Annette Broadrick
Vertrau mir, Kelly!
Der attraktive Milliardär Nick Chakaris ist nicht gerade begeistert, als er sei...
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Annette Broadrick
Vertrau mir, Kelly!
Der attraktive Milliardär Nick Chakaris ist nicht gerade begeistert, als er sein Porträt in einer New Yorker Galerie hängen sieht. Das Bild zeigt einen Mann mit eiskalten Gesichtszügen – so sieht er sich überhaupt nicht! Nick lädt die junge Künstlerin Kelly MacLeod zum Essen ein, um herauszufinden, wieso sie ihn derartig verzerrt gemalt hat. Tatsächlich scheint die hübsche junge Frau Gründe zu haben, ihn so zu verachten: Er soll für den Tod ihres Vaters verantwortlich sein! Nick ist entsetzt über diesen Vorwurf! Er hat sich auf den ersten Blick in Kelly verliebt und will ihr beweisen, dass ihn keine Schuld trifft…
2003 by Annette Broadrick
Originaltitel: „Too Tough To Tarne“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
in der Reihe: SPECIAL EDITION
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. Amsterdam
Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1438 (22/1) 2004 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Renate Moreira
Fotos: Zefa
1. KAPITEL Oktober 2003 „Sie hat es dir angetan, nicht wahr, Nick?“ Dominic Chakaris sah zu Craig Bonner hinüber. Craig war Vizepräsident von Nicks Konzern und gleichzeitig sein bester Freund. „So’n Quatsch, nein. Ich habe nur Informationen über sie eingeholt, weil ich herausfinden wollte, wie eine Frau, die ich nie zuvor getroffen habe, die Unverschämtheit besitzen kann, ein Porträt von mir zu malen und es öffentlich auszustellen.“ Sie waren in Nicks Büro, von dem man einen atemberaubenden Ausblick auf New York hatte, und während Nick sprach, blickte er auf die Häuserschluchten von Manhattan hinunter. „Hmhm“, war alles, was Craig erwiderte. Nick drehte sich um, nahm hinter seinem riesigen Schreibtisch Platz und warf seinem Freund, der es sich ebenfalls in einem Sessel bequem gemacht hatte, einen finsteren Blick zu. „Was hat der Privatdetektiv über sie herausgefunden?“ fragte er kühl. Craig kannte Nick jetzt seit mehr als zehn Jahren und war nicht im Mindesten von dem scharfen Adlerblick seines allseits geschätzten, aber stets gefürchteten Chefs beeindruckt. Vermutlich war er, Craig, jedoch die einzige Person in ganz Manhattan, die das von sich sagen konnte. Er legte den Ordner, den er bis jetzt in der Hand gehalten hatte, auf den Schreibtisch und schob ihn Nick zu. „In dem Bericht des Privatdetektivs steht, dass die Künstlerin mit vollem Namen Kelly Anne MacLeod heißt und vierundzwanzig Jahre alt ist. Ihre Eltern sind verstorben, aber sie lebt weiterhin im Haus der Familie in der einundachtzigsten Straße. Allein. Sie hat in Vassar Kunst studiert und zwei Semester an einer italienischen Kunstschule absolviert. Angeblich verdient sie gutes Geld mit den Porträts, die sie malt. Es soll sogar bereits eine Warteliste geben von Leuten, die sich von ihr malen lassen wollen.“ Er zuckte mit den Schultern und lächelte. „Siehst du, du solltest dich geschmeichelt fühlen.“ Nick murmelte etwas Unanständiges, und Craig musste lachen. „Ist das alles, was du über sie hast?“ Nick hatte den Ordner geöffnet, blätterte durch die wenigen Seiten und wies dann mit dem Kopf auf das Foto, das sich an der Innenseite des Ordners befand. „Es gab nicht viel herauszufinden. Mit Sicherheit spioniert sie dir nicht hinterher oder beobachtet dich. Du kannst also völlig beruhigt sein“, erwiderte Craig und amüsierte sich, als Nick erneut einen herzhaften Fluch ausstieß. „In diesem Bericht findet man nichts über die Gründe, warum sie ausgerechnet mich gemalt und mein Porträt öffentlich ausgestellt hat“, beschwerte Nick sich. „Verdammt, Craig, es interessiert mich nicht, ob sie Waise ist oder wie viel Geld sie verdient. Wie es aussieht, ist sie nur eine verwöhnte höhere Tochter der New Yorker Oberschicht.“ Eine Gesellschaftsschicht, für die Nick nur sehr wenig übrig hatte. „Und du weißt sehr gut, dass es keinen Grund gibt, warum ich mich geschmeichelt fühlen sollte, denn dieses verflixte Porträt ist alles andere als vorteilhaft für mein Image.“ Craig lächelte. „Ich finde, sie hat dich fabelhaft getroffen.“ Nick zog eine Augenbraue hoch. „So? Die Times hat anlässlich von Miss MacLeods Ausstellung berichtet, dass das Porträt mich als unbarmherziges Raubtier darstellt, das zum Sprung ansetzt, um sein ahnungsloses Opfer zu reißen.“ Craig lachte. „Wie ich schon sagte, sie hat dich gut getroffen. Vielleicht sollte ich bei der nächsten Vorstandssitzung ein paar Fotos von dir machen, um es dir zu
beweisen.“ Nick sah seinen Stellvertreter scharf an. „Da du nur wenig zu dieser Unterhaltung beizutragen hast, werde ich jetzt lieber weiterarbeiten.“ Craig ließ sich nicht beirren. „Weißt du was, Nick? Ich glaube, dass du dich nur ärgerst, weil Miss MacLeod dich durchschaut hat. Sie scheint dich erstaunlich gut zu kennen.“ Nick schüttelte den Kopf. „Das ist unmöglich.“ „Ich bezweifle, dass man vergessen könnte, sie getroffen zu haben“, bemerkte Craig, machte eine Handbewegung zum Gruß und verließ das Büro. Nick beobachtete, wie sein Freund die Tür hinter sich schloss, und schüttelte den Kopf. Warum hatte diese Frau ausgerechnet ihn gemalt? Er hatte so viele Anrufe wegen dieses verflixten Porträts erhalten und es waren so viele Bemerkungen darüber gemacht worden, dass er die Galerie persönlich besucht hatte, um sich das Bild anzusehen. Und er hatte den Schock seines Lebens erhalten. Ohne Zweifel war das Bild vom künstlerischen Standpunkt aus betrachtet ein Meisterwerk, aber er fand einfach keine Erklärung dafür, warum die Künstlerin ausgerechnet ihn gemalt haben sollte, noch dazu auf solch herausfordernde Art und Weise. Es gab auch keine Fotografie von ihm, die als Vorlage für dieses Bild gedient haben könnte. Nick musste allerdings zugeben, dass das Porträt ihn unglaublich ärgerte; er hatte das Gefühl, man wäre in sein Privatleben eingedrungen. In der Hoffnung auf irgendeinen Anhaltspunkt guckte er sich das Foto der jungen Frau genauer an. Sie hatte hellblondes Haar und trug es streng aus dem Gesicht gekämmt. Nur wenigen Frauen stand dieser schmucklose Stil. Kelly war eine der Ausnahmen. In ihren großen blauen Augen lag Humor, der Anflug eines Lächelns spielte um ihren Mund. Während er sie näher betrachtete, wurde ihm plötzlich klar, dass er sie tatsächlich schon mal gesehen hatte. Er lehnte sich in den Schreibtischsessel zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und erinnerte sich an den Abend, als sie ihm aufgefallen war. Normalerweise mied er große Gesellschaften, aber in dem Fall war er gezwungen gewesen, an solch einem Fest teilzunehmen. Ein wichtiger Geschäftspartner hatte zu einem Ball eingeladen, auf dem die Verlobung seiner Tochter bekannt gegeben werden sollte. Meistens nutzte Nick solche gesellschaftlichen Anlässe, um etwas über die Gerüchte zu erfahren, die momentan in der Geschäftswelt umgingen. Wenn er dann genug gehört und – wie es die Höflichkeit erforderte – auch noch mit dem Gastgeber geplaudert hatte, verließ er das Fest meistens bald wieder, dankbar, dass er eine unangenehme Pflicht erfüllt hatte und nach Hause gehen konnte. An jenem Abend hatte er von einer der breiten Flügeltüren aus die Menge betrachtet, als er die Frau bemerkte. Sie tanzte, und im Licht der Kronleuchter wirkte ihr Haar wie flüssiges Gold. Da er ihren Tänzer nicht kannte, hielt er Ausschau nach dem Gastgeber, um ihn zu fragen, wer diese Frau war. Der Tanz endete jedoch genau in jenem Moment, und die junge Frau war in der Menge verschwunden, bevor er etwas über sie herausfinden konnte. Erst als er die Party etwas später verlassen wollte, ging sie mit ein paar anderen Frauen an ihm vorbei. Sie lachte über eine Bemerkung, die eine ihrer Begleiterinnen gemacht hatte. Er nahm ihr leichtes, blumiges Parfüm wahr und stellte fest, dass sie kleiner war, als er angenommen hatte. Obwohl sie sehr jung aussah, gingen ein Selbstbewusstsein und eine Eleganz von ihr aus, die ihn faszinierten. Nun, jetzt wusste er, wer sie war. Ihr Name war Kelly MacLeod. Was für ein
Zufall, dass ausgerechnet sie die Künstlerin war, die dieses verflixte Porträt gemalt hatte. Einem Impuls folgend, wählte er die Telefonnummer, die im Bericht des Privatdetektivs stand. Nach einigen Freizeichen meldete sich eine weibliche Stimme, die sehr verführerisch klang. „Hallo, hier ist Kelly. Ich werde im Moment von der Muse geküsst und kann leider nicht ans Telefon kommen. Bitte hinterlassen Sie mir Ihren Namen, Ihre Telefonnummer und Ihr Anliegen. Ich werde zurückrufen, sobald die Muse mich wieder aus ihren sanften Armen entlässt.“ „Hier ist Dominic Chakaris“, sprach er nach dem Piepton auf das Band. „Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir uns kennen lernen. Rufen Sie mich bitte unter 555966 an.“ Er legte auf und trommelte nervös mit den Fingern auf den Armlehnen seines exklusiven Schreibtischsessels herum. Verdammt, er hatte keine Zeit für solche Spielchen. Er war schon fast zu spät dran für ein Meeting, in dem sich herausstellen sollte, ob er nun für mehr als drei Millionen Dollar eine fast bankrotte Firma aufkaufen würde oder nicht. Die Gegensprachanlage klingelte, und er wusste, dass seine Sekretärin ihn an die Besprechung erinnern wollte. Hastig erhob er sich, zog sein Jackett an, rückte seine Krawatte zurecht und verdrängte Kelly MacLeod aus seinen Gedanken. „Ich mache keinen Spaß“, sagte Kelly beim Mittagessen zu ihrem Begleiter. „Ich habe den Mann noch nie getroffen, ich kann dir also leider nicht helfen.“ Sie nahm eine Gabel voll von ihrem Salat und sah sich dabei in dem gut besuchten Restaurant um. Trotz der gepfefferten Preise herrschte hier immer Betrieb. Wahrscheinlich waren die Gäste – genau wie sie selbst auch – von den exzellenten Kochkünsten des Küchenchefs angetan. Als sie ihr Gegenüber ansah, wusste sie, dass Harold Covington nicht so schnell aufgeben würde. „Ich kenne dich schon von Geburt an, Kelly“, erwiderte er, „versuch also nicht, mich hereinzulegen. Du hättest niemals ein Porträt malen können, das die Persönlichkeit dieses Mannes so brillant einfängt, wenn du ihn nicht gut kennen würdest.“ Kelly sah ihn unverwandt an. „Ich habe kein« vernünftige Erklärung dafür, Hai. Ich habe den Mann wirklich nie kennen gelernt, aber man kann ja weder die Gesellschaftsseite noch den Wirtschaftsteil lesen, ohne über ihn zu stolpern. Außerdem habe ich ihn in den letzten Jahren ab und zu bei gesellschaftlichen Anlässen gesehen und schon immer gedacht, was für ein faszinierendes Modell er abgeben würde. Mehr nicht. Als ich dann entdeckte, dass er hinter der Übernahme unseres Familienunternehmens stand, ging mir dieser Chakaris einfach nicht mehr aus dem Kopf.“ Sie aß einen weiteren Bissen und seufzte dann aufgebracht. „Wenn ich daran denke, dass ich ihn früher sogar bewundert habe. Pah! Seinem kaltblütigen Vorgehen ist es zu verdanken, dass Dad die Firma verloren und sich so gegrämt hat, bis er schließlich einen Herzinfarkt erlitt. Und darüber hat dann auch Mutter ihren Lebenswillen verloren.“ Sie schüttelte den Kopf. „Um meine Wut und meine Trauer zu verarbeiten, habe ich mich irgendwann entschlossen, das Porträt des Mannes zu malen, der meine Familie zerstört hat. Und dem Feedback nach zu urteilen, das ich erhalte, habe ich gute Arbeit geleistet.“ Hai senkte den Blick. „Du warst meine einzige Hoffnung. Ich weiß, dass sich jemand für Covington & Son interessiert“, sagte er. „Irgendeiner möchte die Firma möglichst billig an sich reißen.“ Kelly, die gerade die Gabel hob, hielt inne und legte sie auf den Teller zurück.
„Und du glaubst, dass ich einfach so zu Chakaris hingehen und ihn fragen könnte, ob er deine Firma aufkaufen will?“ Als Hai nicht antwortete, griff sie zu ihrem Glas und nahm einen Schluck von dem Eistee. „Soweit ich über diesen Mr. Chakaris unterrichtet bin“, fuhr Kelly schließlich fort, „sind nur seine engsten Mitarbeiter in seine Pläne eingeweiht, bis er eine Firma im Netz hat.“ „Ich weiß. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn du ihn kennen würdest und mir hättest helfen können.“ Sie hätten bereits ihren Salat gegessen, als Kelly das Thema erneut aufgriff. „Glaubst du wirklich, dass er derjenige ist, der Informationen über Covington & Son einholt?“ Bevor Hai antworten konnte, erschien der Kellner mit den Hauptspeisen. „Ich weiß nur, dass irgendjemand an uns interessiert ist“, antwortete Hai, nachdem der Kellner serviert und sich wieder entfernt hatte. „Weißt du, viele Firmen haben unter der schlechten Wirtschaftslage gelitten. Auch wir sind angeschlagen. Ich tue, was ich kann, um mein Unternehmen über Wasser zu halten, aber irgendjemand muss erfahren haben, wie schlecht es uns im Moment geht. Vor einigen Jahren habe ich mir Geld leihen müssen, um Investitionen machen zu können. Wenn ich allerdings in die Zukunft hätte sehen können, hätte ich damit noch gewartet. Und wenn ich sicher wäre, dass Chakaris eine Übernahme plant, würde ich mir von der Familie meiner Frau ein Darlehen besorgen, um einige dieser Kredite zurückzuzahlen. Das würde ich aber wirklich nur im äußersten Notfall tun.“ Er lächelte leicht. „Ich weiß natürlich, dass du Künstlerin und keine Geschäftsfrau bist. Wahrscheinlich kannst du all dem gar nicht recht folgen.“ Kelly lehnte sich zurück und sah Harold Covington an. Er war der beste Freund ihres Vaters gewesen. „Das ist wirklich das Schlimmste, was du je zu mir gesagt hast, Hai. Als Nächstes wirst du mir noch auf die Schulter klopfen und mich auffordern, spielen zu gehen, während die Erwachsenen sich unterhalten.“ Hai errötete. „Entschuldige. Ich wollte nicht, dass meine Worte sich so überheblich anhören. Wenn ich dich mit Arnie vergleiche, verstehst du wahrscheinlich weit mehr von der Geschäftswelt. Und das, obwohl er ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen hat, an allen Vorstandssitzungen teilnimmt und sogar zwei bis dreimal die Woche zur Arbeit erscheint.“ Hai fuhr sich resigniert über die Stirn. „Trotz seiner Ausbildung und seiner Erfahrung zeigt er kein Interesse an der Firma.“ Kelly ergriff die Hand des älteren Mannes. „Ich weiß, dass Arnold dich enttäuscht, Hai. Lass ihm ein wenig Zeit. Er ist noch jung.“ Er sah sie mit amüsiertem Unglauben an. „Kelly, er ist fünf Jahre älter als du.“ Sie lächelte. „Stimmt, das ist er.“ „Ich kann dir gar nicht sagen, wie enttäuscht ich war, dass ihr kein Interesse aneinander zeigtet. Unsere Familien haben sich immer so nahe gestanden. Es wäre ein echter Segen gewesen, wenn du ein Mitglied unserer Familie geworden wärst.“ Pass auf, warnte Kelly sich im Stillen, geh taktvoll vor! Es gab keinen Grund, einem liebenden Vater an den Kopf zu werfen, dass sein einziger Sohn und Erbe eine totale Niete war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, Arnold je völlig nüchtern gesehen zu haben. Außerdem wechselte er die Frauen schneller, als die Concorde über den Atlantik flog. „Wie du schon ganz treffend bemerkt hast, leben Arnold und ich in zwei verschiedenen Welten“, erklärte sie schließlich und hoffte, Hai würde annehmen, dass sie über die Kunst und das Geschäftsleben sprach.
Hai nickte und sah Kelly ernst an. „Um noch mal auf Chakaris zurückzukommen. Weißt du, ich habe im Grunde keine Fakten, die meinen Verdacht bestätigen könnten – nur Gerüchte. Allerdings ist Chakaris’ Name dabei mehr als nur einmal aufgetaucht. Ich darf ihn auf keinen Fall unterschätzen, er geht sehr kaltblütig vor.“ „Vergiss nicht, dass ich das aus erster Hand weiß“, erinnerte sie ihn. Hai wurde erneut verlegen. „Entschuldige, Liebes, ich bin heute sehr taktlos.“ Er wandte seine Aufmerksamkeit der Hauptspeise zu und plauderte auch während des Desserts nur über belanglose Dinge. Erst als der Kaffee serviert wurde, stellte Hai eine persönlichere Frage. „Du scheinst gut allein zurechtzukommen. Ich hoffe, es ist nicht nur ein Image, das du aufbaust. Ich weiß, wie nahe du deiner Mutter gestanden hast.“ „Ich weiß, dass Mom glücklich ist, wieder mit Dad vereint zu sein, Hai. Nachdem er von uns ging, hat sie sich nicht wieder gefangen. Ich bin überzeugt, dass sie an gebrochenem Herzen starb. Aber da die Haushälterin und andere Angestellte noch im Hause sind, bin ich praktisch nie allein.“ „Du weißt genau, was ich meine. Ich bin sicher, dass du dich einsam fühlst.“ „Manchmal schon, natürlich. Aber ich habe glücklicherweise die Malerei. Meine Arbeit gab mir die Möglichkeit, den Schock von Mutters Tod zu verkraften, bis ich besser damit umgehen konnte, allein zu sein.“ „Deine Malerei hilft dir also. Das freut mich wirklich.“ „Ja, das tut sie tatsächlich. Allerdings werde ich in dieser Woche keinen Pinsel in die Hand nehmen, sondern Mutters Sachen durchsehen. Das hätte ich bereits vor Monaten tun sollen, aber es schmerzte zu sehr, auch wenn schon ein Jahr um ist seit ihrem Tod. Ich muss mich entscheiden, was ich behalten und was ich weggeben will.“ Kelly warf einen Blick auf die Armbanduhr. „Ich habe mich sehr gefreut, heute mit dir zu essen, doch jetzt muss ich langsam aufbrechen. Je eher ich anfange, umso schneller wird meine Arbeit erledigt sein.“ Als sie sich erhob, stand Hai ebenfalls auf. „Ich muss auch in die Firma zurück. Es tut mir Leid, dass ich mich nicht mehr um dich gekümmert habe, Kelly. Ich hoffe, du verzeihst mir. Ich hatte so viel um die Ohren, dass ich sogar kaum Zeit für meine Familie fand.“ Kelly umarmte ihn kurz. „Da gibt es nichts zu verzeihen. Ich habe ja gewusst, dass du immer für mich da bist, wenn ich dich tatsächlich mal brauchen sollte.“ Als sie auf dem Gehweg vor dem Restaurant standen, ergriff Hai Kellys Hand. „Es war schön, dich wiederzusehen, Kelly. Wir müssen das unbedingt öfters machen.“ Der Türsteher hatte inzwischen ein Taxi herbeigewunken, und als es anhielt, half der alte Familienfreund Kelly einzusteigen, steckte dem Taxifahrer einige Dollarscheine zu und nannte ihm die Adresse der jungen Frau. Kelly winkte Hai noch ein letztes Mal zu, bevor sie in den Sitz zurücksank und über ihre Unterhaltung nachdachte. Sie machte sich Sorgen. Hals Firma musste es wirklich schlecht gehen, wenn er sogar sie um Hilfe bat. Und wenn Dominic Chakaris tatsächlich ein Auge auf Covington & Son geworfen hatte, war er ein ernst zu nehmender Gegner. Sie konnte sich vorstellen, wie Hai sich im Moment fühlen musste. Als Kelly zu Hause war, hörte sie den Anrufbeantworter ab. Jemand wollte, dass sie am nächsten Tag zu einem Treffen einer der Wohltätigkeitsvereine kam, die ihre Mutter gegründet hatte. Wahrscheinlich hoffte man, dass sie die Position ihrer Mutter übernehmen würde. Ein weiterer Anruf war von Anita Sheffield, einer alten Freundin vom College, mit der sie seit Monaten nicht mehr gesprochen hatte. Dann entstand eine kleine
Pause, und schließlich hörte sie, dass Dominic Chakaris eine sehr förmliche Nachricht hinterlassen hatte. Beim Klang seiner Stimme erschauerte Kelly. Wie seltsam, dass er ausgerechnet heute, nach dem Gespräch mit Hai, angerufen hatte! Neugierig hörte sie sich die Nachricht noch ein zweites Mal an und überlegte kurz, wie er wohl an ihre Nummer gekommen war. Schließlich stand sie in keinem Telefonbuch. Sie wusste allerdings, dass sie sich darüber nicht wundern sollte. Für einen Mann mit seinem Einfluss und seinen Beziehungen war das vermutlich kein Problem. Sicherlich verfügte er über eine ganze Armee von Spionen, die er nach Belieben einsetzen konnte. Aber im Grunde war es ihr auch egal. Sie hatte ohnehin mehr oder weniger erwartet, dass er sich bei ihr melden würde, da sie sein Porträt zusammen mit ihren anderen Arbeiten in einer der bekanntesten Galerien Manhattans ausgestellt hatte. Hals Frage, warum sie diesen Mann gemalt hatte, war ihr in den letzten Monaten oft selbst durch den Kopf gegangen. Dominic Chakaris war zu einer Art Besessenheit geworden – er war ihr Erzfeind, da er durch seine geschäftlichen Machenschaften ihre Familie zerstört hatte. Allerdings bezweifelte sie, dass Chakaris ihren Familiennamen zuordnen könnte, sollte er damit konfrontiert werden. Statt sich auf sinnlose Auseinandersetzungen mit ihm einzulassen, hatte sie ihn dann schließlich gemalt. Sie war selbst erstaunt gewesen, wie schnell es ihr gelungen war, ihr inneres Bild von ihm auf die Leinwand zu bannen. Manchmal hatte sie sogar das Gefühl gehabt, ihre Hand wäre geführt worden. Tag und Nacht hatte sie an diesem Gemälde gearbeitet, hatte kaum gegessen und stets nur wenige Stunden geschlafen, bevor sie an dem Porträt wieder weitermalte. Kelly erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem sie das Bild beendet hatte. Sie war von der Leinwand zurückgetreten und hatte sich das Gemälde so objektiv wie möglich angeschaut. Instinktiv hatte sie gespürt, dass dieses Bild die beste Arbeit ihrer ganzen bisherigen Karriere war. Erschreckend deutlich hatte sie die Skrupellosigkeit und die Arroganz eingefangen, die sie in diesem Mann sah. Der Ausdruck seiner Augen hatte sie allerdings überrascht. Sie hatte ihn nie einsam oder verletzlich gesehen, und trotzdem lag jetzt eine Traurigkeit in seinem Blick, die sie nie zuvor bemerkt hatte. Zumindest nicht bewusst. Sie hatte keine Ahnung, warum sie ihn so gemalt hatte. Eigentlich hatte Kelly das Bild nie ausstellen wollen. Schließlich war dieses Gemälde ein Teil ihrer ganz persönlichen Trauerarbeit. Als Andre, der Galeriebesitzer, dann jedoch zu ihr ins Atelier kam, um die Bilder zu begutachten, die sie ausstellen wollte, entdeckte er das Porträt hinter einigen halb fertigen Leinwänden und war begeistert. Er bestand darauf, dass dieses Gemälde unbedingt mit in die Ausstellung musste. Zuerst hatte sie Widerstand geleistet, aber dann hatte sie sich Andres Argumenten gebeugt. Sie hatte versucht, sich einzureden, dass Dominic Chakaris niemals etwas von diesem Porträt hören oder es zumindest ignorieren würde. Doch da hatte sie sich anscheinend gründlich getäuscht. Das Unvermeidliche ließ sich nicht noch länger hinausschieben, also nahm Kelly den Hörer auf und wählte die Nummer, die Chakaris hinterlassen hatte.
2. KAPITEL Der Hörer wurde bereits nach dem ersten Klingeln abgenommen.
„Chakaris.“
Kelly blinzelte überrascht. Der Mann nahm seine Telefongespräche selbst
entgegen? Sie zuckte die Schultern. „Guten Tag, ich bin Kelly MacLeod. Sie
hatten mir Ihre Telefonnummer hinterlassen.“ Eine kleine Spitze konnte sie sich
allerdings nicht verkneifen: „Können Sie sich keine Angestellten leisten, die Ihre
Gespräche entgegennehmen?“
Es entstand eine kleine Pause, und Kelly hätte schwören können, ein leises
Lachen gehört zu haben. Seltsam! Er kam ihr eigentlich nicht vor wie ein Mann,
der Sinn für Humor hatte.
„Ah, ja. Miss MacLeod. Danke, dass Sie so schnell zurückrufen. Bei der Nummer,
die ich auf Ihrem Anrufbeantworter gelassen habe, handelt es sich um meine
private Büronummer. Ich dachte, das würde uns Zeit sparen.“
Zeit sparen wofür? „Ich nehme an, dass Sie mit mir über das Porträt sprechen
wollen.“
„Unter anderem“, bestätigte er. „Ich würde Sie gern diese Woche einen Abend
zum Essen einladen.“
Das musste ein Witz sein. „Ich sehe keinen Grund für eine solche Einladung, Mr.
Chakaris. Sollten Sie daran interessiert sein, das Gemälde zu kaufen, so muss ich
Sie enttäuschen. Es ist nicht verkäuflich.“
„Ach, sehr interessant“, kommentierte er lässig. „Obwohl ich gar kein Interesse
habe, das Bild zu kaufen. Allerdings hätte ich gerne einige Dinge mit Ihnen
besprochen. Sollte es Ihnen abends nicht passen, könnten wir uns auch zum
Lunch irgendwo treffen.“
Sie runzelte die Stirn. Warum bestand er darauf, sich mit ihr zu treffen? Sie war
neugierig, sehr neugierig. Nun, weshalb sollte sie eigentlich nicht mit ihm essen
gehen? Sie würde ihm schon zeigen, dass sie keine Angst vor ihm hatte. „Wann?“
„Morgen vielleicht?“ schlug er vor, so ruhig, als ob er nie den geringsten Zweifel
gehabt hätte, dass sie seine Einladung annehmen würde.
Sie überlegte kurz. „Ja, gut.“
„In Ordnung. Ich werde Ihnen um zwölf Uhr dreißig meinen Wagen schicken.“
„Aber…“ begann sie, brach jedoch den Satz ab, als sie das Freizeichen hörte.
„Unmöglich!“ murmelte sie verärgert. Der Kerl hatte vielleicht Nerven. Sie legte
den Hörer auf und dachte nach. Hatte sie jetzt einen Fehler gemacht? Wäre es
nicht besser gewesen, wenn sie seine Einladung abgelehnt hätte?
Mach dir doch nichts vor. Du wolltest dich doch mit ihm treffen. Und das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum man dich überreden konnte, dieses Vortrat auszustellen. Was für ein Unsinn! gebot sie ihrer inneren Stimme Einhalt. Sie schob diesen beunruhigenden Gedanken rasch zur Seite und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie hatte wirklich Besseres zu tun, als ihre Gefühle für Dominic Chakaris zu analysieren. Sie würde ihn treffen, hören, was er zu sagen hatte, und danach würden er und sein Porträt der Vergangenheit angehören. Und zwar für immer. Mit einem ungeduldigen Schulterzucken ging sie in das Schlafzimmer ihrer Mutter und begann entschlossen, deren Hinterlassenschaften durchzusehen. Am nächsten Morgen musste Kelly sich zwingen aufzustehen. Sie hatte das Gefühl, keine Sekunde geschlafen zu haben, und wusste nicht, wie oft sie im Laufe der Nacht aufgewacht war und Mühe gehabt hatte, wieder einzuschlafen. Zum Teil, so vermutete Kelly, war die Arbeit im Zimmer ihrer Mutter daran
schuld. Der Ansturm der Erinnerungen, die bei jedem Stück in ihr hochgestiegen waren, hatte sie regelrecht erschlagen. Viele Kleidungsstücke hatten ihre Mutter und sie gemeinsam gekauft, und Kelly hatte daran denken müssen, wie viel Spaß sie bei ihren Einkäufen gehabt und wie gut sie sich verstanden hatten. Kelly hatte außerdem einige in Leder gebundene Alben gefunden, in denen sich Bilder aus ihrer Babyzeit und ihrer Kindheit befanden. Ihre Eltern hatten damals so glücklich ausgesehen, dass ihr beim Durchblättern der Alben Tränen über die Wangen gelaufen waren. Innerhalb von vier Jahren hatte sie beide Eltern verloren und hatte zusehen müssen, wie ihre Mutter aus Kummer um den Verlust ihres Ehemannes ihren Lebenswillen eingebüßt und sich selbst aufgegeben hatte. Kelly verspürte einen regelrechten Hass auf das Unternehmen, das die Firma ihres Vaters aufgekauft hatte. Dieser Umstand hatte die Gesundheit ihres Vaters zerstört und war letztendlich auch für den Tod ihrer Mutter verantwortlich zu machen. Noch vor wenigen Monaten war diese Firma und waren die Leute, die dahinter steckten, für sie gesichtslos gewesen. Doch dann hatte sie herausgefunden, dass Dominic Chakaris der Besitzer des Unternehmens war. Dass er der Mann war, der so skrupellos mit dem Leben anderer Leute spielte. Und Kelly hätte sich denken müssen, dass er von dem Porträt erfahren würde. Während sie duschte, dachte sie darüber nach, warum er sich unbedingt mit ihr treffen wollte. So wie sie den Mann einschätzte, würde er ihr wahrscheinlich Vorwürfe wegen des Gemäldes machen und von ihr fordern, das Bild aus der Galerie zu entfernen. Also entschloss sie sich, ihm zuvorzukommen. Kaum war sie angezogen, rief sie die Galerie an. „Andre, hallo, ich bin es, Kelly MacLeod.“ „Ah, Kelly! Ich bin froh, dass du anrufst. Wir haben noch zwei weitere Bilder verkaufen können. Jetzt hängen fast nur noch Leihgaben deiner Kunden bei mir.“ „Es wird Zeit, dass wir die Ausstellung schließen, nicht wahr?“ „Du hast solch einen großen Erfolg, dass ich dachte, wir verlängern sie, damit du noch weitere Kunden gewinnen kannst.“ „Das ist sehr lieb von dir, Andre, aber die Liste der Leute, die von mir porträtiert werden wollen, ist bereits derart lang, dass ich auch so schon einige Jahre zu tun habe.“ Er seufzte. „Dann werde ich tun, was du möchtest. Es hat mir große Freude gemacht, mit dir zusammenzuarbeiten. Ich hoffe, dass wir bald eine weitere Ausstellung planen können.“ „Natürlich. Schließlich bin ich nur durch deine Hilfe so weit gekommen. Wir hören voneinander.“ Nachdem sie besprochen hatten, dass ihre Bilder wieder zu ihr nach Hause geschickt werden sollten, legte Kelly auf und rieb sich im Geiste die Hände, diesen Schritt getan zu haben. Gut gelaunt ging sie in das Schlafzimmer ihrer Mutter, um die Arbeit vom Vortag fortzusetzen. Erneut tauchte sie in die Erinnerungen ein und vergaß dabei völlig Zeit und Raum. Irgendwann, sehr viel später, wurde sie durch die Türklingel in die Wirklichkeit zurückgeholt. Du lieber Himmel, sie hatte die Verabredung ganz vergessen! Mit einem flüchtigen Blick sah sie an sich herunter und zuckte die Schultern. Da sie keine Zeit mehr hatte, sich umzuziehen, würde sie eben in Jeans und Bluse fahren müssen. Ihr war das egal, schließlich wollte sie diesen Mann ja nicht beeindrucken. Oh nein, dieser Dominic Chakaris war ihr völlig egal. Unruhig lief Nick vor seinem Schreibtisch auf und ab und guckte alle zwei Minuten auf die Armbanduhr. Miss MacLeod würde bald hier erscheinen, und er war sich noch immer nicht ganz darüber im Klaren, wie er sich ihr gegenüber
verhalten sollte. „Du läufst herum wie ein werdender Vater oder ein nervöser Bräutigam“, stellte Craig fest, der gerade das Büro betrat. „Übrigens, hier sind die Berichte, die du angefordert hast.“ Er legte einen Stapel Ordner auf den Tisch. „Vielleicht hilft dir Arbeit, deinen Hormonhaushalt wieder in Ordnung zu bringen.“ Nick warf Craig einen finsteren Blick zu. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine überaktive Fantasie hast? Wieso glaubst du, dass diese Malerin solch einen starken Einfluss auf mich haben könnte?“ Craig verschränkte die Arme vor der Brust. „Hm. Ich kenne dich seit Jahren, Nick. Du kaufst und verkaufst, als ob du Monopoly spielen würdest. Ich kenne nur einen Menschen, der es bislang geschafft hat, dich nervös zu machen – und das ist Kelly MacLeod.“ Nick ging hinter seinen Schreibtisch und setzte sich. „Wenn du meinst“, sagte er und seufzte. „Lass mal sehen, was wir hier haben.“ Der Chauffeur, der sich als Ben Jackson vorgestellt hatte, begleitete Kelly höflich zu der Limousine, die er vor ihrem Haus geparkt hatte, und half ihr beim Einsteigen. Sie lehnte sich in das weiche, edle Leder des Rücksitzes zurück und überlegte, welches Restaurant Mr. Chakaris für ihr Treffen wohl ausgewählt hatte. Es würde sie nicht überraschen, wenn er selbst ein paar Lokale besaß. Kelly war allerdings erstaunt, als die Limousine einige Zeit später vor einem der hohen Bürotürme im Geschäftsviertel von Manhattan anhielt. Vielleicht gab es darin ein Restaurant, von dem sie bisher noch nichts gehört hatte. Nachdem sie ausgestiegen war, führte der Chauffeur sie zum Portier. „Miss MacLeod ist hier für Mr. Chakaris.“ „Natürlich“, erwiderte der Portier würdevoll und begleitete sie in die Eingangshalle. An den Fahrstühlen empfing sie ein jüngerer Mann. „Miss MacLeod?“ fragte er mit einem charmanten Lächeln und streckte ihr die Hand entgegen. „Mein Name ist Craig Bonner. Ich bin Angestellter der DCA Industries, Dominic Chakaris’ Firma. Es freut mich außerordentlich, Sie kennen zu lernen. Ich bin schon seit einiger Zeit ein glühender Verehrer Ihrer Kunst.“ Kelly ergriff seine Hand und schüttelte sie. Chakaris gehörte also dieses Gebäude, und offensichtlich war es sein Logo, das sie draußen gesehen hatte. Craig wies sie mit einer höflichen Geste an, einen der Fahrstühle zu betreten, und Kelly schenkte ihm ein hinreißendes Lächeln. Schließlich brauchte sie ihn nicht unsympathisch zu finden, nur weil er für Chakaris arbeitete. Als sich der Fahrstuhl wieder öffnete, betraten sie eine große Marmorhalle, an deren Wände Gemälde hingen, die eigentlich in ein Museum gehörten. Wertvolle Marmorbüsten, die auf griechischen Säulen standen, gaben der Halle zusätzlich einen Hauch von Größe. Am Ende des riesigen Raumes saß eine Empfangsdame hinter einem eleganten Schreibtisch. Ein wirklich beeindruckendes Büro, dachte Kelly. Sie würde jedoch auf keinen Fall vergessen, dass Chakaris sich diesen unglaublichen Luxus nur leisten konnte, weil er ehrliche Menschen um ihre Firmen gebracht hatte. Bevor sie allerdings etwas sagen konnte, öffnete sich eine Tür, und der Mann, an dessen Porträt sie wochenlang gemalt hatte, kam auf sie zu. „Miss MacLeod, ich freue mich, dass Sie kommen konnten.“ Er lächelte nicht, aber wenn sie recht überlegte, so hatte sie ihn auch noch nie lächeln sehen. Dennoch war er ein äußerst attraktiver Mann mit einer faszinierenden Ausstrahlung. Kelly musste sich eingestehen, dass sie sich zweifellos zu ihm hingezogen fühlen würde, wenn er nicht für den Verlust ihrer Familie verantwortlich zu machen wäre. Er hatte sie jetzt erreicht und streckte ihr die Hand entgegen. „Dominic
Chakaris.“ Widerwillig nahm sie die Hand, die er ihr anbot. Doch sobald ihre Finger sich berührten, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Seine Berührung wirkte auf sie wie ein Stromschlag. Sie entzog ihm die Hand und nickte. „Mr. Chakaris.“ Eigentlich verlangte es die Höflichkeit, dass sie sich für die Einladung bedankte^ aber sie brachte es nicht fertig, ihm in die Augen zu schauen und ihn anzulügen. Chakaris sah sich um und entdeckte Craig Bonner. „Danke, Craig“, sagte er, als ob er überrascht wäre, seinen Angestellten noch vorzufinden. „Ich habe dir den Gefallen gern getan“, erwiderte Craig. Da er Chakaris duzte, mussten die beiden Männer sich näher stehen. Und dem amüsierten Tonfall von Craig Bonner nach zu urteilen, scherzte er mit Chakaris. Erstaunt sah sie von einem zum anderen. Was war hier eigentlich los? Entging ihr womöglich gerade etwas? Chakaris machte eine leichte Verbeugung in ihre Richtung. „Wir werden in meinem privaten Speiseraum essen. Ich dachte, dass es Ihnen angenehmer ist, wenn wir uns nicht öffentlich in einem Restaurant treffen.“ Kelly hatte sich zwar gewünscht, nicht mit Chakaris gesehen zu werden, aber der Gedanke, mit ihm allein essen zu müssen, war alles andere als beruhigend. Dennoch zwang sie sich zur Höflichkeit. „Wie Sie möchten.“ Er wies auf die offene Tür, und sie ging rasch an ihm vorbei, damit er sie nicht noch ein zweites Mal berühren konnte. Zwei Wände des riesigen Raumes waren fast nur aus Glas, und man hatte einen fantastischen Ausblick auf Manhattan. Die anderen beiden schienen mit dem gleichen edlen Holz verschalt zu sein, aus dem auch sein Schreibtisch gemacht war. Während sie sich noch in dem luxuriösen Raum umsah, ging Dominic zu einer weiteren Tür hinüber und bat sie, ihm zu folgen. Das Esszimmer war zwar etwas kleiner als sein Büro, aber ebenso geschmackvoll und stilvoll ausgestattet. Der Tisch war für zwei Personen gedeckt worden. Teures Porzellan, kostbare Kristallgläser und Silberbestecke glänzten im Licht. „Ich habe das Menü bereits bestellt. Ich hoffe, Ihren Geschmack getroffen zu haben.“ Er rückte Kelly den Stuhl zurecht, und nachdem sie sich gesetzt hatte, nahm er ebenfalls Platz. „Hätten Sie gern Wein zum Essen?“ fragte er. Sie schüttelte den Kopf. „Wenn es möglich ist, ziehe ich Eistee vor.“ „Sicher.“ Er musste irgendeinen versteckten Knopf gedrückt haben, denn kurz darauf erschien ein großer, schlanker Mann. „Ja, Sir?“ „Sie können jetzt servieren, Dimitros. Wir nehmen Eistee zum Essen.“ Der Mann nickte, verließ den Raum und ließ sie wieder allein. Kelly hatte schon an vielen gesellschaftlichen Anlässen teilgenommen, sie konnte jedoch nicht erinnern, sich jemals so unbehaglich gefühlt zu haben. Dominic nahm sein Wasserglas und hob es hoch. „Ich würde gern einen Toast aussprechen. Ich hoffe, dass dies der Beginn einer wundervollen Freundschaft wird.“ Kelly hatte ebenfalls zu ihrem Glas gegriffen. Nicht, weil sie mit ihm das Glas erheben wollte, sondern schlicht und einfach, weil ihr Mund bei seinen Worten auf einmal unangenehm trocken geworden war. Fragend zog sie die Stirn in Falten. „Eine Freundschaft, Mr. Chakaris? Das glaube ich kaum. Ich verstehe sowieso nicht ganz, warum Sie mich eingeladen haben, aber ich vermute, dass es wegen des Porträts ist. Wenn es Sie beruhigt, ich habe die Galerie bereits gebeten, das Gemälde abzuhängen.“ Er stellte sein Glas ab und schaute sie an. „Ich habe Sie tatsächlich wegen des
Porträts eingeladen. Ich hoffte, dass Sie meine Neugierde befriedigen und mir
sagen können, warum Sie ausgerechnet mich als Modell für eines Ihrer
Kunstwerke ausgewählt haben.“
„Betrachten Sie es als eine Art Therapie. Ich habe meine Mutter verloren, da
musste ich meine Trauer verarbeiten und mit meinen Emotionen klarkommen.“
Ihre Erklärung schien Chakaris zu überraschen, doch bevor er etwas sagen
konnte, kam Dimitros mit einem Tablett herein und servierte das Essen.
„Kann ich noch etwas für Sie tun, Sir?“ fragte er schließlich.
Chakaris warf einen kurzen Blick auf den Tisch. „Ich denke, wir haben alles.
Danke.“
Außer Appetit, dachte Kelly kläglich. Sie war davon ausgegangen, dass sie seine
Fragen gelassen und kühl beantworten könnte. Doch stattdessen lag ihr ein Stein
im Magen, und sie spürte, dass sie Kopfschmerzen bekam.
Da sie sich nichts anmerken lassen wollte, nahm sie entschlossen ihre Gabel auf
und begann zu essen. Insgeheim musste sie zugeben, dass sie selten etwas so
Delikates wie diesen Salat und diese Filets gegessen hatte. Zudem war sie
erleichtert, dass Chakaris während des Essens das Thema nicht wieder aufnahm.
Erst als sie beim Kaffee angelangt waren, kam er erneut darauf zu sprechen.
„Sollen wir jetzt vielleicht in mein Arbeitszimmer gehen? Ich kann es kaum
erwarten, endlich zu erfahren, warum Sie ausgerechnet mich ausgewählt haben,
um Ihren Kummer zu verarbeiten“, fragte er und erhob sich.
Kelly folgte ihm ins Büro hinüber und blieb mitten im Raum stehen, während
Dominic zu einer Sitzgarnitur aus feinem, weichem Leder ging.
Höflich wies er ihr einen Platz auf einem der Sessel an. „Bitte, setzen Sie sich
doch, Miss MacLeod, und erklären Sie mir etwas genauer, warum Sie dieses
verflixte Porträt gemalt haben.“
Kelly ging zu dem Sessel hinüber und setzte sich. Erst dann machte er es sich in
dem anderen Sessel bequem.
„Würden Sie es respektieren, wenn ich Ihnen sagte, dass ich private Gründe
habe?“ fragte sie leise.
Er antwortete nicht sofort, sondern schien zu überlegen. „Sie haben auch keine
Rücksicht auf meine Privatsphäre genommen“, erinnerte er sie schließlich.
Ein Punkt für ihn, dachte sie und überlegte, was sie erwidern könnte.
„Eigentlich sollten Sie sich geschmeichelt fühlen“, sagte Kelly, um Zeit
herauszuschinden. „Schließlich sind Sie ein attraktiver Mann und als Modell wie
geschaffen.“
Er winkte ab. „Machen Sie mir nichts vor, Miss MacLeod. Ich würde es vorziehen,
die Wahrheit zu erfahren.“
Die Wahrheit. Warum hielt Kelly sie eigentlich zurück? Schließlich bestand er
darauf, sie zu erfahren. Aber vor allem, warum sollte sie seine Gefühle schützen?
So skrupellos, wie er war, besaß er wahrscheinlich gar keine.
Kelly straffte sich und sah ihn unverwandt an. „Also gut. Hier ist die Wahrheit,
Mr. Chakaris. Ich habe dieses Bild gemalt, um meiner Wut über Ihre Art,
Geschäfte zu machen, Ausdruck zu geben. Der Tod meines Vaters vor vier Jahren
steht in direktem Zusammenhang mit Ihrer skrupellosen Geschäftstrategie.
Meine Mutter hat seinen Tod nicht verkraftet und starb letztes Jahr ebenfalls. Es
ist Ihnen zu verdanken, dass ich beide verloren habe. Und ich habe Ihr Porträt
gemalt, um mit der Wut und mit dem Hass, den ich für Sie empfinde, fertig zu
werden.“
3. KAPITEL Nick wusste, dass er Feinde hatte. Er hatte hart kämpfen müssen, um dorthin zu gelangen, wo er jetzt stand, und ihm war klar, dass er einigen Leuten dabei auf die Zehen getreten war. Doch noch nie hatte jemand ihn beschuldigt, seine Familie zerstört zu haben. Er schaute Kelly an. Sie war offensichtlich fest von dem überzeugt, was sie da sagte. Nick war ein wenig enttäuscht, dass ihre Gefühle für ihn so negativ waren, denn ob er es sich nun eingestehen wollte oder nicht – sie gefiel ihm. Sie gefiel ihm sogar sehr gut. Zu gut. Bisher war er meistens mit großen, dunkeläugigen Brünetten ausgegangen. Er hätte nie gedacht, dass er sich mal zu einer zierlichen Frau mit hellblondem Haar und riesigen blauen Augen hingezogen fühlen würde. Doch sie hatte ihn seit dem ersten Mal, als er sie gesehen hatte, auf unerklärliche Weise fasziniert. Kelly machte keine Anstalten, noch irgendetwas zu sagen. Sie saß adrett in ihrem Sessel und wirkte so gelassen, als ob sie gerade über den nächsten Wohltätigkeitsball geredet hätten. Nick lehnte sich in den Sessel zurück. „Ich muss sagen, dass Sie mit diesem Porträt einen einzigartigen Weg gefunden haben, mir Ihre Wut und Verachtung zu zeigen. Jetzt verstehe ich auch, warum es so wenig schmeichelhaft für mich ist.“ „Sie denken wahrscheinlich, ich mache Witze.“ „Ganz und gar nicht. Was für eine Firma hatte Ihr Vater denn?“ „Das Angus McLoudUnternehmen. Es wurde von meinem Ururgroßvater Ende des neunzehnten Jahrhunderts gegründet. Es war über hundert Jahre in unserem Besitz, bis Sie sich entschlossen, es in Ihre Sammlung aufzunehmen.“ Zumindest hatte er jetzt konkrete Fakten, um der Sache auf den Grund zu gehen. Er nahm den Hörer ab und gab seiner Sekretärin Anweisungen. „Evelyn, würden Sie bitte so nett sein, mir die Akten des Angus McLeodUnternehmens so rasch wie möglich zukommen zu lassen.“ Er legte auf und sah zu Kelly hinüber. „Ich werde besser mit Ihnen über die Sache diskutieren können, wenn ich Einblick in die Akten hatte. Möchten Sie in der Zwischenzeit etwas trinken?“ Kelly nagte an ihrer Unterlippe. Es gab eigentlich keinen Grund, warum sie noch bleiben sollte. Es war offensichtlich, dass ihm nicht mal bewusst war, was er angerichtet hatte. Doch da ihre Kehle wie ausgetrocknet war, nickte sie. „Wasser, bitte.“ Er trat an eine nahe gelegene Wand und drückte auf einen Knopf. Völlig geräuschlos öffnete sich die Verschalung, und eine gut sortierte Bar kam zum Vorschein. Er goss Wasser in ein Kristallglas, gab Eiswürfel hinzu und brachte es Kelly. „Danke“, sagte sie und trank einen Schluck. „Erzählen Sie mir etwas von Ihrem Vater“, bat er und setzte sich wieder ihr gegenüber. „Ich weiß, dass nichts, was ich sagen könnte, Ihnen etwas bedeutet, aber mein Vater war ein äußerst talentierter, fähiger Mann. Er war ein ausgezeichneter Kunstkenner und Liebhaber der Geschichte, und er war Experte für englische Schriftsteller des sechzehnten Jahrhunderts. Ich hätte mir keinen liebevolleren, fürsorglicheren Vater wünschen können.“ Dominic kannte den Typ Mann, den sie beschrieb. Viele Besitzer von Familienunternehmen, die kaum überleben konnten, waren wie ihr Vater. Er fragte sich, wie er ihr beibringen sollte, dass die Qualitäten, die sie gerade
beschrieben hatte, Kevin MacLeod nicht unbedingt zu einem erfolgreichen Geschäftsmann gemacht hatten. „Es hört sich so an, als ob Ihr Vater ein wundervoller Mann gewesen wäre, Kelly, aber das sagt noch nichts aus über seine Fähigkeiten als Geschäftsmann.“ „Er hat sein ganzes Leben hart für die Firma gearbeitet. Er war sehr umsichtig und hat alles getan, was er nur konnte, damit die Firma immer schwarze Zahlen schrieb.“ „Ihr Vater hat ein prosperierendes Unternehmen geerbt. Ist das korrekt?“ Sie war unwillkürlich auf der Hut. „Ja.“ „Ich stelle oft fest, dass Familienunternehmen von Familienmitgliedern geführt werden, die keine Ahnung vom Geschäft haben. Sie erwähnten, dass das Interesse Ihres Vaters sich auf andere Gebiete gerichtet hätte.“ Nick legte eine Pause ein, damit er seine Worte sorgfältig abwägen konnte. „Um eine Firma zu führen, braucht man eine gute betriebswirtschaftliche Ausbildung. Es kann sein, dass Ihr Vater zwar ein sehr gebildeter Mann war, ihm aber die nötigen Wissensgrundlagen in Bezug auf das Management gefehlt haben. Vielleicht hat Ihr Vater zu viel Geld in die Firma gesteckt und sich überschätzt, oder er hat es versäumt, sich rechtzeitig dem Markt anzupassen. Es gibt viele Möglichkeiten, was schiefgelaufen sein könnte.“ „Mein Vater hat sich stets umfassend informiert“, protestierte Kelly. „Er hätte es nicht zugelassen, dass die Firma zu Grunde geht. Es ist offensichtlich, dass Sie meinen Vater nicht gekannt haben.“ Kelly erhob sich, ging zu einer der Glaswände hinüber und schaute auf Manhattan. „Außerdem hat er aufs Geld geachtet. Er hat es nie unnütz zum Fenster hinausgeworfen.“ Dominic steckte die Hände in die Hosentaschen und trat zu ihr hinüber. „Sie können natürlich glauben, was Sie wollen, aber ich weiß aus Erfahrung, was ein Haus wie das Ihre allein im Unterhalt kostet. Ganz zu schweigen von den Kosten, die Ihre Ausbildung verursacht hat: Internat, Studium und die Auslandssemester.“ Sie drehte sich um und stellte bestürzt fest, dass er nur knapp einen Meter von ihr entfernt stand. „Wie kommen Sie dazu, Nachforschungen über mich anzustellen? Dazu haben Sie kein Recht. Wie sonst hätten Sie das erfahren können? Ich weiß genau, was meine Ausbildung gekostet hat, Mr. Chakaris, und auch, wie hoch die Unterhaltskosten für das Haus sind. Erst als mein Vater gestorben war, entdeckten meine Mutter und ich, wie prekär unsere finanzielle Situation sich darstellte. Dad wollte vermutlich nicht, dass wir uns Sorgen machten, deshalb hat er nie mit uns über Geschäfte und Geld gesprochen. Glauben Sie denn, ich hätte weiterstudiert, wenn ich über unsere finanzielle Lage Bescheid gewusst hätte? Allerdings hat mein Vater kein Geld aus der Firma gezogen. Er hat sich Geld von einer Bank geliehen, um uns weiterhin das Leben zu ermöglichen, das wir gewohnt waren. Niemals hätte er seine Firma in Gefahr gebracht. Wie gesagt, leider habe ich das alles erst nach seinem Tod erfahren. Sonst hätte ich einige Dinge geändert.“, Nick biss die Zähne zusammen, bevor er etwas sagte, was er später bereuen würde. Kellys Temperament durchbrach langsam ihre eisige Fassade, aber er war nicht gewillt, auf ihre emotionalen Ausbrüche einzugehen. Er ärgerte sich allerdings, dass er diese Diskussion begonnen hatte, ohne sich vorher informiert zu haben. „Ich bin sicher, dass Ihr Vater ein guter Mann war“, versuchte er schließlich einzulenken. „Aber da ich nur Firmen aufkaufe, die kurz vor dem Konkurs stehen, muss ich davon ausgehen, dass er nicht in der Lage war, die Firma allein über Wasser zu halten.“
Es klopfte an der Tür, und Nick drehte sich erleichtert um. „Kommen Sie herein“, rief er und war überrascht, als er Craig mit einem dicken Ordner eintreten sah. „Entschuldige, dass es so lange gedauert hat, die Akte zu finden. Der Name der Firma hat sich geändert, und die Übernahme liegt schon einige Jahre zurück.“ „Danke, Craig. Entschuldige, wenn ich dich von deiner Arbeit abgehalten habe.“ „Kein Problem.“ Craig verließ den Raum, und Nick nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Aus Gründen, die er sich selbst nur ungern eingestand, hoffte er fast, dass er sich bei dieser Transaktion falsch verhalten hätte. Dabei war es wirklich nie sein Ziel gewesen, das Leben anderer Menschen zu zerstören. Er brauchte sich nicht dafür zu entschuldigen, dass er Firmen aufkaufte, die kurz vor dem Konkurs standen. Als er die Akte öffnete, stand Kelly immer noch. Mit einem stillen Seufzer wies er ihr einen der Sessel vor seinem Schreibtisch an. „Bitte, setzen Sie sich doch. Ich muss das kurz durchsehen. Ich verspreche Ihnen, dass es nicht lange dauern wird.“ Kelly setzte sich widerwillig und musterte ihn aufmerksam. Er überflog den Bericht über den Zustand der Firma vor dem Kauf und schlug nach, wie viel Geld er für das Unternehmen bezahlt hatte. Dann schloss Nick die Akte und sah Kelly an. Sie beobachtete ihn, als wäre er ein gefährliches Raubtier. Er wusste, dass er ein verflixt guter Verhandlungspartner war. Dennoch, er hatte sich nie zuvor in einer ähnlichen Situation befunden. Er ahnte, wie sehr das Gespräch über ihren Vater sie aufgewühlt haben musste, und es war nicht seine Absicht, sie noch mehr aufzuregen. Er wollte aber auch nicht, dass sie sein Büro verließ, ohne über die Fakten unterrichtet zu sein. „Als wir das erste Mal von dem Angus MacLeodUnternehmen hörten, war die Firma höchsten einen Monat davon entfernt, Konkurs anmelden zu müssen.“ Da sie protestieren wollte, reichte er ihr die Bilanz des letzten Rechnungsjahres, bevor er die Firma aufgekauft hatte. „Ich kann verstehen, dass Ihr Vater wegen des Verlustes der Firma am Boden zerstört war. Jedoch hätte er sie auch verloren, wenn ich das Unternehmen nicht gekauft hätte. Nur, dass dann vermutlich alles noch viel schlimmer gekommen wäre.“ Er warf einen Blick auf die Akte. „Ich gestatte normalerweise nur meinen Angestellten Einblick in diese Unterlagen, aber für Sie mache ich gerne eine Ausnahme.“ Er schob ihr den Ordner zu und wartete, bis sie sich die Dokumente angesehen hatte. „Als ich die Firma übernahm, war das Unternehmen nur noch sehr wenig wert“, erläuterte er. „Wie Sie sehen, habe ich Ihrem Vater einen mehr als fairen Preis bezahlt für das, was von dem Unternehmen übrig geblieben war. Ich verstehe Ihren Schmerz über den Tod Ihrer Eltern, Miss MacLeod, und vielleicht war es für Sie auch eine Erleichterung, jemanden zu finden, den Sie für den Verlust verantwortlich machen konnten. Ich werde mich jedoch nicht für meine Geschäftspraktiken entschuldigen. Schließlich kann ich nichts dafür, dass Ihr Vater sich über die Jahre hinweg so hoch verschuldet hat, dass er am Ende zahlungsunfähig wurde.“ Kelly massierte ihre Schläfen, um den pochenden Kopfschmerzen zu lindern. „Als er starb“, begann sie schließlich, „dachten Mom und ich, wir hätten ein gewisses finanzielles Polster. Ich fand jedoch schnell heraus, was los war.“ Sie wies auf die Dokumente. „Er muss diese Kredite mit dem Geld bezahlt haben, das er von Ihnen bei der Übernahme erhielt. Mit dem Geld, was wir dann von seiner Lebensversicherung ausgezahlt bekamen, tilgten wir die restlichen Schulden.“ Nick sagte nichts. Der Inhalt der Unterlagen hatte sie zutiefst betroffen, das war offensichtlich. Aber was hätte er tun sollen? Sie weiter in der falschen Annahme
lassen, dass er ein skrupelloser Geschäftsmann war, der über Leichen ging? Kelly blätterte noch einige der Dokumente durch und sah ihn dann an. „Zu meiner Entschuldigung kann ich vorbringen, dass ich Sie nicht absichtlich so wenig schmeichelhaft gemalt habe. Ich malte, was ich sah.“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Und das haben Sie so im Vorbeigehen gesehen, ohne auch nur ein einziges Mal mit mir gesprochen oder etwas über mich herausgefunden zu haben? Sie haben vielleicht gemalt, was sie sahen. Aber Ihre Emotionen haben Ihnen dabei als Filter gedient. Und dieser Filter entschied, was Sie sahen.“ „Vielleicht haben Sie Recht. Nun, wie dem auch sei, Ihr Porträt hängt nicht länger in der Galerie.“ Kelly erhob sich und ging auf die Tür zu. Nick folgte ihr. „Diejenigen, die mich kennen, haben mir allerdings zu verstehen gegeben, dass Sie meine Persönlichkeit ganz hervorragend eingefangen haben“, bemerkte er scherzhaft, um die Stimmung ein wenig zu heben. Sie drehte sich um und war erstaunt über diesen Anflug von Humor. Offensichtlich wollte er nicht, dass sie ihn für einen Unmenschen hielt. Und das war er offensichtlich auch nicht. Er war eben ein Geschäftsmann, der seine Entscheidungen auf Grund von Fakten und Zahlen traf, nicht auf Grund von Gefühlen. Nick erreichte vor ihr die Tür und öffnete sie. „Es tut mir Leid, dass unser erstes Treffen so unerfreulich war. Ich würde gern noch mal von vorne beginnen. Wären Sie bereit, demnächst mit mir zu Abend zu essen, ohne dass meine Geschäftspraktiken dabei zur Debatte stehen?“ Sie sah ihn abweisend an. „Ein Abendessen mit Ihnen, Mr. Chakaris? Nur über meine Leiche.“ Mit diesen deutlichen Worten wandte sie sich ab und schritt trotzig erhobenen Hauptes zur Tür hinaus.
4. KAPITEL Am nächsten Morgen trat Kelly von dem Gemälde zurück, an dem sie gerade arbeitete. Sie hatte Probleme, sich auf ihre Malerei zu konzentrieren, was sie aber auch nicht überraschte. Seit sie Dominic Chakaris’ Büro verlassen hatte, war es ihr noch nicht gelungen, ihr Gleichgewicht wiederzugewinnen. Sie entschloss sich, ihre Arbeit für heute zu beenden, säuberte die Pinsel und setzte sich dann auf einen der Sessel in der Nähe der Fenster. Je länger sie Dominic Chakaris’ Ausführungen beim Lunch am Tag zuvor gefolgt war, desto mehr hatte sie sich aufgeregt. Und in der Nacht hatte sie kaum schlafen, sondern immer nur daran denken können, wie kalt dieser Mann seine Geschäfte abwickelte. Bestand für ihn das Leben eigentlich nur aus Zahlen? Sah er denn nicht, was sich dahinter verbarg? Kein Wunder, dass Hai Covington sich Sorgen machte. Da Hals Firma jedoch ganz gut lief, waren seine Sorgen hoffentlich unnötig. Chakaris hatte ihr klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass er nur Firmen aufkaufte, die früher oder später sowieso Konkurs anmelden müssten. Und obwohl sie Chakaris nicht leiden konnte, glaubte Kelly ihm. Ein Mann wie er machte sich vermutlich kaum die Mühe zu lügen. Ganz sicher konnte sie sich in dem Punkt aber natürlich nicht sein. Irgendjemand müsste ihm mal die Meinung sagen, müsste ihm zeigen, dass das Leben mehr bedeutete als Geld, Macht und Besitztümer. Es waren die Menschen, die zählten, eine Tatsache, die er jedoch zu ignorieren schien. Als Kelly an diesem Morgen wie gerädert aufgestanden war, hatte sie sich eine Art Plan zurechtgelegt. Was wäre, wenn sie tatsächlich mit Chakaris ausgehen würde? Wäre sie in der Lage, ihre Abneigung zu verbergen, um herauszubekommen, ob Chakaris doch an Hals Firma interessiert war? Sie würde darüber nachdenken müssen. Es könnte gefährlich werden, sich den Weg ins feindliche Lager zu bahnen. Also musste sie entscheiden, ob es das Risiko wert war. Um sich abzulenken, entschloss Kelly sich, weiter die Sachen ihrer Mutter zu ordnen. Einige Stunden später hörte sie die Türklingel läuten. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war ein Uhr mittags. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte sich kein Besuch angemeldet. Neugierig lief sie auf den Flur und warf einen Blick über das Treppengeländer auf den Eingangsbereich hinunter. Sie konnte zwar nicht sehen, mit wem Bridget an der Tür sprach, doch einen Moment später kam ihre Haushälterin mit einem riesigen Blumenstrauß die Treppe hinauf. Kelly lief ihr entgegen und nahm ihr die Blumen ab. „Danke, Bridget.“ „Es ist lange her, dass du Blumen erhalten hast, nicht wahr?“ Kelly lächelte. „Das stimmt. Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer sie mir geschickt haben könnte.“ Doch noch während sie zu ihrem Zimmer ging, kam ihr ein unangenehmer Verdacht. Nachdem sie die Blumen in eine Vase gestellt hatte, nahm sie den Brief heraus, der dem Strauß beigefügt war. Da ich nicht, so wie Sie behaupten, über Leichen gehe, ziehe ich es vor, Sie lebendig wiederzusehen. Würden Sie – trotz allem – am Samstagabend mit mir essen gehen? Nick
Wieso unterschrieb er mit Nick? Sie hatte nicht gewusst, dass er diese Abkürzung für seinen Namen benutzte, und irgendwie passte das nicht zu ihm. Als sie die Karte betrachtete, wurde ihr klar, dass er die Blumen selbst ausgesucht haben musste, um diese Mitteilung eigenhändig zu schreiben. Seine Schrift war großzügig und kühn. Das Telefon klingelte, und sie nahm gedankenverloren den Hörer ab. „Hallo?“ „Sie haben meine Blumen also erhalten“, drang eine tiefe, angenehme Männerstimme an ihr Ohr. „Treiben Sie sich etwa vor meinem Haus herum?“ fragte sie aufgebracht. „Ganz und gar nicht. Ich habe die Floristin nur gebeten, den Strauß sofort zu liefern. Ich war sicher, dass die Blumen mittlerweile angekommen sein mussten.“ Kelly wusste, dass sich hier die Gelegenheit bot, den Plan, den sie an diesem Morgen gefasst hatte, auszuführen, ohne dass Chakaris jemals einen Verdacht schöpfen würde. Aber hatte sie auch die Nerven dazu? Wollte sie sich wirklich noch mal mit ihm treffen? „Ich nehme an, dass Ihnen der Blumenladen gehört?“ bemerkte sie spitz, um etwas Zeit herauszuschinden. Ein kurzes Schweigen entstand. „Das ist tatsächlich so. Das Geschäft befindet sich in meinem Gebäude.“ „Gibt es eigentlich irgendwas in dieser Stadt, was Sie nicht besitzen, Mr. Chakaris?“ „Bitte, nennen Sie mich doch Nick. Und ja, es gibt viele Dinge in dieser Stadt, über die ich keine Kontrolle habe.“ „Das ist wirklich sehr beruhigend“, erwiderte Kelly trocken. „Das sollte Ihr Selbstwertgefühl zumindest einigermaßen in Schach halten.“ „Mein Selbstwertgefühl leidet bereits unter den Vorwürfen, mit denen Sie mich gestern überschüttet haben. Ich hoffe, Sie geben mir die Gelegenheit, Ihnen zu zeigen, dass ich nicht das Monster bin, für das Sie mich halten.“ War seine Stimme schon immer so sexy gewesen? Am Tag zuvor war sie so aufgeregt gewesen, dass sie das gar nicht bemerkt hatte. Zumindest hatte sie ihr Bestes getan, es zu verdrängen. Kelly schluckte. „Samstag?“ wiederholte sie leise. Schon in drei Tagen? Würde sie das schaffen? Sie studierte kurz den Kalender neben ihrem Telefon. „Ich habe bis Samstag ein Meeting nach dem anderen, und der Gedanke an Sie wird mich sicherlich von der Arbeit ablenken“, bemerkte er, „aber ich werde bis dahin schon noch durchhalten können.“ Sie rollte mit den Augen bei dieser Übertreibung. „Es tut mir sehr Leid, ich kann am Samstagabend nicht, da ich bereits andere Pläne habe“, erwiderte sie kühl. Er antwortete nicht sofort, und sie befürchtete schon, dass er auflegen würde, als sie erneut seine tiefe, unglaublich angenehme Stimme hörte. „Ich würde Sie wirklich gern wiedersehen. Ist es nicht möglich, dass wir noch mal von vorne beginnen und gucken, wie es mit uns beiden weitergehen könnte?“ „Ich hätte am Sonntagabend Zeit“, bot sie schließlich an. „Gut. Ich hole Sie um sieben Uhr ab.“ Nachdenklich legte Kelly den Hörer auf. Wenn dieser Mann ein anderer als Dominic Chakaris gewesen wäre, hätte sie angenommen, dass er persönlich an ihr interessiert wäre. Sie ahnte jedoch, dass sie für Nick Chakaris höchstens eine Herausforderung war. Irgendwie musste sie in ihm den Jagdinstinkt geweckt haben. Hätte er sie erst mal mit seinem Charme eingewickelt, würde er sicher schon bald zur nächsten Eroberung aufbrechen. Der Ruf eilte ihm nämlich
voraus, dass er sich weigerte, eine ernsthafte Beziehung einzugehen. Andererseits, auch sie war ja auch gar nicht an einer Beziehung mit ihm interessiert. Sie wollte ihm lediglich ein paar Informationen entlocken, um Hai zu helfen. Und der erste Schritt dazu war jetzt getan. Am Samstagabend erschien William Comstock, um Kelly zu einem Wohltätigkeitsball abzuholen. „Du bist schon fertig?“ fragte Will und legte überrascht eine Hand aufs Herz. „Sehr komisch“, erwiderte sie. „Als ob du jemals auf mich gewartet hättest.“ Er schlug sich mit der Hand an die Stirn. „Oh, du hast Recht. Ich muss dich mit einer anderen Frau verwechselt haben.“ Dann trat er zurück und schaute sie an. „Du siehst großartig aus. Ich werde dich allerdings nicht fragen, was du machst, damit das Oberteil nicht herunterrutscht.“ Sie schüttelte den Kopf und lachte. Will war einst der Geliebte ihrer Freundin Anita gewesen, und in dieser Zeit waren sie die besten Freunde geworden. Die Liebesbeziehung zu Anita war längst beendet, aber ihre Freundschaft hatte alle Stürme überlebt. Da ihre Familien darauf bestanden, dass sie gesellschaftliche Verpflichtungen erfüllten, hatten Kelly und Will sich miteinander verbündet. Um sich gegenseitig den Rücken freizuhalten, wie Will so treffend bemerkt hatte. Kelly war froh, ihren Freund heute Abend an ihrer Seite zu haben. Wäre sie mit einem anderen Mann verabredet gewesen, hätte sie sich wahrscheinlich eine Ausrede einfallen lassen und wäre zu Hause geblieben. Sie hatte sich extra für diesen Anlass ein neues Kleid gekauft – ein schwarzes, schulterfreies Seidenkleid, das durch absolute Schlichtheit beeindruckte. Das Kleid saß perfekt, und der meisterhafte Schnitt sorgte dafür, dass das knappe, schulterfreie Oberteil auch trotz Bewegung an seinem Platz blieb. Will öffnete die Tür und begleitete sie zu seinem eleganten Sportwagen. „Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass wir nicht allzu lange bleiben. Ich habe nämlich einer anderen Frau diesen Abend zugesagt.“ Kelly lachte, so wie er gehofft hatte. „Und was ist mit dir?“ fragte er, als er hinter dem Steuer saß. „Hat dir in der Zwischenzeit irgendein Mann den Kopf verdreht und den Himmel auf Erden versprochen?“ „Noch nicht. Aber ich kann ja immer noch hoffen“, erwiderte sie lachend. „Du weißt doch, dass es keinen festen Mann in meinem Leben gibt. Ich habe viel zu viel zu tun, um Zeit für eine Beziehung zu haben.“ „Unsinn. Das erzählst du mir, seitdem du das Studium abgeschlossen hast. Wenn du nicht bald irgendeine Einladung annimmst, werde ich dir alle Männer anschleppen, die ich deiner für würdig halte.“ „Das würdest du nicht wagen“, meinte Kelly erschrocken. „Was für ein furchtbarer Gedanke. Außerdem brauchst du dir um mich keine Sorgen zu machen. Ich bin nämlich morgen mit einem Mann zum Essen verabredet.“ Will, der den Wagen sicher durch den dichten Abendverkehr lenkte, sah überrascht zu ihr hinüber. „Mach keine Witze. Ist es jemand, den ich kenne?“ „Das bezweifle ich.“ „Nun komm schon, Kelly. Ich halte dich auch stets auf dem Laufenden, wenn es etwas Neues in meinem Liebesleben gibt.“ „Hier geht es nicht um mein Liebesleben. Es ist nur eine Verabredung.“ „Ah, du gehst also mit Peter aus, nicht wahr?“ Er wartete einen Moment und fügte dann hinzu. „Peter wer?“ Sie schlug ihm leicht auf den Arm. „Du Idiot. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich mich mit dir abgebe. Wirklich nicht.“ „Ich weiß es aber“, entgegnete er und klang plötzlich sehr ernst. „Du fühlst dich
bei mir sicher. Ich kenne dich seit Jahren, und ich weiß, dass du schneller fortlaufen würdest als Speedy Gonzales, wenn ich jemals einen Annäherungsversuch unternehmen würde.“ „Ich werde nicht weiter mit dir darüber diskutieren“, erklärte sie würdevoll. „Außerdem sind wir da“, fügte sie erleichtert hinzu, als sie sah, dass er bereits auf den Parkplatz des Hotels fuhr. „Das ist mir egal. Wir können auch den ganzen Abend hier in meinem Wagen sitzen. Also, wer ist es?“ „Nun denn“, antwortete sie widerwillig, „es ist Dominic Chakaris.“ Sie lächelte, als einer der Hotelboys die Wagentür öffnete und ihr heraushalf. Sie wartete neben dem Eingang auf Will, und sobald er sie erreicht hatte, nahm er ihren Arm und begleitete sie ins Hotel. „Na gut, ich gebe auf. Aber du solltest dich schämen, ein Geheimnis vor mir zu haben“, beschwerte sich Will im Gehen. Sie lächelte und fühlte sich plötzlich sehr viel besser. „Dieses Mal sage ich wirklich die Wahrheit. Es ist tatsächlich Dominic Chakaris.“ Will blieben stehen, während die Besucher des Balls an ihnen vorbeiströmten. „Oh ja, ich glaube dir. Du gehst also mit dem Mann aus, den du hasst und dessentwegen du die Leinwand mit solch einer Grausamkeit traktiert hast, dass mir das gute Stück richtig Leid tat?“ Kelly lachte und klapperte verführerisch mit den Wimpern. „Was soll ich dir sagen? Der Arme war ganz hingerissen von mir. Es würde mich nicht wundern, wenn er mich zum Abschluss des morgigen Abends anfleht, ich möge seine Kinder bekommen.“ Nick bemerkte sie, sobald sie den Raum betreten hatte. Sofort hatte sie seinen Blick auf sich gezogen, und sie weckte ein so starkes Verlangen in ihm, dass er einen Moment lang vollkommen aus dem Gleichgewicht geriet. Allerdings überraschte ihn seine Reaktion nicht. Wahrscheinlich erging es jedem Mann im Saal so. Sie trug das aufregendste Kleid, das er je gesehen hatte. Es schmiegte sich wie eine zweite Haut um ihren makellosen Körper und betonte ihre nackten Schultern, ihre weiblichen Kurven und ihre schönen Beine. Neben ihrem Begleiter wirkte sie klein und zerbrechlich. Sie reichte diesem Adonis kaum bis zu den Schultern. Wer, zum Teufel, war dieser Mann überhaupt? Der Kerl sah nicht nur gut aus, sondern hatte auch noch die Figur eines Athleten und macht den Eindruck, als ob er in einem Smoking geboren wäre. Nick verdrängte die Eifersucht und versuchte, seinen rebellischen Körper in den Griff zubekommen. Noch nie zuvor hatte eine Frau eine derartige Wirkung auf ihn gehabt. Am liebsten hätte er sie Besitz ergreifend in seine Arme gezogen, wäre mit ihr zu sich nach Hause gegangen und hätte sie so lange geliebt, bis sie vor Erschöpfung einschlief. Nick schloss die Augen und rieb sich die Stirn, da es hinter seinen Schläfen verdächtig zu pochen begann. Als er die Augen wieder öffnete, blickte er erneut dem Paar hinterher, das sich seinen Weg durch die Menge bahnte und hin und wieder eine Gruppe von Gästen grüßte. Die beiden schienen sich gut zu verstehen. Und das ärgerte ihn. Na, komm schon, was denkst du, Chakaris? Dass du der erste Mann bist, der sie entdeckt hat? Wahrscheinlich zieht sie seit dem Kindergarten erst Jungen und dann später Horden von Männern an. „Hallo, Mr. Chakaris, hören Sie mir überhaupt zu?“ fragte einer der Gäste, die sich zu Nick gesellt hatten. Nick hatte Schwierigkeiten, in dieser Situation höflich zu bleiben.
„Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen“, murmelte Nick und verließ die Gruppe der Männer. „Ich habe gerade jemanden gesehen, den ich unbedingt sprechen muss.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, bahnte sich Nick seinen Weg durch die Menge zu Kelly hinüber. „Jetzt wird es interessant“, flüsterte Will Kelly zu, als sie am Büfett standen. „Was ist denn?“ Er legte einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. „Der Mann, dessen Kinder du bekommen wirst, kommt gerade auf uns zu. Dem Ausdruck seiner grimmigen Miene nach zu urteilen, will er sich mit mir im Morgengrauen duellieren.“ „Guten Abend, Kelly“, grüßte Nick höflich. „Wenn Sie nichts dagegen haben, ich würde gern Ihren Begleiter kennen lernen.“ Kelly bemerkte, dass einer seiner Wangenmuskeln zuckte. Du lieber Himmel, was sollte das denn jetzt? „Will“, begann sie kühl, „ich würde dir gern Dominic Chakaris vorstellen.“ Sie schaute zu Nick hinüber. „Nick, das ist William Comstock.“ Noch mehr unwillkommene Nachrichten, dachte Nick frustriert. Comstock. Er kannte diesen Namen. Selbst wenn die Familie das Geld nur so zum Fenster herauswerfen würde, sie hätten immer noch mehr als reichlich. Comstock. Ein exzellenter Name mit viel Ansehen. Er nickte, ohne dem scheinbaren Rivalen die Hand zu reichen, und wandte sich dann wieder Kelly zu. „Ihr Kleid, wenn man dieses bisschen Stoff überhaupt ,Kleid’ nennen darf, ist ziemlich gewagt. Haben Sie keine Angst, dass das Oberteil verrutschen könnte?“ Er sah, wie sie sich anspannte, doch bevor sie noch etwas sagen konnte, ergriff ihr Begleiter das Wort. „Genau das habe ich Kelly auch gesagt. Ich habe ihr etwas Klebeband angeboten, um das Oberteil zu sichern, aber sie wollte nicht auf mich hören.“ Kellys Versuch zu lachen scheiterte kläglich. Will war unverbesserlich. „Danke“, sagte sie zu Nick, „das Kleid sitzt jedoch so perfekt, dass Ihre Sorge wirklich unbegründet ist.“ „Dann will ich Sie nicht weiter vom Essen abhalten“, erklärte Dominic, nickte kurz und sah zu, dass er wegkam, bevor er sich komplett zum Narren machte. Was hatte er sich nur dabei gedacht, eine derart persönliche Bemerkung über ihr Kleid zu machen? Und warum hätte er ihrem Begleiter am liebsten einen Kinnhaken verpasst, nur weil der den Arm um ihre Taille gelegt hatte? Hatte er denn vollständig den Verstand verloren? Nick sah sich im Raum um. Die meisten Gesichter kamen ihm vertraut vor, denn es waren immer dieselben Leute, die solche Veranstaltungen besuchten. Warum sollte er sich über sie lustig machen, wenn er inzwischen doch selbst zu der so genannten High Society gehörte? Am liebsten hätte er laut gelacht. Geld und Macht öffneten eben Türen. Nach dem Menschen Dominic Chakaris fragte hier allerdings niemand. Er seufzte. Ein doppelter Scotch wäre jetzt genau das Richtige. Nach dem Essen begann eine Band zu spielen. Mehrere Paare begaben sich sofort auf die Tanzfläche und bewegten sich zum Rhythmus der Musik. Will und Kelly saßen an einem Tisch mit mehreren Bekannten, die daran gewöhnt waren, dass die beiden als Paar auftraten. Während des Essens hatte man lebhaft über die verschiedensten Themen diskutiert, und man plauderte immer noch, als die Musik einsetzte. „Können wir jetzt gehen?“ flüsterte Kelly Will ins Ohr. „Machst du Witze?“ erwiderte Will lächelnd. „Um nichts in der Welt möchte ich
das hier versäumen.“ „Was möchtest du nicht versäumen?“ „Zu sehen, dass Chakaris dich nicht eine Sekunde lang aus den Augen lässt.“ Kelly unterdrückte den Wunsch, sich umzuschauen, aber sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Ich bin froh, dass du so viel Spaß dabei hast, dir Dinge einzubilden. Chakaris kennt mich doch gar nicht.“ „Mag schon sein, aber es ist offensichtlich, dass er ganz wild darauf ist, dich kennen zu lernen. Hat er dich so lange belatschert, bis du dich schließlich einverstanden erklärt hast, mit ihm auszugehen?“ Das Bild des wunderschönen Blumenstraußes, den Nick ihr geschickt hatte, stieg vor ihr auf, und sie errötete leicht. „Ach Kelly“, sagte Will und drückte leicht ihre Hand. „So steht es also um dich. Du stellst das ziemlich geschickt an, weißt du? Mach ruhig so weiter. Du hast seinen Jagdinstinkt bereits geweckt.“ „Wie viel hast du heute Abend eigentlich getrunken?“ fragte sie so leise, dass die anderen es nicht hören konnten. „Es ist doch sonst nicht deine Art, eine Kleinigkeit zu einem ganzen Roman aufzubauschen.“ Will warf einen Blick über die Schulter. „Wir werden ja noch sehen, wer hier was aufbauscht“, flüsterte er und fügte dann in normalem Ton hinzu: „Genießen Sie den Ball, Mr. Chakaris?“ Kelly sah sich erschrocken um und bemerkte, dass Nick nur einen Meter von ihnen entfernt stand. „Es ist ganz nett hier“, erwiderte Nick und schaute Kelly an. „Hätten Sie Lust, mit mir zu tanzen?“ „Oh, ich…äh…“ „Sie würde sehr gern mit Ihnen tanzen, nicht wahr, Kelly?“ mischte Will sich ein, ohne die Miene zu verziehen. Am liebsten hätte Kelly ihm dafür einen ordentlichen Stoß in die Seite versetzt. Sie erhob sich so elegant wie möglich und ging langsam auf die Tanzfläche zu. Als sie sich umdrehte, stand Nick hinter ihr. Er zog sie in seine Arme, und sie begannen, sich zu bewegen, als ob sie schon seit Jahren zusammen tanzen würden. Kelly war überrascht, ihr Partner tanzte wie ein Profi. Er hielt die angemessene Distanz, die Hand formvollendet auf ihren Rücken gelegt. Es war ein Kinderspiel, ihm zu folgen, und sie begann, sich in seinen Armen zu entspannen. Außerdem hatte er die perfekte Größe für sie. Sie trug hohe Absätze, und sein Kinn befand sich in ihrer Augenhöhe. Da Nick kein Wort zu ihr sagte, genoss Kelly einfach nur den Tanz und glitt mit ihm über das Parkett, bis die Musik in einen Blues überwechselte. Als ob es das Normalste von der Welt wäre, schlang er die Arme um sie und zog sie an sich. Dabei spürte Kelly, wie erregt er war. Er begehrte sie, das war offensichtlich, aber vielleicht hatte er diese Reaktion bei jeder attraktiven Frau. Um den intimen Kontakt zu meiden, rückte sie leicht von ihm ab. Es war herrlich, sich in Nicks Armen zur Musik zu bewegen. Kelly hatte das Gefühl, verzaubert zu sein, verführt von diesem Mann und der Musik. Sie versuchte, die alten Gefühle der Wut und des Hasses wieder aufleben zu lassen, doch ohne Erfolg. Sie schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Als die Musik endete, brauchte Kelly einen Moment, um in die Gegenwart zurückzukehren. Nick schien das gleiche Problem zu haben, denn er ließ sie nur widerwillig los. Dann machte Kelly den großen Fehler, ihn anzuschauen, und bemerkte, wie viel Leidenschaft in seinen Augen lag. Rasch senkte sie den Blick, aber es war zu spät, ihre Wangen glühten bereits vor Verlegenheit.
Er hob ihre Hand zu seinem Mund und hauchte einen federleichten Kuss darauf.
„Danke, dass Sie mit mir getanzt haben“, sagte er leise.
Sie war unfähig, den Blick von ihm zu wenden. „Sie sind ein wunderbarer
Tänzer“, erwiderte sie mit unsicherer Stimme und erwartete, dass ein
selbstzufriedener Ausdruck in seine Augen treten würde, doch stattdessen
drückte er nur kurz ihre Hand und führte sie zurück zum Tisch.
Will stand von seinem Stuhl auf. „Es tut mir Leid, drängen zu müssen, aber wir
sollten gehen.“ Er nickte Chakaris kurz zu, legte einen Arm um Kellys Schultern
und ging mit ihr zum Ausgang.
Nick schaute ihnen nach und hatte das Gefühl, jemand würde ihm das Herz
herausreißen. Dabei gab es viele Menschen, die geschworen hätten, dass er gar
kein Herz besaß.
Und er war derselben Ansicht gewesen.
Bis jetzt.
5. KAPITEL Will sagte weder etwas auf dem Weg zum Wagen noch auf der Fahrt nach Hause, und Kelly wusste sein Schweigen zu schätzen. Es gingen ihr so viele unterschiedliche Gedanken durch den Kopf, dass sie im Moment wahrscheinlich kaum einen zusammenhängenden Satz zu Stande gebracht hätte. Was war da eben passiert? Hatte sie tatsächlich vergessen, wer Chakaris war und was er ihrer Familie angetan hatte? Und vermutlich auch vielen anderen Familien. Doch nicht nur ihre Gedanken waren konfus, sondern vor allem ihre Gefühle. Sie durchlebte immer und immer wieder, was sie in seinen Armen empfunden hatte. Noch jetzt schien sie seinen würzigen, frischen und so unglaublich männlichen Duft wahrzunehmen. Wie hatte sie nur so schamlos sinnlich auf ihn reagieren können? Als sie das Haus der MacLeods erreicht hatten, begleitete Will sie zur Tür und wartete, bis Kelly aufschloss. Sie wollte sich schon von ihm verabschieden, aber er sah sie ernst an. „Hör zu, Kelly, jetzt mal Spaß beiseite. Ich möchte, dass du vorsichtig bist, wenn es um diesen Chakaris geht. Ich dachte, ihr beide würdet das Hotel abfackeln, so stark hat es zwischen euch gefunkt. Es ist offensichtlich, dass Chakaris dich begehrt. Er hätte dich am liebsten schon auf dem Ball geliebt.“ Will hob ihr Kinn mit einem Finger an. „Lass dich nicht von seinem Charme und seinem SexAppeal einwickeln. Der Mann ist gefährlich. Wir beide wissen das. Es geht mich eigentlich nichts an, aber ich mache mir wirklich große Sorgen um dich. Wir sind jetzt schon lange befreundet, und ich möchte auf keinen Fall, dass dich jemand verletzt.“ Er lächelte fürsorglich. „Ich weiß, dass du ein großes, kluges Mädchen bist. Trotzdem solltest du dich immer wieder daran erinnern, wie skrupellos du ihn gemalt hast. Glaub mir, du hast ihn genau getroffen.“ Sie lehnte den Kopf an seine Brust. „Danke, Will. Ich weiß deine Freundschaft und deine Ratschläge zu schätzen, aber du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Mir ist nur zu klar, wer und wie Dominic Chakaris ist. Und ich werde das auch nie vergessen, das verspreche ich dir. Verlass dich drauf, ich komme schon zurecht.“ Sie rückte von Will ab und zwang sich zu einem Lächeln. „Und jetzt sieh zu, dass du zu deiner neuesten Flamme kommst, bevor sie die Lust verliert, auf dich zu warten.“ Nachdem Kelly das Haus betreten hatte, schloss sie rasch die Tür und lehnte sich von innen dagegen. Sie atmete mehrere Male tief durch, um sich zu beruhigen. Irgendwie musste es ihr doch gelingen, ihre Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Sie benahm sich einfach lächerlich. Schon oft hatte sie mit attraktiven Männern zu tun gehabt. Männer, die ihr deutlich gezeigt hatten, wie sehr sie die Frau in ihr begehrten. Aber noch nie hatte ein Mann sie so durcheinander gebracht wie Nick Chakaris. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Vielleicht war sie auch einfach nur überanstrengt, da sie in letzter Zeit zu viel gearbeitet hatte. Langsam ging Kelly die Treppe hinauf und dann in ihr Zimmer. Sie sollte mal richtig ausschlafen, dann würde das Problem sich bestimmt wie von selbst in Luft auflösen. Am nächsten Morgen stellte Kelly jedoch schlecht gelaunt fest, dass das Problem leider nicht verschwunden war. Was nach dieser schlaflosen Nacht allerdings auch kein Wunder war. Sie hatte kaum ein Auge zugemacht, und wenn sie doch kurz einen Moment eingenickt war, hatte sie von Chakaris geträumt. Irgendwann bei Anbruch der Morgendämmerung war sie dann aufgestanden, um sich Kaffee zu machen.
Nachdem sie die erste Tasse Kaffee getrunken hatte, war sie fest entschlossen, Chakaris anzurufen und die Verabredung mit ihm abzusagen. Erst nach der dritten Tasse fiel ihr allerdings ein, dass sie ja nur seine Büronummer hatte. Und obwohl ihm der Ruf vorauseilte, ein Workaholic zu sein, glaubte sie nicht, dass er auch das Wochenende in seinem Büro verbrachte. Dennoch wählte sie seine Nummer, sie hatte ja nichts zu verlieren. Bereits nach dem ersten Klingelzeichen schaltete sich der Anrufbeantworter ein. „Hinterlassen Sie bitte eine Nachricht“, lautete die kurze Ansage. Sie wollte gerade etwas auf das Band sprechen, als ihr einfiel, dass sie nicht erfahren würde, ob er ihre Nachricht erhalten hatte oder nicht. Seufzend legte sie den Hörer wieder auf. Im Laufe des Morgens fand Kelly sich dann langsam mit dem Gedanken ab, dass sie an diesem Abend mit ihm ausgehen würde. Warum auch nicht? Was konnte in einem Restaurant schon passieren? Sie würden zusammen essen, dann würde sie wieder nach Hause gehen, und Chakaris wäre damit endgültig für sie erledigt. Sie würde ihn einfach aus ihrem Leben streichen. Allerdings wusste sie, dass sie äußerst vorsichtig sein musste. Sie hatte mittlerweile begriffen, wie empfänglich sie für Dominic Chakaris’ Charme war. Außerdem hatte sie nicht die geringste Ahnung, wie es ihr gelingen sollte, Geschäftsinformationen aus ihm herauszulocken. Letztlich war nämlich Hai der einzige Grund, warum sie sich mit ihrem Feind einließ. Oder steckte doch mehr dahinter? Hör auf, dich ständig zu hinterfragen, verdrängte Kelly rasch unerwünschte Gedanken, reiß dich lieber zusammen. Ob sie nun wenig geschlafen hatte oder nicht sie war immer noch Kelly MacLeod. Eine Frau, die Schwierigkeiten niemals aus dem Weg ging, sondern sie entschlossen anpackte. Und das würde auch so bleiben. Als die Limousine am Abend vorfuhr und es kurz darauf an der Tür klingelte, hielt Kelly sich gerade in der Bibliothek auf. Sie lief in den Flur, nahm ihre Handtasche sowie ihren Mantel und eilte dann zur Tür. „Es ist für mich. Ich mache auf“, rief Kelly der Haushälterin zu, öffnete die Tür und blieb dann wie angewurzelt stehen. „Ich dachte… ich dachte, es wäre der Fahrer“, stieß sie überrascht hervor. Nick zog eine Augenbraue hoch, ohne dass sein Ausdruck sich jedoch änderte. „Nein, ich bin es höchstpersönlich.“ Das war äußerst mittelmäßig, meine Liebe, rügte sich Kelly. Leg einen anderen Gang ein, oder der Mann überrumpelt dich vollkommen. Du hast einen Plan, denk daran, warnte sie sich im Stillen. „Das ist nicht zu übersehen“, bemerkte sie schnippisch, zog die Tür zu und erlaubte Nick, sie die Stufen hinunter zu dem wartenden Wagen zu führen. „Ich hoffe, dass Sie sich von dem gestrigen Abend erholt haben“, begann er, nachdem sie im Wagen Platz genommen hatten. „Mir geht es sehr gut, danke.“ „Entschuldigen Sie meine Neugierde, aber dürfte ich erfahren, wie lange Sie und Comstock schon ein Paar sind?“ Ein Paar? Er dachte also, sie hätte eine Beziehung mit Will. Das könnte ihr zum Vorteil gereichen, und sie konnte wirklich jeden Vorteil gebrauchen. „Wir haben uns bereits auf dem College kennen gelernt“, erwiderte Kelly. „Wohin fahren wir heute Abend?“ „Das wird eine Überraschung. Aber ich kann Ihnen garantieren, dass das Essen ausgezeichnet ist. Dimitros, der Küchenchef, ist außergewöhnlich gut.“ Er machte eine Pause und fügte dann hinzu: „Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie bereit sind, mit mir einen Waffenstillstand einzugehen.“
Kelly warf ihm einen kurzen Blick zu und sah dann wieder zum Fenster hinaus.
„Ist es das, was wir jetzt haben?“
„Das hoffe ich doch. Ich habe alles getan, was ich konnte, um heute Abend mit
Ihnen ausgehen zu können.“
„Sie müssen sich über meine Kapitulation sehr gefreut haben.“
„Ich freue mich, dass wir beide Waffenstillstand geschlossen haben“, korrigierte
er sie. „Es war übrigens ein Genuss, gestern Abend mit Ihnen zu tanzen.
Allerdings hat es mir gar nicht gefallen, dass Sie dann mit einem anderen Mann
den Ball verlassen haben. Der einzige Trost für mich war das Wissen, dass ich Sie
heute Abend ganz für mich allein haben würde. Ohne Comstock.“
Welche Frau wäre nicht geschmeichelt gewesen, diese Worte aus dem Munde
eines attraktiven Mannes zu hören? Kelly spürte, wie ihr Herz noch schneller
schlug, als es das ohnehin schon tat, und sie fand es klüger, nicht auf Chakaris’
Bemerkung einzugehen.
„Übrigens“, bemerkte er, als sie nichts erwiderte, „ich hätte gern gewusst, wo Sie
das Porträt aufbewahren, seit es nicht mehr in der Galerie ist.“
Sie schaute ihn an und bemühte sich, so gelassen wie möglich zu wirken.
„Warum interessiert Sie das?“
„Ich wollte nur wissen, ob Sie es vielleicht als Dartscheibe benutzen.“
„So etwas Ähnliches.“
Er lächelte und setzte sich so, dass er sie besser sehen konnte. „Erzählen Sie mir
etwas von sich“, bat er sie.
Kelly warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Ich bin sicher, dass Sie bereits alles
in Ihrem Dossier haben, was Sie an Informationen brauchen.“
„Autsch“, zuckte er gespielt zusammen. „Und ich hoffte, Sie hätten mir das
bereits vergeben.“
„So wie die Tatsache, dass ich meine Eltern verloren habe?“
Kelly bemerkte, wie sein Gesichtsaasdruck einen Moment lang starr wurde, und
wusste, dass sie ihn getroffen hatte.
„Ich verstehe Ihre Trauer“, erwiderte er schließlich. „Und ich kann Sie nicht
daran hindern, die Fakten zu ignorieren und an Ihrer verqueren Meinung
festzuhalten. Ich hatte allerdings gehofft, dass wir die Vergangenheit hinter uns
lassen und noch mal neu anfangen könnten.“
Sie schenkte ihm einen weiteren kurzen Blick und schaute dann wieder hinaus.
„Sind Sie in New York geboren?“ fragte er.
Kelly überlegte, ob sie ihn noch weiter reizen sollte, aber den Tiger am Schwanz
zu ziehen, das war zu gefährlich, also beantwortete sie seine Frage. „Ich bin in
Manhattan geboren. Und Sie?“
„In der Bronx.“
Die Bronx war das Arbeiterviertel von New York. Die Tatsache, dass der
einflussreiche Tycoon Nick Chakaris in der Bronx geboren sein sollte, musste
Kelly erst mal verdauen. Dann bemerkte sie, dass der Wagen angehalten hatte,
und als sie einen Blick nach draußen warf, stellte sie fest, dass sie vor Nicks
Bürogebäude standen. Sie runzelte die Stirn. Und was jetzt?
Nick half ihr, aus dem Wagen auszusteigen, und führte sie in das Gebäude. Er
nickte dem Wachmann kurz zu, stieg mit ihr in den Fahrstuhl und drückte einen
Knopf. Kelly erwartete, dass sie in die Büroetage fahren würden, aber als der
Fahrstuhl schließlich anhielt und die Tür sich öffnete, trat sie stattdessen in eine
andere Welt.
Die unendlich vielen Lichter von Manhattan leuchteten ihr durch Glaswände
entgegen. Nick legte die Hand auf ihren Rücken und führte sie um eine Ecke.
Dort bot sich ein ebenso faszinierender Ausblick über Manhattan, und vor der
Glaswand stand ein Tisch, der für zwei Personen mit Kerzen, edlem Porzellan,
Kristall und Silber gedeckt war. Auf der großen Terrasse, die man durch das Glas
sehen konnte, standen Kübel mit Blumen und Büschen.
„Hier wohnen Sie, nicht wahr?“ vermutete Kelly und wusste, dass man sie
ausgetrickst hatte.
Er verbeugte sich leicht. „Ja.“
„Sie hätten mir wenigstens die Wahl lassen können.“
„Wären Sie dann hierher gekommen?“ fragte er, und sie sah, wie es humorvoll in
seinen Augen aufblitzte.
„Natürlich nicht.“
„Deswegen bin ich ja auch so vorgegangen. Ich verspreche Ihnen aber, dass Ihre
Tugend hier nicht gefährdet ist.“
Eine sympathische Frau mittleren Alters betrat jetzt den Raum. „Guten Abend“,
grüßte sie lächelnd. „Sie müssen Miss MacLeod sein.“
Nick wandte sich Kelly zu. „Das ist Andrea, Dimitros Frau. Die beiden sind für
mein Penthouse und mein leibliches Wohl verantwortlich. Sie achten darauf, dass
alles in meinem Leben einigermaßen geregelt abläuft.“
„Dimitros? Ist das nicht der…“
„Er ist ein WeltklasseKüchenchef, der mir die Ehre gibt, für mich zu arbeiten“,
unterbrach Nick sie lächelnd.
„Wenn Sie möchten, kann ich das Essen jetzt servieren“, bemerkte Andrea.
„Gern, ich habe Hunger.“ Er guckte Kelly an. „Ist es Ihnen recht, wenn wir jetzt
essen?“
Kelly brachte nur ein Nicken zu Stande. Sie war reichlich verwirrt. Obwohl es sie
keineswegs überraschte, dass Nick ein exklusives Leben in einem Penthouse
führte, setzte es sie doch in Erstaunen, dass er sich anscheinend so gut mit
seinen Angestellten verstand. Auch der größte Schurke besaß vermutlich
irgendeine gute Seite.
Nachdem sie Platz genommen und an dem edlen Wein genippt hatte, sah sie Nick
fragend an. „Sie haben Ihr Vermögen nicht geerbt, nicht wahr?“
„Nein.“
„Sie erwähnten, dass Sie in der Bronx aufgewachsen sind. Leben Ihre Eltern noch
dort?“
Er nahm sich Zeit, um auf ihre Frage zu antworten. „Meine Eltern sind, genau wie
Ihre, bereits verstorben“, antwortete er schließlich.
„Oh.“ Aus irgendeinem Grund konnte sie sich Nick einfach nicht als trauernden
Sohn vorstellen. „Haben Sie noch Geschwister?“ fügte sie deshalb rasch hinzu.
„Einen Bruder. Er heißt Lukas.“
„Lebt er hier?“
„Nein, er arbeitet in Europa. Er reist sehr viel herum. Ich weiß selten, wo er sich
aufhält. Er arbeitet für die Regierung.“
„Ist er verheiratet?“
„Luke?“ Er schüttelte den Kopf. „Er bleibt nie lange genug an einem Ort, um eine
ernsthafte Beziehung eingehen zu können.“
Zumindest antwortet er mir, dachte Kelly, wenn auch nur sehr widerwillig. „Und
wie haben Sie es geschafft, so jung schon so erfolgreich zu sein?“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Ich bin nicht mehr jung. Ich bin bereits
fünfunddreißig.“
„Ich würde es anders formulieren. Sie sind erst fünfunddreißig. Für das harte
Geschäft, in dem Sie sich befinden, ist das noch reichlich jung. Was reizt Sie
denn so an Ihrer Arbeit?“
Nick runzelte die Stirn. „Habe ich Ihnen vielleicht den Eindruck vermittelt, dass
es sich hier um ein Geschäftsessen handelt? Glauben Sie mir, meine Vorstellung
von diesem Abend ist weit davon entfernt. Selbst wenn ich damit meine gute
Erziehung vergesse, möchte ich Ihnen etwas gestehen: Ich kann im Moment nur
daran denken, wie gern ich mit Ihnen ins Bett gehen würde.“ Er lächelte. „Ich
hoffe, mein Geständnis schockiert Sie nicht allzu sehr.“
Kelly schluckte. So viel Direktheit hatte sie nicht erwartet. „Sind Sie immer so
unverschämt?“ fragte sie und hoffte, er würde das leise Beben ihrer Stimme nicht
bemerken.
„Ja.“
Sie nickte und schluckte schwer. Diesem Mann war sie einfach nicht gewachsen.
Vermutlich würde sie ihm nie die richtigen Antworten entlocken können.
Kelly konzentrierte sich auf das wundervolle Essen und genoss jeden Bissen. Sie
musste zugeben, dass Dimitros ein wahrer Zauberkünstler in der Küche war.
„Habe ich Sie mit meiner Offenheit verletzt?“ brach Nick schließlich das peinliche
Schweigen. „Das lag nicht in meiner Absicht. Entschuldigen Sie bitte.“
„Was wollen Sie mir eigentlich beweisen?“ fragte Kelly.
„Dass ich nicht der Unmensch bin, für den Sie mich halten“, erwiderte er. „Ich
hoffte, dass Sie kein weiteres Urteil über mich fällen würden, bis Sie mich näher
kennen gelernt haben.“
„Hm“, war alles, was sie als Antwort herausbekam. Das Bild eines großen,
geschmeidigen Panters, der auf der Lauer lag, kam ihr in den Sinn, und sie hatte
keine Lust, das Opfer zu sein. Sie spürte, wie gefährlich es für sie sein würde,
noch öfter mit Dominic Chakaris auszugehen.
„Ihr Porträt verrät, dass Sie einige Zeit damit verbracht haben, mich zu
studieren. Es wäre also nur fair, wenn ich die Gelegenheit erhalten würde, Sie
ebenfalls kennen zu lernen.“
„Ja, warum eigentlich nicht“, erwiderte Kelly ohne große Überzeugung und
konzentrierte sich wieder auf ihr Filet Wellington.
Als sie mit dem Essen fertig waren, schlug Nick vor, den Kaffee auf der Terrasse
einzunehmen. Er begleitete sie hinaus, und sie ging langsam zu der Mauer
hinüber.
„Das ist wirklich wundervoll“, staunte sie leise.
„Ja“, bestätigte er, schaute dabei aber nicht auf das Lichtermeer von Manhattan,
sondern auf sie.
Dann sagte keiner mehr etwas.
„Wir beide passen nicht zusammen“, sagte Kelly schließlich in das Schweigen
hinein und hoffte, dass er ihre Anspannung nicht bemerken würde.
„Warum nicht?“
„Weil…“ Sie legte eine Pause ein und suchte nach Worten.
„Warum versuchen wir es nicht wenigstens. Was kann schon passieren?“
„Was stellen Sie sich denn so vor?“ fragte sie vorsichtig.
Das erste Mal, seit sie ihn kannte, lächelte er. Ein Lächeln, das so charmant war,
dass ihr Herz noch schneller schlug.
„Offensichtlich etwas anderes als du“, erwiderte er. „Ich habe dir bereits
gestanden, wie sehr ich mir eine intime Beziehung mit dir wünsche, Kelly.“ Er
zögerte. „Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich dich duze.“ Als sie nicht
antwortete, fügte er hinzu: „Auf jeden Fall wirst du die jenige sein, die
entscheidet, ob und wann es passieren wird.“
„Sie...“
„Du“, unterbrach er sie.
„Also gut. Du überlässt die Entscheidung mir?“
„Absolut.“
Kelly ging zu dem schmiedeeisernen Tisch hinüber, auf den Andrea ein Tablett
mit einer silbernen Kaffeekanne, Tassen, Sahne und Zucker gestellt hatte, und
nahm auf einem der Sessel Platz. Sie goss Kaffee für beide ein und wartete, bis
er sich ebenfalls gesetzt hatte. Dann reichte sie ihm die Tasse.
„Ich habe keine Angst um meine Umschuld, falls du das meinst“, erklärte sie,
obwohl sie wusste, dass das nicht stimmte. Noch nie hatte sie sich sexuell so
stark zu einem Mann hingezogen gefühlt wie zu Nick. Ihre Unschuld könnte also
tatsächlich in Gefahr sein, doch das würde sie ihm natürlich nicht auf die Nase
binden.
„Und was ist mit Comstock?“ fragte er rau.
„Was soll mit ihm sein?“
„Wirst du ihn weiterhin sehen?“
„Das hört sich ja so an, als ob du eine ausschließliche Beziehung willst?“
„Und ob ich das will, und du kannst von mir das Gleiche erwarten. Ich gebe zu,
dass du die meisten Zugeständnisse machen musst, da ich sehr viel auf Reisen
bin. Aber ich werde mich darum bemühen, bei dir zu sein, wenn du etwas
vorhast.“
„Habe ich das richtig verstanden? Ich soll gehorsam zu Hause sitzen, bist du
endlich mal Zeit für mich hast?“
„Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie eine Frau getroffen, zu der das Wort
»gehorsam’ weniger passt als zu dir“, erwiderte er lächelnd. „Warum warten wir
nicht einfach ab und sehen, wie es funktioniert?“
Kelly trank ihren Kaffee aus. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass aus diesem
Abend tatsächlich ein Geschäftsessen geworden ist. Sollte ich für diese so
genannte Beziehung einen Vertrag unterschreiben oder ein Gehalt aushandeln?“
Er sprang auf. „Denkst du wirklich so schlecht von mir, dass du mir zutraust, ich
würde dich als Mätresse halten?“ Er wandte sich abrupt ab und fuhr sich nervös
mit der Hand durchs Haar.
Erstaunlich, dachte Kelly. Zum ersten Mal, seit sie ihn getroffen hatte, sah sie ihn
die Fassung verlieren.
Sie erhob sich. „Ich glaube, es wird Zeit, dass ich gehe“, erklärte sie kühl.
„Würdest du bitte so nett sein und mir ein Taxi rufen?“
Sie bemerkte, dass seine Schultern sich anspannten. Als er sich umdrehte, wirkte
er jedoch so gelassen wie immer. „Wahrscheinlich ist das eine gute Idee“,
stimmte er ihr zu. „Ich werde den Wagen vorfahren lassen.“
„Du brauchst nicht…“
Abwehrend hielt er eine Hand hoch. „Natürlich werde ich dich nach Hause
bringen. Ich weiß, dass du mir zeigen willst, wie unabhängig du bist. Aber glaub
mir, das ist nicht nötig.“
Auf der Fahrt zu ihrem Haus schwiegen beide. Als sie dort angekommen waren,
half Nick ihr aus dem Wagen und begleitete sie zur Tür.
„Du hast Recht, Dimitros ist wirklich ein Juwel. Das Essen war großartig“, sagte
sie, während sie ihre Haustürschlüssel aus der Handtasche holte. „Danke für den
Abend.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen, um sich zu verabschieden.
Doch Nick dachte nicht daran, jetzt schon Auf Wiedersehen zu sagen. Er zog
Kelly einfach in die Arme und küsste sie.
Das ist nicht fair, protestierte sie innerlich, das ist einfach nicht fair! Aber dies
war der letzte zusammenhängende Gedanke, zu dem sie fähig war, bevor er mit
der Zunge spielerisch ihren Mund eroberte. Überwältigt von den Gefühlen, die
Nick in ihr weckte, stöhnte sie leise auf und schlang die Arme um seinen Hals.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so standen und sich immer und immer
wieder küssten, unfähig, voneinander zu lassen.
Als Nick sie schließlich freigab, war sein Blick verhangen vor Leidenschaft. „Wenn es jemals einen Zweifel gegeben habe sollte, ob wir im Bett gut zusammenpassen, dann ist der jetzt ausgelöscht“, erklärte er rau und lächelte. „Gute Nacht, Kelly. Schlaf gut.“ Kelly stand am Montagmorgen früh auf, um zu arbeiten. In der Küche hatte Bridget wie immer den Tisch für sie gedeckt. Kaffee, Croissants und frische Früchte warteten bereits auf sie. Und obwohl sie sonst beim Frühstück oft ein wenig Gesellschaft vermisste, war sie an diesem Morgen dankbar, dass sie allein sein würde. Sie warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel und stellte entsetzt fest, wie blass sie aussah. Zudem hatte sie auffallend dunkle Schatten unter den Augen. Seit sie Nick letzte Woche begegnet war, hatte sie keine Nacht mehr richtig geschlafen. Und das sprach eindeutig dagegen, die Beziehung zu diesem Mann fortzusetzen. Sie goss sich Kaffee ein, legte zwei Früchte sowie ein Croissant auf ihren Teller und ging damit ins Atelier. Dieser Raum war ihr Heiligtum, ihre persönliche Zufluchtsstätte. Der einzige Platz, an dem sie wirklich innerlich zur Ruhe kommen und nachdenken konnte. Sie betrat das Atelier, und ihr Blick fiel als Erstes auf Nicks Porträt, das am Samstag aus der Galerie zurückgekommen war. Während sie auf einem Stuhl Platz nahm und ihren Kaffee trank, betrachtete sie das Bild. Es war arrogant von ihr gewesen, einen Menschen zu malen, den sie nicht kannte. Und inzwischen war sie nicht mal mehr sicher, ob der Mann tatsächlich so skrupellos war, wie sie gedacht hatte. Auf jeden Fall machte er kein Hehl daraus, dass er wusste, was er wollte. Er war ein Mensch, der sich allein von seinem Verstand leiten ließ und stets zielstrebig seine Interessen verfolgte. Zumindest diesen Charakterzug hatte sie gut eingefangen. Nachdem sie ihr Frühstück beendet hatte, drehte sie das Bild zur Wand, damit es sie nicht weiter ablenken konnte, und machte sich an das Porträt von Mrs. Bernhardt, deren Ehemann im internationalem Bankgeschäft tätig war. Sie hatte sich Mühe gegeben, die Frau sympathischer wirken zu lassen, als sie in natura war, und ihr Gesicht etwas schmaler gemalt. Doch gegen die zu eng stehenden Augen und das dünnlippige Lächeln konnte sie nicht viel machen. Drei Stunden später trat sie von der Leinwand zurück, betrachtete das Bild und reinigte dann die Pinsel. Wann hatte sie eigentlich damit begonnen, den größten Teil ihrer Zeit damit zu verbringen, gelangweilte Frauen reicher Männer zu malen? Kelly dachte an Italien und daran, wie sehr sie das Licht dort geliebt hatte – die Landschaft, die malerischen Häuser, das Meer. Vielleicht sollte sie eine Weile dorthin fahren und malen, was immer ihr in den Sinn kam. Sie seufzte und ging in das Esszimmer hinüber, wo Bridget bereits einen köstlichen Salat mit Putenstreifen serviert hatte. „Oh, übrigens, Mr. Lancaster hat angerufen“, richtete Bridget aus, als sie Kelly den Eistee brachte. „Du möchtest bitte zurückrufen.“ „Danke“, sagte Kelly und begann zu essen. George Lancaster war schon Freund und Anwalt der Familie gewesen, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Inzwischen musste er Ende sechzig sein, und vor einigen Jahren hatte er sich vom Geschäft zurückgezogen. Als ihre Mutter gestorben war, hatte Kelly ihn gefragt, ob er dennoch die Erbschaft und die finanziellen Belange regeln würde. Er hatte seinerzeit sofort eingewilligt. Sobald Kelly gegessen hatte, ging sie ins Atelier und rief den Anwalt an. „Hallo, George“, sagte sie, als er abnahm. „Du hast hinterlassen, dass ich dich anrufen
soll?“
„Ah, ja. Wie geht es dir, Kelly?“
„Eigentlich ganz gut, aber ich bin ziemlich beschäftigt.“
Er lachte. „Das würde ich auch sagen.“
Kelly stutzte. „Was meinst du?“
„Ich habe heute Morgen in der Zeitung ein hübsches Foto von dir gesehen. Du
scheinst ja eine aufregende Verabredung gehabt zu haben.“
„Wie meinst du das?“
„Ich dachte, du hättest das Foto bereits gesehen.“
„Nein, ich bin noch gar nicht dazu gekommen, die Zeitung zu lesen.“ Warum
sollte jemand ein Foto von ihr gemacht haben? Und mit wem? Doch nicht etwa…
Bevor sie den Satz zu Ende denken konnte, sprach George ihn bereits aus. „Ich
wusste gar nicht, dass du mit Dominic Chakaris so gut befreundet bist.“
Oh je, man hatte sie mit Nick fotografiert! Wer sonst hätte es auch sein sollen?
„Eigentlich haben wir uns gerade erst kennen gelernt. So eng sind wir gar nicht
befreundet.“
George lachte. „Auf dem Foto sieht das aber ganz anders aus.“
Ihr Herz sank. Der Fotograf hatte sie doch wohl nicht etwa küssend vor der
Haustür erwischt?
„Das Foto ist aber nicht der Grund, warum ich dich anrufe“, erklärte George. „Ich
habe Ärger mit einer der Versicherungsgesellschaften. Sie will nicht zahlen, bevor
sie nicht die Police in den Händen hält, doch leider konnte ich das Dokument bei
den Unterlagen, die du mir gegeben hast, nicht finden. Weißt du vielleicht, wo
die Police sein könnte?“
„So auf Anhieb nicht“, erwiderte Kelly. „Ich habe dir alles gegeben, was ich im
Arbeitszimmer meines Vaters gefunden habe.“
„Vielleicht hat deine Mutter sie irgendwo aufbewahrt?“
„Das könnte schon sein. Bisher habe ich nur die Sachen im Ankleidezimmer
durchgeschaut.“
„Du wirst also nachgucken?“
„Klar, ich werde mich gleich darum kümmern.“
Der Anwalt gab Kelly den Namen der Versicherungsgesellschaft durch, deren
Police er benötigte, verabschiedete sich und legte dann auf.
Obwohl sie in Gedanken ganz woanders war, hatte Kelly pflichtbewusst die
Informationen aufgeschrieben. Doch sobald das Gespräch beendet war, lief sie in
die Bibliothek hinüber, wo Bridget stets Post, Zeitungen und Zeitschriften
hinlegte.
Sie breitete die Morgenzeitung auf dem Schreibtisch aus und nahm jedes Blatt
unter die Lupe, bis sie zu den Klatschseiten kam. Einen Moment lang stockte ihr
der Atem. Wer immer dieses Foto gemacht hatte, musste bereits in der Nähe
ihres Hauses gewesen sein, als sie mit Nick angekommen war. Was für ein
unheimlicher Gedanke!
Das Foto war vor der Eingangstür aufgenommen worden.
Offensichtlich mit einem Teleobjektiv. Sie und Nick umarmten und küssten sich
leidenschaftlich. Na, großartig. Noch mehr Komplikationen in einer Situation, die
ohnehin schon kompliziert genug war.
Kelly seufzte und schlug die Zeitung zu. Sie musste für George die
Versicherungspolice finden. Entschlossen ging sie in das Zimmer ihrer Mutter und
sah sich um.
Es gab verschiedene Schubladen, in denen sich die Police befinden könnte, aber
sie ging davon aus, dass sie das Dokument im Schreibtisch ihrer Mutter finden
würde.
Kelly hatte gerade am Schreibtisch Platz genommen, als das Telefon klingelte.
„Hallo?“ meldete sie sich.
„Wir sind in der Zeitung“, hörte sie eine gut gelaunte männliche Stimme sagen.
„Das sind wir in der Tat“, erwiderte sie trocken.
„Du weißt, was das bedeutet?“
„Du wirst es mir bestimmt gleich sagen“, erwiderte sie misstrauisch.
Er lachte. Verwundert stellte Kelly fest, dass Nick bester Laune zu sein schien.
Weswegen? Doch nicht etwa wegen des Fotos, oder? „Es bedeutet, dass wir jetzt
offiziell ein Paar sind.“
„Würde es helfen, wenn wir es leugnen?“
„Das wäre reine Zeitverschwendung, uns würde sowieso keiner glauben.“ Nick
legte eine kleine Pause ein, bevor er fortfuhr: „Warum sollten wir auch etwas
leugnen, was wahr werden könnte. Aus uns könnte durchaus ein Paar werden. Es
sind schon seltsamere Dinge passiert. Wir sollten es darauf ankommen lassen
und heute Abend miteinander ausgehen. Außerdem habe ich Karten für ein
Konzert am Mittwoch.“
Ihr erster Impuls war, Nein zu sagen. Sie war noch nicht bereit, einen weiteren
Abend lang seinem tödlichen Charme standhalten zu müssen. Sie brauchte
unbedingt noch Abstand, um ihre Widerstandskraft zu stählen.
„Es tut mir Leid“, erwiderte sie, „aber ich habe heute Abend schon andere Pläne.“
„So?“ fragte er.
Sie hörte die Skepsis aus seiner Stimme heraus, aber schließlich war sie ihm
keine Erklärung schuldig. „Allerdings würde ich dich gern am Mittwoch ins
Konzert begleiten“, fügte sie hinzu.
„Und danach können wir ja noch eine Kleinigkeit essen gehen.“
„Das ist zu spät für mich.“
„Gut, dann essen wir eben vorher. Ich hole dich gegen sechs Uhr ab, in
Ordnung?“
„Einverstanden.“
„Viel Spaß heute Abend“, sagte er.
„Den werde ich haben“, erwiderte sie.
Nachdem sie aufgelegt hatten, starrte Kelly auf das Telefon. Sie konnte es nicht
fassen, dass sie ein weiteres Rendezvous mit ihm akzeptiert hatte. Nick gelang
es immer wieder, sie zu überrumpeln.
Seufzend wandte sie sich dem Schreibtisch zu und begann, nach der Police für
George zu suchen. Erst am späten Nachmittag beendete sie ihre Suche, die leider
ergebnislos geblieben war.
Als sie sich abends duschte und zum Ausgehen umzog, grübelte Kelly weiter, wo
ihre Eltern die Police aufgehoben haben könnten. Schließlich schob sie den
Gedanken jedoch entschieden von sich. Darüber könnte sie sich auch am
nächsten Tag noch den Kopf zerbrechen.
Kelly war bereits im Bett, als um elf Uhr abends das Telefon klingelte. Wer rief
denn um diese späte Stunde noch an? Sie hätte warten können, bis der
Anrufbeantworter sich einschaltete, doch ihre Neugierde siegte.
Also nahm sie ab und hielt sich den Hörer ans Ohr.
„Kelly?“ Ihr Herz schlug sofort schneller. Es war Nick.
„Habe ich dich geweckt?“
„Nein.“
„Wie war dein Abend?“
„Unterhaltsam.“
„Na? Und werden wir morgen Früh ein weiteres Bild von dir in der Morgenzeitung
finden?“
Sie dachte an die Pizzeria, in der sie und ihre beiden Freundinnen nach dem Kino
gewesen waren. „Das bezweifle ich“, erwiderte sie lächelnd.
„Ich wollte gerade nach Hause fahren und musste an dich denken.“
„Bist du immer noch im Büro?“
„Ja.“
„Arbeitest du oft so lange?“
„Nur, wenn ich dich nicht überreden kann, mit mir essen zu gehen.“
Sie schüttelte den Kopf. Er hatte wirklich auf alles eine Antwort.
„Machst du denn nie Urlaub?“ fragte sie neugierig.
„Bis jetzt nicht.“
„Vielleicht solltest du mal daran denken“, schlug sie vor.
„Nur, wenn du mitkommst.“
„Du weißt genau, dass ich das nicht machen werde“, rügte sie ihn.
„Was denkst du denn nun schon wieder? Bloß, weil du mit mir wegfährst, musst
du noch lange nicht mit mir ins Bett gehen.“
„Wirklich nicht?“ zweifelte sie.
„Sex ist nicht der einzige Grund, warum ich mit dir zusammen sein will“, sagte
er. „Ich genieße deine Gesellschaft, Kelly. Es ist sehr angenehm, dich in meiner
Nähe zu haben. Und jetzt schlaf gut, meine Süße. Träum von mir.“
Er ist wirklich unverschämt, dachte sie. Das Problem war nur, dass sie aller
Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich von ihm träumen würde.
6. KAPITEL Kelly war entsetzt, als sie feststellte, dass sie sich auf den Mittwochabend mit Nick freute – und nicht nur freute. Sie war so aufgeregt wie ein Teenager vor der ersten Verabredung. Als Nick dann schließlich vor der Tür stand, schlug ihr Herz so schnell, dass sie befürchtete, es würde sich jeden Moment überschlagen. Um sich zu beruhigen, atmete sie tief durch, bevor sie ihm die Tür öffnete. „Hallo Nick“, begrüßte sie ihn und bat ihn hereinzukommen. „Darf ich dir ein Glas Wein anbieten, bevor wir gehen?“ „Danke, gern.“ Er folgte ihr ins Wohnzimmer und schaute sich um. „Es ist das erste Mal, dass ich in deinem Haus bin. Ich muss sagen, es ist wirklich sehr geschmackvoll eingerichtet.“ Im Wohnzimmer bot Kelly ihm einen Platz in einem der Sessel an. Dann schenkte sie ihnen beiden ein Glas Wein ein und setzte sich ihm gegenüber. Erneut stellte sie fest, dass Dominic Chakaris einen Raum allein durch seine Anwesenheit ausfüllen konnte. „Du siehst heute Abend wieder hinreißend aus“, begann er das Gespräch. „Ich habe dich bisher in Gold, in Schwarz und in Grün gesehen, und ich kann mich einfach nicht entscheiden, welche Farbe dir besser steht.“ Er nahm einen Schluck von seinem Wein. „Aber eigentlich stelle ich mir dich am liebsten ganz ohne Kleidung vor.“ Sie lachte. „Ich glaube, du sagst das nur, um meine Reaktion darauf zu testen.“ „Und wie ist sie?“ Ihre Ehrlichkeit zwang sie zu einer Antwort. „Lass es mich so ausdrücken: Zumindest erregst du mit deinen Bemerkungen meine Aufmerksamkeit.“ Bisher hatte er entspannt im Sessel gesessen, doch jetzt lehnte er sich vor und stützte die Arme auf die Oberschenkel. „Es gibt sehr viel, was ich an dir bewundere. Du faszinierst mich regelrecht.“ Er schüttelte den Kopf. „Als ich am Anfang zu dir sagte, dass du mir nicht aus dem Kopf gehst, habe ich vielleicht noch gescherzt, aber ich stellte schnell fest, dass ich die Wahrheit gesagt habe. Gestern saß ich in einer Besprechung, und meine Gedanken wanderten immer wieder zu dir. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so unkonzentriert gewesen zu sein.“ „Ich glaube, es wird Zeit, dass wir gehen“, wechselte Kelly rasch das Thema. Nick ignorierte sie jedoch einfach. „Ich hoffe, du fasst meine Worte richtig auf“, fuhr er unbeirrt fort. „Du bist so anders als die Frauen, die ich kenne. Du bist nicht so gelangweilt und festgefahren wie die meisten Frauen der so genannten höheren Gesellschaft.“ Erneut schüttelte er den Kopf. „Jetzt mache ich mich aber langsam lächerlich. Komm, es wird tatsächlich Zeit, dass wir gehen.“ Das Restaurant, das er gewählt hatte, war bekannt für seine intime Atmosphäre und eine exzellente Küche. Doch kaum waren sie aus der Limousine gestiegen, rannten auch schon einige Fotografen herbei, um Fotos von ihnen zu machen. „Ignorier sie einfach“, flüsterte Nick ihr ins Ohr. „Da jeder Blitz mich blendet, finde ich das etwas schwierig“, bemerkte Kelly. „Folgen diese Leute dir etwa?“ „Nein. Aber die Reporter hier wissen, dass dieses Restaurant oft von Prominenz besucht wird. Wenn sie ihre Filme allerdings an mich verschwenden, kann heute nicht viel los sein.“ Der Maitre wartete bereits auf sie. „Guten Abend, Mr. Chakaris. Es freut mich, Sie wiederzusehen“, begrüßte er Nick und verbeugte sich vor Kelly. Dann führte er sie in eine Ecke des Restaurants.
Der Kellner eilte sofort herbei und nahm die Bestellungen für die Getränke auf.
Dann studierten Kelly und Nick die Speisekarte, diskutierten über verschiedene
Möglichkeiten und bestellten, als der Kellner zurückkehrte.
„Wie hat der Fotograf am Samstagabend bloß dieses Foto schießen können?“
fragte Kelly, als sie wieder allein waren. „Warum hat er ausgerechnet vor
meinem Haus auf uns gewartet? Bei mir geht schließlich keine Prominenz aus
und ein.“
„Das habe ich mich auch schon gefragt. Vielleicht hat er gesehen, wie wir mein
Bürogebäude verlassen haben, und ist uns dann nachgefahren.“
„Er hat wahrscheinlich einige Fotos von unseren Küssen gemacht.“
Nick lächelte. „Das ist anzunehmen. So ein Foto hätte ich übrigens nur zu gern.“
„Macht es dir nichts aus, Objekt des öffentlichen Interesses zu sein?“
„Natürlich macht es mir etwas aus. Aber ich habe gelernt, Dinge zu akzeptieren,
die ich nicht ändern kann. Für manche Zeitungen bin ich nun mal von Interesse,
was soll ich dagegen tun?“
„Du bist anders als die Männer, mit denen ich sonst ausgehe.“
„Wie meinst du das?“
„Ich nehme an, es hat etwas mit deiner Lebenseinstellung und mit deiner
direkten Art zu tun. Ich kann nicht ganz verstehen, warum du dich für mich
interessierst. Oder zählt für dich nur die Jagd?“
Nick ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Langsam trank er einen Schluck Wein und
schaute sie dann aufmerksam an. „Weißt du, Kelly, du schaffst es, mich so von
hinten herum zu beleidigen, dass ich das Messer erst spüre, wenn es bereits tief
drin steckt. Ich glaube, ich habe dir bereits erklärt, warum ich mit dir zusammen
sein will. Mit Jagdfieber hat das nichts zu tun.“
Der Kellner kam an den Tisch und servierte den Salat. Erst jetzt fiel Kelly auf,
dass einige Gäste von den umliegenden Tischen neugierig zu ihnen
hinüberschauten. Eine Frau, die unbemerkt bleiben wollte, sollte also keinesfalls
mit Dominic Chakaris ausgehen. Sie seufzte und wandte sich dem Salat zu. Nein,
sie würde sich von den anderen den Appetit nicht verderben lassen.
Später, im Konzert, saßen Nick und Kelly nebeneinander in einer Loge. Er
betrachtete sie von der Seite. Sie war ganz in die Musik versunken und schien
alles um sich herum vergessen zu haben. Fast beneidete er das Orchester, das
sie mit der Musik so gefangen halten konnte.
Es hat dich böse erwischt, dachte er bei sich. Er sehnte sich inzwischen sogar
danach, Teil ihres Alltags zu werden. Gleichzeitig wusste er nicht, wie ihm das bei
seinem randvollen Terminkalender gelingen sollte.
Als sie später am Abend vor Kellys Haus vorfuhren, kam Nick sich wie ein
liebestoller Teenager vor. Er musste seine ganze Willenskraft aufbringen, sie
nicht sofort in die Arme zu ziehen. Stattdessen begleitete er sie nur höflich zur
Tür und war sehr überrascht, als sie sich umdrehte und ihn freundlich einlud.
„Möchtest du noch hereinkommen?“
„Gerne“, erwiderte Nick rau. Hoffentlich spürte sie nicht, dass seine Fantasie mit
ihm durchging!
„Kaffee?“ fragte sie, nachdem sie ihn in die Bibliothek geführt hatte.
Nick ging zu einem der hohen Regale hinüber. „Hört sich gut an“, sagte er und
zwang sich, seine Aufmerksamkeit auf die Buchtitel zu lenken. Er war von der
Vielfalt der elisabethanischen Literatur beeindruckt und wünschte sich plötzlich,
er hätte Kellys Vater besser gekannt. Leider konnte er sich nur schwach an ihr
letztes Treffen erinnern. Nick wusste die Bildung dieses Mannes sehr zu schätzen,
auch wenn er kein besonders geschickter Geschäftsmann gewesen war.
Als er einige Minuten später Kellys Schritte hörte, ging er ihr entgegen und nahm
ihr das Tablett ab. Er stellte es auf den Tisch und setzte sich erst, nachdem Kelly
Platz genommen hatte.
„Ich fand, dass das Orchester sich heute selbst übertroffen hat“, meinte Kelly
begeistert.
„Hm.“
„Hat dir das Konzert auch gefallen?“
„Ja“, erwiderte er einsilbig.
Kelly überlegte, was mit Nick los war. Je weiter der Abend voranschritt, desto
einsilbiger wurde er.
„Schmeckt dir der Kaffee?“ erkundigte sie sich.
Er nickte. „Ja“, antwortete er knapp. Und als er seinen Kaffee ausgetrunken
hatte, erhob er sich abrupt. „Ich muss jetzt gehen.“
Kelly empfand so etwas wie Bedauern bei seinen Worten. „Natürlich“, sagte sie
rasch, um nicht ihre Gefühle zu verraten. Sie erhob sich ebenfalls und begleitete
ihn zur Tür.
Am Ausgang blieb Nick noch mal stehen. „Wann kann ich dich wiedersehen?“
„Wann würdest du mich denn gern wiedersehen?“
„So bald wie möglich.“
Es gab keinen Grund, ihm etwas vorzuspielen. Sie verabscheute Frauen, die sich
Taktiken zurechtlegten. „Ich habe für das Wochenende noch keine Pläne.“
„Gut, dieses Wochenende gehört also mir.“
Kelly blinzelte erstaunt. „Das ganze Wochenende?“
Er nickte und legte die Hände auf ihre Schultern. „Ich werde dich morgen
anrufen“, sagte er und küsste sie leicht auf den Mund.
Zumindest begann der Kuss sanft. So sanft und harmlos, dass Kelly sich hier im
Flur sicher genug fühlte, um einen Schritt näher an Nick heranzutreten und
seinen Kuss zu erwidern. Er vertiefte den Kuss, und als er mit der Zunge die
Höhle ihres Mundes zu erforschen begann, stöhnte sie vor Lust leise auf.
Oh ja, dieser Mann war gefährlich, und wenn sie noch irgendwelche Zweifel daran
gehabt hatte, so waren die jetzt verschwunden. Erregt erwiderte sie mit der
Zunge sein erotisches Spiel, während sie die Arme um seinen Hals schlang.
Schließlich löste er sich aus ihrer Umarmung und rückte schwer atmend von ihr
ab. „Wenn ich jetzt nicht verschwinde, werde ich gar nicht mehr von hier
wegkommen.“
Kelly ging rasch zur Tür und öffnete sie, bevor sie ihn womöglich zum Bleiben
aufforderte. Es wäre nicht klug, sich von diesem Mann verführen zu lassen.
„Danke für den Abend, Nick. Es war wirklich nett“, stieß sie atemlos hervor und
hoffte, dass er nicht merkte, wie sehr er sie aus dem Gleichgewicht gebracht
hatte.
Nick sah sie mit dem gleichen ernsten Ausdruck an, den sie vor dem Kuss bei
ihm bemerkt hatte. „Ich werde dich anrufen“, versprach er und ging die Treppe
hinunter, ohne sich noch mal umzuschauen.
Kelly schloss rasch die Tür und fächelte sich mit der Hand Luft zu. Unglaublich,
wie dieser Mann küssen konnte. Er hatte sie so sehr erregt, dass sie bezweifelte,
diese Nacht schlafen zu können. Dennoch musste sie lächeln. Es wäre schließlich
nicht die erste Nacht, die sie Nicks wegen kein Auge zumachen könnte.
Als sie schließlich im Bett lag, versuchte sie zu lesen, aber sie konnte sich nicht
konzentrieren. Irgendwann klingelte das Telefon, und Kelly griff erleichtert zum
Hörer. Sie war froh, sich etwas ablenken zu können…
Doch dann hörte sie die Stimme von Nick.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du dein Versprechen, mich anzurufen, schon heute
Nacht einlösen würdest.“
„Bevor ich ging, wollte ich eigentlich mit dir über das Wochenende reden, aber in deiner Nähe kann ich einfach keinen klaren Gedanken fassen. Deshalb habe ich mich entschlossen, noch so spät anzurufen, um mit dir darüber zu sprechen.“ Es tat gut zu wissen, dass auch er offensichtlich durcheinander war. „In Ordnung“, erwiderte sie nur. „Pack genug für ein Wochenende zusammen, und halte dich am Freitag um drei Uhr bereit.“ „Warum?“ „Wir fahren aufs Land und genießen ein wenig das herrliche Grün der Natur.“ „Mit der Limousine?“ „Nein, mit meinem Sportwagen.“ „Nur, wenn du dir darüber im Klaren bist, dass ich nicht das Bett mit dir teilen werde.“ „Einverstanden“, erwiderte er nach einer kleinen Pause. „Schlaf gut. Wir sehen uns dann am Freitag.“ Nick war wie immer pünktlich. Am Freitagnachmittag um drei Uhr klingelte es an der Haustür. Kelly hatte stundenlang Kleidungsstücke ein und ausgepackt, da sie sich einfach nicht entscheiden konnte, was sie mitnehmen sollte. Sie hoffte inständig, dass sie nun das richtige Outfit in ihrer Reisetasche hatte. „Ich fahre los, Bridget“, rief sie ihrer Haushälterin zu, als sie zur Tür ging. „Wir sehen uns dann am Sonntag.“ „Pass gut auf dich auf“, erwiderte Bridget, und Kelly musste lächeln. Das war in der Tat ein guter Ratschlag. Sie öffnete die Tür und trat mit ihrer Reisetasche nach draußen. Nick nahm sie ihr wortlos aus der Hand und ging damit zu seinem Wagen. Sein Haar war leicht zerzaust, und statt eines Anzugs, wie sonst immer, trug er Jeans und ein sportliches Jackett. Kelly schluckte. Sie musste sich eingestehen, dass er damit mindestens ebenso gut aussah wie in seinen maßgeschneiderten Anzügen. Kelly sah zu seinem Wagen hinüber. Es war ein schnittiger BMW, und das Verdeck war geöffnet. Als er von Sportwagen sprach, hatte sie sich schon so etwas Ähnliches gedacht und sich deshalb einen ihrer schmalkrempigen Hüte mitgebracht. Sie wollte verhindern, dass ihr Haar vom Wind völlig zerzaust wurde. Nick schwieg immer noch, als er ihr die Beifahrertür öffnete und erst dann die Reisetasche in den Kofferraum stellte. Schließlich setzte er sich hinter das Lenkrad, startete den Motor und fuhr los. „Hast du für das Wochenende ein Schweigegelübde abgelegt“, fragte Kelly ein paar Minuten später. Er schaute zu ihr hinüber und schüttelte den Kopf. „Im Moment geht mir nur so viel durch den Sinn.“ Sie nickte verständnisvoll. „Natürlich, du überlegst, wen du als Nächstes hereinlegen kannst, um ein gutes Geschäft zu machen.“ „Wie scharfsinnig du bist. Genau daran habe ich im Augenblick gedacht.“ Dabei war eigentlich das Gegenteil der Fall. Nick hatte gerade ein Geschäft platzen lassen, an dem er seit Monaten arbeitete, weil er ein geplantes Treffen in San Francisco verschoben hatte. Als Craig ihn am Tag zuvor auf diesen wichtigen Termin am Wochenende aufmerksam machte, hatte er schon zum Telefon gegriffen, um Kelly abzusagen. Doch als er den Hörer in der Hand hielt, hatte er nach kurzem Zögern stattdessen in San Fransisco angerufen und dem Firmenchef dort erklärt, dass er wegen einer wichtigen Familienangelegenheit den geplanten Termin leider nicht wahrnehmen könnte. Er versprach ihm, sich bald wieder mit ihm in Verbindung
zu setzen, um ein neues Meeting zu verabreden.
Als er Craig dann erzählte, was er getan hatte, schüttelte sein Freund nur den
Kopf und murmelte etwas Unverständliches. Nick war allerdings klug genug
gewesen, nicht nachzufragen, was Craig gesagt hatte.
Erneut warf er einen Blick zu Kelly hinüber. Sie sah bezaubernd aus mit ihrem
Hut. Über das offene Verdeck hatte sie sich nicht beklagt, sondern hatte einfach
zu dem Hut gegriffen, und er wusste ihre unkomplizierte Haltung sehr zu
schätzen.
Es war ihm gleichgültig, was Craig dachte, er musste unbedingt mal raus aus
seinem Alltag. Seit Jahren hatte er wie ein Besessener gearbeitet und nur nach
seinem Terminkalender gelebt. Sein Einsatz war erforderlich gewesen, um ihn
dorthin zu bringen, wo er jetzt stand. Aber irgendwann hatte sich alles nur noch
um sein Unternehmen gedreht, und er hatte aufgehört, das Leben zu genießen.
Verrückt, er hatte weder bei seiner ersten Million gefeiert noch bei der zehnten,
und auch nicht bei den vielen, die danach gekommen waren.
Diese kurze Reise mit Kelly war ein Geschenk, das er sich selbst gemacht hatte,
und er war fest entschlossen, die Zeit mit ihr zu genießen.
„Entschuldige“, sagte er schließlich.
„Weswegen?“
„Dass ich dich einfach ignoriert habe. Ich habe mich so auf dieses Wochenende
gefreut, und jetzt bin ich mit meinen Gedanken ganz woanders.“
„Ich bin überrascht, dass du überhaupt so viel Zeit zur Verfügung hast.“
„Ich muss zugeben, es war nicht einfach, mich von der Arbeit loszueisen, aber
wie du siehst, habe ich es geschafft.“
Die Spannung zwischen ihnen ließ langsam nach, und sie begannen, über den
Verkehr und die Route zu plaudern, die er für ihre Fahrt gewählt hatte.
Irgendwann hielten sie an einem netten, kleinen Restaurant zum Essen an, und
es war schon spät, als sie schließlich in die Einfahrt eines Hotels einbogen.
„Ich habe hier reserviert, weil ich dieses Hotel kenne“, erklärte Nick. „Von hier
aus werden wir aber ins Blaue fahren. Allerdings werden wir dann vermutlich
nicht mehr so viele Annehmlichkeiten haben.“
Sie sah ihn lächelnd an. „Ich denke, dass die Zivilisation bereits bis in die
angrenzenden Bundesstaaten vorgedrungen ist, oder? Wir werden wohl kaum
Wasser aus dem Fluss holen oder Holz schlagen müssen.“
„Du machst dich gern über mich lustig, nicht wahr?“ fragte er, als er vor dem
Hoteleingang hielt.
„Ja, das gebe ich zu. Warum?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin nicht daran gewöhnt – von Craig mal
abgesehen –, dass Menschen so respektlos mit mir umgehen.“
„Nichts ernst zu nehmen ist eine meiner herausragenden Qualitäten“, erwiderte
Kelly.
Er stieg aus dem Wagen. „Ich komme gleich wieder zurück. Bleib, wo du bist.“
„Da du die Wagenschlüssel mitnimmst, brauchst du dir keine Sorgen zu machen,
dass ich wegfahren könnte.“
Er lächelte. „Macht der Gewohnheit.“
Kelly beobachtete, wie er durch die Drehtür ins Innere des Hotels verschwand.
Allein seine Art, sich zu bewegen, war für sie faszinierend. Sie hatte nur keine
Ahnung, warum das so war. Wahrscheinlich, weil seine stolze Haltung und sein
forscher Gang seine Persönlichkeit widerspiegelten. Es überraschte sie jedoch
noch mehr, dass diese Persönlichkeit ihr gefiel. Wer hätte das gedacht?
Schon bald saß er wieder im Wagen, warf zwei Umschläge in ihren Schoß und
fuhr den Wagen auf den Parkplatz. Nachdem er das Verdeck geschlossen und
ihre Taschen aus dem Kofferraum geholt hatte, wies er auf die Umschläge. „Dort drin sind unsere Codekarten für die Zimmer. Du kannst dir eine aussuchen. Ich nehme an, dass die Zimmer ziemlich gleich sind.“ Sie gingen durch die Halle, fuhren mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock und standen kurz darauf vor dem ersten Zimmer. Kelly reichte ihm die Umschläge, er zog eine der Plastikkarten heraus, öffnete die Tür und wies sie mit einer Handbewegung an einzutreten. Der Raum war freundlich und einladend. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Nick ihre Reisetasche neben das Bett gestellt hatte. „Ruf mich an, wenn du zum Frühstück gehen willst.“ Er reichte ihr den zweiten Umschlag, aus der er bereits seine Codekarte herausgeholt hatte. „Hier steht meine Zimmernummer drauf und die Durchwahl.“ Mit diesen Worten verließ Nick das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Kelly nahm ihren Hut ab und fuhr sich irritiert mit der Hand durchs Haar. Sie war nicht sicher, was sie von der ersten Nacht mit ihm erwartet hatte, aber seine distanzierte Art überraschte sie. Unwillkürlich fragte sie sich, ob Nick diese Reise vielleicht schon bereute. Sie zuckte die Schultern. Ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als das Beste aus der Situation zu machen. Mit diesem Entschluss ging sie ins Bad, duschte und machte sich fertig fürs Bett. Nick betrat sein Zimmer, das direkt neben Kellys lag, und ging sofort ins Badezimmer, um zu duschen – und zwar mit eiskaltem Wasser. Würde er den Rest des Wochenendes in diesem unbefriedigten Zustand bleiben müssen? Hoffentlich nicht! Er begehrte Kelly, und sein erregter Körper erinnerte ihn immer wieder an dieses Verlangen. Irgendwie musste er lernen, sich zu entspannen, damit er Kellys Gesellschaft ohne jede Erwartung genießen konnte. Wäre es nicht so schmerzhaft, würde er sich vielleicht sogar über seine Situation amüsieren. Es gab viele Frauen, die nur darauf warteten, mit ihm ins Bett zu gehen. Wenn er hin und wieder mal ein Angebot annahm, achtete er stets darauf, diesen Frauen keine Versprechungen zu machen. Es war sogar selten, dass er eine Frau mehr als einmal traf. Und er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt eine Frau ernsthaft umworben hatte. Bis Kelly kam. Nick erwachte am nächsten Morgen zur gewohnten Zeit und dachte einen Moment lang, er würde sich geschäftlich auf Reisen befinden. Als er sich jedoch in seinem Hotelzimmer umsah und weder seinen Aktenkoffer noch Papierstapel auf dem Schreibtisch entdeckte, fiel ihm alles wieder ein. Er lächelte. Kelly schlief gleich nebenan. Seine Welt war in Ordnung. Als Kelly erwachte, schien die Sonne durchs Fenster und tauchte alles um sie herum in goldenes Licht. Nachdem sie sich gewaschen, leicht geschminkt und angezogen hatte, rief sie Nick an. Bereits beim zweiten Klingeln nahm er ab. „Guten Morgen. Ich hoffe, du hast gut geschlafen“, begrüßte er sie. Seine gute Laune überraschte sie. „Ich glaube, ich habe zu lange geschlafen.“ Nick lachte. „Das macht nichts, aber ich würde jetzt gern mit dir frühstücken gehen.“ „Das hört sich großartig an. Mein Magen knurrt, und ich kann es kaum erwarten, meine erste Tasse Kaffee zu trinken.“ „Ich bin gleich bei dir“, versprach er und legte auf. Warum muss er immer so abrupt sein? dachte sie und legte kopfschüttelnd den Hörer auf. Als Kelly die Zimmertür öffnete, stand er bereits davor. Sie trat auf
den Flur und schloss die Tür.
Nick wirkte richtig ausgeruht. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Er küsste sie
leicht auf den Mund und ergriff ihre Hand. „Ich habe schrecklichen Hunger“,
meinte er, während sie auf den Fahrstuhl zugingen.
Nachdem sie im Frühstücksraum der Kellnerin ihre Bestellung aufgegeben hatten,
sah Kelly ihn an. „Irgendetwas ist heute anders an dir. Ich weiß nur noch nicht
genau, was es ist.“
Er lächelte. „Ich bin heute zur gewohnten Zeit aufgewacht, habe dann
festgestellt, dass es keinen Grund gibt, so früh aufzustehen, und bin noch mal
eingeschlafen.“
„Das scheint dir gut getan zu haben.“
Ein schalkhaftes Glitzern trat in seine Augen. „Wenn du bei mir im Bett gewesen
wärst, hätte ich bestimmt an etwas anderes als an Schlaf gedacht.“
Sie schüttelte den Kopf und lächelte. „Hast du eigentlich nur Sex im Kopf?“
Ihre Worte schienen ihn zu bestürzen. „Ich glaube, ich muss deine Frage mit Ja
beantworten“, gestand er schließlich ein. „Aber dafür bist du verantwortlich.
Bevor ich dich kannte, hatte ich das Problem nicht.“
„Ich bin keine Femme fatale.“
„Seltsam“, bemerkte er amüsiert, „das ist mir erst jetzt klar geworden.“
„Dass ich keine Femme fatale bin?“ fragte sie lächelnd.
„Nein, dass ich deinetwegen dauernd an… äh… Ach, nicht so wichtig.“
Kelly wusste nicht, was sie von dieser Bemerkung halten sollte. Sie hatte gehört,
dass es in der VIPSzene von New York einige Frauen gab, die nur allzu gern mit
ihm ins Bett gegangen wären. Eine dieser Frauen hatte mal behauptet, er wäre
kalt wie Eis.
Ihr hingegen kam er überhaupt nicht kalt vor. Ganz im Gegenteil, er schien ein
leidenschaftlicher Mann zu sein, der ihr gefährlich werden könnte.
Als Nick sie am Sonntagnachmittag wieder vor ihrem Haus absetzte, hatte sich
Kellys Meinung über Dominic Chakaris gründlich geändert. Sie waren durch die
schöne Herbstlandschaft von New England gefahren und spazieren gegangen,
hatten sich kleine Städtchen angesehen und sich beim Essen angeregt
unterhalten. Nick war ihr nie zu nahe gekommen und gleich bleibend freundlich
und aufmerksam geblieben.
Natürlich ahnte sie, dass er ihr mit Absicht sein anderes Gesicht gezeigt hatte.
Aber sie fragte sich, ob er wusste, wie überzeugend und charmant er dabei
gewesen war.
Ach, natürlich wusste er das. Und sie musste zugeben, dass sein Plan bis zu
einem bestimmten Grad aufgegangen war. Sie verachtete ihn nicht mehr und
fühlte sich immer stärker zu ihm hingezogen.
Wenn sie von seinen sehr offenherzigen Bemerkungen absah, hatte er sich das
Wochenende über wie ein perfekter Gentleman benommen. Vielleicht hätte sie
angesichts seiner Worte schockiert sein sollen, aber um ehrlich zu sein, hatte sie
sich eher darüber amüsiert. Vor allem hatte sie jedoch nicht die Absicht, mit ihm
eine Affäre zu beginnen. Das wäre zweifellos das Dümmste, was sie tun konnte.
Sie durfte nicht zulassen, dass dieses Wochenende ihre Gefühle noch mehr
beeinflusste. Sie musste unbedingt Distanz zu ihm bewahren, oder sie lief
Gefahr, verletzt zu werden.
7. KAPITEL Als Kelly am Montagmorgen erwachte, fiel ihr die Versicherungspolice wieder ein, die sie noch immer nicht gefunden hatte. Es erstaunte sie, dass ihr Vater, der stets so viel Wert auf Ordnung gelegt hatte, die Police nicht mit den anderen Papieren zusammen aufbewahrt haben sollte. Beim Frühstück grübelte sie erneut darüber nach, wo sie nach dem Versicherungsschein suchen könnte. Der einzige Ort, an dem sie noch nicht nachgeschaut hatte, war der Dachboden. Wenn sie die Police dort nicht fand, müsste sie George anrufen und ihm mitteilen, dass ihre Suche leider erfolglos verlaufen war. Laut Georges Akte war die Versicherung vor vierundzwanzig Jahren abgeschlossen worden, also kurz nachdem sie geboren worden war. Vielleicht hatte ihre Mutter das Dokument versehentlich in einen der Kartons gelegt, die sich jetzt auf dem Dachboden befanden. Gleich nach dem Frühstück lief sie hinauf zum Dachboden. Wie so oft wünschte sie sich, dass ihre Mutter bei ihr wäre. Sie vermisste sie noch immer sehr. Kelly hatte mit ihrer Mutter stets über alles reden können, und ihr Rat hatte ihr stets geholfen. Sie stellte sich vor, sie könnte ihrer Mutter von Nick erzählen. Die Gefühle, die sie für Nick empfand, waren so zwiespältig, dass sie einfach nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte. Immer wieder überlegte sie, was für einen Rat ihre Mutter ihr wohl gegeben hatte. Hätte sie ihr gesagt, dass sie die Vergangenheit endlich ruhen lassen sollte, da man sie doch nicht mehr ändern konnte? Oder würde sie Kellys Beziehung zu Nick als Verrat an der Familie betrachten? Während Kelly nachdachte, wurde ihr klar, dass ihre Mutter die Schuld an dem Verlust des Familienunternehmens niemals jemand anderem zugeschoben hatte. Mehr als einmal hatte sie betont, dass sich auf lange Sicht bestimmt alles zum Besten entwickeln würde. Nie hatte sie eine unfreundliche Bemerkung über einen anderen Menschen fallen lassen. Kelly hatte sogar so eine unbestimmte Ahnung, dass ihre Mutter Nick gemocht hätte. Sein Ehrgeiz und seine Entschlossenheit hätten ihr gefallen. Außerdem war ihre Mutter stets der Ansicht gewesen, dass ein Mann, der sich für Kelly interessierte, zumindest einen ausgezeichneten Geschmack haben musste. Auf dem Dachboden guckte Kelly sich um und überlegte, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollte. Alle Gegenstände waren abgedeckt und die Kartons mit Schildchen versehen. Kelly war seit Jahren nicht mehr hier oben gewesen. Wer wusste, was für Familiengeheimnisse sie hier oben entdecken könnte, wenn sie nur lange genug suchte. Im Moment wäre sie allerdings dankbar, wenn sie lediglich die Police finden würde. Sie ging zu den gestapelten Kartons hinüber, auf denen sich Etiketten mit den Jahreszahlen befanden. Das war schon mal eine große Hilfe. Sie suchte nach dem Jahr, in dem die Police ausgestellt worden war. Aus einem unerfindlichen Grund stand dieser Karton abseits in einer Ecke. Sie zog ihn zum Fenster hinüber, um nachzugucken, was sich darin befand. Es lagen so viele Papiere in der Kiste, dass sie wieder Hoffnung schöpfte. Sorgfältig sah sie jedes Blatt durch und wollte schon aufgeben, als sie auf dem Boden des Kartons endlich die gesuchte Police fand. Erleichtert legte Kelly die restlichen Dokumente wieder in den Karton zurück, als ein großer Umschlag aus einem der Ordner herausfiel. Sie nahm den vergilbten Umschlag auf und las, was darauf stand. Als Absender war ein Anwalt aus Schottland angegeben. Ihre Mutter hatte niemals erwähnt,
dass sie irgendwelche Kontakte nach Schottland hatte. Vielleicht hatte der Brief etwas mit der Ahnenforschung zu tun, die ihre Mutter betrieben hatte, und Kelly könnte etwas über ihre schottischen Ahnen erfahren? Wie aufregend! Sie nahm auch die Police wieder in die Hand und erhob sich. Trotz ihrer Anstrengungen, sich nicht schmutzig zu machen, war sie voller Staub. Rasch lief Kelly in ihr Zimmer, legte die Police sowie den Umschlag auf eine Kommode und ging ins Bad. Nachdem sie ausgiebig geduscht hatte, zog sie sich saubere Jeans und einen anderen Pulli an. Schließlich setzte sie sich mit dem Umschlag in die Bibliothek. Er war an Mr. und Mrs. Kevin MacLeod adressiert. Der Poststempel zeigte, dass der Brief einige Monate nach ihrer Geburt abgeschickt worden war. Sie lächelte. Vielleicht hatte ihre Geburt ihre Mutter damals dazu bewogen, etwas über ihre Ahnen in Erfahrung bringen zu wollen? Angus MacLeod stammte aus Schottland und war von Glasgow aus nach Amerika ausgewandert. Der Brief des Anwalts kam aus Edinburgh. Kelly liebte Geheimnisse. Plötzlich wünschte sie sich, sie wäre schon viel früher auf diesen Brief gestoßen. Vorsichtig öffnete sie den Umschlag und zog Blätter heraus, die vom Alter vergilbt waren. Sofort erkannte Kelly, dass dieses Dokument nichts mit ihrer Familiengeschichte zu tun hatte. Sie schaute verwirrt auf das Blatt. Calvin McCloskey, der Anwalt, hatte ihren Eltern Adoptionsunterlagen gesandt. Adoptionsunterlagen? An ihre Eltern? Hatten sie nach ihrer Geburt versucht, ein zweites Kind zu adoptieren? Eher neugierig als besorgt las sie weiter. Erst als Kelly sah, dass es sich um ein Mädchen handelte, das am selben Tag Geburtstag hatte wie sie, stockte ihr Herz vor Schreck. Dieses Mädchen hatte am gleichen Tag Geburtstag wie sie? Plötzlich wurde ihr eiskalt. Was bedeutete das? Hastig las sie den Rest der Papiere durch. An der letzten Seite des Dokuments war mit einer Büroklammer ein von Hand beschriebenes Blatt befestigt. Es war eine Erklärung über den Gesundheitszustand bei ihrer Geburt, unterzeichnet von einem gewissen Dr. James MacDonald. Kelly ließ die Papiere fallen, als ob sie sich die Finger verbrannt hätte. Ihre Welt geriet schlagartig ins Wanken. Diesen Papieren zufolge war sie adoptiert! Und sie war nicht in New York geboren worden, wie man es ihr das ganze Leben lang erzählt hatte, sondern in Schottland. Sie versuchte zu denken, aber sie hatte das Gefühl, ihr Kopf würde gleich platzen. Hier handelte es sich nicht um ein Versehen. Ihre Eltern hatten sie absichtlich in dem Glauben gelassen, dass sie ihre leibliche Tochter war. Wie oft hatte sie sich die Fotoalben angeschaut, in denen sie als Baby mit ihren Eltern zu sehen war, die vor Stolz über ihr Kind strahlten. Offensichtlich hatte sie nie herausfinden sollen, dass sie adoptiert war. Und sie hätte es wahrscheinlich auch nie erfahren, wenn sie nicht zufällig nach der Police gesucht hätte. Doch wenn sie nicht die Tochter von Kevin und Grace MacLeod war, wessen Tochter war sie dann? Kelly rieb sich die Stirn und versuchte, Ordnung in dieses Durcheinander zu bringen. Sie war aber einfach zu konfus, um auch nur einen klaren Gedanken fassen zu können. Ich stehe unter Schock, dachte sie, ich muss unbedingt einen starken Tee trinken, am Besten mit viel Zucker. Völlig benommen von diesem neuen Wissen erhob sie sich und ging langsam in
die Küche, als befürchtete sie, jeden Moment zusammenzubrechen. Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, starrte Kelly blind zum Fenster hinaus. Kurz darauf kam Bridget in die Küche. Die Haushälterin blieb erschrocken stehen, als sie Kelly entdeckte. „Hast du sie gefunden?“ fragte Bridget schließlich und ging zum Herd hinüber, da das Wasser gerade zu kochen begann. Sie sah, dass Kelly die Teedose und den Zucker bereits auf die Arbeitsplatte gestellt hatte, und bereitete den Tee zu. „Was soll ich gefunden haben?“ fragte Kelly benommen. Bridget sah sie an. „Na, die Police natürlich. Hast du deshalb nicht überall gesucht?“ „Oh! Ja, ich habe sie gefunden.“ Bridget stellte die Teetasse auf den Tisch und musterte Kelly aufmerksam. „Komm, setz dich. Du wolltest doch Tee trinken, oder?“ Wie in Trance ging Kelly zum Tisch und ließ sich auf einem der Stühle nieder. Sie umfasste die Tasse mit beiden Händen, zitterte aber dabei so sehr, dass sie Angst hatte, sich an dem heißen Getränk zu verbrennen. „Du siehst aus, als ob du einem Geist begegnet wärst“, meinte Bridget und beobachtete sie weiterhin besorgt. „Geht es dir nicht gut?“ „Seit wann arbeitest du schon für die Familie, Bridget?“ Bridget nahm Kelly gegenüber Platz und runzelte die Stirn. „Komisch, dass du das fragst, Kelly. Du weißt doch, dass ich schon eine Ewigkeit hier bin.“ „Wo warst du, als ich geboren wurde?“ Bridget lächelte. „Bei deiner Geburt war ich leider noch nicht hier. Deine Eltern haben mich eingestellt, als du schon einige Monate alt warst. Warum fragst du?“ Kelly nippte so lange schweigend an ihrem Tee, bis sie das Gefühl hatte, wieder sprechen zu können, ohne in Tränen auszubrechen. „Haben meine Eltern jemals erwähnt, dass ich adoptiert bin?“ „Adoptiert! Wie kommst du denn darauf? Warum sollten sie solch einen Unsinn erzählt haben?“ „Weil ich adoptiert worden bin. Ich habe gerade die Papiere gefunden, die beweisen, dass ich in Schottland geboren bin und dann von ihnen adoptiert wurde.“ „Aber wie ist das möglich? Deine Mutter hat mir immer erzählt, dass du in New York geboren bist.“ „Es sieht so aus, als ob das genauso gelogen wäre wie vieles andere auch. Mein ganzes Leben scheint eine einzige kolossale Lüge zu sein.“ „Ich bin schockiert, das zu hören, Kelly, genau wie du. Kein Wunder, dass du aussiehst, als ob du jeden Moment in Ohnmacht fallen könntest. Komm, ich schenke dir noch einen Tee nach. Dieses Mal gebe ich dir die doppelte Menge Zucker.“ Bridget erhob sich und ging zum Herd hinüber. „Ich kann es nicht fassen“, murmelte sie. „Es gab nie auch nur einen entfernten Hinweis, dass du adoptiert sein könntest. Ich kann es selbst nicht glauben. Du Arme, du musst dich schrecklich fühlen.“ „Ich fühle mich ein wenig besser, seit ich weiß, dass man nicht nur mich angelogen hat“, sagte Kelly, als sie wenig später dankbar die dampfende Tasse aus Bridgets Händen entgegennahm. Bridget goss sich selbst ebenfalls eine Tasse ein. „Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll.“ Sie schwieg einen Moment. „Aber es ändert nichts an dem, was du bist, Liebes“, sprach sie dann aufmunternd weiter. „Ich habe nie zwei Menschen gekannt, die ihr Kind mehr liebten als deine Eltern dich. Das ist sicher.“ Kelly nickte. „Ich habe oft gefragt, warum ich keine Geschwister habe, und sie
gaben mir immer irgendeine spaßige Antwort. Als ich älter wurde, hörte ich dann
auf zu fragen. Seit heute weiß ich, warum ich das einzige Kind war.“
„Ich weiß, dass du jetzt enttäuscht und aufgebracht bist, weil sie dir die Adoption
verschwiegen haben, aber vielleicht wirst du ihnen später verzeihen können.“
„Nur, wen wollten sie schützen?“
„Wie meinst du das?“
„Sie haben mir entscheidende Informationen über mein Leben vorenthalten.
Warum haben sie das getan? Wen wollten sie beschützen? Mich oder meine
leiblichen Eltern?“
Bridget ergriff Kellys Hand. „Was auch immer der Grund gewesen sein mag, du
kannst sicher sein, dass sie es aus Liebe zu dir getan haben.“
Nachdem Kelly noch eine weitere Tasse Tee mit Bridget getrunken hatte, ging sie
auf ihr Zimmer, ließ sich aufs Bett fallen und betrachtete ihr Leben aus der
plötzlich so grundlegend veränderten Perspektive.
Natürlich hatte Bridget Recht. Das neue Wissen änderte nichts, und doch änderte
es alles. Es änderte die Art, wie sie sich selbst sah. Sie war nicht mehr dieselbe.
Es musste einen Grund geben, warum ihre Eltern – Adoptiveltern, verbesserte sie
sich – ihr nichts über ihre leiblichen Eltern erzählt hatten.
Wie könnte sie etwas über ihre Herkunft erfahren?
Kelly schloss die Augen, als Erinnerungen in ihr aufstiegen.
Sie entsann sich, wie widerwillig ihr Vater manchmal in die Firma gegangen war
und ihr oft gesagt hatte, dass er viel lieber zu Hause geblieben und mit ihr
gespielt hätte. Die beiden Menschen, die sie bisher für ihre Eltern hielt, hatten sie
geliebt, daran gab es keinen Zweifel. Wie sich nun herausstellte, hatten sie ihre
Tochter aber auch angelogen, und Kelly verstand einfach nicht, warum. Weshalb
hatten sie solch ein Geheimnis aus ihrer Adoption gemacht?
Waren Kellys leibliche Eltern der Grund für ihr Verhalten gewesen? Kelly
überlegte weiter, wer sie wohl gewesen waren und wie sie etwas über sie
herausfinden könnte. Alles, was sie an Informationen hatte, waren der Name
eines Anwalts in Edinburgh sowie der eines Arztes, der vermutlich der
Geburtshelfer gewesen war.
Ob die beiden wohl noch praktizierten?
Gab es einen Weg, das herauszufinden?
Als Erstes sollte sie George anrufen.
„George“, sagte Kelly, als er sich meldete, und konnte plötzlich kein Wort mehr
herausbringen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie musste gegen die
aufsteigenden Tränen ankämpfen.
„Ich hoffe, du rufst an, weil du die Police gefunden hast“, bemerkte er gut
gelaunt.
Sie schluckte. „Ja, das habe ich.“
„Kelly? Geht es dir gut?“
Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie wusste, dass er sie gar nicht sehen konnte.
„Ich muss mit dir sprechen“, stieß sie mit bebender Stimme hervor.
„Das tust du bereits, Liebes. Was ist los?“
Stockend erzählte sie alles, was sie an diesem Nachmittag durch Zufall erfahren
hatte. Als sie geendet hatte, antwortete George nicht sofort.
„Verflixt, das hätte ich nie^vermutet“, bemerkte er schließlich und hörte sich
ebenfalls schockiert an.
„Du hast es nicht gewusst?“ fragte sie.
„Es ist das erste Mal, dass ich etwas von einer Adoption höre. Ich wusste, dass
sie sich damals seit vielen Jahren Kinder gewünscht hatten. Kevin hatte sich
große Sorgen um Grace gemacht, nachdem so lange kein Nachwuchs kommen
wollte. Er sagte, sie hätte sich immer eine große Familie gewünscht. Kevin hatte mit ihr ausgedehnte Reisen nach Europa gemacht, in der Hoffnung, sie von ihrem Kummer abzulenken. Ich habe dann viele Monate nichts von ihm gehört, bis er schließlich strahlend in mein Büro kam und verkündete, dass du geboren worden wärst. Ich erinnere mich, wie ich ihn damit aufgezogen habe, dass der Urlaub wohl genau das Richtige gewesen wäre.“ Kelly konnte sich die Szene so deutlich vorstellen, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht laut loszuschluchzen. „Ich brauche deine Hilfe, George“, erklärte sie schließlich fest. „Sag mir, was ich tun kann.“ „Ich möchte jemanden anstellen, der meine Eltern finden kann. Meine leiblichen Eltern.“ „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, Kelly“, gab er zu bedenken. „Ich kann mir vorstellen, wie aufgewühlt du im Moment bist, aber denk mal in Ruhe nach. Es gibt vielleicht einen Grund, warum man deine Herkunft geheim gehalten hat. Bist du wirklich sicher, dass du dieses Geheimnis lüften willst? Schließlich weißt du nicht, was du herausfinden wirst.“ „Das ist mir egal. Ich will die Wahrheit wissen. Bitte, versteh mich doch. Ich muss die Wahrheit erfahren, wie schrecklich sie auch sein mag. Aber ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll. Könntest du mir helfen, einen guten Privatdetektiv zu finden?“ „Nun“, sagte er und legte eine Pause ein, „wenn du so entschlossen bist, wüsste ich einen Mann, den ich ohne Zögern empfehlen kann. Er ist einer der besten Privatdetektive von New York.“ „Und wie heißt er?“ „Sein Name ist Greg Dumas. Er war Polizist, bis eine Tragödie in seinem Leben ihn dazu brachte, den Dienst zu quittieren. Er hat irgendwo im Stadtteil Queens eine Firma eröffnet und sich in den letzten Jahren einen ausgezeichneten Ruf erworben. Schon öfters hat meine Kanzlei ihn mit schwierigen Fällen beauftragt. Glaub mir, er ist jeden Dollar wert, den du in ihn investierst.“ Kelly holte tief Luft und atmete dann erleichtert aus. Nun hatte sie wenigstens einen Namen, eine Richtung, in die sie gehen konnte. Sie würde nicht herumsitzen und sich fragen müssen, woher sie kam, ohne Hoffnung auf Antworten zu haben. „Ich werde ihn anrufen“, sagte sie und fühlte sich bereits ruhiger. George gab ihr noch die Büronummer von Dumas, und dann beendeten sie das Gespräch. Kelly schaute auf die Nummer und überlegte. Es war zu spät, um noch anrufen zu können, aber sie würde sich gleich morgen Früh bei ihm melden. Bis dahin würde sie die Nacht überstehen müssen. Als um acht Uhr abends das Telefon klingelte, nahm sie, dankbar, endlich eine Ablenkung von ihren quälenden Gedanken zu haben, den Hörer ab. „Hallo“, meldete sie sich, die Stimme rau von den vielen geweinten Tränen. „Was ist los?“ fragte Nick sofort. „Und erzähl mir keine Märchen. Ich höre doch, dass dich irgendwas bedrückt.“ „Ich kann im Moment nicht darüber sprechen“, stieß sie hervor, während sie erneut gegen Tränen ankämpfte. „Ich werde gleich bei dir sein“, erklärte er und legte auf. Entsetzt starrte sie auf das Telefon. Er wollte kommen? Aber sie wollte niemanden sehen, und schon gar nicht Nick. Dazu fühlte sie sich im Moment zu verletzlich. Sie kannte ihn viel zu wenig, um sich ihm in dieser Situation anvertrauen zu können. Hastig warf sie einen Blick in den Spiegel und fühlte sich sofort noch elender. Ihre Augen waren rot und verquollen, ihre Nase glänzte. Sie
sah furchtbar aus und wollte einfach nur allein gelassen werden. Kaum hatte Kelly ihr Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen und sich die Haare gebürstet, als es an der Tür läutete. Bridget öffnete die Tür, und als Kelly die Treppe hinunterging, hörte sie Nicks Stimme. „Es tut mir sehr Leid, Mr. Chakaris, aber Miss MacLeod fühlt sich nicht gut. Ich werde Ihr sagen, dass Sie vorbeigeschaut haben und…“ „Ist schon in Ordnung, Bridget“, unterbrach Kelly die Haushälterin, als sie auf die beiden zuging. „Ich habe ihn erwartet.“ Nick sah Kelly besorgt an. Offensichtlich hatte sie großen Kummer. Da er nur Augen für Kelly hatte, nahm er lediglich am Rande wahr, dass Bridget sich wieder entfernte. Ohne ein Wort zu sagen, zog er Kelly in die Arme und schmiegte sie an sich. Er spürte, wie sie sich anspannte und einen halbherzigen Versuch machte, von ihm abzurücken. Doch er wartete, bis sie ruhig wurde, dann hob er sie kurz entschlossen auf seine Arme und trug sie ins Wohnzimmer. Dort setzte er sich auf einen der gemütlichen Ledersessel und machte es ihr auf seinem Schoß bequem. „Was immer auch passiert sein mag, ich werde dir helfen. Wenn jemand dich verletzt haben sollte, dann werde ich ihn…“ Sie legte einen Finger auf seine Lippen. „Das ist es nicht.“ „Dann erzähl mir, was geschehen ist.“ Sie schloss die Augen. „Ich habe ein altes Familiengeheimnis entdeckt, von dem ich bisher nichts wusste. Das hat mich zutiefst aufgewühlt. Weiter nichts. Es war einfach nur der Schock.“ „Ich verstehe.“ Er wartete, und als sie nichts mehr sagte, fügte er hinzu: „Möchtest du darüber reden?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich möchte dir helfen, Kelly. Einfach nur helfen, ohne jeden Hintergedanken.“ „Das kannst du nicht, Nick“, erwiderte sie, straffte sich und rutschte von seinem Schoß. „Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du dir die Mühe gemacht hast, hier vorbeizukommen, aber das war wirklich nicht nötig.“ Er stand auf und sah sie an. Es tat weh, dass sie ihren Kummer nicht mit ihm teilen wollte. Dabei hatte er geglaubt, dass das vergangene Wochenende ein Wendepunkt in ihrer Beziehung gewesen wäre. Sie würde nie erfahren, wie viel Willenskraft es ihn gekostet hatte, sie nicht zu verführen. Ohne eitel zu sein, wusste er, dass es durchaus möglich gewesen wäre. Ihre Reaktion auf seine Küsse hatte ihm gezeigt, wie viel Leidenschaft sie vor ihm verbarg. „Nick?“ hielt sie ihn zurück, als er sich abwenden und gehen wollte. Hoffnung flackerte in ihm auf, als er sie anschaute. Hatte sie es sich doch noch anders überlegt und wollte sich ihm anvertrauen? „Nochmals vielen Dank, dass du vorbeigekommen bist. Aber mit dieser Sache muss ich allein fertig werden.“ Er spürte, wie elend ihr zu Mute war. Jedes Wort, das er jetzt sagte, würde sie nur noch mehr aufregen. „Ist schon gut. Ich werde dich in ein paar Tagen anrufen.“ „Danke.“ Sie begleitete ihn zur Haustür. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, hätte er am liebsten geklingelt und Kelly gebeten, ihn wieder hineinzulassen. Was war nur mit ihm los? Seit er diese Frau kennen gelernt hatte, kannte er sich selbst nicht mehr. Warum bestand er darauf, eine Beziehung zu ihr aufzubauen? Er hatte sich noch nie so viel Mühe wegen einer Frau gemacht. Dabei hatte sie ihm heute deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihm nicht
vertraute. Und Freundschaft oder gar Liebe ohne Vertrauen gab es nicht. Vielleicht sollte er die Verbindung zu ihr abbrechen, und sie einfach vergessen.
8. KAPITEL Kelly erschien pünktlich zum ausgemachten Termin um zwei Uhr nachmittags im Büro des Privatdetektivs. Sie war ihm sehr dankbar, dass er sich so schnell Zeit für sie genommen hatte. Die Frau, die im Empfangsbereich hinter dem Schreibtisch saß, hob den Kopf und lächelte, als Kelly eintrat. „Mein Name ist Kelly MacLeod. Ich habe einen Termin mit Mr. Dumas.“ „Einen Moment bitte, ich werde ihm sofort Bescheid geben, dass Sie hier sind.“ Nachdem sie kurz telefoniert hatte, erhob sich die Empfangsdame. „Bitte, folgen Sie mir.“ Sie ging den Gang hinunter und öffnete dann eine der Türen. „Greg, hier ist Miss MacLeod für Sie.“ Ein großer, dunkelhaariger Mann kam zu ihr hinüber und reichte ihr die Hand. „Es freut mich, Sie kennen zu lernen. George Lancaster hat mir bereits einige neue Klienten geschickt, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Bitte setzen Sie sich doch, und erzählen Sie mir, was ich für Sie tun kann.“ Kelly betrachtete den Mann, während er hinter seinem Schreibtisch Platz nahm. Sie musste zugeben, dass er äußerst attraktiv war. Fast so attraktiv wie Nick, dachte sie flüchtig, schob diesen Gedanken jedoch rasch zur Seite. An Nick wollte sie im Moment absolut nicht denken. Sie faltete die Hände im Schoß. „Ich habe gestern entdeckt, dass ich adoptiert worden bin. Meine Eltern sind verstorben, also können sie das Geheimnis um meine Geburt nicht aufklären. Ich weiß nur, dass meine Adoptionspapiere aus Edinburgh in Schottland kommen. Ich habe den Namen des Anwalts, der für meine Adoption zuständig war, und den eines Arztes. Vermutlich der, der bei meiner Geburt anwesend war. Ich möchte gern meine leiblichen Eltern ausfindig machen, Mr. Dumas, und ich bin bereit, jede Summe zu zahlen, die notwendig ist, damit Sie persönlich die Suche in Schottland aufnehmen.“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Ich muss nicht unbedingt nach Europa fahren, Miss MacLeod. Das Internet bietet unglaublich viele Informationen, mit denen wir…“ Sie unterbrach ihn, indem sie eine Hand hob. „Wenn ich nur Namen und Adressen benötigte, könnte ich das selbst tun. Ich brauche aber jemanden, der für mich meine leiblichen Eltern findet, sie aufsucht und sie fragt, ob sie bereit sind, mit mir Kontakt aufzunehmen. Ich möchte, dass Sie einen Eindruck von ihnen gewinnen. Wie Sie sich vorstellen können, war die Entdeckung, dass ich adoptiert worden bin, ein großer Schock für mich. Ich könnte mir denken, dass es ebenso schockierend sein wird, wenn eine lange verloren geglaubte Tochter plötzlich wieder auftaucht.“ Er betrachtete sie aufmerksam, straffte sich dann und schaute aus dem Fenster. „Ich bin nicht sicher, ob ich der richtige Mann für Sie bin, Miss MacLeod“, erklärte er, als er wieder zu ihr hinübersah. „Normalerweise nehme ich keine Aufträge an, die mich ins Ausland führen. Vielleicht sollten Sie jemanden in Schottland, also vor Ort, mit dieser Aufgabe betreuen.“ „Ich brauche eine Person, der ich vertrauen kann, Mr. Dumas. Und da Sie Georges Vertrauen haben, weiß ich, dass ich Ihnen auch meines schenken kann. Ich bin sogar bereit, das Doppelte Ihres üblichen Honorars zu zahlen. Plus Spesen.“ Er runzelte die Stirn. „Ich habe Ihnen doch noch gar nicht gesagt, was ich Ihnen in Rechnung stellen würde.“ „Dessen bin ich mir bewusst, aber ich weiß auch, dass Sie mich nicht betrügen werden.“
Er lächelte, und sein markantes Gesicht wirkte etwas weicher, was ihn noch sympathischer machte. „Nein, ich werde Sie nicht betrügen.“ Er wies mit dem Kopf auf den Umschlag, den sie in ihrer Hand hielt. „Sind das die Papiere, durch die Sie herausgefunden haben, dass Sie adoptiert sind?“ „Ja.“ Kelly reichte ihm den Umschlag. „Da es hier in den Vereinigten Staaten niemanden gibt, der meine Fragen beantworten könnte, hoffe ich, dass Sie die Antworten drüben in Europa finden werden.“ „Ich kann Ihnen aber nicht garantieren, dass ich finden werde, wonach ich suche.“ Sie nickte. „Damit kann ich leben. Tun Sie, was Sie können.“ Er nahm den vergilbten Umschlag und zog die Dokumente heraus. „Ich werde mir Kopien davon machen“, erklärte er. „Ich möchte nicht für die Originale verantwortlich sein.“ Als sie nickte, drückte er einen Knopf auf seiner Gegensprechanlage. „Sharon, ich habe hier Dokumente, die fotokopiert werden müssen.“ „Ja, Sir.“ Die Sekretärin kam sofort herein, nahm die Papiere und brachte sie innerhalb von wenigen Minuten mit den Kopien wieder zurück. „Danke, Sharon“, sagte Greg Dumas. Kelly gefiel der Mann, nicht nur sein Aussehen, sondern auch seine freundliche Art. Und da George ihn empfohlen hatte, wusste sie, dass sie sich hundertprozentig auf ihn verlassen konnte. Sie griff in ihre Handtasche und holte einen Scheck heraus. „Ich hoffe, dass es Ihnen angesichts dieser Summe leichter fällt, den Auftrag anzunehmen“, meinte sie, als sie ihm den Scheck reichte. Er schaute auf den Betrag, dann wieder zu ihr. „Und ich hoffe, ich kann Ihre Erwartungen erfüllen“, entgegnete er. Sie erhob sich. „Ich werde eine Weile verreisen, weiß aber noch nicht, wie lange ich fort sein werde. Sie brauchen mich nicht auf dem Laufenden zu halten. Falls ich noch nicht wieder in New York sein sollte, wenn Sie aus Schottland zurückkehren, melden Sie sich einfach bei meiner Haushälterin. Ich werde mich dann mit Ihnen in Verbindung setzen.“ Greg ging um den Schreibtisch herum und schüttelte ihr die Hand. „Ich werde mein Möglichstes tun“, versprach er. „Ich hoffe, ich habe die Informationen, die Sie brauchen, in einer, höchstens in zwei Wochen.“ Er begleitete sie zur Tür. „Ich bedanke mich für das Vertrauen, das Sie in mich setzen.“ Kelly lächelte. „Und ich bedanke mich dafür, dass Sie den Auftrag angenommen haben.“ Erst als Kelly im Taxi saß, wurde ihr bewusst, dass sie am ganzen Körper zitterte. Wie sehr sie sich auch bemühte, sie konnte einfach nicht über die Tatsache hinwegkommen, dass ihre Eltern so viel Mühe auf sich genommen hatten, um ihre Adoption geheim zu halten. War der Grund einfach nur Angst, dass sie, Kelly, die Wahrheit womöglich nicht verkraftet hätte? Oder steckte viel mehr dahinter? Bereits in der vergangenen Woche hatte sie daran gedacht, nach Italien zu reisen. Und jetzt fand sie es noch wichtiger – wenigstens für eine Weile –, das Haus zu verlassen, in dem sie aufgewachsen war. Den Ort, der sie ständig an ihre Eltern erinnerte, in welchem Zimmer sie sich auch aufhielt. Außerdem musste sie unbedingt etwas Distanz zwischen sich und Nick bringen. Am Abend zuvor wäre sie in seinen Armen fast in Tränen ausgebrochen und hätte ihm von ihrem Schmerz erzählt. Glücklicherweise hatte sie sich zusammengerissen und sich diese Demütigung erspart. Bereits am Vormittag hatte sie ein Reisebüro angerufen und einer der
Angestellten den Auftrag erteilt, ihr einen Flug nach Italien sowie eine Unterkunft zu besorgen. Sobald Kelly zu Hause angekommen war, telefonierte sie die Liste ihrer Kunden durch. Einigen konnte sie sagen, dass ihre Porträts fertig gestellt waren, aber den meisten ihrer Auftraggeber musste sie erklären, dass sie einige Wochen länger auf ihr Porträt warten müssten. Fast alle brachten ihr Verständnis entgegen, einige drohten jedoch damit, dass sie den Auftrag stornieren würden, wenn Kelly erst Wochen später mit ihrem Porträt begänne. Kelly war jedoch alles egal. Sie wollte einfach nur New York für eine Weile hinter sich lassen. Am folgenden Montagnachmittag bestieg Kelly das Flugzeug, das sie nach Rom bringen würde. Sie hatte diese Reise schon mehrere Male gemacht und wusste, dass sie auf dem Flug möglichst schlafen sollte. Wegen der mehrstündigen Zeitverschiebung lag bei ihrer Ankunft ein langer Tag vor ihr. Seit dem Abend, an dem Nick in ihr Haus gekommen war, hatte sie nichts mehr von ihm gehört. War das erst vor einer Woche gewesen? Es war so viel geschehen, dass sie das Gefühl hatte, Nick würde zu einem anderen Leben, ja, zu einem Traum gehören, aus dem sie abrupt erwacht war. Jetzt, da sie Zeit zum Nachdenken hatte, fragte sie sich, ob sie ihn anrufen und ihm ihre Reisepläne hätte mitteilen sollen. Doch da er sich eine Woche lang nicht bei ihr gemeldet hatte, sah es fast so aus, als ob er sein Interesse an ihr verloren hätte. Im Moment war Kelly fast erleichtert darüber, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass Nick so sang und klanglos aufgab. Aber es war ganz gut, wenn sie eine Weile allein war, um darüber nachzudenken, wie es mit Nick weitergehen sollte. Das Flugzeug landete am folgenden Morgen um sieben Uhr dreißig auf dem römischen Flughafen Leonardo da Vinci. Sie fühlte sich erschöpft von dem Flug, dazu kam noch die Zeitverschiebung von einigen Stunden. Als Kelly den Zoll passiert und schließlich ihren Mietwagen abgeholt hatte, war es bereits zehn Uhr. Sie wartete, bis sie in einen Vorort von Rom kam, um sich Brot, Käse und etwas zu trinken zu kaufen. Laut den Anweisungen, die man ihr gegeben hatte, musste sie noch drei Stunden fahren, um die kleine Villa zu erreichen, die sie gemietet hatte. Sie lag an der Küste zwischen San Vincenzo und Livorno. Kelly war gesagt worden, dass ein Ehepaar, Luigi und Rosa, für sie den Haushalt führen und kochen würden. Die Dienste des Ehepaars waren im Preis, den sie für den Urlaub gezahlt hatte, inbegriffen. Als sie die Villa endlich erreichte, war sie so müde, dass sie kaum die Kraft hatte, aus dem Wagen zu steigen. Glücklicherweise kam ein junger Mann – ohne Zweifel Luigi – die breiten Stufen der Villa hinunter und zu ihrem Wagen gerannt. Vor Erleichterung wäre sie ihm beinahe um den Hals gefallen. Zumindest brauchte sie sich nicht mit ihrem Gepäck abzukämpfen. Im Haus erwartete Rosa sie bereits, die hoch erfreut war, dass Kelly fließend italienisch sprach. Kelly erklärte, dass sie sofort ins Bett gehen und erst mal ordentlich ausschlafen wollte. Nachdem sie geduscht hatte und in einen bequemen Schlafanzug geschlüpft war, brachte Rosa ihr eine leichte Mahlzeit und eine kleine Karaffe Wein ins Schlafzimmer. Kelly brauchte jedoch keinen Wein, um einschlafen zu können. Nachdem sie gegessen hatte, ging sie sofort ins Bett und schlief unmittelbar danach ein. Ihr letzter Gedanke war, dass sie noch nicht mal das Haus besichtigt hatte, in dem sie ein paar Wochen verbringen würde. Als sie früh am nächsten Morgen erwachte, fühlte Kelly sich sehr viel besser. Sie zog einen Morgenmantel über, schlüpfte in leichte Sandaletten und begann, das
Haus zu erkunden. Sie entdeckte, dass das Wohnzimmer einen wundervollen Blick auf das Mittelmeer bot und dass es außer dem Wohn und ihrem Schlafzimmer noch drei weitere Zimmer gab, von denen sie eins als ihr Studio nutzen wollte. Zudem hatte das Haus eine gemütliche Küche. Auf der Terrasse standen einige komfortable Stühle und Liegen, und Kelly nahm auf einer der gut polsterten Liegen Platz und sah zu, wie die ersten Sonnenstrahlen den Himmel mit zartem Pink und Gold überzogen. Diese Ruhe und das wundervolle Licht Italiens waren genau das, was sie brauchte, um ihren Seelenfrieden wiederzufinden. Sie konnte es kaum erwarten, alles zu malen, was sie sah. Das Haus lag auf einer kleinen Anhöhe in unmittelbarer Nähe des Meeres, und sie konnte das leichte Schlagen der Wellen gegen den Strand hören. „Buon giorno, Signorina MacLeod“, begrüßte Rosa sie freundlich auf Italienisch. Kelly schaute über die Schulter und lächelte. Sie liebte diese melodische Sprache. „Darf ich Ihnen Kaffee und Toast bringen? Und Früchte? Vielleicht auch Eier?“ „Kaffee, Früchte und Toast, das hört sich wundervoll an.“ Rosa ging ins Haus, und Kelly streckte die Arme über dem Kopf aus. Es war herrlich, so faul und dekadent in Schlafanzug und Morgenmantel herumzusitzen und keine festen Pläne für den Tag zu haben. Bisher war sie nie länger als ein Wochenende in der Toskana geblieben und freute sich nun schon darauf, durch die Landschaft zu fahren und hübsche Dörfer anzugucken. Endlich hatte sie Zeit, um all das zeichnen zu können, was ihr Interesse erregte. Und irgendwie hatte sie das Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Eine Woche später saß Nick in seinem Büro und trommelte nervös mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Kelly hatte ihn nicht angerufen. Er hatte ihr Zeit lassen wollen – sich selbst natürlich auch. Doch jetzt waren bereits zwei Wochen vergangen. In der Hoffnung, sie zu treffen, war er sogar zu mehreren gesellschaftlichen Anlässen gegangen, aber leider hatte er keinen Erfolg gehabt. Auf einer der Partys hatte er diesen Comstock mit einer anderen Frau gesehen, und seine Gefühle waren zwiespältig gewesen. Einerseits war er enttäuscht, Kelly nicht begegnet zu sein, andererseits aber auch erleichtert, weil sie nicht mit diesem Mann zusammen gewesen war. Seine Gefühle gingen wie ein JoJo von einem Extrem ins andere, und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Seit seiner Kindheit war er sich nicht mehr so hilflos vorgekommen. Er versuchte, sich einzureden, dass er sie vergessen könnte, aber es gelang ihm nie länger als fünf Minuten. Und in den vergangenen zwei Wochen hatte er öfter zum Telefon greifen und sie anrufen wollen, als er zuzugeben bereit war. Schließlich nahm er den Hörer ab und wählte ihre Nummer. Warum stellte er sich eigentlich so an? Verlor er etwa sein Gesicht, nur weil er sich nach ihrem Wohlergehen erkundigen wollte? Schließlich hatte er sie beim letzten Mal zutiefst niedergeschlagen und bedrückt erlebt. Er hörte, wie jemand das Telefon abnahm, und hielt unwillkürlich den Atem an. Doch dann musste er feststellen, dass es nicht Kellys Stimme war. „Bei MacLeod“, meldete Bridget sich. „Hier spricht Dominic Chakaris. Könnte ich bitte mit Kelly sprechen?“ „Es tut mir Leid, aber sie ist verreist.“ Ungläubig starrte er auf den Hörer. „Verreist?“ wiederholte er. „Sie meinen, sie ist nicht da?“ „Ja, Sir. Sie ist letzte Woche nach Italien geflogen und wusste noch nicht genau,
wann sie wieder zurückkommen wird.“ „Danke“, erwidert er und legte fassungslos auf. Italien, wiederholte er in Gedanken. Italien? Wann hatte Kelly denn eine Reise nach Italien geplant? Sie hatte nie erwähnt, dass sie nach Europa fliegen wollte. Was war nur los? Nick starrte immer noch aufs Telefon. Wenn er jemals Zweifel daran gehabt hatte, dass Kelly etwas für ihn empfand, dann wusste er jetzt, dass diese Zweifel begründet waren. Kelly hatte offensichtlich kein Interesse, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Nick war ein Mann, der wusste, wann er sich eine Niederlage eingestehen musste, und jetzt war es so weit. Er wollte schon seine Arbeit wieder aufnehmen, aber dann überlegte er es sich anders und schüttelte energisch den Kopf. Hätte er jemals Karriere gemacht, wenn er so schnell aufgegeben hätte? Wohl kaum. Er war dafür bekannt, ein Kämpfer zu sein, der selbst in auswegslosen Situationen seine ganze Kraft noch mal zusammennahm und deshalb immer wieder, allen Umständen zum Trotz, als Sieger hervorgegangen war. Entschlossen nahm er den Hörer ab und wählte erneut Kellys Nummer in New York. Er würde schon genug Informationen aus Bridget herauslocken, um Kelly in Italien ausfindig zu machen. Seit geraumer Zeit hatte er ohnehin vor, ein persönliches Treffen mit einem seiner Geschäftspartner in Rom zu arrangieren. Und außerdem wollte er seinen Bruder besuchen. Es gab also mehrere Gründe, warum er nach Italien fliegen sollte.
9. KAPITEL Kelly war an diesem Tag weiter gelaufen, als sie es am Morgen, zu Beginn ihrer Wanderung, geplant hatte. Da sie wusste, wie anstrengend der Rückweg werden würde, machte sie in einem Dorf Rast, um eine Kleinigkeit zu essen. Am Abend zuvor hatte sie sich entschlossen, in der kommenden Woche wieder nach New York zurückzukehren. So sehr sie ihren Italienaufenthalt genoss, so musste sie doch die Arbeit an den Porträts wieder aufnehmen, wenn sie ihre Aufträge nicht verlieren wollte. Außerdem war sie neugierig darauf, was der Privatdetektiv für sie herausgefunden hatte. Sie war sehr zufrieden mit dem, was sie in der Zeit in Italien geschafft hatte. Einige der Bilder, die sie hier fertig gestellt hatte, gehörten zu den besten Arbeiten, die sie je gemacht hatte, und als Erinnerung an diesen wunderschönen Urlaub hatte sie auch die Villa gemalt. Die Auszeit, die sie sich genommen hatte, war ihr eine große Hilfe gewesen, die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit zu verarbeiten. Doch jetzt war es an der Zeit, den Ereignissen ins Auge zu sehen. Die Sonne stand schon tief am Horizont, als sie die Villa erreichte. Neugierig ging sie an dem luxuriösen Sportwagen vorbei, der in der Einfahrt stand. Wahrscheinlich war ein Freund von Luigi zu Besuch gekommen. Kelly konnte es kaum erwarten, ihre müden Beine durch ein langes, duftendes Bad zu erfrischen. Sie lief die Treppen hinauf, betrat das Haus und warf einen Blick in das leere Wohnzimmer, bevor sie in die Küche ging. Rosa stand am Herd und rührte etwas köstlich Duftendes um. Dabei summte sie fröhlich vor sich hin. „Ciao, Rosa, das riecht ja wunderbar! Übrigens, wem gehört der Wagen da draußen?“ Rosa drehte sich um und lächelte. „Sie sind heute später dran als sonst. Sie müssen müde sein. Der Signore hat gesagt, dass er ein Freund von Ihnen wäre und aus Rom kommt.“ Vielleicht ist es jemand, den ich noch aus der Zeit kenne, als ich hier studiert habe, überlegte Kelly. Es war nur schade, dass er sich nicht vorher angemeldet hatte. Der Zeitpunkt seines Besuches hätte nicht ungünstiger sein können. „Und wo ist er jetzt?“ „Er sagte, er wollte auf der Terrasse auf Sie warten und dort den Ausblick aufs Meer genießen.“ Nun, dort kann er auch noch ein wenig länger warten, dachte Kelly, ging auf ihr Zimmer und duschte erst mal ausgiebig. Wenn er ein Freund von ihr war, würde er verstehen, dass sie sich nach einer langen Wanderung zuerst frisch machen musste. Schließlich kämmte sie sich das feuchte Haar, zog sich einen Hausmantel über, schlüpfte in leichte Sandaletten und war bereit, ihren Besucher zu begrüßen. Als sie auf die Terrasse hinaustrat, sah sie den Besucher auf der linken Seite mit dem Rücken zu ihr stehen. Er beobachtete, wie die Sonne langsam im Meer versank. Irgendwie kam er ihr vertraut vor, aber… Sie ging langsam näher und hielt abrupt inne, als er sich ihr zuwandte. Es war Nick! Er sah müde aus, und sie bemerkte zum ersten Mal, dass feine Silberfäden das Haar an seinen Schläfen durchzogen. Er lächelte nicht, sondern schien darauf zu warten, dass sie etwas sagte. Ihr Herz hatte einen Freudensprung gemacht, als sie ihn sah, und das verriet ihr, wie tief ihre Gefühle für Nick waren. Ohne ein Wort zu sagen, lief Kelly auf ihn zu, legte die Arme um seinen Hals und küsste ihn.
Sie spürte, dass er sich in ihren Armen anspannte, und sofort bekam sie Angst, dass er gar nicht aus dem Grund gekommen sein könnte, den sie angenommen hatte. Da sie völlig verunsichert war, wollte sie schon von ihm abrücken, doch er zog sie in seine Arme und erwiderte ihren Kuss mit einer Leidenschaft, die ihr den Atem raubte. Nick glaubte zu träumen. Er hatte versucht, sich auszumalen, wie. Kelly auf sein plötzliches Auftauchen reagieren würde, doch selbst in seinen kühnsten Träumen hätte er niemals mit solch einem Willkommen gerechnet. Er küsste sie so lange, bis beide atemlos nach Luft rangen. Widerwillig lockerte er schließlich die Umarmung, und wie er es erwartet hatte, rückte sie von ihm ab. „Du hast mir mal gesagt, dass du erst mit mir intim werden möchtest, wenn ich selbst es will.“ Kelly ergriff seine Hand und schaute ihn an. „Bitte, liebe mich, Nick“, flüsterte sie. Er konnte nicht fassen, was er da hörte. Nie hätte er vermutet, dass Kelly je so etwas zu ihm sagen würde. Ohne eine Antwort abzuwarten, führte sie ihn ins Haus und ging mit ihm zu einem Zimmer, dessen Tür offen stand. Allein ihre Worte hatten Nick so erregt, dass er es kaum erwarten konnte, sie endlich zu besitzen. Entschlossen hob er sie auf die Arme, trug sie über die Schwelle und stieß mit dem Fuß die Tür zu. Dann legte er Kelly behutsam auf das Bett, holte ein Kondom aus seiner Jackentasche, legte es auf den Nachttisch und zog sich aus. Schließlich küsste er Kelly, umfasste ihren perfekt geformten Po und presste sie an sich. „Du hast noch viel zu viel an“, flüsterte er schließlich, zog den Reißverschluss ihres Hausmantels auf und enthüllte ihren Körper. Kelly war noch schöner, als er es sich in seiner Fantasie ausgemalt hatte. Sie trug nur noch BH und Slip, und er zog ihr den Hausmantel sowie die zarten Dessous aus Spitze und Seide aus, bis sie ebenfalls nackt war. „Ich hätte nie gedacht, dass ich dich mal so sehen werde“, murmelte er, küsste ihren Hals und dann abwechselnd die erregten Spitzen ihrer Brüste. „Ich habe mich so nach dir gesehnt.“ Zaghaft berührte sie seine Schultern und strich dann mit der Hand zu seinem Brusthaar hinunter. „Ich hatte vor, dich beim ersten Mal so langsam und zärtlich wie möglich zu lieben“, sagte er, atemlos vor Erregung. „Aber ich glaube, ich kann nicht länger warten.“ Er musste leise lachen, als sie ihn überrascht ansah, und umschloss mit den Lippen erneut eine der hoch aufgerichteten Brustknospen. Er saugte daran, bis Kelly aufstöhnte, wechselte dann zu der anderen Brust hinüber und fuhr dabei mit der Hand zu ihrer intimsten Stelle hinunter. Sein Verlangen stieg ins Unerträgliche, als er spürte, dass Kelly feucht und ganz für ihn bereit war. Entschlossen schob er sich zwischen ihre Oberschenkel, küsste sie leidenschaftlich und fordernd und drang dann langsam in sie ein. Plötzlich spürte Nick einen Widerstand, und ihm wurde klar, dass sie noch unberührt war. Erschrocken hielt er in der Bewegung inne und wollte sich zurückziehen, doch sie umarmte ihn und schlang die Beine um seine Hüften. „Hör nicht auf, Nick“, bat sie rau. „Ich will dich. Komm, mach weiter.“ Nick erschauerte und drang erneut in sie ein. Dieses Mal kam sie ihm mit einem kraftvollen Stoß ihrer Hüften entgegen. Er spürte, wie etwas nachgab, dann glitt er tief in sie hinein. „Habe ich dir wehgetan?“ fragte er besorgt.
Er konnte nicht fassen, dass er tatsächlich ihr erster Mann war. Ich möchte auch ihr einziger Mann sein, ging es ihm durch den Kopf. Allein der Gedanke, dass sie jemals mit einem anderen Mann ins Bett gehen könnte, versetzte seinem Herzen einen Stich. „Nur ein bisschen“, gestand sie. „Ich hatte Angst, du würdest niemals in mich hineinpassen.“ Er küsste sie und lachte leise. „Wie wir sehen, war deine Sorge unbegründet.“ Dann wurde er wieder ernst. „Tut es dir auch wirklich nicht weh?“ „Nein.“ Um ihre Aussage zu unterstreichen, kam sie ihm mit den Hüften entgegen. Er stöhnte leise auf, küsste sie und begann, sich langsam in ihr zu bewegen. Es kostete ihn große Willensanstrengung, nicht seine Beherrschung zu verlieren. Doch er wurde dafür belohnt. Bereits nach kurzer Zeit stieß Kelly kleine lustvolle Laute aus, und er spürte, wie ein Beben durch ihren Körper lief. Unfähig, sich noch länger zurückzuhalten, ließ auch er seinem Verlangen freien Lauf und erreichte mit ihr den Höhepunkt der Lust. Erschöpft legte er schließlich seine Stirn auf ihre und rang nach Luft. Nie zuvor hatte er einen so intensiven Orgasmus erlebt. Schwer atmend rollte er sich zur Seite und zog Kelly mit sich. Erst nach einigen Minuten fand er die Kraft, aufzustehen und ins Badezimmer zu gehen. Als er zurückkehrte, hatte Kelly sich aufgesetzt und lächelte ihn an. Sie strahlte wie ein glückliches Kind. Nick schlüpfte wieder unter die Decke und schmiegte sie an sich, so dass ihr Kopf an seiner Schulter ruhte. „Entschuldige, wenn ich dir wehgetan haben sollte. Warum hast du mir nicht früher gesagt, dass du noch Jungfrau bist?“ „Weil du mich dann vielleicht nicht geliebt hättest.“ Als er nichts erwiderte, fuhr sie fort: „Es hat nur am Anfang wehgetan. Ich wusste nicht, dass Sex so…“ „Dass Sex was?“ „Dass Sex so… so aufregend ist. Ach, ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll.“ Er strich mit der Hand über ihren Rücken und spürte, wie sie erschauerte. „Dass Sex so viel Spaß macht?“ flüsterte er und legte sie sanft in die Kissen. „Glaub mir, das war nur der Anfang.“ Und dieses Mal nahm Nick sich Zeit, sie zu küssen und zu liebkosen, bis er erneut in sie eindrang und sie liebte. Anschließend zog er sie in seine Arme und küsste ihre Schläfe. „Es ist wunderschön mit dir. Ich hätte nicht erwartet, dass du mich so empfangen würdest.“ „Ich hatte solche Sehnsucht nach dir“, flüsterte sie. „Aber warum hast du mir nicht gesagt, dass du nach Italien reisen willst?“ fragte er. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass ein gewisser Schmerz in seiner Stimme mitschwang. Sie hatte angenommen, er würde irritiert oder wütend über ihr Verhalten sein. Niemals hätte sie vermutet, dass sie ihn durch ihr Schweigen verletzt hatte. „Ich bin nicht sicher, ob ich dir eine vernünftige Erklärung geben kann. Mir war einfach alles zu viel. Ich hatte das Gefühl, New York verlassen zu müssen, um Abstand zu gewinnen und wieder klar denken zu können. Ich wollte meinem Leben eine neue Richtung geben.“ „Und ich dachte, du wärst vor mir weggelaufen.“ Sie nickte. „Wahrscheinlich war das auch so. Aber nicht nur vor dir. Es kam plötzlich alles zusammen. Ich wusste einfach nicht mehr aus noch ein.“ Er zog sie noch näher an sich und küsste sie. „Willst du denn jetzt immer noch vor mir weglaufen?“ Sie lächelte und streichelte mit der Hand über seine Brust. „Sehe ich so aus, als
ob ich weglaufen wollte?“ Nick beugte sich über sie und küsste eine ihrer Brustspitzen, bis sie fest wurde und sich aufrichtete. „Im Moment zumindest nicht.“ Als Kelly am nächsten Morgen wach wurde, wunderte sie sich, warum ihr Körper an Stellen schmerzte, die sie eigentlich nie zuvor gespürt hatte. War sie gestern zu weit gewandert und… Dann fiel ihr Blick auf den schlafenden Nick, und sie setzte sich abrupt auf. Es war also kein Traum gewesen, dass er nach Italien gekommen war. Kelly unterdrückte den Wunsch, seinen muskulösen Oberkörper zu streicheln, und betrachtete sein markantes Gesicht. Wenn sie jetzt ein Porträt von ihm malen würde, fiele es sicherlich ganz anders aus als das erste Bild. Sie hatten in der Nacht nicht viel geredet. Er hatte ihr weder gesagt, warum er gekommen war, noch, wie lange er vorhatte zu bleiben. Also entschloss sie sich, ihr Glück nicht auf die Probe zu stellen. Sie würde mit dem zufrieden sein, was er ihr gab, und nichts fordern. Einen anderen Weg sah sie für sich nicht.
10. KAPITEL Nick erwachte nur langsam aus einem tiefen Schlaf. Er fühlte sich so entspannt wie seit seiner Kindheit nicht mehr. Während er diesen fast schwerelosen Zustand genoss, stiegen Bilder der vergangenen Nacht in ihm auf, und er sah zur anderen Seite des Bettes hinüber. Kelly war nicht mehr da. Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits halb zwölf war. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so lange geschlafen hatte. Was war nur los mit ihm? Er wollte aufstehen und sich rasch anziehen, um sein Gepäck aus dem Wagen zu holen, da entdeckte er seinen Koffer. Jemand war so freundlich gewesen und hatte ihn aufs Zimmer gebracht. Nick streckte sich genüsslich und sah sich in dem sonnendurchfluteten Raum um. Das Zimmer war hell, ausgesprochen freundlich und in toskanischbäuerlichem Stil eingerichtet. Schließlich stand er auf, holte sich Kleidung sowie seine Kulturtasche aus dem Gepäck und ging dann ins Badezimmer. Während er ausgiebig duschte, dachte er an die Ereignisse des Abends und der Nacht. Kelly hatte ihn richtig überrumpelt. Nein, er beklagte sich absolut nicht. Endlich hatte er das bekommen, wonach er sich so gesehnt hatte. Und diese Nacht hatte ihm bestätigt, was er bereits vermutet hatte. Hinter Kellys kühler, eleganter Fassade steckte eine sinnliche, leidenschaftliche Frau. Beim Abtrocknen überlegte Nick, wie Kellys Laune an diesem Morgen wohl war. Sie hatte ihm in der Nacht erklärt, warum sie ihn vor ihrer Abreise nicht angerufen hatte, und ihre Gründe hatten überzeugend geklungen. Solange sie ehrlich zueinander waren, könnte eine Beziehung zwischen ihnen funktionieren. Er rasierte sich, zog sich an und ging dann auf die Suche nach Kelly. Er fand sie auf der Terrasse und sah, dass sie Skizzen machte. Als er näher kam, blickte sie auf und lächelte. „Guten Morgen. Ich werde Rosa bitten, dir Kaffee und etwas zu essen zu bringen. Du wirst Hunger haben.“ Ihre unpersönliche Freundlichkeit bestürzte ihn. Er hatte zwar noch nicht darüber nachgedacht, was er von ihr erwartete, doch in diesem Ton begrüßte man vielleicht eine entfernte Tante, aber bestimmt keinen Liebhaber. Es sah so aus, als ob die leidenschaftliche Nacht, die sie zusammen verbracht hatten, kaum eine Spur bei ihr hinterlassen hätte. Noch war es jedoch zu früh, um ihr Verhalten zu beurteilen. Er würde abwarten müssen, wie dieser Tag verlief. Er gab sich gelassen wie immer und ging zu dem Tisch hinüber, an dem sie saß. „Kaffee hört sich gut an. Ein ordentlicher italienischer Espresso wird mir helfen, wach zu werden. Ich habe seit ewigen Zeiten nicht mehr so lange geschlafen.“ Kelly erhob sich, um Rosa Bescheid zu sagen, und Nick betrachtete das Meer und die Landschaft. Dieser Ort war ein paradiesisches Fleckchen Erde. Als Kelly mit einem Tablett zurückkam, auf der eine Kanne Kaffee sowie zwei Tassen standen, erhob er sich und nahm es ihr ab. „Rosa wird dir gleich noch Früchte und einen wunderbaren Frühstückskuchen bringen, den sie selbst gebacken hat.“ Er wartete, bis sie wieder Platz genommen hatte. „Entschuldige, dass ich so lange geschlafen habe“, sagte er dann. „Dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen“, erwiderte sie. „Es ist ganz normal, dass du nicht aufgewacht bist. Das macht die Zeitverschiebung. Für deinen Körper ist es jetzt schließlich erst sechs Uhr morgens.“ Während der ersten beiden Tassen Kaffee schwieg er und dachte über Kelly nach. Jetzt, da er sie eine Weile beobachtet hatte, wusste er, dass sie längst nicht so gelassen war, wie sie es ihm gern vorgemacht hätte. In ihrem Inneren musste es
ähnlich aufgewühlt aussehen wie bei ihm.
Da er sie jedoch nicht auf ihr Verhalten ansprechen wollte, beschloss er, auf eine
Reaktion oder ein Wort von ihr zu warten, um dann das Thema der vergangenen
Nacht anzuschneiden.
Kelly schien erleichtert zu sein, als Rosa ein Tablett mit köstlichen Früchten,
Sandwichs und einem Kuchen brachte. Nachdem sie sich bei Rosa bedankte
hatte, schaute Nick sie an.
„Ich hoffe, du hast mit dem Essen nicht auf mich gewartet“, bemerkte er.
„Oh nein. Ich habe schon gefrühstückt. Das hier ist bereits meine zweite
Mahlzeit. Übrigens, was machst du eigentlich in der Toskana? Du warst wirklich
der Letzte, mit dem ich gerechnet hätte, als ich den Sportwagen in der Einfahrt
sah.“
Während des Flugs hatte Nick sich bereits zurechtgelegt, was er Kelly auf diese
Frage antworten wollte. Er hatte sich für die halbe Wahrheit entschieden.
„Ich hatte ein Treffen mit einem Geschäftspartner in Rom. Außerdem möchte ich
meinen Bruder sehen, der im Moment irgendwo in dieser Gegend arbeitet.“
„Und wann bist du in Rom angekommen?“
„Vor drei Tagen. Mein Bruder wird sich übers Handy in den nächsten Tagen mit
mir in Verbindung setzen.“ Er gähnte und legte rasch die Hand vor den Mund.
„Ich brauche wohl noch eine Weile, bis ich die Zeitverschiebung aufgeholt habe.“
„Wie lange hast du vor, in Italien zu bleiben?“ wollte Kelly wissen. Es klang, als
ob seine Antwort nichts mit ihr zu tun hätte.
Er goss sich noch etwas Kaffee nach und trank einen Schluck, bevor er erwiderte:
„Das hängt von dir ab.“
Erstaunt sah sie ihn an, und er spürte, wie sie innerlich zu ihm auf Distanz ging.
„Von mir?“ fragte sie und zog die Augenbraue hoch. „Wieso von mir?“
„Ich möchte gern einige Zeit mit dir verbringen. Aber wenn es dir nicht recht ist,
fahre ich noch heute Nachmittag nach Rom zurück und lasse dich in Ruhe.“
Kelly guckte ihn so prüfend an, dass er unter ihrem Blick leicht nervös wurde.
Unsicher fasste er sich an den offenen Kragen seines Polohemdes. „Stimmt etwas
nicht?“
Sie lächelte. „Ich habe dich nur noch nie so entspannt gesehen.“
Verlegen fuhr Nick sich mit der Hand durchs Haar. „Ich brauchte mal Zeit für
mich. Diese Reise tut mir wirklich gut.“
„Ich habe nichts dagegen, wenn du ein paar Tage hier bleibst. Wir haben noch
ein Gästezimmer, falls du lieber allein schlafen möchtest.“
Nick verstand ihre Haltung nicht. Sie benahm sich noch immer so, als ob die
Ereignisse der vergangenen Nacht gar nicht stattgefunden hätten, als ob es für
sie keine Bedeutung hätte, dass sie ihm ihre Jungfräulichkeit geschenkt hatte.
Dabei hatte es für ihn eine Bedeutung. Und was für eine! „Macht es dir etwas
aus, wenn wir über die vergangene Nacht sprechen?“ fragte er schließlich.
Kellys Wangen röteten sich, doch sie hielt seinem Blick stand. „Ich weiß nicht,
was es darüber zu reden gibt. Wir sind beide ungebunden. Wir sind jung, gesund
und haben den Sex miteinander offenbar genossen. Was gibt es da noch mehr zu
sagen?“
Misstrauisch sah er sie an. Wo hatte sie bloß diese Worte her? Fast das Gleiche
hatte er bisher den Frauen gesagt, nachdem er mit ihnen ins Bett gegangen war.
Er wollte ihnen damit zeigen, dass es keine Verpflichtungen und keine
Versprechungen gab und dass es beiden freistand, die Beziehung, wann immer
man wollte, zu beenden.
Nick hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, was seine Worte bei den Frauen
ausgelöst haben könnten. Doch jetzt musste er am eigenen Leib erfahren, wie
schmerzhaft und verletzend sie wirken konnten. Zumindest dann, wenn man sich mehr von dem Betreffenden wünschte, so wie er es von Kelly tat. Er räusperte sich. „Das ist in Ordnung, solange wir beide die Regeln kennen.“ „Oh, wenn es um dich geht, bin ich mir der Regeln immer bewusst gewesen. Eigentlich hatte ich nie die Absicht, mit dir eine Beziehung einzugehen. Doch in den letzten Wochen hatte ich Zeit, über mein Leben nachzudenken, und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich meinen Horizont erweitern und neue Erfahrungen machen muss.“ Sie winkte ab und lachte. „Dein Erscheinen hier war eine gute Gelegenheit, mehr über mich zu erfahren.“ Nick wusste nicht genau, warum ihn ihre Bemerkung ärgerte. Vielleicht, weil Kelly das, was sie in der vergangenen Nacht miteinander erlebt hatten, nur als eine Art Selbsterfahrungstrip betrachtete. „Ich bin froh, dass ich dir behilflich sein konnte“, bemerkte er ein wenig bissig. Kelly lachte. „Für eine Affäre hätte ich mir keinen besseren Mann aussuchen können.“ Sie erhob sich und streckte ihm die Hand entgegen. „Na, komm schon. Die Mittagssonne hat das Wasser im Pool bestimmt gewärmt. Lass uns schwimmen gehen.“ Er stand ebenfalls auf, ergriff ihre Hand, und sie gingen zusammen in ihr Zimmer. Nick bemerkte, dass Rosa das Bett gemacht hatte, und sein Koffer lag offen auf dem Tisch. „Wenn du dich entschieden hast, wo du schlafen willst, wird Rosa die Sachen für dich auspacken.“ Als ob er nicht anwesend wäre, öffnete Kelly eine Schublade und holte zwei winzige knallrote Stoffstücke hervor. Dann entkleidete sie sich und zog das knallrote Etwas an, das sich als Bikini entpuppte – wenn dieses knappe Ding überhaupt einen Namen verdiente. Er traute seinen Augen nicht. Sie wollte dieses gewagte Teil da doch nicht etwa außerhalb des Zimmers tragen? Der Stringtanga bedeckte kaum ihr Schamhaar, und das Oberteil gerade mal die Brustspitzen. Sie könnte genauso gut nackt schwimmen gehen. Rasch wandte er sich ab und suchte in seinen Sachen herum. Verflixt, sein Körper reagiert sofort auf Kelly. Dabei hätte er nach dieser Nacht eigentlich für einige Zeit von Sex genug haben müssen. Um ihrer Lässigkeit in nichts nachzustehen, zog er sich rasch aus und die Badehose an. In der Zwischenzeit hatte Kelly Badetücher und Sonnenlotion zusammengesucht. Schweigend gingen sie wieder nach draußen. Nick betrachtete sie, während sie zum Pool hinüberging und ins Wasser sprang. Er wünschte sich, er wüsste, was sie dachte und fühlte, und unwillkürlich stellte sich ihm die Frage, wie lange dieser winzige Bikini bei ihren flotten Schwimmbewegungen wohl an seinem Platz bleiben würde. Dann musste er beinahe lachen. Warum machte er sich eigentlich Sorgen deswegen? Schließlich war er der Einzige, der sie so sah. Er konnte sich auch einfach entspannen und seinen Urlaub genießen. Herrlicher könnte es doch gar nicht sein eine malerische Landschaft, das Meer, die Sonne und eine schöne, intelligente Frau an seiner Seite. Er wäre ein Narr, wenn er nicht jede Minute auskosten würde. Nick sprang ebenfalls in den Pool und zog seine Bahnen, bis ihm langweilig wurde. Dann schwamm er näher an Kelly heran, tauchte unter und schob seinen Kopf zwischen ihre Beine, bis sie auf seinen Schultern saß. Schließlich tauchte er wieder auf, und sie quietschte vor Vergnügen, als er sie rückwärts in den Pool fallen ließ. Nach Luft schnappend kam sie wieder hoch und lachte. „He, du willst kämpfen, was? Das kannst du haben“, rief sie übermütig und tauchte auf ihn zu. Sie
schwamm und tauchte ausgezeichnet, aber Nick war so schwer zu packen wie ein Aal. Schließlich machten beide atemlos eine Pause und lachten. Nick konnte sich nicht daran erinnern, sich jemals so jung gefühlt zu haben. Bevor Kelly noch Gelegenheit hatte, ihm zu entkommen, zog er sie in seine Arme und küsste sie. Offenbar wollte sie ihm gar nicht entkommen, und sie machte auch keine Anstalten, sich zu wehren. Stattdessen schlang sie Arme und Beine um ihn und erwiderte seinen Kuss. Sie schmeckte wunderbar, und er konnte nicht genug von ihr bekommen. Das Verlangen nach ihr wurde immer drängender, und schließlich tauchte er mit dem Kopf halb unter Wasser, schob mit der Hand das winzige Bikinioberteil zur Seite, umschloss mit dem Mund ihre Brustspitzen und saugte daran, bis er wieder Luft holen musste. Als er auftauchte, stöhnte sie leise und drängte sich ungeduldig mit den Hüften gegen seine Erregung. Eine zweite Einladung brauchte Nick nicht. Er schob das Unterteil des Bikinis zur Seite, brachte Kelly in die richtige Position und drang in sie ein. „Oh“, stieß sie hervor. „Ist das gut! Mach weiter, Liebling, bitte!“ Mit harten, schnellen Stößen steigerte er ihr Verlangen, bis sie glaubte, vergehen zu müssen, und als sie zum Höhepunkt kam, war er nicht mehr in der Lage, sich zurückziehen. Es war das erste Mal, dass Nick ungeschützt Sex mit einer Frau hatte. Doch es war ihm egal. Für nichts auf der Welt hätte er sich jetzt noch beherrschen können. Stattdessen blieb er in ihr, umarmte sie zärtlich und wartete, bis sie wieder zu Atem kam. Schließlich hob sie den Kopf und sah ihn mit glitzernden Augen an. „Oh, Nick!“ Er lächelte. „Warte ab, das war noch nicht mein Bestes!“ Er sah sich um. „Ich weiß nicht, was du davon hältst, aber ich würde jetzt gern einen Mittagsschlaf machen. Hast du Lust, ins Haus mitzukommen?“ Sie küsste ihn. „Gern. Es bleibt natürlich die Frage, ob du zum Schlafen kommst.“ Lachend ließ er sie los, stieg aus dem Pool und half ihr dann heraus. „Das wird sich zeigen“, flüsterte er an ihrem Ohr, als er sie in das Badetuch wickelte. Einige Tage später drehte Kelly sich morgens verschlafen um, damit sie sich an Nick kuscheln konnte, und musste zu ihrem Bedauern feststellen, dass er gar nicht mehr im Bett lag. Sie öffnete die Augen und sah sich im Zimmer um. Wie seltsam! In den letzten Tagen hatte er sie jeden Morgen mit Zärtlichkeiten geweckt, um sie dann hingebungsvoll zu lieben. Und das ist nicht die schlechteste Art, den Tag zu beginnen, dachte sie und streckte sich. Am Abend zuvor hatten sie darüber gesprochen, wann sie wieder nach New York zurückfliegen wollten. Seinetwegen war Kelly länger geblieben als geplant, aber in der kommenden Woche wollte sie Italien endgültig verlassen. Sie hatte auch schon einen Flug gebucht. Nick war in den vergangenen Tagen einige Male nach Rom gefahren, jedoch stets zum Abend zurückgekommen. An den Tagen, an denen er bei ihr geblieben war, hatten sie Kellys Lieblingsplätze besucht. Jetzt, da der Stress von ihm gewichen war, wirkte Nick viel jünger. Und wie er lachen konnte! Sie liebte sein Lachen. Es war so herzlich und ansteckend. Selten hatte sie einen Mann getroffen, der derart offen und humorvoll war. Der Mann, den sie einst angeklagt hatte, ihre Familie zerstört zu haben, hatte ihr Vertrauen gewonnen. Mittlerweile war sie von seiner Ehrlichkeit überzeugt. Sie vermisste ihre Eltern sehr, doch sie wusste, dass sie niemanden für ihren Tod verantwortlich machen konnte.
Kelly duschte, zog sich an und war auf dem Weg in die Küche, als sie Stimmen auf der Terrasse hörte. War Besuch angekommen? Sie schaute nach draußen und sah, dass Nick mit einem Mann, der ihr den Rücken zuwandte, am Tisch saß. Als sie auf die Terrasse trat, stand Nick sofort auf. „Da ist sie ja. Jetzt kannst du dir selbst dein Urteil bilden.“ Der andere Mann erhob sich und wandte sich Kelly zu. Er war etwas größer als Nick, aber die Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern war unverkennbar. Das musste Nicks älterer Bruder Luke sein. Sein markantes Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen, und seine Augen glänzten dunkel. Er wirkte, als hätte er viele schwere Dinge im Leben durchgemacht. Nick gab ihr einen leichten Kuss auf den Mund. „Guten Morgen, Miss MacLeod“, scherzte er. „Haben Sie gut geschlafen?“ Kelly errötete gegen ihren Willen. Er wusste sehr gut, wie viel – oder besser gesagt wie wenig – sie in der vergangenen Nacht geschlafen hatte. „Komm, setz dich“, lud er sie lächelnd ein. „Hier ist Kaffee, und dort sind noch einige von Rosas berühmten Küchlein für dich.“ Er rückte Kelly den Stuhl zurecht, und nachdem sie sich gesetzt hatte, folgten er und Luke ihrem Beispiel. „Ich freue mich, dass Sie die Zeit gefunden haben, Nick zu besuchen“, begann Kelly eine Unterhaltung. „Nick hat mir viel von Ihnen erzählt, und ich konnte es kaum erwarten, Sie kennen zu lernen.“ „Dann sind Sie ohne Zweifel im Vorteil“, erwiderte Luke. „Ich habe das erste Mal von Ihnen gehört, als ich heute Morgen hier angekommen bin. Nick sagte, er würde bei jemandem wohnen, hat aber nicht erzählt, bei wem.“ Nick goss Kelly Kaffee ein und schob das Körbchen mit den Hefeküchlein zu ihr hin. „Ich wollte dich eben überraschen“, erwiderte er. „Das ist das erste Mal seit vielen Jahren, dass ich Urlaub mache.“ Er warf Kelly einen viel sagenden Blick zu. „Und die Ferien sind äußerst erholsam für mich.“ Kelly ging auf seine Bemerkung nicht weiter ein, sondern widmete sich stattdessen ihrem Frühstück. Mehr oder weniger interessiert hörte sie dem Gespräch der Männer zu, während sie die Sonne und das Meer genoss. Als Kelly ihre colazione beendet hatte und sich zum Abschluss eine letzte Tasse Kaffee eingoss, erhob sich Nick. „Ich lasse euch nur ungern allein, aber auf mich wartete eine Telefonkonferenz. Ich muss unbedingt Craig anrufen. Ihr könnt euch ja in der Zwischenzeit besser kennen lernen.“ Kelly sah Nick betrübt hinterher, als er ins Haus ging. Ein Blick auf Luke zeigte ihr, dass auch er nicht gerade erfreut war, mit ihrer Gesellschaft vorlieb nehmen zu müssen. Sie konnte es ihm nicht übel nehmen. „Typisch Nick“, meinte sie und lächelte leicht gequält. „Seine Arbeit geht immer vor. Er kann einfach nicht stillsitzen.“ Sie hielt die silberne Thermoskanne hoch. „Möchten Sie noch Kaffee?“ „Bitte“, erwiderte er und hielt ihr seine Tasse entgegen. „Nick sagte mir, dass Sie Malerin seien. Aus Hobby oder als Beruf?“ „Es ist beides, mein Hobby und mein Beruf.“ „Er erzählte mir, dass Sie ein Porträt von ihm gemacht haben, das ihn erstaunlich gut getroffen hat.“ „Ja, das stimmt. Es befindet sich in New York. Kommen Sie öfters mal in unsere Stadt?“ „Nur, wenn es unbedingt sein muss. Ich ziehe Europa vor.“ „Oh.“ Kelly fiel beim besten Willen kein Thema mehr ein, das ihn interessieren könnte. Das Einzige, was sie an Gemeinsamkeiten besaßen, war offensichtlich Nick.
Sie schauten eine Weile auf das Meer hinaus, bis Luke schließlich das Schweigen
brach. „Wie lange kennen Sie Nick eigentlich schon?“ wollte er wissen.
„Richtig kennen gelernt haben wir uns erst vor wenigen Monaten, aber ich habe
das Gefühl, ich würde ihn schon eine Ewigkeit kennen.“
„Nick sagte, dass Sie bereits seit einigen Wochen hier sind. Was hat Sie dazu
bewogen, nach Italien zu fliegen?“
Bin ich hier bei einem Verhör? dachte Kelly, gab aber bereitwillig Auskunft. „Ich
habe ein Jahr in Italien studiert und mich damals in dieses Land verliebt. Ich
hatte das Gefühl, New York für eine Weile den Rücken zukehren zu müssen, und
entschloss mich, hierher zu fahren.“
„Ich verstehe“, sagte er nachdenklich und schaute wieder aufs Meer hinaus. Kelly
folgte seinem Beispiel und versuchte, sich zu entspannen. Hoffentlich kam Nick
bald zurück.
Schließlich merkte Kelly, dass Luke sie betrachtete, und schaute ihn direkt an.
„Nick hat mir erzählt, dass Sie für die Regierung arbeiten. Irgendetwas Wichtiges
und Geheimes.“
Ein leichtes Lächelns erschien auf Lukes Gesicht. „So kann man es auch nennen.“
„Lieben Sie Ihre Arbeit?“
Sein Lächeln verschwand. „Nun ja, aber irgendjemand muss den Job halt
machen.“
„Wann waren Sie denn das letzte Mal zu Hause?“
„Es ist schon eine Weile her.“
„Nick erwähnte, dass seine Eltern verstorben seien. Sind sie schon lange tot?“
Während sie sprach, hatte Luke sich eine Zigarette angezündet. Bevor er einen
tiefen Zug nahm, sah er nachdenklich zu Kelly hinüber.
„Was hat Nick Ihnen über unsere Familie erzählt?“ stellte Luke eine Gegenfrage.
„Nur wenig“, erwiderte Kelly überrascht. „Er hat mal erwähnt, dass er in der
Bronx aufgewachsen ist und dass Sie sein einzig lebender Verwandter sind.
Warum?“
„Weil Sie den Mann, mit dem Sie zusammen sind, besser verstehen würden,
wenn Sie etwas über seine Herkunft wüssten. Unsere Eltern waren Immigranten.
Sie hofften, ihren Kindern in den Vereinigten Staaten ein besseres Leben bieten
zu können. Sie zogen in ein Mietshaus in einer heruntergekommenen Gegend,
weil sie sich eine bessere Unterkunft nicht leisten konnten. Dad fand einen Job in
einer Fabrik und musste viele Stunden am Tag für einen lächerlichen Lohn
arbeiten. Um das Einkommen aufzubessern, ging meine Mutter putzen. Als ich
zwei Jahre alt war, kam Nick zur Welt, ein Jahr später meine Schwester.“
Kelly sah ihn überrascht an. „Ihre Schwester?“
„Sie starb mit zwei Jahren an Lungenentzündung. Meine Eltern konnten damals
die Krankenhausrechnung nicht bezahlen und wussten nicht, woher sie Hilfe
bekommen sollten. Die Kleine starb in den Armen meiner Mutter.“
„Das ist ja furchtbar“, flüsterte Kelly und presste die Hand vor den Mund.
„Unsere zweite Schwester wurde geboren, als ich zehn Jahre alt war. Nick und
ich jobbten bereits beide nach der Schule. Wir haben für Nachbarn eingekauft,
geputzt, den Hund ausgeführt… Eben all das, was man in unserem Alter schon
tun konnte.“
Luke erhob sich abrupt, ging zum Rand der Terrasse hinüber und blickte aufs
Meer hinaus. „Elena war sechs Jahre alt, als sie durch eine Revolverkugel getötet
wurde, die gar nicht ihr gegolten hatte“, fuhr er schließlich fort. „Sie spielte vor
unserer Haustür, als zwei rivalisierende Gangs sich beschossen.“ Noch jetzt, nach
den vielen Jahren, schwang unterdrückter Schmerz in seiner Stimme mit. „Kurz
darauf verließ ich die Schule und suchte mir einen Job. Ich war fest entschlossen,
genug Geld zu verdienen, um meine Familie aus dieser Gegend herauszuholen. Nick wollte ebenfalls arbeiten gehen, doch das ließ ich nicht zu. Widerwillig blieb er in der Schule, arbeitete allerdings nebenbei, so viel er konnte.“ „Ich hatte ja keine Ahnung“, flüsterte Kelly. Sie war erschüttert von dem Schicksal der Familie Chakaris. „In jenem Winter starb Dad an einem Herzinfarkt. Ständige Überarbeitung, zu viele Sorgen und der Gram über seine verlorenen Töchter hatten ihren Preis gefordert. Er war gerade erst fünfzig. Unsere Mutter starb nur wenige Monate später. Nick und ich wussten, dass die Armut unsere Eltern getötet hatte.“ Ein schmerzlicher Ausdruck stand in Lukes Augen, und er rieb sich den Nacken, als könnte er auf diese Weise etwas von seiner Anspannung vertreiben. Er seufzte kurz. „Bereits als Elena erschossen worden war, hatte Nick sich geschworen, eines Tages viel Geld zu verdienen. Er wollte Millionär werden und für unsere Eltern sorgen.“ Der Anflug eines Lächelns trat auf sein Gesicht. „Und er hat sein Ziel erreicht, doch es hat ihm nicht die Befriedigung gebracht, die er sich erhofft hatte. Unseren Eltern konnte er kein besseres Leben mehr bieten, die waren bereits gestorben.“ Luke sah Kelly ernst an. „Nick war entschlossen, gegen die Fabrikbesitzer vorzugehen, die zu niedrige Löhne zahlten und kaum Sozialleistungen boten. Es war die Art von Leuten, denen unsere Mutter für viel zu wenig Geld die Villen putzte. Er hasste die Reichen, die die Armen ausbeuteten.“ Luke schwieg einen Moment und lächelte dann bitter. „Ist es nicht seltsam, dass ausgerechnet dieser Mann sich jetzt in der High Society bewegt und sogar eine Affäre mit einer Tochter aus höheren Kreisen hat?“ Ist das jetzt ein Angriff auf mich? überlegte Kelly. „Nicks Unternehmen hat die Firma meines Vaters aufgekauft. Aber mein Vater hat immer gute Löhne gezahlt und für vorbildliche Sozialleistungen gesorgt.“ „Ich verstehe. Er hat Nick also erlaubt, die Firma zu übernehmen, Interessant.“ Sie schaute auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. „Er war zu verschuldet, um die Firma noch halten zu können. Nick hat unser Unternehmen dann aufgekauft.“ „So? Haben Sie deshalb ein Porträt von Nick gemalt und es öffentlich ausgestellt? Wollten Sie ihn persönlich kennen lernen?“ „Ich habe ihn nicht gemalt, um ihn kennen zu lernen“, verteidigte Kelly sich. „Wirklich nicht? Nun, Sie müssen ja wissen, aus welchen Gründen Sie dieses Bild gemalt haben. Mir kommt es allerdings so vor, als ob Sie sich mit Nick eingelassen hätten, um sich zu rächen.“ Er erhob sich. „Damit wir uns verstehen, Miss MacLeod, wenn Sie meinen Bruder irgendwie verletzen sollten, werden Sie mir Rede und Antwort stehen müssen.“ Mit diesen Worten drehte Luke sich um und ging ins Haus. Kelly war so erschüttert, dass sie einen Moment lang unfähig war, sich zu rühren. Doch sobald sie sich etwas gefangen hatte, lief sie ebenfalls ins Haus. Im Flur blieb sie stehen und lauschte. Sie hörte allerdings nichts, nicht mal Nicks Stimme am Telefon. Unentschlossen ging sie auf ihr Zimmer und fand dort Rosa, die das Bett neu bezogen hatte und gerade die alte Bettwäsche vom Boden aufnahm. „Rosa, würden Sie Nick bitte sagen, dass ich Kopfschmerzen habe? Wahrscheinlich habe ich zu viel Sonne abbekommen. Ich werde zwei Tabletten nehmen und mich ein wenig ausruhen.“ Nachdem Rosa gegangen war, holte Kelly sich zwei Aspirin aus dem Badezimmer und nahm sie mit einem Glas Wasser ein. Was sie gesagt hatte, war keine Lüge gewesen. Sie hatte nicht nur Kopfschmerzen, sondern es bahnte sich eine richtige Migräne an.
„Die Aspirin werden mir bestimmt helfen“, murmelte Kelly, legte sich aufs Bett und schloss die Augen. Sie hatte das Gefühl, Opfer eines Angriffs geworden zu sein – und zwar aus einer Ecke, aus der sie es nie erwartet hätte.
11. KAPITEL Im Laufe des Tages schaute Nick mehrere Male nach Kelly. Jedes Mal, wenn er zu ihr ans Bett ging, schien sie zu schlafen. Er machte sich Sorgen um sie. Rosa hatte ihr eine leichte Mahlzeit gebracht, doch sie hatte nur etwas Brot gegessen und Wasser getrunken. Erst als er spät am Abend, nachdem er seinen Bruder verabschiedet hatte, zu ihr ins Bett kam, schmiegte sie sich an ihn. „Geht es dir besser?“ fragte er liebevoll und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Sie nickte. „Etwas. Ich habe eben noch mal zwei Aspirin genommen. Morgen werde ich wieder fit sein. Hat Rosa für Luke ein Zimmer hergerichtet?“ Nick küsste sie leicht auf die Stirn. „Er meinte, er könnte nicht über Nacht bleiben, und ist bereits abgefahren. Ich habe übrigens schlechte Nachrichten. Craig hat mir heute mitgeteilt, dass er mich unbedingt in New York braucht. Möchtest du nicht morgen mit mir zurückfliegen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, du wirst sowieso so viel zu tun haben, dass du gar keine Zeit für mich hast. Und ich muss hier noch einiges fertig malen, bevor ich nach Hause fliegen kann.“ Sie strich leicht mit dem Finger über sein Kinn. „Danke für deinen Besuch. Es war schön mit dir.“ „Das kann ich nur zurückgeben“, murmelte er und knabberte zärtlich an ihrem Ohrläppchen. Sie seufzte. „Wann musst du abfahren?“ „Am frühen Nachmittag. Ich muss erst zum Abend in Rom sein. Ich habe also noch viel Zeit zum Packen. Und um dich zu lieben. Das heißt, wenn du überhaupt Lust dazu hast.“ Kelly war so lange still, dass er schon glaubte, sie wäre eingeschlafen. Doch schließlich legte sie eine Hand auf ihre Stirn und seufzte. „Heute nicht, Liebling, ich habe Kopfschmerzen.“ Nick lachte und küsste sie. „Na, gut, nicht heute Nacht. Aber morgen hole ich alles nach. Versprochen.“ Kelly wachte bei Morgengrauen auf. Ihre Kopfschmerzen waren dank der Aspirin verschwunden, aber der Schmerz über Nicks bevorstehende Abreise saß in ihrem Herzen. Auf Zehenspitzen schlich sie ins Badezimmer, zog ihren Morgenmantel an und verließ leise den Raum. Seit Nick aufgetaucht war, hatte sie gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Sie hatte geglaubt, darauf vorbereitet zu sein. Aber sie ahnte, wie schwer es sein würde, weiterhin so zu tun, als ob Nick nur eine angenehme Ablenkung gewesen wäre. Es gab jedoch keine Lösung, und selbstverständlich erwartete Kelly nicht, dass ihre Beziehung in New York so weiterlaufen würde wie hier in Italien. Sie ging in die Küche, holte sich ein Glas Wasser und schaute zum Fenster hinaus. Es war noch zu dunkel, um etwas anderes als die schemenhaften Umrisse der Weinberge erkennen zu können, aber sie spürte bereits jetzt, dass sie diese traumhafte Landschaft vermissen würde. Und noch eines war ihr klar: Sie würde die Erinnerungen an diesen Urlaub niemals von Nick trennen können. So sehr sie Italien liebte, wenn Nick abreiste, würde er ihr Herz mitnehmen. Und dieser Ort wäre dann nicht mehr derselbe. Als Kelly eine Woche später durch den Zoll kam, war Nicks Gesicht das Erste, was sie sah. Sie war noch nie so froh gewesen, einen Menschen zu sehen. An dem Tag, an dem er die Villa verließ, hatten sie sich noch den ganzen Morgen über geliebt, und sie hatte Nick bereits in der Minute vermisst, als er mit dem Wagen aus der Einfahrt fuhr. Kaum hatte Kelly ihn erreicht, nahm sein Chauffeur auch schon das Gepäck auf
und brachte es zum Wagen. Doch bevor sie ihm folgten, küsste Nick sie so leidenschaftlich, dass es ihr den Atem verschlug. Als er sie schließlich wieder losließ, musste sie sich an ihm fest halten, um ihr Gleichgewicht wiederzugewinnen. „Oh Nick“, stöhnte sie und fächelte sich mit der Hand Luft zu. „Was für eine Begrüßung!“ Er legte einen Arm um ihre Schultern, und sie gingen gemeinsam auf den Ausgang des Flughafengebäudes zu. „Du siehst müde aus“, stellte er fest. „Was hast du in den letzten Tagen gemacht?“ „Wenig geschlafen und viel gemalt.“ „Ich weiß, dass erst eine Woche vergangen ist, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, aber ich könnte schwören, dass du abgenommen hast. Gut, dass du nicht länger geblieben bist, sonst hättest du dich noch in Luft aufgelöst.“ Sie lachte. „Na ja, das bezweifle ich.“ Als sie die Limousine erreichten, sank Kelly seufzend in das weiche Leder der Sitze. „So sehr ich Italien liebe, es tut doch gut, wieder zu Hause zu sein.“ Nick rückte näher und legte einen Arm um sie. „Habe ich dir schon gesagt, wie sehr ich dich vermisst habe?“ „Hm“, murmelte sie und legte den Kopf an seine Schulter, „lass mich überlegen. Ich glaube, du hast es bei jedem Anruf mehrere Male erwähnt. Und du hast mich so oft angerufen, dass ich mir nicht vorstellen kann, wann du überhaupt gearbeitet haben willst. Ich mag gar nicht daran denken, wie hoch deine Telefonrechnung sein wird.“ Er liebkoste ihr Ohr und hauchte Küsse auf ihre Schläfe. „Ich werde versuchen, genug Geld zusammenzukratzen, damit mir das Telefon nicht abgestellt wird.“ Sie sah ihn unverwandt an. „Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du mich abgeholt hast, obwohl ich extra darum gebeten hatte, es nicht zu tun.“ Nick ergriff ihre Hand und küsste sie. „Ich habe es aber gern getan.“ Als sie endlich vor ihrem Haus vorfuhren, der Chauffeur ihr Gepäck hereingebracht hatte und wieder fortgefahren war, verzichtete Nick auf weitere formelle Höflichkeiten. Kurzerhand nahm er Kelly auf seine Arme und trug sie die Treppe hinauf. Nie zuvor hatte er eine Frau so begehrt, und er konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals genug von Kelly bekommen würde. Atemlos vor Verlangen zogen sie sich aus, küssten und streichelten sich, bis sie sich schließlich miteinander vereinigten und in einem Strudel der Lust gemeinsam die Erfüllung fanden. Eine Weile später gingen sie in die Küche und aßen Sandwichs. Nick hatte seines bereits zur Hälfte gegessen, als ihm etwas einfiel. „Ich hätte fast vergessen, es dir zu sagen“, begann er. „Morgen findet ein Wohltätigkeitsball der MultipleSkleroseStiftung statt. Ich habe einiges gespendet, und man hat mich gebeten, ein paar Worte zu sagen. Ich hoffe sehr, dass du mich begleiten kannst.“ Kelly verzog das Gesicht. „Normalerweise würde ich natürlich mitkommen, aber da ich gerade erst nach Hause gekommen bin, hätte ich einige dringende Sachen zu erledigen.“ Nick seufzte. „Das war eine Absage, oder?“ Sie lächelte. „Ganz so schlimm ist es nicht. Wenn du möchtest, kannst du ja nach dem Ball noch zu mir kommen.“ Sein Gesicht hellte sich auf. „Ist das ein ehrliches Angebot?“ Sie nickte. „Ich habe es vermisst, mit dir zu schlafen.“ „Das können wir ändern“, erwiderte Nick fröhlich. Er stand auf und brachte
seinen Teller und das Glas zur Spüle. „Ich kann schon heute Nacht bei dir bleiben. Allerdings muss ich morgen sehr früh aufstehen. Ich werde mir Mühe geben, dich nicht zu wecken.“ Sie stellte ihren Teller und ihr Glas ebenfalls in die Spüle. „Wenn ich es recht bedenke, ist es wahrscheinlich keine gute Idee, dich zu ermutigen, bei mir zu schlafen. Ich könnte süchtig nach dir werden.“ Er umarmte sie. „Und ich könnte mir Schlimmeres vorstellen.“ Am nächsten Morgen nahm Kelly in aller Ruhe ihr Frühstück ein und ging dann die Post durch. Als sie einen großen Umschlag mit dem Absender des Privatdetektivs entdeckte, öffnete sie ihn sofort. Der Bericht war sachlich geschrieben und ordentlich getippt. In knappen Sätzen teilte Greg Dumas ihr mit, was er in Schottland herausgefunden hatte. Als sie las, dass ihre Eltern bereits verstorben waren, zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen. Sie würde sie also nie kennen lernen können, nie erfahren dürfen, aus welchem Grund man sie zur Adoption freigegeben hatte. Der Name ihrer Mutter war Moira und der ihres Vaters Douglas. Das war alles, was der Arzt erfahren hatte, bevor ihre Mutter direkt nach ihrer Geburt starb. Douglas’ Bruder, also ihr Onkel, hatte ihren Vater angeblich einige Tage vor Moiras Niederkunft ermordet. Niemand kannte den Familiennamen ihrer Eltern oder wusste, aus welcher Gegend sie stammten. Moira war in der Stadt, in der sie ihr Kind zur Welt gebracht hatte, eine Fremde gewesen. In dem Bericht befanden sich noch mehrere Details und Beschreibungen, auf welche Weise Dumas versucht hatte, etwas über ihre Eltern ausfindig zu machen. Er erwähnte auch eine Tochter des Arztes, der Moiras Geburtshelfer gewesen war, doch nichts davon interessierte Kelly wirklich. Sie seufzte. Jetzt wusste sie wenigstens, woran sie war. Wenn noch nicht mal Dumas etwas herausgefunden hatte, würde sie das Geheimnis ihrer Herkunft niemals klären können. Entschlossen griff sie zum Telefon und rief Dumas an. „Hallo, hier ist Kelly MacLeod“, begann sie, nachdem die Sekretärin den Anruf zu ihm durchgestellt hatte. „Ich bin gestern Abend erst zurückgekommen und habe heute Morgen Ihren Bericht gelesen. Ihre Gründlichkeit beeindruckt mich, auch wenn Sie keinen Erfolg hatten.“ „Danke. Aber es wird Sie freuen, wenn ich Ihnen sage, dass nicht alles vergebens war. Ich wollte es Ihnen eigentlich bei einem Mittagessen mitteilen. Wir sollten uns in den nächsten Tagen zum Lunch treffen.“ Noch für den selben Tag hatte Kelly sich in einem Restaurant in Manhattan mit dem Privatdetektiv verabredet. Als Greg Dumas das Lokal betrat, war Kelly bereits da. Und nun wurde sie von den Neuigkeiten geradezu erschlagen. Er bestätigte ihr, dass er über ihre Eltern nicht viel hatte ausfindig machen können. „Aber“, fuhr er fort, „Sie sind in jener Novembernacht vor fünfundzwanzig Jahren nicht allein auf die Welt gekommen. Sie waren eines von drei Mädchen, die damals geboren wurden, und ich glaube, ich weiß, wo eine Ihrer Schwestern lebt.“ Kelly sah ihn ungläubig an. „Wollen Sie damit sagen, dass ich ein Drilling bin?“ Er nickte. Kelly stockte der Atem. „Ein Drilling?“ „Ja, und ich kenne eine Ihrer Schwestern.“ Nun berichtete Dumas, was er in Schottland erlebt hatte, und Kelly machte daraufhin Nägel mit Köpfen. Sie beschloss, nach Europa zu fliegen, um ihre
Schwester kennen zu lernen. Außerdem bat sie Dumas, sie zu begleiten, und gab ihm den Auftrag, auch die dritte Schwester ausfindig zu machen. Greg lachte. „Wenn es unbedingt sein muss. Ich habe sowieso noch etwas in Schottland zu regeln.“ Nachdem man gegessen und einige Leute ihre Vorträge gehalten hatten, begann eine Band zu spielen, und die ersten Paare strömten sofort auf die Tanzfläche. Nick war erleichtert, den wichtigsten Teil des Balls hinter sich gebracht zu haben. Demnächst konnte er, ohne unhöflich zu wirken, verschwinden. Unglücklicherweise warteten jedoch einige Geschäftsleute in der Nähe des Ausgangs auf ihn, die noch seine Meinung in Bezug auf ein wichtiges Projekt hören wollten. Als sie endlich gingen, entdeckte Nick zu seinem Verdruss, dass noch ein weiterer Mann auf ihn wartete. Der Fremde betrachtete ihn und schien sich über irgendetwas zu amüsieren. Nick seufzte innerlich und streckte dem Mann die Hand entgegen. „Dominic Chakaris. Ich glaube nicht, dass wir uns kennen“, erklärte er förmlich. Der blonde Mann schüttelte seine Hand. „Arnold Covington von Covington & Sqn. Ich bin der Sohn.“ Nick lächelte und schaute kurz auf seine Armbanduhr. Er gab sich Mühe, sich auf seinen Gesprächspartner zu konzentrieren. Wo hatte er den Namen Covington bloß schon mal gehört? „Wie geht es Ihrer Firma?“ fragte er höflich. „Im Moment versuchen wir, uns gegen eine Übernahme zu wehren. Wussten Sie das nicht?“ Nick runzelte die Stirn. „Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.“ „Mein Vater und ich sind uns ziemlich sicher, dass Sie dahinter stecken. Obwohl Sie dabei so geschickt vorgehen, dass wir noch keinen Beweis gefunden haben. Zumindest bis jetzt noch nicht.“ Während der Mann sprach, wurde Nick klar, dass Covington getrunken haben musste. Doch bevor Nick noch etwas erwidern konnte, ergriff Covington erneut das Wort. „Noch haben Sie nicht gewonnen“, sagte er, erhob spöttisch sein Glas Champagner und trank es in einem Zug leer. „Wir werden kämpfen. Und wie können wir verlieren, wenn wir Kelly als Trumpf im Ärmel haben?“ Covington grinste breit. „Entschuldigen Sie. Ich verstehe nicht…“ „Na, Kelly. Sie kennen sie doch. Kelly MacLeod. Dad bat sie, für uns herauszufinden, was Sie aushecken. Ich nehme an, dass sie während des Italienurlaubs so einiges aus Ihnen herausgelockt hat.“ Ein anzügliches Lächeln trat auf sein Gesicht. „Bettgeflüster kann sehr offenbarend sein.“ Nick hatte das Gefühl, man hätte ihm einen Faustschlag verpasst. Er hatte die Worte des Mannes als Geschwätz eines Betrunkenen abgetan, bis er Kellys Namen hörte. Dieser widerwärtige Kerl kannte Kelly? Wahrscheinlich stimmte das, woher sonst hätte er wissen sollen, dass er mit Kelly in Europa gewesen war. Nick starrte Covington benommen an. Er sah, dass der irgendetwas sagte, doch er nahm kein Wort mehr wahr. „Woher kennen Sie Kelly?“ unterbrach er den Mann schließlich. Covington lachte. „Woher ich sie kenne? Wir sind zusammen aufgewachsen. Unsere Familien kennen sich seit Jahrzehnten. Unsere Eltern haben unsere Hochzeit geplant, bevor wir noch aus den Windeln waren. Wir wussten also, dass Kelly alles für uns tun würde.“ Nick hätte dem widerlichen Kerl am liebsten einen Kinnhaken verpasst, aber er
riss sich zusammen. Covington griff lässig nach einem der Champagnergläser,
die ein Kellner auf einem Tablett anbot, und sah Nick herausfordernd an.
Offensichtlich wartete er auf eine Reaktion.
„So interessant diese Unterhaltung auch ist“, bemerkte Nick, „ich muss jetzt
gehen.“ Bevor er sich abwandte, schaute er den Mann noch mal an. „Ich hoffe,
dass Sie und Kelly glücklich werden.“
Als Nick nach draußen trat, wartete Ben wie immer dienstbeflissen neben der
Limousine. Nick fror plötzlich. Eine Eiseskälte hatte von seinem Körper und
seinem Herzen Besitz ergriffen.
Kelly war verlobt! Sie war bereits an dem Tag verlobt gewesen, als sie ihn das
erste Mal getroffen hatte. Warum hatte sie ihm nichts davon erzählt, als er
darauf bestand, sie wiederzusehen?
Selbst ein Schulkind konnte sich ausmalen, warum. Covington musste Recht
haben. Sie hatte Informationen von ihm gebraucht und geschickt ihre Schönheit
ausgespielt, damit er ihr ins Netz ging.
Und es hatte funktioniert.
Blind und einfältig wie ein Narr war er ihr sogar nach Italien gefolgt, wo sie ihn
mit offenen Armen empfangen hatte. Schlagartig ergab alles einen Sinn.
Dabei konnte er ihr nicht mal vorwerfen, dass sie ihn angelogen hätte. Nie war
zwischen ihnen über ihre Gefühle gesprochen worden. Hatte sie nicht selbst
behauptet, dass sie die Beziehung zu ihm nur als eine vorübergehende Affäre
sah? Sie hatte nie „Liebling“ oder ein anderes Kosewort gesagt, immer nur Nick.
Allein das hätte ihn aufhorchen lassen sollen. Jede andere Frau, mit der er früher
ins Bett gegangen war, hatte ihn sofort mit allen möglichen Kosenamen bedacht.
Nur Kelly nicht. Trotz ihrer Leidenschaft – und die hatte sie bestimmt nicht
vorgetäuscht – hatte sie ihm nie ihre wahren Gefühle und Gedanken verraten.
Wie konnte er nur alle Vorsicht in den Wind geschlagen und sich in diese Frau
verliebt haben?
Verliebt?
So ein Mist, ja! Erst jetzt, da er die Wahrheit über sie erfahren hatte, war ihm
bewusst geworden, wie tief seine Gefühle für sie waren. Plötzlich wurde ihm
richtig übel, und sein Magen krampfte sich zusammen.
„Sir? Mr. Chakaris?“
Nick merkte wie durch Nebel hindurch, dass Ben mit ihm gesprochen hatte.
„Ja?“ stieß er angespannt hervor.
„Wir haben das Haus von Miss MacLeod erreicht, Sir.“
Nick blickte aus dem Fenster und stellte fest, dass sie vor Kellys Haus vorfuhren.
Er war in einem solch elenden Zustand, dass er gar nicht mitbekommen hatte, in
welche Richtung sie gefahren waren. Dabei hätte er es wissen müssen.
Schließlich hatte er Ben gesagt, dass er nach der Gala zu Kelly gefahren werden
wollte.
Er wusste, dass es nicht besonders klug wäre, Kelly in diesem Zustand
gegenüberzutreten. Er sollte die unangenehmen Informationen erst verarbeiten
und sehen, ob es tatsächlich Absicht seines Unternehmens war, Covington & Son
aufzukaufen. Aber da er nun schon hier war, wäre es vielleicht doch das Beste,
wenn er die Konfrontation sofort hinter sich brachte.
Nick konnte sich nicht daran erinnern, dass Kelly ihm jemals spezifische Fragen
bezüglich seiner Arbeit gestellt oder dass sie über eine andere Fabrik als die ihres
Vaters gesprochen hätte. Andererseits hatte sie ihm gleich am ersten Tag klar
und deutlich zu verstehen gegeben, was sie von ihm hielt.
Kelly hatte nie einen Verlobungsring getragen. Klar! Wie hätte sie ihm diesen
Ring auch erklären sollen? Aber verflixt, sie war noch Jungfrau gewesen. Sie war
bereit gewesen, ihre Unschuld für ein paar Informationen zu opfern! Bei diesem Gedanken rebellierte sein Magen erneut. Und dann fiel Nick plötzlich ein, warum ihm der Name Covington so bekannt vorkam. Craig hatte ihm die Unterlagen über die Vorgänge und die Lage der Firma kurz vor seiner Italienreise gebracht. Nachdem er sorgfältig alle Fakten durchgegangen war, hatte er Craig beauftragt, diese Firma in Ruhe zu lassen. Aus den Unterlagen war deutlich zu erkennen gewesen, dass Covington & Son gut geführt wurde und lediglich durch die allgemeine Wirtschaftslage in Mitleidenschaft gezogen worden war. Wo andere Unternehmen die Tore schließen mussten, hatte Covington die notwendigen Anpassungen für den Markt unternommen und würde sicherlich bald wieder florieren. Nick war beeindruckt gewesen. Nicht ein Arbeiter war entlassen worden. Stattdessen hatte die Geschäftsleitung ihr Gehalt reduziert. Das war etwas, was er in der Geschäftswelt noch nie zuvor erlebt hatte. Es sah so aus, als ob der alte Covington der Kopf des Unternehmens war. Und nach der Begegnung an diesem Abend konnte Nick sich nicht vorstellen, dass Covington junior zu mehr fähig war, als den Umsatz der Bars von New York zu erhöhen. „Möchten Sie, dass ich warte, Sir?“ fragte sein Chauffeur, der inzwischen die Wagentür geöffnet hatte. Nick stieg aus dem Wagen. „Ja, bitte“, erwiderte er und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war bereits nach elf Uhr. „Es wird nicht lange dauern.“
12. KAPITEL Nick betrat das Haus mit dem Schlüssel, den Kelly ihm gegeben hatte. Im Flur brannte eine Lampe, und unter ihrer Schlafzimmertür war Licht zu sehen. Das bedeutete, dass sie noch wach war und ihn vermutlich erwartete. Leise ging er die Treppen hinauf, öffnete vorsichtig die Tür und betrat den Raum. Kelly war eingeschlafen, und die Nachttischlampe warf sanftes Licht auf ihr Gesicht. Sie musste gelesen haben, denn ein offenes Buch lag neben ihr. Abrupt blieb er stehen. Ihm war, als ob er durch ein unsichtbares Feld gegangen war, das ihm die Wut genommen und nur noch den unerträglichen Schmerz des Verrats gelassen hatte. In seiner Betroffenheit setzte Nick sich auf einen Stuhl. Er war jetzt nur knapp einen halben Meter von Kelly entfernt, und er hatte plötzlich das Gefühl, eine riesige Hand würde sein Herz zerdrücken. Verzweifelt betrachtete er ihr feines, hellblondes Haar, ihre zarte Haut, ihre dichten Wimpern und die schlanken Hände. Was gab es letztendlich zu sagen? Sie hatte ihn nicht aufgefordert, ihr zu vertrauen. Das hatte er selbst gemacht. Hatte er nicht immer gewusst, dass es keine Zukunft für sie gab? Aber warum tat es dann jetzt so weh? Warum hatte er das Gefühl, das Wertvollste in seinem Leben verloren zu haben? Er erinnerte sich noch genau an den Moment, als er aufgegeben hatte, sich vorzumachen, dass sie ihm nichts bedeutete. Und daraufhin war er ihr nach Italien gefolgt. Wie sehr hatte er sie in der Woche, in der er allein in New York gewesen war, vermisst. Er musste mehrere Male tief Luft holen, und er wusste, dass das, was er jetzt zu tun hatte, noch schwerer sein würde, als er angenommen hatte. Kelly bewegte sich und öffnete die Augen. „Du hättest gleich zu mir ins Bett kommen sollen“, murmelte sie schläfrig. „Es wäre nicht das erste Mal, dass du mich mit deinen Küssen weckst.“ Ihre Worte erinnerten ihn an eine Nacht, in der er spät aus Rom gekommen und dann direkt zu ihr ins Bett geschlüpft war. Er hatte sie geküsst und gestreichelt, bis er ihr Verlangen geweckt und sie sich leidenschaftlich geliebt hatten. Als er nicht reagierte, runzelte Kelly leicht die Stirn und sah ihn fragend an. Nick räusperte sich. Seine Kehle war plötzlich so eng, dass er kaum noch schlucken konnte. „Ich kann nicht bleiben.“ Kelly stand auf, ging zu ihm hinüber und kniete sich vor ihn. Als sie sein Gesicht mit der Hand berühren wollte, zuckte er zurück. „Was ist los?“ erkundigte sie sich leise. „Ist irgendetwas passiert?“ „Du hättest es mir sagen sollen.“ Sie musste die Entschlossenheit in seiner Miene bemerkt haben, denn sie setzte sich auf die Fersen zurück und sah ihn besorgt an. „Was denn?“ fragte sie ruhig, aber er spürte, dass sie sich gegen schlechte Neuigkeiten wappnete. „Ich habe heute Abend deinen Verlobten kennen gelernt.“ Kelly war völlig verwirrt. „Meinen Verlobten? Wovon redest du?“ „Ich weiß natürlich, dass wie nie über unserer Beziehung gesprochen haben. Ich dachte, du wärst mal mit Comstock liiert gewesen und hättest dich dann von ihm getrennt, um mit dir…“ Er hielt inne. Es hatte keinen Sinn, alte Sachen unnötig aufzuwärmen. „Nick, ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst. Ich bin weder mit Will noch mit irgendeinem anderen Mann verlobt. Ich war überhaupt noch nie verlobt. Wer hat dir denn diesen Floh ins Ohr gesetzt?“ „Arnold Covington.“ Sie runzelte die Stirn. „Arnold? Wie kommst du auf Arnold?“
„Er sprach mich an und erzählte mir, dass ihr schon seit Jahren einander versprochen seid. Er war so nett, mir mitzuteilen, dass du dich nur mit mir eingelassen hast, um seiner Familie zu helfen, die dringend Informationen über meine Firma benötigte.“ Nick sah, wie eine leichte Röte ihr Gesicht überzog, und sein Magen zog sich erneut zusammen. Wie sehr hatte er sich gewünscht, dass alles nur das dumme Geschwätz eines angetrunkenen Mannes gewesen war. Ihr schuldbewusster Gesichtsausdruck bestätigte jedoch den Wahrheitsgehalt von dem, was er an diesem Abend erfahren hatte. „Du kannst es nicht leugnen, stimmt’s?“ fragte er schließlich. „Ich bin nie mit Arnold Covington verlobt gewesen. Ich verabscheue ihn, und das war schon immer so.“ „Trotzdem warst du bereit, mich für ihn auszuspionieren.“ Die Worte brachen eine Kluft zwischen ihnen auf, die sie unwiederbringlich trennte. „Nicht, nachdem ich dich kennen gelernt und begriffen hatte, dass…“ Er hörte ihr nicht weiter zu, sondern erhob sich, ging vorsichtig um sie herum und verließ den Raum, ohne sich noch mal umzuschauen. Nick bekam mit, dass sie noch etwas sagte, doch er wollte nichts mehr hören. Er war ein Narr gewesen. Zumindest hatte er genügend Verstand gehabt, nicht seine Geschäfte mit ihr zu besprechen. Es war kein Schaden entstanden, das war das Einzige, was zählte. Schließlich war sein Unternehmen das Wichtigste in seinem Leben. Seine Arbeit war sein Lebensinhalt. Mit allem anderen würde er fertig werden. Er öffnete die Haustür, trat ins Freie und schloss die Tür leise hinter sich. Selbst nachdem Nick gegangen war, blieb Kelly weiterhin auf dem Boden hocken. Sie war zu benommen, um aufstehen zu können. Warum hatte Arnie solch eine Lüge erzählt? Er wusste doch genau, was sie von ihm hielt. Versuchte er etwa, sich auf diese Weise an ihr zu rächen? Wie konnte solch ein Schuft der Sohn eines so ehrenwerten Mannes wie Hai Covington sein? Sie dachte an ihre Unterhaltung mit Hai und überlegte, wie Arnold davon erfahren haben könnte. Hatte sie Hai bei ihrem gemeinsamen Mittagessen nicht klar zu verstehen gegeben, dass sie nicht für ihn spionieren würde? Wenn sie überhaupt eine Schuld traf, dann einzig und allein auf Grund der Tatsache, dass sie diese Möglichkeit überhaupt kurzfristig in Betracht gezogen hatte. Selbst wenn sie diesen Gedanken, nachdem sie Nick näher kennen gelernt hatte, sofort aufgegeben hatte. Würde es Nicks Meinung ändern, wenn sie ihm alles erklärte? Würde er ihr noch glauben? Die überglückliche Art, wie sie ihn in Italien empfangen hatte, musste ihm doch gezeigt haben, was sie für ihn empfand. Natürlich hatte sie ihm nie gesagt, dass sie ihn liebte. Dabei hatte sie nur nicht gewollt, dass er sich ihr gegenüber verpflichtet fühlte. Es war für Kelly unfassbar, dass er ihr nach allem, was sie in Italien miteinander erlebt hatten, kein Vertrauen schenkte. Glaubte er tatsächlich, dass sie sich hergeben würde, um etwas über seine Geschäftspraktiken zu erfahren? Die Wut, die jetzt in ihr aufstieg, gab ihr die Kraft aufzustehen. Sie lief nach unten, um die Haustür abzuschließen. Bevor sie das Licht ausschaltete, sah sie den Schlüssel, den sie Nick gegeben hatte, auf der Ablage im Flur liegen. Ungeduldig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und ging langsam die Treppe hinauf. Nein, sie hatte keinen Grund zu weinen. Sie hatte doch gewusst, dass ihre Affäre irgendwann enden würde. Außerdem wollte sie keinen Mann, der glaubte, sie würde sich verkaufen, nur um einige Geschäftsgeheimnisse aus ihm
herauszulocken. Und sie brauchte Nick ganz bestimmt nicht. Zumindest versuchte sie, sich das in der endlos langen, schlaflosen Nacht einzureden. Es war gut, dass sie mit Greg Dumas nach Schottland fliegen würde, dort erinnerte sie wenigstens nichts an Nick.
13. KAPITEL Kelly lief unruhig in ihrem Hotelzimmer in Edinburgh auf und ab. Sie und Greg waren am Morgen zuvor in Glasgow angekommen, hatten sich dann einen Mietwagen genommen und waren nach Edinburgh gefahren. Sobald sie im Hotel eingecheckt hatten, war Greg weitergefahren, um ihre Drillingsschwester Fiona aufzusuchen. Offensichtlich war Fiona mehr als nur eine Bekanntschaft für ihn. Sollte ihre Schwester sich tatsächlich in ihn verliebt haben, dann hatte sie hoffentlich mehr Glück in der Liebe als sie. Immer wieder vertrieb Kelly die Erinnerungen an Nick. Er gehörte der Vergangenheit an. Sie brauchte keinen Mann, der ihre Ehrlichkeit und Integrität anzweifelte. Nick war bereits Geschichte. Vorbei und vergessen. Nun, vielleicht hatte sie ihn noch nicht vergessen, aber sie arbeitete hart daran, dass auch dieser Teil Wirklichkeit wurde. Sie musste ihn einfach konsequent aus ihren Gedanken verbannen. Kelly blieb stehen und schaute aus dem Fenster hinaus. Greg hatte sie gegen zehn angerufen und ihr gesagt, dass er Fiona nicht zu Hause angetroffen hätte, dass er jedoch wüsste, wo sie sich aufhalten würde. Bestimmt würden die beiden im Laufe des Tages eintreffen. Das hoffte sie zumindest, denn langsam bekam sie Zustände in dem kleinen Hotelzimmer. Aus Angst, Fiona und Greg zu verpassen, hatte sie sogar ihre Mahlzeiten im Zimmer eingenommen. Dabei war sie das erste Mal in Schottland und konnte es kaum erwarten, die Gegend zu erkunden. Vielleicht sogar mit Fiona. Fiona. Meine Schwester. Dieser Gedanke war immer noch neu für sie. Sie konnte nur hoffen, dass Fiona sich ebenso sehr eine Schwester wünschte wie sie. Was wäre, wenn sie sich weigerte, nach Edinburgh zu kommen? Oder erst gar nicht mit Greg sprechen wollte? Kelly wollte nicht daran denken, dass sie irgendwann nach New York zurückfahren und ihr altes Leben wieder aufnehmen musste. Vielleicht würde sie das Haus verkaufen. Es war ohnehin viel zu groß für sie. Sie und Bridget könnten in einem hübschen Reihenhaus leben, das groß genug wäre, um ein Atelier darin einzurichten. Das Haus, in dem sie aufgewachsen war, war voller schöner Erinnerungen, aber sie wollte nicht länger in der Vergangenheit leben. Kelly gähnte und warf einen Blick auf die Uhr. Vielleicht würde sie sich einen Moment hinlegen. Das mitgebrachte Buch hatte sie bereits ausgelesen, ebenso alle Zeitschriften, die sie hier im Hotel gekauft hatte. Sie könnte sich ein wenig ausruhen, bis Fiona und Greg eintrafen. Kelly legte sich aufs Bett, schloss die Augen und schlief sofort ein. Das lang erwartete Klopfen an der Tür weckte sie. Sie setzte sich auf, blinzelte verschlafen und schaute auf die Uhr. Überrascht stellte sie fest, dass sie zwei Stunden geschlafen hatte. Kelly sprang auf und strich sich das Haar glatt, während sie zur Tür eilte. Dann blieb sie noch mal kurz stehen und holte tief Luft, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Jetzt kam der Moment der Wahrheit. Wenn Greg allein war, würde sie akzeptieren müssen, dass ihre Schwester sie nicht kennen lernen wollte. Sie wappnete sich gegen das, was vielleicht jetzt kommen würde, holte tief Luft, setzte ein Lächeln auf und öffnete die Tür. Ihr Lächeln verschwand jedoch sofort wieder. „Das glaube ich einfach nicht“, stieß sie hervor. „Wie hast du mich gefunden?
Und was machst du hier?“ „Darf ich hereinkommen?“ fragte Nick ruhig. „Ich sehe keinen Grund, warum ich dich hereinbitten sollte. Ich glaube, wir haben bereits alles gesagt, was gesagt werden musste. Ganz ehrlich, ich habe keine Lust, dir zuzuhören, was immer du auch zu sagen haben magst. Außerdem erwarte ich jemanden.“ Nick schaute den Gang hinunter. „Also gut“, meinte er schließlich. „Dann werde ich das, was ich dir mitzuteilen habe, eben hier draußen sagen. Die anderen Gäste werden mir vielleicht gern zuhören.“ Dieser Dominic Chakaris war wirklich von einer unerhörten Arroganz. Wieder mal hatte er bewiesen, dass das, was sie sagte oder tat, keine Rolle für ihn spielte. Er würde das, was er sich vorgenommen hatte, einfach durchziehen. „Also gut. Komm rein, und erzähl mir, was so wichtig ist, dass du deswegen bis nach Schottland reist.“ Sie wandte sich ab und ging ins Zimmer. Nick war genau das, was sie im Moment nicht gebrauchen konnte. Sie hatte sich vorgenommen, gelassen und ruhig zu sein, wenn sie Fiona treffen würde. Heiter. Liebevoll. Eben all das, was sie sich auch von einer Schwester erhoffte. Dank Nick würde sie wahrscheinlich fluchen, toben und völlig außer sich sein, bis das schicksalhafte Treffen endlich stattfand. Es hätte nicht schlimmer kommen können. Kelly setzte sich in den Sessel am Fenster, so weit wie möglich von Nick entfernt, der mittlerweile die Tür geschlossen hatte und sie anschaute. Sie hatte ihm nichts zu sagen. Und wenn er ihr etwas mitzuteilen hatte, dann sollte er endlich anfangen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, schaute aus dem Fenster und vermied es, ihn anzusehen. Ihr Herz klopfte stark. Um sich zu beruhigen, schloss sie die Augen. Sie stellte sich eine üppig grüne Landschaft vor, durch die kristallklares Wasser floss, und die ganze Szenerie wurde überspannt von einem azurblauen Himmel. Unglücklicherweise stand Nick in diesem Bild und verlangte ihre Aufmerksamkeit. Als sie die Augen wieder öffnete, kam Nick auf sie zu. Er zog sich langsam den Mantel aus, legte ihn auf das Bett und straffte sich dann. Der Pullover spannte sich dabei über seinem Oberkörper. Dieselbe Brust, die sie so gern gestreichelt hatte. Sie kannte jeden Millimeter seines Körpers und hätte ihn aus dem Gedächtnis zeichnen können. Nick verschränkte die Arme und sah sie mit ausdrucksloser Miene an. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du adoptiert worden bist?“ „Du hast dir die Mühe gemacht, bis nach Schottland zu kommen, bloß um mich das zu fragen?“ „Deswegen warst du in der Woche, bevor du nach Italien geflogen bist, so durcheinander. Warum hast du mich abgewiesen, obwohl ich dich nur trösten wollte?“ Sie legte die Arme in den Schoß und faltete ihre Hände. „Ich kannte dich nicht gut genug“, antwortete sie schließlich. „Und in Italien? Ich würde sagen, dass du mich da ziemlich gut kennen gelernt hast.“ „Das sollte man meinen, aber offensichtlich war das nicht so. Nie hätte ich angenommen, dass du mich eines Tages anklagen könntest, ich hätte mich für einige Geschäftsinformationen prostituiert.“ Betreten schaute Nick auf seine Schuhspitzen hinunter. Nun, darauf hatte er offenbar nichts zu erwidern. Er war ein miserabler Schuft, und sie hasste ihn, weil er ihr nicht geglaubt, weil er ihr nicht vertraut… Sie hielt in ihren Überlegungen inne, als ein unvermuteter Gedanke auftauchte. Vielleicht
hatte er sich ebenso gefühlt, weil sie ihm nichts von der Adoption gesagt hatte? „Na ja, gut“, gab sie widerwillig zu. „Ich hätte dir sagen sollen, dass ich adoptiert worden bin. Wahrscheinlich wirst du mir jetzt nicht glauben, aber ich wollte es dir an jenem Abend erzählen, als du in mein Schlafzimmer geplatzt bist und mich angeklagt hast.“ „Meine verletzenden Worte damals sind einer der Gründe, warum ich hier bin.“ „Und was gibt es noch für Gründe?“ fragte sie spitz. „Wolltest du mit eigenen Augen sehen, ob ich eine Affäre mit Greg Dumas habe?“ „Mit wem?“ „Mit dem Privatdetektiv, mit dem ich nach Schottland geflogen bin.“ „Oh! Hast du denn eine Affäre mit ihm?“ „Du würdest mir ja doch nicht glauben, wenn ich es dir sagte.“ „Versuch es doch.“ „Du bist der einzige Mann, mit dem ich je ins Bett gegangen bin.“ Er lächelte fast unmerklich. „Gut.“ „Ich dachte mir schon, dass meine Bemerkung deinem eingebildeten Ego gut tut.“ „Nein, meinem Herzen.“ Kelly runzelte die Stirn. Was meinte er? Bei einem anderen Mann hätte sie das für eine Liebeserklärung gehalten, aber Nick hatte noch nie über seine Gefühle gesprochen. Er seufzte. „Der Grund, warum ich nach Schottland gekommen bin, ist sehr einfach. Ich will mich entschuldigen.“ Ihr Herz macht einen Satz. Nick entschuldigte sich? Das war das Letzte, womit sie gerechnet hätte. „Und wofür willst du dich entschuldigen?“ fragte sie vorsichtig. Er straffte sich. „Dafür, dass ich dich der Spionage beschuldigt habe.“ „Ah. Dann glaubst du also immer noch, dass ich meinen nicht existierenden Verlobten mit dir betrogen habe, was?“ „Hör zu, Kelly. Ich bin nicht sehr gut in diesen Dingen. Es tut mir Leid, was ich an jenem Abend gesagt habe. Ich weiß, dass das unentschuldbar ist. Ich weiß auch, dass ich Unrecht hatte, aber ich war außer mir, und ich habe viele Dinge gesagt, die ich nicht wirklich meinte.“ Bereits während des letzten Satzes hatte Nick begonnen, unruhig im Zimmer herumzulaufen. Kelly hatte ihn noch nie in solch einem Zustand gesehen. Schließlich blieb er vor ihr stehen. „Ist es von Bedeutung für dich, dass ich mich in dich verliebt habe? Dass ich seit dem Augenblick, als ich dich das erste Mal getroffen habe, nicht mehr klar denken kann? Allein der Gedanke, du könntest einen anderen Mann heiraten, macht mich verrückt. Meine heftige Reaktion hatte sehr wenig mit dem Geschäft zu tun. Das spielte überhaupt keine Rolle für mich. Ich liebe dich, Kelly. Aber ich hatte so viel Angst, mir diese Gefühle einzugestehen, dass ich sie einfach verdrängt habe. Ich habe noch nie zuvor eine Frau richtig geliebt, und ich kann es nur schwer ertragen, so verletzlich, so angreifbar zu sein.“ Er ging wieder ein Weilchen auf und ab. Dann fuhr er sich mit der Hand nervös durch das Haar. „Glaub mir, ich habe versucht, dich zu vergessen, aber es war ein sinnloses Unterfangen. Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich mich unmöglich benommen habe, aber ich möchte, dass du weißt, wie Leid mir das tut.“ Kelly hatte nicht viel verstanden von dem, was er sagte. Ihr klangen nur immer wieder diese drei Worte in den Ohren: Ich liebe dich. Nie hätte sie geglaubt, dass Nick das jemals zu ihr sagen würde. Sie hatte sich gar nicht erlaubt, diese
Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Liebte er sie wirklich? Meinte er das ernst? Sie erhob sich, ging zu ihm hin und zwang ihn, stehen zu bleiben. Jetzt, da sie sein Gesicht aus der Nähe betrachtete, fiel ihr auf, wie blass und erschöpft er wirkte. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. „Wann hast du das letzte Mal geschlafen?“ fragte sie besorgt. ‘ . Nick wandte sich ab und rückte zwei Schritte von ihr ab. „Ach, hör auf! Müssen sich denn plötzlich alle Leute um meine Schlafgewohnheiten kümmern! Craig ist mir auch schon damit auf die Nerven gegangen.“ Er drehte sich wieder um und sah sie an. „Wenn du dich an mir rächen wolltest, weil ich den Familienbetrieb aufgekauft habe, dann ist es dir meisterhaft gelungen. Ich war so einfältig anzunehmen, dass wir das geklärt hätten. Als du mich überschwänglich liebevoll in Italien empfangen hast, glaubte ich, wir könnten von vorne beginnen und eine ernsthafte Beziehung aufbauen.“ „Du hast mir nie zu verstehen gegeben, dass du an einer ernsthaften Beziehung mit mir interessiert bist, Nick. Woher sollte ich wissen, dass die Sache zwischen uns nicht nur eine kurze Affäre für dich war?“ Er sah sie ungläubig an. „Machst du dich über mich lustig? Glaubst du wirklich, dass wir nur eine Affäre hatten? Die Tatsache, dass ich dich fast nicht mehr aus dem Bett gelassen habe und ganz verrückt nach dir war, hätte dir doch zeigen müssen, wie verliebt ich in dich bin.“ Er fuhr sich erneut mit der Hand durch das Haar. „Also gut, ich hätte dir sagen sollen, was ich für dich empfinde. Das hätte ich auch getan, wenn ich nur gewusst hätte, dass das, was ich empfinde, Liebe ist. Die Gefühle, die du in mir geweckt hast, waren mir völlig neu, und ich wusste überhaupt nicht, wie ich sie einordnen sollte. Ich wusste nur, dass ich zum ersten Mal seit langer, langer Zeit glücklich war. Wie hätte ich wissen sollen, was das bedeutet?“ Kelly hätte ihn am liebsten in die Arme genommen und geküsst. Wenn sie ihre Beziehung aus seiner Perspektive betrachtete, konnte sie besser verstehen, was er durchgemacht hatte und was er vermutlich immer noch durchmachte. Sie dachte an den Jungen, der er einst gewesen war. Wie viele Mitglieder seiner Familie hatte er sterben sehen müssen, und wie machtlos war er gewesen, etwas an der Armut zu ändern, in der seine Familie gelebt hatte. Wahrscheinlich war der Schmerz über die vielen Verluste so groß gewesen, dass er all seine Gefühle vergraben hatte. Um weiterleben zu können, hatte er sich von seiner Intelligenz und seinem Ehrgeiz leiten lassen und sich ausschließlich auf seine Arbeit konzentriert. Dann war sie in sein Leben getreten. Kelly lächelte. „Weißt du, Nick, du hättest mit deinem Bruder reden sollen. Er hatte sofort begriffen, was mit dir los war. Tatsache ist, dass er mir sogar Konsequenzen angedroht hat für den Fall, dass ich dich jemals verletzen sollte.“ Nick war angesichts ihrer Worte völlig verwirrt. „Sprichst du von Luke?“ fragte er ungläubig. „Hast du etwa noch einen anderen Bruder? Natürlich rede ich von Luke.“ „Er hat mit dir über mich geredet?“ „Oh ja. Er wollte wissen, ob meine Absichten dir gegenüber ehrenhaft seien. Ich war nicht darauf vorbereitet, mich deinem Bruder gegenüber verteidigen zu müssen. Als er mit mir fertig war, fühlte ich mich regelrecht überfahren.“ Nick schien es immer noch nicht zu fassen. „Unglaublich. Luke hat dir derartig zugesetzt? Nach so vielen Jahren, in denen ich sehr gut allein zurechtgekommen bin, meint er plötzlich, wieder den großen Bruder spielen zu müssen?“ Er lachte humorlos auf. „Wieso glaubt er, mich beschützen zu müssen. Das ist geradezu
lächerlich.“ „Er erzählte mir auch, was mit deinen Schwestern und deinen Eltern geschehen ist.“ „Ich kenne Luke sonst gar nicht so gesprächig.“ Nick schüttelte den Kopf. „Aber ich bin nicht hier, um über Luke, über meine Vergangenheit oder über meine Geschäftspraktiken zu reden. Ich bin hier, um mich bei dir zu entschuldigen und um dir zu sagen, dass ich dich liebe. Und ich bin gekommen, um dich zu fragen, ob du meine Frau werden willst.“ Seine Worte schienen in dem nun entstandenen Schweigen von den Wänden des Hotelzimmers widerzuhallen. Sie sahen sich an. Nick abwartend und von Angst erfüllt, Kelly so überrascht, dass sie ihr Glück noch gar nicht fassen konnte. „Du willst mich heiraten?“ fragte sie verblüfft. „Ja, das will ich. Furchtbar gern und so schnell wie möglich. Obwohl ich dir gerne unter anderen Umständen den Antrag gemacht hätte.“ Oh, dieser Mann! Kelly würde sehr viel Verständnis für sein Verhalten aufbringen müssen, um mit ihm leben zu können, aber das spielte keine Rolle. Nichts war wichtig, außer der Tatsache, dass Dominic Chakaris sie liebte und dass er sie heiraten wollte. Benommen setzte sie sich auf den Rand des Bettes. „Wie hättest du mir den Antrag denn gern gemacht?“ fragte sie ein wenig atemlos. Er setzte sich neben sie, griff in die Innentasche seines Mantels und zog eine kleine, mit Samt bezogene Schachtel hervor. Ohne ein Wort zu sagen, öffnete er die Schachtel und hielt sie ihr hin. Ein Ring war darin, sorgsam in ein Samtkissen gesteckt. Ein goldener Ring mit einem wunderschönen Rubin, der von glitzernden Diamanten umgeben war. Kelly bemerkte, dass Nicks Hand leicht bebte. Sie schaute in seine Augen. Ja, er war der Mann, den sie mehr liebte als das Leben selbst. In seinem Blick sah sie alles, was er nicht in der Lage war zu sagen. Sie entdeckte, wie verletzlich er war, wie übermannt von seinen eigenen Gefühlen, wie groß seine Angst war, dass sie ihn abweisen könnte. Plötzlich wurde Kelly von einer Welle der Liebe durchströmt, die so überwältigend stark war, dass ihr Tränen in die Augen traten. „Oh Nick“, flüsterte sie, „ich kann gar nicht richtig fassen, was hier passiert.“ „Willst du mich denn heiraten?“ Sie lehnte sich an Nicks Schulter und spürte seine Wärme und seine Kraft. „Mehr als alles andere auf dieser Welt. Ich liebe dich schon lange, aber ich habe immer geglaubt, dass du gar nichts von meiner Liebe wissen willst. Jetzt zu erfahren, dass du meine Liebe erwiderst und mich heiraten willst, übertrifft meine kühnsten Träume.“ „Oh, wie ich mich danach gesehnt habe, das zu hören, Kelly. Ich muss wissen, wohin wir beide gehen werden. Kannst du mir vergeben, was ich dir angetan habe? Bitte, heirate mich, Kelly.“ Sie strich leicht mit dem Finger über den wunderschönen Ring. „Ich habe gar keine andere Wahl“, sagte sie schließlich mit zitternder Stimme und strich sich eine Träne aus dem Gesicht. „Wenn ich Nein sage, wird Luke mich für den Rest meines Lebens verfolgen.“ Nick sah sie bestürzt an. „Nicht zu fassen. Ich biete dir mein Herz an, und du machst auch noch Witze.“ Kelly schlang so heftig die Arme um ihn, dass sie beide das Gleichgewicht verloren und rückwärts aufs Bett fielen. Dann küsste sie ihn. Es war ein Kuss, der all ihre Liebe und das Verlangen nach ihm ausdrückte. Hier – und nur hier – wollte sie sein: in Nicks Armen. „Ich wollte keinen Witz
machen, aber ich bin so glücklich, dass ich gar nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht.“ Sie küsste ihn erneut. „Ich liebe dich so sehr, dass mein Herz vor Liebe zu dir überfließt. Und um deine Frage zu beantworten: Ja, ich werde dir vergeben, wenn du mir all die schrecklichen Dinge vergibst, die ich zu dir gesagt habe, als wir uns das erste Mal getroffen haben. Und ich würde dich furchtbar gern heiraten. Je eher, desto besser.“ Mit einem Stöhnen zog Nick sie an sich und rollte sich auf sie. Sofort tastete Kelly nach dem Reißverschluss seiner Hose. „Ich will dich in mir“, flüsterte sie. „Jetzt.“ Sie zog den Reißverschluss auf und seine Boxershorts herunter, er dagegen schob ihren Rock nach oben und den Schritt ihres Slips zur Seite. Kurz darauf waren sie miteinander vereint. „Siehst du, was du angestellt hast“, stieß Kelly atemlos hervor. „Du hast mich zu einer unersättlichen Frau gemacht.“ Nick lächelte. „Ein Glück, denn ich kann auch nicht genug von dir bekommen“, gestand er und küsste sie dann leidenschaftlich, während er sich langsam in ihr zu bewegen begann. Sie konnte ihn gar nicht tief genug in sich spüren und kam ihm mit den Hüften entgegen, überwältigt von den Gefühlen, die er in ihr weckte. „Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich“, stöhnte sie immer und immer wieder, bis beide die Erlösung von der unerträglich süßen Qual erreichten. Heftig atmend rollte Nick nach einer Weile auf die Seite und zog sie mit sich. „Ich möchte dich nie verlieren“, sagte er rau. „Du kannst mich auch gar nicht mehr loswerden“, erwiderte sie lächelnd und hätte vor Glück am liebsten laut gelacht. „Sonst würde ich dich wegen falscher Versprechungen verklagen. Schließlich habe ich den Ring als Beweis.“ „Oh“, murmelte er, hob den Kopf und schaute um sich. „Den Ring habe ich ganz vergessen.“ „Hm. Mir piekt irgendetwas in die Schulter. Vielleicht ist er das?“ Nick sah nach und fand die offene Schachtel. „Warum hast du nichts gesagt?“ „Machst du Witze? Ich habe ihn noch nicht mal bemerkt, bis wir uns umgedreht haben.“ Widerwillig rückte Nick von ihr ab und begann zu lachen. „Was ist denn so lustig?“ „Wir beide. Wir hatten es so eilig, dass wir uns nicht mal die Zeit genommen haben, uns auszuziehen. Es ist das erste Mal, dass ich Sex mit Schuhen hatte.“ „Ich auch.“ Sie schauten sich an und lachten, bis ihnen Tränen über die Wangen liefen. „Oh Nick, ich bin so froh, dass du den weiten Weg nach Schottland gemacht hast. Woher wusstest du überhaupt, wo ich bin?“ „Bridget hatte Mitleid mit mir. Sie verriet mir, wann du abgeflogen bist und wohin du wolltest. Außerdem hat sie mir den Namen dieses Hotels gegeben.“ Nachdem sie ihre Kleidung wieder zurechtgerückt hatten, nahm Nick den Ring aus der Schachtel und steckte ihn Kelly an den Finger. „Er ist wunderschön, Nick“, flüsterte sie, während sie den Ring an ihrer Hand so andächtig betrachtete, dass sie das Klopfen an der Tür erst nicht hörte. Das zweite Klopfen war lauter, und Kelly setzte sich abrupt auf. „Ach, du meine Güte! Wie konnte ich das vergessen. Sie sind da. Zumindest hoffe ich, dass sie bei ihm ist.“ Hastig erhob Kelly sich vom Bett und strich ihren Rock noch mal glatt. Nick stand ebenfalls auf. Wie gut, dass Fiona und Greg nicht zehn Minuten früher erschienen sind, dachte Kelly und lief zur Tür. Als sie dieses Mal die Tür öffnete, stand tatsächlich ihre Schwester vor ihr. Greg lächelte, sein Arm lag um Fionas Schultern.
„Bitte, kommt doch herein“, sagte Kelly atemlos, während sie fasziniert ihre
Schwester anschaute, die sie nie zuvor gesehen hatte. Sie waren gleich groß,
aber Fionas Haar war flammend rot, und ihre grünen Augen glitzerten wie
Smaragde.
„Oh Greg“, rief Fiona aus und klatschte in die Hände. „Du hast Recht, wir sind
uns wirklich ähnlich.“
„Ich glaube nicht, dass ich euch noch etwas sagen muss – aber bitte. Kelly
MacLeod, darf ich Ihnen Fiona MacDonald vorstellen, Ihre Schwester. Ich habe
gerade erst um ihre Hand angehalten, und sie hat sich einverstanden erklärt, den
Namen Dumas anzunehmen.“
„Oh Greg, das sind ja wundervolle Nachrichten!“ erwiderte Kelly. Und zu Fiona
sagte sie: „Du kannst gar nicht glauben, wie nervös ich war, dich zum ersten Mal
zu sehen.“
Sie ergriff Fionas Hand. „Aber ich habe das Gefühl, dass alles gut werden wird.“
Fionas Augen füllten sich mit Tränen, sie blinzelte sie jedoch rasch fort. „Oh ja.
Als Greg mir erklärte, dass seine Klientin, Kelly MacLeod, meine Schwester sei,
war ich völlig fassungslos. Ich wünschte, meine Eltern hätten mir die Wahrheit
über meine Adoption erzählt.“
„Das kann ich gut verstehen. Ich habe auch erst kürzlich und durch Zufall von
meiner Adoption erfahren.“ Kelly bat die beiden mit einer Handbewegung, in das
Zimmer einzutreten. „Wir haben viel nachzuholen, aber als Erstes möchte ich,
dass ihr jemanden kennen lernt.“
Greg war bestürzt, einen Mann in dem Zimmer seiner Klientin vorzufinden.
Schließlich wusste er, dass sie noch nie in Schottland gewesen war. Kelly
bemerkte den irritierten Ausdruck in seinen Augen.
„Ich möchte euch Nick Chakaris vorstellen, der aus New York hergeflogen ist, um
mich zu suchen.“ Sie wandte sich Nick zu. „Wie du sicherlich bereits
mitbekommen hast, Nick, das ist Greg Dumas, und das meine Schwester Fiona.“
Nick schüttelte ihnen die Hand. „Ich freue mich, Sie beide kennen zu lernen.“ Er
legte den Arm um Kellys Taille.
Greg sah den anderen Mann prüfend an. „Chakaris? Den Namen kenne ich
irgendwie.“
Kelly lachte. „Ich bin sicher, dass du ihn kennst, Greg. Ich darf doch du sagen,
jetzt, wo du mein Schwager wirst, nicht wahr? Das ist tatsächlich Dominic
Chakaris, der von dem ChakarisKonzern.“
Greg nickte.
„Kelly hat bei der Vorstellung eine Kleinigkeit vergessen“, bemerkte Nick mit
einem glücklichen Glitzern in seinen Augen. „Sie hat sich nämlich ebenfalls bereit
erklärt, ihren Namen zu ändern.“
14. KAPITEL Drei Wochen später „Ich bin schwanger!“
Fiona sah Kelly überrascht an. „Glaubst du wirklich?“
„Oh ja, ich bin mir ganz sicher“, erwiderte Kelly. „Ich habe gerade das
Testergebnis abgelesen.“
Kelly leistete Fiona in der Küche Gesellschaft, während ihre Schwester etwas
kochte, das einfach köstlich duftete.
Gleich bei ihrem ersten Treffen hatte Fiona vorgeschlagen, dass Kelly eine Weile
bei ihr wohnen sollte, damit sie sich kennen lernen konnten. Greg war inzwischen
nach Cornwall gefahren, und Nick war zurück nach New York geflogen.
Während der langen Gespräche, die sie führten, hatten sie herausgefunden, dass
ihr Geschmack, was Hobbys, Bücher und Kunst betraf, sehr ähnlich war. Sie
erzählten sich, wie sie aufgewachsen waren, und lachten und weinten –
manchmal sogar beides gleichzeitig. Sie hatten viel von ihrer Vergangenheit
aufgearbeitet und warteten jetzt darauf, mit ihren Verlobten ein neues Leben zu
beginnen.
„Ich freue mich so für dich“, erwiderte Fiona. „Ich wünsche mir auch Kinder.“
Kelly lächelte. „Ist es nicht seltsam, dass wir beide praktisch zur gleichen Zeit
den Mann gefunden haben, den wir lieben?“
„Das ist Schicksal“, erklärte Fiona überzeugt. „Ich hätte auch nie gedacht, dass
ich eine Doppelhochzeit mit meiner Schwester feiern würde.“
„Diese Hochzeit wird nur stattfinden, wenn unsere zukünftigen Ehemänner auch
rechtzeitig hier eintreffen.“
„Ich dachte, Nick würde bereits heute kommen.“
„Das hat er zumindest gesagt.“
„Als Greg gestern aus Cornwall anrief, meinte er, dass er auf jeden Fall bis zum
Abend hier wäre.“
„Hat er etwas über unsere Schwester herausgefunden?“
„Ja, aber er will es mir erst erzählen, wenn wir alle zusammen sind.“
Kelly schüttelte lächelnd den Kopf. „Typisch Greg.“
In diesem Moment wurde die Haustür geöffnet. „Hallo, ist jemand da?“ rief Nick,
während er seinen Koffer abstellte.
Kelly sprang auf, lief in den Flur und umarmte ihn. „Ich habe dich so vermisst!
Wir haben uns in den letzten drei Wochen kaum gesehen.“
„Ich habe dich auch vermisst“, gestand er, küsste sie und flüsterte ihr dann ins
Ohr: „Glaubst du, Fiona wäre geschockt, wenn wir mitten am Tag ins Bett
gingen?“
„Das möchte ich lieber nicht herausfinden, und du?“
Er seufzte gespielt dramatisch. „Also gut, ich werde wohl noch ein paar Stunden
warten können.“ Er küsste Kelly erneut und zog dann seinen Mantel aus. „Ich
könnte jetzt einen von Fionas wundervollen Tees gebrauchen. Ich bin nämlich
ziemlich durchgefroren.“
Als sie die Küche betraten, war Fiona verschwunden. Kelly lächelte. Sie wusste,
dass ihre Schwester ihnen Zeit geben wollte, damit sie Nick ihr Geheimnis
verraten konnte. Sie goss Tee in zwei Tassen und reichte ihm eine. „Wie war dein
Flug?“
Er kostete den Tee und lächelte. „Ich kann nicht klagen. Und du? Was hast du
seit unserem letzten Telefongespräch so gemacht?“
„Nun, es gibt etwas, was ich dir sagen muss.“
Nick stellte die Tasse ab und sah sie warnend an. „Wenn du mit dem Gedanken
spielst, die Hochzeit zu verschieben, dann vergiss es sofort wieder: Ich hätte dich
am liebsten bereits vor drei Wochen geheiratet.“
„Das ist es nicht. Erinnerst du dich an den Tag in Italien, als wir uns im Pool
geliebt haben?“
Er lächelte verschmitzt. „Den werde ich nie vergessen.“
„Wir haben damals nicht verhütet.“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Heißt das, dass…“
Sie nickte. „Ich weiß, dass du mich ganz für dich allein haben willst, und ich kann
verstehen, wenn du jetzt nicht allzu begeistert bist, aber…“
„Was redest du da? Ich wusste damals genau, was ich tat. Ich habe schon darauf
gewartet, dass du es mir sagst.“
„Es macht dir also nichts aus, dass wir schon so schnell eine Familie gründen?“
Nick zog sie vom Stuhl hoch und nahm sie in die Arme. „Lass dir eins sagen: Ich
liebe dich. Ich will dich heiraten, und ich kann mir nichts Schöneres vorstellen,
als mit dir eine Familie zu gründen. Ein wenig Zeit haben wir ja noch für uns. In
welchem Monat bist du denn?“
„Er oder sie wird in sieben Monaten bei uns sein.“
Nick küsste sie so zärtlich, dass sie das Gefühl hatte, in seinen Armen zerfließen
zu müssen. „Und wie fühlst du dich?“
„Wunderbar“, versicherte Kelly, „einfach wunderbar.“
Sie saßen immer noch in der Küche und redeten, als Greg nach Hause kam.
An diesem Abend versammelten sich die vier im Anschluss an das Essen in
Fionas Wohnzimmer. Nachdem Fiona ihnen ein Glas Wein eingeschenkt hatte,
räusperte sich Greg.
„Ich habe eure dritte Schwester leider noch nicht gefunden, aber ich habe einiges
über sie in Erfahrung gebracht. Das Ehepaar, das sie adoptiert hat, hieß
Craddock. Tristan und Hedra Craddock. Ich konnte die Schwester von Tristan
ausfindig machen, und sie erzählte mir, dass ihr Bruder mit seiner Familie bereits
vor langer Zeit nach Australien ausgewandert sei. Er und seine Frau seien dann
vor vielen Jahren bei einem Urlaub ertrunken. Ihre Adoptivtochter ist daraufhin in
ein Heim gekommen.“
Kelly stöhnte. Australien. Die Hochzeit sollte in zwei Tagen stattfinden. In dieser
kurzen Zeit würden sie ihre Schwester niemals finden.
„Und was schlägst du jetzt vor, Greg?“ fragte Nick, der eine große Sympathie für
seinen zukünftigen Schwager entwickelt hatte.
„Das weiß ich noch nicht genau. Wir könnten nach Australien reisen und sie
suchen. Aber da wir auch ihren Namen nicht kennen…“
„Du meinst, dass diese Frau noch nicht mal den Namen ihrer Nichte wusste?“
fragte Fiona entsetzt.
„Sie behauptete, sie würde sich nicht erinnern. Du darfst allerdings nicht
vergessen, dass sie noch ein zweites Mal adoptiert worden sein könnte und jetzt
möglicherweise einen anderen Nachnamen hat.“
„Aber wir müssen sie finden, Greg“, beharrte Kelly.
„Ich weiß. Das Beste wäre, wenn wir einen Privatdetektiv in Australien anheuern
würden, der ihre Spuren seit dem Tod ihrer Eltern verfolgt.“
„Abgemacht. Wir werden einen Detektiv engagieren“, meinte Nick. „Macht euch
keine Sorgen, wir werden sie finden. Fragt sich nur, wann.“
Zwei Tage später gaben sich Mr. und Mrs. Dominic Chakaris und Mr. und Mrs.
Gregory Dumas das Jawort.
Nur eine Hand voll Leute waren aus den Vereinigten Staaten zur Hochzeit
gekommen: Kellys CollegeFreundin, Hai Covington und Will Comstock. Von
Fionas Freunden waren dagegen sehr viele anwesend. Es wurde ein Fest, das
niemand so schnell vergessen sollte. Der einzige Wehmutstropfen war die Tatsache, dass Kellys und Fionas Drillingsschwester nicht mit ihnen feiern konnte. Gegen zehn Uhr abends zog Nick Kelly in seine Arme. „Ich hoffe, du kannst französisch“, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie runzelte die Stirn. „Wie kommst du denn darauf?“ „Weil die Landessprache von Tahiti französisch ist.“ Kelly sah ihn mit großen Augen an. „Willst du damit sagen, dass…“ Er lachte und nickte. „Ja, Flitterwochen in Tahiti!“ Kelly umarmte ihn und überhäufte ihn mit Küssen. „Kannst du Gedanken lesen? Ich wollte schon immer nach Tahiti. Oh Nick, danke.“ Er ergriff ihre Hand und zog sie mit sich. „Dann komm jetzt ins Bett. Wir müssen morgen früh aufstehen, und vorher habe ich noch einiges zu tun.“ „Was denn?“ fragte Kelly kokett. „Das wirst du schon sehen“, erwiderte er. „Schließlich ist das unsere Hochzeitsnacht.“ ENDE