Vita Mathematica Band 15
Herausgegeben von Emil A. Fellmann
Angelo Guerraggio · Giovanni Paoloni
Vito Volterra Aus dem Italienischen von Manfred Stern
Angelo Guerraggio Universit`a Bocconi Centro PRISTEM Piazza Sraffa 11 20136 Milano Italien
[email protected] Giovanni Paoloni Universit`a degli Studi di Roma ,,La Sapienza“ 00185 Roma Italien
[email protected] ¨ Ubersetzer Manfred Stern Kiefernweg 8 06120 Halle Deutschland
[email protected] ISBN 978-3-0348-0080-8 e-ISBN 978-3-0348-0081-5 DOI 10.1007/978-3-0348-0081-5 Die italienische Originalausgabe ist 2008 unter dem Titel Vito Volterra bei Franco Muzzio editore erschienen. c 2008 Muzzio editore Italia ¨ Die Ubersetzung dieses Buches wurde vom Centro PRISTEM der Universit`a Bocconi, Mailand, unterst¨utzt. Die Abbildungen 2.1, 2.2, 3.1, 3.2, 3.3 und 4.3. werden mit Genehmigung der Bibliothek der Accademia Nazionale dei Lincei e Corsiniana, Rom, wiedergegeben; alle u¨ brigen Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Enkel von Vito Volterra. c Springer Basel AG 2011 Das Werk ist urheberrechtlich gesch¨utzt. Die dadurch begr¨undeten Rechte, insbesondere die des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielf¨altigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielf¨altigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zul¨assig. Sie ist grunds¨atzlich verg¨utungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Einbandabbildung: Portr¨atkarte mit handschriftlicher Widmung ,,Reiche gehen unter, aber die Lehrs¨atze des Euklid w¨ahren ewig. Vito Volterra“ Einbandentwurf: deblik, Berlin Gedruckt auf s¨aurefreiem Papier www.birkhauser-science.com
¨ Vorwort zur deutschen Ubersetzung
In diesen Monaten begeht Italien den 150. Jahrestag seiner Einheit. Im Jahr 1860 vollendete sich als Ergebnis des zweiten Unabh¨angigkeitskrieges und des Zuges der Tausend“ unter Garibaldi das italienische Risorgimento. Der u ¨ber” wiegende Teil der Staaten der Halbinsel wurde dem K¨onigreich Piemont angegliedert, und es entstand das K¨ onigreich Italien.1 In der jungen Geschichte des vereinigten Italiens spielten die Mathematiker und die Mathematik sogleich eine besondere Rolle. Viele Mathematiker nahmen an den Feldz¨ ugen und Schlachten teil, die zur Vereinigung des Landes f¨ uhrten; viele von ihnen engagierten sich f¨ ur das vereinte Vaterland und u ¨bernahmen in den politischen und administrativen Strukturen des neuen Staates Positionen mit hoher Verantwortung. Die Mathematik war die Disziplin, die in den drei Jahrzehnten nach der Einheit den spektakul¨arsten Sprung nach vorne machte. Auch in Italien wurde die Wissenschaft zur K¨onigin. Die Generation des Risorgimento bereitete der nachfolgenden Generation den Boden; dieser war es vorbehalten, in der Mathematik am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts den dritten Platz in der hypothetischen Weltrangliste der Nationen zu erreichen (unmittelbar nach Deutschland und Frankreich). In diesem goldenen Zeitalter der italienischen Mathematik war Volterra ein unbestrittener Protagonist. Er wurde 1860 geboren, im Jahr der Einheit Italiens, und starb 1940, in dem Jahr, das auch f¨ ur Italien den Kriegseintritt bedeutete. Wir k¨ onnen anhand von Volterras Leben viele Ereignisse verfolgen, die sich im Land abspielten: die Errichtung des Staates in den ersten Jahrzehnten nach der Einheit, den industriellen Aufschwung, die Jahre des Ersten Weltkriegs und die ebenso tragischen Jahre des Faschismus, der Diktatur und der Rassengesetze. Die Stationen seines Lebens waren die drei St¨ adte, die Hauptstadt des neuen Staates wurden: Florenz, Turin und Rom. Als Kind zog er mit seiner Mutter nach dem Tod des Vaters nach Florenz (das f¨ ur kurze Zeit Hauptstadt war); nachdem er Professor in Pisa geworden war, lehrte er gegen Ende des 19. Jahrhunderts einige Jahre in Turin und ver1
Vgl. Anhang Daten aus der italienischen Geschichte“. ”
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¨ Vorwort zur deutschen Ubersetzung
brachte dann den gr¨ oßten Teil seiner Laufbahn in Rom. Dort wurde Volterra zu einer Pers¨onlichkeit, die weit u ¨ber die Grenzen der Mathematik hinaus wirkte. Trotz seiner so bedeutenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Rolle wurde er in Italien in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ziemlich u ¨bergangen. Seine Mathematik stand nicht ganz in Einklang mit dem Mainstream der 50er und 60er Jahre. Seine unnachgiebige Opposition gegen den Faschismus, gegen den er vom liberalen Standpunkt aus Stellung bezogen hatte, wies Aspekte auf, die f¨ ur ein Land peinlich waren, das sich nicht gerne an die Kompromisse, an den Kuhhandel und an die pl¨otzlichen Kehrtwendungen zahlreicher Exponenten der neuen politischen Klasse erinnern wollte. ¨ Sp¨ater hat die Offnung des Fondo Volterra an der Accademia dei Lincei in Rom einen umfangreichen Briefwechsel erschlossen, der dazu beigetragen hat, das historische Interesse an einem Wissenschaftler neu zu erwecken, der f¨ ur die europ¨aische Kultur so wichtig war. Seine wissenschaftlichen Interessen waren so vielseitig, daß es schwerf¨allt, ihn beruflich exakt einzuordnen (Mathematiker oder Physiker, Analytiker oder mathematischer Physiker). Von Ulisse Dini u ¨bernahm er die Hochachtung vor der Strenge der neuen“ deutschen Analysis und noch als Student ” der Scuola Normale Superiore in Pisa ver¨ offentlichte er das ber¨ uhmte Gegenbeispiel einer differenzierbaren Funktion mit einer (beschr¨ankten) nicht integrierbaren Ableitung. Ebenfalls in Pisa erfand“ er die Funktionalanaly” sis: Mit seiner Definition der Linienfunktionen“ (funzioni di linee in seiner ” eigenen Terminologie) war er einer der Gr¨ underv¨ater dieses neuen Gebietes. In den nachfolgenden Jahren leistete Volterra ebenso wichtige Beitr¨age zur Elastizit¨atstheorie, zur heredit¨ aren“ Mechanik2 und zu den Integralgleichun” gen. Sein Interesse f¨ ur die Anwendungen“ – der Einfachheit halber wollen wir ” sie so nennen – beschr¨ ankte sich nicht auf die Physik, sondern erstreckte sich ¨ auch auf die ersten Mathematisierungen der Okonomie und der Biologie, bis hin zum ber¨ uhmten Lotka-Volterra-Modell der zwanziger Jahre. Es ist charakteristisch f¨ ur Volterra und seine Forschung, daß er vonseiten vieler Vertreter der Mathematik des zwanzigsten Jahrhunderts nicht immer in angemessener Weise gew¨ urdigt wurde. Er stand Poincar´e (und allgemein der franz¨osischen Wissenschaftskultur) sehr nahe, hatte aber mit Fr´echet eine Auseinandersetzung zum Thema der Verallgemeinerung mathematischer Ideen. Dieses Thema veranlaßte Volterra zu besonders interessanten Beitr¨agen u ¨ber das Verh¨altnis zwischen dem mathematischen Formalismus und der realen Welt. Er ¨außerte seine diesbez¨ uglichen Gedanken u ¨berwiegend in Vortr¨agen anl¨aßlich ¨offentlicher Feierlichkeiten, aber es waren Vortr¨age, die sich der leichten Versuchung des Offensichtlichen und einer leeren Allgemeinheit entzogen; ¨ vielmehr stellte Volterra echte Uberlegungen an, aus denen unter anderem die ersten Hinweise auf den Begriff des mathematischen Modells hervorgingen. Anhand dieser Beitr¨ age rekonstruieren wir auch einige Ereignisse des damaligen wissenschaftlichen Lebens: die internationalen Kongresse, die Ent2
Mechanik von Materialien mit Nachwirkungseffekt.
¨ Vorwort zur deutschen Ubersetzung
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wicklung der Wissenschaft in den USA, die mathematischen Zeitschriften, die Gesellschaften f¨ ur den Fortschritt der Wissenschaften und anderes mehr. In unserem Buch haben wir der politischen Dimension von Volterras Schaffen viel Raum gewidmet. Nach seiner Arbeit zur Reorganisation des Politecnico di Torino und einer Analyse der wichtigsten europ¨aischen Bildungssysteme, die ihn zum Besuch Technischer Hochschulen nach Deutschland, in die Schweiz und nach Frankreich f¨ uhrten, wurde er zum Senator ernannt. Seine politische T¨atigkeit beschr¨ ankte sich jedoch nicht auf das institutionelle Amt, das er bekleidete. In Bezug auf Wissenschaft, Kultur und Politik bewegte sich Volterra auf der Linie der F¨ uhrungsschicht des Risorgimento, die den sozialen und ¨okonomischen Wert der wissenschaftlichen Forschung erkannt hatte. Es war ein Weg, der in den nachfolgenden Jahrzehnten immer schmaler werden sollte. Volterra erkannte den engen Zusammenhang zwischen der Grundlagenforschung, ihren Anwendungen, den technologischen Neuerungen, der industriellen Entwicklung und dem Fortschritt des Landes, und er handelte in diesem Sinne. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gr¨ undete er die Italienische Gesellschaft f¨ ur den Fortschritt der Wissenschaften (Societ` a Italiana per il Progresso delle Scienze, SIPS). Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs f¨orderte er die Gr¨ undung des Nationalen Forschungsrates (Consiglio Nazionale delle Ricerche, CNR) und wurde dessen erster Pr¨ asident. Die Gr¨ undung des CNR fand statt, als der Faschismus bereits ein paar Monate an der Macht war. Als alter“ Liberaler ging Volterra bald auf Kol” lisionskurs mit dem Regime und trat nach der Wahlperiode von drei Jahren nicht erneut zu den Pr¨ asidentschaftswahlen des CNR an. Sein Antifaschismus reifte allm¨ahlich und veranlaßte ihn, dem Regime 1931 die Unterzeichnung des Treueids zu verweigern, der nun von s¨ amtlichen Universit¨atsprofessoren verlangt wurde. Es war ein trauriger Vorfall f¨ ur Volterra, der von der Universit¨at entlassen und aus allen wissenschaftlichen Akademien Italiens ausgeschlossen wurde. Und es war auch ein trauriger Einschnitt in die Kultur des Landes, daß nur zw¨olf Professoren – ein Prozent der Universit¨atslehrer – zu einer derartigen Geste der W¨ urde bereit waren. Diese Haltung spricht unser Gef¨ uhl direkt an. Die zw¨ olf Unbeugsamen wußten, daß ihre Geste nur zu ihrer Entlassung f¨ uhren w¨ urde, ohne eine unmittelbare Wirkung zu haben. Gleichwohl entschieden sie sich, nicht gegen das eigene Gewissen zu handeln. Sie waren nicht so weltabgewandt, daß sie annahmen, ihre Handlungsweise w¨ urde zu einer Massenrebellion f¨ uhren; dennoch waren sie der Ansicht, daß es Momente gibt, in denen man nein sagen muß. Sie waren nicht naiv und wußten, was Realismus“ und politisches Kalk¨ ul bedeuteten, ließen sich aber auf keinen ” Kompromiß ein. Mailand und Rom, Oktober 2010
Angelo Guerraggio, Giovanni Paoloni
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¨ Vorwort zur deutschen Ubersetzung
¨ Danksagung des Ubersetzers In Abstimmung mit den Autoren und dem Verlag habe ich im Anschluß an den eigentlichen Text die Anh¨ ange Daten aus der italienischen Geschichte“ ” (1849 bis 1945), Daten aus dem Leben Vito Volterras“ und Lebensdaten ” ” von Mathematikern und Naturwissenschaftlern“ hinzugef¨ ugt. F¨ ur Hinweise und Korrekturen bedanke ich mich bei Emil A. Fellmann (Basel), dem Herausgeber der Reihe Vita Mathematica. Ein Dankesch¨on f¨ ur zahlreiche kritische Bemerkungen und Verbesserungen geht an Mirella Manaresi und R¨ udiger Achilles (beide Dipartimento di Matematica, Universit`a di Bologna), Karin Neidhart und Thomas Hempfling (beide Birkh¨auser, Basel), Karin und Gerd Richter (beide Fachbereich Mathematik der Universit¨at Halle), Reinhard Siegmund-Schultze (University of Agder, Faculty of Technology and Science, Kristiansand), Gabriele Turi (Dipartimento di studi storici e geografici, Universit` a di Firenze) und zu guter Letzt an Corrado Dal Corno (Mailand). Halle an der Saale, Oktober 2010
Manfred Stern
Vorwort zur italienischen Ausgabe
Dieses Buch hat seine Wurzeln in langen Diskussionen, die wir als Autoren miteinander sowie mit einigen Kollegen und Freunden u ¨ber das Verh¨altnis zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik in der Geschichte des vereinten Italien gef¨ uhrt haben. Wir nennen hier insbesondere Pietro Nastasi, Raffaella Simili, Gianni Battimelli, Pietro Greco, Margherita Martelli, Sandra Linguerri und Sandro Caparrini, mit denen wir ein seit jeher reges Interesse f¨ ur die Gestalt, das Werk und die historische Rolle Vito Volterras teilen. Viele unserer Gedanken sind auf der Grundlage der Begegnungen und Auseinandersetzungen mit den Genannten entstanden, wobei wir nat¨ urlich f¨ ur m¨ogliche Irrt¨ umer selbst verantwortlich sind. Ebenso danken wir den Nachkommen Vito Volterras, die uns hilfsbereit, geduldig und liebensw¨ urdig ihre Erinnerungen mitteilten, uns geholfen haben, kleine und große Fragen zu kl¨ aren, und uns gestattet haben, Fotos und Dokumente zu sichten, die im Familienkreis aufbewahrt worden sind: Laura und Virginia Volterra, Vito, Giovanni und Enrico Volterra, Silvia D’Ancona, Cecilia und Lidia Valli. Nat¨ urlich tragen auch sie keine Verantwortung f¨ ur das Ergebnis unserer Arbeit. Unsere Forschungsarbeit wurde durch die Mitwirkung einiger Einrichtungen erm¨oglicht, die uns nicht nur Quellen und Materialien zur Verf¨ ugung gestellt, sondern uns auf unterschiedliche Weise unterst¨ utzt haben: die Accademia Nazionale dei Lincei, die als Accademia dei XL bekannte Accademia Nazionale delle Scienze, das Archivio Centrale dello Stato, der Consiglio Nazionale delle Ricerche und das Dibner Institute for the History of Science and Technology. Und schließlich m¨ ochten wir uns bei Judy Goodstein bedanken, deren Arbeiten eine wertvolle Referenz sind – sowohl f¨ ur uns als auch f¨ ur viele andere Wissenschaftler, die sich f¨ ur die Pers¨ onlichkeit und das Werk Vito Volterras interessieren. Angelo Guerraggio, Giovanni Paoloni
Inhaltsverzeichnis
¨ Vorwort zur deutschen Ubersetzung ...........................
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Vorwort zur italienischen Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ix 1
Eine 1.1 1.2 1.3 1.4
Chronik italienischen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Die Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Onkel Alfonso ist besorgt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Universit¨ at: Machen Sie mit derselben Z¨ahigkeit weiter!“ 6 ” Ein etwas eigenartiger Sch¨ uler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
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Professor in Pisa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Von der Promotion direkt auf den Lehrstuhl . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Wissenschaftliche Arbeit in Pisa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die ersten Reisen ins Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 17 20 30
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Die Katzen von Turin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Umzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Turin und Peano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Integralgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die Polemik mit Peano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Vor der Jahrhundertwende: die internationalen Kongresse . . . .
35 35 37 42 46 53
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Rom, ¨ offentliche Verpflichtungen, Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Heirat und Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Er¨ offnungsvorlesung in Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 B¨ urden, Ehrungen und Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die Gesellschaft f¨ ur den Fortschritt der Wissenschaften . . . . . . 4.5 Der Internationale Mathematikerkongreß Rom 1908 . . . . . . . . .
61 61 69 75 83 91
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Inhaltsverzeichnis
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Das 5.1 5.2 5.3
ist der Moment, aus einem Luftschiff zu schießen . . . . . . 99 Das Komitee f¨ ur Meereskunde, Reisen in die USA . . . . . . . . . . 99 Von der Neutralit¨ at zur Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Das Ufficio invenzioni e ricerche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
6
Vom 6.1 6.2 6.3
7
Das 7.1 7.2 7.3
8
Nach den Katzen die Fische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 8.1 Die große Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 8.2 Volterra als Biomathematiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 8.3 Die L¨ osung des Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 8.4 Weitere Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
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Die Zeit l¨ auft ab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 9.1 Im Schatten des Petersdoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 9.2 Die Rassengesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 9.3 In der Stille von Ariccia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Krieg zum Frieden: der CNR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Reorganisation der Wissenschaft: Ideen aus den USA . . . . . . . 127 Der Weg zum Consiglio Nazionale delle Ricerche . . . . . . . . . . . 131 Die Enzyklop¨ adie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Ende der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Opposition gegen die Reformen von Gentile . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Von der Polizei u ¨berwacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Der Treueid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Daten aus der italienischen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Daten aus dem Leben Vito Volterras . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Lebensdaten von Mathematikern und Naturwissenschaftlern . . . 213 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
1 Eine Chronik italienischen Lebens
1.1 Die Familie Im Fr¨ uhling des Jahres 1860 erlebt Ancona die letzten Monate der weltlichen Herrschaft der Kirche, von der es sich im folgenden September befreien sollte. In dieser Stadt in der Region Marken wird Vito Volterra am 3. Mai 1860 geboren. Seine Eltern geh¨ oren der j¨ udischen Gemeinde an, die noch im alten Ghetto wohnt, das im 16. Jahrhundert errichtet worden war.1 Der Vater Abramo kommt aus einer Familie von Kleinh¨ andlern. Die Mutter Angelica Almagi`a ist eine Nichte von Saul, einer der prominenten Pers¨onlichkeiten der Gemeinde. Angelica hatte ihren Vater verloren, als sie sieben Jahren alt war, und wurde (zusammen mit ihrem Bruder Alfonso) in engem Kontakt mit den vier Kindern des Onkels Saul aufgezogen: Roberto, Edoardo, Vito und Virginia. Dieses Netz von Beziehungen und insbesondere die engen und liebevollen Bindungen Angelicas zu ihrem Bruder Alfonso und zum Cousin Edoardo sollten einen großen Einfluß auf das Leben des zuk¨ unftigen Mathematikers haben.2 Angelica und Abramo heiraten nach zwei Jahren Verlobung am 14. M¨arz 1859. Entsprechend einer alten Gepflogenheit erh¨ alt der erste Sohn den Namen des Großvaters m¨ utterlicherseits.3 1
2
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Das erste Ghetto Italiens war in Venedig eingerichtet worden, wo das geschlossene Stadtviertel, in dem die Juden gezwungenermaßen lebten, den Namen Gh´eto erhielt, der sich sp¨ ater u udischen Gemeinden ¨ber die ganze Welt ausbreitete. Die j¨ von Ancona und Rom waren die einzigen, die 1569 geschont wurden, als die Juden durch eine von Papst Pius V. erlassene Bulle aus dem Kirchenstaat vertrieben wurden. Das Ghetto von Ancona war 1848 abgeschafft worden, aber die Juden blieben auf dem Gebiet isoliert, das ihnen seit jeher zugeteilt war: an den H¨ angen des Monte Guasco (eine der beiden Anh¨ ohen der Stadt Ancona). Diese und andere Informationen u ¨ber die Familie sind dem Buch The Volterra Chronicles von Goodstein [33] entnommen. Angelicas Vater Vito Almagi` a (1797–1843) war Lehrer an einer der hebr¨ aischen Schulen des Ghettos.
A. Guerraggio, G. Paoloni, Vito Volterra, Vita Mathematica, c Springer Basel AG 2011 DOI 10.1007/978-3-0348-0081-5 1,
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1 Eine Chronik italienischen Lebens
Das Schicksal des kleinen Vito erf¨ ahrt eine pl¨otzliche Wende, als der Vater 1862 stirbt und seine Frau und seinen Sohn mittellos zur¨ uckl¨aßt. Angelica und Vito ziehen zu Angelicas Bruder Alfonso, der mit der Mutter zusammen lebt und nicht z¨ogert, f¨ ur den Unterhalt seiner Schwester und seines Neffen zu sorgen. Vito wird also vom Onkel, von der Mutter und von der Großmutter aufgezogen. Im Herbst 1863 wird der Onkel von einer Auftragnehmergesellschaft f¨ ur Eisenbahnarbeiten angestellt und zieht nach Terni, wohin ihm auch der Rest der Familie folgt. Im Januar 1865 beginnt er eine neue Arbeit bei der Nationalbank und wird in die Hauptniederlassung Turin beordert. Es sind die Monate unmittelbar nach der Konvention vom September 1864.4 Wir befinden uns im Stadium der Verlegung der Hauptstadt des neuen italienischen Staates von der piemontesischen Stadt Turin nach Florenz. Im Juli wird auch die Hauptniederlassung der Nationalbank verlegt und Alfonso Almagi`a packt erneut die Koffer. Nach Turin war er allein gegangen, w¨ahrend der Rest der Familie nach Ancona zur¨ uckkehrte. Nach Florenz kommen ihm jedoch die Mutter, die Schwester und der Neffe nach und hier, in der Hauptstadt der Toskana, verbringt Vito dann die Jahre der Ausbildung und des Studiums.
1.2 Onkel Alfonso ist besorgt Die junge verwitwete Mutter schenkt dem Kind ihre ganze Aufmerksamkeit und Zuneigung. Ihre Abstammung von einer Familie, die eine gewisse Ausbildung genossen hat, macht sie f¨ ur die vorschulische Ausbildung des Sohnes sehr aufgeschlossen, und Vito reagiert bereitwillig auf die liebevollen Anregungen seiner Mutter. Im Alter von drei Jahren lernt er schreiben und zeigt bald eine erste Nei¨ gung f¨ ur physikalisch-mathematische Uberlegungen. In einer viel sp¨ater verfaßten autobiographischen Schrift erz¨ ahlt er, wie seine Phantasie im Alter von neun Jahren durch das popul¨ arwissenschaftliche Werk Histoire d’une bouch´ee de pain (Geschichte eines Bissens Brotes) von Jean Mac´e5 angeregt wurde – das Buch war der Chemie und der Physiologie des menschlichen und tierischen Lebens gewidmet – und wie er etwa zur gleichen Zeit von allein entdeckt hat, daß die von einer Saite erzeugten Schwingungen isochron sind wie jene 4
5
Am 15. September 1864 schlossen Italien und Frankreich eine Konvention zur R¨ omischen Frage“, die den Abzug der franz¨ osischen Garnison aus Rom inner” halb von zwei Jahren vorsah. Dem Papst wurde zugestanden, eine eigene Truppe aufzustellen, die de facto weiterhin vor allem aus Franzosen bestand. Italien verpflichtete sich, von einem milit¨ arischen Angriff auf Rom abzusehen und die territoriale Integrit¨ at des Kirchenstaates zu respektieren. Eine Geheimklausel legte fest, die italienische Hauptstadt von Turin an einen noch zu bestimmenden Sitz zu verlegen. Aus strategischen Gr¨ unden wurde Florenz kurze Zeit sp¨ ater zur Hauptstadt erkl¨ art (vgl. Feldbauer [25], S. 43–44). Jean Mac´e (1815–1894), franz¨ osischer Lehrer und Journalist.
1.2 Onkel Alfonso ist besorgt
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Abb. 1.1. Vermerk der Geburt Vito Volterras (oben rechts) auf dem Vorsatzblatt von I salmi di Davide“ (Die Psalmen Davids), herausgegeben von Sanson Gentlomo, ” Livorno, 1838; gleich darunter ist der Tod des Vaters Abramo Volterra vermerkt.
eines Pendels.6 Der junge Vito beginnt also, Naturerscheinungen zu beobach¨ ten und stellt erste deduktive Uberlegungen an. Um es deutlich zu sagen: Wir sprechen hier von einem zehnj¨ ahrigen Kind, aber dennoch haben diese ersten intellektuellen Erfahrungen – gerade weil es sich um ein Kind von zehn Jahren handelt – im Licht der nachfolgenden Entwicklungen eine bestimmte Bedeutung. 1873 liest Vito das Buch Von der Erde zum Mond von Jules Verne und beschließt, sich aus Spaß mit etwas zu besch¨ aftigen, das zu einem klassischen Problem der Raumfahrt des 20. Jahrhunderts werden sollte: Aus Freude an der Sache berechnet er die Bahn der Rakete, die in Vernes Geschichte von der Erde gestartet wird. Die dabei verwendete Technik f¨ uhrt ihn unbewußt 6
Vgl. Mat´eriaux pour une biographie du math´ematicien Vito Volterra“, Archei” on, 1941. Der Herausgeber dieser autobiographischen Erinnerungen ist anonym. Er kann mit J. P´er`es oder mit E. Freda identifiziert werden. Der franz¨ osische Mathematiker Joseph P´er`es (1890–1962), dem wir insbesondere in Kapitel 8 begegnen werden, war Volterra und dessen Frau Virginia in einer langen und tiefen Freundschaft verbunden. In Bezug auf Elena Freda (1890–1978), die 1912 ihre Dissertation bei Guido Castelnuovo (1865–1952) geschrieben hat, sei insbesondere an das Buch erinnert, das sie 1937 u ¨ber hyperbolische Differentialgleichungen ver¨ offentlicht hat (das Buch ist in Franz¨ osisch geschrieben und mit einem Vorwort Volterras versehen).
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1 Eine Chronik italienischen Lebens
zur Anwendung von Ideen, die das Fundament der Infinitesimalrechnung darstellen. Gerade auf diese Erinnerung aus der Jugendzeit kommt Volterra in einigen Passagen einer Vorlesung zur¨ uck, die er 1912 in Paris h¨alt, und die der Entwicklung der fundamentalen Ideen der Infinitesimalrechnung gewidmet ist.7 Bereits in der Grundschule interessiert sich Vito f¨ ur ein breites Spektrum von historisch-humanistischen Themen. Im Sommer 1869 kehrt er zusammen mit seiner Mutter nach Ancona zur¨ uck, zu einem langen Besuch bei den Almagi`a-Cousins. W¨ahrend dieses Aufenthalts l¨ ost er nicht nur die Ferienaufgaben (eine alte Tradition an den italienischen Schulen bestand darin, auch in den Ferien Texte zu lesen und auszuarbeiten sowie Berechnungen durchzuf¨ uhren und arithmetische Probleme zu l¨ osen), sondern liest zus¨atzlich – immer unter den wachsamen Augen der Mutter – einige popul¨arwissenschaftliche Werke u ¨ber antike Geschichte und Literaturgeschichte. Die Mutter erteilt ihm Franz¨osischunterricht. Dieser Teil der jugendlichen Bildung kommt in den reiferen Jahren wieder zum Vorschein: Vito sammelt B¨ ucher, interessiert sich f¨ ur Wissenschaftsgeschichte, h¨ alt sich durch eine umfassende und aktuelle Lekt¨ ure auf dem Laufenden und f¨ uhlt sich insbesondere von der franz¨osischen Lebensart und Kultur angezogen. Nach Abschluß der Grundschule besucht der Junge die Unterstufe der Scuola tecnica Dante Alighieri“ in Florenz. W¨ahrend dieses Ausbildungsab” schnitts ¨außert er Verwandten gegen¨ uber den Wunsch, daß er, wenn er groß sei, Mathematiker werden m¨ ochte! Im Alter von elf Jahren liest er allein die Arithm´etique von J. Bertrand und die G´eom´etrie von A. M. Legendre. Bald nehmen die Absichten des Jungen eine fundiertere Form an. Einige Jahre vorher, im April 1870, hatte sich jedoch das Gef¨ uge des kleinen Familienkerns ge¨andert. Onkel Alfonso hatte geheiratet und bald machte sich die Familie wegen der Geburt der S¨ ohne auf die Suche nach mehr Wohnraum. Vitos Entschlossenheit, die Ausbildung in einer wissenschaftlichen Richtung fortzusetzen, ist einerseits der Grund f¨ ur eine tiefe Genugtuung, stellt aber f¨ ur die Mutter und f¨ ur den Onkel auch eine Quelle der Sorge dar. Die neue Familiensituation w¨ urde es nahelegen, daß Vito so bald wie m¨oglich zu arbeiten beginnt, um zum Haushalt beizutragen, sich sp¨ater unabh¨angig zu machen und f¨ ur die Mutter zu sorgen. Ein erster Kompromiß gestattet ihm jedoch, sich f¨ ur drei Jahre am Istituto tecnico Galileo Galilei“ einzuschreiben. ” In der liberalen Periode war diese Art Schule, institutionell gesprochen, die Vorg¨angerin dessen, was mit der Reform Gentile“ von 1923 als Ma” ” thematisch-naturwissenschaftliches Gymnasium“ (Liceo scientifico) bezeich-
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Vgl. Goodstein [33] The Volterra Chronicles. Bei der von Goodstein zitierten Arbeit Volterras handelt es sich um L’´evolution des id´ees fondamentales du calcul ” infinit´esimal“, erschienen in Volterra [125] Le¸cons sur les fonctions de lignes.
1.2 Onkel Alfonso ist besorgt
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net wurde.8 In den zwei Jahrzehnten nach der Einheit Italiens9 entstehen in den gr¨oßeren italienischen St¨ adten ziemlich viele Istituti tecnici, um den Ausbau einer niveauvollen technischen Ausbildung zu f¨ordern. Im Hinblick auf die Modernisierung und auf die industrielle Entwicklung hatte das Land hieran einen großen Bedarf. Von den Istituti tecnici hatte man Zugang zu den naturwissenschaftlichen Fakult¨ aten und zu den Ausbildungseinrichtungen f¨ ur Ingenieure. Das Netz der technischen Ausbildung war dem Ministerium f¨ ur Landwirtschaft, Industrie und Handel unterstellt, dem auch eine Reihe von Einrichtungen auf Universit¨ atsebene angeh¨ orte. Dies ist der Ausbildungsweg, den der junge Volterra einschl¨agt, um seinen eigenen Neigungen zu folgen. In der Zwischenzeit beginnt er, das Lehrbuch der Differential- und Integralrechnung von J. Bertrand zu lesen. Dabei berechnet er die Schwerpunkte und Tr¨ agheitsmomente einiger K¨orper, indem er sie in immer kleinere Teile unterteilt und dadurch intuitiv die Verfahren entdeckt, die den Operationen des Differenzierens und des Integrierens zugrundeliegen. Als sich das Ende des ersten Jahres der oberen Sekundarstufe n¨ahert, wird jedoch der Druck der Familie st¨ arker, daß er das Studium sein lassen solle und eine Arbeit beginnen m¨ oge. Wie es h¨ aufig geschieht, st¨arkt das nur noch die Entschlossenheit des Jungen, seinen Weg weiter zu gehen. Im Herbst 1875 gewinnt Vito f¨ ur sein Anliegen einen wichtigen Verb¨ undeten: seinen Onkel Edoardo, den Cousin seiner Mutter. Edoardo wurde 1841 geboren, hatte in Florenz studiert und sich dann an der Universit¨at Pisa eingeschrieben. Er diplomierte 1861 in angewandter Mathematik und war Bauingenieur geworden, zun¨achst im Eisenbahnbereich und anschließend im Baubereich. Er ist derjenige, der die Modernisierung und die Erweiterung des Hafens von Ancona durchf¨ uhren wird. Mit einigen Partnern gr¨ undet er 1867 eine eigene Gesellschaft und u udlichen ¨ bernimmt den Auftrag, einige Eisenbahnstrecken im s¨ Italien zu bauen. In den 1870er Jahren besteht seine Hauptt¨atigkeit darin, im S¨ uden der Halbinsel Strecken anzulegen und Gleise zu verlegen. Edoardo erkennt Vitos Begabung und Entschlossenheit sofort und bietet sich an, finanziell zu den Aufwendungen beizutragen, welche die Familie des Cousins auf sich nehmen m¨ ußte, um den Fortgang der Ausbildung des Mathematikanw¨arters zu erm¨ oglichen. Onkel Alfonso stimmt nicht zu. Er macht sich ernsthaft Sorgen um die Finanzen der Familie und um die Zukunft seines Neffen; im Sommer 1876 versucht er noch einmal, Vito davon abzuraten, sich f¨ ur das letzten Jahr am Istituto tecnico einzuschreiben. Gleichzeitig 8
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Der Philosoph Giovanni Gentile (1875–1944) hatte diese Reform als Unterrichts¨ minister (= Minister f¨ ur Offentlichen Unterricht) des ersten Kabinetts Mussolini durchgef¨ uhrt. Einzelheiten hierzu findet der Leser in sp¨ ateren Kapiteln. In Bezug auf eine umfassende deutschsprachige Analyse des italienischen Schulsystems verweisen wir auf Charnitzky [15]. Der unabh¨ angige Nationalstaat Italien wurde nach mehreren revolution¨ aren Erhebungen und den Italienischen Unabh¨ angigkeitskriegen als konstitutionelle Monarchie durchgesetzt und 1870 mit der milit¨ arischen Einnahme des Kirchenstaates und dessen Hauptstadt Rom durch italienische Truppen vollendet.
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1 Eine Chronik italienischen Lebens
versucht er, Edoardo davon zu u ¨ berzeugen, den jungen Mann im Rahmen seiner unternehmerischen T¨ atigkeit einzustellen oder f¨ ur ihn wenigstens eine Anstellung im Konstruktionsbereich zu finden. Mit der Zeit ist sich Alfonso jedoch bewußt, daß eine sitzende Angestelltent¨atigkeit den Neigungen Vitos sehr zuwiderlaufen w¨ urde. Ohne es den Cousins offen zu erkl¨aren, hat Edoardo stattdessen den Wunsch, daß sein Neffe Vito die Ausbildung abschließen solle. Er wendet eine Verz¨ ogerungstaktik an, stellt Monat f¨ ur Monat die Anstellung des jungen Mannes zur¨ uck und u ¨berzeugt schließlich Alfonso davon, Vito die dreij¨ahrige Ausbildung am Istituto tecnico abschließen zu lassen. Onkel Edoardos Pers¨ onlichkeit u ¨bt auch einen gewissen Einfluß auf die Richtung aus, die Vito bei seinen mathematischen Studien einschl¨agt. Es ist auf diesen Zeitabschnitt und auf die Vorschl¨ age Edoardo Almagi`as zur¨ uckzuf¨ uhren, daß Vitos Interesse an den Anwendungen der Mathematik wieder w¨achst. Unter anderem hat Vito im letzten Jahr Cesare Arzel`a (1847–1912) als Lehrer. Arzel`a war Normalista 10 und sp¨ ater Professor f¨ ur Algebra an der Universit¨at Palermo und f¨ ur Infinitesimalrechnung an der Universit¨at Bologna. Sein Name ist einer der historischen“ Namen, die f¨ ur die Entstehung ” der Funktionalanalysis in Italien stehen; im Satz von Arzel`a-Ascoli11 begegnen wir seinem Namen auch heute noch. Arzel` as Forschungsweg sollte sich in einem gewissen Sinn entgegengesetzt zu der Richtung entwickeln, der Volterra gefolgt ist: Nachdem sich Arzel` a unter dem Einfluß Enrico Bettis (1823–1892) mit einigen Fragen der Algebra und der mathematischen Physik befaßt hat, vertieft er sich – motiviert durch Untersuchungen von Ulisse Dini (1845–1918) – in mehrere Themen der reellen Analysis, bevor er Volterra auf dem Gebiet der Funktionalanalysis erneut begegnet. Ihre Freundschaft entwickelt sich in den folgenden Jahrzehnten – im Augenblick ist Vito erst im letzten Jahr am Istituto tecnico und Arzel` a ist sein um ungef¨ ahr f¨ unfzehn Jahre ¨alterer Lehrer. Die Freundschaft der beiden l¨ aßt sich durch den Brief dokumentieren, den Arzel`a am 15. Juli 1905 an Vito schreibt: Ich kann wohl sagen, daß Du ” nicht nur der gr¨ oßte Geist, sondern auch die sch¨onste Seele unter unseren Mathematikern bist“.
1.3 Die Universit¨ at: Machen Sie mit derselben ” Z¨ ahigkeit weiter!“ Man ahnt ohne weiteres, daß das Diplom und die ausgezeichneten Zensuren, insbesondere in Mathematik, in der Familie erneut zur Diskussion u ¨ber Vitos Zukunft f¨ uhren. Onkel Alfonso ist aber auch weiterhin sehr besorgt und 10
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Normalista bedeutet Absolvent der Scuola Normale Superiore, die Arzel` a in Pisa besucht hatte. Die Scuola Normale Superiore von Pisa ist eine Elitehochschu´ le, die 1810 von Napoleon Bonaparte als Zweigniederlassung der Ecole Normale Sup´erieure von Paris gegr¨ undet worden war (vgl. auch S. 8). Giulio Ascoli (1843–1896), italienischer Analytiker.
1.3 Die Universit¨ at: Machen Sie mit derselben Z¨ ahigkeit weiter!“ ”
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pessimistisch, daß sein Neffe Vito durch die Immatrikulation an der Universit¨at seine Anstellungsaussichten wirklich verbessern wird. In dieser Hinsicht bekommt der junge Mann außer seinem Onkel Edoardo einen weiteren wertvollen Verb¨ undeten: den Physiker Antonio Roiti (1843–1921), der am Istituto tecnico Vitos Professor war und ihm nun freundschaftlich zu Seite steht. Roiti wird sich als wertvoller und treuer Berater erweisen, vor allem in den kommenden Jahren, in denen das außergew¨ ohnliche Talent des jungen Mannes inzwischen von der Familie und der akademischen Umgebung anerkannt worden ist, und es darum geht, Vitos Schritte in Richtung einer gl¨anzenden Laufbahn zu lenken. Roiti ist von Vitos außerordentlichem Potential u ¨berzeugt und versucht seinerseits, Onkel Alfonso davon zu u ur ¨berzeugen, sich f¨ die finanzielle Unterst¨ utzung eines Universit¨ atsstudiums einzusetzen: Sehr ” geehrter Herr, es bleibt ein Teil der Geldmittel verf¨ ugbar, die vom Provinz´ amt f¨ ur Studienpl¨ atze an der Ecole Centrale in Paris vergeben wurden. Es w¨ are erforderlich, daß von diesen Mitteln eine Beihilfe f¨ ur Ihren Neffen Vito entnommen wird. Heute schreibe ich in dieser Angelegenheit an Herrn Komtur Rechtsanwalt Niccol` o Nobili, und informiere ihn, daß Sie oder Ihr Neffe zu ihm kommen werden“.12 Ungeachtet des großen Engagements des jungen Mannes und des entschlossenen Professors stellt sich jedoch heraus, daß der Erhalt einer Beihilfe komplizierter als erwartet ist. Sehr geehrter Herr“, schreibt Roiti ” weiter an Alfonso, ich habe mit Komtur Nobili gesprochen, der es schwierig ” findet, eine Unterst¨ utzung f¨ ur Ihren Neffen vom Provinzamt zu bekommen, aber dennoch hofft, diese Beihilfe auf irgendeinem anderen Weg zu erhalten. Um seine Schritte zu unterst¨ utzen, w¨ urde ich Ihnen empfehlen, Vito mit der beiliegenden Karte zu Cavaliere Palagi, dem Sekret¨ar der Provinzdeputation zu schicken“. Roitis Vorschl¨ age enden damit noch nicht: Ich habe nach ” Pisa schreiben lassen, ob dort in diesem Jahr Studienpl¨atze verf¨ ugbar sind, und Sie k¨onnten Ihrerseits mit Prof. Cesare Finzi13 sprechen und ihm meine Gr¨ uße u ¨bermitteln. Finzi wird wahrscheinlich auf dem Lande sein, aber ich weiß, daß er sehr oft nach Florenz kommt. Fragen Sie ihn, ob sich Vito um eine Lavagna-Stelle14 bewerben k¨ onnte. Und vergessen Sie nicht, ihm zu 12
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Roitis Brief ist vom September 1877. Er ist Bestandteil des Volterra-Briefwechsels, der sich im Fondo Volterra“ der Accademia dei Lincei in Rom befindet. Einige ” Briefe sind bereits ver¨ offentlicht worden. Wir verweisen insbesondere auf die umfangreiche Auswahl in Vito Volterra e il suo tempo (1860–1940). Mostra storicodocumentaria. Catalogo (Paoloni [65]). In diesem Katalog ist auch der vorhergehende Brief an Alfonso Almagi` a ver¨ offentlicht worden. Auch viele der Briefe, die an sp¨ aterer Stelle zitiert werden, k¨ onnen in diesem Band in ihrer Gesamtheit gelesen werden. Cesare Finzi (1836–1908) war ein italienischer Mathematiker, der an der Universit¨ at Pisa und an der Scuola Normale Superiore lehrte. Benannt nach dem italienischen Mathematiker Giovanni Maria Lavagna (1812– 1870). Ulisse Dini, Eugenio Bertini und Cesare Arzel` a waren Sch¨ uler von Lavagna. Er vermachte all sein Hab und Gut der Universit¨ at Pisa. Dieses Verm¨ ogen wurde unter anderem zur Einrichtung der Lavagna-Stellen verwendet. Eine Lavagna-
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1 Eine Chronik italienischen Lebens
erz¨ahlen, daß sich Vito in den Abschlußpr¨ ufungen hervorgetan hat. Um mich inzwischen meinerseits auf die Dinge einzustellen, m¨ochte ich wissen, ob sich Vito dem Lehrerberuf oder dem Ingenieurberuf zuwenden m¨ochte. Im ersteren Fall k¨onnte er seine Ausbildung vielleicht in Florenz fortsetzen und somit im Fortbildungsinstitut eine Zulage erhalten. Aber u ¨ber diese Sache sprechen Sie bitte nicht mit Finzi“. Wenige Tage sp¨ ater wird Roiti von Vito u ¨ber das Zwischenergebnis der (nicht erfolgreichen) Versuche beim Provinzamt und u uglich der Lavagna-Stellen informiert. Ansonsten ste¨ber Finzis Skepsis bez¨ hen seine k¨ unftigen Absichten noch nicht fest: K¨onnte ich in Florenz weiter ” studieren, w¨ urde ich nicht z¨ ogern [die Karriere] des Lehrerberufes zu w¨ahlen, weil der Aufenthalt in dieser Stadt, in der meine Familie wohnt, sehr vorteilhaft w¨are; wenn ich jedoch das Studium an einer Universit¨at fortsetzen m¨ ußte, dann w¨ urde ich, wenn m¨ oglich, eine endg¨ ultige Entscheidung bis zum Ende des n¨achsten Zweijahreskurses hinausz¨ ogern“. Anfang Oktober scheinen die M¨ oglichkeiten, u ¨ber das Diplom hinauszugehen, das man nach den drei Jahren am Istituto tecnico erh¨alt, ebenso ersch¨opft zu sein wie Alfonsos Geduld. Dieser schreibt an seinen Cousin Edoardo, daß die Schwierigkeiten, eine Beihilfe oder ein Stipendium zu erhalten, endg¨ ultig die Hypothese schwinden lassen, daß Vito ein Studium fortsetze; jedoch liege in allem Schlechten auch etwas Gutes, denn es sei wahrlich keine sehr attraktive Perspektive, wenn sich Vito nach f¨ unf oder sechs Jahren anstrengenden Studiums in einer Situation st¨ andiger Not befinden w¨ urde, arbeitslos und gezwungen, wer weiß, welche Arbeit anzunehmen, und wer weiß, wo. Edoardos Antwort fordert den Zorn seines Cousins Alfonso heraus. Edoardo ist auch weiterhin davon u ¨ berzeugt, daß es besser sei, dem jungen Mann die Freiheit zu lassen, das Studium fortzusetzen, und er erneuert sein Hilfsangebot. Entscheidend ist jedoch Roiti: In dem Augenblick, als Alfonso seinen Neffen Vito bei der Banca Nazionale anstellen will, bietet Roiti ihm eine Arbeit als Assistent in seinem Labor am Istituto di Studi Superiori Pratici e di Perfezionamento an, wo er Lehrbeauftragter f¨ ur Physik ist. Vito schreibt sich also im ersten Jahr an diesem Istituto in Florenz ein. Gleichzeitig arbeitet er im Labor und beginnt, mit Roiti zusammenzuarbeiten; aus der Zusammenarbeit wird sp¨ater eine Freundschaft. Vor allem reift in Volterra der Entschluß, das Studium in Pisa fortzusetzen. Das Hin und Her mit der Familie hatte am Ende der Scuola tecnica inferiore 15 angefangen! Ein Jahr sp¨ater, im Herbst 1878, schreibt er sich an der Fakult¨at f¨ ur Naturwissenschaften der Universit¨ at Pisa ein, die im K¨onigreich zu den besten Institutionen zur Ausbildung von Mathematikern geh¨ort. In Pisa befindet sich auch die Scuola Normale und Vito hofft, sp¨ ater dort studieren zu k¨onnen. Die
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Stelle war ein Stipendium f¨ ur die Dauer eines Jahres. Das Stipendium diente zur Erlangung zus¨ atzlicher F¨ ahigkeiten in der Lehre und f¨ uhrte in vielen F¨ allen zu einer Assistentenstelle. Die Scuola tecnica inferiore beinhaltete den mit dem elften Lebensjahr beginnenden dreij¨ ahrigen Unterricht f¨ ur Sch¨ uler, die sich bereits nach der vierj¨ ahrigen Grundschule f¨ ur eine technische Berufsschule entschieden hatten.
1.3 Die Universit¨ at: Machen Sie mit derselben Z¨ ahigkeit weiter!“ ”
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Scuola Normale war 1810 zum Zweck der Ausbildung von k¨ unftigen Lehrern des Napoleonischen K¨ onigreichs Italien gegr¨ undet worden. Nach Napoleons Fall wurde sie jedoch geschlossen. Sie wurde 1847 f¨ ur die Ausbildung von Lehrern – nunmehr von Lehrern des Großherzogtums Toskana – wiederer¨offnet. In den ersten Jahrzehnten nach der Einheit Italiens entwickelt sich die Scuola Normale zus¨ atzlich zu ihrer alten Berufung – und im Unterschied zur Universit¨at – auch zu einem Forschungszentrum und zu einer Ausbildungseinrichtung zuk¨ unftiger Forscher. W¨ahrend der junge Volterra nach Pisa zieht, gelingt es seinen beiden Florentiner Lehrern Roiti und Arzel` a, die Universit¨atslaufbahn einzuschlagen. Beide erhalten als Gewinner des Auswahlverfahrens (des sogenannten concorso) einen Ruf an die Universit¨ at Palermo, Roiti auf den Lehrstuhl f¨ ur Physik und Arzel`a auf denjenigen f¨ ur Algebra und analytische Geometrie. In Pisa macht Volterra die Erfahrung, ohne die N¨ahe der Familie auszukommen, und er erobert sich ein klein wenig Unabh¨angigkeit; jedoch wird er von den Briefen seines Onkels Alfonso und seiner allgegenw¨artigen Mutter begleitet (mitunter auch verfolgt“). Er kann sich stets auf den moralischen ” Beistand Roitis verlassen, der seinen Schutzbefohlenen nicht einmal dann vergißt, wenn es darum geht, diesen zu tadeln, weil er versucht hatte, direkt in das zweite Universit¨ atsjahr zu gelangen, indem er das letzte Studienjahr, das er in Florenz absolviert hatte, in die Waagschale warf. Ich hatte Ihnen ” empfohlen“, schreibt ihm Roiti im Dezember 1878, den Rektor dieser Univer” sit¨at nicht zu bitten, Sie im zweiten Jahr zu immatrikulieren [...] stattdessen haben Sie sich einer Ablehnung ausgesetzt und nun gibt es keine Abhilfe mehr. Aber alles Schlechte hat auch sein Gutes, und Sie sagen ja bereits, daß Sie imstande sein werden, besser Griechisch und Latein zu lernen und leichter die Zulassung zur Scuola Normale zu bekommen“. Die Pr¨ ufung in den klassischen Sprachen macht Vito wirklich Sorgen. Ha” ben Sie Mut mit Ihrem Latein“, schreibt ihm Roiti im Februar 1879, und ” versuchen Sie, sich schnell davon zu befreien; und lassen Sie es mich gleich wissen, sobald Sie die Pr¨ ufung abgelegt haben“. Danach wendet er sich an Alfonso, dankt ihm f¨ ur seine Hilfe und f¨ ugt hinzu: Prof. Felici16 hat mir zwei ” schmeichelhafte und sehr zutreffende Worte u ¨ber Vito geschrieben. Ich bin u außerst l¨ astige Pr¨ ufung in klassischen Sprachen ¨berzeugt, daß er, sobald die ¨ abgelegt ist, ohne weitere Hindernisse voranschreiten und eine gl¨anzende Karriere haben wird“. Im Mai legt Vito die Pr¨ ufung mit positivem Ergebnis ab. Noch mehr hat mir Ihr zweiter Brief gefallen“, gratuliert Roiti, weil ich se” ” he, wie triumphal Sie die unangenehmste Pr¨ ufung bestanden haben, der Sie sich jemals im Laufe Ihres Studiums unterziehen m¨ ussen. Bravo Volterra! Machen Sie immer mit derselben Z¨ ahigkeit weiter, und die Zukunft wird Ihnen geh¨oren“. Im Herbst kann sich der junge Volterra somit f¨ ur die Zulassungspr¨ ufung bei der Scuola Normale bewerben. Er besteht die Pr¨ ufung gl¨anzend mit der 16
Riccardo Felici (1819–1902), italienischer Physiker.
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1 Eine Chronik italienischen Lebens
maximalen Punktzahl in den verschiedenen Pr¨ ufungsf¨achern. Schließlich kann er sich im zweiten Studienjahr einschreiben und als Normalista damit rechnen, in den folgenden drei Jahren ein Stipendium sowie kostenlose Unterkunft und Verpflegung zu erhalten. Vor allem aber kann er auch damit rechnen, Zugang zu einer der besten italienischen Forschungsbibliotheken zu bekommen sowie t¨ aglichen und kontinuierlichen Kontakt zu den besten Lehrern der Universit¨at Pisa zu haben. W¨ ahrend dieser Zeit schließt er lebenslange Freundschaften, wie etwa mit Carlo Somigliana (1860–1955), der ebenfalls 1879 an der Scuola Normale begonnen hat. Somigliana wird ein hochangesehener mathematischer Physiker. In seiner akademischen Laufbahn lehrt er an den Universit¨aten Pavia und Turin. Vito vers¨ aumt es aber auch nicht, sich mit Gleichaltrigen anzufreunden, die humanistische F¨ acher studieren, zum Beispiel mit Guido Mazzoni17 , Carlo Picciola und Francesco Novati18 . Im Allgemeinen bevorzugt er jedoch die Gesellschaft von Studenten der Naturwissenschaften, die ihm bed¨achtiger und ernsthafter erscheinen. Die Studenten der Geisteswissenschaften erm¨ uden ihn ein bißchen mit ihrem Gerede. Das Leben des Studenten Volterra wird durch den Vorlesungsrhythmus bestimmt – die Analysisvorlesungen von Dini sind f¨ ur morgens um 7.30 Uhr vorgesehen! – und durch einen Studienplan, der kaum Freiheiten l¨aßt. Mitunter beklagt sich der junge Volterra brieflich bei seiner Mutter, daß er etwas unter den Tutorenaufgaben leide, die ihm bei der Ausbildung der j¨ ungeren Studenten allm¨ahlich u ¨bertragen werden. Die Stadt bietet in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nicht viel. Pisa ist eine kleine Provinzstadt, bei der es mit wachsender Studentenzahl auch zu leicht problematischen Verh¨altnissen kommt. Eine Schilderung des studentischen Lebens in Pisa in jenen Jahren findet man im Tagebuch Rodolfo Bettazzis (1861–1941), eines Mitstudenten von Volterra. Bettazzi, der sp¨ ater einer der Gr¨ under der Vereinigung Mathesis 19 und deren erster Pr¨ asident wird, hat eine andere Lebensgeschichte zu erz¨ahlen: Er stammt aus einer tiefreligi¨ osen katholischen Familie, ist ebenfalls aus Florenz nach Pisa gekommen, w¨ achst vaterlos auf und die Familie lebt gewiß nicht in wohlhabenden wirtschaftlichen Verh¨altnissen. In seinem Tagebuch erinnert er sich unter anderem: In den vier Jahren an der Universit¨at habe ” ich nur eine Vorlesung vers¨ aumt, und das war anl¨aßlich eines Besuches meines Großvaters in Pisa; und in allen Pr¨ ufungen, seien es die j¨ahrlichen Pr¨ ufungen oder die Abschlußpr¨ ufung, habe ich immer die absolut besten Noten mit einem Lob bekommen. In diesen vier Jahren bin ich abends nie weggegangen, außer an manchen seltenen Sonntagen, um einen alten Arzt zu besuchen, der ein Bekannter der Familie war [...], und an einem Abend habe ich mir im Theater den Phonographen angeh¨ ort, der damals eine Neuheit war“.
17 18 19
Guido Mazzoni (1859–1943), Dichter und Professor f¨ ur Italienisch. Francesco Novati (1859–1915), Historiker und Philologe. Mathesis wird 1895 als Landesvereinigung der Mathematiklehrer gegr¨ undet (vgl. auch S. 42).
1.3 Die Universit¨ at: Machen Sie mit derselben Z¨ ahigkeit weiter!“ ”
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Abb. 1.2. Vito Volterra (links) und Carlo Somigliana gegen Ende ihres Universit¨ atsstudiums.
An der Universit¨ at besucht der junge Volterra das Physiklabor von Riccardo Felici, der 1846 in Pisa promoviert hatte und dort seit 1862 lehrte. Ich hoffe, daß Prof. Felici jetzt“, schreibt Roiti im Dezember 1878 an Volter” ra, Ihren Wunsch nach einem Besuch des Physikkabinetts erf¨ ullt hat. Aber ” auf jeden Fall bin ich sicher, daß Sie mir die G¨ ute erweisen werden, ihm den beiliegenden Brief zu u ¨bergeben“. Dank Roitis Vermittlung wird Volterras Beziehung zu Felici bald vertraulich. Zwei Monate sp¨ater schreibt Roiti an Volterra: Gr¨ ußen Sie Prof. Felice von mir und sagen Sie ihm, daß ich bez¨ uglich ” des Auswahlverfahrens von Florenz vollkommen im Dunklen stehe, weil ich noch keine Mitteilung im Amtsblatt gesehen habe“. Zu Anfang ist Ulisse Dini derjenige Professor, der Volterra am meisten anzieht. Volterra findet Dinis Vorlesungen mitunter konfus und sogar nebul¨ os, aber immer anregend. Dini ist mit Leib und Seele bei der Sache, und im H¨orsaal beschr¨ankt er sich nicht darauf, Begriffe zu wiederholen, die inzwischen bereits zur Folklore“ geh¨oren. ”
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1 Eine Chronik italienischen Lebens
Er erl¨autert den Studenten sogar den Inhalt seiner Forschungsarbeiten. Hat man sich geh¨orig angestrengt, dann erweisen sich die erl¨auterten Begriffe als ¨ außerst klar und pr¨ agnant formuliert. Mit dem Ubergang zum dritten und ¨ zum vierten Studienjahr verlagern sich Volterras Interessen jedoch u ¨berwiegend auf das Gebiet der mathematischen Physik. Professor Enrico Betti wird nun Volterras haupts¨ achliche Bezugsperson. Bei ihm schreibt Volterra seine Dissertation u ¨ber Hydrodynamik und wird am 30. Juni 1882 promoviert.
1.4 Ein etwas eigenartiger Schu ¨ler Vito Volterra ist nun 22 Jahre alt. Das ist sicher ein jugendliches Alter. Aber er ist nicht mehr ganz jung in einem Universit¨atssystem und Studiengang, in dem es noch in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts Jungakademiker gibt, die noch nicht einmal die H¨ urde von zwanzig Jahren genommen haben. Er hat ein Jahr verloren“, als er vom Istituto tecnico aus Florenz nach ” Pisa kam. Die Spuren seines fr¨ uhreifen Talents sind jedoch an anderer Stelle erkennbar. Im Jahr 1881 – Volterra ist immer noch Z¨ogling“ der Normale – reicht ” er im Giornale di Matematiche seine Arbeit Sui principii del calcolo integrale (Volterra [104])20 ein, die im darauffolgenden Jahr ver¨offentlicht wird und zu einer gediegenen Referenz bei der Entwicklung der Integrationstheorie werden sollte. Volterra ist auch der einzige Student, den Betti explizit erw¨ahnt, als er im Sommer 1881 in seiner Eigenschaft als Direktor der Normale (die er bis zu seinem Tod im Jahr 1892 leitet) den Jahresbericht an das Ministerium f¨ ur ¨ Offentlichen Unterricht schreibt: Herr Vito Volterra [...] gibt mit zwei Artikeln eine einzigartige Probe ” seiner Begabung zur Forschungsarbeit. Einer dieser Artikel, in dem es um mathematische Physik geht, wurde f¨ ur w¨ urdig befunden, in der Zeitschrift Nuovo Cimento ver¨ offentlicht zu werden.21 Die andere Arbeit, bei der es sich um h¨ ohere Analysis handelt, wurde im Giornale di Matematica von Prof. Battaglini22 ver¨ offentlicht.“ Tats¨achlich hat Volterra in diesen Jahren als Student der Normale sogar zwei Arbeiten im Giornale di Matematica ver¨offentlicht: Alcune osservazioni sulle funzioni punteggiate discontinue (eingereicht im Februar 1880) und Sui principii del calcolo integrale (eingereicht am 21. April 1881).23 20
21 22
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Volterras Ver¨ offentlichungen wurden von der Accademia dei Lincei in den Jahren 1954–1962 in f¨ unf B¨ anden herausgegeben (Volterra [148]). Volterra [101]. Giuseppe Battaglini (1826–1894), der u ¨ ber Fragen der klassischen Geometrie und der h¨ oheren Geometrie arbeitete, war 1863 einer der Gr¨ under des Giornale di Matematiche. Volterra [102] und Volterra [104].
1.4 Ein etwas eigenartiger Sch¨ uler
13
Um die Wichtigkeit dieser Arbeiten zu w¨ urdigen, m¨ ussen wir kurz auf die Geschichte der Integrationstheorie eingehen. Die von Bernhard Riemann24 gegebene Definition des bestimmten Integrals einer auf einem Intervall [a, b] beschr¨ankten Funktion stammt aus dem Jahr 1854. Das ist der Integralbegriff, der auch heute noch in den Grundkursen zur Differential- und Integralrechnung gelehrt wird. Der Riemannsche Integralbegriff wird in den Jahren 1870–1880 zum Allgemeingut, was auch der Fassung des franz¨osischen Mathematikers J. G. Darboux25 zu verdanken ist. Dieser Integralbegriff legt definitiv die Trennung der Klasse der stetigen Funktionen von der Klasse der integrierbaren Funktionen fest. Auf diese Weise entstehen zwei verschiedene Klassen von Funktionen, von denen eine in der anderen enthalten ist: Jede stetige Funktion ist integrierbar, aber die Integrierbarkeit ist nicht mehr nur auf stetige Funktionen beschr¨ ankt. Die Operation der Integration l¨aßt sich auch auf gewisse unstetige Funktionen ausdehnen. Aber wie unstetig“ ” d¨ urfen diese Funktionen sein? Allm¨ ahlich bahnt sich die Idee den Weg, daß die Integrierbarkeit einer Funktion, das heißt, die M¨oglichkeit der Berechnung Rb von a (x)dx, von der Menge der Unstetigkeitspunkte der Funktion abh¨angt, und diese Menge muß auf alle F¨ alle klein“ sein. Wieviele Unstetigkeitspunk” te kann sich eine Funktion leisten“, um integrierbar zu sein? Wie m¨ ussen ” diese Punkte im Intervall [a, b] verteilt sein? Wie muß ihr Maß beschaffen sein? Bei diesen drei Fragen (bzw. ihrer Beantwortung) geht es tats¨achlich darum, das Adjektiv klein – f¨ ur die Unstetigkeitspunkte der zu integrierenden Funktion – auf dreierlei verschiedene Weise auszudr¨ ucken: durch das Z¨ahlen der Elemente dieser Punktmenge (erste Frage), durch eine Beschreibung der Anordnung der Punkte (topologische Version) in Beantwortung der zweiten Frage und schließlich durch die Zuordnung eines Maßes zu dieser Punktmenge (dritte Frage). Um 1880 ist nicht klar, daß es sich um drei verschiedene Formalisierungen handelt; diese werden manchmal miteinander verwechselt. ¨ An vorderster Stelle der Uberlegungen scheint ein Satz des deutschen Mathematikers Hermann Hankel (1839–1873) zu stehen, der die Diskussion mit der Behauptung abschließt, daß eine Funktion dann und nur dann integrierbar ist, wenn sie punktweise unstetig ist, das heißt, wenn die Menge ihrer Stetigkeitspunkte dicht ist (die Funktion kann also unendlich viele Unstetigkeitspunkte im Intervall [a, b] haben, aber diese m¨ ussen so verteilt sein, daß sich in jeder Portion“ von [a, b] Punkte befinden, in denen die Funktion stetig ist). ” Der Begriff punktweise unstetig wurde gerade zu dem Zweck eingef¨ uhrt, diese Funktionen von den total unstetigen Funktionen zu unterscheiden, bei denen die Stetigkeitspunkte keine dichten Mengen bilden. An dieser Stelle tritt Ulisse Dini in Erscheinung, Volterras Professor an der Scuola Normale, ein geachteter Erforscher der reellen und der komplexen Analysis, der trigonometrischen Reihen und der Differentialgleichungen. Di24
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Bernhard Riemann (1822–1866). F¨ ur eine umfassende Darstellung von Riemanns Leben und Werk sei auf Laugwitz [55] verwiesen. Jean Gaston Darboux (1842–1917).
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1 Eine Chronik italienischen Lebens
ni ist der wahre Initiator der italienischen Analysisschule. In Italien ist Dini der bedeutendste Vertreter des rigoristischen Programms, dem sich besonders die deutschen Mathematiker verpflichtet f¨ uhlen. Das Ziel dieses Programms besteht darin, die Grundbegriffe der Analysis (Grenzwerte, Ableitungen, Integrale, usw.) mit der gr¨ oßtm¨ oglichen Pr¨ azision und Strenge neu zu formulieren. Dini ver¨offentlicht 1878 sein Buch Fondamenti per la teoria delle funzioni di variabili reali. Luigi Bianchi (1856–1928), Mitstudent von Volterra und ebenfalls Sch¨ uler von Dini, dem er als Direktor der Normale nachfolgt, beschreibt Dinis Programm der strengen Begr¨ undung der Analysis folgendermaßen: Er ” selbst erz¨ahlt, daß ihn bereits zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn die Feststellung bedr¨ uckt habe, daß bei einigen Grundprinzipien der Analysis sowohl in den Aussagen als auch in den Beweisen die absolute Strenge zu fehlen scheint, die in der Mathematik gefordert werden muß. Wie berechtigt derartige Zweifel waren, wissen heute alle Freunde der Mathematik; aber damals hat niemand, zumindest von uns, diese Zweifel gehegt, und es bedurfte des einzigartigen Scharfsinns seines Geistes, die Gewohnheit abzulegen, Beweise meistens nur intuitiv zu f¨ uhren; er erkannte die logischen Unzul¨anglichkeiten dieser Herangehensweise“ 26 . Dini wird auch B¨ urgermeister von Pisa, Abgeordneter und Senator und ist – von 1900 bis zu seinem Tod – Direktor der Scuola Normale. In den Fondamenti ¨ außert Dini ernsthafte Zweifel in Bezug auf die Korrektheit des von Hankel gegebenen Beweises des oben genannten Satzes. Insbesondere zweifelt Dini die G¨ ultigkeit der Behauptung an, daß jede punktweise unstetige Funktion notwendigerweise integrierbar sei. Es gelingt ihm jedoch nicht, ein Gegenbeispiel zu finden, das die Falschheit der Behauptung zeigt. Volterras oben genannte Arbeiten liefern die fehlenden Teile und nehmen dadurch eine Schl¨ usselstellung in der Integrationstheorie ein. In seiner ersten oben zitierten Arbeit gibt Volterra ein Beispiel f¨ ur eine Menge, die in einem Intervall [a, b] nirgends dicht ist (Volterra [102]) – man denke etwa im Intervall [0, 1] an die unendliche Menge A, die aus den Zahlen 1, 12 , 13 , 14 , . . . besteht: Betrachtet man ein beliebiges Intervall in [0, 1], dann kann man in diesem immer ein Intervall finden, das keine Punkte von A enth¨alt – und dennoch nicht das Maß null hat, da sich die betreffende Menge nicht durch eine endliche Anzahl von Intervallen derart u aßt, daß die Summe der L¨angen dieser ¨berdecken l¨ Intervalle beliebig klein wird. Die drei oben genannten Formalisierungen des Adjektivs klein beginnen, sich voneinander zu unterscheiden. Die von Volterra angegebene Menge ist klein“ vom topologischen, nicht aber vom maßtheore” tischen Standpunkt aus. Vor allem aber ist das ein Beispiel, das Dini fehlte, um zweifelsfrei die Falschheit der Behauptung Hankels nachzuweisen: Prof. ” Dini hat erkannt, daß Hankels Beweis nicht streng ist; diesbez¨ uglich kann das Beispiel einer punktweise unstetigen Funktion genannt werden (die auch einen analytischen Ausdruck hat), die in einem gegebenen Intervall nicht integrierbar ist. Volterra verwendet das gleiche Beispiel auch in seiner zweiten oben 26
Bianchi [6].
1.4 Ein etwas eigenartiger Sch¨ uler
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zitierten Arbeit, um eine positive Antwort auf eine andere, ebenfalls von Dini gestellte Frage zu geben: Der sehr verehrte Prof. Dini warf Bedenken auf, daß ” [...] es Funktionen g¨ abe, deren Ableitungen nicht integrierbar sind“. Volterra [104] konstruiert tats¨ achlich eine differenzierbare Funktion, deren (beschr¨ankte) Ableitung nicht integrierbar ist. Auf diese Weise erwirbt er zwei nicht unbedeutende Verdienste. Mit dem ersten Beispiel tr¨ agt er dazu bei, die Aufmerksamkeit auf den Begriff der Mengen vom Maß null zu lenken – ein Begriff, der sich vom topologischen Begriff einer nirgends dichten Menge unterscheidet und sich bei der Charakterisierung der Menge der Unstetigkeitspunkte einer integrierbaren Funktion als strategisch bedeutsam erweist. Mit dem zweiten Beispiel zeigt er, daß die Operationen des Differenzierens und des Integrierens im Allgemeinen keine zueinander inversen Operationen sind. Wir sind daran gew¨ohnt, diese Operationen als zueinander invers zu betrachten und interpretieren auf diese Weise die sogenannten Fundamentals¨ atze der Integralrechnung. Insbesondere lehrt der zweite Fundamentalsatz, daß (unter gewissen Voraussetzungen) die Gleichheit Rx f (t)dt = f (x) − f (a) gilt. Mit anderen Worten: Berechnet man von einer a Funktion f zuerst die Ableitung f 0 und dann das Integral, dann neutralisieren sich die beiden Operationen – sie sind zueinander invers – und man kommt zur urspr¨ unglichen Funktion f zur¨ uck. Volterras Gegenbeispiel hat das Verdienst, die Notwendigkeit der Voraussetzungen hervorzuheben, unter denen die Aussage wahr ist. Andernfalls ist nicht gesagt, daß man eine Funktion ableiten und dann r¨ uckw¨arts gehen“ kann, indem man die Ableitung integriert (denn ” vielleicht ist ja die Ableitung gar nicht integrierbar). Volterra f¨ uhrt in seinen Arbeiten von 1881 und 1882 auch die Begriffe oberes Integral und unteres Integral sowie die diesbez¨ uglichen Symbole ein. In der erstgenannten Arbeit beweist Volterra auch, daß es unm¨oglich ist, ” eine Funktion zu finden, die in allen irrationalen Punkten unstetig und in den rationalen Punkten stetig ist“ und deswegen kann es auch keine stetige Funktion geben, die den rationalen Zahlen die irrationalen Zahlen zuordnet und umgekehrt. Mit der kritischen Untersuchung der Zusammenh¨ange zwischen der Ableitung und der (Riemannschen) Integration reiht sich Volterra vollberechtigt in Dinis Programm zur strengen Begr¨ undung der Analysis ein. Wir haben bereits gesagt, daß sich Volterras Aufmerksamkeit sp¨ater, ab dem dritten Studienjahr, allm¨ ahlich in Richtung mathematische Physik und hin zu den Forschungsinteressen Enrico Bettis verlagert. Mit daran schuld ist auch die Schwierigkeit, Dini regelm¨ aßig zu treffen, der jetzt aufgrund seiner politischen Obliegenheiten zwischen Pisa und Rom hin und her pendelt. Betti, der bedeutende Arbeiten zur Potentialtheorie und zur Elastizit¨atstheorie verfaßte, hat auch wichtige Beitr¨ age zur algebraischen Topologie sowie zur Untersuchung von elliptischen Funktionen und Funktionen einer komplexen Variablen geleistet. Entscheidend f¨ ur Bettis Entwicklung als Mathematiker waren die Begegnung und die Freundschaft mit Riemann, der aus gesundheitlichen Gr¨ unden nach Italien kam und sich von 1863 bis 1865 in Pisa
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1 Eine Chronik italienischen Lebens
aufhielt.27 Volterra wird die Erinnerung an Betti – als einen der Begr¨ under der italienischen Mathematik nach der Einheit – stets wach halten. Wir lassen hier nochmals Bianchi zu Wort kommen, der die unterschiedlichen mathematischen Veranlagungen von Betti und Dini vergleicht28 : Es war ein echtes intellektuelles Vergn¨ ugen, die Vorlesungen unse” rer beiden großen Meister zu h¨ oren, die doch so verschieden in ihrer Vortragsweise und im Wesen ihrer mathematischen Auffassung waren. ¨ Ubernehmen wir die Meinung Henri Poincar´es, dann k¨onnen wir diese Verschiedenheit dadurch ausdr¨ ucken, daß wir ohne zu z¨ogern Betti zu den intuitiven Mathematikern und Dini zu den logischen Mathematikern z¨ ahlen; beide geh¨ oren jedoch mit Fug und Recht zu den mathematischen Erfindern.“
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Eine ausf¨ uhrliche Schilderung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen Riemann und Betti findet man in Laugwitz [55]. Bianchi [6].
2 Professor in Pisa
2.1 Von der Promotion direkt auf den Lehrstuhl Der junge Vito, Normalista“ in Pisa, schreibt also 1882 bei Enrico Betti ” seine Dissertation in Hydrodynamik. Mit ihm erlangen in jenen Jahren auf der Normale auch Salvatore Pincherle, Gregorio Ricci-Curbastro, Luigi Bianchi, Carlo Somigliana und Mario Pieri ihren Abschluß; sp¨ater, in den 1890er Jahren, folgen Federigo Enriques, Gaetano Scorza und Guido Fubini. Das sind alles exzellente“ Namen in der Geschichte der italienischen Mathema” tik, und sie reichen aus, den Rang der Scuola Normale Superiore von Pisa einzuordnen. Im vorhergehenden Kapitel haben wir u ¨ber den Lehrk¨orper gesprochen, den Volterra bei seinem Eintritt in die Normale vorgefunden hat: vor allem sind es Betti und Dini, die ihm am Anfang die erste Orientierung geben. Um diese beiden entsteht in Pisa ein guter Teil des Ger¨ ustes derjenigen italienischen Mathematik, die zu Beginn des neuen Jahrhunderts in der hypothetischen Rangliste der Nationen“ im Allgemeinen gleich nach Frankreich ” und Deutschland auf dem dritten Platz gesehen wird. Und diese italienische Mathematik hat in den Jahren nach 1860, zum Zeitpunkt der Einigung des Landes, im Wesentlichen bei null begonnen! Bevor wir die ersten Schritte des gerade promovierten jungen Mannes in der Forschung verfolgen, ist es angebracht, einen Blick nach vorne zu werfen: Wir werden den Spuren eines der k¨ unftigen Protagonisten des großen Sprunges nach vorn folgen, der die italienische Mathematik der traditionellen franz¨osischen und deutschen Exzellenz ann¨ ahert; Volterra wird versuchen – und hier werden sich die Erfolge als problematischer herausstellen – die kulturelle und soziale Entwicklung des Landes zu lenken. Es ist ein Boom, der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert alle Disziplinen einschließt, in denen die mathematische Forschung einen Neustart machte (wobei wir viele der oben zitierten Namen aus Pisa finden): Die Analysis mit den Untersuchungen von Brioschi, Dini, Casorati, Arzel` a, Ascoli, Peano, Pincherle, Vitali, Tonelli, Fubini usw.; die Geometrie, insbesondere mit den Beitr¨ agen von Cremona, Battaglini, Bertini, Segre, Fano, Beltrami, Castelnuovo, Enriques, Severi und der gesamten A. Guerraggio, G. Paoloni, Vito Volterra, Vita Mathematica, c Springer Basel AG 2011 DOI 10.1007/978-3-0348-0081-5 2,
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2 Professor in Pisa
italienischen Schule der algebraischen Geometrie; die mathematische Physik mit Betti, Ricci-Curbastro, Bianchi, Somigliana, Levi-Civita usw. Somit hat Volterra das Gl¨ uck, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein; und er hat das Verdienst, in diesem richtigen Moment“ entscheidende Beitr¨age zu lei” sten. Seine Beitr¨ age beziehen sich auf die Analysis, die mathematische Physik und auch auf andere Gebiete. Volterras Forschungsarbeit zeigt jedoch durch das Vorhandensein einiger Konstanten eine ausgepr¨agte Einheitlichkeit und es ist nicht schwer, diese Konstanten in seinem Denken und in seinem Handeln zu erfassen. Auch sie sind von großer Bedeutung. Wir haben erw¨ ahnt, daß Volterra 1882 bei Betti promoviert hat. Und bei Betti beginnt er im Dezember, bald nach der Dissertation, die akademische Laufbahn dank seiner Ernennung zum Assistenten: Lieber Volterra, gestern ” Abend hat die Fakult¨ at beschlossen, dem Minister vorzuschlagen, die Er¨offnung des Auswahlverfahrens f¨ ur den Lehrstuhl f¨ ur Rationale Mechanik zu beschleunigen, und daß ich inzwischen diese Vorlesung bis zur Ernennung des Professors halten soll, der aus dem Auswahlverfahren hervorgeht. Ich habe zugesagt, diese Aufgabe zu u ¨bernehmen, aber ich habe darum gebeten, der Regierung vorzuschlagen, mir einen Assistenten zur Seite zu stellen, dem eine Verg¨ utung gezahlt wird, wie sie einem diesbez¨ uglichen Beauftragten zukommen m¨ ußte, das heißt, eine Jahresverg¨ utung in H¨ohe von 1250 Lire1 ; und die Fakult¨at hat dem Minister auch diesen Vorschlag unterbreitet. Ich meine aus gutem Grunde, daß die Vorschl¨ age der Fakult¨ at angenommen werden. Sobald die Zustimmung erteilt wird, muß ich den Assistenten vorschlagen, und ich m¨ochte Sie vorschlagen. Schreiben Sie mir, ob Sie bereit sind, zuzusagen“.2 Die Familie, Mutter Angelica und Onkel Alfonso, stehen dem jungen Vito auch bei dessen ersten Schritten ins Erwachsenenleben zur Seite und verfolgen seine Schritte mit liebevoller Aufmerksamkeit. Antonio Roiti, sein alter“ ” Physikprofessor am Istituto tecnico Galileo Galilei“ in Florenz und jetzt Pro” fessor an der Universit¨ at Palermo, l¨ aßt es nicht an Ratschl¨agen fehlen – die n¨otigenfalls auch barsch sein k¨ onnen –, damit Volterra nicht die sich bietenden Gelegenheiten verpaßt. Mit der Ernennung zum Assistenten von Betti erf¨ ahrt Volterras Laufbahn eine unerwartete Beschleunigung. Im darauffolgenden Jahr gewinnt er, trotz der anf¨ anglichen Behutsamkeit des Chefs“, ” das Auswahlverfahren f¨ ur die Professur f¨ ur Rationale Mechanik, wobei man sich auf Bettis oben zitierten Brief berief. Es handelt sich um eine Professur an der Universit¨at Pisa, an der Volterra nur wenige Monate zuvor promoviert hatte! In Pisa lehrt Volterra zehn Jahre lang und h¨alt dort die Vorlesungen u ¨ber rationale Mechanik und graphische Statik; nach Bettis Tod h¨alt er auch die Vorlesungen u ur kurze Zeit wird er auch Bi¨ber mathematische Physik. F¨ 1 2
Entspricht ungef¨ ahr 5000 Euro. Der Brief von Betti an Volterra ist vom 31. Oktober 1892. Das Original befindet sich – wie alle anderen im Buch zitierten Briefe an Volterra – im Archivio Volterra dell’Accademia dei Lincei in Rom.
2.1 Von der Promotion direkt auf den Lehrstuhl
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bliotheksbeauftragter der Normale. Es sind wichtige Jahre f¨ ur Pisa und seine Universit¨at. Wir k¨ onnen uns leicht vorstellen, daß das auch entscheidende Jahre f¨ ur einen Universit¨ atsprofessor sind, der noch nicht einmal 30 Jahre alt ist! Er ist von einer f¨ ur die damalige Zeit durchschnittlichen Statur und K¨ orpergr¨oße (kaum 1,70 Meter groß), hat dunkle kastanienbraune Haare und beginnt, sich jetzt einen Bart wachsen zu lassen. Er vertritt zu diesem Zeitpunkt keine besonderen politischen Ansichten, auch wenn es aufgrund einiger S¨atze seines Briefwechsels mit den Familienangeh¨origen den Anschein hat, daß er zum gem¨ aßigten Konservatismus und zur Unterst¨ utzung der Monar¨ chie neigt. Dies ist im Ubrigen das politische Klima, das an der Normale vorherrschte, als er seine Ausbildung erhielt. Als Dini den positiven Ausgang der 1882 in einem toskanischen Kollegium erfolgten Verwaltungswahlen Betti mitteilt, schreibt er ihm, daß wir auf diese Weise auch die Zitadelle der Fort” schrittsfaselei erobert haben“ 3 und faßt damit konzise die politischen Gef¨ uhle zusammen, von denen die Gruppe der Mathematiker beseelt war. In seinen ersten Kontakten zu den Studenten erweist sich Professor Volterra als besonders streng und anspruchsvoll. Ansonsten bewegt er sich noch mit einer gewissen Scheu und Verlegenheit in der akademischen Welt. Ab 1887 lebt er mit seiner Mutter zusammen, die ihm nach Pisa folgt und Florenz endg¨ ultig verl¨aßt. Wer die Gelegenheit hat, Volterra n¨ aher kennenzulernen, spricht von ihm als einem außerst freundlichen jungen Mann, der unmittelbare Sympathien erweckt. Das ¨ wird von dem fast gleichaltrigen Ernesto Pascal (1865–1940) best¨atigt, der Mathematikprofessor an der Universit¨ at Pavia und sp¨ater an der Universit¨at Neapel werden sollte: Prof. Volterra ist ein engelsgleicher junger Mann von ” charakteristischer Bescheidenheit“.4 Man beginnt nun, seinen Wert auch jenseits der Grenzen von Pisa zu erkennen. Allm¨ahlich ¨ offnet ihm die wissenschaftliche und akademische Welt Italiens ihre Tore. Er erh¨ alt 1887 die Goldmedaille des Mathematikpreises, der von der Societ` a dei XL5 ausgeschrieben wurde. Ein Jahr sp¨ater wird er zum korrespondierenden Mitglied der Accademia dei Lincei 6 ernannt (1899 wird er zum Vollmitglied gew¨ ahlt, was als eine noch bedeutendere Auszeichnung gilt). 1891 wird er Mitglied des Circolo matematico di Palermo und Cavaliere
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Dinis Aussage wird in Berengo [5] zitiert. Dieser Satz ist Bestandteil des vom 23. November 1887 datierten Briefes von Pascal an den Mathematikhistoriker Federico Amodeo. Der Brief wurde in Palladino [64] ver¨ offentlicht. Die Accademia Nazionale delle Scienze, auch Accademia dei XL (Akademie der Vierzig) oder Societ` a dei XL (Gesellschaft der Vierzig) genannt, ist eine 1782 in Verona gegr¨ undete italienische Gelehrtengesellschaft. Die Accademia Nazionale dei Lincei, kurz Accademia dei Lincei wurde 1603 in Rom gegr¨ undet. Ihr Symbol ist der Luchs (italienisch lince), der sich durch eine besonders starke Sehkraft auszeichnet. Die Lincei“ sind die Luchs¨ augigen“, also ” ” die Scharfsichtigen“ (s. Kleinert [52]). ”
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2 Professor in Pisa
dell’Ordine della Corona d’Italia 7 . Im Jahr 1892 wird er – nach Bettis Tod – zum Dekan der Fakult¨ at f¨ ur Naturwissenschaften der Universit¨at Pisa gew¨ahlt und folgt seinem Meister auch bei der Leitung der Zeitschrift Nuovo Cimento.
2.2 Wissenschaftliche Arbeit in Pisa Die nachfolgenden Jahre als Professor in Pisa sind f¨ ur Volterra auch vom Standpunkt der Forschung und der weiteren Entwicklung seiner wissenschaftlichen Pers¨onlichkeit ¨ außerst wichtig. Zuerst ist er Analytiker bei Dini, danach mathematischer Physiker bei Betti. In Volterras Fall (aber das trifft auch auf Betti zu) ist es jedoch problematisch, eine scharfe Trennlinie zwischen den Arbeiten zur Analysis und den Arbeiten zur mathematischen Physik zu ziehen. Wir werden das dennoch versuchen – um uns in Volterras wissenschaftlichem Ausstoß orientieren zu k¨ onnen, der bald sehr umfangreich wird. Die Einteilung der Arbeiten gibt uns einen wichtigen Schl¨ ussel in die Hand – aber wir m¨ ussen darauf hinweisen, daß es sich um eine Unterscheidung handelt, die mit Vorsicht zu verwenden ist. Einerseits deswegen, weil in Volterras phy” sikalischen“ Arbeiten das Auftreten analytischer Werkzeuge alles andere als nebens¨achlich ist, andererseits aber auch deswegen, weil in den Arbeiten, die wir als analytisch“ bezeichnen, h¨ aufig Motivationen, Beispiele und Anwen” dungen physikalischer Natur anzutreffen sind. Auf jeden Fall reduzieren sich die verschiedenen Arbeiten – seien es nun Arbeiten zur Analysis oder zur mathematischen Physik – niemals ausschließlich auf den Beweis eines Satzes. Vielmehr verh¨ alt es sich so: S¨atze, Folgerungen und Bemerkungen sind ein Gef¨ uge, um das sich ein regelrechter wissenschaftlicher Diskurs entwickelt. Mitunter sieht sich Volterra bei seinen Untersuchungen gleichsam zu langen Vorbemerkungen oder theoretischen“ Zwischenbe” merkungen gezwungen, um die Werkzeuge f¨ ur eine geeignete Formalisierung bereitzustellen; in anderen Arbeiten ist er u ¨ berwiegend von der M¨oglichkeit fasziniert, neue physikalische Probleme zu l¨ osen oder einen Beitrag zur Pr¨azisierung alter experimenteller Beobachtungen zu leisten. Bei der Darstellung einiger Forschungsarbeiten von Volterra werden wir mehrmals die Gelegenheit haben, auf die ausgepr¨ agte Einheitlichkeit der Arbeiten hinzuweisen. Wir beschr¨anken uns jetzt auf ein Beispiel, das auch f¨ ur Volterras Stil bezeichnend ist: Wir zitieren einen Ausschnitt aus Sopra alcune condizioni caratteristiche delle funzioni di una variabile complessa (Volterra [105]). Hierbei handelt es sich um eine lange und engagierte Abhandlung – im Umfang von mehr als f¨ unfzig Seiten! –, die er am 12. Mai 1882 eingereicht hat; man findet dort noch die Angabe, daß der Autor Student der Normale ist. In der Einleitung zu dieser Abhandlung – die wir als analytisch bezeichnen w¨ urden –, lesen wir, daß in der vorliegenden Arbeit das Problem der Bestimmung gewisser Funk” tionen komplexer Variabler unter gewissen Bedingungen in endlichen Gebieten 7
Ritter des Ordens der Krone von Italien. Der Orden wurde 1868 durch K¨ onig Viktor Emanuel II. zum Andenken an die Einigung Italiens gestiftet.
2.2 Wissenschaftliche Arbeit in Pisa
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gel¨ost wird. Diese L¨ osungen f¨ uhren zur Integration der Differentialgleichung ∆2 µ = 0 mit gegebenen Randbedingungen, wie aufgrund des zwischen den beiden Problemen bestehenden Zusammenhangs vorauszusehen ist. Es ist zu bemerken, daß die gefundenen Formeln auch physikalische Fragen l¨osen, die sich auf die Verteilung von Temperaturen und von konstanten galvanischen Str¨omen beziehen“. Wir wollen diese einheitliche Perspektive f¨ ur den Moment zur¨ uckstellen und aus Bequemlichkeitsgr¨ unden eine strengere Klassifikation anwenden. Volterras erste Arbeit – die im Nuovo Cimento ver¨offentlicht wurde und die Enrico Betti in seinem Jahresbericht an das Ministerium erw¨ahnt hat (vgl. S. 12) –, nimmt das Problem der Berechnung des Potentials eines Ellipsoids in Angriff.8 Insgesamt ver¨ offentlicht Volterra w¨ahrend der Zeit in Pisa und bis zum Beginn der 1890er Jahre etwa zwanzig (!) Arbeiten zur mathematischen Physik. Volterra schreibt diese Arbeiten vor allem in der Zeit zwischen 1882 und 1885 und in den letzten Jahren seines Aufenthalts in Pisa. Die Arbeiten erstrecken sich von der Potentialtheorie bis hin zu seinen ersten Bemerkungen zur Elastizit¨ atstheorie und ber¨ uhren verschiedene Fragen der Hydrodynamik, der Elektrochemie (dieses Thema hatte ihm Antonio Roiti vorgeschlagen), der Mechanik, der Optik, der Elektrostatik und der Elektrodynamik (unter besonderer Ber¨ ucksichtigung der analytischen Aspekte und der Beziehungen zur Variationsrechnung). Unter dem Titel Sur les vibrations dans les milieux bir´efringents wird die wichtigste dieser Untersuchungen in den Acta Mathematica ver¨offentlicht9 , der Zeitschrift des schwedischen Mathematikers Gustaf Mittag-Leffler (1846– 1927); der Arbeit geht diesmal keine einschl¨ agige Ver¨offentlichung in den Mitteilungen der Accademia dei Lincei voraus. Es geht um eine Analyse der mathematischen Gesetze der Lichtausbreitung in doppelbrechenden Medien und um deren Eigenschaft, den einfallenden Strahl in zwei polarisierte Strahlen zu spalten, die in zueinander senkrechten Ebenen schwingen. Das Problem hat eine lange Geschichte. Bereits C. Huygens hatte das Problem 1690 in seinem Trait´e de la lumi`ere angepackt. Danach sind zahlreiche Physiker und Mathematiker auf die Frage aufmerksam geworden, zum Beispiel Fresnel, Hamilton, Pl¨ ucker, Navier, Cauchy, Green und Stokes, wobei wir ein wachsendes Interesse f¨ ur das Modell erkennen, das von der Elastizit¨atstheorie bereitgestellt wird.10 Gegen 1860 stellt der franz¨osische Mathematiker und Ingenieur Gabriel Lam´e in seinem Werk Le¸cons sur la th´eorie math´ematique de l’´elasticit´e des corps solides die Vorlesungen zusammen, die er an der Sorbonne gehalten hat. Wir zitieren zun¨ achst Volterra: Lam´e widmet die ” 22. und die 23. dieser Vorlesungen u ¨ber mathematische Elastizit¨atstheorie den Untersuchungen der M¨ oglichkeit eines einzigen Schwingungszentrums bei der Lichtausbreitung in doppelbrechenden Medien“. Um das Ph¨anomen vom mathematischen Standpunkt aus zu untersuchen, macht Lam´e einen Ansatz 8 9 10
Volterra [101]. Volterra [115]. In Bezug auf die Geschichte des Problems verweisen wir auf G˚ arding [31].
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2 Professor in Pisa
mit einem System von partiellen Differentialgleichungen und findet spezielle L¨osungen dieses Systems. Auf diese L¨ osungen st¨ utzen sich die Betrachtungen der russischen Mathematikerin Sofja (Sonja) Kowalewskaja, die u ¨brigens auf eine Methode zur¨ uckgreift, die bereits von Weierstraß auf die L¨osung einfacherer Systeme angewendet wurde. Ihr Ziel besteht darin, einige physikalische ¨ Widerspr¨ uchlichkeiten zu u an¨ berwinden, die man in Lam´es Uberlegungen trifft, und gleichzeitig die allgemeine L¨ osung des Systems zu erhalten. Ihre Forschungsarbeit erscheint 1886 in den Acta Mathematica: Zwei Jahre zuvor war es Mittag-Leffler gelungen, Kowalewskajas akademische Schwierigkeiten zu u ur sie einen Lehrauftrag (und sp¨ater eine Professur) an ¨berwinden und f¨ der Universit¨at Stockholm zu finden. Auch die schwedischen Intellektuellen tun sich damals schwer, eine Frau zu akzeptieren, die sich der wissenschaftlichen Arbeit verschrieben hat. F¨ ur den Dramatiker August Strindberg ist eine Mathematikgelehrte ein sch¨ adliches und unangenehmes Ph¨anomen, ja sogar ” eine Ungeheuerlichkeit“. Sofja Kowalewskaja (1850–1891) ist die erste Frau der Welt, die ein Doktorat in Mathematik erlangt und in der Wissenschaft eine große Wertsch¨ atzung genießt.11 Um andere bedeutende Mathematikerinnen zu finden, muß man in Italien bis zu Maria Gaetana Agnesi12 und in Frankreich bis zu Sophie Germain13 zur¨ uckgehen. F¨ ur Sofja Kowalewskaja, die russischer Nationalit¨ at war, wird eine Scheinehe arrangiert“, damit sie ” ihr Studium fortsetzen und u ugen kann.14 Auf diese Weise ¨ber einen Paß verf¨ kann sie in Deutschland studieren, wo sie 1874 bei Weierstraß promoviert. Davor ist sie w¨ahrend der Tage der Kommune auch in Paris gewesen. Ihre politischen Ideen sind nicht sehr orthodox“ und das tr¨agt nicht gerade dazu bei, ” ihre Lage und ihre Aussichten auf eine akademische Laufbahn zu verbessern. Gl¨ ucklicherweise wird sie, wie bereits gesagt, von Mathematikern wie Weierstraß und Mittag-Leffler unterst¨ utzt. 1888 erh¨alt sie den Prix Bordin der franz¨osischen Akademie der Wissenschaften. Erst im Jahr 1908 erh¨alt eine weitere Frau – Marie Curie – eine Universit¨ atsprofessur. Um auf Volterra zur¨ uckzukommen: Unsere obigen Ausf¨ uhrungen erkl¨aren, warum er seine Arbeit in den Acta Mathematica ver¨offentlicht. Es ist dieselbe Zeitschrift, in der Sofja Kowalewskajas Arbeit publiziert worden war. Volterras Beitrag geht aus einer kritischen Betrachtung des von Lam´e angewendeten Verfahrens hervor. Die Transformation der L¨osungen Lam´es in eine andere Form erm¨oglicht die Aufdeckung eines Fehlers, der auch Sofja Kowalewskaja entgangen war und deswegen ihre Suche nach der allgemeinen L¨osung entkr¨aftet. Volterra schreibt in seiner oben genannten Arbeit: Diese Eigenschaft ” [der Polydromie] erkennt man nicht auf den ersten Blick, wenn man diese 11 12
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Wir verweisen hier auf die Kowaleskaja-Biographie von Tuschmann-Hawig [99]. Maria Gaetana Agnesi (1718–1799) ver¨ offentlichte 1748 ihr Werk Istituzioni analitiche ad uso della giovent` u italiana, eine Einf¨ uhrung in die Analysis. Sophie Germain (1776–1831) ist vor allem durch ihre Beitr¨ age zur mathematischen Elastizit¨ atstheorie und zur Zahlentheorie bekannt. Sofjas Geburtsname war Korwin-Krukowskaja. Die Zweckheirat mit dem russischen Pal¨ aontologen W. O. Kowalewski (1842–1883) fand 1868 statt.
2.2 Wissenschaftliche Arbeit in Pisa
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Gr¨oßen in der von Lam´e gegebenen Form untersucht. Deswegen hatte er sich get¨auscht, als er glaubte, daß diese die Lichtschwingungen darstellen k¨onnten, die von einem Schwingungszentrum ausgehen. Es sind die gleichen Funktionen, die in dem M´emoire von M.me Kowalewskii auftreten. Erkennt man, daß es sich um Polydrome handelt, dann sieht man auch, daß sich die Methode, die Herr Weierstrass f¨ ur die Integration von linearen partiellen Differentialgleichungen entdeckt hat, nicht anwenden l¨ aßt, um die Gleichungen von Lam´e mit Hilfe der Koordinaten von Herrn Weber zu integrieren“. Ausf¨ uhrlicher dr¨ uckte er sich in seinem vom 17. April 1892 datierten Brief an den franz¨osischen Physiker und Wissenschaftsphilosophen Pierre Duhem aus: Vor einiger Zeit ” habe ich mit Untersuchungen zur elektromagnetischen Theorie des Lichtes angefangen; aber ich mußte meine Arbeit unterbrechen, weil ich zu meiner ¨ gr¨ oßten Uberraschung erkannt habe, daß die Integrale zur Doppelbrechung seit Lam´es Zeiten bis hin zu M.me Kowalewskii den gleichen analytischen Fehler enthielten, obwohl die Ausgangspunkte der Geometer, die diese Frage untersucht hatten, unterschiedlich waren“. Auch zur Analysis ver¨ offentlicht Volterra w¨ahrend seines Aufenthaltes in Pisa etwa zwanzig Arbeiten! Nach den Arbeiten von 1881, u ¨ber die wir im vorhergehenden Kapitel gesprochen haben, befaßt sich Volterra nicht mehr mit Fragen zu den Grundlagen der Disziplin, wie etwa mit den Beziehungen zwischen Differentiation und Integration. Es ist eine gl¨ uckliche Wahl oder eine gl¨ uckliche Intuition angesichts der Tatsache, daß die strenge Begr¨ undung der reellen Analysis und die Dini-Periode in Italien ihre besten Tage vielleicht schon hinter sich haben. Betti legt der Accademia dei Lincei nun immer h¨aufiger die Artikel des fr¨ uheren Studenten und jetzigen jungen Kollegen vor. Die behandelten Probleme betreffen vor allem die Untersuchung von Funktionen einer komplexen Variablen sowie das Studium von (gew¨ohnlichen und partiellen) Differentialgleichungen. 1890 erscheinen zwei Artikel zur Variationsrechnung. In Sopra un’estensione della teoria di Jacobi-Hamilton del calcolo delle variazioni 15 werden die Hamilton-Jacobi-Gleichungen (bei denen es sich um partielle Differentialgleichungen handelt) auf Doppelintegrale verallgemeinert. Bis dahin wurden diese Gleichungen nur im sogenannten einfacheren Problem angewendet (bei dem es sich um die Bestimmung derjenigen Funktion y(x) Rb handelt, welche die Gr¨ oße J = a f (x, y, y 0 )dx maximiert oder minimiert, wobei man J als Funktion von a, b, y(a) und y(b) betrachtet). F¨ ur Volterra ist das eine weitere Gelegenheit, seine neue Theorie der Linienfunktionen anzuwenden: Geht man von den einfachen Integralen zum Fall der Doppelintegrale ” u ¨ber, dann haben wir eine oder mehrere Linien, die den Rand des Integrationsbereiches bilden, l¨ angs dem beliebige Werte der unbekannten Funktion vorgegeben werden k¨ onnen“. Mit den Linienfunktionen kommen wir zu den bedeutendsten Ergebnissen der Zeit in Pisa. Diese Arbeiten Volterras – der jetzt ein junger Mann von etwas mehr als 25 Jahren ist! – sind der Ursprung der Funktionalanalysis. Wir meinen hiermit Volterras Arbeiten Sopra le fun15
Volterra [114].
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2 Professor in Pisa
zioni che dipendono da altre funzioni 16 und Sopra le funzioni dipendenti da linee 17 , die 1887 in den Sitzungsberichten der Accademia dei Lincei erschienen sind, sowie andere – sich daran eng anschließende – Untersuchungen, in denen sich der Schwerpunkt hin zu einigen Fragen der komplexen Analysis verschiebt. Wir zitieren noch Sopra un’estensione della teoria di Riemann sulle funzioni di variabili complesse 18 , Sur une g´en´eralisation de la th´eorie des fonctions d’une variable imaginaire 19 (ver¨ offentlicht in Mittag-Lefflers Zeitschrift Acta Mathematica) sowie Delle variabili complesse negli iperspazi 20 . Der Ausdruck Funktionalanalysis soll darauf hinweisen, daß es um die Untersuchung von Funktionalen geht (und um die Untersuchung der von diesen Funktionalen gebildeten R¨ aume). Volterra verwendet vorl¨aufig diesen Begriff nicht, der 1903 von Jacques Hadamard (1865–1963) eingef¨ uhrt wird, einem der bedeutendsten Mathematiker der ersten H¨alfte des 20. Jahrhunderts und ein weiterer der großen franz¨ osischen Freunde Volterras. Volterra bevorzugt – wie wir anhand der Titel einiger seiner Arbeiten gesehen haben – die Ausdr¨ ucke Funktionen, die von anderen Funktionen abh¨angen, und linienabh¨ angige Funktionen. Die Bedeutung ist dieselbe, auch wenn es der Begriff des Funktionals ist, der sich besser f¨ ur die nachfolgenden Verallgemeinerungen eignet und sich deswegen schließlich durchsetzt. Was ist ein Funktional oder eine linienabh¨angige Funktion? Die Verallgemeinerung des Funktionsbegriffes ist einfach. Verstehen wir unter einer Funktion einer reellen Variablen eine Zuordnung, die einer reellen Zahl eine andere reelle Zahl zuordnet, dann bezeichnen wir mit dem Wort Funktional eine Zuordnung, die einem Element einer beliebigen Menge eine reelle Zahl zuordnet. In Volterras Sprache, die am Anfang ein bißchen weniger allgemein ist, handelt es sich um eine Zuordnung, die einem Element der Menge der stetigen Funktionen oder der Kurven, die diese Funktionen geometrisch darstellen, eine reelle Zahl zuordnet. Volterra spricht somit von einer Funktion, die von einer anderen Funktion abh¨angt21 oder von einer linienabh¨angigen Funktion. Die Verallgemeinerung erfolgt bei der unabh¨angigen Variablen der Zuordnung und nicht bei der abh¨angigen Variablen. S¨amtliche Begriffe bez¨ uglich des Verhaltens der unabh¨ angigen Variablen (zum Beispiel ¨ deren Ubergang zu einem Grenzwert) werden umformuliert; dagegen k¨onnen diejenigen Begriffe, in denen die abh¨ angige Variable auftritt, ruhig kopiert“ ” ¨ werden, weil sich – von diesem Standpunkt aus – beim Ubergang von den Funktionen zu den Funktionalen nichts ¨ andert. Den Mathematikern k¨ onnen die Ideen f¨ ur neue Forschungsarbeiten bei vorhergehenden Untersuchungen kommen – das sind die sogenannten inter16 17 18 19 20 21
Volterra [108]. Volterra [109]. Volterra [110] und [111]. Volterra [112]. Volterra [113]. Dieser Begriff darf nicht mit dem Begriff der zusammengesetzten Funktion verwechselt werden.
2.2 Wissenschaftliche Arbeit in Pisa
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nen Motivationen. Dabei denken sie weiter dar¨ uber nach, diese Untersuchungen zu pr¨azisieren und zu verallgemeinern. Die Ideen k¨onnen ihren Ursprung aber auch in der Beobachtung der Natur haben (also in sogenannten externen Motivationen). Nat¨ urlich versteht die Mathematik, insbesondere die moderne Mathematik, den Bezug auf die reale Welt in einem mittelbaren Sinn: Es ist m¨oglich, daß ein Mathematiker die Planetenbewegungen oder eine besondere B¨orsenturbulenz beobachtet und es ihm sofort gelingt, einen neuen Satz zu beweisen; h¨aufiger ist es jedoch, daß den Mathematiker ein Abbild der ¨ realen Welt durch den Filter der Astronomen oder der Okonomen (um uns auf die beiden obengenannten Beispiele zu beschr¨anken) erreicht, und daß er bei seiner Arbeit Kontakt mit einer bereits auf dem Papier bestehenden ¨ Welt hat, wie es bei den Untersuchungen der Astronomen und der Okonomen der Fall ist. Bei der Verallgemeinerung, die Volterra mit den Funktionalen vornahm, sind sowohl die internen als auch die externen Motivationen auf nahezu paradigmatische Weise pr¨ asent: Diese Funktionen – schreibt er in der ” oben zuerst zitierten Abhandlung, die in den Acta Mathematica ver¨offentlicht 22 wurde – treten in mehreren Fragen der Physik auf [...]. Sie k¨onnen auch mit analytischen Fragen zusammenh¨ angen“. Sp¨ater best¨atigt er: Es war f¨ ur ” mich notwendig, Linienfunktionen zu betrachten, da viele Naturerscheinungen zur Untersuchung von Gr¨ oßen f¨ uhren, die von einer unendlichen Anzahl von Variablen abh¨angen. Auch viele Probleme der Analysis f¨ uhren zu denselben Gr¨oßen“.23 Die Feststellung, daß Ausdr¨ ucke, die von anderen Funktionen abh¨angen, in vielen analytischen Entwicklungen auftreten, veranlaßt Volterra, die Theorie der Funktionale zu erfinden. Zum Beispiel treten Ausdr¨ ucke dieser Art bei der L¨osung von partiellen Differentialgleichungen (bei denen ein Integral von einer oder mehreren beliebigen Funktionen abh¨angt) oder in der komplexen Analysis auf. Tats¨ achlich ist die Vision, die neue Theorie mit Gewinn auf einige Untersuchungen der komplexen Analysis anwenden zu k¨onnen, eine der anf¨anglichen Motivationen: Ich erlaube mir, in dieser Arbeit auf eini” ge Betrachtungen einzugehen, die zur Kl¨ arung einiger Begriffe dienen, deren Einf¨ uhrung ich f¨ ur notwendig halte, um die Riemannsche Theorie der Funktionen von komplexen Variablen zu erweitern, und ich denke, daß sich diese Begriffe auch in verschiedenen anderen Untersuchungen als n¨ utzlich erweisen k¨onnen“.24 Ebenfalls 1887 beweist Poincar´e folgenden Satz: Wird eine Funktion zweier komplexer Variabler u ¨ber eine Fl¨ache integriert, die zusammen mit ihrem Rand im Wertevorrat enthalten ist, dann h¨angt das Integral nur von diesem Rand ab. Volterra stellt fest: Monsieur Poincar´e hat durch die ” Verallgemeinerung des Satzes von Cauchy bewiesen, daß das Integral einer eindeutigen Funktion zweier imagin¨ arer Variabler u ¨ber eine geschlossene Fl¨ache null ist. Man kann hieraus Folgendes ableiten: Ist die Integrationsfl¨ache nicht 22 23 24
Volterra [115]. Volterra [132]. Volterra [109].
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fest, dann h¨angt das Integral von den Linien ab, die den Rand der Fl¨ache bilden. Demnach sieht man, daß die Integration der Funktionen zweier Variabler zu den Linienfunktionen f¨ uhrt“.25 Das sind die internen Motivationen. Bei den externen Bez¨ ugen geht es um viele Erfahrungen aus der Physik und der Mechanik“, wo der Funktional” begriff gleichermaßen spontan auftritt: Zum Beispiel h¨angt die Temperatur ” in einem Punkt einer leitenden Folie von denjenigen Werten ab, welche die Temperatur auf dem Rand hat; eine infinitesimale Verschiebung eines Punktes einer biegsamen nicht dehnbaren Fl¨ ache h¨angt von allen Komponenten der Verschiebungen der Randpunkte parallel zu einer bestimmten Richtung ab“. Auch die geometrische Version der Funktionale, die auf der Menge der geschlossenen Kurven eines dreidimensionalen Raumes betrachtet werden, ist den Physikern angesichts der Tatsache vertraut, daß man ein spontanes Auf” treten feststellt, wenn man an gewisse elektrische Ph¨anomene denkt. Man betrachte etwa einen elektrischen Strom, der durch einen geschlossenen linearen Stromkreis der St¨ arke I fließt und sich in einem Magnetfeld befindet. Die potentielle Energie des Stroms h¨ angt nur von der Form und der Position des Leiterkreises sowie von der Richtung ab, in welcher der Strom durch den Leiterkreis fließt; somit entspricht jeder geschlossenen Linie, die im Magnetfeld in einer bestimmten Richtung gezogen wird, ein Wert der potentiellen Energie“. Die Originalit¨ at der internen Motivationen entgeht Hadamard nicht, der den gleichsam ¨asthetischen Wert der von Volterra entwickelten Theorie hervorhebt: Viel u ¨berraschender ist das Schicksal der Verallgemeinerung, die diese ” anf¨angliche Auffassung im letzten Teil des 19. Jahrhunderts haupts¨achlich dank des m¨achtigen Impulses von Volterra erf¨ ahrt. Was brachte den großen italienischen Geometer dazu, mit Funktionen in der gleichen Weise zu operieren, wie es die Infinitesimalrechnung mit Zahlen gemacht hatte, das heißt, eine Funktion als ein stetig variables Element zu betrachten? Der Grund hierf¨ ur liegt einzig und allein darin, daß er folgenden Umstand erkannte: Durch diese Herangehensweise l¨ aßt sich die Architektur des mathematischen Geb¨audes auf harmonische Weise vervollst¨ andigen – so wie ein Architekt erkennt, daß ein Geb¨aude ausgeglichener wird, wenn man einen neuen Fl¨ ugel hinzuf¨ ugt“. Der franz¨osische Mathematiker erw¨ ahnt nicht die Dinge, die wir als externe Motivationen angegeben hatten, aber er kann nicht umhin, die unerwartete Anwendbarkeit der neuen Begriffe zu betonen: Daß die Funktionale, wie ” wir den neuen Begriff genannt hatten, eine direkte Beziehung zur Realit¨at haben k¨onnten, konnte nur als eine Absurdit¨ at betrachtet werden. Die Funktionale schienen eine im Wesentlichen vollkommen abstrakte mathematische Sch¨opfung zu sein. Jetzt ist diese Absurdit¨ at genau das, was sich ereignet hat“.26 Nachdem der Begriff des Funktionals nunmehr eingef¨ uhrt war, muß man – um mit dieser neuen mathematischen Realit¨ at arbeiten zu k¨onnen – einen ¨ahn25 26
Volterra [112]. Hadamard [44].
2.2 Wissenschaftliche Arbeit in Pisa
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lichen Kalk¨ ul konstruieren, wie ihn die klassische Analysis f¨ ur die Funktionen einer reellen Variablen kennt: Man braucht den Begriff des Grenzwertes, die Definition und Berechnung von Ableitungen und so weiter. Die Funktionalanalysis des zwanzigsten Jahrhunderts betrachtet – ausgehend von Fr´echets im Jahr 1906 ver¨offentlichten Dissertation27 – Funktionale als Zuordnungen, die auf einer beliebigen Menge definiert sind, und stellt haupts¨achlich die Untersuchung der minimalen Strukturen in den Vordergrund, die auf einer derartigen Menge definiert werden m¨ ussen, um den neuen Kalk¨ ul zu entwickeln. Eine der ersten Definitionen betrifft die metrische Struktur, die es gestattet, den Begriff der Umgebung zu pr¨ azisieren und die Operation der Grenzwertbildung (und somit auch die Operation der Ableitung) zu betrachten. All das gibt es bei Volterra noch nicht. Er ben¨otigt keine derart abgehobe” nen“ Abstraktionen und die Motivationen bleiben f¨ ur ihn bei der Bestimmung des Abstraktionsgrades wesentlich, auf den man sich einrichtet. Volterras Linienfunktionen – es ist kein Zufall, daß auch die Terminologie eine andere ist – sind Zuordnungen, die auf einer konkreten“ Menge definiert und in je” dem Fall spezifisch sind, wie etwa die Menge der auf einem Intervall stetigen Funktionen. Es gibt noch keine allgemeine Definition des metrischen Raumes. Die Definition der Ableitung greift noch auf den Grenzwert eines reellen Parameters zur¨ uck (und auf ein Verfahren, das denjenigen vertraut ist, die sich mit Variationsrechnung befassen): Betrachtet man eine Ausgangsfunktion f0 und den entsprechenden Wert des Funktionals U (f0 ), dann wird die mit einem Zuwachs versehene Funktion als f0 + tg geschrieben, wobei t ein reeller Parameter und g eine vorgegebene Funktion ist, die fortf¨ahrt, die Rich” tung“ des Zuwachses anzugeben, w¨ ahrend t gegen 0 strebt. Der Grenzwert von [U (f0 + tg) − U(f0 )]/t f¨ ur t gegen 0 ist die erste Ableitung des Funktionals nach der Richtung g. In den Arbeiten von 1887 f¨ uhrt Volterra die Ableitung nicht in dem trockenen und n¨ uchternen Stil ein, den wir heute vor allem bei Definitionen gewohnt sind. Am Ende des 19. Jahrhunderts ist unter den Mathematikern noch nicht die Gewohnheit verbreitet, die Motivationen und die mentalen Konstruktionen zu verbergen“, die zu einer bestimmten Begriffsbildung f¨ uhren. ” Volterra h¨alt sich auch nicht damit auf, anhand der Ableitung eines Funktionals dessen grundlegende Eigenschaften zu untersuchen. Er ist vielmehr daran interessiert, den Ausdruck der verschiedenen Variationen (erste, zweite, ..., nte Variation) eines Funktionals zu berechnen, da ihm seine nachfolgende Entwicklung mit der Taylorschen Formel dazu dient, die Dinge weiter zu vertiefen. Die Anwendungen – wohlgemerkt auch die mathematischen Anwendungen – sind stets der Kompaß des Verfahrens. Der Bezugspunkt ist immer die Untersuchung in ihrer Gesamtheit und nicht die Leidenschaft f¨ ur Vertiefungen um ihrer selbst willen. Wir haben von Paradigmen gesprochen, die in Volterras Arbeit st¨andig pr¨ asent sind. Wir weisen hier wir auf das Paradigma der engen Nachbarschaft 27
Fr´echet [27].
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2 Professor in Pisa
und Verflechtung der reinen“ Forschung mit einer Forschung hin, die in ir” gendeiner Weise angewandt ist; es geht hierbei um die Verflechtung von Analysis und mathematischer Physik sowie um die Verflechtung von internen und externen Motivationen. Das f¨ uhrt nat¨ urlich dazu, den Anwendungen und ihrer Rolle bei der Ermittlung des g¨ unstigsten Abstraktionsniveaus eine besondere Bedeutung zuzuschreiben. Einige Aspekte dieser Herangehensweise erkennen wir auch in einer polemischen Auseinandersetzung, die Volterra einige Jahrzehnte sp¨ater mit dem franz¨ osischen Mathematiker Maurice Fr´echet (1878– 1973) u uhrt. Fr´echet, der ¨ber die Definition der Ableitung eines Funktionals f¨ besonders bedeutende Beitr¨ age zur Analysis und zur Wahrscheinlichkeitstheo¨ rie geleistet hat, gilt als einer der Begr¨ under der Funktionalanalysis. Im Ubrigen haben wir ja bereits Fr´echets Dissertation von 1906 erw¨ahnt, in der er den Begriff des metrischen Raumes einf¨ uhrt. Volterras Definition der Ableitung eines Funktionals – sp¨ater in der Literatur als Gˆ ateauxsches Differential 28 bekannt – verallgemeinert den u ¨ blichen Begriff der Richtungsableitung bei der Wahl des Zuwachses tg und dessen fortlaufender Reduktion ausschließlich mit Hilfe des Skalars t. Strebt dieser Skalar gegen 0, dann verkleinert“ er die Funktion g, l¨aßt aber deren Form in ” gewisser Weise unver¨ andert. Danach f¨ uhrt Fr´echet eine Definition des Differentials eines Funktionals ein und verallgemeinert damit den u ¨blichen Begriff des vollst¨andigen Differentials f¨ ur Funktionen von n Variablen. Die beiden Verfahren unterscheiden sich voneinander, weil Fr´echet die mit einem Zuwachs versehene Funktion als f0 + g schreibt und die G¨ ute der linearen Approximation von [U (f0 + g) − U (f0 )] in einer ganzen Umgebung von f0 mit Hilfe des Grenzwertes f¨ ur g gegen 0 absch¨ atzt. Der Vergleich zwischen den beiden Definitionen ist schnell gezogen: Fr´echets Definition betrachtet einen allgemeinen Zuwachs g, l¨ aßt ihn auf irgendeine Weise gegen 0 gehen und bestimmt eine spezielle Klasse von Funktionalen – die nach Fr´echet differenzierbaren Funktionale –, denen eine fundamentale Rolle in der Analysis bestimmt sein sollte. Ein nach Fr´echet differenzierbares Funktional ist auch nach Gˆateaux differenzierbar, w¨ ahrend die Umkehrung nicht gilt. Hinter den beiden unterschiedlichen Definitionen steht auch eine unterschiedliche Auffassung des Begriffes der Verallgemeinerung und des w¨ unschenswerten Abstraktionsniveaus. Hierzu schreibt Fr´echet noch 1965 an Paul L´evy, einen weiteren ber¨ uhmten franz¨ osischen Mathematiker: In der Tat, wenn ich ” meine, daß Volterra einen großen Fortschritt gemacht hat, als er das Differential einer Funktion, deren Argument eine Funktion ist, zumindest definiert hat, meine ich andererseits, daß seine Definition schlecht ist. Ich habe seine Definition nicht angewendet [...] sondern eine Definition, die g¨anzlich verschie28
In Bezug auf die Gr¨ unde, die dazu gef¨ uhrt haben, den Beitrag Volterras – zumindest auf der Ebene der Terminologie – in den Hintergrund zu stellen, verweisen wir auf eine der beiden von A. Guerraggio verfaßten Aktualisierungen der italieni¨ schen Ubersetzung Storia del Calcolo (Boyer [11]) des klassischen Werkes History of Calculus (Boyer [10]).
2.2 Wissenschaftliche Arbeit in Pisa
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Abb. 2.1. Maurice Fr´echet im Jahr 1910.
den von derjenigen Volterras ist“. Vorher hatte er in einem etwas diplomatischeren Ton geschrieben: Die klassische, auf Lagrange zur¨ uckgehende Metho” de, besteht nicht darin, die Linienfunktionen analog zu den Zahlenfunktionen zu behandeln, sondern mit Hilfe von Funktionen vorzugehen, die, wenn man sie auf einer Familie von Linien eines Parameters berechnet, zu nichts anderem werden, als zu Funktionen dieses numerischen Parameters. Das ist auch die Methode, die von Volterra f¨ ur allgemeinere (Linien)Funktionen verwendet wurde, die man in der Funktionalanalysis untersucht. Wir meinen, daß man den Grund der Dinge besser erreicht und daß man Schwierigkeiten vermeidet, wenn man die Zwischenschaltung des Parameters fallen l¨aßt und eine Linie unmittelbar als eine absolut unabh¨ angige Variable behandelt“. Volterra diskutiert die von Fr´echet gegen¨ ubergestellten Begriffe nicht. Er l¨ aßt jedoch keine Gelegenheit aus, um zu betonen, daß es kein ¨asthetisches oder lediglich formales Kriterium geben kann – etwa die Eleganz einer Konstruktion oder ihre gr¨ oßere Allgemeinheit –, das die Entwicklung des mathematischen Denkens lenkt. Er wendet sich in einem vom 17. November 1913 datierten Brief direkt an Fr´echet und schreibt, daß ich nat¨ urlich in der Zeit ” um 1887 eine solche Anzahl von Problemen vor mir hatte (Integralgleichungen mit Funktionalableitungen etc.), daß ich mich nicht mit Fragen aufhalten konnte, die meiner Meinung nach nebens¨ achlich waren; mir ging es um die Anwendungen der allgemeinen Begriffe, die ich aufgeworfen hatte“.
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2.3 Die ersten Reisen ins Ausland Volterras Ergebnisse werden bald auch jenseits der Landesgrenzen bekannt. Wir haben auch schon u ¨ ber die ersten Anerkennungen in Italien berichtet. Bereits in der zweiten H¨ alfte der 1880er Jahre fehlt es auch nicht an ¨ahnlichen internationalen Ehrenbezeugungen, beginnend mit Frankreich, das – ohne zu u ur Volterra sein ganzes ¨bertreiben und ohne große Worte zu verwenden – f¨ Leben lang zur zweiten Heimat werden sollte. 1888 wird Volterra Mitglied der Soci´et´e math´ematique de France. Im gleichen Jahr reist er das erste Mal ins Ausland. Er hatte seinerzeit in Pisa, als er noch Student war, den schwedischen Mathematiker Gustaf MittagLeffler kennengelernt, den wir bereits im Zusammenhang mit Sofja Kowalewskaja erw¨ahnt haben. Diese Begegnung war der Beginn einer gegenseitigen Wertsch¨atzung – auch seitens des bereits anerkannten schwedischen Professors gegen¨ uber dem jungen italienischen Studenten –, die bald zu einer lebenslangen Freundschaft werden sollte. (Mittag-Leffler stirbt 1927.) Mittag-Leffler zeichnet sich durch Forschungsarbeiten u ¨ber Differentialgleichungen und u ¨ber Funktionen einer komplexen Variablen ebenso aus wie durch seine ¨außerst aktive Rolle in der internationalen mathematischen Gemeinschaft, vor allem als Vertreter eines neutralen Landes bei dramatischen Konflikten (wie dem Deutsch-Franz¨osischen Krieg von 1870 und dem Ersten Weltkrieg). Auf Vorschlag des norwegischen Mathematikers Sophus Lie gr¨ undet Mittag-Leffler die internationale Zeitschrift Acta Mathematica. Zusammen mit Mittag-Leffler besucht Volterra die Schweiz und hat die Gelegenheit, bedeutende Mathematiker wie Karl Weierstraß, Georg Cantor, Sofja Kowalewskaja, Hermann Amandus Schwarz und Adolf Hurwitz zu treffen. Sp¨ ater, w¨ahrend der Osterferien desselben Jahres 1888, begibt er sich nach Paris. Dort lernt er Poincar´e kennen, der ihn im darauffolgenden Jahr in die franz¨ osische Hauptstadt einl¨adt. Poincar´e m¨ochte Volterra f¨ ur die Arbeiten zum Congr`es international de bibliographie des sciences math´ematiques gewinnen, der als Begleitveranstaltung zur Weltausstellung 1889 organisiert wird. Das Jahr 1889 ist die Hundertjahrfeier der Franz¨ osischen Revolution und der Anlaß f¨ ur die Einweihung des Eiffelturms! Die Beziehungen zwischen den Vertretern der verschiedenen nationalen wissenschaftlichen Gesellschaften werden von da an intensiver. Die ersten Internationalen Mathematikerkongresse (Z¨ urich 1897 und Paris 1900) liegen in der Luft“. Volterra nimmt zusammen mit Giovan Battista Guccia ” (1855–1914) an den Tagen“ der mathematischen Bibliographie teil. Guccia ” hatte vor kurzem, im Jahre 1884, in Palermo den Circolo matematico (di Palermo) gegr¨ undet, der sich bald eines ausgezeichneten Rufes und einer großen internationalen Wertsch¨ atzung erfreut. Die Korrespondenz dieser Jahre zeigt, daß Volterra inzwischen zu einem Kreis von besonders namhaften und qualifizierten Wissenschaftlern geh¨ort, die sich pers¨onlich kennen und miteinander in Briefwechsel stehen. Es ist jedoch die Begegnung mit Poincar´e, die sich als entscheidend erweist und weit u ¨ber eine einfache Bekanntschaft hinausgeht. Es handelt sich um eine Bekannt-
2.3 Die ersten Reisen ins Ausland
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schaft mit einem ausl¨ andischen Kollegen, die es Volterra erm¨oglicht, das Netz der wissenschaftlichen Kontakte zu intensivieren. Und das vor allem wegen des Ansehens, das der Gespr¨ achspartner genießt. Poincar´e geh¨ort zu einer Familie,
Abb. 2.2. Henri Poincar´e.
die im k¨ unftigen Frankreich (und nicht nur dort) eine wichtige Rolle spielen sollte: Raymond Poincar´e (1860–1934), der vor und nach dem Ersten Weltkrieges mehrere Male Ministerpr¨ asident und von 1913 bis 1920 Pr¨asident der Republik wird, ist sein Cousin. Der Mathematiker, Physiker und Wissenschaftsphilosoph Henri Poincar´e (1854–1912) ist in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende einer der weltweit f¨ uhrenden Wissenschaftler. Seine Bekanntheit steigt im Jahr des Kongresses der Mathematischen Bibliographie sprunghaft an. Im Jahr 1889 gewinnt er das Preisausschreiben zum 60. Geburtstag von Oskar II., des K¨onigs von Schweden und Norwegen, der damit sein Interesse f¨ ur den mathematischen Fortschritt bekr¨ aftigte. (Auf Poincar´es Abhandlung Sur le probl`eme de trois corps et les ´equations de la dynamique folgen bald die drei B¨ande Les methodes nouvelles de la m´ecanique celeste. Die Untersuchung der dynamischen Systeme im Bereich der Himmelsmechanik und die Erforschung der Stabilit¨ at dieser Systeme ist der Ausgangspunkt dessen, was heute als Theorie des deterministischen Chaos bezeichnet wird. Ein entscheidender Faktor ist die Entdeckung der Empfindlichkeit der Entwicklung eines dynamischen Systems gegen¨ uber einer leichten St¨orung der Ausgangsdaten:
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2 Professor in Pisa
Es kann vorkommen, daß kleine Unterschiede in den Anfangsbedingungen ” zu sehr großen Unterschieden bei den Endph¨anomenen f¨ uhren. Ein kleiner Fehler bei den ersteren erzeugt einen riesigen Fehler in den letzteren. Eine Vorhersage wird unm¨ oglich“. Poincar´e schafft eine neue Mathematik, ohne sich um disziplin¨ are Schranken oder um die traditionelle Unterscheidung zwischen reiner und angewandter Mathematik zu k¨ ummern. Rein und angewandt sind Kategorien, die ihm zu eng sind. Poincar´e ist vielleicht der letzte uni” verselle“ Mathematiker der Geschichte. Seine Beitr¨age erstrecken sich von der mathematischen Physik (Himmelsmechanik, Str¨omungsmechanik, Relativit¨at, Kosmologie, Optik, Elektrizit¨ at usw.) u ¨ber die Untersuchung von Funktionen mit komplexen Variablen bis hin zur qualitativen Theorie der Differentialgleichungen, zur nichteuklidischen Geometrie, zur algebraischen Topologie und zur Zahlentheorie. Poincar´es Auffassung von der Wissenschaft und seine umfassende, weitgespannte Herangehensweise haben auf Volterra eine besondere Wirkung. Ihn fasziniert die st¨andige Sorge um die Verbindung zwischen rechnerischer Strenge mit der Forderung, die physikalische Realit¨at zu verstehen. Es ist kein Zufall, daß er Poincar´e mehrmals f¨ ur den Physiknobelpreis vorschl¨agt. Am 10. Oktober 1912, wenige Monate nach Poincar´es Tod, muß Volterra stattdessen des großen franz¨ osischen Mathematikers anl¨aßlich einer Feier im Rice Institute Houston gedenken. Das war f¨ ur Volterra eine Gelegenheit zu bekennen, daß Poincar´e f¨ ur ihn ein Meister und eine st¨andige Quelle der Inspiration ¨ war. Uber den feierlichen Rahmen hinaus kommt in Volterras Gedenkrede eine aufrichtige Wertsch¨ atzung f¨ ur Poincar´es Genialit¨at und f¨ ur seine wissenschaftlichen Beitr¨age zum Ausdruck. Volterra teilt viele Entscheidungen, welche die Untersuchungen des franz¨ osischen Mathematikers begleitet hatten: die Entscheidung f¨ ur eine einheitliche, gleichzeitig reine und angewandte Mathematik, die nicht durch starre und im Voraus gebildete Klassifikationen domestiziert wird, eine profunde und formal verbindliche Mathematik, die sich jedoch nie auf eine einfache logische Entwicklung von formalen Regeln reduziert, eine Mathematik, f¨ ur welche die Intuition und die Erfahrung auch weiterhin eine wesentliche Rolle spielen. Volterra schreibt: In den letzten dreißig Jahren ” gab es kein neues, mehr oder weniger mathematisches Problem, das er nicht seiner tiefsch¨ urfenden Analyse unterzogen h¨ atte, und das er nicht durch einige fruchtbare Entdeckungen oder kritische Bemerkungen bereichert h¨atte. Es gab vielleicht keinen anderen Wissenschaftler, der so viele und so best¨andige Beziehungen zur wissenschaftlichen Welt seiner Zeit hatte. [...] wenn man also die letzte historische Periode der Mathematik durch einen Wissenschaftler personifizieren wollte, dann w¨ urden alle an Henri Poincar´e denken, an den Menschen, der der ber¨ uhmteste Mathematiker der letzten Zeit war. [...] Es gibt eine Poincar´esche Analysis, eine Poincar´esche mathematische Physik und eine Poincar´esche Mechanik, die nie der Vergessenheit anheimfallen werden. Der Ruf, den er zu Lebzeiten hatte, war riesig; nur wenige Wissenschaftler und sehr wenige Mathematiker waren ¨ ahnlich ber¨ uhmt. Man k¨onnte daf¨ ur eine Erkl¨arung geben, indem man – wie ich vor kurzem gesagt habe –, feststellt,
2.3 Die ersten Reisen ins Ausland
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daß sein Geist im Einklang mit derselben Phase schwang wie der Geist seiner Zeit“. Wir kommen auf Volterras Reisen ins Ausland zur¨ uck, um die es in diesem Abschnitt geht. Außer Franz¨ osisch kann er auch Deutsch (Englisch weniger). Das nutzt er, um einen einmonatigen Studienaufenthalt in Deutschland an der Universit¨at G¨ ottingen zu planen, an der Mathematiker vom Range Dirichlets und Riemanns lehrten – an einer Universit¨at, die nach dem Willen Felix Kleins das st¨arkste Zentrum der mathematischen Forschung werden sollte. In G¨ottingen hat Volterra die Gelegenheit, Schwarz wiederzusehen. Sp¨ater geht er f¨ ur einige Tage nach Berlin, wo er Leopold Kronecker kennenlernt, einen der bedeutendsten deutschen Mathematiker seiner Zeit. Es ist der Sommer des Jahres 1891. Volterra kehrt im September nach Pisa zur¨ uck, aber sein akademisches Leben sollte sich bald ¨ andern.
3 Die Katzen von Turin
3.1 Der Umzug Die 1890er Jahre beginnen mit dem Umzug nach Turin. Wir wissen nicht genau, welche Gr¨ unde Volterra veranlaßt haben, die Universit¨at Pisa 1893 zu verlassen, wo er ausgebildet worden war und als sehr junger Mann eine Professur erhalten hatte. Ein gewisses Gewicht hat sicher sein Wunsch, sich von der Vormundschaft derjenigen zu befreien“, die jetzt seine Kollegen sind, aber bis ” vor wenigen Jahren noch seine Professoren waren. Wir k¨onnen uns vorstellen daß Professor Volterra im Rahmen der Fakult¨ at f¨ ur Naturwissenschaften auch weiterhin der junge Volterra geblieben ist, den viele der ¨alteren Professoren kennengelernt hatten, als er erst 18–19 Jahre alt war. Auch wenn wir die genauen Gr¨ unde f¨ ur den Wechsel nach Turin nicht kennen, so k¨onnen wir dennoch – dank einiger Briefe – die Verhandlungen rekonstruieren, die den Umzug erm¨ oglicht haben. Alles findet in einem sehr kurzen Zeitraum statt. Es gibt erste informelle Vorbesprechungen und Volterra schließt sein Interesse an einem Wechsel nicht aus, wie zumindest aus dem Brief hervorgeht, den der Experimentalphysiker Andrea Naccari (1841–1919), Professor und sp¨ ater Rektor der Universit¨ at Turin, am 11. Juli 1893 geschrieben hat: Roiti hat Prof. D’Ovidio und mir vor einigen Monaten geschrieben, ” daß Sie nicht abgeneigt w¨ aren, hierher zu kommen.“ Francesco Siacci (1839–1907), Professor f¨ ur Rationale Mechanik in Turin, der vor allem wegen seiner Schußtafeln f¨ ur die Artillerie bekannt war, hatte sich f¨ ur den Wechsel nach Neapel entschieden, um Rom n¨aher zu sein, das den Mittelpunkt seiner Aktivit¨ aten bildete, und wo er Parlamentsmitglied war. Um Siacci zu ersetzen, beruft die Fakult¨ at f¨ ur Naturwissenschaften Volterra mit einstimmigem Beschluß. Naccari dr¨ uckt in einem Brief, den er einige Tage sp¨ ater (am 15. Juli 1893) schreibt, seine Genugtuung u ¨ber den Gang der Ereignisse aus: Die Art und Weise, wie die Dinge gelaufen sind, scheint mir ” sowohl f¨ ur Sie als auch f¨ ur uns sehr g¨ unstig zu sein. Aus dem Protokoll der Fakult¨at geht nicht hervor, daß Sie jemals den Wunsch ge¨außert haben, hierher zu kommen, so daß es Ihnen vollkommen frei steht, und was auch immer Ihre A. Guerraggio, G. Paoloni, Vito Volterra, Vita Mathematica, c Springer Basel AG 2011 DOI 10.1007/978-3-0348-0081-5 3,
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3 Die Katzen von Turin
Entscheidung ist, wird ehrenhaft f¨ ur Sie sein. Gleichzeitig kann es f¨ ur die Fakult¨at in jedem Fall nur ehrenvoll sein, daß sie Verdienste sch¨atzt und diese sucht, wo auch immer sie sich befinden.“ F¨ ur Volterra beginnt jetzt die heikelste Phase. Einerseits muß er Pisa auf seine Abreise vorbereiten. Pisa war ja immer der Ort, an dem man an ihn geglaubt und in ihn investiert hat. Und so schreibt er Dini noch im Juli: Sehr ” geehrter Herr Professor, ich habe in diesen Tagen mehrere Male erfolglos versucht, Sie zu erreichen. Ich h¨ atte Ihnen gerne eine Nachricht u ¨bermittelt, die ich neulich von Segre erhielt, n¨ amlich daß mich die Turiner Fakult¨at nach dort ruft, damit ich der Nachfolger von Siacci werde, der nach Neapel geht. Diese Nachricht hat mich u ¨berrascht, und ich habe nach Turin geschrieben, daß ich dar¨ uber nachdenken m¨ ochte, da es sich um eine wichtige Sache handelt.“ Andererseits muß er versuchen, Turin die g¨ unstigsten ¨okonomischen Bedingungen f¨ ur den Wechsel abzuringen. Es handelt sich wohlverstanden nicht um exorbitante Betr¨age. Die fragliche Stelle ist ein Lehrauftrag f¨ ur h¨ohere Mechanik – die Fakult¨ at f¨ ur Naturwissenschaften der Universit¨at Turin hat die Absicht, ihm diesen Lehrauftrag zus¨ atzlich zu seiner Vorlesung u ¨ber Rationale Mechanik zu u ¨ berantworten, die ihm im Rahmen seiner Lehraufgaben als Professor u utung, die ¨ bertragen werden sollte. Es geht dabei um eine Verg¨ etwas u ohe liegt, n¨ amlich 2200 Lire pro Jahr – die glei¨ber der u ¨ blichen H¨ che Summe, die Siacci erhalten hatte. Das w¨aren heute etwa 7-8000 Euro, aber sogar f¨ ur diesen Betrag muß Turin Druck auf das Ministerium aus¨ uben, weil Rom u ohe zu entscheiden hat. Die Universit¨atsautonomie liegt ¨ber die H¨ noch in weiter Ferne! An dieser Stelle schaltet sich Dini ein, wobei Volterra nicht z¨ogert, seine eigenen Vorschl¨ age einzubringen. Bei dem Versuch, seinen fr¨ uheren Studenten von dessen Vorstellungen abzubringen und kraft seiner Beziehungen zu Rom – Dini war Abgeordneter geworden und ist jetzt Senator des K¨onigreichs – dr¨ angt er die Ministerialstellen, daß man Volterra f¨ ur den Lehrauftrag in Turin keine besondere Gehaltserh¨ohung gew¨ahren solle, falls er nach Turin umzieht. Volterra sucht nun die Unterst¨ utzung Luigi Cremonas (1830–1903), des ber¨ uhmten Mathematikers und Begr¨ unders der italienischen ¨ geometrischen Schule, des Senators und zuk¨ unftigen Ministers f¨ ur Offentlichen Unterricht in der Regierung Di Rudin`ı 1898. Der Brief datiert vom 13. Oktober 1893: Ich hatte den Wunsch, Sie u ¨ber die Frage meines Umzugs nach ” Turin zu unterrichten. Prof. D’Ovidio und die anderen Mitglieder dieser Fakult¨at waren so nett, das Ministerium zu bitten, zur Erleichterung meines Wechsels das Honorar f¨ ur meinen Lehrauftrag zu erh¨ohen. Wie D’Ovidio mir berichtete, war der Minister bereit, diese Erh¨ ohung zu gew¨ahren. Das schien inzwischen sicher zu sein, aber infolge der Praktiken der Universit¨at Pisa und insbesondere Prof. Dinis wurde das gegebene Versprechen zur¨ uckgenommen. Das hat mir heute Prof. D’Ovidio aus Rom mitgeteilt.“ Schließlich endet das lange Armdr¨ ucken mit einer Vereinbarung, mit der Volterra zufrieden ist. Und so wechselt der junge Professor aus Pisa mit Beginn des Studienjahres 1893/94 an die Universit¨at Turin.
3.2 Turin und Peano
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3.2 Turin und Peano Der Umzug bedeutet auch die Ankunft in einer großen Stadt. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hat Pisa ungef¨ahr 30.000 Einwohner. Die Einwohnerzahl von Turin, der Hauptstadt der Region Piemont, bel¨auft sich auf ungef¨ahr 300.000. Es geht jedoch nicht nur um die Anzahl der Einwohner. In den Jahren, mit denen wir uns hier befassen, ist Turin bereits die Stadt der Piazza Vittorio Veneto, der neoklassizistischen Kirche Gran Madre di Dio, der großen Alleen und des Valentino-Parks. Es ist die Stadt des Bahnhofs Porta Nuova, der jetzt auf die Verbindungen z¨ahlen kann, die durch den Frejus-Tunnel m¨ oglich geworden sind. Außer der Universit¨at beherbergt das Castello del Valentino ab 1859 die Regia Scuola di Applicazioni per gli Ingegneri (K¨onigliche F¨ uhrungsakademie f¨ ur Ingenieure), die der erste Kern des k¨ unftigen Politecnico ist. Im Jahr 1864 – in dem die Hauptstadt nach Florenz verlegt wird – beginnt der Bau der Mole Antonelliana, die eine der haupts¨achlichen Ikonen der Stadt werden sollte. Turin reagiert schnell auf den ¨ Verlust der politischen Uberlegenheit und verwandelt sich von einem Dienstleistungszentrum in ein Industriezentrum. Auf der Nationalen Ausstellung des K¨ onigreichs Italien, die 1884 in Turin stattfindet, steht der Pavillon der Elektrizit¨at im Mittelpunkt des Interesses. Ebenfalls in den 1880er Jahren beginnt die Produktion von elektrischen Kabeln durch den Betrieb, aus dem sp¨ater das Unternehmen CEAT entsteht.1 Ferner entstehen in Turin die Officine Savigliano f¨ ur die Herstellung von rollendem Material f¨ ur Eisenbahnen.2 Vor allem aber ist es der Vorabend der Gr¨ undung von FIAT, die 1898 erfolgte.3 Das mathematische Umfeld leidet unter der neuen industriellen Ausrichtung der Stadt und unter einer gewissen pragmatischen Einstellung, die mehr an konkreten Anwendungen als an der Tiefe der theoretischen Untersuchungen interessiert ist. Der Rechtsanwalt Angelo Genocchi, ein mathematischer Autodidakt, den wir in K¨ urze als Peanos Lehrer kennenlernen werden, beklagt sich u ¨ber die Unsitte, die theoretischen Studien in Mißkredit zu bringen“, eine ” Unsitte, deren einziger Zweck darin besteht, Turin in einen Ort zu verwandeln, an dem das Ziel der Mathematikausbildung [...] darauf ausgerichtet ist, den ” gr¨ oßten Teil der Studenten f¨ ur die Anwendungen des Ingenieurshandwerks zu bef¨ahigen“. Als Volterra Anfang der 1890er Jahre in der Hauptstadt von Piemont eintrifft, gibt es die alte Garde“ nicht mehr, zu der Felice Chi`o (1813– ” 1871), Angelo Genocchi (1817–1889) und Francesco Fa`a di Bruno (1825–1888) geh¨orten. Zu den angesehenen Namen z¨ ahlen jetzt Enrico D’Ovidio (1843– 1933) und Corrado Segre (1863–1924) in der Geometrie und Giuseppe Peano (1858–1932) in der Analysis. Zu diesen Mathematikern geh¨orte auch Francesco Siacci, der durch seinen Weggang nach Neapel erm¨oglicht hat, daß Volterra nach Turin kommt. 1 2 3
CEAT ist eine Abk¨ urzung von Cavi Electrici e Affini Torino. Societ` a Nazionale delle Officine Di Savigliano AG, Maschinenbau. FIAT ist das Akronym von Fabbrica Italiana Automobili Torino (Italienische Autofabrik Turin).
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3 Die Katzen von Turin
Enrico D’Ovidio stammt nicht aus Turin – er wurde in Campobasso geboren – und zieht erst 1872 in den Norden, als er auf den Lehrstuhl f¨ ur Algebra und Analytische Geometrie der Universit¨ at Turin berufen wird. Er wird sp¨ater auch Rektor der Universit¨ at. Im Jahr 1905 wird er Senator des K¨onigreichs. Dieser Vorgang macht ihn zur Zielscheibe boshafter Stimmen, die u ¨ber eine kleine Verwechslung bei der Ernennung munkeln, weil der Posten urspr¨ unglich f¨ ur D’Ovidios Bruder Francesco vorgesehen gewesen sei.4 Bei Enrico D’Ovidio schreibt Corrado Segre 1883 im Alter von nur zwanzig Jahren seine Dissertation. Mit Segre erreicht die italienische Schule der algebraische Geometrie ihre Bl¨ utezeit. Segres Forschungsarbeit erweist sich als ein besonders wichtiges Kettenglied, mit dem sich die italienischen Untersuchungen in einen umfassenderen internationalen Zusammenhang einordnen lassen. Segre verwendet die projektiven Techniken zum Dialog“ mit den Untersuchungen, die insbe” sondere von der deutschen Schule durchgef¨ uhrt worden sind. Es gelingt ihm, in den Jahren, in denen Volterra in Turin ist, die Untersuchungen der Geometrie auf algebraischen Kurven bzw. die Untersuchung der Eigenschaften der algebraischen Kurven fertigzustellen, die invariant gegen¨ uber birationalen Transformationen sind. Aus Segres Schule entwickelt sich die Untersuchung der algebraischen Fl¨ achen, die zum Stolz der italienischen Tradition werden sollte. Der aufgehende Stern der Analysis in Turin ist hingegen Giuseppe Peano. Nach seiner Promotion hatte er angefangen, an der Universit¨at bei Genocchi zu arbeiten, dessen Vorlesung Calcolo differenziale e principii di calcolo integrale er ausgearbeitet und 1884 ver¨ offentlicht hat. Der Text folgte tats¨achlich den Spuren der Vorlesungen des Meisters, die Peano jedoch selbst¨andig durch ¨ wichtige Zus¨atze sowie einige Anderungen und verschiedene Anmerkungen“ ” u urchtete Ge¨berarbeitet hatte. Genau wegen dieser wichtigen Zus¨atze“ bef¨ ” nocchi, daß sein Name f¨ ur eine akademische und herausgeberische Aktion von zweifelhafter wissenschaftlicher G¨ ultigkeit mißbraucht worden sei. Genocchi geriet in Wut und u ¨ bersandte den mathematischen Zeitschriften, mit denen er in Kontakt stand, einen trockenen Widerruf: Damit mir nicht zugeschrie” ben wird, was nicht von mir ist, muß ich erkl¨aren, daß ich keinerlei Anteil am Zustandekommen des betreffenden Bandes hatte“. Die Spannung legte sich sp¨ater, auch weil das Buch von (Genocchi-)Peano inzwischen positiv aufgenommen worden war und Rezensionen erhielt, die Interesse f¨ ur das Buch bekundeten und auf dessen Wert hinwiesen. Es ist eine Ironie des Schicksals, daß heute Genocchi vor allem als Autor“ des Textes von Peano bekannt ist. ” Nach Genocchis Tod wird Peano zum außerordentlichen Professor f¨ ur Infinitesimalrechnung ernannt. Wir schreiben das Jahr 1890 und die Schicksale von Volterra und Peano kreuzen sich das erste Mal. Bis dahin gab es keinen Anlaß f¨ ur Begegnungen oder f¨ ur einen besonderen Briefwechsel, wenn man von einer kleinen Episo4
Francesco D’Ovidio (1849–1925) ist ein bekannter Philosoph und Literaturkritiker, der tats¨ achlich einige Monate sp¨ ater ebenfalls zum Senator ernannt wird.
3.2 Turin und Peano
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de im November 1882 absieht. Volterra hatte sich beschwert, daß Peano in einem Artikel u ¨ber Integrationstheorie weder Volterras Untersuchungen noch dessen Arbeit Sui principii del calcolo integrale erw¨ahnt habe. Peano gibt eine liebensw¨ urdige Antwort und der Zwischenfall“ wird sogleich ad acta gelegt: ” Ich bedauere sehr, daß ich vorher keine Kenntnis von Ihrer Arbeit hatte; ” ich hoffe jedoch, diesen Umstand auf ehrenvolle Weise wieder gutmachen zu k¨onnen, wenn nicht fr¨ uher, dann in der Ver¨ offentlichung einer Analysisvorlesung nach der Methode von Prof. Genocchi, dessen Sch¨ uler ich war und dessen Assistent ich jetzt bin. Der erste Band dieser Abhandlung ist derzeit im Druck; hier in Turin sind f¨ ur die Studenten die ersten gedruckten Seiten erh¨altlich, und ich gebe mir die Ehre, Ihnen diese Seiten als Geschenk zu u ur die Arbeit, die Sie mir geschickt haben, ¨bersenden. Ich danke Ihnen sehr f¨ und f¨ ur die freundlichen Zeilen Ihres Briefes. Ich freue mich sehr, auf diese Weise Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, kommen Sie in jedem Fall auf mich zur¨ uck, wenn ich Ihnen behilflich sein kann. Ich w¨are Ihnen dankbar, wenn Sie mir gelegentlich schreiben und mir, falls Sie Zeit daf¨ ur finden, Ihre Bemerkungen zu dem Buch mitteilen w¨ urden, das ich ver¨offentliche“. Wir haben oben u ¨ber das Jahr 1890 gesprochen. Genocchi stirbt am 7. M¨arz 1889 und das Problem seiner Ersetzung durch Peano kommt bald auf die Tagesordnung f¨ ur das darauffolgende akademische Jahr. Aber aus verschiedenen Gr¨ unden gelingt es nicht, die Berufungskommission zusammenzustellen. Das Auswahlverfahren verschiebt sich um ein Jahr, und diesmal ist auch Volterra Mitglied der Kommission (obgleich er zwei Jahre j¨ unger ist als Peano). In Volterras Brief vom 10. Oktober 1890 an Betti finden wir einen kurzen Bericht u ¨ber den Ausgang des Berufungsverfahrens: Ich bin vorgestern nach ” Abschluß der Arbeiten zum Auswahlverfahren aus Rom zur¨ uckgekommen. In der Kommission waren Brioschi, Beltrami, Tonelli und Pincherle. Peano und Pascal wurden mit 48/50 gleich gesetzt. Es ist w¨ unschenswert, daß beide in den h¨oheren Unterricht eintreten“. Peano wird 1895 als ordentlicher Professor best¨atigt. Er hat bereits bedeutende Beitr¨age geleistet, von denen einige auch heute noch in den Analysislehrb¨ uchern genannt werden. Er hat die Definition des bestimmten Riemannschen Integrals mit Hilfe des Begriffes der oberen und der unteren Grenze einer Menge von reellen Zahlen reformuliert, und vor allem hat er bei seiner Verallgemeinerung auf Funktionen zweier Variabler das Maß eines Gebietes der Ebene definiert. Er hat eine neue Formel f¨ ur das Restglied der Taylorentwicklung angegeben und er ist auch wegen einiger – in ihrer Einfachheit oft wilder“ – Gegenbeispiele bekannt, mit denen er auf u ussige Voraus¨berfl¨ ” setzungen, Fehler und Ungenauigkeiten hinweist, die in den verschiedensten Lehrb¨ uchern auftreten. Aus der zweiten H¨ alfte der 1880er Jahre stammt sein Existenzsatz f¨ ur die L¨ osung der Differentialgleichung y 0 = f (x, y), den er nur unter der Voraussetzung der Stetigkeit der Funktion f beweist, und dem die Darstellung einer Integrationsmethode durch aufeinanderfolgende Approximationen folgt. Die sogenannte Peano-Kurve von 1890 – eine der nach wie vor schockierendsten“ und weniger intuitiven Schlußfolgerungen, zu denen die ”
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3 Die Katzen von Turin
deduktive Strenge in der Mengentheorie gef¨ uhrt hat –, spielt eine bedeutende Rolle in der Geschichte des Dimensionsbegriffes: Es ist m¨oglich eine Kurve zu finden, die sich mit Hilfe zweier stetiger Funktionen x = f (t) und y = g(t) ausdr¨ ucken l¨aßt, und die durch alle Punkte des Einheitsquadrates geht, w¨ahrend die Variable t im Intervall [0, 1] variiert; deswegen kann man nicht immer einen stetigen Kurvenbogen in ein beliebig kleines Gebiet einschließen. Unterdessen entwickelt Peano auch ein kritisches Interesse f¨ ur Logik, die er nicht so sehr als eigenst¨ andige Forschungsdisziplin versteht, sondern vielmehr als Werkzeug, um mathematische Gedankeng¨ ange und Ausf¨ uhrungen strenger zu machen. Das Ziel besteht darin, die Aussagen der klassischen Mathematik in ihre minimalen Bestandteile zu zerlegen und diese zu analysieren, um sicher zu gehen, daß in ihnen nicht mehr und nicht weniger als das auftritt, was unbedingt notwendig ist. Die gleichen Aussagen werden dann unter Verwendung von Kombinationen algebraischer und logischer Zeichen wieder zusammengesetzt und aufgeschrieben, damit sie keinen Raum f¨ ur Mißverst¨andnisse lassen und eine pr¨azise und konzise Formulierung erm¨oglichen. Peano ver¨offentlicht 1888 sein Buch Calcolo geometrico secondo l’Ausdehnungslehre di H. Grassmann 5 , das ein einleitendes Kapitel zur Logik (und auch ein erstes Axiomensystem f¨ ur Vektorr¨ aume) enth¨ alt. Im darauffolgenden Jahr erscheint sein Werk Arithmetices principia, nova methodo exposita mit den Axiomen f¨ ur die nat¨ urlichen Zahlen; dieses Axiomensystem bleibt einer seiner bekanntesten Beitr¨age. Im Jahr 1891 gibt Peano den ersten Band der von ihm gegr¨ undeten Zeitschrift Rivista di matematica heraus, die eine wertvolle Quellendokumentation seiner zunehmenden Hinwendung zur Logik ist. Er ruft das Projekt eines Formulario Matematico ins Leben; das Ziel dieses Projektes ist es, s¨amtliche Ergebnisse der Mathematik zu erfassen und in einer konzisen symbolischen Sprache darzustellen, um Vergleiche und Auflistungen leichter zu machen: Es ” w¨ are auch eine ¨außerst n¨ utzliche Sache, alle bekannten Aussagen zu erfassen, die sich auf gewisse Stellen der Mathematik beziehen, und diese Sammlungen zu ver¨offentlichen. Wenn wir uns auf die Aussagen der Arithmetik beschr¨anken, dann glaube ich nicht, daß man auf Schwierigkeiten st¨oßt, diese Aussagen durch logische Symbole auszudr¨ ucken; und dann gewinnen diese Aussagen nicht nur an Pr¨ azision, sondern auch an konziser Darstellungsweise; und wahrscheinlich lassen sich die Aussagen, die bestimmte Themen der Mathematik widerspiegeln, auf einer Anzahl von Seiten formulieren, die nicht gr¨ oßer ist als die Bibliographie dieser Aussagen“. Das Projekt des Formulario besch¨aftigt Peano in den folgenden Jahren intensiv. Die Ergebnisse entsprechen weder den Hoffnungen noch dem investierten Engagement, aber am Anfang findet die Idee Anklang. Die Schlußresolution der 1894 veranstalteten Tagung der Association fran¸caise pour l’avancement des sciences enth¨alt beispielsweise einen Punkt, der ausdr¨ ucklich Peanos Initiative gewidmet ist: Die ” 5
In Bezug auf Hermann Graßmann (1809–1877) verweisen wir auf Petsche [70]; Graßmanns Einfluß auf Peano wird dort auf S. 288 ff. geschildert.
3.2 Turin und Peano
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großen Anstrengungen, die Professor Peano und mehrere seiner Kollegen zur Verbreitung der mathematischen Logik und zur Ver¨offentlichung eines Formulario matematico unternommen haben, tragen kraftvoll zu dem Ziel bei, das erreicht werden soll“. Allm¨ahlich versammelt sich um die Zeitschrift Rivista eine Gruppe von jungen und k¨ampferischen Wissenschaftlern, die haupts¨achlich an Logik, Grundlagenproblemen und Wissenschaftsgeschichte interessiert sind: Giovanni Vailati (der innerhalb der Gruppe der Philosoph genannt wird), Rodolfo Bettazzi, Giulio Vivanti, Cesare Burali-Forti, Tommaso Boggio, Alessandro Padoa, Giovanni Vacca (Mathematikhistoriker), Mario Pieri (der sich insbesondere mit den Grundlagen der Geometrie befaßt) und andere. Die Geschichte zweier dieser Mitarbeiter von Peano betrifft auch Volterra. In einem Fall bezieht sich das auf die Vergangenheit, in dem anderem auf die unmit¨ telbare Zukunft. Uber Rodolfo Bettazzi haben wir bereis im ersten Kapitel gesprochen. Er hatte Volterra schon auf der Normale kennengelernt, wo er als Externer ohne Beihilfe“ zugelassen worden war. Bettazzi promoviert in ” Mathematik im Juni 1882, zur gleichen Zeit wie Volterra. Danach werden ihre Beziehungen lose. Schuld daran ist auch der Milit¨ardienst, bei dem Bettazzi weit weg von der Toskana eingesetzt wird. Es gibt jedoch einen Brief vom 2. Mai 1883, in dem Bettazzi Volterra zum hervorragenden Erfolg beim Berufungsverfahren in Pisa gratuliert: Ich habe hier [...] von Deiner verdienten ” Ernennung auf die Mechanikstelle erfahren und gratuliere Dir von ganzem Herzen. Entschuldige bitte auch, daß ich das nicht fr¨ uher getan habe“. Viele Verhaltensweisen haben sich im Leben der Universit¨atsstudenten und jungen Promovierten ge¨ andert. Andere Dinge hingegen sind bis heute gleich geblieben: Auch Bettazzi hofft auf eine akademische Karriere und sein Freund, dem der Eintritt in das System“ bereits gelungen ist, informiert ” ihn von innen“ u ogliche Entwicklungen. Eine Post¨ber Neuigkeiten und m¨ ” karte Volterras vom November 1883 informiert Bettazzi u ¨ber die M¨oglichkeit eines Jahresstipendiums und u ¨ ber Bettis Absicht, Bettazzi einen Vorlesungszyklus an der Normale anzuvertrauen. Tats¨ achlich erh¨alt Bettazzi f¨ ur ein Jahr den Lehrauftrag, f¨ ur die Studenten des zweiten Studienjahres eine Vorlesung u ¨ber Zahlentheorie zu halten, aber die nachfolgenden Ereignisse nehmen leider nicht die gew¨ unschte Wendung. Die Antworten auf Bettazzis Bewerbungen erkennen seine Leistungen zwar reichlich an, enden aber negativ. Inzwischen verfaßt Bettazzi interessante Arbeiten in der Dinischen Richtung u ¨ber die Verallgemeinerung einiger fundamentaler Ergebnisse zum Thema Ableitung und Integration auf Funktionen von zwei Variablen. Er ver¨offentlicht auch einige Artikel didaktischen Charakters und verfaßt die Monographie La teoria delle grandezze (Die Theorie der Gr¨ oßen), in der seine Empf¨anglichkeit f¨ ur Grundlagenfragen gut zum Ausdruck kommt. Die Monographie wird von der Accademia dei Lincei durch die Publikation in den Annali delle Universit` a toscane ausgezeichnet. Schließlich gewinnt er das Auswahlverfahren f¨ ur den Eintritt in den Sekundarstufenunterricht. Im Januar 1891 wird Bettazzi am Gymnasium Cavour“ in Turin eingestellt, wo er also einige Jahre vor Vol”
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3 Die Katzen von Turin
terra eintrifft. In der piemontesischen Hauptstadt schließt sich Bettazzi, wie schon gesagt, Peano und dessen Schule an und nimmt aktiv am Projekt des Formulario teil. Vor allem aber gr¨ undet Bettazzi 1895 die Societ` a italiana di scienze matematiche e fisiche Mathesis und wird ihr erster Pr¨asident. Giovanni Vailati (1862–1909) begegnet Volterra erst einige Jahre sp¨ater. Vailati kommt aus Crema, graduiert 1884 als Ingenieur und 1888 in Mathematik – die ersten beiden Studienjahre werden in beiden Fachrichtungen zusammen ausgebildet. Ab Studienjahr 1892/93 ist Vailati Peanos Assistent f¨ ur den Analysiskurs (im Studienjahr 1895/96 wird er auch Assistent f¨ ur projektive Geometrie). Am 22. Dezember 1892 schreibt Vailati seinem Cousin Orazio Premoli folgende Zeilen u ¨ber seinen Lehrauftrag: In diesen vergange” nen Tagen lassen mir meine neuen didaktischen Verpflichtungen sehr wenig Freizeit – nicht wegen der Anzahl der Unterrichtsstunden (9 pro Woche, von denen sich 3 lediglich auf meine Anwesenheit bei den Unterrichtsstunden des Chefs beschr¨anken), sondern wegen der notwendigen Vorbereitung und Ausarbeitung der zu behandelnden Themen, um die Gefahr zu vermeiden, einen groben Fehler zu machen“. Auf der Grundlage der Unterrichtsstunden und der Hinweise des Chefs schreibt Vailati das Vorlesungsskript Applicazioni di calcolo infinitesimale (Anwendungen der Infinitesimalrechnung), das etwas mehr ¨ als 400 Seiten hat und zahlreiche Ubungen enth¨alt. Er arbeitet mit Peano auch bei der Rivista di matematica zusammen und ver¨offentlicht dort einige Arbeiten und kurze Rezensionen. Sein Interesse, das anf¨anglich der Untersuchung algebraischer Strukturen gilt, richtet sich allm¨ahlich auf die Grundlagenprobleme der Geometrie. Inzwischen trifft Volterra in Turin ein und 1896 verl¨aßt Vailati Peano und geht zum neuen Ordinarius, bei dem er Assistent f¨ ur den Kurs u ¨ ber Rationale Mechanik wird. Unter Volterras Protektion“ ” h¨alt er drei Jahre lang eine fakultative Vorlesung u ¨ber Geschichte der Mechanik: Die Einf¨ uhrung u ¨ber die Bedeutung der historischen Dimension in der wissenschaftlichen Forschung geh¨ ort zu den engagiertesten Seiten von Vailatis 6 ¨ Uberlegungen. Wir werden auch an sp¨ aterer Stelle Gelegenheit haben, u ¨ber Vailati zu sprechen, denn er ist es, der gegen Ende des Jahrhunderts Volterra die ersten bibliographischen Hinweise zum Thema Beziehungen zwischen ” ¨ Okonomie und Mathematik“ gibt.
3.3 Integralgleichungen Zuerst wollen wir jedoch Volterra w¨ ahrend seiner Zeit in Turin in den letzten 7-8 Jahren des 19. Jahrhunderts folgen. Er setzt nat¨ urlich seine Forschungsarbeiten mit einer immer noch bemerkenswerten wissenschaftlichen Produktivit¨at fort, auch wenn diese vielleicht im Vergleich zu seinem vorhergehenden Aufenthalt in Pisa weniger intensiv ist. Manche glauben auch, eine Verlangsamung zu erkennen und vermuten, daß sich der junge Mathematiker mit dem 6
Vgl. auch Band 2 der drei B¨ ande Vailati [100].
3.3 Integralgleichungen
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Erreichten zufrieden gibt, da er inzwischen einen Lehrstuhl inne hat und deswegen weniger Druck versp¨ urt, seine Karriere voranzutreiben. Wer das glaubt, wird seine Meinung ¨ andern m¨ ussen. Die Liste der Ver¨ offentlichungen der Jahre 1893–1900 bleibt ansehnlich. Die Anzahl der Titel ist betr¨ achtlich, insbesondere was die Untersuchung der Polbewegung betrifft. Diese Untersuchung bleibt viele Monate lang im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit Volterras und ist inhaltsm¨aßig wie auch als Etappe in der Entwicklung seiner wissenschaftlichen Pers¨onlichkeit relevant. Wir werden uns damit im folgenden Abschnitt befassen, einschließlich der Polemiken, die diese Arbeiten begleitet haben. Das wird uns die M¨oglichkeit geben, sowohl in den theoretischen Untersuchungen als auch in den praktischen Anwendungen die ausgepr¨ agt einheitliche Herangehensweise Volterras zu erkennen. Dabei werden wir auch registrieren, wie Volterras Ansehen unter den Mathematikern w¨ achst. Ein ebenfalls mathematisch-physikalisches Thema behandelt er in der Ar¨ beit Sul fenomeno delle seiches“ 7 , in der er die Anderungen des Wasser” standes untersucht, die beim Genfer See registriert werden. Wie bei einem Gezeitenph¨anomen geringen Umfangs und kurzer Dauer steigt das Wasser an den Ufern des Sees um durchschnittlich 40 cm. Dieser Vorgang dauert ungef¨ahr zehn Minuten. Danach sinkt das Wasser ebenso langsam unter das urspr¨ ungliche Niveau zur¨ uck, um anschließend wieder zu steigen, erneut zu sinken und so weiter. Der Beginn der rhythmischen Bewegungen f¨allt mit der St¨orung des atmosph¨ arischen Gleichgewichts zusammen, das um den See herum herrscht. Ein Orkan“ verursacht den ersten Niveauunterschied, und ” danach folgen Schwankungen, die aufgrund der Reibung langsam abklingen, aber auch vier bis f¨ unf Tage andauern k¨ onnen. Die Arbeit Sul fenomeno delle seiches“ ist der Text des Vortrags, den Volterra 1898 auf dem Kongreß ” der Italienischen Physikalischen Gesellschaft h¨alt. Dabei schl¨agt er vor, daß die Gesellschaft in Italien eine analoge Studie durchf¨ uhren solle, in der das Ph¨anomen in Abh¨ angigkeit von der Form des Ufers, von der Tiefe des Sees und in Abh¨angigkeit von anderen physikalischen Eigenschaften untersucht wird. Seinerseits gibt Volterra eine Analyse des Vorgangs vom Standpunkt ¨ der theoretischen Hydrodynamik. Ublicherweise setzt die Untersuchung der Schwingungen einer schweren Fl¨ ussigkeit irgendeine Regularit¨at der Form des Beh¨alters voraus, aber eine solche Regularit¨ at ist beim Str¨omungsverhalten der Seen offensichtlich nicht vorhanden. Aber auch dieses allgemeinere Problem ist l¨osbar. Das von Volterra beschriebene Verfahren nutzt die Analogie zwischen dem Ph¨ anomen der Seiches und dem der Schwingungen von elastischen Membranen. Bei diesem Problem handelt es sich darum, eine Funktion ” zu finden, welche die Gleichung ∆2 ϕ + K 2 ϕ = 0 erf¨ ullt und auf dem Rand 7
Vgl. Volterra [117]. Als Seiches“ bezeichnete man in der franz¨ osischen Schweiz ” zun¨ achst die periodischen Schwankungen des Genfer Sees und dann allgemeiner die durch atmosph¨ arische St¨ orungen hervorgerufenen periodischen Schwankungen des Wasserstandes von Seen und Binnenmeeren.
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3 Die Katzen von Turin
zu null wird. Die Werte von K, f¨ ur die es von null verschiedene L¨osungen gibt, sind die Ausnahmewerte, aus denen man die Schwingungsperioden der Membran gewinnt“. Das ist ein expliziter Verweis auf die von Poincar´e gerade erst durchgef¨ uhrten Untersuchungen, die ein Problem u ¨ber partielle Differentialgleichungen direkt mit der Analyse einer Integralgleichung verkn¨ upfen. Die Seiches bringen uns also auf das Thema der Integralgleichungen, die den u uhrten Untersu¨berwiegenden Teil der von Volterra in Turin durchgef¨ chungen darstellen. Es handelt sich um die L¨ osung einer Funktionalgleichung, bei der die unbekannte Funktion unter dem Integralzeichen auftritt. Zu dieser Art von Gleichungen f¨ uhren auf direkte Weise einige Probleme der mathematischen Physik, aber auch andere Fragen, die zun¨achst mit Hilfe von Differentialgleichungen formalisiert worden sind, die sich aber bequemer handhaben lassen, wenn man sie in Integralgleichungen transformiert. Zum Beispiel ist das Problem, die Funktion y = y(x) zu finden, die der Differentialgleichung y 0 = f (x, y) mit der Anfangsbedingung y(x0 ) = y0 unter Voraussetzung der Stetigkeit gen¨ ugt, ¨ aquivalent zum Auffinden der L¨osungen der IntegralgleiRx chung y(x) = y0 + x0 f (x, y(x))dx. Bereits zu Volterras Zeiten hatte das analytische Werkzeug der Integralgleichungen eine eigene Geschichte. Man findet dieses Werkzeug in den Schriften von Laplace und Fourier, und vor allem ab Anfang der 20er und 30er Jahre des neunzehnten Jahrhunderts bei Abel und Liouville. Der Sachverhalt wird jedoch immer im Zusammenhang mit einem spezifischen Problem und in Verbindung mit der einzelnen Integralgleichung untersucht, zu der das Problem gef¨ uhrt hatte: Es gibt kein ” systematisches Mittel, solche Umkehrungen auszuf¨ uhren (die sich nur in Spezialf¨allen ausf¨ uhren lassen) und es gibt kein Indiz, allgemein zu erkennen, wann Fragen dieser Art einer L¨ osung f¨ ahig sind, und, wenn das eintritt, ob es eine einzige L¨osung oder mehrere L¨ osungen gibt“ 8 . Volterra ist der Erste, der eine allgemeine Theorie der Integralgleichungen entwickelt, indem er die Existenz und die Eindeutigkeit der L¨ osungen untersucht und eine allgemeine L¨osungsmethode vorlegt, die den Ausdruck des Kerns unbestimmt l¨aßt. Volterra ver¨offentlicht die ersten Arbeiten zu diesem Thema in den Jahren 1896–97. Er verwendet noch nicht den Ausdruck Integralgleichung, der kurz zuvor von dem deutschen Mathematiker Du Bois-Reymond (1831–1889) eingef¨ uhrt worden war, aber offensichtlich bis dahin noch keine ausreichende Beachtung gefunden hatte. Volterra zieht es vor, von der Inversion bestimm” ter Integrale“ (inversione degli integrali definiti ) zu sprechen, um auf die Suche nach Funktionen ϕ(x) hinzuweisen, welche die (lineare) Integralgleichung Ry f (y) = ϕ(y) + 0 ϕ(x)K(x, y)dx erf¨ ullen, in der die Funktion f und der f¨ ur x ∈ [0, y] und y ∈ [0, a] definierte Kern K bekannt sind. Diese Gleichung wird noch heute u ¨blicherweise als Volterrasche Gleichung zweiter Art bezeichnet, um sie von den Gleichungen erster Art (bei denen die unbekannte Funktion ϕ nur unter dem Integralzeichen auftritt) und von den sogenannten Fredholmschen Gleichungen erster und zweiter Art zu unterscheiden, bei denen beide 8
Volterra [116].
3.3 Integralgleichungen
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Integrationsgrenzen konstant sind. Formal kann eine Volterrasche Gleichung als Spezialfall der Fredholmschen Gleichungen betrachtet werden, bei dem K(x, y) = 0 f¨ ur y < x gilt. Die von Volterra beschrittene Methode zur L¨osung einer Gleichung der zweiten Art besteht aus drei Grundprinzipien: aus dem Konvergenzprinzip, aus dem Reziprozit¨ atsprinzip (das wir der Einfachheit halber weglassen) und aus dem Inversionsprinzip. Konvergenzprinzip: Unter der Voraussetzung, daß die Funktion K(x, y) = −K0 (x, y) endlich und integrierbar ist, werden die iterierten Kerne berechnet: Z y K1 (x, y) = K0 (x, t)K0 (t, y)dt x
Z
y
K2 (x, y) =
K1 (x, t)K0 (t, y)dt x
Z
y
K3 (x, y) =
K2 (x, t)K0 (t, y)dt x
................................................... P+∞ Danach zeigt man, daß die Reihe i=0 Ki (x, y) gleichm¨aßig konvergent ist. P+∞ Inversionsprinzip: Setzt man i=0 Ki (x, y), dann hat die InR y s(x, y) = tegralgleichung f (y) = ϕ(y) + 0 ϕ(x)K(x, y)dx eine eindeutige L¨osung, die Ry durch ϕ(y) = f (y) + 0 f (x)s(x, y)dx gegeben ist. Mit Volterra entsteht also die Theorie der Integralgleichungen, die bald durch Beitr¨age des schwedischen Mathematikers I. Fredholm (1866–1927), eines Sch¨ ulers von Mittag-Leffler, und durch Arbeiten Hilberts bereichert wird. Volterras Beitrag bleibt auch vom methodologischen Standpunkt aus signifikant. In der Arbeit Sull’inversione degli integrali definiti 9 , die wir bereits ¨ zitiert haben, tritt zum ersten Mal das heuristische Prinzip des Ubergangs vom Diskreten zum Stetigen auf. Volterra greift noch nicht auf diesen Ausdruck zur¨ uck und hebt ihn auch nicht so hervor, wie er es sp¨ater tun wird. Um dennoch zu erkl¨ aren, wie er auf die L¨ osung des Problems gekommen ist, und um die Nat¨ urlichkeit“ der gefundenen Formeln sowie die nach und nach ” eingef¨ uhrten Voraussetzungen zu illustrieren, pr¨asentiert er die Integralgleichungen, mit denen er sich besch¨ aftigt, als einen Grenzfall“ eines linearen ” algebraischen Gleichungssystems. Es ist die Algebra, die ihm f¨ ur die Analysis den Weg zu seiner Verallgemeinerung weist. Man erkennt dieselbe Logik, die ¨ Volterra auch beim Ubergang von der reellen Analysis zur Funktionalanalysis rekonstruiert hatte, als er den Weg erl¨ auterte, der ihn auf die Definition des Funktionals und sp¨ ater auf dessen Ableitung gebracht hatte: Bei einer entsprechenden Interpretation enth¨ alt jede Formalisierungsebene die Leitli” ¨ nien“ f¨ ur ihre eigene Uberwindung. Zusammenfassend gesagt: Stetigkeit und 9
Volterra [116].
46
3 Die Katzen von Turin
Nichtstetigkeit sind beides untrennbare Bestandteile der Entwicklung des mathematischen Denkens.
3.4 Die Polemik mit Peano Bei mehr als einer Gelegenheit schreibt Volterra, daß er die Theorie der Integralgleichungen bereits vor den Jahren 1896–97 ausgearbeitet hatte, in denen seine ersten Ver¨offentlichungen zu diesem Thema erschienen. Eine erste Andeutung und die Betrachtung einer Integralgleichung erster Art finden sich tats¨achlich bereits 1884 in der Arbeit Sopra un problema di elettrostatica 10 . Sein Interesse f¨ ur das Thema wird jedoch durch eine harte polemische Auseinandersetzung gebremst“, die er mit Peano hat und die ihn – intellektuell und ” emotional – einen guten Teil des Zweijahreszeitraums 1895–96 besch¨aftigt. Wir haben auf den vorhergehenden Seiten von den ersten Begegnungen“ ” Volterras und Peanos erz¨ ahlt. Sicher ist, daß die Ankunft des jungen Kollegen aus Pisa in Turin bei Peano keine große Begeisterung ausgel¨ost haben d¨ urfte. Peano beurteilt diese neue Situation als nachteilig f¨ ur seine eigenen Interessen, weil die Anwesenheit eines anderen Analytikers – und was f¨ ur eines Analytikers! – in der Fakult¨ at, und sei es auch nur auf einem Lehrstuhl f¨ ur Rationale Mechanik, seine Chancen in Bezug auf ein Ordinariat beeintr¨achtigen k¨onnten. Der anf¨angliche Ton ist dennoch von einer normalen kollegialen Freundlichkeit gepr¨agt. Peano l¨ adt Volterra mehrere Male zur Mitarbeit an seiner Zeitschrift Rivista di Matematica ein und als Antwort auf diesen freundschaftlichen Druck schl¨ agt Volterra Ende 1893 der Zeitschrift die Ver¨offentlichung einiger, u berwiegend didaktischer Arbeiten zur mathematischen Physik vor: ¨ Die Artikel, die ich Ihnen gegen¨ uber nenne, w¨aren diese vier: 1) Zur Poten” tialtheorie (Sulla teoria del potenziale); 2) Zur mechanischen Interpretation einer Formel der Variationsrechnung und die Theorie von Maxwell im Vergleich zur Theorie der Fernwirkungen (Sopra l’interpretazione meccanica di una formula di calcolo delle variazioni e la teoria di Maxwell contrapposta a quella delle azioni a distanza); 3) Zu einem Elastizit¨atsproblem in Analogie zu einem Dirichletschen Problem der Hydrodynamik (Sopra un problema di elasticit`a analogo ad un problema di idrodinamica di Dirichlet); 4) Zu einigen Formeln der Elastizit¨ atstheorie in Analogie zu einer Formel von Gauß zur Potentialtheorie (Sopra alcune formule della teoria dell’elasticit`a analoghe ad una formula di Gauss sulla teoria del potenziale)“. Nur der erste dieser vier Artikel wird geschrieben und ver¨offentlicht. Tats¨achlich spitzt sich die Lage Anfang 1895 unversehens zu. Scherzhaft k¨onnten wir sagen, daß der Ursprung der Polemik f¨ ur Peano eine Katze11 ist. F¨ ur Volterra ist es dagegen eine Reihe von Arbeiten, die im Winter und Fr¨ uhjahr 10 11
Volterra [107]. Vgl. Peanos Arbeit Das Tr¨ agheitsmoment und die Geschichte einer Katze“ (Pea” no [69]). Wir gehen auf S. 48 etwas ausf¨ uhrlicher auf Peanos Arbeit ein.
3.4 Die Polemik mit Peano
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1895 in den Atti dell’Accademia delle Scienze di Torino ver¨offentlicht werden. Es geht um die Analyse von Systemen, in denen es Bewegungen gibt, die auf die Wirkung innerer Kr¨ afte zur¨ uckgehen. Insbesondere geht es um die Erde. Es gab bereits eine Reihe von Untersuchungen um zu bestimmen, ob und in welchem Maße sich die Erdrotationsbewegung durch den Einfluß meteorologischer und geologischer Ph¨ anomene (Erdbeben, Vulkanausbr¨ uche, Vergletscherung usw.) ¨ andern kann. Im Dunkeln geblieben waren dagegen – nach Volterras Einsch¨ atzung – diejenigen zyklischen Bewegungen, die zwar auf der Erde und im Erdinneren stattfinden, aber die Form der Oberfl¨ache und die Verteilung der darauf befindlichen Massen nicht sp¨ urbar ver¨andern. Es ist jedoch keineswegs ausgeschlossen, daß diese Bewegungen, die unter der Einwirkung innerer Kr¨ afte erfolgen, einen sp¨ urbaren Einfluß auf die Position der Pole haben.12 Volterra stellt sich in seinen Arbeiten das Ziel, diejenigen Polbewegungen der Erde zu untersuchen, die durch zyklische Bewegungen auf der Erdoberfl¨ache verursacht werden, zum Beispiel durch Meeresstr¨omungen, durch Luftstr¨omungen, durch kontinuierliche Bewegungen des Wassers der Fl¨ usse in Richtung Meer usw. Volterra legt die ersten beiden Arbeiten mit der Formulierung des Problems und einigen Anfangsresultaten Anfang Februar 1895 vor, und zwar anl¨aßlich seiner Wahl zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Turin (Accademia delle Scienze di Torino). Auf dem Wahlzettel durften die 15 Stimmberechtigten (h¨ ochstens) 5 Namen angeben: Volterra wurde mit 13 Stimmen der Erste der Gew¨ ahlten! Den Ver¨offentlichungen vom Februar folgen drei weitere Arbeiten, die er der Akademie im M¨arz vorlegt. Diese Arbeiten enthalten die analytische L¨ osung des allgemeinen Problems. Aber bereits die ersten Arbeiten waren auf ein ziemlich großes Interesse gestoßen. Zu den positiven und besonders qualifizierten Reaktionen geh¨ort die Meinung des Astronomen Giovanni Schiaparelli (1835–1910), der die Untersuchung f¨ ur theoretisch sehr interessant h¨ alt. Er stellt jedoch im spezifischen Fall der Erde Folgendes fest: Wenn von 3 Momenten A, B und C eines deut” lich u ¨ber den anderen beiden liegt [...], dann kann man durch kleine station¨are Materiezirkulationen nur schwer große Polbewegungen mit stabiler Rotation erreichen: Vielleicht kommt es zu kleinen periodischen Schwingungen und es w¨ are u ¨beraus interessant, diese zu untersuchen“ 13 . In einem direkt an Volterra gerichteten Brief schreibt Schiaparelli: F¨ ur die Erde mit kleinen station¨aren ” Bewegungen gibt es nur minimale periodische Schwankungen mit der gleichen Periode, die f¨ ur station¨ are Bewegungen angenommen wird, kombiniert mit weiteren Schwankungen, die u ¨blicherweise eine Eulersche Periode haben. So 12
13
Diese Polbewegungen haben nichts mit den Eigenbewegungen der Erdachse in Bezug auf ein Inertialsystem zu tun, zu denen die wohlbekannte Pr¨ azession und die (damit verwandte) Nutation geh¨ oren. Die Polbewegungen werden in einem mit der Erde fest verbundenen Referenzsystem sichtbar, in dem die Breite in ¨ Bezug auf die zur Erdachse senkrechte Aquatorebene definiert wird. (vgl. Puppi [73]). Vom 24. Januar 1895 datierter Brief G. Schiaparellis an F. Porro de’ Somenzi.
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3 Die Katzen von Turin
stelle ich es zumindest fest, wenn ich mir die Gleichungen u ¨ber den Daumen gepeilt ansehe. Es ist vielleicht nicht unwahrscheinlich, daß hier die ChandlerPeriode von 432 Tagen herauskommt“. Schiaparellis Beitrag ist es zu verdanken, daß Volterra ein gr¨ oßeres Bewußtsein f¨ ur die unvermeidliche Distanz erlangt, die das mathematische Modell vom realen Ph¨anomen trennt. Volterra greift sogleich den Ratschlag auf, im Falle der Erde die minimalen periodischen Schwankungen zu untersuchen. In der sechsten und siebenten Arbeit, die Volterra der Turiner Akademie der Wissenschaften am 5. Mai und am 23. Juni 1895 vorlegt, m¨ochte er die Theorie auf die tats¨achlichen Erdbewegungen ” anwenden“. In diesen Arbeiten vereinfacht Volterra den analytischen Aspekt durch die Unterdr¨ uckung gewisser Terme, die er f¨ ur vernachl¨assigbar h¨alt, und er nimmt als Hypothese an, daß die Polbewegungen bereits als zerlegbar in ” eine Reihe von harmonischen Bewegungen“ festgesetzt sind. In den folgenden Monaten u ¨berwiegt dagegen der analytische oder – wie Volterra ihn nennt – der funktionale Aspekt mit der Untersuchung des Verhaltens von K¨orpern, in denen es innere zyklische, polyzyklische oder variable Bewegungen gibt. Aber im Mai und im Juni hatte sich Peano bereits in die Angelegenheit eingeschaltet. Seine Arbeit Il principio delle aree e la storia di un gatto (Das Tr¨ agheitsmoment und die Geschichte einer Katze) erscheint im Januar 1895 in der Zeitschrift Rivista di Matematica.14 Peano berichtet von einer Diskussion, die in der Acad´emie des Sciences in Paris zu dem Thema stattgefunden hat, warum eine Katze – ganz gleich, wie man sie fallen l¨aßt – immer auf die Pfoten f¨allt. Die Frage war im Anschluß an eine Folge von Fotografien aufgeworfen worden, welche die besagte Dynamik des Fallens dokumentiert hatte. Diese Arbeit w¨are heute ein niveauvoller popul¨arwissenschaftlicher Artikel, der zweifellos in einem gl¨ anzenden Stil geschrieben war: Die Ursache der Drehbewegung der Katze scheint mir h¨ochst einfach. ” Wenn das Tier sich selbst u uhrt es mit dem Schwanz ¨berlassen ist, f¨ einen Kreis in der zur Achse seines K¨ orpers senkrecht stehenden Ebene aus. Infolgedessen muß sich auf Grund des Prinzips der Erhaltung des Tr¨agheitsmoments der K¨ orper des Tieres in der zur Bewegung des Schwanzes entgegengesetzten Richtung drehen. Hat sich das Tier so weit wie gew¨ unscht gedreht, h¨ alt es den Schwanz an und bring dadurch die Bewegung des K¨ orpers zum Stillstand. Das Tier rettet damit sein Leben und das Prinzip des Tr¨ agheitsmoments.“ F¨ urs erste erfolgt kein Bezug auf die Probleme, die mit der Erdrotation zusammenh¨angen. Peano spricht jedoch mit seinen Kollegen u ¨ber die Analogie zwischen den beiden Ph¨ anomenen, die auf der Tatsache beruht, daß in beiden F¨allen die inneren zyklischen Bewegungen die Gesamtrichtung des K¨orpers andern k¨onnen. Peanos Vermutung wird – auch von Volterra – k¨ uhl aufge¨ nommen, und das motiviert Peano, das Problem explizit anzupacken: Unter ” dem mechanischen Aspekt ist die Sache identisch. Aber Prof. Volterra kommt 14
Peano [69].
3.4 Die Polemik mit Peano
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Abb. 3.1. Giuseppe Peano als junger Mann.
das Verdienst zu, das Problem als Erster aufgeworfen zu haben. Er machte es zum Gegenstand einiger Arbeiten, die dieser Akademie vorgelegt wurden [...]. Der Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist es, darzulegen, wie man die Berechnung der Verschiebungen durchf¨ uhrt, die auf der Erde durch die relative Bewegung ihrer Teile erzeugt werden, und eine numerische Anwendung dieses Sachverhaltes zu geben. Die Berechnung erfolgt ohne Quadraturen und es wird nur das Tr¨ agheitsmoment angewendet“. So schreibt Peano am 9. Mai 1895 in einer zweiten Mitteilung f¨ ur die Accademia delle Scienze in Turin. Die k¨ uhle Haltung Volterras sollte bald noch zunehmen und eine andere Richtung bekommen. Sehr geehrter Herr Professor“, schreibt er Anfang ” Mai an Valentino Cerruti15 , entschuldigen Sie meine Eindringlichkeit und be” mitleiden Sie mich bitte. In diesen Tagen war ich wegen des Kollegen Peano ziemlich verbittert. Dieser hat, ohne mich in irgendeiner Weise zu informieren, der Akademie eine Mitteilung vorgelegt, in der er dieselben Berechnungen und ¨ dieselben Uberlegungen wiederholt, die ich in Bezug auf die Polbewegungen angestellt hatte. Peano stellt die Sache gewissermaßen als neu dar und macht ¨ auch einige falschen Außerungen, die ich unm¨oglich wohlwollend aufnehmen kann. Außerdem hat er eine numerische Anwendung versucht, bei der er von der Wirkung des Golfstroms auf die Polbewegung ausgeht. Ich meine, daß diese letztgenannte Berechnung nicht exakt durchgef¨ uhrt worden ist, ganz zu schweigen davon, daß die Daten, von denen er ausgeht, nicht zuverl¨assig sind und die Ergebnisse u ¨berhaupt nicht der Realit¨at entsprechen“. Das ist das erste Dokument, das die Nervosit¨at bezeugt, mit der Volterra anf¨angt, den Gang der Ereignisse zu verfolgen. Der Ton, den man in den zur¨ uckhaltenden Protokollen der Akademie antrifft, ist noch maßvoll; man kann sich leicht vorstellen, daß jeder Ausdruck sorgf¨altig gew¨ahlt wurde, um weitere Spannungen zu vermeiden. Aber die unver¨offentlichten Vorw¨ urfe, die 15
Valentino Cerruti (1850–1909), italienischer Physiker und Politiker.
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3 Die Katzen von Turin
Volterra in der Folgezeit ¨ außert, lassen keinerlei Zweifel an seinem Seelenzustand und an der Sch¨ arfe seines Urteils: Daß Professor Peanos Mitteilung ” kein wissenschaftliches Ziel verfolgt, geht deutlich aus Folgendem hervor: Er f¨ uhrt nur eine nutzlose Wiederholung von Untersuchungen und Forschungsergebnissen durch, die ich bereits ver¨ offentlicht habe; auch die numerische Anwendung, die er versucht und sonderbar u urzt durchf¨ uhrt, wobei er sich ¨berst¨ auf unglaubw¨ urdige Daten st¨ utzt, kann seine Publikation nicht rechtfertigen [...]. Professor Peano behauptet, daß die Idee, von der ich ausgegangen bin, so einfach ist, daß sie sich allen erschließt. Ich werde nicht u ¨ber diese kindische Kritik sprechen, sondern nur feststellen, daß man den Wert einer Idee lediglich nach der Bedeutung der Anwendungen beurteilen darf, und nicht schon nach der mehr oder weniger gr¨ oßeren Einfachheit dieser Idee [...] Mit der Eile, in der Prof. Peano die Arbeit anderer verunglimpft, hat er einen vollst¨andigen Mangel an Kompetenz gezeigt [...] Das absurde Ergebnis ist, daß sich der Erdpol um einige Meter pro Jahr in Richtung Spitzbergen verschiebt! Jeder w¨ are von einem so l¨ acherlichen und absurden Ergebnis getroffen, nicht jedoch Prof. Peano, der mit der Aufdringlichkeit desjenigen, der ein Problem nicht kennt, glaubt, dieses Problem gel¨ ost zu haben, w¨ahrend er doch nichts anderes getan hat, als dieses nicht zu verstehen [...]. Professor Peanos absolute Unkenntnis jeglicher Vorgeschichte dieses Problems [ist anhand der Tatsache offensichtlich], daß ihm die wichtigsten Arbeiten von Euler, Lagrange, Jacobi, Hermite usw. zur Mechanik unbekannt sind; oder glaubt er etwa, mit einem Federstrich deren Arbeiten ausl¨ oschen zu k¨ onnen? [...] Es ist keine angenehme Sache, Prof. Peano bei seinen ausgekl¨ ugelten Untersuchungen [und] auf seinem Weg zu folgen, den ich animalisch nennen w¨ urde [...]. Gewiß kultiviert jemand das Gebiet der sogenannte Logik nicht, f¨ ur den entweder der Eifer oder die Bildung u ussig sind, mit denen man sich auf die Untersuchung ¨berfl¨ der Probleme der Natur vorbereiten kann“.16 Volterras Kritik ist so heftig, daß sich Peano gezwungen sieht, eine nachfolgende Mitteilung zur¨ uckzuziehen, die er der Accademia delle Scienze in Turin am 19. Mai 1895 vorgelegt hatte. Er hatte den Spezialfall betrachtet, daß das Tr¨ agheitsellipsoid eine Kugel ist; deswegen stellten sich seine Berechnungen als unglaubw¨ urdig heraus, als sie auf die Erde angewendet wurden. Peano teilt Volterra am 27. Mai 1895 telegraphisch mit, daß er seinen Fehler eingesehen habe. Volterra interpretiert das dahingehend, daß ihn Peano von der außerst mißlichen Pflicht entbunden habe, den Druck zu verantworten. Vol¨ terra gelingt es jedoch nicht, sich dieser Pflicht zu entziehen, als am 23. Juni eine weitere Mitteilung Peanos eingeht, die nach Volterras Meinung den Inhalt der zur¨ uckgezogenen Arbeit nahezu vollst¨andig reproduziert. Volterra schreibt u ¨ber Peanos Verhalten eine harsche Kritik, die im September 1895 in den Sitzungsberichten der Accademia dei Lincei erscheint. In denselben Sitzungsberichten antwortet Peano im Dezember 1895 mit einer Mitteilung, die von dem namhaften Mathematiker Eugenio Beltrami vorgelegt wurde. Die 16
Vgl. Guerraggio [38].
3.4 Die Polemik mit Peano
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Auseinandersetzung verlagert sich also von Turin an die Accademia dei Lincei, die renommierteste wissenschaftliche Institution des Landes, und endet mit einem (vom 1. Januar 1896 datierten) Brief Volterras an den Pr¨asidenten Brioschi17 . In diesem Brief bekr¨ aftigt Volterra seine eigene Position und betrachtet die Sache als abgeschlossen. Ein letzter Beitrag Peanos (vom 1. M¨arz 1896) greift die Ergebnisse der vorhergehenden Mitteilungen wieder auf, ohne jedoch die Kontroverse erneut anzudeuten. Die Auseinandersetzung, die wir in ihren wesentlichen Phasen rekonstruiert haben, dreht sich demnach um eine Priorit¨atsfrage. Volterra beschuldigt Peano, dieser habe ihn – obwohl sie sich in der Fakult¨at h¨aufig begegneten – nicht u ¨ber seine Absichten informiert, einen physikalisch-mathematischen Beweis in Angriff zu nehmen. Volterra bezichtigt Peano dar¨ uber hinaus, dieser habe den Volterraschen Ansatz im Grunde genommen kopiert; dabei habe sich Peano darauf beschr¨ ankt, Volterras Untersuchungen in ein geometrisches Gewand einzukleiden. Unter dem Deckmantel einer scheinbaren H¨oflichkeit hat Prof. Peano eine u ¨ ble Handlung begangen“. Seine numerischen Anwen” dungen w¨ urden sich nicht nur als deutlich unzuverl¨assig erweisen, sondern unterstellten in boshafter Weise, daß er das Problem gel¨ost habe, w¨ahrend es von Volterra h¨ochstens formuliert worden sei. Sp¨ater weitet sich die Kontroverse aus und r¨ uckt die große Kluft ins Licht, die Peano und Volterra in Bezug auf Methodik und Ziele voneinander trennt. Peano hegt kein echtes Interesse f¨ ur das Problem der Bewegung der Erdpole und dessen L¨osung. Er will – und das ist sein Hauptziel – das gesamte Potential einer neuen Sprache zeigen, mit der es seiner Meinung nach gelingt, die Berechnungen viel einfacher zu machen und gleichzeitig die Einheitlichkeit scheinbar unterschiedlicher Probleme zu erfassen. Eigentlich ist das Vertrauen in den geometrischen Kalk¨ ul so beschaffen, daß Peano das Projekt der Verbreitung des Kalk¨ uls mit wechselnder Strenge vorantreibt und nicht immer ausreichend mit der Spezifik der behandelten Fragen vergleicht. Peano mag Provokationen. Er findet Polemiken anregend; diese stellen f¨ ur ihn – mit der subtilen und brillanten logischen Analyse des nachfolgenden Schlagabtausches – einen der Wege dar, auf dem die wissenschaftliche Erkenntnis voranschreitet. Volterra bevorzugt einen anderen Arbeitsstil. Eine Fortsetzung der Polemik interessiert ihn weniger. Mehr am Herzen liegen ihm die spezifischen Probleme, ihre L¨osungen und die Berechnungen, die notwendig sind, um auf die L¨osungen zu kommen. Vielleicht ist diese Herangehensweise weniger gl¨ anzend, aber sie ist sicher n¨ utzlicher. Hinsichtlich des Inhalts hat Volterra ein leichtes Spiel, die Unstimmigkeiten der Analyse Peanos hervorzuheben. Im Allgemeinen ist es u ¨berzeugend, wenn Volterra betont, daß es nicht ausreicht, die logische Struktur eines Problems zu verstehen: Was absolut falsch ist? Falsch ist, daß Peano sagt, daß ein ” Problem als gel¨ost betrachtet werden kann, sobald die Idee formuliert ist“. Die Arbeit des Mathematikers beginnt doch jetzt erst oder er muß sie jedenfalls fortsetzen. Die Berechnungen m¨ ussen durchgef¨ uhrt werden! An dieser 17
Ausz¨ uge aus diesem Brief werden in Goodstein [33], S. 97, zitiert.
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3 Die Katzen von Turin
Stelle kommen die langen Seiten, die den L¨ osungen der Differentialgleichungen, der Verwendung der elliptischen Funktionen, den Stabilit¨atsproblemen und der geometrischen Beschreibung der untersuchten Bewegungen gewidmet sind. Ohne den Ehrgeiz, eine neue Mathematik f¨ ur sich zu erfinden“, aber ” mit der Bem¨ uhung, sich in eine große physikalisch-mathematische Tradition einzureihen – [...] k¨ onnen Sie u ¨brigens zum Integrationsverfahren sowie zum ” Verfahren f¨ ur alle Rotationsprobleme von Euler bis in unsere Tage jedes beliebige Mathematikbuch konsultieren“ 18 – und weitere Anstrengungen unternehmen, einige bequeme Voraussetzungen fallen zu lassen oder Bedingungen einzuf¨ uhren, die das Modell noch realistischer machen. F¨ ur Peano und seine Logik ist Volterras Urteil im Grunde genommen ohne Wirkung. Dieses Urteil wird nicht nur von Volterra ausgesprochen19 . Gott ” befreie uns von seinen Symbolen, wenn das die Ergebnisse sind, zu denen diese Symbole f¨ uhren k¨ onnen“, schreibt Somigliana am 26. April 1896 an Volterra. Im Jahr zuvor, als in der Polemik die ersten herben Vorw¨ urfe hochkochten, hatte sich Bianchi folgendermaßen ausgedr¨ uckt20 : So groß ist der ” Unterschied zwischen Dir und ihm in der Wirklichkeit und in der wissenschaftlichen Wertsch¨atzung, daß die einzige Tat Peanos, des Revisors und Kritikers Deiner Arbeiten, bereits per se h¨ ochst l¨ acherlich ist. Daß er mit seiner mathematischen Logik keinen Hund hinterm Ofen hervorlockt und nicht einmal den kleinsten Satz von Wert gefunden hat, ist allgemein bekannt und gibt mir ein St¨ uck Glauben, daß das nichts anderes ist als eine Maske, um die Nichtigkeit der Ergebnisse zu verbergen“. Somigliana und Bianchi sind Freunde Volterras. Sie haben mit ihm zusammen an der Normale studiert. Ihre Urteile sind jedoch nicht nur parteiisch. Sie dr¨ ucken eine Einsch¨atzung aus, die von den italienischen Mathematikern weitgehend geteilt wird. In der wissenschaftlichen Polemik ist es nicht immer leicht, Recht und Unrecht voneinander zu trennen. Und das, obwohl man sich auf wissenschaftlichem Boden befindet, und obwohl man vielleicht stimmiges dokumentarisches Material zur Verf¨ ugung hat. Die Protagonisten der Polemik neigen unaus18 19
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Vom 2. Juni datierter Brief Volterras an Peano. Das einzige Urteil, das nicht mit dem Strom schwamm“, stammt von Beppo Levi ” (1875–1961), der in Turin promovierte und Segre, D’Ovidio, Peano und Volterra als Lehrer hatte. Levi befaßte sich mit reeller Analysis, algebraischer Geometrie, Grundlagen der Geometrie, Logik und Zahlentheorie und lehrte an den Universit¨ aten Cagliari, Parma und Bologna. Im Jahr 1932 erinnert er im Bollettino dell’Unione matematica italiana an Peanos Lehren und an dessen Werk. Dabei vertritt er Ansichten, die nicht einmal der Turiner Mathematiker hat ¨ außern k¨ onnen: Und doch war es Peano, der in einer Reihe von sch¨ onen Arbeiten [...] ” zur Frage der Verschiebung des Erdpols eines der ersten und bemerkenswertesten Beispiele gegeben hat; diese Frage gewann 1895–96 an Aktualit¨ at im Anschluß an das sogenannte Katzenexperiment und an eine gl¨ uckliche Parallelit¨ at, die Volterra zwischen dem besagten Experiment und dem astronomischen Ph¨ anomen festgestellt hatte“. Brief an Volterra vom 21. Mai 1895.
3.5 Vor der Jahrhundertwende: die internationalen Kongresse
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weichlich dazu, Verwirrung zu stiften“, mehrere Ebenen des Diskurses zu ” u ¨berlagern und zuweilen den Spieß umzudrehen“. Die eigentlichen wissen” schaftlichen Ursachen vermischen sich mit pers¨onlichen Rivalit¨aten und Eifers¨ uchteleien zwischen den verschiedenen Schulen. Es tr¨agt auch nicht immer zum Verst¨andnis des Sachverhaltes bei, wenn die Verfechter unterschiedlicher Thesen zu Wort kommen. Im Falle der Polemik zwischen Volterra und Peano scheint das Verdikt jedoch ziemlich eindeutig zu sein. Volterra hat ein leichtes Spiel, die d¨ urftigen Vorkenntnisse Peanos sowohl in theoretischer (physikalisch-mathematischer) Hinsicht als auch in Bezug auf geophysikalische Anwendungen zu betonen, w¨ ahrend Peano den Ehrgeiz hat, die einschl¨agigen Probleme auf innovative Weise und radikal einfacher zu l¨osen. Ebenso hat Volterra auch inhaltlich ein leichtes Spiel, die Fehler des Kollegen und den Scheincharakter gewisser polemischer Unterstellungen desselben hervorzuheben. Das Urteil wird durch die nachfolgenden Entwicklungen erh¨artet. Nach der Auseinandersetzung mit Peano ver¨ offentlicht Volterra erneut Beitr¨age zur Bewegung der Pole; diese Beitr¨ age werden noch immer in der Literatur zitiert, und sei es auch nur unter historischem Aspekt. Im Jahr 1898 stellt er in der langen Abhandlung Sur la th´eorie des variations des latitudes, die in den Acta Mathematica 21 ver¨ offentlicht wird, alle Untersuchungen zusammen, die in diesen Jahren durchgef¨ uhrt worden sind22 . Peano hingegen beginnt am Ende des Jahrhunderts seinen Weg, der ihn allm¨ ahlich von den Gebieten isoliert, die f¨ ur die Mathematik eine gr¨ oßere Bedeutung haben – er setzt alle seine Karten auf die logisch-linguistische Richtung, die nicht die erhofften Fr¨ uchte bringt.
3.5 Vor der Jahrhundertwende: die internationalen Kongresse Volterra kommt also gut aus der Polemik heraus. Die 12–15 Monate, von denen wir gesprochen haben, geh¨ oren pers¨ onlich nicht zu den angenehmsten, aber sie geben ihm das Gewicht“, um den Turiner Kollegen und den ita” lienischen Mathematikern zu zeigen – von den nahezu aufeinanderfolgenden Ver¨offentlichungen u ¨ber Integralgleichungen hatten wir bereits berichtet –, wer der seri¨ose“ und zuverl¨ assige Mathematiker ist. Seine Karriere verl¨auft ” 21 22
Volterra [118]. Noch im Jahr 1938 ver¨ offentlicht Volterra das Buch Rotation des corps dans lesquels existent des mouvements internes (Volterra [146]). Im Abstand von vierzig Jahren nach den ersten Untersuchungen zu diesem Thema hebt Volterra deren vorwiegend theoretischen Aspekt hervor: Es geht nicht um die Frage, aus einer ” solchen Untersuchung Schlußfolgerungen f¨ ur eine Erkl¨ arung der Polbewegungen zu ziehen“. Das 1938 erschienene Werk ist in Zusammenarbeit mit Pierre Costabel (1912–1989) entstanden, der vor allem als Wissenschaftshistoriker bekannt wurde.
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3 Die Katzen von Turin
weiter nach oben. Er wird 1894 ordentliches Mitglied der Societ` a dei XL und man w¨ahlt ihn in das Direktorium des Circolo matematico di Palermo. Im darauffolgenden Jahr gewinnt er zusammen mit Corrado Segre den Nationalen Preis f¨ ur Mathematik, der von der Accademia dei Lincei ausgeschrieben worden war. Im Jahr 1897 nimmt er an der Gr¨ undung der Societ` a italiana di Fisica teil. Im gleichen Jahr wird er Mitglied der Astronomischen Gesellschaft Heidelberg. Das Jahr 1897 ist auch das Jahr des Kongresses von Z¨ urich, mit dem die Geschichte der Internationalen Mathematikerkongresse beginnt. Eine Kost” probe“ hatte 1893 in Chicago stattgefunden. Das Treffen von Chicago war von einigen Wissenschaftlern der Vereinigten Staaten organisiert und von Felix Klein entscheidend unterst¨ utzt worden. Der deutsche Mathematiker lehrte ab 1886 an der Universit¨ at G¨ ottingen, war aber vorher, im Jahr 1872, an die Universit¨at Erlangen berufen worden, wo er seine Antrittsvorlesung hielt, die sp¨ ater als Erlanger Programm bekannt wurde. Der Kongreß von 1893 wird im Rahmen der Weltausstellung abgehalten, die Christoph Kolumbus und der Entdeckung des amerikanischen Kontinents gewidmet ist. Chicago betrachtet die Weltausstellung als Gelegenheit, sich als Stadt anzubieten, deren Image u ¨ber das einer Industriemetropole hinausgeht; die Veranstaltung soll auch bekr¨aftigen, daß in den Vereinigten Staaten nicht nur die Neuenglandstaaten die Bildung f¨ordern. Die Weltausstellung wird also von einigen wissenschaftlichen Kongressen flankiert. Volterra ist eingeladen, schafft es aber nicht, nach Chicago zu reisen. Der Mathematikerkongreß findet w¨ahrend der Zeit seines Umzugs nach Turin statt, der nicht ganz ungest¨ort verl¨auft. Andererseits sind nur wenige europ¨aische Wissenschaftler in Chicago anwesend. Neben dem Mathematikerkongreß findet auch ein Astronomenkongreß statt – organisiert von George E. Hale, der einige Jahre j¨ unger als Volterra ist und dem wir sp¨ater erneut begegnen werden. Hale trifft Volterra erst 1909 in Rom pers¨onlich, hat aber bereits jetzt gute Bekannte unter den italienischen Astronomen. Nach dem Kongreß von Chicago bekommt die Idee, in regelm¨aßigen Abst¨anden internationale Begegnungen zu organisieren, einen entschieden gr¨ oßeren Schwung. Es bleibt jedoch das Problem, wer die Verantwortung der Initiative u unstigste Ort f¨ ur die erste Ver¨bernehmen soll und welches der g¨ anstaltung sein k¨onnte. Die repr¨ asentativsten und st¨arksten mathematischen Schulen waren die franz¨ osische und die deutsche Schule, doch in Frankreich hatten sich der Nachhall und der Groll wegen Sedan und wegen des Krieges von 1870 noch nicht gelegt. Es ist der deutsche Mathematiker Georg Cantor, der Begr¨ under der Mengenlehre, der vorschl¨ agt, den ersten Kongreß 1897 in einem neutralen“ Land abzuhalten. Es sollte eine Art zweite Generalprobe“ ” ” sein, w¨ahrend der erste richtige internationale Kongreß im Jahr 1900 in Paris stattfinden w¨ urde. Cantors Idee wird mit dem Hinweis akzeptiert, daß die Schweiz oder Belgien als m¨ ogliche erste Veranstaltungsl¨ander in Frage k¨amen. Die Entscheidung bleibt bis zum Schluß ungewiß. Auf deutschen Druck hin erh¨alt dann das nahe gelegene“ Z¨ urich den Zuschlag, auch wenn die offiziellen ”
3.5 Vor der Jahrhundertwende: die internationalen Kongresse
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Begr¨ undungen auf die schweizerische Tradition bei der F¨orderung internationaler Begegnungen verweisen.
Abb. 3.2. Emile Borel.
In Z¨ urich findet der Kongreß in der Zeit vom 9.–11. August in den H¨ors¨alen des Eidgen¨ossischen Polytechnikums (der sp¨ ateren ETH) statt23 . Es nehmen etwas mehr als 200 Mathematiker teil. Italien ist gut vertreten, und zwar sowohl in Bezug auf die Teilnahme als auch in den Leitungsgremien – die damalige Geopolitik tendiert dazu, auf jeder Ebene die Anwesenheit eines deutschen, eines franz¨osischen und eines italienischen Mathematikers sowie eines Vertreters eines neutralen“ Landes zu gew¨ ahrleisten. Es sind ungef¨ahr zwanzig ” 23
In Bezug auf die Geschichte der ersten Internationalen Mathematikerkongresse verweisen wir auf Guerraggio-Nastasi [43]. Gesamtdarstellungen findet man in Albers-Alexanderson-Reid [1] (bis einschließlich 1986) und Lehto [56] (bis einschließlich 1994).
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3 Die Katzen von Turin
italienische Mathematiker nach Z¨ urich gefahren. Luigi Cremona ist Mitglied des Organisationskomitees. Als Hauptvortragende werden eingeladen: Henri Poincar´e (Sur les rapports de l’analyse pure et de la physique math´ematique), ¨ Adolf Hurwitz (Uber die Entwickelung der allgemeinen Theorie der analytischen Funktionen in neuerer Zeit), Giuseppe Peano (Logica matematica) und Felix Klein (Zur Frage des h¨ oheren mathematischen Unterrichtes). Die Kongreßakten geben jedoch nicht den gesamten Text von Peanos Vortrag wieder, und zwar wegen der einzigartigen Form, die der Turiner Mathematiker seinem Beitrag gibt. Er behauptet, daß der k¨ urzeste Weg, sich eine klare ” Vorstellung von der mathematischen Logik, ihres Zwecks, ihrer Anwendungen und ihrer Grenzen zu machen, darin besteht, sie [d. h. die mathematische Logik] in Aktion zu sehen“. Deswegen geht er dazu u ¨ber, die Haupts¨atze seiner Schrift Logique math´ematique vorzutragen, bei der es sich um § 1 des Bandes II des Formulaire de Math´ematiques handelt. Das sind die Jahre, in denen Peano anf¨ angt, seine Vorlesungen und auch seine ¨offentlichen Beitr¨age auf den Kommentar einiger Teile des Formulario zu reduzieren. In Z¨ urich ist sein kommentierter Vortrag jedoch ¨ außerst n¨ utzlich: Der tats¨achliche Text der Schrift bestand aus ungef¨ ahr f¨ unfzehn Seiten, die erbarmungslos voller Formeln waren, eine nach der anderen! Volterra f¨ahrt mit seiner Mutter nach Z¨ urich. Er h¨alt keinen Vortrag, nutzt aber die Gelegenheit, herzliche Beziehungen zu kn¨ upfen, vor allem zu den franz¨osischen Kollegen. Er lernt Paul Painlev´e und Emile Borel und im darauffolgenden Jahr in Paris Henri Lebesgue kennen. Ebenfalls 1898 hat er in Turin den jungen Ren´e Baire (1874–1932) f¨ ur einige Monate zu Gast. Baire wird sp¨ater durch sein sogenanntes Kategorietheorem und Beitr¨age zur reellen Analysis bekannt, in denen er den Begriff der Halbstetigkeit einf¨ uhrt. Baire hatte in Paris ein Forschungsstipendium der Fakult¨at f¨ ur Naturwissenschaften bekommen und stellt in Turin seine Dissertation fertig, wobei er einige Teile direkt mit Volterra diskutiert. Beide waren sich bei einigen Fragen zur Stetigkeit einer Funktion mehrerer Variabler begegnet“. Baire widmet seine ” Dissertation Sur les fonctions de variables r´eelles (1899) Dini und Volterra. Die Dissertation wird in der italienischen Zeitschrift Annali di Matematica Pura e Applicata ver¨ offentlicht. Volterra wird ab dem nachfolgenden Internationalen Kongreß in diese Kongresse einbezogen. Innerhalb einiger Jahrzehnte avanciert er zum meistgefrag” ten“ Mathematiker und wird viermal eingeladen, einen der Hauptvortr¨age zu halten. In Z¨ urich wird entschieden, daß der n¨ achste Kongreß 1900 in Paris stattfindet: Das sind die langfristigen Auswirkungen des von Georg Cantor eingebrachten Vorschlags. Emile Picard, der Pr¨ asident der Soci´et´e math´ematique de France, h¨alt in Z¨ urich die letzte Rede: Die Vollversammlung hat an diesem ” Morgen der Mathematischen Gesellschaft Frankreichs die Ehre erwiesen, sie zur Ausrichtung des Kongresses 1900 auszuw¨ ahlen. Erlauben Sie mir als dem Pr¨asidenten, Ihnen herzlich zu danken. Ich kann in dieser Eigenschaft kein besseres Gel¨ ubde ablegen als den Wunsch, daß die Mathematische Gesellschaft
3.5 Vor der Jahrhundertwende: die internationalen Kongresse
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Abb. 3.3. Paul Painlev´e.
bei der Ausf¨ uhrung dieser auch weiterhin heiklen Aufgabe ebenso erfolgreich sein m¨oge wie die Z¨ uricher Mathematiker. [...] Es ist ein großes Gl¨ uck, daß wir nicht alle die gleichen intellektuellen Neigungen haben. Die einen zum Beispiel, die Erleuchter der Wissenschaft, bevorzugen die unerforschten Gebiete und setzen Pfl¨ ocke f¨ ur die Zukunft; andere wiederum sch¨atzen diejenigen Untersuchungen mehr, die bis zu ihren ¨ außersten Grenzen getrieben werden k¨onnen. Die Ersteren sprengen die Felsen, w¨ ahrend die Letzteren sp¨ater die Hauptstraße anlegen. Der eine liebt die Dinge in einer geometrischen Form, w¨ ahrend der andere algebraische Formeln bevorzugt. Wir haben auch mathematische Philosophen und dieses zu Ende gehende Jahrhundert sieht – wie es auch in anderen Epochen der Fall war – die Mathematik mit der Philosophie kokettieren. Das ist das Beste, unter der Voraussetzung, daß diese Philosophie sehr tolerant ist und den kreativen Geist nicht erstickt. H¨ uten wir uns davor, vornehm zu sein, und sehen wir zu, daß wir die gleiche Sympathie f¨ ur alle gewissenhaften Arbeiter haben. Erinnern wir uns auch daran, daß in der
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3 Die Katzen von Turin
Mathematik ebenso wie in der Damenbekleidung die Mode einen bestimmten Einfluß hat“. Die Einladung, die Volterra zum Kongreß 1900 als Hauptvortragender erh¨alt, ist die endg¨ ultige Anerkennung seiner wissenschaftlichen Autorit¨at. Poincar´e schreibt ihm am 27. Mai 1899: Mein lieber Kollege, ich bin vom ” Organisationskomitee beauftragt worden, Sie um Ihre Zustimmung zu bitten, auf einer der Plenarsitzungen einen Vortrag zu halten. Wir alle halten Ihre Zustimmung f¨ ur sehr wichtig und hoffen, bald eine positive Antwort zu erhalten. Lassen Sie uns dann noch wissen, welches Thema Sie gew¨ahlt haben und wie lange Ihr Vortrag ungef¨ ahr dauern wird“. Volterra nimmt die Einladung gerne an und macht drei verschiedene Vorschl¨ age. Wir kennen die Vorschl¨age nicht im Detail, aber in einem nachfolgenden Brief Poincar´es lesen wir: Die von ” Ihnen vorgeschlagenen drei Themen sind alle gleichermaßen interessant; Sie k¨onnen das Thema w¨ ahlen, das Ihnen am besten zusagt. Unsere Pr¨aferenzen l¨ agen vielleicht bei Betti, Brioschi und Casorati“.24
24
Auf dem Internationalen Mathematikerkongreß, der in der Zeit vom 6.–12. August 1900 in Paris stattfindet, h¨ alt Vito Volterra den Hauptvortrag Betti, Brio” schi, Casorati – Trois analystes italiens et trois mani`eres d’envisager les questions d’analyse“.
3.5 Vor der Jahrhundertwende: die internationalen Kongresse
Abb. 3.4. Onkel Edoardo, Volterras k¨ unftiger Schwiegervater.
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4 Rom, ¨ offentliche Verpflichtungen, Politik
4.1 Heirat und Paris F¨ ur die Mathematiker (und ihre Historiker) ist 1900 das Jahr des Internationalen Mathematikerkongresses in Paris und der 23 Hilbertschen Probleme. F¨ ur Volterra ist es auch das Jahr der Eheschließung und des Umzugs nach Rom. Es sind Ereignisse – die Heirat, Paris und Rom –, die sich innerhalb weniger Monate abspielen. Am 18. Februar 1900 stirbt Eugenio Beltrami. Wir sind ihm im vorhergehenden Kapitel bei der Schilderung der Polemik zwischen Peano und Volterra fl¨ uchtig begegnet. Peano war damals noch nicht Mitglied der Accademia dei Lincei und hatte seinen ber¨ uhmten Kollegen Beltrami darum gebeten, eine seiner Mitteilungen zur Polbewegung f¨ ur die Sitzungsberichte vorzulegen. Beltrami ist ein wichtiger Name in der Geschichte der italienischen Mathematik der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Er ist vor allem wegen seiner Forschungsarbeiten zur Differentialgeometrie bekannt, die von den Riemannschen Ideen und deren Verbreitung w¨ ahrend Riemanns Italienaufenthaltes beeinflußt worden sind. Von daher r¨ uhrt Beltramis Interesse f¨ ur die nichteuklidischen Geometrien und die Realisierung eines ihrer ersten Modelle auf der Pseudosph¨are. Volterra versucht sofort, nach Rom zu kommen, und u ¨bernimmt dort den Lehrstuhl Beltramis. Im Unterschied zum vorherigen Umzug sind jetzt die Motivationen klar. Vor allem ist zu sagen, daß sich Volterra in Turin nicht besonders wohl gef¨ uhlt hat. Abgesehen von der Polemik mit Peano gelingt es ihm nicht, engere Bindungen zur Stadt und (mit Ausnahme einiger Freunde) zur akademischen Umgebung zu entwickeln. Und dann ist da die Faszination Roms und eines zweifellos begehrten akademischen Ziels. Ab 1870 stimmt die Politik der verschiedenen Regierungen – rechter wie linker – in dem Versuch u ¨berein, Rom zur wahren Hauptstadt des Staates zu bef¨ordern. Die Stadt durfte nicht mehr nur der Sitz der politischen und administrativen Macht bleiben. Die Transformation der Accademia dei Lincei von einer im Wesentlichen lokalen Institution zu einer Organisation, die f¨ahig ist, die nationale A. Guerraggio, G. Paoloni, Vito Volterra, Vita Mathematica, c Springer Basel AG 2011 DOI 10.1007/978-3-0348-0081-5 4,
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4 Rom, ¨ offentliche Verpflichtungen, Politik
Kultur zu vertreten, und die 1883 erfolgte Einweihung des neuen Sitzes der Akademie im renommierten Palazzo Corsini bleiben ein Sinnbild f¨ ur den eingeschlagenen Weg. Es entsteht die Parole von der dritten Mission, der terza missione: Nachdem Rom zum Zentrum der antiken Welt und des Christentums geworden war, muß die Stadt jetzt in einer dritten begeisternden Zeit zur Hauptstadt des kulturellen Lebens des neuen Italien werden. Besondere Sorgfalt wird darauf verwendet, die Universit¨ at und deren Bild zu f¨ordern. Daher stellt f¨ ur die Professoren der Ruf nach Rom die Anerkennung ihrer beruflichen Erfolge und die Kr¨ onung ihrer gesamten Laufbahn dar. Und schließlich gibt es famili¨are Gr¨ unde, die Volterras Interesse f¨ ur Rom erkl¨aren. Diese sind entscheidend, denn sie gehen mit der Aussicht auf eine Heirat einher. In Turin lebten Volterra und seine Mutter ohne die Gesellschaft von Verwandten. In Rom hingegen wohnte seit einiger Zeit Onkel Alfonso, der Bruder der Mutter, bei dem Vito in Florenz lebte, bevor er sich an der Universit¨at eingeschrieben hatte. Vor ungef¨ ahr zehn Jahren war auch Onkel Edoardo in die Hauptstadt gezogen, der so viel f¨ ur die Zustimmung zu Vitos Universit¨atslaufbahn getan hatte. Edoardos unternehmerische T¨ atigkeit war sehr erfolgreich und er wurde ein reicher Gesch¨ aftsmann mit einem großen Landbesitz und Immobiliarverm¨ogen. Rom ist also der Ort, an dem die Familie wieder vereint sein w¨ urde. Die Mutter ist so wie viele M¨ utter besorgt, daß ihr inzwischen vierzigj¨ahriger Sohn immer noch nicht verheiratet ist. Der Blick von Volterras Mutter f¨allt auf Virginia Almagi` a, die Tochter des Cousins Edoardo. Alles beginnt nat¨ urlich ohne Wissen der beiden k¨ unftigen Eheleute. Es erfolgt ein Briefwechsel zwischen den Eltern und den Verwandten, die damit beginnen, die F¨aden zu spinnen – zuerst behutsam und umsichtig, um die gegenseitigen Reaktionen zu erkunden, und dann immer deutlicher. Schließlich wird auch Vito in das Eheprojekt“ einbezogen und hat damit einen Grund mehr, nach ” Rom zu ziehen. Die Ergebnisse seiner Versuche, die Nachfolge Beltramis anzutreten, sind jedoch nicht voraussehbar. Es scheint, daß auch Dini die gleiche Stelle anstrebt, um sein politisches Engagement besser mit den akademischen Verpflichtungen in Einklang zu bringen; Dini ist und bleibt ein exzellenter“ Na” me, gegen den man schwer ankommt. Volterras alter“ Lehrer ist ein Mann, ” der in den r¨omischen Ministerien fest verwurzelt ist und sicher weiß, wie er als Analytiker die Schwierigkeit u ur mathemati¨berwindet, einen Lehrstuhl f¨ sche Physik zu bekleiden. Im Fr¨ uhjahr 1900 bringt Volterra dann alle seine Gesch¨ utze in Stellung. Er hat den treuen Roiti auf seiner Seite und, in der Fakult¨at f¨ ur Naturwissenschaften der Universit¨ at Rom, Pietro Blaserna (1836– 1918), Physikdozent und planender Kopf des Instituts in der Via Panisperna1 , 1
Der malerische Palazzo in der Via Panisperna 89 in Rom beherbergt ab 1926 einige Jahre lang eines der prestigetr¨ achtigsten Forschungsinstitute, das Italien jemals hatte. Die unter Leitung des Physikers Enrico Fermi versammelten Wissenschaftler wurden die Jungs aus der Via Panisperna“ (ragazzi di via Panisperna) ” genannt. Auch andere Universit¨ atsinstitute befanden sich in dem Geb¨ aude.
4.1 Heirat und Paris
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sowie Stanislao Cannizzaro (1826–1910), Professor der Chemie. Ihnen schließt sich der junge Mathematiker und Geometer Guido Castelnuovo (1865–1952) an, ein Sch¨ uler von Corrado Segre in Turin. Castelnuovo, der vor kurzem nach Rom umgezogen ist, wird auf dem Gebiet der algebraischen Geometrie als der herausragendste italienische Wissenschaftler seiner Generation angesehen.
Abb. 4.1. Die Heiratsanzeige von Virginia und Vito .
Es sind alles wichtige Verb¨ undete, aber das reicht nicht aus, um dem Pan” zerkreuzer“ Dini etwas entgegenzusetzen. Vito veranlaßt nun Onkel Edoardo zu intervenieren. Auch der zuk¨ unftige Schwiegervater wendet sich an alle seine Bekannten und weist u. a. Ernesto Nathan, Sohn eines B¨orsenmaklers, Engl¨ander von Geburt und Aussprache, Mazzinianer2 und Freimaurer seit 1887, auf die entstandene Situation hin. Nathan hatte 1880 die italienische Staatsb¨ urgerschaft erhalten. Er war auch in die Politik eingestiegen und unterst¨ utzte Crispi3 und die historische (radikale) Linke. Bereits jetzt ist Nathan 2
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Benannt nach dem italienischen Politiker und Philosophen Giuseppe Mazzini (1805–1872). Mazzini gr¨ undet 1832 mit La giovine Italia ( Das junge Italien“) ” eine Glaubensgemeinschaft Gleichgesinnter, die unter der F¨ uhrung ihres charismatischen Propheten einen vom Willen der Nation selbst gebahnten Weg zur Einheit auf ihre Fahnen schreibt (vgl. Reinhardt [76], S. 101). Francesco Crispi (1819–1901), italienischer Revolution¨ ar und Staatsmann.
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4 Rom, ¨ offentliche Verpflichtungen, Politik
– der 1908 zum B¨ urgermeister von Rom gew¨ ahlt wird – ein wichtiger Name in der r¨omischen Politik. ¨ Schließlich wird eine L¨ osung gefunden, indem beim Ministerium f¨ ur Offentlichen Unterricht eine zus¨ atzliche Stelle f¨ ur die Fakult¨at f¨ ur Naturwissenschaften beantragt wird. Somit h¨ atten sowohl Dini als auch Volterra nach Rom kommen k¨onnen. Zu Beginn des Sommers kommt es zu einer Regierungskrise mit einem Wechsel des Unterrichtsministers, aber die getroffenen Vereinbarungen werden eingehalten. Ab dem akademischen Jahr 1900–1901 ist Volterra Professor an der Fakult¨ at f¨ ur Naturwissenschaften der Universit¨at Rom, wo er 31 Jahre lang lehrt (an der gleichen Fakult¨ at ist er von 1907 bis 1919 ohne Unterbrechung Dekan). Im November 1900 beginnt er mit seinen Vorlesungen u ¨ber mathematische Physik und Himmelsmechanik. Der Turiner Kollege Enrico D’Ovidio schreibt am 12. Oktober folgenden Abschiedsgruß: Ich danke ” Ihnen f¨ ur die Nachrichten, die Sie mir von Blaserna schreiben, obwohl Ihr Umzug nach Rom f¨ ur mich wirklich sehr schwer ist; aber vor allem muß ich f¨ ur Sie das Beste annehmen, abgesehen davon, daß Ihre Frau gl¨ ucklich sein wird, Rom nicht verlassen zu m¨ ussen. Ich w¨ unsche Ihnen beiden und Ihrer trefflichen Mutter dort einen freudvollen und gedeihlichen Aufenthalt; meine Frau und alle meine Leute schließen sich meinen W¨ unschen an“. Es ist eine Ironie des Schicksals, daß Dini nach all diesen intensiven diplo” matischen“ Aktivit¨ aten nicht nach Rom kommt. Er nimmt das Regierungs4 angebot an, Direktor der Normale zu werden und bleibt in Pisa. In der Zwischenzeit hat Vito, wie wir bereits von D’Ovidio erfahren haben, geheiratet. Der Plan, den die Mutter und Onkel Edoardo geschmiedet hatten, war gl¨ ucklich ausgegangen.5 Vito hatte die psychologische Schwierigkeit u ¨ berwunden, Mitglied einer zweifellos reichen Familie zu werden und sich dadurch den vorhersehbaren Anspielungen auszusetzen, eine Geldheirat vollzogen zu haben. Die beiden jungen Leute gefielen einander und mochten sich. Nach einer schnellen Verlobung, die nur einen Monat dauert, heiraten sie am 11. Juli. Das Gl¨ uckw¨ unschschreiben von Ren´e Baire, der bereits in Turin Volterras Stipendiat“ war, lautet: Lieber Herr Volterra, mit großer Freude ha” ” be ich Ihre Heiratsanzeige erhalten und u ¨bersende Ihnen meine herzlichsten Gl¨ uckw¨ unsche zur bevorstehenden Hochzeit und zu Ihrer Berufung an die Fakult¨at von Rom“. Die Fotografien zeigen uns einen Mann von 40 Jahren, der nicht viel anders aussieht als auf den Bildern, die ungef¨ ahr zehn Jahre zuvor aufgenommen worden waren, auch wenn jetzt die Haltung reifer ist. Zum Zeitpunkt der Eheschließung ist Virginia dagegen ein junges M¨ adchen von nur 25 Jahren. Sie wird immer an der Seite ihres Mannes stehen, u ¨berlebt ihn um 28 Jahre und stirbt 1968. F¨ ur ihn, f¨ ur die Kinder und f¨ ur die Organisation des Haushalts ist ihre Anwesenheit entscheidend. F¨ ur die Kinder und Enkel ist sie eine lie4 5
Dini leitet die Normale bis zu seinem Tod 1918. Die famili¨ aren und gef¨ uhlsm¨ aßigen Wechself¨ alle dieser Monate sind in Goodstein [33] ausf¨ uhrlich dokumentiert.
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bevolle, aber gleichzeitig resolute Frau, die ihre eigenen Vorstellungen auch gegen¨ uber einem so großen“ Mann zu verteidigen weiß. ” Nach der Hochzeit gehen die Eheleute auf Hochzeitsreise. Das Ziel ist die Schweiz, in der Vito anl¨ aßlich des Kongresses von 1897 viele Orte besucht hatte. Danach begeben sich Virginia und Vito nach Paris. Hier wird am 6. August 1900 der zweite Internationale Mathematikerkongreß er¨offnet. Paris erlebt einen wirklich besonderen Sommer. Am 15. April wurde die Weltausstellung 1900 er¨ offnet, f¨ ur welche die Gare de Lyon, die Gare d’Orsay, der Grand Palais und der Petit Palais erbaut worden sind. Die Ausstellung bleibt bis Mitte November ge¨ offnet und es eilen – in die Anlagen, die sich von der Place de la Concorde bis zum Champ de Mars erstrecken – Millionen Besucher herbei. Anl¨ aßlich der Weltausstellung finden auch die zweiten Olympischen Spiele der Neuzeit statt und es werden kulturelle Veranstaltungen abgehalten wie zum Beispiel der erste Internationale Kongreß zur Elektrizit¨at und der vierte zur Psychologie. In enger Verbindung mit dem Mathematikerkongreß findet der Philosophenkongreß statt, der von der Revue de m´etaphysique et de morale gef¨ordert wird. Unter Poincar´es Leitung dauert der mathematische Teil, unterteilt in sechs Sektionen, eine ganze Woche. Mit Ausnahme der Er¨offnungsveranstaltung im Palais des Congr`es finden alle Sitzungen an der Sorbonne statt. Am Freitag, dem 10. August, werden die Kongreßteilnehmer vom Pr¨asidenten der Republik empfangen. Gem¨ aß den Prognosen h¨ atten es um die tausend Teilnehmer sein m¨ ussen, aber die Weltausstellung ist (mit ihren Menschenmassen und hohen Preisen) in Wirklichkeit abschreckend und senkt die Erwartungen. Einige ¨ organisatorische M¨ angel und ein besonders heißer Sommer tun ihr Ubriges. So nehmen am Kongreß nur etwas mehr als 250 Wissenschaftler teil, die aus 25 L¨andern kommen. Es sind ungef¨ ahr zwanzig Italiener dabei. Unter ihnen lesen wir die Namen von Guccia, Levi-Civita, Peano, Somigliana, Vailati und Veronese. Volterra ist einer der elf Vizepr¨ asidenten des Kongresses. Die Hauptvortr¨ age werden auch weiterhin einem franz¨osischen, einem deutschen, einem italienischen und einem Mathematiker eines neutralen“ ” Landes anvertraut. Wie wir wissen, f¨ allt f¨ ur Italien diesmal die Wahl auf Volterra. Mit ihm agieren Poincar´e, der deutsche Mathematikhistoriker Moritz Cantor, der den Vortrag Sur l’Historiographie des Math´ematiques h¨alt, sowie Mittag-Leffler, der Sofja Kowalewskajas Pers¨onlichkeit schildert, indem er Une page de la vie de Weierstrass rekonstruiert. Die meisten Erwartungen weckt zweifellos das Referat des Hausherrn“ Poincar´e, eines der bril” lantesten Sterne am mathematischen Firmament. Die Erwartungen werden nicht entt¨auscht. In dem Vortrag, den Poincar´e vor einem besonders aufmerksamen Publikum h¨ alt, ist seine gesamte Philosophie“ verdichtet. F¨ ur den ” franz¨osischen Mathematiker repr¨ asentiert die strenge Grundlegung eine Reifephase der Mathematik, aber dennoch gilt: Die Wissenschaft des Beweisens ” ist nicht die ganze Wissenschaft“. Mit Hilfe der logischen Verfahren kann man zwar jeden Beweis in eine Reihe von elementaren Operationen zerlegen; aber die Korrektheit dieser Einzelschritte zu verstehen, bedeutet noch nicht, den
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Sinn des Beweises verstanden zu haben. Um die Sch¨onheit eines Geb¨audes zu w¨ urdigen reicht es nicht, die Solidit¨ at aller Bestandteile festzustellen und die ” Arbeit des Maurers zu bewundern – man muß vielmehr auch den Plan des Architekten verstehen“, so wie es f¨ ur eine Schachpartie nicht ausreicht, die ” Regeln zu kennen, nach denen man die Figuren zieht“. Auf dem Kongreß von Paris wird ¨ außerst lebhaft u ¨ ber die Anwendung einer universellen Wissenschaftssprache debattiert. Es ist auch der Kongreß, auf dem der schwedische Mathematiker I. Fredholm (1866–1927) eine der ersten Darstellungen der Theorie der Integralgleichungen vorlegt. Und vor allem ist es der Kongreß, auf dem David Hilbert (1862–1943), der wie Poincar´e eine der f¨ uhrenden Autorit¨ aten der mathematischen Forschung ist, seine 23 Probleme formuliert, die das neue Jahrhundert pr¨ agen und die Wissenschaftler in den folgenden Jahrzehnten besch¨ aftigen sollten. Morris Kline (1908–1992) schreibt in seinem Buch Mathematical Thought form Ancient to Modern Times 6 , daß Hilbert der bedeutendste Mathematiker des zwanzigsten Jahrhunderts war. Der Umfang seiner Interessen spiegelt sich in der Vielfalt der Gebiete wider, zu denen er wahrhaft bedeutende Beitr¨ age geleistet hat: Invariantentheorie, Zahlentheorie, Grundlagen der Geometrie, Untersuchung algebraischer Strukturen, Dirichletsches Prinzip, Variationsrechnung. In der Geschichte der Mathematik des zwanzigsten Jahrhunderts schreibt Hilbert Seiten, die zu den wichtigsten auf dem Gebiet der Integralgleichungen und der Funktionalanalysis – mit Anwendungen auf die Geometrie und auf die Physik – geh¨oren und Hilberts Auffassung von der Einheit der Mathematik widerspiegeln. Er hat nicht die geometrische Art eines Poincar´e, seine Interessen gehen mehr in die algebraische Richtung. Er hat weder die kulturelle Vision eines Felix Klein noch besitzt er dessen organisatorische F¨ ahigkeiten. Hilbert ist eher ein Mann ” der Probleme“, ein Mathematiker, der sich an immer neuen und komplexen Problemen mißt, und f¨ ur den die Mathematik im Wesentlichen aus der L¨osung von Problemen besteht. Seine Art und Weise, Probleme anzupacken, zu l¨osen und das diesbez¨ ugliche Beweisverfahren darzustellen, begr¨ undet einen neuen mathematischen Stil. Zuerst war Hilbert nach Paris eingeladen worden, um einen Hauptvortrag zu halten. Dann aber kam es zu einigen Verz¨ogerungen bei der Antwort auf das Ansuchen des Organisationskomitees, weswegen Hilbert seinen Vortrag in einer der Sektionen hielt. Die H¨orer sp¨ urten jedoch sofort die Bedeutung seiner Rede. Die 23 Hilbertschen Probleme beziehen sich auf unterschiedliche Gebiete der mathematischen Forschung: Grundlagenfragen (auch der Physik), Geometrie, Topologie, Algebra, Zahlentheorie und Analysis. Aufgrund der Zeit, die Hilbert f¨ ur seinen Vortrag zur Verf¨ ugung hat, kann er in Paris nur zehn Probleme ansprechen. Das zweite Problem, bei dem es um die Axiome der Arithmetik geht, f¨ uhrt zu einer unmittelbaren Stellungnahme Peanos, der im Verlauf der Diskussion ank¨ undigt, daß das Problem in Wirklichkeit bereits gel¨ ost worden sei und daß die L¨osung von einem Mitglied seiner Gruppe vorgetragen werde. Die Reaktion mag u ¨ berm¨aßig erscheinen, 6
Kline [53].
4.1 Heirat und Paris
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aber Hilbert hatte gerade eines der zentralen Forschungsthemen der Turiner Gruppe ber¨ uhrt – ohne sie u ur ¨ berhaupt zu zitieren! – und Peano h¨alt es f¨ seine Pflicht, die italienische Pr¨ asenz“ sogleich zu bekr¨aftigen. ” Wir kommen nun auf Volterras Vortrag Betti, Brioschi, Casorati. Trois ” analystes italiens et trois mani`eres d’envisager les questions d’analyse“ zu sprechen. Er hatte den Vortragstext w¨ ahrend der Hochzeitsvorbereitungen ¨ verfaßt und machte die letzten Anderungen w¨ ahrend der Hochzeitsreise. Dabei ergriff ihn die unvermeidliche Sorge um den ersten wichtigen Vortrag, den er vor einem derart ausgew¨ ahlten Publikum zu halten hatte. Die drei italienischen Mathematiker waren einige Jahre zuvor verstorben: Casorati 1890, Betti 1892 und Brioschi 1897. Der Ursprung der modernen italienischen Mathematik wird traditionellerweise auf diese drei Mathematiker mit ihrer mythischen“ Reise von 1858 zur¨ uckgef¨ uhrt, die sie in die wich” tigsten Hauptst¨adte der europ¨ aischen Wissenschaft (Berlin, G¨ottingen und Paris) f¨ uhrte. Dort studierten sie den Wissenschaftsbetrieb und festigten die Beziehungen zu den bekanntesten deutschen und franz¨osischen Kollegen sowie zu deren Einrichtungen. Diese historiographische Tradition findet ihre erste Formulierung in Volterras Pariser Vortrag: Im Herbst des Jahres 1858 bega” ben sich drei junge italienische Mathematiker zusammen auf eine Studienreise, um ausl¨andische Universit¨ aten zu besuchen, Kontakt zu den ber¨ uhmtesten ausl¨andischen Wissenschaftlern herzustellen, deren Ideen kennenzulernen und gleichzeitig die eigenen wissenschaftlichen Arbeiten vorzustellen. Diese Reise von Betti, Brioschi und Casorati markiert ein Datum, das der Erinnerung wert ist: Italien war dabei, seine Einheit zu verwirklichen, sich an der internationalen wissenschaftlichen Arbeit zu beteiligen und hierzu eigene Beitr¨age zu leisten [...]. Wenn in Italien eine moderne Analysisschule entstanden ist, dann verdanken wir das haupts¨ achlich der Arbeit dieser drei Mathematiker, ihrer Lehrt¨atigkeit und dem unerm¨ udlichen Eifer, mit dem sie die jungen italienischen Mathematiker zu wissenschaftlichen Untersuchungen anspornten, sowie dem Einfluß, den sie auf die Organisation des h¨ oheren Lehrbetriebes aus¨ ubten und den Beziehungen, die diese drei zwischen unserem Land und dem Ausland kn¨ upften“. Im ersten Kapitel sind wir kurz auf Betti eingegangen, der einer von Volterras Lehrern an der Normale war. Francesco Brioschi (1824–1897) war vielseitig: Seine Forschungsarbeiten erstreckten sich von der Algebra und Analysis bis hin zur Geometrie, zur Mechanik und zur mathematischen Physik. Dennoch ist es das Gebiet der Algebra, auf dem man seine nachhaltigsten Beitr¨age findet: Er hat innovative Arbeiten zur Theorie der Determinanten und der algebraische Formen geschrieben. Nach der italienischen Einheit hat sich – um wieder mit Volterra zu sprechen – seine T¨atigkeit sofort hin zur Po” litik verlagert [...]. W¨ ahrend er politische Funktionen im Senat aus¨ ubte, war er mit Arbeiten im ¨ offentlichen Dienst und mit Ingenieurwissenschaften befaßt, was von einer selten vorhandenen und bewundernswerten Aktivit¨at und von einem vielseitigen Geist zeugt, der immer bereit ist, neue Vorhaben in Angriff
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4 Rom, ¨ offentliche Verpflichtungen, Politik
zu nehmen“. Im Jahre 1863 gr¨ undete er das heutige Politecnico di Milano 7 und trug dadurch zur Ausbildung einer neuen Schicht von qualifizierten Technikern bei, die f¨ ur den industriellen Aufschwung des Landes unentbehrlich waren. Felice Casorati (1835–1890) war ein Sch¨ uler Brioschis. Als Forscher auf dem Gebiet der komplexen Analysis verbreitete er in Italien die Ideen von Cauchy, Riemann und Weierstraß, wozu auch seine Monographie Teoria delle funzioni di variabili complesse beitrug. Volterra zeichnet ein Bild der intellektuellen Eigenschaften der drei italienischen Mathematiker, die sich gewissermaßen erg¨anzen: Brioschi hat die Sensibilit¨at und die Vielseitigkeit, die ihn in die N¨ahe eines Politikers und eines Unternehmers r¨ ucken, Betti liebte nur eine einzige Sache wirklich: die ” unvoreingenommene wissenschaftliche Forschung, die hohe philosophische Ziele anstrebt“, w¨ahrend Casorati fast ausschließlich f¨ ur seine Sch¨ uler und f¨ ur ” seine Schule lebte“. Es ist eine Komplementarit¨at, die auch in der Art und Weise erkennbar ist, wie die Forschungsarbeit vorangetrieben wird. Wenn man u ¨ber die Vergangenheit spricht, dann spricht man unausweichlich auch von sich selbst und von dem, was man gern hat. Wir kommen nicht umhin, in den Gestalten der drei Mathematiker, an die Volterra erinnert, gleichsam Vorbilder zu erkennen, die f¨ ur ihn eine Verpflichtung bei der Entfaltung seiner eigenen wissenschaftlichen Pers¨ onlichkeit sind. Brioschi ist der Mann der Berechnungen, die ihn u ¨berhaupt nicht abschrecken: Sein Verstand, der daran ” gew¨ohnt war, so viele unentwirrbare Dinge des realen Lebens zu entwirren, blickte durch ein Formeldickicht wie durch einen klaren Kristall“. Betti hingegen ist der Mathematiker, der die Einheitlichkeit einer Theorie bevorzugt: Er ” dachte lieber nach als auf automatische oder mechanische Weise zu arbeiten und deswegen waren f¨ ur ihn die langen Rechnungen unausstehlich, an denen der harte Lombarde [Brioschi] seine Freude hatte [...]. Ideen wurden in seinem [d. h. Bettis] Verstand klarer und suggestiver, wenn sie u ¨ ber ihre enggefaßte analytische Bedeutung hinausgingen und in das umfassendere Gebiet der Naturphilosophie eindrangen“. Casoratis Arbeiten schließlich haben fast alle ” das besondere Gepr¨ age, das die Absicht des Autors offenbart, einen unklaren Punkt zu beleuchten, ein Ergebnis zu vereinfachen oder eine Theorie in ihrer Gesamtheit kritisch und methodisch zu behandeln“. Diese unterschiedlichen Eigenschaften sind f¨ ur Volterra nicht zuf¨allig oder ausschließlich pers¨ onlich begr¨ undet. Sie entsprechen den verschiedenen Entwicklungsphasen der Theorie der Funktionen, und diese Phasen sind – so eine weitere h¨aufig zitierte Meinung, die jetzt Teil der historiographischen Bewertung ist – bei vielen Mathematikern des 19. Jahrhunderts anzutreffen. Zuerst werden spezielle Theorien entwickelt [...]. In dieser ersten Phase gab ” es noch keine einheitlichen Verfahren, und bei der L¨osung eines jeden Problems mußte man sich in jedem einzelnen Fall Methoden ausdenken, die am besten paßten. In Ermangelung allgemeiner Prinzipien mußte man auf lange 7
Der urspr¨ ungliche Name des Polytechnikums Mailand war Istituto Tecnico Superiore.
4.2 Die Er¨ offnungsvorlesung in Rom
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und unangenehme Rechnungen zur¨ uckgreifen, aber aus diesen gingen sp¨ater allm¨ahlich die Prinzipien in ihrer klaren Einfachheit hervor. Das war die Zeit der großen Entdeckungen, die von der Neugier und dem Drang dominiert war, rasch in den Besitz der Wahrheiten zu gelangen, die hinter den k¨ uhnen Intuitionen stehen. Nach dieser Zeit folgte eine Phase, bei der philosophische Vorstellungen u ¨berwogen und man gleichzeitig nach einer allgemeinen Methode suchte, die den ganzen Wissensstand umfaßt und in einen einheitlichen Rahmen einordnet [...]. In einer letzten Phase wurden die Theorien revidiert, und es fanden Diskussionen statt, die von dem sch¨arfsten kritischen Geist durchdrungen waren, den die Wissenschaft je gekannt hat. In dieser Phase fanden die Theorien schließlich ihre wichtigsten und fruchtbarsten Anwendungen, die optimale Kraft f¨ ur ihre Verbreitung und die g¨ unstigste Fassung f¨ ur die didaktische Darstellung“. Volterra l¨ost seine Aufgabe als Botschafter und F¨orderer der italienischen Wissenschaft, indem er deren Verdienste und Originalit¨at geltend macht. Er schließt seinen Vortrag mit einem herzlichen Gruß an das Gastgeberland. Es sind S¨atze der H¨oflichkeit, die aber nicht die Aufrichtigkeit der ausgedr¨ uckten Gef¨ uhle verbergen. Der Verweis auf die L¨osung der Gleichungen f¨ unften Grades (sowie auf die Arbeiten Bettis, Brioschis und des im Saal anwesenden franz¨osischen Mathematikers Charles Hermite) ist f¨ ur Volterra die Gelegenheit, die Herzlichkeit der entstandenen Zusammenarbeit hervorzuheben: Die Reise von 1858 markiert das Prinzip der herzlichen Freundschaft zwischen ” den italienischen und den franz¨ osischen Wissenschaftlern. Diese seit nunmehr fast einem halben Jahrhundert andauernde Freundschaft war gepr¨agt von den gleichen Gef¨ uhlen der Hingabe an die Wissenschaft und dem gleichen Vertrauen in die h¨ohere Bestimmung der Menschheit. Diese Freundschaft ist ein Symbol f¨ ur die br¨ uderlichen Bande zwischen den beiden romanischen L¨andern“.
4.2 Die Ero ¨ffnungsvorlesung in Rom Die R¨ uckkehr aus Paris markiert den Beginn des Lebens in Rom. Die Mutter schließt sich dem jungen Paar an und zieht in die Via in Lucina in der N¨ahe des Montecitorio, in eine Wohnung des alten Palazzo Fiano, den der Cousin Edoardo 1889 gekauft hatte. Professor Vito Volterra beginnt die Vorlesungen am neuen Universit¨ atssitz. Es ist der Anfang des akademischen Jahres 1900/1901. Bereits einige Monate sp¨ ater wird er eingeladen, die offizielle Rede zu halten, die u ahrend der Er¨ offnungszeremonie des akademi¨blicherweise w¨ schen Jahres stattfindet. Das ist eine unbestrittene Ehre, vor allem f¨ ur einen Professor, der erst vor kurzem an die Universit¨at Rom gekommen ist. Die Gelegenheit legt es nahe, daß der Vortragende ein Thema w¨ahlt, das mit der eigenen Forschungst¨ atigkeit zusammenh¨ angt, aber auf eine nicht allzu technische Weise entwickelt wird und vielleicht sogar h¨aufig auf andere Disziplinen verweist. F¨ ur einen Mathematiker ist das eine besonders anspruchsvolle Herausforderung.
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4 Rom, ¨ offentliche Verpflichtungen, Politik
Volterra konzentriert sich bald auf ein Thema, das die neuen Anwendungen der Mathematik auf die Wirtschaft und auf die Biologie illustriert. Die Wahl ist bedeutsam. Vailati, sein fr¨ uherer Turiner Assistent, besuchte das Ende 1893 in Turin gegr¨ undete Laboratorio di Economia politica und geh¨orte auch zu ¨ den Ersten, die vorschlugen, den Okonomieunterricht in den Sekundarschulen einzuf¨ uhren. Als Vermittler hilft er Volterra, sich die neuesten Probleme der ¨ mathematischen Okonomie und insbesondere das Werk Vilfredo Paretos8 zu erschließen. Volterra schreibt Vailati am 1. Juli 1901 noch ziemlich allgemein: So sehr Sie mich auch auslachen werden, es ist mir noch nicht gelungen, mich ” der ¨außerst schweren Aufgabe zu entledigen, zum n¨achsten Studienjahr die Er¨offnungsvorlesung zu verfassen. Wie stellt man es an, das Interesse anderer Wissenschaftler zu wecken, die der Mathematik fern stehen? Ich hatte daran gedacht, irgendetwas u ¨ber die Versuche zu sagen, die Mathematik auf die biologischen Wissenschaften oder auf die Soziologie anzuwenden. Was halten Sie von einem solchen Thema? Geht das Ihrer Meinung nach oder w¨ urden Sie es durch etwas anderes ersetzen? Welches sind Ihres Wissens in diesem Fall die B¨ ucher, die f¨ ur mich n¨ utzlich w¨ aren? K¨ onnen Sie, der Sie alle diese Dinge wissen und sich sehr gut in den soziologischen Wissenschaften auskennen, mir gute Ratschl¨age geben? Ich w¨ are Ihnen dankbar, wenn Sie mir in dieser Angelegenheit etwas schreiben w¨ urden“. Die am 4. November 1901 gehaltene Er¨ offnungsvorlesung beginnt mit dem Thema Neugier, die kennzeichnend f¨ ur die Einstellung der Wissenschaftler ist oder sein sollte, wie Volterra leicht ironisch bemerkt. Die Wissenschaftler, auf die er sich bezieht, unterscheiden sich also von denjenigen, die der franz¨osische Schriftsteller Anatole France in einer Anekdote beschreibt, auf die wir gleich eingehen werden. Die Neugier“, sei sie auf theoretische Untersuchungen oder ” auf Anwendungen gerichtet, ist in der wissenschaftlichen Arbeit des Analytikers und mathematischen Physikers Volterra st¨andig pr¨asent. Wir haben hier¨ uber bereits im Zusammenhang mit der Entstehung des Begriffes Funktional gesprochen. Jetzt aber wird diese st¨ andige Neugier durch den Bezug ¨ auf die Biologie und die Okonomie mit neuen Inhalten angereichert. Die Motivationen und die Anwendungen, die Volterra im Blick hat, gehen u ¨ ber den klassischen Bezugsrahmen der Physik hinaus, die f¨ ur ihn und allgemein f¨ ur die gesamte Geschichte des mathematischen Denkens die klassische Gespr¨achspartnerin der Analysis ist. Wir wollen Volterra bei seinem Incipit folgen: Anatole France, der scharf” sinnige und geniale Philosoph und Romancier, der so viele feinf¨ uhlige Leser entz¨ uckt, erz¨ahlt folgende Anekdote. Vor einigen Jahren, sagt er, besuchte ich in einer großen europ¨ aischen Stadt die Galerien f¨ ur Naturgeschichte zusammen mit einem der Konservatoren, der mir mit großem Entgegenkommen die Tierfossilien beschrieb. Er belehrte mich ganz ausgezeichnet bis zum Plioz¨an; aber als wir uns vor den ersten Spuren des Menschen befanden, wendete er den Kopf und antwortete auf meine Fragen, daß das nicht sein Schaukasten sei. Ich 8
¨ Vilfredo Pareto (1848–1923), italienischer Ingenieur, Okonom und Soziologe.
4.2 Die Er¨ offnungsvorlesung in Rom
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sp¨ urte meine Taktlosigkeit. Man darf einen Wissenschaftler nie nach den Geheimnissen des Universums fragen, die nicht zu seinem Schaukasten geh¨oren“. Volterra macht sich den feinen und bisweilen paradoxen Humor“ von Anatole ” France zu eigen, behauptet aber, die Schlußfolgerung sei unkorrekt, daß die Wissenschaftler die am wenigsten neugierigen Menschen der Welt seien: Wir ” betrachten die Neugier eher als ein Zeichen, das die nat¨ urliche und oft berechtigte Sch¨ uchternheit derjenigen verk¨ orpert, die Ideen und Behauptungen vortragen, welche außerhalb des Gebietes liegen, u ¨ ber das sie u ¨blicherweise nachdenken und um das sich ihre wissenschaftliche T¨atigkeit dreht“. Bei einem Mathematiker ist die Neugierde noch gr¨oßer (oder sollte es jedenfalls sein), weil er im Besitz von besonders leistungsf¨ahigen Interpretationswerkzeugen ist. Er versteht die Wegstrecke, auf der er mit der Realit¨at interagiert – ebenso wie die noch nicht formalisierten Probleme – mit Hilfe der Konstruktion mathematischer Modelle, die hier eine ihrer ersten Beschreibungen finden: Die Untersuchung der Gesetze, unter denen sich die eines Maßes ” f¨ahigen Entit¨aten ¨ andern. Der Mathematiker idealisiert diese Gesetze, beraubt sie gewisser Eigenschaften oder schreibt ihnen solche in absoluter Weise zu und stellt eine oder mehrere elementare Hypothesen auf, welche die gleich¨ zeitige und komplexe Anderung dieser Gesetze regeln. Das kennzeichnet den Moment, an dem die Grundlagen gelegt werden, auf denen das gesamte analytische Geb¨aude aufbauen kann“. Ein Modell ist eine vereinfachte Darstellung der Wirklichkeit und erm¨ oglicht es, einen mathematischen Formalismus einzuf¨ uhren und dessen Kraft zu nutzen. Die durchgef¨ uhrte Vereinfachung – unter Hervorhebung bestimmter Eigenschaften bei gleichzeitiger Unterdr¨ uckung anderer Merkmale – h¨ angt von der subjektiven Deutung des betreffenden Ph¨anomens und von den Angaben ab, die aus dem gew¨ahlten Formalismus hervorgehen: also Konzepte so zu pr¨ agen, daß man Maße einf¨ uhren kann; ” danach messen; dann Gesetze ableiten; von diesen zu den Hypothesen zur¨ uckgehen; aus ihnen mit Hilfe der Analysis eine Wissenschaft idealer Entit¨aten streng logisch ableiten; danach mit der Realit¨ at vergleichen; verwerfen oder umformen der verwendeten Grundhypothesen, wenn Widerspr¨ uche zwischen den Rechenergebnissen und der realen Welt auftreten; und auf diese Weise Fakten und neue Analogien vorhersagen, oder vom gegenw¨artigen Zustand ausgehend Argumente vorbringen, wie die Vergangenheit war und was in der Zukunft sein wird; das ist kurz und knapp ausgedr¨ uckt eine Zusammenfassung dessen, was die Entstehung und die Entwicklung einer Wissenschaft ausmacht, die mathematischen Charakter hat“. Die Schaffung eines Modells und dessen Analyse neigen dazu, nur das ” ¨ zu zeigen, was f¨ ur das Verst¨ andnis n¨ utzlich ist [...] und alles Uberfl¨ ussige zu verbergen, was den Blick nur verwirren w¨ urde“, wobei es zuweilen gelingt, zwischen scheinbar verschiedenen Ph¨ anomenen eine pr¨azise Identit¨at herzu¨ stellen. Und es handelt sich nicht nur um eine Okonomie des Denkens. Die mathematische Forschung kann zu unerwarteten Schlußfolgerungen kommen und niemand vermag daher dem Geometer zu sagen, zu welch weiten Ho” rizonten der schmale und dornige Pfad f¨ uhren wird, dem er aufgrund sei-
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4 Rom, ¨ offentliche Verpflichtungen, Politik
ner Berechnung folgt“. Gleichzeitig darf man von der Mathematisierung einer Wissenschaft nicht zu viel erwarten, indem man sich chiliastisch-messianischen ¨ Hoffnungen hingibt. Die Errichtung eines Modells ist immer nur die Ubersetzung von Daten und Beobachtungen in eine andere Sprache, die bereits auf einem nicht formalisierten Boden gesammelt und gewonnen wurden: Zwischen ” ¨ den groben Uberlegungen, die in vielen F¨ allen auch den der Analysis Unkundigen gestatten, den Verlauf gewisser Ph¨ anomene und den Mechanismus der diese Ph¨anomene lenkenden Kr¨ afte vorherzusehen, und den subtilen Gedankeng¨angen des Geometers, der – ausgehend von einer k¨ unstlichen Gesamtheit algebraischer Symbole – oft auch zur Verwunderung derer, die an analytische Ausf¨ uhrungen bestens gew¨ ohnt und darin ¨ außerst ge¨ ubt sind, zu einem Ergebnis kommt, das den Verlauf der gleichen Naturerscheinungen pr¨azisiert, besteht kein so großer Unterschied wie es zun¨ achst den Anschein hat“. Eine dementsprechende Einstellung, die von einem großen Interesse f¨ ur das Potential der Mathematik als Werkzeug und Sprache zeugt, sich aber keinen unbegr¨ undeten Hoffnungen hingibt, gilt um so mehr in der Wirtschaft und in der Biologie, wo mathematische Anwendungen erst am Anfang stehen. F¨ ur die Biologie zitiert Volterra Schiaparelli und dessen geometrische Modelle und verweist auf die Probleme der Klassifikation und der Evolution – Probleme, ” die u angen, daß die genetischen Theo¨brigens so eng miteinander zusammenh¨ rien dazu neigen, das eine vom anderen abh¨angig zu machen“ – sowie auf die Verwendung statistischer Methoden, die sich auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung st¨ utzen. Die Annahme des Engl¨ anders Francis Galton (1822–1911), daß jedes Naturph¨ anomen wenigstens im Prinzip quantifizierbar sei, hatte mit der Definition des Korrelationsbegriffes und der Anwendung der Normalverteilungskurve auf die Untersuchung der psychophysischen Eigenschaften von Individiuen zur Gr¨ undung der statistischen Psychologie gef¨ uhrt. Andererseits hatte Karl Pearson (1857–1936), ein ausgebildeter Mathematiker, der durch Galtons Arbeiten intensiv angeregt worden war, 1901 die Zeitschrift Biometrika gegr¨ undet. In Bezug auf die Wirtschaftsanalyse besteht das Leitmotiv von Volterras Er¨offnungsvorlesung aus der Analogie zwischen Marginalismus und Mechanik, die zusammen mit der Geometrie gewiß die solideste und sicherste, ” wenn nicht die gl¨ anzendste der Wissenschaften ist, der sich der menschliche Geist r¨ uhmen kann“. Der Marginalismus richtet seine Aufmerksamkeit auf die Bedingungen, die f¨ ur das ¨ okonomische System eine Gleichgewichtssituation gew¨ahrleisten. Von hierher r¨ uhrt die nat¨ urliche Sympathie“, die Volterra f¨ ur ” die Mechanik hegt. Von hier r¨ uhrt auch die Analogie mit dieser Disziplin her, die das Entwicklungsparadigma darstellt. Und das ist auch der Grund f¨ ur den reduktionistischen Blickwinkel, den man in Volterras Worten deutlich sp¨ urt. ¨ Auch in der Okonomie erfordert die M¨ oglichkeit, auf die Methoden der Infinitesimalrechnung zur¨ uckzugreifen, eine starke Idealisierung der Ph¨anomene. Der Wirtschaftswissenschaftler muß den Gegenstand seiner Analyse auf den homo oeconomicus reduzieren und voraussetzen, daß sich die Warenmengen, u ugt, in stetigen Stufen ¨ andern. Aber die Entwicklung der ¨ber die dieser verf¨
4.2 Die Er¨ offnungsvorlesung in Rom
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Forschung rechtfertigt in reichlicher Weise die anf¨anglichen Approximationen, die – so wie in der Mechanik geschehen – sp¨ater noch einmal u ¨berdacht werden und zu Formulierungen f¨ uhren, die in h¨oherem Maße der Natur des Ph¨anomens entsprechen, das man untersuchen will: Wir haben bereits auf die ” Folgen angespielt, die der Kraftbegriff in der Mechanik nach sich gezogen hat; von den Gipfeln der Metaphysik ist er in den Bereich der meßbaren Entit¨aten ¨ hinabgestiegen. In der Okonomie ist jetzt nicht mehr die Zeit, mit Jevons u ¨ber den mathematischen Ausdruck nicht meßbarer Mengen zu sprechen. Pareto hingegen geht nicht mehr direkt von seiner Idee der Ophelimit¨at9 aus, wie er es in seinem Corso di economia politica tat, sondern schl¨agt stattdessen vor, mit seinen Indifferenzkurven10 von rein quantitativen Begriffen auszuge¨ hen, die den Niveaukurven und den Aquipotentialfl¨ achen der Mechanik so gut entsprechen“. Die Anspielung auf die Entwicklung der Ideen Paretos beim Thema Nut” zenfunktion“ ist besonders interessant, weil dieses Thema nicht auf Volterras Er¨offnungsvorlesung von 1901 beschr¨ ankt ist, sondern einige Jahre sp¨ater eine weitere Episode erlebt. Bereits in seinen ersten Schriften hatte Pareto jede philosophische“ Ausf¨ uhrung u ¨ber den Ursprung und die Natur der Freu” den und der Leiden vermieden. Die einzige Voraussetzung war der Begriff der Ophelimit¨ at, ein g¨ anzlich subjektiver“ Begriff, der die Freude eines In” dividuums am Konsum eines zugeteilten Komplexes von G¨ utern quantitativ ausdr¨ uckt. In der Realit¨ at weist der Begriff der Ophelimit¨at auch weiterhin unklare Seiten auf: Welchen Sinn hat es, dem Genuß einer bestimmten Verteilung von G¨ utern eine bestimmte Zahl zuzuordnen? Oder zu behaupten, daß eine Freude doppelt so groß wie eine andere ist? Der Perspektivenwechsel, den ¨ Volterra in Paretos Denken beim Ubergang vom Cours d’Economie politique des Jahres 1896 zu einigen Artikeln der nachfolgenden Jahre ausmacht – ein ¨ Ubergang, der sp¨ ater mit Paretos Hauptwerk Manuale di economia politica offiziellen Charakter erlangt –, entsteht auf der Grundlage dieser kritischen Bemerkungen. Der Begriff des Genusses als quantitative Gr¨oße ist nicht nur nicht streng, sondern auch u ussig. Die fundamentalen Gleichungen der ¨ berfl¨ ¨ Okonomie beziehen sich auf einfache Tatsachen der Auswahl und k¨onnen folglich unabh¨angig vom Begriff des Genusses abgeleitet werden. Dieser Begriff 9
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In Vilfredo Paretos Lehre wird der Nutzen einer Sache zu einer bloßen Nutzenvorstellung ( Ophelimit¨ at“) ungeachtet einer tats¨ achlich auch vorhandenen N¨ utz” lichkeit. Das Wort Ophelimit¨ at ist von dem griechischen ophelos (Nutzen, Vorteil, Gewinn) abgeleitet. Die Indifferenzkurve (lat. indifferens: sich nicht unterscheidend“), auch Isonut” zenkurve oder Isonutzenlinie genannt, stellt alle Kombinationen aus den Mengen zweier G¨ uter (den sogenannten G¨ uterb¨ undeln) dar, zwischen denen der Haushalt gem¨ aß seinen Pr¨ aferenzen indifferent ist, die er also als gleich gut einsch¨ atzt. Der Ausdruck wurde von Vilfredo Pareto in die Wirtschaftstheorie eingef¨ uhrt, um das (bis heute nicht befriedigend gel¨ oste) Problem der Nutzenmessung zu umgehen. Indifferenzkurven sind die graphischen Darstellungen von Nutzenfunktionen; eine Nutzenfunktion ist die analytische Funktion einer Indifferenzkurve.
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verschwindet sozusagen in den Gleichgewichtsgleichungen, so als ob die Rech¨ nung sich gleichsam dessen entledigt, was die Okonomen an unkorrekten und unwesentlichen Dingen eingef¨ uhrt hatten. Volterra rezensiert 1906 in seinem Artikel L’economia matematica ed il nuovo manuale del prof. Pareto 11 das Manuale von Pareto vom Stand” punkt der Mathematik und schildert die Eindr¨ ucke, die ein Analytiker bei der Lekt¨ ure der Abhandlung hat“. Er ist sich bewußt, daß man das Werk aus unterschiedlicher Sicht studieren und kommentieren kann, weswegen er verschiedene Beitr¨age anregt. Volterra beabsichtigt mit seinem eigenen Beitrag, sich auf den mathematischen Teil zu beschr¨ anken, der jedoch in umfassendem Sinne zu verstehen ist und sich nicht nur auf Paretos Appendice einl¨aßt, der den eigentlichen Kalk¨ ul enth¨ alt: Die beweisrelevanten und logischen Be” griffe und Verfahren bilden das Wesen der mathematischen Methode, und deswegen kann man sagen, daß das der Gegenstand von Paretos Werk bis zum dritten Kapitel ist, in dem er den allgemeinen Begriff des ¨okonomischen Gleichgewichts einf¨ uhrt“. Nat¨ urlich konzentriert sich Volterra besonders auf die mathematischen Verfahren, bei denen es sich u ¨berwiegend um Weiterentwicklungen fr¨ uherer Arbeiten Paretos handelt. Volterra verweilt beim Begriff ¨ der Indifferenzlinie, greift Paretos Uberlegungen auf und pr¨azisiert sie vom mathematischen Standpunkt aus. Wenn der Austausch lediglich zwei Wirtschaftsg¨ uter betrifft, dann ist es tats¨ achlich m¨oglich, den Wunsch als Anfangsangabe zu ignorieren: Es gibt kein Integrierbarkeitsproblem und es ist immer m¨oglich, auf die Bestimmung der Ophelimit¨at zur¨ uckzugehen. Im Falle von drei oder mehr G¨ utern gilt das nur noch unter besonderen Bedingungen. An dieser Stelle ist das Manuale mangelhaft und enth¨alt oder entwickelt ¨ ¨ keine Uberlegungen. Derartige Uberlegungen hatte Volterra bereits in einem ¨ fr¨ uheren Artikel angestellt: Der Ubergang vom Falle zweier G¨ uter zum Fall ” von drei oder mehr G¨ utern sowie die diesbez¨ ugliche Diskussion w¨ urde eine ausf¨ uhrlichere Untersuchung verdienen als das, was im Manuale enthalten ist. Es ist wohlbekannt, daß zwar ein binomischer Differentialausdruck Xdx+Y dy immer unendliche Integrationsfaktoren zul¨ aßt, daß das aber bei einem analogen trinomischen Ausdruck und bei einer gr¨ oßeren Anzahl von Termen nicht der Fall ist“. Wie sehr sich Volterras Bemerkung als zutreffend erweist, kann man der prompten Anwort Paretos entnehmen, die in L’ofelimit` a nei cicli non chiusi enthalten ist, einem Artikel, der ebenfalls 1906 im Giornale degli economisti erschienen ist und folgendermaßen beginnt: Sehr richtig bemerkt ” der sehr geehrte Prof. Vito Volterra [...]. Ich bin ganz dieser Meinung“!12 Mit Hilfe der Argumentation des franz¨ osischen Mathematikers Emile Borel gelingt es Volterra in seiner 1906 ver¨ offentlichten Rezension von Paretos Manuale auch, die These seiner Er¨ offnungsvorlesung von 1901 zu pr¨azisieren, gem¨aß der man von der Mathematik nicht zu viel erwarten darf, aber 11 12
Volterra [119]. ¨ Die Beziehungen zwischen Okonomie und Mathematik in Italien werden in Galuzzi-Guerraggio [30], Guerraggio [39] und Guerraggio [40] behandelt.
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auch nicht zu wenig (vgl. S. 72). Volterra stimmt mit Benedetto Croce dar¨ in u nicht ¨berein, daß die Schlußfolgerungen der mathematischen Okonomie f¨ ur absolut gehalten werden d¨ urfen; das bedeutet jedoch nicht, daß die Rolle der Mathematik in den Debatten u okonomische Denken und dessen ¨ber das ¨ ¨ Ubertragung in einen sozialen Kontext unwesentlich ist und eine Randstellung einnimmt. Die Bedeutung des langen Zitats von Borel, das einem im gleichen Jahr in der Zeitschrift Revue du mois erschienenen Artikel entnommen ist, besteht in der Erkenntnis, daß die Anwendung der Mathematik auf ¨ die Okonomie f¨ ur jedes Problem n¨ utzliche und originelle Hinweise geben kann und dadurch zur Bestimmung einer optimalen Entscheidung beitr¨agt. Man d¨ urfe jedoch die objektive Bedeutung der Schlußfolgerungen nicht u ¨bertreiben, zu denen die Mathematisierung einer Wissenschaft f¨ uhren k¨onne. Man m¨ usse vorsichtig bei der Verwendung von Ausdr¨ ucken sein wie etwa mathe” matisch richtig“ oder es ist mathematisch bewiesen worden, daß“ – die in ” der gew¨ohnlichen Sprache so verbreitet sind –, da die Hypothesen, auf deren Grundlage sich die mathematischen Gedankeng¨ ange entwickeln, implizit etwas ¨ mehr enthalten k¨ onnten als nur eine nat¨ urliche quantitative Ubersetzung einiger Beobachtungen. Nichtsdestoweniger gibt es F¨alle“, schreibt Volterra, in ” ” denen eine Rechnung auszureichen scheint, um unsere Entscheidung festzulegen; aber es kommt darauf an, daß wir zuerst eine bestimmte Verhaltensregel aufstellen“.
4.3 Bu ¨ rden, Ehrungen und Forschung Das erste Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts ist die Zeit, in der Volterra einen guten Teil seines Rufes erwirbt – in Italien ebenso wie im Ausland. Der Ruf nach Rom und der Vortrag, den er auf dem Internationalen Mathematikerkongreß in Paris gehalten hat, f¨ ordern die Verbreitung und die Anerkennung seiner Arbeiten und f¨ uhren zu einer unglaublichen Anzahl von Angeboten und Einladungen, denen sich Volterra u ¨ brigens nicht entzieht. Ebenso unglaublich ist sein Arbeitspensum. Die Jahre zu Beginn des Jahrhunderts sind auch f¨ ur die Familie entscheidend. Virginia bringt 1901 den ersten Sohn zur Welt, der leider unmittelbar nach der Geburt stirbt. Im Jahr 1902 stirbt Onkel Alfonso (zu Onkel Edoardo, der in Vitos Jugendjahren eine so wichtige Rolle spielte und der jetzt auch sein Schwiegervater ist, hat Vito auch weiterhin eine besonders herzliche Beziehung; Edoardo stirbt 1921). Im gleichen Jahr 1902 wird die Tochter Luisa geboren. Sie wird Biologin und heiratet Umberto D’Ancona, u ¨ber den wir sp¨ater im Zusammenhang mit Volterras Forschungsarbeiten zur Populationsdynamik noch sprechen werden. Der 1904 geborene Sohn Edoardo wird Verfassungsrichter der Republik Italien. Ein Jahr sp¨ater kommt Enrico zur Welt, der in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an der Universit¨at Texas Professor f¨ ur Luft- und Raumfahrttechnik wird. Die Familie wird allm¨ahlich groß. Volterras Bed¨ urfnisse, sein inzwischen gefestigter Wohlstand und der
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Wunsch nach einem abgeschiedeneren Ort, an dem er sich vom Stress erholen kann, f¨ uhren zum Bau eines Hauses auf dem Land, in Ariccia, nicht weit von Rom entfernt. Das Haus wird 1905 eingeweiht. Im Jahr 1906 wird der Sohn Gustavo geboren, der jedoch nach wenigen Monaten stirbt. Der vierte und letzte Sohn – der ebenfalls Gustavo heißt – erblickt 1909 das Licht der Welt. Einige dieser Ereignisse (gl¨ uckliche oder weniger gl¨ uckliche) erreichen Volterra weit weg von zuhause. Wir haben bereits die zahlreichen ausl¨andischen Einladungen und Anerkennungen erw¨ ahnt. Wenn man sich vergegenw¨artigt, daß die Reisen mit dem Zug erfolgen (oder mit dem Schiff, wie wir im Falle Amerikas sehen werden) und wenn man die Dauer der Reisen bedenkt, dann ist Volterras Allgegenwart wirklich bemerkenswert. Im Sommer 1900 ist er mit seiner Frau Virginia auf Hochzeitsreise in Paris. Im darauffolgenden Sommer ist er in England und besucht dort London, Oxford und Cambridge. Hier wird er von dem Astronomen George Darwin empfangen (dem zweiten Sohn des großen Naturforschers) und hat die Gelegenheit, das besondere System des englischen Universit¨ atsstudiums kennenzulernen. Im Jahr 1904 nimmt er an der Versammlung der British Association for the Advancement of Science teil; diesmal begleitet ihn Virginia. Auf der Versammlung trifft er erneut G. Darwin und begegnet Kelvin und weiteren ber¨ uhmten Kollegen. Bei diesem Aufenthalt wird Volterra auch die Ehrendoktorw¨ urde der Universit¨at Cambridge verliehen. Anfangs hatte Volterra geplant, jedes Jahr nur ein anderes Land zu besuchen. Er gelingt ihm nicht immer, diesen Vorsatz einzuhalten. Nach Paris 1900 und England im darauffolgenden Jahr ist er 1902 in Berlin. Von Deutschland aus reist er nach D¨ anemark, Schweden und Norwegen. Hier wird ihm von der Universit¨ at Christiania anl¨ aßlich des hundertsten Geburtstags von Abel die Ehrendoktorw¨ urde verliehen. Im Jahr 1904 besucht er – außer Cambridge – erneut Deutschland, um zusammen mit Castelnuovo und Guccia in Heidelberg am dritten Internationalen Mathematikerkongreß teilzunehmen. Im gleichen Jahr wird er zum korrespondierenden Mitglied der Acad´emie des Sciences von Frankreich gew¨ ahlt. Ebenfalls 1904 erh¨ alt er den Regierungsauftrag13 zur Reorganisation der Istituti di istruzione tecnica superiore (Institute f¨ ur die h¨ohere technische Ausbildung) von Turin mit dem Ziel, ein Politecnico (Technische Hochschule) zu gr¨ unden und eine Form [zu finden], die den heutigen Studienbedingungen ” und dem dringlichen Bedarf der Industrie besser entspricht“. Der Kommissi¨ on, die mit der Uberarbeitung des Grundstudiums beauftragt ist, geh¨ort auch Valentino Cerruti an. Vorsitzender der Kommission ist der Chemiker Stanislao Cannizzaro, der Volterra insbesondere mit der Aufgabe betraut, die Modelle der bekannteren ausl¨ andischen Technischen Hochschulen zu pr¨ ufen. Volterra macht sich erneut auf die Reise. Nach einem kurzen Halt in Mailand kommt er am 13. Februar in Z¨ urich an, wo er die Organisation des Eidgen¨ossischen Polytechnikums14 studiert. Er findet dort die Neuheit der Semesterkurse, die sehr 13 14
Es handelt sich hierbei um den K¨ oniglichen Erlaß vom 17. Dezember 1903. Vorg¨ angerin der Eidgen¨ ossischen Technischen Hochschule (ETH) Z¨ urich.
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¨ spezialisiert sind, und bei denen die Ubungen – die einen weitaus gr¨oßeren Teil einnehmen als in Italien – von Hochschullehrern gehalten werden; diese erhalten Verg¨ utungen, die individuell mit der Verwaltung vereinbart worden sind. Anschließend f¨ahrt er nach Deutschland und gewinnt dort ¨ahnliche Eindr¨ ucke. In den deutschen Technischen Hochschulen ist die Lehre sehr technisch ausgerichtet und die Rolle der theoretischen Mathematik ist drastisch reduziert worden. Die Professoren werden ohne das italienische Auswahlsystem berufen, wobei vor allem die Berufserfahrung der Kandidaten bewertet wird (und nicht so sehr die Anzahl der wissenschaftlichen Ver¨offentlichungen). Außerdem ist es ein Merkmal der preußischen Technischen Hochschulen, daß die Studenten vor ihrer Zulassung ein Jahr praktische Erfahrungen als Lehrlinge sammeln m¨ ussen, um eine konkrete Vorstellung davon zu bekommen, wie die Arbeit in einer Fabrik organisiert ist. Berlin, Leipzig und G¨ottingen sind die Orte interessanter Begegnungen mit zahlreichen Kollegen, mit Mathematikern und Vertretern anderer Berufe. In G¨ ottingen hat Volterra die M¨oglichkeit, erneut Hilbert und vor allem Klein zu treffen. Die Managerf¨ahigkeiten Kleins – eines Mathematikers, der seinen wissenschaftlichen Wert fundiert unter Beweis gestellt hat – werden von Volterra hoch gesch¨ atzt. Volterra teilt Kleins Kritik an denjenigen mathematischen Kreisen, die an der Krankheit des Konservatismus leiden und sich als unempfindlich gegen¨ uber ¨außeren Faktoren erweisen. In dem Abschlußbericht, den er dem Senat u ¨bergibt, fehlt auch der Hinweis auf ¨ die Uberlegenheit des deutschen Modells nicht. Das Modell wird nachgeahmt, wenn auch so, daß man in gewisser Weise die italienischen Studientraditionen beibeh¨alt, die ausgezeichnete wissenschaftlich gebildete Ingenieure hervorge” bracht haben, die in Deutschland dagegen selten sind“. Die Punkte, bei denen man nach Volterras Meinung eingreifen muß, betreffen vor allem den Unterricht in experimenteller Mechanik, der bei uns“ noch unzul¨anglich ist, die ” Reduzierung der mathematischen Ausbildung, die jedoch auch weiterhin in ” f¨ahigen H¨anden liegen muß“ und die Studiendauer, weil die jungen Leute in” tellektuell und moralisch gewinnen werden, wenn sie das Studentenleben bald hinter sich lassen und in das praktische Leben eintreten“. Im Jahr 1905 reist Volterra wieder nach Schweden. Auf Empfehlung von Mittag-Leffler15 wird er von K¨ onig Oskar II. beauftragt, einen Vorlesungszyklus an der Universit¨ at Stockholm zu halten. Volterra bleibt mehr als zwei Monate in der schwedischen Hauptstadt und h¨alt dort einen Kurs u ¨ber partielle Differentialgleichungen. Seine Le¸cons sur l’int´egration des ´equations differentielles aux d´eriv´ees partielles profess´ees ` a Stockolm sur l’Invitation de S. M. le Roi de Su`ede werden wenige Monate sp¨ater ver¨offentlicht.16 Auf dem R¨ uckweg nach Italien legt er einen Zwischenaufenthalt in Paris ein, wo er in 15
16
Die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Mittag-Leffler und Volterra kommen auch darin zum Ausdruck, daß Volterra seinen letztgeborenen Sohn Gustavo nennt. Volterra [120]. Eine freie Kopie des Originals dieses Buches findet man unter http://www.gutenberg.org/files/29783/29783-pdf.pdf
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Abb. 4.2. Das Haus in Ariccia.
Borels Haus die Bekanntschaft der Eheleute Curie macht, die kurz zuvor den Nobelpreis erhalten hatten. Das Jahr 1905 ist auch das Jahr, in dem Volterra von Giolitti17 zum K¨oniglichen Senator ernannt wird. Diese Ernennung ist die institutionelle Besiegelung der politischen T¨ atigkeit, die Volterra bereits aus¨ ubt. Nunmehr nehmen die Verpflichtungen weiter zu. Zu den wissenschaftlichen Aufgaben kommen politische und institutionelle Obliegenheiten, wobei wir die Gr¨ undung der SIPS (Societ` a italiana per il progresso delle scienze) und den Internationalen Mathematikerkongreß von Rom 1908 noch gar nicht erw¨ahnt haben. 17
Giovanni Giolitti (1842–1928) war mehrere Male Ministerpr¨ asident und ist in den anderthalb Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg der unbestrittene Klientelf¨ uhrer Nummer eins der italienischen Politik.
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Außerdem wird Volterra f¨ ur den Zweijahreszeitraum 1906–1908 zum Vorsitzenden der Societ` a italiana di Fisica gew¨ ahlt. Die Familie ist wegen einiger
Abb. 4.3. Foto aus dem Jahr 1910: Henri Poincar´e, Gustaf Mittag-Leffler und Edmund Landau (von links nach rechts).
wiederholt auftretender Erm¨ udungssymptome besorgt und dr¨angt ihn, einige Verpflichtungen abzugeben. Volterra harrt aus. Die Mutter steht alles in allem auf seiner Seite. Das Einzige, was Volterras Frau und sein Schwiegervater erreichen k¨onnen, sind l¨ angere Ferien in Ariccia und, innerhalb einiger Monate, den R¨ ucktritt vom Auftrag f¨ ur die Organisation des Polytechnikums Turin. In diesem ganzen Tohuwabohu gelingt es Volterra sogar, einige Forschungsarbeiten weiterzuf¨ uhren! Und es mangelt auch nicht an Themen hierf¨ ur, auch wenn der Rhythmus nat¨ urlich nicht mehr derselbe ist wie in den vergangenen
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Jahrzehnten. In den Jahren der Vorbereitungen auf den Umzug nach Rom und in den Jahren nach der Jahrhundertwende reduziert sich das Verzeichnis der im engeren Sinne wissenschaftlichen Ver¨offentlichungen auf nur einige Titel. Erst mit dem Jahr 1905 nimmt die Liste aufgrund der Arbeiten zur Elastizit¨atstheorie wieder zu. Abgesehen von den Jugendarbeiten von 1881 zur reellen Analysis waren die Jahre in Pisa durch die Schaffung der Funktionalanalysis gekennzeichnet. Ebenso lassen sich die haupts¨ achlichen Forschungsarbeiten w¨ahrend seines ¨ Aufenthaltes in Turin unter der Uberschrift Untersuchungen von Integral” gleichungen“ zusammenfassen (zu denen man, auch aus anderen Gr¨ unden, die Arbeiten zur Bewegung der Pole hinzuf¨ ugen kann). In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sind es Probleme der mathematischen Physik – Elastizit¨atstheorie, Verzerrungen, Nachwirkungsph¨ anomene –, die Volterra u ¨ berwiegend ¨ besch¨aftigen. Uberhaupt ist es die Vertiefung dieser Untersuchungen, die zu einer analogen Entwicklung auf der analytischen Seite f¨ uhrt, n¨amlich zu den Integrodifferentialgleichungen und zum Begriff der Komposition zweier Funktionen. Wir haben bereits erw¨ ahnt, daß 1905 Volterras erste Schriften zur Elastizit¨atstheorie erschienen sind. Diese Beitr¨ age sind durch eine Arbeit des deutschen Mathematikers J. Weingarten18 motiviert worden, die Volterra selbst der Accademia dei Lincei vorgelegt hatte19 . In einem Brief an Weingarten schreibt Volterra: Ich habe die Ehre, Ihnen einen Sonderdruck einer Arbeit ” zu u ¨bersenden, die ich gerade in den Sitzungsberichten der Accademia dei Lin¨ cei zur Elastizit¨at ver¨ offentlicht habe. Ich bin von Uberlegungen ausgegangen, die Sie in Ihrem Beitrag von 1901 entwickelt hatten“.20 Weingarten hatte bemerkt, daß es Gleichgewichtskonfigurationen f¨ ur elastische K¨orper gibt, in denen trotz Abwesenheit ¨ außerer Kr¨ afte die innere Spannung nicht null ist – zum Beispiel ein elastischer Ring, von dem man eine kleine Scheibe“ entfernt, ” danach eine d¨ unne Schicht neuen Materials in den erzeugten Schnitt einf¨ uhrt und dann die R¨ander des Schnittes wieder zusammenf¨ ugt. Der obengenannte Ring ist ein Beispiel f¨ ur einen mehrfach zusammenh¨angenden K¨orper. In der Schwebe blieb jedoch die Frage – Weingarten hatte hierauf keine Antwort gegeben –, ob das gleiche Experiment auch mit einem einfach zusammenh¨angenden K¨orper durchgef¨ uhrt werden kann (bei dem also ein geschlossener Weg stetig so deformiert werden kann, daß er sich auf einen Punkt zusammenzieht). 18
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Julius Weingarten (1836–1910). Weingartens bedeutendste Ergebnisse liegen auf dem Gebiet der Fl¨ achentheorie. Er befaßte sich auch mit Fragen der Geod¨ asie und der mathematischen Physik. Es handelt sich dabei um Weingartens Arbeit Sulle superfici di discontinuit` a ” nella teoria dell’elasticit` a dei corpi solidi“, Rend. Accad. Lincei (5) 10 (1901), 57–60. Weingarten war seit 1899 ausw¨ artiges Mitglied der Accademia dei Lincei. Volterra schreibt Weingarten in Franz¨ osisch: J’ai l’honneur de vous envoyer un ti” rage ` a part d’une Note que je viens de publier dans les Rendiconti de l’Acad´emie des Lincei sur l’´elasticit´e. Je suis parti des consid´erations que vous avez developp´ees dans votre Note de 1901“.
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Diesbez¨ uglich beweist Volterra folgenden Satz: Falls ein elastischer K¨orper ” einen endlichen einfach zusammenh¨ angenden (azyklischen) Raum einnimmt und regul¨ar (gleichm¨ aßig) deformiert wird, dann befindet er sich im nat¨ urlichen Zustand, wenn er im Gleichgewicht ist und keine ¨außeren Kr¨afte auf ihn wirken“, w¨ahrend im Gegensatz hierzu ein im Gleichgewicht befindlicher ” elastischer K¨orper, der einen endlichen mehrfach zusammenh¨angenden (zyklischen) Raum einnimmt, sich nicht im nat¨ urlichen Zustand befinden muß, das heißt, er kann sich sogar dann in einem Spannungszustand befinden, wenn keine ¨außeren Kr¨afte auf ihn wirken und seine Deformation regul¨ar (gleichm¨aßig) ist“.21 Die Antwort auf die Frage, die Weingarten offen gelassen hatte, ist also negativ: Nur ein elastischer mehrfach zusammenh¨angender K¨orper mit re” gul¨arer (gleichm¨ aßiger) Deformation kann die Deformation beibehalten wenn er im Gleichgewicht ist und keine ¨ außeren Kr¨ afte auf ihn wirken. Man erh¨alt diese Gleichgewichtszust¨ ande durch Operationen, die ich als Distorsionen bezeichne“.22 Vom analytischen Standpunkt ist der Unterschied in Bezug auf das Verhalten der Tatsache geschuldet, daß in mehrfach zusammenh¨angenden K¨ orpern die Monodromie der Verschiebungen nicht gew¨ahrleistet ist. Die Beobachtung der von Distorsionen erzeugten Effekte ist demnach der Ausgangspunkt, auf den sich die Erkl¨ arung st¨ utzt, daß die klassische mathematische Elastizit¨ atstheorie im Falle mehrfach zusammenh¨angender K¨orper modifiziert werden muß, da sich deren Verhalten vom Verhalten einfach zusammenh¨angender K¨ orper unterscheidet.23 Die systematische Untersuchung der Ph¨anomene, die Volterra als distorsioni regolari bezeichnet, wird – auf Vorschlag von Volterra selbst – von Somigliana verallgemeinert und tritt erneut in der klassischen Abhandlung des englischen Mathematikers A. Love24 auf, der jedoch den Begriff dislocations verwendet.25 21
22 23
24 25
Die beiden Zitate sind aus Volterra [121]. Eine deutschsprachige Zusammenfassung findet man in Volterra [127]. Volterra [121]. Deutschsprachige Zusammenfassung in Volterra [127]. Volterras Sohn Enrico gab 1960 das Buch Sur les distorsions des corps ´elastiques (th´eorie et applications) (Volterra [149]) heraus. Love [59]. Als Dislokation (Versetzung) bezeichnet man eine eindimensionale St¨ orung und das dadurch erzeugte Spannungsfeld in einem ansonsten homogenen Material. Die allgemeine Versetzung kann durch Aufschneiden entlang der Versetzungslinie, beliebige Verschiebung und Wiederzusammenf¨ ugung erzeugt werden (SomiglianaVersetzung). Die Elastizit¨ atstheorie ist eine mathematische Theorie der Versetzungen. Es werden rechnerisch die Versetzungseigenschaften behandelt, wobei die Bestimmung des Verzerrungs- und Spannungshofes in der Umgebung einer Versetzungslinie das Hauptproblem ist. Es m¨ ussen dabei die Versetzungen als Eigenspannungszustand in einem elastischen Kontinuum angesehen werden. Die kontinuumstheoretische Auffassung der Versetzungen, die sich vollkommen unabh¨ angig von der gittertheoretischen aufbauen l¨ aßt, wurde von Volterra in den Grundz¨ ugen behandelt. Es zeigt sich bei den Rechnungen, daß die Verzerrungen im Versetzungskern so stark sind, daß der G¨ ultigkeitsbereich der linearen Elastizit¨ atstheorie, also des Hookeschen Gesetzes, u ussen daher ¨berschritten wird. Es m¨
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Volterra setzt seine Forschungsarbeiten zur Elastizit¨at fort, indem er ab 1909 mit der Untersuchung der heredit¨ aren“ Wirkungen beginnt, bei de” nen es sich um eine Art Memory-Effekt“ handelt. Das klassische Gesetz von ” Hooke postuliert die Proportionalit¨ at zwischen der Deformation und Kr¨aften. Das Hookesche Gesetz betrachtet deswegen keine elastischen K¨orper, die ein Ged¨achtnis“ haben; derartige K¨ orper gibt es aber in der Natur und ihre De” formationen h¨angen auch von den vorhergehenden Deformationen ab. Es gibt K¨ orper, die gewisse Erinnerungen an ihre Vergangenheit bewahren. Je elastischer ein K¨orper ist, desto schw¨ acher ist sein Ged¨achtnis: Volterra pflegte ” humorvoll zu sagen, daß er ein Ged¨ achtnis aus Kitt habe, das sich an alles er26 innert , w¨ahrend der richtige Stahl, insbesondere wenn er von guter Qualit¨at ist, sehr vergeßlich ist“.27 Damit beginnt Volterra die Erforschung der heredit¨aren“ Mechanik, die ” diejenigen F¨alle untersucht, in denen jede Wirkung ein Erbe hinterl¨aßt und der aktuelle Zustand des Systems von dessen gesamter Vorgeschichte abh¨angt: Alle Ingenieure wissen zum Beispiel, daß sich eine vor langer Zeit gebaute ” Br¨ ucke heute unter der Einwirkung einer Last nicht so verformt, wie sie sich gleich nach ihrer Errichtung verformt hat. Beschwert man das Ende einer horizontalen elastischen Stange, deren anderes Ende befestigt ist, mit Gewichten, die zuerst schwerer und danach allm¨ ahlich wieder leichter werden, dann nimmt der K¨orper, wenn er wieder entlastet wird, nicht erneut dieselben Deformationen an, die er hatte, als er zum ersten Mal belastet wurde; er weist – bei gleichem Biegungsgewicht – auch nicht mehr dieselbe Biegung auf. Folglich h¨angt die gegenw¨artige Deformation nicht nur von der derzeitigen Belastung, sondern auch von allen vorhergehenden Belastungen ab: Man kann deswegen offenbar das Prinzip aussprechen, daß jede ausge¨ ubte Wirkung im K¨orper eine Erinnerung zur¨ uckl¨ aßt, die in einem Ged¨ achtnis festgehalten wird, das alle Belastungen des K¨ orpers speichert“.28 Eben weil bei einem erblichen Ph¨ anomen der zuk¨ unftige Zustand des Systems nicht nur vom gegenw¨ artigen Zustand (den sogenannten Anfangsbedingungen) abh¨angt, sondern von der gesamten Vorgeschichte, k¨onnen die Differentialgleichungen nicht die am besten geeigneten analytischen Werkzeuge zur Untersuchung dieser Ph¨ anomene sein. Aus analogen entgegengesetzten Gr¨ unden reicht es zur eingehenden Untersuchung der Probleme der here” dit¨aren mathematischen Physik nicht aus, lediglich Integralgleichungen zu be-
26
27 28
noch die nichtlinearen Effekte erfaßt werden, die z. B. f¨ ur die Behandlung der Wechselwirkung nahe benachbarter Versetzungslinien wesentlich sind. In Bezug auf Volterras Beitr¨ age zur Theorie der Versetzungen verweisen wir auf Pastrone [67] (in: Di Sieno-Guerraggio-Nastasi [24]) und auf Pastrone-Tonon [68]. Lein¨ olkitt ist eine knetbare Masse, in die sich sozusagen alles einpr¨ agt. Ein KittGed¨ achtnis ist also in diesem Sinne ein st¨ ahlernes“ Ged¨ achtnis. ” Zitiert von Gaetano Fichera (vgl. Pastrone [67]). Volterra [124]. Diese in Franz¨ osisch geschriebene Arbeit wurde in Volterra [130] in Italienisch ver¨ offentlicht; es handelt sich dabei im Wesentlichen um Kapitel XIV von Volterra [125].
4.4 Die Gesellschaft f¨ ur den Fortschritt der Wissenschaften
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trachten“ 29 . Man braucht die Linienfunktionen, denn wird der Zustand des Systems durch gewisse Parameter beschrieben, dann wird auch seine Geschichte aus denselben Parametern ermittelt, die man jedoch als Funktionen der Zeit betrachtet. Man ben¨ otigt Gleichungen gemischten Typs, die von Volterra eingef¨ uhrt werden. Er tauft sie auf den Namen Integrodifferentialgleichungen. Der Differentialteil betrifft sozusagen die Zukunft, w¨ahrend der Integralteil das Erbe der Vergangenheit weitergibt. Volterra widmet in dem Zeitraum, den wir hier betrachten, viele seiner wissenschaftlichen Ver¨offentlichungen der Untersuchung dieser Gleichungen. Er bedient sich dabei (zur L¨osung der Integralgleichungen und der Integrodifferentialgleichungen)30 des Begriffes der Komposition zweier Funktionen. Den letztgenannten Begriff stellt er 1910 in einer Arbeit vor31 .
4.4 Die Gesellschaft fu ¨r den Fortschritt der Wissenschaften Aus Stockholm, wo sich Volterra wegen einer Vorlesung u ¨ ber partielle Differentialgleichungen befindet, schreibt er einen Brief an Giovan Battista Guccia32 , den Gr¨ under des Circolo matematico di Palermo. Volterras Brief ist das erste Dokument in Bezug auf das neue Ziel, das er zu verfolgen beabsichtigt. Das Jahr 1905 hat gerade begonnen: Wahrscheinlich werden sich diese ” Ostern, wenn der Chemiekongreß und die Versammlung der Physikalischen Gesellschaft stattfindet, verschiedene italienische Gesellschaften wie etwa die Zoologische, die Geographische usw. von einem Delegierten vertreten lassen, um zu versuchen, die Grundlagen f¨ ur eine italienische Gesellschaft f¨ ur den Fortschritt der Wissenschaften nach Art der britischen zu schaffen [...].33 Die neue Vereinigung w¨ are, wenn sie gegr¨ undet werden k¨onnte, autonom, aber die verschiedenen Gesellschaften k¨ onnten als Vermittler zwischen der neuen Organisation und ihren Mitgliedern dienen“. In den folgenden Monaten gewinnt die Idee an Boden, in Italien eine Gesellschaft zur Verbreitung der wissenschaftlichen Kultur nach dem Modell von 29 30 31 32
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Volterra [122]. Volterra [126]. Volterra [123]. Giovan Battista Guccia (1855–1914) gr¨ undete 1884 den Circolo matematico di Palermo mit den Rendiconti del Circolo Matematico di Palermo als Publikationsorgan. Die Gesellschaft verabschiedete 1888 ein Statut, demgem¨ aß ausl¨ andische Mitglieder zugelassen wurden. Damit entwickelte sich der Circolo schnell zu einer f¨ uhrenden internationalen Gesellschaft. Guccia wurde 1889 ordentlicher Professor f¨ ur Geometrie der Universit¨ at Palermo. Die 1831 gegr¨ undete British Association for the Advancement of Science ist eine Gelehrte Gesellschaft zur F¨ orderung der Wissenschaft. Als ihre Hauptaufgabe betrachtet die Gesellschaft den Wissens- und Informationsaustausch zwischen Wis¨ senschaftlern verschiedener Fachgebiete und zwischen Wissenschaft und Offentlichkeit.
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ahnlichen Gesellschaften zu gr¨ unden, die in Frankreich, England und Deutsch¨ land bereits existieren. Der einzige Pr¨ azedenzfall in Italien waren die von 1839 bis 1847 abgehaltenen Jahresversammlungen der italienischen Wissenschaftler. Beg¨ unstigt wurden diese Versammlungen durch das Klima des Risorgimento und durch die damaligen Einheitsbestrebungen. In den 1860er und 1870er Jahren gab es gelegentlich sch¨ uchterne Wiederbelebungsversuche des damaligen Experiments, aber unterdessen hatte sich der kulturelle und politische Kontext entschieden ge¨ andert. Die Versammlung, die 1875 in Palermo stattfand, bedeutete das Ende der alten“ Gelehrtenkongresse. ” Volterra unterbreitet sein Projekt der Gr¨ undung der Italienischen Gesellschaft f¨ ur den Fortschritt der Wissenschaften34 offiziell zum Kongreß der Naturforscher, der am 15. September 1906 in Mailand auch deswegen abgehalten wird, um den 50. Jahrestag der Gr¨ undung der Italienischen Gesellschaft f¨ ur Naturwissenschaften35 zu feiern. In seinem Vortrag erw¨ahnt er die vorhergehenden Versammlungen der italienischen Wissenschaftler. Er erinnert auch an analoge Vereinigungen anderer L¨ ander und geht insbesondere auf die englische Gesellschaft ein, an deren Versammlung er 1904 – in Cambridge – als Gast teilgenommen hatte. Dabei hatte er die Vorg¨ange mit einer gewissen Sorge beobachtet. Die Gr¨ undung der neuen Gesellschaft wird die Forderung nach ¨ einer Uberwindung der u aßigen Spezialisierung nur dann erf¨ ullen, wenn ¨berm¨ neue Grundlagen geschaffen werden, gem¨ aß denen sich die Gesellschaft deutlich von den historischen Akademien unterscheidet. Die Gefahr, die Volterra beunruhigt, besteht nicht so sehr darin, eine Vereinigung ins Leben zu rufen, in der die gewerkschaftlichen und beruflichen Fragen die Oberhand u ¨ber die wissenschaftlichen Probleme gewinnen k¨ onnten – es gab ja bereits andere Vereinigungsformen in Reaktion auf diese soziale Frage. Vielmehr bef¨ urchtet er, u ¨berwundene Erfahrungen zu wiederholen, die nur auf eine eng begrenzte Basis von sozusagen wissenschaftlich-aristokratischem Charakter“ z¨ahlen ” konnten. Stattdessen muß man nach neuen Kommunikations- und Beteiligungskan¨alen zwischen den verschiedenen Forschungsgruppen sowie zwischen diesen und dem sozialen Hintergrund suchen. Dieser Hintergrund ist n¨amlich – sowohl f¨ ur die Forschungsgruppen als auch f¨ ur den Vermittler zur Verbreitung ihrer Errungenschaften – das nat¨ urliche Sammelbecken der Konsensbildung: Man muß zusehen, daß die neue Vereinigung eine breite Basis hat, die ihre ” Wurzeln frei im ganzen Land ausbreiten kann und alle diejenigen einbezieht, die sich von der Liebe zur Wissenschaft leiten lassen – und zwar sowohl diejenigen, die einen direkten Beitrag zur Wissenschaft geleistet haben, als auch diejenigen, die sich nur aneignen m¨ ochten, was andere entdeckt haben. Mit einem Wort: Die neue Vereinigung muß wissenschaftlich-demokratisch sein. Zwar besteht bei der Umsetzung dieses Konzepts ein gewisses Risiko, aber es lohnt sich, dieses Risiko einzugehen, um dadurch eine frische, vitale und moderne Sache zu wagen, vorausgesetzt, daß es weder an Mut noch an gu34 35
Societ` a italiana per il progresso delle scienze (SIPS). Societ` a italiana di Scienze naturali.
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tem Willen mangelt“.36 Die neue Gesellschaft beabsichtigt nicht nur, einzelnen Wissenschaftlern einen Ort der Begegnung zu geben, sondern m¨ochte ein Netzwerk f¨ ur alle diejenigen Vereinigungen schaffen, die bereits im Bereich der Bildung und der Verbreitung der Wissenschaft t¨atig sind. Von ihnen erwartet Volterra einen bedeutenden Beitrag. Er garantiert nat¨ urlich die Wahrung ihrer Individualit¨at und eine vollst¨ andige Autonomie. In Mailand geht Volterras Vorschlag durch“. Mit seinem Plan u ¨berschnei” den sich auch ¨ahnliche Vorhaben, die von anderen Wissenschaftlern formuliert wurden. Es wird eine Kommission gegr¨ undet und beauftragt, den Beschluß f¨ ur die neue Vereinigung vorzubereiten. Der Gr¨ undungskongreß, der im September 1907 in Parma stattfindet, best¨ atigt die in Mailand umrissene Perspektive. Wenn u ¨berhaupt, dann finden sich in den Zirkularen, die zwischen dem Kongreß der Naturforscher 1906 und dem Kongreß von Parma 1907 verbreitet wurden, die ersten Hinweise auf eine deutlichere Strategie. Die SIPS (Italienische Gesellschaft f¨ ur den Fortschritt der Wissenschaften) bietet nicht nur die Gelegenheit zu einer demokratischen Interessenkonvergenz als Ausgleich f¨ ur die u ¨berm¨aßige Spezialisierung und nicht nur die M¨oglichkeit zur Verbreitung einer weniger enggefaßten wissenschaftlichen Kultur unter den Forschern. Es ist auch die Aufgabe der Gesellschaft, die italienische Wissenschaft vor der offentlichen Meinung und vor der politischen Macht zu vertreten. In Parma ¨ sagt Volterra in seiner Rede zur Er¨ offnung des Kongresses: Viele haben noch ” den Wunsch nach einer feierlichen nationalen Demonstration der Wissenschaften in einem Land, das vielleicht den wahren Wert der wissenschaftlichen Forschung noch nicht sch¨ atzt und auch noch nicht erkannt hat, welche Kraft diese Forschungsarbeit f¨ ur den b¨ urgerlichen Wohlstand und f¨ ur die Wirtschaft einer Nation verk¨orpert“. Volterra spricht ausf¨ uhrlich und gibt eine gl¨anzende Analyse des Verh¨altnisses zwischen Wissenschaft und Gesellschaft im Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Neuheiten werden dadurch bestimmt, in welchem Maße sich die ¨offentliche Meinung bewußt ist, daß der ¨okonomische und soziale Fortschritt auf den wissenschaftlichen Errungenschaften sowie auf den Ver¨anderungen und Widerspr¨ uchen beruht, die fast alle Disziplinen betreffen. Jenseits des verwendeten Begriffs – des Begriffes der Krise – werden diese kritischen Punkte nicht als Anzeichen eines k¨ unftigen Bankrotts der Wissenschaft gesehen. Sie dokumentieren eher die Schwierigkeiten eines Wachstumsprozesses – Schwierigkeiten, mit denen sich Volterra fast gewohnheitsm¨aßig auseinandersetzt. Wir geben im Folgenden einige seiner Worte wieder.37 Die Bedeutsamkeit dieser Worte wird noch nicht einmal durch die damals unvermeidliche Rhetorik angekratzt. Bei den modernsten Entdeckungen – bei denen der ” 36
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Das Zitat ist der in Mailand gehaltenen Rede entnommen. Der Text der Rede wurde in Volterra [130] ver¨ offentlicht. Volterras Vortrag Il momento scientifico presente e la nuova societ` a italiana per ” il progresso delle scienze“ ist in Volterra [130] wiedergegeben.
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u ¨berwiegende Teil unserer Generation zugegen war –, haben (im Gegensatz zu dem, wie es sich in der Vergangenheit meistens zugetragen hat) alle mitverfolgen k¨onnen, wie diese Entdeckungen in den wissenschaftlichen Labors entstanden sind, sich dort entwickelt haben, von dort in den Werkst¨atten Verbreitung gefunden und dann das praktische Leben durchdrungen haben. Deswegen ber¨ uhrt uns der historische Augenblick, den wir durchschreiten, mit dem Anblick der Menschenmenge, die von diesen Erfindungen fasziniert ist – Erfindungen, die in kurzer Zeit die Quelle großen Wohlstands und Reichtums geworden sind und einen so tiefen Einfluß auf die Gewohnheiten der Menschen und auf das soziale Bewußtsein hatten. Die Menschen versuchen, von den wissenschaftlichen Wahrheiten in deren Gesamtheit Besitz zu ergreifen, diese in allen Einzelheiten kennenzulernen und, was am Dringlichsten ist, sie erwarten von der Wissenschaft den materiellen und moralischen Fortschritt [...]. Auf diese Weise ist es zu einem kontinuierlichen Strom gekommen, der ¨ das praktische Leben durch eine nat¨ urliche Ubereinstimmung und durch die innerste Wirkungskraft der Dinge mit dem wissenschaftlichen Leben verbindet. Diejenigen, deren Beruf die Wissenschaft ist, f¨ uhlen sich zur Masse der Menschen hingezogen; die Wissenschaftler bleiben nicht Gefangene der Labors und der Studienkabinette, sondern sehen sich gezwungen, in einen engen und t¨aglichen Kontakt zur Gesellschaft zu treten und an dem Leben teilzunehmen, das die Welt bewegt. Jene modernen, wunderbaren und riesigen Geb¨aude, die nicht so verqualmt sind und keinen solchen L¨arm machen wie die alten Werkst¨atten, sondern hell und still sind, die Geb¨aude, in denen die Dynamomaschinen, riesige Denkm¨ aler des gegenw¨artigen Zeitalters, ihre Arbeit schnell und ger¨auschlos verrichten, all das erinnert an die erhabene, feierliche und gravit¨atische Großartigkeit der Denkm¨ aler einer anderen Epoche: an die alten Kathedralen, deren wundervolle Fialen in den Himmel ragen“. Der Einfluß einer positiven“ Religion ist bei den Verweisen auf die alten ” Kathedralen offensichtlich; um aber die Gefahr eines unkritischen Vertrauens in die Wissenschaft zu vermeiden, denkt man u ¨ber die Schwierigkeiten nach, in denen sich gerade das wissenschaftliche Denken befindet. Es besteht eine offensichtliche und unaufhaltsame Notwendigkeit der Spezialisierung, aber da ¨ ist auch die gleichzeitige Notwendigkeit der Uberwindung dieser Spezialisierung, weil die verschiedenen Disziplinen einander derart durchdringen, daß ” man heute nicht weiß, wie man in einem Fach vorw¨arts kommt, ohne viele andere F¨acher zu kennen, und zwar gr¨ undlich zu kennen. Und dabei geht es nicht nur um Disziplinen, die f¨ ur verwandt gehalten werden oder es seit einigen Jahren sind, sondern auch um neue Gebiete, bei denen sich jetzt herausgestellt hat, daß sie eng miteinander zusammenh¨angen“. Die Schwierigkeiten, die fast alle wissenschaftlichen Disziplinen durchmachen, liegen vor allem in der Krise des philosophischen Denkens, das sie durchdringt“. Es ist die Krise ” der mechanistischen Prinzipien. Es ist der Kampf gegen die Mythologie der ” Mechanik“. Der Vorschlag, eine neue Gesellschaft zu gr¨ unden, wird mit großer Klarheit und Direktheit illustriert. Die SIPS entsteht in Reaktion auf Erforder-
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nisse, die auf zwei Faktoren zur¨ uckzuf¨ uhren sind, die laut Volterras Analyse die gegenw¨artige Wissenschaft charakterisieren. Einerseits geht es darum, daß die innere Krise, die viele Lehren durchr¨ uttelt und transformiert, eine um” fassende, freie und direkte Diskussion seitens der Wissenschaftler erfordert und in ihnen auch das dringende Bed¨ urfnis weckt, sich pers¨onlich zu ¨außern und mitzuteilen, welche Gedanken sie besch¨ aftigen, welche Zweifel sie qu¨alen, auf welche Schwierigkeiten sie stoßen und von welchen Hoffnungen sie getrieben werden. Die B¨ ucher und die Sitzungsberichte dienen diesem Zweck nicht und k¨onnen es auch niemals tun; es besteht geradezu das Bed¨ urfnis, das zu sagen und zu erfahren, was man noch nicht zu ver¨offentlichen wagt ¨ oder was ohnehin niemals ver¨ offentlicht werden wird“. Die sakrosankte Uberwindung einer u aßigen Spezialisierung erfolgt nicht durch die R¨ uckkehr ¨berm¨ zum Dilettantismus, bei dem alle scharfsinnig u ¨ber alles diskutieren, sondern durch die Schaffung von Kommunikationskan¨ alen zwischen den verschiedenen ¨ Spezialisierungen. Die Offentlichkeit der Konfrontation zwischen den Wissenschaftlern wirkt sich unausweichlich positiv auf die Popularisierung aus: All ” das, was das Publikum weder aus B¨ uchern noch aus Reden lernen kann, offenbart sich, wenn es mit Diskussionen zwischen den Wissenschaftlern einhergeht, denn gerade die spontanen und lebhaften Streitgespr¨ache zeigen die Entfaltung derjenigen Gedanken in einem nat¨ urlicheren und echteren Licht, die sich u ¨blicherweise nicht durch noch so geschickte Kunstgriffe popularisieren lassen“. Mit dem internen“ Ziel – einem gr¨ oßeren Bewußtsein der Gemeinschaft ” der Wissenschaftler f¨ ur die Perspektiven, die ihre Arbeit bietet, sowie f¨ ur die kulturelle Bedeutung ihrer Arbeit – geht ein anderes Ziel einher, das mehr auf die Politik ausgerichtet ist. Der wissenschaftliche Fortschritt ist f¨ ur den zivilen Fortschritt notwendig. Die politische Macht darf die Wissenschaftler als fundamentalen Teil der F¨ uhrungsschicht des Landes nicht vernachl¨assigen: Aber ” das Land braucht nicht nur das f¨ ur die entstehende Institution; nicht nur die Befriedigung der Wißbegierde ist erforderlich, sondern auch eine nutzbringende Ermutigung sowie ein Ansporn zu fruchtbaren Untersuchungen und zu neuen und vitalen Forschungsarbeiten. Die in der Industrie, im Handel und in den praktischen Berufen t¨ atigen Menschen haben Tag f¨ ur Tag unz¨ahlige W¨ unsche an die Wissenschaft; diese wiederum steht unter st¨andigem Druck seitens einer wachsenden Anzahl von Personen, die sich von der Wissenschaft die L¨osungen der neuen Probleme erhoffen, die sich als komplex und dringlich erweisen – L¨osungen, die f¨ ur die immer wieder auftretenden Schwierigkeiten gefordert werden“. Ein wichtiger Faktor der wissenschaftlichen Pers¨onlichkeit Volterras ist die st¨andige inhaltliche Erweiterung seines Wissens. Als Analytiker und mathematischer Physiker ist es f¨ ur ihn gleichsam nat¨ urlich, die physikalische Wirklichkeit aufmerksam zu verfolgen; sp¨ ater wendet er sich mit einer ¨ahnli¨ chen Aufmerksamkeit den Anwendungen in der Okonomie und in der Biologie zu. Wir erkennen hier die Entdeckung“ des ¨ okonomischen und sozialen Wer” tes der Wissenschaften sowie der an die Politik gerichteten Forderung, diese Beziehung zu managen“, wobei sein direktes Engagement und das anderer ”
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Wissenschaftler durchaus nicht ausgeschlossen wird. Die von Volterra durchlaufene Entwicklung rechtfertigt es, ihn mit einem Vollblutintellektuellen wissenschaftlichen Ursprungs zu identifizieren. Er ist eine Pers¨onlichkeit, die im Beruf eine erhebliche Autorit¨ at erlangt hat, aber seine Beitr¨age gehen jetzt auch u uhzeit der ¨ber die spezifischen fachlichen Interessen hinaus. Seit der Fr¨ ” Moderne beruht die Autorit¨ at eines Intellektuellen auf dessen Anspruch, im Namen der ganzen Gesellschaft zu sprechen. [...] Ein Intellektueller zu sein, das schließt ein gewisses Maß sozialen Engagements ein. Es ist schwer, f¨ ur Ideen zu leben und nicht zu versuchen, die Gesellschaft zu beeinflussen“.38 Das Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat einen großen Bedarf an derartigen Gestalten, auch wenn im Verlauf des Jahrhunderts die Geschichte des Landes dazu neigt, die Bedeutung dieser Gestalten herabzusetzen. Die Kehrseite der Medaille bei all diesen Aktivit¨ aten ist nat¨ urlich die Tatsache, daß der Tag nur vierundzwanzig Stunden hat. Das gilt auch f¨ ur einen Volterra, der seinen Tagesablauf – die Arbeitsstunden und die Anzahl der zu schreibenden Seiten – gewissenhaft plant, sogar w¨ ahrend seiner langen Auslandsreisen. Seine Forschungsarbeit entwickelt sich auf diese Weise mit einer Intensit¨at, die ganz gewiß umfassender ist als wenn er sich ausschließlich auf seine berufliche T¨ atigkeit im engeren Sinne und die Gr¨ undung einer mathematischen Schule beschr¨ankt h¨atte. Volterra entscheidet sich gegen eine Beschr¨ankung auf die rein fachliche Seite. In der italienischen Wissenschaftsbewegung des beginnenden Jahrhunderts ist er diejenige Pers¨ onlichkeit, die das ausgepr¨agteste Bewußtsein f¨ ur den politischen Einsatz hat, der auf dem Spiel steht. Die Themen der Wissenschaftskultur, des Kampfes gegen den Partikularismus und f¨ ur eine neue Synthese, in deren Mittelpunkt die Errungenschaften der Wissenschaft stehen, sind dennoch nicht seine alleinige Hinterlassenschaft. Eine wichtige Unterst¨ utzung des SIPS-Projektes kommt von Federigo Enriques (1871–1946), einem weiteren der Großen“ der italienische Schule der algebraischen Geo” metrie. Enriques besch¨ aftigt sich gerade in jenen Jahren besonders mit phi¨ losophischen Uberlegungen. Er ver¨ offentlicht 1906 sein Buch Problemi della scienza (Probleme der Wissenschaft) und organisiert 1907 als Vorsitzender der Italienischen Philosophischen Gesellschaft deren zweite Tagung in Parma. Diese Tagung, die sich zeitlich an die Gr¨ undungsveranstaltung der SIPS anschließt, stellt einen weiteren Versuch dar, Philosophie und Wissenschaft einander n¨aher zu bringen. Nachdem Enriques sp¨ater in den wissenschaftlichen Rat der von Volterra gef¨ orderten Gesellschaft gew¨ahlt wurde, bekr¨aftigt er gegen¨ uber Vailati, die Grundprinzipien der SIPS zu unterst¨ utzen: Mir ” scheint, daß die Gesellschaft der Wissenschaften nur auf einer demokratischen Basis gedeihen kann; die Fahne des Synthetismus und der Kampf gegen die k¨ unstlichen Unterteilungen der Wissenschaft zeigen, daß in diesem Fall Demokratie gewiß keinen Begriff darstellt, der geringer zu werten ist als die Wissenschaften“. 38
Furedi [28].
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Nicht alle glauben an das SIPS-Projekt. Da ist zum Beispiel Guccia zu nennen, an den sich Volterra bei der Suche nach Hilfe und Zusammenarbeit vertrauensvoll gewandt hatte. Der Gr¨ under des Circolo matematico di Palermo ist keine einfache Pers¨ onlichkeit. Er neigt dazu, die Interessen des Circolo – der eine wirklich wundervolle Sache war – als einzigen Urteilsmaßstab anzusetzen, und er identifiziert das eigene Berufsschicksal mit der Entwicklung des Circolo. Guccia neigt dazu, in anderen Projekten Komplotte oder jedenfalls Man¨over zu sehen, die gegen¨ uber seiner Sch¨opfung“ feindlich eingestellt ” sind. Das SIPS-Projekt scheint ihm objektiv mit den Bestrebungen des Circolo matematico zu konkurrieren. Auf Volterras Einladungen antwortet er am Anfang mit einiger Skepsis und wirft die – nicht unwahrscheinliche – Hypothese eines k¨orperschaftlichen Abdriftens der zu konstituierenden SIPS auf: Ich ” sage Ihnen offen, daß ich aufgrund der geringen Erfahrungen in Italien nur wenig Vertrauen habe, daß in unserem Land eine Gesellschaft so erfolgreich sein wird, wie ¨ahnliche Gesellschaften in England und in Frankreich [...]. In welchem anderen Land haben Sie gesehen, daß sich Sekundarschulprofessoren (und vielleicht sogar Universit¨ atsprofessoren!) im Namen der Wissenschaft [sic] vereinigen, um gegen¨ uber der K¨ oniglichen Regierung Gel¨ ubde mit dem Ziel abzulegen, eine Gehaltserh¨ ohung zu bekommen? Wir sagen alle, daß das sch¨andlich ist, und das geht in Ordnung! Aber warum sollten wir uns exponieren und zusehen, daß die Vereinigung f¨ ur den Fortschritt der Wissenschaften sogleich von dem Ziel abweicht, f¨ ur das wir sie gr¨ unden m¨ochten?“. Ein nachfolgender Brief vom 28. Juni 1906 ist noch deutlicher: Es zeichnet sich gleichsam die Logik eines Privatunternehmers im Bereich der Wissenschaftskultur ab. Guccia interessiert das Ergebnis der durchgef¨ uhrten T¨atigkeiten mehr als die dabei verfolgte Methode. Er zieht es vor, die W¨ uste unter der einsamen und kopflastigen F¨ uhrung des Circolo zu durchqueren, statt sich in eine umfassendere Organisation einzureihen, die mit dem Tempo ihrer inneren Dialektik das ernsthafte Risiko einer Paralyse verursachen k¨onnte. Das nachfolgende lange Zitat dokumentiert die Polemik gegen¨ uber der Politik, die von einem bedeutenden Teil der italienischen Kultur und Gesellschaft zu Beginn des Jahrhunderts mit einer st¨ andigen und b¨ urokratischen Vermittlung identifiziert wird, der es nicht gelingt, eine ganze Reihe von unn¨ utzen Einspr¨ uchen zu verhindern. Ich sage Ihnen gleich, daß die Idee der Gr¨ undung einer Italie” nischen Gesellschaft f¨ ur den Fortschritt der Wissenschaften ausgezeichnet ist! Aber man muß den Menschen , die Energie gefunden haben, die f¨ahig ist, ein so schwieriges Unternehmen u uhne zu bringen! Wenn Sie ¨ber die B¨ diesen Mann, diese Energie, in pectore haben, wenn Sie ihn in Italien wirklich gefunden haben und mir sagen k¨ onnen, um wen es sich handelt, dann werde ich Ihnen vielleicht sagen k¨ onnen, ob die Idee erfolgreich verwirklicht werden kann. Aber wenn es diesen Menschen nicht gibt, dann lassen Sie mich Ihnen mit meiner gewohnten Offenheit sagen (wobei ich mich auf die wenigen Erfahrungen st¨ utze, die ich in diesen Sachen gesammelt habe), daß Sie Entt¨auschungen entgegen gehen k¨ onnten! Die Beschl¨ usse von Kon gressen , Akademien und Kommissionen jeglicher Art dienen dazu und
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haben immer dazu gedient, der Arbeit, die von einem einzigen Individuum, von einer sich durchsetzenden Energie verrichtet wurde oder gerade verrichtet wird, eine legale Form (wie ich es nenne) zu verleihen! Aber mehr als das darf man in der Praxis von solchen Beschl¨ ussen nicht erwarten! Nun zum Thema Stimmen. M¨ ochte man aus ihnen mehr herausholen, dann werden die Stimmen wegen des Eifers einiger Williger wenig sp¨ater zu gescheiterten Versuchen! [...] Folglich ist meiner Meinung nach der lobenswerte Versuch einer Italienischen Gesellschaft f¨ ur den Fortschritt der Wissenschaften zum Scheitern verurteilt oder erleidet dasselbe t¨odliche Schicksal wie 1875 der Kongreß von Palermo, zu dem sich die hervorragendsten M¨anner Italiens versammelt hatten. Man hielt dort phantastische Reden voller Versprechungen f¨ ur die Zukunft der Gesellschaft, aber ungl¨ ucklicherweise enthielten diese Reden [...] Politik – eine Mikrobe, die in Italien in alles eindringt und [...] alles t¨otet, besonders die Wissenschaft! Die Politik! Das ist der große Feind der Wissenschaft in Italien! Das ist der Grund daf¨ ur, warum Institutionen, die in anderen L¨ andern bl¨ uhen und gedeihen, in Italien keine Wurzeln schlagen k¨onnen! Man versuche, einen Kongreß oder [...] eine Bibliothek ohne den Vortrag Seiner Exzellenz des Ministers und ohne ¨ahnlich geartete patriotische Reden zu er¨offnen – Reden, aus denen hervorgeht, daß es ohne Viktor Emanuel, Mazzini und Garibaldi (zum Beispiel) [...] die drahtlose Telegraphie nicht gegeben h¨atte! Und dabei werden in den besagten Reden der Fortschritt, die Zukunft und die Bed¨ urfnisse der Wissenschaft sozusagen als Abschluß auf den letzten Platz verbannt! Sagen Sie mir, ob es bei diesem Zustand der Konfusion von verschiedenen Dingen und Ideen, ob es in einem solchen Umfeld jemals m¨oglich ist, daß eine Institution entsteht und sich entwickelt, die ausschließlich den Fortschritt und die Entwicklung der Wissenschaft zum Ziel hat? Ich meine, daß das nicht m¨ oglich ist! Außer, ich wiederhole, wenn es einen Mann mit großer Autorit¨ at und ph¨ anomenaler Energie g¨abe, der, frei von jeglichen politischen Bindungen, das schwierige Problem entschlossen angehen will und kann, das heißt, in Italien die Wissenschaft von der Politik zu trennen!“. Trotz der von Guccia als so ung¨ unstig geschilderten Vorzeichen beginnt die SIPS mit dem Kongreß von 1906 ihre T¨ atigkeit. Die Gesellschaft wird sofort unter die Schirmherrschaft des K¨ onigs gestellt und zu den Mitgliedern des comitato ordinatore z¨ ahlen Senatoren wie Giovanni Battista Pirelli39 , Wissenschaftler wie Orso Mario Corbino40 und angesehene M¨anner wie der Bankier Bonaldo Stringher (1854–1930), Generaldirektor der Banca d’Italia von 1900 in 1930. Die Gesellschaft hat auch einen gewissen Frauenanteil in Anbetracht dessen, daß das Statut den Frauen die M¨ oglichkeit gibt, der Gesellschaft beizutreten – eine nicht unbedeutende Neuerung. Mit Unterst¨ utzung von Kolle39
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Giovanni Battista Pirelli (1848–1932), italienischer Ingenieur, Unternehmer und Politiker. Orso Mario Corbino (1876–1937), italienischer Physiker und Politiker. Bekannt u. a. f¨ ur seine Entdeckung des Corbino-Effekts (1911).
4.5 Der Internationale Mathematikerkongreß Rom 1908
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gen wie Blaserna41 und Cannizzaro42 wird Volterra zum ersten Pr¨asidenten gew¨ahlt. Er hat dieses Amt bis 1909 inne; sein Nachfolger wird der Chemiker Giacomo Ciamician43 aus Bologna. Der erste Sekret¨ ar der SIPS ist Alfonso Sella, ein Sohn des aus der Provinz Biella stammenden Textilunternehmers und Staatsmannes Quintino Sella44 , dem sich Volterra ideell und politisch besonders verbunden f¨ uhlt. Quintino Sella geh¨orte zu den f¨ uhrenden Exponenten der historischen Rechten: Mehrere Male hatte er in der Regierung ¨ außerst verantwortliche Posten inne; er ist vor allem wegen seiner Politik des Haushaltsausgleichs in die Geschichte eingegangen. Tats¨achlich ist er eine Schl¨ usselperson bei der Wiedererrichtung des Umfeldes, das f¨ ur Italien in einigen Momenten seiner Geschichte mit der Idee einer anderen Entwicklung einherging, die sich auf Innovation und Technologie st¨ utzt. Quintino Sella hatte studiert und war sp¨ater Universit¨atslehrer f¨ ur Mineralogie an der Scuola di applicazione per gli ingegneri (F¨ uhrungsakademie f¨ ur Ingenieure). Er amtierte auch als Pr¨ asident der erneuerten Accademia dei Lincei und hatte sich in den 1870er Jahren als entschiedener Bef¨ urworter einer Neuordnung der Universit¨ at Rom engagiert (an die er u. a. Cannizzaro und Blaserna berufen hatte). Auf Quintino Sella geht die bereits erw¨ahnte Parole von der dritten Mission f¨ ur ein Rom zur¨ uck, das nach seiner Vergangenheit als Zentrum der alten Welt und der Kirche eine dritte Bl¨ utezeit erfahren muß – eine Bl¨ utezeit als moderne Hauptstadt des K¨ onigreichs und folglich als Drehund Angelpunkt des kulturellen Lebens des neuen Italien. Die Motive f¨ ur Volterras Sympathien sind demnach offensichtlich: Quintino Sella, der auch viele Entscheidungen Brioschis45 anregte, ist nach der Einheit Italiens derjenige Politiker in der F¨ uhrungsschicht des Landes, der – entsprechend seiner Herkunft und Sensibilit¨at – am besten versteht, welche Rolle die Wissenschaft f¨ ur den okonomischen und sozialen Fortschritt des Landes spielt. ¨
4.5 Der Internationale Mathematikerkongreß Rom 1908 Volterra ist in den gleichen Monaten, in denen er mit der Planung der SIPS besch¨aftigt ist, auch an der Organisation des vierten Internationalen Mathematikerkongresses beteiligt. Wir k¨ onnen uns vorstellen, daß die h¨auslichen Diskussionen in dieser Zeit besonders lebhaft sind. Die Frau, der Schwiegervater und teilweise auch die Mutter bestehen darauf, daß er die Intensit¨at seiner Obliegenheiten verringern m¨ oge, und sie schicken alle ihre ¨arztlichen Bekannten ins Feld, um Volterra zu u ¨berzeugen. Schließlich gelingt es ihnen 41 42 43 44 45
Pietro Blaserna (1836–1918), italienischer Physiker. Stanislao Cannizzaro (1826–1910), italienischer Chemiker und Politiker. Giacomo Ciamician (1857–1922), italienischer Chemiker. ¨ Quintino Sella (1827–1884), italienischer Gelehrter, Politiker und Okonom. Vgl. I Lincei nell’Italia unita (Paoloni-Simili [66]) und Francesco Brioschi e il suo tempo (1824-1897) (Lacaita-Silvestri [54]).
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tats¨achlich, ihm das Versprechen abzuringen, seine Verpflichtungen am Politecnico di Torino 46 aufzugeben, aber unterdessen gr¨ undet er die SIPS und u ¨bernimmt die Aufgabe, den Internationalen Mathematikerkongreß zu organisieren! Wir finden eine erste Spur der Ideen, die bei Volterra heranreifen, in einem Brief, den Corrado Segre am 16. Juli 1904 an Guccia gerichtet hat. Segre, seit der Turiner Zeit Volterras Kollege und Freund, schreibt: Prof. Volterra ” m¨ochte, daß der Mathematikerkongreß 1908 in Italien und zwar in Rom stattfindet. Von dieser Sache war Anfang Juni auf einer Sitzung der Mitglieder der Lincei (Klasse f¨ ur Mathematik) die Rede. Aber alle haben anerkannt, daß man sich mit dem Circolo matematico oder, besser gesagt, mit Ihnen verst¨andigen m¨ usse, und diesbez¨ uglichen Rat und Hilfe erbitten solle“. Volterra bezieht also in den Plan sofort die Accademia dei Lincei und den Circolo matematico di Palermo ein, der damals in Italien die einzige ausschließlich mathematische Vereinigung war und dank der Rendiconti innerhalb weniger Jahre ein beachtliches internationales Ansehen erlangt hatte. Auch in diesem Falle gibt Guccia anfangs eine bed¨ achtige Antwort. Die Initiative erh¨alt dann jedoch die volle Zustimmung Guccias, auch wenn der Kongreß unvermeidlich dazu f¨ uhrt, daß die Pr¨asenz des Circolo im Vergleich zur Accademia dei Lincei geringer wird. Guccia kann jedoch nicht umhin, Volterras Vorschlag zu nutzen: Die Annahme des Vorschlags ist die beste Gelegenheit, die Idee eines internationalen Preises (f¨ ur Geometrie) zu verwirklichen, der mit Guccias Namen verbunden ist.47 Und Guccia will den Preis anl¨ aßlich des Kongresses institutionalisieren. Der italienische Vorschlag wird 1904 in Heidelberg am Schluß des dritten Internationalen Mathematikerkongresses vorgetragen. Anwesend sind Volterra, Guccia und Castelnuovo, mit dem Volterra ab sofort beabsichtigt, in der Organisations- und Planungsphase zusammenzuarbeiten. Die Idee, daß Rom 1908 als Gastgeber des Kongresses fungiert, wird mit einer gewissen Leichtigkeit durchgebracht – die diplomatische“ T¨ atigkeit ist in den vorhergehenden ” Monaten ziemlich intensiv gewesen und tr¨ agt nun ihre Fr¨ uchte –, die einzige Entt¨auschung bereitet die englische Delegation, die ebenfalls eine Kandidatur ins Gespr¨ach gebracht hatte. Auf dem Spiel stand nicht nur der Ort des nachfolgenden Kongresses, sondern auch der dritte Platz in der mathematischen Weltrangordnung nach Frankreich und Deutschland, den Gastl¨andern der Kongresse von Paris (1900) und Heidelberg (1904), die nach der Gene” ralprobe“ von Z¨ urich (1897) stattgefunden hatten. Dieser dritte Platz wird jetzt offiziell und einm¨ utig Italien zuerkannt. Das ist die Kr¨onung des langen Spurtes“ w¨ahrend der f¨ unfzig Jahre seit der politischen Vereinigung des Lan” des. Volterra bedankt sich f¨ ur die Ehre, die Sie uns bei der Wahl von Rom ” als Ort des folgenden Kongresses erwiesen haben. Ich schlage vor, den Kon46
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Das Politecnico di Torino (Polytechnikum Turin), dessen Urspr¨ unge bis 1859 zur¨ uckreichen, ist seit 1906 Technische Universit¨ at. Der Preis, der nach seinem Stifter Guccia-Medaille“ heißt, besteht aus einer ” kleinen Goldmedaille und einer Summe, die sich damals auf 3000 Francs belief.
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greß im Fr¨ uhjahr 1908 abzuhalten und u ¨ berlasse es dem Komitee, das genaue Datum festzulegen“. Die Organisationsmaschinerie setzt sich sehr bald, im Sommer 1905, in Bewegung. Es m¨ ussen Finanzierungsquellen f¨ ur den Druck des Informationsmaterials und der Kongreßakten sowie f¨ ur die Vorbereitung eines Gesellschaftsprogramms gefunden werden, das sich des Bildes als w¨ urdig erweist, welches man dem Ausland von Rom u ochte. Es muß auch ein Komitee ge¨ bermitteln m¨ gr¨ undet werden, das den wissenschaftlichen Teil des Kongresses umreißt sowie mit der Wahl der Hauptvortragenden und der Verantwortlichen der verschiedenen Sektionen Entscheidungen f¨ allt, die politischer“ ausgerichtet sind. Und ” schließlich geht es darum, sich ein hinreichend klares Bild u ¨ber die Probleme zu verschaffen, die seit den vorhergehenden Begegnungen ungel¨ost geblieben sind, deren weitere Behandlung aber der M¨ uhe wert ist. Die heikelste Frage ist jedoch die Pr¨ asidentschaft des Kongresses. Volterra ist noch keine 50 Jahre alt und wird als zu jung f¨ ur die Leitung des Internationalen Kongresses angesehen. Eine solche Designation h¨atte seine F¨ uhrungsrolle in der italienischen Mathematik best¨ atigt und Anlaß zu nicht wenigen Eifers¨ uchteleien gegeben. Eine bessere Wahl w¨are also einer der großen Al” ten“ wie Dini, aber der Mathematiker aus Pisa gibt sogleich bekannt, daß er davon u ¨berhaupt nichts wissen will! Schließlich einigt man sich auf einen in” stitutionellen“ Namen: Pietro Blaserna, Pr¨ asident der Accademia dei Lincei und Vizepr¨asident des Senates. Er war einer der maßgeblichsten Bef¨ urworter der Berufung Volterras an die Universit¨ at Rom, und mit Blaserna als Pr¨asident des Kongresses und des Organisationskomitees kann Volterra de facto ungest¨ort agieren. Die Tatsache, daß Blaserna Physiker und kein Mathematiker ist, wird in den Hintergrund gestellt. Auch die anderen Probleme werden nach und nach gel¨ost. Die zugesagten Finanzierungen treffen ein – ¨ offentliche und private, die letzteren insbesondere von Versicherungen – und mit der Festlegung des Monats April anstelle des klassischen“ Sommerzeitraums wird ein etwas unkonventionelles Datum ” best¨atigt. Das aus Castelnuovo, Guccia und Volterra bestehende Team trifft sofort eine gute Vereinbarung. Guccia entzieht sich jeglicher wissenschaftlichen Verantwortung und konzentriert sich ausschließlich auf wichtige organisatorische Aspekte: die Promotion der Veranstaltung, die Vorbereitung des Materials, den Druck der Atti und so weiter. Dadurch leistet er einen betr¨achtlichen Beitrag und gibt einen konkreten Beweis f¨ ur die Zusammenarbeit mit dem Circolo. Volterra l¨ ost die heikleren Fragen, indem er sich die Kontakte mit der Politik, mit der italienischen Verwaltung und vielen der ausl¨andischen mathematischen Vereine vorbeh¨ alt. Die eigentliche Organisation obliegt Castelnuovo, der sich immer mehr Sorgen wegen der zahlreichen Aufgaben macht, die Volterra u aufig auch ins Ausland f¨ uhren. ¨bernommen hat und die ihn h¨ Der Kongreß wird am Montag, dem 6. April 1908, vormittags unter guten Vorzeichen er¨offnet. Es sind mehr als 500 Mathematiker mit fast 200 Begleitpersonen anwesend. Das ist ein Rekordpublikum im Vergleich zu den vorhergehenden Kongressen in Z¨ urich, Paris und Heidelberg, und Volterra hebt das
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sogleich in einem Interview hervor, das er noch am Er¨offnungstag dem Corriere della Sera gibt. Die Er¨ offnungsfeier findet im großen Sala degli Orazi e Curiazi des Kapitols statt. Um 10 Uhr trifft der K¨onig in Generalsuniform ein, eskortiert von Corazzieri 48 und empfangen vom Pr¨afekten von Rom, vom B¨ urgermeister und von einigen Mitgliedern des Organisationskomitees. Die offiziellen Reden beginnen. Ernesto Nathan, inzwischen gew¨ahlter B¨ urgermeister, bekr¨aftigt die Mission des dritten Roms und gibt dem Vertreter der ¨ Regierung das Wort. Nachdem der Minister f¨ ur Offentlichen Unterricht seinen Beitrag beendet hat, ergreift Volterra das Wort. Seine Rede ist die letzte der feierlichen Ansprachen und gleichzeitig der erste der Vortr¨age mathematischen Inhalts. Der K¨ onig h¨ ort ihm vollst¨ andig zu und verl¨aßt den Saal des Kapitols erst, als Volterra seine Rede beendet hatte. Nach der Er¨offnung am Montagvormittag l¨auft der Kongreß eine Woche lang nach einem bereits ziemlich feststehenden Drehbuch ab: Am Vormittag finden parallel die Veranstaltungen der verschiedenen Sektionen statt und am Nachmittag die Hauptvortr¨ age. Es gibt auch ein Gesellschaftsprogramm, das von den Kongreßteilnehmern und von deren Begleitern besonders gesch¨atzt wird. Auch an Innovationen mangelt es nicht. Es gibt nicht mehr nur die u age, sondern acht. Poincar´es Vortrag ragt heraus – ¨blichen vier Hauptvortr¨ wegen einer Krankheit, die den franz¨ osischen Mathematiker ausgerechnet in Rom bef¨allt, wird der Vortrag von seinem Kollegen Gaston Darboux gehalten. Bereits aus dem Titel (L’avenir des math´ematiques) geht hervor, daß sich der Vortrag als Antwort auf die Aufgabe“ versteht, die Hilbert in Paris den Ma” thematikern des neuen Jahrhunderts erteilt hatte. In den Sektionen gibt es die – ebenfalls von Volterra unterst¨ utzte – Neuheit einer Untersektion f¨ ur Anwendungen in der Wirtschaft und im Finanzwesen, einschließlich einer besonderen Bezugnahme auf die Versicherungsmathematik. Francesco Severi, ein junger algebraischer Geometer aus Padua, erh¨ alt die vom Circolo matematico di Palermo gestiftete Guccia-Medaille“. Und schließlich gibt es auch den Beschluß ” zur Gr¨ undung einer Internationalen Kommission f¨ ur den Mathematikunterricht (International Commission on the Teaching of Mathematics) mit dem Ziel, f¨ ur den kommenden Kongreß das Material aufzubereiten, das den Zustand und die Tendenzen des Mathematikunterrichts in den Sekundarschulen der verschiedenen L¨ ander dokumentiert.49 Wir nannten Volterras Rede die letzte offizielle Ansprache und gleichzeitig den ersten Vortrag des Kongresses. Das Ziel des Hausherrn“ war es, den ” G¨asten zu Arbeitsbeginn und als Zeichen der Gastfreundschaft die Fortschrit48 49
Karabiniere aus der Ehrengarde des italienischen Staatspr¨ asidenten. Auf dem vierten Internationalen Mathematikerkongreß 1908 in Rom wurde die folgenden Entschließung angenommen: The Congress recognizing the importance ” of a comparative examination of the methods and plans of study of the instruction of mathematics in the secondary schools of the different nations, empowers Messrs. Klein, Greenhill and Fehr to form an International Commission to study these questions and present a general report to the next Congress“ (vgl. Smith [92] und Lehto [56], S. 13).
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te der italienischen Mathematik vor Augen zu f¨ uhren. Die Zeitreise beginnt bei Galileo Galilei und seinem Ausspruch Das Buch der Natur ist in der ” Sprache der Mathematik geschrieben“.50 Volterra kommt dann insbesondere auf die modernen Zeiten zu sprechen, in denen sich die Z¨ uge des italienischen ” Genius“ mit den neuen Lehr- und Lernmethoden und einem nutzbringenden ” Nacheifern verbinden – Dinge, die aus dem Zusammenprall gegens¨atzlicher Tendenzen hervorgegangen sind“, wobei er auch den mathematischen Erfahrungsschatz der anderen L¨ ander betrachtet. Volterra rekonstruiert die Hauptziele, die von der mathematischen Physik und ihren ersten beiden Meistern“ Betti und Beltrami erreicht worden ” sind. In Bezug auf die geometrischen Untersuchungen erinnert er an Cremona, der dominiert und hervorsticht“. Der Hausherr“ ist wohlwollend und ” ” unparteiisch. Er l¨ aßt keinen beiseite, nicht einmal Peano, mit dem er ungef¨ahr zehn Jahre zuvor eine harte Auseinandersetzung hatte.51 Er vergißt allenfalls absichtlich, sich selbst und die Ergebnisse zu zitieren, die ihn international bekannt gemacht hatten. In Bezug auf die Analysis macht er auf Dini aufmerksam. Bei der gleichzeitigen Bezugnahme auf die Analysis und auf die Geometrie kann er sich nicht zur¨ uckhalten, das italienische Laster zu nennen, zu strenge Klassifikationen einzuf¨ uhren. Man muß jedoch betonen, daß die analytischen und die geometrischen Forschungsarbeiten sehr viel gemeinsam haben. Sie unterscheiden sich nicht so sehr durch den Inhalt als vielmehr hinsichtlich der verwendeten Verfahren; auf jeden Fall handelt es sich beim ¨ Ubergang von der Analysis zur Geometrie – oder umgekehrt – nicht darum, die Grenze zweier gegnerischer bewaffneter Lager zu u ¨berschreiten“. ” Volterras Rede ist eine notwendigerweise in wenigen Z¨ ugen verdichtete Geschichte der italienischen Mathematik der zweiten H¨alfte des 19. Jahrhunderts. Einige seiner Urteile sind jedoch bleibend und machen Schule. Der herausragende Aspekt ist der politische. Die Rekonstruktion der neuesten Ereignisse der italienischen Mathematik dient dem Nachweis der Bedeutung, die das Risorgimento auch f¨ ur die Kultur und die Wissenschaft hatte. Nicht aus Zufall f¨ uhren seine ersten Worte in das Jahr 1860 zur¨ uck, als die Einheit des Landes verwirklicht wird und zur gleichen Zeit Cremona den Unterricht in h¨oherer Geometrie an der Universit¨ at Bologna einf¨ uhrt. Dieses nicht zuf¨allige Zusammentreffen – zwischen dem politischen und dem wissenschaftlichen Fortschritt – ist das Thema, auf das Volterra hinweisen m¨ochte. Vorher gab es praktisch kein koh¨arentes Wissenschaftssystem der italienischen Einzelstaaten. Vorher konnte es – sinnbildlich gesprochen – vorkommen, daß bei der Besetzung zweier Professuren ein Algebraiker und ein Kirchenjurist gegeneinander ausgetauscht werden konnten und der Mathematiker zum Rechtsprofessor ernannt 50
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Galileo Galilei (1623): Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik ” geschrieben und ihre Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es ganz unm¨ oglich ist auch nur einen Satz zu verstehen, ohne die man sich in einem dunklen Labyrinth verliert“ (Galilei [29], S. 232). Vgl. Abschnitt 3.4 Die Polemik mit Peano.
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4 Rom, ¨ offentliche Verpflichtungen, Politik
wurde, w¨ahrend sich der Jurist in der Lage wiederfand, Algebra zu lehren. Vorher war die Anzahl der universit¨ aren Lehr¨ amter u ¨ berhaupt unzureichend. Dann kam die Einheit: Freudvolle Hoffnungen erf¨ ullten die Seelen, in denen ” sich die Genugtuung u uhsam gewonnene Vaterland mit dem ¨ ber das neu und m¨ Streben nach den h¨ ochsten wissenschaftlichen Idealen verband“. Niemand darf sich also wundern, wenn man beim Verfolgen der Wissenschaftsentwicklung ” eine unerwartete Ver¨ anderung feststellt“. F¨ ur Volterra, der leider viele Male von der Geschichte des 20. Jahrhunderts L¨ ugen gestraft wird, gewinnt das Land das Bewußtsein, daß eine Nation, die frei und groß sein will, nicht nur ” von Soldaten und Eisenbahnen lebt, und die Auferstehung Italiens als Nation falsch verstanden w¨ urde, wenn das Land in den K¨ unsten, in der Literatur und in den Wissenschaften nicht die Position wiederbek¨ame, durch die es sich zu anderen Zeiten ausgezeichnet hat“. Das ist die gleiche Logik, die Rom den Glauben an seine dritte Mission verleiht: Ein kosmopolitisches Vorhaben, auf ” das wir in Rom nicht verzichten k¨ onnen: die Wissenschaft“. Volterra wandte sich mit seiner Rede an die ausl¨andischen G¨aste, aber wohl auch an die M¨ achtigen des eigenen Landes. Der ganze Weg, den Volterra bis zur Gr¨ undung der SIPS zur¨ uckgelegt hatte, best¨atigt ihn als Leitfigur der italienischen Wissenschaftler und als deren Vertreter in der Politik. Sein Ruf ist der eines Wissenschaftlers, der f¨ ahig ist, in der Tradition des Risorgimento zu agieren und genaue Hinweise in Bezug auf den Weg zu geben, den Italien gehen muß, wenn es seine Modernisierungspolitik intensivieren will. Castelnuovo spricht in seiner Pr¨ asentation der Werke seines Kollegen ausdr¨ ucklich von der f¨ uhrenden Rolle, die Volterra seit der Jahrhundertwende in der ita” lienischen Wissenschaft inne hat“. Der Kongreß von Rom schließt in einer festlichen Atmosph¨are mit einem Ausflug nach Tivoli und mit einem Auf Wiedersehen“ zum Kongreß 1912 ” im englischen Cambridge, wo man sich wegen der Vergabe des Kongresses an Italien gewurmt hatte. Der Erfolg Volterras, des Organisationskomitees und der ganzen italienischen Mathematik ist offensichtlich. Poincar´e schreibt: Bereits seit dreißig Jahren ist die italienische Mathematik sehr stark, sowohl ” in Rom als auch an anderen Universit¨ aten in den Provinzen. Ich m¨ ußte viele Namen nennen, die einen sehr ehrenhaften Platz in der Wissenschaftgeschichte einnehmen werden, aber wenn man sie hier auf diesem Kongreß versammelt sieht, wird einem besser bewußt, wie sich das wissenschaftliche Leben in Italien entwickelt hat“.52 Das Klima verschlechtert sich teilweise erst nach dem Kongreß wegen des (einvernehmlichen) Abbruchs der Zusammenarbeit zwischen Guccia und den r¨ omischen Veranstaltern. Der Gr¨ under des Circolo matematico di Palermo war bereits in Heidelberg unschl¨ ussig, als es darum ging, wer der italienische Organisator des Kongresses werden sollte. Bereits damals hatte Guccia schlecht verdaut, welch unausweichlich zentrale Position der Accademia dei Lincei da52
Der Artikel Poincar´es erschien in der franz¨ osischen Zeitschrift Le Temps als Bericht des wissenschaftlichen Ereignisses.
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mit zuerkannt wird. Jetzt, in den Tagen des Kongresses, liegt der Sprengsatz in Blasernas Er¨offnungsansprache, in der er die Urheberschaft und die Verdienste ausschließlich den Lincei zuschreibt. Seine Rede hat h¨ochst offiziellen Charakter, da er sie in Anwesenheit des K¨ onigs und s¨amtlicher Beh¨orden h¨alt. Von hier r¨ uhrt die Entscheidung, die Blaserna sogleich mitgeteilt wird, n¨amlich daß der Circolo beabsichtigt, die vorher unterzeichnete Vereinbarung zu zerreißen und die Kongreßakten nicht zu ver¨offentlichen. Und so endet eine Geschichte, die gut begonnen hat und dann optimal durchgef¨ uhrt wurde, mit einem Mißton. Guccia beklagt sich insbesondere u ¨ ber das Verhalten der drei Mitglieder des Leitungsgremiums des Circolo, die auch im Organisationskomitee des Kongresses vertreten waren und die seiner Meinung nach keinen Finger r¨ uhrten, um die Rolle des Circolo zu verteidigen. Die drei betreffenden Leitungsmitglieder sind Castelnuovo, Cerruti und Volterra. Keiner von ihnen wird f¨ ur den nachfolgenden Dreijahreszeitraum wiederbest¨atigt. Volterras Ausschluß ist nat¨ urlich der aufsehenerregendste, hatte doch Volterra wiederholt seine Freundschaft zu Guccia unter Beweis gestellt. Volterra hegt jedoch wegen seines Ausschlusses keinen Groll und ist einer der wenigen Mathematiker von Bedeutung, die 1914, kurz vor Guccias Tod, in Palermo an den Feiern zum dreißigsten Jahrestag der Gr¨ undung des Circolo teilnehmen.
5 Das ist der Moment, aus einem Luftschiff zu schießen
5.1 Das Komitee fu ¨ r Meereskunde, Reisen in die USA Es ist wahr, daß die Jahre zu Beginn des Jahrhunders f¨ ur die italienische Kultur und insbesondere f¨ ur die Wissenschaftsbewegung ein sehr lebhafter und initiativreicher Zeitabschnitt waren. Aber selbst in dieser positiven Atmosph¨are sind Volterras unbez¨ ahmbare Aktivit¨ aten wirklich einzigartig. Kaum hatte er den Internationalen Kongreß in Rom beendet, als er sich dem unangenehmen dicken Ende“ gegen¨ uber sah, von dem wir bereits erz¨ahlt haben. ” Und wenig sp¨ater st¨ urzt er sich auf die Planung des k¨ unftigen Italienischen Komitees f¨ ur Meereskunde (Comitato talassografico italiano). In Bezug auf die Nachkriegszeit werden wir noch Gelegenheit haben, u ¨ber Fische und das Meer zu berichten, und zwar im Zusammenhang mit den Untersuchungen zur Populationsdynamik. Wir haben bereits eine Kostprobe davon gesehen, wie sich Volterra – mit seiner Arbeit u ¨ber die seiches 1 und dem Vorschlag, der an die Italienische Physikalische Gesellschaft gerichtet war – naturwissenschaftlichen Problemen und ihrer mathematischen Behandlung zuwandte. Seine Aufforderung war nicht in Vergessenheit geraten. Auf dem 1906 in Mailand abgehaltenen Kongreß der Naturforscher (mit dem wir uns im Zusammenhang mit der Gr¨ undung der SIPS bereits befaßt haben) gab es nicht wenige Vortr¨age, die zu nachfolgenden Aktionen des milit¨arisch-geographischen Instituts und der Italienischen Physikalischen Gesellschaft f¨ uhrten, die auf dem Gardasee zwei limnologische Stationen installiert hatten.2 Volterra war bei seinem Aufenthalt 1905 in Schweden von den ozeanographischen Untersuchungen beeindruckt, die in den nordeurop¨ aischen L¨andern durchgef¨ uhrt wurden; ebenso zeigte er sich von der N¨ utzlichkeit dieser Untersuchungen f¨ ur den Fischfang beeindruckt.
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2
Volterra [117]. In dieser Arbeit ging es noch um das S¨ ußwasser von Seen (vgl. Kapitel 3). Genauere Angaben findet man in Linguerri [58].
A. Guerraggio, G. Paoloni, Vito Volterra, Vita Mathematica, c Springer Basel AG 2011 DOI 10.1007/978-3-0348-0081-5 5,
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5 Das ist der Moment, aus einem Luftschiff zu schießen
Das Problem, das ihn in diesen Jahren in den Naturwissenschaften immer ¨ mehr besch¨aftigt, ist die Ubertragung der schwedischen Erfahrungen in den Mittelmeerraum, um dessen Hydrographie und Biologie organisch zu untersuchen. In Italien hatte sich bereits etwas getan. Es waren ozeanographische Untersuchungen zum Studium der Str¨ omungen durchgef¨ uhrt worden. Es gab zoologische Erkundungen, die im Mittelmeer die Existenz einer ozeanischen Fauna nachgewiesen hatten. Sp¨ ater waren einige hydrographische Kampagnen zum Sammeln und zur Analyse biologischen Materials durchgef¨ uhrt worden. Bei den Ideen, die Volterra zum aktuellen Stand des Gebietes hat, handelt es sich um eine erneute Durchf¨ uhrung dieser Aktivit¨aten unter Wahrung einer gr¨ oßeren Kontinuit¨ at. Es geht auch um die Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse auf den Fischfang, wobei man diesen von der reinen Empirie befreit und eine rationale Nutzung der Meeressourcen betreibt. Das Komitee f¨ ur Meeresforschung wird gegen Ende 1909 im Rahmen der Italienischen Gesellschaft f¨ ur den Fortschritt der Wissenschaften (SIPS) ins Leben gerufen – mit Beschluß des Pr¨ asidiums und des Verwaltungrates dieser Gesellschaft, die Volterra 1907 gegr¨ undet hatte und deren Leitung er in diesen Monaten nach dreij¨ ahriger Amtsf¨ uhrung an Ciamician abgibt. Das Komitee f¨ ur Meeresforschung entsteht, allgemeiner gesagt, zu Beginn des Jahrhunderts im Ergebnis der regen T¨ atigkeit der italienischen hydrographischlimnologischen Gemeinde“. Beg¨ unstigt wird die Entstehung durch einige ” wichtige Einrichtungen (wie etwa die Zoologische Station von Neapel und das in Genua befindliche Hydrographische Institut der Marine). Hinzu kommt, daß die Staatsorgane ein sensibleres Bewußtsein f¨ ur den ¨okonomischen Nutzen entwickeln, den eine genauere Kenntnis der physikalischen und biologischen Zust¨ande des Meeres mit sich bringt. Wir haben bereits erw¨ahnt, daß sich die Gr¨ undung des Komitees f¨ ur Meeresforschung mit dem 1906 in Mailand abgehaltenen Kongreß der Naturforscher angebahnt hat: Auf diesem Kongreß hatte Volterra die Gr¨ undung der SIPS vorgeschlagen und dabei aufmerksam die Vortr¨age verfolgt, in denen eine gr¨ oßere Beachtung der Meeresprobleme angemahnt wird. In ihm reift die Idee, eine Institution ins Leben zu rufen, die diese Untersuchungen und deren praktische Anwendungen unterst¨ utzt. In den nachfolgenden Monaten arbeitet er an dem Plan und im Fr¨ uhjahr 1909 beruft er in seiner Eigenschaft als Pr¨ asident der SIPS eine Versammlung ein, um den Gr¨ undungsprozeß des Komitees konkret in die Wege zu leiten. Volterra bewegt sich inzwischen ungezwungen in Ministerialkreisen. Und so werden zur Beteiligung an der provisorischen Arbeitsgruppe, die bald zu einer Gruppe von F¨orderern zur Gr¨ undung des Komitees f¨ ur Meeresforschung wird, umgehend die Ministerien f¨ ur Landwirtschaft, Industrie und Handel sowie das ¨ Ministerium f¨ ur Offentlichen Unterricht eingeladen, w¨ahrend dem Marineminister der Ehrenvorsitz angeboten wird. Mit dem tats¨achlichen Vorsitz wird dagegen Volterra als Pr¨ asident der SIPS betraut. Sein Engagement l¨aßt nicht lange auf sich warten. Zwar existiert das Komitee f¨ ur Meeresforschung formell noch nicht, aber schon kommt es zur Debatte u ¨ ber einige Fragen, die sich als entscheidend f¨ ur die zuk¨ unftige Einrichtung herausstellen werden: die Schaf-
5.1 Das Komitee f¨ ur Meereskunde, Reisen in die USA
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Abb. 5.1. Volterra sendet diese Ansichtskarte am 20. August 1909 seinen Kindern aus New York, um ihnen zu zeigen, wie hoch die amerikanischen Geb¨ aude sind.
fung eines großen autonomen Netzwerks f¨ ur ozeanographische Forschungen, die Gr¨ undung von Laboratorien, die direkt vom Komitee geleitet werden, die F¨orderung einer Ver¨ offentlichungsreihe und Finanzierungsfragen. Vor allem aber wird sofort ein operativer Plan f¨ ur die wissenschaftlichen Exkursionen in die Wege geleitet. Und so l¨ auft im Monat August von Venedig ein Torpedoboot der italienischen Marine aus und f¨ uhrt die erste der j¨ahrlich vier Forschungsexkursionen durch, die von dem (noch zu konstituierenden!) Komitee vorgeschlagen werden. Im Hinblick auf Volterras k¨ unftige Forschungsarbeiten zur Populationsdynamik ist die Wahl der Adria als bevorzugter Schauplatz
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5 Das ist der Moment, aus einem Luftschiff zu schießen
Abb. 5.2. Bei der Arbeit mit Luftschiffen auf dem Flugplatz von Campi Bisenzio.
Abb. 5.3. Luftschiffe auf dem Flugplatz von Campi Bisenzio
von Bedeutung. Diese Wahl ist motiviert durch das Vorhandensein wichtiger administrativer und wissenschaftlicher Einrichtungen in Venedig und in Triest ¨ sowie durch die Existenz von Handelsabkommen mit Osterreich, die der Frage des Fischfangs in der Adria den Vorrang einr¨ aumen. Volterra leitet also den gesamten Gr¨ undungsprozeß des Komitees f¨ ur Meeresforschung. Ende 1909 gibt er den Vorsitz ab, da sein Dreijahreszeitraum abl¨auft. Nach dem formalen Beschluß zur Gr¨ undung der neuen Einrichtung findet im Januar 1910 in Rom die erste Vollversammlung des Italienischen Komitees f¨ ur Meeresforschung statt. Die Vollversammlung best¨atigt die Mis” sion“, die Forschungsarbeiten in theoretischer und angewandter Biologie zu f¨ordern und gleichzeitig die Ergebnisse in der Fischfangindustrie umzusetzen. Bald sollte sich jedoch der privatwirtschaftliche Charakter des Komitees f¨ ur
5.1 Das Komitee f¨ ur Meereskunde, Reisen in die USA
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Meeresforschung (das momentan ein einfacher Ableger“ der SIPS ist) so” wohl f¨ ur institutionelle als auch f¨ ur finanzielle Fragen als inad¨aquat erweisen. Also bahnt sich die Idee den Weg, die Einrichtung von der SIPS loszul¨osen und in eine staatlich finanzierte nationale Institution umzuwandeln. Ein weiteres Mal l¨aßt es Volterra an Engagement nicht fehlen: Ihm ist es zu verdanken, daß der parlamentarische Weg besonders schnell ist. Mitte Juli 1910 unterzeichnet Viktor Emanuel III. den Erlaß, mit dem offiziell das K¨onig” lich Italienische Komitee f¨ ur Meeresforschung“ (Regio Comitato talassografico italiano) gegr¨ undet wird. Volterra wird einstimmig zum Vizepr¨asidenten des neuen“ Komitees3 gew¨ ahlt, das in Zusammenarbeit mit dem Kriegsministe” rium die Verwandtschaft zwischen Meteorologie und Meeresforschung betont, den Slogan per aria e per mare pr¨ agt und auch einen aerologischen Dienst4 zur Erfassung von Daten gr¨ undet, die f¨ ur die Luftfahrt n¨ utzlich sind. Man darf jedoch nicht glauben, daß sich Volterra durch die h¨auslichen“ ” Pflichten der SIPS und des Komitees f¨ ur Meeresforschung vollst¨andig von seinen Forschungen und internationalen Projekten abhalten l¨aßt. Im akademischen Jahr 1909/10 h¨ alt er in Rom einen Vorlesungszyklus u ¨ber Integralgleichungen und Integrodifferentialgleichungen, die 1913 in Franz¨osisch unter dem Titel Le¸cons sur les ´equations int´egrales et les ´equations integrodiff´erentielles 5 ver¨ offentlicht werden. Ebenfalls im Jahr 1909 nimmt er eine Einladung der amerikanischen Clark University an, die ihm anbietet, anl¨aßlich der Feiern zum zwanzigsten Jahrestag der Universit¨atsgr¨ undung eine Vortragsreihe zu einer mathematisch-physikalischen Thematik zu halten. Bei dieser Gelegenheit erh¨ alt Volterra von der privaten Universit¨at, die der Million¨ar J. G. Clark in Worcester (Massachusetts) gegr¨ undet hatte, eine weitere Ehrendoktorw¨ urde.6 Er nutzt die Gelegenheit, andere St¨adte in den Vereinigten Staaten und in Kanada zu besuchen. Es ist seine erste Reise auf dem amerikanischen Kontinent. Ein Jahr sp¨ ater ist S¨ udamerika an der Reihe. Nach einem kurzen Aufenthalt in Spanien und einem Besuch der Universit¨at Barcelona nimmt Volterra in Buenos Aires als offizieller Vertreter des italienischen Mini¨ steriums f¨ ur Offentlichen Unterricht an den Feiern zum hundertsten Jahrestag der Unabh¨angigkeit Argentiniens teil. Er nimmt auch am Interamerikanischen Wissenschaftskongreß mit zwei Vortr¨ agen u ¨ ber Relativit¨at und Integralgleichungen teil. Anschließend unternimmt er eine lange Exkursion, die ihn in den S¨ uden Argentiniens, nach Patagonien und nach Brasilien bringt. Im Jahr 1911 f¨ahrt er nur nach Genf und h¨ alt auch dort eine Reihe von Vortr¨agen mathematischen-physikalischen Inhalts. 3
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Eine exakte Rekonstruktion der Geschichte und der Aktivit¨ aten des Komitees f¨ ur Meeresforschung findet man in Linguerri [58]. Die Aerologie ist ein Teilgebiet der Meteorologie, das sich mit der Erforschung der physikalischen und chemischen Ph¨ anomene in der Atmosph¨ are befaßt. Volterra [126]. Weitere Bemerkungen zur Clark University und zu den Tendenzen in der amerikanischen Hochschulausbildung in der zweiten H¨ alfte des 19. Jahrhunderts findet man in Dauben-Hunger Parshall [20].
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5 Das ist der Moment, aus einem Luftschiff zu schießen
Danach nimmt er in Bologna an dem von Enriques organisierten vierten Internationalen Philosophiekongreß teil. Volterra, der immer erkl¨art hat, daß er sich in historischen und philosophischen Fragen f¨ ur einen einfachen Amateur h¨alt, wird eingeladen, die Sektion Logik und Wissenschaftstheorie als Chairman zu leiten. F¨ ur die italienische Kultur des 20. Jahrhunderts bleibt der Kongreß von Bologna ein bedeutendes Ereignis, bei dem sich der offizielle Bruch zwischen der wissenschaftlichen Bewegung – und insbesondere Enriques – und dem Neoidealismus von Croce und Gentile vollzieht. In einem Interview, das der neapolitanische Philosoph Croce am Ende des Kongresses dem Giornale d’Italia gibt, z¨ ogert er nicht, Enriques definitiv als Dilettanten abzufertigen, der sich die Anstrengungen der Philosophenkongresse aufb¨ urdet ” – Strapazen, die so lobenswert sind wie meine M¨ uhen lobenswert und uneigenn¨ utzig w¨aren, wenn ich Mathematikerkongresse organisieren w¨ urde“. Ich ” achte Enriques sehr“, f¨ ugt Croce hinzu, und kenne ihn als f¨ahigen Mathema” tiker, f¨ ur den die Philosophie, wenn schon kein Besitztum, so doch zumindest ein Bed¨ urfnis ist. Nur weil er dieses Bed¨ urfnis nicht in der Sache befriedigen kann, befriedigt er es mit dem Wort“. Kehren wir nun zu den internationalen Reisen Volterras zur¨ uck. Im Jahr 1912 weilt er anl¨ aßlich der Hundertjahrfeier der Royal Society in London.7 Er reist auch nach Paris, um dort auf Einladung der Sorbonne eine Vortragsreihe u ¨ber Linienfunktionen zu halten.8 In Paris hat er die Gelegenheit, O. Lovett kennenzulernen, den Pr¨ asidenten des neu gegr¨ undeten Rice Institute in Houston (Texas). Lovett bittet Volterra, sich erneut in die Vereinigten Staaten zu begeben, um an der Er¨ offnungsfeier des Institutes teilzunehmen. Volterra weist seinerseits Lovett auf die besondere Begabung von Griffith C. Evans (1887– 1973) hin. Evans ist ein junger US-Amerikaner, der sich gerade als Stipendiat bei Volterra in Rom aufh¨ alt. Volterra hatte Evans mit großer Herzlichkeit empfangen. Evans verbringt mehrere Sonntage zum Mittagessen bei Familie Volterra in Rom und in Ariccia und wird dort wiederholt u ¨ber die Vereinigten Staaten, deren Wirtschaft und Wissenschaftspolitik verh¨ort“. Evans steht bis ” zum Beginn der 1960er Jahre mit Virginia Volterra in brieflicher Verbindung. In der Zeit nach dem ersten Weltkrieg wird Evans ein gesch¨atzter Analytiker 7
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Zwei Jahre zuvor war Volterra ausw¨ artiges Mitglied der namhaften Gesellschaft geworden und 1911 hatte ihn die amerikanische National Academy of Sciences auf Vorschlag von Hale zum Mitglied ernannt; bereits 1908 war er Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg und der Schwedischen Akademie der Wissenschaften geworden. ¨ Volterra [125]. Hier wird das Prinzip des Ubergangs vom Diskreten zum Stetigen erstmals auf explizitere Weise formuliert: tout ` a fait semblable ` a celui par lequel ” on passe de la somme ` a l’int´egrale et par lequel on arrive aux op´erations plus g´en´erales d’int´egration dont nous avons parl´e. Est-il possible de se borner dans la philosophie naturelle aux fonctions d’un nombre fini de variables? [...] On ne fait ainsi qu’un examen approximatif du ph´enom`ene, mais on entrevoit facilement qu’il y aura des cas, o` u, pour approfondir d’une mani`ere convenable la question, il sera n´ecessaire de passer du nombre fini au nombre infini d’´el´ements variables“.
5.2 Von der Neutralit¨ at zur Intervention
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und Wirtschaftsmathematiker, der nach seinem Weggang nach Berkeley sehr zum Ruf der dortigen Universit¨ at als wichtigem Zentrum der Forschung und Lehre beitr¨agt. Aber dank Volterras Hinweis beginnt Evans’ Karriere zun¨achst am Rice Institute. Volterra nimmt Lovetts Einladung an und begibt sich 1912 auf seine zweite Amerikareise. Außer in Texas h¨ alt er Vortr¨ age an der University of Illinois, an der University of Columbia sowie in Princeton und in Harvard. Volterra zeigt sich besonders von der Vitalit¨ at der nordamerikanischen Gesellschaft und von einem Wirtschaftsmodell beeindruckt, bei dem – dank der direkten Beziehung zwischen den Unternehmensbeauftragten und dem Personal der Einrichtungen – die Umsetzung dessen gelingt, was in Deutschland nur dem Eingreifen des Staates zu verdanken war. Er sieht in der engen Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen und den Ausbildungseinrichtungen die Grundlage f¨ ur die riesigen Wachstumsprozesse, die bereits u ¨ berall in der amerikanischen Gesellschaft anzutreffen sind. Die Schaffung neuer Universit¨aten und wissenschaftlicher Forschungszentren ist die Antwort auf die Nachfrage nach einer Ausbildung, die von der Entwicklung einer technologisch innovativen Industrie gefordert wird. Die Worte, die Volterra in einer seiner offiziellen Reden am Rice Institute ausgesprochen hat, sind sicher nicht nur als H¨oflichkeitsfloskel aufzufassen: Gestatten Sie mir, das Gef¨ uhl der Bewunderung auszu” dr¨ ucken, die ich empfinde, wenn ich dieses neue und große Land besuche: Es ist eine Bewunderung, die seit meiner letzten Ankunft in Amerika nur noch gr¨ oßer geworden ist. Ihre Zivilisation und Ihr Unternehmergeist waren in der Lage, einen ganzen Kontinent zu erobern und aus dem Nichts – wie durch ein Zauberwort – wundersch¨ one St¨ adte zu schaffen wie die, in der wir uns jetzt befinden [Houston]. Diese St¨ adte sind in wenigen Jahren gewachsen und sie sind nicht nur mit dem ganzen modernen Komfort ausgestattet, die das Leben angenehmer machen, sondern haben auch ein hohes Niveau des intellektuellen und spirituellen Lebens erreicht [...]. Von Grund auf und schnell haben Sie Einrichtungen und Universit¨ aten aufgebaut, an denen alles so organisiert ist, ¨ daß es den Anforderungen der Gegenwart entspricht, ohne durch Uberreste der Vergangenheit belastet zu werden“.
5.2 Von der Neutralit¨ at zur Intervention Mit der Amerikareise an das Rice Institute sind wir in den Jahren angekommen, die unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs liegen. Volterra vertritt in dieser Zeit entschieden interventionistische Positionen. Es muß jedoch auch gleich gesagt werden, daß Volterra kein Kriegstreiber ist. Im Gegenteil: Er f¨ urchtet die Gefahr eines europ¨aischen Krieges bereits in den Jahren 1911–1912, als Italien Libyen erobert und die von den Russen unterst¨ utzten serbischen Nationalisten auf dem Balkan auf Mobilmachung gegen ¨ die T¨ urken und Osterreicher dr¨ angen.9 Privat verbirgt Volterra seine Gef¨ uhle 9
Vgl. Volterras Brief vom 17. Okt. 1912 an seine Frau (zitiert in Goodstein [33]).
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5 Das ist der Moment, aus einem Luftschiff zu schießen
nicht und mißbilligt entschieden das Kolonialabenteuer in Libyen. Er f¨ urchtet, daß sich dieser Kolonialkrieg destabilisierend auf Europa und den Balkan auswirkt. Damit bezieht Volterra eine Position, die sich nicht nur von der Mehrheit der ¨offentlichen Meinung in Italien unterscheidet10 , sondern auch von der Meinung ihm nahestehender Personen wie seines Cousins Roberto Almagi`a (Onkel Alfonsos Sohn und Universit¨ atsprofessor f¨ ur Geographie) und seines Kollegen Orso Mario Corbino, der eine bedeutende Rolle in der Geschichte der italienischen Physik der ersten H¨alfte des Jahrhunderts spielt und f¨ ur dessen Berufung im Jahre 1908 nach Rom sich Volterra zusammen mit Blaserna eingesetzt hatte. Die Beurteilung der politischen Physiognomie derjenigen, die das Libyenunternehmen unterst¨ utzen, ist Volterra nicht fremd. Zu diesen geh¨oren in erster Linie die Vertreter der Wirtschaftsinteressen der Banco di Roma als Hauptvertreter der katholischen Finanz. Das entscheidende Element f¨ ur Volterras Standpunkt ist jedoch die Ber¨ ucksichtigung der internationalen ¨offentlichen Meinung. Volterra leidet unter der geringen Wertsch¨atzung, die Italien im Ausland, insbesondere in den Vereinigten Staaten, genießt, und er urteilt, daß die Invasion Libyens – die allgemein f¨ ur eine ungerechtfertigte Aggression gegen ein wehrloses Land gehalten wird – weiter zu dem Mißkredit beitr¨agt, den sich Italien in großen Bereichen der ¨ offentlichen Meinung anderer L¨ander zugezogen hat. Gerade dieser ver¨ anderte internationale Kontext erkl¨art die neue Einstellung, die Volterra zu Beginn des Weltkriegs hat. Am 28. Juni 1914 t¨ otet der junge serbische Nationalist Gavrilo Princip in ¨ Sarajevo Erzherzog Franz Ferdinand, den Thronfolger von Osterreich-Ungarn, und dessen Frau Sophie. Innerhalb weniger Wochen steht Europa in Flammen und Italien ist gespalten in die Bef¨ urworter der Neutralit¨at einerseits und andererseits in die Gruppe derjenigen, die in dem europ¨aischen Konflikt die Gelegenheit sehen, den Prozeß des Risorgimento zu vollenden und die Gebiete von Trient (Trento) und Triest (Trieste) zu erwerben. F¨ ur wen soll man in diesem Fall Partei ergreifen? Traditionell herrscht ein anti¨osterreichisches Gef¨ uhl vor, das seinen Ursprung im Risorgimento hat; andererseits bestehen Ver¨ pflichtungen im Rahmen des Dreibundes, den Italien 1882 mit Osterreich und Deutschland geschlossen hatte und der dann von Jahrzehnt zu Jahrzehnt bis 1912 verl¨angert wurde. Im August 1914 erkl¨ art sich Italien f¨ ur neutral gem¨aß Artikel 3 des Koalitionsvertrages (weil der casus foederis nicht eintritt) – mit einer Erkl¨arung, die alles in allem von den Mittelm¨achten akzeptiert wird, denen die Richtungen der italienischen ¨ offentlichen Meinung wohlbekannt sind. Inzwischen u ¨ ben beide Seiten Druck auf Italien aus. Die M¨achte der Entente – vor allem Frankreich – dr¨ angen Italien, an ihrer Flanke eine neue Front zu 10
Vgl. Ragionieri [74]. Die Wechselb¨ urgschaft, die den italienischen Bestrebungen von den Großm¨ achten gew¨ ahrt wurde, die Furcht vor einer Besch¨ adigung der italienischen Kolonialinteressen nach dem franz¨ osisch-deutschen Abkommen im Gefolge der zweiten Marokkokrise und Giolittis Bem¨ uhen um das Einverst¨ andnis der katholischen Kirche mobilisieren die ¨ offentliche Meinung zugunsten der Initiative.
5.2 Von der Neutralit¨ at zur Intervention
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er¨ offnen, an der man die feindliche Aufstellung binden kann. Die Mittelm¨achte bem¨ uhen sich ihrerseits, denjenigen, die f¨ ur die Neutralit¨at sind, ebenso viele gute Argumente zu liefern. Volterra spricht sich sofort gegen den Standpunkt der Neutralit¨at aus. Er weist deutlich auf einen gerechten“ Krieg und auf ein B¨ undnis mit der En” tente hin. Sicher hat bei seinem Interventionismus das Erbe des Risorgimento Gewicht: Sein privates und berufliches Leben f¨allt mit dem des K¨onigreichs Italien zusammen, das 1911 mit Genugtuung seinen f¨ unfzigsten Jahrestag gefeiert hatte. Mit diesem K¨ onigreich identifiziert sich Volterra. Er f¨ uhlt sich als integrierender und maßgeblicher Bestandteil der F¨ uhrungsschicht des K¨onigreichs. Hinzu kommt, daß er – im Einklang mit den eigenen Familienerinnerungen als nichtreligi¨ oser und assimilierter Jude – der Monarchie und dem Staat, der aus dem Risorgimento und aus dem Sturz der weltlichen Macht der P¨apste hervorgeht, das Verdienst der Emanzipation der eigenen Gemeinde zuschreibt. Entscheidend f¨ ur seine Orientierungen ist jedenfalls, wie schon gesagt, die Wahl der Verb¨ undeten auf dem internationalen Kriegsschauplatz. Volterra f¨ uhlt sich den M¨ achten der Entente und insbesondere Frankreich, dem Dreh- und Angelpunkt seiner wissenschaftlichen Beziehungen, sehr verbunden. Die franz¨ osischen Wissenschaftler sind seine besten Kollegen und es sind die franz¨osischsprachigen Verlage, die seine Ergebnisse und seine Ideen außerhalb Italiens verbreiten. Im September 1914, als Frankreich bereits im Krieg steht, dr¨ uckt Volterra seinem Kollegen Gaston Darboux die Solidarit¨at mit der lateinischen Schwester“ aus und z¨ ogert dabei nicht, besonders dra” stische Ausdr¨ ucke zu verwenden. Hinsichtlich des Verhaltens der Deutschen im Krieg spricht er von einem abscheulichen Verbrechen“ und von barba” ” rischen Aktionen“: Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß meine Gedanken ” mit der tiefsten Zuneigung bei Ihnen sind, bei den Lehrern, bei den Kollegen und bei den Freunden, die ich in Frankreich habe. Ihr edle und große Nation k¨ampft f¨ ur die Sache der Gerechtigkeit und der Zivilisation. Alle meine W¨ unsche sind f¨ ur den Erfolg und den Triumph Frankreichs. Die Tat, mit der die beiden Kaiser den Krieg entfesselt und die Zerst¨orung Europas ausgel¨ost haben, wird von mir und von der Mehrheit meiner Landsleute als abscheuliches Verbrechen angesehen. Die unz¨ ahligen barbarischen Aktionen, die von den Deutschen w¨ahrend des Krieges durchgef¨ uhrt wurden, haben die Abscheu und die Emp¨orung der ersten Zeit nur noch gr¨oßer gemacht. Meiner Meinung nach muß Italien seinen Platz an der Seite Frankreichs, seiner lateinischen ¨ Schwester, und an der Seite von Frankreichs Verb¨ undeten gegen Osterreich und Deutschland einnehmen. Das ist Italiens Rolle und seine Mission. Italien darf es daran nicht fehlen lassen. Ich hoffe von ganzem Herzen, daß es so kommen wird“. Die Korrespondenz zwischen Volterra und Darboux ist keine isolierte Erscheinung. Die Intellektuellen der am Konflikt beteiligten L¨andern nehmen aktiv an einer Debatte teil, die sich als besonders schwierig erweist und h¨aufig fr¨ uheren Solidarit¨ atserkl¨ arungen ein Ende setzt. Das Eingreifen dieser Intellektuellen wird von der Politik gef¨ ordert, um die ¨offentliche Meinung in die
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eine oder andere Richtung zu lenken. Zu einer entschiedenen Intensivierung der Diskussionen u ¨ ber den Pazifismus und den Internationalismus der Wissenschaftler und u ¨ber deren Pflicht, an den Schicksalen der jeweiligen Vaterl¨ander Anteil zu nehmen, kommt es in den Herbstmonaten des Jahres 1914, als der Aufruf An die Kulturwelt! verbreitet wird, den 93 Vertreter der deutschen Kultur unterzeichnet hatten. Volterra erh¨ alt diesen Aufruf von dem deutschen Mathematiker Otto Staude.11 Das Dokument verteidigt mit Nachdruck das patriotische Engagement und die Gr¨ unde Deutschlands gegen das, was als Verdrehung“ der westlichen Propaganda erkl¨ art wird.12 Zu den Unterzeich” nern geh¨ort Felix Klein, zu dem Volterra ein besonders herzliches Verh¨altnis hatte. Unter dem Aufruf stehen auch die Namen von sieben Nobelpreistr¨agern f¨ ur Chemie und Physik! Wir sehen unter dem Aufruf die Unterschriften von Wissenschaftlern wie Haeckel, Ostwald, Planck, R¨ontgen und Wassermann sowie von Humanisten wie Dils, Morf, Wilamowitz, Wildebrand und Wundt. Wir k¨onnen uns Volterras Reaktion leicht vorstellen. Wie kann man nur versuchen, die Verletzung der Neutralit¨ at Belgiens und die Vergeltungsmaßnahmen der deutschen Truppen gegen die Zivilbev¨ olkerung dieses Landes zu legitimieren? Außerdem findet er die rassistischen T¨one inakzeptabel, auf die der Aufruf zur¨ uckgreift, wenn dort zum Beispiel erkl¨art wird: Sich als Verteidi” ger europ¨aischer Zivilisation zu geb¨ arden, haben die am wenigsten das Recht, 11
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Otto Staude (1857–1928) arbeitete haupts¨ achlich zur Theorie der Fl¨ achen 2. Ordnung. Er entdeckte 1882 die Fadenkonstruktion des Ellipsoids. An die Kulturwelt! Ein Aufruf: Wir als Vertreter deutscher Wissenschaft und ” Kunst erheben vor der ganzen Kulturwelt Protest gegen die L¨ ugen [...] Es ist nicht wahr, dass Deutschland diesen Krieg verschuldet hat ... Es ist nicht wahr, dass wir freventlich die Neutralit¨ at Belgiens verletzt haben. Nachweislich waren Frankreich und England zu ihrer Verletzung entschlossen. Selbstvernichtung w¨ are es gewesen, ihnen nicht zuvorzukommen [...] Es ist nicht wahr, dass unsere Truppen brutal gegen L¨ owen [die belgische Stadt] gew¨ utet haben. An einer rasenden Einwohnerschaft [...] haben sie durch Beschiessung eines Teils der Stadt schweren Herzens Vergeltung u ussen [...] Mit Selbstaufopferung haben es [das Rat¨ben m¨ haus von L¨ owen] unsere Soldaten vor den Flammen bewahrt. Sollten in diesem furchtbaren Kriege Kunstwerke zerst¨ ort worden sein oder noch zerst¨ ort werden, so w¨ urde es jeder Deutsche beklagen. Aber so wenig wie wir uns in der Liebe zur Kunst von irgend jemand u ¨ bertreffen lassen, so entschieden lehnen wir es ab, die Erhaltung eines Kunstwerks mit einer deutschen Niederlage zu erkaufen. Es ist nicht wahr, dass unsere Kriegf¨ uhrung die Gesetze des V¨ olkerrechts missachtet [...] Sich als Verteidiger europ¨ aischer Zivilisation zu geb¨ arden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verb¨ unden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weisse Rasse zu hetzen. Es ist nicht wahr, dass der Kampf gegen unseren sogenannten Militarismus kein Kampf gegen unsere Kultur ist [...] Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins [...] Glaubt uns! Glaubt uns, dass wir diesen Kampf zu Ende k¨ ampfen werden als ein Kulturvolk, dem das Verm¨ achtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle. Daf¨ ur stehen wir“. (93 Unterzeichner – Berlin, 4. Oktober 1914).
5.2 Von der Neutralit¨ at zur Intervention
109
die sich mit Russen und Serben verb¨ unden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weisse Rasse zu hetzen“. Der Aufruf der deutschen Wissenschaftler bricht de facto mit der Tradition des wissenschaftlichen Internationalismus und der Solidarit¨at innerhalb der Wissenschaftsgemeinde und f¨ uhrt zu einer analogen entgegengesetzen Mobilisierung in den L¨andern der Entente. Mitte Oktober erh¨alt Volterra von Emile Borel die Bitte um italienisches Material zur Ver¨offentlichung in der Zeitschrift Revue du mois mit dem Ziel, das franz¨ osische Publikum u ¨ber negative Reaktionen der italienischen ¨ offentlichen Meinung zu informieren. Volterra bekr¨aftigt mit seiner Antwort seine volle Zustimmung zur Sache der Entente: Aus dem Abstand von einem Monat kann ich nur das best¨atigen, was ich ” Ihnen damals geschrieben habe, das heißt, meine guten W¨ unsche f¨ ur den Erfolg Frankreichs, meine allergr¨ oßte Sympathie f¨ ur Ihr edles Land, das f¨ ur die Gerechtigkeit, die Freiheit und f¨ ur die Zivilisation sowie gegen die Gewalt des brutalsten und abscheulichsten Imperialismus k¨ampft. Ich sage Ihnen, daß die Rolle Italiens meiner Meinung nach darin besteht, sich dem Dreibund anzuschließen. Ich kann heute hinzuf¨ ugen, daß das Vertrauen in diesen Bund nur noch weiter gewachsen ist, weil bei uns die Sympathie f¨ ur Frankreich, England ¨ und Rußland gr¨oßer geworden ist. Andererseits hat sich die Uberzeugung weiter gefestigt, daß alle unsere moralischen und politischen Interessen den dies¨ bez¨ uglichen Interessen Osterreichs und Deutschlands entgegengerichtet sind [...] Sie haben allen Grund, sich des Erfolges der Sache Frankreichs und der ¨ Verb¨ undeten sicher zu sein. Die ganze zivilisierte Welt ist gegen Osterreich und Deutschland. Ich geh¨ ore zu denjenigen bei uns, die am ungeduldigsten sind, die Neutralit¨at fallen zu lassen, aber ich zweifle nicht, daß sogar diejenigen, die weniger ungeduldig sind, nicht umhin k¨ onnen, die gleichen Hoffnungen und die gleichen Sehns¨ uchte zu haben wie ich. Mein Wunsch heute ist derselbe, wie ich ihn seit Beginn des Krieges habe. Italien, Frankreich und seine Verb¨ undeten m¨ ussen vereint gegen einen Feind stehen, der das Verbrechen begangen hat, den Krieg zu entfesseln und der Europa unterwerfen will“. Auch in Italien hat unter antideutschem Aspekt eine ausdauernde organisatorische Arbeit f¨ ur die Schaffung oder Neubelebung diverser Vereinigungen von Intellektuellen begonnen. Der Wirtschaftswissenschaftler Antonio De Viti De Marco13 – in den vergangenen Jahren ein unerm¨ udlicher Gegner der Politik und der gesellschaftlichen Trends unter Giolitti sowie Volterras Kollege in der Accademia dei Lincei – bittet Volterra im Monat Dezember um Unterst¨ utzung eines Aufrufs, mit dem er beabsichtigt, sich an die Intellektuellen aller L¨ander der Entente zu wenden. Volterra, der an die Vereinigten Staaten (die noch nicht in den Krieg eingetreten sind) und an andere neutrale L¨ander denkt, reagiert positiv, hofft aber, daß die Empf¨angerliste des Aufrufs weiter vergr¨oßert wird. Er schl¨ agt auch vor, daß die Initiative ihren Ausgang nimmt von den Ver¨ offentlichungen der englischen Wissenschaftler und der ” franz¨osischen Fakult¨ aten gegen den Brief der deutschen Intellektuellen, den 13
¨ Antonio De Viti De Marco (1858-–1943), italienischer Okonom und Politiker.
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ich mißbillige. Ich meine, daß sich viele Kollegen gerne diesem Standpunkt anschließen w¨ urden“. Zur gleichen Zeit schreibt er dem Sekret¨ar der Royal Society, um zu versuchen, der intellektuellen Mobilisierung eine organisatorische Grundlage zu geben. Im Folgenden geben wir die Stelle eines Briefes an den Physiker Joseph Larmor14 wieder: Daß der Krieg von einer von Deutsch” ¨ land und von Osterreich gewollten und vorbereiteten Aggression herr¨ uhrt, das zeigen alle erschienenen Dokumente. Ich freue mich, daß diese Meinung von der u ¨berwiegenden Mehrheit meiner Landsleute geteilt wird, und ich zweifle nicht, daß sie als Norm f¨ ur das Verhalten Italiens dienen werden, von dessen Intervention ich mir betr¨ achtliche Konsequenzen erhoffe. Ich freue mich sehr, das Jahr 1915 mit dem Gel¨ ubde zu er¨ offnen, daß die Bindungen zwischen unseren beiden L¨andern immer enger werden m¨ogen“. Man kann Volterras Patriotismus nur im Rahmen der Stimmung verstehen, die in Italien herrscht. Doch selbst in diesem Zusammenhang erweist es sich als problematisch, die Intensit¨ at der ideellen Mobilmachung wiedererstehen zu lassen. Daf¨ ur sei hier – zur Dokumentation der Entscheidungen und der auch emotionalen Spannungen jener Monate – folgende Stelle aus einem Brief zitiert, den Volterra im Mai 1916, kurz nach dem Kriegseintritt Italiens, an seine Frau Virginia schreibt: Wie schade, daß unsere Kinder noch nicht groß ” genug sind – Edoardo, der gr¨ oßte, war erst 12 Jahre alt – um in den Krieg zu 15 ziehen!“. Nicht alle teilen wirklich Volterras Interventionismus. Die italienischen Intellektuellen haben keine einhellige Meinung, wie der Mathematiker seinen ausl¨andischen Briefpartnern zu verstehen gibt, und einflußreiche Pers¨onlichkeiten (innerhalb und außerhalb der Wissenschaftsgemeinde) wie Tullio LeviCivita und Benedetto Croce beziehen Stellung gegen den Krieg.16 Vorsicht und Ratlosigkeit werden sogar noch nach dem Kriegseintritt deutlich. Am Ende einer Pr¨asidiumssitzung der SIPS im Hause Stringher, im September 1915, schreibt Castelnuovo folgende Zeilen an seinen Freund Volterra: Wir haben auch den Vorschlag Reinas diskutiert, einen teilweisen oder ” umfassenden Kongreß zu veranstalten oder zumindest eine Verwaltungssitzung der Gesellschaft einzuberufen. Nach Abw¨agung der Vorteile und der Nachteile mußten wir jedoch erkennen (Stringher noch mehr als wir beide), daß diese gr¨oßer sind als jene. [...] Jede Versammlungsform w¨ urde in einem Moment wie diesem zu Themen f¨ uhren, die keinen rein wissenschaftlichen Charakter mehr h¨ atten, sondern sich zwangsl¨aufig in den Bereich der Politik einmischen w¨ urden; daher besteht die M¨ oglichkeit erbitterter Diskussio14
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Joseph Larmor (1857–1942), irischer Physiker und Mathematiker. Er wurde 1892 Fellow of the Royal Society, 1911 ausw¨ artiges Mitglied der Accademia Nazionale dei Lincei. Larmor hielt 1912 einen Hauptvortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongreß in Cambridge ( On the dynamics of radiation“) und ebenso ” 1920 in Straßburg ( Questions in physical indetermination“). ” Der Briefauszug ist nach Goodstein [33] zitiert. In Bezug auf die Haltung insbesondere der italienischen Mathematiker zum Krieg verweisen wir auf Gueraggio-Nastasi [42].
5.2 Von der Neutralit¨ at zur Intervention
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nen und unangenehmer Abstimmungen [...]. Das Klima ist auch unter den Wissenschaftlern nicht so unbeschwert und einm¨ utig, wie es w¨ unschenswert w¨ are. Jeder Funken kann einen Brand entz¨ unden. Und es ist gut, daß es in den offiziellen Materialien der Gesellschaft keinerlei Spuren von Meinungsverschiedenheiten gibt. Deswegen waren wir uns darin einig, daß es g¨ unstig ist, Gesellschaftsversammlungen auf bessere Zeiten zu verschieben“. Im Herbst und Winter des Jahres 1914 ist die Regierung noch unentschlossen, was zu tun sei und f¨ uhrt auch weiterhin Geheimverhandlungen sowohl mit den Mittelm¨achten als auch mit der Entente, um sich f¨ ur die Nachkriegszeit die besten Gebietskompensationen zu sichern.17 Der Interventionismus vieler Intellektueller wie Volterra muß also mit der Besonnenheit der Neutralisten, dem Pazifismus der Sozialisten und der Vorsicht selbst der Regierung rechnen. Dar¨ uber hinaus bildet der Interventionismus keine einheitliche Front, sondern ¨ beinhaltet auch Positionen, die dazu neigen, Osterreich von Deutschland zu unterscheiden – was bei Volterra, Castelnuovo und Somigliana nicht der Fall ist –, weil die Organisation des kulturellen und industriellen Systems Deutschlands auch weiterhin große Bewunderung hervorruft. Es u ¨berrascht nicht, daß ¨ Italien, als es im Mai 1915 in den Krieg eintrat, diesen zun¨achst gegen Osterreich f¨ uhrt und gegen¨ uber Deutschland noch lange Zeit nicht kriegf¨ uhrend“ ” bleibt. F¨ ur Volterra sind politische Erfahrungen nicht neu. In den vorhergehenden Kapiteln haben wir bereits u ¨ ber seine ersten Schritte in der italienischen akademischen Politik“ unter Roitis Anleitung berichtet, w¨ahrend in Bezug ” auf internationale Beziehungen Mittag-Leffler die Leitfigur Volterras war. Volterras politischer Horizont erweiterte sich, als er nach Rom ging, dort von der Giolitti-Technokratie kooptiert wurde und in Bonaldo Stringher einen neuen politischen Mentor fand. Volterras jugendlicher Konservatismus hatte sich zum Zentrum hin“ orientiert und folgte Giolittis – je nach Sichtweise rea” ¨ len oder scheuen und widerspr¨ uchlichen – Offnungsbestrebungen gegen¨ uber den Sozialisten und den arbeitenden Massen. 1905 wurde Volterra zum Senator ernannt. Die Breite der Vision von der Beziehung zwischen Wissenschaft und ¨okonomisch-sozialer Entwicklung war in Volterras Er¨ offnungsvorlesung von 1901 (vgl. Abschnitt 4.2) und in der nachfolgenden Gr¨ undung der SIPS deutlich zum Ausdruck gekommen. Mit dem Krieg bekommt die politische Erfahrung eine neue Dimension: die Militanz. Der Interventionismus braucht die Beteiligung des Marktes und eine demagogische Rhetorik, die f¨ ur den nunmehr f¨ unfzigj¨ahrigen Volterra etwas Neues sind. Er l¨ aßt sich jedoch ohne Bedenken einbeziehen, wie aus den Briefen hervorgeht, die er in den ersten Maitagen des Jahres 1915 an seine Frau schreibt – zu der Zeit also, als die Feierlichkeiten zum Jahrestag des Aufbruchs von Garibaldis Zug der Tausend“ 18 aus Quar” 17 18
Vgl. auch H¨ urter-Rusconi [46]. Anfang Mai 1860 f¨ uhrte Giuseppe Garibaldi (1807–1882) die legend¨ are spedizio” ne dei Mille“ ( Zug der Tausend“) von Genua-Quarto nach Sizilien. Er ging in ” Marsala an Land, wo sein Siegeszug gegen die Bourbonen begann. Bis Oktober
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to zu den von Gabriele D’Annunzio gepriesenen strahlenden Tagen“ wurden, ” an denen auch Volterra teilnimmt.19 Inzwischen hat die italienische Regierung begriffen, daß die Mittelm¨achte im Falle eines Sieges nicht die Absicht haben, einem neutralen Italien Territorialkompensationen zu garantieren. Daher schließt Italien an der anderen Front mit England und Frankreich das Geheimabkommen von London. Diese Vorgehensweise, die Gegenstand von vielen und berechtigten Kritiken der postfaschistischen Geschichtsschreibung war, entspricht einem Gef¨ uhl, das damals im italienischen Interventionismus sehr verbreitet war. Dieses Gef¨ uhl kommt deutlich in einem Brief zum Ausdruck, den der Florentiner Physiker Antonio Garbasso (1871–1933) im November 1914 an Volterra schrieb: Die ” sentimentale Seite der Treue zur Allianz ber¨ uhrt mich nicht, wenn die Interessen des Vaterlandes auf dem Spiel stehen, und sie d¨ urfte auch Seine Majest¨at nicht ber¨ uhren, die die Geschichte seines Hauses kennt. Gerade wegen mangelnden Glaubens an die geschworenen Pakte hat Viktor Amadeus II. f¨ ur sich die K¨onigskrone gewonnen. [...] Aber ich habe schreckliche Angst, daß der Abgeordnete Salandra20 und der Abgeordnete Sonnino21 bis zum Ende rechtschaffen sein wollen. Armes Italien“. Garbassos Bef¨ urchtungen erweisen sich als unbegr¨ undet: Am 3. Mai 1915 k¨ undigt Rom offiziell seine Mitgliedschaft ¨ im Dreibund auf und klagt Osterreich der Verletzung der Vereinbarungen an. Wenig sp¨ater liefern die strahlenden Tage“ den ¨offentlichen Anstoß f¨ ur eine ” Intervention, die bereits als sicher gilt, bevor die erste Parlamentssitzung zur Sanktionierung der Entscheidung stattfindet. Am 19. Mai schreibt Somigliana an Volterra und schließt seinen Brief unter Bezugnahme auf die große Par” lamentssitzung“ des folgenden Tages mit den Zeilen Wir sind also im Krieg; ” ¨ es lebe Italien!“. Am 24. Mai 1915 erkl¨ art Italien Osterreich tats¨achlich den Krieg.
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befreite er die Insel und das gesamte s¨ uditalienische Festland von der Bourbonenherrschaft und bereitete damit ihre Angliederung an den gerade entstehenden italienischen Nationalstaat vor. Gabriele D’Annunzio (1863–1938), italienischer Schriftsteller des Fin de Si`ecle, wird als Abgeordneter der Konservativen im italienischen Parlament politisch aktiv. Als Redner begeistert er in Rom die Massen f¨ ur den Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg. Er tritt freiwillig als Unterleutnant in die Armee ein und erh¨ alt kurz darauf ein Kommando. Am 3. Mai 1915 tritt Italien aus dem Dreibund aus. In den nachfolgenden Tagen k¨ ampfen Giolitti und das u ¨berwiegend aus Neutralisten bestehende Parlament die letzte Schlacht, um Italien vor dem Krieg zu bewahren, w¨ ahrend die Nationalisten auf der Straße f¨ ur den Kriegseintritt demonstrieren (das sind laut Definition von Gabriele D’Annunzio die strahlenden ” Tage des Mai“). Antonio Salandra (1853–1931), italienischer Politiker. Sidney Sonnino (1847–1922), italienischer Politiker und Staatsmann.
5.3 Das Ufficio invenzioni e ricerche
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5.3 Das Ufficio invenzioni e ricerche Genau einen Tag nach der Kriegserkl¨ arung erneuert Volterra gegen¨ uber dem Kriegsministerium seinen bereits im vergangenen April gestellten Antrag, in ” den technischen Diensten oder Labors oder in anderen Diensten beliebiger Art und Form rekrutiert zu werden“. Gleichzeitig akzeptiert er, in der Liste von Personen mit technischer Kompetenz“ registriert zu werden; eine derartige ” Liste ist gem¨aß einer Verordnung vom 29. April vorgesehen. Seine freiwillige Meldung zum Milit¨ ar wird innerhalb von zwei Monaten genehmigt: W¨ahrend Volterra die T¨atigkeit an der Propagandafront fortsetzt, wird er im Juli zum Oberleutnant auf Zeit ernannt und dem Istituto Centrale Aeronautico zugeteilt, wo er Major Gaetano Arturo Crocco unterstellt ist.22 Volterra interessierte sich seit 1905 f¨ ur die Luftfahrt und Crocco war seit 1906 in Kontakt mit ihm; damals hatte Crocco angefangen, bei der Luftfahrtstation (Stazione aerologica) in Vigna di Valle als Planer von Tragfl¨ ugelbooten und Luftschiffen zu arbeiten. Jetzt ist das Istituto Centrale Aeronautico die wichtigste Einrichtung im Bereich der angewandten milit¨arischen Forschung und beh¨alt seine Bedeutung bis zur Gr¨ undung des Centro Ricerche di Guidonia (Forschungszentrum Guidonia bei Rom)23 im Jahr 1935. Nachdem Crocco – ein echter Pionier der italienischen Luftfahrt und nach dem Ersten Weltkrieg Dozent f¨ ur Luftfahrttechnik an der Universit¨ at Rom – das Istituto Centrale Aeronautico 1908 gegr¨ undet und dessen Leitung u ¨bernommen hatte, entwarf er ein Forschungsprogramm zur Wirkung von Wind auf die Bewegung von Luftschiffen und Flugzeugen und zur Berechnung der Bahnen von Geschossen, die von Flugzeugen abgefeuert werden. Er kann es kaum glauben, die Untersuchungen u ¨ber Luftfahrtartillerie (die damals ganz neuartig waren) jetzt einem Mathematiker wie Oberleutnant Volterra anvertrauen zu k¨ onnen. Es handelt sich um die Berechnung der Schußtafeln f¨ ur 65-mm-Kanonen, die Crocco zur Bewaffnung von Luftschiffen zu verwenden beabsichtigt24 , und zwar trotz der vorherrschenden Meinung, daß ein Luftschiff beim Schießen in Brand ger¨ at. Volterra widmet sich der Sache mehr als ein Jahr und hat vollen Erfolg mit seiner klassischen Herangehensweise als mathematischer Physiker. In einer Arbeit, die 1916 in den Rendiconti 22
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Gaetano Arturo Crocco (1877–1968), italienischer Flug- und Raketenpionier. Nach 1900 begann sich Crocco f¨ ur die Fliegerei zu interessieren. Bis 1905 verfaßte er zw¨ olf wissenschaftliche Arbeiten u ¨ ber Aerodynamik. Mit dem Pionieroffizier und Konstrukteur Ottavio Ricaldoni (1877–1965) baute er 1907 ein Luftschiff, das im folgenden Jahr erstmals u ¨ ber dem Bracciano-See und dann u ¨ ber Rom flog. Es folgten mehr als 30 Luftschiffe, von denen ein Großteil im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurde. W¨ ahrend des Krieges entwickelte er spezielle Z¨ under f¨ ur Artilleriegranaten sowie Flugabwehrkanonen und zusammen mit Alessandro Guidoni (1880–1928) eine erste kreiselinstrumentgesteuerte Bombe. Das Forschungszentrum Guidonia wurde nach Alessandro Guidoni benannt, der 1928 bei einem Fallschirmabsprung ums Leben kam. Vgl. Linguerri [58].
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dell’Istituto centrale aeronautico unter dem Titel Metodi di calcolo degli ele” menti di tiro per artiglieria aeronautica“ 25 ver¨offentlicht wird, formuliert er zuerst die Differentialgleichungen f¨ ur das allgemeine Problem und l¨ost diese; anschließend geht er zur Darstellung der L¨ osungen f¨ ur die effektive Konstruktion der Bahnen u ¨ber. Die Untersuchung wird erg¨anzt durch die Berechnung der Schußtafeln unter Angabe der Korrekturen, die vorzunehmen sind, wenn sich die Geschwindigkeit des Luftschiffs ¨ andert. Volterra und Crocco pr¨ ufen die Korrektheit der Berechnungen pers¨ onlich, indem sie in die Gondel des ersten Luftschiffs steigen, von dem aus am 6. Juni 1916 beim Florentiner Luftschiffhafen Campi Bisenzio ein Kanonenschuß abgefeuert wird. Volterra setzt seine Arbeit mit den Luftschiffen u ¨ ber das ganze Jahr 1916 fort, unter pers¨onlichen Risiken, die ihm die Bef¨orderung zum Hauptmann und das Verdienstkreuz26 einbringen.27 Er schl¨agt unter anderem vor, f¨ ur die Luftschiffe Helium anstelle von Wasserstoff als Traggas zu verwenden, um die Brandgefahr zu vermeiden. Die Idee wird erst sp¨ater und in anderen Zusammenh¨angen ausgef¨ uhrt, aber das Verdienst f¨ ur die Propagierung dieser Idee geb¨ uhrt Volterra. Ebenfalls auf dem Gebiet der Ballistik interessiert er sich f¨ ur die Arbeit des jungen sizilianischen Mathematikers Mauro Picone (1885–1977) zur Neuberechnung der Schußtafeln unter den Bedingungen eines Bergkrieges. Picone hat in der Nachkriegszeit im Rahmen des CNR28 das Istituto nazionale per le applicazioni del calcolo gegr¨ undet und lange Zeit geleitet.29 Mit einer im Grunde genommen von Volterra stammenden Idee h¨angt auch die Entwicklung des meteorologischen Dienstes zusammen: Als wir vom Comitato talassografico (Komitee f¨ ur Meereskunde) gesprochen haben, hatten wir bereits die Gr¨ undung eines Dienstes zur Nutzung der meteorologischen Daten f¨ ur die Anforderungen der Luftfahrt erw¨ ahnt. Mit Herannahen des Krieges wird der Dienst von Rom nach Padua verlegt, wo er dem Oberkommando direkt unterstellt ist. Man gr¨ undet die Abteilung f¨ ur Wettervorhersage des Ufficio servizi aeronautici (Amt f¨ ur Luftfahrtdienste), dessen Aufgabe darin besteht, den Luftfahrtgeschwadern die Wetterbedingungen in denjenigen Gebieten mitzuteilen, in denen die Angriffe geplant sind. Mit dieser Abteilung beginnt die Geschichte des Zentrums, aus dem sich der heutige meteorologische Dienst der Luftfahrt entwickelt hat. W¨ahrend Volterra mit diesen milit¨ arischen T¨atigkeiten besch¨aftigt ist, stirbt am 4. M¨arz 1916 seine Mutter. Der Schmerz des Verlustes verst¨arkt sich durch den besonderen Platz, den Mutter Angelica an Vitos Seite einnahm. Seine Erinnerung geht mit Sicherheit an die abverlangten Opfer zur¨ uck, 25 26
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Volterra [128]. Croce di guerra: italienisches Verdienstkreuz f¨ ur die Veteranen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs. Noch 1920 ver¨ offentlicht er eine Arbeit zur Bestimmung der Geschwindigkeit von Luftschiffen (Volterra [131]). CNR: Consiglio Nazionale delle Ricerche (Nationaler Forschungsrat), vgl. Kapitel 6 und insbesondere Abschnitt 6.2. Vgl. Guerraggio-Nastasi [42].
5.3 Das Ufficio invenzioni e ricerche
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als Mutter und Sohn pl¨ otzlich ohne jede finanzielle Unterst¨ utzung dastanden und nur in Florenz, im Haus von Onkel Alfonso gastfreundlich aufgenommen wurden. Und er erinnert sich, mit welcher F¨ ursorge die Mutter die erste Ausbildung des Sohnes begleitet hatte. Er erinnert sich auch an die Jahre, die sie beide zusammen in Pisa und in Turin verbracht hatten, und an die St¨ utze, die sie ihrem ambitionierten Sohn Vito auch vor kurzem noch war. Auf das Ableben der Mutter spielt auch ein vom Mai 1916 datierter Brief an Mittag-Leffler an, der andererseits auch das allseitige Engagement Volterras f¨ ur das Vaterland und f¨ ur die Anforderungen der Front best¨atigt. Es ist jetzt nicht die Zeit, um zu reisen, nicht einmal zu wissenschaftlichen Zwecken: Sie haben mir gegen¨ uber einen Mathematikerkongreß in Schweden in diesem ” Jahr erw¨ahnt und von einer Reise in die Schweiz w¨ahrend des Fr¨ uhjahrs gesprochen. Ich sehe, daß Sie keine Vorstellungen vom Seelenzustand in Italien haben. Das ist jetzt nicht die Zeit zu reisen. Alle unsere Gedanken drehen sich um den Krieg, den wir mit dem allergr¨ oßten Enthusiasmus an der Seite unserer Verb¨ undeten f¨ uhren, und wir denken nur daran, dem Augenblick des endg¨ ultigen Sieges u aher zu kommen. Wir sind uns des ¨ber unsere Feinde n¨ Sieges sicher und hoffen auf eine gl¨ uckliche Zukunft f¨ ur unser Vaterland, das nicht gez¨ogert hat, sich auf die Seite der Gerechtigkeit und der Freiheit zu stellen. Ich bin in der Armee eingesetzt und als Genie-Offizier t¨atig. Meine milit¨arische und technische T¨ atigkeit bei der Luftfahrteinheit nehmen mich vollst¨andig in Anspruch. Meine Mathematik- und Physikkenntnisse sind mir in diesem Moment n¨ utzlich“. Tats¨achlich f¨ uhrt Volterra in diesen Jahren nur wenige Forschungsarbeiten durch, was durchaus verst¨ andlich ist. Es kommt nur zu sp¨arlichen Ver¨offentlichungen und auch diese sind fast alle auf ¨ offentliche Vortr¨age zur¨ uckzuf¨ uhren. Um auf die Themen des Comitato talassografico (Komitee f¨ ur Meereskunde) zur¨ uckzukommen: Volterra h¨ alt 1916 unter anderem eine Rede zur Er¨offnung des Institutes f¨ ur Meeresbiologie in Messina. Hinzu kommt nur der Druck einiger Vortragszyklen und einiger Vortr¨ age, die er in den Jahren unmittelbar vor Kriegsausbruch geschrieben oder gehalten hatte. Hierzu geh¨ort Volterras lange Abhandlung Teoria delle potenze dei logaritmi e delle funzioni di compo” sizione“ 30 anl¨aßlich der Gedenkveranstaltung zum dreihundertsten Todestag Napiers in Edinburgh. Volterra stellt seine wissenschaftliche Kompetenz mehr als großz¨ ugig zur Verf¨ ugung, aber sein gr¨ oßtes Verdienst in diesen Jahren ist ein anderes, das auf der organisatorischen Ebene zur Geltung kommt. Mit der Reorganisation der angewandten italienischen Kriegsforschung und deren Koordinierung mit der entsprechenden Forschung der verb¨ undeten L¨ander leitet Volterra einen Vorgang ein, der innerhalb weniger Jahre zur Gr¨ undung des CNR f¨ uhrt. Trotz der unmittelbaren Einbeziehung der Wissenschaft auf politischideologischer Ebene und einer diffusen Wahrnehmung der strategischen und technologischen Unterschiede des gegenw¨ artigen Krieges im Vergleich zu ver30
Volterra [129].
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gangenen Kriegen werden die institutionellen Implikationen der neuen Beziehung zwischen Wissenschaft und Krieg mit einer gewissen Langsamkeit wahrgenommen. Der Wendepunkt ist der deutsche Giftgasangriff auf Ypern am 22. April 1915 gegen eine algerische Division der franz¨osischen Armee. In offener Verletzung der Haager Konventionen31 von 1899 und 1907 setzten die deutschen Truppen Chlorgas ein, das die Schleimh¨aute der Nase, des Mundes und des Halses angreift und zu Erblindung und Erstickung f¨ uhrt. Sowohl die offentliche Meinung als auch die Eingeweihten bringen den neuen chemischen ¨ Krieg mit dem technologischen Vorsprung in Zusammenhang, den Deutschland aufgrund seiner besonderen wissenschaftlich-industriellen Organisation errungen hat. Der franz¨ osische Mathematiker Paul Painlev´e, der auch Premierminister wird, nennt die deutsche Wissenschaft ein gigantisches Unter” nehmen, bei dem ein ganzes Volk [...] hartn¨ ackig daran festh¨alt, die f¨ urchterlichste T¨otungsmaschine herzustellen, die es jemals gegeben hat“. Der Slogan es so zu machen wie Deutschland“ wird fast wie besessen aufgenommen. ” Das Trauma nach dem Angriff von Ypern dr¨angt die M¨achte der Entente, die technologische Dimension des Krieges gr¨ undlich zu u ¨berdenken.32 ¨ Dieses allm¨ahliche Bewußtsein bedeutet den Ubergang von einer Politik der Erfindungen und der einfachen Entgegennahme der Beitr¨age einzelner Talente zu einer Politik der zielgerichteten Forschungsf¨orderung durch ¨offentliche Einrichtungen. Es entstehen neue Institutionen zur Koordinierung der Aktivit¨aten des Dreiecks Wissenschaft-Industrie-Streitkr¨ afte. In England werden das Board of Invention and Research und das Munitions Invention Department im Sommer 1915 gegr¨ undet. In Frankreich wird im November desselben Jahres die Direction des Inventions Int´eressant la D´efense Nationale gegr¨ undet, die eine fr¨ uhere Kommission zur Pr¨ ufung von milit¨arisch relevanten Erfindungen abl¨ ost. Die franz¨ osische Einrichtung hat Universit¨ats- und Industrielabors zu ihrer Verf¨ ugung, in denen verschiedene Untersuchungen zu Gasschutzsystemen, zur Verbesserung von Schußtafeln, zur akustischen Lokalisierung von feindlichen Batterien und zum Aufsp¨ uren von Unterseebooten durchgef¨ uhrt werden. In beiden L¨ andern werden die Wissenschaftler direkt einbezogen: die Royal Society gr¨ undet ein Kriegskomitee, w¨ahrend in Frankreich einige Wissenschaftler (die Volterra sehr gut kennt) verantwortungsvolle Positionen u undung ¨bernehmen. Unter ihnen ist Painlev´e, der als Erster die Gr¨ des Comit´e interalli´es des inventions in die Wege leitet. Dieses Komitee ist die Verbindungsstelle der Forschungsaktivit¨ aten der verb¨ undeten L¨ander und 31
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Als Haager Konventionen (oder Haager Abkommen) bezeichnet man eine Reihe von Konventionen, die auf den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 zwischen den damals wichtigsten M¨ achten abgeschlossen wurden. Diese Konventionen enthalten verschiedene kriegsv¨ olkerrechtliche Regelungen. Die Bibliographie zu diesem Thema ist ziemlich umfangreich. Wir verweisen hier etwa auf Tomassini [95] (ver¨ offentlicht in Simili-Paoloni [93]) und auf die dort aufgef¨ uhrten Quellen. Der obenzitierte Ausspruch Painlev´es ist diesem Essay entnommen.
5.3 Das Ufficio invenzioni e ricerche
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es fungiert auch als Ort des Informationsaustausches der erzielten Ergebnisse. Wir sind in der zweiten H¨ alfte des Jahres 1915. In Italien kam die erste Aufforderung zur wissenschaftlich-technologischen Mobilisierung und zur Zusammenarbeit zwischen Forschern, Industriellen und Milit¨ars am 9. Juli 1915 von dem Physiker Angelo Battelli33 , der zusammen mit Volterra und Felici die Zeitschrift Nuovo Cimento herausgab und einer der Gr¨ under der Italienischen Physikalischen Gesellschaft (Societ` a italiana di Fisica) war. Die von Battelli vorgeschlagene Mobilisierung der Wissenschaftler h¨atte vom Staat durch die Gr¨ undung einer Einrichtung oder einer geeigneten Stelle im Kriegsministerium gef¨ ordert werden m¨ ussen.34 Zwei Tage sp¨ ater, am 11. Juli 1915, berichtet ein von dem Chemiker Federico Giordano unterzeichneter Artikel von einem analogen Vorschlag, der im Rahmen des Politecnico di Milano verfaßt und vom Abgeordneten Giuseppe De Capitani d’Arzago vorangetrieben worden war, der Salandra nahe steht und den industriellen Kreisen von Mailand verbunden ist. Die Initiative unterscheidet sich durch ihren ausgesprochen privatwirtschaftlichen Charakter, der in dem Vorsatz zum Ausdruck kommt, dem Ministerium den Verwaltungsaufwand einer Mobilisierung zu erleichtern“, die – wie man bereits erkennen konnte – ” lang und anstrengend sein wird. Von diesem Gesichtspunkt aus f¨ ugt sich der Vorschlag vollkommen organisch in die Politik Salandras ein, der sein Kabinett durch eine deutliche Option f¨ ur eine freie Wirtschaft in verschiedenen kriegswirtschaftlich relevanten Bereichen profilieren will, von der Propaganda u ¨ber die Wartung bis hin zum Nachschub. Battellis Vorschlag findet keinerlei Zustimmung und verliert sich im b¨ urokratischen Organisationsgerangel des Untersekretariats f¨ ur Waffen und Munition35 , w¨ahrend sich die Mail¨ander Initiative sofort entwickelt, nachdem im Politecnico zwei Sitzungen und die Gr¨ undung des Comitato nazionale per le invenzioni di guerra (Nationales Komitee f¨ ur Kriegserfindungen) stattfinden, dessen Statut gebilligt wird36 . 33 34
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Angelo Battelli (1862–1916), Physiker und Parlamentsabgeordneter. Battellis Appell erscheint am 9. Juli 1915 im Giornale d’Italia, also am gleichen Tag, an dem im Kriegsministerium das Untersekretariat f¨ ur Waffen und Munition (sottosegretariato per le Armi e Munizioni ) gegr¨ undet wird. Giordanos Artikel, von dem wir gleich sprechen werden, erscheint dagegen am 11. Juli 1915 im Corriere della Sera. Die erstgenannte Zeitung wird in Rom herausgegeben und steht den ministeriellen Kreisen gewiß n¨ aher, w¨ ahrend die zweite Zeitung in Mailand erscheint und u ¨berwiegend die Interessen der Industrie zum Ausdruck bringt. Auch Luigi Albertini, der Chefredakteur des Corriere, wird zum Mitglied des Mail¨ ander Komitees berufen. Das am 9. Juli gegr¨ undete Untersekretariat bekommt erst am 22. August 1915 eine Gesch¨ aftsordnung. Das Comitato centrale per la mobilitazione industriale (das eine der haupts¨ achlichen Aktivit¨ aten des Untersekretariats ist) tritt erstmalig am 18. September zusammen. Seitens der Industrie besteht ein st¨ andiges Mißtrauen gegen das, was als eine Form der schleichenden Verstaatlichung angesehen wird. Die beiden Sitzungen finden am 19. Juli und am 14. August 1915 statt. Unter den Mitgliedern des Komitees fallen die Namen von Giuseppe Colombo (Politecnico),
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Bei der Gr¨ undung des Mail¨ ander Komitees beruft man sich auf die Erfahrungen, die im Ausland gemacht wurden. In Wirklichkeit zeigt Giordanos Vorlage nur ein d¨ urftiges Verst¨ andnis dessen, was anderswo vor sich geht. Die grunds¨atzlichen Aufgaben, die sich das Mail¨ ander Komitee zur Erledigung stellt, sind auf die Erfinder zugeschnitten: Unter den vielen Vorschl¨agen, die ” eingehen, diejenigen ausw¨ ahlen, die der Betrachtung wert sind; eine wissenschaftliche und nach M¨ oglichkeit experimentelle Grundlage f¨ ur interessante, aber unzureichend detaillierte oder ungen¨ ugend u ufte Vorschl¨age zu ge¨berpr¨ ben; als Verbindungsorgan zur Milit¨ arverwaltung zu fungieren“. Die in Frankreich und England geschaffenen Strukturen hatten dagegen nicht prim¨ar das Ziel, die latente Ressource der Erfinder zu erschließen, deren Beitrag sich als eher entt¨auschend erwies, sondern die institutionelle Forschung zu f¨ordern und zu lenken (und zwar unabh¨ angig davon, ob es sich um Industrieforschung oder ¨offentliche Forschung handelte). Die Unzul¨anglichkeit des Komitees, das aus der Mail¨ander Initiative hervorging, kommt unmittelbar in den Beziehungen zu den Verb¨ undeten zum Ausdruck. Es handelt sich dabei auch um eine strukturelle Unzul¨ anglichkeit. Die in den anderen L¨andern gegr¨ undeten Einrichtungen waren staatliche Institutionen, und nur ¨offentliche Einrichtungen k¨onnen Mitglieder des Comit´e Interalli´es werden. Das Mail¨ander Komitee wird folglich nicht zugelassen und muß zu einem Taschenspielertrick greifen: Das Komitee entsendet Giordano, seinen Leiter, als Delegierten der italienischen Regierung zu internationalen Versammlungen. Auf der Ebene der Alliierten ist ein weiteres Problem auf die Tatsache ¨ zur¨ uckzuf¨ uhren, daß Italien nur mit Osterreich – nicht aber mit Deutschland – im Krieg ist. Dieser Umstand f¨ uhrt zu einer partiellen Aufteilung der auszuf¨ uhrenden Arbeiten, da man den italienischen Partner nicht f¨ ur vollkommen zuverl¨assig h¨ alt. Auf dieses Problem verweist ein Brief, den Somigliana an Volterra schreibt. Der Text ist auch bezeichnend daf¨ ur, welche Ratlosigkeit und Vorsicht auch weiterhin – wir sind jetzt im Fr¨ uhjahr 1916 – unter den Intellektuellen verbreitet sind: Laura hat mir Deinen Vorschlag u ¨bersandt, ” Hadamard zu einer Konferenz nach Turin einzuladen. Die Idee ist sehr gut, und ich danke Dir daf¨ ur. Aber es gibt da einige Schwierigkeiten. Ich habe mit Segre dar¨ uber gesprochen, damit er die Einladung als Dekan ausspricht. Aber er hat mir gegen¨ uber ziemlich viele Zweifel ge¨ außert [...] Abschließend gesagt, habe ich den Eindruck, daß ihn der Gedanke bedr¨ uckt, irgendeine Vorf¨ uhrung veranstalten zu m¨ ussen, die kein richtiger Empfang f¨ ur den Mathematiker Hadamard ist. Leider ist das in unserer Fakult¨ at so. Die vorherrschende Vorstellung besteht darin, daß man so leben muß wie in der Vorh¨olle der Heiligen V¨ater, den Krieg ignorierend, ohne jede Antipathie oder Sympathie f¨ ur irgendjemanden, außer einem geh¨ origen Respekt vor den Deutschen. Offen gesagt, denke ich jetzt, daß Hadamard nach Italien kommen w¨ urde, um einige Dinge mehr zu tun als nur einen einfachen Vortrag u ¨ber analytische Theorien Giovanni Battista Pirelli, Carlo Esterle (Edison), Luigi Albertini und Guglielmo Marconi auf. Zum Leiter des Komitees wird Giordano ernannt.
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zu halten; und ihn mit diesen Kr¨ aften in Verbindung zu setzen, k¨onnte ihm einen Eindruck von unserem Land vermitteln, der nicht unserem Wunsch entspricht“. Somiglianas Interpretation der Gr¨ unde f¨ ur Hadamards Italienreise ist nat¨ urlich korrekt. Der franz¨ osische Mathematiker kommt nach Rom, um einen Vortrag u ¨ber das Cauchy-Problem bei hyperbolischen Gleichungen zu halten, aber auch, um die wissenschaftlichen und milit¨arischen Beziehungen zu Italien zu intensivieren. Deswegen schreibt Hadamard am Vorabend der Reise folgende Zeilen an Volterra: Mein lieber Freund, Painlev´e hat mir ge” rade Ihren Wunsch mitgeteilt, in Rom einen franz¨osischen Professor zu haben, und er f¨ ugt hinzu, daß Sie dabei an mich gedacht haben. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie empf¨ anglich ich f¨ ur Ihr Signal bin. [...] Die Einw¨ande werden Sie verstehen und ich denke, daß Sie diese im Voraus geahnt haben werden. Es ist nicht nur so, daß ich, wie jeder andere auch, nur an die mit dem Krieg zusammenh¨ angenden Dinge denken kann, sondern ich freue mich und bin stolz, bei Arbeiten mitzuwirken, die unmittelbar f¨ ur die Verteidigung n¨ utzlich sind. Ich bin an die neue Direction des inventions angebunden, an deren Spitze, wie Sie wissen, Painlev´e und Borel stehen [...]. Andererseits bin ich mir vollkommen dar¨ uber im Klaren, wie wichtig f¨ ur unsere beiden L¨ander eine Bekr¨aftigung der Solidarit¨ at auf dem Gebiet der Wissenschaft w¨are. Es w¨are mein dringender Wunsch, diese Pflicht mit denjenigen Dingen in Einklang zu bringen, u ¨ber die ich gerade mit Ihnen gesprochen habe“. Um die Dramatik des Augenblicks in Erinnerung zu rufen, denke man an die Nachricht, die in Rom zu dem Zeitpunkt eintrifft, als Hadamard in den Zug steigt, um nach Frankreich zur¨ uckzukehren. Virginia ¨ offnet das Telegramm, in dem steht, daß Pierre Hadamard, der ¨ alteste Sohn des franz¨ osischen Mathematikers, in der Schlacht von Verdun schwer verletzt wurde. Er stirbt ein paar Tage sp¨ater. Die Stimmung und das Schicksal des Krieges ¨andern sich um die Mitte des Jahres 1916, als sich die M¨ oglichkeit abzuzeichnen beginnt, daß die Vereinigten Staaten an der Seite der Entente in den Krieg eintreten werden. Die von den Deutschen im Atlantik versenkten Schiffe, wie etwa die Versenkung der Lusitania (Mai 1915), der Essex und der Sussex (M¨arz–April 1916), hatten in Amerika zu einem Umschwung der ¨ offentlichen Meinung gef¨ uhrt und Pr¨asident Wilsons Neutralit¨ atspolitik ersch¨ uttert. Angesichts einer m¨oglichen wissenschaftlichen und industriellen Mobilisierung wird deswegen auch in den Vereinigten Staaten eine Reihe von Einrichtungen gegr¨ undet. Hauptbef¨ urworter dieser Mobilisierung ist der Astrophysiker George Ellery Hale, zu dem Volterra seit 1909 in herzlicher Beziehung steht; damals hielt Hale in Rom einen Vortrag u ¨ ber Solar Vortices and Magnetic Fields“. Auf Anregung von ” Hale und in Vorbereitung auf eine m¨ ogliche Intervention gr¨ undet die National Academy of Sciences den National Research Council, der eine bedeutende Anerkennung seiner politischen und institutionellen Rolle37 gerade in der Zeit erf¨ ahrt, als in den USA der Wahlkampf im Gange ist, der mit der Wiederwahl Wilsons endet. 37
Vgl. Wright [152].
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In Italien gr¨ undet Volterra in der gleichen Zeit die Associazione italiana per l’intesa intellettuale fra i paesi alleati ed amici (Italienische Vereinigung f¨ ur das intellektuelle B¨ undnis zwischen den verb¨ undeten und befreundeten L¨andern); dieser Vereinigung geh¨ oren Intellektuelle unterschiedlichen politischen und beruflichen Profils an.38 Volterras Glaubw¨ urdigkeit geht u ¨ ber die Grenzen der Wissenschaft hinaus. Er wird nunmehr als Gestalt des ¨offentlichen Lebens wahrgenommen. Die Vereinigung ver¨offentlicht die Zeitschrift L’Intesa Intellettuale (Intellektuelles B¨ undnis) und stellt einen bedeutenden Bezugsrahmen f¨ ur die ideelle Mobilisierung dar, auch wenn sich die T¨atigkeit des Blattes vor allem im Bereich des Verlagswesens und der Verkaufsf¨orderung italienischer B¨ ucher abspielt. Der Vereinigung treten in der zweiten H¨alfte des Jahres 1916 Bonaldo Stringher, Maggiorino Ferraris und der Verleger Formiggini bei, w¨ahrend der Philosoph Benedetto Croce ausgesprochen kritisch bleibt und negativ auf die explizite Einladung reagiert, die ihm Volterra u ¨bermittelt hatte. F¨ ur den Philosophen aus Neapel ist der Ausdruck germanische ” Barbarei“ ein grober Fehler und unter allen groben Fehlern, die Fr¨ uchte der ” Jahreszeit sind, h¨ alt dieser den Rekord, denn er ist ganz gewiß der grandioseste“. Im Juli 1916 wird im Rahmen der SIPS, deren Vorsitz in jenen Jahren der Anatom und Pathologe Camillo Golgi39 innehat, das Comitato nazionale scientifico tecnico (Nationales wissenschaftlich-technisches Komitee) gegr¨ undet, dessen Ziel eine engere Zusammenarbeit zwischen Industrie, Wissenschaft und Technik ist. Das Komitee umfaßt dieselben Industriebereiche, die das vorhergehende Comitato per le invenzioni gef¨ordert hatte, aber es hat jetzt einen umfassenderen institutionellen und akademischen Bezugsrahmen und dient weitreichenderen Zwecken. Das Komitee wurde von Giuseppe Colombo40 ins Leben gerufen, dem Gr¨ under von Edison Italien und einer der angesehensten Pers¨ onlichkeiten des Politecnico di Milano. Am 28. August 1916 gibt Italien dem Druck der Verb¨ undeten nach und erkl¨art auch Deutschland den Krieg. Wir setzen nun die Chronik jener Monate fort. Im Oktober unternimmt Borel – im Einvernehmen mit Painlev´e – eine kurze Mission in Italien, wobei er auch Volterra trifft, der seinerseits Anfang November nach Paris reist. Anschließend begibt sich Volterra auftragsgem¨aß an die franz¨ osische Front, um die Bewaffnung und die technischen Neuerungen zu studieren, die von den verb¨ undeten Armeen eingef¨ uhrt worden sind. Im Mittelpunkt dieser Begegnungen steht seitens der Verb¨ undeten und 38
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Mitglieder des Exekutivkomitees sind u. a. Marco Besso, Guido Castelnuovo, Antonio De Viti De Marco und Alberto Tonelli. Camillo Golgi (1843–1926), italienischer Mediziner und Physiologe. Ab 1872 arbeitet er als Chefarzt am Krankenhaus f¨ ur chronische Erkrankungen in Abbiategrasso bei Mailand, wo er seine bahnbrechenden Forschungen u ¨ ber das Nervensystem beginnt; 1875 Ordinarius der Anatomie an der Universit¨ at Siena, ab 1876 Professor f¨ ur Histologie an der Universit¨ at Pavia, ab 1881 dort Professor der allgemeinen Pathologie. Im Jahr 1906 erh¨ alt er den Nobelpreis f¨ ur Medizin. Giuseppe Colombo (1836—1921), italienischer Elektroingenieur, baute in Italien das erste Elektrizit¨ atswerk in Mailand.
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Abb. 5.4. Die Karte und der liebevolle Gruß sind vom Sohn Gustavo.
insbesondere seitens der Franzosen der Wunsch, die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Italien auf einer intensiveren Grundlage zu organisieren. Borel schreibt klipp und klar: Wir haben [...] zu England sehr enge Beziehungen ” organisiert. Unsere Beziehungen zu Italien sind weniger entwickelt“. Auf dem R¨ uckweg von Frankreich bereitet Volterra einen detaillierten Bericht f¨ ur den Kriegsminister vor, der ihm am 24. Januar 1917 antwortet und ihn ersucht, auch f¨ ur Italien einen Plan zur Gr¨ undung einer Stelle vorzube-
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Abb. 5.5. Vito Volterra in seiner Bibliothek in Rom, 1930.
reiten, die der franz¨ osischen Direction des Inventions entspricht. Und so wird im M¨arz 1917 das Ufficio invenzioni gegr¨ undet, zu dessen Leiter Volterra ernannt wird. Giordano bleibt der Delegierte der italienischen Regierung im Comit´e interalli´es des inventions in Paris, aber seine T¨atigkeit und die des Mail¨ander Komitees treten in den Hintergrund. Zugunsten der Neuordnung wirkt sich das Netz der pers¨ onlichen Beziehungen aus, die Volterra in Italien und im Ausland hat, sowie seine formale (wenn auch zeitlich begrenzte) milit¨ arische Position, die es ihm erm¨ oglicht, sich mit gr¨oßerer Freiheit innerhalb des organisatorischen Apparats der Streitkr¨ afte zu bewegen. Von diesem Zeitpunkt an konzentriert sich Volterra auf die Leitung des neuen Ufficio. Er wird immer mehr zum Dreh- und Angelpunkt des Dreiecks Wissenschaft-IndustrieStreitkr¨afte. Sein erster Schritt als Leiter des Ufficio invenzioni ist die Rationalisierung der bereits vorhandenen Pr¨ ufaktivit¨ aten in Bezug auf die Erfindungen, um die Bruchst¨ uckhaftigkeit der Initiativen zu reduzieren und die Koordinierungsfunktion des neuen Ufficio effektiv zu gestalten. Wir geben im Folgenden den Auszug eines Briefes wieder, den Volterra im Fr¨ uhjahr 1917 an den Physiker Michele La Rosa richtet: Insbesondere haben die Untersuchun” gen großes Interesse gefunden, die Sie mit einem Unterwassermikrofon zur Signalisierung von Schiffen und U-Booten durchgef¨ uhrt haben. [...] Bez¨ uglich des ebenfalls bemerkenswerten Vorschlags f¨ ur ein Ger¨at zur Explosion von
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Anti-Unterseeboot-Projektilen unter Wasser w¨are es das Beste, wenn Sie ohne weiteres in doppelter Ausf¨ uhrung einen neuen Bericht mit den einschl¨agigen Zeichnungen u urden, ohne dabei Pr¨azedenzf¨alle zu ber¨ ucksichti¨bersenden w¨ gen, die keine Beziehung zu unserem Ufficio haben“. In den nachfolgenden Monaten richtet sich Volterras T¨ atigkeit auf drei einander erg¨anzende Linien: die organisatorische Konsolidierung der neuen Einrichtung, die Erweiterung seiner institutionellen Funktion und die Verst¨arkung der wissenschaftlichen Kooperationsbeziehungen zu den Verb¨ undeten. Zweckm¨aßig f¨ ur die Erreichung dieser Ziele ist die Schaffung eines wissenschaftsorientierten Zweiges“ ” des Ufficio mit der Aufgabe, die Arbeit der Techniker und der Wissenschaft” ler auf Untersuchungen zu lenken, die zur L¨ osung der schwierigsten Probleme des Krieges und der Kriegsindustrie beitragen k¨onnen“. Volterras Ansehen gestattet es ihm, m¨ uhelos andere erstklassige Wissenschaftler wie Orso Mario Corbino, Raffaello Nasini und Federico Millosevich zur Mitarbeit zu gewinnen und dadurch die Gr¨ undung von Spezialdiensten“ f¨ ur Forschungsarbeiten auf ” den Gebieten der Chemie, der Physik, der Mineralogie und des Ingenieurwesens zu erreichen. Gleichzeitig f¨ uhrt Volterra eine scharfe Auseinandersetzung mit dem Mail¨ander Comitato per le invenzioni di guerra und erh¨alt vom Ministerium eine Reihe von Direktiven, die das Comitato faktisch dazu zwingen, sich bei allen Angelegenheiten der milit¨ arischen Organisation an das Ufficio invenzioni zu wenden und die eigene T¨ atigkeit auf die Bereiche Mechanik und Elektrotechnik zu beschr¨ anken (denen tats¨ achlich auch das Interesse der im Comitato vertretenen Industrien geh¨ orte). Anfang 1918 schl¨agt Volterra auf der Grundlage der Ausdehnung der durchgef¨ uhrten T¨atigkeiten dem Ministerium vor, die Bezeichnung der von ihm geleiteten Einrichtung in Ufficio invenzioni e ricerche zu ¨ andern. Seinem Antrag wird am 24. Februar 1918 ohne Schwierigkeiten stattgegeben. F¨ ur Volterra bleibt die Frage der internationalen Beziehungen besonders wichtig. Die wissenschaftlich-technischen Kontakte zwischen den verb¨ undeten L¨andern werden auch weiterhin vom Comit´e interalli´es in Paris vermittelt, wo Volterra den Auftrag f¨ ur Giordano best¨ atigt, wobei er jedoch u ¨ ber dessen Wirken vertraulich kein sehr positives Urteil f¨ allt. Tats¨achlich schreibt er diesem Kanal keine besondere Bedeutung zu und beh¨alt sich vor, die heikleren Dinge pers¨onlich zu behandeln, wobei er seine Verbindungen zu den Verantwortlichen der verb¨ undeten milit¨ arischen Forschungseinrichtungen nutzt oder Auftr¨age und Aufgaben ad hoc vergibt. Gegen Kriegsende erreicht er, daß der Mathematiker Emile Borel als franz¨ osischer Delegierter nach Rom gesandt wird. Nach London entsendet Volterra im Oktober 1917 Oberleutnant Sborgi als italienischen Delegierten. Aber vor allem f¨ uhrt Volterra seine wichtigste T¨ atigkeit an der Front“ der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten aus, die ” am 6. April 1917 in den Krieg eingetreten sind. Volterras Verbindungsmann ist der junge Astronom Giorgio Abetti, der Sohn des Direktors des Arcetri Observatoriums. Abetti war bereits vor dem Krieg Assistent von Hale und kann sich folglich direkt in das Zentrum der amerikanischen Wissenschaftsorganisation einreihen. Die Welt ist klein und der amerikanische Verbindungsoffizier in
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Frankreich ist jener Evans, der sich in den Jahren 1910–1912 in Rom bei Volterra spezialisierte und dem Volterra sp¨ ater half, eine akademische Stelle am Rice Institute in Houston zu finden. Im Jahr 1916 ist Evans ordentlicher Professor geworden. Er wird bis 1934 in Houston bleiben und dann von dort nach Berkeley gehen. Evans und Abetti informieren Volterra u ¨ ber Hales Pl¨ane, die bereits die Kriegsszenarien u ugeln“. ¨berfl¨ ” Es ist 1918 und man weiß noch nicht genau, wann der Krieg enden wird. Der Kriegseintritt der USA hat jedenfalls den Ausgang des Krieges ge¨andert. F¨ ur die Entente sind die Signale sehr positiv. Alles ist nur noch eine Frage der Zeit. Man beginnt, an das Danach“ zu denken sowie Nutzen aus den ” vollbrachten Anstrengungen und den Vorteilen zu ziehen, die mit den Kriegserfahrungen einhergehen. Noch im Juli 1917 sondiert Abetti auf Weisung von Hale bei Volterra die Frage nach der Zukunft des Ufficio invenzioni. Abetti fragt Volterra, ob es bei der Gr¨ undung der Einrichtung Ihre Idee war, daß ” das Ufficio invenzioni nach dem Krieg ein Institut werden m¨ usse, das der engen Verbindung zwischen Wissenschaft und Industrie dient [...] Auf ¨ahnliche Weise hat Hale den National Research Council gegr¨ undet“. Im Jahr 1918 beginnt die europ¨ aische Wissenschaftsorganisation mit Interesse auf die Wissenschaftsorganisation der Vereinigten Staaten zu blicken. Wir haben die amerikanische Mathematik erstmalig im Zusammenhang mit Chicago und dem Beginn der Internationalen Kongresse zitiert. Unser Zitat bezog sich auf das Jahr 1893. Wie viel Wasser ist doch seitdem – im Laufe eines Vierteljahrhunderts – den Rhein hinuntergeflossen! Anl¨aßlich Chicago ” 1893“ hatten die USA einige herausragende europ¨aische Wissenschaftler gebeten, sich auf dem amerikanischen Kontinent niederzulassen; dann hatten sie sich damit zufrieden gegeben, daß ein namhafter Mathematiker wie Felix Klein (oder ein anderer, der bereit ist, die M¨ uhen der Reise auf sich zu nehmen) f¨ ur einige Wochen das Land rodet und die Saat ausstreut“. Eini” ges davon, wie viel auf der anderen Seite des Atlantiks geschehen ist, wurde bereits sichtbar, als wir Volterras Reisen von 1909 und 1912 schilderten. Wir h¨atten seine aufrichtige Bewunderung f¨ ur die innovativen F¨ahigkeiten dieses Volkes und seine Wahrnehmung der amerikanischen Wirklichkeit nicht anders erkl¨aren k¨onnen – eine Wirklichkeit, die man bereits mit der Hand ber¨ uhren konnte. Dennoch kommen die Innovationen, die mit und nach dem Krieg erfolgen, einer Ver¨ anderung gleich, die man – ohne in Phrasen zu verfallen – als epochal bezeichnen kann. Die Wissenschaft, die bis vor einigen Jahrzehnten nur eine europ¨ aische Angelegenheit war und im Wesentlichen Deutsch und Franz¨osisch sprach, wird durch die neue US-amerikanische Organisation und bald auch durch deren Ergebnisse revolutioniert. Die innovativen Ideen kommen nun allm¨ ahlich von der anderen Seite des Ozeans nach Europa und das geschieht ein gutes St¨ uck vor dem Exodus der Wissenschaftler j¨ udischer Abstammung aus Europa. Das institutionelle Zentrum des Transformationsprozesses der amerikanische Wissenschaftspolitik ist die National Academy of Sciences in Washington, die 1863 von Pr¨ asident Lincoln gegr¨ undet wurde, aber die noch auf der
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Suche nach einer Rolle in der amerikanischen Gesellschaft ist, die jener der großen europ¨aischen nationalen Akademien vergleichbar ist. Eine anschauliche Best¨atigung dieser Ambition ist die 1913 in der Bundeshauptstadt erfolgte Einweihung des Akademiesitzes, der durch den Beitrag der Carnegie Foundation und dank der st¨ andigen Anmahnungen Hales und anderer Akademiemitglieder errichtet wurde. Als Verantwortlicher f¨ ur die internationalen Beziehungen der National Academy of Sciences schl¨ agt Hale eine L¨osung vor, bei der sich die Akademie im Falle eines Abbruchs der diplomatischen Beziehungen zu Deutschland bereit erkl¨ art, die Regierung zu beraten und die Beteiligung der Forschergemeinschaft an den Kriegsanstrengungen zu koordinieren. Es fehlt nicht an Widerstand von Wissenschaftlern, die sich u uhlen und ¨bergangen f¨ eine m¨ogliche Hegemonie spezifischer akademischer, disziplin¨arer oder industrieller Bereiche bef¨ urchten. Auch einige Bereiche der technologisch am weitesten fortgeschrittenen Industrien neigen anfangs dazu, sich der vorgeschlagenen Koordinierung zu entziehen, indem sie Pr¨asident Wilson zu u ¨berzeugen versuchen, unter dem Vorsitz von Thomas A. Edison lieber ein Erfinderkomitee zu gr¨ unden, das u ¨ ber das Naval Consulting Board mit der Kriegsmarine zusammenarbeitet. Im April 1916 erl¨ autert man Wilson die Idee von Hale und der National Academy of Sciences. Der Pr¨ asident ist schließlich von der N¨ utzlichkeit des Vorschlags u ¨ berzeugt und erteilt seine Zustimmung. Die Planungsarbeiten k¨onnen fortgesetzt werden, aber unter allergr¨ oßter Zur¨ uckhaltung: Wegen der bevorstehenden Wahlen will sich Wilson die starken neutralistischen und isolationistischen Str¨ omungen der amerikanischen ¨offentlichen Meinung nicht zu Feinden machen. Wir haben bereits vorweggenommen, daß die Schlußantr¨age des im Rahmen der Akademie gegr¨ undeten und von Hale geleiteten Komitees zur Schaffung einer neuen Einrichtung f¨ uhrten, die von ihren Sch¨opfern als National Research Council bezeichnet wird.41 Es ist Juni 1916. In den nachfolgenden Sommermonaten werden Kontakte hergestellt und man u ¨ bt Druck aus, um vom Pr¨ asidenten auch formal gr¨ unes Licht zu bekommen und von der Industrie eine umfassende Unterst¨ utzung zu erhalten. Danach reisen Hale und der Pr¨ asident der Akademie nach England und Frankreich. Es ¨ ist eine letzte Uberpr¨ ufung, die sie endg¨ ultig davon u ¨berzeugt, daß das, was sie gerade organisieren, wirklich angemessen ist. Im Februar 1917, nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Deutschland, bittet der Council of National Defense offiziell um die Mitarbeit des National Research Council. Damit beginnt eine hektische Organisationst¨atigkeit, bei der neben Hale auch der Physiker Robert A. Millikan42 eine wichtige Rolle spielt. Der National Research Council erh¨ alt private und ¨ offentliche Gelder – wobei die privaten Betr¨age deutlich h¨ oher sind –, vor allem aus der Carnegie Foundation und aus der Rockefeller Foundation. W¨ ahrend der ersten Kriegsmonate 41 42
Vgl. Wright [152]. Robert A. Millikan (1868–1953) erhielt 1923 den Nobelpreis f¨ ur Physik f¨ ur seine Arbeiten u ¨ ber die elektrische Elementarladung und den photoelektrischen Effekt.
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stellt sich allerdings heraus, daß die Mittel und das Verwaltungspersonal f¨ ur die festgelegten Ziele nicht ausreichen. Zu diesen Zielen geh¨oren: die Erfassung des Personals, der Ausr¨ ustungen und der laufenden wissenschaftlichen Aktivit¨aten; die Zusammenarbeit mit ¨ offentlichen und privaten Universit¨aten und Forschungsinstituten; die F¨ orderung von Forschungsarbeiten, die mit der Landesverteidigung und der Koordinierung der diesbez¨ uglichen Forschungsprojekte zusammenh¨ angen sowie die Gr¨ undung eines Zentrums zur Sammlung und Verbreitung von wissenschaftlichen Informationen. Der Waffenstillstand kommt fr¨ uher als erwartet und noch vor der Umsetzung dieses Programms. Dennoch ist der National Research Council eine wichtige Neuheit. In den USA standen Forscher und F¨ uhrungskr¨afte der Industrie bereits in engem Kontakt, um gemeinsame Programme zwischen Universit¨aten und Unternehmen festzulegen, aber es gab noch keine Einrichtung zur F¨orderung und Koordinierung der Initiativen. Jetzt findet diese Synergie ihren nat¨ urlichen Kanal: Die Wirtschaftslenker und die Universit¨atslehrer brauchen sich nicht mehr auf zuf¨ allige Begegnungen in den Faculty Clubs zu verlassen, um den Austausch zu realisieren, der f¨ ur die Steigerung und Lenkung der Forschungsaktivit¨ aten notwendig ist.
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6.1 Reorganisation der Wissenschaft: Ideen aus den USA Die Gelegenheit f¨ ur die Gr¨ undung des National Research Council wird also durch den Krieg geliefert. Dennoch gibt es bereits vor dem Waffenstillstand Menschen, die daran denken, ihren Schwerpunkt von den milit¨arischen Aktivit¨aten auf eine T¨ atigkeit in der Industrie zu verlagern. Hale m¨ochte, daß die neue Einrichtung eine st¨ andige Organisation zur F¨orderung und Koordinierung der wissenschaftlichen Produktion wird, und zwar in Zusammenarbeit mit der Industrie und gem¨ aß deren Anforderungen. Die Akademie“, schreibt ” Hale 1919, hat den National Research Council [...] mit dem Ziel organisiert, ” die Entwicklung der Wissenschaft und deren Anwendung auf die Industrie zu stimulieren, vor allem aber mit dem Ziel, die Forschungseinrichtungen zu koordinieren, um die Vereinigten Staaten in die Lage zu versetzen, ihre Energien wirksam zu vereinen und auf ein gemeinsames Ziel zu richten – ungeachtet dessen, daß die Organisationsform der betreffenden Einrichtungen demokratisch und individualistisch ist“. Der erste wichtige Beitrag des National Research Council ist die Unterst¨ utzung der chemischen und physikalischen Grundlagenforschung u ¨ber ein Programm von Forschungsstipendien, die von der Rockefeller Foundation finanziert werden. Die 1913 offiziell gegr¨ undete Stiftung erweist sich als besonders wichtig bei der Stimulierung der curiosity driven research und bei der Ausbildung junger Wissenschaftler. Gleichzeitig engagiert sich Hale f¨ ur eine internationale Perspektive. Wie schon erw¨ ahnt, hat er bereits im Verlaufe des Jahres 1917 u ¨ber Giorgio Abetti die Absichten Volterras ausgelotet, die w¨ahrend des Krieges ausprobierten Organisationsformen auf die Nachkriegszeit auszuweiten. Aus Hales Briefwechsel mit dem englischen Astronomen Arthur Schuster geht klar hervor, daß diese Ausweitung die M¨ oglichkeit einschließt, die wissenschaftliche Zusammenarbeit der Verb¨ undeten dauerhaft zu gestalten. Hale m¨ochte den Sieg, der auf den Schlachtfeldern errungen wurde, auf die Verh¨altnisse ausdehnen, die auf den Tr¨ ummern des Krieges entstanden sind. Er m¨ochte A. Guerraggio, G. Paoloni, Vito Volterra, Vita Mathematica, c Springer Basel AG 2011 DOI 10.1007/978-3-0348-0081-5 6,
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auch weiterhin den Technologietransfer ausbauen, der w¨ahrend des Krieges wichtige Dienste geleistet hat, und er m¨ ochte diese Errungenschaften zu einem dauerhaften Instrument des sozialen Fortschritts und der wirtschaftlichen ¨ Uberlegenheit machen. Hale nimmt den National Research Council als Modell und schl¨agt seinen Partnern vor, eine Organisation ins Leben zu rufen, welche die bis dahin gesammelten Erfahrungen der internationalen Zusammenarbeit weiterentwickelt. Die neue Organisation soll in der Lage sein, die großen wissenschaftlichen Vorhaben zu stimulieren und zu koordinieren, welche die vereinten Anstrengungen von Wissenschaftlern verschiedener L¨ander erfordern. Bis dahin geh¨ orten die relevanteren diesbez¨ uglichen Erfahrungen sozusagen zum Erbgut der Astronomen. Hale war seit den Zeiten des Astrophysikkongresses 1893 von Chicago (der parallel zum Mathematikerkongreß durchgef¨ uhrt wurde) ein Vork¨ ampfer f¨ ur die Internationalisierung dieser Erfahrungen. ¨ Die neue internationale Einrichtung sollte sich unter der Agide der gr¨oßeren nationalen Akademien konstituieren, zu denen die Royal Society in London, die Acad´emie des Sciences in Paris, die Accademia dei Lincei in Rom und die National Academy of Sciences in Washington geh¨oren. Hale schl¨agt außerdem vor, im Rahmen dieses Inter-Allied Research Council auch internationale Vereinigungen f¨ ur die verschiedenen Fachbereiche zu gr¨ unden, etwa nach dem Vorbild der seit 1905 bestehenden International Solar Union. Sein Vorschlag wird im April 1918 formalisiert und von der National Academy einstimmig angenommen. Auf diese Weise nimmt eine Reihe von interalliierten programmatischen und organisatorischen Konferenzen ihren Anfang, an denen auch Volterra als Delegierter der Accademia dei Lincei und als Direktor des Ufficio invenzioni e ricerche teilnimmt. Die erste dieser Konferenzen findet vom 9. bis zum 11. Oktober 1918 in London statt, einige Wochen vor dem tats¨ achlichen Kriegsende. Die Royal Society ist im Burlington House Gastgeber f¨ ur die Delegierten aus Belgien, Frankreich, Großbritannien, Japan, Serbien und nat¨ urlich auch aus Italien und den Vereinigten Staaten. Der Vorschlag zur Schaffung eines Inter-Allied Research Council sieht in der von Hale vorgelegten Formulierung vor, daß jedes Land zuallererst einen eigenen Nationalen Forschungsrat“ gr¨ undet und in die” sem Sinne die w¨ahrend des Krieges organisierten Einrichtungen transformiert – Einrichtungen, die entstanden waren, um die Forschung und die Industrieproduktion zu koordinieren und auf die Kriegsanstrengungen auszurichten. Die verschiedenen Nationalen R¨ ate“ sollten dann durch ihre eigenen Dele” gierten einen Internationalen Rat“ ins Leben rufen. Der Vorschlag wird an” genommen, aber sogleich stellt sich das Problem der Teilnahme der deutschen Wissenschaftler (und der Wissenschaftler der mit Deutschland verb¨ undeten L¨ander). In London vertreten alle einm¨ utig die Meinung, daß die neue Einrichtung die Deutschen an den Rand dr¨ angen m¨ ußte. Der wissenschaftliche Internationalismus war gespalten worden. Wie ein Felsblock lastet u ¨ber allem der Auf” ruf an die Kulturwelt“ (vgl. S. 108), den eine Gruppe von bedeutenden deut-
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schen Intellektuellen unterzeichnet hatte, um f¨ ur Deutschland jegliche Verantwortung f¨ ur den Ausbruch des Krieges und f¨ ur die kriminelle Kriegsf¨ uhrung zu bestreiten. Als Falken treten die Franzosen und die Belgier auf (angesichts dessen, was der Krieg insbesondere f¨ ur diese beiden L¨ander bedeutet hat, kann man diesen Standpunkt unschwer verstehen): Die beiden Delegationen fordern mit Nachdruck, daß Deutschland aus allen k¨ unftigen internationalen Organisationen ausgeschlossen wird und daß diese spezifische Klausel in die zu verhandelnden Friedensvertr¨ age aufgenommen wird. Ihre Forderung wird kaum durch den u ¨ blichen Kompromiß abgemildert, eine Kommission zu gr¨ unden und damit zu beauftragen, die konkreten Realisierungsmodalit¨aten eines interalliierten Rates zu untersuchen. Dieser Kommission geh¨oren Picard, Hale, Schuster, Volterra und der Belgier Georges Lecointe an. Volterras Teilnahme auf dieser Ebene erscheint nach allem, was bis jetzt gesagt worden ist, ganz nat¨ urlich. An dieser Stelle ist jedoch die Bemerkung angebracht, daß im Verlaufe des zwanzigsten Jahrhunderts die Gelegenheiten, die italienische Wissenschaft in den gr¨ oßten internationalen Organisationen zu vertreten, allm¨ahlich immer sporadischer werden. Die Londoner Konferenz schließt mit der Einberufung der n¨ achsten Begegnung f¨ ur die Zeit vom 26. bis zum 29. November 1918 in Paris. In diesem kurzen Zeitraum von etwas mehr als einem Monat wird der Waffenstillstand unterzeichnet und die Pl¨ ane f¨ ur die wissenschaftliche Zusammenarbeit in der Nachkriegszeit werden aktueller denn je. Die Pariser Konferenz f¨ uhrt zur Gr¨ undung des International Research Council (IRC) mit dem franz¨osischen Mathematiker Picard als Pr¨asident, dem englischen Astronomen Arthur Schuster als Generalsekret¨ ar und mit London als vorl¨aufigem Sitz. Die im Oktober ernannte Kommission wird zu einem provisorischen Exekutivkomitee, dessen Auftrag es ist, einen Entwurf des Organisationsstatuts zu erarbeiten und die n¨ achste Konferenz vorzubereiten, die f¨ ur den Juli 1919 in Br¨ ussel vorgesehen ist. Dort soll der neue International Research Council endg¨ ultig beschlossen werden. Die italienische Delegation in Paris besteht aus Volterra und einigen weiteren Mitgliedern der Accademia dei Lincei sowie Mitarbeitern des Ufficio invenzioni e ricerche. In Paris wird auch eine Liste derjenigen L¨ander aufgestellt, die den Leitungsorganen des International Research Council angeh¨ oren k¨ onnen (es handelt sich um die L¨ander der Entente und ihrer Verb¨ undeten); es wird auch eine zweite Liste aufgestellt, welche diejenigen Staaten enth¨ alt, die auf Antrag ebenfalls zugelassen werden k¨onnen (hierbei handelt es sich im Wesentlichen um diejenigen L¨ander, die neutral geblieben sind). Hale betont noch einmal, daß die Hauptaufgabe des IRC eine wirkungsvolle F¨orderung der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit ist (und nicht einfach nur“ die Organisation von Kongressen). Er faßt den Geist der ” amerikanischen Initiative in folgenden Worten zusammen: Es ist wahrhaft ” tr¨ostlich, eine Gruppe von Wissenschaftlern vereint zu sehen, die aus allen Erdteilen kommen, mit allergr¨ oßter Herzlichkeit und mit einem maximalen Desinteresse f¨ ur die nationalen Grenzen zusammenarbeiten. Menschen dieses
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Schlages sind dazu bestimmt, mit der Zeit einen wachsenden Einfluß auf die internen Gesch¨afte ihrer L¨ ander zu haben, weil der Wert ihrer Kenntnisse und Erfahrungen von den Staaten immer mehr anerkannt werden wird. Deswegen bin ich u ¨berzeugt, daß die Ermutigung zur internationalen Zusammenarbeit in der wissenschaftlichen Forschung ein g¨ unstiges Bet¨atigungsfeld f¨ ur alle diejenigen ist, die sich f¨ ur die F¨ orderung des Friedens engagieren“. Das sind Worte voller Hoffnung auf die Zukunft, wie es sich f¨ ur eine Zeit unmittelbar nach einem Konflikt wie dem Ersten Weltkrieg geh¨ ort. Es sind jedoch auch Worte, die einen potentiellen Widerspruch zu der Vorstellung von einem immerw¨ahrenden oder jedenfalls sehr langen Ausschluß derjenigen L¨ander enthalten, die zu den Feinden auf den Schlachtfeldern geh¨ orten. Dieser Widerspruch sollte bald zutage treten. F¨ ur die Mathematik wird der Termin einer l¨ander¨ ubergreifenden Begegnung nur zwei Jahre lang verschoben, bis zum Jahr 1920, in dem in Straßburg der erste Internationale Mathematikerkongreß der Nachkriegszeit stattfindet. Die Wahl des Ortes, der von den franz¨ osischen Mathematikern gew¨ unscht wurde, hat eine konkrete Bedeutung: Straßburg ist die Stadt des Elsasses, die sich die Franzosen mit dem Vertrag von Versailles gerade zur¨ uckgeholt hatten, nachdem sie 1871 (nach dem deutsch-franz¨ osischen Krieg) an Deutschland gegangen war. Die Logik von Straßburg ist eine antideutsche Siegerlogik. Den deutschen Mathematikern und den Mathematikern anderer im Krieg besiegter L¨ander wird die Teilnahme am Kongreß verwehrt, da sie von allen Initiativen ausgeschlossen sind, die auf den IRC zur¨ uckgehen. Es herrscht ein Klima, in dem sich die franz¨ osischen Akademien veranlaßt sehen, viele ihrer deutschen Mitglieder zu entlassen. Es ist dasselbe Klima, das Volterra zu einer Sonderausgabe“ der Saggi ” scientifici veranlaßt. Der 1920 ver¨ offentlichte Band enth¨alt einige seiner Abhandlungen und die Vortr¨ age, die er auf den Kongressen 1900 in Paris und 1908 in Rom hielt, von denen im dritten und im vierten Kapitel die Rede war. Aus dem Text, der in den Saggi scientifici erscheint, verschwindet jetzt jeglicher Hinweis auf die Verdienste der deutschen Mathematiker. Klein und das Erlanger Programm existieren nicht mehr! Einfach gestrichen – Klein hatte 1914 den Aufruf“ der deutschen Wissenschaftler unterzeichnet. Aber auch ” Mathematiker, die zum Zeitpunkt dieses Aufrufes“ gar nicht mehr lebten – ” wie etwa Fuchs, Neumann, Du Bois-Reymond und Kronecker – werden gestrichen. Volterra, ein Mann der Wissenschaft und Machtmensch, ergreift auch Partei; er hat die Gesinnungen noch nicht vergessen, die in einigen der Briefe zum Ausdruck kamen, die wir im vorhergehenden Kapitel zitiert haben. ¨ Im Ubrigen schließt Picard den Kongreß von Straßburg mit der Ermahnung: Gewisse Verbrechen zu verzeihen, bedeutet, sich zu deren Komplizen zu ma” chen“. Volterra bereitet es – auch nachdem Jahre verstrichen sind – M¨ uhe, seine mit dem Krieg entstandenen antideutschen Gef¨ uhle zu unterdr¨ ucken. LeviCivita, zu dem er eine mehr als herzliche Beziehung hat, l¨adt Volterra 1922
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ein, an einem internationalen Kongreß u ¨ber angewandte Mechanik1 teilzunehmen, den Levi-Civita mit dem damals in Deutschland lebenden Theodor von K´arm´an2 organisiert. Der Kongreß war eine der ersten Episoden der Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit deutschen Wissenschaftlern. Volterras Antwort ist ungew¨ ohnlich schroff: Ich kann weder am Kongreß teilnehmen ” noch diesem zustimmen“. In Deutschland kommen sp¨ater Hitler und die Rassenverfolgungen, und im Jahre 1937 verweigert Volterra seine Autorisierung ¨ f¨ ur die deutsche Ubersetzung seiner Arbeiten zur Populationsdynamik. Der wissenschaftliche Internationalismus wird zu einer bloßen Erinnerung an die Vergangenheit. F¨ ur die Mathematik wird es ein langer Leidensweg: Soll man die deutschen Kollegen wieder zu internationalen Begegnungen zulassen oder nicht? Der Weg endet erst mit dem Kongreß 1928 in Bologna. Dieses Mal sind die deutschen Mathematiker in zwei Lager gespalten: Die einen, wie Hilbert, nehmen die ausgestreckte Hand“ der Kollegen der Siegernationen ” gerne entgegen; es gibt aber auch andere – zum Beispiel Bieberbach – die noch nicht daran denken, die Verhaltensweisen zu verzeihen, die das Andenken ” von Gauß und Riemann“ beleidigen. Auch der niederl¨andische Mathematiker Brouwer ist gegen den Kongreß.
6.2 Der Weg zum Consiglio Nazionale delle Ricerche Von der Pariser Zusammenkunft wieder nach Italien zur¨ uckgekehrt, macht sich Volterra sofort daran, die am besten geeigneten Initiativen zu ergreifen, um auch in Italien diejenigen Perspektiven umzusetzen, die man in der internationalen Wissenschaftlergemeinde sieht. Auf dem Spiel steht der Zug der internationalen Zusammenarbeit, den man auf keinen Fall verpassen darf. Auf dem Spiel steht auch die M¨ oglichkeit, die mit der SIPS andiskutierten Themen zu entwickeln und ein neues nationales Forschungszentrum zu schaffen, das eine immer l¨ahmendere Zersplitterung u urlich w¨ urde das ¨berwinden soll. Nat¨ neue Zentrum auch eine entschlossene Koordinierungs- und F¨orderungst¨atigkeit der bereits existierenden Organisationen u ¨bernehmen. Das sind Ziele, die in einer Kontinuit¨ ats- und Entwicklungslinie mit denjenigen Zielen stehen, die bei der Gr¨ undung der SIPS das Fundament bildeten. Diese Gesellschaft war gegr¨ undet worden, um zwischen den Wissenschaftlern unterschiedlicher fachlicher Spezialisierung einen Ort der Begegnung und Diskussion zu schaffen sowie Druck auf die Politik auszu¨ uben, damit diese die soziale und ¨okonomische Bedeutung der Wissenschaftsbewegung anerkennt. Der Krieg hat dieses 1
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Der Kongreß fand im ¨ osterreichisch-tirolischen Innsbruck statt (vgl. Battimelli [3] und Siegmund-Schultze [90]). Theodor von K´ arm´ an (1881–1963), Aerodynamiker ungarischer Herkunft, wurde 1913 Professor an der TH Aachen. Ab 1926 forschte er auch in den USA. Aufgrund der politischen Entwicklung in Deutschland ließ er sich 1931 endg¨ ultig in den USA nieder (vgl. Siegmund-Schultze [88], [91] und Segal [83]).
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Bewußtsein beschleunigt. Jetzt steht nicht mehr die Schaffung eines Diskussionsforums auf der Tagesordnung. Es besteht vielmehr die Gelegenheit – das hofft zumindest Volterra –, die Fr¨ uchte der Mobilisierung der vorhergehenden Jahre zu ernten und unmittelbaren Zugang zu einigen Schaltzentralen“ zu ” ¨ bekommen, und zwar auch mit Hilfe der Uberzeugungskraft, die von einem internationalen Tr¨ ager ausgeht. Am 18. Dezember 1918 schreibt Volterra dem Industrieminister von der M¨oglichkeit einer neuen Rolle f¨ ur das Ufficio invenzioni e ricerche – jetzt, da der Frieden erreicht worden ist: Das Ufficio invenzioni wurde w¨ahrend des ” Krieges gegr¨ undet und hatte am Anfang die Aufgabe, kriegswichtige Erfindungen zu pr¨ ufen. Aber sehr bald erweiterte sich sein T¨atigkeitsbereich und das Ufficio befaßte sich mit wissenschaftlich-technischer Forschung und Industrieforschung; es richtete seine Aktivit¨ aten auf die Suche nach neuen Reicht¨ umern auf italienischem Boden und wurde Beratungsorgan f¨ ur technische Fragen verschiedener Ministerien, nicht nur des Kriegsministeriums und des Marineministeriums, sondern auch des Verkehrsministeriums, des Industrieministeriums, des Kommissariats f¨ ur Brennstoffe und des Landwirtschaftsministeriums, so daß auch der Name des Ufficio invenzioni in Ufficio di Invenzioni e ricerche ge¨ andert wurde. Dem Ufficio geh¨ oren hervorragende Professoren und Techniker an, in deren und meinem Namen ich Eure Exzellenz bitte, daß das Ufficio jetzt nicht mehr dem Commissariato delle Armi e Munizioni (Kommissariat f¨ ur Waffen und Munition) unterstellt sein soll, sondern dem Industrieministerium“. Die Organisationsstruktur des Commissariato delle Armi e Munizioni befand sich im Zustand der Demobilisierung. Mit der Liquidation der verschiedenen Dienste war der Untersekret¨ ar3 des Schatzministeriums Ettore Conti4 betraut worden, der folgende Zeilen in sein Notizbuch notiert: Orlando5 hat ” mir ohne weiteres ein von Seiner Majest¨ at bereits unterzeichnetes Dekret zur 3
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Ein Untersekret¨ ar ist ein direkter Mitarbeiter des Sekretariats eines Staatsministers. Ettore Conti (1871–1972), Ingenieur, Politiker und Unternehmer. Als Vorstandsmitglied zahlreicher Industriegesellschaften und -gruppen (darunter Montecatini und Edison) ist er einer der einflußreichsten Vertreter des lombardischen Industrieb¨ urgertums. Er figuriert als Sch¨ opfer einer der bedeutendsten Umstellungsoperationen nach dem Ersten Weltkrieg. Conti tastet – gem¨ aß dem Volterra gegebenen Versprechen – das Ufficio di Invenzioni e ricerche bei den ersten Liquidierungsmaßnahmen nicht an. Jedoch sieht sich Conti w¨ ahrend des Gr¨ undungsprozesses des CNR (Consiglio Nazionale delle Ricerche) in einer nachfolgenden Phase gezwungen, auch das Ufficio di Invenzioni e ricerche zu liquidieren. Vittorio Emanuele Orlando (1860–1952), Jurist und Professor f¨ ur Verfassungsrecht, war italienischer Ministerpr¨ asident von 1917 bis 1919. Nach einem Mißtrauensvotum des Parlaments dankte Orlando noch 1919 als Ministerpr¨ asident ab. In den folgenden Jahren arbeitete er an der V¨ olkerbundakte mit. Nach der Ermordung des Generalsekret¨ ars der italienischen Sozialdemokraten, Giacomo Matteotti, schloß sich Orlando 1925 der kleinen parlamentarischen Opposition gegen die Faschisten im Parlament an. Wenig sp¨ ater legte er sein Mandat nieder und trat von diesem Zeitpunkt an politisch nicht mehr in Erscheinung. Allerdings
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Gr¨ undung eines Hochkommissariats gezeigt, das die beiden fr¨ uheren Ministerien f¨ ur Waffen und Munition und f¨ ur Luftfahrt zusammenfaßt und den ¨ Ubergang vom Krieg zum Frieden regelt; und ein zweites Dekret f¨ ur meine Ernennung zum Hochkommissar“.6 Im Vertrauen auf Contis Unterst¨ utzung, die f¨ ur Volterra sicherstellt, daß das von ihm geleitete Ufficio f¨ urs erste nicht von den Liquidationspl¨ anen betroffen ist, um ihm die Zeit zu geben, die zur ¨ Uberf¨ uhrung des Ufficio in eine f¨ ur die Nachkriegszeit geeignete Organisation erforderlich ist, f¨ ordert Volterra mit ganzer Kraft die Gr¨ undung des Consiglio Nazionale delle Ricerche. In den Berichten an die Accademia dei Lincei im November 1918 und im darauffolgenden Januar bestimmt Volterra den Kern des zu gr¨ undenden CNR im Rahmen des Ufficio invenzioni e ricerche durch die bedeutsame Integration von neuen nationalen Labors f¨ ur Experimentalforschung nach dem Beispiel dessen, was im Ausland (insbesondere in Frankreich) realisiert worden ist. Gem¨ aß den Absichten Volterras und Croccos, der Volterra bei der Aktion zur Seite steht, h¨ atte das erste dieser Labors vom Zentralinstitut f¨ ur Luftfahrt gegr¨ undet werden m¨ ussen. Zwischen Ende Januar und Anfang Februar 1919 bereiten Volterra und Crocco unter Mitwirkung anderer Vertreter der Hochschulen und der Industrie eine Reihe von konkreten Vorschl¨ agen zur Gr¨ undung des CNR und zur Umwandlung des Instituts f¨ ur Luftfahrt vor. Sie bereiten auch den Entwurf eines Erlasses f¨ ur den Ministerpr¨ asidenten Vittorio Emanuele Orlando vor, indem sie eine Arbeitsgruppe ernennen, die mit der Erarbeitung des Textes des Gr¨ undungserlasses des neuen CNR beauftragt wird. Die Kommission wird am 17. Februar ernannt: Den Vorsitz hat Giovanni Villa (Vizepr¨asident des Consiglio Nazionale delle Ricerche) und zu ihren Mitgliedern geh¨oren Schatzminister Bonaldo Stringher, Untersekret¨ ar Ettore Conti, Volterra f¨ ur das Ufficio invenzioni e ricerche, Crocco f¨ ur das Institut f¨ ur Luftfahrt, Nasini f¨ ur das Komitee f¨ ur Chemieindustrie, Senator Giovanni Battista Pirelli und Ferdinando Lori f¨ ur das wissenschaftlich-technische Komitee sowie Romualdo Pirrotta f¨ ur die Accademia dei Lincei. Tats¨ achlich beschr¨ ankt sich der Erlaß nicht nur auf die Ernennung der Kommission, sondern macht auch inhaltliche Vorgaben. Er pr¨ azisiert, daß der zu gr¨ undende CNR einige bereits existierende Einrichtungen aufnehmen muß (das Ufficio invenzioni, das wissenschaftlich-technische Komitee, das Komitee f¨ ur Chemieindustrie, das Institut f¨ ur Luftfahrt), wobei er auch von der hohen Zusammenarbeit“ mit der Accademia dei Lincei ” Gebrauch macht. Ziele und wesentlicher Aufbau sind diejenigen, die auf den interalliierten Konferenzen in London und Paris vorgegeben wurden. Das Projekt scheint gut auf den Weg gebracht worden zu sein von der Kommission, die ihre Arbeiten gerade abschließen will, als es am 23. Juni 1919 zu einer der periodischen Regierungskrisen kommt. Als Stringher sein Amt als Schatzminister verliert, wird auch die politische Verbindung zwischen
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verweigerte er den f¨ ur Hochschullehrer vorgeschriebenen Eid auf den Faschismus und wurde 1931 auf eigenen Wunsch emeritiert. Conti [16].
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der Kommission und der Regierung loser. Auch die wissenschaftliche Seite muß im Moment ihr Engagement zur¨ uckfahren, an der Br¨ usseler Konferenz teilzunehmen – und das zu einer Zeit, da sich bei einem Teil der akademischen Welt eine gewisse Opposition gegen den Plan zur Gr¨ undung neuer nationaler wissenschaftlicher Labors zu regen beginnt. Eine Kommission der Accademia dei Lincei hat bereits im Monat M¨ arz ihre Unschl¨ ussigkeit gegen¨ uber der Gr¨ undung des International Research Council zum Ausdruck gebracht und außerdem eine ausdr¨ ucklich negative Meinung zur Frage der Laboratorien abgegeben. Eifers¨ uchteleien und Vetos u urliche ¨berraschen nicht: Auf fast nat¨ Weise reagieren die bereits existierenden Institutionen auf die Neuigkeiten, die sich in diesen Monaten des Umschwungs – das Nachkriegsitalien wird ja gerade aufgebaut! – mit einem Konservatismus ank¨ undigen, der durch die Aufrechterhaltung des eigenen Machtanteils und durch die Furcht motiviert ist, daß dieser Anteil durch neue Themen erodiert wird. Die internationale Konferenz in Br¨ ussel, die in der Zeit vom 18. bis zum 28. Juli 1919 stattfindet, f¨ uhrt zur formellen Gr¨ undung des International Research Council. Volterra bringt sich mit ganzer Kraft bei der Fassung der Vorschriften ein, die das Leben der neuen Einrichtung gem¨aß der Linie regeln, die bereits in London und Paris festgelegt worden war: eindeutiger Ausschluß Deutschlands und Gr¨ undung internationaler Vereinigungen verschiedener Fachgebiete. Nach der Verabschiedung des Statuts wird auch Volterra f¨ ur das Exekutivkomitee best¨ atigt und mit dem Amt des Vizepr¨asidenten betraut. Die italienische Beteiligung an der Entstehung der neuen internationalen Organisation zeichnet sich also durch eine deutliche Aktivit¨at aus. Italien ist an der richtigen Stelle und in einer guten Position. Italien geh¨ort zur Spitzengruppe. Das Land hat verstanden, daß es viel zu gewinnen hat, wenn es mit den wirklich fortgeschritteneren Nationen zusammenarbeitet. Dar¨ uber hinaus legitimiert die Existenz eines internationalen, offiziell anerkannten Koordinierungszentrums die nationale Wissenschaftsgemeinschaft, bekr¨aftigt deren Forderungen und macht damit die Schw¨ ache der internen Anreize f¨ ur die Koordinierung und F¨ orderung der Forschung sowohl an den Universit¨aten als auch in der Industrie wett. Hale kann an der Sitzung in Br¨ ussel nicht teilnehmen, denn er hat in den Vereinigten Staaten eine Reihe von Verpflichtungen, die ihn daran hindern, sich auf lange Reisen zu begeben. Allerdings reist Volterra nach der Br¨ usseler Konferenz in die Vereinigten Staaten, wo er insbesondere auch Kalifornien besucht. Dieses Mal h¨alt sich der italienische Mathematiker lange in Pasadena auf. Hale hatte Volterra geschrieben und ihn gebeten, seine Aufenthaltszeiten mitzuteilen, damit sie sich auf jeden Fall nach Volterras Ankunft treffen k¨ onnen. Die Reise war also seit Monaten geplant. Der italienische Astronom Giorgio Abetti, der sich gerade in den USA aufh¨alt, schreibt Volterra am 13. M¨ arz 1919: Ich wollte Ihnen sagen, daß Ihr ” Besuch hier ¨außerst willkommen w¨ are, und ich glaube, wenn Sie bis hierher kommen k¨onnten, dann w¨ are das eine sehr n¨ utzliche und wichtige Sache. Sie w¨ urden hier nicht nur die Kollegen des Westens kennenlernen, die Sie gerne als Gast empfangen w¨ urden, sondern k¨ onnten auch das Mt. Wilson Observa-
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Abb. 6.1. Vito Volterra in seiner Bibliothek in Rom, Winter 1939/40.
tory besuchen und sich konkreter mit der wissenschaftlichen Ausstattung des Observatoriums vertraut machen; und das auch im Hinblick darauf, in unse¨ rem Land einen Impuls f¨ ur etwas Ahnliches zu geben, und sei es auch mit viel bescheideneren Mitteln“. Abettis Worte sollten sich als prophetisch erweisen, was Volterras Empfang auf seiner letzten Amerikareise betrifft, aber auch in Bezug auf die Beschaffung einiger Forschungsinstrumente f¨ ur das Arcetri Observatorium nach der R¨ uckkehr des jungen italienischen Astronomen in seine Heimat. Nach dem Ende der Konferenz von Br¨ ussel und Volterras R¨ uckkehr nach Italien werden die Arbeiten der Villa-Kommission schnell abgeschlossen. Das Pr¨asidium des Consiglio erh¨ alt einen Abschlußbericht, der die Notwendigkeit einer vollst¨andigen Erschließung der Ressourcen des Landes ebenso anmahnt wie die Einbeziehung der Staatsverwaltung und insbesondere des Wirtschaftsministeriums und des Kriegsministeriums. Das Werkzeug zur Erreichung dieses strategischen Zieles wird in der Errichtung eines zentralen Forschungsinstitutes mit nationalen Kompetenzen gesehen, das nicht direkt in die Universit¨atsstrukturen eingebunden ist, und in Italien die angewandte Forschung und die Grundlagenforschung koordiniert und f¨ordert. Die vorgesehene Finan-
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Abb. 6.2. Einer der riesigen Mammutb¨ aume im Yosemite Nationalpark, auf einer Ansichtskarte von Volterra an seine Kinder.
¨ zierung bel¨auft sich – in v¨ olliger Ubereinstimmung mit der Ausstattung ¨ahnlicher ausl¨andischer Einrichtungen – auf zwei Millionen Lire f¨ ur den anf¨anglichen Aufbau und 450.000 Lire7 f¨ ur den Jahreshaushalt, wobei die M¨oglichkeit nicht ausgeschlossen wird, auch zus¨ atzliche Quellen zu erschließen, die aus der eigenen T¨atigkeit oder aus Zusch¨ ussen hervorgehen. An diesem Punkt fehlt jedoch die politische Abstimmung mit der Regierung. Der Vorschlag wird vom neuen Industrieminister Dante Ferraris8 , einem der gr¨oßten Kritiker des statalismo“ 9 der industriellen Mobilisierung w¨ahrend ” des Krieges, bek¨ampft und auch von Nitti10 nicht unterst¨ utzt. Das hat zur Folge, daß der Vorschlag in den ministeriellen Kan¨alen im Sande verl¨auft. Die Sackgasse ist verh¨ angnisvoll. Es vergehen einige Monate und eine weitere Krise f¨ uhrt im Juni 1920 zur Regierung Giolitti. Das politische Klima hat sich radikal ge¨andert. Unterrichtsminister ist jetzt Benedetto Croce, der sich bereits w¨ ahrend des Krieges gegen die Pl¨ ane der intellektuellen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit ¨ außert und sp¨ ater in der Nachkriegszeit die Aufl¨osung des Apparates bef¨ urwortet, den man aus den Zeiten der industriellen Mobili7 8
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Heute gut zwei Millionen Euro bzw. knapp 500.000 Euro. Dante Ferraris (1868–1931), italienischer Politiker, Minister in mehreren Regierungen und Pr¨ asident der Confederazione Generale dell’Industria Italiana. Unter statalismo“ versteht man die Bef¨ urwortung einer wesentlichen Beteiligung ” des Staates am wirtschaftlichen und sozialen Leben. Francesco Saverio Nitti (1868–1953), Jurist, Journalist und Politiker. Ministerpr¨ asident Italiens vom 23. Juni 1919 bis zum 21. Mai 1920 und erneut vom 21. Mai 1920 bis zum 15. Juni 1920.
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sierung geerbt hatte. Croce versucht sogar, die Erinnerung daran vergessen zu machen. In Kapitel 5 hatten wir an die Polemik erinnert, die Croce 1911 mit Enriques hatte: Croce ist gegen die wissenschaftliche Kultur, der er einen rein instrumentalen und technischen Wert zuerkennt, und er spricht sich gegen jeden Versuch aus, diesen Wert organisatorisch zu verst¨arken und zu erweitern. Croce hat sich sp¨ater in eine direkte Polemik mit Volterra eingelassen, den er daran hindert, die Zoologische Station von Neapel in das Komitee f¨ ur Meereskunde aufzunehmen; hingegen hat Croce die Rechte der Erben des deutschen Gr¨ unders Felix Anton Dohrn11 verteidigt. Privat war Croce von Volterra als ein mehr deutscher als italienischer Minister“ abgestempelt worden. ” Man soll niemals nie sagen. Die Idee der Gr¨ undung eines Consiglio Nazionale delle Ricerche scheint endg¨ ultig auf dem Abstellgleis gelandet zu sein, als die Frage von dem Abgeordneten Paolo Bignami erneut aufgeworfen wird, der unter Berufung auf die vorhergehenden Arbeiten einen Gesetzentwurf zur Gr¨ undung eines zentralen wissenschaftlich-technischen Komitees zur F¨orderung der Industrie vorlegt. Tats¨ achlich unterscheidet sich Bignamis Vorschlag von den Beschl¨ ussen der Villa-Kommission in einigen durchaus nicht nebens¨achlichen Aspekten. Vor allem konzentriert der Vorschlag die T¨atigkeit des zuk¨ unftigen Gremiums auf die (durch Pr¨ amienmechanismen erfolgende) Finanzierung der angewandten Forschung, wobei die Grundlagenforschung vollst¨andig ausgeschlossen wird. Der Vorschlag kommt auch auf den alten Plan zur F¨orderung der Erfindert¨ atigkeit zur¨ uck, die durch die Kriegserfahrungen in den anderen L¨ andern an den Rand gedr¨angt war. Es handelt sich um unterschiedliche Akzente und Versuchungen“, die sich bis zum heutigen Tage ” mehrere Male in der italienischen Wissenschaftspolitik wiederholen. Bignamis Vorschlag wird von der zust¨ andigen Parlamentskommission unterst¨ utzt, scheitert aber, ohne diskutiert zu werden, aufgrund des Endes der Legislaturperiode. Das Klima ¨ andert sich unter der nachfolgenden Regierung Bonomi12 erneut – diesmal in einem Sinne, der sich f¨ ur Volterras Pl¨ane als g¨ unstig erweist. Unterrichtsminister ist jetzt Orso Mario Corbino, Direktor des Physikalischen Instituts der Universit¨ at Rom, an der Volterra Professor ist. Corbino ist ein u urworter der Notwendigkeit einer Unterst¨ utzung der wissen¨berzeugter Bef¨ schaftlichen Forschungst¨ atigkeit. Auf diese Weise kommt es zur Bereitstellung eines Sonderfonds in H¨ ohe von 10 Millionen Lire13 f¨ ur die wissenschaftlichen Laboratorien. Ein weiteres Mal fehlt jedoch die Zeit, um den von Corbino 11
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Felix Anton Dohrn (1840–1909), deutscher Zoologe und einer der ersten Erforscher der Phylogenese. Ivanoe Bonomi (1873–1951), italienischer Politiker. Nach dem Ersten Weltkrieg 1916 Arbeitsminister und vom 4. Juli 1921 bis 26. Februar 1922 Ministerpr¨ asident. Bonomi beendete seine politische Laufbahn mit dem Aufkommen des Faschismus in Italien und war erst nach der Befreiung von den deutschen Besatzern vom 18. Juni 1944 bis zum 26. April 1945 erneut Ministerpr¨ asident und gleichzeitig Außenminister des Landes. In der Republik u ¨ bte Bonomi von 1948 bis zu seinem Tod 1951 das Amt des Senatspr¨ asidenten aus. Heute ca. 9 Millionen Euro.
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vollzogenen Kurswechsel in gesetzgeberische Maßnahmen zu u uhren. Mit ¨berf¨ dem Ende der Regierung Bonomi trudelt Italien weiter in die politische Krise und in der nachfolgenden Regierung Facta14 dominieren bald ganz andere Probleme das Land (und, wie wir sehen werden, auch Volterras Gedanken). Im Jahr 1922 ¨ andert sich das politisch-institutionelle Bild mit dem aufkommenden Faschismus. Wir werden hier¨ uber im n¨achsten Kapitel ausf¨ uhrlicher sprechen. An dieser Stelle vervollst¨ andigen wir den Ablauf der Dinge, die zur Gr¨ undung des CNR f¨ uhren. Am 16. November 1922 h¨alt Mussolini seine Antrittsrede vor dem Parlament.15 Mussolini erh¨alt im Haus das Vertrauen f¨ ur seine Exekutive. Als erste Maßnahme f¨ ur den Haushaltsplan 1923 k¨ urzt der neue Unterrichtsminister Giovanni Gentile16 die Zuwendungen f¨ ur die Universit¨atsinstitute um 30%. Das f¨ uhrt zu einer erneuten Verh¨artung der Front zwischen den Wissenschaftlern und den Industriellen, um so mehr, da im August 1923 Orso Mario Corbino wieder Minister wird – dieses Mal Wirtschaftsminister. Im September gehen die von Gentile gek¨ urzten Mittel erneut in den Haushaltsplan ein. Die politische Instabilit¨ at hatte es bis jetzt nicht gestattet, die von der Wissenschaftsgemeinde seit 1919 gestellte Frage zu l¨osen, aber de facto hatte sich das Problem der F¨ orderung und der Koordinierung der Forschung irgendwie in der ¨offentlichen Meinung behauptet. Bei diesen Themen ist es jetzt die faschistische Regierung (!), die sich als sensibler und effizienter erweist. Es gibt mindestens zwei Gr¨ unde, die Mussolini dazu treiben, das zu verwirklichen, was seine Vorg¨anger nicht konnten oder nicht wollten. Vor allem will der neue Regierungschef die Bandbreite der Zustimmung erh¨ohen und ein Zeichen f¨ ur die wiedergewonnene Regierungsstabilit¨ at sowie f¨ ur die neue Aufmerksamkeit gegen¨ uber den technokratischen Anspr¨ uchen geben, die seinerzeit von den Nationalisten vorangetrieben wurden. Mussolini ist deswegen stark auf die Wiedererlangung jener Formen der staatlichen Intervention f¨ ur die Mobilisierung der Energien und Ressourcen des Landes orientiert, die w¨ahrend des Krieges 14
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Luigi Facta (1861–1930) war in der Zeit vom 26. Februar 1922 bis zum 31. Oktober 1922 der letzte Ministerpr¨ asident Italiens vor dem Machtantritt Benito Mussolinis. Das war die sogenannte Biwakrede (discorso del bivacco). Eine der ersten S¨ atze, die Mussolini im italienischen Parlament sagte, lautete n¨ amlich: Ich h¨ atte ” aus diesem verfilzten, grauen Versammlungssaal ein Biwak f¨ ur Manipel machen k¨ onnen: ich h¨ atte das Parlament zumachen und eine Regierung ausschließlich aus Faschisten bilden k¨ onnen. Ich h¨ atte es tun k¨ onnen, aber ich habe es, zumindest in dieser ersten Zeit, nicht gewollt“. (Anmerkung: Manipel (von lat. manipulus Handvoll“) bezeichnete den 30. Teil einer r¨ omischen Legion.) ” Gentile wird im ¨ offentlichen Bewußtsein Italiens vor allem als das intellektuelle Aush¨ angeschild des Faschismus angesehen. Er war Unterrichtsminister im ersten Kabinett Mussolini und hat die nach ihm benannte Schul- und Hochschulreform durchgef¨ uhrt, die Reform Gentile“ (riforma Gentile), auf die sich im Wesentli” chen noch heute das italienische Schulsystem gr¨ undet. Dem Faschismus hat Gentile bis zu seinem gewaltsamen Tod im Jahr 1944 die Treue gehalten.
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erschlossen worden waren, und die vor allem die Regierungen Nitti und Giolitti versucht hatten zu vergessen. Als Interimsaußenminister ist Mussolini auch f¨ ur das Thema eines kulturellen Boykotts gegen Deutschland sensibel – ein Thema, das, wie wir gesehen haben, in den neuen internationalen Institutionen der intellektuellen Kooperation sehr pr¨ asent war. Wenn also im Juli 1923 der Plan bez¨ uglich des CNR noch zur¨ uckgestellt scheint, gibt es bereits im August konkrete Zeichen einer Neuorientierung. Da gibt es die Gr¨ unde, die wir bereits oben erw¨ ahnt haben. Und da ist mit einer wahrscheinlichen Intervention von Corbino zu rechnen. Und schließlich gibt es jene unergr¨ undliche Dynamik, durch die sich das politische Leben in Italien allenthalben auszeichnet. Was das Gesetz des International Research Coun” cil (IRC) angeht“, schreibt Giovanni Magrini17 an Volterra, der mit ihm seit den Zeiten des Komitees f¨ ur Meereskunde zusammengearbeitet hat, wurde ” auf den Brief des Finanzministeriums, das der Einf¨ uhrung des neuen Kapitels im Haushalt des Außenministeriums zwar zustimmt, aber verlangt, daß die Mittel durch Einsparungen in anderen Haushaltskapiteln gewonnen werden m¨ ussen, bereits energisch geantwortet, daß das absolut unm¨oglich ist und daß neue Haushaltsmittel notwendig sind. In Anbetracht des von Mussolini unterzeichneten harten und schroffen Briefes m¨ ochte ich hoffen, daß De Bellis (der Finanzminister) seinen Widerstand fallen l¨aßt. Dann w¨ urde es klappen“. Ein paar Wochen sp¨ ater ist der Gr¨ undungserlaß des CNR fertig: Die Verein” ¨ barung mit dem Ministerium f¨ ur Offentlichen Unterricht“, schreibt Magrini am 6. Oktober 1923 an Volterra, ist abgeschlossen, die Accademia dei Lincei ” wird mit der Verwaltung beauftragt und die Bereitstellung der Mittel tritt im Haushalt des Außenministeriums auf. [...] Ich meine, daß man logischerweise nicht viel mehr h¨ atte verlangen k¨ onnen“. Der Gr¨ undungserlaß des CNR wird am 18. November 1923 verk¨ undet. Als Sitz der neuen Institution ist die Accademia dei Lincei in Rom vorgesehen. ¨ Die Ziele des CNR stehen in Ubereinstimmung mit den Zielen der internationalen Organisation, welcher der CNR beitritt. Sein Aufbau st¨ utzt sich auf die nationalen Fachkomitees, die Mitglieder der jeweiligen internationalen Vereinigungen sind (die ihrerseits bereits gegr¨ undet worden sind oder derzeit gegr¨ undet werden), deren Pr¨ asidenten und Sekret¨are den Rat bilden, zu dem ¨ auch je ein Delegierter des Außenministeriums, des Ministeriums f¨ ur Offentlichen Unterricht und der Accademia dei Lincei geh¨oren. Als Gesch¨aftsf¨ uhrer wird Bonaldo Stringher designiert, der Pr¨ asident der Banca d’Italia. Der CNR wird auf diese Weise mit einer ausgepr¨agten Kompetenz zur internationalen T¨atigkeit ausgestattet, w¨ ahrend seine tats¨achlichen Funktionen als Organ der Koordinierung und F¨ orderung der italienischen Forschung im Schatten bleiben und im Grunde genommen sehr beschr¨ankt sind. Die Fi17
Giovanni Piero Magrini (1877–1935), Physiker, Hydrograph und Ozeanograph, Vizepr¨ asident des Kgl. Italienischen talassografischen Komitees und Direktor des Uffico idrografico del magistrato alle acque von Venedig, war maßgeblich an der Entwicklung des CNR beteiligt, zu deren Generalsekret¨ ar er 1928 berufen wurde.
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nanzierung in H¨ohe von 175.000 Lire18 reicht f¨ ur die Erf¨ ullung von Aufgaben internationalen Charakters aus, erweist sich aber als absolut unzul¨anglich f¨ ur irgendwelche m¨oglichen Funktionen auf interner Ebene. Als Beispiel und zum Vergleich: Allein das Komitee f¨ ur Meereskunde erhielt 300.000 Lire!19 Die neue Organisation existiert jetzt also und ihre F¨ orderer k¨onnen sich auf die neue institutionelle Gegebenheit st¨ utzen und an Weiterentwicklungen denken. Wenn die Unbestimmtheit der internen Aufgaben ein Indikator f¨ ur die Widerst¨ande ist, die bei der Formulierung des Erlasses auftreten, dann kann die dem CNR u ¨bertragene Aufgabe, die eigenen Schwerpunkte zu pr¨azisieren, als Aufforderung verstanden werden, den Nachweis einer konkreten Planungsf¨ahigkeit zu erbringen. Das Statut von 1924 – ein Werk von Volterra, Stringher und Amedeo Giannini (Staatsrat und Delegierter des Außenministeriums) – enth¨alt die wesentlichen Dokumente der Villa-Kommission. Es betont auch den umstrittensten Punkt – die Gr¨ undung nationaler wissenschaftlicher Laboratorien –, wenn auch in verschwommenerer Form als es im Plan von 1919 geschehen war, der im Institut f¨ ur Luftfahrt den Gr¨ undungskern der besagten Laboratorien festlegte. Im Januar 1924 wird Volterra auf Empfehlung der Accademia dei Lincei zum Pr¨asidenten des CNR gew¨ ahlt. Im Moment gibt es die folgenden nationalen Komitees: Astronomie, Geod¨ asie-Geophysik, Mathematik, Wissenschaftliche Radiotelegraphie, Chemie, Geographie und Physik. Diese Komitees stellen die haupts¨ achliche Neuheit im Vergleich zu den Pl¨anen von 1919 dar und schließen sich als Verbindungselement der einzelnen Fachbereiche im Landesrahmen zusammen. Gleichzeitig fungieren sie als Br¨ ucke zu den gleichen Fachbereichen auf internationaler Ebene. Die so geschaffene Struktur scheint potentiell dazu in der Lage zu sein, diejenigen Ziele zu erf¨ ullen, die Volterra vor einigen Jahren definiert hatte; außerdem bleibt der Weg auch f¨ ur Entwicklungen offen wie etwa die Schaffung nationaler Laboratorien, die im Moment politisch außerhalb der Reichweite zu sein scheinen. Auf diese Weise entsteht auch die Italienische Mathematiker-Vereinigung (Unione Matematica Italiana, UMI) als mathematisches Komitee des CNR. Der erste Pr¨asident der UMI ist Salvatore Pincherle (1853–1936), aber einmal mehr ist f¨ ur die operative Leitung Volterras langer Arm“ da. Pincherle ” schreibt ihm deswegen im M¨ arz 1922: Ich habe das Engagement nicht ver” gessen, daß Sie mich mit der Gr¨ undung der UMI betrauen wollten, damit sie Mitglied der Internationalen Mathematischen Union wird“. Um den Einfluß Volterras auf die neugegr¨ undete Berufsvereinigung der Mathematiker hervorzuheben, verweisen wir auf einen vom 5. August 1924 datierten Brief von Pincherle an Volterra. F¨ ur den Internationalen Mathematikerkongreß in Toronto sind zw¨olf italienische Delegierte zu w¨ ahlen. Pincherle reserviert vier Pl¨atze f¨ ur sich und f¨ ur die Leitung der UMI. Ein f¨ unfter Platz ist nat¨ urlich
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Heute ca. 145.000 Euro. Heute gut 250.000 Euro.
6.3 Die Enzyklop¨ adie
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f¨ ur Volterra bestimmt. Betreffs der anderen sieben – schreibt Pincherle an ” Volterra – bitten wir Dich, sie bestimmen zu wollen“.20
6.3 Die Enzyklop¨ adie Die Gr¨ undung des CNR ist f¨ ur Volterra die belastendste Aufgabe in den Jahren nach dem Kriegsende. Aber es ist nicht seine einzige Aufgabe. Volterra setzt, wenn auch in geringerem Umfang, seine Forschungsarbeiten fort. Ebenso setzt er seine Reiset¨ atigkeit fort, um auch diejenigen internationalen Beziehungen auszubauen, die nicht direkt im Rahmen des IRC liegen. Volterra erh¨alt 1922 die Ehrendoktorw¨ urde der Universit¨ at Edinburgh. Im darauffolgenden Jahr ist er ein weiteres Mal in Großbritannien, um in Liverpool am Kongreß der British Association for the Advancement of Science teilzunehmen. Das Engagement f¨ ur den CNR ist nicht das einzige, nicht einmal auf dem Gebiet der Reorganisation der wissenschaftlichen T¨atigkeit in Italien. Unmittelbar nach dem Krieg gibt es auch den Plan einer Enciclopedia nazionale, der 1919 von Ferdinando Martini21 und von dem Historiker Mario Menghini22 verfochten wird. Volterra wird in den Plan einbezogen und willigt sofort ein. Die Forderungen nach einer nationalen Enzyklop¨adie zirkuliert seit mehreren Jahren in den italienischen Verlagen, zumindest seit einem Versuch, den 1907 Treves, Barbera und De Marsico unternahmen, drei der gr¨oßeren italienischen Verlage zu Beginn des Jahrhunderts. Das Projekt von Martini und Menghini bezieht auch die SIPS ein und damit auch Volterra. Dessen Interesse l¨aßt sich auf die Kriegsjahre zur¨ uckf¨ uhren, auf seine Rolle bei der intellektuellen Zusammenarbeit mit den Verb¨ undeten und auf die Beziehungen, die er auch außerhalb der Wissenschaft gekn¨ upft hat. Die Aussicht, eine nationale Enzyklop¨ adie ins Leben zu rufen und damit der Stimme und den Bed¨ urfnissen der Wissenschaftswelt Gewicht zu verleihen, f¨ ugt sich in jene durchaus nicht umst¨ urzlerische Modernisierung des liberalen Staates ein, den Volterra ebenso bef¨ urwortet und dem er ebenso anh¨angt wie viele Vertreter der italienischen Kultur der unterschiedlichsten Richtungen. Wie u ¨blich wird Stringher damit beauftragt, die Realisierung des Planes zu f¨ordern und sich um die heiklen ¨okonomischen Aspekte zu k¨ ummern. Das Unternehmen erfor20
21 22
Pincherle redet Volterra brieflich immer zuerst mit Sie“ an und geht dann zum ” Du“ u ¨ber. ” Ferdinando Martini (1841–1928), Schriftsteller und Politiker. In Bezug auf die nachfolgenden Ausf¨ uhrungen verweisen wir auf 1925-1975. La Treccani compie 70 anni. Mostra storico-documentaria, Treccani – Istituto della Enciclopedia italiana, Rom, 1995. (Treccani ist der Name, unter dem die Enciclopedia Italiana di scienze, lettere ed arti und das Istituto dell’Enciclopedia italiana am besten bekannt sind. Das mit der (ersten) Ausgabe betraute Institut wurde am 18. Februar 1925 von Giovanni Treccani (1877–1961) gegr¨ undet, einem italienischen Unternehmer, Herausgeber und M¨ azen.)
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dert eine betr¨achtliche Anfangsinvestition und muß den Verkauf der ersten B¨ ande einkalkulieren, um auch weiterhin ¨ okonomisch tragbar zu sein. Im Januar 1920 schickt Volterra einen ersten Kostenvoranschlag an Stringher, aber die von diesem befragten Experten kommen zu einem Urteil, das alles andere als erfreulich ist. Die L¨ ange der finanziellen Verhandlungen und die von Stringher benannten Schwierigkeiten f¨ uhren dazu, daß Menghini langsam nerv¨os wird. Er beklagt sich bei Volterra. Gemurre und Druck unterschiedlicher Art zeigen jedoch schließlich Wirkung, und Menghini schreibt Volterra am 7. August 1920 folgende Zeilen: Ich versp¨ ure die Pflicht, Ihnen mitzutei” len, daß sich das Schicksal des Vorhabens zum Guten zu wenden scheint. Am vergangenen Dienstag war der Abgeordnete Martini hier und mit ihm zusammen sind wir bei Komtur Stringher gewesen, der seinen festen Glauben an den positiven Ausgang der durchzuf¨ uhrenden Arbeit best¨atigt und gleichzeitig erkl¨ art hat, daß er die Bildung eines Syndikats genehmigt, das unterdessen die Mittel bereitstellt, die zur Vorbereitungsarbeit an der Enzyklop¨adie notwendig sind – mit der Verf¨ ugung, daß die tats¨ achliche Kompilationsarbeit dann beginnen solle, wenn man sieht, daß die italienische Industrie eine stabile Richtung eingeschlagen hat“. Das von Stringher erhoffte Konsortium nimmt in den ersten Monaten des Jahres 1921 mit der Beteiligung der Banca Italiana di Sconto, der Banca Commerciale Italiana und des Finanziers Della Torre, des Eigent¨ umers einer großen Verlagskette, Gestalt an. Mit der Umsetzung des Werkes wird das Florentiner Verlagshaus Bemporad betraut und Menghini kann beginnen, die ersten Kontakte mit den Wissenschaftlern aufzunehmen, die sich an der Initiative beteiligen sollen. In Wirklichkeit bleiben die ¨ okonomischen Schwierigkeiten und die Unsicherheit, ob Geld von den Banken erhalten werden kann, auch weiterhin bestehen, nicht zuletzt aufgrund der prek¨ aren Situation des Verlages Bemporad. Der Verlag beschließt sp¨ ater, die Leitung der Arbeit Giuseppe Fumagalli zu u oßten Bibliographen seiner Zeit und ein angesehe¨bertragen, der einer der gr¨ ner Organisator von Verlagsvorhaben ist. Mit dieser Entscheidung sind jedoch Martini und vor allem Menghini nicht einverstanden, der die Leitung der Enzyklop¨adie anstrebte. Im Juli 1922 schreibt Stringher an Volterra: Ich hoffe, ” Du wirst nicht fehlen, weil wir den Vorschlag des Verlegers Bemporad nicht akzeptieren d¨ urfen, da der Abgeordnete Martini entschieden dagegen ist“. Nachdem nun der Bemporad-Vorschlag verworfen war, beschließt Martini, Stringhers Rat zu befolgen und die Realisierung der Enzyklop¨adie einem Konsortium anzuvertrauen, dessen Mitglieder sich in geeigneter Weise um eine herausragende Pers¨ onlichkeit des Verlagswesens scharen. Die Wahl f¨allt insbesondere auf die Leonardo-Stiftung und auf Angelo Formiggini, der selbst¨andiger Verleger ist und auch Gr¨ undungsmitglied der Leonardo-Stiftung f¨ ur die italienische Kultur (Fondazione Leonardo per la Cultura Italiana) war (Martini war der erste Pr¨ asident der Stiftung). Jetzt ist Martini Ehrenpr¨asident der Stiftung, Ivanoe Bonomi der Pr¨ asident und Orso Mario Corbino der Vizepr¨asident. Rechtsberater sind Formiggini und verschiedene Minister, die ihre eigenen Bevollm¨ achtigten benennen: Unter diesen sind Amedeo Gianni-
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ni (Vertreter des Außenministers) und Giovanni Gentile, Bevollm¨achtigter des ¨ Ministers f¨ ur Offentlichen Unterricht. Bereits vor dem Krieg waren Formiggini und Gentile in kultureller Hinsicht Gegner: Der Verleger beschuldigte den Philosophen der theoretischen Tyrannis“ und dieser vergalt das in herzlicher“ ” ” Erwiderung mit der Beschuldigung des Dilettantismus und Eklektizismus. Nach einer kurzen, aber sorgf¨ altigen Vorbereitungsarbeit im November 1922 unterzeichnet Bonomi einen Aufruf an die italienischen Verleger, der von Formiggini verfaßt und revidiert worden war, wobei dieser auch wesentli¨ che Anderungen ber¨ ucksichtigte, die von Volterra und Stringher kamen. Das Rundschreiben wird von einer Reihe von Begegnungen flankiert, die von Formiggini gef¨ordert werden; dabei erweist sich auch ein Blaubuch“ als wich” tig, das einen Entwurf und einen ersten Kostenvoranschlag der Enzyklop¨adie enth¨alt. Am Ende des darauffolgenden Januars wird das CIEL (Consorzio italiano editori e librai, Italienisches Konsortium der Verleger und Buchh¨andler) zu dem Zweck gegr¨ undet, die Grande Enciclopedia Italica zu verwirklichen. Nachdem die wirtschaftlichen Probleme gel¨ ost sind, kommen jedoch erneut die kulturellen und pers¨ onlichen Probleme zum Vorschein, die Formiggini in einem Brief an Fumagalli anspricht: Ein großes Hindernis ist die SIPS, die ” sagt, weil die Sache unter ihrer Schirmherrschaft l¨auft, wolle sie die Auswahl der Autoren treffen [...]. Mir macht der gute Menghini große Sorgen, der gekommen ist und sich beklagt hat und der die sogenannte Idee als seine eigene Sache betrachtet und sagt, daß er – etwas u ¨ bertrieben formuliert – unbedingt davon leben will“. Ebenfalls auf kultureller Ebene hatte Croce ein ziemlich kritisches Urteil ge¨ außert. Der ber¨ uhmte Mann“, schreibt Formiggini weiter, ” hat mir gesagt, daß die Enzyklop¨ adie seine Sorge sein muß, damit sie sich ” als lebendig und lebensf¨ ahig erweist“. Den gleichen Tenor hat die Kritik, die Menghini am 26. Februar 1923 in einem Brief an Martini ¨außert: Der Triumph ” der These von Formiggini war Bemporads Triumph und es handelt sich nicht mehr um eine wissenschaftliche Enzyklop¨ adie, sondern um eine Enzyklop¨adie auf der Basis von Larousse23 . Sobald ich kann, werde ich Gentile24 sehen und hoffe, die Regierung f¨ ur das Vorhaben zu interessieren“. Am 21. Februar 1923 wird Formiggini auf einer Mitgliederversammlung aus der Fondazione Leonardo (Leonardo-Stiftung) ausgeschlossen; Formiggini erhebt die Beschuldigung, daß die Versammlung von Gentile geschickt gesteuert worden sei.25 Die Ereignisse um die Leonardo-Stiftung setzen somit ein zeitweiliges Schlußwort unter 23
24 25
´ Die Editions Larousse ist ein franz¨ osischer Verlag, der vor allem W¨ orterb¨ ucher, Enzyklop¨ adien, Fachlexika, Sachb¨ ucher und Schulb¨ ucher herausgibt. Der Vorl¨ aufer des Verlages geht auf Pierre Larousse (1817–1875) zur¨ uck, der Schriftsteller, Lexikograph und Enzyklop¨ adist war. Inzwischen war Gentile Unterrichtsminister geworden. Formigginis Anschuldigungen sind in seinem gegen Gentile gerichteten Pamphlet La Ficozza filosofica del Fascismo e la Marcia sulla Leonardo. Libro edificante e sollazzevole enthalten. Das Buch ist heute eine echte bibliographische Rarit¨ at geworden, auf die auch die Spottschrift Bezug nimmt, die dem Philosophen den Spitznamen Fra’ Ficozza (Pater Beule) verpaßt.
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den Plan der großen Enzyklop¨ adie, die jedoch ein weitverbreitetes Bed¨ urfnis der italienischen Kultur bleibt. Der Plan wird innerhalb einiger Monate von Gentile erneut vorgeschlagen, diesmal mit Erfolg. Der Beginn der 1920er Jahre ist eine Zeit, in der Volterra noch sichtbarer in Erscheinung tritt. Zur Pr¨ asidentschaft des CNR kommt die Pr¨asidentschaft der Accademia dei Lincei hinzu. Tats¨ achlich wurde Volterra 1919 auch zum Pr¨asidenten der Societ` a dei XL gew¨ ahlt, des ¨ altesten wissenschaftlichen Vereins, der das Adjektiv italienisch“ verwendet. Volterra tritt jedoch 1920 von ” diesem Amt zur¨ uck, als er zum Vizepr¨ asidenten der Accademia dei Lincei gew¨ahlt wird; Francesco D’Ovidio hat das Amt des Pr¨asidenten inne. Volterra engagiert sich in dieser Zeit in bemerkenswerter Weise f¨ ur die Accademia dei Lincei. Der Krieg hatte die Aktivit¨ at der Akademie eingeschr¨ankt und zu Versp¨ atungen und Problemen bei den periodischen Ver¨offentlichungen gef¨ uhrt, die in Bezug auf die Reichhaltigkeit ihrer Beitr¨age nachgelassen hatten. Die Druckzeiten verlangsamten sich. Die Kriegserlebnisse machen sich auch in der neuen politischen Orientierung bemerkbar. Am Kriegsende w¨ahlt die Accademia dei Lincei Armando Diaz, Vittorio Emanuele Orlando, Sidney Sonnino und Paolo Thaon di Revel wegen patriotischer Verdienste“ als Mitglieder. ” Am meisten ist Volterra in das bereits genannte Engagement der Accademia dei Lincei involviert, den International Research Council zu gr¨ unden. Aber er wirkt auch am Beschluß zu einigen umfangreichen verlegerischen Initiativen mit, zum Beispiel zum Druck der 54 B¨ ande der Atti delle assemblee costituzionali italiane. Sehr bald wird Volterra f¨ ur die Mehrheit der Akademiemitglieder zur Verk¨orperung des Planes, die Accademia dei Lincei zum Protagonisten der Neuorganisation der italienischen Kultur in der Nachkriegskrise zu machen. In diesem Sinne sind die 1920 verabschiedeten Satzungsreformen und die Erh¨ohung der akademischen Dotation zu verstehen. Auch in dieser Schlacht“ findet Volterra die Unterst¨ utzung Stringhers, der ” 1919 Schatzminister ist, aber auch danach stets einflußreich in diesem Ministerium bleibt. Ich habe an diesem Morgen“, schreibt Stringher im November ” 1920 an Volterra, mit dem Leiter des Staatsrechnungsamtes wegen der Ac” cademia dei Lincei gesprochen. Er ist aufgeschlossen und wird die Dinge so vorbereiten, daß Seine Exzellenz Meda seine Zustimmung gibt. Mich hat er u uglichen Vorschlag des ¨brigens informiert, daß der Staatsschatz den diesbez¨ Unterrichtsministers erhalten wird, an den sich die Akademie offiziell wenden sollte. Hierzu habe ich – aus Ihnen wohlbekannten Gr¨ unden – einige Bemerkungen vorgebracht26 . B¨ urokratisch kann man die Minerva27 nicht u ¨berge26
27
Unterrichtsminister war Benedetto Croce, ebenfalls Mitglied der Accademia dei Lincei. Croce ist in dieser Phase gegen die in der Akademie vorherrschenden Orientierungen und polemisiert dar¨ uber hinaus mit Volterra. Mit Minerva ist das weitl¨ aufige Geb¨ aude gemeint, das auch heute noch der Sitz des Unterrichtsministeriums ist. Das Ministerium befindet sich seit 1870 in der Piazza della Minerva nahe am Pantheon. Die Straße wurde nach Gr¨ undung der Republik in viale di Trastevere umbenannt. Dennoch wurde das Unterrichtsministerium weiterhin einfach als die Minerva“ bezeichnet (vgl. Charnitzky [15], S. 209). ”
6.3 Die Enzyklop¨ adie
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hen; aber wir k¨onnen dem Schatzminister eine Kopie der Notiz vorlegen, die an den Unterrichtsminister geschickt worden ist, um die Zustimmung f¨ ur die Bereitstellung der Mittel im Haushalt zu erhalten und um besser vorw¨arts zu kommen“. Und nach dem Fall der Regierung Giolitti schreibt er noch: Lie” ber Senator, morgen vormittag werde ich den neuen Schatzminister sehen und ihm von der armen Accademia dei Lincei erz¨ ahlen“. Volterra versucht auch, das Kopernikanische Museum, die bedeutendste wissenschaftshistorische Sammlung der Hauptstadt, in der Akademie unterzubringen, um aus ihm den ersten Kern des Wissenschaftsmuseums (Museo della Scienza) zu machen, von dem man in Rom seit 1883 gesprochen hat. Der Versuch bringt keine konkreten Ergebnisse. Hingegen gelingen die Erweiterung des Bibliotheksbestandes, die Gr¨ undung von neuen Preisen und die Wiederbelebung der Publikationst¨ atigkeit. Im Juni 1923 ist die Wahl Volterras zum Pr¨asidenten der Accademia dei Lincei ein klares Zeichen daf¨ ur, daß die Mitglieder seine Strategie teilen. Volterra ist auch der europ¨ aische Referent f¨ ur die Bereiche Physik und Mathematik beim International Education Board, das den internationalen operativen Arm der Rockefeller Foundation darstellt. In den Nachkriegsjahren startet dieser Tr¨ager ein internationales Stipendienprogramm, das unter anderem eine sehr wichtige F¨ orderfunktion bei der Entwicklung der Quantenmechanik in Europa und in den Vereinigten Staaten hat. Die Erfahrungen mit den internationalen Forschungsstipendien beziehen sich auf die Stipendien, die von der Rockefeller-Stiftung f¨ ur den National Research Council finanziert wurden. Es ist also durchaus nicht sonderbar, daß Wickliffe Rose, der Pr¨asident des Board, im Februar 1924 eigens deswegen nach Rom kommt, um Volterra zu treffen und ihm vorzuschlagen, mit der Rockefeller-Stiftung zusammenzuarbeiten. Volterra organisiert in seinem Haus, im Palazzo Fiano-Almagi`a, f¨ ur Rose ein privates Treffen mit den bedeutendsten Vertretern der italienischen Wissenschaftsgemeinde. Das erste Ergebnis ist ein Stipendium, mit dem Enrico Fermi nach Leiden gehen kann, um im Labor von Lorentz zu arbeiten. Volterra stellt den jungen italienischen Physiker folgendermaßen vor: Herr ” Enrico Fermi, ein junger Assistent unseres Institutes f¨ ur Physik, m¨ochte gerne einige Monate in Leiden verbringen, um seine Untersuchungen auf den Gebieten der Physik und der mathematischen Physik zu vervollkommnen“. Kaum ist Fermi in den Niederlanden angekommen, hat er das Bed¨ urfnis, sich von dort zu melden: Sehr verehrter Herr Professor, ich bin gestern in Lei” den angekommen, nachdem ich meine Abreise wegen eines Abszesses, der sich in der N¨ahe eines Ohres gebildet hatte und den ich mir aufschneiden lassen mußte, um einige Tage verschoben habe. [...] Nochmals vielen Dank f¨ ur das Interesse, das Sie immer f¨ ur mich gezeigt haben. Mit freundlichen Gr¨ ußen an Sie und an Ihre Familie“. Dank der Unterst¨ utzung Volterras k¨ onnen viele Wissenschaftler aus Italien und anderen L¨ andern grundlegende Bildungserfahrungen in Forschungszentren und Laboratorien außerhalb ihrer Heimatl¨ander sammeln. Zu diesen Wissenschaftlern geh¨ oren Mathematiker wie Bruno de Finetti, Szolem Man-
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6 Vom Krieg zum Frieden: der CNR
delbrojt (der Volterra von Hadamard vorgestellt wird und einen Studienabschnitt in Rom verbringt), Robert Mazet und Andr´e Weil sowie Physiker wie Aldo Pontremoli, Enrico Fermi, Enrico Persico, Franco Rasetti und Emilio Segr`e. Volterra erh¨ alt sp¨ ater vom Board auch Zusch¨ usse f¨ ur das Bureau International des Poids et Mesures 28 und f¨ ur die Gr¨ undung des Instituts Henri Poincar´e in Paris. Zur Vervollst¨ andigung der Ehrungen und der B¨ urden, die Volterra in diesen ersten Nachkriegsjahren tr¨ agt, m¨ ussen wir noch hinzuf¨ ugen, daß er als Nachfolger von Pietro Blaserna Pr¨ asident des Bureau International des Poids et Mesures wurde. Zusammen mit der Internationalen Erdmessung (International Geodetic Association, Association G´eod´esique Internationale) war das Bureau die ¨alteste Einrichtung unter den bereits vor dem Weltkrieg existierenden Institutionen. Es ist logisch, daß sich in der Atmosph¨are des Krieges und w¨ ahrend der Nachkriegszeit auch das Bureau mit der Notwendigkeit einer Reorganisation konfrontiert sieht und zahlreiche Hindernisse u ¨berwinden muß, bevor es seine T¨ atigkeit wieder aufnehmen kann. Unter der Pr¨asidentschaft Volterras u anzender Weise die schwierige Zeit des ¨berwindet das Bureau in gl¨ ¨ organisatorischen und wissenschaftlichen Ubergangs durch die Erneuerung der Institutsvertr¨age, durch die Schaffung neuer elektrischer und photometrischer Maßeinheiten sowie durch die zwischen 1929 und 1931 erfolgende Errichtung des neuen Sitzes in S`evres.
28
Das Bureau International des Poids et Mesures (Internationales B¨ uro f¨ ur Maß und Gewicht) ist eine Internationale Organisation mit der Aufgabe, ein weltweit einheitliches und eindeutiges System von Maßen auf Basis des Internationalen Einheitensystems zur Verf¨ ugung zu stellen. Das BIPM wurde zusammen mit der Meterkonvention am 20. Mai 1875 gegr¨ undet und arbeitet unter der Aufsicht des Internationalen Komitees f¨ ur Maß und Gewicht“. ”
6.3 Die Enzyklop¨ adie
Abb. 6.3. Vito Volterra in der Amtstracht der Sorbonne, 1930.
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7 Das Ende der Freiheit
7.1 Opposition gegen die Reformen von Gentile Die Planung und die Realisierung des CNR erfolgen am Ende des Krieges und zu Beginn der 20er Jahre. Um die drei Jahre der Pr¨asidentschaft Volterras zu verfolgen, schildern wir den Gang der Dinge bis zum Jahr 1926. Zun¨achst wollen wir die Ereignisse in geordneter Reihenfolge betrachten. F¨ ur Italien und f¨ ur Volterra beginnt ein neuer, dramatischer Abschnitt der Geschichte. Im Jahr 1922 erf¨ ahrt die politische Krise eine starke Beschleunigung. In den acht Monaten vom Februar bis zum Oktober folgen zwei Regierungen unter Luigi Facta1 : ein Rekord sogar f¨ ur ein Land, das sich durch eine kurze Dauer der Regierungen auszeichnet. Der 28. Oktober ist der Tag des Marsches auf Rom: Mussolinis squadre 2 str¨ omen in die Hauptstadt und der K¨ onig beauftragt – anstatt das Dekret zu dem vom Ministerpr¨asidenten geforderten Belagerungszustand zu unterzeichnen – den Duce mit der Bildung einer neuen Regierung, die am 31. Oktober ihr Amt antritt. Vor der Kammer h¨alt Mussolini am 16. November 1922 seine ber¨ uhmt-ber¨ uchtigte Antrittsrede, die unter dem Namen Biwakrede“ (discorso del bivacco) bekannt geworden ist.3 ” Seine Regierung bleibt, bei verschiedenen Wechseln von Ministern, bis zum 25. Juli 1943 im Amt. Das ist es, was Mussolinis Protagonisten mit Nachdruck als faschistische Revolution bezeichnen. Der politische Alltag besteht 1 2
3
Einige kurze Angaben zu Luigi Facta findet man in einer Fußnote auf S. 138. Als squadre bezeichnete man die von den Faschisten organisierten Kampftruppen, die gegen Sozialisten und Gewerkschaftsanh¨ anger vorgingen. Vergleichbar waren sie mit der nur kurze Zeit sp¨ ater in Deutschland entstandenen SA ( Sturmabtei” lung“ der NSDAP). Diese Rede Mussolinis, aus der wir bereits auf S. 138 zitiert haben, ist nicht nur ein Hinweis auf den Stil dieses Politikers, sondern dr¨ uckt auch zutiefst die drastische Ver¨ anderung in den Institutionen und der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft aus. Mit einer Exekutive, die anderswo ihre Legitimation findet, werden die Wahlorgane ein Hindernis, auf das man n¨ otigenfalls verzichtet. (Vgl. Mantelli [61], S. 60.)
A. Guerraggio, G. Paoloni, Vito Volterra, Vita Mathematica, c Springer Basel AG 2011 DOI 10.1007/978-3-0348-0081-5 7,
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7 Das Ende der Freiheit
bereits aus gewaltt¨ atigen Attacken und Zusammenst¨oßen, und viele Vertreter der liberalen F¨ uhrungsschicht hoffen, daß die faschistische Bewegung mit ihrer Institutionalisierung die Stabilisierung des politischen Systems beg¨ unstigt und gleichzeitig ihre illegalen Erscheinungsformen ablegt. Volterra ist wegen der politischen Situation besorgt und hegt keinerlei Sympathie f¨ ur Mussolinis Bewegung. In der ersten Phase ist er zwar gegen das neue Kabinett eingestellt, akzeptiert aber die Fakten. In Treue zur Monarchie und deren institutioneller Verantwortung beschließt Volterra, sich an eine allgemeine Linie der Zusammenarbeit mit der vom K¨onig gewollten Exekutive zu halten und von seiner pers¨ onlichen Meinung abzusehen. Zur ersten Auseinandersetzung zwischen Volterra und der neuen Regierung kommt es in Bezug auf das von Giovanni Gentile vorgelegte Reformpaket. Der Philosoph hatte sich bereits seit Jahren mit den Problemen der Schule besch¨aftigt und ließ es w¨ ahrend der Regierung Giolitti 1920/21 nicht an Unterst¨ utzung f¨ ur die von Benedetto Croce versuchte Reformaktion fehlen. Die politische Niederlage des alten“ Meisters war analysiert und aufmerksam ” u ¨berdacht worden und nun glaubt Gentile, klare Vorstellungen von der Ver4 fahrensweise zu haben. Andererseits bringt Gentile der Wille, eine Reform durchzuf¨ uhren, die zur Vollendung des vorhergehenden Versuches von Croce f¨ uhrt, erhebliche Sympathien sowohl unter den P¨adagogen als auch unter den vielen und einflußreichen Croce-Anh¨ angern an den Universit¨aten ein. Die Lex Casati von 1860, die das italienische Unterrichtswesen seit der Einheit regelte, hatte sich u ¨berlebt, und die Reform des Schul- und Universit¨atssystems hatte zu keinem konkreten Ergebnis gef¨ uhrt, sondern h¨ochstens zu teilweisen und widerspr¨ uchlichen Eingriffen.5 Daher sch¨atzen auch Pers¨onlichkeiten wie Gaetano Salvemini6 und Adolfo Omodeo7 , die keine Sympathien f¨ ur den Faschismus hegen, Gentiles Versuch und haben vor allem Vertrauen in seine F¨ahigkeit, den Versuch umzusetzen. Volterra vertritt andere Ansichten: Er kann nicht vergessen, daß Gentiles Aktualismus und Croces Idealismus der Wissenschaft jegliche kulturelle W¨ urde absprechen und beginnt bald, seine Mißbilligung zu ¨außern. Wenn Gentile von freimaurerischen“ Widerst¨ anden gegen Croces Reformversuche ” spricht, dann denkt er damit sicher auch an Volterra. Mit seiner mißtrauischen Einstellung geh¨ort Volterra jedoch zu einer Minderheit. Im Allgemeinen wird 4
5
6 7
In Bezug auf Gentile und die Reform, die seinen Namen tr¨ agt, verweisen wir auf Turi [98]. Die Lex Casati (it. Legge Casati), ein K¨ onigliches Dekret des K¨ onigreichs Sardinien, trat 1860 in Kraft und wurde mit der Vereinigung auf ganz Italien ausgedehnt. Das Gesetz tr¨ agt den Namen von Gabrio Casati (1798–1873), einem Minister f¨ ur ¨ Offentlichen Unterricht. Gaetano Salvemini (1873–1957), italienischer Politiker, Historiker und Publizist. Adolfo Omodeo (1889–1946), italienischer Historiker, vom 22. April 1944 bis zum 18. Juni 1944 Minister f¨ ur Nationale Erziehung (vom 12. September 1929 bis zum ¨ 29. Mai 1944 war das die amtliche Bezeichnung des Ministers f¨ ur Offentlichen Unterricht). (Vgl. Charnitzky [15], S. 405.)
7.1 Opposition gegen die Reformen von Gentile
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¨ die Ernennung Gentiles zum Minister f¨ ur Offentlichen Unterricht mit einem großen Vertrauensvorschuß begr¨ ußt, und zwar nicht nur vom Fascio di Educazione Nazionale 8 und von G¨ unstlingen, die der Regierung politisch nahestehen, sondern auch von Regierungsgegnern, die aber Gentile als Menschen und h¨aufig auch als Philosophen sch¨ atzen. Die erste Handlung des neuen Unterrichtsministers ist die Aufhebung beziehungsweise die Blockierung einer Reihe von Verf¨ ugungen, die sein Wirken h¨ atten behindern k¨onnen. Und wir schreiben erst den 14. November 1922, seit dem Antritt des neuen Kabinetts sind 15 Tage vergangen. Es folgen etliche Eingriffe zwecks Neuordnung der zentralen und der peripheren Verwaltung, die zu einigen Kostensenkungen und gleichzeitig zu einer h¨ oheren Wirksamkeit der Befehlskette f¨ uhren: Die Anzahl der Ministerialdirektoren geht von f¨ unf auf vier zur¨ uck, die so ausgetauscht werden, daß sich der Minister auf sie als Personen seines absoluten Vertrauens verlassen kann; das zentrale Rechnungswesen wird auf einer einzigen Abteilung anstelle der vier vorhergehenden aufgebaut; die periphere Verwaltung wird – statt auf Provinzbasis – auf Regionalbasis neuorganisiert, wodurch die Anzahl der Amtsleiter von 73 auf 19 zur¨ uckgeht. Am 24. November 1922 erh¨alt die Regierung die Vollmachten (f¨ ur das ganze Jahr 1923), die Verwaltungsreformen durchzuf¨ uhren und damit Gentile ein außergew¨ohnliches Instrument in die Hand zu geben, das ihn der parlamentarischen Kontrolle entzieht und in eine Lage versetzt, die der Situation beim Erlaß der Lex Casati entsprach. Dem sizilianischen Philosophen entgeht jedoch nicht, wie wichtig die Zustimmung zu seinem Plan ist und welche Schl¨ usselrolle dabei die Kommunikation spielt: Zum Leiter der Pressestelle des Unterrichtsministeriums ernennt Gentile deswegen Ferruccio Boffi9 , einen Studienfreund aus seiner Zeit in Pisa, der ein sehr aggressiver Vertreter der nationalistischen und faschistischen Presse ist. Die Reform der scuola media inferiore (sechstes bis achtes Schuljahr) und der scuola media superiore (neuntes bis zw¨ olftes Schuljahr) ist der Angelpunkt der Konstruktion Gentiles. Es ist die erste Maßnahme, die erlassen wird, und zwar am 6. Mai 1923, wahrscheinlich auf Anregung von Mussolini selbst, der dem Vatikan zeigen will, daß die Regierung auch nach der Entfernung der popul¨aren Minister stabil ist. Andererseits stand die scuola media schon immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit Gentiles. Gentile hat offensichtlich die beiden folgenden Hauptziele: Durchf¨ uhrung einer drastischen Auswahl beim Zugang zur Universit¨ at und Zugrundelegung der humanistischen Kultur bei der Ausbildung der F¨ uhrungsschicht, die ohnehin in der istruzione 8
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Nahezu zeitgleich mit Mussolinis Kampfb¨ unden (Fasci di Combattimento) gr¨ unden Gentile und andere 1919 den Fascio di Educazione Nazionale (Bund f¨ ur Nationalerziehung). Detaillierte Ausf¨ uhrungen u aherung zwischen Li¨ber die Ann¨ beralen und Katholiken in der Schulpolitik nach dem Ersten Weltkrieg und die Entstehung des Fascio di Educazione Nazionale findet man in Charnitzky [15], S. 40–55. Ferruccio Boffi (1875–1942) war vor seiner Ernennung zum Leiter der Pressestelle als Lehrer und Direktor an angesehenen Schulen Roms und als Journalist t¨ atig.
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7 Das Ende der Freiheit
media in einer privilegierten Position ist. So werden die zus¨atzlichen Klassen abgeschafft (also das Zusatzjahr, das den Zugang zur Universit¨at von einigen Schulen gestattete, die keine Gymnasien waren) und zwei Bildungswege ohne Weiterf¨ uhrung eingerichtet: Der eine Weg ist die scuola complementare, die nach der Grundschule f¨ ur den anspruchslosen B¨ urger“ und f¨ ur die ” niederen Berufe“ als Ersatz f¨ ur die scuola tecnica bestimmt war, die ihrer” seits eine Fortsetzung der Ausbildung gestattete; der andere Weg ist das liceo femminile (M¨adchengymnasium)10 f¨ ur die M¨ adchen des B¨ urgertums“ – ein ” Bildungsweg, der auf die untergeordnete Stellung der Frauen in Gentiles Gesellschaftskonzeption ausgerichtet ist. Vorgesehen sind außerdem ein Bereich der k¨ unstlerischen Ausbildung (istruzione artistica) und ein neuer Typ eines istituto tecnico mit einer Dauer von acht Jahren nach der Grundschule. Dieses istituto tecnico gestattet keine Immatrikulation an der Universit¨at und verleibt sich einige Richtungen des vorhergehenden istituto tecnico ein. Die mathematisch-physikalische Richtung wird hingegen in ein liceo scientifico (naturwissenschaftliches Gymnasium, Realgymnasium) mit einer Dauer von vier Jahren transformiert, in das man von einem ginnasio inferiore kommt und das keinen Zugang zu den humanistischen Fakult¨aten gestattet. F¨ ur die Ausbildung der Lehrkr¨ afte der niederen Schulen wird die fr¨ uhere scuola normale durch ein istituto magistrale (Schulzweig f¨ ur Grundschullehrer) ersetzt, das eine Dauer von sieben Jahren hat und die Lehrbef¨ahigung erteilt; zu dieser Schule hat man direkt von der Grundschule aus Zugang.11 Die M¨oglichkeit des Zugangs zu allen Universit¨atsfakult¨aten wird nur durch die humanistische Schulausbildung gew¨ ahrleistet: nach der Grundschule f¨ unf Jahre ginnasio (Gymnasium) und drei Jahre humanistisches Gymnasium. Das ist die Schule f¨ ur eine Bildung par excellence, in der die F¨ uhrungsschicht ausgebildet wird. Aber die humanistische Bildung durchdringt die scuola media in ihrer Gesamtheit: Bei allen Dreijahreskursen der scuola media inferiore (außer auf der scuola complementare) ist Latein obligatorisch, so wie bei allen Richtungen der scuola media superiore mit Ausnahme des istituto tecnico. Außerdem erm¨oglicht das ginnasio inferiore, das heißt, die ersten drei Jahre des humanistischen Gymnasiums (ginnasio-liceo classico), den Zugang zu allen anderen Richtungen der scuola media superiore. Die naturwissenschaftlichen F¨acher werden durch einige Zusammenlegungen weiter benachteiligt: Die Lehr¨amter f¨ ur Mathematik und Physik werden miteinander kombiniert und die Gesamtstundenzahl der beiden F¨ acher wird reduziert. Auch die F¨acher Geschichte und Philosophie werden zusammengelegt, jedoch mit gestiegener Ge10
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Ein M¨ adchengymnasium (regional auch Lyzeum genannt) ist ein Gymnasium, in dem nur M¨ adchen zugelassen sind. Zun¨ achst wurden spezielle Gymnasien f¨ ur M¨ adchen nur deshalb gegr¨ undet, weil das allgemeine Bildungssystem keine h¨ oheren Schulen f¨ ur M¨ adchen vorsah. Ein Kernst¨ uck der Reform Gentile war die Reorganisation der Volksschullehrerausbildung durch dieses neugeschaffene siebenj¨ ahrige Lehrerinstitut, dessen vierj¨ ahriger Oberkurs nur nach Abschluß des dreij¨ ahrigen Unterkurses besucht werden konnte (vgl. Charnitzky [15], S. 407).
7.1 Opposition gegen die Reformen von Gentile
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samtstundenzahl dank der Verst¨ arkung des Philosophieunterrichts. Dar¨ uber hinaus wird Kunstgeschichte als obligatorisches Fach eingef¨ uhrt. Zum Bildungskonzept der scuola media geh¨ ort auch die Unterscheidung zwischen der berufsbildenden Funktion der Schulausbildungen, die f¨ ur die anspruchslose” ren“ sozialen Klassen bestimmt sind, und den aristokratischen“ und unei” ” genn¨ utzigen“ Unterrichtsformen, die f¨ ur die F¨ uhrungsschicht vorgesehen sind. Gentile, der diesen Ton seit 1902 anschlug, erl¨ autert seine Absichten in einem Interview am 29. M¨ arz 1923: Ich neige dazu, die Funktion der scuola media ” im humanistischen Gymnasium (scuola classica) zu konzentrieren. Die scuola classica wird wegen ihres nationalen und erzieherischen Wertes einen deutlichen Vorrang gegen¨ uber den anderen Schulen haben, die zur geistigen Bildung der Sch¨ uler vorgesehen sind“. Die Reform muß jedoch die vom Schatzminister Alberto De Stefani12 vorgegebenen finanziellen Beschr¨ ankungen ber¨ ucksichtigen: Die Erh¨ohung der Lehrergeh¨alter wird durch eine Senkung der Anzahl der Lehrer kompensiert, indem man einen Teil von ihnen in den Ruhestand versetzt, die Lehr¨amter in den scuole medie zusammenlegt und Frauen aus Lehr¨amtern entfernt, die man f¨ ur typisch m¨ annlich“ h¨ alt wie etwa Philosophie, Geschichte, Recht und ” Volkswirtschaft in den Gymnasien und Technischen Instituten. Alle diese Eingriffe widerspiegeln die Idee von einem starken, hierarchischen und autorit¨ aren Staat, die Gentile und der ganzen Regierung eigen ist und die den Ton der gesamten Verwaltungsreform angibt. In der Schulreform findet auch eine Ann¨ aherung ihren Platz, die man seit mindestens vier Jahren mit dem Katholizismus anstrebt: F¨ ur die Privatschulen und f¨ ur den obligatorischen Religionsunterricht in den Grundschulen ist ein gesonderter Status vorgesehen. Die Dialogf¨ ahigkeit mit den Katholiken durch die Akzeptanz einiger Forderungen der Kirchenhierarchie, die bis dahin ungeh¨ort blieben, ist eines der Elemente, welche die vollst¨ andige politische Unterst¨ utzung Mussolinis f¨ ur die Vorschl¨ age seines Ministers garantieren. Andererseits handelt es sich f¨ ur Gentile dabei nicht um instrumentelle Aspekte: Im Gegenteil f¨ ugen sie sich in einen Plan ein, der die von der Schule erteilte Erziehung in einem ausgesprochen hierarchischen Sinne pr¨ agen will – und zwar mit differenzierten Bildungswegen, welche die soziale Mobilit¨ at einschr¨anken. Die Reform der scuola media f¨ uhrt zu zahlreichen negativen Reaktionen. Unter den Mathematikern ist es die Gesellschaft Mathesis, in der es zu den ¨ ersten nachdr¨ ucklichen Außerungen der Ratlosigkeit und der Unzufriedenheit kommt. Der Protest der Gesellschaft konzentriert sich vor allem auf die Zusammenlegung des Mathematik- und Physikunterrichts in den Gymnasien – mit einem Stundenpensum, das manchmal unter dem Pensum liegt, das vorher nur f¨ ur die Mathematik bestimmt war. Die u ¨berw¨altigende Mehrheit der Lehrer spricht sich gegen eine solche Zusammenlegung aus. Es gibt hierf¨ ur viele Begr¨ undungen: die unterschiedlichen Kompetenzen f¨ ur die beiden Unterrichtsf¨acher, die Schwierigkeiten der Umsetzung der Reform mit einem un12
Alberto De Stefani (1879–1969), italienischer Politiker.
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vorbereiteten Lehrk¨ orper, die untragbare Lehrbelastung und schließlich noch die konstitutionelle“ Verschiedenheit des Mathematikers und des Physikers. ” Auch die Universit¨ atsprofessoren stehen auf Kriegsfuß mit dem Minister angesichts der wilden Ger¨ uchte aller Art u ¨ber seine Absichten. Die dem Senat angeh¨orenden Professoren organisieren eine Reihe von Versammlungen – deren erste im April stattfindet – mit dem Ziel, ihrer eigenen Stimme Ausdruck zu verleihen und ihre Meinung in die Waagschale zu werfen – trotz des Vorteils, den Gentile dank seiner Vollmachten hat. In der Versammlung vom 25. Mai 1923 wird das Thema der scuola media von dem Italianisten Guido Mazzoni (1859–1943) aufgeworfen, der eine Tagesordnung vorschl¨agt, in der – bei Verkn¨ upfung der Reform der scuola media mit den k¨ unftigen Universit¨atsreformen – die Aussetzung der Maßnahmen gefordert wird. Volterra schließt sich Mazzoni an, indem er den Plan des Ministers kritisiert, die wissenschaftliche ” Bildung in den Sekundarschulen zu senken. Einerseits trifft die Zusammenlegung von Mathematik und Physik die Lehrer unvorbereitet. Andererseits sind die nat¨ urlichen Eignungen f¨ ur die eine und f¨ ur die andere Wissenschaft voneinander verschieden. Ein guter Mathematiklehrer muß nicht die Veranlagung zum Experimentieren haben, die f¨ ur einen Physiklehrer notwendig ist“. Auch der Physiker Antonio Garbasso, der mit Mussolini sympathisiert und der erste faschistische Podest` a13 von Florenz wird, ist gegen die Reform. Wir ” sind hier alle best¨ urzt wegen der Reformen des Abgeordneten Gentile. Ohne von den Interessen der Wissenschaft zu sprechen“, schreibt Garbasso am 6. Juli 1923 an Volterra, fragt man sich, wie es denn m¨oglich sein solle, wenn ” dazu die Notwendigkeit best¨ unde, aus den jungen Philosophen der Zukunft jene Tausende von Leutnants der technischen Truppen und der Artillerie zu gewinnen, die w¨ ahrend des letzten Krieges in wenigen Monaten aufgeboten werden konnten. Ist es denn nicht m¨ oglich, den Abgeordneten Mussolini aufzukl¨aren?“ Nach der Neuordnung der scuola media folgt die Reform des Obersten Ra¨ tes f¨ ur Offentlichen Unterricht, der erneut die Zust¨andigkeit f¨ ur die Grundund Mittelschulbildung u ¨bernimmt (die ihm mit der Lex Casati erteilt worden war und die er mit der nachfolgenden Gesetzgebung verloren hatte); der Rat wird auf 21 Mitglieder reduziert, die alle vom K¨onig auf Vorschlag des Ministers ernannt werden. Man kehrt also zur Lex Casati und zu den Zeiten vor der Reform von 1881 zur¨ uck, mit der die Wahlmitgliedschaft eingef¨ uhrt worden war. Zum ersten Mal nach vielen Jahrzehnten wird also das Wahlprinzip f¨ ur die Selbstverwaltungsorgane abgeschafft. Mit Unterst¨ utzung einiger Mitglieder, zu denen der Mathematiker Guido Castelnuovo sowie nat¨ urlich Mazzoni und Volterra geh¨oren, beschließt die Ac13
Als podest` a bezeichnete man im italienischen Faschismus den per Dekret ernannten B¨ urgermeister. Zun¨ achst konnten in Gemeinden bis zu 5000 Einwohnern keine B¨ urgermeister mehr gew¨ ahlt werden (ein gew¨ ahlter B¨ urgermeister heißt sindaco). Sie wurden durch die podest` a ersetzt, die von der Regierung ernannt wurden. Im September 1926 wurde das System der podest` a auf alle italienischen Gemeinden ausgeweitet (vgl. Mantelli [61], S. 72).
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cademia dei Lincei, das Problem in ihren beiden Juni-Sitzungen anzugehen. Volterra ist es inmitten der neuen politischen Orientierungen nicht entgangen, welch zentrale Rolle die Reform der scuola media spielt und daß man die Durchf¨ uhrung dieser Reform zumindest verschieben muß. Ihm ist klar, daß Gentile die Einsch¨ atzungen der akademischen Welt u uck¨berhaupt nicht ber¨ sichtigen w¨ urde –, es sei denn, diese Einsch¨ atzungen ziehen die Aufmerksamkeit der ¨offentlichen Meinung auf sich und gewinnen deren Zustimmung. Folglich muß versucht werden, die Reform der scuola media zu blockieren sowie im Voraus auf die Reformen der Universit¨at und der scuola elementare zu setzen. Und das ist auch dringend: In der letzten Sitzung der Akademie ” (Klasse f¨ ur Moralwissenschaften) wurde der Vorschlag unterbreitet und angenommen, eine Kommission zu beauftragen, u ¨ber die Reformen zu berichten. Ich h¨atte gerne auch Deinen Namen darunter gesetzt“, schreibt Volterra am 15. Juli 1923 an Garbasso, aber aufgrund der Dringlichkeit der Angelegenheit ” und weil ich nicht hoffen konnte, daß Du nach Rom kommst, konnte ich es nicht tun. Nach einer ausf¨ uhrlichen Diskussion hat Castelnuovo als Referent einen Bericht verfaßt, der meiner Meinung nach sehr gut gemacht war und der jetzt als Bericht der Kommission figuriert“.14 Der Bericht wird am 15. Juli 1923 allen Mitgliedern u alt auch Gentile ein Exemplar, in ¨bersandt. Somit erh¨ dem er Folgendes lesen kann: Den aufgekl¨ arten Gesetzgebern ist es zu ver” danken, daß die italienische Schule zwischen 1860 und 1880 ein hohes Niveau erreicht hat und mit den besten ausl¨ andischen Schulen konkurrieren konnte. Eine beklagenswerte Nachsicht und Lockerung der Disziplin haben vielleicht in den letzten Jahrzehnten die Wirksamkeit der Schule verringert; aber es h¨atte eine feste Hand gereicht, um den strengen Normen wieder G¨ ultigkeit zu verschaffen, der Schule das alte Prestige zur¨ uckzugeben und dabei auch die neuen Anforderungen zu ber¨ ucksichtigen, die dem kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritt unseres Landes geschuldet sind. Eine radikale Reform, aus welchen edlen Absichten auch immer, schien nicht notwendig zu sein“. Die Stellungnahme der Accademia dei Lincei scheint von einer Verteidigung des Status quo beseelt zu sein: Die italienische Schule zeigt, vor allem nach dem Krieg, einige Risse, aber um das zu beheben, reicht es aus, wieder ein bißchen F¨ uhrung zu zeigen und die Strenge wiederherzustellen, die den Aufschwung nach der Einheit des Landes erm¨ oglicht hatte. Es ist also der Faschismus, der ¨ ¨ f¨ ur die Sache der Anderung eintritt – selbst wenn es sich um eine Anderung handelt, die auf eine Restauration hinausl¨ auft – mit allen Vorteilen, die ihm aus Vorschl¨agen erwachsen, welche als neu und als L¨osung f¨ ur die bis jetzt erfahrene R¨ uckst¨andigkeit unterbreitet werden. Die Antwort an die Accademia dei Lincei erfolgt in Zeitungsver¨offentlichungen, und zwar mit einem Artikel von Nicola Festa (Vertreter der Azione cattolica) im Giornale d’Italia und einem Interview Gentiles, das am 18. Au14
Die Kommission besteht u ¨ berwiegend aus Mitgliedern, die auch Senatoren sind und an den Kommissionssitzungen im April und im Mai teilgenommen hatten. Die genaue Zusammensetzung der Kommission findet man in Paoloni [65].
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gust 1923 in La Sera erscheint. Der Minister behauptet: Die speziellen Be” anstandungen, die im Bericht der Mitglieder der Accademia dei Lincei vorge¨ bracht wurden, sind nicht so beschaffen, daß sie mir diesbez¨ ugliche Anderungen ratsam erscheinen lassen. Wenn ich ein ad hominem Argument verwenden wollte, dann w¨ urde ich indessen damit beginnen, meinen Kritikern die F¨ahigkeit abzusprechen, mich zu kritisieren. Damit wir uns richtig verstehen, es sind alles ber¨ uhmte Wissenschaftler: aber wieviele von ihnen haben – und dessen kann ich mich r¨ uhmen – das Schulproblem zum Gegenstand ihrer geistigen Anstrengungen gemacht? Daher sind diese Kritiken sehr schwach und unhaltbar und auf jeden Fall w¨ urde dieser Bericht schwerlich die Einm¨ utigkeit oder auch nur die Mehrheit aller versammelten Wissenschaftler gewinnen“. Gentile weiß sehr gut, daß die Universit¨ aten geteilter Meinung sind und daß diejenigen, die sich gegen die Reform aussprechen, kaum aus der Deckung herauskommen werden. Alle sind durch Gentiles Reformen alarmiert. Un” sere Fakult¨at“, schreibt Volterra an Garbasso, hat f¨ ur eine Tagesordnung ” gestimmt, aber nicht so nachdr¨ ucklich, wie ich es gewollt h¨atte. Auch ging der Vorschlag nicht durch, die Sache an den Ministerpr¨asidenten zu senden. Ich geh¨orte zu den wenigen, die daf¨ ur stimmten“. Auch unter den Mitgliedern der Accademia dei Lincei zeichnen sich langsam Vorbehalte ab. Bei Deiner R¨ uck” kehr“, schreibt Castelnuovo an Volterra, werden wir uns u ¨ber viele Dinge zu ” unterhalten haben. An erster Stelle u ¨ber D’Ovidios ziemlich unangebrachten 15 Brief , der unter dem Vorwand eines Details des Berichtes [...] die Gelegenheit benutzt und dem Publikum zu verstehen gibt, daß er keineswegs f¨ ur den Bericht verantwortlich sei, sondern daß diese S¨ unde der neuen Pr¨asidentschaft zuzuschreiben sei!“ Bereits auf den Sitzungen im April und Mai hatten sich die katholischen Professoren-Senatoren von der Sache distanziert und gegen Mazzonis Tagesordnung gestimmt. Zus¨ atzlich zur Unterst¨ utzung von katholischer Seite kann die Reform auf die Stimmen der Anh¨ anger Croces und Gentiles z¨ahlen, die in den Schulen und an den Universit¨ aten reichlich vertreten sind. Am 21. August 1923 erscheint ein weiterer Artikel, der die Sache der Reform unterst¨ utzt, in Don Sturzos Zeitung Il Popolo.16 Lieber Volterra“, schreibt Castelnuovo, ich ” ” 15
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Es handelt sich um Francesco D’Ovidio, Volterras Vorg¨ anger als Akademiepr¨ asident. Don Sturzo (Luigi Sturzo) (1871–1959), italienischer Priester und Politiker. Um 1900 geh¨ orte er der sozialreformerischen Bewegung der Christlichen Demokraten an und war eine der f¨ uhrenden Pers¨ onlichkeiten innerhalb der Katholischen Aktion (Azione Cattolica). 1919 z¨ ahlte er zu den f¨ uhrenden Gr¨ undungsmitgliedern des Partito Popolare Italiano (PPI), aus der 1942 die Democrazia Cristiana (DC) hervorging. Er agierte als deren Generalsekret¨ ar (von 1919 bis 1923), konnte sich in der Partei 1922 aber nicht mit seiner Ablehnung einer Beteiligung der PPI an der Regierung Mussolinis durchsetzen, zumal die Kurie die innerparteilichen Gegner Sturzos unterst¨ utzte. Am 10. Juli 1923 trat er von diesem Posten zur¨ uck. Als entschiedener Gegner des faschistischen Regimes Mussolinis emigrierte er noch 1924 nach Großbritannien; 1940 ging er in die USA, wo er bis 1946 in New York
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habe vor zwei Tagen an das Giornale d’Italia einen Artikel als Antwort an den Minister und an Prof. Festa geschickt. Ich habe den Minister mit großer Ehrerbietung behandelt, weil er Minister ist und weil er trotz seiner extravaganten Ideen eine hochgestellte Person ist; jedoch hat er Unrecht, wenn er meint, daß jede Kritik durch pers¨ onliche Gr¨ unde inspiriert ist. Der zusammenhanglose Artikel von Prof. Festa h¨ atte es wirklich nicht verdient, ernst genommen zu werden; aber ich habe versucht, mich auf keine Polemik einzulassen und bin auf die zwei oder drei Punkte zur¨ uckgekommen, bei denen wir einer Meinung waren. Nochmals zu unserem Bericht. Ich muß Dich nur auf einen Artikel aus Il Popolo vom 21.–22. August aufmerksam machen, (es muß die Zeitung von Don Sturzo sein), in dem der Verfasser zun¨achst die Akademie tadelt, weil sie sich zu sehr vom Leben des Landes absondere; danach folgen mehrere Ungereimtheiten und schließlich findet der Autor, daß dieser erste Versuch (der Bericht), sich f¨ ur die Probleme der nationalen Bildung zu interessieren, nicht gl¨ ucklich gewesen ist. Der Autor ist offensichtlich ein Anh¨anger Croces oder Gentiles (der Artikel ist nicht unterzeichnet) und legt sich mit Garbasso an“. Am 15. September 1923 dr¨ uckt eine Pressemeldung, die wie u ¨blich am Ende der Kabinettsitzung herausgegeben wird, die volle Unterst¨ utzung der Regierung f¨ ur Gentile aus: Angst und Anschuldigungen wurden absicht” lich Zug um Zug in akademischen Kreisen verbreitet, wo die sektiererischen Gegner glauben, eine Gefolgschaft zu haben [...] und sich noch nicht beugen wollen, um anzuerkennen, daß die kulturelle Wiedergeburt des Landes eines der haupts¨achlichen Anliegen der von Mussolini gef¨ uhrten Regierung ist“. Die Betonung der Zustimmung ist eine Vorbereitung f¨ ur den Erlaß des Dekrets zur Universit¨atsreform. Die Leute, mit denen ich gesprochen habe“, schreibt ” Castelnuovo am 2. Oktober 1923 an Volterra, kritisieren einstimmig die Re” formen Gentiles, aber nur sehr wenige bringen den Mut auf, es offen zu tun. ¨ Uber die Taktik, die zu befolgen ist, werden wir uns pers¨onlich unterhalten, sobald ihr beide, Du und Scialoja, zur¨ uck seid“.17 Das Dekret u aten, dem bereits im April besorgte Stimmen ¨ ber die Universit¨ vorausgingen, die von einer Abschaffung von Universit¨atsstellen sprachen (eine vom Minister stets bestrittene Absicht), st¨ utzt sich ebenfalls auf die Zw¨ange der Staatsfinanzen, um Steuererh¨ ohungen und Haushaltsk¨ urzungen zu rechtfertigen.18 Die Reform stellt sich das Ziel, die Anzahl der Studenten zu senken, da diese andernfalls – nach Meinung des Ministers – die Schlangen der Arbeitslosen nur noch weiter vergr¨ oßern w¨ urden. In Wirklichkeit unterliegt die Immatrikulationsdynamik keinen großen Schwankungen; dennoch f¨ uhren Gentiles
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lebte. 1946 kehrte er nach Italien zur¨ uck, spielte in der DC aber keine f¨ uhrende Rolle mehr. Ab 1953 hatte er einen Sitz im italienischen Senat, einer der beiden Kammern des italienischen Parlaments, inne, da er zum Senator auf Lebenszeit ernannt wurde. Vittorio Scialoja (1856–1935), italienischer Jurist und Staatsmann. Die K¨ urzung der Ausgaben wird nur teilweise durch eine Sonderbereitstellung von Mitteln f¨ ur die Universit¨ atslaboratorien korrigiert, wie es Corbino, der neue Wirtschaftsminister, gew¨ unscht hatte.
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¨ Maßnahmen zu einer radikalen Anderung der Physiognomie der italienischen Universit¨aten. Nach Aufhebung des Wahlprinzips werden die Rektoren und Dekane wieder vom Minister ernannt. Die Einf¨ uhrung des esame post laurea ¨ zur Berufsbef¨ahigung unterstreicht – entsprechend einer alten Uberzeugung des Philosophen Gentile – den rein theoretischen und wissenschaftlichen Charakter des Universit¨ atsstudiums. Freiheit und Autonomie schließlich werden einfach als Entlastung des Staatshaushaltes verstanden: Bei den Universit¨aten macht man einen Unterschied zwischen den zehn gr¨oßten, die g¨anzlich vom Staat getragen werden, und den kleineren, deren Schicksal hingegen den Vereinbarungen zwischen dem Staat und anderen Einrichtungen u ¨berlassen wird. Und schließlich werden freie Universit¨ aten anerkannt, bei denen sich der Staat die Kontrolle vorbeh¨ alt, wenn diese Universit¨ aten zur Ausstellung g¨ ultiger Titel zugelassen sind. Zu diesem Teil der Reform wird Pater Agostino Gemelli19 von Gentile zur Mitarbeit berufen. Das ist die Voraussetzung f¨ ur die Anerkennung der Katholischen Universit¨ at (Universit` a Cattolica), die im Oktober 1924 erfolgt. Am 1. Oktober wird schließlich auch die Reform der scuola primaria verabschiedet: Als Fundament und Kr¨onung der Grundschulbildung ” in allen ihren Stufen wird der Unterricht der christlichen Lehre entsprechend der Form festgelegt, die sie von der katholischen Tradition erhalten hat“. Man u ¨bertr¨agt diesen Unterricht Lehrern oder anderen Personen, die von der Kirche als geeignet betrachtet werden, w¨ ahrend den Eltern die M¨oglichkeit bleibt, gegebenenfalls eine Befreiung der Kinder zu beantragen. Auch die anderen Lehrpl¨ane m¨ ussen religi¨ os gepr¨ agt sein. In einem Rundschreiben vom Januar 1924 schreibt der Minister, daß das G¨ ottliche der Religion eine Posi” tion des Absoluten ist, die dem Kind seine Pflichten als Mensch unmittelbar offenbart“ und daß Zivilisation ein Synonym f¨ ur Christentum ist, weil kein ” Glaube das G¨ottliche so menschlich begreift“. Bereits fr¨ uher hatte Gentile – in einem Interview am 2. Juni 1924 – deutlich darauf hingewiesen, daß die einzig m¨ogliche Alternative f¨ ur nichtkatholische oder ungl¨aubige Lehrer im Folgenden besteht: Wenn jemand sich nicht in der Lage sieht, als Schulleh” rer zu arbeiten, dann kann er etwas anderes machen, und vor allem kann er denken, was er glaubt; aber da die Schule eine italienische und deswegen eine katholische ist, tr¨ agt sie die Bed¨ urfnisse des italienischen Volkes in sich“.
7.2 Von der Polizei u ¨berwacht 1924 ist das Jahr der definitiven Krise der konstitutionellen Ordnung, welche die Entwicklung Italiens nach der Einheit begleitet hatte. Volterra ist vor allem mit der Organisation des CNR besch¨aftigt, zu dessen Pr¨asident er in der Plenarsitzung am 12. Januar gew¨ ahlt wird. Die politische Niederlage im Kampf gegen die Schul- und Universit¨ atsreformen wird in gewisser Weise 19
Agostino Gemelli (1878–1959), italienischer Arzt und Psychologe, Mitglied des Franziskanerordens.
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durch die Gr¨ undung des CNR kompensiert, mit der Volterra ein langfristiges, jahrelang verfolgtes Ziel erreicht. Er kann somit trotz der Reform Gentile hoffen, mittels der Accademia dei Lincei und u ¨ ber den CNR auch weiterhin f¨ ur die italienische Wissenschaft zu wirken. Die Reform f¨ uhrt u ¨brigens zu zahlreichen weiteren negativen Reaktionen. Hierzu geh¨oren die Reaktionen der Katholiken, die weitere Zugest¨ andnisse erhofft hatten – sei es in Bezug auf die Ausdehnung des obligatorischen Religionsunterrichts auf die scuola media, sei es wegen des Wunsches nach Verg¨ unstigungen f¨ ur die privaten konfessionellen Schulen. Kritik bez¨ uglich der Herabsetzung der technischen Bildung kommt auch aus industriellen Kreisen, die ernsthaft wegen der neuen Struktur besorgt sind, die dieser Sektor durch die radikale Umgestaltung der mittleren Schulbildung erfahren hatte. Auch diese Reaktionen geben Anlaß zu einiger Hoffnung, die durch die sichtbare Schw¨ achung der Position Gentiles angefacht wird, der bereits im Februar seine R¨ ucktrittsabsichten ank¨ undigt (im darauffolgenden Juni legt er sein Amt nieder). Die italienischen Parlamentswahlen finden im April 1924 in einem Klima der Einsch¨ uchterung der Opposition und in einer Situation der schweren Behinderung der Meinungsfreiheit statt – durch eine massive Regierungszensur der Presse und durch ein Wahlgesetz, das derjenigen Partei einen Mehrheitszuschlag garantiert, die f¨ ur sich die relative Mehrheit voraussieht, also die faschistische Partei. Zahlreich sind auch die Wahlmanipulationen und Unregelm¨aßigkeiten, gegen welche die Sozialistische Partei protestiert, wobei sie das Wahlergebnis anfechtet. Giacomo Matteotti20 , der Generalsekret¨ar der Partei, wird am fr¨ uhen Nachmittag des 10. Juni 1924 entf¨ uhrt, als er gerade von zuhause losgegangen war, um sich zur Kammer zu begeben. Gleich nach seiner Entf¨ uhrung wird er umgebracht, man findet seine Leiche erst viele Wochen sp¨ater. Die vielen Stimmen, die bereits wenige Stunden nach der Entf¨ uhrung versuchen, die ¨ offentliche Meinung irrezuf¨ uhren und zu desinformieren, k¨onnen nicht verhindern, daß die Verantwortung Mussolinis als politischer Auftraggeber der Aktion sofort klar ist. Auch heute noch besteht Unklarheit u ¨ber den Inhalt der Rede und der Unterlagen, die Matteotti bei sich hatte, denn diese Dokumente werden nie gefunden. Die unmittelbar ge¨außerte Vermutung besagt, daß dieses Material das Wahlergebnis ohne jeden Zweifel ung¨ ultig gemacht h¨ atte. Andere Interpretationen sprechen von Beweisen zu einem Korruptionsfall, in den der Ministerpr¨ asident verwickelt sei. Auf jeden Fall sieht die ¨offentliche Meinung das Matteotti-Verbrechen als x-ten Vorfall der gewaltsamen Einsch¨ uchterung der Gegner. Das ist der kleinste gemeinsame Nenner der emp¨ orten Reaktion, die zum ersten Mal seit 1922 die politische Basis der faschistischen Exekutive ernsthaft zu ersch¨ uttern scheint. Der Fall Matteotti u ¨ berzeugt die Antifaschisten davon, daß die u ¨blichen Waf20
Giacomo Matteotti (1885–1924) wurde 1919 als Abgeordneter f¨ ur die Region Ferrara in die Camera dei Deputati (eine der zwei parlamentarischen Kammern) gew¨ ahlt. Er wurde 1921 und 1924 wiedergew¨ ahlt und stieg gleichzeitig zum Generalsekret¨ ar des Partito Socialista Unitario (PSU) auf.
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fen des politischen Kampfes nun unzul¨ anglich sind, um mit der Bedrohung durch Mussolini fertig zu werden. Mit Ausnahme der von Gramsci21 gef¨ uhrten Kommunisten beschließen die oppositionellen Parteien (die bereits durch den Mehrheitszuschlag bestraft worden sind), die gesetzgebende Versammlung und die Regierung dadurch zu delegitimieren, daß sie sich aus Protest aus dem Parlament zur¨ uckziehen. Man bezeichnet diese Oppositionsgruppen als Aventinianer.22 Gentile tritt am 14. Juni 1924 zur¨ uck: Seit einiger Zeit forderten ihn viele Freunde und fr¨ uhere Sch¨ uler auf, sein eigenes Schicksal vom Schicksal der mussolinischen Macht zu trennen, aber nicht das ist der Hauptgrund seiner Geste. Der Philosoph tritt zur¨ uck, um zu verhindern, daß die Unzufriedenheit mit seinen Maßnahmen eine Regierung besch¨ adigen k¨onnte, die bereits in Schwie¨ rigkeiten war. In der Uberzeugung, daß der Faschismus der bessere Garant seiner“ Schulreform sei, legt Gentile das Ministeramt nieder, um seine eigene ” Sch¨opfung besser zu sch¨ utzen. Auf Gentiles Posten h¨atte Mussolini den neapolitanischen Philosophen Croce berufen wollen: Ein geschickter politischer Zug, den Croce vorausgesehen hatte, als er mit Gentile seine Nichtverf¨ ugbarkeit vereinbart hatte und dadurch Platz f¨ ur die Ernennung von Alessandro Casati23 machte, Vizepr¨ asident des Consiglio superiore della pubblica istruzione 24 und ein liberaler Vertreter, der Gentile genehm war. Mussolini erkl¨art sich einverstanden, ernennt Casati und stellt ihm als Untersekret¨ar Balbino Giuliano25 zur Seite, der dem Faschismus und dem scheidenden Minister treu ergeben ist. In einem seiner ersten ¨ offentlichen Auftritte (ein Interview, das er Giuseppe Prezzolini26 auf Anregung Gentiles gab) spricht sich Casati f¨ ur die ¨ Reform aus, auch wenn er f¨ ur einige Anderungen pl¨adiert, die von liberalen und katholische Vertretern gefordert werden. Ende August, nachdem Matteottis Leiche gefunden worden war, erkl¨ art Gentile die Opposition des Aventin f¨ ur g¨anzlich b¨oswillig oder kindisch dumm“ und zeigt sich u ¨berzeugt, daß es ” ” 21
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Antonio Gramsci (1891–1937), Journalist, Politiker und Philosoph. Mitbegr¨ under des Partito Comunista Italiano. Die Aventinianer waren ein Zusammenschluß antifaschistischer Kr¨ afte im Italien der 1920er Jahre. Unter ihnen waren Sozialisten, Kommunisten, Liberale, Demokraten und Katholiken. Nach Matteottis Ermordung verließen die Aventinianer aus Protest das Parlament. Sie riefen die Aventinische Sezession“ ins Leben und ” beriefen sich dabei auf den Protest der Plebejer w¨ ahrend der r¨ omischen Republik. Im alten Rom streikten die Plebejer f¨ ur ihre Rechte, indem sie 494 v. Chr. zum Aventin zogen, einem der sieben H¨ ugel Roms (vgl. Mantelli ([61]). Nachdem Mussolini seine Position wieder gefestigt hatte, wurden die Mandate der Aventinianer f¨ ur ung¨ ultig erkl¨ art und ihre Organisation aufgel¨ ost. Alessandro Casati (1881–1955), Politiker, zwischen 1924 und 1925 f¨ ur sechs Mo¨ nate Minister f¨ ur Offentlichen Unterricht in der ersten Regierung Mussolini. ¨ Consiglio superiore della pubblica istruzione (Oberster Rat f¨ ur den Offentlichen Unterricht). Balbino Giuliano (1879–1958), Historiker und Politiker. Giuseppe Prezzolini (1882–1982), Journalist, Schriftsteller und Verleger.
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kein Zur¨ uck mehr gibt, wenn es in der Welt wirklich ein Italien geben soll“. W¨ ahrend es der Aventinischen Sezession nicht gelingt, einen effektiven politischen Ausweg zu finden, f¨ ordert Mussolini die Gr¨ undung einer Kommission zur Reform des Staates, die sogenannte Commissione dei Quindici (Kommission der F¨ unfzehn) und beruft Gentile zu deren Vorsitz. Diese Kommission legt die Grundlagen f¨ ur die Maßnahmen, die es Mussolini in den nachfolgenden Monaten gestatten, die konstitutionelle Monarchie und die parlamentarische Ordnung in eine Diktatur im eigentlichen Sinne des Wortes zu u uhren. ¨berf¨ In der zweiten H¨ alfte des Jahres 1924 blickt Volterra mit nunmehr wachsender Sorge auf die politische Lage. Es ist jetzt klar, daß der Faschismus das Ende des liberalen Staates bedeutet, an den er immer geglaubt hatte. Volterra ist nicht der Einzige, der so denkt. Auch der Bruch zwischen Croce und Gentile im Oktober 1924 klingt wie ein Abschied. Im Oktober, nachdem auf dem Parteitag der Liberalen Partei der Fl¨ ugel derjenigen in eine Minderheit geraten ist, welche die Zusammenarbeit mit der faschistischen Regie¨ rung unterst¨ utzen, nimmt Gentile eine Außerung Croces, die ihm von Casati zugetragen worden war, zum Anlaß, Croce zu schreiben und ihn um eine Klarstellung ihres Verh¨ altnisses zu bitten, das bis jetzt immer von gegensei” tiger Achtung und gegenseitiger Zuneigung“ durchdrungen gewesen sei. Ich ” kann mich wirklich nicht erinnern, ein solches Gespr¨ach mit Casati gef¨ uhrt zu haben“, antwortet ihm Croce, und ich konnte es auch nicht getan haben, ” weil es nicht meiner Gesinnung entspricht. Gewiß befinden wir uns seit vielen Jahren in einem geistigen Konflikt, der allerdings nicht so beschaffen war, daß er sich in unseren pers¨ onlichen Beziehungen widerspiegelte. Aber jetzt ist ein anderer Konflikt praktischer und politischer Natur dazugekommen, und der erstgenannte Konflikt hat sich in den zweiten umgewandelt, der sch¨arfer ist. Da ist nichts zu machen. Es ist notwendig, daß die Logik der Situation durch die Individuen und trotz der Individuen abl¨auft“. Der Bruch mit Gentile ist f¨ ur Croce ein schmerzlicher pers¨ onlicher Schritt, der aber bei Croces endg¨ ultiger Trennung vom Faschismus unvermeidlich ist. Es ist der Bruch einer dreißigj¨ahrigen Freundschaft. Die beiden Philosophen gr¨ ußen sich nicht einmal mehr, wenn sie sich im Senat treffen. Am 31. Oktober 1924 erh¨ alt Volterra einen Brief, der ihm ank¨ undigt daß ” am 8. November hier in Rom ein Treffen von Parlamentariern, Wissenschaftlern und K¨ampfern stattfindet, um die freien M¨anner der konstitutionellen Opposition in einer nationalen Vereinigung der liberalen und demokratischen Kr¨afte zu sammeln. [...] Verehrter Senator, wir m¨ochten, daß es in dem Augenblick, in dem sich die Vereinigung dem Land ank¨ undigt, nicht an Ihrer maßgeblichen Unterst¨ utzung fehlt“. Ein Postskriptum informiert, daß sich an der Initiative, die unter anderem von Giovanni Amendola27 gef¨ordert 27
Giovanni Amendola (1882–1926), Journalist und Politiker. In den ersten Jahren des italienischen Faschismus geh¨ orte er zu den herausragenden liberalen Antifaschisten des Landes. Amendola starb 1926 an den Folgen eines faschistischen Attentats.
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wird, bereits Senatoren, Politiker und Schriftsteller beteiligen. Volterra antwortet postwendend; er telegrafiert: Bedauerliche Umst¨ande verhindern Teil” nahme an Sitzung, habe tiefe Sympathie f¨ ur nationale Vereinigung liberaler demokratischer Kr¨ afte“. Wir wollen die Chronik jener Monate weiter verfolgen. Am 3. Januar 1925 u ¨bernimmt Mussolini – in einer Rede vor der Kammer – offen die politische Verantwortung f¨ ur die Vorf¨ alle, einschließlich des Todes von Matteotti, und fordert die schw¨achelnden Oppositionsparteien heraus. Seine Rede und die darauf folgenden Maßnahmen werden im Allgemeinen als der wahre Beginn der Diktatur betrachtet. Am 4. Januar schreibt Gentile an Mussolini und gratuliert ihm zu der exzellenten“ Rede: das ganze Land erwacht und wendet ” ” sich Ihnen zu“. W¨ ahrend der (von Farinacci gesteuerte) gewaltt¨atige Fl¨ ugel des Faschismus eine neue Welle der organisierten politischen Gewalt entfesselt, weist der Duce auf die Notwendigkeit hin, noch gezielter um Zustimmung zu werben und appelliert an jene Intellektuellen, von denen jetzt – in Abwesenheit von organisierten und legalen politischen Alternativen – noch eine Bedrohung f¨ ur die im Aufbau befindliche Diktatur ausgehen k¨onnte. Gentile erh¨alt deswegen von Mussolini die Aufgabe, den Faschismus dort zu st¨arken, wo er am schw¨achsten erscheint: in der Bildung. Noch im M¨arz 1925 glaubt Giovanni Amendolas Zeitung Il Mondo das Scheitern des Faschismus in dessen Versuch registrieren zu k¨ onnen Pers¨ onlichkeiten der Forschung und der Ge” lehrsamkeit in seinen Bann zu ziehen und sich mit der sogenannten Intelligenz zu umgeben“. In diesem Umfeld akzeptiert Gentile den Auftrag, die italienische Bildung als Instrument f¨ ur das aufstrebende Regime zu reorganisieren, und zwar durch die Umgestaltung seiner Philosophie zur Ideologie und durch die Umwandlung seiner eigenen akademischen Machtgruppe in die Beamtenschaft der zu gr¨ undenden Bildungseinrichtungen der Partei und des Staates. Nach kurzer Zeit spricht Croce ein hartes Urteil: Die Verseuchung von Poli” tik und Literatur sowie von Politik und Wissenschaft ist ein Fehler, der, wenn er – wie in diesem Fall zur Unterst¨ utzung beklagenswerter Gewaltt¨atigkeiten ¨ und Ubergriffe sowie zur Unterdr¨ uckung der Pressefreiheit – begangen wird, u utig bezeichnet werden kann“. ¨berhaupt nicht als großm¨ Am 29. und 30. M¨ arz 1925 spricht Gentile in Bologna das Schlußwort auf der Tagung f¨ ur faschistische Bildungseinrichtungen, die von der Presse- und Propagandastelle des Partito Nazionale Fascista (PNF) und von der faschistischen Universit¨at organisiert wurde – Gentile selbst hatte die Universit¨at am 9. M¨arz in der emilianischen Hauptstadt28 er¨ offnet. Der Fixpunkt des Planes ist und bleibt die Identifizierung der Partei mit Italien: Unsere Partei ist ” weder eine Sekte noch eine Clique. Unsere Partei will das italienische Volk sein“. Von hier r¨ uhrt die Notwendigkeit, das alte Italien zu respektieren, das ” wir nicht ausl¨oschen k¨ onnen“. Den extremistischen Splittergruppen des PNF antwortet er, daß das Ziel, das verfolgt werden m¨ usse, nicht in der Weiterentwicklung einer streng festgelegten faschistischen Doktrin besteht, sondern 28
Bologna ist die Hauptstadt der Region Emilia-Romagna und der Provinz Bologna.
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in der Erschließung des umfassenden ideellen Gehaltes“ des Faschismus, um ” einen Kulturfaschismus“ zu erreichen. Am Ende der Tagung wird Gentile in ” einem Tagesordnungspunkt aufgefordert, ein Dokument vorzubereiten, das in Italien und im Ausland die Merkmale des Faschismus bekannt machen soll. So entsteht das von Gentile verfaßte und von Mussolinis Faust korrigierte“ Ma” nifesto degli intellettuali fascisti 29 , das am 21. April, dem Tag der Gr¨ undung 30 Roms , ver¨offentlicht wird. Es ist klar, daß man damit im Begriff war, ein umfassendes und organisches Programm der Faschisierung der Kultur und der Schule“ in die Hand ” zu nehmen. Amendola regt nun eine Antwort auf Gentiles Manifest an und beauftragt Croce, diese Antwort zu verfassen. Die intellektuellen Faschisten, die ” sich auf dem Kongreß in Bologna versammelt haben“, so beginnt Croces Text, haben ein Manifest an die Intellektuellen aller L¨ander gerichtet, um ihnen die ” Politik der faschistischen Partei zu erl¨ autern und diese Politik zu verteidigen. Als sie sich an dieses Unterfangen machten, d¨ urften sich jene eifrigen Herren nicht daran erinnert haben, daß zu Beginn des europ¨aischen Krieges ein ahnlich ber¨ uhmtes Manifest von deutschen Intellektuellen in die Welt hinaus¨ posaunt worden war31 – ein Manifest, das damals allgemein mißbilligt wurde und sp¨ater von den Deutschen selbst als Fehler betrachtet wurde“. Das Antimanifest (das heute unter dem Namen Manifesto Croce bekannt ist) wird am 1. Mai 1925 in den Zeitungen der Opposition ver¨offentlicht und es erscheinen auch zahlreiche Zustimmungen, am 10. Mai die Vito Volterras. Einen Monat sp¨ ater kommt der Mathematiker seinen letzten Verpflichtungen als Pr¨asident der Accademia dei Lincei und des CNR nach. In den Sitzungen der Versammlung und des Leitungsgremiums der Einrichtung kommt es in dieser Zeit zu erbitterten Auseinandersetzungen wegen der m¨oglichen Gr¨ undung eines großen nationalen Labors; eine solche Gr¨ undung wird von Volterra und Patern` o32 bef¨ urwortet und auch seitens der Regierung durch Giannini33 und Magrini unterst¨ utzt. Die Initiative ist f¨ ur die Mehrheit der Universit¨atsangeh¨ origen unerw¨ unscht, die allenfalls mehr Finanzmittel f¨ ur die Universit¨atslaboratorien verlangt. Die Spannungen machen sich auch im Senat bemerkbar: Giannini und Magrini u ¨ berzeugen sich davon, daß Volterra – der bereits als Gegner des Regimes gilt – von keinerlei Nutzen mehr ist, 29
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Genaue Bezeichnung: Manifesto degli intellettuali italiani fascisti agli intellettuali di tutte le nazioni (Manifest der italienischen faschistischen Intellektuellen an die Intellektuellen aller Nationen). Romulus und Remus waren nach der r¨ omischen Mythologie die Gr¨ under der Stadt Rom. Gegr¨ undet wurde Rom laut Titus Livius am 21. April 753 v. Chr. Wir haben dieses Manifest auszugsweise auf S. 108 zitiert. Der Chemiker Emanuele Patern` o (di Sessa) (1847–1935) war Professor der Universit¨ at Rom, wo er an photochemischen Aufgabenstellungen arbeitete und 1909 die Patern` o-B¨ uchi-Reaktion entdeckte. Patern` o war auch politisch aktiv. Er war zwischen 1890 und 1892 B¨ urgermeister von Palermo und zwischen 1898 und 1914 Mitglied des Regionalparlaments. Amedeo Giannini (1886–1960), Politiker und Senator des K¨ onigreichs Italien.
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7 Das Ende der Freiheit
nicht einmal auf der strikt akademischen Ebene. Weitere Entt¨auschungen erlebt Volterra vonseiten der Politik. Dem Kollegen Mario Abbiate34 , der ihn im August einl¨adt, der zu gr¨ undenden Gruppe der demokratischen Senatoren beizutreten, antwortet Volterra mit gesundem Menschenverstand: Ich ” frage mich, ob man zur St¨ arkung der Opposition nicht eine einzige Gruppe bilden sollte, in die also die liberale Gruppe integriert wird – um so mehr, da die Ziele in diesem Moment die gleichen sind und es sich lohnt, soweit es m¨oglich ist, die Kr¨ afte zu sammeln und vollkommen in Einklang zu bringen“. Man kann sich Volterras Entt¨ auschung angesichts der Antwort Abbiates vorstellen: Die Gr¨ undung verschiedener Gruppierungen entsprechend den un” terschiedlichen politischen Vorstellungen ist eine fundamentale Notwendigkeit des parlamentarischen Systems“. In Volterras Augen f¨ uhrt die Unf¨ahigkeit zur Zusammenfassung der liberalen Senatoren (die sich bereits in einer parlamentarischen Gruppe konstituiert hatten) und der demokratischen Senatoren zu einer weiteren Schw¨ achung der einzigen verbliebenen M¨oglichkeit einer legalen Opposition im Lande. Im Januar 1926 macht sich Mussolini zum F¨orderer der Gr¨ undung der neuen Accademia d’Italia. Diese Gr¨ undung f¨ uhrt faktisch zu einer Delegitimierung der Rolle der Accademia dei Lincei. Volterra bereitet, auch infolge des Druckes einiger Mitglieder, ein m¨ ogliches R¨ ucktrittsschreiben vor: Ich ” sp¨ ure, daß sich meine Person in diesem Moment nicht als n¨ utzlich f¨ ur die Leitung der Akademie erweist, und diese Meinung ist mir auch von einigen Mitgliedern zum Ausdruck gebracht worden. W¨ahrend ich den Kollegen f¨ ur das Vertrauen danke, das sie mir stets erwiesen haben, und dem ich so gut wie m¨oglich gerecht werden wollte, bitte ich Sie, meinen R¨ ucktritt von der Pr¨asidentschaft anzunehmen“. Die Nachricht vom wahrscheinlichen R¨ ucktritt erscheint in der Presse und f¨ uhrt dazu, daß einige Mitglieder sofort mit der Bitte an Volterra herantreten, seinen Entschluß zu u ¨berdenken. Wer jetzt mit ” dem eigenen Kopf denkt und nicht gewillt ist, sich der herrschenden Macht zu unterwerfen“, schreibt ihm Luigi Errera35 einige Tage sp¨ater, darf auf ” keiner h¨oheren Stelle bleiben. Ich glaube, daß es in Italien nicht wenige sein werden, die das bedauern, so wie ich es tue; und in Anbetracht der hohen Position, die Sie in der Wissenschaft einnehmen, und wegen der weltweiten Wertsch¨atzung, die Sie genießen, wird die Nachricht von Ihrem R¨ ucktritt im Ausland einen schmerzlichen Eindruck hinterlassen und gewiß nicht zum Ansehen unseres Landes beitragen“. Die Pressemeldung war nicht exakt, aber im Juni, vor dem Ablauf seiner ersten dreij¨ ahrigen Pr¨asidentschaft, beschließt 34
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Mario Abbiate (1872–1954), Politiker, 1920 Minister f¨ ur Industrie und Handel in der zweiten Regierung Nitti. In Boatti [7] lesen wir, daß Luigi Errera ein hochgestellter Leiter bei der Ei” senbahn war, der, als er den Aufstieg des Faschismus sah, beschloß, in Pension zu gehen, um nicht Mitglied der Partei werden zu m¨ ussen; er ging einen Monat vor der angek¨ undigten Bef¨ orderung, damit es nicht so aussah, als ob er auf die Pension spekulierte“.
7.2 Von der Polizei u ¨berwacht
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Volterra jedenfalls, kein weiteres Mal zu kandidieren und Scialoja wird zum Pr¨asidenten gew¨ ahlt. Unterdessen reifen die Bedingungen auch f¨ ur Volterras Ausschluß aus dem CNR. Im Januar 1927 antwortet Volterra auf Somiglianas Frage, was es Neues gebe: Auch ich habe Magrini selten gesehen. Er hat mir gesagt, daß neue Be” stimmungen u ¨ ber den Consiglio di Ricerche in Vorbereitung seien, aber er hat nicht gewußt, worum es sich handelt, außer daß es da eine Erh¨ohung der Mittel geben m¨ ußte. Was mich betrifft, so lief meine Pr¨asidentschaft Ende des vergangenen Jahres nach dem vollendeten Dreijahreszeitraum ab und es muß ein neuer Pr¨asident ernannt werden. Dieser wird sich mit den offenen Fragen befassen m¨ ussen“. Ende M¨ arz erfolgt per Erlaß tats¨achlich eine Neuordnung des CNR, ohne daß jedoch die neue Organisation irgendeine praktische Wirkung hat, da es keinen neuen Pr¨ asidenten und keine sichere finanzielle Zuwendung gibt. Noch im August 1927 ist man nur auf dem Stand von Ger¨ uchten. Somigliana schreibt an Volterra: Ich hatte keinerlei direkte Information oder ” Mitteilung. Ich erfuhr, daß man den Zuschuß f¨ ur den Consiglio nazionale di 36 ricerche auf 500.000 Lire erh¨ oht hat und daß Marconi als Pr¨asident designiert wurde. Auch General Vacchelli37 , den ich befragt habe, konnte mir nichts Anderes erz¨ahlen. Magrini sagt, daß er es gewesen sei, der die Erh¨ohung des Zuschusses erreicht habe und daß er bez¨ uglich der Neugr¨ undung des Komitees konsultiert worden sei“. Das, was Somigliana berichtet, entspricht den tats¨achlichen Absichten der Regierung. Im September tritt Marconi sein Amt als Pr¨asident an und die neue F¨ uhrung beginnt, die T¨atigkeit des CNR neu zu definieren. Bester Freund“, schreibt Volterra im April 1928 an Stringher, ich schrei” ” be Dir vertraulich, um Dir von einer Sache zu erz¨ahlen, die mich sehr u ¨berrascht hat und die f¨ ur mich sogar unerwartet war, und somit auch f¨ ur diejenigen unerwartet gekommen ist, die hier anwesend waren“. Volterra, damals noch Vizepr¨asident des International Research Council, hielt sich in Br¨ ussel auf, um an der Plenarsitzung des Rates teilzunehmen. In seinem Brief an Stringher schreibt er weiter: Der International Research Council hat alle ”¨ ¨ Amter verl¨angert, sowohl die Amter derjenigen, die anwesend waren – ganz ¨ gleich, ob sie delegiert wurden oder nicht –, als auch die Amter derjenigen, die hier nicht teilgenommen haben. Wie ich Dir bereits vor meiner Abfahrt sagte, bin ich hier in meiner Eigenschaft als internationaler Vizepr¨asident anwesend – ein Amt, das weder mit den nationalen Institutionen noch mit den Delegierungen zu tun hat. Jetzt haben gegen meine Amtsverl¨angerung, die zusammen mit allen anderen erfolgte, die beiden italienischen Delegierten opponiert, die sich auch gegen meine Beteiligung an einer Kommission zum Entwurf der Satzung (commissione di studio dei regolamenti ) ausgespro36 37
Heute ca. 400.000 Euro. Nicola Vacchelli (1870–1932), Kommandant des Istituto Geografico Militare in Florenz, von 1924 bis 1928 Pr¨ asident der Internationalen Geographischen Gesellschaft.
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chen haben. [...] Die Delegierten sind Giannini und Magrini. Mir scheint, daß der Forschungsrat Delegierte h¨ atte schicken sollen, die einen etwas gr¨oßeren wissenschaftlichen Ruf haben und taktvoller sind“. Volterra weiß nicht, daß die Aktion von Giannini und Magrini am 22. M¨arz 1928 in einer Sitzung des Direktoriums des CNR beschlossen worden war, an der auch Stringher teilgenommen hatte. Volterra weiß auch nicht, daß die Regierung bestrebt ist, ¨ ihn aus allen internationalen Amtern auszuschließen. Der Schluß seines Briefes an Stringher ist von großer Traurigkeit durchdrungen: Ich wollte Dich ” ganz vertraulich u ¨ber die Angelegenheit informieren, da ich – wenngleich ich nicht mehr Mitglied des Consiglio Nazionale di Ricerche bin, obwohl ich ihn seinerzeit mit Deiner Hilfe [...] nach vielen Anstrengungen gegr¨ undet hatte –, immer noch Interesse f¨ ur die Einrichtung bewahre“. Anhand dieser Episode kann man den Grad der Isolierung ermessen, den das Regime dem ber¨ uhmten Akademiemitglied und Oppositionellen aufzuzwingen versucht. Volterra bleibt nat¨ urlich die Lehre. Wir zitieren aus der R¨ uckerinnerung eines besonderen Studenten, des zuk¨ unftigen Physiknobelpreistr¨agers Emilio Segr`e: Ich besuchte als dritten obligatorischen Kurs Vol” terras Vorlesung u uge hinzu, daß ich im dar¨ ber mathematische Physik. Ich f¨ auffolgenden Jahr erneut seinen Kurs h¨ orte, weil er jedes Jahr das Thema wechselte. Volterras Vorlesungen waren gut organisiert und die Materie klug ausgew¨ahlt (wie ich sp¨ ater bemerkte), aber er sprach mit einer sanften Stimme sowie etwas durchdringend oder nasal, was zum Einschlafen verleitete. [...] Volterra hatte die Gewohnheit, die Augen zu schließen, w¨ahrend er sprach oder rechnete, und jemand sagte, daß er als gutherziger Mensch nicht sehen wollte, wie sehr die Studenten litten. Hiervon abgesehen waren die Vorlesungen lehrreich. Wir lernten Methoden der klassischen mathematischen Physik wie etwa die Greenschen Funktionen und die Geheimnisse des Laplace-Operators“.38 Im Jahr 1928 ist Volterra als politisch verd¨achtige Person bereits Inha” ber“ einer Polizeiakte. Als Senator ist er jedoch durch die gesetzliche Immunit¨at gesch¨ utzt und sucht Erleichterung von dieser dr¨ uckenden Atmosph¨are der Verfolgung, indem er h¨ aufig ins Ausland f¨ahrt. Er reist nach Schweden und nach Paris, wo er am Institut Poincar´e eine Vortragsreihe h¨alt. Er f¨ahrt auch nach Rum¨anien an die Universit¨ aten Bukarest und Cluj39 sowie nach 40 Madrid . Volterra erh¨ alt 1926 eine weitere Ehrendoktorw¨ urde, dieses Mal von der Universit¨ at Oxford. Die Ausstellung seines Reisepasses wird zu einer Staatsangelegenheit. Am 19. Dezember 1928 schreibt das Polizeipr¨asidium ¨ Rom an die Generaldirektion f¨ ur Offentliche Sicherheit: Der K¨onigliche Se” nator Vito Volterra hat einen Antrag auf Ausstellung eines Auslandspasses gestellt. Der Genannte ist, wie bekannt, ein liberaler Gegner und hat gegen 38 39 40
Segr`e [84]. Die fr¨ uhere ungarische Stadt Klausenburg (Kolozsv´ ar) in Siebenb¨ urgen. Der Vorlesungstext wird 1927 in spanischer Sprache (Volterra [134]) und 1959 f¨ ur das internationale Publikum unter dem Titel Theory of functionals and of integral and integro-differential equations mit einem Vorwort von Evans ver¨ offentlicht.
7.3 Der Treueid
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das Gesetz des Faschistischen Großrates (Gran Consiglio del Fascismo) gestimmt. Das vorliegende Amt h¨ atte jedoch keine spezifischen Gr¨ unde, ihm den Ausstellungsantrag zu verweigern. Ich informiere dennoch das Ministerium dar¨ uber, damit es festlegt, was es in diesem Zusammenhang anzuwenden gedenkt“. Das Phonogramm enth¨ alt die Aufzeichnungen der Beamten, die mit den Ermittlungen beauftragt sind: Er geh¨ort zu den Unterzeichnern ” des Croce-Manifests“; Er geh¨ ort zu den oppositionellen Senatoren“. Andere ” Anmerkungen zeigen, daß sein Name in den 1926 und 1927 er¨offneten Polizeiakten in den Kategorien C2 (Educazione e vita religiosa) und A1 (Problemi generali del lavoro) auftritt. Mit dem Fall Volterra“ befaßt man sich auf ” h¨ochster Ebene: Das Ja“ zur Bewilligung des Passes wird durch das cha” rakteristische M abgezeichnet, das die Vorg¨ ange kennzeichnet, die direkt vom Duce entschieden werden. Auf dieser Ebene werden Volterras Angelegenheiten behandelt, die Gegenstand besonderer Besprechungen zwischen Mussolini und Polizeichef Arturo Bocchini sind. Volterra wird in den 1930er Jahren auch weiterhin von der politischen Polizei u ¨berwacht und seine Reisen sind in den Phonogrammen des Polizeipr¨ asidiums festgehalten. Wenn Volterra von seinen Reisen zur¨ uckkehrt, gibt der Beamte regelm¨aßig durch: Ich informiere ” dar¨ uber, daß Senator Vito Volterra, Sohn des verstorbenen Abramo, hierher ¨ zur¨ uckgekehrt ist. Uberwachung reaktiviert“.
7.3 Der Treueid Artikel 18 der Universit¨ atsreform vom September 1923 schaffte nicht nur das Wahlprinzip f¨ ur die Ernennungen der Rektoren und der Dekane ab, sondern f¨ uhrte f¨ ur die Universit¨ atsprofessoren die Pflicht zum Treueid ein, der bereits f¨ ur alle Beamten vorgesehen war. Der Text der zu verabschiedenden Eidesformel wurde jedoch einer sp¨ ater folgenden Vorschrift u ¨berlassen. Gentile er¨off¨ nete am 15. November 1923 die Sitzung des Obersten Rates f¨ ur Offentlichen Unterricht mit einer umfassenden Rede, die dazu bestimmt war, allgemein positive Reaktionen hervorzurufen. Er war das spezifische Thema angegangen, indem er sich auf die Nichtneutralit¨ at des ethischen Staates berief, der einen Glauben, eine Lehre zu verteidigen hat“. Der siegreiche Krieg hatte ” zur h¨ochsten, zur italienischsten Auffassung von der Freiheit gef¨ uhrt, die aus ” Werten, Auswahl und einer Hierarchie besteht und den Staat und die B¨ urger in einem einzigen Bewußtsein und in einem einzigen Willen miteinander verschmilzt“. Dennoch scheint es nicht allzu g¨ unstig um das Vorhaben zu stehen, das als eine Beschr¨ ankung der Freiheiten der Dozenten empfunden wird, und die verabschiedete Formel erweist sich als ziemlich mild: das Lehramt aus” zu¨ uben und s¨amtliche akademischen Pflichten mit der Absicht zu erf¨ ullen, arbeitsame und rechtschaffene B¨ urger auszubilden, die dem Vaterland ergeben sind“. Dar¨ uber hinaus betrifft die Verpflichtung nur die neuberufenen Hochschullehrer und diejenigen Hochschullehrer, die an staatliche Universit¨aten oder staatlich subventionierte Universit¨ aten versetzt worden sind. Trotzdem
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7 Das Ende der Freiheit
erfolgt die Zustimmung knapp mit elf gegen neun Stimmen. Die neue Universit¨atsverordnung vom 6. April 1924 nimmt die Formel auf und bricht mit einem Prinzip, das im Februar 1911 von Gentile selbst verteidigt worden war. Am 13. Januar 1927 f¨ uhrt ein neues Dekret, das im Rahmen der leggi fa” scistissime“ 41 erlassen wurde, in die Eidesformel f¨ ur die Universit¨atsdozenten folgende Verpflichtung ein: Ich schw¨ ore, daß ich Vereinigungen oder Parteien ” weder angeh¨ore noch angeh¨ oren werde, deren Aktivit¨at mit meinen Amtspflichten nicht vereinbar ist“. Bei Verletzungen des Treueids sind ein Ausschluß von der Teilnahme an den Auswahlverfahren und die Amtsenthebung aus politischen Gr¨ unden vorgesehen. Bei der Verteidigung der neuen Maßnahme gegen¨ uber dem Senat erkl¨ art Gentile, daß die neuen Verf¨ ugungen den ” Grundsatz der Freiheit der Lehre nicht verletzen, es sei denn f¨ ur jemanden, der noch immer an das alte Vorurteil eines neutralen und agnostischen Staates gebunden ist“. Im Januar 1929 kommt der sizilianische Philosoph noch einmal auf die Frage des Eides zur¨ uck und schl¨ agt neue Nachbesserungen vor, um das heikle und jetzt dringende Problem der Faschisierung der italienischen ” Universit¨aten zu l¨ osen“. Im Februar bittet ihn der Mathematiker Francesco Severi – der das Manifesto Croce unterschrieben hatte, aber unterdessen zum Faschismus konvertiert war und mit der Ernennung zum Mitglied der Accademia d’Italia belohnt“ wurde – dem Großrat eine neue Formel zu un” terbreiten: Es w¨ are notwendig, die Maßnahme als Akt der Unnachgiebigkeit ” darzustellen, der darauf ausgerichtet ist, die lange geforderte Faschisierung der Universit¨aten zu erreichen: als einen Appell an die Loyalit¨at der Professoren, die den Eid nicht unterlassen k¨ onnten, ohne sich weit strengeren Maßnahmen als der Versetzung in den Ruhestand auszusetzen. Aber gleichzeitig auch als eine nachtr¨agliche Rechtsheilung von nunmehr fernen politischen Handlungen, so daß sich der Staat im technischen Bereich jeden Professor zunutze machen k¨onnte, der sich dem Eid unterzogen hat; auf diese Weise w¨are die gegenw¨artige absurde Situation beseitigt, daß es viele Professoren gibt, die es nur zur H¨alfte sind, da sie nicht einmal Mitglieder von Berufungskommissionen sein k¨onnen!“ 42 . Das ist u ¨ brigens die Situation, in der sich auch Severi befindet. Gentile greift den Vorschlag in einer Schrift vom August 1929 auf, in der er von dem immer noch herumspukenden Gespenst der Unterzeichner des Antimanifestes spricht und fordert, die Erinnerung an eine Vergangenheit zu ” tilgen, die wirklich vergangen ist“: Ich habe von einer Eidesformel geh¨ort, bei ” der die Lehrkr¨afte auch zu einem Treueid gegen¨ uber dem Regime aufgefordert w¨ urden: Ein solcher Schritt h¨ atte mit wenigen Ausnahmen die Ausrichtung aller Dozenten demonstriert“.
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Die sogenannten leggi fascistissime“ (im Englischen als most fascist laws“ be” ” zeichnet), die zwischen 1925 und 1926 erlassen werden, sind auch als faschistische Ausnahmegesetze bekannt. Es handelt sich um juristische Akte, welche die faktische Transformation des K¨ onigreichs Italien in ein faschistisches Regime einleiten. In Bezug auf weitere Einzelheiten vgl. Guerraggio-Nastasi [42].
7.3 Der Treueid
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Gentiles Wunsch wird bald Wirklichkeit. Balbino Giuliano43 , der am 12. September 1929 Minister f¨ ur Nationale Erziehung (ministro dell’Educazione nazionale)44 geworden ist, erl¨ aßt am 28. August 1931 das Dekret, das s¨amtlichen festangestellten Professoren und Lehrbeauftragten den Eid mit einer neuen Formel auferlegt, die explizit die Zustimmung zum Regime verlangt. Sollte es noch irgendwelche Zweifel an Gentiles Urheberschaft der Initiative geben, dann k¨onnen diese durch das Zeugnis von Gaetano De Sanctis45 zerstreut werden: Gentile fuhr fort und sagte, daß er sich das Vehikel des Eides selbst ” ausgedacht habe, um das Manifest Croce f¨ ur ung¨ ultig zu erkl¨aren. Sie wissen sehr wohl, so Gentile, daß es unter den Unterzeichnern ziemlich viele gibt, die ihre Unterschrift bereits widerrufen haben. Der Eid gibt ihnen ein Mittel, ihre Unterschrift zur¨ uckzunehmen, ohne einen offensichtlichen Widerruf zu leisten. Aber ich sagte zum Schluß, wenn ich meine Unterschrift gebe, dann gebe ich sie mit Bedacht und und ziehe sie niemals zur¨ uck. Gentile ¨ außerte sein Bedauern u ¨ber meine Entscheidung und sagte mir, daß er bestrebt sei, die Universit¨at durch den Eid von politischen Amateuren zu befreien und nannte einige Namen; er sagte auch, daß er niemals erwartet h¨atte, daß ich aus der Universit¨ at entfernt werden k¨ onnte. Hier muß ich sagen, setzt De Sanctis fort,daß sich Gentile in seiner nicht simulierten Naivit¨at ziemlich get¨auscht hat, wie es ihm bei der Beurteilung von Menschen und Umst¨anden h¨ aufig erging. Tats¨ achlich blieben die von ihm angegebenen politisierenden Professoren an der Universit¨at, und ich hielt es f¨ ur meine Pflicht, dieselbe zu verlassen. Auf diese Weise machten nur elf der ungef¨ ahr vierhundert Unterzeichner des Manifests Croce ihrer Unterschrift Ehre.“ Am 3. November 1931 erhalten alle Professoren der Universit¨at Rom, darunter auch Volterra, ein Rundschreiben des Rektors De Francisci, der sie auffordert, einen Eid entsprechend der nachstehenden Formel zu schw¨oren: Ich schw¨ore dem K¨ onig, seinen k¨ oniglichen Nachfolgern und dem fa” schistischen Regime treu zu sein, die Satzung und die anderen Staatsgesetze aufrichtig zu beachten, das Lehramt auszu¨ uben und alle akademischen Pflichten zu erf¨ ullen, mit der Absicht, arbeitsame, rechtschaffene und dem Vaterland und dem faschistischen Regime ergebene B¨ urger auszubilden. Ich schw¨ ore, daß ich Vereinigungen oder Parteien 43 44
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Balbino Giuliano (1879–1958), italienischer Historiker und Politiker. In der Zeit vom 12. September 1929 bis zum 29. Mai 1944 firmierte der Mi” ¨ nister f¨ ur Offentlichen Unterricht“ (kurz: Unterrichtsminister) als Minister f¨ ur ” Nationale Erziehung“ (kurz: Erziehungsminister). Gaetano De Sanctis (1870–1957), italienischer Althistoriker. Da De Sanctis den Treueid auf den Faschismus verweigerte, wurde er 1931 als Professor suspendiert und 1935 aus der Accademia dei Lincei ausgeschlossen.
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weder angeh¨ ore noch angeh¨ oren werde, deren Aktivit¨at mit meinen Amtspflichten nicht vereinbar ist.“ Auf den Brief, der die Professoren u ¨ ber das Datum des Treueids informiert, antwortet Volterra am gleichen Tag: Dem hochverehrten Herrn Rektor sind ” meine politischen Vorstellungen bekannt, insofern diese ausschließlich aus meinem Verhalten im parlamentarischen Rahmen resultieren, das jedoch kraft Artikel 51 des Grundgesetzes des K¨ onigreichs nicht anfechtbar ist. Magnifizenz werden deswegen verstehen, daß ich nicht mit gutem Gewissen der Aufforderung zustimmen kann, mit der Sie sich in Ihrem Schreiben vom 18. d. M. wegen des Eides der Professoren an mich gewandt hatten“. Der Ton ist trocken. Es gibt keinen besonderen Protest und keinen Aufruf, außer dem der mit F¨ ußen getretenen W¨ urde. Volterra weiß, daß er in K¨ urze einer Niederlage und der so¨ zialen Achtung entgegengeht. Dennoch sieht er sich dadurch nicht veranlaßt, den Eid zu unterschreiben. Luigi Errera kommentiert: Er kann nicht glauben, ” ¨ wie sehr ich mit dieser Handlungsweise zufrieden bin, was im Ubrigen nur die Achtung best¨atigt, die ich immer vor seinem Charakter hatte. Die Universit¨at wird zu ihrer Schande wahrscheinlich einen ber¨ uhmten Lehrer verlieren, aber gl¨ ucklicherweise bleibt er der Meister von Weltruf und er bleibt ein Beispiel, von dem wir hoffen, daß es f¨ ur die Zukunft nicht verloren ist“. Vergebens versucht Tullio Levi-Civita46 von der Fakult¨at f¨ ur Naturwissenschaften der Universit¨ at Rom eine Grußadresse und einen Dank f¨ ur den Mann zu erwirken, der diese Fakult¨ at gute zw¨ olf Jahre geleitet hatte und der unter anderen historischen Umst¨ anden Professor emeritus geworden w¨are: Ich ” m¨ochte, wenigstens im Namen einiger Mathematikerfreunde und in meinem eigenen Namen, unser großes Bedauern f¨ ur die uns soeben mitgeteilte Entfernung von Senator Volterra aus unserer Fakult¨ at ausdr¨ ucken, die mehr als dreißig Jahre lang auf sein wissenschaftliches Werk stolz sein durfte. Die Fakult¨at w¨ urdigte wiederholt die Verdienste Volterras; sie hatte auch einen indirekten moralischen Vorteil durch die in ihrer Bedeutung und ihrer Anzahl wahrhaft außergew¨ohnlichen Anerkennungen, die Volterra von Universit¨aten, Akademien und wissenschaftlichen Einrichtungen der ganzen Welt erhalten hatte“. Am 31. Dezember 1931 wird Volterra des Dienstes enthoben und aufgefordert, sofern er das Recht dazu habe, die Pension zu beantragen. Viele Hochschullehrer, die dem Faschismus gegen¨ uber feindlich eingestellt sind, werden von Croce und Einaudi – die eine nikodemische Haltung empfehlen – davon u ¨berzeugt, den Treueid zu schw¨ oren, um zu verhindern, daß die Lehrst¨ uhle in die H¨ande derjenigen fallen, die am ehesten bereit sind, den Geist der Studenten ” zu vergiften“. Volterra selbst h¨ utet sich u ¨brigens davor, seinen ¨alteren Sohn Edoardo zur Verweigerung des Eides zu ermutigen. Edoardo war bereits als Universit¨atsstudent von einer faschistischen Bande verpr¨ ugelt worden und ist jetzt 46
Weitere Einzelheiten u ¨ber die komplexe Gestalt Levi-Civitas und seine Haltung findet man in Guerraggio-Nastasi [41], [42] sowie in Nastasi-Tazzioli [63].
7.3 Der Treueid
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Dozent f¨ ur r¨omisches Recht; sp¨ ater wird er Mitglied des Widerstandes und 1973 Verfassungsrichter der Republik Italien.47 In ganz Italien sind es nur 12 Universit¨ atslehrer, die es ablehnen, den Treueid zum faschistischen Regime zu unterzeichnen48 : Bei ihnen findet sich ” in keinem feststellbaren Maße die Absicht irgendeiner gemeinsamen Mobilisierung, auch nicht die Hoffnung, zu den großen Massen zu sprechen oder eine Abstimmung mit den Scharen von Kollegen zu erreichen, welche die Auferlegung akzeptieren. Jeder der Verweigerer ist immun gegen die Hoffnung, daß die eigene Handlung in kurzer Zeit zu sp¨ urbaren Resultaten f¨ uhrt oder auch nur ein vager Vorl¨ aufer siegreicher Errungenschaften sein k¨onnte. [...] Und dennoch kommt – f¨ ur den, der ihre Existenzen verfolgt hat – mit einem Schlag die Gewißheit, daß ihr starkes und klares Nein“ nicht ohne heimliche ” Freude ausgesprochen worden sein konnte“.49 Ein letzter Eid zeichnet sich unterdessen am Horizont der akademischen Welt Italiens und in der Laufbahn des jetzt mehr als siebzigj¨ahrigen Volterra ab. Mit der 1933 zur Vervollst¨ andigung des Faschisierungsprozesses beschlossenen Reform der Akademien und der Bildungsanstalten wird die Pflicht, dem Faschismus den Treueid zu leisten, auf die Mitglieder aller Akademien des K¨ onigreiches ausgedehnt. Im Juni 1934 wird Volterra noch einmal zum Eid aufgefordert. Ein weiteres Mal weigert er sich und wird der Mitgliedschaft in allen italienischen Akademien f¨ ur verlustig erkl¨art, einschließlich seiner Mitgliedschaft in der Accademia dei Lincei. Ein weiteres Mal befindet er sich in einer kleinen, aber ehrenvollen Gesellschaft: Unter den Kollegen in Rom ist es wie u oren der Chemiker Emanuele Patern`o ¨blich De Sanctis; außerdem geh¨ (der bereits seit dem Eid von 1931 in Pension ist) und Benedetto Croce zu den Verweigerern des Treueids.
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Edoardo Volterra (1904–1984) gilt als einer der besten Kenner des r¨ omischen Rechts. Ihre Namen sind: Ernesto Buonaiuti (1881–1946, katholischer Theologe), Mario Carrara (1866–1937, Arzt), Gaetano De Sanctis (1870–1957, Althistoriker), Giorgio Errera (1860–1931, Chemiker), Giorgio Levi Della Vida (1886–1967, Sprachwissenschaftler), Fabio Luzzatto (1870–1954, Jurist), Pietro Martinetti (1872–1943, Philosoph), Bartolo Nigrisoli (1858–1948, Chirurg), Edoardo Ruffini (1901–1983, Rechtshistoriker), Francesco Ruffini (1864–1934, Jurist und Politiker, Edoardo Ruffinis Vater), Lionello Venturi (1885–1961, Kunsthistoriker) und Vito Volterra. Boatti [7].
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7 Das Ende der Freiheit
Abb. 7.1. Vito Volterra in seinem Arbeitszimmer in Rom, 1940.
8 Nach den Katzen die Fische
8.1 Die große Ausnahme In Kapitel 5 und in den Berichten u ¨ber die Kriegsjahre haben wir wenig u ¨ber die Mathematik gesprochen. Tats¨ achlich war Volterras Engagement in politischen, milit¨arischen und akademischen Angelegenheiten so groß, daß er weniger Zeit f¨ ur die Forschung fand. Deswegen erschien es uns gerechtfertigt, seinen diesbez¨ uglichen Untersuchungen weniger Platz einzur¨aumen. Die gleiche Feststellung gilt auch f¨ ur die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen – mit einer einzigen großen Ausnahme, der wir dieses Kapitel widmen. Man sagt, daß die Mathematik eine Wissenschaft f¨ ur junge Leute sei, weil die Mathematiker in jungen Jahren die besten Ergebnisse liefern.1 Nicht aus ¨ Zufall werden die Fields-Medaillen, die ein mathematisches Aquivalent f¨ ur den Nobelpreis darstellen, den kreativsten der j¨ ungeren Mathematiker verliehen, und seit 1966 ist das Alter der Preistr¨ ager auf maximal 40 Jahre beschr¨ankt. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wendet auch die Gruppe Bourbaki – die einen großen Anteil an der Entwicklung der Mathematik im zwanzigsten Jahrhundert hat – die interne Regel an, daß die Mitglieder mit Erreichen des f¨ unfzigsten Lebensjahres freundlich aufgefordert werden, die Gruppe zu verlassen, da die Betreffenden dann, wie man meinte, ihre kreativste Zeit bereits hinter sich haben. Dem Topos der jungen Mathematik widersetzen sich nat¨ urlich diejenigen, welche die Marke von 40 oder 50 Jahren bereits u ¨berschritten haben und sich die Hoffnung bewahren wollen, auch im fortgeschritteneren Alter noch originelle Beitr¨ age zu liefern. Aus analogen, entgegengesetzten Gr¨ unden hingegen bejahen es diejenigen, die darauf hoffen, das erdr¨ uckende Gewicht der reiferen Generationen abzusch¨ utteln. Ohne auf die Vorz¨ uge der entsprechenden Positionen eingehen zu wollen, kommen wir nicht umhin festzustellen, daß in dem Zeitabschnitt, mit dem wir uns jetzt befassen, Volterra das 60. Lebensjahr bereits u ¨berschritten hat. Zu 1
Der Ausspruch Mathematics is a young man’s game“ geht auf Godefrey Harold ” Hardy (1877–1947) zur¨ uck (Hardy [45]).
A. Guerraggio, G. Paoloni, Vito Volterra, Vita Mathematica, c Springer Basel AG 2011 DOI 10.1007/978-3-0348-0081-5 8,
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8 Nach den Katzen die Fische
den unvermeidlichen wissenschaftlichen Erm¨ udungserscheinungen – die wir ihm jedenfalls zugestehen k¨ onnen – kommt ein h¨ochst intensives politisches und b¨ urgerliches Leben hinzu. Zu diesem vielseitigen Engagement geh¨oren, wie wir in den vorhergehenden Kapiteln erz¨ahlt haben, die Gr¨ undung der SIPS, die Ernennung zum Senator, der Vorsitz zahlreicher wissenschaftlicher Gesellschaften, die T¨ atigkeit w¨ ahrend des Krieges, die Reorganisation der italienischen Forschung, die Gr¨ undung des CNR, der Vorsitz der Accademia dei Lincei, die internationalen Kongresse, Reisen ins Ausland, Vorlesungen an renommierten Universit¨ aten usw. In den 1920er und 1930er Jahren, um die es jetzt geht, ist es klar, daß der wissenschaftliche Ausstoß im engeren Sinne unter diesem Tempo – sowohl quantitativ als auch qualitativ – leidet, auch deswegen, weil einige der obengenannten Verpflichtungen noch andauern. Wir brauchen also nicht u ¨berrascht zu sein, wenn wir beim Durchsehen der Liste ¨ der Ver¨offentlichungen vor allem Vorlesungen und Vortr¨age, Uberarbeitungen bereits behandelter Themen, historische Zusammenfassungen, ¨offentliche und offizielle Reden sowie Gedenkreden finden. Historisch angelegt ist der Text der Vortr¨ age u ¨ber Le calcul des variations, son ´evolution et ses progr`es, son rˆ ole dans la physique math´ematique, die er 1931 in Prag und in Br¨ unn h¨ alt.2 Es handelt sich dabei um keine ausf¨ uhrliche Geschichte der Variationsrechnung, sondern um eine Rekonstruktion ihrer wichtigsten begrifflichen Etappen. Volterra betrachtet zun¨achst die Arbeiten von Jakob Bernoulli, Euler, Lagrange, Legendre, Jacobi und Weierstraß, verweilt aber vor allem bei Beitr¨ agen neueren Ursprungs. Die Variationsrechnung kann jetzt als ein Kapitel der Funktionalanalysis betrachtet werden, das sich auf diejenigen Funktionale beschr¨ ankt, die sich durch bestimmte Integrale ausdr¨ ucken lassen, und auf das Studium ihrer Extremalen. Das Werkzeug, das die neue Herangehensweise m¨ oglich gemacht hat, wurde durch die direkten Methoden bereitgestellt, die sich stark auf den Begriff der Halbstetigkeit st¨ utzen. F¨ ur Volterra ist das eine Gelegenheit, an den Beitrag des franz¨osischen Mathematikers Ren´e Baire zu erinnern, der bei ihm in Turin studiert hatte. Mit den direkten Methoden wird die Analogie zu den klassischen Optimierungsmethoden der reellen Analysis gesprengt, aber auf diese Weise gelingt es, den R¨ uckgriff auf die Eulersche Gleichung, auf deren L¨osung und auf die Suche von definitiven hinreichenden Bedingungen zu vermeiden. Abgesehen von der großen Ausnahme“, mit der wir uns in K¨ urze befassen, ” hat Volterra in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen drei Monographien ver¨offentlicht. Die ersten beiden sind die B¨ande Le¸cons sur la composition et les fonctions permutables 3 und Th´eorie g´en´erale des fonctionnelles 4 , die Volterra in Zusammenarbeit mit Joseph P´er`es (1890–1962) geschrieben und in den Jahren 1924 bzw. 1936 ver¨ offentlicht hat.
2 3 4
Volterra [141]. Volterra [133]. Volterra [144].
8.1 Die große Ausnahme
175
Der franz¨osische Mathematiker, der sp¨ ater an den Universit¨aten Toulouse, Straßburg, Marseille und an der Sorbonne lehrt, hatte 1911 sein Studium abgeschlossen. Danach war P´er`es mit Volterra bekannt geworden, als sich dieser bei einer Gelegenheit in Paris aufhielt. Bei P´er`es reifte dadurch die Idee, sein Studium in Rom zu vertiefen: Ich habe immer noch den Plan, von ” dem ich Ihnen in Paris erz¨ ahlt hatte, n¨ amlich im n¨achsten Jahr f¨ ur einige Zeit zu Ihnen an die Universit¨ at Rom zu kommen, um meine Studien zu vertiefen [...] Monsieur Borel sagt mir, daß mein Antrag gr¨oßere Chancen auf Bewilligung hat, wenn Sie das Vorhaben unterst¨ utzen“. Dieser vom 15. Mai 1912 datierte Brief ist P´er`es’ erster Brief an Volterra. In der Tat schreibt der junge franz¨osische Mathematiker in Rom seine Doktorarbeit ( Sur les ” fonctions permutables de premi`ere esp`ece de M. Vito Volterra“, die er 1915 in Paris verteidigt). Wir nannten bereits die Namen von Baire und Evans: Volterra hat keine Zeit, eine eigene Schule“ aufzubauen, aber er spart nicht mit Ratschl¨agen ” und Vorschl¨agen gegen¨ uber den jungen Kollegen, die unter seiner Anleitung studieren m¨ochten. Oft entwickelt sich aus diesen Beziehungen mit der Zeit eine Zusammenarbeit und Freundschaft. So ist es auch bei P´er`es, wie seine – an Volterras Vorbild orientierten – wissenschaftlichen Interessen und ihr Briefwechsel dokumentieren, der sich u ¨ber einen betr¨achtlichen Zeitraum erstreckt. Der letzte Brief von P´er`es ist vom 7. September 1940 und erreicht Volterra nur wenige Wochen vor dessen Tod. Zwischen 1915 und 1916 kommen in der Korrespondenz auch die Kriegsereignisse zur Sprache. P´er`es hebt in seinem (auf Italienisch geschriebenen) Brief vom 15. April 1915 die engen Bindungen und Verbindungen zwischen ” Italien und Frankreich“ hervor, Verbindungen, die vielleicht in K¨ urze auch ” auf den Schlachtfeldern zum Ausdruck kommen“. Sp¨ater dr¨ uckt P´er`es (in einem Brief vom 11. Juni 1915) große Freude“ u ¨ber die – seiner Meinung nach ” milit¨arisch wie diplomatisch gut vorbereitete – italienische Intervention aus, welche die Vereinigung aller Kr¨ afte gegen die Barbaren“ aufrecht erh¨alt. Vol” terra vertraut 1915 seine Gef¨ uhle zwei Briefen an, in denen er die Deutung des Krieges als Zusammenstoß zwischen Zivilisation“ und Barbarei“ bekr¨aftigt, ” ” weswegen er diejenigen, welche die Zivilisation und die Menschlichkeit lie” ben“ nur in ein und derselben Front vereint sehen kann. Mit den Jahren geht es in der Korrespondenz zwischen Volterra und P´er`es immer mehr um mathematische Projekte und deren Realisierung. Abgesehen von einem ziemlich diskreten Hinweis von P´er`es, den er gegen Ende 1931 in Anspielung auf Volterras Probleme mit dem Regime macht (P´er`es hatte aus den Zeitungen davon erfahren und dr¨ uckt Volterra seine Solidarit¨at und die Solidarit¨at der franz¨osischen Mathematiker aus), geht es in den Briefen um eine sehr lange Reihe von Bemerkungen zu den technischen Aspekten der verschiedenen Verlagsinitiativen. Der erste Hinweis auf die Monographie von 1924 findet sich bei P´er`es in einem Brief vom 18. Februar 1920: Monsieur Borel hat mir bereits gesagt, ” daß Sie wegen einer gemeinsamen Arbeit an mich gedacht haben“. In diesem
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Band ist P´er`es’ Beitrag eher bescheiden. Das Buch behandelt Argumente, die Volterra bereits ausf¨ uhrlich analysiert hat, enth¨alt aber auch einige Beobachtungen und Vereinfachungen, die der franz¨ osische Mathematiker eingef¨ uhrt hat. Eine aktivere Rolle spielt P´er`es bei der Organisation des Bandes u ¨ber Funktionale. Im Sommer 1930 beginnt man, dar¨ uber zu sprechen: P´er`es geht begeistert auf Volterras Vorschlag ein, bei einem Projekt zusammenzuarbeiten, das sich als großes“ abschließendes Werk einiger jahrzehntelanger For” schungsarbeiten u urde, und er hat die Idee, dieses ¨ber Funktionale erweisen w¨ Werk in zwei oder drei B¨ ande aufzuteilen. Der erste der drei vorgesehenen B¨ ande erscheint 1936. Er besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil ist der Theorie der Funktionale gewidmet, der zweite den Integralgleichungen. Das Kapitel u ¨ ber Variationsrechnung wurde u ¨ berwiegend von Leonida Tonelli (1885–1946) geschrieben, dem gr¨oßten italienischen Experten auf diesem Spezialgebiet; Tonelli ist auch aufgrund seiner“ direkten ” Methoden und wegen seiner beiden zu Beginn der 1920er Jahre in Bologna erschienenen B¨ande Fondamenti di calcolo delle variazioni ein international anerkannter Mathematiker. Im Sommer 1933 sieht es so aus, daß Tonellis Gesundheitszustand ihn daran hindert, das vereinbarte Kapitel zu verfassen, und daß deshalb einer seiner Sch¨ uler, Silvio Cinquini, an seine Stelle treten muß. Dann aber bessert sich Tonellis Gesundheitszustand wieder, und Volterra und Tonelli k¨onnen das urspr¨ ungliche Projekt in Angriff nehmen5 . Von diesem Kapitel abgesehen enthalten jedoch die Themen des ersten Bandes keine besonderen Neuheiten. Allenfalls bietet das Buch eine u ¨berzeugende Neubelebung einiger methodologischer Eckpfeiler. Hierbei handelt es sich zum Beispiel um ¨ die Betonung des Prinzips des Ubergangs vom Diskreten zum Stetigen, das jetzt durch eine Reihe von Regeln“ formuliert wird, die man vorteilhaft nut” zen kann: Um von einem Problem der gew¨ ohnlichen Analysis zu einem Pro” blem des Funktionalkalk¨ uls u ¨berzugehen, reicht es in der Tat aus, einen nicht stetigen Index i durch einen stetigen Index (oder Parameter) t zu ersetzen sowie die Summen in Bezug auf i durch die Integrale bez¨ uglich der Integrationsvariablen zu ersetzen“. Bei der Wahl der behandelten Themen und in der Darstellung liegt der Schwerpunkt auf einer konkreten“ Funktionalanalysis, ” die sich in ihrer Ausf¨ uhrung mehr von Anwendungsproblemen leiten l¨aßt als von einem vorbehaltlos allgemeinen Standpunkt. Auch das ist nichts Neues. Es sind dieselben Hinweise, die bereits in den Abhandlungen aus der Pisaner und aus der Turiner Zeit auftraten. Inzwischen ist jedoch Fr´echets Dissertation erschienen (die wir bereits auf S. 27 erw¨ ahnt haben) und vor allem 1920 auch jene des polnischen Mathematikers Stefan Banach (1892–1945) mit der Pr¨azisierung des Begriffes normierter Raum. Diese Ergebnisse f¨ uhren zu einer weiteren kr¨aftigen Beschleunigung in Richtung moderne“ Funktionalanalysis ” 5
Die Beziehungen zwischen den beiden italienischen Mathematikern sind von großer Herzlichkeit gepr¨ agt. Zu Beginn der 1920er Jahre hat Volterra (ohne Erfolg) daf¨ ur gek¨ ampft, daß Tonelli einen Ruf an die Universit¨ at Rom erh¨ alt. Tonelli verl¨ aßt Bologna 1930 und nimmt Gentiles Vorschlag an, nach Pisa zu gehen.
8.1 Die große Ausnahme
177
des 20. Jahrhunderts. Die Disziplin wird autonom, sie untersucht abstrakte Strukturen und ben¨ otigt zur eigenen Legitimierung keine konkreten“ Be” gr¨ undungen mehr. Der Stil, der sich allm¨ ahlich in den funktionalanalytischen Arbeiten durchsetzt, ist sehr weit von dem entfernt, woran Volterra gew¨ohnt ist. Immerhin muß sich eine gewisse Furcht vor einem u ¨ bertriebenen Formalismus ausbreiten, wenn selbst Fr´echet bei einigen Gelegenheiten gegen die Tendenz auftritt, ein willk¨ urliches Problem zu stellen, um das Vergn¨ ugen zu ” haben, dieses Problem zu l¨ osen“ und die mathematische Forschung auf ein ” Gedankenspiel ohne jegliche Tragweite“ zu reduzieren. Außer Banachs Dissertation sind in den 1920er Jahren und Anfang der 1930er Jahre auch andere wichtige B¨ ucher erschienen, wie zum Beispiel die von P. L´evy, M. H. Stone und J. von Neumann. Banach ver¨ offentlicht sein Werk Th´eorie des op´erations lineaires. In Bezug auf die neueste Literatur ist Volterra in ausreichendem Maße auf der H¨ohe der Zeit. Der Text und die Bibliographie der Monographie von 1936 ber¨ ucksichtigen neue Quellen zur Untersuchung einiger allgemeiner Strukturen, aber am Ende bleiben die betrachteten Funktionenr¨aume so konkret“ und spezifisch wie in den ersten Arbeiten zur Funktionalanalysis. ” Volterra ist flexibel genug, um die Existenz einer allgemeineren Analysis anzuerkennen und zu akzeptieren, aber er stellt sich auch weiterhin die Funktionale als Spezialfall vor, der in dieser Allgemeinheit nicht untergeht“. Seine Lini” enfunktionen bewahren ihre spezifische Natur und das verhindert, daß sie als einfaches Beispiel betrachtet werden. Vom zweiten Band, der in Zusammenarbeit mit P´er`es vorgesehen ist, gibt es nur Entw¨ urfe. Diese behandeln die Theorie der Zusammensetzung zweier Funktionen, Integrodifferentialgleichungen, Gleichungen mit Funktionalableitungen sowie eine Anwendung der Funktionale auf eine Verallgemeinerung der Theorie der analytischen Funktionen. Der dritte Band geht dagegen nicht u ¨ber das Stadium der vorbereitenden Diskussionen hinaus. Mehr als einmal schl¨agt P´er`es Volterra vor, auch die Arbeiten der polnischen Analysisschule zu zitieren. Volterra meint seinerseits, daß es angemessen sei, den Resultaten von Tonelli und Fantappi`e6 mehr Raum zu widmen und ansonsten eine Zersplitterung des Themas in eine u aßige Anzahl von Beispielen zu vermeiden. ¨berm¨ Sein Brief vom 24. Februar 1940 bekr¨ aftigt, daß von dieser Warte aus dieje¨ nigen Verweise auf die politische Okonomie geopfert werden m¨ ussen, die im Vorwort zu Band I angek¨ undigt waren und auf denen Volterra urspr¨ unglich bestanden hatte. Hier ist ein Auszug aus dem Brief vom 10. Februar 1936: Ich beginne, an den dritten Band zu denken. Ich bin der Meinung, daß es ” besser ist, sich auf eine kleine Anzahl von interessanten Anwendungen zu beschr¨anken, anstatt eine große Anzahl von Anwendungen ausf¨ uhrlich zu bringen. Ich denke, daß man sich auf folgende Anwendungen beschr¨anken k¨onnte:
6
Luigi Fantappi`e (1901–1956), Sch¨ uler von Volterra und Severi, lehrte an den Universit¨ aten von Cagliari, Palermo, Bologna und Rom.
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8 Nach den Katzen die Fische
1) Variationsrechnung; 2) heredit¨ are Ph¨ anomene; 3) heredit¨are Energie; 4) funktionalanalytische Theorien“.7 Volterra und P´er`es gelingt es nicht, ihr Projekt zum Abschluß zu bringen. F¨ ur Volterra beginnt die Zeit knapp zu werden. Er erlebt jedoch 1938 noch die Ver¨offentlichung der Monographie Op´erations infinit´esimales lin´eaires. Applications aux ´equations diff´erentielles et fonctionnelles, die er in Zusammenarbeit mit Bohuslav Hostinsk´ y (1884–1951) verfaßt hat.8 Auch dieser Band stellt alte Untersuchungen“ Volterras zusammen, erg¨anzt durch neuere Ergebnisse, ” die Hostinsk´ y zu Anwendungen in der Physik und in der Wahrscheinlichkeitsrechnung erzielt hat. Volterra hat den jungen tschechischen Mathematiker 1909 in Paris kennengelernt und ihn dann 1920 in Straßburg beim Internationalen Mathematikerkongreß noch einmal getroffen. Hostinsk´ y ist es auch, der Volterra nach Prag und Br¨ unn einl¨ adt. Dort h¨alt Volterra die bereits genannten Vortr¨age zur Geschichte der Variationsrechnung.
8.2 Volterra als Biomathematiker Wir kommen jetzt zur großen Ausnahme“. W¨ ahrend es der unerbittliche Lauf ” der Zeit mit sich bringt, daß die kreativsten Phasen eines Mathematikers dieses Alters nunmehr vorbei sind, gelingt Volterra die Entwicklung einer neuen Theorie, die allein schon gereicht h¨ atte, ihm einen festen Platz in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts zu sichern. In Volterras bedeutenden Untersuchungen der 1920er und 1930er Jahre geht es um die Mechanismen der Wechselwirkung zwischen biologischen Arten, die in ein und demselben ¨ Okosystem zusammenleben. Volterra erinnert sich folgendermaßen an die Entstehungsgeschichte: Im Anschluß an die Gespr¨ache mit Herrn D’Ancona, der ” mich fragte, ob es m¨ oglich sei, einen mathematischen Weg zur Untersuchung von Ver¨anderungen in der Zusammensetzung biologischer Gemeinschaften zu finden, habe ich Ende 1925 meine Forschungen zu diesem Thema begonnen“. An anderen Stellen dr¨ uckt er sich ¨ ahnlich aus: Dr. Umberto D’Ancona hatte ” mit mir mehrere Male u ¨ber Statistiken gesprochen, die er w¨ahrend des Krieges sowie vor und nach dem Krieg u ¨ber den Fischfang erstellt hat; dabei hat er mich gefragt, ob es m¨ oglich sei, eine mathematische Erkl¨arung der Ergebnisse zu geben, die er f¨ ur den prozentualen Anteil der verschiedenen Arten in diesen unterschiedlichen Zeiten erhalten hatte. [...]. Das kann eine Rechtfertigung daf¨ ur sein, daß ich mir erlaubt habe, diese Forschungsarbeiten zu ver¨offentlichen, die vom analytischen Standpunkt einfach, f¨ ur mich aber neu sind“. Umberto D’Ancona (1896–1964) ist ein Biologe, der an der Universit¨at Budapest und anschließend an der Universit¨ at Rom studierte, wo er 1920 auf 7
8
In dem auf Franz¨ osisch geschriebenen Brief heißt es ph´enom`enes h´ereditaires“ ” und energ´etique h´ereditaires“. Es geht hier um die Theorie heredit¨ arer“ Mate” ” rialien, also Materialien mit Nachwirkung (Ged¨ achtniseffekt). Volterra [147].
8.2 Volterra als Biomathematiker
179
dem Gebiet der Naturwissenschaften promovierte. Er hatte auch angefangen, in den Memorie del Comitato talassografico die Berichte einiger statistischer Erhebungen u ¨ber den Fischbestand der italienischen Meere zu publizieren. D’Ancona geht 1930 an die Universit¨ at Siena und sp¨ater an die Universit¨aten Pisa und Padua; in Padua bleibt er dann bis zu seinem Tod. F¨ ur unsere Geschichte ist es von Belang, daß er 1926 Luisa heiratet, die ¨alteste Tochter von Virginia und Vito Volterra. Es sind nicht einmal dreißig Jahre seit der Hochzeit der Eltern vergangen, aber die Sitten und Gebr¨auche der Italiener ¨andern sich in dieser Zeit schnell. Luisa hat ihr Universit¨atsstudium abgeschlossen und ist jetzt Biologin: In den Familien des intellektuellen B¨ urgertums beginnen auch die M¨adchen, Hochschulabschl¨ usse zu erwerben, u ¨ber ihre Ehe zu entscheiden und ihre eigene Zukunft zu gestalten! Aber kommen wir auf Luisas Vater zur¨ uck. Die S¨atze, die wir oben wiedergegeben haben, stammen aus den Le¸cons sur la th´eorie math´ematique de la lutte pour la vie, die Volterra im Studienjahr 1928/29 am Institut Poincar´e h¨alt und die 1931 in Paris ver¨ offentlicht werden9 , bzw. aus der Abhandlung Variazioni e fluttuazioni del numero d’individui in specie animali conviventi 10 des Jahres 1927. Das franz¨ osische Buch, das gleich zu Beginn Poincar´es Beitrag zur qualitativen Untersuchung von Differentialgleichungen erw¨ahnt, besiegelt die erste Periode der biomathematischen Forschungen Volterras. In den Le¸cons stellt Volterra in organisch gegliederter und gr¨ undlicher Weise die Untersuchungen zusammen, mit deren Ver¨offentlichung er in einigen Bemerkungen in den Sitzungsberichten der Accademia dei Lincei und in der Abhandlung von 1927 begonnen hatte. Es handelt sich um Forschungen, die einen entscheidenden Einfluß auf den Beginn einer der produktivsten Rich¨ tungen der modernen mathematischen Okologie haben. Volterras Ergebnisse sollten die Quelle f¨ ur die Arbeit ganzer Generationen von Biomathematikern werden. Insbesondere erlangt Volterra mit den Le¸cons auch auf diesem Gebiet internationale Ber¨ uhmtheit und wird der bekannteste Vertreter des sogenann¨ ten golden age der theoretischen Okologie. Volterra als Biomathematiker: Nach dem, was wir u ¨ber seine Pers¨onlichkeit und seine nat¨ urliche wissenschaftliche Neugier“ gesagt haben, ist die ” Er¨offnung der neuen Forschungsfront nicht mehr so u ¨ berraschend. Der zuf¨allige Anstoß sind die Gespr¨ ache mit dem Schwiegersohn und das Problem, das dieser ihm stellt. Aber da gibt es auch seine fr¨ uhere Geschichte: seine Er¨offnungsvorlesung von 1901, die Gr¨ undung des Komitees f¨ ur Meereskunde, sein Interesse f¨ ur die meeresbiologischen Institute von Neapel und Messina und ¨ nicht zuletzt viele parlamentarische K¨ ampfe im Namen der Okologie. Im Mittelpunkt der Gespr¨ ache mit Umberto D’Ancona steht insbesondere ein praktisches Problem, das im Zusammenhang mit einigen Statistiken ans Tageslicht kam, die f¨ ur die H¨ afen der n¨ ordlichen Adria und ihre Fischfangertr¨age erstellt worden waren. Das Interesse an diesen Daten r¨ uhrte von 9 10
Volterra [142]. Volterra [136].
180
8 Nach den Katzen die Fische
den immer nachdr¨ ucklicheren Debatten her, die u ¨ber die Begrenztheit der Meeresressourcen sowie u ¨ber die Wechselbeziehungen zwischen Fischfang und ¨ Uberfluß der Meeresfauna gef¨ uhrt wurden. Die Debatten waren insgesamt gesehen nicht neu, aber neu war zum Beispiel die Verbreitung der motorisierten Fischerboote, die eine zweifellos effizientere Entnahme gestatteten. Ist es wahr, daß ein u aßiger Fischfang die Umwelt sch¨adigt und das biologische ¨berm¨ Gleichgewicht des Meeres beeintr¨ achtigt? Oder: Kann man statistisch beweisen, daß eine Unterbrechung oder jedenfalls eine Verringerung des Fanges – auch kurzzeitig – zu einer signifikanten Vergr¨oßerung des Fischbestandes f¨ uhrt? Die im Besitz von D’Ancona befindlichen Daten u ¨ ber den Zeitraum 1905–1923 (die insbesondere die Kriegsjahre umfassen, in denen der Fischfang weniger intensiv betrieben wurde) zeigten, daß die Produktivit¨at“ ei” nes einzelnen Fischers im Wesentlichen unver¨ anderlich blieb, w¨ahrend (in den Kriegsjahren und in den unmittelbaren Nachkriegsjahren) innerhalb ein und derselben Fangmenge der Prozentsatz derjenigen Fische erheblich zunahm, die zur Klasse der Selachier11 geh¨ orten“. Auf der Grundlage dieser Daten w¨ urde ” der R¨ uckgang des Fischfangs zu einer erh¨ ohten Anwesenheit von Raubfischen f¨ uhren, die einen geringeren ¨ okonomischen Wert haben. Das sind Schlußfolgerungen, die – falls sie best¨ atigt w¨ urden – offensichtliche praktische Implikationen h¨atten. Die Entscheidung, die T¨ atigkeit der Fischer zu kontrollieren und zu beschr¨anken, w¨ urde sich aus verschiedenen Gr¨ unden als negativ erweisen: Diese Beschr¨ankungen bewirkten unmittelbar eine geringere Fangmenge und ¨ keine signifikante Steigerung in der nachfolgenden Zeit, jedoch einen Uberfluß an Fischen von geringer kommerzieller Bedeutung. Die Frage D’Anconas an seinen Schwiegervater bezieht sich auf die mathematische Begr¨ undung einer Dynamik, die man damals noch nicht deutlich erkannte, da deren Abh¨ angigkeit von ausschließlich externen Ursachen – in diesem Fall die dem Kriegsausbruch geschuldete geringere Fischfangt¨atigkeit – nicht ganz u urde die Zunahme nur die Raubfi¨ berzeugend war. Warum w¨ sche betreffen – die Klasse der Selachier, die besonders gefr¨aßig sind und sich ” von anderen Fischen ern¨ ahren“ – und nicht die Beutetiere? Wie soll man die Statistiken erkl¨aren, f¨ ur die eine Verringerung der Intensit¨at der Vernichtung ” die gefr¨aßigsten Arten beg¨ unstigt?“ Das Volterra vorgelegte Problem ordnet sich allgemeiner in die Untersuchung der Ver¨anderungen ein, die man bei biologischen Gemeinschaften mehrerer Arten feststellen kann, die im gleichen Milieu leben. Es handelt sich also nicht um ein Problem, das nur die Fische betrifft: In der Landwirt” schaft versteht man, wie n¨ utzlich die Untersuchung der Fluktuationen gewisser Pflanzenparasiten sein kann, wenn die Pflanzen von ihren Parasiten befallen sind“ 12 . Sp¨ater sagt er in einem Vortrag: Wir haben einen sehr kurzen ” ¨ Uberblick u ¨ber mathematische Berechnungen gegeben, die mit dem Kampf 11
12
Selachier ist eine ¨ altere Bezeichnung f¨ ur Elasmobranchier (Plattenkiemer), einer Klasse von Knorpelfischen, zu denen auch die Haie und Rochen z¨ ahlen. Volterra [142].
8.3 Die L¨ osung des Problems
181
ums Dasein und mit den Schwankungen der Populationen zusammenh¨angen, die davon abh¨angen. Aber wir konnten nicht auf die Zusammenh¨ange eingehen, die zwischen diesen Untersuchungen und anderen wissenschaftlichen Forschungen bestehen. Es gibt zum Beispiel einen Zweig der angewandten Zoologie, der sich mit der Vernichtung von Tieren befaßt, die f¨ ur die Landwirtschaft sch¨adlich sind. [...] man muß die Untersuchungen u ¨ber den Kampf gegen die Mikroben zitieren – Untersuchungen, bei denen die Stoffwechselprodukte und ihre Auswirkungen von allergr¨ oßter Wichtigkeit sind. [...] Diese Fragen besch¨aftigen sogar manche Zweige der Medizin. [...] Und schließlich d¨ urfen auch die soziologischen Wissenschaften die Untersuchungen nicht vernachl¨assigen, die der Gegenstand unseres Vortrags sind“.13 Der Kampf ums Dasein f¨ uhrt zur Beobachtung numerischer Schwankungen, die nicht interpretierbar erscheinen, wenn man sie ausschließlich im Zusammenhang mit periodischen externen Ver¨ anderungen betrachtet, wie etwa den Zyklus des Lichtes oder der Jahreszeiten: Es gibt periodische Umweltgegebenheiten – ” wie zum Beispiel diejenigen, die vom Wechsel der Jahreszeiten abh¨angen –, die ihrerseits in Bezug auf die Anzahl der Individuen der verschiedenen Arten erzwungene Schwankungen externen Charakters hervorrufen. Diese externen periodischen Vorg¨ ange waren diejenigen, die besonders von statistischer Seite untersucht worden sind; aber gibt es auch andere Prozesse internen Charakters mit eigenen Perioden, welche auch bestehen w¨ urden, wenn die externen periodischen Ursachen aufh¨ orten, wobei sich die erstgenannten Perioden mit den letzteren u ¨berlagern?“ 14 . Von welchen Ursachen h¨angt also die Zunahme der Raubfische ab?
8.3 Die Lo ¨sung des Problems Um die Frage zu beantworten, die ihm Umberto D’Ancona gestellt hatte, setzt Volterra bez¨ uglich der Konstruktion von mathematischen Modellen das in die Praxis um, was er bereits in seiner Er¨ offnungsvorlesung 1901 theoretisch ausgef¨ uhrt hatte. Das Problem legt es nahe, die Meerespopulation in zwei große Klassen zu unterteilen: die R¨ auber und die Beute. Weitere und verfeinertere Beschreibungen der Meeresfauna werden f¨ ur den Moment ausgeschlossen. Die Anzahl der R¨auber und der Beutetiere ¨ andert sich mit der Zeit: Die Untersu¨ chung dieser Anderungen und deren m¨ ogliche Abh¨angigkeit von einem mehr oder weniger intensiven externen Einfluß wie etwa dem Fischfang stehen im Mittelpunkt von Volterras Interesse (und demjenigen seines Schwiegersohns). Bezeichnen wir nun mit x = x(t) die Anzahl der Beutefische und mit y = y(t) die Anzahl der Raubfische. Um Ergebnisse der Analysis und insbesondere der Infinitesimalrechnung nutzen zu k¨ onnen, setzen wir voraus, daß sich x und y stetig ¨andern und daß x(t) und y(t) Ableitungen haben. Volterra hat in 13 14
Volterra [145]. Volterra [137].
182
8 Nach den Katzen die Fische
seiner Er¨offnungsvorlesung 1901 betont, daß man vor allem in der Biometrie bei mathematischen Untersuchungen die Verwendung statistischer und probabilistischer Werkzeuge bevorzugt. Die Konstruktion seines Modells erfolgt hingegen auf streng deterministischem Wege. Um zu verstehen, wie sich die Population x im Laufe der Zeit entwickelt, setzt Volterra zun¨ achst voraus, daß sie isoliert ist. Lebt diese Population allein oder ohne wechselseitigen direkten oder indirekten Einfluß mit anderen zusammen, dann ist in jedem Augenblick eines Zeitintervalles dt die Anzahl der Geburten und der Todesf¨ alle proportional zur Anzahl der in diesem Augenblick vorhandenen Individuen. Wir haben deshalb dx = ax dt, das heißt, x0 = ax und die Entwicklung der Population w¨ urde dem wohlbekannten Exponentialgesetz folgen. Die Anwesenheit von R¨ aubern ¨andert diese Dynamik, da die Evolution der Population x jetzt auch davon abh¨angt, wie oft sich R¨auber und Beute in einer Zeiteinheit begegnen. Wenn wir in erster Ann¨aherung annehmen, daß diese Abh¨ angigkeit linear ist, dann erhalten wir die Gleichung x0 = ax − bxy mit positiven Koeffizienten a und b. Analoge Betrachtungen stellt Volterra bez¨ uglich der Wachstumsrate der Population der R¨ auber und der Entwicklung ihrer Anzahl y = y(t) an. Auf der Grundlage der gleichen Voraussetzungen haben wir die Gleichung y 0 = −cy + dxy mit positiven Koeffizienten c und d (der Vorzeichenwechsel ist darauf zur¨ uckzuf¨ uhren, daß wir jetzt u ¨ber die R¨auber sprechen: In Abwesenheit von Beutefischen, also ohne Nahrung, sind die Raubfische zum Sterben verurteilt, wohingegen die Begegnungen mit Beutefischen f¨ ur die Dynamik der Raubfische ein positiver Umstand ist). Das Modell besteht deshalb aus dem System von Differentialgleichungen erster Ordnung x0 = ax − bxy y 0 = −cy + dxy mit bestimmten Anfangsbedingungen x(0) = x0 und y(0) = y0 . Die Konstanten a und −c sind die Wachstumskoeffizienten der beiden Arten, falls keinerlei Wechselwirkung stattfindet; die Koeffizienten −b und d messen dagegen den Einfluß einer jeden Art auf die Wachstumsrate der jeweils anderen Art. Die L¨osung des Systems bereitet keine besonderen Schwierigkeiten. Dividiert man die Gleichungen des Systems gliedweise, dann ergibt sich eine Gleichung mit trennbaren Variablen: n y(dx−c) dy = x(a−by) dx und daher (in impliziter Form) die L¨ osung y a e−by = kx−c edx , wobei k von den Anfangsbedingungen und von den Systemparametern abh¨angt. Die Technik zum Zeichnen der Trajektorien C in der Phasenebene ist einfach, aber sehr geistreich. Setzen wir z = y a e−by und w = kx−c edx , dann wird das Problem auf das Auffinden von Punkten (x, y) der Ebene zur¨ uckgef¨ uhrt, f¨ ur die z = w gilt. An dieser Stelle verwendet Volterra ein Bezugssystem mit vier Achsen und findet, daß C eine geschlossene Kurve ist. Beim Variieren der
8.3 Die L¨ osung des Problems
183
Parameter a, b, c, d, x0 , y0 dehnt sich die Bahn aus oder zieht sich zusammen und bestimmt eine Familie von Ovaloiden um den Punkt S = (c/d, a/b), dessen Koordinaten eine besondere Rolle spielen. Die Werte x = c/d und y = a/b beziehen sich auf die Gleichgewichtspopulationen: Erreichen die Populationen zu einem gewissen Zeitpunkt diese Niveaus, dann bleiben x(t) und y(t) anschließend konstant. Die besondere geometrische Gestalt der Kurve C dr¨ uckt die zyklische (oder periodische) Evolution der beiden Populationen x und y aus. Da Volterra bis jetzt jede Wechselwirkung mit der Umgebung programmatisch ausgeschlossen hat, reichen mit anderen Worten die endogenen Ursachen aus, um die Fluktuationen in der Anzahl der R¨ auber und der Beutetiere sowie die periodischen Oszillationen dieser Anzahlen zu begr¨ unden. Die mathematische L¨osung l¨ aßt auch eine biologische Interpretation zu: Am Anfang, wenn wir annehmen k¨onnen, daß die Niveaus f¨ ur beide Populationen niedrig sind, ist die Anzahl der R¨auber dermaßen gering, daß die Entwicklung der Beute beg¨ unstigt wird; da nur selten Begegnungen stattfinden, nimmt die Anzahl der R¨auber weiter ab, wenn auch in einem immer langsameren Tempo, bis ein Minimum erreicht wird, das eine Tendenzumkehr markiert; von diesem Zeitpunkt an nimmt ihre Anzahl wieder zu, weil hinreichend viele Begegnungen stattfinden; die Anzahl der Beutetiere w¨achst nunmehr weniger stark bis ein Maximum erreicht wird, das eine neue Tendenzumkehr ank¨ undigt. An diesem Punkt geht es von vorne los, und so weiter.
Abb. 8.1. N1 = Beutedichte, N2 = R¨ auberdichte
Erkl¨art werden m¨ ussen jetzt noch der Fischfangeffekt“ und die Gr¨ unde, wes” wegen dessen R¨ uckgang in den Jahren des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren zu einer Zunahme der Raubfische gef¨ uhrt hat. Volterra weiß jetzt, daß der zyklische Verlauf der Populationsdynamik eine Periode T derart bestimmt, daß x(t + T ) = x(t) und y(t + T ) = y(t). Ausgehend von dieser Erkenntnis berechnet er die mittlere Anzahl von Individuen, die im Laufe einer Periode vorhanden sind: Z Z 1 T 1 T x(t)dt, y¯ = y(t)dt. T 0 T 0 Dividiert man die Gleichungen des Anfangssystems durch x bzw. y, dann ergibt sich x ¯=
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8 Nach den Katzen die Fische
x0 d log x = = a − by. x dt Hieraus folgt durch Integration von 0 bis T und unter Ber¨ ucksichtigung von x(0) = x(T ) das System RT 0 = aT − b 0 y(t)dt RT 0 = −cT + d 0 x(t)dt. Folglich dr¨ ucken die Koordinaten des Ovaloidmittelpunkts die mittlere Anzahl der im Verlauf einer Periode vorhandenen Individuen beider Populationen aus, und zwar unabh¨ angig von den spezifischen Anfangsbedingungen: Die ” durchschnittlichen Individuenzahlen der zwei Arten w¨ahrend einer Periode sind unabh¨angig von den Anfangsbedingungen und gleich den Anzahlen, die dem station¨aren Zustand entsprechen“. Volterras Modell gestattet jetzt eine schnelle Begr¨ undung der Anomalie, auf die ihn sein Schwiegersohn aufmerksam gemacht hatte. Der Fischfang hat im Allgemeinen eine Abnahme der beiden Populationen in der Gr¨oße von sx(t) und sy(t) zur Folge, wobei die Konstante s die Intensit¨at des Fischfangs widerspiegelt. Die neue Situation wird durch das folgende (modifizierte) System von Differentialgleichungen beschrieben: ( x0 = ax − bxy − sx = (a − s)x − bxy y 0 = −cy + dxy − sy = −(c + s)y + dxy. Dieses System ist in seiner Struktur mit dem vorhergehenden System identisch, wobei a und c durch (a − s) und (c + s) ersetzt worden sind. Wir k¨onnen dann sofort sagen, daß die Mittelwerte durch x ¯=
c+s , d
y¯ =
a−s b
gegeben sind. Damit haben wir eine Best¨ atigung f¨ ur die empirische Feststellung gefunden, daß ein gewisser R¨ uckgang der Fischfangaktivit¨at zu einer Zunahme der Population der Raubfische und zu einer Abnahme der Population der Beutefische f¨ uhrt: Fischt man beide Arten gleichm¨aßig und proportio” nal zur Anzahl ihrer Individuen (hinl¨ anglich wenig, damit die Schwankungen fortbestehen), dann nimmt die durchschnittliche Anzahl der Individuen der gefressenen Art zu, w¨ ahrend die durchschnittliche Anzahl der Individuen der fressenden Art abnimmt“!
8.4 Weitere Entwicklungen Das bis jetzt analysierte Modell ist dasjenige, welches dem Statistikproblem u afen von Triest, Fiume und Venedig entspricht; es ¨ber den Fischfang in den H¨ ist auch dasjenige Modell, das Volterra zu seinen Untersuchungen u ¨ber die Populationsdynamik anregt. Aber bereits die Le¸cons sur la th´eorie math´ematique
8.4 Weitere Entwicklungen
185
de la lutte pour la vie 15 enthalten in den nachfolgenden Kapiteln mehrere Erweiterungen. Die erste Verallgemeinerung betrachtet das Ph¨anomen der Predation in ¨ komplexen Okosystemen, in denen es eine beliebige Anzahl von Arten gibt. Es handelt sich jetzt um ein System mit verallgemeinerter Predation“ mit n ” Arten, die sich voneinander ern¨ ahren. Offensichtlich gibt es da einige weitere formale Komplikationen, aber vor allem f¨ uhrt die mathematische Behandlung – insbesondere die Betrachtung einer Matrix und die Berechnung ihrer Determinante – zu einer Fallunterscheidung zwischen geradem n und ungeradem n. Es ist zweifellos ein kritisches Moment des Modells und seiner Interpretati¨ onsf¨ahigkeiten, da die Beschreibung des Okosystems von einer streng mathematischen Bedingung abh¨ angt. In den beiden F¨allen stellt sich die Situation tats¨achlich unterschiedlich dar. F¨ ur gerades n gelingt es Volterra, die Gesetze zu verallgemeinern, die er f¨ ur zwei Arten gefunden hatte, aber f¨ ur ungerades n ist es nicht mehr richtig, daß s¨ amtliche Populationen von zwei positiven Zahlen beschr¨ankt werden: Das System verliert seine Stabilit¨at und mindestens eine Art tendiert dazu, auszusterben oder zu explodieren. Kapitel III der Le¸cons f¨ uhrt dann die Unterscheidung zwischen konservativen Gemeinschaften (bei denen vorausgesetzt wird, daß die Begegnungen der ” Individuen der verschiedenen Arten die Gr¨ oße der Lebensgemeinschaft nicht andern“) und den realistischeren dissipativen Gemeinschaften ein: Der Fall ¨ ” der konservativen Systeme kann als Grenzfall betrachtet werden, an den sich die Gemeinschaften der Natur ann¨ ahern, aber noch n¨aher an den tats¨achlich existierenden Systemen scheinen die dissipativen Gemeinschaften zu sein, deren Gr¨oße sich – bei jeder Begegnung zwischen Individuen zweier Arten mit anschließendem Auffressen – verringert“. Die Unterscheidung wird bei der Untersuchung des Vorzeichens einer quadratischen Form eingef¨ uhrt, aber der physikalische Ursprung ist schon aufgrund der verwendeten Terminologie offensichtlich. Grundlage der biomathematischen Beitr¨age Volterras ist stets der reduktionistische Entwurf, dem wir bereits bei den Ausf¨ uhrungen zur mathe¨ matischen Okonomie und im Kommentar zur Er¨offnungsvorlesung von 1901 begegnet sind. Das Vertrauen in die Werte und in den Begriffsapparat der Mechanik ist so groß, daß Volterra beabsichtigt, die fundamentalen Prinzipien dieses Apparates auch zur Untersuchung der biologischen Ph¨anomene zu verwenden. Die Entwicklung einer jeden Disziplin wird zur¨ uckgef¨ uhrt – also reduziert – auf die Lehren, die man aus der Geschichte der ersten mathematisierten Theorie ableiten kann. Die Mechanik ist der Leuchtturm f¨ ur alle anderen Disziplinen, die nach dem Ebenbild der Mechanik modelliert werden. Diese Herangehensweise gestattet – auf dem Gebiet der Biomathematik – gleichsam die Konstruktion einer rationalen Populationsmechanik. Volterra schreibt an einer Stelle seines 1937 in L’Enseignement math´ematique erschienenen Artikels16 : Alle Schlußfolgerungen, die man in der Mechanik aus dem ” 15 16
Volterra [142]. Volterra [145].
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8 Nach den Katzen die Fische
Hamiltonschen Prinzip ziehen kann, k¨ onnen in das Gebiet der Biologie transportiert werden“. Es u ¨berrascht also nicht, daß dem dritten Kapitel der Le¸cons ein letzter Teil folgt, der die vorhergehenden Modelle auf die Betrachtung ei¨ ner Erbdynamik erweitert. Bereits die Uberschrift des Kapitels ist signifikant: Sur les actions h´er´editaires compar´ees en biologie et en m´ecanique. Das ist die Gelegenheit, die Integrodifferentialgleichungen zu verwenden. Und es ist die Gelegenheit zu zeigen, wie die Mechanik f¨ ur Volterra ein konstanter Bezugspunkt bleibt, jedoch im Rahmen eines dynamischen Vorgangs mit kontinuierlicher Anpassung. Der mechanistische Determinismus ist auch Systemen mit Ged¨achtnis eigen, die sich als besonders ad¨aquat f¨ ur die Untersuchung der Ph¨anomene des Lebens erweisen. Diese Ph¨anomene zeichnen sich durch Besonderheiten aus, die man ber¨ ucksichtigen muß, n¨amlich den bemerkens” werten und oft ausschlaggebenden Einfluß der Vergangenheit auf Reaktionen in der Gegenwart und auf die Entwicklung in der Zukunft“. Wir haben bereits darauf hingewiesen, welchen Namen sich Volterra dank seiner Le¸cons sur la th´eorie math´ematique de la lutte pour la vie auch auf dem Gebiet der Biomathematik gemacht hatte. Aus dem Briefwechsel, den er mit Umberto D’Ancona f¨ uhrte, wissen wir, daß er gr¨ undlich u ¨ber die Darstellungsweise nachdachte, um ein m¨ oglichst breites Publikum zu erreichen. Bez¨ uglich der Wiederver¨ offentlichung der Abhandlung f¨ ur das Institut f¨ ur ” Meereskunde17 , w¨ are es, wie ich Ihnen bereits vorschlug, g¨ unstig“, schreibt D’Ancona am 21. Juni 1926 die Abhandlung in eine Form zu bringen, die ” f¨ ur Biologen leichter verst¨ andlich ist. Die Abhandlung f¨ ur die Accademia dei Lincei 18 ist auch so in Ordnung, denn sie wird auch von Mathematikern gelesen; hingegen werden die meereskundlichen Mitteilungen haupts¨achlich von Biologen gelesen.“ Und was das franz¨ osische Buch angeht: Soll es auch f¨ ur ” Naturforscher bestimmt sein, dann denke ich, daß die Materie so verteilt werden sollte, daß die Naturforscher es lesen k¨ onnen, ohne durch zu viele Berechnungen behindert zu werden. Vielleicht k¨ onnte man den Stoff so anordnen, daß sich Kapitel oder Abschnitte unterschiedlichen Charakters abwechseln, oder es werden Anmerkungen derart hinzugef¨ ugt, daß die Leser die Rechnungen bei Bedarf u ¨berspringen und ohne weiteres auf die entsprechende Formel zugreifen k¨onnen. F¨ ur diese nichtmathematischen Leser wird es sich stattdessen lohnen, einige elementare Erl¨ auterungen zur Anwendung der Formeln und auch Beispiele zu geben. Vielleicht k¨ onnte auf diese Weise ein Buch entstehen, das sowohl f¨ ur Mathematiker als auch f¨ ur Naturforscher n¨ utzlich ist. Andernfalls f¨ urchte ich, daß die Naturforscher, die mit langen Berechnungen konfrontiert werden, den roten Faden verlieren und inmitten der zahlreichen Formeln nicht wissen, welche von diesen angewendet wird und wie sie angewendet wird.“ 19 Trotz dieser Empfehlungen und ¨ahnlicher Sorgen vonseiten Volterras bleiben die Le¸cons ein Mathematikbuch, das sich alles in allem an 17 18 19
Volterra [136]. Volterra [138], [139], [140]. Vom 10. Februar 1929 datierter Brief von Umberto D’Ancona an Vito Volterra.
8.4 Weitere Entwicklungen
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diejenigen wendet, die bereits bestimmte mathematische Kenntnisse haben. Wie es h¨aufig der Fall ist, erweisen sich die technischen Anmerkungen – die am Ende der einzelnen Kapitel von Marcel Brelot, ancien ´el`eve `a l’Ecole ” Normale Sup´erieure“, hinzugef¨ ugt wurden –, als Werkzeug von zumindest zweifelhaftem Nutzen. Auch Volterra ist dieser Meinung, wie wir einem Brief entnehmen, den D’Ancona am 28. M¨ arz 1930 geschrieben hat: Ich bedauere, ” daß Sie mit der Fassung des franz¨ osischen Buches nicht zufrieden sind. Ich hatte geglaubt, daß Sie diese mathematischen Anmerkungen f¨ ur Mathematiker formuliert hatten. Um die Wahrheit zu sagen, glaube ich nicht, daß ein Naturforscher diese franz¨ osische Fassung klarer finden wird als die vorhergehenden italienischen Abhandlungen. Diese waren in den Ergebnissen auch f¨ ur Naturforscher verst¨ andlich. [...] damit die Naturforscher den ganzen Ablauf der Operationen verstehen k¨ onnen, m¨ ußte man einige Grundbegriffe der Analysis vorausschicken und somit eine Abhandlung verfassen, und nicht nur eine Notiz. Oder man m¨ ußte alles in einer einfacheren Form darstellen, was mir nicht m¨oglich zu sein scheint. [...]. Aber so wie es Herr Brelot gemacht hat, scheint es nicht einmal mir die beste Art und Weise zu sein, den Sachverhalt f¨ ur Naturforscher zug¨ anglich zu machen.“ Dennoch ist das Echo bemerkenswert. Der Erfolg des Buches wird durch den Ruf des Autors und durch die Ver¨ offentlichung in einer Sprache, die es einem internationalen Publikum zug¨ anglich macht, ebenso beg¨ unstigt wie durch die Neuheit des Themas und durch die verwendeten mathematischen Werkzeuge. Diese Werkzeuge beschr¨ anken sich nicht auf eine rein rechnerische Funkti¨ on oder auf die formelm¨ aßige Ubersetzung bereits vorhandener experimentel¨ ler Beobachtungen und allgemeiner Uberlegungen, sondern f¨ uhren in einigen F¨allen zu wirklich originellen Schlußfolgerungen. Um die Aufnahme des Buches zu verstehen, darf man auch das lebhafte Interesse des wissenschaftlichen und kulturellen Umfeldes an den neuesten ¨ okologischen und evolutionistischen Theorien nicht außer Acht lassen.20 Volterra selbst begeistert sich f¨ ur diesen Gegenstand, und biomathematische Themen sind im Wesentlichen die einzigen, mit denen er sich in der zweiten H¨alfte der 1930er Jahre noch befaßt. Aber umgehend engagiert er sich f¨ ur eine intensive popul¨ arwissenschaftliche Kampagne, wie zahlreiche Vortr¨age und Beitr¨age auf Kongressen sowie zwei Artikel bezeugen, die in Nature 21 und Scientia 22 ver¨ offentlicht werden. Sp¨ater tritt er mit zahlreichen amerikanischen Wissenschaftlern, mit dem Franzosen J. R´egnier und mit dem Russen G. Gause in Kontakt. Volterras Hauptgespr¨achspartner auf dem Gebiet der Biomathematik ist jedoch der Biologe und Mathematiker Wladimir Kostitzin23 , der damals bereits Direktor des Geophysikalischen Instituts in 20
21 22 23
Vgl. P. Manfredi und G. A. Micheli, Ecologia matematica e Matematica delle ” popolazioni“ (in: Di Sieno, Guerraggio und Nastasi [24]). Volterra [135]. Volterra [137]. Wladimir Kostitzin (1883–1963), Sulla teoria di Volterra della lotta per ” l’esistenza“, Giornale dell’Istituto Italiano degli Attuari, 1937.
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8 Nach den Katzen die Fische
Moskau war und sp¨ ater nach Paris ging. Mit ihm zusammen arbeitet Volterra sogar am Drehbuch zu dem popul¨ arwissenschaftlichen Film Immagini matematiche della lotta per la vita, der das erste Mal 1937 in Paris im Palais de la D´ecouverte zu sehen ist. Zwei Jahre zuvor hatte Volterra zusammen mit D’Ancona die Monographie Les associations biologiques ´etudi´ees au point de vue math´ematique 24 ver¨ offentlicht, die einige Neuheiten in Bezug auf die theoretische Untersuchung enth¨ alt und im Allgemeinen mehr auf Anwendungsaspekte eingeht. Noch in den Jahren 1938 und 1939 ist Volterra Autor zweier Arbeiten u ¨ber das logistische Wachstum einer Population. Die Zustimmung zu seinen Thesen und zu der von ihm befolgten Methodik ist bemerkenswert. Zu dem Modell, das wir beschrieben haben, ¨außert sich auch Andrei Kolmogorow (1903–1987). Die Bemerkung, daß die von Volterra ” f¨ ur die zweiten Glieder der Gleichungen gew¨ ahlten analytischen Ausdr¨ ucke [...] nur als erste Ann¨aherungen des realen Zustands der Dinge betrachtet werden k¨onnen“ 25 , bringt Kolmogorow darauf, die Untersuchungen des italienischen Mathematikers u ¨ber reziproke Wirkungen einer fressenden Spezies und einer ” gefressenen Spezies“ durch das System ( x0 = K1 (x, y)x y 0 = K2 (x, y)y und durch verschiedene Voraussetzungen u ¨ ber die Funktionen K1 und K2 zu verallgemeinern. Volterras Arbeit f¨ uhrt auch zu einer bedeutenden kritischen Debatte. Da ist vor allem die Priorit¨ atsfrage: Der in den USA lebende ¨osterreichischamerikanische physikalische Chemiker Alfred Lotka hatte in seinem Buch Elements of physical biology (1925) einige Monate vor Volterras ersten diesbez¨ uglichen Ver¨offentlichungen ein formal analoges Modell konstruiert. Volterra zitiert Lotka nicht, da er dessen Arbeiten zu diesem Zeitpunkt nicht kennt. Sp¨ater hat Volterra keine Schwierigkeit, die Verdienste des Kollegen anzuerkennen, auch wenn er einige Unterschiede hervorhebt: Ich bedauere, daß ich ” in der besagten Abhandlung die interessante Arbeit des Dr. Lotka nicht habe erw¨ahnen k¨onnen, die verschiedene Anwendungen der Mathematik auf chemische und biologische Fragen enth¨ alt“.26 Die Briefe zwischen Lotka und Volterra lassen keine Animosit¨ aten erkennen, sondern vielmehr eine Konvergenz in Bezug auf dasselbe Modell – auf dasjenige, das heute R¨auber-Beute-Modell von Lotka-Volterra genannt wird –, realisiert jedoch mit unterschiedlichen und geradezu wenig in Verbindung stehenden Motivationen, Interessen und Methoden.27 Dann gibt es auch Diskussionen mit den Biologen, die Volterra hin und wieder vorwerfen, daß er die Spezialliteratur nur mangelhaft kenne, und einige 24 25 26 27
Volterra [143]. In Bezug auf Kostitzin und seine Betr¨ age vgl. Scudo [82] und Israel-Gasca [49]. Volterra [136]. In Bezug auf die Priorit¨ atsfrage verweisen wir auf Israel [47].
8.4 Weitere Entwicklungen
189
seiner Schlußfolgerungen bem¨ angeln (insbesondere die Bedeutung, die er den Schwankungen beimißt). Diese Schlußfolgerungen entsprechen nach Meinung der betreffenden Biologen nicht den nat¨ urlichen Gegebenheiten. Volterra habe auch eine Reihe von individuellen Eigenschaften ignoriert, die jedoch wesentlich seien, wenn man nicht auf einem rein qualitativen Niveau bleiben wolle, was durch einen Mangel an numerischen Berechnungen und durch das Fehlen eines Vergleiches mit den experimentellen Daten best¨atigt wird. Die Gegenoffensive28 setzt ganz auf den Begriff des mathematischen Modells und auf dessen Konstruktion, die Volterra bereits in der Er¨offnungsvorlesung 1901 beschrieben hatte. Volterra bekr¨ aftigt diese Auffassung: Zur mathematischen ” Behandlung der Frage muß man von Hypothesen ausgehen, die – obwohl sie sich von der Wirklichkeit entfernen –, ein angen¨ahertes Bild dieser Wirklichkeit liefern. Selbst wenn die Darstellung zumindest im ersten Moment nur grob und einfach ist, kann man darauf die Infinitesimalrechnung anwenden und quantitativ oder auch qualitativ verifizieren, ob die erhaltenen Ergebnisse den statistischen Daten entsprechen, und somit die Richtigkeit der Ausgangshypothesen pr¨ ufen und den Boden f¨ ur neue Resultate aufbereiten“. Im Artikel in Scientia 29 dr¨ uckt sich Volterra noch expliziter aus und geht erneut auf die beruhigende Analogie zur Entwicklung der Mechanik ein. Die Konstruktion des Modells muß das zu behandelnde Problem, dessen Natur und seine besonderen Eigenschaften ebenso ber¨ ucksichtigen wie die sp¨ater verwendeten mathematischen Werkzeuge. Die Diskussion der Ergebnisse erm¨oglicht dann sp¨ ater allm¨ahlich, deren Bedeutsamkeit zu verbessern: Im behandelten Fall ” zweier Spezies, von denen eine die andere frißt, finden wir, daß sich immer ein periodischer Zyklus einstellt, der die beiden Arten um bestimmte Mittelwerte schwanken l¨aßt. Man k¨ onnte einwenden, es sei leicht vorstellbar, daß die fressende Spezies so zahlreich und gefr¨ aßig ist, daß sie in kurzer Zeit s¨amtliche Individuen der anderen Art vernichtet und deshalb die obengenannten Schwankungen unm¨ oglich macht. Aber wir machen darauf aufmerksam, daß sich das Gesetz des Zyklus von folgender Aussage ableitet: Eine Spezies, der es an Nahrung fehlt, kann nur in einer unendlichen Zeit verschwinden. Diese Aussage scheint noch realit¨ atsferner als das Gesetz selbst. Das wiederum h¨angt von der Tatsache ab, daß zu den Hypothesen, die der ganzen Behandlung zugrunde liegen, auch die Voraussetzung geh¨ ort, daß die Anzahl der Individuen eine positive Zahl ist, die sich stetig ¨ andert, w¨ahrend sie in Wirklichkeit eine ganze Zahl ist, die nicht unter eins liegen kann. [...] Das alles ist nicht charakteristisch f¨ ur die diesbez¨ uglichen Anwendungen der Mathematik auf die Biologie, sondern verl¨ auft auf analoge Weise in allen anderen F¨allen, in denen diskrete Gr¨oßen durch stetige Gr¨ oßen ersetzt werden. [...]. Wie geht man in den jetzt seit langer Zeit angewandten Theorien vor, um die Schwierigkeiten zu u ¨berwinden, mit denen wir uns jetzt besch¨aftigen? Man muß zwei Pha28
29
Eine moderne“ Verteidigung des Volterraschen Ansatzes findet man u. a. bei ” Brown [13]. Volterra [137].
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8 Nach den Katzen die Fische
Abb. 8.2. Vito Volterra vor seinem Haus in Ariccia.
sen unterscheiden: In der ersten Phase wird das Problem gel¨ost, indem man sich sozusagen den Verfahren der Analysis u ¨berantwortet und die gemachten Voraussetzungen als absolut verifiziert betrachtet. Nachdem man die L¨osung erhalten hat, muß man sie in einer zweiten Phase diskutieren, und wenn es so aussieht, daß in der L¨ osung bestimmte Grenzen u ur die ¨ berschritten werden, f¨ sich die gemachten Voraussetzungen zu weit von der Realit¨at entfernen, dann ist es erforderlich, die L¨ osung zu verwerfen oder zu modifizieren. [...] Die gefundene L¨osung ist also nicht hinf¨ allig, sondern offenbart uns einen Umstand, der außerordentlich wichtig und n¨ utzlich ist. Die erste Phase, von der wir oben gesprochen haben, ist das, was man als rationale Phase bezeichnen kann, die zweite ist die angewandte Phase, und tats¨ achlich haben wir eine rationale Mechanik und eine angewandte Mechanik. Die durchgef¨ uhrten und hier kurz zusammengefaßten Untersuchungen zur Biomathematik w¨ urden entsprechend dieser Klassifikation zur rationalen Phase geh¨oren“.
8.4 Weitere Entwicklungen
Abb. 8.3. Vito Volterra mit einer Enkeltochter.
Abb. 8.4. Vito Volterra mit Ehefrau Virginia und Enkelkindern
191
9 Die Zeit l¨ auft ab
9.1 Im Schatten des Petersdoms Das Jahr 1933 ist nicht nur das Jahr der Faschisierung der akademischen Statuten in Italien, sondern auch das Jahr der Machtergreifung Hitlers und der Beginn der Judenverfolgungen in Deutschland. Auch wenn sich Mussolini am Anfang als geistiger Vater der nationalsozialistischen Bewegung aufspielt, so wird doch bald klar, daß die Rangordnung der beiden L¨ander nicht durch diese zeitliche Priorit¨at, sondern durch die unterschiedliche wirtschaftliche und milit¨ arische St¨arke bestimmt wird, und zwar eindeutig zugunsten der Deutschen. ¨ Das Jahr 1935 ist dann das Jahr des Einmarsches Italiens in Athiopien und der Wirtschaftssanktionen des V¨ olkerbundes gegen Italien. Die internationale Isolierung f¨ uhrt zu einer Schw¨ achung der englandfreundlichen Str¨omungen des Regimes und symmetrisch hierzu zur Verst¨ arkung der deutschfreundlichen. Die Ann¨aherung an Deutschland gibt den rassistischen und antisemitischen Str¨omungen Nahrung, die im italienischen Faschismus von Anfang an vorhanden waren, aber bis zu diesem Zeitpunkt keine besondere Gelegenheit hatten sich zu a¨ußern. Eine diskriminierende Praxis ist jedoch schon durch die Ernennungen der italienischen Akademiemitglieder dokumentiert. Nach dem ersten Verzeichnis der 1929 unmittelbar von der Regierung ernannten Mitglieder erfolgen die neuen Kooptationen durch Dreiervorschl¨ age, die von den vier Klassen der Akademie gew¨ahlt werden. Obwohl eine Reihe von Juden auf einen Dreiervorschlag kommt, wird keiner von ihnen vom Duce best¨atigt, dem die definitive Auswahl der Kandidaten obliegt, die von den Klassen angegeben worden sind. Demzufolge wird kein Jude Mitglied, obwohl ihre Pr¨asenz in der italienischen alta cultura erheblich ist. Mitte der 1930er Jahre erreicht der Faschismus das Maximum an Zustimmung in der italienischen Gesellschaft. Der Kolonialkrieg und die Sanktionen f¨ uhren dazu, daß sich auch die unentschlossensten Gruppen der ¨offentlichen Meinung dem Duce anschließen. Dieses Klima lastet zweifellos schwer auf Volterra, trotz der Gelassenheit, die von Familienangeh¨origen bezeugt wird und A. Guerraggio, G. Paoloni, Vito Volterra, Vita Mathematica, c Springer Basel AG 2011 DOI 10.1007/978-3-0348-0081-5 9,
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9 Die Zeit l¨ auft ab
auch im Briefwechsel zum Ausdruck kommt. Der einstige signor scienza italiana, der hochgesch¨ atzte und verehrte Mathematiker, der Mann mit (nicht nur akademischer) Macht, der fr¨ uhere Pr¨ asident des CNR und der Accademia dei Lincei, ist nun mehr als siebzig Jahre alt, hat seine Beschwerden und einige Kreislaufprobleme. Er ist jetzt nicht nur seiner Macht beraubt, sondern auch vieler beruflicher und pers¨ onlicher Beziehungen. Die melancholische Sehnsucht nach einer so j¨ ah unterbrochenen Vergangenheit wird durch ¨ einige Reisen gemildert – 1937 gelingt es Volterra, noch Agypten zu besuchen, und im darauffolgenden Jahr begibt er sich ein letztes Mal nach Paris –, vor allem aber hilft ihm die Zuneigung der Familienangeh¨origen. Virginia ist immer an seiner Seite. Seit einigen Jahren sind da auch die Enkelkinder. Nach Volterras Tochter Luisa hat inzwischen auch sein Sohn Edoardo geheiratet und eine juristische Universit¨ atslaufbahn eingeschlagen. Edoardos Frau Nella Levi Mortera hat eine kurze, aber pr¨ agnante Erinnerung an das Leben der Volterras vor und w¨ ahrend des Krieges hinterlassen1 : ¨ Die vom Erfolg in Athiopien berauschten Faschisten haben sogar das ” Gef¨ uhl f¨ ur das L¨ acherliche verloren. Die S¨ohne sind nicht mehr die S¨ohne der M¨ utter, sondern die S¨ ohne der W¨olfin2 , die Frauen m¨ ussen fruchtbar sein; die Angestellten m¨ ussen heiraten, die hohen Parteifunktion¨are m¨ ussen, egal wie alt sie sind und wie sie physisch beieinander sind, durch den Feuerreifen springen. W¨ahrend die von der Regierung geknebelten Zeitungen gebetsm¨ uhlenartig wiederholen, daß man Herr des Wassers, der L¨ ufte, des Morgen- und des Abendlandes sei, h¨ort man, wie in den ¨ offentlichen Lokalen und in den Z¨ ugen aus voller Kehle massenhaft ordin¨ are Strophen dieser Art gesungen werden: Und Englands Ende beginnt bei Giarabub3 und: Pariert En¨ gelland nicht fein, nehmen wir auch Agypten ein. Die wenigen rechtschaffenen Leute versammeln sich in einem befreundeten Haus bei Kuchen aus Mehlersatz und barbarischem Karkadeh-Tee4 und begn¨ ugen sich damit, die u ute ¨blichen Bonmots zu wiederholen: Was ist die Bl¨ des Faschismus? Die Magnolie. Und die des Antifaschismus? Das Rho-
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N. Levi Mortera, Ritorno alla libert` a. (Es handelt sich hierbei um eine nicht im Handel erh¨ altliche Brosch¨ ure, die von Edoardos und Nellas T¨ ochtern Laura und Virginia ver¨ offentlicht wurde.) Anspielung auf Romulus und Remus. Giarabub ist eine libysche Oase an der ¨ agyptischen Grenze, ca. 200 km von der K¨ uste entfernt. Karkadeh ist der hellrote Hibiskustee. Die italienische K¨ uche wurde von der von Mussolini erkl¨ arten Autarkie beeinflußt: Die Italiener wurden dazu aufgefordert, Kaffee und Tee durch ger¨ ostete Zichorie und Karkadeh zu ersetzen und mit dem Mehlersatz vegetina zu backen, den es ohne Lebensmittelkarten gab.
9.1 Im Schatten des Petersdoms
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dodendron.5 Chi `e il Duce? L’affondatore dell’Impero.6 [...]. Und so weiter. Eine Dame aus der Romagna kommentierte und schloß diese Stelldicheins mit einem ausdrucksvollen Sprichwort, in dem der gesunde Menschenverstand zur Geltung kommt: Le chiacchiere non fan frittelle7 , womit sie nicht ganz Unrecht hatte.“ In diesen politisch wie moralisch so schweren Stunden erreicht Volterra die unerwartete Solidarit¨ at von einer unvorhersehbaren Seite: Der Vatikan steht ihm bei. Am 28. Oktober 1936 verk¨ undet Papst Pius XI.8 die Reform der P¨apstlichen Akademie (Pontificia Accademia dei Nuovi Lincei ) und baut sie auf neuen Grundlagen unter dem Namen P¨ apstliche Akademie der Wissen” schaften“ (Pontificia Accademia delle Scienze) auf. Alles hatte mit der alten Accademia dei Lincei begonnen, die 1603 von Federico Cesi9 gegr¨ undet und 1630 mit dem Tode des adligen r¨ omischen M¨ azens wieder geschlossen worden war. Versuche, sie wiederzubeleben, hatten bis zur Neugr¨ undung 1847 durch Papst Pius IX. wechselhaften Erfolg. Im Jahr 1870 hatte sich die Akademie gespalten: Ein Teil der Mitglieder hatte die Umwandlung in die Reale Accademia dei Lincei akzeptiert, die von Quintino Sella und von der italienischen Regierung gef¨ ordert wurde, w¨ ahrend andere dem Papst die Treue hielten und den fr¨ uheren Bund am Leben erhielten, der seinen Sitz in den Vatikanischen G¨arten gefunden hatte. Nach einer Periode schwieriger Beziehungen war die Feindseligkeit zwischen beiden Akademien allm¨ahlich verschwunden. Bereits seit einiger Zeit waren die Beziehungen gut, wie auch der Briefwech5
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Das Wort magnolia ist eine Anspielung auf die Wortwurzel MAGN. Als Zeichen der Vorsehung galt, daß Mussolini als Sohn eines Schmiedes (MAGNano) geboren wurde. Er stammte aus der RoMAGNa. Außerdem war er großm¨ utig (MAGNanimo) und wortgewandt (MAGNiloquente). Verglichen mit den Großen der Vergangenheit ¨ ahnelte er Alexander dem Großen (Alessandro MAGNo) und Karl dem Großen (Carlo MAGNo). Dar¨ uber hinaus konnte man sich vorstellen, daß er das B¨ undnis mit Deutschland (AleMAGNa) beenden w¨ urde (vgl. Cardillo [14], S. 139). Das Rhododendron heißt auf Italienisch rododendro und das wird verf¨ alscht durch rodo (dal) dentro wiedergegeben ( ich zersetze von innen“). ” Dieses Wortspiel beruht auf dem ¨ ahnlichen Klang von fondatore“ (Gr¨ under) und ” affondatore“ (Versenker). Auf die Frage Chi `e il Duce?“ (Was ist der Duce?) ” ” lautet die Antwort nicht (wie erwartet) Il fondatore dell’Impero“ (Der Gr¨ under ” des Reiches) sondern L’affondatore dell’Impero“ (Der Versenker des Reiches). ” Geredet ist nicht getan“. ” Pius XI. (1857–1939), der den b¨ urgerlichen Namen Achille Ambrogio Damiano Ratti hatte, war Papst von 1922 bis 1939. Unter Pius XI. kam es zur L¨ osung der R¨ omischen Frage“, bei der es um die Souver¨ anit¨ at des Kirchenstaates ging. Am ” 11. Februar 1929 schloß er mit Benito Mussolini die Lateranvertr¨ age ab, durch welche die Vatikanstadt die Unabh¨ angigkeit erlangte. Außerdem wurde in den Lateranvertr¨ agen auch der Katholizismus zur Staatsreligion erkl¨ art (durch ein Konkordat von 1984 revidiert); der Religionsunterricht wurde obligatorisch und antikirchliche Propaganda verboten. Die Beziehungen zur faschistischen Regierung verschlechterten sich aber zusehends. Federico Cesi (1585–1630), Aristokrat mit Vorliebe f¨ ur die Naturwissenschaften.
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9 Die Zeit l¨ auft ab
sel zwischen Pater Giuseppe Gianfranceschi10 , dem letzten Pr¨asidenten der Nuovi Lincei, und Volterra dokumentiert. Die P¨apstliche Akademie der Wissenschaften u atigkeiten einer jeden Vereinigung dieser ¨bte die traditionellen T¨ Art aus: Diskussion wissenschaftlicher Probleme, Vorstellung von Mitteilungen, Ver¨offentlichung wissenschaftlicher Arbeiten und Abhandlungen, Organisation von Tagungen und Begegnungen. Der erste Pr¨asident der erneuerten P¨ apstlichen Akademie ist Pater Agostino Gemelli, der hervorragende Arzt aus der Schule von Camillo Golgi in Pavia, der mit seiner Konversion zum Katholizismus großes Aufsehen erregte und dem wir bereits in Kapitel 7 fl¨ uchtig begegnet sind. Das Statut sieht jetzt 70 Mitglieder vor, die alle vom Papst ernannt werden. Bei der Vorbereitung des neuen Statuts und der Liste der Mitglieder – im ersten Verzeichnis, das dem Papst vorgelegt wird, erscheinen 33 Italiener und 37 Ausl¨ander – bedient sich Gemelli einer engen Gruppe von Mitarbeitern, unter denen Tullio LeviCivita eine f¨ uhrende Rolle spielt.11 Levi-Civita schl¨agt Volterra in einem langen Brief vom 27. Januar 1936 im Zusammenhang mit den neuen Ernennungen vor: Ich erkenne drei Personen je eine Stelle zu: Volterra, Enriques und Fer” mi. Senator Vito Volterra teilt sich mit Hilbert die f¨ uhrende Position unter den lebenden Mathematikern. W¨ urde man nur auf die offiziellen Anerkennungen achten, dann m¨ ußte man Volterra h¨ oher einsch¨atzen, der ohne Ausnahme Mitglied der weltweit bedeutendsten Akademien ist; er wurde zu feierlichen Anl¨assen von Universit¨ aten und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen in Europa und Amerika eingeladen, um Vortr¨ age zu halten, etc. Abgesehen von den schon klassischen Ergebnissen [...] mache ich nur auf die neueren Resultate zur Biomathematik aufmerksam, die f¨ ur die h¨ohere Analysis ein neues Anwendungsgebiet erschlossen haben. [...] Volterra ist trotz seines Alters von 75 Jahren auch weiterhin aktiv. Bekanntlich hatte er sich geweigert, den von der faschistischen Regierung geforderten Eid zu schw¨oren, weswegen er bereits vor f¨ unf Jahren (als Professor der Universit¨at Rom) in den Ruhestand versetzt wurde und sp¨ ater aus allen Akademien, denen er als ordentliches Mitglied angeh¨orte (Lincei, XL, Turin, Neapel), ausgeschlossen wurde.“ Von den m¨oglichen neuen Mitgliedern, die Levi-Civita empfohlen hatte, akzeptiert der Papst nur Vito Volterra.12 Die Kandidaturen waren eingehend gepr¨ uft worden und der Papst hatte u ¨ber jeden einzelnen Namen nachgedacht. Volterras Ernennung ist folglich eine durchdachte Entscheidung mit politischem Gewicht, 10
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Giuseppe Gianfranceschi (1875–1934) wurde 1930 zum ersten Direktor von Radio Vatikan ernannt. Der Vatikansender meldete sich im gleichen Jahr erstmalig mit der zur Tradition gewordenen Ansage Laudetur Jesus Christus“. ” Vgl. Dokumentation Calendario della corrispondenza di Tullio Levi-Civita (1873– 1941) con appendici di documenti inediti, Universit` a Bocconi, Milano, 1999 ( Quaderni PRISTEM“, Nr. 8). ” Die anderen Mathematiker, die zu Mitgliedern der P¨ apstlichen Akademie ernannt wurden, sind U. Amaldi, G. D. Birkhoff, C. Carath´eodory, C. de la Vall´ee Poussin, T. Levi-Civita, E. Picard und E. T. Whitthaker.
9.1 Im Schatten des Petersdoms
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Abb. 9.1. Vito Volterra und Tullio Levi-Civita.
die sich in das komplexe Beziehungsgef¨ uge einordnen l¨aßt, das zwischen dem Vatikan und dem Faschismus bestand. Gemelli zeigt mehr als einmal seine Solidarit¨at mit Volterra, zuerst mit Zustimmung von Pius XI. und sp¨ ater mit Einverst¨andnis von dessen Nachfolger Eugenio Pacelli (Pius XII.), in dessen Anwesenheit die P¨apstliche Akademie am 2. Juni 1937 er¨ offnet wird. Gemelli u ¨berbringt auch die Gebete des Papstes anl¨aßlich der gesundheitlichen Probleme des alten Mathematikers und der moralischen Schwierigkeiten, mit denen er sich in Italien st¨andig
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9 Die Zeit l¨ auft ab
konfrontiert sieht. Seinerseits zeigte sich Monsignore Giovanni Battista Montini – der k¨ unftige Papst Paul VI. – an der L¨ osung einiger Fragen interessiert, die das Ehepaar Volterra ernstlich beunruhigen und mit den Rassengesetzen zusammenh¨angen, von denen gleich die Rede sein wird. Ende 1938 gibt die P¨apstliche Akademie Volterra auch die Genugtuung, seinen Vorschlag f¨ ur die Ernennung Carlo Somiglianas anzunehmen (der u ¨brigens bereits in den Listen auftritt, die Levi-Civita seinerzeit vorbereitet hatte). Einige Monate sp¨ ater schreibt Roberto Farinacci an Mussolini und fordert ihn auf, Pater Gemelli zum Mitglied der Accademia d’Italia zu ernennen. Der Kommentar des Duce ist deutlich: Er ist noch nicht reif.“ Die u ¨ berdurch” schnittliche Aufmerksamkeit gegen¨ uber den j¨ udischen Mitgliedern der P¨apstlichen Akademie und vielleicht auch die menschliche Solidarit¨at mit einem erkl¨arten Antifaschisten haben bei Mussolinis Bewertung gewiß ein ziemliches ¨ Gewicht gehabt. Nicht alles Ubel schadet: 1940 h¨atte eine sp¨ate Anerkennung durch das Regime dem Priester, der bei der kulturellen Organisation des Vatikans eine wichtigere Rolle spielte, mehr Schaden als Freude bereitet.
9.2 Die Rassengesetze Am 14. Juli 1938 proklamiert ein Manifest der italienischen Wissenschaftler“ ” (Manifesto degli scienziati italiani) die Zugeh¨ origkeit des italienischen Volkes zur arischen Rasse und die Nichtzugeh¨ origkeit der Juden zur Volksgemeinschaft. Anfang September sprach die K¨ onigliche Gesetzesverordnung 1381 die ersten Maßnahmen gegen die ausl¨ andischen Juden aus, w¨ahrend die K¨onigliche Gesetzesverordnung 1390 Verf¨ ugungen zum Schutz der Rasse in der fa” schistischen Schule“ erl¨ aßt. Nach dem eigens daf¨ ur vorgesehenen Beschluß des Großrates vom 6. Oktober 1938 wird am 17. November eine weitreichende und gegliederte Verordnung mit Bestimmungen zum Schutz der italienischen Ras” se“ erlassen. Die verschiedenen rassistischen und antij¨ udischen Bestimmungen werden dann am 15. Dezember 1938 in einem einzigen Text koordiniert. Die Vorschriften treffen die j¨ udische Gemeinde, die damals ungef¨ahr 50 000 Personen z¨ahlt, auf unterschiedliche Weise. Innerhalb weniger Tage werden fast 4000 Menschen, darunter Professoren, ¨ offentliche und private Angestellte, Milit¨ars, Freiberufler und Kaufleute ihrer Arbeit beraubt. Die Folgen der antisemitischen Gesetzgebung auf die italienische Mathematik sind verheerend. Aus der Lehre werden Mathematiker wie Guido Ascoli, Ettore Del Vecchio, Federigo Enriques, Gino Fano, Guido Fubini, Beppo Levi, Tullio Levi-Civita, Beniamino Segre und Alessandro Terracini entfernt. Wer kann, emigriert: zwischen 1938 und 1941 fast 6000 Menschen. Aber wegzugehen ist nicht leicht: Von Volterras Kindern hat Enrico ziemlich viele Schwierigkeiten, bevor es ihm gelingt, Italien zu verlassen, w¨ ahrend Edoardo und Nella (mit der kleinen Laura) nach mehreren Versuchen aufgeben m¨ ussen und wieder nach Italien zur¨ uckkehren, wo sie im Untergrund leben.
9.2 Die Rassengesetze
199
Die Rassengesetze, denen eine einh¨ ammernde Pressekampagne vorausgeht, werden mit einer besonderen Verbissenheit auf die Kulturwelt angewandt. Bereits vor dem Erlaß der Gesetze hatte das – von Telesio Interlandi geleitete – rassistische Blatt Il Tevere die Listen der j¨ udischen Universit¨atsprofessoren und Assistenten ver¨ offentlicht und dabei ihre Entfernung von den Stellen und ihren Ausschluß aus den Akademien gefordert. Die von Interlandi benutzten Listen waren vom Nationalen Erziehungsministerium auf der Grundlage von Judenz¨ahlungen vorbereitet worden, die einige Monate vor dem Erlaß der Maßnahmen vom Herbst 1938 durchgef¨ uhrt worden sind und exakt diejenigen Listen vorwegnehmen, die sp¨ ater zur Entfernung der j¨ udischen Universit¨atslehrer und zu ihrem Ausschluß aus den Akademien verwendet werden. Die rassistische Presse nimmt auch die Liste der Lehrb¨ ucher j¨ udischer Autoren vorweg; die Benutzung dieser Lehrb¨ ucher in den Schulen wird sp¨ater verboten. Am 14. Juli 1938 wurde das Rassenmanifest ver¨offentlicht“, erinnert ” sich Nella Levi Mortera, gleich danach bricht eine heftige antisemiti” sche Attacke los. Im Radio die Cronache del regime zu h¨oren, die mit einem Kommentar zu den Ereignissen des Tages ad usum Delphini ausschließlich dazu tendieren, die ¨ offentliche Meinung aufzubauschen, die Zeitung zu ¨ offnen und in diesem Moment die verf¨alschte und deformierte Wahrheit sowie die Verleumdungen zu lesen, mit denen versucht wird, Unschuldige mit Dreck zu bewerfen – all das ist gleichbedeutend damit, eine t¨ agliche Dosis Gift zu schlucken. [...] Ich sehe die Hakenkreuze wieder, die in den Schaufenstern einiger Gesch¨afte erscheinen, die von eifrigen Faschisten gef¨ uhrt werden. Dann, so langsam, die st¨andigen Nadelstiche, das Verbot, in Bibliotheken zu gehen, die mehr oder weniger sinnlosen Schikanen. Weg mit den Haushaltshilfen f¨ ur diejenigen, die nicht arischer Rasse sind: sie k¨onnten sich anstecken! Weg mit den Radios! Man k¨ onnte Colonel Stevens h¨oren! Dann werden die Dinge immer schlimmer. Die ausl¨andischen Juden d¨ urfen nicht mehr in die Schule gehen, einige Monate sp¨ater ist das gleiche Schicksal auch unseren Kindern vorbehalten. Die Ereignisse spitzen sich zu und es kommen die Erlasse vom Oktober, mit denen die Lehrkr¨afte, die nicht arischer Abstammung sind, aus der Lehre entfernt werden. Wenn dich vorher das Unverst¨andnis der Leute getroffen hat [...] so erleiden wir jetzt eine gr¨ oßere Qual durch diejenigen, ¨ die unser Gef¨ uhl bis zum Außersten verletzen, indem sie uns mit Floskeln wie diesen tr¨ osten: Wir bleiben Freunde wie fr¨ uher. Es tut uns pers¨onlich leid f¨ ur euch, aber wenn es Mussolini getan hat, dann wird er wohl seine Gr¨ unde haben?. Wenn ihr keine Italiener seid, was macht ihr dann hier in Italien?. Die infame Propaganda f¨angt an, ihre Fr¨ uchte zu tragen. Ist es m¨ oglich, daß so viele Hirne bis zu dem Punkt getr¨ ubt sind, daß sie nicht mehr denken k¨onnen und nicht mehr begreifen, daß heilige Prinzipien verletzt worden sind und man
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9 Die Zeit l¨ auft ab
sich darum mehr Sorgen machen m¨ ußte und sich deswegen mehr ¨angstigen m¨ ußte als wegen des pers¨ onlichen Schicksals dieses oder jenes Freundes?“ (Vgl. Levi Mortera [57].) Um Gift und Zwietracht in der j¨ udischen Gemeinde zu s¨aen, sehen die Rassengesetze die Abschw¨ achung einiger Maßnahmen gegen¨ uber denjenigen Juden vor, die sich besonderer – in den Vorschriften verankerter – patriotischer Verdienste r¨ uhmen k¨ onnen. Und so versucht Volterra, den Schaden f¨ ur sich und die Familie zu begrenzen, indem er einen Unterscheidungsantrag vorbereitet – auf diese Weise definiert das Gesetz die Heraushebung derjenigen Juden, auf die derartige Vorteile angewendet werden k¨onnen – aber zum Gl¨ uck stellt sich im letzten Moment heraus, daß er diesen Antrag nicht einreichen muß. Er kann die Erniedrigung dank einer k¨oniglichen Verf¨ ugung vermeiden, die ihm brieflich vom Senatspr¨ asidenten mitgeteilt wird. In dieser Verf¨ ugung wird die besagte Unterscheidung“ von Amts wegen auf alle ” j¨ udischen Senatoren ausgedehnt, f¨ ur welche die patriotischen Verdienste als gegeben gelten, da die Betreffenden ohne diese Verdienste den Senatorensitz gar nicht erhalten h¨ atten. Die Verf¨ ugungen des K¨onigs zuerst gegen¨ uber den antifaschistischen und dann gegen¨ uber den j¨ udischen Senatoren, sowie der vom Souver¨an gew¨ ahrte diskrete Schutz f¨ ur einige Frondeure“ aus den Rei” hen des Milit¨ars d¨ urfen nicht u achtliche Komplizenschaft Viktor ¨ber die betr¨ Emanuels III. mit der faschistischen Regierung hinwegt¨auschen. Der Souver¨an hat nur die Absicht, Mussolinis Satzungszw¨ angen einige deutliche Grenzen zu ¨ setzen, um seine eigenen Sonderrechte zu sch¨ utzen, wobei er in der Uberzeugung handelte, daß sich diese Vorrechte einmal als n¨ utzlich erweisen k¨onnten, wenn er entscheiden w¨ urde, sich des aufdringlichen Regierungsoberhauptes ” und Duce des Faschismus“ zu entledigen. Eine solche politische Vorsicht wird ihre ganze N¨ utzlichkeit am 25. Juli 1943 und ihre ganze Zerbrechlichkeit am darauffolgenden 8. September zeigen.13 Unterdessen erh¨alt Volterra, der aus irgendeinem Grund nicht von der Liste der Mitglieder des Istituto Lombardo di Scienze e Lettere gestrichen worden war, am 19. Dezember 1938 die Mitteilung, daß er nicht mehr Mitglied sei, da er einer nichtarischen Rasse ” angeh¨ort.“ Wir schreiben das Fr¨ uhjahr 1939 und Volterra, inzwischen neunundsiebzig Jahre alt, ist krank und m¨ ude. Er schreibt an Carlo Somigliana: Ich bin ” immer noch schwerkrank und leide jetzt an einer Venenentz¨ undung. Ich hoffe, Dich im n¨achsten Monat zu sehen, wenn Du hierher kommst, aber ich weiß nicht, ob ich imstande sein werde, an der Akademiesitzung teilzunehmen.“ Die 13
Am 25. Juli 1943 st¨ urzt eine Palastrevolte Mussolini. Viktor Emanuel III., dessen Monarchie Mussolini zum Dank f¨ ur die Sch¨ utzenhilfe bei seinem Machtantritt 1922 nicht angetastet hatte, l¨ aßt den Diktator verhaften. Er u ¨bernimmt auch den Oberbefehl u ¨ber die Armee und beauftragt Marschall Pietro Badoglio mit der Bildung einer Milit¨ arregierung, die mit den Alliierten einen Waffenstillstand schließt. Italien scheidet aus dem Krieg aus. Nach der Bekanntgabe des Waffenstillstands am 8. September 1943 okkupiert die Wehrmacht Nord- und Mittelitalien.
9.3 In der Stille von Ariccia
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Freunde haben ihn nicht vergessen. Somigliana bedankt sich bei ihm f¨ ur die Ernennung zum Mitglied der P¨ apstlichen Akademie und f¨ ugt hinzu: Ich den” ke auch mit aufrichtigem Bedauern an Deinen Kummer und an Deine Sorgen in Bezug auf die Zukunft Deiner Kinder, die bereits eine gl¨anzende Laufbahn eingeschlagen haben. Alle Menschen mit Herz sind verbittert u ¨ber das, was in der letzten Zeit geschehen ist. Und man m¨ ochte hoffen, daß dieser Wahnsinn in nicht allzu langer Zeit eine M¨ aßigung erf¨ahrt oder zur Ruhe kommt. Man muß eine unersch¨ utterliche Seele haben und darf sich nicht entmutigen lassen. Auf eine Ungeheuerlichkeit folgt schließlich eine R¨ uckkehr zur Weisheit.“ Somigliana und Volterra hatten sich sechzig Jahre zuvor an der Scuola Normale kennengelernt. Jetzt ist die Zeit der Erinnerungen gekommen. Somigliana schreibt ihm: Als ich mich einen Tag in Florenz aufhalten mußte, ” machte ich einen Ausflug nach Montecatini, um dort unseren alten Freund Bindi zu treffen, den ich seit achtundf¨ unfzig Jahren nicht gesehen hatte! Ich habe ihn auch gefunden, aber, um die Wahrheit zu sagen, hat er etwas anders ausgesehen als der sch¨ one junge Mann, dem wir in Pisa begegnet sind; immerhin ist er in einer ziemlich guten Verfassung. Wir haben uns auch der alten Kollegen erinnert und in erster Linie an Dich gedacht; von vielen gibt es gar keine Nachricht mehr.“ Der franz¨ osische Mathematiker Paul Montel schreibt im Dezember 1939: Wir werden am 14. Januar das Borel-Jubil¨aum ” feiern. Volterras m¨ achtige Stimme wird dort nicht zu h¨oren sein, aber wir wissen alle, daß seine Gedanken bei uns sein werden. Seine Majest¨at der K¨onig, abwesend aber unter uns, wie D’Annunzio am Scoglio di Quarto sagte.“ 14 Volterras Sohn Edoardo trifft mit seiner Familie am Tag der Kriegserkl¨arung in Frankreich ein, aber die Unterbringung bereitet so viele Schwierigkeiten, daß er sich veranlaßt sieht, wieder in die Heimat zur¨ uckzukehren: Ich entscheide ” mich [...], das M¨adchen nach Italien zur¨ uckzubringen, wo noch kein Krieg ist. Zur¨ uck in Frankreich, nachdem ich meine Tochter den Großeltern anvertraut habe, bereue ich sofort, das Kind nicht mehr bei mir zu haben, weil Italien wirklich am Vorabend des Kriegseintritts steht, und wir riskieren, was ich immer bef¨ urchtet habe, n¨ amlich f¨ ur die Zeit des Krieges voneinander getrennt zu sein.“ Italien tritt am 10. Juni 1940 in den Krieg ein.
9.3 In der Stille von Ariccia Heute Morgen um 4 Uhr 30 ist Senator Vito Volterra, Sohn des verstor” benen Abramo, Angeh¨ origer der j¨ udischen Rasse, in seiner Wohnung in Via 14
Am 6. Mai 1860 stach Giuseppe Garibaldi (1807–1882) mit gut tausend schlechtbewaffneten Anh¨ angern, den legend¨ aren Mille“, vom Scoglio di Quarto, einem ” Felsen an den Ufern von Genua, in Richtung Sizilien in See. Zur Einweihung des Monuments, das 1915 zu Ehren der Mille“ errichtet worden war, hielt der Dich” ter D’Annunzio die von Montel zitierte Gedenkrede, die mit dem Satz Maest` a ” del Re assente e presente! Popolo di Genova ...“ begann.
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in Lucina 17 verstorben. Gezeichnet: Palma.“ Das Phonogramm des Polizeipr¨ asidiums Rom teilt dem Innenministerium am 11. Oktober 1940 mit, daß die f¨ ur Vito Volterra angelegte Akte endlich geschlossen werden kann. ¨ Aber die Uberwachung begleitet auch den toten Gegner. Daher beschreiben die Phonogramme die verschiedenen Phasen des Begr¨abnisses, bei dem auch ein un¨ ubliches Vorbeiziehen an der Chiesa di Santa Maria in Via vorgesehen ist, wahrscheinlich, um einen kurzen Gruß von den Beh¨orden des Vatikans entgegen zu nehmen. Der Wagen verl¨aßt danach Rom in Richtung Ariccia: Die Einwohner von Ariccia, die dem angesehenen Wissenschaftler – der gegen¨ uber den Problemen ihrer Gemeinde immer ¨außerst aufgeschlossen war –, sehr zugetan sind, fordern den Zorn der faschistischen Beh¨orden heraus, als sie den Sarg vom Wagen nehmen und auf den Schultern in einem großen Trauerzug an die Stelle des Friedhofs tragen, an der Volterra noch heute ruht. Nella Levi Mortera erinnert sich15 : Ich sehe mich im Oktober des Jahres ” 1940 auf einem Landfriedhof, zu dem wir meinen Schwiegervater geleitet hatten, der uns im Augenblick der gr¨ oßten Tragik f¨ ur immer verlassen hat, als es nicht einmal einen Hoffnungsschimmer gab, daß eine R¨ uckkehr zur Freiheit noch m¨oglich ist. Er, der in einer Zeit, als die Mehrheit der B¨ urger Kompromisse mit dem eigenen Gewissen schloß und das M¨antelchen nach dem Wind h¨angte, einer der wenigen war, der f¨ ur seine Familie und f¨ ur die Menschen ein leuchtendes Beispiel von Redlichkeit war, durfte den Zusammenbruch der Diktaturen nicht mehr erleben!“. Volterra wird von zahlreichen ausl¨ andischen Akademien gew¨ urdigt, deren Mitglied er war; seiner wird auch in den kleinen italienischen Mathematikergemeinden in S¨ udamerika gedacht. Das Bollettino dell’Unione Matematica Italiana bricht das Schweigen und erinnert an Volterra, aber vorsichtig. Sie ” m¨ ussen ber¨ ucksichtigen“, schreibt hierzu der Mathematikhistoriker Gino Loria an Virginia Volterra, wie begrenzt die den wissenschaftlichen Zeitschriften ” auferlegte Seitenzahl ist. Und zweitens wie notwendig es ist, mit aller Sorgfalt zu vermeiden, an gewisse Dinge zu r¨ uhren.“ Eine heilsame und korrekte (?) Lektion in Sachen politischer Realismus. In Italien ist es nur die P¨apstliche Akademie der Wissenschaften, die aufgrund ihres Sonderstatus zur Er¨offnung des Studienjahres 1941/42 eine Gedenkfeier veranstaltet. Man betraut Volterras Freund Carlo Somigliana mit der Gedenkrede. Virginia Volterra hat einen Auszug aus Somiglianas Rede an zahlreiche italienische und ausl¨andische Wissenschaftler verteilt, die den Kontakt zu ihrem Mann auch in den Jahren der Verfolgung gehalten hatten. Benedetto Croce bemerkt in seinem Dankesbrief an Virginia Volterra: Es ist auch bedeutsam, daß diese seinem Gedenken ” geb¨ uhrende Pflicht nur in der P¨ apstlichen Akademie ihren Platz gefunden hat.“ Erst bei der Er¨ offnung der erneuerten Accademia dei Lincei im Jahr 1946 erh¨alt Volterra durch Guido Castelnuovos Gedenkrede eine W¨ urdigung an einer italienischen Institution.
15
Levi Mortera [57].
9.3 In der Stille von Ariccia
203
Jetzt haben die nachfolgenden Generationen das Wort. Es ist an ihnen, zu entscheiden, ob und in welchem Maße Volterras Intelligenz und Konsequenz f¨ ur die Zukunft des Landes n¨ utzlich sein k¨ onnen.
Daten aus der italienischen Geschichte
Wir beschr¨anken uns hier auf einige wichtige Daten der italienischen Geschichte in der Zeit von 1849 bis 1945 und gehen danach kurz auf die Abgrenzung verschiedener Phasen des italienischen Faschismus ein. 1849
1852–61 1859
1860 1861
1864
1866
Ausrufung der R¨ omischen Republik (9.2.), Besetzung Roms durch franz¨ osische Truppen (3.7.), Niederwerfung der Revolution (April–August). Cavour Ministerpr¨ asident (mit Unterbrechung). ¨ Krieg Sardinien-Piemonts und Frankreichs gegen Osterreich ( zweiter Unabh¨ angigkeitskrieg“), Friede von Z¨ urich ” (10.11.), die Lombardei geht an das K¨onigreich SardinienPiemont. Zug der Tausend“ unter Garibaldi durch Sizilien und S¨ ud” italien. Viktor Emanuel II. wird K¨ onig von Italien (17.03.). Es werden drei historisch gewachsene Gebiete vereinigt, die v¨ollig unterschiedlich sind: Die norditalienischen Kleinstaaten, der ganz Mittelitalien umfassende Kirchenstaat und der feudal gepr¨ agte S¨ uden des Landes. Italien und Frankreich schließen am 15.9. eine Konvention zur R¨ omischen Frage“, die den Abzug der franz¨osischen ” Garnison aus Rom innerhalb von zwei Jahren vorsieht. Dem Papst wird zugestanden, eine eigene Truppe aufzustellen. Italien verpflichtet sich, von einem milit¨arischen Angriff auf Rom abzusehen und die territoriale Integrit¨at des Kirchenstaates zu respektieren. Eine Geheimklausel legt fest, die italienische Hauptstadt von Turin an einen noch zu bestimmenden Sitz zu verlegen. Aus strategischen Gr¨ unden wird Florenz kurze Zeit sp¨ ater zur Hauptstadt erkl¨art. ¨ Beteiligung Italiens am Preußisch-Osterreichischen Krieg; Italien erh¨ alt Venetien.
A. Guerraggio, G. Paoloni, Vito Volterra, Vita Mathematica, c Springer Basel AG 2011 DOI 10.1007/978-3-0348-0081-5,
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Daten aus der italienischen Geschichte
1870
1882 1887–89 1892 1896 1903–14 1911 1912 1914
1915 1918
1919 1920
1921
Befreiung Roms von der franz¨ osischen Okkupation, Einigung Italiens abgeschlossen (20.9.), Rom wird Hauptstadt (9.10.). ¨ Dreibund (Deutschland, Osterreich, Italien), Crispi u ¨ bernimmt die Regierung. ¨ Krieg gegen Athiopien; Annexion von Eritrea. Gr¨ undung des Partito Socialista Italiano (15.8.). Niederlage der italienischen Truppen bei Adua im Norden ¨ Athiopiens (1.3.), Sturz Crispis (5.3.). Regierungen Giolitti (mit Unterbrechungen). Annexion von Tripolis. Frieden von Lausanne: Libyen wird autonom und f¨allt de facto an Italien. Neutralit¨ atserkl¨ arung (3.8.). Im Ringen zwischen Neutralisten (Giolitti) und Interventionisten (D’Annunzio, Mussolini) vertritt Salandra, der von 1914 bis 1916 italienischer Ministerpr¨ asident ist, den sacro egoismo per Italia. Als Außenminister der Regierung Salandra versucht Sonnino, italienische Gebietsforderungen durchzusetzen. Londoner Abkommen (25.4.), Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg (23.5.). Sieg der italienischen Truppen bei Vittorio Veneto (30.10.), ¨ Waffenstillstand zwischen Italien und Osterreich unterzeichnet (3.11.). Gr¨ undung des Partito Popolare Italiano (18.1.), erstes Auftreten der Schwarzhemden“ Mussolinis. ” Streiks der Sozialisten in Mailand und Turin. Sie werden von den Faschisten, welche die Funktionen der ohnm¨achtigen Staatsorgane usurpieren, mit Terror bek¨ampft. Gr¨ undung des Partito Nazionale Fascista. W¨ahrend der ohnm¨ achtigen Regierungen Bonomi (1921–22) und Facta (Feb. bis Okt. 1922) gehen die Faschisten zur direkten Ak” tion“ u ¨ber: Drohungen, Gewaltanwendungen, Ausschaltung der Provinzialb¨ urokratie in Oberitalien. Industrie und Heer sympathisieren mit dem Faschismus.
Daten aus der italienischen Geschichte
1922
1922–26
1923
1924
1925–26
1928
1929 1935–36
1936 1936–39 1938
Marsch auf Rom“ (28.10.). Der K¨onig beauftragt Mus” solini mit der Bildung eines Kabinetts; dieses besteht aus Faschisten und gesinnungsverwandten Angeh¨origen anderer Parteien. Regierungs¨ ubernahme durch Mussolini (30.10.). Konsolidierung des Faschismus. Neben den K¨onig (Capo dello Stato) tritt der Duce del Fascismo“ als Regierungs” chef (Capo del Governo) mehr zu- als untergeordnet durch das Gesetz u ¨ber die Befugnisse und Vorrechte des Regie” rungschefs“ (24.12.1925) und das Gesetz u ¨ ber die Befug” nisse der vollziehenden Gewalt zum Erlaß von Rechtsnormen“: unbeschr¨ ankte F¨ uhrungsgewalt des Regierungschefs. Reform Gentile“. Der Philosoph Giovanni Gentile hat die” se Reform als Unterrichtsminister des ersten Kabinetts Mussolini durchgef¨ uhrt. Ermordung des sozialistischen Generalsekret¨ars Matteotti (11.6.), Ausbruch der Matteottikrise, Bildung des Aventinblocks (27.6.). Ausnahmegesetze der faschistischen Regierung schaffen demokratische Freiheiten ab, Verbot der Oppositionsparteien (3.1.1925–31.10.1926). Neues Wahlgesetz: Aufstellung einer Liste von 400 von den verschiedenen K¨ orperschaften vorgeschlagenen Deputierten und Auswahl durch den Faschistischen Großrat“ (Gran ” Consiglio del Fascismo). Lateranvertr¨ age mit dem Vatikan (11.2.). ¨ Aggressionskrieg gegen Athiopien (3.10.1935–9.5.1936), das italienische Kolonie wird. Wirtschaftssanktionen des V¨olkerbundes gegen Italien. Ausrufung der Achse Rom-Berlin“ durch Mussolini (1.11.). ” Deutsch-italienische milit¨ arische Intervention zugunsten Francos in Spanien. Nach dem eigens daf¨ ur vorgesehenen Beschluß des Faschistischen Großrates vom 6. Oktober 1938 wird am 17. November eine weitreichende Verordnung mit Bestimmungen ” zum Schutz der italienischen Rasse“ erlassen. Die verschiedenen rassistischen und antij¨ udischen Bestimmungen werden am 15. Dezember 1938 in einem einzigen Text koordiniert.
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Daten aus der italienischen Geschichte
1939 1940
1941
1942 1943
1945
Aggression gegen Albanien (April), deutsch-italienischer Milit¨ arvertrag ( Stahlpakt“) (22.5.). ” Eintritt in den Zweiten Weltkrieg an der Seite Deutschlands (11.6.), Besetzung Britisch-Somalilands, Beginn des Feldzugs in Nordafrika (12.9., ab Feb. 1941 gemeinsam mit dem ¨ deutschen Afrikakorps), Uberfall auf Griechenland (28.10.). Kapitulation der italienischen Truppen in Somaliland, Eri¨ trea und Athiopien (Jan.–Okt.). Italien erkl¨art der Sowjetunion den Krieg (22.6.). Milit¨ arische Niederlage der deutsch-italienischen Truppen bei El-Alamein (4.11.). Kapitulation der letzten auf afrikanischem Boden k¨ampfenden deutsch-italienischen Verb¨ande (13.5.), Landung der Alliierten auf Sizilien (10.7.), Sturz Mussolinis (25.7.), Bekanntgabe der Kapitulation Italiens (8.9.), Besetzung Nordund Mittelitaliens durch deutsche Truppen, Mussolini proklamiert die Repubblica Sociale Italiana ( Italienische Sozi” alrepublik“, auch Republik von Sal`o“ genannt) (15.9.). ” Volksaufstand in Norditalien; Befreiung Mailands, Genuas und Turins (Ende April), Erschießung Mussolinis (27.4.), Kapitulation der deutschen Truppen in Oberitalien und Ende der Italienischen Sozialrepublik“. ” * * *
Aufstieg, Herrschaft und Ende des italienischen Faschismus m¨ ussen als historischer Prozeß verstanden werden, in dem mehrere Phasen deutlich voneinander unterschieden werden k¨ onnen. Nach Schieder [79] lassen sich folgende Phasen voneinander abgrenzen: •
• •
Die Entstehungsgeschichte des Faschismus von 1919 bis 1922 als Phase der Bewegung“. Sie geht mit dem Marsch auf Rom“ zu Ende, durch den der ” ” Faschismus an die Regierung kommt. ¨ Die Zeit von 1922 bis 1929 ist die entscheidende Ubergangsphase, in der sich der Faschismus konsolidiert und zur Diktatur entwickelt. Die Zeit von 1929 bis 1943 ist die eigentliche Diktaturphase des Faschismus.
Dieses Verlaufsschema l¨ aßt sich um eine Vorgeschichte und um einen faschistischen Epilog von 1943 bis 1945 erweitern, womit sich f¨ ur die Geschichte des Faschismus in Italien ingesamt f¨ unf Phasen ergeben.
Daten aus dem Leben Vito Volterras
1860 1862 1878 1879 1881 1882 1882 1883 1887
1887 1888 1888 1891 1891
Volterra wird am 3. Mai in Ancona als Sohn des Abramo Volterra und seiner Frau Angelica (geb. Almagi`a) geboren. Tod des Vaters. Immatrikulation an der Fakult¨ at f¨ ur Naturwissenschaften der Universit¨ at Pisa. Zulassung zur Elitehochschule Scuola Normale Superiore in Pisa. Volterra [102] entdeckt eine nirgends dichte Menge streng positiven ¨ außeren Maßes. Volterra [104] konstruiert eine differenzierbare Funktion, deren (beschr¨ ankte) Ableitung nicht integrierbar ist. Dissertation bei Enrico Betti u ¨ber Hydrodynamik. Danach Assistent bei Betti. Professor f¨ ur Rationale Mechanik in Pisa. Volterra [108], [109] f¨ uhrt die ersten verallgemeinerten Funktionen ein, die mit den Funktionen der Funktionalanalysis unmittelbar verwandt sind. Er nennt sie sp¨ater Linienfunktionen“ (funzioni di linee). ” Auszeichnung mit der Goldmedaille der Societ` a dei XL. Korrespondierendes Mitglied der Accademia dei Lincei. Volterra wird Mitglied der Soci´et´e math´ematique de France, reist nach Paris und lernt dort Poincar´e kennen. Mitglied des Circolo matematico di Palermo. Einmonatiger Studienaufenthalt in Deutschland. An den Universit¨ aten G¨ ottingen und Berlin trifft Volterra u. a. H. A. Schwarz und L. Kronecker.
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1892 1892
1893 1894 1895 1895 1896 1897 1897 1898 1898 1900 1900 1900
1901
1901 1902 1904 1904 1904
Daten aus dem Leben Vito Volterras
Nach Bettis Tod wird Volterra zum Dekan der Fakult¨at f¨ ur Naturwissenschaften der Universit¨at Pisa gew¨ahlt. In den Acta Mathematica erscheint seine Arbeit Sur les ” vibrations lumineuses dans les milieux bir´efringents“ (Volterra [115]). Volterra verl¨ aßt Pisa und wechselt nach Turin, wo er an der Universit¨ at eine Professur f¨ ur Mechanik antritt. Ordentliches Mitglied der Societ` a dei XL. Volterra erh¨ alt von der Accademia dei Lincei den Nationalen Preis f¨ ur Mathematik. Beginn der Polemik mit Giuseppe Peano, die sich einige Monate hinzieht. Erste Ver¨ offentlichungen u ¨ber Integralgleichungen. Mitbegr¨ under der Societ` a Italiana di Fisica. Mitglied der Astronomischen Gesellschaft Heidelberg. Teilnahme am Internationalen Mathematikerkongreß in Z¨ urich. Der franz¨ osische Mathematiker Ren´e Baire h¨alt sich einige Monate bei Volterra in Turin auf. Volterra wird Ordentliches Mitglied der Accademia dei Lincei. Volterra wird Professor f¨ ur Mathematische Physik der Universit¨ at Rom. Ehe mit Virginia Almagi` a. Hauptvortrag Betti, Brioschi, Casorati, trois analystes italiens et trois mani`eres d’envisager les questions d’analyse auf dem Internationalen Mathematikerkongreß in Paris. Vorlesung zur Er¨ offnung des akademischen Jahres an der ¨ Universit¨ at Rom. Volterra spricht Uber die Versuche, die ” Mathematik in der Biologie und in den Sozialwissenschaften anzuwenden“ (Sui tentativi di applicazione delle matematiche alle scienze biologiche e sociali ). Aufenthalt in England (London, Oxford, Cambridge). Aufenthalte in Deutschland, D¨anemark, Schweden und Norwegen. Ehrendoktorw¨ urde der Universit¨at Cambridge. Teilnahme am Internationalen Mathematikerkongreß in Heidelberg. Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Acad´emie des Sciences de France.
Daten aus dem Leben Vito Volterras
1904 1905
1905 1905 1906
1906 1907 1908 1908
1908 1909
1909 1909
1909 1910 1912 1915 1916 1917
Volterra erh¨ alt den Regierungsauftrag zur Reorganisation des Politecnico di Torino. Auf Einladung des schwedischen K¨onigs Oskar II. h¨alt Volterra in Stockholm einen Vorlesungszyklus u ¨ber partielle Differentialgleichungen. Ernennung zum Senator des K¨ onigreichs Italien. Ver¨ offentlichung der ersten Arbeiten zur Elastizit¨atstheorie. Volterra stellt in Mailand das Projekt einer Italienischen ” Gesellschaft f¨ ur den Fortschritt der Wissenschaften“ (Societ` a Italiana per il Progresso delle Scienze (SIPS)) vor. Beim Gr¨ undungskongreß der SIPS wird Volterra zum Pr¨asidenten gew¨ ahlt. Wahl zum Dekan der Fakult¨ at f¨ ur Naturwissenschaften der Universit¨ at Rom. Volterra organisiert den Internationalen Mathematikerkongreß in Rom und h¨ alt einen Hauptvortrag. Volterra wird Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg und der K¨oniglich Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Volterra h¨ alt an der Sorbonne einen Vorlesungszyklus u ¨ber Linienfunktionen. Erste Ver¨ offentlichungen zur heredit¨aren“ Mechanik (Me” chanik von Materialien, bei denen ein Nachwirkungseffekt auftritt). Im Rahmen der SIPS f¨ ordert Volterra die Gr¨ undung des Comitato talassografico (Komitee f¨ ur Meereskunde). Volterra h¨ alt in Rom einen Vorlesungszyklus u ¨ber Integralgleichungen und Integrodifferentialgleichungen. Die Vorlesungen werden 1913 ver¨ offentlicht (Volterra [126]). Erste Reise in die USA und nach Kanada. Fellow of the Royal Society. Reise nach S¨ udamerika. Zweite Amerikareise. Nach Ausbruch des Krieges meldet sich Volterra freiwillig bei der italienischen Armee. Tod der Mutter. Ernennung zum Leiter des Ufficio invenzioni, das zur Koordinierung von Armee, Industrie und Universit¨aten gegr¨ undet wurde.
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212
1918 1918
1920 1923 1923 1925 1926
1928 1931 1931 1934 1936 1936 1938
1940
Daten aus dem Leben Vito Volterras
Volterra u uhrt das Ufficio invenzioni in das Ufficio in¨berf¨ venzioni e ricerche. Volterra nimmt in London und Br¨ ussel an den Sitzungen der Alliierten zum Thema Probleme der Wissenschaft und ” deren milit¨ arische und zivile Anwendungen“ teil. Hauptvortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongreß in Straßburg. Volterra wird zum ersten Pr¨ asidenten des Consiglio Nazionale delle Ricerche (CNR) gew¨ ahlt. Volterra wird zum Pr¨ asidenten der Accademia dei Lincei gew¨ ahlt. Erste Ver¨ offentlichungen zur Populationsdynamik. Unter dem faschistischen Regime tritt Volterra am Ende des ersten Dreijahreszeitraums von seinen Funktionen im CNR und in der Accademia dei Lincei zur¨ uck. Hauptvortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongreß in Bologna. Ver¨ offentlichung der Le¸cons sur la th´eorie math´ematique de la lutte pour la vie (Volterra [142]). Volterra verweigert den Treueid auf das faschistische Regime. Volterra wird aus der Accademia dei Lincei ausgeschlossen. Erster Band der Th´eorie g´en´erale des fonctionnelles erscheint (Volterra [144], in Zusammenarbeit mit J. P´er`es). Volterra wird Mitglied der P¨ apstlichen Akademie der Wissenschaften (Pontificia Accademia delle Scienze.) Volterra wird vom Istituto Lombardo di Scienze e Lettere als Mitglied gestrichen, da er einer nichtarischen Rasse ” angeh¨ ort“. Volterra stirbt am 11. Oktober in Rom.
Lebensdaten von Mathematikern und Naturwissenschaftlern
Abel, Niels Henrik (1802–1829) Abetti, Antonio (1846–1928) Abetti, Giorgio (1882–1982) Agnesi, Maria Gaetana (1718–1799) Amaldi, Ugo (1875–1957) Amodeo, Federico (1859–1946) Arzel` a, Cesare (1847–1912) Ascoli, Giulio (1843–1896) Ascoli, Guido (1887–1957) Baire, Ren´e (1874–1932) Banach, Stefan (1892–1945) Battaglini, Giuseppe (1826–1894) Battelli, Angelo (1862–1916) Beltrami, Eugenio (1835–1900) Bernoulli, Jakob (1654–1705) Bertini, Eugenio (1846–1933) Bertrand, Joseph (1822–1900) Bettazzi, Rodolfo (1861–1941) Betti, Enrico (1823–1892) Bianchi, Luigi (1856–1928) Bieberbach, Ludwig (1886–1982) Birkhoff, George David (1884–1944) Blaserna, Pietro (1836–1918) Boggio, Tommaso (1877–1963) Borel, Emile (1871–1956) Brelot, Marcel (1903–1987)
Brioschi, Francesco (1824–1897) Brouwer, Luitzen E. Jan (1881–1966) Burali-Forti, Cesare (1861–1931) Cannizzaro, Stanislao (1828–1910) Cantor, Georg (1845–1918) Cantor, Moritz (1829–1920) Carath´eodory, Constantin (1873–1950) Carrara, Mario (1866–1937) Casorati, Felice (1835–1890) Castelnuovo, Guido (1865–1952) Cauchy, Augustin-Louis (1789–1857) Cerruti, Valentino (1850–1909) Cesi, Federico (1585–1630) Chi` o, Felice (1813–1871) Ciamician, Giacomo (1857–1922) Cinquini, Silvio (1906–1998) Colombo, Giuseppe (1836–1921) Corbino, Orso Mario (1876–1937) Costabel, Pierre (1912–1989) Cremona, Luigi (1830–1903) Crocco, Gaetano Arturo (1877–1968) Curie, Marie (1867–1934) D’Ancona, Umberto (1896–1964) Darboux, Gaston (1842–1917) Darwin, George (1845–1912)
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Lebensdaten von Mathematikern und Naturwissenschaftlern
de Finetti, Bruno (1906–1985) de la Vall´ee Poussin, Charles (1866–1962) Del Vecchio, Ettore (1891–1972) Dini, Ulisse (1845–1918) Dirichlet, Johann Peter Gustav Lejeune (1805–1859) D’Ovidio, Enrico (1843–1933) Du Bois-Reymond, Paul (1831–1889) Duhem, Pierre (1861–1916) Edison, Thomas A. (1847–1931) Enriques, Federigo (1871–1946) Euler, Leonhard (1707–1783) Evans, Griffith C. (1887–1973) Fano, Gino (1871–1952) Fantappi`e, Luigi (1901–1956) Fa` a di Bruno, Francesco (1825–1888) Felici, Riccardo (1819–1902) Fermi, Enrico (1901–1954) Finzi, Cesare (1836–1908) Freda, Elena (1890–1978) Fredholm, Erik Ivar (1866–1927) Fresnel, Augustin Jean (1788–1827) Fr´echet, Maurice (1878–1973) Fubini, Guido (1879–1943) Fuchs, Immanuel Lazarus (1833–1902)
Hilbert, David (1862–1943) Hostinsk´ y, Bohuslav (1884–1951) Hurwitz, Adolf (1859–1919) Huygens, Christiaan (1629–1695) Jacobi, Carl Gustav Jacob (1804–1851) K´ arm´ an, Theodor von (1881–1963) Kelvin, Lord (William Thomson) (1824– 1907) Klein, Felix (1849–1925) Kline, Morris (1908–1992) Kolmogorow, Andrei (1903–1987) Kostitzin, Wladimir (1883–1963) Kowalewskaja, Sofja (Sonja) (1850–1891) Kronecker, Leopold (1823–1891)
La Rosa, Michele (1880–1933) Lagrange, Joseph Louis (1736–1813) Lam´e, Gabriel (1795–1870) Landau, Edmund (1877–1938) Larmor, Joseph (1857–1942) Lavagna, Giovanni Maria (1812–1870) Lebesgue, Henri (1875–1941) Legendre, Adrien Marie (1752–1833) Levi, Beppo (1875–1951) Levi-Civita, Tullio (1873–1941) L´evy, Paul (1886–1971) Galilei, Galileo (1564–1642) Lie, Sophus (1842–1899) Galton, Francis (1822–1911) Liouville, Joseph (1809–1882) Garbasso, Antonio (1871–1933) Lorentz, Hendrik Antoon (1853–1928) Gˆ ateaux, Ren´e (1889–1914) Loria, Gino (1862–1954) Gause, Georgij Franzewitsch (1910–1986) Lotka, Alfred (1880–1949) Gauß, Carl Friedrich (1777–1855) Love, August Edward Hough (1863–1940) Gemelli, Agostino (1878–1959) Magrini, Giovanni Piero (1877–1935) Genocchi, Angelo (1817–1889) Mandelbrojt, Szolem (1899–1983) Germain, Sophie (1776–1831) Marconi, Guglielmo (1874–1937) Golgi, Camillo (1844–1926) Maxwell, James Clerk (1831–1879) Graßmann, Hermann (1809–1877) Mazet, Robert (1903–1991) Green, George (1793–1841) Millikan, Robert A. (1868–1953) Greenhill, Alfred George (1847–1927) Millosevich, Federico (1875–1942) Guccia, Giovan Battista (1855–1914) Mittag-Leffler, Gustaf (1846–1927) Guidoni, Alessandro (1880–1928) Montel, Paul (1876–1975) Hadamard, Jacques (1865–1963) Naccari, Andrea (1841–1919) Haeckel, Ernst (1834–1919) Napier, John (1550–1617) Hale, George Ellery (1868–1938) Nasini, Raffaello (1854–1931) Hamilton, William Rowan (1805–1865) Navier, Claude Louis (1785–1836) Hankel, Hermann (1839–1873) Neumann, Franz Ernst (1798–1895) Hardy, Godefrey Harold (1877–1947) Neumann, John von (1903–1957) Hermite, Charles (1822–1901)
Lebensdaten von Mathematikern und Naturwissenschaftlern Nigrisoli, Bartolo (1858–1948) Ostwald, Wilhelm (1853–1932) Padoa, Alessandro (1868–1937) Painlev´e, Paul (1863–1933) Pareto, Vilfredo (1848–1923) Pascal, Ernesto (1865–1940) Patern` o, Emanuele (1847–1935) Peano, Giuseppe (1858–1932) Pearson, Karl (1857–1936) P´er`es, Joseph Jean Camille (1890–1962) Persico, Enrico (1900–1969) Picard, Emile (1856–1941) Picone, Mauro (1885–1977) Pieri, Mario (1860–1913) Pincherle, Salvatore (1853–1936) Pirelli, Giovanni Battista (1848–1932) Pirrotta, Pietro Romualdo (1853–1935) Planck, Max (1858–1947) Pl¨ ucker, Julius (1801–1868) Poincar´e, Henri (1854–1912) Pontremoli, Aldo (1896–1928) Porro de’ Somenzi, Francesco (1861–1937) Rasetti, Franco (1901–2001) Reina, Vincenzo (1862–1919) Ricci-Curbastro, Gregorio (1853–1925) Riemann, Bernhard (1826–1866) R¨ ontgen, Wilhelm (1845–1923) Roiti, Antonio (1843–1921) R´egnier, Jean (1892–1946) Sborgi, Umberto (1883–1955) Schiaparelli, Giovanni Virginio (1835–1910) Schuster, Arthur (1851–1934) Schwarz, Hermann Amandus (1843–1921) Scorza, Gaetano (1876–1939) Segre, Beniamino (1903–1977) Segre, Corrado (1863–1924) Segr`e, Emilio (1905–1989) Sella, Alfonso (1865–1905) Sella, Quintino (1827–1884) Severi, Francesco (1879–1961) Siacci, Francesco (1839–1907) Somigliana, Carlo (1860–1955) Staude, Otto (1857–1928) Stokes, George Gabriel (1819–1903) Stone, Marshall Harvey (1903–1989) Terracini, Alessandro (1889–1968)
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Tonelli, Alberto (1849–1921) Tonelli, Leonida (1885–1946) Vacca, Giovanni (1872–1953) Vacchelli, Nicola (1870–1932) Vailati, Giovanni (1862–1909) Veronese, Giuseppe (1854–1917) Vitali, Giuseppe (1875–1932) Vivanti, Giulio (1859–1949) Wassermann, August von (1866–1925) Weber, Heinrich (1842–1913) Weierstraß, Karl (1815–1897) Weil, Andr´e (1906–1998) Weingarten, Julius (1836–1910) Whitthaker, Edmund Taylor (1873–1856)
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Abbiate, Mario 164 Abel, Niels Henrik 44, 76 Abetti, Giorgio 123, 124, 127, 134, 135 Agnesi, Maria Gaetana 22 Albertini, Luigi 117, 118 Almagi` a Volterra, Virginia 1, 3, 62, 63, 65, 75, 76, 104, 110, 119, 179, 194, 202 Almagi` a, Alfonso 1, 2, 4–9, 18, 62, 75, 106, 115 Almagi` a, Angelica 1, 2, 18, 114 Almagi` a, Edoardo 1, 5–8, 59, 62–64, 69 Almagi` a, Roberto 1, 106 Almagi` a, Saul 1 Almagi` a, Virginia (s. Almagi` a Volterra, Virginia) 1 Almagi` a, Vito 1 Amaldi, Ugo 196 Amendola, Giovanni 161–163 Amodeo, Federico 19 Arzel` a, Cesare 6, 7, 9, 17 Ascoli, Giulio 6, 17 Ascoli, Guido 198 Badoglio, Pietro 200 Baire, Ren´e 56, 64, 174, 175 Banach, Stefan 176, 177 Battaglini, Giuseppe 12, 17 Battelli, Angelo 117 Beltrami, Eugenio 17, 39, 50, 61, 62, 95 Bernoulli, Jakob 174 Bertini, Eugenio 7, 17 Bertrand, Joseph 4, 5 Besso, Marco 120
Bettazzi, Rodolfo 10, 41, 42 Betti, Enrico 6, 12, 15–20, 23, 39, 41, 58, 67–69, 95 Bianchi, Luigi 14, 16–18, 52 Bieberbach, Ludwig 131 Bignami, Paolo 137 Birkhoff, George David 196 Blaserna, Pietro 62, 64, 91, 93, 97, 106, 146 Bocchini, Arturo 167 Boffi, Ferruccio 151 Boggio, Tommaso 41 Bonomi, Ivanoe 137, 138, 142, 143 Borel, Emile 55, 56, 74, 75, 109, 119–121, 123, 175 Bourbaki, Nicolas 173 Brelot, Marcel 187 Brioschi, Francesco 17, 39, 51, 58, 67–69, 91 Brouwer, Luitzen Egbertus Jan 131 Buonaiuti, Ernesto 171 Burali-Forti, Cesare 41 Cannizzaro, Stanislao 63, 76, 91 Cantor, Georg 30, 54 Cantor, Moritz 65 Carath´eodory, Constantin 196 Carrara, Mario 171 Casati, Alessandro 160, 161 Casati, Gabrio 150 Casorati, Felice 17, 58, 67, 68 Castelnuovo, Guido 3, 17, 63, 76, 92, 93, 96, 97, 110, 111, 120, 154–157, 202
226
Personenverzeichnis
Cauchy, Augustin-Louis 21, 25, 68 Cavour, Camillo Benso Graf von 205 Cerruti, Valentino 49, 76, 97 Cesi, Federico 195 Chi` o, Felice 37 Ciamician, Giacomo 91, 100 Cinquini, Silvio 176 Clark, Jonas Gilman 103 Colombo, Giuseppe 117 Conti, Ettore 132, 133 Corbino, Orso Mario 90, 106, 123, 137–139, 142, 157 Costabel, Pierre 53 Cremona, Luigi 17, 36, 56, 95 Crispi, Francesco 63, 206 Crocco, Gaetano Arturo 113, 114, 133 Croce, Benedetto 75, 104, 110, 120, 136, 137, 143, 144, 150, 156, 157, 160–163, 170, 171, 202 Curie, Marie 22 D’Ancona, Umberto 75, 178–181, 186–188 D’Annunzio, Gabriele 112, 201 Darboux, Gaston 13, 94, 107 Darwin, George 76 De Bellis, Vito 139 De Capitani d’Arzago, Giuseppe 117 de Finetti, Bruno 145 De Francisci, Pietro 169 de la Vall´ee Poussin, Charles 196 De Sanctis, Gaetano 171 De Stefani, Alberto 153 De Viti De Marco, Antonio 109, 120 Del Vecchio, Ettore 198 Della Torre, Luigi 142 De Sanctis, Gaetano 169 Diaz, Armando 144 Dils, Otto 108 Dini, Ulisse 6, 7, 10, 11, 13–17, 19, 20, 36, 41, 56, 62–64, 93, 95 Dirichlet, Johann Peter Gustav Lejeune 33, 46 Dohrn, Felix Anton 137 Don Sturzo, s. Sturzo, Luigi 156 D’Ovidio, Enrico 35–38, 52, 64 D’Ovidio, Francesco 38, 144, 156 Du Bois-Reymond, Paul 44, 130 Duhem, Pierre 23
Edison, Thomas A. 125 Einaudi, Luigi 170 Enriques, Federigo 17, 88, 104, 137, 196, 198 Errera, Giorgio 171 Errera, Luigi 164, 170 Esterle, Carlo 118 Euler, Leonhard 50, 174 Evans, Griffith C. 104, 105, 124, 166, 175 Fa` a di Bruno, Francesco 37 Facta, Luigi 138, 149 Fano, Gino 17, 198 Fantappi`e, Luigi 177 Farinacci, Roberto 162, 198 Fehr, Henri 94 Felici, Riccardo 9, 11 Fermi, Enrico 62, 145, 146, 196 Ferraris, Dante 136 Ferraris, Maggiorino 120 Festa, Nicola 155, 157 Finzi, Cesare 7, 8 Formiggini, Angelo 120, 142, 143 Fr´echet, Maurice 27–29, 176, 177 France, Anatole 70, 71 ¨ Franz Ferdinand von Osterreich-Este 106 Freda, Elena 3 Fredholm, Erik Ivar 44, 45, 66 Fresnel, Augustin Jean 21 Fubini, Guido 17, 198 Fuchs, Immanuel Lazarus 130 Fumagalli, Giuseppe 142, 143 Galilei, Galileo 95 Galton, Francis 72 Garbasso, Antonio 112, 154–157 Garibaldi, Giuseppe 90, 111, 201, 205 Gˆ ateaux, Ren´e 28 Gause, Georgij 187 Gauß, Carl Friedrich 46, 131 Gemelli, Agostino 158, 196–198 Genocchi, Angelo 37–39 Gentile, Giovanni 5, 104, 138, 143, 144, 150–163, 167–169, 207 Gentlomo, Sanson 3 Germain, Sophie 22 Gianfranceschi, Giuseppe 196
Personenverzeichnis Giannini, Amedeo 140, 143, 163, 166 Giolitti, Giovanni 78, 106, 109, 111, 112, 136, 139, 145, 150, 206 Giordano, Federico 117, 118, 122, 123 Giuliano, Balbino 160, 169 Golgi, Camillo 120, 196 Gramsci, Antonio 160 Graßmann, Hermann 40 Green, George 21 Greenhill, Alfred George 94 Guccia, Giovan Battista 30, 65, 76, 83, 89, 90, 92, 93, 96, 97 Guidoni, Alessandro 113 Hadamard, Jacques 24, 26, 118, 119, 146 Hadamard, Pierre 119 Haeckel, Ernst 108 Hale, George Ellery 54, 104, 119, 123–125, 127–129, 134 Hamilton, William Rowan 21 Hankel, Hermann 13, 14 Hardy, Godefrey Harold 173 Hermite, Charles 50, 69 Hilbert, David 45, 66, 94, 131, 196 Hitler, Adolf 131, 193 Hostinsk´ y, Bohuslav 178 Hurwitz, Adolf 30, 56 Huygens, Christiaan 21 Interlandi, Telesio
199
Jacobi, Carl Gustav Jacob
50, 174
K´ arm´ an, Theodor von 131 Kelvin, Lord (William Thomson) 76 Klein, Felix 33, 54, 56, 66, 77, 94, 108, 124, 130 Kline, Morris 66 Kolmogorow, Andrei 188 Kolumbus, Christoph 54 Kostitzin, Wladimir 187, 188 Kowalewskaja, Sofja (Sonja) 22, 23, 30, 65 Kowalewski, Wladimir Onufriewitsch 22 Kronecker, Leopold 33, 130 La Rosa, Michele
122
227
Lagrange, Joseph Louis 29, 50, 174 Lam´e, Gabriel 21–23 Landau, Edmund 79 Larmor, Joseph 110 Larousse, Pierre 143 Lavagna, Giovanni Maria 7 Lebesgue, Henri 56 Lecointe, Georges 129 Legendre, Adrien Marie 4, 174 Levi Della Vida, Giorgio 171 Levi Mortera, Nella 194, 199, 202 Levi, Beppo 52, 198 Levi-Civita, Tullio 18, 65, 110, 130, 131, 170, 196–198 L´evy, Paul 28, 177 Lie, Sophus 30 Lincoln, Abraham 124 Liouville, Joseph 44 Lorentz, Hendrik Antoon 145 Lori, Ferdinando 133 Loria, Gino 202 Lotka, Alfred 188 Love, August Edward Hough 81 Lovett, Edgar Odell 104, 105 Luzzatto, Fabio 171 Mac´e, Jean 2 Magrini, Giovanni 139, 163, 165, 166 Mandelbrojt, Szolem 146 Marconi, Guglielmo 118, 165 Martinetti, Pietro 171 Martini, Ferdinando 141–143 Matteotti, Giacomo 132, 159, 160, 162, 207 Maxwell, James Clerk 46 Mazet, Robert 146 Mazzini, Giuseppe 63, 90 Mazzoni, Guido 10, 154, 156 Meda, Filippo 144 Menghini, Mario 141–143 Millikan, Robert A. 125 Millosevich, Federico 123 Mittag-Leffler, Gustaf 21, 22, 24, 30, 45, 65, 77, 79, 111, 115 Montel, Paul 201 Montini, Giovanni Battista (Paul VI.) 198 Morf, Heinrich 108
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Personenverzeichnis
Mussolini, Benito 138, 139, 149–151, 153, 154, 156, 157, 159–164, 167, 193–195, 198–200, 206, 208 Naccari, Andrea 35 Napier, John 115 Napoleon Bonaparte 6, 9 Nasini, Raffaello 123, 133 Nathan, Ernesto 63, 94 Navier, Claude Louis 21 Neumann, Franz Ernst 130 Neumann, John von 177 Nigrisoli, Bartolo 171 Nitti, Francesco Saverio 136, 139, 164 Nobili, Niccol` o 7 Novati, Francesco 10 Omodeo, Adolfo 150 Orlando, Vittorio Emanuele 144 Oskar II. 31, 77 Ostwald, Wilhelm 108
132, 133,
Pacelli, Eugenio (Pius XII.) 197 Padoa, Alessandro 41 Painlev´e, Paul 56, 57, 116, 119, 120 Pareto, Vilfredo 70, 73, 74 Pascal, Ernesto 19, 39 Patern` o, Emanuele 163, 171 Peano, Giuseppe 17, 37–42, 46, 48–53, 56, 61, 65, 66, 95 Pearson, Karl 72 P´er`es, Joseph 3, 174–178 Persico, Enrico 146 Picard, Emile 56, 129, 130, 196 Picciola, Carlo 10 Picone, Mauro 114 Pieri, Mario 17, 41 Pincherle, Salvatore 17, 39, 140, 141 Pirelli, Giovanni Battista 90, 118, 133 Pirrotta, Romualdo 133 Pius IX. 195 Pius V. 1 Pius XI. 195, 197 Planck, Max 108 Pl¨ ucker, Julius 21 Poincar´e, Henri 16, 25, 30–32, 44, 56, 58, 65, 66, 79, 94, 96, 179 Poincar´e, Raymond 31
Pontremoli, Aldo 146 Porro de’ Somenzi, Francesco Premoli, Orazio 42 Prezzolini, Giuseppe 160 Princip, Gavrilo 106
47
R´egnier, Jean 187 Rasetti, Franco 146 Reina, Vincenzo 110 Ricaldoni, Ottavio 113 Ricci-Curbastro, Gregorio 17, 18 Riemann, Bernhard 13, 15, 16, 33, 61, 68, 131 R¨ ontgen, Wilhelm 108 Roiti, Antonio 7–9, 11, 18, 21, 35, 62, 111 Rose, Wickliffe 145 Rudin`ı, Antonio Starabba di 36 Ruffini, Edoardo 171 Ruffini, Francesco 171 Salandra, Antonio 112, 117 Salvemini, Gaetano 150 Sborgi, Umberto 123 Schiaparelli, Giovanni 47, 48, 72 Schuster, Arthur 127, 129 Schwarz, Hermann Amandus 30, 33 Scialoja, Vittorio 157, 165 Scorza, Gaetano 17 Segr`e, Emilio 146, 166 Segre, Beniamino 198 Segre, Corrado 17, 36–38, 52, 54, 63, 92, 118 Sella, Alfonso 91 Sella, Quintino 91, 195 Severi, Francesco 17, 94, 168, 177 Siacci, Francesco 35–37 Somigliana, Carlo 10, 17, 18, 52, 65, 81, 111, 112, 118, 119, 165, 198, 200–202 Sonnino, Sidney 112, 144 Sophie Gr¨ afin Chotek 106 Staude, Otto 108 Stokes, George Gabriel 21 Stone, Marshall Harvey 177 Strindberg, August 22 Stringher, Bonaldo 90, 110, 111, 120, 133, 139–144, 165, 166 Sturzo, Luigi (Don Sturzo) 156, 157
Personenverzeichnis Terracini, Alessandro 198 Thaon di Revel, Paolo 144 Tonelli, Alberto 17, 39, 120 Tonelli, Leonida 176, 177 Treccani, Giovanni 141 Vacca, Giovanni 41 Vacchelli, Nicola 165 Vailati, Giovanni 41, 42, 65, 70, 88 Venturi, Lionello 171 Verne, Jules 3 Veronese, Giuseppe 65 Viktor Amadeus II. 112 Viktor Emanuel II. 20, 90, 205 Viktor Emanuel III. 103, 200 Villa, Giovanni 133 Vitali, Giuseppe 17 Vivanti, Giulio 41
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Volterra, Abramo 1, 3, 167, 201 Volterra, Edoardo 75, 110, 170, 171, 194, 198, 201 Volterra, Enrico 75, 81, 198 Volterra, Gustavo 76, 77, 121 Volterra, Luisa 75, 179, 194 Wassermann, August von 108 Weber, Heinrich 23 Weierstraß, Karl 22, 23, 30, 68, 174 Weil, Andr´e 146 Weingarten, Julius 80, 81 Whitthaker, Edmund Taylor 196 Wilamowitz, Ulrich von 108 Wildebrand, Wilhelm 108 Wilson, Thomas Woodrow 119, 125 Wundt, Wilhelm 108