Roger H. Schoemans
Vom Hunger verfolgt
Urachhaus
Die niederländische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel ...
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Roger H. Schoemans
Vom Hunger verfolgt
Urachhaus
Die niederländische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel Honger bei Uitgeverij Altiora Averbode, Belgien. Aus dem Niederländischen von Ingela Sjögren ISBN 3-8251-7245-7 In neuer Rechtschreibung
Erschienen 1999 im Verlag Urachhaus © 1999 Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart © 1997 NV Uitgeverij Altiora Averbode, Belgien Umschlagillustration: Jan Bosschaert Gesamtherstellung: Wiener Verlag, Himberg
Wir werden alle den ganzen Winter über hungern müssen! Ein kalter Schauer läuft der zwölfjährigen Mary über den Rücken, als sie erfährt, dass die gesamte Kartoffelernte durch eine geheimnisvolle Krankheit ungenießbar geworden ist. Als der Besitzer des irischen Landgutes auch noch alle Pächter von seinem Grund und Boden verjagt, bleibt Mary und ihrer Familie nichts anderes übrig, als ohne einen Penny in der Tasche in die Stadt zu ziehen und Arbeit zu suchen. Dort stellen sie voller Entsetzen fest, dass sie nicht die Einzigen sind, die dieses Schicksal ereilt hat: Tausende von Familien überfüllen die Armenhäuser und versuchen erbittert, wenigstens einen Bissen und einen Platz zum Schlafen zu ergattern. Aber Mary und ihre Familie nehmen den Kampf ums Überleben auf und suchen ihr Glück in der neuen Welt: in Amerika. Die Geschichte einer irischen Familie vor dem Hintergrund der großen Hungersnot im Irland des 19. Jahrhunderts, eindringlich und glaubwürdig erzählt. Der Autor Roger H. Schoemans, 1942 in Sint-Truiden in Belgien geboren, schreibt seit Jahren für eine große Tageszeitung. Seine Erfahrungen als Journalist sind in seine Bücher, die meist von aktuellen sozialen Themen handeln, eingeflossen. In Belgien hat er sich inzwischen einen Namen gemacht und zahlreiche Preise erhalten. In ›Vom Hunger verfolgt‹ greift er erstmals ein historisches Thema auf, das der Leser am Schicksal der zwölfjährigen Mary hautnah miterleben kann. Auch sein Jugendroman ›Dealerjagd‹ über das Drogenproblem an Schulen und Ausländerfeindlichkeit, der 1997 bei uns erschien, fand viele begeisterte Leser.
Ein schöner Reiter
Mary wischte sich den Schweiß von der Stirn und schaute über das Moor. Aus der Ferne winkte ihr jüngerer Bruder Sean ihr wild zu. »Schau mal! Dort!«, rief er, doch mit der Sonne im Gesicht konnte sie nicht sehen, was er meinte. Mary stand in einem Graben, den ihr Vater, Liam Skeagh, in den sumpfigen Boden gegraben hatte. Der Boden glänzte schwarz und fettig. Torf. Seit Sonnenaufgang hatte Mary einen Block nach dem anderen aus dem Graben gestochen. Knochenarbeit. Jedes Mal wenn sie den Spaten hob, schoss ein Schmerz durch ihren Rücken, ihre Schultern und Arme. Die triefnassen Torfbrocken hatte sie am Rand des Grabens aufgestapelt, wo sie in der Sommersonne dampften. Wenn sie erst mal trocken waren, gaben sie einen guten Brennstoff ab, mit dem man im Winter die Hütte gemütlich warm halten konnte. Sean schrie so laut, dass die Kuh, die er hüten musste, unruhig zu brüllen begann. Mary wurde ärgerlich. Was war denn bloß los mit ihm? Konnte er denn nicht begreifen, dass sie keine Lust zum Spielen hatte? Sie stand bis zu den Knöcheln in dem kalten Dreck, und der Schlamm zog an ihren Füßen. Warum hielt der Pimpf sie von der Arbeit ab? Eine Wolke schob sich vor die Sonne. Schatten glitten über das Moor und verwandelten die goldenen Farben in warme braune Töne. Dann entdeckte auch Mary den Reiter, den Sean schon von weitem hatte kommen sehen. Er ritt sehr vorsichtig, um nicht von dem schmalen Pfad abzukommen und im Morast zu versinken. Sein pechschwarzes Pferd glänzte wie Satin.
Sie hielt den Atem an. Wer war der Mann? Was wollte er hier? Ihr Kopf schaute gerade mal über den Grabenrand hervor, wie ein Maulwurf aus seiner Höhle. Sie wollte nicht, dass der Reiter sie sah. Ihr Kleid war so oft gerissen und wieder zusammengenäht worden, und an manchen Stellen konnte man schon hindurchsehen. Sie hatte den Saum ihres Rockes mit einem Strick um die Taille gebunden, um ihn gegen den Schmutz zu schützen. Es hatte nichts genützt. Sie war von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt. Der Mann ritt an Sean vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Der Junge verbeugte sich ehrerbietig und murmelte einen Gruß. Mary schätzte, dass der Unbekannte genauso alt wie ihr Vater war. Dieser hatte vor wenigen Tagen seinen dreißigsten Geburtstag mit einem großen Krug Bier gefeiert. Peig, Marys Mutter, hatte ihm einen dicken Kuss gegeben. Danach hatten sie alle von dem bittersüßen Nass probieren dürfen. Mary, die zwölf Jahre alt war, bekam genauso viel wie die Erwachsenen. Etwas weniger bekam ihre Schwester Lynn, denn sie war erst zehn. Der achtjährige Sean hatte noch weniger bekommen. Kirby, die ein Jahr jünger war, und Tomas, fast vier Jahre alt, durften den letzten Schluck aus dem Zinnkrug trinken. Cathy, der einjährige Säugling, hatte den Finger ablecken dürfen, den Peig in das Bier getunkt hatte. Der Wicht hatte das Gesicht verzogen, als ob man ihn vergiften wollte. Mary behielt den Reiter im Auge. So einen schönen Mann hatte sie noch nie gesehen. Er trug einen gelben Hut mit einem blauen Band. Lange, blonde Locken quollen darunter hervor und wippten bei jedem Schritt des Pferdes. Seine hellblaue Jacke war mit Goldfaden bestickt. Die Knöpfe glänzten wie der Kelch, aus dem der Pfarrer während der Ostermesse in Ennis getrunken hatte.
An einer scharfen Biegung zögerte der Reiter. Mary befürchtete, er würde die falsche Richtung einschlagen. Die schlanken Beine seines Pferdes würden im Morast versinken. Wenn dies einem der schwarzen Arbeitspferde geschah, die den Torf schleppten, brauchte man bestimmt zehn Mann, um es wieder herauszuziehen. Mary atmete erleichtert auf, als der Reiter den richtigen Weg einschlug. Sean rief ihr wieder etwas zu. Er zeigte auf die Sonne, die im Westen zwischen den Wolken auftauchte. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Schon von weitem sah sie, dass etwas nicht stimmte. Männer rotteten sich auf dem Platz an der Kreuzung zusammen. Sie protestierten jedes Mal, wenn der Mann mit dem schwarzen Tuchrock etwas sagte. Mary kannte den Kerl. Es war der Gutsverwalter, der auf den Ländereien des englischen Gutsherren immer nach dem Rechten sah. »Das Gesetz ist geändert worden!«, rief der Verwalter. »Moment mal! Welches Gesetz? Bei uns in Irland herrschen andere Gesetze als in England!«, protestierte John, Marys Nachbar. »Da irrst du dich! Wir leben im Jahr 1845, mein Lieber! Heutzutage herrschen in Irland moderne Gesetze, dieselben wie in England!« »Moderne Gesetze!«, murmelte John. »Was sind die schon wert? Die kosten uns nur alle mehr Geld!« Mary ging zu ihrem Vater. Er schaute sie flüchtig an und richtete dann seine Augen wieder auf den Gutsverwalter. Sie merkte, wie angespannt er war. Seine krummen Zehen gruben sich wie Klauen in die Erde. »Was ist los?«, flüsterte sie. »Sei still. Hör lieber zu.« Der Verwalter hob die Hände über den Kopf zum Zeichen, dass sie schweigen sollten. »Hört zu! Unser Gutsherr ist nach Irland gekommen. Es war eine lange Reise! Er hat seine wichtigen Geschäfte in London im Stich gelassen, nur um euch die neuen Gesetze zu erklären!«
»Was tut er denn so Wichtiges in London, dass er so beschäftigt ist?«, rief jemand aus dem Volk. »Tanzen und fressen und saufen?« »Was der Herr macht, geht dich nichts an«, schnauzte der Verwalter zurück, während hier und da jemand lachte. »Jeder hat einen Platz in dieser Welt! Eurer ist hier…« »Im Schlamm«, zischte John, der Nachbar. »Wenn du nicht zufrieden bist…«, begann der Verwalter mit drohender Stimme, aber er fuhr nicht fort, weil ein paar Männer mit geballten Fäusten auf ihn zukamen. Mary hielt den Atem an. Der Gutsverwalter schaute provozierend um sich. Die Männer blieben wieder stehen. »Ich will es euch noch einmal erklären«, sagte der Verwalter. Er bemühte sich, seine Stimme freundlich klingen zu lassen. »Jeder Pächter muss in Zukunft einen Pachtvertrag abschließen. Schriftlich. Unser Herr will seine Ländereien modern verwalten.« »Und wer bezahlt das Siegel auf dem Vertrag?«, fragte Liam Skeagh mit seiner tiefen Stimme. »Der Gutsherr?« »Nein. Der Pächter.« »Zehn Pfund?« »So steht es im Gesetz.« »Wo soll ich das Geld hernehmen? Ich kann nicht einmal die Pacht bezahlen. Mensch, schau dich doch um, siehst du hier jemanden, der seine Pacht termingerecht bezahlen kann? Wir stecken alle bis zum Hals in Schulden. Und jetzt willst du auch noch, dass wir alle zehn Pfund für einen Vertrag mit dem Gutsbesitzer auftreiben?« »Ganz richtig! So ist es! So und nicht anders! Liam hat den Nagel auf den Kopf getroffen!«, riefen die Männer. Der Gutsverwalter erhob erneut die Hände. Schweißtropfen standen ihm wie Perlen auf der Stirn, das Haar klebte in feuchten Strähnen an seinem Nacken. Mary sah an seinen Augen, dass er Angst hatte, aber gleichzeitig auch wütend war.
»Unsinn!«, brüllte er. »Wenn ihr ein bisschen arbeiten würdet, hättet ihr auch Geld!« »Was willst du? Einen Esel, der Goldstücke scheißt?«, rief ein Spaßvogel. »Blödmann! Denk doch mal nach! Was wächst auf deinem Acker? Kartoffeln!« Die Männer schauten einander verwundert an. Was war nur in diesen Idioten gefahren? Natürlich pflanzten sie Kartoffeln auf ihren kleinen Fleckchen Erde an! Was sonst? Die Grundstücke waren so klein und unfruchtbar, dass für sie kein anderer Anbau in Frage kam. Und was hatte er gegen Kartoffeln, mit denen man wenigstens seinen Bauch füllen konnte? Fünf, sechs Kilo, das war gewöhnlich die Tagesration für einen erwachsenen Mann. In Salzwasser gekocht. In tiefen Tellern serviert, schwimmend in warmer Buttermilch. Und die Kuh, die die Milch gab, fraß von denselben Kartoffeln! Was sollte man sonst mit den Schalen anfangen? Nein, die Männer verstanden den Verwalter nicht. Und schon gar nicht jetzt, im Juli, dem ersten der drei mageren Monate. Die Ernte vom vorigen Jahr war aufgebraucht. Die Menschen mussten noch bis Oktober hungern. Erst dann konnte man die neuen Kartoffeln aus dem Boden holen. »Wenn ihr etwas härter arbeiten würdet«, rief der Verwalter, »und Getreide anbauen würdet, dann hättet ihr auch Geld!« John, der Nachbar, lachte spöttisch. Er brauchte seinen Zuhörern nicht zu erklären, warum. Sie alle wussten, dass man für Getreide mindestens sechsmal so viel Ackerboden benötigte wie für Kartoffeln. Und man konnte nie sicher sein, dass man genug zu essen hatte. Die Getreideernte konnte jedes Jahr missglücken. Bei den Kartoffeln geschah das vielleicht einmal in zehn Jahren. Begriff der Gutsverwalter das denn nicht? Oder wollte er es nicht begreifen?
Mary hörte den Hufschlag eines Pferdes. Der schöne Reiter jagte in wildem Galopp den Weg entlang. Dreckklumpen flogen in alle Richtungen. Weißer Schaum stand dem schwarzen Hengst vor dem Maul. Seine schweißnassen Flanken glänzten. Die Männer traten ein paar Schritte zurück. Der Reiter preschte vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. »Der Gutsbesitzer«, brummte Liam. »Das ist das Einzige, was er kann. Sein Pferd zu Schanden reiten.«
Die Kartoffelernte
Mary lief es kalt über den Rücken, als sie ihren Acker sah. Er lag am Hang des Hügels über dem Moor. Ihre Vorfahren hatten jahrhundertelang Steine aus der Erde geholt und damit Mauern gebaut, die verhinderten, dass die dünne Schicht fruchtbarer Erde vom Regen weggeschwemmt wurde. Der Hügel glich einer langen, breiten Treppe. Auf den Äckern, die alle nur einige Schritte breit waren, wuchsen Kartoffeln. Das heißt, wenn alles gut ging, aber dieses Jahr drohte eine Katastrophe… In den letzten Tagen gingen Gerüchte durch das Dorf. Ein Reisender war gekommen und hatte erzählt, dass er unterwegs verwüstete Kartoffelfelder gesehen hatte. Eine verheerende Plage suche das Land heim, sagte er. Die Ernte verrotte auf den Feldern. Im Winter müssten alle hungern! Liam und die anderen Bauern waren auf ihre Äcker gerannt. Sie hatten geprüft, wie sich das Laub anfühlte, und an den Blättern gerochen. Alles war in Ordnung. Der Reisende sei ein Schwätzer, dem es Spaß mache, die Leute aufzuschrecken, sagten sie. Aber richtig beruhigt waren sie auch nicht. Es verging kein Tag, an dem sie nicht auf ihre Äcker liefen und nachschauten, ob alles in Ordnung war. Es durfte kein Fleckchen auf dem Laub erscheinen, es durften sich keine Blätter zusammenrollen, das würde das Ende für sie bedeuten. Stundenlang diskutierten sie über den geeigneten Zeitpunkt, die Ernte einzuholen. Die erfahreneren Männer meinten, dass sie noch einige Tage warten sollten. Die Jüngeren wollten sofort den Spaten in die Erde stechen. Warum auch nur das kleinste Risiko eingehen? Plötzlich
wurden einige Pflanzen schwarz. Nicht nur auf einer Parzelle, sondern hier und da verstreut auf den Äckern. Liam rieb ein dunkles Blatt zwischen Daumen und Zeigefinger. Es sah aus, als läge Ruß darauf, aber das Schwarze ging nicht mehr ab. Das Blatt löste sich zwischen seinen Fingern auf, fettig, faulig, stinkend. Die Männer waren mit bedrückten Gesichtern ins Dorf zurückgekehrt. Der Schwätzer hatte vielleicht doch Recht gehabt. Irgendetwas stimmte nicht. Sie mussten die Ernte einholen, bevor diese seltsame Krankheit, oder was auch immer es war, um sich griff. Am nächsten Tag regnete es ohne Unterbrechung. Kein Wetter zum Ernten. Gott sei Dank war es nicht kalt, versuchten die Männer sich zu beruhigen. Zum Glück sahen die meisten Pflanzen noch gesund aus. Der Boden würde schnell trocknen, und dann konnten sie beginnen. Sie würden ihre Ernte noch retten, wenn es nur für kurze Zeit aufhörte zu regnen… In dieser Nacht machte kaum einer ein Auge zu. Ganze Familien lauschten dem endlosen Prasseln des Regens. Gegen Morgen hörte das Getröpfel auf. Noch bevor die Sonne aufging, trugen sie alles zusammen, was sie zum Ernten brauchten. Sie durften keine Zeit mehr verlieren! Die Bauern standen wie vom Donner gerührt, als sie ihre Äcker sahen. Das saftige Grün hatte sich in ein Gewirr aus schwarzen Stängeln und Blättern verwandelt. Mary schaute ihren Vater ängstlich an. »Ich begreife es nicht«, sagte Liam zu Peig. »Gestern waren die meisten Pflanzen noch kerngesund.« Er schaute auf die Äcker seiner Nachbarn. Überall das gleiche Bild. Schwarzes Laub und Menschen, die bestürzt auf die Katastrophe starrten. Liam stach seinen Spaten in den Boden. Ein Wunder geschah. Aus der Erde kamen dicke, braune Knollen hervor. Sie sahen prima aus. Kartoffeln, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. »Nur das Laub ist
krank!«, jubelte Liam. »Los! An die Arbeit!« Peig arbeitete mit einem kurzen, breiten Spaten an der Seite ihres Mannes. Er hatte einen langen Spaten, der eigentlich zum Torfstechen verwendet wurde. Es waren ihre einzigen Werkzeuge. Jeder Spatenstich beförderte eine ganze Menge Knollen nach oben. Gesunde Knollen! Das Essen für viele Monate! Mary, Lynn, Sean, Kirby und Tomas krochen auf den Knien hinter ihnen her. Schnell rafften sie die Kartoffeln zusammen und füllten damit Körbe, Eimer und Säcke. Sie atmeten den herrlichen frischen Duft der Erde tief ein. Mary fing an zu singen. Die Ernte war gut, trotz des kranken Laubes. Sie brauchte sich keine Sorgen mehr zu machen. »Die Säcke sind voll!«, rief Mary. Ihr Vater ließ den Spaten in der Erde stecken und erteilte Befehle. Die Kinder trugen die kleinen Körbe. Er und Peig luden sich die schweren Säcke auf den Rücken. Mit kleinen Schritten liefen sie, unter der Last gebückt, zurück ins Dorf. Hinter ihrer Hütte hatte Liam eine Grube gegraben, in der die Kartoffeln aufbewahrt werden sollten. Es war ein rechteckiges Loch, auf dessen Boden Zweige und getrocknetes Gras lagen, worüber eine dicke Schicht Stroh gestreut war. Wenn die Grube erst mal voll war, würde er sie mit demselben Material abdecken. Tag für Tag schufteten sie, bis sie einfach nicht mehr konnten. Lange bevor die Sonne aufging, jagte ihr Vater sie aus dem Bett, und erst nach Sonnenuntergang kehrten sie mit ihrer letzten Ladung nach Hause zurück. Die Kleinen heulten vor Hunger und Müdigkeit, aber sie hatten keine Zeit, um sich auszuruhen oder zu essen. Die Arbeit ging vor. Je mehr Tage vergingen, umso häufiger stießen sie auf verfaulte Knollen, deren Schalen genauso schwarz waren wie das Laub. Wenn man sie drückte, spritzte eine stinkende Flüssigkeit heraus. Das spornte sie an, noch härter zu arbeiten. Die Kartoffeln
verrotten in der Erde, dachten sie. Wenn sie erst mal geerntet sind, kann den Knollen nichts mehr passieren. Dachten sie…
Einige Tage nach der Ernte dachte niemand mehr an die Angst, die sie nicht hatte schlafen lassen. Sie waren einer Katastrophe entkommen. Die Knollen, die sofort verbraucht werden sollten, wurden in Körben aufbewahrt, die in der Hütte standen. Jeden Tag kochte Peig einen großen Topf Kartoffeln in Buttermilch. Das gab einen festen Brei, der herzhaft schmeckte und den Magen füllte, so wie kein anderes Gericht es konnte. Als der Vorrat verbraucht war, grub Liam mit den Händen ein kleines Loch in die Abdeckung der Grube. Ein unbeschreiblicher Gestank schlug ihm entgegen. Der ganze Vorrat war am Verrotten. Er rannte zu seinem Nachbarn. Sie wühlten wie Wahnsinnige in ihren Gruben. Es kamen nichts als faulige Kartoffeln hervor. Die schlechte Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch das Dorf. Alle Kartoffeln, die noch so gesund ausgesehen hatten, als sie frisch vom Feld kamen, faulten in den Gruben. Und nicht nur in ihrem Dorf. In Hunderten irischer Dörfer verwandelte sich die Kartoffelernte des Jahres 1845 in wenigen Wochen in einen schwarzen, stinkenden Brei, ungenießbar für Mensch und Tier. »Herr, hab Erbarmen mit uns«, betete Liam, und dasselbe Gebet erklang aus mehr als acht Millionen Mündern. »Die Kartoffelernte ist völlig missglückt. Wie kann ich den Pächtern helfen?«, schrieb der Gutsverwalter seinem Herrn, der nach London zurückgekehrt war.
Eine hellblaue Jacke
Der Gutsverwalter hatte alle Pächter zusammengerufen. In einem langen Zug marschierten sie zum Herrenhaus. Mit finsteren Mienen bereiteten sie sich auf schlechte Nachrichten vor. Vom Herrenhaus konnten sie nichts Gutes erwarten. Sie alle kannten die Geschichten, wie es früher vor langer Zeit gewesen war. Im Winter vor dem Torffeuer sitzend, sprachen sie immer von der guten alten Zeit, als die Engländer Irland noch nicht erobert hatten. Damals gehörte den Bauern in Irland der Boden, den sie bestellten. Die Eroberer hatten das ganze Land in Beschlag genommen. Alles. Seitdem mussten die Iren Pacht für die Äcker bezahlen, die sie bestellten. Jedes Jahr landeten Säcke voll Pachtgeld bei den Engländern. Verantwortungsvolle Gutsherren verwendeten einen Teil des Gewinns für die Pflege ihrer Ländereien. Andere rafften die Beute zusammen und vergaßen sofort, woher ihr Reichtum kam. Sie lebten in London in Saus und Braus, während ihre irischen Bauern wie Sklaven im Boden wühlten. Es gab sogar Gutsherren, die noch nie einen Fuß auf ihre irischen Ländereien gesetzt hatten. Die Regierung sparte nicht mit Kritik an dem Verhalten der Landbesitzer. Nicht etwa, weil sie sich Sorgen um das Schicksal der irischen Bauern machten, sondern weil sie fanden, dass Irland zu wenig Geld in die Staatskasse zahlte. Kämen die Herren ihrer Verantwortung nach, würde die verdammte Insel der Staatskasse ein Vermögen einbringen! Und die Kartoffelfresser würden endlich lernen, andere Pflanzen anzubauen. Irland könnte Produkte exportieren und genauso reich werden wie England und Schottland! Die
meisten Gutsherren pfiffen auf die Rügen der Regierung. Was bildeten sich die Minister ein? Wollten sie ihnen vorschreiben, wie sie mit ihrem Eigentum umzugehen hatten? Das konnten sie sich aus dem Kopf schlagen. Das Gesetz garantierte ihnen das Recht, selbst über ihre Ländereien zu bestimmen, und keine Regierung durfte sich anmaßen, ihre Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken! Einige Gutsbesitzer sahen jedoch einen gewissen Vorteil in dem ›modernen‹ System, für das die Regierung eintrat. Weg mit dem Kleinkram! Schluss mit den kleinen Äckern! Weg mit der Flickendecke! Man musste die kleinen Fetzen zu großen Feldern und riesigen Weiden zusammenfassen, auf denen in großem Maßstab gewirtschaftet werden konnte. Das war die Zukunft! Aber was würde dann aus den irischen Bauern? Und den kleinen Pächtern? Die Mächtigen zuckten mit den Schultern und beugten sich wieder über ihre Papiere. Große, modern bewirtschaftete Ländereien würden großen Reichtum bringen, träumten sie. Davon würde jeder profitieren. Die Kleinbauern konnten als Knechte auf den großen Höfen angestellt werden. Andere sollten in den Fabriken arbeiten, wo die Produkte des Landes hergestellt wurden, die dann exportiert werden könnten. So einfach war das. Zumindest auf dem Papier… Viele Gutsbesitzer wollten so schnell wie möglich ihre Pächter loswerden. Am liebsten ohne einen Aufstand zu verursachen. Das Gesetz war auf ihrer Seite. Die meisten Bauern hatten keinen schriftlichen Vertrag. Nach dem Gesetz konnten sie von heute auf morgen vertrieben werden, ohne ein Recht auf Schadensersatz. Ein paar Bauern hatten wohl einen Pachtvertrag und damit Anspruch auf Schadensersatz. Aber ein neues Gesetz erhöhte die Stempelsteuer bei Pachtverträgen. Dadurch wurde das
Ausstellen eines Vertrages so teuer, dass die Bauern das Geld niemals aufbringen konnten. Sie würden also ihre Verträge nicht erneuern können, und so… Dass gerade eine schreckliche Hungersnot ausbrach, änderte nichts an den Plänen der Gutsbesitzer. »Wie kann ich den Pächtern helfen?«, hatte der Gutsverwalter nach London geschrieben. Sein Herr war daraufhin eiligst nach Irland gekommen. »Jage jeden davon, der keinen Vertrag hat«, befahl er. Mary hoffte, wenigstens einen Schimmer des Reichtums im Herrenhaus zu Gesicht zu bekommen. Eine der Nachbarinnen hatte dort früher als Putzfrau gearbeitet und erzählt, dass es im Herrenhaus so viele Zimmer gab, dass sie gar nicht alle zählen konnte. Und jedes Zimmer sei möbliert, sagte sie. Mary hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Sie kannte nur ihre Hütte, und die sah genauso aus wie die Hütten der anderen Dorfbewohner. Zuerst hatten sie eine rechteckige Grube von einem halben Meter Tiefe ausgehoben. Deren Seitenwände hatten sie mit einer niedrigen Mauer aus den Steinen der Grube befestigt. Der Rest der Mauern bestand aus aufeinander gestapelten Torfballen. Eine Hütte aus Stechtorf und Steinen, nicht größer als ein Zimmer. Das Dach bestand aus einem Rahmen aus Balken, die mit Torfballen bedeckt waren. In der Mitte war das Dach offen. Dort entwich der Rauch des Torffeuers, das mitten im Zimmer in einem Kreis von Steinen brannte. An den Wänden standen Fässer mit Milch und Buttermilch und ein kleines Gefäß, in dem Peig Butter herstellte. Liam hatte Regale aus Zweigen geflochten, worauf Peig die wenigen Schalen und Becher stellte, die sie besaßen. Zwei Kochtöpfe und ein Wasserkessel baumelten an Haken unter dem Dach, wenn sie nicht gerade über dem Feuer hingen. Einen Tisch hatten sie nicht. Zum Essen setzten sie sich auf die flachen Steine, die vor dem Feuer lagen. Nur Liam und Peig hatten selbst gemachte dreibeinige Schemel. Sie schliefen auf
Stroh und Heu, das abends ausgebreitet und morgens wieder in eine Ecke gefegt wurde. Die Säcke, in denen sie die Kartoffeln sammelten, dienten als Decken.
Die Pächter mussten unten an der Treppe vor dem Haupteingang des Herrenhauses stehen bleiben. Mary versuchte sich so nah wie möglich heranzuschleichen, um einen Blick durch eines der Fenster zu werfen. Ein Knecht verjagte sie. »Unser Herr hat mich gebeten, euch Folgendes mitzuteilen!«, rief der Gutsverwalter, der oben auf der Treppe stand. Das Gemurmel verstummte. Die Bauern waren sich jetzt ganz sicher, dass schlechte Nachrichten auf sie warteten. »Nur zwei Pächter haben einen Vertrag abgeschlossen«, fuhr der Verwalter fort. »Nur sie dürfen in Zukunft das Land noch bestellen.« »Und die anderen?«, riefen einige Zuhörer. »Sie haben kein Recht mehr auf das Land.« »Willst du uns auf die Straße setzen?«, brüllte ein Mann. »Wer keinen Vertrag abschließt, verliert alle seine Rechte. Mehr habe ich nicht zu sagen.« Der Verwalter drehte sich mit einem Ruck um und verschwand hinter der großen Tür. Die Pächter waren wie vom Donner gerührt. Mary schaute zum Herrenhaus hinauf. Ein Vorhang bewegte sich. Eine Gestalt entfernte sich vom Fenster. Eine hellblaue Jacke. Der Gutsbesitzer. Lachte er sie aus? Oder beobachtete er sie nur, um hart durchgreifen zu können, falls sie protestierten? Langsam kehrten die Bauern ins Dorf zurück. Sie konnten es nicht fassen. Ihre Fragen und Bemerkungen plätscherten über das Land wie das Wasser eines Moorbaches. »Ist das tatsächlich sein Ernst, was er sagt? Wird er uns wirklich davonjagen?«
»Wo sollen wir denn hin?« »Wovon sollen wir leben, wenn wir unser Land nicht mehr bestellen dürfen?« »Was wird er mit all dem Land anfangen?« »Wird er Gerste und Weizen anbauen?« »Will er Kühe dort grasen lassen?« »Ohne uns? Wer wird für ihn arbeiten?« »Vielleicht lässt er Landarbeiter aus England kommen. Männer, die etwas vom Getreideanbau verstehen.« »Und was wird aus uns?« »Wenn wir kein Land mehr haben, krepieren wir wie die Hunde.« »Aber…« »Ach… noch sind wir nicht weg.« »Ach was. Der Verwalter will uns nur Angst machen.« »Ja, damit wir die Pacht schneller bezahlen.« »Um uns zu zwingen, unsere Schulden zu bezahlen.« »Genau das will er bestimmt damit erreichen.« »Kannst du dir vorstellen, in einem solchen Herrenhaus zu wohnen?« »Ich würde es gar nicht wollen…« »Ich habe gehört, dass der Herr jede Woche in einem anderen Zimmer schläft.« »Und was hat er davon?« »Und der Herr ist fast nie da…« »Was für eine Verschwendung.«
Die Pacht für zwei Jahre
Mary Skeagh wohnte in einem besetzten Land. Nach einem sechshundert Jahre dauernden Kampf hatten die Engländer Irland endgültig in die Knie gezwungen. Die Iren waren mit England und Schottland unter Königin Victoria vereinigt. Ihr eigenes Parlament in Dublin wurde abgeschafft. Im Parlament in London wurden sie, mit einigen Ausnahmen, von englischen Gutsbesitzern vertreten, denn nur wer reich war, konnte gewählt werden. Voller Fanatismus hatten anglikanische Engländer die Katholiken verfolgt und schikaniert. Erst 1829 bekamen die Iren wieder das Recht, sich offen und frei zum römischen Glauben zu bekennen. Dem Gälischen, der Sprache der Iren, begegneten die Besatzer mit Missachtung. Die Verwaltungssprache des Landes war Englisch, und wer das nicht verstand, konnte zum Teufel gehen. Männer und Frauen, die einen Aufstand hätten anzetteln können, gab es nicht mehr. Jeglicher Widerstand wurde immer wieder unterdrückt. Der ständige Kampf hatte das irische Volk erschöpft. Sie waren zu ermattet, um die Waffen gegen eines der stärksten Heere Europas zu erheben. Reisende, die die Insel 1840 besuchten, beschrieben sie als das ärmste Land Europas. Auf dem Land konnte ein Großteil der Bevölkerung weder lesen noch schreiben. Die elementarste Hygiene war ihnen unbekannt. Sie hockten wie Tiere in ihren Torfhütten und wühlten in der Erde, um zu etwas Essbarem zu kommen. Das war die Kartoffel.
Eine Wunderknolle. Ergänzt durch Buttermilch und ab und zu etwas Getreide enthalten Kartoffeln alle Nährstoffe, die ein Mensch zum Leben braucht. Und nicht nur das: Die Art, wie sich die Iren ernährten, war sogar sehr gesund. Die Kartoffel stellt keine großen Ansprüche an Boden und Bauer, um gedeihen zu können. In großen Teilen Irlands war der Boden kaum für den Getreideanbau geeignet. Kartoffeln wuchsen jedoch in rauen Mengen, ohne große Anstrengungen. Ein irischer Bauer brauchte nur wenige Wochen im Jahr zu arbeiten, um sich und seine Familie ernähren zu können. Sogar auf einem kleinen Acker konnte er genug anbauen, um eine große Familie satt zu bekommen. Das Leben schien so einfach zu sein, dass die jungen Männer und Frauen sehr früh heirateten und viele Kinder bekamen. Warum auch nicht, schließlich hatte man genügend Kartoffeln, dass alle davon satt wurden! Die Bevölkerung Irlands, primitiv und bettelarm, wuchs schneller als die anderer europäischer Länder. Darum wurde der Boden in immer kleinere Parzellen aufgeteilt. All das musste eines Tages zu einer Katastrophe führen. Um das Geld für die Pacht zu verdienen, bauten die Bauern ein bisschen Getreide oder ein anderes Gewächs an, das sie verkaufen konnten. Wenn ihnen das nicht gelang, konnten sie die Pacht nicht entrichten. Die Schulden mussten dann von der Ernte des darauf folgenden Jahres bezahlt werden. Das bedeutete, dass mehr Getreide für den Gutsbesitzer und weniger Kartoffeln für den eigenen Bedarf angebaut werden mussten. Wer das nicht konnte, war gezwungen, die Bezahlung seiner Schulden ein weiteres Jahr hinauszuschieben. Die Zinsen, die zusätzlich zu bezahlen waren, wuchsen und wuchsen. Viele Bauern schleppten ein Leben lang Schulden mit sich herum, weil sie irgendwann einmal ihre Pacht nicht bezahlen konnten.
Misslang die Kartoffelernte, dann gab es nichts zu essen. Niemand hatte Geld, um etwas zu essen zu kaufen. Wenn sie keine Hilfe bekamen, starben sie den Hungertod.
Eines Morgens erschien der Gutsverwalter mit einem Karren und drei Knechten vor Liam Skeaghs Hütte. Er rüttelte an der Tür aus geflochtenen Zweigen. »Liam! Ich komme die Pacht holen!« Mary folgte ihren Eltern hinaus. Der Verwalter tippte mit seiner Reitgerte an seine hohen ledernen Stiefel. Er war in Eile und er mochte es nicht, wenn die Bauern ihn warten ließen. »Los, Mann, trödel nicht. Wo liegt das Getreide? Marsch, aufladen!« Jedes Jahr baute Marys Vater Gerste für die Pacht an. Das Getreide bekam den besten Boden zugeteilt. Die Mauer, die diesen Acker umgab, wurde besonders gepflegt, denn der Boden durfte nicht zu nass und nicht zu trocken sein. Sobald die Ähren zu reifen begannen, stand eines der Kinder von frühmorgens bis spätabends auf dem Feld und verjagte die Vögel. Die goldgelben Stängel wurden mit der Sense gemäht, sorgfältig getrocknet und fest zusammengebunden. Sie lagen in einem Schuppen hinter der Hütte, geschützt vor dem Wetter und vor Nagetieren. »Ich kann dieses Jahr nichts entbehren«, sagte Liam. »Du weißt doch, die Kartoffeln sind verfault. Ich brauche das Getreide, damit ich meine Familie ernähren kann.« »Du stehst schon ein Jahr in der Kreide«, sagte der Verwalter kühl. »Ich weiß, Herr, aber nächstes Jahr wird es bestimmt besser. Ich werde mehr Getreide und weniger Kartoffeln anpflanzen. Nächstes Jahr zahle ich. Und das Jahr darauf tue ich das Gleiche und…«
»Kommt nicht in Frage«, unterbrach ihn der Gutsverwalter. »Der Gutsbesitzer will seine Pacht sofort. Alles. Ich muss alle Schulden eintreiben. Er hat ausgerechnet, dass er nächstes Jahr Verluste macht, wenn er jetzt nicht eingreift.« Mary verstand nichts, aber ihr Vater wurde aschfahl im Gesicht. Peig drehte sich um. Sie begann leise zu weinen. »Alles? Das geht… Das habe… Das darf ich nicht…«, stotterte Liam. Der Verwalter rief die Knechte. Drei junge Männer aus dem Dorf. Die Kleinbauern beneideten sie, weil sie auf dem Landgut arbeiteten und mit richtigem Geld bezahlt wurden. »Ihr wisst, wo es liegt«, sagte der Verwalter, »geht es holen. Los. Ich habe keine Zeit zu verlieren.« Liam rannte den Knechten voraus. Er stellte sich mit ausgestreckten Armen vor die Tür des Schuppens. Die jungen Männer zögerten. »Liam! Zur Seite! Oder muss ich die Polizei rufen?«, schrie der Gutsverwalter. »Dazu hast du kein Recht! Du verurteilst uns zum Tode! Wir werden alle verhungern!« »Zur Seite!« Marys Vater gehorchte mit grimmiger Miene. Ihre Mutter flüchtete in die Hütte. Die Kleinen begannen zu schreien, als sie ihre Tränen sahen. Die Knechte trugen das Getreide zum Karren und warfen es hinauf, als sei es wertloses Stroh. Der Verwalter tippte mit seiner Gerte an die Stiefel. Es ging ihm immer noch nicht schnell genug. Mary hasste ihn. »Das war die Pacht für dieses Jahr«, sagte der Verwalter, als der Schuppen leer war. »Wie willst du deine Schulden vom letzten Jahr bezahlen?« »Ich habe nichts mehr«, seufzte Liam. »Doch.« Liam Skeagh stürzte dem Verwalter an die Kehle. Der Mann fiel zu Boden, die Hände des Bauern wie Schraubstöcke um den Hals. Liam schrie wie ein wildes Tier. Die Knechte packten ihn und versuchten ihn wegzuziehen. Peig kam aus der Hütte gelaufen. Sie schrie, dass sie aufhören sollten. Liam ließ
los. Die Knechte stießen ihn zu Boden. Der Verwalter stand auf. Er betastete seine Kehle, keuchte und spuckte dem Bauern ins Gesicht. »Scheißkerl! Dafür wirst du mir büßen!«, rief er. »Jetzt ist meine Geduld am Ende. Los. Holt die Kuh.« Die Knechte gehorchten. Kurz darauf fuhr der Karren mit einem Stapel Getreidesäcke davon. Die Kuh folgte, festgebunden mit einem Strick. Die drei jungen Männer starrten vor sich hin. Sie schämten sich für das, was sie getan hatten. Der Verwalter lief voraus. Er schlug heftig mit der Peitsche gegen seine Stiefel. »Was soll jetzt aus uns werden? Was soll jetzt aus uns werden?«, wiederholte Peig in einem fort. Aber darauf konnte niemand eine Antwort geben. Der Herbststurm überraschte alle. Plötzlich erschienen im Westen schwarze Wolken. Und ein paar Sekunden später regnete es schon in Strömen. Dann fing es an zu stürmen. Die Tropfen wurden wie Hagelkörner fortgejagt. Die meisten flüchteten in ihre Hütten. Den ganzen Tag und die ganze Nacht wütete der Sturm. Er riss Torfballen vom Dach. Wasser tropfte in die Hütte. Der Boden verwandelte sich in ein Schlammloch. Mary suchte Schutz an der Hauswand. Der Wind ließ die Mauer erzittern. Es pfiff durch Spalten und Ritzen, als hätte die Hölle alle Teufel herausgelassen. Erst gegen Mittag beruhigte sich der Sturm. Die Menschen kamen überall aus ihren Hütten und sahen sich den Schaden an. Liam kletterte mit frischen Torfballen aufs Dach, um die Löcher abzudichten. Er war so beschäftigt, dass er gar nicht merkte, dass sich eine kleine Gruppe dem Dorf näherte. »Vater! Polizei!«, rief Mary. Sechs Männer wateten durch den Schlamm. Sie versuchten zwischen den Wagenspuren zu laufen, rutschten aber immer wieder aus. Mary hatte Recht. Zwei von ihnen trugen das kupferne Abzeichen der Polizei auf der Brust. Drei Soldaten,
die sich mit Riemen Gewehre auf den Rücken gebunden hatten, folgten ihnen. Der Verwalter bildete den Schluss. Sie hielten vor John Conneelys Hütte, dem ersten Haus des Dorfes. Liam ließ sich vom Dach gleiten und rannte zu seinem Nachbarn. Mary folgte ihm. John Conneely hatte sich breitbeinig vor den Gutsverwalter gestellt. »Was wollt ihr?«, brummte John. »Ich habe hier ein Dokument des Gutsbesitzers«, sagte der Verwalter. »Er schreibt, dass du keinen Pachtvertrag abgeschlossen hast.« »Du weißt, warum. Ich kann das Siegel nicht bezahlen.« »Dann befehle ich dir hiermit, sofort den Grund und Boden meines Herrn zu verlassen. Pack deine Sachen zusammen. Räume sofort das Haus aus. Und verschwinde. Wenn du nicht innerhalb von zwei Stunden weg bist, lass ich dich wegen unbefugten Aufenthalts auf fremdem Grund und Boden verhaften.«
Eine Hütte nach der anderen wurde geräumt. Die Männer schrien und tobten in ihrem ohnmächtigen Protest. Von den Soldaten wurden sie auf Abstand gehalten: das Bajonett auf dem Gewehr, eine Kugel im Lauf. Die Frauen packten ihre Habseligkeiten ein. Viel war es nicht, ein Bündel Kleider, ein paar Säcke, etwas Geschirr, einige Werkzeuge, ein paar Körbe. Sobald sie fertig waren, mussten sie mit ihren Kindern auf der anderen Seite des Weges warten. Die Knechte des Gutsbesitzers schlugen ein paar Dachbalken entzwei, banden ein Seil daran fest und zogen das Dach mit einem Ruck herunter. Die Torfmauern stürzten ein. Der Schutt füllte das Loch im Boden. Von der Hütte blieb nicht viel mehr übrig als ein Haufen Torf.
Innerhalb weniger Stunden wurde das Dorf dem Erdboden gleichgemacht. Die Polizisten und Soldaten trieben die Bauern und ihre Familien vor sich her, bis sie die Ländereien des Gutsbesitzers verlassen hatten. Dort blieben sie stehen. »Was werdet ihr mit unserem Land machen?«, fragte Liam. Der Verwalter zuckte mit den Schultern. »Das ist noch nicht sicher…«, antwortete er. »Der Herr will moderne Landwirtschaft betreiben. Vielleicht züchtet er Schafe. Oder anderes Vieh. Es wird auf jeden Fall mehr einbringen als eure Kartoffeln.« Er fühlte sich stark, denn das Gesetz und damit auch die Polizei und die Soldaten standen auf seiner Seite. Er fühlte sich vor allem stark, weil er wusste, dass überall in Irland das Gleiche geschah. Ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Tausende Bauern wurden mit ihren Familien aus ihren Hütten vertrieben. Was machte es den Herren aus, dass die Hungerleider nicht wussten, wohin sie sich wenden sollten? Ein letztes Mal schaute der Gutsverwalter auf die armen Schlucker vor ihm. Er hoffte, sie würden schnell verschwinden. Was hatte der Gutsbesitzer gesagt? »Sieh zu, dass du die Hungerleider so schnell wie möglich loswirst, bevor die Hungersnot richtig ausbricht!«, hatte er befohlen. »Sonst erwarten sie noch, dass ich ihnen zu essen gebe!« Der Gutsverwalter hatte ein Herz aus Stein, aber trotz seiner Hartherzigkeit hatten ihn die Worte erschreckt. Dem Gutsbesitzer war das auch aufgefallen. »Wenn ich ihre Bäuche fülle«, hatte er bösartig gebrummt, »habe ich kein Geld, um dich zu bezahlen. Willst du, dass ich dich auf die Straße setze?« »Ich bin ein treuer Diener«, hatte der Verwalter schnell versichert. »Sagt, was ich tun soll, und ich tue es.«
Die Vertriebenen flüchteten sich ins Moor. Das gehörte allen und niemandem. Die Männer nutzten das letzte Licht und bauten Hütten aus nassen Torfblöcken. Ein neuer Sturm kündigte sich an. Väter, Mütter und Kinder krochen in die nassen Grotten. Sie hofften, dass die Säcke, die sie über ihre Köpfe gespannt hatten, den Regen abhalten würden. Obwohl sie wussten, dass das unmöglich war.
Kreuze auf dem Hügel
Der Sturm jagte eine Wolke nach der anderen vom Atlantischen Ozean über die niedrigen Hügel hinweg. Eine wahre Sintflut brach herein. Das Wasser im Moor stieg. Die Männer, die bis zur Taille im Schlamm standen, mühten sich ab, Torfblöcke zu stechen, mit denen sie ihre Hütten vergrößern wollten. Frauen und Kinder stapelten die klebrigen Bausteine aufeinander. Zwei dreieckige Wände dienten als Vorder- und Rückfront, die Seitenwände stiegen schräg an. Mit ihren bloßen Händen rissen sie ein Loch aus der Vorderwand, durch das sie in die Hütte hineinkriechen konnten. Währenddessen suchte Mary Torf, der ein bisschen trocken geblieben war. Ihr zerrissenes Kleid klebte wie ein Lumpen an ihrem Körper. Stocksteif war sie vor Kälte. Sie hustete und weinte. Sie hatte Fieber. Der Regen zog einen Schleier über das Moor, durch den sie nicht weiter als einige Schritte sehen konnte. Wer in dieser Öde den Weg nicht kannte, verlief sich hoffnungslos. Mary wühlte in einem Berg Torf. Klebriger Schlamm, durchnässter Matsch. Sie harrte aus. In der Mitte musste sie einfach trockenes Brennmaterial finden. Sie musste! Leise murmelte sie Gebete, eines nach dem anderen. Sie hatte Glück. Sie fühlte harte, trockene Brocken. Für heute Nacht reicht es! Sie hob den Saum ihres Kleides und stapelte den Torf hinein. Mit ihrer kostbaren Beute rannte sie zurück zur Hütte. Ihr Kleid riss wie nasses Papier. Die Torfbrocken fielen ins Wasser. Sean und Kirby krochen aus der Hütte und halfen ihr. »Schnell!«, rief sie. »Wir können Feuer machen. Warm. Warm!«
Die Männer suchten Arbeit. Als sich der Sturm gelegt hatte, schlugen sie den Weg über einen schmalen Pfad ein. Sie winkten den Frauen und Kindern zum Abschied, bevor sie hinter dem Hügel verschwanden. Tagelang blieben sie weg und kehrten mit leeren Händen und hängenden Köpfen zurück. »Es gibt keine Arbeit«, keuchte Liam. »Nichts. Nirgends. Die Bauern stellen keine Arbeiter ein. Sie haben kein Geld. Auch ihre Ernte ist verrottet.« »Und in der Stadt?«, fragte Peig ohne die geringste Hoffnung in der Stimme. »Nichts. Die Straßen sind voll von Menschen wie uns.« Marys Mutter stand vor der Torfhütte, von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt. Aus der Tür quoll Rauch. Peig ließ das Feuer Tag und Nacht brennen, um die Hütte für die kranken Kinder warm zu halten. Cathy war so schwach, dass sie sich kaum noch bewegte. Sie atmete schwer und unregelmäßig, hin und wieder röchelte sie. Lynn hatte hohes Fieber und kam gar nicht mehr richtig zu Bewusstsein. Sean und Tomas husteten ohne Unterlass. Nur Mary und Kirby hielten allen Widrigkeiten stand. Sie pflückten Pflanzen im Moor, trockneten sie über dem Feuer und verkleideten damit die Innenwände der Hütte. Aus weichem Gras bereiteten sie ein Lager für die Kranken. Sie durchstreiften die Gegend auf der Suche nach essbaren Knollen und Wurzeln. Es war nichts zu finden. Mit leeren Händen kehrten sie zurück. Peig rügte sie, weil sie so lange weggeblieben waren. »Dort draußen wimmelt es von allerlei Gesindel«, sagte sie. »Für Mädchen in eurem Alter ist das gefährlich.« Besorgt schaute sie auf Mary, die halb nackt in ihrem zerrissenen Kleid herumlief. Noch am selben Abend schnitt sie zwei Kartoffelsäcke zurecht und nähte daraus ein Kleid. Mary war
froh darüber. Der grobe Stoff kratzte zwar auf der Haut, aber er war warm und schützte sie vor Wind und Regen.
Die Regierung in London war über die Situation in Irland unterrichtet. Die Beamten hatten die Ausbreitung der Kartoffelkrankheit genau verfolgt. Sie hatten berechnet, wie viel an Nahrungsmitteln verloren gegangen war und wie viele Menschen in diesem Winter hungern würden. Die Regierung ließ einen Vorrat an Mais einkaufen, teilte ihn aber noch nicht aus. Diese Notration musste in den Lagerhäusern liegen bleiben für den Fall, dass es noch schlimmer werden würde. »Wenn wir kostenlos Mehl verteilen, verlieren die Händler ihre Kunden«, warnte der Premierminister Robert Peel in London. »Und das verstößt gegen unsere Prinzipien. Wir müssen den freien Handel schützen.« Ihm war nicht klar, dass er sowieso kein Maismehl hätte verteilen können, selbst wenn er gewollt hätte. In ganz Irland gab es zu dieser Zeit keine einzige Mühle, die die harten Maiskörner hätte mahlen können. Einige Mühlen wurden in aller Eile darauf eingerichtet. Sie lagen aber so weit von den am schlimmsten betroffenen Gebieten entfernt, dass es Monate dauern würde, bis das Mehl geliefert werden konnte… »Die irischen Grundbesitzer müssen für die Pächter sorgen«, ließ der Premierminister dann auch noch vernehmen! Begriff er denn nicht, dass die Grundbesitzer überhaupt kein Interesse daran hatten und dass er sie nicht dazu zwingen konnte? »Die Iren sind Schmarotzer«, behaupteten viele Politiker, »wir dürfen es ihnen nicht zu leicht machen. Sonst nehmen sie uns aus, bis sie uns völlig ruiniert haben.« Sie verabschiedeten ein speziell für Irland geltendes ›Armengesetz‹. Grundbesitzer und Unternehmer mussten in Zukunft eine ›Armensteuer‹
bezahlen. Von dem Erlös sollten ›Armenhäuser‹ für Menschen gebaut werden, die nichts mehr besaßen. Diese Häuser erinnerten allerdings eher an Gefängnisse. Sie waren armselig eingerichtet. Wer Obdach fand, musste für Kost und Logis arbeiten. »Das Essen muss einfach und auf keinen Fall schmackhaft sein«, beschloss die Regierung, »sonst bleiben die irischen Läuse für immer dort wohnen.« Die Armenhäuser füllten sich. Überall war man gezwungen, hungrige, zerlumpte, obdachlose arme Schlucker wegzuschicken. Die Regierung beschloss, dass die irischen Sonderbeauftragten noch mehr tun mussten. Man sollte die Männer öffentliche Arbeiten verrichten lassen, so dass sie Geld verdienen und Lebensmittel für ihre Familien kaufen konnten. »Die Löhne müssen niedrig gehalten werden«, befahl die Regierung, »sonst will das Pack nirgendwo anders mehr arbeiten.« »Die Arbeit, die ihr verrichtet, muss der Allgemeinheit zugute kommen«, mahnte London. »Ihr dürft nichts bauen, wovon die Grundbesitzer profitieren.«
Liam ging in die kleine Stadt Ennis. Er verscherbelte seine letzten Habseligkeiten an einen Schacherer: zwei Spaten, eine Sichel, drei Körbe, das Butterfass. Von dem Erlös kaufte er ein paar Kilo Mehl. Als sie alles aufgegessen hatten, besaßen sie nichts mehr. Cathy, das Baby, starb ohne einen Seufzer. Lynn erwachte nicht mehr aus ihrem Koma. Tomas starb schlafend in Marys Armen. Am Morgen spürte sie, dass der Junge kalt und steif war. Das Moor verwandelte sich in einen Totenacker. Überall starben Kinder, Frauen, Männer. Liam und John Conneely
suchten einen würdigen Platz, an dem sie die Toten begraben konnten. Sie wählten eine Stelle am Fuß des steinigen Hügels über dem Moor. Mit Stöcken und Steinen hackten sie Löcher in den Boden. Die Leichen wurden ohne Sarg begraben, ohne Trauerfeier. John Conneely sprach die Gebete. Liam lief kilometerweit und suchte starke Äste für die Kreuze. Nach einigen Wochen standen schon zehn kleine Kreuze am Fuß des Hügels. Sie hielten es nicht länger aus. Die Nachbarn verabschiedeten sich. Mary drehte sich kurz nach der Torfhütte um. Ihr letztes Zuhause. In Zukunft würde sie wie ein Straßenhund durch die Welt ziehen müssen.
Die Flucht vor dem Hunger
Der Weg nach Ennis lag einsam und verlassen da. Ein kalter Ostwind trieb die Bewohner der Dörfer in die wohlige Wärme ihrer Hütten. Wer nicht unbedingt hinaus musste, hockte sich ans Torffeuer und wartete auf den Schneesturm. Liam trieb seine Familie zur Eile an. Auch er hatte den Schnee gerochen und wollte so schnell wie möglich in der Stadt sein. Dort würde er schon einen Platz finden, wo sie Schutz fanden. Peig hielt Sean und Kirby fest an sich gedrückt. Die Kinder waren so erschöpft, dass sie nichts anderes mehr wollten, als sich irgendwo auf den Weg fallen zu lassen, um nie mehr aufzustehen. Ihre nackten Füße taten weh. Durch die Kälte war die schwielige Haut aufgesprungen und hatte blutrote Risse. Es fing an zu schneien, als sie die ersten Häuser von Ennis erreichten. Zarte Flocken, die, bevor sie den Boden berührten, bereits geschmolzen waren. Hunderte von Menschen versperrten den Zugang zum Armenhaus. Männer mit harten, mageren Bauerngesichtern, tiefen Augenhöhlen, eingefallenen Wangen, die Lippen straff über die Zähne gespannt. Gesichter der Armut, des Hungers und der Verzweiflung. Sie waren besiegt, und sie wussten es. Ihre Frauen drückten die Kinder an sich und versuchten mit beruhigenden Worten, sie den nagenden Hunger und die lähmende Kälte wenigstens für einen Augenblick vergessen zu lassen. Auch sie wussten, dass sie den Kampf gegen den Tod verlieren würden. Selbst die älteren Jungen und Mädchen, die wie Mary nicht mehr ganz Kind und doch noch nicht erwachsen waren, schienen völlig erschöpft zu sein. Vor einem Jahr war Mary schon einmal in Ennis gewesen. Ein
unverschämter Flegel hatte damals gerufen, dass er sich in ihre schönen roten Haare verliebt habe. Sie war rot geworden. Er hatte dreckig gelacht und eine schmutzige Bemerkung gemacht, und seine Freunde waren in schallendes Gelächter ausgebrochen. Mary war feuerrot geworden, und die Jungen hatten noch lauter gelacht. Jetzt sagte niemand ein Wort. Jungen und Mädchen schauten sich mit Augen an, die so tot waren wie die der Alten, die krumm und steif auf etwas warteten, was nie kommen würde. »Ist noch Platz im Armenhaus?«, fragte Liam einen Mann, der mit den Händen in den Taschen auf die Menge schaute. Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ich bin gerade erst angekommen. Jeder will einen Platz im Armenhaus.« Mit dem Kinn wies er auf die Menschenmenge. Seine Frau kam etwas näher. »Wir sind in die Stadt geflüchtet, weil wir gehofft hatten, hier Hilfe zu bekommen«, sagte sie. Liam nickte. Alle Hoffnung wich aus ihm. Das Armenhaus war natürlich schon voll. Und all die Menschen, die warteten… An ein warmes Plätzchen für die Nacht war nicht zu denken. »Lasst mich durch! Zur Seite! Lasst mich durch!«, rief ein Mann auf einem Pferd. Er hatte einen Schal um den Kopf gebunden und trug eine schwere Kutscherjacke. Dicke Wollstrümpfe schauten ein Stück aus dem Schaft seiner Lederstiefel heraus. Sein freier Arm schwang durch die Luft. Mary sah, dass er zwei Paar Handschuhe übereinander trug. »Ich bin der Sonderbeauftragte«, rief der Mann. »Wenn ihr Hilfe wollt, dann lasst mich durch!« »Ist noch Platz im Armenhaus?«, fragte Liam, aber der Sonderbeauftragte hörte ihn nicht.
»Folg ihm«, zischte Peig und stürzte sich mit den Kindern an der Hand in die Schneise, die der Reiter in der Menschenmenge hinterlassen hatte. Die Massen stürzten hinter dem Sonderbeauftragten her. Jeder schob und drängelte, um so nah wie möglich hinter dem Pferd zu bleiben. Wer in der ersten Reihe stand, bekam vielleicht doch noch einen Platz! Mary wurde gestoßen und geschlagen. Sie kämpfte wie eine Löwin, die Augen unbeirrt auf das dicke Hinterteil des Pferdes gerichtet. Jemand stieß sie so heftig in den Rücken, dass sie beinahe fiel. Sie rammte ihre Ellbogen in die Leiber um sich herum, ohne zu schauen, wen sie traf. Endlich erreichte sie den Eingang des Armenhauses. Peig und die Kinder standen einige Meter von ihr entfernt. Dann tauchte ihr Vater neben ihr auf. Eine Frau fing an zu kreischen, Kinder schrien, Männer riefen, die wartende Menge brüllte. »Lasst uns rein! Gebt uns zu essen! Wir sterben vor Kälte! Was wollt ihr? Dass wir alle sterben?«, tobte die Masse. Der Sonderbeauftragte stand mit dem Rücken zum Tor. Er sprach mit einem Mann, der gerade aus dem Haus gekommen war. »Was sollen wir tun? Wie viele sind es?«, fragte der Mann aus dem Armenhaus. »Um die tausend!«, antwortete der Sonderbeauftragte. »Wie viele Plätze gibt es noch?« »Drei. Die Toten von heute Nacht.« Der Sonderbeauftragte fluchte. Die Menge hörte nicht auf zu brüllen. »Ich kann Maisbrei kochen«, sagte der Mann. »Dann haben sie wenigstens etwas zu essen, wenn wir ihnen schon kein Dach über dem Kopf geben können.« »Sie wissen, dass das verboten ist! Die Regierung verbietet uns, Essen an Menschen außerhalb des Armenhauses zu verteilen«, murmelte der Sonderbeauftragte. Der Mann aus
dem Armenhaus zuckte mit den Schultern. Der Sonderbeauftragte verstand die Geste sofort. Die Regierung saß weit weg in London, die Hungerleider standen vor der Tür. Wenn er nicht handelte, brach ein Aufstand aus. »Gut«, sagte er. »Wir haben keine Wahl. Kochen Sie ein paar Töpfe Brei. Ich lasse die Menschen hinein. Sie können in den Gängen und auf der Treppe sitzen. Immer noch besser als draußen im Schnee.« »Und geben Sie ihnen kein Essen außerhalb des Armenhauses«, grinste der Mann mit einem Zwinkern. »Selbstverständlich«, lachte der Sonderbeauftragte, aber er wurde sofort wieder ernst und fragte: »Für wie viele Tage reicht der Vorrat?« »Tage? Du lieber Himmel, ich habe gerade genug für einen Tag! Geben Sie mir Geld, dann kann ich Getreide kaufen!« »Der Armenrat hat kein Geld mehr«, seufzte der Sonderbeauftragte. »Die Kasse ist leer. Ich habe es schon an die Verantwortlichen in Cork durchgegeben. Wenn nicht sofort Hilfe kommt, haben wir noch vor Ende der Woche einen Berg Leichen!«
Sechs Monate nach der missglückten Kartoffelernte herrschte in großen Teilen Irlands eine bittere Hungersnot. Alle gesunden Kartoffeln waren verzehrt. Viele Menschen wurden krank, weil sie in ihrer Verzweiflung Knollen gegessen hatten, die sogar für die Schweine ungenießbar waren. Wer das Glück hatte, einen kleinen Vorrat an Getreide zu besitzen, hatte auch diesen inzwischen aufgebraucht. Sie aßen alles auf, auch das, was für die Tiere bestimmt war, wie Rüben und Laub. Die Hungerleider pflückten das Land kahl. Blätter, Kräuter, sogar Gras kochten sie, nur um etwas zu essen zu haben. Und dann gab es selbst das nicht mehr.
Die Regierung in London beschimpfte die Iren aufs heftigste. Wenn die Faulpelze gelernt hätten, für sich selbst zu sorgen, rief man, dann wäre es nie zu einer solchen Katastrophe gekommen. Das Parlament gab den Grundbesitzern die Schuld. Wenn die Halunken ihre Güter besser verwaltet hätten, wenn sie in Irland wohnen würden anstatt in ihren Palästen in London, dann hätten sie die Katastrophe abwenden können! So riefen die englischen und schottischen Volksvertreter. Die Männer, die so sprachen, hüteten sich jedoch davor, den Grundbesitzern in die Augen zu schauen – denn diese saßen auch im Parlament. Sie gingen an die Kanzel und erklärten, dass es nicht ihre Schuld sei, sondern die des irischen Gesindels selbst. »Jedes Jahr ist es dasselbe!«, riefen sie. »Diese Nichtsnutze machen keinen Finger krumm. Sie essen Kartoffeln, bis alles weg ist, und dann jammern sie, weil sie Hunger haben. Was sollen wir da tun?«
Am 13. März 1846 trommelte Frau Gerrard in dem irischen Dorf Ballinglass Polizei und Armee zusammen. Sie ließ dreihundert Mieter aus ihren Häusern vertreiben. Die Wohnungen wurden dem Erdboden gleichgemacht. Die Mieter hatten ihre Pacht immer rechtzeitig bezahlt. Sie hatten keine Schulden. Frau Gerrard ließ sie verjagen, weil sie ihre Grundstücke für die Viehzucht nutzen wollte. Die unglücklichen Pächter suchten Schutz in Höhlen, die sie außerhalb des Dorfes in den Boden gegraben hatten. Soldaten jagten sie davon. Ein irischer Grundbesitzer, Lord Londonderry, protestierte im Parlament gegen das Vorgehen von Frau Gerrard. Ein anderer Grundbesitzer, Lord Brougham, antwortete ihm eiskalt: »Die Besitzerin hat nicht gegen das Gesetz verstoßen. Sie darf mit
ihrem Eigentum tun und lassen, was sie will. Ländereien und anderer Besitz verlieren ihren Wert, wenn wir den Eigentümern dieses Recht nehmen.« Die Mehrheit der Volksvertreter gab Brougham und Gerrard Recht. Die Beamten in Irland notierten, dass der größte Teil des Saatgutes für das folgende Jahr verzehrt oder verrottet war. Die nächste Katastrophe bahnte sich an.
Ein Pfund Maismehl
Für die Regierung in London war die Sache klar. Gib den Hungerleidern Arbeit, lass sie Geld verdienen, damit sie etwas zu essen kaufen können. Das kommt allen zugute. Der Regierung, denn sie muss dann kein Geld für Hilfsprojekte ausgeben. Den Händlern, denn sie können ihre Produkte für einen guten Preis verkaufen. Den Hilfesuchenden auch, denn sie brauchen dann nicht der Allgemeinheit faul auf der Tasche zu liegen. Doch wenn es keine Arbeit gab für all die Menschen? Es gibt immer Arbeit, antwortete London. Irland braucht Straßen, Häfen, Kanäle und Schienen. Lasst die Hungerleider daran arbeiten. Aber wenn kein Geld da ist, um die Arbeit zu bezahlen? London gab nicht nach. Es ist genug Geld da, antwortete das Finanzministerium. Die Regierung würde schon für das Startkapital sorgen, das natürlich später zurückbezahlt werden müsste. Iren, die Geld hätten, müssten tiefer in die Taschen greifen und eine Sondersteuer bezahlen. Die Beamten, die das Geld eintrieben, müssten mehr Druck ausüben. Dann würden die geizigen Bauern und Gutsbesitzer schon etwas lockermachen. Doch was war, wenn die Minister sich irrten? Ein reger Briefwechsel entstand zwischen London und Dublin. In Irland musste man langsam einsehen, dass ein Minister nie Unrecht hatte. »Was machen wir mit den Bauern, die kein Geld haben?«, fragten die Beamten in Irland. Ausquetschen, antwortete London.
Und was ist, wenn wir die Bauern so sehr ausquetschen, dass sie selbst nichts mehr haben und dann auch auf Hilfe angewiesen sind? Setzt das Gesetz durch, klang es aus London, wo die Regierung Peel inzwischen gestürzt worden war. Lord John Russell trat seine Nachfolge an. Die Hungerleider in Irland wussten davon nichts. Für sie veränderte sich wenig.
Sobald sich das Wetter besserte, wurde die zerlumpte Masse aus dem Armenhaus vertrieben. Auf einem brachliegenden Stück Land außerhalb der Stadt grub Liam eine Höhle in den Hang eines Hügels. Das sollte ihr neues Zuhause sein. Er und Peig bekamen Arbeit bei einer der öffentlichen Baustellen. Liam musste mit einem schweren Hammer Steine zertrümmern. Peig arbeitete in einer Gruppe, die Schutt und Steine zu einer Stelle schleppten, wo eine ganze Armee Hungerleider eine neue Straße anlegte. Die Arbeit ging nur langsam voran. Alle waren durch den Hunger geschwächt, durchweicht vom Regen; sie zitterten vor Kälte und fühlten sich todkrank. Alle bekamen den gleichen Lohn. Gerade genug für ein Pfund Maismehl pro Tag. Mary blieb bei Sean und Kirby in der Höhle. Sie sorgte dafür, dass das Torffeuer brannte, wenn ihre Eltern nach Hause kamen. In ihrem einzigen Topf kochten sie einen klebrigen Brei aus Wasser und Mehl. Es schmeckte nach nichts, und als der Topf leergekratzt war, gingen sie mit dem Gefühl schlafen, dass sie immer noch genauso großen Hunger hatten. Liam war unruhig. Jeden Abend überlegte er mit Peig, wie es weitergehen sollte. »Wir können nicht wie Tiere in einer Höhle wohnen bleiben«, meinte er. »Ich muss Kartoffeln pflanzen und Getreide anbauen. Ich muss ein Stück Pachtland finden.
Ich bin Bauer und kein Zwangsarbeiter, der Steine zerhackt. Ich muss eine Möglichkeit finden…« Eines Morgens kündigte er an, dass er an diesem Tag nicht auf die Baustelle gehen würde. Er wollte in ihr altes Dorf zurücklaufen. Vielleicht war der Gutsbesitzer inzwischen zur Besinnung gekommen und die früheren Pächter durften wieder an ihre Arbeit. »Ich komme mit«, sagte Mary unverzagt. Peig hatte Angst. Musste sie dann allein auf die Baustelle? Wer sollte für Sean und Kirby sorgen? Die beiden waren so ausgemergelt, dass sie sich nicht mehr selbst helfen konnten. Ihre Bäuche waren aufgedunsen und ihre Arme glichen Zweigen, die jeden Moment abbrechen konnten. »Du gehst nicht mit, Mary. Du bleibst bei den Kindern. Lass deinen Vater allein gehen«, sagte sie bestimmt. »Ich hab es satt, wie ein Tier in einer Höhle unter der Erde zu wohnen«, protestierte Mary. »Lass sie mitkommen«, sagte Liam leise. »Es ist das Einzige, was wir ihr noch geben können.« »Du wirst uns nicht mehr lebend finden, wenn du zurückkommst«, drohte Peig, aber es half nichts. Mary ging mit ihrem Vater. Liam lief quer über das öde Land. Mary konnte kaum mit ihm Schritt halten. Plötzlich stand sie auf dem Hügel, in dessen unmittelbarer Umgebung sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Sie erschrak, denn von ihrem Dorf war nichts mehr übrig geblieben. Wo früher Häuser gestanden hatten, erstreckte sich jetzt eine riesige Schlammfläche. Ihr Vater holte tief Luft und stieg den Hügel hinab. Die Äcker lagen brach und waren völlig verwahrlost. Früher wäre der Boden um diese Jahreszeit umgegraben, alle Spuren des Winters beseitigt und jeder Acker für das Anpflanzen der neuen Kartoffeln vorbereitet gewesen. Liam fluchte und beschleunigte seinen Schritt. Auf dem Weg zum Herrenhaus hörten sie jemanden rufen. Es war John Conneely. Marys Herz machte einen Freudensprung.
Wenn er zurückgekommen war, dann hatten auch sie eine Chance. John sah furchtbar aus. Er war mager und ausgemergelt. Das Fieber glänzte in seinen Augen. Er nahm sie in den Arm. »Mary! Schäfchen! Was bin ich froh, dass du noch lebst«, schluchzte er. »Wie geht es dir? Und deiner Familie?«, fragte Liam. John heulte wie ein Kind. Mit großer Mühe erzählte er ihnen, dass sie alle tot waren. Seine Frau. Seine vier Söhne. Seine zwei Töchter. »Ich bin allein…«, weinte er. Schweigend schauten sie sich an, die beiden Männer und das Mädchen. Erst nach einer langen Pause traute Liam sich, John zu fragen, was er hier auf den Ländereien des Gutes mache. »Mich rächen.« »Mach dich nicht unglücklich, Mann.« »Ich werde das Herrenhaus niederbrennen.« »Sie werden dich fassen und totschlagen.« »Was geschehen muss, muss geschehen.« Liam schüttelte den Kopf. John zitterte, nicht vom Fieber, sondern vor Wut. »Gott wird dich bestrafen«, sagte Liam. »Der Pfarrer predigt doch immer, dass Gott gerecht ist«, antwortete John. »Er wird mich verstehen.« In der Ferne bellten Hunde. Ein paar Reiter näherten sich ihnen schnell. Liam zog Mary schützend an sich. John starrte regungslos auf die sich nahende Meute. Der Guts Verwalter ritt an der Spitze. »Was wollt ihr hier?«, tobte er. Liam nahm untertänig die Mütze vom Kopf und verbeugte sich. »Ich komme zu Ihnen«, sagte er höflich. »Zu mir? Warum? Wer bist du?« »Einer Ihrer Pächter, Herr.« »Du? Ich erkenne dich nicht. Und überhaupt. Du weißt doch, dass du dich hier nicht blicken lassen darfst.« »Das Land ist unbestellt, Herr. Ich dachte…«
»Das geht dich nichts an! Hau ab! Oder ich lasse die Hunde auf dich los.« »Ich wollte nur fragen, ob ich nicht ein kleines Stück Land für uns…«, versuchte Liam es noch einmal, aber er verstummte, als der Verwalter ihm die Peitsche drohend entgegenstreckte. John brüllte plötzlich wie ein Wilder. Er riss dem Verwalter die Zügel aus der Hand. Er zog so heftig daran, dass das Pferd auf die Knie sank. Der Verwalter sprang aus dem Sattel. Fast genauso schnell war sein Begleiter vom Pferd gesprungen. Mit einem Faustschlag streckte er John zu Boden. Liam zog Mary zur Seite. »Verdammt!«, rief der Verwalter. »Hast du gesehen, wie der Lump mich angegriffen hat?« »Er weiß nicht, was er tut, Herr, der Hunger hat ihn verrückt gemacht«, murmelte Liam. Der Verwalter drückte ihm den Knauf der Peitsche gegen die Brust. Mary spürte, wie ihr Vater erstarrte. Sie hielt seine Hand ganz fest. In Todesangst betete sie, dass er Ruhe bewahren würde. Er konnte ja doch nichts gegen die zwei Männer ausrichten. Sie würden ihn zusammenschlagen. »Du – hast – hier – nichts – zu – suchen!«, brüllte der Verwalter. »Verschwinde! Deinen Freund nehme ich mit. Er wird seine Lektion bekommen. Ich werde ihn wegen Unruhestiftung ins Gefängnis werfen. Und jetzt verschwinde!«
Als sie nach Ennis zurückkehrten, war Kirby tot. Sean starb in derselben Nacht. John Conneely sahen sie nie wieder.
Teuflisches Fieber
Die britische Regierung schloss alle Baustellen. Von heute auf morgen gab es für die Hungerleider keine Arbeit mehr. Die Hunderttausende von Armen waren wieder auf sich selbst gestellt. London hatte beschlossen, dass im Sommer auf dem Land genug Arbeit zu finden und Hilfe deshalb überflüssig sei. London irrte sich. Sogar in den Jahren, in denen keine Hungersnot herrschte, zählte Irland zwei Millionen Arme. Gut ein Viertel der Bevölkerung lebte in ›guten Jahren‹ von Almosen. Bauern ohne Land, Witwen ohne Einkommen, Waisen, Bettler, Landstreicher. Durch die missglückte Kartoffelernte hatte sich die Anzahl der Armen jedoch verdoppelt. Ohne Hilfe von anderen war fast die Hälfte aller Iren zum Tode verurteilt. Tausende irischer Beamter, Pfarrer und sogar einige führende Persönlichkeiten schrieben Briefe an die Königin und die Minister, in denen sie zu erklären versuchten, wie unbeschreiblich das Ausmaß der Hungersnot war. Es war vergebliche Mühe. Die politischen Machthaber hielten sich einzig und allein an das eiserne Gesetz des Liberalismus. Und dieses besagte, dass jeder für sich selbst verantwortlich war. Die englische Bevölkerung, unterstützt von den großen Zeitungen, war ganz ihrer Meinung. Die Engländer scherten sich kein bisschen um die Iren, die sie für dumm, falsch, faul und verdreckt hielten. Ein Volk, das ständig nur von anderen profitierte, verdiene keine Hilfe, so stand es in der Londoner Presse.
Liam war ratlos. Auf jedem Hof bat er seine Dienste als Arbeiter an. Vergeblich. An jedem Haus bettelte er um ein Stück Brot. Vergeblich. Schon im Frühjahr 1846 wussten die Iren, dass sie auch im nächsten Winter hungern würden. Es wurden zu wenig Kartoffeln angepflanzt. Die verarmten Bauern hatten ihre Äcker verwahrlosen lassen. Viele hatten das Saatgut verzehrt und konnten nichts mehr anpflanzen. Das Schlimmste war jedoch, dass die geheimnisvolle Kartoffelkrankheit immer noch nicht ausgerottet war. Am einen Tag standen die Äcker in frischem jungem Grün. Am nächsten hatte sich das Laub in schwarzen, stinkenden Unrat verwandelt. Die jungen Knollen im Boden, nicht viel größer als Murmeln, rotteten in wenigen Tagen dahin. Die Ernte war verloren, bevor sie heranreifen konnte.
»Es gibt nur einen Ausweg«, überlegte Liam. »Wir müssen Irland verlassen. Wir müssen nach England oder irgendwo anders hin, wo kein Hunger herrscht.« »Wir können die Reise nicht bezahlen«, sagte Peig. »Vielleicht lassen sie uns an Bord eines Schiffes arbeiten. So bezahlen wir die Überfahrt«, hoffte ihr Mann. Peig lachte höhnisch. Sie schien jegliche Hoffnung aufgegeben zu haben. »Wer soll dir Arbeit geben«, fragte sie bitter. »Du bist Bauer, kein Seemann. Du kannst kein Englisch. Du kannst deine Dienste noch nicht einmal anbieten.« Liam wurde böse, als Peig so sprach. Er wusste, dass sie Recht hatte. Zehntausende strömten in den Häfen zusammen. Menschen, die ihre Überfahrt bezahlen konnten und ein paar Worte Englisch gelernt hatten. Sie waren die Ersten, die einen Platz auf einem Schiff bekamen. Liam hatte wirklich keine Chance.
Die öffentlichen Baustellen wurden wieder in Betrieb genommen. Die hungrige Menschenmenge kämpfte um jedes bisschen Arbeit, auch wenn sie schlecht bezahlt war. Doch selbst der, der Arbeit bekam, verdiente nicht genug, um sich und seine Familie zu ernähren. Denn die britische Regierung ließ den Händlern freie Hand, was zur Folge hatte, dass die Lebensmittel in Irland von Tag zu Tag teurer wurden. Mary, Peig und Liam fanden alle drei Arbeit. Liam brach Steine, Mary schleppte Schutt, Peig schlug Steinblöcke mit einem Stück Baumstamm in den Boden. Abends waren sie so erschöpft, dass sie keine Kraft mehr hatten, Feuer zu machen und einen Brei aus Getreide zu kochen. Dann rührten sie nur ein bisschen kaltes Wasser in das Mehl und würgten die Masse hinunter. Eines Tages konnte Liam noch nicht einmal mehr das. »Ich werde sterben. Ich spüre es«, stöhnte er. Er hatte Fieber und zitterte am ganzen Körper. Sein Kopf zuckte unruhig hin und her und seine Zähne klapperten. Peig kühlte seine Stirn mit kaltem Wasser. Sie kochte warmen Brei und zwang ihn, davon zu essen. Er aß zwei Löffel und erbrach sie sofort wieder. Liam Skeagh starb in einer Höhle unter der Erde, während seine Frau und seine Tochter hilflos zusahen. Mary rannte zum Sonderbeauftragten der Armenhilfe. Als Arbeiter der öffentlichen Baustelle hatte Liam ein Recht auf eine richtige Beerdigung mit einem richtigen Sarg, bezahlt von der Armenhilfe. Auf dem Friedhof wurde er unter einem Kreuz, das Peig aus zwei Ästen anfertigte, begraben, neben den Kreuzen, unter denen Sean und Kirby ruhten.
Die irische Bevölkerung war im Herbst des Jahres 1846 durch den Hunger so geschwächt, dass sich eine Krankheit nach der anderen ausbreitete. Auch in den Jahren vor der Hungersnot hatten die meisten Menschen in unglaublichem Schmutz gelebt. Tiere und Menschen hausten in einem Raum zusammen. Das Schwein schlief neben den Kindern. Die Hühner scharrten neben dem Herd. Jauche sickerte unter der Tür hindurch. Fast niemand hatte Kleider zum Wechseln. Unterwäsche war ein unbekannter Luxus. Kleider wurden so lange getragen, bis sie auseinander fielen, oft ohne ein einziges Mal gewaschen worden zu sein. Läuse, Flöhe und andere Parasiten ergötzten sich an den stinkenden Kleidern und auf den ungewaschenen Körpern. Ärzte gab es kaum auf dem Land. Wer krank war, ließ sich von einem Quacksalber behandeln, der die Beschwerden meist nicht linderte, im Gegenteil. Die Hungersnot machte alles noch schlimmer. In den Armenhäusern kamen zahllose geschwächte Menschen zusammen. Ein Kranker konnte Hunderte anderer Hungerleider anstecken. Die Regierung verpflichtete die Sonderbeauftragten, Krankenhäuser zu eröffnen, damit die Kranken von den Gesunden getrennt werden konnten. Eine gute Maßnahme, so schien es, doch sie endete in einer Katastrophe. Es gab nicht genügend Ärzte, um die Tausenden von Patienten zu versorgen. Die Krankenhäuser verwandelten sich in wahre Todesfabriken. Viele Obdachlose zogen ohnehin ein armseliges Leben unter freiem Himmel, unter Sträuchern und in Höhlen, vor. Auch Peig weigerte sich, in ein Armenhaus zu gehen. »Wir bleiben in unserer Höhle«, beschloss sie. »Die gehört wenigstens uns.« »Ich bleibe bei dir«, versicherte ihr Mary. Ihre Mutter hielt sie fest in ihren Armen. Es war lange her, dass sie einander liebkost hatten.
»Wir schlagen uns durch. Du und ich«, versprach Peig. »Und wie?«, fragte Mary. »Das weiß der Himmel…«
Gefrorene Leichen
Das Wetter wurde so schlecht, dass die Baustellen geschlossen werden mussten. Die nasse Kälte des Winters trieb Peig und Mary aus ihrer Höhle. Mit ihrem Latein am Ende, gingen sie nach Cork, einer Hafenstadt. Sie streiften durch die dunklen Straßen, auf der Suche nach einem Schlafplatz. Viele Obdachlose hatten sich unter Brücken und Schutzdächern, in verfallenen Hütten und Ställen, unter Mauervorsprüngen und Sträuchern verkrochen. Mary und Peig befürchteten, dass sie die Nacht im Freien verbringen mussten. Da sahen sie einen Lichtstrahl, der aus der Seitentür einer Kirche fiel. Peig streckte vorsichtig den Kopf hinein und sah einige Menschen um einen Tisch sitzen, die Brei aus einer großen Schüssel aßen. Eine junge Frau in sauberen Kleidern sprach Peig an. »Hast du Hunger?« Peig erschrak und zog den Kopf zurück. »Komm ruhig herein!«, rief die Frau. Peig zögerte. Mary schob sie in die Kirche. Drinnen war es warm. Die Menschen taten, als hätten sie die Neuankömmlinge nicht kommen sehen, aber aßen auf einmal noch schneller. Zwei hungrige Mäuler mehr bedeutete weniger für sie, wenn sie sich nicht beeilten. »Ich heiße Cathy«, sagte die junge Frau, »kommt und setzt euch dazu.« Die Essenden machten sich breit. Es schien kein Platz mehr am Tisch zu sein. Cathy zeigte Mary und Peig, wo sie sich noch zwischen die anderen Gäste zwängen sollten. Sie gab
ihnen Löffel und forderte sie auf zu essen. »Wo es Essen für zwanzig gibt, da ist auch Platz für noch zwei«, sagte sie, ohne ihre Stimme zu heben. Die Esser getrauten sich nicht zu protestieren, aßen aber noch schneller. Sie schluckten, schmatzten und kleckerten wie die Schweine. Mary zögerte keinen Augenblick. So schnell sie konnte, stopfte sie den Brei in sich hinein. Cathy lächelte, als wäre das alles völlig normal. Sie hatte dieses Schauspiel schon öfter erlebt. Die Schüssel war leer. Ein Mädchen kletterte auf den Tisch und steckte ihren Kopf hinein. Sie schleckte die letzten Reste auf. »So«, sagte Cathy ruhig, »das war alles. Mehr kann ich euch nicht geben. Ich hoffe, dass ich morgen wieder etwas habe.« Niemand bedankte sich bei ihr. Die Menschen saßen totenstill da und warteten, bis ihnen jemand sagte, was sie tun sollten. »Habt ihr für heute Nacht einen Schlafplatz?«, fragte Cathy. Niemand antwortete. Eine Bank knarrte. Es schien, als wären die Menschen, die darauf saßen, erstarrt, aus Angst, hinausgeschmissen zu werden. »Der Pfarrer will nicht, dass die Kirche zum Schlafsaal umfunktioniert wird«, sagte Cathy. Ein Mann mit toten Augen hob vorsichtig die Hand. »Wir kommen von weit her. Wir sind neu in der Stadt und wissen nicht, wo wir schlafen sollen. Es ist kalt draußen«, sagte er. »Wir sind den ganzen Tag gelaufen«, flüsterte eine Frau mit einem Kind auf dem Arm. »Soll ich meine Kinder bei der Kälte unter freiem Himmel schlafen lassen?«, fragte ein junger Mann mit dem Gesicht eines Greises. »Der Pfarrer…«, begann Cathy, unterbrach sich aber sofort. »Ich glaube, dass ich heute Nacht ein Auge zudrücken kann.
Ich werde es dem Pfarrer erklären. Er wird es verstehen. Hoffe ich.« Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, sprangen die Obdachlosen auf. Männer und Frauen kämpften um die besten Schlafplätze. Es dauerte nur einige Sekunden, und der Boden war voll. Peig und Mary konnten nicht mehr wählen. Sie mussten sich vor die Tür legen, vor einen Spalt, durch den der kalte Wind hindurchblies. Der junge Vater mit dem alten Gesicht lag neben Mary. Er erzählte, dass er mit seiner Frau und drei Kindern aus Skibbereen gekommen war. Unterwegs war ein Kind gestorben. »Unser Jüngster. Er war erst vier Monate alt«, sagte er. Mary wollte ihm von ihren Brüdern und Schwestern und ihrem Vater erzählen, der in einem Loch unter der Erde gestorben war, aber dann hörte sie, dass er bereits schlief. »Skibbereen«, flüsterte sie und dehnte dabei die einzelnen Silben, als wären sie der Refrain eines Liedes. Am 15. Dezember 1846 war der Anwalt Cummins aus der Stadt Cork nach Skibbereen gereist. Er beschrieb seinen Besuch in einem Brief, der am Heiligabend in der Zeitung The Times erschien. »Das armselige Gehöft schien verlassen zu sein«, begann sein Bericht. »Ich wagte mich in ein paar Hütten, um herauszufinden, warum ich nirgendwo Menschen begegnete. In der ersten Baracke fand ich sechs fürchterlich ausgehungerte Menschen, dünn wie Skelette. Sie lagen in einer Ecke auf schmutzigem Stroh, und nur eine zerrissene Pferdedecke verhüllte ihre nackten Körper. Als ich näher kam, merkte ich, dass sie noch lebten. Sie stöhnten leise, vier Kinder, eine Frau und ein Wesen, das früher einmal ein Mann gewesen war. In den anderen Hütten fand ich mindestens noch zweihundert solcher Gespenster. Ihr höllisches Gewimmer klingt mir jetzt noch in den Ohren.
An diesem Morgen öffnete die Polizei eine Hütte, in der seit Tagen kein Mensch mehr ein und aus gegangen war. Dort fanden wir zwei gefrorene Leichen, die von Ratten angefressen waren. In einer der Hütten wurde ich von hinten von einer Frau angegriffen, die abgesehen von einem Lappen Sackstoff, der um ihre Lenden hing, vollkommen nackt war. Sie trug ein Neugeborenes auf dem Arm. Ein Arzt fand sieben regungslose Gestalten in einer Hütte. Eine von ihnen war schon eine ganze Weile tot. Die anderen hatten nicht mehr die Kraft, den Toten hinauszutragen.« Die Behörde gab den Auftrag, die Verhältnisse in Skibbereen zu untersuchen. Es bestätigte sich, was Cummins beschrieben hatte. Der Generalkommissar des Sonderausschusses zur Hilfe für die Armen Randolph Routh beschuldigte die zwölf großen Grundbesitzer in Skibbereen. Sie trieben jedes Jahr ein Vermögen an Pacht ein, verweigerten den hungrigen Pächtern aber jegliche Unterstützung. Routh bat dringend um Lebensmittel für die Einwohner des unglückseligen Dorfes. Charles Trevelyan, Schatzmeister in London, antwortete Routh, er solle den Grundbesitzern einen deftigen Brief schreiben. Er solle sie auf den elenden Zustand aufmerksam machen, in dem sich ihre Pächter befanden. Von einer Lebensmittelhilfe könne jedoch keine Rede sein. Das sei auch gar nicht nötig. Denn Nahrungsmittel gebe es im Dorf genug, sagte er. Einer seiner Inspektoren, Major Parker, habe es mit eigenen Augen gesehen. Er hatte Skibbereen eine Woche nach der Abreise des Anwalts Cummins besucht. Es war gerade Markt und der Major hatte Stände mit Fleisch, Fisch, Brot, Gemüse und Milch im Überfluss gesehen. Trevelyan und Parker begriffen nicht, dass die Menschen in Irland nicht verhungerten, weil es dort nichts zu essen gab. Sie
starben, weil sie kein Geld hatten, um Lebensmittel zu kaufen. Sie waren sogar zu schwach, etwas Essbares zu stehlen. Was der mächtige Trevelyan nie begreifen würde, war, dass die Iren vor allem deshalb hungerten, weil sie die Regierung nicht dazu zwingen konnten, ihnen aus dem Elend zu helfen. Irland war eine Kolonie. Seine Bewohner waren rechtlose Untertanen, die sterben mussten, weil sie nichts zu sagen hatten.
Ein parfümiertes Taschentuch
Im Hafen von Cork tanzte ein Mastenwald zum Rhythmus der Wellen und des Windes. Zwischen den Fischerbooten, Küstenschiffen und Hochseeseglern schaukelte eine Flotte kleinerer Schiffe, von denen keiner sagen konnte, woher sie kamen oder wohin sie fuhren. Inmitten des Gewimmels bahnte sich ein Dampfschiff den Weg an den Kai. Es war die Fähre, die zwischen der englischen Hafenstadt Liverpool und Cork hin- und herpendelte. Mary schaute voll Verwunderung auf das ungewöhnliche Fahrzeug mit dem Schornstein, der Rauchwolken ausspuckte. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sich das Monster ohne Segel fortbewegte. Peig hielt ihre Hand fest umklammert. Sie mussten ständig den Pferdewagen ausweichen, die schwere Lasten von und zu den Schiffen transportierten. Oder Männern, die stöhnend Schubkarren mit Säcken, Fässern und Kisten vor sich herschoben. Im Hafen roch es nach Salzwasser, nach Kohlendampf, nach Pech. Und nach Essen. Während nur wenige Kilometer landeinwärts Menschen verhungerten, quollen hier die Lagerhallen über. Irland exportierte noch immer Getreide. Da die eigenen Leute kein Geld hatten, um Lebensmittel zu kaufen, verkauften die Händler es eben ins Ausland. Der freie Handel würde die Iren retten, meinten die Machthaber in London. Hinter einer Absperrung blökten Schafe. Dockarbeiter jagten die Tiere auf die Laderampe. Die Schafe wehrten sich, sie hatten Angst vor dem Wasser, das unter dem Steg glitzerte. Aber die Männer
trieben sie mit Stöcken voran. Die Herde verschwand im Schiffsraum. »Dort ist es«, sagte Peig und zeigte auf einen Schuppen aus geteerten Brettern. Ein Junge in einem gestreiften Pullover und einer blauen Strickmütze stand in der schiefen Türöffnung. Er hatte die beiden schon von weitem gesehen. Peigs schlammverkrustete Kleider und Marys Kleid aus Sackstoff sagten ihm alles, was er wissen musste. Es waren Hungerleider. Habenichtse. Obdachlose. Sie suchten natürlich ein Schiff, das sie umsonst nach England bringen sollte. »Nein!«, rief er, bevor Peig etwas fragen konnte. »Cathy sagt, dass ihr Passagiere mitnehmt«, drängte sie. »Ich kenne keine Cathy.« »In der Kirche… Sie hilft…«, stotterte Peig. »Kein Geld, kein Schiff«, sagte der Junge und drehte sich um. »Aber… Ich habe Geld!«, rief Peig. »Das ist etwas anderes«, antwortete der Junge. Wochenlang waren Peig und Mary durch Cork geirrt. Zuerst gemeinsam, später jeder für sich, weil es einfacher war, alleine zu betteln oder eine schlecht bezahlte Arbeit zu finden. Cathy hatte ihnen beigebracht, wie man mit den Stadtleuten reden musste. Nicht grob und direkt, wie sie es auf dem Land gewöhnt waren, sondern ruhig und höflich. Und eines Abends, als sie gerade um die leere Breischüssel in der Kirche saßen, hatte Cathy ihnen zugeflüstert: »Ich weiß, wie ihr nach England kommen könnt. Ich habe gehört, dass eine englische Hilfsorganisation Waisen und Witwen sucht, die nach Übersee emigrieren wollen.« »Was bedeutet ›emigrieren‹?«, fragte Mary. »Weggehen. Auswandern. In einem anderen Land wohnen«, erklärte Cathy. Mary hatte ihre Mutter angesehen. Peig nickte. Liam hatte immer auswandern wollen. Sie war immer dagegen gewesen.
Jetzt sah sie keinen anderen Ausweg mehr. Wenn das eine Lösung war, akzeptierte sie sie. »Diese Leute sind natürlich keine Katholiken«, seufzte Cathy. »Es sind Ketzer, aber wenn in so einer Notsituation…« »Was müssen wir tun?«, unterbrach Peig sie. »Unseren Glauben aufgeben? Dann bleibe ich lieber hier, und wenn ich vor Hunger sterbe!« Überall in Irland versuchten Freiwillige die größte Not zu lindern. Einige Organisationen waren katholisch, andere anglikanisch, und wieder andere waren von protestantischen Sekten gegründet worden. Die Iren misstrauten allem, was nicht katholisch war. Sie hatten zu oft gehört, dass sie nur dann der Armut entkommen konnten, wenn sie ihren Glauben aufgaben. Peig hatte viele von anglikanischen Suppenküchen erzählen hören, in denen man nur zu essen bekam, wenn man den Papst verfluchte. Sie hatte es selbst nie erlebt, aber die Menschen erzählten davon. »Die Menschen, von denen ich spreche, fragen nicht nach deinem Glauben«, beruhigte Cathy sie. »Wenn du nur gesund und anständig bist. Sie wollen auch, dass du höflich reden kannst. Du musst nach Neusüdwales emigrieren und einen vornehmen Mann heiraten.« »Heiraten?«, fragten Peig und Mary schockiert. »Neusüdwales ist eine neue Kolonie«, erzählte Cathy ruhig weiter. »Die Reise dorthin dauert Monate. Dort wohnen mehr Männer als Frauen. Auch Iren. Solide katholische Kerle. Es ist doch völlig normal, dass sie eine Irin heiraten wollen, oder?« »Was für ein Land ist Neusüdwales?«, fragte Peig misstrauisch. »Es liegt in Australien«, antwortete Cathy, »auf der anderen Seite der Welt. Sie sagen, dass dort immer Sommer ist. Leider ist dort überall noch Wildnis. Die Kolonisten müssen den
Boden erst noch kultivieren. Wenn man hart arbeitet, kann man dort reich werden. Das sagen sie doch…«
Die Adresse, die Cathy ihnen gegeben hatte, war ein herrschaftliches Haus in der schönsten Straße der Stadt. Peig klopfte vorsichtig an. Ein vornehmer Herr öffnete und musterte sie von oben herab. »Ihr müsst zum Hintereingang hinein«, sagte er in gebrochenem Irisch. Und sofort schloss er die Tür. Sie liefen einen schmalen Weg entlang und fanden schließlich an der Rückseite des Hauses den Dienstboteneingang. Eine junge Frau mit einer gestärkten Schürze ließ sie im Gang warten. Es roch nach gebratenem Fleisch. Mary fühlte, wie sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Sie musste kräftig schlucken, sonst wäre ihr der Speichel über das Kinn gelaufen. Die Dienerin kam mit einer Dame zurück, die nach der neuesten Mode gekleidet war. Sie blieb drei Schritte vor ihnen stehen und drückte ein Taschentuch vor die Nase. Es roch nach Parfüm. Sie sagte etwas auf Englisch, und die Dienerin übersetzte es: »Ihr kommt nicht in Frage für die Ausreise. Die Dame findet euch viel zu schmutzig.« »Wir haben keine anderen Kleider. Wir haben überhaupt nichts mehr. Es tut uns Leid…«, antwortete Peig. »Erzählt doch mal, wie ihr hierher gekommen seid«, unterbrach sie das Mädchen. »Vielleicht kann ich euch helfen.« Die Dame machte Anstalten sich zu entfernen, aber die Dienerin sprach sie schnell noch einmal an. Sie zeigte auf Peig und Mary. Ihre Herrin blieb stehen. Mary beobachtete ihr Gesicht. Es war so regungslos wie das einer Statue. Dann sagte die Frau etwas, es waren nicht mehr als ein paar Worte. »Ihr habt Glück«, übersetzte das Mädchen schnell. »Sie wird euch nicht für
Australien eintragen, aber ihr bekommt Geld für die Reise nach Liverpool. Dort müsst ihr selbst den Kopf aus der Schlinge ziehen, sagt sie.«
Lebender Ballast
Jedes Jahr reisten ungefähr zehntausend Iren in das ›Land der Sachsen‹, wie sie England in ihrer Sprache nannten. Sie mühten sich auf den Feldern ab, verarbeiteten Flachs, gruben Kanäle und verlegten Eisenbahnschienen mit Pickel und Schaufel. Wenn die Arbeit erledigt war, kehrten die meisten heim. Andere ließen sich für immer in den Armenvierteln nieder. Das waren die Arbeiter, die in den Fabriken in Manchester, Liverpool, Glasgow oder London die Maschinen bedienten. Wer Geld und viel Mut hatte, emigrierte in eines der neuen Länder: die Vereinigten Staaten, Australien und BritischNordamerika, wie Kanada früher hieß. Ohne irische Soldaten hätte die britische Armee zu wenig Männer gehabt. Mutige Kämpfer aus Irland halfen den Engländern ein Reich zu erobern, das das größte der Welt werden sollte. Eine ganze Flotte von Schiffen transportierte all die Menschen zwischen Irland und England hin und her. Teure Dampfschiffe übernahmen den Fährdienst, Segelschiffe brauchten nur den billigen Wind; sogar in den Frachtschiffen wurden Menschen transportiert. Die Hungersnot und die Vertreibungen setzten jedoch ab 1846 einen nie dagewesenen Menschenstrom in Bewegung. Hunderttausende suchten einen Platz auf einem der Schiffe, um dem Elend zu entkommen.
Der Junge brachte Peig und Mary zu einem Zweimaster, plump wie ein Holzschuh, schwarz wie die Nacht und schmutzig wie ein Schweinestall. Ein Kohlenfrachter. »Kunden!«, rief er.
Ein kleiner vierschrötiger Seemann gab ihnen Zeichen, dass sie an Bord kommen sollten. Seine Hände waren pechschwarz, sogar in den Falten seines Gesichts klebte Kohlenstaub. Mit einer schnellen Bewegung in Richtung seiner Kappe grüßte er sie. »Willkommen auf der Sister Duney«, sagte er. »Heute Nacht laufen wir mit der Flut aus.« Peig verstand nichts. Woher sollte sie auch wissen, was Ebbe und Flut waren? Sie hatte noch nie in ihrem Leben das Meer gesehen, außer hier, an der breiten Flussmündung. Der schmutzige Kahn lag so tief, dass das Wasser jeden Moment über die Reling zu schwappen drohte. Der Seemann folgte ihrem Blick. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, lachte er. »Wenn die Kohlen aus dem Schiffsraum sind, hebt der Kahn sich ein ganzes Stück aus dem Wasser. Dann kommt nicht ein Tropfen hinein. Und wir haben genug Platz für Passagiere. Es kostet fast nichts. Halber Preis. Ist das ein gutes Angebot?« »Halber Preis?« Mit ihrem gesunden Bauernverstand misstraute Peig allem, was billig angeboten wurde. Der Mann lachte. »Zu billig?«, fragte er. »Na ja, ihr reist ja auch nicht als Passagiere. Ich nehme euch als Ballast mit.« »Was ist das?«, fragte Peig noch beunruhigter. »Wenn ein Schiff leer ist«, erklärte der Mann, »liegt es zu hoch auf dem Wasser. Es schwankt wie ein Trunkenbold, verstehst du? Ein kräftiger Windstoß in den Segeln und es dreht sich um, wie eine Nussschale. Und dieses Problem lösen wir, indem wir nie ohne Fracht fahren. Wenn wir keine Fracht haben, legen wir Gewichte auf den Boden des Schiffsraums. Das ist Ballast.« »Das Schiff liegt dann tiefer im Wasser!«, rief Mary, die verstand, was der Mann sagen wollte.
»Du bist anscheinend nicht auf den Kopf gefallen«, grinste der Seemann. »Dir brauche ich dann auch nicht zu erklären, dass Ballast Geld kostet. Klar? Auch wenn man bloß Sand oder Steine in den Schiffsraum schmeißt, kostet das immer noch eine Hand voll Geld. Laden und Löschen ist auch nicht billig. Darum nimmt der Kapitän lieber Menschen mit. Ballast, der aus eigener Kraft an Bord kommt und auch wieder allein von Bord geht.« »Ballast, der seine Reise bezahlt!«, murmelte Peig. »Halber Preis! Das ist ein faires Angebot«, antwortete der Seemann. »Hast du noch zwei Plätze frei?«, fragte Peig, die endlich ihr Misstrauen überwunden hatte. »Im Kohlenraum. Es ist ein bisschen staubig dort, aber das ist nicht so schlimm. Einmal waschen, und du hast es vergessen.« Mehr als zweihundert Menschen krochen in die kohlrabenschwarzen Schiffsräume der Sister Duney. Ausgehungerte, kranke Männer, Frauen und ihre Kinder. Die Luken wurden fest verschlossen. Während der ganzen Fahrt mussten sie dort unten bleiben, denn Ballast durfte sich nicht bewegen. Sie wussten nicht, dass es einen besonderen Namen für diese Art von Schiffen gab: ›treibende Särge‹. Es verging kein Monat, in dem nicht ein Schiff mit Emigranten in der Irischen See versank. Rettungsboote oder Flöße gab es an Bord nicht. Ein Schiffbrüchiger konnte nur überleben, wenn er das Glück hatte, ein Wrackstück zu fassen zu bekommen. Und wenn das Meer nicht zu unruhig war und das Wasser nicht zu kalt. Und wenn bald ein anderes Schiff vorbeikam und den Ertrinkenden aufnahm. Der Gestank der aneinander gedrängten Leiber im Schiffsraum war stärker als der Kohlengeruch. Wer sein Bedürfnis verrichten musste, hockte sich auf einen freien Platz, sofern er einen finden konnte. Wenn das Schiff nach ungefähr drei Tagen in Liverpool anlegte, quoll gewöhnlich
eine Dunstwolke aus den Luken, die so dicht war, dass man sie sehen konnte. Die Zustände auf der Irischen See waren so menschenunwürdig, dass das britische Parlament sogar eine Untersuchung veranlasste. Die Volksvertreter fragten einen Zeugen: »Stimmt es, dass die Kapitäne Schweine besser versorgen als Menschen?« »Das stimmt.« »Aber warum?« »Schweine gehören jemandem. Wenn sie unterwegs sterben, kann der Besitzer Schadenersatz beanspruchen.« »Und die Passagiere?« »Wenn denen was passiert, kostet uns das nichts.« Mary lag zwischen ihrer Mutter und einem Mann, der allein an Bord gekommen war. Er trug einen runden Hut mit breiter Krempe und eine dicke Wolljacke. Er hatte kein Wort gesagt, als er sich neben ihnen einnistete. Bevor die Luken geschlossen wurden, hatte sie im fahlen Licht noch schnell einen Blick auf sein Gesicht werfen können. Leichenblass und mager wie ein Totenkopf. Jeder Atemzug von ihm war von einem seltsam gurgelnden Geräusch begleitet. Mary rückte noch ein Stückchen zu ihrer Mutter hinüber, um dem Kranken Platz zu machen, aber nach kurzer Zeit hatte er sich doch wieder an sie herangewälzt. So schlief sie ein. Nachts fühlte sie, wie er immer wieder krampfhaft zusammenzuckte. Er seufzte schwer und lag dann endlich still. War er tot? Es dauerte lange, bis sie sich traute, an seinem Hals zu fühlen. Die Schlagader klopfte nicht mehr. Er war tot. Sie weckte ihre Mutter. »Der Mann…«, flüsterte sie, »der Mann neben mir ist gerade gestorben.« »Ssst!«, zischte Peig.
Sie kroch über Mary hinweg. Der Passagier auf der anderen Seite der Leiche hustete. Peig wartete, bis er wieder still war. Dann untersuchte sie die Kleider des Toten. Sie fühlte einen Beutel mit Münzen im Futter seiner Jacke und zerriss mit den Zähnen den Stoff. »Ich habe sein Geld«, flüsterte sie Mary ins Ohr. »Mutter!«, rief sie erschrocken. »Er braucht es nicht mehr. Vielleicht ist es genug, um die Reise nach Amerika zu bezahlen!« Mary war wütend auf ihre Mutter. Sie bat Gott um Vergebung. Es war dunkel, deshalb merkte sie nicht, dass Peig Tränen über die Wangen liefen. Was ist nur aus mir geworden?, fragte sie sich. Bin ich schon so tief gesunken, dass ich einem Toten Geld stehle und noch nicht einmal Reue empfinde? Am Morgen trugen zwei Männer den Verstorbenen bis unter eine der Luken. Bevor sie in See gestochen waren, hatte der Kapitän ihnen gesagt, dass sie die Toten dorthin legen sollten. Bevor sie Liverpool anliefen, würde er ihre Leichen über Bord werfen. In der Zwischenzeit mussten sie dort liegen bleiben, denn es war ihnen nicht möglich, die schweren Luken zu öffnen und wieder zu schließen. Und die Leichen an Land zu begraben war viel zu teuer…
Zwanzig Pfund
Einige Männer zogen Peig und Mary und all die anderen aus dem Schiffsraum. Mary fiel auf, wie armselig sie gekleidet waren, mit zerbeulten Hüten und zerrissenen Jacken. Sie schrien wild durcheinander in einem Mischmasch aus quakendem Englisch und gebrochenem Gälisch. Es dauerte eine ganze Weile, bis Mary begriff, was sie von ihr wollten. Es waren sogenannte ›Läufer‹, die die Emigranten von den Schiffen holten. Sie boten ihnen ein Bett in einer Pension, einen Fahrschein nach Amerika, Proviant und Kleider an, alles, was man für die große Reise brauchte. Wenn es ihnen gelang, den arglosen Reisenden ihre letzten Pennys aus der Tasche zu ziehen, bekamen sie einen Teil der Beute. »Hände weg!«, rief Peig. Die Läufer stritten sich darum, wer sie mitnehmen durfte. Sie zogen und zerrten an Peig, als wäre sie kein Mensch, sondern ein Sack. Sie war zu schwach, um sich zu wehren. Ein anderer Läufer hatte Mary gepackt. Sie wehrte sich heftig. Der Mann hob sie in die Höhe. Sie trat so fest sie konnte um sich. Als es ihr gelang, ihr Knie heftig in seinen Bauch zu stoßen, ließ er endlich los. Sie stürzte sich wie eine Furie auf die Läufer, die noch immer an ihrer Mutter zerrten. Die Männer waren so überrascht, dass sie ihr Opfer losließen. Peig und Mary kämpften sich einen Weg durch die Menschenmengen am Kai. Schon nach hundert Metern konnte Peig nicht mehr. Sie setzten sich an den Straßenrand und lehnten sich gegen die Backsteinfassade einer Lagerhalle. Auf der Straße ging es zu wie in einem Hexenkessel. Schwere Pferde zogen Wagen auf mannshohen Rädern, beladen mit
hoch aufgetürmten Säcken und Kisten. Dazwischen wimmelte es von Männern, die Säcke, Kisten und Fässer schleppten. Fußgänger eilten durch das Gewirr und mussten immer wieder zur Seite springen, weil die Pferde vor nichts und niemandem Halt machten. Überall wurde gerufen und geschrien. Peig hielt einen Straßenhändler an, der einen Korb mit warmen Brötchen auf dem Kopf trug. Sie kaufte zwei Brötchen mit einer Münze aus dem Beutel des Toten. Zu ihrer Verwunderung bekam sie noch Geld zurück. Sie wusste nicht, wie viel die Metallstücke wert waren. In Irland hatte sie noch nie so viel Geld in der Hand gehabt.
Liverpool war nach London die bedeutendste Stadt Englands. Die Händler waren durch Sklavenhandel und Seeräuberei im Auftrag der Regierung unglaublich reich geworden. Als diese Aktivitäten Anfang des Jahrhunderts verboten wurden, spezialisierten sie sich auf den Handel zwischen dem Mutterland und den neuen britischen Kolonien. Ihre Schiffe fuhren Rohstoffe für die Fabriken an, die in England wie Pilze aus dem Boden schossen. Dann segelten sie mit fertigen Produkten wieder davon, um sie überall in der Welt zu verkaufen. Auch die Reeder und Makler prahlten ohne jegliche Hemmungen mit ihrem Reichtum. Sie bauten Wohnhäuser, Büros und Lagerhallen im Stil antiker Paläste. Sie schenkten der Stadt öffentliche Gebäude, die in ihrer Pracht und ihrem Prunk sogar die in London übertrafen. Es gab Reisende, die behaupteten, dass Liverpool die reichste Stadt der Welt war. Der Hafen war ohne Zweifel der geschäftigste. Bei Flut legte beinahe jede Minute ein Schiff an und in derselben Zeit verließ ein anderes bereits wieder den Hafen. Dass Liverpool der Dreh- und Angelpunkt für die Auswanderung nach Amerika
war, hatte die Stadt Napoleon zu verdanken. Als der französische Kaiser England den Krieg erklärte, verbot er jeglichen Handel zwischen dem europäischen Festland und den Britischen Inseln. Die Engländer mussten ihre Rohstoffe aus anderen Ländern importieren, beispielsweise Holz zum Bauen. Das bezogen sie fortan aus ihren Kolonien in Kanada. Holzschiffe segelten vom Sankt-Lorenz-Strom nach Liverpool. Auf der Rückreise waren sie leer, denn die Kolonie war dünn besiedelt und führte nur sehr wenig Güter ein. Genau wie die Kohleschiffer zwischen Irland und England brauchten sie billigen Ballast. Und so entdeckten sie, dass man mit dem Transport von Auswanderern Geld verdienen konnte. Sie zimmerten Betten für die leeren Frachträume. Unbequeme Kästen, einer über dem anderen. Und schon waren die Holzschiffe für die Zeit der Reise in den Westen zu Passagierschiffen geworden. Peig kaufte zwei Fahrkarten nach Montreal. Sie hatte in einem Keller, in dem noch mehr Auswanderer wohnten, Obdach gefunden. Ein freundlicher Auswanderer hatte sich ihr Geld angeschaut und ihr erklärt, wie viel es wert war. Zwanzig Pfund, in Münzen von halben und ganzen Pennys, Schillingen und Kronen. Die Überfahrt kostete drei Pfund und zehn Schillinge pro Person, das machte zusammen fast sieben Pfund. Sie musste Proviant für die Fahrt kaufen, denn sie hatte gehört, dass geizige Kapitäne oft die Frechheit besaßen, ihren Passagieren Tierfutter vorzusetzen. Oder überhaupt nichts. Peig schätzte, dass das Essen für sie und Mary zwei oder drei Pfund kosten würde. In einem Gebrauchtwarenladen kaufte sie für acht Schillinge Kleider für sich und Mary. Die Pension kostete sechs Pennys pro Nacht, also insgesamt einen Schilling für sie beide. Sie rechnete schnell aus, dass sie
mindestens noch sechs Pfund haben würde, wenn sie in Montreal ankamen. Sie ging in eine Kirche und zündete sechs Kerzen an. »Für die Seele des guten Mannes, der uns das Geld vererbt hat«, flüsterte sie Mary ins Ohr.
Ihr Schiff war die Mystic, ein alter Dreimaster, der außer dreihundert Passagieren auch noch Fracht an Bord nahm. Sie würden mit der Flut am Abend auslaufen, aber Peig war so nervös, dass sie frühmorgens schon auf dem Kai wartete. Ein paarmal wurden sie von Dockarbeitern weggejagt, die fluchend und schimpfend schwere Lasten die Laderampe hinauftrugen. Es tauchten immer mehr Passagiere auf. Alles Iren. Ganze Familien, alle ebenso armselig gekleidet. Auch sie hatten Angst vor dem großen Abenteuer. Die Stunden glitten vorbei. Die Träger brachten noch immer Fracht an Bord. Ein Dampfschlepper legte neben der Mystic an. Plötzlich sprangen ein paar Matrosen an Land. Sie riefen, dass die Passagiere so schnell wie möglich an Bord gehen sollten. Die Leinen wurden bereits losgemacht. Die Dampfpfeife des Schleppers tutete ohrenbetäubend. Die Auswanderer rannten zum Schiff. Auf dem Steg, der an Bord führte, kämpften einige miteinander. Männer zogen Frauen und Kinder mit sich und drückten andere gnadenlos zur Seite. Peig sah, dass die Trossen am Heck schon los waren. Würde das Schiff ohne sie abfahren? »Hierher!«, rief sie Mary zu. Sie warf ihre Bündel aufs Deck. Zwischen Kai und Schiff glitzerte schmutziges Hafenwasser. Sie sprang über den Abgrund und hangelte sich über die Reling. »Los!«, kreischte Peig. Mary zögerte. Andere Passagiere waren dem Vorbild ihrer Mutter gefolgt. Männer krallten sich mit einer Hand an der
Reling fest und zogen Frauen hinauf. Mütter warfen ihre Kinder an Bord. Mary fand eine Lücke im Menschengewirr und sprang. Peig packte sie an der Hand. Sie fielen beide auf das Deck. Neben ihnen stürzte ein Junge, der wie ein Sack an Bord geworfen worden war, auf die Planken. Irgendwo schrie eine Frau um Hilfe. Die Dampfpfeife tutete wie wild. Als Mary sich erhob, war der Kai bereits leer. Noch immer hingen Menschen an der Reling. Einige baumelten an Seilen und schlugen immer wieder gegen den Rumpf. In Todesangst versuchten sie hinaufzuklettern. Der Steg wurde mit einem lauten Knall auf den Kai geworfen. Alle Trossen waren los. Der Schlepper zog die Mystic aufs offene Meer. Segel flatterten im Wind. Sie waren abgefahren.
Inseln aus Eis
Es war Nacht. Zahllose Emigranten starrten auf die Lichter Liverpools, die langsam kleiner wurden. Die Segel rissen am Tauwerk. Seile und Balken knarrten und quietschten, als wären es lebendige Wesen. Wellen klatschten gegen den Rumpf. Hin und wieder spritzte Gischt wie Sprühregen über das Schiff. Niemand sprach ein Wort. Abgesehen von der kurzen Überfahrt von Irland war das für fast alle die erste Seereise. Sie hatten keine Ahnung, was das bedeutete. Viele wussten noch nicht einmal, wo Amerika lag und wie lange die Fahrt dauern würde. Das Kratzen einer Geige ließ Mary aufblicken. Ausholende Bewegungen mit einem Bogen. Ein Mann stampfte mit seinen Holzschuhen auf den Planken. Zwei Löffel nahmen den Takt auf. Der Geiger spielte weiter. Der Mann, der mit den Löffeln klapperte, sang dazu. Ein fröhliches Lied, vom Frühling und vom Jungsein, über brennende Liebe und jugendliche Freude. Frauen tanzten, zuerst langsam und zögernd, dann immer leidenschaftlicher. Mary fühlte Peigs Arm auf ihren Schultern. Sie drückte sich fest an ihre Mutter. Ihre Körper bewegten sich im Rhythmus der Tänzerinnen. Ein Platz auf den Schiffen war spottbillig. Dafür wurde den Reisenden der Aufenthalt auch nicht gerade angenehm gemacht. Jeder bekam einen Platz zum Liegen, vier Mann in einem Bettkasten. Ein paar Liter Wasser pro Tag. Ein bisschen zu essen, oft so wenig, dass es einen Erwachsenen kaum am Leben halten konnte. Das Trinkwasser wurde in alten Fässern aufbewahrt, und es schmeckte meistens schlecht. Die geizigsten Kapitäne besaßen
sogar die Frechheit, alte Weinfässer zu benutzen, in denen das Wasser schon am ersten Tag ungenießbar wurde. Die Kapitäne sparten, wo sie nur konnten, am Essen. Das billigste Futter war ihnen noch zu teuer. Also bekamen die Passagiere, was unter normalen Umständen noch nicht einmal an Tiere verfüttert wurde. Die Reisenden mussten das Essen selbst zubereiten. In mehreren Kochherden in einer Ecke auf dem Deck brannte das Feuer ein paar Stunden am Tag. Die Passagiere mussten um einen Platz am Feuer kämpfen. Die Verlierer hatten keine andere Wahl, als ungekochte Nahrung zu sich zu nehmen, von der viele krank wurden. Während der guten Jahreszeit benötigten schnelle Luxusschiffe für die Überfahrt weniger als drei Wochen. Schwerfällige Frachtschiffe brauchten jedoch viel länger. Wenn Wind und Wetter ungünstig waren, konnten sie Monate unterwegs sein. Dann war für jeden das Leben an Bord die Hölle. Das Trinkwasser wurde knapp. Die Lebensmittel waren aufgebraucht. In den stickigen Räumen wurden die meisten Auswanderer seekrank. Ansteckende Krankheiten brachen aus. Die geschwächten Menschen starben wie die Fliegen. Viele Tausende kamen so auf dem Weg ins ›Gelobte Land‹ um. Auf den guten Schiffen konnte man das Leben kaum als menschlich bezeichnen. Auf den schlechten war es ein Alptraum. Matrosen vergriffen sich an Frauen und Mädchen. Offiziere schlugen und folterten jeden, der es wagte zu protestieren. Sie konnten dies ungestraft tun, denn kein Richter an Land war befugt, über das, was an Bord geschah, zu urteilen. Neben Gott war der Kapitän der Einzige, der etwas zu sagen hatte. Das gab ihm das Recht, sich wie der Teufel aufzuführen.
Mary und Peig hatten Glück. Sie teilten ihren Bettkasten mit zwei jungen Frauen, Sheila und Maureen. Andere hatten es weniger gut getroffen. Viele Kapitäne schraken nicht davor zurück, allein reisende Frauen mit Junggesellen in ein Bett zu legen. Schlafplatz ist Schlafplatz, argumentierten sie. Wer bei wem schlief, war nicht wichtig. Solange die Passagiere bezahlten. An den ersten Tagen verlief alles glatt. Es blies ein kräftiger, gleichmäßiger Wind. Das plumpe Schiff glitt schnell durch die Wellen, nur den schwachen Mägen bekam das gemächliche Schwanken schlecht. Das änderte sich aber ganz plötzlich. Die Besatzung trieb die Passagiere unter Deck. Der Koch jagte die Frauen aus der Kochecke und löschte das Feuer mit großen Eimern voll Seewasser. »Sturm kommt auf«, sagte er mit finsterer Miene. Die Frauen nahmen ihre Töpfe mit halb garem Essen und verließen die Kochecke. Sie maulten. Was kümmerte sie ein bisschen Sturm, jetzt, wo sie sich gerade einen Platz am Herd erobert hatten? Ein Beben ging durch das Schiff. Seeleute schrien Befehle. Die Matrosen stürzten sich in das Tauwerk, um die Segel einzuholen. Windstöße schleuderten das Schiff wild herum. Alles, was lose war, begann zu rollen und zu rutschen. Säcke und Kisten schlitterten durch den Raum. Mary klammerte sich mit beiden Händen an den Balken ihrer Koje fest. Hier und dort fielen Menschen zu Boden. Eine enorme Welle hob den Bug, das Schiff schien auf seinem Heck zu stehen. Dann fiel es vornüber in ein tiefes Loch. Wasser wurde über das Deck gespült. Eimerweise strömte es durch die Luken. In kürzester Zeit stand ein halber Meter Wasser im Passagierraum. Matrosen nagelten die Luken zu. In den stockdunklen Raum zusammengepfercht, spürten die Passagiere, wie der Kahn stieg und wieder fiel. Einige beteten laut. Sie flehten zu Gott
und zur Jungfrau Maria, dass ihr Leben verschont bleiben möge. Jeder war seekrank. Der Gestank von Erbrochenem, Urin und Kot füllte den Raum. Der Sturm ließ nicht nach. Zwei Tage und zwei Nächte wütete er mit aller Heftigkeit. Peig war so krank, dass sie noch nicht einmal mehr den Kopf heben konnte. Solange der Sturm anhielt, lag sie stöhnend und würgend im Dreck. Sie war überzeugt, dass sie Amerika nicht lebend erreichen würde. Auch Mary fürchtete, sie würden auf See umkommen. Dann legte sich der Sturm. Der Wind blies allerdings trotzdem noch ziemlich kräftig. Er war eiskalt und oft von heftigen Hagelschauern begleitet. Die Matrosen hatten alle, die laufen konnten, an Deck gerufen. Sie gaben ihnen Eimer und Bürsten, mit denen sie den schmutzigen Passagierraum säubern konnten. Mary erschrak, als sie den Schaden sah. Einige Segel waren gerissen und wurden von Matrosen geflickt, die hoch am Mast mit großen Nadeln und dickem Draht am Werk waren. Die Kochecke war völlig zerstört worden. Für den Rest der Reise mussten sie mit rohem Essen auskommen. Ein kleiner Schuppen, in dem der Kapitän ein Schwein und ein paar Hühner gehalten hatte, war auch von Bord gespült worden. Der Raum war nicht sauber zu bekommen. Die Männer wurden an die Pumpen gerufen, um das Wasser zu entfernen. Am Boden klebte eine fettige Schicht, die wie eine Jauchegrube stank. Frauen und Mädchen mussten den Dreck vom Boden kratzen, aber da ständig jemand von neuem erkrankte, war ihr Unterfangen nahezu aussichtslos.
Die Seekrankheit war nicht die schlimmste Qual an Bord der Emigrantenschiffe. In beinahe jedem Bettkasten lag jemand mit Fieber. Oder mit etwas noch Schlimmerem. Das Gesetz
schrieb vor, dass alle Emigranten vor ihrer Reise zum Arzt mussten. Die Kontrolluntersuchungen waren jedoch nicht mehr als ein Witz. Die Emigranten mussten nur an dem Arzt vorbeilaufen. Ab und zu sagte dieser jemandem, er solle die Zunge herausstrecken. Das war alles. An Bord konnte von medizinischer Versorgung überhaupt keine Rede mehr sein. Die sogenannten Schiffsärzte waren meist gar keine Mediziner. Die Arzneimittelvorräte, über die sie verfügten, beschränkten sich auf das Allernötigste. Und oft gab es an Bord noch nicht einmal das. Standen ein Arzt und Medikamente zur Verfügung, dann bedeutete das noch nicht, dass kranke Emigranten versorgt wurden. Der Arzt wollte meistens erst Geld sehen. Zehntausende traten die Reise nach Übersee an, ohne einen Penny in der Tasche zu haben, und konnten nicht bezahlen. Wurden sie krank, dann endete ihre Reise im Seemannsgrab.
Der Sturm hatte die Mystic vom Kurs abgebracht. Die starke Brise, die anschließend blies, kam aus der falschen Richtung. Die Besatzung schuftete Tag und Nacht in den Seilen. Mary spürte, wie das Schiff gegen den Wind ankämpfte. Sie nahm alle Kursänderungen wahr und hörte alle Kommandos. Sie wusste nur nicht, was das alles bedeutete. Sie konnte sich auch nicht erklären, was es mit den Inseln aus Eis auf sich hatte, die sie einige Male in der Ferne auftauchen sah. »Eisberge«, hatten die Matrosen gesagt. Mary starrte auf die weißen Kolosse. Wo kamen sie her? Wie konnten sie auf dem Meer treiben? Warum gefror das Wasser rundherum nicht? Sie fuhren schon mehr als fünf Wochen über den Ozean. Peig wurde jeden Tag schwächer. Sie war immer noch seekrank und konnte kaum etwas essen. Und wenn sie tatsächlich einmal etwas durch die Kehle bekam, schaffte sie es nicht, den kalten
Brei aus in Wasser aufgeweichten Haferflocken bei sich zu behalten. Mary wusste, dass ihre Mutter sterben würde, wenn die Reise noch lange dauerte. »Land! Land in Sicht!«, rief endlich jemand vom Ausguck. Es war früh am Morgen. Der Ruf wurde von schlaflosen Passagieren aufgegriffen, die alle anderen wachrüttelten. »Land! Land! Amerika!« Wer nicht zu schwach war, stürmte an Deck. Mary war enttäuscht. Ihre ungeübten Augen konnten im Halbdunkel nicht erkennen, was der Ausguck hoch oben im Mast wohl gesehen hatte. Erst Stunden später konnte sie am Horizont einen schmalen Streifen entdecken. Amerika. Auf einmal hatten sie Glück mit dem Nordwind. Dieser trieb sie an die Mündung des Sankt-Lorenz-Flusses. Mary stand gerade an der Reling, als ein Matrose vorbeilief. Er zeigte aufs Wasser. »Süß«, sagte er. »Was ist süß?« »Wir fahren in Süßwasser. Schmeckst du den Unterschied nicht?« Mary sah nur eine graue Wassermasse. Wellen mit Schaumkronen. Hielt der Kerl sie zum Narren? »Wir fahren schon auf dem Fluss«, erklärte ihr der Matrose. »Die Mündung des Sankt Lorenz ist so breit, dass man glaubt, man sei noch auf dem Meer. Lecke doch mal an deinen Lippen. Schmeckst du es?« Sie leckte. Tatsächlich. Der Salzgeschmack, den sie wochenlang geschmeckt hatte, war verschwunden. Sie rannte hinunter, um Peig die gute Nachricht zu bringen. Noch ein bisschen Geduld, und sie konnten an Land gehen. Vergessen waren die Qualen. Vergessen das Schweinefutter. »Wir haben es geschafft!«, rief Mary. »Wir haben es geschafft!«, seufzte Peig. Freude klang nicht in ihrer Stimme mit. Warum sollte sie froh sein – sie war in einem fremden Land, ohne ihren Mann, ohne ihre Kinder, weit weg von dem Ort, der einmal ihr Zuhause war.
Quarantäne
»An Deck! An Deck!« Matrosen rissen alle Luken auf. Kalte Herbstluft strömte in den Raum. Peig stand ächzend auf. Sie holte tief Luft. Trotz des entsetzlichen Gestanks roch sie das Land. Den Geruch von Erde, Pflanzen, Bäumen. Ihr wurde schwindelig. Sie hatte am ganzen Körper Schmerzen, als stächen tausend Nadeln in ihren Gelenken, als kratze Sand in ihren Lungen und verzehre ein Feuer ihre Eingeweide. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie schlecht es ihr ging. Selbst Mary durfte es nicht wissen. Mühsam schleppte sie sich von Bettkasten zu Bettkasten und stolperte an Deck. Der Wind roch betäubend. Sie schloss die Augen und holte tief Luft. Leben strömte in ihre Lungen. Das Schwindelgefühl verschwand. Langsam öffnete sie wieder die Augen und sah das neue Land. Die Mystic lag kurz vor Quebec vor Anker, einige hundert Meter von der Insel Grosse-île entfernt. Alle Einwanderer mussten einige Wochen auf der Insel bleiben, bis man sicher sein konnte, dass sie keine ansteckenden Krankheiten hatten. Die Seeleute nannten das ›in Quarantäne gehen‹. Die Mystic war eines der letzten Schiffe, die Amerika erreichten, bevor die schweren Herbststürme einsetzten. Mary und Peig hatten Glück gehabt. Die sommerliche Flut von Einwanderern war abgeebbt, und die Baracken der Quarantänestation standen beinahe leer. Der Arzt hatte Zeit, seine Patienten gründlich zu untersuchen. Die Pfleger brachten die geschwächten Passagiere mit gehaltvollem Essen wieder auf die Beine. Die beste Nachricht war jedoch: Der Aufenthalt auf der Insel würde nicht lange dauern, denn das Schiff nach Montreal
musste dringend abfahren. Auf dem Sankt Lorenz trieben schon Eisschollen. Innerhalb weniger Wochen würde jegliche Schifffahrt unmöglich sein.
Die Fluchtwelle aus Irland hatte im Herbst 1846 ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Das war erst im darauf folgenden Jahr der Fall, als in Irland Typhus-, Ruhr- und Cholera-Epidemien ausbrachen. Es war dasselbe Jahr, in dem die Landbesitzer ihre Pächter scharenweise von ihren Äckern vertrieben und in die Kolonien verfrachteten. Grosse-île wurde 1847 und 1848 von kranken und sterbenden Menschenmassen überströmt. Viele starben auf See. Tausende starben, während die Schiffe vor der Reede warteten, bis im Hafen der Insel ein Platz frei war. Und weitere Tausende starben nach ihrer Ankunft in den Baracken. Zehntausende Tote. Die Katastrophe nahm solche Ausmaße an, dass der Friedhof auf Grosse-île zu klein wurde. Ganze Schiffe voll Auswanderer wurden ohne Quarantäne nach Montreal verfrachtet. Sie verbreiteten die sogenannte ›frische Krankheit‹ in weiten Teilen Kanadas.
Sheila und Maureen, die mit Mary und Peig an Bord eine Koje geteilt hatten, konnten es kaum noch erwarten. Eines Abends weihten sie Mary in ihr Geheimnis ein. »Wir reisen heimlich in die Vereinigten Staaten«, sagte Maureen. »In Montreal wartet ein Kurier, der uns nach Boston schmuggelt. Wir müssen aufbrechen, bevor der Winter kommt und den Weg unbegehbar macht.« »Nach Boston?«, fragte Mary. Sheila erklärte ihr, dass Boston eine große Stadt war, ein paar Wochen Fußmarsch von Montreal entfernt. Dort wohnten Zehntausende Iren. Man konnte dort überall Gälisch sprechen
und brauchte kein Wort Englisch zu verstehen. »Dürfen wir mit?«, fragte Mary. »Ich bin sicher, dass Mutter auch am liebsten in die Vereinigten Staaten gehen würde.« »Das hängt von dem Kurier ab«, antwortete Maureen. »Er bestimmt, wie viele mitkommen dürfen. Und ihr müsst ihn natürlich bezahlen.« »Wie viel kostet es?« »Weiß ich nicht… Unsere Familie in Boston hat alles für uns geregelt.« Sheila erzählte, dass nicht jeder in die Vereinigten Staaten einreisen durfte. Man musste gesund sein und genug Geld haben, um die ersten Monate ohne fremde Hilfe durchkommen zu können, bis man Arbeit gefunden hatte. Wer den Anforderungen nicht gerecht wurde, den schickte man zurück. Darum gingen viele illegal über die Grenze zu den Vereinigten Staaten, mit oder ohne die Hilfe eines Führers. Wer Boston erreicht hatte, war in Sicherheit. Dort liefen so viele Einwanderer herum, dass die Polizei es aufgegeben hatte herauszufinden, wer das Land legal und wer es illegal betreten hatte. »Wir haben noch ein bisschen Geld. Hoffentlich reicht es«, sagte Mary. »Ssst!«, zischten die jungen Frauen gleichzeitig. »Sprich nie von dem Geld, das du in der Tasche hast! Die Welt ist voller Diebe. Komm, wir werden sehen, was wir für dich tun können.«
Sandkörner in einer Lawine
Ihr Führer war ein junger Mann, nicht viel älter als Mary. Nahezu ununterbrochen kaute er Sonnenblumenkerne. Er hatte einen scheinbar unerschöpflichen Vorrat davon in seinem Rucksack. Er trug schwere Stiefel, eine steife Lederhose und eine Schafsfelljacke. Seine warmen Kleider stachen regelrecht von den dünnen Lumpen der irischen Frauen ab. »In diesen Kleidern schafft ihr es nie«, warnte er sie. »In wenigen Tagen ist Winteranfang, dann friert ihr euch zu Tode.« »Wir haben kein Geld, um Kleider zu kaufen«, gab Peig zu. Der Junge stopfte sich eine Hand voll Kerne in den Mund. Während er träge seine Kiefer bewegte, musterte er die mageren Vogelscheuchen aus Irland. »Kommt mit«, sagte er. Er brachte sie in einen Keller im Zentrum von Montreal. Dort stank es nach nassen Lumpen. In hölzernen Regalen lagen große Kleiderhaufen. Leise sagte er etwas zu einem Mann, der in einer Ecke saß und auf Kundschaft wartete. »Ich strecke euch das Geld vor«, sagte der Junge. »Ihr könnt es mir von eurem ersten Lohn zurückbezahlen.« »Lohn?«, fragte Peig überrascht. »Lohn. Das Geld, das ihr bekommt, wenn ihr arbeitet.« »Wie kannst du jetzt schon wissen, dass wir Arbeit finden werden?« »Sie warten auf euch«, lachte der Junge selbstbewusst. »Was für Arbeit werden wir bekommen?«, fragte Mary. »Ihr müsst Flaschen in einer Brauerei waschen«, antwortete er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Der Besitzer ist Ire. Ein Freund von mir. Er hat Arbeit für acht Frauen. Alles ist bereits geregelt.«
Sie trauten ihren Ohren nicht. Der Knabe tat ja gerade so, als ob die Arbeit auf der Straße läge! Warteten die Fabrikbesitzer in Amerika wirklich auf übermüdete, geschwächte Frauen und Mädchen aus Irland, die für sie arbeiten sollten? Zu Hause fanden nicht einmal starke, gesunde Männer irgendwo Arbeit. Was war das für ein Land? Ein Schlaraffenland? Während die Frauen aufgeregt darüber schwatzten, was für ein Leben sie in Boston erwarten würde, lief der Führer wie ein Kenner an den Regalen entlang. Er wählte bleischwere Jacken aus, Schals und einen Mantel. Es waren Männerkleider, aber die Frauen protestierten nicht. Der Junge würde schon wissen, was man in Amerika brauchte. Dem Land, in dem alles anders und besser war, wenn sie ihm glauben konnten… Der Winter überfiel sie einige Tage später. Sie hatten in einem verlassenen Stall am Fuße eines steilen Hügels übernachtet. Am Abend war es einfach nur frisch gewesen, wie an einem Wintertag in Irland. Als sie erwachten, war es bitterkalt. Ein scharfer Wind blies ihnen entgegen, als sie sich auf den Weg machten. Er schnitt in ihre Gesichter wie ein Folterwerkzeug mit Millionen von Messern. »Das ist noch gar nichts«, neckte der Junge sie. »Los, lauft ein bisschen schneller. Bald kommt ein Schneesturm und macht alle Wege unpassierbar.« Die jungen Frauen konnten ihm ohne Mühe folgen. Mary machte sich jedoch große Sorgen um ihre Mutter. Peig war zu schwach, um von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang dieses Tempo durchzuhalten. Immer öfter blieb sie zurück. Der Führer maulte und murrte, wenn er wieder einmal eine halbe Stunde auf sie warten musste. »So schaffen wir es nicht«, sagte er. »Komm schon, reiß dich zusammen!« Als sie noch einen Tagesmarsch von Boston entfernt waren, holte sie der Schneesturm ein. Plötzlich verschwand die Welt
in einer weißen Wolke. Sie konnten kaum einige Meter weit sehen. »Lasst mich hier zurück. Lasst mich hier sterben«, stöhnte Peig. Sie hustete, als würden ihre Lungen zerreißen. Ihre Hände zitterten. Mary packte ihre Mutter fest am Arm und sagte: »Kommt nicht in Frage. Los, weiter. Jetzt darfst du nicht mehr aufgeben. Du hast gehört, was der Führer gesagt hat. Wir erreichen heute noch Boston!« »Ich kann nicht mehr…« »Du musst!« Mary schüttelte ihre Mutter unsanft. Eine ungeahnte Kraft durchströmte ihren mageren, geschwächten Körper. »Stütz dich auf meinen Arm!«, befahl sie. »Stütz dich auf mich! Wenn es sein muss, trage ich dich nach Boston! Los, weiter!« Peig heulte vor Elend und Schwäche, aber sie gehorchte. Schritt für Schritt stolperte sie durch den Schnee, den Blick starr auf die Füße gerichtet. Erst Stunden später schaute sie wieder auf und sah, dass sie zwischen Häusern liefen. Sie waren in Boston! Der Sturm tobte immer stärker und stärker. Dicke Schneeflocken stoben durch die verlassenen Straßen, sausten gegen die Häuserfronten, bildeten eine Eisschicht auf ihren Kleidern. »Wie weit ist es noch?«, fragte Mary erschöpft. »Wir sind gleich da. Dort drüben ist es!«, sagte der Führer. Er öffnete eine Tür in einem großen Tor und führte sie in eine riesige Halle. Dort roch es nach gärendem Korn, nach abgestandenem Bier, gekochtem Kohl und ungewaschenen Menschen. Das einzige Licht kam aus einem kleinen Kohlenofen, der an der hinteren Wand stand. Ein ovales rotes Auge, das sie einladend anstarrte.
Mary bemerkte, dass Menschen um den Ofen saßen. Bleiche Gesichter starrten die Neuankömmlinge an. Es waren alles Frauen, von Kopf bis Fuß in Jacken und Decken gehüllt. Die Arbeiterinnen der Brauerei. Es gab so wenig Wohnraum in der Stadt, dass sie in die Halle, in der sie tagsüber arbeiteten, eingezogen waren. Jemand öffnete die Ofentür. Die rote Glut warf flackernde Lichter auf den Boden. Mary und Peig knieten sich vor den Ofen. Die Wärme überwältigte sie so sehr, dass sie beinahe in Ohnmacht fielen. Hände aus der Dunkelheit reichten ihnen Becher mit Tee. Schwarz, stark, mit sehr viel Zucker. So heiß, dass er in ihren Mündern brannte und ihre Därme zu zerreißen schien. Eine Frau sagte: »Trinkt langsam, sonst verbrennt ihr euch die Eingeweide!« Mary warf einen verstohlenen Blick zu ihrer Mutter hinüber. Sie nippte vorsichtig an ihrem Getränk, während dicke Tränen ihre Wangen hinabrollten. »Wir sind da«, flüsterte das Mädchen. »Wir sind da!« Peig nickte. Sie antwortete beinahe unhörbar: »Ja… wir sind da… wir allein…« Mary schüttelte heftig den Kopf. Mit derselben kräftigen Stimme, mit der sie vor ein paar Stunden ihre Mutter gezwungen hatte, den Kampf gegen den Sturm nicht aufzugeben, sagte sie: »Nein, wir sind nicht allein. Du hast mich und ich habe dich. Wir beide fangen zusammen ein neues Leben an. Wir schaffen es!«
Sie waren wirklich nicht allein. Seit 1846 strömte eine riesige Welle irischer Einwanderer nach Boston und in andere Städte im Norden der Vereinigten Staaten.
Zehntausende kamen als legale Immigranten. Weitere Zehntausende schmuggelten sich ohne Papiere ins Land. Niemand hat jemals die genauen Zahlen ermitteln können. Peig und Mary waren nur zwei von ihnen, Sandkörner in einer Lawine. Sie schlugen den Weg ein, den auch ihre Schicksalsgenossen gingen. Sobald sie genug Geld hatten, zogen sie aus der Brauereihalle aus und mieteten sich ein Zimmer. Es war nicht viel mehr als ein Loch, aber zum ersten Mal, seit der Gutsbesitzer sie aus ihrer Hütte vertrieben hatte, wohnten sie wieder in ›eigenen‹ vier Wänden. Sie schufteten von früh bis spät. Sie arbeiteten wie Tiere, aber sie beklagten sich nicht. Wer aufsässig war, stand sofort auf der Straße und wurde von einem Neuankömmling ersetzt. Jedes Schiff, das anlegte, brachte noch mehr Hände, noch mehr Menschen auf der Suche nach Arbeit. Männer und Frauen, die nie einen Beruf erlernt hatten. Die nichts anderes anbieten konnten als ihre Muskelkraft. Fanden sie keine Arbeit, mussten sie auf andere Weise an Geld kommen. Manchmal ging es mit Betteln. Manchmal mit Diebstahl. Manchmal, indem man illegal Schnaps brannte und eine Wirtschaft eröffnete. In nur wenigen Jahren öffneten in Boston über tausend Kneipen die Türen, aber auch zehn Kirchen und ungefähr hundert Schulen. Eines Tages beschloss Mary: »Ich gehe zur Schule.« »Wie sollen wir das bezahlen?«, fragte Peig. »Tagsüber arbeite ich, und abends lerne ich lesen und schreiben und rechnen.« Peig verstand, dass es ihrer Tochter ernst war mit dem, was sie sagte. Sie erkannte den kräftigen, entschlossenen Ton wieder, die Stimme, mit der Mary ihr das Leben gerettet hatte. Sie widersprach nicht.
»Geh zur Schule, Mary Skeagh«, sagte sie mit leiser Stimme. »Wir sind alle stolz auf dich.« Und Mary wusste genau, wen sie damit meinte.
Zeittafel
1841: Irland zählt 8.175.124 Einwohner. 1845: Die Kartoffelernte misslingt nahezu vollständig in großen Teilen Irlands. Die britische Regierung kauft Mais, um ihn an die Hungernden weiterzuverkaufen. Obdachlosen wird in den Armenhäusern geholfen. 1846: Die Kartoffelernte misslingt erneut. Unzählige Menschen verhungern. Pächter werden von den Grundbesitzern auf die Straße gesetzt. Hilfe in den Armenhäusern und durch öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. 1847: Typhus und andere ansteckende Krankheiten brechen aus. Unzählige sterben durch Krankheit und Hunger. Großflächige Vertreibung von Pächtern. Tausende Iren flüchten nach Übersee. Die Kartoffelernte ist gesund, trotzdem gibt es viel zu wenig Kartoffeln, da nicht genug angepflanzt wurde. Hilfe in Armenhäusern und Suppenküchen. 1848: Die Kartoffelernte misslingt vollkommen. Viele Bauern und Landeigentümer machen Bankrott. Erneute Vertreibung von Pächtern. Erneuter Aussiedlerstrom nach Übersee. Hilfe in Armenhäusern und Suppenküchen. 1849: Ausbruch einer Cholera-Epidemie. Ca. eine Million Menschen werden noch immer in den Armenhäusern versorgt. Königin Victoria besucht Dublin. Kartoffelernte fast normal. 1851: Irland zählt 6.552.385 Einwohner. Normalerweise hätte die Einwohnerzahl auf 9.018.799 Menschen anwachsen müssen. Mehr als 2,5 Millionen Menschen kamen während der vergangenen fünf Jahre um oder verließen die Insel.
Die Kartoffelpest
1845 verstand kein Mensch, was mit der Kartoffelernte in Irland geschehen war. Und es sollte noch vierzig Jahre dauern, bis 1885 ein Mittel gegen diese Kartoffelkrankheit gefunden wurde. Die Kartoffelpest wird durch einen mikroskopisch kleinen Schimmelpilz namens Phytophthora infestans ausgelöst. Er wächst auf dem Laub der Kartoffelpflanze und zerstört Blätter und Stängel. Ab einem bestimmten Wachstumsstadium bildet der Pilz sogenannte Sporen, die vom Wind zu anderen Pflanzen getragen werden. Ein Schimmelpilz kann bis zu sechzehn solcher Sporen produzieren. Diese bohren sich in eine andere Pflanze und bewirken, dass auch auf ihr der Schimmelpilz zu wachsen beginnt. Ein einziger Pilz auf einer Pflanze kann auf diese Weise in wenigen Tagen Tausende anderer Pflanzen anstecken. Manchmal scheint es dann, als wäre in einer einzigen Nacht ein ganzes Kartoffelfeld vernichtet worden. Sporen, die durch das Regenwasser in den Boden gelangen, befallen die Kartoffeln selbst. Dort, wo das noch nicht geschehen ist, können die Kartoffeln während der Ernte infiziert werden, indem kleine Pilzherde vom Laub auf die Knollen fallen. Selbst Kartoffeln, die zunächst einen gesunden Eindruck machen, können Monate später doch noch zu faulen beginnen, zerfressen von Phytophthora infestans. Die Kartoffelpest ist immer noch nicht ausgerottet. Auch heute noch müssen die Pflanzen jedes Jahr mit einem chemischen Mittel bespritzt werden, um den Schimmelpilz zu töten, bevor er eine neue Katastrophe verursachen kann. Für die
Wissenschaft birgt Phytophthora infestans noch immer ein Geheimnis. Denn bis heute weiß niemand, woher der Schimmelpilz überhaupt kommt.