er sich, oder hatten die beiden wirklich keine Arme gehabt? * Strange schaute auf seinen Zeitmesser. Fast drei Stunden schon umrundete er wachsam das kleine Lager, ständig Ausschau haltend nach verdächtigen Bewegungen und rätselhaften Geräuschen. Von beidem gab es hier im Dschungel von Double reichlich. Diverse Geschöpfe der Nacht schlichen durchs Dickicht und gaben die seltsamsten Laute von sich. Bis zu den Schlafenden drang jedoch keines der Tiere vor; sie verschwanden hektisch, sobald Tom sie mit seiner Handlampe anstrahlte. Das will ich euch auch geraten haben, dachte er. Obwohl er schwerbewaffnet war, fühlte er sich nicht sicher. Derlei Einsätze behagten ihm sowieso nicht, schließlich war er zur Flotte gegangen, um das Weltall zu erobern und nicht, um im Dschungel umherzustreifen. Schon als Kind hatte er Tarzan‐Filme nicht aus‐ stehen können. Schmunzelnd sah er zu Santini, den er nach der nächsten Wach‐ runde zu wecken beabsichtigte. Der Major schien tatsächlich all‐ mählich »zu vergreisen« – anders war es nicht zu erklären, warum er lieber in unbequemer Sitzlage an einem Baum schlief, statt sich zu der temperamentvollen Spanierin ins Zelt zu legen. Mich hätte sie nicht lange bitten müssen, dachte Strange, der jetzt ganz nahe am Zelt entlangging. Obwohl sie etwas schimmelig riecht… Er hielt verwundert inne. In der Tat drang aus dem Zelt ein muf‐ figer Geruch, der sich immer stärker ausbreitete. Soldaten im Au‐ ßeneinsatz dufteten selbstverständlich nicht nach Lavendel – doch was zu weit ging, ging zu weit. Major Santini tauchte plötzlich hinter Strange auf. »Danke fürs Wecken«, knurrte er ungehalten. »Es geht doch nichts über zuverlässige Wachleute.«
»Ich… ich wollte gleich zu Ihnen kommen«, entschuldigte sich der Hauptgefreite. »Schon gut, ich wache meistens von selbst auf«, entgegnete Santini, der über eine »innere Uhr« verfügte. Er rümpfte die Nase. »Unser Lagerplatz war offenbar keine gute Wahl. Hier riecht es wie auf ei‐ nem Friedhof, nur toter.« Auch ihm fiel jetzt auf, daß der verwesungsartige Gestank aus dem Zelt kam. Mit einem Ruck entfernte er die Plane vor der Einstiegs‐ öffnung, entriß Strange die Handlampe und leuchtete hinein… Bei dem Anblick, der sich ihm bot, mußte er mit einem spontan auftretenden Brechreiz kämpfen. Der Zeltboden war übersät von schleimigen, übelriechenden Kriechern, die ständig in Bewegung waren und dabei fortwährend ihre Größe und Farbe veränderten. Die Glibberwesen schienen irgend etwas unter sich zu begraben. Irgend etwas – oder irgend jemanden? »Falls Leutnant dos Santos unter diesem stinkenden Schleimhau‐ fen liegt, ist sie längst erstickt«, befürchtete Tom Strange, der eben‐ falls das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen. »Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden«, erwiderte Santini und streckte die Arme aus. »Weg vom Zelt!« rief plötzlich eine wohlbekannte Stimme. Santini und Strange traten rasch zwei Schritte zurück. Penelope dos Santos stand ein paar Meter davon entfernt und sah ziemlich ungehalten aus. »Wo waren Sie eigentlich, als dieses… dieses Was‐auch‐immer in mein Zelt kroch?« fragte dos Santos den Hauptgefreiten ärgerlich. »Zum Glück habe ich die Gefahr noch rechtzeitig bemerkt und konnte mit dem Vibrokampfmesser ein Loch in die Zeltwand schneiden. Mehr als meine Decke haben die elenden Mistviecher nicht erbeutet…!« »Es ist mir unerklärlich, aber ich habe absolut nichts bemerkt«, entschuldigte sich Tom, der völlig perplex war. »Dieses Glibber‐ zeugs kann sich offenbar perfekt tarnen.«
Dos Santos machte ihm keine weiteren Vorwürfe, schließlich war alles noch einmal glimpflich verlaufen. Jeder sammelte seine Aus‐ rüstung ein, dann zogen die drei weiter. Nur auf das Zelt mußten sie verzichten. Da der nächtliche Dschungel doppelt so gefährlich war wie am Tag, würden sie dreimal soviel achtgeben… * Früh am nächsten Morgen erreichten Santini und seine Begleiter ihr Ziel. Von einer Anhöhe am Dschungelrand aus beobachtete der Major die Vorgänge auf der Lichtung durchs Fernglas – ein Hoch‐ leistungsgerät, durch das man auch kleinste Details erkennen konn‐ te. Unten im Tal bauten Hunderte von Handlungsrobotern an der Aufzuchtstation. Das Großrechnerschiff war in der Nähe der Baustelle gelandet und überwachte von dort aus die Arbeiten. Zwischen den Handlungsrobotern bewegten sich mehrere Grakos, die auch auf dem Schiff ein‐ und ausgingen. Santini richtete sein Augenmerk insbesondere auf sie, was nicht ganz leicht war, da sich die geisterhaften Schattenwesen ja zum Teil im Hyperraum befan‐ den und sich daher kaum von der realen Umgebung abhoben. Während seiner Stationierung auf Grah hatte der Major allerdings einen Blick für diese außergewöhnliche Spezies entwickelt; er durfte sich mit Fug und Recht als Grako‐Experten bezeichnen. Santini fiel ein Grako auf, der den gegenüberliegenden Hang em‐ porstieg. Erst jetzt bemerkte er einen großen, grauen Betonklotz, der dort oben aus dem Erdreich ragte, teilweise verdeckt vom Dschun‐ gelrand. Bei genauerem Hinsehen entpuppte sich der Klotz als klo‐ biges Gebäude, spärlich ausgestattet mit Lichtschächten, die wohl auch der Luftzufuhr dienten. Wie ein Wohnhaus sah das Ganze von außen nicht aus, eher wie eine riesige Lagerhalle oder ein Hangar.
Einige Handlungsroboter bewachten das schlichte Gebäude. Sie ließen den Grako ungehindert passieren; er verschwand durch einen Seiteneingang nach drinnen. Santini unterrichtete dos Santos und Strange von seiner Beobach‐ tung. »Vielleicht befindet sich in der Halle etwas, das uns bei der Zerstörung der Station von Nutzen sein könnte.« »An was dachten Sie dabei?« fragte ihn der Leutnant. »Sprengstoff und Fluchtfahrzeuge oder Schweber?« »Wäre nicht schlecht«, warf Tom Strange ein, »aber wahrscheinlich handelt es sich lediglich um eine Lagerstätte für Baumaterial.« Santini war anderer Meinung. »Dann wäre das Gebäude nicht so schwer bewacht. Ich muß unbedingt wissen, was darin aufbewahrt oder versteckt wird – und was der Grako dort zu schaffen hat.« »Heißt das, wir untersuchen erst das Haus am Hang, bevor wir uns hinunter in die Aufzuchtstation schleichen?« entgegnete dos Santos. Santini nickte. »Das halte ich für das Sinnvollste. Der kürzeste Weg führt mitten durchs Tal, es wäre aber auch der gefährlichste. Werden wir entdeckt, fliegt unsere Tarnung auf. Besser, wir bleiben noch eine Weile in Deckung. Wir gehen also außen herum.« Hätte ich mir ja denken können, dachte Tom und seufzte unhörbar. Allmählich habe ich wirklich die Nase voll vom Marschieren… * Als die Dreiergruppe beim Gebäude am Hang eintraf, verließ der Grako es bereits wieder. Aus sicherer Entfernung beobachteten der Major, der Leutnant und der Hauptgefreite, wie das Hyperraum‐ wesen ein paar der Handlungsroboter von der Wache abzog und mit ihnen ins Tal hinabstieg. Vermutlich sollten die Roboter dort zum Arbeiten eingesetzt werden, damit das Bauprojekt schneller voran‐ kam. Offenbar fühlten sich die Grakos wieder sicher, waren sie doch überzeugt, alle Besatzungsmitglieder des Verfolgerschiffs ausge‐
löscht zu haben. Ein fataler Irrtum… … der euch noch leid tun wird, ihr Bastarde! dachte Santini – nach wie vor fest entschlossen, diesen Planeten erst dann zu verlassen, wenn kein Grako mehr am Leben und das Roboterschiff zerstört war. Gänzlich unbewacht blieb das geheimnisvolle Gebäude nicht. Die zurückgebliebenen Handlungsroboter hielten sich sowohl am Seiten‐ als auch am Haupteingang auf – ein großes Tor, das sich wahr‐ scheinlich nur mit einem Geheimcode öffnen ließ. »Nehmen wir den Personaleingang?« scherzte Strange. »Durch die Seitentür dürften wir am leichtesten nach drinnen gelangen.« »Wir kommen von vorn, auf dem direkten Weg«, entschied Major Santini. »Was auch immer die Grakos in diesem Haus vor der Au‐ ßenwelt verbergen, es wurde mit Sicherheit durch das Tor nach drinnen transportiert – sprich: Es ist so riesig, daß man es nur auf demselben Weg wieder herausbringen kann.« Er schaute dos Santos an. »Trauen Sie sich zu, einen fremdspezifischen Öffnungscode zu knacken, Leutnant? Wir halten Ihnen derweil die Wachroboter vom Hals. Sie müssen allerdings schnell sein, dos Santos, denn man wird im Tal auf unsere Aktivitäten aufmerksam werden. Je eher wir im Gebäude sind, um so früher können wir es wieder verlassen.« Die Spanierin, die sich mit ihrem scheinbar defekten Funkpeilgerät befaßte, nickte nur. Sie wirkte leicht genervt, denn sie empfing lau‐ fend verwaschene To‐Funkimpulse, für die es keine logische Erklä‐ rung gab – außer… »… außer es handelt sich dabei um irgendwie unscharf gemachte To‐Richtsignale für die Steuerung der Handlungsroboter«, sagte sie zu Santini. Der Major runzelte die Stirn. »Irgendwie unscharf gemacht…? Wie wäre es mit präziseren Angaben?« »Da muß ich leider passen. Irgend etwas auf diesem Planeten – nein, ich weiß wirklich nicht, was es sein könnte! – läßt To‐Richtfunk streuen. Mir ist das alles völlig schleierhaft. Ich hasse ungelöste Rät‐
sel! Schon als Kind habe ich Zeitungsseiten mit Kreuzworträtseln zerrissen, wenn ich sie nicht lösen konnte.« »Klingt nach einem trotzigen, unbeherrschten Kind. Inzwischen haben Sie hoffentlich dazugelernt.« »Habe ich, Major«, entgegnete dos Santos. »Aber das zornige Kind von früher steckt noch immer in mir – und es verspürt gerade das dringende Bedürfnis, etwas kaputtzumachen.« Sie legte den Funkpeiler beiseite und holte ein weiteres Gerät aus ihrem Gepäck. »Was haben Sie vor?« fragte Eric Santini mißtrauisch. »Meine Ausrüstung besteht nicht nur aus einem Funkpeiler – ich habe auch einen leistungsfähigen Störsender mit dabei«, informierte ihn der Leutnant. »Den könnte ich so umprogrammieren, daß er sich auf die gestreuten To‐Signale aufkoppelt und sie total blockiert. Auf diese Weise ist uns das merkwürdige, unerklärbare Streuungsphä‐ nomen sogar noch von Nutzen; wir bekämpfen sozusagen den Teu‐ fel mit dem Beelzebub.« »Und was haben wir davon?« »Vor allem eines: endlich Ruhe. Der Empfang der verwaschenen Impulse stört meine sonstigen Peilungen erheblich. Außerdem nervt es mich, daß ich die Signale nicht richtig entschlüsseln kann – und deshalb mache ich sie jetzt kaputt! Irgendwelche Einwände, Sir?« »Solange Ihre Maßnahme nicht zu unserer Entdeckung oder sons‐ tigen negativen Folgen führt, soll es mir recht sein.« »Ich kann Ihnen nichts versprechen, Major. Aber ich lasse äußerste Vorsicht walten und breche die Aktion sofort ab, falls mir das Risiko zu hoch erscheint.« * Dank ihrer Fachkenntnisse und ihrer Fingerfertigkeit bewältigte dos Santos ihr Vorhaben innerhalb kürzester Zeit. Die störenden, rätselhaften Impulse wurden total blockiert. Und nicht nur sie…
Tom Strange fiel es als erstem auf. »Sie bewegen sich nicht mehr.« »Wer?« fragte Santini ärgerlich. »Hat man eigentlich keinem von Ihnen beiden beigebracht, wie man eine präzise Meldung macht?« »Ich melde, Sir, daß sich die Handlungsroboter vor dem großen Gebäude am Hang nicht mehr vom Fleck rühren«, erwiderte der Hauptgefreite. »In derselben Sekunde, als Leutnant dos Santos mit dem umprogrammierten Störsender die To‐Funkimpulse blockierte, standen die Roboter urplötzlich still.« Santini blickte hinab ins Tal. Dort wurde weitergearbeitet, als sei nichts geschehen. Wahrscheinlich war die Reichweite des umprog‐ rammierten Störsenders auf die nähere Umgebung beschränkt. Da es keine Reaktion von Seiten des Großrechnerschiffs gab und auch keine Grakos Anstalten machten, den Hang emporzusteigen, hatte man dort unten offenbar nichts von der Blockade bemerkt. »Wissen Sie, was Sie sind, Leutnant?« fragte Santini die Spanierin. Dos Santos schwieg. Sie rechnete mit einem Tadel oder irgendeiner Frechheit. »Sie sind ein Genie!« Dieser Satz verblüffte nicht nur den weiblichen Leutnant, sondern auch Tom Strange. War das etwa ein erstes Anzeichen für eine freundschaftliche Zuneigung? Oder waren es nur »väterliche Ge‐ fühle«? Santini holte seinen Handnadelstrahler (Tante Carlottas Weih‐ nachtsgeschenk) hervor und überreichte ihn der Spanierin. Sie nahm die Waffe mit einem leicht verwirrten Lächeln entgegen. Was sollte das? Wieso gab er ihr seinen Strahler? »Nur leihweise«, betonte Santini. »Wir können Sie schließlich nicht unbewaffnet zurücklassen.« »Zurücklassen?« Penelope dos Santos ging ein Licht auf. »Wollen Sie das Gebäude etwa ohne mich erkunden? Und was ist mit dem Öffnungscode fürs Tor?« »Das kriege ich schon selbst hin. Wie ich Sie einschätze, haben Sie sicherlich eine Art Dechiffriergerät in Ihrer Spezialausrüstung, des‐
sen Funktion Sie mir kurz erklären werden. Am Dschungelrand, mit Blick übers gesamte Tal, sind Sie mit Ihren speziellen Fähigkeiten besser aufgehoben als drinnen im Haus, weil Sie von hier aus groß‐ flächig die Umgebung sondieren und uns warnen können, falls Grakos oder Roboter zu uns heraufkommen.« »So etwas nenne ich einen beruflichen Abstieg«, murrte dos Santos und steckte die Waffe weg. »Eben noch war ich ein Genie – und nun hat man mich zum Schmierestehen degradiert.« Sie übergab dem Major ein handliches Gerät und erklärte ihm, wie es funktionierte… * Major Santini und Tom Strange näherten sich dem Gebäude mit der gebotenen Vorsicht. Zum einen mußten sie achtgeben, vom Tal aus nicht gesehen zu werden, zum anderen konnten sie nicht völlig ausschließen, daß am Haus optische Erfassungsgeräte angebracht waren, um die nähere Umgebung zu sichern. Falls das der Fall war, wurde gerade jeder ihrer Schritte vom Roboterschiff aus beobachtet. Die Handlungsroboter schienen jedenfalls nichts von ihrer Anwe‐ senheit mitzubekommen. Santini und Strange kamen sich vor wie Bewohner einer anderen Zeitebene. Die bewaffneten Roboter, die das große graue Gebäude bewachten und deren Programmierung sicherlich einen Schießbefehl beinhaltete, waren mitten in der Be‐ wegung erstarrt. Sie wirkten bedrohlich, konnten den beiden Män‐ nern aber nichts antun. Ungehindert gelangten die zwei bis ans Tor. Santini fiel auf, wie viele unterschiedliche Wächter es hier gab. Aus seinen Informationsdateien wußte er, daß die Großrechnerschiffe ihre Handlungsroboter stets so gestalteten, daß keiner dem anderen glich, daß sich aber Roboter, die im selben Arbeitsbereich tätig war‐ en, äußerlich zumindest ähnelten. Zur Bewachung des Gebäudes hatte man offenbar Maschinen aus den verschiedensten Bereichen abgestellt. Santini hatte noch nie eine derart phantasievoll kreierte
Wachmannschaft zu Gesicht bekommen. Der Zugang zum Haus ließ sich leichter öffnen, als der Major an‐ genommen hatte. Das Tor war lediglich durch eine primitive Alarmanlage gesichert, die problemlos deaktiviert werden konnte. Schon nach wenigen Augenblicken stand es offen. Auf den Einsatz des tragbaren »Codeknackers« konnte verzichtet werden. Das Gebäude bestand aus nur einem einzigen Raum – aber der war so groß wie eine Jettflughalle. Strange war total überrascht, als er sah, was sich in der Halle be‐ fand. Damit hatte er nicht gerechnet. Santini hingegen bemerkte, er habe gleich so einen Verdacht gehabt… ob das wirklich zutraf oder ob er nur seine eigene Überraschung verbergen wollte, vermochte Tom nicht zu beurteilen, und es war ihm auch egal. Zwei mehr als zehn Meter große Libellen hielten sich in dem Ge‐ bäude auf: Gordo. Es waren Schattensucher und Lichtfreundin! Eric Santini setzte sich sofort mit den beiden in Verbindung und forderte sie auf, mit ihm in den Dschungel zu fliehen. Ganz offen‐ sichtlich ging es Lichtfreundin und Schattensucher nicht gut. Sie standen unter Drogen, die ihnen sehr wahrscheinlich von den Gra‐ kos verabreicht worden waren – und sie konnten sich kaum bewe‐ gen. Damit standen Santini und Strange vor einem Riesenproblem, im wahrsten Sinne des Wortes: Wie transportierte man ohne Hilfsmittel zwei monströse Libellen von mehreren Tonnen Gewicht? Und da ein Unglück bekanntlich selten allein kam, meldete sich Leutnant dos Santos übers Armbandvipho und teilte den beiden Männern mit, daß Grakos und Handlungsroboter vom Talboden her unterwegs zum Haus am Hang waren. Jetzt mußte rasch ein Plan her – und zwar ein wirklich guter!
12. Santini spähte auf sein Vipho. Die Frau im kleinen Sichtfeld zog ihre schwarzen Brauen zusammen. So schaute keiner, der Witze machte. »Haben Sie mich verstanden, Major?« Sie flüsterte fast. »Die sind in spätestens sechs Minuten aus dem Tal heraufgestiegen. Sie müssen sich beeilen!« Santini blickte erst zu Strange, dann zu den beiden insektoiden Kolossen. In sechs Minuten würden Schattensucher und Lichtfreun‐ din ihre tonnenschweren Körper nicht einmal bis zum Waldrand bewegt haben. So berauscht und apathisch wie sie waren, zweimal nicht. »Wie viele?« zischte er in sein Vipho. »Schwer zu sagen.« Die Spanierin verschwand aus dem Sichtfeld. Vermutlich spähte sie durch den Feldstecher talwärts den Waldhang hinunter. Dann wackelte ihr schönes Gesicht wieder im Bildfeld. »Ich kann sieben Grakos und etwa doppelt so viele Roboter ausmachen. Wie viele es wirklich sind, weiß ich nicht.« »Verstanden! Danke, dos Santos.« Er schaltete sein Bildsprechgerät aus und senkte den Arm. »Haben Sie das mitbekommen?« wandte er sich an seinen Gefährten. »In etwa.« Mit einer Kopfbewegung deutete Tom Strange auf die beiden Gordo. »In sechs Minuten kann man so eine Hütte zerlegen, das Kühlgerät dort vorn in einen Ventilator umbauen oder ein paar Scheine beim Pokern gewinnen, aber nicht unsere beiden bekifften Grazien hier im Wald verstecken.« Dafür eine Menge quatschen, war Santini versucht zu ergänzen. Er ließ es bleiben. »Wir kommen zurück.« Er legte seine Rechte auf Lichtfreundins chitinharte Flanke. »Wir wissen jetzt, wo man euch gefangenhält, und wir kommen wieder und hauen euch hier raus.« Er blickte der Riesenlibelle ins grobschlächtige Gesicht. Die Gor‐ dokönigin bewegte ihre Fänge und vermittelte ein dankbares und
zugleich furchtsames Gefühl. Offenbar lähmten die Drogen auch ihre Kommunikationsfähigkeiten. Der Major wandte sich zum Portal und winkte den Hauptgefreiten hinter sich her. Santini spähte durch den Spalt zwischen den beiden Flügeln nach draußen. »Die Luft ist rein.« Sie huschten aus dem Haus. Auf dem Vorplatz verharrten sie. Die Morgensonne der fremden Welt stand über den Baumwipfeln. Die Männer lauschten und spähten in den dichten Wald. Nichts. Vorbei an den ausgeschalteten Handlungsrobotern und in der Deckung der vielen Büsche auf dem Gelände schlichen sie zurück Richtung Dschungel. Obwohl der Tag noch keine drei Stunden alt war, schwitzten die Männer bereits in ihren Kampfanzügen. Jedesmal, wenn sie in die Nähe eines Roboters gelangten, stellten sich Strange die Nackenhaare auf. Aber die Maschinen machten keinen Mucks. Das improvisierte Störfeld der Spanierin leistete ganze Arbeit. Er war beeindruckt. Tolles Mädchen, diese dos Santos. Wie hieß sie gleich mit Vornamen? Penelope, richtig. Komischer Name eigentlich. Nach zwei oder drei Minuten erreichten sie den Waldrand und arbeiteten sich dann teils robbend, teils in der Hocke und auf Knien durch das dichte Unterholz bis zur Deckung der Spanierin. »Da drin sind zwei Gordo«, flüsterte Santini. »Und zwar genau die, die wir suchen: Schattensucher und Lichtfreundin. Vollgepumpt mit Drogen. Unmöglich, sie auf die Schnelle mitzunehmen.« Dos Santos nickte und reichte Santini den Feldstecher. Sie deutete den Hang hinunter. Der Major spähte durch das Glas. Unten im Tal, auf dem Teil der Baustelle, den man von hier oben aus erkennen konnte, wurde gearbeitet. Höchstens drei Kilometer entfernt er‐ kannte Santini eine Baumaschine, die Material transportierte. Keine dreihundert Meter von ihrer Deckung entfernt bewegte sich Geäst. Die Roboter erkannte Santini vor den Grakos. Ihre schim‐ mernden, stahlfarbenen Kunstkörper hoben sich deutlich von den
Brauntönen und dem vielfältigen Grün des Dickichts ab. Er zählte mehr als ein Dutzend. Penelope hatte recht gehabt. Die Grakos entdeckte er erst nach und nach, und auch das nur, weil ihre Schattenfelder die Strukturen des Buschlaubs und der Baum‐ rinden unterbrachen. Ein dunkles Geflimmer im Unterholz, viel mehr waren sie nicht. Und es ging ihm wie Minuten zuvor der Spa‐ nierin – ihre Zahl war schwer zu schätzen. Waren es sechs oder sie‐ ben? Oder waren es mehr? Er reichte den Feldstecher an den ungeduldigen Strange weiter. »Wir wissen, daß sie Schattensucher und Lichtfreundin in diesem Haus gefangenhalten«, sagte er an dos Santos gewandt. »Das muß uns vorerst reichen. Vermutlich sind die Grakos scharf auf ihre Eier. Uns wird schon noch einfallen, wie wir ihnen in die Suppe spucken können.« »Vielleicht, Major.« Leutnant dos Santos zog Tante Carlottas Handnadelstrahler. »Aber nur wer lang lebt, spuckt lange, oder?« Sie reichte ihm seinen Strahler. Ein indirekter Vorschlag, erst einmal zu verschwinden; Santini re‐ gistrierte ihn eher beiläufig. Viel aufmerksamer aber registrierte er die bernsteinfarbenen Einsprengsel im fast schwarzen Braun ihrer Augen. Sie machten, daß ihre Augen leuchteten, und sie kamen ihm plötzlich vor wie Eingangstüren in eine verlockende Welt. »Behalten Sie ihn ruhig noch, Leutnant.« Er wies auf den ultrana‐ gelneuen Strahler. »Wer lange mit so einem Ding herumläuft, lebt auch lange.« Nicht ganz so geistreich wie ihre Bemerkung, er merkte es gleich. Aber sie lächelte, und das ging ihm durch und durch. Wurde er jetzt schon wahnsinnig, oder wieso erhitzte ihn in dieser Situation das Lächeln einer Frau? Er wandte sich an Strange, ein wenig zu schnell, wie er selbst empfand. »Sie stiefeln gerade aus dem Wald«, sagte der Hauptge‐ freite und reichte seinem Chef das Glas. »Bin mal gespannt, was passiert, wenn die Roboter in Ihr Störfeld stolpern, Penelope.« Santini setzte das Glas an die Augen. Wieso nannte dieser Stoffel
von Hauptgefreitem den Leutnant eigentlich beim Vornamen? Die Grakos und die Roboter näherten sich dem Haus. War er einfach nur frech, oder kannte Strange die Frau näher? Oder war ihm eine An‐ näherung zwischen den beiden entgangen? Siebzehn Roboter und neun Grakos stapften den Hang herauf und dem Haus entgegen, in dem die Gordo gefangengehalten wurden. Oder lag es daran, daß sie in etwa das gleiche Alter hatten? »Was soll schon passieren, Tom«, sagte dos Santos. »Sie werden stehenbleiben, so wie die anderen auch stehengeblieben sind.« Und sie hatte recht. Die Gruppe aus Maschinen und von Halb‐ raumfeldern verhüllten Insektoiden erreichte jetzt die ersten ers‐ tarrten Roboter. Während die Grakos wie ratlos um die in ihren Augen defekten Wachroboter kreisten, blieb ihre maschinelle Es‐ korte nach und nach stehen. Sie verharrten einfach in der Stellung, die sie nach ihrem letzten Schritt eingenommen hatten. Drei oder vier fielen um, weil sie in instabiler Haltung erstarrt waren. »Jetzt hat mein Störfeld sie erwischt.« Dos Santos grinste. Sie war stolz, und Santini fand, daß sie mit Recht stolz war. Die Grakos standen plötzlich ebenfalls still. So still, daß die Terra‐ ner jeden einzelnen Insektoiden hinter seinem Halbraumfeld fast deutlich erkennen konnten. »Man könnte meinen, Ihr Störfeld legt sogar die Grakos lahm«, flüsterte Santini. »Schön wär’s.« Endlich kam Bewegung in die Feinde. Ihre Schattenfelder flim‐ merten wieder stärker. Sie gingen zu den eben erst ausgefallenen Robotern ihrer Eskorte und machten sich an ihnen zu schaffen. Ver‐ geblich natürlich. Die erstarrten Maschinen vor dem Haus sahen aus wie eingefro‐ rene Gespenster oder wie die ersten Gäste auf einem in naher Zu‐ kunft hier blühenden Schrottplatz. Auf den Gedanken, einen Such‐ trupp in den Wald zu schicken, kamen die Grakos nicht. Die Mög‐ lichkeit eines begrenzten Störfeldes überstieg wohl ihr Vorstel‐ lungsvermögen.
Die schattenhaften und flimmernden Gestalten wurden immer unruhiger. Es sah aus, als würden sie eine hitzige Debatte führen. Einige liefen ins Haus. »Schalten Sie das Störfeld ab, Leutnant dos Santos«, sagte Santini. »Bitte?« Die Spanierin beäugte ihn ungläubig. Auch Strange, rechts von ihm, runzelte die Stirn. »Ich soll was…?« »Das Störfeld abschalten.« Konzentriert spähte er durch das Fern‐ glas. »Ich habe da einen Idee.« »Also gut.« Der Leutnant gehorchte und machte sich an dem Stör‐ sender zu schaffen. Augenblicklich kam wieder Bewegung in die große Schar der erstarrten Handlungsroboter. Die Grakos zuckten zurück. »Wie ist das, Sir?« flüsterte dos Santos. »Könnten wir Ihre Idee er‐ fahren?« »Ich will Schattensucher und Lichtfreundin da rausholen«, sagte Santini. »Dazu müssen wir ins Haus. Wir kommen aber nicht ins Haus, solange fast dreißig Grakos und Roboter sich davor aufhal‐ ten.« Penelope dos Santos und Tom Strange sahen sich an. Beide run‐ zelten die Stirn. Und beiden schwante Übles. Mittlerweile waren sämtliche neun Grakos durch den torartigen Eingang ins Gebäude verschwunden. Würden sie Spuren der Ter‐ raner entdecken? Santinis Herz schlug schneller. Die Idee in seinem Kopf nahm allmählich eine brauchbare Gestalt an. Die Insektoiden in ihren flimmernden Schattenfeldern kehrten nach und nach aus dem Inneren des Hauses zurück auf die Veranda. Zwei oder drei deuteten auf den Waldrand, einer direkt in die Richtung des Terranertrios. Sofort setzten sich die Maschinen in Bewegung. »O nein…« stöhnte Strange. »Bei allen Heiligen der Milchstraße!« Aus brennenden Augen musterte dos Santos ihren Vorgesetzten. »Soll ich das Störfeld nicht doch lieber wieder einschalten?«
»Nein«, sagte Santini. * Fünf Grakos machten sich auf den Rückweg zur Baustelle im Tal. Sie verschwanden im Dickicht. Vier blieben in der Nähe des Hauses, vermutlich um die Suchaktion ihrer Roboter zu überwachen. Sie selbst betraten den Dschungel nicht. Die Terraner zogen sich tiefer in den Dschungel zurück. Immer, wenn die Maschinen aus ihrem Blickfeld zu verschwinden drohten, ließ Santini anhalten und abwarten, bis sie wieder näherkamen. Dann krochen sie weiter den Hang hinauf. »Scheinen die Hosen voll zu haben«, flüsterte Strange mit Blick auf die vier Grakos zwischen Haus und Waldrand. »Sie sind einfach nur schlau«, sagte Santini. »Warum sollten sie ein Risiko eingehen, solange sie Roboter haben, die den Kopf für sie hinhalten?« Da und dort durchdrangen die Strahlen der Morgensonne das Blätterdach des Waldes. Reflexe strahlten auf, wo das Licht auf das Gehäuse eines Roboters traf. Zwei von ihnen arbeiteten sich knapp zweihundert Meter entfernt durchs Unterholz. Sie kamen immer näher. Es waren Roboter unterschiedlichen Typs, die da immer tiefer in den Dschungel eindrangen. Einige sahen aus wie ein aufrechtge‐ hendes Gestänge aus Stahl, Blech und Kunststoff. Andere wirkten durchaus humanoid, und wieder andere hatten die Form einer Py‐ ramide oder eines Kegels. »Es scheinen relativ simple Maschinen zu sein.« Santini reichte dos Santos den Feldstecher. »Wieso?« Die Frau setzte das Glas an die Augen. »Schauen Sie doch, wie ungezielt sie suchen. Statt systematisch den Dschungel zu durchkämmen, stelzen sie kreuz und quer durchs Unterholz.«
»Stimmt«, bestätigte dos Santos. »Wenn der Wind irgendwo das Laub rascheln läßt, steuern sie die Stelle sofort an.« »Haben wahrscheinlich noch nie Ostereier gesucht«, flüsterte Strange. »Gefährlich jedenfalls ist was anderes.« »Ich weiß nicht.« Dos Santos gab dem Major den Feldstecher zu‐ rück. »Die zwei, die da auf uns zukommen, könnten demnächst schon gefährlich werden.« Sie sah Santini von der Seite an. »Wenn wir nicht bald von hier verschwinden.« Santini ging nicht auf die unverhohlene Aufforderung ein. Als hätte er alle Zeit der Welt, beobachtete er abwechselnd die beiden Handlungsroboter in der Nähe ihrer Deckung und das Haus, das inzwischen nur noch schwer zu erkennen war. »Die vier Grakos treten den Rückweg ins Tal an«, sagte er. Einer der Roboter, ein Kegel auf vier langen, stelzenartigen Beinen, wandte sich plötzlich in eine andere Richtung und entfernte sich wieder. Der zweite, eine Maschine von humanoider Rumpfform, setzte seinen Weg fort. »Hören Sie, Leutnant – können Sie Ihr Störfeld auch auf eine klei‐ nere Reichweite schalten?« wollte Santini wissen. »Wie klein, Major Santini?« »Sagen wir auf einen Radius von fünfzehn Meter?« »Dürfte kein Problem sein.« Penelope dos Santos holte den kleinen Störsender und ein Kombiwerkzeug wieder aus dem Rucksack. Während sie an dem Gerät herumschraubte, kam der humanoide Roboter bis auf vierzig Meter heran. »O Mann! Was haben Sie vor, Major?« Die flotten Sprüche schienen Strange nun doch vergangen zu sein. »Der Apparat stelzt direkt auf unsere Deckung zu. Was, wenn er mit Infrarotortung arbeitet?« Der Hauptgefreite duckte sich tief ins Gestrüpp. »Blödsinn! Dann hätten sie uns schon längst entdeckt.« Dos Santos steckte das Werkzeug zurück in die Tasche. »Störsender einsatzbe‐ reit.« »Sicher?« Santini setzte das Glas ab. Zweifelnd sah er die Spanierin
an. Es war beinahe unheimlich, wie schnell sie arbeitete. »Ganz sicher.« »Gut. Dann warten Sie auf mein Kommando.« Nur noch dreißig Schritte trennten sie von dem Roboter. Schon hörten sie Äste unter seinen Stahlfüßen brechen. »Herrgott noch mal… was haben Sie vor, Major…?« »Geben Sie Ruhe, Strange!« Santini winkte energisch ab. »Und runter mit den Köpfen!« Alle drei preßten sich dicht an den feuchten Waldboden. Durch Astwerk, Laub und Gestrüpp hindurch belauerte Santini den Handlungsroboter. Er schluckte einen trockenen Kloß herunter und zwang sich, ruhig und tief zu atmen. Deutlich hörbar schleifte ein tiefhängender Ast über den Rumpf des Roboters, als er unter einer Baumkrone vorbeipirschte. »Jetzt!« zischte Santini. Dos Santos schaltete den Störsender ein – keine zwanzig Schritte entfernt blieb die Maschine bewegungslos stehen. Von links verbarg ein mächtiger Stamm den Blick auf sie, von oben hüllten sie herab‐ hängende Äste ein, und hinter und rechts von ihr verdeckte hohes Gestrüpp ihre Gestalt. »Günstiger könnte er nicht stehen«, sagte dos Santos. Santini nickte. »Gute Arbeit, Penelope.« Penelope – jetzt hatte er es auch gewagt. »Sehr gute Arbeit.« Kein Befremden in ihrer Miene, nicht einmal Verwunderung. Sie grinste. »Kommen Sie mit mir. Und Sie, Tom«, er wandte sich an den Hauptgefreiten, »Sie bleiben hier, halten die Ohren steif und geben uns Feuerschutz, wenn es schiefgeht.« »Wenn was schiefgeht?« Strange zog seinen Multikarabiner von der Schulter. Santini winkte ab. Er und dos Santos pirschten sich an den Roboter heran. Obwohl der Major seiner Spezialistin hundertprozentig ver‐ traute, nahm er doch nicht den direkten Weg. Sie schlugen einen flachen Bogen und tauchten schließlich links der Maschine in der
Deckung des Urwaldriesen auf. Seinen Multikarabiner im Anschlag, belauerte Santini den völlig reglosen Roboter. »He, Eric«, flüsterte die Spanierin von der Seite. »Er ist deaktiviert.« Santini schluckte. »Ich weiß.« Er senkte den Karabinerlauf. »Trotzdem ein blödes Gefühl. Können Sie rausfinden, wo bei dem Maschinenkerl das To‐Funkgerät sitzt?« »Meistens tragen ferngesteuerte Maschinen so etwas in Kopfnähe herum.« Dos Santos trat aus der Deckung des mächtigen Stammes. »Damit er auch noch senden und empfangen kann, wenn er mal bis zu den Schultern in der Scheiße watet.« Von hinten näherte sie sich der Maschine und zog zugleich ihr Kombiwerkzeug aus der Beintasche. »Nun ja, das tut er doch gerade.« Santini rang sich ein Grinsen ab. Die Frau reagierte nicht. Nacken‐ und Halsbereich des Roboters fes‐ selten ihre Aufmerksamkeit. »Na also, wer sagt es denn?« Nach nicht einmal einer Minute hatte sie das Element entdeckt, das den Richtfunksender enthielt. Sie setzte ihr Werkzeug an. »Ich nehme an, Sie wollen, daß ich ihm das Ding ausbaue?« »Sehr gut, Leutnant! Wie haben Sie das nur erraten?« »Ich liebe meinen Namen und höre ihn so selten, wenn ich militä‐ risch auf Achse bin.« Sie lächelte. »Schrauben Sie dem Mistding bitte den Sender aus dem Hals, Pe‐ nelope.« Er ging zu ihr und dem Roboter. »Mache ich doch gern, Eric.« Sie klappte ihr Werkzeug zusammen und steckte es weg. »Was für eine primitive Fixierung! Die kann man ja mit zwei Fingern lösen!« Sie griff nach einer Muffe und drehte einmal daran. »Schauen Sie sich das an, Major!« Schon zog sie den Sender aus dem Halsstück des Roboters und drückte ihn Santini in die freie Hand. »Und jetzt, glauben Sie, ist der Eisenbursche endgültig lahmgelegt?« »Ja.« Jeden Handgriff der Hyperfunkspezialistin hatte er sich ein‐
geprägt. »Selbst wenn ich das Störfeld ausschalte?« »Ich bin ungewollt zum Experten für diese Handlungsroboter ge‐ worden. Sie sind relativ einfach gestrickt. Im Vergleich mit unseren Kampfmaschinen sind sie nicht wesentlich gefährlicher als ein Flash gegenüber einem S‐Kreuzer. Im Großraumer unten auf dem Talg‐ rund denkt ein komplexes Roboterhirn vor sich hin und steuert seine Handlungsroboter über diesen winzigen Tofirit‐Richtfunksender.« Er hob das etwa daumengroße, zylinderförmige Teil hoch. »Und ohne ihn haben sie nur noch Schrottwert.« Mit dem Karabinerlauf stieß er gegen den Rücken der Maschine. Sie kippte nach vorn und schlug im Unterholz auf. Santini und dos Santos schlichen zurück zu Strange. Der machte große Augen, als Santini ihm das Modul zeigte. Der Major wies dos Santos an, das Störfeld wieder abzuschalten. Sie tat es – nichts ge‐ schah. Der Roboter blieb im Gestrüpp liegen und rührte sich nicht. Strange pfiff durch die Zähne. Allmählich begriff er, was der Major im Sinn hatte. »Sagen Sie, Penelope – wie viele solcher Geräteelemente brauchten Sie, um einen leistungsstarken Hypersender zu bauen?« wandte Santini sich schließlich an die Spanierin. »Wie leistungsfähig?« »Stark genug, um die Erde oder wenigstens einen terranischen Stützpunkt zu erreichen.« »Hm. Das dürfte schwierig werden. Sie wissen doch, daß die To‐Richteigenschaft hier nicht richtig funktioniert. Außerdem: Um mit einem Funkimpuls ausreichend genau einen bestimmten Emp‐ fänger anpeilen zu können, brauchten wir sowieso einen Hyperkal‐ kulator und die kommunikationstechnische Einrichtung eines Schiffes.« »Ich weiß, ich weiß. Aber angenommen, wir wollten einfach eine Botschaft durch den Hyperraum ins Blaue senden.« Penelope dos Santos zuckte mit den Schultern. »Drei bis vier sol‐
cher Bauteile plus die Energieversorgung samt Steuerung von min‐ destens einem Handlungsroboter.« »O Gott…!« Strange verdrehte die Augen. »Jetzt sollen wir auch noch Jagd auf unsere Jäger machen, oder wie?« »Mittagsschlaf können Sie im nächsten Urlaub halten, Hauptge‐ freiter Strange!« Santini mimte den gestrengen Vorgesetzten. »Sie und Leutnant dos Santos werden jetzt fünf Handlungsroboter fan‐ gen. Halten Sie sich an Penelope, sie weiß, wie es geht, alles klar?« Tom Strange seufzte. »Bauen Sie aus, was Sie für ein Hyperfunkgerät brauchen«, wandte Santini sich an dos Santos. »Bei einem nehmen Sie bitte die gesamte Funkanlage raus, allerdings ohne die To‐Richteigenschaft zu verän‐ dern. Wir treffen uns dann wieder in dem Versteck, von dem aus wir heute morgen ins Haus geschlichen sind.« »So nah am Waldrand?« Strange fühlte sich immer unwohler in seiner Haut. »Die Grakos sind längst wieder unten in der Aufzuchtstation.« Santini spähte durch den Feldstecher in Richtung Lichtung und Haus. »Das Gros ihrer Handlungsroboter schwärmt immer tiefer in den Dschungel aus. Und wie wir mit den fünf oder sechs Robotwa‐ chen fertig werden, die sie zurückgelassen haben, wissen Sie ja jetzt, Strange.« »Und Sie, Eric?« Täuschte er sich, oder klang da ein Unterton der Sorge in Penelopes Stimme durch. »Was machen Sie in der Zeit? Mittagsschlaf?« »Kein übler Gedanke.« Er schnallte seinen Rucksack vom Rücken, öffnete ihn und holte das Notfallpäckchen heraus. Nach und nach kramte er ein paar Ampullen heraus und steckte sie in die Brustta‐ sche seines Kampfanzuges. »Schauen Sie mal, was Sie noch an aufputschenden Medikamenten haben. Amphetamine, Koffein, Noradrenalin oder Dopamin, ganz egal.« Er versenkte ein Spritzenbesteck in seiner Beintasche. »Gute Idee!« Dos Santos begriff.
Strange hingegen runzelte nur die Stirn, verkniff sich aber die Fragen, die ihm auf der Zunge lagen. Sein Major hatte schon in den letzten zwei Stunden wenig Auskunftsfreude an den Tag gelegt. Mit mürrischer Miene durchsuchte er also seinen Notfallpack nach den gewünschten Medikamenten. »Viel ist es nicht.« Dos Santos streckte dem Major die Hand ent‐ gegen. Fünf Ampullen lagen in ihr. »Besser als nichts. Her damit.« Auch Stranges Ampullen steckte er ein. »Gehen Sie kein unnötiges Risiko ein. Haben Sie mich verstan‐ den?« Dos Santos und Strange bestätigten. »Wir warten am verab‐ redeten Punkt aufeinander.« »Wie lange?« wollte Strange wissen. »Mindestens dreißig Stunden. Kein unnötiges Risiko, verstanden? Petri Heil!« Santini drehte sich um und machte sich auf den Weg zurück zur Lichtung und zum Haus. Dos Santos und Strange beobachteten, wie er einen weiten Bogen um den Suchtrupp der Roboter schlug und Richtung Tal schlich. Ein paar Minuten lang konnte Penelope dos Santos ihn noch durch den Feldstecher beobachten. Dann verschwand er endgültig im Un‐ terholz. »Verrückter Hund.« Sie setzte den Feldstecher ab. * Für den Fluchtweg in den Dschungel einschließlich der Ausschal‐ tung des humanoiden Roboters hatten sie knapp zwei Stunden ge‐ braucht. Für den Rückweg zur Deckung am Waldrand benötigte Santini fast doppelt soviel Zeit. Er nahm große Umwege in Kauf, um den Robotern auszuweichen, die den Urwald absuchten. Oft, wenn eine Maschine in seiner Nähe durch das Unterholz stapfte oder rollte oder pflügte – manche waren mit Kettenfahrgestellen ausgerüstet – verharrte er lange in irgen‐ deiner Deckung. So lange, bis er sicher war, daß kein maschineller Jäger ihn beobachtete.
Was er seinen Gefährten eingeschärft hatte, beherzigte er selbst bei jedem Meter, den er sich durch das Unterholz kämpfte: kein unnö‐ tiges Risiko. Es ging ja nicht nur um ihn. Die Leben dos Santos’ und Stranges standen auf dem Spiel, falls die Roboter ihn entdeckten. Dann waren auch die Gordokönigin und ihre Drohne verloren; samt ihrer noch ungeborenen Nachkommenschaft. Bloß das nicht! Weil er also jedes Risiko vermied, erreichte Major Eric Santini erst am Nachmittag die am Morgen aufgegebene Deckung am Dschun‐ gelrand. Er war erschöpft. Seine Kopfhaut und sein Rücken juckten, seine Wäsche klebte ihm schweißnaß auf der Haut, und Kratzer und Einstiche von Dornen und Stacheln übersäten seine Hände und sein Gesicht. Er hoffte, daß nicht irgendein giftiges Insekt ihn erwischt hatte. Eine Zeitlang lag er auf dem Rücken ausgestreckt zwischen farn‐ ähnlichen Gewächsen und verschnaufte. Den Multikarabiner hielt er über der Brust fest, den Rucksack benutzte er als Kissen. Das tat gut, verdammt, das hatte er sich verdient, oder nicht? Wie viele Roboter die anderen wohl schon erledigt hatten? Hof‐ fentlich waren sie vorsichtig. Der Teufel sollte sie holen, wenn sie die Sache versauten! Die Sorge nagte an seinen Nerven. Ein einziger Fehler, gleichgültig von wem, und er konnte seinen schönen Plan vergessen! Strange schien ihm nicht mehr der Stabilste zu sein. Der Absturz, der Streß seitdem, und jetzt Auge in Auge mit den verfluchten Ro‐ botern – schwer zu sagen, wie belastbar der Hauptgefreite wirklich war. Leutnant dos Santos dagegen – kein Problem. Ihre speziellen Hy‐ perfunkkenntnisse, ihr Mut, ihre Erfahrung, ihr Humor – die Frau überraschte ihn fast stündlich mit Qualitäten, die er nicht bei ihr vermutet hätte. Und Nerven zeigte sie auch nicht. Penelope dos Santos, ein echtes Glückslos! Er zweifelte nicht daran,
daß er sich auf sie verlassen konnte. Notfalls würde sie sogar noch Strange mittragen, falls der schlappmachen sollte. Mal den Teufel doch nicht an die Wand, wies er sich selbst zurecht. Er atmete ein paarmal tief durch und versetzte sich in einen Ent‐ spannungszustand. Diesen Anflug von Nervosität bei sich zu beo‐ bachten, erstaunte ihn. Dergleichen war er eigentlich von sich nicht gewohnt. Andererseits – ein bißchen Nervosität, wenn man im Be‐ griff war, noch einmal freiwillig in den Horst des Geiers zurückzu‐ kehren, konnte nicht schaden; so ein Zustand steigerte doch die Aufmerksamkeit, oder? Lautlos nahm er den Karabiner von der Brust, stemmte sich aus dem Gestrüpp, bis er über die gefächerten Spitzen und die kleinen weißen Blüten des Farngewächses blicken konnte, und spähte zum Haus hinüber. Den Feldstecher hatte er dos Santos und Strange überlassen. Die brauchten ihn dringender, wenn sie auf Roboterjagd gingen. Die Entfernung zum Gebäude mit den Gordo war nicht größer als vier‐ hundert Meter, und was er sehen mußte, sah er auch mit bloßem Auge. Zwei Roboter standen vor der Vorderfront des Gebäudes rechts und links des sicher vier auf sechs Meter großen Portals. Einer der beiden Wächter verschwand etwa alle dreißig Minuten im Inneren und kehrte nach knapp zwei Minuten zurück. Vermut‐ lich sah er nach den gefangenen Gordo. Vielleicht spritzte er ihnen auch eine neue Dosis des Betäubungsmittels. Mindestens zwei Roboter stapften oder rollten etwa dreißig Meter vom Gebäude entfernt und in einem Abstand von vielleicht achtzig oder neunzig Metern um das Haus herum. Santini beobachtete sie eine Zeitlang. Schnell merkte er, daß er sich getäuscht hatte: Nicht zwei, sondern drei Roboter zogen dort so gemächlich wie wachsam ihre Runden um das Gefängnis der Gordo. Ein provisorisches Gefängnis, ganz klar. Nur noch wenige Wo‐ chen, und der Neubau unten im Tal würde fertig sein; eine Aufzu‐
chtstation für frischgeschlüpfte Grakos. Dorthin würden sie Schat‐ tensucher und Lichtfreundin schleppen und sie zwingen, ihre Eier abzulegen. Eier voller noch formbarer junger Grakos. Sie würden zu Todfeinden der menschlichen Gattung heranwachsen, umgeben mit künstlich erzeugten Hyperfeldern. Wo steckten die anderen Handlungsroboter? Aufmerksam beo‐ bachtete der Major das Gebäude und seine Umgebung. Nein, keine weitere Maschine zu sehen. Nur diese fünf hatten die Grakos zur Bewachung ihrer Gefangenen abkommandiert. Die anderen durch‐ suchten den Wald oder hatten die Suche bereits aufgegeben und arbeiteten wieder unten im Tal auf der Baustelle. Santini überprüfte noch einmal die Intervalle, in denen der Roboter neben dem Tor im Gebäudeinneren verschwand und wieder auf‐ tauchte, und die zeitlichen und räumlichen Abstände zwischen den um das Haus kreisenden Maschinen. Als er sicher war, alles verinnerlicht zu haben, streckte er sich wieder auf dem Rücken aus. Er spürte, wie ihm neue Kraft in die Knochen strömte. Es war gut, sich hin und wieder vor Augen zu halten, worum es eigentlich ging. Schattensucher und Lichtfreundin mußten unter allen Umständen aus den Händen der Grakos befreit werden. Es gab keine Alternative. Major Eric Santini beschloß, seine geplante Aktion auf die Nacht zu verschieben. Im Schutz der Dunkelheit hatte er noch bessere Karten gegenüber den Handlungsrobotern. Sicher war sicher, es durfte ein‐ fach nichts schiefgehen. Vielleicht tauchten ja dos Santos und Stran‐ ge noch vor Sonnenuntergang im verabredeten Versteck auf. Santini wartete. * Das Licht veränderte sich, fiel in flachem Winkel zwischen den Stämmen hindurch in den Urwald ein. Kurzzeitig nahm es an Hel‐ ligkeit zu, dann verdämmerte es rasch.
Hinter Santini raschelte es, er fuhr hoch und sah sich um. Aus ei‐ nem Erdloch im Wurzelstock eines nahen Stammes kroch ein Tier; ein Insekt. Blauschillernd mit langem Stachelschwanz und Kau‐ scheren, die irgendwie metallen aussahen, erinnerte es Santini an eine Art Skorpion. Das Tier war etwas größer als eine Männerhand und kroch auf Eric zu. Der Major mochte keine Tiere mit Stacheln, schon gar nicht, wenn die auf ihn zukrochen. Auch ein Insektenfreund war Santini nicht und nie gewesen. Er packte seinen Multikarabiner am Lauf, holte aus und schlug zu. Treffer. Weiße, schleimige Flüssigkeit sickerte aus dem zertrümmerten Kopf des Insekts. Santini streckte sich wieder auf dem Rücken aus. Es wurde Abend, die Dämmerung brach an. Santini wartete in stoischer Geduld auf die Dunkelheit. Dos Santos und Strange ließen sich noch immer nicht blicken. Er hörte aber auch keinen Kampflärm aus dem Wald. Dennoch begann wieder die Sorge an seinen Nerven zu nagen. Wohl hundertmal war er den Plan durchgegangen. Die Augen ge‐ schlossen und mit den Tricks, die man bei der Flotte so lernt, in tiefste Entspannung versunken, war er schon jeden Schritt gegangen, der erst noch vor ihm lag, hatte er jeden Handgriff schon getan, der noch erledigt werden mußte. Und nicht zu vergessen die Schwierigkeiten, die auftreten konnten – in allen denkbaren Variationen hatte die Vorstellungskraft des Majors sie durchgespielt. Er fühlte sich gewappnet. Natürlich fühlte er sich gewappnet. Warum dann die verdammte Nervosität? Santini setzte sich auf. Im letzten Licht des Tages holte er die Ampullen und die beiden Spritzenbestecke aus den Taschen seines Kampfanzuges. Er riß die Verpackungen von Hochdruckspritzen und Kanülen auf und fügte sie zusammen. Schließlich brach er die Ampullenhälse ab und zog die Aufputschpräparate auf. Aus seiner Sicht waren Lichtfreundin und Schattensucher in etwa
gleich schwer – knapp vier Tonnen, schätzte er – also verteilte er den Medikamentencocktail gleichmäßig auf beide Spritzen. Zum Schluß kramte er die Hochdruckinjektionspistole aus seinem Rucksack. Eine Spritze legte er ein, die zweite verstaute er in der Brusttasche. Die Hochdruckpistole steckte er in die rechte obere Beintasche. Die langen Schatten der Urwaldriesen verschwammen mit dem Unterholz, das Grün des Laubes und des Gestrüpps wurde grau. Die Luft kühlte ein wenig ab, und Dunst stieg zwischen Stämmen und Büschen auf. Es wurde Nacht. Endlich. Santini verstaute die gefüllten Spritzen in seinen Brusttaschen. Noch einmal streckte er sich aus. Irgendwann kreisten seine Ge‐ danken nur noch um eine Frau spanischer Herkunft im Rang eines Leutnants der Terranischen Flotte. Himmel, dieses bernsteinfarbene Glitzern in ihren Augen! Und diese angerauhte Stimme! Allein daran zu denken versetzte sein Zwerchfell in Schwingungen! Jeden Blick in ihr schönes Gesicht ließ er noch einmal Revue passieren, jedes Wort, das sie an ihn gerichtet hatte, jede zufällige Berührung, und die Augenblicke, als sie den Roboter gemeinsam seiner wichtigsten Innereien beraubten… »Diese Frau…« Santini schnalzte mit der Zunge. »In diese Frau könnte ich mich glatt verlieben?« So? Könntest du?, höhnte eine innere Stimme. Du Narr ‐merkst du nicht, daß es längst zu spät ist…? Im Tal unten, rund um die Baustelle, flammte Licht auf. Kurz darauf auch beim Haus. Santini stieß einen Fluch aus und setzte sich auf. Mit Licht hatte er in seiner mentalen Vorbereitung nicht gear‐ beitet! Doch die Roboter hatten tatsächlich Scheinwerfer eingeschaltet und ein paar Schritte vom Haus entfernt auf den Boden gestellt. Und zwar so, daß ihre Lichtkegel nicht etwa den Waldrand, sondern das Gebäude anstrahlten. Unglaublich!
Santini stand auf, hängte den Multikarabiner über seine Schulter und bog die Halme des Farngewächses zur Seite. In diesem Moment bereute er, den Vorstoß ins Gebäude nicht schon bei Tageslicht ge‐ wagt zu haben. Ob künstliches oder natürliches Licht den Bau und seine Umgebung ausleuchteten – wo lag der Unterschied? Wenigstens hatten sie die Strahler auf das Haus und nicht auf den Dschungelrand gerichtet. Das bestätigte aufs neue die Erfahrung, die er zehn Monate zuvor, beim Großangriff auf Grah, mit diesen Ma‐ schinen gemacht hatte: Sie waren nicht besonders hoch entwickelt. Einfache Dienstroboter eben, Handlanger, zum Arbeiten gemacht, ohne komplizierte technische Ausstattung. Er ging in die Hocke, tastete den Wurzelstock des Baumes neben seiner Deckung ab und berührte das tote Rieseninsekt. Aus seinem Rucksack zog er ein Stück Kunststoffolie, wickelte den Kadaver darin ein und stopfte ihn in eine freie Beintasche. Danach machte er sich auf den Weg. Den Rucksack ließ er zurück, der störte ihn nur. Er würde ja wieder hierher zurückkommen, und wenn er nicht mehr zurückkommen sollte, würde er keinen Ruck‐ sack mehr brauchen. Von Stamm zu Stamm, von Busch zu Busch schlich er dem Wald‐ rand entgegen. Und von dort hinaus auf die Lichtung und zum Haus. Und dann weiter und wieder von Gestrüpp zu Gestrüpp und immer den Blick auf das angestrahlte Haus. Möglichst weit weg von einem der Scheinwerfer lag er schließlich bäuchlings im Gras und lauschte auf Schritte. Nicht lange, und der Rumpf eines kegelförmigen Roboters schimmerte im Licht der Scheinwerfer auf…
13. Trau dich, Santini… Drei Schritte entfernt stapfte die Maschine innerhalb des beleuch‐ teten Areals an ihm vorbei. Er selbst lag im Dunkeln hinter dem Lichtkreis, den die Scheinwerfer auf das Haus warfen. Jetzt oder nie, Major… Er hatte sich bis auf vierzig Meter an die rechte Schmalseite des Gebäudes herangepirscht. Der Roboter, der vor seinem von Santini anvisierten Kollegen patrouillierte, war eben um die Hausecke ge‐ bogen und aus Erics Blickfeld verschwunden. Der dritte Roboter, der seinen Patrouillenweg hundertzwanzig Meter hinter Santinis Jagd‐ ziel abschritt, war noch nicht in Sichtweite aufgetaucht. Und für die beiden Maschinen an der Tür lag das potentielle Opfer des Majors im toten Winkel. Jetzt oder nie… Es war ein Unterschied, einen Roboter anzugreifen, den ein Stör‐ feld schon schachmatt gesetzt hatte, oder einen, der noch munter seine Kreise zog. Ein Unterschied, der in Santinis mentalen Trai‐ ningseinheiten eine zu kleine Rolle gespielt hatte. Und jetzt hatte er den Salat. Mach schon, du schaffst es. Tu es für die Gordo… tu es für Penelope… Er schlich ein paar Schritte neben der Maschine her. Sie schimmerte im Licht der Scheinwerfer. Unterhalb des Teleskophalses, rund um die Muffe über To‐Richtfunk‐ und Energiemodul, glänzten kleine Tropfen – Kondenswasser aus der feuchten Luft. Unter dem Schädel der Hals… siehst du die feuchte Muffe darunter? Ein Handgriff und Schicht… Plötzlich blieb der Roboter stehen. Es sah aus, als würde er seine unsichtbaren Antennen und Sensoren in die Dunkelheit jenseits des Lichtkreises ausfahren. Schließlich machte er Anstalten, sich um‐ zudrehen.
Damit nahm er dem Terraner die Initiative aus der Hand. Ob er wollte oder nicht – der Major mußte jetzt angreifen. Er schnellte nach oben, tauchte neben der Maschine auf, als hätte der Boden ihn aus‐ gespuckt, und griff blitzschnell zu. Später ließ Santini die Szene wieder und wieder vor seinem inne‐ ren Auge vorbeiziehen; wie einen Film, den man ein ums andere Mal von vorn anschaute, weil man etwas Entscheidendes nicht kapiert hatte. Was Santini nicht wirklich begriff: daß er schon beim ersten Zugriff die Muffe über dem To‐Richtfunkgerät erwischte. Er entriegelte das Modul, es fühlte sich warm an. Zwei Handgriffe, und er hielt die Energieversorgung für den Apparat in den Fingern. Sofort sprang er aus dem Lichtkreis und warf sich jenseits der Scheinwerfer zu Boden. Die Maschine rührte sich nicht mehr, ver‐ harrte einfach in der Position, in der Santini sie ihrer Steuerung be‐ raubt hatte. Es blieb keine Zeit, auch nur einen Anflug von Triumph auszu‐ kosten, denn schon hörte er die nächste Patrouille näherkommen. Santini sprang auf, riß den erstarrten Roboter um und begann, ihn aus dem Lichtkreis zu zerren. Das Gerät mochte an die hundertzwanzig Kilo wiegen, und der Terraner hatte seine Mühe damit. Er schabte sich die Finger wund, seine Gelenke krachten, und irgend etwas zerrte schmerzhaft an seiner Rückenmuskulatur. Doch irgendwie schaffte er es. Keine Sekunde zu früh. Schon pflügte ein Kollege des unschädlich gemachten Roboters heran, eine zylinderförmige Maschine auf Raupenketten. Santini spielte für einen Augenblick mit dem Ge‐ danken, auch sie an Ort und Stelle auszuschalten. Doch er machte sich klar, daß mit einem zweiten Ausfall auch das Risiko der Entde‐ ckung wuchs. Also ließ er die Maschine in Ruhe; vorläufig. Sie fuhr einfach vorbei, registrierte weder das niedergetretene Gras noch die Wärmeausstrahlung des Menschen und bewies dem Major der Terranischen Flotte auf diese Weise ihre für ihn völlig inakzep‐
table Qualität. Santini duckte sich tief in Gras und Gestrüpp. Das Herz trommelte ihm in Ohren und Schläfen, er versuchte seinen fliegenden Atem zu bezwingen. Etwa dreißig Sekunden wartete er, dann war der Handlungsroboter um die Hausecke gebogen. Die folgende Pat‐ rouillenmaschine würde in spätestens zwanzig Sekunden von der Rückfront des Hauses aus in Santinis Blickfeld erscheinen. Der Major sprang auf und spurtete durch den Lichtkreis zum Ge‐ bäude. Hinter den Büschen, die dicht an der Fassade wuchsen, ließ er sich ins Gestrüpp fallen. Für Gartenpflege schienen die Roboter sich glücklicherweise nicht zuständig zu fühlen. Vielleicht liebten die Grakos auch Wildwuchs und Gewucher, vielleicht hatten sie auch gar keinen Sinn für Gartenbau. Santini sollte es recht sein. In seiner Deckung wartete er ab, bis die nächste Wachpatrouille vorüber war. Danach schlich er zur Hausecke, spähte um die Ecke und über die etwa neunzig Zentimeter hohe Veranda zum Ein‐ gangstor. Reglos standen die beiden Wachroboter rechts und links des Portals. Wieder wartete er. Die beiden Patrouillen zogen ihre Runden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie den Ausfall des dritten Roboters bemerken würden. Und Zeit war das, was Santini am allerwenigsten zur Verfügung stand. Endlich wandte sich einer der beiden Türsteher um und ver‐ schwand durch das Portal im Inneren des Gebäudes. Zwei Minuten. Santini griff in seine Beintasche, zog den in Plastikfolie gewickelten Skorpion heraus, packte ihn aus und warf ihn auf die Veranda. Einen halben Schritt vor seinen Augen prallte der Kadaver auf den Stein‐ boden. Er machte gerade soviel Lärm, daß der Wächter an der Tür ihn hören mußte. Santini ging sofort wieder hinter dem Gebüsch in Deckung. Schritte stapften über Stein. Die Torwächtermaschine! Sie hatte das
Tier entdeckt. Santini spähte nach rechts. Der Roboter auf Raupen‐ ketten rollte eben um die Hausecke. Lichtschein blitzte auf, ein na‐ delfeiner Strahl fauchte in den Skorpionkadaver. Zischend verdampfte das tote Insekt zur Hälfte. Rauch stieg auf. Es stank bestialisch. Santini barg Mund und Nase in der Armbeuge, um nicht husten zu müssen. Der Roboter draußen am Rand des Lichtkreises stoppte. Die Schritte auf Stein stapften näher. Standen die beiden Maschinen in Funkkontakt zueinander? Vierzig Sekunden mochten vergangen sein, seit der zweite Türsteher im Haus verschwunden war. Ein Schatten fiel auf Santini, Scharniere quietschten, hydraulische Gelenke zischten. Santini hielt den Atem an, verdrehte die Augen, um sehen zu können, was sich über ihm an der Hausecke auf der Veranda abspielte. Der Roboter hatte sich gebückt, griff nach den Kadaverresten und richtete sich wieder auf. Er hob die Überreste des Skorpions vor seinen ovalen Schädel. Jetzt kontrolliert er das Teil mit seinen optischen Sensoren, dachte Santini. Er mißt Temperatur und Größe, prüft Geruch und Gewicht… Durch eine Lücke im dichten Laub des Busches neben der Veranda sah er, wie der Patrouillenroboter auf den Ketten weiterrollte. Ver‐ mutlich hatte der hier über ihm die Harmlosigkeit des Objekts ge‐ meldet, und vermutlich würde er die gleiche Meldung an seine Steuerungszentrale durchgeben… Obwohl, dachte Santini, ganz ungefährlich ist so ein Stachelbursche ja nicht, jedenfalls nicht für die Gordo innerhalb des Hauses. Und wenn sie jetzt einen Robotertrupp schicken, um das Gelände nach weiteren Skorpio‐ nen zu durchsuchen…? Weniger als eine Minute noch, und der zweite Türwächter würde zurückkehren! Der Roboter holte aus und schleuderte den Kadaver in die Dun‐ kelheit jenseits des Lichtkreises. Santini hörte ihn im Gestrüpp auf‐ schlagen. Mach schon, geh endlich zur Tür zurück… Santini sah hinter sich. Jeden Moment konnte die zweite Patrouil‐
lenmaschine wieder um die Hausecke biegen. Kunststoff schabte über Steinboden, der Roboter drehte sich um. Santini sprang auf, schwang sich auf die Veranda, hielt seinen Kara‐ biner fest, damit er nicht gegen die Hauswand schlug, schlich zwei Schritte hinter der Maschine her und griff zu. Er erwischte die Muffe, doch die Entriegelung klemmte. Gute Nacht! Der Roboter fuhr herum – und löste damit selbst das Schloß zwischen Santinis Fingern. Der Major zog den Konus heraus. Der Roboter erstarrte mitten in der Bewegung, schwankte ein wenig hin und her, blieb aber stehen. Santini huschte über die Veranda. Noch höchstens fünfzehn Se‐ kunden, bis der zweite Wächter wieder nach draußen kommen würde. Santini griff nach dem Knauf in der kleinen Luke, die durch den linken Flügel des großen Tores hindurch ins Haus führte, ohne daß man den Flügel öffnen mußte. Wie reagieren die Patrouillen, wenn sie den humanoiden Kameraden am Rande der Veranda stehen sehen? Das war nun auch egal! Man würde sehen. Hinein ins Haus, er hatte eine kleine Chance, die mußte er nutzen. Jetzt war er im Haus. Er schloß die Luke und sperrte das Schein‐ werferlicht aus. Dunkelheit. Runter von der Schulter mit dem Kara‐ biner! Er lauschte. Von hier bis zur Kerkerhalle der Gordo waren es zehn, höchstens fünfzehn Schritte. Die Halle war erleuchtet, Santini erkannte es an dem rötlichen Lichtstreifen unter dem Innentorspalt. Schritte! Auf der anderen Seite des Tores näherten sie sich! Der Türsteher… Der Major huschte durch das Foyer bis zum linken Ende des Lichtstreifens zwischen Schwelle und Torflügelblatt. Dort preßte er sich gegen die Wand. Er konnte nur hoffen, daß die Maschine auch den Torflügel benutzte, neben dem er jetzt lauerte, denn die Flügel öffneten sich nach außen, und er könnte aus einer gewissen Deckung heraus angreifen. Würde der Roboter jedoch den anderen Flügel benutzen, wuchs die Gefahr, noch vor dem Zugriff entdeckt zu
werden. Er hielt den Atem an und hielt sich an seinem Multikarabiner fest. Die Kühle der Wand drang durch den Stoff in seinen Rücken. Der Torflügel bewegte sich; der, neben dem er lauerte! Dem Himmel sei Dank! Rötliches Licht fiel aus der Kerkerhalle ins Foyer. Knarrend be‐ wegte sich der Torflügel. Auf die Schulter mit dem Karabiner, leise am Tor entlangschlei‐ chen, Augen auf… Der Schatten des Roboters streckte sich ins Halbdunkel des Vor‐ raums. Endlich zeigte er sich am Torflügel. Santini faßte die Erhö‐ hung unter dem Teleskophals ins Auge und packte zu. Er erwischte die Muffe, eine kräftige Drehung nach links, die Verriegelung schnappte auf, raus mit dem Konus… Der Roboter stand still. »Scheißteil…« Santini atmete keuchend. »Verdammte Scheißteile, ihr…!« Er lehnte neben dem noch geschlossenen Torflügel, zog den Reiß‐ verschluß seines Kampfanzuges bis zum Bauchnabel auf und schnappte nach Luft. Der Schweiß strömte ihm aus dem Haar über Gesicht und Nacken auf Rücken und Brust. Die Hose klebte ihm an den Beinen, in den Stiefeln staute sich feuchte Hitze. »Keine Zeit verlieren, Eric… weitermachen…« Er stieß sich ab, lief in die Halle hinein. Drückende Hitze herrschte hier. Rotes Licht lag auf den zehn Meter langen Körpern der Gordo und ließ ihre sowieso schon schillernden Flügelpaare in einem un‐ wirklichen grünen und violetten Licht aufleuchten. Die Chitinpanzer hatten die Farbe von tiefblauer Tinte. Santini hatte keinen Blick für die Schönheit derartiger Lichteffekte, nicht jetzt. Er ging vor der Gordokönigin auf die Knie, zog die auf‐ gezogene Spritze aus der Brust‐ und die Hochdruckpistole aus der Beintasche. Die Gordofrau Lichtfreundin sah ihn mit einem ihrer Facettenau‐
gen direkt an, doch kein Gedanke drang zu ihm herüber. Schatten‐ sucher rührte sich überhaupt nicht. Beide standen noch unter Dro‐ gen. Hatte er etwas anderes erwartet? Diese Hitze! Hier, in der Kerkerhalle, war es mindestens vierzig Grad warm. Das Rotlicht heizte gewaltig auf. Wahrscheinlich ir‐ gendein antiseptisches Licht. Mit ein bißchen Pech hatte der Roboter den Gordo gerade eine neue Dosis verabreicht. Santini blickte sich um – andererseits müßte in diesem Fall irgendwo in der Halle ein Medikamentenschrank oder ein Tisch mit Injektionsinstrumenten stehen. Der Major konnte nichts dergleichen entdecken. Santini konzentrierte seine Gedanken auf Lichtfreundin. Ich spritze euch einen Cocktail mit Aufputschmitteln. Alles, was er dachte, flüsterte er leise mit, um seine Gedanken für die Riesen besser lesbar zu ma‐ chen. Spritze. Aufputschmittel… Er zog die Hülle von der Nadel der ersten Spritze. Noch einmal richtete er seine Gedanken auf Lichtfreundin und stellte sich die Spritze, den Vorgang der Injektion und eine Veranschaulichung der Folgen – er wählte einen tanzenden Gordo – so lebhaft vor, wie er nur konnte. Ein Grunzen grollte aus Lichtfreundins Schlund. Es klang wie ein Rülpsen. Verstand sie ihn? Oder hatten die Drogen auch ihre tele‐ pathischen Kräfte vollständig gelähmt? Gleichgültig, jetzt gab es kein Zurück mehr, jetzt war Handeln angesagt. Weiter. Santini griff zur Injektionspistole und tastete das Gelenk von Lichtfreundins rechtem vorderen Ellenbogen ab, bis er zwischen zwei Chitinpanzerplatten ein Stück lederzähe Gelenkhaut fühlte. Dort setzte er die Hochdruckpistole an und injizierte die Auf‐ putschmittel in den Muskel, der seitlich des Ellenbogengelenks an‐ setzte und hier nicht vollständig von einer Chitinplatte bedeckt war. Jedenfalls hoffte Santini, daß er ihn erwischt hatte. »Das war’s schon«, sagte er und stellte sich vor, wie er seine Ge‐
danken, kleinen Pfeilen gleich, in den Schädel des Kolosses abschoß. »Gleich werdet ihr euch besser fühlen.« Er drückte einen Knopf am oberen Teil des Kolbens. Die leere Spritze sprang heraus. Santini drückte die zweite in die Pistole. Er stemmte sich hoch und lief zu Schattensucher. Ständig mußte er an die beiden Patrouillenmaschinen draußen vor dem Haus denken. Irgendwann würden sie den dritten Roboter ihres Trios vermissen, irgendwann auf die seltsame Haltung des Roboters auf der Veranda an der Hausecke aufmerksam werden, und irgendwann würde ih‐ nen auffallen, daß der zweite Türsteher nicht mehr aus dem Inneren des Gebäudes zurückkehrte. Viel zu lange dauerte es, bis er die Lederhautstelle unter dem Chi‐ tinpanzer an Schattensuchers vorderem Ellenbogengelenk gefunden hatte. Viel zu lange, bis er die Hochdruckpistole aufgesetzt hatte. Seine Hand zitterte. Endlich machte es Plopp. Er steckte die Pistole in die Beintasche und betrachtete das libel‐ lenartige Riesenwesen. Die Gordodrohne rührte sich nicht. Es war, als hätte Santini die Amphetamine einer Betonmauer gespritzt. Nun gut, diese Tausende von Kilogramm – es würde eine Zeit brauchen, bis die Präparate anschlugen. Eine Minute, zwei Minuten, vielleicht auch drei oder vier. Viel länger wäre fatal. »Ich komme gleich wieder.« Der Major nahm den Multikarabiner von der Schulter und legte ihn an. Und jetzt nach draußen. Die nächste Phase seines Planes lief an: Die beiden Maschinen‐ wächter, die da draußen ihre Kreise um das Gebäude zogen, mußten ausgeschaltet werden. Natürlich mußten sie ausgeschaltet werden, oder wie sollte er die beiden insektoiden Kolosse an ihnen vorbei‐ schmuggeln? »Ich komme gleich wieder…« Er lief zum Innenportal und vorbei am neutralisierten Roboter ins Foyer. Vor dem Außenportal blieb er stehen und lauschte. Himmel, das verdammte Scheinwerferlicht!
Wie sollte er es anstellen? In diesem Moment wünschte er sich dos Santos’ Störsender herbei. Selbstzweifel plagten ihn, während er seine Sinne auf die Geräu‐ sche hinter dem Tor konzentrierte. Hätte er nicht den gesamten Plan irgendwie anders strukturieren müssen? Wäre es nicht besser ge‐ wesen, jetzt den Störsender hier zu haben und einsetzen zu können? Andererseits – dos Santos’ und Stranges Arbeit war elementar wich‐ tig für die nächste Phase seines Planes. Sie hatten den Störsender nötiger gebraucht als er. Nein, er hatte keinen Fehler gemacht… Hör auf zu jammern, Eric. Er rief sich selbst zur Ordnung. Du bist jetzt besser als gut, oder es ist vorbei… Noch einmal sah er zurück in das rote Licht, das aus der Halle durchs offene Tor ins Foyer fiel. Grunzen, Schmatzen und Rülpsen drang aus der Kerkerhalle. Die Gordo wurden allmählich munter, wie es schien. Also gut. Sei’s drum. Auf die Klappe und raus! Er drückte die Luke im Torflügel auf und ging zugleich in die Hocke. Durch den Spalt spähte er ins grelle Licht der Scheinwerfer. Er wartete. Dreißig Sekunden, eine Minuten, zwei Minuten. Er war‐ tete darauf, daß die Roboterpatrouillen vorbeizogen. Doch das taten sie nicht. Das Schnauben und Grunzen hinter ihm in der Halle wurde hefti‐ ger. Nach vier Minuten war noch immer keine Patrouillenmaschine aufgetaucht. Santini begriff, daß er alles auf eine Karte setzen mußte. Das war es eigentlich nicht, was er unter Risikominimierung ver‐ stand. Egal. Jetzt mußte es sein. Er ließ sich durch die Luke fallen, rollte sich über der Veranda ab und robbte die Stufen der Vortreppe hi‐ nunter. Im feuchten Gestrüpp neben der Treppe blieb er liegen. Er packte den Multikarabiner, zielte dorthin, zielte hierhin. Das Licht der Scheinwerfer blendete ihn. Er blinzelte. Warum zogen die beiden Wachmaschinen nicht vorbei? Da waren zwei Schatten, nicht weit von ihm, höchstens zehn Me‐
ter. Sie standen reglos und schienen ihn zu beobachten. Santini hob den Kopf. Die Roboter! Ihr Gesichtsfeld war eindeutig auf ihn ge‐ richtet. Und somit auch ihre Waffen. Alle Kraft wich aus ihm. Würde er auf den einen schießen, würde der andere auf ihn schießen. Das Spiel war aus. Keiner von beiden näherte sich ihm, keiner schoß auf ihn. Was, wenn er zu fliehen versuchte? Sein Befreiungsplan war sowieso ge‐ scheitert. Die beiden Roboter griffen nicht an. Noch nicht. Versuche es, Eric, versuche wenigstens deine Haut zu retten… Er sprang auf und spurtete los Richtung Waldrand. Im Laufen jagte er dem Kegelroboter eine Ladung in den Rumpf. Nicht ein Funken sprühte aus seinem Rumpf, nicht eine Flamme schlug aus seiner Spitze. Doch er schoß nicht zurück, machte nicht die geringsten Anstalten zum Gegenangriff überzugehen. Santini jubelte innerlich, zielte auf den humanoiden Wachroboter – und stutzte. Warum wandte er nicht den Kopf in seine Fluchtrich‐ tung? Warum richtete er seine Optik auf das Gebäude? Warum stand er starr, wie eine schmutzige Marmorsäule? Sein Vipho vibrierte. Er hob das Handgelenk. Dos Santos’ schönes Gesicht im Sichtfeld. »Auftrag erledigt. Endlich, Major, ich dachte schon, die Grakos hätten Sie geschnappt und schändeten Sie gerade unten in ihrer Aufzuchtstation.« Santini starrte das Frauengesicht auf dem Minibildschirm an. Er wußte nicht, was er sagen sollte. »Wo sind die Gordo?« fragte dos Santos. »Wollen Sie die nicht endlich rausholen, Major? Ich kann das Störfeld zwar noch bis Weihnachten aufrechterhalten, aber irgendwann werden die Grakos vorbeischauen und sich wundern. Sie wissen ja, die schießen erst und fragen dann.« * »Kommt!« Santini riß die Flügel des Innenportals auf. »Wir müssen
uns beeilen!« Er stellte seinen Multikarabiner auf Duststrahl ein und lief zwischen die beiden Kolosse. »Wir haben keine Zeit zu verlie‐ ren!« Er zielte auf die schweren Ketten, mit denen man das hintere Beinpaar der Gordo an die Wand gekettet hatte, und hielt den oliv‐ grünen Strahl auf das Metall, bis es zu Staub zerfiel. »Bitte folgt mir!« Er lief zum Innenportal und winkte die Gordo hinter sich her. Der Boden unter seinen Stiefelsohlen vibrierte, als sie sich in Bewegung setzten. Zur gleichen Zeit erreichten sie das Au‐ ßentor. Die Medikamente taten ihre Wirkung – Lichtfreundin und Schat‐ tensucher zeigten jetzt keine Spur von Apathie und Lähmung mehr. Hellwach schienen sie zu sein. Der Major öffnete beide Torflügel und spurtete los. Die Gordo folgten ihm; erst in den grellen Lichtkreis, den die Scheinwerfer rund um das Haus zogen, und danach in die Dunkelheit jenseits davon. Das Tal und die Baustelle darin waren hellerleuchtet. Nirgends eine Bewegung, nirgends verdächtige Schatten; jedenfalls entdeckte San‐ tini keine. Unbehelligt und wohl auch unbemerkt erreichten sie den Waldrand. Lichtfreundin und Schattensucher kamen noch vor Santini dort an, denn sie breiteten ihre Flügelpaare aus und hoben ab. Über ein Stück von mindestens zweihundert Meter flogen sie und überholten den Major natürlich. Äste splitterten, als sie im Unterholz landeten und in den Dschungel hineinkrochen. Sie trafen dos Santos und Strange am vereinbarten Ort. Die Spa‐ nierin hob ihr nasses Gesicht, als Santini im Versteck auftauchte. Ihr Schweiß glänzte im Licht einer kleinen Stablampe, mit der Strange ein Gerät beleuchtete, das dos Santos auf ihren Oberschenkeln fes‐ thielt und mit ihrem Kombiwerkzeug bearbeitete. »Das nenne ich Timing, Major! Gerade bin ich mit dem Hyper‐ funkgerät fertig, das Sie in Auftrag gegeben haben.« Sie grinste ihn an. »Gelegentlich müssen Sie mir erzählen, wie Sie ohne Störsender mit den Robotern vor dem Haus fertiggeworden sind. Sind Sie an
einem Sonntag geboren?« Santini war zu erschöpft, um zu antworten. Erleichtert registrierte er, daß auch Strange grinste. Beide schienen ihren Auftrag ohne nennenswerte Blessuren erledigt zu haben. Er ließ sich im Gestrüpp nieder und streckte sich auf dem Rücken aus. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen. »Hier.« Dos Santos setzte ihm ein Gerät von der Größe eines Säug‐ lingskopfes auf die Brust. »Das Hyperfunkgerät, das Sie bestellt ha‐ ben, Sir. Jetzt will ich aber auch was Nettes hören.« »Sie sind großartig, Penelope«, sagte er mit der Stimme eines Mannes, der im Begriff war, ins Reich der Träume hinüberzudäm‐ mern. »Und jetzt schrauben Sie das Gerät noch einmal auf; und Sie, Tom, geben mir bitte den Sprengstoffvorrat aus Ihrem Rucksack.« »He, Eric!« Die Spanierin protestierte. »Ich habe das Ding im Schweiße meines Angesichts aus Teilen zusammengebastelt, die wir unter Einsatz unseres Lebens und unserer Gesundheit den Robo‐ tern…« »Ist ja gut, ist ja gut. Ich werde Sie zur Beförderung vorschlagen, okay?« Santini setzte sich auf. Seine Knochen waren wie aus Blei. »Alle beide. Und für ein paar Orden gleich mit. Sie sollen das Ding doch nur aufschrauben. Ich will es mit einer Sprengfalle kombinie‐ ren. Kapiert, Leutnant?« »Sprengfalle. Kapiert. Gute Idee, Sir.« Penelope holte ihr Werkzeug wieder aus der Tasche. Strange kramte eine Packung Ekrasit aus seinem Rucksack, und Santini untersuchte die Energiezellen, die er aus den Rümpfen der ausgeschalteten Roboter erbeutet hatte. Die beiden Gordo‐Kolosse verharrten geduldig zwischen den Stämmen und Büschen. Santini schloß die Energiemodule mit Kupferdraht zusammen, schaltete einen Widerstand vor und schloß sie an einen Zeitschalter an. Zum Schluß verband er den Zeitschalter mit einem Zünder. Er bediente sich aus dos Santos Werkzeugrucksack. Die Spanierin ver‐ senkte die Bombe in ihrem improvisierten Hyperfunkgerät.
»Haben Sie daran gedacht, die Bündelungsfunktion zu deaktivie‐ ren, Penelope?« »Wollen Sie mich provozieren, Eric?« Eine Zornesfalte erschien zwischen ihren schwarzen Brauen. »Ich habe genau verstanden, worauf es Ihnen ankommt.« »Dann zeichnen wir jetzt den Funkspruch auf.« Dos Santos nickte und aktivierte das integrierte Mikrofon. »Moment noch!« flüsterte Santini. Dos Santos schaltete das Mikro wieder aus. »Wie genau lauten die Koordinaten dieses Planeten?« Dos Santos schälte den tragbaren Funkpeiler aus ihrem Rucksack und schaltete ihn ein. Auf ihm hatte sie die Koordinaten gespeichert. Sie zückte einen Stift und schrieb die Daten auf ihren Handrücken. Schließlich streckte sie dem Major die geballte Faust hin. »Danke.« Er nahm ihre Faust in seine Hand und hielt sie fest. Die Berührung reizte ihn bis unter das Zwerchfell. Strange beleuchtete die Schriftzeichen mit der Stablampe. »Jetzt.« Santini nickte der Spanierin zu. Sie aktivierte das Mikro am improvisierten Hyperfunkgerät und zeigte auf Santini. Die Aufzeichnung lief. »Notruf von Major Santini! Meine Gordo wurden entführt. Dahin‐ ter stecken Grakos und Roboter von dem Typ, der Grah überfiel. Ich brauche Verstärkung. Meine Koordinaten sind…« Sorgfältig las er die Zahlenreihen von dos Santos’ Handrücken ab. Als er fertig war, nickte er, und der Leutnant schaltete das Mikrophon aus. »Wann soll der Funkspruch raus?« Santini überlegte nicht lange. »In dreißig Minuten.« Dos Santos programmierte den Sender. In exakt einer halben Stunde würde er die Nachricht absetzen. Die Bombe programmierte Santini selbst. Von diesen Dingen verstand er einfach mehr. Drei Minuten nach dem Funkspruch würde sie explodieren. Entweder es funktionierte, oder es funktionierte nicht. »Wenn es schiefgeht, müssen Sie mir bei der Abfassung meines Testaments helfen, Major«, grinste Strange. »Und zwar bevor die uns erwi‐
schen.« »Reden Sie keinen Unsinn.« Santini schnallte den Rucksack auf den Rücken und packte seinen Karabiner. »Uns erwischt keiner.« We‐ nigstens grinste Strange. Er grinste zurück. »Wie ist es mit einem zweiten To‐Richtfunksender? Haben Sie einen erbeuten können?« »Hat Ihnen Leutnant dos Santos nicht die Erledigung unseres Auftrages gemeldet?« Strange mimte den Erstaunten. »Na, prächtig.« Santini stand auf. »Verschwinden wir also von hier.« »Wohin?« fragte die Frau. Auch sie und Strange hatten zusam‐ mengepackt und standen nun auf. In den Lücken zwischen den Baumkronen funkelten Sterne. Die Nacht ging in die vierte Stunde, und allmählich herrschten einigermaßen erträgliche Temperaturen im Dschungel. »Wir halten uns dicht am Waldrand, bleiben aber innerhalb des Dschungels.« Santini sprach sehr langsam und betonte jedes Wort. Dabei konzentrierte er seine Gedanken auf die beiden Gordo. »Wir werden um das Tal herummarschieren, bis wir uns dem Haus und der Aufzuchtstation von der anderen Seite wieder nähern. Haben Sie mich verstanden?« Dos Santos und Strange bestätigten. Die beiden Gordo schwangen ihre schweren Schädel ein paarmal auf und ab. »Und ihr beide, Lichtfreundin und Schattensucher, ihr müßt euch leider zu Fuß durch das Unterholz arbeiten. Wenn ihr eure Flügel benutzt und über den Baumkronen fliegt, ist die Gefahr, daß die Grakos oder die Roboter uns entdecken, einfach zu groß.« Wieder stimmten die Gordo zu. »Dann los!« Santini setzte sich an die Spitze der kleinen Gruppe. Dos Santos hielt sich dicht hinter ihm. Ihr folgten Lichtfreundin und Schattensucher. Strange übernahm die Nachhut. Sie kamen nur langsam voran. Die beiden Riesenlibellen waren einen Marsch durch den teilweise dichten Dschungel einfach nicht gewohnt.
Häufig mußte die Gruppe ihretwegen Umwege in Kauf nehmen, um zu dichtem Gestrüpp auszuweichen. Zu knapp einem Viertel etwa hatten sie das Tal bereits umrundet, als dos Santos plötzlich stehenblieb. »Der Funkpeiler schlägt an!« Sie beobachtete den Kontrollschirm des Gerätes. Sie hatte es sich an die Hüfte geschnallt. »Der Hyperfunksender hat den Notruf abge‐ setzt. Automatische Wiederholung läuft.« »Prächtig!« Santini richtete seine Gedanken auf die Gordo und gab die Neuigkeit an sie weiter. »Da der Funkspruch nicht gebündelt ist, müssen ihn auch die Roboter und die Grakos unten bei der Baustelle empfangen haben.« »Hoffentlich nicht nur die Roboter und die Grakos«, seufzte dos Santos. »Und hoffentlich geht auch des Schauspiels zweiter Akt glatt über die Bühne«, sagte Strange und handelte sich ein Stirnrunzeln seines Majors ein. Dos Santos blickte auf die Zeitangabe ihres Viphos. »In drei Mi‐ nuten wissen wir es genau.« Sie gingen weiter. Die Spanierin ließ ihr Vipho nicht mehr aus den Augen. »Jetzt«, sagte sie drei Minuten später. Fast gleichzeitig hallte eine gewaltige Explosion über die Hänge und durch das Tal. Santini rannte zum Waldrand. Er schaltete den Nachtmodus seines Feldstechers ein und richtete das Glas erst auf die hell erleuchtete Baustelle im Tal und von ihr aus auf die Lichtung und das Haus. Flammen schlugen dort aus dem Wald. Eine Rauchsäule stieg in den Nachthimmel. Grimmige Freude erfüllte den Major. Er war zufrieden mit sich, sehr zufrieden. Und er hoffte, daß die Sprengfalle möglichst viele Roboter vernichtet hatte. * Gegen Morgen erreichte das so inhomogene Quintett die gegenü‐
berliegende Seite des Tales. Dort, wo sie aufgebrochen waren, leuchtete der Himmel über den Wipfeln des Regenwaldes tiefrot. Die Sonne ging auf. Dunstschleier schwebten vor dem Waldrand, hingen im Geäst der Dschungelriesen und lagen wie ein hundertfach durchlöcherter Vorhang über dem Tal. Dort leuchtete der Dunst gelblich, denn die Flutlichtanlagen rund um die Baustelle der Aufzuchtstation waren noch eingeschaltet. »Ruhen wir uns ein wenig aus«, sagte Santini. »Wer weiß, was noch auf uns zukommt.« Er legte Rucksack und Multikarabiner ab. »Was soll schon auf uns zukommen, Major?« Strange sank ermattet auf den Waldboden. »Beförderung, Orden, Urlaub auf Eden.« Er grinste und blickte zu dos Santos. »Das Glück kommt auf uns zu, was sonst?« »Erst einmal muß ein terranisches Schiff auf uns zukommen, würde ich sagen.« Die Spanierin zog ihre Isodecke aus dem Ruck‐ sack. Auch sie wirkte erschöpft. »Und sollte dieser Glücksfall ein‐ treten, bete ich drei Ave Maria und sieben Vaterunser.« »Warum ausgerechnet drei und sieben?« wollte Santini wissen. »Das sind meine Glückszahlen.« Die Spanierin blickte auf, und ihr Blick traf sich mit dem Santinis. Einen Atemzug lang hielten sie ei‐ nander mit den Augen fest. Beide lächelten. Die Gordo igelten sich im Unterholz ein. Ausgelaugt von der Ent‐ führung, der Gefangenschaft und den Drogen, hatte ihnen der näch‐ tliche Marsch durch den Dschungel den Rest gegeben. »Ich pirsche mich an den Waldrand.« Santini hängte seinen Feld‐ stecher um. »Muß mal eben die Lage im Tal und drüben am Haus peilen. Daß Sie mir gut auf unsere beiden zierlichen Freunde auf‐ passen.« »Sie wissen doch, auf wen Sie sich verlassen, wenn Sie sich auf uns verlassen, Major«, grinste Strange. Aus irgendeinem Grund schien er bester Laune zu sein. Santini schlich Richtung Waldrand. Dort kletterte er auf einen
Nadelbaum mit weit ausladenden Ästen. Von seinem Ausguck aus spähte er durch den Feldstecher. Der Dunst verdeckte weitgehend die Sicht auf die Aufzuchtstation im Tal unten. Durch ein paar Lücken im Nebel erkannte er jedoch immerhin den einen oder anderen Transporter, der Material zur Baustelle schaffte. Darüber jedoch, auf der anderen Seite des Tales, in der Gegend, von der sie in der Nacht aufgebrochen waren, entdeckte er hekti‐ sches Treiben. Roboter suchten dort die Lichtung vor dem Gebäude ab, aus dem Santini die Gordo befreit hatte. Auch in dem Gebäude selbst gingen sie ein und aus. Vor dem Waldrand stand eine Kette von mindestens dreißig Ro‐ botern. An ihnen vorbei strömten immer neue Maschinen in den Wald. Handlungsroboter, die in einer großen Kolonne zweihundert Meter tiefer aus dem Dunst über dem Waldhang auftauchten. Hin und wieder erkannte Santini auch das flimmernde Schattenfeld eines Grakos. Dort drüben, auf der anderen Seite des Tales, suchten die Grakos und ihre Roboter nach den entführten Gordo. Kein Zweifel: Nur dort drüben suchen sie. Nirgendwo sonst an den Talhängen nämlich konnte der Major Roboter oder gar Grakos entdecken. Auch Gleiter suchte er vergeblich. Auf die Idee, daß die Gordo und ihre Befreier das Tal umrunden könnten, waren die Grakos scheinbar nicht ge‐ kommen. »Habe ich euch angeschmiert, ihr Scheißkerle!« Santini lachte er‐ leichtert auf. »Glückwunsch, Major, weiter so…« Getreu der Maxime Wenn dich keiner lobt, lobe dich selber, klopfte er sich auf die Schulter. Er hatte allen Grund dazu: Seine Rechnung war vollständig aufgegan‐ gen. Bis zu diesem Moment jedenfalls…
14. Ein glücklicher Mann sah anders aus als der bullige Offizier in der zentralen Bildkugel der ANZIO. Und mit jeder Minute, die Oberst Roy Vegas’ Bericht andauerte, wuchs die Zahl der Sorgenfalten auf seinem breiten Gesicht. Der Mann in der Bildkugel hieß Bulton – Theodore »Ted« Bulton – und war Marschall der Terranischen Raumflotte. Er hatte Vegas, den Kommandanten der ANZIO, persönlich beauftragt, den 5000 Licht‐ jahre durchmessenden galaktischen Raum um den gedachten Mit‐ telpunkt Babylon nach erdähnlichen Planeten abzusuchen. Das Flottenschulschiff ANZIO war mit einem besonders leis‐ tungsfähigen Labor ausgerüstet. Die Wissenschaftler der Besatzung – hochkarätige Leute wie zum Beispiel Dr. Erinn Meichle oder sein Assistent Dr. Josef Neel – sollten solche Planeten daraufhin unter‐ suchen, ob sie sich als Rettungswelten für die bald heimatlose Menschheit eignen könnten. Es hörte sich nicht gut an, was der alte Haudegen Vegas zu be‐ richten hatte. Allein die Nachricht von dem unvollständigen Hy‐ perfunkspruch, die man auf der ANZIO empfangen hatte, hätte ausgereicht, um die Stimmung des Raummarschalls erheblich zu dämpfen. Doch die eigentlichen Hiobsbotschaften folgten erst noch. Von einem neuen biologischen Kampfstoff mußte Bulton hören, einem an Vario‐Gas gekoppelten Protovirus, das jede tierische Zelle befiel und vernichtete; von einem erdähnlichen Planeten, den Vegas »Jenna’s Star III« getauft hatte und der von diesem tödlichen Virus verseucht war, mußte Bulton erfahren; von Tel‐Rebellen, die ihn entwickelt und damit zum Teil sich selbst, vor allem aber ein raum‐ fahrendes Volk ausgerottet hatten; und von verwesenden Leichen, die das Protovirus zu mörderischen Kampfmaschinen gemacht hat‐ te… »Das ist ja grauenhaft.« Bultons Gesicht wirkte zerfurcht und
bleich nach dem Bericht. »Einfach grauenhaft…« Er schüttelte seinen schweren Schädel. »Es ist ein Wunder, daß wir keine Verluste zu beklagen haben«, sagte Vegas. »Skerl und McGraves wären uns beinahe gestorben. Ohne Stormonds und Kanas Geistesblitze wären wir vermutlich alle über den Jordan gegangen.« »Wie geht es Oberleutnant Skerl und Major McGraves?« »Skerl hat sich wieder einsatzfähig zum Dienst zurückgemeldet, der Major allerdings ist noch ziemlich stark geschwächt. Er wäre fast an der Seuche gestorben.« »Grüßen Sie ihn von mir, ich wünsche ihm gute Besserung. Und richten Sie den Wissenschaftlern Ihres Bordlabors meine ausdrück‐ liche Belobigung aus.« »Das wird mir ein Vergnügen sein, Marschall.« »Jetzt aber zu dem Hyperfunkspruch.« Ted Bulton räusperte sich. »Sie haben recht: Es ist eindeutig ein Notruf von Major Eric Santini.« »Santini?« Vegas, der direkt vor der Bildkugel stand, verschränkte die Arme vor der Brust. »Konnten Sie denn mit den Koordinaten etwas anfangen?« Die Koordinaten, die der nur bruchstückhaft empfangene Notruf enthielt, waren nicht vollständig in der Funkzentrale der ANZIO eingegangen. Doch der Hyperkalkulator des Schiffes hatte sie mit hoher Wahr‐ scheinlichkeit rekonstruiert. Den durch sie bezeichneten Punkt in der Milchstraße hatten Vegas’ Navigationsoffiziere längst identifiziert. Ein unbekanntes Sonnen‐ system, nicht ganz zweitausend Lichtjahre entfernt. »Und ob wir etwas damit anfangen konnten, Oberst! Die Koordi‐ naten des Notrufs entsprechen exakt den Koordinaten einer Position, von der aus die DIGUFINOLHU vor einunddreißig Stunden ihre letzte Routinemeldung an das Flottenoberkommando gefunkt hat…« »Die alte Sternschnuppe?« »Genau die und doch nicht ganz genau die – man hat ihr neue,
hochmoderne Innereien verpaßt. An Bord der DIGUFINOLHU sind Major Santini, Leutnant dos Santos und ein Hauptgefreiter namens Strange zu einem Sondereinsatz unterwegs. Sie suchen zwei ver‐ mißte Gordo, Lichtfreundin und Schattensucher, beide geschlechts‐ reif. Wahrscheinlich haben die Grakos sie entführt, um ihnen ihr nächstes Gelege zu rauben.« »Nach unserer Einschätzung wurde der Notruf aber nicht von der Funkzentrale eines Schiffes ausgesandt. Er war zu schwach, außer‐ dem ohne Richtbündelung.« »Eben«, sagte Bulton. »Genau das alarmiert mich. Die DIGUFI‐ NOLHU hat seit über dreißig Stunden nichts mehr von sich hören lassen, verstehen Sie?« »In der Tat, Sir.« »Zur Zeit ihrer letzten routinemäßigen Positionsmeldung verfolgte die DIGUFINOLHU einen Roboterraumer. Wenn ich den schwam‐ migen Bericht des Kommandanten richtig interpretiere, war das Schiff zu diesem Zeitpunkt bereits ein halbes Wrack. Sprung in eine Sonnenkorona…« Vegas stieß zischend die Luft aus. »Das ist ja selbstmörderisch…!« »… Verdacht auf durchgebranntes Transitionstriebwerk. Das war das letzte, was wir hörten. Diese neuartige Transitionssteuerung funktioniert offenbar nur in den Träumen unserer Ingenieure. Trotzdem ließ Santini einen Dschungelplaneten des Systems ans‐ teuern. Mit Normaltriebwerk und unter Tarnschutz. Er nahm an, daß die Roboter dort gelandet waren.« »Wenn sie unter Tarnschutz manövrierten, dürften sie eigentlich wenig Interesse daran gehabt haben, durch ein offenes Hyperfunk‐ signal an das Oberkommando auf sich aufmerksam zu machen.« »Schon möglich, Oberst. Und vor dem Hintergrund des verwa‐ schenen Notrufs, den Sie empfangen haben, neige ich dazu, schlimmes zu vermuten.« Die Miene des Marschalls verdüsterte sich noch weiter. »Ich habe also die Erlaubnis, die Koordinaten anzufliegen, Mar‐
schall?« »Sie haben nicht nur die Erlaubnis, Oberst Vegas, Sie haben meinen Auftrag, genau das zu tun!« Bulton machte ein grimmiges Gesicht. »Und zwar so schnell wie möglich!« * Vegas informierte die Besatzung und ordnete erhöhte Gefechtsbe‐ reitschaft an. Im Sternensogbetrieb und unter vollem Tarnschutz flog die ANZIO in Richtung des unbekannten Systems. Zwölf Stunden später erreichte sie die äußerste Planetenbahn des Zielsystems, die Bahn des fünften Planeten. Während das Schiff die Bahn des vierten ansteuerte, machten sich seine Aufklärungsspezialisten, Astronomen und Astrophysiker ein Bild von dem fremden Sonnensystem. Nach einer halben Stunde faßte Jay Godel, der Zweite Offizier, die wichtigsten Punkte für seinen Chef zusammen. »Die Sonne hat fünf Planeten, Sir. Erdähnlich ist nur der zweite. Er hat eine warme, feuchte Atmosphäre und ist vermutlich voller Wald. Auf ihm peilen wir schwache Energieimpulse an. Merkwürdig: Der Hyperkalkula‐ tor hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß nicht nur der Stern frappierende Ähnlichkeit mit der Heimatsonne der Grakos hat, sondern auch sein zweiter Planet wie eine Kopie von Grah aussieht.« »Danke, Godel. Fliegen wir hin und schauen uns diese Welt ge‐ nauer an.« Vegas wandte sich von der Bildkugel ab, in der er die eingeblendeten Daten mitgelesen hatte, und er schritt zu seinem Kommandostand. Trotz seiner achtundsiebzig Jahre bewegte er sich kraftvoll und geschmeidig. Er sank in seinen Sessel und aktivierte den Bordfunk. »Komman‐ dant an alle. Wir steuern einen Himmelskörper an, der dem Mutter‐ planeten der Grakos gleicht. Wahrscheinlich finden wir dort einen Havaristen der Terranischen Flotte, die Sternschnuppe DIGUFI‐ NOLHU. Und wahrscheinlich werden wir dort auch die Be‐
kanntschaft eines Raumers unserer allerneusten Freunde machen. Ich schätze, jeder von Ihnen brennt darauf, endlich mal eines der ominösen Roboterschiffe mit eigenen Augen zu sehen. Ab sofort sind alle Stationen doppelt zu besetzen. Wer auch immer gerade Pause macht, beendet sie jetzt. Höchste Gefechtsbereitschaft! Ich wiederhole…!« Wenig später schwebte die fremde Welt in der Bildkugel. Ein grü‐ ner Globus mit erstaunlich wenigen Gewässern unter einer dichten Atmosphäre von hoher Luftfeuchtigkeit. Die ANZIO tauchte in die Dissipationssphäre ein. Etwa neunhundert Höhenkilometer über dem Planeten übernahm Vegas die Steuerung des Schiffes vom Hyperkalkulator. Er manöv‐ rierte es in einem Spiralkurs von einem Pol aus über den Äquator zum anderen Pol. Vierzehnmal kreiste die ANZIO auf diese Weise um die Dschungelwelt, und wenn sie über die Tagseite hinwegflog, übertrugen die Außenkameras die Bilder der Planetenoberfläche in die zentrale Bildkugel: Wälder und nichts als Wälder. Auch die je nach Position variierenden Meßdaten der meteorolo‐ gischen Station waren eingeblendet. Wer immer auf der ANZIO nichts Dringenderes zu tun hatte, stand in diesen Minuten vor einem Hologramm. Roy Vegas legte Wert darauf, daß jedes Besatzungs‐ mitglied sich einen Eindruck von der Welt verschaffte, auf der die ANZIO unter Umständen landen mußte. Vor allem die Bordinfanterie mußte wissen, wie warm oder kalt, wie trocken oder feucht es da unten war. Sobald die Ortung die DIGUFINOLHU ausgemacht hatte, würden die Infanteristen von Bord gehen. »Apropos Bordinfanterie…« murmelte Vegas. Er übergab die Steuerung des Schiffes seinem Ersten Offizier, Olin Monro, und beugte sich über das Bordfunkmikro. »Kapitän an Infanterie, wer führt heute das Kommando bei Ihnen?« »Ich, Sir. Major McGraves meldet sich hiermit zum Dienst zurück.« Erstaunte Blicke an allen Arbeitsplätzen der Kommandozentrale.
»Ich höre wohl nicht recht, McGraves!« Vegas runzelte seine bu‐ schigen, grauen Brauen. »Sie waren doch gestern noch halbtot?« »Sie übertreiben, Sir. Das ist sechs Wochen her.« »Sind Sie denn fit. Mann?« »Ich fühle mich wieder einsatzfähig, Sir!« »Ich fühle mich einsatzfähig…« äffte der Kommandant seinen Infan‐ teriekommandeur nach. »Sie müssen vermutlich bald an die Luft, Major! Da würde ich zuvor gern etwas Objektives über Ihren Ge‐ sundheitszustand erfahren, verstanden?« »Verstanden, Sir. Aber ich will meine Leute nach draußen beglei‐ ten. Ich kann ja eines der gepanzerten Fahrzeuge als Kommando‐ stand benutzen. Oder als Rollstuhl von mir aus.« Gelächter an den Arbeitsplätzen der Zentrale. Vegas grinste und schüttelte den Kopf. »Ich spreche mit Dr. Meichle. Danach melde ich mich noch einmal bei Ihnen. Bis zu einem anders lautenden Befehl von mir sind Sie dienstunfähig. Ist das klar, Major?« »Klar, Sir«, kam es zerknirscht aus dem Bordfunk. Zwei Stunden lang umkreiste die ANZIO die feuchtwarme Dschungelwelt. Keine Spur eines Roboterschiffes, keine Spur eines terranischen Havaristen. »Was tun wir jetzt, Sir?« wandte sich Monro, der Erste Offizier, an seinen Kommandanten. »Unsere pas‐ siven Aufklärungssysteme können dort unten nichts Auffälliges entdecken. Auch eine Meldung von der DIGUFINOLHU haben wir nicht empfangen.« »Was heißt das schon, Monro?« Vegas saß nachdenklich in seinem Kommandosessel. »Vielleicht hat es die Sternschnuppe so übel er‐ wischt, daß sie keine Meldung mehr funken kann. Außerdem ist dieser Planet nicht gerade klein. Unter Umständen müssen wir wo‐ chenlang suchen, bis wir ein Schiffswrack in den Wäldern finden.« Er fuhr sich mit der Rechten über Augen und Stirn. »Oder einen Absturzkrater…« »…und wenn unsere Aufklärung stärkere Geschütze auffährt, Sir?« »Kommt nicht in Frage, Monro! Falls es dort unten ein Roboter‐
schiff gibt, ist es getarnt, genau wie wir. Es würde unsere Aktivor‐ tung anpeilen, und schon hätten wir ein Problem.« Vegas winkte ab. »Wir gehen auf eine enge Umlaufbahn in Äquatornähe«, sagte er an die Adresse des Piloten. »Und dann warten wir ab.« Pilot und Navigator bestätigten. Vegas setzte sich über eine Son‐ derleitung mit der Medostation in Verbindung. Beim Chefarzt er‐ kundigte er sich nach McGraves’ Gesundheitszustand. Der Major sei noch stark geschwächt, erklärte Meichle. Einen Einsatz von einer mobilen Einheit aus hielt er jedoch für möglich. »Das wird McGra‐ ves’ Stimmung entscheidend heben«, schloß der Chefarzt. »Und gute Laune beschleunigt bekanntlich den Heilungsprozeß.« »Kommandant an Infanterie.« Über Bordfunk meldete Vegas sich postwendend bei McGraves. Das Gespräch sollte ruhig jeder mithö‐ ren. »Bereiten Sie sich und Ihre Leute auf einen Einsatz vor, Major. Hiermit erkläre ich Sie für dienstfähig. Bedingung nach Rücksprache mit Ihrem Doktor: Sie setzen mir keinen Fuß in den Urwald dort unten. Benutzen Sie einen der schnellen Geländepanzer als Kom‐ mandozentrale.« Kaum hatte McGraves bestätigt, kam eine dringende Meldung vom Ersten Funkoffizier. »Hyperfunkimpulse!« rief er durch die Zentrale. »Undeutlich und irgendwie verwaschen! Einen Reim kann ich mir darauf nicht machen. Tut mir leid, Sir.« »Wieso tut Ihnen das leid?« Vegas gab sich mürrisch. »Haben Sie den Funk aufgezeichnet? Ich will ihn mir anschauen.« Der Mann schickte die Daten auf den Hauptschirm des Komman‐ dostandes. Nachdenklich ging Vegas das Protokoll durch. Sein Ers‐ ter Offizier stand hinter ihm. »Das ergibt keinen Sinn«, sagte Monro. »Und die Quelle können wir auch nicht anpeilen.« Vegas trommelte mit den Fingern der Rechten auf der Instrumen‐ tentafel neben dem Hauptschirm herum. »Wenn die DIGUFINOL‐ HU uns über den Wäldern gesehen hat und ihre Funkzentrale noch einsatzfähig ist, dann hätte sie mit einer klaren Richtfunkbotschaft auf sich aufmerksam gemacht.«
»Damit wir sie anpeilen können.« »Richtig, Monro. Und wenn Santini noch lebt und uns anfunken wollte, hätte er sich dann nicht deutlicher ausgedrückt? Dann hätte das Risiko, daß die Roboter seine Position anpeilen, sich wenigstens gelohnt. Sagen Sie etwas dazu, Hauptmann Monro.« »Sie haben recht. Der Hyperimpuls könnte von den Robotern stammen. Sie denken an eine Falle, Sir?« »Es ist mein Job, alle Möglichkeiten abzuklopfen. Und Ihrer ist es, mir dabei zu helfen.« Er drehte sich nach Olin Monro um und grinste. »Eine Falle oder nicht – ich vermute einfach, daß sich außer Santini noch jemand da unten herumtreibt.« »Falls es nun aber doch Santini oder jemand von der Stern‐ schnuppe war, sollten wir herausfinden, von wo aus er funkt«, sagte der Zweite Offizier von seinem Navigationspult aus. »Falls es die Roboter waren, ebenfalls.« Vegas verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Sie haben recht, Hauptmann Godel. Finden wir die Quelle doch einfach heraus.« »Das dürfte schwierig werden, Sir«, ergriff wieder Monro das Wort. »Wir wissen nicht, wo der anzupeilende Empfänger steckt, also können wir To‐Richt nicht einsetzen.« »Da beißt sich der Hund wieder in den Schwanz, was? Nein, eine andere Lösung muß her.« Er hob die Stimme und wandte sich an die Offiziere in der Zentrale. Alle hatten neugierig gelauscht. »Strengen Sie Ihren Grips an, meine Herren! Wenn einer eine Lösung findet, setzt’s einen Tag Sonderurlaub!« Ein paar Minuten lang geschah nichts. Vor dem Instrumententisch der Funker tuschelten zwei Offiziere halblaut miteinander. Andere kratzten sich am Kopf oder rieben sich das Kinn. In der zentralen Bildkugel dehnte sich der Dschungel bis an alle Horizonte aus. Der in Flugrichtung leuchtete violett und tiefrot. Die ANZIO flog schon wieder der Nachtseite des Planeten entgegen. Plötzlich richtete sich der Kommandant in seinem Sessel auf. »Ve‐ gas an Flashgeschwader!«
»Ich höre, Oberst!« Die Stimme von Darren Skerl tönte aus dem Bordfunk. Er kommandierte die Beiboote an Bord des Schulschiffs. »Schleusen Sie einen Flash aus, Oberleutnant Skerl. Setzen Sie zwei Männer rein, die ein bißchen was von Funktechnik verstehen. Sie sollen auf Parallelkurs gehen, mindestens zehn Kilometer von uns entfernt. Soweit klar?« »Verstanden, Sir. Und weiter?« »Unsere Funkzentrale wird eine To‐Richtverbindung zu dem Flash schalten und eine Nachricht an Santini und seine Truppe senden. Ihre Männer an Bord des Flash sollen den Funkspruch konvertieren und auf einer Langwellenfrequenz absetzen. Wiederholen Sie, Oberleutnant.« Darren Skerl wiederholte den Befehl. »Eine Frage, Sir«, sagte er anschließend. »Warum auf einer Lang Wellenfrequenz? Das ist doch völlig antiquiert.« »Eben. Und weil kaum ein raumfahrendes Volk in der Milchstraße mehr über Lang Wellenfrequenzen funkt, werden diese Frequenzen auch so gut wie nie überwacht. Außerdem sind sie nicht so einfach anzupeilen.« »Verstanden, Sir. Zu Befehl.« Die Offiziere in der Zentrale sahen einander an. In ihren Mienen mischten sich Staunen und Zweifel. Keiner wagte, die Idee des alten Kommandanten zu kommentieren. Der stand auf, stieg aus dem Kommandostand und stellte sich vor die Bildkugel. Inzwischen flog die ANZIO durch die Planetennacht. Bald leuchtete ein Brennkreis in der Dunkelheit auf. Der Flash! Er entfernte sich rasch. Vegas gab den Funkoffizieren ein Handzeichen, damit sie den Funkverkehr auf die Hauptboxen legten. »Flash 007 an Kommandozentrale«, tönte es dreißig Sekunden später aus den Funkboxen. »Angeordnete Position eingenommen. Wir warten auf die Nachricht.« »Schicken Sie folgende Botschaft über To‐Richtfunk an Flash 007«, sagte Vegas an die Adresse der Funkzentrale. »ANZIO ruft Santini.
Notruf empfangen. Melden Sie sich irgendwie, wenn Sie können. Danach sehen wir weiter.« Sekunden später bestätigte der Zweite Funker: »Nachricht über To‐Richt an Flash 007 abgeschickt«, und kurz darauf meldete die Besatzung des Beibootes: »To‐Funkspruch konvertiert und über Langwelle abgesetzt.« »Jetzt können wir nur noch abwarten.« Vegas wandte sich von der Bildkugel ab, stieg zurück in seinen Kommandostand und setzte sich auf seinen Sessel. »Wenn’s klappt, müssen Sie einen Tag ohne mich auskommen, meine Herren.« * Manchmal, wenn ihr Blick den Dschungelrand auf der gegenüber‐ liegenden Talseite absuchte, sah sie vier Roboter, wo nur zwei su‐ chend durch das Gestrüpp stelzten, und die Bäume und Büsche verschwammen zu einer grünen Wand. Dann mußte sie jedesmal den Feldstecher absetzen, die Augen schließen und sich mit dem hochgekrempelten Ärmel die feuchtwarme, salzige und beißende Brühe aus den Augen wischen, um wieder klar sehen zu können. Inzwischen war es später Nachmittag geworden. Die feuchtheiße Luft lastete auf dem Wald wie Gummi kurz vor dem Siedepunkt. Der Schweiß brach Penelope dos Santos schon aus, wenn sie sich nur auf ihrem Ast aufrichtete, um die gegenüberliegende Talseite mit dem Feldstecher zu beobachten. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie schälte sich aus dem Oberteil ihres Kampfanzugs, zog das nasse Unterhemd aus und schlüpfte wieder ins Oberteil. Den Reißver‐ schluß zog sie nur bis zum Brustbein hoch, das Unterhemd hängte sie über einen Ast neben sich. Was sollte es – sah ja keiner zu, und wenn? Die beiden Männer lagen auch nur halb angezogen zwei‐ hundert Meter weiter auf ihren Isodecken und schwitzten. Sie setzte wieder die Gläser an die Augen und beobachtete die Waldränder, die Hänge, die Baustelle und die Lichtung vor dem
klobigen Gebäude. Luftlinie mochten es vier Kilometer bis dorthin sein. Unten, bei der halbfertigen Aufzuchtstation, wurde seit der Mit‐ tagszeit nicht mehr gearbeitet. Die Suche nach den Gordo hatte wohl oberste Priorität für die weder Damen noch Herren Grakos. Sie schienen sämtliche verfügbaren Roboter dafür einzusetzen. An die zweihundert Maschinen waren in den letzten Stunden aus dem Tal hinauf zur Lichtung um das Haus geströmt und von dort aus in den Wald ausgeschwärmt. Hin und wieder zeigte sich auch das Geflimmer eines Grakos in seinem Halbraumfeld. Penelope dos Santos hätte gern gewußt, wie viele Roboter ein einzelnes Mutter‐ schiff an Bord hatte. Inzwischen hatten die Grakos und ihre Handlungsroboter die Umgebung des Hauses akribisch abgesucht – mindestens dreimal – und ihre Fahndung nach den Gordo und deren Entführern ausge‐ weitet. Auf ganzer Breite des gegenüberliegenden Berghangs konnte die Spanierin mittlerweile einzelne Roboter entdecken. Auch Grakos beteiligten sich jetzt direkt an der Suche. Penelope fragte sich, warum sie die Hänge rund um das Tal nicht mit einem Gleitergeschwader absuchten. Diese schlauen Burschen in ihren Halbraumfeldern verfügten doch über Fluggeräte und Or‐ tungsinstrumente, die einem Infrarotsuchgerät entsprachen. Warum also diese Zurückhaltung? Nur eine Antwort darauf wollte der Spanierin einfallen: Eine Bau‐ stelle in einem verborgenen Tal war schwer anzupeilen, einzelne Roboter und Grakos sowieso. Fluggeräte jedoch, die über dem Wald kreisten, waren eine wesentlich leichtere Beute für jede Schiffsor‐ tung. Rechneten die Grakos also mit weiteren Raumschiffen, die ihnen hierher gefolgt sein könnten? Waren Sie deswegen darauf bedacht, jedes Risiko zu vermeiden? Eine bessere Erklärung hatte die Spanie‐ rin nicht. Laub raschelte waldeinwärts. Sie setzte den Feldstecher ab und
blickte hinter sich und nach rechts. Hundert Schritte entfernt arbei‐ tete sich ein Mann durch Gestrüpp und Unterholz. Ihre Ablösung. Reflexartig fuhr ihre Hand zum Reißverschluß. Doch dann sah sie das dicke schwarze Haar. Eric Santini stiefelte ein paar Meter unter ihrem Ausguck dem Waldrand und dem Postenplatz entgegen. Mit beiden Händen stemmte er seinen Multikarabiner über den Kopf, als würde er durch Wasser waten. Penelopes Herz schlug schneller. Sie beschloß, den Reißverschluß zu vergessen. Alle zwei Stunden lösten sie einander beim Wachdienst ab. Alle zwei Stunden kletterte einer der drei Terraner in das Geäst dieses Baumes in Waldrandnähe, behielt die Umgebung mit dem Feldste‐ cher im Auge und lauschte mit einem Ohr nach dem tragbarem Funkpeiler der Hyperfunkexpertin. An einem Aststumpf befestigt hing das Gerät am Baumstamm. »Verdammte Hitze, was?« Santinis Oberteil hing mit verknoteten Ärmeln über seinen Gurt die Hüften hinunter. Das Unterhemd klebte an seiner Brust. Er sah verboten aus. Die Spanierin lächelte. »Weht wenigstens bei Ihnen dort oben eine frische Brise?« Santini blieb unter dem Baum stehen und blickte zu ihr herauf. »Ich bilde mir ein, da unten auf dem Waldboden müßte es eine Spur weniger brütend sein«, sagte sie. »Dann kommen Sie runter, Penelope. Gehen Sie ins Lager, ruhen Sie sich aus.« Er lehnte mit der Schulter gegen den Stamm und beo‐ bachtete sie. Dos Santos hing den Feldstecher an einen Aststumpf über ihren Funkpeiler. »Sie dringen immer tiefer in den Dschungel ein.« Das feuchte Unterhemd stopfte sie in eine leere Beintasche. Während sie vom Baum kletterte, berichtete sie, was es zu berichten gab. »Wenn sie in der Geschwindigkeit weitermachen, kommen sie morgen früh bei uns an.« Sie hing am letzten Ast, und da sie klein war, fanden ihre Füße nicht gleich Halt. Sie spürte seine Hände an ihren Beinen und ließ los. »Und dann wird es ernst, Eric.« Santini fing sie auf, hielt sie bei den Hüften fest und ließ sie lang‐
sam durch seine Arme und an seinem Körper entlang auf den Waldboden gleiten. »Ja«, sagte er und dachte gar nicht daran, sie loszulassen. »Dann wird es ernst, Penelope…« Sie sahen einander in die Augen. Eine Hitze, die nichts mit der feuchtwarmen Luft zu tun hatte, schoß durch ihren Körper. Sie wünschte, er würde sie die nächsten zwei Stunden so festhalten. Oder so ähnlich. »Ich… ich habe noch Ihren Nadelstrahler…« Sie wußte selbst nicht, was der Unsinn jetzt sollte. »Behalten Sie ihn noch«, sagte er, und seine Stimme klang heiser. »Warum?« Sie schmiegte sich an ihn – als über ihnen in der Baumkrone ein akustisches Signal losorgelte. Sie fuhren auseinander und starrten ins Geäst hinauf. »Mein Funkpeiler!« Sie sprangen auf. »Geh du!« Santini lehnte an den Baum und verschränkte die Finger seiner nach oben gewandten Handflächen vor dem Unterbauch. Die Spanierin setzte die Stiefelspitze hinein, hielt sich an seinem Nacken fest und kletterte über seine Schulter in das Geäst. Flink wie ein Affe stieg sie wieder bis zu dem starken Ast hinauf, der ihnen als Aus‐ guck diente. Sie langte nach dem Funkgerät, zog es vom Aststumpf und setzte sich nah am Stamm auf den Ast, den sie erst Minuten zuvor verlas‐ sen hatte. Ungläubig starrte sie den kleinen Funkpeiler an. »Heilige Mutter Gottes, was soll das denn?!« Eine steile Falte zwischen den Brauen, blickte sie zu Santini hinunter. »Da funkt jemand auf einer Langwellenfrequenz…!« »In einer verständlichen Sprache?« Den Kopf in den Nacken gelegt, stand der Major unter ihr im Gestrüpp. Sie drehte und drückte an ihrem Peiler herum. »In Angloter…« »Und? Nun sag schon…!« Er hatte nichts gegen eine gute Nach‐ richt einzuwenden, nur hätte sie ruhig zehn Minuten später eintref‐ fen können. »Ein Schiff der Terranischen Flotte. ANZIO. Kenne ich nicht…«
»Kennst du doch, Roy Vegas! Weiter…« »Der Roy Vegas…?!« »Weiter, weiter…!« »ANZIO ruft Santini… Notruf empfangen… melden Sie sich ir‐ gendwie, wenn Sie können… danach sehen wir weiter.« Ungläubig blickte sie zu ihm hinunter. »Langwelle? Die müssen in der Nähe sein… vielleicht sogar in der Umlaufbahn!« »Himmel, Penelope…!« Santini riß beide Arme hoch. »Ich liebe dich, Leutnant! Komm runter, meine Königin! Wir müssen zum La‐ gerplatz und den Richtfunk anwerfen…!« Die Spanierin hängte sich Funkpeiler und Feldstecher um den Hals und kletterte zurück ins Unterholz. Durch die Wachablösungen hatten die Terraner bereits die Andeutung eines schmalen Pfades durch Gestrüpp und Gras gebahnt. Auf ihm folgte Penelope dos Santos dem Major zum nahen Lagerplatz. Lichtfreundin und Schattensucher waren wach, als sie ankamen. Strange fuhr aus dem Schlaf hoch. »Neuigkeiten?« Sein Oberkörper war nackt. »Ein Schiff hat auf unseren Notruf reagiert.« Penelope holte den To‐Richtfunksender aus ihrem Rucksack, den sie einem Roboter abgenommen und nach ihren Vorstellungen umgebaut hatte. »Es scheint ganz in der Nähe zu sein.« »Sag ich’s nicht? Das Glück kommt auf uns zu.« Strange streckte sich und gähnte. »Endlich duschen! Endlich frische Kleider!« Er ließ seinen wohlgefälligen Blick auf der Haut und dem Brustansatz im etwas zu weit geöffneten Oberteil des weiblichen Offiziers ruhen. »Glotzen Sie nicht so, Strange!« fauchte Penelope ihn an. »Ich gaffe auch nicht ihre Brustfrisur an.« Während sie das To‐Richtfunkgerät einschaltete, mit den Energie‐ zellen verband und justierte, sammelte Santini so gut es ging seine Gedanken und richtete sie auf die Gordo‐Königin. Sie und Schat‐ tensucher sollten erfahren, daß endgültige Rettung nahe war. »Komm schon, Eric!« Penelope dos Santos winkte dem Major, und
Strange sperrte Mund und Augen auf, weil ihm die Anrede und der Tonfall doch stark verändert vorkamen. »Das Gerät ist sendebereit. Sprich du, du bist der Ranghöchste!« Santini ging neben ihr auf die Knie. Penelope drückte ihm ein Mikro in die Hand, das sie mit dem Richtfunksender verbunden hatte. Programmiert war dieser mit den Peildaten, die das Funkgerät für die Langwellensendung geliefert hatte. »Ganz ruhig, Major«, sagte Santini wie zu sich selbst. »Gründlich nachdenken, was wir funken…« »Was wir funken?« Strange runzelte die Stirn. »Na, daß sie so schnell wie möglich hierherfliegen und uns an Bord nehmen sollen, falls ich auch mal was sagen darf…!« »Schwachsinn!« fauchte Penelope. »Denken Sie doch an den Ro‐ boterraumer! Wir müssen der ANZIO seine Koordinaten durchge‐ ben, sonst greift er sie aus seinem Tarnschutz heraus an wie ein Leopard die Gazelle aus der Baumkrone!« »Stimmt!« Santini hielt das Mikro vor die Lippen. »Also her mit den Koordinaten…!«
15. »Flash 007 an Kommandozentrale, empfange einen schwachen To‐Richtfunkimpuls.« Schlagartig verstummten die Gespräche in der Zentrale. »Ja, Flash?« Roy Vegas richtete sich auf der Kante seines Sessels auf. »Wir hören!« »Koordinaten! Jemand funkt uns Koordinaten!« »Sonst nichts?« Vegas stand auf und schritt zum Treppenabsatz seines Kommandostandes. »Doch, Sir. Ich gebe die Nachricht wieder: ›Santini an ANZIO Punkt DGF verloren Punkt Schicksal der Besatzung unklar Punkt Mit drei Mann und zwei Gordo im Dschungel Punkt Unter Druck, doch im Moment keine Lebensgefahr Punkt Vorsicht Doppelpunkt Roboterraumer unter Tarnschutz gelandet Punkt Koordinaten…« Der Flashpilot gab die Koordinaten des Roboterschiffes durch. »Schicken Sie die Nachricht an die Zentrale«, befahl Vegas. »Und kehren Sie zurück ins Depot.« »Verstanden, Sir.« Wenig später konnte Oberst Roy Vegas das Funkprotokoll mit ei‐ genen Augen auf seinem Hauptschirm lesen. »Das Team Santini lebt!« rief er triumphierend in die Zentrale hinein. »Sie haben die beiden Gordo! Die Roboter scheinen allerdings die Sternschnuppe abgeschossen zu haben.« »Das wird wohl kaum ohne Verluste abgegangen sein«, sagte der Erste Offizier. »Ach, Monro! Sie sind und bleiben eine Unke!« Vegas wandte sich an seinen Zweiten Offizier. »Was ist, Hauptmann Godel? Haben Sie die Koordinaten?« »Habe ich, Sir.« »Gut. Dann gehen wir jetzt auf eine Höhe von zweitausend Kilo‐ meter und fliegen die Position des verdammten Roboters an.« Er
beugte sich über seine Instrumententafel. »Kommandant an alle. Wir steuern den Landeplatz eines feindlichen Roboterschiffes an. Halten Sie sich bereit. Wir stehen unmittelbar vor einer Konfrontation! Ich erwarte, daß jeder von Ihnen sein Bestes gibt!« Vegas und Olin Monro, sein Erster Offizier, stiegen aus dem Kommandostand und traten dicht an die zentrale Bildkugel. In ihr schien der Planet zu schrumpfen. Die ANZIO flog aus den äußersten Schichten der Atmosphäre ins planetennahe All hinauf und steuerte zugleich den Landeplatz des Roboterraumers an. »Konnten Sie die Quelle des Richtsenders anpeilen?« Die Frage des Kommandanten ging diesmal an die Adresse der Aufklärung. »Ja, Sir«, sagte Kerim Bekian, Dritter Offizier und Ortungsspezia‐ list. »Wir haben die Koordinaten. Die Gruppe Santini liegt exakt 15,4 Kilometer von der Position des Roboterraumers entfernt.« In der Bildkugel sah man nun den Dschungelplaneten von seiner Tagseite. »Die von Santini angegebenen Koordinaten liegen fast un‐ ter uns«, sagte Godel. »Ich habe ihn!« rief Bekian. »Die Infrarotortung schlägt an! Die Außenkamera Ost IX hat ihn erfaßt!« »Dann holen Sie das verdammte Bild näher heran!« verlangte Ve‐ gas. »Und schicken Sie uns die Aufnahmen in die Bildkugel!« »Verstanden, Sir.« Kaum fünf Sekunden verstrichen, bis man die Konturen des Ro‐ boterschiffes in der Bildkugel erkennen konnte. Das Gebilde sah aus wie ein zerklüftetes Bergmassiv aus metallenen Nadeln, Türmen, Zuckerhüten und Wülsten. Da war keine gerade Linie, da war keine Kugelform, da gab es nicht die Spur von Symmetrie. Zwei, drei Atemzüge lang herrschte Totenstille in der Komman‐ dozentrale. Jeder starrte in die Bildkugel und versuchte zu begreifen, daß es ein Raumschiff war, das sich dort unten aus dem Wald erhob. »Es hat seinen Tarnschutz hundertprozentig aktiviert«, sagte Ke‐ rim. »Das Energieniveau entspricht leicht erhöhter Kampfbereit‐ schaft. Das ist allerdings nur eine Schätzung auf Grund der Daten,
die uns die Passivortung liefert. Sicher ist allerdings, daß der Robo‐ terraumer ohne Karoschirm dort unten liegt.« »Sie rechnen also nicht mit der unmittelbaren Nähe feindlicher Einheiten«, sagte Monro. »Folglich haben Sie uns noch nicht bemerkt.« Aus schmalen Augen spähte Vegas in die Bildkugel. Das asymmetrische und vollkommen zerklüftete Gebilde dort unten im Dschungel gefiel ihm nicht. Es hatte etwas Monströses und zutiefst Unmenschliches. »Das sollten wir ausnutzen.« Er hob seine Stimme. »Vegas an Flashgeschwader!« »Ich höre, Sir.« Robert Ures Stimme tönte aus dem Bordfunk. »Ich möchte, daß Sie vier Flash dort hinunterschicken. Sie sollen mit aktiviertem Intervallum und eingeschaltetem Brennkreis durch die Antriebssektionen des Roboterschiffes fliegen. Ich denke, das wird reichen, um diesen ungeheuerlichen Kahn fluguntauglich und kampfunfähig zu machen.« »Verstanden, Sir.« »Verzeihen Sie, Oberst.« Olin Monro räusperte sich. Wie die meis‐ ten Besatzungsmitglieder der ANZIO empfand auch der Erste Offi‐ zier einen Respekt vor dem alten Vegas, der fast an Ehrfurcht grenzte. Den Veteranen zu kritisieren oder seine Entscheidungen zu hinterfragen galt schon fast als Sakrileg. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Sir – aber warum eröffnen wir nicht einfach das Feuer auf den Roboterraumer?« Vegas grauhaariger Schädel fuhr herum. »Was sagen Sie da?« flüsterte er. An Monro vorbei blickte er sich in der Zentrale um. »Gott, Monro! Seien Sie froh, daß keiner außer mir Ihre dämliche Frage gehört hat.« Er deutete auf die grüne Welt im Zentralholog‐ ramm. »Stellen Sie sich doch nur mal vor, wir würden das ver‐ dammte Maschinenschiff dort unten mit Wuchtkanonen oder Na‐ delstrahlen oder weiß der Teufel was für einem Geschütz angreifen! Und stellen Sie sich vor, wir würden treffen! Was glauben Sie, wie groß der Krater wäre, den das Schiff in den
Dschungel sprengt, wenn es explodiert?« Monro schluckte ein paarmal, machte Anstalten, irgend etwas zu erwidern, ließ es dann aber bleiben und zuckte nur ratlos mit den Schultern. »Sie begreifen allmählich, ich merke es schon«, knurrte Vegas. »Und Sie schämen sich hoffentlich. Der Krater wäre mindestens hundert bis zweihundert Meter tief und mindestens fünf Kilometer breit. Und die Explosion würde einen Feuersturm entfachen, dessen Ausläufer noch in mindestens fünfzig bis sechzig Kilometer Entfer‐ nung alles niederbrennen würde, von der Druckwelle ganz zu schweigen. Ich sage: mindestens. Und wie weit vom Roboterschiff entfernt liegt die Gruppe Santini?« Monro sagte nichts, und Vegas sagte auch nichts mehr. Sie beo‐ bachteten das Zentralhologramm – jedenfalls traf das auf Vegas zu. »Flash 002 an Zentrale«, tönte es aus dem Bordfunk. Es war ein‐ deutig die Stimme des Stellvertretenden Geschwaderkommandan‐ ten Robert Ure. »Flash 002, 005, 009 und 010 ausgeschleust. Kurs auf Zielkoordinaten. Tarnschutz.« »Verstanden, Leutnant«, rief Vegas. »Versuchen Sie die Antriebs‐ sektionen und die Energiestationen des Monstrums da unten mit den Brennkreisen zu zerstören. Dann könnten wir uns, Santini und dem Wald, in dem er untergetaucht ist, eine Menge Ärger ersparen.« »Verstehe, Sir. Wir wollen sehen, was wir tun können.« »Viel Glück, Ure.« Vier Lichtreflexe in der Bildkugel, mehr sah man in diesen Sekun‐ den nicht von den Flash. Sie beschleunigten und rasten der fremden Welt entgegen. In den Daten, die durch den unteren Pol der zentralen Bildkugel glitten, spiegelte sich die Entwicklung ihrer Mission wider. Ihre Be‐ schleunigung war atemberaubend, ihre Geschwindigkeit glich der von Meteoriten, ihre Zielgenauigkeit dem Geschoß, das ein Hyper‐ kalkulator auf seinen vernichtenden Weg geschickt hatte: Wie Ku‐ gelblitze auf eine Viehweide fielen sie auf das ahnungslose Schiff
hinab. Niemand in der Zentrale sprach jetzt noch ein Wort. Die bei Kampfeinsätzen so typische Spannung lag wie ein Knistern in der Luft. Mit absoluter Konzentration beobachteten die Männer ihre Instrumente und das Zentralhologramm. Darin sah man abwech‐ selnd die halb von Wolkendecken verschleierte grüne Dschungel‐ welt und den schwarzen, zerklüfteten Stachelklotz des Roboter‐ schiffes in Großaufnahme – und natürlich die sich ständig ändern‐ den Zahlenreihen mit den Daten der Flash. Mit einer Geschwindigkeit von mehr als Mach zehn rasten die Beiboote ihrem Ziel entgegen, beschleunigten weiter. Keine vier‐ hundert Kilometer trennten das Geschwader mehr vom Roboter‐ raumer, und mit jeder Sekunde schrumpfte die Distanz um mehrere Kilometer. »Modifizieren Sie mir die Optik«, befahl Vegas seinem Ortungsof‐ fizier. »Ich will die Flash sehen, wenn sie ins Schiff eindringen. Ver‐ suchen Sie einen Bildausschnitt hinzukriegen, der uns das Schrott‐ monster da unten in einer Umgebung von drei bis fünf Kilometern zeigt.« »Kein Problem, Sir«, sagte Kerim Bekian. »Ures Geschwader passiert soeben die Höhenmarke von zwei‐ hundert Kilometern«, meldete der zweite Mann an der Ortung. »Keilformation…« Die Ansicht im Zentralhologramm änderte sich. Sie zeigte das Roboterschiff und seine Umgebung aus einer Höhe von einem Ki‐ lometer. »Sehr gut, Mister Bekian«, sagte Vegas. »Danke.« »… Geschwaderflughöhe hundertdreißig Kilometer. Formation fliegt eine Schleife, Anflugwinkel stark sinkend, Geschwindigkeit sinkend, Zielentfernung hundertzehn Kilometer, Flughöhe neunzig Kilometer…« Die Sekunden verstrichen quälend langsam. Bekians Assistent an der Ortung gab jetzt laufend die Daten durch, die auch in der Bild‐ kugel abzulesen waren, doch konnten die Augen kaum folgen, so
rasch veränderten sich Flughöhe und Anflugwinkel und allmählich auch die Geschwindigkeit der vier Flash. »… Mach 7,5; Anflugwinkel 52 Grad; Mach 6,8; Flughöhe zwölf Kilometer; Mach 6,1; Entfernung dreiundzwanzig Kilometer; Anf‐ lugwinkel 39 Grad; Mach 5,3…« Keine Minute mehr, bis die Flash in das Roboterschiff eindringen würden. Ures Geschwader drosselte die Geschwindigkeit weiter. Waren die Piloten nicht schnell genug, liefen sie Gefahr, von der optischen Ortung des Roboterraumers entdeckt zu werden. Flogen sie jedoch zu schnell, riskierten sie, so schnell durch die Strukturen des Schiffes hindurchzurauschen, daß die Brennkreise ihrer Flash keine lebenswichtigen Aggregate zerstörten. Und einen erneuten Anflug würde der Roboter zu verhindern wissen. »… Mach 2,1; Anflugwinkel 29 Grad; Mach 1,6; Flughöhe drei Ki‐ lometer; Mach 1,1; Entfernung sieben Kilometer; Anflugwinkel 28 Grad; Mach 0,8…« Vegas hielt den Atem an und deutete auf die Bildkugel. Er hatte die Flash entdeckt: Pfeilen gleich, die an Schwung verloren, rasten sie vom Rand des Bildausschnittes dem Fremdschiff entgegen. Noch zehn Sekunden höchstens, dann würden sie ins Schiff eindringen! »Energieniveau steigt!« Auf einmal überschlug sich Bekians Stimme. »Ein Karoschirm…!« Ein Aufschrei ging durch die Kom‐ mandozentrale. Wer noch nicht stand, sprang spätestens jetzt aus seinem Sessel. »Er baut seinen Karoschirm auf!« Alle Augenpaare starrten voller Entsetzen in die Bildkugel: Halbkugelförmiges Ge‐ flimmer wölbte sich plötzlich über dem Stachelklotz dort unten im Dschungel. Die Flash rasten direkt darauf zu! »Abdrehen, Ure!« brüllte Vegas, obwohl er keine Funkverbindung zu Flash 002 hatte. Doch als hätte der Geschwaderkommandeur sein Gebrüll gehört, gingen die Flash fast gleichzeitig in den Sturzflug über. Nur den Bruchteil einer Sekunde später tauchten sie wenige hundert Meter vor dem Schutzschirm des Roboterraumers in den Dschungel ein.
Dank ihrer aktivierten Intervallfelder schlugen sie nicht im Wald‐ boden auf, sondern durchdrangen die Planetenoberfläche, wie sie eigentlich den Schiffsrumpf hatten durchdringen wollen. »Er fährt sein Energieniveau noch höher!« rief Bekian. Obwohl der Karoschirm noch nicht einmal zu fünfzig Prozent stand, wären die Flash trotz aktivierter Intervallfelder vermutlich in seinen hoch‐ energetischen Feldern explodiert. Genaue Daten hatte man zwar nicht, aber auf diese Weise wollte man sie auch nicht bekommen. »Er muß über erstaunliche optische Überwachungsanlagen verfü‐ gen«, sagte Vegas heiser. Wie allen saß auch ihm der Schreck in den Knochen. »Energieniveau steigt weiter!« rief Bekian. »Ich glaube, er versucht zu starten.« »Kommandant an alle!« Vegas war in den Kommandostand ge‐ rannt. »Wir greifen an! Solange er noch nicht im All ist, haben wir gute Chancen!« »Aber die Gruppe Santini!« rief irgend jemand. »Sie halten sich nur gut 15 Kilometer entfernt auf!« »Ich weiß!« Vegas fuhr herum und suchte nach dem Rufer. Es war einer der Funker gewesen. »Funken Sie Santini an! Jetzt ist es so‐ wieso gleichgültig, ob der Roboter seine Position anpeilt oder nicht! Santini und seine Leute sollen sich in die nächstbeste Deckung ein‐ graben!« Und dann an die Adresse des Navigators: »Geben Sie die Koordinaten der Gruppe Santini in den Hyperkalkulator ein! Ich will in einer weiten Schleife über ihren Standpunkt hinwegfliegen!« Der Navigator bestätigte. Vegas ließ den Antrieb aktivieren und das Schiff beschleunigen. Wie ein Komet stürzte es der Planeten‐ oberfläche entgegen. Der metallene Stachelklotz in der Bildkugel löste sich langsam aus dem Wald und hob ab. Er wurde rasch klei‐ ner, denn die ANZIO entfernte sich von ihm. Zunächst. »Kommandant an Waffensteuerung!« Fieberhaft überlegte Vegas. Wie lautete gleich die Empfehlung der Flottenleitung für den Kampf gegen Roboterschiffe mit aktiviertem Karoschirm?
»Wir hören, Sir!« kam die Bestätigung von Maynard Dawson, dem Chef der Waffensteuerung Ost. Auch Vladimir Denschikoff, Leiten‐ der Offizier der westlichen Waffensteuerung, meldete sich. »Kombinierter Einsatz von Mix‐2, Nadelstrahlern und Wuchtka‐ nonen. Geben Sie ihm alles, was wir haben!« Monro im Sessel neben Vegas beugte sich zu seinem Komman‐ danten hinüber. »Verzeihung, Sir, aber was ist mit dem Riesenkrater und dem Feuersturm, vor dem Sie mich eben warnten?« Er sprach leise. »Wir fliegen von Santinis Position aus an und benutzen die Wuchtkanonen, Hauptmann! Und wenn wir das Monstrum erwi‐ schen, dann wird die kinetische Energie des Treffers es einige Kilo‐ meter weit von Santinis Koordinaten wegschleudern.« In einer weiten Schleife raste der Ovoid‐Ringraumer an der Posi‐ tion der Gruppe Santini vorbei. In der Bildkugel wuchsen die Ur‐ waldriesen. Jeden Moment, so schien es, würden sie in die Zentrale stürzen. In rasendem Flug entfernte sich die ANZIO noch ein paar Dutzend Kilometer von dem startenden Roboter. Dann war die erste Hälfte der Schleife vollendet, und über die Koordinaten von Santinis Standort hinweg ging das Schulschiff auf Angriffskurs. »Kommandant an Waffensteuerungen! Bei Feuerbefehl schießen Sie wie besprochen. Volle Breitseite!« Die Offiziere bestätigten. Das Roboterschiff erhob sich wie eine Zielscheibe über den Dschungel. »Feuer!« * Ratlos hockten sie um das improvisierte To‐Richtfunkgerät. »Die ANZIO will den Roboterraumer angreifen…?« Strange schluckte. »Das klingt, als suche Vegas den offenen Schlagabtausch…« »Wahnsinn!« Penelope sprang auf. »Wo steht der Roboter?« »Da.« Santini deutete in Richtung des Tals. »Fünfzig bis sechzig
Kilometer jenseits des Tals.« »Welche Deckung rettet uns, wenn in fünfzig Kilometer Entfer‐ nung ein Roboterraumer explodiert? Oder ein Ovoid‐Ringraumer?« Wie ein gehetztes Tier sah Penelope dos Santos sich um. »Oder bei‐ de? Könnt ihr mir das sagen?« »Im Hang auf der anderen Seite des Tals hätten wir vielleicht einen gewissen Schutz«, sagte Strange. Seine gute Stimmung war dahin. »Die Druckwelle würde über uns hinwegrauschen…« »Zu weit!« Penelope wurde laut. Sie ballte die Fäuste. »Viel zu weit! Außerdem haben Sie den Feuersturm vergessen. Und an der Baustelle im Tal unten müßten wir auch vorbei. Wie stellen Sie sich das vor…?!« »Lieber gar nicht…« Langsam erhob sich jetzt auch Santini. Die Nachricht hatte ihm die Sprache verschlagen. In seinem Schädel rotierte ein Strudel aus Bil‐ dern und Gedanken: Angst, ein Feuerball, ein Wurzelloch, ein Flash mit aktiviertem Intervallum in der Zentrale eines Feindschiffes – und wieder Angst… Für den, der das Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte, gab es Mittel und Wege, ein feindliches Schiff auszuschalten, ohne es in eine kleine Supernova zu verwandeln. Vegas war ein guter Mann. Irgend etwas mußte schiefgelaufen sein. »Gestern im Morgengrauen, kurz bevor wir hier ankamen, pas‐ sierten wir einen entwurzelten Urwaldriesen, erinnert ihr euch?« Die anderen beiden nickten. »Zweihundert oder dreihundert Schritte entfernt«, sagte Strange. »Stimmt. Und wo ein entwurzelter Baum ist, ist auch ein Wurzelloch!« »Versuchen wir’s!« Santini packte Rucksack und Multikarabiner, auch dos Santos und Strange schulterten ihr Gepäck. Die Iso‐Decken klemmten sie unter die Arme. Wer wußte schon, wozu die noch gut sein konnten…? Penelope dos Santos und Tom Strange spurteten los. Santini rich‐ tete seine aufgescheuchten Gedanken auf die Gordo, die natürlich
gemerkt hatten, daß Gefahr im Verzug war. Der Major dachte an zwei fliegende Gordo und den mächtigen Stamm, unter dem sie am Morgen des Vortages hindurchgeklettert waren. Danach winkte er und rannte den anderen beiden hinterher. Lichtfreundin begriff. Sie spreizte die Schwingen, hob ab und schwang sich über die Baumkronen. Schattensucher folgte ihrem Beispiel. Dos Santos war flinker als Strange. Bald hatte sie zwanzig Schritte Vorsprung. Gut so, dachte Santini, und: Rette sie, Gott, wenn es dich gibt… Ein Gordo schwirrte über ihn hinweg und gleich noch einer. Plötz‐ lich kam Wind auf. Santini merkte es erst, als sich rechts und links die Bäume zu schütteln begannen. Der Wind schwoll zum Sturm an, der Sturm zum Orkan. Morsche Äste brachen aus den Kronen und schlugen vor Santini im Unterholz auf. Er stolperte und schlug lang hin. Als er den Kopf hob, sah er, daß Penelope stehengeblieben war und nach ihm Ausschau hielt. Strange lief an ihr vorbei. »Renn doch!« brüllte Santini. Ein Schatten röhrte hoch über den Bäumen Richtung Tal vorbei. Er rappelte sich auf. Stechender Schmerz in seinem linken Knöchel, er ging in die Knie. »Renn um dein Le‐ ben…!« Der Sturm ließ nach. Penelope spurtete zurück zu ihm. Am Lauf seines Multikarabiners stemmte er sich nach oben. »Verrücktes Weib, kehr um!« Er hinkte ihr entgegen. »Kehr doch um, verdammt…!« Tränen strömten ihm über die Wangen. Tränen der Wut, weil sie nicht auf ihn hörte. »Das ist ein Befehl…!« Wieder brach er zusammen, wieder stand er auf. Jetzt war sie bei ihm, packte seine Rechte, zog seinen Arm über ihre Schulter, umschlang seine Hüfte und zerrte ihn vorwärts. »Du spinnst doch!« stöhnte er. »Hältst du mich für eine Memme?« Sie fauchte. »Ich bin eine ganze Frau! Ich überlebe mit meinem Major, oder ich sterbe mit meinem
Major! Reiß dich zusammen! Schneller!« Und er riß sich zusammen. Auf sie gestützt, stolperte er schneller voran. »Was war das eben…?« Er verlor seine Iso‐Decke. »Ein Ringraumer!« Er stöhnte, er stolperte, er heulte, jetzt nicht mehr vor Wut. »Wenn wir das hier überleben, werde ich dich…!« »Schneller, Major!« Sie riß ihn mit sich. »Nicht quatschen, laufen! Ich will leben, verdammt!« »Zu Befehl, General…!« Es war zu spät, im Grunde wußte auch sie, daß es zu spät war. Von fern grollte und krachte es wie von hundert Gewittern. Der Angriff! Die ANZIO machte Ernst! Oder der Robo‐ ter…? Geäst splitterte, Laub schwebte herunter, Zweige prasselten auf sie herab. Dann ein schwarzer Chitinpanzer, ein zehn Meter langer Körper und drei mächtige Beinpaare! »Halte dich fest, Eric!« Die Spanierin stieß ihn gegen einen lederhäutigen Hinterlauf. »Du sollst dich festhalten, sage ich…!« Wie sie klammerte er sich an einem Hinterlauf des Gordo fest. Schattensucher hob ab. Mühsam stieg er zwischen den Bäumen nach oben. Zweige peitschten Santini ins Gesicht, zerkratzten ihm die Haut, zerrissen seine Kleider. Sein Rucksack krachte durch das Laub einer Baumkrone zum Waldboden zurück. Der Gordo riß sie über die Wipfel. Die von seinem Flügelschlag verursachten Luftwirbel zerrten an ihren Kleidern und Haaren. Vier, fünf Atemzüge lang überblickte Santini ein Tal und ein Meer von Wipfeln dahinter. Fern am Horizont ging eine zweite Sonne auf. Dann brach Schattensucher wieder ins Laubdach des Dschungels ein. Wieder Peitschenhiebe von tausend Zweigen. Santini sah einen quer im Unterholz liegenden Stamm, einen Trichter im Waldboden und im Erdtrichter einen Tümpel. Darin lagen ein Mann und ein Gordo. Dann schlug er in Schlamm und Wasser auf. Er hob den Kopf. Die Blicke von Penelope und Strange trafen ihn.
Strange hatte sich seine Iso‐Decke um Kopf und Schultern gelegt. Er sagte irgendwas wie Dem Himmel sei Dank. Schlagartig wurde es Nacht. Ein Orkan toste heran. Schlagartig wurde es wieder Tag. Ein blendend heller, heißer, feuriger Tag… * Tofiritgeschosse aus den Wuchtkanonen trafen den Roboterrau‐ mer, als er knapp fünfhundert Meter über dem Wald in den Himmel stieg. Er war in der Beschleunigungsphase. Der Karoschirm glühte auf und zeigte jenes charakteristische Muster, dem er seinen terra‐ nischen Namen verdankte. Die kinetische Energie der Treffer schleuderte den Stachelklotz aus seinem senkrechten Startkurs. Wie ein glühender Kreisel rotierend schoß er kilometerweit über den Wald hinweg, raste in flachem Winkel nach unten, rasierte eine drei oder vier Kilometer lange Schneise in den Dschungel und fing sich doch noch einmal. »Er steigt wieder!« sagte Monro mit bemerkenswerter Ruhe. »Er versucht noch einmal zu starten!« Tatsächlich verblaßte das Karo‐ muster, das Roboterschiff schien noch einmal genug Energiereserven für einen zweiten Startversuch mobilisiert zu haben. Für einen Ge‐ genangriff jedoch reichte es nicht. »Kommandant an Waffensteuerung! Das gleiche noch einmal! Feuer!« Innerhalb von weniger als einer Sekunde trafen Wuchtkanonen‐ geschosse, Nadelstrahlen und die Energiefinger von Mix‐2 in den sich gerade mit Mühe stabilisierenden Schutzschirm. Wieder die Karomuster, wieder der unkontrollierte Kreiselkurs über mehrere Kilometer und wieder eine Schneise im Urwald. Und wieder erhob sich der Stachelklotz bis in eine Höhe von fast achthundert Metern. Da endlich brach sein Karoschirm zusammen. Das Roboterschiff stürzte ab und schlug im Dschungel auf. Erde, Gestein und brennende Stämme stiegen rund um den Einschlagkra‐
ter bis zu fünfhundert Meter hoch in die Luft, für Sekunden wurde es stockdunkel in der Bildkugel. Doch dann blähte sich über dem fins‐ teren Inferno eine gewaltige Glutkugel auf… Die ANZIO stieg steil nach oben. »Steuern Sie die Position der Gruppe Santini an, Leutnant Godel! Kommandant an Sicherheitsab‐ teilung! Machen Sie zwei Löschzüge zum Ausschleusen bereit…!« Vegas blickte in die Bildkugel. Ein Feuerring breitete sich rund um den Einschlagkrater aus und raste kreisförmig in den Wald hinein. Atemlos lauschte der Veteran den Angaben aus der Navigation und der Aufklärung. Daten, in denen sich eine Hölle widerspiegelte: Bodentemperaturen von über tausend Grad, Windgeschwindigkei‐ ten von bis zu fünfhundert Stundenkilometern, Flammen noch in zwölfhundert Metern Höhe über dem Einschlagkrater und ein Rauchpilz, der rasend schnell in die Troposphäre hinaufwuchs. »Distanz zwischen Absturzstelle und Position Gruppe Santini!« rief Vegas. »Sechsundsiebzig Kilometer!« kam es von Bekians Arbeitsplatz. »Jawoll!« Vegas schlug sich mit der geballten Rechten in die Handfläche der Linken. »Das müßte reichen!« Noch ein Blick in die Bildkugel – die ANZIO überholte den Feuersturm. Vegas konzentrierte sich wieder auf die bevorstehende Landung. »Kommandant an Medoabteilung – eine Rettungseinheit fertig‐ machen zum Ausschleusen! Kommandant an Bordinfanterie – so‐ bald wir gelandet sind, raus mit Ihren Leuten, McGraves! Da unten wimmelt es von Robotern und Grakos! Sie hauen mir die Gruppe Santini und die beiden Gordo da raus…!« * Chester McGraves ließ das kleine Hologramm über der Instru‐ mententafel keinen Moment aus den Augen. Da! Wieder Geflimmer zwischen den Trümmern des Gebäudes!
»Feuer!« rief er. Sein Panzerschütze löste den Nadelstrahl aus, das Schattenfeld glühte auf, der Grako explodierte. Flammen loderten auf, die Ther‐ moreaktion des sich auflösenden Halbraumfeldes setzte die Trüm‐ mer in Brand. »Weiter«, sagte McGraves. »Der nächste…« Der Panzer pflügte an umgestürzten Baumaschinen, brennenden Transportfahrzeugen und eingestürzten Mauern vorbei. Der Wald‐ hang auf der rechten Talseite brannte. Im unteren Bereich der linken Talseite lagen entwurzelte Bäume kreuz und quer, allerdings nur bis zu einer Höhe von vielleicht zweihundert Metern hinauf. Bis in die Mitte des Tals, bis zu diesem halbfertigen Gebäude‐ komplex, waren die letzten Ausläufer des Feuerorkans gerast. Jen‐ seits des Gebäudes, auf dem linken Hang, war ihm die Kraft end‐ gültig ausgegangen. Mit ein bißchen Glück war die Gruppe Santini mit einem heftigen Sturm davongekommen, mit einem blauen Auge sozusagen. »Da!« Wieder verriet das typische Flimmern eines Halbraumfeldes die Nähe eines Grakos. Der Schütze eröffnete das Feuer… Es wimmelte zwar auch von Robotern hier unten im völlig ver‐ wüsteten Tal und vor allem an den Waldhängen darüber. Doch ge‐ fährlich konnten die Maschinen nicht mehr werden. Soweit der Feuersturm sie nicht verbrannt hatte, hatte er sie an den Stellen um‐ gerissen, an denen sie schon minutenlang völlig bewegungslos ge‐ standen hatten. Seit der Explosion ihres Mutterschiffs hatten sie nur noch einen geringen Marktwert als Schrott. Die Bordortung erfaßte eine Gruppe von sieben Grakos. Ihre Halbraumfelder bewegten sich links des Tals über entwurzelte Bäume hinweg. Irgendwo dort oben steckten Santini, seine Leute und die beiden befreiten Gordo. »McGraves an Gruppe III – versuchen Sie zwei oder drei Grakos lebend zu erwischen…!« Der Panzerschütze eröffnete das Feuer mit
Nadelstrahl – zwei Grakos explodierten. »Es reicht!« rief McGraves, und wieder an die Adresse seiner Außentruppe: »Schalten Sie drei Multikarabiner auf Paralysestrahlen! Wir geben Ihnen Feuer‐ schutz…!« Gruppe III und IV jagten hier unten im Tal nach Grakos. McGraves wollte verhindern, daß die Insektoiden in den Wald oberhalb des Tals einsickerten. Dort irgendwo nämlich lag Santini in Deckung. Flash schwebten bereits über dem Wald und suchten nach ihm. Gruppen I und II der Ausbildungseinheit der Rauminfanterie durchkämmten das Unterholz dort oben zu Fuß. Die ANZIO war zwölfhundert Meter entfernt in der Nähe der Santini‐Position im Wald gelandet. »Gruppe I an Einsatzleiter«, tönte eine keuchende Stimme aus dem Funkgerät. »Ich höre.« »Haben Sichtkontakt mit Santini. Sie liegen sechshundert Meter entfernt von unserer aktuellen Position am Rand eines Wurzeltrich‐ ters…« Der Infanterist unterbrach sich, Stimmengewirr drang aus dem Funk. »Was ist los bei euch, Gruppe I?« Mißtrauisch beäugte McGraves die Sichtschirme der Ortungsinstrumente. »Verdammt…!« kam es aus dem Funk. »Ein Grako, Major! Er greift Santinis Leute an…!« * »Überlebt…« Tom Strange fand als erster die Nerven und die Kraft, aus dem Tümpel zum Rand des Wurzeltrichters hinaufzuk‐ riechen. »Ich glaube es kaum, aber es scheint, wir haben überlebt…« Das Rauschen in den Kronen war verebbt, doch eine brütende Hitze machte jeden Atemzug zu einer Tortur. Penelope dos Santos erhob sich aus dem lehmigen Wasser und stapfte an den Rand des Tümpels.
»Jetzt möchte ich nur wissen, wer es nicht überlebt hat«, stöhnte Strange. »Der Roboterraumer oder die ANZIO?« »Warum müssen Sie den Teufel an die Wand malen, Tom? Sie sind doch sonst so optimistisch.« Penelope streckte die Hand nach Santini aus, doch der winkte müde ab. Bis zu den Hüften im warmen Was‐ ser, lag er mit dem Rücken in der schlammigen Trichterwand. Die Spanierin kletterte ohne ihn zu Strange hinauf. Die Gordo zirpten, rülpsten und gurrten. Sie schienen völlig aus dem Häuschen zu sein. Lichtfreundin schüttelte sich und rieb ihre Flügel aneinander, um Laub und Schlamm von ihnen zu streifen. Es hörte sich an, als würde jemand einen Drahtkamm über eine Glas‐ scherbe ziehen. Das Geräusch ging dem Major durch und durch. Trotz der Hitze fröstelte er. Santini zog die Schultern hoch und stöhnte mißmutig. In seinem linken Knöchel stach ein widerlicher Schmerz. Sein Gesicht brannte. Er betrachtete seine Handrücken und Arme. Blutige Kratzer überall. Er beugte sich über das dreckige Wasser. Kein Spiegelbild. Er sah hinauf, wo Strange und dos Santos abwechselnd durch den Feldstecher spähten. Vermutlich sah sein Gesicht ähnlich zerschun‐ den aus wie das der Spanierin. »Ein Flash!« rief Strange plötzlich. Santini legte den Kopf in den Nacken und starrte in die Baumkronen hinauf. Tatsächlich! Durch die Lücken im Geäst hindurch konnte er die Zylinderform eines terranischen Beiboots ausmachen. »Jesus Christus«, stöhnte Penelope. »Die ANZIO hat den Roboter plattgemacht! Jesus Christus…!« »Das heißt doch…!« Santini war hellwach auf einmal. »Ohne das Superhirn in ihrem Mutterschiff taugen die Handlungsroboter nur noch als Vogelscheuchen!« Er setzte sich auf. »Genau das heißt es!« Das Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein, stellte sich all‐ mählich doch ein. »Das und nichts anderes…!« Lichtfreundin bewegte ihren massigen Körper den Trichterrand
hinauf. Schattensucher folgte ihr. Santini fragte nicht lange um Er‐ laubnis, sondern griff nach der schmalen Fessel des großen Hinter‐ laufs und ließ sich von der Gordodrohne mit hochziehen. Am Trichterrand angekommen, kroch der Major ein Stück ins Un‐ terholz, lehnte gegen einen Ausläufer des gewaltigen Wurzelstrunks und begann seinen linken Stiefel aufzuschnüren. Er wollte nach sei‐ nem Knöchel schauen. »Wirf das Funkgerät an, Penelope«, ächzte er. »Vielleicht haben sie uns nicht exakt anpeilen können.« »Was glaubst du, was ich gerade mache?« Mit dem Rücken zu ihm kniete sie vor ihrem nassen und völlig verdreckten Rucksack und kramte ihren Eigenbau heraus. Halb aufgerichtet schob sich Schat‐ tensucher an ihr vorbei, darum konnte Santini nicht sehen, was sie tat. Über ihm, auf dem umgestürzten Baumstamm, erhob sich Licht‐ freundin zu voller Größe. Die Gordokönigin spreizte beide Flügel‐ paare. Offenbar wollte sie aus dem Unterholz fliegen und sich über die Baumwipfel schwingen, um die Aufmerksamkeit der terrani‐ schen Sucheinheiten auf sich zu ziehen. »Tun Sie das bloß nicht!« rief Santini. »Die Roboter mögen neutra‐ lisiert sein, ihre Herren aber, die elenden Schattenfeldbestien, sind es sich nicht…!« Und dann geschah es. »Ein Grako!« brüllte Strange. Er riß sich den Multikarabiner von der Schulter und warf sich auf den Bauch. »Runter vom Stamm!« Santini ließ sich zur Seite fallen und rollte sich ab. Auch er griff in‐ stinktiv an seine Schulter. Doch da fühlte er nur nackte Haut unter zerrissenem Stoff. Er hatte seine Waffe verloren! Fünfzehn Meter entfernt sah er das Halbraumfeld eines Grakos auf dem Stamm flimmern. Weil der Insektoide stillstand, konnte Santini ihn relativ gut erkennen in seinem Schattenfeld – der Grako richtete eine Waffe auf Lichtfreundin. »Schießen Sie, Strange…!« Strange schoß, doch der Grako sprang vom Baumstamm, und der Nadelstrahl ging ins Leere. Der Grako rollte durch Unterholz und
Gestrüpp. Verschwommen konnte Santini den Schwarzstrahler in seinen Händen erkennen. Sein Lauf zielte auf die Gordokönigin. In diesem Moment stieß Schattensucher ein grollendes Rülpsen aus. Mit einer Geschmeidigkeit, die Santini seinem tonnenschweren Körper niemals zugetraut hätte, sprang er zum Baumstamm hinauf. Schattensucher landete vor der Königin und deckte sie mit seinem Körper. Ein feiner schwarzer Strahl löste sich aus dem Schattenfeld und fuhr zischend in Schattensuchers Brust. Schwarze Wolken quollen dort hervor, wo seine Körpermasse aufgelöst wurde. Er spreizte sämtliche Flügel und streckte sich wie unter großen Schmerzen. Ein Zirpen wie von hundert Grillen entrang sich seinem weit aufgeris‐ senen Schlund. Seine Königin wollte ihn festhalten, doch er kippte vom Baumstamm und schlug im Unterholz auf. »Deckung!« brüllte Penelope. Sie stand längst und feuerte mit Santinis Handnadelstrahler auf das Halbraumfeld. Das glühte auf, der Grako taumelte zurück. Lichtfreundin ließ sich zur Seite ins Gestrüpp fallen. Santini und Penelope rollten Arm in Arm über den Trichterrand. Sie rissen Strange mit sich zurück und hinunter in den Schlammtümpel. Der Grako verging. Ein greller Lichtblitz zuckte über den Rand der Wurzelgrube. Danach hörten sie Flammen im Unterholz knistern und die Gor‐ dokönigin in höchsten Tönen zirpen. Keuchend kletterten sie wieder hinauf an den Trichterrand. Halb über den Stamm gelehnt schrie Lichtfreundin ihren Schmerz in den Dschungel hinaus. Unter ihr, zwischen Stamm und brennendem Gehölz, dampfte der zerfetzte Riesenkörper Schattensuchers… * Wärt ihr fünf Minuten früher gekommen, dachte Santini, nur fünf Mi‐ nuten…
Er dachte es lediglich, sagte aber kein Wort. Schweigend ließ er sich von den Infanteristen der ANZIO aufhelfen. Sie stellten sich mit Rang und Namen vor. Fünf Minuten später hatte er beides wieder vergessen. Ein gepanzertes Fahrzeug pflügte durch den Wald heran. Es stoppte neben der Wurzelgrube. Ein Offizier im Kampfanzug eines Infanteristen stieg aus. »Major ehester McGraves«, stellte er sich vor. »Ich bin heilfroh, daß wir nicht zu spät kommen!« Keiner antwortete, weder Santini noch dos Santos; nicht einmal Strange, der sich sonst nicht gerade leicht tat, wenn es darum ging, mal den Mund zu halten. Sie nickten nur und blickten auf die sterb‐ lichen Überreste der Gordodrohne. Eine Gruppe von Infanteristen begleitete Lichtfreundin zur AN‐ ZIO. Oberst Vegas ließ den größten Flashhangar für die Gordoköni‐ gin räumen. Die darin untergebrachten Flash sollten später außer‐ halb der ANZIO zur Erde zurückfliegen. Eskortiert von einer zweiten Infanteriegruppe rollte McGraves’ Panzer zurück zum Ringraumer. Penelope und Santini hockten ne‐ beneinander auf dem Panzerbug. Sie hielten einander an der Hand und schwiegen. Strange saß hinten und plauderte mit dem Bordschützen. Haark‐ lein ließ er sich die Einzelheiten des Kampfes gegen den Roboter‐ raumer schildern, und haarklein schilderte er den Absturz der DI‐ GUFINOLHU und die Befreiung der Gordo. Am Schiff angekommen, rutschte Santini vom Panzer. Ein Sanitä‐ ter reichte ihm Krücken. Dutzende schwerbewaffnete Infanteristen stapften aus dem Unterholz. Angewidert beobachtete Santini, wie sie zwei offensichtlich bewußtlose Grakos in den Traktorstrahl zerrten und mit ihnen zur Hauptschleuse hinaufschwebten. »Das sind die einzigen Überlebenden«, sagte McGraves. Er hatte Santini beobachtet, während er aus dem Panzer kletterte. »Unsere Flash haben die Umgebung des Tals gründlich abgesucht. Außer diesen beiden gibt es keine lebenden Grakos mehr auf dieser
Dschungelwelt.« Ein Infanterist brachte zwei Gürtel, an denen einige kleinere Me‐ tallgehäuse befestigt waren. »Die haben wir zwei toten Grakos ab‐ genommen«, sagte der Infanterist. »Die Geräte kamen uns irgendwie auffällig vor. Die beiden Gefangenen tragen sie auch.« McGraves betrachtete die Kästchen an den Gurten und nickte. »Danke, damit werden unsere Ingenieure sicher eine Menge Spaß haben. Bringen Sie die beiden Grakos in den Zellentrakt. Man soll sie gut bewachen.« Der Gedanke, mit zwei Grakos im selben Schiff fliegen zu müssen, gefiel Santini nicht; nein, er gefiel ihm ganz und gar nicht. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten die beiden Insektoiden den Rest ihres Lebens als Waldläufer und Baumsteiger zugebracht. Aber es ging nicht nach ihm. McGraves begleitete das Trio in die Kommandozentrale. Dort lernte Santini den legendären Roy Vegas endlich einmal persönlich kennen. Er war direkt ein wenig nervös. Der Oberst sah jünger aus, als Santini ihn sich vorgestellt hatte. Seine etwas rauhbeinige, aber herzliche Art gefiel ihm. »Schön, Sie noch unter den Lebenden anzutreffen, Major Santini.« Er begrüßte Eric Santini und seine Gefährten mit Handschlag. Als er vor Pene‐ lope stand, trat er einen Schritt zurück und hielt ihre Hand etwas länger fest, als es der Begrüßung eines weiblichen Offiziers ange‐ messen gewesen wäre. »So eine kleine Frau auf solch einem gefährlichen Einsatz?« Er lä‐ chelte auf eine Weise, die er wohl für charmant hielt. Penelope lächelte auch, aber ziemlich kühl. »Wenn man den Ge‐ rüchten trauen darf, die über Sie im Umlauf sind, neigen Sie sonst nicht dazu, sich vom äußeren Schein beeindrucken zu lassen.« Sie entzog ihm ihre Hand. »Glücklicherweise, möchte ich sagen.« Das Grinsen fiel dem legendären Oberst aus dem Gesicht. Irgend‐ wie ratlos suchte er Blickkontakt zu Santini. »Wir sind ziemlich er‐ schöpft, Oberst«, beeilte der sich zu sagen. »Und…. nun ja… ohne
Leutnant dos Santos hätten wir jetzt nicht das Vergnügen, uns ken‐ nenzulernen, wenn Sie verstehen…« Es blieb offen, ob Vegas verstand oder nicht, denn sein Erster Funkoffizier rief nach ihm. Vegas ging zur Funkzentrale und sprach mit den Offizieren vor den Kommunikationsgeräten. »Du hättest ein bißchen höflicher sein können«, raunte Santini der Spanierin zu. »Ich bin, wie ich bin«, zischte sie. »Und ich hasse es, von älteren Herren wie ein kleines Mädchen angequatscht zu werden.« »Kaum sind die Grakos an Bord, funktioniert der To‐Richtfunk nicht mehr, wie er soll«, sagte Vegas, als er von seinen Funkern zu‐ rückkam. Seine Miene wurde auf einmal hart. »Schlechte Nachrich‐ ten, Major.« Er senkte die Stimme. »Unsere Infanteristen haben ei‐ nige verkohlte Leichen im Dschungel gefunden. Wir konnten Dschamil und seine Männer identifizieren. Es ist ein Jammer…« Santini war nicht wirklich überrascht. Sie hatten mit Dschamils Tod gerechnet. Für den Flug zur Erde wies man dem Trio zwei Gästekabinen zu, eine für Penelope dos Santos und eine für Santini und Strange. Zwei Stunden nach dem Start von dem fremden Dschungelplaneten und kurz vor der ersten Transition klopfte Santini bei ihr. Eine frisch geduschte, frisierte und geschminkte Frau ließ ihn hinein. »Ich… ich wollte meinen Handnadelstrahler holen«, sagte er, als sie die Kabinentür hinter ihm geschlossen hatte. »Oh!« Sie ließ sich mit dem Rücken gegen die Tür fallen und machte ein halb amüsiertes, halb enttäuschtes Gesicht. »Ich dachte schon, du wolltest mich fragen, ob du bei mir übernachten kannst, weil Strange ein galaxisweit bekannter Schnarcher ist.« Sie ging zum Kabinenschrank, öffnete ihn und nahm die Hand‐ waffe heraus. »Hier. Und einen schönen Abend noch.« Er nahm ihr den Strahler ab, zog sie an sich und küßte sie. Atemlos sanken sie ein paar Minuten später auf ihr Bett. Er begann die Ösen ihres Oberteils zu öffnen. »Warte.« Sie hielt seine Hand fest. »Wir
haben überlebt, was wirst du nun tun?« »Bitte?« Santini begriff nicht gleich, wovon sie sprach. »Im Wald, als alles auf des Messers Schneide stand, sagtest du: ›Wenn wir das hier überleben, werd ich dich…‹, und nun hast du Zeit, den Satz zu Ende zu sprechen.« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küßte ihre Augenlider. »Allzu oft trifft man eine Frau wie dich nicht«, flüsterte er. »Ich dachte, es wäre eine gute Idee, wenn wir uns zusammentun.« Sie schob ihn zur Seite, setzte sich auf und lachte schallend. »Lach mich nicht aus.« Er protestierte. »Ich meine das ernst.« »Ist ja gut, Major.« Grinsend zerwühlte sie sein Haar. »Aber ich schlage vor, du sorgst erst einmal dafür, daß wir unseren Job auf demselben Planeten tun können, okay?« Sie stand auf und begann sich auszuziehen. »Dann haben wir Gelegenheit, uns ein wenig zu beschnuppern, und danach sehen wir weiter…«
16. Zwei Wochen später. Der März neigte sich bereits seinem Ende zu, und dem Kalender nach war seit ein paar Tagen Frühling. Doch in Alamo Gordo herrschte Frost wie sonst nicht einmal an der Nor‐ dostküste im Januar. Minus neununddreißig Grad Außentemperatur zeigte das Ther‐ mometer im Armaturenbrett des Gleiters. Die Heizung des Fahr‐ zeugs schaffte es nicht mehr, einigermaßen erträgliche Innentempe‐ raturen aufrechtzuerhalten. Wenigstens hatte es aufgehört zu schneien. Im Fond des Militärgleiters schmiegte sich Jenna Ferrari an Roy Vegas. Beide trugen Pelzmäntel und Pelzkappen. Vegas brachte seine Freundin zu einer Sektion des Raumhafens, auf der ein Schiff der Nogk auf sie wartete. Das sollte die junge Frau nach Babylon ausfliegen. Der Pilot steuerte den Gleiter langsam zwischen Zehntausenden von Menschen hindurch. Die Leute standen in Warteschlangen in einem überdachten Areal vor einem der Außentore von Cent Field. Alle zehn Minuten etwa wurden sie in Gruppen zu hundert Perso‐ nen durch das Tor gelassen, auf Transportgleiter verteilt und zu einem der vielen Nogk‐Raumer oder Ikosaederschiffe gebracht, die auf dem Flugfeld warteten. Der Flottengleiter hatte eine Sonderge‐ nehmigung. Er war bei den Kontrollposten an den Haupttoren an‐ gemeldet. »All die frierenden Menschen – es ist so traurig.« Jenna spähte durch eine handflächengroße Lücke in den Eisblumen am Seiten‐ fenster auf die Wartenden. »Es ist doch unsere Heimat. Hier gehören wir hin! Und jetzt verlassen wir die Erde Hals über Kopf, als wäre sie ein sinkendes Schiff.« Die Evakuierung der Menschheit war in vollem Umfang angelau‐ fen. Stündlich trafen Tausende von Menschen auf den Bahnhöfen
und Transmitterstationen von Alamo Gordo ein; Menschen aus allen Kontinenten. Auf Cent Field landeten und starteten praktisch unun‐ terbrochen Raumschiffe der Nogk und die riesigen Ikosaederraumer aus den Werften von Wallis Industries auf Eden. »Hals über Kopf würde ich das nicht gerade nennen, mein Schatz«, sagte Vegas. »Zugegeben: Es blieb wenig Zeit, aber gründlich ge‐ plant und exakt durchorganisiert ist dieser Massenexodus allemal.« »Ein trauriger Exodus.« »Das allerdings ist wahr.« Vegas seufzte und lehnte seinen Kopf gegen Jennas Scheitel. »Doch ich kann die Hoffnung nicht fahren lassen, daß die Menschheit eines Tages auf die Erde zurückkehren wird.« Der Gleiter stoppte vor dem Tor. Links und rechts des Fahrzeugs tauchten Uniformierte in grauen Mänteln aus Kunstfell auf. Der Fahrer senkte das Seitenfenster ab und reichte ein Papier hinaus. Der Posten las, bückte sich, spähte ins Gleiterinnere und grüßte, weil er Vegas erkannte. Danach winkte er den Gleiter vorbei. Das mehr als zehn Meter hohe Stahlgittertor schob sich zur Seite, der Militärgleiter schwebte auf das Flugfeld. Der Pilot beschleunigte und ging auf die hier vorgeschriebene Flughöhe von sechs Metern. Von den Südtoren bis zu Jennas Schiff waren es neun Kilometer. »Ich habe ein wenig Angst«, sagte Jenna. »Angst? Wovor?« »Davor, mit den Nogk zu fliegen. Diese fremdartigen Wesen sind mir unheimlich.« Ein kalter Schauer rieselte über ihre Schultern. »Sie kommen mir vor wie Dinosaurier, die gerade zu einer Heuschrecke mutieren. Und dann sind sie so groß, und sprechen kann man auch nicht mit ihnen…« »Groß ist etwas anderes, mein Schatz. Ein Gordo, der ist groß. Und sei doch froh, daß sie nicht sprechen. Dann brauchst du nicht viel mit ihnen zu tun zu haben. Wobei ich dir empfehlen möchte, dich ruhig einmal auf ihre telepathische Kommunikationsweise einzulassen. Die Nogk sind ein hochinteressantes Volk. Und ein freundliches
dazu.« »Schon möglich. Aber ich wäre lieber mit einem Ikosaeder und ei‐ ner menschlichen Besatzung geflogen.« Am Horizont wuchs die Silhouette des Ellipsoidraumers. »Dieses Gedränge an Bord, dieses Geschrei…« Vegas schüttelte energisch sein graues Haupt. »Hör zu, Schätzchen.« Er faßte Jenna am Kinn und hob ihren Kopf. »Ich habe alle verfügbaren Hebel in Bewegung gesetzt, um eine Kabine auf einem Raumer der Nogk für dich zu ergattern. Der Komfort an Bord ihrer Schiffe ist unvergleich‐ lich höher als der auf den eilig gebauten Evakuierungsschiffen von Eden.« Er küßte zärtlich ihre Lippen. »Und glaube mir: Für die Nogk würde ich jederzeit meine Hand ins Feuer legen. Die Leute von Eden dagegen…« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht…« »Ich danke dir, Roy. Du tust so viel für mich. Ich vertraue dir.« Jenna lehnte ihren Kopf an seine Schulter und schloß die Augen. »Es ist nur ein so ein Gefühl, weißt du? Aber wenn du den Nogk ver‐ traust, dann will ich ihnen auch vertrauen. Ich will es zumindest versuchen.« »Das ist klug von dir, mein Schatz.« Den Rest des Fluges hielten sie einander fest und schwiegen. Jenna war schwer ums Herz. Alles auf der Erde hatte den Geschmack von Untergang, von unwiderruflichem Ende. Und irgendwie färbte diese Atmosphäre auf ihren persönlichen Abschied von dem Mann, den sie liebte, ab. Wußte man denn, ob man sich jemals wiedersehen würde? Der Gleiter landete vor einer Nebenschleuse des Schiffes. Sie stie‐ gen aus, umarmten sich und küßten sich ein letztes Mal. »Ich denke an dich«, sagte Jenna. »Und ich liebe dich.« Sie flüsterte ihm ins Ohr. »Egal, was geschieht, ich werde dich immer lieben.« »Ich melde mich bei dir«, sagte Vegas. Er ließ sie los. Ein Nogk in einem Kälte‐ und Feuchtigkeitsschutzanzug begrüßte sie schweigend und mit freundlichen Gedankenbildern. An der Seite des fast achtzig Zentimeter größeren Wesens ging Jenna zum
Schleuseneingang. Dort drehte sie sich noch einmal um und winkte. Vegas winkte zurück und schickte ihr einen Handkuß. Schließlich verschwand sie in der Schleuse. Der Nogk würde sie direkt in ihre Kabine bringen. Eisige Kälte schnitt dem Oberst ins Gesicht. Er stieg wieder in den Gleiter. »Fliegen Sie so schnell Sie können«, sagte er zu dem Piloten. »Ich werde in Star City erwartet.« * Einen Teil des Foyers hatten sie in eine Garderobe umgewandelt. Die seit dem Frühjahr immer tiefer stürzenden Temperaturen hatten der Universitätsverwaltung gar keine andere Wahl gelassen: Man konnte schließlich nicht ständig fünf, sieben oder mehr Kilogramm Mantel, Jacke, Mütze, Schal und was sonst so an Kälteschutz nötig geworden war, in Hörsälen und Konferenzräumen mit sich herum‐ schleppen. Vegas gab seinen Pelzmantel und seine Pelzmütze ab und nahm die Marke entgegen. Danach ging er zu den Liften. Drei oder vier Männer im Foyer fielen ihm auf, die so gar nicht in sein Bild von Studenten und Dozenten paßten. Sie hielten sich derart linkisch an ihren Collegemappen fest und blätterten dermaßen unauffällig in Zeitschriften und Büchern, daß es sich eigentlich nur um Geheimdienstleute handeln konnte. Die Lifttür öffnete sich, ein Uniformierter stand darin, ein Gefrei‐ ter. Er hielt einen Strahler vor der Brust und machte keinerlei Ans‐ talten auszusteigen. Vegas trat in die Liftkabine. Obwohl er Zivil‐ kleidung trug, nahm der Soldat Haltung an und grüßte. Der Oberst grüßte zurück. Manchmal wunderte er sich über seinen Bekann‐ theitsgrad. Der Konferenzraum lag im dritten Obergeschoß des Universitäts‐ gebäudes. Der Kommandant der ANZIO wußte nicht wirklich, was ihn dort erwartete. Eine Konferenz der politischen, wissenschaftli‐
chen und militärischen Eliten von Terra, mehr hatte Ted Bulton ihm nicht verraten. Vegas verabscheute Konferenzen, doch der Raum‐ marschall hatte ihm befohlen, daran teilzunehmen. Der Lift hielt, Vegas verließ ihn und trat in einen Gang, auf dem er beim ersten Hinschauen schon mindestens sechs bewaffnete Sicher‐ heitskräfte und zwei oder drei Geheimdienstler zählte; letztere ganz und gar unauffällige Leute, verstand sich. Jemand begrüßte ihn mit lauernder Freundlichkeit, führte ihn zu einem Tisch und bat ihn, seine Handfläche auf ein Lesegerät zu le‐ gen, um sich zu identifizieren. Vegas hatte nichts dagegen einzu‐ wenden. Danach führten ihn zwei Sicherheitsbeamten in den Vorraum eines Konferenzsaales. Auch dort Geheimdienstleute und Sicherheits‐ kräfte. Jemand reichte ihm ein Plastikschildchen und bat ihn, es sich an die Brust zu heften. Sein Name und sein Rang standen auf dem Schild. Vegas steckte es in die Brusttasche seines Jacketts. Er haßte Namensschilder. Schon nicht mehr ganz so entspannt betrat er den Konferenzsaal. An einem Oval aus mindestens dreißig Tischen standen mindestens siebzig Stühle, rot gepolstert und mit Armlehnen. Zu drei Vierteln waren sie bereits besetzt. Vegas erkannte Henner Trawisheim, den Regierungschef, und dessen Vorgänger, Commander Ren Dhark. Und der kräftige Mann neben ihm, war das nicht Dan Riker, der ehemalige Flottenchef? Natürlich war er das! Auch zwei Nogk entdeckte Roy Vegas unter den Anwesenden im Saal. Eine freundliche Dame erkundigte sich nach seinem Namens‐ schild. Notgedrungen mußte er es wieder auspacken. Er ließ sie ei‐ nen Blick darauf werfen und steckte es erneut weg. Die Frau führte ihn zu einem Platz, an dem neben einer Flasche Mineralwasser und einem Glas ein weiteres Schild mit seinem Na‐ men auf ihn wartete. Sie gab ihm ein Mikro und bat ihn, es an seinem Revers oder Kragen zu befestigen.
Vegas nahm Platz. Er nickte seinen Sitznachbarn zu. Den zu seiner Rechten kannte er: Ein nicht allzu großer und nicht allzu athletisch gebauter Mann mit auffällig hellen grünen Augen – Bernd Eylers, Leiter der GSO; Chef also der unauffälligen Zeitschriftenleser und Collegemappenhalter im Foyer. Drei Stapel Papier türmten sich vor ihm auf dem Tisch. Der Veteran versagte es sich darüber nachzudenken, ob man den Chefagenten Terras gezielt neben ihm plaziert hatte. Möglicherweise hatte es ja nichts zu bedeuten. Den hageren Burschen zu seiner Linken hatte er noch nie gesehen, das hätte Vegas schwören können. Der Mann war höchstens dreißig und hatte ein schmales, kantiges Gesicht, in dem hellgraue Augen lauerten. Und er trug ein Namensschild: Ian Carus stand darauf, mehr nicht. Auch ein Geheimdienstler? Jenna würde mittlerweile an die achthundert Lichtjahre von Terra entfernt im All unterwegs sein. Vegas hatte schon jetzt Sehnsucht nach ihr. Zehn Minuten etwa verstrichen. Vegas entdeckte weitere Bekann‐ te: Raummarschall Theodor Bulton, den genialen Chris Shanton, den Chef der Schwarzen Garde Christopher Farnham und so weiter. Und sogar diesen Journalist, wie hieß er gleich? Stranger, genau. Auch ein Roboter saß mit am Konferenztisch. Das mußte Artus sein. Neben der Maschine saß ein Mann mit roten, langen Haaren – Arc Doorn, las Vegas auf seinem Namensschild – und neben Doorn ein Angehöriger der Schwarzen Garde, den Vegas nicht gleich er‐ kannte. Leutnant Kurt Bück hatte er zuletzt getroffen, als der noch Fähnrich war. Die Plätze an der Konferenztafel füllten sich nach und nach. Irgend jemand schloß die Flügel der Eingangstür. Der Commander der Planeten hielt eine kleine Begrüßungsansprache. Er bedankte sich fürs Kommen, beschwor die Wichtigkeit dieser Konferenz und stellte die beiden Nogk vor. Sie trugen Atemmasken, die ihnen die Luft trockneten.
Einen der Fremden kannte Vegas: Charaua, der erste Nogk, der je mit einem Menschen Kontakt aufgenommen hatte – natürlich mit Ren Dhark – und der aktuelle Regierungschef seines Volkes. Vegas schätzte ihn sehr. Charauas Begleiter stellte Trawisheim als Kommandant Uwegra vor. Weder hatte Vegas ihn schon einmal gesehen noch je seinen Namen gehört. »Wer ist dieser Nogk?« flüsterte er seinem rechten Nachbarn zu. »Der Meeg‐Kommandant Uwegra«, sagte Eylers. »Er hat einst die REESCH befehligt.« »Aha«, sagte Vegas, »danke.« REESCH? Meeg‐Kommandant Uwegra? Er hatte keine Ahnung, wovon Eylers sprach. Trawisheim erteilte dem Oberbefehlshaber der Schwarzen Garde, Christopher Farnham, das Wort. Ein Hologramm flammte innerhalb der Tafelrunde auf. Eine Sonne erschien darin, ein Planet, ein Karo‐ schirm und schließlich eine Menge Roboter, wie Vegas sie auf dem Dschungelplaneten zu Hunderten gesehen hatte. Bei der Sonne handelte es sich um das Zentralgestirn jenes Plane‐ ten der Eins hieß und die Heimat des sogenannten »Volkes« oder der »Funktionsgemeinschaft«war, jener Roboter also, die der Menschheit seit Monaten das Leben schwermachten. Der Generalmajor mit dem künstlichen linken Auge gab einen Be‐ richt über den Einsatz der Schwarzen Garde und der POINT OF auf Eins, »um alle Anwesenden auf den neusten Informationsstand zu bringen«, wie er sich ausdrückte. Durch die Bildkugel zogen ein paar Aufzeichnungen des Einsatzes, unter anderem konnte man transparente Tanks erkennen, in denen humanoide Körper lagen – Salter, wie Farnham erklärte. Zu seinem Schrecken mußte Vegas hören, daß auch der letzte dieses Volkes als Folge des Einsatzes sein Leben verloren hatte. »Glücklicherweise nicht, ohne uns über die Geschichte der Robo‐ terwelt aufzuklären«, sagte Farnham und berichtete von Saltern, die sich einst von den Worgun losgesagt hatten. Vor rund dreitausend
Jahren waren sie die ersten Opfer der von ihnen erschaffenen intel‐ ligenten Großrechner geworden. »Ein Schlüssel zum Rätsel der Roboter könnte dieser Gürtel sein.« Farnham hielt einen Gurt hoch, der so aussah wie jene, die Vegas’ Infanteristen den beiden gefangenen Grakos abgenommen hatten. »Mit diesen Spezialgürteln am Körper beziehungsweise mit den Geräten, die an diesen Gürteln befestigt sind, erzeugen die Grakos sogenannte Feldviren, die bei intelligenten Rechnern eine verblüf‐ fende Täuschung erzeugen.« Mit einer Kopfbewegung bedeutete der Generalmajor dem anwe‐ senden Roboter, sich dazu zu äußern. Artus berichtete, daß Träger dieses Gurts und seiner Instrumente von seinen künstlichen Sinnen als »Kontrollroboter« wahrgenommen würden. Nach seinen Worten trugen die Grakos diese Gurte, um sich gegenüber den intelligenten Robotern zu tarnen. Arc Doorn ergriff das Wort und schilderte den Nebeneffekt der Feldvirusgeneratoren: In Verbindung mit dem Halbraumfeld der Grakos streuten sie To‐Richtfunk und störten ihn so erheblich. Diese Erfahrung hatte auch Vegas auf seiner ANZIO machen müssen. Daß es die Kombination von Halbraumfeld und Instru‐ mentengurt war, die den To‐Richtfunk streute, hatten Stormond und Kana erst auf halber Strecke zwischen dem Dschungelplaneten und der Erde herausgefunden. Henner Trawisheim bat den Geheimdienstchef um seinen Bericht. Bernd Eylers räusperte sich, nahm ein paar Folien von seinen Stapeln und ordnete sie vor sich auf dem Tisch. »Ich habe leider keine guten Nachrichten, meine Damen und Herren. Wie auf allen bekannten Planeten hat die GSO natürlich auch auf Grah ihre Aufklärungsbe‐ mühungen verstärkt, seit die Roboter und die bekannten Probleme mit unserer Sonne ganz oben auf unserer Agenda stehen…« Eylers’ Agenten hatten angeblich herausgefunden, daß es auf Grah eine geheime Organisation rebellischer Grakos gab. Die Angehöri‐ gen dieser Untergrundbewegung hatten laut Eylers nur ein Ziel:
Krieg gegen die Menschheit und Wiederherstellung der alten Ord‐ nung. Unter »alter Ordnung« verstanden sie die Herrschaft der Grakos über ihr Volk – auch und gerade über die Gordo. Als wichtigen Schritt zu diesem Ziel betrachteten die Angehörigen der Untergrundbewegung die Errichtung vieler geheimer Aufzu‐ chtstationen auf unbedeutenden und entsprechend unbekannten Planeten mit feuchtheißem Klima. Dort zwangen die rebellischen Grakos entführte Gordo zu Eiablage. »Diese Eier werden einer seit unserem Sieg über Grah strengstens verbotenen Spezialbehandlung unterzogen«, schloß Bernd Eylers. »Entgegen aller geltenden Verträge will die kleine Kriegsfraktion der Grakos auf diese Weise weiter von Halbraumfeldern umgebenen Nachwuchs erzeugen. Und die ausgeschlüpfte Brut soll nach Er‐ kenntnissen unserer Agenten zu unversöhnlichen Feinden der Menschheit erzogen werden.« Er lehnte sich zurück und gab so zu verstehen, daß er am Ende seines Berichts war. Farnham ergriff wieder das Wort: »Seit Major Santini in einem Kommandounternehmen zwei entführte Gordo aus der Nähe einer solchen Aufzuchtstation befreit hat, wissen wir zwei Dinge ganz sicher. Erstens: Die strategischen Ziele der kriegerischen Grakos haben das Planungsstadium längst verlassen. Sie machen Ernst. Zweitens: Nicht nur auf Eins operieren renegate Grakos, sondern auch auf anderen Planeten der Milchstraße. Die Operation der Gruppe Santini bestätigt damit die Erkenntnisse der GSO.« Farnham wandte sich an Ren Dhark. »Welcher Zusammenhang besteht nun aber zwischen den Robotern von Eins und den kriege‐ rischen Grakos? Commander Dhark, würden Sie uns bitte Ihre These darlegen?« »Die Sache scheint recht einfach zu sein«, begann Dhark. »Offenbar hat diese Minderheit der kriegerischen Grakos es irgendwie ge‐ schafft, Eins zu erobern und sich das Robotervolk gefügig zu ma‐ chen. Wir wissen inzwischen, daß diese Robotergesellschaft seit rund dreitausend Jahren existiert. Auf dem galaktischen Parkett ist sie nie
in Erscheinung getreten, keines der Völker in der Milchstraße weiß von ihr. Hätten die Roboter jemals eine fremde Raumflotte oder gar einen anderen Planeten angegriffen, müßte das in irgendwelchen Chroniken vermerkt sein. Das ist aber nicht der Fall. Fazit: Das Ro‐ botervolk ist im Grunde ein friedliches, allerdings auch extrem kon‐ taktscheues Volk. Nun aber greifen ihre Schiffe plötzlich unsere Flotte und unseren Mutterplaneten an. Proxima Centauri saugt unserer Sonne dank ihrer Manipulationen die Energie ab. Wie ist das zu erklären? Vor dem Hintergrund aller bisher in dieser Runde angesprochenen Fak‐ ten gibt es nur eine mögliche Antwort auf diese Frage: Den Grakos ist es schon vor geraumer Zeit gelungen, das Robotervolk mit Hilfe ihrer Feldviren zu unterwandern und letztlich zu versklaven. Eine kleine, aber äußerst kriegerische Grakofraktion mißbraucht die Ro‐ boter für ihren Rachefeldzug gegen Terra. Davon gehen wir inzwi‐ schen aus.« Geraune erhob sich. Sitznachbarn begannen tuschelnd miteinander zu diskutieren. Vegas wandte sich nach rechts. »Kann das wahr sein?« »Glauben Sie mir, Oberst«, sagte der Geheimdienstchef. »Es ist wahr. Leider.« * Irgendwann hob Henner Trawisheim seine rechte Hand. »Ich bitte um Ruhe, meine Damen und Herren! Auf der Grundlage der soeben vorgetragenen These fällt die Regierung von Terra derzeit ihre Ent‐ scheidungen. Aber noch haben wir nicht alle Fakten zur Kenntnis genommen.« Er wandte sich nach links und sah quer über das Tafelrund zu ei‐ nem kleinen, hageren Mittvierziger mit langem blondem Haar. »Ich bitte den Direktor der Raumfahrtakademie, Professor Monty Bell, um seinen Bericht.«
»Danke«, sagte Bell in Richtung des Regierungschefs. »Ich mache es kurz, denn was ich Ihnen zu sagen habe, wird uns heute noch viele Stunden an Diskussion und Planung kosten.« Er beugte sich vor und faltete seine schmalen Hände vor sich auf dem Tisch. Obwohl er klein und schmächtig war, füllte seine Präsenz den Saal aus. Vegas meinte den Respekt, der Monty Bell von allen Seiten entgegengebracht wurde, mit Händen greifen zu können. Er war längst so etwas wie der Einstein des 21. Jahrhunderts. Keiner am Konferenztisch, dessen Augen jetzt nicht an Beils Lippen hingen. »Ich brauche kein weiteres Wort über das geheime Forschungs‐ zentrum von Alamo Gordo zu verlieren, denke ich. Es ist der Aka‐ demie angegliedert, und wir befassen uns natürlich mit dem Prob‐ lem der sterbenden Sonne, seit es bekannt ist. Wir arbeiten eng mit der Schwarzen Garde zusammen und haben uns auch mit den Da‐ tenspeichern befaßt, die General Farnhams Truppen von Eins mitb‐ rachten.« Er wies auf den Mann, der links von Vegas saß. »Wir, das sind in erster Linie Ian Carus und sein Team. Mr. Carus hat die abnehmen‐ den Kernfusionsprozesse innerhalb der Sonne unabhängig von uns entdeckt und seitdem entscheidend zur Erforschung des Phänomens beigetragen. Er und ich haben auch die Daten von Eins entschlüsselt und analysiert.« Verstohlen und nicht ohne eine gewisse Bewunderung musterte Vegas den fast fünfzig Jahre jüngeren Mann neben sich. Also doch kein Geheimdienstler – obwohl er ziemlich mißtrauisch und ver‐ schlossen wirkte. »Wir haben die beim ersten Einsatz auf Eins gewonnenen Daten gesichtet und zum großen Teil auch schon ausgewertet«, fuhr Monty Bell fort. »Das meiste war uninteressant, doch wir sind auf ein tech‐ nisches Projekt der Grakos gestoßen, das uns alarmiert hat: Die Grakos betreiben eine Station im Hyperraum.« Wieder erhob sich Geraune und Getuschel. Der Professor ließ den Konferenzteilnehmern Zeit, die ungeheuerliche Behauptung zu
verdauen. »Ich weiß, ich weiß!« Beschwichtigend hob er beide Hände. »Das klingt wie eine Zumutung für alles, was wir für vernünftig halten, aber es kommt noch schlimmer: Obwohl im Hyperraum alle unsere Maßeinheiten versagen, weil es dort ja keine Entfernungen in unse‐ rem Sinne gibt –, schon Begriffe wie ›dort‹ und ›hier‹ sind diesem für uns nur theoretisch erfaßbaren Kontinuum unangemessen – stießen wir bei der Auswertung besagter Daten auf ein sehr merkwürdiges Faktum. Die Grakos beschreiben die superdimensionale Konstella‐ tion zwischen ihrer Hyperraumstation und Proxima Centauri mit exakt demselben Raumzeitkrümmungsquotienten, den sie auch für die superdimensionale Konstellation zwischen ihrer Station und unserer Sonne zugrunde legen…« Vegas verstand nicht einmal die Hälfte, und es tröstete ihn nicht wenig, daß es einer großen Mehrheit am Konferenztisch ähnlich ging: begriffsstutzige Mienen, wohin er auch sah. »Ich versuche es noch einmal anschaulicher zu sagen.« Monty Bell merkte natürlich, daß er sein Publikum überforderte. »Der ›Hyper‐ raumort‹ – ich verwende einfach mal den Begriff ›Ort‹, obwohl es im Hyperraum selbstverständlich keinen Ort im herkömmlichen Sinne gibt – der Hyperraumort der Grakostation also ist von unserer Sonne genauso weit entfernt wie von Proxima Centauri. Daraus und aus einigen anderen Auffälligkeiten schließen Mr. Carus und ich, daß die Hyperraumstation und die Manipulation unserer Sonne und Proxi‐ ma Centauris in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Ich danke Ihnen. Charaua, das Oberhaupt der Nogk, hat nun das Wort.« Der kräftige und über zweieinhalb Meter große Charaua rückte seine Lufttrocknermaske zurecht. Seine Kopffühler strahlten telepa‐ thische Impulse aus, die von allen im Saal verstanden wurden: »Freundlicherweise hat Ihr Professor uns bereits mit den erwähnten Daten von Eins vertraut gemacht. Meiner Meinung nach handelt es sich bei der Hyperraumstation um einen Typ, wie ihn die Grakos bereits im Kampf gegen die Worgun bauten und verwendeten.
Selbstverständlich um eine Weiterentwicklung, denn die Grakos sind nach meiner Einschätzung neugierige Tüftler und hervorra‐ gende Ingenieure. Die Hyperraumstation, von der eben die Rede war, dürfte vermutlich erst vor ein paar Jahren erbaut worden sein.« Charaua räkelte sich in seinem Spezialsessel und stieß ein Keuchen aus, das wie das Husten eines Walrosses klang. »Ich weiß nicht, was Sie von unserem Projekt REESCH und von Kommandant Uwegra gehört haben. Wir haben seinerzeit das Konzept eines Halbraum‐ gleiters entwickelt. Der kleine Prototyp REESCH wurde unter Uwegras Kommando getestet. Nun, die REESCH blieb im Hyper‐ raum hängen, und die Besatzung konnte nur durch die heldenhafte Hilfe der Terraner gerettet werden. Kurz: Das Projekt scheiterte. Leider. Allerdings gaben unsere Meegs es nie ganz auf; all die Jahre, die seitdem vergingen, arbeiteten sie an einem neuen, verbesserten Halbraumgleiter. So haben wir in aller Ruhe ein neues Modell ent‐ wickelt, das eigentlich für Forschungsflüge vorgesehen war. Wenn Sie, verehrte Freunde, jedoch die besagte Grakostation im Hyper‐ raum erreichen wollen, dann dürfte das nur mit der neuen REESCH II möglich sein. Der Kommandant des Schiffes wird wiederum Uwegra sein.« Charauas Worte sorgten für einige Unruhe. Kaum jemand außer den Männern um Ren Dhark wußte etwas von dem gescheiterten Hyperraumgleiterprojekt, und niemand außer den Nogk hatte je etwas von einem neuen Hyperraumgleiter mit dem Namen REESCH II gehört. Vegas war bei weitem nicht der einzige Skeptiker in der Konferenzrunde. Normalraum war Normalraum, und Hyperraum war Hyperraum. Nach Vegas’ Meinung sollte kein intelligentes Wesen das Raum‐Zeitgefüge aufgeben, an das seine Existenz gebunden war – von Transitionen einmal abgesehen. Es gab etwa zwei Dutzend Wortmeldungen. Die Wissenschaftler unter den Teilnehmern wollten Einzelheiten über das erste geschei‐ terte Halbraumgleiterprojekt wissen. Der Nogkführer stand ihnen
Rede und Antwort. Einige Militärs zweifelten unverhohlen daran, daß man eine Hyperraummission überhaupt zielgenau planen und dann durchführen könnte. Henner Trawisheim, Ren Dhark, Monty Bell und Ted Bulton ver‐ folgten die Diskussion auffallend wortkarg. Auf einmal beschlich Vegas der Verdacht, daß die Würfel längst gefallen waren. »Euer Muttergestirn stirbt, Terraner!« Charaua gebärdete sich immer leidenschaftlicher. »Ich an eurer Stelle würde nach jedem Strohhalm greifen! Und die REESCH II ist mehr als nur ein Stroh‐ halm, das könnt ihr mir ruhig glauben! Stellt euch doch nur einmal vor, was für eine Chance sich der Menschheit hier auftut!« »Wovon sprechen Sie, Charaua?« rief Vegas. »Welche Chance? Wie stellen Sie sich denn den Einsatz gegen die Hyperraumstation vor?« Das Stimmengewirr legte sich. Augenblicke des Schweigens folg‐ ten. Der Nogkführer blickte zu Farnham. »Nun, Oberst Vegas…« Der Generalmajor druckste ein wenig herum. »Ganz einfach: Wir springen mit der REESCH II aus dem Normalraum in den Hyper‐ raum, suchen die Grakostation und zerstören sie. Sollte sie der Schlüssel zu den Vorgängen zwischen Sonne und Proxima Centauri sein, müßten wir damit den Masseabfluß aus unserem Zentralgestirn gestoppt haben. Dann wäre die Sonne nicht mehr das Faß ohne Bo‐ den, die sie für die Synties ja ist. Die Synties könnten die verlorene Sonnenmasse im Laufe der Zeit wieder auffüllen. Und die Erde wäre wieder bewohnbar.« »Das klingt aber mehr nach einem bereits fertigen Plan als nach einer von vielen Möglichkeiten, die zu diskutieren sind«, sagte Leutnant Kurt Bück. Farnham räusperte sich und blickte hilfesuchend zu Trawisheim. Der aber senkte den Blick und schrieb irgend etwas auf einen No‐ tizzettel. »Stimmt, Buck«, sagte Ren Dhark an seiner Stelle. »Und ehrlich gesagt: Es ist ein schon sehr konkreter Plan. Ein Raumtransporter mit der REESCH II ist bereits unterwegs zur Erde. Wir kennen das Schiff
zwar ganz gut von den Simulationen einiger Hyperkalkulatoren. Doch ein oder zwei Tage lang werden wir es trotzdem noch testen. Wenn es hält, was Charaua verspricht, dann machen wir’s.« Ein Raunen ging durch die Reihen. Ren Dhark blickte in die Runde. Noch immer überwogen die Skeptiker, und Vegas schätzte, daß er noch immer zu ihnen gehörte. »Und wenn wir schon einmal bei der Ehrlichkeit sind«, fuhr Dhark fort, »dann will ich Ihnen auch nicht verschweigen, wovon wir hier reden. Wir reden von einem Himmelfahrtskommando.« Er wandte sich zur Seite und forderte Generalmajor Farnham mit einem Blick auf, den Faden aufzunehmen. »Der Punkt ist also folgender«, sagte Farnham mir heiserer Stim‐ me. »Wir suchen Freiwillige.«
17. »Als ob wir keine anderen Sorgen hätten, als für diesen Kerl die Handlanger zu spielen«, maulte Tim Willows. Der dreißigjährige Techniker hantierte mit wenig Begeisterung an einer Sendeanlage. Gemeinsam mit seinem Kollegen Igor Varnuk hielt er sich in einem nicht benötigten Vorratslager der POINT OF auf. »Zumal der Chief im Maschinenraum die Welle macht«, pflichtete Varnuk in seiner schleppenden Sprechweise bei. Ren Dhark schätzte ihn wegen seiner Improvisationsfähigkeiten, und hier wurde mal wieder improvisiert. Während nämlich der angesprochene Chief, also der Leitende Ingenieur Miles Congollon, den Zustand sämtli‐ cher Maschinen vor dem Start des Ringraumers doppelt und drei‐ fach überprüfen ließ, bedienten die beiden Techniker ein kleines Studio, eingerichtet dort, wo sonst Ersatzteile oder Bordverpflegung untergebracht waren. »Immerhin hat das den Vorteil, daß man uns später keinen Vor‐ wurf machen kann, wenn etwas schiefgeht und wir zu spät zur Verabredung mit der REESCH II eintreffen.« Die beiden Männer grinsten. Natürlich drohten keine Schwierig‐ keiten. Die POINT OF war wie immer einsatzbereit. Congollons übertrie‐ bene Überprüfungen dienten lediglich dazu, seine Truppe bis zum Start auf Trab zu halten. »Trotzdem gefällt mir nicht, daß dieser Kerl Narrenfreiheit genießt. Auf der Erde, überall in der Galaxis und sogar bei uns an Bord. Er kann machen, was er will, und niemand redet ihm rein.« »Nun übertreib nicht. Er wird sich schön an die Regeln halten. Jedenfalls hat er das bisher getan. Dafür sorgt der Commander schon. Er hat den Dicken im Griff, verlaß dich drauf.« Mit dem Kerl, wie Willows ihn despektierlich genannt hatte, war Bert Stranger gemeint. Der kleine dicke Mann mit dem Unschulds‐
gesicht, den Segelohren und den roten Haaren wirkte äußerlich wie ein übermütiger Lausbub. Doch diese Einschätzung täuschte gewal‐ tig. Denn in Wahrheit hatte es Stranger faustdick hinter den Ohren. Schon viele, die sich mit ihm angelegt hatten, hatten das einsehen und klein beigeben müssen. Er war nämlich nicht nur der beste, sondern zudem der erfolg‐ reichste Reporter von Terra‐Press, dem größten Medienkonzern des Sol‐Systems. Strangers Anwesenheit an Bord des Ringraumers war nichts Neues, doch neuerdings hatte er sogar sein eigenes kleines Studio, was manche alteingesessenen Besatzungsmitglieder gewaltig störte. Auch Willows fühlte sich von Strangers Omnipräsenz genervt. Der Mann, über den die beiden Techniker sich die Köpfe zerbra‐ chen, hockte, einen altmodischen Kopfhörer übergezogen, vor einer Phalanx von Monitoren und bekam nicht mit, was um ihn herum geschah. Willows und Varnuk, die seine reibungslose Arbeit über‐ haupt erst ermöglichten, nahm er nicht einmal wahr. »Ich wünschte, dieses Kasperletheater hätte ein Ende, damit wir endlich wieder unseren normalen Aufgaben an Bord nachgehen können.« »Statt rumzujammern sag mir lieber, wie es aussieht«, forderte Varnuk seinen Kollegen auf. »Richtfunkverbindung zu Terra‐Press funktioniert einwandfrei. Daran kann das bißchen Schneetreiben da draußen nichts ändern. Strangers Übertragungen sind gesichert, wohin auch immer Dhark uns nach dem Start bringen wird.« »Du hast vielleicht Nerven. Ein bißchen Schneetreiben? Fünf Mi‐ nuten da draußen ohne Schutzkleidung, und man ist erfroren. Ich fürchte, diesmal findet selbst Ren Dhark keinen Ausweg aus der Lage.« »Eigentlich sind wir selbst schuld«, sinnierte Willows. »Wir? Wen meinst du mit wir? Uns beide?« »Quatsch. Ich spreche von uns, der gesamten Menschheit. Ständig
versucht irgendeine Macht der Galaxis, uns das Licht auszupusten. Und was machen wir, wenn wir uns wieder einmal erfolgreich ver‐ teidigt haben? Wir fassen die Kerle mit Samthandschuhen an.« »Ich kann dir nicht ganz folgen, Tim.« »Nimm die Grakos. Wir haben sie besiegt, also dürften sie nie wieder eine Gefahr für uns darstellen. Nun haben wir sie wieder am Hals. Wir hätten viel restriktiver gegen die Bande vorgehen müssen, als wir die Gelegenheit dazu hatten.« »Was verstehst du unter restriktiver? Hätten wir sie alle umbrin‐ gen sollen? Das verträgt sich kaum mit unserer friedlichen Politik, außerdem wäre es nicht gerade human.« Willows seufzte. »Was jetzt gerade mit der Sonne passiert, kann man auch nicht gerade human nennen… aber du hast recht. Doch wir hätten sie besser beaufsichtigen sollen, damit das, was nun ge‐ schehen ist, erst gar nicht wieder hätte passieren können.« »Auch das läßt sich nicht mit dem menschlichen Verständnis von interstellarer Raumfahrt und friedlicher Koexistenz mit anderen Völkern vereinbaren. Die Erde ist keine Hegemonialmacht. Dharks Politik basierte stets auf der Selbstbestimmung jedes Volkes. Wür‐ dest du dir gern von anderen diktieren lassen, was du zu tun und zu lassen hast?« »Ich bin auch nicht hingegangen und habe einen anderen Planeten überfallen oder seine Sonne angezapft. Das sind Verbrecher und Extremisten.« »Ich widerspreche dir ja gar nicht. Doch die werden wir nie ganz ausschalten können. Mit denen müssen wir uns herumschlagen, solange es die Menschheit gibt. Daran wird sich nie etwas ändern. Manchmal denke ich, das Universum ist uns generell feindlich ge‐ sonnen. Oder es erlegt uns eine Prüfung nach der anderen auf, um zu sehen, wie wir darauf reagieren.« »Starker Tobak.« Willows wußte nicht, was er auf Varnuks Über‐ legungen antworten sollte, deshalb kehrte er zum ursprünglichen Thema zurück. »Seit Anfang Februar laufen Strangers Sendungen
schon. Seit zwei Monaten. Weißt du, wie ich das nenne?« »Affig?« »Mir schwebte ein anderer Ausdruck vor, aber affig ist durchaus zutreffend.« »Da bin ich ganz deiner Meinung, Tim.« Varnuk winkte ab. »Aber uns fragt ja keiner. Außerdem trägt Strangers Sendung entscheidend mit dazu bei, daß die Evakuierung Terras planmäßig vonstatten geht. Das Dickerchen genießt nun mal größtes Vertrauen in der Be‐ völkerung.« »Gerade das macht mich mißtrauisch. Man sollte Reportern nicht alles glauben, was sie einem auf die Nase binden, und sogenannten Starreportern schon gar nicht. Mit einem solchen Bericht kannst du die Massen manipulieren.« Varnuks Blick ging zu einem Kontrollmonitor. Zur Zeit lief eine Reportage über die Integration von Siedlern auf Babylon, die vom dortigen Terra‐Press‐Büro zugespielt wurde. Alles lief problemlos ab. Babylon, die ehemalige Stützpunktwelt der Worgun und heutige Kolonie Terras, diente seit Jahren als Ausweichwohnwelt der Men‐ schen. Knapp vierzig Millionen Einwanderer lebten dort – bis zum Beginn der Sonnenkrise. Dank der riesigen Pyramidenstädte der Worgun bot der Planet Lebensraum für Milliarden. »Wir sollten froh sein, daß die Umsiedlung so reibungslos abläuft.« »Das bin ich. Manches läuft aber auch zu glatt. Die Regierung wollte uns schon einmal umsiedeln, als sie befürchtete, die Erde könnte von den Grakos überrannt werden. Damals haben meine Eltern sich strikt geweigert, ihre Heimat zu verlassen. Heute murren sie nicht mal. Und warum nicht? Weil die Medien sie beeinflussen.« »Nein, sondern weil sie einsehen, daß es keine Alternative gibt. Unsere gute alte Erde ist zum Untergang verurteilt, ob uns das nun gefällt oder nicht. Glaub mir, deine Eltern tun das einzig richtige. Meine haben die Erde bereits verlassen, und ich bin froh darüber. Sie sind überall sicherer als auf Terra, besonders auf Babylon.« »Trotzdem gibt es genug Menschen, die sich weigern, die Erde zu
verlassen.« Verständnislos verzog Varnuk das Gesicht. »Da haben wir es doch wieder. Wie ich eben schon sagte, es hört niemals auf. Ein paar Sturköpfe wird es immer geben.« »Das ist doch etwas anderes als Grakos, die fremde Welten ang‐ reifen. Ich würde Menschen, die ihre Heimat nicht verlassen wollen, nicht als Sturköpfe bezeichnen.« »Als einsichtig aber auch nicht.« »Weil ihnen etwas an ihrer Heimat liegt. Sogar so viel, daß sie lie‐ ber sterben, als sie zu verlassen.« »Meinst du etwa, mir liegt nichts an der Erde? Oder Dhark, Tra‐ wisheim und all den anderen? Der letzte, in dessen Haut ich zur Zeit stecken möchte, ist der Cyborg. Er macht sich alle zum Feind. Seine Sympathiewerte sind im Keller wie bei keinem Regierungschef vor ihm. Doch er kann nicht anders handeln. Vielleicht hast du recht mit deiner Verteidigung der Leute, die partout nicht gehen wollen. An‐ dererseits ist die Regierung auch für diese…« Varnuk suchte nach dem richtigen Wort »… für diese Hartnäckigen verantwortlich. Man kann sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Manche haben trotz der Saukälte da draußen vielleicht immer noch nicht begriffen, welches Schicksal der Erde und ihnen droht. Strangers Berichte hel‐ fen, ihnen die Augen zu öffnen.« »Trotzdem könnten sie etwas objektiver gemacht sein.« »Stranger ist objektiv, Tim. Und loyal. Sonst wäre er nicht weltweit so angesehen.« »Die Herren reden über mich?« Die beiden Techniker sahen zu dem Reporter hinüber. Er hatte das archaische Monstrum von Kopfhörer vor sich abgelegt und schien ihnen schon eine ganze Weile zu lauschen. »Wir haben uns nur…« »… als neutrale, übergeordnete Kontrollinstanz der Presse betä‐ tigt.« Stranger winkte ab. »Nichts dagegen, meine Herren. Trotzdem wäre es nett, wenn Sie sich wieder auf Ihre eigentliche Aufgabe
konzentrieren würden, auch wenn die Ihnen nicht ganz so wichtig erscheint wie Ihre Kontrolle meiner Person. Die Reportage geht gleich zu Ende. Dann würde ich gern wieder live auf Sendung ge‐ hen.« Varnuk und Willows schluckten die Kröte kommentarlos. Dieser Reporter grinste doch tatsächlich wie ein Lausbub nach ei‐ nem gelungenen Streich. * Unter elektronisch erzeugten Fanfarenstößen wurde das Logo von Terra‐Press eingeblendet. Die Techniker hatten verschiedene Ein‐ spielfilme bereitgestellt, die Bert Stranger unsichtbar für die Zus‐ chauer auf der Erde und an anderen Orten im Sonnensystem per Knopfdruck abrufen konnte. Die Erkennungsmelodie des Senders erklang, und Strangers Gesicht wurde eingeblendet. Der Reporter war live auf Sendung. Wie gewöhnlich begann er mit einer kurzen Begrüßung. Er sprach entspannt und gleichzeitig mit dem der Lage angemessenen Ernst in der Stimme. Nachdem er einen abschließenden Kommentar zum Babylon‐Bericht von sich gegeben hatte, schwenkte er auf sein nächstes Thema über. »Trotz der Evakuierung, über die wir Ihnen ausführlich berichtet haben, gibt die Regierung der Erde nicht auf, nach einer Rettung für unseren Heimatplaneten zu suchen. Wir sind gezwungen, unsere Heimat zu verlassen, lassen sie jedoch nicht im Stich. Viele unserer Zuschauer fürchten, den Planeten, auf dem sich unser Volk entwi‐ ckelt hat und auf dem wir geboren wurden, nie wieder betreten zu können. Mir geht es nicht anders als Ihnen. Dennoch sehe ich positiv in die Zukunft, denn parallel zur Umsiedlung der Menschheit wird mit Hochdruck an einer Lösung des Problems gearbeitet. Die fä‐ higsten Wissenschaftler der Menschheit ziehen an einem Strang. Die Sonne soll wieder in den Zustand versetzt werden, der unser aller Überleben sichert.«
Stranger machte eine bedeutungsschwere Pause, um die Worte auf seine Zuschauer wirken zu lassen. Aus den Augenwinkeln regist‐ rierte er, daß die beiden Studiotechniker gebannt an seinen Lippen hingen. Hoffentlich ging es den unzähligen Zuschauern zu Hause vor ihren Empfangsgeräten ähnlich. Was die Menschheit bei aller gebotenen Nüchternheit brauchte, war ein wenig Zuversicht. Stran‐ ger fühlte sich verpflichtet, ihr die zu verschaffen – ohne die Men‐ schen dabei zu manipulieren, wie Willows es unterschwellig be‐ fürchtete. Stranger trank einen Schluck Wasser aus einem bereitstehenden Glas und fuhr fort. »Zur Stunde laufen die abschließenden Vorbereitungen zu einem Projekt, das dazu dient, die Erde mittelfristig wieder bewohnbar zu machen. Hilfreich zur Seite stehen uns dabei unsere Freunde, die Nogk. Sie haben ein Spezialraumschiff entwickelt, dessen Einsatz dazu beitragen soll, den Materieverlust der Sonne aufzuhalten. Wenn das gelingt, werden die Synties weiter wie bisher die Sonne mit Wasserstoffgas nachladen und dadurch den Temperaturrück‐ gang ausgleichen. Als Folge werden die Umweltbedingungen auf der Erde in die gewohnten Bahnen zurückkehren. Mit etwas Glück herrschen in ein paar Jahren schon wieder normale Lebensverhält‐ nisse, wie wir sie gewohnt sind. Viele von Ihnen bezweifeln vielleicht, daß ein solcher Eingriff mit reiner Technik möglich ist. Doch wir sind in dieser Hinsicht viel weiter als noch vor ein paar Jahren. Erinnern Sie sich bitte daran, daß es sogar gelungen ist, das manipulierte Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße wieder in seinen regulären Zustand zu versetzen. Dies war eine ungleich komplexere Aufgabe als die Reparatur un‐ serer Sonne. Und wir sind nicht allein. Ich sagte es bereits: Nogk und Synties stehen an unserer Seite. Andererseits will ich natürlich nichts schönreden. Als Reporter bin ich es gewohnt, Dinge realistisch zu betrachten. Die vor uns liegende Aufgabe beinhaltet eine Vielzahl unkalkulierbarer Risiken. Manche
davon lassen sich vielleicht noch gar nicht absehen. Deshalb muß, bei all unserer Hoffnung und Zuversicht auf einen guten Ausgang der Geschichte, die Evakuierung der Erde weitergehen. Ich gehe sogar noch weiter. Sie muß forciert werden, weil die Temperaturen immer rapider sinken. Ich appelliere daher an Sie, die Verantwort‐ lichen durch Ihre Mitarbeit zu unterstützen. Seien Sie versichert, unzählige kompetente Männer und Frauen, denen an der Erde ebensoviel liegt wie Ihnen, arbeiten an einer Lösung. Seit wir das Weltall bereisen, wurden wir schon vor manche He‐ rausforderung gestellt, und mehr als einmal schien unser Schicksal besiegelt. Die Invasion der Giants, das manipulierte Super Black Hole, die Attacke der Grakos, alles haben wir überstanden und sind gestärkt daraus hervorgegangen. Diesmal wird es nicht anders sein. Wie bei all diesen Krisen streitet auch diesmal wieder ein Mann an vorderster Front, den Sie alle kennen. Ich rede vom ehemaligen Commander der Planeten, von Ren Dhark. ›Wieso Dhark?‹ werden Sie möglicherweise fragen. Schließlich gehört Ren Dhark nicht mehr der Regierung an. Die Antwort erhal‐ ten Sie nach einer kurzen Pause. Denn es ist mir gelungen, ein Inter‐ view mit Charaua zu führen, dem Herrscher der Nogk. Schalten Sie nicht ab. Bleiben Sie am Puls der Zeit. Bis gleich. Ihr Bert Stranger für Terra‐Press.« Wieder ertönte die Erkennungsmelodie des Senders. Ein Einspiel‐ film überbrückte die Pause bis zu dem angekündigten Interview, auf das nicht einmal die beiden Techniker in dem kleinen Studio vorbe‐ reitet waren. Varnuk und Willows warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Sie waren beeindruckt, daß der Mann mit dem harmlos aussehenden Kindergesicht es einmal mehr geschafft hatte, einen solchen Coup zu landen. Schließlich war Charaua nicht irgendwer, an den man so einfach herankam. Strangers hervorragende Verbindungen kombi‐ niert mit seinem legendären Ruf hatten dazu beigetragen, den Herr‐ scher der Nogk dazu zu bewegen, woran sich andere Reporter ver‐
geblich die Zähne ausgebissen hätten. Nach Beendigung der Pause wurde wieder das Logo von Ter‐ ra‐Press eingeblendet. Als es verblaßte, wurde Bert Stranger sichtbar. Er stand an Bord der TALKARN. * Die TALKARN war das Flaggschiff des Nogk‐Herrschers Charaua, ein Ellipsenraumer von 600 Meter Länge. Stranger und Charaua hielten sich in einem kleinen Raum auf, der etwas von einer herme‐ tisch abgeriegelten Schleuse hatte. Er war schmucklos, doch die perfekt arrangierte Beleuchtung fokussierte die Blicke sämtlicher Zuschauer auf den menschlichen Reporter und seinen außerirdi‐ schen Interviewpartner. Eine Stimme ertönte aus dem Off. Sie gehörte nicht Stranger, son‐ dern einem namen‐ und gesichtslosen Kommentator. »Die Nogk haben die Luftfeuchtigkeit in dem Konferenzraum auf ein für sie gerade noch erträgliches Maß angehoben, so daß Ter‐ ra‐Press‐Reporter Bert Stranger und der Nogk‐Herrscher Charaua sich ohne Hilfsmittel unterhalten konnten. Bekanntlich sind die Nogk an das Leben auf extremen Trockenwelten angepaßt. Sie ver‐ abscheuen Feuchtigkeit, sie schadet ihnen sogar. Die Erde bei‐ spielsweise kann von ihnen nur mit einem Atemtrockner betreten werden. Regen ist ohne entsprechende Schutzkleidung tödlich für sie. Das hat sie jedoch nicht daran gehindert, für angenehme klima‐ tische Bedingungen für unseren Mann zu sorgen. Wie Bert Stranger versicherte, ging die Freundlichkeit der Nogk während seines Auf‐ enthalts an Bord der TALKARN so weit, daß er sich in der ange‐ paßten Atmosphäre sicher wohler fühlte, als Charaua es tat. Was er dort erfahren hat, hören Sie nun von ihm selbst.« Die Stimme des Kommentators erstarb. An ihrer Stelle waren keuchende Worte zu vernehmen. Sie stammten von Charaua. »Ich begrüße Sie, Bert Stranger.«
Die vier Fühler auf dem Insektenkopf des 2,51 Meter großen Hyb‐ ridwesens zitterten. Seine Worte drangen aus einem Translator, der nicht nur die Worte übersetzte, sondern zudem den Tonfall des Sprechers übernahm. Das Keuchen war auf die für Charaua unan‐ genehme Atmosphäre in dem Konferenzraum zurückzuführen. Ohnehin pflegten Nogk die verbale Kommunikation lediglich mit Vertretern anderer Völker. Untereinander verständigten sie sich mittels einer Abart der Telepathie. Über ihre Kopffühler strahlten sie Bildimpulse ab, die auch für Nicht‐Nogk einigermaßen verständlich waren. In diesem speziellen Fall war das natürlich nicht möglich. Charaua hätte sich in typischer Nogk‐Weise zwar Bert Stranger ge‐ genüber verständlich machen können, die Zuschauer auf der Erde wären dabei jedoch außen vor geblieben. »Ich begrüße die Menschen auf der Erde.« »Ich begrüße Sie, Herrscher Charaua, und bedanke mich bei Ihnen, daß Sie mir Gelegenheit zu diesem Exklusivinterview geben. Unsere Zuschauer haben vorab einen einleitenden Bericht gesehen. Sie alle interessiert nun eins: Was hat es mit dem von den Nogk entwickelten Spezialschiff auf sich, das ich eingangs erwähnte?« »Wir haben einen Sonnentaucher umgebaut, um mit ihm ins Innere Ihrer Sonne vorzudringen.« »Ich bin sicher, daß nicht alle Menschen wissen, was ein Sonnen‐ taucher ist. Können Sie ihn bitte beschreiben, Herrscher? Wie sieht er aus? Wozu dient er?« »Ein Sonnentaucher ist ein Raumboot, das mit einer speziellen Abschmelzpanzerung versehen ist. Es kann in die Korona einer Sonne eindringen, ohne zerstört zu werden. Die zusätzliche Panze‐ rung bietet für etwa vier Stunden Schutz. Nach Ablauf dieser Zeit‐ spanne ist so viel davon geschmolzen, daß der Sonnentaucher die Sonne verlassen, dekontaminiert werden und die Panzerung er‐ neuert werden muß.« »Gibt es keine Probleme mit dem Antrieb? Einen herkömmlichen Antrieb kann man doch sicher nicht besonders schützen, da er nach
außen hin freiliegen muß?« »Das ist richtig, deshalb haben wir eine Alternative entwickelt, bei der dieses Problem nicht besteht. Der Antrieb des Sonnentauchers geschieht durch Gravitationsfelder auf hyperenergetischer Basis. Es gibt keine nach außen offenliegenden Bereiche, die zerstört werden können. Die Panzerung um einen Sonnentaucher ist vollständig ge‐ schlossen.« »Das System ist erprobt?« »Wir haben es erfolgreich eingesetzt, als wir die Sonnenbomben des Hitaura‐Imperiums entschärften. Es funktioniert zuverlässig. Außerdem haben wir es in Hinblick auf den bevorstehenden Einsatz umgebaut und weiterentwickelt. Wir können nun bis ins Zentrum der Sonne vorstoßen und das Schwarze Loch in ihrem Kern mittels Massenüberladung vernichten. Ich bin überzeugt vom Gelingen unseres Plans. Mit ihm schaffen wir es, Ihr Zentralgestirn zu repa‐ rieren.« »Alle Achtung! Ein Vorstoß bis ins Herz unseres Zentralgestirns!« Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Reporters. Ihm war anzu‐ sehen, daß er von den Ausführungen sichtlich beeindruckt war. »Das klingt wirklich so, als bestünde berechtigte Hoffnung, das Problem mit Ihrem Sonnentaucher doch noch in den Griff zu bekommen.« »Wenn wir diese Hoffnung nicht hätten, würden wir das Risiko nicht eingehen.« Stranger nickte nachdenklich in die Kamera. »Und ein großes Ri‐ siko bleibt gewiß, liebe Zuschauer.« Er wandte sich wieder an Cha‐ raua. »Werden die Nogk dieses riskante Unternehmen allein durchführen, oder nehmen auch Menschen an dem Einsatz teil?« »Ich will Sie nicht belügen.« Der Herrscher aller Nogk spannte seinen Echsenkörper an. In seinen Facettenaugen war für einen Menschen nicht zu erkennen, was er dachte, doch seine kräftigen Mandibeln klackten mehrmals drohend aufeinander. »Ihre neue Regierung unter dem Commander der Planeten Henner Trawisheim hat sich uns gegenüber kürzlich äußerst…« Charaua machte eine
Gedankenpause »… äußerst undiplomatisch verhalten. Das hat mich sehr gekränkt, denn unter Freunden verhält man sich nicht so. Frü‐ her, unter Ren Dhark, wäre es nicht zu einem solchen Affront ge‐ kommen. Ich habe sogar in Erwägung gezogen, die Hilfe für die Menschheit ganz einzustellen.« »Wie Sie soeben sagten, sind Menschen und Nogk langjährige und gute Freunde, Herrscher.« Strangers Gesichtszüge drohten ange‐ sichts Charauas Eröffnung zu entgleisen. »Sie können uns doch nicht im Stich lassen.« »Würden wir das tun, ständen Sie nicht hier.« Die Worte des Nogk wurden immer keuchender. Die mit Luftfeuchtigkeit angereicherte Atmosphäre belastete ihn sehr. »Meine persönliche Freundschaft zu Ren Dhark und einigen anderen Terranern hat mich nach reiflicher Überlegung dazu bewogen, diesem Impuls trotz der Brüskierung durch Ihre neue Regierung nicht nachzugeben. Deshalb werden wir mit dem Sonnentaucher bis an das Schwarze Loch im Zentrum Ihres Sterns fliegen. Mit einigen Menschen an Bord.« »Dafür danke ich Ihnen im Namen der gesamten Menschheit.« »Es gibt eine Einschränkung. Die Auswahl der Menschen, die uns begleiten, wird nicht in den Händen Ihrer Regierung liegen, sondern bei Ren Dhark.« Stranger pustete die Backen auf. Überrascht stieß er die Luft aus. »Ich weiß nicht, ob Henner Trawisheim davon begeistert sein wird.« »Niemand braucht begeistert zu sein.« In menschlicher Manier verschränkte Charaua die Arme vor der Brust. Obwohl er viel größer und kräftiger war als ein Terraner, wirkten seine Bewegungen un‐ gleich geschmeidiger. »Das einzige, was wir bei dem bevorstehen‐ den Flug brauchen, ist Erfolg. Wenn der Sonnentaucher versagt, wird es Henner Trawisheims Regierung sowieso bald nicht mehr geben, jedenfalls nicht auf der Erde.« »Sie kalkulieren also auch ein Versagen ein?« »Es gibt keine Garantien dafür, daß unser Plan funktioniert. Zu‐ weilen muß man sich auf sein Gefühl verlassen, und mein Gefühl
sagt mir, daß wir auf dem richtigen Weg sind. Hinzu kommt, daß weder wir Nogk noch die Menschen eine erfolgversprechende Al‐ ternative haben. Ich bin zuversichtlich, daß wir erfolgreich sein werden.« »Ich bedanke mich für dieses offene Gespräch, Herrscher Cha‐ raua.« Die Kameraeinstellung wechselte. Der Nogk verschwand seitlich aus dem Bild. Strangers Gesicht war dafür in Großaufnahme zu se‐ hen. Es wirkte entspannt. Der Reporter gönnte seinen Zuschauern sogar ein aufmunterndes Lächeln. »Sie haben es gehört, liebe Zuschauer. Charaua und unsere Nogk‐Freunde lassen uns auch in höchster Not nicht im Stich. Schließen wir uns Charauas Hoffnung an, daß der Sonnentaucher erfolgreich bis zum Schwarzen Loch im Zentrum der Sonne vor‐ dringt. Sobald es Neuigkeiten gibt, erfahren Sie sie von uns. Wir bleiben für Sie am Ball. Das war Bert Stranger für Terra‐Press.« Die Übertragung endete. Der Reporter wandte sich an die beiden Techniker in seinem improvisierten Studio. Sie waren begeistert. * »Keine Einwände gegen die Berichterstattung, meine Herren Pressekontrolleure?« konnte sich Stranger einen bissigen Seitenhieb nicht verkneifen. »Dann scheine ich ja doch nicht alles falsch ge‐ macht zu haben. Das freut mich.« »Nun legen Sie doch nicht jedes Wort gleich auf die Goldwaage, das irgendwer irgendwann einmal von sich gegeben hat«, konterte Tim Willows. »Wenn man sich an allem aufhängen würde, was Sie jemals so gesagt haben…« »Irgendwer? Irgendwann? Das habe ich noch etwas konkreter in
Erinnerung.« Stranger lachte. »Also gut. Waffenstillstand. Jedenfalls freut es mich, daß meine kleine Überraschung so gut bei Ihnen an‐ gekommen ist. Dann verfehlt sie ihre Wirkung beim Rest der Menschheit hoffentlich auch nicht.« »Das kann man wohl sagen«, bestätigte Igor Varnuk begeistert. »Die Sendung war ein Knüller, besonders das Interview. Wie sind Sie bloß an Charaua herangekommen?« »Wissen Sie, worauf das Geheimnis meines Erfolgs unter anderem beruht?« »Keine Ahnung.« Varnuk zuckte mit den Achseln. »Daß ich solche kleinen Geheimnisse für mich behalte.« »Das kann ich Ihnen nicht einmal übelnehmen. Henner Trawis‐ heim hingegen wird Ihnen den kleinen Seitenhieb ganz sicher verü‐ beln. In den Augen der Öffentlichkeit steht der amtierende Com‐ mander dank Charauas Worten mal wieder in keinem guten Licht da, während sein Vorgänger wie der Held aussieht.« »Das ist nicht meine Schuld«, verteidigte sich der Reporter. »Meine Fragen hatte ich mir natürlich vorher zurechtgelegt. Sie zielten nicht darauf ab, Trawisheim zu diskreditieren. Charauas Aussagen über ihn haben mich selbst überrascht.« »Mich hat etwas ganz anderes verwundert«, überlegte Willows. »Was sollte denn dieser Unsinn mit dem Sonnentaucher? Davon war doch nie die Rede. Davon abgesehen, daß mir die Geschichte ein wenig an den Haaren herbeigezogen schien, sieht der wahre Plan doch ganz anders aus.« Stranger lächelte. Die Besatzung der POINT OF war natürlich in die eigentlichen Pläne mit dem Halbraumgleiter und dem beabsich‐ tigten Vorstoß in den Hyperraum eingeweiht. »Der Flug der REESCH II findet wie geplant statt. Hätten wir das vielleicht in die Öffentlichkeit hinausposaunen sollen?« »Also lag ich vorhin gar nicht so falsch. Sie sagen den Menschen nicht die volle Wahrheit.« »Normalerweise schon, doch wenn wir das in diesem Fall getan
hätten, wären wir ziemlich blöd. Schließlich können wir nicht sicher sein, daß die Sendung nicht vom Feind mitgehört wird – im Gegen‐ teil, wir sollten besser davon ausgehen. Wir sind zu diesem Täu‐ schungsmanöver gezwungen, um von unseren wahren Plänen ab‐ zulenken. Wenn sie bekannt werden, besteht nämlich wenig Hoff‐ nung, sie unbeschadet in die Tat umsetzen zu können. Falls die Ro‐ boter Spione im Sol‐System haben, fallen sie garantiert auf diese Schauveranstaltung herein.« »Das tun sie nicht, wenn sie die Sonne überwachen und keinen Sonnentaucher sehen. Dann kapieren die doch sofort, daß Sie sie aufs Glatteis geführt haben.« »Deshalb wird auch ein Sonnentaucher starten. Die Nogk schicken ihn wie angekündigt in die Korona unserer Sonne. Wenn er erst einmal da drin ist, ist es gleichgültig, was er tut. Soll sich die Besat‐ zung ruhig zwei Stunden aufs Ohr legen. Von außen bekommt das keiner mit. Mögliche Spione der Grakos oder der Roboter haben jedenfalls ihre Bestätigung, daß der Sonnentaucher im Einsatz ist.« »Und sie rechnen nicht damit, daß der wahre Einsatz woanders stattfindet. Gar nicht so dumm.« »Nicht nur das. Die Grakos dürfen überhaupt nicht ahnen, daß wir von ihrer Station im Hyperraum wissen. Für je argloser sie die Menschen halten, desto größer sind die Chancen der REESCH II.« Stranger erhob sich von seinem Sitzplatz. »Damit Sie beruhigt sind, Mister Willows, sage ich es noch einmal: Von Charauas Äußerungen über den Regierungschef ahnte ich vorher nichts. Ich mag Dhark, habe aber auch nichts gegen Trawisheim.« »Wenn es nach mir geht, kann der Cyborg ruhig einen Dämpfer bekommen«, widersprach Varnuk. »Einige an Bord der POINT OF haben noch nicht vergessen, wie kaltschnäuzig er Dhark abgesägt hat, als wir durch Orn gekurvt sind und für die Menschheit die Kastanien aus dem Feuer geholt haben. Dhark trägt es Trawisheim nicht nach, trotzdem war das damals eine miese Nummer.« »Das ist Politik, meine Herren«, befand Stranger mit Unschulds‐
miene. »Die interessiert mich nicht. Ich habe für eine gute Quote für Terra‐Press zu sorgen.« In Wahrheit war sich der Reporter seiner wiederholten Einmi‐ schung in die große Politik durchaus bewußt. Sie bot keinen Anlaß für ein schlechtes Gewissen. Es gab nichts, was er sich vorzuwerfen hatte. Er hatte im Gegenteil sogar einen Heidenspaß daran. Mit sei‐ ner Berichterstattung ergriff er weder für bestimmte Gruppierungen noch Einzelpersonen Partei, sondern handelte im Sinne der Menschheit. Strenggenommen unterschied er sich in dieser Hinsicht nicht von Männern wie Ren Dhark oder Henner Trawisheim. Beide besaßen ihre Machtinstrumentarien. Das tat Stranger auch, nur sahen seine anders aus. Und die hätte er gegen nichts in der Welt eingetauscht.
18. Die Zentrale der POINT OF glich einem aufgescheuchten Tauben‐ schlag. Ihr Kommandant und der gesamte Führungskreis waren versammelt. Neben Dan Riker und Amy Stewart waren das Hen Falluta, Leon Bebir, Glenn Morris und Tino Grappa. Komplettiert wurde die Runde von den technischen Koryphäen Are Doorn und Chris Shanton mit seinem Anhängsel Jimmy, dem Professor der Astrophysik Monty Bell und dem Kontinuumsforscher H.C. Van‐ dekamp. Die Versammelten redeten sich die Köpfe heiß über den bevorstehenden Einsatz der REESCHII. Jimmy fand die erhitzte Debatte langweilig. Auf den in seinen Pfoten verborgenen Kugellagern rollte der von Shanton konstruierte Roboterhund in Form eines Scotchterriers mit pechschwarzem Fell von einem zum anderen. Er schnüffelte sich durch die Zentrale, als gelte es, eine besonders große Wurst ausfindig zu machen. Shanton beobachtete ihn mißtrauisch, weil Jimmy vor allem gern in solchen Situationen etwas ausheckte, in denen er sich völlig unbeteiligt gab. Aufgrund eines bislang nicht entdeckten Bauteilfehlers bildeten sich bei dem sogenannten »Brikett auf Beinen« immer wieder Subprog‐ ramme, die den Roboter nahezu selbständig agieren ließen. Jimmy schaffte es ein ums andere Mal, seinen Erbauer zur Weißglut zu treiben, zumal nicht einmal Shanton selbst abschließend beurteilen konnte, ob seine Schöpfung einen Turing‐Sprung zur Künstlichen Intelligenz getan hatte. »Mir ist nicht wohl bei der Vorstellung, daß wir uns im Hyperraum herumtreiben.« Dan Riker schüttelte argwöhnisch den Kopf. »Nicht einmal unsere fähigsten Köpfe können wirklich sagen, was uns dort erwartet.« »Jedenfalls ist es möglich, über einen längeren Zeitraum dort zu verweilen«, hielt Vandekamp dem Stellvertretenden Kommandan‐ ten entgegen. »Die Grakos haben ihre Station dort fest verankert. Die
REESCH ist sogar damals im Hyperraum hängengeblieben.« »Das ist wenig beruhigend. Was passiert, wenn uns das gleiche passiert? Wer holt uns da wieder raus? Im Hyperraum soll es ziem‐ lich einsam sein, habe ich mir sagen lassen.« »Darüber können wir uns Gedanken machen, wenn es soweit ist«, warf Ren Dhark ein. »Deine Engelsgeduld möchte ich haben, mein Freund. Wer von uns wird die Nogk begleiten?« »Wie du weißt, hat Charaua mich gebeten, unsere Teilnehmer an der Expedition auszuwählen. Ich schlage vor…« »Wir bekommen eine Anfrage auf Transmitterdurchgang, Sir«, unterbrach Morris den Kommandanten. Der Erste Funkoffizier zog die Stirn in Falten. »So eine Dreistigkeit. Die warten nicht mal auf Erlaubnis.« Dhark schaute zum auf der Galerie befindlichen Ringtransmitter. In der drei Meter hohen, halbröhrenförmigen Wandnische flimmerte die Luft. Zwei Personen benutzten die Verbindung, um auf die Brücke der POINT OF zu gelangen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich die Umrisse von Roy Vegas und Eric Santini aus dem Feld schälten. »Guten Tag zusammen«, grüßte der grauhaarige Oberst. »Was soll das denn?« Dhark war wenig angetan von der Störung. »Wir stecken mitten in einer wichtigen Besprechung. Wir bereiten nämlich unseren Einsatz vor, Oberst. Es ist nett, daß Sie sich anmel‐ den, aber hatte Ihr Überfall nicht noch ein paar Minuten Zeit?« »Mitnichten, junger Mann.« Vegas zeigte sich wenig beeindruckt von dem Vorwurf. Er stieg von der Galerie herab und winkte Santini, ihm zu folgen. Der Major der TF stand da wie angewurzelt. Offensichtlich war es ihm peinlich, einfach so in der Kommandozentrale der legendären POINT OF aufzukreuzen, noch dazu, da der ehemalige Commander der Planeten und der einstige Chef der Terranischen Flotte nebst einer Handvoll weiterer mehr oder minder berühmter Persönlich‐
keiten anwesend waren. »Vielleicht sollten wir später noch einmal nachfragen«, entschul‐ digte sich Santini. »Unsinn, Major«, polterte Vegas. »Kommen Sie endlich da runter. Wir machen diesen Ausflug doch nicht zum Spaß. Santini hatte eine grandiose Idee, Dhark. Die müssen Sie sich anhören, bevor Sie star‐ ten.« »Muß ich? So, so.« »Ich kann Ihnen nur dazu raten, Dhark. Major Santinis Idee ist wichtiger als Ihre Konferenz hier.« »Wichtiger?« Rens Stimme bebte. »Wir besprechen gerade die Rettung der Welt. Was kann es da Wichtigeres geben?« Vegas grinste und versicherte mit einem regelrechten Hundeblick: »Nur die Rettung der Welt.« Ren schloß für einen Moment die Augen. Er war sauer, fügte sich aber. Zwar gehörte der Ringraumer nicht mehr der Flotte an, und daher bedeutete an Bord selbst der Dienstrang eines Obersten nichts. Doch Vegas machte nicht den Eindruck, als würde er sich abwim‐ meln lassen. Außerdem verstrahlte der Mann eine ganz natürliche Autorität. »Anscheinend sind wir die einzige Instanz, der man die Idee des Majors vortragen kann.« »Richtig, weil Santinis Idee sonst in dunklen regierungsamtlichen Kanälen versickert und nie bis hierher durchdringt. Sie muß aber so schnell wie möglich in die Tat umgesetzt werden. Man kennt doch diese Bürokraten.« Dhark wurde hellhörig. »In Herrgottsnamen, Major. Was ist denn nun so wichtig an Ihrer Idee, daß es keinen Aufschub duldet?« Santini gesellte sich endlich zu der Versammlung. Ihm war anzu‐ sehen, daß er sich an Bord dieses Schiffes und in der illustren Runde unwohl fühlte. Ren fand, daß er beinahe ein wenig linkisch wirkte, doch der Eindruck konnte täuschen. Santini räusperte sich, bevor er das Wort ergriff.
»Ich habe mich mit Oberst Vegas darüber unterhalten, als er von der Konferenz in Star City kam. Es spricht vieles dafür, daß die Ro‐ boter der Funktionsgemeinschaft von den Grakos regelrecht mani‐ puliert werden. Man kann ihnen keinen Vorwurf machen, weil sie es überhaupt nicht merken.« »Ob die Roboter das wissen oder nicht, ist unerheblich«, tat Riker die Bemerkung ab. »Entscheidend ist das, was sie gegen uns unter‐ nehmen. Auf Unwissenheit können wir keine Rücksicht nehmen, wenn es uns an den Kragen geht. Auf die Unwissenheit von Ma‐ schinen schon gar nicht.« »Natürlich nicht«, beeilte sich Santini zu sagen. »Darum geht es auch gar nicht. Ich denke, wir sollten dafür sorgen, daß die Roboter erkennen, was mit ihnen geschieht. Sie erhalten ihre Befehle nicht von Kontrollrobotern, wie sie glauben, sondern von einem Volk, das sie für seine Zwecke mißbraucht. Machen wir uns diesen Umstand zunutze.« »Wozu?« »Damit die Roboter sich gegen die Grakos wehren. Wenn sie sich untereinander bekämpfen, sind sie leichter zu besiegen… die einen wie die anderen.« »Wie sollen wir das bewerkstelligen?« fragte Shanton. »Uns läuft die Zeit davon. Es ist zu spät für irgendwelche Versuche in diese Richtung, von denen wir noch nicht einmal wissen, wie wir sie ans‐ tellen sollen.« »Eigentlich wissen wir es, es ist nur noch keiner drauf gekommen.« »Aber Ihnen ist das gelungen?« Riker verzog skeptisch das Gesicht. »Dann lassen Sie mal hören, wie Sie das anstellen wollen.« »Wir haben den Grakos drei funktionierende Spezialgürtel zur Erzeugung von Feldviren abgenommen. Besonders kompliziert sind die nicht aufgebaut, nur hat sie bisher noch niemand genau analy‐ siert. Ich glaube, daß wir die Gürtel dazu verwenden können, den Robotern die Augen über die von ihnen unerkannten Schmarotzer zu öffnen.«
»Die Optiken, meinen Sie wohl«, schnaufte Shanton und ver‐ stummte. »Von mir aus auch die Optiken.« In der Zentrale herrschte totales Schweigen. Santini sackte in sich zusammen. Er befürchtete, sich vor der versammelten Führung lä‐ cherlich gemacht zu haben. Er bedachte den nachdenklich wirken‐ den Roy Vegas mit einem anklagenden Blick. Da haben Sie mich in eine peinliche Situation gebracht, Sir. Plötzlich schrie Shanton auf. »Begreift das denn keiner?« Sein lautstarkes Organ erfüllte die gesamte Kommandozentrale. »Die Idee ist schlichtweg genial! Warum bin ich nicht selbst darauf ge‐ kommen?« »Eben weil sie genial ist«, kommentierte Jimmy den Gefühlsaus‐ bruchs seines Herrchens. »Von Genialität ist der Dicke nämlich so weit entfernt wie ich von einem Staubsauger.« »Was…?« Santini starrte den künstlichen Vierbeiner ungläubig an. Anscheinend hatte er noch nichts von den außergewöhnlichen Fä‐ higkeiten von Shantons Konstruktion gehört. »Ignorieren Sie die Töle«, wies der schwergewichtige Erbauer der solaren Ast‐Stationen den Major an. »Sie haben es ja gehört. Jimmy braucht noch drei Turing‐Sprünge, bis er die Intelligenz eines Staubsaugers erreicht.« »Dafür sabbere ich nicht beim Fressen.« »Beim Fressen?« Shanton trat nach dem Vierbeiner, der aber wie stets viel zu schnell war, um sich von seinem Erbauer erwischen zu lassen. »Ich benutze die Feldviren, um dich…« »Chris!« durchschnitt Dharks Stimme die Zentrale. »Es reicht! Wenn Sie die Idee für so genial halten, sollten Sie umgehend mit der Untersuchung der Gürtel beginnen.« »Sie haben recht, Dhark. Diese Spezialgürtel stellen rein intellek‐ tuell zweifellos eine größere Herausforderung dar als diese Fehl‐ konstruktion.« Shanton wandte sich an Doorn. »Hilfst du mir bei der Untersuchung, Arc?«
Der Worgunmutant in menschlicher Gestalt nickte. Die beiden Freunde wechselten einige geflüsterte Sätze, dann wandte der Epoygeborene sich an Dhark. »Chris und ich werden den Flug der REESCH II nicht mitmachen.« * Enttäuschung zeichnete sich in Ren Dharks Gesicht ab. Er hatte gehofft, daß die beiden Technikexperten mit von der Partie waren. »Wir kümmern uns um die Gürtel der Grakos und die Feldviren«, erklärte Shanton. »Dazu haben wir auf Eden bessere Möglichkeiten als an Bord.« »Das sind ja ganz neue Töne«, wunderte sich der weißblonde Mann. »Bisher gab es an der Ausstattung der POINT OF noch nie etwas auszusetzen.« »Wir wären ohnehin keine besonders große Hilfe«, verteidigte Doorn die Aussage seines Freundes. »Chris und ich sind nicht ge‐ rade die größten Experten für den Hyperraum und Schwarze Lö‐ cher. Da haben Sie andere Fachleute an Bord, allen voran Professor Bell und H.C. Vandekamp. Wir können hier mehr ausrichten als im Hyperraum.« Dhark glaubte, zwischen Doorns Worten lesen zu können. Es ging weniger um die Qualifikation der beiden Männer oder die Untersu‐ chung der Grako‐Gürtel. Shanton und Doorn fürchteten sich vor einem erneuten Vorstoß in den Hyperraum. Selbst Jimmy gab keinen bissigen Kommentar von sich. Ihm schien es nicht anders zu gehen. »In Ordnung. Es wäre schön, wenn Sie bei unserer Rückkehr schon mit Erfolgen aufwarten könnten. Brauchen Sie für die Untersu‐ chungen noch irgend etwas zur Unterstützung?« »Major Santini«, forderte Shanton. »Immerhin war es seine Idee, die uns überhaupt darauf gebracht hat. Er hat ein Recht darauf, an unserem Projekt beteiligt zu werden.« »Dankend abgelehnt.« Santini winkte ab. Beflügelt durch seinen
Erfolg, hatte er seine anfängliche Unsicherheit abgelegt. »Das ist Ihr Spielfeld. Ich hatte zwar die Idee, von der Materie selbst verstehe ich allerdings überhaupt nichts. Ich möchte so schnell es geht nach Grah zurückkehren und mich um die Gordo kümmern. Wir kämpfen derzeit an mehr als einer Front.« Da stimmte Ren ihm zu. Allerdings beschränkte sich diese Tatsa‐ che nicht auf den Moment. Es war schon immer so gewesen. Wenn Ärger auf einen zukam, kam er meist aus allen Richtungen gleich‐ zeitig. »Dann viel Glück, Major.« »Draußen tobt ein Schneesturm. Wir gehen wieder durch den Transmitter«, verabschiedete sich auch Roy Vegas. Gemeinsam mit Santini verließ er die POINT OF durch den Ringtransmitter. In der Bildkugel zeichnete sich die Umgebung des Ringraumers ab. Der Schneesturm über Cent Field wurde immer heftiger. Obwohl es erst früher Nachmittag war, betrug die Sicht über dem Raumhafen keine fünfzig Meter. Was sich hinter den Start‐ und Landefeldern anschloß, ließ sich allenfalls erahnen. Alamo Gordo schien in diesem Chaos überhaupt nicht mehr zu existieren. Man gewann den Ein‐ druck, in endloses Grau zu schauen, hinter dem die Welt endete. Mit jedem Tag wurde die Lage aussichtsloser. Der Zeitpunkt, an dem die Erde unbewohnbar wurde, ließ sich absehen. Die Vorstellung trieb Ren einen eisigen Stachel ins Herz. Es gab nur noch Kälte, Sturm und Tristesse. Und einen einsamen Transportgleiter, der plötzlich ins Bild kam. Unverdrossen kämpfte er sich mit den aus ihrer Heimat fliehenden Menschen durch die Schneeverwehungen zu einem der wartenden Nogk‐Raumer oder Ikosaeder. Er bedeutete Hoffnung, war beinahe so etwas wie ein Leuchtfeuer. Dhark riß sich von dem deprimierenden Anblick der Schneeverwe‐ hungen los. »Es wird Zeit, daß wir festlegen, wer mit der REESCH II fliegt«, sagte er entschlossen. »Ich schlage folgende Einsatzgruppe vor: Ich
selbst werde dabei sein, Dan Riker, Tim Acker, der gerade von Hope abgeholt wird, Monty Bell und H.C. Vandekamp. Die restlichen Plätze werden von Gardisten mit entsprechender Qualifikation be‐ legt. Wir müssen mit Kämpfen in der Station rechnen. Deshalb brauchen wir die Garde, die uns den Rücken freihält, während sich die Wissenschaftler auf ihre Arbeit konzentrieren.« Riker gab seinem Freund einen unauffälligen Wink und sonderte sich etwas von der Gruppe ab. Dhark folgte ihm. »Habe ich einen vergessen?« »Du hast den falschen ausgewählt. Ich empfehle dir, Amy an mei‐ ner Stelle mitzunehmen.« »Was ist los mit dir, Dan? Du verzichtest freiwillig? Sonst hältst du mir jedesmal eine Standpauke, wenn ich dich nicht berücksichtige.« »Diesmal ist die Sache etwas anders. Bei diesem Einsatz wäre ich überflüssig. Ich habe noch weniger Ahnung vom Hyperraum und Schwarzen Löchern als Doorn und Shanton. Amy mit ihren Cy‐ borgfähigkeiten kann wenigstens auf dich aufpassen.« Dhark gab sich keine Mühe, sein Erstaunen zu verbergen. Bei je‐ dem Außeneinsatz verlangte sein Freund dabeizusein. Ren hatte ihn häufig genug enttäuschen müssen, weil er Dan während seiner ei‐ genen Abwesenheit an Bord brauchte. Jetzt war es anders, und es war auch wieder nicht richtig. »Du hast noch einen anderen Grund, stimmt’s?« »Was für einen Grund sollte ich haben? Die Vernunft gebietet ein‐ fach, daß du Amy mitnimmst, weil sie dir hilfreicher sein kann als ich. Ich würde mich nur wie das fünfte Rad am Wagen fühlen.« Dhark nickte. »Wenn du das sagst. Einverstanden.« Rikers Argumentation klang logisch. Trotzdem enthielt sie einen schalen Beigeschmack. * Am nächsten Tag flog ein Flash zum Transmitterbahnhof von
Alamo Gordo. Die beiden menschlichen Insassen waren in dicke Kleidung gehüllt. In dem zylinderförmigen Beiboot war es angenehm warm, doch draußen tobte der Schneesturm mit unverminderter Wucht. Von den riesigen Abfertigungshallen waren nur Silhouetten zu sehen. Eine dicke Schneedecke verhüllte den Boden. Wo der heftige Wind die weiße Pracht nicht wegwehte, gefror sie binnen Minuten zu Eis. Selbst im unzureichenden Licht waren spiegelglatte Flächen zu er‐ kennen, wo sie nicht schnell genug wieder zugedeckt wurden. »April, April, der macht, was er will«, brummte Shanton mürrisch. Er steuerte das Beiboot manuell in Richtung der speziell abgesicher‐ ten Eden‐Halle, die man nur noch mit einer Sondergenehmigung betreten durfte. Die hatte er sich bei einem Hyperfunkgespräch mit Eden besorgt. »So etwas wie in diesem Jahr hat er seit der letzten Eiszeit nicht mehr gemacht.« Genau darauf lief alles auf der Erde hinaus. Auf eine neue Eiszeit. Doch diesmal hatte sie andere Ursachen als die vorangegangenen. Die Folgen indes würden die gleichen sein. Inlandeisschilde und Gletscher, die weit über das Ausmaß dessen hinausgingen, was man bisher kannte. »Ein normaler April wäre mir auch lieber«, maulte Shanton. »Ich darf gar nicht daran denken, daß vorletzte Woche Frühlingsanfang war.« »Da stimme ich dir ausnahmsweise zu«, meldete sich Jimmy zu Wort, der in einer Nische neben den Rücken an Rücken sitzenden Männern Platz gefunden hatte. »Draußen frieren meine Gelenke ein.« »Nicht nur dir. Außer uns ist kein Mensch unterwegs.« Wo sonst Tag und Nacht hektische Betriebsamkeit geherrscht hatte, gab es weder andere Transportfahrzeuge noch Passanten, die zu Fuß zu den Abfertigungsbereichen unterwegs waren. »Die Transmitter lau‐ fen nur noch in eine Richtung. Sieh dir die Container an.«
Ein steter Strom würfelförmiger Behälter kam, von unsichtbaren Transportbändern befördert, aus der Eden‐Halle. Sie wurden auto‐ matisch auf angrenzende Bereiche verteilt, damit sie sich nicht stau‐ ten. Shanton steuerte den Flash durch eine Hallenwand, vor deren Durchdringen er den Brennkreis ausschaltete. Man war über die Ankunft informiert. Ansonsten hätte das Eindringen des Beibootes umgehend Alarm und eine Vielzahl von Sicherheitsmaßnahmen ausgelöst. Das Schneegestöber blieb zurück. In der Halle herrschten normale Sichtverhältnisse. Sanft setzte das kleine Raumfahrzeug auf seinen sechs dünnen Auslegern auf. Der Antrieb erstarb. Shanton öffnete den Flash, und die beiden Männer stiegen aus. Selbst in der Halle war es kühl. Die Beheizung des Großkomplexes verschlang immense Energiemengen, die nicht mehr zu rechtfertigen waren. Zudem kamen die Wärmeerzeuger nur noch unzureichend gegen die von draußen eindringende Kälte an. Die Kapazität der Aggregate war für solche Temperaturen einfach nicht ausgelegt, außerdem wurden die Stromerzeuger vornehmlich dazu genutzt, die Transmitterverbindung nach Eden zu sichern. Jimmy kletterte hinter den Männern her. Doorn trug eine Tasche bei sich, in der die drei Gürtel der Grakos verstaut waren. Sie war das einzige Gepäck der beiden Männer. »Du liebe Güte«, entfuhr es dem Sibirier. »Die Stille ist gespens‐ tisch.« »Die Menschen wissen, daß Eden keine Flüchtlinge aufnimmt. Die Touristenflüge sind eingestellt.« Shanton gab dem Flash den Ge‐ dankenbefehl, zur POINT OF zurückzukehren. An Bord des Ring‐ raumers wurden die letzten Startvorbereitungen getroffen. Er würde in wenigen Minuten abheben. Doorn hegte den gleichen Gedanken. »Hoffentlich kommt Dhark wohlbehalten zurück. Ein Verlust der POINT OF wäre eine weitere Katastrophe für die Menschheit.« »Es grenzt an ein Wunder, daß das nicht längst einmal passiert ist.«
Jimmy rollte zwischen den Beinen der Männer. »Ich kalkuliere nach all den Einsätzen gerade die Wahrscheinlichkeit für ihre Zerstörung oder den Verlust im Hyperraum durch.« Shanton lag eine scharfe Zurechtweisung auf der Zunge. »Ich behalte sie besser für mich. Sie ist zu deprimierend«, fügte Jimmy hinzu. Sein Erbauer schwieg. Statt einen seiner gewohnten Scherze zu machen, meinte der Roboterhund es ernst. »Ich komme mir vor wie der letzte Mensch auf der Erde«, stellte Doorn betrübt fest. »Ich war schon zu verkehrstechnischen Spitzen‐ zeiten hier. Da wurdest du alle zwei Meter angerempelt. Nun gäbe ich was dafür, wenn es wieder so wäre. Nur diese Blechmänner sind überall. Die werden ihren Dienst noch versehen, wenn es hier längst keine Menschen mehr gibt.« »Oder sie werden an Ort und Stelle stehenbleiben, wenn es nichts mehr für sie zu tun gibt. Ein deprimierender Gedanke.« In einiger Entfernung schwebten Frachtcontainer mit Hilfsliefe‐ rungen auf ein riesiges Tor zu. Sie wurden in angrenzende Bereiche geleitet, von wo aus sie über die gesamte Erde verteilt wurden. Der Strom schien unaufhörlich. Überall waren Vielzweckroboter vom Artus‐Typ als Arbeiter beschäftigt. »Wallis setzt sein Versprechen zügig in die Tat um. Er läßt die Erde bis zuletzt nicht im Stich. Doch auch seine Ressourcen werden ir‐ gendwann erschöpft sein. Wenn es soweit ist, müssen alle die Erde verlassen haben. Wer dann noch hier ist, ist völlig auf sich allein gestellt.« Die Beschriftungen der Container gaben Aufschluß über ihren In‐ halt. Neben Lebensmitteln enthielten sie mobile Heizungen, Waffen, elektronische Komponenten für den täglichen Bedarf und weitere Dinge. Einige terranische Produktionsstätten arbeiteten zwar noch, doch auch sie würden über kurz oder lang ihre Tätigkeit einstellen müssen. Dann waren die noch nicht evakuierten Menschen Terence Wallis’ Staat auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Vor allem
Frischgemüse war Überlebens wichtig, da es auf der Erde mittler‐ weile nur noch in wenigen Treibhäusern angebaut werden konnte. Die meisten von ihnen verfügten nicht über die technischen Vor‐ aussetzungen, der Kälte zu widerstehen. Die Aufzucht erfror, ohne daß jemand etwas dagegen tun konnte. Andernorts stellten sich die Erzeuger auf die veränderte Situation ein und horteten ihre Bestän‐ de, weil sie primär an ihr eigenes Überleben dachten. In einer Lage wie dieser blühten Tauschgeschäfte und Schwarzhandel. »Was stehen wir hier noch rum?« drängte Shanton. »Sollen wir warten, bis wir festfrieren? Du kennst die Richtung, in die wir müs‐ sen, Are.« »Dort hinüber«, dirigierte Doorn. Die gigantische Halle war unüberschaubar. Weil die Transmitter nicht mehr benutzt wurden, waren weite Teile des automatischen Leitsystems abgeschaltet. Wer sich nicht auskannte, hätte sich hoff‐ nungslos verlaufen. Doorns Erinnerung trog ihn nicht. Er übernahm die Führung. * In einem anderen Teil der Halle trafen sie auf eine Handvoll Men‐ schen. Wie die beiden Techniker waren sie in dicke Kleidung ge‐ packt. Kaum daß er die Besucher sah, näherte sich einer von ihnen. »Joss Brosen«, stellte er sich mit rauher Stimme vor. Er war ein großer vierschrötiger Kerl jenseits der Siebzig. Was ihm auf dem Kopf an Haaren fehlte, wurde in seinem Gesicht mehr als wettge‐ macht. Sein dichter eisgrauer Bart hing ihm wie eine Matte bis vor die Brust. Das zerfurchte Gesicht dahinter ließ sich nur erahnen. Obwohl es nicht nötig war, nannte Shanton seinen Namen und den seines Begleiters. »Gestatten Sie, daß ich mich ebenfalls vorstelle. Ich bin Jimmy, zu‐ ständig für Höflichkeit und Anstand«, warf der Roboterhund be‐ llend ein. »Für Tugenden mithin, die bei dem Dicken entschieden zu
kurz gekommen sind.« »Interessant«, murmelte Brosen. »Wir haben auch ein paar unserer Blechmänner Namen verliehen.« Eindringlich musterte er Jimmy. »Gab es da nicht mal einen Roman? Ich glaube, er hieß Träumen Ro‐ boter von elektrischen Hunden?« »Ich kenne nur Der alte Mann und sein Bart«, konterte Jimmy. »Ihr kleiner Freund kann nicht nur sprechen, er hat auch noch Humor«, wandte sich Brosen an Shanton. »Und manchmal beißt er sogar«, grollte Jimmy. »Besonders beim Anblick von Gesichtsteppichen. Außerdem ist der Dicke nicht mein Freund. Ich begleite ihn nur als Schutzbeauftragter, damit er nicht irrtümlich für eine von Eden kommende Rinderhälfte gehalten wird.« Verständnislos kratzte sich Brosen am Kopf. Er schaute zwischen Shanton und Jimmy hin und her und kam zu dem Schluß, seine nächsten Worte besser an Doorn zu richten. »Ich habe Sie bereits erwartet. Es tut mir leid, daß wir Ihnen kein Empfangskomitee am Eingang stellen konnten. Wir sind die letzten verbliebenen Mohikaner. Der Großteil des Personals ist schon durch den Transmitter gegangen.« »Kein Problem«, wehrte Doorn ab. Er deutete zu dem Strom von Containern, die nach ihrem Auftauchen aus dem Verstofflichung‐ sfeld auf zwei A‐Gravstraßen abtransportiert wurden. »Sie haben hier einen enormen Wareneingang. Reicht das Personal dafür denn noch aus?« »Unsere Roboter machen den größten Teil der Arbeit. Sie schaffen das allein.« »Dafür hauen die Menschen ab. Wallis macht den Laden also dicht?« »Mister Wallis ist ein verantwortungsbewußter Arbeitgeber. Er zieht sein Personal ab, damit niemand zu Schaden kommt. Der Aufenthalt auf der Erde ist zu gefährlich geworden, deshalb schließt er alle seine Anlagen auf Terra. Wie ich sehe, erliegen auch Sie beide
dem Lockruf des Paradieses Eden.« »Aber nicht, um uns in die Sonne zu legen.« Doorns ohnehin mür‐ rischer Gesichtsausdruck wurde noch eine Spur finsterer. »Wir ha‐ ben etwas zu erledigen.« »Kommen Sie«, forderte Brosen die Männer und den Hund auf. »In Kürze gibt es einen Transmitterdurchgang. Ich hoffe, Sie legen kei‐ nen Wert auf Luxus.« »Wir interessieren uns nicht für Luxus, wir haben es eilig.« Doorn und Shanton folgten ihrem Führer. »Es gibt nur noch einen Durch‐ gang pro Tag?« »So ist es. Ansonsten ist die Strecke den Frachtcontainern vorbe‐ halten. Die Hilfslieferungen haben im Augenblick absoluten Vor‐ rang.« »Was wird denn überhaupt noch von der Erde nach Eden gelie‐ fert?« »Gar nichts. Der Transmitter wird ausschließlich vom Personal benutzt.« »Und für die leeren Frachtcontainer, nachdem ihr Inhalt gelöscht wurde?« »So ist es. Sie werden draußen vor dem Transmitterbahnhof ge‐ stapelt und nach und nach zurückgeschickt. In einem davon werden Sie reisen.« Die Männer liefen auf einen großen Bogen zu. Ein Frachtcontainer wurde eben in den Abstrahlbereich bugsiert. Vor der Plattform wartete schon eine kleine Gruppe Leute. Shanton kannte eine der Frauen. Es war Veronique de Brun, die Freundin von Bert Stranger. Die hochgewachsene attraktive Französin mit der kastanienbraunen Mähne kannte Shanton ebenfalls. Als sie ihn sah, löste sie sich aus der Gruppe und trat auf ihn zu. »Hallo«, begrüßte sie ihn mit einem flüchtigen Lächeln. »Hallo«, antwortete Shanton, dem nicht entging, daß Doorn ihm einen indignierten Blick zuwarf. »Wie läuft’s?« »Wie es eben so läuft, wenn die Welt vor die Hunde geht und man
sich außerstande sieht, etwas daran zu ändern.« »So ähnlich fühle ich mich auch. Aber noch ist nicht aller Tage Abend.« »Selbst in der Gegenwart einer solch bezaubernden Mademoiselle fallen ihm nur Plattitüden ein«, klagte Jimmy. Vorwitzig schnup‐ perte er an de Bruns Bein und schmiegte sich daran. »Wirst du das wohl sein lassen«, drohte Shanton. »Sonst sorge ich dafür, daß du einen Transmitterunfall erleidest.« »Lassen Sie ihn nur.« Veronique lächelte. »Er stört mich nicht.« »Siehst du«, blaffte Jimmy. »Du bist wohl eifersüchtig, Dicker.« »Ich sorge mich nur um Ihre Gesundheit«, nahm Shanton die Un‐ terhaltung mit der Französin wieder auf. »Jimmy hat nämlich Flöhe und Läuse. Außerdem ist er genauso durchgeknallt wie die irrsin‐ nigen Großrechner von Eins, was eigentlich verwunderlich ist. Schließlich ist er nur mit einem Suprasensor von Mikrobengröße ausgestattet.« »Der eignet sich bestimmt hervorragend für eine Gehirntrans‐ plantation. Dann besteht doch noch Hoffnung für den Dicken.« Oh‐ ne eine weitere Entgegnung abzuwarten, trollte sich Jimmy zu der wartenden Gruppe und unterzog die sieben Männer und Frauen nacheinander einer ebenso eingehenden wie penetranten Muste‐ rung. »So sind die beiden«, seufzte Doorn. »Man gewöhnt sich daran.« »Ich habe schon von dieser eigenartigen Verbindung gehört.« De Brun sah Shanton fragend an. »Wie geht es Bert?« »Sie meinen Stranger? Dem geht es gut. Sie kennen ihn doch. Er setzt seinen Dickkopf überall durch. Er fühlt sich an Bord der POINT OF schon fast wie zu Hause.« »Ich habe seine Sendungen verfolgt. Über seine Arbeit vergißt er alles andere.« »Sie etwa auch?« Die Französin lächelte. »Ich bin wahrscheinlich die einzige Aus‐ nahme. Ich glaube, er liebt mich sogar noch etwas mehr als seine
Arbeit.« »Das will bei ihm wirklich etwas heißen. Und Sie?« »Ich? Wenn Sie damit meinen, ob ich ihn auch liebe: Ja, das tue ich.« Shanton hatte den Eindruck, einen roten Kopf zu bekommen. Wie schaffte es ein Mann, der so ziemlich das genaue Gegenteil von Adonis war, einer solchen Frau den Kopf zu verdrehen? Hätte Shanton es nicht besser gewußt, wäre er von der Zuhilfenahme von Drogen oder einem Sensorium ausgegangen. Mit einem raschen Blick vergewisserte er sich, daß seine Schöpfung nichts mitbekam. Jimmy war zu weit entfernt, um die Worte zu vernehmen. »Besonders häufig sehen Sie sich aber nicht«, überlegte er. »In den letzten Monaten haben wir uns ehrlich gesagt sogar kaum gesehen. Ich bedauere das sehr, doch unsere Arbeit bringt es so mit sich. Das war uns beiden von Anfang an klar.« In Veroniques Augen funkelte es. »Wir bekommen das schon hin. Denken Sie nicht auch, daß Liebe auch über große Entfernungen funktionieren kann?« Shanton hatte den Eindruck, daß sie eine Bestätigung aus seinem Mund erwartete. Ausgerechnet von ihm, der bei diesem Thema ein eher mieser Ratgeber war. »Sicher«, murmelte. »Warum denn nicht?« »Sie kennen das auch?« »Der Transmitter ist bereit«, rief eine Stimme. Sie gehörte Joss Brosen. »Begeben Sie sich bitte in den Container.« Shanton atmete erleichtert auf. Der Gong hatte ihn gerettet. Es blieb zu hoffen, daß Strangers Angehimmelte nicht auf die Idee kam, das Gesprächsthema nach dem Einsteigen zu vertiefen. Die kleine Gruppe stieg in den Frachtcontainer. Shanton, Doorn und Jimmy schlossen sich den acht Wallis‐Angestellten an. Im Ge‐ gensatz zu der behaglichen Einrichtung in den Personentransport‐ behältern war dieser geradezu spartanisch kühl ausgestattet. Brosen hatte nicht übertrieben. Es gab nur ein paar provisorisch aufgestellte Campingstühle für die Reisenden.
»Äußerst urig eingerichtet«, urteilte Shanton, nachdem er seine 114 Kilogramm Lebendgewicht vorsichtig auf einem der leichten Stühle plaziert hatte. »Hoffentlich bricht mein Sitz nicht unter mir zusam‐ men.« »Keine Sorge«, griff einer der Wallis‐Leute das Thema sofort auf. »Die Stühle scheinen nur auf den ersten Blick zerbrechlich zu sein. Sie sind aus extrem widerstandsfähigen Kunststoff‐Polymeren ge‐ fertigt. Die würden sogar einen Shir tragen.« Shanton blinzelte zu Jimmy hinüber, der sich zu de Bruns Füßen niedergelassen hatte. Der nachgebildete Scotchterrier enthielt sich eines despektierlichen Kommentars seinem Erbauer gegenüber. Shanton hätte sogar darüber hinweggesehen. Mit seiner unbedach‐ ten Äußerung hatte er nämlich ein Fachgespräch unter den Wal‐ lis‐Mitarbeitern ausgelöst, das der Französin keine Gelegenheit ließ, ihn mit ihrem Liebesgesäusel für Stranger zum Schwitzen zu brin‐ gen. Er war froh, als er ein kaum wahrnehmbares Vibrieren wahrnahm. Der Transportvorgang nach Eden wurde eingeleitet.
19. Auge in Auge. Ein Lächeln huschte über Pakulas Gesicht. Er hatte den Ausspruch mehrmals vernommen, der von den terranischen Freunden ver‐ wendet wurde. Der Sinngehalt war ihm übermittelt worden, doch am heutigen Tag verstand er ihn zum erstenmal richtig. Auge in Auge, so standen sie sich gegenüber. Hier er, der alternde Meeg‐Wissenschaftler, der sich freiwillig für diese Mission gemeldet hatte. Pakula hatte nicht lange überlegen müssen, als er von der Su‐ che nach einem Freiwilligen erfuhr. Er sah es als seine Pflicht an, sich unverzüglich zu melden. Als eine Frage von Schuld und Ehre ge‐ wissermaßen. Ohne die Terraner würde Pakula längst nicht mehr leben. In deren Zeitrechnung war es April 2062 gewesen, als sie die KRONE DER SCHÖPFUNG vernichtet hatten, den Centaurier des verbrecherischen Oktos Lugak, der Quatain hatte vernichten wollen. Statt des gesamten Riesenraumschiffs war nur ein Trümmerstück auf die Zentralwelt der Nogk gestürzt. Nicht der gesamte Planet war zerstört worden, sondern nur eine einzige Stadt. Mit ihr waren Pakulas Eibrüder untergegangen, die dort lebten. Der Verlust war schmerzhaft, doch das Volk der Nogk hatte über‐ lebt. Trotz ihres Individualismus dachten Nogk zuerst an das Ganze. Die Hilfe der Menschen konnte gar nicht hoch genug bewertet wer‐ den. Einen kleinen Teil davon konnte er ihnen nun vergelten. Deshalb war er hier. Auge in Auge. Hier er… … und dort das andere Auge. Strahlend hell. Ein gleißender Feuerball vor der Schwärze des Alls. Gewaltig prangte das Zentral‐ gestirn der Menschheit in der Allsichtsphäre. Die ULTAN bewegte sich mit mäßiger Geschwindigkeit in der Bahnebene der Planeten. Irdische Raumschiffe hielten sich nicht in der Nähe auf. Pakula war allein.
Das kleine Spezialschiff war so konstruiert, daß es außer seinem Piloten keine Besatzung benötigte, jedenfalls nicht auf diesem Ein‐ satz. Denn eigentlich ging es nur darum, einmal hin und wieder zurückzufliegen, mit einem Aufenthalt von ein paar Stunden daz‐ wischen. Andere Wissenschaftler außer ihm wurden nicht benötigt, weil es für sie nichts zu tun gab. Es gab keine Experimente durchzuführen. Genau genommen gab es überhaupt nichts zu tun. Der Flug der ULTAN war ein Ablenkungsmanöver, das Pakula allein durchfüh‐ ren konnte. Er hatte bei der Entwicklung des Spezialraumers mit‐ gewirkt und war in der Lage, ihn auch unter erschwerten Bedin‐ gungen zu fliegen. Mit erschwerten Bedingungen war allerdings nicht zu rechnen. Pakula hatte den Fernsehbericht gesehen, den der terranische Re‐ porter Bert Stranger gesendet hatte. Herrscher Charaua war glaub‐ haft erschienen, obwohl Nogk sich nicht zum Schauspielern eigne‐ ten. Die Vorstellung, die er und Stranger gegeben hatten, war, wie die Menschen sagen würden, oscarreif gewesen. Doch wen sollte sie eigentlich täuschen? Die Terraner waren eine freundliche und hilfsbereite Spezies, wie es mehr im Universum hätte geben können. Sie litten zuweilen al‐ lerdings auch unter übertriebenen Zwangsvorstellungen. Anders ließ sich nicht erklären, daß sie Spione des Robotervolkes in ihrem eigenen Sonnensystem befürchteten. Vielleicht würde ich unter ähnlicher Paranoia leiden, dachte der Meeg, wenn ein Gegner die Energie von Crius abziehen und seinem eigenen Ge‐ stirn zuführen würde. Eigentlich hätte er als Nogk die Menschen besser verstehen müs‐ sen. Schließlich waren die Nogk aufgrund von Feindeinwirkung und widrigen Umständen mehr als einmal aus ihrer Heimat vertrieben worden und hatten anderswo neu anfangen müssen. Doch die Menschen überwachten ihr Sonnensystem. Es gab die Ast‐Stationen, Sonden und Aufklärungssatelliten, bemannte und unbemannte Pat‐
rouillenflüge. Wie hätte ein Spion durch dieses engmaschig gewebte Netz schlüpfen sollen? Du irrst dich, relativierte Pakula seine eigenen Überlegungen. Seit Terra in Gefahr schwebte zu erfrieren, blieb vieles auf der Strecke, was zuvor selbstverständlich gewesen war. Die Terraner betrieben eine generalstabsmäßige Evakuierung ihrer Heimatwelt, so wie es die Nogk schon häufiger getan hatten. Damit hatten sie so viel zu tun, daß alle anderen Aktivitäten zwangsläufig darunter litten. Dieses gemeinsame Schicksal verstärkte die Bande zwischen bei‐ den Völkern noch mehr. Die ULTAN unterschritt die 60‐Millionen‐Kilometermarke. Das war etwas mehr als die mittlere Entfernung des inneren Planeten Merkur von seiner Sonne. Die Instrumente erfaßten den kraterüber‐ säten Planeten nicht, da die Sonne zwischen ihm und dem Schiffs‐ tand. Der Meeg öffnete eine Phase. »Pakula an Bord des Sonnentauchers ruft Ren Dhark und Charaua im Kontrollzentrum Cent Field. Routinemeldung. Wir passieren die Merkurbahn. Keine besonderen Vorkommnisse. Die Mannschaft hat sämtliche Vorbereitungen abgeschlossen. Wir beschleunigen für Endanflug auf die Sonne.« Eine ähnliche Meldung hatte der Pilot schon in der Bahnnähe der Venus gesendet. Da erst gar nicht der Anschein erweckt werden sollte, man rechnete mit unbefugten Zuhörern, wurden die Funk‐ sprüche weder verschlüsselt noch auf einer abhörsicheren Frequenz übermittelt. Davon abgesehen sollten die Roboter sie ja mitbekom‐ men, falls es wirklich einen Spion gab. Wenn »das Volk« erkannte, daß Nogk und Menschen an einer ganz anderen Stelle zuschlugen, mußte es schon zu spät für die Funkti‐ onsgemeinschaft der Roboter sein. *
Das zusätzlich angeschlossene Heizgerät in dem kleinen Büro ar‐ beitete auf Hochtouren, und das Anfang April. Die beiden Männer versahen mißmutig ihren Dienst. »Eine Schnapsidee, wenn Sie mich fragen, Leutnant«, sinnierte Holger Lappinen. Der junge Fähnrich hockte vor einem Funkgerät und starrte es an, als könnte er es mit Blicken durchbohren. Er war zur Terranischen Flotte gegangen, um im Weltall Abenteuer zu er‐ leben, am liebsten an Bord der POINT OF. Jeder Flottenangehörige in seinem Alter träumte davon, seine Ausbildung an Bord des ehema‐ ligen Flaggschiffs der TF zu absolvieren. Statt dessen hatte ihn das schlimmste Schicksal getroffen, das man sich vorstellen konnte. Er gehörte zur Bodenmannschaft der Raumstreitkräfte. In seinen Augen waren die beiden Begriffe ein Widerspruch in sich. »Ich frage Sie nicht, Fähnrich.« Der zweite Mann war Leutnant Till Strasser, ein braunhaariges Kraftpaket von gerade mal Einmeterfünfundsechzig. Er stand vor der Fensterfront im 23. Stockwerk des hohen Gebäudes an der Pe‐ ripherie des Raumhafens. Draußen war tiefste Nacht. Positionslich‐ ter an den Landefeldern erzeugten schlaglichtartige Eindrücke von den Verhältnissen. »Seit Tagen schneit es unaufhörlich«, murmelte er gedankenver‐ loren. Längst wartete kein Mensch mehr auf eine Wetterbesserung. Inzwischen gab es auf der Erde niemanden mehr, der nicht über die Ursachen informiert war. Strasser empfand das Schneetreiben als besonders unangenehm. Er stammte aus dem Herzen des ehemali‐ gen Sonnenstaates Florida. »Leutnant?« Strasser straffte seine Gestalt und wandte sich von dem deprimie‐ renden Bild ab. »Irgendwer muß den Sonnentaucher in der Ortung behalten.« »Das meine ich gar nicht, Sir. Ich halte es für eine Schnapsidee, überhaupt anzunehmen, Roboter könnten sich im Sonnensystem
aufhalten.« »Statt die Geräte im Auge zu behalten, würden Sie wahrscheinlich lieber wie Ihre Kameraden im Bett liegen?« »Aye, Sir.« »Da Sie ohnehin am Funkgerät sitzen, mache ich Ihnen einen Vor‐ schlag, Fähnrich. Schalten Sie eine Phase zu Marschall Bulton und bitten Sie ihn für heute nacht um Freistellung vom Dienst.« Lappinens Gesicht wurde zu einer steinernen Maske. »So habe ich das doch nicht gemeint, Sir. Ich wollte nur sagen…« »Schon gut, Fähnrich.« Der Leutnant lächelte in sich hinein. »Sie dürfen jederzeit denken, was Sie wollen. Gedanken sind schließlich frei. Doch im Beisein eines Vorgesetzten sollten Sie stets darauf achten, was Sie sagen. Wenn Sie an den Falschen geraten, sind Ihre Träume vom Weltall schneller ausgeträumt, als Sie sich das vorstel‐ len können.« »Ich werde daran denken«, versicherte der junge Finne. »Danke, Sir.« Er machte eine Pause und fügte, froh, auf diese Weise das Thema wechseln zu können, rasch hinzu: »Ein Funkspruch kommt herein.« »Lassen Sie hören.« Die Stimme des Meegs Pakula erklang. Der Kommandant des Spezialraumschiffs gab die erwartete Routinemeldung durch. Stras‐ ser ahnte sie in Gedanken wortwörtlich voraus. Übelnehmen konnte er dem Fähnrich dessen Meinung nicht. Die Mission lief glatt ab. Es sah wirklich nicht nach einem möglichen Zwischenfall aus. Um so besser. Wenn sie keinen Spion des Robotervolkes aufschreckten, war auch keiner da. In dem Fall war der ganze Bluff mit dem Sonnen‐ taucher zwar für die Katz, aber das war allemal besser als eine dra‐ matische Wendung der Ereignisse. Andererseits hatte man schon Pferde vor der Apotheke kotzen se‐ hen. Strasser sah den Sonnentaucher vor sich, den er vor dem Start von Cent Field in Augenschein genommen hatte. Das Spezialschiff war
35 Meter lang und maß zwei Drittel davon jeweils in der Höhe und in der Breite. Innen auf dem neuesten Stand der Technik und mit einer Vielzahl von Spezialinstrumenten bestückt, wirkte es äußerlich plump und träge. Strasser hatte sich an eine Schildkröte erinnert gefühlt, die ihren Kopf und die Beine eingezogen hatte. Der Eindruck entstand durch die von Charaua angesprochene Abschmelzpanzerung, die den Flug durch eine Sonnenkorona ermöglichte. Die KATARON, eine exakt baugleiche Kopie der ULTAN, war in einem Hangar verstaut. Ein Transporttender der Nogk hatte zur allgemeinen Überraschung zwei Sonnentaucher mit Piloten geliefert. Die Nogk waren in allem, was sie taten, sehr akribisch. So auch im vorliegenden Fall. Obwohl ihre Technik nahezu perfekt war, zogen sie die Möglichkeit in Betracht, daß plötzlich bei einem der beiden Sonnentaucher technische Schwierigkeiten auftreten konnten. Strasser hielt dieses Vorgehen für übertrieben, aber so waren die Hybridwesen nun einmal. Es hätte ihn gereizt, an Bord des Sonnentauchers zu sein. Zweifel‐ los war es eine interessante Erfahrung, mit dieser vergleichsweise winzigen Nußschale in die Sonnenkorona einzudringen. Theoretisch war eine Sonnendurchquerung zwar auch im Intervallflug mit einem Ringraumer möglich, doch in der Praxis hatte das noch niemand riskiert. Kein Kommandant würde so etwas ausprobieren, wenn nicht sein Leben davon abhing. Es ging das Gerücht, daß Ren Dharks Freund, der Worgun‐Rebell Gisol, das Wagnis in Orn einst mit seiner EPOY eingegangen war und es unbeschadet überstanden hatte. Aber Gerüchte gab es viele in diesen Tagen. »Sir, Pakula meldet sich wieder.« Das war nicht vorgesehen. Auf der Stelle vergaß der Leutnant alles andere. »Phase öffnen! Lassen Sie hören, was er zu sagen hat!« »Hier spricht Pakula an Bord der ULTAN. Fremdes Schiff voraus. Es transitierte in Flugrichtung. Zweifellos gehört es…«
»Was?« drängte Strasser. Er klopfte sich mit dem Zeigefinger auf die Nasenwurzel. Immer wenn er das tat, war höchste Gefahr im Anzug. »Störung kompensieren, Fähnrich!« »Das ist keine Störung, Sir«, antwortete Lappinen ungläubig. »Der Funkspruch ist abgebrochen.« »Was sagt die Ortung?« »Nichts, Sir. Die ULTAN ist… verschwunden.« * Pakula studierte die Instrumente des Sonnentauchers. Sie lieferten einen Wust an Daten. Es gab keine Abweichungen von den erwar‐ teten Werten. Die Hüllentemperatur stieg nach Überschreiten der Merkurbahn ständig. Im Zuge seiner Vorbereitung hatte der Nogk sich die Spezifikationen des inneren Solumläufers eingeprägt. Die Merkurbahn fiel beinahe mit der Äquatorebene der Sonne zu‐ sammen. Die Kombination der Rotationsperiode von 58 Tagen und 15 Stunden mit der Umlaufzeit von 88 Tagen ergab eine Hell‐Dunkel‐Phase von 176 Tagen. Ein Sonnentag auf Merkur dauerte damit doppelt so lange wie ein Merkurjahr. Während der extrem langen Tagphase erhitzte sich die Oberfläche des atmosphä‐ relosen Planeten auf 427° Celsius und kühlte in der Merkurnacht auf 183° Celsius unter Null ab. Die Hüllentemperatur der ULTAN betrug inzwischen knapp ein‐ tausend Grad und überstieg damit die Siedetemperatur von Zink. Der Panzerung machte das nicht einmal ansatzweise etwas aus. Sie erhitzte sich zwar, zeigte aber keine Verformung. Die würde ge‐ meinsam mit dem Prozeß der allmählichen Abschmelzung erst in der Photosphäre der Sonne einsetzen, wo 6000° Celsius herrschten. Der unvorstellbare Wert schreckte Pakula nicht. Er vertraute der hochentwickelten Technik seines Volkes. Der Sonnentaucher war zwar nur für einen Einsatz in der Sonnenkorona gedacht, sollte und konnte auch gar nicht in den Himmelskörper selbst eindringen. Aber
das wußten die unbekannten Gegner (falls es sie denn überhaupt gab) nicht. Für sie mußte es so aussehen, als steuere Pakulas Schiff auf direktem Weg ins Herz des himmlischen Glutofens. Die Systeme regulierten die Intensität des einfallenden Lichts au‐ tomatisch, um die Besatzung vor Schäden zu bewahren. In der All‐ sichtsphäre änderte sich Sols Helligkeit anscheinend nicht. Pakula beugte sich über die Instrumente, um ein paar Messungen vorzunehmen, als ein rotes Licht aufleuchtete. Gleichzeitig heulte ein durchdringender Alarm auf. Sofort kam ihm der Gedanke an eine unvorhergesehene technische Schwierigkeit wegen der Nähe zur Sonne – der sofort wieder verwehte, als er von seinem Pult aufsah. Die Allsichtsphäre zeigte ein Raumschiff, das Sekunden zuvor noch nicht dagewesen war. Es hatte sich zwischen ihn und die Sonne ge‐ schoben. Pakula korrigierte sich. In dem Fall hätten die Sensoren die Annä‐ herung registriert. Das bedeutete, es war aus dem Nichts erschienen, also transitiert, und zwar mit der Technik der »weichen« oder »sanften« Transition, wie auch die Nogk sie beherrschten. Die Gedanken gingen dem Meeg im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf. Gleichzeitig nahm er die Erscheinungsform des Raum‐ schiffs in sich auf. Es war ein über dreihundert Meter langer Raumer, dessen Form er nie zuvor gesehen hatte. Er ähnelte einem überdi‐ mensionalen Pilz mit einem größten Durchmesser von knapp zwei‐ hundert Metern. Der Pilzhut war mit zahlreichen Stacheln besetzt, die sowohl Waffen als auch Antennen sein konnten. Pakula wußte sofort, womit er es zu tun hatte. Ein Roboterraumer! Der kampfstarke Körper eines Großrechners von Eins, im Sonnensystem der Menschheit. Die Befürchtungen der Terraner waren also berechtigt. Doch woher war das Schiff gekommen? Die Frage war müßig, weil es keine Antwort gab. Die vierfingrige Insektenhand des Meegs klatschte auf einen Sen‐ sorschalter. Während die Phase geschaltet wurde, riß er die ULTAN
aus dem Kurs und drehte ab. Die Sinnlosigkeit seines Tuns war ihm bewußt, doch er konnte nicht teilnahmslos abwarten und sich in sein Schicksal fügen. »Hier spricht Pakula an Bord der ULTAN«, rief er um Hilfe. »Fremdes Schiff voraus. Es transitierte in Flugrichtung. Zweifellos gehört es zum Volk von Eins. Es versucht mir den Weg abzuschnei‐ den. Ich kann nicht sagen, ob es mich aufbringen oder zerstören will. Es…« Pakula brach seine Worte ab. Eine Anzeige verriet ihm, daß der Funkspruch nicht übertragen wurde. Die Roboter hatten ihren ho‐ chentwickelten Störsender eingeschaltet. Er fragte sich, ob der An‐ fang seiner Nachricht noch durchgekommen war. Es war gleichgül‐ tig. Er war allein und stand auf verlorenem Posten. Hilfe von der Erde kam auf jeden Fall zu spät. Was für ein Fehler! Niemand hatte damit gerechnet, daß ein Ro‐ boterschiff auftauchen und über ihn herfallen würde. Allenfalls hatte man einen irgendwo getarnten und versteckten Roboterspion ver‐ mutet, der die Sonne beobachtete, um zu überprüfen, ob an Stran‐ gers Geschichte mit dem Sonnentaucher etwas dran war. Sonst hätte man Pakula doch einen Geleitschutz mitgegeben. Der Meeg war der Verzweiflung nahe. Dieser Fehler konnte sein Leben kosten, wenn es ihm nicht gelang zu entkommen. Er flog eine Kurve und beschleunigte mit Maximalwerten. Zu seinem Erstaunen gelang es ihm sogar, die Entfernung zwischen dem Sonnentaucher und dem Roboterschiff zu vergrößern. Allerdings nur für Sekunden, dann machte es sich an seine Verfolgung. Mit bangen Blicken beobachtete er die Anzeigen. Die ULTAN jagte zurück Richtung Merkurbahn, erreichte 20 Prozent Lichtgeschwin‐ digkeit. Mehr war einfach nicht drin, Sonnentaucher waren schließ‐ lich keine herkömmlichen Raumschiffe, sondern Spezialkonstruk‐ tionen für einen einzigen Einsatzzweck. Und der erforderte weder hohe Geschwindigkeiten noch Transitionen. Eine Todesahnung befiel Pakula.
Ein greller Lichtblitz zuckte durch die Schwärze des Alls, als die Roboter das Feuer eröffneten. Er war das letzte, was Pakula in der Allsichtsphäre wahrnahm. Der Meeg starb im Dienst der Menschheit. * Das Büro war sachlich und nüchtern gestaltet. Ein großer Bild‐ schirm nahm die halbe Wand ein. Daneben gab es nur einen funk‐ tionell gestalteten Schreibtisch, eine Sitzgruppe in einer Raumecke und einen Konferenztisch, auf dem Henner Trawisheims Sekretär Nora Welby drei Tassen mit Kaffee absetzte. Kein Muskel zuckte im Gesicht des Regierungschefs. Es schien wie aus Stein gemeißelt. Der Cyborg auf geistiger Basis, dessen teilorga‐ nisches Memory‐Implantat ihm einen theoretischen IQ von 276 Punkten verlieh, fixierte Till Strasser, als wäre der Leutnant für den Verlust der ULTAN und ihres Piloten verantwortlich. »Wie konnte das geschehen?« »Wir wissen es nicht, Commander. Bis zu dem verstümmelten Funkspruch gab es keine Anzeichen von Gefahr.« »Schwer zu glauben. Ich habe bereits Kontakt zu den Nogk auf‐ genommen und ihnen mein Bedauern über den traurigen Verlust ausgedrückt. Das war alles andere als angenehm, die sind zur Zeit sowieso nicht gut auf mich zu sprechen. Sie hätten Ihre Instrumente besser im Auge behalten sollen, Leutnant.« Strasser wollte aufbrausen angesichts des ungerechtfertigten Vorwurfs. Marschall Theodore Bulton, der als Dritter im Bunde an dem großen Konferenztisch in Trawisheims Büro saß, kam ihm zu‐ vor. »Leutnant Strasser hat keinen Fehler begangen. Ich lege meine Hand für ihn ins Feuer.« Nachdenklich zog Bulton die Stirn in Fal‐ ten. »Darf ich offen reden?« Trawisheim verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bitte dar‐
um.« »Die Operation stand von Anfang an unter keinem guten Stern, Commander. Meiner Meinung nach waren die Kompetenzen nicht geklärt. Pakula startete im Auftrag der Regierung. Die TF hatte die Aufsicht, allerdings unter den Auflagen, die Sie gestellt haben: keine Begleiteskorte, um nur ja keinen Hinweis zu geben, daß wir viel‐ leicht Verdacht geschöpft haben und einen heimlichen Beobachter der Roboter vermuten. Aus der Entfernung waren uns von vornhe‐ rein die Hände gebunden.« »Ich mache der Flotte keinen Vorwurf, Marschall«, versuchte Tra‐ wisheim die Wogen zu glätten. »Auch Leutnant Strasser nicht.« »Ich würde meinen Leuten den Schwarzen Peter auch gar nicht zuschieben lassen.« Der untersetzte Offizier beugte sich vor und lehnte seinen massigen Oberkörper auf die Tischplatte. Einmal in Rage, war Bulton nicht mehr zu stoppen. »Hier sollte es auch nicht um Schuldzuweisungen gehen. Das Kind ist in den Brunnen gefallen, und nun müssen wir überlegen, was wir aus der Situation machen. Fakt ist, wir haben die Trümmer der ULTAN ge‐ funden. Sie wurde mit Kompri‐Nadel zerstört, was völlig unsinnig ist, da sie nicht mal einen Schutzschirm hatte. Jedenfalls belegt es, daß sich ein Schiff der verdammten Roboter in der Nähe herumt‐ reibt. Schlimmer noch, die Blechkerle bekommen irgendwie mit, was hier geschieht.« »Kompri‐Nadel läßt nur eine Schlußfolgerung zu. Ein Schiff der Funktionsgemeinschaft treibt sich im Inneren des Sonnensystems herum. Was das bedeutet, brauche ich wohl nicht zu betonen, Mar‐ schall.« »Daß wir vor unserer eigenen Haustür kehren müssen, weiß ich selbst. Die Roboter beobachten uns.« »Zu diesem Schluß bin ich ebenfalls gekommen«, warf Leutnant Strasser zaghaft ein. »Diesen Umstand sollten wir uns zunutze ma‐ chen.« Der Commander der Planeten und der Chef der TF sahen Strasser
an. »Und wie stellen Sie sich das vor?« »Darüber habe ich nachgedacht, seit Sie mich herbestellt haben, Sir. Ich habe eine Idee, doch um es gleich vorwegzunehmen: Mein Vor‐ schlag wird Ihnen nicht gefallen, Sir.« Bulton schnaubte. »Lassen Sie ihn mich zumindest hören, um das zu entscheiden. Ablehnen kann ich ihn immer noch.« »Wir haben einen zweiten Sonnentaucher, die KATARON. Die Nogk hatten zwar andere Gründe, ihn mitzuschicken, doch die sind müßig. Hauptsache, wir haben ihn. Draußen im Hangar nützt er uns nicht viel.« »Kommen Sie auf den Punkt, junger Mann.« »Wir schicken ihn los, allerdings mit der von Ihnen geforderten Eskorte.« »Sie hatten recht, Leutnant. Die Idee gefällt mir ganz und gar nicht. Das ist Wahnsinn. Die Nogk werden uns was husten, wenn wir noch einen ihrer Piloten in den Tod schicken.« »Ganz im Gegenteil. Er wird nicht sterben. Dafür sorgt ein Ring‐ raumergeschwader, das der KATARON zur Seite steht. Die Roboter gehen davon aus, daß wir nur eine Option haben, nämlich den von Bert Stranger lauthals verkündeten Plan mit dem Sonnentaucher. Durch den Einsatz der ULTAN dürften sie sich darin noch bestärkt sehen. Wenn wir keinen zweiten Versuch wagen, werden sie sich fragen, warum wir das nicht tun, wenn wir doch so verzweifelt sind. Sie müssen dann zwangsläufig zu dem Schluß kommen, daß wir noch etwas anderes aushecken. Gerade das ist es ja, was wir ver‐ schleiern wollen.« Bulton preßte die Lippen aufeinander. Er nickte. »Da ist was dran.« »Deshalb finde ich, daß wir es uns gar nicht leisten können, den zweiten Sonnentaucher nicht einzusetzen.« Strasser witterte Mor‐ genluft, zumal er vorhatte, selbst an einem solchen Einsatz teilzu‐ nehmen. »Natürlich braucht die Flotte dabei volle Bewegungsfrei‐ heit. Es ist dringend geboten, den Piloten zu schützen. Ein weiterer toter Nogk ließe sich Charaua gegenüber nur schwerlich erklären.«
»Also gut. Ich sehe keine Alternative«, stimmte Trawisheim zu. »Sie, Marschall?« Bulton schüttelte den Kopf. »Uns bleibt wohl nichts anderes übrig. Doch diesmal möchte ich die Kompetenzen eindeutig geklärt haben. Dies ist eine Angelegenheit der Flotte. Natürlich übernimmt die TF, speziell ich, auch die volle Verantwortung für den Einsatz.« »Keine Einschränkungen diesmal, Marschall.« Trawisheim nickte. Seine Miene drückte frostige Entschlossenheit aus. »Tun Sie, was Sie für nötig halten. Nur bringen Sie diesen Roboter‐raumer zur Strecke. Selbst wenn er uns nur beobachtet, mir gefällt es ganz und gar nicht, daß er sich unbemerkt im Sonnensystem herumtreibt.« »Da gibt es ein kleines Problem. Wenn wir die KATARON mit ei‐ ner starken Eskorte losschicken, überlegt er es sich vielleicht und unternimmt nichts.« »Offenbar hat er unseren Köder geschluckt. Wenn er nicht der Meinung wäre, daß unser Plan funktionieren könnte, hätte er die ULTAN nicht angegriffen. Also muß er es wieder tun. Er ist genauso unter Zugzwang, wie wir es sind.« Bultons Gesicht drückte seine Zweifel aus. »Voraussichtlich wird es so laufen, wie Sie es prognostizieren, Sir. Doch wieviel Prozent Wahrscheinlichkeit bleiben für die andere Variante, nämlich daß er uns durch die Finger schlüpft und später zuschlägt? Bei der Eva‐ kuierung der Erde müssen wir den Rücken freihaben.« Der Regierungschef dachte lange nach. Schließlich gab er sich ei‐ nen Ruck. »Ich habe gesagt, Sie haben freie Hand. Dabei bleibe ich. Tun Sie mir nur einen Gefallen, Ted. Bringen Sie den Piloten der KATARON lebend zurück.« »Es ist nicht ganz der übliche Dienstweg, Sir«, wandte Strasser sich an Bulton. »Ich ersuche darum, an Bord des Sonnentauchers mitf‐ liegen zu dürfen. Die Chancen des Piloten werden darunter sicher nicht leiden.« »Was versprechen Sie sich davon? In die Steuerung können Sie nicht eingreifen. Waffen, die Sie bedienen können, gibt es auf der
KATARON ebenfalls nicht. Ihre Unterstützung für den Piloten könnte allenfalls moralischer Natur sein.« »So sehe ich das auch.« »Eine merkwürdige Idee«, fand Trawisheim. »Einer mehr, der sich in Gefahr begibt. Ohne die mindeste Aussicht auf einen daraus re‐ sultierenden Vorteil.« Der Flottenchef erhob sich. »Begleiten Sie mich, Leutnant. Ich stelle Sie dem Nogk vor.« * Naram zeigte sich von den Ereignissen betroffen, ohne den Men‐ schen die Schuld an Pakulas Tod zu geben. »Er hat sich freiwillig gemeldet, genau wie ich«, erklärte er. »Unser Herrscher Charaua hat zu den Nogk gesprochen und ihnen ver‐ deutlicht, wie sehr die Menschen unsere Freunde sind. Er ist bei‐ spielhaft vorangegangen und mit Ren Dhark unterwegs, um die Gefahr für die Terraner auszuschalten.« »Er hat in seinem Interview erklärt, daß er seine Hilfe für die Menschheit beinahe eingestellt hätte.« Bei der Vorstellung schau‐ derte Till Strasser. Es gab kaum Wichtigeres als Freunde in der Not. »Ohne die Nogk wären unsere Chancen noch geringer, als sie es ohnehin schon sind.« Der Pilot der KATARON musterte den Menschen aus seinen unergründlichen Facettenaugen. Es war dem Leutnant nicht mög‐ lich, den Blick zu deuten. »Sie schätzen die Überlebenschancen der Menschheit gering ein?« »Tun Sie das nicht?« »Nein.« »Nein?« Naram schwieg eine Weile, scheinbar vertieft in die Steuerung des Spezialschiffes. Schließlich erhob er erneut die Stimme. »Ich spüre deutlich, daß Sie eine Erklärung von mir erwarten. Ich
will sie Ihnen geben. Ich kann die Chancen der Menschheit nicht gering einschätzen, weil wir Nogk schon mehrmals in der Situation waren, in der Sie nun stecken. Jedesmal, wenn wir vor dem Ende standen, tat sich ein neuer Weg auf, und wir fanden den Mut, ihn zu beschreiten. Dies machen Sie nun ebenfalls. Es gibt keine Garantien. Wenn etwas völlig unsicher ist, so ist es die Zukunft. Trotzdem bin ich guter Hoffnung. Wenn man die Hoffnung verliert, steht man wirklich am Ende seines Weges.« Narams Mandibeln produzierten ein klackendes Geräusch. »Noch etwas anderes sollten Sie wissen. Charauas Zögern, den Menschen zu helfen, dauerte nur sehr kurz an. Als er es erkannte, hat es niemanden so sehr erschreckt wie ihn selbst. Er sieht die Menschen als seine Freunde an, besonders Ren Dhark. Daß es einen Affront durch den amtierenden Commander der Planeten gab, hätte ihn nicht wirklich abgehalten.« »Da bin ich aber froh.« »Das können Sie auch sein.« Strasser fragte sich, ob die Bemerkung scherzhaft gemeint war. Er wußte viel über die Nogk, doch persönlich kannte er sie viel zu we‐ nig, um entscheiden zu können, ob sie einen subtilen Sinn für Ironie besaßen. In einem hervorgehobenen Ausschnitt der Allsichtsphäre zeichnete sich der Ringraumer ab, der den Sonnentaucher begleitete. Es war die PRAG. Ihre Intervallfelder waren abgeschaltet, doch an Bord herrschte höchste Alarmbereitschaft. Es blieb nur die Frage, ob das Roboterschiff sich aus der Deckung locken ließ. »Wir könnten beschleunigen«, schlug Naram vor, als der Sonnen‐ taucher die Bahn der Venus passierte. »Wir würden eine Menge Zeit sparen.« »Darum geht es nicht. Die Roboter sollen genug Zeit haben, unse‐ ren Anflug zu registrieren. Ich weiß nicht, wie sie reagieren würden, wenn die KATARON erst einmal in die Sonnenkorona eingedrungen wäre.« »Sie könnten in den Stern feuern und ein ziemliches energetisches
Chaos anrichten.« »Gefährlich für die KATARON?« »Ich muß gestehen, daß ich diese Frage nicht beantworten kann. Wir wissen, daß Kompri‐Nadel dem Nadelstrahl an Bord Ihrer Schiffe ähnlich ist. Bei einem Schuß in die Sonne müßte er eigentlich geschluckt werden. Andererseits könnte er für heftige Eruptionen sorgen, die die Panzerung schneller abschmelzen. Es gibt keine em‐ pirischen Untersuchungen darüber. Beim Entschärfen der Sonnen‐ bomben des Hitaura‐Imperiums ist es zu keinen derartigen Zwi‐ schenfällen gekommen. Ich werde mich vielleicht später damit be‐ fassen.« Strasser wünschte sich, Narams Zuversicht zu haben. Einen Mi‐ ßerfolg schien der Nogk überhaupt nicht einzukalkulieren. Dabei war das Schicksal der ULTAN Warnung genug. Ohnehin war die Situation reichlich bizarr. Sie unterhielten sich, als befänden sie sich auf einem Ausflug. Es täuschte. Der Leutnant erkannte es, als er in sich hineinlauschte. Die Anspannung war da. Er verdrängte sie unbewußt, doch sie blieb. »Keine Ortungsanzeigen?« erkundigte er sich. »Negativ, doch das besagt nichts. Wir wissen, daß die Roboter über hervorragende Tarnsysteme verfügen. Wenn sie kommen, dann ohne Vorankündigung. Bei der ULTAN werden sie so vorgegangen sein.« »Ich frage mich, wo sie stecken.« »Sie können von überall her kommen. Aber vermutlich sind sie ganz in der Nähe.« Der Kopf des Hybridwesens neigte sich zur Seite. »Es würde aus‐ reichen, wenn der Roboterraumer schon einmal unbemerkt hier war und einen Handlungsroboter beispielsweise auf dem Merkur abge‐ setzt hat. Er könnte sogar im Raum schweben, bis er mit kosmischer Materie kollidiert und ausfällt. Ein Großrechner steuert jeden ein‐ zelnen Handlungsroboter über einen separaten Mi‐ ni‐To‐Richtfunksender, was auch bei der Unterbrechung sonstigen
Funkverkehrs durch ihre Störsender noch funktioniert.« Die Vorstellung war erschreckend und gar nicht so abwegig. Wenn es gelang, den Roboterraumer zu stellen, mußte anschließend der Merkur nach einem möglichen Handlungsroboter abgesucht wer‐ den. Oder auch nicht, dachte Strasser. Ohne seinen Großrechner war der Handlungsroboter nicht viel mehr als mobiler Schrott. Der Ausdruck Schrottbots kam nicht von ungefähr. »Wir passieren die Bahn des Merkur.« Der Leutnant nickte stumm und widmete seine Aufmerksamkeit der Allsichtsphäre. Der Ringraumer hing an ihnen wie eine Klette. »Wir sollten eine Phase zur PRAG öffnen«, überlegte Strasser. »Vielleicht erregen wir damit noch ein bißchen mehr Aufmerksam‐ keit.« Es war nicht nötig, denn in diesem Moment stürzte ein Raumschiff aus dem Hyperraum. Es sah aus wie ein dreihundert Meter großer Pilz. Es feuerte sofort. * »Störfelder aktiv. Kein Funk mehr möglich.« Damit war zu rechnen gewesen. Auf die Weise verhinderten die Roboter, daß ihr Gegner einen Hilferuf absetzte. Sie konnten nicht ahnen, daß ihr gewohntes Vorgehen sie diesmal verriet. Bis eben war nämlich ein kontinuierliches To‐Richtsignal abgestrahlt worden, das nun schlagartig erlosch. Eine Totmannschaltung, so effektiv wie ein abgesetztes SOS. Naram riß die KATARON aus ihrem Kurs. In der Allsichtsphäre huschte das eben noch in Flugrichtung stehende Zentralgestirn seit‐ lich davon. Es wirkte wie ein in Fahrt kommendes feuriges Projektil, das ebenso fehlging wie die Schüsse des Pilzschiffes. Der Roboterraumer huschte heran wie ein Phantom, tanzte durch die Bildprojektion und feuerte erneut. Niemand konnte so schnell
reagieren, wie die Strahlen kamen, und ihnen ausweichen. Daß es Naram gelang, lag daran, daß er den Kurswechsel im selben Moment durchführte, in dem die Roboter schossen. »Die werden sich vor Wut in ihre Metallhintern beißen«, kommen‐ tierte Strasser. »Oft wird ein solches Manöver aber nicht gelingen.« »Ich bin schon froh, daß es einmal geklappt hat.« »Was treibt nur die PRAG?« »Sie feuert schon.« Der Ringraumer jagte heran und stürzte sich auf den Kampfrobo‐ ter. Dessen Vorteil war es gewesen, daß sich der Sonnentaucher an‐ fangs genau zwischen ihm und der PRAG befunden hatte. Sie konnte nicht schießen, ohne das kleine Spezialschiff zu gefährden. Nun gab sie sämtliche Zurückhaltung auf. Überlichtschnell rasten ihre rosa‐ roten Nadelstrahlen durch die Schwärze. Sie griffen nach dem Pilz‐ schiff, erfaßten es und wurden wirkungslos abgeleitet. »Schirm der Roboter hält.« »Was haben Sie erwartet? So leicht kommen die da nicht durch.« Um die leistungsstarken Schutzschirme eines Roboterraumschiffs zu knacken, bedurfte es schon eines anderen Kalibers. Eben hatte er nicht einmal geflackert. Schon setzte die PRAG nach. Sie beschäftigte das Pilzschiff, dem keine Zeit blieb, sich weiter um den Sonnentau‐ cher zu kümmern. Nun mußte es sich seiner eigenen Haut erwehren. Da es weniger wendig war, mußte sein Schirm weitere Treffer ver‐ dauen. Das tat er mit Bravour. Der Ringraumer umtanzte es, um die Aufmerksamkeit des intelli‐ genten Bordgehirns voll auf sich zu ziehen. Natürlich, denn ein di‐ rekter Treffer würde die KATARON vernichten. Das durfte auf kei‐ nen Fall geschehen, schon gar nicht nach Meinung der Roboter. So wie sie den Wert des kleinen Spezialschiffs für die Menschheit ein‐ schätzten, erwarteten sie sogar, daß sich der Ringraumer dafür op‐ fern würde. In der Zurschaustellung dieser vorgeblichen Tatsache durfte man keine Sekunde nachlassen.
Das hatte der Kommandant der PRAG auch nicht vor. Geradezu tollkühn unternahm ihr Pilot einen Anflug von der Flanke her. Na‐ delstrahlen eilten ihm voraus, erzeugten eine bizarre Lichtkaskade auf dem Schutzschirm und brachen ab. Es gab nur eine logische Handlung, die folgen konnte. Wuchtkanoneneinsatz, forderte Strasser gedanklich. Natürlich sah er nicht, was geschah, konnte es nur erahnen. Eine volle Breitseite war nötig, um den Karoschirm zu knacken. Ein heftiger Schlag erschütterte den Roboterraumer. Sein Schirm, eben noch mehr zu erahnen als zu erkennen, flackerte auf und bil‐ dete das Muster, nach dem er benannt war. Ein kreuzförmiges Muster aus Stützfeldern, die dem Schirm zusätzliche Stabilität ver‐ liehen. Schon spien die Geschützmündungen des Ringraumers wieder Nadel. Die rosaroten Strahlen zuckten durchs All, bekamen den Karoschirm nur unzureichend zu fassen und prallten unter heftigen Lichteruptionen von ihm ab wie ein flacher Stein von einer Wasser‐ oberfläche, wenn er im richtigen Winkel auftraf. »Kein Treffer«, räumte Naram zerknirscht ein. »Der Roboter hat zu schnell abgedreht. Der ist verdammt schnell.« Das war die PRAG aber auch. Weitere Salven Nadel folgten, doch zu spät. Der Karoschirm hatte sich schon wieder gefangen und seine volle Leistungsfähigkeit zurückerlangt. Nichts war mehr von den glimmenden Stützstrukturen zu sehen. »Chance vertan«, zischte Strasser beunruhigt. »Jetzt sind wir wie‐ der an der Reihe.« Der Großroboter wartete nicht auf den nächsten Anflug des Ring‐ raumers. Naram wurde offenbar nervös. »Wo bleibt bloß die Unterstüt‐ zung?« Er beschleunigte auf Maximalgeschwindigkeit, um sich in Sicher‐ heit zu bringen. Dazu ließ es der Roboterraumer nicht kommen. Mit raschen Manövern schüttelte er die PRAG ab und stellte sich der
KATARON in den Weg. Naram blieb nichts anderes übrig, als den Sonnentaucher abermals aus der Bahn zu reißen. Zwangsläufig ver‐ lor er an Fahrt. Er war für einen bestimmten Zweck konzipiert, nicht für halsbrecherische Manöver im freien Raum. Riesig wuchs das Pilzschiff in der Allsichtsphäre an. Es blieb in Bewegung, um dem Ringraumer keine Gelegenheit zu einer Wuchtkanonen‐Breitseite zu geben. Bildete Strasser sich nur ein, die Stacheln auf dem Pilzhut aufglimmen zu sehen? »Wir sind zu langsam.« Panik klang in Narams Stimme. »Wir kommen nicht weg. Wenn die PRAG nicht sofort eingreift, ist es vorbei.« »Sie läßt uns schon nicht im Stich.« Strassers Worte klangen in seinen eigenen Ohren wie das berühmte Pfeifen im Walde. Die PRAG war heran, als hätte sie den verzweifelten Hilferuf ver‐ nommen – und tat damit das, was der Kampfroboter anscheinend vorausberechnet hatte. Gleich mehrere Kompri‐Nadelstrahlen lösten sich aus seinen Geschützen und drangen in das Intervall des Ring‐ raumers. Wie Naram zuvor erwähnt hatte, ähnelte Kompri‐Nadel zwar dem herkömmlichen Nadelstrahl. Die Energieabgabe wurde allerdings auf einen unglaublich kleinen Durchmesser im Nanometerbereich gebündelt. Die Folgen waren verheerend. Schwerer Treffer! Strasser sprach die Worte nicht aus. Das Doppelintervall brach zusammen. Die PRAG erhielt einen di‐ rekten Treffer. Die Unitallhülle wurde an einer Stelle regelrecht ge‐ staucht. Gefühllos lieferte die Allsichtsphäre eine Ausschnittver‐ größerung, die das Ausmaß des Schadens zeigte. Die PRAG konnte den Kampf nicht fortsetzen. Der Leutnant hielt die Luft an. Unwillkürlich erwartete er das Ende des Ringraumers. Er trudelte, fing sich wieder und zog sich mit ei‐ nem Blitzmanöver zurück. »Das war es dann wohl wirklich«, murmelte er. »Es war mir eine Ehre, wenn auch nur kurz, mit Ihnen zu fliegen, Naram.«
Der Kampfroboter machte sich bereit, ihnen den Todesstoß zu versetzen. Da brach an mehreren Stellen der Hyperraum auf. * »Ringraumer! Drei, vier. Nein, fünf!« »Na, endlich!« Der Leutnant atmete auf. »Das wurde ja auch Zeit.« Der Roboterraumer zögerte, war von der veränderten Situation offenbar überrascht. Das war der Sinn des Versteckspiels gewesen. Doch noch war die Gefahr für die KATARON nicht vorbei. »Vollgas!« stieß Strasser aus. »Vollgas?« »Beschleunigen! Direkt an dem Kampfroboter vorbei, bevor die Ringraumer ihn unter Feuer nehmen.« Und das konnte nur noch Sekunden dauern. Naram begriff sofort. Ohne weitere Fragen zu stellen, trieb er sein Schiff voran. Auf dem Instrumentenpult vor ihm blinkten warnend mehrere rote Lämpchen auf. »Was bedeuten die Kontrollampen?« »Daß ich mich beeilen muß. Das dürfte doch auch in Ihrem Sinne sein.« Die KATARON machte einen Sprung nach vorn. Ein Energiestrahl zuckte dorthin, wo sie gerade noch gewesen war. Träge drehte sich der Kampfroboter in ihre Richtung. »Lieber läßt die Schrottkiste sich abschießen, bevor sie uns ziehen läßt.« Doch schon lag eine Lichtsekunde zwischen dem Sonnentaucher und ihrem Angreifer. Naram schlug einen Haken nach dem anderen, um kein Ziel zu bieten. Ringsum flammten Feuerlanzen in der Schwärze auf. Die Orientierungsphase hatte nur wenige Sekunden gedauert. Mit vereinten Kräften attackierten die Ringraumer den Kampfroboter.
Drei von ihnen sicherten die KATARON, die endgültig aus dem Feuer war. Dafür ging es nun dem Roboterraumer an den Kragen. Bei dem Anblick in der Allsichtsphäre brachte der Leutnant ein Lächeln zu‐ stande. »Sieht so aus, als ob wir es überstanden hätten, mein Freund.« »Freund?« »Sagten Sie vorhin nicht, die Nogk seien die Freunde der Men‐ schen und umgekehrt?« »Ich bezog das auf die Verbindung unserer beiden Völker, nicht auf unsere persönliche Beziehung.« Auch recht. Strasser sagte nichts. Es genügte ihm, dem Tod gerade noch so von der Schippe gesprungen zu sein. In sicherer Entfernung bremste der Nogk den Sonnentaucher ab, Sol wie ein gigantisches Signalfeuer vor sich. Das Roboterschiff versuchte sich aus der Um‐ klammerung der Ringraumer zu befreien. »So gefällt mir das schon viel besser«, kommentierte Naram den Verlauf der Schlacht. »Sie haben recht – mein Freund.« Der Leutnant nickte stumm, während die Ringraumer das Pilz‐ schiff aus unterschiedlichen Richtungen mit Nadelstrahl belegten. Es wehrte sich nach Kräften. Doch gegen die Übermacht mußte es seine Schlagkraft aufteilen. Die Einheiten der TF flogen einen Angriff nach dem anderen. An dem aufleuchtenden Karoschirm war zu erkennen, daß sie ihre Wuchtkanonen einsetzten. »Der Schirm steht kurz vorm Kollaps«, sagte Naram voraus. Es gehörte keine prophetische Gabe dazu, das zu erkennen. Und jetzt volle Breitseite, dachte Strasser. Im selben Moment verabschiedete sich der Karoschirm endgültig wie ein schützender Umhang. Die Analogie war amüsant. Das Ro‐ boterschiff stand nicht nur im Regen, sondern quasi nackt da. Naram verstand das erheiterte Lachen nicht, in das der Mensch verfiel, als der Roboterraumer explodierte. Er schrieb es Leutnant Strassers Erleichterung zu.
Wenig später gesellte sich die stark beschädigte PRAG zu den Einheiten der Flotte. Marschall Theodore Bulton persönlich beglückwünschte alle Teil‐ nehmer zu dem gelungenen Einsatz und ordnete den Rückflug zur Erde an. Es war nicht damit zu rechnen, daß ein weiterer Großrobo‐ ter ins irdische Sonnensystem kommen und sein Maschinenleben riskieren würde.
20. »Puh«, machte Shanton mit aufgeblasenen Backen. Er pellte sich aus der dicken Jacke und klemmte sie sich unter den Arm. Doorn und die anderen Passagiere taten es ihm gleich. In der Empfangs‐ halle des Transmitters auf Eden war es angenehm warm. »Wir werden erwartet«, stellte Doorn fest. Zwanzig Meter entfernt stand ein großer, kräftig gebauter Mann mit vollem braunem Haar. Sein kantiges Gesicht wurde von einem Vollbart umrahmt, der ungleich gepflegter war als der von Joss Brosen. Es handelte sich um General Thomas J. Jackson, den Kom‐ mandeur der Streitkräfte von Eden. Er winkte den Gästen von der Erde zu. »Dann wollen wir mal.« Shanton, Doorn und sogar Jimmy verabschiedeten sich von Vero‐ nique de Brun und den restlichen Wallis‐Mitarbeitern und begaben sich zu dem Offizier. Der Mittvierziger spazierte mit auf dem Rücken verschränkten Armen auf und ab, bis die beiden Männer ihn erreichten. »Gott zum Gruße! Willkommen auf Eden, meine Herren.« »Danke, General, auch wenn der Anlaß unseres Besuchs kein an‐ genehmer ist.« »Dich heiße ich ebenfalls willkommen, Jimmy. Ich habe schon viel von dir gehört.« »Zweifellos nur Gutes«, war der Roboterhund überzeugt. »Da sieht man es mal wieder. Im Gegensatz zu anderen ist der General ganz offensichtlich ein Mann mit Benimm und Anstand.« Jackson lächelte, wurde aber sofort wieder ernst. »Schlimme Sache mit der Erde.« Seine Miene drückte Besorgnis aus. »Es würde mich freuen, wenn Ihr Besuch dazu beitragen könnte, zumindest einen gewissen Fortschritt im Kampf gegen das Robotervolk zu erzielen. Bei unserem Hyperfunkgespräch klangen sie zuversichtlich.«
Doorn zog die Stirn in Falten. »Ob es dazu Grund gibt, wird sich zeigen.« Jackson deutete auf die Tasche. »Sind die ominösen Spezialgürtel da drin?« Shanton nickte. »Dann sollten wir keine Zeit verlieren, meine Herren. Ihr junger Kollege Robert Saam wartet im Stammwerk bereits ungeduldig auf Ihre Ankunft.« Der General gab die Richtung vor. »Wir ersparen uns die lästigen Abfertigungen. Es kommt zwar kaum noch jemand von der Erde und dementsprechend flott läuft alles, doch für Sie dürfte jede Minute kostbar sein.« Ohne von Personal oder Sicherheitskräften belästigt zu werden, verließen die drei Männer den Transmitterbahnhof. Sattgrüner Ra‐ sen erwartete sie. In einem abgesperrten Bezirk stand ein Schweber mit den Hoheitszeichen von Eden. Das ungewohnte Frühsommer‐ wetter erschlug Doorn und Shanton beinahe. Es war warm, die Luft angenehm. Ein Aroma von intensiv duftenden Blumen oder blüten‐ tragenden Bäumen lag in der Luft. Auf dem Rasen stapelten sich Transportcontainer. Offenbar wur‐ den sie in rascherer Folge angeliefert, als der Weitertransport zur Erde erfolgte. Sie glichen demjenigen, in dem sie von Terra gekom‐ men waren. Es gab nur einen Unterschied. Diese Container hier waren randvoll mit Hilfsgütern. Jackson ging zu dem geparkten Schweber und stieg ein. Doorn und Shanton folgten ihm. Auch hier hielten sich nur wenige Menschen auf. Der überwiegende Teil der anfallenden Tätigkeiten wurde von Robotern erledigt, die auf Eden in großer Stückzahl produziert und sogar auf die Heimatwelt der Menschheit exportiert wurden. Der Schweber hob vom Boden ab und huschte durch eine Allee. Schon die ersten Eindrücke belegten die Gegebenheiten auf der 56.000 Lichtjahre von der Erde entfernten Welt, die die Hookers einst entdeckt und für Wallis Industries in Besitz genommen hatten. Sie hatten dafür 2,5 Prozent der Planetenoberfläche bekommen. Der Rest
gehörte Terence Wallis, mittlerweile Staatsoberhaupt seines eigenen Planeten. Wallis hatte verfügt, daß sämtliche Industrieanlagen außer seinem von der Erde eingeflogenen Stammwerk unterirdisch ange‐ legt wurden. Die Oberfläche sollte den Menschen vorbehalten und nicht verschandelt werden. Der Schweber überflog Wiesen und Wälder. Shanton spähte hi‐ naus. Die liebliche, parkähnliche Landschaft war naturbelassen. So also hatte Wallis sich sein Reich immer vorgestellt. Es sollte sich seinen ursprünglichen, paradiesischen Charakter bewahren. »Wie weit ist die Evakuierung der Erde fortgeschritten?« fragte Jackson. »Wir bekommen hier zwar einiges durch unsere zurück‐ kehrenden Leute mit, doch Sie haben zweifellos Informationen aus erster Hand.« »Die Evakuierung läuft, aber sie gestaltet sich schwierig«, gab Doorn zu. »Selbst mit Ihren Ikos und den 600 Ellipsenraumern der Nogk braucht sie ihre Zeit. 36 Milliarden Menschen lassen sich nicht von heute auf morgen auf andere Planeten umsiedeln. Zumal viele sich dagegen sträuben, ihre Heimat zu verlassen. Es gibt sogar… egal.« Jackson sah von der Steuerung des Schwebers auf, fragte aber nicht weiter nach. Was immer Doorn für sich behielt, betraf die internen Angelegenheiten Terras. Die beiden Welten waren zwar Verbündete, gute Freunde und aufgrund der Abstammung ihrer Bewohner sogar miteinander verwandt, nichtsdestotrotz handelte es sich um zwei eigenständige Staatswesen, seit Terra Eden und Achmed vor über drei Jahren als eigenständig anerkannt hatte. »Wie beurteilen Sie die Aussichten für die Zukunft? Sind sie wirk‐ lich so schlecht, daß man die Verwandlung der Erde in eine Eiswüste befürchten muß?« »Das hängt auf der einen Seite von Ren Dhark ab«, erklärte Shan‐ ton. »Auf der anderen von unseren Feinden. Sie haben uns an den Rand des Untergangs gedrängt. Ich kann nur hoffen, daß ihnen keine weiteren Schweinereien einfallen, sollten unsere Gegenmaßnahmen
jemals greifen.« »Herr, wie zahlreich sind meine Bedränger. So viele stehen gegen mich«, zitierte Jackson aus den Psalmen. »Viele gibt es, die von mir sagen: Er findet keine Hilfe bei Gott. Du aber, Herr, bist ein Schild für mich.« Doorn und Shanton sahen sich unauffällig an, als seine christliche Überzeugung so unvermittelt aus dem General herausplatzte. Beide hatten nicht daran gedacht, daß der bibelfeste Mann das Buch der Bücher nicht nur dauernd zitierte, sondern streng nach dessen Re‐ geln und Geboten lebte. Es hieß, daß er in der Lage sei, notfalls die ganze Bibel auswendig aufzusagen. Von mir aus, dachte Doorn, der im Laufe seiner jahrtausendelangen Wanderung durch die Menschheitsgeschichte zahlreiche negative Begleiterscheinungen von Religion und Religionen miterlebt hatte. Schaden konnte das Zitieren von Bibelsprüchen jedenfalls nicht, auch wenn er selbst damit nichts am Hut hatte. »Was ist das denn da unten?« schreckte Doorn auf, als sich die Landschaft unter ihnen plötzlich änderte. Ab einer gewissen Ent‐ fernung vom Transmitterbahnhof brach die Parklandschaft ab. Nur noch vereinzelt waren größere zusammenhängende Baumbestände zu sehen. Aus der Luft erschien der Boden wie ein riesiger Flicken‐ teppich, aufgeteilt in unzählige Parzellen. »Das sind Felder«, erklärte Jackson, während er eine geringfügige Kurskorrektur vornahm. »Ackerflächen. Weite Teile der ehemaligen Naturflächen auf Eden wurden kultiviert und in Agrarflächen um‐ gewandelt. Es war die einzige Möglichkeit, das anzubauen, was auf der Erde benötigt wird.« Shanton stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Eden hängt sich für die Erde viel weiter aus dem Fenster, als bei uns allgemein bekannt ist. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Wallis ein solcher Schritt leichtgefallen ist.« »Mit dieser Annahme liegen Sie völlig richtig. Es ist ihm sogar äußerst schwergefallen. Dennoch sah er die Notwendigkeit ein, daß
wir die Ernährung der Menschheit sicherstellen müssen, bis sie selbst wieder dazu in der Lage ist. Mister Wallis tröstet sich mit der Tatsache, daß die Zerstörung der Natur nur vorübergehend sein wird. Sobald auf Babylon und den anderen Kolonialplaneten der Menschheit ausreichende Ackerflächen zur Verfügung stehen, wird das nicht für die Eigenversorgung benötigte Agrarland auf Eden sofort renaturiert.« Die Eindrücke bestätigten sich auf der weiteren Strecke zu Wallis’ Stammwerk. Auf riesigen Arealen wurden natürliche Lebensmittel angebaut. Legionen von Robotern bewirtschafteten die Ackerflä‐ chen. Ganz selten war ein Mensch zu sehen, der die Maschinen bei ihren Tätigkeiten kontrollierte. »Du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde.« Doorn brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß nicht Jackson den Psalm aufgesagt hatte. Der Sibirier starrte seinen Freund an. Die Worte waren von Shanton gekommen. »Alle Achtung!« kommentierte der General. »Es gelingt Ihnen, mich zu überraschen.« »Selig sind die Armen im Geiste«, gab Jimmy so leise von sich, daß nur Shanton ihn hören konnte. Am Horizont kam der hochaufragende Gebäudekomplex von Te‐ rence Wallis’ Stammwerk in Sicht. * In Anlehnung an seinen früheren Standort auf der Erde war das Stammwerk auf den Namen New Pittsburgh getauft worden. Wenn man die häßliche Produktionsanlage sah, konnte man verstehen, warum Terence Wallis nicht wollte, daß ähnliche Anlagen an ande‐ ren Stellen von Eden zu sehen waren. Es lag wie ein Geschwür in der Landschaft, wie eine gigantische, unregelmäßig geformte Pocken‐ narbe. Auf der Erde hatte es derartige Fabrikanlagen um die Jahr‐
tausendwende zuhauf gegeben. Unzählige Gebäudekomplexe waren auf dem Gelände untergebracht, schon auf der Erde willkürlich er‐ richtet und ohne erkennbares Muster zusammengesetzt. »Ganz schön hübsch häßlich«, urteilte Shanton beim Anflug. »Wenn man das Werk allein anhand seiner äußerlichen Merkmale beurteilt, sicherlich«, stimmte der General zu. »Dafür werden dort Güter für sämtliche Bereiche unseres Lebens produziert. Von den Exportgütern ganz zu schweigen, von denen Eden eine beachtliche Anzahl auch an Terra verkauft hat. Und der Clou ist: Das ganze Werk arbeitet völlig emissionsfrei.« Ringsum gab es keine Ansiedlungen, also auch keine Bewohner, die sich durch den Anblick gestört fühlen konnten. Wer auf Eden lebte, wohnte tatsächlich im Grünen, ein Traum, den viele Menschen auf der Erde seit Beginn der industriellen Revolution hatten. In Wal‐ lis’ kleinem Paradies war er in Erfüllung gegangen. »Das Werk liegt schön abgeschieden«, brachte Shanton seine Überlegungen auf den Punkt. »Und vergessen Sie nicht, es ist das einzige. Alle anderen indust‐ riellen Einrichtungen sind unterirdisch angelegt. Für unsere Kinder ist Eden ein lebenswerter Ort.« Doorn grinste. Jacksons Worte klangen, als entstammten sie dem Werbeprospekt einer Reiseagentur. Nicht von ungefähr hatte Eden sich von Beginn an zu einem Zugpferd der irdischen Tourismus‐ branche entwickelt. Jetzt kamen keine Touristen mehr. Um nach Bekanntwerden der drohenden Klimakatastrophe einen unkontrol‐ lierten Zustrom unter anderem von Pseudotouristen zu verhindern, hatte Eden eine Visumpflicht eingeführt. Wallis und sein Paradies blieben seitdem unter sich. Jackson zog den Schweber tiefer, bis er dicht über dem Boden flog. New Pittsburgh war von einem doppelt gestaffelten Energieschirm umgeben, den kein Unbefugter überwinden konnte. Ohnehin wäre niemand auf die Idee gekommen. Jeder Einwohner Edens hatte ein gutes und gesichertes Einkommen. Es gab keine Kriminalität und
aufgrund fehlender Konkurrenz nicht einmal Industriespionage. Bis auf die Buccaneers war Eden zudem noch von keinem Gegner aus dem Weltraum bedroht worden. Die hiesigen Sicherheitskräfte gingen trotzdem kein Risiko ein. Erst als Jackson den Schweber auf Schrittgeschwindigkeit abgebremst und einen Legitimationscode gesendet hatte, tat sich in dem äußeren Energieschirm eine Lücke auf, die eben groß genug war, das Fahr‐ zeug passieren zu lassen. »Nach dem Überfall der Buccaneers habe ich die Sicherheitsvor‐ schriften verschärft«, erklärte er seinen Gästen. »Und auch wer bis hierher durchgedrungen ist, kann sich noch lange nicht in Sicherheit wähnen.« Shanton bemerkte, daß sich der Schirm hinter ihnen wieder schloß, ohne daß der innere Energievorhang sich öffnete. »Ich nehme an, daß die Codes für die beiden Schirme nicht identisch sind.« Jackson lächelte. »Das wäre in der Tat ein ziemlich sinnloses Un‐ terfangen. Wer den Fehler begeht, ihn ein zweites Mal abzustrahlen, sitzt fest. Er wird von einer zusätzlichen Energieglocke und Prall‐ feldern mattgesetzt. Gleichzeitig marschieren fünfzig Kampfroboter auf.« »Dann tun Sie mir den Gefallen und strahlen Sie den richtigen Code ab, General«, ließ sich Jimmy von unter dem Sitz vernehmen, wohin er sich verkrochen hatte. »Ich muß nämlich an einen Baum und das Bein heben.« »Sind Sie sicher, daß Sie ihn seinen natürlichen Vorbildern nicht zu perfekt nachempfunden haben, Mister Shanton?« wunderte sich der General. »Ich habe noch keinen Roboter erlebt, der den Wunsch äu‐ ßert, austreten zu dürfen.« »Das veränderte Klima auf der Erde ist ihm auf die Schaltkreise geschlagen. Er hat seine verrosteten Innereien nicht mehr unter Kontrolle. Seine einzige Körperflüssigkeit besteht aus einem Quali‐ tätsöl von höchster Viskosität.« Jackson veranlaßte, daß sich vor dem Schweber eine weitere Lücke
auftat und nach dessen Durchflug unverzüglich wieder schloß. Doorn hielt den Aufwand für übertrieben, verkniff sich aber einen Kommentar. Zweifellos wußte der General, was er tat. Das hatte er mehrfach bewiesen, nachdem Wallis ihn von der Terranischen Flotte abgeworben und mit dem Aufbau der Streitkräfte von Eden beauft‐ ragt hatte. Da Jackson, obgleich er auch in der TF als untadeliger und äußerst fähiger Offizier galt, aufgrund seiner Unbequemlichkeit in der Hierarchie der Flotte nicht weitergekommen war, hatte er nicht lange überlegt, als Wallis ihn mit dem Generalsrang und entspre‐ chenden Bezügen geködert hatte. In dem unübersichtlich angelegten Werk waren überall Roboter unterwegs. Sie eilten von einer Halle zur anderen oder patrouillier‐ ten durch die Straßen. Von innen betrachtet wirkte die gesamte An‐ lage noch viel unübersichtlicher als von außerhalb. Teilweise wirk‐ ten die Produktionshallen wie willkürlich in die Gegend gesetzte Bausteine, die ein Riese nur kurz abgesetzt hatte, weil er sich noch entscheiden mußte, wo sie letztendlich zu plazieren waren. Röh‐ rengänge verbanden die Gebäude in unterschiedlichen Höhen, hier und da waren A‐Gravbänder zu sehen, auf denen Container von unterschiedlichen Größen transportiert wurden. »Im Vergleich zu den Containern, die wir beim Transmitterbahn‐ hof gesehen haben, ist der Ausstoß hier aber gering«, wunderte sich Doorn. »Der Eindruck täuscht«, belehrte Jackson ihn. »Der Großteil der Güter wird auf Eden über ein planetares Transmitternetz bewegt. Da wir unsere Produktionskapazitäten für die Hilfslieferungen nach Terra weitgehend ausschöpfen, sind wir gezwungen, zusätzlich die Containerstraßen zu benutzen. Normalerweise liegen sie brach und sind nur für den Notfall vorgesehen, falls bei den Transmittern eine Störung auftritt.« Der Schweber ging vor einem langgezogenen zweistöckigen Ge‐ bäude nieder. »Da wären wir, meine Herren.« Jackson sprang ins Freie, gefolgt von seinen Gästen und dem vor
Aufregung schwanzwedelnden Jimmy. Doorn trug die Tasche mit den Grako‐Gürteln, Shanton streckte sich in der warmen Mittags‐ sonne. Sie spiegelte sich in der gläsernen Fassade vor ihm. Als Mensch konnte man sich kaum noch daran erinnern, wann auf der Erde zuletzt ein solches Wetter gewesen war. Manchmal verging ein Jahr rasend schnell, doch wenn man etwas Schönes aus den Augen verlor, vervielfachte sich die verstreichende Zeit scheinbar. Die Männer und der Roboterhund betraten das Gebäude und darin einen A‐Gravschacht. Das aufwärts gepolte Feld trug sie in die erste Etage. Ihre Schritte hallten durch einen marmorgefliesten Gang, bis Jackson vor einer Tür stehenblieb. Robert Saams Labors lagen dahinter. * Vier Personen waren über einen auf der anderen Seite des Raums stehenden Tisch gebeugt. Es waren Robert und Regina Saam, George Lautrec und Saram Ramoya. Sie drehten der Tür den Rücken zu und waren dermaßen in einen Versuchsaufbau vertieft, daß sie das Ein‐ treten der Besucher nicht mitbekamen. Die errichtete Apparatur sah gleichermaßen kompliziert wie verwegen aus. Shanton erkannte miteinander verbundene Gläser, Kolben und Verbindungsröhrchen. Eine Destille, dachte er. Der Duft, der davon ausging, erinnerte ihn an etwas. »Wuff!« machte Jimmy. Wie von der Tarantel gestochen fuhren die vier Wissenschaftler herum. Überraschung zeichnete sich in ihren Gesichtern ab. Sie sa‐ hen aus, als seien sie während eines Diktats beim Abschreiben er‐ wischt worden. »Jimmy!« rief Robert Saam. Die blonden Haare standen ihm noch etwas wirrer vom Kopf ab als sonst. »Chris! Wir haben Sie schon erwartet.« Hinter seinem Rücken fuchtelte der mittelgroße hagere Norweger,
der sich während der Giant‐Invasion all sein Wissen als Autodidakt im Keller der Universitätsbibliothek von Uppsala angeeignet hatte, aufgeregt mit den Händen in der Luft herum. Seine Mitarbeiter versuchten auf seine Zeichen hin, die Versuchsanordnung unauffäl‐ lig verschwinden zu lassen. »Darf man fragen, was hier vor sich geht?« Jackson schnüffelte vernehmlich. »Wenn ich mich nicht irre, riecht es nach Alkohol.« Nach Cognac, um genau zu sein. Shantons Nase hatte ihn also nicht getrogen. Allerdings besaß der destillierte Brennwein einen ziemlich üblen Nebengeruch. »Nur eine kleine Testanordnung«, versuchte das junge Wissen‐ schaftsgenie die Sache herunterzuspielen. »Ich wollte unsere Gäste mit einem exquisiten Schluck begrüßen. Hat aber leider nicht ge‐ klappt. Also weg damit.« Seine Frau Regina kippte die penetrant riechende Flüssigkeit in einen Ausguß, bevor Jackson den Kolben einer genaueren Untersu‐ chung unterziehen konnte. Sie hatte ihren Chef geheiratet, nachdem er ihr durch sein beherztes Eingreifen gegen die Buccaneers das Le‐ ben gerettet hatte. Die attraktive Biologin aus der Schweiz wirkte ein wenig verlegen, als sie die Gäste begrüßte. Auch Lautrec und Ra‐ moya gesellten sich dazu. Bis auf ihren Chef schien es ihnen aus‐ nahmslos peinlich, bei ihrem »hochwissenschaftlichen« Versuch überrascht worden zu sein. »Mister Wallis wäre bestimmt nicht begeistert, wenn er erführe, daß in den Labors Alkohol hergestellt wird.« Jackson als strikter Abstinenzler war empört und suchte Zuflucht bei einem Bibel‐ spruch. »Ein Zuchtloser ist der Wein, ein Lärmer das Bier. Wer sich hierin verfehlt, wird nie weise.« »Alles halb so wild, General. Außerdem war die Destille ganz al‐ lein meine Idee. Ich habe meinen Mitarbeitern gedroht, sie alle zu feuern, wenn sie mir nicht helfen. Das können Sie Terence ruhig sagen.« Saam wirkte erheitert. »Zu blöd, daß ich einen Fehler bei der Zusammensetzung begangen habe.«
»Da bin ich ja beruhigt.« Shanton konnte Jacksons Gedanken in dessen Gesicht ablesen. Saam war auf seinem Gebiet genial, hatte jedoch ein leicht gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit. Diese kleine Einschränkung änderte indes nichts daran, daß er mit seiner Gruppe die Steuerung für die Wallis‐Roboter, die Wuchtkanone, die Grako‐Sonden, das Carborit und jede Menge mehr erfunden hatte. Für einen Dreißigjährigen war das eine ganz außergewöhnliche Erfolgsbilanz, so daß ihm sein Chef einige Macken nachsah. So war Saam einer der wenigen, die das Staatsoberhaupt von Eden mit seinem Vornamen anreden durften. Jimmy interessierte der kleine Zwischenfall nicht. Verspielt wie ein junger Hund sprang er an Saams Beinen hoch. Bei einem früheren Zusammentreffen hatten die beiden sich angefreundet. »Vernünftige Menschen sind eine Wohltat, wenn man sonst den ganzen Tag mit dem Dicken zu tun hat«, kläffte der Vierbeiner. Mit einem gequälten Lächeln reichte Shanton Saam die Hand. »Schaffen Sie sich bloß keine Haustiere an, Robert, besonders keine, die sprechen können. Und welche, die Sie selbst erfunden haben, schon gar nicht.« »Jimmy ist doch ein netter Kerl.« »Nun erntet er auch noch Lob.« Der ehemalige Hope‐Kolonist schaute angesäuert drein. »Fehlt nur noch, daß er einen Hundekeks bekommt. Die Töle dreht mir noch vollends durch.« »Schaff dir bloß kein Herrchen an, besonders keines, das nur wirres Zeug redet«, legte Jimmy Saam nahe. »Und eins, das sich für schöp‐ ferisch begabt hält, schon gar nicht. Den ganzen Tag nur Ärger, das macht der beste Suprasensor auf Dauer nicht mit.« Regina Saam brach in amüsiertes Lachen aus. »Touché!« »Zirkus Sarasani«, brummte Doorn mürrisch. »Dabei war ich der Meinung, unsere Reise nach Eden hätte einen ernsthaften Hinter‐ grund.« »Die Grako‐Gürtel«, entfuhr es Saam. Sofort hatte er die Albern‐ heiten vergessen. »Wo sind sie?«
»Hier.« Doorn hielt die Tasche umklammert wie ein Ertrinkender einen Rettungsring. »Zeigen Sie mal her. Ich will mir die Dinger so schnell wie möglich ansehen.« Mit seiner unbeschwerten Art griff der Norweger nach der Tasche. Doch bevor er sie zu fassen bekam, brachte Doorn sie in Sicherheit. »Immer mit der Ruhe, junger Mann.« »Junger Mann?« Saam starrte sein rothaariges Gegenüber fas‐ sungslos an. »Leider nicht mehr ganz so jung, wie ich gern noch wäre. Nun zeigen Sie schon, was Sie da haben. Oder glauben Sie etwa, der Inhalt gehört Ihnen?« »Glauben Sie etwa, Sie könnten sachgemäß damit umgehen?« »Wenn das einer kann, dann ich.« Erneut griff Saam nach der Ta‐ sche, bekam sie aber nicht zu fassen. »Wenn Sie das genauso sachgemäß machen wie mit dem ver‐ pfuschten Cognac, sehe ich schwarz für die Menschheit.« Saam lief puterrot an und schnappte nach Luft. »Robert, beruhige dich«, hielt seine Frau ihn zurück. »Sag jetzt nichts Falsches.« »Au backe.« Jimmy stellte sich auf die Hinterbeine. »Arc Doorn meint es doch gar nicht so.« »Nein? Wie meint er es dann? Wieso sagt er so was? Für einen Gast benimmt er sich reichlich ungebührlich.« »Was ist denn los, Arc?« Shanton legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter, bevor die Streithähne auf die Idee kamen, sich ge‐ genseitig an die Gurgel zu gehen. »Schon gut.« Der Sibirier winkte ab. »Ich bin vielleicht ein bißchen gereizt. Ich will ja nur verhindern, daß er etwas zerstört, das wir anschließend nicht mehr reparieren können.« Trotzdem rückte er die Tasche nicht heraus.
21. Wie gebannt starrte Ren Dhark in die Bildkugel. Was darin zu se‐ hen war, spiegelte das Ausmaß der drohenden Katastrophe wieder. Der Raumhafen von Cent Field versank in dichtem Schneetreiben. Normale Sicht war kaum mehr möglich. Früher hatte man die ge‐ parkten Raumschiffe auf den angrenzenden Landefeldern und sogar die Silhouetten des östlichen Stadtrands von Alamo Gordo sehen können. Nun schien die Welt rings um den Ringraumer in ein paar Dutzend Metern Entfernung zu enden. Nur die taktische Anzeige lieferte einen Beleg dafür, daß die POINT OF nicht das einzige Schiff auf der 500 Quadratkilometer großen Landefläche war. Eben hob ein Ellipsenraumer mit Flüchtlingen ab und erhob sich in den Himmel. »Startvorbereitungen abgeschlossen.« Der Erste Offizier Hen Fal‐ luta saß im Sessel des Piloten. Dhark sah auf und wandte sich an den Funker Elis Yogan. »Wie sieht es auf der TALKARN aus?« »Ist ebenfalls bereit, Sir. Charaua erwartet unsere Bestätigung.« »Dann geben Sie die mal durch, Hen: Es geht los.« »Aye, Sir.« Dhark war froh, daß sein Schiff endlich startete. Die Wartezeit hatte an seinen Nerven gezerrt. Mittlerweile war auch Tim Acker eingetroffen. Kaum an Bord, war er in Fachgespräche mit Bell und Vandekamp vertieft. Dhark hörte nicht hin, was die Männer besp‐ rachen. Gegen deren fachliche Kompetenz war er ein Laie, der nicht mitreden konnte. Er war nur froh, sie bei dem bevorstehenden Ein‐ satz an Bord zu haben. Er spürte nicht, wie die POINT OF mit A‐Grav vom Boden abhob, sah es nur an der Darstellung, die die Bildkugel lieferte. Rasch stieg der Unitallring der Atmosphäre entgegen. Aus der Höhe hatte man normalerweise einen Überblick über den gesamten Raumhafen mit seinen angrenzenden Hangars und Werften. Nichts
davon war zu sehen. Eine graue Wand umgab das Schiff. »Die TALKARN ist ebenfalls gestartet«, meldete Tino Grappa an der Ortung. Schon stießen beide Schiffe durch die Atmosphäre und begaben sich auf Rendezvouskurs mit der EMMA WALLIS, die am Rand des Sonnensystems wartete. Der unter dem Kommando von Hector Eli‐ zondo stehende Ikosaederraumer der Terence‐Klasse stand im Dienst der Schwarzen Garde. Gemeinsam beschleunigte der kleine Flottenverband auf Sprunggeschwindigkeit. »Erste Transition steht unmittelbar bevor.« Für einen nicht meßbaren Moment verschwanden die Schiffe im Hyperraum. Als sie in den Normalraum zurückfielen, standen schlagartig ver‐ änderte Sternbilder in der Bildkugel. »Zwischenziel erreicht. Keine Abweichungen von den eingegebe‐ nen Koordinaten. Verbandflug stabil.« »Wieso gehen wir eigentlich so umständlich vor?« fragte Leon Be‐ bir. »Proxima Centauri liegt gleich um die Ecke. Wenn ich es richtig verstanden habe, springen wir mit drei Transitionen quasi nach oben aus der Milchstraße hinaus. Warum fliegen wir nicht mit Sternensog zwischen Sol und Proxima und dringen auf halber Strecke in den Hyperraum vor?« »Weil das eine Milchmädchenrechnung ist, wie sie Klein‐Erna aufstellen würde«, tat der füllige Tim Acker die Frage ab. »Ob Sie Klein‐Leon dann vielleicht aufklären, damit er nicht dumm stirbt?« Verwirrt taxierte der Worgun‐Mathematiker und Doktor der Hy‐ perraumphysik den Zweiten Offizier. Er kratzte sich an seiner Halbglatze, als ihm aufging, daß nicht für jeden gewisse Dinge so selbstverständlich waren wie für ihn. »Verzeihung, Mister Bebir, ich wollte Sie nicht brüskieren«, ent‐ schuldigte er sich. »Natürlich ist Ihre Grundüberlegung richtig. Die Hyperraumstation der Grakos befindet sich unseres Wissens nach
genau zwischen Sol und Proxima. Jedenfalls wenn wir von unseren gebräuchlichen räumlichen Vorstellungen ausgehen. Bei allem, was mit dem Hyperraum zu tun hat, dürfen wir das jedoch nicht tun. Die Raum‐ und Entfernungsverhältnisse im Normalraum lassen sich nämlich nicht auf ihn übertragen. Hier können wir einen exakten Punkt zwischen den meiden Sonnen definieren, ebenso wie Sie leichtfertig von ›über‹ und ›unter‹ der Milchstraße sprechen. Beim Hyperraum ist das nicht möglich. Da gibt es kein Oben, Unten, Vor, Hinter oder Zwischen.« »Trotzdem würden wir Zeit und eine Menge Lichtjahre sparen, wenn wir so vorgehen würden. Wenn wir im Hyperraum verweilen können, muß es doch auch möglich sein, uns dort zu orientieren. Wir wären unserem Ziel dort jedenfalls schon viel näher.« »Wären wir nicht. Wie soll ich es Ihnen bloß verständlich machen? Der Hyperraum ist nur mathematisch zu erfassen, nicht mit dem menschlichen Vorstellungsvermögen. Lösen Sie sich gedanklich von sämtlichen Parametern, mit denen Sie bei einem Flug im Normal‐ raum arbeiten.« »Wenn es ausgeschlossen ist, einen bestimmten Punkt im Hyper‐ raum anzufliegen, ist unsere Mission von vornherein zum Scheitern verurteilt.« Acker raufte sich die verbliebenen Haare. »Es ist eben nicht un‐ möglich. Es ist nur von innerhalb der Milchstraße beinahe unmöglich. Bei den vielfältigen Gravitationsstörungen der Galaxis ist es ungleich schwieriger und komplizierter als von außerhalb. Würden wir es von hier aus versuchen, kämen wir wahrscheinlich sonstwo raus, aber garantiert nicht da, wo wir hin wollen.« »Hm«, machte Bebir nachdenklich. »Im Prinzip muß ich mir die Milchstraße also als ein von außerhalb betrachtetes einziges Gravi‐ tationszentrum vorstellen, das leichter berechnet werden kann?« Der Experte für Hyperraumphysik lächelte. »Sie haben es erfaßt.« »Wieso haben Sie es nicht gleich so allgemeinverständlich erklärt?« Verhaltenes Gelächter war zu hören. Acker schüttelte den Kopf.
Während seiner Ausführungen hatten die drei Schiffe zwei weitere Transitionen hinter sich gebracht und flogen nun mit SLE. »Antrieb aus!« ordnete Dhark an. In der Bildkugel war die ganze Pracht der Milchstraße in der di‐ rekten Draufsicht zu sehen. POINT OF, TALKARN und EMMA WALLIS befanden sich etwa 3000 Lichtjahre »über« der Milchstraße, wie Bebir sich ausgedrückt hatte, im interstellaren Leerraum. »Objekt voraus«, meldete Grappa. »Es ist die KURAN.« * In wenigen Kilometern Entfernung trieb der Tender der Hybriden im All. Es handelte sich um einen typischen ellipsenförmigen Nogk‐Raumer. Allerdings war er unbewaffnet und nur mit einem schwachen Antrieb versehen, da er lediglich Versorgungs‐ und Transportaufgaben übernahm. Er bestand größtenteils aus Hangars und Lagerhallen und war ursprünglich zu dem Zweck entwickelt worden, länger in den Tiefen des Alls operierende Flottenverbände zu versorgen und mit Reparaturdiensten zu unterstützen. Er konnte sowohl havarierte kleinere Schiffe als auch deren Besatzungen auf‐ nehmen, umgekehrt aber auch eine Ausrüstung in den Einsatz tra‐ gen. So hatte er es seinerzeit bei der REESCH getan. Nun trug er deren Nachfolger, die REESCH II, in seinem volumi‐ nösen Bauch. »Die TALKARN hat Funkkontakt zur KURAN aufgenommen«, verkündete Elis Yogan. Dhark nickte. Der eigentliche Einsatz begann an Bord von Cha‐ rauas Flaggschiff. »Die Hauptschleuse der KURAN öffnet sich«, rief Grappa. In der Bildkugel war der Vorgang zu sehen. Unwillkürlich fühlte sich Dhark in die Vergangenheit zurückversetzt. Er hatte diesen Vorgang schon einmal mitverfolgt, damals mittels der Allsichtsphäre von Bord der TALKARN aus.
Der etwa 58 Meter lange und durchschnittlich 30 Meter durch‐ messende Halbraumgleiter schwebte aus dem Hangar in den Welt‐ raum hinaus. Hätte man das skurril geformte Gebilde auf einem Planeten stehen sehen, wäre man nur schwerlich auf die Idee ge‐ kommen, es mit einem Raumschiff zu tun zu haben. Es wirkte eher wie ein gigantischer Spiralbohrer. Bis auf die gewundenen Kanäle mit ihren scharfen Kanten war die Außenhülle völlig glatt. Keine Erhebungen oder Aufbauten waren daran zu erkennen, nicht einmal eine einzige Antenne. Aufgrund fehlender Bewaffnung gab es auch keine Polkuppeln oder Abstrahlmündungen. »Imposant«, kommentierte Amy Stewart mit großen Augen. »Wenn auch etwas gewöhnungsbedürftig.« »Die Form trägt der chaotischen Energiestruktur des Hyperraums Rechnung«, erklärte Acker. »Die Nogk waren beim Bau der Mei‐ nung, daß sie eine relativ widerstandsarme Fortbewegung durch die Energieströmungen ermöglicht.« »Eine Überlegung, die sich bestätigt hat«, ergänzte Bell, der mit seiner »Abhandlung über theoretische Nutzungsmöglichkeiten chaotischer Strukturen im n‐dimensionalen Bereich« die entschei‐ denden Impulse zum Bau des Halbraumgleiters geliefert hatte. Dhark nickte. Daß die erste REESCH damals im Hyperraum hava‐ riert war, war auf keinen Fehler zurückzuführen gewesen, sondern auf den Einfluß einer im Hyperraum verankerten, mit gestohlener Worguntechnik aufgerüsteten Grako‐Station. Ihr Nachfolger sah exakt so aus wie der damalige Prototyp. Ren erhob sich aus dem Kommandantensessel. »Dann wollen wir mal«, sagte er, während sich das Schott des Tenders wieder schloß. Er stürmte aus der Kommandozentrale. Sei‐ ne eingeteilten Begleiter folgten ihm zu den Flashdepots. Die Piloten Mike Doraner, Pjetr Wonzeff, Larry Fongheiser, Kenneth Wouldt und Jack Stout warteten bereits auf ihre fünf Passagiere. Amy Ste‐ wart lächelte Ren zu, als er in Doraners Flash kletterte. »Bringen Sie uns zur TALKARN, Mister Doraner«, forderte Dhark
seinen Piloten auf, nachdem er es sich hinter dessen Rücken bequem gemacht hatte. »Aye, Sir. Leitstrahl der Nogk kommt bereits.« Der Pilot schaltete das Intervallfeld ein und steuerte das Beiboot durch die Ringraumerhülle ins All hinaus. Auf dem Monitor über seinem Kopf beobachtete Dhark, daß seine Kollegen sich anschlos‐ sen. Viel faszinierender war der vor dem schwarzen Hintergrund wartende Halbraumgleiter. Er bewegte sich mit einem leichten Drall, was den Eindruck eines Spiralbohrers noch verstärkte. »Wie ein Korkenzieher in der Silvesternacht«, hegte Doraner eine andere Assoziation. »Wenn bei Ihrem Vorstoß alles gut geht, öffne ich eine Flasche Champagner.« »Sie haben doch nicht etwa Alkohol in Ihrem Handgepäck an Bord der POINT OF geschmuggelt, Mike?« Dhark lächelte. Er nahm dem ehemaligen Piloten der GALAXIS seine Worte nicht übel. Er spürte die Anspannung selbst, wenn er sich vorstellte, was von einem er‐ folgreichen Ausgang des Unternehmens abhing. »Seit wann ist Champagner Alkohol, Sir? Ich halte ihn eher für Medizin!« Wie der Flash den Ringraumer verlassen hatte, so ging er an Bord der TALKARN, nämlich direkt durch die Schiffshülle hindurch. Der Leitstrahl dirigierte ihn in den größten Hangar von Charauas Flaggschiff, der vollständig ausgeräumt worden war. Nebeneinan‐ der setzten die fünf Beiboote auf und entließen ihre Passagiere. Die Piloten waren angewiesen, anschließend gleich wieder zu starten und zur POINT OF zurückzukehren. »Willkommen an Bord, Ren Dhark.« Charaua erwartete seine Gäste zusammen mit Uwegra, dem Kommandanten der bevorstehenden Expedition. Die beiden Nogk wirkten gelassen. Nur das aufgeregte Zittern ihrer Fühler verriet, daß auch sie dem Einsatz mit gemischten Gefühlen entgegensahen. »Die REESCH II wartet bereits auf Sie.« »Wir haben ihr Ausschleusen verfolgt. Was ist mit dem Tunnel?« »Er wird gerade von der angrenzenden Mannschleuse ausgefahren
und mit dem Halbraumgleiter gekoppelt«, antwortete der Herrscher der Nogk, als weitere Flash in den Hangar einflogen. Der Tunnel war ein doppelwandiger transparenter Schlauch. Er war gleichermaßen flexibel wie reißfest und hielt sogar dem Aufprall kleiner Meteore stand. Dhark zählte zwanzig Flash. Sie brachten Gardisten von der EM‐ MA WALLIS herüber. Von den zwanzig Männern der Schwarzen Garde, die ausstiegen, kannte Ren nur Leutnant Kurt Buck und Dr. Vincente Margarita. Der Professor für Hyperphysik an der Gardeuniversität gehörte zwar nicht zur kämpfenden Truppe, war aber wegen seines Fachwissens zu dem Einsatz abkommandiert worden. Als Ausbilder der Garde hatte er eine spezielle Metalogik entwickelt. Die Männer hatten die Flash kaum verlassen, da starteten die Beiboote schon wieder. Während Monty Bell Kurt Buck begrüßte, den er von dem früheren gemeinsamen Einsatz kannte, kam ein massiger Mann mit vollem schwarzen Haar zu Dhark. »Hauptmann Peter Schwengers«, stellte er sich vor und tippte läs‐ sig mit den Fingern der rechten Hand an den Schirm seiner Uni‐ formmütze. »Meine Männer und ich melden uns zum Einsatz, Commander Dhark und Regent Charaua.« »Ich heiße Sie und Ihre Leute sowohl an Bord der TALKARN als auch später an Bord der REESCH II willkommen. Dies ist Uwegra, der den Halbraumgleiter kommandieren wird.« Der drahtige Uwegra, von dem gesagt wurde, er sei sogar unter den Nogk ein besonders guter Läufer, hielt Schwengers in men‐ schlicher Manier eine Hand hin. Der Hauptmann ergriff sie, auch wenn es ihm nicht gelang, sie ganz zu umschließen. Dhark erinnerte sich an die Akte des Majors, die er vor dem Start gelesen hatte. Von dem vierschrötigen Deutschen Mitte 30 hieß es, er sei hart und sensibel zugleich. Neben seiner militärischen Qualifika‐ tion war der Mathematiker besonders versiert auf dem Spezialgebiet der 5‐D‐Mathematik. Sämtliche Angehörigen der Garde waren nicht
nur Elitesoldaten, sondern auch hochqualifizierte Wissenschaftler. Für diesen Einsatz waren ausschließlich Spezialisten für Hyperener‐ gie und Schwarzlochphysik ausgewählt worden. »Vielen Dank für Ihre Unterstützung, Hauptmann«, empfing ihn Dhark. »Keine Vorschußlorbeeren, Sir. Dennoch seien Sie versichert, daß wir alles tun werden, was in unserer Macht steht, um die Mission zu einem Erfolg werden zu lassen.« »Nicht weniger als das erwarte ich, Hauptmann. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, um was es geht.« Schon kamen die Flash von der EMMA WALLIS zum zweitenmal. Diesmal transportierten sie Waffen und sonstige Ausrüstungsge‐ genstände. Die Gardisten luden Kisten aus. Einen Teil davon öffne‐ ten sie gleich, der Rest ging verschlossen mit auf den Einsatz. »Ich frage mich, wie wir das ganze Material an Bord des Halb‐ raumgleiters bekommen sollen.« Dhark runzelte die Stirn. »Wir sind zwölf Nogk und 25 Menschen. Das wird verdammt eng.« »Nicht so eng, wie du befürchtest, Ren Dhark«, erwiderte Charaua. »Wir haben den damaligen Prototyp entscheidend verbessert und die Maschinen an Bord deutlich verkleinert. Dadurch wurde eine Menge zusätzlicher Stauraum geschaffen. Obwohl die REESCH II äußerlich exakt so groß ist wie ihr Vorgänger, bietet sie in ihrem Inneren viel mehr Platz.« Schwengers deutete auf eine geöffnete Kiste. Waffen lagen darin. Er nickte den beiden Nogk zu. »Unsere neuen Multikarabiner 10/62. Bitte bedienen Sie sich.« Die zur Standardausrüstung der Schwarzen Garde zählende Waffe galt als Wunderwerk der Mikrotechnik. »Wir haben unsere eigenen Waffen«, wehrte Uwegra ab. »Ich möchte, daß die gesamte Truppe einheitlich ausgerüstet ist. Und bei allem Respekt, die GEH&K Mark 10/62 sind leistungsfähiger als selbst die besten Handwaffen der Nogk. Sie lassen sich nicht nur zwischen Dust, Nadelstrahl und Strichpunkt umschalten, sondern sind außerdem als Raketenwerfer einsetzbar und…«
»Wir bedanken uns für das Angebot.« Charaua nahm einen der schweren Multikarabiner aus der Kiste. Kommentarlos tat Uwegra es ihm gleich. Der Hauptmann nickte zufrieden und öffnete eine wei‐ tere Kiste. Handnadelstrahler samt Holster lagen darin. Schwengers ergriff sie und reichte sie an die Nogk. »Diese Waffen sind zwar extrem teuer, dafür aber auch ungemein handlich und an Effektivität nicht zu überbieten. Sie sind ein per‐ sönliches Geschenk von Terence Wallis an alle Teilnehmer der Ex‐ pedition.« Charaua und Uwegra nahmen die Strahler an sich und begutach‐ teten sie. »Ihr Exemplar ist besonders kostbar gearbeitet, Regent. Es besitzt einen Kolben aus Eden‐Perlmutt. Terence Wallis versichert Sie damit seiner Ehrerbietung.« »Bekommt Ren Dhark keine solche Waffe?« »Ich habe meine schon seit längerer Zeit«, antwortete Dhark und klopfte an das Holster an seiner Hüfte. Charauas Fühler zitterten. »Ich fühle mich geehrt.« Er klang ge‐ rührt und verstaute den Nadelstrahler in seinem Anzug. Wenig später waren die letzten Vorbereitungen abgeschlossen. Das Übersetzen in die REESCH II begann. * Etwa zweihundert Meter voneinander entfernt schwebten die TALK ARN und der Halbraumgleiter längsseits. Es war ein eigenar‐ tiges Gefühl, durch den transparenten Schlauch zu gehen, der die beiden Raumschiffe miteinander verband. Nur einen halben Meter entfernt lauerte der lebensfeindliche Weltraum. Ein Prallfeld trug Menschen und Nogk dem Spiralbohrerschiff entgegen. Dhark beobachtete, wie sich in der bisher fugenlosen Außenhülle ein Riß abzeichnete. Man sah es an dem Licht dahinter. Eine Öffnung bildete sich, als das Schott beiseite fuhr und in der Wand ver‐
schwand. Die Schleusenkammer war zu klein, um alle Nogk und Menschen gleichzeitig aufzunehmen. Hinzu kam die umfangreiche auf Schwebeplattformen verstaute Ausrüstung, zu der sogar ein transportables Pressorgeschütz gehörte, das zwei Gardisten zwi‐ schen sich dirigierten. Uwegra ließ die Truppe in zwei Schüben ins Schiffsinnere. Cha‐ raua bildete gemeinsam mit Dhark den Abschluß der Kolonne. Ren war froh, als er endlich an Bord war und ein Meeg‐Techniker in sei‐ ner schmucklosen gelben Uniform die Schleuse hinter ihnen schloß. Er konnte nur ahnen, wie sich draußen die Verbindung wieder löste. An Bord herrschte eine für beide Völker verträgliche Luftfeuch‐ tigkeit, wie Ren feststellte. Die Nogk waren wirklich die perfekten Gastgeber. Es machte ihnen nichts aus, sich für das Wohl ihrer Gäste selbst zurücknehmen zu müssen – zumindest zeigten sie nichts da‐ von. Menschen und Nogk verteilten sich auf die verschiedenen Räume der REESCH II. Es gab tatsächlich wesentlich mehr Platz, als auf dem Prototypen vorhanden gewesen war. Durch die Mehrzahl der Expe‐ ditionsteilnehmer und die umfangreiche Ausrüstung relativierte sich dieser Vorteil jedoch wieder. Nur Charaua, Uwegra, Dhark und Amy Stewart besetzten die vergleichsweise enge Zentrale. Bell und Bück begaben sich mit den Meeg‐Technikern an den 5‐D‐Gleichrichter. Sie hatten bereits beim Flug der ersten REESCH daran zusammengearbeitet. Die Allsichtsphäre zeigte das Weltall. So oft Dhark ihre Wirkung bereits erlebt hatte, so faszinierte sie ihn doch jedesmal aufs neue. Man schien in einer gläsernen Kuppel direkt im All zu schweben, weil von Boden, Decke und Wänden der Zentrale nichts zu sehen war. Der transparente Verbindungsschlauch war verschwunden. POINT OF, TALKARN, EMMA WALLIS und KURAN standen ziemlich dicht beisammen. Sie blieben zurück, als das Spezialschiff Fahrt aufnahm.
Nur wenige Sterne waren in dieser Richtung vor dem Hintergrund des interstellaren Leerraums zu sehen. Auf der anderen Seite war der Anblick dafür um so prächtiger. Wie ein glühendes Rad präsentierte sich die Milchstraße. Aus der Ferne betrachtet war sie so atembe‐ raubend schön, daß man in dem Anblick versinken konnte. Norma‐ lerweise ging es Dhark nicht anders, doch heute hatte er keinen Sinn für diese grenzenlose Faszination der Schöpfung. Der Halbraumgleiter beschleunigte und flog zurück Richtung Milchstraße. Dhark beobachtete die Anzeigen. Obwohl der 5‐D‐Gleichrichter in einem anderen Raum untergebracht war, hatte Uwegra Zugriff auf seine Kontrolle. Die REESCH II beschleunigte kontinuierlich. Wie ein umgekehrter Countdown erschienen Ren die Zahlen. 20 Prozent Lichtgeschwindigkeit, 30 Prozent. Er rieb seine feuchten Handflächen gegeneinander. »Erhöhte Alarmbereitschaft für alle Besatzungsmitglieder«, gab Charaua per Rundruf durch. »Wir erreichen die Marke von 50 Pro‐ zent Licht.« Dhark hatte das Gefühl, daß er die steigende Spannung jedes ein‐ zelnen an Bord empfangen konnte. Deutlich war ihm in Erinnerung, was er damals an Bord des Prototypen erlebt hatte: Die an begin‐ nenden Wahnsinn gemahnenden Verzerrungseffekte. Den vorüber‐ gehenden Verlust der Kommunikationsfähigkeit der Besatzungs‐ mitglieder. Den scheinbaren Integritätsverlust des Schiffes. Alles war verzerrt, verzogen und verbogen worden. Nichts hatte mehr an das erinnert, was Ren als Normalität kannte. Es war der Anfang vom Ende des Unternehmens gewesen. Und diesmal? Die Nogk hatten die negativen Erfahrungen aufgearbeitet. Die REESCH II war dem Prototyp gegenüber deutlich verbessert wor‐ den. »70 Prozent Lichtgeschwindigkeit«, drang Uwegras Stimme in Rens Gedanken. »Ich übernehme die Steuerung des Gleichrichters.
Achtung… Eintritt in den Hyperraum!« Das gewohnte Schwarz des Weltraums blieb zurück. Die Milchstraße erlosch urplötzlich. Die Sterne verschwanden, waren einfach weg. Schwarz blieb das den Halbraumgleiter umgebende Kontinuum trotzdem. * Dharks Hände verkrampften sich bei dem Anblick zu Fäusten. Obwohl er gewußt hatte, was ihn erwartete, war die Wirkung wie ein Schock. Der menschliche Verstand konnte das Bild nicht auf An‐ hieb verarbeiten, weil es derlei in der vertrauten Wirklichkeit nicht gab. Eine andere Schwärze herrschte außerhalb des Schiffs, eine Schwärze auch außerhalb des Universums. Ein Mahlstrom aus all‐ gegenwärtiger Dunkelheit, die vom Licht keines Sterns durchdrun‐ gen war. Ein Kaleidoskop aus Farben, die dennoch alle schwarz waren. »Ren?« Amy hockte gleich neben Dhark, doch ihre Stimme schien aus ei‐ nem anderen Raum zu kommen. Als er sie anschaute, schien sie einem irdischen Spiegelpanoptikum entsprungen. Ihre Gestalt hatte nichts Menschliches mehr an sich. Ihre ungläubige Stimme verriet ihm, daß auch sie etwas sah, das aus der Realität ausgebrochen war. Alles geschah in einer Sekunde. Ren sah das überbordende Chaos auf sich zukommen, das seinen Verstand fesseln wollte. Es kam nicht. Die bekannten Verzerrungseffekte traten auf, wur‐ den aber sofort kompensiert. Ein für die menschlichen Sinne erträg‐ liches Schwarz füllte die Allsichtsphäre nun aus. Dieses Mal brauchte sie nicht abgeschaltet zu werden. Die Personen in der Zentrale präsentierten sich in ihrer tatsächlichen Erscheinungsform.
»Automatik hat eingegriffen und Verwerfungseffekte korrigiert«, erklärte Charaua. »Der 5‐D‐Gleichrichter arbeitet im Rahmen der erwarteten Parameter. Die Bindung an den Hyperraum ist stabil.« Uwegra hantierte an seinen Bedienungselementen. »Steuerung arbeitet ebenfalls ohne Einschränkungen.« Der Nogk führte eine Kursänderung durch. Das Schiff gehorchte so anstandslos wie im Normalraum. Dhark hatte eine gewisse Trägheit gegenüber den unberechenba‐ ren Gravitationslinien des Hyperraums erwartet. Der Gleichrichter kompensierte sie vollständig, obwohl eine Toleranzspanne einkal‐ kuliert war. Da sie nicht beansprucht wurde, blieb immer noch ein wenig Luft. Um so besser. »Ich wünschte, man könnte unseren Kurs auch optisch wahrneh‐ men«, überlegte Stewart. »Ich habe das Gefühl, wir treten auf der Stelle.« Da ging es Dhark nicht anders. Dort draußen existierten nun ein‐ mal keine Leuchtfeuer, an denen man sich orientieren konnte. Er fragte sich, wie man eine Geschwindigkeit und Richtung definieren sollte, wenn es nichts gab, woran man beides festmachen konnte. Der menschliche Verstand war dazu nicht fähig. Einzig die Rechner konnten das. Ihr Ausfall im Hyperraum käme einer Katastrophe gleich. Davon abgesehen, daß es keinen möglichen Zielort gab, zu dem man hätte fliegen können, war jegliche Orientierung unmöglich. Ein bißchen erinnerte es an die Geschichte der verlorenen Spazier‐ gänger in der Wüste, die einen geraden Weg einschlugen, irgend‐ wann auf Fußspuren stießen und erkennen mußten, daß es ihre ei‐ genen waren und sie unentwegt im Kreis gelaufen waren. Falsch, sagte sich Ren. Es gab hier doch etwas. Zumindest eine Grako‐Station. Abermals flog Uwegra eine Schleife. Auch ihm blieb nichts anderes übrig, als sich ohne Einschränkung auf die Geräte des Halbraum‐ gleiters zu verlassen. Was manche Menschen des vorigen Jahrhun‐ derts befürchtet hatten, hier war es Wirklichkeit geworden: Auf Ge‐
deih und Verderb war man abhängig von Maschinen. Nur hatte damals noch niemand ernsthaft an die Existenz des Hyperraums geglaubt, geschweige denn an die Möglichkeit, in ihn einzudringen und ihn zu durchfliegen. »Weiterhin keine Beeinträchtigungen?« fragte Charaua. »Nein. Ich beende die Probemanöver und gebe die Koordinaten aus den Grako‐Daten ein.« Uwegras Reptilienfinger flogen über die Bedienungsfelder vor ihm. Wieder versuchte Dhark, sich an den schwarzen Linien, Ver‐ wirbelungen und Mustern zu orientieren. Es war unmöglich. Nicht für einen Moment behielten sie Kontinuität, sondern waren in stän‐ digem Wandel begriffen. Ihm hätten die Worte gefehlt, jemandem, der nicht Augenzeuge der optischen Eindrücke wurde, die Ände‐ rungen von schwarzen Konfigurationen vor schwarzem Hinter‐ grund zu erklären. Ren gab die sinnlosen Versuche auf. Die Anzeigen verrieten die Kursänderung. Die REESCH II durchpflügte den Hyperraum in Richtung des Ziels. Sie flog und flog. Wirklich? Selbst die Zeit schien irreal zu werden. Dhark war versucht, einen Blick auf seinen Armbandchronographen zu werfen. »Den Geräten zufolge nähern wir uns der Grako‐Station«, teilte Uwegra mit. Verbleibende Entfernung? wäre es Dhark beinahe herausgerutscht. Eine törichte Frage bei den herrschenden Verhältnissen. Der Pilot nahm eine geringfügige Kurskorrektur vor. »Die Station kann nicht mehr weit weg sein. Im Normalraum hätten wir sie be‐ reits in den Optiken.« »Ich registriere etwas.« Der Herrscher persönlich nahm eine Ein‐ stellung vor. Sein Libellenhaupt ruckte vor. »Unerklärliche Energien werden angemessen.« »Unerklärliche Energien?« wandte sich Stewart an Charaua. »Wenn sie nicht natürlichen Ursprungs sind, tippe ich auf Waffen.«
»Sie haben recht. Die Station feuert auf uns. Wir müssen auswei‐ chen, Kommandant.« »Die Strahlen selbst sind vor diesem Hintergrund nicht zu sehen, ihre Wirkung aber schon.« Eilig und doch ruhig führte Uwegra das Ausweichmanöver durch. »Die Energie zerfasert das Schwarz, macht es irgendwie… transparent.« Eher silbern, dachte Dhark. Er entdeckte mehrere filigrane Kanäle, deren Füttern sich vor der allgegenwärtigen Nacht abhob. Sie kamen nicht einmal in die Nähe des Gleiters. Offenbar hatte die Besatzung der Station keine Erfahrung mit Gefechten im Hyperraum. »Alle sollen die 5‐D‐Schutzanzüge anlegen!« rief Charaua über die Bord Verständigung. »Einen Zufallstreffer können wir nicht aus‐ schließen. Außerdem sind wir gleich bei der Station.« Die Bestätigungen kamen in rascher Folge, auch von Schwengers’ Gardisten. Es gab Modelle der 5‐D‐Anzüge, die über deren Multi‐ funktionsanzüge paßten. Endlich entdeckte Ren das abstoßende Geschwür im Hyperraum. Im selben Moment war es ihm auch möglich, Entfernungen abzu‐ schätzen. Wie die meisten Grako‐Stationen bestand auch diese aus einem Gewirr mächtiger schwarzer Röhren – und glich der Station, in die der REESCH‐Prototyp gezogen worden war, wie ein Duplikat. Auch sie war schwarz, doch erschreckend anders als die bunt‐ schwarzen Wirbel des Hyperraums. Die verzerrten und verdrehten Proportionen wirkten wie das Werk eines Wahnsinnigen. Mehr noch. Ihr Aussehen bewirkte einen Effekt, der sich rational nicht erklären ließ. Schon die ähnlich konstruierten Grako‐Raumer hatten bei Menschen, die sie sahen, Ekel ausgelöst. Dhark drängte das Gefühl zurück. Unwillkürlich erwartete er, daß sich ein schwarzleuchtender Schlund öffnete. So hatte sich das Schleusenschott damals präsentiert. »Nichts. Diesmal bekommen wir keine Einladung. Wie gehen wir vor?« »Vorschläge, Ren Dhark?«
»Wenn man uns nicht reinläßt, müssen wir uns selbst die Tür öff‐ nen.« Uwegra steuerte den Halbraumgleiter zwischen den Röhren hin‐ durch, die teilweise Längen von mehreren hundert Metern aufwie‐ sen. Überall in der verwinkelten Konstruktion gab es ausreichend große Durchlässe, durch die das Schiff paßte. Leider führte keiner davon ins Innere. »Immerhin feuert die Station nicht mehr auf uns. Die Besatzung fürchtet wohl, Schäden an der verwinkelten Konstruktion anzurich‐ ten.« »Das ist unser Vorteil. Wir können unbelästigt manövrieren.« »Trotzdem dürfen wir keine Zeit verlieren! Vielleicht haben die Grakos kleine Schiffe zum Ausschleusen an Bord. Anscheinend gleichen sich alle Hyperraumstationen der Grakos aufs Haar. Uwegra, erinnern Sie sich an die Stelle, wo wir mit der REESCH ins Innere gezerrt wurden?« »Natürlich.« »Eine gute Idee«, lobte Charaua. »Genau dort dringen wir ein, weil wir wissen, wie es dort im Inneren aussieht.« Sofort änderte der Pilot den Kurs. Der Gleiter tauchte zwischen mehreren Röhren hindurch, hinter denen er sich mühelos hätte ver‐ stecken können. Minutenlang hatte Dhark den Eindruck einer Acht‐ erbahnfahrt, doch Uwegra wußte genau, was er tat. Als er in den Peripheriebereich der Station kam, beschleunigte er kurz, ließ sie hinter sich und wendete. »Energiestöße! Sie feuern wieder auf uns.« Damit hatte Uwegra gerechnet. Er wich den Strahlen aus. Der Halbraumgleiter machte einen Satz nach vorn, drohte sich in das gewaltige Gebilde zu bohren, das den gesamten vorderen Bereich der Allsichtsphäre ausfüllte. »Wollt ihr uns da oben umbringen?« Die Stimme gehörte Dharks altem Freund Monty Bell. Charaua ignorierte sie. »Hauptmann Schwengers, Ihre Gardisten
sollen sich bereithalten. Wir dringen gleich in die Station ein.« »Je eher, desto besser«, kam die prompte Bestätigung. »Wir sind bereit zum Aussteigen.« Ein harter Ruck ging durch den Gleiter, als Uwegra ihn brutal ab‐ bremste. Da prangte die Wand der Station bereits als unüberschau‐ bares Gebirge in Flugrichtung. Ein silberner Kampf strahl huschte durch die Schwärze, fraß sich in die Hülle der Station. Die Waffenantenne, aus der er stammte, war nahtlos in die Hülle des Gleiters integriert. »Schleusenschott zerstört!« Der Weg war frei. Rötliches Glimmen drang aus der gewaltsam geschaffenen Öffnung. Die REESCH II huschte hindurch, sank zu Boden. Stille herrschte in der Schleusenkammer. Doch die war trügerisch und währte nur Sekunden. * Ein Schirm aus schwarzer Energie schloß sich hinter dem Halb‐ raumgleiter. Die Kälte des Hyperraums blieb zurück. Das unwirkli‐ che Dunkel war in der kreisrunden Öffnung zu sehen, die der Ener‐ giestrahl geschmolzen hatte. »Gleichrichter abschalten!« befahl der Kommandant. Im nächsten Moment wurde das Herzstück des Halbraumgleiters deaktiviert. Wäre das im Hyperraum geschehen, hätte es den sofor‐ tigen Rücksturz in den Normalraum bedeutet. Der Aufenthalt im Inneren der Grako‐Station wirkte jedoch wie ein Anker. »Alle aussteigen!« Dhark und Stewart stürmten bereits aus der Zentrale und rannten zur Personenschleuse, durch die sie an Bord gekommen waren. Sie war schon geöffnet. Die beiden Nogk folgten ihnen. Hauptmann Schwengers trieb seine Männer an. Ein Teil von ihnen schleppte die Kisten mit der Ausrüstung und bugsierte das Pres‐
sorgeschütz in die Halle. Ihre Kameraden stürmten mit erhobenen Waffen heraus und sicherten die Zivilisten und die Meegs, die ebenfalls von Bord jagten. »Keine Grakos! Halle ist sauber!« Die Gefahr kam aus einer anderen Richtung. In der Decke verbor‐ gene automatische Schwarzstrahler eröffneten das Feuer auf den Gleiter. Wo die finsteren irisierenden Strahlen sich in die Hülle bohrten, richteten sie irreparable Schäden an. Dabei entfalteten sie gleich doppelte Wirkung. Sie schmolzen das Metall zusammen und verwandelten es zugleich in schwarzen, kristallinen Staub. Dhark sprang aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich. Amy riß ihren Multikarabiner in die Höhe und richtete ihn auf die Hallen‐ decke. Ein olivgrüner Duststrahl griff nach einer der verborgenen Geschützmündungen. Ein Ausschnitt der Decke rieselte als amor‐ pher Staub zu Boden. Die Gardisten waren nicht minder reaktions‐ schnell als der Cyborg und gaben eine Reihe gutplazierter Schüsse ab, bevor die Schwarzstrahler sich neue Ziele suchen konnten. »Wir müssen hier raus!« Schwengers’ markante Stimme war eis‐ kalt. »Die REESCH II ist schwer beschädigt. Sie kann jeden Moment hochgehen.« Dhark lief zu Buck, der sich am Öffnungsmechanismus eines Schotts zu schaffen machte. Eine schlichte Platte mit wirren Symbo‐ len war in die Wand eingelassen. In aller Eile hatte der Leutnant einen Hand‐Suprasensor daran angeschlossen. Das elektronische Lesegerät suchte nach verständlichen Algorithmen. Anhand der Ergebnisse probierte Bück eine Reihe von Eingaben in die schroffen Felder der Bedienungsplatte. Neben ihm kauerte Vincente Margari‐ ta. Er versuchte sein Glück mit einem Steuergerät, das er nach dem Studium über den ersten Ausflug in eine solche Station entwickelt hatte. Es basierte ganz auf der Nutzung seiner speziellen Metalogik. »Zehn Sekunden noch, Leutnant«, drängte der Hauptmann. »Wenn Sie es nicht schaffen, sprengen wir das Schott. Das gilt auch für Sie, Professor.«
»Einen Moment noch«, protestierte Margarita, wobei er seine Be‐ mühungen verstärkte. »Ich habe es gleich.« »Gleich kann es zu spät sein.« »Elende Drängelei«, murrte der Ausbilder, ohne sich nach dem ungeduldigen Hauptmann umzudrehen. Im Rücken der Männer schalteten die Gardisten die verbliebenen Schwarzstrahler aus. Es war zu spät, die düsteren Waffen der Grakos hatten schon zu große Schäden angerichtet. Im Rumpf des Halb‐ raumgleiters klafften häßliche Wunden. Allen war klar, daß er nicht mehr zu verwenden war. »Sprunghafter Energieanstieg in den Maschinen!« warnte Bell mit einem Blick auf seine tragbaren Instrumente. »Die haben irgend et‐ was Wichtiges getroffen. Gleich gibt es einen großen Knall.« »Aus dem Weg, Leutnant!« Schwengers wartete nicht länger, da‐ mit die Halle nicht zu einem Massengrab für sie alle wurde. Er hob seinen Karabiner und legte auf das Schott an, um ihm mit Gewalt zu Leibe zu rücken. Es glitt beiseite, bevor er den Abzug der Waffe be‐ tätigen konnte. »Geht doch«, gab Margarita triumphierend von sich. Er machte eine auffordernde Handbewegung. »Wenn ich bitten dürfte.« Dhark sah die Sache nüchterner. »Alle raus hier!« trieb er die Truppe an. Er gab seiner Gefährtin einen Stoß, als sie Anstalten machte, neben ihm zu verharren. »Das gilt auch für dich!« Ein breiter Korridor lag auf der anderen Seite, auch er in das rötli‐ che Glimmen getaucht. Sekunden später war die Halle geräumt. »Professor, Sie müssen das Schott wieder schließen!« »Bin schon dabei.« Margarita hantierte mit seinem Steuergerät. »Garde rückt vor. Sichert die Zivilisten!« Dhark glaubte, eine Bewegung am Ende des Korridors zu erken‐ nen. An Sicherheit war nicht zu denken. Er wurde abgelenkt, als das Schott sirrend zufuhr und sich in seiner Verankerung arretierte. Keine Sekunde zu früh. Donnergrollen drang durch das Metall, als
die REESCHII explodierte. Ein Schlag erschütterte das Schott und ließ es in seinem Rahmen vibrieren. Unter dem Druck der Explosion beulte es sich aus. Men‐ schen und Nogk hatten bange Sekunden zu überstehen, bis sie be‐ griffen, daß es hielt. Allen war nun klar, daß es kein Zurück gab. »Wir sitzen fest«, sprach Vandekamp die kollektive Erkenntnis aus. Doch es blieb keine Zeit, sich Gedanken über dieses Problem zu machen. Schon drohte die nächste Gefahr. Wo Dhark zuvor eine Bewegung nur erahnt hatte, gab es sie nun zahlreich. Kampfroboter der Grakos rollten heran – und diese Maschinen waren im Gegensatz zu denen, auf die er bei seinem ersten Besuch in einer solchen Station getroffen war, bestens gewartet. ENDE Ein Universum Release REN DHARK Bitwar‐Zyklus Band 12
Dimensionsfalle erscheint Mitte Juni 2006
REN DHARK im Überblick Mittlerweile umfaßt die REN DHARK‐Saga 108 Buchtitel: 16 Bücher mit der überarbeiteten Heftreihe, 35 mit der offiziellen Fortsetzung im DRAKHON‐ und BITWAR‐ Zyklus, 28 Sonderbände, einen Band aus der neuen Reihe UNITALL, jeweils sechs Ausgaben der abgeschlossenen Reihen FORSCHUNGSRAUMER CHARR, STERNENDSCHUNGEL GALAXIS (1. und 2. Staffel) und DER MYSTERIOUS, drei Spezialbände sowie ein umfangreiches Lexikon zur Serie. Der nun folgende Überblick soll Neueinsteigern helfen, die Bücher in chronologisch korrekter Reihenfolge zu lesen. Erster Zyklus: 2051: Handlungsabschnitt HOPE/INVASION Band 1: Sternendschungel Galaxis (1966 /1994) Band 2: Das Rätsel des Ringraumers (1966 /1995) Band 3: Zielpunkt Terra (1966,1967 /1995) Band 4: Todeszone T‐XXX (1967 /1996) Band 5: Die Hüter des Alls (1967 /1996) Sonderband 4: Hexenkessel Erde (1999) Sonderband 7: Der Verräter (2000) Sonderband 1: Die Legende der Nogk (1997 und Platinum 2004) 2052: Handlungsabschnitt G’LOORN Band 6: Botschaft aus dem Gestern (1996) Band 7: Im Zentrum der Galaxis (1997) Band 8: Die Meister des Chaos (1997)
Sonderband 2: Gestrandet auf Bittan (1998) Sonderband 3: Wächter der Mysterious (1998) 2056: Handlungsabschnitt DIE SUCHE NACH DEN MYSTERIOUS Band 9: Das Nor‐ex greift an (1967 /1997) Band 10: Gehetzte Cyborgs (1967, 1968 /1997) Sonderband 12: Die Schwarze Garde (2001) Band 11: Wunder des blauen Planeten (1968 /1998) Band 12: Die Sternenbrücke (1968 /1998) Band 13: Durchbruch nach Erron‐3 (1968 /1999) Sonderband 8: Der schwarze Götze (2000) Band 14: Sterbende Sterne (1968,1969 /1999) Sonderband 5: Der Todesbefehl (1999) Sonderband 6: Countdown zur Apokalypse (2000) Band 15: Das Echo des Alls (1969 /1999) Band 16: Die Straße zu den Sternen (1969 /2000) Zweiter Zyklus: 2057/58: DRAKHON‐Zyklus 2057: Handlungsabschnitt DIE GALAKTISCHE KATASTROPHE Band 1: Das Geheimnis der Mysterious (2000) Band 2: Die galaktische Katastrophe (2000) Sonderband 10: Ex (2000) Sonderband 9: Erron 2 – Welt im Nichts (2000) Band 3: Der letzte seines Volkes (2000) Band 4: Die Herren von Drakhon (2000) Band 5: Kampf um IKO 1 (2001) Sonderband 11: Türme des Todes (2001)
Band 6: Sonne ohne Namen (2001) Band 7: Schatten über Babylon (2001) Band 8: Herkunft unbekannt (2001) Sonderband 13: Dreizehn (2001) Sonderband 14: Krisensektor Munros Stern (2001) Band 9: Das Sternenversteck (2001) Band 10: Fluchtpunkt M 53 (2002) Band 11: Grako‐Alarm (2002) Sonderband 16: Schattenraumer 986 (2002) Band 12: Helfer aus dem Dunkel (2002) Sonderband 17: Jagd auf die Rebellen (2002) 2058: Handlungsabschnitt EXPEDITION NACH ORN Band 13: Cyborg‐Krise (2002) Band 14: Weiter denn je (2002) Sonderband 18: Rebell der Mysterious (2002) Sonderband 19: Im Dschungel von Grah (2003) Band 15: Welt der Goldenen (2002) Band 16: Die Verdammten (2003) Band 17: Terra Nostra (2003) Sonderband 20: Das Nano‐Imperium (2003) Band 18: Verlorenes Volk (2003) Band 19: Heerzug der Heimatlosen (2003) Sonderband 21: Geheimnis der Vergangenheit (2003) Band 20: Im Zentrum der Macht (2003) Band 21: Unheimliche Welt (2003) Band 22: Die Sage der Goldenen (2004) Sonderband 22: Gisol‐Trilogie 1: Der Jäger (2003) Sonderband 23: Gisol‐Trilogie 2: Der Rächer (2004) Sonderband 24: Gisol‐Trilogie 3: Der Schlächter (2004) Band 23: Margun und Sola (2004) Band 24: Die geheimen Herrscher (2004)
Sonderband 15: Die Kolonie (2002; Kurzgeschichten aus ver‐ schiedenen Zeiträumen des Serienkosmos) Sonderband 25: Jagd nach dem »Time«‐Effekt (2002) Lexikon (2004) FORSCHUNGSRAUMER CHARR (sechsteiliger, abgeschlossener Mini‐Zyklus, 2004) Sonderband 26: Wächter und Mensch (2004) STERNENDSCHUNGEL GALAXIS 1‐6 (abgeschlossener Mi‐ ni‐Zyklus, dessen Handlung zwischen Drakhon‐ und Bitwar‐Zyklus spielt, 2005) Sonderband 28: Sternenkreisel (2005) STERNENDSCHUNGEL GALAXIS 7‐12 (abgeschlossener Mi‐ ni‐Zyklus, 2006) UNITALL 1: Jenseits aller Zeit (2006) Dritter Zyklus: 2062: BITWAR‐Zyklus Band 1: Großangriff auf Grah (2004) Band 2: Nach dem Inferno (2004) Band 3: Die Spur des Tel (2004) Band 4: Die Sonne stirbt (2005) Band 5: Die goldene Hölle (2005) Sonderband 27: Nogk in Gefahr (2005) DER MYSTERIOUS (sechsteiliger, abgeschlossener Mini‐Zyklus, 2005) Band 6: Das Judas‐Komplott (2005) Band 7: Proxima Centauri (2005) Band 8: Erwachende Welt (2005) Band 9: Rettet die Salter! (2005) Band 10: Freunde in der Not (2006) Band 11: Vorstoß in den Hyperraum (2006)
Einzelromane ohne Handlungsbindung an die Serie, welche ca. sieben bis acht Jahre nach dem Ende des ersten Zyklus in einem »al‐ ternativen« RD‐Universum spielen: Spezialband 1: Sternen‐Saga / Dursttod über Terra (2001) Spezialband 2: Zwischen gestern und morgen / Echo aus dem Weltraum (2002) Spezialband 3: Als die Sterne weinten / Sterbende Zukunft (2003)